1
Helga Leeb
BASKO UND SEINE LEUTE
Heiterer Roman
Weltbild Verlag
2
Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem ...
37 downloads
1029 Views
857KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1
Helga Leeb
BASKO UND SEINE LEUTE
Heiterer Roman
Weltbild Verlag
2
Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt – der Umwelt zuliebe Lizenzausgabe der Weltbild Verlag GmbH, Augsburg Copyright © 1982 by Langen Müller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Produktion und Gestaltung: Blach Marketing GmbH & Co. KG, Appenweier Umschlagzeichnung: Ulrike Vater, Kassel Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten Printed in Germany EAN 40 26.411 10.204 7
3
Für Jonathan
4
1 »Irgend etwas fehlt hier«, sagte Jonathan, verteilte sorgfältig einen Löffel Honig auf seinem Toast und goß sich Kaffee ein. »Ich weiß«, erwiderte ich seufzend, »die Himbeermarmelade. Ich weiß es übrigens schon die ganze Zeit, während du dein Ei gegessen hast. Aber ich dachte, vielleicht übersiehst du einfach großzügig, daß auf diesem perfekt gedeckten, appetitlichen, mit frischen Blumen und englischem Geschirr gedeckten Frühstückstisch die Himbeermarmelade fehlt.« »Ach so, die Marmelade! Natürlich fehlt die. Irgendwas fehlt doch eigentlich immer, wenn du Frühstück machst und nicht ich, aber die meine ich nicht«, entgegnete Jonathan ungewohnt friedlich. »Wunderbar«, murmelte ich, angelte mit meiner großen Zeh einen Gartenstuhl so nahe zu mir heran, daß ich bequem die Beine darauf legen konnte und schaute der dicken Amsel zu, die drüben unter dem Fliederstrauch in unserem sogenannten Vogelbad, einem ausrangierten, halben Römertopf, duschte. Sie sprühte mit heftigen Flügelschlägen immer neue perlende Wasserkaskaden über sich. Man hörte das Geplätscher über den Rasen bis auf die Terrasse. »Schau nur, sie verbraucht wieder das ganze Wasser, und die Meisen, die ringsum anstehen und schon ganz ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen, müssen sich um den Rest balgen«, sagte ich zu Jonathan. Er nickte zerstreut. Das allsonntägliche Schauspiel schien ihn heute nicht besonders zu interessieren. »Irgendwann einmal muß ich ein größeres Vogelbad kaufen«, stellte ich fest, »oder ich stelle den anderen halben Römertopf auch noch auf, dann können zwei Amseln gleichzeitig baden.« Ich blinzelte zu den üppigen Blütendolden der Clematis hinauf, die das Balkongeländer umrankte, und fand, daß dies ein herrlicher Sonntagmorgen war: blauer Himmel, Sonne, ein leichter, lauer Wind und über uns die orangerote Markise, die uns gegen fremde Blicke schützte. Niemand von den Einfamilienhäusern ringsum konnte beobachten, wie wir faul, in Morgenmänteln (lila ich, beige 5
Jonathan), barfuß und unrasiert (Jonathan) auf der Terrasse saßen und frühstückten. Vielleicht stand Herr Speicher an seinem Badezimmerfenster und verrenkte sich, um einen winzigen Ausschnitt unserer morgendlichen Idylle zu ergattern, seinen Hals, aber das störte mich längst nicht mehr. Vom Zwiebelturm der Dorfkirche schlug es gemächlich zehn Uhr. Gleich würden Michi und Christian verschlafen und mit zerzaustem Haarschopf auf die Terrasse tapsen und sich mit einem beiläufigen »Morgen« über die Reste hermachen. Jonathan pflegte das lasche Auftreten seiner Söhne jedesmal mit einer sarkastischen Bemerkung zu begleiten, etwa: »Auch schon auf, die Herren?« oder »Aha, da hat jemand gehört, daß alles fix und fertig ist und keinerlei Mithilfe mehr benötigt wird.« Er war ein autoritärer, etwas altmodischer Vater und hätte gerne gehabt, daß ihn am Sonntagmorgen zwei frischgewaschene und gekämmte Knaben mit freundlichen Gesichtern und fertig gedecktem Tisch empfangen hätten. Leider ließen sich seine Vorstellungen nicht in die Realität umsetzen, woran ich mit meiner toleranten Erziehung – wie es Jonathan nannte – sicher nicht unschuldig war. Also brummelte er wenigstens ein bißchen, wenn die beiden erschienen, fand dann aber, damit habe er seine Autorität schon ausreichend bewiesen. »Wie ich vorhin schon sagte«, begann Jonathan aufs neue, diesmal mit leichtem Nachdruck: »Ich finde, uns fehlt etwas.« Ich schaute ihn an, wie er dasaß, die Hornbrille auf die Nase gerutscht, unter dem Gürtel des Morgenrocks ein leichter Bauchansatz, die ersten grauen Haare an den Schläfen, alles in allem ein ziemlich zerzauster, aber doch recht ansehnlicher Ehemann. »Ach Jonathan, du bist drollig«, rief ich gut aufgelegt. »Natürlich fehlt uns eine ganze Menge: mir zum Beispiel ein Pelzmantel, irgend so was ganz Lässiges mit Kapuze zum Reinkuscheln. Außerdem fehlt uns ganz eindeutig ein neuer Teppich, am besten wäre ein weißer Berber, wollig, weich und drei Zentimeter hoch. Ach ja, und ein guter Anfang für meinen Artikel fehlt mir, und – das wollte ich dir eigentlich gar nicht sagen – irgendwie fehlen mir auch noch zweihundert Mark vom Haushaltsgeld und der Reservehausschlüssel,
6
vielmehr einer von meinen drei Reservehausschlüsseln.« Normalerweise wäre Jonathan nach diesem letzten Geständnis wutentbrannt hochgefahren und hätte etwa folgendes gesagt: »Das Verhältnis dieser Familie zu Geld und insbesondere zu Hausschlüsseln ist erschütternd. Es gibt bestimmt kein Haus weit und breit außer unserem, bei dem von morgens bis abends der Hausschlüssel außen in der Tür steckt, und das Gartentor weit offensteht, damit jeder, aber auch wirklich jeder, mühelos hereinkommen kann. Es ist ein reines Wunder, daß sich nicht sämtliche Diebe und Einbrecher der Stadt bei uns verabreden.« Spätestens an diesem Punkt hätte ich Jonathan normalerweise unterbrochen und gesagt: »Tatsache ist aber, daß uns noch nie jemand die kleinste Sache gestohlen hat und daß es bei den vielen Freunden der Kinder viel praktischer ist, wenn jeder aus- und eingehen kann, ohne zu klingeln. Außerdem finde ich es gemein von dir, daß du meine Reservehausschlüssel, die alle an guten, vernünftigen Plätzen untergebracht sind, immer wieder heimlich wegnimmst. Neulich mußte ich durchs Waschhausfenster klettern – das geht übrigens prima, obwohl du glaubst, das Gitter sei diebstahlsicher befestigt –, bloß weil ich keinen einzigen Schlüssel finden konnte. Jedenfalls würden wir alle viel weniger Hausschlüssel verlieren, wenn man sie einfach dort ließe, wo sie hingehören: einer außen an die Tür, einer unters Fensterbrett der Garage, einer in den Wäscheklammersack im Garten und einer für schlimmste Notfälle hinter den Geranientopf auf der Terrasse.« Merkwürdigerweise fand dieser Dialog heute nur in meinem Gehirn statt. Jonathan schien an seinem Lieblingsthema gänzlich desinteressiert zu sein. Statt dessen sagte er plötzlich laut und langsam: »Was ich seit einer halben Stunde sagen möchte, ist folgendes: Ich finde, was uns fehlt, ist ein Hund.« »Ein Hund?« wiederholte ich tonlos, und dann, als ich die ganze Tragweite dieses Satzes begriffen hatte, schrie ich entsetzt auf: »Ein Hund!!!!?« »Ja«, erwiderte Jonathan sachlich. »Ich finde, zu einer richtigen Familie gehört einfach ein Hund.«
7
Ich saß ein paar Sekunden stumm vor Staunen und schaute ihn fassungslos an. Jonathan schaute zurück. »Ich wollte schon immer einen Hund haben, weißt du«, sagte er. »Hunde gehörten zu meiner Kindheit, wie der Lagerplatz an der Spree, wo wir Verstecken spielten, und die Berliner Weiße mit Schuß am Samstagabend. Mein Hund damals war ein Dackel und hieß Biggi.« »Und starb an Herzverfettung und keifte jeden Fremden an, der eure Wohnung betrat, bis er asthmatisch keuchend in einer Ecke zusammenbrach und von deiner Mutter aufs Sofa gebettet wurde. Ich erinnere mich deutlich, es war ein erhebender Anblick.« Meine Stimme klang sarkastisch. »Du hast Biggi nur in seinen letzten Jahren in München gesehen. Früher war er anders. Außerdem konnte er nichts dafür, daß meine Mutter ihn hemmungslos überfütterte und nie jemand mit ihm spazierenging.« »Aha, da haben wir’s. Wer, bitte, soll mit unserem Hund Spazierengehen?« »Die Kinder natürlich«, erwiderte Jonathan. »Und am Wochenende du und ich. Jeder müßte seinen Teil Verantwortung für den Hund übernehmen. Ich sehe da überhaupt kein Problem.« »Du siehst nie Probleme«, seufzte ich. »Für dich ist es ganz normal, ein gepflegtes Haus, einen gemähten Rasen, zwei halbwegs ordentlich erzogene Söhne und eine berufstätige Frau zu haben. Von pünktlichen Mahlzeiten und tadellos gebügelten Hemden ganz abgesehen.« »Richtig, es klappt alles tadellos. Wo gibt es da ein Problem?« »Gelegentlich«, sagte ich, »ganz selten einmal bin ich etwas atemlos, weißt du, und überlege, wieso ich das eigentlich alles schaffe.« »Aber Liebling, ganz einfach, weil du eine emanzipierte Frau bist«, antwortete Jonathan fröhlich. »Ich bin zwar eine emanzipierte Frau, aber nur, weil ich das unverdiente Glück habe, eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Zugehfrau als Hilfstruppe zu besitzen«, erklärte ich. »Na also, wo liegt das Problem?« erkundigte sich Jonathan. Es
8
war hoffnungslos. »Das Problem liegt darin«, erklärte ich behutsam, »daß ich mir manchmal denke, es müßte Spaß machen, einen Mann zu haben, der sich partnerschaftlich mit mir die Hausarbeit, die Bügelwäsche und die Elternsprechtage für zwei schulpflichtige Kinder teilt. So etwas gibt es nämlich. Ich schreibe dauernd darüber.« »Liebling, das ist doch nicht dein Ernst! Kannst du dir vorstellen, wie ich mit dem Bügeleisen aussähe oder beim Abspülen? Mit Gummihandschuhen womöglich!« »Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Aber vielleicht hätte ich mich im Verlauf meiner zwölfjährigen Ehe an diesen Anblick gewöhnen können.« »Also ich nicht«, erklärte Jonathan mit verblüffender Selbstverständlichkeit. »Tja, dann ist dieses Problem ja wohl gelöst«, stellte ich fest. Jonathan spürte meinen ironischen Unterton nicht. »Siehst du, ich sag’s ja immer, du suchst Probleme, wo es gar keine gibt«, rief er vergnügt. »Und mit unserem Hund wird das sicher ganz genauso.« »Wieso mit unserem Hund?« »Na ja, wir reden im Grunde doch die ganze Zeit davon, daß wir einen Hund wollen.« »Du willst einen Hund«, beharrte ich eigensinnig. »Also gut, ich. Aber Michi und Christian sicher auch. Für die wäre ein Hund sogar besonders wichtig. Für ihre menschliche Entwicklung, weißt du. Wir hatten die beiden schließlich im zarten Alter von sechs und acht ihrer Heimat entfremdet und sie in ein fernes, unbekanntes Land verpflanzt.« »Du tust, als ob unsere zwei Jahre London nicht eine herrliche, faszinierende Zeit gewesen wären.« »Waren sie, wenn auch etwas aufregend, wie du zugeben wirst. Aber für Michi und Christian ist es nicht so einfach, sich wieder in ihre alte Umgebung einzugewöhnen. Ein Hund könnte ihnen dabei helfen.« »Jonathan, werde nicht sentimental«, sagte ich. »Du weißt genau, daß Michi längst die drei Größten und Frechsten aus seiner Klasse als Freunde hat, und ob Christians Rechtschreibung im Deutschen
9
weniger katastrophal wäre, wenn er zwischendurch nicht zwei Jahre auf einer englischen Schule verbracht hätte, ist keineswegs erwiesen. Schließlich ist auch seine englische Rechtschreibung katastrophal.« »Da kommen sie«, sagte Jonathan. »Wir fragen sie einfach selbst, ob sie einen Hund haben wollen.« Es war zu spät einzugreifen. »Wieso redet ihr von einem Hund? Kriegen wir vielleicht einen Hund? « Michi, der mit seinen braunen Locken und seiner Pfirsichhaut viel zu hübsch für einen Neunjährigen aussah, blieb buchstäblich der Mund offenstehen. Dann drehte er sich um, boxte seinen um zwei Jahre älteren Bruder in die Seite, daß der aufheulte, und brüllte: »Christian, hast du das gehört! Wir kriegen einen Hund!« »Mensch, klasse«, sagte Christian trocken. »Ich wollte schon immer einen Hund haben.« »Also Moment mal, das ist noch gar nicht sicher, da müssen wir erst noch mal drüber reden«, versuchte ich einzuwerfen, kam aber, was nur selten geschieht, einfach nicht zu Wort. Die drei männlichen Mitglieder der Familie unterhielten sich bereits ausführlich und in ungewohnter Harmonie über Hunde im allgemeinen und unseren Hund im besonderen. Michi war für einen Bernhardiner, Christian für einen Afghanen, Jonathan für einen deutschen Schäferhund. Ich goß mir eine letzte Tasse Kaffee ein und hörte zu. »Kinder, seid mal ruhig«, sagte Jonathan nach einer Weile. »Eure Mutter sitzt hier so still dazwischen. Die muß doch schließlich auch gefragt werden, was für einen Hund sie haben will!« »Oder willst du womöglich gar keinen?« fragte Michi mit verzweifelt flehendem Blick. Ich blinzelte in die Morgensonne, die jetzt schon fast eine Mittagssonne geworden war, schaute auf die wilde Unordnung des Tischs und dann auf die drei zerzausten, in schlampige Morgenmäntel gehüllten Gestalten drumherum, deren Gesichter vor Begeisterung glühten. Es war wirklich ein außergewöhnlich schöner Sonntagmorgen. »Natürlich will ich auch einen Hund«, sagte ich. »Ich habe mir meine ganze Kindheit hindurch einen Hund gewünscht und nie einen
10
bekommen. Ich freu mich wahnsinnig auf unseren Hund.« Christian und Michi fielen mir von zwei Seiten her um den Hals, eine englische Kaffeetasse zersprang klirrend auf dem Boden, Jonathan blickte mild und schob mit dem Fuß die Scherben beiseite. »Am liebsten hätte ich einen Rauhhaardackel«, sagte ich, als ich wieder zu Luft gekommen war. »Einen ganz kleinen frechen, zärtlichen, den man auf den Schoß nehmen und streicheln kann.« »Einen Dackel!« riefen Michi und Christian gedehnt. »Aber ein Dackel ist doch gar kein richtiger Hund.« »Ich fürchte, unser Hund wird doch ein Problem«, sagte Jonathan ahnungsvoll. Er sollte recht behalten.
2 Sein Name war Basko von der Fuchswiese, sein Stammbaum so edel, daß sich ein Seitenzweig bis nach Schottland erstreckte, wo er bei einer Lady Mildred Whitebreast endete. Basko war im übrigen kein Rauhhaardackel, sondern ein Boxer, und zwar einer vom alten Schrot und Korn. Da war noch nichts Schmales und Windschlüpfriges hineingezüchtet, wie man das heute an Boxern sieht: nein, Basko war von kraftvoller, stämmiger Figur, hatte einen riesigen, eckigen Kopf mit schwarzer Maske und tief herabhängenden Lefzen. Seine Augen blickten treuherzig über die melancholisch nach unten gezogenen Lider, seine Stirn legte sich in eine Unzahl drolliger Kummerfalten, Brust und Pfoten waren weiß, sein goldbraunes, glänzendes Fell schien ihm ein paar Nummern zu groß zu sein. An den Hinterbacken liefen die Haare in entgegengesetzter Richtung zusammen, so daß es aussah, als befänden sich dort zwei Reißverschlüsse, mit Druckknopf. Michi behauptete, daß Basko nachts, wenn ihn niemand beobachtete, sein Fell auszog. Aber Michis Fantasie neigte zu skurrilen Purzelbäumen. Der Grund, warum wir uns nach langen Diskussionen auf einen Boxer geeinigt hatten: ein Hund dieser Rasse schien alle 11
Eigenschaften in sich zu vereinigen, die ein neues Mitglied einer so unruhigen Familie wie unserer unbedingt mitbringen sollte. Er mußte gutmütig und kinderlieb, strapazierfähig und praktisch sein, hochbeinig, damit er nicht bei jedem Matschwetter Dreckspuren über den Teppich schleppte, und kurzhaarig, denn wer möchte schon an allen Sesseln und Möbeln Hundehaare kleben haben? Dies alles – so entnahmen wir klugen Büchern – traf auf Boxerhunde zu. Was nicht drinstand, war, daß auch kurzhaarige Hunde unbeschreiblich haaren können und daß vier tapsige Boxerpfoten bei Regenwetter kaum weniger aparte Muster auf dem Teppich hinterlassen als die schleifenden Bauchhaare eines Dackels. Ein wichtiger Gesichtspunkt war ferner, daß ein Boxer kein Schoßhund, sondern wie Jonathan und die Söhne fanden, ein männlicher, charaktervoller Hausgenosse war. Daß unser künftiger Hund auf keinen Fall weiblichen Geschlechts sein würde, war von vornherein klar. Darüber gab es nicht einmal eine Diskussion. Mir war es recht. Das männliche Element überwog in unserer Familie bereits so stark, daß es nicht mehr darauf ankam. Nachdem wir uns also theoretisch auf einen Boxer geeinigt hatten, fiel mir etwas ein. »Hört mal«, sagte ich. »Sind Boxer nicht diese Hunde, die ständig tropfen?« »Wieso tropfen?« fragte Jonathan. »Na ja, ich meine, sind das nicht die Hunde, die immer Speichel und Schaum am Maul haben? Es muß irgendwie mit ihren langen Lefzen zusammenhängen. « »Das sollte man klären«, meinte Jonathan, als Journalist daran gewöhnt, vage Gerüchte durch gründliche Recherchen aus der Welt zu schaffen oder zu erhärten. Am nächsten Tag kam er nach Hause und verkündete: »Ich habe mit dem Boxerverein gesprochen, mit einer alten Dame aus unserer Honorarabteilung und mit einem freien Mitarbeiter. Du hast recht. Früher haben Boxer in der Tat getropft. Es heißt übrigens korrekt trielen, nicht tropfen. Aber heute hat man diese Eigenschaft längst weggezüchtet.« »Wunderbar«, sagte ich. »Dann steht einem Boxer eigentlich nichts mehr im Wege.«
12
Aber obgleich Boxer damals, zu Anfang der siebziger Jahre, noch keine Modehunde waren, schien es unglaublich schwierig, einen davon zu erstehen. Wann immer wir einen Zwinger oder einen privaten Züchter anriefen, war der letzte Boxer gerade verkauft, vorgemerkt oder seit langem jemand anderem versprochen, die Hündin hatte nur drei anstatt wie erwartet fünf Junge geworfen, oder es gab zwar einen jungen Boxer, aber eben keinen Welpen. Schließlich bekamen wir einen Geheimtip. In einem kleinen Ort dreißig Kilometer südlich von München lebte in einem romantischen Haus mit Garten eine alte Dame, die außergewöhnlich schöne Boxer züchtete. Das heißt, sie züchtete sie eben nicht berufsmäßig, sondern ließ nur ihre Hündin gelegentlich decken, zog die Jungen liebevoll groß und trennte sich so schwer von ihnen wie eine Mutter von ihren leiblichen Kindern. Die Jungen würden dort auch nicht im Zwinger gehalten, sondern im Haus. »Gut«, sagte ich. »Dann hat unser Hund wenigstens keine Heimschäden, ist stubenrein und von vornherein dran gewöhnt, daß er nicht aufs Sofa oder aufs Bett springen darf.« Wir riefen die alte Dame an. Sie war reizend. Bevor wir zu Wort kamen, erkundigte sie sich ausführlich nach der Größe unseres Gartens, dem Alter der Kinder, dem Charakter jedes einzelnen Familienmitglieds, nach Beruf und Einkommensverhältnissen. Es war so ähnlich wie bei einem Polizeiverhör. »Wissen Sie, ich gebe meine Hunde nur Leuten, die mir sympathisch sind«, sagte sie abschließend. Und dann: »Ich glaube, Sie sind mir sympathisch.« »Haben Sie denn einen Hund für uns?« fragte ich atemlos. »Ja«, sagte sie zögernd. »Ich habe einen. Er ist bei weitem der hübscheste des ganzen Wurfs, und ein Züchter möchte ihn unter allen Umständen kaufen. Aber da ist ein Haken. Denn Basko – so heißt er – ist bedauerlicherweise ein Einhoder.« »Ein was?« fragte ich, während der Rest der Familie sich ums Telefon drängelte und gebannt an meinen Lippen hing. »Ein Einhoder«, wiederholte die alte Dame. »Das bedeutet, daß er nur einen Hoden hat. So etwas kommt auch manchmal bei Kindern vor. Aber bei ihnen holt man den fehlenden Hoden durch eine kleine Operation nach außen. Bei Hunden tut man das nicht.«
13
»Aha, und was bedeutet das, wenn ein Hund ein Einhoder ist?« »Eigentlich nicht viel. Er kann durchaus Nachwuchs zeugen. Bloß bekommt dieser Nachwuchs keinen Stammbaum. Basko ist sozusagen dazu verurteilt, eines Tages illegitime Kinder in die Welt zu setzen, wenn überhaupt. Deshalb hat ihn der Züchter auch noch nicht gekauft. Er wartet.« »Worauf?« fragte ich. »Darauf, daß der zweite Hoden doch noch zum Vorschein kommt. Sobald es soweit ist, nimmt er ihn.« »Und wenn der Hoden nun nicht erscheint?« erkundigte ich mich hoffnungsvoll. »Dann«, sagte die alte Dame, »können Sie Basko bekommen. Und zwar zum halben Preis.« Ich legte die Hand über die Sprechmuschel und erklärte der gebannt lauschenden Familie, daß wir einen wunderhübschen kleinen Boxer namens Basko in Aussicht hätten, dem es an einem Hoden mangelte. »Bis wann fällt die Entscheidung?« fragte ich ins Telefon. »Nach drei Monaten besteht keine Chance mehr. Basko ist gestern zwei Monate alt geworden. Rufen Sie doch in vier Wochen nochmals an.« Ich legte auf und teilte Jonathan und den Kindern meine neuen Erkenntnisse mit. Alle waren der Ansicht, daß Basko, gerade weil er nur einen Hoden hatte, eine Familie brauchte, die ihn liebte und akzeptierte. Wir beschlossen, auf Basko zu warten. Natürlich riefen wir nicht erst nach vier Wochen, sondern praktisch jeden dritten Tag an. Zwischen Frau M. und uns entstand langsam eine freundschaftliche Beziehung. Sie wußte über Onkel Pubos Schwerhörigkeit Bescheid und seine eigensinnige Weigerung, ein Hörgerät zu benutzen. Sie nahm an Christians Niederlagen im Kampf mit der deutschen Rechtschreibung teil und äußerte sich kritisch zu meinen neuesten Reportagenthemen. Dafür berichtete sie uns ausführlich über die Eigenarten aller Boxerhündinnen, die sie je besessen hatte. Wir fragten schüchtern, ob wir Basko einmal besuchen dürften. Aber da stießen wir auf Granit. Nein, die Enttäuschung sei dann zu
14
groß. Falls der Hoden doch noch käme, wäre es besser, wir hätten Basko nie kennengelernt, denn er sei nun einmal der edelste, schönste und liebenswerteste Hund, den sie je aufgezogen habe. Unsere Familiengespräche kreisten praktisch nur noch um Basko und seinen nichtvorhandenen Hoden. Ich erinnere mich an eine etwas merkwürdige Situation im Cafe »Glockenspiel« hoch überm Münchner Marienplatz. Ich hatte mich mit meiner Mutter verabredet, um ihre neuesten Reisepläne mit ihr zu besprechen. Meine Mutter war damals schon über siebzig, sah aber aus wie eine jugendliche Sechzigjährige und unternahm mehrmals im Jahr abenteuerliche Omnibus- und Flugreisen zu den merkwürdigsten Punkten der Welt. Diesmal wollte sie nach Ladakh, irgendwo mitten im Himalaja. Nachdem sie mir ausführlich berichtet hatte, daß sich die Menschen dort nie waschen, alle ihre Kleider übereinander tragen und ranzigen Buttertee trinken, lenkte ich das Gespräch auf unseren künftigen Hund. Ein älterer Herr hatte inzwischen an unserem Tisch Platz genommen. Wir hatten ihm zerstreut zugenickt und weitergeplaudert. »Also, ich weiß nicht recht«, sagte meine Mutter. »Hast du dir das auch gut überlegt! Nur einen Hoden zu haben, das ist gewissermaßen doch ein Mangel, den man nicht zu leicht nehmen sollte. Davon kannst du mich nicht abbringen.« »Ach, Mama, du bist immer viel zu besorgt«, beschwichtigte ich. »Abgesehen davon, daß ich praktisch gar nicht mehr zurück kann. Die Familie würde mich glatt lynchen. Es ist alles abgemacht. Im übrigen ist sonst alles ganz normal bei ihm. Ich versichere dir’s. Der Arzt sagt, er könnte durchaus Kinder zeugen. Aber wir wollen ja sowieso keinen Nachwuchs.« »Wenn das nur gutgeht«, sagte meine Mutter und wiegte nachdenklich ihr Haupt mit dem schwungvoll aufgebogenen Filzhut. »Sicher wird es gutgehen«, sagte ich. »Er ist nämlich nicht nur ein besonders hübscher Kerl, er hat auch einen ausgezeichneten Charakter. Das ist doch wichtiger als ein Hoden mehr oder weniger, findest du nicht? « Wir machten eine Pause. Der alte Herr neben uns hatte inzwischen bezahlt, schlüpfte in seinen Mantel und beugte sich plötzlich
15
väterlich zu mir herab. »Nehmen Sie mir’s nicht übel, daß ich mich einmische«, sagte er. »Es geht mich ja nichts an. Aber ich würde mir so eine Verbindung sehr überlegen. Sie sind doch noch jung und hübsch! Und dann ein Mann mit nur einem Hoden! Also verzeihn Sie, aber da gebe ich Ihrer Frau Mutter durchaus recht. Das kann nicht gut ausgehen!« »Das kommt davon, weil du immer so laut redest«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll. Ich verschluckte mich vor Lachen fast an meinem Eisbecher. Jonathan lachte komischerweise überhaupt nicht, als ich ihm das Ganze erzählte. Er fand, in einem öffentlichen Cafe spreche man doch nicht über Hoden, auch nicht über die von Basko. Endlich, nach vier Wochen, sagte Frau M. am Telefon: »Ich glaube, er kommt nicht mehr. Sie können Basko kriegen. Holen Sie ihn bitte gleich, sonst kann ich mich nicht mehr von ihm trennen.« Als wir vor dem Gartenzaun standen, trottete uns eine alte Boxerhündin würdevoll über den Kiesweg entgegen. In dem mit antiken Möbeln überladenen Wohnzimmer der alten Dame sprang einentzückender kleiner Boxer mit unnatürlich langen Beinen, einem viel zu großen Kopf und viel zu weitem Fell vom Sessel auf die Couch, tapste quer über den Tisch und schaute uns treuherzig an. »Basko«, flüsterte ich gerührt und streichelte vorsichtig die krummen Falten auf seiner Stirn. »Er sieht aus wie ein Reh«, sagte Michi. »Wir brauchen einen größeren Korb«, stellte Christian fest. Jonathan legte Basko das grüne Lederhalsband um, und ich ließ mir erklären, womit und wie oft er gefüttert werden müßte. Der alten Dame standen die Tränen in den Augen, als sie den widerspenstigen kleinen Kerl, der seine vier staksigen Beine in den Boden stemmte, hinter sich her zu unserem Auto zog. »Seine Mutter ist jetzt ganz allein«, schniefte Michi. »Darf ich Sie noch etwas fragen?« wendete ich mich zum Abschied an die alte Dame. »Tropft er?« »Was meinen Sie?« erkundigte sich die alte Dame verständnislos. »Ich meine, ob Basko trielt. Sie wissen schon, das, was Boxer
16
häufig tun.« »O nein«, erwiderte die alte Dame erleichtert. »Diesen Speichelfluß hatten Boxer früher einmal. Ich erinnere mich gut. Ja, das konnte sehr unangenehm sein. Aber glücklicherweise hat man das längst weggezüchtet.« »Wunderbar«, sagte ich. Auf Jonathans Recherchen konnte man sich eben verlassen. Ich setzte mich neben Jonathan ins Auto und hielt den warmen kleinen Kerl auf dem Schoß. Er wendete unruhig seinen ausdrucksvollen Kopf hin und her und vergrub seine breite Nase schließlich in meinem Oberarm. Wir waren alle vier gerührt. Jonathan hatte – ich schwör’s – nasse Augen hinter seiner Brille. Er ist schrecklich sentimental, was er aber nie zugeben würde. Michi und Christian beugten sich einträchtig über meine Schultern und streichelten abwechselnd mit behutsamen Bewegungen Baskos Rücken. In unserem Garten setzten wir ihn vorsichtig auf den Rasen. Er wackelte zur Tanne, pinkelte und sah jetzt tatsächlich aus wie ein Reh von Walt Disney. »Was hast du denn da für einen Flecken auf der Bluse?« fragte Christian. Basko trottete auf mich zu, schnüffelte an meinen Beinen herum und hinterließ zwei schleimige Schaumspuren auf meinen neuen Jeans. »O mein Gott«, rief Jonathan entsetzt. »Ich glaube, er tropft!« Ich beugte mich zärtlich zu dem warmen, glänzenden Bündel Fell hinunter, das sich wohlig zu meinen Füßen zusammengerollt hatte, und sagte: »Natürlich tropft er. Alle richtigen Boxer tropfen.« Basko richtete sich auf, schaute uns aus seinen großen dunklen Augen aufmerksam an und schüttelte sich dann, daß seine Lefzen nur so flogen. Jonathan tätschelte ihn hinter den Ohren. Dann nahm er seine Brille ab, um sie von den Spuren des Sprühregens zu reinigen, den Basko um sich geschleudert hatte. Es war eine Geste, die wir von nun an häufig bei Jonathan beobachten konnten.
17
3 Rückblickend kann ich sagen, daß die Anwesenheit Baskos unser Dasein einschneidender veränderte als unser Umzug nach London fünf Jahre zuvor. Gewiß – damals mußten wir uns mit einer fremden Sprache, mit neuen Nachbarn und Freunden, mit einem höchst merkwürdigen Haus und allerlei skurrilen Lebensgewohnheiten auseinandersetzen. Aber selbst der abenteuerliche Umgang mit Samanta und Ray war eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Überraschungen, mit denen Basko unseren geordneten Lebensrhythmus durcheinanderbrachte. Genauer gesagt: meinen Lebensrhythmus. Denn Jonathans logischer und gerechter Vorschlag, daß wir uns alle vier gleichmäßig um Basko kümmern sollten, scheiterte an der einfachen Tatsache, daß ich als einziges Familienmitglied tagsüber zu Hause war. Jonathan enteilte frühmorgens in seine Redaktion, Michi und Christian strebten per Rad oder Omnibus der Schule entgegen, von der sie, weil es eine nach englischem Vorbild geleitete Tagesheimschule war, erst am späten Nachmittag heimkehrten, Basko und ich blieben zurück. Wobei es einen entscheidenden Unterschied zwischen uns beiden gab. Ich war berufstätig, Basko nicht. Ich sollte, nachdem ich die Unordnung, die drei männliche Wesen rätselhafterweise täglich aufs neue herstellten, beseitigt hatte, eigentlich in meinem kleinen Arbeitszimmer an der Schreibmaschine sitzen und Serienfolgen, Interviews oder heitere Plaudereien produzieren. Ich sollte Telefonate führen, Termine verabreden, mich gelegentlich bei meiner Hamburger Redaktion melden – kurzum, mich in etwa so verhalten, wie es einer festen freien Mitarbeiterin zukommt. Basko hingegen schien nur ein Lebensziel zu kennen: mich an diesem Verhalten zu hindern. Es gelang ihm häufiger, als mir lieb war. Unser gemeinsamer Tagesablauf, der uns langsam, aber sicher eine gewisse Berühmtheit in unserem Dorf Waidenried verschaffte, 18
sah ungefähr so aus: Jonathan und die Söhne sind endlich draußen, Ruhe breitet sich aus, Basko bekommt ein paar Futterkringel in seinen Napf, frißt gierig, hat eine Schaumwolke ums Maul, wird von mir mit Küchenkrepp abgeputzt. Ich gehe in den ersten Stock, um vier Betten zu machen. Basko tapst hinter mir auf den Balkon, sieht den fetten Kater Felix über den Rasen schleichen, winselt vor schaurigschönen Empfindungen, stellt die Nackenhaare auf, schäumt. Ich wische ihm das Maul mangels Küchenkrepp mit Klopapier ab. Er folgt mir in Michis Zimmer. Da liegt ein Stück zerknülltes Schokoladenpapier am Nachttisch. Basko setzt sich davor, jault leise vor sich hin, rollt die Augen schräg nach oben, tropft. Ich wische ihm siehe oben. Ich gehe in Christians Zimmer, das im Gegensatz zu Michis Reich einem Schlachtfeld gleicht, sammle Wäsche, Morgenmantel, Schulhefte, Saftflaschen, Pullis und Fußballschuhe ein. Basko versenkt seinen dicken Kopf in Christians Sporttasche, taucht mit tragischem Blick daraus hervor, schäumt. Ich grabe ein Stück altes Honigbrot aus der Tasche, renne nach Klopapier, komme nicht rechtzeitig zurück. Basko hat sich kräftig geschüttelt, ich wische statt seiner Schnauze Schrank, Türe und Wände ab. Er wackelt befriedigt hinter mir die Treppe hinunter, streckt sich ausgiebig, erst von vorn nach hinten, dann von hinten nach vorn, gähnt dabei, kratzt sich mit der Vorderpfote heftig am Halsband, daß die Haare nur so zu Boden rieseln, und setzt sich erwartungsvoll vor die Haustüre. Ich öffne sie, er geht hinaus, ich schließe sie von innen, er setzt sich erwartungsvoll vor die Haustüre, diesmal draußen. Ich öffne die Tür, er bleibt sitzen. Ich schließe sie. Er jault herzerweichend. Ich lasse ihn jaulen, staple Geschirr in die Maschine, gebe den Blumen frisches Wasser, setze mich an den Schreibtisch, telefoniere ein bißchen, versuche mich zu konzentrieren. Basko jault. Nicht besonders laut oder mißtönend, das kann man nicht sagen, eher zurückhaltend, gerade so eben, daß man es nicht aushält.
19
Ich lasse ihn herein, schaue in sein kummervolles zerknautschtes Gesicht, sage: »Nein, Basko, es ist zu früh, um spazierenzugehen. Außerdem hast du einen Garten. Warum, zum Teufel, springst du nicht wie jeder normale Hund im Garten herum. In jedem besseren Hundebuch steht, daß ein Boxer einen Garten braucht. Wieso steht nirgends, daß ein Garten für einen Boxer nur dann reizvoll ist, wenn man selbst bis zur Erschöpfung mit ihm darin herumtobt.« Basko schaut mich beleidigt an, klettert in seinen Korb in der Garderobennische, dreht sich mit der Schnauze zur Wand, läßt eines seiner Hinterbeine anklagend schlaff über den Korbrand hängen. Ich setze mich an die Schreibmaschine. Nach zehn Minuten kommt er auf dem Umweg übers Eßzimmer, dessen Tür stets nur angelehnt ist, damit er sie mit seinen Pfoten öffnen kann, in mein Arbeitszimmer, setzt sich neben mich, stubst mich auffordernd mit seiner Schnauze am Knie und schaut mit riesigen, feuchten Augen unter krummen Kummerfalten zu mir hoch. Ich gebe auf, seufze: »Also gut, Basko, gehen wir Gassi!« Bei dem letzten Wort schnellt er wie elektrisiert hoch, tänzelt glücklich zur Haustür, wartet ungeduldig, bis ich Einkaufskorb, leere Flaschen und Merkzettel zusammengerafft habe. Der erste Höhepunkt in Baskos Tagesablauf beginnt: unsere gemeinsame Einkaufs-FahrradTour durch Waidenried. Ich glaube, außer dem zottigen alten Mann, der stets auf der Bank vor dem Kriegerdenkmal saß und an einer Rotweinflasche nuckelte, dem Sparkassendirektor und dem Dorfpfarrer waren Basko und ich die bekanntesten Figuren in Waidenried. Da Basko nie gelernt hatte, eine Leine zu akzeptieren, trottete er meistens nach Lust und Laune vor oder hinter meinem Rad her, schnüffelte an jedem Gartenzaun, ließ sich von Schulkindern streicheln, sprang, wenn er von ferne die Müllmänner sah, freudig auf sie zu und verbiß sich begeistert in ihren großen Handschuhen. Wenn ich die Hauptstraße von Waidenried, eine prachtvolle Kastanienallee, überqueren wollte, rief ich »Basko halt!« Worauf er sich bewegungslos neben mein Fahrrad setzte. Erst wenn ich ihn durch die Aufforderung »Basko lauf!« erlöste, preschte er über die vielbefahrene Straße. Er war – so erstaunlich das klingt – ein absolut verkehrssicherer Hund.
20
Unsere übliche Runde begann beim Metzger, führte über das kleine Schreibwarengeschäft zum Lebensmittelladen gegenüber und endete meist bei der Städtischen Sparkasse. Basko bekam dort jedesmal ein Stück Hundekuchen, weshalb ich mir angewöhnte, mein Girokonto nicht einmal im Monat, sondern in vielen Etappen fünfzigmarkweise zu leeren. Bei der Kirche bogen wir meist rechts ab und kehrten über eine unbebaute Wiese nach Hause zurück. Die letzten drei Straßen rannte Basko meist im gestreckten Galopp voraus, um mich stolz am Gartentor zu erwarten. Manchmal erwartete er mich auch nicht. Dann klingelte kurz darauf, während ich meinen Einkaufskorb auspackte, das Telefon, und Frau Knopf von der Metzgerei oder Herr Saftig vom Kolonialwarengeschäft erklärten mir, daß Basko wie ein Denkmal vor ihrem Laden sitze und offenbar annehme, ich sei noch drin. In solchen Fällen radelte ich nochmals zu dem betreffenden Geschäft und ließ mich von einem vor Freude und Überraschung halb toll gewordenen, schwänzelnden, tänzelnden, sich windenden und in wilden Bocksprüngen um mich kreisenden Hund begrüßen. Natürlich begegneten wir auf unseren Einkaufsfahrten auch anderen Hunden, vorwiegend kleinen Dackeln oder Pudeln, die artig an der Leine gingen und deren Besitzer mir schon von weitem in äußerster Panik zuriefen: »Hängen Sie doch Ihren Hund an!« Worauf ich ebenso laut zurückrief: »Er tut nix!« und damit die Tatsache überging, daß ich Basko unmöglich hätte anhängen können, weil er jeden Versuch meinerseits, ihn mit dem Fahrrad einzuholen, als Aufforderung zu einem Wettlauf betrachtete, in dem ich hoffnungslos unterlegen war. Glücklicherweise traf mein beschwörender Ruf: »Er tut nix!« fast hundertprozentig zu. Zumindest, wenn es sich um Hunde handelte, die kleiner waren als er. Auf die lief er fröhlich zu, schnupperte ein wenig an ihnen herum und ließ sie dann abrupt stehen. Oder aber er trabte hocherhobenen Kopfes an ihnen vorbei, ohne überhaupt Notiz von ihnen zu nehmen, vor allem wenn ihn so ein kleines, verschrecktes Wollbündel auch noch in schrillen Tönen ankläffte. Nach einer Weile wußten die meisten Dorfbewohner um Baskos friedlichen Charakter und sagten,
21
um sich selbst und ihre kleinen Lieblinge zu beruhigen, kaum daß sie ihn sahen: »Das ist nur der Basko, der tut nix!« Ein einziges Mal im Leben blamierte mich Basko auf fürchterliche Weise. Wir standen vor dem Blumenladen, als ein alter Mann mit einem Pudel auf uns zukam. Basko schwänzelte liebenswürdig auf ihn zu, soweit man die Bewegungen des kurzen Stummels an seinem Hinterteil als schwänzeln bezeichnen konnte. Pudel und Mann verharrten schreckensstarr. Ich wollte gerade rufen: »Er tut nix!«, als der Pudel zu kläffen begann und dabei hysterisch an seiner Leine auf und ab hüpfte. Ich weiß nicht, womit er Basko beleidigte, aber es muß selbst für einen gutmütigen Boxer zuviel gewesen sein. Jedenfalls stürzte sich Basko mit gesträubten Haaren auf den wild auf jaulenden Pudel und schüttelte ihn kräftig durch. Der alte Mann schrie laut: »Hilfe, Hilfe«, Frau Meier kam, beide Hände auf die Brust gepreßt, aus dem Laden und stöhnte: »Mein Herz, mein Herz, ich krieg keine Luft mehr.« Herr Meier ließ den Rechen, mit dem er auf Basko losgehen wollte, fallen und fing statt dessen seine Frau auf, ich warf mich auf Basko, kriegte ihn nach mehreren Versuchen am Halsband zu fassen und riß den keuchenden, schäumenden, vor Angriffslust zitternden Hund zurück. Zwei rote Blutstropfen rollten aufs Pflaster. Sie stammten von Baskos aufgerissener Lefze. Dem Pudel fehlte nichts. Aus der Menschentraube, die sich um uns gebildet hatte, hagelte es Vorwürfe auf mich nieder: »So ein großer Hund gehört an die Leine!« – »Das ist eine gefährliche Bestie!« – »Mein Wacki ist erst letztes Jahr von einem Boxer zerbissen worden, daß er sich nie mehr richtig erholt hat.« Es half nichts, daß ich darauf hinwies, wie unversehrt der Pudel im Gegensatz zu Basko war. Die Meinung des Volks war gegen uns, und wir zogen beschämt von dannen. Ich kaufte drei Monate keine Blumen mehr bei Meiers. Wann immer wir dem alten Mann mit seinem Pudel begegneten, stellte Basko die Haare auf und schritt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei. Daheim begab ich mich wieder an die Schreibmaschine. Basko blieb vor der geöffneten Gartentür auf der Straße liegen und wartete
22
auf Onkel Pubo. Onkel Pubo, den wir alle sehr liebten, obgleich er so schwerhörig war, daß jede Unterhaltung mit ihm zu Stimmbandkrämpfen führte, fuhr jeden Tag auf einem uralten, rostigen Fahrrad aus der Vorkriegszeit die sechs Kilometer von seiner lauten, düsteren Altbauwohnung zu uns nach Waidenried, das zwar noch zu München gehörte, aber seinen Dorfcharakter bewahrt hatte. Steif und schwer schnaufend hievte er sich mit all seiner Körperfülle aus dem Sattel und ließ Baskos wilde Freudensprünge über sich ergehen. Dann setzte er sich im Sommer auf die Terrasse, im Winter an den Küchentisch, packte seine mitgebrachte Brotzeit aus, an der er Basko liebevoll teilnehmen ließ, ungeachtet der Schaumspuren und Speichelflüsse, die sich auf seinem alten Lodenmantel ausbreiteten und später offenbar darin versickerten. Nachdem er den letzten Bissen Leberkäs oder Rohrnudel mit Basko geteilt hatte, rief er mir zu: »Wir fahren!« und kletterte wieder auf sein Rad: Baskos zweite Tagestour begann. Vermutlich brauchte kein Boxer in ganz Deutschland so viel Auslauf wie Basko. Es kann aber auch sein, daß wir ihn, ohne es zu wollen, durch das viele Gassigehen zu einer Art Laufwunder hochdressiert hatten. Auf Onkel Pubos Ausflügen mit Basko in den Waldenrieder Forst muß es häufig zu dramatischen Zwischenfällen gekommen sein. Manchmal, wenn ich auf Onkel Pubos Spuren fuhr, hielten mich wildfremde Leute an und fragten, ob das nicht der Boxer sei, der gestern mit dem alten, tauben Herrn unterwegs gewesen sei. Und dann erhielt ich unerhört farbige Schilderungen von scheuenden Reitpferden, die ins Gebüsch brachen, von schimpfenden Förstern, panisch auseinanderstiebenden Wildschweinfamilien und empörten Damen, deren gepflegte Windspiele sich von der Leine losgerissen hatten, um mit Basko davonzupreschen und sich in den frischen Misthaufen auf dem nahen, umgepflügten Feld zu wälzen. Erkundigte ich mich am nächsten Tag bei Onkel Pubo, was er auf seiner Spazierfahrt mit Basko erlebt habe, antwortete er gemächlich: »Nichts Besonderes, nein, nicht daß ich wüßte. Freilich gibt es Leut’, die sich gern aufregen und an allem etwas auszusetzen haben. Aber die versteh’ ich ja Gott sei Dank sowieso nicht.«
23
Glücklicher Onkel Pubo. Wenn Onkel Pubo auf seinem Fahrrad um die Ecke verschwunden war, brach Basko regelrecht in seinem Korb zusammen und schnarchte, daß man es durch drei geschlossene Türen hörte. Dieser friedliche Zustand endete spätestens, wenn Michi und Christian hereinstürmten. Ihre Ankunft weckte in Basko neue Energien und die Erwartung eines dritten Spaziergangs. Leider hatten die Kinder häufig Fußballtraining, Gitarrenunterricht, Vokabeln zu lernen oder einfach keine Lust, so daß schließlich ich mich nochmals auf den Weg machte, egal, ob es regnete, stürmte oder schneite, ob ich endlich den Einstieg in einen Artikel gefunden hatte oder auf ein dringendes Ferngespräch wartete. Kam Jonathan abends nach Hause, klopfte er Basko kurz auf den Rücken, ließ sich in seinem Sessel nieder und seufzte: »Das war heute wieder ein chaotischer Tag in der Redaktion. Ich wollte, ich könnte in aller Ruhe zu Hause arbeiten wie du.« Manchmal schaute er auch besorgt auf Basko, der friedlich schniefend zu seinen Füßen lag, und sagte: »Er ist so merkwürdig ruhig heute. Hoffentlich ist er nicht krank.« 4 Bevor wir Basko kauften, hatte ich Jonathan, Michi und Christian eine Ansprache folgenden Wortlauts gehalten: »Nachdem ihr drei dickköpfigen Mannsbilder unbedingt einen Hund haben müßt…« Zwischenruf von Christian: »Also, Moß, gib zu, daß du dich auch auf den Hund freust!« Zwischenruf von Jonathan: »Ruhe, laßt eure Mutter ausreden!« Zwischenruf von Michi: »In dieser Familie kommt nie jemand dazu auszureden, ich schon gar nicht.« Erwiderung von Jonathan: »Das kommt davon, weil du so langsam und umständlich bist, daß man es einfach nicht aushält, dir bis zum Ende zuzuhören.« Einwurf von mir: »Hack nicht schon wieder auf Michi rum, dafür ist er gründlich und ordentlich und bringt, was er sich vorgenommen hat, auch zu Ende.« Jonathan: »Das hat er von mir!« Christian: »Dafür habe ich dem Moß seinen Charme geerbt!« Ich, geschmeichelt: »Wie kommst du denn da drauf?« Christian: 24
»Das hat neulich mein Deutschlehrer gesagt. Der war ganz weg von dir nach dem Elternsprechtag.« Jonathan: »Hört, hört!« Ich: »Den muß ich ja auch mit allen Mitteln bezaubern, wenn du immer noch Karpfen mit C und Blume mit h schreibst, und das mit bald dreizehn Jahren.« Christian in tragischem Ton: »Ich bin ein armes Kind, das in den entscheidenden Jahren nach England vertrieben wurde.« Michi eifrig: »Mich haben sie auch vertrieben. Trotzdem kann ich richtig schreiben.« Christian mit gutmütiger Ironie: »Du bist ja auch unser Genie! Ich bin nur der allzeit fröhliche Knabe fürs Herz, die Freude alter Damen und Großmütter.« »Ruhe!« brüllte ich. »Ruhe! Diese Familie macht mich rasend. Jonathan, warum liest du schon wieder Zeitung, wenn ich etwas Grundsätzliches sagen will. Wieso kannst du bei diesem Krach überhaupt Zeitung lesen?« Michi: »Der Papa kann immer Zeitung lesen, egal, ob er fernsieht oder Radio hört, oder beides gleichzeitig.« Jonathan: »Das hast du nun von deiner Erziehung. Sie haben keinen Respekt vor ihrem Vater.« »Ja, ich weiß«, sagte ich. »Wir drei bilden eine verschworene Gemeinschaft gegen dich, und du bist ein vereinsamtes, viel zu wenig anerkanntes Familienoberhaupt, das bei jeder Gelegenheit von Weib und Kind überstimmt wird.« »Richtig«, sagte Jonathan. »Genauso ist es. Dabei wäre diese Familie längst wie morsches Gebälk auseinandergebrochen, wenn ich nicht das Geld zusammenhielte und auf Ordnung und gute Sitten achten würde.« »Dafür bekommst du jetzt ja auch endlich einen Hund«, erwiderte ich fröhlich. »Ach so, jetzt fällt mir wieder ein, was ich eigentlich die ganze Zeit sagen wollte: Ich finde, nachdem wir uns nun einmal zu diesem Hund entschlossen haben, sollten wir uns darüber klar sein, daß er ein Tier ist, und ihn auch so behandeln. Es gibt nichts Gräßlicheres als Hunde, mit denen man umgeht, als ob sie Menschen wären, die überall mit hingeschleppt und unsinnig verwöhnt werden. Am schlimmsten finde ich es, wenn man mit einem Hund in der Babysprache spricht. Das hat etwas Entwürdigendes. Jedenfalls möchte ich, daß wir das von Anfang an vermeiden.« »Das hast du sehr gut gesagt«, brummte Jonathan. »Ich hasse
25
dieses dumme Betti-, Pfoti, Gassi-Ge-plappere auch. Man muß einen Hund als Persönlichkeit achten und ihn vor allem ordentlich erziehen.« Schon bald nachdem wir Basko zu uns geholt hatten, war klar, daß ich meine Ansprache wie so viele andere auch vergebens gehalten hatte. Basko wurde vom ersten Tag an zärtlich Bassi genannt, sein muffelnder Korb war das Betti, die blutigen rohen Fleischbrocken, die ich jeden Tag schaudernd kleinschnitt, sein Fressi. Der Garten hallte wider von »Fang’s Stocki! Wo ist das Ringlein? Such’s Katzi!« und ähnlich kindischen Ausrufen. Und selbstverständlich ging Bassi nicht spazieren, sondern Gassi. Der einzige Mensch, der in einem normalen, vernünftigen Ton mit Basko sprach, war meine Mutter. Sie, die uns bis zuletzt von einem Hund abgeraten und hoch und heilig geschworen hatte, daß sie sich nach Jahren des Babysittens keinesfalls als Hundesitterin mißbrauchen lassen würde, sie pflegte lange, ernsthafte Zwiegespräche mit Basko zu halten. Er saß zu ihren Füßen, legte den Kopf schief und hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm ihre Ansichten über Politik, Wetter und Menschen mitteilte. Meine Mutter war viel alleine und sprach gelegentlich auch zu Hause mit sich selbst. »Ich möchte wissen, was in Baskos dickem Kopf vorgeht«, sagte sie manchmal. »Er bemüht sich so verzweifelt zu begreifen, was man zu ihm sagt. Ich glaube, in ihm lebt eine unerlöste Seele weiter.« Meine Mutter war fest davon überzeugt, daß sie nach ihrem Tod in irgendeiner Gestalt wiedergeboren würde. Zu mir sagte sie gelegentlich: »Sei ganz beruhigt, mein Kind. Auch wenn ich einmal gestorben bin, werde ich in Kontakt mit dir bleiben. Ich werde einen Weg finden, mich bei dir zu melden. Darauf kannst du dich verlassen.« Ich fand die Idee, daß sich meine geliebte Mutter eines Tages durch ein herabfallendes Bild oder ein nächtliches Klopfen bei mir melden würde, eher ungemütlich. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Basko jedenfalls liebte meine Mutter über alle Maßen. Wenn sie vergaß, sich von ihm zu verabschieden, verharrte er eine Weile unschlüssig am Gartentor und kroch dann tödlich beleidigt in seinen
26
Korb. Meist fiel ihr das Versäumnis ein. Dann kehrte sie, auch wenn sie schon fast die Straßenbahnhaltestelle erreicht hatte, um, und legte den ganzen Weg nochmals zurück, um Basko Adieu zu sagen. Das ging ohne viel Getätschel und Getue ab. Sie sagte einfach: »Leb wohl, Basko! Ich komme bald wieder, sei ein guter Hund«, und klopfte ihm den Hals. Basko stand hochaufgestreckt auf den Hinterbeinen, stützte sich mit den Vorderpfoten auf den Gartenzaun und schaute ihr nach, bis sie mit ihren energischen Schritten um die Ecke gebogen war. Dann wackelte er ein wenig mit seinem Stummelschwanz und ging hochbefriedigt zurück ins Haus. Natürlich mußte meine Mutter, wenn ich verreiste, doch als Hundesitterin einspringen, genau wie Onkel Pubo und Frau Weiß, meine langjährige Zugehfrau. Früher kümmerte ich mich, bevor ich zu einer Reportage aufbrach, vor allem um meine Unterlagen, mein Hotel und um mein Tonbandgerät, das über Nacht aufgeladen werden mußte, ferner um ein Taxi, das mich pünktlich zum Flughafen bringen sollte, und darum, ob ich auch mit Block und Bleistift, Namen, Adressen und Telefonnummern versehen war. Seit Basko zur Familie gehörte, kreisten meine Gedanken ausschließlich darum, wer ihn wann, wohin und wie lange spazierenführen würde, ob er auch regelmäßig seine Vitamine, seine Wurmtabletten und seine Streicheleinheiten bekommen würde. Ich arbeitete zu diesem Zweck ausgeklügelte Pläne aus. Sie wurden von mir über dem blauen Bauernschrank am Gang an die Wand geheftet und von allen Beteiligten pünktlich erfüllt. Nur wenn wir in Urlaub fuhren, zog Basko mit Korb, Leine und Lieblingsschüssel zu Onkel Pubo. »Nicht wahr, Onkel Pubo, du gibst Basko nicht zu viel zu fressen«, brüllte ich ihm ins Ohr. »Ich versteh dich so schlecht. Kannst du nicht lauter reden«, antwortete Onkel Pubo geduldig. »Du sollst den Basko nicht überfüttern«, schrie ich. »Ich weiß schon, Hunde muß man gut füttern«, sagte er. »Aber da kannst du ganz ruhig sein. Er kriegt schon genug. Gell, Bassi, du hast genauso viel Appetit wie ich auch.«
27
Dann bereitete er ihm ein Luxusbett auf dem Sofa, schob sich eine Kaffeetasse zurecht, tunkte ein riesiges Stück Rosinenkuchen ein und steckte abwechselnd Basko und sich selbst ein Stück in den Mund. »Das ist nur, damit er nicht merkt, wie du weggehst«, erklärte er. Und dann sagte er zu Basko: »Morgen mache ich uns einen schönen Kaiserschmarrn. Der lohnt sich nämlich für mich allein gar nicht.« Wenn wir Basko nach drei Wochen bei Onkel Pubo abholten, sah er regelmäßig aus wie eine überdimensionale pralle Leberwurst, an deren Ende ein merkwürdig kleiner Kopf saß. »Mein Gott, er sieht ja abscheulich aus«, rief Jonathan entsetzt. »Pscht, das versteht er doch«, sagte Michi. »Ein Hund versteht nicht, was man sagt«, erklärte ich. »Ich glaub, der Basko schon«, beharrte Michi. »Den Ton, den versteht er in jedem Fall.« Vielleicht hatte Michi recht. Deshalb gewöhnte ich mir an, immer, wenn ich mich über Basko ärgerte, ihn im zärtlichsten, liebevollsten Tonfall zu beschimpfen. »Du widerlicher, gräßlicher Köter«, sagte ich etwa. »Wenn ich gewußt hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich nie zugestimmt, daß wir dich kaufen. Wie komme ich eigentlich dazu, meinen Tagesablauf nach einem Hund auszurichten. Ich hab dich satt, Basko. Ich fahre jetzt in die Stadt, und zwar ohne dich. Warum können andere Hunde stundenlang, friedlich alleine bleiben und du nicht???« Basko stand vor mir, wackelte angeregt mit seinem Schwanzstummel und knuffte mich begeistert ins Knie. »Ich weiß, was du willst«, sagte ich wütend, aber in sanftester Stimmlage. »Gassi gehen willst du, du scheußliches Hundsvieh. Aber ich denk nicht dran, Gassi zu gehen. Mir hängt es zum Hals heraus, dieses ewige Gassi, Gassi, Gassi!« Ich hatte mich richtig in Rage geredet und fühlte mich erheblich besser. Basko allerdings hatte offenbar nur meine allerletzten Worte verstanden und geriet völlig außer sich vor Freude. Ich seufzte, zog meine ältesten Gummistiefel an und griff nach der Leine. »Also gut, gehen wir Gassi«, sagte ich. »In die Stadt fahren kann ich auch nächste Woche.«
28
5 Am glücklichsten war Basko, wenn alle Familienmitglieder sich in einem Raum des Hauses aufhielten, möglichst eng zusammengedrängt und möglichst im Wohnzimmer. Diese Situation entstand meist abends nach dem Essen. Michi und Christian lagerten jeder in einer Ecke des Sofas, hatten eine Tafel Schokolade zwischen sich liegen, schauten gebannt auf den Fernsehschirm. Im Halbprofil sahen sie einander sehr ähnlich mit ihren gebräunten, von schulterlangen dunklen Haaren umrahmten Gesichtern, den weit auseinanderliegenden Augen, den ausgeprägten Wangenknochen und den ausdrucksvollen Lippen. Sie hatten beide einen leicht südländischen Einschlag, der vermutlich von einer hugenottischen Großmutter über mich an sie übergegangen war. Im Unterschied zu Christian waren Michis Haare lockig, seine langen Wimpern besonders dicht und gebogen und seine Lippen ständig wie im Trotz ein wenig aufgeworfen. Er wurde zu seinem großen Ärger häufig für ein Mädchen gehalten. Jonathan, total erschöpft von seiner Rolle als ebenso liebenswerter wie unberechenbarer Chef, lag mehr, als er saß, in seinem Sessel, die Brille auf die Nase gerutscht, Stöße nachzulesender Zeitungen und Magazine um sich gestapelt. Ich saß neben ihm, zwischen uns stand eine Flasche herber Weißwein, vor uns ein abgewetztes marokkanisches Sitzkissen, allgemein Puff genannt, auf das wir unsere Füße stützten. Basko lag um die andere Seite des Puffs herum, und zwar so, daß er eine möglichst lange Strecke seines Rückens an das Leder schmiegen konnte, also mehr auswärts als einwärts gekringelt. Ab und zu dehnte er sich genüßlich, worauf entweder Michi oder ich, je nachdem, in welcher Richtung Baskos Hinterteil zeigte, strafend sagten: »Basko pfui«. – »Wieso pfui?« rief der Nächstsitzende, um nach einer Minute zu stöhnen: »O Basko, wirklich pfui!!« Basko blinzelte uns fragend an, grunzte ein bißchen, veränderte seine Lage um Millimeter und döste weiter. Der schwefelähnliche, durchdringende Gestank, den er unhörbar entließ, hatte die Eigenschaft, sich fächerförmig auszubreiten, so daß er den am entferntesten Sitzenden immer erst einige Minuten nach dem 29
Hauptbetroffenen erreichte. »Mein Gott, was für ein unappetitlicher Hund«, seufzte ich dann. »Meine Freundin Isabel hatte doch recht, als sie sagte: >Zu einem Boxer fällt mir nichts weiter ein, als daß er unterm Tisch liegt und pupst.<« »Isabel hat kein Verhältnis zu Tieren«, sagte Jonathan streng. »Im übrigen hat sie auch keines zu Männern, sonst würden sie ihr nicht andauernd weglaufen«. »Jedenfalls hat sie ein sehr abwechslungsreiches Leben«, erwiderte ich. »Außerdem, wer weiß, wie viele Frauen dir weggelaufen wären, wenn ich nicht aufgrund unerklärlicher Charakterstärke an deiner Seite ausharren würde, obgleich zumindest die Anschaffung dieses Hundes von jedem Richter als Scheidungsgrund anerkannt würde.« »Moß, du willst dich doch nicht schon wieder scheiden lassen«, rief Christian gelangweilt. »Das kannst du nicht machen. Wer soll denn dann mit Basko Spazierengehen, ihn kämmen, ihm das Futter schneiden und seine stinkende Decke ausschütteln!« »Nein, das kannst du Basko nicht antun«, stimmte Michi ein. »Der Basko könnte ohne dich einfach nicht weiterleben.« »Reizend«, sagte ich. »Meine Bedeutung für die Familie wird offenbar ausschließlich an diesem Hund gemessen.« Michi schaute mich ganz erschrocken an, aber noch ehe er protestieren konnte, sagte Christian trocken: »Bitte, Michi, stimme jetzt keine Lobeshymne auf Moß an. Der Bankeinbruch ist so spannend. Wir loben den Moß hinterher, wenn die Sendung aus ist, einverstanden?« »Okay«, sagte Michi, griff nach der Schokolade, benutzte zwei Sofakissen als Schallschutz und versuchte, sich dahinter lautlos ein Stück abzubrechen. Seine Bemühungen waren vergebens. Basko vernahm das Knistern des Silberpapiers durch einen Schwall von Filmmusik und zwei Schichten Daunen hindurch, setzte sich auf, schaute melancholisch zu Michi hinüber und legte sich resignierend wieder hin. »Er tropft«, sagte Jonathan. »Ich weiß«, sagte ich. »Vielleicht solltest du ihn abputzen?«
30
»Ach weißt du, ich bin bei so etwas so ungeschickt, du machst das viel besser«, sagte Jonathan. »Ich erwische ihn immer erst, wenn er alles durch die Luft geschüttelt hat.« Ich stand auf und griff nach der Papierrolle. Sehr viel weniger glücklich war Basko, wenn ich in der Küche werkelte, Michi in seinem kleinen ordentlichen Zimmer im ersten Stock Gitarre übte, Christian nebenan zwischen seinen wild durcheinandergestreuten Habseligkeiten am Boden lümmelte und las, und Jonathan auf seiner Hälfte unseres gemeinsamen Schreibtischs in Rechnungen wühlte und Schecks ausschrieb. Basko trottete dann unruhig von der Küche in den ersten Stock, von dort wieder hinunter ins Arbeitszimmer und durchs Eßzimmer zurück in die Küche. Schließlich breitete er sich sternförmig auf dem Strohteppich in der Diele aus, den Kopf zur Treppe gerichtet, seine restlichen Gliedmaßen jeweils auf eine Zimmertür zeigend, kurzum, ein tragisches Abbild innerer Zerrissenheit. Wirklich unglücklich war Basko immer dann, wenn wir Besuch bekamen. Er hatte sich nämlich im Lauf der Jahre eine höchst eigenwillige Variante von Wachsamkeit angewöhnt. Alle Menschen, die einfach ins Haus kamen, umwedelte er mit entwaffnender Liebenswürdigkeit, egal, ob es sich um Müllmänner, Postboten, Kaminkehrer oder auch wildfremde Zeitschriften- oder Staubsaugervertreter handelte. Christian verdankte dieser ungewöhnlichen Vertrauensseligkeit Baskos eine zählebige Verbindung mit einem freundlichen älteren Herrn, der eines Tages plötzlich im Wohnzimmer stand, seinen Hut ab nahm und sagte: »Ich möchte dir etwas überbringen.« – »Prima«, sagte Christian. »Was denn?« und hoffte auf einen Gesundheitskuchen seiner Großmutter, die in einer oberbayerischen Kleinstadt lebte und durch nichts davon zu überzeugen war, daß ich meine Familie ausreichend ernährte, auch wenn ich nicht Batzen von schierem Butterschmalz in jedes Gericht warf. Leider wollte der freundliche Herr Christian aber nur das Heil bringen. Er war ein Zeuge Jehovas und hinterließ Christian einen Stapel Bücher, die er nach zwei Wochen wieder abholte und durch andere ersetzte, die ebensowenig gelesen wurden. Während es Christian ab und zu im
31
letzten Augenblick gelang, durch eine Flanke über den hinteren Gartenzaun zu entkommen, konnte sich Basko vor Freude kaum fassen, wenn der ungebetene Gast wieder einmal lautlos und freundlich lächelnd im Türrahmen stand. Klingelte dagegen ein lieber Freund von uns und wartete höflich auf Einlaß, schoß Basko laut bellend ans Gartentor, stützte sich mit riesigen Vorderpfoten auf die Querlatte und röchelte ihn durch gräßlich gefletschte, gelbe Zähne an. Leider hatten wir verpaßt, Basko beizubringen, daß er aufhören mußte zu bellen, sobald der Ankömmling unseren privaten Bezirk betreten hatte. Da half kein donnerndes »Ruhe!« von Jonathan, kein flehendes »Sitz!« und »Platz!« von mir, es half nur eines: Der völlig verschreckte Gast mußte todesmutig auf Basko zugehen und ihn streicheln. Sofort verwandelte er sich aus einer furchterregenden Bestie in einen zutraulichen, verspielten Hund. Natürlich gab es kaum jemanden, der sich dazu überreden ließ, einen wie rasend bellenden Boxer zu streicheln. Die meisten fürchteten sich zu sehr (zu Unrecht), den anderen grauste vor seiner schleimigen Schnauze (zu Recht). So kam es, daß wir Basko, wenn größere abendliche Einladungen bevorstanden, zu Onkel Pubo ausquartierten. Im übrigen forderten wir alle Menschen, die wir trafen und bei denen auch nur die entfernteste Chance bestand, daß sie uns eines Tages besuchen könnten, dringend auf, wann immer sie der Weg zu uns führe, einfach Garten und Haus zu betreten. Der Schlüssel stecke außen.
6 Daß meine Freundin Isabel nichts für Basko übrig hatte, war eine traurige, aber unabänderliche Tatsache. Wenn sie uns besuchte, raffte sie ihren todschicken Rock von Dior, ihr Cape oder was immer sie sonst an Teurem und Geschmackvollem trug, um sich und sagte: »Hund, geh weg, ich mag dich nicht.« Worauf ich versuchte, meine Verletztheit zu verbergen, und sagte: 32
»Wenn du ihn nur ein einziges Mal streicheln würdest, wäre er ganz lieb und zutraulich und würde sich an deine Füße kuscheln.« »Ich will ihn aber nicht streicheln«, antwortete sie ungerührt. »Und er soll sich bloß unterstehen, sich auf meinen neuen Wildlederstiefeln niederzulassen. Das ginge mir gerade noch ab. Die haben ein Vermögen gekostet.« »Komm, Bassi, setz dich zu mir. Dieses Weib hat kein Herz«, rief ich dramatisch. »Sie sieht nicht, daß du ein besonders edles, wohlgebautes Exemplar von Boxer bist.« Basko merkte, daß man von ihm sprach, gähnte verschämt und legte seine Stirn in sorgenvolle Falten. »Ich sehe nur, daß er tropft und stinkt«, beharrte Isabel. Dann mußten wir beide lachen und fielen uns in die Arme. Wir mochten uns sehr. Leider kam Isabel ziemlich selten. Sie lebte, seit sie wegen ihres ersten Mannes in den kühlen Norden Deutschlands gezogen war, alle paar Jahre in einer anderen Stadt, je nachdem, wo ihr augenblicklicher Lebensgefährte gerade studierte, seinen Doktor baute, eine Ausstellung machte oder sonst einer intellektuellen Tätigkeit nachging. Natürlich gab es noch andere Menschen, die Baskos tapsiger Charme, sein drolliges Mienenspiel und sein gutmütiger Charakter kaltließen. Einer davon war Jonathans langjähriger Tankwart. Eines Abends kam Jonathan mit noch energischerem Türenschlagen nach Hause als sonst, schmetterte einen Stoß Zeitschriften auf den Tisch, so daß Basko erschreckt darunter hervorpreschte, und knurrte: »Dieser Mensch mit seinem kleinlichen Charakter wird nie wieder eine einzige Mark an mir verdienen. Zehn Jahre lang hab’ ich bei ihm getankt und ihm Fantasiepreise für schlampig ausgeführte Reparaturen bezahlt, und jetzt wagt er es, mich zu beleidigen?« »Wie kommt er dazu, dich zu beleidigen?« erkundigte ich mich teilnehmend. »Eigentlich hat er nicht mich beleidigt, sondern Basko«, sagte Jonathan, warf sich in den Sessel und versuchte ungeduldig seine Krawatte zu lockern.
33
»Ich hatte doch mein Auto zur Inspektion dort. Als ich es heute abhole, ist ein riesiger Ölfleck auf dem Fahrersitz. Ich mache den Mann höflich darauf aufmerksam. Da läuft der doch rot an und schreit: So wie Ihr Wagen innen ausschaut, kommt es auf einen Fleck mehr oder weniger nicht an. Das ist ja die reinste Hundehütte. Mein Mechaniker weigert sich schon, in diesem Auto zu arbeiten, so muffelt es. Das ganze Armaturenbrett voller Spucke und der Beifahrersitz übersät mit diesen widerlichen Hundehaaren.« »Oje, das tut mir leid«, sagte ich schuldbewußt. »Na ja, jetzt ist es schon egal«, erwiderte Jonathan, »aber er hat mir natürlich nicht geglaubt, daß Basko grundsätzlich nie auf den Sitz darf, und die Haare von deiner Fuchsjacke stammen. Das ist ja auch sehr seltsam. Warum haart die eigentlich noch schlimmer als der Hund?« Jonathan schaute mich angriffslustig an. Er ließ sich gern von einem Ärger auf den anderen ablenken, wenn er in Fahrt war. »Ich weiß es nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich weiß nur, daß mir die Jacke sehr gut steht, daß sie sehr teuer war und allgemein bewundert wird. Nur die Fotografen, mit denen ich auf Reportage fahre, fürchten sie«, gab ich dann zu. »Dieser Kollege, der mich neulich mit seinem alten, klapprigen VW abholte, verlangte doch tatsächlich, daß ich ihm die Wagenpolster nach unserer Rückkehr absauge. Seine Freundin habe eine Allergie gegen jede Art von Haaren, und in seiner Wohngemeinschaft gebe es keinen Staubsauger.« »Und? Hast du es getan?« fragte Jonathan. »Klar«, antwortete ich. »Typisch, unser Auto machst du nie sauber«, Jonathans Stimme klang vorwurfsvoll. »Aber, Jonathan«, rief ich, »bei unserem Auto lohnt sich das auch gar nicht. Das sieht innen sowieso immer aus wie eine Hundehütte.« Glücklicherweise gab es auch Menschen, die Basko fast so fest ins Herz geschlossen hatten wie wir. Meine Freundin Christine gehörte dazu. Sie nannte ihn gern »Basko da Gama« und hatte nichts dagegen, wenn er in ihrem weitläufigen, dämmrigen Antiquitätenladen und der anschließenden Werkstatt herumschnüffelte und genießerisch den Duft von altem Holz, Leim
34
und Politur einsog. Die bemalten Bauernschränke, Brotkästen, Truhen und Sessel schienen für seine Hundenase unendlich viele Geruchsvariationen aufzuweisen, je nachdem, ob sie in vergangenen Jahrhunderten in einer Scheune, einer Wirtsstube, einer Küche oder einem Stall gestanden hatten. Christine hatte ihren Antiquitätenladen mit dem kleinen Grundstock englischer Möbel gegründet, die sie bei ihrem Besuch in London in der Portobello Road gekauft und zu Jonathans Entsetzen bei uns untergestellt hatte. Der Laden lag in einem Schwabinger Hinterhof, den sie mit wildem Wein und Ahorn begrünt hatte, und war eine Fundgrube für Kenner. Mir erschien Christines Laden immer wie eine Oase der Ruhe und Gelassenheit, wenn ich abgehetzt von einem Interview (ohne Basko) oder einer Besorgung (mit Basko) auf die altmodische Sprossentür zustrebte, die beim Öffnen einen melodischen Glockenton von sich gab. Meist saß Christine hinter ihrem papierübersäten BiedermeierSekretär, ein Glas Wein neben sich, eine selbstgedrehte Zigarette in der Hand, und verkündete mit einem matten Aufschlag ihrer schönen dunkelblauen Augen: »Ich fühle mich entsetzlich schlapp. Es muß Föhn sein. Dabei hätte ich so wahnsinnig viel zu tun: Beschläge ordnen, Gläser abstauben, das Lager aufräumen, das Fenster neu dekorieren. Und die Buchführung für diesen Monat ist auch schon wieder fällig. Aber, ich glaube, heute ist einfach nicht der richtige Tag dafür.« Dann schenkte sie mir ein Glas Wein ein und drehte sich eine neue Zigarette. Ich sank in irgendeinen durchgesessenen Ohrenbackensessel, spürte, wie die Hektik des Tages langsam von mir abglitt, ließ die Augen gemächlich über die Regale mit Glas und Keramik schweifen und rief ohne Überzeugung: »Basko, komm, sitz!« Während er längst seine Spuren auf dem strapazierfähigen, dunkelgrünen Filzboden zog. Es blieb mir stets schleierhaft, wie es Christine mit ihrer gründlichen, bedachtsamen Lebensart gelang, einen so riesigen, immer ein wenig chaotischen Laden zu führen. Aber sie schaffte es. Sie hatte gelernt, mit Zigeunern zu verhandeln, die gelegentlich in
35
den Hof fuhren und ihr alte Stücke anboten, sie teilte die Arbeit für einen Kunststudenten und einen Schreiner ein, die in der Werkstatt hantierten. Sie stand schon morgens um fünf Uhr auf Flohmärkten, um einzukaufen, beizte, mit Gummihandschuhen und Schürze angetan, uralte, verrottete Bretter ab, auf denen plötzlich zarte Originalmalereien auftauchten, und sie verstand es, mit Charme und Fachkenntnis immer neue Stammkunden zu gewinnen. Dabei ließ sie sich durch nichts und niemanden aus der ihr angeborenen Ruhe bringen. Ich fand Christines Welt faszinierend, war aber doch froh, daß ich zur Ausübung meines Berufs nur so wenige übersichtliche Dinge wie Papier und Bleistift, eine Schreibmaschine und ein winziges Tonbandgerät brauchte. Wenn Basko seine Rundtour durch den Laden beendet hatte, nahm Christine manchmal einen Biedermeierrahmen aus Messing von der Wand, hängte ihn Basko um den Hals und sagte: »Braver Basko da Gama, schöner Hund.« Basko, der dieses Zeremoniell bereits kannte, steckte seinen dicken Kopf durch das goldglänzende Oval, tänzelte ein paarmal stolz auf und ab und ließ sich dann wie eine Statue, durchdrungen von seiner Wichtigkeit, vor Christines Sekretär nieder. Manchmal fragten Kunden, entzückt von Baskos Anblick, ob sie solch einen Rahmen kaufen könnten, worauf Christine traurig den Kopf schüttelte. Das hatte folgenden Grund: Als Christine ihren Laden nach den ersten, schwierigen Jahren endlich in sicheres Fahrwasser gesteuert hatte, trat eines kalten Wintertages Benito durch den verschneiten Hinterhof mitten in Christines Leben. Er war ein paar Jahre jünger als sie, ein bildhübscher, schlanker Sizilianer, den seine Sippe nach Deutschland geschickt hatte, damit er dort sein Glück mache. Die beiden, die in jeder Faser ihres Wesens so verschieden waren wie Tag und Nacht, verliebten sich ineinander. Benito bezog das kleine Zimmer hinter der Werkstatt und gab sich von da an alle erdenkliche Mühe, sich im Laden nützlich zu machen. Leider gelang ihm das nicht immer. So verkaufte er einen seltenen, kostbaren Barockschrank mit mehreren tausend Mark Rabatt, hinweggetragen von der Begeisterung darüber, daß er überhaupt
36
etwas verkaufte. Wenn ein Tisch geliefert werden sollte, erinnerte er sich daran, daß sein Auto mit eingedelltem Kotflügel irgendwo an der Isar unter einer Laterne stand. War ein wichtiger Kunde angemeldet, glaubte er sich in ein sizilianisches Straßencafe versetzt, weil Benito, krank vor Heimweh, alle Landsleute, die er zwischen Siegestor und Münchner Freiheit finden konnte, zu einem Umtrunk in den Laden gebeten hatte. Auf der anderen Seite brachte es Benito fertig, ohne Ankündigung für drei Tage mit seinem vor Altersschwäche ächzenden Kombiwagen zu verschwinden, um dann eines Nachts mit einer Ladung wunderhübscher Jugendstillampen und seltenen Gläsern vor der Tür zu stehen, die er günstig auf einem Pariser Flohmarkt erstanden hatte. Oder er brauste plötzlich mit einem geliehenen Lastwagen und Christines allerletztem Bargeld nach Wien und kehrte von dort mit einem Prunkstück von Sekretär zurück, den ihm ein Händler zu einem sagenhaft niedrigen Preis überlassen hatte. In Christines Laden zog das Möbel die verwöhntesten Kunden an. Sie brauchte sich nur noch für den zahlungskräftigsten davon zu entscheiden. Mit anderen Worten: Benitos Anwesenheit wirkte sich auf Christines finanzielle wie auch seelische Situation häufig katastrophal, häufig aber auch enorm belebend aus. Man konnte diese Wirkung leider nur niemals voraussagen. Und das war es, was Christine störte. Endlich schien die Idee geboren, die Benitos Aktivität von ihrem Antiquitätenladen ablenken und sie beide von allen finanziellen Sorgen befreien sollte. Benito hatte sich eine Methode ausgedacht, wie man mit Hilfe eines gutwilligen Werkzeugmachers alte Biedermeierrahmen täuschend echt kopieren konnte. Die reizvollen OriginalMessingrahmen tauchten schon seit Jahren immer seltener im Antiquitätenhandel auf, und beide hofften, eine edle Imitation, die man als solche anbiete, müßte ein Riesengeschäft sein. Natürlich brauchte Benito wieder einmal Kapital. Christine bürgte für ihn, Freunde, die leicht zu begeistern waren (wie ich), sprangen ein, andere, die logisch denken konnten (wie Jonathan), nicht. Es dauerte ein langes, aufregendes Jahr, bis die Rahmen endlich, immer
37
wieder verbessert, veredelt, und schließlich vollendet ihrem Vorbild gleichend, hergestellt waren. Es gab sie in drei Größen, aus Messing, vergoldet, mattiert, mit Passepartouts in allen Farben, mit Häkchen zum Längs- und Queraufhängen, in praktischen Plastikhüllen verpackt. Es blieb wirklich nichts anderes mehr an diesen Rahmen zu tun, außer daß man sie verkaufen mußte. Und zwar in möglichst großer Stückzahl. Gerade das erwies sich aber als außerordentlich schwierig. Nicht weil sie nicht gefallen hätten, nein. Jeder Antiquitätenhändler, jeder Inhaber eines Rahmen-, Foto- oder Einrichtungsgeschäfts war hell begeistert von der originellen Idee, der sorgfältigen Ausführung und der ästhetischen Schönheit der Rahmen. Aber die meisten Kunden waren jetzt sparsam geworden und hängten sich lieber ein paar gewöhnliche Plastik- oder bemalte Holzrahmen in die Wohnung. Die wirkten zwar nicht so edel, kosteten dafür aber auch nur die Hälfte. Ich tat, was ich konnte, erstand einen Rahmen nach dem anderen, füllte sie mit Kinder- und Baskobildern, mit lebenden und vor allem verstorbenen Vorfahren und dekorierte die Rückwand meines winzigen Arbeitszimmers damit. Es gewann dadurch eine außerordentlich vornehme, goldschimmernde Atmosphäre. Jonathan allerdings behauptete, er fühle sich wie auf dem Friedhof, Aug in Aug mit all den längst verblichenen Herrschaften in Gehrock, Kaiseruniform und Spitzenkragen. Zuletzt blieb Benito nichts anderes übrig, als die Idee seines Lebens samt vielen Kisten voller Rahmen an eine kapitalkräftige GmbH mit guten Beziehungen zu veräußern. Christine behielt nur einen kleinen Karton Rahmen für besonders gute Stammkunden zurück. Einen davon durfte Basko, wenn wir sie besuchten, manchmal um den Hals tragen. 7 »Weißt du eigentlich, daß wir nur Freunde haben, die im Minus leben?« fragte ich Jonathan eines Abends und ließ ein paar steinharte, nagelneue Jeans aus der Hand fallen, die ich für Michi um 38
3 Zentimeter kürzen mußte, obgleich sie nach der ersten Wäsche schrumpfen und wieder verlängerungsbedürftig sein würden. Es gab damals noch keine vorgewaschenen Jeans wie heute, und ich hatte manchmal das Gefühl, meine ganze Freizeit sei von nun an bis in Ewigkeit damit ausgefüllt, Jeans für zwei rasch wachsende Knaben länger oder kürzer zu machen, und zwar entweder leise fluchend an der Nähmaschine, die ihrer Aufgabe offenbar nicht gewachsen war, so daß jedesmal kurz vor dem Ende der Naht die Nadel abbrach, oder mit der Hand, wobei ich mir regelmäßig, wie gerade jetzt, den Daumen blutig stach. »Wieviel Geld hast du denn wieder verliehen?« fragte Jonathan zurück und schaute mich tadelnd durch seine silberrandige Brille an. »Diese Brille steht dir ausgezeichnet zu deinen grauen Schläfen«, sagte ich rasch. »Wie gut, daß Basko deine letzte Brille zerbissen hat.« »Findest du?« Wenn es um sein Äußeres ging, ließ sich Jonathan leicht vom Thema ablenken. Er legte die Abendzeitung weg, stand auf, stellte sich vor unseren ovalen Wohnzimmerspiegel (reines Biedermeier, aber nicht bei Christine erstanden, was sie gerne erwähnte), zog den Bauch ein, nahm die Schultern zurück und betrachtete sich wohlgefällig. »Ist dir auch aufgefallen, daß ich in letzter Zeit abgenommen habe?« erkundigte er sich. »Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Eigentlich nicht. Eher im Gegenteil. Mir scheint, daß du genau wie Basko zuviel Winterspeck angesetzt hast. Nur daß Basko das eben nicht durch eine attraktive Brille ausgleichen kann.« »Deine Vergleiche sind geschmacklos und entbehren jeder Grundlage«, sagte Jonathan und widmete sich wieder seiner Zeitung. Er wußte vermutlich nicht, daß er im Laufe der Jahre tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Basko angenommen hatte, oder vielleicht auch Basko mit ihm – das war schwer zu sagen. Jedenfalls gab es ein Foto, auf dem Onkel Pubo, Jonathan und Basko über unseren Gartenzaun schauen. Als wir es bewunderten, rief Michi plötzlich: »Ihr seht alle drei gleich aus«, und tatsächlich hatte Michi in gewisser Weise recht. Die drei großen, ernsten
39
Gesichter, mit der tiefen Falte zwischen Nase und Kinn und den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln wiesen in der Tat eine Art Familienähnlichkeit auf. Diese Tatsache schien, was Jonathan und Onkel Pubo betraf, durchaus erklärlich, denn sie waren – wenn auch über viele Ecken – miteinander verwandt. Von Basko und Jonathan, geschweige denn von Basko und Onkel Pubo, konnte man das aber beim besten Willen nicht behaupten, es sei denn, man unterstellte ihnen eine durch langjährige Sympathie entstandene Seelenverwandtschaft. Ich schaute Jonathan liebevoll an. Vermutlich stand ihm seine silberrandige Brille wirklich erst so gut zu Gesicht, seit er grau wurde, obgleich ich sie mir immer für ihn gewünscht hatte. Aber Jonathans Brillen hatten die fatale Eigenschaft, immer dann zu verschwinden, wenn absolut kein günstiger Ersatz aufzutreiben war. Ich erinnerte mich an unseren letzten Urlaubstag in Spanien, als Jonathan und ich uns durch gefährlich hohe Wellen zurück an den Strand kämpften. Plötzlich schrie Jonathan: »Meine Brille! Meine Brille ist weg!« Und das war sie dann auch, unwiderruflich. Glücklicherweise waren unsere Ferien sowieso zu Ende. Am nächsten Morgen fuhr Jonathan – halb blind, wie er behauptete und mit weißen Augenhöhlen in seinem dunkelbraun gebrannten Gesicht schaurig anzusehen – in unserem kleinen Fiat die gewundene Küstenstraße der Costa Brava entlang. Und zwar bediente er sich der gleichen Fahrweise, mit der er auch als Sehender seine Beifahrer schockierte. In dem Städtchen Gerona kurz vor der Grenze betraten wir ein Optikergeschäft oder etwas, das so ähnlich aussah. Mit vielen Gesten und in gebrochenem Spanisch erklärte Jonathan dem Besitzer des Ladens, daß seine Brille auf dem Grund des Meeres, er selbst deshalb nahezu blind, unser Heimatort hingegen Monaco di Baviera sei. Der Ladenbesitzer nickte freundlich, öffnete eine Schublade, zog eine Brille mit dickem, schwarzem Rand hervor, setzte sie Jonathan auf die Nase, zog ihn aus dem dämmrigen Lädchen auf die Straße, zeigte auf die Kirchturmuhr und fragte: »Du sehen, welche Zeit?« Jonathan blinzelte in die grelle Mittagssonne, rückte die Brille
40
mehrmals zurecht und sagte zögernd: »Vielleicht halb eins, oder auch halb zwölf, jedenfalls irgend etwas mit halb.« »Serrr gutt, Brille richtig perrrrfekt«, sagte der Spanier und nahm fünfhundert Peseten entgegen. Jonathan trug diese Brille, die ich haßte, weil sie ihn strenger und viel älter wirken ließ, als er war, viele Jahre lang, bis sie ihm endlich in einem anderen Meer, nämlich in den Fluten des Indischen Ozeans an der Westküste von Ceylon, abhanden kam. Diesmal war die Situation komplizierter. Wir hatten ein paar Tage zuvor in unserem Hotel eine alte Dame kennengelernt, die im Swimmingpool auf uns zuruderte und sagte: »Sie kommen aus Deutschland, nicht wahr, das kann ich hören. Ich bin nämlich blind und wollte Sie fragen, ob Sie mich beim Abflug in Colombo und während der Zwischenlandung in Bangkok betreuen würden.« Sie habe die ganze Welt gesehen, seit sie blind sei, fügte sie hinzu. Und sie käme glänzend alleine zurecht, nur eben nicht auf Flughäfen. Ich versprach ihr sofort jegliche Unterstützung. Das war, als Jonathan noch sehen konnte. Für die letzten Urlaubstage lieh ihm ein Herr seine elegante silberrandige Reservebrille. Auf dem Heimflug aber betreute ich sozusagen zwei Blinde: eine alte Dame, die außer drei Koffern mehrere sperrige Zellophanhüllen mit einheimischen Blumen sowie einen Hutkarton voll langsam vor sich hin tropfender tropischer Früchte mit sich führte, und meinen eigenen, nur mäßig geduldigen Ehemann. Zu Hause hoffte ich auf eine elegante silberrandige Brille für Jonathan. Vergebens. Er fand in seiner Nachttischschublade eine gräßliche, altmodische Hornbrille aus seiner Studentenzeit mit Gläsern wie Eulenaugen und behauptete, sie sei gut genug. Außerdem hingen so viele schöne Erinnerungen an ihr. »Einmal hat mir ein Polizist das linke Glas zerschlagen, als wir gegen die Wiederbewaffnung demonstrierten«, erzählte Jonathan stolz. »Wir waren damals die revolutionärste linkste Gruppe an der gesamten Uni, mußt du wissen.« Ich nickte und fragte mich, wie aus einem so revolutionären linken Studenten ein so konservativer, autoritärer Ehemann und
41
Familienvater werden konnte. Jonathan strahlte mich an. »Jawohl, auch ich habe mich in meiner Jugend mit Polizisten geprügelt. Die jungen Leute von heute sollten nicht so tun, als ob das etwas Besonderes wäre.« Ich gab ihm einen Kuß. Ein paar Jahre später gelang es endlich Basko, mich und seinen Herrn von dieser erinnerungsträchtigen scheußlichen Brille zu befreien. Bei einem Gerangel um Baskos Stocki fiel sie Jonathan von der Nase, und Basko, in der Meinung, ein neues, lustiges Spiel sei im Gange, fing sie buchstäblich in der Luft und zerbiß sie, bevor er sie angewidert in zwei Teilen ausspuckte. Seitdem besaß Jonathan eine elegante, silberrandige Brille. Vermutlich würde er sie noch tragen, wenn längst goldrandige Brillen, Brillen ohne Rand, oder wieder schwere, dunkle Hornbrillen »in« waren. Es sei denn, irgendeine Naturgewalt würde ihn vor ihr befreien. »Was wolltest du vorhin sagen«, unterbrach Jonathan meine Erinnerungen. »Hat jemand Geldsorgen?« »Ach, es ist nicht so wichtig. Mir ist nur plötzlich aufgefallen, daß wir unter all unseren Freunden die einzigen sind, die ein finanziell einigermaßen gesichertes Dasein führen.« »Da siehst du, was du an mir hast«, sagte Jonathan. Er stellte sich gern als Alleinverdiener der Familie hin und tat so, als ob meine journalistische Tätigkeit eine Art Hobby wäre, dem ich unerklärlicherweise nachging. Wovon unsere Putzfrau bezahlt wurde, woher das Taschengeld für die Kinder, für ihre und meine Kleider und all die anderen Dinge, die das Leben angenehm machten, herkamen, etwa für neue Polstersessel oder Biedermeierrahmen, überging er großzügig. »Ich war gestern bei Tamara in ihrer Dirndl-Stube«, erklärte ich. »Sie sah besonders zufrieden aus, als ich kam, und seufzte: >Gott sei Dank. Morgen ist der Monatserste und mein Konto ist ausgeglichene – Ich sagte: >Toll, dann geht’s dir genau wie mir. Ich bin auch wieder mal bei Null.< – >Bei Null<, lachte sie. >Schön wär’s ja. Aber bei Null war ich schon seit zehn Jahren nicht mehr.< Und dann erklärte sie mir, daß ein ausgeglichenes Konto für sie bedeutet, mit fünfzehntausend Mark im Minus zu stehen. Das sei der
42
Überziehungskredit, den ihr die Bank zubilligt. Und deshalb versuche sie – zuverlässig, wie sie sei –, jeden Monatsersten bei einem Minus von nur vierzehntausendfünfhundert abzuschließen. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken. Stell dir das vor! Fünfzehntausend Mark minus und das jeden Monat! Ich könnte das einfach nicht aushalten. Es scheint übrigens gar nichts Besonderes zu sein. Christine steht bei ihrer Bank auch ständig in der Kreide. Und meine Sparkasse schickte mir neulich einen Brief und bat mich geradezu flehentlich, mein Konto zu überziehen.« »Du hast es doch hoffentlich nicht getan«, rief Jonathan erschrocken. »Nein, natürlich nicht. Aber mir fiel plötzlich ein, daß alle unsere Freunde in irgendeinem Minus leben. Vielleicht«, sagte ich, »ist das heutzutage normal, und wir sind ganz altmodisch.« »Liebe Gela«, antwortete Jonathan, »falls du damit andeuten willst, daß ich meine Sparbücher auflösen und mit dir eine Weltreise machen soll, dann vergiß es. Ich bin auf diesem Gebiet tatsächlich altmodisch, und«, fügte er hinzu und legte seinen Arm um meine Schultern, »auf anderen Gebieten auch.« »Ich weiß«, sagte ich leise und rieb meine Schläfe ein bißchen an dem rauhen Tweed seiner Jacke hin und her. »Ich weiß doch, daß du altmodisch bist. Wir mußten ja sogar einen Hund haben, weil zu einer richtigen Familie ein Hund gehört, auch wenn ihn niemand so recht brauchen kann, und er jeden in Trab hält, außer dir.« Und dann dachte ich, es müßte faszinierend sein, einmal ganz bedenkenlos und leichtsinnig im Minus zu stehen. 8 Einer unserer liebenswertesten Minus-Freunde war Max, ein Rechtsanwalt von gemütlicher Leibesfülle, kräftiger Gesichtsfarbe und schneeweißem Cäsarenhaar. Er konnte ungeheure Mengen von Flüssigkeit in sich unterbringen, und zwar in Form von Weizenbier, erzählte fürs Leben gern Witze, vorwiegend jiddische, und war stolz auf sein großes Allgemeinwissen, das er durch den Ankauf immer neuer Lexikareihen weiter ausbaute. 43
Mit Max und seiner zweiten Frau Bettina, einem blonden, in jeder Hinsicht perfekten Geschöpf aus Deutschlands Norden, unternahmen wir häufig ausgedehnte Sonntagsspaziergänge im Voralpenland. Jonathan und ich fanden, das seien wir Basko schuldig. Max und Bettina gingen im Gegensatz zu uns von Natur aus gern zu Fuß, jedenfalls traf das auf Bettina zu. Und Max fand automatisch alles gut, was Bettina tat. Meist verabredeten wir uns in irgendeinem Dorf unterm Maibaum, um von dort loszuwandern und nach einigen Stunden müde und gut durchgelüftet im Wirtshaus daneben einzukehren. Für Basko waren diese Spaziergänge mit Sicherheit die absoluten Gipfel seines Hundelebens, für uns weniger. Schuld daran war Jonathan. Er konnte sich nämlich um nichts in der Welt dazu aufraffen, auf demselben Weg, den er bereits einmal zurückgelegt hatte, auch wieder umzukehren. Da mochte die Landschaft, die wir durchquert hatten, noch so bezaubernd gewesen sein, da konnten Bauerngärten, Bachufer und Wiesenhaine locken – Jonathan wollte sie nicht mehr sehen, er mußte Neuland erobern. (Jonathan war Widder mit Widder im Aszendenten, eine Konstellation, die geübten Astrologen Schauer über den Rücken jagte.) »Wir gehen jetzt«, sagte er etwa, »diesen kleinen Hügel hinauf, wandern oben am Kamm entlang, wo wir sicher eine herrliche Aussicht haben, und stoßen dann hinter der Waldgrenze genau auf unser Auto.« Niemand wagte Widerspruch einzulegen. Wir kletterten vielmehr auf allen vieren hinter Jonathan »den kleinen Hügel« hinauf, der sich als senkrechter, von glitschigem Laub bedeckter Abbruch erwies. Keuchend oben angelangt, fanden wir anstelle einer herrlichen Aussicht ein undurchdringliches Dickicht von Unterholz vor, durch das man sich den Weg am besten mit einer Machete gebahnt hätte. Jonathan stapfte uns voraus wie eine Dampfwalze und stellte ab und zu fröhlich fest: »Das macht doch richtig Spaß, endlich einmal die langweiligen Pfade zu verlassen.« Der Rückweg zum Auto führte entweder durch einen Torfstich, in dessen braunfeuchten Untergrund man bei jedem Schritt bis zum Knöchel einsank, quer über einen frisch gedüngten, umgepflügten
44
Acker, mindestens aber über mehrere Stacheldrahtzäune, hinter denen uns eine Herde angriffslustiger Jungstiere durch aufspritzende Kuhfladen jagte. Während Max aufgrund seiner Gutmütigkeit nur leise vor sich hinbrummelte, Basko sich selig in einem Schlammloch suhlte und ich böse Bemerkungen durch die Luft zischte, folgte Bettina Jonathan frohgemut und ohne Klage. Sie hatte als Offizierstochter von Jugend an gelernt, in keiner Situation ihre Beherrschung zu verlieren, auch dann nicht, wenn ihr linker Absatz im Moor steckengeblieben war, der Stacheldraht ihren Schal zerrissen und Äste ihre gepflegte Frisur zerrauft hatten. Basko liebte Bettina über alles, und auch ich war ihr sehr zugetan. Ich bewunderte sie dafür, daß sie nie so heftigen Stimmungsschwankungen unterworfen war wie ich, daß sie sich keine Depressionen gestattete und auch die überraschendsten Lebenskurven in tadelloser Haltung nahm. Manchmal überlegte ich, wie es Bettina, die stets kühle, korrekte, neben einem so farbigen, originellen Menschen wie Max aushielt (vielleicht fragte sich Bettina dasselbe von mir und Jonathan). Warum Max ausgerechnet Anwalt geworden war, wußte niemand. Denn schon während seines Jura- Studiums unternahm er die kühnsten Manöver, um seinem künftigen Beruf auszuweichen. So entwarf er einmal einen Patentschnuller, den eine praktische Plastikhülle absolut keimfrei hielt. Leider konnte er keinem Hersteller erklären, wie man einem lebhaften Kind, das seinen Schnuller unbedingt auf den Boden werfen wollte, beibringt, zuvor die keimfreie Plastikhülle darüberzustülpen. Seine nächste Idee war, eine Zeitschrift herauszugeben, die nur aus Anzeigen bestehen sollte. Er konnte aber keinen Verleger davon überzeugen, daß es Menschen gab, die nur Anzeigen lesen wollten. Nachdem er endlich mit beträchtlichen Schulden eine Kanzlei in der besten Gegend Münchens eröffnet hatte, entdeckte er sein schriftstellerisches Talent. Er schrieb in rascher Folge, unter dem Einfluß zahlreicher Weizenbiere, einen genialen zeitgeschichtlichen Roman, mehrere Novellen, ein halbes Dutzend Kurzgeschichten und einen Bayerischen Volkskunstführer. Die Manuskripte dieser Werke
45
kreisten in vielen Kopien nach einem ausgeklügelten System durch Deutschlands Verlage, kamen gelegentlich zurück, wurden wieder weggeschickt und nie gedruckt. Eines Tages hatte Maxens unerschütterlicher Optimismus gesiegt: sein kleiner Kunstführer fand einen Verleger. Von da an beschäftigte er seine Sekretärin ausschließlich damit, Manuskriptentwürfe zu tippen, und betrachtete jeden Klienten, der sich in seine Kanzlei verirrte, als Störfaktor seiner schriftstellerischen Entwicklung. Daß Max seinen irrtümlich ergriffenen Anwaltsberuf endlich an den Nagel hängen konnte, verdankte er seiner Mutter. Sie hieß Marlene, war Millionärin und wurde von allen Menschen mit Vornamen genannt, weil niemand wußte, welcher Nachname gerade gültig und ihr angenehm war. Marlene hatte eine Reihe abenteuerlicher Ehen in Amerika und Deutschland hinter sich; ihre Million war aber nicht angeheiratet, sondern ererbt. Das vergaß sie nie zu betonen. Da sie es in ihren früheren Jahren sehr schwer gehabt hatte, sich durchzuschlagen, fand sie, das sei ausgesprochen gesund und stähle den Charakter. Jedenfalls dachte sie nicht daran, ihren Sohn, mit einer großzügigen Geste ihrer brillantengeschmückten Hand, von seinen Schulden zu befreien. Marlene mußte in den Nachkriegsjahren eine bekannte Erscheinung in Schwabing, Münchens Künstlerviertel, gewesen sein. Sie soff nächtelang an ihrem Stammtisch hoffnungsvolle junge Maler und Schriftsteller unter den Tisch und versprühte Charme und Witz, solange sie niemand um Geld bat. Geschah dies doch, wurde sie zornesrot, schlug mit der geballten Faust auf den Tisch, daß ihre Goldarmbänder klirrten, und sagte in ihrem gequetschten amerikanischen Tonfall: »Von mir bekommt keiner einen Pfennig, solange ich lebe. Ich habe mein Geld ordentlich geerbt, und genauso ordentlich werde ich es meinen Kindern vererben. Aber erst, wenn ich tot bin. Prost!« Die einzige Person, vor der Marlene Respekt hatte, war ihre Schwiegertochter. Ab und zu verbrachte Marlene ein Wochenende bei Bettina und Max. Wenn sie dort morgens um zehn Uhr dröhnend rief: »Und wo bleibt der Wein?«, antwortete Bettina liebenswürdig, aber fest: »Jetzt
46
gibt’s noch keinen Wein. Jetzt machen wir erst einen Spaziergang mit Gela und Jonathan, damit der gute Basko seinen Auslauf bekommt. Dann essen wir zu Mittag, danach trinken wir Kaffee, und dann ist es Zeit für einen Dämmerschoppen.« Solch ein Wochenende mußte sich für Marlene qualvoll lange hingezogen haben. Als Marlene mit achtzig Jahren, von einem Magenleiden geschwächt, zum erstenmal in ihrem Leben in eine Klinik eingeliefert wurde, kümmerten sich Bettina und Max rührend um die streitbare alte Dame. Aber sie wären Übermenschen gewesen, wenn sie nicht auch an das bevorstehende Erbe gedacht hätten, das mit einem Schlag Maxens Dauer-Minus auf der Bank beenden, ja womöglich in ein angenehmes Dauer-Plus umwandeln konnte. Sie betraten also eines Tages Marlenes mit Plüsch, Seide und Brokat überladene Wohnung, um Bankauszüge, Safe-Schlüssel, Aktien, Goldbarren und Schmuckschatullen zu sichten. Als sie sich gerade über den Schreibtisch beugten, drang ein gurgelndes Wassergeräusch aus dem Badezimmer, die Tür ging auf, und ein nackter Mann stand vor ihnen. Er stellte sich höflich vor, sagte, er sei ein guter Freund von Marlene, studiere als Spätberufener Theologie und dürfe mit Marlenes Zustimmung ab und zu hier baden. Im übrigen könnten sie ihn Bruder Alois nennen. Unter diesem Namen gedenke er nach dem Ende des Studiums in ein Kloster einzutreten. Diese wohlgesetzte Rede wurde von mehreren lauten Rülpsern unterbrochen, die darauf hindeuteten, daß Bruder Alois nicht nur Marlenes Bad, sondern auch ihren Weinkeller benutzt hatte. Es kam, wie es kommen mußte. Bruder Alois, allgemein »der Erbschleich« genannt, wich keinen Zentimeter mehr von Marlenes Krankenbett, versorgte sie mit Alkohol und Bibelsprüchen, hielt alle anderen Menschen von ihr fern und wurde von Marlene schließlich als Alleinerbe eingesetzt. Dieser Schicksalsschlag spornte Max zu einer späten Höchstleistung in seinem Beruf an. In einem aufsehenerregenden Prozeß, der tagelang die Gesellschaftsspalten der Münchner Boulevard-Zeitungen füllte und in der juristischen Fachpresse mehrfach kommentiert wurde, gelang es ihm nach dem Tod
47
Marlenes, ihr Testament für ungültig erklären zu lassen. Es war seine letzte Handlung als Jurist. Leider stellte sich heraus, daß von Marlenes Million nicht mehr allzuviel übrig war. Ihr luxuriöser Lebensstil, ihre charmanten jungen Freunde und nicht zuletzt Bruder Alois, genannt: der Erbschleich, hatten an der Substanz genagt. Immerhin reichte das Geld, um Maxens Schulden abzutragen. Da Bettina höhere Staatsbeamtin mit Pensionsberechtigung war, stand seiner Weiterentwicklung zum freien Schriftsteller nichts mehr im Wege. Wir hatten einen Minus-Freund weniger. 9 Es lag wieder einmal Föhn über München. Während es laut Wetterbericht in ganz Deutschland in Strömen regnete, hatte es bei uns gegen elf plötzlich aufgeklart, ein unnatürlich blauer Himmel wölbte sich überm Kirchturm von Waidenried, ein lauer Wind fächelte durch die Straßen, die Alpen standen wie scharfe, hintereinandergeschichtete Scherenschnitte am Horizont. Föhn – das bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Die einen haben Kopfschmerzen und Kreislaufbeschwerden, die anderen werden ruhelos und entwickeln hektische Aktivität. Manche schleppen sich todmüde zur Arbeit, und viele merken gar nichts. Das sind dann entweder Vorföhner oder Nachföhner. Jonathan war ein typischer Vorföhner. Das heißt, er spürte den warmen Fallwind aus den Alpen schon einen Tag, bevor er wirklich ankam, war brummig, schlecht gelaunt, brüllte seine Mitmenschen sinnlos an und fuhr noch aggressiver Auto als sonst. Ich gehörte eher zu den Nachföhnern. Wenn das trügerisch schöne Wetter zusammenbrach, konnte ich nachts schlecht schlafen und erwachte am nächsten Morgen mit mir und der Welt zerfallen, todtraurig und deprimiert. Michi und Christian spürten den Föhn noch nicht, und Basko konnte ich nicht danach fragen. Jonathan allerdings behauptete, an Föhntagen sei Basko übersensibel, unkonzentriert und noch rascher beleidigt als sonst. 48
Es herrschte jedenfalls Föhn. Ich radelte beschwingt vom Einkaufen nach Hause. An beiden Seiten meiner Lenkstange baumelten je zwei dicke Plastiktüten, auf den Gepäckträger war mein hochaufgefüllter Korb geklemmt. Baskos Leine hielt ich symbolisch in der rechten Hand. Er selbst trudelte zufrieden vor mir her, schnupperte mal hier, mal dort in den Vorgärten der Reihenhäuser und schaute sich gelegentlich um, ob er mich auch nicht verloren hatte. Es war eine Gegend, die ich weniger mochte als die alten Dorfstraßen. Die einförmigen Häuserzeilen waren erst in den letzten Jahren entstanden, und ihre Bewohner versuchten durch allerlei Schnörkel, wie gelb gestrichene Briefkästen, Miniatur-Gartenzäune, auffallende metallene Haustüren, Rüschenvorhänge hinterm Küchenfenster oder besonders abgezirkelte Blumenrabatten, ihrem tristen Heim einen persönlichen Stempel aufzudrücken. Es waren eher rührende als überzeugende Versuche. Ich passierte gerade die vorletzte Haustür. Das Blumenbeet davor war von einem niedrigen Drahtgitter umgeben, das Basko dazu anspornte, mit eleganten Seitwärtsflanken hinüber und wieder herüber zu hechten. Plötzlich wurde das Küchenfenster aufgerissen und eine Frau rief heraus: »Sie da! Bleiben Sie sofort stehen!« Ich stieg langsam vom Rad und fragte höflich: »Meinen Sie etwa mich?« »Ja, wen denn sonst?« schrie die Frau mit unangenehm schriller Stimme. »Sie sind doch die Besitzerin von diesem gräßlichen Köter, der immer in meine Vergißmeinnicht scheißt!« »Also, ich weiß nicht recht. Aber normalerweise erledigt Basko sein Geschäft auf der Wiese hinter der Kirche«, erwiderte ich, ganz Dame. »Ha, daß ich nicht lach! Da schaun’ S’ nur her. Grad is er wieder in mein Beet neitapst und hat sein’ Haufen hing’setzt«, keifte die Frau. »Aber ich hab Ihnen aufgelauert. Ich hab Sie schon kommen sehen mit Ihrem mistigen Köter, Ihrem mistigen. Und wenn Sie jetzt nicht sofort den Haufen von Ihrem Hund von meinem Grund und Boden entfernen, dann ruf ich die Polizei, daß Sie’s nur wissen.« Inzwischen war eine Nachbarin aus der Tür nebenan getreten, um
49
ihren Mop auszuschütteln. »Da hat die Frau Huber fei recht. Das ist eine Unverschämtheit, wie sich Ihr Hund aufführt. Nehmen S’ ihn halt an die Leine, wie jeder anständige Mensch.« Ich spürte Ärger in mir hochsteigen. »Moment mal. Wenn Sie Ihre Vorgärten nicht einzäunen, dann müssen Sie eben damit rechnen, daß ab und zu ein Hund darin herumschnüffelt.« »Von Rumschnüffeln red ich nicht«, kam die herbe Antwort zurück. »Ich red davon, daß er in meine Blumen scheißt, und das nicht ein- oder zweimal, sondern fast jeden Tag. Des laß ich mir jetzt nicht mehr bieten. Sie entfernen jetzt den Haufen von Ihrem Viech. Des wär ja noch schöner. Wo gibt’s denn so was?« Ringsum waren mehrere Fenster aufgegangen, aus denen sich interessierte Menschen beugten. Ich war psychologisch in der schlechteren Situation – daran gab es keinen Zweifel. »Überhaupt so einen großen Boxer so frei rumlaufen zu lassen, das ist unverantwortlich«, gab jemand von rechts seinen Kommentar dazu. »Ich kenn Sie genau! Ihr Hund hat den armen, kleinen Pudel vom Blumengeschäft zerfetzt. Ein Skandal ist das.« Ich erklärte, jeder Einwohner von Waidenried könne bezeugen, daß Basko der friedlichste Hund der Welt sei und sich nur einmal, ein einziges Mal vergessen habe. »Außerdem«, sagte ich, »hat er dem blöden Pudel kein Haar gekrümmt, sondern der hat dem Basko die Lefze zerbissen.« »Des geht mich nix an«, rief die erste Frau drohend. »Sie machen jetzt den Haufen da weg, sonst hol ich die Polizei.« Ich lehnte mein überladenes Fahrrad an einen Laternenmast. Eine der Plastiktüten riß, Orangen und Semmeln kugelten auf den Boden. Auch das noch! Während ich sie wieder einsammelte, sprang Basko herbei, fand, das sei ein schönes neues Spiel und begann, eine Orange mit seiner Schnauze den Rinnstein entlangzurollen, als wär’s ein Ball. »Es gibt Leut, denen graust’s vor gar nix«, stellte jemand fest. Ich beschloß, kühl und beherrscht zu bleiben, obgleich meine Nerven bis in die letzten Fasern gespannt waren. Es mußte am Föhn
50
liegen. »Geben Sie mir eine Schaufel«, sagte ich. »Eine Schaufel möchten Sie? Ja, meinen Sie, ich geb’ Ihnen auch noch eine Schaufel für Ihren stinkerten Hundedreck! Da haben S’ eine alte Zeitung.« Ich bückte mich über die Vergißmeinnicht und schob mit halbabgewandtem Gesicht mittels eines zusammengedrehten Zeitungsteils Baskos halbflüssigen Haufen auf den Rest der Zeitung. Dann richtete ich mich auf und ging auf die Mülltonne zu. »Sie, unterstehen Sie sich! In meine Tonne kommt diese unappetitliche Scheiße nicht nei«, schrie die Frau. »Ja, wohin soll ich denn damit«, schrie ich zurück. »Des is mir wurscht! Hauptsach, Sie verschwinden endlich mit Ihrem Hundsviech«, und peng, schlug das Fenster zu. Worauf ich unter den interessierten Kontrollblicken der Nachbarn auf mein Fahrrad zuging, es mit einer Hand mühsam neben mir herschob, während ich in der anderen mit weit ausgestrecktem Arm Baskos Haufen in Zeitungspapier trug. Es gab keine Chance, das widerliche Paket abzulegen. Ich hab mich nie in meinem Leben so gedemütigt gefühlt. Wenn ich je zu einem Mord an einer unschuldigen Kreatur fähig war, dann war ich es in diesem Augenblick… An der nächsten Straßenecke grüßte mich die Briefträgerin und ging bis zum nächsten Postkasten neben mir her, wobei sie mehrmals feststellte, daß heute ein schlimmer Föhn herrsche. Ein paar hundert Meter weiter spielten Kinder auf der Straße mit Murmeln und riefen laut: »Basko, Basko!« Vor Herrn Speichers penibel gekehrtem Gehsteig mochte ich mein Paket auch nicht ablegen – kurzum, ich mußte es bis nach Hause tragen, wo ich es in unsere Mülltonne warf. »War das heut ein Tag«, rief Jonathan, als er heimkam. »Alle Sekretärinnen hysterisch, keine müde Zeile von der nächsten Serienfolge, und dann kündigt noch der kleine Lehmann. Es muß Föhn gewesen sein.« Ich fiel ihm schluchzend an die Schulter. »Und jetzt auch noch du«, sagte Jonathan entgeistert. »Was ist
51
denn los? Komm, komm! So schlimm wird es doch nicht sein.« Er patschte unbeholfen auf meinem Rücken herum. Als Tröster war Jonathan denkbar ungeeignet. »Ich bin so unglücklich«, heulte ich. »Ich hasse diesen Hund, ich hasse dich, ich hasse ganz Waidenried. « »Na, dann erzähl mal«, sagte Jonathan und zog mich neben sich auf die Lehne seines Sessels. Ich erzählte. Jonathan hörte aufmerksam zu. »Es muß schrecklich gewesen sein, wirklich! Aber ein ganz klein bißchen komisch ist es auch, findest du nicht?« »Nein, finde ich nicht«, schluchzte ich. »Ich bin so entsetzlich unglücklich.« »Aber warum denn? Doch nicht wegen Basko!« »Doch auch, aber vor allem, weil ich eine Grüne Witwe bin.« »Na hör mal«, sagte Jonathan. »Du bist doch keine Grüne Witwe, sondern eine begabte und erfolgreiche Journalistin, die eine Menge Geld verdient.« »Das ist egal, ich bin trotzdem eine Grüne Witwe«, beharrte ich, und die Tränen liefen mir wie Sturzbäche übers Gesicht. »Ich bin nämlich den ganzen Tag allein in diesem langweiligen Dorf mit diesem scheußlichen Hund, der immer tropft und Gassi gehen will. Du residierst in der Stadt in deiner Redaktion, gehst mit interessanten Autoren mittagessen und läßt dich von deinen Sekretärinnen verwöhnen. Die Kinder sind in der Schule und kommen nur heim, um sich sattzuessen und wieder mit ihren Freunden wegzufahren. Und ich muß ständig daheim sein und mich um Basko kümmern. Ich habe überhaupt keinen Menschen außer Basko.« Jonathan unterdrückte ein aufkeimendes Lächeln in den Augenwinkeln und sagte ernst: »Es stimmt ja, daß du manchmal allein zu Hause bist. Aber wenn ich mich recht erinnere, bist du erst vor zwei Wochen aus London zurückgekommen, warst davor – wenn ich mich nicht täusche – auf einem alten Bahnhof in Bordeaux, und deine Indienreise liegt schließlich auch erst ein Vierteljahr zurück. Damals habe übrigens ich mich ziemlich allein gefühlt.« »Wirklich?« fragte ich und wischte mir mit meinem zerknüllten Taschentuch die Tränen und die Wimperntusche ab. »Natürlich, das solltest du eigentlich wissen«, sagte Jonathan.
52
»Jedenfalls scheint mir dein Leben nicht gerade das einer Grünen Witwe zu sein.« »Nicht, wenn ich verreist bin«, gab ich zu. »Aber die Zeit dazwischen!« »Für die Zeit dazwischen hast du doch Basko«, sagte Jonathan mit unnachahmlicher männlicher Logik. Ein Windstoß fegte durch die Terrassentür herein. Der Himmel hatte sich plötzlich bezogen. Es begann zu regnen, wie überall sonst in Deutschland auch. Wir setzten uns auf die geschützte Terrasse, Basko hatte sich unter den stacheligen Strauch am Fuß der Balkonsäule gequetscht und ließ seine Augen schläfrig zwischen Jonathan und mir hin- und hergehen. Jonathan legte seine große warme Hand auf meine Faust, die noch das nasse Taschentuch umklammert hielt. Basko gähnte und schlief ein. Wir schauten in den regenfeuchten Garten hinaus, bei Herrn Speicher bewegte sich der Badezimmervorhang. Wir lächelten uns an. »Wie friedlich es hier ist«, sagte Jonathan. »Möchtest du in der Stadt leben?« »Nein«, sagte ich, ließ das Taschentuch los und schmiegte meine Handfläche gegen die von Jonathan. »Ich möchte, daß alles so bleibt, wie es ist. Du, die Kinder, Basko, und Waidenried. Ich bin nämlich auch manchmal sentimental.« 10 Natürlich blieb nichts, wie es war. Zum Beispiel wurden Michi und Christian immer größer, unser Haus und seine Zimmer aber immer kleiner. Jonathan behauptete, das sei eine optische Täuschung. Ich sagte: »Vermutlich hast du recht. Aber Tatsache ist, als wir in dieses Haus einzogen, waren wir ein hundeloses Ehepaar mit einem zweijährigen Sohn, einem winzigen Baby und dem allernotwendigsten Mobiliar. Jetzt sind wir ein Ehepaar mit einem ausnehmend großen, kräftigen Boxer, mehreren Bauernschränken und allerlei englischen Antiquitäten, sowie zwei halbwüchsigen Knaben, deren Arme und 53
Beine sich völlig unkontrolliert in die Länge entwickeln. Jedenfalls hängen sie ständig nach allen Richtungen über Sessel- und Sofalehnen. Wenn Christian auf der Couch liegt, Michi daneben im Schaukelstuhl lümmelt, du die Beine quer auf den Puff legst und Basko sich davor niederläßt, dann wird jede Durchquerung des Wohnzimmers zu einer Art Hindernislauf. Ins Eßzimmer kann man sich sowieso nur noch mit schräg nach vorn geneigter Schulter durchquetschen, falls man nicht schon zuvor über irgendein Stuhl-, Menschen- oder Hundebein gestolpert ist. Kurzum«, stellte ich abschließend fest, »ich fühle mich beengt.« »Du übertreibst«, versuchte Jonathan mich zu besänftigen, denn er ahnte Böses. »Ein fünfundzwanzig Quadratmeter großes Wohnzimmer bietet einer vierköpfigen Familie mit Hund ausreichenden Lebensraum. Außerdem solltest du bedenken, daß es Wohnzimmer gibt, die viel kleiner sind.« »Aber auch welche, die viel größer sind«, beharrte ich. »In modernen Häusern oder Eigentumswohnungen werden Wohnzimmer unter vierzig Quadratmeter gar nicht mehr geplant.« »Na, die haben wir doch, wenn man die Eßecke dazuzählt.« »Ja, schon, aber ganz unpraktisch und länglich geschnitten. Neulich, als das Telefon klingelte, mußte Christian buchstäblich über den Tisch hechten, weil er sonst entweder Basko zertrampelt oder die Stehlampe umgerissen hätte. So war es wenigstens nur die Vase von Onkel Pubo, die zu Bruch ging.« »Ich verstehe wirklich nicht, wie es eine so kleine Person, wie du es bist, hier zu eng finden kann«, sagte Jonathan kopfschüttelnd. »Mit deinen einsachtundfünfzig müßtest du dir hier drin geradezu verloren vorkommen. Ich fühle mich jedenfalls mit meinen einsvierundachtzig ausgesprochen wohl.« »Also, erstens bin ich nicht einsachtundfünfzig, sondern einssechzig, das steht in jedem meiner Pässe. Und zweitens bist du nicht einsvierundachtzig, sondern höchstens einsachtzig. Man beginnt nämlich vom fünfundzwanzigsten Lebensjahr an langsam, aber sicher zusammenzuschrumpfen.« »Trotzdem ist es merkwürdig, daß gerade du, die nachweislich am kleinsten und zierlichsten von uns allen ist, unter Platzmangel
54
leidest.« »Ich glaube, das hat etwas mit dem physikalischen Gesetz der Raumverdrängung zu tun«, sagte ich nachdenklich. »Es ist doch so: Ich verdränge ungefähr genauso viel Raum wie vor fünfzehn Jahren, als wir hier einzogen, während ihr alle ständig mehr und mehr Raum verdrängt, weil ihr an Volumen zunehmt. Das heißt: Ihr braucht ständig mehr Platz, der wiederum geht mir ab, und deswegen fühle ich mich beengt.« »Na, hör mal«, sagte Jonathan. »Diese kühne Theorie mag vielleicht auf Michi und Christian zutreffen, aber Basko und ich, wir sind doch schließlich unverändert.« »In der Höhe schön«, gab ich zu bedenken. »Aber in der Breite nicht. Da habt ihr euch beide deutlich ausgedehnt.« »Basko, dein Frauchen findet uns zu dick«, rief Jonathan anklagend. Basko spitzte die Ohren, setzte sich auf die Hinterbeine und machte sein Ich bin so unendlich gelangweilt, gebt mir doch eine Zigarre!-Gesicht. »Ich hätte da jedenfalls eine großartige Idee, wie wir zu einem wirklich geräumigen, luftigen Wohnzimmer kommen könnten, das nicht sofort überfüllt ist, wenn alle Familienmitglieder darin versammelt sind«, sagte ich schnell. »O nein«, stöhnte Jonathan. »Bitte, Gela, hör auf damit! Deine Ideen sind fürchterlich, kosten eine Menge Geld und haben unabsehbare Folgen. Ich darf dich daran erinnern, daß du vor ein paar Jahren unseren soliden, fünfundzwanzig Zentimeter dicken Betonbalkon samt Säule niederreißen wolltest, nur weil du eine größere überdachte Terrassenfläche haben wolltest.« »Na und«, sagte ich. »Ich habe dann doch eingesehen, daß wir erst die Garage hätten abtragen müssen, damit der Kran in den Garten fahren kann, und daß er dabei die Hecke niedergewalzt hätte. Aber wenn es geklappt hätte, hätten wir anstatt unseres, kleinen, pummeligen Betonbalkons eine lichte, großzügige Holzkonstruktion mit einer eleganten geschwungenen Treppe direkt in den Garten.« »Richtig, dann hätten Fremde außer durch die Haustür, durch den Keller und über die Terrasse auch noch unmittelbar über den Balkon
55
ins Schlafzimmer kommen können. Damit wäre deine Idealvorstellung von einem Haus der offenen Türen endlich erreicht gewesen.« »Du sollst nicht so brummein, sonst siehst du genauso aus wie Basko, wenn keiner mit ihm Gassi geht«, sagte ich beschwichtigend. »Schau, ich bin doch jetzt richtig froh, daß wir damals den Balkon nicht abgerissen haben, denn auf diese Weise können wir ganz leicht das Wohnzimmer auf die Terrasse hinaus ausdehnen. Man muß eigentlich nur Seitenwände mauern und die Fensterfront drei Meter nach außen schieben. Das ist alles.« »Nein«, rief Jonathan ungewohnt nachdrücklich. »Nein, nein, nein. Schlag dir diese Idee sofort aus dem Kopf. Das erlaube ich dir nie und nimmer!« »Jonathan, du mußt zugeben, daß sich die meisten meiner Verbesserungsvorschläge sehr bewährt haben. Dadurch, daß ich neulich den Eßtisch an die andere Wand gerückt und den Sekretär über Eck gestellt habe, hat das Eßzimmer sehr gewonnen. Das hast du selbst gesagt. Und du wirst sehen, wenn ich unseren Schreibtisch erst quer vors Fenster gestellt habe…« »Das wirst du nicht tun.« »Doch, das werde ich tun, Jonathan. Du sagst doch selbst, daß du beim Arbeiten nicht immer deine Vorfahren im Goldrahmen anschauen kannst, weil dich das deprimiert. Laß mich nur machen. Zuletzt bist du dann immer ganz begeistert.« »Warum, um Himmels willen, arbeitest du nicht in einem Möbelhaus oder in einem Architekturbüro«, seufzte Jonathan. »Dann könntest du deine Ideen bei fremden Leuten verwirklichen, und ich wüßte, wenn ich abends heimkomme, sieht mein Zimmer noch genauso aus, wie ich es in der Früh verlassen habe.« »Jonathan, wenn es nach dir ginge, dann würden wir noch in den Korbstühlen vom Sperrmüll sitzen, mit denen wir geheiratet haben.« »Vermutlich«, sagte Jonathan. »Die waren herrlich bequem. Und daß du mir unseren alten Couchtisch neulich buchstäblich von dieser rothaarigen Furie unterm Bierglas hast wegziehen lassen, werde ich dir nie verzeihen!« »Also, erstens sieht dieser Kirschholztisch mit den
56
geschwungenen Beinen viel edler aus, und zweitens hättest du uns ruhig dabei helfen können, ihn gegen den alten auszutauschen, anstatt immer nur böse zu murmeln: >Jetzt reicht’s mir. Ich will meinen Tisch behaltene Frau Buchinger hat einen ganz falschen Eindruck von dir bekommen. Sie glaubt sicher, du bist ein brummiger, ungalanter, an neuen Wohnideen völlig desinteressierter Mensch.« »Bin ich«, sagte Jonathan. »Bin ich. Diese Furie mit den Gelberübenhaaren, die aus Kiel stammt und uns bayerische Bauernmöbel verkauft, hat genau den richtigen Eindruck von mir.« »Also jedenfalls habe ich für morgen einen jungen begabten Architekten bestellt, der angeblich halb Waidenried umgebaut hat. Der will sich unser Wohnzimmer mal ansehen«, sagte ich und schluckte ob dieses todesmutigen Bekenntnisses, das aller Voraussicht nach einen mittleren Vulkanausbruch bei Jonathan auslösen würde. »Moment mal«, sagte Jonathan und drehte das Radio lauter. »Sie bringen Nachrichten.« Jonathan hörte alle Nachrichtensendungen in Funk und Fernsehen, die er auftreiben konnte, auch wenn sie immer wieder die gleichen Meldungen brachten. Er fand, ein Journalist, der seinen Beruf mit Leib und Seele ausübe, müsse ständig informiert sein und sein Ohr sozusagen ununterbrochen am Puls der Zeit haben. Irgendwie schien er vergessen zu haben, daß er längst nicht mehr als rasender Reporter durch die Welt reiste, sondern den Textteil einer wöchentlich erscheinenden Illustrierten leitete. Er brauchte einfach das aufregende Gefühl, stets auf dem laufenden zu sein. »Du hast also nichts dagegen, daß morgen dieser Architekt kommt«, sagte ich. »Psst«, winkte Jonathan ab. »Die Wahlprognosen…« Ich nahm es als Einwilligung. Am nächsten Morgen stand Herr Hahn, ein smarter, glattgescheitelter Jungunternehmer im Kamelhaarmantel, vor der Gartentür. »Könnten Sie bitte Basko streicheln, sonst ist er beleidigt«, sagte ich.
57
Er bückte sich sichtlich angewidert zu Basko und fragte: »Wo kann ich mir die Hände waschen?« Basko ließ sich seufzend in seinen Korb plumpsen, ich reichte Herrn Hahn ein Gästehandtuch. »Nun, dann wollen wir mal sehen«, rief er munter und betrat unser Wohnzimmer. »Tja, ein kleiner Raum«, stellte er nach kurzem Hinundherschreiten fest. »Zu schmal vor allem, schlecht geschnitten, na, eben typisch fünfziger Jahre. Und was für unharmonische Fenster man damals gemacht hat, unglaublich, nicht wahr? « So deutlich wollte ich meine eigene Meinung eigentlich nicht aus fremdem Munde hören. »Ich dachte, man könnte vielleicht die Terrasse mit in den Raum einbeziehen und dadurch zehn Quadratmeter Wohnfläche gewinnen«, sagte ich kühl. Herr Hahn machte schmale Augen, fixierte mal die eine, dann die andere Ecke des Zimmers, fuhr mit ein paar vagen Handbewegungen durch die Luft, so als wolle er imaginäre Mauern wegschieben oder zusammenfügen, dann erklärte er: »Natürlich könnte man das. Man müßte die alte Fensterwand abtragen und drei Meter weiter vorne eine Front mit bodentiefen Sprossenfenstern zwischen Balkonsäule und Hauswand einfügen. Die Terrassenplatten reißen wir weg, da kommt ‘ne moderne Fußbodenheizung drunter, und hier zwischen Wohn- und Eßzimmer böte sich ein Kamin an. Den Austritt in den Garten verlegen wir ins Eßzimmer, dann entsteht neben dem Kamin eine ruhige, großzügige Sitzinsel. Da, wo jetzt die Rosenbeete sind, müßte sich eine Holzveranda anschließen, überdacht natürlich, grün umrankt. Und das scheußliche Balkongitter müßte dann natürlich auch durch Holz ersetzt werden.« Ich dachte kurz daran, daß die bauchigen Eisenstäbe dieses Balkongitters der ganze Stolz unseres damaligen Architekten und fast der Ruin unseres knappen Bauetats gewesen waren. »Insgesamt«, befand Herr Hahn abschließend, »könnte hier ein wirklich schöner, ästhetisch befriedigender großzügiger Raum entstehen.« Mir war ein bißchen schwindlig geworden. »Das Ganze sollte nicht übertrieben wirken, nur eben ein bißchen größer. Und es sollte
58
auch nicht allzuviel kosten«, warf ich ein. »Nun ja, ganz billig wird es wohl nicht, gnädige Frau«, sagte Herr Hahn. »Aber wer möchte heute schon billige Lösungen, wenn es um die Gestaltung des Lebensraums geht, nicht wahr. Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf: Ich plane Ihnen das Ganze durch, stelle einen Kostenvoranschlag auf und mache Ihnen eine Skizze, aus der Sie ersehen können, wie Ihr Wohnraum nach der kleinen Umgestaltung aussehen wird. Das alles kostet Sie keinen Pfennig, und wenn der Umbau fertig ist, werden Sie sich wie in einem ganz neuen Haus fühlen.« Ich war begeistert von diesem großzügigen Anerbieten, verabschiedete mich herzlich, sagte »Basko pfui!«, als er Herrn Hahn anknurrte, und stürzte ans Telefon, um Jonathan die Neuigkeiten zu berichten. Christian fand die Aussicht, ein Vierteljahr in einer Art Baustelle zu leben, fantastisch. Michi schüttelte trübsinnig den Kopf: »Können wir denn nicht alles lassen, wie es ist? Ich finde es so schön bei uns«, sagte er. Das hätte ebensogut sein Vater sagen können. Drei Tage später lag ein dickes braunes Kuvert im Briefkasten. Es enthielt eine imponierende Zeichnung von unserem neuen Wohnzimmer, samt Kamin und Sprossenfenstern und offenbar auch einer neuen Sitzgarnitur. Im übrigen gab es nicht nur einen Innenkamin, sondern draußen auf der Terrasse einen zweiten. »Ist das nicht fantastisch!« rief ich. »Jonathan, sieh mal, er hat auch eine Skizze der ganzen Hausfront beigelegt. Also, das Ganze könnte man jederzeit für eine Villa am Starnberger See halten, findest du nicht?« Jonathan sagte nichts. Er studierte mit gerunzelter Stirn lange Reihen von Zahlen, hinter denen so schöne Wörter wie »20 Quadratmeter italienische Keramikplatten, kupferne Kaminhaube, gußeiserner Grilleinsatz, zweiflügeliges französisches Fenster, halbrund…« standen. »Weißt du, was das alles kosten soll?« fragte er mich. »So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte ich kleinlaut. »Schließlich ist es im Grunde nichts weiter als die Einbeziehung einer überdachten Terrasse in den Wohnraum.«
59
»Hier steht es schwarz auf weiß. Es kostet hunderttausend Mark zuzüglich des Honorars für den Architekten.« Jonathan klopfte mehrmals nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die betreffende Stelle des Kostenplans und schaute mich über den Rand seiner nach vorn gerutschten Brille herausfordernd an. »Bei zehn Quadratmetern gewonnener Wohnfläche bedeutet das, daß ein Quadratmeter zehntausend Mark kostet!« In mir stürzte die Begeisterung von zwei Wochen zusammen. »Das ist uns wohl zu teuer«, sagte ich leise. »Ich fürchte, ja«, grinste Jonathan. »Oder hast du einen Erbonkel, der zufällig nächstens das Zeitliche segnen wird?« Ich hatte keinen. Statt dessen tippte ich einen höflichen Brief an Herrn Hahn und teilte ihm mit, daß wir leider aus persönlichen Gründen von seinem Angebot Abstand nehmen müßten. Jedenfalls bis auf weiteres. Zwei Tage später lag wieder ein braunes Kuvert im Briefkasten, diesmal etwas kleiner und ganz dünn. Herr Hahn bedauerte unseren Entschluß und erlaubte sich, für seine Bemühungen dreitausend Mark zu berechnen. »Das muß ein Irrtum sein«, erklärte ich Jonathan. »Er hat ausdrücklich gesagt, Pläne, Skizzen und Kostenvoranschlag seien umsonst.« »Aber, gnädige Frau, doch nur, wenn die Pläne entsprechend meinem Kostenvoranschlag ausgeführt werden«, sagte Herr Hahn spitz, als ich ihn am Telefon auf seinen Irrtum aufmerksam machte. »Wovon sollte mein Architekturbüro sonst existieren?« Das sah ich ein. Ich radelte zu gänzlich ungewohnter Zeit mit Basko zur Waldenrieder Sparkasse, hob von meinem Konto ab, was einmal ein weißer Berberteppich oder vielleicht sogar ein Pelzmantel mit Kapuze hätte werden können, und wartete, bis Basko sein übliches Stück Hundekuchen verzehrt hatte. »Heute kriegt er noch ein ExtraStück«, bemerkte der Sparkassendirektor leutselig. »Wo das Fraule sich doch etwas ganz Besonderes leistet, wenn ich mal so sagen darf.« Ich hätte ihn gerne erwürgt. Statt dessen erwiderte ich lächelnd: »So ist es, Herr Obermeier«, und stellte befriedigt fest, daß
60
Basko einen besonders schleimigen großen Flecken auf dem blank gebohnerten Linoleumboden hinterlassen hatte. Als Jonathan am nächsten Tag heimkam, stand die Couch quer vor dem Fenster, sein Lieblingsstuhl gegenüber der alten Truhe aus London und der Fernseher im Bücherregal, das sich gefährlich durchbog. Basko ging ruhelos auf und ab wie ein gefangener Tiger und suchte seinen Puff. Bevor Jonathan aufbrausen konnte, fiel ich ihm um den Hals, kraulte ihn ein bißchen im Nacken und sagte: »Bitte schimpf nicht! Du mußt zugeben, es sieht viel geräumiger aus, und von dem häßlichen Fensterbrett sieht man überhaupt nichts mehr, und das Bücherregal stützt mir Herr Lacher von der Schreinerei mit einem Brett ab, ich hab ihn schon angerufen. Und außerdem«, fügte ich hinzu, »hab ich dir gerade hunderttausend Mark gespart.« Jonathan nahm mich bei den Schultern, schob mich prüfend von sich weg, sah mir kurz in die Augen und sagte: »Du hast doch nicht etwa geweint?« »Fast gar nicht«, sagte ich. »Also ehrlich, nur ein ganz kleines bißchen. Ich hatte mir eben alles so wunderbar vorgestellt.« »Weißt du, was?« sagte Jonathan. »Erstens finde ich, daß das Wohnzimmer durch deine Umräum-Aktion ungeheuer gewonnen hat. Es sieht fast doppelt so groß aus. Und zweitens könnten wir im Frühjahr doch wenigstens den Außenkamin von Herrn Hahn auf der Terrasse bauen. Ich hab nämlich die Pläne, die du aus Wut zerfetzt und auf den Boden gestreut hast, aufgehoben, und die Seite mit dem Kamin ist noch gut zu erkennen.« »Christian, Michi, wir kriegen einen Außenkamin!« brüllte ich durchs Treppenhaus. Sie stürzten erschrocken aus ihren Zimmern und schauten übers Geländer. Basko schoß wie ein Verrückter zwischen den Kindern und uns hin und her, treppauf, treppab und wieder treppauf. »Habt ihr das gehört, wir kriegen im Frühjahr einen Kamin auf die Terrasse!« wiederholte ich. »Na und«, sagte Michi. »Ist das alles? Deswegen brauchst du doch nicht so zu schreien.«
61
»Prima«, sagte Christian. »Ich muß mit meinen Mathematikaufgaben weitermachen.« »Seltsam«, sagte ich zu Jonathan. »Sie tun so, als ob sie das überhaupt nichts anginge.« »Ich glaube, mit vierzehn oder sechzehn ist fast nichts auf der Welt so uninteressant wie Eltern und deren Pläne«, sagte Jonathan. Und dann: »Komm, laß uns einen Spaziergang mit Basko machen.« »Merkwürdig, jetzt sehen wir aus wie ein kinderloses Ehepaar mit Hund«, sagte ich, als wir in die Waldenrieder Allee einbogen. »Das werden wir ja wohl eines Tages auch sein«, sagte Jonathan und schob seinen Arm unter meinen. 11 »Ist irgend etwas?« erkundigte sich Jonathan beim Frühstück und schaute mich fragend über den Rand der Süddeutschen Zeitung an. Michi und Christian waren schon weg. Basko lag zwischen den gedrechselten Beinen unseres Bauerntisches, stützte den Kopf auf die waagerechte Fußleiste, so daß seine Lefzen schön gleichmäßig rechts und links herabhingen, und tat durch interessiertes Wegschauen so, als ob ihm der Geruch von frischem Toast, Hartwurst und Honig völlig egal wäre. Nur ein feuchter Fleck auf dem Teppich unter seiner Schnauze verriet, daß sein Gleichmut gespielt war und ihm in Wirklichkeit das Wasser nicht nur im Maul zusammenlief, sondern auch aus demselben heraustropfte. Aber daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. »Nichts Besonderes«, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen. Ich brauchte morgens lange, um richtig wach zu werden, während Jonathan am liebsten um sieben Uhr früh aus dem Bett sprang, um sein Tagwerk energisch zu beginnen. Es war einer jener vielen Gegensätze zwischen uns, von denen ein unverständliches Sprichwort behauptet, sie zögen sich an. »Dann ist es ja gut. Ich dachte nur, es ist etwas, weil du so trübsinnig vor dich hinschaust.« »Natürlich ist etwas«, sagte ich nachdenklich. »Es ist Donnerstag!« 62
»Donnerstag!« sagte Jonathan mitfühlend und ließ die Zeitung in die Butter sinken. »Also, mir kommt es so vor, als ob erst vorgestern Donnerstag gewesen wäre. Aber klar, hier steht’s ja: Donnerstag.« Er nahm die Zeitung wieder auf, deren Feuilleton jetzt ein Fettfleck mit rotem Marmeladenrand zierte. »Also, wenn Donnerstag ist, dann komme ich etwas später heim und arbeite lieber noch ein, zwei Stunden in der Redaktion. Das verstehst du doch, nicht wahr?« Ich verstand es. »Servus, ich muß mich beeilen«, sagte Jonathan. »Was in der Kritik über die Kammerspiele steht, das erzählst du mir dann abends, die ist so lang. Vermutlich hat sie wieder der Joachim König geschrieben.« »Okay«, sagte ich. »Wenn ich sie durch die Butter und Marmelade noch entziffern kann.« Basko wackelte fröhlich hinter Jonathan her und schleuderte seinen Speichel unternehmungslustig in die entferntesten Ecken. Er wußte noch nicht, daß heute Donnerstag war. Nachmittags um vier Uhr wußte er es. Ein schriller, langgezogener Ton schnitt wie eine Kreissäge in die nachmittägliche Stille, verharrte zitternd in der Luft, hob und senkte sich dann disharmonisch in atemberaubendem Tempo über einige Oktaven hinauf und hinunter und wurde, ehe er erstarb, von einem ohrenbetäubenden Donner abgelöst, der die Gläser im Schrank erklirren und die Porzellanlampe auf dem Tisch erzittern ließ. Sodann setzte ein dumpfes, rhythmisches Schlaggeräusch ein, das monoton durch Wände, Böden und Türen hallte. Der Rest war Lärm, aus unterschiedlichen Geräuschfetzen zusammengesetzter, unentrinnbarer Lärm. Bei den Nachbarn schlugen die Fenster zu, rasselten die Rolläden herunter, und in den Gärten verließen friedliche Menschen fluchtartig Liegestühle und Rasenmäher, ich knetete mir zwei neue Ohropaxkugeln zurecht, Basko kroch mit Angeknickten Beinen in seinen Korb und bohrte die Schnauze unter sein altes Häkelkissen. All diese Verrichtungen waren im übrigen völlig zwecklos, denn Michis Rock-Band, um sie handelte es sich, war stärker als Fenster, Rolläden, Türen und Kissen. Sie war auch stärker als die Matratzen, Sandsäcke und Teppichreste, mit denen er die Fensterschächte des
63
Übungskellers so gründlich verrammelt hatte, daß nach menschlichem Ermessen sämtliche Bandmitglieder nach spätestens einer halben Stunde wegen mangelndem Sauerstoff hätten ohnmächtig umsinken müssen. Statt dessen produzierten sie mühelos vier Stunden lang in einem sauerstofffreien, von Rauchschwaden verdüsterten Raum etwas, was sie progressiven Rock nannten – es war ein allwöchentlicher Triumph über die menschliche Anatomie. Leider nur ihrer eigenen. Nerven- und Gehörsystem aller anderen Menschen im weiten Umkreis litten über Jahre hinweg jeden Donnerstag zwischen vier und acht Uhr unsäglich. Manchmal hielt es jemand nicht mehr aus, rief bei uns an und überschüttete mich mit wilden Drohungen. Glücklicherweise verstand ich nur Bruchstücke davon. Michis Drang zur Musik war im übrigen gänzlich unerwartet über uns hereingebrochen, denn er galt von Anbeginn seines Lebens als besonders unmusikalisch. Er konnte als Fünfjähriger weder »Hänschen klein« noch »Alle meine Entchen« nachsingen, und jeder hatte sich damit abgefunden, daß er auf diesem Gebiet meiner Mutter nachschlug. Später, in London, fiel uns plötzlich auf, daß Michi immer besonders gebannt vor dem Fernsehschirm saß, wenn dort irgendwelche zotteligen Popsänger auftraten. Aber die traten im englischen Fernsehen fast ständig auf, und wir schöpften keinerlei Verdacht. Einmal allerdings mußte ich mit Michi in der Küche das schöne Beatle-Lied von Desmond und Molly einüben, indem ich mit einem Kochlöffel auf einem Topf den Rhythmus schlug und Michi mißtönend, aber ausdauernd »Obladi, oblada – life goes onbra – lalalalalalala« nachzusingen versuchte. Zurück in München, verlangte er plötzlich nach einer Gitarre und meldete sich in der Waldenrieder Volksschule zum Musikunterricht an. Nach einigen Monaten konnte er fehlerfrei das Lied »Unser Katz hat Katzerl g’habt, achte, neune, zehne…« spielen. Wir lobten Michi, fanden, eine Gitarre klänge weniger durchdringend als eine Blockflöte, und dachten, das Ganze ginge vorüber.
64
Immerhin verschönte uns Michi jahrelang den Heiligen Abend mit dem zweiten Lied, das er gelernt hatte: »Ihr Kinderlein kommet«. Er spielte mit zitternden Fingern und mit vor Aufregung halb geöffnetem Mund, worauf Onkel Pubo interessiert sein linkes, weniger taubes Ohr Michi zuwandte und anschließend sagte: »Das hast du wirklich schön gemacht. Könntest du jetzt bitte noch >Ihr Kinderlein kommet< spielen?« »Aber Onkel Pubo, das hab ich doch gerade gespielt!« brüllte Michi. »Ach so«, sagte Onkel Pubo friedlich. »Dann habe ich nicht richtig zugehört«, worauf Michi es nochmals spielte und Onkel Pubo, sagte: »Seltsam, so eine Gitarre hört man schlecht, gell! Also in meiner Jugend, anno vierzehn bis achtzehn, da war ich bei den Gebirgsjägern und hab zum Posaunenzug gehört. Das war sehr ergreifend. Wenn wir gespielt haben >Gott beschütze unseren Kaiser, unser Land< – das war seinerzeit die Österreichische Nationalhymne –, da hat sich der Hauptmann immer schneuzen müssen, so hat’s ihn mitgenommen.« Dieser Dialog gehörte ebenso zum Heiligen Abend wie die Tatsache, daß mir die Weißwürste im Wasser platzten und meine Mutter Salz anstatt Zucker in den Punsch schüttete, weil sie darauf bestand, mich zu entlasten und immer die beiden ähnlichen Behälter verwechselte. Als ich mir gerade dachte, Michi müßte es doch endlich zu dumm werden, immer nur »Unser Katz hat Katzerl g’habt« zu spielen, sagte Michi eines Abends zu mir: »Also Moß, es ist mir zu dumm, andauernd nur >Unser Katz hat Katzerl g’habt< zu spielen. Ich wünsch mir zum Geburtstag eine elektrische Gitarre, ich weiß auch schon, wo es eine gebrauchte gibt, und einen Lehrer hab ich auch. Das ist ein Student von der Musikhochschule, den haben seine Eltern zu Hause rausgeworfen, weil sie kein Verständnis für ihn haben, der kostet nicht viel.« Von nun an bereitete ich einmal in der Woche riesige Teller mit belegten Broten für Michis neuen Gitarrelehrer. Er hieß Mike, war ein etwas struppiger und sehr bleicher junger Mann, der in mir offenbar eine Art Zieh- und Nährmutter sah. Jedenfalls entwickelte
65
er einen unfaßbaren Appetit und nahm zu allen Fest- und Feiertagen riesige Freßpakete mit in sein ungeheiztes Kellerzimmer. Nach drei Jahren verschwand Mike nach San Francisco und kritzelte unten an jeden Brief, den er Michi schrieb: »Love to your beautiful Mama«, was Jonathan regelmäßig zu einer ätzenden Bemerkung veranlaßte. Die nächste Situation war, daß Michi eines Tages die Tischtennisplatte aus unserem Kellerzimmer entfernte und mit Hilfe einiger Jungmänner schwarze, sargähnliche Gebilde die Kellertreppe hinabhievte. Darin befänden sich, erklärte er keuchend, ein Synthesizer, ein elektrisches Klavier, ein Baß und die Teile eines Schlagzeugs. Es war die Geburtsstunde der Band. Michi übernahm übrigens – so seltsam es klingt – die Rolle des Bandleaders, obgleich er der kleinste und jüngste war. Er hatte sich mit der ihm eigenen Dickköpfigkeit zu einem anerkannt guten Gitarristen entwickelt. Zunächst spielte die Band Stücke von den Beatles, von Deep Purple oder anderen prominenten Gruppen nach. Das waren noch goldene Zeiten. Nach Stunden mißtönenden Übens konnte man ab und zu Melodiefetzen, die einem irgendwie vertraut erschienen, aus dem Durcheinander der Instrumente entwirren. Damals ließ sich sogar Basko noch manchmal dazu hinreißen, hoffnungsvoll in den Keller zu trotten und eine Weile geduldig vor der Tür des Musikkellers zu sitzen, bis Michi in einer Pause verschwitzt herauskam, ihn zerstreut streichelte und sagte: »Bassi, geh Betti, marsch!« Dann befand Michi, zu einer richtigen Band gehöre ein Sänger. Nun konnte der blondlockige, lange Harry zwar exzellent Klavier spielen, aber nicht singen. Das gleiche galt für den Schlagzeuger, einen schweigsamen Soziologiestudenten, der, wie sich später herausstellte, die Band als Grundlage für seine Diplomarbeit über gruppenspezifische Verhaltensweisen benutzte. Auch die häufig wechselnden Bassisten waren zum Singen nicht zu gebrauchen, und als ich fragte, ob denn der junge Mann mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart und den tadellosen Umgangsformen, der seit einiger Zeit in den Keller kam, nicht singen könne, sagte Michi: »Ach wo, der
66
kann nicht einmal zweite Gitarre spielen. Der kommt eigentlich nur, weil er immer so Hunger hat. Der nimmt den Rest von den Wurstbroten und den harten Eiern mit, die du uns runterbringst.« Schließlich wurde Tobias, wegen seiner runden Backen »Der Biber« genannt, als Sänger angeheuert. Biber war damals noch klein, stämmig und blond. Was seiner Stimme an Fülle und Tragweite fehlte, ersetzte er durch das lässige Gehabe eines Vollprofis. Beim ersten Auftritt von Michis Band in der Schule sprang Biber, angestrahlt vom rötlichen Lichtkegel einer Taschenlampe, weltmännisch aufs Podium und behauptete mit dramatisch ausgebreiteten Armen, er sei geboren, um frei zu sein. Immer wieder schmetterte er den Refrain »born to be wild« ins Publikum. Beim viertenmal sprang er in die Höhe und krachte mit dem letzten Ton durch den Bühnenboden. Frenetischer Beifall brach los, der Auftritt war gerettet. Biber hingegen betrachtete seinen Durchbruch als Wink des Schicksals und begann, anstatt von einer Karriere als Sänger zu träumen, eine solide Schreinerlehre. Michi gab nicht auf. Zäh, gründlich und wie immer bereit, das Unmögliche zu erzwingen, gab er die Parole aus, daß die Band von nun an nur noch selbstkomponierte Stücke spielen und – wo nötig – selbst dazu singen solle. Und zwar am besten mehrstimmig. »Das bringen die wenigsten, damit schlagen wir die Konkurrenz«, sagte er zuversichtlich. Von da an begannen Basko und ich die Donnerstage zu fürchten. Nicht wegen der selbstkomponierten Musik, die war zwar entsetzlich laut, aber durchaus originell, nein, das wirklich Qualvolle war der Gesang. Michis Hoffnung, daß fünf Musiker, von denen keiner richtig singen konnte, gemeinsam drei- oder gar fünfstimmige Refrains zustande bringen könnten, erwies sich als tragischer Irrtum. »Na, wie war’s heute?« fragte er regelmäßig, wenn das letzte Bandmitglied durchs Haus getrampelt war und die Tür hinter sich zugeworfen hatte. »Falsch«, seufzte ich, erschöpft vom bloßen Zuhören. »Falsch, ganz fürchterlich falsch.« Worauf Michi ungerührt sagte: »Moß, du verstehst nichts von Hard Rock. Wir hatten heute beim Gesang mindestens siebzig
67
Prozent Treffer. Die waren astrein. Und den Rest schaffen wir auch noch.« Als besonders qualvoll empfand ich ein Lied, auf das Michi wegen seiner komplizierten Harmonien sehr stolz war. Es endete mit: »Poor boy, poor boy – all girls gone«. Als dieser Refrain zum erstenmal klagend aus dem Keller drang, geschah etwas Merkwürdiges. Basko, der sonst durch nichts zu bewegen war, seinen schützenden Korb zu verlassen, solange die Band übte, kam ins Wohnzimmer getappt, setzte sich vor die Terrassentür und begann mit weit vorgestrecktem Kopf und anliegenden Ohren einen hohen winselnden Ton auszustoßen. Er sah aus wie ein nach Luft schnappender Karpfen. Kaum war das Lied zu Ende, schüttelte er sich, schaute mich erstaunt an und machte sich wieder auf den Weg zu seinem Korb. Jedesmal, wenn der Refrain erneut begann, kehrte er um, setzte sich in Positur und stieß sein herzerweichendes Winseln aus. Es war, als ob die Tonfolge dieser einen traurigen Strophe ihn dazu zwänge, einem unerklärlichen Instinkt zu folgen. In diesem Sommer gelang es Michi, für seine Band einen Auftritt bei einem Jugendwettbewerb im Olympiapark zu erkämpfen. Wochenlang quoll aus unserem Keller nicht nur am Donnerstag, sondern auch am Dienstag Musik und Gesang, wobei sich trotz endloser Wiederholungen der immer gleichen Lieder die Trefferquote nur unwesentlich erhöhte. Endlich kam der Tag des großen Freiluftkonzerts. Die ganze Familie pilgerte zum Olympiapark, einschließlich Basko und meiner lieben Mutter, die ein besonders elegantes Seidenkleid aus dem Schlußverkauf trug und mehrfach feststellte, wie traurig es doch sei, daß die jungen Menschen heutzutage nur noch ausgebeulte Hosen und formlose Schlabberhemden trügen. Ich selbst kam mir in meinem indischen Folklorerock gänzlich fehl am Platze vor, meine Mutter hingegen fühlte sich großartig. Jonathan kam im letzten Augenblick vom Fußballstadion herübergehetzt und verkündete, »Bayern« habe drei zu vier verloren. Ein düsteres Vorzeichen. Michis Band spielte als zweite. Ich beobachtete Michi, ein Bündel
68
von Nervosität und Lampenfieber, wie er mit Harry und den anderen Mikrokabel entwirrte, Verstärker ausprobierte und mit dem schwankenden Schritt eines betrunkenen Seemanns, der sich selbst Mut einredet, hin und her schritt, um Anweisungen zu geben. Das Konzertpodium lag unter uns unmittelbar am Ufer eines von Schwänen und kleinen Ruderbooten durchpflügten Sees und wurde halbkreisförmig von ansteigenden Rasenstufen umgeben. Darauf saßen, lagen, rauchten, tranken und tanzten Hunderte von jungen Leuten. Die Sonne schien, es herrschte eine friedliche, schwebende Stimmung. Ich hielt mit der einen Hand Baskos Halsband, mit der anderen Jonathans Unterarm umklammert und war nervöser als je in meinem Leben. Schließlich trat Michi vors Mikrofon, räusperte sich mehrmals, strich sich die schweißverklebten Locken aus dem Gesicht und kündigte tapfer, wenngleich mit brechender Stimme, den Titel der ersten Nummer an. Das Programm, das ich Ton für Ton auswendig kannte, nahm recht und schlecht seinen Lauf. Harry verpatzte sein Klaviersolo, der Bassist war ganz offensichtlich angetrunken, aber Alex saß lässig am Schlagzeug, und Michi legte ein paar rasante Gitarrenläufe hin. Einige Leute klatschten, andere pfiffen, in der ersten Reihe begann sich ein Mädchen in roten Pluderhosen hingebungsvoll im Takt zu wiegen. Es hätte – so schien mir – schlechter laufen können. Dann kam die letzte Nummer mit dem komplizierten fünfstimmigen Refrain. »Krall dich doch nicht so fest, ich hab schon ganz blaue Flecken«, sagte Jonathan. Er sprach mit der heiteren Stimme des Ahnungslosen. Er hatte nie etwas von Trefferquoten gehört, geschweige denn davon, daß sie speziell bei diesem Lied allerhöchstens bei fünfzig Prozent lagen. »Poor boy, poor boy! Poor boy, poor boy – all girls gone!« schallte es klagend und um einen Viertelton verrutscht durch den sommerlichen Park. Im gleichen Augenblick riß sich Basko von mir los, sprintete wie ein Verrückter im Zickzack durch das friedlich lagernde Publikum Stufe um Stufe hinunter zur Bühne, hechtete mit einem Satz aufs
69
Podium, setzte sich starr nieder, legte den Kopf zurück und stieß einen hohen, winselnden Ton aus. Dabei sah er aus wie ein Karpfen, der nach Luft schnappt. Als der Refrain mit einem wackeligen Ton geendet hatte, jaulte Basko noch einmal kurz auf, suchte schnüffelnd seinen Weg zu Michi und rollte sich vor ihm zusammen. Das Publikum pfiff und tobte vor Vergnügen. Fünf Strophen hatte das Lied von dem armen Jungen, dem alle Mädchen wegliefen – fünfmal stimmte Basko in den Refrain mit ein. Die Zuhörer der ersten Reihen drängten sich in dichten Trauben um die Bühne, schrien: »Zu-ga-be! Zu-ga-be« und klatschten rhythmisch in die Hände. »Warum pfeifen sie denn nur?« brüllte mich meine Mutter durch den Lärm an. »Ich finde es nicht nett, daß sie Michi auspfeifen. Gut – die Musik, die er macht, klingt scheußlich, aber pfeifen, das ist gemein, das ist unfair! Hören Sie sofort auf zu pfeifen!« wendete sie sich streng an einen jungen Mann neben sich, der sie verdutzt ansah. Ich erklärte meiner Mutter, daß Pfiffe zwar in der Oper Mißfallen ausdrücken, bei einem Popkonzert aber anerkennend gemeint sind. »Ach so«, sagte sie, hielt mit der einen Hand ihren Hut fest, legte die andere als Trichter an die Lippen und gab einen erstaunlich kräftigen Pfiff von sich. »Prima, Oma«, sagte der junge Mann neben ihr anerkennend. Kein Zweifel, das Konzert war nicht zuletzt wegen Basko ein Erfolg geworden. In den folgenden Wochen versuchte die Band, Basko als eine Art Maskottchen zu dressieren. Es war vergebens. Sie konnten singen und spielen, was sie wollten, es interessierte ihn nicht. Er lag in seinem Korb, den Kopf unter sein Häkelkissen gewühlt, die pralle Hinterseite der Menschheit zugekehrt, ein Bild verzweifelter Abscheu. Die Band zerfiel kurz darauf. Immer neue Bassisten, Schlagzeuger und Sänger strömten durch unser Haus, immer neue Instrumente wurden in oder aus dem Keller getragen, bis Michi eines Tages sein Interesse und seine Energie einem gänzlich anderen Gebiet zuwandte! Es hieß Kiki, hatte lange braune Haare und grüne Augen, die ein
70
ganz kleines bißchen schielten. Jedenfalls sagte Jonathan eines Abends zu mir: »Sag mal, es ist doch Donnerstag. Warum ist es denn so leise hier? « Ich sagte: »Mit der Band ist es aus. Michi interessiert sich jetzt für etwas anderes.« »Wofür denn?« fragte Jonathan zerstreut und wandte sich Herrn Köpke von der Tagesschau zu. »Ich erzähl dir’s mal, wenn es gerade keine Nachrichten gibt«, sagte ich. Aber Jonathan hatte mir gar nicht zugehört. Von da an war der Donnerstag wieder ein Tag wie jeder andere. 12 Basko war nicht nur der schönste und gescheiteste, sondern auch der charaktervollste Hund aller Hunde – darüber gab es in unserer Familie keinen Zweifel. Um ehrlich zu sein, es war einer der wenigen Punkte, über den es in unserer Familie nicht vier verschiedene Meinungen gab, die jeweils mit unterschiedlicher Lautstärke vorgetragen wurden. Wobei Jonathan seine Meinung besonders heftig und unlogisch, Michi die seine hingegen besonders beharrlich und wohldurchdacht kundtat. Christian und ich hatten auch jeder seine Meinung. Wir kamen aber häufig gar nicht dazu, sie zu äußern, weil wir ausreichend damit beschäftigt waren, die Harmonie zwischen Michi und Jonathan wieder herzustellen. Um auf Basko zurückzukommen: gewiß, es mochte Hunde geben, die an der Leine gingen, ohne einem den Arm auszurenken oder einen in ein unentwirrbares Knäuel aus Leine, Hand- und Einkaufstasche zu verwickeln. Es mochte auch Hunde geben, die sich setzten, wenn man »Sitz« sagte, und sich auf das Gebot »Platz« niederlegten, und zwar nicht nur für eine verspielte Sekunde lang. Und ganz zweifelsohne gab es Hunde, die Pfote geben konnten, und die den Stock, den man für sie warf, nicht nur zurückbrachten, sondern einem auch zu Füßen legten, anstatt sich zähnefletschend an ihm festzukrallen und den am anderen Ende hängenden Menschen kräftig hin- und herzuschütteln. 71
Aber es gab ganz gewiß nur wenige Hunde, die niemals und unter gar keinen Umständen bettelten. Basko war solch ein Hund. Dabei war diese Eigenschaft nicht etwa ein Ergebnis konsequenter Erziehung, sie hatte sich vielmehr ganz selbstverständlich entwickelt. Basko akzeptierte von Anfang an, daß die Tätigkeit, der seine Familie hoch oben an irgendeinem Tisch mit Tellern und Besteck klappernd nachging, nichts mit ihm zu tun hatte, gleichgültig, welch verlockende Gerüche zu ihm hinunterdrangen. Er rollte sich unterm Tisch oder, wenn das nicht möglich war, in gebührender Entfernung am Boden zusammen, blinzelte träumerisch in die Ferne und bekundete deutlich sein Desinteresse. Daß er dabei tropfte wie ein undichter Wasserhahn, dafür konnte er nichts. Ganz selten – aber da mußte es schon einen Rehrücken in Rahmsoße, eine gefüllte Ente oder Dampfnudeln mit Vanillesoße geben – setzte er sich aufrecht auf die Hinterbeine und verfolgte jeden Bissen, den Jonathan zu sich nahm, auf dem Weg vom Teller über die Gabel in den Mund mit gerunzelter Stirn und ernster Ausdauer. Das war das äußerste, was er sich an Anteilnahme gestattete. Überflüssig zu sagen, daß Basko tatsächlich nie etwas bei Tisch zugesteckt bekam. Außer natürlich von Onkel Pubo, aber das zählte nicht. Ein einziges Mal in seinem zehnjährigen Hundeleben unterlag Baskos Charakter im Kampf gegen seine Gier nach Süßem. Er hat nie erfahren, daß wir Zeugen dieses dramatischen Fehltritts waren. Betroffen wurde dadurch ausgerechnet Tante Tonia, die einzige Person weit und breit, die Süßigkeiten noch weniger widerstehen konnte als Basko. Tante Tonia, von Christian in früheren Kinderjahren aus einem technischen Mißverständnis heraus Tanker Tonia genannt, ein Name, den sie nie erfuhr, obgleich er sehr gut zu ihr paßte, Tante Tonia also war eine Cousine meiner lieben Mutter und mit unserer Familie nur noch weitläufig verwandt. Sie hatte kräftiges schneeweißes Haar, stützte sich auf einen Krückstock mit Elfenbeinknauf, sprach mit lauter, heiserer Stimme, war herzensgut und verbreitete dennoch majestätische Würde um sich. Tante Tonia war zwischen fünf Brüdern aufgewachsen, deren wildes Betragen die Familie zu
72
häufigen Wohnungswechseln gezwungen hatte. Sie erbten von ihrem Vater gemeinsam eine gutgehende Fabrik. Seiner einzigen Tochter setzte der besorgte Vater eine lebenslange fürstliche Rente aus, die Tante Tonia trotz mehrerer Geldentwertungen, Inflationen und Wäh rungsreformen noch hoch in den Achtzigern ein sorgenfreies Leben gestattete. Dennoch hatte sie sich ihren ausgeprägten Sinn fürs Praktische erhalten. So waren zum Beispiel ihre Geburtstagswünsche, die sie auf langen Listen durch die Verwandtschaft reichte, berühmt. Auf dem Gabentisch zu ihrem Achtzigsten häuften sich unter vielen anderen nutzbringenden Dingen hundert Rollen reinsten Klopapiers, mehrere Dutzend Glühbirnen, einige Großpackungen Tempo-Taschentücher, zwei Tonnen besten Waschpulvers, dazu Küchenschwämme, Scheuersand, Silberputztücher, Kartons mit Sandelholzseife, vier Dauerwürste und mehrere Flaschen Hustensaft. Sie selbst revanchierte sich bei allen Nichten, Enkelinnen, Basen und Patenkindern durch die Anfertigung von allerlei Nachtbekleidung aus preiswertem Ausverkaufsstoff. Ohne einen neuen Pyjama von Tante Tonia waren weder Weihnachts- noch Geburtstagsfeste in der engeren Familie denkbar. Da ich nur zur weiteren Familie gehörte, war ich zwar nicht in die Pyjama-Aktion einbezogen, durfte aber als Großnichte zweiten Grades dennoch gelegentlich an Tante Tonias Kaffeetafeln teilnehmen. Dabei lernte ich ständig reizende Damen und Herren kennen, die ich sofort duzen und mit Mimi, Mädi oder Bärle anreden mußte, weil sie über viele Ecken mit mir verwandt waren und wir doch als Vierjährige bei Tante Tonia im Sandkasten gespielt hatten. Außer der Familie hatte Tante Tonia noch zwei Leidenschaften, die jeder kannte und respektierte: Zum einen aß sie für ihr Leben gern Kuchen, Torten und andere Süßigkeiten. Je mehr Schokolade, Schlagrahm und fette Cremes hineinverarbeitet waren, desto lieber waren sie ihr. Weniger als vier verschiedene Kuchen durften niemals auf einem Kaffeetisch stehen, zu dem Tante Tonia geladen war. Das wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Ihre zweite Leidenschaft war der Schlußverkauf, egal, ob er im Winter oder im Sommer, bei Glatteis und Minustemperaturen, bei
73
strömendem Regen oder sengender Hitze stattfand. Diese Leidenschaft teilte Tante Tonia im übrigen mit meiner Mutter. Die beiden Damen waren – man kann es nicht anders ausdrücken – geradezu ausverkaufssüchtig. Tante Tonia spezialisierte sich auf preiswerte Baumwollstoffe, die sie meter-, ja ballenweise nach Hause schleppte, so daß ein einziges Geburtstagsgeschenk sie schließlich samt Rüschen, Schleifen und Knöpfen nur noch drei Mark fünfzig kostete. Meine Mutter hingegen jagte vor allem modischer Kleidung nach und freute sich wie ein Kind, wenn sie »ein sehr anständiges Theaterkleid, ganz dezent lila und grün geblümt«, zu einem sensationell herabgesetzten Preis ergattert hatte. »Wieviel glaubst du, daß ich dafür bezahlt habe?« fragte sie mich und hielt das Kleid attraktiv gerafft vor sich hin. – »Einhundertachtzig?« riet ich. -»Falsch!« rief sie triumphierend. – »Einhundertfünfzig!« – »Falsch!« – »Hat es womöglich unter hundert gekostet?« rief ich ungläubig. – »Jawohl! Neunundneunzig, heruntergesetzt von dreihundertzwanzig, und das bei dieser Qualität!« Mein vorsichtiger Einwand, daß Lila und Grün doch eigentlich nicht ihre Farben seien, wischte sie mit der Bemerkung beiseite: »Natürlich nicht. Aber gerade wegen dieser Farbzusammenstellung war es doch so preiswert. Ich brauche jetzt dazu natürlich passende Schuhe und ein Seidentuch, aber im Schlußverkauf findet man das ja alles spottbillig.« Manchmal ließ ich mich von ihrem Jagdfieber anstecken, fuhr in die Stadt und kam nach stundenlangen ermüdenden Wanderungen total erschöpft und deprimiert mit einer sündteuren Bluse oder einem Hosenanzug zum regulären Preis nach Hause. Ich war einfach schlußverkaufsuntauglich. Dieses Mal hatten sich meine Mutter und Tante Tonia gemeinsam ins Getümmel gestürzt und meine Einladung, anschließend mit ihrer Ausbeute zu mir zum Kaffee zu kommen, freudig angenommen. Ich lag sowieso an ihrer Straßenbahnlinie. Als sie ihre vielen Tüten und Pakete abgestellt, Basko begrüßt und mir die wichtigsten Stücke zum schätzen des Preises gezeigt hatten, saßen wir endlich friedlich auf der Terrasse, und Tante Tonia
74
überblickte mit Kennerblick das Angebot. Es bestand aus Erdbeertorte, Schwarzwälder Kirschschnitten, Käsekuchen und ihrem Lieblingsgebäck, einem sogenannten Schokoladenigel, eine schwere, süße, halbrunde Angelegenheit, die mit lauter weißen Mandelsplittern gespickt war. Tante Tonia schaufelte genüßlich ein Stück nach dem anderen in sich hinein, meine Mutter griff herzhaft zu, ich vergaß trotzig meine Kalorientabelle, und zuletzt kamen noch Michi und Christian von der Schule und machten sich über die Reste her. Am Ende war nur noch ein einziges, schönes, fettes Stück Schokoladenigel übrig. »Dies«, sagte Tante Tonia schwer atmend, »hebe ich mir für später auf. Jetzt möchte ich gern den Karel Gott im Fernsehen anschauen.« Wir geleiteten sie ins Wohnzimmer, verteilten uns satt und schläfrig vor dem Fernsehapparat, aus dem das Lied von Babuschka erklang. Der von unserer Kuchenschlacht gezeichnete Kaffeetisch stand unmittelbar, wenn auch durch eine breite Fensterscheibe von uns getrennt, vor unseren Augen. Plötzlich sah ich aus dem rechten Augenwinkel, daß Basko, der die ganze Zeit unbeteiligt unter dem Strauch an der Balkonsäule gelegen war, aus dem Gewirr der Zweige hervorkroch, sich streckte und dehnte, das Maul zu einem angelegentlichen Gähnen aufriß und dann wie zufällig zum Kaffeetisch wanderte. Er schnüffelte ein bißchen in die Gegend, sprang dann plötzlich mit den Vorderpfoten auf einen Stuhl und schob seine breite, schwarze Schnauze langsam an den Teller mit dem einsamen Stück Schokoladenigel heran. Ich klopfte ans Fenster und rief: »Basko, pfui, schäm dich!« Er zuckte zusammen, schaute mich erschrocken durch die Scheibe an, trollte sich und legte sich in gebührender Entfernung nieder. »Kannst du bitte die Vorhänge zuziehen, die Sonne blendet so«, sagte Tante Tonia. Ich tat’s. Kurz darauf erschien hinter dem bodenlangen Vorhang der Schatten eines Hundes. Sein großer eckiger Kopf mit den herabgezogenen langen Lefzen, die spitzen Ohren und der hochaufgerichtete Stummelschwanz zeichneten sich wie ein dunkler Scherenschnitt auf dem glatten, hellen Leinenstoff ab. Langsam
75
näherte sich der Schatten dem Tisch und fixierte den Teller mit dem Kuchenstück. Dann wendete er den Kopf fragend zur Fensterscheibe und sah nach, wo wir waren. Wir waren weg. Er schob die Schnauze vorsichtig näher zum Fenster. Wir waren immer noch weg. Da schnappte er mit einer hastigen Bewegung das Igelstück und fraß es gierig unmittelbar vom Teller. Wir konnten das aufgeregte Spiel seiner Ohren, den angespannten Körper, sogar seine Zunge, die den Teller ableckte, gestochen scharf wie in einem chinesischen Schattenspiel beobachten. Es war so komisch und spannend zugleich, daß wir Karel Gott in seinem weißen Smoking völlig vergaßen. »Mein schöner Schokoladenigel«, seufzte Tante Tonia. »Na, den Basko werd ich aber ausschimpfen, wenn das Lied zu Ende ist«, kündigte ich halb lachend, halb ärgerlich an. »So ein Gauner. Denkt, wir sehen ihn nicht, weil er uns nicht sieht, und schon benimmt er sich wie ein ganz gewöhnlicher, verfressener, unerzogener Hund.« »Nein, Moß, das darfst du nicht«, sagte Christian. »Der Basko ist zwar vielleicht ein verfressener, aber kein gewöhnlicher Hund. Er hat eine so empfindsame Seele. Wenn er merkt, daß wir gesehen haben, wie er den Kuchen gefressen hat, dann schämt er sich furchtbar. Dann verliert er sein Gesicht. So nennen das die alten Römer.« »Du meinst die alten Chinesen«, verbesserte Michi und fügte hinzu: »Aber sonst hat der Christian recht, Moß. Wir dürfen den Basko nichts merken lassen.« »Na hört mal«, trompetete Tante Tonia. »Euer Basko ist doch ein Hund und kein Mensch.« »Eben«, sagte Christian. Wir gingen alle in den Garten hinaus. Basko lag zwischen den Gänseblümchen, hatte die Schnauze so fest auf die ausgestreckten Vorderpfoten gepreßt, daß noch mehr Kummerfalten als sonst seine Stirn zerfurchten, und blickte uns schuldbewußt entgegen. Christian rief: »Basko, such’s Balli.« Da sprang er auf, durchpflügte außer sich vor Freude und Erleichterung das Gebüsch am Gartenzaun und präsentierte seinen alten, schmierigen, eingedellten Ball, den man ihm nur deshalb aus
76
den Zähnen reißen konnte, weil er so glitschig war. Christian schleuderte den Ball, so weit er konnte, Basko folgte ihm in langen Sprüngen. Tante Tonia aber erzählte noch viele Jahre lang empört die Geschichte von dem Hund mit der empfindsamen Seele, der ihren Schokoladenigel gefressen hatte. 13 Christian ließ sich mir gegenüber in den Sessel fallen, legte die Beine quer auf die Couch und sagte: »Moß, du hast meine Unterhosen rosa gewaschen.« Ich schaute von meinem Buch auf, wollte gerade sagen: »Nimm doch bitte die Füße von der Couch!«, unterdrückte diesen häufig angewandten, gänzlich wirkungslosen Satz und dachte statt dessen: Mein Gott, ist der Junge gewachsen! Und was für breite Schultern er hat! Schade, daß seine Füße so groß sind, das hat er von mir – na ja. Aber die Augen und die blitzenden Zähne, die gleichen die Schuhnummer leicht aus. Wirklich – die Zahnspange hat sich gelohnt. Locken hat er zwar keine, aber seine Haut ist noch glatter und brünetter als die von Michi. Kurzum, er ist ein Bild von einem Sohn. Das finden natürlich alle Mütter von ihren Söhnen. Aber in Christians Fall ist es die reine Wahrheit. Als Journalistin bin ich schließlich daran gewöhnt, die Dinge objektiv zu sehen. »Moß, kannst du mir mal einen Augenblick zuhören?« begann Christian von neuem und kraulte Basko, der sich neben ihm auf den Rücken gerollt hatte. Seine Pfoten hingen schlaff nach außen, und die Lefzen waren seitlich weggeklappt, so daß man ihre rosa Innenseite sehen konnte. Es gab wirklich ästhetischere Anblicke als einen Boxer, der auf dem Rücken lag und sich wand wie ein Aal, um die Balance zu halten. Andererseits bedeutete diese Stellung bei Basko, daß er sich ungeheuer wohl fühlte und zur Steigerung dieses Wohlbefindens ganz dringend und sofort am Bauch gekrault werden mußte. »Wie kann ein Hund nur so haaren«, seufzte ich. »Eigentlich müßte er längst kahl sein, wenn ich mir überlege, daß Frau Weiß und 77
ich mehrmals die Woche ganze Staubsaugerbeutel voller Hundehaare in die Tonne kippen. Von denen auf den Autositzen, an meinen schwarzen Kordhosen und an allen Mantelsäumen in der Garderobe ganz zu schweigen. Kannst du ihn nicht ein bißchen sanfter streicheln? Die Haare rieseln ja geradezu auf den Teppich.« »Okay«, erwiderte Christian. »Aber eigentlich wollte ich mit dir darüber reden, daß meine Unterhosen plötzlich alle rosa sind.« »Na und?« erwiderte ich. »Das kommt von der neuen Leinentischdecke. Ich hab noch extra nachgeschaut, ob sie sechzig Grad in der Waschmaschine aushält. Aber irgend etwas muß da verkehrt gestanden haben. Jedenfalls hielt sie’s doch nicht aus. Unsere Kopfkissen und ein paar Unterhemden von Jonathan sind auch rosa aus der Maschine gekommen. Aber das ist doch egal, oder?« »Also, ich wollte dir sagen, mir ist es nicht mehr egal, ob meine Unterwäsche rosa oder lila oder hellgrün ist«, sagte Christian. »Du übertreibst. Hellgrün war sie lange nicht mehr«, erwiderte ich. »Lila, gebe ich zu. Das kam von deinem indischen Baumwollhemd, das angeblich vorgewaschen sein sollte. Unsere rosa Frottierhandtücher wurden bei der Gelegenheit übrigens dunkelbraun, aber das paßt eigentlich ganz gut zu den Badezimmerkacheln.« Komischerweise gehen mir solche Sachen immer nur schief, wenn ich am nächsten Tag zu einer Reportage weg muß, fiel mir ein. Da krieg ich zuvor diesen häuslichen Aktivitätenschub und will einfach alles, was anliegt, noch rasch erledigen. Das muß mit einem verdeckten Schuldgefühl zusammenhängen. »Sag mal ehrlich«, fragte ich Christian. »Habt ihr als Kinder sehr unter meinem Beruf gelitten? Ich meine nur, wenn ich dieses ewige schlechte Gewissen einmal abschütteln könnte, dann würden vielleicht nicht immer so dämliche Sachen passieren wie mit der Wäsche, oder daß ich in rasender Eile noch schnell einen Topf Spaghettisoße vorkochen will, der dann so anbrennt, daß das Haus noch danach riecht, wenn ich wieder zurückkomme.« Ich fühlte mich heiter und entspannt. Ich hatte vor einer halben Stunde die letzte Folge einer zähen Serie beendet und wußte, daß ich
78
heute nachmittag nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr zu erledigen hatte. Vor mir stand ein gelber Narzissenstrauß und eine Kanne Kaffee, neben mir lag ein Stapel Bücher, in denen ich schmökern wollte, und jetzt saß da noch mein ausnehmend hübscher älterer Sohn und hatte das Bedürfnis, mit mir zu plaudern. Wirklich, ich hatte Grund, glänzender Laune zu sein. »Moß«, sagte mein älterer Sohn zu mir mit dem Tonfall eines nachsichtigen Hausarztes. »Ich finde alles, was du machst, also sagen wir das meiste, prima. Ich glaube auch nicht, daß wir als Kinder besonders unter deinem Beruf gelitten haben. Das kannst du vergessen. Und die Pasta asciutta hängen Michi und mir sowieso zum Hals heraus; die brauchst du nie mehr vorzukochen. Wir können nämlich inzwischen ganz gut Spiegeleier braten. Das einzige, um was ich dich wirklich bitten möchte, ist, daß du meine Unterhosen nicht mehr rosa oder lila wäschst. Wenn es irgendwie geht, auch nicht dunkelgrau. Um ehrlich zu sein, am liebsten wären sie mir weiß, ganz neutral und unauffällig weiß!« Basko wälzte sich auf den Bauch, gähnte quietschend mit weit aufgerissener Schnauze, ließ eine kleine dezente Schwefelwolke fahren und schlief schnarchend ein. Ich schaute Christian an, wie er dasaß, breitschultrig und lässig, die ersten drei Hemdknöpfe offen, die Füße inzwischen an die Tischkante gestützt, und sagte ganz spontan und unabsichtlich: »Sag mal, hat das etwas mit Randy zu tun?« Randy war eine Klassenkameradin von Christian, die erst vor kurzem an die Schule gekommen war. Sie war zwei Jahre älter als die anderen, hatte ein klar geschnittenes, energisches Gesicht, eine Menge niedlicher Sommersprossen und kurze, hellblonde Haare. Außerdem besaß sie sowohl die Figur wie auch das Wesen einer selbstbewußten jungen Frau. Als Christian von einer Klassenreise nach Florenz zurückgekommen war, fragte ich ihn: »Wo ist denn dein dunkelblauer Pullover.« Er sagte: »Den hat Randy.« Ein wenig später erkundigte ich mich, woher er das intensiv duftende Rasierwasser habe, das so penetrant durch alle Türritzen drang. Er sagte: »Ich hab’s von Randy.« Auch das Referat über Kafka machte er zusammen mit Randy. Randy schien zudem hervorragend Squash
79
zu spielen. Damals hielt ich Randy noch für einen der vielen Knaben, die im Gefolge von Christian durch Haus und Garten strömten, ohne je länger zu verweilen, weil Christian im Gegensatz zu seinem Bruder ein geselliger Typ war, dem vor allem in den Abendstunden jeder Biergarten, jedes Poplokal oder Lagerfeuer an der Isar reizvoller erschien als der häusliche Umkreis. Eines Tages sagte er zu mir: »Heute nachmittag bringe ich Randy mit.« Ich nickte zerstreut und bereitete eine Stunde später artig Kaffee für eine junge Dame in Pluderhosen und giftgrüner Bluse. Nachdem sie mit Christian in sein Zimmer entschwunden war, um das Kafka-Referat zu vertiefen, ärgerte ich mich, daß ich keinen schickeren Pullover angehabt hatte. All dies schoß mir durch den Kopf, als ich jetzt Christian gegenübersaß und fragte: »Ist es wegen Randy?« Er wurde ein bißchen rot und antwortete: »Ja, es ist wegen Randy. Und im übrigen wollte ich dir sagen, daß Randy und ich bis auf weiteres zusammenbleiben wollen.« Ich setzte klirrend meine Kaffeetasse ab und versuchte, Haltung zu bewahren. In meinem Kopf rollten in rasender Geschwindigkeit etwa folgende Gedanken ab: Was sagt eine Mutter in solch einer Situation? Wie alt ist dieser Sohn überhaupt, siebzehn oder achtzehn? Hab ich ihn eigentlich jemals aufgeklärt? Doch, ja, hab ich. Aber da war er erst sieben Jahre alt und Michi fünf, und irgendwie war das kein rechter Erfolg. Ich weiß es noch wie heute. Ich hatte in einer Zeitschrift gelesen, man müsse Kinder so früh wie irgend möglich aufklären, damit sie keine häßlichen Dinge aus der Gosse hören. Jawohl, Gosse! Das fand ich besonders beeindruckend, obwohl es in unserer winzigen Sackstraße in Waidenried gar keine Gosse gab. Dennoch – ich mußte für eine Reportage vierzehn Tage nach Afrika verreisen, meine Mutter würde wie immer Haus, Garten, Mann und Kinder in ihre kundigen Hände nehmen, das hatte sich bisher bestens bewährt, aber jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, wenn ich zurückkomme, könnte es zu spät sein. Eine Art Panik ergriff mich. Sicher, ich hatte in
80
meiner üblichen Hektik vor einer beruflich bedingten Reise so ziemlich alles erledigt, was zu erledigen war: das Rosenbeet gejätet, die Polster der Gartenmöbel zum Überziehen gegeben, drei Hosen von Jonathan in die Blitz-Reinigung gebracht und von dort auch wieder abgeholt, nur die Kinder waren noch unaufgeklärt, da half kein Drumherumreden und kein bequemes Augenverschließen – das mußte erledigt werden, und zwar gleich. Morgen startete die Maschine in Richtung Khartum. Die Zeit war mehr als knapp. Ich klärte also Michi und Christian auf, wie es die populärwissenschaftliche Zeitschrift verlangt hatte: taktvoll, aber klar, und ohne Blüten und Bienen (was mir ohnehin schwergefallen wäre, weil ich nie begriffen hatte, wann und warum Bienen welchen Blütenstaub wohin tragen und wieso das junge Bienen oder Blüten gibt. Biologie war einfach nicht meine Stärke). Die beiden saßen bei dieser denkwürdigen Gelegenheit in der Badewanne, warfen mit nassen Waschlappen um sich, und Michi sagte immerzu: »Hör doch mit diesem kleinen Ei und dem Samen auf, ich will mein Unterseeboot haben, und der Christian ist gemein, weil er es mir nicht gibt.«
Immerhin – ich hatte meine Pflicht getan und fuhr beruhigt nach Afrika. Kurz nach meiner Rückkehr fiel mir ein Artikel in die Hände, in dem eine Psychologin vor allzu früher Aufklärung warnte und statt dessen verlangte, man solle Kindern nur jeweils ihre diesbezüglichen Fragen beantworten. Von da an wartete ich unruhig darauf, daß Michi und Christian etwas fragten. Aber sie fragten nichts, egal, wie kunstvoll ich das Gespräch auf Babys, schwangere Nachbarinnen und ähnliches lenkte. Sie fragten einfach nichts. Das heißt, sie fragten von morgens bis abends ununterbrochen Sachen, die ich nicht beantworten konnte. Zum Beispiel, wie man aus Legosteinen einen Traktor baut, warum die elektrische Eisenbahn dreimal hintereinander einen Kurzschluß verursachte und ob der Richard tot umfalle, wenn man ihn mit einer Schaufel auf den Kopf haut. Das alles und noch viel mehr wollten sie
81
wissen, nur nicht, woher die kleinen Kinder kommen. Später, als wir von unseren zwei Jahren in London zurückkamen, löste sich das Problem von selbst. Da lud der nette junge Biologielehrer von Michi und Christian die Eltern seiner Schüler zu einem Informationsabend ein. Kaum hatten dreiundzwanzig Mütter und ein vereinzelter Vater in den Bänken Platz genommen, begann er damit, uns sachlich und einfühlsam über die Tatsachen des Lebens aufzuklären. Genau denselben Vortrag wolle er morgen unseren Kindern halten, ob jemand etwas dagegen einzuwenden habe, fragte er zuletzt. Niemand meldete sich, alle waren tief beeindruckt. Jedenfalls glaube ich nicht, daß irgend jemand so gründlich und behutsam aufgeklärt worden ist wie ich im Alter von zweiunddreißig Jahren vom Biologielehrer meiner Söhne. Es ist unglaublich, in welcher Geschwindigkeit einem Erinnerungen durch den Kopf schießen können. Ich hatte gerade erst die Kaffeetasse abgesetzt, die Bemerkung meines Sohnes, er wolle bis auf weiteres mit Randy zusammenbleiben, hing noch in der Luft, es war kaum mehr als eine Sekunde vergangen. Dennoch mußte ich nun irgend etwas antworten. Ich schluckte also zweimal und sagte so unbefangen wie möglich: »Ich finde es nett, daß du mir das mitgeteilt hast. Mir scheint, Randy ist ein vernünftiges, intelligentes Mädchen, aber du solltest bedenken, ihr geht beide noch zur Schule, für eine feste Bindung scheinst du mir reichlich jung zu sein, du hast ja noch keine Erfahrung, also, ich hoffe, daß du… ich meine, ein Baby wäre… Um es kurz zu machen, ich hoffe, Randy nimmt die Pille«, beendete ich meinen Satz, bevor ich gänzlich ins Stottern geriet. Christian schaute mich erstaunt an und sagte: »Moß, du bist süß. Ich verstehe auch, daß du dir Sorgen machst. Aber du kannst ganz beruhigt sein. Randy ist nämlich nicht die erste junge Dame, zu der ich näheren Kontakt aufgenommen habe.« »Dann ist ja alles in Ordnung«, murmelte ich und genierte mich furchtbar, denn natürlich hatte ich angenommen, daß Randy die erste junge Dame war. Jonathan fand später, taktvoller könne ein Sohn seine Mutter kaum über sein Intimleben informieren. »Jedenfalls kann ich mich
82
nicht daran erinnern, daß seinem Mund in den letzten fünf Jahren jemals ein so gepflegter, tadellos formulierter Satz entfleucht ist«, fügte er sarkastisch hinzu. »Meistens hat er doch nur Bock auf Sachen, die echt saugut sind und es total bringen.« Von nun an trennte sich Christian alle vier Monate für immer von Randy. Die restliche Zeit verbrachte er fast ausschließlich mit ihr. Zwischendurch riefen auch andere Mädchen an, eine davon hatte eine besonders rauchige, sexy Stimme. Sie geriet wegen Christians ständiger Abwesenheit häufig an Michi, der die neue Lebensphase seines Bruders interessiert beobachtete. Ich stand gerade in der Küche und machte Semmelknödel, was große Konzentration erfordert, als Michi hereinkam und sagte: »Der Christian hat Erfolg bei Frauen, gell?« »Doch ja«, gab ich zu, »das hat er, glaub ich.« Pause. »Ich tu mich auf dem Gebiet schwerer, gell?« sagte Michi fragend. »Du bist ja auch zwei Jahre jünger«, erwiderte ich. »Schon, aber ich glaube, mir liegt das überhaupt nicht so, einfach auf Menschen oder auf Mädchen zuzugehen. Ich glaube, der Christian ist da mehr wie du, und ich bin mehr wie der Papa. Ist das jetzt günstiger oder weniger günstig – was meinst du?« »Ich würde mir nicht so viele Gedanken drüber machen«, sagte ich. »Du meinst also«, vergewisserte sich Michi, gründlich wie er war, »daß auch ich mal eine Freundin finde, obwohl ich ja wegen der Band eigentlich sowieso keine Zeit für so etwas habe.« Ich schaute ihn an, wie er dastand mit seinem braunen Lockenschopf, den üppigen Lippen und den langbewimperten Mandelaugen und dachte an meine Freundin Tamara, die immer, wenn sie Michi sah, ganz hingerissen rief: »Auf den mußt du aufpassen. Den reißen dir die Mädchen eines Tages unter den Händen weg. Also, wenn ich noch mal siebzehn wäre…« Nun, sie war längst keine siebzehn mehr, aber das schwärmerische, ständig vor Begeisterung übersprudelnde Temperament hatte sie sich erhalten. Jedesmal, wenn wir uns trafen, riß sie mich an ihren
83
üppigen Busen und küßte mich links und rechts auf die Wange, daß mir die Luft wegblieb. Jonathan, spontanen Zärtlichkeitsbeweisen ohnehin abgeneigt, bekam immer ganz erschreckte Augen, wenn Tamara auf ihn zueilte, und streckte ihr schon von weitem die Hand entgegen, um auf diese Weise ihrer Umarmung zu entkommen. Manchmal gelang es ihm. Jedenfalls schienen ihre Befürchtungen, was Michis Wirkung auf Mädchen betraf, zunächst ganz überflüssig zu sein. Manchmal wunderte ich mich selbst darüber. »Weißt du«, tröstete ich Michi, während ich eifrig die Knödel rollte. »Du bist eben ernsthafter und komplizierter veranlagt als dein Bruder. Ein Mädchen, das zu dir paßt, muß schon ein besonderes Niveau haben.« Und viel, viel Geduld, fügte ich in Gedanken hinzu. Laut sagte ich: »Mir scheint die Sache ganz klar. Du läßt dir etwas mehr Zeit damit, eine Freundin zu finden, weil du höhere Ansprüche stellst.« »Meinst du, das ist so, Moß?« fragte Michi erleichtert. »Klar«, sagte ich. »Ich bin froh, daß du das auch so siehst«, meinte er und zog befriedigt von dannen, um sich in ein Jugendwerk von Hermann Hesse zu vertiefen, bevor er damit begann, Gitarre zu üben. »Wie können zwei Söhne nur so verschieden sein«, murmelte ich und ließ die Knödel ins kochende Wasser gleiten. Basko verhielt sich Randy gegenüber reserviert. Er behandelte sie – wenn man so sagen kann – mit kühler Höflichkeit. Christian hingegen vernachlässigte zwar manches wegen Randy, Mathematik zum Beispiel, niemals aber seine Spazierfahrten mit Basko. Das fand ich nett. Ob Randy es besonders nett fand, weiß ich nicht. Sie war jedenfalls ein sehr kluges Mädchen. Eines Tages, als sie kam, sprang ein kohlschwarzes, spitznasiges Etwas, mit Ringelschwanz und flinken Knopfaugen um sie herum. Dies sei Balla, erklärte sie. Sie habe sie aus dem Tierheim geholt. Christian war begeistert. »Jetzt können wir zu viert Spazierengehen, du und ich und Basko und Balla«, sagte er. Sie versuchten es ein einziges Mal. Es muß furchtbar gewesen sein. Basko und Balla verhedderten sich hysterisch tobend in ihren Leinen, rissen im gestreckten Galopp
84
einen älteren Herrn um, brachten einen Radler zum Kentern und versetzten junge Mütter, die friedlich ihre Kinder an der Hand führten, in Panik. Von da an gingen Randy und Christian zu zweit spazieren. Ich bewachte indessen Basko und Balla, die sämtliche Tulpenzwiebeln aus der Erde scharrte, auf die jungen Schneeglöckchen pinkelte und einen trägen, tief beleidigten Basko umbellte. Ich war wütend und hatte das Gefühl, eine wunderbare Mutter zu sein. Das war schließlich auch etwas. 14 Ich kniete leise vor mich hin fluchend am Boden und zerrte ein zerknülltes Schreibmaschinenblatt nach dem anderen aus dem überfüllten Papierkorb. Etwa fünf oder zehn Quadratmeter meines winzigen Arbeitszimmers waren bereits mit Papierknäueln bedeckt, alten Briefkuverts, Zetteln jeder Größe, herausgerissenen Zeitungsnotizen und leider auch Bananenschalen und Joghurtbechern. Basko freute sich wie toll. Er wuselte mit seiner stumpfen schwarzen Schnauze eifrig durch die Überreste einer wenig erfolgreichen Arbeitswoche, schlenzte hier ein paar . zerknitterte Manuskriptseiten in die Luft, verbiß sich dort in einem alten Joghurtbecher, drehte sich auch mal auf den Rücken und wälzte sich auf dem ungewohnt knisternden Untergrund, kurzum, er ging mir sowohl im Weg um wie auch auf die Nerven. Das wußte er natürlich nicht. Er war vielmehr der festen Überzeugung, daß ich diese Papierkorbentleerung ausschließlich zu seinem Zeitvertreib veranstaltete. In Wirklichkeit tat ich es, um das Mittelstück eines Interviews mit einem schwierigen Schauspieler zu finden, das mir ausnehmend gut gelungen schien und zusammen mit weniger geglückten Schreibversuchen in den Papierkorb gewandert sein mußte. Glücklicherweise hatte ich den Papierkorb noch nicht in die Tonne geleert. Meiner Familie war es längst ein vertrauter Anblick, mich mit Gummihandschuhen angetan den Inhalt einer Tonne in die andere umfüllen zu sehen. 85
Außer einem beiläufigen »Aha, der Moß sucht wieder einmal seine Geistesblitze aus dem Müll«, wurde mir keinerlei Mitleidsbezeugung mehr zuteil. Selbst Jonathan hatte seine ironischen Kommentare zu diesem Thema eingestellt, obgleich ihm Zerstreutheit bei der Arbeit ein Greuel war. Das letzte Mal hatte er seine Haltung an einem Mittwoch verloren, als ihn der Briefträger morgens um sechs Uhr aus dem Bett klingelte, um ihm einen an mich adressierten Eilbrief auszuhändigen. Er enthielt ein wichtiges Manuskript, das ich am Abend zuvor unter Aufwendung meiner letzten Kraft zum Nachtpostkasten gebracht, in der Eile aber an mich selbst anstatt an meine Hamburger Redaktion adressiert hatte. Ich fand, das sei jedenfalls ein imponierendes Zeugnis für die Zuverlässigkeit und Schnelligkeit der Münchner Post. Jonathan fand, meine Arbeitsweise sei erschütternd. Ich fand, er solle einmal versuchen, unter meinen häuslichen Bedingungen einschließlich der Gesellschaft Baskos zu arbeiten, anstatt mit Hilfe zweier Sekretärinnen in der konzentrierten Stille seines Redaktionsbüros. Er fand, ich hätte keine Ahnung davon, welche Verantwortung auf ihm laste. Ich fand, er habe keinen Humor. Er fand, mir habe schon immer der nötige Ernst gefehlt. Wir fanden, daß unsere Ehe ein tragischer Irrtum sei und wir in keiner Weise zueinander paßten. Aber das wußten wir sowieso beide. Diesmal hatte ich Glück. Nachdem ich den fünfunddreißigsten zerknüllten Manuskriptbogen auf dem Teppich geglättet hatte, entdeckte ich das Mittelstück meines Interviews. Ich stopfte alles andere wieder in den Papierkorb zurück einschließlich der feuchtschleimigen, von Basko zernagten Manuskriptfetzen, stellte fest, daß das wiedergefundene Mittelstück stilistisch zu wünschen übrigließ, warf es wieder in den Papierkorb und spannte einen neuen Bogen ein. Basko machte ein beleidigtes Gesicht, weil ich nicht mehr mit ihm unterm Schreibtisch herumkroch. Die Haustür ging auf, Basko vergaß, daß er beleidigt war, und stürzte freudig Frau Weiß entgegen.
86
Frau Weiß kam zweimal in der Woche für drei Stunden zu uns, um Basko zu unterhalten. Das jedenfalls war Baskos Überzeugung. Sie benutzte so aufregende Dinge wie Bürsten, Staublappen, nasse Putzlumpen, wuschelige Mops, brummende Staubsauger, und je nach Jahreszeit auch Schneeschaufel und Reisigbesen. All diese Gegenstände waren hervorragend dazu geeignet, an ihnen zu zerren, sich in sie zu verbeißen, mit ihnen quer durch den Garten zu jagen oder auch die Treppe hinauf und hinunter zu rasen, was vor allem mit einem triefenden Putzlumpen zwischen den Zähnen großen Spaß machte. Meine gellenden Rufe wie: »Basko, bring’s Besi! Laß den Lumpen los! Pfui, jetzt hast du den Mop zerrissen!« wurden von Basko mit Nichtachtung, von Frau Weiß mit einem beschwichtigenden »Lassen S’ ihn doch! Er versteht’s ja nicht besser!« quittiert. Worauf ich mich an meinen Schreibtisch zurückzog, die Schiebetür zum Wohnzimmer schloß und jedesmal sehr verwundert war, daß es Frau Weiß in unbeschreiblich kurzer Zeit gelungen war, ein chaotisches Sechs-Zimmer-Haus in ein blitzsauberes, aufgeräumtes Heim zu verwandeln. Frau Weiß war nach unserer Rückkehr aus London zu uns gekommen. Warum sie anderen Leuten im Haushalt half, blieb mir all die Jahre hindurch ein Rätsel. Aus Geldmangel tat sie es jedenfalls nicht, denn wenn wir unsere modischen Errungenschaften wie neue Pelzjakken, Stiefel oder Blusen verglichen, hatten ihre immer doppelt soviel gekostet wie meine und waren von besserer Qualität. Frau Weiß fuhr auch bereits einen schicken gelben Wagen, als ich noch nicht einmal den Führerschein, geschweige denn ein eigenes verrostetes Auto besaß, in ihrem Haus gab es längst eine supermoderne Ölheizung mit Außentemperaturtaster, als Jonathan sich noch immer weigerte, unseren uralten Heizkessel, der die Hektoliter Öl nur so in sich hineinsoff, zu ersetzen. Ich glaube, Frau Weiß machte es einfach Freude, einen Haushalt in kürzestmöglicher Zeit in Topform zu bringen, so wie es mir – manchmal – Freude machte, zu schreiben. Im übrigen war Frau Weiß der glückliche Endpunkt einer langen Kette hilfreicher Wesen, die sich seit Michis Geburt mit wechselndem Erfolg durch unser Haus bewegten.
87
Begonnen hatte diese Entwicklung mit der strengen Feststellung meiner Mutter: »Wenn du schon ein zweites Kind bekommst und gleichzeitig berufstätig bleiben und ein ganzes Haus in Ordnung halten willst, dann brauchst du ein Dienstmädchen.« Ich wies sie vorsichtig darauf hin, daß dieses Wort seit längerem aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwunden sei. Wenn überhaupt, nehme man heutzutage Au-pair-Girls bei sich auf. Das seien wohlerzogene junge Damen aus fremden Ländern, die ihre Deutschkenntnisse vervollkommnen wollten und sich deshalb gegen ein geringes Taschengeld in deutschen Familien nützlich machten. Sie habe mehr an eine solide Bauerntochter aus Niederbayern namens Resi oder Fanny gedacht, wie sie es aus ihrer Kindheit und der Zeit ihrer Ehe gewohnt gewesen sei, sagte meine Mutter. Aber wenn es so etwas wirklich nicht mehr gebe, dann solle ich mich eben um ein Au-pair-Girl bemühen. Ich tat’s per Anzeige in der Süddeutschen Zeitung, in der ich unsere Familie wahrheitsgemäß als besonders liebenswert und unkompliziert schilderte. Kurz darauf traf Susanna aus Dänemark bei uns ein. Sie war goldblond, rotbackig und blauäugig, sprach mit dem drolligen kleinen S-Fehler aller Dänen, die sich um die deutsche Sprache bemühen, und räumte alsbald alle überflüssigen Möbelstücke aus ihrem kleinen Mansardenzimmer in den Keller. Schließlich enthielt das Zimmer nur noch ein Bett und eine Staffelei. Susanna studierte in ihrer Freizeit nämlich Malerei an der Akademie. Dies tat auch Hassan, ein persischer Gaststudent. Nach einigen Wochen benutzte er regelmäßig Susannas Staffelei, unser Badezimmer und Jonathans Hemden. Die Frage, die sich uns stellte, lautete: Ohne Susanna oder mit Susanna und Hassan leben. Wir entschieden uns zähneknirschend für letzteres. Bis Hassan eines Sonntags in unserer Abwesenheit die Regenrinne hinaufkletterte, sich zu Susannas Mansardenfenster schwang und sie unter gräßlichen Eifersuchtsschreien mit einem Messer bedrohte. Susanna sank mir bei unserer Rückkehr weinend in die Arme. Herr Speicher von nebenan erklärte Jonathan, solches sei in unserer Gegend noch nie vorgekommen, um so mehr, als es sich um eine ruhige solide Gegend handle und nicht um Schwabing, das
88
halbseidene Künstlerviertel hinterm Siegestor, von dem man ja so allerlei in der Zeitung lesen könne. Bald darauf kamen Susannas Eltern, um sie heimzuholen. »Wir danken Sie sehr«, sagte die reizende Mama, von Beruf Rechtsanwältin. »Susanna hat viel bei Sie gelernt: ein bißchen Kochen, ein bißchen Saubermachen, ein bißchen Kinderpflege und ein bißchen Liebe.« Ich war tief beeindruckt von soviel mütterlichem Verständnis. Unser nächstes Au-pair-Mädchen hieß Rosa Lucia, stammte aus Südspanien und war nach Deutschland gekommen, um hier das Abitur nachzumachen, das ihr die traditionsbefangenen Eltern verweigert hatten. Rosa Lucia fiel es ungefähr so schwer wie mir, in aller Früh aufzustehen, zwei quietschfidele Knaben anzuziehen und anschließend Frühstück zu machen. Sie nahm eineinhalb Jahre lang in einem wogenden hellblauen Neglige an unseren Morgenmahlzeiten teil, störte aber kaum, da sie sich noch in einer Art Halbschlaf befand. Außerdem kehrte sie mit großer Hingabe täglich mehrmals den »patio«, wie sie unsere Terrasse nannte, obwohl es dort wirklich nichts zu kehren gab, während sich im Kinderzimmer die Staubkringel in allen Ecken häuften. Gelegentlich wurde Rosa von einem reiferen Herrn abgeholt, dem ich im Wohnzimmer immer ein Glas Campari anbot, weil es mir unpassend erschien, daß er in ihr Zimmerchen hinaufstieg. Rosa kehrte nach solchen Besuchen häufig erst morgens heim, hatte rotgeweinte Augen, schaffte es aber immer noch, das Frühstück pünktlich auf den Tisch zu bekommen. Ein relativ kurzes Gastspiel gab Antonia aus der Schweiz bei uns. Nicht daß es ihr nicht bei uns gefallen hätte, sie war auch umsichtig, fleißig und kinderlieb – nein, es lag daran, daß Michi einfach zu rund und fett für sie war. Antonia war nämlich von so winziger Statur, daß die Wissenschaft sie vermutlich bereits als Zwergin bezeichnet hätte. Das merkten wir aber erst, als sie an unserer Gartentür klingelte, Jonathan und ich freudig gespannt hinauseilten, um zu öffnen, aber niemanden sahen. Erst als wir uns über den Zaun beugten, entdeckten wir ein puppenhaft kleines Wesen zwischen lauter niedlichen Taschen und Köfferchen – eben Antonia. Als Jonathan sie eines Morgens mit dem vergnügt-strampelnden Michi auf dem Arm
89
unsere Steintreppen hinunterwanken sah, schlug er vor, daß wir uns in Güte trennen, bevor ein schwerer Unfall geschieht. Antonia war es recht. Wir begegneten ihr ein paar Jahre später nochmals auf der Leopoldstraße, dem Schwabinger Boulevard. Ein betrunkener bärtiger Maler hielt sie auf der ausgestreckten Hand ins schaulustige Publikum und sammelte anschließend Geld für sie. Nach Antonia kam Marie aus Paris zu uns, deren ununterbrochener zwitschernder Redefluß ständig um »Petär«, einem pickeligen, blonden Siemens-Praktikanten kreiste, der ihre Liebe offenbar nicht erwiderte, ganz gleich, wie oft sie ihm auf der Straße, vor seiner Arbeitsstätte oder an seiner Wohnungstür auflauerte. »Er war ganz erschrocken und hat geschrien, isch soll ihn endlich in Ruhe lassen«, berichtete sie mit ihrer nie versiegenden einschläfernden Stimme. »Isch glaube, Petär ist sehr schüchtern.« Auf Marie folgten Mareiken aus Holland, Hula aus Finnland und schließlich Jane aus Wales. Alle drei waren wohlerzogen und fleißig. Alle drei verliebten sich in Deutschland unglücklich und verließen uns mit gebrochenem Herzen. Ich war sehr erleichtert, als Frau Weiß das internationale Ringelreihen in unserem Haus beendete. Frau Weiß war, ebenso wie Frau Meier vom Blumenladen, Frau Saftig von den Kolonialwaren und Frau Knopf von der Metzgerei, in Waidenried geboren, hatte hier die Schule besucht, ihren Mann geheiratet und ihre Kinder bekommen. Sie war, wie sie stets betonte, eine echte Waldenriederin. Uns, meinte sie zögernd, könne man bei großzügiger Auslegung eventuell auch als Waldenrieder anerkennen, sozusagen als Neuwaldenrieder. Allerdings sei es in Waidenried eigentlich nicht üblich, plötzlich für zwei Jahre ins Ausland zu verschwinden und das Haus wildfremden Leuten zu überlassen. Nun ja – das war vorbei. Diese jungen Frauen aber mit ihren blassen Kindern, die vor ein paar Jahren in die Neubaublocks eingezogen seien, die – sagte Frau Weiß mit Überzeugung – die würden nie und nimmer zu Waidenried gehören. Auch dann nicht, wenn sie eines Tages in der Metzgerei Knopf nicht mehr Eisbein und Brötchen, sondern Wammerl und Semmeln verlangen würden. Ich war sehr stolz auf meinen Status als wenn schon nicht alte, so doch wenigstens neue Waldenriederin und bemühte mich noch
90
eifriger als die Jahre zuvor, mir die Namen all der netten anderen Waldenrieder einzuprägen, mit denen ich auf meinen Besorgungsfahrten mit Basko fast täglich zu tun hatte. Sie kannten mich alle, alle. Sie wußten, welche Art von Rinderbraten ich bevorzugte, daß niemand in unserer Familie Endiviensalat mochte und daß Michi und Christian täglich mehrere frische Mittagsbrezen in sich hineinschlangen. Sie kannten meinen Kontostand, Jonathans Schlafanzuggröße, meinen Verbrauch an Briefpapier, Schlaftabletten und Weißwein. Sie übersahen großzügig, daß ich häufig in durchaus ortsunüblicher Eile zu ihnen hereinstürmte, reinigten mir so manchen Rock in allerletzter Minute, teilten es mir telefonisch mit, wenn Basko wieder einmal erwartungsvoll vor ihrer Ladentür saß, weil er mich verpaßt hatte, und ließen es mich sofort wissen, wenn sie beim Friseur in einem uralten Heft einen Artikel von mir entdeckt hatten. Und natürlich nannten sie mich alle bei meinem Namen. Ich hingegen hatte von jeher dort, wo bei anderen Menschen das Namens- und Personengedächtnis angesiedelt ist, eine schwarze glatte Fläche. Jonathan fand, dies sei beängstigend. Ich fand ausnahmsweise, daß er recht hatte, aber, was wollte ich tun? Auf Partys oder Einladungen von Kollegen fiel ich häufig wildfremden Menschen herzlich um den Hals, weil sie mir entfernt bekannt vorkamen, und fragte sie nach den Namen mir gut bekannter Anwesender, die mir wildfremd vorkamen. Ähnlich verhielt ich mich bei meinen seltenen Besuchen in meiner Redaktion in Hamburg, deren Gänge und Zimmer von verwirrend vielen weiblichen Wesen erfüllt waren, die ich nicht identifizieren konnte. Ich fragte mich immer, wie unser Chefredakteur, ein väterlicher, zeitweise aber auch gestrenger Herr von einschüchternder Körpergröße und untadeliger Hamburger Eleganz, sich in diesem Schwarm immer neu verkleideter und anders frisierter Mitarbeiterinnen zurechtfand. In Waidenried gelang es mir immerhin von Zeit zu Zeit durch einen Akt übermenschlicher Konzentration, die Namen der zwei Dutzend wichtigsten netten Menschen im Kopf zu behalten. Aber dann tauchte bei Knopf ein neues Lehrmädchen auf, heiratete die Tochter des Haushaltswarengeschäfts, ging der langjährige
91
Sparkassendirektor in Pension, wurde der Schreibwarenladen von neuen Besitzern übernommen. Es war ein hoffnungsvoller Kampf. Besonders rätselhaft blieb mir lange ein gutaussehender Herr mittlerer Jahre im grauen Zweireiher und sportlichem Rollkragenpullover, der mich besonders freundlich grüßte und gelegentlich auf einen Plausch neben meinem Fahrrad stehen blieb. Er erkundigte sich nach meiner Familie, meiner Arbeit, meinen Reiseplänen, während ich in wachsender Panik alle auch nur entfernt in Frage kommenden Waldenrieder vom Gastwirt über den Schreiner bis zum Inhaber des Polstergeschäfts vor der schwarzen leeren Fläche meines Namens- und Personengedächtnisses Revue passieren ließ. Ganz zuletzt fiel mir dann meist ein, daß ich mit dem Pfarrer von Waidenried plauderte. Da ich – nicht katholisch getauft wie der Rest meiner Familie – die Waldenrieder Barockkirche mit dem berühmten romanischen Christus nur zu hohen Fest- und Feiertagen besuchte, fiel es mir besonders schwer, den Geistlichen mit der klangvollen Stimme und den prunkvollen Meßgewändern als sportlichen Herrn mit Rollkragenpullover und Einkaufstüte wiederzuerkennen. Als wir Basko schon eine Weile als Hausgenossen hatten, traf ich den netten Herrn, der mir so bekannt vorkam, wieder einmal. Gerade, als mir eingefallen war, daß es sich um den Pfarrer von Waidenried handelte, sagte er zu mir: »Ihr Mann und Ihre Buben kommen ja sonntags häufig zur Kirche. Das freut mich natürlich. Aber in letzter Zeit scheinen sie von einer großen inneren Unruhe beherrscht zu sein.« Tatsächlich? Ich war ganz Ohr. »Nun, wie Sie vielleicht wissen, setzen sich Ihr Mann und Ihre Kinder immer in die erste Bankreihe unter der Kanzel. Neuerdings geschieht nun häufig folgendes: Kaum habe ich die ersten Sätze meiner Predigt gesprochen, steht Ihr Mann auf – er ist ja mit seiner Größe nicht zu übersehen – und verläßt die Kirche. Ich predige weiter. Nach etwa zehn Minuten kommt er zurück und flüstert mit dem älteren seiner Söhne. Ich versuche mich ganz auf meinen Bibeltext zu konzentrieren, da erhebt sich der junge Mann, marschiert durch den Gang und läßt die Tür hinter sich zufallen.
92
Gerade, wenn ich zu meinem abschließenden Gleichnis aushole, kommt er wieder herein und flüstert halblaut mit seinem Bruder, woraufhin dieser das Gotteshaus verläßt. Ich möchte nicht behaupten, daß mich dieses Verhalten von meiner Predigt ablenkt«, sagte der Pfarrer von Waidenried. »Aber in gewisser Weise wirkt es durchaus irritierend, vor allem, da es mit großer Regelmäßigkeit eintritt.« Ich unterdrückte eine aufkeimende Heiterkeit und beugte mich zu Basko hinunter, der ungewohnt artig neben dem Fahrrad saß, und zwar so, daß sein pralles Hinterteil mit dem Stummelschwanz den naßkalten Boden nicht berührte. Er hielt es vielmehr vor Anstrengung leise zitternd in etwa zwei Zentimetern Abstand über den abgeknickten Hinterbeinen in der Schwebe. Ich kraulte Basko hinter den Ohren, worauf er sofort seine circensische Schwebestellung vergaß und sein Hinterteil in eine trübe Wasserlache platschen ließ. Er fuhr erschrocken hoch und schüttelte sich so gründlich, daß ein Regen zähflüssiger Dreckspritzer auf meine Cordjeans und auf die Flanellhosen des Pfarrers von Waidenried niederging. Ich sagte: »Basko pfui!« und erklärte meinem Gesprächspartner, daß das Betragen Jonathans während des sonntäglichen Gottesdienstes nicht auf seine, sondern vielmehr auf Baskos innere Unruhe zurückzuführen sei. Dieser würde nämlich am Sonntagmorgen von Jonathan und den Söhnen zur Kirche mitgenommen, dort an der hinteren Friedhofsmauer angehängt und in gebührenden Abständen von allen dreien abwechselnd spazierengeführt. Hochwürden sah ein, daß ich Basko nicht auch noch am siebenten Tag der Woche Gassi führen wollte. Er bat mich aber, Jonathan und den Söhnen nahezulegen, bei ihrem nächsten Kirchenbesuch in einer der rückwärtigen Bankreihen Platz zu nehmen. Ich versprach es auszurichten. 15 Unsere Kollegen Reni und Benedikt lebten noch nicht lange im 93
Minus. Dafür handelte es sich um ein besonders zählebiges, tragikomisches. Reni schrieb für dieselbe Zeitschrift wie ich, aber während ich für klassische Reportagen plus Heiteres zuständig war, hatte sie sich auf Heiteres plus Partnerschaftsprobleme spezialisiert. Dabei hatte sie zum zweiten Themenkreis aus eigener Erfahrung vermutlich weniger beizusteuern als ich; denn Benedikt war ein besonders liebenswerter, lustiger und begabter Autor. Allerdings einer, der jetzt, da er anfing zu ergrauen, nicht mehr ganz so viel schreiben wollte wie bisher, der nicht mehr tagelang grübeln und nächtelang tippen, sondern dafür öfter einmal zu einem Pferderennen gehen wollte. Reni und Benedikt hatten genau wie wir zwei Söhne und genau wie wir einen Hund, den sie selbst ausnehmend schön fanden. Ungefähr so schön wie wir unseren Basko. Er hieß Schrankerl, war ein Mops von grotesker Fettleibigkeit und so asthmatisch, daß man glaubte, jeder seiner gurgelnden Atemzüge sei sein letzter. Leider haßte Schrankerl Basko abgrundtief, etwa so abgrundtief, wie Basko Schrankerl haßte. Wenn wir Reni und Benedikt besuchten, stürzten Schrankerl und Basko mit gesträubten Haaren und wutverzerrten, geifernden Mäulern aufeinander los. Sie hätten sich vermutlich zerfleischt, wenn nicht jeder Herr seinen Hund an der Leine zurückgehalten und dabei fast erwürgt hätte. Später lag Schrankerl heftig stöhnend auf seiner karierten Decke auf der Couch, Basko saß, vor Anspannung am ganzen Körper bebend, an ein Tischbein gebunden davor. Beide ließen sich keine Sekunde aus den Augen und fletschten alle paar Minuten in wilder Angriffslust die Zähne. (Die naheliegende Lösung, Basko zu Hause in seinem Korb zurückzulassen, konnte ich Jonathan nicht abringen. Er war auf diesem Gebiet noch eigensinniger als auf allen anderen.) Trotz allem fanden Reni und ich – wie bereits gesagt – unsere Hunde besonders schön. Das heißt, sie fand ihren schön und ich meinen. Um so tiefer verletzte uns folgender Vorfall: In der neuesten Nummer unserer gemeinsamen Zeitschrift erschien auf Seite zwei ein Farbfoto von Reni. Darunter stand in
94
großen, eindrucksvollen Buchstaben mein Name. Nun waren wir Verwechslungen dieser Art gewöhnt, weil unsere Nachnamen mit derselben Silbe begannen, dennoch erkundigten wir uns telefonisch bei unserer Redaktion, wie es diesmal dazu gekommen sei. Wir erfuhren, daß eine junge Redakteurin, die uns beide nicht persönlich kannte, das Foto beschriften sollte. Um der bereits sprichwörtlich gewordenen möglichen Verwechslung vorzubeugen, rief sie einer alteingesessenen Kollegin durch die offene Tür zu: »Die Autorin auf dem Foto ist doch unsere Mitarbeiterin aus München.« – »Ja.« – »Die in einem Haus in einem südlichen Vorort wohnt?« – »Ja!« – »Deren Mann auch Journalist ist…« – »Ja!« – »Die in diesem Münchner Journalisteninstitut ausgebildet wurde und zwei halbwüchsige Söhne hat…« – »Ja, ja, ja!« Um auch noch den letzten Rest von Unsicherheit zu beseitigen, fragte die junge Redakteurin zuletzt: »Hat die nicht so einen furchtbar häßlichen Hund?« – »Ja, hat sie«, lautete die zerstreute Antwort. Worauf die junge Redakteurin meinen Namen unter Renis Foto schrieb. Wir haben es ihr beide nie verziehen. Dabei wurde uns eigentlich erst bei dieser Gelegenheit klar, daß sich unsere äußeren Lebensumstände wirklich sehr ähnelten. Inzwischen müßte man sagen: geähnelt hatten; denn – wie bereits erwähnt – Reni und Benedikt waren seit einiger Zeit im Minus. Das kam so: Sie besaßen wie wir ein Haus, allerdings ein viel größeres, fast schon villenartiges, das in einem noch südlicheren und daher vornehmeren Vorort von München lag. Als Benedikt nun merkte, daß ihm das Schreiben zunehmend schwerer fiel und auch weniger lustvoll vonstatten ging wie früher, als der ältere Sohn zudem auszog und der jüngere sicher auch bald ausziehen würde, beschlossen Reni und Benedikt, sich zu verkleinern. Ihre Rechnung war einleuchtend und logisch kalkuliert. Sie wollten ihr schönes großes Haus am Isarhang für eine siebenstellige Summe verkaufen und sich für die Hälfte dieses Betrags ein hübsches kleines Haus etwas näher bei München suchen. Der automatisch entstehende finanzielle Überschuß sollte – gewinnbringend angelegt – das künftige Monatsbudget um einen
95
dicken Batzen bereichern. Sie übergaben also ihr schönes Haus einem Makler und sahen sich nach einem hübschen kleinen um. Es fand sich schnell. Mit einem Millionenobjekt im Hintergrund war es auch überhaupt kein Problem, die paar hunderttausend Mark Kaufsumme für das hübsche kleine Haus bei der Bank aufzunehmen. Jetzt mußte sich nur noch ein Käufer für das schöne große Haus finden. Es fand sich jedoch keiner. Der Immobilienmarkt war just zu dieser Zeit in völlige Bewegungslosigkeit versunken. Dafür stiegen die Zinsen für Bankkredite in schwindelerregende Höhe. Mit anderen Worten: Reni und Benedikt besaßen plötzlich zwei Häuser, von denen eines leerstand, und dazu eine Hypothekenlast, welche die Monatsausgaben beträchtlich erhöhte. Benedikt mußte also noch mehr Serien und Tatsachenberichte schreiben als früher, arbeitete noch häufiger ganze Nächte durch und wurde so gut wie nie mehr auf der Trabrennbahn gesehen. Manchmal, wenn Reni mich anrief, konnte es geschehen, daß sie ganz nervös sagte: »Du, ich muß schnell mein kleines Schwarzes aufbügeln und mich umziehen.« »Wieso denn? Es ist zehn Uhr früh!« »Ach, weißt du, es haben sich wieder mal Interessenten für das Haus angesagt, und da ziehen wir uns immer ganz gediegen an, so ungefähr, wie man in die Kammerspiele geht. Ich muß auch noch ein paar Blumen in die Vasen verteilen und den Schrankerl in die Besenkammer sperren, weil er so stöhnt. Also Servus! Ich erzähl dann, wie’s war.« Es war wie immer: Der eine Käufer hätte lieber Parkett statt Kacheln gehabt, der andere hatte sich Teppichböden vorgestellt. Dem einen war der Swimmingpool zu klein, der andere wollte ihn wegen der Ölpreise zuschütten. »Wenn alles klappt«, sagte Benedikt neulich, »dann kommen wir ohne Verlust aus der ganzen Sache heraus. Jetzt sind wir jedenfalls schwer im Minus.« Manchmal schrieb Benedikt auch für Jonathan eine Serie oder einen Roman, allerdings nicht zu oft, weil beide ihre Freundschaft
96
nicht aufs Spiel setzen und ihre Nerven nicht über Gebühr strapazieren wollten. Öfter als einmal im Jahr zusammenzuarbeiten, hielten sie beide nicht aus. Der Grund dafür war, daß sowohl Jonathan wie auch Benedikt überaus pünktliche Menschen waren, nur eben verschieden pünktlich. Für Jonathan bedeutete Pünktlichkeit im Privatleben, daß er bei jeder Einladung mindestens eine Viertelstunde zu früh auftauchte, weshalb wir lange Zeit der Schrecken aller Gastgeber waren. Im Beruf erwartete er von einem pünktlich gelieferten Manuskript, daß es zum frühestmöglichen Zeitpunkt, mindestens aber drei Tage vor dem Andruck, auf seinem Schreibtisch lag. Für Benedikt hingegen bedeutete Pünktlichkeit sowohl im Privatleben wie im Beruf, nie irgend jemanden länger als bis zur allerletzten Sekunde warten zu lassen. Darin war er sehr genau. Das Zustandekommen der ersten Serie erlebte ich mit. »Heute um neun wird es klingeln, und der Sohn vom Benedikt wird die erste Hälfte der zweiten Folge vorbeibringen. Ruf doch dann bitte sofort ein Taxi und schick mir das Manuskript rein. Es eilt, es hätte eigentlich schon gestern fertig sein sollen«, rief mir Jonathan durchs Fenster des bereits fahrenden Autos zu, denn es war schon eine Minute nach halb neun, und um halb neun pflegte er das Haus zu verlassen. »Warum bringt er nur die Hälfte?« schrie ich ihm nach. »An der anderen Hälfte arbeitet er noch«, rief Jonathan und entschwand um die. Ecke. Ich wartete, es wurde halb zehn, zehn, zehn Uhr dreißig, Jonathan hatte bereits mehrmals angerufen, aber Niko – so hieß Benedikts Jüngerer – kam nicht. »Benedikt arbeitet heute die Nacht durch und bringt die ganze zweite Folge morgen mittag rein«, sagte Jonathan abends. »Ich ruf dich an, wenn er da war.« Jonathan rief nicht an, Benedikt hatte die Folge auch nicht gebracht. Es war ihm ein neuer Anfang eingefallen. »Also, wenn er heute nicht kommt, müssen wir mit weißen Seiten erscheinen«, teilte mir Jonathan einen Tag später düster mit. »Bis heute mittag um zwölf Uhr, bevor die große Konferenz beginnt, muß
97
ich die Folge haben. Es ist die allerletzte Chance für uns beide.« Pünktlich drei Minuten vor zwölf stand Benedikt in Jonathans Büro und legte ihm ein glänzend geschriebenes Manuskript auf den Schreibtisch. »Kannst du mir bitte die nächste Folge pünktlich am Montag liefern«, sagte Jonathan flehend. Benedikt raufte sich das Haar und rollte verzweifelt mit seinen vergißmeinnichtblauen Augen: »Aber heute ist doch schon Donnerstag – dann hab ich ja nur noch vier Tage Zeit!« »Ist es meine Schuld, daß wir wöchentlich und nicht monatlich erscheinen?« schrie Jonathan und raufte sich seinerseits das Haar, von dem seine Sekretärin behauptete, bei Ärger stehe es steil nach rechts, bei freundlicher Stimmungslage eher schräg nach vorn. Jedenfalls war es widerspenstig. Um es kurz zu machen: Benedikt lieferte jede einzelne Folge pünktlich am Donnerstag drei Minuten vor zwölf, wenn Jonathan bereits seit Stunden wie ein Tiger in seinem Büro auf- und ablief, hektische Anrufe aus der Setzerei abwehrte und beruhigende an die Chefredaktion durchgab. Beide schworen sich, nie, nie wieder zusammenzuarbeiten – bis zum nächstenmal. Kurz darauf sagte der nette schnauzbärtige Masseur, der bei uns um die Ecke wohnt und manchmal meine vom Schreiben verkrampfte Nackenmuskulatur weichknetet, er habe ein höchst merkwürdiges Erlebnis gehabt. Er sei neulich mit der ersten Frühmaschine nach Hamburg geflogen. In München – der Flug war schon aufgerufen – sei plötzlich ein unrasierter Mann mit wirrem Haar und rotgeränderten, wenngleich freundlichen blauen Augen auf ihn zugerannt und habe ihn händeringend gebeten, ein Kuvert mit nach Hamburg zu nehmen. Dort müsse er es sofort einem Taxifahrer übergeben, der es für fünfzig Mark an seinen Bestimmungsort liefern solle. »Ich habe zuerst ein bißchen gezögert«, sagte mein Masseur. »Man liest ja so viel von Sprengstoffattentaten und Rauschgiftschmuggel. Aber der Mann sah so bedauernswert aus, so als ob er seit Tagen nicht geschlafen und nichts gegessen hätte. Da hab ich das Kuvert halt genommen. Ich hab es dann übrigens selbst
98
zu diesem Verlagshaus gebracht und bin mit den fünfzig Mark gut essen gegangen.« Nein, an den Absender könne er sich nicht mehr erinnern. Aber es sei, soweit er sich erinnern könne, ein südlicher Vorort von München gewesen, und der Mann habe ganz auffallend treuherzige blaue Augen gehabt. Als sich Jonathan und Benedikt das nächstemal trafen, rollte Benedikt seine Vergißmeinnicht-Augen besonders verzweifelt zur Decke. »Da rennt man unter hundertfünfzig Fluggästen auf einen vertrauenerweckenden Menschen zu, und wer ist es? Ausgerechnet der Masseur deiner Frau!« »Na und?« grinste Jonathan. »Ich hab doch schließlich schon zuvor gewußt, daß du deine Manuskripte pünktlich lieferst.« Worauf sich beide einen Whisky pur genehmigten. Inzwischen haben Reni und Benedikt ihr großes schönes Haus am Isarhang verkauft und leben wieder im Plus. Jonathan sagte neulich: »Hoffentlich schreibt Benedikt trotzdem bald wieder eine Serie für mich. Es ist so schön aufregend.« Wie gesagt, Jonathan ist ein Widder. 16 »Meinst du nicht doch, daß wir Basko mitnehmen sollten?« fragte Jonathan und reckte sein Kinn dem Badezimmerspiegel entgegen, damit der elektrische Rasierapparat eine straffere Angriffsfläche bekommen sollte. Es nützte wie immer gar nichts. Jonathans Bartwuchs war nun einmal nicht für die schonende elektrische Behandlung geeignet, die ihm zuteil wurde, seitdem irgendein Weltkonzern die allerersten Trockenrasierer auf den Markt geworfen hatte. Niemand hat mit Sicherheit so endgültig und tief aufatmend Rasierpinsel und Schaum zur Seite gelegt wie Jonathan, und nur wenige waren seitdem schlechter rasiert als er. Das lag im übrigen nicht nur an seinem dunklen Typ und seinem eigenwilligen Bartwuchs, sondern auch daran, daß er den 99
Rasierapparat nur beiläufig, ohne jedes System und viel zu kurz um die Unterpartie seines Gesichts kreisen ließ. Vorsichtige Hinweise darauf, wie gepflegt und markant ein tadellos rasierter Mann auf die Umwelt wirke, wies er mit der durch nichts belegten Behauptung zurück: »Ich kann doch nichts dafür, daß meine Haut zu zart ist, um die Tortur des Naßrasierens auszuhalten.« So kam es, daß Jonathan bei der Morgenkonferenz ungefähr so aussah wie andere, wenn sie nach Redaktionsschluß zu einer Party eilten, und bei einer Party nach Redaktionsschluß so wie andere, wenn sie nach einer durchzechten Nacht am Morgen nicht mehr dazugekommen waren, sich zu rasieren. Heute war es mir unter Aufbietung all meiner Diplomatie gelungen, Jonathan dazu zu bringen, sich für das Fest bei Pigals einer zweiten Rasur zu unterziehen. »Also meinst du nicht, daß wir den Basko vielleicht doch mitnehmen könnten«, erkundigte er sich noch einmal. Es klang seltsam hohl, weil er mit aufgeblasener rechter Wange zu sprechen versuchte. »Nein«, sagte ich. »Nein, nein, nein. Wir können Basko ganz bestimmt nicht mitnehmen. Ich werde nie das entsetzte Gesicht von Frau Pigal vergessen, als Basko seine feuchte Schnauze in ihrem Original Tegernseer Dirndl vergrub. Das war in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest, und das Dirndl war aus Leinen. Heute abend ist es bestimmt bodenlang und aus reiner Seide. Ich weiß auch nicht, warum alle Zugereisten, kaum daß sie sich in Bayern niedergelassen haben, zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit Tracht tragen, aber es ist nun einmal so. Und die Vorstellung, wie Frau Pigal heute abend, als Edelbäuerin verkleidet, die Tür öffnet, Basko ihr, halb erwürgt von der Leine, entgegensabbert, während du deinen Blumenstrauß übergibst, ist mehr, als ich ertragen kann.« »Du hast kein Herz«, sagte Jonathan. »Basko würde niemanden stören und in dem Gedränge überhaupt nicht auffallen.« »Sicher«, erwiderte ich sarkastisch. »Er ist einer der unauffälligsten Hunde, die man sich vorstellen kann. Drum merke ich ja tagsüber kaum, daß wir überhaupt einen Hund haben.« Basko saß während dieser Unterhaltung in der geöffneten
100
Schlafzimmertür, ließ ein paar dezente Tropfen auf den empfindlichen dunkelblauen Veloursteppich fallen und beobachtete höchst interessiert unsere ungewohnte Aktivität. Sie bestand auf meiner Seite darin, daß ich Jonathan einen Anzug, das passende Hemd, den passenden Schlips, die passenden Socken, den passenden Gürtel, ein passendes Taschentuch und schließlich noch die passenden Schuhe aus dem Schrank suchte und zurechtlegte. Jonathans Aktivität bestand darin, daß er all diese Kleidungsstücke seufzend anzog, zwischendurch Basko tätschelte und schwermütig über Sonntagabende murmelte, die man gemütlich vor dem Fernsehschirm verbringen könnte, wenn da nicht immer wieder irgendwelche Einladungen dazwischenkämen. Zuletzt schaute er sich befriedigt im Spiegel an und fragte dann: »Bist du fertig? Können wir gehen?« Es war eine völlig rhetorische Frage. Denn natürlich war ich nicht fertig. Ich hatte vielmehr gerade die Überschwemmung beseitigt, die Jonathan regelmäßig beim Duschen hinterließ, trug meinen lila Morgenmantel und hatte noch genau neunzehn Minuten Zeit. Dennoch fragte Jonathan: »Bist du fertig, können wir gehen?« Ich sagte: »Nein, das siehst du doch. Außerdem ist es erst neunzehn Minuten vor acht Uhr.« Er sagte: »Müssen wir immer in der allerletzten Minute aufbrechen?« Ich sagte nichts und wußte, daß sich alles so abspielen würde wie sonst auch, wenn wir gemeinsam das Haus verließen, sei es zu einem Theaterbesuch, zu einer offiziellen Einladung oder zu einem gemütlichen Abendessen bei Freunden. Ich fragte Jonathan jedesmal etwa zwei Stunden zuvor: »Um wieviel Uhr müssen wir weg? Ich möchte pünktlich fertig sein.« Worauf Jonathan auf die Uhr schaute und – zum Beispiel – acht Uhr sagte. Darauf tippte ich in rasender Eile die Adresse auf ein Kuvert, das unbedingt noch auf die Post mußte, bereitete das Frühstückstablett für den nächsten Morgen vor, richtete das kalte Abendessen für die Söhne her, schloß die Vorhänge, nahm die Blumen aus dem Wasser, die ich besorgt hatte, damit Jonathan mit charmantem Lächeln sie überreichen konnte, sprang leichtfüßig in den Keller, um eine
101
Flasche Wein als Mitbringsel heraufzuholen, eilte nicht mehr ganz so leichtfüßig in den ersten Stock, um Jonathans Kleider für diesen Abend und Jonathans Kleider für den morgigen Arbeitstag aus dem Schrank zu nehmen und in der richtigen Reihenfolge auf die kleine weiße Couch zu breiten. Jonathan beharrte nämlich darauf, er sei farbenblind und könne nicht unterscheiden, ob ein Hemd hellblau oder beige gestreift sei, und ob dazu braune oder dunkelblaue Socken gehörten. Ich habe nie herausgefunden, ob das stimmte oder ob er es einfach nur bequem fand, jeden Morgen alles vorbereitet zu finden. Aber die wenigen Male, die ich mich seiner allabendlichen Bitte: »Leg mir doch raus, was ich morgen anziehen soll!« verweigert hatte, zogen grauenhafte Konsequenzen nach sich, wie etwa lindgrüne Krawatte zu rosa Hemd und blauem Tweedjackett. Während all dieser Tätigkeiten saß Jonathan vor dem Fernseher und schaute die Sportschau an. Dann schritt er ins Bad, nahm dankbar einige kleinere Handreichungen meinerseits entgegen, zog sich schließlich an, maß mich mit erstauntem Blick und fragte, ob ich fertig sei. Als er mir diese Frage heute stellte, baute sich eine winzige, sirrende Spannung in mir auf und kroch vom Magen in Richtung Hals. Ich schluckte sie samt einer Antwort hinunter, denn ich freute mich auf das bevorstehende Fest und wollte unter allen Umständen gut gelaunt dort ankommen. Also schleuderte ich mir in rasender Eile Make-up und Rouge ins Gesicht, schlüpfte in mein Kleid, probierte drei Paar verschiedene Schuhe dazu, warf das Nötigste in ein Handtäschchen, das dann leider doch nicht paßte, sondern umgetauscht werden mußte, und stand viereinhalb Minuten vor acht Uhr fix und fertig, wenngleich ziemlich atemlos vor dem Spiegel im Korridor, um als allerletztes Wimperntusche aufzutragen. Genau in diesem Augenblick erhob sich Jonathan aus seinem Fernsehsessel und sagte: »Na, jetzt bist du ja endlich fertig.« Ich sagte: »Bin ich nicht. Ich hab auch noch drei Minuten Zeit.« Worauf Jonathan verkündete: »Also, ich geh dann schon mal raus.« Ich tuschte meine Wimpern, Jonathan saß bei laufendem Motor im Auto, was eine außerordentlich beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Natürlich verschmierte ich das linke Auge und mußte
102
nochmals von vorn beginnen. Leider hatte Jonathan vergessen, den Fernseher auszuschalten, die Lichter auszuknipsen, und auch der Blumenstrauß für Frau Pigal und die Flasche Wein lagen noch auf dem Bauernschrank im Korridor. Ich drehte also den Fernseher ab, knipste mehrere Tisch- und Stehlampen aus, schrieb den Kindern einen Gruß auf einen Zettel, raste zum Auto, warf Blumenstrauß und Wein durch die hintere Tür und öffnete die vordere. Aus dem Radio klang das Zeitzeichen für zwanzig Uhr. »Siehst du, ich hab’s geschafft, auf die Minute pünktlich«, rief ich stolz, da quetschte sich Basko an mir vorbei, setzte sich erwartungsvoll auf seinen Stammplatz neben dem Fahrersitz, legte die Schnauze aufs Armaturenbrett und schielte fragend zu seinem Herrn hinüber. Ich hatte offenbar in der Eile die Gartentür offen gelassen. Jonathan knurrte: »Auch das noch. Muß ich mich denn wirklich um alles kümmern?« und zog Basko am Halsband aus dem Auto, führte ihn ins Haus zurück, schloß nachdrücklich die Tür. Wir fuhren schweigend los. Mein letzter Blick galt dem runden Fenster über der Treppe, hinter dessen Scheiben ich den dunklen Schatten von Baskos Kopf erkennen konnte. Wir wußten nie, wie lange er da auf der Steintreppe ausharrte und uns melancholisch nachschaute, bevor er sich in seinem Korb zusammenrollte und nicht mehr rührte, bis irgendein Familienmitglied nach Hause zurückkehrte, ihn aus seinem tiefen, schweren Hundeschlaf riß und forderte: »Bassi, steh auf, geh Gassi!« Worauf er schlaftrunken blinzelnd durchs Gartentor auf die gegenüberliegende Straßenseite torkelte, ein Bein hob, einen schier unendlichen Sturzbach in den dort befindlichen Gully strömen ließ, sich kurz schüttelte und befriedigt in seinen Korb zurücktrottete. Wir rasten Richtung Ammersee, die bayerische Voralpenlandschaft lag friedlich im späten Abendlicht zu beiden Seiten der Straße ausgebreitet, Jonathan und ich schwiegen uns beharrlich an. Als wir in den Weg zu Pigals Haus einbogen, sagte ich zu Jonathan: »Es sind sicher wieder lauter Kollegen von dir da, die ich
103
nicht wiedererkenne. Bitte begrüße doch jeden Menschen laut und deutlich mit Namen.« »Ich weiß schon«, brummte Jonathan. »Das sagst du mir jedesmal.« »Und du vergißt es jedesmal«, erwiderte ich, und dann lächelten wir beide, weil die Haustür aufging. Herr Pigal küßte mich auf beide Wangen, Frau Pigal zog Jonathan an ihre original bayrisch geschmückte Brust, dann ging er auf eine Gruppe fröhlicher Menschen zu, schüttelte Hände und sagte in meine Richtung: »Ihr kennt euch ja alle, nicht wahr?« Was für die fröhlichen Menschen ganz offensichtlich, für mich aber in gar keiner Weise zutraf. Ich nahm von irgend jemandem ein Glas Sekt entgegen und begrüßte einen bekannten Bestseller-Autor mit den Worten: »Ihr Buch über die Mormonen war hochinteressant!« »Das freut mich, aber das habe nicht ich, das hat der Kollege Vondemhügel geschrieben«, erwiderte er freundlich. »Mein neues Buch hat den Titel >Die Ottonen< und spielt im Mittelalter.« Ich wurde rot, er lachte schallend und reichte mir noch ein Glas Sekt. Es war ein besonders netter Abend. Von Jonathan sah ich wenig. Irgendwann einmal am kalten Büfett stand er plötzlich neben mir, ziemlich gut aussehend, wie ich fand, aber unangebracht ernst durch seine Brille blickend. »Ich wäre mit dem Wein etwas vorsichtig, das ist ein ganz schwerer Ruländer«, sagte er. »Das sagst du jedesmal«, erwiderte ich gut gelaunt. »Aber ich mag gerade schwere Ruländer besonders gern«, und begab mich mit einem frisch gefüllten Glas in die Hollywoodschaukel, wo mir ein Schweizer Fotograf, mit dem ich früher viel auf Reportagen unterwegs war, einen Platz freigehalten hatte. Wir hatten uns mindestens sechs Jahre nicht gesehen, wußten nicht mehr, ob wir uns duzten oder siezten, entschieden uns für ersteres, und begannen jeden dritten Satz mit: »Weißt du noch, damals in Tunesien, oder damals in Berlin oder damals bei diesem gräßlichen Schauspieler…« Gegen Mitternacht legte der Hausherr plötzlich Tanzmusik auf. Das fand ich toll. Wann gab es auf einer Party schon die Gelegenheit zu tanzen? Der Autor, dessen Namen ich mir nicht merken konnte,
104
beherrschte einen fabelhaften, etwas altmodischen Boogie-Woogie. Als er zu Ende war und ich mich gerade auf den beginnenden Rock ‘n’ Roll freute, stand plötzlich Jonathan neben mir und sagte: »Wir gehen jetzt!« Ich sagte: »Wieso? Es ist doch gerade so nett!« Er sagte: »Du kannst ja bleiben, aber ich glaube kaum, daß irgend jemand zufällig vierzig Kilometer in unsere Richtung fährt.« Ich sagte: »Du willst immer gehen, wenn es am lustigsten ist.« Jo nathan sagte: »Mußt du wieder eine Szene machen?« Der Gastgeber sagte: »Ihr werdet doch nicht schon gehen?« Ich sagte: »Keine Spur. Gehen will nur Jonathan. Ich würde rasend gern bleiben.« Jonathan murmelte etwas von einer wichtigen Konferenz am nächsten Morgen, nahm mich bei der Hand und zog mich durch eine angeregte Menschenmenge in den Garten und von dort ins Auto. Ich war wütend und – wie ich glaubte – von einer Sekunde zur andern sehr nüchtern. »Du bist gemein«, sagte ich. »Du gönnst mir nie, daß ich mich ein bißchen amüsiere.« »Und du trinkst zuviel und findest nie ein Ende und bringst mich jedesmal in die Situation, daß ich als Spielverderber dastehe.« »Bist du ja auch«, sagte ich. »Schon bei unserem allerersten gemeinsamen Ball hast du mich plötzlich aus den Armen eines ganz bezaubernden älteren Herrn im weißen Smoking gerissen, der himmlisch Walzer tanzen konnte, und hast darauf bestanden, daß wir gehen. Da war es gerade Mitternacht, und ich war todunglücklich, weil ich mich so auf das Fest gefreut hatte. Oder damals, als wir zu sechst in der alten Bierwirtschaft am Englischen Garten ein riesiges Faschingsfest arrangiert hatten. Halb Schwabing war da, es herrschte eine Bombenstimmung, nur wir, die zu den Veranstaltern gehörten, verschwanden sang- und klanglos irgendwann um zwei Uhr, als der alte Clown gerade auf den Tisch stieg und die Ballade vom Massenmörder sang, und das Fest erst richtig losging.« »Mußt du diese alten Geschichten aufwärmen?« fragte Jonathan und bog so aggressiv in die Kurve zu unserer Straße, daß ich gegen die Autotür fiel. »Muß ich«, sagte ich, und stieg aus. Ich zerrte meinen Hausschlüssel aus der Tasche, sperrte die Tür
105
auf, streifte die hochhackigen unbequemen Sandaletten ab, schaute kurz in den Spiegel, fand, daß ich sehr vorteilhaft aussah und daß diese Tatsache mehrere Menschen heute abend bemerkt hatten, nur Jonathan nicht, ging in die Küche, öffnete den Eisschrank und goß mir ein Glas Wein ein. »Hör jetzt auf zu trinken«, sagte Jonathan hinter mir. »Ich trinke, wenn ich mag«, erwiderte ich trotzig. »Wenn ich schon nicht auf Festen bleiben darf, solange es mir Spaß macht, dann trinke ich wenigstens zu Hause, was und wann ich dazu Lust habe.« »Sei doch nicht so kindisch«, bat Jonathan und legte mir von hinten den Arm um die Schulter. »Wir sollten jetzt nicht streiten. Es war doch ein schönes Fest.« Ich schüttelte seinen Arm ab und sagte heftig: »Doch, ich will streiten. Ein Fest ist bei dir nämlich immer so lange schön, wie du es schön findest, und nie so lange, wie ich es schön finde. Ich habe es satt. Ich möchte endlich einmal so leben, wie ich es will, und nicht so, wie du es willst. Seit wir verheiratet sind, spielt sich alles nach deinem Willen ab. Du bist ein Pascha, ein Egoist, ein Tyrann, jawohl, das bist du, und ich hab das jetzt satt, satt, satt!!!« Mit dem letzten Wort warf ich das leere Weinglas, das ich in der Hand hielt, an die hellblau gekachelte Küchenwand direkt unter die Uhr. Es klirrte und zersprang in viele kleine Stücke. Ich stand einen Augenblick starr vor Schreck. »So etwas kommt doch eigentlich nur in zweitklassigen Filmen vor«, schoß es mir durch den Kopf. Dann fand ich, daß es ein herrliches Gefühl war, Geschirr an die Wand zu werfen. Neben mir stand das Tablett mit dem sorgsam vorbereiteten Frühstück für den nächsten Morgen. Auch das hatte ich noch geschafft, bevor wir gegangen waren. »Ich mag nicht mehr«, rief ich triumphierend, nahm eine Tasse vom Tablett und warf sie an die Wand. »Mir reicht’s«, peng, die nächste. »Ich will weg von dir!« Ein Teller zerbarst auf den Kacheln. »Und von diesem gräßlichen Hund auch!« Wieder flog ein Teller. »Wir passen nicht zusammen!« -Diesmal zerbarst die Kaffeekanne an der Wand, die Scherben flogen springbrunnenartig nach allen Richtungen.
106
»Ich bitte dich, hör auf«, sagte Jonathan gefährlich ruhig. »Ich denke nicht daran«, rief ich eigensinnig. Diesmal erwischte ich den Butterteller: »Das war längst überfällig! Du glaubst nicht, wie das befreit!« Bumm, der Marmeladentopf knallte an die Wand, zwischen den Scherben breitete sich dunkelrotes Himbeergelee aus. »Du bist betrunken«, brüllte Jonathan. »Ich bin nicht betrunken. Ich baue Aggressionen ab, die sich in zwanzig Jahren angesammelt haben«, brüllte ich zurück. Um ehrlich zu sein, vor dem Griff nach dem Honigtopf zögerte ich den Bruchteil einer Sekunde, aber dann flog er doch. Eine dicklich gelbe Masse troff über die Kachelwand und vereinigte sich auf dem Herd mit dem in alle Ritzen fließenden Himbeergelee. Die Scherben übersäten inzwischen die ganze Küche. Das Frühstückstablett war leer. Ich riß die Tür des Geschirrschranks auf und schmetterte systematisch einen Teller nach dem anderen an die Wand. Glücklicherweise standen nur etwa sechs da, der Rest war in der Spülmaschine. Als ich den letzten Teller an die Wand geworfen hatte, schaute ich triumphierend und äußerst erleichtert über das Schlachtfeld, schritt an meinem kreidebleichen, bewegungslos an der Wand lehnenden Mann vorbei und rief ihm von der Treppe aus zu: »Und im übrigen verlasse ich morgen dieses Haus für immer. Es gibt nämlich sehr charmante Männer, die warten nur darauf, daß ich endlich frei bin. Aber auf so einen Gedanken wärst du wohl nie gekommen!« Peng! Was jetzt zuflog, war die Schlafzimmertür. Ich stand vor dem wandhohen Spiegel, schwankte leicht hin und her, winkte mir großmütig zu und murmelte mit schwerer Zunge: »Ich glaube, das hätte schon längst einmal passieren müssen.« Dann zog ich mich aus, fiel ins Bett und schlief außerordentlich befriedigt und sanft um meine eigene Achse kreisend ein. Als ich aufwachte, erfüllte mich das dumpfe Gefühl, daß irgend etwas Entsetzliches geschehen war. Ich blinzelte ins grelle Sonnenlicht, das durch die Vorhänge drang, angelte mit meinem linken Fuß nach meinem Pantoffel, trat in etwas Klebriges, zog den Fuß zurück und wußte mit einem Schlag, was sich am vergangenen
107
Abend, vielmehr an diesem Morgen, abgespielt hatte. Ich erinnerte mich an jedes Wort, jede Bewegung so genau, als ob ein überbelichteter, sehr scharfer Film in rasender Geschwindigkeit vor mir abliefe. Ich drehte mich um, zog die Decke über den Kopf, machte die Augen fest zu und dachte, es ist am besten, wenn ich heute überhaupt nicht aufstehe. Nach zehn Minuten fand ich, das sei unwürdig, kroch aus dem Bett, zog meinen Morgenmantel über und schaute vorsichtig auf den Flur hinaus. Die Türen zu den Kinderzimmern standen offen. Die Söhne schienen also zur Schule gegangen zu sein. Wieviel sie von unserem dramatischen Auftritt wohl mitgekriegt hatten? Jonathans Hemd und Jackett lagen unberührt auf der kleinen weißen Couch. Er war also nicht in der Redaktion. Ich atmete tief durch, ging leise die Treppe hinunter und stolperte fast über Basko. Er saß auf der untersten Stufe und hielt mir – kaum, daß er mich gehört hatte – vorwurfsvoll eine dick eingebundene Vorderpfote entgegen. Basko hatte ein unnachahmliches Geschick, sich mitleiderregend zu gebärden, falls immer ihm eine winzige Kleinigkeit zugestoßen war, wenn etwa ein kleiner Stein zwischen seine Zehenballen geriet oder er sich einen winzigen Kratzer zugezogen hatte. Er humpelte tagelang auf drei Beinen hinter mir her, so daß alle Leute stehen blieben, sich erkundigten, was dem guten Hund fehle, ihn tätschelten und mich streng fragten, ob ich mich auch ausreichend um das offenbar schwerverletzte Tier kümmere. Kaum waren die Leute weg, vergaß er seine Rolle als bedauernswerter Patient und jagte wie verrückt einer läufigen Hündin nach. Jetzt also saß er, die Augen anklagend nach oben gerollt, auf der untersten Treppenstufe und ließ den unteren Teil seiner rechten Vorderpfote, deren Verband mit viel Leukoplast umwickelt war, wirkungsvoll hin und her schlenkern. »Braver Basko, armes Hundi, schönes Pfoti«, sagte ich. »Bist in einen Scherben getapst, gell?« Worauf er quietschend gähnte, mich unter seinen Kummerfalten sorgenvoll ansah und hinter mir herhinkte.
108
Ich ging zur Küche, warf schaudernd einen kurzen Blick hinein und stellte fest, daß irgend jemand versucht haben mußte, die Scherben aufzukehren, was zur Folge hatte, daß Wände, Boden und Möbel gleichmäßig mit breiten, klebrigen Streifen überzogen waren. Ich seufzte, raffte all meinen Mut zusammen und betrat, einen dramatisch hinkenden Basko im Gefolge, das Eßzimmer. Hier saß im Morgenrock, grau an Haupt und Haar, aber immerhin vor einem aus irgendwelchen Überresten zusammengekratzten Frühstück, mein Gatte Jonathan und schaute mir entgegen wie ein waidwund geschossenes Reh, genauer gesagt, wie eine Minute zuvor unser schwerverletzter Hund Basko. Ich räusperte mich kurz, setzte mich auf meinen Platz und sagte, weil mir nichts Besseres einfiel: »Guten Morgen.« Jonathan deutete auf Basko und verkündete mit Grabesstimme: »Er saß heute früh jämmerlich winselnd vor unserer Tür und blutete aus zwei tiefen Schnittwunden. Da bin ich aufgestanden und habe ihn verbunden, so gut es ging. Du hast ja nichts gehört. Du hast ja tief geschlafen.« »Du nicht?« fragte ich. »Natürlich nicht. Ich habe kein Auge zugetan.« »Das tut mir leid«, sagte ich und goß mir aus einem Bierglas Kaffee ein, das Jonathan offenbar in Ermangelung einer Kanne benutzt hatte. Und dann fügte ich unsicher hinzu: »Es kam ja wohl etwas überraschend, daß ich plötzlich unser gesamtes Geschirr an die Wand geworfen habe. Übrigens weiß ich auch nicht mehr genau, warum eigentlich. Aber irgendwie hat es mir sehr gutgetan. Ich habe geschlafen wie ein Stein.« »Weißt du noch, was du alles gesagt hast?« fragte Jonathan mit tragisch umflortem Blick. Ich wußte es haargenau. Aber ich fühlte mich viel besser als gestern nacht, und das Ganze schien mir etwas übertrieben. Also sagte ich: »Nein, keine Ahnung.« »Hm. Du sagtest unter anderem, daß du für immer von hier weggehen willst, offenbar vorwiegend von mir, aber auch von den Kindern und von Basko. Du sagtest, daß du die ganzen Jahre hindurch todunglücklich mit mir warst, daß ich egoistisch,
109
tyrannisch, humorlos, kurzum unerträglich sei, und dann – dann hast du noch gesagt…« »Was?« fragte ich zunehmend gut gelaunt. »Also ganz genau habe ich’s nicht mehr im Gedächtnis. Aber es klang so, als ob du dir eine ganze Reihe von Verehrern, wenn nicht gar Liebhabern hieltest. Jedenfalls warst du gestern wild entschlossen, einen davon anzurufen und gleich direkt zu ihm zufahren.« Alle Achtung, das wiederum hatte ich nicht mehr im Gedächtnis. »Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich die ganze Nacht kein Auge zugetan habe«, sagte Jonathan. »Um genau zu sein, es gab eine Stunde, so morgens zwischen vier und fünf, da stand ich vor deinem Bett und kämpfte mit dem Wunsch, dich zu töten.« Mir wurde ein bißchen schwindlig, das kam wahrscheinlich von dem starken, bitteren Kaffee. »Um Himmels willen, warum denn das?« erkundigte ich mich. »Weil ich ungeheuer eifersüchtig bin. Ganz irrsinnig eifersüchtig, auch wenn dir das bisher noch nicht aufgefallen sein sollte«, sagte Jonathan. »Und natürlich, weil ich dich liebe, und zwar fast genauso wie am ersten Tag. Warum glaubst du wohl, warum ich dich immer von Festen oder Partys wegzerre? Doch nur, weil ich es nicht ausstehen kann, wenn irgendwelche Männer mit dir flirten und dich offenbar ganz reizend finden, und weil ich nicht mag, wenn du diese Männer so anstrahlst, als ob sie ganz einmalige Exemplare ihrer Art wären. Jedenfalls strahlst du mich fast nie so an.« »Ach Jonathan«, sagte ich und griff vorsichtig über den Tisch nach seiner Hand. »Du bist aber komisch. Ich strahle doch keine fremden Männer an, vielleicht hab ich das früher mal gemacht, das kann sein, aber das ist längst vorbei. Und Männer haben heutzutage wirklich etwas Besseres zu tun, als mit vierzigjährigen, verheirateten Damen zu flirten. Da kannst du ganz beruhigt sein.« »Und dieser Fotograf mit den schrecklichen roten Haaren und dem unangenehmen Schweizer Dialekt?« Ich zögerte einen Augenblick. Es hatte einmal eine Zeit gegeben vor vielen Jahren, da hatte ich diese roten Haare sehr attraktiv gefunden und den Schweizer Dialekt keineswegs unangenehm.
110
»Ach der? Na hör mal, mein Lieber«, hörte ich mich sagen. »Das ist ein uralter Kollege und ein guter Kumpel, genau wie die anderen auch, mit denen du mich ständig rumreisen läßt. Wofür hältst du mich denn?« »Tja«, sagte Jonathan. »Dann wäre das ja wohl erledigt. Oder willst du immer noch weg?« Ich schaute in sein vertrautes Gesicht mit den Bartstoppeln, ließ meinen Blick zu Basko schweifen, der, kaum daß unsere Aufmerksamkeit für seine Pfote erlahmte, sorgfältig den weißen Verband samt Leukoplaststreifen abgebissen und in vielen schönen Einzelteilen über den Teppich verteilt hatte. Ich dachte an die Küche, die mich trotz Jonathans rührender Reinigungsversuche vermutlich mehrere Stunden beschäftigen würde, überlegte, ob ich wohl wieder irgendwo so ein hübsches englisches Geschirr finden würde, und sagte: »Nein, ich glaube nicht. Ich werde jetzt erst mal in der Küche Ordnung machen und dann versuchen, eine Art Mittagessen herzustellen.« »Das brauchst du nicht«, sagte Jonathan und stand federnd vor Tatendrang auf. »Ich fahre jetzt nämlich gleich in die Redaktion. Hoffentlich ist dort inzwischen ohne mich nicht allzuviel schiefgegangen.« »Sag mal«, rief ich ihm nach, als er schon halb die Treppe hinaufgelaufen war. »Haben die Kinder eigentlich etwas gemerkt? « »Na, du bist gut«, erwiderte Jonathan trocken. »Du hast ja so gebrüllt, daß vermutlich halb Waidenried mitgehört hat.« »Ich meine das ganz im Ernst. Haben sie irgend etwas gesagt?« fragte ich kleinlaut. »Mach dir bloß nicht schon wieder Vorwürfe«, sagte Jonathan beruhigend. »Sie haben keinen seelischen Schaden davongetragen. Ganz bestimmt nicht. Als Michi herunterkam, wühlte ich mich gerade mit Schaufel und Schmutzkübel durch die Überreste deiner Zerstörungswut. Er sah mir eine Weile zu, bis ich sagte: >Wie du siehst, gibt es heute kein Frühstück.< – >Klar<, sagte er. >Verstehe ich. Ich habe auch nicht damit gerechnet nach dem Krach, den ihr heute nacht aufgeführt habt. Gut, daß es nicht noch länger gedauert hat. Wir haben nämlich heute eine wichtige Englisch-Schulaufgabe,
111
und da brauch ich vorher einfach meinen Schlaf. <« »Sonst hat er nichts gesagt? Ich meine zum Beispiel darüber, daß ich euch vielleicht verlasse oder so?« »Keine Spur. Er hat das offenbar weniger ernst genommen als wir beide.« »Und Christian?« »Den hab ich ‘ne halbe Stunde später geweckt und gefragt, ob er heute nicht zur Schule müsse. Und dann habe ich hinzugefügt, wir hätten heute nacht eine kleine Auseinandersetzung gehabt und wohl auch ein bißchen zuviel getrunken. Er sprang aus dem Bett und sagte: >Kleine Auseinandersetzung ist gut. Ich hab immer mitgezählt, wie der Moß das Frühstücksgeschirr an die Wand geworfen hat. Gerade, als ich dachte, jetzt müßte das Tablett leer sein, ging sie an den Geschirrschrank. Von da an hab ich nur noch gehofft, daß sie mein Weißbierglas nicht erwischt, weißt du, das alte von 1910, das mir der Flick zum Geburtstag geschenkt hat.< – >Hat sie nicht erwischt<, versicherte ich ihm. >Da habe ich nämlich den Kaffee hineingegossen, weil es das einzig größere Gefäß ist, das noch existierte – >Okay, also dann bis abends<, rief er, und das war’s. Ich finde«, fügte Jonathan hinzu, »daß es sich bei den beiden um zwei ausgesprochen nette, vernünftige Knaben handelt.« »Siehst du, das sage ich dir doch schon seit Jahren«, erwiderte ich. Und dann überlegte ich, was ich als nächstes erledigen sollte: mit Basko Gassi gehen, mich in die Küche stürzen oder meine Redaktion anrufen. Ich entschied mich wie immer für Basko. 17 Michi stand im blauweißgestreiften Oberhemd und in dunkelblauen Socken vor meinem Schlafzimmerspiegel. Um ihn herum über Sessel, Teppich und Betten verstreut lagen ein Dutzend Hemden, Pullover und Hosen in wilder Unordnung. Er kämpfte mit dem obersten Knopf seines Hemdes und rief mir verzweifelt entgegen: »Gut, daß du endlich da bist! Ich brauche eine Rose!« 112
Wir waren gerade mit Basko von einer Kunstausstellung zurückgekommen, was wie immer sehr aufregend war. Nicht etwa, daß sich Basko für surrealistische Maler interessiert hätte, nichts lag ihm ferner als das, es war Jonathan, der regelmäßig darauf bestand, daß wir Basko ins Haus der Kunst mitnahmen, wo er in der Vorhalle auf uns warten sollte. Anschließend pflegten wir mit ihm im Englischen Garten spazierenzugehen. Auf der großen Wiese beim See tollten stets Hunde jeder Rasse und Größe herum, und zwar in einer Anzahl, die Basko völlig verwirrte. Er raste in seligen Zickzacksprüngen hinter edlen Afghanen und fetten alten Dackeln her, überschlug sich dabei in grotesken Purzelbäumen, schäumte wie eine Waschmaschine, in die man zuviel Pulver geschüttet hatte, und ging uns jedesmal mindestens für eine halbe Stunde verloren. Das Problem bei diesen an sich geglückten Freilufttouren mit kulturellem Auftakt bestand darin, daß es seit einiger Zeit streng verboten war, Hunde in die Vorhalle des Ausstellungsgebäudes mitzunehmen. Diese Vorschrift wurde so streng gehandhabt, daß sich nicht einmal mehr die gutmütigste Garderobenfrau dazu überreden ließ, Basko für ein Stündchen hinter ihrem Stuhl zu verstecken. Es blieb also nur eines: Jonathan mußte in einem günstigen Augenblick, wenn die Türsteher von Menschentrauben umgeben waren, Baskos Leine blitzschnell an einem Heizkörper, einem Türknauf oder sonst irgendeinem dazu geeigneten Gegenstand befestigen. Basko legte sich sofort nieder, vergrub seine Schnauze in den Vorderpfoten und schlief ein. Wenn wir die Ausstellung in Rekordtempo durcheilt hatten, kam es darauf an, sich unauffällig an Basko anzuschleichen, mit raschem Griff die Leine zu lösen, seine Freudensbezeugungen zu dämpfen und möglichst rasch mit ihm ins Freie zu entweichen. Leider gelang das nicht immer. Heute zum Beispiel hatten uns zwei Aufseher und ein ernster Herr in Zivil erwartet, die zürnend, aber ratlos und in gebührendem Abstand um Basko herumstanden, weil sie nicht wagten, dem freilich schnarchenden, aber furchterregend aussehenden Boxerrüden nahezukommen.
113
Jonathan, der bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad im Hause erreicht hatte, schickte mich vor, um den Herren mit großen, staunenden Augen zu erklären, daß ich leider keine Ahnung von irgendeinem Verbot gehabt hätte, mich vielmehr auf der Durchreise nach Hamburg befände und diesen meinen außergewöhnlich gutmütigen, wohlerzogenen Hund in bester Absicht hier angehängt habe. »Also, ich weiß nicht recht, Fräulein, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, brummelte der eine Wärter, während mich der Herr in Zivil zuvorkommend über die Gepflogenheiten Münchner Museen in bezug auf Hunde und andere lebende Tiere aufklärte. »Nie wieder mach ich das! Es war endgültig das letzte Mal, daß Basko mit uns in eine Kunstausstellung geht«, sagte ich draußen zu Jonathan. Er hakte sich gut gelaunt bei mir ein und strebte mit seinen energischen Riesenschritten dem Park zu. Es wurde ein herrlicher Spaziergang. Unter den ausladenden alten Bäumen spielten Hippies Gitarre und Trommel, Väter ließen für ihre Kinder Papierflugzeuge kreisen, vom Monopteros aus, einem kleinen griechischen Tempel, der auf einem Hügel stand, konnte man alle Kirchtürme Münchens am Horizont erkennen, die dicken barocken der Theatinerkirche, die beiden schlanken, strengen der Ludwigskirche, die Türme vom Alten Peter, von Heiliggeist und vom Rathaus und ganz drüben die runden Hauben der Frauenkirche. Am Chinesischen Turm mit seinen vielen goldenen Glöckchen spielte eine Blaskapelle, wir tranken gemeinsam eine Maß Bier im Schatten, Basko bekam ein gegrilltes Schweinswürstel, die letzten drei Kutscher Münchens warteten in Frack und Zylinder auf Kunden. »Wir sollten viel öfter in den Englischen Garten gehen«, sagte ich zu Jonathan, als wir an einem sprudelnden Seitenarm der Isar entlang zum Auto zurückbummelten und von drei Reitern überholt wurden, mit denen Basko einen Wettlauf begann. »Sollten wir«, sagte Jonathan. »Es kommt ja bald die PicassoAusstellung nach München. Das ist eine gute Gelegenheit.« »Aber dann lassen wir Basko zu Hause«, sagte ich und lehnte meinen Kopf an Jonathans Schulter. »Das meinst du doch nicht im Ernst«, erwiderte er.
114
»Natürlich nicht«, seufzte ich und nibbelte Baskos nassen Bauch trocken, bevor er sich zu meinen Füßen ins Auto quetschte. Eine halbe Stunde später rief mir mein jüngerer Sohn halbbekleidet und offenbar in höchster Bedrängnis aus meinem Schlafzimmer entgegen: »Gut, daß du endlich da bist! Ich brauche eine Rose!« Ich überblickte das modische Chaos, das er um sich geschaffen hatte, betrachtete seinen zerzausten Lockenschopf, seine fußballgestählten, kräftig behaarten Beine, bemerkte erstaunt den Anflug eines Bärtchens auf seiner Oberlippe, ferner einen Pickel auf seiner wohlgeformten Nase, hob auf, was mir an Kleidungsstücken unmittelbar vor den Füßen lag, und sagte: »Also, was du zunächst brauchst, ist ja wohl eine Hose und nicht eine Rose.« »Eben«, rief Michi. »Ich weiß nicht, welche Hose ich anziehen soll. Die blaue mit den Bundfalten macht mich so breit um die Hüften, und zu der hab ich auch keine passenden Slippers. Vielleicht sollte ich lieber Jeans nehmen und den gelben Pulli, aber dazu kann ich dann wieder keine Krawatte tragen. Sag mal, soll ich mir vielleicht das Jackett von Christian ausleihen? Der zieht es ja sowieso nie an, und ich finde, das macht sehr männliche, breite Schultern.« »Was ist eigentlich mit dir los?« fragte ich halb ärgerlich, halb belustigt. »Ich hole Kiki ins Kino ab und bin schon viel zu spät dran«, verkündete mein jüngerer Sohn. »Vor allem, weil ich doch noch eine Rose brauche. Soll ich da eine rote, langstielige nehmen, oder was?« Er steckte die Hände in die Taschen der blauen Bundfaltenhose, betrachtete sich prüfend von allen Seiten und schien nur teilweise mit seinem Anblick zufrieden. »Wozu brauchst du denn eine Rose, wenn du mit Kiki ins Kino gehst?« fragte ich. »Hat sie Geburtstag?« »Nein, hat sie nicht. Aber ich hole sie doch zum erstenmal zu Hause bei ihren Eltern ab.« »Und wer soll die langstielige Rose kriegen?« »Das weiß ich eben nicht genau! Kikis Mutter, dachte ich. Es kommt doch alles darauf an, daß ich einen guten Eindruck mache.«
115
Ich verkniff mir ein Lächeln und sagte ernst: »Aber du willst doch nicht um Kikis Hand anhalten, sondern sie nur in einen James-BondFilm abholen. Ich glaube, eine langstielige Rose wäre da völlig fehl am Platz. Ich glaube auch nicht, daß Kikis Mutter eine Rose erwartet. Ich glaube eher, daß sie es etwas übertrieben fände.« »Meinst du? Meinst du, ich soll die Rose lieber weglassen?« »Unbedingt«, sagte ich. »Wenn dich Kikis Mutter später mal zum Essen einlädt, dann kannst du ihr einen Blumenstrauß mitbringen. Darüber freut sie sich bestimmt. Aber die langstielige Rose, die schlägst du dir am besten aus dem Kopf.« »Mensch, bin ich froh. Ehrlich. Ich hab nämlich sowieso nur noch zehn Mark fünfzig«, rief Michi erleichtert, fuhr sich nochmals mit allen zehn Fingern durch die Haare und stürzte die Treppe hinunter. »Wiedersehen, Bassi. Nein, du mußt dableiben«, sagte er, tätschelte Basko kurz und knallte die Haustür hinter sich zu. Kurz darauf hörte man ein Moped aufheulen. Ich sammelte die Kleidungsstücke von Michi zusammen, räumte sie in seinen Schrank und überlegte, wie zwei Söhne, die nachweislich von denselben Eltern stammten und den gleichen, sicher nicht immer geglückten Erziehungsversuchen ausgesetzt waren, sich so unterschiedlich entwickeln konnten. So hielt Michi zum Beispiel von Anfang an in seinem kleinen Zimmer, in dem Hunderte von Schallplatten, eine akustische und zwei elektrische Gitarren, Fachzeitschriften, Bücher und eine Hi-FiAnlage mit zwei Lautsprechern buchstäblich jeden Quadratzentimeter ausfüllten, eine geradezu atemberaubende Ordnung. Er pflegte schon als kleines Kind seine Kleider abends sorgfältig zusammenzufalten, das Bett einladend aufzudecken und morgens wieder in eine Liege zu verwandeln – es war selbst für einen durchaus ordentlichen Menschen wie mich ein absolut rätselhaftes Verhalten. Christian dagegen ließ grundsätzlich alles fallen, wo er ging und stand. Wer nach ihm das Badezimmer betrat, patschte in Pfützen, fand geöffnete Zahnpastatuben vor und schüttete zwangsläufig das Shampoo um, weil der Deckel nur halb aufgesetzt war. Außerdem fand Christian nie irgend etwas. Ein typischer Dialog zwischen ihm
116
und mir lautete etwa so: Er: »Moß, weißt du, wo meine Motorradhandschuhe sind?« – Ich: »Ja, sie liegen rechts hinten im ersten Fach des blauen Bauernschranks.« – Nach fünf Minuten Stille. Er: »Sie sind nicht da.« – »Natürlich sind sie da!« – »Nein, Moß, diesmal hast du unrecht. Ich habe das ganze Fach durchwühlt, sie sind wirklich nicht da!« – Ich werde unruhig, halte für möglich, daß ich mich getäuscht habe, stehe auf, öffne den Schrank, greife hinein, ohne auch nur hinzusehen, halte die Handschuhe in der Hand. Christian steht kopfschüttelnd vor mir, schaut mich schuldbewußt an und sagt: »Moß, ich versteh das nicht.« Ich antworte: »Ich auch nicht.« Im Verlauf unseres Zusammenlebens war mir nur ein einziger Erfolg in meinem Kampf gegen Christians Unordnung beschieden. Es gelang mir nach Jahren, Christian dazu zu bringen, seinen Morgenrock in der Früh nicht mehr so, wie er ihn abgestreift hatte, vor dem Bett liegen zu lassen, sondern an den dafür vorgesehenen Haken an seiner Zimmertür zu hängen. Ich war auf diesen Sieg mindestens so stolz wie Lord Nelson auf seinen bei Trafalgar, bezweifle aber, daß Lord Nelson sein Sieg so viel Energie gekostet hat wie mich meiner. Im übrigen hing Christians Morgenrock nun zwar an seinem Haken, aber grundsätzlich so, daß der Gürtel am Boden schleifte und sich jedesmal, wenn ich das Zimmer betrat, in der Tür verklemmte. Christian ging nur dann zum Friseur, wenn es unbedingt nötig war, und ließ sich die Haare dann so kurz wie möglich schneiden, damit es möglichst lange vorhielt. Michi hingegen entdeckte früh den schicksten und teuersten Coiffeur des südlichen München und ließ sich dort zwischen lauter gepflegten Damen seine Locken in die jeweils neueste Facon fönen. Christian trug am liebsten Jeans und unkomplizierte T-Shirts, die ihm übrigens ausgezeichnet standen. In ein Jackett zwängte er sich ein einziges Mal, und zwar zur offiziellen Abiturfeier seiner Schule, die dort auf traditionelle Weise mit Reden und klassischer Musik vonstatten ging. Es war ein fantastisch geschnittenes Sakko von lässiger Eleganz, das wir in Venedig erstanden hatten. Christian trug es genau zehn Minuten lang. Als er zur Entgegennahme seines
117
Reifezeugnisses aufgerufen wurde, hing die Jacke bereits achtlos zerknautscht über seiner Stuhllehne, und Christian nahm sowohl sein Zeugnis wie den Handschlag des Direktors, Vizedirektors und Klassenlehrers mit sportlich hochgekrempelten Hemdsärmeln entgegen. Ganz anders Michi. Er kaufte von seinem monatlichen, keineswegs üppigen »Kleiderbudget« nach genauen Plänen farblich harmonisch aufeinander abgestimmte Hemden und Pullis, wählte mit großem Geschick preiswerte, aber nach der neuesten Mode geschnittene Hosen dazu aus, konnte sich über eine schmale Lederkrawatte, die ihm ein Freund aus Italien mitbrachte, über alle Maßen freuen und erwiderte, wenn ihm aus der Familie gutmütiger Spott entgegenschlug, ungerührt: »Ich brauche das. Ich bin einfach für ein Luxusleben geschaffen.« Dabei stellte er sich vor dem Spiegel in Positur, ballte die Fäuste wie ein griechischer Kämpfer und verkündete: »Ich bin nun mal ein schöner Mann, dagegen kann man nichts machen.« Als Randy in Christians Leben auftauchte, das bis dahin weitgehend von Skiern, Tennisschlägern und Motorrädern beherrscht worden war, behandelte Christian sie genauso fröhlich und kumpelhaft wie seine zahllosen Freunde. Als Kiki Michis von Musik und Literatur überfrachtete Welt betrat, verwöhnte er sie mit zarten Rosensträußen, schrieb mit eigener Hand Jugendgedichte von Rilke für sie ab, kaufte ihr silberne Kettchen mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens, kurzum, er verhielt sich trotz seiner Schüchternheit wie ein geübter Casanova. Die Schüchternheit gab sich im Lauf der Zeit, die Mittel, die Michi einsetzte, blieben dieselben. Als Christian immer noch Randy nachtrauerte, hatte Michi bereits Kiki Nummer drei mit Rosen, Rilke und tiefsinnigen Gesprächen über Literatur und Musik erobert. Christian beobachtete die Aktivitäten seines jüngeren Bruders mit gutmütiger Verwunderung. »Wer hätte das von unserem Kleinen gedacht«, sagte er zu mir. »Meine Freundin Tamara«, antwortete ich. »Die hat es immer vorausgesagt.« Im übrigen war es für Michi keineswegs leicht, sich zum
118
Casanova und Mann von Welt zu entwickeln. Es kostete ihn fast soviel Willenskraft wie ein guter Gitarrist zu werden. Ich erinnere mich an eine Szene in Münchens bekanntestem Feinschmeckerlokal. Michi hatte sich zu seinem fünfzehnten Geburtstag nichts weiter gewünscht, als einmal ganz besonders elegant und teuer mit uns essen zu gehen. Er umgab sich gern mit dem Flair eines Gourmets, der nur durch sein knappes Taschengeld daran gehindert wurde, wenigstens ab und zu in dem ihm gemäßen Stil zu speisen. Dabei gab es im Grunde nur drei Gerichte, die er wirklich gerne aß: Spaghetti mit Tomatensoße, Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat (notfalls auch in der zeitgemäßen Form eines Hamburgers von McDonald’s) und – Höhepunkt aller Genüsse – Wiener Schnitzel mit Pommes frites. Er unterschied sich auf diesem Gebiet vermutlich wenig von allen anderen fünf- bis fünfzehnjährigen Knaben. Wir führten Michi also am Abend seines Geburtstags in ein alteingesessenes Münchner Speiserestaurant, das zu der Zeit gerade einen Stern von Michelin verliehen bekommen hatte. Er nahm an der Stirnseite des mit Kerzen, edlem Porzellan und Silber gedeckten Tisches Platz, entfaltete die gestärkte mattrosa Damastserviette und stellte anerkennend fest: »Das kann man so lassen.« Außer Christian, Jonathan und mir war noch unser Freund Ralph mit von der Partie, jener liebenswürdige Schöngeist, mit dem wir uns vor Jahren in England im Irrgärten König Heinrichs VIII. verlaufen hatten. Er war Michis Pate und brachte ihm schon früh die Freude an Büchern und seiner eigenen elitären Lebenshaltung nahe. Ein Ober im Frack legte uns die Speisekarte vor. Wir studierten sie mit Genuß, erwogen im lebhaften Gespräch den Vorteil dieser oder jener Speise und trafen dann unsere Wahl. Jonathan entschied sich für Lammnüßchen in Pfefferminzsauce mit Blattspinat, Christian, wie immer abenteuerlustig und allem Neuen zugetan, fand Fasanenbrust mit Champagnerkraut einen Versuch wert, Ralph, ein Feinschmecker von hohen Graden, bestellte Waller im Wurzelsud, ich wählte in Erinnerung an eine Loire-Fahrt Hechtklößchen. Als Jonathan und Ralph sich schließlich noch auf
119
einen leichten Rose aus der Provence geeinigt hatten, wanderten unsere Blicke zu Michi. Er saß hochrot und sichtlich verzweifelt über der Speisekarte, die alle Köstlichkeiten dieser Erde enthielt. »Und wofür hat sich der junge Herr entschieden?« fragte der Ober mit einem höflichen Neigen des Kopfes. Michi warf nochmals einen Blick auf die Speisekarte und sagte dann mit einer weltmännischen Geste: »Wiener Schnitzel mit Pommes frites.« Dann fügte er hinzu: »Und viel Ketchup und ein großes Cola.« Natürlich war auch Michis Verhältnis zu Basko ein besonderes. Er liebte ihn genauso sehr, wie Christian und Jonathan ihn liebten. Er radelte unermüdlich mit ihm spazieren, streichelte ihn, gab ihm originelle Kosenamen, für deren Erfindung er eine große Begabung hatte. Trotzdem litt Michi immer ein ganz klein wenig darunter, daß Basko nicht ganz seinen ästhetischen Maßstäben entsprach. Mit anderen Worten: Außer mir war es vor allem Michi, dem es gelegentlich vor Baskos Speichelfluß, seinen ewig niederrieselnden Haaren, seinen schmutzigen Pfoten und seinem speziell zu Regenzeiten herben Geruch grauste. Merkwürdigerweise hatte aber gerade Michi im Lauf der Zeit mehrere besonders unappetitliche und delikate Situationen mit Basko zu überstehen. So trat er eines Morgens aus seinem Zimmer, als Jonathan verreist, Christian bei einem Skiwochenende, ich nach langem Krankenhausaufenthalt bettlägerig und meine Mutter noch nicht zur Übernahme des Haushalts eingetroffen war. Vor Michi lag ein erbarmungswürdig wimmernder Basko auf der obersten Treppenstufe. Von der hinwiederum ergoß sich eine gelbliche, zähflüssige, übelriechende Masse bis auf den Strohteppich im unteren Korridor. Basko, der niemals ohne Aufforderung in den ersten Stock kam, mußte sich in höchster Not hinaufgeschleppt haben, damit jemand ihm die Tür nach draußen öffne. Leider hatte ihn niemand gehört. So war es also Michi, der mit seinen gepflegten Gitarrenhänden die Bescherung beseitigen mußte. Er tat es schaudernd, aber gründlich und systematisch, wie es seine Art war. Auch Baskos leidenschaftliche Zuneigung zu einer Spanielhündin
120
namens Molly erreichte ausgerechnet in Michis Gegenwart ihren dramatischen Höhepunkt. Ich wollte mit Michi ins Dorf radeln, um bei den Geschwistern Köhler, die halb Waidenried mit Blusen, Röcken und Unterwäsche versorgten, ein paar Jeans für ihn zu kaufen. Natürlich kam Basko mit. Ich sagte zu Michi, er solle mit Basko den Umweg über die unbebaute Wiese hinter der Kirche nehmen, weil ich noch rasch auf die Bank mußte. Dann wollten wir uns bei Köhlers treffen. Ich hatte die Stangen mit Jeans in jeder Form und Farbe bereits mehrfach durchgesehen und ein halbes Dutzend in die engere Wahl gezogen, ohne daß Michi auftauchte. Als er nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, lenkte ich mein Fahrrad rund um die Kirche, an der kleinen Bäckerei vorbei zu der Wiese, die das bevorzugte Spiel- und Schnüffelgelände sämtlicher Waldenrieder Hunde war. Eine dramatische Szene bot sich mir dar. Basko stand schäumend und schwer atmend über Molly, die er seit Jahren heiß liebte. Wenn Molly läufig war, ließ sich Basko stundenlang jaulend vor ihrem Gartenzaun nieder, der an die Wiese grenzte, und war nur unter äußerstem Kraftaufwand von dort wegzubringen. Einmal, als ich ihn bereits an der Leine bis zur Straßenecke gezerrt hatte, gewann er im letzten Augenblick die Überhand und zog mich auf Schuhen, von denen die Absätze wegsplitterten, Hunderte von Metern zurück zu Mollys Gartenzaun. Diesmal schien Molly eine Lücke im Zaun gefunden zu haben. Jedenfalls stürzten sich die beiden Liebenden in aller Unbefangenheit aufeinander. Michi, der sein Rad weggeworfen hatte und, die Leine in der Hand, hinter Basko hergerast war, kam eindeutig zu spät. Jetzt stand er da, schämte sich entsetzlich und wurde von der einen Seite von einem alten Herrn, der auf der Wiese spazierengegangen war, mit Ratschlägen bedrängt, von der anderen Seite von Mollys Besitzerin beschimpft. Sie hatte Michi einen Kübel mit Wasser in die Hand gedrückt und verlangte, er solle ihn über das liebende Paar kippen, um dadurch zu retten, was noch zu retten sei. Michi hielt unschlüssig den Kübel in der Hand, während die Frau immer wieder schrie, wenn Molly Junge bekäme, würde sie sie
121
allesamt ersäufen. Es war höchste Zeit, daß ich an Michis Seite auftauchte. Ich nahm ihm den Eimer aus der Hand, sagte dem alten Herrn, er solle sich besser nicht einmischen, das sei schlecht für den Kreislauf, und erklärte der erzürnten Mollybesitzerin, daß mir der Vorfall sehr leid täte, daß sie aber ganz offensichtlich auch nicht ganz schuldlos daran sei. Die beiden Liebenden hatten inzwischen voneinander abgelassen. Basko kam auf uns zu, setzte sich wie ein siegreicher, aber zu Tode ermatteter Krieger zu unseren Füßen nieder und wollte offensichtlich gelobt werden. Wir hängten ihn statt dessen an die Leine und schoben unsere Fahrräder nebeneinander heim. Basko ließ sich mehr ziehen als führen. Er war so erschöpft, daß er kaum noch ein Bein vor das andere setzen konnte. »Moß, kannst du mir sagen, warum immer mir solche Sachen passieren müssen?« seufzte Michi. »Mach dir nichts draus, mein Sohn«, sagte ich. »Du hast dich prima gehalten.« Als ich abends zu Michi ins Zimmer kam, um ihm gute Nacht zu sagen, murmelte er schlaftrunken: »Wenn die Molly Junge kriegt, lassen wir sie nicht ersäufen. Das mußt du mir versprechen, Moß. Schließlich ist der Basko der Vater und hat auch ein Wort mitzureden.« »Klar«, sagte ich. Glücklicherweise bekam Molly aber keine Jungen. 18 Ich radelte mit Basko die Grünanlagen entlang, die die letzten Häuser von Waidenried vor dem Lärm der Autobahn schützten. Es war seine bevorzugte Rennstrecke, weil es zwischen dem Radweg und dem weiter innen liegenden Fußgängerpfad kleine Hügel zum Hinauf- und Hinunterrasen, allerlei Buschwerk, vor allem aber viele abgebrochene Äste gab, die von einer Reihe alter Kastanienbäume stammten. Basko liebte abgebrochene, alte Äste. Je schwerer und 122
länger sie waren, desto mehr reizten sie ihn. Am liebsten zerrte er sich ein besonders unhandliches Monstrum unter einem Reisighaufen hervor, legte es sich zurecht, biß geduldig alle störenden Seitenzweige ab, bis nur noch ein tadellos glattgenagter Prügel übrigblieb. Den packte er in der Mitte und sauste, den Kopf trotz des gewaltigen Gewichts stolz erhoben, den Weg entlang. Leider schien Baskos Intelligenzquotient nicht überragend zu sein. Ich hatte einmal gelesen, die Klugheit eines Hundes lasse sich unter anderem daran messen, ob er einen Stock, den er quer im Maul trägt, in Längsrichtung verlagert, sobald er durch eine schmale Öffnung hindurch muß. Nun, Basko mußte zwar nicht durch schmale Öffnungen, wohl aber preschte er mit seiner Trophäe an Fußgängern vorbei oder durch erschrocken auseinanderstiebende Spaziergängergruppen hindurch. Dabei hielt er seinen Ast keineswegs in Längsrichtung. Vielmehr schmetterte er die beiden Enden freudig in männliche und weibliche Kniekehlen. Manchmal konnte ich rechtzeitig einen Warnruf ausstoßen, aber meist kam er zu spät, und je nach Temperament der Betroffenen wurde Basko ob seiner Leistung gelobt oder ich beschimpft. Um ehrlich zu sein, meistens wurde ich beschimpft. Ich radelte also wieder einmal vor Basko her, hoffte, daß diese Spazierfahrt bei schneidend kaltem Wind bald überstanden sein würde und daß Basko den viel zu schweren Ast, den er mit letzter Kraft in die Luft stemmte, endlich fallen ließ. Plötzlich hörte ich hinter mir die Stimme eines kleinen Jungen, den ich gerade überholt hatte. »Schau mal, Mama«, sagte er zu der Frau, die ihn an der Hand führte. »Der arme alte Hund muß hinter dem Rad herlaufen.« Ich stieg ab und sagte zu dem Kleinen: »Der Hund ist nicht arm. Der muß nicht hinter dem Rad herlaufen, sondern der darf hinterherlaufen. Der tut das nämlich gern.« »Dann ist er halt nicht arm«, sagte der Junge, »aber alt ist er, oder?« Ich fragte: »Wie kommst du denn darauf?« »Das sieht man doch«, erwiderte der Junge und wandte sich desinteressiert ab. Abends fragte ich Jonathan: »Wie alt ist eigentlich Basko?«
123
»Ich glaube, acht, nein, warte, es sind schon neun Jahre.« »Ist das alt?« fragte ich weiter. »Keine Ahnung. Aber ich glaube, für einen Boxer sind neun Jahre schon eine ganze Menge.« Ich schaute Basko an, der, alle viere von sich gestreckt, an den Puff geschmiegt, dalag und mit halbgeschlossenen Augen vor sich hindöste. Mir fiel zum erstenmal auf, daß seine glänzende Nase trocken und rissig und seine schwarze Maske grau geworden war. Das heißt, nicht wirklich grau, aber so, als ob jemand Staubzucker über die Haarspitzen gestreut hätte. »Armer Basko«, murmelte ich. »Bist ein alter Hund geworden, und wir haben es nicht einmal gemerkt.« »Nun werde doch nicht sentimental«, sagte Jonathan. »Wir beide werden schließlich auch nicht jünger.« Er hatte recht. Mir fiel ein, daß Monsieur Jean, mein Friseur, mir gestern vorgeschlagen hatte, meine ersten weißen Haare durch goldblonde Strähnen unsichtbar zu machen. »Aber Monsieur Jean«, rief ich erschrocken. »Goldblonde Strähnen zu meinen dunklen Haaren, wie sähe das denn aus!« »Sehr schick und jugendlich, das versichere ich Ihnen. Wissen Sie, ich finde, Ihr Haar war für Ihren Typ immer schon um einen Ton zu dunkel. Dunkles Haar macht älter.« »Ja, aber es ist doch meine Naturfarbe, es war immer so!« rief ich. »Madame, auch die Natur kann sich irren«, erwiderte Monsieur Jean mit entschuldigendem Lächeln. Ich erzählte es Jonathan. »Das ist ganz schön frustrierend, wenn man mit vierzig Jahren erfährt, daß man sein ganzes Leben lang zu dunkle Haare hatte«, bemerkte ich niedergeschlagen. »Meinst du, ich sollte es mit den goldblonden Strähnen versuchen?« »Keine Ahnung«, murmelte Jonathan und blätterte geräuschvoll die Zeitung um. »Du weißt ja, daß ich keinen Farbensinn habe. Das mußt du selbst entscheiden.« Als Ratgeber in Schönheitsfragen war Jonathan von jeher gänzlich unbrauchbar. Er selbst war übrigens der felsenfesten Überzeugung, daß er mit zunehmendem Alter immer besser aussah. Das sagte ihm offenbar ab und zu seine Sekretärin, wenn sie seine Laune anheben wollte.
124
Jedenfalls berichtete mir Jonathan Äußerungen dieser Art immer höchst geschmeichelt. Leider mußte ich zugeben, daß sie der Wahrheit entsprachen. Ich fand, es war eine der Ungerechtigkeiten der Schöpfung, daß Männer mit den Jahren immer interessanter, Frauen dagegen einfach nur älter wurden. Meine melancholischen Gedanken wurden von Basko unterbrochen, der sich schwerfällig hochstemmte, zur Tür trottete, sie nach mehreren vergeblichen Versuchen mit der Vorderpfote öffnete und sich in seinen Korb unter der Garderobe zurückzog. War er wirklich ein alter Hund geworden? Jetzt, nachdem es einmal ausgesprochen war, fiel mir auf, daß er zwar noch schlank und muskulös, aber insgesamt doch schwerer wirkte als früher, daß seine herabgezogenen Unterlider gerötet waren und seine Augen eine Spur trüber schienen. Und richtig: Es kam eigentlich nur noch ganz selten vor, daß ich ihm mit dem Fahrrad nachjagen mußte. Meist zockelte er, den Kopf gesenkt, rhythmisch wie ein Marathonläufer hinter mir her und ließ sich nicht mehr alle paar Meter von anderen Hunden, Kindern oder irgendeinem Rascheln im Gebüsch ablenken. Sicher, mein Griff zur Leine und das Wort »Gassi« lösten immer noch heftige Freudenwindungen bei ihm aus. Aber freute er sich vielleicht nur mir zuliebe so übermäßig, weil dieser Ritus eben so zwischen uns eingespielt war? Stupste er mich nicht seit langem weniger ungeduldig am Knie, wenn es elf Uhr wurde? Hatte er sich nicht erst gestern, als ich mich verpflichtet fühlte, ihm seinen zernagten Ball durch den Garten zu werfen, schon beim drittenmal gähnend in den Schatten des Fliederstrauchs plumpsen lassen? Als Onkel Pubo vor einem Jahr gestorben war, hatte ich befürchtet, daß Basko die gewohnte kilometerlange Mittagstour mit ihm vermissen würde, und erwog verzweifelt alle möglichen Ersatzlösungen. Ein paar Tage lang gebärdete sich Basko mittags auch ausgesprochen unruhig. Er setzte sich, jede Faser seines Körpers vor Erwartung angespannt, vors Gartentor und schaute unablässig in die Richtung, aus der Onkel Pubos gewichtige Gestalt auf dem leicht schwankenden Fahrrad auftauchen mußte. Dann schien Basko nach und nach zu vergessen, warum er vor dem Gartentor saß, legte sich
125
gemächlich auf das sonnenwarme Pflaster des Gehsteigs, blinzelte den wenigen Autos nach, die vorbeifuhren, und ließ sich von den Kindern, die auf der Straße Rollschuh liefen, streicheln. »Jetzt sind wir ein altes Ehepaar mit einem alten Hund und zwei erwachsenen Söhnen, die sicher bald ausziehen werden«, sagte ich dumpf zu Jonathan. Er sah erstaunt von seiner Zeitung hoch. »Also, sagen wir so: Wir sind ein recht gut erhaltenes Ehepaar in mittleren Jahren mit einem alten Hund und zwei Söhnen, die keinerlei Anzeichen von erwachsenem Benehmen zeigen und voraussichtlich noch lange Zeit viel zu bequem sein werden, um den heimischen Herd zu verlassen.« Jonathan hatte heute offenbar seinen optimistischen Abend, während ich in Wogen tiefer Depression versank. Glücklicherweise dauerte dieser Zustand nie lange. Ein paar Wochen später saßen Jonathan und ich uns am Frühstückstisch gegenüber. Plötzlich richtete sich Basko unterm Tisch auf, drängte sich zwischen meinen Beinen hindurch, stand eine Sekunde in merkwürdig starrer Haltung da, als sei er aus Holz geschnitzt, und begann dann wie rasend sich um sich selbst zu drehen. Er stieß einen Stuhl um, rumpelte mit seinem ganzen Körpergewicht gegen den eichenen Sekretär und blieb dann schwer atmend und am ganzen Körper zitternd in einer Zimmerecke liegen. Es war, als ob ihn eine gewaltige unsichtbare Kraft dorthin geschleudert und dann von ihm abgelassen hätte. Jonathan war aufgesprungen und hatte das einzig Sinnvolle getan, nämlich zwei weitere Stühle, die in Baskos Nähe standen, aus dem Weg zu räumen, damit er sich nicht an ihnen verletzte. Ich schrie auf, klammerte mich an Jonathans Arm und rief ununterbrochen: »Bassi, Bassi, mein Gott, Bassi, was fehlt dir denn?« Als der Anfall vorüber war, gingen wir vorsichtig auf Basko zu. Er schaute uns fragend an, so als wisse er nicht, was mit ihm geschehen war und wie er in diese Zimmerecke geraten sei. Dann rappelte er sich mühsam auf und blieb mit hängendem Kopf vor uns stehen. »Bassi, komm, geh ins Betti, du armer, kranker Hund«, flüsterte
126
ich, wischte ihm mit einer Serviette sanft die Schaumspuren vom Fell und führte ihn am Halsband zu seinem Korb. Er blieb eine Weile abwesend davor stehen, kletterte schließlich unbeholfen über den niedrigen Rand des Korbes, rollte sich zusammen und schlief ein. Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht rollten. »Komm, beruhige dich«, sagte Jonathan mit belegter Stimme. »Er muß etwas Schlechtes gefressen haben, vielleicht hat jemand Gift gestreut. Ich hab mal gehört, das führt zu solchen Anfällen.« »Ob er Schmerzen hat«, fragte ich. »Nein, sicher nicht. Er hat doch offenbar überhaupt nicht gewußt, was passiert ist, und jetzt schläft er ganz friedlich«, erwiderte Jonathan. Dann bückte er sich und streichelte Basko zärtlich und ungewohnt lange. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er dann und räusperte sich. »Ich hab mich tatsächlich um zehn Minuten verspätet.« »Und wenn er wieder einen Anfall kriegt?« »Am besten rufst du gleich Frau Doktor Amsel an. Die kann dir sicher sagen, was mit ihm los ist.« Er warf einen letzten besorgten Blick auf Basko und ging. Frau Dr. Amsel war die Tierärztin, die Basko betreute. Sie war eine zierliche, grauhaarige Person, von der ich mir anfangs nie vorstellen konnte, wie sie es fertigbrachte, Bernhardiner, Doggen oder eben auch kräftige Boxerrüden zu behandeln. Basko liebte Frau Dr. Amsel über alle Maßen, obgleich sie ihm gelegentlich eine Geschwulst zwischen den Zehen aufschneiden oder eine Spritze geben mußte. Wenn wir zu ihrem Haus fuhren, schnüffelte er mindestens eine Viertelstunde lang all die herrlichen, vielfältigen Gerüche in sich hinein, die andere Patienten in der kleinen Straße hinterlassen hatten. Leider verlangte Frau Dr. Amsel gelegentlich eine Urinprobe von Basko. Sie drückte mir zu diesem Zweck eine Plastikschale in die Hand, mit der ich hinter Basko herlaufen mußte, um sie ihm unterzuhalten, wann immer er geruhte, das Bein zu heben. Meist rempelte er mich danach so unglücklich an, daß ich den Inhalt der Schale wieder vergoß und weiter in gebückter Haltung und in ständiger
127
Bereitschaft, die Schale vor mir hertragend, seinen Spuren folgen mußte. Wir bewegten uns auf diese Weise manchmal mehrere Straßen weit, bis ich unter den erstaunten Blicken vorübergehender Passanten endlich genügend der immer spärlicher werdenden Tropfen eingefangen hatte. Ich fand, es gab angenehmere Aufgaben als gerade diese. Ich rief also Frau Dr. Amsel an. Sie ließ sich alles genau berichten, erkundigte sich nach Baskos Alter und sagte: »Ich glaube, es handelt sich nicht um eine Vergiftung. Wenn sich der Anfall wiederholt, kommen Sie sofort zu mir.« Der Anfall wiederholte sich eine Stunde später, diesmal in der Küche. Basko schleuderte hilflos über den glatten Kachelboden, sein Wassernapf fiel um, er torkelte auf steifen Beinen zwischen den Schränken hin und her und fiel schließlich krachend gegen die Türe. Als alles vorüber war, redete ich lange beruhigend auf ihn ein. Er lauschte aufmerksam, schaute ab und zu verstört um sich und folgte mir von da an auf Schritt und Tritt, so als habe er Angst davor, alleine von dieser ihm unverständlichen Kraft überrascht zu werden. Ich rief ein Taxi. Vor dem Haus der Tierärztin tänzelte Basko angeregt, und als sei nichts gewesen, von Zaunlatte zu Zaunlatte, hob ein dutzendmal das Bein und begrüßte Frau Dr. Amsel schließlich mit lebhaften Freudensprüngen. Sie schaute ihm in die Augen, tastete ihn hier und dort ab, überprüfte ein paar Reflexe und sagte schließlich: »Ich fürchte, daß Basko an einem Gehirntumor leidet. Das ist eine typische Krankheit von reinrassigen Boxerrüden. Sie stellt sich meist im Alter von neun oder zehn Jahren ein und kann nicht geheilt werden. Je größer der Tumor wird, desto häufiger werden die Anfälle kommen. Er spürt sie übrigens nicht und leidet keine Schmerzen.« Ich schluckte. »Sind Sie ganz sicher?« »Ziemlich sicher. Ich gebe Ihnen jetzt Tabletten mit, die diese Anfälle für eine Weile unterbinden oder stark abschwächen werden. Aber eben nur für eine Weile. Dann werden sie immer häufiger auftreten und dann, ja dann ist es Ihre Entscheidung, wann Sie Basko einschläfern lassen. Er tut mir so leid«, fügte sie hinzu. »Er ist einer meiner nettesten Patienten. Sie können mich übrigens jederzeit
128
anrufen, auch abends oder am Wochenende, wenn es soweit ist.« »Wie lange, glauben Sie, daß es dauert?« fragte ich leise. »Drei, vier Monate, aber keinesfalls länger als ein halbes Jahr.« Wir behandelten Basko drei Tage lang vorsichtig und liebevoll wie einen Schwerkranken, dann vergaßen wir den Schock, denn er benahm sich wie immer, hielt die Familie in Trab, wälzte sich ausgiebig in seiner Lieblingskuhle unterm Fliederstrauch und schüttelte sich dann wohlig, daß die feuchten Erdkrumen nur so über den Teppich auf die Sessel und die frischgeweißte Wand spritzten. Auch zerrte er mit gesträubten Nackenhaaren den neuen Gartenbesen aus jedem Versteck, das wir uns ausdachten, um ihm genüßlich die Borsten abzunagen, und versuchte mit großem Geschick, jeden Morgen die notwendige Tabletteneinnahme zu verhindern. Das spielte sich etwa so ab: Ich rollte die Tablette in eine Salamischeibe. Basko tropfte vor Erwartung. Ich schob sie ihm ins Maul, er kaute mit freudig hin – und herrollenden Augen, schluckte, und aus seinen Lefzen fiel etwas kleines Rundes auf den Boden, die Tablette. Ich bohrte sie in einen Klumpen Leberstreichwurst. Baskos Stummelschwanz wackelte vor Begeisterung. Er schlappte die Leberwurst in sich hinein, ich atmete auf, pling machte es, eine kleine weiße Tablette kollerte vor meine Füße. Ich versteckte sie in seinem Futter. Er schlang es wie immer gierig hinab und leckte mit seiner langen Zunge die Schüssel gründlich aus. Ich griff erleichtert danach, um sie auszuspülen, etwas klirrte auf dem Boden des Napfes, eine kleine runde Tablette. Ich legte die Tablette unter ein Stück Schokolade, die Baskos ganze Seligkeit war, weil er sie fast nie bekam. Er nahm mir die Schokolade mit seiner stumpfen Schnauze so graziös aus der Hand, daß die Tablette zwischen meinen Fingern zurückblieb. Zuletzt bekam er jeden Morgen ein Stück Holländer Kirschtorte. Eine Schnitte reichte drei Tage lang. Ich fand, diesen Luxus war Basko wert. Es waren etwa vier Monate seit unserem Besuch bei Frau Dr. Amsel vergangen, als Jonathan und ich eines Nachts gleichzeitig an einem dumpfen Rumpeln im Haus aufwachten. Wir stolperten
129
schlaftrunken auf den Gang, begegneten dort Michi und Christian und liefen alle vier die Treppe hinunter. Basko wurde von einem Anfall geschüttelt, der unvergleichlich schlimmer war als die ersten beiden, die wir erlebt hatten. Er fiel von einer Wand des Korridors zur anderen, sein Kopf knallte gegen den Bauernschrank, er riß den Strohteppich mit sich, verfiel in krampfartige Zuckungen und war mit Schaum bedeckt, als er endlich heftig keuchend zu unseren Füßen lag. Wir umringten ihn hilflos und gaben ihm kleine, zärtliche Kosenamen. Er schaute uns so herzzerreißend an, daß Michi in Tränen ausbrach. Dann wollte er offenbar ins Freie. Wir halfen ihm dabei, sich aufzurichten, er knickte mehrmals mit den Hinterbeinen ein, schleppte sich dann in den Garten, stand dort ein paar Minuten verloren auf derselben Stelle, kroch ins Haus zurück und legte sich vor seinem Korb nieder. Er war durch nichts zu bewegen, in den Korb zu steigen, so als fürchte er, daß sich das Unerklärliche, Entsetzliche, das sich auf ihn senkte, nur dort erreichen könne. In dieser Nacht bekam Basko alle drei, später alle zwei Stunden einen Anfall. Morgens um sechs versammelten wir uns mit dunkelgeränderten verquollenen Augen um den Eßzimmertisch und hielten Familienrat ab, obwohl es eigentlich nichts mehr zu beratschlagen gab. Michi und Christian gingen schließlich zur Schule. Sie knieten neben Basko, umarmten und streichelten ihn und würgten tapfer ihre Tränen hinunter. »Mach’s gut, Bassi«, sagte Christian schließlich. Basko hatte ihn immer ein klein wenig mehr geliebt als uns drei andere, aber er ließ es sich fast nie anmerken, um uns nicht zu verletzen. Jetzt genoß er die ungewohnte, überschwengliche Zärtlichkeit sichtlich, wackelte sogar ein bißchen mit dem Schwanz und pupste deutlich, so daß wir zuletzt alle unter Tränen lachen mußten. Dann lief er den Kindern schwankend bis zum Gartentor nach. »Kannst du nicht mit ihm fahren?« fragte Jonathan mit erstickter Stimme. Ich schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir es wohl beide machen«, sagte er.
130
Er wählte die Nummer der Tierärztin. »Es ist soweit«, sagte er. »Ja, wir kommen gleich.« Im Auto saß Basko wie immer zu meinen Füßen. Er hatte den Kopf auf mein Knie gelegt, wie er es sonst nur nach langen, herrlich ermüdenden Wanderungen tat. Ich spürte seine Wärme feucht durch meine Jeans dringen und streichelte ihm unablässig den Rücken. Jonathan griff ab und zu vom Steuer herüber und tätschelte Baskos faltige Stirn. Jonathan sah grau und übernächtigt aus. Vor dem Haus der Ärztin gingen wir im heraufdämmernden Morgenlicht ein paarmal mit Basko auf und ab. Er bewegte sich wankend wie in Trance, schien aber die vielen Gerüche wahrzunehmen und versuchte auch einmal, das Bein zu heben. Dabei fiel er um. Hinter dem Fenster der Praxis machte jemand Licht an. Wir klingelten. Basko setzte sich mühselig in die Mitte des Behandlungszimmers auf den Kachelboden. Ich zog ein bißchen an seinen Vorderpfoten. Er gab sofort nach und legte sich mit einem tiefen Aufatmen nieder. Die Ärztin zog eine Spritze auf. »Ich gebe sie ihm ganz langsam ins Hinterbein. Er wird nichts spüren«, sagte sie. Ich wußte, daß es stimmt. Sie hatte es oft bewiesen. Ich griff in die Tasche meiner Jacke und nahm eine Handvoll Schokoladenplätzchen heraus, die ich zu Hause eingesteckt hatte. Ich hielt Basko eines davon dicht vor die Schnauze. Er schaute mich verwundert an, streckte den Kopf ein bißchen nach vorn und fraß es. Ich gab ihm das nächste Plätzchen und immer wieder eines. Die Spritze war fast leer. Als Basko das vorletzte Plätzchen verschluckt hatte, legte er den Kopf zur Seite, als ob er unendlich müde sei, und schlief ein. Die Ärztin zog vorsichtig die Spritze zurück. Jonathan stieß ein kurzes, würgendes Schluchzen aus und ging zur Tür hinaus. Er war zu einer Zeit erzogen worden, zu der Männer nicht weinen durften. Ich hatte ihn auch noch nie weinen sehen. Ich heulte hemmungslos. Frau Dr. Amsel reichte mir eine Packung Tempotaschentücher. Zuvor nahm sie eines heraus und schneuzte sich. »Er war so ein besonders gescheiter, lustiger Hund«, murmelte sie und wandte sich ab.
131
Wir fuhren schweigend heim. Ich hielt Baskos alte, schäbige Leine in der Hand, an der zu gehen er nie gelernt hatte. Sie war für ihn immer nur ein Gegenstand, den man übermütig hinter sich herschleifen, in die Luft werfen und zerbeißen konnte. Jonathan setzte mich zu Hause ab und fuhr wie jeden Tag in die Redaktion. Ich betrat das leere Haus, machte die Betten, füllte die Waschmaschine, gab den Blumen frisches Wasser, filterte mir eine Tasse Kaffee und räumte sie nach dem Trinken weg. Es ging alles sehr schnell. Niemand störte mich. Zuletzt nahm ich die Futter – und die Wasserschüssel aus der Ecke neben dem Eisschrank, legte sie in den Hundekorb unter der Garderobe, stemmte ihn mit beiden Armen hoch und lehnte ihn im Garten neben die Aschentonnen. Der Korridor sah seltsam nackt aus. Ich werde die Tapete an der Garderobenwand ersetzen lassen und die Wand, an der sich Basko immer das Fell gerieben hatte, frisch streichen. Sie ist ja ganz grau, dachte ich. Auch die Sessel konnte ich jetzt endlich mit einem hübschen, hellen Stoff beziehen lassen. Aber es machte mir keine Freude, daran zu denken. Ich setzte mich an den Schreibtisch, spannte ein leeres Blatt in die Maschine und saß eine Weile ruhig da. Dann ging ich ans Telefon und rief meine Mutter an. Ich sagte: »Basko ist tot.« Sie war überhaupt nicht überrascht. »Ich weiß«, sagte sie. »Wieso kannst du das wissen?« fragte ich. »Ich hatte heute nacht einen Traum, und als ich aufwachte, wußte ich, daß Basko gestorben ist«, erwiderte sie. »Solche Dinge passieren mir häufig.« Ich erinnerte mich daran, daß sie schon in meiner Kindheit und auch noch später Geschehnisse vorausgesagt hatte, die dann eintrafen. Sie behauptete immer, das könnten viel mehr Menschen, wenn sie nicht ihre magischen Fähigkeiten vergessen und verlernt hätten, in sich hineinzulauschen. »Du sollst jetzt nicht so traurig sein«, sagte meine Mutter dann. »Du mußt dir immer vor Augen halten, daß Basko ein kurzes, aber wundervolles Leben hatte. Er war ein sehr, sehr glücklicher Hund.«
132
Dann flüsterte sie mit ersterbender Stimme: »Armer Basko. Er war so menschlich. Hoffentlich geht es ihm gut dort, wo er jetzt ist.« Wir schwiegen uns eine Minute durchs Telefon an. Jeder wußte, daß der andere tapfer versuchte, nicht loszuheulen. Schließlich hängte ich ein. Später rief Jonathan an. »Wie geht’s dir?« fragte er. »Ziemlich schrecklich.« »Ich weiß«, sagte er. »Mir auch.« Nach einer Pause begann er, davon zu sprechen, daß wir im Sommer nach Amerika fahren könnten. »Im Leihwagen, so richtig quer durch, von Ost nach West, New York, Grand Canyon, San Francisco. Das hast du dir doch immer so gewünscht, und jetzt, wo Basko nicht mehr da ist…« Der Satz blieb unfertig in der Luft hängen. »Das klingt wunderbar«, sagte ich. »Wir reden abends darüber, wenn es dir recht ist.« Ich schaute auf das leere Blatt in meiner Schreibmaschine. Ich hatte unendlich viel Zeit vor mir. Plötzlich fiel mir ein strahlender Sonntagmorgen ein. Jonathan und ich saßen auf der Terrasse am Frühstückstisch. Er war mit dem englischen Geschirr gedeckt, das ich Jahre später in einem Akt der Selbstbefreiung an der Küchenwand zerschmettert hatte. Die blauen Ranken der Clematis schaukelten im Wind. In der unteren Hälfte meines Römertopfs badete eine Amsel. Sie sprühte mit heftigen Flügelschlägen Kaskaden von Wasser über sich. Man konnte den Lärm bis zu uns hören. Ich stellte den Zeilenabstand ein, drückte auf den Knopf, so daß die Maschine, die seit einiger Zeit eine elektrische war, leise zu summen anfing und begann zu schreiben: »Irgend etwas fehlt hier«, sagte Jonathan, verteilte sorgfältig einen Löffel Honig auf seinem Toast und goß sich Kaffee ein… Ich wußte, es würde die Geschichte des kurzen glücklichen Lebens von Basko werden und ein bißchen auch unsere Geschichte.
133
134