Bildungspsychologie
Bildungspsychologie herausgegeben von
Christiane Spiel , Barbara Schober, Petra Wagner und Ralph Reimann
Göttingen · Bern · Wien · Paris · Oxford · Prag · Toronto Cambridge, MA · Amsterdam · Kopenhagen · Stockholm
Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel. Studium der Mathematik, Geschichte und Psychologie in Wien. 1980–1989 Universitätsassistentin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1989–1992 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1992–1995 Assistenz-Professorin am Institut für Psychologie der Universität Wien. 1995 Habilitation. 1995–2000 Gastprofessur am Institut für Psychologie der Universität Graz. Seit 2000 Inhaberin des Lehrstuhls für Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Ao. Univ. Prof. Dr. Barbara Schober. Studium der Psychologie in Bamberg. 1994–1996 Psychologisch-technische Assistentin an der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie der Psychiatrischen Klinik der LMU München. 1997–2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologische Diagnostik und Evaluation der LMU München. 2001 Promotion. 2007 Habilitation. Seit 2001 Universitätsassistentin bzw. außerordentliche Professorin im Bereich Bildungspsychologie und Evaluation an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Prof. (FH) PD Dr. Petra Wagner. Studium der Psychologie in Wien. 1994–2000 Tätigkeit als Schulpsychologin in Niederösterreich. 2000–2006 Universitätsassistentin an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. 2003 Promotion. 2009 Habilitation. Seit 2006 Inhaberin einer Professur für Psychologie an der FH Oberösterreich, Fakultät für Gesundheit und Soziales in Linz. Dr. Ralph Reimann. Studium der Psychologie in Bamberg. 1997–1999 Mitarbeiter im Bereich Theoretische Psychologie an der Universität Bamberg. 1999–2002 Mitarbeiter im Bereich Pädagogische Psychologie und Evaluation an der LMU München. 2002 Promotion. 2002–2007 Mitarbeiter im Bereich Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien. Seit 2007 Mitarbeiter im Bereich Qualitätssicherung an der Universität Wien.
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Vorwort Der Begriff Bildung wurde von dem mittelalterlichen Philosophen und Theologen Meister Eckhart in die Deutsche Sprache eingeführt. Er bedeutete für ihn das „Erlernen von Gelassenheit“ und wurde als „Gottessache“ angesehen, „damit der Mensch Gott ähnlich werde“. Trotz seiner Bedeutungswandlungen über Zeit, Milieus und Denkrichtungen ist der Bildungsbegriff ungebrochen aktuell. Bildung war und ist eine der zentralen Aufgaben jeder Gesellschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass der Bildungsbegriff nicht viel früher von der Psychologie aufgegriffen und eine Bildungspsychologie etabliert wurde. Die Bezeichnung Bildungspsychologie wurde zwar schon 1931 von Werner Straub in seiner Arbeit über „Die Grundlagen einer experimentellen Bildungspsychologie“ verwendet, der darunter eine „spezielle Psychologie des Tatbestandes Erziehung“ in „unmittelbarem Zusammenhang mit der pädagogischen Theorie“ verstand. Danach scheint der Begriff jedoch wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Erst im Jahr 2000 wurde ein Lehrstuhl der Angewandten Psychologie an der Universität Wien mit der Bezeichnung „Bildungspsychologie und Evaluation“ gegründet. Unser Bestreben war es, die Bildungspsychologie nicht als bloßen Begriff bestehen zu lassen, sondern diesen mit Substanz zu füllen. Mit dem vorliegenden Buch wird die Bildungspsychologie erstmalig umfassend in Buchform vorgestellt. Es wendet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Bildungsbereich forschen, an Lehrende und Studierende der Psychologie bzw. verwandter Studienrichtungen, an Lehramtsstudierende aller Richtungen, an praktisch tätige Psychologinnen und Psychologen sowie weitere Personen, die in Bildungseinrichtungen arbeiten oder sich allgemein mit psychologischen Aspekten des Bildungsgeschehens auseinandersetzen wollen. Das Buch wird auch als Einführungs- und Lehrbuch für Diplom-, Bachelor- und Masterstudiengänge empfohlen. Eine Besonderheit des Buches ist der systematische Aufbau, der dem Strukturmodell der Bildungspsychologie entspricht (vgl. dazu Kapitel 1). Die Themenfelder der Bildungspsychologie sind entlang von drei Dimensionen strukturiert, die den thematischen Rahmen des Faches abstecken. Diese Dimensionen umfassen die verschiedenen Phasen einer individuellen (I) Bildungskarriere, welche die gesamte Lebensspanne inkludiert und damit Lebenslanges Lernen ins Zentrum stellt, die (II) Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie sowie die (III) Handlungsebenen, auf denen diese Aufgaben zu leisten sind. Das Buch beinhaltet daher – neben dem einleitenden Kapitel, das die Bildungspsychologie vorstellt – insgesamt 15 Themenblöcke, die den Segmenten dieses Strukturmodells entsprechen (7 Phasen der Bildungskarriere, 5 Aufgabenbereiche, 3 Handlungsebenen). Die Themenblöcke sind alle formal gleich aufgebaut. Zuerst wird ein allgemeiner Überblick über das jeweilige Segment (z. B. den Vorschulbereich) gegeben, der den Stand der Wissenschaft zusammenfasst. In diesen Überblickskapiteln werden zentrale Theorien, Modelle und empirische Befunde sowie die praktische Bedeutsamkeit des Themas beleuchtet. Zusätzlich wird ein Ausblick auf künftige Herausforderungen und Aufgaben für die Bildungspsychologie gegeben. Anschließend illustrieren zwei kurze Beiträge (Illustrationskapitel) exemplarisch bildungspsychologisches Handeln, in dem sie konkrete Beispiele aus Forschung oder Praxis vorstellen.
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Vorwort
Unsere Intention war es, die Illustrationsbeispiele so auszuwählen, dass möglichst eine Gleichverteilung über die Segmente des Strukturmodells erzielt wird. Dies ist für die „Bildungskarriere“ recht gut gelungen, weniger jedoch für die beiden anderen Dimensionen. Hinsichtlich der Dimension „Aufgabenbereiche“ ist die Forschung häufiger vertreten, was in Anbetracht dessen, dass fast alle Autorinnen und Autoren zumindest auch Forschende sind, nicht verwundert. Noch deutlicher ist die Ungleichverteilung in der Dimension „Handlungsebenen“. Die deutliche Dominanz der Mikroebene – in der es um individuelle Bildungsprozesse geht – illustriert, dass die Bildungspsychologie die Ebene der Institutionen wie z. B. Schulen (Mesoebene) bisher nur eingeschränkt in ihr Tätigkeitsfeld aufgenommen hat. Noch weniger trifft dies auf die Makroebene zu, wo es um politische Programme und strukturelle Bedingungen geht. Eine Ausweitung bildungspsychologischer Aktivitäten auf diese beiden Handlungsebenen anzustreben ist nicht nur im Interesse der Bildungspsychologie und ihrer Vertreterinnen und Vertreter. Das Know-how der Bildungspsychologie kann auf beiden Ebenen wichtige Beiträge für die Entwicklung des Bildungswesens liefern. Inwieweit dies gelingt, wird sich hoffentlich bei einer späteren Auflage des Buches Bildungspsychologie zeigen. Ein Buch mit Beiträgen von 45 Autorinnen- und Autorengruppen herauszugeben, bedeutet eine beachtliche Herausforderung für alle Beteiligten. Es wurden deutlich mehr als tausend Mails verschickt; die Anzahl der Telefonate lässt sich nicht mehr eruieren. Die kürzeste Zeitspanne zwischen der Zusage ein Buchkapitel zu verfassen und der Einreichung der Erstversion des Kapitels betrug 31/2 Monate, die längste Zeitspanne ziemlich genau 4 Jahre. Allen Autorinnen und Autoren sei herzlich gedankt für ihre Beiträge und ihr Engagement. Michaela Fasching hat als „gute Fee“ den Fortschritt des Buches laufend dokumentiert. Katharina Derndarsky, Cosima Kaiser, Laura Brandt, Martin Söllner und Andreas Pfaffel danken wir für vielfältige, äußerst wertvolle Unterstützung. Last but not least danken wir Michael Vogtmeier und Susanne Weidinger vom Hogrefe Verlag für ihre Zusammenarbeit. Allen Leserinnen und Lesern der „Bildungspsychologie“ wünschen wir eine spannende Lektüre und viele Anregungen für Forschung und Praxis.
Wien, im August 2009
Christiane Spiel Barbara Schober Petra Wagner und Ralph Reimann
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Inhaltsverzeichnis Bildungspsychologie – eine Einführung Christiane Spiel, Ralph Reimann, Petra Wagner und Barbara Schober . . . . . . .
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Teil I: Bildungskarriere Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalters Sabine Walper und Stepanka Vavrova. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bindung und die Entwicklung von Sprache und Kognition als Voraussetzungen für den Bildungserwerb Arnold Lohaus, Petra Korntheuer und Ilka Lißmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anregung von Lern- und Bildungsprozessen bei Säuglingen: Frühes Imitationslernen Monika Knopf und Thorsten Kolling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildungspsychologie des Vorschulbereichs Wolfgang Tietze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Förderung des frühen Schriftspracherwerbs im Rollenspiel Gisela Kammermeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prävention von Rechenproblemen im Kindergarten Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildungspsychologie des Primärbereichs Birgit Spinath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Effiziente Klassenführung als Schlüsselmerkmal der Unterrichtsqualität – ein Untersuchungsbeispiel aus der Grundschule Andreas Helmke, Tuyet Helmke, Nora Heyne, Annette Hosenfeld, Friedrich-Wilhelm Schrader und Wolfgang Wagner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
Entwicklung von Lesekompetenz Alfred Schabmann und Kathrin Klingebiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
Bildungspsychologie des Sekundärbereichs Reinhard Pekrun, Anne C. Frenzel und Thomas Götz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111
Förderung der Lernmotivation mit attributionalem Feedback Markus Dresel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Kompetenzen und Lernmotivation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund Oliver Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
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8
Inhaltsverzeichnis
Bildungspsychologie des Tertiärbereichs Cornelia Gräsel und Heinke Röbken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Hochschulen und Studienfächer als differenzielle Entwicklungsmilieus Ulrich Trautwein, Oliver Lüdtke, Gabriel Nagy, Nicole Husemann und Olaf Köller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
Selbstorganisiertes Lernen in der kaufmännischen Erstausbildung Detlef Sembill und Jürgen Seifried. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158
Bildungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters Gabi Reinmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Kompetenzerwerb im betrieblichen Arbeitsalltag Christian Harteis, Hans Gruber und Monika Rehrl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Multimedialer Wissenserwerb Holger Horz und Wolfgang Schnotz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
188
Bildungspsychologie des höheren Erwachsenenalters Heike Heidemeier und Ursula M. Staudinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Individualisierung von Bildungsangeboten im Erwachsenenalter Annette Brose, Florian Schmiedek und Ulman Lindenberger . . . . . . . . . . . . .
210
Umgang mit Verlusten im Alter als Bildungsaufgabe: das Beispiel Makuladegeneration Hans-Werner Wahl, Annette Kämmerer, Tanja Birk und Susanne Hickl . . . . .
216
Teil II: Aufgabenbereiche Bildungspsychologische Forschung Albert Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Die LifE-Studie: 1.527 Lebensläufe vom 12. bis zum 35. Lebensjahr Helmut Fend, Fred Berger und Urs Grob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
240
Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter (BIJU) Olaf Köller, Jürgen Baumert, Kai S. Cortina und Ulrich Trautwein . . . . . . . .
245
Bildungspsychologische Beratung Petra Buchwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beratung bei Lernstörungen mit dem „Strategischen Instruktionsmodell“ (SIM) Matthias Grünke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Teamarbeit zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen: Die Rolle altersbezogener Unterschiede in der motivationalen Orientierung Alexandra M. Freund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
Bildungspsychologische Prävention Andreas Beelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
„WORKS“ – Ein Integrationsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene Joachim Petscharnig und Georg Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Förderung sozialer Kompetenzen und Prävention aggressiven Verhaltens durch das Schulprogramm WiSK Dagmar Strohmeier, Moira Atria und Christiane Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
Bildungspsychologische Intervention Meike Landmann, Michaela Schmidt und Bernhard Schmitz. . . . . . . . . . . . . . . .
301
Das Lerntagebuch in der Hochschullehre: Ein hochschuldidaktischer Ansatz zur Förderung selbstgesteuerten Lernens Matthias Nückles und Alexander Renkl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
TALK – Trainingsprogramm zum Aufbau von Lehrkräftekompetenzen zur Förderung von Bildungsmotivation und Lebenslangem Lernen Monika Finsterwald, Barbara Schober, Petra Wagner, Michael Aysner, Marko Lüftenegger und Christiane Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324
Bildungsmonitoring und Evaluation Manfred Prenzel und Tina Seidel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
Qualitätssicherung und -verbesserung an Hochschulen durch Evaluation Sandra Mittag und Hans-Dieter Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
346
Leistungen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich – Die PISA Studie Cordula Artelt und Petra Stanat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352
Teil III: Handlungsebenen Bildungspsychologie auf der Mikroebene: Individuelle Bedingungen des Lehrens und Lernens Detlev Leutner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Lernen aus Fehlern Tina Hascher und Gerda Hagenauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis „Odysseus“: Beratung hochbegabter Kinder Christoph Perleth und Ulrike Stave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
382
Bildungspsychologie auf der Mesoebene: Die Betrachtung von Bildungsinstitutionen Martin Bonsen und Wilfried Bos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschlechtergerechte Instruktion am Beispiel der Statistik-Lehre im Psychologiestudium Bettina Hannover und Melanie Rau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
406
Kennzeichen guter Lehre Heiner Rindermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
410
Bildungspsychologie auf der Makroebene: Das Gesamtsystem im Fokus Silke Hertel und Eckhard Klieme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Evaluation eines Programms zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses Andreas Krapp und Ralph Reimann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433
Politikberatung: Das Beispiel der österreichischen „Zukunftskommission“ Ferdinand Eder, Werner Specht, Günter Haider, Christiane Spiel und Manfred Wimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bildungspsychologie – eine Einführung Christiane Spiel, Ralph Reimann, Petra Wagner und Barbara Schober
Das Wort Bildung hat in unserer Alltagssprache seinen festen Platz. Ganz selbstverständlich sprechen wir von Bildungseinrichtung, Bildungswesen, Aus- und Fortbildung, Bildungslücke, Bildungsmotivation und bezeichnen andere als hoch oder wenig gebildet. Schulleistungsstudien wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) und PISA (Program for International Student Assessment) haben dazu beigetragen, dass die Bedeutung von Bildung für den einzelnen sowie für die Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt ist (vgl. Bos & Postlethwaite, 2001). Auch in der Wissenschaft hat der Bildungsbegriff seine Verankerung, wenngleich seine inhaltliche Bedeutung historischen und kulturellen Schwankungen unterliegt und in Abhängigkeit von gesellschaftspolitischen Strömungen unterschiedlich definiert wird. Unbezweifelt ist jedoch seine Breite, die weit über institutionelles Lehren und Lernen hinausgeht. In diesem Beitrag stellen wir die Bildungspsychologie vor. Sie beschäftigt sich mit Bildungsprozessen über die gesamte Bildungskarriere eines Individuums und setzt damit einen starken Fokus auf Lebenslanges Lernen. Das Konzept der Bildungspsychologie fußt auf einem integrativen Rahmenmodell, das es ermöglicht, psychologisches Handeln in dem breiten Feld von Erziehen, Lernen und Bilden systematisch einzuordnen. Im ersten Abschnitt des Beitrags werden Konzeption und Gegenstand der Bildungspsychologie vorgestellt. Der zweite Abschnitt präsentiert das Strukturmodell der Bildungspsychologie. Mit der Frage der Einordnung der Bildungspsychologie als Grundlagenbzw. Anwendungsfach setzt sich der dritte Abschnitt auseinander. Der vierte und letzte Abschnitt diskutiert Stellenwert und Perspektiven der Bildungspsychologie.
1 Bildungspsychologie: Konzeption und Gegenstand Die Begriffsbestimmung von Bildung bewegt sich auf zwei Ebenen: einer formalen und einer inhaltlichen. Auf formaler Ebene wird Bildung übereinstimmend sowohl als Prozess als auch als Produkt, d. h. Ergebnis des Prozesses, aufgefasst (Hentig, 2001; Langewand, 1997; Pekrun, 2002).
Begriffsbestimmung: Bildung auf formaler Ebene Bildung als Produkt bezeichnet die überdauernden Ausprägungen der Persönlichkeit eines Menschen, die unter einer gesellschaftlich-normativen Perspektive wünschenswert sind.
Bildung als Prozess beinhaltet den Aufbau und die Art und Weise der sozialen Vermittlung dieser wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen.
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C. Spiel, R. Reimann, P. Wagner und B. Schober
Mit der Frage, welche Persönlichkeitsausprägungen gesellschaftlich wünschenswert sind, begibt man sich auf die inhaltliche Ebene der Begriffsbestimmung. Wodurch sich ein „gebildeter“ Mensch auszeichnet, unterliegt hierbei nicht nur einem historischen Wandel, sondern wird auch von verschiedenen sozialen Milieus unterschiedlich bewertet (vgl. Barz, 1999). Allgemein historisch betrachtet pendelte die inhaltliche Bedeutung des Bildungsbegriffs in der Vergangenheit gerne zwischen einem humanistischen (ganzheitlichen) Bildungsideal und einem Verständnis, das sich an gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen orientiert (vgl. hierzu auch Liessmann, 2006). Reduzierte in der jüngeren Vergangenheit ein instrumenteller Bildungsbegriff die Gebildetheit einer Person auf deren abrufbares Faktenwissen (d. h. Bildung war hier gleichbedeutend mit der Existenz eines hohen formalen Bildungszertifikats), wird aktuell wieder ein Bildungsbegriff favorisiert, der neben beruflich-fachlichen Qualifikationen auch soziokulturelle Kompetenzen (z. B. soziale Umgangsformen) fokussiert. Ein dementsprechend ganzheitliches Bildungsverständnis weist eine im Grunde undefinierbare Menge von Bildungsmomenten auf. Dies ist für die Forschung ein Dilemma und macht Einschränkungen und Spezifikationen des Forschungsgegenstandes erforderlich. Die Konzeption der Bildungspsychologie fußt auf folgenden drei Ansätzen: • Barz (1999, 2002) nennt zwei Komponenten, die gemäß Befragungen über verschiedene soziale Milieus hinweg für Bildung immer konstitutiv sind: (a) verfügbare Wissensbestände und kulturelle Fähigkeiten sowie (b) kommunikative Kompetenz und Ausstrahlung. • Hentig (2001) betrachtet Bildung von einer theoretisch-normativen Warte aus und spricht von Maßstäben, an denen sich Bildung bewährt. Konkret nennt er: Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit; Wahrnehmung von Glück; Fähigkeit und Wille, sich zu verständigen; Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz; Wachheit für letzte Fragen; Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica. Diese Maßstäbe sind laut Hentig jedoch nicht im herkömmlichen Sinne operationalisier- und messbar. • Baumert (2000, 2002) identifiziert innerhalb der schulischen Bildung moderner Gesellschaften Grundmuster (Universalien) mit folgenden Zielperspektiven (Bildungszielen) für die allgemeinbildende Schule: (a) Vermittlung der kulturellen Basiskompetenzen (Beherrschung der Verkehrssprache, mathematische Modellierungsfähigkeit, fremdsprachliche Kompetenz, informationstechnologische Kompetenz sowie Selbstregulation des Wissenserwerbs); (b) Vermittlung eines hinreichend breiten, in sich gut organisierten, vernetzten sowie in unterschiedlichen Anwendungssituationen erprobten Orientierungswissens in zentralen kulturellen Wissensbereichen (diese Wissensbereiche umfassen die verschiedenen Fächer; die elementare Vertrautheit mit jedem von ihnen macht Allgemeinbildung aus); (c) Aufbau sozial-kognitiver und sozialer Kompetenzen (Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, zum Mitempfinden, zur Hilfsbereitschaft, zur Kooperation, zur Verantwortungsbereitschaft, zum moralischen Urteil). Gemeinsam stellen die (zweifellos überschneidenden) Ansätze von Barz, Hentig und Baumert auf einer bestimmten Abstraktionsebene allgemeingültige Komponenten von Bildung dar, welche ergänzt durch berufsbezogene Kompetenzen und Fertigkeiten die
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Bildungspsychologie – eine Einführung
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gesellschaftlich wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen repräsentieren (siehe auch Spiel & Reimann, 2005a, 2006). Die individuelle Konfiguration dieser Bildungskomponenten – die sich grundlegend auch in anderen aktuellen Ansätzen wie z. B. bei Gardner (2008) wiederfinden – repräsentiert „die Bildung“ eines Menschen. Übergeordnetes Ziel des gesamten Bildungsgeschehens ist es, dass möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft möglichst viele der Bildungskomponenten in möglichst „hoher Ausprägung“ aufweisen (siehe dazu auch Spiel, Reimann, Wagner & Schober, 2008; für eine axiomatische Formulierung siehe Spiel & Reimann, 2005a). Bildungspsychologie: Die Bildungspsychologie beschäftigt sich aus psychologischer Perspektive mit allen Bildungsprozessen, die zur Entwicklung von Bildungskomponenten (= wünschenswerte Persönlichkeitsausprägungen aus gesellschaftlich-normativer Perspektive) beitragen, sowie mit den Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen (wie z. B. Instruktion durch Lehrpersonen, Wissensvermittlung durch Medien), die diese Prozesse gemäß psychologischer Theorien/Modelle beeinflussen (z. B. initiieren, aufrechterhalten, unterstützen, optimieren) können.
2 Das Strukturmodell der Bildungspsychologie: Ziele und Nutzung
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Aufgabenbereiche
Abbildung 1: Strukturmodell der Bildungspsychologie
Handlungsebenen
Dimensionen des Strukturmodells: Das Strukturmodell der Bildungspsychologie wird durch drei Dimensionen aufgespannt: (1) die Bildungskarriere eines Individuums, (2) die Aufgabenbereiche von Bildungspsychologinnen und -psychologen sowie (3) die Handlungsebenen, auf denen die bildungspsychologischen Aktivitäten und Maßnahmen angesiedelt sind.
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C. Spiel, R. Reimann, P. Wagner und B. Schober
Jedes Individuum durchläuft eine chronologische Bildungskarriere, die weder mit der Schule beginnt, noch mit ihr endet (siehe Abbildung 1). Dementsprechend ist für die Bildungspsychologie explizit die gesamte Lebensspanne als Gegenstand deklariert, analog zur Lifespan-Perspektive der Entwicklungspsychologie (siehe z. B. Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006). Bildungskarriere: Die Bildungspsychologie gliedert die Bildungskarriere eines Individuums in sieben Phasen: Säuglings- und Kleinkindalter, Vorschulbereich, Primärbereich, Sekundärbereich, Tertiärbereich, Mittleres Erwachsenenalter und Höheres Erwachsenenalter.
In dieser „Bildungskarriere“ sind viele Bildungssituationen für alle Individuen obligatorisch, einige jedoch nur für bestimmte Gruppen von Bedeutung. Generell ändern sich in den verschiedenen Karriereabschnitten die jeweils primären Ziele und Bedingungen von Bildungsprozessen (Spiel & Reimann, 2005a, 2006). Durch die Dimension der Bildungskarriere bekommt Lebenslanges Lernen einen zentralen Stellenwert in der Bildungspsychologie. Die Europäische Kommission (z. B. Commission of the European Communities, 2000) und auch viele Forscherinnen und Forscher vertreten die Ansicht, dass die Förderung von Lebenslangem Lernen eine wichtige Aufgabe und Herausforderung für die Zukunft Europas darstellt (z. B. Fischer, 2000; Schober, Finsterwald, Wagner, Lüftenegger, Aysner & Spiel, 2007; Spiel et al., 2008). Die zweite Dimension des Strukturmodells der Bildungspsychologie wird durch die spezifischen Aufgabenbereiche bildungspsychologischen Handelns aufgespannt (siehe Abbildung 1). Aufgabenbereiche: Die Bildungspsychologie unterscheidet fünf Aufgabenbereiche: Forschung, Beratung, Prävention, Intervention sowie Monitoring und Evaluation.
Die Grenzen zwischen diesen Aufgabenbereichen sind zweifellos fließend; im Besonderen betrifft dies die Aufgabenbereiche Prävention und Intervention. Jedoch erscheint uns (trotz der Argumentation mancher Autorinnen und Autoren für eine integrierte Betrachtung dieser Bereiche; z. B. Schneider, 1998) schon allein aufgrund des Umfangs des Aufgabenspektrums von Bildungspsychologinnen und -psychologen eine Segmentierung sinnvoll. Diese Dimension des Strukturmodells soll explizit hervorheben, dass die verschiedenen Aufgabenbereiche gleichberechtigte bildungspsychologische Tätigkeitsfelder sind, ohne dass dieser oder jener Aufgabenbereich „die eigentliche“ Bildungspsychologie repräsentiert. Die beschriebenen bildungspsychologischen Aufgaben sind auf verschiedenen Handlungsebenen (3. Dimension des Strukturmodells) zu leisten, die an dem ökologischen Modell von Bronfenbrenner (siehe u. a. Bronfenbrenner & Morris, 2006) orientiert sind.
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Bildungspsychologie – eine Einführung
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Handlungsebenen: Bildungspsychologische Aufgaben sind auf drei Handlungsebenen lokalisiert: der Makroebene (Ebene der bildungspolitisch relevanten Gesamtsysteme), der Mesoebene (Ebene der Institutionen) und der Mikroebene (Ebene der individuellen Bedingungen).
Diese Handlungsebenen (siehe Abbildung 1) systematisieren die oben angesprochenen Bedingungen und Maßnahmen, von denen gemäß „psychologischer Theorien“ Effekte auf Bildungsprozesse angenommen werden. So sind auf der Mikroebene vor allem die individuellen Lernbedingungen von Relevanz, z. B. die Instruktion durch Lehrpersonen. Auf der Mesoebene geht es um die Bedingungen und Wirkungen der Institutionen, die ein Individuum im Verlauf der Bildungskarriere durchläuft, z. B. ob eine Schule nach permanenten Leistungs- oder Altersgruppen organisiert ist. Politische Programme und strukturelle Bedingungen (wie z. B. Gesamtschule vs. differenziertes Schulsystem) sind auf der Makroebene angesiedelt. Vergleichbar zu den genannten Aufgabenbereichen gilt auch für die Handlungsebenen, dass sie weder isoliert voneinander bestehen noch klare Grenzen aufweisen. So erfordert Lebenslanges Lernen nicht nur Aktivitäten und Maßnahmen auf der individuellen Ebene (Mikroebene), sondern benötigt vielmehr die aktive Beteiligung von Institutionen und Organisationen um die notwendigen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten für kontinuierliches Lernen zur Verfügung zu stellen (Mesoebene). Dies betrifft sowohl die Arbeitswelt (Mulholland, Ivergard & Kirk, 2005) als auch die Schule, deren Aufgabe es ist, Bildungsmotivation und Kompetenzen zum Lebenslangen Lernen aufzubauen und zu fördern (Hargreaves, 2004; Schober et al., 2007). Zur Schaffung effektiver Bildungsbedingungen in den verschiedenen Lernsettings, die Individuen durchlaufen, benötigt Lebenslanges Lernen auch politische Unterstützung sowie entsprechende Reformen auf der Makroebene. Das Strukturmodell der Bildungspsychologie bietet die Möglichkeit, Maßnahmen und Forderungen in einem Rahmenmodell zu verorten. Segmente und Module im Strukturmodell: Das Strukturmodell der Bildungspsychologie umfasst drei Dimensionen, 15 Segmente und 105 Module. Jedes Segment hat eine eindeutige Position auf einer Dimension des Strukturmodells mit übergreifendem Bezug hinsichtlich der beiden anderen Dimensionen; z. B. Vorschulbereich. Jedes Modul hat eine eindeutige Position auf allen drei Dimensionen des Strukturmodells; z. B. Intervention auf der Mikroebene im Sekundärbereich.
Die konkrete Angabe, aus welchem Segment bzw. welchem Modul welche Erkenntnis stammt und für welche Segmente oder Module sie wirkungsvoll erscheint, kann Zusammenhänge verschiedener Forschungsaktivitäten und Anwendungsmöglichkeiten aufzeigen und damit auch zur innerdisziplinären Kommunikation beitragen. Darüber hinaus wird
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auch offensichtlich, in welchen Segmenten oder Modulen hohe bildungspsychologische Aktivität vorliegt bzw. welche eher vernachlässigt werden. Diese Aktivitäten waren und sind zweifellos sehr unterschiedlich verteilt. In den 90iger Jahren lag der Hauptfokus bildungspsychologischer Aktivitäten im deutschen Sprachraum auf dem Primär- und Sekundärbereich (Röhr-Sendlmeier & Salgert, 1995) und der Mikroebene. Eine mehr ausgeglichene Verteilung würde nicht nur aktuell diskutierten Themen wie „Wissensgesellschaft“ oder „Alterspyramide“, sondern auch den Anforderungen von Lebenslangem Lernen besser entsprechen. Zusätzlich zur Verortung von konkretem bildungspsychologischen Handeln im Strukturmodell sollte auch die Benennung der Population erfolgen, auf welche sich dieses Handeln bezieht. Die Population, auf welche das bildungspsychologische Handeln gerichtet ist, wird anhand ihrer Bildungsvoraussetzungen definiert.
3 Zur Relation von Grundlagen- und Anwendungsorientierung Innerhalb vieler Subdisziplinen der Psychologie – u. a. auch innerhalb der Pädagogischen Psychologie sowie der Educational Psychology (z. B. Fenstermacher & Richardson, 1994; Heller, 1986; Pintrich, 2000) – wurde die Frage immer wieder diskutiert, ob man nur ein Anwendungs- oder nicht auch ein Grundlagenfach oder sogar beides sei (siehe dazu auch Kanning, Grewe, Hollenberg & Hadouch, 2006). Die Bildungspsychologie betrachtet diesen Dualismus als überwunden und schlichtweg antiquiert (vgl. bereits Hofer, 1987). In der reinen Form eines Anwendungsfaches hat es nach Oerter (1987) auch die Pädagogische Psychologie nie gegeben. Brandstädter et al. (1974) wiesen darauf hin, dass die Effizienz pädagogisch-psychologischen Handelns von der Qualität des durch eigenes Forschen entwickelten Wissens abhängt; Forschungs- und Praxistätigkeit müssen daher eine funktionale Einheit bilden (vgl. auch MacKay, 2002; Skowronek, 1999), deren Vernachlässigung für den Bildungssektor problematisch wäre. Denn bei der Separierung guter Konzepte (sprich Forschungsleistungen) von konkreten Realitäten (sprich Anwendungsmodalitäten) besteht die Gefahr, dass zukunftsweisende Ideen zu reinen Verbalisierungen verkommen und keinerlei Umsetzung erfahren (Prawat & Worthington, 1998). Kohärent dazu sieht Robert Sternberg die dringlichste Aufgabe der Educational Psychology im Aufbau eines „autonomous body of theory, research, and practice“ (siehe Keane & Shaughnessy, 2002, S. 328). Die Bildungspsychologie versteht sich daher weder als (eher) Grundlagen-, noch als (eher) Anwendungsfach, sondern als ein Fach, das beide Komponenten gleichermaßen umfasst. Auf theoretischer Ebene lässt sich diese Haltung innerhalb des QuadrantenModells wissenschaftlichen Arbeitens von Stokes (1997) verankern. Dieses Modell lehnt die eindimensionale Sichtweise (Grundlagen- vs. Anwendungsfach) als zu simpel ab und postuliert mit dem Erkenntnis- sowie dem Anwendungsziel zwei Dimensionen, in deren Raster sich Disziplinen einordnen können (siehe Abbildung 2).
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Bildungspsychologie – eine Einführung
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Anwendungsziel
–
Erkenntnisziel
+
– pure basic research (N. Bohr)
+ use-inspired basic research (L. Pasteur)
pure applied research (T. A. Edison)
Abbildung 2: Quadrantenmodell wissenschaftlichen Arbeitens (nach Stokes, 1997)
Bildungspsychologie = use-inspired basic research: Die Bildungspsychologie ist im Quadrantenmodell wissenschaftlichen Arbeitens von Stokes (1997) unter use-inspired basic research einzuordnen, da sie sowohl ein Erkenntnisziel als auch ein Anwendungsziel verfolgt.
Diese Ausrichtung soll die reine Basisforschung ohne explizites Anwendungsziel, die für wissenschaftlichen Fortschritt unentbehrlich ist, keinesfalls ausschließen. Die Verzahnung von Erkenntnis- und Anwendungsziel wird jedoch als Kernmerkmal bildungspsychologischer Identität aufgefasst.
4 Bildungspsychologie: Stellenwert und Perspektiven Die Bildungspsychologie fokussiert mit der Bildungskarriere über die Lebensspanne als zentrale Dimension explizit Lebenslanges Lernen. Gemeinsam mit den beiden anderen Dimensionen, den Aufgabenbereichen bildungspsychologischen Handelns und den Handlungsebenen, spannt die Bildungskarriere das Strukturmodell der Bildungspsychologie auf. Mit diesem Aufbau liefert die Bildungspsychologie eine tragfähige, verständliche und für die interne wie externe Kommunikation praktisch verwendbare Rahmenstruktur zur Verortung bildungspsychologischen Handelns. Ihr Gegenstand sind Bildungsprozesse, die zum Aufbau und zur Förderung von Bildungskomponenten (= wünschens-
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C. Spiel, R. Reimann, P. Wagner und B. Schober
werte Persönlichkeitsausprägungen aus gesellschaftlich-normativer Perspektive) beitragen, sowie Bedingungen, Aktivitäten und Maßnahmen, die gemäß psychologischer Theorien diese Prozesse beeinflussen können. Mit ihrer Themenstruktur inkludiert die Bildungspsychologie Bereiche wie z. B. die Lehr-Lern-Forschung oder die Instruktionspsychologie. Die von Weinert (1996; Weinert & De Corte, 2001) beklagte Isolierstellung der Schulpsychologie ist innerhalb der Bildungspsychologie obsolet; Schulpsychologie beschreibt einen bestimmten Ausschnitt bildungspsychologischer Arbeit, der in die entsprechenden Module des Strukturmodells eingeordnet werden kann. Verständlicherweise deckt niemand im Rahmen der eigenen Tätigkeit das komplette Themenspektrum ab – Bildungspsychologinnen und -psychologen spezialisieren sich auf einige wenige (meist benachbarte) Module. Für konkretes bildungspsychologisches Handeln sollte jedoch unter Rückgriff auf das Strukturmodell immer eine Verortung erfolgen. Dadurch bietet sich (auch in der fachexternen Kommunikation) die Möglichkeit zu verdeutlichen, wie die individuell ausgewählte aktuelle bildungspsychologische Tätigkeit im gesamten Themengebäude lokalisiert ist. Eine Verortung des eigenen Arbeitens in einem Rahmenmodell kann auch die für Ausbildungsinstitute zunehmend geforderte Schwerpunkt- und Profilbildung (Bromme, 1998; Weinert, 1998) erleichtern, da immer der Bezug zur Gesamtstruktur des Faches sichtbar ist. Die Konzeption der Bildungspsychologie hat eine intensive Diskussion in der deutschsprachigen Psychologie-Community ausgelöst (siehe Spiel & Reimann, 2005b). Wir hoffen, dass über die interne und externe Kommunikation und Diskussion hinaus auch entsprechende Forschung angeregt wird. Unserer Ansicht nach gestattet das Strukturmodell es explizit, Schnittstellen mit anderen Disziplinen wie z. B. mit der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne oder den Erziehungswissenschaften systematisch darzustellen sowie Felder interdisziplinärer und multidisziplinärer Aktivitäten zu identifizieren.
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Bildungspsychologie – eine Einführung
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Teil I Bildungskarriere
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Sabine Walper und Stepanka Vavrova
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Einführung
Primärbereich
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des Säuglingsund Kleinkindalter
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Kaum eine andere Entwicklungsphase ist von markanteren Entwicklungen gekennzeichnet als das Säuglings- und Kleinkindalter, und keine andere Phase fordert Eltern mehr in der Betreuung Aufgabenbereiche ihres Nachwuchses, um seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen und jene Stimulation zu gewährleisten, die für den enormen Kompetenzzuwachs in dieser Entwicklungsphase unabdingbar ist (Bornstein, 2002). Eltern und – sofern vorhanden – Geschwister stellen den ersten und primären Entwicklungs- und Bildungskontext von Kindern dar, der nicht nur für das rein physische Überleben des Kindes sondern auch für den Verlauf zahlreicher Entwicklungsveränderungen in diesen ersten Lebensjahren entscheidend ist. Entwicklungsphasen im Säuglings- und Kleinkindalter: • Das Säuglingsalter im weiteren Sinne bezieht sich auf das erste Lebensjahr, also die Zeit, in der Kinder typischerweise gestillt werden und noch nicht laufen können. • Innerhalb dieser Altersspanne umfassen die ersten drei Monate die erweiterte Neugeborenenphase, in der zahlreiche Besonderheiten der Motorik und neurologischer Funktionen dem spätfötalen Muster angeborener Reflexe folgen, während die Zeit zwischen dem 4. und 12. Lebensmonat das Säuglingsalter im engeren Sinne ausmacht – eine Zeit, in der sich vor allem kognitive, aber auch soziale und emotionale Kompetenzen deutlich entwickeln (Rauh, 2002). • Das Kleinkindalter bezieht sich auf die Zeit des zweiten und dritten Lebensjahres zwischen Säuglingsalter und Kindergartenalter. • Im englischen Sprachraum bezeichnet „infancy“ die Phase der ersten eineinhalb bis zwei Lebensjahre, in denen Kinder in aller Regel noch nicht bzw. erst rudimentär der Sprache mächtig sind, während die Bezeichnung der „Toddler“-Phase (etwa im zweiten und dritten Lebensjahr) darauf verweist, dass das Kind zwar schon auf eigenen Füßen steht, sich zunächst aber nur unsicher eigenständig fortbewegen kann (Bornstein, 2002).
Entwicklungs- und Bildungsprozesse im Säuglingsalter sind kein klassisches Terrain der Bildungsforschung, die typischerweise erst im Kindergartenalter einsetzt (z. B. Liegle, 2006), wurden aber schon lange in der Entwicklungspsychologie behandelt. Hier hat die
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Säuglingsforschung gerade in jüngerer Vergangenheit mit neuen Methoden beträchtlichen Aufschwung genommen (siehe Keller, 2003; Rauh, 2002). Zu den markantesten Erkenntnissen der letzten 30 Jahre gehört die Einsicht, wie wenig selbst die ersten Monate in der Entwicklung des Menschen als „dumme“ Phase zu sehen sind und wie beachtlich die sozialen, kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten des Kindes schon weit vor Beginn der Sprachbeherrschung sind – Erkenntnisse, die wesentlich das Bild vom „kompetenten Säugling“ geprägt haben (Kavsek, 1996). Hierbei hat die Forschung sehr davon profitiert, dass sich auch andere Entwicklungswissenschaften mit dem Säuglings- und Kleinkindalter befassen (z. B. biologische Evolutions- und Verhaltensforschung, Entwicklungsphysiologie und -neurologie, Kulturanthropologie; vgl. Rauh, 2002). Gerade die frühen Jahre des Säuglings- und Kleinkindalters sind in jüngerer Vergangenheit vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, denn hier verdichtet sich die Frage nach dem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt, nach der Bedeutung früher Erfahrungen für die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes und – damit verbunden – auch nach den Chancen früher Prävention und Intervention zur nachhaltigen Förderung der kindlichen Entwicklung.
2
Stand der Forschung
2.1 Entwicklungen im Säuglingsalter Kinder kommen keineswegs als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Sie sind ausgestattet mit hilfreichen Reflexen (Saugen, Schlucken, Greifen), vorgeburtlich geübten Sinnesleistungen (Hören, Schmecken, Fühlen) und psychophysiologischen Teilsystemen, die sie auf ihre soziale Umwelt hin orientieren, Selbstregulation ermöglichen und so ihr Überleben sichern helfen. Insgesamt erweist sich das Verhalten von Säuglingen mit ihrer Fähigkeit zur Habituation, zur Orientierung und zur Selbstregulation als organisiert, aber es bestehen auch beträchtliche interindividuelle Unterschiede hinsichtlich Reife, Stabilität und Elastizität dieser Systeme (Brazelton & Nugent, 1995). Insbesondere früh geborene Kinder sind im Nachteil. Risiken für früh geborene Kinder: Früh geborene Kinder (Geburt vor der 37. Schwangerschaftswoche oder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2.500 Gramm) verfügen über geringere Möglichkeiten der Erregungskontrolle, d. h. sie sind schwerer zu besänftigen, ihre Informationsverarbeitung und -integration ist aufgrund einer höheren Reizschwelle erschwert, und auch hinsichtlich der Entwicklung komplexerer kognitiver Leistungen sowie der motorischen Kraft und Koordination sind sie im Nachteil (z. B. Eckerman, Hsu, Molitor, Leung & Goldstein, 1999). Das „schwierige“ Verhalten eines Neugeborenen kann es den Eltern erheblich erschweren, beidseitig befriedigende Interaktionen mit ihrem Kind aufzubauen, und damit die Beziehung auch längerfristig belasten.
Säuglinge haben bereits intrauterin Erfahrungen gesammelt, die ihr Erleben und Verhalten nach der Geburt beeinflussen. Selbst die hirnphysiologischen Entwicklungen, die
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sich schon während der Schwangerschaft vollziehen, sind nicht nur Resultat von Reifungsprozessen, sondern spielen mit Erfahrungen zusammen, die in der späten vorgeburtlichen Phase zunehmend auch externen Ursprungs sind (Johnson, 1999). Beispiele für vorgeburtliche Lernprozesse anhand externer Reize sind die Ausrichtung auf die mütterliche Stimme und sprachrelevantes Lernen (vgl. Grimm & Weinert, 2002). Im Verlauf der erweiterten Neugeborenenzeit stabilisiert sich das zunächst noch unreife Verhaltensrepertoire des Kindes und liefert damit die Grundlage für die enormen Lernleistungen der folgenden Monate und Jahre, für deren Bewältigung es zentral auf die Unterstützung durch eine Betreuungsperson – in aller Regel die Eltern – angewiesen ist. Im Säuglingsalter ab rund drei Monaten bildet das Baby grundlegende Kompetenzen in allen bedeutenden Lebensfunktionen inklusive Fortbewegung, Nahrungsaufnahme und Kommunikation aus. Vom 3. oder 4. Lebensmonat bis Ende des ersten Lebensjahres entwickeln Säuglinge zahlreiche neue motorische Funktionen wie blickkontrolliertes Greifen, Sitzen, Krabbeln, Aufstellen, etc. (vgl. Rauh, 2002). Ihre Sehfähigkeit verbessert sich, so dass auch das aktive visuelle Erkunden flüssiger wird. Die Wachphasen werden deutlich länger, und die Interaktion mit den Eltern gewinnt zunehmend den Charakter eines gesprächsähnlichen Austausches mit Blicken, Mimik, Lauten und Gesten (Reddy, Hay, Murray & Trevarthen, 1997). In diesem Lebensabschnitt findet auch ein enormes Gehirnwachstum statt (Diamond, 2000), das kognitive Veränderungen wie längere Aufmerksamkeitsphasen und zielgerichtetes Schauen befördert (vgl. Rauh, 2002). Der neurologische Reifungsschub ermöglicht es Kindern im Alter von acht bis zwölf Monaten immer besser, dominante Reaktionstendenzen aufzuschieben bzw. zu unterdrücken und so Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Verhaltens zu gewinnen (Diamond, 1991). Auch die Gedächtnisleistungen steigern sich, wobei insbesondere im dritten Quartal des ersten Lebensjahres – parallel zu den neurologischen Veränderungen – ein merklicher Zuwachs beim Langzeitgedächtnis zu verzeichnen ist (Rovee-Collier, 1997). Insgesamt weiten sich die kognitiven Fähigkeiten der Kinder im Säuglingsalter bedeutend aus (Goswami, 2001; Siegler, DeLoache & Eisenberg, 2005). Noch vor Sprachbeginn sind Kinder fähig, Kontingenzen (= Übereinstimmungen bei der Interaktion zwischen Bezugsperson und Säugling) zu lernen, Kausalrelationen zu erfassen, Kategorien zu formen und Konzepte zu bilden (Pauen, 2003). Beim kognitiven „Begreifen“ der Umwelt wird der motorischen Entwicklung, insbesondere der Entwicklung des GreiTabelle 1: Entwicklungsaufgaben im Säuglingsalter nach Waters und Sroufe (1983) Alter
Aufgabenbereich
Aufgaben der Bezugsperson
0–3 Monate
Physiologische Regulation
Behutsame Pflegeroutinen
3–6 Monate
Handhabung von Spannungen
Sensitive, kooperative Interaktion
6–12 Monate
Aufbau einer effektiven Bindung
Erreichbarkeit, Bereitschaft zu antworten
12–18 Monate
Erfolgreiche Exploration
Sicherer Bezugspunkt
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Sabine Walper und Stepanka Vavrova
fens eine wesentliche Rolle zugeschrieben (vgl. Rauh, 2002). Auch wenn Kinder schon in dieser sehr frühen Entwicklungsphase durchaus aktiv ihre eigene Entwicklung gestalten, kommt doch der sensitiven Kooperation seitens der Eltern, d. h. ihrem Aufgreifen und Beantworten kindlicher Signale und ihrer Unterstützung der kindlichen Exploration, eine zentrale Bedeutung zu (siehe Tabelle 1).
2.2 Die frühe Eltern-Kind-Interaktion und die Entwicklung der Bindung Eltern sind in der frühen Entwicklungsphase ihrer Kinder auf vielfältige Weise gefordert. Bornstein (2002) unterscheidet vier übergeordnete Typen von Betreuungsleistungen, die in dieser Entwicklungsphase im Vordergrund stehen und für die Entwicklung der Kinder maßgeblich sind. Typen elterlicher Betreuungsleistungen nach Bornstein (2002, S. 14): 1. Körperlich-gesundheitliche Fürsorge (nurturant caregiving): Schutz und Überwachung, Sorge für Gesundheit und körperliches Wohlbefinden; 2. Soziale Anregung (social caregiving): visuelle, verbale, affektive und körperliche Verhaltensweisen von Eltern, die diese nutzen, um ihren Säugling in interaktiven Austausch mit ihnen einzubeziehen (küssen, streicheln, lächeln, vokalisieren und spielerischer face-to-face Kontakt); 3. Anleitung (didactic caregiving): vielfältige Strategien, die Eltern einsetzen, um ihren Säugling für die Umwelt außerhalb der Dyade zu interessieren und seine Interaktion mit der dinglichen Umwelt anzuregen; 4. Gestaltung der physischen Umwelt (material caregiving): die Bereitstellung und das Arrangement der materiellen physischen Umweltgegebenheiten für den Säugling (z. B. Ausstattung mit Spielzeug und anderen stimulierenden Gegenständen bzw. Gegebenheiten, Begrenzung des Bewegungsraums).
Dazu gehört neben der Sorge um das leibliche Wohl der Kinder auch schon die frühe Anleitung von Lernerfahrungen im sozial-interaktiven Bereich und im Umgang mit der dinglichen Umwelt. Darüber hinaus nehmen Eltern durch die Gestaltung der kindlichen Umgebung Einfluss auf deren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. So erwies sich etwa eine stimulierend und unterstützend gestaltete Umgebung als positiver Faktor für die motorische Entwicklung der Kinder zwischen dem 2. und 11. Lebensmonat (Abbott, Barlett, Fanning & Kramer, 2000). Babys lernen vor allem „interaktiv“. Eine wesentliche Rolle spielt bei diesen Lernprozessen die wechselseitige Nachahmung, die schon bei Neugeborenen beobachtbar ist (vgl. Bornstein, 2002; Rauh, 2002). Zunächst ist es aber vor allem die Mutter, die das Verhalten des Kindes nachahmt (spiegelt), während Säuglinge erst zunehmend in die Lage versetzt werden, auch umgekehrt das Verhalten der Mutter nachzuahmen. Hierbei ist die Synchronizität und Kontingenz im Interaktionsverhalten mit der Betreuungsperson von besonderer Bedeutung. Reagiert die Mutter prompt und responsiv auf das Verhalten des Kindes, so investiert es beträchtliche Aufmerksamkeit und zeigt positives Interesse. Ist das Verhalten der Mutter jedoch nicht auf das des Kindes bezogen, so löst
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Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalter
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dies deutliches Unwohlsein bei den Kindern aus (Nadel & Tremblay-Leveau, 1999). In der Passung zwischen kindlichem Verhalten und dem ihrer Mütter gibt es bedeutsame interindividuelle Unterschiede. Insbesondere bei Müttern, für die aufgrund kontextueller und personeller Faktoren ein hohes Risiko für inadäquates Elternverhalten diagnostiziert wurde, ist die Synchronizität beeinträchtigt (Cerezo, Pons-Salvador & Trenado, 2008). Kommunikation und Spracherwerb beginnen lange vor den ersten Wortäußerungen der Kinder und sind deutlich von der Eltern-Kind-Interaktion und den Erfahrungen im familiären Umfeld in den ersten Lebensjahren abhängig (Roskos & Neumann, 1993). Hierbei greifen Eltern intuitiv auf ein spezielles Register der kindgerichteten Sprechweise zurück (Ammensprache oder „motherese“), die in ihrer stimmlich erhöhten Prosodik für Säuglinge besonders attraktiv ist, und passen sich dem sprachlichen Stand und sprachlichen Fortschritten des Kindes an (Grimm & Weinert, 2002). Hierbei kommt der Prosodik sowohl eine aufmerksamkeitslenkende als auch verhaltensregulierende (beruhigende oder anregende) Funktion zu. Ab dem 6. Lebensmonat werden die Kinder zunehmend aktive Kommunikationspartnerinnen bzw. Kommunikationspartner. In der Eltern-Kind-Interaktion schaffen Eltern die Grundstruktur und den Rahmen für den wechselseitigen Austausch und ermöglichen so den Kindern, ihren Beitrag zum Zwiegespräch im Rahmen des „Gerüsts“ zu leisten, das die Eltern bereit stellen („Scaffolding“). Diese Art der Strukturierung, die Raum für Eigenleistungen des Kindes lässt, unterstützt Lernfortschritte der Kinder in vielfältigen Entwicklungsbereichen. Hinsichtlich der sprachlichen Stimulation, die Säuglinge erfahren, bestehen enorme Variationen, insbesondere im Vergleich von Eltern mit höheren und niedrigeren Bildungsressourcen. Unterschiede im sprachlichen Input scheinen durchaus stabil zu sein, so wie auch insgesamt die Ansprache der Kinder im Säuglingsalter konstant bleibt. Bornstein (2002) hat die Stabilität individueller Unterschiede sowie die Kontinuität im Ausmaß einzelner mütterlicher Aktivitäten im Verlauf des Säuglingsalters untersucht. Demnach ist die Nutzung kindgerichteter Sprache (motherese) im Säuglingsalter rückläufig, während didaktische Stimulation der Kinder durch ihre Mütter zunimmt, wobei allerdings in beiden Fällen die individuellen Unterschiede erhalten bleiben. Demgegenüber nimmt soziale Stimulation ab, ein Verhalten, bei dem sich interindividuelle Unterschiede als eher instabil erweisen (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Stabilität und Kontinuität in der Entwicklung mütterlicher Aktivitäten im Säuglingsalter ihrer Kinder nach Bornstein (2002) Entwicklungs-Kontinuität EntwicklungsStabilität
Nein Ja Zunahme
Abnahme
Stabil
Sprache
Didaktische Stimulation
Kindgerichtete Sprechweise
Instabil
Soziales Spiel
Erwachsenen-Sprache
Soziale Stimulation
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Im Verlauf der ersten beiden Lebensjahre gewinnt die Beziehung zwischen primärer Betreuungsperson und Kind ihre spezifische Qualität, die sie gegenüber anderen Beziehungen heraushebt, was für die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder von besonderer Bedeutung ist. Nach John Bowlby (1984) sind Mutter und Kind mit komplementären Verhaltenssystemen ausgestattet, die sich im Verlauf der evolutionären Entwicklung aufgrund ihres Überlebensvorteils für die Kinder herausgebildet haben: das Bindungssystem (attachment system) des Kindes, das es bei Gefahr und Überlastung die Nähe zu der vertrauten Bindungsperson suchen lässt, und das Fürsorgesystem der Betreuungsperson, das entsprechendes Fürsorge- und Schutzverhalten aktiviert. Damit erschließt sich das Kind im Zuge seiner Bindungsentwicklung eine wichtige Ressource für die Bewältigung belastender Situationen und für die interne Emotionsregulation (Grossmann & Grossmann, 2004). Das Bindungsverhaltenssystem steht darüber hinaus in Wechselbeziehung zum kindlichen Explorationsverhaltenssystem, das Neugier und Erkundungsverhalten in der Auseinandersetzung mit der Umwelt anstößt und somit die verhaltensbiologische Grundlage für selbstgesteuertes Lernen liefert. Explorationsverhalten ist allerdings darauf angewiesen, dass das Bindungsverhaltenssystem beruhigt ist (BeckerStoll, Niesel & Wertfein, 2009). Die Entwicklung der sozial-emotionalen Bindung erfolgt in vier Etappen (Bowlby, 1984): 1. In einer Vorphase der ersten beiden Lebensmonate ist das Kind noch nicht an eine spezifische Person gebunden, sondern sendet seine Signale noch ohne Bezug auf einzelne Personen aus. 2. Ab etwa drei Monaten richtet sich das Kind bevorzugt an eine oder wenige spezifische Personen. 3. Ab etwa 7 bis 8 Monaten hat sich die Beziehung zu den spezifischen Betreuungspersonen (i. A. Mutter, Vater) intensiviert, sie werden mit dem kognitiven Entwicklungsschritt der Objekt- und Personenpermanenz vermisst und das Kind kann sich aufgrund seiner motorischen Entwicklung nun aktiv in deren Nähe bringen. 4. Im Alter von etwa drei Jahren erreicht das Kind die Phase der zielkorrigierten Partnerschaft, in der es sich in seiner Kommunikation auch an situativen Gegebenheiten orientiert.
Während die Entwicklung einer personenspezifischen Bindung in den ersten beiden Lebensjahren weitgehend umweltstabil ist und selbst bei einem Minimum an Interaktionskontakt erfolgt, ist die Qualität dieser Bindungsbeziehung von den Besonderheiten dieser Interaktion abhängig. Zahlreiche Studien haben aufgezeigt, dass neben Temperamentsunterschieden der Kinder vor allem der mütterlichen Feinfühligkeit eine zentrale Rolle bei der Entwicklung einer sicheren Bindung ihres Kindes zukommt (De Wolff & van Ijzendoorn, 1997). Mütter, die feinfühlig auf die Bedürfnisse ihres Kindes reagieren, d. h. die Signale des Kindes erkennen, richtig interpretieren und prompt sowie angemessen darauf reagieren, stärken das Vertrauen des Kindes in eine hilfreiche Umwelt und fördern so sein Sicherheitsgefühl. Darüber hinaus bedeutet feinfühliges Verhalten auch die Förderung der kindlichen Kommunikationsfähigkeit bereits im vorsprachlichen Alter (vgl. Grossmann et al., 2003). Auch die Feinfühligkeit der Väter hat sich für die weitere Entwicklung der Kinder als maßgeblich erwiesen. Sie scheint vor allem im Spiel
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und damit verbunden in der kindgemäßen Regulation zum Tragen zu kommen (Grossmann & Grossmann, 2004). Nach Bowlby (1969) liefern die frühen Bindungserfahrungen Modellvorstellungen von Beziehungen, die in sog. „Arbeitsmodellen“ („internal working models“) verinnerlicht werden und in späteren Situationen als Handlungsgrundlage für die Ausrichtung des eigenen Verhaltens dienen, allerdings auch durch neue Erfahrungen „überarbeitet“ werden. Dass die Bindungsqualität für die spätere sozial-emotionale Entwicklung der Kinder relevant ist, zeigen Studien, nach denen sicher gebundene Kinder besser im Kindergarten und in der Schule zurecht kommen, konstruktiveres Konfliktverhalten und weniger Verhaltensprobleme zeigen (z. B. Bohlin, Hagekull & Rydell, 2000; vgl. auch Grossmann et al., 2003).
2.3 Eltern-Kind-Interaktionen im Kleinkindalter – die Entwicklung von Autonomie Im Kleinkindalter erweitert sich der Aktionsradius des Kindes mit der Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und zu laufen, es entdeckt seinen eigenen Willen und kann sich nun aktiv den elterlichen Wünschen widersetzen. Über die Mutter-Kind-Dyade und den engeren Familienkreis hinaus wird das Kind zunehmend in die soziale und kulturelle Gemeinschaft hineingeführt, und durch die erweiterten Möglichkeiten der mentalen Repräsentation verändert sich sein Erleben: Es gewinnt die Welt der Vorstellungen und Fantasie hinzu, die Möglichkeiten der Symbolisierung und Abstraktion durch Sprache, entdeckt die innere psychische Welt bei sich selbst und anderen und erfährt Regeln und Strukturen des sozialen Miteinanders (vgl. Rauh, 2002). Diese Entwicklungen lassen sich entlang sechs zentraler Entwicklungsaufgaben beschreiben (Edwards & Liu, 2002). Entwicklungsaufgaben des Kleinkindalters umfassen (Edwards & Liu, 2002): • Die Entwicklung von Autonomie und Unabhängigkeit. • Die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, und damit verbundene Entwicklungen des Selbst-Konzeptes und der Selbstreflexion. • Die Entwicklung von Fähigkeiten der Emotions- und Impulskontrolle. • Die Entwicklung von Empathie, Moral und Verhaltensstandards. • Geschlechtsrollenidentität und -identifikation. • Das Hineinwachsen in die Gemeinschaft.
Nicht nur die Sicherung des kindlichen Bedürfnisses nach sozialer Eingebundenheit, sondern auch die Orientierung an dem Grundbedürfnis von Kindern nach Autonomie und Kompetenzerleben stellen wesentliche Leitprinzipien für die Förderung einer anhaltenden Lernmotivation dar (Becker-Stoll et al., 2009). So entdecken sich Kinder im Verlauf des zweiten Lebensjahres zunehmend als Handlungsträgerinnen bzw. Handlungsträger mit eigenem Willen und streben nach Eigenständigkeit in der Ausführung ihrer Handlungen. Mahler bezeichnet den hiermit verbundenen Entwicklungsprozess der Abgrenzung gegenüber anderen – vor allem der Mutter – als Individuation, die das Kind aus der anfänglichen Symbiose mit der Mutter herausführt und im günstigen Fall von der Mutter toleriert und durch die Gewährung entsprechender Handlungsspielräume
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unterstützt wird (Mahler, Pine & Bergman, 1980). Diese Abgrenzung ist anfangs noch unbeholfen und kann zu heftigen Trotzreaktionen führen, wenn Wollen und Können nicht zusammen passen. Die umgangssprachlich gut bekannte „Trotzphase“ stellt Eltern vor andere Herausforderungen als die völlige Abhängigkeit des Säuglings. Widerstand und negatives Verhalten haben ihren Höhepunkt, wenn die Kinder etwa zwei Jahre alt sind. Typischerweise leitet dies die ersten erzieherischen Bemühungen der Eltern ein, die in den meisten Kulturen im zweiten bis dritten Lebensjahr des Kindes einsetzen (vgl. Edwards & Liu, 2002). Kleinkinder provozieren viele Anweisungen und Ermahnungen seitens der Erwachsenen, teilweise zum Schutz vor physischen Gefahren oder aus Sorge um die Gegenstände in ihrer Umgebung, aber auch als Hinweise auf soziale Regeln und Normen. Gleichwohl entwickeln Kinder in dieser Phase eine deutliche Sozialisationsbereitschaft (Kochanska & Murray, 2000) und sind zunehmend gewillt, der Anleitung von Erwachsenen zu folgen und die eigenen Handlungen in deren Ziele und Vorgaben einzufügen. Kooperation bei elterlichen Anweisungen (Compliance) gehört zum üblichen Repertoire im Kleinkindalter, soweit sie diese Anweisungen verstehen und befolgen können. Die Freude an den eigenen Kompetenzen, die Kinder erleben, wenn ihre Handlungen sich in die Anweisungen der Erwachsenen einpassen, scheinen eine wesentliche Grundlage für diese Sozialisationsbereitschaft der Kinder darzustellen (Edwards & Liu, 2002). Hierbei macht es jedoch einen wesentlichen Unterschied, welche Lenkungs- und Kontrollstrategien Eltern nutzen. Während Anleitung, Scaffolding und Kontrolle, die auf Machtausübung verzichtet, mit einer höheren Kooperationsbereitschaft einhergeht, zeigen körperliche Strafen, Liebesentzug etc. negative Effekte. Erziehungspraktiken und -einstellungen sind nicht nur für die Kooperationsbereitschaft, sondern für einen breiten Bereich der kindlichen Entwicklung relevant. Zahlreiche Forschungsarbeiten dokumentieren, dass liebevolle Zuwendung gepaart mit moderater Kontrolle ein günstiges Entwicklungsmilieu für die kindliche Verhaltens- und Kompetenzentwicklung darstellt (Schneewind, 2002). Ein solcher autoritativer Erziehungsstil, wie ihn Baumrind (1988) charakterisiert, hat sich in vielfältiger Hinsicht für Kinder und auch Jugendliche als vorteilhaft erwiesen. Allerdings warnen Edwards und Liu (2002) davor, den positiven Beitrag elterlicher Kontrolle im Kleinkindalter zu stark zu betonen. In dieser Phase scheinen eher die Eröffnung von Handlungsspielräumen und die Anleitung kindlicher Aktivitäten hilfreich zu sein. Ein wesentlicher Entwicklungsschritt von Kindern im frühen Kleinkindalter ist die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen (Bischof-Köhler, 1998). Sie tritt mit etwa 18 Monaten auf und liefert den Auftakt für eine Reihe weiterer Entwicklungen im sozialen Bereich. Kinder beginnen, Personen zu vergleichen, und die spontane Nachahmung Gleichaltriger oder anderer Personen des gleichen Geschlechts nimmt zu. Nach BischofKöhler entwickelt sich in dieser Phase die soziale Identität. Fast gleichzeitig gewinnen die Kinder die Fähigkeit, die Aufmerksamkeitsrichtung ihrer Interaktionspartnerin bzw. ihres Interaktionspartners zu erkennen und ihr zu folgen. Dies liefert eine wichtige Voraussetzung dafür, die jeweils andere Person als „Lehrerin bzw. Lehrer“ nutzen zu können (Rauh, 2002).
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Die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, liefert auch die Grundlage für die Fähigkeit zur Empathie, die im Gegensatz zur Gefühlsansteckung auf den anderen bezogen bleibt und dessen Gefühlszustand vom eigenen unterscheidet (Bischof-Köhler, 1998). Mit dieser frühen Form der Rollenübernahme beginnen Kinder, die Emotionen, aber auch Wünsche und Absichten anderer unabhängig von der eigenen Befindlichkeit oder den eigenen Handlungsintentionen zu repräsentieren. Sie stellt einen Vorläufer für die spätere Entwicklung einer „theory of mind“ dar, d. h. für die Fähigkeit, den individuellen Informationsstand anderer zu berücksichtigen, wenn es etwa darum geht, deren (Fehl-)Handlungen vorherzusagen (Sodian, 2003). Diese Entwicklung im Verständnis dessen, was andere wissen und denken, vollzieht sich erst im Kindergartenalter. Prospektiv spielen hierbei aber auch die sozialen Interaktionen zwischen Eltern und Kindern im Kleinkindalter eine Rolle. Neigt die Mutter dazu, die Gedanken und Gefühle ihres Kindes im Gespräch treffend aufzugreifen und angemessen zu kommentieren, so befördert dies die spätere Entwicklung der theory of mind (Meins et al., 2002).
2.4 Risiko- und Schutzfaktoren Kinder wachsen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen auf, die Einfluss auf ihre Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten haben. Wesentliche Gefährdungen ergeben sich aus der Konstellation von Risikofaktoren, mit denen Kinder in dieser frühen Entwicklungsphase konfrontiert sind (vgl. z. B. Laucht, Schmidt & Esser, 2000). Risiken wie Frühgeburt, Armut oder psychische Erkrankung eines Elternteils allein führen jedoch nicht zwangsläufig zu nachteiligen Folgen oder gar zu Entwicklungsstörungen, sondern je nach den verfügbaren Bewältigungsressourcen können sich Kinder durchaus als resilient erweisen, d. h. trotz widriger Lebensumstände einen positiven Entwicklungsverlauf zeigen. Bewältigungsressourcen nach Wustmann (2004): • Schützende individuelle Faktoren (z. B. positives Temperament, Selbstregulationsfähigkeiten). • Schützende Faktoren innerhalb der Familie und im familialen Umfeld (z. B. eine verlässliche Bezugsperson, wertschätzendes Erziehungsverhalten). • Ressourcen durch Bildungsinstitutionen (z. B. wertschätzendes Klima in Kindertageseinrichtungen, klare und konsistente Regeln und Strukturen, positive Peerkontakte).
Resiliente Kinder zeichnen sich schon im Alter von 2 Jahren durch ihr selbstständiges und selbstbewusstes, nach Autonomie strebendes Verhalten sowie durch ihre gut entwickelten Kommunikations- und Bewegungsfähigkeiten aus. Zudem zeigen resiliente Kinder die Fähigkeit, in schwierigen Situationen Hilfe zu erbitten. Dennoch machen zahlreiche Befunde darauf aufmerksam, wie unterschiedlich die Entwicklung von Kindern schon vorgeburtlich und in den frühen Jahren je nach den sozioökonomischen Ressourcen der Familie ausfällt (vgl. Walper, 2008). Mütter mit geringer
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Bildung und aus deprivierten Familien nutzen seltener Vorsorgeuntersuchungen und zeigen ein ungünstigeres Gesundheitsverhalten während der Schwangerschaft, so dass Frühgeburten in diesen Gruppen gehäuft auftreten (Seccombe, 2000). Gerade frühgeborene Kinder sind jedoch auf eine fürsorgliche Betreuung und einen unbelasteten Familienkontext angewiesen, so dass sich hier Risiken für die kindliche Entwicklung wechselseitig steigern. Auch der Anregungsgehalt der häuslichen Umwelt ist oftmals bei Familien mit geringen Bildungs- und ökonomischen Ressourcen geringer. Dies betrifft neben der Verfügbarkeit von kindgerechten und anregungsreichen Explorations- und Spielmöglichkeiten vor allem auch die Menge und Vielfalt sprachlicher Anregung (Hoff-Ginsberg, 2000). Damit ergeben sich Nachteile für die Sprach- sowie Intelligenzentwicklung und kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder (Duncan & Brooks-Gunn, 1997). Darüber hinaus bestehen hinsichtlich der Intelligenzentwicklung bereits im Alter von fünf Jahren gravierende Effekte dauerhafter Armut, die – wie zu erwarten – stärker ausfallen als die Auswirkungen zeitlich begrenzter Armutsphasen in den ersten Lebensjahren der Kinder (Duncan, Brooks-Gunn & Klebanov, 1994). Aber auch kürzere Armutsepisoden machen sich in der Intelligenz- und Verhaltensentwicklung der Kinder negativ bemerkbar.
3
Praktische Implikationen
3.1 Die Rolle der Elternbildung Die erweiterten Erkenntnisse über Entwicklungsprozesse in den ersten Lebensjahren sowie die Bedeutung der sozialen und gegenständlich-physikalischen Umwelt verändern auch unseren Blick auf die Möglichkeiten einer gezielten Förderung von Kindern schon in dieser frühen Phase. Sie eröffnen verbesserte Möglichkeiten, Entwicklungsgefährdungen frühzeitig zu diagnostizieren und Entwicklungsprozesse durch geeignete Maßnahmen anzuregen. Sie mögen Eltern aber auch vielfach verunsichern. Zwar verfügen Eltern in aller Regel über intuitive Kompetenzen im Umgang mit Säuglingen (Papousek, 2001), aber diese können durch z. B. widrige frühere und aktuelle Beziehungserfahrungen, Störungen des physischen und psychischen Wohlbefindens und individuelle Besonderheiten des Kindes beeinträchtigt sein. Werdenden Eltern und Eltern von Säuglingen und Kleinkindern stehen mittlerweile zahlreiche Publikationen zur Verfügung, um sich über wesentliche Entwicklungen in den ersten Lebensjahren von Kindern zu informieren und Anregungen für eine optimale Betreuung und Förderung der Kinder zu erhalten. Hierzu zählen einschlägige Zeitschriften (z. B. Eltern), eine Vielzahl aktueller Buchpublikationen (z. B. Gerber & Johnson, 2002; Gonzales-Mena & Eyer, 2008; Stern, 2009), aber auch Internet-Angebote wie www. babyundfamilie.de und das online-Familienhandbuch (www.familienhandbuch.de). Hinzu kommen Kursangebote für Eltern wie die traditionsreichen PEKiP-Gruppen, aber auch neue Angebote, die sich teilweise an alle Eltern wenden, teilweise spezifische Risiko- oder Problemgruppen ansprechen.
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Arten von Präventionsprogrammen: • Universelle Prävention richtet sich an alle Eltern (und deren Kinder). • Selektive Prävention richtet sich an Risikogruppen, z. B. sozial benachteiligte Familien oder Alleinerziehende. • Indizierte Prävention richtet sich an Eltern und Kinder, bei denen schon merkliche Probleme in der Eltern-Kind-Interaktion oder der Entwicklung des Kindes aufgetreten sind.
Insbesondere der Kompetenzförderung von Kindern in den ersten Lebensjahren sind Programme wie Head Start (Opp & Fingerle, 2000) oder Opstapje (Manstetten, Sann & Thrum, 2004) gewidmet, die neben den Kindern auch die Eltern adressieren. Dies gilt speziell für das Präventionsprogramm Opstapje, das noch vor dem Kindergartenalter einsetzt und die kindliche Entwicklung in armutsgefährdeten Familien über eine Stärkung elterlicher Erziehungskompetenzen fördern will. Hierbei erhalten Eltern im Rahmen von Hausbesuchen zahlreiche Anregungen dafür, wie sie Lernprozesse ihrer Kinder etwa durch das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern und durch Vorlesen unterstützen können. Gerade diese relativ einfachen Mittel zur Förderung kindlichen Lernens, die Eltern vielfach ohne besondere Förderabsicht, sondern eher aus dem Vergnügen an der Interaktion mit ihrem Kind heraus nutzen, haben sich als sehr förderlich für die kognitive und sprachliche Entwicklung von Kindern erwiesen (Leseman & Peter, 1998). Auch Becker-Stoll et al. (2009) betonen, dass Erwachsene, die Freude am Lernen und am Lernerfolg ihrer Kinder teilen und darüber hinaus auch Wertschätzung gegenüber den Lernprozessen ihrer Kinder ausdrücken, einen wichtigen Beitrag zum guten Start der Bildungsbiografie leisten. Viele Programme zielen darauf ab, die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern von Anbeginn auf sichere und tragfähige Füße zu stellen. Hierbei sind Erkenntnisse aus der Bindungsforschung besonders wertvoll. So konnte van den Boom (1994, 1995) in einer Trainings-Studie mit Müttern hoch irritierbarer Säuglinge zeigen, dass sich durch die Anleitung von feinfühligem Verhalten der Mütter (im Alter zwischen sechs und neun Monaten der Kinder) die Bindungsqualität der Kinder positiv beeinflussen lässt. Die Effekte erwiesen sich als durchaus nachhaltig und zeigten sich auch noch im Alter von drei Jahren in einer höheren Kooperationsbereitschaft der Kinder. Die Erkenntnis, dass Eltern eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung ihrer Kinder zukommt, hat auch Ansätze der Frühprävention beeinflusst. So wird zunehmend Wert darauf gelegt, Eltern einzubeziehen statt sich nur auf das Kind zu fokussieren (Edwards & Liu, 2002). Damit wird die Aufgabe, Kinder zu betreuen, zu erziehen und ihre Bildung voran zu treiben, zunehmend zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe, bei der die Eltern als primäre Interaktionspartnerinnen bzw. Interaktionspartner eine wesentliche Ressource für professionelle Säuglings- und Kleinkindbetreuung darstellen.
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3.2 Frühe Fremdbetreuung Da die Beschäftigungsquoten der Frauen in den letzten Jahrzehnten rapide gestiegen sind (Marold, 2009), wird der Bedarf an außerfamiliärer Kinderbetreuung zunehmend größer. Vor allem höher qualifizierte Mütter streben vergleichsweise früh nach der Geburt ihres Kindes wieder in den Beruf. Für alleinerziehende Mütter ist die Unterbringung kleiner Kinder während der Arbeitszeit nahezu unentbehrlich. Dies sind wesentliche Gründe, um die Betreuungsmöglichkeiten auch für Kinder unter drei Jahren zunehmend auszubauen (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005). Hierbei stehen für Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter unterschiedliche außerfamiliäre Kinderbetreuungsangebote zur Verfügung (siehe Tabelle 3; vgl. auch Tenorth & Tippelt, 2007). Der außerfamilialen Fremdbetreuung kleiner Kinder wird in Deutschland und Österreich eher skeptisch begegnet. Aufgrund der intensiven Betreuungsbedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern wird vielfach die Familie – d. h. in der Praxis die Mutter – als das ideale Umfeld für die Betreuung und Förderung der Kinder betrachtet. Gleichwohl ist deutlich, dass nicht alle Eltern gleichermaßen in der Lage sind, ihre Kinder optimal zu fördern. Insofern kommt in der neueren Diskussion vermehrt die Frage auf, ob nicht gerade eine frühe Fremdbetreuung in der Lage ist, unterschiedliche Startchancen von Kindern wettzumachen und – bei hoher Qualität der Betreuung – Kinder gut zu fördern.
Tabelle 3: Außerfamiliäre Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahre
Kinderkrippe
Einrichtung zur Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern (6 Monate bis 3 Jahre) meist berufstätiger Eltern. Es handelt sich um Betreuung durch Pädagoginnen bzw. Pädagogen in kleinen Gruppen (6 bis 12 Kinder), halb- oder ganztägig gegen Entgelt.
Kindergruppe
Betreuungsinstitutionen für Kinder zwischen 1 und 3 Jahren, die in der Regel individuell z. B. durch Elterninitiativen organisiert sind.
Kindertagespflege
Form der familiennahen Betreuung von v. a. unter 3-jährigen Kindern außerhalb der Herkunftsfamilie. Die Betreuung erfolgt im familialen Umfeld der meist privaten Tagespflegepersonen (Tagesmütter).
Kooperationseinrichtung
Zusammenschluss von Krippe und Kindergarten in einer halboder ganztägigen Bildungs- und Betreuungseinrichtung, in der noch nicht schulpflichtige Kinder (sowohl im Krippen- als auch im Kindergartenalter) von qualifiziertem Kindergartenpersonal betreut werden.
Kindertagesheim
Kindergarten, in dem die Kinder ganztätig betreut werden (auch Kindertagesstätte genannt).
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Auf der Seite möglicher Risiken einer frühen Fremdbetreuung wird häufig die Frage diskutiert, ob eine Betreuung durch andere Personen als die Eltern Auswirkungen auf die Qualität der Mutter-Kind-Bindung hat. Aktuelle Forschungsbefunde, die auch qualitative Besonderheiten der Fremdbetreuung berücksichtigen, beweisen, dass eine hohe Qualität der Betreuung eine unabdingbare Voraussetzung nicht nur für das physische und emotionale Wohlbefinden der Kinder, sondern auch für die Anregung und Aufrechterhaltung ihrer Bildungsbereitschaft und Lernfähigkeit darstellt (Ahnert, 2004). Die Bindungsbeziehung zu Eltern und Betreuungskräften scheint nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu stehen, sondern reflektiert eher spezifische Interaktionserfahrungen der Kinder mit der jeweiligen Bindungsperson im jeweiligen Kontext. Wesentlich gefördert wird eine sichere Bindung im Familienkontext wie auch in kleinen Gruppen (z. B. bei der Betreuung durch eine Tagesmutter) vor allem durch die Feinfühligkeit, mit der die Betreuungsperson ihr Verhalten auf die Bedürfnisse des Kindes je nach Situation und Entwicklungsstand abstimmt (Ahnert, 2004). So bleibt die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung an die Interaktionserfahrungen mit der Mutter gebunden, und ein direkter Einfluss von sozialen Erfahrungen, die das Kind in einer Tagesbetreuung macht, ist weitgehend nicht nachzuweisen (Lamb & Ahnert, 2003). Das Zusammenspiel von familiärer und außerfamiliärer (institutioneller) Erziehung hat auch weitere Vorteile. Außerfamiliäre Kinderbetreuung hat nicht nur eine kompensatorische Funktion für risikobehaftete Familien – Familien, die z. B. ökonomisch benachteiligt, stark arbeitsbelastet sind oder ein Kind in der Familie haben, das pflegeintensiv ist. Die vielfältigen sozialen Kontakte in Tagesbetreuung bergen auch Chancen z. B. für schüchterne Kinder, die schwerer zugänglich und weniger anpassungsfähig sind (Lamb & Ahnert, 2003, vgl. auch Tietze, 2008).
4 Zukunft des Themas Die Säuglings- und die Kleinkindforschung sind stark wachsende Forschungsbereiche, in denen sich auch zukünftig zahlreiche Forschungsaktivitäten entfalten werden. Hierbei dürften folgende generelle Fragen von besonderem Interesse sein: 1. Wie greifen biologisch-physiologische Entwicklungsprozesse und Erfahrungslernen der Kinder ineinander? Inwieweit sind einzelne z. B. neurologische Veränderungen Schrittmacher für neue Lernerfahrungen und vice versa? 2. In welchen Phasen bestehen besonders günstige Lernbedingungen dafür, die Entwicklung einzelner Kompetenzen voran zu treiben, und wann wären solche Interventionen kontraproduktiv, z. B. weil es eher einer Konsolidierung verfügbarer Kompetenzen bedarf? Wie ausgeprägt sind in dieser Hinsicht individuelle Unterschiede, die auch bei einer gezielten Förderung zu berücksichtigen wären? 3. Welche spezifischen Anregungen und Lernbedingungen helfen beim Erwerb einzelner neuer Kompetenzen und welche stören? Sind hierbei wesentliche interindividuelle Unterschiede zu berücksichtigen (z. B. kulturelle Faktoren, Kind-Merkmale)? Wie lassen sich diese Erkenntnisse für die Praxis nutzbar machen? 4. Wie wichtig sind frühe Erfahrungen und Entwicklungen für den späteren Entwicklungsverlauf? In welchem Maße und unter welchen Bedingungen lassen sich z. B. frühe Unterschiede in den individuellen kindlichen Kompetenzen später noch ausgleichen?
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Bislang hat der Schwerpunkt der Säuglingsforschung in der Grundlagenforschung gelegen. Im Kleinkindalter sind mehr anwendungsbezogene Arbeiten entstanden, etwa im Hinblick auf die Möglichkeiten der Sprachförderung von Kindern oder zur Unterstützung motorischer Fertigkeiten, die auch für spätere kognitiv-schulische Anforderungen relevant sind. Allerdings überwiegt auch in diesem Alter noch die entwicklungspsychologische Grundlagenforschung. Dennoch sind die bildungspsychologischen Implikationen vieler einschlägiger Arbeiten nicht zu übersehen. Sie sind vor allem dort erkennbar, wo Anregungsbedingungen und soziale Einflussfaktoren untersucht und hinsichtlich ihrer Wirkung auch über längere Zeit hinweg verfolgt wurden. Mehr Aufmerksamkeit als bisher verdient vor allem die außerfamiliäre Kinderbetreuung. Sie ist nicht nur ein wichtiger Sozialisationskontext für Kinder, sondern hat auch Auswirkungen auf Familien, Volkswirtschaft und die Demografie der Gesellschaft (Tietze, 2008). Sie birgt viele positive Chancen, etwa als Voraussetzung für eine Erwerbstätigkeit der Mütter und damit bei der Vorbeugung familialer Konflikte, aber auch im Hinblick auf die Erweiterung der sozialen Netzwerke von Kindern wie auch Eltern (Roßbach, 2005). Ein besseres institutionelles Platzangebot scheint auch junge Paare eher zu ermutigen, sich für ein erstes Kind zu entscheiden (wenngleich in dieser Hinsicht auch die Bedeutung der Großeltern als Ressource nicht zu unterschätzen ist; Hank, Kreyenfeld & Spieß, 2004). Allerdings wird es nicht minder darauf ankommen, den quantitativen Ausbau auch im Hinblick auf die Gewährleistung qualitativer Standards zu überwachen. Hierbei werden Säuglings- und Kleinkindforschung wesentlich gefragt sein.
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Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalter
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Höheres Erwachsenenalter
Arnold Lohaus, Petra Korntheuer und Ilka Lißmann
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
1 Überblick
Monitoring & Evaluation
Intervention
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bindung und die Entwicklung von Sprache und Kognition als Voraussetzungen für den Bildungserwerb
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
Prävention
Beratung
Forschung
Schon im Säuglingsalter werden Grundlagen für die spätere Bildungskarriere eines Menschen gelegt. Zu nennen sind dabei insbesondere die soziale und mateAufgabenbereiche rielle Umgebung eines Kindes, welche eine zentrale Basis für nachfolgende soziale und kognitive Entwicklungsschritte darstellen und so Lern- und Bildungsprozesse beeinflussen. Im Folgenden soll ein Forschungsbeitrag dargestellt werden, der vor allem frühe soziale Einflüsse auf die spätere Entwicklung eines Kindes untersucht. Im Mittelpunkt der empirischen Studie steht die Annahme, dass die Ausgestaltung der Art der Bindung zwischen Eltern und Kind Voraussetzungen für den Bildungserwerb schafft, weil sie die spätere sprachliche und kognitive Entwicklung zu beeinflussen vermag. Dieses Illustrationskapitel bezieht sich also auf Forschung im Säuglings- und Kleinkindalter, die auf der Mikroebene angesiedelt ist. Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf der Bindung zwischen Mutter und Kind, deren Entwicklung nicht unabhängig von der Entwicklung in anderen Bereichen gesehen werden kann (Meins, 1997). Das Ziel der Studie besteht darin, im Längsschnitt Zusammenhänge zwischen der Bindungssicherheit mit einem Jahr und dem späteren kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand mit zwei Jahren herzustellen.
2
Theoretische und empirische Grundlagen
2.1 Bindung Auch wenn das Kind schon früher Interaktionserfahrungen mit seinen Eltern macht, kommt es zu einer eigentlichen Bindung erst mit etwa sechs bis acht Monaten: Das kindliche Repertoire an näheförderndem Verhalten, wie Vokalisieren, Schreien, Hinkrabbeln und Anklammern, organisiert sich dabei zu einem für die jeweilige Betreuungsperson spezifischen Verhaltenssystem. Eine sogenannte sichere Bindung entsteht, wenn das Kind eine mentale Repräsentation der Bezugsperson als zugänglich und verfügbar bilden konnte (Cassidy, 1999). Fühlt sich ein sicher gebundenes Kind nicht wohl
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Bindung und die Entwicklung von Sprache und Kognition
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oder gar bedroht, sucht es beispielsweise Trost bei seiner Bezugsperson. Eine sichere Bindung fördert Explorationsverhalten (Waters & Deane, 1985) und erweitert dadurch die Fertigkeiten, erfolgreich die Umwelt zu meistern (Weinfield, Sroufe, Egeland & Carlson, 1999). Ein unsicher gebundenes Kind dagegen sucht oder findet keinen Trost bei der Bezugsperson und kann in der Umwelt nicht in demselben Maß wie ein sicher gebundenes Kind Erfahrungen eigener Selbstwirksamkeit machen (Meins, 1997; Weinfield et al., 1999). Da die Art der entstandenen Repräsentationen sich auf die Verarbeitung neuer Erfahrungen auswirkt, kann man davon ausgehen, dass spätere Entwicklungsparameter durch frühe Bindungserfahrungen beeinflusst werden.
2.2 Bindungserfahrungen und sprachliche bzw. kognitive Kompetenzen Der Zusammenhang zwischen frühen Bindungserfahrungen und späterer Sprachkompetenz wurde bereits in einer vorausgegangenen Metaanalyse von van Ijzendoorn, Dijkstra und Bus (1995) bestätigt, bei der sich ein Zusammenhang in einer mittleren Größenordnung ergab. Auch Meins (1997) konnte zeigen, dass im Alter von einem Jahr sicher gebundene Kinder sechs Monate später in der Sprachentwicklung weiter fortgeschritten waren und mehr Nomen benutzten als unsicher gebundene Kinder. Moss und St-Laurent (2001) fanden, dass sicher gebundene Schulkinder höhere Scores in der Kommunikation erreichten. Die Befundlage zum Zusammenhang zwischen Bindung und kognitiver Entwicklung ist dagegen uneinheitlich. In der Metaanalyse von van Ijzendoorn et al. (1995) ergab sich kein ausgeprägter Zusammenhang zwischen Bindungssicherheit und kognitiver Entwicklung. Jacobsen und Hofmann (1997) dagegen konnten für die mittlere Kindheit verschiedene Zusammenhänge, beispielsweise zwischen Bindungsrepräsentation und kognitiver Leistung oder Schulerfolg, nachweisen. Eine Längsschnittuntersuchung von Schieche und Spangler (2005) an jüngeren Kindern ergab, dass die Bindungsqualität beispielsweise die Aufgabenorientierung, die als eine Vorraussetzung für erfolgreiche Aufgabenbewältigung gelten kann, vorhersagen konnte.
3 Methode und Untersuchungsdesign In der vorliegenden Studie wurde die Bindungssicherheit im Alter von einem Jahr anhand von zwei unterschiedlichen Erhebungsmethoden erfasst. Zum einen wurde der Fremde-Situations-Test (FST, Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978) verwendet, zum anderen der Attachment-Q-Sort (AQS, Waters & Deane, 1985; deutsche Übersetzung von Schölmerich & Leyendecker, 1999). Die Bindungsmaße erfassen unterschiedliche Situationen, in denen sich Bindung zeigen kann. So stehen beim Fremde-Situations-Test experimentell erzeugte Stresssituationen durch die zeitweise Trennung des Kindes von der Bezugsperson im Vordergrund, während der Attachment-Q-Sort auf Beobachtungen in natürlichen und vertrauten Interaktionskontexten beruht. Zur Erhebung der Sprachentwicklung wurde der Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2, Grimm, Aktas & Frevert, 2000) eingesetzt, wobei aus den Subskalen
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Arnold Lohaus, Petra Korntheuer und Ilka Lißmann
zur Sprachproduktion sowie zum Sprachverständnis jeweils zusammengefasste Scores gebildet wurden. Zur Erfassung des sprachlichen und kognitiven Entwicklungsstandes wurde der Entwicklungstest 6 Monate – 6 Jahre (ET 6-6, Petermann, Stein & Macha, 2004) durchgeführt. Verwendet wurden die Dimension „Kognitive Entwicklung“, bestehend aus dem Mittelwert der Subskalen „Handlungsstrategien“ und „Körperbewusstsein“, sowie die Subskalen zur „expressiven“ und „rezeptiven Sprachentwicklung“ aus der Dimension „Sprachliche Entwicklung“. Die Stichprobe bestand aus 87 Mutter-Kind-Dyaden, wobei die Kinder (52 Mädchen, 35 Jungen) im Alter von einem und zwei Jahren längsschnittlich untersucht wurden. Bei den Müttern handelte es sich ausschließlich um Erstgebärende mit einem Alter zwischen 16 und 42 Jahren (M = 29.9, SD = 5.0). Im Alter von einem Jahr kamen die beiden Verfahren zur Erhebung der Bindungsqualität zum Einsatz, im Alter von zwei Jahren die Verfahren zur Erhebung der Sprachentwicklung sowie des Entwicklungsstandes. Für sicher gebundene Kinder wurden Entwicklungsvorteile in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung gegenüber unsicher gebundenen Kindern erwartet.
4 Ergebnisse und Interpretation Trotz einer nur geringen Übereinstimmung zwischen den beiden Bindungsmaßen (vgl. hierzu van Ijzendoorn, Vereijken, Bakermans-Kranenburg & Riksen-Walraven, 2004) sind sowohl die Ergebnisse des FST als auch die des AQS geeignet, prädiktive Aussagen über die sprachliche Entwicklung ein Jahr später zu treffen. Auf der Basis des FST als sicher gebunden klassifizierte Kinder weisen in der rezeptiven Sprachentwicklung im Mittel höhere Werte auf als die als unsicher gebunden klassifizierten Kinder. Die mit dem AQS festgestellte Bindungssicherheit zeigt prospektiv positive korrelative Zusammenhänge zu allen verwendeten Maßen der Sprachentwicklung. Die höhere Sprachkompetenz der sicher gebundenen Kinder lässt sich dahingehend interpretieren, dass sicher gebundene Kinder für ihre Explorationen die Bezugsperson stärker als Referenz verwenden können. Dabei wird häufig über Objekte kommuniziert, was dem Kind optimale Gelegenheiten bietet, insbesondere umweltbezogene Wörter zu lernen und zu erproben (vgl. Meins, 1997; van Ijzendoorn et al., 1995). Analysen mit einer Subgruppe von Kindern, die in beiden Verfahren konsistent als sicher bzw. unsicher gebunden klassifiziert worden waren, zeigen in gleichsam kombinierter Form die bereits aus den Einzelerhebungen bekannten Sprachentwicklungsvorteile der sicher gebundenen Kinder. Zudem weisen die als konsistent sicher gebunden klassifizierten Kinder ein Jahr später einen Vorsprung in ihrer kognitiven Entwicklung gegenüber den als unsicher klassifizierten Kindern auf. Dieser Befund beruht nicht auf Intelligenzunterschieden, denn Bindungssicherheit gilt als unabhängig von der Intelligenz (vgl. van Ijzendoorn et al., 1995). Der Unterschied beruht wahrscheinlich auf einer höheren Selbstwirksamkeit der sicher gebundenen Kinder: Häufiges, verlässliches Verhalten einer erreichbaren Bezugsperson fördert akkurate, realitätsangepasste Repräsentationen der Umwelt, die ihrerseits Antizipation und Planung erlauben und dadurch entsprechendes Handeln erst möglich machen (vgl. Cassidy, 1999).
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Bindung und die Entwicklung von Sprache und Kognition
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5 Limitationen und Konsequenzen Während sich bei der Sprachentwicklung deutlichere Bezüge zeigten, fanden sich Vorteile in der kognitiven Entwicklung bei sicher gebundenen Kindern in der vorgestellten Studie erst, als die Einstufung der Bindungssicherheit durch zwei verschiedenartige Klassifikationsverfahren abgesichert wurde. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Differenzen zwischen den Kindergruppen eher gering sind, so dass Schlussfolgerungen nur mit entsprechender Vorsicht zu ziehen sind. Auch die unsicher gebundenen Kinder in der vorliegenden Studie leiden nicht an schwerwiegenden Sprachentwicklungs- oder kognitiven Defiziten. Dass aber unsichere Bindungen auch in einer nicht deprivierten, gesunden Mittelschichtstichprobe, wie sie hier vorliegt, schon mit einer nachweisbar ungünstigeren kognitiven und sprachlichen Entwicklung einherzugehen scheinen, lässt vermuten, dass dieser Einfluss noch zunimmt, wenn weitere Risikofaktoren, wie beispielsweise geringer sozioökonomischer Status, Entwicklungsverzögerungen oder andere klinische Probleme, hinzukommen. Im Aufgabenbereich der Intervention würden sich hier beispielsweise entsprechende Eltern-Kind-Trainings anbieten (vgl. Grossmann et al., 2003). Bereits in den ersten Lebensmonaten werden in der frühen Eltern-Kind-Interaktion die Grundlagen für die Bindungsentwicklung gelegt, wobei hier unter anderem die Sensitivität, die Eltern im Umgang mit ihren Kindern an den Tag legen, von Bedeutung ist. Insofern können also schon die Interaktionen, die der Bindungsentwicklung vorausgehen, einen prägenden Charakter haben. Die Art der Bindung wiederum beeinflusst (zusammen mit weiteren Parametern, wie beispielsweise der Ausgestaltung der materiellen Umgebung) die nachfolgende sprachliche und kognitive Entwicklung, aus der sich wiederum wichtige Voraussetzungen für den späteren Bildungserwerb ergeben. Daneben kann ein indirekter Einfluss der Bindungssicherheit vermittels der Selbstwirksamkeit vermutet werden: Nur wenn man glaubt, durch eigenes Handeln etwas verändern zu können, wird man motiviert sein, seine Bildungskarriere im „lebenslangen Lernen“ fortzuführen. Der Bildungserwerb ist also von den vorausgehenden Entwicklungsschritten abhängig, wobei allerdings einschränkend zu sagen ist, dass lediglich Wahrscheinlichkeiten in die eine oder andere Richtung erhöht werden, jedoch keine deterministischen Zusammenhänge bestehen.
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Monika Knopf und Thorsten Kolling
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 (Neo-)nativistische Entwicklungskonzeptionen
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Anregung von Lern- und Bildungsprozessen bei Säuglingen: Frühes Imitationslernen
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
In den letzten Jahrzehnten dominiert in der Entwicklungspsychologie des Säuglingsalters ein EntAufgabenbereiche wicklungsmodell, das unterstellt, dass ein für die Entwicklung gut ausgestatteter Säugling geboren wird. Diese Grundausstattung bezieht sich sowohl auf die Entwicklung des kindlichen Verständnisses von Personen wie auch auf den Aufbau des Wissens über die Welt. Eine erste Sichtweise innerhalb dieses Entwicklungsmodells geht davon aus, dass angeborene Wissensbestände existieren, die im Kern dem Wissen Erwachsener entsprechen, so z. B. das physikalische Wissen von Säuglingen (Spelke, Breinlinger, Macomber & Jacobson, 1992). Jedoch unterlägen Neugeborene noch kognitiven Einschränkungen, welche im Laufe der Entwicklung reifungsbedingt abnähmen und die Kinder zunehmend über entsprechendes Wissen verfügten. Extern angeregte Lern- und Bildungsprozesse haben in dieser Entwicklungskonzeption eine marginale Bedeutung. So sehen Premack und Premack (2004) in ihrer frühkindlichen Bildungstheorie angeborene Wissensbestände in unterschiedlichen Entwicklungsbereichen (z. B. Sprache, numerische Entwicklung, Moralentwicklung) als bedeutsam an, die den Entwicklungsgang in den ersten fünf Lebensjahren steuern. Eine zweite Sichtweise geht davon aus, dass vielmehr angeborene Verhaltenstendenzen und Lernmechanismen bestehen, welche die frühe Entwicklung steuern. Damit ist diese stark kanalisiert, jedoch wird dem Lernen eine entscheidende Bedeutung für den Entwicklungsverlauf beigemessen (vgl. z. B. Meltzoff & Decety, 2003; vgl. auch Krist, Natour, Jäger & Knopf, 1998). Vor diesem Hintergrund erscheinen die Beschreibung zentraler, grundlegender Verhaltenstendenzen und Lernmechanismen, deren Entwicklung und deren Wirkungen als interessant. Dies soll hier für das Imitationslernen exemplarisch diskutiert werden, das in aktuellen entwicklungspsychologischen Studien mit Säuglingen als zentral und effektiv erachtet wird.
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2 Imitation als Lernmechanismus im Säuglingsalter Dass Neugeborene soziale Wesen sind, die nicht nur der Fürsorge für ihr Überleben bedürfen, sondern bereits in den ersten Lebensstunden von sozialen Reizen, wie beispielsweise dem menschlichen Gesicht angezogen werden, wird seit längerem intensiv untersucht. In jüngster Zeit ist vor allem durch die Arbeitsgruppe von Meltzoff ein weiterer, angeborener Lernmechanismus, dem bereits Piaget Beachtung geschenkt hatte, systematisch beschrieben worden, nämlich das Imitationsverhalten. Im Rahmen von Studien mit wenigen Stunden alten Säuglingen wurden direkte, sehr differenzierte und an das Verhalten des Modells angepasste Imitationen von Gesichtsgesten beobachtet (vgl. für eine Übersicht Meltzoff, 2002). Diese Befundlage inspirierte Meltzoff zur Entwicklung eines neuen Modells der Grundlagen kognitiver wie sozialer Entwicklung, welches die Repräsentation von Handlungen in den Mittelpunkt stellt. Es geht von einer angeborenen Ausstattung aus, die bewirkt, dass Säuglinge beobachtete Handlungen mit selbst ausgeführten als identisch speichern (Meltzoff, 2005). Jene enge Verwobenheit wird auch deswegen als plausibel erachtet, weil die Verarbeitung beobachteter und ausgeführter Handlungen wahrscheinlich identische Gehirnstrukturen (Spiegelneuronen) nutzt. Durch die Verknüpfung von eigenen Handlungen mit inneren, mentalen Zuständen gelangen Säuglinge im Verlauf der Entwicklung auch zu einer Vorstellung von den inneren Zuständen anderer Personen. Mit zunehmender Entwicklung der Säuglinge finden sich Imitationen auch zeitlich entkoppelt von der Anwesenheit des Modells, verzögerte Imitationen werden beobachtet. Verzögerte Imitation wurde dabei weniger im Zusammenhang mit z. B. der Modellierung von Gesichtsgesten studiert, als vielmehr im Rahmen des Erwerbs von Handlungen und damit verbundenen deklarativen Gedächtnisleistungen. Im Untersuchungsparadigma zu den Anfängen des deklarativen Gedächtnisses demonstrieren Modelle neuartige, objektbezogene Handlungen (Zielhandlungen), die von Säuglingen beobachtet werden. Nach einer Verzögerungszeit von Minuten, Stunden oder Tagen erhalten die Säuglinge diese Objekte und die Ausführung der Zielhandlung(en) wird beobachtet. Durch den Vergleich des Spiels von Säuglingen, die eine Modellperson beobachtet haben, mit Altersgleichen, die kein Modell sahen (Basisrate des Zielverhaltens), wird die Güte des deklarativen Gedächtnisses bestimmt. Es gibt zwischenzeitlich viele Belege dafür, dass Säuglinge ab einem Zeitpunkt zu dem sie zu einfachen Handlungen mit Objekten überhaupt imstande sind (6 Lebensmonate), neue Handlungen durch Beobachtung erlernen und auch längere Zeit nach der Beobachtung erstmals zeigen, wobei allerdings eine genügende Anzahl von Demonstrationen dafür Voraussetzung ist (ca. 4 bis 6 Präsentationen). Mit zunehmendem Lebensalter werden mehr und komplexere Handlungen schneller erlernt, länger behalten sowie weniger Demonstrationen der Zielhandlungen benötigt (ca. 3 Präsentationsdurchgänge). Zudem werden insgesamt ausgedehntere Behaltenszeiträume (auch mehrere Wochen) gefunden. So fanden Kressley, Lurg und Knopf (2005) zum Beispiel in einer Studie mit 6 Monate alten Säuglingen nach einem Behaltenszeitraum von 30 Minuten bei zwei ein-
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Anregung von Lern- und Bildungsprozessen bei Säuglingen
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fachen, zwei Teilschritte umfassenden Handlungen jeweils mittlere Reproduktionsleistungen von M = 0.80 (SD = 0.45) für den ersten Teilschritt sowie M = 0.20 (SD = 0.45) für den zweiten Teilschritt (Kressley, Lurg & Knopf, 2005). In einer Längsschnittstudie, in der die Säuglinge in regelmäßigen Abständen wiederholt beobachtet wurden, zeigten Einjährige nach einem Behaltenszeitraum von einer halben Stunde eine mittlere Imitationsleistung von M = 4.00 (SD = 1.55) von 7 Teilhandlungen. Die gleichen Kinder zeigten mit 18 Monaten eine Imitationsleistung von M = 6.90 (SD = 1.85) von 12 Teilhandlungen. Die Zweijährigen der Längsschnittstudie erinnerten schließlich M = 17.82 (SD = 3.81) von 29 Teilhandlungen. Geschlechtsunterschiede fanden sich dabei keine. Dies zeigt, dass die Kinder zunehmend mehr Handlungen sehr schnell und effektiv erwerben und für längere Zeit im Gedächtnis verfügbar haben. In weiteren Analysen wurde die Frage nach der Stabilität dieser Gedächtnisleistungen gestellt. Dabei geht es darum, ob ein Säugling, der im Vergleich zu den anderen Säuglingen frühzeitig eine gute Gedächtnisleistung aufweist, in der weiteren Entwicklung auch eine gute Leistung zeigt oder ob die individuellen Leistungen nicht oder nur schwach zusammenhängen. Das statistische Maß für diesen Zusammenhang kann zwischen 0 (kein Zusammenhang) und 1 (perfekter Zusammenhang) variieren. In diesen Analysen zeigte sich, dass die Fähigkeit zur Imitation von 12 Monate alten Kindern kurzzeitig, d. h. nach einer Woche, bereits beachtlich stabil ist (r = .56), über längere Zeiträume sich jedoch erhebliche individuelle Entwicklungsdynamiken zeigen (zwischen 12 und 18 Lebensmonaten r = .23, zwischen 18 und 24 Lebensmonaten r = .38). Diese recht geringe längerfristige Leistungsstabilität ist auf noch nicht genau beschriebene interindividuelle Entwicklungsunterschiede zurückzuführen. Es ist ferner gefunden worden, dass Säuglinge die gezeigten Handlungen nicht ausschließlich kopieren, sondern diese in unterschiedlicher Weise „reflektieren“ und speichern. Eine Variation der Vorgabereihenfolge der Objekte beim Abruf im Vergleich zur Lernreihenfolge (gleich vs. verschieden) führte zu schlechteren Gedächtnisleistungen von 11 Monate alten Säuglingen bei verschiedener Abrufreihenfolge (Knopf, Kraus & Kressley, 2006). Dies weist darauf hin, dass offenbar Zusammenhänge zwischen den Einzelhandlungen konstruiert wurden. Zudem scheint sich zwischen dem 9. und 15. Lebensmonat die Fähigkeit von Säuglingen zu entwickeln, Intentionen der bzw. des Handelnden zu erkennen. Bei nicht erfolgreicher Realisierung einer Handlung durch das Modell (z. B. Herabfallen eines Gegenstands oder verbalem Kommentar wie z. B. „ups“) imitieren Säuglinge im zweiten Lebensjahr zunehmend mehr Handlungen im Sinne des intendierten und nicht des gesehenen Handlungsverlaufs. Säuglinge imitieren auch nicht alle Handlungsschritte gleich häufig. Bei einer Analyse imitierter versus nicht imitierter Handlungsschritte von 18 Monate alten Kindern fanden wir, dass zwar die ersten Schritte komplexerer Handlungen in aller Regel die besten Imitationsraten aufweisen, dass die Imitation eines Handlungsschrittes jedoch auch durch seine weiteren Merkmale bestimmt wird. So werden z. B. mit dem Handlungsergebnis in Zusammenhang stehende Handlungsschritte von 18 Monate alten Kindern stärker imitiert als beliebige, in keinem Zusammenhang stehende Handlungsschritte. In weiteren Studien muss eingehender untersucht werden, in welcher Weise die Säuglinge die gedächtnisrelevante Selektion von Handlungsschritten vornehmen.
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Monika Knopf und Thorsten Kolling
3 Anregung von Lernen durch Imitation Die aktuelle Imitationsforschung zeigt, dass Imitationslernen bereits bei Neugeborenen ein wichtiger Lernmechanismus ist und nicht erst bei älteren Kindern und Jugendlichen relevant wird. Die angeborene Tendenz, durch Imitation mit anderen in Kontakt zu treten, ergänzt weitere natürliche Tendenzen der wechselseitigen Kontaktaufnahme. Die vorliegenden Befunde zeigen, wie früh, vielfältig und effektiv Säuglinge durch Nachahmung Anderer lernen. Imitationslernen ermöglicht dabei Erfahrungen über das Selbst, die Anderen und die Welt, ohne dass dabei höhere kognitive Prozesse (Situationsanalyse, Handlungsentwürfe) wesentlich sind. Lernen ist mithin keineswegs an (verbale) Instruktion oder an höhere kognitive Prozesse geknüpft, wie so häufig angenommen wird. Es ist weiters demonstriert worden, dass die frühen Lernmechanismen einem Entwicklungsprozess unterliegen und immer individueller und spezifischer werden. Zudem scheinen Vorkehrungen zu existieren, die verhindern, dass Handlungen erworben werden, die eher zufälligen Charakter besitzen und nicht in das Handlungsrepertoire der Säuglinge aufgenommen werden sollten (z. B. benötigte Zahl der Wiederholungen für die erfolgreiche Übernahme von Handlungen). Da mit zunehmender Entwicklung Imitationslernen kognitiv fundiert zu werden scheint (Intentionen der bzw. des Handelnden, Bewertung von Teilhandlungen), erlangen kognitive Steuermechanismen des Imitationslernens stärkere Bedeutung. In der Analyse und Erforschung möglicher individueller Unterschiede beim frühen Imitationsverhalten von Säuglingen, die nicht nur angeboren sondern auch Ergebnis früher Erfahrungen sein können, sowie deren potenzieller Zusammenhänge mit spezifischen Entwicklungsdefiziten, liegt eine Perspektive weitergehender Forschungsarbeiten mit Säuglingen. Diese Erkenntnisse können mehr und mehr Grundlage der Beratung von Eltern darstellen, da den Eltern dieser frühe Lernmechanismus ihrer Säuglinge und Kleinkinder kaum bekannt ist.
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Anregung von Lern- und Bildungsprozessen bei Säuglingen
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Wolfgang Tietze
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Einleitung
Primärbereich
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des Vorschulbereichs
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Begriff. Der vorschulische Bildungsbereich ist eine der jüngeren, noch nicht durchgängig gefestigten Stufen in den öffentlichen Bildungssystemen der deutschsprachigen Länder. Der Begriff wurde Aufgabenbereiche um 1970 eingeführt und bezeichnet in einer engeren Bedeutung oft eine unmittelbar schulvorbereitend orientierte Förderung vor Beginn der Schulpflicht, z. B. in Form von Vorklassen für 5-Jährige. In einer weiter gefassten Bedeutung wurde er dann auf den Kindergartenbereich (3- bis 6-Jährige) ausgedehnt. Heute kann man unter vorschulischer Bildung alle öffentlich verantworteten und geförderten Bildungsangebote in Kindertageseinrichtungen wie auch in der Kindertagespflege verstehen, und zwar für Kinder von der Geburt bis zum Schuleintritt. Vorschulische Bildung und Erziehung findet nicht zuletzt auch in den Familien der Kinder statt. Entstehung: Institutionelle vorschulische Erziehung hat in den deutschsprachigen Ländern eine lange Tradition (vgl. Tietze, 1993), sie stand jedoch in ihren Anfängen kaum – und steht auch heute noch nicht durchgängig – unter dem Bildungsgesichtspunkt. Von wenigstens gleicher Bedeutung ist der Betreuungsaspekt. Ähnliches gilt für die öffentlich verantwortete Kindertagespflege (Jurczyk et al., 2004). Die Entstehung und Ausbreitung vorschulischer Angebote ist eng, wenn auch nicht nur, mit den im Zuge der Industrialisierung im 19. Jh. sich verändernden Familienstrukturen und der Notwendigkeit mütterlicher Erwerbstätigkeit in industriellen Arbeitsabläufen verbunden, die eine Nebenbei-Betreuung kleiner Kinder nicht mehr vorsahen. Die neu entstehenden Einrichtungen (Bewahranstalten, Kleinkinderschulen, Warteschulen) sollten mütterliche Erwerbstätigkeit und damit eine ökonomische und soziale Stabilisierung der Unterschichtshaushalte wie auch eine Erziehung der kleinen Kinder nach bürgerlichen (systemstabilisierenden) Ordnungsvorstellungen ermöglichen. Auch galt es einer physischen und psychischen Verwahrlosung vorzubeugen, Armenkassen der Gemeinden zu entlasten und das sich herausbildende Schulwesen von der teilweise übernommenen Bewahrfunktion für junge Kinder zu befreien (Paterak, 1999). Eine zweite Linie der Ausbildung und Ausbreitung vorschulischer Einrichtungen, hier nun explizit unter dem Bildungsgesichtspunkt, ist auf das Engste mit dem von Friedrich Fröbel begründeten „Kindergarten“ (1840) verbunden. Das Konzept prägte die Klein-
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kindpädagogik nicht nur in Deutschland und den deutschsprachigen Ländern. Ablesbar ist dies daran, dass der Begriff Kindergarten als Lehnwort oder in Übersetzung Eingang in viele Sprachen gefunden hat (z. B. span.: jardin d’infancia; russ.: detski sad). Die Ambivalenz zwischen Bewahr- und Bildungsfunktion prägte die Entwicklung der vorschulischen Einrichtungen, für die sich bei den 3- bis 6-Jährigen der Name Kindergarten, bei den unter 3-Jährigen der Name Krippe durchsetzte, bis weit in das 20. Jahrhundert. Sie ist auch heute noch spürbar, wenn beispielsweise die Bildungsförderung in Teilzeitkindergärten einer Bewahrfunktion von Ganztagskindergärten entgegengesetzt wird. Aktuelle Auffassungen gehen jedoch von einer integrierten Aufgabenstellung der Bildung, Betreuung und Erziehung aus. Aktuelle Verbreitung: Mit dem Strukturplan des Deutschen Bildungsrats (1970) wurde der Kindergarten zur Elementarstufe des gesamten Bildungssystems in (West-)Deutschland deklariert. Aufgrund der Platzknappheit stand sein Bildungsangebot noch um 1970 nur einem Drittel der Altersgruppe der 3- bis 6-Jährigen zur Verfügung und erst in den 1990er Jahren kam es im Zuge der Etablierung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz zu einem nachhaltigen Ausbau. Dieser Prozess wiederholt sich gegenwärtig für die Kinder im Alter von 1 bis unter 3 Jahren, für die ab dem Jahre 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kita bzw. Kindertagespflegestelle vorgesehen ist (KiföG, 2008). Aktuell besuchen rund 90 % der 3- bis 6-Jährigen einen Kindergarten; von den unter Dreijährigen werden 15,3 % in einer Einrichtung und 2,5 % in der Kindertagespflege betreut (Statistisches Bundesamt, 2008). In Österreich sind es 84,9 % der 3- bis 5-Jährigen und 11,8 % der 0- bis 2-Jährigen (Stanzel-Tischler & Breit, 2009). In der (deutschsprachigen) Schweiz variiert die Kindergartenbetreuungsquote stark nach Kantonen. Im Allgemeinen besuchen über 90 % der Kinder zwei Jahre vor der Schule einen Kindergarten (Bundesamt für Statistik, 2008). Institutionell-organisatorische Merkmale: Der Besuch von Kindertageseinrichtungen (Kindergärten, Krippen) erfolgt freiwillig auf Wunsch der Eltern und ist im Gegensatz zu den sonstigen Institutionen der Allgemeinbildung im Regelfall beitragspflichtig. Das pädagogische Personal hat in den deutschsprachigen Ländern im Gegensatz zu dem der anderen Bildungsstufen – und auch im Gegensatz zur Situation in den meisten anderen europäischen Ländern (OECD, 2006) – keine akademische Ausbildung. Eine solche wird erst in den letzten Jahren diskutiert und angestrebt. Gegenwärtig existieren in Deutschland an ca. 60 (Fach-)Hochschulen BA-Studiengänge für Erzieherinnen und Erzieher (Viernickel, 2008). Gleichgerichtete Initiativen finden sich in Österreich (Stanzel-Tischler & Breit, 2009). Die administrative Zuordnung der Kindertageseinrichtungen tendiert nach wie vor stärker zum Sozial- als zum Bildungsbereich. In den zurückliegenden Jahren haben alle deutschen Bundesländer curriculare Rahmenpläne für die vorschulische Bildung erlassen (BMFSFJ, 2006); in Österreich wird gegenwärtig der Weg zu einem bundesländerübergreifenden Bildungs-Rahmenplan beschritten (Stanzel-Tischler & Breit, 2009). Bildungsforschung: Bildungsforschung im Vorschulbereich stellt bislang ein eher vernachlässigtes Feld dar. Ein Grund dürfte in der geringen Verankerung vorschulischer
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Bildung an den Universitäten zu sehen sein. Lehrstühle für die Pädagogik der frühen Kindheit gibt es in den deutschsprachigen Ländern in weniger als einem Dutzend von Universitäten. In der Psychologie werden Bildungsfragen im frühen Kindesalter in manchen Fällen im Rahmen der Entwicklungs- und Pädagogischen Psychologie bearbeitet. Mangels einer hinreichend breiten und stabilen Forschungsinfrastruktur für den vorschulischen Bereich an den Hochschulen sind die meisten (empirischen) Forschungen in der Vergangenheit im Kontext bildungspolitischer Reformvorhaben im Vorschulbereich durchgeführt worden (Fried, Roßbach, Tietze & Wolf, 1992). Der damit verbundene bildungspolitische Handlungsdruck und die politischen Vordefinitionen haben nicht selten zu Forschungen mit unbefriedigenden Designs und Methoden geführt, so dass auf weiten Strecken ein Rückstand besonders gegenüber der anglo-amerikanischen Forschung konstatiert und bei einem Überblick über den aktuellen Erkenntnisstand vorwiegend auf ausländische Untersuchungen zurückgegriffen werden muss.
2 Theorien der frühen Bildung und Erziehung Theorien der frühen Bildung und Erziehung, verbunden mit der Idee, Kinder durch darauf bezogene Curricula und Materialien entsprechend zu fördern, entstehen im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert, sieht man einmal von Comenius’ früher Schrift „Informatorium der Mutterschul“ (Neumann, 2006) ab. Sie basieren allerdings nicht auf bestimmten Lern- und/oder Entwicklungstheorien. Vielmehr handelt es sich um holistische Konzepte, die sich aus (unterschiedlichen) philosophisch-weltanschaulichen Quellen speisen, gleichwohl intuitiv Eigentümlichkeiten und Entwicklungsbesonderheiten des kleinen Kindes berücksichtigen, die auch nach heutigen Auffassungen von Bedeutung sind. Zu den klassischen Ansätzen gehören die folgenden: Fröbel-Pädagogik: Inspiriert von der Idee der Einheit von Individuum, Gott und Natur sah Friedrich Fröbel (1782–1852) ein Ziel darin, diese Einheit dem Kind anbahnend im Spiel erfahrbar zu machen. Er schuf Materialien („Spielgaben“, „Baugaben“), wie Ball, Kugel, Zylinder, verschieden zugeschnittene Würfel, Legetäfelchen, Flecht- und Faltblätter und Perlenspiele als symbolischen Ausdruck dieser Idee. Im angeleiteten Spiel und in Beschäftigungen, zu denen auch Bewegungs- und Kreisspiele sowie Gartenarbeit gehörten, sah er die für diese Altersstufe angemessene Auseinandersetzung des Kindes mit der Welt. Er bildete seit 1839 „Spielführer“ aus und schuf die Grundlage für den Beruf der Kindergärtnerin, des Kindergärtners. Der Fröbel-Kindergarten war bis weit ins 20. Jahrhundert die führende Konzeption in der Früherziehung (vgl. Heiland, in Thenorth, 2003).
Ähnlich wie Fröbel betrachtet auch Montessori die kindliche Entwicklung als einen natürlichen Entfaltungsprozess. Die frühkindliche Bildung resultiert jedoch weniger aus der Auseinandersetzung mit Materialien, die abstrakte Symbole und Prinzipien repräsentieren, sondern ist im Kern Sinnesschulung.
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Montessori-Pädagogik: Vielfältige von Maria Montessori (1870–1952) entwickelte Materialien sind vom Kind in einer bestimmten Weise zu nutzen, sie sind selbstkorrigierend, eine Anleitung durch eine erziehende Person ist nicht erforderlich. Die Entwicklung des Kindes verläuft für Montessori innengesteuert. Sie kann jedoch von außen beeinflusst werden: Indem eine Pädagogin, ein Pädagoge die Umgebung des Kindes so gestaltet, dass sie zu den Entwicklungsstadien, den sensiblen Perioden, passt, werden dem Kind die Erfahrungen ermöglicht, die seine Entwicklung vorantreiben (vgl. Böhm, in Thenorth, 2003).
Ein dritter klassischer Ansatz der Kindergartenpädagogik, der sich wie die MontessoriPädagogik gegenwärtig einer gewissen Renaissance erfreut, wird im Waldorf-Kindergarten verkörpert. Waldorf Pädagogik: Nach der anthroposophischen Grundlegung Rudolf Steiners (1861–1925) mit ihrem ganzheitlichen Menschenbild vollzieht sich die individuelle Entwicklung in Siebenjahresstufen, wobei der junge Mensch auf den drei Stufen bis zum 21. Lebensjahr ein jeweils neues Leib-Geist-Seele-Wesen darstellt. Im ersten Jahrsiebt, dessen Ende durch den Zahnwechsel markiert wird, steht nach anthroposophischer Auffassung die äußere körperliche Nachahmung im Zentrum kindlicher Tätigkeit. Das junge Kind ist dabei im Hinblick auf Leib, Geist und Seele durch einen hohen Grad an Plastizität gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund gilt es, dem Kind harmonische Sinneseindrücke zu vermitteln mit runden Formen, sanften Farben, wohltuenden Klängen und Bewegungen (Eurythmie). In Spiel, Lied und Ausdrucksgestalten wie auch in selbst geschaffenen Werkprodukten und Festen und Feiern sollen möglichst lebendige Eindrücke vermittelt werden, die die im Kind schlummernde Fantasie anregen sollen. Naturmaterialien in ihrer Einfachheit und Schönheit (z. B. schöne Steine, Kastanien, Holzwurzeln) sind Materialien der Wahl. Vorgefertigtes Spielzeug und Material verfällt der Kritik. Der erziehenden Person und ihrer Vorbildfunktion kommt im Waldorf-Kindergarten eine überragende Bedeutung zu (vgl. Ullrich, in Thenorth, 2003).
Während viele Elemente der Fröbelpädagogik in modernen Konzepten aufgegangen sind, haben Montessori- und Waldorf-Kindergärten ihre Identität bewahrt. Das Bedürfnis von Eltern nach solchen ganzheitlichen Erziehungskonzepten für ihre jungen Kinder ist offensichtlich in den letzten Jahrzehnten gewachsen. In Deutschland existieren gegenwärtig etwa 600 Waldorf- und 600 Montessori-Kindergärten. Beide Ansätze sind weltweit vertreten. Im Verlauf des 20. Jh. lässt sich zunehmend eine Anbindung der Frühpädagogik an einzelwissenschaftliche Ansätze beobachten. Dominant wurde in der ersten Hälfte des 20. Jh. die Anbindung an eine reifungstheoretisch orientierte Entwicklungspsychologie. G. Stanley Hall und sein Schüler Arnold Gesell versuchten reifungstheoretisch begründete Entwicklungsnormen für die unterschiedlichen Altersstufen zu etablieren (Nourot, 2005). Im Kern ging es darum, die jeweils erreichte Entwicklungsstufe eines Kindes mit
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den jeweiligen Fertigkeiten zu bestimmen und auf dieser Grundlage den folgenden erzieherischen Prozess zu gestalten. In einer gewissen Weise fand dieser Ansatz im Konzept der „Developmentally Appropriate Practices“ ab Mitte der 1980er Jahre eine Fortsetzung. Reifungstheoretisch begründete Auffassungen mit der Vorstellung, dass Pädagogik die naturgegebene Entfaltung sicherzustellen und den Einfluss störender Umwelteinflüsse abzuwehren habe, bestimmten die theoretischen Orientierungen der Kindergartenpädagogik im deutschsprachigen Raum bis in die späten 1960er Jahre. Reifungstheoretische Kindergartenpädagogik: „Wir wirken dem Treibhausklima der modernen Welt, die das Kind zu einer vorzeitigen Differenzierung seiner ganzheitlichen Antwort auf den Eindruck der Umwelt drängt, entgegen. … Wir sind überzeugt, einen pädagogischen Widerstand gegen die durch unsere Zeitumstände immer stärker vorangetriebene Frühreife setzen zu müssen“ (Hoffmann, 1968; zitiert nach Tietze, 1993, S. 109).
Die milieu- und lerntheoretische Wende in der Frühpädagogik mit der Betonung früher Anregungen war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits voll im Gange (vgl. Roth, 1968). Die bis dahin geltende reifungstheoretisch begründete, auf Spielpflege und freie Entwicklung des Kindes angelegte Kindergartenpädagogik wurde als „inaktive Zuschauerpädagogik“, die Kindergärten selbst als Einrichtungen diskreditiert, in denen die Kinder „künstlich dumm gehalten“ würden und „vergammelten“ (Lückert, 1967; zitiert nach Tietze, 1993, S. 111). Die didaktische Umsetzung der neuen Anschauungen fand ihren Niederschlag im sog. funktionsorientierten Ansatz (vgl. Retter, 1978). Funktionsorientierter Ansatz: Im Gegensatz zu holistischen Konzepten bildet das Kind in dieser Perspektive einen psychologischen Apparat, dessen Einzelfunktionen (z. B. Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Sprache, Bewegung, Empathie) durch gezieltes, letztlich aber auch isoliertes Training zu verbessern sind. Der Ansatz führte zu einem Boom an Lernspielen, Arbeitsblättern, Legematerialien, Puzzles, Memories, Lottospielen und Frühleseprogrammen und war im Engeren auf Schulvorbereitung gerichtet. Die Integration in ein didaktisches Konzept bleibt offen.
Diese Funktionalisierung kindlicher Erfahrung auf ein „Später“ (Schule, spätere Bildungskarriere) wurde im Situationsansatz, der ab Mitte der 1970er Jahre und weitgehend bis heute die Kindergartenpädagogik prägt, zurückgenommen (vgl. Zimmer, 2000; Knauf, 2006). Situationsansatz: Die Kinder sollen bei der Bewältigung ihrer aktuellen Lebenssituationen unterstützt werden. Diese sollen von den Kindern in Diskursen zusammen mit der erziehenden
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Person und in der handelnden Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglichen Umwelt selbst definiert werden. Das Kind, gekennzeichnet durch Spontaneität und Neugier, wird als aktiver Gestalter seiner Umwelt betrachtet; Neugier und Wissbegier werden umgekehrt durch eine an Entwicklungsanreizen und Entfaltungsmöglichkeiten reiche Umwelt gefördert. Das Lernfeld ist nicht auf das enge institutionelle Setting begrenzt. Es geht vielmehr auch um eine Öffnung zu den vielfältigen außerinstitutionellen Lebensbezügen des Kindes, um generationsübergreifendes Lernen und um eine Öffnung des Kindergartens zum Gemeinwesen. Funktionsbereiche wie Wahrnehmen, Sprache, Motorik, Denkfähigkeit werden nicht isoliert trainiert, sondern in Aneignungsprozessen, die an lebensnahes praktisches Handeln gebunden sind, gefördert (Zimmer, 2000). Die übergeordneten Kompetenzen, die das Kind erwerben soll, werden häufig mit der Chiffre „Ich-Autonomie“, „(Sach-)Kompetenzen“ und „Solidarität“ gefasst.
Die Debatte um pädagogische Ansätze (zu denen auch die Reggio-Pädagogik, das Konzept der offenen Kindergartenarbeit oder der Wald-Kindergarten gehören) wird vorwiegend als Konzeptdebatte geführt. Studien über die konkrete Umsetzung der Konzepte, ebenso solche zu den Effekten bei Kindern fehlen weitestgehend. Insofern fehlt den anhaltenden Debatten um die am besten geeigneten pädagogischen Ansätze weitgehend die empirische Erdung.
3 Konzeptueller Rahmen für frühpädagogische Bildungsforschung Mit den holistischen pädagogischen Ansätzen korrespondieren in methodischer Hinsicht Forschungskonzeptionen, die global nach dem Effekt eines Ansatzes oder auch der Tatsache einer frühen Bildung, Betreuung und Erziehung (BBE) überhaupt fragen. Das
Input
Output
Output kurzfristig
Schule
Output mittel-/langfristig
Kindertagesbetreuung
Kinder
Orientierungsqualität z. B. Auffassungen über Bildung und Erziehung
Strukturqualität z. B. Gruppengröße, Erzieherausbildung
Prozessqualität Bildung, Erziehung und Betreuung
Kindlicher Entwicklungsstand Bewältigung von Entwicklungsaufgaben; Sozio-emotionale, sprachliche, kognitive Entwicklung
Kindlicher Bildungsstand
Kontext
Abbildung 1: Konzeptueller Rahmen für die Analyse vorschulischer Bildung und ihrer Effekte
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„Treatment“ ist die Teilnahme versus Nicht-Teilnahme (oder Teilnahme der Vergleichsgruppe an einem alternativen Programm) (vgl. Hayes, Palmer & Zaslow, 1990). Solche Untersuchungen haben zwar, speziell im Kontext globaler bildungspolitischer Entscheidungen, ihren Stellenwert (vgl. Kap. 4.1); sie lassen jedoch die näheren pädagogischen Bedingungen und Prozesse außer Acht. Vor diesem Hintergrund haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten differenziertere Forschungskonzeptionen entwickelt, die die „Blackbox“ familienexterner Betreuungssettings in verschiedene qualitative Charakteristika auflösen und damit die pädagogische Qualität in ihren verschiedenen Facetten und in ihrem Einfluss auf kurz- wie mittel- und langfristige Bildungseffekte von Kindern untersuchbar machen (vgl. Abbildung 1). Üblicherweise werden drei größere Qualitätsbereiche unterschieden: Prozess-, Strukturund Orientierungsqualität (vgl. Tietze, Roßbach & Grenner, 2005). Prozess-, Struktur- und Orientierungsqualität: • Prozessqualität erstreckt sich auf die Interaktionen und Aktivitäten, die das Kind tagtäglich in der Kindergartengruppe mit der erziehenden Person, den anderen Kindern und seiner räumlich-materialen Umwelt macht. Sie repräsentiert die zum Kind „proximalen“ Merkmale im Kindergartensetting. • Strukturqualität bezeichnet demgegenüber „distale“ Bedingungen. Diese bilden einen Rahmen für das Interaktionsgeschehen. Dazu gehören Merkmale wie Gruppengröße, Erzieher/Kind-Schlüssel, Qualifikation des pädagogischen Personals und räumlich-materiale Bedingungen. • Orientierungsqualität beinhaltet das jeweilige Curriculum, die einrichtungsspezifische Konzeption, wie auch allgemeine Erziehungseinstellungen, Ziele und Werte des Fachpersonals und dessen Bild vom Kind.
Der konzeptuelle Rahmen verdeutlicht weiter, dass Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen und unterschiedlichem familialen und sozialen Hintergrund in das System eintreten können. Letzteres ist seinerseits in bestimmte Kontextbedingungen eingebettet. Von Interesse sind nicht nur kurzfristige (während der Vorschulzeit gegebene), sondern auch mittel- und langfristige Bildungsoutcomes bei den Kindern, wobei im Hinblick auf letztere auch die Qualität der an die vorschulische Bildung anschließenden Schule zu berücksichtigen ist. Besonders bei den langfristigen Outcomes spielen nicht nur pädagogisch-psychologische Maße in der kognitiv-schulleistungsbezogenen und der sozialen Domäne eine Rolle, sondern auch „molare“ Maße wie allgemeiner Schulerfolg und breite Indikatoren des Lebenserfolgs, z. B. späteres Einkommen, Abhängigkeit von sozialer Wohlfahrt, Kriminalität (vgl. Schweinhart et al., 2005). Bei all dem wirken weitere Einflüsse mit, besonders solche der Familie, die anders als in den wenigen experimentellen Studien (Campbell, Ramey, Pungello, Sparling & Miller-Johnson, 2002; Ramey et al., 2000; Schweinhart et al., 2005) in den vorherrschenden Feldstudien mit ihren natürlichen Bedingungen kaum vollständig zu kontrollieren sind. Mit Bezug auf diesen konzeptuellen Rahmen werden im Folgenden wichtige Forschungsfragen und darauf bezogene empirische Befunde nachgezeichnet.
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Empirische Befunde
4.1 Institutionelle BBE und späterer Bildungserfolg Verschiedene Untersuchungen verweisen darauf, dass allein die Tatsache und die Dauer des Kindergartenbesuchs in einem positiven Zusammenhang mit dem weiteren Schulerfolg stehen. In einer früheren für Nordrhein-Westfalen repräsentativen Untersuchung an über 200 Grundschulklassen fand Tietze (1987), dass – bei Kontrolle anderer Faktoren – die Quoten der Zurückstellungen bei Schulbeginn, der Sitzenbleiberinnen und Sitzenbleiber und der Überweisungen zur Sonderschule während der Grundschulzeit aus Grundschulklassen mit einem höheren Anteil kindergartengeförderter Kinder geringer ausfielen. Caille (2001) berichtet, dass der Besuch der école maternelle in Frankreich die Sitzenbleibquoten von Kindern aus benachteiligten Familien bzw. solchen mit Migrationshintergrund um 9 bis 17 % reduziert. Büchner und Spieß (2007) fanden in einer aktuellen Untersuchung auf der Basis des sozio-ökonomischen Panels (SOEP), dass die Wahrscheinlichkeit eine Hauptschule zu besuchen, mit zunehmender Dauer des Besuchs einer Kindergarteneinrichtung abnimmt. In der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU-Studie) ergab sich, dass Leistungen von Viertklässlerinnen und -klässlern in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften bei längerer Dauer der Kindergartenzeit höher ausfielen (Bos et al., 2003). Zusammen genommen verweisen solche Befunde auf die Bedeutung der Teilnahme an und die Dauer von vorschulischer Bildung für den weiteren Bildungserfolg.
4.2 Faktoren für die Teilnahme an vorschulischer BBE Solche Befunde werfen die Frage nach den Gründen für die Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme an vorschulischer Erziehung auf, die anders als bei der gesetzlich geregelten Schulpflicht der Entscheidung der Eltern obliegt. Im Rahmen eines „Economics of Child Care“-Forschungsstranges, der sich seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum zu etablieren beginnt, wird die Beteiligung an familienexterner BBE im Rahmen einer Nutzenfunktion gesehen: Familien (Mütter) entscheiden danach über das Ob (und die tägliche Dauer) einer familienexternen Betreuung in Abhängigkeit von den Kosten dieser Betreuung, ihrer (subjektiv wahrgenommenen) Qualität sowie dem durch die familiale Betreuungsentlastung erzielbaren höheren Einkommen (Meyers & Jordan, 2006). Daraus resultiert z. B., dass bei mehreren kleinen Kindern die Kosten für eine familienexterne Betreuung derart ansteigen, dass der Nutzen einer mütterlichen Erwerbstätigkeit gegen Null tendiert oder auch negativ werden kann. Mit höherem ökonomischen Nutzen argumentiert auch die Humankapitaltheorie zur Erklärung der frühen Beteiligung von Kindern aus Familien mit höherem Einkommen und besserem Bildungshintergrund: Vergleichsweise geringe Kosten frühkindlicher Bildung stehen (begründeten) Nutzenerwartungen für die weitere Bildungskarriere und die spätere Einkommenssituation der Kinder gegenüber (vgl. Becker & Lauterbach, 2004). Psychologische und kulturelle Einflussfaktoren, Verfügbarkeit von Angeboten im Nahraum werden in diesen ökonomischen Modellen nicht berücksichtigt.
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Erweiternde sozialökologische Erklärungsansätze betonen dementsprechend die Bedeutung von Einstellungen und Orientierungen von Eltern, die Verfügbarkeit von Angeboten wie auch die Akzeptanz und Bewertung von Alternativen im sozialen Umfeld von Eltern (Meyers & Jordan, 2006). Empirische Befunde zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit einer familienexternen Betreuung höher ausfällt, wenn die Mutter erwerbstätig ist und einen höheren Bildungsstand aufweist, wenn ein höheres Haushaltseinkommen gegeben ist, das Kind aus einer Einoder Zweikind-Familie stammt, die Eltern die Kinderbetreuung mit einer Bildungserwartung verknüpfen, eine Förderung der Selbstständigkeit des Kindes durch die Kita erwarten und höhere Betreuungsquoten im Umfeld gegeben sind. In vielen Fällen ist das Alter des Kindes ein moderierender Faktor; d. h., die Zusammenhänge stellen sich je nach Altersstufe der Kinder unterschiedlich dar (vgl. BMFSFJ, 2006; Geier & Riedel, 2008). Elterliche Orientierungen können allerdings nicht nur als Einflussfaktoren für Betreuungsentscheidungen, sondern auch als Konsequenzen vorhandener Gegebenheiten des Betreuungsangebots interpretiert werden (vgl. Klement, Müller & Prein, 2006). Auch ist zu erwarten, dass sich mit der diachronen Entwicklung des öffentlichen Betreuungssystems Einstellungen, Werte, Orientierungen und konkrete Verhaltensweisen von Eltern bezüglich der frühen BBE ihrer Kinder verändern.
4.3 Erfassung der Qualität pädagogischer Prozesse und ihre Beziehung zur Struktur- und Orientierungsqualität Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass der Qualität pädagogischer Prozesse eine besondere Bedeutung für Bildungsergebnisse bei den Kindern zukommt. Ihre Erfassung ist aufwändig, da sie direkte Beobachtung voraussetzt. Das international am weitesten verbreitete Instrument für den Kindergartenbereich ist die Early Childhood Environment Rating Scale (ECERS-R) von Harms, Clifford und Cryer (2005), das auch in einer deutschsprachigen Fassung vorliegt (Tietze, Schuster, Grenner & Roßbach, 2007). Zusammen mit seinen Varianten für den Krippen- und Tagespflegebereich (Krippen-Skala, Tagespflege-Skala) ergibt sich ein Instrumentenset für den gesamten Vorschulbereich. Besonders im anglo-amerikanischen Bereich liegen eine Reihe weiterer Instrumente vor. Sie unterscheiden sich u. a. darin, welche Aspekte von pädagogischen Prozessen im Mittelpunkt stehen und ob eher die Qualität für einzelne Kinder oder jeweils die gesamte Kindergruppe fokussiert wird (vgl. Tietze, 2008a). Zahlreiche Untersuchungen belegen einen substanziellen Zusammenhang zwischen der Prozessqualität und verschiedenen (vorgelagerten) Bedingungen der Struktur- und Orientierungsqualität. Häufig untersucht wurde der Zusammenhang zwischen der Qualifikation des pädagogischen Personals und der beobachtbaren Prozessqualität. Bei pädagogischem Personal mit formal höheren Bildungsabschlüssen und spezieller fachbezogener Ausbildung findet sich eine höhere Prozessqualität (Cost, Quality & Child Outcome Study Team (CQO), 1995; NICHD ECCRN, 2002b; Pianta et al., 2005; Goelman et al., 2006).
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Die Bedeutung der Ausbildung findet sich auch für die Qualität in der Kindertagespflege (Burchinal, Howes & Kontos, 2002). Andererseits wurden in einer der umfassendsten Studien in sieben US-Bundesstaaten keine Beziehungen zwischen der Prozessqualität und dem Ausbildungs- und Weiterbildungsniveau des pädagogischen Personals gefunden (Early et al., 2007; LoCasale-Crouch et al., 2007). Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass ein gutes Ausbildungsniveau eine notwendige, für sich aber keine hinreichende Bedingung darstellt, um gute Prozessqualität zu sichern. Angesichts der Widersprüchlichkeit und Komplexität der Forschungslage erstaunt es, dass die gegenwärtig zu verzeichnenden vielfältigen Ansätze zur Reform der Erzieherausbildung in Deutschland freihändig und ohne Anspruch auf seriöse Evaluation realisiert werden (vgl. Viernickel, 2008). Zu den häufig untersuchten strukturellen Bedingungen gehören auch die Gruppengröße, der Erzieher/Kind-Schlüssel und die Bezahlung des pädagogischen Personals. Danach ist bei einem günstigeren Erzieher/Kind-Schlüssel eine bessere Prozessqualität gegeben (NICHD ECCRN, 2002a; Broberg, 1997; Cryer, Tietze, Burchinal, Leal & Palacios, 1999; Tietze et al., 2005). Tietze et al. (2005) fanden zudem höhere Prozessqualität bei besseren räumlichen Bedingungen und bei mehr Vor- und Nachbereitungszeit des pädagogischen Personals. Zahlreiche Studien verweisen auf höhere Prozessqualität bei besserer Bezahlung des pädagogischen Personals (Whitebook, Howes & Phillips, 1989; Goelman et al., 2006). Gute strukturelle Bedingungen bilden den Rahmen für hohe pädagogische Prozessqualität. Sie ermöglichen diese, „determinieren“ sie aber nicht. Ländervergleichende Studien zeigen, dass der Stellenwert struktureller Bedingungen je nach kulturellem Kontext unterschiedlich ausfallen kann (Clarke-Stewart, Lee, Allhusen, Kim & McDowell, 2006; Montie, Xiang & Schweinhart, 2006; Cryer et al., 1999). Auch für Aspekte der Orientierungsqualität wurden Zusammenhänge mit der Prozessqualität in Einrichtungen untersucht, auch wenn die Erziehungseinstellungen und -werte deutlich häufiger im Bereich familialer Erziehung untersucht wurden (vgl. Harkness, Super & van Tijen, 2000). In einer Studie von Burchinal und Cryer (2003) zeigten sich negative Effekte traditioneller, wenig individuumsbezogener Überzeugungen der Erzieherinnen und Erzieher auf die Prozessqualität. In der Untersuchung von Tietze et al. (2005) ergaben sich Tendenzen dahingehend, dass „späte“ Entwicklungserwartungen negativ und subjektorientierte Einstellungen der Erzieherinnen und Erzieher positiv mit pädagogischer Prozessqualität verbunden sind. Curricula mit einer eher kindzentrierten Orientierung führen zu einer besseren Prozessqualität in den Gruppen (Barnett et al., 2008). Variablen der Struktur- und Orientierungsqualität bilden einen Rahmen für die Interaktionen und Aktivitäten, die sich fördernd auf Bildung und Entwicklung der Kinder auswirken. Der Einfluss der einzelnen Bedingungen ist dabei meist eher gering; zusammen genommen bilden sie jedoch wirkmächtige Bündel. Nach Untersuchungen, die verschiedene Merkmale der Struktur- und Orientierungsqualität simultan betrachten, kann davon ausgegangen werden, dass 25 bis 50 % der Prozessqualität durch solche vorgelagerten Bedingungen erklärt werden können (Cryer et al., 1999; Tietze et al., 2005).
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4.4 Bildungsoutcomes in kurz-, mittel- und langfristiger Perspektive In der Mehrzahl der Studien werden Auswirkungen pädagogischer Qualität bzw. Zusammenhänge mit Bildungs- und Entwicklungsergebnissen der Kinder in kurzfristiger Perspektive, d. h. innerhalb der Vorschulaltersspanne untersucht. Kriteriumsmaße liegen sowohl im kognitiv-sprachlichen als auch im sozialen Bereich und schließen auch kritische Aspekte wie Verhaltensprobleme ein. In mittelfristiger Perspektive kommen meistens Schulleistungskriterien und Maße der sozialen Kompetenz und Integration wie auch solche des allgemeinen Schulerfolgs (z. B. Sitzenbleiben) hinzu. Unter den langfristigen Kriteriumsmaßen sind solche zu Bildungsabschlüssen im jungen Erwachsenenalter, der (Un-)Abhängigkeit von sozialer Wohlfahrt, des Beschäftigungsstatus und des Einkommens. Zum Teil handelt es sich um Feldstudien, die sich die gegebene Variabilität von Bedingungen zunutze machen, zum Teil um experimentelle Studien, bei denen bestimmte Qualitätsbedingungen hergestellt und überwacht werden, um ihre Effekte zu ermitteln. Die Studien unterscheiden sich auch danach, ob einzelne Qualitätsaspekte (z. B. des Curriculums) mit Outcomes in Verbindung gesetzt werden oder ganze Qualitätssyndrome (z. B. spezielles Curriculum, günstiger Erzieher/Kind-Schlüssel, besondere Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher).
Effekte im Vorschulalter Methodisch korrekt sollte bei den meisten der überwiegend nicht experimentellen Studien von korrelativen Zusammenhängen zwischen pädagogischer Qualität und Outcomes bei Kindern gesprochen werden, da nie alle anderen potenziellen Einflussfaktoren kontrolliert werden können. Die empirischen Ergebnisse sind in ihrer Zusammenschau jedoch so konsistent, dass von einer empirischen Evidenz der Effekte pädagogischer Qualität auf die sprachlich-kognitive und die soziale Förderung von Kindern ausgegangen werden kann. Die breit angelegte CQO-Studie (Peisner-Feinberg & Burchinal, 1997) zeigte Effekte pädagogischer Qualität auf Wortschatz und kognitive Fertigkeiten im Vorschulalter. Nach Befunden der NICHD-Längsschnittstudie ergeben sich bei höherer Qualität, speziell bei höherer Sensitivität und Responsivität der Erzieherinnen und Erzieher, günstigere Werte in der kognitiven und sprachlichen Entwicklung bei Vorschulkindern (NICHD ECCRN, 2000, 2002b, 2003). Bryant et al. (2003) fanden in einer Langzeitstudie, dass sich bei Verbesserung der pädagogischen Qualität die Schulfähigkeit der Kinder (Sprache, Literacy, mathematische Fertigkeiten) erhöhte. Gleichgerichtete Zusammenhänge finden sich auch in europäischen Studien. In der deutschen Studie von Tietze et al. (2005) ergab sich eine höhere Sprachleistung der Viereinhalbjährigen bei besserer (Strukturund Prozess-)Qualität. Die Autorin und Autoren schließen im Vergleich mit der altersabhängigen Entwicklung, dass die Qualitätsunterschiede im Extrem bis zu einem Jahr Entwicklungsunterschied bei den Kindern ausmachen. Stabile Beziehungen zwischen pädagogischer Qualität und der sprachlich-kognitiven Förderung werden auch in der vier Länder (Deutschland, Österreich, Portugal, Spanien) einbeziehenden ECCE-Studie (European Child Care and Education Study Group, 1999) und der englischen EPPE Studie (Sammons et al., 2002) berichtet (vgl. auch Roßbach, 2005). Im Gegensatz zur
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sprachlich-kognitiven Entwicklung sind die Ergebnisse im sozialen Bereich weniger konsistent. Verschiedene breit angelegte und international streuende Untersuchungen belegen, dass höhere Qualität mit einer besseren sozialen Entwicklung der Kinder verbunden ist (Burchinal & Cryer, 2003; Burchinal, Peisner-Feinberg, Bryant & Clifford, 2000; Tietze et al., 2005; ECCE-Study Group, 1999; Love et al., 2003). In der NICHD-Studie zeigte sich kein solcher Zusammenhang; hier war der Betreuungsumfang ein signifikanter Prädiktor, und zwar in dem Sinne, dass bei zeitlich längerer Betreuung die Kinder mehr Verhaltensprobleme im Alter von viereinhalb Jahren zeigten, ein Effekt, der bis zur 6. Klasse nachweisbar war (Belsky et al., 2007).
Mittel- und langfristige Effekte In der CQO-Studie zeigten sich bei höherer Qualität bessere kognitive Outcomes im Kindergarten, das ist die Eingangsstufe im amerikanischen Grundschulsystem, und die Sprach- und Mathematikleistungen dieser Kinder waren am Ende der 2. Klasse besser (Peisner-Feinberg et al., 2001). Ähnlich ergaben sich in der deutschen Studie von Tietze et al. (2005) bei Sechsjährigen vor dem Eintritt in die Grundschule eine höhere Sprachkompetenz und bessere Fertigkeiten in der Bewältigung von Alltagssituationen, wenn sie als Vierjährige einen qualitativ besseren Kindergarten besucht hatten. Gleich gerichtete Effekte wurden am Ende der 2. Klasse in Bezug auf Sprachkompetenz, Schulleistung, soziale Kompetenz und die Bewältigung von Alltagssituationen gefunden (vgl. auch ECCE Study Group, 1999). In der englischen EPPE-Längsschnittuntersuchung zeigten Kinder aus Gruppen mit höherer (domainspezifischer) Prozessqualität höhere Ausprägungen in Vorläuferfähigkeiten für Lesen, in der Entwicklung des Zahlbegriffes und im schlussfolgernden Denken. Im weiteren Verlauf verwischten sich diese Zusammenhänge überwiegend. In der 5. Klasse hatten jedoch die Kinder mit höherer und mittlerer Prozessqualität im Vorschulbereich höhere Schulleistungen in Lesen und Mathematik als die mit niedriger Prozessqualität. Letztere unterschieden sich in ihren Schulleistungen nicht von den Kindern ohne vorschulische Erziehung (Sammons et al., 2008). In der amerikanischen NICHD-Längsschnittstudie hatte die über mehrere Messzeitpunkte zusammen gefasste pädagogische Prozessqualität Auswirkungen auf die kognitiv-schulleistungsbezogenen Fähigkeiten der Kinder (Problemlösefähigkeit, Wortschatz, Satzgedächtnis) während der Grundschulzeit. Am Ende der 5. Klasse war dieser Effekt allerdings nur noch beim Wortschatz signifikant (NICHD ECCRN, 2005; Belsky, 2007). Experimentell angelegte, lang andauernde Längsschnitte wie das Abecederian Projekt und das Perry Preschool Project, letzteres mit dem vorläufig letzten Messzeitpunkt bei 40-jährigen Probandinnen und Probanden, wie auch das breit angelegte Child-Parent Center Program, alles Programme mit jeweils hoher Qualität, ergaben kognitive und soziale Förderung bis ins Erwachsenenalter. Dazu gehören bessere Schulabschlüsse, geringere Kriminalitätsraten, seltenere Abhängigkeit von sozialer Wohlfahrt und höhere Einkünfte (Campbell et al., 2002; Reynolds, Temple, Robertson & Mann, 2001; Schweinhart et al., 2005). Bei Langzeiteffekten früher Qualität spielt die Qualität der sich anschließenden Schule eine wichtige Rolle, die oft nicht kontrolliert wird (werden kann). In der für die USA repräsentativen Early Childhood Longitudinal Study (Kindergarten Cohort) glichen sich die Rückstände in schulischen Maßen von Kindern, die keine vorschulische Erzie-
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hung erfahren hatten, aus, wenn diese Kinder in ihrer Klasse qualitativ hochwertigen Leseunterricht erfuhren. Umgekehrt blieben die Differenzen bestehen, wenn die Kinder größere Grundschulklassen mit eher schlechtem Leseunterricht besuchten (Magnusson, Ruhm & Waldfogel, 2007). In der deutschen Untersuchung von Tietze et al. (2005), eine der wenigen Studien, in der die Kindergartenqualität und die Grundschulqualität erfasst wurden, zeigte sich, dass die Kindergartenqualität genauso viel Varianz in verschiedenen kognitiv-schulleistungsbezogenen Maßen am Ende der zweiten Grundschulklasse erklärte wie die aktuelle Grundschulqualität. 4.5 Curriculum Mit Recht wird den Inhalten eines Förderprogramms eine große Bedeutung zugemessen. Üblicherweise werden diese als Curriculum bezeichnet. Häufig ist ein spezielles Curriculum jedoch auch mit weiteren Rahmenbedingungen verbunden wie (günstiger) Erzieher/Kind-Schlüssel, spezielle Fortbildung, Supervision und Begleitung des pädagogischen Personals. Insofern versammelt sich unter dem Begriff Curriculum im Regelfall ein Cluster verschiedener Bedingungen. Empirische Untersuchungen zur Frage nach wirkungsvollen vorschulischen Curricula finden sich in den USA seit Beginn der 1970er Jahre, als sich der in die Förderwirkung des breit angelegten Head Start Programms gesetzte Optimismus nicht erfüllte. In der Folge wurden bestimmte Modellcurricula entwickelt und systematisch erprobt. Die größte Studie dieser Art war das Head Start Planned Variation Project, in dem Curriculumvergleiche an annähernd 40 Standorten unter Einbezug von rund 6.000 Kindern vorgenommen wurden (Datta, McHale & Mitchell, 1976). Die meisten Curricula lassen sich entlang einer Dimension verorten, deren einer Pol durch direkte Instruktion, Didaktisierung und Erzieherorientierung, deren anderer durch Kindorientierung, Individualisierung und selbstinitiiertes Lernen gekennzeichnet werden kann. Entscheidend für mögliche Effekte ist die Implementation eines Curriculums. Das tatsächlich realisierte Curriculum enthält damit beides, Komponenten der Orientierungs- und Strukturqualität wie auch Prozessqualität. Zu den wesentlichen Ergebnissen der genannten Studie gehört, dass die kurzfristigen Outcomes tendenziell den Intentionen des jeweiligen Curriculums entsprechen, dass die Förderung der Kinder im kognitiven Bereich durch die instruktionsbetonten Curricula eher nur kurzfristig und nicht von Dauer war (Datta et al., 1976). Ein solcher Befund zeigt sich auch in verschiedenen anderen, teils experimentellen Curriculumvergleichen (vgl. Barnett et al., 2008; für Deutschland vgl. Dollase, 2007). Indessen gibt es Hinweise, dass die Konsequenzen im sozial-emotionalen Bereich nachhaltiger ausfallen. In einer experimentellen Langzeitstudie mit drei verschiedenen Vorschulcurricula zeigten die Kinder, die am Curriculum nach dem Modell der direkten Instruktion teilgenommen hatten, weniger prosoziales und mehr antisoziales Verhalten und fielen im Jugend- und frühen Erwachsenenalter durch häufigere Delinquenz auf (Schweinhart & Weikart, 1997). Die Kinder mit direkter Instruktion schnitten zwar in Schulleistungsindikatoren in der 1. und 2. Klasse besser ab, in der 3. Klasse mit zunehmenden Anforderungen (Verständnislernen, einsichtsvolles Lernen) kehrten sich jedoch
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die Verhältnisse um. Die Kinder des kindzentrierten Piaget-Curriculums erwiesen sich im Hinblick auf Sprachverständnis und Problemlösen überlegen. In einer aktuellen experimentellen Studie von Barnett et al. (2008) fanden die Autoren, dass ein an Selbstregulierung des Kindes orientiertes Curriculum verbunden mit einer sozial eingebundenen Vermittlung von Sprach- und Mathematik-Vorläuferfähigkeiten mit besonderen Fortschritten der Kinder im akademischen und sozialen Bereich verbunden war. Im deutschsprachigen Raum sind außer der Untersuchung von Wolf, Becker und Conrad (1999) mit ihren gemischten Ergebnissen zum Situationsansatz keine größeren Curriculum-Untersuchungen im Vorschulbereich bekannt geworden. Bei der Frage der Wirksamkeit von Curricula muss mitbedacht werden, an wen sich das Programm wendet. Nach entsprechenden Metaanalysen scheinen kombinierte Programme, die die Förderung eines Kindes in einer Einrichtung mit einer Elternkomponente zur Stärkung von deren Erziehungskompetenz verbinden, die größte Förderungswirkung – speziell bei benachteiligten Kindern – zu haben (Blok, Fukkink, Gebhardt & Lesemann, 2005; Gorey, 2001). Von reinen Elternbildungsprogrammen, auch wenn solche Hausbesuche beinhalten, ist hingegen kaum eine nachhaltige (kognitive) Förderung der Kinder zu erwarten (Sweet & Appelbaum, 2004). Die institutionelle BBE erscheint damit als der Kern einer frühen Förderung der Kinder.
4.6 Verbesserung pädagogischer Qualität Angesichts der großen Bedeutung pädagogischer Qualität für Bildung und Entwicklung der Kinder stellt sich die Frage nach ihren Verbesserungsmöglichkeiten. Mit Bezug auf Abbildung 1 können solche in allen drei Qualitätsbereichen, Orientierungs-, Struktur- und Prozessqualität angesetzt werden. Die seit einigen Jahren in allen deutschen Bundesländern in Kraft gesetzten curricularen Rahmenpläne wie auch die Vorschrift, einrichtungsspezifische Konzeptionen zu entwickeln (vgl. BMFSFJ, 2006), sind Maßnahmen zur Verbesserung der Orientierungsqualität. Die Anhebung der Erzieherausbildung (Viernickel, 2008) und Vorschläge zur Verbesserung des Erzieher/Kind-Schlüssels (BMFSFJ, 2006) dienen der Verbesserung der Strukturqualität. In den genannten Fällen handelt es sich um die Verbesserung politisch regulierbarer Rahmenbedingungen. Daneben wird über vielfältige Fortbildungen und Trainings von Erzieherinnen und Erziehern versucht, die pädagogische Prozessqualität direkt zu verbessern und günstigere Outcomes bei den Kindern zu erzielen. Studien zur Wirksamkeit solcher Interventionen sind bislang im deutschsprachigen Raum nicht bekannt geworden. Fukkink und Lont (2007) fanden in ihrer Metaanalyse von 17 (quasi-)experimentellen Untersuchungen mit d = .45 einen mittleren positiven Trainingseffekt auf die pädagogische Kompetenz der Erzieherinnen und Erzieher (Prozessqualität) und einen ähnlich großen (d = .55) bei Childoutcome-Variablen; letzterer war angesichts der geringen Anzahl an Studien statistisch nicht signifikant. Die Autoren fanden differenzierend, dass Studien mit einem klar strukturierten Trainingsprogramm effektiver waren als Interventionen ohne ein solches und dass breit streuende Large Scale Interventionen weniger effektiv waren als engere, gut kontrollierte Ansätze. Die frühe Frage von Arnett (1989) „Does training matter?“ kann nach der gegebenen Forschungslage generell bejaht werden. Effekte hängen jedoch von der Art des Trainings, seiner Struktur, Form und Dauer ab.
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5 Ausblick Vorschulische BBE hat in den zurückliegenden Jahren eine starke quantitative Expansion, verbunden mit einem Bedeutungszuwachs der Bildungsfunktion erfahren. Die Betreuungsfunktion, die Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen soll, hat dadurch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Daneben haben die Einrichtungen früher BBE auch Rückwirkungen auf das emotional-soziale Beziehungsgefüge in den Familien und die Freundschafts- und Netzwerkbildungen von Kindern und Familien im sozialen Umfeld (Tietze et al., 2005), Aspekte, die bislang noch wenig systematisch untersucht sind. Die Effekte, die von einer qualitativ guten BBE der Kinder in Kindertageseinrichtungen auf ihre Bildung und Entwicklung ausgehen, sind bedeutend, dürfen andererseits in ihrem Stellenwert gegenüber dem Einfluss der pädagogischen Qualität in den Familien nicht überschätzt werden. Nach Schätzungen auf empirischer Grundlage kann davon ausgegangen werden, dass der Bildungseinfluss, der auf unterschiedliche pädagogische Qualität in den Familien zurück geführt werden kann, 2- bis 4-mal so groß ist wie jener durch Qualitätsunterschiede in den Einrichtungen (Tietze, 2008a). Die Anerkennung des Stellenwertes der Familie für die frühe Bildung von Kindern drückt sich in einer (auch international zu beobachtenden) Tendenz der Fortentwicklung von Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren (Eltern-Kind-Zentren) aus. Ziel solcher Familienzentren ist es, über niederschwellige Angebote für Eltern in Kindertageseinrichtungen deren Erziehungskompetenz zu stärken und damit neben der direkten Förderung von Kindern indirekt über die Familien zur Verbesserung ihrer Bildung und Lebenssituation beizutragen (Stöbe-Blossey, Mirau & Tietze, 2008). Die Bedeutung pädagogischer Qualität für die frühe BBE hat in der Fachpraxis und -politik in den deutschsprachigen Ländern in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten zunehmend Anerkennung gefunden und international zu verschiedenen Ansätzen einer verbesserten Qualitätssteuerung geführt. Für die USA sind hier neben bundesstaatlichen Akkreditierungssystemen das übergreifende Akkreditierungsprogramm der NAEYC zu nennen, für Australien das QIAS-Programm. In Deutschland haben die Verbände der freien Träger von Kindertageseinrichtungen allgemeine Qualitätsmanagementsysteme, die in der Industrie und im Dienstleistungssektor entwickelt wurden, entlehnt (vgl. Esch, Klaudy, Micheel & Stöbe-Blossey, 2006). Mit dem Deutschen-Kindergarten-Gütesiegel liegt seit kurzem erstmals ein fachwissenschaftlich evidenzbasiertes Qualitätsprüfverfahren vor (vgl. Tietze, 2008b). Ausbau und Unterhaltung eines qualitativ guten Systems öffentlicher BBE im frühen Kindesalter sind mit entsprechenden Kosten verbunden. Vor diesem Hintergrund stellen sich Kosten- und Nutzenfragen in ökonomischer Perspektive. Dementsprechend wurden die meisten der oben erwähnten Längsschnittuntersuchungen (in den USA) volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen unterzogen mit durchgehend sehr positiven Effekten (vgl. Tietze, 2008a). Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Heckman (2006) sieht auf der Grundlage einer Analyse verschiedener politischer Programme für die USA in einer qualitativ hochwertigen BBE eine vorrangige politische Maßnahme, die der Chancengleichheit dient und einen großen volkswirtschaftlichen Nutzen erzeugt. Für Deutschland schätzen Anger, Plünnecke und Tröger (2007) auf der Grundlage von PISA-Daten, dass bei einem Gesamtkonzept frühkindlicher Bildung mit qualitativen
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Verbesserungen in den Kindertageseinrichtungen bemerkenswerte Kompetenzzuwächse bei Jugendlichen erzielt und der Anteil der jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung von gegenwärtig 16 % auf 10 % gesenkt und der Anteil der Hochqualifizierten um 6 % auf 37 bis 38 % erhöht werden könne.
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Gisela Kammermeyer
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Förderung des frühen Schriftspracherwerbs im Rollenspiel
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Bildungsprozessen in der frühen oe ikr ene Vorschulbereich M Kindheit wird gegenwärtig eine eb Säuglings- und Kleinkindalter so große Bedeutung zugeschrieben. Me bene Weitgehend durchgesetzt hat sich roe ak M die Erkenntnis, dass der Schulanfang kein „Punkt Null“ ist und dass der Anfangsunterricht an vorschulischen Lernerfahrungen Aufgabenbereiche anknüpft. Dies trifft auch für den Bereich Schriftspracherwerb zu, für den lange Zeit allein die Schule verantwortlich war. Die Förderung des frühen Schriftspracherwerbs vom ersten Kindergartentag an nutzt das Interesse der Kinder an Lesen und Schreiben. Sie können im Alltag und im Rollenspiel zu vielfältigen Erfahrungen mit Schrift angeregt werden.
1 Bedeutung früher schriftsprachlicher Fähigkeiten Vorschulische schriftsprachliche Fähigkeiten wirken sich direkt auf den Schulerfolg im Lesen und Rechtschreiben aus. Wichtig sind die phonologische Bewusstheit (die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf die Struktur der Sprache zu lenken, die sich z. B. im Erkennen von Reimen zeigt), das Wissen über Schrift und die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Der Einfluss der phonologischen Bewusstheit ist dabei etwa doppelt so groß wie der Einfluss des Wissens über Schrift (Schneider & Näslund, 1993). Für die Entwicklung dieser vorschulischen Fähigkeiten sind u. a. Rollenspiele bedeutsam. Forschungen zu „play and literacy“ ergaben positive Korrelationen zwischen der Teilnahme an Rollenspielen und Lesetests (Roskos & Christie, 1999). In der Didaktik des Schriftspracherwerbs ist heute unumstritten, dass das Lesen- und Schreibenlernen ein aktiver Konstruktionsprozess ist (Speck-Hamdan, 1998), der in verschiedenen Stufen verläuft. Die meisten Kinder erwerben bereits vor der Einschulung ohne systematische Unterweisung die logografemische Strategie (Kinder richten ihre Aufmerksamkeit auf besondere grafische Merkmale von Wörtern, malen einzelne Buchstaben ab und erkennen Logos wie das von McDonalds) und viele auch die alphabetische Strategie (Kinder erkennen den Bezug zwischen Laut und Buchstabe, schreiben prägnante Laute von Wörtern auf und raten Wörter häufig aufgrund des Anfangsbuchstabens). Je häufiger Kinder Erfahrungen mit Schrift machen, desto eher kommt es zu der für die
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Förderung des frühen Schriftspracherwerbs im Rollenspiel
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Entwicklung des Schreibens und Lesens grundlegenden Einsicht in den Buchstabe-LautZusammenhang. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, vom ersten Kindergartentag an in natürlichen Situationen die Aufmerksamkeit der Kinder auf Schrift zu lenken.
2 Möglichkeiten schriftsprachlicher Erfahrungen im Rollenspiel In typischen Rollenspielsituationen, z. B. Einkaufen, Polizei, Friseur, Doktor, wie sie täglich von Kindergartenkindern gespielt werden, können Lese- und Schreibhandlungen stattfinden. Kinder schreiben Einkaufszettel, Strafzettel, Rechnungen und Rezepte und erfahren dabei die Funktion von Schrift. Lesen und Schreiben ist dabei für die Kinder sinnvolles Tun, sie haben sowohl einen emotionalen als auch einen kognitiven Zugang zu Lese- und Schreibaktivitäten. Dadurch wird das Interesse am Lesen und Schreiben geweckt und genährt. Im Rollenspiel machen die Kinder wertvolle Erfahrungen, denn im Spiel erproben sie Handlungen, zu denen sie im realen Leben noch nicht fähig sind, sie „tun-so-als-ob“. Mit der Frage, wie es zu diesen bedeutsamen schriftsprachlichen Handlungen kommt, befasst sich Davidson (1996). Er führt folgende Möglichkeiten auf: • Sie kommen ohne Einfluss von Erwachsenen, spontan und ohne Planung vor, z. B. wenn ein Kind seiner Puppe eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest oder einen Brief schreibt. • Die Erzieherin bzw. der Erzieher beobachtet das Rollenspiel und regt das Spiel der Kinder situationsorientiert durch einen geeigneten Impuls an, z. B. wenn sie bzw. er beim Rollenspiel „Einkaufen“ der „Mutter“ die Frage stellt: „Brauchst du keinen Einkaufszettel?“ • Schriftsprachliche Handlungen werden durch ein spezifisches Materialangebot mit realen Gegenständen ausgelöst, z. B. durch die Ausstattung der Puppenecke mit Kochund Telefonbuch, mit Notizzetteln und Pinnbrett. • Die Erzieherin bzw. der Erzieher bringt einen direkten Spielvorschlag ein und schlägt ein konkretes Rollenspielthema vor, in dem schriftsprachliche Handlungen eine zentrale Bedeutung haben, z. B. Restaurant, Post, Supermarkt, Arztpraxis, Bibliothek.
3 Methodische Umsetzung Wie schriftsprachliche Erfahrungen im Rollenspiel am besten gefördert werden können, untersuchten Morrow und Rand (1991) in einer experimentellen Studie. Sie stellten den Kindern der Experimentalgruppen schriftsprachliches Material zur Verfügung und förderten eine Gruppe durch die zusätzliche Einführung eines Rollenspielthemas (Tierarztpraxis), eine zweite durch zusätzliche Spielvorschläge der Erzieherin und eine dritte durch beide Maßnahmen. Es zeigte sich, dass in dem Spielsetting, in dem Themeneinführung und Spielvorschläge kombiniert wurden, die meisten schriftsprachlichen Handlungen beobachtet werden konnten. Weitere Möglichkeiten zur Gestaltung von themenspezifischen Rollenspielecken (Literacy-Center) finden sich bei Morrow (2002).
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Gisela Kammermeyer
In Deutschland wurde die Förderung des Schriftspracherwerbs im Rollenspiel im Rahmen des KiDZ-Projektes (Kindergarten der Zukunft) erstmals erprobt. Hierbei handelt es sich um einen Modellversuch zur Verbesserung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule in Bayern, in dem Erzieherinnen und Lehrerinnen in einer Kindergartengruppe zusammenarbeiten und u. a. verschiedene „Literacy-Center“ gestalten (Kammermeyer, 2007). Im Folgenden werden methodische Überlegungen zur Gestaltung solcher Rollenspielecken an einem konkreten Beispiel zum Thema „Restaurant“ dargestellt. Es wird aufgezeigt, welche Schreib- und Leseanlässe sich in den einzelnen Phasen ergeben können und wie die Erzieherin dabei zu Lese- und Schreibhandlungen anregt. 3.1 Vorbereitungsphase In der Vorbereitungsphase wird die Rollenspielecke eingerichtet, hierbei ergeben sich viele Gelegenheiten zu schriftsprachlichen Erfahrungen: • Die Erzieherin stellt einen Bezug zur Lebenswelt der Kinder her und lenkt die Aufmerksamkeit und das Interesse der Kinder auf das Thema „Restaurant“. Hierzu erkundet sie u. a. mit den Kindern ein Restaurant und regt die Kinder an, sich aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen Fragen für diese Erkundung zu überlegen. Sie schlägt vor, dass die Kinder ihre Fragen auf einen Zettel aufschreiben bzw. malen, um sie nicht zu vergessen. Im Restaurant richten die Kinder dann ihre Aufmerksamkeit auf die Schrift, wenn sie ihre eigene Notiz lesen, und werden auf weitere Gegenstände mit Schrift (z. B. Speisekarte, Schilder u. Ä.) hingewiesen. • Nach der Erkundung des Restaurants wird gesammelt, welche Gegenstände zum Restaurant-Spielen gebraucht werden. Die Kinder bringen dann diese echten Materialien (z. B. Tischdecke, Servietten, Kerzen) von zu Hause mit. Um diese Materialien nicht zu vergessen, schlägt die Erzieherin wieder vor, dass sich die Kinder einen Merkzettel schreiben. Sie bietet sich auch selbst bewusst als Modell an, indem sie für sich notiert, was sie selbst mitbringen will. • Die Kinder sollen auch einen persönlichen Bezug zum Rollenspielthema herstellen. Deshalb regt die Erzieherin an, für das gemeinsame Restaurant einen Namen zu suchen. Die Vorschläge der Kinder werden gut sichtbar in Großbuchstaben auf ein Plakat geschrieben, die Stimmen werden mit Strichen notiert und dann ausgezählt. Der Name des Restaurants wird dann von den Kindern auf ein Eingangsschild geschrieben. • Bei der Einrichtung der Rollenspielecke kommen die Kinder auf weitere Ideen, was sie zum Spielen noch brauchen. Die Erzieherin ermutigt sie besonders Gegenstände mitzubringen bzw. herzustellen, die mit schriftsprachlichen Handlungen verbunden sind. Die Kinder schreiben Speisekarten, Tischnummern und Hinweisschilder (z. B. Rauchen verboten). 3.2 Spielphase In der Spielphase reichert die Erzieherin das Rollenspiel der Kinder gezielt an und lenkt die Aufmerksamkeit auf schriftsprachliche Handlungen: • Sie macht auf besonders gute Ideen einzelner Kinder aufmerksam. Hierbei regt sie die Kinder auch behutsam an, ihre selbst geschriebenen Bestellungen und Rechnungen
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Förderung des frühen Schriftspracherwerbs im Rollenspiel
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den anderen Kindern zu zeigen und ihnen zu erklären, wie sie diese angefertigt haben. Um die Kinder auf weitere Spielideen zu bringen, bespricht die Erzieherin einzelne Handlungsschritte (Skripts), wie begrüßen, bestellen, bezahlen und verabschieden, und sammelt dabei auch verschiedene (schrift-)sprachliche Möglichkeiten. Noch direkter fördert die Erzieherin das Rollenspiel, indem sie selbst mitspielt. Sie übernimmt eine von den Kindern zugewiesene Rolle (z. B. den Gast) und bezieht dabei als Modell schriftsprachliche Handlungen ein (z. B. indem sie Zeitung liest) oder aber sie wählt selbst eine Rolle (z. B. den Kellner) und führt Literacy-Handlungen aus (z. B. schreibt eine Tischbestellung auf). Um das Interesse am Rollenspiel über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten, führt die Erzieherin neue Materialien ein, bevorzugt solche, die schriftsprachliche Handlungen auslösen, z. B. eine Tafel für das Tagesmenü. Damit die Kinder das Potenzial des Literacy-Centers intensiv nutzen, entwickelt die Erzieherin mit den Kindern auch Ideen für neue Situationen (z. B. ein Gast hat sein Geld vergessen, die Schulden müssen aufgeschrieben werden). Das Rollenspiel wird ausgeweitet, wenn neue Rollen eingeführt werden (z. B. der Koch, der für die Herstellung der Speisen ein Rezept liest).
3.3 Reflexionsphase In dieser Phase gibt die Erzieherin Impulse, damit die Kinder über ihr eigenes Lernen und ihre angewendeten Strategien nachdenken (z. B. Wie hast du die Rechnung geschrieben?) und sich untereinander darüber austauschen.
4 Zusammenfassung Bei themenorientierten Rollenspielen, die zu schriftsprachlichen Handlungen herausfordern, handelt es sich um eine Spielform, die den Bedürfnissen und Interessen von vierbis achtjährigen Kindern in besonderer Weise entspricht. Sie ermöglichen den Kindern vielfältige Erfahrungen mit Schriftsprache in persönlich bedeutsamen Situationen, die für einen gelingenden Schriftspracherwerb wichtig sind. Literacy-Center stellen Lernumgebungen dar, die die Anforderungen einer Pädagogik und Didaktik des Schriftspracherwerbs auf konstruktivistischer Grundlage erfüllen. Die dargestellte Förderung des Schriftspracherwerbs im Rollenspiel ist zudem mit dem in deutschen Kindergärten weit verbreiteten situationsorientierten Ansatz nicht nur vereinbar, sondern bereichert diesen durch die Fokussierung auf anschlussfähige Bildungsprozesse.
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Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1 Entwicklungsorientierte Förderung kindlicher Kompetenzen als Bildungsziel im Kindergarten
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Prävention von Rechenproblemen im Kindergarten
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Den neuen deutschen BildungsAufgabenbereiche plänen für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung liegt der zentrale Anspruch zugrunde, lernmethodische Kompetenz entwicklungsangemessen zu stärken und von Anfang an die Entwicklung kindlicher Kompetenzen zu fördern (Fthenakis et al., 2005). Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist es notwendig, die natürliche kindliche Entwicklung in spezifischen Inhaltsbereichen zu betrachten und die Förderung an dieser natürlichen Entwicklung zu orientieren. Auf diese Weise werden Entwicklungsmodelle in Fördermodelle überführt. Im Folgenden soll dies exemplarisch für den mathematischen Bereich aufgezeigt werden.
2 Entwicklung mathematischer Kompetenzen bis Schuleintritt Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen im Kindergartenalter ist durch die zunehmende Verknüpfung eines Verständnisses für Mengen und eines davon zunächst noch unabhängigen Zahlverständnisses gekennzeichnet. Das folgende auf der Theorie von Resnick (1989) basierende und daraus weiterentwickelte Modell von Krajewski (2008) unterscheidet die drei im Folgenden dargestellten Kompetenzebenen einer zunehmenden Mengen-Zahlen-Verknüpfung (siehe Abbildung 1).
2.1 Ausbildung von Basisfertigkeiten (Kompetenzebene I) Nicht-numerische Unterscheidung zwischen Mengen: Mengen und Zahlen werden zunächst noch nicht miteinander gekoppelt. Bereits Säuglinge verfügen zwar über die Fähigkeit, Unterschiede zwischen Mengen wahrzunehmen. Diese Fähigkeit entwickelt sich jedoch noch ohne einen Bezug zu Zahlen und bezieht sich nicht auf numerische Aspekte (Stückzahlen). Vielmehr werden Mengen aufgrund ihrer räumlichen Ausdehnung unterschieden.
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Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider
Ebene I: Basisfertigkeiten
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Mengenunterschiede
Zählprozedur
exakte Zahlenfolge
Ebene II: Anzahlkonzept
a) unpräzises Anzahlkonzept
b) präzises Anzahlkonzept 1
Mengenrelationen
„wenig“
„viel“
zwei eins zwanzig acht drei
Teil-Ganzes, Zu-Abnahme
2
3
4
5
„sehr viel“
hundert tausend eins
•
zwei eins
• •
drei zwei eins
• • •
vier drei zwei eins
• • • •
fünf vier drei zwei eins
• • • • •
Zahlen als Anzahlen
Ebene III: Anzahlrelationen
Mengenrelationen als (An-)Zahlen Zusammensetzung und Zerlegung von (An-)Zahlen
Differenzen zwischen (An-)Zahlen
2 • •
„zwei“
5 „fünf“
其
• 3 • „drei“ • •其 2 • „zwei“
• • • 3 „drei“
• • • • • 5 „fünf“
Abbildung 1: Entwicklungsmodell früher mathematischer Kompetenzen (Krajewski, 2008)
Erwerb der Zahlenfolge: Unabhängig von ihrer Fähigkeit zur Mengendifferenzierung beginnen Kinder bereits ab etwa zwei Jahren Zahlen aufzusagen. Bei diesem ersten Zählen haben Zahlen für Kinder noch keinen numerischen Charakter und werden nicht mit dahinter stehenden Mengen in Verbindung gebracht. Selbst wenn Kinder beim Aufsagen der Zahlen gegebenenfalls schon jedem Element einer Menge genau ein Zahlwort zuordnen und statt „Daumen-Zeigefinger-Mittelfinger“ nun „eins-zwei-drei“ sagen, ist ihnen hier noch nicht bewusst, dass das Wort „drei“ alle drei Finger einschließt. Vielmehr ordnen sie die Zahlworte nur jeweils einem angetippten Finger zu (z. B. zum Mittelfinger: „Das ist die Drei!“), da die einzelnen Zahlen noch nicht als die Summe aller vorher angetippten Elemente verstanden werden. Die Zahlenfolge wird demnach noch nicht mit Anzahlen in Verbindung gebracht, sondern wie ein Kinderreim aufgesagt und geübt.
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Prävention von Rechenproblemen im Kindergarten
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2.2 Anzahlkonzept: Zahlen werden als Anzahlen bewusst (Kompetenzebene II) Ein wichtiger Schritt zum numerischen Verständnis von Zahlen ist die Erkenntnis, dass Zahlen mit Mengen verknüpft sind, dass hinter Zahlen also Anzahlen stehen. Diese „Mengenbewusstheit von Zahlen“ entwickelt sich in zwei Phasen: a) Ungenaues (= unpräzises) Anzahlkonzept: Zunächst gelangen Kinder zur Erkenntnis, dass Zahlen zu Begriffen wie „wenig“, „viel“ oder „sehr viel“ zugeordnet werden können. Da jedem dieser Mengenbegriffe mehrere Zahlwörter zugeordnet werden (z. B. „drei“, „eins“ und „zwei“ Õ „wenig“; „zwanzig“ und „acht“ Õ „viel“; „hundert“ und „tausend“ Õ „sehr viel“), ist die Mengen-Zahl-Zuordnung noch ungenau. Weil zu einer groben Mengenkategorie also jeweils mehrere (An-)Zahlen gehören, können die Kinder in dieser Phase nur jene Zahlen unterscheiden, die in verschiedenen groben Mengenkategorien liegen (z. B. „acht“ [„viel“] und „hundert“ [„sehr viel“] Õ acht sind weniger als hundert). Zahlen innerhalb der groben Mengenkategorien können jedoch nicht differenziert werden, sodass z. B. nicht bestimmt werden kann, ob „acht“ [„viel“] oder „zwanzig“ [„viel“] mehr ist. Dieses Verständnis der Zahlen resultiert aus der kindlichen Erfahrung, dass man unterschiedlich lange zählen muss, um die Zahlen zu erreichen. Für manche Zahlen muss also „wenig“, für andere Zahlen „viel“ und für Zahlen wie hundert oder tausend sogar „sehr viel“ gezählt werden. b) Genaues (= präzises) Anzahlkonzept: Werden sich Kinder bewusst, dass die Dauer des Zählvorgangs nicht nur mit groben Mengenbegriffen wie „wenig“ oder „viel“ beschrieben werden kann, sondern dass diese Dauer mit der Zahlenfolge korrespondiert und ausgezählte Anzahlen durch diese feste Zahlenfolge exakt angeordnet werden können, gelangen Kinder zum genauen Anzahlkonzept. Sie werden fähig eine Eins-zu-eins-Zuordnung von Mengen und Zahlen vorzunehmen, sodass jede Zahl genau einer exakten Menge (Anzahl) zugeordnet wird. Die Kinder können aufsteigende Anzahlen in eine exakte Reihenfolge bringen („Anzahlordnung“), wodurch erstmals auch Nachbarzahlen miteinander verglichen werden können (z. B. acht ist weniger als neun). Unabhängig von der Ausbildung des Anzahlkonzepts entwickelt sich auch das kindliche Verständnis für Mengen (ohne Zahlbezug) weiter. So verstehen Kinder einerseits, dass Mengen in kleinere Mengen aufgeteilt und daraus wieder zusammengesetzt werden können (z. B. lassen sich alle Kinder aufteilen in einige Mädchen und einige Jungen). Andererseits begreifen sie, dass sich Mengen durch Hinzufügen oder Wegnehmen verändern können (etwas ist mehr/weniger als vorher).
2.3 Anzahlrelationen: Relationen zwischen Mengen werden als (An-)Zahlen bewusst (Kompetenzebene III) Ein Verständnis für die Struktur der Zahlen wird schließlich erreicht, wenn auch die auf der zweiten Kompetenzebene noch unabhängig voneinander entwickelten Fähigkeiten (Verständnis für Mengenrelationen und Anzahlkonzept) miteinander verknüpft werden. Hier sind Zahlen nicht nur als Anzahlen bewusst und können nicht nur hinsichtlich ihrer
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Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider
„Mächtigkeit“ miteinander verglichen werden (mehr/weniger als). Es wird darüber hinaus erkannt, dass Relationen zwischen Zahlen auch exakt bestimmt und diese exakten Relationen wieder durch Zahlen dargestellt werden können. Einerseits verstehen Kinder, dass sich eine (An-)Zahl in kleinere (An-)Zahlen aufteilen und daraus wieder zusammensetzen lässt (Zusammensetzung und Zerlegung von Anzahlen). So lassen sich z. B. fünf Kinder aufteilen in drei Mädchen und zwei Jungen. Andererseits erkennen sie, dass auch der Unterschied zwischen zwei (An-)Zahlen wieder eine (An-)Zahl ist (Unterschiede zwischen Anzahlen). Zur Zahl drei gehören beispielsweise zwei weniger als zur Zahl fünf.
3 Entwicklungsorientierte Förderung mathematischer Kompetenzen im Kindergarten mit dem Programm „Mengen, zählen, Zahlen“ Auch wenn inzwischen schon mehrere Förderprogramme für die vorschulische mathematische Kompetenzentwicklung verfügbar sind, mangelt es den meisten an solider theoretischer Fundierung und gründlicher empirischer Evaluation. Das Förderprogramm „Mengen, zählen, Zahlen“ (MZZ; Krajewski, Nieding & Schneider, 2007) orientiert sich ausdrücklich an der im vorigen Abschnitt dargestellten Entwicklung und setzt das Entwicklungsmodell von Krajewski in ein Fördermodell um. Im Rahmen des Programms führen Erzieherinnen und Erzieher mit Vorschülerinnen und Vorschülern über einen Zeitraum von acht Wochen dreimal wöchentlich Spiele durch, die systematisch die oben beschriebenen Kompetenzebenen aufbauen. Ziel der Förderung ist es, Kindern spielerisch die Struktur der Zahlen zu vermitteln. In den ersten zwei Wochen werden die Kinder mit den Zahlen 1 bis 10 vertraut gemacht (Ebene 1). Sie lernen die Ziffern kennen, bringen Zahlenkarten in ihre exakte Reihenfolge und ordnen den Zahlen regelmäßige Mengen (Chips, Bausteine, Stifte, Karten mit Punkten etc.) zu. Dies bildet den Ausgangspunkt für die Vermittlung und Festigung des Anzahlkonzepts, auf das in den folgenden vier Wochen mit der Verknüpfung der Basisfertigkeiten (Mengen, Zählprozedur, Zahlenkenntnis) abgezielt wird. Durch Spiele, bei denen strukturierte Zahlbilder (z. B. Punkte, Finger, Zahlenstrahlen, Uhrenstücke) den Ziffern zugeordnet werden, lernen die Kinder, dass zu unterschiedlichen Zahlen unterschiedliche Anzahlen von Dingen gehören und dass diese Anzahlen exakt an die Zahlenfolge angeordnet werden können. Um den Kindern die Unterschiede zwischen einzelnen Anzahlen auch visuell deutlich sichtbar zu machen, werden für alle Zahlen die gleichen Materialien verwendet und an die Zahlenfolge (arabische Ziffern) angeordnet (z. B. drei gelbe Chips, drei Teelöffel, drei in einer Linie angeordnete schwarze Punkte für die Drei versus vier gelbe Chips, vier Teelöffel, vier in einer Linie angeordnete schwarze Punkte für die Vier). Hierdurch sehen die Kinder, dass bei den Zahlen, die in der Zahlenfolge später kommen, mehr Stücke liegen. Durch die Gleichartigkeit der Dinge korrespondiert das „Mehr“ der Stückzahlen auch exakt mit dem „Mehr“ in der räumlichen Ausdehnung (drei Chips nehmen weniger Raum ein als vier Chips). Die Kinder stellen in den Übungen beispielsweise Chips in verschiedenen Anzahlen aufeinander und erkennen dabei, dass die Mengen von größeren Zahlen nicht nur längere Reihen, sondern
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auch höhere Türme bilden. Dies führt sie zur Erkenntnis, dass Zahlen „größer“ oder „kleiner“ sind als andere Zahlen, weil zu ihnen „mehr“ oder „weniger“ Dinge gehören. Die Verwendung der gleichen Materialien für alle Zahlen ermöglicht es zudem, den Kindern in den letzten beiden Wochen auch die mathematischen Kompetenzen der dritten Ebene (Anzahlrelationen) zu vermitteln und ihnen die Struktur der Zahlen deutlich zu machen. In diesen Spielen werden Zahlen nicht nur verglichen, sondern die Kinder betrachten bewusst die Unterschiede zwischen Zahlen. Sie gelangen in der Auseinandersetzung mit den Materialien zur Erkenntnis, dass von einer zur nächsten Zahl immer eins dazukommt (z. B. ein gelber Chip, ein Teelöffel, ein schwarzer Punkt). Darüber hinaus erkennen sie im spielerischen Umgang mit den Zahlen, dass diese in andere Zahlen zerlegt und aus ihnen zusammengesetzt werden können. So legen sie etwa zwei unterschiedlich lange „Zahlenstreifen“ (Streifen mit regelmäßigen Kästchen in entsprechender Anzahl) hintereinander und stellen fest, dass diese genauso lang sind wie ein dritter Zahlenstreifen. Mit der Bewusstheit für die hinter den Zahlen stehenden Anzahlen (Kompetenzebene II) und dem Verständnis der Zahlenstruktur (Kompetenzebene III) erwerben Kinder durch das Programm „Mengen, zählen, Zahlen“ wichtige Vorläuferkompetenzen, die für das Verständnis der Grundschulmathematik bedeutend sind (vgl. Krajewski & Schneider, 2006). Unter pädagogischer Anleitung und Unterstützung entwickeln die Kinder zudem metakognitive Fähigkeiten. So wird zu Beginn jeder Sitzung erklärt, was die Kinder lernen werden. Während der Spiele werden sie durch Fragen dazu angehalten, ihr Tun immer auch verbal zu beschreiben und dabei bewusst „numerische Sprache“ (z. B. „ist kleiner als“, „kommt eins dazu“, „ist eins mehr als“) zu verwenden. Der Fokus ihres Handelns wird dabei auf das Numerische der Situationen gelenkt, die Kinder werden zur bewussten Reflektion über die Struktur der Zahlen aufgefordert (z. B. „Kommt nur von der Drei zur Vier eins dazu oder kommt von einer zur nächsten Zahl immer eins dazu?“). Die erste Überprüfung der Förderung durch das MZZ-Programm zeigte kurz- und langfristige Effekte auf die frühen mathematischen Kompetenzen der Kinder (Krajewski, Nieding & Schneider, 2008). So wiesen Vorschülerinnen und Vorschüler, die mit dem MZZ gefördert wurden, nach der Förderphase nicht nur einen deutlich steileren Anstieg in ihren Mengen-Zahlen-Kompetenzen auf als eine Gruppe von Kindern ohne Förderung. Ihr Zuwachs war auch deutlich stärker als in zwei Gruppen von Kindern, die mit einem allgemeinen Denktraining oder einem anderen mathematischen Programm gefördert worden waren. Eine Förderung mathematischer Kompetenzen, die sich an der natürlichen Entwicklung der Kinder orientiert und an diesen Kompetenzen ansetzt, scheint damit viel versprechend.
Literatur Fthenakis, W. E., Gisbert, K., Griebel, W., Kunze, H.-R., Niesel, R. & Wustmann, C. (2005). Auf den Anfang kommt es an: Perspektiven für eine Neuorientierung frühkindlicher Bildung. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Krajewski, K. (2008). Prävention der Rechenschwäche. In: W. Schneider & M. Hasselhorn (Hrsg.), Handbuch der Pädagogische Psychologie (S. 360–370). Göttingen: Hogrefe.
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Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider
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Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des Primärbereichs
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Wenn von Bildung im Primärbeoe ikr ene Vorschulbereich M reich die Rede ist, so steht die Ineb Säuglings- und Kleinkindalter so e stitution Grundschule im VorderMe ben grund (Österreich: Volksschule; roe ak M Schweiz: Primarschule). Dieser Schulform kommt in der bildungspsychologischen Forschung und Praxis aus verschiedenen Aufgabenbereiche Gründen besonders große Bedeutung zu. Im vorschulischen Alter liegt die alleinige Verantwortung für die Erziehung der Kinder bei den Eltern, sofern nicht eine Kindergartenpflicht besteht, wie derzeit in Deutschland und Österreich diskutiert, und in der Schweiz zum Teil schon bestehend. Die Grundschule übernimmt als erste familienexterne Institution einen gewichtigen Teil des Bildungs- und Erziehungsauftrages. Damit steht die Grundschule ganz besonders in der Aufmerksamkeit von Eltern, die sich um das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit ihrer Kinder sorgen. Von Grundschullehrkräften wird ein besonderes Maß an pädagogisch-psychologischer Eignung erwartet, um Schülerinnen und Schülern einen guten Einstieg in die Bildungslaufbahn zu ermöglichen. Die Erfahrungen in der Grundschule gelten als prägend für die gesamte weitere Bildungskarriere eines Kindes, sowohl was die grundsätzliche Einstellung zur Schule angeht, als auch in Bezug auf die Leistungen und die Entscheidung für eine weiterführende Schulform.
Die Grundschule wird häufig als einzige echte Gesamtschule im deutschsprachigen Raum bezeichnet. Hier werden Kinder gemeinsam unterrichtet, die nicht nur das gesamte Leistungsspektrum abbilden, sondern auch sehr unterschiedliche kulturelle und sozioökonomische Hintergründe aufweisen. Dies bedeutet für die Lehrkräfte besondere Herausforderungen. Grundschullehrkräfte sollten nicht nur einen motivierenden Unterricht gestalten, sondern auch individuelle Stärken und Schwächen ihrer Schülerinnen und Schüler erkennen und daraufhin gezielt Maßnahmen ergreifen. Besondere Begabungen (z. B. Hochbegabung) sowie Teilleistungsstörungen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche) oder Störungen des Arbeits- und Sozialverhaltens (z. B. Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen) werden häufig in der Grundschule diagnostiziert. Für einige Kinder stellt sich sogar die Frage, ob die Grundschule der richtige Förderort ist. Die Entscheidung für eine Förderschule ist eine ebenso lebenslang prägende wie die Entscheidung am Ende der Grundschule für eine der nach Leistungen stratifizierten weiterführenden Schulen. Im folgenden Kasten werden die Bildungsziele der Grundschule zusammengefasst. Die Inhalte gelten für alle deutschsprachigen Länder in ähnlicher Weise.
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Bildungsziele der Grundschule: Ziel der Grundschule ist es, den Schülerinnen und Schülern die Grundlage für eine weiterführende Bildung und das lebenslange Lernen zu vermitteln. Schwerpunkte sind dabei die durchgängige Verbesserung der Sprachkompetenz und die Entwicklung eines grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, ihre Umwelteindrücke erlebnisorientiert zu erfassen und zu strukturieren. Gleichzeitig sollen sie ihre psycho-motorischen Fähigkeiten und sozialen Verhaltensweisen weiterentwickeln. Die Grundschule sieht ihren Auftrag darin, Kinder mit unterschiedlichen individuellen Lernvoraussetzungen und Lernfähigkeiten so zu fördern, dass sich die Grundlagen für selbstständiges Denken, Lernen und Arbeiten entwickeln sowie Erfahrungen zum gestaltenden menschlichen Miteinander vermittelt werden. Sie erwerben so eine Basis zur Orientierung und zum Handeln in ihrer Lebenswelt sowie für das Lernen in weiterführenden Schulen im Sekundarbereich. (Zitat aus: Deutsche Kultusministerkonferenz, 2007, S. 87)
Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, bietet die Grundschulzeit einen reichen Fundus an bildungspsychologischen Fragestellungen, die für Forschung und Praxis relevant sind. Im vorliegenden Kapitel kann nur eine kleine Auswahl an Themen behandelt werden. Fokussiert werden Bereiche, die besonderes Forschungsinteresse auf sich gezogen haben. (1) Zunächst werden die Bildungsvoraussetzungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, vor allem der allgemeine kognitive und motivationale Entwicklungsstand betrachtet. (2) Daran anschließend werden die Stationen des Bildungsverlaufs erläutert, insbesondere die Einschulung, das Feststellen spezieller Förderbedarfe sowie die Übergangsentscheidung am Ende der Grundschulzeit. (3) Im nächsten Teil werden Besonderheiten des Bildungskontextes betrachtet, und zwar die Leistungsbeurteilung sowie Merkmale der Lehrkräfte. (4) Danach werden einige Befunde zu Bildungsmonitoring referiert, die die Bedingungen und Ergebnisse der Grundschule von einer übergeordneten Ebene beleuchten. (5) Abgeschlossen wird der Beitrag mit Implikationen für die Praxis und (6) zukünftigen Entwicklungen im Primärbereich. Der Beitrag fokussiert die Situation in den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz. Trotz der Unterschiede zwischen diesen Ländern sowie der durch die föderale Struktur bedingten Unterschiede innerhalb jedes Landes, überwiegen die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Bildungsstrukturen und der sich daraus ergebenden Probleme.
1 Bildungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler Die Grundschulzeit ist in kognitiver Hinsicht eine sehr fruchtbare Phase, denn in der frühen und mittleren Kindheit ist das Lernpotenzial besonders groß. Dies ermöglicht die Bewältigung einer ganzen Reihe herausfordernder Entwicklungsaufgaben.
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Entwicklungsaufgaben während der Grundschulzeit: In der Entwicklungstheorie von Havighurst (1972) fällt der Besuch der Grundschule in den Abschnitt der mittleren Kindheit (von 6 bis 12 Jahren). Die vorrangigen Entwicklungsaufgaben in diesem Alter sind das Erlernen bzw. der Erwerb von: • physischen Fähigkeiten für normale Spiele (z. B. Ballwerfen), • angemessenen Einstellungen zu sich selbst, • angemessenem Umgang mit Gleichaltrigen, • geschlechtstypischen Verhaltensweisen, • grundlegenden Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, • Konzepten und Fertigkeiten für den Alltag, • moralischen Vorstellungen und Werten, • persönlicher Unabhängigkeit, • Einstellungen gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen.
Eng geknüpft an die Entwicklung der kognitiven Ressourcen ist auch die Entwicklung der Lern- und Leistungsmotivation. Durch gesteigerte kognitive Ressourcen wird die Selbst- und Fremdwahrnehmung zunehmend genauer und differenzierter (zusammenfassend Eccles, Midgley & Adler, 1984; Stipek & MacIver, 1989). Verschiedene Informationsquellen werden zur Beurteilung eigener und fremder Leistungen herangezogen, und es entsteht die Vorstellung von Fähigkeit als überdauernder Eigenschaft der Person. Vorstellungen über Fähigkeiten sind wichtige Elemente der Lern- und Leistungsmotivation, wie im Folgenden dargestellt wird. Bis etwa zum Alter von sechs Jahren haben Kinder keine konsistente Vorstellung von Fähigkeit als einer Eigenschaft, die Personen inne wohnt (zusammenfassend Dweck, 2002). Die meisten Kinder im Vorschulalter glauben, bei allen Tätigkeiten zu den Besten zu gehören und mit Anstrengung alles erreichen zu können. Kurz nach Schuleintritt, etwa im Alter von sieben Jahren, entwickeln Kinder ein gesteigertes Interesse an sozialen Vergleichen. Gleichzeitig bietet die Schule die Möglichkeit solche Vergleiche anzustellen. Die Ausdifferenzierung verschiedener kognitiver Schemata sorgt dafür, dass die so gewonnenen Informationen zunehmend die Wahrnehmung eigener und fremder Fähigkeiten beeinflussen. So etwa werden Fähigkeiten bei der Beurteilung von Personen jetzt unterschieden von anderen Domänen, wie z. B. Sozialverhalten, Moral oder Körperliches. Die Fähigkeiten wiederum werden in verschiedene Domänen unterteilt, wie Mathematik, Sprache etc. Zunehmend wird Fähigkeit nicht mehr an einzelnen Handlungsergebnissen festgemacht, sondern als abstrakte Eigenschaft verstanden. Zusammengenommen führen diese Entwicklungen dazu, dass Fähigkeit als mehr oder weniger stabile Eigenschaft wahrgenommen wird und Fähigkeitswahrnehmungen realistischer werden (Nicholls, 1978; Nicholls & Miller, 1984). Realistischer bedeutet, dass die Fähigkeitswahrnehmungen stärker mit Kriterien wie dem Abschneiden in Leistungstests oder Einschätzungen von Lehrkräften und Eltern übereinstimmen (z. B. Spinath & Spinath, 2005a). Da sich die meisten Kinder bis zum Beginn der Grundschule überoptimistisch wahrgenommen haben, bedeutet dies, dass die Fähigkeitswahrnehmungen im Allgemeinen negativer werden. Im Alter von etwa 10 Jahren haben die meisten Kinder
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ein Konzept von Fähigkeit im Sinne einer der Person inne wohnenden Kapazität erworben und können zuverlässig zwischen Anstrengung und Fähigkeit als Ursache von Leistungsergebnissen unterscheiden (Nicholls, 1978; Nicholls & Miller, 1984). Die beschriebenen Veränderungen tragen dazu bei, dass Kinder die Aufgabe bewältigen, ein angemessenes Selbstbild zu entwickeln (vgl. Havighurst, 1972). Allerdings bereiten diese Veränderungen auch die Grundlage für ungünstige motivationale Entwicklungen. So entwickeln einige Schülerinnen und Schüler unrealistisch negative Fähigkeitsselbstkonzepte und glauben nicht daran, ihre Fähigkeiten maßgeblich verändern zu können (zusammenfassend Dweck, 2002). Auch das Absinken der schulbezogenen intrinsischen Motivation über die Grundschulzeit hinweg wird häufig als Folge negativer werdender Fähigkeitsselbstwahrnehmungen angesehen (Deci & Ryan, 1985; Harter, 1981; Wigfield & Eccles, 2000). Längsschnittliche Überprüfungen erbrachten jedoch keine Belege für die Annahme, dass die negativer werdenden Fähigkeitsselbstwahrnehmungen in der Grundschule die Ursache sinkender Lernmotivation sind (z. B. Spinath & Spinath, 2005b; Spinath & Steinmayr, 2008). Die Frage, warum die schulbezogene Motivation, beginnend in der Grundschule, über die Schulzeit sinkt und bei nicht wenigen Schülerinnen und Schülern zu massiver Schulunlust führt, bleibt vorerst ungeklärt. Hypothesen über die Ursachen liegen sowohl für die hier aufgeführten Entwicklungsbedingungen der Schülerinnen und Schüler (vor allem negativere Fähigkeitsselbstwahrnehmungen) als auch über Bedingungen des Schulkontextes (z. B. vermehrte normative Bewertungen durch Noten) vor.
2 Bildungsverlauf Einschulung. In allen deutschsprachigen Ländern besteht für Kinder, die das 6. Lebensjahr vollendet haben, Bildungs- oder Unterrichtspflicht (da diese Begriffe den Bildungsort offen lassen, sind diese in Österreich und der Schweiz üblichen Termini breiter formuliert als der deutsche Begriff der Schulpflicht). Diese Festlegung ist eine gesellschaftliche Konvention, die sich damit begründen lässt, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder in diesem Alter den Anforderungen gewachsen ist, die das schulische Lernen an sie stellt. Allerdings gibt es auch Kinder, für die dies nicht zutrifft, etwa weil sie in ihrer Entwicklung verzögert sind. Andere Kinder besitzen dagegen bereits deutlich früher die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einschulung. Wieder andere Kinder finden aufgrund besonderer Bedürfnisse in einer regulären Grundschule nicht die passenden Förderbedingungen und sollten daher von Anfang an eine besondere Schule besuchen. Und schließlich gibt es Kinder, die zwar grundsätzlich aufgrund ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit für eine Regelgrundschule geeignet wären, die jedoch zum Zeitpunkt der Einschulung Lerndefizite in spezifischen Bereichen aufweisen, die nicht allein durch Zurückstellung aufgeholt werden können (z. B. mangelnde Kenntnis der Unterrichtssprache). Diese unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern sollen durch geeignete diagnostische Verfahren möglichst früh erkannt werden, um darauf reagieren zu können.
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Während im Zusammenhang mit Schuleingangsdiagnostik lange Zeit vor allem die Frage nach Einschulung oder Zurückstellung im Vordergrund stand, besteht seit Ende der 1990er Jahre Konsens darüber, dass stattdessen die frühzeitige Feststellung von Förderbedarfen eigentliches Ziel moderner Schuleingangsdiagnostik sein muss (vgl. Kammermeyer, 2001a, b). Im Zuge der Kritik an den Zielen der traditionellen Schuleingangsdiagnostik sind auch die Begriffe Schulreife und Schulfähigkeit kritisch diskutiert worden. Unter Schulreife kann „die Fähigkeit des Kindes, sich in Gemeinschaft Gleichaltriger durch planmäßige Arbeit die traditionellen Kulturgüter anzueignen“ (Hetzer, 1948, S. 63) verstanden werden. Der aus der Biologie stammende Reife-Begriff impliziert dabei eine biologische Determiniertheit dieser Fähigkeiten. Diese Vorstellung und die daraus abzuleitende Maßnahme der Zurückstellung von noch nicht „reifen“ Kindern werden heute größtenteils zurückgewiesen. Um die Rolle von Lernprozessen bei der Erlangung von Fähigkeiten für erfolgreiches schulisches Lernen zu betonen, wurde der Begriff der Schulreife durch den der Schulfähigkeit ersetzt. Unter Schulfähigkeit kann das Vorhandensein derjenigen Voraussetzungen verstanden werden, die Kindern erfolgreiches schulisches Lernen im Klassenverband ermöglichen. Dazu gehören körperliche, kognitive, motivationale, emotionale und soziale Merkmale. Vor der Einschulung findet in Deutschland in der Regel eine schulärztliche Untersuchung statt. Diese wird als Screening durchgeführt und beinhaltet die Feststellung des körperlichen Entwicklungsstandes des Kindes und der allgemeinen gesundheitlich bedingten Leistungsfähigkeit einschließlich der Sinnesorgane. Eine pädagogisch-psychologische Untersuchung zu Schulbeginn ist hingegen nicht verpflichtend. Da mit dem zunehmenden Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in deutschsprachigen Schulen nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass alle Kinder bei der Einschulung hinreichende Sprachkenntnisse besitzen, um dem Unterricht folgen zu können, werden vor Schulbeginn verbreitet Sprachstandstests durchgeführt. Um die Möglichkeit zur kompensatorischen Förderung zu geben, sollten diese Tests mindestens ein Jahr vor Schulbeginn durchgeführt werden, wie dies etwa in Österreich geschieht. Ausgehend von einem förderorientierten Verständnis von Schuleingangsdiagnostik werden in der Zeit vor Schulbeginn neben dem Sprachverständnis verstärkt auch andere Vorläuferfähigkeiten für schulische Lernprozesse diagnostiziert. So z. B. kann mit Hilfe des Bielefelder Screenings (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 2002) bereits im Kindergarten die phonologische Bewusstheit überprüft werden, die eine wesentliche Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb darstellt. Die Erkenntnis, dass Schülerinnen und Schüler deutschsprachiger Länder im internationalen Vergleich relativ alt sind wenn sie bestimmte Etappen der Bildungslaufbahn erreichen, hat Bestrebungen einer vorzeitigen Einschulung und der Verkürzung der Schulzeit initiiert. Dies wird unter anderem durch vorgezogene Stichtage und die vorzeitige Einschulung auf Elternwunsch erreicht (vgl. Hinz & Sommerfeld, 2004). Auf diese Weise konnte das durchschnittliche Einschulungsalter gesenkt werden. Zu einer weiteren Beschleunigung der Schullaufbahn schon in der Grundschule trägt bei, dass Schülerinnen und Schüler, wie z. B. in einigen deutschen Bundesländern, die ersten beiden Klassen in nur einem Jahr durchlaufen können. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Kinder mit sehr unterschiedlichen Lernständen eingeschult werden.
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Ziele moderner Schuleingangsdiagnostik: Moderne Schuleingangsdiagnostik ist förderorientiert, nicht selektionsorientiert. Förderbedarfe, wie etwa geringes Sprachverständnis oder mangelnde phonologische Bewusstheit (eine der Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb), sollen möglichst deutlich vor Schulbeginn diagnostiziert werden, um rechtzeitig Fördermaßnahmen einleiten zu können.
Besondere Förderbedarfe. Die Feststellung spezifischer Förderbedarfe kann vor, kurz nach oder im weiteren Verlauf des Schulbesuchs stattfinden. Obwohl besonderer Förderbedarf über das gesamte Leistungsspektrum hinweg auftreten kann, so gilt doch die größte Aufmerksamkeit der Diagnostik und Förderung von Kindern am unteren Ende des Leistungsspektrums. Im Falle von Defiziten in Bezug auf schulisches Lernen gilt es, durch diagnostische Verfahren den Schweregrad und die Spezifität bzw. Breite der Beeinträchtigung abzuklären und im Anschluss daran geeignete Fördermethoden auszuwählen. Bei einer umgrenzten Beeinträchtigung, die z. B. nur das Lesen oder Rechtschreiben oder nur das Rechnen betrifft, spricht man von einer Teilleistungsstörung. Solche umschriebenen Defizite können in der Regel durch gezielte kompensatorische Förderung während der Regelbeschulung behandelt werden. Je nach Art und Umfang des festgestellten Förderbedarfs muss die Entscheidung getroffen werden, ob Schülerinnen bzw. Schüler unter den üblichen Bedingungen einer Regelschule angemessen gefördert werden können oder ob eine spezielle Förderung entweder auf einer Förderschule oder durch sonderpädagogische Maßnahmen an einer Regelschule (integrierter Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung) erforderlich ist. Im Schuljahr 2006/07 besuchten in Deutschland rund fünf Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Förderschule (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008; S. 66 ff.). In Österreich und der Schweiz liegen die Förderquoten in ähnlicher Höhe, jedoch besuchen dort mehr Schülerinnen und Schüler besondere Klassen an Regelschulen (z. B. integrierten Klassen, Sonderklassen). Sonderpädagogischer Förderbedarf liegt vor, wenn Kinder und Jugendliche „in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können“ (Deutsche Kultusministerkonferenz, 1994, S. 5). Solch spezieller Förderbedarf ergibt sich z. B. als Folge von Lern- oder Entwicklungsstörungen, geistiger Behinderung, Körperbehinderung, Seh- oder Hörschädigungen. Dass ein Kind ohne besondere Förderung nicht die Lernziele seiner Altersgruppe erreichen kann, ist eine der schwerwiegendsten Feststellungen für die Bildungskarriere und damit das gesamte spätere Leben. Beispielsweise kehren in Deutschland nur bis drei Prozent der Schülerinnen und Schüler von einer Förderschule auf eine Regelschule zurück (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008; S. 66 ff.).
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Förderbedarfe und Förderorte: Im Laufe der Grundschulzeit werden die meisten Förderbedarfe entdeckt. Förderbedarfe können in einem umgrenzten Bereich (z. B. Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie) auftreten oder das gesamte Leistungsspektrum (z. B. Hochbegabung, Lernbehinderung) umfassen. Je nach Breite und Schwere der Normabweichung wird entschieden, welche Art und welcher Ort der Förderung angemessen sind.
Übergangsentscheidung. Die Grundschule dauert in Deutschland und Österreich überwiegend vier, in der Schweiz meist sechs Jahre. In allen drei deutschsprachigen Ländern erfolgt nach der Grundschule ein Wechsel in ein nach Leistungen stratifiziertes Schulsystem der Sekundarstufe I mit zwei oder drei Schultypen. Insbesondere in Deutschland und Österreich fällt damit im internationalen Vergleich sehr früh eine Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg, die weit reichende Konsequenzen hat. Dies ist in dem Maße problematisch, wie die Kriterien zur Entscheidung unzuverlässig und die getroffene Entscheidung schwer revidierbar sind. Tatsächlich ist bekannt, dass die zum Ende der Grundschulzeit getroffene Entscheidung für eine Schulform im weiteren Verlauf der Schullaufbahn nur selten revidiert wird und den weiteren Bildungsweg vorprägt (vgl. Deutschland: Bellenberg, 1999; Österreich: Schlögl & Lachmayr, 2004; Schweiz: Trautwein, Baeriswyl, Lüdtke & Wandeler, 2008). Anders als theoretisch vorgesehen, gibt es in den stratifizierten Schulsystemen so gut wie keine Aufwärtsmobilität: Während es relativ leicht ist, von einer höheren in eine niedrigere Schulform „abzusteigen“, schaffen vergleichsweise wenig Schülerinnen bzw. Schüler den Sprung in die nächst höhere Schulform. Daher kommt den Empfehlungen am Ende der Grundschule eine enorm wichtige Rolle zu. Die Verfahren bei Übertritt von der Grundschule in die Sekundarstufe I ähneln sich in allen drei deutschsprachigen Ländern. Leichte Akzentverschiebungen gibt es jeweils bei der Rolle, die den Eltern in dem Prozess zukommt, dem Einsatz oder Verzicht auf objektive Leistungstests und dem Gewicht der Noten. In Deutschland folgt das Vorgehen bei der Entscheidungsfindung einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz, wobei die Bundesländer Spielräume in der konkreten Ausgestaltung haben. In dem Beschluss „Übergänge von einer Schulart in die andere“ (Deutsche Kultusministerkonferenz, 1966) heißt es, dass die Übergangsentscheidung auf der Grundlage der festgestellten Kenntnisse und Fertigkeiten der Schülerinnen bzw. Schüler sowie Eignung, Neigung und Wille zu geistiger Arbeit zu fällen sei. Zentrales Kriterium sind dabei die Noten. Dem Urteil der Lehrkraft über die Leistungen kommt demnach die wichtigste Rolle bei der Übergangsempfehlung zu. Die Übergangsempfehlung soll jedoch nicht nur die Leistungen der Schülerinnen bzw. Schüler berücksichtigen, sondern auch alle weiteren für den Schulerfolg wichtigen Eigenschaften. Außerdem darf die Entscheidung nicht ausschließlich auf der Grundlage einer Prüfung von wenigen Stunden oder Tagen beruhen. In der Schweiz kommen zum Teil objektive Leistungstests bei der Übergangsentscheidung zum Einsatz (Baeriswyl, Wandeler, Trautwein & Oswald, 2006). Diese dienen jedoch nicht
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als einziges Kriterium. Die abgebende Schule hat die Aufgabe, die Eltern bei der Schulwahl zu beraten. Die überwiegende Mehrheit der Eltern folgt der Empfehlung der Grundschule bei der Auswahl der weiterführenden Schule (vgl. Bos et al., 2004). Die Praxis, die Übergangsempfehlungen vor allem auf das Urteil der Lehrkräfte zu stützen, und dabei auf den Einsatz standardisierter Diagnoseverfahren zu verzichten, kann in mehrerlei Hinsicht als problematisch gelten. Insbesondere die Tatsache, dass sich Lehrkräfte bei der Vergabe von Noten und daraus folgenden Empfehlungen an einem klasseninternen Bezugsrahmen orientieren, führt zu Ungerechtigkeiten bei der Vergabe von Bildungschancen. Kinder in leistungsstärkeren Klassen haben bei gleicher objektiver Leistung schlechtere Noten als in einer leistungsschwächeren Klasse und haben so geringere Chancen, für eine höhere Schulform empfohlen zu werden (Trautwein & Baeriswyl, 2007). Auch bilden Schulnoten die Kompetenzen von Schülerinnen bzw. Schülern, gemessen mit standardisierten Leistungstests, zwar recht gut, jedoch bei weitem nicht perfekt ab (vgl. Bos et al., 2004). Damit führen Übergangsempfehlungen, die auf Noten statt auf Leistungstests beruhen, zu anderen Entscheidungen als sie rein aufgrund der objektiven Leistung der Schülerinnen bzw. Schüler zu treffen wären. Dies wird in dem Maße als ungerecht empfunden, wie tatsächlich oder vermeintlich sachfremde Größen Einfluss auf die Übergangsempfehlung nehmen. Besonders stark problematisiert wird in diesem Zusammenhang, dass nach objektiven Leistungstests gleich gute Schülerinnen bzw. Schüler je nach ihrem sozialen Hintergrund unterschiedliche Empfehlungen erhalten. Kinder aus Familien mit geringerem sozioökonomischem Status haben geringere Chancen auf eine Empfehlung für eine höhere Schulform als leistungsgleiche Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status. Dies konnte unter anderem in der Internationalen-Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU; Bos et al., 2004) gezeigt werden. Internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU): Die Internationale Grundschullese-Untersuchung (IGLU) ist der deutsche Teil der internationalen Schulleistungsstudie PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study), die in mehreren Wellen (zuletzt 2001, 2006) in inzwischen 29 Ländern durchgeführt wird. Die Schweiz beteiligte sich bislang nicht an PIRLS, Österreich nahm erstmalig im Jahr 2006 teil. Erhoben werden Lesekompetenzen von Grundschulkindern am Ende der vierten Jahrgangsstufe, wobei auch fachspezifisches Leseverständnis in Mathematik und Naturwissenschaften geprüft wird. Die Studie wird geleitet von Prof. Dr. Wilfried Bos, Institut für Schulentwicklungsforschung, Universität Dortmund.
Die beschriebenen Probleme hinsichtlich der Gültigkeit der Urteile der Lehrkräfte für die Übergangsentscheidung lassen sich eindämmen, indem auch die Ergebnisse objektiver Leistungstests bei der Übergangsempfehlung berücksichtigt werden. Als Reaktion auf die aktuellen Studien zu Übergangsentscheidungen sind daher neue Bemühungen um objektive Schulleistungstests entstanden, die beispielsweise in Form von Lernstandserhebungen am Ende der Grundschulzeit einen Beitrag zu Übergangsempfehlungen leisten könnten (vgl. Projekt VERA in Abschnitt 3 zum Thema diagnostische Urteilsgüte von Lehrkräften). Neben der Verbesserung der Kriterien, auf deren Grundlage die Übergangsentscheidung beruht, werden Probleme beim Übergang von der Grundschule in
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die Sekundarstufe auch dadurch versucht zu mildern, indem die Grundschulzeit verlängert und die Anzahl der Schultypen in der Sekundarstufe I verringert wird. Übergangsempfehlungen: Die Übergangsempfehlung am Ende der Grundschulzeit soll nicht nur auf die Leistungen der Schülerinnen bzw. Schüler gegründet sein, sondern auch weitere für den Schulerfolg wichtige Eigenschaften, wie z. B. Motivation, berücksichtigen. Problematisch ist, dass Lehrkräften über die Klassen hinweg kein kriterialer Maßstab zur Beurteilung der Leistungen zur Verfügung steht. Dadurch fließen Größen in das Urteil der Lehrkräfte ein, die tatsächlich oder vermeintlich nicht mit der wahren Eignung der Schülerinnen bzw. Schüler in Beziehung stehen, wie etwa das Leistungsniveau der Klasse und der sozioökonomische Status der Eltern.
3 Bildungskontext Eine umfassende Betrachtung aller relevanten Merkmale des Bildungskontextes kann im Rahmen des vorliegenden Kapitels nicht geleistet werden. Stattdessen werden exemplarisch zwei Merkmale des Bildungskontextes herausgegriffen, die für den Primarbereich von besonderer Bedeutung sind. Für die Leistungsbeurteilung trifft das zu, weil Noten in der Grundschule immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher und ideologischer Debatten sind. Als zweites wird ein Blick auf Merkmale von Grundschullehrkräften geworfen, um der häufig klischeehaften Wahrnehmung von Lehrkräften im Allgemeinen und Grundschullehrkräften im Besonderen empirische Befunde entgegenzusetzen. Leistungsbeurteilung. Zu den besonders stark beforschten und kontrovers diskutierten Bedingungen des Bildungskontextes in der Grundschule zählt die Art der Leistungsbeurteilung. Anders als in den weiterführenden Schulformen gibt es in der Grundschule sowohl Verbalberichtszeugnisse als auch Ziffernoten. Im ersten Schuljahr erfolgt in den deutschsprachigen Ländern überwiegend zunächst eine Leistungsbewertung in Form eines Berichts, mit dessen Hilfe die individuellen Fortschritte, Stärken und Schwächen in einzelnen Lernbereichen beschrieben werden. Erst ab dem 2. oder 3. Schuljahr erhalten die Schülerinnen und Schüler Zeugnisse mit Ziffernoten. Neben den Fachnoten können die Zeugnisse auch Beurteilungen des Lernverhaltens im Unterricht und des Sozialverhaltens in der Schule allgemein enthalten. Die Praxis der Leistungsbeurteilung in der Grundschule ist heftiger Kritik ausgesetzt. Der folgende Kasten fasst die wichtigsten Kritikpunkte an Ziffernoten zusammen. Tatsächlich sind Noten leider nicht so gut, wie es aufgrund der wichtigen ihnen zukommenden Funktionen wünschenswert wäre. Dennoch sind Noten sehr viel besser als ihr Ruf. Beispielsweise bilden Noten den Leistungsstand von Schülerinnen bzw. Schülern sehr gut ab, was an der hohen Übereinstimmung mit objektiven Leistungstestmaßen abgelesen werden kann (r = .66 in einer Metaanalyse von Hoge & Coladarci, 1989). Diese hohe Validität von Noten impliziert, dass auch die Objektivität und die Reliabilität von Ziffernoten hoch sein müssen. Leider wird dieser Sachverhalt immer wieder falsch dargestellt, indem darauf hingewiesen wird, dass verschiedene Lehrkräfte für ein- und dieselbe
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Leistung zu sehr unterschiedlichen Urteilen kämen. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, hat doch diese Art der Aufgabenstellung nichts mit der Notenvergabe unter realen Bedingungen zu tun. Gibt man Lehrkräften hingegen einen Klassensatz von schriftlichen Arbeiten, so kommen diese zu hoch übereinstimmenden Beurteilungen (Ingenkamp, 1989). Noten besitzen demnach durchaus gute messtheoretische Eigenschaften. Kritik an Ziffernoten (vgl. Becker & von Hentig, 1983; Brügelmann, 2006): Die Kritik an Ziffernnoten besteht darin, dass sie • schulische Leistungen nicht gut abbilden (Diskussion um Objektivität, Reliabilität und Validität von Beurteilungen durch Lehrkräfte), • mehr demotivieren als motivieren, • das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schülerinnen bzw. Schülern belasten, • zu Vergleichen zwischen Schülerinnen bzw. Schülern und damit zu Konkurrenzdenken anregen, • keine Informationen über Wege zur Verbesserung liefern (Produkt- statt Prozessorientierung), • einseitig Schwerpunkte auf gut messbare Leistungen legen und dabei soziales Lernen und kreative Leistungen vernachlässigen, • Lernen im Gleichschritt voraussetzen und damit einer Individualisierung des Unterrichts durch Freiarbeit und innere Differenzierung entgegenstehen, • als Fachnoten das Festhalten an Fächergrenzen implizieren und fächerübergreifendem Lernen und Arbeiten (z. B. Projektunterricht) entgegenstehen.
Zu bedenken gilt allerdings, dass sich Lehrkräfte bei der Notengebung an einem klasseninternen Bezugsrahmen orientieren. Der Vergleich von Noten über Klassen hinweg, wie er etwa beim Übergang in die Sekundarstufe I angestellt wird, ist demnach höchst problematisch. Umso beeindruckender ist es, dass sich Schulnoten auch über Klassen hinweg immer wieder als gute Prädiktoren für zukünftige Leistungen erweisen (Metaanalysen von Baron-Boldt, Schuler & Funke, 1988; Trapmann, Hell, Weigand & Schuler, 2007). Als Alternative zu Ziffernoten werden von deren Kritikerinnen und Kritikern vor allem Verbalberichte und weitere Formen der Leistungsbeurteilung vorgeschlagen, die weniger auf normativen Vergleichen beruhen und über individuelle Lernwege informieren sollten. Die Überlegenheit dieser alternativen Beurteilungsformen konnte jedoch empirisch bislang nicht nachgewiesen werden. Zum Beispiel untersuchten Rosenfeld und Valtin (1997) Fähigkeitsselbstkonzepte, die Lernfreude und die Leistungsängstlichkeit von Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 2 bis 4, die entweder mit Ziffernoten oder Verbalberichten beurteilt worden waren. Dabei zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen (vgl. ähnliche Ergebnisse bei Wagner & Valtin, 2003). Dieses Ergebnis ist insofern nicht verwunderlich, als viele Verbalzeugnisse lediglich eine Übersetzung von Ziffernoten in Sätze beinhalten und nur selten dem Anspruch an ausführliche Lernentwicklungsberichte genügen (Benner & Ramseger, 1985). Bei genauerem Hinsehen geht es in der Debatte um Ziffernoten und andere Beurteilungsformen nicht um Zahlen vs. Buchstaben. Vielmehr befürworten Gegnerinnen bzw. Gegner von Ziffernoten häufig komplett andere pädagogische Konzepte als die heute
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gängigen. Dazu gehören die Abschaffung des Fächerunterrichts zugunsten fächerübergreifender Unterrichtsformen wie Projektarbeit, ein größtmögliches Maß an Individualisierung des Unterrichts, so dass nicht alle zum gleichen Zeitpunkt die gleichen Fähigkeiten erwerben, die Veränderung der Rolle der Lehrkraft (weg von der Prüfungs- hin zur Beratungsrolle) und die Schaffung eines kooperativeren Klimas im Klassenzimmer. Ziffernoten werden häufig als stellvertretendes Merkmal eines traditionellen Unterrichts angesehen und daher so scharf kritisiert. Ziffernoten vs. Verbalberichtszeugnisse: Bei der Diskussion um angemessene Leistungsbeurteilung in der Grundschule geht es nicht um Ziffern vs. Buchstaben auf dem Zeugnis, sondern um grundlegend unterschiedliche pädagogische Konzeptionen von Schule. Überzeugende empirische Belege, die für die Wirksamkeit solcher Konzepte und gegen Ziffernoten sprechen, gibt es bislang jedoch nicht.
Merkmale der Lehrkräfte. Wie die meisten Berufe, die im öffentlichen Interesse stehen, so hat auch das Grundschullehramt ein bestimmtes Image. Das Lehramtsstudium für die Grundschule gilt als ein wenig wissenschaftliches, kurzes Studium, das in einen sicheren Beruf führt, der genügend Zeit für die eigene Familie lässt (vgl. Kasten unten). Diesem Image entsprechend wird der Beruf ganz überwiegend von Frauen ausgeübt. Als Grund für die Studien- und Berufswahl wird von Grundschullehrkräften vor allem die Freude an der pädagogischen Arbeit mit Kindern hervorgehoben (z. B. Ulich, 2004). Daraus wird häufig geschlossen, Grundschullehrkräfte besäßen wenig fachliches und wissenschaftliches Interesse und womöglich auch nicht die nötigen kognitiven und motivationalen Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Studium (Gold & Giesen, 1993). Dieser Vorstellung widersprechen Befunde einer Studie von Spinath, van Ophuysen und Heise (2005), denen zufolge Studierende des Lehramts für Primarstufe hinsichtlich ihrer Intelligenz und Leistungsmotivation ein Profil aufweisen, das dem von Gymnasiallehrkräften sehr ähnlich ist. Das Stereotyp, dass unter den Lehramtsstudierenden die zukünftigen Grundschullehrkräfte die schlechtesten Bildungsvoraussetzungen besäßen, kann auf dieser Grundlage zurückgewiesen werden. Ausbildung zur Grundschullehrkraft: Die Lehramtsausbildung findet in allen deutschsprachigen Ländern in mehreren Phasen statt, deren erste Phase schwerpunktmäßig theoretisch-wissenschaftlicher Natur ist. Dieser Teil der Ausbildung findet für das Grundschullehramt zum Teil an Universitäten (in ganz Deutschland außer Baden-Württemberg), zum Teil in besonderen lehrkräftebildenden Pädagogischen Hochschulen oder Akademien statt. In Österreich und Baden-Württemberg werden nur die Gymnasiallehrkräfte an Universitäten ausgebildet, alle anderen Lehrkräfte an Pädagogischen Hochschulen bzw. Akademien. Dort, wo die Ausbildung der Grundschullehrkräfte an Universitäten stattfindet, handelt es sich häufig um ein kürzeres Studium als für die weiteren Lehrämter.
Will man nun nicht nur die Bildungsvoraussetzungen, sondern die berufsbezogenen Kompetenzen der Grundschullehrkräfte einschätzen, so ist festzustellen, dass es hierüber
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nur wenige Befunde gibt. Eine Grundlage für eine solche Einschätzung bilden z. B. die von Oser und Oelkers (2001) oder von der Deutschen Kultusministerkonferenz (2004) formulierten Standards für die Ausbildung von Lehrkräften. In Deutschland liegen bislang lediglich bildungswissenschaftliche, nicht jedoch fachbezogene und fachdidaktische Standards vor. In diesen bildungswissenschaftlichen Standards für die Ausbildung von Lehrkräften werden die vier Kompetenzbereiche Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren ausgewiesen und in insgesamt 11 Kompetenzen unterteilt. Für den Kompetenzbereich Beurteilen liegt eine Reihe von Befunden über die diagnostische Urteilsgüte von Lehrkräften vor, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Laut bildungswissenschaftlichen Standards sollen Lehrkräfte in der Lage sein, Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern korrekt zu diagnostizieren, um Schülerinnen und Schüler gezielt fördern und Eltern beraten zu können (Kompetenz 7). Davon abgegrenzt wird die Forderung, dass Lehrkräfte die Leistung von Schülerinnen und Schülern anhand transparenter Bewertungsmaßstäbe diagnostizieren sollen (Kompetenz 8). Zahlreiche Studien zeigen, dass Lehrkräfte sehr gute Leistungsdiagnostikerinnen bzw. -diagnostiker sind (zusammenfassende Metaanalyse von Hoge & Coladarci, 1989). Dies gilt jedoch nur, wenn als Maß für die Güte der Einschätzung die Korrelation zwischen dem Urteil der Lehrkraft und einem objektiven Leistungstest herangezogen wird (d. h., dass geschaut wird, ob die Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer Leistungen in eine korrekte Rangreihe gebracht werden können). Was Lehrkräfte hingegen nicht gut gelingt, ist die Einschätzung des absoluten Leistungsniveaus (z. B. Schrader, Helmke, Hosenfeld, Halt & Hochweber, 2006; Schrader & Helmke, 1987). Beispielsweise wurden Lehrkräfte einer Ergänzungsstudie von PISA aufgefordert einzuschätzen, wie viele ihrer Schülerinnen und Schüler aufgrund geringer Lesefähigkeit Schwierigkeiten beim Übergang in den Beruf haben würden (Deutsches PISA-Konsortium, 2001, S. 119). Da solche Urteile über die absolute oder an Kriterien gemessene Leistung von Lehrkräften im Schulalltag so gut wie nie gefordert sind, kommt es bei solchen Urteilen häufig zu Über- oder Unterschätzungen (zusammenfassend Schrader, 2001). Die Diagnose von Leistungsvoraussetzungen wie z. B. Intelligenz, Motivation, Prüfungsängstlichkeit fällt Lehrkräften insgesamt noch schwerer: Weder die Rangreihe innerhalb ihrer Klasse noch das absolute Niveau der Merkmalsausprägungen kann zufriedenstellend genau eingeschätzt werden (Spinath, 2005). Dies ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil die meisten Lehrkräfte davon überzeugt sind, ihre Schülerinnen bzw. Schüler hinsichtlich dieser Merkmale gut einschätzen zu können. Mit dem Ziel, die Güte diagnostischer Urteile von Lehrkräften in Bezug auf Leistungen zu verbessern, wurde das Projekt VERA (Vergleichsarbeiten in 4. Grundschulklassen) initiiert (Helmke, Hosenfeld & Schrader, 2004). Das Projekt VERA nutzt Vergleichsarbeiten als Werkzeug für die Verbesserung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften. Kernelement ist die Durchführung von standardisierten Leistungserhebungen, die den Vergleich der Schülerinnen- bzw. Schülerleistungen über Klassen hinweg ermöglichen. Die Lehrkräfte werden gebeten, Einschätzungen der Aufgabenschwierigkeit und des Abschneidens der von ihnen unterrichteten Klassen vorzunehmen, bevor diese die vergleichenden Schulleistungstests in Deutsch oder Mathematik bearbeiten. Die an der Untersuchung beteiligten Lehrkräfte bekommen ihre Diagnoseleistung zurückgemeldet, um im Anschluss an die individuelle Reflexion der Ergebnisse diese gemeinsam zu
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diskutieren und mögliche Gründe für Fehldiagnosen zu erarbeiten. Über die Wirksamkeit dieses Ansatzes zur Verbesserung der Urteile von Lehrkräften liegen derzeit noch keine Ergebnisse vor.
4 Bildungsmonitoring Unter Bildungsmonitoring versteht man die systematische, empirische Gewinnung von Indikatoren der Bildungsqualität. Die von der OECD angestoßenen internationalen Schulleistungsuntersuchungen waren der Beginn einer zunehmend systematischen Analyse der Qualität schulischer Arbeit. Bildungsmonitoring wird dabei als wesentlicher Baustein für die Sicherung der Bildungsqualität angesehen. Im Folgenden werden einige zentrale Erkenntnisse, die das internationale Bildungsmonitoring zur Qualität der Arbeit im Primärbereich liefert, dargestellt. Die Darstellung stützt sich vor allem auf Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) sowie der jährlich mit unterschiedlichem Schwerpunkt erscheinenden Studie Bildung auf einen Blick (hier OECD, 2003). Da die Schweiz sich an IGLU (und TIMSS) nicht beteiligt hat, bezieht sich die Darstellung lediglich auf Deutschland und Österreich. Internationale Schulleistungsuntersuchungen stellen der Grundschule in Deutschland und Österreich ein gutes Zeugnis aus. Insbesondere im Lesen erreichen deutsche und österreichische Grundschülerinnen und -schüler sehr gute und gute Leistungen (Bos et al., 2007). Trotz der Heterogenität der Population der Schülerinnen- und Schüler gelingt es im Primärbereich gut, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu homogenisieren. Während in der Sekundarstufe in Deutschland und Österreich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich sehr stark von Faktoren des Elternhauses wie Migrationsstatus und sozioökonomischem Status abhängen, ist dies in der Grundschule deutlich weniger der Fall. Den positiven Ergebnissen in Bezug auf die Leistungen entsprechen auch die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zu schulischem Lernen. So verfügen deutsche und österreichische Grundschülerinnen und -schüler laut IGLU 2001 bzw. 2006 (Bos et al., 2004, 2007) über vergleichsweise positive Leseselbstkonzepte und hohe Lesemotivation. Geht man von den drei deutschsprachigen Ländern aus, so hat das Abschneiden der Grundschulen wenig mit der Höhe der Investitionen im Primärsektor zu tun. Während Österreich und die Schweiz im internationalen Vergleich überdurchschnittlich in den Primärsektor investieren, finanziert Deutschland seine Grundschulen unterdurchschnittlich (OECD, 2003). Dies macht das gute Abschneiden deutscher Grundschulen umso erstaunlicher. Die finanzielle Ausstattung der Schulen macht sich weniger in der durchschnittlichen Klassengröße bemerkbar, die mit rund 22 Schülerinnen und Schülern in Deutschland und Österreich fast gleich ist (Bos et al., 2007, S. 51) und mit 19 Schülerinnen und Schülern in der Schweiz nur etwas niedriger liegt (Statistisches Lexikon der Schweizer Eidgenossenschaft, 2007/2008). Allerdings gibt es in Deutschland so gut wie keine Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler mit besonderen Lern- und Erziehungsbedürfnissen in den Regelschulen zur Seite stehen. Dies ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich, wo in den meisten Ländern in deutlich größerem Ausmaß Expertinnen
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bzw. Experten (z. B. Förderlehrkräfte) zur Unterstützung der Klassen- und Fachlehrerkräfte zur Verfügung stehen. Dem guten Abschneiden in Bezug auf die Merkmale von Schülerinnen- bzw. Schüler entspricht eine hohe Zufriedenheit der Eltern mit der Grundschule (Infratest Sozialforschung, 2003). Der Anteil zufriedener Eltern ist im deutschen Schulsystem in der Grundschule am höchsten (62 %) und nimmt in der Sekundarstufe ab. Die Grundschule hat auch den höchsten Anteil an Eltern, die sich für die Schule engagieren. Gering ist jedoch die Zufriedenheit mit Fördermöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit besonders hohen oder besonders niedrigen Leistungen. Gutes Zeugnis für Grundschule: Das international vergleichende Bildungsmonitoring stellt der deutschsprachigen Grundschule ganz überwiegend ein gutes Zeugnis aus. Die Schülerinnen und Schüler erzielen gute Leistungen, deren Streubreite so gut wie nicht ansteigt, haben positive Fähigkeitskonzepte und eine hohe schulbezogene Motivation. Entsprechend zufrieden sind die Eltern mit der Grundschule.
5 Praktische Implikationen Vielleicht gerade weil im Allgemeinen gilt, dass in der Grundschule die Welt noch in Ordnung ist, ist dies die reformfreudigste, offenste Schulform überhaupt. So ist die Grundschule der Ort, an dem die meisten Entwicklungen von Unterrichtsformen (z. B. Wochenpläne, Lerntagebücher) und schulischer Organisation stattfinden (z. B. jahrgangsübergreifender Unterricht, verlässliche Grundschule im Sinne fester Betreuungszeiten für Schülerinnen und Schüler). Wahrscheinlich gelingt es der Grundschule deshalb so gut, die Herausforderungen, die mit der heterogenen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler einhergehen, zu meistern. Es ist jedoch festzustellen, dass die meisten dieser Lehr- und Lernformen wissenschaftlich nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft wurden. So bleibt die Frage offen, inwiefern die besonderen Unterrichtsformen und weiteren Kontextfaktoren der Grundschule kausal für die guten Leistungen und positiven Einstellungen von Schülerinnen bzw. Schülern und Eltern verantwortlich sind. Alternativ könnten auch die Entwicklungsbedingungen der Schülerinnen und Schüler (von Beginn an optimistische Selbsteinschätzungen, hohe Motivation etc.) sowie der Neuheitscharakter der Schule und ihrer Inhalte für die positiven Ergebnisse verantwortlich sein. Bevor die Verlängerung der Grundschule oder ihrer Prinzipien als Heilmittel für das Bildungssystem propagiert werden kann, sind Wirksamkeitsstudien nötig, in denen die Konfundierung von individuellen Merkmalen von Schülerinnen- bzw. Schülern, allgemeinen Entwicklungsständen und Faktoren des Bildungskontextes aufgehoben wird. Wie schwierig das im Rahmen des existierenden Schulsystems ohne experimentelle Manipulation ist, zeigt die Irritation im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Studie ELEMENT (Lehmann & Nikolova, 2003), die die Vor- und Nachteile der sechsjährigen Grundschule untersucht hat. Je nach Lesart wurden die Ergebnisse dieser Studie als
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Beleg für die Überlegenheit der vierjährigen bzw. aber der sechsjährigen Grundschule gedeutet. Kontrollierte Schulversuche mit streng experimentellen Bedingungen würden klarere Ergebnisse zur Wirksamkeit von Lehr-Lernarrangements garantieren, werden jedoch aufgrund pragmatischer Überlegungen so gut wie nie realisiert. Praktische Implikationen sind aus den großen Schulleistungsuntersuchungen, die eben nicht darauf ausgelegt sind, Ursache-Wirkungszusammenhänge zu untersuchen, nur sehr vorsichtig zu ziehen. Es kann zwar formuliert werden, welche Zustände verändert werden sollten, nicht aber durch welche Mittel dies zu bewerkstelligen ist. In diesem Sinne sind Empfehlung für die Praxis, wie sie aus internationalen Schulleistungsuntersuchungen abzuleiten sind, nur Beschreibungen von Verbesserungsbedürfnissen, nicht jedoch bereits Mittel, um diese Ziele zu erreichen (vgl. Empfehlungen im Kasten). Empfehlungen als Reaktion auf die Ergebnisse von IGLU 2006 und PISA 2007: Gemeinsame Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz und des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung (aus: Deutsches Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2007, S. 4 f.): 1. Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich. 2. Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung. 3. Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung und durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz und des grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. 4. Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. 5. Maßnahmen zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage von verbindlichen Standards sowie eine ergebnisorientierte Evaluation. 6. Maßnahmen zur Verbesserung der Professionalität der Lehrkräftetätigkeit, insbesondere im Hinblick auf diagnostische und methodische Kompetenz als Bestandteil systematischer Schulentwicklung. 7. Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungs- und Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schüler/innen mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen.
6 Zukünftige Entwicklungen im Primärbereich Welches sind die zukünftigen Herausforderungen und Aufgaben für die Bildungspsychologie im Primärbereich hinsichtlich Forschung und Praxis? Im Folgenden werden nur einige Themen aufgegriffen. Die Auswahl richtet sich nach den in diesem Kapitel besprochenen Themen. Wendet man den Blick zunächst auf den Bereich der Forschung, so gilt es, die Bemühungen im Bereich des Bildungsmonitorings beizubehalten und zu verstärken. Neben den in Wellen durchgeführten Schulleistungsstudien wie IGLU besteht ein Bedarf an spezifisch auf einzelne Teilbereiche und Fragestellungen zugeschnittenen Studien.
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Während es die Aufgabe der großen Schulleistungsuntersuchungen ist, den Status quo zu erfassen, können kleinere Studien mit längsschnittlichen oder intervenierenden Designs die hinter diesen Ergebnissen liegenden Ursachen analysieren. Bislang gibt es erstaunlich wenig gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit bestimmter Unterrichtsformen. Ist das gute Abschneiden deutscher Grundschülerinnen und -schüler tatsächlich auf Unterrichtsformen wie Frei-, Projekt- und Wochenplanarbeit zurückzuführen? Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen wird erst eine Weiterentwicklung von Methoden der Unterrichtsbeobachtung, etwa mittels Videoanalysen, größere Fortschritte ermöglichen. Insgesamt zu wenig beforscht sind auch die Wirkungen alternativer Schulund Unterrichtskonzepte, wie sie etwa in Waldorfschulen praktiziert werden. Großer Forschungsbedarf besteht auch bezüglich der Kompetenzen von Lehrkräften. In dem hier exemplarisch besprochenen Bereich der diagnostischen Kompetenzen fehlt es bislang an Interventionsstudien, die zeigen, wie die Urteilsgüte von Lehrkräften in Bezug auf Voraussetzungen für Leistung, aber auch die Diagnose des eigenen Unterrichts verbessert werden kann. Als letztes großes Forschungsfeld soll die Entwicklung der Bildungsvoraussetzungen der Grundschülerinnen und -schüler genannt werden. Mit dem Ziel, langfristig ungünstige Entwicklungen zu verhindern, werden auch weiterhin die Veränderungen motivationaler und emotionaler Faktoren große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Beispielsweise gilt es zu klären, warum die schulbezogene Lernmotivation im Laufe der Grundschule sinkt und inwiefern Unterrichtsbedingungen diesen Trend beeinflussen können. In Bezug auf die Praxis in den Grundschulen sind eine Reihe von Veränderungen als Reaktion auf Herausforderungen bereits angestoßen worden. Zu den wichtigsten Maßnahmen der Qualitätssicherung gehören die Bildungsstandards, die kompetenzorientierte Bildungsziele formulieren und die Grundlage für deren Überprüfung liefern. Zum Beispiel hat in Deutschland im Oktober 2004 die Kultusministerkonferenz Bildungsstandards für den Primärbereich in den Fächern Deutsch und Mathematik beschlossen. Diese legen fest, welche Kompetenzen Schülerinnen bzw. Schüler bis zur Jahrgangsstufe 4 erworben haben sollten. Diese Bildungsstandards sollen den Wandel von der Inputorientierung zur Outputorientierung in die Schulen tragen. Die Herausforderung für die Schulen besteht darin, ihren Unterricht so zu entwickeln, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschulzeit die Bildungsstandards erfüllen. Dies darf jedoch nicht durch ein Teaching-to-the-Test erreicht werden. Stattdessen sollte sich das Niveau anderer, nicht durch die Bildungsstandards erfasster Kompetenzen nicht verschlechtern. Weitere Veränderungen betreffen unter anderem die Einführung fester Schulöffnungszeiten, die Weiterentwicklung von flexiblen Schuleingangsphasen und den Ausbau von Ganztagsschulen. Auszubauen ist des Weiteren der Bereich der Sprachstandsdiagnostik und der Sprachförderung. Diese Aufgaben sollten jedoch nicht den Grundschullehrkräften übertragen werden. Für solche, wie für alle zusätzlichen Aufgaben, die die Förderung in bestimmten Bereichen betreffen, sind besonders geschulte Pädagoginnen bzw. Pädagogen und Psychologinnen bzw. Psychologen nötig. Die Förderung der Arbeit im Team von Lehrkräften und pädagogisch-psychologischen Expertinnen bzw. Experten ist eine weitere Aufgabe für die praktische Arbeit in den Grundschulen.
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Andreas Helmke, Tuyet Helmke, Nora Heyne, Annette Hosenfeld, Friedrich-Wilhelm Schrader und Wolfgang Wagner
Höheres Erwachsenenalter
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1 Die Rolle der Klassenführung in der Unterrichtsforschung
Handlungsebenen
Effiziente Klassenführung als Schlüsselmerkmal der Unterrichtsqualität – ein Untersuchungsbeispiel aus der Grundschule
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
„Klassenführung“ als UnterrichtsAufgabenbereiche qualitätsmerkmal bezeichnet die Sicherung geeigneter Rahmenbedingungen für einen geordneten Unterrichtsablauf. Eine effiziente Klassenführung ist durch ein klares Regelsystem, eine effektive Zeitnutzung und Störungskontrolle gekennzeichnet. Zum einen steuert sie die aktive Lernzeit, zum anderen signalisiert eine dem Auftreten von Störungen entgegenwirkende und aufgabenorientierte Unterrichtsführung die Wichtigkeit und den Wert von Unterricht und Lernen (Helmke, 2007). Kein anderes Merkmal des Unterrichts weist so eindeutige Zusammenhänge mit der Kompetenzentwicklung auf wie die Klassenführung (Evertson & Weinstein, 2006). So konnte beispielsweise die bisher umfangreichste deutsche Grundschulstudie SCHOLASTIK des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung (Leitung: Prof. Dr. F. E. Weinert) einen beachtlichen Zusammenhang zwischen Klassenführung und dem Leistungszuwachs in Mathematik (r = .36) zeigen (Helmke & Weinert, 1997). Erkenntnisse der empirischen Unterrichtsforschung basieren im Kern auf einem so genannten Prozess-Produkt-Ansatz, bei dem Zusammenhänge zwischen Prozessmerkmalen und Produktmaßen des Unterrichts untersucht werden. Prozessmerkmale sind durch Unterrichtsbeobachtungen gewonnene Angaben zur Ausprägung bestimmter Unterrichtsmerkmale, wie z. B. Klarheit, Verständlichkeit oder Schülerinnen- bzw. Schüleraktivierung (Helmke, 2010). Produktmaße beziehen sich auf Ergebnisse des Unterrichts, anhand derer die Unterrichtswirksamkeit bestimmt wird. Meistens handelt es sich um die von Schülerinnen und Schülern erreichte Leistung oder ihren Lernzuwachs. Ein Unterricht wird demnach als erfolgreich angesehen, wenn er nachgewiesenermaßen zur Verbesserung von schulischen Leistungen oder zu Lernzuwächsen führt. Neben der Leistung sind aber auch andere Zielkriterien denkbar, wie z. B. die Verbesserung der Lernfreude oder der Sozialkompetenz.
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2 Entwickeln sich die Leistungen von Schülerinnen und Schülern in Abhängigkeit von bestimmten Unterrichtsmerkmalen? Anhand von Daten aus dem in 51 Klassen in Rheinland-Pfalz durchgeführten Forschungsprojekt „VERA – Gute Unterrichtspraxis“ (Helmke et al., 2008) wurde untersucht, ob sich in effizient geführten Klassen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler günstig entwickeln. Als Zielkriterium wurde dabei die Entwicklung der Lesekompetenz im Verlauf der 4. Jahrgangsstufe herangezogen. Lesekompetenz wird hierbei in Anlehnung an Konzepte der PISA-Studie definiert als Fähigkeit, „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Deutsches PISA-Konsortium, 2001, S. 80). Sie wurde zu zwei Messzeitpunkten (Beginn und Ende der vierten Jahrgangsstufe) mit einem 30-minütigen Test (Lesetext mit 12 auf den Text bezogenen Fragen) erfasst (Helmke & Hosenfeld, 2003). Die Erfassung der Klassenführung erfolgte mithilfe von Items aus dem IGLU-Fragebogen für Schülerinnen und Schüler (Bos et al., 2005). Dabei sollte u. a. beurteilt werden, wie oft es im Unterricht vorkommt, dass • es laut ist und alles durcheinander geht; • zu Beginn der Stunde mehr als fünf Minuten vergehen, in denen gar nichts passiert; • die Lehrperson lange warten muss, bis Ruhe einkehrt; • die Schülerinnen und Schüler nicht ungestört arbeiten können. Zur Beantwortung dieser Fragen konnten die Schülerinnen und Schüler zwischen den Antwortoptionen „in jeder Stunde“, „in den meisten Stunden“, „in einigen Stunden“ oder „nie“ wählen.
3 Leistungszuwachs im Leseverstehen in Abhängigkeit von der Klassenführung aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler Zur Veranschaulichung und Inspektion der Daten wurde das in Abbildung 1 gezeigte Streudiagramm („Scatterplot“) erstellt. Darin ist das Ergebnis jeder Klasse, das sich aus einer bestimmten Ausprägung der Klassenführung (x-Achse) und der Lernkompetenz (y-Achse) ergibt, durch ein Kreuz dargestellt. Bei der Lernkompetenz handelt es sich um einen „bereinigten“ Wert (Residuum) der Lesekompetenz zum Ende der 4. Jahrgangsstufe, bei welchem nur der Anteil berücksichtigt wurde, der nicht bereits durch Kontextmerkmale (Erstsprache usw.) sowie durch die bereits zu Beginn des Schuljahres vorhandene Lesekompetenz (Vortest) vorhergesagt werden kann. Diese bereinigten Werte können als ein Maß für die Veränderung oder Entwicklung der Lesekompetenz angesehen werden. Das Ergebnismuster deutet auf einen linearen Zusammenhang hin: Je effizienter die Klassenführung, desto günstiger die Entwicklung der Lesekompetenz. Die in Abbildung 1
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eingezeichnete Linie (Regressionsgerade) gibt die Werte der Lesekompetenz an, die bei einer bestimmten Ausprägung der Klassenführung zu erwarten sind. Man sieht, dass die Werte der meisten Klassen nicht übermäßig stark von dieser Linie abweichen. Es gibt allerdings einige wenige Klassen, bei denen der aufgrund der Klassenführung vorhergesagte Lesekompetenzwert deutlich niedriger oder höher ist als in Kenntnis der Effizienz der Klassenführung erwartet werden kann.
Abbildung 1: Streudiagramm: Zusammenhang zwischen Klassenführung aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler und Lesekompetenz auf Klassenebene, bereinigt um Unterschiede im Vortest, der Erstsprache, der Geschlecht- und Schichtzusammensetzung und des prozentualen Anteils an Klassenwiederholerinnen und -wiederholern.
Der Zusammenhang wurde auf Klassenebene berechnet, wobei die Werte der einzelnen Schülerinnen und Schüler in jeder Klasse (sowohl ihre Urteile zum Unterricht als auch ihre Testergebnisse) als mittlerer Klassenwert eingingen1. Berechnet man für die in Abbildung 1 dargestellten Ergebnisse die Korrelation, so erhält man einen recht hohen Wert von r = .62 für den Zusammenhang zwischen der Effizienz der Klassenführung und der Lesekompetenz am Ende der 4. Jahrgangsstufe. Die Lesekompetenz ist also um so höher, je weniger im Unterricht Zeit für außerunterrichtliche Angelegenheiten in Anspruch genommen wird, je weniger Störungen vorkommen und – für die Entwicklung des Lese- wie auch des Hörverstehens besonders plausibel – je weniger das Lernen durch vermeidbaren Lärm in der Klasse beeinträchtigt wird. 1 Da Schulklassendaten eine komplexe Abhängigkeitsstruktur aufweisen, müssen spezielle statistische Programme wie Mplus eingesetzt werden. Diese tragen der mehrebenenanalytischen Struktur der Daten Rechnung, indem sie Klassen- und Individualebene separat berücksichtigen.
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4 Ausblick und Perspektiven Die berichteten Analysen erfolgten anhand eines einfachen Prozess-Produkt-Modells, das für die Unterrichtsforschung nach wie vor eine große Bedeutung hat. Kriterium (Produkt) ist der Zuwachs der Lesekompetenz in Abhängigkeit von der Effizienz der Klassenführung (Prozess). Natürlich gibt ein solcher Zusammenhang nur ein sehr vereinfachtes Bild. Der Komplexität der Wirkungen von Unterricht kann man durch weiterführende Analysen besser Rechnung tragen: • Kausalmodelle: Man kann die komplexen Wirkungen des Unterrichts dadurch besser abbilden, dass anstatt (wie hier) eines einzigen Merkmals mehrere verschiedene Merkmale, z. B. des Kontextes, des Unterrichtsprozesses oder der Lehrperson, gleichzeitig berücksichtigt werden. • Fachspezifität: Zusätzlich zu generischen (fachübergreifenden) Prozessmerkmalen des Unterrichts (zu denen die Klassenführung gehört) können fachspezifische Aspekte der Unterrichtsqualität berücksichtigt werden. Gerade hieraus ergeben sich bedeutsame Perspektiven für die Erweiterung des Kenntnisstandes zu erfolgreichem Unterricht. • Mediationsprozesse: Es können Prozesse auf der Seite der Schülerinnen und Schüler (z. B. deren Lernaktivitäten und Lernzeiten oder die subjektive Wahrnehmung des Unterrichts) modelliert werden, die zwischen dem Unterrichtsangebot (hier: der Klassenführung) und dem Zielkriterium (hier: der Lesekompetenz) angesiedelt sind. • Kurvilineare Zusammenhänge: Bei vielen Unterrichtsmerkmalen sind lineare Zusammenhänge mit dem Lernzuwachs nicht plausibel. Merkmale wie z. B. Motivierung oder Methodenvielfalt sollten theoretisch eher bei mittleren Ausprägungen zu einem maximalen Lernfortschritt führen. • Wechselwirkungen: Profitieren alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse gleichermaßen von einer effizienten Klassenführung, oder hängt dies von bestimmten Schülerinnen- bzw. Schülermerkmalen ab? • Mehrperspektivischer Zugang: Die Angaben der Schülerinnen und Schüler zum Unterricht können durch Daten aus videobasierten Unterrichtsbeobachtungen und Angaben der Lehrpersonen ergänzt werden (Prinzip der „Triangulation“). • Variablen- versus personzentrierter Ansatz: Die hier realisierte Analysestrategie – Prüfung von Zusammenhängen zwischen Variablen – sollte mit personzentrierten Strategien (z. B. Vergleich des Unterrichtsprofils von Klassen mit besonders günstiger vs. ungünstiger Entwicklung der Lesekompetenz) kombiniert werden. • Kulturvergleich: Der starke Effekt der Klassenführung für die Kompetenzentwicklung ist nur für Länder der westlichen Hemisphäre gesichert. Auf asiatische Länder des konfuzianisch geprägten Kulturkreises lässt sich dieses Ergebnis vermutlich nicht übertragen. Auf diese Weise können Aussagen zur Wirkung unterrichtlicher Bedingungen im Primärbereich auf die Entwicklung individueller Kompetenzen und damit von Bildungskarrieren gefunden werden. Diese können als Anhaltspunkte für die Optimierung von Unterrichtsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen genutzt werden: auf Mikroebene (Optimierung individueller Entwicklungsbedingungen), auf Mesoebene (Optimierung schulischer Prozesse und Bedingungen) und auf Makroebene (Optimierung von Unterrichtsorganisation und Lehrpersonenausbildung auf Systemebene).
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Literatur Bos, W., Lankes, E. M., Schwippert, K., Valtin, R., Voss, A. & Walther, G. (2005). IGLU. Skalenhandbuch zur Dokumentation der Erhebungsinstrumente. Münster: Waxmann. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.). (2001). PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Evertson, C. M. & Weinstein, C. S. (2006). Classroom management as a field of inquiry. In C. M. Evertson & C. S. Weinstein (Eds.), Handbook of classroom management. Research, practice, and contemporary issues (pp. 3–15). Mahwah, NJ: Erlbaum. Helmke, A. (2007). Aktive Lernzeit optimieren – Was wissen wir über effiziente Klassenführung? PÄDAGOGIK (Große Serie 2007: „Was wissen wir über guten Unterricht?“), 59 (5), 44–48. Helmke, A. (2010). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität – Diagnose, Evaluation und Optimierung des Schulklassenunterrichts (2. Auflage). Seelze: Klett-Kallmeyer. Helmke, A., Helmke, T., Heyne, N., Hosenfeld, A., Hosenfeld, I., Schrader, F.-W. & Wagner, W. (2008). Zeitnutzung im Grundschulunterricht: Ergebnisse der Unterrichtsstudie „VERA – Gute Unterrichtspraxis“. Zeitschrift für Grundschulforschung, 1, 23–36. Helmke, A. & Hosenfeld, I. (2003). Vergleichsarbeiten (VERA): Eine Standortbestimmung zur Sicherung schulischer Kompetenzen – Teil 1: Grundlagen, Ziele, Realisierung. SchulVerwaltung, Ausgabe Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland (1), 10–13. Helmke, A. & Weinert, F. E. (1997). Unterrichtsqualität und Leistungsentwicklung. Ergebnisse aus dem SCHOLASTIK-Projekt. In F. E. Weinert & A. Helmke (Hrsg.), Entwicklung im Grundschulalter (S. 241–251). Weinheim: Psychologie Verlags Union.
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Alfred Schabmann und Kathrin Klingebiel
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich l i e B en
Handlungsebenen
Entwicklung von Lesekompetenz
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Es gilt in den Ländern der westlioe ikr ene Vorschulbereich M chen Welt als selbstverständlich, eb Säuglings- und Kleinkindalter so dass Kinder ab einem bestimmten Me bene Alter das Lesen erlernen sollen. roe ak M Dabei ist nur wenigen Menschen klar, dass dies eine große Herausforderung darstellt und der Lernprozess von vielen Kindern nicht Aufgabenbereiche ohne Schwierigkeiten und Rückschläge gemeistert wird. Das folgende Kapitel zeigt beispielhaft, wie im Rahmen der empirischen Forschung der Prozess des Schriftspracherwerbs nachgezeichnet und die unterschiedlichen Anforderungen, die mit dem Lesenlernen verknüpft sind, dargestellt werden können.
1 Modelle zum Erwerb des Lesens In der wissenschaftlichen Literatur wurden Modelle zum Erwerb der Schriftsprache entwickelt (z. B. Frith, 1985; Ehri, 1999), die verschiedene Stadien bzw. Entwicklungsstufen des Lesenlernens beschreiben und erklären, welche neuen Kompetenzen auf jeder Stufe erworben werden und wie diese mit schon vorhandenen Fähigkeiten zusammenspielen. So unterscheidet Frith (1985) beispielsweise drei Phasen: In der ersten, der logografischen Phase, werden die Wörter primär aufgrund hervorstechender visueller Merkmale identifiziert (z. B. Anfangsbuchstaben). In der darauf folgenden alphabetischen Phase wird das Wissen um die Zuordnung von Buchstaben zu Lauten systematisch beim Erlesen der Wörter eingesetzt. Das letzte Stadium, die orthografische Phase, ist dadurch gekennzeichnet, dass die phonologische Rekodierung (das Erlesen der Wörter aufgrund der Buchstaben-Laut-Beziehungen) automatisiert wurde und nun rasch und fehlerfrei gelesen werden kann. Modelle wie das beschriebene, die großteils aus dem englischsprachigen Raum stammen, haben ohne Zweifel unser Verständnis des Schriftspracherwerbs vorangetrieben. Allerdings hat sich gezeigt, dass die meisten Modelle aus dem englischsprachigen Raum nur bedingt auf das Lesenlernen deutschsprachiger Kinder übertragen werden können. Dies hängt größtenteils damit zusammen, dass sich das Deutsche vom Englischen in der Regelmäßigkeit der Buchstaben-Laut-Zuordnungen stark unterscheidet. Im Deutschen ist diese Zuordnung relativ eindeutig, was das phonologische Rekodieren stark erleichtert und wodurch sich die Kinder beim Lesen schon früh auf die direkte Übersetzung von Buchstaben in Laute stützen können. Kinder in weniger regelmäßigen Schriftsystemen benötigen zusätzlich weitere Informationen (Ziegler & Goswami, 2005).
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Aus diesem Grund wurde von Klicpera, Schabmann und Gasteiger-Klicpera (2003) ein Modell entwickelt, das für den deutschen Sprachraum angemessener erscheint. Es sieht weniger eine eindeutige Abfolge von Entwicklungsschritten vor, sondern orientiert sich an wesentlichen Kompetenzen, die im Lauf des Lesenlernens erworben werden. Ausgegangen wird dabei von den Fertigkeiten, über die eine reife Leserin bzw. ein reifer Leser verfügt, nämlich einerseits rasch auf das so genannte „mentale Lexikon“ zuzugreifen, in dem Wortrepräsentationen als Ganzes abgespeichert sind, und andererseits die Wörter mittels der „phonologischen Rekodierung“ Buchstabe für Buchstabe zu erlesen (vgl. Jackson & Coltheart, 2001). Obwohl das Modell unterschiedliche Entwicklungsverläufe zulässt, werden im Groben ähnlich wie bei Ehri (1999) drei (sich stark überlappende) Phasen unterschieden. Die erste Phase (alphabetische Phase mit geringer Integration) steht dabei – anders als in anderen Modellen – bereits ganz im Zeichen des alphabetischen Prinzips und der Aneignung der phonologischen Rekodierung. Durch die relativ hohe Regelmäßigkeit in der Laut-Buchstabe-Beziehung lernen die meisten Kinder rasch, sich auf diese Strategie zu stützen und sind damit bereits wenige Wochen nach Unterrichtsbeginn in der Lage, auch unbekannte Wörter und Unsinnswörter zu erlesen (Klicpera & Schabmann, 1993). Gleichzeitig mit dem phonologischen Rekodieren entwickelt sich die Fähigkeit zum schnellen lexikalischen Abrufen von Wörtern (alphabetische Phase mit teilweiser Integration). Es werden nun immer mehr Wortteile, Wörter als Ganzes oder häufige Buchstabenkombinationen im mentalen Lexikon gespeichert. In dieser Phase begehen die Kinder zunehmend weniger Lesefehler und ihre Lesegeschwindigkeit steigert sich. In der letzten Phase (mit vollständiger Integration) ist das Lesen bereits stark automatisiert; Lesefehler sind äußerst selten und die Lesegeschwindigkeit ist deutlich angestiegen. Aus dem Modell können verschiedene Annahmen abgeleitet werden. Wir wollen hier zwei der impliziten Modellannahmen anführen und entsprechende Befunde aus der Wiener Längsschnittuntersuchung darstellen. Zum einen streicht das Modell die Bedeutung von Lernvoraussetzungen (Intelligenz, Vorläuferfertigkeiten des Schriftspracherwerbs) heraus, die unmittelbar Einfluss auf die Geschwindigkeit und „Störungsfreiheit“, mit der sich die Leseentwicklung vollzieht, haben. Wegen der hohen Regularität der deutschen Sprache sollten selbst schwächere Leserinnen und Leser in den höheren Klassen relativ wenige Lesefehler machen und sich in ihren Leistungen an ihre Altersgruppe annähern. Die größten Unterschiede zwischen schwachen und guten Leserinnen sowie Lesern sollten dann primär in der Lesegeschwindigkeit auftreten (vgl. Wimmer, Mayringer & Landerl, 1998). Ein zweiter Aspekt betrifft den Einfluss des Unterrichts. Nach dem Modell interagieren die einzelnen Entwicklungsschritte stark miteinander, wobei allerdings die Grundkompetenz der phonologischen Rekodierung die Basis bildet, die sich vor der Automatisierung ausbilden muss (vgl. Share, 1995). Mit fortdauernder Entwicklung kommt es zu einem Mechanismus der automatisierten Kompetenzentwicklung, die sich durch die Erfahrung mit der Schriftsprache zunehmend eigenständig und ohne explizite Instruktion durch die Lehrperson vollzieht. Daher ist zu erwarten, dass der Einfluss des Unterrichts auf das basale Wortlesen (nicht aber z. B. auf das Leseverständnis) abnimmt und auch die didaktische Orientierung des Erstleseunterrichts in den höheren Klassenstufen von untergeordneter Bedeutung ist.
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2 Ausgewählte Ergebnisse der Wiener Längsschnittuntersuchung – Leseentwicklung In einer Längsschnittuntersuchung, bei der über 600 Kinder aus der Umgebung von Wien über den Verlauf der Volksschulzeit wiederholt im Lesen getestet wurden, konnten diese Grundannahmen überprüft werden. Abbildung 1 zeigt, dass gute wie auch schwächere Leserinnen und Leser sich im Verlauf der vier Grundschulklassen deutlich in der Lesesicherheit (gemessen über den Prozentsatz korrekt gelesener Wörter) steigern. Die besten Leserinnen und Leser machen in der vierten Klasse kaum mehr Fehler, und insgesamt rücken die Kinder wie vermutet in ihren Leistungen zusammen. Allerdings bleibt der Abstand zwischen den Gruppen von Kindern mit unterschiedlichen Leseleistungen erhalten. Speziell die Gruppe der schwächsten Leserinnen und Leser mit einem Prozentrang unter fünf bleibt weit unter jenen der guten und durchschnittlichen Leserinnen und Leser zurück. Das umgekehrte Bild zeigt sich bei der Lesegeschwindigkeit. Zwar ist (wie bei der Lesesicherheit) ein deutlicher Anstieg der Leistungen in allen Gruppen zu erkennen, die Abstände werden über die Zeit aber insgesamt größer. Detaillierte Analysen zeigen, dass statistische Effektgrößen für den Unterschied zwischen den Gruppen bei der Lesesicherheit über die Zeit relativ stabil bleiben, während sie bei der Lesegeschwindigkeit ansteigen. Auch die zweite Annahme kann, wie Abbildung 2 zeigt, bestätigt werden. Der Varianzanteil, der durch den Unterricht erklärt wird, beträgt im Januar der ersten Klasse etwa
100
S
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5
10 0 1. Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse 1. Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse Lesegeschwindigkeit PR < 6
PR 6–15
Lesesicherheit PR 16–30
5
PR 31–70
S
PR > 70
Abbildung 1: Entwicklung der Lesegeschwindigkeit (Wörter pro Minute) und Lesesicherheit (Prozent richtig gelesener Wörter) bei Kindern mit unterschiedlicher Lesefähigkeit.
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30 %, wobei ein Großteil auf den Einfluss der grundlegenden didaktischen Orientierung im Erstleseunterricht zurückzuführen ist. Hier wurden zwei Unterrichtsmethoden unterschieden. In Klassen mit einem „systematischen Unterricht“ wurden die BuchstabenLaut-Zuordnungen von den Lehrpersonen explizit erklärt, und die Lesebücher enthielten auch nur solche Wörter, die aus bereits eingeführten Buchstaben bestanden. In Klassen mit einem „weniger systematischen Unterricht“ wurden zwar einzelne Buchstaben vorgestellt, die Buchstaben-Laut-Zuordnungen wurden jedoch weit weniger intensiv geübt und die Kinder sollten auch Wörter lesen, deren Buchstaben ihnen teilweise unbekannt waren. Schon am Ende der ersten Klasse spielt die didaktische Orientierung kaum mehr eine Rolle, und auch der Einfluss des Unterrichts geht deutlich zurück.
35 30 25 20 15 10 5 0 1. Klasse Jänner
1. Klasse Juni
2. Klasse
Einfluss Unterricht
3. Klasse
4. Klasse
Einfluss Lautorientierung
Abbildung 2: Anteil der durch den Unterricht bzw. die didaktische Orientierung des Erstleseunterrichts (Lautorientierung) erklärten Varianz an der Gesamtleseleistung von Anfang der ersten Klasse bis zur vierten Klasse Grundschule.
3 Zusammenfassung Es wurde beispielhaft dargelegt, wie theoretische Annahmen über die Entwicklung des Lesens im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung empirisch geprüft werden können. Es wurde gezeigt, dass es beim Erlernen des Lesens relativ rasch zu einer Automatisierung kommt, die mit einer Verminderung der Lesefehler und einem Anstieg der Lesegeschwindigkeit einher geht, Unterschiede zwischen schwachen und durchschnittlichen Leserinnen bzw. Lesern jedoch auch noch am Ende der Grundschulzeit deutlich ausgeprägt sind. Zudem konnte gezeigt werden, dass der Einfluss des Unterrichts – speziell der methodischen Orientierung im Erstleseunterricht – über die Zeit abnimmt.
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Literatur Ehri, L. C. (1999). Phases of development in learning to read words. In J. Oakhill & R. Beard (Eds.), Reading development and the teaching of reading: A psychological perspective (pp. 79– 108). Oxford: Blackwell Science. Frith, U. (1985). Beneath the surface of developmental dyslexia. In K. E. Patterson, J. C. Marshall & M. Coltheart (Eds.), Surface Dyslexia (pp. 300–330). London: Erlbaum. Jackson, N. & Coltheart, M. (2001). Routes to reading success and failure. Hove: Psychology Press. Klicpera, C. & Schabmann, A. (1993). Do German-speaking children have a chance to overcome reading and spelling difficulties? European Journal of Psychology of Education, 3, 307–323. Klicpera, C., Schabmann, A. & Gasteiger-Klicpera, B. (2003). Legasthenie. München: Ernst Reinhardt. Share, D. L. (1995). Phonological recoding and self-teaching: sine qua non of reading acquisition. Cognition, 55, 151–218. Wimmer, H., Mayringer, H. & Landerl, K. (1998). Poor reading: A deficit in skill automatization or a phonological deficit? Scientific Studies of Reading, 2, 321–340. Ziegler, J. & Goswami, U. (2005). Reading Acquisition, Developmental Dyslexia, and Skilled Reading Across Languages: A Psycholinguistic Grain Size Theory. Psychological Bulletin, 131 (1), 3–29.
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Reinhard Pekrun, Anne C. Frenzel und Thomas Götz
Höheres Erwachsenenalter
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Einführung
Primärbereich
Vorschulbereich
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des Sekundärbereichs
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter Zentraler Gegenstand der Bildungspsychologie des Sekundärbereichs ist die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung im Sekundarschulwesen, also vom Ende der Grundschulzeit bis zum Aufgabenbereiche Schulabschluß. Dabei handelt es sich um ein klassisches Themenfeld der Bildungspsychologie. Gesellschaftlicher Auftrag von Schule ist es, die Entwicklung aller Mitglieder der heranwachsenden Generation gezielt zu beeinflussen, um den Fortbestand von Gesellschaft und kultureller Menschheitsevolution zu sichern (Fend, 2006). Im Unterschied zur familiären Sozialisation unterliegt Schule einer direkten gesellschaftlichen Steuerung, und im Unterschied zu nachschulischen Institutionen der Bildung, die jeweils für Teilgruppen der Bevölkerung relevant werden, handelt es sich um eine flächendeckende Einflussnahme auf sich entwickelnde Individuen. Es nimmt daher nicht wunder, dass Schule traditionell nicht nur ein zentrales Handlungsfeld der Bildungspolitik ist, sondern auch in den Bildungswissenschaften häufig mehr Aufmerksamkeit erfährt als außer- und nachschulische Bildungsprozesse.
Bereits die Anfänge der Bildungspsychologie waren durch schulbezogene Fragestellungen bestimmt. Im Vordergrund standen zunächst begabungspsychologische Probleme, insbesondere im Bereich der Strukturanalyse und Diagnostik individueller kognitiver Voraussetzungen für schulisches Lernen. Von Beginn an war hier Grundlagenforschung mit Anwendungsperspektiven verschränkt. So lag beispielsweise ein zentraler Auslöser für die Entwicklung des ersten standardisierten Intelligenztests (Binet & Simon, 1905) in einem Auftrag des französischen Erziehungsministeriums, ein Instrumentarium zu entwickeln, das es in psychometrisch zufriedenstellender Weise ermöglichen sollte, kognitive Voraussetzungen für den Besuch von Regel- und Förderschule zu diagnostizieren. Nach der „kognitiven Wende“ in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts trat dann neben solche differenziellpsychologischen und diagnostischen Ansätze die Wissens- und Expertiseforschung, welche die Strukturen des menschlichen Gedächtnisses und die Prozesse der Informationsverarbeitung beim Erwerb von Wissen und Expertise untersucht (vgl. Gruber & Ziegler, 1996). Für die Erklärung von schulischem Lernen spielt diese Forschung heute eine zentrale Rolle.
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Reinhard Pekrun, Anne C. Frenzel und Thomas Götz
Im Gefolge der Entwicklung umfassenderer Persönlichkeitskonzeptionen (z. B. Allport, 1937) wurden von den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts an auch nicht-kognitive Merkmale von Schülerinnen und Schülern in den Blick genommen. Seit den 50er Jahren wird die Forschung in diesem Bereich durch zwei Forschungstraditionen dominiert, die auch heute noch hohe Vitalität zeigen: der Forschung zu Prüfungsangst (Zeidner, 2007) und zu Leistungsmotivation (Heckhausen & Heckhausen, 2006). Die in der Pädagogik früh einsetzende Debatte um die Interessensentwicklung bei Schülerinnen und Schülern hingegen wurde in der Psychologie erst von den 70er Jahren an stärker rezipiert und in Studien zur Lernmotivation einbezogen (Dewey, 1913; Schiefele, 2001). Entwicklung der Bildungspsychologie: • Die Anfänge: Begabungspsychologische Fragestellungen (z. B. Entwicklung des ersten standardisierten Intelligenztests 1905). • 50er und 60er Jahre: Kognitive Wende (z. B. Gedächtnisexperimente). • Parallel dazu: Motivations- und persönlichkeitspsychologische Forschung zu nichtkognitiven Merkmalen von Schülerinnen und Schülern (z. B. Interesse, Leistungsmotivation, Prüfungsangst).
Dabei ist die schulbezogene Bildungspsychologie bis heute stark von individuumszentrierten Perspektiven allgemein-, differenziell- und entwicklungspsychologischer Art gekennzeichnet: Die Schülerin bzw. der Schüler steht im Mittelpunkt der Forschungsbemühungen. Schulische Umwelten und ihre Vernetzungen mit Familie, Nachbarschaft und Gemeinde werden von der Psychologie bisher weniger intensiv thematisiert. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Ebene von Schulsystemen, die Motivhintergründe der politischen und administrativen Steuerung solcher Systeme und den Einfluss von Gesellschaft und Kultur auf Schule; Fragestellungen, die einer (auch) psychologischen Analyse bedürfen, gegenwärtig aber eher der Pädagogik, Bildungssoziologie und Bildungsökonomie überlassen werden (siehe Kapitel Bildungspsychologie auf der Makroebene).
2 Stand der Wissenschaft Der Begriff „Bildung“ lässt sich in einem Produkt- und einem Prozesssinne interpretieren (siehe Einleitungskapitel zu diesem Band). Bildung als Produkt bezieht sich auf Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale, die von einzelnen Personen erworben werden sollten (Götz, Frenzel & Pekrun, 2009). Bildung als Prozess umfasst alle selbstund fremdinitiierten Entwicklungen, die zum Erwerb dieser Kompetenzen und Merkmale beitragen können. Diese Entwicklungen werden zum einen von personinternen Entwicklungsbedingungen beeinflusst (z. B. der Lernmotivation einer Schülerin bzw. eines Schülers), zum anderen von Lern- und Entwicklungsumwelten, zu denen im Sekundarschulalter neben Unterricht und Klassenumwelt vor allem die Familie, außerschulische Peergruppen und die Medien zählen (Abb. 1; adaptiert nach Pekrun, 2000). Diese Umwelten sind ihrerseits von der jeweiligen Schule, dem Schulsystem und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig.
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Bildungspsychologie des Sekundärbereichs
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Bildung und Bildungsbedingungen stehen dabei typischerweise in Wechselwirkungen: So nimmt z. B. der Unterricht Einfluss auf Schülerinnen und Schüler, diese wirken aber ihrerseits auf den Unterricht zurück. Ferner ist zu bedenken, dass Kompetenzen und Merkmale von Schülerinnen und Schülern häufig sowohl als Ergebnisse als auch Bedingungen von Bildung aufzufassen sind. So sind z. B. Lernbereitschaften von Schülerinnen und Schülern zum einen eine Voraussetzung für den Erwerb kognitiver Kompetenzen, zum anderen aber auch anzustrebende Bildungsziele.
Distale Umwelten
Proximale Umwelten
Schülerin bzw. Schüler
Schule
• • • • •
Schulsystem Bildungspolitik Wirtschaft Gesellschaft Kulturelle Normen
• Unterricht – Lehr-Lern-Zeiten – Unterrichtsmanagement – Kognitive Qualität – Motivierungsqualität • Klassenumwelt
Bildungsergebnisse
Außerschulische Umwelten
Personinterne Bedingungen
• Familie • Peers • Medien
• Kompetenzen • Persönlichkeitsmerkmale
(z. B. Intelligenz, Genotyp)
Abbildung 1: Rahmenmodell zu schulischen Bildungsprozessen (Pekrun, 2000; adaptierte Version)
Im Folgenden wird auf drei Bereiche der schulisch vermittelten Bildung eingegangen, die in der Sekundarschule eine zentrale Rolle spielen: (1) kognitive Kompetenzen; (2) lernund leistungsbezogene Emotion, Motivation und Interesse; und (3) Lernstrategien und selbstreguliertes Lernen. Anschließend wird (4) die Rolle von schulischen Lernumwelten, Bezugsgruppen und Entwicklungsübergängen für den Kompetenz- und Merkmalserwerb diskutiert.
2.1 Kognitive Kompetenzen Aufgabe der Schule ist es, Schülerinnen und Schülern grundlegende kognitive Kompetenzen zu vermitteln, die für nachschulische Ausbildung, Beruf und die Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft benötigt werden. Im Unterschied zu allgemeinen kognitiven Fähigkeiten wie z. B. Intelligenz werden unter Kompetenzen eher Dispositionen verstanden, die sich auf bestimmte Sachinhalte und Handlungsbereiche, also auf spezifische Domänen beziehen (Weinert, 2001). Schule kann zwar auch die Entwicklung allgemeiner
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kognitiver Fähigkeiten positiv beeinflussen (z. B. Ceci, 1991), in gezielter Weise aber dient schulischer Unterricht zunächst dem Aufbau von Kompetenzen in Domänen wie Muttersprache, Fremdsprachen, Mathematik, Naturwissenschaften etc. Unter einer kognitionspsychologischen Perspektive handelt es sich bei domänenbezogenen Kompetenzen vor allem um deklaratives Wissen zu Fachinhalten (z. B. Wissen um geschichtliche Zusammenhänge) und um prozedurales Wissen zur Ausführung von domänenspezifischen Handlungen (z. B. Sprechen der englischen Sprache; Anderson, 1993). Strukturen und Erwerb solcher Kompetenzen werden heute in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Bildungspsychologie, Pädagogik und Fachdidaktiken untersucht. Dabei kommt der psychologischen Wissens-, Expertise- und Problemlöseforschung neben stoffbezogenen fachdidaktischen Überlegungen eine wesentliche erkenntnisleitende Rolle zu. Zur Entwicklung von schulisch vermittelten Kompetenzen in der Sekundarstufe sind die folgenden drei Befundgruppen von zentraler Bedeutung. 1. Durchschnittliche Kompetenzentwicklung. Längsschnittstudien zeigen, dass durchschnittliche, über Teilkompetenzen und Schülerinnen sowie Schüler hinweg gemittelte Kompetenzwerte über die Klassenstufen des Sekundarschulwesens hinweg in aller Regel ansteigen. So zeigen z. B. die Daten des „Projekts zur Analyse der Leistungsentwicklung in Mathematik“ (PALMA), dass mit Testverfahren erhobene durchschnittliche Kompetenzwerte in Mathematik von Klassenstufe zu Klassenstufe zunehmen. Der Zuwachs eines Schuljahres beträgt dabei bis zu einer halben Standardabweichung der Werteverteilung innerhalb der Klassenstufen (Pekrun, vom Hofe et al., 2006), ist also bereits für einen solchen relativ kurzen Zeitraum recht substanziell. Angesichts der vielfältigen Kritik an der Leistungsfähigkeit schulischer Institutionen ist dies ein keineswegs trivialer Befund. Zu folgern ist, dass Schule dem gesellschaftlichen Auftrag zur Kompetenzentwicklung in der Regel, d. h. in den meisten Fächern und bei den meisten Schülerinnen und Schülern, tatsächlich gerecht wird. Empirisch offen und aus ethischen Gründen kaum prüfbar ist, wie die Kompetenzentwicklung bei Jugendlichen ohne Schulbesuch bzw. schulähnlichen Maßnahmen (z. B. „home schooling“; Aurini & Davies, 2005) verlaufen würde. Zu vermuten aber ist, dass Jugendliche ohne schulische Institutionen und verpflichtenden Schulbesuch im Durchschnitt kaum eine vergleichbare Kompetenzentwicklung vorweisen könnten. 2. Variation der Kompetenzentwicklung. Gleichzeitig aber zeigen die Befunde auch, dass Entwicklungsverläufe und resultierende Kompetenzniveaus zwischen Kompetenzbereichen, Schülerinnen bzw. Schülern, Klassen, Schulen und Ländern ganz erheblich variieren. Die Analyse dieser Variation ist ein zentrales Verdienst von Vergleichsuntersuchungen wie der Third International Mathematics and Science Study (TIMSS; Baumert, Bos & Lehmann, 2000) und dem Programme for International Student Assessment (PISA; Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004, Prenzel et al., 2007). Befunde von PISA 2000, 2003 und 2006 für deutsche 15-Jährige: Die Erhebungen von PISA zeigen, dass die Durchschnittswerte für Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften bei den deutschen 15-Jährigen im OECD-Vergleich höchstens durchschnittlich sind (mit Ausnahme der leicht überdurchschnittlichen Werte für naturwissenschaftliche Kompetenzen bei PISA 2006; Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004; Prenzel et al., 2007; ähnliches gilt teilweise auch für 15-Jährige in Österreich und der Schweiz). Gleichzeitig aber
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ist die Streuung dieser Kompetenzwerte in Deutschland besonders hoch: Schule in Deutschland gelingt es in sehr unterschiedlichem Maße, Schülerinnen und Schülern Kompetenzen in diesen Bereichen zu vermitteln. Erhebliche Unterschiede gibt es dabei zwischen den Bundesländern. Auffällig sind ferner die Unterschiede zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Die Daten zeigen, dass die schichtabhängigen Unterschiede in Bildungsbeteiligung (z. B. Besuch des Gymnasiums) und Kompetenzniveau in kaum einem anderen OECD-Land so groß sind wie in Deutschland.
3. Bedingungen der Kompetenzentwicklung. Die Befunde zur Entwicklung kognitiver Kompetenzen im Sekundarschulwesen zeigen also, dass schulischer Unterricht die Kompetenzentwicklung in einzelnen Domänen in der Regel deutlich fördert, dass dies aber keineswegs in allen Ländern und bei allen Schülerinnen und Schülern gleichermaßen gut gelingt. Wie kommen diese Unterschiede zustande? Auf der Seite der Schülerin bzw. des Schülers sind zunächst kognitive Bedingungen entscheidend. Dabei nimmt die Bedeutung von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten (Intelligenz) mit zunehmender Expertise in einer Domäne zugunsten der Rolle des Vorwissens ab (Süß, 1996). Darüber hinaus sind lern- und leistungsbezogene Emotionen, Motivation und Verhalten wesentlich (siehe unten). Sowohl kognitive wie auch affektiv-motivationale Personbedingungen sind ihrerseits zum Teil durch genotypische Variation mitbestimmt. Auf der Seite der Lernumwelten ist nach der Befundlage neben der Qualität des schulischen Unterrichts auch im Sekundärbereich noch das Elternhaus wesentlich, das z. B. Einfluss auf die individuelle Lernbereitschaft nimmt und differenzielle Stützangebote bietet (z. B. Jullien, 2006).
2.2 Leistungsbezogene Persönlichkeit: Selbstkonzept, Emotion und Motivation Während die Vermittlung kognitiver Kompetenzen seit jeher zum expliziten Auftrag von Schule zählt, waren schulische Einflüsse auf die Entwicklung von Identität, Emotionen, motivationalen Bereitschaften und Interesse in der Vergangenheit eher dem „heimlichen Curriculum“ (Dreeben & Barr, 1987) von Schule zuzuordnen. Angesichts der Bedeutung affektiver Variablen für Lernen und Leistung aber haben sich einzelne Forschungstraditionen dennoch um ihre Erforschung gekümmert. Selbstkonzept. Im Bereich der schulisch vermittelten Identitätsentwicklung sind vor allem die Fähigkeitsselbstkonzepte von Schülerinnen und Schülern untersucht worden. Begriffsbestimmung Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit: • Unter einem „Fähigkeitsselbstkonzept“ sind generalisierte Überzeugungen zu den eigenen Fähigkeiten in einem bestimmten Handlungsbereich zu verstehen (z. B. „In Mathematik bin ich begabt.“) • Bei Selbstwirksamkeitserwartungen handelt es sich um aktuelle Erwartungen, eine definierte Handlung erfolgreich ausführen zu können (Bandura, 1986; z. B. „Ich kann die Gleichung x2 + 5 = 30 lösen.“)
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Ein Großteil der Forschungsliteratur zu Fähigkeitsselbstkonzepten bezieht sich auf Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe. Die Befunde zeigen, dass solche Selbstkonzepte domänenspezifisch organisiert sind (Bong, 2001). Insbesondere sind mathematische und sprachliche Selbstkonzepte in der Regel unkorreliert. Es macht also wenig Sinn, von dem Fähigkeitsselbstkonzept einer Schülerin bzw. eines Schülers zu sprechen. Dies steht im Kontrast zu den meist deutlich positiven Korrelationen der tatsächlichen Leistungen in mathematisch-naturwissenschaftlichen und sprachlichen Fächern. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Entscheidende Hinweise liefert das Internal/External Frame of Reference-Modell von Marsh (I/E-Modell; Marsh, 1986). Das Internal/External Frame of Reference-Modell: In diesem Modell wird angenommen, dass selbstbezogene Fähigkeitseinschätzungen auf Vergleichsprozessen zweierlei Art beruhen: Zum einen vergleichen Schülerinnen und Schüler ihre Leistungen mit den Leistungen anderer Schülerinnen und Schüler (externaler Bezugsrahmen), zum anderen mit ihren eigenen Leistungen in anderen Fächern (internaler Bezugsrahmen). Da schulische Leistungen über Schulfächer hinweg positiv korreliert sind, legt der externale, interindividuelle Bezugsrahmen eine Ähnlichkeit der Fähigkeiten in unterschiedlichen Fächern nahe. Legt man nur diesen Bezugsrahmen zugrunde, müssten die Selbstkonzepte zu diesen Fähigkeiten ebenso wie die Leistungen positiv korreliert sein. Im internalen Abgleich aber fällt die Unterschiedlichkeit der eigenen Möglichkeiten in verschiedenen Fächern ins Auge. Im Sinne dieses Bezugsrahmens müssten die fachbezogenen Fähigkeitseinschätzungen negativ korreliert sein. Im Ergebnis sind die Zusammenhänge zwischen den Selbstkonzepten zu unterschiedlichen Fächergruppen deutlich geringer als die Zusammenhänge der jeweiligen Fachleistungen.
Die Forschung hat dieses Modell zur Wirkung schulischer Leistungen auf Fähigkeitsselbstkonzepte weitgehend bestätigt. Darüber hinaus konnte aber in längsschnittlichen Untersuchungen gezeigt werden, dass Fähigkeitsselbstkonzepte – ebenso wie Selbstwirksamkeitserwartungen – auch ihrerseits Lernleistungen positiv beeinflussen: Selbstvertrauen schafft günstige Voraussetzungen für schulische Lernleistungen (Marsh, Trautwein, Lüdtke, Köller & Baumert, 2005). Emotion. Zu den leistungsrelevanten Prozessen, die von Selbstkonzepten und Selbstwirksamkeitserwartungen beeinflusst werden, zählen die Emotionen von Schülerinnen und Schülern. Untersucht worden ist vor allem Prüfungsangst. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sind zu dieser Emotion mehr als 1.000 Studien durchgeführt worden. Die Ergebnisse experimenteller Untersuchungen zeigen, dass Angst die Leistungen bei schwierigen und komplexen kognitiven Aufgaben beeinträchtigen kann: Die mit Angst verbundenen Sorgen um möglichen Misserfolg und seine Konsequenzen verbrauchen Kapazität des Arbeitsgedächtnisses; für die Aufgabenbearbeitung steht entsprechend weniger Kapazität zur Verfügung. Angst interferiert also mit der Aufgabenbearbeitung (Interferenztheorien zu Prüfungsangst; Zeidner, 1998). Ferner reduziert Angst intrinsische Motivation und Interesse. Gleichzeitig kann Angst allerdings auch Motivation erzeugen, erhöhte Anstrengung zu investieren, um einen solchen Misserfolg zu vermeiden (Pekrun, 2006; Zeidner, 1998). Dementsprechend ambivalent können die Folgen
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für resultierende Lernleistungen im Einzelfall sein. Typischerweise ist allerdings mit insgesamt negativen Wirkungen zu rechnen. Dementsprechend fallen auch die Korrelationen mit Indikatoren für schulische Leistungen in der Regel negativ aus (um r = –.30; Zeidner, 1998).
Wirkungen von Angst in Leistungssituationen: • Verbrauch kognitiver Ressourcen (Õ geringere Aufmerksamkeit). • Reduktion von Interesse und intrinsischer Motivation (Õ reduzierte Anstrengung). • Steigerung von extrinsischer Motivation zur Misserfolgsvermeidung (Õ erhöhte Anstrengung).
Andere Lern- und Leistungsemotionen von Schülerinnen und Schülern wie z. B. Lernfreude, Stolz, Ärger, Scham, Hoffnungslosigkeit oder Langeweile sind bisher wenig untersucht worden. Umfassender thematisiert werden die Emotionen von Schülerinnen und Schülern in der Kontroll-Wert-Theorie der Leistungsemotionen (Pekrun, 2006). Diese Theorie integriert kausalattributionale Annahmen zu den Bedingungen von retrospektiven Emotionen, die sich auf vorhandene Erfolge und Misserfolge beziehen (z. B. Stolz, Scham; Weiner, 1985), mit Annahmen zum Zustandekommen von prospektiven, zukunftsgerichteten Emotionen (z. B. Hoffnung, Angst) und Tätigkeitsemotionen (z. B. Lernfreude, Langeweile). Zentrale Annahme ist, dass Leistungsemotionen auf zwei Arten von subjektiven Einschätzungen beruhen, nämlich der erlebten Kontrollierbarkeit von Erfolg bzw. Misserfolg einerseits und dem subjektiven Wert von leistungsbezogenem Handeln und seinen Folgen andererseits. Lernfreude z. B. wird der Theorie zufolge von einer Schülerin bzw. einem Schüler erlebt, wenn er sich kompetent genug fühlt und gleichzeitig auch am Lernmaterial interessiert ist. Angst entsteht, wenn Misserfolge drohen, die nicht hinreichend kontrollierbar sind, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig wäre. Ob Leistungen als kontrollierbar und wichtig angesehen werden, hängt wesentlich von den eigenen Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen ab. Schulische Erfolge und Misserfolge sind damit als wesentliche Quelle von Lern- und Leistungsemotionen anzusehen. Da Emotionen ihrerseits Lernprozesse entscheidend beeinflussen können, ist – ähnlich wie bei Fähigkeitsselbstkonzepten – von wechselseitigen Beeinflussungen (reziproker Kausalität) im Verhältnis von Lernleistungen und Emotionen auszugehen. Die vorliegenden Längsschnittuntersuchungen zur Entwicklung von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe bestätigen diese Annahme (z. B. Pekrun, 1991). Motivation und Interesse. Ähnlich wie die Prüfungsangst von Schülerinnen und Schülern wird auch ihre Leistungsmotivation seit Jahrzehnten intensiv untersucht (Heckhausen & Heckhausen, 2009). Bei Leistungsmotivation handelt es sich um Motivation zu Handlungen, die eine Selbstbewertung der eigenen Tüchtigkeit in Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab ermöglichen. Zur Erklärung werden meist erwartungswerttheoretische Ansätze herangezogen, die annehmen, dass Leistungsmotivation dann entsteht, wenn günstige Leistungserwartungen vorhanden sind und Leistung bzw. Leistungshandeln als subjektiv wichtig erlebt werden (Eccles & Wigfield, 2002). Ergänzt werden
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diese Ansätze heute durch die Forschung zu den Leistungszielen von Schülerinnen und Schülern. Im zweidimensionalen Modell der Leistungsziele (Elliot & McGregor, 2001) werden Ziele nach der Art der Leistungsdefinition einerseits und der Valenz von Leistung andererseits klassifiziert. In diesem Sinne wird unterschieden zwischen Kompetenzzielen (Kompetenzsteigerung als Ziel) und Performanzzielen (im Sozialvergleich überlegene Leistung als Ziel), wobei es sich jeweils um Annäherungsziele (z. B. Erreichen von Erfolg) oder Vermeidungsziele (z. B. Meiden von Misserfolg) handeln kann. Ziele dieser Art wirken sich auf Emotionen, Motivation und Lernleistungen aus (McGregor & Elliot, 2002; Pekrun, Elliot & Maier, 2006).
Tabelle 1: 2 × 2-Modell der Leistungsziele Annäherung
Vermeidung
Kompetenz
Kompetenzsteigerung
Kompetenzverlust
Performanz
Erfolg (im Sozialvergleich)
Misserfolg (im Sozialvergleich)
Allerdings lassen Theorien zu Leistungsmotivation und Leistungszielen meist außer Acht, dass die Motivation von Schülerinnen und Schülern häufig gegenstandsspezifischer Art ist. Anders ist dies bei Ansätzen zum Interesse von Schülerinnen und Schülern. Diese Ansätze gehen davon aus, dass es sich bei Interesse um eine motivationale Beziehung zwischen Schülerin bzw. Schüler und einem spezifischen Lerngegenstand (Gegenstandsinteresse) bzw. einer spezifischen Lerntätigkeit (Tätigkeitsinteresse) handelt: Kaum eine Schülerin bzw. ein Schüler ist an allen Schulfächern und Lernstoffen gleichermaßen interessiert. Vielmehr ist Interesse gerichtet und spezifisch, und diese Spezifität ist ein wesentliches Element einer gelungenen Identitätsentwicklung im Sekundarschulalter. Interesse und intrinsische Motivation sind von Bedeutung, weil sie in besonderem Maße den Einsatz tiefergehender Lernstrategien begünstigen (Schiefele, 2001). Hinzu kommt, dass die Entwicklung von Interesse für nachschulische Ausbildungs- und Berufsentscheidungen von zentraler Bedeutung sein dürfte. Ein Beispiel ist die mangelnde Nutzung von Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten in Naturwissenschaften oder Ingenieurswesen in vielen OECD-Ländern, die vermutlich weniger auf Kompetenzprobleme als vielmehr auf mangelndes Interesse bei vielen Jugendlichen in diesen Ländern zurückzuführen ist.
Begriffsbestimmung Leistungsmotivation und Interesse: • Leistungsmotivation: Motivation zu Handlungen, die eine Selbstbewertung der eigenen Tüchtigkeit in Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab ermöglichen. • Interesse am Lernen: Motivationale Beziehung zwischen der lernenden Person und einem spezifischen Lerngegenstand (Gegenstandsinteresse) bzw. einer spezifischen Lerntätigkeit (Tätigkeitsinteresse).
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Entwicklungsverläufe. Welche Folgerungen ergeben sich für die Entwicklung leistungsbezogener Persönlichkeitsmerkmale während der Sekundarschulzeit? Aus den genannten Theorien und Befunden ist zu schließen, dass Selbstkonzepte, Emotionen und Motivation wesentlich durch schulische Erfolgs- und Misserfolgserfahrungen bestimmt werden. Dies gilt vor allem für direkt leistungsabhängige Variablen wie Fähigkeitsselbstkonzepte und Prüfungsangst. Ihr Aufbau erfolgt wesentlich im Vor- und Grundschulalter (Kapitel Primärbereich), während sich in der Sekundarschulzeit für durchschnittliche Fähigkeitsselbstkonzept- und Prüfungsangstwerte kaum noch Veränderungen zeigen (z. B. Hembree, 1988). Anders ist dies bei denjenigen Emotions- und Motivationsvariablen, die in stärkerem Maße von Werteinschätzungen abhängen. Eine Vielzahl von Studien zeigen, dass es im Laufe der Sekundarschulzeit zu einer Abnahme der Werte für Lernfreude, Interesse und intrinsische Lernmotivation kommt (z. B. Jacobs, Lanza, Osgood, Eccles & Wigfield, 2002), während die erlebte Langeweile von Schülerinnen und Schülern im Durchschnitt eher zunimmt (Pekrun et al., 2006). Während es der Schule also im Großen und Ganzen auch im Sekundärbereich gelingt, kognitive Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern aufzubauen, scheinen die Wirkungen auf die Entwicklung von lernbezogenen Werten, Emotionen und Interessen weniger günstig zu sein. Allerdings ist bei der Interpretation Vorsicht geboten. Zwar kann ein Mangel an Motivierungsqualität des Unterrichts hier eine gewichtige Rolle spielen. In Rechnung zu stellen ist aber auch, dass eine Differenzierung eigener Interessen wesentlich zu den Aufgaben der Identitätsentwicklung im Jugendalter zählt. Eine solche Interessendifferenzierung aber hat zwangsläufig zur Folge, dass zwar das individuelle Interesse an einigen ausgewählten Fächern hoch bleibt bzw. weiter steigt, dafür aber das Interesse an den jeweils anderen Fächern sinken muss. 2.3 Lernstrategien und selbstreguliertes Lernen Neben dem Aufbau von fachbezogenen kognitiven Kompetenzen, Selbstvertrauen und emotional-motivationalen Bereitschaften ist auch die Entwicklung von Kompetenzen zu selbstreguliertem Lernen als zentrale Aufgabe der Sekundarschule anzusehen. Eine Selbstregulation des Lernens mit einem gezielten Einsatz spezifischer Lernstrategien setzt einen Stand der metakognitiven Entwicklung voraus, der häufig erst im Sekundarschulalter erreicht wird. Selbstregulation des Lernens bezieht sich auf eine selbstständige Planung, Durchführung und Bewertung von Lernhandlungen. Abbildung 2 zeigt ein Modell, in dem das Zusammenwirken von interner und externer Lernsteuerung für Handlungen in diesen Phasen veranschaulicht wird (adaptiert nach Schiefele & Pekrun, 1996). In jeder der drei Phasen (Planung, Durchführung und Bewertung von Lernhandlungen) beinhaltet Selbstregulation ein komplexes Zusammenspiel von emotionalen, motivationalen, metakognitiven und kognitiven Abläufen (Götz, 2006). Zentral ist dabei die Bildung von Lern- und Leistungszielen, die Umsetzung dieser Ziele in konkrete Lernintentionen, die volitionale Abschirmung der Intentionen gegenüber konkurrierenden Handlungsimpulsen (z. B. Fernzusehen statt zu lernen), die Differenzierung der Intentionen in Gestalt einer Handlungsplanung und schließlich die Umsetzung dieser Planung in eine Lernhandlung. Hinzu treten die nachfolgende handlungsbegleitende Kontrolle und situative Feinadjustierung
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Interne Lernsteuerung Merkmale von Lernenden • Emotionale/ motivationale Merkmale (z. B. Leistungsüberzeugungen) • Metakognitives Wissen • Fähigkeiten • stoffbezogenes Vorwissen
Lernprozesse:
Umwelten • • • •
Schule Familie Peers Medien
Emotion (z. B. Hoffnung; Angst)
Motivation/ Volition (z. B. Bildung/ Abschirmung von Lernintention)
Emotion (z. B. Lernfreude; Langeweile)
Metakognition (Diagnose des Ergebnisses)
Motivation/Volition (z. B. Aufrechterhaltung der Lernintention) Metakognition (z. B. Überwachung)
Emotion (z. B. Stolz; Scham)
Metakognition (z. B. Lernplanung)
Kognition + Ressourcenmanagement (z. B. Elaboration; Anstrengung)
Motivation (für die nächste Lernphase)
Planung
Durchführung
Bewertung
• Lernsituation, Lernaufgaben, Unterrichtsmethoden • Verhalten von Lehrern, Eltern, Peers • Prüfungen, Leistungsrückmeldungen
Kompetenzen (deklaratives/ prozedurales Wissen)
Externe Lernsteuerung
Abbildung 2: Ablauf und Komponenten von selbstreguliertem Lernen (Schiefele & Pekrun, 1996; adaptierte Version)
der Lernhandlung und die anschließenden Bewertungen ihrer Resultate. Drei Gruppen von handlungsbestimmenden Lernstrategien spielen in diesem Ablauf eine zentrale Rolle (Pintrich, Smith, Garcia & McKeachie, 1991).
Drei Gruppen von Lernstrategien: • Kognitive Lernstrategien: Methoden der Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Verwendung von Lerninformation (z. B. Elaborieren, Organisieren, kritisches Prüfen, Wiederholen). • Metakognitive Lernstrategien: Planung, Überwachung und Bewertung von Lernhandlungen und ihren Resultaten. • Ressourcenorientierte Strategien: Einsatz von eigenen Ressourcen (z. B. Investition von Anstrengung) und Steuerung von Lernsituationen (z. B. Gestaltung des Arbeitsplatzes; Lehrkräfte oder Eltern um Hilfe bitten).
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In der Forschung zum selbstregulierten Lernen im Sekundarschulalter werden das Zusammenspiel dieser Komponenten des Lernprozesses und ihre Wirkungen auf Lernleistungen untersucht. Die Befunde zeigen, dass Selbstkonzepten und aufgabenbezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen dabei eine zentrale Steuerungsfunktion zukommt. Günstige Selbstwirksamkeitserwartungen wirken sich positiv auf Lernemotionen, Anstrengungsbereitschaft und den Einsatz tiefergehender Lernstrategien (wie Elaboration und Organisation) aus, was zu besseren Lernleistungen führen sollte. Allerdings konnten empirische Studien bisher nicht hinreichend bestätigen, dass Tiefenstrategien den Oberflächenstrategien (z. B. rigides Wiederholen) im Hinblick auf schulischen Erfolg tatsächlich überlegen wären (Wild, 2000). Zu den möglichen Gründen zählt, dass viele Studien Selbstberichtmaße von unklarer Validität verwendet haben. Auch dürften für Lernerfolge weniger die Häufigkeit des Einsatzes einer einzelnen Strategie als vielmehr Kompetenzen zu einem situationsadäquat orchestrierten Zusammenspiel unterschiedlicher Strategien wesentlich sein. Hinzu kommt, dass schulische Prüfungen sich häufig auf Faktenwissen anstelle von Verständnis- und Transferleistungen beziehen; für solche Prüfungen aber kann ein Einsatz von weniger tiefgehenden Wiederholungsstrategien durchaus angemessen sein. Tatsächlich scheinen viele Schülerinnen und Schüler gegen Ende der Sekundarschulzeit eher zu einem Einsatz von Wiederholungsstrategien anstelle von Elaborations- und Organisationsstrategien zu neigen. Dies haben z. B. die PISA-Erhebungen 2003 für deutsche Schülerinnen und Schüler im Fach Mathematik gezeigt (Pekrun & Zirngibl, 2004). Besonders deutlich ausgeprägt ist dieses Profil bei Mädchen im Fach Mathematik, das einem tieferen Stoffverständnis eher abträglich sein dürfte. Kongruent ist dieses Profil zu den relativen Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler im Bereich kognitiver Kompetenzen in Mathematik. Dies ist stärker durch algorithmisches Abarbeiten formalisierter Aufgaben als durch verständnisorientiertes mathematisches Modellieren gekennzeichnet (Pekrun et al., 2006).
2.4 Lernumwelten, Bezugsgruppen und Entwicklungsübergänge Neben der Kompetenz- und Merkmalsentwicklung von Schülerinnen und Schülern sind schulische Lernumwelten und die Übergänge zwischen diesen Umwelten zentrale Gegenstände der Bildungspsychologie des Sekundärbereichs. Dabei handelt es sich hier noch stärker als bei der Erforschung der Entwicklung von Schülerinnen und Schülern um einen interdisziplinär organisierten Forschungsbereich. Bedeutsame Forschungstraditionen sind die Forschung zur Qualität von Unterricht (Helmke, 2003), Untersuchungen zum Klassenklima (Eder, 1996; Götz, Frenzel & Pekrun, 2008) sowie sozial- und entwicklungspsychologische Studien zur Bedeutung von schulischen Bezugsgruppen und Entwicklungsübergängen (Schwarzer, Lange & Jerusalem, 1982). Die Forschung zur Qualität von Unterricht zeigt, dass vor allem die folgenden vier Gruppen von Unterrichtsvariablen für schulische Bildungsprozesse und die Entwicklung der oben diskutierten Kompetenzen und Merkmale entscheidend sind. 1. Lehr- und Lernzeiten. Für kumulative Lernprozesse ist entscheidend, wie viel Zeit zur Verfügung steht. Dies gilt auch für den Kompetenzerwerb im Sekundärbereich. Dabei ist zwischen verfügbarer (nomineller) und genutzter (implementierter) Lehr- und Lern-
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Zeit zu unterscheiden: Nicht immer werden Schulstunden tatsächlich für Unterrichtszwecke genutzt, und nicht immer verbringt eine Schülerin bzw. ein Schüler seine Hausaufgabenzeit tatsächlich damit, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen (zu Hausaufgabenzeiten auch Spiel, Wagner & Fellner, 2002). Die verfügbare Lehr-Lern-Zeit ist im schulischen Unterricht institutionell definiert und damit ein zentrales Beschreibungsmerkmal von Schulsystemen und einzelnen Schulen. Sie definiert den Möglichkeitsrahmen für Lernen. Direkt lernwirksam allerdings sind nur die genutzten Zeiten. Dabei stehen genutzte Lernzeiten und schulischer Kompetenzerwerb in der Regel in einem positiv-monotonen Zusammenhang: Je mehr Zeit investiert wird, desto größer sind die Lernerfolge (unter sonst gleichen Bedingungen; Treiber, 1982). 2. Unterrichtsmanagement. Ob verfügbare Lehr-Lern-Zeiten tatsächlich umgesetzt werden können, wird wesentlich durch ein gelungenes Unterrichtsmanagement gesteuert (classroom management; Evertson & Weinstein, 2006). Entscheidend sind eine klare Strukturierung und ein störungsfreier Ablauf des Unterrichts (Helmke, 2003). Ein erfolgreiches Unterrichtsmanagement hängt zum einen von der Lehrkraft ab, zum anderen aber auch von den Schülerinnen und Schülern selbst. 3. Kognitive Qualität von Unterricht. Aus der Forschung zur direkten Instruktion ist bekannt, dass eine klare kognitive Strukturierung des Unterrichtsstoffs und eine verständliche Präsentation positive Effekte auf Lernerfolge haben (Helmke, 2003). In den letzten Jahren wird darüber hinaus zunehmend deutlicher, dass auch die spezifischen Inhalte und kognitiven Qualitätsmerkmale von Stoff und Aufgabenstellungen entscheidend sind. So läßt sich z. B. nicht erwarten, dass Schülerinnen und Schüler hinreichende Kompetenzen zur mentalen Modellierung mathematischer Inhalte entwickeln, wenn sie überwiegend mit Kalkülaufgaben konfrontiert werden, d. h. mit Aufgaben, die nicht mehr als ein reproduzierendes Abarbeiten gelernter Formeln erfordern (z. B. Addieren, Multiplizieren). Vielmehr ist hierfür eine Auseinandersetzung mit modellierungsorientierten Aufgaben notwendig, bei denen mathematische Begriffe von einer Repräsentationsform in eine andere zu transponieren sind (z. B. Wechsel von geometrischer zu analytischer Darstellung) oder reale Problemsituationen in mathematische Modelle übersetzt werden müssen. Entscheidend ist ferner, inwieweit Autonomie zu einer selbstständigen Aufgabenbearbeitung in Einzel- oder Gruppenarbeit gewährt wird und in welcher Weise eine solche Aufgabenbearbeitung durch die Lehrkraft unterstützt wird. Unter der Voraussetzung hinreichender Kompetenzen zu selbstreguliertem Lernen sind für eine solche Autonomiegewährung positive Wirkungen auf eine tiefergehende Verarbeitung von Aufgabeninformationen und entsprechende Verständnis- und Transferleistungen zu erwarten. Hierzu steht die Forschung allerdings noch ganz am Beginn. 4. Motivationale Qualität von Unterricht. Die motivationale Qualität des Unterrichts schließlich ist entscheidend für die Entwicklung von Werthaltungen, Selbstkonzepten, Emotionen und motivationalen Bereitschaften. Auch hierfür sind zunächst kognitive Strukturierung, Verständlichkeit und Aufgabenqualität des Unterrichts entscheidend, die zu Kompetenzerleben und Lernfreude beitragen können. Hinzu kommen aber spezifisch motivationale Unterrichtsmerkmale. Wesentlich sind der Enthusiasmus und die Emotionen von Lehrkräften, die per „Emotionsansteckung“ (Hatfield, Cacioppo & Rapson, 1994) Lernfreude und Valenzen bei Schülerinnen und Schülern induzieren können (Frenzel, Goetz, Lüdtke, Pekrun & Sutton, 2009). Daneben kommt
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den leistungsbezogenen Erwartungs-, Ziel- und Bewertungsstrukturen im Unterricht eine entscheidende Rolle zu. Unterscheiden lassen sich insbesondere Bewertungsstrukturen, die an sozialvergleichenden Bezugsnormen orientiert sind, von Strukturen, bei denen kriteriale und individuelle Bezugsnormen im Vordergrund stehen. Bei Verwendung sozialvergleichender Bezugsnormen werden Leistungen auf der Grundlage eines Vergleichs mit den Leistungen anderer bewertet. Bei kriterialen Bezugsnormen werden Leistungen an der Erreichung von Lernzielen gemessen, bei individuellen Bezugsnormen am individuellen Lernfortschritt oder dem Ausschöpfen individueller Begabungspotenziale. Im Unterschied zu kriterialen und individuellen Bezugsnormen beinhalten sozialvergleichende Strukturen, dass Erfolgschancen limitiert sind: Im Abgleich mit anderen kann nicht jede bzw. jeder einen Spitzenplatz erreichen. Folglich haben solche Strukturen bei vielen Schülerinnen und Schülern negative Wirkungen auf Fähigkeitsselbstkonzepte, während Emotionen wie Prüfungsangst und Hoffnungslosigkeit gesteigert werden. Ferner ist das Klassenklima unter sozialvergleichenden Bewertungsstrukturen eher durch Performanzziele gekennzeichnet (Orientierung an kompetitiver Leistungserbringung), unter kriterialen und individuellen Bewertungsstrukturen eher durch Kompetenzziele (Orientierung am Lernfortschritt; Götz, Frenzel & Pekrun, 2008). Facetten guten Unterrichts: • Adäquate Nutzung von Lehr- und Lernzeiten. • Gelungenes Unterrichtsmanagement. • Hohe kognitive Qualität des Unterrichts. • Hohe motivationale Qualität des Unterrichts.
Auch bei Verwendung kriterialer oder individueller Bezugsnormen zur schulischen Leistungsbewertung kommt dem Sozialvergleich im Jugendalter eine zentrale Rolle zu, da er identitätsrelevante Informationen zur eigenen Person liefert. Ein solcher Vergleich orientiert sich in der Regel an Gleichaltrigen, die verfügbar und bedeutsam sind, also an den eigenen Bezugsgruppen der bzw. des Jugendlichen. Die Forschung zum Sekundarbereich zeigt, dass die Bezugsgruppe der eigenen Schulklasse dabei besonders wesentlich ist. So orientieren sich insbesondere Fähigkeitsselbsteinschätzungen am Bezugsrahmen, den diese Gruppe zur Verfügung stellt. Zu den Konsequenzen zählt der auf den ersten Blick paradox erscheinende Big-Fish-Little-Pond-Effekt auf die Selbstkonzeptentwicklung (Marsh, 1987). Der Big-Fish-Little-Pond-Effekt (BFLPE): Dieser Effekt beinhaltet, dass die eigene Leistungsposition in der Klasse einen positiven Effekt auf das Fähigkeitsselbstkonzept in einer bestimmten Domäne hat: Je besser man im Vergleich zu anderen in der Gruppe ist, desto günstiger verläuft die Entwicklung des Selbstkonzepts. Gleichzeitig aber übt das Leistungsniveau der Gesamtklasse einen negativen Effekt auf das Fähigkeitsselbstkonzept aus: In einer leistungsstarken Klasse sind die Erfolgschancen geringer, so dass bei identischen Leistungen eine ungünstigere Leistungsposition innerhalb der Klasse wahrscheinlich ist.
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Fraglich ist also, ob es emotional und motivational lohnender ist, ein „big fish“ in einer leistungsschwachen oder ein „small fish“ in einer leistungsstarken Klasse zu sein. Tatsächlich konnten wir in unserer eigenen Forschung zeigen, dass sich der BFLP-Effekt auch für die Emotionen von Schülerinnen und Schülern zeigt: Unter sonst gleichen Bedingungen erleben Schülerinnen und Schüler in leistungsstarken Klassen weniger Lernfreude und mehr Angst (Götz et al., 2004). Entscheidend sind solche Bezugsgruppeneffekte schließlich auch für die psychosozialen Wirkungen von Entwicklungsübergängen innerhalb der Schullaufbahn. Bei solchen Übergängen kann es sich um einen individuellen Schulwechsel oder Klassenwiederholung handeln, aber auch um normative Übergänge von einer Schulstufe zur nächsten, die alle Schülerinnen und Schüler zu bewältigen haben. In Deutschland sind hier für den Sekundarbereich vor allem der Übergang von der Grundschule in eine Schule der Sekundarstufe und von dieser in nachschulische Ausbildungs- und Berufskarrieren entscheidend. Untersucht worden ist vor allem der Übergang von der Grundschule in Schulen des gegliederten Sekundarschulwesens (Hauptschule, Realschule, Gymnasium). Dieser Wechsel ist mit einem Wechsel der Bezugsgruppe verbunden. Während die Schulklassen der Grundschule Schülerinnen und Schüler aller Leistungsniveaus umfassen, sind die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nach dem Übergang mit einer Bezugsgruppe gleichfalls leistungsstarker Mitschülerinnen und Mitschüler konfrontiert, die Hauptschülerinnen und Hauptschüler hingegen mit einer Bezugsgruppe weniger leistungsstarker Schülerinnen und Schüler. Bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten verringern sich damit – unter Verwendung sozial vergleichender, am Klassenmaßstab orientierter Normen – die Chancen zu guten Leistungsbewertungen, während sie für Hauptschülerinnen und Hauptschüler steigen. Für das Fähigkeitsselbstkonzept hat dies im Durchschnitt aller Schülerinnen und Schüler zur Folge, dass die Selbstkonzeptwerte bei Gymnasiastinnen und Gymnasiasten absinken und bei Hauptschülerinnen und Hauptschülern ansteigen (Schwarzer, Lange & Jerusalem, 1982). In ähnlicher Weise gilt auch für hochbegabte Schülerinnen und Schüler, dass ihre Zusammenfassung in Begabtenklassen neben Vorteilen auch psychosoziale Kosten mit sich bringt (Preckel, Zeidner, Götz & Schleyer, 2008).
3 Praktische Bedeutung Die Bildungspsychologie des Sekundarbereichs hat eine Fülle von direkt oder mittelbar anwendbaren Erkenntnissen geliefert. Zu den potenziellen Anwenderinnen und Anwendern zählen Lehrkräfte, Bildungspolitik und Bildungsadministration ebenso wie die Lehrkräftebildung und die schulbezogene Beratungs- und Therapiepraxis. Von der Bildungspsychologie wurden zahlreiche Verfahren und Programme der Diagnostik und Evaluation, der Optimierung von Lernen und Unterricht und der Prävention und Therapie von Problemen entwickelt, die direkt in der Praxis des Sekundärbereichs eingesetzt werden können. Gegenstände dieser Verfahren sind Fähigkeiten, Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale von Schülerinnen und Schülern ebenso wie Unterricht und psychosoziale Lernumwelten in der Schule (zu Beispielen siehe Tabelle 2). Neben solchen direkt anwendbaren Programmen ergeben sich aber auch aus den oben beschriebenen Erkenntnissen der psychologischen Forschung zur Bildung im Sekundar-
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Tabelle 2: Praxisorientierte Verfahren und Programme für den Sekundärbereich – Beispiele Diagnostik und Evaluation
Optimierung und Prävention
Therapie
Diagnostik von Begabungen (z. B. Kognitiver Fähigkeiten-Test, KFT; Heller, 2000)
Programme zur Hochbegabtenförderung (z. B. Vock, Preckel & Holling, 2007)
Therapie bei kognitiven Leistungsproblemen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche; Walter, 1996)
Diagnostik von Selbstkonzepten, Emotion, Motivation (z. B. Achievement Emotions Questionnaire, Pekrun, Götz & Perry, 2005)
Prävention von emotionalen Problemen (z. B. Prüfungsangst; Strittmatter & Bedersdorfer, 1991)
Therapie von Prüfungsangst (Zeidner, 1998)
Erfassung von Unterrichtsqualität und LernUnterricht, klima (z. B. Landauer KlassenSkalen zum Sozialumwelt klima, LASSO; Saldern & Littig, 1986)
Trainings zum Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern (z. B. Havers & Toeppel, 2002)
Reduktion von Gewalt in der Schulklasse (z. B. Olweus, 1995)
Fähigkeiten, Kompetenzen
Persönlichkeit, Verhalten
bereich Folgerungen für die Praxis. Im Bereich des Erwerbs von Kompetenzen lässt sich ableiten, in welcher Weise Lehr-Lern-Zeiten, Unterrichtsmanagement, Aufgabeninhalte und Motivierungsqualität von Unterricht gestaltet werden müssten, um einen nachhaltigen Kompetenzaufbau zu erreichen (hierzu oben Abschnitt 3.4). Ähnliches gilt für den Aufbau von leistungsbezogenem Selbstvertrauen, lerngünstigen Emotionen, Interesse und die Entwicklung von Kompetenzen zur Selbstregulation. Neben der Verbesserung von Unterrichtsqualität dürfte dabei einer Optimierung schulischer Bewertungsstrukturen eine zentrale Rolle zukommen. Darüber hinaus zeigt die psychologische Bildungsforschung auch, welche zunehmende Bedeutung den Peers für Bildungsprozesse im Sekundarschulalter zukommt, welche zentrale Rolle aber gleichzeitig auch das Elternhaus in dieser Altersstufe noch spielt (siehe Überblickskapitel Bildungspsychologie des Säuglings- und Kleinkindalters von Walper und Vavrova).
4 Ausblick: Desiderata für die Bildungspsychologie des Sekundarbereichs Der Bildungspsychologie ist es gelungen, zentrale Aspekte von Bildungsprozessen im Sekundarschulwesen der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung zugänglich zu machen und die Resultate Bildungspolitik, Öffentlichkeit und der Praxis zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig aber leidet dieser Forschungsbereich ebenso wie die Bildungs-
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forschung insgesamt unter einer Reihe von Defiziten, die es zu beheben gilt, und es stellen sich neue Herausforderungen. Emotionsforschung und Neuropsychologie. Eine Reihe von Entwicklungen in den Grundlagendisziplinen der Psychologie, die das Bild von den psychischen Funktionen des Menschen in den letzten Jahren grundlegend verändert haben, wurden von der Bildungspsychologie bisher wenig rezipiert und für ihre Zwecke nutzbar gemacht. So ist der Boom an Emotionsforschung in Allgemeiner Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Sozialpsychologie von der psychologischen Bildungsforschung ungeachtet der Bedeutung von Emotionen für Bildungsprozesse bisher erst in Ansätzen rezipiert worden (Schutz & Pekrun, 2007). Ein zweites Beispiel ist die stürmische Entwicklung der interdisziplinär organisierten Neurowissenschaften, deren Methoden und Erkenntnisse von der psychologischen Bildungsforschung bisher nur zögerlich aufgegriffen werden (Stern, 2004) und eher populärwissenschaftlich aufbereitet wurden (Spitzer, 2002). Die Bildungspsychologie täte gut daran, nicht nur rezipierend, sondern unter der Perspektive ökologisch valider, auf Bildungsprozesse bezogener Forschungsstrategien auch in einer paradigmatisch führenden Rolle zum Fortschritt der Emotions- und Neurowissenschaften beizutragen. Modellierung von Prozessen. Bildungsprozesse sind durch Dynamik, ein Zusammenwirken vielfältiger interner und externer Einflüsse und eine hohe Vernetzung in Gestalt von Wechselwirkungen und Rückkopplungen gekennzeichnet. Die Bildungspsychologie ist aber nach wie vor vielfach durch querschnittliche Ansätze und Annahmen unidirektionaler Kausalität gekennzeichnet. Dies gilt für Analysen von Bildungsbedingungen bei einzelnen Schülerinnen und Schülern ebenso wie für großangelegte Evaluationsstudien (wie z. B. TIMSS und PISA), die häufig querschnittlich konzipiert sind und damit zwar ein deskriptives Monitoring von Bildungssystemen erlauben, in ihrer explikativen Aussagekraft und praktischen Nutzbarkeit aber begrenzt bleiben (Pekrun, 2002). Die psychologische Bildungsforschung sollte in stärkerem Maße als bisher Methoden zur Modellierung von Prozessen und Bedingungsbeziehungen nutzen, von der im Auflösungsbereich von Millisekunden operierenden dynamischen Analyse kognitiver und affektiver Prozesse beim Kompetenzerwerb bis hin zu Langzeitstudien des Kompetenzerwerbs. Integrative Theoriebildung. Ebenso wie andere Disziplinen unterliegt auch die Bildungspsychologie heute einem hohen Grad an Spezialisierung. Dementsprechend häufig handelt es sich bei Theorieentwicklungen um Partialtheorien zu Teilphänomenen, die ohne hinreichende Integration bleiben. Für ein Verständnis von Bildung ist Forschung zu Einzelaspekten unerlässlich; hinreichend aber ist dies nicht. Ebenfalls notwendig sind Modellbildungen, die Vernetzungen, Rückwirkungen und Nebenwirkungen thematisieren und eine Integration von Partialbeschreibungen erlauben. Durch eine Addition von fragmentarisierten Minitheorien und Einzelbefunden kann dies nicht geleistet werden. Modelle zum Zusammenwirken unterschiedlicher psychischer Teilfunktionen von Bildungsprozessen sind dabei ebenso erforderlich wie Theorien zum meist vernachlässigten Zusammenwirken unterschiedlicher Lernumwelten, also z. B. dem Zusammenwirken von Schule, Peergruppe und Familie im Sekundarschulalter und darüber hinaus.
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Bildungspsychologie des Sekundärbereichs
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Gestaltung und Evaluation von Bildungsprogrammen. Aufgabe der Bildungspsychologie ist es nicht nur, historisch jeweils vorfindliche Bildungsprozesse zu untersuchen und Programme einer an den einzelnen Schülerinnen und Schülern orientierten Prävention und Therapie von Störungen zu entwickeln. In Zusammenarbeit mit Pädagogik, Fachdidaktiken, Bildungspolitik und Schulpraxis sollte die Bildungspsychologie darüber hinaus auch Möglichkeiten zu einer zukunftsorientierten Gestaltung von Bildungssystemen und Bildungsprogrammen entwerfen und evaluieren (Prenzel & Allolio-Näcke, 2006). Vom Gelingen solcher Bemühungen dürfte es abhängen, dem Eindruck einer Beliebigkeit von Befunden und Empfehlungen der Bildungspsychologie entgegenwirken zu können und zu einer nachhaltigen Verbesserung des Bildungswesens beizutragen.
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Bildungspsychologie des Sekundärbereichs
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Markus Dresel
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Einleitung
Primärbereich
Vorschulbereich
Handlungsebenen
Förderung der Lernmotivation mit attributionalem Feedback
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter Eine geringe Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern ist ein im schulischen Kontext allgegenwärtiges und altbekanntes Problem, das insbesondere im Sekundärbereich häufig auftritt. Aufgabenbereiche Wichtige Komponenten einer geringen Lernmotivation sind ein geringes Interesse an fachlichen Inhalten und eine ungünstige Bewertung des Nutzens des Lerngegenstands (ungünstige Wertkomponente), die Annahme, dass eigene Fähigkeiten nicht zur erfolgreichen Bewältigung der schulischen Anforderungen genügen (geringes Fähigkeitsselbstkonzept und daraus resultierende geringe Erfolgserwartung) sowie das Erleben von Hilflosigkeitssymptomen (für einen Überblick siehe Dresel, 2004). Gemessen am individuellen Lernpotenzial (z. B. kognitive Fähigkeiten, Vorwissensbestände, Lernstrategiewissen) der einzelnen Schülerinnen und Schüler mündet dies in defizitäre Lernprozesse. In der Folge werden erforderliche Kompetenzen häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maße erworben. Eine geringe Lernmotivation stellt deshalb ein folgenschweres Problem für die individuellen Schülerinnen und Schüler dar (Mikroebene). Darüber hinaus können sich individuelle Motivationsdefizite aufgrund ihrer – vor allem im Sekundärbereich – recht großen Prävalenz ungünstig auf höherer Ebene auswirken, beispielsweise auf das Belastungserleben von Lehrkräften (Mesoebene) oder auf das Niveau der Schulleistungen auf Länder- oder Staatenebene (Makroebene).
Vor diesem Hintergrund stellt die Entwicklung und Evaluation von Maßnahmen zur Intervention bei vorhandenen Defiziten in der Lernmotivation bzw. von Präventionsmaßnahmen eine wichtige Aufgabe der Bildungspsychologie dar. Für den schulischen Kontext liegt eine Reihe von Förderansätzen vor, die spezifische Komponenten der Lernmotivation fokussieren (umfassender Überblick bei Schober, 2002). Im Folgenden wird exemplarisch der Förderansatz des attributionalen Feedbacks vorgestellt. Er zielt durch die Vermittlung motivationsförderlicher Ursachenerklärungen für schulische Leistungen (Attributionen) auf die Verbesserung der oben aufgeführten Motivationskomponenten ab und hat sich in empirischen Evaluationsstudien als wirksam zur Verbesserung der Lernmotivation erwiesen.
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Markus Dresel
2 Theoretischer Hintergrund Die Darbietung von attributionalem Feedback im schulischen Kontext macht sich die gut bestätigte theoretische Annahme zu Nutzen, dass die Konsequenzen von schulischem Erfolg oder Misserfolg für Lernmotivation und Lernhandeln von den Ursachenfaktoren abhängen, denen Schülerinnen und Schüler den Erfolg oder Misserfolg zuschreiben (Mediatorfunktion von attributionalen Prozessen; vgl. Eccles et al., 1983; Försterling & Stiensmeier-Pelster, 1994). Mit Hilfe von attributionalem Feedback werden motivationsabträgliche Ursachenerklärungen für Erfolg und Misserfolg durch Ursachenerklärungen ersetzt, die günstige Konsequenzen für die nachfolgende Lernmotivation haben. Aus der empirisch gut fundierten attributionalen Theorie von Weiner (1985) lässt sich im Hinblick auf die motivationalen Konsequenzen ableiten, dass Ursachenerklärungen für schulischen Erfolg dann günstig sind, wenn sie sich auf personinterne Faktoren beziehen (häufig: hohe Fähigkeiten/Begabungen, hohe Anstrengungen), und dann ungünstig sind, wenn sie sich auf personexterne Faktoren beziehen (häufig: niedrige Anforderungen, Hilfe anderer Personen). Für den Misserfolgsfall haben variable Ursachenfaktoren (häufig: mangelnde Anstrengung) günstige und stabile Ursachenfaktoren (vor allem: mangelnde Fähigkeiten/Begabungen) ungünstige motivationale Folgen. Neben den motivationalen Konsequenzen der einzelnen Attributionen hängt deren Funktionalität für zukünftiges Lernhandeln auch davon ab, wie realistisch die herangezogenen Ursachenerklärungen sind. Allgemein gelten realistische Attributionen als günstig, da sie zu funktionalen Reaktionen führen, die den personalen und situationalen Gegebenheiten optimal angepasst sind (Försterling, 1985).
3 Praktische Implementierung und Evaluation Der natürlichste Kontext zur Implementierung von attributionalem Feedback mit dem Ziel der Förderung der Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern ist der reguläre Unterricht. Dabei fungiert die (Fach-)Lehrkraft als Trainerin bzw. Trainer und kommentiert schriftliche oder verbale Leistungen (z. B. einzelne Aufgaben, mündliche Leistungen im Unterricht, Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Zeugnisse) mit erwünschten Ursachenerklärungen. Typische attributionale Feedbacks sind in Tabelle 1 aufgeführt. Neben der Darbietung von attributionalem Feedback (die auch „Kommentierungstechnik“ genannt wird) können förderliche Ursachenerklärungen auch modelliert oder verstärkt werden (vgl. Ziegler & Schober, 2001). Insbesondere falls das Motivationstraining kurativ angewandt wird, d. h. vorhandene Defizite der Lernmotivation ausgleichen soll, ist vor der eigentlichen Trainingsdurchführung eine differenzierte Eingangsdiagnostik erforderlich. Diese dient der Identifikation von Schülerinnen und Schülern mit ungünstig ausgeprägten Motivationskomponenten, dem Ausschluss grundlegender Fähigkeitsdefizite sowie der Zuweisung spezifischer Trainingsinhalte oder etwaiger flankierender Fördermaßnahmen (z. B. Lernstrategietraining). Im Anschluss an die Trainingsdurchführung folgt eine Wirksamkeitskontrolle in Bezug auf die spezifischen Trainingsziele (zu den einzelnen Phasen von Motivationstrainings mit kurativen und präventiven Zielsetzungen siehe Ziegler & Dresel, 2009).
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Förderung der Lernmotivation mit attributionalem Feedback
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Tabelle 1: Typische attributionale Feedbacks Kategorie
Typische Feedbacks
Erfolgsattribution auf hohe Fähigkeiten
• „Texte zu schreiben liegt dir offensichtlich.“ • „Man sieht: du verfügst über die notwendigen Fähigkeiten.“
Erfolgsattribution auf hohe Anstrengungen
• „Man merkt, dass du dich ausführlich mit dem Text befasst hast.“ • „Die gute Leistung liegt daran, dass du konzentriert gearbeitet hast.“
Misserfolgsattribution auf mangelnde Anstrengungen
• „Wenn du noch genauer arbeitest, wird’s perfekt.“ • „Vielleicht hast du die Vokabeln mit der falschen Technik gelernt. Effektiv ist es, wenn du immer nur ganz wenige Wörter so lange übst, bis du sie mehr als sicher beherrschst.“
Mittlerweile liegt eine recht breite Literatur zur Wirksamkeit von attributionalem Feedback im pädagogischen Bereich vor (Überblicke bei Dresel, 2004; Ziegler & Schober, 2001). So erbrachte eine Reihe von empirischen Studien, dass Trainings, die innerhalb des regulären Unterrichts von Lehrkräften durchgeführt wurden, geeignet sind, Lernmotivation, Lernverhalten und Schulleistung von Schülerinnen und Schülern zu verbessern. Allerdings zeigten verschiedene Evaluationsstudien auch einige Limitationen von Unterrichtstrainings auf, zu denen eine geringe Dichte an Attributionsrückmeldungen und eine mangelnde Individualisierung zählen. In der Folge ist die Stärke der Trainingswirkungen meist beschränkt. Größere Wirkungen können mit unterrichtsbegleitenden Einzel- oder Kleingruppentrainings erzielt werden – wenngleich mit deutlich größerem Aufwand. Eine ökonomische und effektive Alternative zu den wirksamkeitsbeschränkten Unterrichtstrainings und den aufwändigen Einzel- oder Kleingruppentrainings stellt die Umsetzung als computerbasiertes Motivationstraining dar. Dabei erhalten Schülerinnen und Schüler, die mit einer Lernsoftware arbeiten, computergeneriertes Attributionsfeedback beispielsweise nach der Bearbeitung von Übungsaufgaben (zum Konzept siehe Dresel, 2004). Gegenüber herkömmlichen Trainings hat das computerbasierte Motivationstraining eine Reihe von Vorteilen: (1) Hohe Feedbackdichte (Attributionsfeedback kann nach allen Aufgaben dargeboten werden), (2) Möglichkeit zur automatischen Anpassung der Feedbacks an die individuelle Leistungsentwicklung, (3) systematische Kontrolle der Inhalte der Attributionsrückmeldungen, (4) relativ einfache Applizierbarkeit (sowohl integriert in den Unterricht als auch unterrichtsergänzend) sowie (5) Wegfall der Schulung von Trainerinnen und Trainern. Empirische Forschungen zeigten, dass mit Hilfe von computergeneriertem Attributionsfeedback die Lernmotivation und die Schulleistung von Schülerinnen und Schülern wirksam gefördert werden können (Dresel & Ziegler, 2006; Dresel & Haugwitz, 2009).
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Markus Dresel
4 Integration in umfassendere Trainingskonzeptionen Neben dem exklusiven Einsatz im Rahmen von so genannten Reattributionstrainings, findet attributionales Feedback häufig auch in umfassenderen Trainingskonzeptionen Verwendung. Dazu zählen einerseits Ansätze, die mit zusätzlichen Trainingsmethoden auf weitere Komponenten der Lernmotivation, wie beispielsweise auf die Zielorientierung oder auf die Bezugsnormorientierung, abzielen (z. B. Rheinberg & Krug, 1999; Schober, 2002). Andererseits sind auch Interventionen zu nennen, die neben Methoden zur Verbesserung der Lernmotivation auch Techniken zur direkten Verbesserung des Lernverhaltens einsetzen (z. B. Förderung des Selbstregulierten Lernens). Bei diesen Interventionskonzepten stellt attributionales Feedback häufig die Methode der Wahl zur (begleitenden) Stützung der Lernmotivation dar (z. B. Dresel & Haugwitz, 2009).
5 Zusammenfassung und Limitationen des Ansatzes Eine geringe Lernmotivation stellt ein folgenschweres Problem für die betroffenen Schülerinnen und Schüler, für ihre Lehrkräfte und auch für das gesamte Bildungssystem dar. Sie beeinträchtigt die Qualität und Quantität von Lernbemühungen und behindert den Aufbau erforderlicher Wissensbestände und Kompetenzen. Mit der Darbietung attributionalen Feedbacks steht ein etabliertes Förderinstrument zur Verfügung, das sich als effektiv zur Milderung von Defiziten in der Lernmotivation sowie zur Prävention vor diesen erwiesen hat. Es ist praktikabel und insbesondere in der Umsetzung als computerbasiertes Motivationstraining ökonomisch. Die Integration von attributionalem Feedback in umfassendere Trainingskonzeptionen indiziert zudem eine breite Akzeptanz des Interventionsansatzes. Gleichwohl sei abschließend davor gewarnt, das in diesem Illustrationskapitel dargestellte attributionale Feedback als Allheilmittel zur Lösung jeglicher Art von Lernmotivationsproblemen zu betrachten. Es ist dann indiziert, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten systematisch unterschätzen, nach Misserfolgen Hilflosigkeitssymptome zeigen und in der Folge die Lerngegenstände abwerten, um ihren Selbstwert zu schützen (vgl. Dresel, 2004). Über diesen durchaus häufigen Fall hinaus können Probleme der Lernmotivation auch anders gelagert sein, beispielsweise wenn ausschließlich die Wertkomponente beeinträchtigt ist oder wenn über die genannte Symptomatik hinaus weitere Komponenten der Lernmotivation ungünstig ausgeprägt sind (z. B. in Bezug auf die Ziele, an denen sich die Lernenden orientieren). In diesen Fällen stellt die Förderung der betroffenen Motivationskomponente (im Beispiel etwa mit Methoden zur Förderung von Interessen; siehe Schiefele, 2004) bzw. die Anwendung umfassenderer Trainingsansätze, die attributionales Feedback mit anderen Techniken kombinieren, die angemessene Intervention dar (vgl. Ziegler & Dresel, 2009).
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Förderung der Lernmotivation mit attributionalem Feedback
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Oliver Walter
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1 Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Kompetenzen und Lernmotivation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro a M
In den letzten Jahren wurde der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verstärkt in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion thematisiert. Diese Jugendlichen bilden in vielen europäischen Staaten einen erheblichen Teil der Schülerinnen und Schüler. Es ist bislang jedoch nicht eindeutig geklärt, was man unter Migrationshintergrund versteht (vgl. z. B. Diefenbach, 2007). Häufig wird der Begriff – in Abgrenzung zum Begriff „Ausländerinnen“ bzw. „Ausländer“ – nicht an der Staatsangehörigkeit festgemacht, sondern darüber definiert, dass mindestens ein Elternteil der Jugendlichen im Ausland geboren ist. Weiter lässt sich unterscheiden, ob die Jugendlichen mit ihren Eltern zugewandert (erste Generation) oder bereits im Einwanderungsland geboren sind (zweite Generation; vgl. z. B. Walter, 2008). Unter Anwendung dieser Definition weist jede bzw. jeder vierte bis fünfte Jugendliche in Deutschland und Österreich einen Migrationshintergrund auf. Der Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist insbesondere in den internationalen Bildungsstudien des Programme for International Student Assessment (PISA) untersucht worden. Die Studien zeigen, dass diese Jugendlichen in vielen OECD-Mitgliedsstaaten im Durchschnitt über erheblich niedrigere Kompetenzen im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften verfügen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Dies gilt insbesondere für Jugendliche, deren Eltern beide aus dem Ausland zugewandert sind, und in Deutschland für Jugendliche, deren Eltern aus den ehemaligen Anwerbestaaten Türkei, ehemaliges Jugoslawien und Italien stammen (Walter, 2008; Walter & Taskinen, 2007). Entgegen der naheliegenden Vermutung geht das oft geringere Kompetenzniveau von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen nicht mit einer geringeren Lernmotivation einher. Im Gegenteil sind Jugendliche mit Migrationshintergrund häufig stärker motiviert als solche ohne Migrationshintergrund (vgl. z. B. Walter & Taskinen, 2007, 2008). Der Bildungsforschung stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie diese Unterschiede zu erklären sind.
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2 Erklärungsansätze Zur Erklärung der Unterschiede werden zahlreiche Faktoren angeführt, die verschiedenen Ebenen zugeordnet werden können: der Ebene der Jugendlichen und ihrer Familien, der Ebene der Schulen und Schulklassen sowie der Ebene der Staaten.
2.1 Ebene der Jugendlichen und ihrer Familien Auf der Ebene der Jugendlichen und ihrer Familien werden zur Erklärung von Kompetenzunterschieden häufig Unterschiede in bildungsrelevanten Ressourcen (Humankapital) zwischen Familien mit und solchen ohne Migrationshintergrund als verantwortlich angenommen: Jugendliche mit Migrationshintergrund leben häufig in Familien aus niedrigeren sozialen Schichten. Ihre Eltern haben häufig geringere Bildungsabschlüsse, verfügen über geringere Einkommen und besitzen weniger Bücher und andere bildungsrelevante Güter als einheimische Eltern. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass in vielen Einwandererfamilien häufig die Sprache des Heimatlandes, z. B. Türkisch, gesprochen wird, so dass viele Einwandererkinder die Sprache des Einwanderungslandes, z. B. Deutsch, seltener sprechen und daher weniger gut beherrschen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Generell finden Jugendliche mit Migrationshintergrund in ihren Familien also weniger lernförderliche Rahmenbedingungen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler vor. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die Unterschiede in diesen Bedingungen eng mit den Kompetenzunterschieden zusammenhängen. Sie zeigen jedoch auch, dass selbst nach statistischer Kontrolle dieser Bedingungen signifikante Kompetenzunterschiede zwischen Jugendlichen mit und solchen ohne Migrationshintergrund bestehen bleiben (vgl. z. B. Walter, 2008; Walter & Taskinen, 2007, 2008). Für die Unterschiede in der Lernmotivation zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund spielen neben den bildungsrelevanten Ressourcen anscheinend auch bildungsbezogene Werthaltungen und Überzeugungen der Eltern eine wichtige Rolle: Da Eltern mit Migrationshintergrund Bildung tendenziell stärker wertschätzen als Eltern ohne Migrationshintergrund, z. B. weil bestimmte Bildungsbereiche im Herkunftsland einen hohen Stellenwert haben oder weil Bildungsbemühungen als Möglichkeit angesehen werden, gesellschaftlich aufzusteigen, sind auch ihre Kinder tendenziell stärker lernmotiviert (vgl. Walter & Taskinen, 2007, 2008).
2.2 Die Ebene der Schulen und Schulklassen Auf der Ebene der Schulen und Schulklassen wird angenommen, dass ein hoher Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule bzw. in Schulklassen (vgl. Esser, 2006) dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler dem Unterricht schlecht folgen können. Ein solch negativer Effekt könnte dadurch zustande kommen, dass die Schülerinnen und Schüler die Unterrichtssprache nicht ausreichend beherrschen und ihnen das Lernen schwerfällt. Empirische Untersuchungen auf Basis von PISA-Daten zeigen, dass ein höherer Anteil von Migrantinnen und Migranten in Schulen und Schulklassen tatsächlich mit einer ungünstigeren Kompetenzentwicklung der Jugendlichen einhergeht. Die
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Oliver Walter
Befunde sprechen aber eher gegen die Annahme, dass dieser Zusammenhang v. a. auf spezifische Merkmale der Migrantinnen und Migranten wie z. B. ihre Sprache zurückgeht. Stattdessen lässt sich die ungünstigere Kompetenzentwicklung zum größten Teil darauf zurückführen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger als Jugendliche ohne Migrationshintergrund Schulen besuchen, die zu niedrigeren Schulabschlüssen führen. Viele dieser Schulen weisen einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern aus niedrigeren sozialen Schichten auf, zu denen auch viele Jugendliche mit Migrationshintergrund zählen. In den wenigen Fällen, in denen ein über den Schichteinfluss hinaus gehender negativer Effekt gefunden wurde, war er nur in Schulen und Klassen mit sehr hohen Anteilen von Migrantinnen und Migranten von substanzieller Bedeutung (vgl. z. B. Stanat, 2006; Walter & Stanat, 2008). Auch für Unterschiede in der Lernmotivation zwischen Jugendlichen mit und solchen ohne Migrationshintergrund spielt die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schülern anscheinend keine bedeutende Rolle (vgl. Stanat, 2006).
2.3 Ebene der Staaten Unterschiede im Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwischen verschiedenen Staaten werden häufig mit einer unterschiedlichen Einwanderungs- und Integrationspolitik in Verbindung gebracht. Klassische Einwanderungsstaaten wie Australien, Kanada und Neuseeland betreiben eine als selektiv, aber auch als liberal bezeichnete Politik, da sie zwar die Einwanderung über Auswahl und Quotierung der Einwandernden beispielsweise nach Sprachkenntnissen, Bildungsniveau und beruflicher Qualifikation steuern, aber den Zugewanderten weitgehende Rechte zusichern und eine schnelle Einbürgerung ermöglichen. Demgegenüber wird die Einwanderungs- und Integrationspolitik von Staaten wie Deutschland oder Österreich als eher restriktiv und exkludierend beschrieben. Seit dem Ende der aktiven Anwerbephase von Arbeitsmigrantinnen und -migranten Anfang der 1970er Jahre ist Zuwanderung nach Deutschland primär im Rahmen von Familienzusammenführungen oder aufgrund deutscher Abstammung (Aussiedlerinnen und Aussiedler) möglich und mit dem Erfüllen hoher Voraussetzungen verbunden. Da die klassischen Einwanderungsstaaten anscheinend bessere Bedingungen für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft bieten als Staaten wie z. B. Deutschland oder Österreich, könnte man vermuten, dass jugendliche Migrantinnen und Migranten in den klassischen Einwanderungsstaaten besonders lernmotiviert sind und einen ähnlichen Bildungserfolg wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund haben. Tatsächlich sind die Kompetenzunterschiede in den klassischen Einwanderungsstaaten geringer und die Unterschiede in der Lernmotivation größer als in Deutschland oder Österreich. Allerdings unterscheiden sich die verglichenen Staaten nicht nur in ihrer Einwanderungs- und Integrationspolitik, sondern auch in der Zusammensetzung der Zuwanderinnen und Zuwanderer nach nationaler Herkunft und Sprache. Viele Einwanderinnen und Einwanderer in Australien, Kanada und Neuseeland stammen aus Ländern wie z. B. Großbritannien, Indien, Hongkong oder Südafrika, die eine gemeinsame kolonialgeschichtliche Vergangenheit haben und in denen Englisch Amts- oder Verkehrssprache ist. Demgegenüber stammen viele Menschen, die in den Jahren 1995 bis 2004 nach Deutschland oder Österreich eingewandert sind, aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien und Polen (Walter & Taskinen, 2007).
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3 Resümee Internationale Bildungsstudien wie PISA haben den im Allgemeinen geringen Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in vielen Staaten aufgezeigt. Sie haben aber auch darauf hingewiesen, dass es diesen Jugendlichen anscheinend nicht an Motivation für bildungsrelevante Themen fehlt. Empirische Forschungen zu intranationalen Kompetenzunterschieden zeigen, dass das geringere Kompetenzniveau von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zum großen Teil mit der sozialen Herkunft, dem Bildungsniveau und dem Sprachgebrauch der Familien mit Migrationshintergrund zusammenhängt. Internationale Vergleiche belegen, dass in Staaten mit einer systematischen Einwanderungs- und Integrationspolitik, die Einwanderinnen und Einwanderer nach diesen Aspekten auswählen und ihnen weitgehende Rechte gewähren, geringere Kompetenzunterschiede zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und solchen ohne Migrationshintergrund zu verzeichnen sind. Bildungsrelevante Probleme in Staaten wie Deutschland und Österreich sind anscheinend vor allem Probleme mit Jugendlichen aus sozial schwächeren, bildungsferneren Familien, die in diese Staaten eingewandert sind und sich weitgehend selbst überlassen wurden.
Literatur Diefenbach, H. (2007). Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Esser, H. (2006). Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt/Main: Campus. Stanat, P. (2006). Schulleistungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Die Rolle der Zusammensetzung der Schülerschaft. In J. Baumert, P. Stanat & R. Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000 (S. 189–219). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Walter, O. (2008). Herkunftsassoziierte Disparitäten im Lesen, der Mathematik und den Naturwissenschaften: ein Vergleich zwischen PISA 2000, PISA 2003 und PISA 2006. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11 (Sonderheft 10), 149–169. Walter, O. & Stanat, P. (2008). Der Zusammenhang des Migrantenanteils in Schulen mit der Lesekompetenz: Differenzierte Analysen der erweiterten Migrantenstichprobe von PISA 2003. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11 (1), 84–105. Walter, O. & Taskinen, P. (2007). Kompetenzen und bildungsrelevante Einstellungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland: Ein Vergleich mit ausgewählten OECDStaaten. In M. Prenzel, C. Artelt, J. Baumert, W. Blum, M. Hammann, E. Klieme & R. Pekrun (Hrsg.), PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie (S. 337– 366). Münster: Waxmann. Walter, O. & Taskinen, P. (2008). Naturwissenschaftsbezogene Motivationen und Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in Deutschland: Der Einfluss der Generation, der Herkunft und des Elternhauses. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11 (Sonderheft 10), 185–203.
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Cornelia Gräsel und Heinke Röbken
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Einführung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des Tertiärbereichs
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Der tertiäre Bereich des Bildungswesens umfasst in den Ländern des deutschen Sprachraums einerseits die berufsbildenden Einrichtungen (Berufsschulen) und andererseits die Aufgabenbereiche Hochschulen, also Universitäten und Fachhochschulen (Mayer, 2008). Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf Hochschulen, denen in bildungspsychologischen Arbeiten ein besonderer Stellenwert zukommt. Teichler (2006, S. 68) sieht die Hochschulforschung als interdisziplinäres Gebiet, zu dem neben der Psychologie auch andere Wissenschaften, wie etwa die Soziologie oder die Ökonomie einen Beitrag leisten. Aus dem Blickwinkel der Psychologie erachtet er folgende Themen als forschungsrelevant: die Auswahl und Beratung von Hochschulangehörigen, speziell Studierenden; das Lehren und Lernen, worunter Fragen der Hochschuldidaktik ebenso fallen wie die Unterstützung und Beratung der Studierenden bezüglich ihres Studierverhaltens. Darüber hinaus ist die Evaluation als ein wichtiges Thema der Psychologie in der Hochschulforschung zu nennen; hier liegen besonders viele Arbeiten zur Bewertung von Lehrveranstaltungen durch die Studierenden vor (vgl. Rindermann, 2003; Spiel, 2001). Diese Aufzählung macht deutlich, dass die Psychologie in der Hochschulforschung verschiedene und wichtige Bereiche bearbeitet. Gerade angesichts des tief greifenden Wandels des Hochschulwesens seit dem Ende der 90er Jahre gewinnt die Hochschulforschung an Bedeutung. Die bis dahin dominierende Orientierung am Humboldt’schen Ideal der Einheit von Forschung und Lehre für Universitäten, an der fachbreiten Hochschule und an der kollegialen Selbstverwaltung geriet in wenigen Jahren in ein Spannungsverhältnis zu einer von ökonomischen Modellen geprägten Vorstellung von Hochschule (Mayer, 2008; vgl. Müller-Böling, 2000). Damit gehen nicht nur neue Modelle der Hochschulsteuerung, ein verstärkter Wettbewerb zwischen den Hochschulen und eine Ökonomisierung der Wissenschaft einher. Sondern es wurde – ausgelöst durch die Unterzeichnung des Bologna-Vertrages 1999 – auch die Studienstruktur in den deutschsprachigen Ländern tiefgreifend verändert: In fast allen Fächern wurden die traditionellen Studienabschlüsse durch Bachelor- und Masterstudiengänge ersetzt.
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Bachelor- und Masterstudiengänge: Im Zuge des Bologna-Prozesses (benannt nach der 1999 in Bologna abgegebenen Erklärung der Bildungsministerinnen bzw. -minister), der auf die Etablierung eines europaweit einheitlichen Hochschulrahmens abzielt, wurden in vielen Ländern Europas neue Studiengänge eingeführt. Der erste akademische Grad wird in der Regel im Rahmen eines Bachelor-Studiums erworben, das meist sechs Semester (in Ausnahmefällen bis zu acht Semestern) dauert. Darauf aufbauend werden Masterprogramme angeboten, die in der Regel vier Semester umfassen. Die dritte Stufe bilden strukturierte Doktorats- oder Ph. D. Programme.
Bei der Auswahl der Themen für den vorliegenden Beitrag legten wir den Schwerpunkt auf die Frage, welche Erkenntnisse der Bildungspsychologie vor dem Hintergrund dieses Wandels der Studienstruktur von besonderer Bedeutung sind. Aus diesen Überlegungen resultierten drei Themenbereiche: (1) die Auswahl von Studierenden durch die Hochschulen, (2) die Umsetzung neuer Lehr- und Lernformen sowie (3) die Gestaltung einer neuen Studienorganisation.
2
Stand der Wissenschaft
2.1 Auswahlverfahren von Studierenden Die Notwendigkeit einer Auswahl von Studierenden vor der Hochschulzulassung besteht bereits seit Jahrzehnten: Insbesondere in einigen Studiengängen – in medizinischen Fächern, Pharmazie, Psychologie, Architektur usw. – war die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber in der Regel deutlich höher als die Zahl der Studienplätze. Die Veränderungen im Hochschulbereich hat die Bedeutung der Auswahlverfahren weiter steigen lassen: Die Mobilität der Studierenden in Europa ist deutlich gestiegen – in Österreich bewerben sich beispielsweise viele Studierende aus Deutschland auf Studienplätze in attraktiven Fächern wie Medizin oder Psychologie (Litzenberger, Punter, Gnambs, Jirasko & Spiel, 2007). In vielen Ländern liegt die Auswahl der Studierenden in der Hand der einzelnen Hochschulen, die dafür Verfahren entwickeln oder auswählen können. Zudem sehen die neuen Studienstrukturen häufig eine Auswahl zwischen der Bachelor- und der Masterphase vor. Für die Auswahl von Studierenden wird eine Vielzahl von Verfahren eingesetzt, die von Assessment-Centern, wie sie auch in Unternehmen verwendet werden, bis hin zu Arbeitsproben in gestaltenden Fächern („Mappen“) reichen (Spiel, Litzenberger & Haiden, 2007). Im Folgenden werden vier Auswahlverfahren, die in der universitären Praxis weit verbreitet sind, genauer vorgestellt und bewertet: (1) Interviews, (2) Abiturdurchschnittsnote oder die Noten bestimmter Fächer, (3) Studierfähigkeitstests und (4) Leistungsmessungen in der Studieneingangsphase bzw. Studieneingangsprüfungen. Zur Bewertung dieser Verfahren lassen sich die Gütekriterien der klassischen Testtheorie heranziehen, die zum methodischen Basiswissen der Psychologie gehören: Reliabilität (Messgenauigkeit), Objektivität und Validität (Gültigkeit). Bei Auswahlverfahren
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Cornelia Gräsel und Heinke Röbken
kommt der prognostischen Validität, also der Vorhersagegüte des Verfahrens, besondere Bedeutung zu. Neben den drei Gütekriterien muss die Ökonomie berücksichtigt werden: Die Auswahlverfahren sollten von den Universitäten mit einem vertretbaren Zeitaufwand gehandhabt werden können. Prognostische Validität von Hochschulauswahlverfahren: Die prognostische Validität eines Auswahlverfahrens bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen dem Ergebnis des Verfahrens (z. B. der Note, dem Testwert) und einem zeitlich später liegenden Erfolgskriterium. Hochschulauswahlverfahren zielen in der Regel darauf ab, den Studienerfolg vorherzusagen; in empirischen Studien werden zum Beispiel Noten im Verlauf oder am Ende des Studiums, die Studiendauer oder der Studienabbruch als Kriterien verwendet. Bei der Vorhersage können zwei Fehler auftreten: (1) Fehler, die dadurch entstehen, dass Bewerberinnen und Bewerber ausgewählt werden, die das Erfolgskriterium nicht erreichen (falsch positive Beurteilte) und (2) Fehler, die dadurch entstehen, weil Kandidatinnen und Kandidaten nicht berücksichtigt werden, obwohl sie das Kriterium erreicht hätten (falsch negativ Beurteilte). Die Personen, die unter die zweite Kategorie fallen, können i. Allg. nicht ermittelt werden, was die Aussagekraft empirischer Studien zur prognostischen Validität einschränkt.
(1) Interviews werden von Lehrenden häufig als geeignete Auswahlinstrumente betrachtet. Zahlreiche Studien weisen aber darauf hin, dass Interviews hinsichtlich der Gütekriterien problematisch sind. Die soziale Erwünschtheit schränkt die Aussagekraft ein, weil sich die Bewerberinnen und Bewerber in einem möglichst positiven Licht präsentieren und damit möglicherweise Informationen verfälschen. Die prognostische Validität der Interviews ist in empirischen Studien vergleichsweise gering; auch die Übereinstimmung mehrerer Beurteilerinnen und Beurteiler fällt in einigen Studien nicht zufriedenstellend aus (zusammenfassend Spiel et al., 2007; Rindermann & Oubaid, 1999). Je weniger strukturiert und standardisiert die Interviewsituation und die Auswertung der Ergebnisse erfolgen, desto schlechter sind die Gütekriterien. Ein wesentlicher Kritikpunkt an Interviews ist schließlich der hohe Zeit- und Personalaufwand. Auf der Basis der bestehenden Forschung ist dementsprechend nur in begründeten Fällen (z. B. Gewinnen von attraktiven Kandidatinnen und Kandidaten für ein Studium) zu Interviews als Auswahlverfahren zu raten. (2) Die Verwendung von Abiturnoten ist im Gegensatz zu Interviews eine ökonomische Form der Auswahl von Studierenden. Zahlreiche empirische Studien verweisen auch darauf, dass die Abiturnote den Studienerfolg gut vorhersagen kann und in der prognostischen Validität durch kein anderes Verfahren übertroffen wird. Allerdings lassen sich auch Schulnoten kritisch betrachten: In der pädagogisch-psychologischen Diagnostik wird seit vielen Jahren diskutiert, dass Schulnoten hinsichtlich der Gütekriterien als problematisch zu bewerten sind (Ingenkamp, 1995). Insbesondere wird die mangelnde Objektivität kritisiert, weil unterschiedliche Lehrpersonen an dieselbe Leistung unterschiedliche Kriterien anlegen und zu anderen Urteilen kommen. Zudem erweisen sich Noten aufgrund der unterschiedlichen Leistungsstandards zwischen einzelnen Schulen und der überwiegenden Verwendung der sozialen Bezugsnorm bei der Benotung als
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eingeschränkt vergleichbar: Bei gleicher Leistung erhält eine Schülerin oder ein Schüler aus einer leistungsstarken Schule bzw. Klasse mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechtere Noten als eine Schülerin oder ein Schüler aus einer weniger leistungsstarken Schule bzw. Klasse (vgl. Köller, Baumert & Schnabel, 1999). Die Durchschnittsnote im Abitur, die zahlreiche Fächer einschließt, ist günstiger für die Auswahl von Studierenden als spezifische Fachnoten, weil Beurteilungsfehler und -tendenzen einzelner Lehrpersonen weniger zum Tragen kommen. Eine ausschließliche Verwendung von Noten als Auswahlkriterium birgt aber durchaus Risiken: Die Institution Schule ist mit ihren Strukturen und Lernangeboten nicht für alle gleichermaßen geeignet: Ein Teil der Schülerinnen bzw. Schüler kann in diesem Umfeld trotz guter Lernvoraussetzungen keine guten Leistungen erbringen und bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Wenn diese Personengruppe durch die Verwendung von Schulnoten als Aufnahmekriterien einen eingeschränkten Zugang zu Studienplätzen erhält, würde das eine weitere Benachteiligung bedeuten. Aus einer individuellen Perspektive stellt sich hier die Frage der Bildungsgerechtigkeit; gesellschaftlich besteht die Gefahr, dass vorhandene Begabungsressourcen nicht adäquat genutzt werden. (3) Studierfähigkeitstests lassen sich in allgemeine und fachspezifische unterscheiden. Allgemeine Studierfähigkeitstests berücksichtigen – ähnlich wie Intelligenztests – kognitive Grundfähigkeiten, beispielsweise das schlussfolgernde Denken (Rindermann & Oubaid, 1999). Für einige wenige Fächer wurden spezifische Aufnahmetests entwickelt. Ein bekanntes Beispiel im deutschsprachigen Raum ist der „Test für medizinische Studiengänge“ (TMS) respektive der auf ihm aufbauende EMS („Eignungstest für medizinische Studiengänge“). Studierfähigkeitstests – allgemeine und fachspezifische – sind hinsichtlich ihrer Objektivität und Reliabilität positiv zu bewerten; dies gilt auch für die prognostische Validität. Bei detaillierter Analyse können jedoch auch bereits etablierte Verfahren Schwachpunkte zeigen, wie z. B. der EMS in Bezug auf die Trennschärfen der Items oder die Ratewahrscheinlichkeit (Spiel, Schober & Litzenberger, 2008). Ein spezielles Problem stellt die Fairness derartiger Verfahren dar; d. h. ob unterschiedliche Subgruppen auch gleiche Erfolgswahrscheinlichkeiten aufweisen (Spiel et al., 2007, 2008). Prinzipiell sind derartige Schwierigkeiten von Studierfähigkeitstests aber durch empiriegestützte Verbesserungen vermeidbar bzw. zu reduzieren. Betrachtet man die Ökonomie von Tests, so ist die Entwicklung dieser Verfahren aufwändig; die Durchführung von Tests ist jedoch relativ ökonomisch zu gestalten. Vertreterinnen bzw. Vertreter der psychologischen Diagnostik empfehlen daher, die Abiturnoten möglichst mit Testverfahren zu kombinieren (vgl. Rindermann & Oubaid, 1999). (4) Schließlich besteht die Möglichkeit der Leistungsmessungen in der Studieneingangsphase bzw. den Studieneingangsprüfungen (Kasper & Furtmüller, 2005). Das zentrale Kennzeichen dieser Verfahren ist, dass sie sich auf studienfachspezifische Kenntnisse beziehen, die zuvor vermittelt wurden – etwa im Rahmen einer Eingangs- oder Einführungsvorlesung. Die Fragen sollten sich dabei an den Lernzielen der Veranstaltung orientieren und nicht nur Wissensabfragen enthalten, sondern auch weiter gehende Lernziele – etwa Verständnis und Transfer – beinhalten (Spiel et al., 2008). Studieneingangsprüfungen sind eine vergleichsweise wenig verwendete Form der Eingangsselektion an Hochschulen. Hinsichtlich der Objektivität und der Reliabilität der Verfahren sind sie ähnlich wie Testverfahren zu bewerten: Bei entsprechender Konstruktion und sorgfälti-
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Cornelia Gräsel und Heinke Röbken
ger Durchführung sind diese Gütekriterien in hohem Ausmaß gegeben. Für die prognostische Validität derartiger Verfahren liegen bisher noch wenige Ergebnisse vor. An der Universität Wien werden für die Auswahl zum Psychologie-Studium seit mehreren Jahren derartige Studieneingangsprüfungen verwendet; im Rahmen einer einführenden Ringvorlesung wird ein Überblick über die 12 Prüfungsfächer der Psychologie gegeben. Zur Prüfung (Auswahlverfahren) treten jeweils ca. 1.000 Personen an (Litzenberger et al., 2007). Die Konstruktion der Items orientiert sich an Verfahren der pädagogischpsychologischen Testkonstruktion; die Entwicklung des Verfahrens ist zwar mit großem Aufwand verbunden; die Durchführung jedoch ökonomisch und viel versprechend. Bisher wurden die hier vorgestellten Auswahlverfahren lediglich unter dem Blickwinkel der testtheoretischen Gütekriterien analysiert. Darüber hinaus können diese Verfahren als Anregung zur Selbstreflexion über die eigenen Kompetenzen und Neigungen sowie als Instrument der Selbstselektion betrachtet werden. Auswahlverfahren können dazu beitragen, dass sich die Studierenden gezielter mit den Anforderungen der jeweiligen Studiengänge und den spezifischen Profilen an einer Universität befassen (vgl. Abschnitt 3.2). Diese Funktionen erfüllen vor allem Studieneingangsprüfungen; sie werden jedoch auch von Interviews erreicht. Welches Auswahlverfahren letztlich von einer Hochschule für einen Studiengang verwendet wird, kann nur anhand der konkreten Bedingungen und Zielsetzungen entschieden werden. Dabei ist zu beachten, welche personellen Ressourcen vorhanden sind, auf welche Testverfahren eventuell zurückgegriffen werden kann und welche spezifischen Anforderungen der Studiengang aufweist.
2.2 Hochschuldidaktik: Neue Lehr- und Lernformen Ein zweites bedeutsames bildungspsychologisches Thema ist die Hochschuldidaktik. Auch wenn es eine umfassende Praxis der Optimierung des Lernens und Lehrens an Universitäten gibt, liegen nur zu ausgewählten Themen umfangreichere Forschungsarbeiten mit psychologischem Hintergrund vor. Die meisten Arbeiten befassen sich mit der Etablierung neuer Lern- und Lehrformen, die unter dem Stichwort „from teaching to learning“ zusammengefasst werden können. Im Vordergrund steht nicht die Frage, wie Wissen von den Lehrenden vermittelt werden kann, sondern wie der aktive Erwerb von Wissen und Kompetenzen durch die Lernenden unterstützt werden kann (Gruber, Mandl & Renkl, 2000). Hochschuldidaktik: Unter Hochschuldidaktik versteht man die Bemühungen, Lehren und Lernen in Hochschulen zu erforschen und zu verbessern (Helmke & Schrader, 2001). Eine erste Blütezeit der Hochschuldidaktik bestand in den 70er Jahren; damals wurden an vielen Universitäten „hochschuldidaktische Zentren“ eingerichtet (Teichler, 2006). Mangels Akzeptanz durch die Lehrenden, aber auch aufgrund der sinkenden Finanzmittel für Universitäten, wurden diese Einrichtungen nicht weitergeführt. In den 90er Jahren kam es mit der Einführung der neuen Studienstrukturen und der Ausweitung des E-learnings zu einem Wiederaufleben der Hochschuldidaktik, die wieder zur Gründung hochschuldidaktischer Einrichtungen führen.
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Im Folgenden werden zwei Bereiche dargestellt, die in der aktuellen Forschung intensiv bearbeitet werden und zu denen eine breite empirische Basis vorliegt: Problemorientiertes Lernen und die Unterstützung des selbstgesteuerten und lebenslangen Lernens. Problemorientiertes Lernen: Ausgangspunkt für die Forschungen zu problemorientiertem Lernen waren empirische Studien, die auch für den Hochschulbereich nachwiesen, dass Studierende häufig „träges Wissen“ erwerben, das sie in realen Problemsituationen nicht anwenden können. Träges Wissen: Der Begriff „träges Wissen“ bezeichnet Wissen, das zwar in Prüfungssituationen wiedergegeben wird, das aber zur Lösung realer Probleme des Alltags oder des Berufslebens nicht genutzt werden kann (Gruber et al., 2000). Eine zentrale Ursache für träges Wissen wird in der Lehr-Lernforschung in der Art des Wissenserwerbs gesehen: Wenn ohne Kontextbezug und v. a. reproduktionsorientiert gelernt wird, steigt die Gefahr nicht anwendbaren Wissens.
Problemorientiertes Lernen geht von der Forderung aus, dass Problem- oder Entscheidungssituationen der Ausgangspunkt für Lernen sind (Gräsel, 1997). Zentral für eine problemorientierte Herangehensweise sind zwei Aspekte: Zum einen steht das Lösen der Probleme durch die Lernenden im Mittelpunkt des Wissenserwerbs – die Veranschaulichung von Inhalten durch praxisnahe Beispiele ist daher nicht mit problemorientiertem Lernen zu verwechseln. Zum anderen werden die verwendeten Problemstellungen so wenig wie möglich vereinfacht, so dass sie in ihrer Komplexität Problemen der Praxis ähneln. So wird z. B. Studierenden der Medizin oder der klinischen Psychologie ein authentischer Fall präsentiert, für den sie eine Diagnose stellen sollen. Oder angehende Betriebswirtinnen bzw. -wirte treffen in einer computerbasierten Simulation in der Rolle einer Managerin bzw. eines Managers Entscheidungen über Produktionsmengen und Verkaufspreise von Waren. Die bedeutendste Form ist das „Problem-based learning“ (PBL), worunter Kurse und Curricula verstanden werden, die einer spezifischen Didaktik folgen. Besonders weit verbreitet und entsprechend empirisch gut untersucht ist das PBL im Fach Medizin. Problem based learning im Fach Medizin: PBL ist hier durch folgende Merkmale gekennzeichnet: (a) Das Lernen erfolgt anhand der Bearbeitung authentischer medizinischer Probleme, also Darstellungen von Patientinnen und Patienten. (b) Die meisten Lehrveranstaltungen finden in Kleingruppen statt, die von einer Tutorin oder einem Tutor betreut werden. (c) Der Ablauf der Problembearbeitung in einer Kleingruppe entspricht einem Schema, das sich verkürzt folgendermaßen zusammenfassen lässt: Analyse der Probleme, Hypothesenbildung, Identifikation von Wissenslücken und Formulierung von Lernzielen, individuelle Bearbeitung von Materialien, Zusammentragen der Informationen in der Gruppe und Anwendung des Gelernten auf den Fall.
Zum PBL liegen mittlerweile zahlreiche Studien und mehrere Metaanalysen vor. Die meisten empirischen Studien vergleichen die Leistung der Studierenden aus traditio-
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nellen Kursen bzw. Curricula mit den problembasierten. Dabei zeigen sich zusammenfassend folgende Ergebnisse (Dochy, Segers, Van den Bossche & Gijbels, 2003; Hmelo, 2004): Betrachtet man das Abschneiden in traditionellen Prüfungen, dann lässt sich in der Regel kein bedeutsamer Unterschied zwischen den Lernformen finden. Die Studien, die sich mit den Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen und der Studienmotivation bzw. -zufriedenheit befassen, weisen auf eine Überlegenheit von PBL in diesen Variablen hin. Hinsichtlich anwendbaren Wissens und praktischer Kompetenzen gibt es ebenfalls Hinweise für ein etwas besseres Abschneiden der Studierenden aus problemorientierten Lehr-Lernangeboten. In den Untersuchungen wurde auch deutlich, dass einige Voraussetzungen beachtet werden müssen, wenn problemorientiertes Lernen in der Hochschullehre implementiert werden soll: Studierende benötigen häufig Unterstützung, damit sie die Probleme mit geeigneten Lernstrategien bearbeiten und für ihren Wissens- und Kompetenzerwerb nutzen können. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Probleme nicht individuell, sondern in Gruppen bearbeitet werden. Dementsprechend wurde in der pädagogischpsychologischen Forschung untersucht, welche Formen der Unterstützung sich als hilfreich erweisen. Beispiele dafür sind die Ausweitung des Feedbacks von Expertinnen bzw. Experten – insbesondere von Rückmeldungen, die Hinweise für die Verbesserung des eigenen Lernverhaltens geben – oder die Verwendung unterstützender Visualisierungen, z. B. Nutzung von Mappingverfahren, in denen Inhalte in einem grafischen Netz von Begriffen und Verbindungen abgebildet werden (Fischer, Bruhn, Gräsel & Mandl, 2002). Ob problemorientiertes Lernen erfolgreich verläuft, ist darüber hinaus von der jeweiligen Lernkultur abhängig. Es ist beispielsweise ungünstig, einen problemorientierten Kurs als „Insellösung“ in ein Curriculum zu implementieren, das in den Prüfungen ausschließlich die Wiedergabe von Faktenwissen erfasst und damit die spezifischen Vorteile problemorientierten Lernens, nämlich die Unterstützung des Erwerbs anwendbaren Wissens, nicht oder zu wenig berücksichtigt. Ein zweites Thema der bildungspsychologischen Forschung zu neuen Lehr-Lernformen ist die Förderung der Fähigkeiten zum selbstgesteuerten und lebenslangen Lernen (Spiel, 2006). Vor allem in bildungspolitischen Texten wird betont, dass sowohl Schulen als auch Hochschulen die Aufgabe zukommt, die Motivation und die Fähigkeiten zu lebenslangem Lernen zu unterstützen. Neben der inhaltsbezogenen Kompetenzentwicklung sollte in den Hochschulen stärker die Frage thematisiert werden, wie das „Lernen gelernt“ werden kann (Schmidt & Tippelt, 2005). In Wien wurde beispielsweise ein internetgestützter Ansatz (Blended-Learning) zur Förderung des selbstgesteuerten Lernens entwickelt (Spiel, 2006). Ausgangspunkt waren die Evaluationsergebnisse einer Vorlesung, in die sowohl direkte als auch internetgestützte kooperative Lernformen implementiert wurden. Es zeigte sich, dass die Studierenden zum Teil erhebliche Defizite in den Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen aufwiesen und eher performanz- als kompetenzorientiert lernten. Dementsprechend wurden in die neue Lernumgebung flankierende Maßnahmen zur Förderung selbstgesteuerten Lernens implementiert, dazu zählen beispielsweise Trainingseinheiten zum selbstgesteuerten Lernen (face-to-face), differenzierte Leistungsfeedbacks von den Lehrenden (mündlich, schriftlich) und PeerFeedbacks sowie eine systematische Vernetzung zwischen medialen und Face-to-faceAngeboten. Eine ausführliche Darstellung der Komponenten zur Förderung des selbst-
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gesteuerten Lernens ist Wagner, Schober, Reimann, Atria und Spiel (2007) zu entnehmen. Die ersten Forschungsergebnisse verweisen darauf, dass dies ein zwar aufwändiges, jedoch Erfolg versprechendes Vorgehen ist (Schober, Wagner, Reimann & Spiel, 2008).
2.3 Gestaltung kompetenzorientierter Studiengänge Im Rahmen der Einführung von Bachelor- und Masterprogrammen wurden die Studiengänge in ihrer internen Struktur verändert und „modularisiert“. Modulare Studienorganisation: Ein wichtiges Kennzeichen der Bachelor- und Masterstudiengänge sind Module, die aus mehreren thematisch zusammenhängenden Lehrveranstaltungen bestehen und gemeinsam zu festgelegten Kompetenzen führen sollen. In den Modulbeschreibungen, die für alle Studiengänge entwickelt werden, ist die Arbeitsbelastung („workload“) festgehalten. Als Einheit für die Arbeitsbelastung werden Leistungspunkte vergeben (Credit-Points). Die Modulbeschreibungen enthalten zudem die spezifischen Kompetenzen, die durch den erfolgreichen Besuch eines Moduls erworben werden sollen.
Ein zentrales Element der modularisierten Studienstruktur sind die Kompetenzbeschreibungen, die für jedes Modul möglichst präzise angegeben werden (Terhart, 2005). Diese Kompetenzorientierung soll den Wechsel zwischen Universitäten erleichtern, weil ersichtlich wird, über welche Kompetenzen Studierende verfügen bzw. welche noch fehlen. Zudem sollen die Kompetenzbeschreibungen den Studierenden Transparenz bzgl. der Lernziele und den damit verbundenen Anforderungen geben. Kompetenz: Der Kompetenzbegriff wird in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. In der Psychologie hat Weinert (2001a) den Kompetenzbegriff maßgeblich beeinflusst. Er bezeichnet Kompetenzen als Ergebnisse von Lernprozessen, die domänenspezifisch oder bereichsübergreifend sind und für die Bewältigung von Situationen und Anforderungen verwendet werden können. Dabei berücksichtigt Weinert nicht nur kognitive, sondern auch motivationale Komponenten. Darauf aufbauend definieren Klieme und Leutner (2006) sowie Klieme und Hartig (2007) Kompetenzen als kontextspezifische Leistungsanforderungen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen. Bezogen auf den tertiären Bereich lassen sich Kompetenzen als Fähigkeiten und Haltungen betrachten, die im Studium erworben werden und die Hochschulabsolventinnen bzw. -absolventen zur Lösung von Problemen in verschiedenen Situationen erfolgreich einsetzen können (vgl. Weinert, 2001b).
Erste Erfahrungen mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses deuten darauf hin, dass die Kompetenzorientierung bisher nur unzureichend realisiert wurde (Pletzl & Schind-
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ler, 2007). Von Seiten der Hochschulen häufen sich die Klagen über den hohen Organisationsaufwand und die zunehmende Prüfungsdichte. In einer empirischen Studie zu den ersten Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur führen Pletzl und Schindler (2007) folgende Defizite an: • Die formale Strukturierung der Studiengänge lässt wenige Spielräume für neue Lehrund Lernformen und die Kompetenzvermittlung. Eine Ursache dafür sehen sie in den stärker komprimierten Studiengängen, bei denen herkömmliche Diplom- und Magisterstudiengänge mehr oder weniger in 6-semestrige Bachelor-Studiengänge konzentriert wurden. Diese Vorgehensweise wird gelegentlich auch als „Bonsai“-Studiengestaltungsstrategie bezeichnet (vgl. Teichler, 2008). • Das Ziel der Kompetenzorientierung wird dadurch unterlaufen, dass viele Module aus einzelnen Veranstaltungen bestehen, die nur wenig zusammenhängen und häufig aus alten Studiengängen übernommen wurden. Eine notwendige inhaltliche Verknüpfung von Einzelveranstaltungen ist häufig nicht gegeben. • Häufig wird jede Veranstaltung einzeln geprüft, wobei selten kontrolliert wird, ob den Studierenden die Verknüpfung der Lehrinhalte eines Moduls gelungen ist. Zudem werden einzelne Veranstaltungen verschiedenen Modulen und Studiengängen zugeordnet, so dass sie für eine übergreifende kompetenzbezogene Modulprüfung nur eingeschränkt geeignet sind. Vor dem Hintergrund dieser (und anderer) Probleme stellt sich für die Bildungspsychologie die Frage, wie eine stärkere Kompetenzorientierung als wesentliches Ziel der Hochschulbildung realisiert werden kann. Aus der Literatur lassen sich verschiedene Strategien ableiten, um diesen Herausforderungen zu begegnen. In Zukunft sollten z. B. bei der Studiengangsentwicklung die Ziele eines Moduls stärker präzisiert und die Kompetenzorientierung in der Beschreibung detaillierter realisiert werden. Zudem sollte der Sinnzusammenhang zwischen einzelnen Modulelementen (Webler, 2007) und zu anderen Modulen im Studiengang stärker herausgearbeitet werden. Schließlich kommt der Kompetenzmessung in den neuen Studiengängen eine entscheidende Rolle zu. In den letzten Jahren wurde der Entwicklung neuer Prüfungsformen viel Aufmerksamkeit zugewandt, die neben den klassischen Gütekriterien u. a. folgende Aspekte berücksichtigen (Baartman, Bastiaens, Kirschner & Van der Vleuten, 2007): Authentizität (Ähnlichkeit der Prüfungssituation zu Situationen, in denen Kompetenzen angewendet werden), kognitive Komplexität (Berücksichtigung höherer kognitiver Fähigkeiten), Transparenz (klare und verständliche Formulierung; transparente Bewertungsmaßstäbe).
3 Praktische Bedeutung In den vorangegangenen Abschnitten wurde bereits deutlich, dass bildungspsychologische Erkenntnisse eine Informations- und Entscheidungsgrundlage für wichtige Fragen der Auswahl geeigneter Studierender und der Verbesserung des Lehrens und Lernens an Hochschulen darstellen können. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Darstellung von drei Praxisfeldern, nämlich der Fortbildung von Lehrenden, der Beratung von Lernenden und der Evaluation von Lehr- und Lernprozessen.
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3.1 Fortbildung und Beratung von Lehrenden Die Entwicklung und Implementierung neuer Lehr-Lernformen sind Bereiche, für die der Bildungspsychologie hohe praktische Relevanz zukommt. Ein konkretes praktisches Feld für Bildungspsychologinnen und -psychologen ergibt sich in der Fortbildung der Lehrenden. Verschiedene Universitäten haben hochschuldidaktische Zentren eingerichtet, die Fortbildungsveranstaltungen bzw. eine Supervision von Lehrenden anbieten. In den vorigen Abschnitten wurden bereits drei wichtige Themenbereiche angesprochen, die in hochschuldidaktischen Zentren bearbeitet werden können und für die Ergebnisse der Bildungspsychologie relevant sind: Die Auswahl von Studierenden, die Gestaltung neuer Lehr- und Lernformen und die Entwicklung neuer Prüfungsverfahren.
3.2 Beratung von Studierenden Das zweite Praxisfeld stellt die Beratung von studieninteressierten Personen und Studierenden dar. Die gestiegene Hochschulautonomie geht mit stärkerer Differenzierung und Profilierung einher. Damit wird die Auswahl eines geeigneten Studienfaches an einem geeigneten Studienort deutlich komplizierter als vor einigen Jahrzehnten. Dazu kommt, dass die Einführung der neuen Studiengänge mit der Etablierung neuer Studienfächer verbunden ist, über die in der Regel weniger Wissen besteht als über die tradierten Fächer. Zudem besteht nach wie vor die Tendenz von Studierenden, ihre Universität aufgrund sozialer Motive (Nähe zu Partnerinnen bzw. Partnern und Verwandten) sowie lokalen Gegebenheiten (Freizeitangebote, Atmosphäre am Ort) zu wählen (Heine, Briedis, Didi, Haase & Trost, 2006). Diese Faktoren führen u. a. dazu, dass die Studienabbruchquote insgesamt relativ hoch ist. Bessere Beratung und Information können dazu beitragen, die „Zuordnung“ von Studierenden und Hochschulen bzw. Studiengängen zu optimieren. Auch während des Studiums ergeben sich viele Beratungsanlässe, die psychologische Kompetenzen betreffen: Hier sind beispielhaft der Umgang mit Prüfungsangst und geeignete Lern- und Motivationsstrategien zu nennen.
3.3 Evaluation Schließlich bietet die Evaluation als Aufgabe der Hochschulen ein breites Praxisfeld. Lehrevaluationen gehören zu den bisher am häufigsten praktizierten Verfahren zur Qualitätssicherung in der Hochschule und umfassen sowohl studentische Lehrevaluationen als auch mehrstufige Evaluationsprozesse (Hanft, 2008). Letztere werden in der Regel von Evaluationsagenturen durchgeführt, die die erforderlichen Informationen von den Hochschulen anfordern, auswerten und in enger Zusammenarbeit mit den Gutachterinnen bzw. Gutachtern am Abschlussbericht mitwirken. Zum Bereich der Evaluationen gehören ferner die Akkreditierungsverfahren für neue Studiengänge durch Agenturen. Ein Mangel und damit ein interessantes Forschungsfeld bietet die Evaluation ganzer Curricula hinsichtlich der Kenntnisse und Kompetenzen der Absolventinnen und Absolventen (Spiel, Schober & Reimann, 2006).
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Lehrevaluation: Lehrevaluationen beziehen sich auf einzelne Veranstaltungen und/oder den Lehrbetrieb als Ganzes (z. B. Prüfungen, Studienbedingungen, Betreuungsverhältnisse etc.). Sie können von Studierenden, Lehrenden oder auch Fremdbeurteilerinnen bzw. -beurteilern durchgeführt werden. Die gängigste Form der Lehrevaluation ist die Studierendenevaluation, bei der die Nutzerinnen bzw. Nutzer der Studienangebote den Dozentinnen und Dozenten ein Feedback geben. Lehrevaluationen sind nicht unumstritten – oft wird den Studierenden fehlende Urteilskompetenz oder Orientierung an irrelevanten Kriterien vorgeworfen. Psychologinnen und Psychologen können durch die Konstruktion wissenschaftlich fundierter Evaluationsverfahren und durch Heranziehung objektiver Indikatoren (z. B. Prüfungsleistungen, Studiendauer, Relation zwischen Studierenden und Dozentinnen bzw. Dozenten) die Bedingungsfaktoren guter Hochschullehre aufzeigen.
Für die Forschung gewinnen wissenschaftlich fundierte und professionell geplante Evaluationen ebenfalls an Bedeutung. Mittlerweile werden von vielen Hochschulen in regelmäßigen Abständen Forschungsberichte veröffentlicht, die Informationen über Forschungsschwerpunkte und Forschungsaktivitäten enthalten. Zudem vergleichen einzelne Hochschulen ihre Forschungsleistungen in freiwillig eingerichteten Benchmark-Clubs (Hanft, 2008). Zur Forschungsevaluation zählen auch die indikatorenbasierten hochschulübergreifenden Vergleiche von Forschungsleistungen in Form von Ratings oder Rankings (im deutschen Sprachraum z. B. das Ranking vom Centrum für Hochschulentwicklung, kurz: CHE; international z. B. das Shanghai-Ranking). Häufig wird die Methodik der Hochschulrankings kritisiert, „weil sie wichtige Aspekte der Qualität von Universitäten nicht erheben, zu simple Indikatoren verwenden und zahlreiche Messfehler aufweisen“ (Kroth & Daniel, 2008, S. 543). Für Psychologinnen und Psychologen könnte sich hieraus die Aufgabe ergeben, die Methodik internationaler Hochschulrankings näher zu analysieren und zu überprüfen, inwiefern diese Rankings die Leistungen der betreffenden Hochschule in Forschung oder Lehre adäquat und verlässlich abbilden. Sowohl bei internen als auch bei institutionenübergreifenden Forschungsevaluationen können bildungspsychologische Kenntnisse dafür einen wichtigen Beitrag leisten.
4 Zukunft des Themas Der Tertiärbereich hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend geändert. Inwieweit diese Veränderungen von Dauer sind, welche Reformen wieder aufgegeben und welche weitergeführt werden, das ist – auch angesichts der sich verschärfenden Kritik – schwer zu prognostizieren. Abschließend sollen einige Szenarien hinsichtlich der Zukunft bildungspsychologisch relevanter Themen in Hochschulen diskutiert werden. Hochschulen werden noch mehr aufgefordert sein, ihre Studiengänge international anschlussfähig zu machen, den praktischen Anwendungsbezug herauszustellen und die Übergänge zwischen den verschiedenen Bildungseinrichtungen zu erleichtern. Letzteres gewinnt insbesondere im Zusammenhang mit der Maastrichter Erklärung von 2004 an Bedeutung, die die Entwicklung eines europäischen Qualifikationsrahmens (EQF, Euro-
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pean Qualification Framework) und eines europäischen Kreditpunktesystems für die berufliche Bildung vorsieht (European Credits for Vocational Education and Training: ECVET). Das erklärte Ziel ist es, die Transparenz von Bildungsabschlüssen in Europa zu erhöhen und die Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen zu verbessern (Hanft, 2008). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich in Zukunft neuartige Forschungsund Beratungsprojekte entwickeln werden, die auf die Anerkennung und Anrechnung von Kompetenzen abzielen, um dadurch die Durchlässigkeit zwischen Bildungssystemen und Bildungsinstitutionen zu erhöhen. Es ist anzunehmen, dass das Konzept des lebenslangen Lernens für den Tertiärsektor weiter an Bedeutung gewinnen wird. Damit steht im Zusammenhang, dass sich durch den Einsatz neuer Medien die zukünftige Hochschulbildung noch stärker verändern wird. Neben dem reinen Online-Lernen haben sich inzwischen viele Lernformen verbreitet, die computergestütztes Lernen mit klassischer Präsenzlehre verbinden (das sog. blended learning). Für die Qualität der Hochschullehre wird es in Zukunft von entscheidender Bedeutung sein, ob die Lernarrangements didaktisch gut aufbereitet und mit tutoriellen Betreuungsleistungen unterstützt werden (Tait & Mills, 2003). Im tertiären Bildungswesen werden derzeit neue Steuerungselemente für die Leitung, Planung und Steuerung von Universitäten erprobt. Managementinstrumente, wie leistungsorientierte Mittelverteilung, Qualitätsmanagement und Zielvereinbarungen, werden in diesem Zuge auf das Hochschulsystem übertragen. Ziel dieser neuen Steuerung ist es, die Effektivität und Effizienz der universitären Kernbereiche – Forschung und Lehre – zu erhöhen und diese stärker auf die Bedürfnisse ihrer Klientinnen und Klienten abzustimmen. Auch zur Verbesserung der Effizienz und Effektivität organisatorischer Kernprozesse in der Hochschule können bildungspsychologische Kenntnisse und Fertigkeiten einen wichtigen Beitrag leisten.
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Ulrich Trautwein, Oliver Lüdtke, Gabriel Nagy, Nicole Husemann und Olaf Köller
Höheres Erwachsenenalter
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
Handlungsebenen
Hochschulen und Studienfächer als differenzielle Entwicklungsmilieus
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
In modernen Gesellschaften sind Säuglings- und Kleinkindalter es institutionelle Lernumgebungen wie Schule und Hochschule, denen neben der Familie sowie Freundinnen und Freunden der größte Einfluss auf die Entwicklung von kognitiven Leistungen, Aufgabenbereiche Persönlichkeit, Werten und Verhalten bescheinigt werden. Lernende sind dabei keineswegs nur passive Rezipientinnen bzw. Rezipienten von Bildungsinhalten oder Wertvorstellungen. Wie die umfangreichen Forschungsaktivitäten zum selbstregulierten Lernen sowie zu schulischen Wahlentscheidungen eindrucksvoll dokumentieren, steuern bereits Kinder und Jugendliche ihren Lernprozess und ihre Bildungsbiografien auf vielerlei Arten und Weisen, wobei es auch zu Rückkopplungsprozessen in Form einer dynamischen Interaktion (vgl. Asendorpf, 2004) kommt. Der Übergang von der Schule in eine berufliche oder universitäre Ausbildung sowie die Entwicklung in der neuen Umgebung bieten gute Möglichkeiten, das Ineinandergreifen von Umwelteinflüssen und individuellen Richtungsentscheidungen detailliert zu analysieren (vgl. Arnett, 2000). Im Folgenden werden eine Auswahl von Forschungsfragen und Befunden aus dem Projekt „Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren“ (TOSCA; Köller, Watermann, Trautwein & Lüdtke, 2004) vorgestellt.
1 Anlage und Fragestellungen der TOSCA-Studie Die TOSCA-Studie hat das Ziel, die Bildungsbiografien von Absolventinnen und Absolventen von Gymnasium und Realschule über einen Zeitraum von mehreren Jahren zu untersuchen (vgl. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2009). Die Studie umfasst mittlerweile drei Kohorten von Schülerinnen und Schülern aus dem Bundesland Baden-Württemberg. In Kohorte 1 wurden erstmals im Jahre 2002 mit standardisierten Leistungstests und Fragebögen unter anderem kognitive Leistungen, Persönlichkeitseigenschaften, Selbstkonzepte, Lebensziele und berufliche Interessen bei 4.730 Schülerinnen und Schülern erfasst; 2004, 2006 und 2008 erfolgten zwei weitere, postalische Befragungen, an denen jeweils rund 2.000 Befragte teilnahmen; 2007 wurde zudem bei einem Subsample ein Test kognitiver Fähigkeiten sowie ein standardisierter Mathematiktest administriert. Kohorte 2 („TOSCA-2006“) begann im Jahr 2006 mit rund 5.000 Abiturientinnen und Abiturienten. Durch einen Abgleich der beiden Kohorten lassen
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Hochschulen und Studienfächer als Entwicklungsmilieus
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sich insbesondere die Effekte einer weitreichenden Reform der gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg untersuchen, die Anfang dieses Jahrzehnts implementiert wurde. Kohorte 3 („TOSCA-10“) umfasst rund 2.500 Schülerinnen und Schüler der 10. Jahrgangsstufe aus Realschulen und Gymnasien; mit dieser Kohorte sollen u. a. die Prozesse des Übergangs in die Sekundarstufe II genauer analysiert werden. Das TOSCA-Projekt bearbeitet eine große Bandbreite erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Fragestellungen. Einen der Schwerpunkte bildet die Analyse von Übergangsentscheidungen von Absolventinnen und Absolventen von Gymnasien und Realschulen sowie deren weiterer Entwicklung in den Ausbildungskontexten des tertiären Bereichs. Die Ausbildungskontexte an den Hochschulen werden – analog zu Primar- und Sekundarschulen – als differenzielle Lernmilieus (vgl. Baumert, Stanat & Watermann, 2006; Bronfenbrenner, 1979) konzipiert, die durch bestimmte Charakteristika und spezifische Entwicklungsmöglichkeiten gekennzeichnet sind (Husemann, 2007; Lüdtke, 2006; Nagy, 2006; Trautwein & Lüdtke, 2007). Als Beschreibungsdimensionen von Umwelteinheiten können beispielsweise das Alter und die Traditionsorientierung einer Hochschule (vgl. Jansen, 1987), aber auch – und dies kommt in TOSCA besonders zum Tragen – soziale und intellektuelle Merkmale der Studierenden sowie inhaltliche und formale Aspekte von Lehre und Forschung, wie sie sich in „Fächerkulturen“ ausdrücken, genutzt werden. Arbeiten aus dem TOSCA-Projekt analysieren, wie Selbstselektions- und Selektionsmechanismen zur Entstehung differenzieller Lernmilieus an Hochschulen beitragen und wie differenzielle Lernmilieus die weitere Entwicklung der jungen Erwachsenen beeinflussen.
2 Ausgewählte Befunde der TOSCA-Studie Kognitive Kompetenzen und Interessen stehen während der Schulzeit in einem dynamischen Wechselspiel (vgl. Marsh, Trautwein, Lüdtke, Köller & Baumert, 2005), das zu einer zunehmend substanziellen Überlappung von Interessen- und Kompetenzprofilen führt (Nagy, 2006). Der Übergang in das Studium wird dann offenbar in besonderer Weise durch die bei den jungen Erwachsenen bestehenden Interessenprofile gesteuert – kein anderer Prädiktor kann die Studienfachwahl besser erklären. Wie angesichts des Zusammenhangs zwischen kognitiven Kompetenzen und Interessen erwartet werden kann, sagt auch das Profil kognitiver Kompetenzen der Abiturientinnen und Abiturienten deren Studienfachwahlen vorher; Leistungsmerkmale verlieren jedoch sehr viel von ihrer Prädiktionskraft, sobald die Interessenprofile kontrolliert werden. Die Selbstselektion in unterschiedliche Studienfächer hat Folgen: Studierende innerhalb eines Studienfachs sind sich üblicherweise sehr viel ähnlicher als Studierende in unterschiedlichen Studienfächern. Diese Ähnlichkeit bezieht sich dabei natürlich insbesondere auf die Interessenprofile, sie gilt aber auch für andere Charakteristika, die mit der Studienfachwahl assoziiert sind. Teilweise werden solche Unterschiede zusätzlich durch Zulassungsbeschränkungen akzentuiert. Die Prozesse der Selbstselektion und Fremdselektion führen unter anderem dazu, dass sich Studierende in unterschiedlichen Fächergruppen im Mittel substanziell in ihren kognitiven Kompetenzen unterscheiden; besonders günstige Profile finden sich bei Studierenden der meisten mathematisch-na-
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U. Trautwein, O. Lüdtke, G. Nagy, N. Husemann und O. Köller
turwissenschaftlichen Fächer (Nagy, 2006). Diese Studierenden weisen nicht nur in Hinblick auf kognitive Grundfähigkeiten, sondern auch in Hinblick auf mathematische Schulleistungen die höchsten Werte auf, ohne dass – in Abgrenzung zu manchen Klischees – gleichzeitig spezifische Schwächen bei Fremdsprachen auftreten würden. Auffälliger noch sind die geschlechtspezifischen Fächerwahlen, die dazu führen, dass in manchen Studienfachrichtungen weniger als zehn Prozent Männer oder Frauen zu finden sind. Es ist zu vermuten, dass die Entstehung differenzieller Lernumwelten, deren Ursache primär in interessenbasierten Studienfachwahlen zu suchen ist, wiederum eine Rückwirkung auf die weitere Entwicklung von kognitiven Kompetenzen und Interessenprofilen der jungen Erwachsenen hat – derzeit laufen entsprechende ergänzende Analysen mit dem TOSCA-Datensatz. Welche Rolle kommt beruflichen Interessen sowie den kognitiven und fachlichen Kompetenzen für den individuellen Erfolg im Studium zu? Dieser Frage ging Nagy (2006) auf Basis der zweiten Welle der TOSCA-Studie für einen Kranz von Erfolgsaspekten nach: (1) die selbsteingeschätzte Studienleistung, (2) die Studienzufriedenheit und (3) die Intention, das Studium vorzeitig abzubrechen. Hierarchische Regressionsanalysen zeigten, dass kognitive Kompetenzen, die beruflichen Interessen sowie die Interessenkongruenz – d. h. die Passung der individuellen Interessen mit dem gewählten Studienfach – mit dem Studienerfolg assoziiert waren. Dabei wurde die Studienleistung am stärksten durch die Kompetenzmaße vorhergesagt, während die beiden anderen Aspekte des Studienerfolgs – Studienzufriedenheit und Studienabbruchsintentionen – in einem besonders engen Zusammenhang mit der Interessen-Kongruenz standen. TOSCA analysiert neben der Rolle von Interessen und kognitiven Kompetenzen eine Reihe weiterer Konstrukte. Beispielsweise untersuchte Husemann (2007) auf der Basis der ersten drei Erhebungswellen der TOSCA-Kohorte von 2002 das Zusammenspiel von Selbstselektion und Sozialisation bei unterschiedlichen Lebenszielen (z. B. „etwas für die Gesellschaft tun“ und „reich werden“). Es zeigte sich, dass sich Studierende in unterschiedlichen Studienfachgruppen in der Tat auf einer Reihe von Dimensionen unterscheiden, auch wenn diese Unterschiede im Vergleich mit den Unterschieden bei den beruflichen Interessen gering ausfallen. Vielleicht noch bemerkenswerter ist ein weiterer Befund: Obschon sich die Lebensziele bei Studierenden unterschiedlicher Studienfachbereiche im Mittel kaum differenziell veränderten, fand sich innerhalb der Studienfächer eine Diskrepanzreduzierung in dem Sinne, dass sich die Studierenden dieses Faches über die Zeit ähnlicher wurden.
3 Zusammenfassung und Ausblick Die Analyse von Hochschulen und Studienfächern als differenzielle Entwicklungsmilieus steckt noch in den wissenschaftlichen Kinderschuhen. Es bedarf vieler weiterer Studien, um ein besseres Verständnis zu bekommen für das komplexe Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Merkmalen von Studierenden auf der einen Seite und der Hochschule als Lebens- und Lernumwelt auf der anderen Seite. Mit der TOSCA-Studie liegt eine Datenbasis vor, die solche Analysen ermöglicht. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist dabei stets auf die historische Einbettung zu achten. Die Universitäten in
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Hochschulen und Studienfächer als Entwicklungsmilieus
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Deutschland und Österreich sind derzeit starken Veränderungen unterworfen, zu denen die Einführung der Bachelor/Master-Studiengänge, die Profilbildung von Universitäten sowie die Auswahl der Studierenden durch die Hochschule gehören. Diese Änderungen könnten möglicherweise dazu führen, dass sich Selbstselektionseffekte und Selektionseffekte verstärken, was wiederum einen Effekt auf die universitären Umwelten haben würde und damit potenziell auch auf Sozialisationsprozesse. Das Mehrkohorten-Design der TOSCA-Studie ermöglicht es zu untersuchen, wie stark die genannten strukturellen Veränderungen die Person-Umwelt-Interaktionsprozesse moderieren.
Literatur Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist, 55, 469–480. Asendorpf, J. B. (2004). Psychologie der Persönlichkeit. Berlin: Springer. Baumert, J., Stanat, P. & Watermann, R. (2006). Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungmilieus. In J. Baumert, P. Stanat & R. Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit (S. 95–188). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Bronfenbrenner, U. (1979). The ecology of human development. Cambridge, MA: Harvard University Press. Jansen, R. (1987). Individuelles und kollektives Erleben universitärer Umwelt. Frankfurt/Main: Lang. Husemann, N. (2007). Stability and change in life goals in the transition from school to work: Selection, environmental fit, and socialization processes. Unveröffentlichte Dissertation, Freie Universität Berlin. Köller, O., Watermann, R., Trautwein, U. & Lüdtke, O. (Hrsg.), (2004). Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg. TOSCA – Eine Untersuchung an allgemein bildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen: Leske + Budrich. Lüdtke, O. (2006). Persönliche Ziele junger Erwachsener. Münster: Waxmann. Marsh, H. W., Trautwein, U., Lüdtke, O., Köller, O. & Baumert, J. (2005). Academic self-concept, interest, grades and standardized test scores: Reciprocal effects models of causal ordering. Child Development, 76, 397–416. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. (2009). Tosca. Zugriff am 28. 07. 2009 unter www. tosca.mpg.de Nagy, G. (2006). Berufliche Interessen, kognitive und fachgebundene Kompetenzen: Ihre Bedeutung für die Studienfachwahl und die Bewährung im Studium. Dissertation, Freie Universität Berlin. Zugriff am 28. 07. 2009 unter http://www.diss.fu-berlin.de/2007/109/ Trautwein, U. & Lüdtke, O. (2007). Epistemological beliefs, school achievement, and college major: A large-scale, longitudinal study on the impact of certainty beliefs. Contemporary Educational Psychology, 32, 348–366.
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Detlef Sembill und Jürgen Seifried
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Selbstorganisiertes Lernen in der kaufmännischen Erstausbildung
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Die Notwendigkeit des lebensoe ikr ene Vorschulbereich M langen Lernens zur Sichersteleb Säuglings- und Kleinkindalter so e lung von unternehmerischer Me ben e Wettbewerbsfähigkeit und indikro a M vidueller „employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) ist ein zentrales Ziel der europäischen und internationalen BildungspoAufgabenbereiche litik (vgl. z. B. Organisation for Economic Co-operation and Development, 2000). Damit wird auch die Dringlichkeit selbstorganisierten Lernens in der beruflichen Bildung evident. Im Unterschied zum allgemeinbildenden Sektor lernen und arbeiten Schülerinnen und Schüler im dualen System der Berufsausbildung an (mindestens) zwei Lernorten, die jeweils unterschiedliche Anforderungen an die Akteurinnen und Akteure stellen und zum Teil auch unterschiedliche didaktische Konzeptionen verfolgen. Insbesondere in größeren Ausbildungsunternehmen wird Ansätzen wie Projektmethode, Gruppenarbeit oder selbstständiges/selbstorganisiertes Lernen ein deutlich größerer Stellenwert zugeschrieben als in der Berufsschule. Während im betrieblichen Teil der Berufsausbildung letztlich u. a. das erfolgreiche Agieren am Arbeitsplatz im Zentrum steht (Lernsituationen mit Ernstcharakter), folgt der berufsschulische Teil der Ausbildung den Regeln des institutionalisierten Unterrichtens.
Angesichts der Relevanz des eigenständigen, lebenslangen Lernens an allen Lernorten ist es erstaunlich, dass zur Frage, wie man selbstorganisiertes Lernen in Berufsschulen realisieren und langfristig implementieren könnte, lediglich vereinzelte Forschungsbefunde vorliegen. Im Folgenden wird der Ansatz des selbstorganisierten Lernens (SoLe) vorgestellt, der von der Arbeitsgruppe um Sembill seit 1992 entwickelt und im Rahmen einer Reihe von Forschungsprojekten empirisch evaluiert wurde. Es werden ausgewählte, im Kontext der beruflichen Bildung relevante Befunde der SoLe-Studien und deren Implikationen skizziert.
1 Theoretische Grundlagen Einhergehend mit dem aktuellen Lern-Verständnis (Lernen als aktiver und konstruktiver Erwerb von Wissen) wird dem lernenden Individuum in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine zentrale Rolle für das Gelingen von Lehr-Lern-Prozessen zugeschrieben. Man fragt daher folgerichtig nach dem „richtigen“ Ausmaß der Eigenaktivität der Ler-
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Selbstorganisiertes Lernen in der kaufmännischen Erstausbildung
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nenden, nach günstigen persönlichen Lernvoraussetzungen wie z. B. Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder Lernstrategien sowie nach Möglichkeiten, wie durch die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements Lernaktivitäten zielgerichtet unterstützt werden können. Eine individuell angepasste Unterstützung bzw. Förderung soll Lernenden helfen, Lernen unter Berücksichtigung kognitiver, metakognitiver, emotionaler, motivationalvolitionaler und sozialer Prozesse selbstständig zu steuern und zu organisieren. Vielfach wird postuliert, dass sich selbstorganisiertes Lernen günstig sowohl auf den Lernprozess als auch auf den Lernerfolg auswirkt. Es scheint – grob gesprochen – zur Steigerung der intrinsischen Motivation sowie der nachhaltigen Lernmotivation und letztlich zu einer Steigerung der Qualität von Lehr-Lern-Prozessen und Lernergebnissen zu führen. Gleichzeitig sind jedoch die Befunde zu den Wirkungen des offenen, schülerinnen- bzw. schülerzentrierten Unterrichts nach wie vor uneinheitlich und zum Teil widersprüchlich (vgl. Gruehn, 2000; Achtenhagen & Grubb, 2001; Nickolaus, Riedl & Schelten 2005; Hattie, 2007).
2 Die Konzeption des selbstorganisierten Lernens – der SoLe-Ansatz nach Sembill Die Suche gilt somit einer geeigneten Lernumgebung für den vielfach geforderten (aber selten realisierten) ganzheitlichen Kompetenzerwerb (Sembill, 1992). Die zentrale Leitidee stellt dabei das (problemlösende) geplante Handeln dar, dessen Umsetzung beim gemeinsamen Lernen in Kleingruppen die sozialen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Prozesse evoziert. Dabei werden vier Lerndimensionen unterschieden: Neben „Lernen für sich“ umfasst das SoLe-Lehr-Lern-Arrangement „Lernen mit anderen“ (Lernen in Gruppen) sowie „Lernen für andere“ (arbeitsteiliges, verantwortungsbehaftetes Lernen). Die Option „Lernen mit Risiko“ verweist auf die Möglichkeit, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen. Dies erfordert von allen Beteiligten ein konstruktives Fehlerverständnis und -management (vgl. Sembill, 1992; Seifried & Sembill, 2005). Im Konkreten verliert die Darbietung von Lerninhalten im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht an Bedeutung. Etwa zwei Drittel des Unterrichts sind für Eigenaktivitäten der Lernenden reserviert. Die restliche Zeit dient der Hinführung zum Thema, der Ergebnissicherung, der Vertiefung und Wiederholung sowie der Leistungsbeurteilung. Da Lehr- und Lernverhalten sich in institutionalisierten Lehr-Lern-Kontexten rational an Prüfungsmodalitäten orientieren, liegt genau dort der Hebel für Veränderungen. Die Leistungsfeststellung orientiert sich an der Bearbeitung komplexer Probleme. Zentrale Aufgabe der Verantwortlichen bei der Umstrukturierung zu einem selbstorganisationsoffenen Unterricht ist also die Generierung authentischer komplexer Probleme sowie die Entwicklung von Erhebungs- und Auswertungsverfahren zur Bewertung deren Bearbeitungsgüte.
3 Methode und Untersuchungsdesign In quasi-experimentellen Feldstudien wurde den Experimentalgruppen (selbstorganisiertes Lernen = SoLe) je eine Kontrollgruppe gegenübergestellt, die vorwiegend nach dem Muster des fragend-entwickelnden Frontalunterrichts unterrichtet wurde (traditionelles
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Detlef Sembill und Jürgen Seifried
Lernen = TraLe). Im Folgenden berichten wir über die Ergebnisse unserer drei Hauptuntersuchungen: • Studie 1 („Materialwirtschaft“): Zwei Klassen an einer kaufmännischen Berufsschule (n = 35), 40 Unterrichtsstunden, angehende Industriekaufleute (vgl. u. a. Schumacher, 2002; Wuttke, 2005). • Studie 2 („Personalwirtschaft“): Zwei Klassen an einer kaufmännischen Berufsschule (n = 30), 80 Unterrichtsstunden, angehende Bürokaufleute (vgl. u. a. Sembill, 2004; Seifried & Klüber, 2006). • Studie 3 („Buchführung“): Zwei Klassen an einer kaufmännischen Berufsschule (n = 45), 76 Unterrichtsstunden, kaufmännische Grundstufe, die Lernenden befinden sich in verschiedenen Ausbildungsberufen (vgl. u. a. Seifried, 2004). Im Zuge der Datenerhebung wurde zwischen (a) Produkt- und (b) Prozessmaßen unterschieden: • Produktmaße: Bei den Auszubildenden wurde die Leistungsentwicklung längsschnittlich durch lernzielorientierte Tests sowie die Bearbeitung von (domänenspezifischen) Problemfällen dokumentiert. Selbstauskünfte zu Motivation und Emotion ergänzten die Datenbasis. Die vor Beginn der eigentlichen Unterrichtsphasen durchgeführte Eingangserhebung diente der Erfassung lernrelevanter Variablen wie z. B. Vorwissen, Motivation sowie biografischer Daten. • Prozessmaße: Der Unterricht wurde jeweils videografiert und die Interaktion zwischen den Studierenden aufgezeichnet. Zudem wurde das subjektive Erleben des Unterrichts mit Hilfe von mobilen Datenerfassungsgeräten in kurzer zeitlicher Taktung erhoben. Jede und jeder Lernende gab seine Selbsteinschätzung bezüglich sechs unterschiedlicher Variablen (z. B. „Fühle mich wohl“, „Bin interessiert“; „Verstehe, worum es geht“) ab, die Aspekte des emotionalen, motivationalen und kognitiven Erlebens abbilden (vgl. Sembill, Seifried & Dreyer, 2008). Die Berücksichtigung beider Perspektiven (Innen- und Außensicht) eröffnete die Möglichkeit, Lehr-Lern-Prozesse in Abhängigkeit von situativen Bedingungen zu untersuchen und mehr über die beim Wissenserwerb vermittelnden Prozesse zu erfahren.
4 Empirische Befunde Es zeigte sich, dass Studierende in einer selbstorganisationsoffenen Lernumgebung bezüglich Gütekriterien wie Faktenwissen mindestens einen vergleichbaren Lernerfolg erzielen wie Lernende, die eher traditionell unterrichtet werden. Darüber hinaus ließ sich feststellen, dass die Studierenden hinsichtlich der von uns als zentral betrachteten Problemlösekompetenz und hinsichtlich der emotionalen Befindlichkeit Vorteile aufweisen (Produktmaße), obwohl sie teilweise schlechtere intellektuelle und psychosoziale Voraussetzungen aufwiesen. Mit dieser gesteigerten Problemlösefähigkeit ging gleichzeitig bei SoLe-Schülerinnen und -Schülern eine positive Entwicklung von Interessensbildung und emotionaler Befindlichkeit einher. Mittels detaillierter Analysen von Lehr-LernProzessen ließen sich Hinweise für die Gründe der Überlegenheit der SoLe-Klassen finden. Diesbezüglich ist insbesondere die gewinnbringende Nutzung der eingeräumten Zeit- und Handlungsfreiräume während des Unterrichts zu nennen (Prozessmaße; vgl.
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Selbstorganisiertes Lernen in der kaufmännischen Erstausbildung
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Sembill, 2006). Als Motor der Lernprozesse können Schülerinnen- und Schülerfragen herangezogen werden: Die Lernenden stellten im SoLe-Unterricht etwa 35-mal so viele Fragen pro Stunde wie Lernende im TraLe-Unterricht. Beachtlich ist auch, dass sie etwa 18-mal so viele Fragen mit Deep-reasoning-Charakter stellten.
5 Handlungsempfehlungen Vor dem Hintergrund der skizzierten Forschungsergebnisse empfiehlt sich eine Ausweitung des selbstorganisierten Lernens. Alle an Bildungs- und Qualifizierungsbemühungen Beteiligten sind aufgefordert, Lehr-Lern-Prozesse ganzheitlich zu betrachten, das eigene Lehrverständnis und Menschenbild kritisch zu hinterfragen und die lernende Person konsequent in das Zentrum der pädagogischen Bemühungen zu rücken. Ziel der Bemühungen muss es sein, Lehr-Lern-Prozesse gemeinsam so zu gestalten, dass im Vergleich zur herkömmlichen Qualifizierung ein größeres Ausmaß an Selbst- und Mitbestimmung, die zwingend auch mit einer wachsenden Selbstverantwortung und entsprechenden Beurteilungsprozessen zu koppeln sind, erreicht wird. Selbstorganisiertes Lernen ist – auch das geht aus den Studien hervor – kein „didaktischer Selbstläufer“. Nicht zu unterschätzen sind insbesondere die zusätzlichen Belastungen für Lehrkräfte. Die Einführung des selbstorganisierten Lernens erfordert, gewohnte Unterrichtsmuster zu überdenken und sich mit bis dato nicht geläufigen allgemein- und fachdidaktischen Konzeptionen auseinander zu setzen. Die erfolgreiche Umsetzung des selbstorganisierten Lernens im Unterrichtsalltag setzt auch den entsprechenden organisatorischen Rahmen voraus: Hier sind insbesondere die Ausweitung der Lehr-Lern-Zeit von 45-Minuten-Einheiten zu mehrstündigen Unterrichtseinheiten zu nennen. Als hilfreich erweist sich auch die Möglichkeit, Teams zu bilden und die Unterrichtseinheiten in Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen vorzubereiten. Hierzu muss das bei Lehrkräften verbreitete Autonomie-Paritätsmuster aufgelöst werden. Überzeugung und Engagement sowie entsprechende persönliche und didaktische Fähigkeiten der Lehrpersonen sind zu fördern (vgl. Seifried, 2009).
Literatur Achtenhagen, F. & Grubb, W. N. (2001). Vocational and occupational education: Pedagogical complexity, institutional diversity. In V. Richardson (Ed.), Handbook of Research on Teaching (4th ed., pp. 604–639).Washington, DC: American Educational Research Association. Gruehn, S. (2000). Unterricht und schulisches Lernen. Schüler als Quellen der Unterrichtsbeschreibung. Münster: Waxmann. Hattie, J. (2007, August/September). Developing potentials for learning: Evidence, assessment, and progress. Keynote at the 12th Biennial Conference of the European Assiociation for Research on Learning and Instruction (EARLI), Budapest, Hungary. Nickolaus R., Riedl, A. & Schelten A. (2005). Ergebnisse und Desiderata zur Lehr-Lernforschung in der gewerblich-technischen Berufsausbildung. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 101 (4), 507–532. Organisation for Economic Co-operation and Development (Ed.). (2000). Where are the Resources for Lifelong Learning? Paris: OECD.
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Detlef Sembill und Jürgen Seifried
Schumacher, L. (2002). Emotionale Befindlichkeit und Motive in Lerngruppen. Hamburg: Dr. Kovacˇ. Seifried, J. (2004). Fachdidaktische Variationen in einer selbstorganisationsoffenen Lernumgebung – Eine empirische Untersuchung im Rechnungswesenunterricht. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Seifried, J. (2009). Unterricht aus der Sicht von Handelslehrern. Frankfurt/Main: Lang. Seifried, J. & Klüber, C. (2006). Unterrichtserleben in schüler- und lehrerzentrierten Unterrichtsphasen, Unterrichtswissenschaft, 34 (1), 2–21. Seifried, J. & Sembill, D. (2005). Emotionale Befindlichkeit in Lehr-Lern-Prozessen in der beruflichen Bildung. Zeitschrift für Pädagogik, 51 (5), 656–672. Sembill, D. (1992). Problemlösefähigkeit, Handlungskompetenz und Emotionale Befindlichkeit. Zielgrößen Forschenden Lernens. Göttingen: Hogrefe. Sembill, D. (2004). Abschlussbericht zu „Prozessanalysen Selbstorganisierten Lernens“ im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Erstausbildung“. Zugriff am 23. 07. 2009 http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/sowi_ lehrstuehle/wirtschaftspaedagogik/Dateien/Forschung/Forschungsprojekte/Prozessanalysen/ DFG-Abschlussbericht_sole.pdf Sembill, D. (2006). Zeitlebens Lebenszeit. In G. Minnameier & E. Wuttke (Hrsg.), Berufs- und wirtschaftspädagogische Grundlagenforschung – Lehr-Lern-Prozesse und Kompetenzdiagnostik. Festschrift für Klaus Beck (S. 177–194). Frankfurt/Main: Lang. Sembill, D., Seifried, J. & Dreyer, K. (2008). PDAs als Erhebungsinstrument in der beruflichen Lernforschung – Ein neues Wundermittel oder bewährter Standard? Empirische Pädagogik, 22 (1), 64–77. Wuttke, E. (2005). Unterrichtskommunikation und Wissenserwerb. Frankfurt/Main: Lang.
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Gabi Reinmann
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Einführung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Das mittlere Erwachsenenalter umfasst den Zeitraum von 30 bis 60 Jahren (Berk, 2005); mitunter werden die Grenzen auch beim 35. und 65. Lebensjahr festgelegt (Lindenberger, 2002). In diesem Aufgabenbereiche Alter befinden sich in Deutschland derzeit gut 43 % der Bevölkerung; die europäischen Zahlen sind ähnlich (siehe Europäische Gemeinschaften, 2006). Über die genannten Altersmarken hinaus ist das mittlere Erwachsenenalter sowohl psychologisch als auch soziologisch schlecht definiert. Vielmehr werden Erwachsene in dieser langen Lebensphase so umschrieben, wie sie nicht sind: nämlich nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Die viel zitierte „midlife crisis“ lässt sich empirisch nicht belegen, da Krisen im mittleren Erwachsenenalter meist nur vorübergehend sind und auch nur eine Minderheit der Erwachsenen betrifft (vgl. Berk, 2005). Das mittlere Erwachsenenalter scheint somit eine „undramatische Lebensphase“ (Perrig-Chiello, Höpflinger & Sturzenegger, 1999, S. 5) zwischen Jugend und Alter zu sein – eine nahe liegende Schlussfolgerung, die allerdings einer genaueren Betrachtung nicht Stand hält. Um eine solche genaue Betrachtung zu erreichen, werden bildungspsychologische Aspekte im mittleren Erwachsenenalter – sowohl im wissenschaftlichen als auch im praktischen Teil dieses Beitrags – anhand von vier Kategorien erörtert: • Bildungsvoraussetzungen. Zunächst sind die Bildungsvoraussetzungen im mittleren Erwachsenenalter interessant: Hier geht es um entwicklungspsychologische Befunde, wobei der Abschnitt des mittleren Erwachsenenalters zwar ein besonders langer, aber im Vergleich zu Kindheit, Jugend und Alter erstaunlich wenig empirisch erforscht ist. Für Bildungsfragen wichtig sind alle Veränderungen, also körperliche, kognitive, emotionale und soziale Veränderungen der Erwachsenen. • Bildungskontexte. Eine wesentliche Rolle spielen zudem die Bildungskontexte, also die Orte, an denen im Erwachsenenalter Bildung stattfindet: Neben institutionalisierten Bildungsformen der beruflichen und allgemeinen Erwachsenenbildung rücken der Arbeitsplatz und informelle Kontexte als Bildungsorte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Entsprechende Bezugsdisziplinen und -fächer sind die Berufsund Erwachsenenpädagogik sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie. • Bildungsziele. Im Rahmen einer Bildungspsychologie darf die Frage nach Zielen und Zwecken auch im mittleren Erwachsenenalter nicht fehlen. Einfluss haben einerseits gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und Instanzen, die dem Erwach-
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senen Ziele direkt oder indirekt auferlegen. Andererseits haben gerade Menschen im mittleren Erwachsenenalter eigene Ziele, die sie verfolgen (können). Gefragt sind daher wiederum die Berufs- und die Erwachsenenpädagogik, aber auch die Arbeitssoziologie und Allgemeine Psychologie (vor allem: Motivationspsychologie). • Bildungsprozesse. Voraussetzungen, Kontexte und Ziele schließlich sind konstitutiv für die letztlich ablaufenden Bildungsprozesse im mittleren Erwachsenenalter, die sich in konkreten Verhaltensweisen, genauer im Lernverhalten, von Erwachsenen zeigen. Hier dürfte der größte Erkenntnisgewinn von der Pädagogischen Psychologie zu erwarten sein, die sich insbesondere mit den für Erwachsene typischen Lernformen wie selbstorganisiertes Lernen, kooperatives Lernen und erfahrungsgeleitetes Lernen auseinandersetzt.
2 Stand der Wissenschaft 2.1 Bildungsvoraussetzungen Die Entwicklung Erwachsener. Das Erwachsenenalter war lange Zeit kein großes Thema in der Entwicklungspsychologie. Zwar gibt es den Gedanken schon sehr lange (nämlich bereits im 18. Jahrhundert), dass Entwicklung nicht im frühen Erwachsenenalter endet, sondern ein Prozess ist, der sich über die gesamte Lebensspanne vollzieht. Doch erst mit Konzepten wie Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1972) und kritische Lebensereignisse (Filipp, 1981), mit Forschungen zum Lebenslauf (Brim & Wheeler, 1966) und vor allem mit der Psychologie der Lebensspanne (Baltes, 1979) rückte das mittlere Erwachsenenalter ab den 1960er Jahren ins Bewusstsein einer größeren Anzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (Montada, 2002, S. 8 ff.). Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse im Erwachsenenalter: • Entwicklungsaufgaben: Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1972) bezeichnen lebensphasen- und alterstypische Anforderungen, deren Quellen in der physischen Reifung, gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Zielsetzungen und Werten liegen. Beispiele für Entwicklungsaufgaben im mittleren Erwachsenenalter: Menopause bei Frauen, Elternschaft, Auszug von Kindern aus der Familie, berufliche Karriere, gesellschaftliches Engagement. • Kritische Lebensereignisse: Während Entwicklungsaufgaben in Grenzen erwartet werden können, sind kritische Lebensereignisse (Filipp, 1981) nicht normative Einschnitte in den Lebenslauf, wobei es fließende Übergänge zu altersnormierten Aufgaben und Krisen geben kann. Beispiele für kritische Lebensereignisse im mittleren Erwachsenenalter: Arbeitslosigkeit, Scheidung, Tod der eigenen Eltern, schwerwiegende Erkrankungen.
Plastizität. Die Entwicklung von Individuen ist stets ein Produkt der Interaktion kultureller und biologischer Faktoren. Das gilt auch für das mittlere Erwachsenenalter, das folglich plastisch, also veränderbar und optimierbar ist. Erwachsene sind demnach keineswegs festgelegt, wie das Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer-
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mehr“ suggeriert. Im Gegenteil: Viele, vor allem kognitive Leistungen, lassen sich im mittleren Erwachsenenalter reaktivieren, trainieren oder neu erlernen. Kaum eine Lebenspanne hat zudem eine größere Variabilität aufzuweisen als das mittlere Erwachsenenalter. Aufgaben, Kompetenzen und Ressourcen von Menschen in dieser Lebensspanne differenzieren sich, werden mehr und breiter (Lindenberger, 2002). Wie in anderen Lebensabschnitten auch kann man trotzdem versuchen, Tendenzen in den körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter zu finden (vgl. Filipp & Staudinger, 2005). Körper. Körperliche Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter zeigen sich meist als erstes in einer abnehmenden Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane. Es gibt auch sichtbare körperliche sowie eine Reihe hormoneller Veränderungen; verschiedene Erkrankungen nehmen bereits zu. Diese Prozesse vollziehen sich bis zum 50. Lebensjahr allerdings sehr langsam und individuell unterschiedlich; mitunter werden sie kaum wahrgenommen. Erst zwischen 50 und 60 Jahren zeigt sich der körperliche Wandel deutlicher (vgl. Berk, 2005). Häufig bestätigt ist der Befund, dass kognitive Leistungen, die von neurophysiologischen Bedingungen besonders stark abhängig sind (z. B. Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Klassifikationsprozesse, Merkfähigkeit), mit zunehmendem Alter schlechter werden; man spricht hier von der Mechanik oder von fluider Intelligenz. Es handelt sich primär um eine organische Veränderung, die kognitive Folgen hat, was im mittleren Alter beginnt, aber erst später dominant wird. Kognition. Kognitive Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter sind vergleichsweise gut untersucht. Hier hat die Psychologie der Lebenspanne zahlreiche empirische Studien durchgeführt und theoretische Konzepte entwickelt. Ein stabiler Befund ist, dass im mittleren Erwachsenenalter bei komplexen Aufgaben die Fähigkeit abnimmt, die Aufmerksamkeit zu teilen und zu kontrollieren (was mit der oben genannten Mechanik zu tun hat); dies wird allerdings durch Übung und Erfahrung kompensiert. Die Leistung des Arbeitsgedächtnisses nimmt ebenfalls leicht ab; auch das wird kompensiert etwa durch den Einsatz von Gedächtnisstrategien. Allgemeines Faktenwissen, Verfahrenskenntnisse und berufsrelevantes Wissen (also kulturgebundenes Wissen) bleiben unverändert oder nehmen zu; dasselbe gilt für Problemlösewissen. Man hat es hier mit der Pragmatik bzw. mit der kristallinen Intelligenz zu tun, die in hohem Maße durch kulturelle Ressourcen beeinflusst wird. Die Befunde ähneln dem noch wesentlich umfangreicheren Fundus an Erkenntnisse zum (hohen) Alter, weisen aber eine ungleich höhere Variabilität auf (vgl. Lindenberger, 2002). Für das mittlere Erwachsenenalter gilt von daher besonders, dass pragmatisches Wissen die Auswirkungen mechanischer Leistungseinbußen abschwächt und fast vollständig außer Kraft setzen kann. Dies ist deswegen von großer Bedeutung für bildungspsychologische Fragen, weil, wie empirische Studien zeigen, gerade die Pragmatik stark mit Bildungschancen zusammenhängt (Lindenberger & Baltes, 1997). Emotion und soziale Interaktion. Emotionale und soziale Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter sind ebenso plastisch wie die körperlichen und kognitiven Veränderungen. Zweifelsfrei ändern sich die sozialen Netzwerke, wenn Menschen im mittleren Alter zwischen den Generationen (den Jungen und den Alten) stehen. Beobachtet wer-
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den in dieser Altersspanne mehr Introspektion und Konzentration auf ein sinnvolles Leben (vgl. Berk, 2005). Intensiv untersucht ist die Frage, in welcher Weise Menschen im mittleren Alter „generativ“ sind, also ihre Erfahrungen weitergeben und nachfolgende Generationen unterstützen (Erikson, 1988). Generativität in diesem Sinne wird in strukturalistischen Theorien als Aufgabe im mittleren Erwachsenenalter definiert. Wie diese wahrgenommen wird, hat Einfluss unter anderem auf das emotionale Befinden. Empirische Studien zeigen, dass eine steigende positive Bewertung der eigenen Generativität zwischen dem dritten und fünften Lebensjahrzehnt mit wachsender Sicherheit in der eigenen Identität und im Kompetenzgefühl einhergeht (Stewart, Ostrove & Helson, 2001). Weitere Befunde liefert die Selbstkonzeptforschung, die zeigt, dass es vielen Erwachsenen gelingt, eine plurale und zugleich kohärente Selbststruktur zu erreichen; diese wiederum fördert geistige Gesundheit und die Fähigkeit, mit kritischen Lebensereignissen konstruktiv umzugehen (Cross & Markus, 1991). Die meisten Erwachsenen empfinden denn auch die mittlere Lebensphase als eher stabil und kontinuierlich (Perrig-Chiello et al., 1999). Kreativität. Kognitive, emotionale und soziale Veränderungen spielen gleichermaßen eine Rolle, wenn es um den Wandel in der Kreativität von Erwachsenen im mittleren Alter geht. Es zeigt sich nämlich, dass kreative Arbeiten im mittleren Erwachsenenalter häufiger als bei Jüngeren verschiedene Ideen summieren oder integrieren; kreatives Arbeiten wird reflektierter, aber auch flexibler (Sternberg & Lubart, 2001). Warum das so ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Neben der genannten Interaktion verschiedener Veränderungen könnten vielfältige Erfahrungen mit der sozialen und gegenständlichen Umwelt, aber auch ein höheres Maß an reflexiver Handlungsregulation (Holodynski & Oerter, 2002) verantwortlich sein. Möglicherweise ist Kreativität auch ein gutes Beispiel für ein Feld, auf dem eine besondere Handlungsstrategie Erwachsener sehr erfolgreich ist: die selektive Optimierung mit Kompensation.
Folgerungen – Bildungsvoraussetzungen im mittleren Erwachsenenalter Bildungsvoraussetzungen im mittleren Erwachsenenalter: Die Bildungsvoraussetzungen im mittleren Erwachsenenalter sind individuell sehr unterschiedliche, jedoch insgesamt günstig.
Zwar bietet die Entwicklungspsychologie im Vergleich zu anderen Lebensphasen nur eine dünne empirische Basis zu den körperlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Veränderungen im mittleren Erwachsenenalter. Bestehende Befunde aber zeichnen ein optimistisches Bild: Auch wenn Entwicklungsverluste in einzelnen Funktionsbereichen auftreten, haben Menschen im mittleren Alter noch Entwicklungsgewinne vorzuweisen, können eintretende Defizite kompensieren, weisen ein großes Ausmaß an Plastizität auf und können vor allem von ihren Erfahrungen profitieren. Dabei sind allerdings große interindividuelle Unterschiede und die lange Spanne des mittleren Erwachsenenalters zu berücksichtigen. Letztlich greift auch in dieser Lebensphase das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (Baltes & Baltes, 1990), das sich auf verschiedene Funktionen (körperliche, kognitive, emotionale, soziale) beziehen lässt.
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2.2 Bildungskontexte Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung. Geht es um Bildungskontexte im mittleren Erwachsenenalter, liegt es nahe, die Erwachsenenbildung in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. In der neueren Literatur werden die Begriffe Weiterbildung und Erwachsenenbildung zunehmend synonym verwendet – so auch im Berichtssystem Weiterbildung (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2005). Weiterbildung/Erwachsenenbildung: • Weiterbildung/Erwachsenenbildung bezeichnet die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten (formalen) Lernens nach einem Schulabschluss. • Informelles Lernen findet in nicht-institutionalisierten Kontexten statt. Es umfasst schätzungsweise 60 bis 70 % der Wissensaneignung und Kompetenzentwicklung in der Arbeitswelt.
Im Kern bezeichnen Erwachsenenbildung und Weiterbildung beide die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach einem Schulabschluss. Man untergliedert diese formale Weiterbildung in der Regel in berufliche Weiterbildung einerseits und allgemeine (nicht direkt berufsbezogene) Erwachsenenbildung einschließlich der politischen Bildung andererseits. Der formalen Weiterbildung kann informelles Lernen bzw. lebensbegleitendes Lernen in nicht institutionalisierten Kontexten gegenübergestellt werden (siehe Abbildung 1). Diese zweite Säule der Erwachsenenbildung darf gerade im mittleren Erwachsenenalter nicht unterschätzt werden: Verschiedene Studien kommen relativ übereinstimmend zu dem Schluss, dass z. B. das informelle Lernen in der Arbeitswelt einen Anteil von 60 bis 70 % an der Wissensaneignung und Kompetenzentwicklung einer Mitarbeiterin bzw. eines Mitarbeiters ausmacht (vgl. Dehnbostel, Molzberger & Overwien, 2003).
Erwachsenenbildung/Weiterbildung
Formale Weiterbildung
Berufliche Weiterbildung Fortbildung Umschulung
Nicht institutionalisierte Erwachsenenbildung
Allgemeine Weiterbildung Politische Bildung
Informelles Lernen Lebenslanges Lernen
Abbildung 1: Einteilung im Rahmen der Erwachsenenbildung
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Veränderungen in Arbeit und Beruf. Erwachsene im mittleren Alter bilden die größte Gruppe auf dem Arbeitsmarkt: Auch wenn der Beruf im mittleren Erwachsenenalter mit familiären Verpflichtungen konkurriert, verbringen Erwachsene faktisch einen erheblichen Teil ihrer Lebenszeit am Arbeitsplatz. Arbeit und Beruf sind daher ein wichtiger Kontext für selbstverantwortliche Bildungsprozesse, sodass deren Wandel, der sich bereits seit Jahren vollzieht, auch bei bildungspsychologischen Fragen zu beachten ist: Zu Lasten von Landwirtschaft, Rohstoffgewinnung und industrieller Produktion wächst das Gewicht von Handel, Dienstleistung, Information und Kommunikation (Hoff, 2005). Soziologische Diagnosen gehen dahin, dass der Anteil an Wissensarbeit in unserer Gesellschaft wächst (Willke, 2001): Wissensarbeit beschränkt sich keineswegs auf typische Wissensberufe (wie Lehrkraft oder Trainerin bzw. Trainer). Gemeint ist vielmehr zum einen, dass Menschen in immer mehr Arbeitskontexten ihr Wissen kontinuierlich erneuern und mit anderen teilen müssen, um Probleme zu lösen. Zum anderen beansprucht Wissen keine Wahrheit (mehr), sondern dient „nur“ als Ressource. Nicht nur Märkte und Unternehmen wandeln sich immer rascher; dies gilt auch für Berufe und Expertinnen- bzw. Expertenrollen. Organisations- und Beschäftigungsformen werden flexibler, Arbeit wird vor allem in Form von Projekten durchgeführt. Anforderungen an die Erwachsenen. Strukturelle Veränderungen der skizzierten Art führen dazu, dass sich die Anforderungen an das individuelle Arbeitshandeln ebenfalls ändern. Forschungen aus der Arbeitssoziologie und der Arbeitspsychologie kommen zu dem Schluss, dass die Erwachsenen heute nicht nur neue Möglichkeiten haben, sondern auch neuen Zwängen unterliegen: Gefordert sind sowohl „Wissensarbeiterinnen und -arbeiter“ als auch „Arbeitskraftunternehmerinnen und -unternehmer“ (Voß & Pongratz, 1998), die an ihren Arbeitsplätzen wie Freiberufliche oder Selbstständige unternehmerisch tätig sein dürfen oder sollen. Das ökonomische Denken in Marktkategorien wird internalisiert (Moldaschl, 1997) und beeinflusst das individuelle Arbeitshandeln und den Umgang mit Wissen. Dass wachsende Handlungsspielräume am Arbeitsplatz zugleich mehr Zielvereinbarungen und Selbstdisziplinierung erfordern, kommt im Begriff der „kontrollierten Autonomie“ (Vieth, 1995) zum Ausdruck. Um effizient und autonom zu arbeiten oder um überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben bzw. ihn zu halten, investieren zunehmend mehr Erwachsene möglichst viele ihrer Potenziale und Ressourcen in das Arbeitshandeln (Subjektivierung von Arbeit). Neben anderen Faktoren führt auch das zur steigenden Entgrenzung zwischen Arbeiten, Lernen und Leben (Dehnbostel, 2005). Lernchancen in der Arbeit. Berufs- sowie Wirtschaftspädagoginnen und -pädagogen betonen tendenziell mehr die Chancen, den der Wandel in Arbeit und Beruf für das Individuum mit sich bringt. Neue Aufgaben und Rahmenbedingungen machen die Arbeit zum Lern- und Bildungsmedium, das heißt: Wenn Arbeitstätigkeiten komplexer werden, Selbstorganisation zulassen und Entwicklungschancen bieten, dann kann in der Arbeitstätigkeit auch eher informell gelernt werden. Wachsende Kooperationserfordernisse bieten ebenfalls soziale Lernchancen (Böhle & Bolte, 2002). Schließlich lässt sich berufliche Handlungskompetenz besser fördern, wenn Lerninhalte und -prozesse von Arbeitsabläufen geleitet sind (Dehnbostel, Erbe & Novak, 2001). Typische Möglichkeiten des Lernens in Arbeit und Beruf stellen sich Erwachsenen als Lernen im realen Arbeitsprozess, als Lernen durch Unterweisung am Arbeitsplatz, als Kombination von
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informellem und formellem Lernen oder als arbeitsorientiertes Lernen in der formalen Weiterbildung dar. Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung haben inzwischen zahlreiche Erkenntnisse vor allem aus der pädagogischen Psychologie aufgenommen und umgesetzt (vgl. Abschnitt 2.4) Modelle arbeitsbezogenen Lernens: Für Erwachsene im mittleren Alter sind folgende Formen arbeitsbezogenen Lernens eine wichtige Quelle für Bildungsprozesse (vgl. Dehnbostel et al., 2001): • Lernen durch Arbeitshandeln im realen Arbeitsprozess: Der Arbeitsort als Lernort; Lernen in der Situation und in Praxisgemeinschaften mit anderen zusammen durch Zusehen, Nachmachen, Helfen, Kommunizieren, Kooperieren etc. • Lernen durch systematische Unterweisung am Arbeitsplatz: Ergänzung informellen Lernens durch Instruktion erfahrenerer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder Vorgesetzter. • Lernen durch Integration von informellem und formellem Lernen: Systematische Verbindung von Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung mit Erfahrungslernen im Arbeitsprozess; besondere Potenziale durch den Einsatz digitaler Medien. • Arbeitsorientiertes Lernen: Ausrichtung von Weiterbildungsmaßnahmen am Prozess der Arbeit; arbeitsplatznahe Lernmöglichkeiten; (digitale) Simulation von Arbeitsprozessen.
Entwicklung in der Weiterbildung. Etwas Ernüchterung in die theoretischen Möglichkeiten der Weiterbildung im mittleren Erwachsenenalter bringen aktuelle Zahlen aus dem Bildungsbericht für Deutschland (Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006): Innerhalb der EU rangiert Deutschland bei der Weiterbildungsbeteiligung eher am unteren Ende. Während es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch einen Anstieg in der Teilnahme an allgemeiner und beruflicher Weiterbildung gegeben hat, nimmt diese seit 1997 ab. Seit 2001 geht auch die finanzielle Förderung durch öffentliche Haushalte und Unternehmen zurück. Beides ist weder vereinbar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen noch mit Forderungen aus Politik und Wirtschaft zur Notwendigkeit von Lernen und Bildung über die Lebensspanne. Die Beschäftigungschancen werden vor allem für die über 45-Jährigen kontinuierlich schlechter – unter anderem durch mangelnde Weiterbildung. Dass Defizite in der formalen Weiterbildung durch informelles Lernen aufgefangen werden, lässt sich aus den aktuellen Zahlen nicht ablesen: Informelles Lernen fungiert zwar als wichtige Ergänzung, offenbar aber nicht als Ersatz für formale Weiterbildung. Zu denken gibt auch der Befund, dass sich die durch Bildung in Kindheit und Jugend hervorgerufenen Unterschiede sowie soziale Ungleichheit im Erwachsenenalter derzeit offenbar verfestigen. Familien- und Elternbildung. Im Zuge der Ökonomisierung unserer Lebenswelt könnte man meinen, dass Arbeit und Beruf die alleinigen Bildungskontexte sind, um vor allem die Beschäftigungsfähigkeit und Mobilität auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Dem ist allerdings nicht so: So steht etwa die Familie während des gesamten mittleren Erwachsenenalters an der Spitze der Lebensbereiche, in die 35- bis 65-jährige Menschen nach eigenen Angaben die meisten Ressourcen, gefolgt vom Beruf in der ersten und von der Gesundheit in der zweiten Hälfte dieser Altersspanne investieren (Staudinger, 1996).
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Dazu kommt der anhaltende Trend zur späten Mutterschaft in unserer Gesellschaft (Sobotka & Winkler-Dworak, 2006), der dazu führt, dass das Thema Elternschaft nicht mehr nur Aufgabe des frühen Erwachsenenalters ist. Die Familie ist demnach ein wichtiger Kontext für Bildungsprozesse, wobei Art und Intensität der dortigen Lernchancen für Männer und Frauen unterschiedlich sind (vgl. Schneewind, 2002). Die allgemeine Erwachsenenbildung macht Menschen im mittleren Erwachsenenalter verschiedene Angebote zur Eltern- und Familienbildung vor allem in Form von Information, Beratung und Trainings in Institutionen oder mittels Medien (vgl. Minsel, 1999). Darüber hinaus bietet die Familie als Beziehungssystem zahlreiche Anlässe und Ziele für informelles Lernen bzw. für den Aufbau von alltagspraktischen Kompetenzen (Erziehung, Partnerschaft, Haushalt, Handwerk etc.) und die Aneignung von Kultur (Büchner & Wahl, 2005).
Folgerungen – Bildungskontexte im mittleren Erwachsenenalter Für das mittlere Erwachsenenalter sind Arbeit und Beruf nicht die einzigen, aber wichtige Bildungskontexte. Veränderungen im Beschäftigungssystem und in der Organisation von Arbeit spielen eine entsprechend große Rolle für Bildungsprozesse Erwachsener: Mehr Handlungsspielräume, Entgrenzungsphänomene und eine allgegenwärtige Flexibilisierung bieten denjenigen neue Chancen, die sich aufgrund bestehender Fähigkeiten diesen Herausforderungen stellen können. Wer in Kindheit und Jugend Benachteiligung erfahren oder weniger persönliche Ressourcen hat, läuft Gefahr, von den neuen Bedingungen des Arbeitslebens überfordert zu werden. Die formale Weiterbildung zeigt sich aktuell kaum in der Lage, Schieflagen bei individuellen Bildungschancen von Menschen im mittleren Erwachsenenalter aufzufangen. Lebensbegleitendes Lernen in informellem Kontext wird immer wichtiger, stellt sich aber offenbar nicht von allein ein. Die Familie als Bildungskontext im mittleren Erwachsenenalter ist psychologisch bedeutsam, steht aktuell allerdings im Schatten von Arbeit und Beruf.
2.3 Bildungsziele Quelle von Bildungszielen für Erwachsene. Schule, Hochschule und andere Ausbildungsstätten geben Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in vieler Hinsicht Bildungsziele vor: in Form von Curricula, Ausbildungsordnungen und ähnlichem. Erwachsene in der Mitte ihres Lebens scheinen relativ frei von derart extern gesetzten Zielen zu sein: Sie haben die Möglichkeit, sich ihre Bildungsziele selbst zu setzen, indem sie in informellen Kontexten ihren Interessen und Neigungen nachgehen oder freiwillig die Ziele von Weiterbildungsangeboten übernehmen (z. B. um bestimmte selbst gewählte Zertifikate zu erwerben). Arbeit und Beruf aber bringen gleichzeitig eine Vielzahl von Anforderungen mit sich, denen man sich oftmals nur theoretisch, nicht aber faktisch entziehen kann, sodass die Zielfreiheit auch im mittleren Erwachsenenalter zu relativieren ist. Indirekte Zielvorgaben entwickeln sich auch aus speziellen Lebenslagen (z. B. Elternschaft, Familiengründung, Arbeitslosigkeit) oder aus der Tatsache, dass man einer bestimmten Zielgruppe (z. B. Migrantinnen und Migranten, Analphabetinnen und Analphabeten) angehört (Schiersmann, 1999). Insgesamt aber kann man festhalten, dass
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die Institutionalisierung der Weiterbildung im Erwachsenenalter abnimmt, wodurch die Chance und Notwendigkeit wächst, die eigene Bildung selbst in die Hand zu nehmen und selbstorganisiert zu lernen (Reiserer & Mandl, 2002). Auswahl von Bildungszielen: Die Institutionalisierung der Weiterbildung nimmt im Erwachsenenalter ab; gleichzeitig wächst die Chance und Notwendigkeit, die eigene Bildung selbst zu bestimmen.
Qualifikation und Kompetenz. Ob in formalen oder informellen Kontexten: Wenn es um Bildung im mittleren Erwachsenenalter geht, werden Begriffe wie Qualifikationen und Kompetenzen als Zielkategorien bevorzugt. In beruflichen und betrieblichen Kontexten versteht man unter Bildung vor allem den Erwerb von Qualifikationen im Sinne von arbeitsbezogenen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnissen. Ein Pendant zum Qualifikationsbegriff sind Kompetenzen – verstanden als Selbstorganisationsfähigkeiten und -zuständigkeiten (Erpenbeck, 2001). Ziel der Kompetenzentwicklung ist es, Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln zu befähigen. Dies sind nicht nur pädagogische, sondern auch politische Forderungen, wie sie etwa in der EU (Europäischen Union) und der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gestellt werden. Kompetenzanforderungen der OECD: Im Rahmen der OECD werden drei Kategorien von Kompetenzen gefordert (Rychen & Salganik, 2003): • die Kompetenz zur interaktiven Anwendung von Medien und anderen Hilfsmitteln (eine Art Medienkompetenz), • die Kompetenz zur Interaktion in heterogenen Gruppen (wozu auch die interkulturelle Bildung gehört) und • die Kompetenz zur autonomen Handlungsfähigkeit. Zudem werden auch emotionale Kompetenzen als Ziel diskutiert.
Bildung und berufliche Handlungskompetenz. Eine geschickte Verbindung der Bedeutungen, die man mit dem Qualifikations- und Kompetenzbegriff transportieren will, wird mit der beruflichen Handlungskompetenz erreicht: Der Fokus auf Arbeit und Beruf steht dafür, dass es um verwertbares Handlungsvermögen und berufsrelevantes Wissen und Können geht. Die Zielrichtung „Kompetenz“ bürgt dafür, Zielen wie Reflexivität und Selbstorganisation Rechnung zu tragen. Im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler Medien beim Arbeiten und Lernen taucht der Versuch einer Verknüpfung von Qualifikation und Kompetenz in anderer (interventionsorientierter) Form auf: nämlich über eine Verknüpfung von E-Learning und Wissensmanagement. Mit Bildung im klassischen Sinne – nämlich sich intrinsisch motiviert Wissen und Erfahrungen mit einem gewissen Identitätsgewinn anzueignen (Schlutz, 1999) – hat allerdings auch das eher wenig zu tun. Grundlegende psychologische Bedürfnisse. Der Wertewandel in unserer Gesellschaft, Veränderungen in der Arbeitswelt, ein durch neue Medien forcierter Wandel – all das hat Einfluss auf Bildungsziele von Erwachsenen, vor allem wenn es darum geht, sich
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einen Platz in dieser Gesellschaft zu erarbeiten und aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus aber gibt es grundlegende psychologische Bedürfnisse, denen verschiedene motivationspsychologische Theorien seit den 1930er Jahren auf der Spur sind: Psychologische Bedürfnisse sind nicht an einen biologischen Rhythmus gebunden, sondern permanent wirksam; es gibt keinen klaren Befriedigungspunkt, sondern man muss sogar damit rechnen, dass sie breiter und intensiver werden (Krapp, 2005). Deci und Ryan (1993) postulieren drei angeborene psychologische Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit, das Bedürfnis nach Autonomie und das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit. Dabei ist das Streben nach Autonomie auch eine Voraussetzung für Kompetenzerleben, denn: Wer eine Aufgabe bewältigt, wird dies nur dann als Bestätigung des eigenen Könnens erleben, wenn er sie selbstständig und ohne fremde Hilfe bearbeitet hat (Krapp, 2005). Für bildungspsychologische Fragen im Erwachsenenalter ist vor allem das Bedürfnis nach optimaler Wirksamkeit bzw. nach Kompetenzerfahrung von zentraler Bedeutung: Es führt dazu, dass sich ein Mensch verändert und weiter entwickelt; es ist damit Motor für intrinsisch motiviertes Bildungsverhalten. Auch Neugier und Exploration werden mitunter zu den psychologischen Basisbedürfnissen gezählt (Holodynski & Oerter, 2002). Angeborene psychologische Bedürfnisse: Angeborene psychologische Bedürfnisse (Deci & Ryan, 1993) spielen für die Bildungspsychologie im Erwachsenenalter eine große Rolle: • Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit als Motor für intrinsisch motiviertes Bildungsverhalten. • Bedürfnis nach Autonomie als Bedingung für verschiedene Formen selbstorganisierten und informellen Lernens. • Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit als „Enabler“ kooperativen Lernens und kompetenzförderlichen Engagements in Lern- und Arbeitsgemeinschaften.
Folgerungen – Bildungsziele im mittleren Erwachsenenalter Eine Gesellschaft, die Bildung als lebenslange Aufgabe betrachtet, konfrontiert Menschen im Erwachsenenalter mit Erwartungen an ihre Qualifikationen und Kompetenzen, deren Erfüllung unterschiedlich unterstützt wird. Als diejenige Bevölkerungsgruppe, die den größten Teil der arbeitenden Bevölkerung ausmacht, sind Erwachsene im mittleren Alter auch zahlreichen direkten oder indirekten Zwängen ausgesetzt, sodass von einer absoluten Freiheit in den Bildungszielen nicht die Rede sein kann. Dennoch aber spielen Selbstbestimmung und Selbstverantwortung im mittleren Erwachsenenalter eine vergleichsweise große Rolle. Dazu kommen grundlegende psychologische Bedürfnisse des Erwachsenen nach Neuem, nach Wachstum und Kompetenzerleben. 2.4 Bildungsprozesse Einflussfaktoren auf Bildungsprozesse Erwachsener. Bildungsprozesse im mittleren Erwachsenenalter darf man nicht abgekoppelt davon sehen, unter welchen individuellen Bedingungen sich Erwachsene (weiter)bilden (Voraussetzungen), wo sie sich (wei-
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ter)bilden (Kontexte) und warum bzw. wozu sie das tun (Ziele). Alle diese Faktoren beeinflussen immer auch das konkrete Lern- und Bildungsverhalten: In der Familie verhalten sich Erwachsene anders als am Arbeitsplatz; sie gehen anders mit Wissen um, wenn sie es von sich aus tun als wenn es ihnen aufgetragen wird; was sie aus Erfahrungen und Bildungsangeboten machen, ist von ihren körperlichen, kognitiven, emotionalmotivationalen und sozialen Bedingungen ebenso abhängig wie es das in früheren oder späteren Lebensaltern ist. Darüber hinaus kommt man in der Literatur übereinstimmend zu dem Schluss, dass Erwachsene vor allem erfahrungsbasiert lernen und ihre Bildungsprozesse selbst steuern wollen. Bildungsprozesse: Erwachsene wollen vor allem erfahrungsbasiert lernen und ihre Bildungsprozesse selbst steuern.
Schließlich profitieren sie vom Lernen in Gemeinschaften und greifen in ihrem Bildungsverhalten zunehmend auf die neuen Medien zurück. All diese Aspekte kennzeichnen auch das lebensbegleitende Lernen, das vorwiegend auf das Lernen im Erwachsenenalter bezogen wird (Reiserer & Mandl, 2002). Erfahrungsbezug beim Lernen. Erwachsene haben eine große Affinität zu erfahrungsbasiertem Lernen: also zu einem Lernen, das in authentischen Situationen und/oder im Zusammenhang mit konkreten Aufgaben stattfindet, an denen man aktiv beteiligt ist, tätig wird und auf diesem Wege Erfahrungen macht (z. B. Dohmen, 2000). Dies ist allein schon deshalb der Fall, weil Erwachsene stärker als Kinder und Jugendliche nach dem Nutzen von Lernanstrengungen fragen. Lernen aus Erfahrung ist in informellen Kontexten besonders wahrscheinlich, aber nicht darauf festgelegt: Auch in Lernumgebungen der formalen Weiterbildung kann man erfahrungsbasiert lernen, wenn diese offen genug gestaltet sind. Lernen aus Erfahrung kann beiläufig bzw. inzidentell erfolgen und sich der bewussten Reflexion entziehen. Doch auch das ist kein zwingendes Merkmal erfahrungsbasierten Lernens, denn diese Form des Lernens schließt Intentionalität keinesfalls aus. Entscheidend ist, dass situiert gelernt wird, dass sich Lernende aktiv und konstruktiv mit einer konkreten Situation auseinandersetzen (Resnick, 1987). Erfahrungsbasiertes Lernen ist eine wichtige Komponente der Expertiseentwicklung, die im mittleren Erwachsenenalter ihren Höhepunkt hat (Gruber & Ziegler, 1996). Deutlich wird die Rolle der Erfahrung auch dann, wenn Novizinnen und Novizen allmählich in eine Expertinnen- und Expertenkultur hineinwachsen und neben Wissen und Fähigkeiten Werte und Überzeugungen erwerben (Lave & Wenger, 1991). Lernen mit und von anderen. Die Bildungskontexte (Arbeit, Beruf, Familie, Freizeit) von Erwachsenen im mittleren Alter sind in vielfacher Weise durch soziale Aspekte und Anforderungen gekennzeichnet (Salomon & Perkins, 1998): Lernen ist häufig sozial vermittelt, entweder direkt beispielsweise über Trainerinnen bzw. Trainer, Referentinnen bzw. Referenten, Vorgesetzte oder erfahrene Kolleginnen bzw. Kollegen am Arbeitplatz, oder indirekt über soziokulturelle Artefakte wie Medien und deren Inhalte. Lernen zeigt sich bei Erwachsenen oft genug in Form sozialer Partizipation, etwa wenn man die Arbeitstätigkeit wechselt und in neue Gemeinschaften hineinwachsen muss.
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Gerade im Erwachsenenalter stellt man fest, dass Lernen nicht nur im eigenen Kopf, sondern (im Idealfall) auch in Teams, Organisationen und anderen Kollektiven stattfinden kann. Und natürlich kann das Soziale auch potenzieller Inhalt des Lernens sein, etwa wenn man durch Elternschaft oder andere besondere Lebenslagen soziale Kompetenzen erwirbt. In der Erwachsenenbildung wird Gruppenbildung und Kooperation ein wichtiger Stellenwert beigemessen (Perrez, Huber & Geißler, 2006): Der Gruppe wird beim Lernen eine eigene Qualität zugeschrieben, deren Entwicklung mehrere Phasen durchläuft, nämlich Orientierung, Differenzierung, Arbeitsfähigkeit und Trennung. Mit dem in der Erwachsenenbildung weit verbreiteten Ansatz der Themenzentrierten Interaktion (Cohn, 1997) wird dem hohen Stellenwert der Gruppe Rechnung getragen (siehe Abbildung 2): Dabei sind das Thema, die einzelnen Teilnehmenden sowie die Lerngruppe in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten.
Thema (Verarbeitung der Inhalte)
Balance
Wir (Offenheit/ Vertrauen)
Ich (individuelle Entfaltung)
Abbildung 2: Berücksichtigung sozialer Prozesse bei der Themenzentrierten Interaktion (in Anlehnung an Cohn, 1997)
Folgerungen – Bildungsprozesse im mittleren Erwachsenenalter So vielfältig wie die Bildungsvoraussetzungen, -kontexte und -ziele im mittleren Erwachsenenalter sind, so facettenreich sind auch die möglichen Bildungsprozesse von Erwachsenen. Mit dem seit Jahren wachsenden Interesse am lebensbegleitenden Lernen wurden dennoch einige Konstanten in den Bildungsprozessen von Menschen im mittleren Alter deutlich: nämlich der Erfahrungsbezug und die Selbststeuerung beim Lernen. Beides spricht auf den ersten Blick vor allem für informelles Lernen, schließt aber formale Weiterbildung keineswegs aus, wenn diese erwachsenengerechte Bedingungen bietet. Daneben spielen soziale Aspekte beim Lernen eine wichtige Rolle, sei es als Hineinwachsen in neue Rollen und Gemeinschaften, sei es in Form soziokultureller Artefakte, zu denen auch die neuen Medien gehören. Letztere haben für die Bildung im mittleren Erwachsenenalter einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert.
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Praktische Implikationen
3.1 Ausgangspunkt und gesellschaftliche Relevanz Ausgangspunkt. Wählt man Bildungsvoraussetzungen, -kontexte, -ziele und -prozesse als Kategorien, um Bildung im mittleren Erwachsenenalter zu beschreiben, muss die Auswahl an Bezugsdisziplinen und -fächern sowie noch mehr die Entscheidung für Forschungszweige und Ansätze einschließlich dazugehöriger empirischer Befunde exemplarisch bleiben (vgl. Tabelle 1). Das mittlere Erwachsenenalter ist die breiteste und
Tabelle 1: Beschreibung von Bildung im mittleren Erwachsenenalter anhand von Bildungsvoraussetzungen, -kontexten, -zielen und -prozessen
Bildungsvoraussetzungen
Bildungskontexte
Bildungsziele
Bildungsprozesse
BezugsEntwicklungsdisziplinen/ psychologie, -fächer Medizin
Berufs-/ Erwachsenenpädagogik; Arbeits-/ Organisationspsychologie
Berufs-/ErPädagogische wachsenenPsychologie pädagogik; Arbeitssoziologie; Allgemeine Psychologie
Relevante Forschungszweige (Beispiele)
Physiologische/ neurowissenschaftl. Forschung; Forschung zur Psychologie der Lebenspanne; Selbstkonzeptforschung
Weiterbildungsforschung; Arbeitsmarktforschung; Berufsfeldforschung; Familienforschung
Lebenslaufforschung; Zielgruppenforschung; MotivationsInteressenforschung
Lehr-Lernforschung; Expertiseforschung; medienpädagogische Forschung
Zentrale Ansätze (Beispiele)
Selektive Optimierung mit Kompensation; Entwicklungsaufgaben; Selbstkonzept
Informelles Lernen; Subjektivierung von Arbeit; Entgrenzung; arbeitsbezogenes Lernen
Qualifizierung; Kompetenzentwicklung; Handlungskompetenz; Selbstbestimmung
Erfahrungsbasiertes Lernen; selbstgesteuertes Lernen; kooperatives Lernen; mediengestütztes Lernen
Empirische Befunde
Umfangreich zur Kognition; vergleichsweise dünn in anderen Bereichen
Umfangreiche statistische Daten; mehr Theorie als Empirie zum Erleben von Wandel
Ausreichend zur Motivation; mehr Theorie als Empirie zur Kompetenzentwicklung
Umfangreich zu allen Fragen des Lernens; wenig Spezifizierung auf Erwachsene
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vielfältigste Phase in der Lebensspanne eines Menschen; entsprechend groß sind die möglichen Aspekte, die man in Bezug auf bildungspsychologische Fragen genauer betrachten kann. Eine solche Zusammenstellung kann daher nur vorläufiger Natur sein; alternative Vorschläge sind ebenfalls möglich. Dennoch bietet sie Ansatzpunkte für eine Reihe praktischer Folgerungen und Implikationen. Gesellschaftliche Relevanz. Menschen im mittleren Erwachsenenalter haben sowohl für das Arbeitsleben als auch für das soziale Zusammenleben eine große Relevanz. Die 30- bis 60-Jährigen befinden sich in der Phase ihrer höchsten Produktivität. Selbst ohne formale Weiterbildung erwerben viele von ihnen (in Abhängigkeit vor allem von der Komplexität der Arbeitstätigkeit) infolge ihrer vielfältigen Rollen und Aufgaben ein hohes Kompetenzniveau und sammeln Erfahrungen, die es weiterzugeben gilt – Grund genug, informelle Lernprozesse nicht nur zu konstatieren, sondern zu fördern und mit expliziten Bildungsmaßnahmen zu kombinieren. Mit Blick auf die demografische Entwicklung und steigende Lebenserwartung, denen zufolge unsere Gesellschaft unaufhaltsam älter wird, wird inzwischen auch die Prävention im mittleren Erwachsenenalter thematisiert. Gemeint ist damit, dass Erwachsene im mittleren Alter den Grundstein für ein gesundes und zufriedenes Alter legen sollen, zumal Längsschnittstudien zeigen, dass die dazu erforderlichen Bildungsvoraussetzungen in dieser Lebensphase günstig sind (z. B. Schmitt & Martin, 2003). Auch das spricht dafür, Bildung im mittleren Erwachsenenalter stärker als bisher zu optimieren.
3.2 Optimierung von Bildung im mittleren Erwachsenenalter Praktische Umsetzung als bildungspsychologische Herausforderung. Eine Bildungspsychologie für das mittlere Erwachsenenalter hat die Aufgabe, psychologische Erkenntnisse sowie Erkenntnisse aus Nachbardisziplinen und -fächern zu Bildungsvoraussetzungen, -kontexten, -zielen und -prozessen zu bündeln, bildungspsychologische Phänomene zu beschreiben und im Idealfall zu erklären. Erste Schritte in diese Richtung sollten die Ausführungen zum Stand der Forschung (vgl. Abschnitt 2) leisten. Als eine angewandte Disziplin steht eine Bildungspsychologie für das mittlere Erwachsenenalter allerdings auch vor der Herausforderung, diese Erkenntnisse praktisch umzusetzen. Beratung, Prävention und Intervention einschließlich der dazugehörigen Bildungscontrollingmaßnahmen (Spiel & Reimann, 2005) sollten sich im mittleren Erwachsenenalter daran orientieren, welche Voraussetzungen, Kontexte, Ziele und Prozesse Bildung im mittleren Erwachsenenalter besonders auszeichnen: Erkenntnisse über Voraussetzungen und Kontexte von Bildung im Erwachsenenalter stellen zwei grundsätzliche Ankerpunkte für bildungspsychologische Maßnahmen dar. Erkenntnisse zu Zielen und Prozessen von Bildung im Erwachsenenalter sind ein Fundus für Strategien bei der Gestaltung solcher Maßnahmen (siehe Abbildung 3). Personen fördern. Mit „Personen fördern“ ist gemeint, dass Bildungsmaßnahmen direkt, also instruktional das Wissen und Können einschließlich der dazu erforderlichen emotional-motivationalen Prozesse anregen, unterstützen und begleiten. Eine direkte Förderung von Erwachsenen ist zum einen inhaltsbezogen möglich, indem man Weiterbildungs- oder Medienangebote macht, die Kenntnisse und Fähigkeiten zu einer bestimmten Domäne ver-
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Bildungsvoraussetzungen Ansatzpunkte für Bildungsoptimierung
Strategien für Bildungsoptimierung
• Wissen und Können, • Motivation und emotionale Kompetenz, • soziale Fähigkeiten fördern
Bildungskontexte • Arbeitsplätze, • Medien- und Weiterbildungsangebote, • informelle Kontexte gestalten
Personen fördern
Umgebungen gestalten
Bildungsziele
Bildungsprozesse
• an Qualifikationen, • Kompetenzen, • Bedürfnissen und Interessen ausrichten Zielorientiert fördern und gestalten
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• • • •
Erfahrungsbezug, Selbststeuerung, Kooperation, Medien als Werkzeuge berücksichtigen. Prozessorientiert fördern und gestalten
Abbildung 3: Ansatzpunkte und Strategien für Bildungsoptimierung
mitteln (z. B. Fremdsprachen, Produktwissen, handwerkliche Fertigkeiten etc.). Zum anderen kann man Erwachsenen natürlich auch persönliche Strategien vermitteln (vgl. Mandl & Friedrich, 2006), die für verschiedene Inhaltsbereiche nützlich sind (z. B. Lernstrategien, Wissensmanagementstrategien, Strategien zum Umgang mit Konflikten etc.). In vielen Angeboten sind beide Vorgehensweisen miteinander verzahnt. Ausschlagend ist die Zielsetzung einer Bildungsmaßnahme: Konkret beschreibbare Qualifikationen etwa werden mit anderen Lehr-Lernmethoden und -medien erreicht als überfachliche Kompetenzen; geht es primär um kognitive Ziele, sind andere Vorgehensweisen relevant als bei emotional-motivationalen und/oder sozialen Zielen. Die meisten Lehr-Lernmodelle, die im Rahmen der Pädagogischen Psychologie beschrieben werden, nehmen keinen oder nur marginalen Bezug auf das Lebensalter der Lernenden (z. B. Seel, 2000); auch hier sind die zu erreichenden Ziele ausschlaggebender. In einem zweiten Schritt aber gilt es, solche Lehr-Lernmodelle für die Erwachsenenbildung auszuwählen, die in besonderem Maße Erfahrungsbezug, Selbststeuerung und Kooperation integrieren. Dies ist vor allem bei konstruktivistisch orientieren Lehr-Lernmodellen der Fall. Lehr-Lernmodelle für die Erwachsenenbildung: Konstruktivistisch orientierte Lehr-Lernmodelle und ihre Merkmale, die sich auch für die Erwachsenenbildung und zur Förderung von Handlungs- und Problemlösekompetenz gut eignen (vgl. Reinmann, 2005): • Cognitive Apprenticeship. Kombination eigenständiger und explorierender mit anleitenden Elementen analog zur klassischen Handwerkslehre; Modellierung und gezielte Unterstützung; Anregung zu Artikulation, Reflexion und Exploration.
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• Anchored Instruction. Einsatz von (medial aufbereiteten) Geschichten; hohe Anwendungsorientierung infolge eines Lernens in komplexen Situationen; Förderung eigenständiger Problemfindung. • Goal-based Scenarios. Einsatz von (medial aufbereiteten) Fällen und Geschichten; hohe Aktivität durch Übernahme verschiedener Rollen und konkreter Arbeitsaufträge in realitätsnahen Geschichten. • Learning Communities. Lernen in Gemeinschaften mit dem Ziel einer kollaborativen Lernkultur; Verknüpfung von kognitiven Lernzielen mit emotional-motivationalen Zielen und konkreten „Wissensprodukten“.
Umgebungen gestalten. Mit „Umgebungen gestalten“ ist gemeint, dass sich Bildungsbemühungen von außen nicht direkt auf die Person, sondern auf die Umwelt richten, in der Erwachsene leben, arbeiten und lernen. Nicht die Instruktion und eine mehr oder weniger ausgeprägte Anleitung von Bildungsprozessen ist hier zentral, sondern eine bildungsförderliche Gestaltung von Arbeitsplätzen, von Orten, an denen Erwachsene zusammenkommen (Freizeiteinrichtungen, Bibliotheken etc.), von Medien, die nicht primär der Instruktion dienen (z. B. Wissenssendungen und andere Formen des sogenannten Edutainments), und vieles mehr. Relativ umfangreich sind die Erkenntnisse zur lernförderlichen Gestaltung von Arbeitsplätzen bzw. Arbeitstätigkeiten und Arbeitsmaterialien (vgl. Frieling & Sonntag, 1999): Erprobte Maßnahmen bestehen darin, Handlungsspielräume zu erhöhen sowie Planungs- und Kontrollprozesse in Routinetätigkeiten zu integrieren (was ein Zuwachs an Selbststeuerung bedeutet). Andere Maßnahmen zielen eher darauf ab, mehr soziale Interaktion zu ermöglichen sowie Team- und Gruppenarbeit in Organisationen so zu gestalten, dass auch beim Arbeiten gelernt werden kann (z. B. Antoni, 2000). Welche informellen Lernchancen die normale Arbeitstätigkeit bietet, wird mit dem Konzept der erfahrungsgeleiteten Kooperation untersucht (Böhle & Bolte, 2002): Hier zeigt sich, dass sich Kooperation in der Arbeitswelt vor allem aus den konkreten Erfahrungen im alltäglichen Handeln ergibt. Um diese Lern- und Bildungsmöglichkeit optimal nutzen zu können, bedarf es allerdings ebenfalls einer gezielten Umgestaltung (Bolte & Porschen, 2006).
4 Zukunft des Themas Herausforderungen. Zunächst einmal bin ich der Auffassung, dass das Thema Bildung im mittleren Erwachsenenalter Zukunft hat, und dass dabei psychologische Fragen eine große Rolle spielen. Während die Psychologie für das Kindes- und Jugendalter wie auch für das Alter und hohe Alter mit ihren Teildisziplinen der Pädagogischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie implizit bereits eine Reihe bildungspsychologischer Akzente gesetzt hat, überlässt sie das mittlere Erwachsenenalter in weiten Teilen noch der (Erwachsenen- und Berufs-)Pädagogik. Wie die Zukunft einer Bildungspsychologie für das mittlere Erwachsenenalter aussieht, wird entscheidend davon abhängig sein, wie gut es dieser gelingt, folgende Herausforderung zu bewältigen: • Empirisch und theoretisch zu klären ist nämlich erstens, was spezifisch ist für eine bildungspsychologische Betrachtung im mittleren Erwachsenenalter im Vergleich zu den Lebensphasen davor und danach. Bis dato lässt sich dies aus bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zum größten Teil nur indirekt erschließen.
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• Zu analysieren und zu untersuchen ist zweitens, was bildungsspezifisch ist im mittleren Erwachsenenalter, womit man sich auf Ziel- und Normenfragen einlassen muss, die die Psychologie traditionellerweise eher scheut. Hier mangelt es vor allem noch an ernsthaften interdisziplinären Kooperationen. • In Theoriebildung und Empirie gleichermaßen zu berücksichtigen ist drittens die hohe Kontextsensitivität von Bildungsprozessen im mittleren Erwachsenenalter. Diese setzt vor allem der in der Psychologie bevorzugten Experimentalforschung enge Grenzen, die es entsprechend zu überwinden gilt. Aufgaben. Für die Entwicklung einer Bildungspsychologie für das mittlere Erwachsenenalter ergeben sich aus den skizzierten Herausforderungen zwei große Aufgaben: Zum einen ist eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Teilbereichen der Soziologie, vor allem aber mit der gesamten Pädagogik (und nicht nur mit der psychologisch beeinflussten empirischen Pädagogik) erforderlich, um den Bildungsbezug herausarbeiten zu können. Nur so wird es auch möglich sein, die Vielfalt bereits bestehender Modelle und Befunde sinnvoll zu integrieren und auf Bildungsfragen im mittleren Erwachsenenalter zu beziehen. Die seit jeher bestehenden Berührungsängste zwischen der Psychologie und der Pädagogik aufgrund unterschiedlicher Ziele, Menschenbilder und Methoden (Herzog, 2005) machen gerade die Zusammenarbeit zwischen diesen zu einer besonderen und besonders wichtigen Aufgabe. Zum anderen müssen neue Beschreibungs- und Untersuchungskategorien für die Bildung im mittlere Erwachsenenalter gefunden werden, die über eine Einteilung in Lebensabschnitte hinausgeht, denn: Das mittlere Erwachsenenalter erweist sich als eine zu lange Spanne, um je generalisierbare Erkenntnisse erhalten zu können. Dazu kommt, dass die menschliche Entwicklung im Allgemeinen und Bildungsprozesse im Besonderen vor allem zwischen 30 und 60 Jahren vergleichsweise wenig von biologischen Faktoren abhängig sind, dafür aber umso mehr von individuellen Besonderheiten und Umgebungsfaktoren beeinflusst werden.
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Gabi Reinmann
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Gabi Reinmann
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Christian Harteis, Hans Gruber und Monika Rehrl
Höheres Erwachsenenalter
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Kompetenzerwerb im betrieblichen Arbeitsalltag
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Das mittlere Erwachsenenalter Primärbereich eb kro e Vorschulbereich stellt diejenige Phase einer BioMi ben e Säuglings- und Kleinkindalter so grafie dar, in der die wichtigsten Me bene beruflichen Entscheidungen fale kro len und die Wege des Werdegangs Ma festgelegt werden. Die individuelle Bildungskarriere wird durch berufliche Weiterbildung fortgeschrieben – die Altersgruppe der Aufgabenbereiche 19- bis 49-Jährigen bildet den größten Anteil der Beschäftigten und stellt den größten Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an beruflicher Weiterbildung (Schiersmann, 2007). Die bis zum tertiären Bildungssystem erworbenen Qualifikationen werden durch Aktivitäten in der Weiterbildung zu einem individuellen Kompetenzprofil geschärft. Für Beschäftigte wird diese Bildungsphase aufgrund der Entwicklungen am Arbeitsmarkt mehr und mehr bedeutsam, da die lebenslange Anstellung in ein und demselben Beschäftigungsverhältnis zunehmend unwahrscheinlich wird. Somit unterliegen Beschäftigte im mittleren Erwachsenenalter einem Wettbewerb, in dem die individuelle Kompetenz zur wichtigen Regelgröße über Erfolg oder Misserfolg am Arbeitsmarkt wird. In der Vergangenheit wurde die Weiterentwicklung beruflicher Kompetenz weitgehend im Bereich beruflicher und betrieblicher Weiterbildung geleistet. Heutzutage gewinnen jedoch informelle berufliche Lernprozesse an Beachtung – sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis (Hager & Halliday, 2006). Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass Kompetenzerwerb nicht ausschließlich in Seminar- und Lehrgangsform organisiert werden kann, sondern dass der Alltag – und speziell der Arbeitsalltag – reichhaltige Lerngelegenheiten bereitstellt, die es zu nutzen gilt. Betriebe unternehmen Anstrengungen, arbeitsplatznahes informelles Lernen durch kompetenzfördernde Arbeitsbedingungen zu unterstützen, indem sie sich zu Lernenden Organisationen erklären.
1 Betriebe als Lernende Organisationen Seit den 1990er Jahren veränderte sich in den gängigen Konzepten betrieblicher Arbeitsorganisation der grundlegende Blick auf die Beschäftigten. Waren zu Zeiten fließbandgestützter Massenproduktion im Sinne Taylors und Fords die Arbeitskräfte beliebig austauschbar, sind heutzutage die Beschäftigten in ihrer individuellen Kompetenz gefordert, Wandel und Unsicherheit zu bewältigen, die die beständige Entwicklung der Marktanforderungen aufwirft. Die Kompetenz wurde unter dem Terminus „Humanka-
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Christian Harteis, Hans Gruber und Monika Rehrl
pital“ als betriebliche Ressource entdeckt, die im betrieblichen Arbeitsalltag zum einen fortentwickelt und zum anderen genutzt werden soll (Gonschorrek, 2003). Moderne Industrieunternehmen verstehen sich daher als „Lernende Organisationen“, die den Beschäftigten Bedingungen im Arbeitsalltag bieten, die Lernprozesse im Rahmen des betrieblichen Wertschöpfungsprozesses unterstützen. In Lernenden Organisationen findet sich eine Unternehmensphilosophie, die Beschäftigten durch Deregulierung von Abläufen Freiräume für Entscheidungen zugesteht und die den Erfahrungsaustausch unter Beschäftigten anregt. In diesem Zusammenhang wird dann von „Lernkultur“ gesprochen (Garratt, 2001). Ansätze betrieblichen Wissensmanagements sind darauf ausgerichtet, explizite und implizite Wissensbestände in einem Unternehmen zu verteilen, damit möglichst viele Personen von Erfahrungen Einzelner profitieren können (Gruber, Harteis & Rehrl, 2004). Wie schwer es jedoch ist, ein solches Vorhaben in der Praxis umsetzen zu können, zeigt eine Studie in deutschen Industrieunternehmen.
2 Studie zur Realisierung kompetenzfördernder Arbeitsbedingungen Auch wenn sich Betriebe eine lernorientierte Unternehmensphilosophie ohne weiteres verordnen können, deren Erfolg entscheidet sich erst durch das konkrete Handeln der Personen im Unternehmen, und zwar gleichermaßen durch das von Vorgesetzten und von Beschäftigten ohne Führungsfunktion. Dass Philosophie und Wirklichkeit auseinanderklaffen können, zeigt eine Untersuchung im Rahmen einer Delphi-Studie (Harteis, 2002). Eine Delphi-Studie ist eine Gruppendiskussion, die in ausschließlich schriftlicher Form und daher anonymisiert durchgeführt wird. Dies hat den Vorteil, dass alle Beiträge gleiches Gewicht erhalten und gruppendynamische Verzerrungen vermieden werden können. Harteis (2002) befragte Beschäftigte, wie weit sie ihren Arbeitsalltag so erleben, dass ihre individuelle Kompetenzentwicklung gefördert und ihre Kompetenz gefordert würde. Die Ergebnisse belegen, dass sich die Beschäftigten aufgrund vielfältig wahrgenommener Anforderungen und Projektarbeiten auf der einen Seite in ihrer Kompetenz gefordert und gefördert erleben. Aufschlussreicher war auf der anderen Seite jedoch die Kehrseite der Fragestellung, bei der dieselben Beschäftigten im Delphi-Prozess Verbesserungsvorschläge entwickeln und diskutieren sollten. Ihre nachdrücklichsten Forderungen waren, von Seiten der Führungsebene mehr Mut aufzubringen, festgefahrene Routinen und Strukturen zu verändern sowie eine Erweiterung auf ganzheitliche Arbeitsaufgaben und einen stärkeren Erfahrungsaustausch unter Kolleginnen bzw. Kollegen zu erreichen. Sie sprachen damit Aspekte an, die in einer Lernenden Organisation eigentlich längst realisiert hätten sein müssen. Bei der Suche nach den Ursachen für das Erleben starrer Strukturen, eingeschränkter Aufgabenbereiche oder unzureichender Kommunikation zeigte sich, dass stets das Handeln Einzelner als auslösender Faktor benannt wurde. Einzelpersonen folgen in ihren Verhaltensweisen eben nicht nur den programmatischen Vorgaben des Unternehmens, sondern auch prinzipiellen Handlungsmaximen und situativen Einflüssen.
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3 Diskrepanz zwischen Programm und Wirklichkeit Die angesprochenen Befunde zeigen eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Auf der einen Seite stößt der Ansatz, den Arbeitsalltag mit Lernprozessen zu verknüpfen, bei Beschäftigten auf Zuspruch. Sie befürworten auf Nachfrage die Idee permanenten Lernens am Arbeitsplatz und sehen in einigen Merkmalen ihres Arbeitsalltags ihre Kompetenz gefördert und gefordert. Ein kompetenzfördernder Arbeitsalltag scheint somit nicht nur Programm, sondern Realität zu sein. Auf der anderen Seite zeigen sich aber Brüche in der Realisierung der Programmatik in jenen Punkten, die von den Beschäftigten als Verbesserungsvorschläge diskutiert wurden. Hier offenbaren sich Gegebenheiten, die das Entwicklungsengagement der Beschäftigten dämpfen und vorhandenes Potenzial vergeben. Sie verweisen direkt auf Momente, in denen die Umsetzung der Idee einer Lernenden Organisation misslingt. Diese Befunde sind von besonderer Relevanz für die Forschungspraxis im Bereich arbeitsplatznahen Lernens. Eine allgemeine Argumentation, in Unternehmen werde auf Lernen Wert gelegt, scheint fragwürdig zu sein, selbst wenn sie sich auf empirische Befunde stützt, die in konkreten Fällen positive Bedingungen für das Auftreten von Lernprozessen andeuten. Denn bei umgekehrter Fragestellung nach Hemmnissen für Kompetenzentwicklung würde die gleiche Stichprobe vermutlich ebenfalls verwertbare Befunde liefern. Eine seriöse Analyse betrieblicher Lernkultur muss sich daher insbesondere den negativen Einflüssen auf arbeitsplatznahes Lernen widmen.
4 Die Bedeutung individueller Kompetenzentwicklung im betrieblichen Arbeitsalltag Die angesprochene Delphi-Studie zeigt dennoch eindeutig, dass der berufliche Arbeitsalltag von den Beschäftigten als Feld für die Entwicklung ihrer individuellen Kompetenz betrachtet wird, und zwar nicht nur in Bezug auf betriebliche, sondern auch auf private Gesichtspunkte. In weiteren Studien konnte eine prinzipielle Lernorientierung bei Beschäftigten hinsichtlich ihrer Vorstellungen über Lernprozesse (Bauer, Festner, Gruber, Harteis & Heid, 2004) und ihres Umgangs mit Fehlern im betrieblichen Arbeitsalltag (Harteis, Bauer & Heid, 2006) entdeckt werden. Dies belegt, dass die betriebliche Tätigkeit im mittleren Erwachsenenalter als wichtiger Baustein der Bildungskarriere betrachtet wird. Die Idee kompetenzfördernder Arbeitsbedingungen bedient das in der Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci & Ryan, 1993) als Grundbedürfnis apostrophierte menschliche Streben nach Kompetenzerleben. Allerdings entscheiden die Beschäftigten individuell über Art und Ausmaß der Einbringung ihrer Kompetenz in den Arbeitsalltag. Die oft zitierte Klage von Führungskräften, manche Beschäftigte würden beim Betreten des Werksgeländes das Denken einstellen, kann als Indiz dafür interpretiert werden, dass Beschäftigte, die im Privatleben oft vielfältige Kompetenzen an den Tag legen, offenbar im betrieblichen Arbeitsalltag kaum Bedingungen wahrnehmen, die ihre Kompetenz wertschätzen. Die angesprochene Klage über starre Strukturen könnte
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also ein warnender Hinweis für Betriebe sein. Nur unter Bedingungen ernsthafter Anerkennung individueller Kompetenz ist es wahrscheinlich, dass Erwachsene Kompetenz einbringen und entwickeln. Unglaubwürdig ist eine Praxis, in der Kompetenz nur Wertschätzung entgegengebracht wird, wenn sie opportun ist.
5 Konsequenzen Betriebe verstärken ihre Ausrichtung auf informelle Lernprozesse und scheinen sich gleichzeitig zunehmend aus formellen Bildungsbemühungen zurückzuziehen (Schiersmann, 2007). Damit den Betrieben aber die Nutzung des Potenzials lernorientierter Beschäftigter gelingt, ist eine ausschließliche Fokussierung auf die Effizienz von Abläufen und die Angepasstheit von Diskursen betrieblicher Praxis ungenügend. Arbeitsplatznahes Lernen bedarf der Gewährung von Freiräumen und wird durch Vernetzung heterogener Arbeitsgruppen unterstützt (Gruber & Palonen, 2007). Die Hinwendung zu informellen Lernprozessen birgt für die Bildungsforschung wie für die Praxis der Personalentwicklung neue Herausforderungen, da Nachweis und Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen schwierig sind (Straka, 2003). Noch ist nicht abzusehen, wie die – stets geforderte und durch Entlassungspraxis häufig erzwungene – berufliche Mobilität in Zeiten individualisierter Bildungskarrieren gewährleistet werden kann. Es scheint in der Verantwortung der Einzelperson zu liegen, bei einem Arbeitsplatzwechsel eine taugliche Dokumentation individueller Kompetenz zu erbringen. Damit dürften sich die derzeit laufenden Diskussionen um Ausgrenzungstendenzen des schulischen Bildungssystems in Zukunft auch auf die Bildungsphase des Erwachsenenalters ausweiten.
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Kompetenzerwerb im betrieblichen Arbeitsalltag
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Holger Horz und Wolfgang Schnotz
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Multimedialer Wissenserwerb
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich In der letzten Dekade hat eine oe ikr ene Vorschulbereich M rasche Entwicklung und Verbreieb Säuglings- und Kleinkindalter so e tung computerbasierter multimeMe ben dialer Lernumgebungen stattgeroe ak M funden. Diese Lernumgebungen bieten u. a. die Möglichkeit, den Erwerb theoretischen Wissens mit authentischen praktischen Beispielsituationen zu verbinden, den Ablauf bestimmter Vorgänge zu veranschaulichen oder praktisches prozedurales Wissen anhand von Modell-Handlungen zu erwerben (vgl. Horz, Wessels & Fries, 2003). Allerdings hat sich gezeigt, dass die Gestaltung multimedialer Lernumgebungen nicht einfachen Daumenregeln folgen darf, sondern ein Grundverständnis der Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungs- und Denkapparats voraussetzt.
Wir werden im Folgenden zunächst einige Grundannahmen aktueller Modelle des multimedialen Lernens skizzieren und auf zentrale Befunde zum multimedialen Lernen eingehen. Anschließend möchten wir Möglichkeiten der praktischen Umsetzung in Form von Gestaltungshinweisen für multimediale Lernumgebungen aufzeigen.
1 Theoretische Grundlagen des multimedialen Lernens Zahlreiche Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Lernende einen Sachverhalt besser verstehen und das erworbene Wissen besser behalten, wenn ihnen dieser Sachverhalt nicht nur mit Hilfe eines Texts, sondern mit Hilfe von Text und Bildern nahegebracht wird (Levin, Anglin & Carney, 1987; Mayer, 1997, 2001). Dies gilt vor allem dann, wenn die Lernenden noch geringes Vorwissen besitzen. Dieser sog. MultimediaEffekt wurde häufig durch die Theorie der dualen Kodierung von Paivio (1986) erklärt. Dieser Theorie zufolge geschieht die Informationsverarbeitung im kognitiven System des Menschen in zwei unterschiedlichen, aber interagierenden Untersystemen – einem verbalen und einem imaginalen (bzw. piktorialen) System – die beide in ihrer Verarbeitungskapazität begrenzt sind. Paivio nimmt an, dass beide Untersysteme zwar interagieren, aber auch unabhängig voneinander aktiv sein können. Werden Texte gemeinsam mit Bildern entsprechenden Inhalts präsentiert, so wird der Lerninhalt in beiden Systemen verarbeitet und gespeichert, was zu einer doppelten Kodierung und damit zu einem höheren Lernerfolg führt. Ausgehend von Paivios Theorie hat Mayer (1997, 2001) eine kognitive Theorie des multimedialen Lernens entwickelt, in der er sich auch auf das Modell des Arbeitsge-
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Multimedialer Wissenserwerb
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dächtnisses von Baddeley (1986) bezieht. In Baddeleys Modell wird postuliert, dass das Arbeitsgedächtnis aus einer zentralen Exekutive sowie einer phonologischen Schleife und einem inneren visuell-räumlichen „Notizblock“ besteht und eine sowohl inhaltlich als auch zeitlich begrenzte Informationsverarbeitungskapazität aufweist. Mayer kombiniert beide Ansätze, indem er einen auditiv-verbalen und einen visuell-piktorialen Kanal der Informationsverarbeitung beim multimedialen Lernen annimmt. Sein Modell wird durch zahlreiche empirische Forschungsbefunde gestützt. Allerdings geht das Modell davon aus, dass die vorhandenen multimedialen Informationsangebote auch immer tatsächlich genutzt werden und dass Bilder den Wissenserwerb grundsätzlich fördern. Beides ist jedoch nicht notwendig der Fall. Ausgehend von der sowohl kognitionspsychologisch als auch semiotisch begründeten Unterscheidung zwischen beschreibenden (deskriptionalen) Darstellungen und abbildenden (depiktionalen) Darstellungen von Sachverhalten wird in dem integrativen Modell des Text- und Bildverstehens von Schnotz (2005) davon ausgegangen, dass auf der Wahrnehmungsebene zwischen verschiedenen Sinneskanälen (z. B. einem auditiven und einem visuellen Kanal) und auf der kognitiven Ebene zwischen verschiedenen Repräsentationskanälen (einem deskriptionalen und einem depiktionalen Kanal) unterschieden werden kann (siehe Abbildung 1; vgl. Schnotz und Bannert, 1999, 2003).
Langzeitgedächtnis
kognitive Schemata
Modellkonstruktion
propositionale Repräsentation
Arbeitsgedächtnis
mentales Modell Modellinspektion Piktorialer Kanal: Strukturabbildungsprozesse
Verbaler Kanal: Symbolverarbeitungsprozesse
Repräsentation der Textoberfläche im auditiven Arbeitsgedächtnis
Repräsentation der Bildoberfläche im visuellen Arbeitsgedächtnis
Auditive Wahrnehmung
Sensorisches Register
Multimediale Präsentation
Visuelle Wahrnehmung
Ohr/auditives Register
auditiver Text
bildhafte Töne
Auge/visuelles Register
visueller Text
visuelle Bilder
Abbildung 1: Integratives Modell des Text- und Bildverstehens nach Schnotz (2005)
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Holger Horz und Wolfgang Schnotz
In dem Modell werden folgende Verarbeitungsschritte multimedialer Informationsverarbeitung postuliert. Zunächst werden durch auditive bzw. visuelle Wahrnehmungsprozesse eine Text- bzw. eine Bildoberflächenrepräsentation des betreffenden Informationsangebots generiert. Anschließend wird durch semantische (bedeutungsgenerierende) Verarbeitungsprozesse aus den auditiv und visuell wahrgenommenen verbalen Informationen eine mentale Repräsentation gebildet, die aus konzeptuellen Sinneinheiten – sog. Propositionen – besteht. Aus den piktorialen Informationen hingegen wird durch thematische Selektionsprozesse und Prozesse der analogen Strukturabbildung ein mentales Modell konstruiert, von dem angenommen wird, dass es Struktur- und Funktionseigenschaften besitzt, die denen des dargestellten Inhalts entsprechen, und damit diesen Inhalt repräsentiert. Durch schemageleitete Modellkonstruktions- und Modellinspektionsprozesse interagieren diese beiden Formen der mentalen Repräsentation ständig miteinander und bilden so gemeinsam ein kohärentes mentales Repräsentationssystem, wobei die beteiligten Repräsentationen gegenseitig zu ihrer Elaboration beitragen. Entsprechend dem Modell ist der Hauptgrund für den Lernvorteil multimedialer Lehrangebote, dass verbale und piktoriale Informationen bei ihrer integrativen Verarbeitung gemeinsam zur Konstruktion eines mentalen Modells beitragen. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass Lernende im Rahmen eines multimedialen Informationsangebots sich auf eine Informationsquelle konzentrieren und die andere ignorieren, indem beispielsweise das Verstehen des Texts durch das Verstehen des Bildes ersetzt wird und umgekehrt (Schnotz & Bannert, 1999). Auch besteht die Möglichkeit, dass ein Bild aufgrund seiner Visualisierungsstruktur die intendierte Anwendung des gelernten Wissens nicht unterstützt, sondern hemmt (Schnotz & Bannert, 2003). Es besteht also unter bestimmten Voraussetzungen durchaus die Möglichkeit, dass die Kombination von Text und Bild zu einem geringeren Lernerfolg führt als das Lernen mit nur einem Medium.
2 Gestaltung multimedialer Lernumgebungen Wir möchten im Folgenden zeigen, wie aus der Forschung zum multimedialen Lernen praktische Gestaltungshinweise für die Entwicklung entsprechender Lehrangebote hergeleitet werden können. Split-Attention-Effekte. Wenn multimediale Lernumgebungen statische und/oder dynamische Abbildungen zusammen mit einem schriftlich dargebotenen Text enthalten, muss sich die Aufmerksamkeit der Leserin bzw. des Lesers zwischen der verbalen und piktorialen Information aufteilen, da das Auge zwischen beiden Informationsquellen wechseln muss. Diese sog. Split-Attention-Situation kann zu einer Verringerung des Lernerfolgs führen (Sweller, 1994; Mayer & Moreno, 1998). Dies gilt insbesondere dann, wenn dynamische Abbildungen zusammen mit schriftlichem Text dargeboten werden, da in diesem Fall aufgrund der begrenzten Informationsaufnahme und Verarbeitungskapazität des kognitiven Systems entweder Teile der (dynamischen) Abbildung oder Teile des Textes ignoriert werden müssen. Hinzu kommt, dass aufgrund der Flüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses beim Übergang von der einen zur anderen Informationsquelle und der dabei notwendigen Suche nach dem jeweiligen Anknüpfungspunkt die bereits rezipierten Informationen im Arbeitsgedächtnis, die eigentlich mit der neuen Information
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Multimedialer Wissenserwerb
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integriert werden müssten, teilweise bereits wieder zerfallen. Durch die Darbietung schriftlichen Textes in Verbindung mit piktorialen Informationen wird insofern die simultane Verfügbarkeit der verbalen und piktorialen Informationen im Arbeitsgedächtnis grundsätzlich reduziert. Kontiguitätseffekte. Derartige negative Phänomene beim Wissenserwerb mit multimedialen Lernumgebungen können verringert werden, wenn Texte und Abbildungen räumlich möglichst nahe beieinander präsentiert werden, da so die Suchprozesse verkürzt werden. Dieser positive Effekt ist als Spatial-Contiguity-Effekt beim Multimedialernen bekannt. So zeigten Moreno und Mayer (1999), dass Lernende bessere Ergebnisse erzielten, wenn Texte und Bilder physisch integriert anstatt getrennt dargeboten wurden. Daher kann man die Empfehlung geben, dass die räumliche Distanz zwischen illustrierten Textstellen und zugehörigen Bildern gering gehalten werden sollte. Modalitätseffekte. Eine weitere Frage hinsichtlich der Präsentation von Texten und Bildern ist, ob Texte in multimedialen Lernumgebungen schriftlich oder auditiv dargeboten werden sollten. In einer Reihe experimenteller Studien zeigten Mayer und Moreno (1998), dass sich ein höherer Lernerfolg einstellt, wenn Texte in gesprochener Form anstelle von schriftlich integrierten Texten in eine Lernumgebung eingebunden werden. Werden Texte auditiv mit piktorialen Informationen dargeboten, kann die gesamte Kapazität des auditiven Kanals der Textverarbeitung gewidmet werden, während die gesamte Kapazität des visuellen Kanals für die Bildverarbeitung genutzt werden kann. Auf diese Weise kann ein Maximum an gleichzeitiger Verfügbarkeit von verbaler und piktorialer Informationen im Arbeitsgedächtnis erreicht werden. Dieser Effekt ist als Modalitätseffekt beim Multimedialernen bekannt. Es scheint zunächst, dass der Modalitätseffekt einfach aus der Vermeidung eines Split-Attention-Effekts resultiert. In einer ergänzenden Studie zeigten Mayer und Moreno (1998) allerdings, dass selbst wenn ein auditiver Text und Animationen sequenziell dargeboten wurden und somit keine SplitAttention-Anforderung vorliegt, dennoch bessere Lernergebnisse im Vergleich zu einer inhaltsgleichen Lernumgebung zu erwarten sind, in der die Texte schriftlich präsentiert werden. Mayer und Moreno (1998) nehmen daher an, dass die Nutzung des verbalen sowie des piktorialen Kanals beim Multimedialernen zu einer erhöhten Nutzung der Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses führt. Allerdings ist diese Interpretation umstritten (vgl. Rummer, Schweppe, Scheiter & Gerjets, 2008). Individuelle Verarbeitungssteuerung. Aus praktischer Sicht könnte man auf den ersten Blick empfehlen, dass Abbildungen immer mit auditiv anstatt schriftlich präsentiertem Text kombiniert werden sollten. Tatsächlich scheint dies aus unterschiedlichen Gründen problematisch. Wichtigster Kritikpunkt ist, dass der Split-Attention-Effekt bei der Kombination von schriftlichen Texten mit statischen Bildern nur in vergleichsweise geringem Maße auftritt und nur dann, wenn die Lernzeit deutlich begrenzt ist. Außerdem erlaubt ein schriftlicher Text eine bessere Steuerung der Informationsaufnahme, da die Satzoder Textteile bei Verständnisschwierigkeiten neu gelesen werden können, während gesprochener Text flüchtig ist. Folglich ist eine Empfehlung wie „Verwende Abbildungen grundsätzlich in Kombination mit auditiv dargebotenem Text“ nicht allgemein gerechtfertigt. Es ist zu vermuten, dass die Kontrollvorteile einer schriftlichen Darbietung besonders bei schwierigen Texten eine wichtige Rolle spielen.
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Holger Horz und Wolfgang Schnotz
Die hier aufgeführten Untersuchungen verdeutlichen exemplarisch, dass bildungspsychologische Forschung eine wichtige Beratungsfunktion für Autorinnen und Autoren multimedialer Lernumgebungen und für Mediendesignerinnen und -designer wahrnehmen kann. Ebenso können empirisch begründete Gestaltungsempfehlungen präventiv zur Vermeidung von Designfehlern eingesetzt und in Verbindung mit Evaluationsprozessen (z. B. Horz et al., 2003) auch zur Bestimmung von Interventionsmaßnahmen herangezogen werden.
Literatur Baddeley, A. D. (1986). Working memory. Oxford, England: Oxford University Press. Horz, H., Hofer, M., Fries, S., Wessels, A., Haimerl, C. & Winter, C. (2003). Evaluation in VIROR: Prozesse und didaktische Empfehlungen. In P.-T. Kandzia & T. Ottmann (Hrsg.), E-Learning für die Hochschule (S. 221–244). Münster: Waxmann. Horz, H., Wessels, A. & Fries, S. (2003). Die Virtuelle Hochschule Oberrhein (VIROR) und der Universitäre Lehrverbund Informatik (ULI) aus pädagogisch-psychologischer Sicht. Zeitschrift für Medienpsychologie, 15, 40–41. Levin, J. R., Anglin, G. J. & Carney, R. N. (1987). On empirically validating functions of pictures in prose. In D. M. Willows & H. A. Houghton (Eds.), The psychology of illustration. Vol. 1: Basic research (pp. 51–86). New York: Springer. Mayer, R. E. (1997). Multimedia learning: Are we asking the right questions? Educational Psychologist, 32, 1–19. Mayer, R. E. (2001). Multimedia learning. New York: Cambridge University Press. Mayer, R. E. & Moreno, R. (1998). A split-attention effect in multimedia learning: Evidence for dual processing systems in working memory. Journal of Educational Psychology, 90, 312– 320. Moreno, R. & Mayer, R. E. (1999). Cognitive principles of multimedia learning: The role of modality and contiguity. Journal of Educational Psychology, 91, 358–368. Paivio, A. (1986). Mental representation: A dual coding approach. Oxford, England: Oxford University Press. Rummer, R., Schweppe, J., Scheiter, K. & Gerjets, P. (2008). Lernen mit Multimedia: Die kognitiven Grundlagen des Modalitätseffektes. Psychologische Rundschau, 59, 98–108. Schnotz, W. (2005). An Integrated Model of Text and Picture Comprehension. In R. E. Mayer (Ed.), Cambridge Handbook of Multimedia Learning (pp. 49–69). Cambridge: Cambridge University Press. Schnotz, W. & Bannert, M. (1999). Einflüsse der Visualisierungsform auf die Konstruktion mentaler Modelle beim Bild- und Textverstehen. Zeitschrift für experimentelle Psychologie, 46, 216–235. Schnotz, W. & Bannert, M. (2003). Construction and interference in learning from multiple representations. Learning and Instruction, 13, 141–156. Sweller, J. (1994). Cognitive load theory, learning difficulty, and instructional design. Learning and Instruction, 4, 295–312.
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Heike Heidemeier und Ursula M. Staudinger
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Überblick
Primärbereich
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Handlungsebenen
Bildungspsychologie des höheren Erwachsenenalters
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Die verstärkte Beschäftigung mit dem Thema Bildung und Weiterbildung im höheren Erwachsenenalter spiegelt wichtige gesellschaftliche Entwicklungen wider. Daher wird dieses Kapitel zuerst Aufgabenbereiche der Frage nachgehen, welche Herausforderungen sich durch den demografischen Wandel für die Rolle von Bildung und Bildungserwerb im höheren Erwachsenenalter ergeben. Der Begriff „höheres Erwachsenenalter“ bezieht sich dabei auf den nachberuflichen beziehungsweise den auf die aktive Familienphase folgenden Lebensabschnitt, das heißt auf Personen, die im Ruhestandsalter sind. Wenn im Folgenden von Bildung die Rede ist, so schließt dies neben Prozessen der allgemeinen und der berufsbezogenen Bildung auch solche der Persönlichkeitsbildung im Sinne Wilhelm von Humboldts ein. Vor diesem Hintergrund ist es Ziel des Kapitels, die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung von fortgesetzter Bildungsbeteiligung im Alter zu diskutieren. Zuvor soll aber der Frage nachgegangen werden, welche Voraussetzungen für die Beteiligung im Alter relevant sind. Auf Seiten des Individuums sind dies kognitive, motivationale und emotionale Voraussetzungen, die unter Konzepten des selbstregulierten Lernens zusammengefasst werden können. Auf Seiten der Gesellschaft sind die Finanzierung, die Struktur und die Qualität von Bildungsangeboten von Bedeutung, aber auch Altersbilder und an Lebensphasen orientierte allgemeine Erwartungen (Staudinger, 2000a). Kulturhistorisch gesehen ist das Alter und vor allem das hohe Alter eine junge Erscheinung, was auch bedeutet, dass Kultur und Kulturangebote für diese Altersphase weniger entwickelt sind (Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006). Dies gilt entsprechend für Bildungsangebote und das Bildungsverhalten der Älteren. So wird das Kapitel auch die in Deutschland bestehende Struktur von Bildungsangeboten und die Nutzung dieser Angebote durch Ältere darstellen. Abschließend wird diskutiert, welche Relevanz die vorliegenden Erkenntnisse für die Optimierung von Bildungsprozessen besitzen, wobei es auch gilt, den Forschungsstand zu bewerten und zukünftig wichtige Themen und Herausforderungen für die Praxis zu identifizieren.
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2 Demografische Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel Fort- und Weiterbildung im höheren Erwachsenenalter ist verglichen mit schulischer und beruflicher Bildung ein eher noch wenig ausdifferenzierter Bereich (Staudinger & Baumert, 2007). Die demografische Entwicklung und der gesellschaftliche Wandel erhöhen aber die Relevanz, die dem Bildungsverhalten Älterer zukommt. Die grafische Darstellung der Bevölkerungsstruktur hat sich im Zeitraum von 1900 bis zu dem Jahr 2030 von einer Pyramide über eine Tanne zu einem Pilz gewandelt (z. B. Dinkel, 2008). Die demografische Entwicklung wird durch zwei Trends gekennzeichnet: zum einen durch die Abnahme des Anteils jüngerer Kohorten, und zum anderen die Zunahme des relativen Anteils älterer Kohorten. Hinter diesen Trends steht eine Abnahme der Geburtenrate auf der einen Seite und eine Zunahme der Lebenserwartung auf der anderen Seite (andere Faktoren wie der Wanderungssaldo bleiben hier unberücksichtigt). Für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wird erwartet, dass der Altenquotient von 37 Prozent im Jahr 2007 auf 42 Prozent im Jahr 2025 und schließlich auf 72 Prozent im Jahr 2060 ansteigt (Economic Policy Committee, 2009, S. 68). Altenquotient: Unter dem Altenquotient ist das Verhältnis von Personen, die nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind, zu denen im erwerbsfähigen Alter zu verstehen (häufig das Verhältnis von Über-60-Jährigen bezogen auf die Gruppe der 20- bis 59-Jährigen). Er ist ein Indikator für die durchschnittliche Anzahl ökonomisch nicht aktiver Personen, die durch ökonomisch aktive Personen unterstützt werden müssen.
Für das Verhältnis von Personen im Ruhestand zu der erwerbstätigen Bevölkerung ist außerdem die in manchen Staaten mit hohem Wohlstand zu beobachtende Tendenz zu einem verfrühten (das heißt vor dem gesetzlichen Rentenalter liegenden) Übergang in den Ruhestand wichtig. Beispielsweise liegt die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland bei 55 % wohingegen sie in Schweden oder der Schweiz bei um die 70 % liegt (OECD, 2007a, S. 250 f.). Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine zweifache Herausforderung. Auf der einen Seite die volkswirtschaftliche Frage nach der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme angesichts der demografischen Entwicklung und dem relativ frühen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Auf der anderen Seite die Herausforderung für die Individuen, eine lange Lebenszeit im Ruhestand aktiv zu gestalten und für die verlängerte Ruhestandszeit eine möglichst hohe Lebensqualität zu erreichen (vgl. Staudinger, 2003). Das Kapitel wird zeigen, dass aus beiden Perspektiven betrachtet das Bildungsverhalten älterer Menschen eine wichtige Rolle spielt.
3 Bildung im Alter: Voraussetzungen lebenslangen Lernens Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, die Menschen mitbringen müssen, um lebenslang lernen zu können? Welche Auswirkungen hat das Alter auf diese Voraussetzungen? Entwickeln sich Nachteile für Ältere hinsichtlich wichtiger Lernvoraussetzungen, können
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diese kompensiert werden, oder besitzen Ältere sogar Vorteile für die Bewältigung bestimmter Lernaufgaben? Fragen wie diese sind wichtig, da sie helfen, mögliche Besonderheiten des Lernens über den Lebenslauf hinweg zu erkennen und diese bei der Planung und Unterstützung von Lernaktivitäten zu berücksichtigen. Wesentliche Voraussetzungen des lebenslangen Lernens sind psychologischer und sozialer Natur. Im Folgenden sollen daher die Entwicklung psychologischer Voraussetzungen und Veränderungen sozialer Rollen über den Lebenslauf diskutiert werden, da beide Blickwinkel wichtig sind, um das Bildungsverhalten älterer Menschen zu verstehen. 3.1 Psychologische Voraussetzungen lebenslangen Lernens und psychologisches Altern Im Rahmen von Konzepten des selbstregulierten Lernens werden wichtige psychologische Voraussetzungen des lebenslangen Lernens diskutiert. Der Begriff des selbstregulierten Lernens verweist auf Fähigkeiten, die insbesondere für Lernen außerhalb schulischer oder anderer Instruktionskontexte notwendig sind, um Lernprozesse zu initiieren und zum Erfolg zu bringen. In der Konzeption von Baumert, Fend, O’Neil und Peschar (1998) etwa umfasst lebenslanges, selbstreguliertes Lernen kognitive, motivationale und sozial-kognitive Voraussetzungen (siehe Abbildung 1). Kognitive Voraussetzungen. Verändern sich die kognitiven Voraussetzungen für lebenslanges Lernen im höheren Erwachsenenalter? Die ersten Altersvergleiche zur Intelligenz-
Kognitive Voraussetzungen
Motivationale Voraussetzungen
• Aufmerksamkeit, kognitive Kontrolle und Verarbeitungsgeschwindigkeit
• motivationale Präferenzen (Quellen der Motivation; Instrumentalität etc.)
• vorhandene Wissensstrukturen (deklaratives und prozedurales Wissen) • Lernstrategien (Memorieren, Elaborieren, Strategien der Kontrolle) • implizite Theorien über Lernen und Fähigkeiten
• selbstbezogene Kognitionen (Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit etc.) • Zielorientierung (Aufgaben- vs. Ego-Bezug) • Handlungskontrolle und volitionale Strategien • Einstellungen gegenüber lebenslangem Lernen
Sozio-emotionale Voraussetzungen • Präferenzen für Lernstile (unabhängig, kompetetiv, kooperativ) • soziale Fertigkeiten (Fähigkeit zur Teamarbeit, Kooperation und Konfliktlösung)
Abbildung 1: Voraussetzungen selbstregulierten Lernens als Grundlage von lebenslangem Lenren (nach Baumert, Fend, O’Neil & Peschar, 1998)
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entwicklung im Erwachsenenalter haben zu Ergebnissen geführt, die heute unter der Bezeichnung „Defizitmodell der Intelligenzentwicklung“ zusammengefasst werden. Danach schien das Alter mit relativ früh einsetzenden und daraufhin zunehmenden Defiziten in allgemeinen Intelligenzleistungen einherzugehen. Dieses einfache „Defizitmodell“ wurde durch die Umsetzung von längsschnittlichen Kohortensequenzdesigns in Frage gestellt (siehe z. B. Seattle-Longitudinal Study; Schaie, 1996), wodurch sich ein differenzierteres Bild von altersgebundenen Intelligenzveränderungen ergab. Heute unterscheidet die Lebenspannenpsychologie zwei Kategorien intellektueller Funktionen: die Mechanik und Pragmatik der Kognition (Baltes, 1987, 1990; siehe auch Cattell, 1971), wie im folgenden Kasten dargestellt ist. Pragmatik und Mechanik der Kognition: Die Mechanik der Kognition beruht auf den neurophysiologischen Grundlagen der menschlichen Intelligenz, wie sie im Laufe der Evolution entstanden sind, während die Pragmatik abhängig von Kultur und Wissenserwerb ist (Koevolution). Kognitive Fähigkeiten, die deutlich von der Mechanik abhängen (z. B. Auffassungsgeschwindigkeit, basale kognitive Operationen wie Kategorisieren und Vergleichen), zeigen eine kontinuierliche Abnahme im Erwachsenenalter, die weitgehend linear verläuft, bevor sie im hohen Alter eine Beschleunigung erfahren kann. Pragmatische Fähigkeiten zeigen dagegen schwach positive Zusammenhänge mit dem Alter bis ins fünfte oder gar sechste Lebensjahrzehnt, bevor auch sie einen Abfall erleben (siehe Abbildung 2).
Mechanik
Pragmatik
inhaltsarm universell, biologischgenetische Disposition Erworbenes Wissen inhaltsreich kulturabhängig erfahrungsbasiert
Kognitive Leistung
Pragmatik (kristallin) Basale Informationsverarbeitung
Me ch an ik (flu id)
ca. 25
ca. 70
Lebenslauf (Alter)
Abbildung 2: Zwei Komponenten der Kognition: fluide Mechanik und kristalline Pragmatik. Die linke Abbildung veranschaulicht die Inhalte der zwei Komponenten, die rechte deren Entwicklung über den Lebensverlauf (adaptiert aus Baltes, Staudinger, Lindenberger, 1999). Die beiden Komponenten geistiger Leistungsfähigkeit sind nicht unabhängig voneinander. Die Entwicklung der Mechanik stellt eine Voraussetzung für die Entwicklung der Pragmatik, das heißt für den Erwerb und die Nutzung von Wissen, dar. So argumentiert die Investment-Theorie von Cattell (1971), dass sich interindividuelle Unterschiede in der fluiden Intelligenz (Mechanik) im Erwerb kristalliner Intelligenz (Pragmatik) niederschlagen, da es keine kristallinen Leistungen ohne das vorangegangene „Investment“ fluider Fähigkeiten gibt.
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Zunächst wurde angenommen, dass die dispositionellen fluiden Grundlagen von Intelligenzfunktionen durch Übung nicht beeinflussbar sind, und ausschließlich pragmatische Fähigkeiten durch Übung profitieren. Die weitere Forschung zeigte dagegen, dass die zunächst angenommene Übungsresistenz fluider Funktionen nicht vollständig gültig ist. Die Trainierbarkeit der kognitiven Mechanik ist generell gegeben, aber verglichen mit der Trainierbarkeit pragmatischer Funktionen begrenzt. Falls eine Intervention auf der Verhaltensebene erfolgt, sind die Effekte sehr eng aufgabengebunden, da die Leistungsgewinne über das Lernen pragmatischer Strategien der Aufgabenbearbeitung vermittelt sind (Baltes et al., 2006). Solche Effekte sind ein Beispiel dafür, dass Strategieentwicklung Leistungsvorteile auch bei vorwiegend fluiden Intelligenzleistungen erbringen kann, so dass die pragmatische Leistungsfähigkeit auch genutzt werden kann, Mängel der Mechanik wenigstens teilweise zu kompensieren. Allerdings verweisen neueste Befunde zum Zusammenhang zwischen kognitiver Mechanik und aerober Fitness darauf, dass auch generalisierende Leistungsgewinne hergestellt werden können (Colcombe & Kramer, 2003). Aus dieser Forschungsrichtung kommen auch die ersten Hinweise darauf, dass ein Leistungszuwachs in der Mechanik nicht nur durch die kompensierende Wirkung der Pragmatik erreicht werden kann, sondern durch eine Veränderung der Mechanik selbst (Staudinger, 2006). Für die Diskussion um das Lernen im Alter ist aber die folgende Feststellung vielleicht noch wichtiger: Befunde der Expertiseforschung machen deutlich, dass mechanischfluide Ressourcen alleine von geringem Nutzen sind, wenn es um die Lösung von Problemen in spezifischen Inhaltsbereichen geht. Für diese ist erworbenes bereichsspezifisches Wissen entscheidend und notwendig (Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993). Speziell für das Lernen im Alter relevante Altersveränderungen betreffen die Abnahme in der Leistung des Arbeitsgedächtnisses, der kognitiven Kontrolle und der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (z. B. Kliegl & Mayr, 1997). Ausgeprägtes Wissen und Erfahrung in einem Inhaltsgebiet können solche Einbussen bis zu einem gewissen Grad kompensieren (Baltes et al., 2006; Ericsson, 2000). Motivationale Voraussetzungen. Lernen ist wie alles Verhalten abhängig von Motiven und Zielen. Die motivationalen Grundlagen des Lernens werden vielleicht mit zunehmendem Alter sogar entscheidender, da Lernen zusehends einen obligatorischen Charakter, der etwa während der schulischen und berufsvorbereitenden Ausbildung noch gegeben ist, verliert. Daher ist die Frage wichtig, ob sich die motivationalen Grundlagen für die Beteiligung an Lernaktivitäten mit dem Alter verändern. Zahlreiche Befunde verweisen tatsächlich darauf, dass sich für viele Menschen wichtige Quellen der Motivation und zentrale Inhalte des Selbstkonzepts mit dem Alter verändern (Dittmann-Kohli, 1991). Im Gegensatz zu früheren Lebensabschnitten steht die Anpassung an gesellschaftliche Erfordernisse, wie sie große Teile der Jugend- und Erwachsenenbildung leisten (Kulturtechniken; Anpassung an den technologischen Wandel), für ältere Menschen, die bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, weniger im Vordergrund. So müssen Bildungsangebote eine andere (persönlichere) Begründung aufweisen. Freude an der Weiterbildungsaktivität und intellektuelle Neugierde sind oft ausschlaggebend für die Teilnahme Älterer, während beispielsweise die instrumentelle Nützlichkeit des Lernstoffs unwichtiger wird. Aus der Selbstkonzeptforschung weiß man auch, dass sich im „Alter“ zentrale Inhalte des Selbstkonzepts verändern. So werden Themen wie Gesundheit und
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körperliche Funktionsfähigkeit genauso wie Freizeitinteressen für das Selbstkonzept wichtiger (Dittmann-Kohli, 1994). Ähnliches zeigt sich, wenn man Muster des Lebensinvestments über die Lebensspanne betrachtet (Staudinger & Schindler, 2008). Für jüngere Erwachsene stehen die Vorbereitung auf und die Etablierung in Beruf und Familie als wesentliche Lebensaufgabe im Vordergrund. In einer nachberuflichen beziehungsweise nachfamiliären Lebensphase treten an diese Stelle der Erhalt von Aktivität, Gesundheit und das Nachdenken über Lebensziele und Lebenssinn. Allerdings kann man hier bemerken, dass Inhalte und Änderungen in den Inhalten des Selbstkonzepts sicher nicht festgelegt sind, sondern kulturelle Gegebenheiten widerspiegeln. Wichtig für Lernprozesse und deren Ergebnisse sind auch Mechanismen der Selbststeuerung. Von sehr großer Bedeutung für erfolgreiches Lernen ist das leistungsbezogene Selbstvertrauen (Selbstwirksamkeitserwartungen), unterstützt durch aufgaben- und erfolgsbezogene Zielorientierungen. Wichtig ist auch die metakognitive Steuerung von Lernprozessen und der Einsatz von Lernstrategien. Im Gegensatz zu den mechanischen Komponenten der Kognition lassen metakognitive Kompetenzen im Alter nicht nach, so dass der selbstregulative Einsatz von Lernstrategien eine wichtige Ressource bleibt (Hasselhorn, 2000). In einem erweiterten Sinn umfassen Mechanismen der Selbstregulation nicht nur Fähigkeiten, die es erlauben Kontrolle über das eigene Verhalten auszuüben, sondern auch Mechanismen, die es erlauben, Konsistenz in der eigenen Persönlichkeit herzustellen, obwohl sich durch das Altern Veränderungen der eigenen Person und Lebenssituation ergeben. Selbstregulative Fähigkeiten werden im Alter so angewendet, dass trotz einsetzender Verluste eine Anpassung an die veränderte Realität möglich ist, und eine hohe Lebenszufriedenheit erhalten bleibt (Staudinger, 2000b). Beispielsweise können Ältere sich an eine reduzierte geistige Leistungsfähigkeit anpassen, indem sie in einem meist unbemerkten Prozess das Anspruchsniveau oder den Vergleichsmaßstab ändern; und sich Ziele setzten und verfolgen, die durch altersbedingte Veränderungen weniger beeinträchtigt sind. Die Art, wie Personen Kontrolle über ihr eigenes Verhalten ausüben genauso wie allgemeine Einstellungen gegenüber lebenslangem Lernen – dessen Voraussetzungen, Bedeutung, Nutzen und Angemessenheit in der eigenen Lebenssituation – können in ihrer Wirkung auf die Lernmotivation und die Leistungserwartungen Älterer gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dabei werden persönliche Vorstellungen über das Alter bereits von jungen Menschen verinnerlicht, die dann im Alter zu SelbstStereotypen werden und das Verhalten beeinflussen können (für einen Überblick über die Wirkung von Alters-Selbststereotypen siehe Levy, 2003). Ein Beispiel zu Ergebnissen der Forschung über Altersbilder im Bereich des Lernens zeigt der folgende Kasten. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr: In einer Befragung aus dem Jahr 1976/77 wurden ältere Personen gefragt, inwiefern sie dem Sprichwort zustimmen „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Es zeigte sich, dass fast die Hälfte der Befragten (47 %) dem Sprichwort zustimmen. Allerdings war die Zustimmung unter Personen mit höherer Schulbildung deutlich geringer (25 %). Zehn Jahre später, 1987, wurde Erwachsenen die gleiche Frage gestellt. Es zeigte sich, dass die Antworten auf diese Frage sich kaum verändert hatten (45 % Zustimmung und 25 % Ablehnung; Röhr-Sendlmeier, 1990). Diese vorbildungsspezi-
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fischen Ergebnisse zeigen auch, dass Einstellungen, die das Lernen im Alter betreffen, mit der Lernbiografie zusammenhängen. Allgemein gilt, dass Personen, die im Laufe ihrer Biografie über längere Zeiträume gelernt und dabei positive Lernerfahrungen gemacht haben, eine größere Affinität zu fortgesetztem Lernen entwickeln und eher glauben, dass Bildungsangebote einen persönlichen und praktischen Nutzen versprechen (OECD, 2005).
Sozio-kognitive und emotionale Voraussetzungen. Die dritte Komponente des selbstregulierten Lernens umfasst Fähigkeiten, die für das Lernen in sozialen Kontexten wichtig sind. Es handelt sich um einen Fähigkeitsbereich, in dem Ältere Jüngeren sogar überlegen sein können, wie Ergebnisse der psychologischen Forschung bestätigen. So legen zahlreiche Arbeiten nahe, dass es sich bei sozial-emotionalen Fertigkeiten um einen Kompetenzbereich handelt, der mit dem Alter Zunahmen verzeichnet (z. B. Kunzmann, Stange & Jordan, 2005; Staudinger & Fleeson, 1996). Die empirische Evidenz spricht dafür, dass ältere Menschen im Vergleich zu jungen Erwachsenen psychisch ausgeglichener sind, über höhere soziale Kompetenzen verfügen, besser mit Stress und emotionalen Belastungen umgehen können, und mit ihren Ressourcen und deren Beschränkungen besser zurecht kommen. Im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung sind die „Big Five“ der Persönlichkeit und ihre Stabilität beziehungsweise Ausprägung im Lebensverlauf gut untersucht. Was die absolute Ausprägung der Eigenschaften betrifft, so ist insgesamt zu beobachten, dass die Werte für „Neurotizismus“ im Mittel abnehmen, während „Gewissenhaftigkeit“ und „Verträglichkeit“ („Conscientiousness“ und „Agreeableness“) eher ansteigen. Hingegen fallen die Werte auf der Dimension der „Offenheit für Erfahrung“ mit dem Alter eher ab. Emotionale Stabilität, soziale Kompetenzen und Anpassungsbereitschaft sind vorteilhaft für das Lernen in sozialen Kontexten, so dass in dieser Hinsicht die Voraussetzungen mit dem Alter eher günstiger werden (Staudinger, 2005). Dies ist insbesondere interessant, da sich die Produktivität älterer Menschen oft innerhalb von persönlichen Netzwerken sozialer Beziehungen entfaltet. In ihren sozialen Beziehungen geben Ältere bis etwa zum 75. Lebensjahr mehr Unterstützung als sie erhalten (Wagner, Schütze & Lang, 1999). Im Kontext der Familie bestehen solche Unterstützungsleistungen Älterer vor allem aus Geld und Hilfe bei der Kinderbetreuung. Mit dem Alter werden Sozialkontakte zusehends auf emotional bedeutsame Kontakte konzentriert, die stärker der Emotionsregulation dienen. Quantitativ ausgedehnte Netzwerke von „Bekannten“ werden vergleichsweise weniger wichtig und Kontakte weniger zur Informationssuche genützt (Carstensen, Isaacowitz & Charles, 1999). Entsprechend mag es eine gesellschaftliche Aufgabe sein, Rollen anzubieten, welche die Entfaltung der Produktivität älterer Menschen auch außerhalb des privaten Umfeldes fördern. Studien zeigen, dass besonders der Austausch zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration unter bestimmten Bedingungen sehr produktiv für beide Seiten sein kann – sowohl was die kognitive als auch die sozio-emotionalen Funktionen angeht (Kessler & Staudinger, 2007). Es ist deshalb eine Herausforderung intergenerationelles Lernen zu fördern und dafür möglichst gut geeignete Kontexte und didaktische Voraussetzungen zu schaffen (z. B. Kessler & Staudinger, 2006).
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3.2 Soziologische Voraussetzungen lebenslangen Lernens und soziales Altern Aus einer soziologischen Perspektive betrachtet ergeben sich durch den Übergang in den Ruhestand Verluste von wichtigen Rollen, die das Erwerbsleben oder für viele Frauen das Familienleben bereitgestellt hat. Eine zentrale Aufgabe dieses Übergangs ist es damit, die Rollen des mittleren Erwachsenenlebens durch neue zu ersetzen, um so Aktivität und soziale Integration und eine neue Stabilisierung des Selbstkonzepts zu erreichen. Die Disengagement Theorie (Cumming & Henry, 1961) postulierte sogar, dass ein Rückzug und das Aufgeben von sozialen Rollen im Ruhestand funktional und letztendlich unvermeidlich sei. Im Gegenzug entwarfen Havighurst, Neugarten und Tobin (1968) die sogenannte Aktivitätstheorie, die den Rückgang sozialer Rollen bei älteren Menschen wesentlich durch gesellschaftliche Strukturen bedingt sieht, und davon ausgeht, dass sich Ältere in ihren sozialen und psychologischen Bedürfnissen nicht von Menschen im mittleren Erwachsenenalter unterscheiden. Auch das Ressourcenkonzept (z. B. Hobfoll, 2001) begründet Kriterien für „erfolgreiches Altern“, welche die Bedeutung des Erhalts wichtiger Ressourcen (objektiver und psychologischer Natur) für das Wohlbefinden betonen (z. B. Freund & Riediger, 2001). Auch wenn eine „Disengagementtheorie“ heute wenig Unterstützung findet, so gilt dennoch unverändert, dass viele Erwartungen und Vorstellungen über den Lebensverlauf und das Alter aus kulturell bedingten Vorgaben entnommen werden. Die Soziologie beschreibt dieses Phänomen unter dem Begriff der „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Kohli, 1985). Lebenslauf als soziale Institution: Der Lebenslauf als soziale Institution bindet Normen und Rollen an bestimmte Lebensphasen. Der Lebenslauf ist in diesem Sinn eine strukturierende Institution, die nicht nur Orientierung bietet, sondern auch Sequenzen möglicher Positionen und Rollenerwartungen vorgibt. Rollen folgen einer zeitlichen Struktur, und sind daher an das chronologische Alter gebunden. Der Lebenslauf ist dabei traditionell mit einer Dreiteilung in Vorbereitung, Erwerbsphase und Ruhestandsphase um das Erwerbsleben herum organisiert.
Formelle Bildung ist nach wie vor überwiegend auf die erste Phase des Lebenslaufs beschränkt und im Erwachsenenalter zu einem großen Teil unmittelbar auf den ausgeübten Beruf bezogen. Für die heute verlängerte Lebensphase nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben oder der aktiven Familienphase fehlen soziale Rollen außerhalb des Privatlebens und vor allem auch Rollen, die weiterhin Bildungsprozesse anregen. Erst im Zuge von Individualisierung und Enttraditionalisierung wiederholen sich Bildungs-, Erwerbs- und Erholungsphasen zusehends über den Lebenslauf verteilt und in allen Altersphasen. Die nachberufliche Phase ist potenziell zu einer eigenständigen und ausgedehnten Zeitspanne im Lebenslauf geworden, die genutzt werden kann, um neue Rollen, Lebensinhalte, oder Hobbies zu verwirklichen. Allerdings sind implizite Vorstellungen über den Lebensverlauf und die darin typischen Rollen an eine deutlich verlängerte Lebenserwartung heute im Grunde noch wenig angepasst (Riley & Riley, 1994). Nicht zuletzt die Älteren selbst müssen lernen, die Dreiteilung des Lebenslaufes infrage zu stellen.
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Reale Barrieren und Ressourcen bestimmen ebenso die Teilhabe an Bildungsmöglichkeiten über den Lebenslauf. Eine der wichtigsten Ressourcen ist dabei die persönliche Bildungsbiografie. Je höher der erste qualifizierende Bildungsabschluss ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Personen an Weiterbildung teilnehmen. Ebenso sind die Chancen zur Teilnahme höher, je qualifizierter die ausgeübte berufliche Tätigkeit ist (OECD, 2000). Fort- und Weiterbildung wirkt im Laufe des Erwachsenenlebens im Durchschnitt nicht kompensierend, was sozialschichtliche und auch geschlechtsspezifische Ungleichheiten betrifft, sondern eher in Richtung einer Verstärkung von Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung. Da insbesondere formale Bildung die Beteiligung an weiteren Bildungsaktivitäten vorhersagt und teilweise Zugangsvoraussetzungen bei Bildungsanbietern bestehen (Abitur bei Hochschulbesuch), sind ältere Kohorten in dieser Hinsicht etwas benachteiligt (vgl. auch Staudinger & Baumert, 2007). Nachfolgende Kohorten bringen aber zusehends bessere Voraussetzungen zur auch im Alter fortgesetzten Teilnahme an Bildungsangeboten mit.
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Effekte von Bildung im Alter: die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung lebenslangen Lernens
4.1 Die individuelle Bedeutung von Bildung im Alter Wünschenswerte Effekte lebenslangen Lernens sind in der Forschung belegt, auch wenn die meisten der aussagekräftigen repräsentativen Studien sich auf Erwachsene im erwerbsfähigen Alter beschränken (also auf Personen im Alter zwischen etwa 20 und 65 Jahren). Intelligenzleistungen sind über den gesamten Lebenslauf stark an Bildungsprozesse gebunden, wobei der schulischen Bildung eine besonders wichtige Rolle zukommt. Die Entwicklung der kognitiven Kompetenzen wird nachhaltig durch das Niveau des Schulabschlusses beeinflusst; andere Faktoren spielen aber im Laufe des Erwachsenenlebens ebenfalls eine Rolle. So lässt der prädiktive Wert des Schulabschlusses für kognitive Fähigkeiten mit zunehmendem Lebensalter nach, und kognitive Aktivität, die durch berufliche Anforderungen angeregt wird, oder auch durch geistige Beschäftigung im privaten Bereich (Lesen von Büchern) zustande kommt, besitzt einen nachweislichen Einfluss auf die Entwicklung von Intelligenzleistungen im Erwachsenenalter (auch nach Kontrolle des Bildungsabschlusses; OECD, 2005). Das kognitive Leistungsniveau ist wiederum ein Prädiktor für verschiedene wünschenswerte Ergebnisse, wie die Beschäftigungssicherheit, das Einkommen und die Gesundheit, so dass lebenslangem Lernen eine präventive Funktion zukommt. Positive Ergebnisse hängen dabei oft sich gegenseitig verstärkend zusammen. So hat Bildung einen direkten Einfluss auf den Gesundheitszustand dadurch, dass gebildetere Personen einen gesundheitsförderlichen Lebensstil führen, und einen indirekten dadurch, dass Bildung mit dem Einkommen zusammenhängt, und dies wiederum das Führen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils erleichtert. Darüber hinaus sagt das kognitive Kompetenzniveau immer auch das weitere Lernverhalten vorher, wie etwa die Teilnahme an Weiterbildungsangeboten. (Empirische Belege für die dargestellten Effekte finden sich etwa in der internationalen Vergleichsstudie „Adult Literacy and Life Skills Survey“, OECD, 2005, oder in OECD, 2007b).
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Biologisches Altern mag letztendlich unaufhaltsam sein, aber auch dieses ist zumindest innerhalb gewisser Grenzen durch lebenslanges Lernen beeinflussbar. Als Beispiel sei der Zusammenhang von geringer Bildung (beziehungsweise geringerer geistiger Aktivität) und dem Auftreten von Demenz im Alter, wie beispielsweise der Alzheimer-Krankheit genannt (Stern, 2006). Dieser Zusammenhang wird gegenwärtig so interpretiert, dass die Reservekapazität des Gehirns bei höher gebildeten beziehungsweise geistig aktiveren Personen größer ist, und der Krankheitsverlauf dadurch erst zu einem späteren Zeitpunkt merkbare Auswirkungen zu zeigen beginnt. Auch die Gedächtnisleistung und psychomotorische Funktionen sind bei entsprechender Anregung modifizierbar (Lindenberger & Kray, 2005). Eine weitere Funktion von Lernprozessen kann es sein, die im Alter notwendig werdenden Anpassungsleistungen zu fördern und zu unterstützen. Altern beinhaltet Veränderung auf physiologischer, psychologischer und sozialer Ebene, an die älter werdende Menschen sich anpassen müssen. Eine solche Anpassung des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns kann wesentlich durch Kultur und speziell durch Bildung unterstützt werden. Altersverluste können beispielsweise durch ausgleichende Fertigkeiten, verstärktes Üben oder durch technische Hilfen kompensiert werden. Das SOC Konzept („Selective Optimization with Compensation“) als Metatheorie von Entwicklung im Lebensverlauf postuliert, dass Individuen versuchen, Verluste die sie über die Lebensspanne erfahren, durch die Auswahl von Zielen und die Optimierung der Mittel, mit denen sie diese Ziele erreichen können, zu kompensieren (Baltes & Baltes, 1990). Sowohl die Ziele selber wie auch die Mittel, diese Ziele zu erreichen, können so verlagert werden, dass Altersverluste in ihrer Wirkung minimiert werden. Insgesamt nimmt die kompensierende Bedeutung von Kultur mit dem Alter zu (Baltes et al., 2006), eine These, die Baltes mit der unvollendeten Architektur der Human-Ontogenese begründet.
4.2 Die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung im Alter Bildung kann und sollte als eine besondere Form der gesellschaftlichen Partizipation betrachtet werden. Ein Leben lang bleibt Bildung explizit und implizit Voraussetzung für den Zugang zu Chancen und Teilhabe – nicht nur auf dem Arbeitsmarkt sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen Gestaltung und Einflussnahme möglich sind. Dabei gilt zunehmend, dass Bildung als einmalige Investition im Sinne des einmaligen Erwerbs einer Berufsqualifizierung nicht mehr hinreichend ist, um über den Lebenslauf fortgesetzt Erfolge im Erwerbsleben und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (Staudinger, 2007). Dem entspricht die Forderung nach lebenslangem Lernen; und diese wird zusehends auf das Ruhestandsalter ausgedehnt. Ein wichtiger Grund für das Ausdehnen der Forderung nach lebenslangem Lernen liegt darin, dass Bildung häufig Voraussetzung für produktive Tätigkeit ist. Dies gilt insbesondere bei der zunehmenden Professionalisierung und Technisierung vieler, selbst alltäglicher Aufgaben und Dienstleistungen. So ist Bildung beispielsweise einer der besten Prädiktoren für ehrenamtliche Tätigkeit (Kühnemund, 2005a; OECD, 2007b).
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Entsprechend wird auch auf politischer Ebene verstärkt auf den Beitrag, den Ältere zu der Entwicklung ihrer Gesellschaften leisten können, hingewiesen. Beispielsweise enthält die Erklärung der UNESCO über lebenslanges Lernen als Zukunftsfaktor anlässlich der fünften Weltkonferenz für Erwachsenenbildung (CONFINTEA V, 1997) den Aufruf, die Bildungsmöglichkeiten von Älteren an die anderer Personen anzugleichen. Auch die europäische Sozialpolitik empfiehlt den Staaten, Personen im Vorruhestand und Ruhestand für die Übernahme gesellschaftlich wichtiger Tätigkeiten im tertiären Sektor zu gewinnen. Daran geknüpft sollte auch das Lernen der älteren Bevölkerung in Beziehung zum Arbeitsmarkt und gesellschaftlichen Erfordernissen stehen (Europäischer Rat, 2001). Aus einer solchen Perspektive bleibt Bildung im höheren Erwachsenenalter eine wichtige volkswirtschaftliche „Investition“ und sollte nicht auf eine Form der aktiven Freizeitgestaltung (oder polemisch gar der Beschäftigungstherapie) reduziert werden. Zudem wird der Frage große Aufmerksamkeit geschenkt, ob Bildung nicht einen bedeutsamen Beitrag zur Eindämmung von Kosten in den nationalen Gesundheitssystemen leisten könnte, eine Frage, die angesichts alternder Gesellschaften noch gewichtiger wird (OECD, 2007b). Dem Gesundheitszustand, der materiellen Absicherung und ganz wesentlich dem Bildungsniveau kommt eine große Bedeutung für die gesellschaftliche Partizipation der Älteren zu (vgl. Alterssurvey; Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2006). Da diese Hintergrundbedingungen im Laufe der Generationen eine Verbesserung erfahren haben, kann für die Zukunft mit stärkerer Bildungsbeteiligung der Älteren gerechnet werden. Entsprechend gilt es, neue Möglichkeiten zur Teilhabe an Bildungsangeboten, zu sozialem Engagement und produktiver Betätigung nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beziehungsweise der nachfamiliären Phase zu erschließen.
5 Angebotsstrukturen und Formen des Lernens Die Bildungsaktivitäten, an denen Ältere teilnehmen, lassen sich in formale und entsprechend zertifizierte Bildung, nicht-formale aber professionell organisierte Angebote (Kurse und Trainings ohne Zertifikat) und informelle Bildungsaktivitäten einteilen. Zu den Hauptanbietern formaler oder teil-formaler Bildung zählen die Volkshochschulen, Seniorenakademien und die Universitäten. In Deutschland sind die Volkshochschulen der größte öffentliche Anbieter von Bildungsveranstaltungen, an denen auch Ältere teilnehmen. Dabei besuchen die jungen Alten ganz überwiegend (zu 90 %) das reguläre Programmangebot, und keineswegs speziell auf Ältere zugeschnittene Veranstaltungen; erst Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von über 65 Jahren bevorzugen entsprechende Zielgruppenangebote (Kade, 2000). Die Volkshochschulen erreichen zumeist die „jungen Alten“, das heißt Personen zwischen 50 und 65 Jahren, während der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtzahl teilnehmender Personen bei lediglich fünf Prozent liegt (Deutscher Volkshochschulverband, 1997). Weiterbildung und nachberufliche Weiterbildung ist ebenfalls originäre Aufgabe der Hochschulen. Anfang der 80er Jahre wurden speziell auf Ältere ausgerichtete Angebote entwickelt. Zu den bekannteren Beispielen zählen der 1985 als Modellversuch begonnene Studiengang „Weiterbildendes Studium für Senioren“ an der Universität Dortmund, der seither als Regelstudienangebot
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weiterbesteht und jährlich 60 Studienplätze an Personen über 50 vergibt. Das Abitur ist keine Zugangsvoraussetzung und es fällt eine geringe Teilnahmegebühr pro Semester an. Ziel des Angebots ist es, Personen nach der Berufs- oder Familienphase für ein bürgerschaftliches Engagement zu qualifizieren. Nach 25-jährigem Bestehen konnte die Einrichtung mitteilen, dass etwa 1.200 Seniorinnen und Senioren den Studiengang absolviert hatten. Von diesen übten 85 Prozent eine ehrenamtliche Tätigkeit in den Bereichen soziale Arbeit, Bildung, Kultur, Sport und Freizeitarbeit aus. Natürlich zielen nicht alle Angebote zur wissenschaftlichen Weiterbildung auf soziales Engagement. Ein breites Spektrum von Fachinhalten wird angeboten, das von gesellschaftlich relevanten politischen Themen bis zu den Naturwissenschaften reicht. Als Beispiel sei die „Universität des dritten Lebensalters“ (U3L) an der Universität Frankfurt genannt. Neben einer Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Bildung werden Fragen des Alterns zum Thema gemacht und Gelegenheit zur Teilnahme an gerontologischen Forschungsprojekten geboten. Aber auch die U3L Frankfurt verpflichtet sich dem intergenerationellen Austausch und der Vorbereitung Älterer auf die Übernahme neuer gesellschaftlicher Rollen. Bei professionell organisierten Veranstaltungen, die in Form von Kursen und Trainings ohne abschließendes Zertifikat angeboten werden, sind die Teilnahmequoten der Seniorinnen und Senioren kontinuierlich angestiegen. Ein sehr bedeutender Bereich ist jener der Gesundheitsbildung und des Altensports. Informelle Bildungsaktivitäten sind gemessen an den „Teilnehmerzahlen“ der größte Bereich. Zu ihm zählen das Lesen genauso wie die Nutzung von Rundfunk und Fernsehen oder auch des Internets. Die hohe Bedeutung von alltagsgebundenem und selbstorganisiertem Verhalten für den Erwerb von Wissen sollte nicht unterschätzt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich die ehrenamtliche Tätigkeit. Schätzungen des Alterssurvey 2002 zeigen, dass von den 40- bis 85-Jährigen 19 % der deutschen Bevölkerung ehrenamtlich engagiert sind (Kühnemund, 2005). Bei den 40- bis 54-Jährigen ist der Anteil mit 23 % am höchsten, während die Beteiligungsquoten in der Altersgruppe der 70- bis 85-Jährigen abnehmen (9 %). Gemeinnütziges Engagement kann das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung Älterer positiv beeinflussen, und dies kann durch vorbereitende oder begleitende Maßnahmen zusätzlich unterstützt werden. Beispielsweise wurde im Rahmen eines neueren Modellprojektes des BMFSFJ („Erfahrungswissen für Initiativen“, EFI) ein Curriculum für ein drei mal dreitägiges Seminar entwickelt, das darauf abzielt, Ältere, die sich gemeinnützig engagieren wollen, mit hilfreichen Kompetenzen auszustatten. In einer quasi-experimentellen Längschnittuntersuchung zeigte sich, dass die begleitete Gruppe der ehrenamtlich Tätigen nach drei sowie nach 15 Monaten weniger negative Emotionen berichtete als eine nicht begleitete Gruppe. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des EFI-Programms mit hoher internaler Kontrollüberzeugung zeigten außerdem über 15 Monate hinweg kontinuierliches Wachstum in der Offenheit für neue Erfahrungen, während dies bei der Kontrollgruppe nicht der Fall war (Mühlig-Versen & Staudinger, 2007). Aktivitäten, die nicht im engeren Sinne Bildungsangebote darstellen, führen zu einer gewissen Entgrenzung der Begriffe Lernen und Bildung. Dies beinhaltet die Gefahr, dass jede Form von Lernen zur Bildung erklärt wird. Allerdings wird nur durch eine erweiterte Perspektive ein weiterer Kreis von Lernaktivitäten eingeschlossen, der „Produktivität im Alter“ angemessen abbildet.
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6 Relevanz für die Optimierung von Bildungsprozessen Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem skizzierten Forschungsstand für die Optimierung von Bildungsprozessen im Alter“? Insgesamt gilt, dass altersabhängige Veränderungen auf psychologischer Ebene (Kognition, Motivation, sozio-emotionale Fähigkeiten) der Beteiligung Älterer an Bildungsaktivitäten wenig im Wege stehen. Im Bereich der sozio-emotionalen Voraussetzungen scheinen ältere Personen potenziell sogar Vorteile mitzubringen. Im hohen Erwachsenenalter ist zwar mit Einbußen in der Mechanik der Kognition sowie der Kapazität und Effizienz des Arbeitsgedächtnisses zu rechnen, nicht aber mit einem Abbau metakognitiver Kompetenzen. Dies legt nahe, dass auch im hohen Alter erfolgreich gelernt werden kann, vorausgesetzt dass Lernprozesse so gestaltet werden, dass sie zu keiner Kapazitätsüberlastung führen, indem etwa bei der Vermittlung von neuen Inhalten an bereits Bekanntem angeknüpft und die Lerngeschwindigkeit angepasst wird. Hinzu kommt, dass das Lernen im Alter anstrengender wird und von daher von hoher Motivationen zu lernen abhängig ist. Entsprechend wichtig ist es, den motivationalen Voraussetzungen und der Lebenssituation Älterer in der Gestaltung von Bildungsangeboten gerecht zu werden. Beispielsweise sind Lernformen wichtig, die Aktivität und eine positive Wahrnehmung der eigenen Kompetenz fördern. Neben aktiven Aneignungsformen ist auch die Offenheit der Lernangebote von Bedeutung. „Offenheit“ bedeutet dabei, dass Angebote zwar längerfristigen Charakter haben sollten, aber keine zu hohe Verbindlichkeit mit sich bringen und auf die zeitlichen Präferenzen Älterer abgestimmt sein sollten. Die Auswahl von Inhalten speziell für die Zielgruppe älterer Erwachsener ist möglich und zumindest für bestimmte Angebote sinnvoll. Allerdings zeigt die Praxis, dass eine Einteilung der Kursangebote nach dem Alter der Zielpersonen häufig unangemessen ist. Entsprechend der allgemeinen Einsicht der Marktforschung, dass speziell für Ältere entworfene Produkte gerne zum Ladenhüter werden und ein universelles Design („universal design“) vorteilhafter ist, ziehen es die meisten Älteren auch vor, das reguläre Programmangebot zu nutzen. Lediglich für ausgewählte und auf bestimmte Lebenslagen und deren Lernanforderungen zugeschnittene Themen legen eine altersspezifische Angebotsgestaltung nahe. Unterschiede zwischen den Kohorten betreffend Zugangsvoraussetzungen und auch Grundbildung sollten, so lange sie noch bestehen, nicht übersehen werden. Unter Seniorinnen und Senioren ist unzureichende Grundbildung und auch Analphabetismus weiter verbreitet als unter Kohorten jüngeren Alters. Dennoch wird Älteren vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit bei Angeboten der elementaren Bildung für Erwachsene geschenkt. Geringe Grundbildung schafft denkbar schlechte Voraussetzungen für lebenslanges Lernen. Insgesamt relativiert die Bedeutung von Umgebungseinflüssen und Anregung, Lebensstil und Gesundheitszustand, sowie von Sozialschicht und Bildungsbiografie den Einfluss des chronologischen Alters stark.
7 Ausblick: Zukünftige Themen und Aufgaben Die größte Herausforderung der Bildung im Bereich der Seniorinnen und Senioren besteht sicherlich in der Erhöhung der Beteiligungsquoten und speziell dem Erreichen bildungsferner Personen oder besonderer Zielgruppen (Ältere mit Migrationshintergrund,
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Ältere mit geringer formaler Bildung). Es dürfte schwer sein, Personengruppen im Alter zu erreichen, die in ihrer Biografie mit Lernaufgaben nach der Schulzeit kaum in Berührung gekommen sind. In diesem Sinne gilt es, Konzepte zur Umsetzung lebenslangen Lernens frühzeitig anzustoßen und insgesamt dem Lernen nach der Schulzeit ein größeres Gewicht zu geben. Um traditionell bildungsferne Ältere zu erreichen, dürfte die Frage nach der Zugänglichkeit von Information über bestehende Angebote aus Sicht verschiedener Zielgruppen wichtig sein. „Zu lernen, was es zu lernen gibt“ ist eine Metaebene des lebenslangen Lernens. Entsprechend wichtig sind Informations- und Beratungsangebote sowie eine insgesamt leicht zugängliche Infrastruktur. Neben dem Ausbau ausreichend attraktiver und den Bedürfnissen der Zielgruppen entsprechenden und differenzierten Angebotsstrukturen sind auch Strategien der Qualitätssicherung und Ergebniskontrolle zu etablieren. Die Forderung nach einer Professionalisierung der Angebote ist unverändert aktuell. Für die Gestaltung des Angebots besteht zusätzlich wachsender Bedarf, lernförderliche Strukturen für spezifische pädagogische Situationen zu differenzieren. Eine „Didaktik der Alters- und Altenbildung“ ist nach Schäffter (2000) jedoch noch kaum erkennbar – vielleicht aber auch nicht generell notwendig. Auch die Forschung im Bereich der Bildung von Seniorinnen und Senioren steht vor weiteren Aufgaben. Insgesamt ist der empirische Forschungsstand im Bereich der Altenbildung relativ dünn. Bestehende Studien beschränken sich auf zufällig angefallene Stichproben bei häufig niedriger Anzahl an Teilnehmenden und fehlenden Vergleichsgruppen. Als allgemeine gesellschaftliche Herausforderung kann die Entwicklung von neuen Modellen der Partizipation und des sozialen Engagements gelten, die für Aktivität nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben/der nachfamiliären Phase offen stehen und gleichzeitig einen hohen gesellschaftlichen Nutzen erbringen. Auch die Verbreitung positiver Altersbilder im öffentlichen Bewusstsein, die Leitbilder und Verhaltensmodelle zur Verfügung stellen, ist wichtig. Lebenslanges Lernen ist nicht nur eine notwendige Reaktion auf sich wandelnde Strukturen, sondern auch eine Chance für positive Entwicklungen und den Abbau von Benachteiligungen in einer Gesellschaft.
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Annette Brose, Florian Schmiedek und Ulman Lindenberger
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
Handlungsebenen
Individualisierung von Bildungsangeboten im Erwachsenenalter
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
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Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Im folgenden Kapitel werden Säuglings- und Kleinkindalter zwei zentrale Komponenten von Bildung eingehender betrachtet: das lern-motivierte Individuum und die Gestaltung von Lernangeboten. Darüber hinaus werden gesellschaftliche und institutioAufgabenbereiche nelle Rahmenbedingungen von Bildung für ältere Erwachsene reflektiert. Wir möchten darstellen, warum wir eine Individualisierung von Bildungsangeboten als sinnvoll erachten. Unsere Überlegungen werden mittels einer entwicklungspsychologischen Studie verdeutlicht.
Theoretischer Hintergrund
1.1 Motivation und Leistung Der Zusammenhang von Motivation und Leistung ist theoretisch begründbar und wurde vielfach empirisch untermauert (Krapp & Weidenmann, 2006). Das globale Konstrukt Motivation wurde dabei in seinen vielen Facetten untersucht, unter anderem als Interesse, intrinsische Motivation oder Zielorientierung (z. B. Schiefele, Krapp & Schreyer, 1993). Die Altersbereiche, die pädagogisch-psychologische Forschung bei der Betrachtung von Motivation und Leistungserfolgen vor allem untersucht, sind Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter; Kontexte sind in der Regel Schule oder Universität. Die berichtete Studie unterscheidet sich von erwähnter Forschung in der Hinsicht, dass interindividuelle Unterschiede (Unterschiede zwischen Personen) der intraindividuellen Beziehungen von Motivation und Leistung (Zusammenhänge innerhalb von Personen) über die Zeit untersucht wurden. Eine zentrale Frage war es, wie sich die betrachteten Variablen und mögliche intraindividuelle Zusammenhänge im Erwachsenenalter verändern.
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Individualisierung von Bildungsangeboten im Erwachsenenalter
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1.2 Auswahl des Forschungsansatzes: Betrachtung des Individuums als Funktionseinheit Kernanliegen der Entwicklungspsychologie ist es, intraindividuelle Veränderung zu untersuchen (Baltes, Reese & Nesselroade, 1977). Nesselroade (1991) weist darauf hin, dass Veränderungen über verschiedene Zeitspannen auftreten. Er unterscheidet ontogenetische von mikrogenetischen Prozessen. Ontogenetische Prozesse sind im Verlauf des Lebens zu beobachten und sind längerfristig und nur bedingt reversibel. Mikrogenetische Prozesse sind Prozesse in einer kürzeren Zeiteinheit (z. B. Tage oder Wochen); sie sind reversibel und kurzfristig. Die hier vorgestellte Studie stellt eine Verknüpfung von ontogenetischer und mikrogenetischer Betrachtung dar. Unterschiede zwischen Personen werden auf der Ebene tagtäglicher intraindividueller Schwankungen und Zusammenhänge betrachtet. Erklärungen für Altersgruppenunterschiede, also ontogenetische Veränderungen, werden auf dieser Ebene des mikrogenetischen Geschehens gesucht. Altersgruppenspezifische Merkmale von Variabilität sind im Bereich von Reaktionszeiten bekannt. Ältere Personen zeigen hier häufig mehr Variabilität als jüngere Personen. Studien konnten zeigen, dass ein hohes Ausmaß an Variabilität kognitiven Verlusten im Alter voran geht (Lövdén, Li, Shing & Lindenberger, 2007). Der hier vorgestellte Forschungsansatz ermöglicht eine Überprüfung der Frage, ob querschnittlich untersuchte Zusammenhänge (ein Messzeitpunkt, mehrere Variablen und Individuen) innerhalb von Individuen (ein Individuum, mehrere Variablen und Messzeitpunkte) zu replizieren sind, also ob es auch innerhalb von Personen gilt, dass höhere Leistung mit höherer Motivation assoziiert ist. Schlussfolgerungen von Zusammenhängen interindividueller Unterschiede auf Prozesse innerhalb von Personen werden im Forschungsalltag nur allzu leicht gezogen, sind jedoch keineswegs zwingend (Schmitz, 2000).
2 Untersuchung Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer der COGITO-Studie (N = 204), durchgeführt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, kamen bis zu sechsmal wöchentlich zu 100 Testsitzungen, um eine Batterie von 12 kognitiven Aufgaben aus drei Fähigkeitsbereichen zu bearbeiten, darunter eine Aufgabe zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit und -akkuratheit (Genauigkeit), bei der Paare von Buchstabenreihen wie „xybvs – xybts“ danach beurteilt wurden, ob sie gleich oder ungleich sind (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2007; Lindenberger, Li, Lövdén, & Schmiedek, 2007). Außerdem wurden sie jeden Tag danach gefragt, wie motiviert sie waren, die Aufgaben zu bearbeiten. Zusätzlich wurden am Ende der gesamten Sitzung zwei Fragen zur Anstrengung während der Aufgabenbearbeitung gestellt (Deci & Ryan, n. d.). Die Verläufe einer jüngeren und einer älteren Person in den vier Variablen illustrieren das mikrolängsschnittliche Forschungsdesign (siehe Abbildung 1). Beide Personen zeigen für ihre Alterskohorte prototypische Verläufe in den Variablen.
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Annette Brose, Florian Schmiedek und Ulman Lindenberger
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Akkuratheit in %/10
12
Reaktionszeit in ms / 200 Globale Motivation (Skala 0–7) Anstrengung (Skala 0–7)
0
100 tägliche Sitzungen, jüngere Person
100 tägliche Sitzungen, ältere Person
Abbildung 1: Schwankungen innerhalb von Personen (intraindividuelle Variabilität) von kognitiver Leistung und Motivation bei 2 Personen über 100 tägliche Sitzungen (jüngere Person: weiblich, 20 Jahre, ältere Person: männlich, 77 Jahre); kognitive Aufgabe: Vergleich paarweise präsentierter Buchstabenreihen; Werte für globale Motivation und Anstrengung entsprechen verwendeter Antwortskala, Werte kognitiver Leistung wurden transformiert, vgl. Legende.
3 Ergebnisse Für alle Verläufe gilt, dass sie in mehr oder weniger starkem Maß schwanken und dass Unterschiede zwischen den beiden Personen zu beobachten sind. Die Verteilung der Reaktionszeiten der jüngeren Person schwankt um den Wert 1184 ms, bei einer Standardabweichung von 93 ms (für genaue Angaben aller Kennwerte siehe Tabelle 1). Im Vergleich zur älteren Person ist die kognitive Leistung, gemessen an der Reaktionszeit, nicht nur schneller, sondern auch stabiler. Darüber hinaus ist interessant, dass die jüngere Person im Laufe der 100 Tage schneller, die ältere Person dagegen tendenziell langsamer wird. Ein zweites Leistungskriterium ist die Genauigkeit der Aufgabenbearbeitung. Diese ist bei der jungen Person stabil und zeigt bei der älteren Person eine leicht steigende Tendenz, wenn vom Ende der Testsitzungsreihe abgesehen wird. Tabelle 1: Intraindividuelle Charakteristika von Leistung und Motivation zweier Personen Jüngere Person M (SD)
Reaktionszeit
Ältere Person M (SD)
ms
1184
(93)
2231
(131)
Akkuratheit
(0–1)
0.98
(0.02)
0.97
(0.02)
Globale Motivation
(0–7)
1.59
(1.64)
4.84
(0.37)
Anstrengung
(0–7)
4.17
(1.0)
4.91
(0.25)
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Individualisierung von Bildungsangeboten im Erwachsenenalter
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Ein anderes Bild zeigt sich bei den Motivationsverläufen über die Zeit. In diesem Bereich ist es die ältere Person, die sich durch höhere Stabilität auszeichnet (die Standardabweichung der täglich bewerteten Motivation, die Aufgaben zu lösen, beträgt bei der älteren Person 0.37, bei der jungen Person 1.64). Zudem liegt die mittlere Motivation der älteren Person über dem mittleren Wert der jungen Person. Schließlich ist bei der älteren Person über die Zeit der Studiendauer keine generelle Zu- oder Abnahme der Motivation zu verzeichnen. Bei der jungen Person sinken beide Motivationsmaße über die Zeit ab, mit beträchtlichen Schwankungen im Verlauf. Ihre allgemeine Motivation, die kognitiven Aufgaben zu bearbeiten, lag an 84 % aller Tage unter dem Skalenmittel.
4
Bildungspsychologische Relevanz der Studie
4.1 Individualisierung von Trainings Im vorliegenden Beispiel können die beobachteten Unterschiede in der Leistungs- und Motivationsfluktuation sowie deren mikrolängsschnittliche Entwicklung als Kennzeichen interindividueller Unterschiede gelten. Einmalmessungen können solche intraindividuelle Variation des Verhaltens nicht erfassen. Außerdem legen die Beobachtungen nahe, dass die funktionalen Beziehungen zwischen Motivation und Leistung innerhalb von Personen individuell verschieden sind und sich im Laufe des Erwachsenenalters verändern. Nicht immer stehen die beiden Variablen in einem positiven Zusammenhang. Die konstant hohe Motivation der älteren Person scheint keinen ausreichenden Schutz gegen fluktuierende Reaktionszeiten darzustellen, was im Sinne der Annahme einer alterungsbedingten Abnahme der Robustheit des kognitiven Systems zu interpretieren ist. Es ist jedoch denkbar, dass Motivation und Steigerung der Akkuratheit bei der älteren Person zusammenhängen. Möglicherweise wurde in diesen Bereich investiert, weil er durch die Anwendung von Strategien kontrolliert werden kann. Der augenscheinliche Rückgang der Akkuratheit in den letzten Sitzungen der Messreihe bei gleichzeitig leicht verminderter Motivation untermauert diese Überlegung. Die jüngere Person wirkt hingegen auch ohne ein hohes und gleich bleibendes Motivationsniveau, als könne sie ihre Akkuratheit aufrecht erhalten und die Bearbeitungsgeschwindigkeit im Laufe der Zeit sogar steigern. Diese Darstellungen führen uns zu der Schlussfolgerung, dass eine Hinwendung zu individualisierten Lernprogrammen sinnvoll ist, bei denen Zusammenhänge von Lernvoraussetzungen und Training auf der Ebene von Individuen berücksichtigt werden. Stabile Unterschiede in Lernvoraussetzungen sollten bei der Konzeption von Trainingsprogrammen ebenso berücksichtigt werden wie Unterschiede im Veränderungspotenzial und -willen (vgl. Snow, 1989). Dies gilt insbesondere für das höhere Erwachsenenalter, da die Unterschiede zwischen Personen sowie die Unterschiede innerhalb von Personen, etwa beim Übergang zur Demenz, hier besonders groß sind. Die oben aufgezeigte hohe Motivation der älteren Person und die vermutete Investition in strategische Komponenten der Aufgabenbearbeitung legt nahe, Trainingsangebote für ähnlich motivierte ältere Personen bereit zu stellen, die einen Strategieerwerb beinhalten. Phasen reduzierter Motivation könnte mit einer Variation der Aufgaben und ihrer Schwierigkeit begegnet werden.
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Annette Brose, Florian Schmiedek und Ulman Lindenberger
Personenunterschiede könnten hier darin bestehen, dass manche Personen motiviert bleiben, wenn sie sich über die Zeit immer wieder Herausforderungen zu stellen haben, während für andere Misserfolg bei erhöhter Schwierigkeit eine Reduktion von Motivation zur Folge haben könnte. Solche und andere auf individueller Ebene anzustellende Überlegungen sollten bei der Entwicklung von Lernprogrammen in Betracht gezogen werden.
4.2 Implementierung individualisierter Trainings Bereits gegenwärtig zeichnet sich bei Fortbildungsangeboten in der Arbeitswelt eine zunehmende Individualisierung des Lernens ab; so nehmen individualisierte, internetbasierte Lernangebote zu (Reiserer & Mandl, 2002). Dieser Trend könnte auch jenseits des Berufslebens wichtiger werden, im Sinne individualisierter, adaptiver kognitiver Trainingsprogramme. Moderne Technologie kann hier Möglichkeiten eröffnen, unterstützend, flexibel und entwicklungsfördernd auf individuelle Bedürfnisse und Bildungsvoraussetzungen einzugehen (Lindenberger, 2007; Schmiedek, Bauer, Lövdén, Brose, & Lindenberger, im Druck). Individualisiertes Training und internetbasiertes Lernen sind mit dem im Rahmen der vorliegenden Untersuchung entwickelten Programm realisierbar. In den täglichen Sitzungen der Studie wurden alle kognitiven Aufgaben computerunterstützt und internetbasiert durchgeführt. Aus methodischen Gründen wurde auf eine fortlaufende Anpassung der Aufgabenschwierigkeiten an individuelle Leistungen verzichtet. Eine Flexibilität des Programms über die Zeit ließe sich aber bei einer Umwandlung in ein Trainingsprogramm leicht ändern. Darüber hinaus wurden nach jeder Sitzung Rückmeldungstabellen erstellt, mit denen die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer ihre Leistungsentwicklungen nachvollziehen konnten. Die in dieser Untersuchung auf praktischer und konzeptueller Ebene gewonnen Erkenntnisse können somit als Grundlage für die Entwicklung individualisierter Lernprogramme angesehen werden, die individuelle Fähigkeiten und Präferenzen berücksichtigen und intraindividuelle Schwankungen und Verläufe aufzuzeichnen vermögen.
Literatur Baltes, P. B., Reese, H. W. & Nesselroade, J. R. (1977). Life-span developmental psychology: An introduction to research methods. Monterey, CA: Brooks Cole (reprinted 1988 – Hillsdale, NJ: Erlbaum). Deci, E. L. & Ryan, R. M. (n. d.). Intrinsic Motivation Inventory (IMI). Retrieved May 2, 2006, from http://www.psych.rochester.edu/SDT/measures/IMI_description.php. Krapp, A. & Weidenmann, B. (2006). Pädagogische Psychologie: Ein Lehrbuch. Weinheim: Beltz. Lindenberger, U. (2007). Technologie im Alter: Chancen aus Sicht der Verhaltenswissenschaften. In P. Gruß (Hrsg.), Die Zukunft des Alterns: Die Antwort der Wissenschaft (S. 221–239). München: Beck. Lindenberger, U., Li, S. C., Lövdén, M. & Schmiedek, F. (2007). The Center for Lifespan Psychology at the Max Planck Institute for Human Development: Overview of conceptual agenda and illustration of research activities. International Journal of Psychology, 42, 229–242.
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Individualisierung von Bildungsangeboten im Erwachsenenalter
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Lövdén, M., Li, S.-C., Shing, Y. L. & Lindenberger, U. (2007). Within-person trial-to-trial variability precedes and predicts cognitive decline in old and very old age: Longitudinal data from the Berlin Aging Study. Neuropsychologia, 45, 2827–2838. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Ed.) (2007). Research report 2005–2006 (pp. 136– 146). Berlin. Zugriff am 11. 08. 2009 unter http://www.mpib-berlin.mpg.de/en/forschung/lip/ projekte/pdf/Intrap_Dynamics_Annualreport0506.pdf. Nesselroade, J. R. (1991). The warp and the woof of the developmental fabric. In R. M. Downs, L. S. Liben & D. S. Palermo (Eds.), Visions of aesthetics, the environment & development: the legacy of Joachim F. Wohlwill (pp. 213–240). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Reiserer, M. & Mandl, H. (2002). Individuelle Bedingungen lebensbegleitenden Lernens. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 923–939). Weinheim: Beltz. Schiefele, U., Krapp, A. & Schreyer, I. (1993). Metanalyse des Zusammenhangs von Interesse und schulischer Leistung. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie, 25, 120–148. Schmiedek, F., Bauer, C., Lövdén, M., Brose, A. & Lindenberger, U. (im Druck). Cognitive enrichment in old age: Web-based training programs. Gerontology. Schmitz, B. (2000). Auf der Suche nach dem verlorenen Individuum: Vier Theoreme zur Aggregation von Prozessen. Psychologische Rundschau, 51, 83–92. Snow, R. (1989). Aptitude-Treatment-Interaction as a framework for research on individual differences in learning. In P. Ackermann, R. J. Sternberg & R. Glaser (Eds.), Learning and Individual Differences. New York: Freeman.
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Hans-Werner Wahl, Annette Kämmerer, Tanja Birk und Susanne Hickl
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
1 Einführung
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Umgang mit Verlusten im Alter als Bildungsaufgabe: das Beispiel Makuladegeneration
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Es ist mit Sicherheit eine zentrale Errungenschaft, dass Altern heute nicht mehr primär als defizitärer Prozess, sondern auch als Geschehen mit EntwicklungspoAufgabenbereiche tenzialen grundsätzlich ähnlich jeder anderen Lebensphase betrachtet wird (Wahl, Diehl, Kruse, Lang & Martin, 2008). Ausgehend von dieser Kerneinsicht soll in diesem Beitrag jene Seite des Alterns fokussiert werden, welche mit schwerwiegenden Verlusten und der Erfahrung von Grenzsituationen des Lebens verbunden ist. Eine zentrale Bildungsaufgabe besteht hier darin, durch die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und neuen Erfahrungen die Bewahrung von Autonomie, Wohlbefinden und gesellschaftlicher Beteiligung soweit wie möglich (und subjektiv gewünscht) zu unterstützen. Diese Bildungsaufgabe stellt sich im höheren Lebensalter in besonderer Weise in Bezug auf den Umgang mit chronischen Erkrankungen und Funktionsverlusten. Sie soll nachfolgend am Beispiel der Erfahrung schwerer Sehbeeinträchtigung, speziell bei Menschen mit altersabhängiger Makuladegeneration (AMD), und anhand eines von uns konzipierten Schulungsprogramms für AMD Patientinnen und Patienten illustriert werden.
2 Altersabhängige Makuladegeneration als Herausforderung für Bildung Als Makula bezeichnet man die Stelle des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Somit gehen unterschiedliche Formen von AMD mit unterschiedlichen krankhaften Veränderungen dieses zentralen Teils des Sehapparates einher (Holz, Pauleikhoff, Spaide & Bird, 2003). Zu den Alltagsfolgen der AMD gehören erhebliche Leseschwierigkeiten, die Unfähigkeit, die Gesichter von anderen selbst aus der Nähe zu erkennen und schwerwiegende Probleme bei der selbstständigen Durchführung von Alltagsaktivitäten. Etwa jeder dritte ältere Mensch über 75 Jahre ist betroffen. AMD ist damit die Hauptursache von Sehverlust im höheren Lebensalter. Einer erfolgreichen medizinischen Behandlung der AMD sind leider bis heute relativ enge Grenzen gesetzt, sodass viele der Betroffenen mit dieser chronischen Erkrankung leben lernen müssen (z. B. Holz et al., 2003).
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Umgang mit Verlusten im Alter als Bildungsaufgabe
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Die gesundheitspsychologische Forschung zu chronischen Erkrankungen konnte zeigen, dass Angstzustände, depressive Symptome, Hoffnungslosigkeit und auch Suchtverhalten als psychische Sekundärerscheinungen chronischer Krankheiten auftreten (z. B. Rieckmann, 2002). Diese Befundlage gilt auch für chronische Seheinbußen im Alter wie die AMD: Ältere Menschen mit Sehbeeinträchtigung zeichnen sich durch eine niedrigere Lebenszufriedenheit, eine erhöhte Depressionsrate, ein niedriges Selbstwertgefühl sowie eine negativere Tönung der Zukunftsperspektive aus (z. B. Wahl, 2004). Insgesamt ist demnach davon auszugehen, dass schwere und spät im Leben eintretende Seheinbußen mit vielen negativen Auswirkungen im Verhalten und Erleben verbunden sind. Bildungsangebote etwa im Sinne von breit angebotenen Schulungsprogrammen können bzw. könnten hier eine entscheidende Rolle im Sinne einer Sekundär- und Tertiärprävention spielen. Es gilt, die Betroffenen dazu zu befähigen, ihre weiter vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen zu erkennen, besser zu nutzen sowie neue Formen des Umgangs mit den alltäglichen Folgen der Erkrankung zu vermitteln und einzuüben.
3 Vermittlung von Fertigkeiten bei altersabhängiger Makuladegeneration: Stand der Forschung und ein eigenes Schulungsprogramm Bislang kamen bei älteren Sehbehinderten, speziell AMD-Patientinnen und -Patienten, hauptsächlich strukturierte Selbstmanagement-Programme zum Einsatz, die im Wesentlichen Problemlösefähigkeiten vermittelten sowie eine medizinische Aufklärung über die biologischen Prozesse der altersbedingten Makuladegeneration umfassten. Ihre Anwendung hat zu verringertem Stresserleben, zu einer Erhöhung des Selbstwerts und zu Stimmungsverbesserungen beitragen können (z. B. Brody, Williams, Thomas, Kaplan, Chu & Brown, 1999; Brody, Roch-Levecq, Thomas, Kaplan & Brown, 2005). Was bei den bisherigen Interventionsansätzen weniger in den Fokus der Behandlung gerückt wurde, war eine gezielte Kompetenzstärkung und Aktivierung von Ressourcen bei den Betroffenen. Wir entwickelten ein Schulungsangebot speziell für AMD-Patientinnen und -Patienten, das genau diese individuelle Förderung der bzw. des Einzelnen in der Gruppe vorsieht. Es wird in Gruppen durchgeführt und umfasst insgesamt sechs Module, die sich über fünf bis sechs Sitzungen erstrecken. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Inhalte der Module (Birk, Hickl, Wahl, Miller et al., 2004). Erste Evaluationsbefunde des Programms sind ermutigend (Birk et al., 2004). Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigte die Gruppe der Patientinnen und Patienten, die das Schulungsprogramm absolvierten • eine Reduktion der im Alltag erlebten Schwierigkeiten, d. h. das Programm verhalf dazu, dass die Bewältigung des Alltags wieder besser gelang, • eine positive Beeinflussung der Freizeitaktivitäten und der subjektiv erlebten Selbstständigkeit sowie • eine Reduktion der erlebten Depressivität und einen Anstieg des Wohlbefindens.
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H.-W. Wahl, A. Kämmerer, T. Birk und S. Hickl
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Tabelle 1: Module des Fertigkeitentrainings für AMD-Patientinnen und -Patienten Modul
Inhalt
Ziel
Progressive Muskelrelaxation
Systematische Anspannung und Entspannung einzelner Muskelpartien
Reduktion von psychovegetativen Symptomen
Erfahrungsaustausch
Veränderung des Alltags durch AMD; Schwierigkeiten und deren Bewältigung
Modelllernen, Trost, Stärkung der Gruppenidentität
Denken – Fühlen – Handeln (Kognitive Umstrukturierung)
Aufzeigen der wechselseitigen Beeinflussung dieser drei Bereiche (Aufwärts-, Abwärtsspirale), inneren Dialog reflektieren
Positive Beeinflussung der eigenen Befindlichkeit, Bewältigung negativer Gefühle
Ressourcenaktivierung
Quellen der persönlichen Kraft aufspüren; angenehme Aktivitäten und Genuss fördern
Rückzug von Freizeitaktivitäten entgegenwirken, Selbstfürsorglichkeit stärken
Systematisches Problemlösen
Benennung konkreter Probleme und Ziele, Sammeln von Lösungsalternativen mittels taktilem Problemlösefühler1
Vermittlung von Problemlösekompetenz
Informationsvermittlung
Informationsbroschüre, praktische Tipps, Vortrag über Rehabilitationsmöglichkeiten bei Seheinbußen
Wissen über vorhandene Hilfen vermehren
Anmerkung:
1
Der taktile Problemlösefühler enthält ertastbare Symbole, die die einzelnen Schritte des Problemlöseprozesses symbolisieren. Für stark sehbehinderte Menschen können schriftliche Materialien nicht eingesetzt werden.
Weitere Untersuchungen zeigten allerdings auch, dass ein solches Programm nicht weiter reduziert werden sollte, sondern eher das Minimum für einen effektiven Bildungsinput bei AMD Patientinnen und Patienten darstellt (Wahl et al., 2006).
4 Abschließende Überlegungen Bildung im Sinne des Umgangs mit altersassoziierten gesundheitlichen Verlusten ist derzeit kein systematischer Teil von bestehenden Bildungsangeboten für Ältere. Dass er für alternde Gesellschaften notwendig ist, scheint außer Zweifel zu stehen. Das, was Rosenmayr (1990) in seinen Überlegungen zu Bildung im Alter als „Dauerreflektion“ (S. 88) bezeichnet, ist wohl gerade auch im Hinblick auf den Umgang mit gesundheit-
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Umgang mit Verlusten im Alter als Bildungsaufgabe
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lichen Verlusten heute und, angesichts des erwarteten Voranschreitens gesellschaftlicher Alterung, erst recht morgen höchst bedeutsam. So wird eine der Wissens- und Handlungsherausforderungen der zukünftig Älteren, und damit auch einer stetig wachsenden Gruppe von Hochaltrigen, darin bestehen, die weiter verfügbaren Potenziale trotz bedeutsamer gesundheitlicher Verluste „auszureizen“. Schulungsprogramme im Sinne einer Kombination von alterns-, gesundheits- und bildungspsychologischen Einsichten können hierbei eine wertvolle Hilfe leisten.
Literatur Birk, T., Hickl, S., Wahl, H.-W., Miller, D., Kämmerer, A., Holz, F., et al. (2004). Development and pilot evaluation of a psychosocial intervention program for patients with age-related macular degeneration. The Gerontologist, 44, 836–843. Brody, B. L., Roch-Levecq, A.-C., Thomas, R., Kaplan, R. M. & Brown, S. I. (2005). Self-management of age-related macular degeneration at the 6-month follow-up. Archives of Ophthalmology, 123, 46–53. Brody, B. L., Williams, R. A., Thomas, R. G., Kaplan, R. M., Chu, R. M. & Brown, S. I. (1999). Age-related macular degeneration: A randomized clinical trial of a self-management intervention. Annals of Behavioral Medicine, 21, 322–329. Holz, F. G., Pauleikhoff, D., Spaide, R. F. & Bird, A. C. (2003). Age-related macular degeneration. Heidelberg: Springer. Rieckmann, N. (2002). Chronische Krankheiten. In R. Schwarzer, M. Jerusalem & H. Weber (Hrsg.), Gesundheitspsychologie von A bis Z. Ein Handwörterbuch (S. 56–59). Göttingen: Hogrefe. Rosenmayr, L. (1990). Die Kräfte des Alters. Wien: Edition Atelier. Wahl, H.-W. (2004). Sehverlust im höheren Lebensalter aus Person-Umwelt-Perspektive: Befunde und Anwendungsimplikationen. In Verband der Blind- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen (Hrsg.), „Qualitäten“. Rehabilitation und Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung. Kongressbericht. XXXIII. Kongress der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen (S. 88–121). Würzburg: edition bentheim. Wahl, H.-W., Diehl, M., Kruse, A., Lang, F. R. & Martin, M. (2008). Psychologische Alternsforschung: Beiträge und Perspektiven. Psychologische Rundschau, 59 (1), 2–23. Wahl, H.-W., Kämmerer, A., Holz, F., Miller, D., Becker, S., Kaspar, R. et al. (2006). Psychosocial intervention for age-related macular degeneration: A pilot project. Journal of Visual Impairment and Blindness, 10 (9), 533–544.
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Teil II Aufgabenbereiche
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Albert Ziegler
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Bildungspsychologische Forschung
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Dieser Beitrag basiert auf der im oe ikr ene Vorschulbereich M Kasten (siehe unten) festgehaleb Säuglings- und Kleinkindalter so e tenen Definition von bildungsMe ben e psychologischer Forschung. Ofkro Ma fensichtlich lässt sich darin „Bildung“ durch Begriffe wie Denken, Gedächtnis oder Werbung ersetzen, ohne dass der Aufgabenbereiche Charakter einer wissenschaftlichen Definition verloren ginge. Ihre besondere Pointe bezieht diese Definition somit aus dem Begriff Bildung. Gemeinsam mit dem Substantiv Psychologie bildet es die Nominalkomposition Bildungspsychologie, die eine Teildisziplin der Psychologie bezeichnet (Spiel & Reimann, 2005). Ihre Forschungsaktivitäten richten sich insbesondere auf die Entwicklung, Optimierung, Nutzung und Evaluation von Bildungsangeboten und auf individuelle Bildungsprozesse, ihre Charakteristika, Förderung, Ergebnisse und ihren Stellenwert für das Erreichen persönlicher Ziele. Bildungspsychologische Forschung: Bildungspsychologische Forschung untersucht Phänomene der Bildung aus psychologischer Sicht. Es handelt sich dabei um eine systematische, methodengeleitete Suche nach neuen Erkenntnissen, deren Erfolg anhand von Qualitätsmaßstäben beurteilt werden kann.
1 Vorüberlegungen Wissenschaftliche Teildisziplinen lassen sich in immanente und exoterische unterteilen. So sind beispielsweise Denk- und Gedächtnispsychologie immanente Teildisziplinen der Psychologie, da Denken und Gedächtnis theoretische Terme dieser Wissenschaft darstellen. Markt- und Werbepsychologie sind dagegen exoterische Teildisziplinen, da weder der Markt noch die Werbung theoretische Begriffe der Psychologie sind. Immanente und exoterische Teildisziplinen: Immanente Teildisziplinen sind auf Fragestellungen innerhalb ihrer Mutterwissenschaft spezialisiert. Exoterische Teildisziplinen untersuchen aus der Perspektive der Mutterwissenschaft Fragestellungen, die außerhalb dieser angesiedelt sind. Ein Beispiel hierfür ist die Bildungspsychologie.
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Albert Ziegler
Auf den ersten Blick mag es verwundern, wieso sich überhaupt exoterische Teildisziplinen bilden können. Plausibel erschiene es wohl eher, dass eine Wissenschaft Forschungsfragen ausschließlich aus sich selbst heraus hervorbringt und sich bei der Erklärung ihrer Forschungsbefunde vollständig auf ihre eigenen theoretischen Terme beschränkt. Im Folgenden werden daher sowohl extradisziplinäre als auch intradisziplinäre Gründe für die Etablierung einer exoterischen Teildisziplin vorgestellt. 1.1 Extradisziplinäre Gründe für das Entstehen einer exoterischen Teildisziplin Gesellschaften sind für ihr Funktionieren genauso auf Wissen angewiesen wie dies Individuen für das Erreichen ihrer Ziele sind. Das Bedürfnis nach informierten Entscheidungen steigt immer dann rasant an, wenn die Tragweite und Folgenschwere von Entscheidungen hoch ist und/oder falls es sich um immer wiederkehrende Probleme handelt. Ist in einer solchen Situation der Wissensbestand einer Wissenschaft geeignet, zur Entscheidungsoptimierung beizutragen, und lassen zudem künftige Forschungsaktivitäten dieser Wissenschaft weiteres relevantes Wissen erwarten, kann sich eine exoterische Teildisziplin herausbilden. So entdeckten beispielsweise in der Vergangenheit Werbemacher, wie hilfreich psychologische Forschungsergebnisse sein können, und fragten in der Folgezeit gezielt weitere Forschungsergebnisse nach. Dies führte zur Etablierung der Werbepsychologie und ihres Forschungsapparats (Felser, 2001). Bekanntermaßen ist die Psychologie ein gefragter Auskunftsgeber nicht nur in der Werbebranche, sondern in sehr unterschiedlichen Bereichen. Davon zeugt die Existenz spezieller Psychologien wie zum Beispiel Arbeits- und Pädagogische Psychologie, Gesundheits- und Rechtspsychologie, Medien- und Marktpsychologie, Religions- und Politische Psychologie, Umwelt- und Verkehrspsychologie. Die Aufzählung dieser exoterischen Teildisziplinen der Psychologie lässt einerseits vermuten, dass gesellschaftliche Funktionsbereiche und Handlungskontexte ein hohes Maß an Relevanz haben müssen, damit sie einer Wissenschaft genügend Anreize zur Spezialisierung bieten können. Sie veranschaulicht andererseits den enorm großen Anwendungsbereich psychologischen Wissens. Und in der Tat erscheint die Psychologie geeignet, gerade auch zum Thema Bildung wertvolle Beiträge zu leisten. Sie befasst sich wissenschaftlich fundiert mit vielfältigen Aspekten dieser Thematik. Insbesondere beruhen Bildungsprozesse auf Lernen, einem der Kernkonzepte der Allgemeinen Psychologie (Byrne, 2002). Die potenziellen Beiträge der Psychologie umfassen aber fast ihr gesamtes Kompetenzspektrum. So ist etwa Bildung durch Übung, Training oder Gestaltung anregender, informativer sozialer und räumlicher Kontexte gestaltbar. Personen unterscheiden sich in der Wahrnehmung, Aneignung und Nutzung von Bildungsangeboten. Es lassen sich entwicklungsabhängige Muster erkennen usw. Die Vielzahl der psychologischen Teildisziplinen, die unmittelbar wichtige Beiträge zum Verständnis und zur optimalen Steuerung von Bildungsprozessen leisten könnten, ist so groß, dass man durchaus von einer Querschnittsaufgabe für die gesamte Psychologie sprechen kann. Kurzum: Psychologie erscheint aus der Perspektive des Bildungssektors betrachtet schon jetzt als ein attraktiver Kooperationspartner, gezielte bildungspsychologische Forschungen versprechen sogar eine enorm gesteigerte Attraktivität.
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1.2 Intradisziplinäre Gründe für das Entstehen einer exoterischen Teildisziplin Umgekehrt kann die Frage gestellt werden, weshalb eine Wissenschaft Interesse haben sollte, sich für extradisziplinäre Fragestellungen zu öffnen. Auf den vorliegenden Kontext gemünzt bedeutet dies, warum die Psychologie das Thema Bildung für derart bedeutungsvoll erachten sollte, dass sie dafür eigens eine neue Teildisziplin etabliert. Bei der Beantwortung dieser Frage spielen unter dem Gesichtspunkt von Forschung drei Gründe eine besondere Rolle: Forschungsinteressen, Forschungsmöglichkeiten und Gewinnung von Forschungsressourcen. Eine neue Teildisziplin muss erstens weiten Teilen der Mutterdisziplin Forschungsfelder für vielfältige Fragestellungen bieten. Spricht sie ein Fach nicht in seiner Breite an, würde sie wahrscheinlich allenfalls als wichtige Spezialfragestellung einer bereits bestehenden Teildisziplin fungieren. Man kann mit Fug und Recht annehmen, dass ein Forschungsgegenstand psychologische Aspekte der Bildung sicherlich sehr viele Teildisziplinen der Psychologie anspricht, sodass er nicht mehr nur exklusiv von einer psychologischen Teildisziplin für sich reklamiert würde. So finden die Schwerpunktfächer der Psychologie wie Allgemeine Psychologie, Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie, Psychologische Diagnostik beim Thema Bildung sicherlich genauso fruchtbare und vielversprechende Forschungsfelder wie viele weitere Teildisziplinen, allen voran die Pädagogische Psychologie und mit etwas Abstand unter anderem Medienpsychologie, Klinische Psychologie und Organisationspsychologie. In der Tat belegt ein Blick in die wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich schwerpunktmäßig mit bildungspsychologischen Themen befassen, wie bunt gefächert die intradisziplinäre Verortung der publizierenden Forscherinnen und Forscher in der Psychologie ist. Eine potenzielle Teildisziplin sollte gute Forschungsbedingungen und einen guten empirischen Zugang bieten. Auch dies ist bei der Thematik Bildung ohne Zweifel gegeben, da nicht nur ein passives, sondern sogar ein aktives Interesse an bildungspsychologischer Forschung besteht: (Bildungs-)Psychologinnen und -psychologen wird der Zugang nicht nur gewährt. Um ihr Engagement beispielsweise bei der Entwicklung von Unterrichtsprogrammen, Interventionen oder Evaluationen wird sogar geworben. Ferner sind Untersuchungen relativ leicht durchzuführen und Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer recht einfach zu rekrutieren. Dem nicht zu leugnenden Handicap, dass in der Regel strikte experimentelle Kontrollen im Vergleich zu Laborstudien schwieriger zu realisieren sind, steht der Vorteil größerer ökologischer Validität gegenüber. Neben Forschungsinteressen und Forschungsmöglichkeiten bildet die Möglichkeit, Forschungsressourcen für das eigene Fach zu gewinnen, einen weiteren gewichtigen intradisziplinären Grund für die Etablierung einer neuen Teildisziplin. Der Begriff Ressource ist hierbei weit gefasst und reicht von Forschungsgeldern bis hin zu Forschungsreputation (und der damit selbstverständlich verbundenen Möglichkeit, weitere Forschungsmittel zu akquirieren). Vor dem Hintergrund der gegenwärtig enormen Bedeutung des Themas Bildung, seiner Präsenz in Öffentlichkeit und Medien sowie den zur Zeit fließenden Forschungsmitteln besteht wohl Konsens, dass die Psychologie ein hohes Interesse daran haben sollte, sich dem Thema Bildung zuzuwenden.
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2 Wissenschaftstheoretische Aspekte bildungspsychologischer Forschung Die Güte von Forschung ist Gegenstand der Wissenschaftstheorie. Ihre Aufgabe besteht darin, Forschungsaktivitäten einer Wissenschaft zu beschreiben und zu bewerten sowie im optimalen Fall, präskriptive Vorgaben zu machen. Wirft man jedoch als Bildungspsychologe einen Blick in die wissenschaftstheoretische Literatur, verwirrt diese mehr durch die Heterogenität der Standpunkte und Empfehlungen, als dass man Orientierung gewinnen könnte. So finden sich unter anderem die Ansätze Rationalismus (Aune, 1970; Cottingham, 1984) und Kritischer Rationalismus (Popper, 1968), Empirismus (Hume, 1748/1955; Kenny, 1986), logischer (Stove, 1973) und konstruktiver Empirismus (van Fraassen, 1980), Konstruktivismus (Ernest, 1994; Maturana & Varela, 1980) und Reismus (Lejewski, 1976; Wole ski, 1996), Skeptizismus (Russel, 1948), Relativismus (Berger & Luckmann, 1966; Feyerabend, 1962), Funktionalismus (Fodor, 2003; Levin, 1985) und Pragmatismus (Aune, 1970; Wiener, 1990), Evolutionäre (Campbell, 1974) und Naturalistische Epistemologie (Quine, 1969) – um nur einige der Hauptansätze zu nennen. Leider ist es nicht einmal in Ansätzen möglich, ein gemeinsames Extrakt dieser Wissenschaftstheorien zu benennen. Ohne einen metatheoretischen Rahmen kann eine Bildungspsychologie jedoch keine rationale Forschung leisten, weil dann beispielsweise Methodenfragen nicht entscheidbar wären. Es scheint, als müsse sie sich ihren methodologischen Rahmen selbst zimmern; in der Wissenschaftstheorie liegt er jedenfalls nicht bereit. Ziel bildungspsychologischer Forschung ist die Erstellung eines Aussagesystems in Form einer wissenschaftlichen Theorie, das methodische Gütekriterien erfüllen muss (Gadenne, 1986). Die vordringliche Frage gilt dabei dem Wirklichkeitsausschnitt, auf den sich diese Forschung bezieht. Allerdings sieht man sich hier mit dem Problem konfrontiert, dass der Forschungsgegenstand bildungspsychologischer Forschung nicht durch natürliche Begriffe wie Sonne, Baum oder Sauerstoff konstituiert wird. Er wird also nicht einfach vorgefunden, sondern Forscherinnen und Forscher müssen ihn konstruieren und erschließen. Geht man plausiblerweise davon aus, dass der Gegenstand einer Wissenschaft identisch ist mit ihrem Forschungsgegenstand, dann finden sich bereits erste sehr brauchbare und diskutierbare Vorschläge in der metatheoretischen bildungspsychologischen Arbeit bei Spiel und Reimann (2005). Die Autorin und der Autor haben in dieser richtungweisenden Arbeit den Gegenstand der Bildungspsychologie anhand einer auf axiomatischen Vorüberlegungen beruhenden dreidimensionalen Listendefinition konstituiert. Ihr Strukturmodell bestimmt auf der zeitlichen Dimension Abschnitte der Bildungskarriere, die vorerst noch eng an westlichen Leitvorstellungen orientiert ist. Es werden weiter drei an systemtheoretische Vorläufer anknüpfende Handlungsebenen benannt sowie fünf Aufgabenbereiche. Neben Beratung, Prävention, Intervention sowie Bildungsmonitoring und Evaluation ist einer davon die Forschung selbst. Eine solche erste Ortsbestimmung des Forschungsgegenstands ist sicherlich noch fragil und bislang nicht praxiserprobt, doch sicherlich ein ganz ausgezeichneter erster Startpunkt.
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3 Qualitätsmerkmale bildungspsychologischer Forschung Bildungspsychologische Forschung kann auf vielfältige Weise betrieben werden: Als Labor- und Feldforschung, experimentell und explorativ, im Längsschnitt oder im Querschnitt, als Einzelfallstudie oder in Form von Handlungsforschung, als qualitative oder quantitative Forschung (vgl. Lewis-Beck, Bryman & Liao, 2004). Im Prinzip bleibt es der Forscherin bzw. dem Forscher überlassen, welche Forschungsmethode am besten geeignet zur Erreichung der Forschungsziele erscheint. Doch gleichgültig, welche Methode gewählt wird, muss die Forschung bestimmten Qualitätsmaßstäben genügen (siehe auch Kerlinger, 1986). Die fünf zentralen Forderungen werden im Folgenden besprochen. 3.1 Randomisierung Randomisierung erfolgt am besten in einem zweistufigen Prozess. Erstens sollten Personen zufällig ausgewählt und zweitens anschließend zufällig einer Bildungsbedingung zugewiesen werden. Ein solches Verfahren stellt bereits die interne Validität einer Studie sicher, das heißt die Ergebnisse sind zumindest für die Personengruppe der Stichprobe gültig (vgl. Shadish, Cook & Campbell, 2002). Allerdings muss die Randomisierung auch methodisch einwandfrei vorgenommen werden. Die Folgen eines Misslingens wurden erstmals durch die Ergebnisse einer der berühmtesten Studien der Wissenschaftsgeschichte, dem sogenannten Lanarkshire Milchexperiment, der Forschergemeinde ins Bewusstsein gerufen (vgl. Student, 1931). Ziel der britischen Forschungsstudie war es festzustellen, ob die Verteilung von Milch positive Konsequenzen zeitigt. Obwohl die viele tausend Schülerinnen und Schüler umfassende Untersuchung sehr sorgfältig geplant war, darunter auch Zufallsauswahlen der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler und Zufallszuweisungen zur Treatmentbedingung, entpuppten sich die Ergebnisse als wertlos. Lehrkräfte hatten die Randomisierung unterlaufen, indem sie die Milch nicht an die zufällig ausgewählten Schülerinnen und Schüler verteilten, sondern an die Bedürftigen. Randomisierung: Messergebnisse sind vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. Um zu verhindern, dass diese systematisch in eine bestimmte Richtung beeinflussen, werden verschiedene Zufallszuweisungen, das heißt Randomisierungen vorgenommen.
Der zweistufige Randomisierungsprozess ist in der bildungspsychologischen Forschungspraxis oft nicht realisierbar. So können beispielsweise Schülerinnen und Schüler nicht per Zufall bestimmten Schulformen wie Grund-/Primar-/Volksschule, der allgemeinbildenden höheren Schule/Gymnasium/Kantonsschule oder Realschulen zugewiesen werden. Dem stehen Hindernisse wie die Erfüllung von Leistungsvoraussetzungen, Alter, Bildungsentscheidungen der Erziehungsberechtigten etc. im Wege. In solchen Fällen muss man sich mit quasi-experimentellen Designs behelfen, das heißt auf die zufällige Zuweisung von Versuchspersonen zu Parallelgruppen verzichten. Da quasi-experimentelle Designs die interne Validität gefährden und vermutlich beeinträchtigen, müssen bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. So sollte in Prätests
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die Vergleichbarkeit der Treatmentbedingungen überprüft werden. Doch auch dies wird oft nicht realisierbar sein. Es muss daher von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, unterschiedliche Voraussetzungen in der statistischen Auswertung zu kontrollieren, beispielsweise mit Hilfe sogenannter Kovarianzanalysen. Allerdings ist es schlechterdings unmöglich, alle potenziell relevanten Ausgangsunterschiede zu berücksichtigen. Ferner sind die Möglichkeiten solcher Nachadjustierungen begrenzt (z. B. Pedhazur, 1997). Das Problem der Randomisierung kann daher als ein hartnäckiges und wahrscheinlich auch bleibendes Ärgernis bildungspsychologischer Forschung angesehen werden. Neben den erwähnten statistischen Behelfen wird man sich daher auf absehbare Zeit mit theoretischen Abschätzungen der verzerrenden Wirkung suboptimaler Randomisierung behelfen müssen.
3.2 Kontrolle Bildungspsychologisch relevante Prozesse finden in konkreten Handlungskontexten statt. Spiel und Reimann (2005) unterscheiden dabei Mikro-, Meso- und Makroebene. Beispielsweise kann die Mitarbeit einer Schülerin im Mathematikunterricht nicht allein durch in der unmittelbaren Situation wirkende Prozesse erklärt werden. Angemessene Erklärungen umfassen weitere Handlungsebenen wie Klasse, Schule, Familie, Gesellschaft und sogar Kultur. Den Einfluss all dieser Variablen in Experimenten zu kontrollieren, ist unmöglich. Bildungspsychologische Forschung muss daher durch verschiedene Maßnahmen versuchen, den Einfluss von Störvariablen, die die Interpretation der Ergebnisse erschweren, möglichst gering zu halten. Die drei wichtigsten Strategien neben der statistischen Kontrolle (siehe Abschnitt 3.1) sind die Herstellung standardisierter Untersuchungsbedingungen, Selektion und Stratifizierung. Kontrolle: In Bezug auf empirische Studien meint der Begriff Kontrolle das Bemühen, den Einfluss der Randbedingungen einer Untersuchung zu minimieren.
Eine Standardisierung der Untersuchungsbedingungen – auch als Durchführungsobjektivität bezeichnet – hat offensichtlich die Folge, das „Rauschen“ in den Daten zu verringern. Als Rauschen erscheinen Bildungspsychologinnen und -psychologen dabei jegliche Fluktuationen in den Messungen, die sie sich nicht erklären können. Es gibt aber auch systematische Einflüsse, welche die Daten bekanntermaßen beeinflussen, die jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht erfasst werden können. Wenn man beispielsweise weiß, dass Elterneinstellungen Bildungsentscheidungen von Mädchen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich beeinflussen (siehe Schober, 2002), so könnten ausschließlich Mädchen von Eltern mit ähnlicher Einstellung in die Untersuchung aufgenommen werden. Hierdurch könnte der Einfluss elterlicher Einstellungen auf die Streuung der Daten minimiert werden. Wendet man hingegen alternativ die Strategie der Stratifizierung an, würden die Eltern anhand ihrer Einstellungen in verschiedene Gruppen eingeteilt. Der Einfluss ihrer Einstellungen würde somit bereits explizit bei der
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Gestaltung des Untersuchungsdesigns berücksichtigt. Bei der Auswertung der Ergebnisse können anschließend Aussagen zu den jeweiligen Elterngruppen gemacht werden. Der Vorteil dieser Strategien besteht darin, dass sie Streuungen der Daten innerhalb der Untersuchungsgruppen verringern und somit die Wahrscheinlichkeit, einen Effekt zu finden, vergrößern.
3.3 Objektivität Im letzten Abschnitt wurde bereits die Durchführungsobjektivität als strikte Standardisierung der Untersuchungsbedingungen erwähnt. Zusätzlich werden Auswertungs- und Interpretationsobjektivität unterschieden. Ihr Name deutet schon an, dass es keine Rolle spielen sollte, wer die Daten bildungspsychologischer Untersuchungen auswertet oder interpretiert. Objektivität: Objektivität ist ein Gütemerkmal empirischer Forschung. Sie bezeichnet die Unabhängigkeit der Messergebnisse von den die Untersuchung durchführenden Forscherinnen und Forschern, Forschungsgruppen oder Forschungsinstitutionen.
Bei der Auswertung bildungspsychologischer Datensätze sind einige Grundsätze zu beachten, die leider immer wieder verletzt werden. So ist im Einklang mit dem von Spiel und Reimann (2005) vorgelegten Strukturmodell der Bildungspsychologie zu konstatieren, dass Bildung auf mehreren Handlungsebenen geschieht. Aus diesem Grund sollten für viele Fragestellungen die Auswertungseinheiten nicht nur auf einer Ebene angesiedelt sein (beispielsweise die Motivation von Schülerinnen und Schülern), sondern auch weitere Ebenen berücksichtigt werden (Motivation der Lehrkräfte, Schulklima, Eigenheiten des nationalen Bildungssystems etc.). Konkret könnte dies beispielsweise bedeuten, dass anstatt einfacher varianzanalytischer Designs hierarchische lineare Modelle (Bryck & Raudenbush, 1992) verwendet werden müssten. Ein weiteres Auswertungsproblem ist oftmals die unterschiedliche Bewertung von Rechenvoraussetzungen (z. B. Normalverteilungsannahme; Einfluss von Ausreißern, inhomogenen Varianzen und schiefen Verteilungen von Residuen) und die daraus resultierenden abweichenden Verwendungen von Auswertungsverfahren. Wie gering die Interpretationsobjektivität ausfallen kann, zeigte sich jüngst bei der Bewertung der Ergebnisse der PISA-Studie. Obwohl im Prinzip allen Interpretinnen und Interpreten die gleichen Daten vorlagen, kamen sie zu höchst unterschiedlichen Bewertungen. Ein Ausweg könnte die Standardisierung von Interpretationen darstellen. Beispielsweise wird in vielen wissenschaftlichen Zeitschriften, die bildungspsychologische Arbeiten publizieren, neben einer Angabe der Irrtumswahrscheinlichkeit auch die Angabe von Effektstärken verlangt. Dies ist begrüßenswert. Die Standardisierung der Bewertungen, wie beispielsweise 0.5 sei eine mittlere Effektstärke (Cohen, 1988), ist dagegen häufig irreführend. Aus der Not nur schwer herzustellender Interpretationsobjektivität lässt sich für die Bildungspsychologie zumindest eine Konsequenz ziehen und eine Hoffnung ableiten. Die
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Konsequenz besteht in der Forderung nach rigider Transparenz, sodass jederzeit nachvollziehbar ist, wie jemand zur eigenen Interpretation gelangte. Die Hoffnung besteht darin, dass abweichende Interpretationen keineswegs ein Unglück sein müssen, sondern auch Grundvoraussetzung einer fruchtbaren Diskussionskultur sind.
3.4 Reliabilität Die Begriffsbestimmung von Reliabilität (s. u.) muss in zweierlei Hinsicht präzisiert werden. Gemeint ist nicht wie genau gemessen wird, also beispielsweise wie fein die Messskala unterteilt ist. Ob nun beispielsweise Schülerinnen bzw. Schüler dem oberen, mittleren und unteren Leistungsdrittel oder der oberen und unteren Leistungshälfte zugeordnet werden sollen, sagt daher noch nichts über die Messgüte aus. Wohl aber, ob diese Zuordnungen korrekt erfolgten. Weiter impliziert eine hohe Reliabilität keineswegs, dass tatsächlich die intendierte Größe gemessen wurde. Beispielsweise mag ein Leistungstest zwar sehr zuverlässig messen, doch könnte es der Fall sein, dass er nicht nur Leistung, sondern auch Prüfungsängstlichkeit, Motivation und Konzentration erfasst. Reliabilität: Reliabilität ist ein Gütemerkmal empirischer Forschung. Sie bezeichnet die Zuverlässigkeit einer Messung, die umso höher ist, je geringer der Messfehler ist.
Es gibt verschiedene Techniken, die Reliabilität einer Messung abzuschätzen (vgl. Fisseni, 1990; Heller, 1984). Bildungspsychologische Studien sind dabei vor allem mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens sind standardisierte Messinstrumente rar, weshalb beispielsweise zur Erfassung der Schulleistung die Reliabilität der verwendeten Messinstrumente oft nur an der Untersuchungsstichprobe abgeschätzt werden kann. Ein zweites Problem stellen die vielen hoch inferenten Messungen dar, also solche, in die Urteile und Schlussfolgerungen einfließen (Ingenkamp, 1997). Wenn beispielsweise bei der Unterrichtsbeobachtung oft nicht einmal genau abschätzbar ist, ob sich eine Schülerin gemeldet hat, dann kann man sich die Schwierigkeiten der Bildungsexpertinnen und -experten der OECD vorstellen, die nach einem wenige Tage umfassenden Besuch die nationale Bildungsqualität im Vorschulbereich abschätzen müssen. Die Möglichkeit ist nicht unplausibel, dass eine andere Delegation zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, da die Beantwortung einer solchen komplexen Fragestellung kaum auf der Basis von ausschließlich niedrig inferenten Messungen möglich ist.
3.5 Validität Validität: Validität ist ein Gütemerkmal empirischer Forschung. Sie bezeichnet die Gültigkeit einer Messung, das heißt ob tatsächlich die intendierte Größe erfasst wurde.
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Messungen psychologischer Größen lassen sich nie direkt vornehmen. Sie bedürfen der Operationalisierung, das heißt der Überführung der Konstrukte in ein geeignetes Messverfahren. Die Validitätsproblematik lässt sich daher in zwei Teilfragestellungen aufspalten: (1) Was ist die beste Operationalisierung der zu messenden bildungspsychologischen Größe? (2) Wie gut ist die Operationalisierung gelungen? Die erste Fragestellung nach der besten Operationalisierung ist zwar noch ungelöst, doch finden sich eine Menge brauchbarer Hinweise in einschlägigen Methodenhandbüchern (z. B. Babbie, 2007). Allerdings garantieren diese längst nicht Konsens. Ein prominentes aktuelles Beispiel eines Dissenses zwischen Bildungswissenschaftlerinnen bzw. -wissenschaftlern ist die unterschiedliche Auffassung bezüglich dessen, was in der internationalen Bildungsstudie PISA gemessen wird (Baumert, Brunner, Lüdtke & Trautwein, 2007; Rindermann, 2007). Obwohl niemand ernsthaft daran zweifelt, dass die PISAKonstrukteurinnen und -Konstrukteure große Sorgfalt bei der Operationalisierung des Konstrukts Bildungsqualität walten ließen, wird kritisiert, dass gar nicht Bildungsqualität, sondern eigentlich Intelligenz gemessen wurde. Die zweite Fragestellung bezieht sich auf eine Abschätzung der erzielten Validität. Auch hier sind keine endgültigen Lösungen in Sicht, doch sehr hilfreiche Vorarbeiten verfügbar. Neben theoriegeleiteten Beurteilungen gibt es sogar quantitative Schätzungen in Form von Validitätskoeffizienten (Katzer, Cook & Crouch, 1998).
4 Fehlerquellen bildungspsychologischer Forschung Bildung und die mit ihr verbundenen Ziele und Methoden sind ein hoch brisantes politisches und weltanschauliches Thema. Bildungspsychologie ist daher wie kaum eine andere Wissenschaftsdisziplin der Gefahr von Verzerrungen und Irrtümern ausgesetzt. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle eine Systematik der fünf wichtigsten Fehlerquellen gegeben werden, die in Abbildung 1 grafisch zusammengefasst sind.
Kompetenzfehler
Interessenbias
Positivistischer Fehler
Manipulation
Kommunikationsfehler
Abbildung 1: Fehlerquellenpentagramm bildungspsychologischer Forschung
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4.1 Kompetenzfehler Kompetenzfehler können auftreten, wenn Forscherinnen und Forscher allgemein akzeptierte Standards ihres Faches nicht beherrschen. Unkenntnisse können sich auf Theorien, Erhebungsmethoden, (statistische) Auswertungsverfahren etc. beziehen. Sie sollten keinesfalls als ein Ärgernis angesehen werden, das allenfalls zweitklassige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrifft. Bereits eine Teildisziplin wie die Bildungspsychologie ist derart komplex, umfassend und informationsreich, dass keine Forscherin und kein Forscher mehr alle ihre Facetten gleichermaßen kompetent beherrscht. So kann beispielsweise die gängige Praxis des Peer-Reviews wissenschaftlicher Arbeiten mit der anschließend eingeräumten Möglichkeit ihrer Verbesserung als eine wissenschaftspolitische Praxis gewertet werden, Kompetenzfehler möglichst auszuschließen. Die im optimalen Fall recht elaborierten Fachgutachten geben der einzelnen Forscherin und dem einzelnen Forscher hilfreiche Hinweise zur Verbesserung seiner Arbeit. Viele weithin verbreitete Kompetenzmängel haben das Interesse der Forschungsgemeinde stimuliert und führten zu einer bunten Ratgeberkultur. Zwei der bekanntesten Fallen, in die Forscherinnen und Forscher immer wieder hineintappen, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Der ökologische Fehler beruht darauf, dass Gruppendaten überinterpretiert werden. Seinen Namen verdankt er William Robinson, der in einer Bildungsstudie auf ihn stieß (Robinson, 1950). Untersuchungsgegenstand waren die Lesefertigkeiten in den damals 48 Bundesstaaten der USA. Dabei wurden Immigrantinnen und Immigranten mit in Amerika geborenen Bürgerinnen und Bürgern verglichen. Der Hauptbefund war ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Lesefertigkeit und der Anzahl von Immigrantinnen und Immigranten in einem Bundesstaat. Robinson warnte jedoch davor, die Korrelation von 0.53 so zu interpretieren, dass Immigrantinnen und Immigranten über eine höhere Lesefertigkeit verfügten. Tatsächlich lag die Korrelation auf individueller Ebene bei –0.11! Es stellte sich heraus, dass Immigrantinnen und Immigranten verstärkt dort siedelten, wo die Lesefertigkeit durchschnittlich höher war. Robinson warnte davor, Schlussfolgerungen bezüglich Individuen auf der Basis von Gruppendaten zu ziehen. Ein weiterer verbreiteter Fehler ist die kausale Interpretation korrelativer Zusammenhänge (Hooke, 1983). Wenn zwei Variablen P und Q korrelieren, so kann dies zumindest vier Gründe haben: (1) P verursacht Q, (2) Q verursacht P, (3) beide sind durch eine weitere Variable verursacht oder (4) die Korrelation war zufällig. So trivial dies scheint, werden in der Praxis doch viele Fehler begangen. Den hohen statistischen Zusammenhang von verkaufter Eiscreme und Anzahl Ertrunkener an Stränden werden die Wenigsten als Beleg für die Gefährlichkeit von Eiscreme interpretieren. Ganz offensichtlich ist die Anzahl von Personen an den Stränden Grund dieser Korrelation. Allerdings kann gerade die Häufigkeit als Drittvariable die Interpretation vieler bildungspsychologischer Befunde erschweren. Beispielsweise wurde das Bild von Hochbegabten als „Problemkinder“ stark durch Untersuchungen geprägt, die an Hochbegabtenberatungsstellen durchgeführt wurden (Freeman, 1979; Grassinger, 2007). Es ist jedoch offensichtlich, dass in dieser Stichprobe Hochbegabte mit Problemen überrepräsentiert sind.
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4.2 Manipulation Manipulation meint den bewussten Versuch, die Ergebnisse und die Rezeption von Forschungsstudien zu steuern. Theoretisch kann dies auf sehr vielfältige Weise geschehen. Beispielsweise können in Interviews die Antworten durch geschickte Formulierung der Fragen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Nachdem die Daten vorliegen, kann ihre Rezeption durch eine selektive Auswahl, unangemessene statistische Verfahren oder verzerrte Darstellungen, beispielsweise in Form irreführender Grafiken, manipuliert werden (Tufte, 1997). Es ist naiv zu hoffen, die sich gerade etablierende Bildungspsychologie würde frei sein von Manipulationsversuchen. So besteht kein Grund anzunehmen, dass sich in ihr aus irgendeinem Grund weniger schwarze Schafe tummeln sollten als es gemeinhin in der Wissenschaft der Fall ist (Jaffe & Spirer, 1987). Im Gegenteil steht zu erwarten, dass die Politisierung und Ideologisierung von Bildung zu vielerlei Beeinflussungsversuchen führt, gegenüber denen sich nicht alle Bildungspsychologinnen und -psychologen als resistent erweisen werden. So wird sicherlich manche Institution die Vergabe von weiteren Forschungsgeldern an die Willfährigkeit bildungspsychologischer Forscherinnen und Forscher knüpfen. Gegenmaßnahmen sind erstens eine Wissenschaftsgemeinde, die Transparenz und Nachvollziehbarkeit als Forschungstugend einfordert. So sind beispielsweise die Messinstrumente und die Daten der internationalen PISA-Studie allen Forscherinnen und Forschern zugänglich. Zweitens sollten zentrale bildungspsychologische Forschungsarbeiten obligatorisch ein Peerreviewsystem durchlaufen, bei dem sie von kompetenten Fachvertreterinnen und -vertretern begutachtet werden. Drittens sollten Replikationsstudien durchgeführt werden. Diese drei Gegenmaßnahmen sind bereits heute zumindest in Ansätzen in der Bildungspsychologie realisiert. Die vierte Gegenmaßnahme beruht auf der Bildung einer eigenen Fachvertretung mit den ihr eigenen Möglichkeiten, insbesondere jenen zur Bildung von Ethikkommissionen und zur Aussprechung von Sanktionen.
4.3 Kommunikationsfehler Die Ergebnisse bildungspsychologischer Forschung werden Fachkolleginnen und -kollegen sowie der Öffentlichkeit kommuniziert. Idealerweise werden sämtliche Ergebnisse mitgeteilt. In der Praxis ist es jedoch häufig so, dass nur eine Auswahl weitergegeben wird. Dies ist beispielsweise dann gerechtfertigt, wenn Störungen während der Datenerhebung auftreten oder sich Daten als Messfehler behaftet herausstellen. Inakzeptabel ist jedoch beispielsweise der sogenannte Publikationsbias (auch als „file-drawer problem“ bezeichnet). Er bezeichnet die Tendenz, vor allem statistisch signifikante Befunde zu berichten, also nur solche Studien, bei denen „etwas herauskam“. Bei einem Signifikanzniveau von 5 % tritt unter 200 Studien jedoch ohnehin bei ca. 10 ein statistisch signifikanter Effekt auf, ohne dass dies einen realen Effekt widerspiegelt. Die Entscheidung für oder gegen eine Publikation von Daten hat gravierende Folgen. So zeigte etwa die Metaanalyse von Lipsey und Wilson (1993), dass pädagogische Interventionen eine bereinigte durchschnittliche Effektstärke von .47 Standardabweichungen auf-
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weisen. Bei publizierten Daten ist die durchschnittliche Effektstärke jedoch .14 Standardabweichungen größer, so dass fast ein Viertel der berichteten Wirkungen pädagogischer Interventionen auf eine verzerrte Kommunikation empirischer Daten zurückzuführen ist. Ein Ausweg für die Bildungspsychologie könnte eine Entscheidung ähnlich des im September 2004 verkündeten Beschlusses mehrerer renommierter medizinischer Fachzeitschriften sein. Sie publizieren von der Pharmaindustrie gesponserte Studien nur unter der Bedingung, dass sie vor Beginn in einer öffentlichen Datenbank registriert wurden. Dies soll garantieren, dass alle Daten publiziert werden. Ebenso wäre es beispielsweise wünschenswert, wenn insbesondere bei bildungspsychologischen Evaluationsstudien sämtliche erfassten Variablen vor Beginn der Untersuchungen angezeigt würden.
4.4 Positivistischer Fehler Bildungspsychologische Forschung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern wird stets innerhalb bestimmter Gegebenheiten durchgeführt. Das Vorhandene1 bildet dabei sowohl den bevorzugten Forschungsgegenstand als auch den Forschungsrahmen und den bevorzugten Referenzwert. In Deutschland werden Studien zur Sekundarstufe meist mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt, die eine Schulform in einem mehrgliedrigen Schulsystem besuchen. Dagegen werden in den Vereinigten Staaten während dieses Bildungsabschnitts nur Schülerinnen und Schüler eines ungegliederten Schulsystems untersucht. Man kann also salopp formuliert nur das untersuchen, was vorhanden ist. Das Positive bildet auch den Forschungsrahmen. Erweist sich beispielsweise eine bestimmte pädagogische Maßnahme an Montessorischulen als ineffektiv, kann daraus nicht geschlossen werden, dass es nicht doch eine Schulform gäbe, an der genau diese pädagogische Maßnahme effektiv wäre. Bei der Beurteilung der Effektivität wird aber fast immer – wie auch im zuletzt angeführten Beispiel – das Positive als Referenzwert gewählt. Dieser hat unter Umständen eine große Auswirkung auf die Beurteilung der Effektivität einer bildungspsychologischen Maßnahme. Beispielsweise könnte sie im Vergleich zum finnischen Schulsystem als ineffektiv, im Vergleich zum deutschen beziehungsweise österreichischen Schulsystem als effektiv bewertet werden, weil die durchschnittlichen Schulleistungen in diesen Ländern voneinander abweichen.
4.5 Interessenbiases Forscherinnen und Forscher wählen ihre wissenschaftlichen Fragestellungen selektiv aus. Dies hat vielfältige Ursachen, die teilweise durchaus plausibel sind. Beispielsweise werden Bildungspraktikerinnen und -praktiker in so unterschiedlichen Ländern wie Korea, 1 Im Anschluss an die wissenschaftstheoretische Position des Positivismus wird das Vorhandene (wertneutral) als das Positive bezeichnet.
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Saudi-Arabien und der Schweiz sehr verschiedene Wissensbedürfnisse haben, die sie an die Bildungspsychologie herantragen. Allerdings kann es auch der Fall sein, dass Bildungspsychologinnen und -psychologen signalisiert bekommen, manche Ergebnisse seien erwünschter als andere. Eindrucksvolle Beispiele finden sich in Gould (1996), der akribisch dokumentierte, wie sich in einem xenophoben und ethnophoben gesellschaftlichen Klima Bildungspsychologinnen und -psychologen nur schwer Erwartungen widersetzen konnten und erwünschte Forschungsergebnisse produzierten. Ferner stehen Forscherinnen und Forscher ihren eigenen Ergebnissen nicht neutral und unparteiisch gegenüber. Sie favorisieren bestimmte über andere, sei es, weil diese ihre Hypothesen bestätigen, ihrer Weltanschauung oder politischen Meinung besser entsprechen, weitere Forschungsmittel an bestimmte Resultate geknüpft sind etc. Unterschiedliche Interessen beeinflussen ebenfalls die verwendeten Methoden und die Ergebnisse (z. B. Habermas, 1968; Gould, 1996) auf verschiedene Weise (Evans, 1989; Jaffe & Spirer, 1987). Grundkenntnisse über Interessenwirkungen in den Erhebungssituationen sind mittlerweile fester und unverzichtbarer Bestandteil des methodischen Ausbildungskanons künftiger Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Ihr genaues Verständnis ist umso wichtiger, da sie zumeist unterhalb der Bewusstseinsschwelle von Forscherinnen und Forschern sowie Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmern wirken. Beispielsweise existiert bei Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmern die Tendenz zu erraten, was mit der Studie bezweckt wird und welche Ergebnisse erwünscht sind. Ein nicht geringer Anteil verhält sich dann konsistent mit diesen Vermutungen. Ein anderer Interessenbias beruht auf dem Wunsch von Personen, ein möglichst positives Bild der eigenen Person zu vermitteln. Insbesondere in Evaluationsstudien kann dies für Bildungspsychologinnen und -psychologen ein schwierig zu überwindendes Hindernis auf dem Weg zu validen Daten darstellen. Diese beiden Beispiele für Interessenbiases in der Erhebungssituation betrafen Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer. Natürlich ist jedoch auch die Forscherin bzw. der Forscher nicht vor Interessenbiases gefeit. Beispielsweise kann in einer Befragungsstudie die Interviewerin bzw. der Interviewer durch Tonfall und Mimik eine Präferenz für eine bestimmte zur Auswahl stehende Antwortalternative verraten. Bei manchen Antworten wird sie bzw. er vielleicht zufriedener schauen als bei anderen. Wenn die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer im weiteren Interviewverlauf in diese erwünschte Richtung antworten, kann dies auch ein reiner Versuchsleiterinnen- bzw. Versuchsleitereffekt sein.
5 Bildungspsychologische Forschung als Chance Im letzten Abschnitt wurden mögliche Fehler- und Gefahrenquellen für bildungspsychologische Forschung beleuchtet. Aber natürlich bietet die Etablierung neuer Teildisziplinen stets auch Chancen für die Forschungen der Mutterwissenschaft und benachbarter Wissenschaftsdisziplinen. Insbesondere durch neue Fragestellungen und Perspektiven, durch innovative methodische Zugänge und Analyseverfahren kann es zu fruchtbaren Rückkoppelungen kommen. Bildungspsychologie erscheint als Impulsgeberin aus mehreren Gründen prädestiniert.
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Verschiedene Forscherinnen und Forscher (z. B. Shotter, 2005; St. Julien, 2005) halten gegenwärtige Konzeptualisierungen von Lern- und Bildungsprozessen für inadäquat und kritisieren insbesondere, dass deren dynamische Komplexität nicht ausreichend abgebildet und genügend verstanden wird. Tatsächlich werden Lern- und Bildungsprozesse meist auf der Basis eines veralteten Forschungsverständnisses untersucht. Psychologie, Soziologie, Kultur- und Sozialwissenschaften sind auch heute noch leicht identifizierbare Kinder des Zeitalters der Aufklärung: Sie sind den Ideen der exakten Berechenbarkeit, Prognostizierbarkeit, Reduzierbarkeit und linear-mechanischer Prozesse verpflichtet (Mainzer, 2004; Starobinski, 2003). In der Tat war nach einem Bonmot von Kauffman (1995) die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts als Folge der Newtonschen Revolution eine Wissenschaft organisierter Einfachheit. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts befasste sich mit Hilfe der statistischen Mechanik mit desorganisierter Komplexität. Erst im 20. Jahrhundert befasste sie sich mit organisierter Komplexität. Doch die wissenschaftliche Orientierung an der alten Physik als Theorie und ihrer Technologie als Praxis ist für die Bildungspsychologie ungeeignet (Midgley, 2004). Bildung ist offensichtlich polytelisch, das heißt es gibt nicht eine einzige beste Bildung, sondern unzählige gleichberechtigte individuelle Möglichkeiten. Jörg, Davis und Nickmans (2007) schreiben: „We are already forced to acknowledge that we simply cannot anticipate the type of competences that will define for example a „literate“ or „numerate“ citizen a few decades from now. Indeed, we cannot even know if contemporary notions of literacy and numeracy will make sense 20 years into the future.“ Es ist in den Sozialwissenschaften nicht klar, was der konzeptuelle Analyserahmen, beispielsweise mathematisch und statistisch, für eine solche Offenheit in der Zielsetzung sein könnte. Eine explizite Akzeptanz von Polytelie sprengt beispielsweise den traditionellen empirischen Erziehungsbegriff der Pädagogik (vgl. Brezinka, 1977), deren Anliegen – vereinfacht ausgedrückt – die Entwicklung geeigneter Erziehungstechniken zur Erreichung fixer Erziehungsziele war. Doch in welche Richtung kann die konzeptuelle Weiterentwicklung gehen, die von bildungspsychologischer Forschung angestoßen werden könnte? In Bildungsprozessen, die sich über ein gesamtes individuelles Leben erstrecken, bauen Individuen aus einfachsten Anfängen ein komplexes Handlungsrepertoire auf. Komplexität bedeutet in diesem Fall, dass Bildungsprozesse durch Vernetzungen unterschiedlichster Art charakterisiert sind. Im Strukturmodell der Bildungspsychologie nach Spiel und Reimann (2005) kommt dies beispielsweise durch das Postulat hierarchischer Handlungsebenen zum Ausdruck. So sind die Akteurinnen und Akteure Mitglieder von Familie, Bildungsinstitutionen, vielfältigen sozialen Gruppen, ihrer Gesellschaft etc. Diese Entitäten beziehungsweise Systeme und ihre Teile verändern sich und ihre Beziehungen untereinander permanent (Kelso, 1995). Ein besser geeigneter mathematischer Ansatz zur Erforschung von Bildungsprozessen wäre deshalb beispielsweise die mathematische Katastrophentheorie (Reno, 1989), die es auch gestattet, systemische Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Ein weiteres Kennzeichen von Bildungsprozessen ist, dass die Handlungen ihrer Akteurinnen und Akteure selbstreferenziell sind, das heißt Handlungen wirken in vielfacher Weise auf sich selbst zurück. Beispielsweise kann der Erwerb einer Lernstrategie künftige Bildungsprozesse beschleunigen. Die Erfassung von Selbstreferenzialität impliziert
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daher zwingend die Berücksichtigung von Veränderungsprozessen in Längsschnittdesigns. Ein erfreulicher Einfluss bildungspsychologischer Forschung könnte somit darin bestehen, dass sie die Notwendigkeit der Berücksichtigung der zeitlichen Perspektive aufweist und Schrittmacher für die Etablierung raffinierter Forschungsdesigns wird. Die in der bildungspsychologischen Forschung betrachteten zeitlichen Veränderungen und insbesondere die selbstreferenziellen Prozesse verlaufen keineswegs linear (Kauffman, 1991). Diese Erkenntnis, die in Bezug auf kritische Lebensereignisse, Krisen, Übertritte oder auch individuelle Entscheidungen trivial erscheint, hat noch längst nicht zur Entwicklung nonlinearer Analyseverfahren geführt. Im Gegenteil, gegenwärtig sind die in den Sozial- und Humanwissenschaften dominierenden mathematischen und statistischen Analyseverfahren wie Regressions- und Varianzanalysen, Strukturgleichungsmodelle oder hierarchisch lineare Modellierung dem algebraischen Spezialfall linearer Prozesse verpflichtet. Es wäre ein enormer Verdienst bildungspsychologischer Forschung, den theoretischen und methodischen Blick durch Beachtung von Nonlinearität zu erweitern und durch die Berücksichtigung von Polytelie, selbst-organisierter Komplexität und nicht zuletzt systemtheoretischer Ansätze zu bereichern.
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Helmut Fend, Fred Berger und Urs Grob
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Die LifE-Studie: 1.527 Lebensläufe vom 12. bis zum 35. Lebensjahr
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Gemessen an der Bedeutung des oe ikr ene Vorschulbereich M Themas „Lebenslauf“ sind die eb Säuglings- und Kleinkindalter so darin getätigten ForschungsinvesMe bene e titionen erstaunlich gering. So gibt kro Ma es im deutschen Sprachraum nur wenige Studien, die heranwachsende Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter begleitet Aufgabenbereiche und Bedingungen „erfolgreicher Lebensbewältigung“ untersucht haben (siehe für Überblicke zu deutschsprachigen Studien: Fend & Berger, 2001; für europäische Studien: Zentralstelle für Psychologische Information und Dokumentation, 1995). Die Längsschnittstudie, über die hier exemplarisch berichtet werden soll, hat Lebensläufe vom 12. bis zum 35. Lebensjahr untersucht.
1 Die Anlage der LifE-Studie1 Die LifE-Studie (Lebensverläufe von der späten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter) bildete die Fortsetzung des Konstanzer Jugendlängsschnittes2, der nach zwanzig Jahren wieder aufgenommen wurde. An der Jugendstudie nahmen von 1979 bis 1983 jährlich etwa 2.000 Kinder und Jugendliche aus der Großstadt Frankfurt und aus zwei ländlichen Regionen im Bundesland Hessen teil. Die Jugendlichen wurden von der 6. bis zur 10. Schulstufe in ihren Klassenverbänden befragt. Zwei große Elternuntersuchungen, drei Erhebungen bei Lehrkräften, zwei Methodenstudien und mehrere qualitative Untersuchungen ergänzten die Haupterhebungen. Insgesamt beteiligten sich rund 3.000 Schülerinnen und Schüler aus Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien und Gesamtschulen an mindestens einer der fünf Erhebungen (siehe Abbildung 1). 851 Jugendliche nahmen zu allen fünf Messzeitpunkten teil. 1 Die LifE-Studie ist ein Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Zürich und Konstanz. Sie wurde von 2000 bis 2004 vom Schweizerischen Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell unterstützt. Die Autoren der Studie sind Helmut Fend, Werner Georg, Fred Berger, Urs Grob und Wolfgang Lauterbach. 2 Die Konstanzer Jugendlängsschnittstudie „Entwicklung im Jugendalter“ wurde im Sonderforschungsbereich 23 der Universität Konstanz unter der Leitung von Helmut Fend durchgeführt. Die finanzielle Förderung von 1976 bis 1984 übernahm die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
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Die LifE-Studie
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Abbildung 1: Design der LifE-Studie
Der Follow-Up zur Jugendstudie nach nahezu 20 Jahren Unterbrechung verlief trotz zahlreicher logistischer Herausforderungen sehr erfolgreich. Den Grundstein legte eine dreijährige intensive Recherche nach dem Verbleib der damaligen Teilnehmenden. Sie erfolgte zu einem Gutteil über die deutlich sesshafteren Eltern der Befragten. Die schriftliche Befragung mit Vergabe von Incentives, schriftlicher und telefonischer Nachfassaktion und dichter persönlicher Betreuung führte zur Teilnahme von insgesamt 1.527 mittlerweile 35-jährigen ehemaligen Jugendlichen, was einer Ausschöpfungsquote von 82,4 % entsprach. Die Studie war annähernd repräsentativ für 30- bis 39-jährige Erwachsene in Westdeutschland. Leicht untervertreten waren Personen, die eine geringe Schulbildung besaßen, aus den unteren sozialen Schichten stammten und nicht deutscher Staatsangehörigkeit waren.
2 Theoretische Grundlagen und Fragestellungen Die LifE-Studie ging von einem Konzept des Lebenslaufs und der Lebensbewältigung aus, welches das „Leben“ als eine Serie von Entwicklungsaufgaben sieht. Im Jugendalter steht dabei die Identitätsfindung im Mittelpunkt, die sich im sozialen, beruflichen, kul-
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Helmut Fend, Fred Berger und Urs Grob
turellen und körperlichen Bereich entfaltet. Leben enthält aber auch viele Übergänge, bei denen das Leben „neu erfunden“ werden muss. Wer das Elternhaus verlässt oder Kinder bekommt, begibt sich in neue Kontexte, welche die eigene Entwicklung neu gestalten. Insbesondere die Partnerinnen- bzw. Partnerwahl, die Übernahme von Elternschaftsverantwortung und die Positionierung in einem beruflichen Feld sind anspruchsvolle Aufgaben, die durch die jeweiligen historischen Bedingungen (z. B. Arbeitslosigkeit) ihre besondere Gestalt gewinnen. Um sie zu bewältigen, greift das Individuum auf soziale und personale Ressourcen zurück. Die Familie, Freundinnen und Freunde sowie Partnerinnen und Partner können wertvolle Hilfen und Sicherheit bieten. Personale Ressourcen im Sinne von Fähigkeiten und Kompetenzen oder Motivationen und Selbstbildern bilden die Grundlage erfolgreicher Lebensbewältigung. Aber das Leben ist nicht nur Erfolg und Gelingen, es enthält auch Risiken und Verluste. Ihnen galt in der LifE-Studie besondere Aufmerksamkeit. Dabei hat sie auf Forschungen zurück gegriffen, die von Verletzbarkeiten (vulnerability) und von Widerstandsfähigkeiten (resilience) ausgehen (z. B. Rutter, 1990). Personen können sich auch in kritischen Situationen (Arbeitslosigkeit, Verlust von Partnerinnen bzw. Partnern, Verlust von Freundinnen bzw. Freunden) schützen oder in ihnen zusammenbrechen und in Depressivität verfallen (Harrington, 1993). Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Konzepts und eines breiten Sets an Indikatoren befasste sich die LifE-Studie mit der Bewältigung des Übergangs ins Erwachsenenalter in verschiedenen Lebensbereichen. Der Umgang mit schulischen und beruflichen Anforderungen und die Übernahme von neuen Verantwortungen im sozialen Bereich wurden ebenso untersucht wie die Entwicklung der psychischen und physischen Gesundheit oder die Ausbildung von Interessen und Wertvorstellungen im politischen Bereich. Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt nur eine exemplarische Darstellung zentraler Forschungsbefunde in drei Bereichen.
3 Ergebnisse Die Analyse der schulischen und beruflichen Entwicklung von der Adoleszenz ins Erwachsenenalter zeigte, wie vielfältig in der Moderne diese Wege sind. Dennoch bildeten auch in der LifE-Studie die im Schulwesen erreichten Bildungsniveaus die entscheidende Schwelle. Sie waren mit sechzehn oder achtzehn Jahren aber noch nicht endgültig fixiert. Mehr als 25 % der Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Schulformen erreichten schließlich einen höheren Abschluss als es der jeweiligen Schulform entsprach (Fend, 2006). Die Berufsausbildung selber führte auch nicht bei allen geradlinig zu einem Beruf, der das Leben lang ausgeübt wurde. Fast 30 % der jungen Erwachsenen hatten zumindest zwei Ausbildungen absolviert. Die Bereitschaft zum beruflichen Weiterlernen war dabei vor allem von der Höhe des erreichten Schulabschlusses abhängig. Bei Männern erwies sich die familiäre Situation als ein wichtiger Anreiz, sich auf berufliche Weiterbildung einzulassen. Bei Frauen sank die Berufsmotivation hingegen, wenn sie Kinder bekamen (Stuhlmann, 2005). Wie weit jemand auf den Bildungs- und Berufswegen kam, hing auch bei den Probandinnen und Probanden der LifE-Studie vor allem vom Elternhaus und der kognitiven Leistungsfähigkeit ab, so dass die viel diskutierte Ungleichheit der Bildungschancen hier auch lebensgeschichtlich bestätigt wurde.
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Die LifE-Studie
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Die große Bedeutung der Herkunftsfamilie zeigte sich auch im Bereich der sozialen Entwicklung. So ließ sich in der LifE-Studie für einen Zeitraum von beinahe 20 Jahren eine erstaunliche Kontinuität in den Beziehungen zwischen den Generationen nachweisen. Eine emotional nahe und auf gegenseitigem Respekt basierende Eltern-Kind-Beziehung in der Adoleszenz setzte sich in der Regel in einem guten Beziehungsverhältnis zwischen den Generationen im Erwachsenenalter fort. Die größte Stabilität und emotionale Nähe zeigte sich in der Mutter-Tochter-Beziehung. Die größte Anfälligkeit für Veränderungen ergab sich hingegen in der Beziehung von Vätern zu ihren Kindern. In dieser Beziehungskonstellation stellte eine Scheidung der Eltern sowohl kurz- als auch langfristig eines der zentralen Gefahrenmomente für die Aufrechterhaltung einer tragfähigen Beziehung dar. Frauen erwiesen sich, wie in vielen anderen Studien, auch in der LifEStudie als die eigentlichen „kinkeeper“ im Intergenerationenverhältnis (vgl. Berger & Fend, 2005). Ihre größere Sensibilität in Beziehungsfragen kam auch in einer stärkeren Transmission von frühen Beziehungserfahrungen auf außerfamiliäre Lebensbereiche zum Ausdruck. Die Qualität der Beziehung mit der Partnerin bzw. dem Partner ließ sich bei Frauen z. B. zu einem größeren Grad vorhersagen als bei Männern. Neben der ElternKind-Beziehung in der Adoleszenz besaßen hier vor allem erste romantische Beziehungen als wichtige Lernfelder einen bedeutenden Einfluss. Frauen lösten unbefriedigende Ehebeziehungen zudem häufiger durch Scheidung auf, wenn sie in der Kindheit oder Jugend die Trennung ihrer Eltern erlebt hatten oder in konfliktreichen Familienverhältnissen aufgewachsen waren. Auch für die Entwicklung politischen Interesses und weltanschaulicher Positionen erwiesen sich die Lebensphase Jugend und die Herkunftsfamilie als sehr bedeutsam. Wie bereits aus dem Jugendlängsschnitt bekannt, nahm das politische Interesse zwischen dem 12. und dem 16. Lebensjahr deutlich zu. Zugleich akzentuierte sich die Geschlechterdifferenz („gender gap“) im Politikinteresse. Gemessen an deren Ausprägung im Alter von 35 Jahren (= 100 %) betrug sie im Alter von 12 Jahren bereits 44 % und wuchs bis ins Alter von 16 Jahren auf 84 % an, was auf die Bedeutung des Jugendalters als Lebensphase verwies, in der – in der Einflusssphäre proximaler und distaler Kontexte – erste Festlegungen und Weichenstellungen für die Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Fragen erfolgten (Grob, 2006). Bestätigung fanden diese Befunde durch Stabilitäten von Einstellungen im weltanschaulichen und politischen Bereich, die zu den höchsten in der ganzen Studie gehörten (Fend & Grob, 2007). Der beträchtliche elterliche Einfluss auf die politische Sozialisation spiegelte sich auch in der kurz- und langfristigen Eltern-KindTransmission von Wertvorstellungen (vgl. Grob, 2005). Eindrücklich zeigte sich hierbei – allerdings immer in Abhängigkeit von der Inhaltsdimension (z. B. Ausländerablehnung, Parteipräferenz) – die Bedeutung der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung für den Einfluss der Eltern auf die Kinder: War diese von Vertrauen und Wertschätzung geprägt, orientierten sich die Heranwachsenden politisch ungleich stärker an den Eltern. Obschon die Bedeutung der Eltern als Referenz in Wertfragen bis ins Erwachsenenalter stark zurückging, zeigten die Kinder bezüglich mancher weltanschaulicher Fragen auch noch mit 35 Jahren weit überzufällige Grade der Übereinstimmung mit den Eltern. Ein Reader zum LifE-Projekt (Fend, Berger & Grob, 2009) dokumentiert ausführlich die Anlage der Studie und enthält eine repräsentative Sammlung neuester Auswertungen zu den zentralen Fragestellungen.
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Helmut Fend, Fred Berger und Urs Grob
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Olaf Köller, Jürgen Baumert, Kai S. Cortina und Ulrich Trautwein
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
1 Überblick
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter (BIJU)
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Bei der BIJU-Studie handelt es sich um ein längsschnittliches Forschungsprojekt, das unter Federführung des Max-PlanckInstituts für Bildungsforschung Aufgabenbereiche (Jürgen Baumert) und unter Beteiligung verschiedener anderer Institutionen (Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel; Universität Erlangen-Nürnberg, Humboldt-Universität zu Berlin) durchgeführt wurde. Kernanliegen des Projekts war die systematische Erforschung von Bildungs- und Berufskarrieren im Jugend- und frühen Erwachsenenalter in einem Kohorten-Längsschnitt-Design, das eine vergleichende Analyse von Entwicklungsverläufen unter den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule in „alten“ und „neuen“ Bundesländern Deutschlands erlaubte. Die Fragestellungen dieser Untersuchung bezogen sich in erster Linie auf das Zusammenspiel von schulischen und unterrichtlichen Rahmenbedingungen auf der einen Seite und individuellen Merkmalen wie Leistungen, motivationalen Merkmalen und Persönlichkeitsvariablen auf der anderen Seite. Die Studie begann im Schuljahr 1991/1992. In diesem Jahr wurde das Sekundarschulsystem in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland von einem Einheitsschulsystem – in dem große Teile eines Jahrgangs gemeinsam bis zum Ende der 10. Jahrgangsstufe lernten – in das gegliederte System der alten Länder transformiert. Insofern kommt der Studie die besondere historische Bedeutung zu, den Transformationsprozess eines Schulsystems mit den damit einhergehenden Effekten auf individuelle Entwicklungsverläufe nachzeichnen zu können.
2 Theoretischer Hintergrund der Studie Die theoretischen Grundlagen der BIJU-Studie verorten sich im Schnittbereich zwischen Entwicklungspsychologie, Erziehungswissenschaft und Soziologie. Grundannahme war, dass individuelle Entwicklungsverläufe im Kindheits-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter zu einem erheblichen Ausmaß von Bildungsinstitutionen beeinflusst werden. Baumert, Trautwein und Artelt (2003) sprechen in diesem Zusammenhang von Schulen bzw. Schulformen als differenzielle Lern- und Entwicklungsmilieus. Damit ist gemeint, dass Kinder und Jugendliche unabhängig von und zusätzlich zu ihren unterschiedlichen
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Olaf Köller, Jürgen Baumert, Kai S. Cortina und Ulrich Trautwein
persönlichen, intellektuellen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen je nach besuchter Schule und Schulform differenzielle Entwicklungschancen erhalten, die schulmilieubedingt sind und durch die institutionellen Arbeits- und Lernbedingungen und die unterschiedlichen pädagogisch-didaktischen Traditionen erzeugt werden. Die Unterschiede werden dabei in allen Dimensionen des Kompetenzerwerbs sichtbar: den Fachleistungen, motivationalen Orientierungen, persönlichen und sozialen Kompetenzen und nicht zuletzt auch in der Selbstregulationsfähigkeit. Auf einer Systemebene, auf der sich Schulstrukturen und ein Fächerkanon konstituieren, werden politische Entscheidungen getroffen, wie solche Entwicklungsmilieus ausgestaltet werden sollen, ohne dass oftmals die weitreichenden Folgen der Entscheidungen mit all ihren intendierten und nicht intendierten Nebeneffekten absehbar sind. Ein beeindruckendes Beispiel für das Zusammenspiel von Systemveränderungen und schulstrukturellen Transformationen stellten die Reformen im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre dar: In den fünf neuen Bundesländern erfolgte eine konsequente Umstellung von einem Einheitsschulsystem auf ein differenziertes System in der Sekundarstufe I. Dadurch ergaben sich – vermittelt über die konkreten schulischen Entwicklungsumwelten – erhebliche Effekte der Systemebene auf individuelle Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund lagen der BIJU-Untersuchung drei inhaltliche Komponenten mit jeweils spezifischen Fragestellungen zugrunde. Die erste Komponente bezog sich (a) auf die Sicherung institutioneller und individueller Ausgangsdaten für die Zusammenführung der Bildungssysteme in der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik Deutschland und (b) auf die Beschreibung des Strukturwandels in den neuen Bundesländern mit seinen Auswirkungen auf zentrale Persönlichkeitsdimensionen. Die zweite Komponente umfasste die Untersuchung schulischer Bildungsprozesse (a) im Zusammenhang mit der psychosozialen Entwicklung und (b) in Abhängigkeit von variierenden Schul- und Unterrichtsbedingungen. Ein besonderer Schwerpunkt wurde dabei auf die Entwicklung der Schulleistungen in ausgewählten Fächern (Englisch, Mathematik, Biologie und Physik) gelegt. Die dritte Komponente bezog sich schließlich auf die Bewältigung des Übergangs in die berufliche Erstausbildung als einem Wechselspiel zwischen persönlichen Ressourcen, Schul- und Unterrichtsmerkmalen sowie den Bedingungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes. Um die Fragestellungen systematisch beantworten zu können, wurden die Datenerhebungen in der BIJU-Studie in der frühen Phase der Sekundarstufe I, konkret in der 7. Jahrgangsstufe, begonnen. Das Projekt schloss damit mehr oder weniger direkt an die Forschungsarbeiten des Max-Planck-Instituts für Psychologische Forschung in München an, in denen die ersten sechs Schuljahre im Fokus längsschnittlicher Untersuchungen gestanden hatten (vgl. hierzu für einen Überblick Helmke & Weinert, 1997).
3 Design der Studie Abbildung 1 gibt einen Überblick über das Design der Studie mit den berücksichtigten Jahrgangskohorten und Erhebungszeitpunkten. Im Einklang mit den Forschungsfragen, die auf Veränderungsprozesse abzielten, wurde die Untersuchung im Schuljahr 1991/92
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in der 7. Jahrgangsstufe begonnen, zunächst mit drei Erhebungen (Anfang des Schuljahres, Mitte und Ende). Schülerinnen und Schüler (Längsschnittkohorte L1) aus verschiedenen Bundesländern wurden mit Hilfe von Fragebögen, Schulleistungs- und Intelligenztests untersucht, wobei die Stichprobe zum ersten Messzeitpunkt rund 6.000 Personen umfasste.
Abbildung 1: Kohorten- und Erhebungsdesign der Studie „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter (BIJU)“
Einbezogen wurden alle Regelschulformen der Sekundarstufe I, d. h. Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien. Durch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Schulformen konnten Effekte differenzieller Entwicklungsumwelten im Längsschnitt analysiert werden. Die vierte Erhebung, wiederum mit Schulleistungs- und Intelligenztests sowie verschiedenen Fragebögen, fand am Ende des 10. Schuljahres letztmalig im Klassenverband im Frühjahr/Sommer 1995 statt. Damit konnten u. a. Kompetenzverläufe über einen vierjährigen Zeitraum in der Sekundarstufe I analysiert werden. Im Frühjahr 1997 wurden dann die Gymnasiasten in der 12. Jahrgangsstufe erneut untersucht. Für die Jugendlichen in der beruflichen Erstausbildung fand die parallele Erhebung ebenfalls 1997 statt. Mit den Daten konnte die prädiktive Kraft von individuellen Faktoren für den erfolgreichen Übertritt in die berufliche Erstausbildung untersucht werden. Ein Jahr später wurde noch einmal in einer kleinen Erhebung (5a) eine Teilstichprobe der Gymnasiasten am Ende der 13. Jahrgangsstufe untersucht. Die letzte Erhebung fand zwischen den Jahren 2000 und 2001 statt. Eine Teilstichprobe befand sich zu diesem Zeitpunkt im Studium, eine weitere in der Ausbildung und der letzte Teil hatte bereits die Ausbildung beendet.
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Olaf Köller, Jürgen Baumert, Kai S. Cortina und Ulrich Trautwein
Mit der dritten Erhebung am Ende des 7. Schuljahres wurde das Design um eine Querschnittkohorte (Q1) von rund 1.500 Jugendlichen der 10. Jahrgangsstufe erweitert. Schwerpunkte dieser Erhebung waren politische Einstellungen und Fragen zur Berufsfindung. Schließlich wurde mit dem Ende des Schuljahres 1992/1993 eine zweite Längsschnittkohorte (L2) von ca. 1.300 Jugendlichen der 9. und 10. Jahrgangsstufe erhoben. Die zweite Erhebung fand während der Ausbildung bzw. in der 12. Klasse des Gymnasiums statt. Die letzte Erhebung wurde analog zur ersten Längsschnittkohorte nach Beendigung der Schulzeit durchgeführt. Das primäre Forschungsinteresse bei dieser Kohorte bezog sich auf die Bewältigung des Übertritts in die berufliche Erstausbildung. Insgesamt erlaubte das Design durch seine Anlage mit drei Untersuchungskohorten, Entwicklungsprozesse unter Kontrolle von Kohorteneffekten zu untersuchen.
3.1 Erhebungsinstrumente Im Rahmen der BIJU-Studie dominierten in den Kohorten L1 und L2 Fragestellungen, die individuelle Entwicklungsprozesse in Abhängigkeit von schulischen und unterrichtlichen Kontexten thematisierten. Dies betraf auf Seiten der Schülerinnen und Schüler vor allem die fachspezifische Leistungs- und Motivationsentwicklung, auf der Klassenebene Unterrichtsvariablen. Es wurden daher drei unterschiedliche Arten von Instrumenten eingesetzt, (1) Schulleistungstests für verschiedene Fächer, (2) Schülerinnen- und Schülerfragebögen zu Motivationsmaßen wie Interesse, schulische und berufliche Selbstwirksamkeitsüberzeugungen oder Selbstvertrauen, sowie (3) Lehrkräfte-, Schülerinnenund Schülerfragebögen zur Feststellung von Unterrichtsvariablen. Dabei wurde dafür Sorge getragen, dass identische Fragebogenitems zu den verschiedenen Messzeitpunkten eingesetzt wurden, um Veränderungen über die Zeit analysieren zu können. Im Falle der Leistungstests wurden sogenannte Ankeritem-Designs realisiert, da man in unterschiedlichen Klassenstufen nicht identische Tests einsetzen kann. In einem AnkeritemDesign werden zu einem Erhebungszeitpunkt T1 Testitems eingesetzt, von denen eine Teilmenge (die Ankeritems) gemeinsam mit neuen Items zu einem zweiten Erhebungszeitpunkt T2 erneut eingesetzt wird. Ankeritems haben in Längsschnittuntersuchungen die Eigenschaft, dass sie so leicht sind, dass eine gewisse Zahl der Schülerinnen und Schüler sie schon zu T1 lösen kann, sie auf der anderen Seite aber auch so schwer sind,
5. Jahrgangsstufe
Aufgaben 1–15
Aufgaben 16–30
7. Jahrgangsstufe
Aufgaben 16–30
Aufgaben 31–45
9. Jahrgangsstufe
Aufgaben 31–45
Aufgaben 45–60
Abbildung 2: Schematische Darstellung eines Ankeritem-Designs zur Erfassung der Schulleistungsentwicklung von der 5. bis zur 9. Jahrgangsstufe
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dass nicht alle Schülerinnen und Schüler diese zu T2 lösen können. Auf diese Weise können sie differenzielles Wachstum der Schülerinnen und Schüler abbilden. Abbildung 2 zeigt ein Beispiel für solch ein Testdesign mit drei Messzeitpunkten (vgl. Köller & Baumert, 2008). Die Aufgaben 16 bis 30 werden zum ersten und zweiten Messzeitpunkt vorgegeben, die Items 31 bis 45 zu den letzten beiden. Item-Response-Modelle (Rost, 2004) erlauben hier, auf der Basis der Ankeritem-Informationen Transformationsvorschriften zu bestimmen, mit deren Hilfe man die Schülerinnen- und Schülerleistungen der verschiedenen Erhebungszeitpunkte auf einem gemeinsamen Maßstab abtragen kann. Als Folgen können dann Leistungsverläufe analysiert werden, beispielsweise in Abhängigkeit von variierenden Unterrichtsbedingungen.
3.2 Mehrebenenanalytische Untersuchungsanlage und Konsequenzen für die Auswertungen Durch die Berücksichtigung individueller und institutioneller Variablen (Unterrichtsund Schulvariablen) weisen die Daten der BIJU-Studie einen hierarchischen Charakter auf. Schülerinnen und Schüler sind „geschachtelt“ in Klassen, Klassen in Schulen, Schulen in Schularten, und Schularten in Bundesländern. Durch diese Schachtelung sind sich Schülerinnen und Schüler innerhalb von Klassen ähnlicher als solche aus unterschiedlichen Klassen. Wird die Ähnlichkeit der Personen innerhalb der Klassen ignoriert, so können erhebliche Fehler in statistischen Analysen auftreten. Dieser Schachtelung wurde in BIJU durch den Einsatz mehrebenenanalytischer Auswertungsverfahren (vgl. Lüdtke & Köller, 2006) Rechnung getragen. Diese Verfahren berücksichtigen die hierarchische Datenstruktur und erlauben die Schätzungen unverzerrter statistischer Parameter für die verschiedenen Analyseebenen. Weiterhin ist es mit diesen Verfahren möglich, Prädiktoren auf Individual-, Klassen-, Schul- oder Länderebene in die Analysen simultan einzubeziehen und darüber hinaus Interaktionen zwischen Merkmalen unterschiedlicher Analyseebenen zu modellieren.
4
Exemplarische Ergebnisse aus dem BIJU-Projekt
4.1 Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler und individuelle Leistungsentwicklungen In mehreren Untersuchungen (vgl. Köller & Baumert, 2001; Köller, Trautwein, Lüdtke & Baumert, 2006) wurde der Frage nachgegangen, welche Rolle die Leistungsstärke der Mitschülerinnen und -schüler für die individuelle Leistungsentwicklung spielt. Profitiert man also davon, dass man in einer Klasse mit lauter leistungsstarken Mitschülerinnen und Mitschülern sitzt? Zur Beantwortung dieser Frage untersuchten Köller und Baumert (2001) in einer Stichprobe von N = 2.730 Schülerinnen und Schülern aus 107 Schulen die Leistungsverläufe in Mathematik von der 7. bis zur 10. Jahrgangsstufe anhand der Daten aus dem BIJU-Projekt. Prädiktoren waren die individuelle Ausgangsfähigkeit, das individuelle fachspezifische Selbstkonzept, die Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler (über alle gemittelte Leistung) und die Schulform.
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Abbildung 3 zeigt die Befunde aus Mehrebenenanalysen: Bei Kontrolle der übrigen Prädiktoren hatte die individuelle Ausgangsfähigkeit in Klasse 7 einen deutlich positiven Effekt auf die Leistung in Klasse 10 (β = .44). Leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in der 7. Jahrgangsstufe zeigten auch eher hohe Leistungen in der 10. Jahrgangsstufe. Auf Seiten der Individualmerkmale hatte auch das fachspezifische Selbstkonzept einen kleinen, aber bedeutsamen Effekt auf die spätere Leistung. Die Schulform hatte ebenfalls einen substanziellen Einfluss: Bei Kontrolle der individuellen Ausgangsleistung und der Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler lag die in Klasse 10 erreichte Leistung am Gymnasium um mehr als eine halbe Standardabweichung über der Realschule und fast eine Standardabweichung über der Hauptschule. Bei Kontrolle von individueller Ausgangsfähigkeit und Schulform zeigte sich ein nur schwacher positiver Effekt (β = .15, ns) der Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler in der 7. Jahrgangsstufe, d. h. innerhalb einer Schulform gab es nur unbedeutende Unterschiede in der Leistungsentwicklung zwischen leistungsstärkeren und -schwächeren Schulen bzw. Klassen. Dieses Ergebnis ist keinesfalls trivial, sofern man bedenkt, dass die Leistungsvarianz zwischen den Schulen innerhalb von Schulformen manchmal größer ist als die Varianz zwischen den Schulformen. Köller und Baumert (2001) interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass es offenbar stärker die besondere Instruktionskultur am Gymnasium und weniger die Leistungsgruppierung per se sei, die sich leistungsfördernd auswirken
Abbildung 3: Vorhersage der Mathematikleistungen in der 10. Jahrgangsstufe mit Hilfe individueller, Klassen- und Schulmerkmale (vgl. Köller & Baumert, 2001)
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könnte. Diese besondere Instruktionskultur ist dabei möglicherweise weniger Folge eines adaptiven Verhaltens der Lehrkräfte auf die vorgefundene Leistungsstärke in den jeweiligen Gymnasialklassen, als vielmehr Folge der schulformspezifischen Lehrkräfteausbildung im deutschen Lehrerinnen- und Lehrerbildungssystem.
4.2 Wechselspiel von mathematischen Interessen und mathematischen Leistungen In der Pädagogischen Psychologie besteht weitgehender Konsens darüber, dass motivationale Variablen nicht nur die Leistungsentwicklung beeinflussen, sondern erbrachte Leistungen und die Rückmeldungen hierzu auch Effekte auf die Motivation selbst haben. Das wechselseitige Zusammenspiel zwischen mathematischen Leistungen und mathematischem Interesse (als Form der intrinsischen Lernmotivation) wurde in zwei Arbeiten des BIJU-Projekts analysiert (Köller, Baumert & Schnabel, 2000; Köller, Schnabel & Baumert, 2001). Abbildung 4 zeigt über einen Zeitraum von fünf Jahren das Zusammenspiel von Fachleistungen und Interessen in Mathematik. Die Befunde stammen aus
0
0
0
Testwert
Testwert
Testwert
1
1 .48
Leistung im 7. Jg.
1
Leistung im 10. Jg.
.45 .09 (ns)
Leistung im 12. Jg.
.20
.20 .13 (ns) .59 Interesse im 7. Jg. .83 Skala 1 .31
Interesse im 10. Jg.
.43 .82
Skala 2 .34 .08 (ns)
.19
Kurswahl (1 = LK)
.23
.83 Skala 1 .32 .08 (ns)
.09 (ns)
.05 (ns)
Interesse im 12. Jg.
.63 .81
.84
Skala 2 .35
Skala 1 .29
.08 (ns)
.83 Skala 2 .32
.08 (ns)
Abbildung 4: Strukturgleichungsmodell zum Zusammenhang von Interesse und Testleistung von der 7. bis zur 12. Jahrgangsstufe unter zusätzlicher Berücksichtigung des Kursniveaus (vgl. Köller et al., 2000, S. 176)
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Olaf Köller, Jürgen Baumert, Kai S. Cortina und Ulrich Trautwein
der Arbeit von Köller et al. (2000) und basieren auf einer Stichprobe von über 600 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Erkennbar ist das reziproke Zusammenhangsgefüge, d. h. beide Variablen beeinflussen sich gegenseitig über die Zeit, wiewohl einige der zeitversetzten Pfade das Signifikanzniveau von 5 Prozent verfehlen. Zusätzlich zeigt sich noch ein signifikanter Effekt vom Interesse am Ende der Sekundarstufe I auf die Chance, einen Leistungskurs in der gymnasialen Oberstufe zu wählen, d. h. Schülerinnen und Schüler, die am Ende der Sekundarstufe I ein höheres mathematisches Interesse aufweisen, wählen auch häufiger Mathematik als Leistungskurs in der Oberstufe.
Literatur Baumert, J., Trautwein, U. & Artelt, C. (2003). Schulumwelten – institutionelle Bedingungen des Lehrens und Lernens. In Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland (S. 261–331). Opladen: Leske + Budrich. Helmke, A. & Weinert, F. E. (1997). Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen. In F. E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Unterrichts und der Schule (Enzyklopädie der Psychologie, Serie Pädagogische Psychologie, Band 3, S. 71–176). Göttingen: Hogrefe. Köller, O. & Baumert, J. (2008). Entwicklung von Schulleistungen. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (6. Aufl., S. 735–768). Weinheim: Beltz. Köller, O. & Baumert, J. (2001). Leistungsgruppierungen in der Sekundarstufe I und ihre Konsequenzen für die Mathematikleistung und das mathematische Selbstkonzept der Begabung. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 15, 99–110. Köller, O., Baumert, J. & Schnabel, K. (2000). Zum Zusammenspiel von schulischem Interesse und Lernen im Fach Mathematik: Längsschnittanalysen in den Sekundarstufen I und II. In U. Schiefele & K. Wild (Hrsg.), Interesse und Lernmotivation – Untersuchungen zu Entwicklung, Förderung und Wirkung (S. 163–182). Münster: Waxmann. Köller, O., Schnabel, K. & Baumert, J. (2001). Does interest matter? The relationship between academic interest and achievement in mathematics. Journal for Research in Mathematics Education, 32, 448–470. Köller, O., Trautwein, U., Lüdtke O. & Baumert, J. (2006). Zum Zusammenspiel von schulischer Leistung, Selbstkonzept und Interesse in der gymnasialen Oberstufe. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 20, 27–39. Lüdtke, O. & Köller, O. (2006). Mehrebenenanalyse. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3., überarbeitete Aufl., S. 469–474). Weinheim: Beltz. Rost, J. (2004). Lehrbuch Testtheorie, Testkonstruktion (2., überarbeitete Aufl.). Bern: Huber.
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Petra Buchwald
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Einführung
Primärbereich
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologische Beratung
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Beratung im Sinne von Laienberatung, aber auch von professioneller Beratung hat es schon immer und in allen möglichen Bereichen gegeben, sehr geläufige Beratungsfelder sind etwa die Aufgabenbereiche Steuer-, Erziehungs- oder Gesundheitsberatung. Allgemein kann man Beratung definieren als kurzfristige, soziale Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, bei der eine Entscheidungshilfe zur Bewältigung eines von einem/einer Ratsuchenden vorgegebenen aktuellen Problems durch die Vermittlung von Informationen und der Analyse, Neustrukturierung und Neubewertung vorhandener Informationen angestrebt wird (vgl. Schwarzer & Buchwald, 2006). Worauf in diesem Abschnitt aber fokussiert wird, sind pädagogisch-psychologische Beratungsangebote im Kontext von Bildungsprozessen, die sich konkretisieren in der Organisationsberatung, Kompetenzentwicklungsberatung, Schulberatung, Laufbahnberatung, Studienberatung, Lernberatung und Weiterbildungs-/Qualifizierungsberatung. Es geht hier um eine formelle, von dafür ausgebildeten Personen durchgeführte Beratung, die sich auf unterschiedliche Lebensphasen bzw. Abschnitte in der Bildungskarriere bezieht und als Bildungsberatung bezeichnet wird. Bildungsberatung: Beratung im Allgemeinen ist als professionelle Hilfe zu verstehen, die freiwillig aufgesucht wird und nur von kurzer Dauer ist. Unter Bildungsberatung im Besonderen versteht man professionelle Entscheidungshilfen, und zwar sowohl bei der Organisationsentwicklung einer Bildungsinstitution als auch für Einzelne oder Gruppen bei der Auswahl einer Bildungsmaßnahme im Verlauf einer Bildungskarriere. Die persönlichen Beweggründe, Wünsche, Lebensbedingungen und bisherigen Bildungswege werden dabei aufeinander abgestimmt und Lernberatung gegeben, wenn durch Lernprobleme der Verlauf von Bildungskarrieren gestört zu werden droht.
Psychologinnen und Psychologen sowie Pädagoginnen und Pädagogen haben schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts dazu beigetragen, institutionalisierte Hilfsangebote in Formen von Erziehungsberatung entstehen zu lassen. Dies führte bereits im Jahre 1922 dazu, dass im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz die „Beratung in Fragen der Erziehung“ gesetzlich verankert wurde. In den 1970er Jahren wurde dann das Netz der Erziehungsberatungsstellen in öffentlicher und freier Trägerschaft erheblich ausgebaut. Es kam durch
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Petra Buchwald
den Strukturplan des Deutschen Bildungswesens, verfasst vom Deutschen Bildungsrat (1970) dazu, dass erstmalig Beratung als Berufsaufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer definiert wurde mit den Teilbereichen Orientierungsberatung, Beratung bei psychosozialen Problemen und Systemberatung (z. B. einer ganzen Schule). Der Grund für eine solche Ausweitung der Beratungstätigkeit lag in der Veränderung der gesellschaftlichen und schulischen Strukturen. Die Schullaufbahn war nun nicht mehr von der Grundschule bis zum Studium bzw. Beruf für die meisten Schülerinnen und Schüler durch tradierte Lebensmuster vorgezeichnet. Stattdessen gab es ein viel differenzierteres schulisches Angebot, in dem sich Schülerinnen und Schüler sowie Eltern nicht mehr ohne professionelle Hilfe zu Recht fanden. Und betrachten wir die derzeitige Situation, findet auch jetzt wieder im Zuge von Bildungsreformen, die alle Lebensabschnitte betreffen (vom Kindergarten- bis ins Seniorenalter), sowie im Zuge von Globalisierung und Internationalisierung von Bildung eine enorme Vervielfältigung von individuellen Lebensentwürfen und Bildungskarrieren statt. Professionelle Bildungsberatung gewinnt damit bei der Planung der eigenen Bildungskarriere entscheidend an Bedeutung. Lebensentwürfe sind nicht mehr vorgegeben, sondern müssen immer wieder neu gedacht und entwickelt werden. Menschen von heute sind einem lebenslangen Lernen verpflichtet und Lehrpersonen somit nicht mehr nur die Wissensvermittelnden, sondern Expertinnen und Experten in Lernberatung. Diese Entwicklung ist aber nicht nur auf den Bildungsbereich beschränkt, sie hat alle Teilbereiche unseres Lebens erreicht, sodass mitunter schon von einer „beratenen Gesellschaft“ gesprochen wird (Schützeichel & Brüsemeister, 2004). Insgesamt lässt sich geradezu von einem Beratungsboom sprechen, der dazu führt, dass nicht nur eine unübersehbare Fülle an Termini (Coaching, Mentoring, Supervision, Consulting, usw.), sondern auch eine nicht mehr zu überblickende Vielfalt an theoretischen Beratungsschulen entsteht (Mc Leod, 2004). Nestmann und Engel (2002) konstatieren in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines „Professionalisierungsschubs“, der alle Beratenden verpflichtet, sich mit der zugrundeliegenden Interventionsform zu beschäftigen. Zu einer Professionalisierung soll auch die Gründung eines Dachverbandes „Deutsche Gesellschaft für Beratung“ (im Jahr 2004) beitragen. Er besteht aus ca. 30 Fach- und Berufsverbänden verschiedener disziplinärer Herkunft und hat primär das Ziel, die Profile der Beratungsberufe weiter zu schärfen, eine übergreifende Qualitätssicherung zu etablieren und die wissenschaftliche Fundierung von Beratung zu unterstützen. Auch die Handlungsfelder der Beratung haben sich verändert: so gibt es neben den klassischen Formen der Einzelfallhilfe nun vermehrt Netzwerkarbeit und Organisationsberatung. Bildungsberatung richtet sich auf der Mikroebene an das Individuum, im Rahmen der Gruppen- und Systemberatung können Gemeinschaften bzw. Institutionen (Mesoebene) beraten werden und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Makroebene) ist die Etablierung von Bildungsberatung verbunden mit Zielen wie erhöhte Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen, verbesserte Verzahnung verschiedener Bildungsangebote, intensivere Zusammenarbeit zwischen der Bildungspolitik, anderen Politikfeldern und weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Kritische Stimmen fragen heute bereits, ob dieses umfassende Beratungsangebot, das alle Lebensphasen und Lebensbereiche umfasst, nicht zu einer lebenslangen Beratungsbe-
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Bildungspsychologische Beratung
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dürftigkeit von Menschen führt. Dieselbe Frage gilt natürlich auch für Institutionen, z. B. wenn darüber nachgedacht wird, wie viel Beratung Schule benötigt. Tatsächlich sind Menschen und Schulen aber wohl kaum dauerhaft beratungsbedürftig, da sie über die Lebensspanne ja Bewältigungsressourcen anhäufen (unter anderem auch durch Beratungsprozesse) und nur bei sehr neuartigen Schwierigkeiten externe professionelle Hilfestellung brauchen, die die ratsuchende Person oder Institution danach aber wieder selbstständig handeln lässt.
2
Stand der Wissenschaft
2.1 Beratungsfähigkeit Der Berater/die Beraterin. Fähigkeiten oder Kompetenzen, die professionell Beratende benötigen, umfassen das fachliche Wissen sowie persönliche Fähigkeiten. Das theoretische Fachwissen beinhaltet Theorien, Modelle und empirisch gesicherte Erkenntnisse der Psychologie, Erziehungswissenschaft und angrenzender Disziplinen. Beratungskompetenz resultiert aus dem systematisch angewendeten Fachwissen (Handlungsroutinen der Auswertung von diagnostischen Verfahren, Techniken der Gesprächsführung, etc.) und aus den reflektierten Erfahrungen der persönlichen Handlungsfähigkeit im Rahmen vorausgegangener Beratungstätigkeit (Strasser & Gruber, 2003). Dafür gibt es nicht immer wissenschaftlich begründete Vorschriften, sondern allenfalls Rahmenmodelle zur Optimierung der Ablaufschritte eines Problemlösungsprozesses. Wie Beratende in einer bestimmten Situation vorgehen, welche theoretischen Erklärungsmöglichkeiten sie in Erwägung ziehen, welche Informationen gesucht und bewertet werden, ist letztlich ein auf der Grundlage von Fachwissen und Erfahrung reflektierter Prozess. Der/die Ratsuchende. Voraussetzung für eine Beratung sind das Problembewusstsein, die Freiwilligkeit und Beratungsfähigkeit des/der Ratsuchenden. Die Fähigkeit sich beraten zu lassen umfasst den geübten Umgang mit den eigenen Problemen, sich Informationen verschaffen zu können und frei von psychischen Hemmungen gegenüber der Beratungsinstitution zu sein. Beratungsfähigkeit kann man auch als Reflexivität und distanzierten Umgang mit den eigenen Problemen bezeichnen. Die für die Beratung kennzeichnende „Freiwilligkeit“ ist im Kontext Schule nicht immer gegeben, da z. B. Schülerinnen und Schüler mit Problemen zur Beratung „überwiesen“, Eltern zum Elterngespräch in die Schule „geladen“ und „Schullaufbahnempfehlungen“ in einigen Ländern bindend sind. Der Auftrag der Beratung besteht dann darin, zunächst eine Beratungsmotivation bei dem/der Ratsuchenden herzustellen.
Komponenten der Beratung: Bei jeder Art von Beratung sind die folgenden Komponenten relevant: • der Berater/die Beraterin, • der/die Ratsuchende, • das Beratungsproblem, • der Beratungskontext.
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Petra Buchwald
2.2 Beratungskontext Der allgemeine Kontext kann durch gesellschaftliche, schnell voranschreitende Veränderungen beschrieben werden, die zurzeit viele Lebensbereiche erfassen, oft Orientierungslosigkeit verursachen und die Beratungsanlässe im jeweils spezifischen Kontext tangieren. Der Beratungskontext ergibt sich aus den verschiedenen Beratungsanlässen und lässt sich über verschiedene Lebensphasen hinweg anhand der Bildungskarriere systematisieren (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Felder der Bildungsberatung in verschiedenen Lebensphasen Lebensphase/ Bildungskarriere
Anlässe der Bildungsberatung
Familie
Lernberatung, Kompetenzbildung
Kindergarten
Lernberatung, Sprachförderungsberatung Kompetenzentwicklung, Kompetenzbildung
Primärbereich
Schulwahlberatung, Lernberatung
Sekundärbereich
Schullaufbahnberatung, Ausbildungsberatung, Lernberatung, Studienberatung, Berufswahlberatung
Tertiärbereich
Studienberatung, Qualifizierungsberatung, Lernberatung, Berufswahlberatung, Mentoring
Mittleres Erwachsenenalter
Weiterbildungs-, Qualifizierungsberatung, Coaching
Höheres Erwachsenenalter
Weiterbildungsberatung, Lernberatung
Kindergarten und Schule. Die Kinder- und Jugendhilfegesetze in den Ländern bilden die zentrale Grundlage der Beratungsarbeit im Kindergarten- und schulpflichtigen Alter. Die Beratung richtet sich sowohl an die Kinder und Jugendlichen selbst, als auch an deren Eltern, Lehrende und Erziehende. Beispiele für Bildungsberatungsanlässe in dieser Lebensphase sind die Klärung und Bewältigung von Schulleistungs- und Lernproblemen, individuelle Förderung, Schullaufbahn- und Ausbildungsentscheidungen, es werden aber auch Schulentwicklungsplanungen diskutiert. Universität und Berufsausbildung. Im jungen Erwachsenenalter bezieht sich Beratung vorrangig auf Probleme in der Hochschule und beruflichen Ausbildung, aber auch im Sinne einer Kompetenz-Bildung (Rohlfs, Harring & Palentien, 2008) auf die Möglichkeiten zur Förderung sozialer, emotionaler und kommunikativer Kompetenzen. Beispiele für Beratungsanlässe sind Laufbahnentscheidungen, Karriereplanung, Studienberatung und Formen der Kompetenzentwicklungsberatung. Zur erfolgreichen Gestaltung der beruflichen und persönlichen Entwicklung von Einzelpersonen und Gruppen (z. B. Abiturientinnen und Abiturienten bzw. Maturantinnen und Maturanten) unterstützt die professionelle Beratung die zentralen Weichenstellungen bei der Berufs-, Ausbildungsplatz-
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Bildungspsychologische Beratung
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und Studienfachwahl ebenso wie Beratungen bei Prüfungsängsten (Schwarzer & Buchwald, 2004). Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Neben einer sich ausdehnenden Praxis besteht noch keine befriedigende erwachsenenpädagogische Beschäftigung mit Beratung. Es lassen sich laut Gieseke (2000) folgende Aspekte von Bildungsberatung in der Erwachsenenbildung unterscheiden: Beratung zur individuellen Entscheidungsfindung für eine Bildungs- oder Qualifizierungsteilnahme, die Lernberatung bei Lernschwierigkeiten und als pädagogische Begleitung in einem sich selbst steuernden Lernprozess sowie die institutionelle Beratung zur Organisationsentwicklung. Beratung als Weiterbildungsberatung unterstützt einen Entscheidungsprozess, bei dem Motive, Lebensrealitäten und bisherige Bildungswege aufeinander abgestimmt werden müssen. In diesen Kontext fallen Beratungen im Zusammenhang mit beruflichen Übergängen, z. B. bei der Existenzgründung, bei beruflichen Wechseln und beim Wiedereinstieg in einen Beruf nach Arbeitslosigkeit. Weiterbildungsberatung als Entscheidungshilfe bei der Auswahl von Kursen, insbesondere zur beruflichen Qualifizierung, hat sich bislang kaum institutionalisiert.
2.3 Ziele von Beratung Das übergeordnete Ziel einer Beratung besteht darin, Ratsuchende in die Lage zu versetzen, selbstständig zur Problemlösung zu finden. Zwar haben die Beratenden durch ihre Ausbildung und Erfahrung einen Wissensvorsprung, dennoch besitzen die Ratsuchenden prinzipiell die Fähigkeit zur Selbststeuerung und Optimierung ihrer Lebensführung (Bachmair, Faber, Henning, Kolb & Willig, 2005). Ziel der Beratung ist somit die Erweiterung und Differenzierung von Handlungsoptionen. In der Praxis sind die Ziele von Beratung, Intervention und Prävention eng miteinander verknüpft. Ziele von Beratung: Das Ziel von Beratung ist nicht nur die Durchführung von Beratungen, sondern auch die Problemdiagnose, das Schulen und Trainieren sowie das Verhindern von Problemen. Maßnahmen die gleichfalls als Intervention oder Prävention gelten können. Insofern erscheint es plausibel, den Begriff der Beratung als Oberbegriff zur Bezeichnung eines pädagogisch-psychologischen Berufsfeldes zu verwenden und Beraten als die zentrale Tätigkeit praktisch tätiger Bildungspsychologinnen und -psychologen zu verstehen.
2.4 Beratungsprozesse Der Ablauf der Beratung lässt sich als ein Problemlösungsprozess beschreiben, der sich in einer Reihe von Schritten vollzieht (Schwarzer & Buchwald, 2006; Nerdinger, 1994). In einer ersten Phase der allgemeinen Orientierung werden die subjektiven Erwartungen im Hinblick auf die Problemstellung abgeklärt. Zudem werden die Annahmen der Ratsuchenden über die Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderbarkeit ihres Problems erfasst. Im nächsten Schritt geht es um die Zielanalyse. Welchen Zustand streben die Rat-
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Petra Buchwald
suchenden an und welche bisherigen Lösungswege haben sie bisher beschritten? Im Weiteren werden Lösungsalternativen gesammelt und bewertet, wobei die Ratsuchenden ihre vielfältigen Handlungsoptionen erkennen und zunehmend Kontrolle über die Problemsituation gewinnen. Anschließend begründen sie ihre Entscheidung für eine adäquate Lösungsstrategie und legen gemeinsam mit den Beratenden die Schritte zur Realisierung fest. In der folgenden Phase wenden die Ratsuchenden ihre Lösungsstrategien an und üben sie dann ein, jeweils zugeschnitten auf verschiedene Bedingungen. Die Hilfe durch die Beratenden nimmt dabei stetig ab, Erfolge bei der Durchführung werden möglichst den Anstrengungen der Ratsuchenden zugeschrieben. In einer abschließenden Evaluationsphase werden die Ergebnisse besprochen und wenn nötig modifiziert.
2.5 Theoretische Beratungsmodelle Theoretische Beratungsmodelle sind angelehnt an die großen psychologischen Schulen Psychoanalyse, Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus und haben für die unterschiedlichen Anwendungsbereiche unterschiedlich starke Relevanz. Die Modelle unterscheiden sich erheblich in Bezug auf ihr zugrunde liegendes Menschenbild, den zentralen Untersuchungsgegenstand, vermutete Ursachen für Störungen und Probleme sowie die Diagnostik und Behandlung. Im Folgenden werden zunächst die Grundannahmen der verschiedenen theoretischen Beratungsmodelle dargelegt, um dann ihre Relevanz für die bildungspsychologisch relevanten Bereiche der Lernberatung, individuellen Förderung und Gesundheitsberatung zu betrachten: • Die Psychoanalyse ist eine theoretische und therapeutische Schulrichtung, begründet durch Sigmund Freud (1938) und betont die herausragende Bedeutung unbewusster Antriebe und Leistungen. In der psychoanalytischen Beratung geht es meist um die Betrachtung der Lebensgeschichte einer Person. Sie zielt auf Prävention sowie Intervention auf der Mikroebene ab und kann bereits im Kindergartenalter ansetzen, um psychosoziale Integration zu fördern. • Beratungsansätze des Behaviorismus, die einem lerntheoretischen Paradigma folgen, gehen davon aus, dass jedes Verhalten gelernt wird und Fehlverhalten somit auch wieder verlernt werden kann. Sie gründen auf den Annahmen des Behaviorismus und sehen Entwicklung als eine Folge von Lernprozessen, die durch Umweltbedingungen gesteuert ist. Auf der Basis der Lerntheorien sind eine Reihe von Beratungsansätzen entwickelt worden, die beim Individuum (Mikroebene) ebenso wie in Gruppen (Mesoebene) einsetzbar sind. • Der Kognitivismus ist eine Beratungsschule, die im Wesentlichen auf den Prinzipien der Erkenntnis und Selbstverantwortung bzw. Selbstregulation fußt. Im Zentrum der Analyse steht die erlebende Person und die ihr eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Der Kognitivismus versteht Lernen als Wechselwirkung des externen Angebots (z. B. eines Lernmaterials) mit der internen Struktur der Lernenden und betrachtet vor allem die Entwicklung der Erkenntnis und Motivation. Die Handlungsebene dieser Beratungsschule ist am ehesten auf der Mikroebene zu sehen. • Der Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie mit einem anderen Verständnis von „Wirklichkeit“. Es gibt hier keine objektive Wirklichkeit, sondern jeder wahrnehmende
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Mensch konstruiert sich die Realität selbst. Für Watzlawick (Watzlawick, Beavin & Jackson, 2000) bedeutet Kommunikation, dass sich Menschen auf eine Wirklichkeit verständigen und gewisse Handlungen vereinbaren. Aus diesen konstruktivistischen Ideen leitete er systemische Beratung ab. Die systemische Beratung beobachtet nicht mehr einzelne Personen, die ein Problem haben, sondern betrachtet das ganze System, in dem die Personen agieren, auf der Makroebene. Systemische Beratung sucht weniger nach Ursachen von bestimmten Verhaltensweisen, sondern fragt vielmehr, wie das etablierte System funktioniert und sucht nach den Regeln des Systems, um die dysfunktionalen Regeln durch funktionale zu ersetzen. Ressourcenorientierte Beratung: Ressourcenorientierte Beratung geht davon aus, dass in jedem Menschen Ressourcen stecken, die ihn befähigen sein Leben aktiv zu gestalten. Sie folgt den Annahmen des Kognitivismus und orientiert sich primär an den vorhandenen, entwicklungsfähigen Ressourcen. Ziel dieser Beratung ist es, die Stärken der Ratsuchenden zu aktivieren, um ihre Selbstheilungspotenziale zu mobilisieren. Im Zentrum stehen hier die Kräfte und Energien und nicht die Probleme und Defizite. Ressourcenorientierte Fragen lauten: Wo liegen neben den Defiziten förderliche Ressourcen? Wie lassen sich diese Ressourcen im Beratungsprozess entwickeln? Welche Potenziale werden in Krisen, bei Belastungen und Verlusten sichtbar, die bisher nicht erkannt wurden? Dies erfordert von Beratenden unbedingt eine erhöhte Ressourcensensibilität (Buchwald, 2008; Nestmann, 1997, 2006; Schwarzer & Buchwald, 2009).
3 Praktische Bedeutung Einige Beispiele aktueller Beratungsprogramme in verschiedenen Beratungskontexten sollen exemplarisch die Relevanz von Bildungsberatung für die Optimierung von Bildungsprozessen belegen. Es soll deutlich werden, dass sich die Wirksamkeitsforschung im Bereich der Beratung auf methodisch zunehmend hohem Niveau befindet und Beratungen auf der Grundlage bestimmter Beratungsschulen in jeweils spezifischen Bereichen ihre Berechtigung haben. Kindergarten. In der psychoanalytischen Beratung geht es meist um die Betrachtung der Lebensgeschichte einer bestimmten Person. Ein aktuelles Beispiel für psychoanalytische Beratung und Prävention gibt die Frankfurter Präventionsstudie (Leuzinger-Bohleber et al., 2006) zur Verhinderung psychosozialer Desintegration im Kindergarten. Das Programm bestand aus verschiedenen Modulen: Supervision des Teams, wöchentliche psychoanalytisch-pädagogische Beratung mit den Kindern in den Kindertagesstätten, Elternarbeit, Schulung der Erzieherinnen und Erzieher. Anhand einer repräsentativen, prospektiven und randomisierten Studie konnte empirisch nachgewiesen werden, dass ein zweijähriges, integratives Programm im Kindergarten zu einem statistisch signifikanten Rückgang psychosozialer Anpassungsstörungen (insbesondere von ADHS1)
1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom
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von Kindern bis zum Zeitpunkt ihrer Einschulung führte. Auch zeigte sich eine signifikante Verringerung sowohl des aggressiven als auch des ängstlichen Verhaltens der Kinder. Schule. Schulinspektionen mit anschließender Beratung durch das Schulministerium sollen helfen, die Qualität des Unterrichts zu steigern. Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise nach einer Pilotphase mit 96 Schulen, die im Juli 2006 abgeschlossen war, die landesweite Prüfung sämtlicher Schulen begonnen. Dazu besuchen Qualitätsteams, die aus 2 bis 3 erfahrenen Schulaufsichtsbeamtinnen und -beamten bestehen, einige Tage die einzelnen Schulen und führen eine Qualitätsanalyse durch. Ihre Aufgabe besteht darin, den Schulen anschließend deutlich zu machen, welche Stärken und Schwächen in ihrem System erkennbar sind, wie die Unterrichtsqualität ist und welche Impulse für die weitere Schulentwicklung gesetzt werden können. Die TÜV Rheinland Group mit dem Bereich Bildung und Consulting verfügt über langjährige Erfahrungen in der Qualitätsverbesserung und Zertifizierung von Bildungseinrichtungen und berät Schulen bei der Vorbereitung auf solche Schulinspektionen sowie bei der Umsetzung von Maßnahmen durch Information, Weiterbildung, Beratung und Coaching. Themen der Bildungsberatung durch den TÜV-Rheinland sind Konzeptionierung und Umsetzung von qualitätsrelevanten Maßnahmen in Organisation und Management der Schule, Erstellung von Personalentwicklungs- und Fortbildungskonzepten, Schulentwicklungs- und Schulprogrammarbeit, Implementierung von Qualitätsmanagement (Umsetzungsplanung/Jahresarbeitsplan) Leitbild-, Organisations- und Teamentwicklung und nicht zuletzt Bewältigung von Konfliktsituationen durch Moderation und Mediation. Universität. Eine individuelle Sprachlernberatung für Fremdsprachenstudierende (Kleppin & Mehlhorn, 2005; Mehlhorn, 2005) folgt dem Konzept der klientzentrierten Beratung (Rogers, 1985). Diese Beratung arbeitet nicht mit Verstärkern, sondern schafft durch Empathie (einfühlendes Verstehen in das Erleben der Ratsuchenden), Akzeptanz (unbedingte Wertschätzung der Ratsuchenden) sowie Kongruenz (hohes Maß an Echtheit der Beratenden) eine Beratungsatmosphäre, in der es den Ratsuchenden gelingt, ihr Selbstkonzept wieder in den Zustand der Kongruenz zu bringen. Für die individuelle Sprachlernberatung bedeutet dies Lernende als Personen anzusehen, die selbstständig handeln, über ihre Lernprozesse reflektieren, diese kontrollieren und weiterentwickeln. Mehlhorn et al. (2005) gehen davon aus, dass Lernende durch individuelle Beratung beim Ausbau dieser Fähigkeiten unterstützt werden und die Lösung für ihre Lernprobleme in sich tragen. Erwachsenenbildung. Durch den Wandel von Lernkulturen stehen bei der Beratung in der Erwachsenenbildung die Notwendigkeit selbstgesteuerten Lernens und die situierte Erfahrung der Lernenden innerhalb ihrer lernbiografischen Bezüge im Vordergrund. Ein Beispiel dafür liefert das Forschungsprojekt zum Thema „Öffnung für neue Lernkulturen und Beratung“ (Faulstich et al., 2005). Die jeweils individuelle Situation der Lernenden im Lebenslauf wird im Hinblick auf das Gelingen und Scheitern von Lernprozessen analysiert. Man kann davon ausgehen, dass veränderte Formen des Lernens sich auf die Bildungsbeteiligung und die Lernchancen auswirken und selbstgesteuertes Lernen einer individuellen Lernentwicklungsberatung bedarf, um die Lernfähigkeit der einzelnen Lernenden zu verbessern. Interviews mit erwachsenen Lernenden deuten eine weite Bandbreite von Problemen im Lernprozess an. Neben mangelhaften Lernstrategien und
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Prüfungsängsten spielen private Probleme wie Zukunftssorgen und Existenzängste eine Rolle und gerade bei selbstgesteuertem Lernen brauchen erwachsene Lernende Hilfen bei der Entwicklung von Selbstlernkompetenzen. Die Leistungsmöglichkeiten einer Lernberatung in der Erwachsenenbildung sind in der „expliziten“ Lernberatung zu sehen, die zeitlich, organisatorisch und personell vom Lernbereich abgegrenzt ist und in einer „impliziten“ Lernberatung, die sich in das konkrete Lehr-Lerngeschehen integriert. Beratung knüpft bei der impliziten Form unmittelbar an die Arbeitsweise der Lehrenden an, die Kenntnisse, Erfahrungen und Situationen der Lernenden einbeziehen und Raum für Selbsttätigkeit schaffen. So können sich Lernberatung und didaktisch-methodisches Handeln bereichern. Damit verändert sich die Tätigkeit der Lehrenden von der Lernberatung hin zur Lernentwicklung: „Den Beratung suchenden Personen wird der Zugang zu den eigenen Ressourcen eröffnet. Es werden die eigenen Kräfte gestärkt und neue Blickrichtungen ermöglicht“ (Häßner & Knoll, 2005, S. 212).
4 Zukunft des Themas Im Rahmen der Bildungspsychologie werden die zukünftigen Aufgaben von Beratung mannigfaltig sein, da die Forderung nach einer Qualitätssteigerung des Bildungssystems nicht nur in Deutschland enorme Veränderungen in der Bildungspolitik eingeleitet hat. Neben dem Ausbau des „lebenlangen Lernens“ und veränderten Zielsetzungen in der vorschulischen Erziehung sind Bildungsreformen vor allem in der Schule zu spüren. Hier sind meines Erachtens derzeit die größten Herausforderungen von Beratung zu sehen. Erziehende, Lehrende und Lernende sind mit Veränderungen konfrontiert, die Ganztagsschule, vorzeitige Einschulung, neue Schuleingangsphase, Vergleichsarbeiten, Begabungsförderung, Integration von Kindern mit Behinderung und Schülerinnen und Schülern internationaler Herkunft, Zentralabitur, Schulentwicklung, Schulprogramme und Schulinspektionen umfassen. Diese Neuerungen erzeugen hohe Belastungen bei den Lehrkräften und verlangen nach Beratung der Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und der Institution Schule. Beratung ist dann nötig, wenn eine Diskrepanz zwischen den offiziellen Programmen und Reformen und den tatsächlichen angewendeten lokalen Theorien auftritt (vgl. Argyris & Schön, 1996). Die Erwartungen des Staats hinsichtlich des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule sind gestiegen, ebenso wie die Ansprüche von Eltern und Schülerinnen und Schülern und dies wirkt sich auf die Organisation des schulischen Angebots bzw. auf die Organisation des Unterrichts aus. Aufgabe der Beratung ist es, die Mitglieder der Organisation zu unterstützen, die eingeübten Lehr-Lernstrategien zu reflektieren und sich den veränderten Ansprüchen anzupassen. Eine verbesserte Beratung kann Akzeptanz für die bildungspolitische Zielsetzung erzeugen, indem sie eine erhöhte Transparenz schafft, Lernende und Lehrende bei der Förderung neuer Lehr- und Lernkulturen begleitet und beim Aufbau eines lernförderlichen Umfelds für Menschen in speziellen Lebenslagen berät. Aktuelle empirische Befunde (Bundeszentrale für politische Bildung, 2006; PISA-Konsortium Deutschland, 2007) machen außerdem die Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten bei der Bildungsbeteiligung offensichtlich. Bildungsberatung für Migrantinnen und Migranten stellt somit eine weitere wesentliche schullaufbahnbegleitende
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Maßnahme dar, die im Verlauf von unterschiedlichen Migrationsphasen und schulischen Bildungsprozessen stattfinden sollte. Sie beginnt für Migrantinnen und Migranten am besten im Kindergarten und spielt weiterhin eine Rolle bei der schulischen Förderung, dem Übergang zur weiterführenden Schule und der beruflichen Ausbildung. Im Bereich Schule ist die Beratung von Migrantinnen und Migranten eine große Herausforderung mit dem Ziel der Optimierung schulischer individueller Förderung bei Nutzung der vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Bereits bei der Schulaufnahme sind migrationsbedingte Besonderheiten zu beachten, wie z. B. unterschiedliche Sprachkompetenzen, individuelle Lernvoraussetzungen und Migrationsbiografien. Schullaufbahnberatung für Migrantinnen und Migranten heißt z. B. Informationen über Fördermaßnahmen zur Bewältigung schulischer Anforderungen zu geben, zur Wahrnehmung dieser Angebote zu ermutigen, intakte soziale Beziehungen zu unterstützen und die Eigenverantwortlichkeit für die Schulkarriere zu stärken. Schulische Bildungsberatung bietet den Vorteil, Kinder und Jugendliche direkt zu erreichen und ihren individuellen Bildungsweg konsequent und stetig zu begleiten. Schule kann somit ein Ort sein, der Bildungsberatung in Form prozessorientierter Begleitung leistet. Bildungsberatung für Migrantinnen und Migranten richtet sich an Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber auch an deren soziales Umfeld (Eltern, Lehrende, außerschulische Erzieherinnen und Erzieher). Beratung kann dazu beitragen den adäquaten Erwerb der deutschen Sprache zu fördern, z. B. indem in Elterngesprächen auf entsprechende Angebote für Kinder mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht wird. Beratung kann sich in dieser Phase auch an die Eltern selbst richten und ihnen in den Kindertagesstätten, eventuell in Kooperation mit Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Lernangebote empfehlen, um deren Deutschsprachkompetenz zu fördern. Erfahrungen mit der Beratung von türkischen Eltern zeigen, dass die Bedeutung von Erziehung vielen dieser Eltern nicht ausreichend bewusst ist. Es fehlt ihnen oft an Informationen über Konzepte von Erziehung und Kindheit der westlichen Industrienationen. Zudem stehen für diese Gruppe kaum Informationen über die Angebotsstruktur zur Förderung der Kinder und zur Unterstützung der Eltern bereit (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2003). Der Elternbildung kommt also ein hoher Stellenwert zu und entsprechende erste Programme bestätigten bereits positive Effekte (Haug-Schnabel & Bensel, 2003; Westheimer, 2003). Hier gilt es, durch professionelle Beratung einen Bildungsbedarf zu analysieren, ein entsprechendes Bildungsangebot zu vermitteln und darüber hinaus auch Schwellenängste zu Bildungsinstitutionen allgemein abzubauen. Schließlich gewinnt dabei die interkulturelle Kompetenz der Beratenden an Wichtigkeit, die Einfluss auf die Beratungskompetenz nimmt (Buchwald & Ringeisen, 2007; von Wogau, Eimmermacher & Lanfranchi, 2004). Da die Klientinnen und Klienten aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten kommen, benötigen Beraterinnen und Berater eine besonders ausgeprägte Lebensweltsensibilität gegenüber dem kulturell oder subkulturell anderen wie auch gegenüber individuellen Lebensstilen.
Weiterführende Literatur Warschburger, P. (Hrsg.). (2009). Beratungspsychologie (Kap. 6). Berlin: Springer. Bamberber, G. (2001). Lösungsorientierte Beratung. Weinheim: Beltz.
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Sauer-Schiffer, U. (2004). Bildung und Beratung. Münster: Waxmann. Herbrich, E. & Jurkeit, J. (2004). Lebenslanges Lernen und Bildungsberatung zwischen Theorie und Praxis. Berlin: Kramer.
Literatur Argyris, C. & Schön, D. (1996) Organizational learning II: Theory, method and practice. Reading, MA: Addison Wesley. Bachmair, S., Faber, J., Henning, C., Kolb, R. & Willig, W. (2005). Beraten will gelernt sein. Weinheim: Beltz. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2003). Förderung von Migranten und Migrantinnen im Elementar- und Primarbereich. Dokumentation der Fachtagung, März 2003, Berlin. Berlin/Bonn: Bonner Universitäts-Buchdruckerei. Buchwald, P. (2008). Ressourcenorientierte Beratung im interkulturellen Kontext von Schule und Weiterbildung. In T. Ringeisen, P. Buchwald & C. Schwarzer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz in Schule und Ausbildung (S. 51–62). Münster: LIT-Verlag Buchwald, P. & Ringeisen, T. (2007). Wie bewältigen Lehrer interkulturelle Konflikte in der Schule? Eine Wirksamkeitsanalyse im Kontext des multiaxialen Copingmodells. Interculture Journal – Online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien, 5, 71–98. Bundeszentrale für politische Bildung (2006). Datenreport 2006. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Statistisches Bundesamt. Deutscher Bildungsrat (1970). Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart: Klett. Faulstich, P., Forneck, H. J., Grell, P., Häßner, K., Knoll, J. & Springer, A. (Hrsg.) (2005). Lernwiderstand – Lernumgebung – Lernberatung. Empirische Fundierungen zum selbstgesteuerten Lernen. Bielefeld: Bertelsmann. Freud, S. (1938). Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Fischer. Gieseke, W. (2000). Beratung in der Weiterbildung – Ausdifferenzierung der Beratungsbedarfe. Literatur – Forschungsreport Weiterbildung, 46, 10–17. Häßner, K. & Knoll, J. (2005). Informiert ist nicht beraten – Lebenslauf als Anker. In P. Faulstich, H. J. Forneck, P. Grell, K. Häßner, J. Knoll & A. Springer (Hrsg.), Lernwiderstand – Lernumgebung – Lernberatung. Empirische Fundierungen zum selbstgesteuerten Lernen (S. 164–217). Bielefeld: Bertelsmann. Haug-Schnabel, G. & Bensel, J. (2003). Niederschwellige Angebote zur Elternbildung. Hamm: Recherche der FG Verhaltensbiologie des Menschen im Auftrag der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle in Hamm. Kleppin, K. & Mehlhorn, G. (2005). Sprachlernberatung. In R. Ahrens & U. Weier (Hrsg.), Englisch in der Erwachsenenbildung des 21. Jahrhunderts (S. 71–89). Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Leuzinger-Bohleber, M., Brandl, Y., Hau, S., Aulbach, L., Caruso, B., Einert, K.-M. et al. (2006). Die Frankfurter Präventionsstudie. Zur psychischen und psychosozialen Integration von verhaltensauffälligen Kindern (insbesondere von ADHS) im Kindergartenalter – ein Arbeitsbericht. In M. Leuzinger-Bohleber, Y. Brandl & G. Hüther (Hrsg.), ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen (S. 238–269). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mc Leod, J. (2004). Counselling – eine Einführung in Beratung. Tübingen: dgvt. Mehlhorn, G. (2005). Learner autonomy and pronunciation coaching. In J. Maidment (Ed.), Proceedings of the Phonetics Teaching and Learning Conference. London: University College London. Retrieved January 01, 2006, from http://www.phon.ucl.ac.uk/home/johnm/ptlc2005/ pdf/ptlcp13.pdf
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Mehlhorn, G. (unter Mitarbeit von Karl-Richard Bausch, Tina Claußen, Beate Helbig-Reuter und Karin Kleppin) (2005). Studienbegleitung für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen. Teil I: Handreichungen für Kursleiter zum Studierstrategienkurs. Teil II: Individuelle Lernberatung – Ein Leitfaden für die Beratungspraxis. München: Iudicium. Nerdinger, F. W. (1994). Nutzung von Änderungswissen. In L. von Rosenstiel, C. M. Hockel & W. Molt (Hrsg.), Handbuch der Angewandten Psychologie (S. 1–11). Landsberg am Lech: Ecomed. Nestmann, F. (Hrsg.). (1997). Beratung. Bausteine für eine interdisziplinäre Wissenschaft und Praxis. Tübingen: dgvt. Nestmann, F. (2006). Alltagsorientierung in der Pädagogischen Beratung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Nestmann, F. & Engel, F. (2002). Beratung – Markierungspunkte für eine Weiterentwicklung. In F. Nestmann & F. Engel (Hrsg.), Die Zukunft der Beratung (S. 11–50). Tübingen: dgvt. PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.). (2007). PISA 2006. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster: Waxmann. Rogers, C. R. (1985). Die nicht-direktive Beratung. Frankfurt/Main: Fischer. Rohlfs, C., Harring, M. & Palentien, C. (Hrsg.). (2008). Kompetenz-Bildung. Soziale, emotionale und kommunikative Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Schützeichel, R. & Brüsemeister, T. (2004). Die beratene Gesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Schwarzer, C. & Buchwald, P. (2004). Mentoring an Universitäten. In H. Ehlert & U. Welbers (Hrsg.), Qualitätssicherung und Studienreform (S. 281–292). Düsseldorf: Grupello. Schwarzer, C. & Buchwald, P. (2006). Beratung in Familie, Schule und Beruf. In A. Krapp & B. Weidenmann (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (5. Aufl., S. 575–612). Weinheim: Beltz. Schwarzer, C. & Buchwald, P. (2009). Beratung in der Pädagogischen Psychologie. In P. Warschburger (Hrsg.), Beratungspsychologie (S. 129–151). Berlin: Springer. Strasser, J. & Gruber, H. (2003). Kompetenzerwerb in der Beratung: Eine kritische Analyse des Forschungsstands. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 50, 381–399. Watzlawick, P., Beavin, J. H. & Jackson, D. D. (2000). Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern: Huber. Westheimer, M. (2003). Parents Making a Difference. International Research and the Home Instruction for Parents of Preschool Youngsters (HIPPY) Program. Jerusalem: The Hebrew University Magnes Press. Wogau von, R., Eimmermacher, H. & Lanfranchi, A. (Hrsg.) (2004). Therapie und Beratung von Migranten: Systemisch-interkulturell denken und handeln. Weinheim: Beltz.
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Matthias Grünke
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Beratung bei Lernstörungen mit dem „Strategischen Instruktionsmodell“ (SIM)
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Obwohl etwa 2 bis 8 % aller Kinoe ikr ene Vorschulbereich M der unter einer Form von Lernstöeb Säuglings- und Kleinkindalter so e rung leiden (Lauth, Brunstein & Me ben Grünke, 2004), existieren bislang roe ak M kaum spezielle Beratungskonzepte für die Arbeit mit schulschwachen Mädchen und Jungen, die auf eine Verbesserung der Aufgabenbereiche Leistungsfähigkeit abzielen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Allerdings eignen sich manche Ansätze zur primären Anwendung im Unterricht oder im Rahmen einer Kleingruppenförderung auch für den Einsatz in Settings, die im Einklang mit Möller (2000) als „Beratung“ bezeichnet werden können (obwohl hier eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Beratung, Therapie und Förderung nur schwer vorgenommen werden kann). Ein bekannter Ansatz, an dem man sich in einer Beratungssituation gut orientieren kann, ist das „Strategische Instruktionsmodell“ („Strategic Instruction Model“, SIM) von Deshler und Schumaker (1988). Mit seiner Hilfe soll Kindern beigebracht werden, die notwendigen Schritte für die erfolgreiche Bewältigung schulischer Lernanforderungen umzusetzen.
1 Wesen und Anliegen des SIM Das SIM wurde in seiner ursprünglichen Form bereits Ende der 70er Jahre am „Center for Research on Learning“ an der University of Kansas entwickelt. In der Zwischenzeit hat es zahlreiche Erweiterungen erfahren. Ein besonderer Vorzug des SIM besteht darin, dass es sich hierbei um ein explizit ausgearbeitetes Konzept handelt, zu dem viele theoretisch fundierte und empirisch evaluierte Materialien vorliegen (sie werden von der University of Kansas als Buchreihe unter dem Titel „Learning Strategies Curriculum“ vertrieben). Das grundsätzliche Vorgehen ist nicht als einzigartig zu bezeichnen und entspricht in weiten Teilen dem Procedere bei verwandten Ansätzen. Zu nennen wären hier etwa das „Self-Regulated Strategy Development Model“ (SRSD) von Harris und Graham (1996) oder ganz allgemein verschiedene empirisch fundierte Vorschläge in Lehrbüchern zur Strategieinstruktion (z. B. Mastropieri & Scruggs, 2002; Reid & Lienemann, 2006). Das wesentliche Anliegen des SIM besteht in der Vermittlung effizienter Lerntechniken. Die Schülerinnen und Schüler sollen schrittweise lernen, Strategien adäquat anzuwenden, ihren Einsatz zu überwachen und sie eigenständig in Settings zu nutzen, die sich von den definierten Übungssituationen unterscheiden. Über intensives
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Üben sollen bestimmte Verarbeitungsprozesse automatisiert werden, um die Basis für einen effizienten Erwerb neuer Wissensinhalte und für die Durchführung komplexer kognitiver Aufgaben zu schaffen. Im Folgenden wird der Einsatz des SIM in Erziehungsberatungsstellen beschrieben. Dabei wird Grundschulkindern unter Einbeziehung ihrer Eltern dabei geholfen, vorhandene Rückstände im Hinblick auf ihre Lernkompetenzen aufzuarbeiten.
2
Vorgehen
2.1 Diagnostische Abklärung, Zieldefinition und Auswahl geeigneter Strategien Bei einem Kind mit Schulschwierigkeiten, dessen Eltern sich an eine Erziehungsberatungsstelle mit der Bitte um Hilfe wenden, geht es zunächst einmal um eine genaue Analyse der bisherigen Lernbiografie, der Lernvoraussetzungen und der momentan präferierten Lernwege. Über eine explorative Befragung der Bezugspersonen wird eruiert, welche eventuellen Auffälligkeiten im Verlauf der motorischen, sozialen und kognitiven Entwicklung zu beobachten waren, seit wann und in welcher Form erstmals offenkundige Lernprobleme aufgetreten sind, ob Sinnesbeeinträchtigungen vorliegen (bzw. vorgelegen haben) und welche Fördermaßnahmen bislang ergriffen wurden. Auf diese Weise erhält die Beraterin bzw. der Berater Informationen darüber, inwieweit es sich bei den Schulproblemen um vorübergehende Rückstände (z. B. aufgrund von temporären Schwierigkeiten mit einer Lehrkraft oder einer akuten emotionalen Belastung), um die Folge einer Hör- bzw. Sehschwäche oder um den Ausdruck grundlegender Störungen der Informationsverarbeitung und der Lernaktivität handelt. Im letzteren Fall ist eine Beratung nach dem SIM indiziert. Es gilt nun genauer abzuklären, wann und wo die Schülerin bzw. der Schüler keine adäquaten Strategien einsetzt, wenn sie bzw. er vor verschiedene schulische Aufgaben gestellt wird (z. B. Aufsatz schreiben, Rechenaufgaben lösen, Inhalte eines Textes aus einem Sachkundebuch zusammenfassen). Dies geschieht über die Analyse von Arbeitsproben und Hausaufgaben sowie über eine metakognitive Befragung unter Einbezug der Methode des lauten Denkens (das Kind erläutert sein Vorgehen und verbalisiert seine Überlegungen während seiner Lösungsversuche). Außerdem ist es wichtig, mittels der Ergebnisse aus standardisierten Intelligenz- und Schulleistungstests beurteilen zu können, inwieweit die entsprechenden Kompetenzen einer Schülerin bzw. eines Schülers unterhalb der jeweiligen Altersnorm liegen (Deshler & Schumaker, 1988; Olson & Platt, 2004). Wird der Beraterin bzw. dem Berater im Zuge der diagnostischen Abklärung beispielsweise deutlich, dass das betreffende Kind beim Abfassen von Texten sehr flüchtig vorgeht, wenig Struktur schafft und zahlreiche Fehler übersieht, so kann sie bzw. er etwa die „Error Monitoring Strategy“ (EMS) (Schumaker, Nolan & Deshler, 1991) auswählen, mit deren Hilfe die Schülerin bzw. der Schüler die Qualität der eigenen Arbeit meist deutlich verbessern kann. Dem Kind wird beigebracht, sich selbst eine Reihe spezifischer Fragen zu stellen, die es auf eventuelle Brüche in der logischen Struktur und auf Fehler bezüglich der Grammatik, der Groß- und Kleinschreibung, der Zeichensetzung und der Rechtschreibung aufmerksam machen.
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Strategischen Instruktionsmodell (SIM)
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2.2 Vermittlung der Strategie Nach der Festlegung eines Zieles (z. B. sicherer Einsatz der EMS beim Schreiben eigener Texte und anderer geeigneter Aufgaben) werden der Schülerin bzw. dem Schüler zunächst die Vorteile in Aussicht gestellt, die bei einer korrekten und konsequenten Anwendung der jeweiligen Strategie zu erwarten sind (bessere Noten, mehr Spaß beim Lernen, …). Die Beraterin bzw. der Berater beschreibt dann im Detail die Schritte des jeweiligen Vorgehens (z. B. (1) Text verfassen, (2) logische Struktur überprüfen, (3) nach verschiedenen Fehlertypen suchen, (4) Schriftbild überprüfen, (5) eine Person um Rückmeldung zu den Ausführungen bitten, (6) Endversion erstellen, (7) Endversion abschließend lesen). Im Anschluss demonstriert sie bzw. er die ausgewählte Strategie anhand realer Aufgaben im Stile der Selbstinstruktion. Bei der EMS zur Überprüfung der korrekten Groß- und Kleinschreibung betrachtet sie bzw. er etwa einen selbst geschriebenen Aufsatz und verbalisiert folgende Gedanken: „Ich sehe mir den ersten Satz an und überprüfe, ob mir irgendwelche Fehler in der Groß- oder Kleinschreibung unterlaufen sind. Alle Nomen sind groß geschrieben. Gleiches gilt für das erste Wort des Satzes sowie für Verben und Adjektive, denen ein bestimmter oder unbestimmter Artikel, ein Attribut, eine Präposition oder ein Pronomen voransteht. Alle anderen Worte sind klein geschrieben. Gut, ich habe offenbar kein Wort übersehen, das ich versehentlich klein oder groß geschrieben habe. Jetzt kann ich mir den nächsten Satz vornehmen.“ Als nächstes soll die Schülerin bzw. der Schüler den Zweck der ausgewählten Strategie und die relevanten Schritte eigenständig erläutern. Wichtig ist hierbei, dass dieses Anwendungswissen sicher beherrscht wird, bevor sich das Kind der praktischen Umsetzung widmet. Es folgt ein ausgiebiges Üben des Vorgehens. Um eine Automatisierung der Fertigkeiten zu erreichen, müssen der bzw. dem Lernenden zunächst relativ einfache Aufgaben zur Bearbeitung vorgelegt werden. Die Beraterin bzw. der Berater verstärkt richtige Lösungsansätze (z. B. durch Lob) und korrigiert auftretende Fehler unmittelbar, damit sie sich nicht verfestigen können. Dieses Üben geschieht zunächst unter enger Anleitung, später eigenständig zu Hause und unter Einbezug der Eltern (ggf. auch mit Unterstützung geeigneter Computerprogramme). Der Fortschritt des Kindes wird hierbei nach dem Prinzip der curriculumbasierten Leistungsmessung (Deno, 1998) kontinuierlich erfasst. Werden die nötigen Skills unter diesen kontrollierten Bedingungen auch bei anspruchsvollen Aufgaben sicher beherrscht (d. h. die Schülerin bzw. der Schüler erfüllt die Zielkriterien – wie etwa die korrekte Groß- und Kleinschreibung – regelmäßig zu 95 %), so werden zusehends solche Aufgaben als Übungsmaterial eingesetzt, die das Kind ohnehin in der Schule oder zu Hause zu bearbeiten hat. Auch hier werden die Lösungsversuche durch die Beraterin bzw. den Berater differenziert analysiert und bewertet (Deshler & Schumaker, 1988; Olson & Platt, 2004). 2.3 Generalisierung der Strategie Obwohl die Übertragung des Gelernten auf den Schulalltag als wichtiges Ziel ständig im Auge behalten werden soll, ist zum Abschluss einer Beratung nach Maßgabe des SIM vorgesehen, eigens die im Folgenden aufgeführten Schritte zur Sicherstellung des Transfers zu durchlaufen.
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Matthias Grünke
1. Orientierung: Die Beraterin bzw. der Berater bespricht mit der Schülerin bzw. dem Schüler, in welchen Settings die erworbenen Fertigkeiten zukünftig sinnvoll eingesetzt werden können, welche Vorteile dadurch zu erwarten sind und welche Hilfen denkbar wären, damit sie bzw. er sich in den relevanten Situationen auch daran erinnert, auf die Strategie zurück zu greifen. 2. Aktivierung: Die Beraterin bzw. der Berater instruiert die Lehrkräfte und die Eltern, bei dem betreffenden Kind auf die Umsetzung der Strategie im Unterricht bzw. bei den Hausaufgaben zu achten. 3. Anpassung: Die Beraterin bzw. der Berater übt mit dem Mädchen bzw. dem Jungen, die Strategie je nach Umstand zu modifizieren, um sie auch unter veränderten Bedingungen zielführend einsetzen zu können (so wären einige grundlegende Prinzipien der EMS z. B. auch für das erfolgreiche Bestehen einer Biologie- oder Erdkundeschulaufgabe nützlich). 4. Aufrechterhaltung: Die Beraterin bzw. der Berater vereinbart mit der Schülerin bzw. dem Schüler, sich auch nach Abschluss der Intervention in Abständen von einigen Wochen oder Monaten zu melden und zu erkundigen, inwieweit die erworbene Strategie noch in unterschiedlichen Settings angewendet wird (Olson & Platt, 2004).
3 Resümee Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten zeichnen sich vornehmlich dadurch aus, dass sie wenig effiziente Lerntechniken an den Tag legen, Lerninhalte nicht systematisch genug ordnen oder wichtige und unwichtige Informationen schlecht voneinander trennen können. Mittlerweile liegen zahlreiche empirische Befunde vor, die eindrucksvoll belegen, wie wirksam Unterrichtsmethoden sind, bei denen genau diejenigen Kompetenzen durch die Lehrkraft explizit, redundanzreich, übungsorientiert und schrittweise vermittelt werden, über die die Schülerinnen und Schüler bislang erst unzureichend verfügen. Das SIM samt den dazugehörigen Materialien stellt eine wichtige Hilfe dar, um diese Erkenntnisse nutzbringend einsetzen zu können. In Anbetracht der Schwierigkeiten einer individualisierten Strategieinstruktion im regulären Schulalltag (Größe bzw. Heterogenität von Fördergruppen oder Klassen, straffe Lehrpläne) kommt der ergänzenden Lernberatung eine enorme Bedeutung zu.
Literatur Deno, S. L. (1998). Academic progress as incompatible behavior: Curriculum-based measurement as intervention. Beyond Behavior, 9, 12–17. Deshler, D. D. & Schumaker, J. B. (1988). An instructional model for teaching students how to learn. In J. L. Graden, J. E. Zins & M. L. Curtis (Eds.), Alternative Educational Delivery Systems (pp. 391–411). Washington, DC: National Association of School Psychologists. Harris, K. R. & Graham, S. (1996). Making the writing process work: Strategies for composition and self-regulation. Cambridge, MA: Brookline Books. Lauth, G. W., Brunstein, J. C. & Grünke, M. (2004). Lernstörungen im Überblick: Arten, Klassifikation, Verbreitung und Erklärungsperspektiven. In G. W. Lauth, M. Grünke & J. C. Brun-
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Strategischen Instruktionsmodell (SIM)
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stein (Hrsg.), Interventionen bei Lernstörungen: Förderung, Training und Therapie in der Praxis (S. 13–23). Göttingen: Hogrefe. Mastropieri, M. A. & Scruggs, T. E. (2002). Effective instruction for special education. Boston, MA: Allyn and Bacon. Möller, J. (2000). Beratung innerhalb und außerhalb der Schule. In J. Borchert (Hrsg.), Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie (S. 541–550). Göttingen: Hogrefe. Olson, J. L. & Platt, J. M. (2004). Teaching children and adolescents with special needs. Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall. Reid, R. & Lienemann, T. O. (2006). Strategy instruction for students with learning disabilities. New York: Guilford. Schumaker, J. B., Nolan, S. N. & Deshler, D. D. (1991). The error monitoring strategy. Kansas City, KS: University of Kansas Press.
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Alexandra M. Freund
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Einleitung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Teamarbeit zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen: Die Rolle altersbezogener Unterschiede in der motivationalen Orientierung
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
In den meisten Arbeitskontexten gibt es altersinhomogene Gruppen, d. h. jüngere Berufseinsteigerinnen und -einsteiger, mittelalte, erfahrene und häufig zentrale Positionen bekleidende ErwachAufgabenbereiche sene und ältere Personen, für die die Verrentung bereits absehbar ist, arbeiten zusammen innerhalb eines Teams. Wie wirkt es sich auf die Zusammenarbeit aus, wenn Personen mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und motivationalen Orientierungen in einem Team zusammenkommen? Es wird vorgeschlagen, dass in der Beratung von Teams die unterschiedliche motivationale Orientierung von Erwachsenen unterschiedlicher Altersgruppen berücksichtigt werden sollte, um damit zu einer optimalen Teamarbeit beizutragen. Für Weiterbildungsmaßnahmen sollte die unterschiedliche persönliche Motivation von Personen unterschiedlichen Alters ebenfalls berücksichtigt werden.
2 Was ist Teamarbeit? Die heutige Berufswelt ist von Teamarbeit geprägt. Es existiert kaum ein berufliches Arbeitsfeld, in dem eine Person vollkommen auf sich gestellt arbeitet, sei es in der Produktion von Gütern, im Dienstleistungssektor, im Management oder in der Wissenschaft. Dies hat zumindest zum Teil damit zu tun, dass in den meisten Arbeitsfeldern eine Art der Expertise im Sinne von spezialisiertem Tiefenwissen über ein Gebiet und von speziellen Handlungs- oder Fertigkeitskompetenzen gefordert wird, die kaum von einer Person abgedeckt werden kann. Außerdem wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder eines Teams sich insofern wechselseitig kontrollieren, als Arbeitsschritte oder -aspekte nicht nur von einer Person konzipiert, initiiert und durchgeführt werden, sondern mit den anderen Arbeitsgruppenmitgliedern abgestimmt werden. Schon traditionellerweise sind viele Arbeitsgruppen aus Erwachsenen unterschiedlicher Altersgruppen zusammengesetzt. Das „klassische“ Ausbildungs- und Lehremodell sieht vor, dass (junge) Berufseinsteigerinnen und -einsteiger von erfahrenen (älteren) Expertinnen und Experten angeleitet werden. Während der Lehre ist dies nach wie vor das vor-
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Teamarbeit zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen
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herrschende Modell. Ein solches hierarchisches, auf das Gefälle in der Expertise und Seniorität ausgelegtes Modell der intergenerationalen Zusammenarbeit lässt sich jedoch nicht unter dem Begriff der Teamarbeit subsumieren. Ein Team besteht nicht einfach nur aus Personen mit unterschiedlichen Kompetenzen, sondern ist durch ein partnerschaftliches Verhältnis der einzelnen Mitglieder charakterisiert, die näherungsweise gleichberechtigt über die Methoden, Inhalte und Ziele ihrer Arbeit mitbestimmen (z. B. Heinrich, 2002; Katzenbach & Smith, 1993). Kriterien für Teams (in Anlehnung an Mabey & Caird, 1999): • Ein Team besteht aus mehreren Mitgliedern. • Ein Team konstituiert sich im Hinblick auf ein gemeinsames (eher kurz- oder eher langfristiges) Ziel oder eine gemeinsame Aufgabe. • Ein Team überprüft in bestimmten Abständen seine Effektivität bezüglich der Zielerreichung. • Ein Team besitzt eine auf das gemeinsame Ziel bezogene Teamidentität, die über die Identität ihrer Mitglieder hinausgeht. • Jedes Teammitglied trägt spezielle Kompetenzen bei, die der gemeinsamen Zielerreichung dienen. • Ein Team besitzt eine Kommunikationsstruktur nach innen, die die Wege des Informationsflusses zwischen den Mitgliedern regelt, und eine Kommunikationsstruktur nach außen, die die Interaktion mit teamexternen Personen oder Gruppen regelt.
Damit Teams komplexe Aufgaben optimal erfüllen können, sollten ihre Mitglieder möglichst unterschiedliche Qualifikationen besitzen, die sich in Bezug auf die gemeinsame Aufgabe ergänzen. Aufgrund des unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes von jüngeren und älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind Teams häufig auch aus Mitgliedern unterschiedlicher Altersgruppen zusammengesetzt. Diese sollten sich idealerweise in Hinblick auf ihre Erfahrungen und Kompetenzen ergänzen. Ein Faktor, der die gemeinsame Arbeit innerhalb eines heterogenen Teams mit beeinflussen kann, ist die unterschiedliche Motivation der einzelnen Mitglieder. Es lassen sich hierbei grob zwei Hypothesen unterscheiden, die Komplementaritätshypothese (unterschiedliche motivationale Ausrichtungen ergänzen sich und führen zu besserer Leistung) und die Konflikthypothese (unterschiedliche motivationale Ausrichtungen behindern sich wechselseitig und führen zu schlechterer Leistung). Ein Aspekt, der bisher in der Forschung zu Teams weitgehend übersehen wurde, ist die motivationale Orientierung von Teammitgliedern unterschiedlichen Alters. Im Folgenden wird zunächst auf altersbezogene Unterschiede in der motivationalen Orientierung über das Erwachsenenalter eingegangen und abschließend werden die möglichen Folgen für eine altersheterogene Teamzusammensetzung diskutiert.
3 Motivationale Orientierung im Erwachsenenalter Eine der deutlichsten Veränderungen über das Erwachsenenalter ist die Abnahme von Ressourcen, aufgrund der gleichzeitigen Abnahme an Möglichkeiten für Zugewinne (z. B. karrierebezogene Aufstiegsmöglichkeiten) und Zunahme an Verlusten (z. B. gesundheitli-
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Alexandra M. Freund
che Einschränkungen; siehe hierzu ausführlicher Baltes, Lindenberger & Staudinger, 2006). Diese sich verändernde Ressourcenlage spiegelt sich auch in der Motivation, das Leistungs- oder Funktionsniveau zu optimieren (Gewinnorientierung) oder das bereits erreichte Leistungs- oder Funktionsniveau aufrechtzuerhalten (Aufrechterhaltens-/Verlustvermeidensorientierung) wider (siehe hierzu ausführlicher Freund & Ebner, 2005). Empirische Studien zeigen, dass junge Erwachsene (bis 30 Jahre) bei der Zielverfolgung vor allem gewinnorientiert und motiviert sind, ihr Leistungsniveau zu maximieren. Ältere Erwachsene (ab 60 Jahre), die insgesamt weniger Ressourcen besitzen und diese sparsam einsetzen müssen, sind hingegen stärker als jüngere Erwachsene motiviert, ihr Funktionsniveau aufrechtzuerhalten und Verluste zu vermeiden. Jüngere Erwachsene arbeiten mit mehr Ausdauer an einer Aufgabe, wenn diese neue Gewinne versprach, während ältere Erwachsene länger an einer Aufrechterhaltens-/Verlustvermeidensaufgabe arbeiten, wenn sie die freie Wahl haben, wie viel Zeit sie mit einer Aufgabe verbringen (Freund, 2006). Die motivationale Orientierung ist auch altersspezifisch mit dem subjektiven Wohlbefinden verbunden: Während für jüngere Erwachsene (18 bis 26 Jahre) eine Gewinnorientierung tendenziell mit positivem Wohlbefinden einherging und eine Verlustvermeidensorientierung sogar deutlich negativ mit subjektivem Wohlbefinden korrelierte, ging für mittelalte (40 bis 49 Jahre) und ältere Erwachsene (65 bis 84 Jahre) die Aufrechterhaltensmotivation mit einem höheren subjektiven Wohlbefinden einher (Ebner, Freund & Baltes, 2006). Wie kann sich diese unterschiedliche motivationale Orientierung nun auf die Arbeit in altersheterogenen Teams auswirken?
4 Motivation in altersheterogenen Teams Wendet man die oben beschriebenen Ergebnisse zu altersbezogenen Unterschieden in der motivationalen Orientierung auf Teamarbeit an, so lassen sich zwei Hypothesen unterscheiden: 1. Komplementaritätshypothese: Gewinn- und Aufrechterhaltens-/Verlustorientierung ergänzen sich wechselseitig. Diese Hypothese basiert auf der Annahme, dass die meisten beruflichen Aufgaben sowohl Gewinn- als auch Verlustaspekte besitzen, die beide berücksichtigt werden müssen, um eine optimale Lösung zu finden. Da junge Erwachsene vor allem auf die Gewinnaspekte fokussieren, könnten sie leicht Gefahr laufen, Verlustrisiken zu übersehen und daher zu unterschätzen. Umgekehrt ist die ausschließliche Verwendung von Strategien, die vor allem darauf ausgerichtet sind, mögliche Risiken und Verluste zu vermeiden, meist nicht optimal, um ein berufliches Ziel zu erreichen. Verlustvermeidensstrategien entsprechen jedoch der vorherrschenden motivationalen Orientierung älterer Erwachsener. Werden nun beide Strategien kombiniert, so könnte dies dazu führen, dass sowohl die Gewinnchancen ergriffen werden, als auch die Verlustrisiken hinreichend berücksichtigt werden. Ein altersheterogenes Team wäre dieser Hypothese zufolge einem altershomogenen Team überlegen. 2. Konflikthypothese: Gewinn- und Aufrechterhaltens-/Verlustorientierung behindern sich wechselseitig. Die Konflikthypothese geht davon aus, dass sich eine Gewinn- und eine Aufrechterhaltens-/Verlustorientierung wechselseitig gewissermaßen ausbremsen, da sie auf unterschiedliche Zielzustände ausgerichtet sind (d. h. das Ziel selbst
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Teamarbeit zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen
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wird unterschiedlich definiert). Inkompatible Strategien der Zielverfolgung sind die Folge. Ein altersheterogenes Team wäre dieser Hypothese zufolge einem altershomogenen Team unterlegen.
5 Empfehlungen für die Praxis Ein wichtiger Aspekt bei der Zusammenstellung von altersheterogenen Teams könnte es demnach sein, eine explizite Phase der Zielklärung und des Herausarbeitens von Gewinn- und Verlustvermeidens-Aspekten einer Aufgabe vorzunehmen. Dies könnte es erleichtern, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen, das sowohl Gewinn- als auch Verlustvermeidensaspekte berücksichtigt. In einem nächsten Schritt könnte je nach der motivationalen Orientierung – so wie auch sonst in Teams in Hinblick auf Kompetenzen und Stärken eine spezielle Aufgabenzuteilung möglich ist – eine Erarbeitung der entsprechenden gewinn- und verlustvermeidenden Strategien vorgenommen und vor allem auch aufeinander abgestimmt werden, um mögliche Konflikte zu vermeiden. Auf diese Weise könnten altersheterogene Gruppen ein optimales Team für das gemeinsame Lösen von komplexen Zielen wie sie im beruflichen Alltag üblich sind darstellen. In Bezug auf Weiterbildungsmaßnahmen hat dies ebenfalls wichtige Konsequenzen. Während jüngere Erwachsene wahrscheinlich eher eine Fort- oder Weiterbildung besuchen, um damit ihrer persönlichen Karriere zu dienen und auf diese Weise finanzielle und kompetenzbezogene Gewinne zu erzielen, ist für mittelalte Erwachsene wahrscheinlich das Entgegenwirken von Kompetenzverlusten und die Aufrechterhaltung der bisherigen Position im Vordergrund. Für ältere Erwachsene, die häufig mit Ängsten in Bezug auf ihre eigene – insbesondere kognitive – Leistungsfähigkeit konfrontiert sind, dürfte der Aspekt der Kompensation von Verlusten von zentraler Wichtigkeit sein. Findet also die Weiter- oder Fortbildung innerhalb eines altersheterogenen Teams statt, ist es wichtig, dass die unterschiedlichen motivationalen Orientierungen angesprochen werden, um damit alle Altersgruppen optimal zu motivieren. In der individuellen Beratung sollte dies ebenso reflektiert werden wie in der Teamberatung.
Literatur Baltes, P. B., Lindenberger, U. & Staudinger, U. M. (2006). Life span theory in developmental psychology. In W. Damon & R. M. Lerner (Eds.), Handbook of Child Psychology: Vol. 1. Theoretical models of human development (6th ed.) (pp. 569–664). New York: Wiley. Ebner, N. C., Freund, A. M. & Baltes, P. B. (2006). Developmental changes in personal goal orientation from young to late adulthood: From striving for gains to maintenance and prevention of losses. Psychology and Aging, 21, 664–678. Freund, A. M. (2006). Differential motivational consequences of goal focus in younger and older adults. Psychology and Aging, 21, 240–252. Freund, A. M. & Ebner, N. C. (2005). The aging self: Shifting from promoting gains to balancing losses. In W. Greve, K. Rothermund & D. Wentura (Eds.), The Adaptive Self: Personal Continuity and Intentional Self-development (pp. 185–202). Ashland, OH: Hogrefe & Huber Publishers.
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Alexandra M. Freund
Heinrich, M. (2002). Gruppenarbeit: Theoretische Hintergründe und praktische Anwendungen. In H. Kasper & W. Mayrhofer (Hrsg.), Personalmanagement, Führung, Organisation. Wien: Linde. Katzenbach, J. R. & Smith, D. K. (1993). The Wisdom Of Teams: Creating the High-performance Organization. Boston, MA: Harvard Business School Press. Mabey, C. & Caird, S. (1999). Building Team Effectiveness. Open University, Milton Keynes.
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Andreas Beelmann
1
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Einführung
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1.1 Definition von Prävention im Bildungsbereich
Handlungsebenen
Bildungspsychologische Prävention
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Unter psychologischer Prävention wird allgemein der theoretisch und Aufgabenbereiche empirisch begründete Versuch verstanden, mit psychologischen Mitteln Handlungskompetenzen zu stärken, Risiken in der menschlichen Entwicklung abzuschwächen oder sich bereits anbahnende Negativentwicklungen zu stoppen, um das Auftreten von psychischen Problemen und Störungen, aber auch somatischer Erkrankungen zu verhindern und/oder zu einer gesunden Entwicklung beizutragen (Brandtstädter & von Eye, 1982; Coie et al., 1993; Perrez, 1998). Im Bereich der Bildungspsychologie kann der Begriff Prävention als Oberbegriff von Maßnahmen gelten, die direkt oder indirekt dazu beitragen, dass negative Bildungskarrieren verhindert und allgemein Bildungsprozesse so optimiert werden, dass eine möglichst günstige Ausnutzung individueller Bildungsmöglichkeiten gewährleistet ist. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob die Bildung von Personen selbst gefördert oder aber individuelle, soziale oder gesellschaftliche Bedingungen der Bildung (d. h. Bildungsvoraussetzungen) verbessert werden sollen. Abgrenzung von Prävention zu Therapie, Rehabilitation und Gesundheitsförderung: Therapie und Rehabilitation befassen sich mit der Behandlung bereits bestehender (klinisch relevanter) Probleme oder Störungen bzw. mit der Bewältigung von unabänderlichen Funktionsstörungen und der Kompensation von Folgeproblemen dieser Störungen. Im Bildungsbereich träfen diese Definitionen auf alle Maßnahmen zu, deren Zielgruppe diagnostizierbare klinische Störungen oder Behinderungen aufweisen, also insbesondere Menschen mit festgestellter Lern- und geistiger Behinderung, aber auch Menschen mit anderen Behinderungsformen und psychischen Störungen, die einen Einfluss auf individuelle Bildungskarrieren haben. Der Präventionsbegriff wird oft von dem der Gesundheitsförderung abgegrenzt (vgl. etwa Lohaus, Jerusalem & Klein-Heßling, 2006). Während unter Prävention zumeist die Vermeidung von etwas Negativem verstanden wird, ist der Begriff Gesundheitsförderung stärker auf die explizite Herstellung positiv formulierter Ziele und die Erreichung überdurchschnittlich guter Kompetenzen ausgerichtet. Konzeptionell wird allerdings oft auch nur „die andere Seite der Medaille“ angesprochen, d. h. die Vermeidung
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von negativen Entwicklungen in die Förderung von etwas positivem umformuliert (z. B. Vermeidung sozialer Verhaltensdefizite und Förderung sozialer Kompetenzen). Prävention und Gesundheitsförderung haben jedoch gemeinsam, dass sie zeitlich Problemen, Schwierigkeiten, Störungen und Negativentwicklungen vorausgehen.
1.2 Klassifikation von Präventionsmaßnahmen In der Fachliteratur finden sich unterschiedliche Klassifikationen von Präventionsmaßnahmen, die sich hinsichtlich der Breite und der zugrunde gelegten Präventionsdefinition sowie ihrer Ordnungsgesichtspunkte unterscheiden. Weithin bekannt ist die Unterteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention, die auf Caplan (1964) zurückgeht. Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention: Primäre Prävention betrifft alle Maßnahmen mit dem Ziel der Reduktion von Inzidenzraten (d. h. die Häufigkeit des Neuauftretens eines Problems). Sie sind also dem Auftreten von psychischen Problemen und Störungen zeitlich vorgeordnet. Unter sekundärer Prävention werden alle Interventionen subsumiert, die zur Reduktion von Prävalenzraten (d. h. der Auftretenshäufigkeit eines Problems) durchgeführt werden, demnach also die Zielsetzung verfolgen, (klinisch-relevante) psychische Probleme in ihrem Schweregrad zu mildern oder gänzlich aufzuheben. Tertiäre Prävention befasst sich nach Caplan (1964) schließlich mit der Vermeidung oder Abschwächung unerwünschter Folgen psychischer Probleme oder Erkrankungen, die für sich selbst genommen nicht mehr aufzuheben sind.
Die einflussreiche Einteilung von Caplan (1964) wurde in der Präventionsforschung aus verschiedenen Gründen kritisiert. Ein zentraler Gesichtspunkt betraf das weite Begriffsverständnis von Prävention, da durch den Einschluss therapeutischer und rehabilitativer Konzepte die gesamte Breite von Interventionsmaßnahmen mit dem Präventionsbegriff abgedeckt wurde. Ein anderer Aspekt bezog sich auf die geringe Differenzierung primär präventiver Konzepte, da sowohl Maßnahmen für unausgelesene Personengruppen als auch Maßnahmen für bestimmte Risikogruppen in diesen Begriff eingeschlossen wurden. Diese Gründe haben zu einer neuen Einteilung von Präventionsmaßnahmen geführt (vgl. Heinrichs, Saßmann, Hahlweg & Perrez, 2002; Muñoz, Mrazek & Haggerty, 1996), bei der der Präventionsbegriff nun allein auf jene Maßnahmen beschränkt wird, die vor dem Auftreten eines bestimmten Problems einsetzen. Dabei wird zunächst zwischen universeller (universal) und gezielter (targeted) Prävention unterschieden. Universelle Prävention richtet sich an unausgelesene Gruppen, d. h. an Personen, die keine Probleme und auch kein erhöhtes Risiko für die Entwicklung der Probleme aufweisen (z. B. alle Kinder einer Regelschule). Gezielte Prävention richtet sich auf bestimmte Zielgruppen und kann nochmals in selektive und indizierte Maßnahmen unterteilt werden. Selektive Prävention bezieht sich auf die Arbeit mit Risikogruppen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, Entwicklungsprobleme oder -schwierigkeiten zu entwickeln. Indizierte Prävention richtet sich an Personen, die bereits Vorläuferprobleme oder geringe Ausprägungen eines Problems aufweisen, von denen
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Bildungspsychologische Prävention
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UNIVERSELL
SELEKTIV
INDIZIERT
Alle Personen
Personen mit erhöhtem Risiko
Bereits auffällige Personen
GEZIELTE PRÄVENTION Abbildung 1: Arten und Zielgruppen der Prävention
dann wiederum therapeutische und rehabilitative Konzepte abgegrenzt werden können (siehe Abbildung 1). Selbstverständlich bestehen fließende Übergänge zwischen den Strategien. Dennoch ist es wichtig, diese Formen konzeptionell zu trennen, da sie verschiedene theoretische und versorgungsbezogene Implikationen aufweisen und eine ganze Reihe von grundlegenden Vor- und Nachteilen existieren (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Vor- und Nachteile verschiedener Präventionsstrategien (nach Offord, 2000) Präventionstyp
Vorteile
Nachteile
Universelle Prävention
• Alle potenziell Gefährdeten werden erreicht • Relativ geringe Eingriffsintensität • Geringe Stigmatisierungseffekte • Frühe Reaktion auf Probleme
• Kostenintensiv (aufgrund der Größe der Zielpopulation) • Große Anzahl von Personen haben Maßnahme nicht nötig • Gefahr der Pathologisierung der Bevölkerung • Schwer, alle Mitglieder einer Population zu erreichen
Gezielte Prävention
• Zuschnitt auf besonders bedürftige Gruppen • Spezifischere Hilfen möglich • Relativ preiswert (kleine Zielgruppe)
• Differenzierte Erkenntnisse über Risikofaktoren und Entstehungsbedingungen nötig • Zuverlässige Auswahlprozeduren (Screeningverfahren) nötig • Mögliche Stigmatisierungseffekte bei der Auswahl • Hohe Eingriffsintensität und zum Teil sehr hoher Aufwand • Relativ späte Hilfen • Implementationsprobleme bei Risikogruppen (selektive Inanspruchnahme, hohe Abbruchraten)
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Darüber hinaus bestehen weitere Entscheidungskriterien zur Begründung und Auswahl von Präventionsmaßnahmen und -strategien: Entscheidungskriterien für Präventionsmaßnahmen und Präventionsstrategien: • Grundsätzliche Präventionsmöglichkeiten: Liegen überhaupt präventive Maßnahmen vor, die Erfolg versprechend eingesetzt werden können? • Inzidenz und Prävalenz eines Problems: Hohe Problemraten legen universelle Strategien nahe, da viele Menschen von dem Problem betroffen sein können. • Schwere und Folgen eines Problems: Bei weniger gravierenden Folgen eines Problems und guten (d. h. einfachen, wenig invasiven, preiswerten und wirksamen) Behandlungsmöglichkeiten spricht wenig für universelle Präventionsmaßnahmen. • Fragen der Finanzierbarkeit oder der grundsätzlichen Implementationsmöglichkeiten: Werden die notwendigen Ressourcen (Geld, Fachpersonal etc.) für bestimmte Präventionsstrategien überhaupt bereitgestellt (z. B. für ein staatlich finanziertes System des individuellen Förderunterrichts für alle Schülerinnen und Schüler)? Muss man ggf. auch mit politischen und/oder ideologischen Widerständen gegen bestimmte Präventionsmaßnahmen rechnen (vgl. z. B. die derzeitige Diskussion um die Ganztagsschule in Deutschland).
1.3 Stellenwert und Formen der Prävention im Bildungsbereich Präventionsmaßnahmen im Bildungsbereich können ebenfalls auf die unterschiedlichen Präventionsarten bezogen werden. Kognitive Förderprogramme, die im Kindergarten als Regelversorgung eingesetzt werden, würden zum Beispiel als universelle Prävention gelten, besondere Bildungsangebote für Familien aus sozialen Brennpunkten könnten als selektive und die Förderung der Lesefertigkeiten bei Kindern mit Lese-RechtschreibSchwierigkeiten als indizierte Prävention verstanden werden. Präventionsmaßnahmen im Bildungsbereich lassen sich zudem zu unterschiedlichen Zeitpunkten individueller Bildungskarrieren zuordnen und können theoretisch zu allen Alterszeitpunkten eingesetzt werden. Typischerweise werden jedoch bildungsbezogene Maßnahmen im Sinne eines frühen Eingreifens in der ersten Lebensdekade und zu Beginn der formalen Schulkarriere angeboten. Dagegen haben präventive Maßnahmen im sekundären und tertiären Bildungsbereich oder gar im Erwachsenenalter bislang keine nennenswerte Anwendung erfahren. Als eine Ausnahme können kognitive Trainingsprogramme für ältere Menschen gelten (Kruse, 2007). Auch hinsichtlich der Handlungsebenen lassen sich Präventionsmaßnahmen auf allen drei Strukturebenen denken (vgl. Beispiele in Tabelle 2). Dabei sollten jedoch allein Maßnahmen als präventiv beschrieben werden, die nicht der derzeitigen bildungsbezogenen Standardversorgung zugeordnet werden können. Beispielsweise könnte – aus einer historischen Perspektive – die Einführung des Kindergartens als vorschulische Bildungseinrichtung durchaus als universelle makrosoziale Präventionsmaßnahme begriffen werden, die auf die Einschulung und das schulische Lernen vorbereiten soll. Legt man aber ein derart breites Verständnis von Prävention zugrunde, wäre letztlich auch die Beschulung selbst als Maßnahme zu verstehen, die auf die berufliche Karriere oder noch genereller „auf das Leben“ vorbereiten soll.
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Bildungspsychologische Prävention
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Tabelle 2: Bildungsbezogene Präventionsmaßnahmen nach Präventionsart und Handlungsebenen Makroebene
Mesoebene
Mikroebene
Universelle Prävention
Neue Bildungssysteme in der Gesellschaft (z. B. Ganztagsschulen)
Ergänzende Bildungsangebote in der Schule (z. B. zusätzlicher Fremdsprachenunterricht)
Kognitive Förderprogramme für Vorschulkinder
Gezielte Prävention
Einheitliche Bildungsangebote für Familien aus sozialer Benachteiligung
Zusätzliche Förderklassen für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler in Regelschulen
Lese-RechtschreibProgramme für Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten
Schließlich können Präventionsmaßnahmen danach unterschieden werden, welche Zielsetzungen sie verfolgen. Grundsätzlich lässt sich unterscheiden, ob sie an der individuellen Bildung selbst (z. B. Intelligenzförderung), den individuellen Bildungsvoraussetzungen (z. B. Sprachförderung) oder den sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Bildung (z. B. systematisches Elterntraining, zusätzliche Bildungsangebote für Migrantinnen und Migranten) ansetzen. Auf weitere Formen der Präventionsarbeit wird im Abschnitt 2 eingegangen.
1.4 Historische Entwicklung von Präventionsmaßnahmen im Bildungsbereich Für bildungsbezogene Präventionsmaßnahmen besteht derzeit keine einheitliche rechtliche und strukturelle Verankerung in unserer Gesellschaft. Dies hat unterschiedliche und auch historische Gründe. Zunächst ist festzustellen, dass präventives Gedankengut keineswegs einer bildungsbezogenen oder sozialwissenschaftlichen Tradition entstammt, sondern vielmehr mit der medizinischen und gesundheitsbezogenen Versorgung und der Hygiene-Bewegung im 19. Jahrhundert im Zusammenhang steht (Brandtstädter, 1982; Stöckel & Walter, 2002). Erst in der jüngeren Präventionsgeschichte finden sich erste systematische Verwendungen des Präventionsgedanken im Bildungsbereich. Besondere Aufmerksamkeit hat der Präventionsgedanke in den Sozialbewegungen der 60er Jahren in den USA im Rahmen der kompensatorischen Vorschulerziehung gefunden. Leitgedanke war hier die frühe kognitive und soziale Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten (zumeist afro-amerikanischen) Familien, um Ihnen eine soziale und gleichberechtigte Teilhabe an den Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Aus diesem Grund ist der Präventionsgedanke im Bildungssystem sehr eng mit der Idee einer frühen Bildung und frühen Bildungsmöglichkeiten verknüpft.
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Stand der Wissenschaft
2.1 Kernannahmen der Prävention Eine einheitliche Theorie der Prävention liegt nicht vor. Argumentativer Ausgangspunkt ist zunächst die pragmatische Annahme, dass die Förderung einer gesunden Entwicklung, die Vermeidung problematischer Entwicklungsverläufe und die frühzeitige Reaktion auf psychische und entwicklungsbezogene Probleme aus gesellschaftspolitischen, sozialen, individuellen, ethischen und nicht zuletzt finanziellen Gründen einer späteren Therapie oder Rehabilitation vorzuziehen ist (vgl. Coie et al., 1993; Greenberg et al., 2003; Weissberg, Kuster & Gullotta, 1997). Diese grundlegende Annahme hat vor allem zwei inhaltliche Bezugspunkte, nämlich die Orientierung an menschlichen Entwicklungsverläufen und an sogenannten Risikomodellen der Entwicklung. Kernannahmen psychologischer Prävention: Menschliche Entwicklungsverläufe. Präventive Maßnahmen sind untrennbar mit einer ontogenetischen (d. h. entwicklungsbezogenen) Betrachtung menschlicher Probleme und Störungen verknüpft. Zum einen ist ihre Logik eng verbunden mit der grundsätzlichen Beeinflussbarkeit menschlicher Entwicklungsverläufe. Zum anderen beruhen Präventionsmaßnahmen auf der (relativ) zuverlässigen Prognose von Entwicklungsverläufen (Brandtstädter & von Eye, 1982), da ja mit Bezug auf ein zukünftiges, noch nicht vorhandenes Problem gehandelt wird. Aus diesem Grund müssen Daten zur Häufigkeit eines Problems durch Angaben zu dessen Stabilität im Entwicklungsverlauf und ggf. auch zur sukzessiven Verschärfung oder zur Negativdynamik von Entwicklungsverläufen ergänzt werden.
Risikomodelle der Entwicklung. Mit dem entwicklungspsychologischen Fokus des Präventionsgedankens eng verbunden ist die Orientierung an Risikofaktorenmodelle der Entwicklung, wie sie im Kontext der sogenannten Entwicklungspsychopathologie (vgl. Cicchetti & Cohen, 2006) vertreten werden. Diese Modelle werden häufig anhand einer Auflistung von Risikofaktoren (d. h. Merkmalen oder Variablen, für die ein Zusammenhang mit Problemen und Störungen empirisch bestätigt wurde) oder differenzierter durch ätiologische Modelle expliziert. Risikofaktoren können personaler (z. B. Temperamentsmerkmale) oder sozialer Natur (Erziehungsdefizite der Eltern) sein und sind häufig auch Ausgangspunkt für die inhaltliche Gestaltung und die Ziele von Präventionsmaßnahmen.
Unter konzeptionellen Überlegungen ist jedoch eine reine Orientierung an Risikofaktoren in den letzten Jahrzehnten zunehmend problematisiert worden. So konnte gezeigt werden, dass Wirkungen und Wirkungsweise von Risikofaktoren in der Regel komplex sind und nicht für alle Personengruppen gleich gelten müssen. Zudem können gleiche Risiken zu unterschiedlichen Problemen (Multifinalität) und unterschiedliche Risiken zu gleichen Problemen führen (Äquifinalität), was eine eindeutige Zuordnung von Risikomerkmalen zu Entwicklungsproblemen erschwert. Ein weiterer Kritikpunkt an der reinen Risikobetrachtung betrifft die Kumulation von Risikomerkmalen einer Person. In einer Reihe von Untersuchungen zur kognitiven, aber
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Bildungspsychologische Prävention
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auch zur sozialen Entwicklung zeigte sich, dass die Anzahl an vorliegenden Risikofaktoren einer Person ein besserer Prädiktor für spätere Fehlentwicklungen ist als die spezifische Art der Risiken (z. B. Deater-Deckard, Dodge, Bates & Pettit, 1998; Sameroff & Fiese, 2000). Insofern sollten sich Präventionsmaßnahmen eher an der Höhe und weniger an der Art der Belastung orientieren. Schließlich unterschätzt eine reine Risikoperspektive, dass Personen auch in der Lage sind, bestimmte Risiken zu bewältigen oder zu kompensieren. Diese Überlegungen sind schon früh in das Konzept der sogenannten Schutzfaktoren eingeflossen. Entsprechend wurde gefordert, das Handlungsrepertoire und die Bewältigungskompetenzen von Personen zu erweitern und nicht nur das Risikopotenzial zu verringern (vgl. auch Petermann & Schmidt, 2006). Darin kommt der fließende Übergang zu gesundheitsförderlichen Ansätzen mit salutogenetischen (d. h. an Gesundheit orientierten) Komponenten zum Ausdruck.
2.2 Wissenschaftliche Fundierung von Präventionsmaßnahmen Zur wissenschaftlichen Fundierung von Präventionsmaßnahmen reichen die genannten Kernannahmen allein jedoch nicht aus, da aus ihnen beispielsweise nicht hervorgeht, wann Präventionsmaßnahmen angezeigt oder welche konkreten Präventionsmethoden angewandt werden sollen. Aus diesem Grund müssen weiterführende Überlegungen angestellt werden, um ihre Argumentationslogik, ihre Inhalte und die Art der Durchführung wissenschaftlich zu begründen (vgl. Beelmann, 2007; Beelmann & Raabe, 2007). Eine gute theoretische Fundierung von Präventionsprogrammen kann allerdings keine Erfolge garantieren, weshalb eine nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführte Evaluierung zwingende Voraussetzung für die Begründung psychologischer Präventionsmaßnahmen ist. Dazu lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden. Wirksamkeitsaspekte psychologischer Interventionen: Nach Flay et al. (2005) umfasst die Evaluation von Interventionsmaßnahmen (1) die nachgewiesene Wirksamkeit in methodisch hochwertigen Untersuchungen, die von mindestens zwei unabhängigen Forschungsgruppen durchgeführt wurden (efficacy), (2) die nachgewiesene Wirksamkeit unter praktisch repräsentativen Rahmenbedingungen (effectiveness) und (3) Überlegungen und Maßnahmen zur Verbreitung und Implementation der Programme in soziale Versorgungssysteme (dissemination).
Zur Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen liegt international mittlerweile eine umfangreiche Forschung vor (vgl. Beelmann, 2006). Allgemein lässt sich sagen, dass umfangreichen Metaanalysen zufolge durch Präventionsmaßnahmen etwa Effektstärken in einer Größenordnung von d = 0.20 bis 0.50 erzielt werden. Das sind nach Cohen (1988) kleine bis mittlere Wirkungen, die zum Beispiel eine 10 bis 20 % Verbesserung der Entwicklungschancen durch Präventionsmaßnahmen kennzeichnet. Die Wirkungen variieren aber über die verschiedenen Studien beträchtlich. Aus diesem Grund sind allgemeine Wirksamkeitsangaben zu Präventionsmaßnahmen mit großer Vorsicht zu genießen und bedeutsame Moderatoren des Erfolgs anzunehmen. Zu den wichtigsten Wirksamkeitsfaktoren gehören die Art und der Inhalt der Erfolgskriterien (Erfolge werden vor allem
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bei unmittelbaren Erfolgskriterien erzielt), die Art der Zielgruppe (universelle weist oft geringere Effekte als gezielte Prävention auf), die theoretische Ausrichtung der Programme (interaktive, kognitiv-behaviorale Programme erwiesen sich als wirksamer als z. B. reine Informationsprogramme) sowie die Administratorin bzw. der Administrator der Programme (Programmautorinnen und -autoren erzielen höhere Effekte als psychosoziales Fachpersonal, das nicht an der Entwicklung der Maßnahmen beteiligt war). Ein weiteres Problem ist die bislang recht spärliche Überprüfung der Langzeiteffekte, so dass die für Präventionsmaßnahmen im Grunde essenzielle Frage der Nachhaltigkeit der Wirkungen bis heute nicht ausreichend sicher beantwortet werden kann (vgl. Beelmann, 2006). Zudem beziehen sich die Untersuchungen vor allem auf die Vermeidung klinischer Entwicklungsprobleme und seltener auf die Vermeidung von Bildungsproblemen und die Förderung von Bildungskarrieren.
2.3 Spezifische Präventionsansätze im Bildungsbereich und ihre Fundierung
Formalisierte Trainingsprogramme Formalisierte Trainingsprogramme gehören zu den beliebtesten Präventionsmethoden. Ihr grundlegender Ansatz ist der einer strukturierten und (zeitlich) begrenzten Intensivförderung, um definierte Fertigkeiten zu erwerben, die zu einer gesunden Entwicklung und zur Prävention von Entwicklungsproblemen beitragen. Im Bildungsbereich ist zwischen drei Kategorien zu unterscheiden, die teilweise sehr konkret, teilweise aber auch eher indirekt zur Prävention von Bildungsproblemen beitragen sollen: Kognitive Förderprogramme, soziale Trainingsprogramme sowie Programme zur Gesundheitsförderung und Stressbewältigung. Kognitive Förderprogramme. Trainingsprogramme zur Förderung kognitiver Funktionen sind in den letzten Jahren zahlreich entwickelt und angeboten worden. Differenzieren lassen sich Programme zum induktiven Denken, Programme zur Förderung metakognitiver Kompetenzen, der Planungsfähigkeit, der Gedächtnisfunktionen, der Aufmerksamkeit/Konzentration oder auch der Wahrnehmungsfähigkeit (vgl. Übersichten in Langfeldt, 2003; Klauer, 2001). Im deutschen Sprachraum haben die verschiedenen Varianten des Trainings zum induktiven Denken von Klauer breite Aufmerksamkeit erlangt (vgl. Klauer, 2007). Kernelement dieses Programms, das für unterschiedliche Altersgruppen und Lernstärken und mittlerweile auch für ältere Personen (Klauer, 2008) vorliegt, ist das wiederholte Üben von Regelableitungen, die sich durch die kognitive Strategie des Vergleichens sowie der Entdeckung von Gleichheit und Verschiedenheit von Objekten und Relationen zwischen Objekten ergeben. Entsprechend liegt dem Programm eine größere Menge von Übungsaufgaben mit altersangemessenem Material zugrunde, in dem die Trainingsteilnehmerinnen und -teilnehmer kognitive und metakognitive Kompetenzen erwerben sollen, die als Grundlage schulischen Lernens angesehen werden. Andere kognitive Trainingsprogramme setzen an der Förderung klassischer Kulturtechniken (Lesen, Rechnen, Schreiben) an. Derartige Programme sind jenseits des Regelunterrichts vor allem im Kontext der Vermeindung und Behandlung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten entwickelt und propagiert worden. Dabei haben sich Programme zur
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Förderung der phonologischen Bewusstheit als Teil der phonologischen Informationsverarbeitung im Vorschulalter wie etwa das Würzburger „Hören-Lauschen-Lernen“Programm der Arbeitsgruppe Schneider als Präventionsstrategie besonders bewährt (vgl. Küspert & Schneider, 2008; Schneider & Marx, 2008; Schneider, Roth & Ennemoser, 2000). Solche Programme bestehen aus unterschiedlichen Übungen, in denen Kinder Lauschübungen, Reime, Anlautidentifikation sowie Phonemsynthese und -analyse durchführen. Zur Wirksamkeit von kognitiven Förderprogrammen liegen zahlreiche Evaluationsstudien vor (Hager, 1995; Klauer, 2001). Vor allem das Programm zum induktiven Denken von Klauer wurde mittlerweile in zahlreichen kontrollierten Untersuchungen evaluiert (Klauer, 2007). Dabei konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche Altersgruppen und Fähigkeitsgruppen beträchtlich von dem Training profitierten und dies sowohl im Hinblick auf allgemeine Intelligenzparameter als auch im Hinblick auf das schulischen Lernen. Das gezielte Üben grundlegender kognitiver Funktionen scheint demnach nachfolgende Bildungsprozesse und -karrieren positiv beeinflussen zu können, wiewohl selten Bildungskarrieren von trainierten und nicht trainierten Kindern verglichen wurden. Andere kognitive Trainingsprogramme weisen dagegen eine nicht so umfassende evaluative Fundierung auf, insbesondere nicht im Hinblick auf längerfristige Effekte. Metaanalysen zufolge profitieren Vorschulkinder von phonologischen Trainings deutlich im Hinblick auf den Schrift-Sprach-Erwerb und die Lesefähigkeit in den ersten Schuljahren (Bus & van Ijzendoorn, 1999; Ehri, Nunes, Stahl & Willows, 2001). Soziale Trainingsprogramme und die Prävention von Verhaltensproblemen. Als mittelbare oder indirekte Präventionsstrategie kann die Förderung in sozialer Kompetenz bzw. Strategien zur Vermeidung von Verhaltensproblemen (zumeist bezogen auf Aggression, Gewalt, Kriminalität) angesehen werden. Hintergrund ist der wiederholt gefundene Zusammenhang zwischen sozialer Kompetenz und kognitiven Leistungsparametern bzw. Lern- und Verhaltensproblemen. Die Forschung zu sozialen Trainingsprogrammen insbesondere im Bereich der Prävention dissozialer Verhaltensprobleme ist ausgesprochen umfangreich (vgl. Beelmann, 2008a; Beelmann & Raabe, 2007, 2009; Lösel & Beelmann, 2003). Es zeigten sich vielfältige positive Effekte auf sozial-kognitive Parameter und das Sozialverhalten. Ob eine systematische Förderung der Sozialkompetenz aber auch längerfristig zur Optimierung von Bildungsprozessen beiträgt, ist bislang nicht direkt untersucht worden. Anzunehmen ist aber, dass eine verbesserte Sozialanpassung längerfristig auch Schul- und Berufsabschlüsse sowie insgesamt das Arbeits- und Berufsleben günstig beeinflussen. Sozialprogramme liegen für unterschiedliche Altersgruppen vor. Bekannte Programme beziehen sich z. B. auf das Vorschulalter (Jaursch & Beelmann, 2008), das Schulalter (Cierpka, 2001) und das Jugendalter (Petermann & Petermann, 2007). Gesundheitsförderung und Stressbewältigung. Ähnlich wie zur Gewaltprävention sind eine Reihe von schulischen Programmen zur Gesundheitsförderung und Stressbewältigung von Kindern und Jugendlichen entwickelt worden (Jerusalem, 2003; Roth, Rudert & Petermann, 2003). Grundidee ist die systematische Erziehung zu gesundheitsförderlichem Verhalten (bzw. Vermeidung gesundheitsschädlichem Verhalten) oder die Ausbildung in Methoden der Stressbewältigung vor allem im Kontext schulischer Belastungen.
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Die Trainings dienen damit eher indirekt der Förderung des schulischen Lernens und der Unterstützung von Bildungsprozessen. Verschiedene Studien zeigen, dass bereits Kinder beträchtlichen Belastungen, sei es durch alltägliche Anforderungen in der Schule, durch kritische Lebensereignisse (etwa Scheidung der Eltern) oder auch chronischen Erkrankungen (z. B. Asthma), ausgesetzt sind und in einem hohen Ausmaß körperliche wie psychische Stresssymptome aufweisen (z. B. Lohaus, Beyer & Klein-Heßling, 2004). Die Ziele von Stressbewältigungstrainings (z. B. Programme von Klein-Heßling & Lohaus, 2000; Hampel & Petermann, 1998) liegen im Aufbau angemessener Stressbewältigungskompetenzen (Coping) und der Reduktion von körperlichen und psychischen Stresssymptomen. Dazu werden sowohl Wahrnehmungsübungen (Wie kann ich Stress erkennen?) als auch Bewältigungsübungen und -strategien gelernt (z. B. Ruhepausen einhalten, Entspannung, sich über Stress mitteilen, Hilfe in Anspruch nehmen).
Präventiv orientierte Breitbandansätze Eine zweite Gruppe von Präventionsmaßnahmen betrifft umfassendere Konzepte, die in der Regel durch eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen gekennzeichnet sind und dabei einen geringeren Formalisierungsgrad aufweisen. Dazu würden etwa Frühfördermaßnahmen und Konzepte der Vorschulerziehung sowie kombinierte schulische Präventionsprogramme gehören. Frühförderung und Vorschulerziehung. Frühförderung ist ein Sammelbegriff für pädagogisch-psychologische Interventionsmaßnahmen, die typischerweise in den ersten Lebensjahren stattfinden und eine konkrete Entwicklungsförderung von Kindern mit einem erhöhten Entwicklungsrisiko (z. B. Kinder mit Behinderung) sowie eine begleitende Beratung/Betreuung der Eltern und Familien beinhalten. Auf Seiten der Kinder wird zumeist eine umfassende Entwicklungsförderung angestrebt, für die Eltern steht in der Regel die emotionale Unterstützung und Betreuung sowie eine gezielte Informationsvermittlung und die Ausbildung in zielgruppenspezifischen Erziehungsfertigkeiten im Vordergrund (z. B. Beelmann & Brambring, 1998). Vor allem in den USA existiert eine umfangreiche Forschung zur sogenannten kompensatorischen Vorschulerziehung bei sozial benachteiligten Familien und ihren Effekten auf die schulische Bildung und Bildungskarrieren. Allgemein zeigten diese Programme zum Teil erstaunliche Wirkungen auf kognitive und schulbezogene Kriterien (Lazar & Darlington, 1982; Mrazek & Brown, 2002), wenngleich die Erfolge gelegentlich auch hinter den Erwartungen dieser oft sehr intensiven Präventionsbemühungen lagen. Anderseits wurden mit den Frühinterventions- und Vorschulprogrammen in einigen Studien auch beträchtliche langfristige Erfolge im Hinblick auf die berufliche Sozialisation, klinische Probleme und Störungen sowie Kriminalität erzielt (vgl. z. B. Schweinhart et al., 2005). Kombinierte schulische Präventionsprogramme. Ein weiterer Breitbandansatz der Prävention sind kombinierte schulische Programme, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen (Schule, Eltern, Lehrkräfte, Schülerinnen bzw. Schüler). International große Aufmerksamkeit und Verbreitung hat in diesem Zusammenhang der schulbezogene Gewaltpräventionsansatz von Olweus (1996) erfahren. Grundsätzliches Ziel des Programms ist der konsequente Umgang mit Gewaltphänomenen im schulischen Kontext sowie die Etablierung eines durch Verantwortlichkeit und Wärme gekennzeichneten Schulklimas. Dazu
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schlägt der Autor drei Maßnahmen-Ebenen vor, die die Schule, die Klasse und die individuelle Schülerin bzw. den individuellen Schüler betreffen. Auf der Schulebene wird beispielsweise vorgeschlagen, eine Fragebogenerhebung zum Thema Gewalt und Mobbing durchzuführen und dessen Ergebnisse auf einer Schulkonferenz oder einem pädagogischen Tag vorzustellen. Auf der Klassenebene sollen zum Beispiel feste und verbindliche Regeln zum Umgang mit Gewalt festgelegt werden und auf individueller Ebene werden unter anderem ernste Gespräche mit Gewalttäterinnen bzw. -tätern und Gewaltopfern vorgeschlagen, um auf Gewalt frühzeitig zu reagieren und einen wirksamen OpferSchutz anzubieten. Das Olweus-Programm kann auf zahlreiche Evaluationen hinweisen, in denen überwiegend positive Ergebnisse und eine Reduktion des gewalttätigen Verhaltens oder der Opferzahlen in der Schule berichtet werden (vgl. Limber, 2006). Allerdings konnten die von Olweus (1997) in Norwegen erzielten Wirkungen in dieser Größenordnung in bislang keiner anderen Untersuchung bestätigt werden (vgl. in Deutschland z. B. Hanewinkel, 1999). Die Untersuchungen zum Olweus-Programm machen somit auch deutlich, dass eine simple Übertragung eines erfolgreichen Präventionskonzepts in andere kulturelle und soziale Kontexte nicht ohne weiteres möglich ist. Weitere groß angelegte Präventionsprojekte im schulischen Kontext sind in den letzten Jahren vor allem in den USA begonnen worden, darunter das viel beachtete FAST-Track-Programm (vgl. Conduct Problems Prevention Research Group, 1992) oder das jüngst angelaufene LIFTProgramm (Linking in Interests of Families and Teachers; vgl. Reid, Eddy, Fetrow & Stoolmiller, 1999), das auf die Schaffung tragfähiger Kommunikationsstrukturen zwischen Schulen und Familien zur Vermeidung von Lernproblemen und Verhaltensstörungen setzt. Inwieweit durch solche Programme auch das schulische Lernen optimiert und negative Bildungskarrieren verhindert werden können, ist allerdings noch nicht klar.
3 Praktische Bedeutung Auch wenn Evaluationen zum Einfluss von Präventionsmaßnahmen auf unmittelbare und längerfristige Kriterien des Bildungserfolgs (z. B. Qualität des Schulabschlusses) bislang fehlen, so kann aus mehreren Gründen von einer hohen praktischen Bedeutung präventiver Förderstrategien ausgegangen werden. Erstens sind die Inzidenz- und Prävalenzraten von Lern- und Leistungsproblemen als primäre Zielprobleme der Bildungspsychologie hoch (Hasselhorn & Schuchardt, 2006). Nimmt man sowohl mildere Formen von Lernproblemen (Klassenwiederholungen, Lernrückstände in Einzelfächern, allgemeine Schulschwierigkeiten, Schulabgang ohne Abschluss) als auch klinisch relevante Formen von Lernstörungen (Lernschwäche, Lernbehinderung, Lese-Rechtschreibschwäche) zusammen, so sind ca. 15 bis 25 % aller Kinder im Laufe ihrer Entwicklung zum Erwachsenen von diesen Problemen betroffen (Lauth, Grünke & Brunstein, 2004; Lauth & Mackowiak, 2006). Dabei verteilen sich die Probleme keineswegs gleichmäßig in der Bevölkerung, sondern betreffen eher untere Sozialschichten und in zunehmenden Maße auch Kinder von Migrantinnen und Migranten (Koch & Dollase, 2009). Prävention scheint mit Blick auf diese Zahlen vor allem eine Aufgabe am unteren Ende der Leistungsverteilung zu sein. Hinzu kommen weitere Entwicklungsprobleme wie Aggression, Gewalt, Drogenkonsum und anderes mehr, die sich mittelbar auf Bildungskarrieren auswirken, aber eine hohe Komorbidität zu Leistungsproblemen aufweisen (Beelmann & Raabe, 2007).
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Ein zweiter Aspekt der praktischen Bedeutsamkeit bezieht sich auf den Schwerpunkt der Präventionsarbeit zu frühen Entwicklungszeitpunkten. Hier lassen Ergebnisse der kognitiven Entwicklung den Schluss zu, dass Lernen in frühen Lebensjahren unter vergleichsweise günstigen Bedingungen stattfindet, in den ersten Lebensjahren also schneller oder lang anhaltender ist. Zudem geben uns die gewärtigen Realitäten der Bildungssysteme und Bildungskarrieren deutliche Hinweise darauf, dass frühe Defizite der Bildung später kaum ausgeglichen werden können. So ist die Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungsinstitutionen von unten nach oben gering und insgesamt sinkt mit zunehmendem Alter die Flexibilität individueller Bildungskarrieren. Prävention als Förderung individueller Bildungskarrieren macht auch die gesellschaftliche und ökonomische Perspektive von Prävention deutlich. Beispielsweise müssen komplex organisierte Sozialsysteme in entwickelten Industrieländern vor dem Hintergrund wachsender Globalisierung aus ethischen, sozialen und schließlich auch ökonomischen Gründen bestrebt sein, sogenanntes Humankapital optimal zu fördern. In diesem Zusammenhang sollte nochmals die besondere Eignung vorschulischer und schulischer Einrichtungen als Ort und Setting der Präventionsarbeit gewürdigt werden (vgl. Beelmann, 2008b). So können über diese Bildungseinrichtungen Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und Lehrkräfte mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit von präventiven Angeboten erreicht werden. Dies ist insbesondere für universelle Präventionsmaßnahmen ein Vorteil. Auch bieten sich in Kindergärten und Schulen vergleichsweise günstige praktische Bedingungen. Zum Beispiel können ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen die Maßnahmen durchführen oder es werden Materialien und Räume genutzt. Ebenso können Auswahlstrategien zur gezielten Prävention (etwa bei bestimmten Risikogruppen) in der Schule vergleichsweise ökonomisch eingesetzt werden. Und schließlich bieten sich zusätzliche Möglichkeiten, den Kindergarten oder die Schule selbst als wichtige Ökosysteme der Entwicklung zum Gegenstand von Präventionsmaßnahmen zu machen, zum Beispiel durch die Einführung bestimmter Formen des Unterrichts, durch schulbezogene Maßnahmen wie die Pausenhofgestaltung oder auch makrosystemische Präventionskonzepte (z. B. Einführung der Ganztagsbetreuung).
4 Zukunft des Themas: Künftige relevante Aspekte, Aufgaben für die Bildungspsychologie Vor dem Hintergrund der allgemeinen Bedeutung von Bildung für die schulische und berufliche Entwicklung dürften Präventionsmaßnahmen in Zukunft eher an Bedeutung gewinnen. Unter der Bedingung sinkender Ressourcen für soziale Projekte oder zumindest an Dramatik zunehmender Verteilungskämpfe in unserer Gesellschaft besteht allerdings ein erheblicher Legitimationsdruck für präventive Maßnahmen. Geht man jenseits dieser grundsätzlichen Aspekte von der Stärkung präventiver Perspektiven in der Bildungspsychologie aus, lassen sich folgende zukünftig relevante Aufgaben nennen: • Ausweitung der Altersperspektive. Selbstverständlich müssen sich Präventionsmaßnahmen nicht allein auf das Kindes- und Jugendalter beschränken. Auch zu anderen Entwicklungsabschnitten wären Präventivkonzepte denkbar und im Rahmen einer Perspektive des lebenslangen Lernens in zunehmendem Maße notwendig. Auf kognitive
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Trainingsprogramme für ältere Menschen wurde bereits hingewiesen; darüber hinaus sind präventive Bildungsangebote im Bereich der Fort- und Weiterbildung sicher zukunftsträchtig. • Präventionsstrategische Überlegungen. Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass kaum Alternativmodelle der Prävention (z. B. universelle vs. selektive Strategien) gegeneinander getestet wurden. Derartige Vergleiche sind selbstverständlich nicht nur im Hinblick auf die Wirksamkeit, sondern auch bezogen auf Kosten-Nutzen-Aspekte anzustellen. Sie wären insbesondere für versorgungsstrategische Fragen von hohem Nutzen. • Prävention für spezifische Personengruppen. Eine mit dem Aspekt der präferierten Präventionsart korrelierende Frage wäre, ob spezielle Angebote für besondere Risikogruppen erforderlich sind. Angesicht massiver Bildungsbenachteiligungen von Kindern mit Migrationshintergrund (Koch & Dollase, 2009) wäre dies nicht nur im Sinne einer verbesserten Integration, sondern auch bezogen auf gleiche Bildungschancen ein Präventionsfeld mit steigender Bedeutsamkeit. • Implementation und Verbreitung. Schließlich stellt sich bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen die Frage nach dem Transfer von wissenschaftlich getesteten Programmen in die psychosoziale Standardversorgung. Diesem Thema wird international mittlerweile eine große Aufmerksamkeit geschenkt, unter anderem weil eine Vielzahl von Planungsschritten und Überlegungen anzustellen sind (vgl. z. B. Payne, Gottfredson & Gottfredson, 2006). So sind beispielsweise mit der Implementation von Präventionsmaßnahmen in ein komplexes Sozialsystem wie Kindergarten oder Schule nicht nur Chancen, sondern auch Risiken verbunden. Diese ergeben sich beispielsweise dadurch, dass Präventionsziele mit schulischen Bildungsaufträgen (Einhaltung von Lehrplänen) und Interessen beteiligter Personen (zusätzliche Arbeitsbelastung für Lehrkräfte) konfligieren. Auch die Kooperationsbereitschaft und das persönliche Engagement der Lehrkräfte entscheiden nicht selten über eine gelungene Implementation und damit über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen. Extraprogrammatische Faktoren wie das Schulklima oder Interessenskonflikte zwischen beteiligten Personen müssen daher bei der Planung und Umsetzung von Präventionsprogrammen angemessen berücksichtigt werden.
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02 Teil 2_Bildungspsychologie 04.03.10 07:13 Seite 291
Joachim Petscharnig und Georg Spiel
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Konzeptionelle Rahmenbedingungen des Projektes
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
„WORKS“ – Ein Integrationsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Arbeitslosigkeit ist ein überdauerndes Problem des österreichischen Arbeitsmarktes. Neben den konjunkturell bedingten SchwanAufgabenbereiche kungen der Arbeitslosigkeit ist es die wachsende Sockelarbeitslosigkeit, die selbst in Zeiten der Hochkonjunktur nicht abgebaut werden kann. Davon betroffen sind v. a. wenig wettbewerbsfähige Gruppen am Arbeitsmarkt, wie ältere oder Personen mit Behinderung und Jugendliche. Vor diesem volkswirtschaftlichen Hintergrund wurden seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Projekte realisiert, die gruppenspezifische und/oder problemlagenspezifische Förderung anbieten, wobei Jugendlichen mit Behinderungen und/oder psychischen Störungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde (Bock-Schappelwein, 2005). Seit 1996 besteht das Projekt „WORKS“ als Arbeits- und Qualifizierungsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene von 15 bis 24 Jahren (Spiel & Petscharnig, 2006). Finanziert vom Bundessozialamt ermöglicht dieses Projekt eine berufsbezogene Qualifizierung im Ausmaß von 35 Wochenstunden für die Dauer von 6 bis 24 Monaten, je nach individuellem Bedarf. Die Qualifizierung erfolgt berufsbildorientiert in verschiedenen Arbeitsbereichen, wie z. B. Frisiersalon, Kaffeehaus, Hauswirtschaft, EDV-/Bürobereich, Tischlerei, Schlosserei. Die Arbeit in den Qualifizierungsbereichen erfolgt in Kleingruppen mit 3 bis 6 Jugendlichen und einer facheinschlägig ausgebildeten Person. Neben der berufsbezogenen Qualifizierung erhalten die Jugendlichen mehrmals wöchentlich individuelle Lernförderung im Einzel- oder Kleingruppensetting, wobei Basisbildungsinhalte (Lesen, Schreiben, Rechnen) sehr anwendungsorientiert aufgefrischt und/ oder vervollständigt werden. Begleitende klinisch-psychologische Verlaufsdiagnostik und psychologische Gruppenangebote ergänzen das Angebot. Ziel des Projektes ist die Vermittlung der Jugendlichen in den allgemeinen Arbeitsmarkt bzw., sofern dies nicht möglich ist, subsidiär in geschützte Beschäftigung oder weiterführende Ausbildungsschienen. Wenn eine Vermittlung oder Annäherung an den Arbeitsmarkt nicht möglich ist, erfolgt mitunter auch die Weitervermittlung in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
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292
Joachim Petscharnig und Georg Spiel
2 Zielgruppe Zielgruppe des Projektes sind Jugendliche, die aufgrund unzureichender Leistungsfähigkeit an der unmittelbaren Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gehindert sind. Gründe dafür sind insbesondere: • Psychische Auffälligkeiten oder Störungen, • Risikoverhalten (z. B. Drogenmissbrauch), • Soziale Passungsprobleme (z. B. Delinquenz), • Entwicklungsstörungen (z. B. der Sprache, Lese-/Rechtschreibfertigkeit), • Unterdurchschnittliche Intelligenz, • Fehlender familiärer Rückhalt und Unterstützung, • Negative Schulkarrieren und Lernerfahrungen, • Körperliche Behinderungen (als zusätzliche, nicht isolierte Beeinträchtigung). Die individuelle Ausgangssituation wird durch eine umfassende medizinische und klinisch-psychologische Eingangsdiagnostik erhoben.
3 Zielsetzung Berufliche Integration der Jugendlichen stellt das Hauptziel des Projektes dar. Dieses globale Ziel wird je nach individueller Bedarfslage durch parallele Betreuungsziele flankiert: Die Wohnsituation, die Familiensituation wie auch die Freizeitgestaltung im Rahmen der Betreuung sollen so weit entwickelt werden, dass die unterschiedlichen Lebensbereiche wechselseitig fördernd wirken. In zeitlicher Hinsicht gliedert sich das globale Ziel in Rehabilitationszwischenziele: Eine Berufsorientierungsphase von 2 bis 3 Monaten bildet vielfach die Basis für eine vorläufige Berufsentscheidung, die wiederum Voraussetzung für entsprechende Förderung im Projekt und für externe Arbeitserprobungen ist. Ebenso ist die Absolvierung eines Bewerbungstrainings Grundlage für das erste Bewerbungsgespräch im Unternehmen. Dabei ist das Einüben und das selbstverantwortliche Aufrechterhalten von Tagesstruktur elementar für einen pünktlichen Arbeitsantritt am künftigen Arbeitsplatz. In Anbetracht der Vielfalt individueller Problemkonstellationen können die konkreten Ziele nur sehr individuell festgelegt werden. Sie müssen im Rahmen von Förderplänen regelmäßig überprüft und adaptiert werden.
4 Interventionen Die Interventionen beziehen sich nicht nur auf den Erwerb konkreter, unmittelbar berufsbezogener Fähigkeiten und Fertigkeiten im jeweiligen Berufsbild (z. B. Feilen), sondern fokussieren auch soft-skills, die im sozialen Umfeld des Arbeitsplatzes besonders relevant sind (z. B. Gesprächsführung mit Kolleginnen und Kollegen). Die tägliche achtstün-
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„WORKS“ – Ein Integrationsprojekt
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dige Arbeit in den Qualifizierungsbereichen bildet dazu das Kernangebot. Die Jugendlichen durchlaufen mehrere Qualifizierungsbereiche und lernen auf diese Weise unterschiedliche Berufsbilder kennen und erleben auch sozial abwechselnde Situationen. Gearbeitet wird stets an konkreten Produkten oder Dienstleistungen, welche auch an Kundinnen und Kunden verkauft oder direkt an der Kundin bzw. am Kunden erstellt werden (z. B. Haare schneiden). Die Jugendlichen erwerben dabei grundlegende Kenntnisse im jeweiligen Berufsbild, wobei die Ausbildungsinhalte des ersten Lehrjahres als Bezugsrahmen dienen. Neben den facheinschlägigen Kenntnissen ist das Verhalten am Arbeitsplatz ein weiteres, zentrales Lernfeld: der angemessene Umgang mit Kundinnen und Kunden, Arbeitskolleginnen und -kollegen oder Vorgesetzten wird praktisch geübt und im Gespräch nachbereitet. Fehlleistungen und Misserfolge bei der Arbeit werden in einem konstruktiven Fehlermanagement mit den Jugendlichen verarbeitet. In arbeitsteiligen Prozessen werden die Jugendlichen für Teilergebnisse in Verantwortung gesetzt und lernen dabei, Arbeitsanforderungen inhaltlich wie zeitlich zu planen und dementsprechend auszuführen. Die Jugendlichen erfahren auf diese Weise ihren eigenen Beitrag zu einem Gesamtwerk. Feedback von Kundinnen und Kunden im Guten wie im Schlechten wird gemeinsam mit den Jugendlichen in den Werkstätten besprochen.
5 Ergebnisse Zwischen September 1996 und September 2007 sind insgesamt 473 Jugendliche in das Projekt eingetreten, wobei die Nachfrage die Projektkapazität deutlich übersteigt und eine Warteliste geführt werden muss. Der Eintritt erfolgt üblicherweise einige Monate nach Aufnahme auf die Warteliste, wodurch auch das Eintrittsalter in das Projekt mit beeinflusst wird. Der Anteil männlicher Jugendlicher ist auffallend hoch (siehe Tabelle 1). Hinsichtlich der schulischen Vorbildung weisen im langjährigen Durchschnitt rund 78 % der Jugendlichen eine, im Hinblick auf den Arbeits- und Ausbildungsmarkt nachteilige Schulkarriere auf. Deutlich mehr als die Hälfte der Jugendlichen hat diagnostizierte Beeinträchtigungen ihrer psychischen Gesundheit. Ein schwankender Anteil der Jugendlichen, im mehrjährigen Mittel jedoch rund 50 %, weisen ein eher niedriges Intelligenzniveau auf, d. h. ihr Intelligenzquotient (IQ) liegt unter 84 und damit unter dem Normbereich. Rund die Hälfte der Jugendlichen zeigt zusätzlich besondere psychosoziale Belastungen. Dazu gehören Trennungsfamilien, außerfamiliäre Unterbringungsformen, oder auch ausgeprägte innerfamiliäre Konflikte. Die Teilnahmedauer der Jugendlichen variiert im Einzelfall recht deutlich. Dies spiegelt auch die unterschiedlichen Bedarfslagen der Jugendlichen wieder. Über die Jahre hinweg wurden zwischen 45 bis 68 % der teilnehmenden Jugendlichen vermittelt, d. h. wahlweise in Arbeit, Lehrausbildung oder weiterführende Ausbildungsformen integriert. Der restliche Anteil der Jugendlichen konnte in der gegebenen Zeit nicht unmittelbar in eine berufliche Beschäftigung integriert, allenfalls dem Arbeitsmarkt näher gebracht werden. Vielfach handelt es sich dabei um Jugendliche, deren Problemlagen über viele Jahre nicht erkannt bzw. nicht adäquat behandelt wurden und sich bis ins Jugendalter perpetuiert und verfestigt haben.
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Joachim Petscharnig und Georg Spiel
Tabelle 1: Stichprobenmerkmale und Vermittlungsquoten im Rahmen von WORKS zwischen 1996 und 2007 Soziodemografische Merkmale Jahr
Gesundheit
Projektteilnahme
N M
EA (SD)
MÄN NSK BPG (%) (%) (%)
NI (%)
PSB (%)
M
DPT (SD)
VIB (%)
96/97
35
16,31 (0,93)
60
69
65
32
52
180
(115)
57
97/98
36
16,31 (0,82)
56
73
52
58
56
153
(98)
67
98/99
41
16,34 (0,66)
56
81
64
43
58
160
(145)
63
99/00
38
16,34 (0,66)
63
76
76
40
61
221
(201)
45
00/01
24
16,71 (1,30)
42
71
68
50
55
255
(171)
63
01/02
40
16,68 (1,14)
60
73
68
52
61
336
(141)
68
02/03
52
17,08 (1,23)
48
87
53
70
53
247
(138)
62
03/04
58
16,57 (1,50)
69
86
63
51
66
252
(139)
63
04/05
58
16,29 (1,16)
66
88
64
55
55
220
(122)
53
05/06
47
17,13 (1,83)
47
85
57
28
46
06/07
44
16,63 (0,71)
54
50
57
57
52
noch offen
M
16,51
SD
0,27
57,78 78,36 62,45 48,73 55,91 8,53 7,15 7,17 12,17
5,45
224,89
60,11
56,91
7,30
Anmerkungen: EA: Alter bei Projekteintritt; MÄN: Anteil männlicher Jugendlicher NSK: nachteilige Schulkarriere; umfasst folgende Bildungsergebnisse: kein Pflichtschulabschluss, Sonderschulabschluss, Integrationsstatus, 3. Leistungsgruppe; BPG: Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit; NI: Niedriges Intelligenzniveau: IQ ist kleiner gleich 84; PSB: psychosoziale Belastungsfaktoren; DPT: Dauer der Projektteilnahme in Tagen; VIB: Vermittlung in Beschäftigung nach Projektteilnahme;
6 Ausblick Basisbildungsprobleme, Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit sowie belastende psychosoziale Rahmenbedingungen erschweren Jugendlichen den Eintritt in die Erwerbstätigkeit. WORKS kann dabei eine Brückenfunktion übernehmen. Die Erfolge im Rahmen von WORKS sowie der hohe Andrang und die damit verbundenen Wartezeiten sprechen für einen quantitativen Ausbau dieser Projekte. Gerade im Hinblick auf die Gruppe der wenig erfolgreichen Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer, die nicht
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„WORKS“ – Ein Integrationsprojekt
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unmittelbar in Beschäftigung gebracht werden können, wären Interventionen in früheren Phasen der Entwicklung bzw. der Schulkarriere erforderlich um die Kumulation und Verfestigung von Problemlagen über den Entwicklungsverlauf zu vermeiden.
Literatur Bock-Schappelwein, J. (2005). Entwicklung und Formen der Arbeitslosigkeit in Österreich seit 1990. WIFO Monatsberichte, 78 (7), 499–510. Spiel, G. & Petscharnig, J. (2006). Rehabilitation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Beispiel der beruflichen Integration von Jugendlichen. Neuropsychiatrie, 20 (2), 118–126.
02 Teil 2_Bildungspsychologie 04.03.10 07:13 Seite 296
Dagmar Strohmeier, Moira Atria und Christiane Spiel
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Handlungsebenen
Förderung sozialer Kompetenzen und Prävention aggressiven Verhaltens durch das Schulprogramm WiSK
b roe
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
e k Vorschulbereich Aggressives Verhalten von SchüMi ben e o Säuglingsund Kleinkindalter s lerinnen und Schülern wurde in Me bene e den letzten Jahren in der Öffentkro lichkeit verstärkt als Problem Ma erkannt, weshalb auch die Nachfrage an theoretisch fundierten und evaluierten PräventionsproAufgabenbereiche grammen stark zugenommen hat. Das an der Universität Wien entwickelte WiSK Programm entspricht diesen Kriterien. Als Resultat einer mehrjährigen Pilotphase und begleitender Evaluationsstudien wurde das WiSK als ganzheitliches Schulprogramm konzipiert. Aggressives Verhalten wird im Rahmen des WiSK Programms nicht ausschließlich als Problem einzelner aggressiver Individuen gesehen, sondern auch als Beziehungsproblem (Pepler, 2006) bzw. Gruppenphänomen (Salmivalli, Lagerspetz, Björkqvist, Österman & Kaukiainen, 1996) und als Schulproblem (Galloway & Roland, 2004). Das WiSK-Programm definiert Gewaltprävention daher als Aufgabe der gesamten Schule und besteht aus Maßnahmen auf Schulebene, Klassenebene und Individualebene.
1 Theoretische Grundlagen Auf Ebene der einzelnen Schülerinnen und Schüler werden im WiSK-Programm zwei Mechanismen unterschieden, die aggressivem Verhalten zugrunde liegen können: proaktive und reaktive Aggressivität. Auf Ebene des sozialen Umfelds, das in der Schule von Lehrkräften, Gleichaltrigengruppen bzw. der ganzen Schulklasse gebildet wird, spielen soziale Lernerfahrungen (Modelllernen, Verstärkungslernen) eine bedeutende Rolle für die Ausführung von aggressivem Verhalten. Auf Ebene der gesamten Schule gibt es ebenfalls eine Reihe von Merkmalen, die nachweislich in einem Zusammenhang mit der Auftretenshäufigkeit von aggressivem Verhalten einzelner Schülerinnen und Schüler stehen und daher für Prävention von Relevanz sind, wie z. B. das soziale Klima, das pädagogische Konzept oder die Klassenzusammensetzungen. Die im WiSK-Programm vorgeschlagenen Maßnahmen bauen auf diesen theoretischen Überlegungen auf. Die Bestandteile des WiSK-Programms werden im Folgenden überblicksartig dargestellt (Details zu den theoretischen Grundlagen und Maßnahmen siehe Strohmeier, Atria & Spiel, 2008).
02 Teil 2_Bildungspsychologie 04.03.10 07:13 Seite 297
Förderung durch das Schulprogramm WiSK
297
2 WiSK auf Schulebene Viele der in den letzten Jahren entwickelten Präventions- und Interventionsansätze sind als Mehr-Ebenen-Programme konzipiert (für einen Überblick siehe Smith, Pepler & Rigby, 2004). Insofern reiht sich das WiSK-Programm in eine bestehende Tradition ein. Das WiSK-Programm enthält viele Elemente, die sich in bereits bestehenden und in anderen Ländern erfolgreich eingesetzten Programmen bewährt haben. Neu am WiSKProgramm ist das WiSK-Klassenprojekt, das in Abschnitt 3 näher beschrieben wird, sowie der Ablaufplan von WiSK auf Schulebene. Die Elemente von WiSK zeigt Tabelle 1.
Tabelle 1: Elemente von WiSK
Schule
• • • • • • • •
Bildung eines verantwortlichen Lehrkräfteteams Festlegung von Schulregeln Entwicklung eines schulweiten Aktionsplans Information an Lehrpersonen, Eltern, Schülerinnen und Schüler Erhöhte Pausenaufsicht Konsequentes Eingreifen im Ernstfall Gespräche mit Schülerinnen und Schülern und Eltern Datenerhebungen (IST-Stand Analyse, Effektivitätsprüfung)
Eltern
• Information über Schulregeln, schulweite Aktionen, Klassenprojekte • Einbindung in schulweite Aktionen • Gespräche im Ernstfall
Klassen
• Festlegung von Klassenregeln • Klassenmanagement, d. h. Unterricht mit klaren Regeln und Abläufen • Integration des Themas in den Unterricht • Soziale Kompetenztrainings (z. B. WiSK-Klassenprojekt) • Projekttage
Schülerinnen und Schüler
• Gespräche mit Opfern • Gespräche mit Täterinnen und Tätern • Vermittlung von Einzel- oder Kleingruppentherapien für Täterinnen bzw. Tätern und Opfer
Die beiden wichtigsten Ziele auf Schulebene im Rahmen des WiSK-Programms sind, dass (1) alle geplanten bzw. umgesetzten Aktivitäten einer schulweiten, systematischen Vorgehensweise entsprechen und (2) eine möglichst große Gruppe von Personen (Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern) in die Aktivitäten einbezogen werden.
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Dagmar Strohmeier, Moira Atria und Christiane Spiel
3 WiSK auf Klassenebene Das WiSK-Klassenprojekt wurde in seiner Entwicklungs- und Pilotphase vier Mal von eigens geschulten Psychologinnen und Psychologen in insgesamt 11 Schulklassen der 6. bis 9. Schulstufe durchgeführt (Gollwitzer, 2005; Gollwitzer, Eisenbach, Atria, Strohmeier & Banse, 2006; Atria & Spiel, 2007). In der Konzeption des WiSK-Programms als ganzheitliches Schulprojekt wird das WiSK-Klassenprojekt von speziell ausgebildeten Lehrkräften durchgeführt. Für die Entwicklung des WiSK-Klassenprojekts wurde (1) auf Grundgedanken der sozialen Informationsverarbeitungstheorie von Crick und Dodge (1994) sowie (2) auf Forschungsergebnisse zum „Participant role approach“ (Salmivalli et al., 1996) zurückgegriffen. Aus diesen theoretischen Überlegungen ergeben sich die drei Grundprinzipien und Hauptziele des WiSK-Klassenprojekts: (1) Vermittlung von Wissen über Rechte und Pflichten, (2) Steigerung von Partizipation und Verantwortungsübernahme, sowie (3) Öffnung des Denkens und Bereicherung des Verhaltensrepertoires. Das Klassenprojekt besteht aus 13 Einheiten, die sich auf drei Phasen aufteilen: (1) Impulse und Gruppendynamik; (2) Reflexion; (3) Aktionen. Die erste Phase besteht (je nach Alter oder Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler) aus 6 bis 9 Einheiten, die zweite aus einer, die dritte aus 3 bis 6 Einheiten (in Abhängigkeit von der ersten Phase). Jede Einheit umfasst zwei Schulstunden (d. h. in der Regel zweimal 50 Minuten) und wird in der Schulklasse durchgeführt. Obwohl das WiSK Klassenprojekt eine klare Struktur aufweist, ist es ein adaptives Programm, d. h. die konkreten Übungen können je nach Klasse variieren.
4 WiSK auf Individualebene – Die Arbeit mit einzelnen Schülerinnen und Schülern Neben der primärpräventiven Arbeit auf Schul- und Klassenebene ist es notwendig, dass die Schule eine Vorgehensweise für die Arbeit mit einzelnen, bereits auffälligen Schülerinnen und Schülern im Ernstfall ausarbeitet, um für derartige Fälle gerüstet zu sein und diese auch schulintern, d. h. an die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie an die Eltern, kommuniziert. Maßnahmen, die auf bereits auffällige Personen oder Personengruppen abzielen, fallen in den Bereich der Sekundärprävention. Die Hauptaufgaben der Schule im Rahmen der Sekundärprävention liegen (1) in einer möglichst genauen Analyse des Sachverhalts, sowie darauf aufbauend (2) in der Gesprächsführung. Angelehnt an Roland und Vaaland (2006) wird die folgende Vorgehensweise im Falle besonders auffälliger Aggressionen einzelner Schülerinnen oder Schüler empfohlen: Eine oder mehrere erwachsene Personen übernehmen die Verantwortung für den kritischen Sachverhalt. Ihre Aufgabe ist es, das Opfer zu schützen und Forderungen an die Täterin oder den Täter zu stellen ohne zu verhandeln. Dazu ist es in einem ersten Schritt erforderlich, dass sich die verantwortlichen Erwachsenen ein möglichst genaues Bild von der
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Förderung durch das Schulprogramm WiSK
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Situation machen. Danach sollten sie zuerst mit dem Opfer sprechen, erst dann sollten Gespräche mit dem Täter oder der Täterin geführt werden. Zuletzt sollte mit den Eltern gesprochen werden.
Resümee und Ausblick Die Implementierung eines ganzheitlichen Schulkonzepts zur Prävention aggressiven Verhaltens von Schülerinnen und Schülern funktioniert nur unter Einbeziehung einer möglichst großen Personengruppe der Schule. Gewaltprävention wird somit zur Schulentwicklung. Der systematische Aufbau der dafür notwendigen Kompetenzen bei Lehrkräften, der auch eine Maßnahme zur Professionalisierung des Lehrberufs darstellt, soll dazu beitragen, aggressives Verhalten an Schulen nachhaltig zu stoppen. WiSK ist ein Programm, das dieses Ziel anstrebt. Inwieweit dieses Ziel mit WiSK erreicht werden kann, ist eine Frage, die durch großflächige Implementierungen und umfassende, begleitende Evaluationsstudien untersucht werden muss. Die Evaluationsbefunde auf Klassenebene sind jedoch sehr vielversprechend (siehe Gollwitzer et al., 2006).
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02 Teil 2_Bildungspsychologie 04.03.10 07:13 Seite 300
300
Dagmar Strohmeier, Moira Atria und Christiane Spiel
Strohmeier, D., Atria, M. & Spiel, C. (2008). WiSK. Ein ganzheitliches Schulprogramm zur Förderung sozialer Kompetenz und Prävention aggressiven Verhaltens. In T. Malti & S. Perren (Hrsg.), Entwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen in Kindheit und Adoleszenz (S. 214– 230). Stuttgart: Kohlhammer.
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Höheres Erwachsenenalter
Meike Landmann, Michaela Schmidt und Bernhard Schmitz
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ska g n du Sekundärbereich l i e B en Primärbereich
Vorschulbereich
Einführung
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
1.1 Definition
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1
Handlungsebenen
Bildungspsychologische Intervention
eb kro ne i M be e so e Me ben e kro Ma
Die Zielsetzung dieses Kapitels besteht darin, einen Überblick über Interventionen als bedeutsaAufgabenbereiche men Aspekt der Bildungspsychologie zu geben, wobei sowohl die unterschiedlichen Bildungskarrieren als auch die verschiedenen Handlungsebenen angesprochen werden. Bildungspsychologische Interventionen: Bildungspsychologische Interventionen (aus dem lateinischen: intervenire, dazwischentreten) können als ein aktives Eingreifen in bildungsrelevante Strukturen und Prozesse verstanden werden. Hierdurch sollen Bildungsinstanzen und Bildungsumwelten so gestaltet oder modifiziert werden, dass beruflich-fachliche und soziokulturelle Kompetenzen möglichst optimal entwickelt oder verändert werden können (Spiel & Reimann, 2006).
Interventionen gehen über die klassischen Ziele der Psychologie (Beobachtung, Beschreibung, Erklärung und Vorhersage menschlichen Erlebens und Verhaltens) hinaus, denn sie intendieren die Veränderung bzw. Verbesserung von Verhalten. In der Regel soll ein unmittelbar problematischer Sachverhalt beseitigt werden. Mittels Interventionsstudien können darüber hinaus Forschungsfragen beantwortet werden. Sie nehmen deshalb einen wesentlichen Stellenwert in der Bildungspsychologie ein.
1.2 Einordnung in das Strukturmodell der Bildungspsychologie Innerhalb des Strukturmodells der Bildungspsychologie gehören Interventionen zu den Aufgabenbereichen, die entlang der Bildungskarriere und der Handlungsebenen klassifiziert werden können. Aufgabenbereiche: Interventionen gehören zu den fünf Aufgabenbereichen Forschung, Beratung, Prävention, Intervention und Monitoring & Evaluation, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen fließend sind. Interventionen stellen eine Brücke zwischen den Aufgabenbereichen dar, da sie die Implementierung von Forschungsergebnissen in die Praxis ermöglichen. Die Abgrenzung zum Themengebiet Prävention erfolgt vor allem durch den zeitlichen Bezug zu dem zu verändernden problematischen Sach-
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verhalt, da Präventionen das Auftreten eines Problems verhindern sollen, während Interventionen ein Eingreifen in bereits bestehende Problemstellungen bedeuten. Allerdings lässt sich auch hier nicht immer eine klare Aufteilung vornehmen, weil viele Interventionen (v. a. im Vorschulalter und in den Bereichen Erziehung und Familie) auch präventiven Charakter haben und umgekehrt. Auch Beratung hat zum Ziel, einen unerwünschten Zustand einer Person oder einer Institution zu verbessern. Es wird aber vergleichsweise wenig in Strukturen und Prozesse des Bildungswesens eingegriffen, wie dies bei der Durchführung von Interventionen oftmals der Fall ist. Bildungskarriere: Werden Interventionen der Bildungskarriere zugeordnet, so sind im Bereich der Vorschule erst seit der Jahrtausendwende verstärkt Interventionsvorhaben zu beobachten, die z. B. durch Reformvorschläge des „Forums Lehrerbildung“ angestoßen wurden (Arbeitsstab Forum Bildung, 2001). Der eindeutige Schwerpunkt ist im Primärund Sekundärbereich festzustellen, da die Themen Lernen, Schule und Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen bzw. Schülern die zentralen Betätigungsfelder der Pädagogischen Psychologie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren (Weidenmann, 1993). Hierzu gehört auch die Begabtenförderung, die seit den 90er Jahren an Bedeutung gewinnt. Aktuelle Schulleistungsuntersuchungen wie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study; z. B. Baumert et al., 1997), PISA (Program for International Student Assessment; z. B. Baumert et al., 2001) und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung; z. B. Bos et al., 2003) haben zusätzliche Forschungsaktivitäten, Interventionen und Reformprozesse angestoßen, die sich nicht nur auf die Ebene der Schülerinnen- und Schüler, sondern auch auf Lehrkräfte- und Elternebene beziehen (z. B. Otto, Perels, Schmitz & Bruder, 2006). Traditionell beschränkten sich bildungspsychologische Interventionen im Tertiärbereich und im mittleren Erwachsenenalter auf die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften im Sinne der Professionalisierung pädagogisch handelnder Personen. Hierzu zählen seit Ende der 90er Jahre auch umfassende Programme zur Förderung eines positiven Erziehungsverhaltens für Eltern (z. B. „Triple P“, Sanders, 2003; siehe Abschnitt 2.5) und Familien- bzw. Elterninterventionen für besondere Problembereiche wie beispielsweise auffälliges Sozialverhalten (z. B. Petermann & Petermann, 2005). Durch das in den letzten Jahren vermehrt geforderte Life-Long-Learning wurde der bildungspsychologische Fokus auch auf andere Zielgruppen im Erwachsenenalter erweitert. So wurden auch das Lehren und Lernen im Arbeitsprozess wie z. B. die Entwicklung und Evaluation aufgaben- und zielgruppenspezifischer Trainingsprogramme oder das selbstregulierte Lernen für Berufstätige zunehmend relevant (z. B. Bergmann, 1999; Schreiber 1998). Weiterhin lassen die derzeitigen Veränderungen an den Hochschulen (z. B. Bologna Prozess) auch Universitäten als Bildungsinstitutionen zum Gegenstand von Interventionen und Pilotprojekten werden. Trotz dieser Veränderungen sind Interventionen im mittleren und höheren Erwachsenenalter in der Bildungspsychologie weiterhin unterrepräsentiert und werden eher der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie zugeordnet (Schorr, 2003; Weidenmann, 1993). Im Falle von Interventionen im höheren Erwachsenenalter kommt es zu Überschneidungen mit der klinischen Psychologie wie beispielsweise bei Interventionsstudien der Gerontologie (z. B. Haberstroh, Neumeyer, Schmitz, Perels & Pantel, 2006), die seit Mitte der 70er Jahre an Bedeutung gewinnen, aber ebenfalls noch vergleichsweise selten sind.
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Handlungsebene: Werden Interventionen bzw. das aktive Eingreifen in das Bildungsgeschehen als bildungspsychologische Aufgabe in Bezug auf die drei Handlungsebenen betrachtet, so ist der Einfluss auf das bildungspolitische Gesamtsystem (Makroebene) unterrepräsentiert. Auch wenn zahlreiche Interventionen auf Makroebene erfolgen (z. B. Vergleichsarbeiten, Zentrale Abschlussprüfungen, Einführung von Bildungsstandards), so basieren diese nicht hinreichend auf pädagogisch-psychologischen Forschungsergebnissen und deren Wirksamkeit wird selten ausreichend evaluiert. Ein seltenes Beispiel für die Evaluation bildungspolitisch motivierter Interventionen auf der Makroebene sind die Arbeiten von Fend, Dreher & Haenisch (1980) zum Vergleich zwischen dem Gesamtschul- und dem dreigliedrigem Schulsystem. Häufiger beeinflussen Interventionen individuelle Lernbedingungen (Mikroebene) oder Institutionen (Mesoebene). Doch auch wenn Interventionen auf Mikroebenen durchgeführt werden, sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer auch Teil eines komplexen Gesamtsystems (z. B. Schule, politische Rahmenbedingungen), das berücksichtigt werden muss. Nachhaltige Veränderungen können deshalb vor allem durch Top-Down-Prozesse (z. B. durch bildungspolitische Veränderungen) initiiert und gesteuert werden. Vergleichsweise schwierig ist es, durch Optimierungen, die sich auf den Mikro- oder Mesobereich beschränken, dauerhafte Veränderungen zu erzielen oder sogar die Makroebene zu beeinflussen (BottomUp-Prozesse). 1.3 Klassifikation von Interventionen Über die Kategorien des Strukturmodells hinaus können Interventionen nach vielfältigen Aspekten klassifiziert werden. Beispielsweise danach, ob eine Intervention (1) systemimmanent angeleitet wird (z. B. Interventionen an Schulen durch die Klassenlehrkraft) oder von externen Personen, die nicht Teil des Systems bzw. der Organisation sind (z. B. Interventionen an Schulen durch Trainerinnen und Trainer aus Forschungseinrichtungen). Auch können sich Interventionen in Bezug auf ihre (2) Dauer unterscheiden. So gibt es Interventionen, die relativ kurz sind (z. B. Projekttage) oder länger andauern und beispielsweise über das gesamte Schuljahr hinweg durchgeführt werden (z. B. Leseund Rechtschreibprogramme; Kowalczyk & Schilling, 2001). Hierbei sind natürlich vielfältige Abstufungen möglich. Eine weitere Differenzierung ist im Hinblick auf (3) die inhaltlichen Aspekte von Interventionen möglich. So können diese sehr spezifisch sein und nur einen Aspekt oder ein sehr begrenztes Gebiet thematisieren (z. B. eine Lernstrategie; Leutner, Leopold & Elzen-Rump, 2007), während andere Interventionen grundKlassifikationsmöglichkeiten von Interventionen: • Durchführung: Person/en des Systems vs. externe Person/en. • Dauer: kurz (Stunden, Tage) vs. andauernd/begleitend (Wochen/Monate/Jahre). • Inhalte: spezifische (Lernstrategie) vs. übergreifende Inhalte (z. B. selbstreguliertes Lernen). • Evaluation: trainingsnahe (z. B. Strategiewissen) vs. trainingsferne Evaluation (z. B. Schulnoten). • Effekte: kurz-, mittel- oder langfristige Effekte. • Wirkung: sofortige vs. verzögerte Wirkung.
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legendere und generalisierbare Aspekte behandeln (z. B. selbstreguliertes Lernen; Perels, Schmitz & Bruder, 2003). Auch in Bezug auf die (4) Evaluationen von Interventionen sind Differenzierungen z. B. hinsichtlich trainingsnaher vs. trainingsferner Effekte möglich (siehe dazu Abschnitt 2.4). Im Hinblick auf die (5) Effekte von Interventionen kann klassifiziert werden, inwiefern es sich um kurz-, mittel- oder langfristig anhaltende Effekte handelt. Ebenso kann die Wirkung (6) sofort oder verzögert eintreten. Eine wichtige Unterscheidung von Interventionen begründet sich darin, inwiefern diese auf pädagogisch-psychologischen Erkenntnissen beruhen und ob eine systematische Prüfung der Ergebnisse erfolgt. Die bildungswissenschaftlich seriöse Einwirkung auf Bildungsinstanzen und Bildungsumwelten erfordert die Berücksichtigung bildungspsychologischer Theorien und Forschungsergebnisse. Ebenso ist die systematische Prüfung der Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen erforderlich (siehe Abschnitt 2.4). Wird die systematische Wirksamkeitsprüfung mit aktuellen Forschungsfragen verknüpft, können Interventionsstudien auch zum bildungspsychologischen Erkenntnisgewinn beitragen.
1.4 Kernprobleme der wissenschaftlichen Interventionsforschung Das aktive Eingreifen von Interventionen in den Bildungsprozess impliziert deren praktische Bedeutsamkeit. Um hierbei die angesprochene wissenschaftliche Fundierung zu gewährleisten, bedarf es entsprechender Theorien, auf deren Basis praxisnahe, verständliche Konzepte entwickelt werden (z. B. zur Gestaltung von Lernumgebungen). Genau an dieser Schnittstelle zeigen sich zwei Kernprobleme: 1. Die Untersuchungsbedingungen sollten so gestaltet werden, dass es möglich ist, zuverlässige und intern valide Aussagen über Kausalbedingungen treffen zu können. Nach dem klassischen experimentellen Ansatz bedeutet das, alle Einflussfaktoren so gut wie möglich zu kontrollieren und Experimente im Labor durchzuführen. Bei den Untersuchungen sollten aber andererseits auch komplexe Bildungsbedingungen berücksichtigt werden, im Sinne einer möglichst realitätsnahen Integration relevanter Faktoren, um ökologisch valide Aussagen über Wirkzusammenhänge treffen zu können. Dies schließt sowohl Bedingungen auf individueller Ebene (z. B. genotypische, kognitive) als auch seitens proximaler (z. B. Instruktion, Verhaltensrückmeldung) und distaler Umwelten (z. B. Wertekultur, Politik) ein (Pekrun, 2002). 2. Die Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis soll erleichtert werden. Dies bedeutet zum einen, dass Forschungsergebnisse in einer für die Anwenderinnen und Anwender (z. B. Lehrkräfte, Ministerien) verständlichen Form dokumentiert und vermittelt werden. Zum anderen müssen entsprechende Empfehlungen auch alltagstauglich, d. h. prinzipiell umsetzbar sein. So könnte es beispielsweise aus bildungspsychologischer Sicht sinnvoll sein, im regulären Unterricht auch Lernstrategien zu vermitteln. Aus Sicht der Lehrkraft würde diese Vermittlung auf Kosten der Zeit gehen, die für die Fachinhalte zur Verfügung steht. Aus Gründen der Realisierbarkeit können andere Formen der Strategievermittlung angeboten werden, z. B. kombinierte Vermittlung von Inhalten und Lernstrategien (z. B. durch Projektunterricht). Zusammenfassend lässt sich dieses Dilemma als Theorie-Praxis-Lücke beschreiben, die nicht nur im Bereich der Bildungspsychologie zu finden ist. Dies bringt auch De Corte
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(2005) zum Ausdruck, wenn er schreibt: „A major question becomes then: How and under what conditions should intervention studies be carried out in view of achieving the combined effects of contributing to relevant theory building as well as to significant improvement of educational practices?“ (S. 57). In Bezug auf die oben formulierten Kernprobleme stellen quasiexperimentelle Interventionsstudien einen tragfähigen und praktikablen Lösungsansatz dar, da diese sowohl interne als auch ökologische Validität aufweisen. Der Problematik der fehlenden Randomisierung bzw. Stichprobenselektion und damit einhergehender eingeschränkter Generalisierbarkeit der Forschungsergebnisse kann beispielsweise mit Hilfe von Matchingprozeduren und anderen statistischen Verfahren (z. B. Hinzunahme von Kovariaten) begegnet werden (Spiel et al., 2008).
2 Stand der Wissenschaft Im Folgenden werden einige Theorien und Modelle vorgestellt, die für die Konzeption, Durchführung und Evaluation von Interventionen etabliert sind. Um wirksame bildungspsychologische Interventionen zu konzipieren, ist es grundlegend, wesentliche Faktoren der Bildungsgenese zu berücksichtigen. Diese werden in dem Modell von Pekrun (2002) herausgearbeitet. Über die inhaltliche Ebene hinaus bieten die Modelle von Hager und Hasselhorn (1995) und von Perels, Landmann und Schmitz (2007) wichtige Richtlinien bezogen auf das methodische Vorgehen bei der Konzeption von Interventionen. Besonders zu beachten ist die Nachhaltigkeit von Interventionen und somit die Sicherung des Transfers, dazu wird das Modell von Pickl (2004) erläutert. Eine wesentliche Größe, vor allem in Hinblick auf die Beantwortung bildungspsychologischer Forschungsfragen, ist die Evaluation von Interventionen. Hierzu haben sich sowohl das Modell von Kirkpatrick (1998) als auch das Vorgehen von Hager und Hasselhorn (2000) etabliert. Standards zur Bewertung von Interventionen im Hinblick auf deren Wirksamkeit, Effektivität und inwiefern diese auf breiter Basis eingesetzt werden können, stellt beispielsweise die „Society for Prevention Research“ zur Unterstützung von Praktikerinnen und Praktikern, Behörden oder politischen Entscheidungsträgerinnen bzw. -trägern bereit (Flay et al., 2005). 2.1 Individuelle und psychosoziale Bedingungen von Bildungsprozessen Theorien zu Bedingungen von Lernprozessen sind für die Konzeption von Interventionen insofern bedeutsam, als relevante Bedingungsfaktoren für die Qualität und Quantität von Lernprozessen und schlussendlich für den Wissenserwerb und die Persönlichkeitsentwicklung von Individuen identifiziert werden müssen. Sie sind eine notwendige Voraussetzung, um zielgerichtet und nachhaltig in Bildungsprozesse eingreifen zu können. Diese Bedingungsfaktoren müssen auch bei der Prüfung von Interventionseffekten möglichst umfassend berücksichtigt werden (siehe Hager & Hasselhorn, 2000). Ein Modell, das neben individuellen auch psychosoziale Bedingungen berücksichtigt, ist das Modell zu Bedingungen von Bildungsprozessen von Pekrun (2002, siehe Abbildung 1): • Zu den individuellen Bedingungen zählt Pekrun (2002) sowohl kognitive Bedingungen wie Intelligenz, Vorwissen und Metakognition, als auch affektiv-motivationale Bedingungen wie Emotion, Motivation und Volition. Diese beeinflussen sich wechselseitig
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und wirken wiederum auf das Lernverhalten, das als Qualität und Quantität des Lernprozesses verstanden wird. • Unter proximalen Umwelten werden wesentliche instruktionale Bedingungen verstanden wie Instruktion und Stimulation, Autonomiegewährung vs. Kontrolle, Erwartungs-, Ziel- und Bewertungsstrukturen, Verhaltensrückmeldung und -konsequenzen und Induktion von Valenzen und Normen. • Unter den distalen Umwelten versteht Pekrun (2002) bedeutsame soziale Bedingungsfaktoren wie die gesellschaftliche Wertekultur, ökonomische Faktoren, Handlungsweisen der Bildungspolitik und das Bildungswesen. • Das Bildungsergebnis ist das Wissen und die Persönlichkeit des Individuums, das durch alle oben genannten Aspekte direkt oder indirekt beeinflusst wird.
Distale Umwelten
Wertekulturen
Politik
Wirtschaft
Bildungswesen
Proximale Umwelten
Instruktion + Stimulation AutonomieGewährung vs. Kontrolle Erwartungs-, Ziel- und Bewertungsstrukturen Verhaltensrückmeldungen und -konsequenzen
Individuelle Bildungsbedingungen
Bildung
Intelligenz Vorwissen Metakognition
Lernprozesse
Wissen +
(Qualität + Quantität)
Persönlichkeit
Emotion Motivation Volition
Genotyp
Abbildung 1: Rahmenmodell zu individuellen und psychosozialen Bedingungen von Bildungsprozessen (Pekrun, 2002, S. 66)
Rahmenmodell: Das Rahmenmodell zu Bedingungen von Bildungsprozessen differenziert die individuellen Bildungsbedingungen in genotypische und phänotypische Faktoren sowie kognitive und emotional-motivationale Variablen. Die psychosozialen Bildungsbedingungen unterteilen sich in soziale (distale Umwelten) und instruktionale (proximale Umwelten) Konditionen.
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In Abhängigkeit von dem Verhalten bzw. dem Bereich, der durch die Intervention verändert werden soll, ist zu überlegen, welche individuellen Faktoren eine Rolle spielen und welche weiteren psychosozialen Bedingungen sowohl bei der Konzeption und Durchführung, als auch bei der systematischen Evaluation zu berücksichtigen sind.
2.2 Theoretische Überlegungen zur Konzeption von Interventionen Exemplarisch werden zwei Modelle zur Konzeption von Interventionen vorgestellt. Das von Hager und Hasselhorn (1995) vorgeschlagene Vorgehen besteht aus fünf grundlegenden Schritten. Die Schritte werden beispielhaft anhand des Mathematikunterrichts veranschaulicht. Zu Beginn ist zu klären, welcher Bereich überhaupt verändert werden soll (Schritt 1). Dies könnte beispielsweise die Schulleistung von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I in Mathematik sein. Daraus folgt die Zielsetzung für die angestrebte Intervention (Schritt 2). Das Ziel einer Intervention kann neben kurzfristigen Veränderungen die längerfristige Steigerung von Kompetenzen sein. Ebenso können die Interventionsziele hinsichtlich ihres Allgemeinheitsgrades unterschieden werden. So könnte ein Ziel sein, die Problemlösefähigkeit und das Lernverhalten von Kindern zu fördern. Die grundlegende Frage nach der Realisierung der Zielsetzung, lässt sich nach Art und Inhalten der Intervention (Schritt 3) und nach Auswahl bzw. Konzeption geeigneter Vermittlungsstrategien (Schritt 4) spezifizieren. In der Literatur werden folgende Interventionsarten am häufigsten genannt: Drill, Coaching, Training und Therapie (Hager & Hasselhorn, 2000). In unserem Beispiel könnten Selbstregulations- und Problemlösestrategien in einem Mehrebenenmodell, bestehend aus ausführlicher Eingangsdiagnostik, mehrstündigen Gruppentrainings von Schülerinnen und Schülern, Selbstbeobachtungstagebüchern und Elterntrainings vermittelt werden. Ist eine Evaluation der Intervention angestrebt – was aus wissenschaftlicher Perspektive unbedingt erforderlich ist, sind die abhängigen Variablen zur Erfassung des intendierten Trainingserfolges (Schritt 5) zu wählen. Im aufgeführten Beispiel könnte dies die Selbstregulations- und Problemlösekompetenz der Kinder sein, die mit einem Mathematiktest und einem Selbstregulationsfragebogen erhoben wird. Zusätzlich sollte auch das erforderliche Evaluationsdesign festgelegt werden. Schritte zur Konzeption von Interventionen nach Hager und Hasselhorn (1995): • Auswahl des zu verändernden Bereichs. • Festlegung der Zielsetzung der Maßnahme. • Realisierung der Zielsetzung: Art und Inhalte der Intervention. • Realisierung der Zielsetzung: Auswahl geeigneter Vermittlungsstrategien. • Auswahl der abhängigen Variablen.
Ein weiteres Modell zur Konzeption und Durchführung von Interventionen stammt von Perels, Landmann und Schmitz (2007). In diesem werden, über die Aspekte von Hager und Hasselhorn (1995) hinausgehend, kontextuelle Bedingungsfaktoren wie z. B. die Lernumgebung oder das Klima der Organisation explizit berücksichtigt. Weiterhin werden nicht nur Empfehlungen zur Konzeption von Interventionen, sondern auch zu der
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sich anschließenden Durchführungsphase gegeben. Das Modell ist in Abbildung 2 in modifizierter Form wiedergegeben und wird im Folgenden genauer beschrieben.
Intervention/Maßnahme Vor der Intervention (Konzeptionsphase, angelehnt an Hager & Hasselhorn, 1995) Zielsetzung Art und Inhalt der Intervention Vermittlungsstrategien unter Berücksichtigung der Zielsetzung, der Zielgruppe, der Rahmenbedingungen Festlegung von abhängigen Variablen zur Evaluation
Während der Intervention (Durchführungsphase)
Vorbereitungsphase Zielsetzung, Planung Durchführungsphase Prozessmanagement, prozessuale Erfolgskontrolle Abschlussphase Transfersicherung
Nach der Intervention (Evaluations-/Reflexionsphase) Evaluation Sicherung der Nachhaltigkeit der Maßnahme Reflexion Optimierung
Zielgruppe (Individuum, Gruppe, Institution)
Verhalten/Bereich der verändert werden soll
Modell zur Konzeption und Durchführung von Interventionen
RAHMENBEDINGUNGEN/SITUATION/KONTEXT
Abbildung 2: Modell zur Konzeption und Durchführung von Interventionen (angelehnt an Perels et al., 2007, S. 20)
Angelehnt an Modelle der Selbstregulation (z. B. Schmitz, 2001; Zimmerman, 2000) wird die Konzeption und Durchführung von Interventionen in drei Phasen unterteilt: vor, während und nach der Interventionsdurchführung. Die Phase 1 Vor der Intervention orientiert sich an den Empfehlungen von Hager und Hasselhorn (1995) und dient der Konzeption der Maßnahme unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Intervention, der Zielgruppe und der aktuellen Rahmenbedingungen (z. B. Organisationskultur, bildungspolitische oder unternehmensspezifische Vorgaben). In Phase 2 Während der Intervention lassen sich wiederum eine Vorbereitungs-, Durchführungs- und Abschlussphase unterscheiden. In der Vorbereitungsphase werden u. a. Ziele mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern geklärt und Erwartungen abgeglichen. Während der Durchführungsphase sind die prozessuale Erfolgskontrolle und die entsprechende Prozessregulation relevant. In Bezug auf die in der Konzeptionsphase festgelegte Zielsetzung und mittels der zuvor definierten abhängigen Variablen wird schon während der Ausführung der Intervention die Zielannäherung überprüft. So kann frühzeitig der Grad der Veränderung dokumentiert und im Falle einer Abweichung vom gewünschten Ziel können Regulationsmaßnahmen ergriffen werden. Dies impliziert aller-
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dings, dass es nicht nur eine Zielsetzung für den Zeitpunkt nach der Intervention gibt, sondern dass auch Richtgrößen für den Verlauf der abhängigen Variablen vorliegen. Dieser könnte bei mehrwöchigen Interventionen beispielsweise durch standardisierte Selbstbeobachtungstagebücher erhoben werden (Landmann & Schmitz, 2007). Ein wesentlicher Punkt in der Abschlussphase der Interventionsdurchführung sind die Maßnahmen zur Transfersicherung und Übertragung der vermittelten Inhalte in den jeweiligen Arbeitsund Alltagskontext (siehe Abschnitt 2.3). In Phase 3 Nach der Interventionsdurchführung erfolgt anhand der Evaluationsergebnisse die Reflexion über die gesamte Maßnahme, sowie deren Optimierung. Dies schließt zum einen die Bewertung seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, als auch die Wirksamkeit in Bezug auf die postulierten Hypothesen ein (siehe Abschnitt 2.4). Wie auch in dem Modell von Pekrun (2002) werden hier die Einflüsse individueller und psychosozialer Bedingungen berücksichtigt. Diese beeinflussen den gesamten Veränderungsprozess über alle Phasen der Intervention hinweg.
2.3 Transfersicherung Interventionen können Bildungsprozesse nur dann nachhaltig beeinflussen, wenn der Transfer und somit die Übertragung der gelernten Inhalte und Fähigkeiten auf andere, relevante Arbeits-, Lern- oder Alltagssituationen gewährleistet ist. Allerdings weisen viele Interventionen diesbezüglich große Defizite auf (z. B. Lemke, 1995). In den Modellen zur Konzeption von Interventionen wurde bereits mehrfach auf diesen Aspekt hingewiesen, der hier aufgrund seiner hohen Bedeutung nochmals vertieft werden soll. In der Literatur werden verschiedene Transferbegriffe unterschieden. Wird allgemein von Transfer gesprochen, so ist implizit positiver Transfer gemeint – die Übertragung der Inhalte auf Anforderungen und Situationen außerhalb des Kontextes der Intervention. Es sind aber auch negative Transfereffekte möglich, d. h. eine Maßnahme wirkt sich negativ auf das weitere Lernen aus, wie dies bei Übergeneralisierungen möglich ist. Positiver Transfer: Positiver Transfer kann differenziert werden, in • vertikalen Transfer: Nutzung einer Fertigkeit zum Erwerb einer übergeordneten Fertigkeit, • horizontalen Transfer: Verallgemeinerung auf Situationen mit gleicher Komplexität, • spezifischen Transfer: Übertragung eng umgrenzter Kompetenzen auf neue Situationen, • unspezifischen Transfer: Übertragung allgemeiner Strategien oder Prinzipien auf andere Lernfelder.
So kann eine Schülerin bzw. ein Schüler in einem Fach herausgefunden haben, wie sie bzw. er sich zum Lernen motiviert und dies in anderen Kontexten einsetzen oder das erfolgreiche Herangehen an eine bestimmte Fragestellung in einen allgemeine Problemlösestrategie übertragen. Eine übergreifende Unterscheidung stellt schließlich die Dif-
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ferenzierung in proximalen und distalen Transfer dar. Hierbei wird der Unterschied der Interventionssituation zu einer neuen Situation, in der die Kenntnisse angewendet werden, betrachtet (Hasselhorn & Mähler, 2000). Zur Klärung und Förderung transferorientierten Lernens wurden von verschiedenen Autorinnen und Autoren Transfermodelle entwickelt. Baldwin und Ford (1988) fokussieren auf kognitive transferförderliche Lernprinzipien wie beispielsweise informatives Feedback, identische Elemente in Lern- und Arbeitskontext und verteiltes Lernen. Pickl (2004) betrachtet bei der Transferförderung nicht nur die alleinige Vermittlung von fachspezifischem Wissen, sondern auch die Vermittlung transferförderlicher Strategien. Als die drei Hauptdeterminanten des Transfers beschreibt sie in ihrem VIP-Modell die Art der Vermittlung, die Merkmale der vermittelten Inhalte und die Merkmale der Person. Diese drei Komponenten bestimmen, inwieweit eine Person über transferförderliche Strategien verfügt. Transferrelevante Bedingungen der Vermittlung sind die Anzahl und Dauer der Trainingseinheiten, das Ausmaß des eigenständigen Übens und transferfördernde Maßnahmen vor, während und nach dem Training. Hiermit sind insbesondere Basiskomponenten des selbstregulierten Lernens gemeint. Wichtige Merkmale der Trainingsinhalte sind der Nutzen und der Anwendungsaufwand, sowie die Relevanz der Inhalte für die Zielgruppe. Transferrelevante Persönlichkeitsmerkmale sind die Einstellung gegenüber dem Training, Widerstand gegen Veränderung, Defizit- vs. Ressourcenorientierung, kognitive Fähigkeiten, Selbstdisziplin und Selbstwirksamkeit. Transferabträglich sind beispielsweise geringe Änderungsmotivation oder Defizitorientierungen. Diese implizieren, dass Personen Transferstrategien nur bei entsprechenden Problemen einsetzen und nicht, um ihre Transfereffektivität zu verbessern. Ebenso wie Pickl (2004) postulieren Schunk und Ertmer (2000) die Integration von Selbstregulationsstrategieinhalten zur Steigerung des Transfers. Sie beziehen sich dabei auf die Kombination fachspezifischer Inhalte (z. B. mathematisches Problemlösen) mit selbstregulatorischen Techniken wie Zielsetzung, Selbstbeobachtung und Selbstbewertung. Da der Transfer der vermittelten Inhalte in den Lern- und Arbeitsalltag grundlegend für die Nachhaltigkeit von Interventionen ist, ist es wichtig, diesen explizit zu thematisieren und zu fördern. Die Übertragung der Interventionsinhalte in anderen Umgebungen und Zusammenhänge sollte deshalb im Fokus jeder Intervention stehen.
2.4 Modelle und Theorien zur Evaluation von Interventionen Nur durch die systematische Evaluation von Interventionen kann deren Wirkung und Wirksamkeit geprüft werden. Hager und Hasselhorn (2000) schlagen vor, von „Wirksamkeit eines Programms dann zu sprechen, wenn beobachtbare Performanzen oder Leistungen durch eine Interventionsmaßnahme beeinflusst werden“ und beschreiben Wirkungen als die „theoretisch angenommenen Ursachen der zu beobachtenden Verhaltensänderungen“ (S. 44). Etablierte Evaluationsmodelle wurden in diesem Zusammenhang von Kirkpatrick (1998) und von Hager und Hasselhorn (1995) vorgestellt. Kirkpatrick (1998) thematisiert bei der Evaluation die vier folgenden Ebenen: (1) Reaktion, (2) Lernen, (3) Verhalten und (4) Ergebnisse. Die erste und oberflächlichste Ebene der Evaluation ist die Erhebung der Reaktionen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dies meint
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eine Befragung der Personen, die an der Maßnahme teilgenommen haben, in Bezug auf ihre persönliche Einschätzung hinsichtlich der Zufriedenheit und Akzeptanz, z. B. die Zufriedenheit von Schülerinnen und Schülern mit einem Lerntraining. Die Ebene des Lernens bezieht sich auf das Erlernen von Wissen, Fertigkeiten oder Veränderung von Einstellungen durch das Training und stellt den nächsten Schritt der Evaluation dar. Im Falle des beschriebenen Trainings könnte das ein Zugewinn an Wissen über Lernstrategien bei den Schülerinnen und Schülern sein. Die Evaluation des Verhaltens bezieht sich auf eine tatsächliche Veränderung im Verhalten, also den Transfer von Wissen und Fertigkeiten in reale Alltagsbedingungen. In unserem Beispiel würde das bedeuten, dass die Schülerinnen und Schüler tatsächlich ein anderes Lernverhalten an den Tag legen. Die höchste Ebene der Evaluation bezieht sich auf Ergebnisse auf Organisationsebene. Auf dieser Ebene soll beispielsweise die Frage beantwortet werden, welche Veränderungen sich durch das Lerntraining auf Schulebene (z. B. besseres Abschneiden bei Schulrankings) bzw. im Kollegium erkennen lassen. Vier Ebenen der Evaluation nach Kirkpatrick (1998): 1. Reaktion: Erfassung von Akzeptanz/Zufriedenheit mit einer Maßnahme. 2. Lernen: Erfassung inwiefern Wissen oder Fertigkeiten erweitert bzw. Einstellungen verändert werden konnten. 3. Verhalten: Erfassung der Veränderung im Verhalten, des Transfer des Gelernten in den Alltag. 4. Ergebnisse: Erfassung von Ergebnissen/Veränderungen auf Ebene der Organisation, des Systems.
Während Kirkpatrick (1998) grundlegende Bewertungsebenen für Evaluationen spezifiziert, schlagen Hager und Hasselhorn (1995) ein Modell zur Erprobung und Evaluation von umfassenden Förderprogrammen vor. Das Modell inkludiert neben einer isolierten und globalen auch eine vergleichende und analytische Evaluation, die sich auf die Prüfung einzelner Bausteine und den Vergleich mit Konkurrenzprodukten bezieht. Konkret werden hier elf Schritte spezifiziert: Der erste Schritt der trainingsnahen Performanzsteigerung prüft eine Verbesserung unter geringem oder keinem Aufgabentransfer. Die Testaufgaben sind den Aufgaben im Training sehr ähnlich oder parallel. In einem zweiten Schritt wird die Performanzsteigerung bezogen auf trainingsfernere Variablen erhoben und mit Testaufgaben erfasst, die den Trainingsaufgaben mehr oder weniger unähnlich sind. Hierbei handelt es sich um einen nahen Aufgabentransfer. Performanz bezieht sich auf eine aktuelle Leistung, die auf Übungseffekte zurück zu führen ist. Im Gegensatz dazu beschreibt Kompetenz das individuelle Leistungspotenzial einer Person. Solche Kompetenzverbesserungen werden im dritten Schritt erfasst. Es handelt sich dabei um die Messung längerfristiger Effekte und erfasst, inwiefern die Veränderungen über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten stabil sind und somit ein zeitlicher Transfer zu verzeichnen ist. Der Vergleich mit Konkurrenzprodukten erfolgt in Schritt vier. Hier wird die neue Intervention bestehenden Alternativmaßnahmen gegenübergestellt. Der fünfte Schritt erfasst, inwiefern ein weiter Transfer zu verzeichnen ist,
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der sich auf Leistungsaspekte bezieht, die der zu trainierenden Fertigkeit nahe verwandt sind (z. B. Emotionsregulation und Umgang mit Konflikten). Bei diesem Schritt ist zu bedenken, dass ein solcher Transfer bei sehr speziellen trainierten Fertigkeiten in der Regel weniger wahrscheinlich ist, als bei unspezifischen Fertigkeiten. Mit dem sechsten Schritt soll unerwünschter Transfer auf unbeabsichtigte Bereiche ausgeschlossen werden. Beispielsweise wenn vor einer Maßnahme erfolgreich fachübergreifende Lernstrategien eingesetzt wurden und diese nach der Maßnahme zugunsten fachspezifischer Lernstrategien nicht mehr genutzt werden. Schritt sieben bezieht sich auf den Transfer in den Alltag. Er ist von wesentlicher Bedeutung für die Wirksamkeit von Interventionen. Dieser kann beispielsweise durch Unterrichtsbeobachtung oder Lerntagebücher erhoben werden. Der achte Schritt stellt die Untersuchung der Trainingswirkung in Abhängigkeit von Persönlichkeitsvariablen dar. Bezug nehmend auf Pickl (2004) könnte hier beispielsweise der Einfluss der Defizitorientierung auf die Trainingseffekte gemessen werden. Spätestens ab diesem Schritt wird deutlich, dass neben der Wirksamkeit der Intervention im engeren Sinne zunehmend flankierende bildungspsychologische Fragestellungen anvisiert werden. Der neunte Schritt beinhaltet die Analyse der Wirkmechanismen bei den Interventionseffekten. So könnte beispielsweise untersucht werden, welche Inhalte der Intervention am besten vermittelt werden konnten und am häufigsten im Alltag umgesetzt werden. Als zehnter Schritt werden vertiefende Fragestellungen geklärt, die in unserem Fall Zusammenhänge zwischen Selbstregulations- und Lesestrategien betreffen könnten. Ebenso könnten spezifische Störfaktoren bei den Interventionseffekten analysiert werden. Als abschließender, elfter Schritt erfolgt eine über die konkrete Maßnahme hinausgehende Metaevaluation. Der Begriff der Metaevaluation meint dabei eine zusammenfassende Bewertung der vorliegenden Evaluation und bezieht sich auf jeden durchgeführten Schritt. Die Metaevaluation sollte in eine Modifikation und Optimierung der Maßnahme münden. Diese elfschrittige Evaluation ist sehr systematisch und umfassend. Allerdings werden in der Praxis nicht immer alle Schritte zu realisieren sein (Hager & Hasselhorn, 1995). Im Hinblick darauf empfehlen die Autoren die Schritte zwei, drei, sieben und elf als obligatorisch. Die anderen Schritte können weggelassen oder entsprechend modifiziert werden (für weitere Ansätze siehe Spiel, Gradinger & Lüftenegger, im Druck). Hager und Hasselhorn (1995) definieren elf Schritte der Evaluation: 1. Trainingsnahe Performanzsteigerung (fakultativ) 2. Performanzsteigerung trainingsferner Variablen (obligatorisch) 3. Kompetenzverbesserung (für trainingsferne AV obligatorisch) 4. Vergleich mit Konkurrenzprodukten (fakultativ, aber empfehlenswert) 5. Weiter Transfer auf verwandte Bereiche (fakultativ) 6. Ausbleiben von Transfer auf nicht verwandte Bereiche (fakultativ) 7. Transfer in den Alltag (obligatorisch) 8. Trainingswirkung in Abhängigkeit von Persönlichkeitsvariablen (fakultativ) 9. Analyse der Wirkmechanismen (wissenschaftlich obligatorisch, praktisch fakultativ) 10. Vertiefende Fragestellungen (fakultativ) 11. Metaevaluation (obligatorisch)
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2.5 Exemplarische Interventionsstudien In diesem Abschnitt werden zur Illustration einige Interventionsstudien aus unterschiedlichen Bereichen der Bildungspsychologie vorgestellt. Hierbei handelt es sich um die Head-Start-Programme für Kinder sozial benachteiligter Familien, das Triple P-Programm zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung, das Projekt „Bildungsqualität für Schule“ (BIQUA) sowie eine Studie zur Förderung von Selbstregulationsstrategien im beruflichen Kontext. Die Head-Start-Programme (z. B. Washington & Bailey, 1995) stellen ein Beispiel für sehr bekannt gewordene Interventionsprogramme dar. Head-Start ist dabei eine Sammelbezeichnung für verschiedene Interventionen, die eine spezielle Förderung für Kinder von null bis fünf Jahren beinhalten. Das Gesamtprogramm, das von dem Entwicklungspsychologen Uri Bronfenbrenner mit entwickelt wurde, steht für eine landesweite Initiative in den USA, die 1964 ins Leben gerufen wurde. Zielsetzung war es, Kinder aus sozial benachteiligten Familien vor ihrer Einschulung zu fördern, um ihnen bessere Lernvoraussetzungen für die Schule zu ermöglichen. Es ist eines der ältesten Programme kompensatorischer Erziehung weltweit und eines der größten Programme dieser Art. Bei diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass Interventionen umso wirksamer sind, je früher sie einsetzen. Es soll damit einer „sozioökonomischen Deprivation“ entgegen gewirkt werden, bei der ein Mangel an reichhaltigen und verschiedenartigen Erfahrungen dazu führt, dass Kinder in ihrer intellektuellen Entwicklung eingeschränkt werden (Gage & Berliner, 1996). Die verschiedenen Grundformen von Head-Start unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, ob die Programme in der Wohnung der Familie oder in einem Center mit gleichaltrigen Kindern durchgeführt wurden. Ebenso kann unterschieden werden, ob die Intervention direkt mit den Kindern (z. B. Hausaufgabenhilfe, Museenbesuche etc.) oder vermittelt über die Mütter als primäre Bezugsperson (z. B. durch Erziehungskurse) erfolgten. Es konnten positive Effekte auf die Intelligenz- und Sprachentwicklung sowie auf die soziale Entwicklung belegt werden (Pettinger & Süßmuth, 1983). Ein weiteres, international bekanntes Interventionsprogramm ist das Triple P-Programm (z. B. Sanders, 2003). Triple P steht hierbei für Positive Parenting Program. Es basiert auf der sozial kognitiven Lerntheorie und wurde in den 1980ern in Australien entwickelt. Die Zielsetzung des Programms besteht in der Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung zur Förderung der kindlichen Entwicklung durch verschiedene Ratgeber, Beratungs- und Trainingsangebote. Gleichzeitig enthält es Tipps zum Umgang mit problematischem Verhalten. Im Zentrum steht dabei die Entwicklung einer positiven Beziehung der Eltern zu ihrem Kind, die Förderung von wünschenswertem Verhalten, die Vermittlung neuer Fertigkeiten und Verhaltensweisen und die allgemeine Förderung und Unterstützung der Kinder. Angesichts dieser Aspekte ist das Programm eher präventiv ausgerichtet. Jedoch zeigt es Eltern auch Möglichkeiten zum Umgang mit problematischen, z. B. aggressiven Verhaltensweisen und richtet sich auf dieser Basis auch als Interventionsprogramm an Eltern, wenn erste Verhaltensauffälligkeiten der Kinder vorliegen. Auch an diesem Beispiel wird die enge Verflechtung zwischen Beratung, Prävention und Intervention deutlich. So können mittels der im Triple P verwendeten Methoden Erziehungsschwierigkeiten vermieden werden (Prävention), es kann jedoch auch als Basis in einer Bera-
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tungssituation dienen (Beratung) oder als konkrete Intervention bei bereits vorliegenden Schwierigkeiten eingesetzt werden. Zwischenzeitlich haben sich diese Programme etabliert und es gibt eine Vielzahl von Studien, welche deren Wirksamkeit nachweisen konnten (z. B. Pettinger & Süßmuth, 1983). Neben diesen international bekannten Projekten und Studien gibt es auch im deutschsprachigen Raum vielfältige Interventionsansätze im Bildungsbereich. Beispielhaft sei hier das Projekt „Bildungsqualität für Schule“ (BIQUA) genannt – ein von der DFG gefördertes Schwerpunktprogramm. Das Ziel von BIQUA besteht darin, die Bildungsqualität an deutschen Schulen – vor allem im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich – zu untersuchen, um Beiträge und Interventionen zu ihrer Verbesserung zu leisten. Ein Projekt in diesem Kontext stellt beispielsweise das Programm zur Förderung mathematischer Problemlösekompetenz für Schülerinnen und Schüler der achten Schulstufe von Perels (2003) dar. In diesem wurden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mathematische Problemlösestrategien mit Selbstregulationsstrategien kombiniert vermittelt. Perels bezieht sich dabei auf Brown, Bransford, Ferrara und Campione (1983) und deren Nachweis, dass alleinige Interventionen mit fachspezifischen Strategien sowohl für deren längerfristige Aufrechterhaltung als auch für den Transfer auf andere Aufgabenbereiche nicht hinreichend sind. Hierzu ist vielmehr metakognitives Strategiewissen über den Nutzen sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Strategieanwendung nötig. Das heißt, Lernende müssen darüber Kenntnisse haben, wie sie fachspezifisches Wissen im Kontext des Problemlösens anwenden können (Mayer & Wittrock, 1996). In der umfassenden Evaluation der Intervention konnte bestätigt werden, dass die Kombination von fachspezifischen mit fachübergreifenden Strategien zu positiveren Effekten führt als die alleinige Vermittlung von mathematischen Problemlösestrategien (Perels, 2003; Perels, Schmitz & Bruder, 2005). In einer Erweiterung der Intervention wurden neben den Schülerinnen und Schülern auch andere Personengruppen, wie Eltern und Lehrkräfte trainiert. Somit konnte (im Fall der Lehrkräftetrainings) neben der Mikroebene auch die Mesoebene integriert werden. Ein Beispiel für eine bildungspsychologische Intervention zur Förderung selbstregulativer Kompetenzen im Erwachsenenalter stellt die Studie von Landmann (2005) dar. In dieser wurden Personen in Situationen beruflicher Neuorientierung trainiert. Die Vermittlung der Selbstregulationsstrategien hatte zum Ziel, die berufliche Zielerreichung der Teilnehmenden zu verbessern. Wesentliche Komponente des Trainings war neben den Präsenztrainings die Begleitung durch ein Selbstbeobachtungstagebuch, das den Transfer der Inhalte in den Alltag der Teilnehmenden maßgeblich unterstützen sollte. Die Ergebnisse belegen sowohl die Wirksamkeit der Intervention in Bezug auf die berufliche Zielerreichung als auch die hohe Wirksamkeit des Selbstbeobachtungsinstrumentes (Landmann, Pöhnl & Schmitz, 2005).
3 Praktische Bedeutung und Zukunft des Themas Es konnte in zahlreichen Studien – einige davon wurden exemplarisch genannt – aufgezeigt werden, dass Interventionen für die Bildungspsychologie sehr hohe Relevanz besitzen. Sie schließen die Lücke zwischen Theorie und Praxis und dienen nachweislich
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der Verbesserung von Bildungsprozessen. Dabei kann die Beeinflussung und Optimierung von Bildungsprozessen auf allen drei Ebenen des bildungspsychologischen Rahmenmodells (Makro-, Meso-, Mikroebene) erfolgen, wobei Strukturveränderungen auf der Makroebene in ihrer praktischen Bedeutung am langfristigsten und am weitreichendsten einzuschätzen sind. Allerdings liegen gerade für diese Ebene bisher die wenigsten bildungspsychologischen Interventionsstudien vor. Dies gilt sowohl für den schulischen Kontext als auch für den Bereich der Erwachsenenbildung. Gerade im Hinblick auf das vielfach geforderte lebenslange Lernen stellen Interventionen auf allen drei Ebenen des Strukturmodells der Bildungspsychologie geeignete Maßnahmen dar, um vorhandene Fähigkeiten an aktuelle Anforderungen anzupassen oder neue Fertigkeiten zu erlangen. Es ist wünschenswert, dass bildungspsychologische Interventionen auch den vor- sowie außer- oder nachschulischen Bereich stärker als bisher thematisieren. Bei der Konzeption von Interventionen sollte neben der bildungspsychologischen Fundierung, auch der Sicherung des Transfers und der Nachhaltigkeit noch mehr Beachtung geschenkt werden. Weiterhin ist es von besonderer Bedeutung, alle drei Handlungsebenen (Mikro-, Mesound Makroebene) bei der Durchführung von Interventionen einzubeziehen, damit optimale und nachhaltige Ergebnisse erzielt werden können. Diesbezüglich könnte zukünftig die Kommunikation und Vernetzung zwischen Wissenschaft und bildungspolitischen Institutionen (z. B. Kultusministerien, Arbeitsagenturen) weiter forciert werden. Kontakte zwischen Forschungsinstitutionen und einzelnen Schulen sind zwar erfreulich, führen aber in der Regel lediglich zur Umsetzung von Programmen auf Mesoebene; Kooperationen mit einzelnen Lehrpersonen erreichen nicht einmal die Mesoebene. Empirisch wurde vielfach belegt (z. B. BIQUA-Studien), dass einzelne Aspekte des Bildungsprozesses durch Interventionen signifikant beeinflusst werden können. Da Interventionsstudien im Unterschied zu Korrelationsstudien auch die Beantwortung von Forschungsfragen und Rückschlüsse im Hinblick auf Kausalität ermöglichen, liegt in der vermehrten Durchführung systematisch evaluierter Interventionsstudien eine besondere Herausforderung und Chance für die Bildungspsychologie.
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Meike Landmann, Michaela Schmidt und Bernhard Schmitz
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Matthias Nückles und Alexander Renkl
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich l i e B en
Handlungsebenen
Das Lerntagebuch in der Hochschullehre: Ein hochschuldidaktischer Ansatz zur Förderung selbstgesteuerten Lernens
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Traditionelle Vorlesungen und Reoe ikr ene Vorschulbereich M ferateseminare, wie sie an Univereb Säuglings- und Kleinkindalter so e sitäten üblich sind, weisen vielMe ben fach gravierende Nachteile auf: roe ak M Eine regelmäßige Nachbereitung der Stunden zuhause wird von vielen Studierenden gerne vermieden. In Seminaren bearbeiten sie meist Aufgabenbereiche nur den Lernstoff intensiv, den sie selbst referieren. Eine tiefe und kritische Auseinandersetzung mit den Lerninhalten findet lediglich punktuell statt, während weite Teile des Lernstoffs oberflächlich und passiv rezipiert und deshalb auch bald vergessen werden. Eine Interventionsmaßnahme zur Überwindung solch einer passiven Lernhaltung von Studierenden ist das Schreiben eines Lerntagebuchs.
Ein Lerntagebuch verlangt von Lernenden eine Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und eine Reflexion über den eigenen Lernprozess in schriftlicher Form (Nückles, Schwonke, Berthold & Renkl, 2004; Rambow & Nückles, 2002). Die Lernenden schreiben dazu nach den Seminar- oder Vorlesungsstunden regelmäßig auf, welche wichtigen Dinge sie gelernt haben, was sie gut verstanden bzw. noch nicht verstanden haben und welche Schlüsse sie aus dem Gelernten ziehen können. Das Lerntagebuch ist also eine Methode zur Nachbereitung von Unterricht. Das Schreiben dient dabei als Mittel zur Förderung eines selbstgesteuerten Lernens (Hübner, Nückles & Renkl, 2007). Allerdings führt Schreiben keineswegs „automatisch“ zu selbstgesteuertem Lernen. Vielmehr bedarf es gezielter instruktionaler Unterstützung, damit das Potenzial der Lerntagebuchmethode zur vollen Entfaltung kommen kann. Im Folgenden stellen wir unseren didaktischen Interventionsansatz des Lerntagebuchs und seine Implementation in der Hochschullehre vor. Dazu ist es zunächst erforderlich, das Lerntagebuch innerhalb der Forschung zum Lernen durch Schreiben zu verorten.
1 Theoretische Grundlagen In der Forschung zum Lernen durch Schreiben gibt es verschiedene theoretische Perspektiven, die sich darin unterscheiden, in welchem Maße Schreiben eher als spontaner, intuitiver Prozess oder vielmehr als zielgerichteter und intentional geplanter Prozess
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Matthias Nückles und Alexander Renkl
konzeptualisiert wird (Klein, 1999). Der Strong-Text View basiert auf der Annahme, dass ein Großteil unseres im Gedächtnis gespeicherten Wissens impliziter Natur ist und deshalb erst durch den Akt der Versprachlichung bzw. Verschriftlichung für uns zugänglich wird (Britton, 1980; Galbraith, 1992). Demnach sollte ein freies und expressives Schreiben, welches den Schreibenden möglichst ungehindert Gelegenheit gibt, ihr Wissen in Worte zu fassen, das Lernen am besten fördern. Dem Strong-Text View entgegengesetzt ist der Writing-as-Problem-Solving-View (Flower & Hayes, 1980; Scardamalia & Bereiter, 1987). In dieser theoretischen Perspektive wird Schreiben als ein intentionaler Problemlöseprozess konzipiert, wobei die Schreibenden eine dialektische Bewegung zwischen einem rhetorischen und einem semantischen „Problemraum“ vollführen. Schreiben sollte demnach dann zu einem großen Lernerfolg führen, wenn es den Schreibenden gelingt, einen qualitativ hochwertigen Text zu produzieren, der in möglichst idealer Weise bestimmten rhetorischen Ansprüchen genügt und ein bestimmtes rhetorisches Genre verwirklicht (z. B. ein gelungener Erörterungsaufsatz oder ein publikationsfähiger wissenschaftlicher Artikel). In der empirischen Forschung (vgl. Klein, 1999, für einen Überlick) hat sich nun einerseits gezeigt, dass ein gänzlich freies und unangeleitetes Schreiben im Sinne des Strong-Text View meist nur geringe Lerneffekte bewirkt (vgl. die Metaanalyse von Bangert-Drowns, Hurley & Wilkonson, 2004). Andererseits hat ein an rhetorischen Zielen orientiertes Schreiben, wie es Scardamalia und Bereiter (1987) empfehlen, den Nachteil, dass es hohe Anforderungen an die Schreibenden stellt und im Schreiben ungeübte Lernende überfordern kann (Hübner et al., 2007). Bangert-Drowns et al. (2004) haben in ihrer Metaanalyse außerdem zeigen können, dass auch ein vergleichsweise freies Schreiben durchaus zu guten Lerneffekten führen kann, wenn instruktionale Anregungen zur metakognitiven Überwachung und Regulation des Lernprozesses gegeben werden. Die Autoren schlagen in diesem Zusammenhang den Self-Regulation View als eine sinnvolle weitere theoretische Perspektive beim Lernen durch Schreiben vor. Auf der Basis dieser Überlegungen haben wir deshalb unseren Lerntagebuchansatz als „Kombination“ des Strong-Text View mit dem Self-Regulation View konzipiert: Wir verstehen die Lerntagebuchmethode im Sinne des Strong-Text View als eine freie und expressive Form zu schreiben, bei der die Studierenden selbstständig entscheiden sollen, welche inhaltlichen Aspekte sie aus einer Seminar- oder Vorlesungsstunde behandeln möchten. Die Rolle der Selbststeuerung wird also betont und die Gefahr einer Überforderung durch rhetorische Anforderungen soll möglichst gering gehalten werden: Es kommt nicht darauf an, einen rhetorisch wohlgeformten Text zu produzieren, sondern die Studierenden sollen das Schreiben als ein Werkzeug zur Entwicklung der Gedanken, d. h. zur individuellen Wissenskonstruktion, nutzen lernen (Galbraith, 1992). Da viele Lernende jedoch von sich aus eine metakognitive Überwachung und Regulation des Lernprozesses beim Schreiben nur in unzureichendem Maße zeigen dürften (Nückles et al., 2004), haben wir spezielle Instruktionen entwickelt, um im Sinne des Self-Regulation View lernförderliche selbstregulatorische Aktivitäten beim Lerntagebuchschreiben gezielt anzuregen.
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Das Lerntagebuch in der Hochschullehre
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2 Implementation des Lerntagebuchs im Hochschulunterricht Damit das Potenzial der Lerntagebuchmethode zum Tragen kommt, ist es erforderlich, bestimmte Rahmenbedingungen zu schaffen und für deren Einhaltung zu sorgen. Sorgfältige Einführung. Da Studierende normalerweise über wenig oder keine Vorerfahrung mit der Lerntagebuchmethode verfügen, wird die Anforderung des Schreibens eines Lerntagebuchs zunächst von vielen Studierenden als eine ungewohnte und arbeitsintensive Tätigkeit empfunden. Aus diesem Grund ist es wichtig, zu Beginn des Semesters genügend Zeit für die Einführung und Erläuterung der Methode einzuplanen (mindestens eine dreiviertel Stunde bei der Vorbesprechung). Zudem ist es sinnvoll, im Laufe des Semesters mit den Studierenden ihre Erfahrungen und ggf. Probleme mit dem Schreiben zu besprechen. Schriftliche Anleitung. Die mündliche Erläuterung der Methode sollte durch eine schriftliche Anleitung ergänzt werden1. Die schriftliche Anleitung sollte dabei zum einen formale Anforderungen, insbesondere die Pflicht zum regelmäßigen Verfassen von Einträgen sowie Vorgaben bezüglich des Umfangs möglichst transparent machen. Die Mindestanforderung von etwa einer Standardseite Text (DIN A4, 12pt, 11/2-zeilig) pro wöchentlichem Eintrag hat sich für Studierende der Psychologie sowie der Lehrämter als praktikabel erwiesen. Außerdem sollte die Anleitung bestimmte Leitfragen (engl. Prompts, vgl. Pressley et al., 1992) enthalten, die im Sinne des Self-Regulation View die Anwendung kognitiver und metakognitiver Lernstrategien anregen (siehe Kasten). Leitfragen für die Erstellung eines Lerntagebuchs: Das Gelernte ausarbeiten und strukturieren: • Wie können Sie die aus Ihrer Sicht zentralen Punkte und ihre Zusammenhänge mit eigenen Worten wiedergeben? • Welche Beispiele fallen Ihnen ein, die das Gelernte illustrieren, bestätigen oder ihm widersprechen?
Überwachen des eigenen Verständnisses: • Welche wichtigen Inhalte haben Sie richtig gut verstanden? • Welche zentralen Inhalte haben Sie noch nicht verstanden? Maßnahmen zur Beseitigung von Verständnisschwierigkeiten: • Welche Episoden in der Seminarstunde (z. B. Referat einer Kommilitonin/eines Kommilitonen, Plenumsdiskussion, Gruppenarbeit) könnten Sie nochmals vor Ihrem inneren Auge rekapitulieren, um Verständnisschwierigkeiten aufzulösen? • Welche weiteren Möglichkeiten gibt es, die Ihnen helfen könnten, Ihre Verständnisschwierigkeiten zu klären (z. B. nochmaliges Lesen der Seminartexte, im Internet recherchieren, Dozentinnen bzw. Dozenten fragen etc.)?
1 Die von uns entwickelte und empirisch überprüfte Anleitung kann unter http://www.ezw.unifreiburg.de abgerufen werden.
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Matthias Nückles und Alexander Renkl
Zeitaufwand für die Lernenden. Für eine produktive Nutzung des Lerntagebuchs ist ein Zeitaufwand von ca. 1 bis 1,5 Stunden pro Woche einzuplanen. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Aufwand nicht einfach zu den üblichen Seminaranforderungen hinzugefügt werden kann. Die Einführung der Lerntagebuchmethode erfordert es in der Regel, andere Anforderungen zu reduzieren oder ganz zu streichen. So verzichten wir in unseren Seminaren auf die Anfertigung von Hausarbeiten. Die/der Lehrende muss sich bewusst sein, dass mit der Einführung von Lerntagebüchern andere Lerngelegenheiten wegfallen, und zwischen diesem Wegfall und dem durch das Lerntagebuch zu erwartenden Gewinn abwägen.
3 Empirische Evidenz Wir haben die Wirksamkeit des Lerntagebuchschreibens sowohl in strikt kontrollierten Laborexperimenten als auch in ökologisch validen Feldstudien untersucht. In mehreren laborexperimentellen Untersuchungen (Berthold, Nückles & Renkl, 2007; Hübner et al., 2007) haben sich die im Kasten beschriebenen Prompts als äußerst wirkungsvoll erwiesen, um entsprechende kognitive und metakognitive Lernaktivitäten im Lerntagebuch anzuregen. In Folge dessen konnte die Verständnistiefe und das längerfristige Behalten des erworbenen Wissens substanziell gesteigert werden (Berthold et al., 2007; Hübner et al., 2007). Im Rahmen einer Längsschnittstudie im Feld zeigten sich kurzfristig zunächst ebenfalls die erwähnten positiven Effekte. Längerfristig erwies sich jedoch die wiederholte und starre Vorgabe von Prompts gegenüber einem freien Tagebuchschreiben ohne Vorstrukturierung eher als abträglich in Bezug auf die Schreibmotivation und die im Lerntagebuch gezeigten Lernaktivitäten. In einer kürzlich abgeschlossenen Folgestudie haben wir jedoch zeigen können, dass diese Gefahr der Überdidaktisierung deutlich abgemildert wird, wenn die Prompts in Abhängigkeit des individuellen Kompetenzzuwachses auf Seiten der Lernenden adaptiv ausgeblendet werden (Nückles, Hübner, Dümer & Renkl, in press). Ein solches adaptives Fading der Prompts hilft offenbar, dass die Lernenden das Lerntagebuch nicht nur anfangs, wenn von außen auferlegt, sondern auch längerfristig und von sich aus als Medium nutzen, um Strategien des selbstgesteuerten Lernens zu realisieren.
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Das Lerntagebuch in der Hochschullehre
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Monika Finsterwald, Barbara Schober, Petra Wagner, Michael Aysner, Marko Lüftenegger und re rrie Christiane Spiel ska ng du Bil
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter Tertiärbereich
Sekundärbereich Primärbereich
Vorschulbereich
1 Ausgangslage
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter
e en eb o r e k Mi ben oe e s Me ben e kro a M
Handlungsebenen
TALK – Trainingsprogramm zum Aufbau von Lehrkräftekompetenzen zur Förderung von Bildungsmotivation und Lebenslangem Lernen
Beratung
Die Frage, wie Bildungsmotivation und Lebenslanges Lernen (LLL) gefördert werden können, erlangte in den letzten Jahren beAufgabenbereiche sondere Brisanz im Kontext der Entwicklung Europas hin zu einer „Wissensgesellschaft“. Im Rahmen eines politischen Diskurses wurde eine europaweite Strategie zur expliziten Förderung von Lebenslangem Lernen formuliert (Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2000). Im Bildungsbereich finden sich zwar einige Ansätze und Versuche dieser Forderung gerecht zu werden, ihre Wirksamkeit bleibt jedoch häufig kurzfristig und peripher, da die Maßnahmen zumeist singulär und isoliert sind. Zudem beziehen sich die meisten Maßnahmen auf den Bereich der Weiterbildung. Bedenkt man jedoch die häufig diagnostizierte problematische motivationale Situation vieler Schülerinnen und Schüler sowie die Tatsache, dass die Schule den Grundstein für Lernkompetenz und Bildungsmotivation legt, scheint es unabdingbar die Institution Schule einzubeziehen (z. B. Spiel & Schober, 2003). Um – im Sinne der Nachhaltigkeit von Maßnahmen – eine Förderung im täglichen Schulgeschehen zu implementieren, muss dies in Verbindung mit der Stärkung entsprechender Kompetenzen bei Lehrkräften geschehen. Dies ist die Grundidee von TALK – einem dreisemestrigen Trainingsprogramm zum Aufbau von Lehrkräftekompetenzen zur Förderung von Bildungsmotivation und Lebenslangen Lernen1. Im Folgenden werden die theoretischen Vorüberlegungen, die Ziele und die Programmstruktur von TALK sowie das Evaluationsdesign erläutert.
1 Die Finanzierung erfolgte durch das Österreichische Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (bm:ukk).
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TALK – Trainingsprogramm
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2 Theoretischer Hintergrund In der einschlägigen Literatur finden sich übereinstimmend zwei grundlegende Voraussetzungen für erfolgreiches Lebenslanges Lernen: Motivation und Interesse für Bildung und Lernen sowie die Kompetenzen, diese Bildungsmotivation auch erfolgreich umsetzen zu können (z. B. Achtenhagen & Lempert, 2000). Konkret bedeutet dies, dass Personen den Wissenserwerb bzw. das Lernen an sich als wertvoll und attraktiv erleben sowie über Kompetenzen verfügen müssen, sich selbstständig Wissen anzueignen und dieses zu managen. Motivation und selbstreguliertes Lernen (SRL) stellen somit die zentralen Bausteine für die Entwicklung von Fördermaßnahmen zum Lebenslangen Lernen dar. Darüber hinaus sollte ein Förderprogramm zu Lebenslangem Lernen jedoch flankierend kritisches und kreatives Denken bzw. Problemlösen sowie als Basis zur Teamarbeit Fähigkeiten zum kooperativen Lernen und im Besonderen auch interkulturelle Kompetenzen fördern. Diese Bereiche erscheinen unter den Bedingungen ständig anwachsender Informationsmengen, globaler Wettbewerbe sowie zunehmend multikulturell geprägter Gesellschaften hoch relevant.2
3
Ziele und Programmstruktur
3.1 Ziele Mit TALK werden vier konkrete Ziele verfolgt: 1. Zunächst soll die Einstellung der Lehrkräfte bzgl. der hohen Relevanz der Förderung von Kompetenzen zum Lebenslangen Lernen in der Schule gefestigt werden. 2. Die Lehrkräfte sollen durch Wissens- und Kompetenzerweiterung gestärkt werden, ihren Unterricht so zu gestalten, dass sie die Schülerinnen und Schüler zum Lernen, insbesondere zum selbstregulierten Lernen motivieren sowie zum kritischen und kreativen Denken anregen. Darüber hinaus sollen die Lehrkräfte motiviert werden, vermehrt kooperative Lernformen einzusetzen, mit denen sowohl soziale Kompetenzen trainiert als auch Motivation und Selbstregulation unterstützt werden. 3. Außerdem wird eine Intensivierung der Kooperation zwischen den Lehrkräften forciert: Da die Lehrkräfte im 3. Semester Veränderungsimpulse in ihren Schulen setzen sollen und dies als Team einfacher zu bewerkstelligen ist als in der Position einer Einzelkämpferin bzw. eines Einzelkämpfers, wurden in TALK nur Lehrkräfteteams bestehend aus 3 bis 5 Mitgliedern aufgenommen.
2 Unbestreitbar gibt es eine Reihe weiterer spezifischer Kompetenzen, die je nach Kontext für eine erfolgreiche Bewältigung des Lebenslangen Lernens bedeutsam sind (z. B. Sprachkompetenzen, IT-Kompetenzen; siehe auch Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2000). Anliegen des hier beschriebenen Trainings war es jedoch explizit, ein kontextunabhängiges (d. h. u. a. fächerübergreifendes) Trainingsprogramm zu entwickeln, das auf basale Kompetenzen und Einstellungen abzielt.
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Finsterwald, Schober, Wagner, Aysner, Lüftenegger und Spiel
4. Schließlich soll mit TALK die Motivation der Lehrkräfte für ihren Beruf und ihr eigenes Lebenslanges Lernen gefördert werden. Insbesondere wird auf die Stärkung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Lehrkräfte gezielt. Studien zur Lehrkräftebelastung weisen daraufhin, dass diese präventiv gegen Burn-out wirkt (Schmitz, 2001).
3.2 Curriculum TALK ist für Lehrkräfte aus Hauptschulen und Gymnasien konzipiert. Es umfasst insgesamt 130 Stunden, die in ein- bzw. zweitägigen Workshops geblockt werden (im 1. Semester alle drei Wochen, im 2. und 3. Semester alle vier bis fünf Wochen). Tabelle 1 (siehe S. 327) bietet einen Überblick über die konkreten Inhalte von TALK.
3.3 Didaktische Prinzipien für die Gestaltung der Einheiten Um einen nachhaltigen Wissens- und Kompetenzaufbau zu gewährleisten, wurden bei der Gestaltung der Einheiten Lehrprinzipien berücksichtigt, die vornehmlich aus der Instruktionspsychologie abgeleitet wurden (Gagné, 1985; Klauer, 1985). Außerdem sind die Einheiten methodisch so konzipiert, dass diese Modell für die eigene Unterrichtsgestaltung der Lehrpersonen sein können. Beispielsweise werden zu Beginn jeder Einheit die Ziele transparent gemacht und es werden zur Erhöhung der Motivation den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Wahlfreiheiten gewährleistet (bzgl. Themen, Aufgaben, Bearbeitungsmodi und Sozialformen). Zudem wird so oft wie möglich mit authentischen Lernsituationen gearbeitet.
4 Evaluation Zur Feststellung der Wirksamkeit von TALK wurden im Rahmen eines Versuchs-Kontrollgruppen-Plans Erhebungen an verschiedenen Stichproben unter Verwendung unterschiedlicher methodischer Zugänge durchgeführt: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bearbeiteten zu Beginn des 1. Semesters, Ende des 2. und Ende des 3. Semesters Fragebögen zu den Trainingszielen. Um die Transferwirkung auf Ebene des Unterrichts zu erfassen, wurden jeweils auch die Schülerinnen und Schüler der Trainingslehrkräfte befragt. Zur Feststellung des Transfers in die Schule erfolgte eine Befragung der Kolleginnen und Kollegen sowie Direktorinnen und Direktoren zu Beginn und Ende des 3. Semesters. Eine hinsichtlich zentraler Variablen parallelisierte Stichprobe von Lehrkräften und Schülerinnen bzw. Schülern, die an keiner Intervention teilnahm, fungierte als Kontrollgruppe. Zusätzlich dazu kamen auch interventionsbegleitend qualitative Methoden wie Lerntagebücher der Lehrkräfte, Fokusgruppen und Interviews zum Einsatz. Diese dienten sowohl der fortlaufenden Optimierung von TALK als auch der Sicherung von Trainingseffekten.
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TALK – Trainingsprogramm
327
Tabelle 1: Überblick über die Themen und Inhalte von TALK Termin
Themen
1. Semester 1
Einstieg (Überblick) und Lebenslanges Lernen
2
Lernen und Motivation (Interesse, Ziele)
3
Motivation (Selbstwert, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten)
4
Motivation (Bezugsnormen, Attributionen, IPT, Feedback)
5
Soziale Kompetenzen (Kooperatives Lernen)
6
Soziale Kompetenzen (Konfliktmanagement, Entscheidungsfindung)
7
Wahltermin 1*
8
Selbstreguliertes Lernen 1 (Lernkompetenzen: Lernstrategien, Metakognition)
9
Selbstreguliertes Lernen 2 (Planung eines eigenen SRL-Lernprojekts)
10
Selbstreguliertes Lernen 3 (Vorstellung des eigenen SRL-Lernprojekts) und Zwischenreflexion des Lehrgangs
2. Semester 11
Kognitive Kompetenzen (kritisches und kreatives Denken bzw. Problemlösen)
12
Soziale Kompetenzen (Diversity)
13
Wahltermin 2*
14
Planung eines Kleinprojekts für den Unterricht
15
Schulen als Organisationen und Lehrgangsrückblick
16
Vorstellung der Ergebnisse des Kleinprojekts, Entwicklung von Schulprojektideen für das 3. Semester und Zwischenreflexion des Lehrgangs
3. Semester 17
Coachingtermin „Projektplanung“
18
Coachingtermin „Startphase“
19
Coachingtermin „Evaluation“ (optional)
20
Weitere Coachingtermine zur Projektsteuerung
21
Abschlussveranstaltung (Präsentation der Projektergebnisse, Projektreflexion und Lehrgangsreflexion)
Refreshing (optional) 22
Wiederholung der Inhalte
23
Konzeption Best Practise Beispiele
Anmerkung: * An den Wahlterminen können sich die Lehrkräfte interessengeleitet Arbeitsgruppen bzw. Vortrags- und Diskussionsgruppen zuordnen.
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Finsterwald, Schober, Wagner, Aysner, Lüftenegger und Spiel
5 Ausblick Das Trainingsprogramm TALK wurde von August 2006 bis Februar 2008 durchgeführt. Die Evaluationsergebnisse zeigen, dass die an TALK teilnehmenden Lehrkräfte ihre Anfangsmotivation sehr gut aufrecht halten konnten und sich als sehr selbstwirksam erleben. Dies ist eine sehr gute Voraussetzung hinsichtlich ihrer Rolle als Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren. Hingegen zeigt sich klar der Bedarf nach Wissens- und Kompetenzaufbau, wie Lebenslanges Lernen in der Schule konkret gefördert werden kann. Die Auswertung der formativen und summativen Ergebnisse von TALK zeigen Veränderungen in die intendierte Richtung.
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Manfred Prenzel und Tina Seidel
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
Bildung steht unter Beobachtung – das scheint der Begriff „Bildungsmonitoring“ auszudrücken. Aber lässt sich Bildung denn überhaupt beobachten? Wie immer man Bildung verstehen mag, es handelt sich auf jeden Fall um ein facettenreiches und eher schlecht definiertes theoretisches Konstrukt. Das Bildungsgeschehen zu überwachen, bedeutet also eine große wissenschaftliche Herausforderung.
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Bildungsmonitoring und Evaluation
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro Ma
Aufgabenbereiche
Die Tatsache, dass wir heute „Bildungsmonitoring“ als etwas Selbstverständliches betrachten, lässt sich auf einen zunehmend pragmatischen Umgang mit Problemen im Bildungsbereich zurückführen. Wie wir im Folgenden darlegen, interessieren beim Bildungsmonitoring weniger die grundsätzlichen, sondern vielmehr die grundlegenden Aspekte von Bildung. Im Blickpunkt stehen meist basale Kompetenzen, die als Voraussetzung für weiterführende Bildungsprozesse verstanden werden. Beobachtung meint dann, bestimmte Indikatoren zu erfassen, die Aspekte der Bildungsqualität anzeigen. Der Begriff des „Monitoring“ deutet eine Art von Selbstbeobachtung an. Diejenigen, die im Bildungsbereich Verantwortung tragen, wollen sich ein Bild von der Lage und von den Wirkungen ihres Handelns verschaffen. Das ist nachvollziehbar und zweifellos sinnvoll. Der Nutzen einer solchen Selbstbeobachtung hängt jedoch einerseits von der wissenschaftlichen Qualität des Bildungsmonitorings ab, andererseits von der Bereitschaft der Verantwortlichen, aus den gewonnenen Informationen zu lernen. Das Bildungsmonitoring beschränkt sich allerdings keineswegs darauf, Daten für eine evidenzbasierte Politik zu liefern. Vielmehr informiert es eine breitere Öffentlichkeit über Zustände, Problemlagen und Herausforderungen im Bildungsbereich. Und es liefert Basisdaten für die empirische Bildungsforschung. In gewisser Weise kann man sich das Bildungsmonitoring als eine Art von „Epidemiologie“ des Bildungswesens vorstellen. In den folgenden Abschnitten werden wir zunächst den Begriff „Bildungsmonitoring“ erläutern und von anderen Konzepten abgrenzen. Ein Blick in die kurze Geschichte dieses Begriffs und seiner Beziehungen zur Psychologie ergänzt die Einführung in das Thema. Welcher Forschungsstand beim Bildungsmonitoring erreicht wurde, stellen wir dann anhand eines Überblicks über wichtige Studien dar. Unser Anliegen ist es, Fragestellungen wie Untersuchungszugänge zu systematisieren, die Besonderheiten von Bildungsmonitoring herauszuarbeiten und Kriterien für die Beurteilung entsprechender
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Manfred Prenzel und Tina Seidel
Erhebungen vorzustellen. In einem Ausblick skizzieren wir aktuelle Entwicklungen im Bereich Bildungsmonitoring, die insbesondere Erweiterungen der theoretischen und methodischen Zugänge betreffen.
1 Die systematische Beobachtung von Bildungsergebnissen Nach einer prägnanten Begriffsbestimmung besprechen wir in diesem ersten Abschnitt Merkmale und Funktionen von Bildungsmonitoring.
1.1 Zum Begriff „Bildungsmonitoring“ Wem wir letztlich das Wort „Bildungsmonitoring“ verdanken, lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Dass es auch im Bildungsbereich gilt, systematisch und regelmäßig die Qualität von Prozessen und Ergebnissen zu überprüfen – also ein Monitoring durchzuführen – wird seit längerer Zeit betont (z. B. Shavelson, McDonnell, Oakes, Carey & Picus, 1987). Eine explizite Verbindung des Bildungsbegriffs mit dem Konzept des Monitoring erfolgte zum Beispiel in der Expertise zu Bildungsstandards, die den traditionsreichen Bildungsbegriff mit einem technischen Terminus verknüpfte (Klieme et al., 2003). Es liegt freilich auf der Hand, den englischsprachigen Terminus „education monitoring“ (z. B. Fitz-Gibbon, 1996; Scheerens, Glas & Thomas, 2003) mit „Bildungsmonitoring“ zu übersetzen. In diesem Sinn kann man Bildungsmonitoring knapp wie folgt definieren: Bildungsmonitoring: Der Begriff Bildungsmonitoring bezeichnet die systematische und regelmäßige Erfassung von Indikatoren für die Qualität eines Bildungssystems oder dessen Teilsysteme.
Verfahren des Monitoring dienen normalerweise dazu, Rückmeldungen über Zustände in einem System zu geben. Dieses Feedback soll bei der Steuerung des Systems helfen. Für die Steuerung von Bildungssystemen zeigen in erster Linie die erreichten Bildungsergebnisse die erzielte Qualität und einen eventuellen Nachsteuerungsbedarf an. Zusätzlich können auch Bildungsprozesse Gegenstand eines Monitoring sein. Bildungsmonitoring beansprucht dabei nicht, das Bildungsgeschehen in der gesamten Tiefe und Breite zu erfassen. Vielmehr werden gezielt Indikatoren erfasst, die bestimmte Aspekte der Ergebnisqualität (z. B. relevante Kompetenzen) repräsentieren. Das Bildungsmonitoring bedient sich empirischer Verfahren. Zusätzlich werden beim Bildungsmonitoring auch weitere Merkmale von Bildungssystemen erfasst (sog. Kontext-, Input- oder Prozessfaktoren), damit die Daten über Bildungsergebnisse angemessen beurteilt und interpretiert werden können. Ein Bildungsmonitoring kann außerdem auf bestimmte Teilsysteme (z. B. Länder, Berufsbildungssystem, Schularten) begrenzt sein.
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Bildungsmonitoring und Evaluation
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1.2 Bildungsmonitoring und internationale Vergleichsstudien Im deutschsprachigen Raum haben die internationalen Vergleichsstudien der letzten Jahre die Vorstellung von Bildungsmonitoring geprägt. Studien wie z. B. das OECD „Programme for International Student Assessment“ (PISA) erheben in regelmäßigen Abständen anhand repräsentativer Stichproben die Kompetenzen von Jugendlichen in bestimmten Domänen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development [OECD]) ist eine Einrichtung, die Bildungssysteme systematisch und regelmäßig beobachtet, um ihren Mitgliedsstaaten steuerungsrelevante Informationen zur Verfügung zu stellen. PISA ist Teil eines umfassenderen Systems von Bildungsindikatoren, das von der OECD (z. B. 2006a) für ihre jährlichen Bildungsberichte mit dem Titel „Education at a Glance“ genutzt wird. Insofern betreibt die OECD seit vielen Jahren ein Bildungsmonitoring, das sich freilich auf bestimmte Kompetenzbereiche, Altersstufen, Hintergrundmerkmale und Fragestellungen konzentriert. Charakteristika von Bildungsmonitoring: • Bildungsmonitoring schließt normalerweise eine Testkomponente ein, die den „output“ von Bildungssystemen erfasst. • Die Erhebung von Bildungsergebnissen wird auf grundlegende Kompetenzen konzentriert, die für nachfolgende Bildungsprozesse bedeutsam sind und die zugleich empirisch zuverlässig erfasst werden können. • Es gibt keine umfassende und flächendeckende Beobachtung von Bildungssystemen; auch ein Monitoring folgt eingeengten Fragestellungen. • Die Stichprobenziehung ist so angelegt, dass Aussagen über Populationen möglich sind. • Bildungsmonitoring stellt die Datenbasis für Bildungsberichte bereit, die Informationen auswerten, vergleichen, thematisch gruppieren und für die Öffentlichkeit aufbereiten.
1.3 Bezugspunkte für die Beurteilung von Bildungssystemen Die Identifikation der Stärken, Schwächen und Probleme von Bildungssystemen kann im Rahmen eines Bildungsmonitorings an unterschiedlichen Bezugspunkten vorgenommen werden (vgl. Seidel & Prenzel, 2008). Bei einer kriteriumsorientierten Betrachtung interessiert, inwieweit Bildungsergebnisse bestimmten inhaltlichen Zielansprüchen des Bildungssystems genügen (z. B. Kompetenzanforderungen oder Bildungsstandards). Vergleiche (z. B. mit anderen Staaten, Teilgruppen, Schulen) liefern dagegen Hinweise auf relative Stärken und Schwächen. Neben einer solchen normorientierten Verankerung von Ergebnissen (z. B. internationale Mittelwerte) können Vergleiche auch im Sinne eines „Benchmarking“ verwendet werden, um zu lernen, wie andernorts vorgegangen wird und auf welche Weise dort bestimmte Probleme gelöst werden. Schließlich vermittelt ein regelmäßiges Bildungsmonitoring über mehrere Erhebungswellen zusätzliches Steuerungswissen. Dabei werden Zustände eines Systems zu unterschiedlichen Zeitpunkten
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Manfred Prenzel und Tina Seidel
(ipsativ) verglichen. Auf diese Weise erhält man Rückmeldung über Veränderungen in relevanten Qualitätsindikatoren, die gegebenenfalls auch Wirkungen ergriffener Maßnahmen anzeigen können (vgl. Prenzel, Drechsel, Carstensen & Ramm, 2004).
1.4 Untersuchungsformen für ein Bildungsmonitoring Bildungsmonitoring kann, je nach Fragestellung und Anlage, mehrere Funktionen erfüllen (Seidel & Prenzel, 2008). Die Untersuchungszugänge eines Bildungsmonitorings sind zunächst deskriptiv angelegt und entsprechen denen einer Überblicksstudie (Survey). Soweit Relationen zwischen Merkmalen erfasst, kontrolliert und berichtet werden, ist der Übergang zur Korrelationsstudie fließend. Wenn die Funktion eines Bildungsmonitorings primär darin besteht, Steuerungswissen und damit Informationen für politische Entscheidungen bereitzustellen, kann das Bildungsmonitoring auch der Evaluationsforschung zugeordnet werden. Studien wie TIMSS oder PISA werden verschiedentlich als Variante der Evaluationsforschung betrachtet, die auf der Systemebene ansetzt (vgl. Wottawa, 2006). Eine Zuordnung zur Evaluationsforschung dürfte den Ansprüchen des Bildungsmonitorings auf jeden Fall besser gerecht werden als eine Zuordnung zum Bildungscontrolling, von dem seit einiger Zeit vor allem im Bereich der Weiterbildung gesprochen wird (Gust & Weiß, 2005; Hense, Mandl & Schratzenstaller, 2005). Bildungscontrolling setzt als betriebswirtschaftliches Instrument der Personalentwicklung keinen Forschungszugang voraus. Im Übrigen sind die beim Bildungscontrolling besonders interessierenden Aspekte (z. B. Kosten-Nutzen-Relationen) in umfassenden Evaluationsmodellen berücksichtigt (z. B. Stufflebeam, 2000). Folgt man der Definition von Evaluation nach Wottawa (2006, S. 662), dann liegt dort der Schwerpunkt auf der „Beurteilung des Konzepts, des Designs, der Umsetzung und des Nutzens sozialer Interventionsprogramme“. Im Blickpunkt der Evaluationsforschung stehen somit meist (eine überschaubare Zahl von) Handlungsbzw. Entscheidungsalternativen; sie zielt entsprechend auf Bewertungen von Zuständen, die Entscheidungen zwischen Optionen nahelegen. Das ist beim Bildungsmonitoring anders, weil dort eine sehr große Zahl von Indikatoren und Merkmalen von Bildungssystemen erfasst wird. Bildungsmonitoring als spezieller Forschungsansatz: Will man Bildungsmonitoring als Untersuchungsform klassifizieren, dann kann man es einer konzeptuell weit gefassten Survey- oder Evaluationsforschung zuordnen. Einige Besonderheiten des Bildungsmonitorings sprechen jedoch dafür, Bildungsmonitoring als speziellen Forschungsansatz zu betrachten.
1.5 Das Interesse an einem Bildungsmonitoring Die Nachfrage nach Erkenntnissen aus einem Bildungsmonitoring hängt eng mit einer veränderten Einschätzung der Relevanz von Bildung zusammen (vgl. Haider, Eder, Specht & Spiel, 2003; Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 2004). Nach einem jahrzehntelangen Verzicht auf die Teilnahme an internationalen Leistungs-
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Bildungsmonitoring und Evaluation
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vergleichen ist zum Beispiel in Deutschland nicht nur der Abstand zur internationalen Spitze bewusst geworden, sondern auch das Wissensdefizit über das Bildungssystem selbst. Von einem Bildungsmonitoring wird erwartet, dass es umfangreiche deskriptive Informationen über die Qualität eines Bildungssystems bereitstellt. Diese werden zum Beispiel in Bildungsberichten aufbereitet (z. B. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006). Darüber hinaus sind empirisch fundierte Erkenntnisse gefragt, die Schwächen erklären und auf Möglichkeiten der Weiterentwicklung hinweisen (Prenzel, 2005). Vor diesem Hintergrund erscheint das Bildungsmonitoring als eine spezifische Komponente empirischer Bildungsforschung. Bildungsmonitoring stellt in erster Linie Beschreibungswissen bereit, wird aber durch andere Forschungszugänge ergänzt, die stärker auf explanatives oder präskriptives/technologisches Wissen zielen. Die empirische Bildungsforschung insgesamt konstituiert sich als Forschungsfeld, zu dem unterschiedliche Disziplinen beitragen. Die in diesem Band thematisierte Bildungspsychologie reflektiert eine Neuorientierung der Psychologie auf dieses gesellschaftlich und wissenschaftlich relevante Problemfeld. Mit der systematischen Untersuchung von Problemen des Bildungsbereichs – etwa im Rahmen eines Bildungsmonitorings – könnte eine Bildungspsychologie wieder an starke frühere Traditionen der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie anschließen.
2 Forschungsansätze und Forschungsstand Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über Träger und Studien im Bereich des Bildungsmonitorings. Insbesondere sollen Forschungsansätze und Qualitätskriterien eines Bildungsmonitorings vorgestellt und erörtert werden.
2.1 Ein Überblick über internationale und nationale Studien Bei der Begriffsklärung zum Bildungsmonitoring haben wir im Zusammenhang anderer OECD-Aktivitäten bereits PISA angesprochen. Das Programme for International Student Assessment ist ein sehr gut etabliertes internationales Large Scale Assessment, das sich auf die Kompetenz im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften konzentriert. Zielgruppe sind 15-jährige Jugendliche. Die Erhebungen finden seit 2000 in einem dreijährigen Abstand statt. Neben den OECD-Staaten beteiligen sich (z. B. 2006) fast dreißig weitere Staaten. Zusammen mit Statistics Canada hat die OECD aber auch Kompetenzerhebungen im Erwachsenenalter (zwischen 16 und 65 Jahren) durchgeführt. Für die International Adult Literacy Survey (IALS) wurden über zwei Erhebungen (1994 und 1998) in zwanzig Staaten die Lesekompetenz und mathematische Fertigkeiten in einem Haushaltssurvey untersucht (Tuijnman, 2000). Neben der OECD engagieren sich weitere Einrichtungen im Bereich des Bildungsmonitorings. Bevor die OECD mit PISA ein eigenes Programm für die Erfassung von Kompetenzen auflegte, nutzte es in seinen Bildungsberichten häufig Daten aus internationalen Vergleichsstudien, die seit knapp fünfzig Jahren von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt wurden. Die IEA (eine gemeinnützige Einrichtung) war die erste Organisation, die internationale Vergleichsstu-
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dien zu Leistungen von Schülerinnen- bzw. Schülern durchführte (vgl. Grisay & Griffin, 2006). Die nachfolgende Übersicht stellt die Namen (und damit die Domänen) der IEA-Studien sowie die jeweiligen Erhebungsjahre vor. Die IEA-Studien untersuchen üblicherweise bestimmte Klassenstufen (z. B. letzte auf der Sekundarstufe I). Wichtige Studien der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA): • • • • • • • • • • •
First International Mathematics Study (FIMS), (1964) First International Science Study (FISS), (1970/71) Reading Comprehension Study (RCS), (1970/71) First Civic Education Study (Civic), (1971) Second International Mathematics Study (SIMS), (1982) Second International Science Study (SISS), (1983/84) Reading Literacy Study (RLS), (1990/91) Third International Mathematics and Science Study (TIMSS), (1994/95) Third International Mathematics and Science Study-Repeat (TIMSS-R), (1997/98) Second Civic Education Study (CIVED), (1999) Progress in International Reading Survey (PIRLS), (2001)
Die IEA war außerdem die erste Organisation, die internationale Large Scale Assessments (nämlich TIMSS) mit Videostudien kombinierte (Stigler, Gonzales, Kawanaka, Knoll & Serrano, 1999; Hiebert et al., 2003; Roth et al., 2006) und damit Indikatoren für die Prozessqualität des Unterrichts erfasste. Die internationalen Vergleichsstudien der IEA und der OECD liefern den teilnehmenden Staaten eine Fülle von Informationen, die ein Bildungsmonitoring konstituieren. Vor allem die Entscheidung, Studien in festgesetzten regelmäßigen Abständen durchzuführen, verbessert die Rückmeldefunktion und die Qualität des Steuerungswissens. Die Studien berichten neben Kennwerten über Niveau und Streuung der Kompetenzen auch Verteilungen auf Kompetenzstufen und analysieren die Leistungen bestimmter Teilgruppen (z. B. nach Geschlecht, sozialer Herkunft, Migrationsstatus). Neben Testverfahren werden Fragebögen eingesetzt, die sich an die Schülerinnen und Schüler, an die Schulleitungen, zum Teil an die Lehrkräfte und Eltern richten. Auf diese Weise werden Informationen über Merkmale der Lernumgebungen in Elternhaus, Unterricht und Schule gewonnen. Beziehungen zwischen bestimmten Merkmalen (z. B. Zusammenhang des Sozioökonomischen und Soziokulturellen Status mit Kompetenz) werden auch als Indikatoren für Chancengerechtigkeit verwendet. Für Staaten wie zum Beispiel Deutschland, Österreich oder die Schweiz, die bisher auf nationaler Ebene keine systematischen Leistungserhebungen durchgeführt hatten, übernahmen die internationalen Vergleichsstudien damit viele Funktionen eines Bildungsmonitorings, eingegrenzt auf die jeweiligen Fragestellungen der internationalen Vergleichsstudien. Befunde der PISA-Erhebungen (und angekoppelter Erweiterungen) wurden in nationalen Berichten ausführlich dargestellt und vertieft (z. B. Bundesamt für Statistik
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Bildungsmonitoring und Evaluation
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und Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 2005; Haider & Schreiner, 2006; Prenzel et al., 2005). Anders als in den genannten deutschsprachigen Ländern stellt sich die Situation in den Vereinigten Staaten dar, in denen seit 1969 mit dem National Assessment of Educational Progress (NAEP) ein kontinuierliches Bildungsmonitoring betrieben wird. An Zufallsstichproben werden auf den Klassenstufen 4, 8 und 12 die Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaften (sowie periodisch in weiteren Fächern) getestet und Trends berichtet (z. B. Grigg, Donahue & Dion, 2007). NAEP repräsentiert damit ein systematisches und fest etabliertes Bildungsmonitoring, das vom National Center for Education Statistics (NCES) und dem Institute of Education Sciences (IES) getragen wird. Beide Einrichtungen sind dem U. S. Department of Education zugeordnet. Ansätze zu einem Bildungsmonitoring finden sich im deutschsprachigen Raum jedoch in Initiativen einiger Bundesländer. So startete die Freie und Hansestadt Hamburg bereits kurz nach der TIMSS-Erhebung (1996) die sogenannte LAU-Studie („Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung-Studie“). In einer Längsschnittstudie wurden alle Schulklassen ab Klassenstufe 5 (vom Übertritt in die Sekundarstufe I) alle zwei Jahre getestet (z. B. Lehmann, Peek, Gänsfuß & Husfeldt, 2002). Ebenfalls in Hamburg angesiedelt ist eine weitere flächendeckende Längsschnittstudie zu „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ (KESS), die auf der Jahrgangsstufe 4 ansetzt (Bos & Pietsch, 2005). Weitere Bundesländer starteten Qualitätsuntersuchungen, die nur einen Erhebungszeitpunkt vorsahen. So wurde 1999 in Brandenburg die Studie „Qualitätsuntersuchung an Schulen zum Unterricht in Mathematik“ (QuaSUM) in den Jahrgangsstufen 5 und 9 durchgeführt (Lehmann, Peek, Gänsfuß, Lutkat, Mücke & Barth, 2002). In Rheinland-Pfalz fand 2000 die „Mathematik-Gesamterhebung Rheinland-Pfalz: Kompetenzen, Unterrichtsmerkmale, Schulkontext“ (MARKUS) statt (Helmke & Jäger, 2002), die sich auf die 8. Jahrgangsstufe konzentrierte. Diese Beispiele unterstreichen das ausgeprägte bildungspolitische Interesse, über internationale Vergleichsstudien hinausgehend empirische Daten zu den in einem Land erzielten Bildungsergebnissen zu erhalten. Die länderbezogenen Erhebungen bieten unter anderem die Möglichkeit, andere (zum Beispiel stärker auf den Lehrplan des Landes bezogene) Kompetenzerhebungen durchzuführen oder mehr Information auf der Ebene kompletter Schulklassen zu erlangen. Allerdings hatten die Hamburger Längsschnittstudie wie auch die Querschnittstudien eher den Charakter von Projekten. Sie waren strategisch noch nicht als Bildungsmonitoring angelegt. Ebenso sei darauf hingewiesen, dass es sich bei den in mehreren Ländern Deutschlands stattfindenden „Vergleichsarbeiten in der Grundschule“ (VERA) nicht um ein Bildungsmonitoring handelt. Über die zeitgleich in Schulen zu bearbeitenden Aufgaben sollen die Lehrkräfte Rückmeldung über den in ihrer Klasse erzielten Kompetenzstand in den Fächern Deutsch und Mathematik erhalten (Isaac, Halt, Hosenfeld, Helmke & Groß Ophoff, 2006). Die Erhebung und Auswertung der Kompetenzen, die bei VERA in den Händen der Lehrkräfte liegt, werden dem Anspruch an eine zuverlässige Messung von Leistungsindikatoren, wie sie in einem Bildungsmonitoring vorausgesetzt wird, nicht gerecht.
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Der folgende Kasten gibt einen Überblick darüber, nach welchen Dimensionen Bildungsmonitoring-Studien differenziert werden können. Strukturierungsdimensionen für Bildungsmonitoring-Studien: • Domänen, wobei einige (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) bisher häufiger untersucht wurden als andere. • Zielgruppen (z. B. nach Alter, Klassenstufe oder Einrichtungen), bei denen Erhebungen auf den Sekundarstufen dominieren. • Reichweite, von regionalen über nationale zu internationalen Studien, die entsprechend unterschiedliche Vergleichsmöglichkeiten anbieten. • Erhebungs- und Messzeitpunkte, die auf mehrere Erhebungswellen verteilt, längsoder querschnittlich angelegt sein können. Weitere Differenzierungen können Kontextfaktoren (z. B. Informationen über Elternhäuser) oder Inputfaktoren (z. B. Ausstattungen der Schulen) betreffen; beziehungsweise die Zuschnitte der Informationen, die über Befragungen von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie Lehrkräften einbezogen werden.
2.2 Theoretische Modelle für ein Bildungsmonitoring Aus wissenschaftlicher Sicht muss ein Bildungsmonitoring dem aktuellen theoretischen und methodischen Forschungstand entsprechen. Auch wenn das Monitoring auf bestimmte Fragestellungen ausgerichtet ist, bleiben sehr viele Aspekte des Untersuchungsgegenstands, die theoretisch zu modellieren sind. Im Folgenden können wir deshalb nur einige Bereiche ansprechen. Ein Bildungsmonitoring setzt eine umfassende Rahmenkonzeption voraus, in der die zu untersuchenden Bereiche strukturiert und aufeinander bezogen werden. In internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS oder PISA erfolgt die grundlegende Strukturierung des Untersuchungsfelds anhand von Mehrebenen-Modellen. Differenziert wird zum Beispiel zwischen den Ebenen Erziehungssystem (mit dem ökonomischen, kulturellen und politischen Kontext), pädagogische Einrichtung (z. B. Schule), Lehr-Lernumgebung (z. B. Klassenzimmer) und Individuum (Lernvoraussetzungen und Ergebnisse). Der Aspekt der Ebenen lässt sich dann mit der Unterscheidung von (zum Beispiel) Randbedingungen, Prozessen und Ergebnissen kombinieren (vgl. OECD, 2006a, S. 22). Anhand der sich so ergebenden Matrix kann beispielsweise festgelegt werden, welche Ergebnisse auf der Individuums-Ebene erfasst (fachliche Kompetenz, fächerübergreifende Kompetenz, Lernstrategien, Interessen) und welche Randbedingungen erhoben werden sollen (Alter, Geschlecht, Herkunft, Sozialstatus usw.). Ähnlich ist zu klären, welche Merkmale der Lehr-Lernumgebung erfasst werden sollen beziehungsweise wie diese wiederum nach Randbedingungen, Prozessen und Ergebnissen zu differenzieren sind. Die konkrete theoretische Basis für die Zuordnung von theoretischen Konstrukten und Indikatoren zu diesen Zellen erfolgt auf der Basis des entsprechenden Forschungsstands. So orientierten sich die stärker lehrplanorientierten
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IEA-Studien an Modellen der Curriculumsumsetzung (z. B. Bloom, Hastings & Madaus, 1971), der Nutzung von Unterrichtszeit (Carrol, 1963) oder von Lerngelegenheiten (Creemers, 1994). PISA wiederum orientiert sich an aktuellen Modellen der Unterrichts- und Schuleffektivität (vgl. Seidel & Shavelson, 2007). Da die Messung von Bildungsergebnissen im Bildungsmonitoring eine herausragende Rolle spielt, werden theoretische Konzeptionen für die zu messenden Kompetenzen benötigt. Diese Konzeptionen müssen die Bezugspunkte für die Messung klären und begründen, sowie letztlich darlegen, was gemessen werden soll. Die zu messenden Konstrukte werden dann auf einer theoretischen Basis so strukturiert, dass ein klarer Bezugsrahmen für die Entwicklung der Testaufgaben (Items) vorliegt. Geht man wiederum von internationalen Vergleichsstudien als Beispiel aus, dann gibt es zwei Wege, die Kompetenzmessung normativ zu verankern. Die IEA-Studien (z. B. TIMSS) nehmen meist die vorliegenden Curricula als normative Bezugspunkte. Sie untersuchen somit, inwieweit die Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Jahrgangsstufe die curricular festgelegten Ziele erreichen. Es liegt auf der Hand, dass die curriculare Verankerung ein gerechtfertigter Bezugspunkt für ein Bildungsmonitoring ist. Allerdings treten bei internationalen – und zum Teil auch nationalen – Vergleichsstudien Probleme auf, wenn Curricula inhaltlich nicht vergleichbar angelegt und sequenziert sind. Diese Schwierigkeit (zusammen mit einem anderen Einwand) veranlasste die OECD, bei PISA einen anderen Bezugspunkt zu wählen. Bei PISA geht es weniger darum, die Erfüllung des Curriculums zu prüfen, sondern zu fragen, ob die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen entwickelt haben, die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und für ein lebenslanges Lernen in der Wissensgesellschaft erforderlich sind (z. B. OECD, 2006b). Als Bezugspunkt dienen Vorstellungen einer „Literacy“ in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, die mit Curricula zu tun haben können, aber nicht müssen. Der Anspruch an eine wissenschaftliche (z. B. fachdidaktische) Begründung der Kompetenzanforderungen steigt bei diesem Vorgehen. Zugleich bietet sich aber die Chance, durch die Ausarbeitung differenzierter Modelle der Struktur von Kompetenzen wiederum Impulse für die Weiterentwicklung von Curricula in den teilnehmenden Staaten zu geben. Bei diesem Zugang gibt es freilich auch die Möglichkeit, die Übereinstimmungen der Testanforderungen mit nationalen Curricula empirisch zu prüfen. Entsprechende Überprüfungen zeigten für Deutschland, dass in der Mathematik über 80 % und in den Naturwissenschaften über 70 % der internationalen PISA-Testaufgaben Wissen erfassen, das bis zur neunten Klassenstufe laut Lehrplan hätte behandelt werden müssen (Prenzel et al., 2004). Der dritte Forschungsbereich, den wir ausschnitthaft behandeln wollen, betrifft die Modelle für die Methoden, die bei einem Bildungsmonitoring zur Anwendung kommen. Ein erster Problembereich ist hier die Stichprobenziehung und Gewichtung. Die naheliegende Frage, wer die Zielpopulation des Bildungsmonitorings sein soll, konfrontiert bei der Umsetzung in die Stichprobenplanung und -realisierung mit einigen nicht trivialen Herausforderungen (Foy, 2006). Für das Sampling bedeutsam ist die Frage, welche Einheiten (Schulen, Klassen, Schülerinnen und Schüler?) analysiert und wie die Stichproben geschichtet („stratifiziert“, vgl. Kasten) werden sollen. Es müssen Ausschluss-
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kriterien für eine Nicht-Testteilnahme definiert werden, ebenso wie die Anforderungen an die Ausschöpfung der Stichprobe. Eine weitere Schwierigkeit betrifft die kriterienorientierte Bestimmung der erforderlichen Stichprobengröße. Herausforderungen bei der Stichprobenziehung für ein Bildungsmonitoring: Für ein Bildungsmonitoring muss zuerst die Zielpopulation definiert werden, über die Aussagen getroffen werden sollen. Definiert man diese als Altersjahrgang (z. B. 15-Jährige), dann liegt es aus Gründen der Erreichbarkeit nahe, nur die Jugendlichen zu untersuchen, die sich noch im Schulsystem befinden. Bei internationalen Vergleichen kann es aber passieren, dass in einigen Staaten bereits beträchtliche Anteile (und zwar eher leistungsschwächere) dieser Altersgruppe die Schule bereits verlassen haben. Die Ausschöpfung der Stichprobe gibt an, wie viele der für den Test zufällig ausgewählten Schulen beziehungsweise Schülerinnen und Schüler tatsächlich an der Untersuchung teilgenommen haben. Um die Ergebnisse interpretieren bzw. vergleichen zu können, werden vor der Studie Kriterien für die Stichprobenausschöpfung festgelegt (z. B. mindestens 90 % der Schulen und 80 % der Schülerinnen und Schüler). Wenn (in einer bestimmten Region) systematisch leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler nicht am Test teilnehmen, werden die Ergebnisse verzerrt. Entsprechende Verzerrungen können empirisch überprüft werden. Bei einem Bildungsmonitoring ist es sinnvoll, bei der Stichprobenziehung in einem ersten Schritt per Zufall Schulen als Untersuchungseinheiten und in einem zweiten Schritt die Schülerinnen und Schüler (wiederum per Zufall) zu ziehen. Auf diese Weise erhält man eine Zufallsstichprobe, die durch die geschichtete Ziehung (Stratifizierung) allerdings nicht mehr ganz repräsentativ ist – also den Verteilungen in der Grundgesamtheit (Population) nicht mehr völlig entspricht. Durch eine Gewichtung der Stichprobe (entsprechend den Anteilen in der Population, die zum Beispiel aus den Daten der Statistischen Landesämter entnommen werden können) kann eine repräsentative Darstellung der Ergebnisse gesichert werden.
Insgesamt hängt die Aussagekraft eines Bildungsmonitorings davon ab, inwieweit der aktuelle Stand der Stichprobentheorie berücksichtigt wurde. Die verwendeten Verfahren, die vorgenommen Ausschlüsse, die erreichten Ausschöpfungen ebenso wie die Gewichtungen sind in Technical Reports ausführlich dokumentiert (z. B. Martin, Mullis & Crostowski, 2004; OECD, 2005). In den technischen Berichten ebenfalls genau dokumentiert sind die Verfahren und die Ergebnisse der Skalierung der Ergebnisse der Kompetenzmessungen. PISA wie auch TIMSS wenden Modelle der Item-Response-Theorie an (vgl. Rost, 2004) und postulieren latente Personenvariablen, die das Antwortverhalten erklären. So nutzt PISA Erweiterungen des Rasch-Modells, nämlich ein mehrdimensionales Antwortmodell (Adams, Wilson & Wang, 1997), mit dessen Hilfe latente (nicht durch Messfehler beeinträchtigte) Korrelationen und genauere Personenparameter für die Schülerinnen und Schüler geschätzt werden. Dieses Modell gestattet es auch, Testleistungen aus einem sogenannten Multi-Matrix-Design (bei dem unterschiedliche Testhefte mit systematisch rotierten Aufgabenblöcken eingesetzt werden) vergleichbar zu machen. Es werden sogenannte Plausible Values (Mislevy, Beaton, Kaplan & Sheehan, 1992) als Personenfähigkeitsparameter berechnet, die in einem
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Hintergrundmodell Kovarianzen mit anderen Kompetenzen und latente Zusammenhänge mit Variablen berücksichtigen. Die angesprochenen Modelle eignen sich insbesondere für ein Bildungsmonitoring, bei dem nicht die Testleistungen individueller Schülerinnen und Schüler, sondern die von Gruppen exakt geschätzt werden sollen. Bei dem erwähnten Multi-Matrix-Design (z. B. mit dreizehn Testheften) kann Aufgabenmaterial für insgesamt 390 Minuten eingesetzt werden, obwohl die Testzeit für jede einzelne Schülerin bzw. jeden Schüler nur 120 Minuten beträgt. Die angesprochenen Verfahren der Item-Response-Theorie gestatten es auch, simultan die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler und die Schwierigkeit aller Testitems zu schätzen, so dass die Schätzungen der Fähigkeiten und der Schwierigkeiten auf einer Skala abgebildet werden können. Diese Besonderheit des Item Response-Modells schafft die Grundlage für die Differenzierung von Kompetenzstufen. Die Anforderungen der Aufgaben, die eine Testperson mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit lösen (oder nicht lösen) kann, helfen dabei, die Fähigkeit dieser Person anschaulich zu beschreiben. Die Verteilungen von Schülerinnen und Schülern auf niedrigen Kompetenzstufen weisen auf Gruppen mit besonderen Risiken für eine weitere Bildungskarriere hin. Anteile auf sehr hohen Kompetenzstufen wiederum zeigen eine erfolgreiche Talentförderung in einem Bildungssystem an.
2.3 Qualitätskriterien für Bildungsmonitoring Die Ausführungen über theoretische und methodische Grundlagen des Bildungsmonitorings unterstreichen das übergeordnete Qualitätskriterium einer Orientierung am wissenschaftlichen Erkenntnisstand: Die Rahmenkonzeptionen, die Itemkonstruktion, die Stichprobenziehung ebenso wie die Skalierung und die Auswertungen haben dem „state of the art“ zu entsprechen. Um diese Qualität prüfen zu können, sind ausgezeichnete Dokumentationen der Konzeptionen, der Skalen und Itemanalysen, der Daten und Auswertungen erforderlich. Die Dokumentationen, die zum Beispiel für die PISA-Erhebungen aufgelegt werden, sind vorbildlich für ein Bildungsmonitoring. Dazu gehört auch die Veröffentlichung eines Datenfiles zusammen mit dem Ergebnisbericht. Qualitätssicherung für ein Bildungsmonitoring durch verbindliche Regeln: • Von entscheidender Bedeutung für die Qualität eines Bildungsmonitorings ist das Regelwerk für die Durchführung der Studie, von der Stichprobenziehung bis zur Berichterstattung. • Ausführliche Manuale sollten exakt definieren, wie zum Beispiel die Qualität der Itementwicklung gesichert wird, wie die Testaufgaben zu übersetzen und zu formatieren sind, wie Testleiterinnen bzw. Testleiter vorzugehen haben und wie die Ergebnisse dokumentiert werden. • Strenge Regelungen sind erforderlich für Fälle, in denen bestimmte Anforderungen (z. B. Stichprobenausschöpfung) nicht erfüllt wurden. Das kann bedeuten, dass bestimmte Teilgruppen von den Analysen und der Berichterstattung ausgeschlossen werden. Letztlich ist eine konsequente Qualitätssicherung bei einem Bildungsmonitoring für sich bereits ein aussagekräftiges Qualitätskriterium.
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Ein Aspekt verdient noch besondere Beachtung, nämlich die Qualität der Berichte über ein Bildungsmonitoring. Auftraggeberinnen bzw. Auftraggeber eines Bildungsmonitorings erwarten sich mit Recht verständliche Darstellungen der Verfahren und Ergebnisse. Dies kann aber nicht bedeuten, Befunde zu vereinfachen oder relativierende Bedingungen zu verschweigen. Kaum zu kontrollieren ist die Tendenz mancher Rezipientinnen bzw. Rezipienten (die mit empirischer Forschung wenig vertraut sind), bivariate Zusammenhänge (generell Korrelationen) kausal zu interpretieren. Deshalb gilt eine differenzierende Berichterstattung, die Grenzen der Interpretation deskriptiver Zusammenhänge betont, ebenfalls als wichtiges Qualitätskriterium für Bildungsmonitoring.
3 Neue Entwicklungen Wie unser Beitrag zeigt, haben internationale Vergleichsstudien über lange Zeiträume die Funktion eines Bildungsmonitorings übernommen. Speziell im deutschsprachigen Raum hat sich nach einer langjährigen Abstinenz bei internationalen Vergleichen in den letzten Jahren ein starkes Interesse entwickelt, das Bildungssystem umfassender sowie unter bestimmten Perspektiven zu beobachten. Neben das auf Dauer angelegte OECD „Programme for International Student Assessment“ treten weitere Studien, die zum Beispiel das Erreichen von Bildungsstandards in der Fläche überprüfen. Es zeichnet sich derzeit ab, dass ein umfassendes Bildungsmonitoring für ein Bildungssystem auf mehreren Studien beruht und durch eine gut ausgebaute Bildungsstatistik ergänzt werden sollte. Eine Zusammenschau von Befunden wird zudem in Bildungsberichten (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006) erfolgen. All diese Entwicklungen spiegeln eine gestiegene bildungspolitische, aber auch öffentliche Nachfrage nach Grund- und Vergleichsdaten, nach Steuerungswissen oder empirischer Evidenz für Entscheidungen. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an einer Beobachtung des Bildungssystems und an einer Überprüfung der Bildungsergebnisse von politischer Seite gelegentlich als schmerzhaft empfunden wird: Empirische Befunde können auf Handlungsbedarf oder Versäumnisse hinweisen und politischen Druck erzeugen. Forschungsgruppen, welche die wissenschaftliche Verantwortung für ein Bildungsmonitoring tragen, brauchen viel Fingerspitzengefühl, um wissenschaftliche und politische Erkenntnisinteressen auszutarieren. Nun werden Studien zum Bildungsmonitoring aufgrund politischer Entscheidungen durchgeführt. Sie können deshalb wiederum bei den professionellen Akteurinnen und Akteuren im Bildungssystem (z. B. Lehrkräfte, Schulleitungen, Schulaufsicht) den Eindruck erwecken, dass die Studien nur zur Kontrolle dienen. Dieser Eindruck dürfte dann naheliegen, wenn sich Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Bildungssystems darauf beschränken, eben Verfahren der Überwachung einzuführen (vgl. Oelkers & Reusser, 2008). Für die Durchführung und für die Qualität eines Bildungsmonitorings ist jedoch die Akzeptanz bei den Betroffenen ein zentraler Faktor. Die Akzeptanz hängt nicht nur davon ab, ob aus der Beobachtung des Bildungssystems sichtbare Anstrengungen zu dessen Verbesserung resultieren. Wichtig ist, dass Erkenntnisse aus einem Bildungsmonitoring – zumindest zum Teil – stimmig sind mit den Erfahrungen der pädagogischen Akteu-
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rinnen bzw. Akteure und Betroffenen. Die starke Resonanz auf PISA in Deutschland dürfte damit zusammenhängen, dass die Befunde von vielen sehr gut nachvollzogen werden konnten. Akzeptanz bei den pädagogischen Akteurinnen bzw. Akteuren setzt aber auch eine Informationspolitik, Transparenz und geeignete Veröffentlichungsformen voraus. Nicht zuletzt spielen Rückmeldungsinstrumente (z. B. Schulrückmeldungen von Ergebnissen) eine ausschlaggebende Rolle für die Akzeptanz eines Bildungsmonitorings in der Praxis. Ein Bildungsmonitoring, das Probleme beschreibt und in regelmäßigen Abständen rückmeldet, ob die Lage besser geworden ist, steht in Gefahr, früher oder später als unzureichend wahrgenommen zu werden. Ohne Evidenz aus anderen empirischen Studien lassen sich deskriptive Befunde eines Monitoring nur schlecht interpretieren. Auf Dauer bedeutet die Etablierung eines Bildungsmonitorings, empirische Bildungsforschung insgesamt zu verstärken, um – in gewisser Weise komplementär – Erklärungsansätze und Wissen über Interventionsmöglichkeiten zu generieren. Studien, die zum Zweck eines Bildungsmonitorings aufgelegt werden, können allerdings auch erweitert und ergänzt werden, um zusätzliches und vertieftes empirisches Wissen zu gewinnen. Studien zum Bildungsmonitoring zeichnen sich durch exzellente Stichproben, durch solide Messinstrumente und Auswertungsverfahren aus, die sonst kaum zu realisieren sind. Es liegt deshalb nahe, das Basisdesign dieser Erhebungen auszubauen, gezielt Studien anzukoppeln, eventuell auch nur mit Teilstichproben. Eine solche Strategie wurde zum Beispiel bei den bisherigen PISA-Erhebungen in Deutschland verfolgt. Zum Beispiel wurde bei PISA 2003 in Deutschland gezeigt, wie ein Bildungsmonitoring durch eine Längsschnittkomponente zu weiterführenden Erkenntnissen über Bedingungen von Bildungsergebnissen führen kann: Die Schülerinnen und Schüler (eines Oversamplings) von neunten Klassen wurden ein Jahr später noch einmal in den Bereichen Mathematik und Naturwissenschaften getestet (Prenzel et al., 2006). Dieses Design gestattet es, Bedingungsfaktoren für die Kompetenzentwicklung auf den Ebenen Elternhaus, Unterricht und Schule zu identifizieren. Für die zukünftige Entwicklung des Bildungsmonitorings wird es reizvoll sein, das bisherige Spektrum an Kompetenzmessungen auszuweiten. So wurden bei PISA 2006 erstmals mit kontextualisierten Testverfahren motivationale Orientierungen gegenüber den Naturwissenschaften erhoben (OECD, 2006b; Prenzel et al., 2007). Die Untersuchung von sozialen Kompetenzen (z. B. kooperatives Problemlösen) ist eine Herausforderung für das zukünftige Bildungsmonitoring. Eine andere Perspektive betrifft den Einsatz computerbasierter Testverfahren. Interessant sind computergestützte Testverfahren nicht nur, um andere (dynamische) Aufgabentypen und Itemformate einsetzen zu können. Sie bieten auch die Option für adaptives (also ein an die Fähigkeit der Testperson angepasstes) Testen (Frey & Ehmke, 2007). Eine Möglichkeit, Bildungsmonitoring durch Videostudien zu ergänzen, wurde bereits angesprochen. Videostudien können nicht nur zur Illustration von unterschiedlichen Unterrichtszugängen dienen, sondern auch systematisch mit längsschnittlichen Designs gekoppelt werden (z. B. Seidel et al., 2006). Auf diese Weise lassen sich lernwirksame Unterrichtsfaktoren besser „objektivieren“ (im Vergleich zur Befragung von Lehrkräften
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und Schülerinnen bzw. Schülern). Eine wichtige zukünftige Perspektive für Bildungsmonitoring besteht damit in der Erweiterung der Designs beziehungsweise einer systematischen Abstimmung oder gar Kopplung mit anderen Untersuchungsansätzen, die theoretische Erklärungsmodelle empirisch prüfen können. Abschließend soll auf eine Zukunftsperspektive hingewiesen werden, die Bildungsmonitoring bedeutend erweitern und ergänzen dürfte. Weiterführende Erkenntnisse über Bedingungsfaktoren können nur in längsschnittlichen Designs gewonnen werden (Kristen, Römmer, Müller & Kalter, 2005). Aus der Verbindung von Bildungsmonitoring und Längsschnittstudien ergibt sich ein Bildungspanel, das Zufallsstichproben von Kohorten über Etappen des Bildungssystems begleitet und zu bestimmten Zeitpunkten Bildungsergebnisse durch Kompetenzerhebungen erfasst.
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Sandra Mittag und Hans-Dieter Daniel
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Qualitätssicherung und -verbesserung an Hochschulen durch Evaluation
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Mit der Entstehung von „Massenoe ikr ene Vorschulbereich M universitäten“ und der Krise der eb Säuglings- und Kleinkindalter so öffentlichen HochschulfinanzieMe bene rung in Europa in den 1980er und roe ak M 1990er Jahren wurde ein grundlegender Wandel im Verhältnis zwischen Staat und Hochschulen eingeleitet: Die Hochschulen erAufgabenbereiche hielten zunehmend Autonomie, gerieten aber gleichzeitig in einen Rechtfertigungsdruck in Bezug auf ihre Leistungen (Altrichter, Schratz & Pechar, 1997; Harvey & Newton, 2004; Huisman & Currie, 2004). Mit dem Stillstand des quantitativen Ausbaus des Forschungs- und Bildungssystems (vgl. Goodstein, 1996) und damit der Situation des „Steady State“ (Ziman, 1987, 1994) ging weltweit die Intensivierung der Suche nach „objektiven Bewertungsmaßstäben“ und reliablen, fairen und validen Evaluationsverfahren einher.
Evaluationsverfahren mit Peer Review werden seit Mitte der 1980er Jahre in Europa mit dem Ziel eingesetzt, die Qualität an Hochschulen transparent zu machen, zu sichern und zu verbessern. Frankreich führte bereits 1984 Verfahren für die Evaluation von Studium und Lehre sowie der Forschung, der Verwaltungsstrukturen und der Ressourcen ein. Diese umfassenden, institutionellen Evaluationen (institutional evaluations) wurden in der Schweiz von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich 1989 (vgl. Kübler, 2002; Ulich, 1999) und von der Universität Zürich im Jahr 2000 implementiert (vgl. Daniel, 2005). Studienfachevaluationen (program evaluations) wurden zunächst in den Niederlanden, dann in Großbritannien und in Dänemark Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre etabliert (vgl. Hämäläinen, Pehu-Voima & Wahlén, 2001; Thune, 1998). Seit Mitte der 1990er Jahre wird auch an den Hochschulen in Deutschland die Qualität von Studium und Lehre systematisch gesichert und verbessert. Im Kommuniqué der BolognaFolgekonferenz in Berlin erklärten die Bildungsministerinnen und -minister, dass die Hauptverantwortung für die Qualitätssicherung in der Hochschulbildung bei jeder Hochschule selbst liegt (Kommuniqué der Konferenz der europäischen Hochschulministerinnen und -minister, am 19. 09. 2003). Bei der Einführung von Evaluationsverfahren ging die Initiative teilweise von staatlicher Seite, teilweise von den Hochschulen selbst aus. Evaluationsverfahren bewegen sich damit auf dem mitunter schmalen Grat zwischen Rechenschaftslegung nach außen und (interner) Qualitätssicherung und werden häufig kritisch gesehen. Neben der Kritik am politischen Auftrag von Evaluationsverfahren wird die Effizienz der Verfahren immer wieder
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Qualitätssicherung und -verbesserung durch Evaluation
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in Frage gestellt. So wird z. B. in Deutschland geklagt, dass die Evaluationen keine Folgen hätten bzw. der Aufwand für die Verfahren in keinem adäquaten Verhältnis zu ihrem Nutzen stünde. Maßnahmen, die aus Evaluationsverfahren resultieren, können, je nach Ausgestaltung der Verfahren, auf Individualebene, auf der Ebene der Studiengänge, der Institute, der Fakultäten sowie auf der Ebene der Hochschulleitung greifen. Darüber hinaus sind die Evaluationsverfahren für das gesamte Hochschulsystem von Bedeutung, z. B. bei der Überprüfung von Qualitätssicherungssystemen an Hochschulen auf nationaler Ebene. So müssen beispielsweise in der Schweiz die Universitäten „qualitativ hochstehende Leistungen“ erbringen, die vom Organ für Akkreditierung und Qualitätssicherung der Schweizerischen Hochschulen (OAQ) überprüft und von der Schweizerischen Universitätskonferenz anerkannt sind, damit sie Finanzhilfen beanspruchen können. Das OAQ prüft im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung und Forschung alle vier Jahre in einem summarischen Verfahren (Quality Audit), ob die Beitragsempfängerinnen und -empfänger die Voraussetzungen erfüllen (Organ für Akkreditierung und Qualitätssicherung, 2005). In Deutschland finden in Anlehnung an Quality Audits seit 2008 sogenannte Systemakkreditierungen statt, welche die Möglichkeit bieten, das Qualitätssicherungssystem einer Hochschule für die Entwicklung und Durchführung von Studiengängen akkreditieren zu lassen. Im Folgenden wird zunächst der allgemeine Ablauf von mehrstufigen Evaluationsverfahren kurz erläutert, anschließend werden Ergebnisse aus einer Studie vorgestellt, die die Untersuchung der Folgen der Verfahren zum Gegenstand hat.
1 Evaluation an Hochschulen Bei den Evaluationen hat sich ein mehrstufiges Verfahren durchgesetzt, das zum einen die kontinuierliche Verbesserung von Studium und Lehre, von Forschung bzw. von Verwaltung und Dienstleistungen und zum anderen die Rechenschaftslegung nach außen zum Ziel hat (vgl. z. B. The Danish Evaluation Institute, 2003). Das Verfahren besteht aus einer internen (Selbst-)Evaluation, einer externen Evaluation sowie aus der Veröffentlichung eines Evaluationsberichts. Im Rahmen eines Follow-up werden die Evaluationsergebnisse umgesetzt. Die interne Evaluation dient der Stärken- und Schwächenanalyse des zu evaluierenden Instituts bzw. Fachbereichs. Die Ergebnisse der internen Evaluation werden in einem Selbstreport festgehalten, dessen Aufbau sich an einem Frageleitfaden bzw. einer Gliederungsliste, die von der Evaluationseinrichtung zur Verfügung gestellt wird, orientiert. Der Selbstbericht dient insbesondere den externen Gutachterinnen und Gutachtern als Informationsgrundlage. Im Rahmen der externen Evaluation besucht eine Gutachterkommission die jeweiligen Standorte. Die Gutachterinnen und Gutachter führen Gespräche mit den Hochschul- bzw. Fachangehörigen und verfassen auf der Grundlage des Selbstberichts und ihres Besuchs ein Gutachten mit Empfehlungen (die Begutachtung durch Fachkolleginnen und -kollegen
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Sandra Mittag und Hans-Dieter Daniel
in der Wissenschaft wird als Peer Review bezeichnet; zur Auseinandersetzung mit dem Peer Review siehe Weingart, 2003, sowie Daniel, 1993; einen Forschungsüberblick zum Peer Review geben Bornmann & Daniel, 2003). Für die Erstellung der Gutachten gibt es von der Evaluationseinrichtung Checklisten mit Kriterien und formalen Vorgaben. Mit der Fertigstellung des Gutachtens endet das eigentliche Evaluationsverfahren. Es folgt die Phase der Umsetzung der Evaluationsergebnisse bzw. das Follow-up. Die Umsetzung der Evaluationsergebnisse liegt in den Händen der evaluierten Hochschule.
2 Analyse der Folgen aus Evaluationsverfahren Im Rahmen einer Studie zu den Folgen von mehrstufigen Verfahren für die Evaluation von Studium und Lehre untersuchten wir die Evaluationsverfahren des ersten Evaluationszyklus (1994–2001) der beiden ältesten Evaluationseinrichtungen in Deutschland, des Verbundes Norddeutscher Universitäten sowie der Zentralen Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover (ZEvA) (Mittag, 2006). Empirische Datengrundlage sind eine umfangreiche Dokumentenanalyse (Zielvereinbarungen, Umsetzungsberichte u. Ä.) sowie Daten aus einer schriftlichen und mündlichen Befragung von Evaluationsbeteiligten, die im Rahmen einer Vorläuferstudie (Mittag, Bornmann & Daniel, 2003) erhoben wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass 56 % aller Empfehlungen, die die Gutachterinnen und Gutachter in den Evaluationsverfahren ausgesprochen hatten, umgesetzt bzw. zu den Empfehlungen entsprechende Maßnahmen eingeleitet wurden. Bei 29 % der Empfehlungen blieb die Umsetzung ohne Angabe von Gründen aus und 15 % der Empfehlungen wurden aus bestimmten Gründen nicht umgesetzt. Die Differenzierung nach Fachgruppen und nach Themenbereichen, auf die sich die gutachterlichen Empfehlungen beziehen, zeigt: Von insgesamt fünf Fachgruppen wurden in den Ingenieurwissenschaften sowie in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften am häufigsten und in den Sprach- und Kulturwissenschaften am seltensten gutachterliche Empfehlungen umgesetzt bzw. Maßnahmen zu den Empfehlungen eingeleitet (62 % bzw. 61 % gegenüber 49 %). Bei den elf Themenbereichen wurden im Bereich Planung und Organisation von Studium und Lehre vergleichsweise häufig Empfehlungen umgesetzt. Der Anteil umgesetzter Empfehlungen in den Bereichen Ausstattung sowie Verwaltung und akademische Selbstverwaltung ist dagegen auffällig gering (siehe Abbildung 1). Die Studie zeigt weiterhin, dass vor allem in den Sprach- und Kulturwissenschaften besonders selten gutachterliche Empfehlungen im Bereich Ausstattung umgesetzt wurden. Zudem blieb die Umsetzung von Empfehlungen zum wissenschaftlichen Nachwuchs weit häufiger als in den anderen Themenfeldern ohne Nennung von Gründen aus. Es lässt sich – in Anlehnung an Rossi, Freeman und Hofmann (1988) – nicht nur eine direkte und instrumentelle Verwendung von Evaluationsergebnissen ausmachen (konkrete Maßnahmen, die aus den gutachterlichen Empfehlungen resultieren), sondern auch (1) eine Reihe weiterer Maßnahmen, die nicht direkt auf die Gutachten zurückzuführen sind und die in Folge der Evaluationen ergriffen wurden, sowie (2) eine indirekte, konzeptionelle Verwendung von Evaluationsergebnissen. Zu letzterem gehören z. B. Lerneffekte und Selbstreflexionsprozesse, die insbesondere durch die Phase der internen Eva-
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Qualitätssicherung und -verbesserung durch Evaluation
0%
20 %
40 %
Positionierung und Profilbildung (n = 80)
60 %
349
80 %
69
100 %
9
22
Planung und Organisation von Studium und Lehre (n = 700)
62
12
26
Studienberatung und -betreuung (n = 155)
61
13
26
Qualitätssicherung und -verbesserung von Studium und Lehre (n = 69)
57
Lehrinhalte (n = 145)
55
Prüfungen (n = 146)
55
Lehr- und Lernformen (n = 163)
52
Bildungs- und Ausbildungsziele (n = 40)
50
Ausstattung (n = 329)
48
Wissenschaftlicher Nachwuchs (n = 83) Verwaltung und akademische Selbstverwaltung (n = 38)
43
32
14
9
29
36
16
29
17
13
31
37
26
15
29
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42
39
Empfehlung umgesetzt/Maßnahme eingeleitet Empfehlung begründet nicht umgesetzt keine Maßnahme ergriffen
Abbildung 1: Umsetzung der gutachterlichen Empfehlungen nach Themenbereichen; n = 1.948 gutachterliche Empfehlungen (Mittag, 2006)
luation angeregt werden, eine verbesserte Kommunikation, eine gestiegene Akzeptanz der Qualitätssicherung an den Hochschulen, die Entwicklung einer Qualitätskultur sowie ein gestiegener Stellenwert des Bereichs Studium und Lehre.
3 Resümee Die Ergebnisse der Studie bestätigen die mehrstufigen Evaluationsverfahren im Bereich Studium und Lehre als unverzichtbaren Bestandteil der Qualitätsentwicklung an Hochschulen: Die Mehrzahl der gutachterlichen Empfehlungen, die in den Verfahren von Nordverbund und ZEvA mit dem Ziel der Qualitätssicherung und -verbesserung ausgesprochen wurden, wurden umgesetzt oder es wurden zu diesen Empfehlungen entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Es sind weitere Maßnahmen, die sich nicht direkt auf die gutachterlichen Empfehlungen zurückführen lassen, ergriffen worden und es konnten
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Sandra Mittag und Hans-Dieter Daniel
neben den direkten Folgen auch indirekte Folgen der Verfahren, wie die Verbesserung der Kommunikation und die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins, festgestellt werden. Die Kritik, welche in der öffentlichen Diskussion geübt wird, dass Evaluationen folgenlos sind, kann somit zurückgewiesen werden. Da das Wissen um die Folgen überhaupt erst eine fundierte Diskussion über Bedenken und Einwände bezüglich der Evaluationsverfahren ermöglicht, sind regelmässige Untersuchungen zu den Verfahren und ihren Folgen unverzichtbar und sollten zukünftig verstärkt durchgeführt werden. Im Rahmen der Untersuchung wurden jedoch auch Schwächen bei der Umsetzung der gutachterlichen Empfehlungen aufgedeckt, in den Sprach- und Kulturwissenschaften insgesamt sowie über alle Fachgruppen bei der Umsetzung von Empfehlungen zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, zur Verbesserung von Abläufen der Verwaltung und akademischen Selbstverwaltung sowie zur Verbesserung der Ausstattung. Diese und weitere Befunde liefern Hinweise dafür, dass bei den Evaluationsverfahren Verbesserungspotenziale existieren und dass das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen der Verfahren noch optimiert werden kann.
Literatur Altrichter, H., Schratz, M. & Pechar, H. (Hrsg.). (1997). Hochschulen auf dem Prüfstand. Was bringt Evaluation für die Entwicklung von Universitäten und Fachhochschulen? (Studien zur Bildungsforschung & Bildungspolitik, 16). Innsbruck: StudienVerlag. Bornmann, L. & Daniel, H.-D. (2003). Begutachtung durch Fachkollegen in der Wissenschaft. Stand der Forschung zu Reliabilität, Fairness und Validität des Peer-Review-Verfahrens. In St. Schwarz & U. Teichler (Hrsg.), Universität auf dem Prüfstand. Konzepte und Befunde der Hochschulforschung (Schwerpunktreihe Hochschule und Beruf, S. 207–225). Frankfurt/Main: Campus. Daniel, H.-D. (1993). Guardians of science. Fairness and reliability of peer review. Weinheim: Wiley-VCH. Daniel, H.-D. (2005). Mehrstufige Evaluationsverfahren für Fachbereiche – das Beispiel der Evaluationsstelle der Universität Zürich. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 8, Beiheft 4/2005, 257–267. Goodstein, D. (1996). The Big Crunch: The End of Expansion in Science. Washington, D. C.: George C. Marshall Institute. Hämäläinen, K., Pehu-Voima, S. & Wahlén, St. (Hrsg.). (2001). Institutional evaluations in Europe (ENQA Workshop Reports 1). Helsinki: European Network for Quality Assurance in Higher Education. Harvey, L. & Newton, J. (2004). Transforming quality evaluation. Quality in Higher Education, 10 (2), 149–165. Huisman, J. & Currie, J. (2004). Accountability in higher education. Bridge over troubled water? Higher Education, 48 (4), 529–551. Kommuniqué der Konferenz der europäischen Hochschulministerinnen und -minister am 19. September 2003 in Berlin: Den Europäischen Hochschulraum verwirklichen. Zugriff am 17. 07. 2009 http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/Communique_dt.pdf Kübler, O. (2002). Lessons from a Decade of Peer Review at ETH Zürich. In Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Science between Evaluation and Innovation: A Conference on Peer Review (MaxPlanck-Forum No. 6, S. 67–72). München: Max-Planck-Gesellschaft.
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Qualitätssicherung und -verbesserung durch Evaluation
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Mittag, S., Bornmann, L. & Daniel, H.-D. (2003). Evaluation von Studium und Lehre an Hochschulen. Handbuch zur Durchführung mehrstufiger Evaluationsverfahren. Münster: Waxmann. Mittag, S. (2006). Qualitätssicherung an Hochschulen. Eine Untersuchung zu den Folgen der Evaluation von Studium und Lehre (Internationale Hochschulschriften, Bd. 475, Reihe für Habilitationen und sehr gute und ausgezeichnete Dissertationen). Münster: Waxmann. Organ für Akkreditierung und Qualitätssicherung (OAQ): Summarische Qualitätsprüfungen nach UFG. Synthesebericht OAQ. Januar 2005. Zugriff am 17. 07. 2009 http://www.oaq.ch/pub/downloads/synthesebericht_de.pdf Rossi, P. H., Freeman, H. E. & Hofmann, G. (1988). Programm-Evaluation. Einführung in die Methoden angewandter Sozialforschung (Sozialwissenschaften). Stuttgart: Enke. (Original erschienen 1979: Evaluation: A systematic approach). The Danish Evaluation Institute (2003). Quality procedures in European higher education. An ENQA survey (ENQA Occasional Papers). Helsinki: European Network for Quality Assurance in Higher Education. Thune, Ch. (1998). Evaluation of European higher education. A status report. Prepared for the European Commission by the Danish Centre for Quality Assurance and Evaluation in Higher Education, Denmark, in Cooperation with Comité National d’Evaluation, France. Zugriff am 22. 07. 2009. Verfügbar unter http://www.srhe.ac.uk/Hern/Docs/HERN_S6_MAT/REFERENCE/ Evaluation%20of%20European%20Higher%20Education.pdf Ulich, E. (1999). Qualitätsmanagement an Universitäten und Hochschulen. In Thonhauser, J. & Patry, J.-L. (Hrsg.), Evaluation im Bildungsbereich: Wissenschaft und Praxis im Dialog (Studien zur Bildungsforschung & Bildungspolitik 22, S. 85–102). Innsbruck: StudienVerlag. Weingart, P. (2003). Wissenschaftssoziologie. Bielefeld: transcript. Ziman, J. (1987). Science in a „Steady State“: the Research System in Transition. London: Science Policy Support Group. Ziman, J. (1994). Prometheus Bound – Science in a Dynamic Steady State. Cambridge: Cambridge University Press.
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Cordula Artelt und Petra Stanat
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie a Tertiärbereich k s g n du Sekundärbereich l i e B en
Handlungsebenen
Leistungen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich – Die PISA Studie
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Wie in vielen Ländern zuvor vollPrimärbereich eb kro e Vorschulbereich zieht sich in Deutschland in den Mi ben e Säuglings- und Kleinkindalter so letzten Jahren ein ParadigmenMe bene e wechsel in der Steuerung des Bilkro dungssystems. Mehr und mehr Ma stehen die Resultate schulischer Ausbildung im Mittelpunkt und werden als ein Gradmesser von Aufgabenbereiche Schulqualität betrachtet. Internationale Vergleichsuntersuchungen wie das Programme for International Student Assessment (PISA) der OECD zielen darauf ab, die Qualität von Bildungssystemen über die Messung von Bildungsresultaten an Schnittstellen der Schullaufbahn zu quantifizieren (siehe auch Baumert & Stanat, 2006; Stanat & Lüdtke, 2007). Hiermit liefern sie wichtige Orientierungspunkte bzw. benchmarks. Wie die meisten Formen von Bildungsmonitoring hat auch die Vergleichsuntersuchung PISA mehrere Funktionen. Sie soll (a) Informationen über Stärken und Schwächen von Bildungssystemen liefern, (b) umfassende Rechenschaftslegung im Sinne der Erreichung leistungsbezogener Zielvorgaben ermöglichen und (c) eine Grundlage für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen bilden (vgl. Weinert, 2001). Die PISA-Studie ist damit ein Beispiel politiknaher kulturvergleichender Bildungsforschung. Wie die PISAStudie diesem Anspruch theoretisch und methodisch gerecht wird und welche Rolle die Psychologie dabei spielt, ist Gegenstand dieses Beitrags.
1 Anlage und theoretischer Hintergrund der PISA-Studie Das Programme for International Student Assessment (PISA) ist eine zyklisch angelegte Vergleichsuntersuchung der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD). Mit dem Ziel, den Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern am Ende der Pflichtschulzeit zu erfassen, werden die Basiskompetenzen von 15-Jährigen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften untersucht. Weiterhin wird in jeder Erhebungswelle eine ergänzende Komponente erfasst (siehe unten). Die Erhebungswellen finden seit 2000 in einem dreijährigen Abstand statt und sind bislang bis zum Jahr 2015 beschlossen. Zusätzlich zu den OECD Mitgliedsstaaten, die nahezu geschlossen an PISA teilnehmen, wird die Studie mittlerweile in mehr als 30 zusätzlichen Staaten durchgeführt. Ausgangspunkt der PISA-Studie war eine Verständigung über diejenigen Kompetenzen, von denen angenommen wird, dass sie in modernen Gesellschaften für eine befriedi-
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Die PISA Studie
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gende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind (vgl. Baumert et al., 2001; OECD, 1999). Basierend auf der angelsächsischen Literacy-Konzeption wurde damit der Funktionalitätsgedanke schulischer Ausbildung in den Mittelpunkt gestellt. Dies bedeutet auch, dass der Bewährung von Kompetenzen in authentischen Anwendungssituationen besondere Bedeutung beigemessen wird. Entsprechend werden die in den Rahmenkonzeptionen (z. B. OECD, 1999, 2006) beschriebenen Basiskompetenzen für die Bereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften definiert: Wer über Lesekompetenz verfügt, ist in der Lage, Texte des alltäglichen Lebens zu lesen, zu verstehen und über sie zu reflektieren und sie für die unterschiedlichsten Zwecke zu nutzen; wer über Basiskompetenzen im mathematischen Bereich verfügt, kann mathematische Fertigkeiten und Fähigkeiten auf alltagsrelevante Probleme anwenden. Die Auswahl von Materialien und Anforderungen für die Messung der Leistung von Schülerinnen und Schülern in diesen Bereichen orientiert sich an Anforderungen und Prozessen, die in den jeweiligen Rahmenkonzeptionen beschrieben sind. PISA vertritt nicht den Anspruch, Bildung in einem umfassenden Sinne zu erfassen oder die Qualität schulischer Ausbildung gänzlich abbilden zu können. Mit der Erfassung von basalen Kulturwerkzeugen werden jedoch zentrale Teilbereiche von Bildung und Schulqualität untersucht. Zusätzlich untersuchte Bereiche und Kontextmerkmale: Als Basisindikatoren werden in PISA die Leistungen von Schülerinnen und Schülern im schriftsprachlichen, im mathematischen und im naturwissenschaftlichen Bereich berichtet. Die Konzentration auf kognitive Kompetenzen liegt vor allem an den hohen messtheoretischen Anforderungen, die mit einem internationalen Vergleich verbunden sind. Die untersuchten Kompetenzen müssen – in allen teilnehmenden Staaten in gleicher Weise – prinzipiell messbar und vergleichbar sein, d. h. sich anhand von objektiv, reliabel und valide messbarem Verhalten in Tests oder anderen Verfahren abbilden lassen. Aufgrund des erheblichen methodischen Aufwands, der in die Entwicklung der Tests investiert wird, kann davon ausgegangen werden, dass diese Kriterien in PISA für die Erfassung der Leistungen von Schülerinnen und Schülern erfüllt sind. Ergänzend dazu werden in PISA – wenngleich nicht als Basisindikatoren – weitere Bereiche erfasst. Angelehnt an die jeweiligen thematischen Schwerpunkte der Erhebung wurden hierbei in den einzelnen Erhebungswellen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Im Rahmen der PISA 2000 Erhebung, in der als kognitiver Bereich das Lesen im Vordergrund stand, wurden vorrangig Einstellungen, Haltungen, Interessen und Strategien zum Lesen und zum Lernen allgemein mit Selbstberichtsverfahren erfasst (vgl. Artelt, Baumert, Julius-McEvlany & Peschar, 2003). Bei der zweiten Erhebungswelle, in der mathematische Kompetenzen im Vordergrund standen, lag der Fokus sowohl auf den auf Mathematik bezogenen Einstellungen, Haltungen und Interessen als auch im Bereich des Problemlösens (vgl. Prenzel et al., 2004). Im Erhebungsjahr 2006 ging es vorrangig um naturwissenschaftliche Leistungen der Schülerinnen und Schüler sowie ihre hierauf bezogenen Einstellungen, Haltungen und Interessen (vgl. OECD, 2006). Um ein umfassendes Bild der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen zu erlangen und die Befunde angemessen einordnen zu können, werden in PISA zudem zahlreiche Merkmale schulischer Lehr- und Lernbedingungen erfasst. Hierzu zählen Indikatoren
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Cordula Artelt und Petra Stanat
der Ausstattung der Schule genauso wie der sozioökonomische und soziokulturelle Hintergrund der Schülerinnen und Schüler. Auch werden zunehmend Versuche unternommen, die deskriptiven Komponenten der Studie zu erweitern, etwa dadurch, dass Prozessmerkmale, die näher am Lern- und Unterrichtsgeschehen liegen, erfasst und mit den Leistungsindikatoren auf Individual-, Klassen- und Schulebene in Beziehung gesetzt werden.
2 PISA und psychologische Theorien und Methoden Insbesondere die Pädagogische Psychologie hat in vielfältiger Weise zur Konzeption und Analyse internationaler Schulleistungsstudien beigetragen und diese für die Theorieentwicklung genutzt. Hierzu zählt z. B. die Analyse und Validierung der zugrunde gelegten Kompetenzkonstrukte. So wurden zur Abgrenzung und Differenzierung der untersuchten Kompetenzen im Rahmen von PISA eine Reihe von Analysen durchführt. Dabei ist es in der Regel möglich, Leistungen innerhalb einer Domäne als eine Dimension abzubilden, was sowohl auf die zentrale Bedeutung allgemeiner Intelligenz für Schulleistungen als auch auf die allgemeinen Wirkungen pädagogischer Praxis hinweist (Baumert & Stanat, 2006). Gleichzeitig konnten jedoch auch Teildimensionen identifiziert werden, die sich mit Subtests innerhalb von Domänen erfassen lassen und die Hinweise auf relative Stärken und Schwächen einzelner Schülerinnenbzw. Schülergruppen liefern können. So ließen sich etwa in der Erhebungswelle PISA 2003, in der die mathematische Kompetenz schwerpunktmäßig erfasst wurde, theoriegeleitet vier Teildimensionen im Sinne übergreifender mathematischer Ideen („Quantität“, „Veränderung und Beziehungen“, „Raum und Form“ und „Unsicherheit“) voneinander unterscheiden (vgl. Prenzel et al., 2004). Auch in den anderen beiden Bereichen konnten Teildimensionen unterschieden werden. Im Lesen beziehen sich diese vorrangig auf Textsorten und die hiermit verbundenen differenziellen Verstehensanforderungen. Demnach handelt es sich beim Verständnis von literarischen (hier im Sinne von Erzähltexten), nicht kontinuierlichen und kontinuierlichen Texten um abgrenzbare Dimensionen der Lesekompetenz (Artelt & Schlagmüller, 2004): Die auch in psychologischen Modellen des Textverstehens angenommenen Anforderungsunterschiede zwischen Erzähl- und Sachtexten gehen in PISA mit differenziellen Stärken und Schwächen in einzelnen Ländern einher. Die in PISA verwendete probabilistische Testtheorie erlaubt es, Personenfähigkeit und Itemschwierigkeit auf einer gemeinsamen Metrik abzubilden, und auf diese Weise nicht nur Vergleiche in Bezug auf die zentrale Tendenz und die Streuung von Leistungen vorzunehmen, sondern auch Vergleiche in Bezug auf die für die jeweilige Kompetenzstufe charakteristischen Leistungen (vgl. z. B. Beaton & Allen, 1992; Klieme, 2000). Die Fähigkeit von Schülerinnen und Schülern lässt sich dabei über die Anforderungen beschreiben, die für ein bestimmtes Fähigkeitsniveau charakteristisch sind. Auch diese Art von inhaltlicher Auswertung trägt zum differenzierten Verständnis der Struktur von Kompetenzbereichen bei und erlaubt Rückschlüsse für die Förderung.
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Die PISA Studie
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3 Fazit und Ausblick PISA liefert eine umfassende Bestandsaufnahme der Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Dies geschieht in den Bereichen der Testentwicklung, der Skalierung der Leistungsdaten und der Stichprobenziehung auf einem methodisch hohen Niveau. Für die nächsten Erhebungswellen in den Jahren 2009, 2012 und 2015 sind weiterführende Entwicklungsziele der Studie vorgesehen, wie etwa ein verstärkter Einsatz von computergestützten Erhebungen und eine inhaltliche Erweiterung der erfassten Unterrichtsmerkmale. Methodisch wird es zudem vorrangig um die Weiterentwicklung von Methoden zur Analyse und Beschreibung von Lernfortschritten gehen. Dies bezieht sich sowohl auf die Trends über die verschiedenen Erhebungswellen von PISA hinweg, als auch auf die Möglichkeit, die Ergebnisse über verschiedene Altersbereiche zu verankern, um Entwicklungen von der Grundschulstufe bis zum Alter von 15 Jahren über verschiedene Länder hinweg zu vergleichen. Während die Stärke von PISA in der Beschreibung des Leistungsstands der Schülerinnen und Schüler in den teilnehmenden Staaten liegt, ist die Analyse von Determinanten schulischer Lernerträge mit den Daten aus PISA allein nicht möglich. Trotz des zyklischen Charakters der Studie bleibt die Untersuchung querschnittlich. Die auf Basis der Ergebnisse abgeleiteten Hypothesen über mögliche Ansatzpunkte für Innovationen in Bildungssystemen müssen daher theoretisch begründet und durch zusätzliche Evidenz untermauert werden.
Literatur Artelt, C., Baumert, J., Julius-McElvany, N. & Peschar, J. (2003). Learners for Life. Student Approaches to Learning. Results from PISA 2000. Paris: OECD. Artelt, C. & Schlagmüller, M. (2004). Der Umgang mit literarischen Texten als Teilkompetenz im Lesen? Dimensionsanalysen und Ländervergleiche. In U. Schiefele, C. Artelt, W. Schneider & P. Stanat (Hrsg.), Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz – Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000 (S. 169–196). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W., Stanat, P., Tillmann, J. & Weiß, M. (Hrsg.). (2001). PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Baumert, J. & Stanat, P. (2006). Internationale Schulleistungsvergleiche. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3., überarb. Aufl., S. 291–302). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Beaton, A. E. & Allen, N. L. (1992). Interpreting scales through scale anchoring. Journal of Educational Statistics, 17 (2), 191–204. Klieme, E., (2000). Fachleistungen im voruniversitären Mathematik- und Physikunterricht: Theoretische Grundlagen, Kompetenzstufen und Unterrichtsschwerpunkte. In J. Baumert, W. Bos & R. Lehmann (Hrsg.). TIMSS/III Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschafts-
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Cordula Artelt und Petra Stanat
studie Mathematische und naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn (Band 2, S. 57–128). Opladen: Leske + Budrich. Organisation for Economic Co-operation and Development (1999). Measuring Student Knowledge and Skills. A New Framework for Assessment. Paris: OECD. Organisation for Economic Co-operation and Development (2006). Assessing Scientific, Reading and Mathematical Literacy: A framework for PISA 2006. Paris: OECD. Prenzel, M., Baumert, J., Blum, W., Lehmann, R., Leutner, D., Neubrand, M., Pekrun, R., Rolff, H.-G., Rost, J. & Schiefele, U. (Hrsg.). (2004). PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann. Stanat, P. & Lüdtke, O. (2007). Internationale Schulleistungsvergleiche. In G. Trommsdorff & H.-J. Kornadt (Hrsg.), Kulturelle Determinanten des Erlebens und Verhaltens (Enzyklopädie der Psychologie, Serie Kulturvergleichende Psychologie, Band 2, S. 279–347). Göttingen: Hogrefe. Weinert, F. E. (2001). (Hrsg.). Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim: Beltz.
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Teil III Handlungsebenen
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Detlev Leutner
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Einleitung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologie auf der Mikroebene: Individuelle Bedingungen des Lehrens und Lernens
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Die Aufgaben der Bildungspsychologie (Forschung, Beratung, Prävention, Intervention, Monitoring und Evaluation) sind auf der Makroebene (System), der Mesoebene (Organisation) und Aufgabenbereiche der Mikroebene (Individuum) zu erbringen. Dieser Klassifikation von Handlungsebenen entsprechend geht es im vorliegenden Kapitel um die Bedingungen erfolgreicher Bildungsprozesse auf der Ebene des Individuums. Im Zentrum dieses Kapitels steht damit das Lernen individueller Personen, was – zumindest auf den ersten Blick – Thema der traditionellen Lernpsychologie ist. Doch auch wenn man alles darüber wüsste, wie Menschen lernen, wäre man nicht automatisch auch in der Lage, individuelle Lernprozesse so zu beeinflussen, dass sie zu erfolgreichen Bildungsprozessen werden. Genauso wenig, wie Biologen notwendiger Weise erfolgreiche Bauern, Bauingenieurinnen erfolgreiche Architektinnen oder Physiologen erfolgreiche Ärzte sind, sind Lernpsychologen nicht notwendig auch gute Lehrer, Ausbilder oder Trainer. Über die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Lernprozessen hinaus braucht es Kenntnisse über die Wirksamkeit von Bildungsprozessen im Sinne von Lehrprozessen, um erfolgreich lehren, ausbilden und trainieren zu können (vgl. Gage, 1967; Leutner, 2006). Lernen und Lehren sind damit die Kernbegriffe bildungspsychologischer Reflexion auf der Mikroebene. Die zentrale Frage ist, wie die internen und externen Bedingungen des Lernens gestaltet werden müssen, damit sich ein erwünschter Lernerfolg einstellen kann. Die Beantwortung der Frage erfordert einerseits deskriptive Forschung zur Wirkung von Unterrichts- und Trainingsmaßnahmen, andererseits aber auch präskriptive Forschung zur Optimierung derartiger Maßnahmen, was im Übrigen normative Setzungen von Bildungszielen voraussetzt. Dass die Ergebnisse solcher Forschung auch unmittelbar praktisch nutzbare Bezüge zu den bildungspsychologischen Aufgabenbereichen (Beratung, Prävention, Intervention, Monitoring und Evaluation) haben, ist offensichtlich; dasselbe gilt für die verschiedenen Phasen der Bildungskarriere. Unter der Bezeichnung „Instruktionspsychologie“ hat die Psychologie des Lehrens und Lernens eine lange Tradition, die auf verhaltenspsychologische Ansätze zur Entwick-
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Detlev Leutner
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Tabelle 1: Allgemein-theoretische Perspektiven auf Lernen und Lehren Behaviorismus
Kognitivismus
Konstruktivismus
Lehr-/Lernziel
Verhalten; aber auch: Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen
Kognitive Strukturen und Prozesse
Problemlöseund Selbstlernkompetenz
Lernen
Veränderung von Verhaltenswahrscheinlichkeiten
Veränderung kognitiver Strukturen und Prozesse
Kompetenzentwicklung
Modell der lernenden Person
„black box“
„glass box“
lernende Person als Konstrukteur der „Glass box“Inhalte
Lehr-/Lernprinzipien
„rote learning“: auswendig lernen, üben, verstärken
„meaningful learning“: verstehensorientiert lernen
„open learning“: entdecken und entdecken lassen
lung von Selbstlernmaterialien im Rahmen des Programmierten Unterrichts in den 1950er und 1960er Jahren zurückgeht und seit der kognitiven Wende in den 1960er Jahren gezielt kognitionspsychologische Annahmen über die Verarbeitung von Informationen heranzieht, um individuelle Lernprozesse zu beschreiben, zu erklären und zu optimieren. Seit den 1980er Jahren werden vermehrt konstruktivistische Konzepte zur Gestaltung von „offenen“ Lernarrangements verwendet, bei denen der Eigenaktivität der Lernenden eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Diese drei allgemein-theoretischen Perspektiven auf Lernen und Lehren unterscheiden sich recht deutlich darin, was unter Lehr- oder Lernzielen und unter Lernen verstanden wird, welche Modellvorstellung man von Lernenden hat und welche Lehrprinzipien im Vordergrund stehen (siehe Tabelle 1). Der Übergang von der verhaltensorientierten zur kognitiven Perspektive entspricht einer Verlagerung des instruktionspsychologischen Interesses von Produkten auf Prozesse, der Übergang von der kognitiven zur konstruktivistischen Perspektive dokumentiert eine Verlagerung des Interesses von der Lehrenden- auf die Lernendenseite. Die durch die Perspektivenwechsel immer wieder angeheizte Debatte um Lehr-Lernprinzipien, vom Auswendiglernen über Verstehen bis hin zum selbstständigen Entdecken, ist allerdings nicht neu; sie findet sich z. B. schon in der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts wie auch in der heftig geführten Auseinandersetzung um den Stellenwert des Entdeckenden Lernens in den 1960er Jahren. Aktuelle Diskussionsbeiträge finden sich z. B. bei Mayer (2004) oder Kirschner, Sweller und Clark (2006). Im Vergleich zur erziehungswissenschaftlichen „Allgemeinen Didaktik“ ist Instruktionspsychologie als „Psychologische Didaktik“ (Aebli, 1951) zu verstehen. Dabei geht es
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weniger um die Entwicklung didaktischer „Modelle“, als um „psychologisch begründete instruktionale Interventionen, die über die reine Anwendung didaktischer Rezepte hinausgehen“ (Leutner, 2006, S. 261).
2 Stand der Forschung Mit Klauer (1985; vgl. Klauer & Leutner, 2007) lassen sich drei Zugänge zur Lehr-Lernforschung unterscheiden: Empirische Unterrichtsforschung, Instruktionsforschung und Erziehungsphilosophie. Empirische Unterrichtsforschung: Empirische Unterrichtsforschung ist deskriptiv ausgerichtet und untersucht, was in Bildungseinrichtungen gelehrt und gelernt wird, wie Unterricht und Ausbildung gestaltet werden und welche Wirkungen auf Seiten der Lernenden und Lehrenden zu verzeichnen sind.
Methodische Zugänge der Empirischen Unterrichtsforschung sind Materialanalysen, Unterrichtsbeobachtungen sowie der Einsatz von Tests und Fragebögen. Die anfallenden Daten werden korrelationsstatistisch ausgewertet. Es überwiegen Querschnittsstudien, mitunter finden sich auch Längsschnittstudien. Empirische Unterrichtsforschung fällt dann in den Bereich der Bildungspsychologie, wenn Unterricht und Lernen aus psychologischer Perspektive, also unter Verwendung psychologischer Theorien und Forschungsbefunde untersucht wird. Fehlt dieser Bezug, dann fällt Unterrichtsforschung in den Bereich der Fachdidaktik oder der Allgemeinen Didaktik. Instruktionsforschung: Instruktionsforschung ist präskriptiv ausgerichtet und untersucht, was in Bildungseinrichtungen gelehrt und gelernt werden sollte (z. B. als Curriculumforschung) und wie Unterricht und Ausbildung zu gestalten sind, um bestimmte Wirkungen zu erzielen.
Typischer methodischer Zugang der Instruktionsforschung ist das Experiment mit Versuchs- und Kontrollgruppe, bei dem geprüft wird, ob eine zeitlich voraus laufende Veränderung (z. B. ein Wechsel der Lehrmethode) zeitlich nachfolgende Effekte hat (z. B. veränderten Lernerfolg). Es überwiegen kleinere experimentelle Studien, die in Lernlabors oder Schulklassen durchgeführt werden und bei denen die Einflüsse weniger Variablen geprüft und Störvariablen kontrolliert werden. Mitunter finden sich aber auch Interventions- und Implementationsstudien mit hunderten oder tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dabei wird geprüft, inwieweit sich die Ergebnisse von Labor- oder kleineren Feldstudien in der Bildungspraxis, d. h. insbesondere auch bei Abwesenheit der Forscherinnen und Forscher, bewähren („bringing research into practice“). In den USA gibt es seit einigen Jahren Bemühungen, schulpolitische Entscheidungen möglichst evidenz-basiert zu treffen, wobei „randomized controlled studies“, also Experimente der zuvor beschriebenen Art, eine besondere Rolle spielen (Slavin,
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2002). Auch hier gilt, wie auch bei der Empirischen Unterrichtsforschung, dass Instruktionsforschung nur dann in den Bereich der Bildungspsychologie fällt, wenn sie vor dem Hintergrund psychologischer Theorien und Forschungsbefunde erfolgt. Erziehungsphilosophie: Erziehungsphilosophie ist normativ ausgerichtet. Sie befasst sich zwar auch damit, was in Bildungseinrichtungen gelehrt und gelernt werden sollte, allerdings auf der Ebene übergeordneter Bildungsziele.
Darüber hinaus befasst sich Erziehungsphilosophie mit der Frage, wie Unterricht und Ausbildung gestaltet werden sollten, allerdings auch hier auf anderen Ebenen, z. B. auf der Ebene berufsethischer Standards der Lehrenden. Derartige Themen betreffen Forschungsfragen der Bildungspsychologie – wenn überhaupt – nur bedingt; sie sind allerdings insoweit zu berücksichtigen, als sie Randbedingungen vorgeben, in deren Rahmen sich Instruktionsforschung zu bewegen hat.
2.1 Theorien und Modelle Zum Lernen und Lehren als zentrales Aufgabenfeld auf der Mikroebene bildungspsychologischer Forschung gibt es zahlreiche Theorien und Modelle. Einige von ihnen sollen im Folgenden vorgestellt werden. Die Auswahl ist selektiv, und zwar aus einer kognitionspsychologischen Perspektive der Planung von Lernsequenzen, Unterricht, Ausbildung und Training. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach grundlegenden Modellvorstellungen zum Lernen. Antworten finden sich in Modellen der aktiven Verarbeitung von Informationen. Dann stellt sich die Frage nach den durch Lernen zu erreichenden Zielen und nach Möglichkeiten zur Überprüfung der Zielerreichung. Antworten findet man unter den Stichworten Lehrzieldefinition, Kompetenzmodelle, Bildungsstandards und Diagnostik. Wenn die Frage nach den Zielen beantwortet ist, stellt sich die Frage, wie die gesetzten Ziele erreicht werden können. Antworten lassen sich anhand des Konzepts der „Lehrfunktionen“ strukturiert zusammenfassen. Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit Lehrfunktionen auch als Lernfunktionen konzeptualisiert werden können. Antworten finden sich unter den Stichworten „adaptives Lehren“ und „selbstreguliertes Lernen“.
Lernen als aktive Informationsverarbeitung Grundlage aller hier vorzustellenden Modelle ist die Annahme, dass Lernen sich als Prozess der aktiven Verarbeitung von Informationen darstellen lässt („Generatives Lernen“ im Sinne von Wittrock, 1990). Dies erfordert ein Informationsverarbeitungssystem, dessen kognitive Architektur aus verschiedenen Speichersystemen (sensorisches und psychomotorisches Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis) mit unterschiedlicher Funktionsweise und unterschiedlicher Speicherkapazität bestehend angenommen wird (siehe Abbildung 1). Auf dieser „Hardware“ laufen dann, gewissermaßen als „Software“, kognitive, metakognitive, motivationale und emotionale Prozesse sowie
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Aufmerksamkeitsprozesse. Diese Prozesse ermöglichen es, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, zu verarbeiten und wiederum in die Umwelt hineinzuwirken; darüber hinaus können sie zu erfahrungsbedingten Veränderungen im Langzeitgedächtnis führen. Lernen als aktive Informationsverarbeitung: „Aktive“ Informationsverarbeitung bedeutet, dass Lernende den Prozessen der Informationsverarbeitung nicht passiv ausgeliefert sind, sondern dass es möglich und – im Sinne optimierten Lernens – auch erforderlich ist, diese Prozesse aktiv zu steuern und zu gestalten, was Aufgabe metakognitiver Kontrollprozesse ist.
Aufmerksamkeitsprozesse kognitive, motivationale & emotionale Prozesse metakognitive Kontrollprozesse
Information
Verhalten
Sensorisches Gedächtnis
Arbeitsgedächtnis
Langzeitgedächtnis
Psychomotorisches Gedächtnis
Abbildung 1: Modell der Informationsverarbeitung (in Anlehnung an Atkinson & Shiffrin, 1969 und Shiffrin & Atkinson, 1971; vgl. Leutner & Brünken, 2002)
Lehrzieldefinition, Kompetenzmodelle, Bildungsstandards und Diagnostik Um Lernsequenzen, Unterricht, Ausbildung und Training angemessen planen zu können, ist es notwendig, die zu erreichenden Ziele festzulegen. Dabei reicht es nicht aus, lediglich Inhalte anzugeben. Würde man z. B. im Deutschunterricht „Wilhelm Tell“ oder bei Lernstrategietrainings „Concept Mapping“ als Ziel spezifizieren, wäre völlig offen, was die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf diese Inhalte lernen sollen. Entscheidend ist es, neben einem Inhalt auch ein Verhalten zu spezifizieren, welches die Lernenden nach erfolgtem Unterricht zeigen können sollen, also z. B. „Die Konfliktsituation Wilhelm Tells in eigenen Worten erläutern können“ oder „Zu einem Kapitel aus dem Biologie-Lehrbuch selbstständig eine Concept-Map erstellen können“. In der jüngeren Geschichte der Instruktionspsychologie gab es verschiedene Ansätze, die Definition von Lehrzielen zu präzisieren. An dieser Stelle soll ein Modell von Klauer (1987) zur Definition von Lehrzielen als Kompetenzen vorgestellt werden (siehe
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Geforderter Ausprägungsgrad S-Komponente (Inhalt und Situation) R-Komponente (Erwartete Handlung)
Lösungswahrscheinlichkeit Aufgabenmenge (Lehrstoff)
Kompetenz bzw. Verhaltensdisposition (Ist-Zustand)
Lehrziel (Soll-Zustand)
Abbildung 2: Modell zur Definition von Lehrzielen als Kompetenzen (nach Klauer, 1987; vgl. Klauer & Leutner, 2007)
Abbildung 2), das insofern interessant ist, als es die in Folge der PISA1-Studien angestrebte Definition von Bildungsstandards (Klieme et al., 2003) schon etliche Jahre zuvor vorweggenommen hat. Die Grundidee des Modells besteht darin, eine Kompetenz über eine Menge von Aufgaben zu definieren, die den jeweiligen Lehrstoff repräsentieren. Jede zur Menge gehörende Aufgabe bringt die Lernenden in eine Situation, in der ein Inhalt vorgelegt wird (Stimulus- oder S-Komponente), bezüglich dessen eine konkrete Handlung erwartet wird (Response- oder R-Komponente). Die S-Komponente hat zumeist die Form einer Frage oder einer Aufforderung, z. B. „Zeichne eine ConceptMap zum Kapitel 13 des Biologie-Lehrbuchs“, die R-Komponente ist dann die richtige Antwort. Über mehrere solcher Aufgaben hinweg lässt sich dann die Wahrscheinlichkeit ermitteln, mit der ein Schüler oder eine Schülerin in der Lage ist, die Lernstrategie des Concept-Mappings richtig anzuwenden. Die auf diese Weise ermittelte Ausprägung der Kompetenz (als Ist-Zustand) lässt sich schließlich vergleichen mit der im Lehrziel geforderten Ausprägung der Kompetenz (als Soll-Zustand). Besteht eine Diskrepanz zwischen Ist und Soll, hat die Schülerin oder der Schüler das Lehrziel noch nicht erreicht; es besteht weiterer Lern- bzw. Lehrbedarf. Lehrziele lassen sich also als Kompetenzen definieren, z. B. Lesekompetenz Deutsch, Schreibkompetenz Englisch, Modellierkompetenz Mathematik. Kompetenzen: Kompetenzen = „kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in einer bestimmten Domäne beziehen“ (Klieme & Leutner, 2006).
Kompetenzen in diesem Sinne sind wegen ihrer Kontextspezifität sowie ihrer anzunehmenden Erlern- und Vermittelbarkeit von Intelligenz abzugrenzen. Sie sind ebenfalls von „Handlungskompetenzen“ abzugrenzen, die im Sinne von Weinert (2001) auch motiva1 Programme for International Student Assessment
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tionale Orientierungen, Einstellungen, Tendenzen und Erwartungen einschließen („Fähigkeit & Bereitschaft“). Schließlich sind Kompetenzen, wie sie hier definiert sind, aufgrund ihrer Domänenspezifität von einem breiten Kompetenzbegriff abzugrenzen, wie er z. B. in der Berufspädagogik mit den Facetten Selbstkompetenz, Sachkompetenz (als Fach- und Methodenkompetenz) sowie Sozialkompetenz verbreitet ist. Kompetenzmodelle beschreiben die Struktur einer Kompetenz, indem sie eine komplexe Kompetenz, wie z. B. Lesen, in Teilkompetenzen zerlegen. So wird in den PISAStudien z. B. bei der Lesekompetenz zwischen „Informationen ermitteln“, „textbezogen interpretieren“ und „reflektieren und bewerten“ unterschieden (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001); innerhalb der Teilkompetenzen werden dann Kompetenzniveaus definiert wie z. B. „explizit gegebene Information lokalisieren“ als niedrigste und „implizit gegebene Information identifizieren“ als höchste Stufe der Teilkompetenz „Informationen ermitteln“. Derartige Modelle, welche die Struktur komplexer Kompetenzen im Hinblick auf Teilkompetenzen und innerhalb der Teilkompetenzen verschiedene Niveaus oder gar Entwicklungsstufen beschreiben, sind nicht nur notwendig, um Bildungsstandards zu definieren; sie sind darüber hinaus auch erforderlich, um diagnostische Instrumente entwickeln zu können, mit Hilfe derer das Erreichen der Bildungsstandards sowohl auf der Individual- wie auch auf der Klassen-, Schul- und Systemebene angemessen überprüft werden kann (Leutner et al., 2007). Kompetenzmodelle, die diese Zwecke erfüllen, lassen sich nicht allein am Schreibtisch entwickeln; neben einer theoretischen, insbesondere auch fachdidaktischen Fundierung benötigen sie eine empirische Absicherung, was immer auch mit der Anwendung und Nutzung bestimmter psychometrischer Modelle gekoppelt ist (vgl. Klieme & Leutner, 2006). Zwischenzeitlich gibt es erste praxisorientierte Dokumentationen der deutschen Bildungsstandards in den Fächern Mathematik und Französisch (Blum, Drüke-Noe, Hartung & Köller, 2006; Tesch, Leupold & Köller, 2008).
Lehrfunktionen Erst wenn die Frage nach den Zielen von Lernen und Lehren angemessen beantwortet ist, macht es Sinn, danach zu fragen, wie die Ziele erreicht werden können. Versteht man Lernen als aktiven Prozess der Informationsverarbeitung (siehe Abbildung 1), dann lassen sich mit Klauer (1985; vgl. Klauer & Leutner, 2007) „Funktionen“ beschreiben, die erfüllt sein müssen, damit Lernprozesse erfolgreich sein können – d. h. das gesetzte Ziel erreichen. Da diese Funktionen in den allermeisten Fällen von den Lernenden zunächst noch nicht selbst erbracht werden können, sondern von Lehrkräften zu erbringen sind, werden sie als „Lehrfunktionen“ bezeichnet. Sechs solcher Lehrfunktionen lassen sich unterscheiden. Lehrfunktionen (vgl. Klauer, 1985; Klauer & Leutner, 2007): • Die Lernenden müssen motiviert sein (Lehrfunktion „Motivation“). • Die zu verarbeitenden Informationen müssen verfügbar sein und aufgenommen werden (Lehrfunktion „Information“). • Die aufgenommenen Informationen müssen verarbeitet und verstanden werden (Lehrfunktion „Informationsverarbeitung“).
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• Die verarbeiteten Informationen müssen gespeichert werden und wieder abrufbar sein (Lehrfunktion „Speichern und Abrufen“). • Die gespeicherten und wieder abrufbaren Informationen müssen zur Lösung neuer Aufgaben- und Problemstellungen genutzt werden können (Lehrfunktion „Anwendung und Transfer“). • Des gesamte Prozess des Lernens muss andauernd überprüft und zielführend gesteuert werden (Lehrfunktion „Steuerung und Kontrolle“).
Adaptives Lehren und selbstreguliertes Lernen Die Kunst des Lehrens und Lernens besteht darin, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die für erfolgreiches Lernen erforderlichen Lehrfunktionen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sind andauernd folgende Fragen zu beantworten: Sind die Lernenden hinreichend motiviert? Haben sie die zu verarbeitende Information verfügbar, und haben sie sie aufgenommen? Haben sie alles verarbeitet und verstanden? Haben sie die verarbeitete Information gespeichert und können sie sie aus dem Gedächtnis abrufen? Können sie die abrufbare Information anwenden? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, besteht besonderer Handlungsbedarf – oder auch nicht. Wenn die Schülerinnen und Schüler einer Klasse z. B. hoch motiviert sind, wäre es Verschwendung von Lernzeit, besondere Motivierungsmaßnahmen zu ergreifen. Wenn aber z. B. feststellbar ist, dass die Schülerinnen und Schüler den behandelten Lehrstoff noch nicht angemessen verstanden haben, dann ist es dringend erforderlich, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um z. B. reduktive und/oder elaborative Prozesse der Informationsverarbeitung in Gang zu setzen. Mit anderen Worten: Gestaltet man Unterricht, Ausbildung und Training auf diese Weise, indem man als Lehrperson also nur dann tätig wird, wenn es erforderlich ist, um ganz gezielt bestimmte Lehrfunktionen zu erfüllen, dann ist diese Art zu lehren „adaptiv“, nämlich angepasst daran, welchen Unterstützungsbedarf die Lernenden jeweils haben (vgl. Leutner, 2006, 2009). In dem Ausmaß, wie die Lernenden die Verantwortung zur Erfüllung der Lehrfunktion selbst übernehmen, entwickeln sie sich mehr und mehr zu selbstregulierten Lernerinnen und Lernern. Mit anderen Worten: Aus den Lehrfunktionen werden Lernfunktionen, und selbstreguliertes Lernen bedeutet nichts anderes, als Strategien einzusetzen, um diese Funktionen selbst zu erfüllen. Dabei eignen sich kognitive Strategien wie z. B. Textmarkieren, Concept-Mapping oder Visualisieren (vgl. Leutner & Leopold, 2006), um die Lehrfunktionen „Information“ und „Informationsverarbeitung“ zu erfüllen, während metakognitive Strategien des Planens und Überwachens die Lehrfunktion „Steuerung & Kontrolle“ erfüllen.
2.2 Studien und Befunde Zu den Bedingungen erfolgreicher Bildungsprozesse auf der Ebene des Individuums gibt es eine unübersehbare Fülle empirischer Forschung, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht (z. B. Thorndike, 1906, oder Meumann, 1911). Selbstverständlich lässt sich in diesem Überblickskapitel nur eine kleine exemplarische Auswahl vorstellen.
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Dabei werden die zuvor erläuterten Lehrfunktionen zur Strukturierung herangezogen, und ergänzend wird abschließend auf individuelle Unterschiede zwischen Lernenden eingegangen.
Effekte von Maßnahmen zur Umsetzung von Lehrfunktionen Ohne Motivation ist kein zielorientiertes Verhalten, also auch kein zielführendes Lernen möglich. Auch wenn das wie eine Binsenweisheit klingen mag und Strategien für den motivierenden Beginn einer Unterrichtsstunde (wie z. B. das Aufwerfen eines Problems ohne offenkundige Lösung, das Erzeugen eines kognitiven Konflikts oder die Herstellung eines persönlichen Bezuges zum Lehrstoff; vgl. Klauer & Leutner, 2007) zum Standardrepertoire der Didaktik gehören, ist die nachhaltige Umsetzung dieser Lehrfunktion keineswegs trivial. In vielen Fällen sind über Unterrichtseröffnungsstrategien hinausgehende Motivierungshilfen erforderlich wie Anerkennung, Lob oder sogenannte Tokens („Fleißkärtchen“ in allen denkbaren Varianten). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse verhaltensorientierter Lernforschung geht es dabei nicht zuletzt auch darum, eine positive Lernatmosphäre zu schaffen, die auf Verstärkung setzt und Bestrafung vermeidet. Fries (2002) konnte darüber hinaus z. B. zeigen, dass sich das Lern- und Leistungsmotiv von Lernenden trainieren lässt; einen Überblick über weitere Möglichkeiten der Motivationsförderung im Schulalltag geben Rheinberg & Krug, 1999). Ziele des Trainingsprogramms zur Förderung des Lern- und Leistungsmotivs nach Fries (2002): • Realistische Anspruchsniveausetzung, d. h. persönliche Leistungsziele, die erreichbar sind. • Erfolgszuversichtliche Attributionsmuster, d. h. persönliche Erklärungen für Erfolg oder Misserfolg, die weiteres Lernen sinnvoll erscheinen lassen (z. B. Erfolg zurückführen auf eigene Fähigkeit, Misserfolg aber auf mangelnde Anstrengung). • Positive Selbstbewertungsbilanz, d. h. die Freude über Erfolg sollte größer sein als der Ärger über Misserfolg.
Maßnahmen zur lernförderlichen Umsetzung der Lehrfunktion Information betreffen einerseits die Lenkung der Aufmerksamkeit der Lernenden, andererseits die Gestaltung des Lernmaterials. Notwendige Voraussetzung, überhaupt eine Chance zu haben, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf den Lehrstoff lenken zu können, ist eine effektive Klassenführung (engl. classroom management): Entsprechend den einflussreichen Arbeiten von Kounin (1970, 1976) besteht die Kunst darin, nicht erst auf Störungen des Unterrichts (z. B. in der vergleichsweise gelinden Form des „Schwätzen“) reagieren zu müssen, sondern präventiv dafür zu sorgen, dass solche Störungen erst gar nicht auftreten (vgl. Helmke, 2006; Nolting, 2008). Renkl (2008) verweist auf entsprechende Trainingsprogramme für Lehrkräfte2. Ist durch Maßnahmen der Klassenführung gewähr-
2 z. B. www.paed.uni-muenchen.de/lehrertraining/ oder www.uni-koeln.de/phil-fak/paedsem/ psych/alice/training/lehrertraining/konstanzer_modell.html
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leistet, dass alle Lernenden „bei der Sache“ sind, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit der Lernenden auf das kommende zu lenken. Vielfach untersucht wurde z. B. der Einsatz sogenannter vorstrukturierender Lernhilfen (engl. advance organizer) nach Ausubel (1960, 1968). Advance Organizer: Advance Organizer = Spezifische Form des Überblicks; begriffliches Grundgerüst für das, was im Unterricht behandelt werden soll. Wenn es z. B. um den Begriff „Katamaran“ geht, kann man an das Vorwissen der Lernenden über Schlitten und Segelboote anknüpfen.
Metaanalysen vorliegender Studien belegen, dass solche advance organizer den Lernerfolg positiv beeinflussen, auch wenn der Effekt insgesamt eher gering ist (Luiten, Ames & Ackerson, 1980) und insbesondere Lernenden mit geringem Vorwissen zugute kommt (West & Fensham, 1976). Eine weitere, vielfach untersuchte Möglichkeit der Aufmerksamkeitslenkung besteht darin, vor einer Unterrichtseinheit die jeweiligen Lehrziele anzugeben und zu erläutern. Eine Metaanalyse zu Zielangaben bei Lehrtexten (Klauer, 1984) zeigt aber, dass Vorsicht geboten ist: Zielangaben lenken die Aufmerksamkeit auf das, was gelernt werden soll, und ziehen die Aufmerksamkeit von dem weg, was nicht in den Zielangaben genannt wird. In beiden Richtungen sind mittelgroße Effekte auf den Lernerfolg zu verzeichnen. Mit anderen Worten: Zielangaben fördern intentionales Lernen, behindern aber inzidentelles (beiläufiges) Lernen; generell lern-motivierende Wirkungen, wie in der Didaktik mitunter angenommen, scheinen Zielangaben nicht zu haben. Maßnahmen zur lernförderlichen Umsetzung der Lehrfunktion Information werden in neueren Untersuchen vermehrt auch vor dem Hintergrund der Cognitive Load Theory (Paas, Renkl & Sweller, 2003; Sweller, 1994) begründet. Grundlegende Idee der Theorie ist, dass die Verarbeitung von Informationen primär im Arbeitsgedächtnis geschieht und dieses belastet (cognitive load), wobei verschiedene Prozesse um dessen begrenzte Kapazität konkurrieren. Dabei ist es einerseits der Lehrstoff selbst, der mehr oder weniger komplex ist und damit, um überhaupt bearbeitet werden zu können, mehr oder weniger Belastung ausübt, die als intrinsic load bezeichnet wird. Hinzu kommt eine störende Belastung, die dadurch entstehen kann, dass der Lehrstoff ungünstig präsentiert wird (extraneous load). Wenn nun sowohl der intrinsic load als auch der extraneous load hoch ist, dann ist nur noch wenig Kapazität des Arbeitsgedächtnisses verfügbar, um adäquate Prozesse der Informationsverarbeitung zu ermöglichen, die eine verstehens- und lernrelevante Belastung des Arbeitsgedächtnisses darstellen (germane load). Die Kunst der angemessenen Präsentation von Information besteht entsprechend der Cognitive Load Theory darin, den extraneous load so weit zu reduzieren, dass – bei gegebenem intrinsic load aufgrund der Komplexität des Lehrstoffs und des Vorwissens der Lernenden – hinreichend Kapazität des Arbeitsgedächtnisses verfügbar bleibt, um germane load induzierende kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung überhaupt erst zu ermöglichen. Empfehlungen auf Basis der Cognitive Load Theory können vergleichsweise trivial sein wie z. B. klare und deutliche Sprache der Vortragenden, leichte Lesbarkeit von Tafelanschrieb oder Vortrags-Folien, Vermeidung irrelevanter Präsentationseffekte wie z. B. das
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Einfliegenlassen von Wörtern mit doppeltem Looping bei Power-Point-Präsentationen etc. Maßnahmen zur Reduktion des extraneous load können aber auch eher subtil sein und sich auf komplexere Modelle des sensorischen Gedächtnisses und des Arbeitsgedächtnisses beziehen, die davon ausgehen, dass auditiv bzw. visuell aufgenommene und verbale bzw. bildlich kodierte Information „streckenweise“ getrennt verarbeitet wird (vgl. Mayer, 2005; Schnotz, 2005). Prominentes Beispiel sind die sogenannten „Prinzipien des Lernen mit Multimedia“ (im einfachsten Fall mit Text und Bild). So zeigen z. B. zahlreiche Untersuchungen (vgl. Mayer, 2001), dass man in aller Regel mit einer Kombination von schriftlichem Text und inhaltlich erläuternden Bildern zum Text besser lernt als mit einem Text allein. Eine Metaanalyse vorliegender Studien (Ginns, 2005) belegt, dass dieser einfache Multimedia-Effekt noch deutlich gesteigert werden kann, wenn die bild-erläuternden verbalen Informationen von den Lernenden nicht visuell (als geschriebener Text), sondern auditiv (als gesprochener Text) aufgenommen werden können (der sogenannte Modality-Effekt). Neben den auf den entsprechenden Effekten basierten Multimedia- und Modality-Prinzipien sind in der Forschung zum Lernen mit Multimedia noch zahlreiche weitere Prinzipien formuliert worden, deren Beachtung empfehlenswert erscheint (vgl. Brünken & Leutner, 2008; Brünken, Seufert & Leutner, 2008; Klauer & Leutner, 2007; Mayer, 2005; Niegemann et al., 2008). Theoretische Grundlage für Maßnahmen zur Umsetzung der Lehrfunktion Informationsverarbeitung sind z. B. die Levels of Processing-Theorie (Craik & Lockart, 1972) und die Generative Learning-Theorie (Wittrock, 1990): Craik und Lockhart unterscheiden zwischen einer eher oberflächlichen und einer eher semantisch, auf Bedeutung bezogenen tieferen Verarbeitung von Informationen, wobei letztere deutlich nachhaltigere Lerneffekte hat als erstere. Wittrock ergänzt diese Idee dahingehend, dass sich Lernen darstellen lässt als ein aktiver Prozess des Herstellens von Beziehungen, und zwar sowohl innerhalb der aufgenommenen Informationen (Reduzieren im Sinne des Selegierens und Organisierens wichtiger Informationen) als auch zwischen den neuen Informationen und bisherigen Kenntnissen (Elaborieren). Auf Elaboration hin ausgerichtete Informationsverarbeitung lässt sich z. B. durch Fragen induzieren, die nach der Bearbeitung des Lernmaterials beantwortet werden sollen. Rosenshine, Meister und Chapman (1996) konnten metaanalytisch zeigen, dass Schülerinnen und Schüler erfolgreich trainiert werden können, sich selbst Fragen zum Lehrstoff zu stellen, und dass sie deutlich bessere Verstehensleistungen erzielen als untrainierte Schülerinnen und Schüler. Auf Reduktion hin ausgerichtete Informationsverarbeitung kann z. B. darin bestehen, die zentralen Begriffe eines Textes zu markieren (selegieren) und die Beziehungen zwischen ihnen in einer Concept-Map darzustellen (organisieren). Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die im Textmarkieren und Concept-Mapping trainiert wurden, ein nachhaltig höheres Verstehensniveau gelesener Sachtexte erzielen als nicht trainierte Schülerinnen und Schüler (z. B. Leopold, den Elzen-Rump & Leutner, 2006). Vergleichbare Effekte zeigen sich in Trainingsstudien zum Zeichnen gegenständlicher Skizzen (Leopold, den Elzen-Rump & Leutner, 2006) und sogar für das untrainierte Generieren mentaler Vorstellungsbilder zu den Inhalten von Sachtexten (Leutner, Leopold & Sumfleth, 2009). Maßnahmen zur Umsetzung der Lehrfunktion Speichern und Abrufen finden sich in zahlreichen Lernratgebern. Häufig fokussieren sie auf Techniken des Auswendiglernens
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ohne den Anspruch, die zu speichernden Dinge tatsächlich auch tiefer zu verstehen. Typische Beispiele sind sogenannte Mnemotechniken. Mnemotechnik: Beispiele sind die Schlüsselwortmethode (engl. key-word method ) und die Methode der Orte (engl. method of loci ). Beide Methoden verwenden Vorstellungsbilder, um sich z. B. – bei der Schlüsselwortmethode – Vokabeln oder – bei der Methode der Orte – Wortlisten besser einprägen zu können.
Bei Mnemotechniken und ähnlichen Methoden geht es, wie schon angemerkt, um assoziatives Auswendiglernen, was aus bildungspsychologischer Perspektive eher weniger interessant ist. Andererseits, wenn ein Lehrstoff im Hinblick auf tieferes Verstehen bearbeitet worden ist (vgl. Lehrfunktion „Informationsverarbeitung“), kann erwartet werden, dass auch ohne Auswendiglernen abrufbares Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert worden ist. In diesem Fall ist es nützlich, den Abruf des Wissens zu Üben, um bestimmte Qualitätsstandards zu erreichen, z. B. im Rahmen des sogenannten Mastery Learnings. Mastery Learning: Beim Mastery Learning geht es darum, dass Lernende so lange Aufgabenstellungen zu einem Lehrstoff bearbeiten, bis ein bestimmtes Zielkriterium erreicht worden ist, z. B. 90 % richtiger Antworten.
Metaanalysen (z. B. Kulik, Kulik & Bangert-Drowns, 1990) bescheinigen dem Mastery Learning-Ansatz positive Wirkungen, allerdings – was nicht verwundert – auf Kosten einer durchschnittlich verlängerten Lernzeit. Übung, wie beim Mastery Learning, ist im Hinblick auf den Erwerb deklarativen Wissens (Wissen, dass etwas der Fall ist) nützlich, beim Erwerb von Fertigkeiten (engl. skills) ist Übung aber von ganz entscheidender Bedeutung: Zahlreiche Studien belegen, dass herausragende Expertise (z. B. in den Bereichen Musik, Sport, Schach, aber auch Arithmetik oder Autofahren) überproportional viel Übung erfordert, was durch das sogenannte Potenzgesetz des Lernens beschrieben wird (vgl. Anderson, 2007): Zu Beginn eines Lernprozesses ist bei konstanter Übungsrate ein vergleichsweise großer Lernfortschritt zu beobachten, der aber – bei weiterhin konstanter Übungsrate – mit zunehmender Expertise immer geringer wird. Maßnahmen zur Umsetzung der Lehrfunktion Anwendung und Transfer sorgen dafür, dass bereits Gelerntes in neuen Zusammenhängen angewendet oder auf einen anderen Kontext übertragen wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Anwendung und der Transfer gelernter Regeln, Prinzipien und Strategien geübt werden muss, idealerweise mit schrittweise zunehmender Transferdistanz (vgl. Chen, 1999), was eine besondere Art von „Aufgabenkultur“ erforderlich macht (vgl. Prenzel, 2000). Die Lehrfunktion Steuerung und Kontrolle schließlich betrifft den flexiblen Einsatz der zuvor erläuterten Maßnahmen zur Umsetzung der übrigen Lehrfunktionen. So macht es z. B. nur dann Sinn, besondere Maßnahmen zur Motivierung zu ergreifen, wenn die Lernenden nicht hinreichend motiviert sind – alles andere würde „Eulen nach Athen tragen“
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und Lernzeit verschwenden. Dasselbe gilt für die Lehrfunktion „Information“: So ist z. B. ein besonderer advance organizer nur bei Lernenden mit geringen Vorkenntnissen im jeweiligen Inhaltsgebiet erforderlich, usw. Mit anderen Worten: Um die individuellen Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern angemessen anregen und zielführend steuern zu können, müssen Lehrkräfte in der Lage sein, den Status-Quo der Lernenden angemessen zu diagnostizieren, und zwar nicht nur auf das Lernergebnis bezogen, sondern insbesondere auch auf den Lernprozess. Dass im Hinblick auf die diagnostischen Kompetenzen deutscher Lehrkräfte erheblicher Handlungsbedarf besteht, zeigte sich nicht zuletzt auch in den Ergebnissen der PISA 2000-Studie (Kultusministerkonferenz, 2002). Lernende können, wie zuvor erläutert, die Lehrfunktionen natürlich auch auf sich selbst anwenden. Sie werden dann zu selbstregulierten Lernern, und Lehrfunktionen werden dann zu Lernfunktionen. Dabei verdient die angemessene Umsetzung der Funktion des Steuerns und Kontrollierens besondere Beachtung, da sie die Grundlage jeglichen selbstregulierten Lernens darstellt. Insbesondere ist es, wie Studien zeigen, auch bei Lernstrategietrainings dringend erforderlich, diese Funktion explizit mit zu trainieren (Leutner & Leopold, 2006; Leopold, den Elzen-Rump & Leutner, 2006).
Interindividuelle Unterschiede Die im Abschnitt zur Umsetzung von Lehrfunktionen vorgestellten Forschungsergebnisse stellen evidenz-basierte „Leitlinien“ für psychologisch begründetes Handeln in Bildungssituationen dar. Solche Leitlinien gibt es z. B. auch – um eine Analogie zu verwenden – in der Medizin. In der Werbung zu Produkten der Pharma-Industrie ist allerdings regelmäßig der Satz zu hören: „Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. In der Forschung zum Lernen und Lehren werden solche „Probleme“ als ATI-Effekte bezeichnet (Wechselwirkungen – engl. interaction – von Lernvoraussetzungen – engl. aptitude – und Lehrmethode – engl. treatment; vgl. Brünken & Leutner, 2005). Natürlich unterscheiden sich Lernende, und Studien zeigen, dass die Wirksamkeit einer Lehrmethode durch interindividuelle Unterschiede der Lernenden moderiert werden kann: So weiß man z. B. aus der Forschung zum Lernen mit Multimedia (Mayer, 2001), dass hohes Vorwissen die Nachteile ungünstigen instruktionalen Designs ausgleichen kann (knowledge as compensator), während hohes räumliches Vorstellungsvermögen die lernwirksamen Vorteile günstigen instruktionalen Designs verstärken kann (spatial ability as enhancer). Mit anderen Worten: Gutes Multimedia-Design scheint insbesondere bei Lernenden mit geringem Vorwissen und hinreichend ausgeprägtem räumlichen Vorstellungsvermögen seine lernförderliche Wirkung zu entfalten. Andererseits kann man des Guten auch zu viel tun: Wenn das Vorwissen sehr hoch ist und die Lernenden schon Expertinnen und Experten im jeweiligen Sachgebiet sind, dann kann sich der ansonsten lernförderliche Effekt guten Multimedia-Designs in sein Gegenteil umkehren und sich als lernhinderlich erweisen (expertise reversal effect; Kalyuga, Ayres, Chandler & Sweller, 2003) – ein Effekt, der auch aus anderen Bereichen bekannt ist und schon von Clark (1990) als „when teaching kills learning“ bezeichnet worden ist. In diesem Zusammenhang sei auch auf die in didaktischen Kontexten häufig anzutreffenden Aussagen zu sogenannten
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Lerntypen verwiesen, deren empirische Basis in aller Regel schwach ist – zumindest wenn die Zuordnung der Lernenden zu einem spezifischen Lerntyp per Fragebogen erfolgt. Wird die Lerntypenklassifikation dagegen anhand beobachtbaren Lernverhaltens vorgenommen, dann kann z. B. für Visualisierer gezeigt werden, dass sie im Lernerfolg einbrechen, wenn ihnen die zum Lernen präferierten Bilder vorenthalten werden, während es für Verbalisierer keinen Unterschied ausmacht (Leutner & Plass, 1998; Plass, Chun, Mayer & Leutner, 1998). Um in der Medizin-Analogie zu bleiben: Von Ärztinnen und Ärzten wird erwartet, dass sie Wechselwirkungen zwischen Personeneigenschaften und Medikamenten wie auch zwischen Medikamenten möglichst gut kennen und Patientinnen und Patienten vor dem Hintergrund ihres professionellen Wissens angemessen behandeln. Übertragen auf ATIEffekte beim Lernen heißt das, dass wir Forschung benötigen, die solche Wechselwirkungen aufdeckt. Metaanalysen leisten diesbezüglich hervorragende Dienste: Sofern hinreichend viele Studien von hinreichend guter methodischer Qualität vorhanden sind, erlauben sie es zu prüfen, inwieweit die Wirkung einer Methode A in Abhängigkeit von Kontextfaktoren B, C, D etc. variiert (sog. Moderatoreffekte). Und genau dieses Wissen zeichnet pädagogische Professionalität aus. Dabei ist völlig klar, dass sich derartiges Wissen auch im Wege individueller Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis entwickelt. Solches individuelle Wissen kann dann aber nur den Charakter von Hypothesen haben. Um das Wissen z. B. für eine wissenschaftlich begründete Lehrerbildung nutzbar zu machen, bedarf es der empirischen Überprüfung. Ansonsten bleibt es nicht mehr als von Generation zu Generation überlieferbare „pädagogische Folklore“.
3 Herausforderungen für die Bildungspsychologie Das vorliegende Kapitel behandelt die Mikroebene bildungspsychologischer Reflexion und Forschung. Es geht um das Lernen auf individueller Ebene und dessen Förderung, um Lernen und Lehren also. Frage ist, wie auf der Basis psychologischer Theorien und Forschungsergebnisse interne und externe Bedingungen des Lernens so gestaltet werden können, dass bestimmte Ziele – nämlich Bildungsziele – erreicht werden. Im Kapitel wurde in instruktionspsychologischer Tradition eine schwerpunktmäßig kognitive Perspektive eingenommen. Eine Herausforderung besteht für die Bildungspsychologie darin, motivationale und emotionale Perspektiven einzubinden, wozu z. B. die Selbstkonzeptforschung (vgl. Moschner & Dickhäuser, 2006; Köller & Möller, 2006) oder die Interessensforschung (Krapp, 2006) geeignete Ausgangspunkte darstellen dürften. Darüber hinaus wurde in diesem Kapitel schwerpunktmäßig die mit dem Lernort „Schule“ verbundene Forschung vorgestellt, also der Primär- und der Sekundärbereich einer Bildungskarriere. Eine weitere Herausforderung für die Bildungspsychologie besteht darin, die Perspektive auf die anderen Bereiche der Bildungskarriere auszuweiten. Dieses integrierend zu leisten, erscheint nicht einfach, da die diesbezügliche Forschung in sehr unterschiedlichen scientific communities geleistet wird (mit genuin eigenen Theorien, Forschungsparadigmen, Konferenzen und Journals), die sich in vielen Fällen nur unzureichend gegenseitig zur Kenntnis nehmen. Schreiber (1998) konnte solche communities z. B. auf dem Gebiet des selbstregulierten Lernens mit bibliometrischen Methoden
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überzeugend nachweisen. Und schließlich ist es eine Herausforderung für die Bildungspsychologie, ihre Beziehungen zu benachbarten Disziplinen wie Erziehungswissenschaft, Bildungsökonomie und -soziologie sowie angewandte Entwicklungspsychologie zu klären.
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie a Tertiärbereich k s ng du Sekundärbereich l i e B en
Handlungsebenen
Lernen aus Fehlern
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
b Primärbereich Schulisches Lernen und Fehleroe ikr ene Vorschulbereich M machen sind untrennbar miteineb Säuglings- und Kleinkindalter so e ander verknüpft. Dies belegen verMe ben schiedene Lerntheorien auf, die roe ak M Fehler als wichtige Elemente im Lernprozess betrachten (z. B. das Lernen aus Versuch und Irrtum, die kognitive Lerntheorie mit der Aufgabenbereiche Annahme des Aha-Erlebnisses, etc., Wiater, 2004). Fehler lassen Schülerinnen und Schüler allerdings nicht „kalt“, sondern lösen Emotionen aus (z. B. Oser, Hascher & Spychiger, 1999; Rollet, 1999; Wiater, 2004). Ob Fehler eher als Lernchance verstanden oder negativ erlebt werden, scheint dabei stark von Reaktionen der Umwelt und der sog. Fehlerkultur abzuhängen (Oser et al., 1999). Man geht davon aus, dass Fehler in einer positiven Lernatmosphäre weniger negative, d. h. unangenehme Gefühle auslösen.
In der nachfolgend vorgestellten Studie wurde deshalb untersucht, wie Fehlerkultur in Schulklassen praktiziert wird und welche Wirkung diese ausübt. Der Fokus lag dabei auf den emotionalen Faktoren, da das negative Erleben von Fehlersituationen verhindert, dass mit Fehlern konstruktiv umgegangen wird und sie für den Lernprozess genutzt werden können (Oser & Spychiger, 2005; Rincke, 2004).
1 Theoretische Grundlagen Althof (1999, S. 8) formulierte: „Der Nachvollzug des Falschen ermöglicht das Lernen des Richtigen“, und spricht damit eine wichtige Funktion von Fehlern für das Lernen an: Wer Fehler erkennt und sich mit diesen auseinandersetzt, erhält Hinweise für das korrekte Vorgehen und kann dann Fehler korrigieren. Das dadurch entstehende „negative Wissen“ (= Wissen darüber, wie oder was etwas nicht ist bzw. wie man etwas nicht machen darf oder wie etwas nicht funktioniert; Oser et al., 1999) bringt Schülerinnen und Schüler schrittweise dem „positiven“ (= korrekten) Wissen näher. Somit sind Fehler wichtige Bestandteile im Lernprozess (Häuptle-Barceló, 2007; Kieweg, 2007; Oser & Spychiger, 2005; Schoy-Lutz, 2005; Spychiger, Kuster & Oser, 2006; Weinert, 1999; Wiater, 2004) und ein kompetenter Umgang mit ihnen ist Voraussetzung für die erfolgreiche Organisation des eigenen Lernens (Rathgeber, 2006). Unterricht sollte deshalb nicht das Ziel verfolgen, Fehler bei Lernenden zu vermeiden (Althof, 1999; Rincke, 2004), sondern Sorge dafür tragen, dass Schülerinnen und Schüler Fehler für ihren Lernprozess zu nutzen lernen. Hierzu sind nach Oser et al. (1999)
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drei Prozesse nötig: Einerseits müssen Schülerinnen und Schüler verstehen, was sie falsch gemacht haben (Fehlerklärung). Zweitens gilt es zu klären, warum der Fehler erfolgte (Fehlerursache). In einem dritten Schritt muss den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geboten werden, den Fehler zu korrigieren und die richtige Lösung zu erarbeiten (Fehlerkorrektur). Ob sich dieses positive Lernpotenzial von Fehlern („Fehler als Helfer“, Wiater, 2004, S. 4) entfalten kann, wird stark von der vorherrschenden „Fehlerkultur“ im Klassenzimmer bestimmt. Eine positive Fehlerkultur bedeutet einerseits, dass Fehler in einem Klima der emotionalen Sicherheit gemacht werden dürfen (positive emotionale Befindlichkeit der Schülerinnen und Schüler als Voraussetzung für ein Lernen aus Fehlern, Spychiger, Oser, Hascher & Mahler, 1999; Rincke, 2004), andererseits, dass Fehler als Lernchance wahrgenommen und kompetent genutzt werden (können) (Häuptle-Barcelò, 2007; Spychiger et al., 1999). Zentrale Dimensionen für eine positive Fehlerkultur sind demnach eine „Vertrauenskultur“ (Spychiger et al., 1999, S. 45) und eine Lernorientierung (Spychiger et al., 2006).
2 Methode und Untersuchungsdesign Ziel der Studie war, anhand von Unterrichtssituationen die Fehlerkultur und die kognitiven und emotionalen Einstellungen von Schülerinnen und Schülern zu Fehlersituationen zu erfassen. Um zu gewährleisten, dass die Situationen dem Unterrichtsalltag der Kinder und Jugendlichen möglichst nahe sind, wurden zunächst 32 Schülerinnen und Schüler aus den Klassenstufen 5 und 11 gebeten, einen Aufsatz zum Thema „Fehler in der Schule“ zu schreiben. Aus diesen Aufsätzen wurden die häufigsten Situationen ausgewählt, nach dem Grad ihrer Fehleröffentlichkeit systematisiert und dazu entsprechende Geschichten formuliert. Die Situationen ließen sich wie folgt charakterisieren: • Der Fehler erfolgt öffentlich im Unterricht, d. h. sowohl Mitschülerinnen und Mitschüler als auch die Lehrperson sehen den Fehler: beim Vorrechnen an der Tafel bzw. beim Vorlesen. • Der Fehler wird von der Lehrperson entdeckt und von benachbarten Schülerinnen und Schülern beobachtet: bei einer Stillarbeit. • Der Fehler wird nur von der Lehrperson entdeckt: bei den Hausaufgaben. • Der Fehler bleibt von der Lehrperson unentdeckt, wird aber von der Mitschülerin oder dem Mitschüler wahrgenommen: bei einer Partnerarbeit. • Der Fehler bleibt unentdeckt: bei der Selbstkorrektur von Übungsaufgaben. • Der Fehler erfolgt in einer Leistungssituation und wird entdeckt, kann aber „unter vier Augen“ bleiben: bei einer schriftlichen Prüfung. Die Stichprobe bestand aus insgesamt 72 Schülerinnen und Schülern. Aus den Klassenstufen 3, 5, 7, 9, 11 und 13 (Altersspanne 9 Jahre, 5 Monate bis 20 Jahre, 6 Monate) wurden je 12 Kinder bzw. Jugendliche mittels strukturierter Interviews befragt. Jedem Kind bzw. Jugendlichen wurden vier Geschichten erzählt, in denen eine Schülerin oder ein Schüler einen Fehler macht, darunter stets eine öffentliche Fehlersituation beim Vorlesen oder Vorrechnen an der Tafel. Die anderen Geschichten wurden systematisch vari-
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Lernen aus Fehlern
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iert; ebenso wie die Sequenz der Geschichten, um Reihenfolgeeffekte zu vermeiden. Im Anschluss an die Erzählung sollten die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer einschätzen, welche Emotionen die Situation bei den Personen in der Geschichte auslösen würde und warum. Ebenso wurden die Probandinnen und Probanden gebeten zu erklären, wie sie selbst sich in einer solchen Situation fühlen würden, und dies zu begründen. Abschließend wurden sie zu Reaktionen der Lehrpersonen und der Mitschülerinnen und Mitschüler auf diese Situationen befragt. Die Geschichten wurden mit Bildern illustriert, die die Situation veranschaulichten, ohne Hinweise auf die Emotionen der Personen in der Geschichte zu geben.
3 Ergebnisse und Interpretation Generell kann gesagt werden, dass die Mehrzahl der Fehlersituationen mit negativen Gefühlen behaftet ist. Dies trifft sowohl für die Emotionen der Personen in der Geschichte als auch für die eigenen Emotionen zu. Besonders negativ werden öffentliche Fehler erlebt (80 % der Schülerinnen und Schüler). Sie beschreiben dabei, sich schlecht gefühlt (26 Nennungen) oder geschämt (6 Nennungen) zu haben, enttäuscht gewesen (4 Nennungen) oder wütend geworden zu sein (2 Nennungen). 19 Schülerinnen und Schüler wählen spezifische Emotionsbeschreibungen (Einzelnennungen) wie z. B. sich unsicher, dumm oder als Versager fühlen, verzweifelt oder traurig sein. Eine zentrale Ursache für Emotionen in öffentlichen Fehlersituationen ist das Erleben von Inkompetenz und verfehlter Leistungserbringung: Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler sieht Fehler beim Vorlesen bzw. Vorrechnen prinzipiell als unangenehm an. Zwei Drittel der Ursachen beziehen sich auch auf soziale Aspekte, die mit der Lehrperson und den Mitschülerinnen und Mitschülern verbunden sind. Dabei zeigt sich ein interessantes Ergebnis: Zwar sprechen 16 Schülerinnen und Schüler explizit von unerwünschten Reaktionen der Lehrpersonen, wie Ärger, Bloßstellen oder Zynismus (was zum Teil auch abhängig von der Laune der Lehrperson zu sein scheint), und manche verweisen darauf, dass die Lehrperson eher über den Fehler hinwegsehen bzw. diesen ignorieren (8 Schülerinnen und Schüler) würde, aber die deutliche Mehrheit (42 Schülerinnen und Schüler) erwähnt ein positives Lehrerverhalten, geprägt von Verständnis bzw. Unterstützung. Wesentlich häufiger wird auf das explizit unangenehme Verhalten von Mitschülerinnen und Mitschülern (Peers) bzw. der Schulklasse verwiesen (28 Schülerinnen und Schüler). Die Schülerinnen und Schüler würden sich in öffentlichen Fehlersituationen also primär deshalb schlecht fühlen, weil ihre Peers Zeuginnen und Zeugen des Fehlers wurden, weil sie Gefahr laufen, ausgelacht zu werden oder als dumm dazustehen bzw. weil sie bei ihren Peers auf Unverständnis treffen und wenig Unterstützung erfahren. Dieser hohe Einfluss der Peers ist vermutlich auf soziale Vergleichsprozesse sowie auf ein instabiles Selbstkonzept und ein Sozialklima, das eher auf Kompetition als auf Kooperation beruht, zurückzuführen. Trotzdem ist nicht der Grad an Öffentlichkeit der allein entscheidende Prädiktor für negative Emotionen in Fehlersituationen, denn sie werden ebenso in Lernsituationen erwähnt und erweisen sich auch dann als dominant, wenn Fehler unentdeckt bleiben. So
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Tina Hascher und Gerda Hagenauer
erwähnten 13 von 38 Schülerinnen und Schülern, die zur unentdeckten Fehlersituation bei der Selbstkorrektur von Übungsaufgaben Stellung nahmen, negative Gefühle (z. B. „schlechtes Gewissen“, „unangenehm“). Begründet wird dies von den Kindern und Jugendlichen mit der Erfahrung der Inkompetenz bzw. mit der Tatsache, dass eine Korrektur eigentlich Mogeln gleich käme. Hier scheinen sich jedoch Veränderungen im Laufe der Jahre zu vollziehen: Je älter die Schülerinnen und Schüler werden, desto weniger werden unentdeckte Fehlersituationen als emotional belastend bzw. bedeutsam beurteilt (fünf von sieben Schülerinnen und Schülern der Oberstufe berichteten, in solchen Situationen fühle man sich „normal“ oder „neutral“).
4 Resümee und Ausblick Aus Alltagserfahrungen wissen wir: Fehler können passieren, sie gehören zum Lernprozess und bieten Lernchancen (z. B. Oser et al., 1999; Kieweg, 2007; Spychiger et al., 2006). Dies trifft auch für das Lernen in der Schule zu. Kinder und Jugendliche eignen sich in ihrer Schulzeit eine Vielzahl von Wissensinhalten und Kompetenzen an, und dieser Erwerbsprozess verläuft nicht fehlerfrei. Es ist daher von Bedeutung herauszufinden, wie Lernende und ihr Umfeld mit Fehlern umgehen. In der beschriebenen Studie wurden die von Fehlersituationen ausgelösten Emotionen der Schülerinnen und Schüler als Indikatoren für die vorherrschende Fehlerkultur im Unterricht analysiert. Die Ergebnisse legen die Interpretation nahe, dass es hinsichtlich des konstruktiven Umgangs mit Fehlern und des Aufbaus einer positiven Fehlerkultur Folgendes zu beachten gilt: Ein Großteil der Lehrpersonen geht rücksichtsvoll und unterstützend mit Fehlern im Unterricht um. Als problematisch erweisen sich aber die Reaktionen der Mitschülerinnen und Mitschüler. Da Lernen in der Schule stets ein sozialer Prozess ist (Hascher & Astleitner, 2007), liegt ein zentraler Bereich der Fehlerkultur im Argen. Nichtsdestotrotz genügt es nicht, dafür zu sorgen, dass bei Fehlern keine Sanktionen oder Bloßstellungen erfolgen oder dass Schülerinnen und Schüler sich nicht gegenseitig auslachen. Es ist auch nicht ausreichend, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, Fehler wären „normal“ und gehörten zum Lernverlauf. Ebenso wenig zielführend ist das Ignorieren des Fehlers bzw. das Übergehen des Fehlers („Bermuda-Dreieck“, Oser et al., 1999, S. 26 f.). Fehler scheinen Lernende häufig auf einer noch tieferen Ebene zu berühren: Sie konfrontieren die Person mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten. Sie signalisieren, dass der Stoff nicht verstanden bzw. nicht beherrscht wird, und sie können sich in schulischen Leistungskontexten sogar zu einer Selbstwertbedrohung entwickeln. Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass Menschen oftmals nicht bereit sind, Fehler zuzugeben, sie verheimlichen oder sie unter allen Umständen zu vermeiden versuchen („Defizitansatz“, Wiater, 2004, S. 7). Für die Schule ist dies von besonderer Bedeutung, insbesondere, weil im Unterricht zu selten klar zwischen Lern- und Leistungssituationen getrennt wird (Spychiger et al., 1999) und Schülerinnen und Schüler sich kontinuierlich beurteilt und bewertet fühlen, auch dann, wenn sie sich ein Themengebiet neu erschließen. Wünschenswert wäre folglich ein offener, konstruktiver Umgang mit Fehlern, der in einer Umgebung des gegenseitigen Vertrauens (z. B. Häuptle-Barcelò, 2007) stattfindet.
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Lernen aus Fehlern
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Literatur Althof, W. (1999). Vorwort des Herausgebers. In W. Althof (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern (S. 7–10). Opladen: Leske + Budrich. Hascher, T. & Astleitner, H. (2007). Blickpunkt Lernprozess. In M. Gläser-Zikuda & T. Hascher (Hrsg.), Lernprozesse dokumentieren, reflektieren und beurteilen. Lerntagebuch und Portfolio in Bildungsforschung und -praxis (S. 25–43). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Häuptle-Barcelò, M. (2007). Fehlertherapie als Lernstrategie. Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, 88, 28–31. Kieweg, W. (2007). Fehler erkennen – Fehler vermeiden. Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, 88, 2–9. Oser, F., Hascher, T. & Spychiger, M. (1999). Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des „negativen“ Wissens. In W. Althof (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern (S. 11–41). Opladen: Leske + Budrich. Oser, F. & Spychiger, M. (2005). Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim: Beltz. Rathgeber, C. (2006). Fehler im Unterricht – aus Fehlern lernen. Praxis der Mathematik in der Schule (PM), 48, 20–26. Rincke, K. (2004). Aus Fehlern lernen. Möglichkeiten kooperativer Arbeitsformen bei der Korrektur von Fehlern in schriftlicher Arbeit. Unterricht Physik, 15, 38–41. Rollett, B. (1999). Auf dem Weg zu einer Fehlerkultur. Anmerkungen zur Fehlertheorie von Fritz Oser. In W. Althof (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern (S. 71– 87). Opladen: Leske + Budrich. Schoy-Lutz, M. (2005). Wenn Schülerinnen und Schüler zu Fehlerexperten werden. Lehren und lernen, 31, 26–31. Spychiger, M., Kuster, R. & Oser, F. (2006). Dimensionen von Fehlerkultur in der Schule und deren Messung. Schweizerische Zeitung für Bildungswissenschaften, 28, 87–108. Spychiger, M., Oser, F., Hascher, T. & Mahler, F. (1999). Entwicklung einer Fehlerkultur in der Schule. In W. Althof (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern (S. 43– 70). Opladen: Leske + Budrich. Weinert, F. E. (1999). Aus Fehlern lernen und Fehler vermeiden lernen. In W. Althof (Hrsg.), Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern (S. 101–109). Opladen: Leske + Budrich. Wiater, W. (2004). Fehler = Helfer. Lernchancen, 39, 4–7.
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Christoph Perleth und Ulrike Stave
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
„Odysseus“: Beratung hochbegabter Kinder
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
„Odysseus“1 ist eine BeratungsPrimärbereich eb kro e Vorschulbereich stelle an der Universität Rostock Mi ben e Säuglings- und Kleinkindalter so (Institut für Pädagogische PsychoMe bene e logie „Rosa und David Katz“), kro an der Kindergartenkinder, SchüMa lerinnen und Schüler sowie deren Eltern Informationen und Hilfestellung bei begabungspsychoAufgabenbereiche logischen und Schullaufbahnfragen erhalten. Daneben steht die Beratungsstelle auch Lehrkräften an Schulen, pädagogischem Personal von Kindergärten und anderen Institutionen (Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, Ärztinnen und Ärzten, niedergelassenen Psychologinnen und Psychologen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Beratungsstellen und Förderinstitute) zur Verfügung. Was ist das „Odysseus“-Projekt? Name und Logo des Projekts bzw. der Beratungsstelle knüpfen an den altgriechischen Sagenkreis um Odysseus und gleichzeitig an die Hanse- und Hafenstadt Rostock an, wobei sich beides besonders gut verbindet, weil in der Hansestadt Rostock 1419 die älteste Universität Norddeutschlands und des Ostseeraumes gegründet wurde. Odysseus fuhr bekanntlich mit seinen Gefährten auch gegen scharfen Wind durch unbekannte Gewässer. Durch seine Schlauheit konnte er viele Gefahren bewältigen und versuchte, seine Gefährten sicher nach Hause zu geleiten, auch wenn er selbst den Weg nicht kannte. (Leider folgten die Gefährten dem Rat des Odysseus allerdings oftmals nicht!) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des „Odysseus-Projekts“ bieten Eltern und Kindern an, diese ein Stück des Wegs durch Schule und Ausbildung zu begleiten und mögliche Wege aufzuzeigen, d. h. Orientierung zu geben, auch mittels psychologischer Diagnostik. Es kommt vor allem darauf an, Dynamik und Bewegung in festgefahrene Problemsituationen zu bringen und die Selbstkompetenz von Eltern, Kindern und Jugendlichen zu stärken, damit sie Problemlösungen selbst organisieren können. Dabei sollen auch Hilfestellungen vermittelt werden, um die Entwicklung (des Kindes) zu stimulieren und besonders bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen (verbesserte) soziale Integration (Gleichgesinnte, Freundinnen und Freunde) zu erreichen. Beteiligte Lehrkräfte werden im Hinblick auf einen günstigen Unterricht für besondere Schülerinnen und Schüler und Eltern im Hinblick auf optimale Unterrichtsbzw. Schulformen für ihre Kinder beraten. 1 Die Beratungsstelle ist Teil des „Odysseus“-Projekts und wurde in den Jahren 2001–2009 von der KARG-Stiftung unterstützt.
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„Odysseus“: Beratung hochbegabter Kinder
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Inhaltlich setzt die Beratungsstelle das Modell der Hochbegabtenberatung (siehe Abbildung 1; Perleth, 1997; Perleth & Sierwald, 2001; Perleth, Sühlfleisch-Thurau & Joswig, 2004) in die Praxis um.
Schule
Weiterbildung, Info über Praxisprobleme
Hochschule
Beratung, Information von Schülern, Eltern und Lehrern
Lernangebote, Kursangebote, Beratung Begabte und künftige Experten
Förderkurse, Arbeitsgemeinschaften, Freizeitaktivitäten
Ziel: Interessen, Motivation für aktiven Lernprozess stützen
Einzelfallberatung Einzelfallstudien
Ziel: für Leistungsentwicklung günstige Lernumwelt
Forschung
Wissenschaftlich begleitete Beratungsstellen
Weiterbildung, Info über Praxisprobleme
Nichtschulische Öffentlichkeit
Ziel: Suche nach Gleichgesinnten unterstützen
Beratung, Weiterbildungsangebote v. a. für Eltern
Arbeitsgemeinschaften, Freizeitangebote, Wettbewerbe
Kursangebote, Beratung
Abbildung 1: Das Modell der Hochbegabtenberatung von Perleth (1997)
Nach dieser Konzeption kommt zentralen Beratungsstellen (z. B. an Universitäten) eine wesentliche Koordinierungs- und Evaluationsfunktion zu, damit Angebote von Schulen und der nichtschulischen Öffentlichkeit begabten und leistungsstarken Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern zugute kommen. Ziel ist es, die Bemühungen zu bündeln, damit die Kinder und Jugendlichen in einer günstigen Lernumwelt ihren Interessen nachgehen können und der aktive Lernprozess optimal unterstützt wird. Evaluation meint neben der Evaluation von besonderen Fördermaßnahmen wie Begabtenklassen oder Förderkursen außerhalb des schulischen Pflichtprogramms auch, dass Erfahrungen aus Einzelfällen an der zentralen Beratungsstelle gesammelt und ausgewertet werden. Die Beratungsarbeit wird daher laufend evaluiert, zusätzlich werden spezielle Forschungsfragen bearbeitet.
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Christoph Perleth und Ulrike Stave
1 Die Konzeption und Arbeitsweise der Rostocker Beratungsstelle Im Regelfall wenden sich Eltern telefonisch an die Beratungsstelle. Oftmals besteht lediglich das Bedürfnis nach Informationen zum Thema Hochbegabung. Wenn es jedoch ein konkretes Beratungsanliegen gibt, werden die Eltern über das weitere Vorgehen informiert. Den Eltern wird dann ein Fragebogen zugesandt, der Fragen zu biografischen Daten des Kindes, dem Anliegen der Ratsuchenden und den Erwartungen an das Beratungsgespräch sowie vertiefende Fragen zu Interessen und zur Entwicklung des Kindes enthält. Dadurch können sich die Eltern schon im Vorfeld reflektierend mit der im Beratungsgespräch zu besprechenden Situation auseinandersetzen. Auch das Odysseusteam kann sich auf der Grundlage des Fragebogens auf die Beratung vorbereiten und z. B. geeignete Testverfahren auswählen. Nach Planung und Organisation der eigentlichen Beratung, die besonders für Familien mit weitem Anreiseweg gut durchdacht sein muss, folgen psychodiagnostische Gespräche sowie – oftmals damit verknüpft – das eigentliche Beratungsgespräch. Hier wird mit den Eltern über aktuelle Schwierigkeiten und Probleme, die in der Schule oder im häuslichen Umfeld auftreten, gesprochen. Den Eltern soll dabei ermöglicht werden, Probleme neu wahrzunehmen und anders zu bewerten. Es geht manchmal auch darum, alternative Wege bezüglich der Schullaufbahn aufzuzeigen oder Enrichment- oder Akzelerationsmaßnahmen bzw. konkrete „Pull-out“- oder „Drehtür“-Maßnahmen zu diskutieren (s. Kasten unten). Den Eltern soll dabei „Hilfe zur Selbsthilfe“ mit auf den Weg gegeben werden. Mit dem Kind wird bei Bedarf eine umfassende Testdiagnostik (Intelligenzleistung, Motivation und andere Personmerkmale) durchgeführt. Diese dient zur Abklärung der individuellen Begabungen des Kindes, eventuell vorhandener Schwächen und besonderer Stärken. In der Regel wird dabei ein umfassender, mehrdimensionaler bzw. auch differenziert auswertbarer Gruppen- (z. B. KFT) oder Individualtest (AID II, HAWIK-IV) sowie ein Grundintelligenztest (meist aus der CFT- oder der Raven-Reihe; vgl. zu allen genannten Verfahren Heller & Perleth, 2000) durchgeführt. Gruppentests verwenden wir vor allem in Phasen, in denen in kurzer Zeit viele Eignungsgutachten für die gymnasialen Hochbegabtenförderklassen des Landes Mecklenburg-Vorpommern erstellt werden müssen. Den Grundintelligenztest setzten wir ein, um weiterführende wissenschaftliche Auswertungen inkl. internationaler Vergleiche zu ermöglichen. Weiter werden diverse Konzentrations- und Leistungstests sowie andere relevante Skalen verwendet, wie sie beispielsweise im MHBT (Heller & Perleth, 2007a,b) vorliegen. Fachbegriffe der Hochbegabungsförderung: • Enrichment: Zusätzlich zum Standard-Unterricht werden weitere Lernangebote gemacht, z. B. Arbeitsgemeinschaften zur Vertiefung spezieller Themen. • Akzeleration: „Beschleunigung“ der Schullaufbahn etwa durch Überspringen eines Schuljahrs oder „D-Zug-Klassen“.
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• Pull-Out-Modelle: Zusätzliche Lernangebote nach besonderen Interessens- oder Leistungskriterien werden parallel zum Unterricht durchgeführt, d. h. die Kinder und Jugendlichen werden aus dem regulären Unterricht „herausgezogen“. • Drehtürmodell: Schülerinnen und Schüler dürfen den regulären Unterricht verlassen (Pull-Out!), um individuell an einem Projekt, ggf. auch in einer anderen Klasse, zu arbeiten. Nach Beendigung des Projekts wird wieder der reguläre Unterricht besucht. • Binnendifferenzierung: Fördermaßnahmen für Einzelne oder Gruppen innerhalb eines Klassenverbands; Bereitstellen unterschiedlicher Unterrichtsmaterialien. • Individualisierung: An das Kind bzw. sein Begabungs- und Kompetenzprofil angepasste besondere Förderung. • Lehrplan-Flexibilität: Flexibler Umgang mit dem Lehrplan wie Komprimierung des Lehrstoffs, beschleunigtes Abhandeln oder thematisch-methodische Anpassung des Lehrstoffs an einzelne Schülerinnen und Schüler oder Gruppen. • Offenes Lernen: Nach einem vorgegebenen Rahmen-Arbeitsplan selbsttätiges und selbstverantwortliches Lernen.
Im Abschlussgespräch werden die Ergebnisse der Diagnostik besprochen. Eltern und Kind wird hier ggf. auch die Bedeutung der Testergebnisse im Kontext des Beratungsanliegens verständlich gemacht. Die daraus folgenden Konsequenzen (geeignete Förderprogramme, Empfehlungen für die Schullaufbahn inkl. Akzelerationsmaßnahmen wie Überspringen etc.) werden besprochen. Im Regelfall suchen die Ratsuchenden die Beratungsstelle zwei- bis dreimal auf, falls die Betroffenen jedoch von weit her anreisen müssen, versuchen wir, auch unter Einbezug weiteren Personals Diagnostik, Auswertung und Beratung binnen einen Tages zu organisieren. In einzelnen Fällen erfolgt andererseits auch eine längerfristige Begleitung und Betreuung der betroffenen Familien. Als Nachkontakt wird den Familien nach einiger Zeit ein weiterer Fragebogen zugesandt, der Fragen zur Entwicklung des Kindes und der Problemsituation enthält. Mit Hilfe des Fragebogens wird die Beratungstätigkeit und der Beratungsablauf evaluiert und ggf. verändert. Für Diagnostik und Beratung werden gestaffelte Gebühren (je nach diagnostischem Aufwand) erhoben, wobei Erziehungsberechtigten, die nur über ein geringes Einkommen verfügen, auf Antrag das Honorar erlassen werden kann.
2 Inanspruchnahme und Klientel der Rostocker Beratungsstelle Jährlich wenden sich ca. 120 Ratsuchende an die Beratungsstelle. Die Wartezeiten für einen Beratungstermin liegen relativ konstant bei 6 bis 8 Wochen. Etwas mehr als die Hälfte der Eltern, die für sich oder ihre Kinder (ca. zwei Drittel Anmeldungen von Jungen bzw. männlichen Jugendlichen gegenüber einem Drittel von Mädchen; dies stimmt weitgehend mit dem überein, was von anderen Beratungsstellen berichtet wird) Beratung suchen, üben Berufe mit einfacherer oder mittlerer Tätigkeit aus (im Sinne der in der PISA-Studie verwendeten Terminologie). Der oberen Dienst-
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Christoph Perleth und Ulrike Stave
klasse gehören ein knappes Drittel der Mütter und ein gutes Drittel der Väter an. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die jeweils höchsten Bildungsabschlüsse der Eltern betrachtet: Von beiden Elternteilen verfügen jeweils etwas über die Hälfte über ein Hochschulstudium. Insgesamt hat das „Odysseus-Projekt“ damit bisher seinen Anspruch recht gut eingelöst, mit seinen Beratungsangeboten auch Familien zu erreichen, die normalerweise nicht zur „typischen“ Klientel (Akademikerfamilien mit einem sehr bildungsambitionierten Familienklima) von Hochbegabungsberatungsstellen gehören. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte sein, dass ein intensiver Austausch mit Schulen in der Region gepflegt wird. Eine große Zahl der Rat suchenden Eltern gibt an, von der Schule bzw. einer Lehrkraft auf die Beratungsstelle aufmerksam gemacht worden zu sein. In der Beratungsstelle dominieren Fragen nach der geeigneten Schullaufbahn sowie die Überprüfung einer vermuteten Hochbegabung. Beratung wird besonders an den Übergängen vom Kindergarten zur Grundschule (mit vier bis sechs Jahren) und von der Grundschule zu weiterführenden Schulen gesucht, oft aber auch bei Verhaltensauffälligkeiten. Verhaltensauffälligkeiten stehen häufiger bei Jungen im Vordergrund, bei Mädchen eher „neutrale“ Fragen zur Schullaufbahn. Bei knapp 30 % der Beratungsfälle handelt es sich um Kinder im Kindergarten- bzw. Vorschulalter, etwas mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder besucht die Grundschule und gut ein Zehntel die Sekundarstufe. Speziell bei den Vorschulkindern stehen Fragen der Hochbegabtendiagnose (3/4 aller Anfragen) sowie Unsicherheit über geeignete Fördermöglichkeiten (2/3 aller Anfragen) im Vordergrund. Bei der Hälfte der Fälle spielt auch vorzeitige Einschulung eine wichtige Rolle. Bei den jüngeren Grundschulkindern sind Unterforderung und Langeweile die häufigsten Beratungsanlässe (57 % der Fälle). Seit November 2002 werden Fragebögen zur Evaluation der Beratungstätigkeit in der Regel 4 bis 6 Wochen nach dem Abschlussgespräch an unsere Klientinnen und Klienten verschickt. In dem Fragebogen können die Eltern und auch die Kinder „Noten“ für verschiedene Aspekte der Beratung vergeben. Der Rücklauf schwankt, beträgt immerhin aber etwa 40 %. Insgesamt geben die Eltern der Beratung im „Odysseus-Projekt“ überwiegend die Bestnote 1, Noten schlechter als 2 kommen fast gar nicht vor. (Kl)eine Ausnahme: Von einem Kind bekamen wir die Note „Vier“. Die Mutter erklärte dies in den Anmerkungen so: „Sie war sehr enttäuscht, dass sie nicht weiter, regelmäßig, zur Beratung gehen kann.“ Was neben all den guten Noten am wichtigsten für eine Beratungsstelle ist: Mehr als 90 % der Eltern würden die Beratungsstelle weiterempfehlen, etwa 20 % haben dies ihren Angaben zufolge sogar schon getan.
Literatur Heller, K. A. & Perleth, C. (2000). Informationsquellen und Meßinstrumente. In K. A. Heller (Hrsg.), Begabungsdiagnostik in der Schul- und Erziehungsberatung (2., neu bearb. Aufl., S. 96–216). Bern: Huber. Heller, K. A. & Perleth, C. (2007a). Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Primarstufe (MHBT-P). Göttingen: Hogrefe. Heller, K. A. & Perleth, C. (2007b). Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Sekundarstufe (MHBT-S). Göttingen: Hogrefe.
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„Odysseus“: Beratung hochbegabter Kinder
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Perleth, C. (1997). Zur Rolle von Begabung und Erfahrung bei der Leistungsgenese. Ein Brückenschlag zwischen Begabungs- und Expertiseforschung. München: LMU. Perleth, C. & Sierwald, W. (2001). Entwicklungs- und Leistungsanalysen zur Hochbegabung. In K. A. Heller (Hrsg.), Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter (S. 171–355). Göttingen: Hogrefe. Perleth, C., Sühlfleisch-Thurau, U. & Joswig, H. (2004). Zwei Jahre Begabungspsychologische Beratungsstelle „Odysseus-Projekt“ an der Universität Rostock – Konzeption, Ergebnisse und Erfahrungen. In H. Joswig & H. Drewelow (Hrsg.), Begabungsförderung: Von der Einzelfallberatung zur Lernkultur (S. 173–200). Rostock: Universität Rostock.
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Martin Bonsen und Wilfried Bos
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Einführung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Bildungspsychologie auf der Mesoebene: Die Betrachtung von Bildungsinstitutionen
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Zur Koordinierung und Umsetzung der Funktionen von Bildungseinrichtungen bedarf es der Entscheidung auf unterschiedlichen Ebenen: Die grobe Strukturierung langer und differenAufgabenbereiche zierter Lernprozesse lässt sich als Makroorganisation von Lernprozessen bezeichnen, als Mikroorganisation von Lernprozessen ist die Vorbereitung und Durchführung einer Unterrichtsreihe bzw. -stunde einzustufen. Mesoebene des Bildungssystems: Die Mesoebene (von griech. mésos = Mitte) des Bildungssystems umfasst Einrichtungen, die einen institutionellen Rahmen für planmäßigen Unterricht bieten. Im Rahmen eines staatlichen Schulwesens betrifft dies die Ebene der Einzelschule.
Fend (2006) betrachtet in seiner „Neuen Theorie der Schule“ die unterschiedlichen Gestaltungsebenen als systematisch aufeinander bezogen und geht von einer Einheit des Bildungswesens als „institutionellem Akteur“ (ebd., S. 180 ff.) aus. Die Verknüpfung der verschiedenen Handlungsebenen ist dabei keinesfalls trivial. Vielmehr ist der Weg von der gesellschaftlich formulierten Aufgabenbestimmung der Schule bis zur operativen Umsetzung im Unterricht lang und komplex. Vorgaben werden in mehreren Stufen umgesetzt und je nach Handlungsbedingungen „vor Ort“ spezifiziert. Die Akteurinnen und Akteure auf den verschiedenen Ebenen des Bildungswesens handeln in unterschiedlicher Art und Weise, gemäß ihren Wahrnehmungen, ihrer Verantwortungsbereitschaft und ihren Fähigkeiten. Für jede Handlungsebene werden die übergeordneten Ebenen zu Umwelten des Handelns, welche die Adaption an die jeweils ebenenspezifische Umwelt des Handelns beeinflusst und mitbestimmt. Betrachtet man das Bildungssystem unter dieser Perspektive, so lässt sich die Realität des Unterrichts allein aus den rechtlichen Festlegungen und institutionellen Strukturen nur unzureichend ableiten. Das Handeln auf den jeweiligen Ebenen ist zwar eingebettet in die jeweils übergeordnete Ebene, jedoch ist es auch geprägt von der Selbstreferenz und den Interessen und Ressourcen der Handelnden. In der Praxis muss die Schulleitung administrative und politische Vorgaben zwar umsetzen, dabei wird sie diese aber
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Bildungspsychologie auf der Mesoebene
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in der Regel den örtlichen Besonderheiten anpassen, wobei sie gleichzeitig auf den Konsens mit dem Kollegium angewiesen ist. Auch Lehrkräfte setzen die „von oben“ in Lehrplänen und Vorgaben formulierten Bildungsintentionen nicht einfach um, sondern müssen diese erst an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler anpassen. Handlungsebenen im Bildungswesen: Unterschiedliche Handlungsebenen im Bildungswesen bedingen, dass weder pädagogische Reformen noch die Qualität pädagogischer Prozesse zentralistisch geplant und einheitlich umgesetzt werden können. Qualitätvolle pädagogische Arbeit lässt sich in der Praxis nicht auf dem Erlassweg erreichen, sondern wird in den Schulen selbst entwickelt. Somit erhält die Mesoebene ihre spezifische und eigenständige Bedeutung.
Die Ergebnisse der empirischen Schulleistungsforschung deuten darauf hin, dass Schulen eine spezifische institutionelle Wirksamkeit entfalten können. Ableitbar ist dies aus dem Befund, dass der Einzelschule zwar in ihrer Bedeutung für das Zustandekommen unterschiedlicher Schülerleistungen keine exklusive Bedeutung zukommt, sich der Beitrag der Einzelschule zur Varianzaufklärung hinsichtlich der Leistungen von Schülerinnen und Schülern aber auch nicht marginalisieren lässt. Als empirisch nachgewiesen gilt heute die multiple Determiniertheit von Schülerleistungen (vgl. Helmke & Schrader, 2001). Diese hängen sowohl von Persönlichkeitsmerkmalen der Lernenden, als auch von Einflüssen der Peergroup, der Familie sowie anderen außerschulischen Faktoren ab. Hinzu kommt jedoch – und hier liegt die auch empirisch „messbare“ Bedeutung der Mesoebene – die spezifische „Produktivität“ der Einzelschule, also von Schul- und Unterrichtsmerkmalen, die auf die individuellen Lernfaktoren einwirken. Bedeutung von Schulmerkmalen: „Sowohl Schulformen als auch Einzelschulen innerhalb derselben Schulform stellen institutionell vorgeformte differenzielle Entwicklungsmilieus dar. Schüler und Schülerinnen mit gleicher Begabung, gleicher Fachleistung und gleicher Sozialschichtzugehörigkeit erhalten je nach Schulformzugehörigkeit und je nach besuchter Einzelschule unterschiedliche Entwicklungschancen.“ (Baumert, Trautwein & Artelt, 2003, S. 288).
Diese Aussage verdeutlicht die Bedeutung der Einzelschule im Bildungssystem: Offenbar gibt es Schulmerkmale, die zu einer schulspezifischen relativen Homogenisierung der Wirksamkeit unterschiedlicher pädagogischer Praktiken auf Ebene des Unterrichts beitragen können. Herauszufinden, welche Schulmerkmale dies sind und wie innerschulische Prozessmerkmale sinnvoll gestaltet werden können, ist eine der Zielsetzungen der empirischen Schulforschung. Benötigt werden wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge, d. h. über Faktoren auf Schul- und Klassenebene, die dazu beitragen, den Lernerfolg möglichst aller Schülerinnen und Schüler zu optimieren.
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2 Forschungsstand Die empirische Bildungsforschung befasst sich neben anderen Fragestellungen auch mit der Erforschung entsprechender Schulmerkmale. Diesbezüglich können zwei verschieden akzentuierte Forschungsrichtungen unterschieden werden: „school effectiveness“ (im Folgenden übersetzt mit „Schuleffektivitätsforschung“) und „school improvement“ (im Folgenden übersetzt mit „Schulentwicklungs- und Schulqualitätsforschung“). Sowohl die Schuleffektivitäts- als auch die Schulentwicklungsforschung hat sich als empirische Forschung im eigentlichen Sinne erst etwa in den letzten 20 Jahren etabliert (vgl. Reynolds, 2005).
2.1 Schuleffektivitätsforschung Die Abgrenzung von Schuleffektivitäts- und Schulentwicklungsforschung lässt sich zumindest für den deutschsprachigen Forschungsraum daran vornehmen, ob sogenannte „Outcome“-Kriterien auf Schülerebene in die Untersuchungen aufgenommen werden. Dass die Schuleffektivitätsforschung lange Zeit nahezu unbeachtet blieb, ist dabei eine Folge einer fast „zwanzigjährigen Abstinenz an größerer Schulleistungsforschung“ (Bos & Postlethwaite 2000, S. 369) in Deutschland. Mit einem kritischen Blick auf die Vernachlässigung des Aspekts der Leistungen der Schülerinnen und Schüler verweist Weinert (2001) darauf, dass die Aufgabe der Forschung gerade darin zu sehen ist, mit entsprechend angelegten Datensätzen nach „kausal-genetischen Mustern guter und weniger guter Leistungen“ (ebd., S. 364) zu suchen. Schuleffektivitätsforschung: Die sogenannte Schuleffektivitätsforschung versucht vorrangig die Frage zu beantworten, welche Bedeutung die Schule für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hat und welche Mechanismen zu einer Optimierung der schulischen „Effektivität“ identifiziert werden können.
In historischer Betrachtung war die Schuleffektivitätsforschung zunächst eine Antwort auf empirische Studien, die den Einfluss der Einzelschule auf die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern negierten (Jencks et al., 1972; Coleman et al., 1966). Publikationen wie „Schools can make a difference“ (Brookover et al., 1979) und „School matters“ (Mortimore, Sammons, Stoll, Lewis & Ecob, 1988) sollten jedoch belegen, dass die Einzelschule sehr wohl einen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern hat und dieser Einfluss sich auch empirisch abbilden lässt. Aber nicht nur die Grundsatzfrage, ob überhaupt, sondern vor allem auch die Frage des wie wurde von den Schuleffektivitätsstudien aufgenommen. Man versuchte durch Forschung Licht in die „Black Box Schule“ zu bringen und die zentralen Merkmale effektiver Schulen zu verstehen. Zahlreiche Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der Schuleffektivitätsforschung wurden seit dem Ende der siebziger Jahre publiziert (z. B. Purkey & Smith, 1983; Levine & Lezotte, 1990; Scheerens, 1994; Creemers, 1994; Sammons, Hillman & Mortimore, 1995).
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Bildungspsychologie auf der Mesoebene
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Einige der identifizierten Effektivitätsfaktoren werden auf der Ebene des Unterrichts wirksam und betreffen somit die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte. Andere Faktoren des schulischen Kompetenzerwerbs gehen über die soziale Nahumwelt des Unterrichts hinaus und lassen sich als distale Merkmale von Bildungsinstitutionen verstehen. Umweltfaktoren wie beispielsweise die Organisation und Kultur einer Schule betreffen die gesamte Schule und vornehmlich die Arbeit der Schulleitung und spielen in der psychologischen Bildungsforschung bislang eine eher nachgeordnete Rolle. Sie sind hingegen häufiger Gegenstand der erziehungswissenschaftlichen Schulentwicklungsforschung, der Bildungssoziologie und der Bildungsökonomie (vgl. Pekrun, 2002). Insgesamt zeigt sich, dass die Faktoren auf Unterrichtsebene, also proximale Faktoren, den größeren Einfluss auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler nehmen als die mehr distalen Faktoren der schulischen Umwelt. In der Praxis und aus der Perspektive der Bildungspolitik und Bildungsadministration muss dieser Befund allerdings mit dem Argument der Kosteneffektivität in Abwägung gebracht werden: Wenn es beispielsweise empirische Hinweise für positive, wenngleich auch kleinere, signifikante Effekte bestimmter Strategien in der Schulleitung gibt (wie es beispielsweise in der Literatur für ein betont unterrichtsbezogenes Führungshandeln der Schulleitung zu lesen ist), so könnte die Weiterbildung von Schulleitungen kosteneffektiver als das Training aller Lehrkräfte eines Landes sein. Merkmale von effektiven Schulen (vgl. Scheerens und Bosker, 1997; Scheerens, 1990; Scheerens, Glas & Thomas, 2003): • Leistungsorientierung: Eine hohe aber trotzdem angemessene Erwartung, sowohl an Lehrkräfte als auch an Schülerinnen und Schüler gerichtet, soll die pädagogische Arbeit der Schule positiv stimulieren. • Professionelle Kooperation im Kollegium: Im Kollegium herrscht Konsens bezogen auf die Ziele der pädagogischen Arbeit; gemeinsam planen und entwickeln die Lehrkräfte den Unterricht. • Pädagogische Führung: Die Schulleitung spielt eine zentrale Rolle in der Qualitätsentwicklung der Schule. Dieses Führungsverständnis umfasst einerseits eine unterrichtsbezogene Führung, andererseits eine eher auf die Schulebene und die Rahmenbedingungen von Unterricht abzielende Gestaltung. • Qualität des Curriculums: Der Abgleich zwischen intendiertem und implementiertem Curriculum dient der Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit auf Schulebene und sollte als notwendiger Bestandteil von Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich betrachtet werden. • Geordnete Lernatmosphäre: Eine Atmosphäre der Sicherheit und ein geordnetes Umfeld bilden eine Lernumwelt, in der sich Schülerinnen und Schüler ohne Angst und weitgehend ungestört auf den Unterricht und das Lernen konzentrieren können. Hierzu gehört neben geordneten Arbeitsbedingungen auch ein positives Sozialklima zwischen den Schülerinnen und Schülern, zwischen Schülerinnen bzw. Schülern und Lehrkräften sowie innerhalb des Kollegiums. • Evaluation: Auf unterschiedlichen Ebenen kommen verschiedene Evaluationsmethoden zum Einsatz. Hierzu gehören das systematische Monitoring der Leistung der Schülerinnen und Schüler, Unterrichtsfeedback sowie die Selbst- und Fremdevaluation auf organisationaler Ebene.
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Die hier aufgeführten Schulmerkmale lassen sich in ein Schuleffektivitätsmodell mit Prozesscharakter einbetten. Im Rahmen großer Schulleistungsstudien werden hierzu Inputfaktoren und Prozessfaktoren (letztere sowohl auf Schul- als auch auf Klassenebene) unterschieden, die unter gegebenen Rahmenbedingungen zu einem bestimmten „Output“ führen. Inputfaktoren sind in diesem Modell vor allem Ressourcen, die dem Bildungswesen zur Verfügung gestellt werden, Prozessfaktoren umfassen Merkmale von Schule und Unterricht. Der Output wird in der Regel am Fachleistungskriterium, aber auch in Form von Abschlüssen, Übergängen oder fachübergreifenden Wirkungen (z. B. Einstellungen und Haltungen) beschrieben. Abbildung 1 gibt die Struktur des einflussreichen Schuleffektivitätsmodells nach Scheerens (1990) wieder. Dieses Modell wurde in der Folge weiterentwickelt (vgl. Scheerens & Bosker, 1997; Ditton, 2000) bzw. es wurden sogenannte Angebot-Nutzen-Modelle ausdifferenziert (vgl. Fend, 2004). Letztere stellen in Rechnung, dass auch das beste schulische Bildungsangebot zu erwartungswidrigen Wirkungen führen kann, wenn die Bedingungen der Nutzung nicht beachtet werden und ziehen in Betracht, dass pädagogische Angebote nicht „schlicht aufgezwungen oder mechanisch vermittelt werden“ (ebd., S. 17) können.
Context • achievement stimulants from higher administrative levels • development of educational consumerism • ,covariables‘, such as school size, student-body composition, School category, urban/rural
Inputs • teacher expercience • per pubil expenditure • parent support
Process School level • degree of achievement-oriented policy • educational leadership • consensus, cooperative planning of teachers • quality of school curricula in terms of content covered, and formal structure • evaluative potential
Outputs Student achievement, adjusted for: • previous achievement • intelligence • SES
Classroom level • • • • •
time on task (including homework) structured teaching opportunity to learn high expectations of pupils’ progress degree of evaluation, and monitoring of pupils’ progress • reinforcement
Abbildung 1: Integriertes Modell der Schuleffektivität nach Scheerens (1990)
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Das integrierte Modell der Schuleffektivität verdeutlicht den Stellenwert und das Potenzial von Prozessvariablen auf Schulebene und zeigt den Zusammenhang zu vorgeordneten, moderierenden und nachgeordneten Variablen. Um die Wirkungsweise von Schuleffekten auf den Output zu überprüfen, ist es notwendig die hierarchisch dazwischen liegende Ebene des Unterrichts zu berücksichtigen. Methodisch können dies hierarchisch-lineare Modelle im Rahmen von Mehrebenenanalysen leisten (Ditton, 1998; Bryk & Raudenbusch, 1992), deren Anwendung in den letzten Jahren auch im Bereich der deutschsprachigen empirischen Schulforschung zugenommen hat (z. B. Köller, 2000; Gruehn, 2000; Baumert & Schümer, 2001; Schwippert, 2001; Janke, 2006; Bonsen, Bos & Gröhlich, 2008). Das von der Schuleffektivitätsforschung in der Regel genutzte Input-Prozess-OutputModell impliziert, dass die Schule als ein rational-ökonomisches System funktioniert und dass ein Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren zur Optimierung des gewünschten Outputs auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler führen kann. Unberücksichtigt bleiben hierbei zunächst mögliche Widerstände und Probleme, die als Reaktion auf Veränderungen im System vor allem bei betroffenen Lehrkräften hervorgerufen werden können. Entsprechende Fragen der konkreten Umsetzung und Gestaltung von Veränderungsmaßnahmen versucht die Forschung zur Schulverbesserung und Schulqualität aufzunehmen und empirisch zu bearbeiten.
2.2 Schulentwicklungsforschung Als eigenständige Forschungsrichtung entstand die Schulentwicklungsforschung international etwa ab der Mitte der 1960er Jahre, zunächst als wissenschaftliche Begleitung von Curriculum-Reformen. In den sechziger und siebziger Jahren wurden viele Versuche gestartet, durch Lehrplanrevisionen und die Entwicklung und Verbreitung exemplarischer und neuer Arbeitsmaterialien Schule und Unterricht zu reformieren. Die so gearteten Impulse verfehlten jedoch in den meisten Fällen ihr Ziel und es kam nur selten zu einer wirklichen Veränderung der pädagogischen Praxis und des Unterrichts. Das Scheitern vieler Curriculum-Reformen wurde schließlich damit erklärt, dass die Lehrkräfte nicht selbst in den Reform- und Entwicklungsprozess einbezogen worden waren. Es stellte sich heraus, dass top-down implementierte Modelle der Veränderung kaum erfolgreich waren und dass Lehrkräfte vielmehr berufsbegleitende Trainingsformen benötigten, um sich neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen. Schulentwicklungsansätze gehen daher heute davon aus, dass Veränderungen nicht top-down verordnet werden können, sondern in einem Prozess der Balance strategischer Planung einerseits und individueller Faktoren (Bereitschaft zur Veränderung, Formen des berufsbegleitenden Lernens) andererseits entwickelt werden müssen. Die grundlegenden Annahmen der Schulentwicklungsperspektive lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Reynolds, 2005, S. 19): 1. Die Einzelschule als Zentrum von Veränderungen: Schulen benötigen Entscheidungskorridore hinsichtlich lokaler und individueller Erfordernisse. Schulen funktionieren nicht gleichartig und arbeiten unter jeweils spezifischen Bedingungen.
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2. Systematische Veränderungen: Veränderungen im Schulbereich müssen sorgfältig geplant und unterstützt werden und benötigen oft mehrere Jahre Zeit zur Umsetzung. 3. Schulinterne Bedingungen als Voraussetzung für Veränderungen: Dies sind sowohl proximale Bedingungen des Lehr-Lerngeschehens (Unterrichtsfaktoren) als auch eher distale Faktoren der Organisation (Schulebene). 4. Zielerreichung im pädagogischen Kontext: Die pädagogische Arbeit in Schulen ist durch multiple Ziele gekennzeichnet. Zwar haben die Fachleistungen der Schülerinnen und Schüler eine herausragende Bedeutung, jedoch haben Schulen auch überfachliche und allgemeine Funktionen. Auch die professionellen Bedürfnisse des Kollegiums sowie die Bedürfnisse des schulischen Umfeldes spielen eine Rolle. 5. Mehrebenencharakter des Schulsystems: Die Einzelschule arbeitet in einem System mit übergeordneter Ebene und wird mit unterschiedlichen Ansprüchen konfrontiert. Die Planung von Veränderungen muss daher die unterschiedlichen Rollen und Ansprüche der Schulleitung, Schulaufsicht und -administration sowie der Eltern und kommunaler Akteurinnen und Akteure berücksichtigen. 6. Integrierte Veränderungsstrategien: Top-down- und Bottom-up-Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt werden. Top-down werden grobe Ziele vorgegeben, komplementär hierzu entwickeln die Schulen gemeinsame Arbeitsziele und tragen die Verantwortung dafür, dass diese systematisch umgesetzt werden. 7. Institutionalisierung: Veränderungen werden nur dann dauerhaft in den Arbeitsalltag der Schule übernommen, wenn sie Teil des selbstverständlichen Handlungsrepertoires der Lehrerinnen und Lehrer und der schulischen Kultur werden. Die Schulentwicklungsperspektive kombiniert theoretische Annahmen, empirische Forschungsergebnisse und programmatische Aussagen unter einem pragmatischen Anspruch. Schulentwicklungsforschung hat daher neben der Wissensgenerierung in der Regel auch die Intervention bzw. die praktische Anwendung im Blickfeld. Schulentwicklungsforschung: Traditionell hat die Schulentwicklungsforschung einen sowohl untersuchenden als auch unterstützenden Anspruch: Über Grundlagenforschung und spezifische empirische Projekte sowie über Bildungsberichterstattung werden kontinuierlich aktuelle Entwicklungen im Schul- und Bildungsbereich dokumentiert und analysiert, es wird aber auch wissenschaftliche Beratung und „Innovationshilfe“ geleistet (Rolff, 1998, S. 325).
Horstkemper (1997, S. 770) sieht in der Praxisverbesserung sogar das zentrale Erkenntnisinteresse der Schulentwicklungsforschung und fordert daher, das jeweilige Forschungsvorgehen eng mit den Betroffenen abzustimmen und eine Einbeziehung der beforschten Subjekte in den Forschungsprozess zum methodischen Prinzip zu erheben. Mit der Selbstauferlegung derart anspruchsvoller und komplexer Ziele steht die traditionelle Schulentwicklungsforschung vor dem Dilemma einer – nicht zuletzt in der Außenwahrnehmung beklagten – unzureichenden methodischen Umsetzung (vgl. Helmke, 2003; Rolff, 1998) und dem zusätzlichen Problem, dass nicht immer trennscharf zwischen Grundlagenforschung, Entwicklung und wissenschaftlicher Beratung unterschieden wird (vgl. Bonsen, Büchter & Ophuysen, 2004).
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Ergebnisse der Schulentwicklungsforschung: Zwei zentrale Ergebnisse lassen sich trotz aller Differenziertheit der Schulentwicklungsforschung festhalten: Zum einen beeinflussen Faktoren der innerschulischen Lernund Erziehungsumwelt das Lernen und das soziale Verhalten (Schule als sozial-ökologische Umwelt). Zum anderen zeigen sich zwischen einzelnen Schulen Unterschiede in den Wirkungen, die mit Mustern der Organisations- und Lernkultur in Verbindung gebracht werden können.
Die genaue Erforschung von Schlüsselfaktoren in der Qualität schulischer Arbeit und auch die Wirkungsweisen der angesprochenen Muster lassen sich jedoch noch weitgehend als Forschungsdesiderat verstehen. Einerseits scheinen noch längst nicht alle Prozessmerkmale identifiziert zu sein, welche die Qualität von Schule beeinflussen, andererseits ist insbesondere die Erforschung erfolgreicher Innovationsstrategien und Implementationswege eine noch nicht bewältigte forschungsmethodologische Herausforderung.
3 Praktische Bedeutung Die theoretisch und empirisch begründete Bedeutung der Mesoebene für die Qualität institutioneller Bildung erzeugt „Handlungsdruck“ in der Einzelschule. Einerseits wird anerkannt, dass Schulen unter jeweils spezifischen Bedingungen arbeiten und diese im Rahmen einer schuleigenen Profilbildung pädagogisch aufarbeiten sollen, andererseits wird die Vergleichbarkeit von Bildungschancen und Bildungszertifikaten eingefordert und – als Reaktion auf die Ergebnisse internationaler Leistungsvergleichsstudien – eine deutliche Optimierung des Kompetenzerwerbs von Kindern und Jugendlichen angestrebt. Veränderungen im schulischen Steuerungssystem: Aktuelle bildungspolitische Maßnahmen lassen die Tendenz erkennen, das Verhältnis staatlicher Steuerung durch Vorgaben einerseits und schulischer Selbstständigkeit andererseits neu zu tarieren. Im Zuge dessen gerät die Einzelschule als Sich-selbstentwickelnde-Einheit in das Blickfeld strategischer Überlegungen zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Im Zuge von Reformen werden Entscheidungskompetenzen auf die Schulebene verlagert, Entscheidungskorridore der Schulen verbreitert und externe Steuerungsimpulse verändert.
Das weiter oben beschriebene Modell der Schuleffektivität nach Scheerens (siehe Abbildung 1) ist hilfreich, um die grundlegende Veränderung im schulischen Steuerungssystem zu verdeutlichen. Zentrales Merkmal des veränderten Systems ist die deutlich erkennbare Tendenz der Abkehr von einer vornehmlichen Inputsteuerung in Form einer staatlichen Vorgabe detaillierter Lehrpläne zu Unterrichtsinhalten und -gegenständen, hin zu einer stärkeren Outputsteuerung, welche nicht mehr Gegenstände und konkrete Inhalte, sondern die an ihnen zu erwerbenden Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften (Kompetenzen) festlegt (vgl. Bos, Holtappels & Rösner, 2006). Die Betonung output-bezogener externer Maßnahmen zur Qualitätssicherung ist im deutschsprachi-
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gen Raum ein Novum, beinhaltete externe Steuerung im Bildungswesen doch bisher im wesentlichen curriculare Vorgaben, die Regelung der Qualifikation und Auswahl von Lehrkräften sowie die Verteilung von Ressourcen. Informationen über die Output-Qualität von Bildungsprozessen können nun aber genutzt werden, um Entscheidungen über den Input (z. B. Ressourcenzuweisungen) zu begründen oder Prozesse auf der Mesoebene zielgerichtet zu unterstützen. Der Erfolg bildungsadministrativer Gestaltungsmaßnahmen kann in einem mehr output-orientierten System anhand der Ergebnisqualität eingeschätzt werden.
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Gesellschaftlicher Kontext
• Ausstattung der Schule • Qualifikation der Lehrkräfte • Standard/Curriculumfestlegung
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• Unterrichtsentwicklung • Personalentwicklung • Organisationsentwicklung
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Schulische Qualität kann somit systemisch, d. h. durch ein Ineinandergreifen verschiedener Elemente der Input-, Prozess- und Outputsteuerung entwickelt werden (siehe Abbildung 2). Idealtypisch sollen sowohl schulinterne als auch -externe Maßnahmen ein umfassendes Qualitätsmanagement-System konstituieren.
• Lernstandsmessung • Schulinspektion • Unterstützungssysteme
O utp uts teueru n g Abbildung 2: Kreislauf der Steuerung im Schulwesen
Die Outputbetrachtung wird in diesem System vornehmlich extern administriert, wobei sich zwei Kernelemente eines umfassenden Qualitätsmanagementsystems herausgebildet haben: Der Einsatz vergleichender Leistungstests und die Durchführung externer Schulinspektionen. Beide Strategien haben im deutschsprachigen Raum keine Tradition sondern wurden vielmehr als Antwort auf den „TIMSS1- bzw. „PISA2-Schock“ initiiert.
1 Third International Mathematics and Science Study 2 Program for International Student Assessment
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Die Input-Regelung kann nun unter Einbeziehung der (neu geschaffenen) Daten zur Systemwirksamkeit erfolgen. Die Ergebnisse aus Schulinspektion und Leistungsvergleich lassen sich nutzen, um Steuerungsentscheidungen zum Input zu evaluieren und gegebenenfalls neu zu adjustieren (vgl. Bos, Holtappels & Rösner, 2006; Bonsen, Bos & Gröhlich, 2007). Das in der Abbildung skizzierte Steuerungsmodell beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Input- und Outputbetrachtung, sondern orientiert sich ebenfalls am bereits dargestellten Prozessmodell schulischer Effektivität. Teilprozesse beziehen sich auf die Verbesserung der Instruktionsqualität (Unterrichtsentwicklung), die Auswahl und Entwicklung der Humanressourcen (Personalentwicklung) sowie die systematische Entwicklung der Arbeitskultur und organisatorischer Innovationen (Organisationsentwicklung). Diese drei Felder der Prozesssteuerung sind vornehmlich auf der Mesoebene angesiedelt und konstituieren somit die zentralen Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen der Einzelschule. Kernziele eines innerschulischen Qualitätsmanagements: 1. Die Optimierung von Lehr-Lernprozessen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf die messbare Entwicklung von Schülerkompetenzen. 2. Die Entwicklung der Prozessebene als Rahmen für die konkrete Unterrichtsarbeit. 3. Die systematische und kontinuierliche Professionalisierung aller in der Schule tätigen pädagogischen Fachkräfte und Lehrpersonen.
3.1 Lewins Idee der Organisationsentwicklung und die Idee schulischer Selbstevaluation Schulentwicklung kann verstanden werden als bewusste und systematische Weiterentwicklung von Einzelschulen, die im Idealfall Teil der alltäglichen Arbeit und der Organisationskultur wird. Eine in diesem Sinne verstandene institutionelle Schulentwicklung zielt darauf ab, lernende Schulen zu schaffen, die in der Lage sind, sich selbst zu organisieren, zu reflektieren und zu steuern (Rolff, 1998). Die so verstandene intentionale Entwicklung von Einzelschulen über Zielformulierung und Evaluation hat vieles gemeinsam mit dem Konzept der Organisationsentwicklung (vgl. Becker & Langosch, 1995). Organisationsentwicklung: Organisationsentwicklung (OE) lässt sich verstehen als „eine langfristige Bemühung, die Problemlösungs- und Erneuerungsprozesse in einer Organisation zu verbessern, vor allem durch eine wirksamere und auf Zusammenarbeit gegründete Steuerung der Organisationskultur – unter besonderer Berücksichtigung der Kultur formaler Arbeitsteams – durch die Hilfe eines OE-Beraters oder Katalysators und durch Anwendung der Theorie und Technologie der angewandten Sozialwissenschaften unter Einbeziehung von Aktionsforschung“ (French & Bell, 1994, S. 31).
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Organisationsentwicklung ist nach dieser Definition ein intentionales, zielgerichtetes und systematisches Vorgehen und impliziert eine Reihe grundlegender Annahmen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der sozialpsychologischen Forschung zur Lösung von Organisationsprozessen durch (Gruppendynamik-)Trainings entstanden. Einflussreich waren vor allem die Arbeiten um Kurt Lewin am Massachusetts Institute for Technology und später am Institute for Social Research an der University of Michigan. Die Entwicklungs- und Forschungsarbeiten von Lewin und anderen führten zur Entwicklung von Grundprinzipien, die auch noch heute charakteristisch für die Organisationsentwicklung sind. Hierzu gehören vor allem: • Die gleichzeitige Steigerung der Organisationseffektivität und der Arbeitsqualität für die Beschäftigten. • Die offene Information und aktive Mitwirkung möglichst aller betroffenen Organisationsmitglieder. Ein OE-Prozess muss von der Mehrheit der Organisationsmitglieder der betroffenen Einheit (Kollegium, Abteilung, Gesamtorganisation) getragen werden. Die aktive Beteiligung der Betroffenen soll erstens sicherstellen, dass das Wissen der Beschäftigten im Rahmen des OE-Prozesses fruchtbar gemacht werden kann und zweitens zur Akzeptanz von Veränderungen beitragen. • Die Planung von Veränderungen als sequenzielle Prozesse. OE ist als ein immer gleichförmiger Prozess mit verschiedenen Phasen zu verstehen: Ausgehend von einer systematischen und empirischen Problemanalyse erfolgt zunächst die Planung von Veränderungen, dann deren Durchführung und schließlich ihre Auswertung und Evaluation (vgl. Hanft, 2002). Der erkennbar humanistisch orientierte Ansatz der Organisationsentwicklung betont besonders die systematische Datenerhebung („Organisationsdiagnose“) zum Zweck der Planung organisationaler Veränderungen. Die auf der Grundlage der empirischen Organisationsdiagnose geplanten und umgesetzten Innovationen sollen grundsätzlich evaluiert werden, wodurch organisationsweites Anpassungslernen auf eine empirische Basis gestellt wird. Ein Organisationsentwicklungsprozess in der Schule ließe sich demnach idealtypisch in die folgenden Phasen einteilen: 1. Datensammlung zur Bestandsaufnahme. 2. Datenfeedback an die Beteiligten (Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern). 3. Gemeinsame Datenanalyse (z. B. im Rahmen eines päd. Tages). 4. Gemeinsame Planung von Veränderungen (z. B. Einführung eines Förderprogramms) und Umsetzung (Arbeitsplan). 5. Anschließende Überprüfung der Umsetzung und des Erfolgs der Veränderung (Evaluation). Vor diesem Hintergrund scheint es so, als sei die Idee der internen Selbstevaluation von Schulen eng mit der Idee der Organisationsentwicklung in Schulen verknüpft. Tatsächlich wurde zu Begin der 1990er Jahre Evaluation in der deutschsprachigen Diskussion hauptsächlich als ein Instrument der Schulentwicklung gesehen, das innere Schulentwicklung anstoßen und unterstützen sollte. Evaluation sollte demnach entwicklungsbegleitend, prozessbezogen und selbst gesteuert vonstatten gehen und wurde zu einem zentralen Bestandteil des Konzepts der „lernenden Schule“ (vgl. Altrichter, Messner & Posch, 2004; Senge et al., 2000).
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3.2 Rechenschaft und die Verarbeitung externer Daten durch die Einzelschule Die selbstständige Prozessgestaltung der Einzelschule muss aufgrund des besonderen gesellschaftlichen Auftrags und der bürokratischen Verfasstheit der Schule durch externe Maßnahmen, häufig initiiert durch hierarchisch übergeordnete Steuerungsebenen, ergänzt werden. Komplementär zu den Entscheidungsspielräumen auf organisationaler Ebene werden Schulen daher zu regelmäßiger Rechenschaftslegung verpflichtet. Externe Monitoringmaßnahmen nehmen dabei sowohl die Prozessqualität als auch die Output-Qualität der Einzelschule in den Fokus. Weltweit arbeiten Länder mit unterschiedlichen Modellen der externen Qualitätssicherung im Schulbereich, wobei die Methode der Schulinspektion ein zentrales Instrument ist. Dabei wird der eindeutig auf Rechenschaftslegung ausgerichtete Anspruch der Inspektion fast durchgehend mit dem Anspruch der Schulentwicklung und der konkreten Verbesserung der pädagogischen Arbeit vor Ort betrachtet (vgl. Bos, Holtappels & Rösner, 2006). Schulinspektion kann neben anderen Faktoren dazu beitragen, dass schulinterne Qualitätsmaßnahmen wie Selbstevaluation nicht zu oberflächlichen Fassadenevaluationen und unangemessenen Selbsteinschätzungen führen. In diesem Sinne hat die externe Inspektion gegenüber der schulischen Selbstevaluation eine validierende Funktion. Im Rahmen von Schulinspektion sollte hierzu überprüft werden, inwiefern von der Schule selbst formulierte bzw. der Gesetzgebung angeordnete Zielsetzungen im pädagogischen Alltag realisiert werden. Deutschland folgt damit einem Trend, der in anderen europäischen Ländern längst Einzug gehalten hat und orientiert sich dabei vor allem an den Modellen aus England, den Niederlanden und Schweden (vgl. van Ackeren, 2003; van Bruggen, 2006; Kotthoff, 2003). Sowohl im Rahmen von Inspektionen als auch durch die Implementation von Leistungstests fallen für die Einzelschule relevante Daten an. Die Nutzung extern erhobener (Leistungs-)Daten ist zwar ein viel beachtetes und diskutiertes Thema im Kontext von Schulforschung und Schulentwicklung, welcher Modus der Datenrückmeldung allerdings zielführend auf der Mesoebene genutzt werden kann, ist bislang empirisch wenig geklärt (vgl. Kohler & Schrader, 2004; Kuper & Schneewind, 2006; Bonsen, Büchter & Peek, 2006; Pietsch, Bonsen & Bos, 2007).
3.3 Professionelle Kooperation von Lehrkräften und effektives Führungshandeln als Faktoren von Schulentwicklung Wenn die Rückmeldung von Leistungsdaten oder Inspektionsergebnissen für die Optimierung der organisatorischen und pädagogischen Prozesse auf Schulebene genutzt werden soll, setzt dies die „Lernfähigkeit“ der Organisation voraus. Hiermit ist gemeint, dass Menschen in der Lage sind, ihr Verhalten im Sinne vielfacher Versuchs-Irrtums-Prozesse zu revidieren und anzupassen, wobei die Idee des organisationalen Lernens impliziert, dass entsprechende Prozesse auch auf der aggregierten Ebene der Organisation stattfinden können (vgl. Bea & Göbel, 1999, S. 123). Dabei hängt die
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Gesamtleistung einer Organisation sowohl von der Lernfähigkeit ihrer Mitglieder ab, als auch von der Art ihrer organisationalen Verknüpfung (Reber, 1992, S. 1240 ff.). Somit kann ein enger Zusammenhang zwischen dem berufsbegleitenden Lernen von Lehrkräften und der Entwicklung von Einzelschulen angenommen werden. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung von Kooperation und professionellem Lernen in der Schule evident. Rosenholtz (1991) zeigt auf, dass Schulen mit lernenden Lehrkräften ihre Schülerinnen und Schüler zu höheren Fachleistungen führen, als Schulen, in denen isolierte Arbeitsweisen zum Alltag gehören (ebd. S. 99 ff.). Von besonderer Bedeutung ist dabei offenbar eine Kultur der Unterstützung und der gegenseitigen Hilfe im Kollegium (ebd. S. 55 ff.). Die Idee, professionelles Lernen von Lehrerinnen und Lehrern durch organisationale Strukturen zu initiieren und zu unterstützen, ist zentral für das in der amerikanischen Schulforschung etablierte Konzept der professionellen Lerngemeinschaften (vgl. Bonsen & Rolff, 2006). Dabei wird in der Verknüpfung der Aspekte Gemeinschaft und Professionalität ein Weg gesehen, berufliches Lernen in Zeiten turbulenten Wandels in einem strukturell unterstützten, stabilen und kontinuierlichen organisatorischen Rahmen zu ermöglichen und Lehrkräften Anregungen und Gelegenheiten zu verschaffen, neue Unterrichtsmethoden und -praktiken sowie Materialien experimentell auszuprobieren. Die Mitglieder einer professionellen Lerngemeinschaft suchen fortlaufend Lerngelegenheiten zur Steigerung der Effektivität ihres Unterrichts, tauschen Gelerntes mit Kollegen aus und versuchen – zum Teil in experimentellen Settings – Neu-Gelerntes im Unterricht umzusetzen. Professionelle Lerngemeinschaften in der Schule lassen sich in diesem Sinne als „Gemeinschaften fortlaufender Aktionsforschung und Verbesserungsbemühungen“ verstehen (vgl. Hord, 1997). Faktoren der Schulentwicklung: Die Forschung zeigt, dass mit der Entwicklung zur professionellen Lerngemeinschaft die Reduzierung der Isolation einzelner Lehrkräfte, eine höhere Identifikation der Lehrkräfte mit den Zielen und der Vision der Schule sowie eine gemeinsame Verantwortungsübernahme für die Gesamtentwicklung der Schülerinnen und Schüler und kollegiale Verantwortung für deren Lernerfolg einhergehen.
Empirische Nachweise eines Zusammenhangs zwischen der Ausbildung professioneller Lerngemeinschaften und der Erhöhung der Effektivität schulischen Unterrichts, d. h. eine Erhöhung von Schülerleistungen, sind indes noch rar (vgl. Hord, 1997; Seashore Louis, Kruse & Marks, 1996; Reyes, Scribner & Paredes Scribner, 1999). Aus den skizzierten Instrumenten intentionaler Schulentwicklung, der internen Evaluation und der Entwicklung professioneller Lerngemeinschaften entsteht nicht zwangsläufig die dynamische Entwicklung und Innovation der Einzelschule. Innovationsstrategien und Projekte können in Schulen sehr wohl ressourcen- und zeitintensiv jedoch letztendlich ohne erkennbaren gegenseitigen Bezug betrieben werden. Wahrnehmbare Änderungen auf Schulebene oder eine Verbesserung der Unterrichtsqualität lassen sich dann häufig nicht feststellen. Die Idee der intentionalen und institutionellen Schulent-
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wicklung erfordert die Integration und Koordination vielfältiger und differenzierter Entwicklungsbemühungen sowie die Fokussierung der Entwicklungsbemühungen auf den Unterricht. Die hieraus erwachsende Führungsaufgabe fällt letztverantwortlich der Schulleitung zu, womit diese zu einem zentralen Faktor schulischer Qualität auf der Mesoebene wird (vgl. Bonsen, 2003, 2006). Empirische Forschungsergebnisse belegen wiederholt die zentrale Bedeutung der Schulleitung in Fragen der Einzelschulentwicklung (vgl. Hallinger & Heck, 1998; Waters, Marzano & McNulty, 2004). Effektive unterrichtsbezogene Führung durch die Schulleitung (nach Murphy, 1990) umfasst: • die Entwicklung und Kommunikation einer begrenzten Anzahl klar definierter Ziele, • das Management schulischer Bildungsprozesse (durch Beobachtung des Unterrichts, die Sicherstellung einer maximalen Zeitnutzung im Unterricht, die Koordination von schulinternen Curricula sowie (Leistungs)-Evaluation, • die Pflege eines lernfreundlichen und akademischen Klimas (durch die Formulierung hoher Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler, persönliche Präsenz, die Schaffung von Anreizen für Lehrkräfte sowie für Schülerinnen und Schüler sowie die systematische Förderung der Professionalisierung des Kollegiums), • den Aufbau und die Sicherung eines unterstützenden Lernklimas (durch die Schaffung eines sicheren und geordneten Lernumfelds, die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern am Schulleben, die Förderung der Kooperation von Lehrkräften, die Nutzung externer Ressourcen zur Unterstützung des Schullebens und eine aktive Elternarbeit).
4 Zukunft des Themas Bei der Entwicklung der Einzelschulen kann es keinen uniformen konzeptionellen Ansatz geben. Vielmehr geht es darum, Erkenntnisse der Organisations-, Unterrichtsund Personalentwicklung zu synthetisieren und um Erkenntnisse aktueller Schulleistungsuntersuchungen anzureichern. Vornehmliche Aufgabe einer auf die Mesoebene fokussierten empirischen Schulforschung kann nicht sein, potenziell wirkmächtige Faktoren schulischer Qualität auf der Ebene der Schule zu isolieren. Vielmehr – und hierin dürfte die empirische Herausforderung liegen – sind Konstellationen und Muster zu identifizieren, die unter bestimmten Rahmenbedingungen die Qualität und Effektivität der Schule als Mesoebene steigern. Da die spezifische Wirksamkeit jeder Schule sich in einem historisch einmaligen Kontext und mit einer jeweils besonderen Zusammensetzung von Schülerinnen und Schülern als Prozesspartner entfaltet, gilt auch für die Erforschung der Mesoebene das erkenntnistheoretische Phänomen der Kontingenz, nachdem absolutes Wissen unmöglich ist und Zusammenhänge „immer auch ganz anders sein können“. Eine in sich geschlossene, gleichsam universelle Theorie kann das Forschungsfeld der Mesoebene daher nicht strukturieren. Die empirische Annäherung an typische Konstellationen und ihre Wirkungen eröffnet als Zielstellung jedoch ein weites Forschungsfeld, dessen wissenschaftliche Aufarbeitung erst am Anfang steht.
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Weiterführende Literatur Ditton, H. (2000). Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung in Schule und Unterricht. Ein Überblick zum Stand der empirischen Forschung. Zeitschrift für Pädagogik, 41 (Beiheft), 79–92. Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule – Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Reynolds, D. (2005). School effectiveness: Past, present and future directions. In H. G. Holtappels & K. Höhmann (Hrsg.), Schulentwicklung und Schulqualität (S. 11–25). Weinheim: Juventa. Scheerens, J., Glas, C. & Thomas, S. M. (2003). Educational evaluation, assessment, and monitoring – a systematic approach. Lisse: Swets & Zeitlinger.
Literatur Altrichter, H., Messner, E. & Posch, P. (2004). Schulen evaluieren sich selbst. Seelze: Kallmeyer. Baumert, J. & Schümer, G. (2001). Schulformen als selektionsbedingte Lernmilieus. In J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, P. Stanat, K.-J. Tillmann & M. Weiß (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 454–467). Opladen: Leske + Budrich. Baumert, J., Trautwein, U. & Artelt, C. (2003). Schulumwelten – institutionelle Bedingungen des Lehrens und Lernens. In Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland (S. 261–331). Opladen: Leske + Budrich. Bea, F. X. & Göbel, E. (2006). Organisation. Theorie und Gestaltung (3., neu bearb. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucis. Becker, H. & Langosch, I. (1995). Produktivität und Menschlichkeit (4., erw. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius. Bonsen, M., Bos, W. & Gröhlich, C. (im Druck). KESS 7 – Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern in den beiden ersten Jahren der Sekundarstufe. Münster: Waxmann. Bonsen, M. (2006). Wirksame Schulleitung – Forschungsergebnisse. In H. Buchen & H.-G. Rolff (Hrsg.), Professionswissen Schulleitung (S. 193–228). Weinheim: Beltz. Bonsen, M. (2003). Schule, Führung, Organisation. Eine empirische Studie zum Führungs- und Organisationsverständnis von Schulleiterinnen und Schulleitern. Münster: Waxmann. Bonsen, M., Bos, W. & Gröhlich, C. (2007). Die Relevanz von Kontextmerkmalen bei der Evaluation der Effektivität von Schulen. Zeitschrift für Evaluation, 1, 165–174. Bonsen, M., Büchter, A. & Peek, R. (2006). Datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung. Bewertungen der Lernstandserhebungen in NRW durch Lehrerinnen und Lehrer. In W. Bos, H. G. Holtappels, H. Pfeiffer & R. Schulz-Zander (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung Band 14. Daten, Beispiele und Perspektiven (S. 125–148). Weinheim: Juventa. Bonsen, M. & Rolff, H.-G. (2006). Professionelle Lerngemeinschaften von Lehrerinnen und Lehrern. Zeitschrift für Pädagogik, 52 (2), 167–184. Bonsen, M., Büchter, A. & van Ophuysen, S. (2004). Im Fokus: Leistung. Zentrale Aspekte der Schulleistungsforschung und ihre Bedeutung für die Schulentwicklung. In H. G. Holtappels, K. Klemm, H. Pfeiffer, H.-G. Rolff & R. Schulz-Zander (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung Band 13 (S. 187–223). Weinheim: Juventa. Bos, W., Holtappels, H. G. & Rösner, E. (2006). Schulinspektion in den deutschen Bundesländern – eine Baustellenbeschreibung. In W. Bos, H. G. Holtappels, H. Pfeiffer, H.-G. Rolff & R. SchulzZander (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung Band 14 (S. 81–123). Weinheim: Juventa.
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Bildungspsychologie auf der Mesoebene
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Bettina Hannover und Melanie Rau
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
1 Einführung
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Geschlechtergerechte Instruktion am Beispiel der Statistik-Lehre im Psychologiestudium
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Frauen stellen mit einem Anteil von mehr als 70 % die deutliche Mehrheit unter den Studierenden der Psychologie. Studierende werden in der Statistik mit der Männerdomäne Mathematik konfronAufgabenbereiche tiert, die meisten Dozierenden sind männlich. Statistik wird als ein Fach wahrgenommen, das hauptsächlich für zukünftig in der Wissenschaft Tätige von Belang ist. Auch der prototypische Wissenschaftler ist männlich. Mit anderen Worten: Statistik an der Universität ist ein stark männlich konnotiertes Fach. Für Studentinnen ist diese Konstellation problematisch, da sie zu „Underachievement“ (Person zeigt schwächere Leistungen, als nach ihrer Leistungsfähigkeit zu erwarten wäre) führen kann. Wie kann man Statistik geschlechtergerecht unterrichten und somit Underachievement bei Studentinnen vermeiden? Ansatzpunkte bieten die Zusammenstellung von Lerngruppen (siehe Abschnitt 2), die Auswahl von Lehrpersonen (siehe Abschnitt 3), die Gestaltung der Lernmaterialien (siehe Abschnitt 4) und die Förderung von Geschlechter-Kompetenz bei Lehrenden (siehe Abschnitt 5).
2 Geschlechterkonstellation in der Lerngruppe Jungen und Männer sind häufiger an Interaktionen mit Lehrpersonen beteiligt als Mädchen und Frauen (z. B. David Sadker & Ellen Silber, 2007). Egal ob Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule oder Universität: Jungen bzw. Männer werden häufiger aufgerufen, ihnen werden anspruchsvollere Fragen gestellt und sie werden öfter für ihre intellektuellen Fähigkeiten gelobt. Diese Befunde deuten darauf hin, dass Mädchen bzw. Frauen möglicherweise von getrenntgeschlechtlichem Unterricht profitieren. Dafür spricht eine Untersuchung von Bettina Hannover und Ursula Kessels (2002), nach der Mädchen, die in der achten Klasse in Physik monoedukativ unterrichtet worden waren, anschließend häufiger einen Physik-Fortgeschrittenenkurs besuchten als Schülerinnen aus koedukativen Gruppen. Außerdem berichteten die monoedukativ unterrichteten Mädchen über mehr Spaß am Physikunterricht und hatten ein höheres Zutrauen in ihre physikbezogenen Fähigkeiten.
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Geschlechtergerechte Instruktion am Beispiel der Statistik-Lehre
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Diese Ergebnisse lassen sich leicht auf den Statistik-Unterricht an der Hochschule anwenden: Während es in der Regel nur eine Vorlesung für ein gesamtes Semester gibt, können leicht geschlechtergetrennte Tutorien und Seminare für Statistik eingerichtet werden.
3 Geschlecht der Lehrpersonen Kann eine Hochschule sich aussuchen, ob eine Frau oder ein Mann Statistik unterrichtet, so sprechen zwei gute Gründe dafür, sich für die Frau zu entscheiden. Erstens können Statistik-Dozentinnen dazu beitragen, das Geschlechterstereotyp „weiblich = mathematisch unbegabt“ abzubauen. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass das bloße Wissen über die Existenz dieses Stereotyps bei Mädchen und Frauen Leistungseinbußen verursacht (sog. Stereotypen-Bedrohung; z. B. Paul Davies & Steven Spencer, 2005). Je mehr Frauen es in der Forschung und Lehre von Statistik gibt, desto mehr wird diesem Stereotyp die Grundlage entzogen. Zweitens können Statistik-Professorinnen und Tutorinnen als positive Rollenmodelle dienen: Studentinnen können „beobachten“ und lernen, wie Frauen in der Männerdomäne Statistik erfolgreich sind (z. B. Penelope Lockwood, 2006; Julie Quimby & Angela DeSantis, 2006).
4 Gestaltung der Lernmaterialien Mädchen und Frauen erzielen bessere Lern- und Leistungsergebnisse, wenn sie die neu zu erwerbenden Fähigkeiten als nützlich für die Lösung von Problemen (und nicht als reinen Selbstzweck) erleben (z. B. Lore Hoffmann, Peter Häußler & Sabine Peters-Haft, 1997). Viele Studierende glauben, dass man Statistik nur für eine wissenschaftliche Karriere benötigt. Deshalb sollte in der Lehre explizit auf die konkreten Anwendungsmöglichkeiten der Statistik hingewiesen werden. Dazu kann man z. B. Studierende selbst generierte Daten auswerten lassen. Weiter sollte deutlich gemacht werden, dass gute Statistikkenntnisse einen echten Wettbewerbsvorteil im Berufsleben darstellen. Außerdem sollte bei der Gestaltung von Lehrmaterialien auf die Vermeidung von Geschlechter-Verzerrungen geachtet werden. Aufgrund des Wissenschaftler-Stereotyps gehen Leserinnen und Leser davon aus, dass die zitierten Autorinnen und Autoren Männer sind. Am wirkungsvollsten lässt sich dieser Bias verhindern, indem man im Text Vor- und Nachnamen nennt. Weiterhin sollten Geschlechterstereotype – von denen Stereotypen-Bedrohung ausgehen kann – durch verwendete Beispiele nicht zusätzlich forciert werden (Stichwort „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“, Allan Pease & Barbara Pease, 2000). Ebenso sollte man auf nicht sexistische Sprache achten. Die Forschung zeigt, dass Rezipientinnen und Rezipienten bei Verwendung männlicher grammatikalischer Formen eher an männliche als an weibliche Personen denken (Dagmar Stahlberg, Friederike Braun, Lisa Irmen & Sabine Sczesny, 2007). Neben der Nennung beider Formen besteht die Möglichkeit, Substantive durch eine Partizipform zu ersetzen („die Lehrenden“), auf geschlechtsneutrale Begriffe auszuweichen („die Lehrperson“), Splittingformen (z. B. „Lehrer/innen“ bzw. „LehrerInnen“) oder abwechselnd männliche und weibliche Formen zu verwenden.
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Bettina Hannover und Melanie Rau
5 Geschlechter-Kompetenz von Lehrenden Die wissenschaftliche Erforschung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Geschlechtsunterschieden kann als ausdifferenziert und weit entwickelt bezeichnet werden (für einen Überblick siehe z. B. Bettina Hannover, 2007). Dennoch gibt es kaum Anzeichen dafür, dass diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in der pädagogischen Praxis in geschlechtergerechtes Verhalten von Lehrenden umgesetzt werden. Bezogen auf unser Beispiel zeigen sich im Ergebnis geschlechtstypisierte Unterschiede bei Studierenden im Interesse an und Angst vor Statistik, gleichwohl keine uns bekannte Studie Geschlechtsunterschiede in Leistungen in der Statistik gefunden hat (z. B. Drake Bradley & Chaterine Wygant, 1998). Geschlechtergerechte Instruktion ist in dem Maße gewährleistet, wie Lehrende sich persönlich dem Ziel verpflichten, männliche und weibliche Studierende gleichermaßen zu motivieren und zu fördern. Voraussetzungen dafür, dass dies auch gelingt, ist, dass Lehrende (a) Wissen über die Relevanz der Kategorie Geschlecht im Allgemeinen und für Lehr-Lernprozesse im Besonderen haben und vor diesem Hintergrund (b) eine Sensibilität für eigene geschlechterbezogene, möglicherweise voreingenommene, Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster entwickeln. Dies sollte Lehrende in der Statistikausbildung in die Lage versetzen, Geschlecht bei der Gestaltung des Curriculums zu berücksichtigen. So sollten sie Beispiele verwenden, die auch für den Alltag von Frauen relevant sind, da Anwendungen, die ausdrücklich auf „maskuline Themen“ rekurrieren, nachweislich die Erfolgszuversicht weiblicher Lernender reduzieren. Weiter sollten Lehrende eine Sensibilität für geschlechtsspezifische Lernvoraussetzungen mitbringen. So ist von Geschlechtsunterschieden in relevanten Vorerfahrungen auszugehen, da, wie die PISA1-Studie gezeigt hat, männliche Studierende typischerweise während der Schulzeit mehr mit dem PC gearbeitet und häufiger Kurse in der Mathematik belegt haben als weibliche Studierende (Joachim Wirth & Eckhard Klieme, 2003). Weiter sollten Lehrende Geschlechtsunterschiede in sozialen Verhaltensweisen, wie z. B. unterschiedliche Reaktionen auf Leistungs-Feedback, didaktisch kompensieren und sensibilisiert sein für geschlechtstypisierte soziale Interaktionen innerhalb der Gruppe der Lernenden. Beispiele sind, dass männliche Studierende häufiger die in einer (gemischtgeschlechtlichen) Lerngruppe erarbeiteten Ergebnisse im Plenum vortragen als weibliche oder dass Studentinnen sich selbst als „für Statistik ungeeignet“ bezeichnen (sog. Self-Handicapping). Lehrende können Studierende darauf aufmerksam machen, dass sie durch solches Verhalten selbst (unabsichtlich) zur Aufrechterhaltung von Geschlechtsstereotypen beitragen. Ebenso können Lehrende durch eigenes Verhalten gegensteuern, also z. B. eine Frau auffordern, die Gruppenarbeitsergebnisse vorzustellen. Lehrende, die sich der Wirkung von Stereotypen-Bedrohung bewusst sind, können Underachievement bei Studentinnen verhindern, indem sie sie besonders ihrer Unterstützung versichern oder aber direkt auf die mögliche negative Wirkung des Stereotyps hinweisen (Michael Johns, Toni Schmader & Andy Martens, 2005). Hochschulen können ihre Lehrenden auf das Ziel geschlechtergerechten Unterrichtens verpflichten und Weiterbildungsangebote zur Förderung von Geschlechter-Kompetenz anbieten. 1 Programme for International Student Assessment
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Geschlechtergerechte Instruktion am Beispiel der Statistik-Lehre
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Heiner Rindermann
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1 Wie lässt sich ermitteln, was Kennzeichen guter Lehre sein könnten?
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Kennzeichen guter Lehre
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro Ma
Das Phänomen „gute Lehre“ ist Aufgabenbereiche über verschiedene Zugänge wie Heranziehung von hochschuldidaktischen und instruktionspsychologischen Theorien, Auswertung von Lehrevaluationsbögen, Beobachtung und Beschreibung der Veranstaltungen von als „guten“ Dozentinnen und Dozenten bekannten Personen, Prädiktoren allgemeiner Dozentenbeurteilung, Prädiktoren des subjektiven oder objektiven Lehr- und Lernerfolgs, offene Befragung von Lehrenden und Studierenden und Anforderungsanalysen des Lehrgeschehens konkretisierbar (vgl. Berendt, Voss & Wildt, 2002; Feldman, 1997; Rindermann, 2009a; Spiel & Gössler, 1999; Viebahn, 2004; Webler, 2004). Im Folgenden sollen mehrere Ansätze als Beispiele näher beschrieben werden.
1.1 Offene Befragung von Studierenden und Lehrenden Der direkte Weg, Kennzeichen guter Lehre zu finden, besteht darin, Lehrende und Lernende, Personen also, die tagtäglich gute (oder schlechte) Lehre, Vorträge und Veranstaltungen halten, daran teilnehmen und erleben, zu befragen. In einer solchen Studie (siehe Rindermann, 1999) führten Lehrkräfte und Studierende am häufigsten Interaktionsmerkmale an, im weiteren Sinne soziale Kompetenzen: Motivierung und Anregung der Studierenden, Offenheit und Verständnis, Kooperativität sowie Zeit für Studierende bzw. Diskussionen. An zweithäufigster Stelle standen verwandte Persönlichkeitseigenschaften wie Freundlichkeit oder Sicherheit. Dahinter folgten didaktische Kompetenzen und Engagement. Zu spezifischen und allgemeinen didaktischen Fertigkeiten gehörten Sprache (Rhetorik und inhaltliche Verständlichkeit), Struktur, angepasste Anforderungen und adäquater Medieneinsatz. Auch Themenbehandlung und -auswahl nannten beide Gruppen häufiger. Im Dozenten-Studenten-Vergleich legten Lehrende mehr Wert auf fachlich-inhaltliche Kriterien, Studierende mehr auf Formen der Vermittlung und Darstellung des Stoffes sowie auf Persönlichkeitsfaktoren der Dozentinnen und Dozenten. Studierende können weniger die fachliche Qualität des Vermittelten beurteilen, diese gilt zudem meist als durch die Institution oder die Lehrkraft gesetzt. Studierende müssen diese vorgegebenen
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Kennzeichen guter Lehre
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Inhalte verstehen und lernen, zwangsläufig legen sie so mehr Wert auf Vermittlungsfertigkeiten. Bei der Anzahl der Nennungen bestand eine hohe Übereinstimmung zwischen Lehrenden und Studierenden (r = .87 bzw. .71). Das heißt, beide Gruppen gewichteten durch die Häufigkeit ihrer Angaben die Kriterien guter Lehrkräfte oder Veranstaltungen ähnlich. Diese Befunde stimmen mit denjenigen aus der angloamerikanischen Literatur gut überein. In einer Metaanalyse hierzu verglich Feldman (1988) Ratings von Lehrenden und Studierenden. Die Übereinstimmung war hoch (r = .71). Trotzdem ließen sich Akzentuierungen erkennen: Während Dozentinnen und Dozenten mehr Gewicht auf fachlichinhaltliche Merkmale legten (Fachkompetenz, intellektuelle Förderung, hohe Standards setzen und zum Lernen motivieren, eigenes Lernen fördern), legten Studierende mehr Wert auf interaktive Verhaltensweisen und Vermittlungskompetenzen der Lehrenden wie die Einstellung der Lehrenden auf das Vorwissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, den Wissensfortschritt und die Bedürfnisse der Studierenden sowie Vortragskunst und Hilfsbereitschaft.
1.2 Ergebnisse schrittweiser Regressionen Durch schrittweise Regressionsanalysen wird die Prognosekraft von Prädiktorvariablen für Kriteriumsvariablen (z. B. allgemeine Lehrenden- oder Lehrveranstaltungsbeurteilung) bestimmt. Voraussetzung für die Prognosekraft eines Prädiktors ist die Variation dieses Merkmals. Didaktische Merkmale können in solchen Analysen nur dann gefunden werden, wenn Lehrende sich hinsichtlich dieser Merkmale unterscheiden. So mag Anwesenheit der Dozentin oder des Dozenten und kein Ausfall aufgrund von Krankheit, Gastvorträgen oder Kongressbesuch eine zentrale Bedingungsvariable von Lehrerfolg sein, wird sie aber nicht erhoben oder sind in der untersuchten Stichprobe alle Dozentinnen und Dozenten regelmäßig anwesend, würde sie nicht als relevant erkannt. Lehrerfolgskriterien lassen sich in zwei Kategorien aufteilen: • in veranstaltungsbezogene Kriterien im engeren Sinne, wie allgemeine Veranstaltungsqualität, • und in Effekte bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Form von Lerngewinn, Einstellungsänderung und Kompetenzerwerb. Als Ergebnis schrittweiser Regressionen ist für den eingeschätzten Lehrerfolg gemäß HILVE (Heidelberger Inventar zur Lehrveranstaltungs-Evaluation; Rindermann, 2001) das Unterrichtsverhalten der Dozentin oder des Dozenten die wichtigste Determinante: Verarbeitung (Anregung zum Mitdenken, Themen kritisch und von verschiedenen Seiten betrachten), Struktur, Engagement, Auseinandersetzung, Thema und Lehrkompetenz sind die aufklärungsmächtigsten Dimensionen. Murray (1997) zog als Kriterium der Lehreffektivität Leistungsmaße heran; Lehreffektivität wurde definiert als das Bewirken kognitiver und motivationaler Veränderungen bei Studierenden. Enthusiasmus der Lehrenden, Klarheit (Struktur, Unterrichtsorganisation, Zeiteinteilung) und Merkmale der Interaktion zwischen Lehrenden und Studie-
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Heiner Rindermann
renden (Wärme, Klima, Ermutigung zur Teilnahme) erwiesen sich als die wichtigsten Bedingungen dieser Lehreffektivität. Bei dem von Feldman (1989, 1997) angestellten Vergleich zwischen der Prognosekraft für Leistung und für Allgemeinbeurteilung korrelierten die beiden Rangreihen der Prädiktoren mit r = .61. Allerdings zeigten sich auch deutliche Unterschiede: Die Leistung (Test) lässt sich besser über didaktische Aspekte bestimmen (Struktur und Klarheit), die Allgemeinbeurteilung (Fragebogen) eher über soziale Merkmale der Lehrenden (Rückmeldung zu Studierenden, Hilfe, Fairness). Innerhalb einer Lehrveranstaltung – also bei Varianz zwischen Studierenden und deren Merkmalen, nicht zwischen Lehrenden und Lehrqualität – sind für Leistungsmaße selbstverständlich frühere Fähigkeiten der Studierenden ausschlaggebend, das Gleiche gilt für einen veranstaltungsunabhängigen Vergleich zwischen Studierenden (Rindermann, 2005).
1.3 Anforderungsanalysen Welchen Anforderungen sehen sich Dozentinnen und Dozenten im Lehrgeschehen gegenüber (z. B. Viebahn, 2004), deren erfolgreiche Bewältigung als Merkmal guter Lehre und guter Lehrender aufzufassen ist? 1. Lehrende müssen zunächst den Stoff verstehen, auswählen und zusammenstellen. Unterrichtsziele sind zu formulieren. Fachliche Kompetenz ist hierfür notwendig. 2. Der ausgewählte Stoff muss didaktisch aufbereitet in kommunikativer Form vermittelt werden (darstellen, erklären, Fragen ausarbeiten, Unterrichtsformen bestimmen), hinzukommen das Fördern nichtkognitiver Kompetenzen und Einstellungen der Lernenden. Stoff und Unterrichtsziele einschließlich der Höhe der Anforderungen in Stoffmenge, Geschwindigkeit und Komplexität sind in einem gewissen Rahmen den Fähigkeiten und Interessen der Lernenden anzupassen, Unterrichtsformen sind flexibel zu handhaben. Hierfür sind didaktische Kompetenzen notwendig. 3. Unterrichtsteilnehmerinnen und -teilnehmer sind zu motivieren, mit ihnen ist zu kommunizieren, Lehre ist ein interaktiver Prozess. Störungen und lernfremdem Verhalten muss vorgebeugt werden. Lehrende müssen sich auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten und Erwartungen von Lernenden einstellen. Soziale Kompetenz ist unersetzlich. 4. Unterricht stellt eine Belastungssituation dar, allein schon deswegen, weil Unterschiedliches zur gleichen Zeit und durch viele andere Menschen beobachtet getan werden muss. Insbesondere zur Vorbeugung und Bewältigung nie völlig zu vermeidender sozialer Probleme und zum Umgang mit Stress und Frustrationen ist emotionale Kompetenz hilfreich. Diese vier Kompetenzen greifen ineinander: Didaktische und soziale Kompetenz sind schon in der Beschreibung des Unterrichtshandelns kaum zu trennen, da gute Didaktik immer rezipientenorientiert ist; emotionale und soziale Kompetenz bauen aufeinander auf; weitere Einzelfertigkeiten wie Erkennen von Stärken und Schwächen von Lernenden und das Ableiten von Konsequenzen daraus für den Unterricht basieren auf den vier Kompetenzen. Defizite in einem der vier Bereiche – fachliche, didaktische, soziale und emotionale Kompetenz – sind durch Stärken in anderen nur begrenzt kompensierbar.
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Kennzeichen guter Lehre
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2 Lehrqualität als multidimensionales Phänomen Aus Sicht von Lernenden, Lehrenden und Fremdbeurteilern ist Unterricht ein Phänomen, zu dessen Erfolg besonders die Lehrkraft beiträgt. Die Differenziertheit dieses Phänomens lässt sich durch Faktorenanalysen von Beurteilungsdaten untersuchen. Fast immer wird als Ergebnis solcher Studien zwischen didaktischen Variablen im engeren Sinne (z. B. Methodik und Aufbau der Veranstaltung, verständliche Darstellung, Gliederung und Erklärungen) und Verhalten gegenüber Veranstaltungsteilnehmerinnen und -teilnehmern (Lehrenden-Studierenden-Beziehung, Freundlichkeit, Klima) differenziert. Zusätzlich werden oft Anforderungsvariablen (z. B. Angemessenheit der Schwierigkeit und Umfang der Inhalte) separiert.
Abbildung 1: Bedingungs-Effekt-Modell der Lehrqualität
Als Resultat der verschiedenen methodischen Zugänge wurde versucht, ein Modell guter Lehre und Lehrqualität aufzustellen (siehe Abbildung 1). Dieses Modell unterscheidet konzeptionell vier Komponenten – Merkmale der Lehrenden, der Studierenden und der Rahmenbedingungen als Determinanten und Lehrerfolg als Zielgröße. Die Determinanten stehen untereinander in Beziehung. Längs der Zeit wirkt der Lehrerfolg auch auf die Determinanten zurück, da Studierende, die in vergangenen Veranstaltungen erfolgreich gelernt haben, in späteren Veranstaltungen höhere Kompetenzen aufweisen, auf die die Lehrkraft mit anderem Unterricht und Auswahl anderer Inhalte reagieren kann (Rindermann, 2007).
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Heiner Rindermann
3 Resümee und Ausblick In der bisherigen Forschung ließ sich die Relevanz der Lehrenden für den Lehrerfolg herausarbeiten. Das Handeln der Lehrenden steht auch in Beziehung zu über Leistungsmaßen bestimmbaren Lernerfolgen der Studierenden. Dieses Dozentenhandeln lässt sich in Maßnahmen, die neben Evaluation auch auf Beratung, Gratifikationen und institutionell hohe Gewichtung von Lehre setzen, verbessern (Rindermann, Kohler & Meisenberg, 2007; Dresel, Rindermann & Tinsner, 2007). Ein Defizit bisheriger Forschung besteht in der fehlenden Untersuchung der Bedeutung von Rahmenbedingungen für die Qualität der Lehre. Diese sollten in Zukunft in Vergleichen zwischen verschiedenen Hochschulsystemen und bei Wechsel von Lehrenden zwischen verschiedenen Hochschulsystemen (bzw. bei Verbleib in diesen, aber Wandel der Rahmenbedingungen) näher untersucht werden. So zeigt sich beispielsweise unter den Bedingungen auf Studierendenseite ein deutlich negativer Effekt übergroßer Seminarstärken (über 50 Personen) auf Lehrqualität und Lernerfolg, das studentische Leistungsniveau hat dagegen einen positiven Effekt, unter den institutionellen Rahmenbedingungen zeigt der Umfang des Lehrdeputats eine negative Wirkung auf Lehrqualität und Lehrerfolg, die Höhe des Gehalts dagegen eine positive (Rindermann, 2009b). Die Relevanz dieser Faktoren wird ohne Vergleiche zwischen verschiedenen Hochschulsystemen unterschätzt.
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Kennzeichen guter Lehre
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Silke Hertel und Eckhard Klieme
Primärbereich
Vorschulbereich
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Säuglings- und Kleinkindalter Forschung
1 Was macht die Makroebene der Bildungspsychologie aus?
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
Handlungsebenen
Bildungspsychologie auf der Makroebene: Das Gesamtsystem im Fokus
eb kro e Mi ben e so Me bene e kro a M
Der Begriff makro stammt aus dem Griechischen und bedeutet groß bzw. weit. Entsprechend Aufgabenbereiche betrachtet die bildungspsychologische Makroebene Bildungsprozesse aus einer übergeordneten, weit gefassten Perspektive: sie beschreibt Bildungssysteme mit ihren Strukturen und Prozessen. Dazu zählen sowohl die strukturellen Merkmale von Bildungssystemen (z. B. Untergliederung des Bildungssystems) als auch kulturelle und politische Rahmenbedingungen in den Ländern. Die Makroebene ist der Rahmen für Bildungsprozesse auf Meso- und Mikroebene. Bildungspsychologische Makroebene: Die bildungspsychologische Makroebene umfasst sozial und kulturell geformte Einstellungen und Überzeugungen zu Bildung und Bildungsprozessen, Bildungszielen und -traditionen sowie bildungsbezogene Handlungsmuster und Strukturen des Bildungssystems. Zusätzlich können auch kulturspezifische Wissensaspekte und Kompetenzen auf der Makroebene eingeordnet werden. Eine zentrale Position nehmen die Wertschätzung von Bildung und der Stellenwert, den Bildungsprozesse in der Gesellschaft haben, ein.
Diese Betrachtungsweise ist für die Psychologie vergleichsweise ungewöhnlich und es stellen sich Fragen, die zunächst eher in die Soziologie, die Ökonomie, die Ethnologie und andere gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Disziplinen eingeordnet werden. Doch auch in der Psychologie gab und gibt es Ansätze, um entsprechende Fragestellungen zu bearbeiten. Diese Ansätze werden im Folgenden beschrieben. Allerdings ist festzuhalten, dass ein interdisziplinärer Austausch erforderlich ist, wenn Bildungspsychologie und -forschung die sozio-kulturelle bzw. sozio-ökonomische Rahmung, die gesellschaftliche Organisation und die politische Steuerung von Bildungsprozessen verstehen wollen. Ein erster Zugang besteht in dem Versuch, den kulturellen Hintergrund menschlichen Verhaltens zum Ausgangspunkt der Theoriebildung zu machen. Nach diesem Ansatz
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nehmen sozio-kulturelle „Faktoren“ (z. B. Überzeugungen, Wertvorstellungen, Normen) einen zentralen Einfluss auf das Handeln der Menschen. Daraus folgt, dass menschliche Handlungen nur vor dem sozio-kulturellen Hintergrund interpretiert und eingeordnet werden können. Bezogen auf das Bildungssystem bedeutet dies z. B., dass Strukturen des Bildungssystems vor dem bestehenden kulturellen Hintergrund beschrieben werden. Die empirische Grundlage dieses Zugangs bilden vor allem kulturvergleichende Studien, sowohl qualitativer als auch quantitativer Art. Eine entsprechende kultur-psychologische und kultur-vergleichende Tradition findet sich bereits in der Geschichte der Psychologie, ihre Wurzeln sind u. a. bei Wilhelm Wundt angelegt, der neben der experimentellen Psychologie auch eine „Völkerpsychologie“ begründete. Bildung nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein, denn Bildung ist im Kern En-Kulturation: Individuen eignen sich Normen und Wissensinhalte der sie umgebenden Kultur an; zugleich (re-)produzieren sie die Inhalte und Regeln dieser Kultur immer wieder neu und entwickeln sie weiter (Bruner, 1996). Erziehung – d. h. die zielgerichtete Lenkung von Bildungsprozessen – kann dann verstanden werden als „Übermittlung kultureller Strukturen in die Persönlichkeit des Individuums“ (Oerter, 1994, S. 135). Ein zweiter Zugang besteht darin, die Daten der quantitativ-empirischen Forschung zu Lehr- und Lernprozessen auf der Ebene von Ländern oder Schulsystemen zu aggregieren, mit anderen Systemmerkmalen (z. B. der Aufteilung nach Schularten) in Beziehung zu setzen und schließlich zur Erklärung von Bildungsprozessen und -ergebnissen heran zu ziehen. Dieser Ansatz wird in jüngster Zeit verstärkt in internationalen Schulleistungsstudien wie etwa PISA verfolgt. Untersucht werden dabei Prozess- und Strukturmerkmale der Bildungssysteme (z. B. Qualifikation und Kooperation von Lehrpersonen, Unterrichtsformen und Lernklima, Übergänge zwischen Grundschule und weiterführenden Schulen). Mittels komplexer statistischer Verfahren, die in der Bildungspsychologie immer populärer werden (Anderman & Anderman, 2000), wird das Zusammenwirken von Prozessen auf unterschiedlichen Ebenen (z. B. System-, Schul-, Klassen- und Schülerebene) modelliert. Dabei wird untersucht, inwieweit z. B. das Lernverhalten einzelner Schülerinnen und Schüler durch Gegebenheiten der eigenen Schulklasse oder der besuchten Schulart beeinflusst wird. Eine wichtige Einflussgröße ist die Zusammensetzung der Schülerschaft z. B. hinsichtlich sozialer Herkunft und Migrationshintergrund (Kompositionseffekt). Diese beiden Zugänge werden in Abschnitt 2 und 3 weiter ausgeführt und mit Beispielen veranschaulicht. Dabei orientieren wir uns an der Forschung im Sekundarschulbereich, da hier einschlägige Studien mit qualitativem bzw. quantitativem Hintergrund vorliegen, die sich für eine Veranschaulichung sehr gut eignen. Bezogen auf die Aufgabenbereiche der Bildungspsychologie thematisieren wir dabei insbesondere die Bereiche Forschung und Intervention sowie Monitoring und Evaluation, da diese unserer Einschätzung nach derzeit auf der Makroebene am intensivsten bearbeitet werden. Mit dem theoretischen Zugang zur Makroebene eng verknüpft sind auch die methodischen Ansätze, die zum Gewinn von Erkenntnissen eingesetzt werden. Dabei kann zunächst zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen unterschieden werden.
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Silke Hertel und Eckhard Klieme
Qualitative und quantitative Ansätze: Der qualitative Ansatz ist geprägt von der Annahme, dass Unterschiede zwischen Bildungssystemen identifiziert und beschrieben, aber nicht gemessen werden können. Es werden Vergleiche angestellt, bei denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Systemen auf ihrem historischen und kulturellen Hintergrund interpretiert werden. Eine statistische Absicherung der Befunde wird nicht vorgenommen. Qualitative Ansätze finden sich in der traditionellen kulturvergleichenden und erziehungswissenschaftlichen Komparatistik. Dem quantitativen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass der Einfluss des Bildungssystems messbar ist, z. B. in Form von Schülerleistungen. Unterschiede in diesen werden dann z. B. mit Unterschieden der Bildungssysteme in Bezug gesetzt. Dies ermöglicht eine statistische Absicherung der Befunde. Quantitative Ansätze werden insbesondere in der empirischen Bildungsforschung verfolgt.
In der Bildungsforschung werden durch die Makroebene Rahmenumgebungen beschrieben, in denen sich Bildungsprozesse vollziehen. Der Analysefokus liegt dabei vornehmlich auf dem Bildungssystem und seinem direkten Einfluss auf Bildungsprozesse. So werden in qualitativ-vergleichenden Untersuchungen die „institutionellen Strukturen des jeweiligen nationalen oder regionalen Bildungswesens im demografischen, sozialen, ökonomischen und politischen Kontext kontrastiv dargestellt und häufig auch mit historischen Einbettungen versehen“ (Lehmann, 2008, S. 539). Über solche qualitativ-vergleichenden Ansätze hinaus nimmt die empirische Bildungsforschung – anders als die traditionelle kultur- und erziehungswissenschaftliche Komparatistik – an, dass der Einfluss des Bildungssystems z. B. auf Schülerleistungen messbar ist (Stanat & Lüdtke, 2008). Im Rahmen von Modellversuchen können sogar (quasi-)experimentelle Untersuchungen durchgeführt werden, in denen bestimmte Aspekte des Bildungssystems, wie z. B. die Verfügbarkeit von ganztägigen Betreuungsangeboten oder die Größe einer Schulklasse, manipuliert werden. Allerdings werden kulturelle Einflüsse (Normen, Werte), die z. B. auf Strukturen des Schulsystems, Überzeugungen und Unterrichtspraktiken von Lehrpersonen oder Einstellungen von Schülerinnen und Schülern wirken, von der Bildungsforschung derzeit noch nicht hinreichend berücksichtigt (Klieme & Stanat, 2002). Angesichts der vielfältigen Einflüsse auf Makro-, Meso- und Mikroebene ist es eine sehr große Herausforderung, Unterschiede zwischen den Ländern mit quantitativen Analysen erklären zu wollen. Abhängige Variablen könnten dabei die Effektivität der Bildungssysteme sein (d. h. das jeweilige mittlere Leistungsniveau), aber auch das Profil der Leistungen (die relativen Stärken und Schwächen eines jeden Staates), deren Streuung oder die Effizienz (d. h. der „Ertrag“ im Verhältnis zu den Bildungsausgaben des Staates). So unterscheiden sich die ostasiatischen Staaten Japan und Korea nach übereinstimmenden Befunden aus TIMSS und PISA beispielsweise dadurch von Deutschland, dass dort (a) das Leistungsniveau insgesamt höher und (b) die Streuung deutlich geringer ist, jedoch (c) mit einem interessanten Profil: In der Mathematik und in den Naturwissenschaften liegen die beiden Staaten (Japan und Korea) etwa eine halbe Standardabweichung oberhalb des OECD-Mittelwertes, bei der Lesekompetenz jedoch nur noch eine viertel Standardabweichung. Offensichtlich sind die beiden Länder im
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Bereich der Lesekompetenz nicht ganz so erfolgreich wie im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Sowohl das sehr hohe Leistungsniveau der beiden ostasiatischen Staaten als auch die geringe Streuung, d. h. das vergleichsweise gute Abschneiden der schwächeren bzw. weniger begabten Schülerinnen und Schüler, ist mit dem Muster des „asiatischen Lernenden“ in Verbindung gebracht worden. Eine mögliche Ursache für die etwas schwächeren Leistungen im Lesen wird in den komplizierteren Schriftsystemen der asiatischen Sprachen gesehen. Dieser Interpretationsansatz zieht demnach kulturelle Faktoren zur Erklärung von Unterschieden zwischen Staaten heran. Allerdings erfolgt dies zunächst auf einer gewissermaßen anekdotischen Basis, im Rahmen eines kontrastiven Kulturvergleichs. Offen bleibt hierbei, welche Bedeutung kulturellen Faktoren in quantitativen Erklärungsmodellen zukommt. Eine Antwort auf diese Frage setzt voraus, dass – entgegen dem Ansatz der Kulturpsychologie – eben doch einzelne (kulturelle) Merkmale operationalisiert und als unabhängige Variablen verwendet werden. Um die Makroebene einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen, müssen demnach Merkmale der Makroebene gemessen werden. Dies erfolgt vornehmlich durch eine Beobachtung einzelner Akteure auf der Mikroebene: so können z. B. die Leistungen von Schülerinnen und Schülern oder die Unterrichtspraktiken von Lehrpersonen in einem spezifischen Lehr-Lernkontext untersucht werden. Indem die Einzelbeobachtungen für das ganze System zusammengefasst (aggregiert) werden, entstehen aus Beobachtungen der Mikroebene Merkmale der Makroebene. Dabei wird z. B. der Mittelwert einer Messung für die Akteure innerhalb eines Systems gebildet und mit Kennwerten aus anderen Kulturen verglichen. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht Aussagen darüber, inwiefern z. B. Lernstile von Schülerinnen und Schülern oder Überzeugungen und Unterrichtspraktiken von Lehrerinnen und Lehrern durch Kultur und Bildungssystem beeinflusst werden. Beispiele für entsprechende Untersuchungen werden in Abschnitt 2 vorgestellt. Die vorgestellten Beispiele folgen dabei dem Grundgedanken des Vergleichs von unterschiedlichen Ländern und Kulturen. Meist erfolgen solche Vergleiche auf der Grundlage von Beobachtungen bzw. Datenerhebungen zu einem Messzeitpunkt in den jeweiligen Ländern (Querschnitt). Es ist allerdings auch möglich, Analysen zur Makroebene innerhalb eines Landes durchzuführen, wenn Daten von mehreren Messzeitpunkten in diesem Land vorliegen (Längsschnitt). Auf diese Weise können Veränderungen des Bildungssystems und deren Auswirkungen z. B. auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler untersucht werden – Effekte von Interventionen (z. B. Einführung von Ganztagsschulen) lassen sich so beziffern. Querschnittliche und längsschnittliche Untersuchung: Querschnittliche Untersuchungen auf der Makroebene ermöglichen auf der Basis von einmalig erhobenen Daten bzw. einmaligen Beobachtungen Vergleiche zwischen Bildungssystemen unterschiedlicher Länder. Längsschnittliche Untersuchungen auf der Makroebene ermöglichen die Prüfung der Effekte von Interventionen bzw. Reformen des Bildungssystems. Dazu werden innerhalb eines Landes zu mehreren (mindestens zwei) Messzeitpunkten Daten erhoben bzw. Beobachtungen durchgeführt, diese werden dann miteinander verglichen.
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Sowohl querschnittliche als auch längsschnittliche Untersuchungen auf der Makroebene liefern wichtige Informationen für Monitoring/Evaluation der Strukturen und Prozesse in den Bildungssystemen. Die methodischen Zugänge zu querschnittlichen Untersuchungen sind bereits sehr weit fortgeschritten (siehe Abschnitt 4), im Bereich der längsschnittlichen Analysen auf der Ebene von Bildungssystemen wird die Entwicklung entsprechender methodischer Zugänge derzeit stark vorangetrieben. Dabei werden insbesondere Methoden und Untersuchungsdesigns entwickelt, die es ermöglichen, zunächst querschnittlich angelegte Untersuchungen mit mehreren Erhebungszyklen (z. B. TIMSS, PISA, IGLU) auch längsschnittlich zu analysieren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass dieser Längsschnitt keine Aussagen auf der Mikroebene treffen kann, da auf dieser Ebene nur ein Erhebungszeitpunkt (Querschnitt) vorliegt. Auf der Mesoebene ist ein echter Längsschnitt möglich, sofern für die Schulen Daten zu mehreren Erhebungszeitpunkten vorliegen. Auf der Makroebene können längsschnittliche Aussagen getroffen werden, doch auch hier sind anspruchsvolle methodische Vorgehensweisen notwendig, deren Entwicklung zumindest teilweise noch zu leisten ist.
2 Kulturelle Einflüsse auf der Makroebene Zu Beginn dieses Kapitels wurde dargestellt, dass der sozio-kulturelle Einfluss auf Einstellungen und Überzeugungen zu Bildung im Allgemeinen und zu Strukturen des Bildungssystems im Speziellen Ansatzpunkte für die Forschung auf der bildungspsychologischen Makroebene sind. Kulturelle Einflüsse konnten bereits für diverse Einstellungen und Überzeugungen, Werte und Normen, Handlungsmuster und strukturelle Merkmale des Bildungssystems auf Mikro-, Meso- und Makroebene identifiziert werden. Solche kulturvergleichenden Ansätze weisen bereits eine lange Tradition auf, die Wurzeln der kulturvergleichenden Psychologie reichen zurück bis zu Montesquieu und Herder. Beide prägten mit ihrem Denken und ihren Überlegungen den Anfang einer systematischen kulturvergleichenden Forschung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Völkerpsychologie begründet, in deren Rahmen systematische, kulturvergleichende Forschungsprogramme entstanden. Am bedeutendsten sind dabei die Arbeiten von Lazarus und Steinthal sowie von Wundt. Aktuelle Arbeiten zur Bedeutung von Kultur für das Erleben und Handeln des Menschen greifen Ansätze aus den Ursprüngen der Völkerpsychologie wieder auf und bearbeiten sie systematisch in unterschiedlichsten psychologischen Inhaltsbereichen (zum Bildungsbereich vgl. etwa Oerter, 1994). Dabei wird Kultur sowohl als Voraussetzung als auch als Folge menschlichen Handelns aufgefasst (Eckensberger & Römhild, 2000). Gesellschaftliche und kulturelle Regelsysteme dienen als Bezugsrahmen für menschliches Handeln und werden zugleich durch menschliches Handeln erzeugt. In Abgrenzung gegenüber einem als „mechanistisch“ kritisierten Paradigma, das Kultur in messbare Faktoren zergliedert und in Ursache-Wirkungs-Gefüge einbaut, verteidigt die Kulturpsychologie im Sinne Eckensbergers die Perspektive des selbstreflexiv, intentional und historisch-sozial situiert handelnden Menschen. „Kultur und Psyche sind demnach weder logisch noch empirisch diskrete, separate Phänomene. (…) Sie konstituieren sich vielmehr wechselseitig“ (Straub & Thomas 2003, S. 52). Hierfür ist En-Kulturation – also
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Bildung – entscheidend. Dabei fungieren „Zusammenleben und Grundorientierung in einer Kultur gewissermaßen als basale Weltsicht (…), die gleichermaßen von der Kultur als Ganzem und vom Individuum geteilt wird“ (Oerter 1994, S. 160). Erkennbar sind solche „Weltsichten“ am ehesten im interkulturellen Vergleich. Nach Trommsdorff und Dasen (2001) unterliegen z. B. der Organisationsgrad des Bildungssystems, die Länge der Pflichtschulzeit, die Anzahl der Jahre für Primar- und Sekundarbereich sowie die Unterrichtsgestaltung kulturellen Einflüssen. Bedeutsam ist dabei insbesondere, welche Rolle dem Lernen in der persönlichen Entwicklung zugeschrieben wird und welche kulturellen Erwartungen bezüglich der zu erwerbenden Kompetenzen im Entwicklungsverlauf bestehen. Ein gut erforschtes, auch für Lehr-Lern-Prozesse relevantes Beispiel ist die Unterscheidung zwischen dem euro-amerikanischen und dem ostasiatischen Lernertyp. Euro-amerikanischer und ostasiatischer Lernertyp: Im euro-amerikanischen Kulturraum wird Lernen als Prozess aufgefasst, in dem Individuen Wissen erwerben, welches von außen (z. B. durch Lehrpersonen) bereitgestellt wird. Aspekte, die den Lernprozess erleichtern oder erschweren, werden insbesondere in den kognitiven Fähigkeiten des Lernenden und in motivationalen Ausprägungen (Neugier, Interesse) gesehen. Im ostasiatischen Kulturraum hingegen ist der Lernprozess direkt mit den persönlichen Beziehungen des Lernenden zu den Wissensbeständen verknüpft. Lernen geht nach diesem Verständnis über das Aneignen externen Wissens hinaus, vielmehr umfasst es soziale und moralische Dimensionen und erfüllt den Zeck der Selbstkultivierung und Selbstperfektion (Keller, 2007). Analog zeigten sich für die Ergebnisse von Lernprozessen kulturelle Unterschiede darin, ob die Leistungen von Einzelnen oder die Leistung von Gruppen fokussiert und gezielt gefördert werden (Schunk & Zimmerman, 2006).
Entsprechende kulturgeprägte Werte, Normen und Rollenerwartungen wirken sich auf die Strukturen des Bildungssystems (vgl. Abschnitt 3, Trommsdorff & Dasen, 2001) und auf die Einstellungen und Überzeugungen von Akteuren im Bildungssystem (Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrpersonen) aus. Für Schülerinnen und Schüler können Unterschiede in der Leistungsmotivation, den Attributionsmustern und in der Anwendung von Lernstrategien beobachtet werden (Hesse, 2007; Trommsdorff, 2007). Während ostasiatische Lernende Erfolge und Misserfolge im Wesentlichen auf ausreichende bzw. mangelnde Anstrengung zurückführen, attribuieren europäische Jugendliche eher auf (ausreichende bzw. unzureichende, in jedem Fall kaum veränderbare) Begabung. Die Folgen für die Lernmotivation sind offensichtlich. Eltern verschiedener Kulturkreise unterscheiden sich beispielsweise darin, wie stark sie sich für den Lernprozess und den Lernerfolg ihres Kindes verantwortlich fühlen und welchen Stellenwert sie spezifischen Bildungsaspekten zuschreiben (Trommsdorff, 2007). Lehrpersonen unterscheiden sich in ihren unterrichtsrelevanten Einstellungen und Überzeugungen sowie in ihren Unterrichtspraktiken (z. B. Lipowsky, Thußbas, Klieme, Reusser & Pauli, 2003; Lankes, 2004).
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Silke Hertel und Eckhard Klieme
Unterrichtsforschung: Wesentliche Anstöße bekam die vergleichende Unterrichtsforschung aus den Untersuchungen der International Association for the Evaluation of Student Achievement (IEA). Neben der IGLU/PIRLS-Studie gehören hierzu die TIMSS-Videostudien, die kulturspezifische Unterrichtsskripts offen legten (Stigler & Hiebert, 1999; vgl. auch Klieme & Bos, 2000), sowie die derzeit durchgeführte TEDS-M-Studie, die auch Lehrpersonenwissen und -überzeugungen systematisch, länder- und systemvergleichend untersucht (Blömeke, Kaiser & Lehmann, 2008). Parallel hierzu wird die internationale Lehrpersonenstudie TALIS der OECD durchgeführt. Im Fokus stehen dabei Fragen wie „Welche Inhalte werden im Curriculum vorgesehen?“; „Welchen Stellenwert hat Bildung in der Gesellschaft?“ und „Welche Rolle haben Lehrpersonen?“.
Lankes (2004) beispielsweise vergleicht auf der Grundlage der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU/PIRLS die Unterrichtspraktiken von Grundschullehrerinnen und -lehrern in Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Schottland und Schweden (vgl. Abbildung 1). Dabei zeigen sich Unterschiede in den Unterrichtspraktiken der Lehrpersonen, die zumindest teilweise auf kulturelle Einflüsse und Aspekte des Bildungssystems (Strukturierung, Lehrpläne, Lehrpersonenausbildung) zurückgeführt werden können. Sie unterscheidet bei ihren Analysen zum Leseunterricht in der Grundschule vier Unterrichtsmuster (Lehrpersonentypen): Lehrpersonengelenkter Klassenunterricht (Typ 1); Lehrpersonengelenkter, individualisierender Gruppenunterricht (Typ 2); Lehrpersonen, die nicht täglich Leseunterricht erteilen (Typ 3); wenig gelenkter und hoch individualisierender Unterricht (Typ 4).
Abbildung 1: Unterrichtspraktiken von Grundschullehrpersonen im internationalen Vergleich (Lankes, 2004, S. 561)
Die Befunde zeigen zunächst, dass Unterrichtspraktiken (wenn auch unterschiedlich stark) innerhalb der Staaten variieren: In Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Schweden unterscheiden sich die Unterrichtspraktiken der Lehrerinnen und Lehrer
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im Leseunterricht. In Griechenland, Italien, England und Schottland sind die Unterrichtspraktiken nahezu homogen, es dominiert jeweils ein Lehrertyp. Vergleiche der Unterrichtspraktiken zwischen den Staaten zeigen Unterschiede in der Verteilung der vier Lehrertypen; beispielsweise wird in Griechenland und Italien überwiegend lehrpersonengelenkter Klassenunterricht (Typ 1) praktiziert, in England und Schottland hingegen dominiert der lehrpersonengelenkte, individualisierte Gruppenunterricht (Typ 2). Erklärungsansätze für entsprechende Unterschiede in den Unterrichtspraktiken von Lehrpersonen lassen sich vor dem Hintergrund kulturspezifischer Werte, Normen und Überzeugungen entwickeln. In der Literatur zu Unterrichtspraktiken und Lehrpersonenhandeln wird auf die große Bedeutung der lehr- und lernbezogenen Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern hingewiesen (Pajares, 1992; Hoy, Davis & Pape, 2006; Bromme, 1997; Baumert & Kunter 2006; Lipowsky, 2006). Entsprechende Überzeugungen beziehen sich z. B. auf die epistemologischen Grundlagen des Faches, auf die Lehrpersonenrolle und die Gestaltung von Lernprozessen oder auch auf Begabung und Motivation der Schülerinnen und Schüler (Hall, 2005; Özgün-Koca & Sen, 2006). Sie münden in Überzeugungen bezüglich der Wirksamkeit von Unterrichtsmethoden und führen damit auch zu Entscheidungen für den Unterrichtsalltag (Pajares, 1992; Deemer, 2004). Den Überzeugungen der Lehrperson wird demnach eine handlungsleitende Funktion zugeschrieben, die sich im praktizierten Unterricht manifestiert. So fanden Leuchter, Pauli, Reusser und Lipowsky (2006) bei den Auswertungen einer deutsch-schweizerischen Videostudie zum Mathematikunterricht (Klieme & Reusser, 2003) bei Lehrpersonen beider Länder unter Kontrolle von Selbstwirksamkeit und belastenden Rahmenbedingungen substantielle Korrelationen zwischen handlungsleitenden Kognitionen von Lehrpersonen und in videografierten Unterrichtssequenzen beobachteten Unterrichtsmerkmalen. Bildungspsychologisch betrachtet sind entsprechende Überzeugungen der Lehrperson zunächst auf der Mikroebene (individuelle Betrachtung einer Lehrperson) bzw. auf der Mesoebene (Unterrichtsgestaltung) einzuordnen. Eine Betrachtung auf der Makroebene ermöglicht allerdings die Analyse kultureller Einflüsse auf die Entwicklung von Überzeugungen zu Lehr- und Lernprozessen. So weisen Hoy et al. (2006) darauf hin, dass Lehrpersonenüberzeugungen nicht unabhängig von kulturellen Normen und Werten über Kindheit, Adoleszenz sowie von bildungspolitischen Kontexten (Standardsetzung, Rechenschaftsverpflichtung) und den Unterrichtsgegebenheiten (z. B. Zusammensetzung der Schülerschaft) gesehen werden können. Nach Richardson (1996) werden entsprechende Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern durch persönliche Erfahrungen (Biografie, Lebenserfahrung), die Lehrpersonenausbildung (Erfahrungen während der eigenen Schulzeit, Lehrpersonenaus- und -weiterbildungsprogramme) sowie das formale Wissen (fachliches Wissen und pädagogisches Wissen) beeinflusst. Kulturelle Einflüsse liegen hier sicherlich im Bereich der persönlichen Erfahrungen, da Entwicklung immer in einem kulturellen Rahmen erfolgt (Trommsdorff, 2007). Aber auch im Bereich der eigenen Schulzeit, die in einem kulturell geprägten Schulsystem absolviert wurde sowie bei der Ausbildung zur Lehrperson sind Einflüsse der Kultur (z. B. kulturspezifische Wissensaspekte, Rollenmodelle, Schulsystem) anzunehmen. So ist z. B. in Deutschland die Lehrpersonenausbildung an das gegliederte Schulsystem angepasst; Lehrpersonen werden schulformspezifisch ausgebildet (Kunter et al., 2005).
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Silke Hertel und Eckhard Klieme
Internationale Untersuchungen bieten einen Rahmen für den Vergleich von Überzeugungen und Unterrichtspraktiken von Lehrerinnen und Lehrern zwischen den teilnehmenden Ländern und ermöglichen zudem, einen Bezug zu Schülerleistungen herzustellen.
3 Die Struktur von Bildungssystemen als Analysefokus der Makroebene Die Beschreibung und Analyse der Struktur des Bildungssystems ist eine zentrale Aufgabe der bildungspsychologischen Makroebene. In der Struktur des Bildungssystems spiegeln sich kulturelle Einflüsse wieder, deshalb kann auch sie nur vor dem Hintergrund kultureller Besonderheiten und Merkmale interpretiert werden. Zur Beschreibung des Bildungssystems lassen sich unterschiedlichste Merkmale heranziehen wie z. B. die Gestaltung von Übergängen im Bildungssystem, die Untergliederung des Bildungssystems, der Umfang der Pflichtschulzeit, die politische Entscheidungsstruktur (föderalistische versus zentralistische Bildungssysteme), finanzielle Ressourcen und nicht zuletzt die Verknüpfung von schulischem und außerschulischem Lernen. Unterschiede zwischen diesen strukturellen Merkmalen lassen sich als unabhängige Variablen in Erklärungsmodelle bei ländervergleichenden Untersuchungen von Lernstilen von Schülerinnen und Schülern oder Überzeugungen und Unterrichtspraktiken von Lehrpersonen einführen. Im Rahmen von ländervergleichend angelegten Studien – wie z. B. PISA – werden entsprechende Merkmale mit einem eigens entwickelten Instrument erfasst (system level indicators). Strukturelle Unterschiede zwischen Ländern können auf drei Ebenen von Bildungsprozessen lokalisiert werden: auf der Ebene von (1) formalen Bildungsangeboten, (2) nonformalen Bildungsangeboten und (3) informellen Bildungsangeboten. Formale, non-formale und informelle Bildungsangebote: • Formale Bildungsprozesse umfassen das auf bestimmte Abschlüsse ausgerichtete Lernen in den Bildungsgängen formaler Institutionen des Bildungssystems (Schule, Hochschule, Aus- und Weiterbildungsinstitute u. a. m.). • Non-formale Bildungsprozesse beschreiben den freiwilligen Besuch von organisierten Bildungsangeboten, die von Institutionen angeboten werden (z. B. Jugendhilfe, Vereine). • Informelle Bildungsprozesse umfassen das Lernen im Alltag, z. B. in der Familie bzw. im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz.
Zunächst kann analysiert werden, welche Angebote die Strukturen des Bildungssystems auf diesen drei Ebenen vorsehen und von welchen Institutionen die entsprechenden Angebote unterbreitet werden. Eine weitere Unterscheidung ergibt sich durch die Verknüpfung der Lernumgebungen. Der Betrachtungsfokus liegt dann darauf, ob die Angebote in einer festen Reihenfolge aufeinander folgen (diachrone Lernumgebung) oder ob sie gleichzeitig wahrgenommen werden können (synchrone Lernumgebung).
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Diachrone und synchrone Lernumgebungen: • Diachrone Verknüpfungen sind gegeben, wenn Bildungssysteme sequenziell aufgebaut sind und Bildungsstufen aufeinander folgen. Das erfolgreiche Absolvieren der Bildungsprozesse vorangegangener Lernumgebungen ist eine Voraussetzung für den Eintritt in die folgende Lernumgebung. • Synchrone Lernumgebungen liegen vor, wenn Bildungsprozesse gleichzeitig in formalen, non-formalen und/oder informellen Lernumgebungen erfolgen. Lernen findet dann z. B. zeitlich parallel in der Schule und in Jugendinstitutionen (Jugendhilfe) bzw. in einem informellen Rahmen (Familie, Freundeskreis) statt.
Diachrone Übergänge finden an Schnittstellen im Bildungswesen wie z. B. dem Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule und beim Ausscheiden aus dem formalen Bildungswesen mit dem Eintritt ins Erwerbsleben statt. Die Zeitpunkte der Übergänge und die Untergliederung der Bildungsstufen (Aufteilung in Schularten, Bildungsinstitutionen) werden durch die Struktur des Bildungssystems festgelegt. Die Gliederung des Sekundarschulbereichs in unterschiedliche Schularten ist ein zentrales Strukturmerkmal nahezu aller Schulsysteme; relativ früh im Bildungsverlauf findet eine entsprechende Untergliederung z. B. in Belgien, Deutschland, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich statt (z. B. Neumann et al., 2007). Nach Kunter et al. (2005) kann diese Strukturierung des Sekundarschulbereichs auch als historisch gewachsene Differenzierung zwischen niederem und höherem Schulwesen verstanden werden. Dabei kommen kulturelle und gesellschaftliche Besonderheiten sowie politische Aspekte im jeweiligen Land zum Tragen. In den Übergängen reproduzieren sich soziale Ungleichheiten. Dabei handelt es sich um Einflüsse auf Makroebene, die sich über die Regeln und Prozesse der Institution (Aufnahmestrategie) und die Entscheidung der Individuen (z. B. Schülerinnen und Schüler, Eltern) realisieren. Die Schularten unterscheiden sich in den institutionellen Bedingungen, wie dem Stundenplan, dem Curriculum bzw. den Unterrichtskulturen und den pädagogischen Ansätzen (Neumann et al., 2007). Aber nicht nur die Lehrpläne und Lernziele, sondern auch die Schulkultur, die Zusammensetzung der Schülerschaft (z. B. kognitive Grundfähigkeiten, Anteil unterschiedlicher sozialer Schichten, Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund), die Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern, die Zusammenarbeit im Kollegium und die Unterrichtsgestaltung hängen von der Schulart ab, die Jürgen Baumert daher als „differenzielle Entwicklungsmilieus“ bezeichnet hat (siehe auch Bonsen und Bos in diesem Band). Leistungsunterschiede zwischen Schulen des Sekundarbereichs beruhen in solchen Systemen teils auf den Auswahlprozessen, teils auf Merkmalen der Schulen. Trennt man nicht zwischen diesen beiden Effekten, wird möglicherweise der Einfluss von Schulmerkmalen überschätzt. Eine gemeinsame Analyse von gegliederten und integrierten Bildungssystemen bedarf daher besonderer Vorsicht, Ergebnisse internationaler Vergleiche sind für Länder mit gegliederten Schulsystemen schwer zu interpretieren. Aktuelle Erhebungen zeigen, dass die Anzahl der Übergänge im Rahmen der Bildungsbiografie zunimmt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008); die klassische Unterteilung von Bildungsbiografien in die drei Abschnitte Schuleintritt, berufliche Bildung, Eintritt ins Erwerbsleben erscheint nicht mehr zeitgemäß. Entsprechende Übergänge
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stellen Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, aber auch Hochschulabsolventinnen bzw. -absolventen sowie Menschen im Erwerbsleben oft vor „Richtungsentscheidungen“, da sie maßgeblichen Einfluss auf die Bildungsbiografie nehmen (Maaz, Hausen, McElvany & Baumert, 2006). Somit durchläuft jedes Individuum eine „chronologische Bildungskarriere, die weder mit der Schule beginnt noch mit ihr endet“ (Spiel & Reimann, 2005, S. 292). Für die Forschung eröffnet sich durch die Darstellung der Übergänge eine Möglichkeit, Bildung im Lebenslauf datengestützt zu erfassen und zu beschreiben (vgl. etwa Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008). Die Erforschung von sozialen Disparitäten bei solchen Übergängen ist ein Kernthema der Bildungssoziologie (Becker, 2007). Aus psychologischer Sicht ist hingegen bislang wenig über die hiermit verbundenen Entscheidungsprozesse bekannt. Synchronen Verknüpfungen von Lernumgebungen werden positive Effekte zugeschrieben: Es wird angenommen, dass Lernprozesse durch eine Verknüpfung von Lerninhalten aus verschiedenen Lernsituationen unterstützt werden. Allerdings ist eine Abstimmung und Verknüpfung von formalen, non-formalen und informellen Bildungsprozessen wichtig, um die positiven Effekte synchroner Lernumgebungen zu nutzen und Schwierigkeiten durch ungenügenden Bezug zu vermeiden (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2004; Hesse, 2007). Sehr gut etabliert war in der Vergangenheit die Verknüpfung von Lernumgebungen im Rahmen des deutschen Berufsausbildungssystems. Die duale Ausrichtung (Lehre) setzt bei der Ausbildung gezielt auf die Verknüpfung der Lernumgebungen Schule und Betrieb. Die Lerninhalte werden aufeinander abgestimmt, um die positiven Effekte synchroner Lernumgebungen für den Übergang in den Arbeitsmarkt zu nutzen. Das duale System kann in Deutschland den starken Anstieg von Schulabgängerzahlen jedoch nicht auffangen und Jugendliche mit schwachen Schulleistungen nicht mehr integrieren, sodass – wie in den meisten anderen Ländern – auch die Berufsausbildung neuerdings mehrheitlich schulisch organisiert ist (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2008). Ein aktuelles Beispiel für die Verknüpfung formaler, non-formaler und informeller Lernumgebungen aus dem Bereich der schulischen Bildung ist die Ganztagsschule. Hier werden nachmittags gezielt ergänzende Lernangebote bzw. Lernumgebungen unterbreitet, um synchrone Bildungsprozesse zu fördern – jedenfalls vom Konzept her. In Deutschland konnte in den letzten Jahren ein Ansteigen von Schulen mit Ganztagsangebot beobachtet werden (siehe Hertel, Klieme, Radisch & Steinert, 2008). Allerdings legen empirische Befunde nahe, dass die Elemente in der Praxis kaum verbunden sind, nicht systematisch genug genutzt werden und somit nur begrenzte Effekte erzeugen können (Holtappels, Klieme, Rauschenbach & Stecher, 2007). D. h die Lernumgebungen sind nicht immer systematisch aufeinander abgestimmt. In diesem Bereich besteht demnach Handlungsbedarf.
4 Methodische Herausforderungen makroebenenanalytischer Betrachtungen Wie bereits in Abschnitt 1 ausgeführt werden unabhängige und abhängige Variablen auf der Makroebene häufig durch das Zusammenfassen (Aggregieren) von Merkmalen auf der Mikro- oder Mesoebene gebildet. Dazu werden z. B. Individual-Leistungsdaten von
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Schülerinnen und Schülern auf Schul- und Landesebene zusammengefasst. Allerdings kann sich die Bedeutung von Individualdaten je nach Analyseebene (Mikro, Meso, Makro) unterscheiden. Ein Beispiel dafür findet sich in der Studie von Boe, May, Barkanic und Boruch (2001). In einer umfangreichen Reanalyse von TIMSS-Mittelstufendaten haben Boe et al. (2001) nicht weniger als 170 potenzielle Erklärungsmerkmale für internationale Unterschiede geprüft. Interessant waren die drei letztlich verbliebenen Variablen, die – aggregiert auf nationaler Ebene – die mathematische Leistungsvarianz zwischen den 41 TIMSS-Nationen zu 84 % aufklären konnten, auch unter statistisch korrekter Verwendung von MehrEbenen-Modellen. Es handelte sich dabei nicht um schul- und unterrichtsbezogene Merkmale in engerem Sinne, sondern um das Ausmaß der Zustimmung von Schülerinnen und Schülern zu den folgenden Aussagen: a) „Ich bin gut in Mathematik.“ (Korrelation mit der Leistung bei Aggregation auf Ebene der Staaten: r = –.60). b) „Meine Mutter meint, es sei wichtig, gut in Sport zu sein.“ (r = –.76 auf Ebene der Staaten). c) „Um in Mathe gut zu sein, braucht man Glück.“ (r = –.72 auf Ebene der Staaten). Wenn man annimmt, dass Lernerfolg in Mathematik davon abhängt, konkurrierende Ziele (z. B. im Sport) hinten anzustellen und die Verantwortung für das eigene Ergebnis zu übernehmen, erscheint es durchaus sinnvoll, dass Schülerinnen und Schüler, die Aussage b) bzw. Aussage c) zustimmen, schlechtere Leistungen in Mathematik aufweisen. Der negative Zusammenhang zwischen der Aussage b) und der Aussage c) und der Mathematikleistung zeigt sich auf Individualebene (einzelne Schülerin, einzelner Schüler) und auf Länderebene (aggregiert). Anders hingegen verhält es sich für Aussage a): Hier zeigt sich ein positiver Zusammenhang auf Individualebene innerhalb eines Landes. Schülerinnen und Schüler, die der Aussage a) zustimmen, weisen demnach auch eine höhere Mathematikleistung auf. Bei einem Vergleich der Länder zeigt sich allerdings Folgendes: Je besser sich die Schülerinnen und Schüler eines Landes insgesamt einschätzen, desto schlechter sind in Wirklichkeit ihre mittleren Leistungen. Boe et al. (2001) führen diesen Effekt auf das kulturell geprägte Anspruchsniveau der Schülerinnen und Schüler zurück: In Nationen mit hohem Anspruchsniveau sind die Leistungen besser und zugleich die Selbstbeurteilungen kritischer – wie auch immer der kausale Zusammenhang aussehen mag. Die Ergebnisse von Boe et al. (2001) illustrieren, dass die Bedeutung von Fragebogenskalen je nach Analyseebene wechseln kann. Betrachtet man eine einzelne Schülerin bzw. einen einzelnen Schüler im Vergleich zu ihren bzw. seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, so ist Aussage (a) eine prinzipiell valide Selbstauskunft. Aggregiert für ein ganzes Land wird dieselbe Aussage offenbar zu einem Indikator für gesellschaftliche Werte. Letztlich beschreiben alle drei Aussagen, wenn man sie auf nationaler Ebene aggregiert, den Stellenwert akademischer Anstrengung und Leistung am Beispiel der Mathematik. Möglicherweise ist es damit gelungen, kulturelle Rahmenbedingungen zu identifizieren, die das Leistungsniveau eines Landes mit prägen. Methodisch ist das Vorgehen von Boe et al. (2001) durchaus problematisch, vor allem weil einzelne Items aus Skalen herausgelöst und isoliert interpretiert werden. Wie man kulturelle Einflüsse
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auch mit angemessenem Messmodell quantifizieren kann, wird im folgenden Abschnitt am Beispiel von differenziellen Itemfunktionen (DIF) illustriert. Differenzielle Itemfunktionen (DIF): Bei der Analyse von differenziellen Itemfunktionen wird die Schwierigkeit einer Testaufgabe, wie sie etwa mittels der probabilistischen Testtheorie ermittelt wird (z. B. im Rasch-Modell), in drei Komponenten zerlegt: (1) einen für die betreffende Aufgabe spezifischen Wert, der die relative Leichtigkeit bzw. Schwierigkeit der Aufgabe im Vergleich zu anderen Aufgaben desselben Tests beschreibt, (2) eine landesspezifische Komponente, die – für alle Aufgaben gleich – ausdrückt, inwieweit Items dieses Tests in einem untersuchten Land für die Schülerinnen und Schüler generell leichter oder schwerer sind als in den Vergleichsländern, sowie (3) einen Effekt der Interaktion zwischen Land und Aufgabe, der widerspiegelt, ob Testteilnehmerinnen und -teilnehmer aus einem bestimmten Land bei einer gegebenen Aufgabe überproportional gut oder schlecht abgeschnitten haben. Die zuletzt genannte Komponente ist der sogenannte DIF-Parameter. Im Rahmen der TIMSS-Studie (Klieme & Baumert, 2001) und auch in der PISA-Studie (Klieme, Neubrand & Lüdtke, 2001) wurde ermittelt, ob die Aufgaben mit hohem DIF-Parameter, die also von den Schülerinnen und Schülern eines Landes – im Vergleich zu ihrem Gesamtleistungsniveau – überproportional häufig bzw. selten gelöst werden, sich durch bestimmte Anforderungsmerkmale auszeichnen. Solche Anforderungsmerkmale stellen dann offenbar Stärken bzw. Schwächen des Landes dar.
Die Analyse von differenziellen Itemfunktionen ermöglicht, die Leistungsprofile der Länder intensiver zu untersuchen und Merkmale zu identifizieren, die solche Profile verursachen. Diese können z. B. die Abdeckung der Inhalte durch das Fachcurriculum oder curriculare Schwerpunkte (Burstein, 1989) sein. So hat sich beispielsweise in den Studien der IEA die „Opportunity to learn“ als ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Leistungsprofilen erwiesen. Aber auch Einflüsse der Unterrichtskultur, d. h. der in einer Kultur verbreiteten Formen des Lehrens und Lernens, können zu spezifischen nationalen Stärken und Schwächen führen. Üblicherweise werden hohe DIF-Parameter als Problem behandelt, weil sie anzeigen, dass Items in unterschiedlichen Ländern Unterschiedliches messen. Items mit hohem DIF für eines der beteiligten Länder werden deshalb zumeist im Vorfeld der Testkonstruktion aus dem Test herausgenommen, da dieser sonst nicht modellkonform nach Rasch und vor allem nicht fair gegenüber den beteiligten Ländern wäre. Aber auch die endgültig eingesetzten Aufgaben können in einem gewissen Rahmen differenziell funktionieren.
5 Fazit und Ausblick Der Blick auf die Makroebene erweitert den Horizont der Bildungspsychologie auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, kulturelle Normen und Werte, staatlich geregelte Strukturen sowie diachron und synchron vernetzte Teilsysteme, die sich auf Institutionen, Lehrende und Lernende auswirken – sei es in Form expliziter „Steuerung“, sei
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es in Form impliziter Erwartungen und geteilter Überzeugungen. Auch im engeren Sinne psychische Faktoren wie Überzeugungen und Handlungsmuster, Lernstile und Attributionstendenzen, schließlich auch Leistungsprofile sind durch Kultur und System des Bildungswesens (in deutschsprachigen Ländern u. a. die Schularten als „differenzielle Entwicklungsmilieus“) mit geformt. Professionelles Handeln im Bildungswesen setzt voraus, die Grenzen zu reflektieren, die dadurch faktisch vorgegeben sind. Für die Forschung stellt sich die Aufgabe, die Ebenen des Bildungsgeschehens analytisch klar zu trennen und ihre Verknüpfung explizit zu untersuchen. Dies erfordert sophistizierte Methoden wie z. B. Mehr-Ebenen-Modelle und differenzielle Itemanalyse. Werden die Analyseebenen vermischt, sind Artefakte und Fehlinterpretationen häufig zu beobachten. Lehrreich ist eine zwischen Rindermann (2006) und Bildungsforschern (z. B. Baumert, Brunner, Lüdtke & Trautwein, 2007) geführte Diskussion über die Dimensionalität von kognitiven Leistungen bei Schulleistungsvergleichen. Rindermann verbindet die hohe Korrelation von mittlerer Intelligenz und PISA-Ergebnissen auf aggregierter Ebene (Länder) mit der Behauptung, beide Arten von Tests hätten im Kern gleiche kognitive Anforderungen. Seine Kritiker interpretieren dies als Beispiel für einen ökologischen Fehlschluss, d. h. als fehlerhafte Interpretation von Befunden der Makroebene auf der Individualebene. Nur die explizite Verknüpfung beider Ebenen in den Datenanalysen, bei getrenntem Nachweis der Zusammenhänge zwischen und innerhalb der Systeme, schützt hier vor Fehlschlüssen. Die weitgehend offene Forschungsfrage besteht darin, zu verstehen, wie sich Faktoren der Makroebene – vermittelt über Handlungen, Affekte und Kognitionen von Lehrenden und Lernenden – in Bildungsergebnissen niederschlagen. Typologien wie z. B. die Unterscheidung zwischen euro-amerikanischem und asiatischem Lernertyp beantworten diese Frage noch nicht. Die Ausführungen verdeutlichen, dass im Rahmen bildungspsychologischer Fragestellungen sowohl qualitative kulturvergleichende als auch quantitative bildungssystemvergleichende Ansätze vorliegen bzw. diese Ansätze kombiniert werden können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden ist es erforderlich, dass sich die Bildungspsychologie, insbesondere bezogen auf Fragestellungen der Makroebene, mit weiteren psychologischen Disziplinen (Pädagogische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Instruktionspsychologie, Kulturpsychologie) sowie mit den Erziehungswissenschaften vernetzt (Bos, 2005; Mandl, 2005; Silbereisen, 2005) und ihre Erkenntnisse auf methodischen Ansätzen aufbaut, die eine verknüpfte Betrachtung der Analyseebenen ermöglichen.
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Andreas Krapp und Ralph Reimann
Höheres Erwachsenenalter Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en
1 Einleitung
Primärbereich
Vorschulbereich Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Evaluation eines Programms zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro a M
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Eine der zentralen Aufgaben von Hochschulen ist die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, für den eine der wichtigsten Etappen auf dem akademischen Karriereweg die Phase Aufgabenbereiche nach der Promotion ist. Klassischerweise absolvieren Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in den deutschsprachigen Ländern hier eine Assistenzzeit sowie eine Habilitation, welche die Qualifikation für die Übernahme von Professuren bescheinigt. Im internationalen Vergleich ist dieses System immer wieder kritisiert worden: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seien zum Zeitpunkt der Habilitation zu alt und zu unselbstständig (Buch, 2005). Um dieses System aufzubrechen wurden verschiedene Programme entwickelt, z. B. die sogenannte Juniorprofessur. Über solche Programme sollen sich Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einfacher, schneller, mit weniger Abhängigkeit und ohne Habilitationsprozedere für Professuren qualifizieren. Über die Evaluation eines prominenten derartigen Förderprogramms, des Emmy Noether-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wird im Folgenden berichtet. Es handelt sich damit um eine Evaluation auf der Makroebene bezogen auf das mittlere Erwachsenenalter. Zunächst jedoch informiert der nachfolgende Abschnitt über die DFG.
2 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist die zentrale Selbstverwaltungseinrichtung der Wissenschaft zur Förderung der Forschung an Hochschulen und öffentlich finanzierten Forschungsinstitutionen in Deutschland (www.dfg.de). Sie wird häufig als eine staatliche Behörde wahrgenommen, doch handelt es sich um einen privatrechtlichen Verein, mit einer Vereinssatzung, einem Vorstand und einer Verwaltung. Mitglieder des Vereins sind neben den deutschen Universitäten außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Institute oder die Akademien der Wissenschaften. In der Satzung werden die zentralen Aufgaben der DFG folgendermaßen beschrieben: „Die DFG dient der Wissenschaft in allen ihren Zweigen durch die finanzielle Untersetzung von Forschungsaufgaben und durch die Förderung der Zusammenarbeit unter den Forschern. Der Förderung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses gilt die
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besondere Aufmerksamkeit“. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügt die DFG über eine breite Palette von Förderprogrammen: • Förderung einzelner Forschungsprojekte. Diese Förderung dient der Durchführung eines thematisch begrenzten Forschungsvorhabens durch die Bereitstellung von Personal-, Sach- und Reisemittel. Es erstreckt sich in der Regel auf einen Zeitraum von 2 bis 3 Jahren. • Förderung von Forschungskooperationen. Wissenschaftliche Fragestellungen sind oft so komplex, dass sie mit einem einzigen Forschungsprojekt nicht in angemessener Weise untersucht werden können. Eine Reihe von Förderungsmaßnahmen dient explizit dem Ziel den wissenschaftlichen Austausch zwischen Forschungsgruppen zu erleichtern. • Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Eine Reihe von Förderungsmaßnahmen dient der Qualifizierung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern: Neben Forschungsstipendien zählt hierzu z. B. das Emmy Noether-Programm. • Unterstützung wissenschaftlicher Kontakte. Um die Methoden und Ergebnisse der eigenen Forschung bekannt machen und mit (internationalen) Expertinnen und Experten diskutieren zu können, müssen Forscherinnen und Forscher wissenschaftliche Tagungen und Kongresse besuchen, Vorträge halten oder sich an fachlichen Diskussionsrunden beteiligen. Auch dafür stellt die DFG Zuschüsse bereit, z. B. für Kongress-, Vortrags- und Informationsreisen oder für eine zeitlich befristete Gastprofessur.
3
Das Emmy Noether-Programm
3.1 Ziel des Programms Ziel des Programms ist es junge Forscherinnen und Forscher für eine Professur zu qualifizieren. Erreicht werden soll dies mit frühem eigenständigen Forschen gekoppelt mit der Leitung eines Teams. Nach erfolgreicher Beantragung bekommen Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer für fünf Jahre ein eigenes Budget zur Verfügung gestellt, um autonom mit einer eigenen Forschungsgruppe an einem frei gewählten Thema arbeiten zu können. Zielgruppe des Programms sind fachlich exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler bis zu vier Jahre (bzw. sechs Jahre in der Medizin) nach der Promotion. Sie müssen ihre wissenschaftliche Ausbildung „zügig abgeschlossen“ und „mindestens zwei Jahre Postdoc-Erfahrung“ (d. h. die Promotion liegt zwei Jahre zurück) haben sowie „substantielle internationale Forschungserfahrung“ aufweisen (siehe z. B. Böhmer, Hornbostel & Meuser, 2008). Darüber hinaus müssen sie im Förderungszeitraum eine „herausragende Forschungsidee“ verfolgen wollen. 3.2 Evaluation des Programms Die DFG beauftragte das Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (iFQ; Bonn, Deutschland) mit der Evaluation des Emmy Noether-Programms, die von Böhmer et al. (2008) durchgeführt wurde. Die Evaluation untersuchte u. a. folgende
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Evaluation eines Programms zur Förderung des wissenschaftl. Nachwuchses 435 zentrale Fragen: Qualifiziert die geförderte Forschungsgruppenleitung tatsächlich zur Übernahme einer Professur? Ist die Berufungswahrscheinlichkeit (auf Professuren) bei den Geförderten substanziell erhöht? Die Evaluatorinnen und Evaluatoren betonen, dass sich Aussagen zur Wirkung eines Förderprogramms grundsätzlich nur in einem komparatistischen Design treffen lassen (Böhmer et al., 2008). Ein zentrales Merkmal dieses Designs war die Gegenüberstellung von geförderten und abgelehnten Antragstellenden. Darüber hinaus war das Design triangulativ ausgerichtet (Triangulation = Einnahme unterschiedlicher Perspektiven), bei dem unterschiedliche Methoden der Datensammlung verschiedenartige Informationen lieferten (Böhmer et al., 2008): • Onlinebefragung von bewilligten und abgelehnten Antragstellenden, • Problemzentrierte Interviews mit einer Subgruppe der bewilligten Antragstellenden, • Bibliometrische Analysen der Publikationsleistungen aller Befragten, • Dokumentenanalysen der Gutachten, • Internetrecherchen. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der umfangreichen Evaluation von Böhmer et al. (2008) beschrieben. Anhand der Dokumentenanalyse wurde die Frage untersucht, welche Merkmale in den Antragsbegutachtungen, aufgrund derer dann über Bewilligung oder Ablehnung entschieden wird, die wichtigste Rolle spielen? Böhmer et al. (2008) konnten in den Gutachten drei relevante Entscheidungsfaktoren identifizieren: • die Exzellenz der Antragstellenden (Publikationsleistung; eigenständiges Forschungsprofil, d. h. Emanzipation vom Profil der Mentorin bzw. des Mentors; Projekt- und Personalleitungserfahrungen), • die Qualität des beantragten Projektes (Innovationskraft und Risikopotenzial des Projektes; Relevanz der zu erwartenden Ergebnisse für das Fach; gewählte Arbeitsmethoden; Umsetzbarkeit des Arbeitsplanes; Wahl des Standortes für die Projektdurchführung), • formale Merkmale des Antrags (Konzeption von Arbeits- und Zeitplänen). Insgesamt zeigte diese Dokumentenanalyse, dass die „past performance“ der Antragstellenden zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das einzige Kriterium ist. Ebenso großes Gewicht hat das konkrete Forschungsvorhaben mit all seinen Urteilsfacetten (Böhmer et al., 2008). Die Nachwuchsgruppenleitung soll nicht allein ein intensives Forschen ermöglichen, sondern durch die Leitung eines Forschungsteams auch Zusatzkompetenzen ausbauen und schulen, die zur Übernahme einer Professur nötig sind. Um beurteilen zu können, inwieweit dies gelingt, wurden die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, deren Förderung beendet ist, um eine Bewertung gebeten, ob die Forschungsgruppenleitung sie tatsächlich auf die Anforderungen einer Professur vorbereitet hat. Diese Bewertung erfolgte anhand von 13 Items, die hochschulrelevante Fähigkeiten thematisierten. Für jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Förderung beendet ist und für welche man unterstellen kann, dass sie im Begriff sind, eine Professur (oder ähnliche Führungspositionen in der Wissenschaft) zu übernehmen (oder bereits über-
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Abbildung 1: „Wie gut fühlen Sie sich durch die Nachwuchsgruppenleitung in den genannten Bereichen auf die Anforderungen einer Professur vorbereitet?“ – befragt wurden Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer, deren Förderung bereits seit einiger Zeit beendet ist (aus Böhmer et al., 2008, S. 85).
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Evaluation eines Programms zur Förderung des wissenschaftl. Nachwuchses 437 nommen haben), zeichnen sich vier Bereiche ab, in denen sich die Befragten nur mittelmäßig vorbereitet fühlen: Zeitmanagement, wissenschaftliche Beratung, Konfliktmanagement und forschungsbezogene Öffentlichkeitsarbeit (siehe Abbildung 1). In mehr als der Hälfte der abgefragten Bereiche jedoch sehen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als gut bis sehr gut für die Anforderungen einer Professur gerüstet – insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Instrument der Forschungsgruppenleitung scheint damit gut auf eine weitere wissenschaftliche Karriere vorzubereiten. Den Karriereverlauf nach der Programmteilnahme untersuchten Böhmer et al. (2008) anhand der Berufungshäufigkeit und der Zufriedenheit mit der beruflichen Situation. Bei den Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer war ein erfolgreicherer Karriereweg erkennbar als bei den abgelehnten Antragstellenden: Fast die Hälfte der Bewilligten hatte eine unbefristete Professur an einer Hochschule übernommen, bei den Abgelehnten waren es weniger als 10 % (siehe Abbildung 2). % 60 50
48,1
40 30 20 10
9,8
12,7 14,6
Abgelehnte Bewilligte
0 Vollzeit-unbefr. an Hochschule
Sonstige
Bekleidung Professur
Abbildung 2: Berufungshäufigkeit Bewilligter (n = 79) und Abgelehnter (n = 82) („Sonstige“: z. B. Juniorprof.; der Rest auf 100 % verteilt sich auf hier nicht aufgeführte Kategorien) (aus Böhmer et al., 2008, S. 95, adaptiert).
Das Emmy Noether-Programm ist somit als sehr erfolgreich, da karriereförderlich, zu bewerten. Ob aber nun das Programm effektiv die Qualifikationen der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler steigert oder ob das Etikett „Emmy Noether-Bewilligung“ einen Einfluss auf Berufungsentscheidungen hat, ist kaum zu eruieren. Es erscheint jedoch nicht unplausibel, dass die erfolgreiche Programmteilnahme in Berufungsverfahren als Qualitätshinweis wirksam wird (Böhmer et al., 2008). Die unterschiedlichen Karriereerfolge der beiden Gruppen (siehe oben) zeigen sich ebenfalls in Zufriedenheitswerten: Mit verschiedenen Aspekten der beruflichen Situation sind die ehemals Geförderten deutlich zufriedener als die Abgelehnten (siehe Abbildung 3). Interessanterweise äußern beide Gruppen die geringste Zufriedenheit hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie/Partnerschaft. Die speziellen wissenschaftlichen Leistungsanforderungen scheinen eine zufrieden stellende Parallelität von Privat- und akademischem Berufsleben zu erschweren (Böhmer, 2007; Böhmer et al., 2008).
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Andreas Krapp und Ralph Reimann
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Vereinbarkeit von Familie und Beruf Zeitliche Beanspruchung Arbeitsaufgaben/-inhalte ** Entwicklungsperspektiven ** Einkommen ** Position ** Insgesamt 1 2 sehr unzufrieden
3
4
5
Zufriedenheit mit der aktuellen beruflichen Situation * signifikant auf 95 %-Niveau ** signifikant auf 99 %-Niveau
Bewilligte (n = 79) Abgelehnte (n = 92)
1 = sehr unzufrieden 5 = sehr zufrieden
Abbildung 3: Zufriedenheit mit verschiedenen beruflichen Aspekten (aus Böhmer, 2007, S. 134)
4 Fazit Im Sinne einer Evaluation des Förder- und Qualifizierungsprogramms lässt sich aus Perspektive der bildungspsychologischen Makroebene folgendes Fazit ziehen (Böhmer, 2007): Die durch die Förderung ermöglichte Forschungsgruppenleitung wird als geeignetes Instrument für die Vorbereitung auf eine Professur wahrgenommen, die Berufungswahrscheinlichkeit wird positiv beeinflusst. In diesem Beitrag nicht berichtete Ergebnisse weisen allerdings darauf hin, dass das Programm keinen wirklichen alternativen Weg darstellt, sondern eine Ergänzung zum klassischen Karriereverlauf (Böhmer, 2007). Denn viele der Programmteilnehmerinnen und -teilnehmer sehen die Habilitation nach wie vor als Notwendigkeit an. Insgesamt hat sich das Förderprogramm als Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramm für den akademischen Nachwuchs allerdings bewährt.
Literatur Böhmer, S. (2007). Postdoc-Karrieren: Wie erfolgreich ist das Emmy Noether-Programm der DFG? Beiträge zur Hochschulforschung, 29, 108–139. Böhmer, S., Hornbostel, S. & Meuser, M. (2008). Postdocs in Deutschland: Evaluation des Emmy Noether-Programms. (iFQ-Working Paper No. 3). Bonn: iFQ – Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung. Buch, F. (2005). Wissenschaftlicher Nachwuchs. Wissenschaftsmanagement, 11, 31–34.
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Ferdinand Eder, Werner Specht, Günter Haider, Christiane Spiel und Manfred Wimmer
Höheres Erwachsenenalter
Mittleres Erwachsenenalter re rrie Tertiärbereich ka s ng du Sekundärbereich e Bil en Primärbereich
Vorschulbereich
1 „Evidenzbasierte“ Bildungspolitik
Monitoring & Evaluation
Intervention
Prävention
Beratung
Forschung
Säuglings- und Kleinkindalter
Handlungsebenen
Politikberatung: Das Beispiel der österreichischen „Zukunftskommission“
eb kro e Mi ben e so e Me ben e kro a M
Da Politikerinnen und Politiker naturgemäß keine entfaltete Expertise in all jenen Domänen aufweisen können, für die sie VerAufgabenbereiche antwortung tragen, sind sie auf die Beratung durch Sachverständige angewiesen, um möglichst gut informierte Entscheidungen treffen zu können. Unter den Begriffen „Evidence-based policy“ und „Evidence-based Policy Research“ finden wir international verstärkte Bemühungen (von OECD-CERI1 und Europäischer Union2) um eine wissenschaftliche Grundlegung auch der Bildungspolitik. Entscheidungen sollen sich mehr als bisher an objektiven Erkenntnissen über Stärken und Schwächen der jeweiligen Bildungssysteme orientieren, wobei Wissenschaft und Forschung in erhöhtem Maße zur Bereitstellung von Wissensgrundlagen für die Systemsteuerung beitragen. Hauptvarianten wissenschaftlicher Beiträge zur Politikberatung. Politikorientierte wissenschaftliche Arbeiten im Bildungsbereich weisen dabei meist eine der beiden folgenden Formen auf: • Zum einen handelt es sich um thematische Analysen, Studien und Empfehlungen zu spezifischen inhaltlichen Entwicklungsfeldern. Bekannte Produkte dieses Typs sind etwa das Gutachten von Klieme et al. (2003) zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards in Deutschland oder das Gutachten von Eder et al. (2002) zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung im Bildungswesen in Österreich. • Ein zweites zunehmend wichtiges Instrument wissensbasierter Bildungspolitik sind Nationale Bildungsberichte. Dabei handelt es sich meist um daten- und indikatorengestützte Darstellungen zur Situation des Bildungswesens, die von Expertengremien verfasst werden und der bildungspolitischen Steuerungsebene als Informationsgrundlagen dienen sollen. Beispiele hierfür gibt es für den deutschen Sprachraum aus Deutschland (Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006), der Schweiz (SKBF, 2006) und Österreich (Specht, 2009).
1 http://www.oecd.org/document/29/0,3343,en_2649_37455_31237469_1_1_1_37455,00.html [16. 12. 2009] 2 http://www.bmbf.de/de/7245.php [16. 12. 2009]
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F. Eder, W. Specht, G. Haider, Chr. Spiel und M. Wimmer
2 Die Arbeit der österreichischen „Zukunftskommission“ als Beispiel für einen komplexen Auftrag zur Bildungsberatung Eine seltenere Form der Inanspruchnahme der Bildungsforschung durch die Politik sind Aufträge an Einzelwissenschaftler oder wissenschaftliche Konsortien, Leitlinien oder detaillierte Reformansätze für das Bildungswesen auszuarbeiten. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit der „Zukunftskommission“ in Österreich, die 2003 vom Bildungsministerium als Reaktion auf die bestenfalls mittelmäßigen Ergebnisse von PISA 2000 für Österreichs Bildungssystem eingerichtet wurde. Diese Kommission bestand aus vier (zuletzt fünf) unabhängigen Fachleuten und sollte ein Gesamtkonzept zur Verbesserung des Schulsystems entwickeln. Die Arbeit erfolgte in vier Schritten: 1. Breite Diagnose der Situation des Schulsystems. Zunächst erfolgte eine breite Analyse der Situation des Schulsystems im Hinblick darauf, inwieweit Struktur und Erträge ausreichten, den Anforderungen einer „Wissensgesellschaft“ zu entsprechen. Sie stützte sich auf vorliegende empirische und theoretische Untersuchungen und führte zu einer Reihe von Aussagen, von denen hier zwei zusammenfassend berichtet werden: • Die Erträge des Schulsystems entsprechen nicht nur im Leistungsbereich nicht dem relativ hohen finanziellen Aufwand, sondern es kommt vor allem im Bereich der motivationalen Voraussetzungen des Lernens zu negativen Entwicklungen während der Schullaufbahn. Als Ursachen dafür kommen vor allem eine zu geringe Qualität der Unterrichtsprozesse und nicht ausreichende Kontrolle der Lernergebnisse in Frage. • Auf der Ebene des Gesamtsystems kommt es zu einer Auseinanderentwicklung der Schultypen und einer Heterogenisierung der Standorte im Hinblick auf die Zusammensetzung der Schülerschaft, insbesondere zu „Ballungen“ von Schülerinnen und Schülern mit schlechten Lernvoraussetzungen in bestimmten Bereichen des Systems. Als Ursache dafür kommen negative Auswirkungen und Begleiterscheinungen einer an sich wünschenswerten Strategie der Autonomisierung und fehlende Rechenschaftslegung in Frage. 2. Konsensbildung über die Ziele der Reform. Im zweiten Schritt ging es vor allem darum, konsistente Zielsetzungen für eine Reform zu entwickeln, wobei es galt, Ziele auf der Ebene des Gesamtsystems mit den Bildungszielen für die Schülerinnen und Schüler und mit den Qualitätszielen für den Unterricht der Lehrerinnen und Lehrer zu koordinieren. 3. Konkretisierung der Innovationsstrategie. In Abwägung der konkreten Vor- und Nachteile sowie der Realisierungschancen erfolgte eine Fokussierung auf Maßnahmen der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung unter weitgehendem Verzicht auf organisatorische Veränderungen des Schulsystems. Es sollte ein in sich stimmiges Geflecht von Reformmaßnahmen aus gleichgerichteten und sich wechselseitig stützenden und absichernden Maßnahmen für die verschiedenen Ebenen des Systems (Unterricht, Schulstandort, Region, Gesamtsystem) entwickelt werden. Die Veränderungswirkung sollte vom Gesamtpaket, nicht von einzelnen Maßnahmen erwartet werden.
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Politikberatung: Beispiel österreichische „Zukunftskommission“
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4. Formulierung konkreter Maßnahmen. Dies führte im letzten Schritt zur Formulierung der folgenden Handlungsbereiche, die dann jeweils durch konkrete Einzelmaßnahmen konkretisiert wurden. Tabelle 1: Handlungsbereiche Schule und Unterricht systematisch verbessern
Einführung eines internen Qualitätsmanagements, insbesondere Schulprogramm, Schulbilanz und Schulqualitätsbericht
Klare Ziele, bessere Orientierung
Formulierung von Standards und Festlegung von Qualitätsindikatoren als Basis für ein SystemMonitoring
Vergrößerte Handlungsund Entscheidungsspielräume
Personelle Autonomie und finanzielle Selbstverwaltung, Leistungsvereinbarungen, flexible Handhabung der Unterrichtszeit
Schulorganisatorische Verbesserungen
Veränderung der strukturellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere Einführung einer sprachlichen Frühförderung, zusätzlicher Betreuungsformen, Unterrichtsgarantie, Erhöhung der Durchlässigkeit, Einschränkung der Klassenwiederholung
Professionalisierung und Stärkung des Lehrberufs
Akkreditierung von Ausbildungseinrichtungen, neues Laufbahnmodell mit leistungsbezogenen Elementen
Qualität prüfen und sichern
Regelmäßige Überprüfung der Grundkompetenzen, regelmäßiges System-Monitoring, Neukonzeption der Inspektorate
Unterstützungssysteme einrichten
Einführung standortbezogener, regionaler, und nationaler Unterstützungssysteme, insbesondere Ressourcen für Fortbildung, Bildung von Netzwerken, Forschung und Entwicklung, regionales Bildungsmanagement, Programm für Bildungsforschung
Der Maßnahmenbericht wurde von der Öffentlichkeit und den Medien überwiegend positiv, von den Standesvertretungen der Lehrerinnen und Lehrer jedoch mit deutlichem Widerstand aufgenommen. Die von verschiedenen Seiten geäußerten Forderungen nach rascher Umsetzung der Vorschläge wurden vom Auftraggeber nicht aufgegriffen; an ihre Stelle sollte auf Wunsch der Politik eine breite öffentliche Diskussion der vorgeschlagenen Maßnahmen treten. Von den einen als notwendiger demokratischer Prozess begrüßt, von den anderen als Versuch, Zeit zu gewinnen, beargwöhnt, führte diese Diskussion rasch zu einer Bewertung einzelner Maßnahmen, statt sich auf das Konzept in seiner Gesamtheit zu beziehen. Von der politischen Opposition wurden die Vorschläge als willkommene Gelegenheit gesehen, ihre Umsetzung vor allem in jenen Bereichen zu
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F. Eder, W. Specht, G. Haider, Chr. Spiel und M. Wimmer
fordern, die der Linie der Regierungspartei besonders entgegen standen; die Medien nützten die Gelegenheit, einzelne Politiker bzw. die zuständige Ministerin durch Einholen von kontroversiellen Stellungnahmen immer wieder neu unter Druck zu setzen. Unter diesen Rahmenbedingungen verwandelte sich die Diskussion allmählich in eine Fülle von Einzelauseinandersetzungen, in denen der rote Faden des Reformkonzepts mehr und mehr verloren ging. Ausgelöst durch die Ergebnisse von PISA 2003, die eine deutliche Verschlechterung Österreichs im Ranking der OECD-Staaten auswiesen, wurden von Seiten des Ministeriums zwar sechs Reform-„Pakete“ auf der Basis der Kommissionsarbeit (Eder et al., 2005) geschnürt, deren Umsetzung begann jedoch halbherzig, wurde mit wenig Nachdruck betrieben, wegen bevorstehender Neuwahlen unterbrochen und schließlich nicht wieder aufgenommen.
3 Spezifische Merkmale, Chancen und Risiken wissenschaftlicher Politikberatung Der Ablauf des Gesamtprozesses zeigt paradigmatisch Spezifika und Risiken der Politikberatung durch Experten: 1. Im Unterschied zu interpersonalen Beratungssituationen ist der „Klient“ häufig nicht im eigentlichen Sinne Rat suchend, sondern strategisch an einem Paket von Lösungen interessiert, das in den politischen Entscheidungsprozess eingebracht, angenommen, jedoch auch teilweise oder zur Gänze verworfen werden kann. Konkret äußerte sich dies vor allem darin, dass der Auftraggeber sich nicht an direkten Interaktionen mit der Beratungsgruppe interessiert zeigte, und die Handlungsrelevanz der Vorschläge nicht auf Basis einer eigenen Prüfung, sondern eher aus den im politisch-sozialen Diskussionsprozess erkennbaren Reaktionen ableitete. 2. Die Expertengruppe war mit hohen Erwartungen konfrontiert, aus einer uneinheitlichen Datenlage klare Vorschläge zu generieren, zugleich aber immer mitzudenken, dass auch sachlich gut begründete Vorschläge aus politischen Gründen abgelehnt werden können. Das brachte die Beratergruppe in die Situation, nicht nur „das Richtige“ zu empfehlen, sondern immer auch dessen Akzeptanz und Umsetzbarkeit zu berücksichtigen und gegebenenfalls „zweitbeste“ Lösungen mit anzubieten. 3. Zwischen der Rolle der Expertinnen und Experten und den vorgesehenen demokratischen Legitimierungsprozessen besteht eine strukturelle Antinomie. Wissenschaft/ Expertise beansprucht tendenziell die Rolle einer „vierten“ gesellschaftlichen Gewalt, insofern sie aufgrund des immanenten Wahrheitsanspruches ihrer Ergebnisse bestimmte Folgerungen als quasi zwingend darstellt und sie damit tendenziell der politischen Entscheidungsbildung entzieht. Die demokratischen Entscheidungsprozesse sehen jedoch den Konsens einer Mehrheit als Entscheidungskriterium vor, unabhängig davon, von welchen Interessen ein solcher Konsens getragen wird. Expertengruppen sind daher mit der Versuchung konfrontiert, durch Herstellung von Öffentlichkeit (Medien) Verbündete für ihre Vorschläge zu finden und damit die Politik unter Zugzwang zu setzen. Die Medien ihrerseits sind aus Gründen der Aufmerksamkeitssteuerung häufig nicht primär an der Lösung von Problemen interessiert, sondern an ihrer zugespitzten Darstellung. Ambivalent ist aber auch die Rolle der Bildungsverwaltung, die häufig in einer Zwischenposition zwischen Politik und
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Wissenschaft liegt und sich zeitweise eher politischen, zeitweise eher wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet fühlen kann (vgl. dazu Kussau, 2004; Criblez & Eder, 2006). In der konkreten Arbeit ergaben sich Hinweise, dass sich sowohl die Bildungsverwaltung durch externe Experten bedroht fühlen kann – ihrer Auffassung nach wäre es eigentlich ihre eigene Aufgabe gewesen, ein Reformkonzept zu entwickeln – als auch die Vertreterinnen und Vertreter der Politik die Befürchtung haben, hier würde unzulässig in ihr Recht auf Entscheidungsfindung eingegriffen. 4. Je mehr die beteiligten Expertinnen und Experten von sachlichen Evidenzen ausgehen, desto mehr entsteht eine innere Verpflichtung gegenüber den eigenen Erkenntnissen und Vorschlägen. Für die Beratungsgruppe war es daher nicht mit der gleichen Leichtigkeit wie für die Politik möglich, Alternativen zu akzeptieren, die schon verworfen worden waren, oder generell politische Entscheidungen hinzunehmen, die den gemachten Vorschlägen nicht Rechnung tragen. Die einzelnen Mitglieder entwickelten hier durchaus unterschiedliche Positionen für die Gestaltung der schwierigen Rolle zwischen Expertise und (politischem) Engagement in der eigenen Sache. Erfahrungen wie diese verweisen auf einige neuralgische Punkte, deren Klärung und laufende Berücksichtigung für die Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft von besonderer Bedeutung erscheinen: • Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik ist häufig unklar, und es bedarf einer expliziten Rollenklärung bei der Übernahme von Beratungsaufträgen, insbesondere wann Personen als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tätig sind und wann als politisch interessierte Privatpersonen. • Medien und Öffentlichkeit treten zunehmend in den Vordergrund und nehmen eine aktive dritte Rolle im Verhältnis von Politik und Wissenschaft ein. Dies erfordert verstärkte Bemühungen um die Verständlichkeit von Wissenschaft, aber auch die aktive Kooperation mit Medien mit dem Ziel der Herstellung einer bildungspolitisch gebildet(er)en Öffentlichkeit. • Expertise und politisches Handeln folgen unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen. Gilt für Expertise eher das Prinzip der kontinuierlichen Kumulation von Wissen und Evidenz, gilt für die Politik stärker das Prinzip des strategisch günstigen oder notwendigen Augenblicks: Innerhalb kürzester Zeit können Konstellationen erstehen, für die dringend Expertise eingefordert wird, ebenso rasch können aber Situationen entstehen, die es opportun erscheinen lassen, auf die bisher geleistete Arbeit zu verzichten. Viele Probleme werden vermutlich abgeschwächt, wenn Politikberatung nicht als punktuelles Ereignis, sondern als ein kontinuierlicher Dialog und Arbeitsprozess gestaltet wird, in dem auf die wechselseitigen Rahmenbedingungen besser Rücksicht genommen werden kann (vgl. Wieser, 2004).
Literatur Criblez, L. & Eder, F. (2006). Erziehungswissenschaft und Politikberatung. In R. Fatke & H. Merkens (Hrsg.), Bildung über die Lebenszeit (S. 143–149). Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften.
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F. Eder, W. Specht, G. Haider, Chr. Spiel und M. Wimmer
Eder, F. (Hrsg.). (2002). Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen. Bildungsforschung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Band 17). Innsbruck, Wien: Studienverlag. Eder, F., Haider, G., Specht, W., Spiel, Ch. & Wimmer, M. (2005). Abschlussbericht der Zukunftskommission. Zusammenfassende Empfehlungen für Reformmaßnahmen. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Haider, G., Eder, F., Specht, W. & Spiel, Ch. (2003). Zukunft:Schule. Strategien und Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung. Reformkonzept der österreichischen Zukunftskommission. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Klieme, E. et al. (2003). Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung. Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann. Kussau, J. (2004). Auftragsforschung zwischen Wahrheitssuche und Interessenbindung. Referat auf dem Kongress „Bildung über die Lebenszeit“, Symposium „Erziehungswissenschaft und Politikberatung“, DGfE, Zürich, 21.–24. März 2004. SKBF [Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung] (2006). Bildungsbericht Schweiz 2006. Aarau: SKBF. Specht, W. (Hrsg.). (2009). Nationaler Bildungsbericht Österreich 2009. Band 1: Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren. Band 2: Fokussierte Analysen bildungspolitischer Schwerpunktthemen. Graz: Leykam. Wieser, I. (2004). Wissenschaft und Politik – zwei inkompatible Denk- und Handlungssysteme!? Referat auf dem Kongress „Bildung über die Lebenszeit“, Symposium „Erziehungswissenschaft und Politikberatung“, DGfE, Zürich, 21.–24. März 2004.
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes Cordula Artelt, Prof. Dr., Universität Bamberg, Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung, Markusplatz 3, 96045 Bamberg. E-Mail:
[email protected] Moira Atria, Mag., Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Michael Aysner, Mag., Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Jürgen Baumert, Prof. Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Andreas Beelmann, Prof. Dr., Universität Jena, Institut für Psychologie, Abteilung für Forschungssynthese, Intervention, Evaluation, Humboldtstr. 26, 07743 Jena. E-Mail:
[email protected] Fred Berger, Dr., Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich, Freiestr. 36, 8032 Zürich, Schweiz. E-Mail:
[email protected] Tanja Birk, Dr. cand., Dipl.-Psych., Oberföhringer Str. 18, 81679 München. E-Mail:
[email protected] Martin Bonsen, Prof. Dr., Universität Münster, Institut für Erziehungswissenschaft, Bispinghof 5/6, 48143 Münster. E-Mail:
[email protected] Wilfried Bos, Prof. Dr., TU Dortmund, Institut für Schulentwicklungsforschung, Vogelpothsweg 78, 44227 Dortmund. E-Mail:
[email protected] Annette Brose, Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Petra Buchwald, Prof. Dr., Universität Wuppertal, Bildungs- und Sozialwissenschaften, Gaußstr. 20, 42097 Wuppertal. E-Mail:
[email protected] Kai S. Cortina, Dr., Associate Professor of Psychology, University of Michigan, 530 Church Street, Ann Arbor, MI 48109-1043, USA. E-Mail:
[email protected]
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Hans-Dieter Daniel, Prof. Dr., ETH Zürich, Sozialpsychologie und Hochschulforschung, Zähringerstr. 24, 8092 Zürich, Schweiz. E-Mail:
[email protected] Markus Dresel, Prof. Dr., Universität Augsburg, Lehrstuhl für Psychologie, Universitätsstr. 10, 86159 Augsburg. E-Mail:
[email protected] Ferdinand Eder, Prof. Dr., Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Akademiestr. 26, 5020 Salzburg, Österreich. E-Mail:
[email protected] Helmut Fend, Prof. (em.) Dr. Dr. (Universität Zürich), Neuhauserstr. 6, 78484 Konstanz. E-Mail:
[email protected] Monika Finsterwald, Dr., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Anne C. Frenzel, PD Dr., LMU München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik, Leopoldstr. 13, 80802 München. E-Mail:
[email protected] Alexandra M. Freund, Prof. Dr., Universität Zürich, Psychologisches Institut, Angewandte Psychologie: Life-Management, Binzmühlestr. 14/11, 8050 Zürich, Schweiz. E-Mail:
[email protected] Thomas Götz, Dr., Prof., Universität Konstanz und Pädagogische Hochschule Thurgau, Geisteswissenschaftliche Sektion, Erziehungswissenschaft/Empirische Bildungsforschung, D-78457 Konstanz. E-Mail:
[email protected] Cornelia Gräsel, Prof. Dr., Universität Wuppertal, Bildungs- und Sozialwissenschaften, Gaußstr. 20, 42097 Wuppertal. E-Mail:
[email protected] Urs Grob, Dr., Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Freiestr. 36, 8032 Zürich, Schweiz. E-Mail:
[email protected] Hans Gruber, Prof. Dr., Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, Allgemeine Pädagogik, 93040 Regensburg. E-Mail:
[email protected] Matthias Grünke, Prof. Dr., Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Department Heilpädagogik und Rehabilitation, Klosterstr. 79b, 50931 Köln. E-Mail:
[email protected] Gerda Hagenauer, Dr. Mag., Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Akademiestr. 26, 5020 Salzburg, Österreich. E-Mail:
[email protected]
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
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Günter Haider, Prof. Dr. Dr., Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens, Alpenstr. 121, 5020 Salzburg, Österreich. E-Mail:
[email protected] Bettina Hannover, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Christian Harteis, PD Dr., Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, 93040 Regensburg. E-Mail:
[email protected] Tina Hascher, Prof. Dr., Universität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Akademiestr. 26, 5020 Salzburg, Österreich. E-Mail:
[email protected] Heike Heidemeier, Dr., Jacobs University Bremen, Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development, Campus Ring 1, 28759 Bremen. E-Mail:
[email protected] Andreas Helmke, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Fachbereich Psychologie, Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie und Bildungsforschung, Fortstr. 7, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Tuyet Helmke, Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Fachbereich Psychologie, Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie und Bildungsforschung, Fortstr. 7, D-76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Silke Hertel, Prof. Dr., Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Schloßstr. 29, 60486 Frankfurt/Main. E-Mail:
[email protected] Nora Heyne, Dipl. Psych., Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Fachbereich Psychologie, Arbeitseinheit Allgemeine und Pädagogische Psychologie, Thomas-Nast-Str. 41, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Susanne Hickl, Mag., Universität Heidelberg, Psychologisches Institut, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg. E-Mail:
[email protected] Holger Horz, Prof. Dr., Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie, Institut für Kooperationsforschung und -entwicklung, Riggenbachstr. 16, 4600 Olten, Schweiz. E-Mail:
[email protected] Annette Hosenfeld, Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Institutsabteilung Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik, Fortstr. 7, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Nicole Husemann, Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected]
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Gisela Kammermeyer, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Institut für Bildung im Kindes- und Jugendalter, August-Croissant-Str. 5, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Annette Kämmerer, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Psychologisches Institut, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg. E-Mail:
[email protected] Eckhard Klieme, Prof. Dr., Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Schloßstr. 29, 60486 Frankfurt/Main. E-Mail:
[email protected] Kathrin Klingebiel, Mag., University of Sussex, School of Psychology, Falmer, Brighton BN1 9QH, United Kingdom. E-Mail:
[email protected] Monika Knopf, Prof. Dr., Universität Frankfurt, Institut für Psychologie, Entwicklungspsychologie, Georg-Voigt-Str. 8, 600054 Frankfurt/Main. E-Mail:
[email protected] Thorsten Kolling, Dr., Universität Frankfurt, Institut für Psychologie, Entwicklungspsychologie, Georg-Voigt-Str. 8, 60054 Frankfurt/Main. E-Mail:
[email protected] Petra Korntheuer, Dr., Hochschule Fresenius, Fachbereich Gesundheit – Studiengang Logopädie, Limburger Str. 2, 65510 Idstein. E-Mail:
[email protected] Olaf Köller, Prof. Dr., Leibnitz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Olshausenstr. 62, 24098 Kiel. E-Mail:
[email protected] Kristin Krajewski, Prof. Dr., Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Arbeitseinheit Bildung und Entwicklung, IDeA-Zentrum, Schloßstr. 29, 60486 Frankfurt/Main. E-Mail:
[email protected] Andreas Krapp, Prof. Dr. (i. R.), Universität der Bundeswehr München, Fakultät für Sozialwissenschaften, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg. E-Mail:
[email protected] Meike Landmann, Dr., Institut für Qualitätsentwicklung, Arbeitseinheit Konzeptentwicklung, Qualitätscontrolling, Walter-Hallstein-Str. 5–7, 65197 Wiesbaden. E-Mail:
[email protected] Detlev Leutner, Prof. Dr., Universität Duisburg-Essen, Fachbereich Bildungswissenschaften, Campus Essen, 45117 Essen. E-Mail:
[email protected] Ulman Lindenberger, Prof. Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected]
03 Teil 3_Bildungspsychologie 04.03.10 07:27 Seite 449
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
449
Ilka Lißmann, Dr., FU Berlin, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Arnold Lohaus, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld. E-Mail:
[email protected] Oliver Lüdtke, Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen, Lehrstuhl Pädagogische Psychologie, Europastr. 6, 72072 Tübingen. E-Mail:
[email protected] Marko Lüftenegger, Mag., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Sandra Mittag, Dr., TU Darmstadt, Referat Qualitätsmanagement, Karolinenplatz 5, 64289 Darmstadt. E-Mail:
[email protected] Gabriel Nagy, Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Matthias Nückles, Prof. Dr., Universität Freiburg, Institut für Erziehungswissenschaft, Unterrichtsforschung und Weiterbildung, Rempartstr. 11, 79098 Freiburg. E-Mail:
[email protected] Reinhard Pekrun, Prof. Dr., LMU München, Pädagogische Psychologie und Psychologische Diagnostik, Leopoldstr. 13, 80802 München. E-Mail:
[email protected] Christoph Perleth, Prof. Dr., Universität Rostock, Institut für Pädagogische Psychologie „Rosa und David Katz“, August-Bebel-Str. 28, 18055 Rostock. E-Mail:
[email protected] Joachim Petscharnig, Mag., MBA, Verein pro mente: kinder jugend familie, Fachbereich Rehabilitation, Salmstr. 3, 9020 Klagenfurt, Österreich. E-Mail:
[email protected] Manfred Prenzel, Prof. Dr., TU München, TUM School of Education, Empirische Bildungsforschung, Schellingstr. 33, 80799 München. E-Mail:
[email protected] Melanie Rau, Dipl.-Psych, Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Monika Rehrl, Dipl.-Päd., Universität Regensburg, Institut für Pädagogik, Universitätsstr. 31, 93040 Regensburg. E-Mail:
[email protected]
03 Teil 3_Bildungspsychologie 04.03.10 07:27 Seite 450
450
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Ralph Reimann, Dr., Universität Wien, Besondere Einrichtung für Qualitätssicherung, Maria-Theresien-Str. 3/15a, 1090 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Gabi Reinmann, Prof. Dr., Universität Augsburg, Institut für Medien und Bildungstechnologie, Universitätsstr. 2, 86159 Augsburg. E-Mail:
[email protected] Alexander Renkl, Prof. Dr., Universität Freiburg, Institut für Psychologie, Pädagogische Psychologie, Engelbergerstr. 41, 79085 Freiburg. E-mail:
[email protected] Heiner Rindermann, Prof. Dr., Universität Graz, Institut für Psychologie, Entwicklungspsychologie, Universitätsplatz 2, 8010 Graz, Österreich. E-Mail:
[email protected] Heinke Röbken, Prof. Dr., Universität Wuppertal, Bildungs- und Sozialwissenschaften, Gaußstr. 20, 42097 Wuppertal. E-Mail:
[email protected] Alfred Schabmann, Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Michaela Schmidt, Dr., Universität des Saarlandes, Philosophische Fakultät III – Empirische Humanwissenschaften, Erziehungswissenschaft, Campus, 66123 Saarbrücken. E-Mail:
[email protected] Florian Schmiedek, Prof. Dr., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Bernhard Schmitz, Prof. Dr., TU Darmstadt, Institut für Psychologie, AG Pädagogische Psychologie, Alexanderstr. 10, 64283 Darmstadt. E-Mail:
[email protected] Wolfgang Schneider, Prof. Dr., Universität Würzburg, Pädagogische Psychologie Wittelsbacherplatz 1, 97070 Würzburg. E-Mail:
[email protected] Wolfgang Schnotz, Prof. Dr., Universität Koblenz-Landau, Allgemeine und Pädagogische Psychologie, Thomas-Nast-Str. 44, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Barbara Schober, Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected]
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
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Friedrich-Wilhelm Schrader, Dr., Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Fachbereich Psychologie, Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie und Bildungsforschung, Fortstr. 7, 76829 Landau. E-Mail:
[email protected] Tina Seidel, Prof. Dr., TU München, TUM School of Education, Arcisstr. 21, 80333 München. E-Mail:
[email protected] Jürgen Seifried, Prof. Dr., Universität Konstanz, Professur für Wirtschaftspädagogik, Universitätsstr. 10, 78457 Konstanz. E-Mail:
[email protected] Detlef Sembill, Prof. Dr., Universität Bamberg, Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik, Kärntenstr. 7, 96052 Bamberg. E-Mail:
[email protected] Werner Specht, Dr., Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens (Bifie), Zentrum für Bildungsforschung und Evaluation, Hans-SachsGasse 3/II, 8010 Graz, Österrreich. E-Mail:
[email protected] Christiane Spiel, Prof. Dr. Dr., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected] Georg Spiel, Dr., Prim., Sekull 108, 9212 Techelsberg, Österreich. E-Mail:
[email protected] Birgit Spinath, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Psychologisches Institut, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg. E-Mail:
[email protected] Petra Stanat, Prof. Ph.D., FU Berlin, FB Erziehungswissenschaft und Psychologie, Empirische Bildungsforschung, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Ursula M. Staudinger, Prof. Dr., Jacobs University Bremen, Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development, Campus Ring 1, 28759 Bremen. E-Mail:
[email protected] Ulrike Stave, Dipl.-Päd., Universität Rostock, Institut für Pädagogische Psychologie, AugustBebel-Str. 28, 18055 Rostock. E-Mail:
[email protected] Dagmar Strohmeier, Dr., Universität Wien, Institut für Wirtschaftspsychologie, Bildungspsychologie und Evaluation, Universitätsstr. 7, 1010 Wien, Österreich. E-Mail:
[email protected]
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Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Wolfgang Tietze, Prof. Dr., FU Berlin, FB Eriehungswissenschaft und Psychologie, Kleinkindpädagogik, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail:
[email protected] Ulrich Trautwein, Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen, Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung, Europastr. 6, 72072 Tübingen. E-Mail:
[email protected] Stepanka Vavrova, M. A., LMU München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik, Leopoldstr. 13, 80802 München. E-Mail:
[email protected] Petra Wagner, Prof. (FH) Dr., FH OÖ Studienbetriebs GmbH, Fakultät für Gesundheit/Soziales, Studiengang Sozialarbeit, Garnisonstraße 21, 4020 Linz, Österreich. E-Mail:
[email protected] Wolfgang Wagner, Dr., Universität Tübingen, Empirische Bildungsforschung und Pädagogische Psychologie, Münzgasse 22, 72070 Tübingen. E-Mail:
[email protected] Hans-Werner Wahl, Prof. Dr., Universität Heidelberg, Psychologisches Institut, Bergheimer Str. 20, 69115 Heidelberg. E-Mail:
[email protected] Sabine Walper, Prof. Dr., LMU München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik, Leopoldstr. 13, 80802 München. E-Mail:
[email protected] Oliver Walter, Dr., Universität Kiel, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Olshausenstr. 62, 24098 Kiel. E-Mail:
[email protected] Manfred Wimmer, BSI RR, Landesschulrat für Niederösterreich, Abteilung Schulversuche und Schulentwicklung, Rennbahnstr. 29, 3109 St. Pölten, Österreich. E-Mail:
[email protected] Albert Ziegler, Prof. Dr., Universität Ulm, Institut für Psychologie und Pädagogik, 89069 Ulm. E-Mail:
[email protected]
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Stichwortregister Adoleszenz 242–244 Angstzustände 217 Ankeritem-Design 248 Ansatz – qualitativer 417, 418, 429 – quantitativer 417, 418, 429 Attachment-Q-Sort 41 Attributionales Feedback 134 Attributionen 131, 132 Auswahlverfahren 141, 142, 144 Autonomie 216 Autonomieentwicklung 29 Basiskompetenz 352, 353 Bedeutung der Einzelschule im Bildungssystem 389 Befindlichkeit, emotionale 160 Beratung 270, 273 – von Migrantinnen und Migranten 261, 262 Beratungsstelle 382–386 Beratungstheorie 255, 261 Berufungshäufigkeit 437 Beteiligung, gesellschaftliche 216 Betreuungsleistung 26 Bewältigung des Alltags 217 Bewältigungsressource 31 Bildung 111–113, 119, 124, 126 – berufliche 158 – kaufmännische 158 Bildungsangebote für Ältere 218 Bildungsberatungsanlass 256 Bildungsbeteiligung 193, 201, 203 Bildungscontrolling 332 Bildungseffekt 56 Bildungsmonitoring 82, 93–95 Bildungsprozesse – formale 424, 426 – informelle 424, 426 Bildungsreform 440 Bildungssystem 429, 352, 353, 355, 416– 422, 424, 425 Bildungsverläufe Jugendlicher 245, 247 Bildungsverwaltung 442, 443 Bindung 26, 28, 35, 40, 41, 43
Bindungsqualität 41, 42 Bindungssicherheit 40–43 Breitbandansatz 284
Curriculum
337
E-Learning
171 Einflüsse, kulturelle 418, 420, 422–424, 427 Einschulung 82, 84, 85, 95 Einzelschulentwicklung 401 Eltern 164, 170, 174 Elternbildung 169 Emmy Noether-Programm 433, 434, 437 Emotion 113, 115–119, 122–126, 377, 379, 380 Entwicklung 213, 214 – historische 51, 52, 58 – kognitive 40–43, 201 Entwicklungsaufgabe 29, 82, 83, 164, 241 Entwicklungsmodell 75, 78 Entwicklungsstand 40, 42 Erwachsenenalter 210, 213, 240, 242–244 – höheres 193–195, 203, 205 Erwachsenenbildung 163, 167, 170, 174, 177 Erziehungsberatungsstelle 266 Evaluation 302–305, 307, 309–312, 314, 348, 391, 397, 398, 400, 401, 433–435, 438 – (interne, externe) im Hochschulbereich 346, 347 – an Hochschulen, Folgen aus 347, 348, 350 – an Hochschulen, Follow-up von 347, 348 evidence based practice 296 evidence-based policy 439 Expertise 439, 442, 443
Fading 322 Fähigkeitsselbstwahrnehmung 84 Familie 164, 169, 170, 173 Familienbildung 170 Fehler 377–380 – positivistischer 231, 234 Fehlerkultur 377, 378, 380
04 Register_Einzeltitel 04.03.10 07:29 Seite 454
454
Stichwortregister
Fehlschluss, ökologischer 429 Feinfühligkeit 28, 35 Förderbedarf, Feststellung besonderer 82, 85, 86 Förderprogramm 433–435, 438 Forschung 223–231, 233–237 Fremdbetreuung, frühe 34, 35 Fremde-Situations-Test 41 Führung, unterrichtsbezogene 391, 401
Gedächtnis, deklaratives
46 Gedächtnisentwicklung 47 Generativität 166 Geschlechter-Gerechtigkeit 406, 408 Geschlechter-Kompetenz 406, 408 Geschlechterstereotyp 407 Geschlechtsunterschiede 408 Gesundheit, psychische 293, 294 Gruppenlernen 158, 159
Handlungskompetenz 168, 171 Herkunft, soziale 139 Hochaltrige 218 Hochbegabtenberatung 383 Hochbegabtenförderung 384 Hochbegabung 384, 386 Hochschuldidaktik 140, 144, 319 Hochschullehre 319 Hoffnungslosigkeit 217 IGLU
88, 93, 95 Imitation, verzögerte 46 Imitationslernen 45, 48 Information Processing 188–190 Innovationsstrategie 395, 400, 440 Input-Prozess-Output-Modell 393 Instruktionsmodell, strategisches 265 Instruktionspsychologie 359, 360, 363 Integration, berufliche 291, 292 Intelligenz (fluide und kristalline) 165 Interaktion, themenzentrierte 174 Interessenbias 234, 235 Intervention 297, 301–305, 307–315 – Klassifikation von 303 Interventionsansatz 319 Interventionsstudie, quasiexperimentelle 305 Itemfunktion, differenzielle 428
Jugendarbeitslosigkeit
291–294 Jugendliche mit Migrationshintergrund 136– 138
Karriereverlauf 437, 438 Kindergarten 72 Klassenführung 101–104 Kleinkindalter 23, 24, 29–31, 34, 36 Koedukation 406 Kommunikationsfehler 231, 233 Kompetenz 111–115, 119, 121, 122, 124, 125, 136, 165, 170–172, 174, 177, 329– 331, 333–337, 339, 341 – kognitive 327 – soziale 296, 297, 325, 327 Kompetenzbildung 256 Kompetenzentwicklung 167, 171 – berufliche 184, 185 Kompetenzerfahrung 172 Kompetenzfehler 231, 232 Kompetenzförderung 33 Kompetenzmessung 337, 338, 341 Kompetenzmodell 337 Kompetenzstärkung, gezielte 217 Kompetenzstufe 334, 339 Komplementaritätshypothese 271, 272 Konflikthypothese 271, 272 Kontrolle 225, 228 Konzept, pädagogisches 52, 53 Kooperation 168, 174, 177–179 Kosten-Nutzen-Analyse 64 Kreativität 166 Längsschnittstudie 107–109, 246–248 Lebensbewältigung 240–242, 244 Lebensereignis, kritisches 164, 166 Lebensspanne 164, 165, 169, 176 Lehr- und Unterrichtsmaterial, Gestaltung von 367 Lehr-Lern-Arrangement, komplexes 159 Lehr-Lernforschung 361 Lehrerbildung, Standards für die 81 Lehrevaluation 410 Lehrfunktionen 362, 365–367, 370, 371 Lehrkräftebelastung 326, 328 Lehrkräftekompetenz 324 Lehrkräftetraining 325, 326
04 Register_Einzeltitel 04.03.10 07:29 Seite 455
Stichwortregister Lehrqualität 412–414 Leistung, kognitive 212 Leistungsbeurteilung 82, 89–91 Leistungsentwicklung, Prädiktoren individueller 249 Leistungstests 396, 399 Leistungsvergleiche, internationale 331–337, 340 Lernberatung 253, 254, 257, 258, 261 Lernen 377, 378, 380 – arbeitsbezogenes 169 – arbeitsplatznahes 185, 186 – durch Schreiben 319, 320 – erfahrungsgeleitetes 164 – formelles 167, 169 – informelles 167, 169, 170, 174, 183, 186 – interaktives 26 – internetbasiertes 214 – kooperatives 164, 325, 327 – lebenslanges 145, 146, 151, 194, 195, 198, 200–203, 205, 206, 254, 261, 263, 324–328 – problemorientiertes 145, 146 – selbstgesteuertes 145, 146, 158, 159, 173, 174, 177, 178, 319, 322 – selbstorganisiertes 158, 159, 161, 164, 171, 172 – selbstreguliertes 113, 119, 121, 122, 193, 195, 199, 325, 327 Lerngemeinschaft, professionelle 400 Lernkultur 184, 185 Lernmechanismus 46, 48 Lernmotivation 131–134, 136–138 Lernprozess, vorgeburtlicher 25 Lernstörung 265 Lernstrategie 113, 118–121, 265–268, 321, 363, 364, 371 Lerntagebuch 319–322 Lerntyp – euro-amerikanischer 421 – ostasiatischer 421 Lernumgebung – diachrone 424, 425 – synchrone 424–426 Leseerwerb 106, 107, 109 Lesekompetenz 102–104, 353, 354
455
Lesen 70, 71 Literacy 353
Makuladegeneration, altersabhängige 216 Manipulation 231, 233 Mechanik 165 Mehrebenenanalyse 250, 252 Mengen-Zahlen-Kompetenz 79 Mengen, zählen, Zahlen 78, 79 Merkmale effektiver Schulen 390 Metakognition 320–322 Migrantenanteile 137 Mikrolängsschnittliches Design 211 Monoedukation 406 Motherese 27 Motivation 84, 89, 92, 94, 112, 113, 115– 119, 122, 131–134, 210, 211, 213, 214, 324–328 Motivationsdefizite 131 Motivationstraining 132–134 – computerbasiertes 133, 134 Multimedia 188–192 Nachwuchs, wissenschaftlicher
433, 434
Objektivität
229 Odysseus 382 Organisation, lernende 183, 184, 399 Organisationsentwicklung 397, 398 Orientierung, motivationale 270–272 Outputsteuerung 395, 396
Peer Review
346, 348 Persönlichkeit 111, 112, 115, 119, 124, 126 Persönlichkeitsentwicklung 242 Picture Comprehension 189 PISA (Programme for International Student Assessment) 136, 137, 139, 352–355 Plastizität 164, 166 Politikberatung 439, 442, 443 Pragmatik 165 Prävention 296–299 – gezielte 276, 277, 279, 282, 286 – primäre 276 – sekundäre 276 – selektive 277
04 Register_Einzeltitel 04.03.10 07:29 Seite 456
456
Stichwortregister
– tertiäre 276 – universelle 276–279, 282, 286 Programme, formalisierte 282 Prompts 321, 322 Prozess-Produkt-Ansatz 101 Prozess, höherer kognitiver 48 Prozessanalysen 159, 160 Psychologie der Lebensspanne 164
Qualifikation
171, 172, 177 Qualifizierungsberatung 253 Qualifizierungsprogramm 438 Qualifizierungsprojekt 291 Qualität, pädagogische 56, 60, 63, 64 Qualitätsentwicklung 61, 352 – an Hochschulen 349 Qualitätssicherung an Hochschulen 346, 347, 349
Randomisierung 227, 228 Reattributionstraining 134 Reform 440, 442, 443 Reliabilität 230 Ressourcen, Aktivierung von 217 Risikofaktorenmodell 280 Rollenmodell 407 Rollenspiel 70–73 Säugling
45–48 Säuglingsalter 23–25, 27, 34 Scaffolding 27, 30 Schreiben 70, 71 Schriftsprache 73 Schule 324–328 Schuleffektivitätsforschung 390, 393 Schuleffektivitätsmodell 392 Schulentwicklungsforschung 390, 391, 393– 395 Schulform als Leistungsprädiktor 245–247, 249, 250 Schulinspektion 396 Schulleistung 131, 133 Schulleistungsstudie 354 Schulleitung 388, 391, 394, 401 Schulmerkmale 389, 390, 392 Schulqualität 352, 353 Schulungsangebot speziell für AMD-Patientinnen und -Patienten 217
Schutzfaktor 281 Sehbeeinträchtigung 216, 217 Sekundär- und Tertiärprävention 217 Sekundärbereich 111, 115, 119, 121, 124 Selbstkonzept 115, 116, 119, 121–123 Selbstmanagement-Programm 217 Selbstwirksamkeit 41–43 Selektive Optimierung mit Kompensation 166 Self-Handicapping 408 Self-Regulation View 320, 321 Sensitivität 43 Skalierung 338, 339 Spiegelneuron 46 Sprachentwicklung 41–43 Sprachgebrauch 139 Sprachkompetenz 41, 42 Stereotypen-Bedrohung 407, 408 Stichprobe 331, 337–339, 341 Stimulation, sprachliche 27 Strong-Text View 320 Suchtverhalten 217 Symptom, depressives 217
Team, altersheterogenes 271–273 Teamarbeit 270–272 Teildimension 354 Test 337–339, 341 Testtheorie, probabilistische 354 Text Comprehension 189 Training 307, 310–314 – individualisiertes 214 Transfer 305, 309–312, 314, 315 Triangulation 435 Übergangsentscheidung 82, 87, 88 Underachievement 406, 408 Unterricht 377, 378, 380, 412, 413 Unterrichtsentwicklung 397 Unterrichtsforschung 361, 362, 414 Unterrichtspraktik 418, 419, 421–424 Unterrichtsqualität 101, 104, 113–115, 119, 121–123, 125, 159 Unterschied, individueller 48 Untersuchung – längsschnittliche 419, 420 – querschnittliche 419, 420
04 Register_Einzeltitel 04.03.10 07:29 Seite 457
Stichwortregister Ursachenerklärung 131, 132 Urteilsgüte, diagnostische 88, 92
Validität
225, 227, 230, 231 Variabilität, intraindividuelle 210, 211, 213, 214 VERA 88, 92 Verhalten, aggressives 296, 298, 299 Verhältnis Wissenschaft – Politik 443 Verlust, Umgang mit gesundheitlichem 218
457
Wandel, demografischer 193, 194 Weiterbildung 167, 169–171, 173, 174, 176 Wirksamkeitsfaktor 281 Wissen, negatives 377 Wissensarbeit 168 Wissensbestand, angeborener 45 Wissenschaftstheorie 226 Wissensgesellschaft 324 Wissenskonstruktion, individuelle 320 Wissensmanagement 171, 177 Wohlbefinden 216, 217 Writing-as-Problem-Solving-View 320
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