Band 37
Brennpunkt Vergangenheit
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabel-Moewig-Verlag KG, Rastatt www.perry-rhod...
43 downloads
927 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Band 37
Brennpunkt Vergangenheit
MOEWIG
Alle Rechte vorbehalten © by Pabel-Moewig-Verlag KG, Rastatt www.perry-rhodan.net Bearbeitung: Rainer Castor Redaktion: Sabine Kropp Titelillustration: Arndt Drechsler Vertrieb: Fantasy Productions Verlags- und Medienvertriebs-GmbH, Erkrath www.fanpro.com Druck und Bindung: CPI Morawia Books s.r.o. Tschechien Printed 2010 ISBN: 978-3-89.064-069-3
Prolog Aus: The Archaic Ages of Arkon – an introduction, Felice Bordes-Commot In: The Cambridge History of Mankind; Cambridge, Terra, 2811
Als Atlan im April 2044 die Kontrolle über den Robotregenten erlangte, wurde es den terranischen Wissenschaftlern erstmals möglich, auf legalem Wege die immense Menge der in den imperialen Archiven des Tai Ark’Tussan gesammelten Daten zu sichten und auszuwerten. Selbstverständlich gab es diverse Prioritäten: Die Baupläne der technischen Errungenschaften, die Navigationskarten der Milchstraße und zahllose geschichtliche Abhandlungen, von denen sich die Terraner die Erweiterung ihres kosmologischen Wissens erhofften, hatten aus verständlichen Gründen Vorrang. Das abweisend-arrogante Auftreten der wenigen aktiven Arkoniden machte die Aufgabe sicherlich nicht gerade leicht. Und auch die Terraner selbst befanden sich damals in einer ungestümen »Sturm-und-Drang-Periode«: Man war zweifellos nur marginal (wenn überhaupt!) an der arkonidischen Kulturgeschichte interessiert. Erst nach der Begegnung mit den Meistern der Insel drang die Bedeutung der uralten Berichte aus der Zeit des lemurischen Tamaniums (die teilweise wiederum auf noch wesentlich älteren, stark mythisierten Legenden eines Großen Galaktischen Krieges basieren, der noch vor der Hochkultur der Barkoniden vor mehr als einer Million Jahren anzusetzen ist!) in das Bewusstsein der terranischen Wissenschaftler. Schon die Gründung des Historischen Korps der USO und des Exotischen Korps der Solaren Abwehr hatte diese Entwicklung widergespiegelt. Die Werke der Alt-Arkoniden wurden (angesichts der standhaften Weigerung der Akonen, eigenes Datenmaterial mit den verhassten Terranern zu teilen, sodass wir weiterhin auf illegal von Drorah fortgeschmuggeltes Material angewiesen sind!) neben den wenigen
bruchstückhaften Angaben der Tefroder und den verwirrenden Erkenntnissen der zeitversetzten CREST III zu der verlässlichsten Quelle über die ferne Vergangenheit der Milchstraße. Anfänglich unbedeutend erscheinende Informationen entpuppten sich bei näherer Betrachtung des Öfteren als wahre Fundgruben des »Alten Wissens«.
1. Persönliches Log Karmina da Arthamin, aufgezeichnet am 33. Prago des Ansoor 10.499 da Ark: Ich denke und handele in den Kategorien eines Militärs. Trotz meiner erst 27 Arkonjahre bin ich ein hochdekorierter Orbton im Rang eines Has’athor und trage die gelbe Sonnenscheibe mit glattem Rand als Admiral Vierter Klasse zu Recht. An Bord der ISCHTAR allerdings fühle ich mich überfordert. Mit Atlan und den Getreuen des Kristallprinzen, die gegen die Herrschaft Orbanaschols kämpfen, hätte ich mich ja abfinden können, aber seit wir von Akon-Akon terrorisiert werden, den wir – ohne Bewusstsein, gefangen in einer Art Konservierung – auf der Welt der Goltein-Heiler gefunden haben, ist alles hinfällig geworden, was ich gelernt habe. Der Junge von Perpandron hat sich mit seinen geistigen Kräften zum Herrscher über die Besatzung der ISCHTAR aufgeschwungen. Viele Pragos der Demütigung und der ständigen Belastung zerrten an unser aller Nerven: versuchter Widerstand und Abscheu einerseits und der Zwang zum Gehorchen andererseits, von einem Wesen, das mir an Jahren, Herkunft und Klugheit namenlos unterlegen ist. Höhepunkt der Entwicklung war allerdings, als wir gestern auf Befehl Akon-Akons von dem Wasserplaneten Ketokh starten mussten. Der Bauchaufschneider Fartuloon wurde zuvor ausgesetzt, das Schicksal des Kristallprinzen sowie von Algonia Helgh, Jorn Asmorth und Gerlo Malthor war ungeklärt. Ob sie noch leben, weiß keiner an Bord. Und niemand von uns konnte sich wehren! Wir ließen sie zurück, folgten dem geistigen Zwang dieses fürchterlichen Jungen. Seither hat der »abgespeckte« Schlachtkreuzer nur eine vergleichsweise geringe Distanz überbrückt; wenige Dutzend Lichtjahre. Nach wie vor befinden wir uns im Zentrumsbereich der Öden Insel. Seit einigen Tontas fliegt die ISCHTAR im freien Fall, Akon-Akon hat sich zurückgezogen. Ob das ein gutes oder schlechtes
Zeichen ist, wird sich sicher bald herausstellen…
An Bord der ISCHTAR: 33. Prago des Ansoor 10.499 da Ark »Es ist zum Verzweifeln.« Ra kratzte sich wütend den wolligen Schädel und starrte die Instrumente auf dem Pult an, vor dem er saß. »Ich habe dir gleich gesagt, dass du es nicht schaffst«, sagte Karmina da Arthamin ruhig. »Eine Kursänderung ohne den Befehl des Jungen ist undurchführbar.« »Wir müssen zurück. Wir können doch nicht zulassen, dass Atlan und die anderen hilflos auf diesem verdammten Planeten zurückbleiben.« »Wir wollen es nicht«, korrigierte die Sonnenträgerin. »Aber wir können unseren Willen nicht in die Tat umsetzen.« »Und wenn wir ein Beiboot ausschleusen?« »Damit ist niemandem geholfen. Abgesehen davon, dass es uns höchstwahrscheinlich gar nicht gelingt.« »Ich versuche es trotzdem.« Karmina da Arthamin sah dem dunkelhäutigen Barbaren seufzend nach. Noch vor kurzer Zeit war sie eine erklärte Gegnerin des Kristallprinzen gewesen, bereit, den Befehl des Imperators zu erfüllen, der eine hohe Prämie auf Atlans Kopf ausgesetzt hatte. Inzwischen hatte sie ihre Meinung geändert. Atlan war kein Freibeuter und Pirat, wie sie zunächst angenommen hatte. Obwohl sie ihn noch nicht lange kannte, hatte sie ihn in etlichen wichtigen Situationen beobachten können. Verglich sie Atlan und Orbanaschol miteinander, schnitt der fette Mann im Kristallpalast von Arkon I nicht sehr schmeichelhaft ab. Am meisten jedoch imponierte ihr die unverbrüchliche Treue, mit der so verschiedenartige, sogar völlig fremde Wesen wie Ra und Vorry zu dem jungen Mann hielten. Sie warf dem pechschwarzen, tonnenförmigen Wesen, das sich
in der Zentrale aufhielt, einen Blick zu. Vorry bemerkte den Blick und knurrte: »Ich wollte, ich könnte ihn zerdrücken.« Sie lächelte schwach, wandte sich wieder den Instrumenten zu. Niemand kümmerte sich im Augenblick darum, wo sich das Schiff befand und wie die Umgebung aussah. Akon-Akon verhielt sich still – ein Umstand, der beunruhigte. Was würde Akon-Akon unternehmen, sobald er sich endlich zu einer Entscheidung durchrang? Auf den Bildschirmen und im Projektionsband der Panoramagalerie standen die Riesensonnen dieses Sektors als hart glänzende Punkte. Leuchtende Gasnebel bildeten filigranartige Muster, dahinter verschwammen die Sterne zu einem dichten Gewimmel verschieden heller Lichtflecke. Die Besatzung kannte die genaue Position noch immer nicht. Außer Karmina da Arthamin und dem Magnetier war niemand in der Zentrale. Alles an Bord schien den Atem anzuhalten, eine unheimliche Spannung hing in der Luft. Es war, als würde sich ein Gewitter zusammenbrauen. Die Stille war unheimlich. In den Wänden des Raumschiffs knackte es ab und zu. Belüftungsanlagen summten leise.
Ra stapfte weiter. Nirgends sah er jemanden, er hörte keine Stimmen, keine anderen Schritte. Die gesamte Besatzung schien regungslos auf die Befehle des Jungen zu warten. Ras Schritte hallten von den kahlen Wänden wider. Er erreichte den Antigravschacht, stieß sich ab und schwebte nach oben. Im Vorbeischweben spähte er in jedes Deck, aber das Bild blieb unverändert. »Verdammt«, murmelte er kaum hörbar. »Was geht hier eigentlich vor?« Federnd setzte er im Vorraum des Hangars auf, war auf alles gefasst. Es enttäuschte ihn beinahe, dass niemand auf ihn wartete. Diese Ruhe war schlimmer als ein noch so wilder Kampf.
Er wollte endlich wissen, woran er war. Das Schott öffnete sich lautlos. Ra spähte um die Ecke. Der Hangar war bis auf das diskusförmige Leka-Beiboot Typ LE-20-8 leer. Es maß zwanzig Meter im Durchmesser, acht in der Höhe und konnte von einer Person beherrscht werden. Das Gegenstück zu der transparenten Kuppel auf dem oberen Teil des Diskus bildete die Bodenschleuse, durch die das kleine Schiff betreten oder wieder verlassen wurde. Noch ruhte es auf den vier abgespreizten Teleskopstützen. Mit langen Schritten erreichte der Barbar den Einstieg. Akon-Akon hat niemandem verboten, die ISCHTAR zu verlassen. Der Junge war voll und ganz darauf eingestellt, auf einem Planeten zu erwachen. Aber er war aus der subplanetarischen Anlage auf Perpandron entführt worden und hatte so die ISCHTAR erreicht. Die Folgen waren verheerend. Der Junge verstand von Raumfahrt kaum etwas, konnte sich nur schwer an die Tatsache gewöhnen, dass er sich nicht auf dem festen Boden eines Planeten befand. Während des Fluges nach Ketokh hatte niemand die Schwachstelle entdeckt, denn die Verwirrung war zu groß gewesen. Auf dem Planeten selbst hatte Akon-Akon durchaus richtig reagiert. Aber jetzt, nach dem Start, hatte er versäumt, ein ausdrückliches Verbot auszusprechen. Wahrscheinlich kam der Junge gar nicht auf die Idee, dass das möglich war. Seine Erfahrungen mit der Raumfahrt waren minimal. Vielleicht ahnte er nicht einmal, dass es überhaupt Beiboote gab, die eine beachtenswerte Reichweite harten. Ra grinste, prüfte die Systeme des Diskus und fand keinen Fehler. Als er gerade den Impuls abstrahlen wollte, um die Schleuse zu öffnen, fiel ihm ein, dass er Kursdaten brauchte. Zwar hatte er sich in der Zentrale aufgehalten, aber er war keine Positronik. Hastig drückte er auf eine Taste des Interkoms. Der Schirm erhellte sich – und Ra wusste, dass er die Chance verstreichen lassen musste. Es war unwahrscheinlich, dass diese Gelegenheit noch einmal zurückkehrte.
Akon-Akon stand in der Zentrale, wandte der Kamera den Rücken zu, aber Ra erkannte ihn trotzdem. »Wo ist Ra?« Karminas Augen weiteten sich unwillkürlich, als sie direkt hinter dem Jungen das Gesicht des Barbaren entdeckte. Ra wusste, wann er ein Spiel verloren hatte. Niemand vermochte es, diesem Jungen eine Auskunft zu verweigern oder ihn gar zu belügen. Die Frau kämpfte gegen den unheimlichen Zwang an, der von Akon-Akon ausging. Ehe sie endgültig verlor, drückte Ra die Sprechtaste. »Ich nehme eine Inspektion vor.« Akon-Akon drehte sich gelassen um und sah zum Bildschirm des Interkoms. »Wo bist du?« Diese Frage hatte Ra befürchtet. Im Stillen verwünschte er die Tatsache, dass Akon-Akon nach dem Fiasko beim Landeplatz der ISCHTAR einen großen Teil der Zeit darauf verwendet hatte, seine Sprachkenntnisse zu verbessern. In dieser Hinsicht lernte er unglaublich schnell. Als er noch ausschließlich Altarkonidisch sprach, war der Umgang mit ihm angenehmer gewesen. Auf diese direkte Frage konnte der Barbar keine ausweichende Antwort mehr geben und murmelte bitter: »Im Leka-Hangar.« »Was ist das?« Ra hatte sich immer für ziemlich willensstark gehalten, aber jetzt erklärte er diesem unverschämten Bengel haargenau, was es mit dem Hangar auf sich hatte. »Du wolltest die ISCHTAR verlassen?« Ra nickte stumm. »Du kehrst so schnell wie möglich auf deinen Platz zurück!« Während Ra resignierend aus dem Beiboot kletterte und durch die leeren Gänge schritt, hörte er aus den Lautsprechern Akon-Akons Stimme. »Niemand wird dieses Schiff verlassen, es sei denn, auf meinen ausdrücklichen Befehl. Niemand wird einem anderen behilflich sein, zu fliehen oder sich auf andere Weise gegen meine Befehle zu stellen.« Er lernt, dachte Ra beunruhigt. Er hat die Lehre aus seinen
Fehlern gezogen. Von nun an wird es immer schwieriger werden, ihn zu überlisten. Wie schwierig, erfuhr er, als er die Zentrale erreichte. Akon-Akon war immer noch da. »Warum wolltest du das Schiff verlassen?« »Wir haben vier Männer und eine Frau auf Ketokh zurückgelassen. Ich wollte ihnen helfen.« »Mit einem Beiboot?« Widerstrebend setzte Ra dem Jungen auseinander, zu welcher Flugleistung die kleinen Raumschiffe fähig waren. Akon-Akon hörte aufmerksam zu. In der einfachen Kombination, die er seit Kurzem trug, wirkte er nicht mehr so fremdartig. Nur die übergroßen roten Augen erinnerten daran, dass er kein normaler Arkonide war. »Es ist gut«, sagte Akon-Akon fast unbeteiligt, als Ra den Bericht abschloss. »Du wirst keinen weiteren Versuch dieser Art unternehmen. Auch ein unbemannter Start ist verboten. Wir werden unseren Flug fortsetzen.« »Mit welchem Ziel?« »Wir suchen ganz bestimmte Planeten. Du und die anderen werden die Schiffsführung auch weiterhin übernehmen. Steuert jedes Sonnensystem mit Planeten an, das ihr findet. Ich möchte diese Welten selbst prüfen.« »Aber das ist doch sinnlos. Bei jedem beliebigen Planeten wird die Suche ewig dauern. Worauf sollen wir achten?« »Natürlich auf Zeichen von Besiedlung. Hochstehende Zivilisation, aber keine oder kaum Raumfahrt. Achtet dennoch vor allem auf intensive Strukturschocks.« Ra wurde allmählich ungeduldig. Der Junge verstand nicht, dass der Befehl in dieser Form fast undurchführbar war. Sie konnten jahrelang durch den Raum eilen, ohne einen Planeten zu finden, der die gewünschten Spuren aufwies. Nur mit Verzögerung wurde dem Barbaren bewusst, dass Akon-Akons Befehl auf ganz spezifische Informationen abhob. Keine
Raumfahrt – aber dennoch anmessbare Strukturschocks? Transmitter? »Somit scheiden also Welten mit für uns ungünstigen Umweltbedingungen aus«, mischte sich Karmina ein. »Oder ist es gleichgültig, dass wir die Ruinen von Stützpunkten der Methans und ähnlich fremdartiger Wesen finden?« »Methans?« »Wasserstoffatmer«, sagte die Frau geduldig. »Sie werden auch Maahks genannt.« »Sind das Wesen, die in einer für uns giftigen Atmosphäre leben?« Ra seufzte. Er hatte noch nie ein Wesen getroffen, bei dem Unwissenheit und Überlegenheit in so merkwürdigem Verhältnis zueinander standen. »Ja. Die Maahks sind nur eins von vielen Sternenvölkern. Wir kennen einige tausend Arten intelligenter Lebensformen. Einige sehen uns ähnlich, andere sind völlig fremdartig. Die meisten unterscheiden sich nicht nur durch ihr Aussehen, sie stellen auch unterschiedliche Ansprüche an ihre Umwelt.« Akon-Akon lauschte fasziniert. Es schien, als habe er die Arkoniden bisher für einzigartig gehalten. Dabei war er doch auf Ketokh den Spitzköpfen begegnet, in der Zentrale saß der Vertreter eines unbekannten Volkes – nämlich Vorry, der sich zweifellos den schwarzen Kopf darüber zerbrach, wie er den Jungen aus dem Verkehr ziehen könne. »Ich verstehe«, murmelte Akon-Akon nachdenklich, schwieg lange und starrte auf die Bildschirme. Unzählige Sonnen waren zu sehen. Der Junge von Perpandron gab sich einen Ruck. »Es kommen nur Planeten infrage, die für uns geeignete Verhältnisse aufweisen. Es spielt keine Rolle, dass die Idealwerte geringfügig unter- oder überschritten werden.« Er wollte sich abwenden und die Zentrale verlassen, aber Ra war mit den erhaltenen Anweisungen längst nicht zufrieden.
»Wonach suchst du eigentlich?« Akon-Akon sah den dunkelhäutigen Barbaren an. »Du bist kein Arkonide.« Ra wartete schweigend. »Ich bin Akon-Akon. Um meine Bestimmung erfüllen zu können, reicht es nicht, auf irgendeinem Planeten eine Siedlung zu errichten und Nachkommen zu zeugen. Das habe ich jetzt erkannt. Der Plan muss anders ausgeführt werden. Um nicht noch mehr Fehler zu machen, suche ich nach denen, die mich auf Perpandron geformt und zurückgelassen haben.« »Du willst in diesem Sternendschungel dein Volk aufspüren?« Karmina deutete fassungslos zur Panoramagalerie. »Unter Milliarden Sternen?« Akon-Akon lächelte flüchtig. »Ja.« »Aber das wird nie und nimmer gelingen. Wir wissen nicht einmal, in welchem Teil der Öden Insel wir uns befinden. Vielleicht sind wir in einer Sternballung in der Nähe des galaktischen Zentrums, aber das ist nur eine Vermutung. Weißt du überhaupt, wie viele Sonnen es im Abstand von nur hundert Lichtjahren gibt? Nehmen wir an, dass jede nur drei Planeten hat und davon nur ein Zehntel annähernd arkonähnliche Bedingungen aufweist…« »Es spielt keine Rolle«, unterbrach er sie. Karmina schnappte hörbar nach Luft. »Wir könnten nach Ketokh zurückfliegen und die Leute an Bord nehmen, die wir zurückgelassen haben«, sagte Ra. »Atlan und Fartuloon kennen viele fremde Planeten. Vielleicht wissen sie sogar, wo dein Volk jetzt ist. Auf jeden Fall aber können sie die ISCHTAR aus diesem Sektor herausbringen. Wenn wir beispielsweise auf Perpandron mit der Suche beginnen, haben wir eine gute Chance.« »Ich habe gesagt, es spielt keine Rolle.« Akon-Akons Blicke brachten Ra und die Sonnenträgerin zum Schweigen. »Es gibt
viele Dinge, die ich noch nicht ganz verstehe. Aber ich lerne. Und es gibt Wissen, das mir inzwischen wieder zugänglich ist. Ich weiß, dass es überall Spuren gibt, die mein Volk hinterließ. Daher ist es gleichgültig, an welcher Stelle wir mit der Suche beginnen. Sobald ich einen Hinweis sehe, erkenne ich ihn und durchschaue seine Bedeutung. Und nun wünsche ich, dass ihr umgehend mit der Arbeit beginnt.« Vorry hielt sich im Hintergrund. Bis jetzt hatte Akon-Akon die Möglichkeiten des Tonnenwesens noch nicht erkannt. Vorry legte Wert darauf, dass es so blieb. Unterschätzte Akon-Akon ihn, gab er sich vielleicht doch einmal eine Blöße. »Wir sind zu wenig Leute in der Zentrale«, protestierte Ra wütend. Akon-Akon drehte sich kurz vor dem Schott um, wirkte ungeduldig. »Das ist nicht mein Problem, aber da ihr offensichtlich unfähig seid…« In diesem Augenblick sprang Vorry vor. Er hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass ihn der Junge vergaß, weil er sich zu stark auf Ra und Karmina konzentrierte. Dieser Augenblick war gekommen. Akon-Akon wurde von seinen Überlegungen und seiner Ungeduld so stark in Anspruch genommen, dass der Magnetier für einen Augenblick das Gefühl hatte, frei zu sein. Wie ein riesiges Geschoss raste er auf den Jungen zu. Akon-Akon reagierte mit unerwarteter Geschwindigkeit und huschte zur Seite, während der Magnetier seine Richtung nicht schnell genug ändern konnte. Zum Abbremsen blieb ebenfalls keine Zeit. Vorry krachte mit voller Wucht gegen das Schott. Die metallene Platte knirschte bedrohlich. Dem Magnetier machte der Aufprall nichts aus, er wirbelte herum, bereit, das Werk zu vollenden – und blieb hilflos stehen. Der Junge starrte das Tonnenwesen an. Akon-Akons übergroße Augen schienen nun zu lodern. Der Zwang, der von dem Jungen ausging, war so stark, dass keiner der drei auch nur den Kopf
bewegen konnte. Gelähmt standen sie auf ihren Plätzen. Akon-Akon lächelte verächtlich. Wortlos drehte er sich um und schritt davon. Das Schott knirschte und krachte, blieb fast in den Führungsschienen stecken. Ra sah verbittert dem Jungen nach, der sich in einen Liftschacht schwang. »Ich hätte ihn fast erdrückt«, jammerte Vorry enttäuscht.
An Bord der ISCHTAR: 36. Prago des Ansoor 10.499 da Ark Die gelbe Sonne, die im Mittelpunkt des Bildschirms leuchtete, hatte fünf Planeten und wirkte auf den ersten Blick in keiner Weise ungewöhnlich. Die hyperschnellen Energieorter konzentrierten sich auf den zweiten Planeten. »Fernortung!« Ra war müde. Seit Tagen hatte er kaum ein Auge zubekommen. Akon-Akon hielt es für überflüssig, weitere »Untertanen« für die Schiffsführung abzustellen. »Impulse von Kraftstationen. Das ist ganz eindeutig. Und dann diese spitzen Amplituden der Strukturerschütterungen. Fast wie Transitionen… Transmitter? Aber von dieser Intensität? Müssen riesige Aggregate sein. Oder viele tausend oder beides.« »Keine Raumschiffe«, rief Vorry von einem anderen Pult herüber. »Weder in der Nähe des Planeten noch sonst im System. Es müssen also Transmitter sein.« »Komisch. Riesige Energiequellen, aber keine Raumfahrt. Wie passt das zusammen?« »Warten wir, bis wir näher heran sind«, schlug Karmina vor. »Es sieht so aus, als hätten wir gefunden, was der Junge sucht.« Der dunkelhäutige Mann, den ein schier unglaubliches Schicksal aus einer Steinzeitzivilisation gerissen hatte, erkannte das Absonderliche seiner Situation genau, aber er war zu erschöpft, um sich darüber zu amüsieren. Er, ein Barbar, hatte vorübergehend das Kommando auf der ISCHTAR übernommen, einem Raumschiff von dreihundert Metern Durchmesser, das
über Triebwerke verfügte, die es durch die halbe Galaxis tragen konnten. Rund fünfhundert Besatzungsmitglieder lebten in der stählernen Kugel, darunter hoch qualifizierte Wissenschaftler, Techniker, Strategen. Neben ihm beobachtete Karmina da Arthamin die Instrumente – als Sonnenträgerin hatte sie eine ganze Flotte kommandiert. Und ausgerechnet er, der Barbar, der bei seinem ersten Zusammentreffen mit Vertretern dieses Volkes jeden Arkoniden für einen Gott gehalten hatte, trug nun zu einem großen Teil die Verantwortung für dieses Schiff. Er machte sich nichts vor. Seine Macht war gering. Die Verantwortung als Kommandant auf Zeit beschränkte sich darauf, einer Handvoll Leuten jene Befehle zu erteilen, die die Sicherheit der ISCHTAR garantierten. Welches Ziel er anflog, welchen Beschäftigungen der Rest der Mannschaft nachging – das alles lag außerhalb seiner Zuständigkeit. Weitere Werte kamen herein. Planet Nummer fünf – eine riesige Welt, deren Oberfläche von Stickstoffsümpfen und Methanschneewüsten überzogen war. Darüber brodelten Wolkenmassen, während die Schwerkraft ausreichte, um einen Arkoniden fast augenblicklich zu töten. Nummer vier – lebensfeindlich, eisig, von den Trümmern zerstörter Monde umkreist. Nummer drei – eine atmosphärelose Kugel aus totem Gestein und gefrorenen Gasen. Nummer zwei… Die Werte sahen gut aus. Eine atembare Atmosphäre, erträgliche Durchschnittstemperaturen, normale Schwerkraft. Noch waren sie zu weit entfernt, um Einzelheiten auf der Oberfläche erkennen zu können. Fanden sie endlich die Spuren, nach denen Akon-Akon suchte, wurden sie den Jungen vielleicht sogar los. Und das hieße, dass sie nach Ketokh zurückkehren und Atlan und seine Begleiter abholen konnten… »Glaubst du, der lässt uns so einfach ziehen?«, fragte die
Sonnenträgerin skeptisch. Ra schüttelte den Kopf. »Nein, aber eine Chance haben wir dann wenigstens. Hat er sein Volk gefunden, wird er uns wohl nicht mehr brauchen. Ich hoffe es jedenfalls.« »Eines Tages werde ich ihn doch noch zerdrücken«, versicherte Vorry ernsthaft. Das Tonnen wesen stellte fest, dass niemand auf seinen Einwurf achtete, und zog sich beleidigt zurück. Auch er musste in der derzeitigen Notlage Aufgaben übernehmen, und wenn auch so mancher den Magnetier für ein tollpatschiges Tier halten mochte, so war Vorry doch ein zuverlässiger Mitarbeiter.
Langsam glitt die ISCHTAR nach der Transition tiefer in das System. Der Kugelraumer kreuzte die Umlaufbahn des äußersten Planeten. Weitere Ortungsdaten liefen ein. Der Sauerstoffplanet hatte drei große Kontinente, zahlreiche kleine Inseln und ausgedehnte Polkappen. Große Städte unterbrachen das saftige Grün von Savannen und Wäldern. Die Schwerkraft lag knapp oberhalb des Standardwerts, die mittlere Temperatur bei dreißig Grad. Die Eigenrotation betrug knapp vierundzwanzig Tontas. Monde waren nicht vorhanden. »Was habt ihr gefunden?« Akon-Akons Stimme hallte in viel zu großer Verstärkung durch die Zentrale. Ra zuckte zusammen, blickte unsicher zu dem Bildschirm und erstattete Bericht. Nach einem Blick in die großen roten Augen blieb ihm nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Akon-Akon nickte gnädig. »Ich wünsche, dass du mir in kürzester Zeit die Oberfläche dieser Welt zeigst.« »Riesige Städte«, stellte die Sonnenträgerin kurz darauf fest. »Aber immer noch keine Anzeichen dafür, dass die Leute dort unten Raumschiffe haben.« »Ich messe große Metallansammlungen an«, verkündete Vorry genießerisch und schmatzte lautstark. »Eisen – mir wird ganz
schlecht vor Hunger, wenn ich nur daran denke!« »Eines Tages wird dieses Ungetüm noch ein Loch in die Schiffshülle fressen«, orakelte Ra düster. »Du irrst dich. Bei diesem Hunger würde ich mich mit Kleinigkeiten gar nicht aufhalten. Ich könnte die ganze ISCHTAR verspeisen. Dann ein paar Roboter als Nachspeise, und die Schwerter von Akon-Akons Leibwächtern wären ein feines Konfekt.« Sie lachten, aber ihre Heiterkeit verflog, als ein lautes Glockensignal ertönte. Akon-Akon bemühte sich persönlich in die Zentrale, kam aber nicht allein. Eine Schar von Untertanen begleitete ihn. Ra spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken, als er die stumpfen Blicke einiger Raumfahrer sah. Sie standen schon zu lange unter dem intensiven Einfluss des Jungen. Die Wirkung war individuell verschieden. Während er, der Magnetier und die Sonnenträgerin noch einigermaßen frei waren, hatten andere ihren Willen völlig verloren. Besorgt fragte er sich, ob dieser Vorgang überhaupt umkehrbar war. Und selbst wenn – die psychische Belastung der permanenten Ohnmacht und Demütigung, keinen freien Willen zu haben, konnte zu dauerhaften Problemen führen. »Ich will die Bilder sehen!« Ein Bildschirm erhellte sich. Die Oberfläche des Planeten, übersät von Städten und weitläufigen Anlagen, die vielleicht einmal als Landefelder für Raumschiffe gedient hatten, wurde sichtbar. Der Junge starrte lange Zeit auf dieses Bild, schließlich nickte er. »Dorthin fliegen wir!« Ra wartete, bis Akon-Akon mit seinem Gefolge die Zentrale verlassen hatte. »Kurs auf den zweiten Planeten. Natürlich versuchen wir, in einer Umlaufbahn nähere Erkenntnisse zu gewinnen, ehe wir eine Landung riskieren. Vorry, du übernimmst die Raumbeobachtung. Irgendwie kommt mir das Ganze komisch vor.« »Meinst du, es könnte eine Falle sein?«, fragte die
Sonnenträgerin. Ra musterte nachdenklich die Bilder auf den Schirmen. Die Wesen, die diese Städte gebaut hatten, mussten ein hohes technisches Niveau erreicht haben. Die Energieechos wurden zahlreicher und deutlicher. Aber noch immer fehlte es an Beweisen dafür, dass dort unten intelligente Lebewesen existierten. »Bevor ich nicht weiß, wer die Erbauer dieser Städte waren, wo sie geblieben sind und was mit ihnen geschah, rechne ich mit allem. Ich bin von Natur aus misstrauisch. Funksignale?« »Nein.« Die ISCHTAR flog ihrem Ziel entgegen. Aus den Tiefen des Schiffes hallten die Klänge einer exotischen Musik, das Brüllen fanatischer Arkoniden, der Kampflärm aus der Arena, in der für Akon-Akon weiterhin Schaukämpfe abgehalten wurden. Ra fröstelte. Die Geräuschkulisse gefiel ihm nicht. »Ich möchte bloß wissen, was der Knabe für ein Interesse an diesem Planeten hat. Sind es nur diese Strukturerschütterungen?« Karmina da Arthamin zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, wäre mir auch wohler. Ich würde viel darum geben, könnten wir Akon-Akon zwingen, nach Ketokh zurückzukehren, um Atlan, Fartuloon und die anderen an Bord zu nehmen. Aber dieses Jüngelchen hat uns leider in der Gewalt. Seit er an Bord ist, geht alles schief. Wir können froh sein, dass er uns wenigstens miteinander reden lässt.«
Sämtliche Ortungsinstrumente waren auf den Planeten gerichtet, den das Kugelschiff umkreiste. Inzwischen war der 1. Prago der Prikur 10.499 da Ark angebrochen. Obwohl diese Welt keinen Mond hatte, wurde es hier dennoch nie richtig finster. Von den dicht stehenden Sternen am Himmel waren einige sogar am Tag sichtbar. »Umschalten auf Ausschnittvergrößerung!«, befahl
Akon-Akon. Die Einblendung veränderte sich. Bilder einer großen Stadt wechselten. Trichtertürme von beachtlicher Größe wurden sichtbar, wenngleich sie eindeutig von anderer Form waren als jene, die die Arkoniden errichteten. Auf den Straßen wimmelte es von fremdartigen Wesen. »Ekelhafte Kreaturen!«, schrie Akon-Akon angewidert. »Grünpelze!« Auf dem Bildschirm waren Abertausende zu erkennen, die sich um riesige Bildflächen scharten, die in den Straßen der Stadt aufgestellt waren. Die Instrumente zeigten eindeutig starke Transmittertätigkeit an. »Na, so abscheulich können diese Fremden doch gar nicht sein.« Der Barbar spürte, wie der suggestive Druck Akon-Akons auf sein Bewusstsein nachließ. »Wenn sie Transmitter entwickelt haben, stehen sie auf einer uns vergleichbaren technischen Entwicklungsstufe.« »Nein.« Akon-Akons Miene drückte Abscheu und Ekel aus. »Diese Kreaturen haben keine Transmitter entwickelt. Dazu wären sie niemals fähig.« »Warum sind wir dann hierhergekommen?«, fragte Karmina. »Das ist meine Sache.« Akon-Akons Gesicht verdüsterte sich, er senkte den Kopf, schien einen inneren Kampf auszufechten. Niemand an Bord vermochte sich zu erklären, was in den geheimnisvollen Jungen gefahren war. Ra veränderte erneut die Einstellung. Eine Arena war nun zu erkennen, mindestens einen Kilometer lang und fast fünfhundert Meter breit. Die haushohen Seitenwände waren auf der Oberseite mit Ziersträuchern bepflanzt. Wolkenloser Sonnenhimmel wölbte sich über der Kampfstätte, in der sich Szenen eines brutalen Kampfes abspielten. Die Grünpelze droschen mit unterschiedlichen Waffen auf ihre Artgenossen ein. Mehrere von ihnen lagen sterbend am Boden. Staub wirbelte auf. Weiter hinten erblickte Ra ein Aggregat, bei dem es sich zweifellos um einen Transmitter handelte, doch statt einer Käfigkonstruktion gab es
Säulen, die das nachtschwarze Transportfeld flankierten, das von einem Energiebogen überspannt wurde. »Merkwürdiges Modell«, murmelte Ra. »Im ganzen Großen Imperium gibt es solche Konstruktionen nicht.« Sein Blick fixierte ein grünpelziges Wesen, das vor seinen Artgenossen davonrannte und aus zahlreichen Wunden blutete. Nicht mehr lange, bis die anderen es eingeholt hatten. Ra konnte sein Mitgefühl nicht ausdrücken, empfand es als ungerecht, wenn ein Wesen von einer erdrückenden Übermacht zu Tode gehetzt wurde. »Ich will diesen Grünpelz retten. Ich erbitte Starterlaubnis mit einem Beiboot.« Akon-Akon rührte sich nicht. Der Junge starrte gedankenverloren auf den Boden. Sein Blick schien ins Leere zu gehen. »Na, also wenn das alles ist, kann ich das Kommando über die ISCHTAR übernehmen«, scherzte Ra. Der Suggestor reagierte auch darauf nicht. Den anderen Besatzungsmitgliedern wurde ebenfalls bewusst, dass der suggestive Zwang fast ganz verschwunden war. Ra verließ die Zentrale und eilte zu den Beiboothangars. Unterwegs begegnete er zwei jungen Technikern. »Ah, Nordol und Kestin Bulovo. Ihr könnt mich begleiten. Macht eine Leka startklar.« »Aber dieser Junge«, sagte der Techniker misstrauisch. »Er wird den Start verhindern.« »Keine Angst.« Ra ließ das schwere Hangarschott aufgleiten. »Der macht uns im Augenblick keine Schwierigkeiten. Kann sein, dass er bald wieder zur Besinnung kommt aber bis dahin haben wir einen Grünpelz an Bord. Ich hoffe, der Bursche kann uns mehr über seinen Planeten verraten. Ich will nämlich unbedingt wissen, weshalb Akon-Akon so sonderbar reagiert.«
Das diskusförmige Beiboot raste mit Höchstgeschwindigkeit zur
Arena, die Ra auf dem Zentralebildschirm gesehen hatte. Die Befürchtungen der Techniker, planetare Abwehrforts könnten sie orten und abschießen, hatten sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Es existierte kein einziges Raumschiff auf dieser technisierten Welt, obwohl es große Flächen gab, die an verwaiste Raumhäfen erinnerten. »Dort unten müsste es sein«, sagte Bulovo. Ra verringerte die Geschwindigkeit abrupt. »Das ist unser Mann. Er hat sich tapfer geschlagen und bis jetzt durchgehalten.« Im gleichen Augenblick blieben die Kämpfer stehen, hoben die Köpfe und deuteten auf den tiefer schwebenden Diskus. Im Hintergrund erlosch das Transportfeld des Transmitters. Mehrere Gleiter schossen mit hoher Geschwindigkeit näher. »Sie haben uns entdeckt. Wir scheinen ganz schön Verwirrung zu stiften.« Jetzt hoben zwei Grünpelze Speere, zielten auf ihren Artgenossen, der kraftlos zusammengebrochen war. »Paralysefächer justieren«, rief Ra. »Justiert«, entgegnete Nordol. »Ziel erfassen und… Feuer!« Bevor die Bepelzten ihr Opfer töten konnten, blitzte es grell auf. Ein gefächerter Lähmstrahl raste auf die Wesen zu, hüllte sie ein und erlosch. Sie brachen lautlos zusammen und blieben in verkrampfter Haltung liegen. Der Flüchtling stand auf und blickte ratlos zur Leka empor. »Wir nehmen ihn an Bord. Langsam runtergehen und Bodenschleuse öffnen.« Ra schwang sich vom Kommandositz und grinste übers ganze Gesicht. »Erschreck den armen Grünpelz nicht noch mehr«, sagte Nordol. »Keine Angst.« Inzwischen schwebte der Diskus knapp zwei Meter über dem Boden. Der entsetzte Grünpelz stand nur wenige Meter von der geöffneten Schleuse entfernt. Als er den dunkelhäutigen Barbaren im Innern erkannte, stöhnte er
unterdrückt auf, bedeckte die Augen mit den Händen und wankte ein paar Schritte rückwärts. In der Ferne tauchte ein ganzer Pulk von Gleitern auf. Ra erkannte die Bedrohung sofort, als er sah, dass die Besatzungen bewaffnet waren. »Komm schon – oder sollen dich deine Artgenossen doch noch erwischen? Sah vorhin verdammt schlecht für dich aus.« Der Bepelzte reagierte nicht auf Ras Worte, nahm jedoch die Hände von den Augen und starrte verständnislos hoch. »Wir verlieren zu viel Zeit. Komm endlich! Ich will die Reise nicht umsonst gemacht haben.« Die Gleiter kamen mit unverminderter Geschwindigkeit näher. Der Barbar deutete auf sich. »Ra.« Das schien der Grünpelz zu verstehen, machte dieselbe Geste und sagte in einer merkwürdig bellenden Sprache: »Snayssol.« Damit war der Bann gebrochen. Snayssol rannte auf die offen stehende Schleuse zu und reichte dem Barbaren die viergliedrige Hand. Ra packte zu und half dem Fremden ins Beiboot. Augenblicke später schlossen sich die Hälften des Außenschotts, der Leka-Diskus beschleunigte. »Snayssol.« Ra blickte den Grünpelz fest an. »Ich bin sicher, dass du eine ganze Menge interessanter Dinge über deine Heimat erzählen kannst.«
Snayssol zitterte an allen Gliedern. Das, was an diesem Tag auf den Loghane eingestürmt war, war einfach zu viel für ihn. Er war einer der Erben des loghanischen Volkes auf dem Planeten Kledzak-Mikhon. Das hatte ihn jedoch nicht davor bewahrt, als Teilnehmer beim Spiel der Schwarzen Tore bestimmt zu werden, eine für die meisten tödliche Reise durch das planetenweite Transmittersystem. Sie war mit so zahlreichen Gefahren und Fallen aller Art verbunden, dass von den jeweils dreitausend Teilnehmern an diesem »Spiel« immer nur dreißig überlebten. Und doch hatte der Loghane zu den fünfzehn Überlebenden der
ersten Großgruppe gehört. Doch dann war er vor die Obmänner des Triumvirats geführt worden. In den Augen von Tamoyl, Kenyol und Rassafuyl war er ein Rebell, er hatte an den verbotenen Ed-Schun-Spielen teilgenommen und war zu neugierig gewesen. Tamoyl hatte den Tresor des Triumvirats geöffnet. Snayssol folgte dem Treiben des alten Loghanen mit brennenden Augen, hatte bebend gesehen, wie Tamoyl ein großes, farbiges Bild herausnahm. Snayssol nahm das Bild mit zitternder Hand. Es zeigte ein fremdes Wesen. Das Gesicht ähnelte der loghanischen Physiognomie, war jedoch völlig nackt. Nur auf dem Kopf wuchsen tiefschwarze Haare. Die Augen waren dunkel, die haarlose Haut hatte einen samtbraunen Ton. Das Gesicht drückte trotz seiner »Nacktheit« Durchsetzungsvermögen und Intelligenz aus. Vielleicht sogar… Arroganz. Snayssol erinnerte sich genau an den Dialog, hatte gefragt: »Wer ist das? Das Wesen gehört nicht zu unserem Volk.« Rassafuyl stieß einen Wutschrei aus. »Ihr dürft ihm das Bild des Ahnen nicht zeigen.« »Warum nicht, Rassafuyl?«, fragte Tamoyl. »Der Erbe Snayssol wird diesen Tag nicht überleben. Ich denke, wir sollten ihm einen Teil seiner Ungewissheit nehmen.« »Ein Ahne?«, stieß Snayssol entsetzt hervor. »Wie können die Ahnen so fremdartig aussehen? Ich dachte, sie seien Loghanen wie wir gewesen. Das muss ein Irrtum sein.« Er warf das Bild auf den Boden, krümmte sich wie unter unbeschreiblichen Schmerzen zusammen. Er schrie und jammerte. »Nein… das kann nicht die Wahrheit sein. Unsere Ahnen waren Loghanen. Ihr lügt!« Rassafuyl winkte seinen Kollegen unauffällig zu. »Es wird Zeit, dass wir ihn entfernen.« »Nein! Sagt doch, dass Ihr lügt. Das Bild ist ein Fantasiewesen. Sagt, dass wir nicht umsonst sterben. Das Spiel der Schwarzen Tore muss doch einen Sinn haben.« »Natürlich hat es einen Sinn!« Tamoyl lächelte matt. »Das Spiel der Schwarzen Tore ist eine bittere Notwendigkeit. Wenn unser Volk erst einmal begreift, woher es kommt und was es ist, wird es
untergehen.« »Was sind wir? Was sind wir? Woher kommen wir?« Die Obmänner schüttelten bedauernd den Kopf. »Das können wir Ihnen nicht sagen, Erbe Snayssol.« Mehrere Polizisten betraten den Saal des Triumvirats, Stahlpeitschen in den Händen. »Packt ihn«, rief Rassafuyl. »Achtet nicht auf seine Worte. Er ist verrückt geworden. Schafft ihn zum Beginntor von Poal-To – er geht mit den letzten Auserwählten durch das Schwarze Tor.« »Das ist Mord… kaltblütiger Mord!«, rief Snayssol. »Ihr wisst genau, dass ich nicht noch einmal alle neun Tore durchschreiten kann. Ich werde schon beim ersten Tor sterben.« »Niemand wird uns nachsagen können, dass wir einen Erben leichtfertig getötet hätten«, rief Rassafuyl höhnisch. »Sie bekommen Ihre Chance, Erbe Snayssol.« Die Polizisten trieben den Schreienden brutal vor sich her. Als Snayssol einen Fluchtversuch wagte, schlugen sie ihn mit den Stahlpeitschen nieder, schleiften ihn zum Beginntor von Poal-To. Hier verschwanden die letzten Spieler der zweiten Großgruppe im Entstofflichungsfeld. Snayssol stemmte sich verzweifelt gegen den Griff. Doch das nützte ihm nichts. Sie zerrten ihn bis vor den Transmitter. Sein Angstschrei brach ab, als ihn das Entstofflichungsfeld erfasste… Nochmals auf die lange Reise durch die Tore geschickt zu werden war einem Todesurteil gleichgekommen, denn er war bereits erschöpft gewesen. Seine Chancen, diese Tortur und die Kämpfe gegen die anderen Spieler zu überstehen, waren gleich null. Doch er hatte es geschafft, sich abermals bis zur Arena durchgeschlagen. Und dann war ein Wunder geschehen! Ein Diskus war plötzlich über dem Kampfplatz erschienen und hatte ihn aus höchster Bedrängnis gerettet. Er wurde in dem seltsamen Fahrzeug an einen anderen unbekannten Ort gebracht, wo es noch viele von den Fremden gab. Sie hatten ihn vor dem sicheren Untergang bewahrt, und dafür musste er dankbar sein.
Doch im Moment war er nur ein verängstigtes, vor Furcht schlotterndes Geschöpf. Er hatte auch allen Grund dazu. Der erste Schock war über ihn gekommen, als ihm das Bild eines Ahnen gezeigt wurde, von denen die Loghanen angeblich abstammen sollten. Dieses Wesen hatte gänzlich anders ausgesehen als er selbst und seine Artgenossen. Snayssol hatte schon immer gewisse Zweifel in Bezug auf das offizielle Geschichtsbild der Loghanen gehabt. Dass sie jedoch von diesen Fremdlingen abstammen sollten, hatte er nicht wahrhaben wollen. Er war eher bereit gewesen, zu glauben, dass ihn das Triumvirat nur in die Irreführen wollte. Dieses eine Bild konnte nicht als Beweis dafür gelten, dass es derartige Wesen wirklich einmal gegeben hatte. Jetzt aber hatte er den Beweis: Es hatte sie nicht nur gegeben – es gab sie noch! Drei von ihnen hatten ihn gerettet, nun stand er einer ganzen Schar dieser Fremden gegenüber. Es war kein Zweifel möglich, sie ähnelten dem Bild in geradezu beängstigender Weise. Kein Wunder also, dass Snayssols Geist von heilloser Verwirrung und Angst beherrscht wurde…
Die Frauen und Männer betrachteten Snayssol mit unverhüllter Neugier. Sie sahen ein aufrecht gehendes Wesen mit je zwei Armen und Beinen, aber damit endete auch die Ähnlichkeit mit einem Arkoniden schon. Snayssol war nicht größer als 1,60 Meter, der gesamte Körper mit einem dunkelgrünen Pelz bedeckt. Sein Gesicht wies eine breite stumpfe Schnauzenform auf, die Ohren ragten seitlich spitz in die Höhe, die Augen waren geschlitzt und standen schräg wie bei einem Voger. Ra stand vor dem Grünpelz, grinste ihn freundlich an und versuchte, durch gutes Zureden eine Verständigung zu erreichen. »Nur keine Angst. Wir haben dich nicht gerettet, um dich anschließend umzubringen. Wir wollen lediglich einige Auskünfte, weiter nichts.«
Snayssol erschrak. Ra hatte ihm offen die Zähne gezeigt, das galt bei seinem Volk als äußerst unfreundliche Geste. Er gab einige Laute in seiner Sprache von sich, die in den Ohren der Umstehenden bellend und unartikuliert klangen. Karmina da Arthamin schüttelte den Kopf. »Er versteht kein Satron, das ist offenkundig. Für eine Verständigung brauchen wir einen Translator.« Sie gab einem der Männer die Anweisung, ein solches Gerät zu holen. Die Sonnenträgerin redete Snayssol inzwischen in beruhigendem Tonfall zu. Damit erreichte sie wenigstens, dass das Wesen ihre gute Absicht begriff. Sein angstvolles Zittern klang ab, die vierfingrigen Hände kamen zur Ruhe, nestelten nur noch vereinzelt an dem bunten Kreuzgurt über seiner Brust. Der Translator wurde gebracht und eingeschaltet. Karmina redete weiter und machte dazu auffordernde Gesten, und bald hatte der Loghane begriffen. Erstmals brachte er zusammenhängende Sätze hervor, die von dem Semantiksektor des Übersetzungsgeräts aufgenommen und analysiert werden konnten. So kam es schließlich zu einer brauchbaren Verständigung. Snayssol verlor allmählich seine Scheu vor den Fremden, berichtete von den tödlichen Spielen und dankte Ra und seinen Helfern für die Rettung. Als er jedoch aussagte, dass die Loghanen das einzige intelligente Volk von Kledzak-Mikhon waren, und über ihre Zivilisation sprach, kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall. Akon-Akon erschien – und sein Gesicht zeigte den Ausdruck offenen Ekels. »Was erdreistet sich dieses tierhafte Wesen?«, schrie er unbeherrscht. »Die Zivilisation auf dieser Welt wurde nicht von seinem Volk geschaffen!« Snayssol verstand alles und duckte sich zitternd zusammen, doch das beeindruckte den Herrscher über die ISCHTAR in keiner Weise. Er kam mit großen Schritten herbei und schaltete
mit einer brüsken Bewegung den Translator aus. Karmina sah ihn befremdet an, doch er beachtete sie nicht, sondern wandte sich an Ra. »Töte ihn – auf der Stelle!« Sein Verhalten war auch dem dunkelhäutigen Barbaren unverständlich. Akon-Akon hatte sich schon oft genug ausgesprochen exzentrisch verhalten, aber so zornig hatte Ra ihn noch nie erlebt. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen unsinnigen Befehl zu befolgen, denn in seinen Augen war Snayssol ein wirklich bedauernswertes Wesen. Ra sträubte sich vergeblich. Akon-Akon setzte seine Fähigkeiten in vollem Ausmaß ein, dagegen hatte der Barbar keine Chance. Sein Aufbegehren erstickte schon im Keim. Sein ganzes Inneres bäumte sich dennoch dagegen auf, Snayssol ohne jede Begründung zu töten. Und doch musste er mit ohnmächtigem Grimm erleben, wie seine Hand gegen seinen Willen zur Hüfte fuhr. Sie zog den Kombistrahler, der Daumen drückte auf den Entsicherungsknopf, vor dem Abstrahlpol entstand flimmernd das energetische Feld. Snayssol schloss angstschlotternd die Augen und bereitete sich auf sein Ende vor.
Schweigend hatte die Mannschaft das Geschehen verfolgt. Alle missbilligten den Befehl, den verängstigten und hilflosen Snayssol zu töten. Er war mehr als harmlos, und doch sollte er sterben, weil es dem selbstherrlichen Jungen so gefiel. Sie verdammten seine Grausamkeit, aber sie waren nicht imstande, etwas dagegen zu tun, konnten kein Glied rühren, um Snayssol zu helfen, nur ihre Hände ballten sich in ohnmächtigem Zorn. Auf Ras Stirn standen dicke Schweißtropfen, aber sein Widerstand war gebrochen. Sein Finger berührte bereits den Abzug, als plötzlich etwas vollkommen Unerwartetes geschah. Sämtliche Strukturtaster des Schiffes sprachen mit zuvor nie
erlebter Stärke an! Die Anzeigen schnellten bis weit in den Rotbereich hinauf. Schreie gellten auf, der Barbar zuckte zusammen. Die Mündung des Strahlers änderte ihre Richtung, der Snayssol zugedachte Schuss entlud sich fauchend. Eine Energieleitung wurde getroffen, Entladungen krachten. Augenblicklich schrillten Alarmpfeifen. Auch Akon-Akon war betroffen! Und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Fast schien es, als könne er den gewaltigen Strukturschock körperlich wahrnehmen. Gleichzeitig trafen ihn Entladungen der defekten Leitung. Sein überstarker Geist schaffte es, den Körper noch kurz auf den Beinen zu halten. Dann aber knickten seine Knie ein, er fiel haltlos in sich zusammen, wurde bewusstlos. Ra spürte es als Erster. Von einem Augenblick zum anderen wich der übermächtige Druck der Suggestivimpulse. Er brauchte eine Weile zur Orientierung, aber dann überwog die Wut. Er sah Akon-Akon bewusstlos auf dem Boden liegen, und mit einem rauen Aufschrei richtete er den Kombistrahler auf den gnadenlosen Unterdrücker. »Stirb, du Ungeheuer!« Karmina da Arthamin reagierte mit der Schnelligkeit, die ihre Ausbildung zur Befehlshaberin hervorgebracht hatte. Während alle anderen noch erstarrt dastanden – die meisten hatten ohnehin nichts gegen den Tod des unerbittlichen Suggestors einzuwenden –, handelte sie. Ein rascher Schritt, ein stahlharter Griff, dem ein Schmerzenslaut des Barbaren folgte. Dann polterte die Waffe zu Boden – und Ra sah die Frau zornbebend an. »Du hältst zu ihm?«, stieß er angewidert hervor. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich halte nicht zu ihm. Ich hasse ihn nicht weniger als du, aber in meiner Gegenwart wird niemand ermordet. Und es ist zweifellos Mord, wenn du jemand tötest, der sich nicht wehren kann, nicht wahr?« Es war totenstill geworden, die Alarmpfeifen waren verstummt. Die Umstehenden konzentrierten sich nun auf das stumme Duell, das nach diesen Worten zwischen Ra und der Sonnenträgerin
stattfand. Der Barbar senkte als Erster den Blick. »Natürlich hast du in gewisser Weise Recht«, gab er grollend zu. »Aber du hast uns die Chance genommen, uns endgültig von der Unterdrückung durch diesen Tyrannen zu befreien!« Ein leichtes Lächeln flog über Karminas Gesicht. »Du irrst dich, Ra – es geht auch anders. Akon-Akon ist ohne Bewusstsein, seine Macht ist von uns genommen. Er kann uns nicht mehr schaden, wenn wir jetzt dafür sorgen, dass es so bleibt.« Für einen Moment sah Ra ausgesprochen verblüfft aus, aber dann grinste er breit. »Ausgezeichnet, dieser Gedanke könnte von Allan persönlich sein. Ich nehme alles zurück, Karmina, so weit hatte ich noch nicht gedacht. Das Erbe meiner barbarischen Vergangenheit schlägt eben immer noch durch…« Schon wollte er den Kombistrahler heben und auf Paralysatormodus umschalten, als er seinen Denkfehler bemerkte. Die pure Lähmung der Körpermuskulatur half nicht gegen den unbändigen Willen Akon-Akons. Die Sonnenträgerin winkte ab. »Das hat auch seine Vorteile, wenn es hart auf hart geht. Doch jetzt müssen wir uns beeilen, ehe er wieder zu sich kommt. Verbindung zur Medostation, aber schnell!« Sie selbst wachte mit ebenfalls schussbereitem Kombistrahler, bis kurz darauf ein Arzt kam. Eine Hochdruckspritze mit einem Betäubungsmittel entleerte ihren Inhalt in Akon-Akons Blutbahn, Bauchaufschneider Albragin nickte Karmina befriedigt zu. »Das dürfte für mindestens einen Tag reichen, denke ich. Allen Göttern Arkons sei Dank, dass wir es endlich einmal so weit gebracht haben. Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles tun werden, um diesen Zustand so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.« Der unschädlich gemachte Suggestor wurde auf einer Antigravtrage zur Medostation gebracht, unter der Besatzung des Schiffes machte sich eine fast ausgelassene Stimmung breit. Für
alle war es eine Erlösung, endlich wieder tun und lassen zu können, was sie aus freien Stücken wollten. Nur Karmina da Arthamin vergaß den unfreiwilligen Gast von Kledzak-Mikhon nicht. Snayssol stand noch immer regungslos da und hatte das Geschehen zwar erleichtert, aber verständnislos verfolgt. Er hatte kaum die Hälfte davon begriffen, weil ihm das Wissen um die Zusammenhänge fehlte. Die Arkonidin wandte sich an Ra. »Wir werden wohl doch nicht auf dem Planeten landen, und es wäre sinnlos, Snayssol woandershin mitnehmen zu wollen. Nimm ein Beiboot und bring ihn wieder zurück. Wenn du ihn weit genug von dem Kampfplatz absetzt, dürfte für ihn keine Gefahr mehr bestehen.« Der Barbar nickte. »In Ordnung, Karmina. Und anschließend?« Sie lächelte. »Sobald du zurück bist, starten wir. Wir fliegen zurück nach Ketokh, um Atlan, Fartuloon und die anderen abzuholen – hast du etwas anderes gedacht?«
2. Die Loghanen waren intelligente Wesen, aber auch geborene Spielernaturen, die sich auf die prickelnden Augenblicke während der kämpferischen Auseinandersetzungen freuten. Niemand wollte auf die offiziellen Spiele der Schwarzen Tore warten. Das Triumvirat hielt diese Veranstaltung nur einmal im Jahr ab, das war den Loghanen zu wenig. So kam es außerhalb der Städte zu den verbotenen Ed-Schun-Spielen. Obwohl das Triumvirat mit aller Strenge dagegen vorging, konnten sie nicht verhindert werden. Grund für das Verbot war, dass als Wetteinsatz Speicherkristalle verwendet wurden. Sie waren die wertvollsten Posten. In den automatischen Fabriken wurden schon lange keine Speicherkristalle mehr hergestellt; die Anlagen beschränkten sich auf das Lebensnotwendige. Hinzu kam ein weiterer Aspekt: Weil die Obmänner des Triumvirats befürchteten, dass einige noch Informationen über die Ahnen enthalten könnten, war der Besitz von Speicherkristallen verboten. Trotzdem wurden sie als Wetteinsatz verwendet, und auch die Ed-Schun-Spiele wurden sehr oft veranstaltet. Auf der einen Seite schützen die Obmänner ungeborenes Leben wie auch die Intelligenz durch äußerst strenge Gesetze, sodass es ein todeswürdiges Verbrechen ist, die Geburt eines Jungen zu verhindern. Auf der anderen Seite werden regelmäßig Tausende erwachsener Loghanen beim Spiel der Schwarzen Tore geopfert. Ein offener Widerspruch, mit dem die Bewohner von Kledzak-Mikhon schon seit Generationen lebten. Aber beim Spiel der Schwarzen Tore vergaßen die Loghanen die Probleme des Alltags. Kein Erbe fragte mehr nach den Ahnen. Niemand wunderte sich über die Widersprüche im täglichen Leben. Das war der Hintergedanke des Triumvirats. Die Wissenden wollten verhindern, dass jemand auf die Idee kam, die komplizierte Technik könne nicht von Loghanen
beherrscht werden. Indem sie die Transmitterverbindungen zu Spielstationen umfunktionierten, schufen sie die Illusion, sie seien die wahren Transmittermeister. Snayssol war ein Erbe mit dem ungewöhnlich hohen Intelligenzquotienten von hundertfünfundachtzig Darts. Dieser Wert hatte ihn dazu prädestiniert, eines Tages ins Triumvirat berufen zu werden. Das Amt verlangte Selbstaufgabe und ein asketisches Leben. Als Wissender war er automatisch von den anderen Loghanen isoliert. Das Wissen über die Vergangenheit des Planeten machte die Mitglieder des Triumvirats zu Geheimnisträgern Erster Klasse. Kein anderer Loghane durfte ihr Wissen haben. Snayssol jedoch strebte genau nach diesem verbotenen Wissen. Er wollte Licht in das Dunkel der Vergangenheit bringen, wollte mehr über die Herkunft der Loghanen erfahren. Er wusste, dass sie nicht auf dieser Welt entstanden waren. Der verlassene Raumhafen von Poal-To und jene anderer Großstädte bewiesen das zur Genüge. Aber das Triumvirat hatte sämtliche Spuren getilgt, die Hinweise auf die Vergangenheit geben konnten. Als Erbe brauchte sich Snayssol nicht um seinen Lebensunterhalt zu kümmern, konnte tun und lassen, was er wollte. Während die Artgenossen zu Überwachungsarbeiten in den automatischen Fabriken herangezogen wurden, hatte er dem Müßiggang gefrönt. Dabei war ihm aufgefallen, dass es keine Wissenschaftler mehr gab. Die hoch entwickelte Technik von Kledzak-Mikhon stagnierte. Die Loghanen kümmerten sich zwar – mehr schlecht als recht – um die Wartung der Maschinen, doch sie entwickelten die technischen Errungenschaften nicht mehr weiter, ganz zu schweigen von Neuentwicklungen. Warum kümmerten sich die Loghanen nicht um den Fortschritt? Warum war es verboten, nach der Vergangenheit zu fragen? Wer hatte die Raumschiffe verschwinden lassen? Und die Ahnen… Wer waren sie wirklich? Welches Geheimnis umgab sie? Das sonderbare Bild aus dem Tresor des Triumvirats zeigte ein so fremdartiges anderes Wesen, dass es schwerlich als Vorfahre der Loghanen in Frage
kam…
Kledzak-Mikhon: 1. Prago der Prikur 10.499 da Ark In der Stadt Sevvo-Bonth auf dem Nordkontinent Parl-Jasgor begann nach dem Ende des Spieles der Schwarzen Tore die Feier. Wieder waren ihm fast dreitausend junge Loghanen zum Opfer gefallen, aber das berührte die Außenstehenden nur wenig. Nur die Angehörigen und Freunde trauerten um sie. Die meisten anderen hatten den Nervenkitzel genossen; zum Teil als direkte Zuschauer, zum Teil an den überall aufgestellten Bildflächen. In Sevvo-Bonth gab es eins jener Großtore, deren Beherrschung den Loghanen nach wie vor unmöglich war. Trotzdem hielten sich in der riesigen quaderförmigen Transmitterhalle immer einige Erben auf. Das Triumvirat von Kledzak-Mikhon hoffte noch immer, auch diese Anlagen einmal unter seine Kontrolle bringen zu können. Aus diesem Grund mussten die jungen Männer täglich neue Schaltversuche vornehmen, die in ihren Augen fast den Charakter von rituellen Handlungen angenommen hatten. An diesem Tag waren sie jedoch davon befreit. Die Spiele waren beendet, ein Grund zum Feiern. Dammyol, der die Aufsicht über seine vier Gefährten hatte, war fest entschlossen, die Feier diesmal besonders eindrucksvoll zu gestalten. Er hatte zwei Konkurrenten bei den beiden anderen Großanlagen. Sie alle versuchten sich gegenseitig zu überbieten, die Zeremonien wurden aufgezeichnet und von Sachverständigen des planetaren Kommunikationsnetzes begutachtet. Diese entschieden, welche Feier eindrucksvoll genug war, um den Loghanen auf ganz Kledzak-Mikhon gezeigt zu werden. Kein Wunder also, dass sich Dammyol besonders ins Zeug legte. Das Aufnahmeteam war bereits eingetroffen, hatte die nötigen Beleuchtungskörper installiert und die Kameras justiert. Nun gab
der Anführer der fünf Erben die letzten Anweisungen. Er konnte offen reden, denn inzwischen hatten sich die Techniker wieder entfernt, um noch eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. »Heute müssen wir alle anderen weit übertreffen«, bellte seine Stimme. »Sie beschränken sich meist nur darauf, die üblichen Handgriffe in irgendwelchen Abwandlungen zu vollführen, aber das ist nicht genug. Ich habe vor, einen besonders spektakulären Ablauf vorzunehmen, von dem man noch in Jahren sprechen soll. Dafür habe ich bereits meine eigenen Ideen, die den zuständigen Leuten zeigen sollen, wie gut ich wirklich bin.« »Dürfen wir Näheres erfahren?«, fragte einer der Erben fast ehrfurchtsvoll. Dammyol plusterte sich auf. »Ich werde euch genauestens instruieren«, versprach er fast hoheitsvoll. »Schon vor Beginn des Spieles habe ich für uns alle besonders prächtige Kreuzgurte anfertigen lassen. Darin bringen wir Gegenstände unter, wie sie noch niemand auf Kledzak-Mikhon gesehen hat. Natürlich sind sie nichts weiter als Dekorationsstücke, aber sie werden ihren Eindruck auf die Masse der Unwissenden nicht verfehlen. Auch nicht auf die Kommunikationsleute, denn sie sind längst nicht so sachverständig, wie sie immer tun.« Erneut weidete er sich an der Bewunderung und fuhr fort: »Außerdem habe ich durch einen meiner zahlreichen Freunde unter den Künstlern von Sevvo-Bonth eine Hymne auf die Tore komponieren lassen, die wir bei dieser Gelegenheit singen werden. Es ist lediglich eine Abwandlung alter Gesänge, die heute kaum noch jemand kennt. Ihr werdet sie schnell auswendig können, denn sie sind kurz und bestehen im Wesentlichen aus ständigen Wiederholungen. Dabei werde ich ein besonderes Ritual an den Anlagen des Tores vollführen, das den Gesamteindruck vervollständigen wird. Sollte es dabei gelingen, das Tor zu aktivieren…« Er verstummte, von der Größe dieses Gedankens förmlich
überwältigt. Zu seinem Leidwesen konnte er ihn und seine Wirkung auf die anderen jedoch nicht voll auskosten. Die ersten Techniker kehrten zurück und betraten geräuschvoll die Transmitterhalle. Dammyol schnaufte ärgerlich auf. »Folgt mir in den Nebenraum!«, befahl er leise. »Dort liegen unsere Ausrüstungen, dort können wir ungestört den feierlichen Gesang üben. Und wenn es dann so weit ist…« Er unterbrach sich erschrocken, denn urplötzlich ertönte in der großen Halle ein urweltlich anmutendes Donnern und Grollen. Alle fünf Erben fuhren zusammen, die Kommunikationstechniker suchten schleunigst Deckung. Was sich in diesem Augenblick anbahnte, überstieg ihr Begriffsvermögen. Es blieb nicht allein bei den erschreckenden Geräuschen, die ihre Ohren marterten und ihre Trommelfelle zu sprengen drohten. Es geschah noch einiges mehr. Im Hintergrund der Halle, wo sich die beiden gigantischen Transmittersäulen befanden, zuckte heller Schein auf. Die Erben warfen sich rasch zu Boden, weil sie eine Explosion befürchteten. Doch nach und nach ließ das Donnergrollen nach und sank zu einem erträglichen, konstant bleibenden Brummton ab. Dammyols Gehirn stellte eine Verbindung her, er hob vorsichtig den Kopf. Gleich darauf schrie er begeistert auf. »Das Große Tor – es arbeitet!« Ungläubig sahen auch die anderen auf, ihre Augen wurden groß. Tatsächlich, Dammyol hatte recht. Aus den Säulen der Transmitteranlage loderten gleißende Energiebahnen und vereinten sich unterhalb der Hallendecke zu einem großen, wabernd lodernden Torbogen. Er umspannte ein schwarzes Feld, das alles Licht zu absorbieren schien. Dammyol sprang erregt auf. »Das muss ein Zeichen sein«, behauptete er im Brustton der Überzeugung. »Noch nie hat eins der drei Großen Tore gearbeitet. Dass das ausgerechnet heute geschieht, nach dem Ende des Spiels der Schwarzen Tore, muss eine besondere Bewandtnis haben. Wisst ihr auch, was das für
uns bedeutet?« Die anderen erhoben sich zögernd und sahen ihn verständnislos an. Ihr Anführer schüttelte verzweifelt den Kopf, begriff nicht, dass es so viel Begriffsstutzigkeit geben konnte. »Muss ich euch das wirklich erst erklären? Dabei ist es doch ganz sonnenklar: Wir werden es sein, die ganz Kledzak-Mikhon die Sensation aller Zeiten liefern, deren Bedeutung die des Spieles noch weit übertrifft! Unsere Anlage hat etwas zu bieten, mit dem keine der anderen aufwarten kann. Die Hüter der anderen Tore haben jetzt keine Chance mehr, uns zu überbieten – versteht ihr endlich?« Nun hatten sie es begriffen. Aber gleich darauf meldete einer auch schon Bedenken an. »Vielleicht ist das nicht nur hier bei uns geschehen? Könnte es nicht sein, dass gleichzeitig auch die anderen Großtore zu arbeiten begonnen haben?« Dammyols Gestalt erstarrte, sein Pelz sträubte sich bei diesem Gedanken. Doch er war nicht von der Hand zu weisen, das erkannte er sofort. Das Netz der einfachen Tore stand untereinander in ständiger Verbindung, das konnte auch bei den Großen Toren der Fall sein. Wenn es aber wirklich so war, war es nichts mit der Einmaligkeit der Übertragung und dem Ruhm. Es sei denn… Der Loghane fuhr herum, seine Hand wies anklagend auf die Männer des Übertragungsteams. »Steht nicht herum und starrt Löcher in die Luft. Wollt ihr wirklich zulassen, dass uns die anderen vielleicht zuvorkommen? Stellt augenblicklich eine Verbindung zum Triumvirat her. Wenn wir die Ersten sind, die das Bild eines arbeitenden Großtors dorthin übermitteln, wird uns allein der Ruhm zufallen.« Das ließ sich der Teamleiter kein zweites Mal sagen. Auch er hatte inzwischen seine Furcht überwunden und begriffen, dass sich hier etwas Einmaliges tat. Dammyol hatte ihn bei seinem Ehrgeiz gepackt, er handelte sofort. Rasch gab er die Anordnungen, nun kam Leben in die Männer. Schon nach
wenigen Augenblicken meldete sich die Sendezentrale, er bekam einige Stichworte und schaltete daraufhin sofort zum Regierungsgebäude weiter.
Tamoyl, Kenyol und Rassafuyl, die Obmänner des Triumvirats, waren zu einer eilig anberaumten Beratung zusammengekommen. Kurz zuvor war ihnen ein ausführlicher Bericht über die Ereignisse im Zusammenhang mit Snayssol zugegangen. Es hatte viele Zeugen sowie weltweit ausgestrahlte Aufzeichnungen seiner Entführung oder Befreiung gegeben, aber alle direkten Zeugen standen mehr oder weniger unter Schock. Ihre Berichte widersprachen sich in vielen Punkten, fast jeder wollte etwas anderes gesehen haben. Aber auch die Aufnahmen halfen nicht weiter: Der diskusförmige Flugkörper war zwar einwandfrei zu sehen, doch das klärte weder seine Herkunft noch die Natur seiner Besatzung. »Was sollen wir machen?«, fragte Kenyol resigniert und schlug auf die Folien mit den Aussageprotokollen. »Diese Berichte sind meiner Ansicht nach praktisch gar nichts wert. Sie stimmen lediglich in einem Punkt überein, und das…« Er unterbrach sich, denn auf dem Tisch hatte die Lampe des Nachrichtengeräts zu blinken begonnen. Es musste sich um eine Meldung von großer Wichtigkeit handeln, sonst wäre die Beratung nicht gestört worden. Kenyol schaltete das Gerät ein, auf der Bildfläche erschien der oberste Techniker der Nachrichtenzentrale des Regierungspalasts. »Ein dringender Anruf vom Großtor in Sevvo-Bonth, Obmann«, meldete er erregt. »Dort ist etwas äußerst Ungewöhnliches geschehen – das Tor arbeitet! Darf ich Ihnen das Bild überspielen?« Alle drei Obmänner des Triumvirats fuhren zusammen. Das war eine wirkliche Sensation, vor der die Begebenheiten um Snayssol fast zur Bedeutungslosigkeit verblassten. Darauf hatten
sie schon so lange gewartet, dass keiner mehr daran geglaubt hatte, dass dieses Ereignis wirklich einmal eintreten könnte. »Natürlich, worauf warten Sie noch?«, herrschte Kenyol den Techniker an. »Machen Sie schnell, ehe es vielleicht wieder vorbei ist.« Der Mann nickte wortlos, sein Abbild verblasste. Dafür entstand auf dem Schirm das Bild der Transmitterhalle in Sevvo-Bonth, und die Mitglieder des Triumvirats beugten sich erwartungsvoll vor.
Die Sensation war perfekt. Das Großtor von Sevvo-Bonth hatte sich aktiviert, zum ersten Mal in der Geschichte der Loghanen. Noch wusste niemand, wohin es führte, doch das würde sich herausfinden lassen, sofern es lange genug in Betrieb blieb. »Fantastisch«, flüsterte Rassafuyl überwältigt. Sein seidiger Pelz schimmerte dunkelgrün. Unterhalb der Schlüsselbeinknochen hatte er mehrere dunkle Farbringe aufgetragen. Der Obmann war eitel, er scheute keine Mühe, seine Erscheinung immer wieder vorteilhaft zu präsentieren. »Das ist genau der passende Rahmen für die Feiern zum Abschluss des Spiels. Arbeiten die beiden anderen Großtore auch?« Die Frage galt Tamoyl, der inzwischen eine Blitzverbindung zu deren Standorten hatte herstellen lassen. Der Pelz des Alten war von weißen Fäden durchzogen. Er drehte sich nun um und schüttelte den Kopf. »Nein, dort hat sich bisher nichts Derartiges ereignet. Die Erben waren sehr verwundert über meine Anfrage. Sie wissen noch nicht, was in Sevvo-Bonth geschehen ist.« »Ich verstehe das nicht ganz«, warf Kenyol nachdenklich ein. »Ich hatte angenommen, dass die anderen Tore auch in Betrieb wären, denn ein Tor ohne Gegenstation erfüllt keinen Zweck. Wir sollten uns bei Dammyol erkundigen, auf welche Weise ihm die Inbetriebnahme gelungen ist.«
Die Verbindung nach Sevvo-Bonth stand, Rassafuyl gab dem Leiter des Aufnahmeteams die Anweisung, den Anführer der Erben zu holen. Dammyol kam, verneigte sich und sah die Mitglieder des Triumvirats mit deutlichem Stolz an. Sein Bild wurde in die untere Hälfte des Panoramas der Transmitterhalle eingeblendet. »Es ist ein großer Tag für Kledzak-Mikhon«, sagte Rassafuyl wohlwollend und anerkennend. »Wie haben Sie es geschafft, das Tor zu aktivieren, Dammyol?« Der Erbe sah ihn verwundert an. »Geschafft…?«, wiederholte er verständnislos. »Wir haben gar nichts unternommen, Obmann. Ich war gerade dabei, den anderen Anweisungen für die Abschlussfeier zu geben, da geschah es ganz plötzlich. Wir waren zu Tode erschrocken, als es laut krachte und grelle Blitze aufzuckten. Im nächsten Moment stand der Torbogen, daraufhin habe ich Sie sofort verständigen lassen. Seitdem hat sich hier nichts verändert.« »Es ist gut«, sagte der Obmann. »Passen Sie weiterhin gut auf, versuchen Sie vorsichtig, anhand der Kontrollinstrumente herauszufinden, worauf das Ereignis zurückzuführen ist. Die Bildverbindung bleibt bestehen.« Er schaltete den Sprechkanal ab und drehte sich langsam um. Der Pelz auf seiner Stirn kräuselte sich, die spitzen Ohren vibrierten nervös. »Ich habe den Eindruck, dass Dammyol dieser Situation nicht gewachsen ist. Vielleicht wäre es ratsam, dass wir uns selbst nach Sevvo-Bonth begeben? Wir verfügen über eine weit größere Erfahrung als die Jungen dort.« Tamoyl nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Wir sollten uns aber beeilen, denn es ist durchaus möglich, dass sich das Tor ebenso plötzlich wieder abschaltet, wie es aktiviert wurde. Der Bogen steht jetzt zwar schon eine Weile, aber niemand weiß…« Er unterbrach sich erschrocken, weil Kenyol einen gurgelnden Laut ausgestoßen hatte. Er war der Einzige, der auf den
Bildschirm geachtet hatte; nun wies er mit zitternden Fingern darauf. »Da – sehen Sie doch! Zwei Gestalten sind aus dem Tor gekommen… Ihr Götter, das darf doch nicht wahr sein!« Die anderen fuhren herum, augenblicklich sträubte sich ihnen der Pelz. Die Schwärze inmitten des Torbogens hatte zwei Personen ausgespien, die nun in verkrümmter Haltung dicht davor lagen. Doch es waren keine Loghanen, es waren… »Ahnen…!«, keuchte Rassafuyl fassungslos. »Kein Zweifel, sie müssen es sein, ihre Erscheinung stimmt genau mit den alten Bildern überein.« »Sie kommen zurück«, sagte Tamoyl mit tonloser Stimme. »Bis jetzt sind es nur zwei, aber bestimmt werden andere bald folgen. Wir müssen…« Er verstummte mitten im Satz, im gleichen Moment brach Kenyol zusammen. Seine Gestalt verkrampfte sich, neigte sich langsam zur Seite und fiel schwer zu Boden. Dort streckte er sich mit einem röchelnden Laut und lag ganz still da. Rassafuyl sprang auf und beugte sich über ihn. »Er ist tot. Er hatte ein schwaches Herz, das dieser Aufregung nicht gewachsen war. Das hat uns gerade noch gefehlt.« Er drehte sich um und bemerkte, dass Tamoyl überhaupt nicht mehr ansprechbar war, sondern am ganzen Körper zitterte. Er hielt sich krampfhaft an einem Sessel fest und starrte aus blicklosen Augen auf den Bildschirm. Der doppelte Schock war auch für ihn zu viel gewesen, mit ihm war vorerst nicht zu rechnen. Nun lag die ganze Verantwortung auf Rassafuyls Schultern, und der handelte sofort. »Wir müssen sie töten, sonst kann es zu einer Katastrophe kommen!« Nur wenige Erben waren in das Geheimnis der Abstammung der Loghanen eingeweiht. Nur sie wussten, dass die »Ahnen« ganz anders ausgesehen hatten und somit keineswegs die Vorfahren waren. Irgendwann waren diese »Ahnen« verschwunden. Niemand wusste, wie lange das schon zurücklag. Trotzdem hatten die wenigen Eingeweihten immer befürchtet,
dass die »Ahnen« eines Tages zurückkehren könnten. Das hätte für das ahnungslose Volk ein grausames Erwachen bedeutet – und das Ende des eigenständigen Daseins der Loghanen. Rassafuyl war entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Er sah wieder auf den Bildschirm und überzeugte sich davon, dass die beiden Gestalten immer noch regungslos vor dem Großtor lagen. Offenbar waren sie von weit her gekommen und hatten dabei einen Schock erlitten, der sie vorerst handlungsunfähig machte. Weit her – das bedeutete: nicht von Kledzak-Mikhon, sondern von einer anderen Welt! Der Obmann schaltete die Sprechverbindung nach Sevvo-Bonth wieder ein. Auch dort herrschte Aufregung, aber nicht jene Bestürzung, die Rassafuyl erfüllte. Weder die Erben noch die Techniker ahnten auch nur entfernt, welch ungebetene Gäste in Gestalt der Fremden erschienen waren. Dammyol wollte berichten, aber der Obmann unterbrach ihn sofort »Machen Sie schnell, Dammyol«, sagte er und gab sich keine Mühe, seine Erregung zu unterdrücken. »Holen Sie sofort Waffen – die beiden Körper, die aus dem Tor gekommen sind, müssen ohne jede Rücksicht vernichtet werden!« Der Erbe war bestürzt und wollte etwas einwenden. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er den gnadenlosen Ausdruck in Rassafuyls Augen bemerkte. »Sofort«, gab er zurück und eilte davon.
Die Aufregung und Verwirrung in der Transmitterhalle des Großtors von Sevvo-Bonth hatte ihren Höhepunkt erreicht. Niemand wagte sich näher als bis auf zwanzig Schritte an den Transmitter heran. Er war nach wie vor in Betrieb, der helle energetische Bogen spannte sich noch immer über das wesenlose schwarze Nichts. Auch die beiden Fremden lagen immer noch
regungslos auf dem Boden, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Keiner der Anwesenden ahnte, um wen es sich dabei handelte und woher die beiden gekommen waren. Weder die Erben noch die Techniker hatten jemals Wesen gesehen, die ihnen auch nur entfernt glichen. Ihr Körperbau ähnelte zwar dem der Loghanen, aber das war auch schon alles. Man fand sie hässlich und furchterregend mit ihren bleichen, unbepelzten Gesichtern. Der eine hatte wenigstens auf dem Kopf langes helles Haar. Der Schädel des anderen dagegen war vollkommen kahl und wirkte direkt widerwärtig. Dass er unterhalb der Mundpartie ein dichtes Gewirr aus dunklem Pelz aufwies, konnte diesen Mangel nicht ausgleichen. Rassafuyl hätte sie aufklären können, aber daran war ihm nicht das Geringste gelegen. Zusammen mit Tamoyl, der sich inzwischen wieder gefasst hatte, beobachtete er noch immer vom Regierungsgebäude aus die Szene. Er fieberte vor Erregung, denn jeden Augenblick konnten die »Ahnen« erwachen und aktiv werden. Wo blieben nur die Erben, die sich entfernt hatten, um Waffen zu holen? Der Obmann schaltete wieder die Sprechverbindung ein. »Warum brauchen sie so lange?« Der Mann zuckte zusammen. »Es wird nicht leicht für sie sein, sich Waffen zu beschaffen, Obmann«, erwiderte er verschüchtert. »Das hiesige Arsenal ist leer, man hat alles fortgeschafft, weil es für die Spieler gebraucht wurde.« »Auch das noch!« Rassafuyl wurde immer nervöser. Rasch unterbrach er die Verbindung und rief den Begtan der Polizeitruppe an, deren Aufgabe es war, den Regierungspalast zu bewachen. »Setzen Sie augenblicklich fünfzig Männer mit voller Bewaffnung nach Sevvo-Bonth in Marsch!«, befahl er. »Sie sollen das Großtor aufsuchen und umstellen. Ein Kommando von zehn Mann soll in die Halle eindringen und die beiden Fremden töten, die dort durch den Transmitter gekommen sind. Sie haften mir
persönlich dafür, dass nichts schiefgeht, Kimyul!« Der Begtan verstand nur die Hälfte, aber der drängende Ton in den Worten hielt ihn von zeitraubenden Rückfragen ab. Er hatte einen eindeutigen Befehl erhalten, Kimyul war ein guter Beamter, dem Gehorsam über alles ging. »Sofort, Obmann.« Rassafuyl lehnte sich aufatmend zurück. Nun wusste er seine Sache in guten Händen. Selbst wenn noch Dutzende »Ahnen« aus dem Transmitter kommen sollten, würden sie keine Chance haben, irgendwelches Unheil auf Kledzak-Mikhon anzurichten. Kurz darauf setzte sich die Polizeitruppe in Marsch. Ihre Station verfügte über einen eigenen Transmitteranschluss, eine Sonderschaltung sperrte jede private Reise nach Sevvo-Bonth. So konnten die fünfzig Männer ohne jeden Verzug dorthin gelangen. Sie kamen etwa zweihundert Meter von der Halle des Großen Tores entfernt heraus, formierten sich und marschierten im Eiltempo auf sie zu. Inzwischen war es aber auch Dammyol und seinem Begleiter gelungen, zwei Thermostrahler aufzutreiben. Es waren zwar nur Jagdwaffen mit relativ geringem Wirkungsgrad, zur Tötung von zwei bewusstlosen Männern würden sie aber auf jeden Fall vollauf genügen. Dammyol war durchaus nicht wohl in seinem Pelz. Sein Spezialgebiet war die Technik, nicht das Töten. Er war zwar schon einige Male auf die Jagd gegangen und wusste mit den Strahlern umzugehen, es war aber doch ein Unterschied, ob diese auf irgendwelche Tiere oder auf Männer gerichtet wurden, auch wenn diese Fremde waren. Doch er tröstete sich damit, dass der Befehl von Rassafuyl gekommen war, der ihn und seine Folgen zu verantworten hatte. Zweifellos würde der Obmann hinterher eine einleuchtende Erklärung geben können. Dass er persönlich zusehen würde, war eine zusätzliche Triebfeder für den Erben. Er eilte mit seinem Begleiter in die Halle. Dort hatte sich in der Zwischenzeit nichts verändert. Noch immer lagen die regungslosen Gestalten vor dem
Torbogen, die Loghanen standen in respektvoller Entfernung. Dammyol drängte sie zur Seite und ging auf den Transmitter zu. Als er nun die Fremden sah, erschien es ihm schon weit weniger bedenklich, sie zu töten. Sie waren hässlich, besonders der Dicke mit dem kahlen Kopf. Er trug einen verbeulten Brustharnisch und ein breites Schwert, was kaum auf eine friedliche Gesinnung schließen ließ. Auch der andere schien nicht ungefährlich zu sein, denn an seiner Hüfte gab es eine Waffe, die entfernt den Thermostrahlern glich. Es sah so aus, als seien beide geübte Kämpfer. Dammyol lag nichts daran, es auf eine Probe ankommen zu lassen. Nein, es war schon besser, sie sofort umzubringen, ehe sie erwachten. Er hob die Waffe, und sein Untergebener folgte dem Beispiel.
Rassafuyl atmete auf, als die Erben endlich mit Waffen in der Transmitterhalle erschienen. Für seinen Geschmack war schon viel zu viel Zeit vergangen. Wären die Ankömmlinge erwacht, hätte es die größten Unannehmlichkeiten geben können. Lebten sie überhaupt noch? Oder hatte sie der starke Schock beim Durchgang durch das Großtor getötet? Der Obmann gab dem leitenden Nachrichtentechniker die Anweisung, sie in Großaufnahme zu zeigen. Vielleicht war es gar nicht nötig, die Strahler einzusetzen. In diesem Fall konnten sie die Körper unauffällig verschwinden lassen und alle Anwesenden zu strengstem Stillschweigen verpflichten. Der Wink, dass sie zu den Teilnehmern am nächsten Spiel der Schwarzen Tore gehören würden, falls sie plauderten, musste vollauf genügen. Doch Rassafuyl wurde enttäuscht. Tamoyl und er sahen deutlich, dass die Fremden noch atmeten. Also waren sie wirklich nur besinnungslos und konnten jeden Moment zu sich kommen. Die Obmänner griffen also nicht ein, sondern ließen die Erben ihr Werk vollenden. Als diese aber auf die Feuerknöpfe der
Thermostrahler drückten, erlebten sie eine gewaltige Überraschung. Im gleichen Moment verschwammen die Umrisse der regungslosen Gestalten. Es sah aus, als würden sie entmaterialisiert wie bei einem Transmittersprung – aber sie verblieben an ihrem Platz. Sie wurden lediglich transparent, so dass durch sie der Mosaikboden der Halle erkennbar wurde. Die Strahler trafen sie voll, schienen ihnen aber nicht zu schaden. Die Thermoenergie drang wirkungslos durch die Körper und traf ungehindert auf den Boden. Rassafuyl und Tamoyl sahen, wie er sich schwärzlich zu verfärben begann, und ihre Pelze sträubten sich. Das konnte, durfte es einfach nicht geben! Und doch war es eine unbestreitbare Realität, die unbestechliche Kamera zeigte es ihnen deutlich… Tamoyl begann zu wimmern. Die alten Überlieferungen enthielten also die Wahrheit. Die Ahnen waren wirklich so mächtig, wie sie darin beschrieben wurden. Wenn sie nun nach Kledzak-Mikhon zurückkehrten – die Folgen waren nicht abzusehen. Rassafuyl aber gab nicht so leicht auf. Auch ihm zitterten alle Glieder, aber er versuchte, die Übersicht zu behalten. »Weiterfeuern, Dammyol!«, rief er mit überschnappender Stimme ins Mikrofon. »Diese Wesen müssen vernichtet werden, um jeden Preis.« Die Erben hatten sich dem Transmitter bis auf zehn Meter genähert, konnten also ebenfalls deutlich erkennen, was geschehen war. Sie waren vollkommen verstört, das Geschehen erschien unbegreiflich und unheimlich. Instinktiv wollten sie die Flucht ergreifen, aber die plötzlich aufdröhnende Stimme bannte sie an ihren Platz. Rassafuyl hatte als Obmann des Triumvirats große Macht. Wer seinen Befehlen nicht gehorchte, konnte ohne große Umwege ins nächste Gefängnis wandern. Die Erben nahmen also den letzten ihnen noch verbleibenden Mut zusammen und feuerten ein zweites Mal. Was diesmal geschah, gab ihnen allerdings den Rest. Wieder
trafen die Strahler nur den Boden, aber gleichzeitig ereignete sich etwas, das noch unfassbarer erschien. Die Körper blieben transparent, während das Schwert, das der kleinere Fremde trug, plötzlich wieder feste Formen annahm. Es schien die Energie förmlich in sich aufzusaugen, begann zu glühen. Zuerst nur in einem tiefdunklen Rot, dann in einem kalten, grellen Weiß. Plötzlich zuckten Blitze aus ihm hervor und den beiden Loghanen entgegen, die sich endgültig zur Flucht wandten – und ihre Gefährten mit ihnen. Sie rasten kopflos davon, dem Ausgang der Transmitterhalle zu. Die Männer des Aufnahmeteams, die alles auf ihren Monitoren gesehen hatten, schlossen sich ihnen an. Gemeinsam liefen sie zum Tor, hinter ihnen verhallte die keifende Stimme Rassafuyls. Doch auch der Obmann verstummte sehr schnell wieder. Noch immer stand die Großaufnahme der Fremden auf dem Bildschirm. Plötzlich stockte ihm der Atem. Das Glühen des Schwertes ließ schon nach kurzer Zeit wieder nach, die von ihm ausgehenden Entladungen erloschen. Dafür sah Rassafuyl nun, wie sich am Knauf der Waffe ein leuchtender Fleck bildete. Er strahlte in einem hellen Goldton auf, bis der Loghane in dem Fleck deutlich ein Gesicht erkannte. Es war das Gesicht eines Ahnen – und es grinste ihn höhnisch und spöttisch an! Nun war es auch um Rassafuyls letzten Rest von Fassung geschehen. Er folgte Tamoyls Beispiel und schlug die Hände vor das Gesicht, um diesen entnervenden Anblick nicht länger ertragen zu müssen. So sah er nicht mehr, wie sich die Gestalten vor dem Transmitter verfestigten. Sie wurden wieder voll materiell, und fast im selben Moment kam auch Leben in sie. Zuerst waren es nur zuckende, unkontrollierte Bewegungen, die aber schon bald wieder abebbten. Dafür öffneten sich nun die Augen der Männer. Sie blinzelten zuerst, weil sie das grelle Licht des Transmitters blendete. Doch dann brach der Torbogen zusammen, die wallende
Schwärze verschwand spurlos, das Arbeitsgeräusch der Kraftanlagen verstummte. Die Fremden standen auf und sahen sich um. Rassafuyl nahm die Hände wieder von den Augen, als ihm seine Ohren verrieten, dass sich in der Halle erneut etwas verändert hatte. Nun sah er, dass die Ahnen erwacht waren, aber das überraschte ihn nicht mehr sonderlich. Damit war früher oder später zu rechnen gewesen. Sein Gehirn überwand die lähmende Lethargie, gleich darauf nickte er befriedigt vor sich hin. Die Männer waren allein gekommen! Das Großtor war wieder außer Betrieb, es war also nicht damit zu rechnen, dass in nächster Zeit weitere Ahnen in Sevvo-Bonth eintreffen würden. Den Erben war es zwar nicht gelungen, die Ankömmlinge zu töten – aber immerhin befand sich Begtan Kimyul mit seinen fünfzig Polizisten bereits in der Nähe der Transmitterhalle. Noch war also nicht alles verloren. Rassafuyl stürzte ans nächste Nachrichtengerät und befahl, augenblicklich eine Funkverbindung zu Kimyul herzustellen.
3. Aus: ARK SUMMIA-Grundregeln Vergiss nie, Verstand und Scharfsinn zu befragen! Extremsituationen in kommenden Einsätzen aller Art sind nur dann hoffnungslos, wenn ausschließlich Muskelkraft und erlernte Primitivtricks eingesetzt werden. Ich habe meinen Körper wieder! Diese Erkenntnis durchzuckte mich augenblicklich, als mein Ich wieder aus der Schwärze der übergeordneten Dimension zurückfiel. Ein zwar unartikulierter, aber vertrauter Impuls meines Extrasinns gab mir diese Gewissheit. Klinsanthor hatte also nicht versagt, sondern irgendwie alle Schwierigkeiten unseres Transports überwunden. Mein Körper hatte die Zeit meiner »geistigen Abwesenheit« unbeschadet überstanden. Anders konnte es gar nicht sein, da das Gehirn als sein empfindlichster Teil sofort wieder seine Arbeit aufnahm. Im nächsten Moment empfing ich einen gedanklichen Impuls des Magnortöters. »Die Schwierigkeiten waren größer als erwartet, aber ich konnte sie meistern. Die Einheimischen von Kledzak-Mikhon haben versucht, Ihre Körper zu vernichten, doch ich habe auch das verhindert. Damit habe ich meinen Teil unseres Abkommens erfüllt. Vergessen Sie nicht, nun auch das Ihre zu tun, sobald ich mich melde…« Die Mitteilung verstummte, im nächsten Moment sprang ich hastig auf. Mein Körper sprach wieder auf die Umweltreize an, die Nerven meiner Kehrseite verrieten mir, dass der Boden, auf dem ich lag, ungemütlich heiß war. Fartuloon erging es ähnlich, auch er schnellte sofort hoch, griff nach dem Skarg und schnitt eine Grimasse. »Man hat wohl versucht, uns zu rösten. Kein sehr ermutigender Empfang für zwei Männer, die sich geistig auf
Irrwegen befanden. Es sieht so aus, als sei auch auf dieser Welt das Wort Toleranz aus dem Sprachschatz gestrichen worden.« Ich kniff die Lippen zusammen und nickte nur. Reagierten die Wesen von Kledzak-Mikhon so rigoros auf das Auftauchen von zwei Fremden, sah es für uns wirklich nicht gut aus. Wir mussten also versuchen, schnellstens in Verbindung mit der Besatzung der ISCHTAR zu treten, denn unsere Ausrüstung war äußerst dürftig. Ich kam dabei noch am besten weg. Neben Malthors Flugaggregat hatte ich ein Armbandgerät mit Minikom und einen Kombistrahler. Der Bauchaufschneider dagegen hatte nur seinen uralten verbeulten Harnisch und das Skarg. Offenbar kannte man auch auf dieser Welt Energiestrahler. Hätte uns der Magnortöter direkt in unser Schiff transportiert, wären uns vermutlich viele Schwierigkeiten erspart geblieben. Doch dann sah ich die große Transmitteranlage und begriff. Auch ein Wesen wie Klinsanthor konnte keine Wunder wirken. In der ISCHTAR gab es keinen Transmitter, also hatte er uns notgedrungen hier absetzen müssen. Auch Fartuloon hatte sich inzwischen eingehend umgesehen, und plötzlich stieß er einen Ausruf der Überraschung aus. »Kaum zu glauben, Atlan – das hier ist eindeutig ein Produkt akonischer Technik! Verdammt, sollte es hier wirklich Akonen geben? Das würde mich sehr überraschen, nachdem sie doch spurlos von allen von ihnen beherrschten Welten verschwunden sind.« Er deutete auf einige weiter hinten in der Halle stehende Kameras. »Es sieht ganz so aus, als waren wir hier mitten in eine Übertragung hineingeplatzt. Das scheint die Leute empfindlich gestört zu haben, deshalb wurde auf unsere Körper geschossen. Was Klinsanthor zu ihrem Schutz unternommen hat, weiß ich nicht, es muss aber ziemlich wirkungsvoll gewesen sein. Die Angreifer sind jedenfalls Hals über Kopf geflohen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Sie sind zwar geflohen, aber sie können jederzeit mit Verstärkung zurückkehren. Wir haben nicht
viel, was wir ihnen entgegensetzen können. Es wäre also angebracht, die Halle zu verlassen, ehe es zu spät ist.« Der Bauchaufschneider sah zu dem Tor am Ende der Halle, das halb offen stand. »Diesen Weg zu nehmen wäre jedenfalls kaum ratsam. Vermutlich würden wir den Akonen direkt in die Arme laufen. Es gibt aber noch Nebenräume, also sollten wir es dort versuchen.« Wir eilten zu der nächstgelegenen Tür an der rechten Seite. Sie stand halb offen. Ohne Schwierigkeiten war zu erkennen, dass der kleine Raum für uns uninteressant war. Er enthielt nur allerhand Kram, offenbar persönliche Besitztümer der Leute, die hier beschäftigt waren. Einen Ausgang gab es nicht, nur ein kleines Fenster. Fartuloon winkte ungeduldig. »Komm weiter, wir müssen uns beeilen. Da draußen wird es lebendig. Offenbar haben die Geflohenen Verstärkung geholt.« Er stand schon an der nächsten Tür, die geschlossen war. Es gab keinen sichtbaren Öffnungsmechanismus, aber mein alter Lehrmeister wusste Rat, legte eine Handfläche gegen eine bestimmte Stelle der Füllung – und lautlos schwang die Tür auf. Dieser Raum glich dem ersten, aber er war vollkommen leer. Der Bauchaufschneider schüttelte enttäuscht den Kopf, wandte sich zum Gehen, zuckte aber sofort wieder zurück. Seine Hand wies auf das Tor. »Da kommen sie schon. Verdammt, das sind ja gar keine Akonen! Kleine Kerle mit grünem Fell, sehen eher wie Tiere aus. Vielleicht ein Hilfsvolk?« Ich sah über seine Schulter und erkannte etwa zwei Dutzend grünpelzige Wesen, die vorsichtig hereinschlichen. Auf den ersten Blick erweckten sie mit ihren stumpfen Schnauzen und den spitzen Ohren wirklich den Eindruck von Tieren. Doch dieser Eindruck täuschte. Ihre vierfingrigen Hände hielten Waffen, deren Ähnlichkeit mit Thermostrahlern unverkennbar war. Sie hatten uns noch nicht entdeckt, deshalb blieben wir hinter der halb geöffneten Tür stehen und verhielten uns still. Ich zog meine
Waffe und machte sie schussbereit, aber sonderlich wohl war mir nicht in meiner Haut. Wir hatten nur diesen einen Strahler, die Übermacht war zu groß. Ihr solltet es mit Verhandlungen versuchen, riet mein Extrasinn. Solange man miteinander spricht, wird nicht geschossen. Da sie zweifellos intelligent sind, müssten sie auch logischen Argumenten zugänglich sein. Ich grinste nur müde, zog diesen Vorschlag schließlich aber doch ernsthaft in Erwägung. Natürlich konnte es über den Ausgang solcher Verhandlungen kaum einen Zweifel geben. Unser unvermutetes Erscheinen in dem Transmitter schien den Pelzwesen einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben. Vielleicht sahen sie in uns Spione eines anderen Volkes, ich kannte die Verhältnisse in diesem System ja nicht. Auch wenn das nicht zutraf, war doch damit zu rechnen, dass sie unsere bedingungslose Kapitulation fordern würden. Die einzige Alternative dazu war der Kampf – und auch sein Ausgang war leicht abzusehen. Fartuloon sah mich schief an. »Ich weiß, dass du jetzt erwägst, dich zu ergeben. Mach dir deswegen keine Illusionen, verehrter Kristallprinz. Ich traue den Grünpelzen nicht über den Weg. Selbst wenn sie uns wider Erwarten am Leben lassen sollten, würden wir bestenfalls für unbestimmte Zeit in einem Gefängnis landen. Das darf nicht geschehen – vielleicht verlässt die ISCHTAR inzwischen das System wieder, dann sitzen wir hier fest.« Ich zuckte mit den Schultern und spähte weiter in die Halle. Die Grünpelze trugen alle Kreuzgurte, in deren Taschen Ersatzmagazine, Messer und ähnliche Dinge steckten. Das und die Tatsache, dass sie ausgesprochen systematisch vorgingen, ließen auf ihre Zugehörigkeit zu einer Militär- oder Polizeitruppe schließen. Sie bewegten sich geduckt voran und waren bemüht, immer im Schutz der dicken Säulen zu bleiben, die an den Längsseiten des Raumes aufragten. Noch hatten sie uns nicht entdeckt. Die immer noch eingeschalteten Scheinwerfer
leuchteten nur die Umgebung des Transmitters aus, während die übrige Halle in einem ungewissen Zwielicht lag. Vielleicht haben wir doch noch eine Chance, ihnen zu entkommen, überlegte ich. Wenn wir versuchen… Meine Überlegungen wurden im Keim erstickt, ehe ich noch einen brauchbaren Gedanken formuliert hatte. Eine überlaute Stimme hallte plötzlich durch den Raum, unter der wir zusammenfuhren. Sie kam aus einem Lautsprecher. In diesem Moment war mir alles klar. Wir waren zwar die ganze Zeit seit unserem Erwachen allein gewesen, aber nicht unbeobachtet! Nicht nur die Scheinwerfer waren angeschaltet, auch die Kameras liefen noch. Über sie wurden alle unsere Bewegungen verfolgt, nun unterrichtet jemand unsere Gegner davon, wo wir uns aufhalten. Die Stimme sprach kein Idiom, das auch nur annähernd unserer Sprache glich. Es waren vollkommen fremde, abgehackt und bellend klingende Laute, von denen wir keine Silbe verstanden. Das war aber auch gar nicht nötig, die Ereignisse sprachen für sich. Die Angreifer warfen sich hinter den Säulen zu Boden, ihre Waffen zeigten in unsere Richtung. Gleich darauf schossen uns die ersten Strahlensalven entgegen. Ich feuerte nicht zurück, das wäre sinnlos gewesen. Stattdessen sprang ich zurück in den Raum und schlug die Tür hinter mir zu. Sie war aus Metall, schützte uns also für den Moment. Fartuloon stieß ein grimmiges Knurren aus. »Von wegen ergeben – da hast du die Antwort. Mach Platz, ich will ihnen das Eindringen in diesen Raum so schwer wie möglich machen.« Er zog das Skarg und stieß die Spitze der Klinge gegen eine bestimmte Stelle seitlich der Tür. Es knirschte laut, Funken sprühten, der Geruch schmorender Isolationen schlug uns entgegen. Der Bauchaufschneider nickte befriedigt. »So, der Mechanismus ist hinüber. Jetzt müssen sie schon die Tür aufschweißen, wenn sie uns haben wollen; das dauert eine Weile. Bis dahin sind wir längst draußen.«
Er wies auf das Fenster, während ich trotz unserer Lage unwillkürlich lächeln musste. Die Öffnung war höchstens fünfzig Zentimeter breit. Wie der korpulente Bauchaufschneider da durchkommen wollte, war mir ein Rätsel. »Grins nicht, du Grünschnabel!«, fuhr er mich barsch an. »Man kann alles, wenn es sein muss. Steck den Strahler weg und hilf mir, aber schnell!«
Es war wirklich Schwerstarbeit, den Bauchaufschneider durch die enge Fensteröffnung ins Freie zu bekommen. Er hatte das Skarg angesetzt und den Metallrahmen aus der Mauer gebrochen, aber auch das reichte noch nicht. Er musste sich mit den Beinen voran hinablassen, denn ein Blick aus dem Fenster hatte uns gezeigt, dass der Boden draußen etwa drei Meter tiefer lag. Schon sein Gesäß bereitete Schwierigkeiten, aber unter einigen saftigen Flüchen brachte er es doch durch die Öffnung. Dann aber war Schluss, da halfen auch keine Flüche. Fartuloon steckte fest, halb draußen und halb drinnen… »Hilf mir doch«, keuchte er mit hochrotem Kopf, auf seiner Glatze standen dicke Schweißperlen. Er bot einen umwerfend komischen Anblick, aber mir verging das Lachen. Unsere Lage war alles andere als gut, die Loghanen bemühten sich bereits, die Tür zu dem Raum aufzubrechen. »Erst mal können. Ich kann dich höchstens zurückziehen, und dann musst du schleunigst deinen albernen Blechladen ablegen. Mit ihm schaffst du es nie.« Er schnaufte empört auf. »Ich soll meinen treuen Begleiter aus alten Tagen hier zurücklassen? Niemals, darauf kannst du Gift nehmen.« »Nicht mehr nötig.« Ich wies auf die Tür. Ihr Kunststoffüberzug warf bereits Blasen, folglich wurde versucht, sie aufzuschweißen. Dieser Anblick überzeugte auch den Bauchaufschneider. Wir boten all unsere Kräfte auf, und wenige Augenblicke später stand
er wieder neben mir. Nun verschwendete er keine Worte mehr, sondern befreite sich hastig von dem Harnisch. Er dachte aber gar nicht daran, sich von ihm zu trennen, packte ihn und schob ihn schräg durch das Fenster. Ein schepperndes Geräusch zeugte vom Aufschlag, ich fuhr zusammen. Sofern die Einheimischen nicht gerade taub waren, konnten sie den Krach unmöglich überhört haben. Jetzt mussten wir uns noch mehr beeilen. Der Plastiküberzug der Tür war inzwischen vollkommen verschmort, eine beißende Rauchwolke zog durch den Raum. Wir sahen, dass das Metall bereits glühte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich verflüssigte. Dass es nicht so weit kam, verdankten wir allein dem Skarg. Fartuloon sprang trotz der Hitze vor und hielt seine Spitze gegen die Tür. Verblüfft sah ich, dass das Metall augenblicklich schwarz wurde, während die Schwertklinge sanft aufleuchtete. Der Bauchaufschneider grinste. »Jetzt können sie noch einmal von vorn anfangen, das gibt uns genügend Zeit. Los jetzt, hilf mir.« Diesmal ging es besser, endlich plumpste er nach draußen. Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Die Angreifer waren nicht untätig geblieben, die Tür glühte bereits wieder. Ich hatte keine Schwierigkeiten, ließ mich aus dem Fenster gleiten und fing den Aufprall federnd ab. Sofort sah ich mich argwöhnisch um, aber niemand befand sich in unserer Nähe. Rings um das Gebäude erstreckte sich ein hoher Buschkomplex, der uns vor unerwünschten Beobachtern schützte. Der Bauchaufschneider legte bereits den Harnisch wieder an. »Über diese Sache reden wir noch. Den ›albernen Blechladen‹ vergesse ich dir nicht so schnell.« Ich packte ihn einfach und zog ihn in die Büsche. »Beeil dich lieber. Es kann nur noch Augenblicke dauern, bis unsere Freunde am Fenster erscheinen. Sie sind von der Sorte, die zuerst schießt und dann erst Fragen stellt.« Wir bewegten uns so geräuschlos wie möglich durch das
Buschwerk nach links, auf das hintere Ende des Baus zu. Wir hatten es noch nicht erreicht, als wütend bellende Stimmen erklangen. Die Angreifer hatten festgestellt, dass wir entkommen waren, und machten nun ihrem Grimm Luft. In dem weichen Boden hatten wir deutliche Spuren hinterlassen. Wenn diese Männer auch nur halbwegs logisch denken konnten, mussten sie schnell darauf kommen, wohin wir uns gewandt hatten. Ich rechnete damit, dass sie nun wahllos in die Büsche feuern würden, aber gerade das taten sie nicht. Sie schossen kein einziges Mal, das gab mir zu denken. Prompt meldete sich der Logiksektor. Sie sind offenbar sicher, dass ihr ihnen nicht entkommen könnt. Wahrscheinlich haben sie die gesamte Umgebung abgeriegelt, ehe sie in die Halle eingedrungen sind. Ich nickte unwillkürlich und blieb stehen. Fartuloon sah mich verwundert an. »Ich überlege gerade, wie wir unbemerkt durch den Kordon um den Bau kommen könnten.« Der Bauchaufschneider schlug sich vor die Stirn. »Natürlich, darauf hätte ich auch kommen müssen. Die Brüder verhalten sich nur so still, weil sie wissen, dass wir ihnen so gut wie sicher sind. Ewig können wir uns hier nicht verbergen; sobald wir die Nasen aus dem Grünzeug stecken, sehen wir direkt in die Strahlermündungen. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis es hier dunkel wird. Dann haben wir wenigstens eine kleine Chance, uns durchzuschlagen.« Ich sah durch eine Lücke im Buschwerk nach oben und schüttelte den Kopf. »Daraus dürfte nichts werden, fürchte ich. Die gelbe Sonne steigt geradewegs zum Zenit. Die Grünen werden wahrscheinlich ein paar Tontas warten, aber dann dürfte ihnen die Geduld ausgehen. Sie werden Verstärkung holen und das Gelände durchkämmen – rate mal, wer zweiter Sieger wird.« »Hätte ich nur einen Strahler«, murrte Fartuloon. »Seit wir diesem Akon-Akon begegnet sind, ist alles schief gegangen. Ich wünschte, ich hätte diesen Knaben einmal richtig in meiner
Gewalt. Ich würde ihn ganz langsam auf einem kleinen Feuer rösten, mein Wort drauf.« Ich brachte nur ein müdes Lächeln zuwege. »Keine leeren Versprechungen, mein Lieber. Wenn es darauf ankommt, schlägt ja doch dein gutes Herz wieder durch. Wir müssen eben versuchen, auch so durchzukommen. Halt – eben fällt mir was ein.« »Ich höre, Euer Erhabenheit.« Mein Pflegevater bemühte sich um einen leichten Tonfall, aber damit konnte er mich nicht täuschen. Ich kannte ihn schließlich von klein auf und war durch seine Schule gegangen. Die Abenteuer, die wir zusammen bestanden hatten, reichten für ein Dutzend Männer der härtesten Art. Ich wies auf mein Flugaggregat. »Damit müsste sich was anfangen lassen, denke ich. Die Grünpelze halten vermutlich nur auf dem Boden nach uns Ausschau, nicht aber in der Luft. Wenn wir es geschickt anfangen, können wir ihnen vielleicht fliegend entkommen.« Fartuloon betrachtete den Apparat mit zweifelnder Miene. »Du vielleicht, aber ich noch dazu? Schließlich bin ich ein Mann von… Na, du weißt schon, was ich meine.« »Ein Mann von Format«, half ich aus, ohne eine Miene zu verziehen. »Das Ding hat uns schon mal geholfen. Für einen kleinen Hüpfer, der uns dem Zugriff der Grünpelze entzieht, reicht es bestimmt.« Er nickte, aber sein Gesicht blieb düster. »Gut, nehmen wir einmal an, dass uns das glückt. Damit sind wir wohl fürs Erste in Sicherheit, aber wie soll es weitergehen? Wir haben schließlich keine Ahnung, wo sich die ISCHTAR befindet. Wir wissen nicht einmal, ob sie gelandet ist oder sich noch…« Er unterbrach sich; nicht weit entfernt erklang laut die bellende Stimme eines Planetariers. Sie schien einen Befehl zu geben, der gleich darauf von mehreren anderen Stellen bestätigt wurde. Büsche begannen
zu rascheln, das sagte uns genug. »Da kommen sie schon. Ab nach hinten, da scheint noch niemand zu sein. Wir müssen sehen, dass wir eine Stelle finden, von der aus wir uns einen Überblick verschaffen können. Wenn wir nur einfach auf gut Glück losfliegen, könnte das leicht unser Unglück sein.« »Das hast du gut gesagt.« Ich grinste verzerrt, wir liefen los.
»Langsamer, Atlan«, keuchte der Bauchaufschneider. »Nimm doch wenigstens etwas Rücksicht auf einen alten Mann.« Ich grinste nur kurz, denn diese Tonart kannte ich zur Genüge. Fartuloon war alles andere als ein alter Schwächling, aber zuweilen gefiel er sich in dieser Rolle. Wir hatten nicht mehr als etwa hundert Meter zurückgelegt und befanden uns nun dicht vor dem hinteren Ende des ausgedehnten Buschwerks. In der gesamten Umgebung war es totenstill. Falls es hier zuvor Verkehr gegeben hatte, musste er von den Streitkräften der Verfolger restlos unterbunden worden sein. Nur weit hinter uns waren zuweilen gedämpfte Rufe und das Rascheln von Zweigen zu vernehmen. »Eine regelrechte Treibjagd.« Fartuloon schien plötzlich nicht die geringste Atemnot mehr zu haben. »Man kämmt das Gelände von vom her durch, um uns vor die Waffen jener zu bringen, die auf der anderen Seite lauern. Jetzt wird es allmählich ernst.« »Wem sagst du das?« Ich ließ mich zu Boden sinken und schob mich behutsam durch eine Lücke zwischen den Büschen. Sie hingen voller Blüten, der Pollenstaub drang in meine Nase. Mit Mühe unterdrückte ich ein Niesen und konzentrierte mich ganz auf das, was ich sah. Wir befanden uns offenbar mitten in einer großen Stadt. Vor mir zog sich eine breite Straße dahin, hinter ihr ragten die Silhouetten ausgedehnter Häuserkomplexe auf. Unwillkürlich zog ich eine Grimasse, denn das gefiel mir gar nicht. Freies Gelände mit dem nötigen Bewuchs, in dem wir uns hätten verbergen können, wäre mir lieber gewesen.
»Was siehst du?«, raunte der Bauchaufschneider. Ich verzichtete auf eine Antwort, gerade kamen zwei Bewaffnete in Sicht. Sie behielten den Rand der Anlage scharf im Auge, hier war also kein Durchkommen. Ich zog mich zurück und unterrichtete Fartuloon. Er fluchte leise, aber das änderte auch nichts an der Situation. Hinter uns wurde das Rascheln immer lauter – nur noch längstens eine Zentitonta, bis sie uns hatten. »Jetzt ist mir alles egal«, knurrte ich resigniert. »Wir brechen aus, ohne Rücksicht auf Verluste.« Etwas anderes blieb uns nicht übrig. Wir zogen uns einige Meter zurück, bis wir freien Himmel über uns sahen. Fartuloon griff nach den Gurten und klammerte sich fest. Ich aktivierte das Flugaggregat, langsam erhoben wir uns in die Luft. Dicht über dem Laubdach stoppte ich erst einmal ab. Bewegungslos hingen wir in der Luft und sahen uns um. Die Stadt war weit größer, als ich vermutet hatte. Ein Meer von meist trichterähnlichen Häusern, aber unterschiedlichen Stils erstreckte sich in alle Richtungen. In der Feme konnte ich auch Gleiter erkennen, die durch die Straßen schwebten. In der unmittelbaren Umgebung regte sich jedoch nichts. Die Truppe, die uns jagte, hatte nicht nur den Verkehr unterbunden, sondern auch dafür gesorgt, dass die Bewohner dieses Viertels in ihren Wohnungen blieben. »Diese Stadt wurde eindeutig von Akonen erbaut«, stellte Fartuloon lakonisch fest und wies auf die Trichtertürme, die nicht der arkonidischen Bauweise entsprachen. »Manches hat sich zwar verändert, aber die Hinweise auf sie sind nicht zu übersehen. Sie selbst scheinen allerdings auch von hier verschwunden zu sein. Später haben sich die grünen Stumpfnasen dann einfach ins gemachte Nest gesetzt.« »Uninteressant«, gab ich zurück. »Verdammt, diese Umgebung sagt mir überhaupt nicht zu. Wir können uns wenden, wohin wir wollen, überall sind es viele Kilometer bis zum Stadtrand. Das Flugaggregat mag für diese Strecke zwar ausreichen, aber wir
können kaum hoch genug steigen. Früher oder später muss uns jemand sehen – dann braucht man uns nur einen Gleiter auf den Hals zu hetzen, und es ist aus.« Mein Lehrmeister knurrte zustimmend. »Eine Flucht hat also nur wenig Aussicht auf Erfolg. Hm wäre es da nicht am besten, wir würden auf dem Dach der Halle landen? Dort wird uns bestimmt niemand vermuten.« »Keine üble Idee. Das Dach ist ziemlich hoch und von den Bauten in der Umgebung kaum oder nicht einzusehen. Wir brauchen uns nur in seiner Mitte hinzulegen und uns tot zu stellen.« Ich fuhr den Antrieb wieder hoch. Das von ihm verursachte Geräusch war so minimal, dass es nur wenige Meter weit zu hören war. Langsam schwebten wir zur großen Halle, bis wir an ihrer Rückwand angekommen waren. Dort gab es keine Fenster. Ich musste nur auf das Suchkommando achten, das sich im Buschwerk unter uns befand. Die Grünpelze gaben sich jetzt gar keine Mühe mehr, ihre Anwesenheit zu verheimlichen, sondern brachen mit erheblicher Geräuschentwicklung durch und verständigten sich laufend durch laute Zurufe in ihrem bellenden Idiom. Damit taten sie uns einen großen Gefallen. Anhand dieser Geräusche konnte ich mühelos ihre Standorte bestimmen und gefährliche Stellen umfliegen. Der neuralgische Punkt waren die letzten Meter. Die rückwärtige Front des Gebäudes war etwa fünfzig Meter lang und voll zu übersehen. Sah zufällig einer der nach uns Suchenden im falschen Moment nach oben… Wir mussten einen ziemlich komischen Anblick bieten, wie wir huckepack in der Luft hingen, aber keinem war zum Lachen zumute. Wir befanden uns auf einer vollkommen fremden Welt, über die wir praktisch nichts wussten. Ich schickte mich gerade an, den Flug auf das Dach zu wagen, als mich das Fauchen eines Strahlerschusses zusammenzucken ließ, dem ein dumpfer Aufschrei folgte. Unwillkürlich ruckte ich am Steuerhebel, wir
sackten nach unten. Fartuloons Beine streiften eine Buschkrone, was kaum zu überhören war. Wurde es gehört? Rasch korrigierte ich meine Fehlleistung. Wir schwebten einige Meter zurück und lauschten angestrengt, vernahmen aber nur die Geräusche von Körpern, die eilig durch die Büsche brachen, und das Rufen aufgeregter Stimmen. Beides entfernte sich. Fartuloon grinste. »Da hat ein übereifriger Bursche einen seiner Kameraden angeschossen. Pech für den Grünpelz, Glück für uns! Jetzt rennen alle dorthin, also ist die Gelegenheit günstig.« Ich nickte und schob den Antriebshebel nach vorn. Das Flugaggregat reagierte zwar nur träge, aber es brachte uns sicher auf das Dach der Halle. Dort warfen wir uns sofort nieder, doch schon im nächsten Moment stöhnte der Bauaufschneider unterdrückt auf. »Alle Götter – ist das eine mörderische Hitze hier! Mann, wie sollen wir das nur aushalten?« Das war eine durchaus berechtigte Frage. Die gewölbte Oberfläche des Daches war mit einer Gussmasse beschichtet. Sie war zwar teilweise schon vom Zahn der Zeit angefressen und bröckelig, ihre fast schwarze Farbe machte sie jedoch zu einem wahren Hitzespeicher. Die gelbe Sonne brannte nun schon seit Tontas herab, das machte sich unangenehm bemerkbar. Es gab zwar einige buckelartige, mit Gittern versehene Aufbauten, die vermutlich zu Lüftungsanlagen gehörten, aber viel zu niedrig waren, um als Schattenspender zu dienen. Uns blieb also weiter nichts übrig, als die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten. Ob wir das aber ohne jeden Tropfen Wasser bis zum Einbruch der Nacht durchhalten konnten, wussten allein die Götter. Wir befanden uns jetzt in mehr als dreißig Metern Höhe und damit weit über den höchsten Gebäuden dieses Viertels. Die Halle schien sich ungefähr im Zentrum der Stadt zu befinden. Nach allen Seiten umgab uns ein wahres Häusermeer. Überall gab es Grünanlagen mit reichlicher, oft sehr exotischer Flora. Erst in
größerer Distanz erhoben sich Trichtertürme von mehreren hundert Metern Höhe. Und noch etwas ließ sich von hier erkennen: Die kleinen Grünpelze verfügten eindeutig über gleiterähnliche Luftfahrzeuge. Nur in unserer Nähe ließen sich keine blicken; die Schlussfolgerung war simpel. Offenbar war diese Gegend für jeden Flugverkehr gesperrt worden, um ungestört operieren zu können. So wird es aber mit Sicherheit nicht bleiben, sagte der Logiksektor. Sobald die Jagd abgeblasen wird – und das muss über kurz oder lang geschehen, sofern sie euch nirgends finden –, werden die Gleiter auch wieder hier auftauchen. Dann werden wir entdeckt – Fartuloons in der Sonne blitzender Harnisch bleibt auf dem dunklen Untergrund garantiert nicht unbemerkt. Ich machte den Bauchaufschneider darauf aufmerksam, aber er schien mir gar nicht zuzuhören, sah starr nach Norden und stöhnte unterdrückt auf. »So lange brauchen wir nicht mehr zu warten. Dreh dich mal um, dann weißt du, was ich meine.« Ich folgte seinem Blick und fuhr zusammen. Drei knallrote Gleiter kamen niedrig und mit langsamer Fahrt genau auf die Halle zu. Die Wesen hatten zwar etwas spät reagiert, aber jetzt mussten sie uns finden. An eine Flucht mit dem Flugaggregat war nun nicht mehr zu denken. Bis wir eine nennenswerte Strecke zurückgelegt hatten, würden die Fahrzeuge längst heran sein. Die Insassen konnten uns abschießen wie einen lahmen Vogel. Gehetzt sahen wir uns auf dem Dach um. Hatten wir wirklich keine Möglichkeit, irgendwie den Häschern zu entkommen? »Die Lüftungsschächte«, knurrte Fartuloon. »Sie führen zwar nur zurück in die Halle, aber dort sind wir jedenfalls sicherer als hier, wo wir auf dem Präsentierteller sitzen.« Wir sprangen auf und spurteten zum nächsten Buckel.
Keuchend erreichten wir die etwa dreißig Meter entfernte Lüftungsanlage und warfen uns sofort wieder flach hin. Ich griff nach der Waffe. Fartuloon schob jedoch meinen Arm energisch zur Seite. »Lass mich das machen«, forderte er kategorisch. »Bis jetzt können wir hoffen, dass sie uns noch nicht gesehen haben. Setzt du aber den Strahler ein, wird die Energieemission sofort angemessen. Dann sind wir so gut wie erledigt, während wir jetzt immerhin noch eine kleine Chance haben.« Schon während der ersten Worte hatte er sich wieder halb aufgerichtet und das Skarg gezogen. Nun setzte er die Spitze an der Basis des Gitters an und riss das Schwert kraftvoll nach oben. Das Metall leistete jedoch erheblichen Widerstand – allem Anschein nach handelte es sich um molekularverdichteten Stahl. Das Gesicht des Bauchaufschneiders lief unter der Anstrengung dunkelrot an. Seine Zähne waren zusammengebissen, die Adern an den Schläfen traten dick hervor. Er ließ noch einmal kurz nach und ruckte erneut. Diesmal gab das Gitter mit einem reißenden Laut nach und brach aus der Fassung. Fartuloon schob es aufatmend zur Seite und bedeutete mir, als Erster einzusteigen. Ich folgte seinem Wink sofort, weil ich wusste, dass er sich keinesfalls zuerst in Sicherheit bringen würde. Für ihn war ich der rechtmäßige Thronfolger von Arkon, dessen Dasein es unter allen Umständen zu schützen galt. In seinen Augen war ich noch immer ein leichtsinniger junger Fant, der sein Leben viel zu oft aufs Spiel setzte, ohne dass es unbedingt nötig war. Der runde Lüftungsschacht durchmaß etwa achtzig Zentimeter, ließ mich also mitsamt dem Flugaggregat ohne Schwierigkeiten durch. Ich schwang mich mit den Beinen zuerst hinein, hielt mich noch einen Augenblick lang fest und ließ mich nach unten fallen. Ich fiel etwa zwei Meter. Ein Dröhnen hallte durch den dunklen Schacht, offenbar war ich auf ein weiteres metallenes Gitter geprallt. Ich blieb hocken und tastete um mich. Rechts stieß meine Hand ins Leere, dort schien sich der Schacht in
horizontaler Richtung fortzusetzen. Die runde Röhre war ungefähr einen Meter hoch, ich kroch sofort hinein. Keinen Augenblick zu früh, denn im nächsten Moment krachte Fartuloons schwerer Körper herunter. Den Grund für seine Eile erkannte ich sofort. Ein Strahlschuss schlug oben in den Schacht ein, sein feuriger Schein zuckte bis zu uns. Die Besatzung eines Gleiters hatte uns also doch entdeckt und nicht gezögert, das Feuer zu eröffnen. Ich schüttelte den Kopf, während ich mich weiterbewegte, um dem Bauchaufschneider Platz zu machen. Neue Treffer schlugen oben ein, verflüssigtes Metall spritzte herab, ohne uns aber schaden zu können. Warum waren diese Grünpelze nur so sehr bemüht, uns um jeden Preis zur Strecke zu bringen? Ich begriff das nicht. Sicher, wir waren unter seltsamen Umständen auf dieser Welt angekommen. Reichte das aber schon als Begründung für diese gnadenlose Jagd? Schließlich hatten wir doch nichts getan, was uns in den Augen dieser Wesen als Bedrohung erscheinen lassen konnte. Zwei Fremde, noch dazu nur ungenügend bewaffnet, stellten doch bestimmt keine Gefahr für diesen Planeten dar. Du vergisst die ISCHTAR, meldete sich mein Logiksektor. Vermutlich ist sie inzwischen hier irgendwo gelandet; die Planetarier haben vielleicht schlechte Erfahrungen mit ihrer Besatzung gemacht. Angesichts der Unberechenbarkeit Akon-Akons ist diese Befürchtung nicht von der Hand zu weisen. Das war leider nur zu wahr. Das Gebaren des jungen Suggestors war wirklich nicht dazu geeignet, ihm Freunde zu verschaffen. Vielleicht hatte er die Besatzung des Raumers unter Zwang dazu gebracht, rigoros gegen die Grünpelze vorzugehen. Das würde vieles erklären. Doch jetzt hatte ich keine Zeit, diesen Gedanken weiter nachzuhängen. Die Gleiter flogen offenbar einen neuen Angriff, erneut leuchtete in dem Lüftungsschacht der Feuerschein von Strahlschusstreffern. Wir spürten zwar die von ihnen
hervorgerufene Hitze, aber sie konnte uns nicht schaden. Dafür sorgte ein stetiger kühler Luftzug, der uns aus der Röhre entgegenwehte. »Weiter, Atlan. Die Gleiter werden zweifellos auf dem Dach landen, um uns zu folgen. In dieser Röhre haben wir keine Möglichkeit, auszuweichen oder uns zu verteidigen.« Ich kroch also weiter, aber sonderlich viele Hoffnungen machte ich mir nicht. Das Belüftungssystem konnte uns vermutlich Zugang zu Räumen eröffnen, die über der Transmitterhalle lagen, doch damit war kaum etwas gewonnen. Die Grünpelze wussten jetzt genau, wo wir uns aufhielten, und konnten uns mühelos den Weg nach draußen abschneiden. Im Grunde brauchten die Verfolger nur aufzupassen und abzuwarten. Wir hatten weder Wasser noch Nahrungsmittel – in dieser Situation nutzte es uns auch nichts, wenn wir hier irgendwo ein Versteck fanden. Über kurz oder lang mussten wir es verlassen, wollten wir nicht umkommen. Trotzdem bewegten wir uns weiter in der dunklen Röhre voran. Nach etwa zehn Metern bemerkte ich einen schwachen Lichtschein, der von unten durch ein Gitter drang. Dort war der Boden durchbrochen, ein Schacht führte senkrecht nach unten. Ich presste mein Gesicht gegen das Gitter und erkannte einen kleinen Ausschnitt der Transmitterhalle. Damit war uns in keiner Weise gedient, also krochen wir weiter. Der Luftzug wurde stärker und war nun von einem immer lauter werdenden Summen begleitet. Wir näherten uns also offenbar den technischen Anlagen des Belüftungssystems. Gab es dort ein Rotorsystem, das uns den Weg versperrte? Plötzlich machte die Röhre eine Biegung nach links, ich sah einen diffusen Lichtschimmer. Er zeigte mir tatsächlich rotierende Ventilatorflügel hinter einem Gitterwerk. Ich sah aber auch noch etwas anderes: Dicht vor dieser Anlage gab es eine runde Klappe, durch die die Röhre zur rechten Seite verlassen werden konnte!
Ein Einstieg für Arbeiter, unterrichtete mich der Extrasinn lakonisch. Ein an sich überflüssiger Hinweis, denn das war mir sofort klar. Die Klappe war nur durch einen simplen Schnappriegel gesichert, den ich mühelos lösen konnte. Unter leisem Knarren schwang sie auf und gab uns den Weg in einen länglichen niedrigen Raum frei, in dem auf Regalen zahlreiche Werkzeuge und Ersatzteile verschiedener Art gelagert waren. Hier war schon seit langer Zeit niemand mehr gewesen, das zeigte die dicke Staubschicht auf dem Fußboden. Auch das kleine Fenster am Ende war vollkommen verdreckt und ließ nur wenig Licht eindringen. Hastig schloss ich die Klappe wieder; der eindringende starke Luftstrom wirbelte den Staub auf und verschlechterte die Sicht noch mehr. Fartuloon und ich sahen uns ratlos an, denn dieser Raum hatte offenbar keinen regulären Ausgang. »Das gibt’s doch nicht…«, sagte der Bauchaufschneider verblüfft. »Verdammt, irgendwie müssen die Reparaturtrupps doch hier hereinkommen können, sollte die Anlage versagen.« Er hatte recht, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Wir suchten alles ab, auch den Boden, aber der bestand aus festem Kunststein und wies ebenfalls keinerlei Öffnungen auf. Die einzige war das Fenster, doch es war so klein, dass nicht einmal ich hindurchgekommen wäre. Wir schienen rettungslos in der Falle zu sitzen.
Wir waren schon bereit, uns mit unserem Schicksal abzufinden, als mein Blick auf den schmalen Raum zwischen zwei Regalen fiel. Dort war es fast dunkel, Fartuloon hatte ihn kurz inspiziert, aber abgewinkt. Er hatte sich darauf konzentriert, eine Tür zu finden – und dabei die beiden schlanken Metallsäulen übersehen, die diese Lücke rechts und links flankierten. Ich sah sie – und mir
wurde alles klar. »Ein Transmitter!« Ich stöhnte erleichtert auf. »Fartuloon, da haben wir die Lösung. Die alten Akonen konnten auf andere Wege verzichten, war ja viel einfacher für sie. Bete zu den Sternengöttern, dass das Ding noch funktioniert.« Wir stürzten uns auf die Anlage und untersuchten fieberhaft die Säulen. Es war höchste Zeit, dass wir aus dieser Falle entkamen. Von der anderen Wand, wo sich die Ausstiegsklappe befand, waren bereits dumpfe Geräusche zu hören. Offenbar arbeiteten sich die Verfolger schon durch die Röhre. Es gab kein Schaltpult oder sonstige Kontrollanlagen, sondern nur einen einfachen Aktivierungsknopf. Dieser Transmitter stand also offenbar nur mit einer bestimmten Gegenstelle in Verbindung, vermutlich mit einem Depot oder einer ähnlichen Einrichtung. Hatten wir jetzt etwas Glück, konnten wir also doch noch entkommen und uns bis zum Anbruch der Dunkelheit verbergen. Wir atmeten auf, als sich nach Betätigung des Schaltknopfes unter leisem Zischen der helle Bogen des Transportfelds aufbaute. Hastig schob ich den Bauchaufschneider hinein und folgte ihm sofort. Die wesenlose Schwärze nahm uns auf und spie uns augenblicklich in der Gegenstation aus.
Wir kamen in einem hell erleuchteten Raum ohne Fenster heraus, nicht viel größer als der, den wir eben verlassen hatten. Auch hier gab es nur Regale mit technischen Utensilien, niemand hielt sich darin auf. Ich drehte mich sofort um und zerstörte mit einem kurzen Feuerstoß aus dem Strahler den Transmitter. Nun konnte uns niemand mehr direkt folgen, aber wir mussten trotzdem schleunigst hier heraus. Die Grünpelze würden bestimmt wissen, wohin wir uns abgesetzt hatten, und versuchen, uns auf einem anderen Wege schnellstens nachzukommen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wenig Zeit vergangen war, seit wir nach den Irrwegen durch die Dimensionsfalte wieder in
unsere Körper geschlüpft waren. Seitdem waren wir nicht mehr zur Ruhe gekommen, die grünpelzigen Stumpfnasen hatten uns fast pausenlos zugesetzt. Kein Wunder, dass sie uns sofort so massiv entgegengetreten waren. Gab es auf dieser Welt ein ausgedehntes Transmitternetz, brauchten sie nur Zentitontas, um beliebig viele Verfolger auf uns anzusetzen. Ich drängte Fartuloon zur Seite, ehe er die einzige Tür öffnen konnte, und übernahm das selbst. Auf Anhieb fand ich die Kontaktstelle, die Tür schwang willig nach außen hin auf. Hastig griff ich zu und zog sie bis auf einen schmalen Spalt zurück, spähte nach draußen. Ein langer Korridor mit vielen Seitentüren, alle geschlossen, niemand hielt sich in meinem Sichtbereich auf. Ein leises Summen zeugte davon, dass in der Nähe starke Generatoren liefen, sonst war alles still. Ohne Zögern betrat ich den Gang, der Bauchaufschneider folgte mir, das Skarg in der Hand. Wir hasteten den Korridor entlang. Alle Türen waren mit Zeichen versehen, die mir nichts sagten, aber Fartuloon konnte sie mühelos entziffern. »Alles nur Lagerräume«, knurrte er. Wir liefen weiter bis zum großen Ausgang. Hier zögerte ich, aber nun war es mein Pflegevater, der die Initiative ergriff. »Keine Zeit verlieren.« Er legte die Hand auf den Öffnungskontakt. Diesmal rollte die Tür zur Seite, wir erstarrten vor Schreck. Effektvoller hätte auch ein guter Regisseur unseren Auftritt nicht inszenieren können. Wir sahen in einen riesigen Raum, in dem es von Grünpelzen nur so wimmelte! Schon der erste Blick verriet uns, dass wir eine zentrale Transmitterhalle erreicht hatten. Die zahlreichen Sendeund Empfangskabinen rings um das weite Rund waren nicht zu übersehen. Permanent kamen Reisende an oder verschwanden in den von transparenten Wänden umgebenen Anlagen. Hunderte großer und kleiner Planetarier bewegten sich hin und her, und so konnte es gar nicht ausbleiben, dass wir augenblicklich entdeckt
wurden. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, denn ihre verständnislosen Blicke zeigten uns, dass sie mit uns absolut nichts anzufangen wussten. Sie bellten zwar aufgeregt durcheinander, sofort kam der gesamte Verkehr ins Stocken, aber sie schienen uns eher als eine Art von exotischen Tieren anzusehen. Ich atmete bereits auf und beschloss, ihr Erstaunen zu unseren Gunsten auszunutzen, doch von einem Moment zum anderen änderte sich die Lage. Laute, befehlende Stimmen übertönten abrupt alles, fünf Planetarier stürmten vom Ende der Halle her zielstrebig auf uns zu. Sie trugen einheitliche Kreuzgurte und Strahlwaffen, die sie sofort hoben – und damit war alles klar. Das mussten Polizisten oder Soldaten sein – und sie waren bereits vor unserem Auftauchen gewarnt worden! »Schnell weg!« Fartuloon schob mich nach links zu einer breiten Freitreppe. Ich lief ohne langes Überlegen. Noch konnten die Angreifer nicht schießen, ohne ihre eigenen Artgenossen zu gefährden. Das änderte sich jedoch, als wir ein Dutzend Stufen emporgehastet waren. Nun hatten sie freies Schussfeld und zögerten nicht, ihre Waffen einzusetzen. In der Halle brach Chaos aus, als die Glutbahnen durch die Luft fauchten. Die Ziele waren wir, aber wir befanden uns nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation. Wir verdoppelten unsere Geschwindigkeit und hetzten weiter in großen Sprüngen die Stufen empor. Die Schützen reagierten nicht schnell genug. Als sie erneut schossen, hatten wir bereits den Knick der Treppe erreicht, nun bot eine Zwischenwand Schutz. Bis die Verfolger am Fuß der Treppe angekommen waren, hatten wir schon eine Tür passiert, die sich an ihrem oberen Ende befand. Doch damit hatten wir auch das Ende unseres Fluchtwegs erreicht. Diese Tür führte auf einen Dachgarten, der zwar zurzeit verlassen war, uns aber auch keine weitere Fluchtmöglichkeit
mehr bot. Nur der Weg durch die Luft blieb noch – als ich aber mein Flugaggregat aktivieren wollte, erlebte ich eine böse Überraschung: Es funktionierte nicht mehr. Der Bauchaufschneider hatte den Öffnungsmechanismus der Tür mit dem Skarg zerstört. Nun lachte er bitter auf und wies auf einige lose von dem Gerät herabbaumelnde Drähte. »Das war es wohl, Kristallprinz. Du musst unterwegs irgendwo hängen geblieben sein, vermutlich schon in der Lüftungsröhre. Das zu reparieren würde etwa eine Tonta dauern, schätze ich, und so viel Zeit werden sie uns nie lassen. Da unten gibt es gleich dutzendweise Transmitter, durch die wahrscheinlich jetzt schon neue Jäger kommen, und die Gleiter werden auch bald da sein.« Ich trat an die Brüstung und sah nach unten, aber die Fassade des Gebäudes war vollkommen glatt. An ihr hätte auch der waghalsigste Kletterer keinen Halt gefunden. Die nächsten Häuser waren zwar nicht weit entfernt, aber ihre Dächer lagen viel zu tief. Springen zu wollen wäre glatt einem Selbstmord gleichgekommen. Resignierend wandte ich mich um und zog den Strahler, aber Fartuloon winkte ab. »Lass es sein, Junge. Die Lage ist zwar hoffnungslos, aber nicht ernst, wie schon das alte Sprichwort sagt. Oder weiß der Extrasinn Eurer Erhabenheit vielleicht noch einen Ausweg? Einen der berühmten Geistesblitze eines Mannes, der alle Prüfungen der ARK SUMMIA mit Auszeichnung bestanden hat? Ruf doch mal die Sternengötter an, lass deine Beziehungen zu den höchsten Kreisen spielen…« Das war bitterster Sarkasmus, aber er berührte mich nicht. Ich hörte gar nicht mehr zu, weil ein Wort eine gedankliche Assoziation hergestellt hatte. Rufen – ja, das war es! Ich hatte das Armbandfunkgerät! Es hatte keine große Reichweite, aber vielleicht konnte ich damit die ISCHTAR erreichen, sofern sie irgendwo in der Nähe war. Oder auch Akonen, falls es sie hier
noch gab. Die Jagd nach uns konnte schließlich von den Grünpelzen ohne ihr Wissen inszeniert worden sein. Hastig aktivierte ich das Gerät und strahlte das Notsignal der arkonidischen Flotte ab.
4. Aus: Jahre der Krise, Betrachtungen zum beginnenden 20. Jahrtausend, Hemmar Ta-Khalloup, Imperialer Archivar und Historiker; Arkon I, Kristallpalast, Archiv der Hallen der Geschichte, 19.035 da Ark Galaktische Mythen, Legenden und Sagen gehören zu den bewohnten Planeten der Milchstraße wie das Licht ihrer Sonnen. Raumfahrer verbreiten sie in Raumhafenkneipen oder erzählen sie bei langen Wachen vor den Ortungsgeräten; Pionier- und Prospektorentrupps tragen sie an den Rand der Zivilisationen, schmücken sie aus, verzerren sie und passen sie ihren Kulturen an. Manche dieser Geschichten überbrücken die Abgründe der Zeit oder führen weit über die galaktischen Grenzen hinaus; manche zeugen von fremden Dimensionen, anderen Universen. Ihr Realitätsgehalt ist meist kaum zu bestimmen. Dennoch finden immer wieder Historiker, Archäologen und private Forscher winzige, über die Galaxis verteilte Artefakte, die vermuten lassen, dass in vielen dieser Erzählungen ein Anteil Wahrheit liegt. Zu den bekanntesten interstellaren Mythen zählt zweifellos die Erzählung von der »Welt des ewigen Lebens«. Doch ist gerade dieser Gegenstand des Wunschtraums Ungezählter – wie sich herausgestellt hat – unleugbare Wirklichkeit: ES, der Kunstplanet Wanderer, Zellduschen und Imperator Gonozals Zellschwingungsaktivator haben jenen recht gegeben, die wie der große Forscher Crest ihr Leben lang nach dem sagenhaften Planeten suchten. Und so ist vielleicht keine der galaxisweit bekannten Legenden – weder die Sage vom »Magnortöter Klinsanthor« noch die altarkonidische Geschichte vom »Liebespaar Caycon und Raimanja« und dem von ihnen gezeugten »Wachen Wesen«, dem Eingreifen der »Zwölf Heroen«, der »Vagabundierenden Positronik«, ja nicht einmal die fantastische Sage von gewaltigen »Sternentoren«, die den Sprung
zu anderen Galaxien ermöglichen sollen – ganz ins Reich der Märchen zu verweisen. Auch verwundert es nicht, dass komplette Mythen oder wenigstens einige ihrer Motive Eingang gefunden haben in Kunstwerke und so noch populärer geworden sind.
Kledzak-Mikhon Obmann Rassafuyl war außer sich. Sein Pelz war gesträubt, die geschlitzten Augen funkelten drohend das Abbild Kimyuls an, das auf dem Bildschirm zu sehen war. »Was sagen Sie da?«, brüllte er zornig. »Wie konnten Ihnen die Fremden entkommen? Sie hatten schließlich fünfzig bewaffnete Männer gegen sie. Sie haben versagt.« Der Polizeioffizier wand sich, die Spitzen seiner Ohren hingen herab. »Ich begreife das auch nicht, Obmann. Wir hatten die Tür zu dem Raum, in dem sie sich befanden, schon fast aufgeschweißt. Doch dann wurde sie plötzlich wieder vollkommen kalt, wir mussten von Neuem anfangen. Nur deshalb gelang es ihnen, durch das Fenster zu fliehen.« Er atmete auf, als er sah, wie Rassafuyl bei seinen Worten zusammenzuckte. Natürlich begriff er nicht, warum sein Vorgesetzter erschrocken war, weil er nichts über die Hintergründe dieser Angelegenheit wusste. Der Schock saß noch viel tiefer, als er dachte. Rassafuyl schaltete die Tonübertragung ab und beugte sich zur Seite, sodass er den Erfassungsbereich der Kamera verließ. Dort saß Tamoyl, der sich noch immer nicht dazu aufraffen konnte, aktiv in das Geschehen einzugreifen. »Sie haben es gehört«, sagte der Obmann heiser. »Wir haben es nur mit zwei Ahnen zu tun, und sie machen uns schon eine Menge zu schaffen. Ihre Macht scheint noch genauso groß zu sein wie in alten Zeiten. Wie wäre es sonst wohl zu erklären, dass eine glühende Tür von einem Augenblick zum anderen wieder kalt wird?«
»Vielleicht sollten wir aufgeben und uns unterwerfen. Damit könnten wir ihr Wohlwollen erwerben, und wenn dann mehr von ihnen kommen…« Rassafuyl unterbrach ihn brüsk, hatte sich bereits wieder gefangen und funkelte Tamoyl an. »Aufgeben? Niemals! Vergessen Sie nicht, was es für unseren Planeten bedeuten würde, übernähmen die Ahnen hier wieder die Herrschaft. Unser Volk würde erneut zu Sklaven degradiert – wollen Sie das wirklich?« Seine Gestalt straffte sich. »Sie haben nicht den Mut dazu, aber denken Sie an den toten Kenyol. Er hätte niemals nachgegeben, und auch ich werde das nicht tun. Das Großtor ist wieder außer Betrieb – und es soll auch nie mehr funktionieren, dafür werde ich sorgen. Dann sind diese beiden Männer hier abgeschnitten, allein können sie sich auf die Dauer nicht behaupten.« Er schaltete die Verbindung zur Transmitterhalle von Sevvo-Bonth, wo Kimyul auf neue Befehle wartete. »Wurden alle Vorkehrungen getroffen, um den Fremden das Entkommen unmöglich zu machen?« Der Begtan nickte devot. »Ich bin nur mit fünfzehn Männern in die Halle eingedrungen, Obmann. Die anderen fünfunddreißig haben zuvor die Anlage umstellt. Bisher haben die Fremden noch keinen Versuch gemacht, das Gelände zu verlassen.« »Passen Sie weiter gut auf. Diese Wesen sind gefährlich und müssen unbedingt getötet werden. Ich veranlasse, dass Ihnen umgehend Verstärkung geschickt wird. Bis sie eingetroffen ist, gehen Sie wieder zu Ihren Männern. Anschließend wird damit begonnen, die Umgebung der Halle zu durchkämmen, klar?« »Ich habe verstanden, Obmann.« Kimyul eilte davon. Rassafuyl rief das Hauptquartier der Polizei von Poal-To an und beorderte weitere hundert Männer nach Sevvo-Bonth, schaltete wieder die Verbindung zum Großtor und verlangte nach Dammyol. Die Erben waren inzwischen wieder in die Halle zurückgekehrt. Dammyol trat vor die Kamera und bot das Bild
eines total Verängstigten. Der Pelz war noch immer gesträubt, die Ohren hingen schlaff herab. Der Obmann wusste, wie es jetzt in ihm aussah, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. »Passen Sie gut auf, Dammyol. Sie brauchen sich nicht weiter um die Fremden zu kümmern, das ist Sache der Polizei. Ich habe eine andere Aufgabe für Sie: Sie bleiben in der Halle und bewachen das Großtor. Wir müssen mit allen Mitteln verhindern, dass noch mehr dieser Wesen auf unsere Welt kommen. Sollte das Tor wieder aktiviert werden, zerstören Sie sofort alle Schaltanlagen.« Das Gesicht des Erben wirkte konsterniert. »Ist das Ihr Ernst, Obmann? Wenn wir das tun, wird es uns nie mehr gelingen, die Kontrolle über die Anlagen zu erlangen.« Rassafuyl fuhr auf. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Notfalls werde ich alle drei Großtore zerstören lassen, um weiteres Unheil von Kledzak-Mikhon fernzuhalten. Tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe, verstanden?« Damit war der schwache Widerstand des Erben gebrochen. Rassafuyl lehnte sich zurück. Er hatte getan, was in seiner Macht stand, um die Ahnen von seiner Welt fernzuhalten. Jetzt lag es an Kimyul und seinen Männern, die Eindringlinge zur Strecke zu bringen. Verächtlich sah der Obmann auf Tamoyl, der zusammengesunken in seinem Sessel hing. Dieser Schwächling!, dachte er fast angewidert. Und doch nistete auch in seiner Seele die Furcht vor den Ahnen – er gestand es sich nur nicht ein…
Als Kimyul wieder auf dem Bildschirm erschien, rechnete Rassafuyl fest damit, eine Erfolgsmeldung zu erhalten. Was er stattdessen zu hören bekam, versetzte ihn in höchste Wut. »Sie sind nicht aufzufinden, sagen Sie?«, bellte er den Begtan an. »Das ist doch unmöglich! Schließlich haben Ihre Männer den gesamten Komplex abgesperrt, die Gegend ist gut zu übersehen. Sie
müssen sich noch dort befinden, daran kann es keinen Zweifel geben.« Kimyul war durchaus nicht wohl unter dem Pelz. Rassafuyl war so aufgebracht, dass er es vorläufig nicht wagte, ihm von dem Missgeschick zu berichten, dass ein Polizist einen anderen angeschossen hatte. Er hob die vierfingrigen Hände. »Wir haben alles getan, was in der kurzen Zeit möglich war, Obmann. Meine Leute kämmen die Büsche ein zweites Mal durch, diesmal in einer Kette, die so dicht ist, dass zwei Personen überhaupt nicht übersehen werden können. Darf ich fragen, um wen es sich bei den Fremden überhaupt handelt?« »Sie dürfen nicht«, bellte Rassafuyl. »Da ich schon halb mit einem Misserfolg Ihrer unfähigen Männer gerechnet habe, habe ich weitere Vorsorge getroffen. Drei Polizeigleiter sind bereits im Anflug auf die Halle. Sie werden das Gelände aus der Luft überwachen, achten Sie also auf die Funkdurchsagen. Vielleicht sind die Fremden im Geäst der Büsche verborgen, von oben müssten sie besser zu entdecken sein. Sie können sich ja schließlich nicht unsichtbar gemacht haben.« »Können sie das wirklich nicht?«, fragte Tamoyl zweifelnd, als die Verbindung wieder unterbrochen war. »Vergessen Sie nicht, was die alten Unterlagen über die Ahnen berichten. Darin wird auch erwähnt, dass sie besondere Geräte hatten. Es war von einer Umlenkung der Lichtstrahlen die Rede, die gewissermaßen einen Bogen um den machten, der einen solchen Apparat trug.« Rassafuyl bellte ärgerlich: »Das habe ich keineswegs vergessen. Ich kann aber noch logisch denken, während der Schock Ihr Gehirn in Mitleidenschaft gezogen hat. Dass die beiden über außergewöhnliche Mittel verfügen, ist klar, sonst wären sie schon von den Erben getötet worden. Besäßen sie aber tatsächlich Deflektoren, hätten sie diese auch verwendet. Dann hätten sie es gar nicht nötig gehabt, sich vor den Polizisten anderweitig zu verbergen.«
Tamoyl schwieg betreten. Was hätte er auch erwidern sollen? Die Ereignisse seit Snayssols Verstoß gegen die Gesetze hatten ihn weit überfordert. Zum Glück nicht so sehr wie Kenyol, dessen Leiche inzwischen unauffällig weggeschafft worden war, aber immer noch mehr, als einem alten Mann zuträglich war. Er war froh, dass Rassafuyl die Führung übernommen hatte. Dieser war schon immer der Agilste des Triumvirats gewesen. Sein Wort hatte auch den Ausschlag dafür gegeben, dass Snayssol ein zweites Mal durch das Beginntor geschickt worden war. Hatte aber nicht damit erst alles begonnen? Fremde hatten den jungen Erben von dem sicheren Tod gerettet. Wer das gewesen war, war auch jetzt noch nicht klar, weil sich die Aussagen widersprachen. Es stand jedoch fest, dass die Retter mit einem Flugvehikel gekommen waren, das weit größer als die üblichen Gleiter gewesen war. Also konnten sie nicht von Kledzak-Mikhon stammen, denn auf dieser Welt kannte man keine Raumfahrt mehr. Die Annahme lag folglich sehr nahe, dass diese Unbekannten zumindest in Verbindung mit den Ahnen gestanden haben mussten. Diese hatten dann davon erfahren, wie Snayssol behandelt wurde, und waren daraufhin selbst in Erscheinung getreten. Ja, so musste es gewesen sein. Ob es dann aber klug war, sich gegen sie zu stellen und ihre Vernichtung zu befehlen? Musste das nicht geradezu Vergeltung herausfordern? Würden sich bald alle Großtore öffnen, um weitere Ahnen nach Kledzak-Mikhon zu bringen? Tamoyls Gedanken waren unerfreulich, aber er schwieg. Rassafuyl hatte die Macht an sich gerissen – mochte er nun auch zusehen, wie er mit allem fertig wurde…
Snayssol hatte sich wieder halbwegs beruhigt, die Scheu gegenüber den Arkoniden jedoch noch immer nicht abgelegt. Zu deutlich stand ihm jene Szene vor Augen, als er mit den Obmännern des Triumvirats
zusammengetroffen war. Er war schon immer ein Sucher nach jener Wahrheit gewesen, die seiner Meinung nach tief irgendwo in der Geschichte der Loghanen verborgen lag. Er hatte darüber keine feste Meinung gehabt, weil ihm die richtigen Anhaltspunkte fehlten, sondern mehr instinktiv gespürt, dass es ein großes Geheimnis gab. Das Triumvirat hatte ihn mit der Wahrheit konfrontiert und ihm das Bild eines Ahnen gezeigt. Es war eine schreckliche Wahrheit gewesen, doch sie hatte ihm immer noch keine völlige Klarheit gebracht. Die letzte Antwort hatte ihm das Triumvirat verweigert und ihn stattdessen erneut durch das Beginntor geschickt. Doch er war gerettet worden – ausgerechnet von Wesen, die dem Wesen auf dem Bild so ähnlich sahen. Dieser Umstand hatte Snayssol in neue Gewissenskonflikte gestürzt. Er fürchtete sich auch jetzt noch, obwohl die Bedrohung seines Daseins durch Akon-Akon vorüber war. Lediglich der Magnetier Vorry, der sich deutlich von den anderen Wesen unterschied, und der dunkelhäutige Ra erschienen ihm weniger furchterregend, er hatte sich seiner besonders angenommen.
Ra kam gelegen, dass ihn Karmina dazu bestimmt hatte, Snayssol nach Kledzak-Mikhon zurückzubringen. Er hatte wieder die Techniker als Begleiter gewählt und befand sich nun mit ihnen und dem Loghanen auf dem Weg zum Beiboothangar. Der Translator ermöglichte die Verständigung. »Wir bringen dich jetzt auf deine Heimatwelt zurück«, sagte er freundlich. »Euer sogenanntes großes Spiel ist vorüber, die Gefahr für dich dürfte also ausgestanden sein. Hast du einen besonderen Wunsch, wo du abgesetzt werden möchtest? Du hast doch sicher Familie oder Verwandte, die dich gern aufnehmen werden?« Der loghanische Erbe blieb stehen. Die Augen mit den Schlitzpupillen waren überlegend zusammengekniffen, die vierfingrigen Hände nestelten am Kreuzgurt. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich kann mich jetzt auf keinen
Fall dort sehen lassen, wo man mich kennt. Wahrscheinlich hat das Triumvirat längst den Befehl gegeben, mich bei meinem Auftauchen sofort festzunehmen. Sie haben schon einmal versucht, mich zu beseitigen, sie werden es wieder tun. Ich kann mich nirgends auf Kledzak-Mikhon mehr sicher fühlen.« Ra stoppte ebenfalls. »Ganz so schlimm kann es doch nicht sein. Wenn wir dich in einer abgelegenen Gegend absetzen, wo dich niemand kennt, findest du bestimmt unter einem falschen Namen einen Unterschlupf. Dort kannst du so lange abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist.« »Gras gewachsen?«, fragte Snayssol verständnislos, dem diese Redewendung unbekannt war. Ra erklärte ihm, was er gemeint hatte, sie gingen weiter. Kurz vor Erreichen des Beiboothangars sagte der Loghane: »Ich glaube einen solchen Ort zu kennen, Ra. In einer kleinen Stadt an der Südspitze des Kontinents Parl-Jasgor lebt ein alter Verwandter von nur, bei dem ich mich in meiner Jugend oft aufgehalten habe. Ich habe ihn zwar lange nicht mehr gesehen, aber ich glaube nicht, dass er mich verraten würde. Er ist ein sehr gutmütiger Mann, früher war er ein bekannter Architekt.« »Ausgezeichnet.« Der Barbar führte ihn in die Zentrale des Diskus und ließ sich von Snayssol die Position auf einer Bildschirmkarte zeigen. »Ich setze dich in einer möglichst unbelebten Gegend irgendwo in der Umgebung ab. Von dort aus musst du dich zu Fuß auf den Weg machen.« Snayssol schüttelte den Kopf. »Ich weiß etwas Besseres. Am Fuß der Berge unweit der Stadt befindet sich ein Ort, der seit Jahren verlassen ist. Die meisten Häuser wurden durch einen Steinschlag zerstört, aber das dortige Schwarze Tor funktioniert immer noch und steht mit dem allgemeinen Netz in Verbindung. Von dort aus kann ich direkt zur Stadt, es gibt einen öffentlichen Anschluss ganz in der Nähe von Garfulys Wohnung.« Ra nickte und leitete den Start ein. Ein kurzer Funkimpuls, das
Schott des bereits luftleeren Hangars glitt auf, das Boot schwebte ins Freie. Der Barbar zog erneut die Karten zurate, die von Kledzak-Mikhon angefertigt worden waren, und programmierte den Kurs.
Zwanzig Zentitontas später glitt das Beiboot mit geringer Geschwindigkeit dicht über der Oberfläche des Nordmeers zum Kontinent Parl-Jasgor. An dieser Stelle fiel das Randgebirge steil in den Ozean ab, in dieser unwegsamen Gegend gab es keine loghanischen Ansiedlungen. Ra manövrierte das Boot geschickt zwischen den Bergen, bis die landeinwärts gelegene Ebene in Sicht kam. Kurz darauf landete er nach Snayssols Anweisung in einem schmalen Canyon, von dem aus bereits der zerstörte Ort zu sehen war. Er begleitete den Loghanen zur Schleuse, aber dort zögerte Snayssol. »Ich wäre dir sehr dankbar, würdest du hier noch eine Weile warten, Ra. Vielleicht geht doch etwas schief, sodass ich wieder fliehen muss. Dann wüsste ich nicht mehr, wohin ich mich wenden sollte, solltet ihr nicht mehr da sein.« Ra runzelte die Stirn und wollte bereits absagen, aber das Mitleid mit dem schwer geprüften Grünpelz gewann die Oberhand, und er stimmte zu. »In Ordnung, ich gebe dir zwanzig Zentitontas. Bist du bis dahin nicht zurück, starte ich auf jeden Fall. Wir dürfen keine Zeit verlieren, unser Abflug steht unmittelbar bevor.« Snayssol bellte einen Dank und entfernte sich in langen Sprüngen. Der Barbar ging in die Zentrale zurück und verständigte die ISCHTAR über Funk.
Karmina da Arthamin zeigte sich ungehalten, sah aber doch ein, dass der Loghane nicht einem ungewissen Schicksal ausgeliefert
werden konnte. Sie wies Ra an, sich zu beeilen, und hatte das Gespräch gerade beendet, als ein Alarmruf aus der Medostation einging. Bauchaufschneider Albragin meldete sich, sein Gesicht drückte höchste Bestürzung aus. »Kommen Sie schnellstens zu uns, Erlauchte – mit Akon-Akon stimmt etwas nicht.« »Besteht Lebensgefahr?«, fragte die arkonidische Sonnenträgerin knapp, als sie die Medostation betrat. Albragin zuckte mit den Schultern. »Wir haben noch keine definitiven Feststellungen treffen können. Durch die Entladungen hat er leichte Verbrennungen erlitten, aber sie stellten uns nicht vor ernsthafte Probleme. Wir haben sie behandelt, die Heilung ist in vollem Gang. Die jetzt aufgetretenen Komplikationen sind vollkommen anderer Natur.« Karmina sah ihn verweisend an. »Sie machen viele Worte, ohne aber damit etwas zur eigentlichen Sache zu sagen, Bauchaufschneider. Wenn sich Mediziner derart umständlich ausdrücken, sind sie meist ratlos, das weiß ich aus meinen Erfahrungen bei der Imperiumsflotte. Sie werden mir doch wenigstens die Symptome nennen können?« Albragin zuckte unwillkürlich zusammen, als sie diesen strengen Ton anschlug, und strich sich fahrig durch das bereits gelichtete helle Haar; die rötlichen Augen wirkten verkniffen. »Natürlich kann ich das, Sonnenträgerin. Rein äußerlich ist dem Patienten nichts anzumerken, aber die an seinen Körper angelegten Kontrollinstrumente spielen seit einigen Zentitontas verrückt. Sie zeigen plötzlich derart unsinnige Werte an, dass er eigentlich gar nicht mehr am Leben sein dürfte, würden diese Angaben stimmen.« Sie hatten inzwischen die Krankenkabine erreicht, in der Akon-Akons Körper reglos auf einem Schwebebett ruhte. Er war festgeschnallt, aber Karmina war klar, dass diese Vorsichtsmaßnahme eigentlich völlig überflüssig war. Sollte von dem jungen Mann wirklich eine Gefahr drohen, spielte sein
Körper nur eine sehr untergeordnete Rolle. Seine Kräfte lagen auf einem gänzlich anderen, rein psychischen und paranormalen Gebiet. Sie starrte in das wachsbleiche Gesicht und sah, wie sich seine Brust in langsamen Atemzügen hob. Akon-Akon stand nach wie vor unter der Wirkung des betäubenden Mittels. Die Augen waren geschlossen, von dem suggestiv begabten Gehirn gingen keinerlei beeinflussende Emissionen aus. Die Frau schüttelte langsam den Kopf und sah wieder den Arzt an. »Was sagen Ihre Instrumente nun wirklich? Ich bitte um präzise Angaben, drücken Sie sich aber bitte allgemein verständlich aus. Meine Stärke liegt auf anderen Gebieten, von der medizinischen Terminologie verstehe ich nicht sonderlich viel.« Albragin winkte seine Gehilfen beiseite, die mit schussbereiten Schockern beim Krankenbett Wache hielten. Sie gaben den Blick auf den kleinen Medocomputer frei, von dem aus zahlreiche Kabel zu Akon-Akon führten und in Sensoren endeten, die an seinem Körper befestigt waren. »Bitte, sehen Sie selbst.« Er wies auf die Anzeigen. »Das hier ist die Angabe der Körpertemperatur. Vor einer Dezitonta lag sie noch um drei Grad zu hoch – jetzt ist sie um zwei Grad zu niedrig. Hier der Blutdruckmesser, der jetzt Werte anzeigt, die doppelt über normal sind, während es vor einer Dezitonta vierzig Prozent zu wenig waren. Ähnlich ist es mit allen anderen Angaben, die Werte schwanken ständig. Das ist es, was ich nicht verstehe.« »Haben Sie den Computer überprüft?« Karmina runzelte die Stirn. Der Bauchaufschneider nickte. »Natürlich; zuerst dachte ich auch, dass die Fehlerquelle bei ihm zu suchen ist. Er ist jedoch vollkommen in Ordnung, ich habe Kontrollmessungen an mir selbst durchgeführt. Als ich die Sensoren wieder Akon-Akon anlegte, begannen die Schwankungen aber von Neuem. Ein ständiges Auf und Ab, das kein normaler Arkonide aushalten
kann.« »Dieser junge Mann ist kein normaler Arkonide«, belehrte ihn die Sonnenträgerin lakonisch und überlegte einen Moment. »Halten Sie es für möglich, dass die Anzeigen des Computers irgendwie durch ihn beeinflusst werden?« Albragin sah sie verwundert an. »Ein Medocomputer ist ebenso unbestechlich wie alle Positroniken. Ich wüsste nicht, wie jemand seine Sensoren beeinflussen könnte. Ein Mann unter dem Einfluss eines starken Betäubungsmittels ist dazu erst recht nicht in der Lage.« Karmina da Arthamin lächelte leicht. »Das dürfte sich leicht feststellen lassen, Bauchaufschneider. Entfernen Sie sämtliche Sensoren und führen Sie mit einfachen mechanischen Geräten vergleichende Messungen durch. Sie verfügen doch sicher über die entsprechenden Instrumente?« Der Arzt nickte mit skeptischem Blick und befolgte ihre Anordnung. Schon nach der Temperaturmessung schüttelte er verwundert den Kopf, seine Verwirrung stieg in den nächsten Zentitontas weiter. Schließlich legte er die Instrumente weg und sah die Sonnenträgerin mit dem Blick eines Mannes an, der die Welt nicht mehr verstand. »Sämtliche manuell ermittelten Werte sind vollkommen normal. Das ist mir unbegreiflich, aber Sie haben augenscheinlich recht. Wie ist das nur zu erklären?« Karmina lächelte wieder. »Ganz einfach, sofern man erst einmal auf den richtigen Gedanken gekommen ist. Akon-Akons Bewusstsein ist zwar ausgeschaltet, aber sein Unterbewusstsein arbeitet trotz der Betäubung. Von ihm müssen irgendwelche Störimpulse ausgehen, die geeignet sind, den Medocomputer zu beeinflussen. Wie das geschieht, werden wir wohl kaum feststellen können, da es für paranormale Aktivitäten bisher noch keine eindeutige Kontrollmöglichkeit gibt. Es war gut, dass Sie mich verständigt haben, denn nun wissen wir wenigstens, woran wir sind.«
Albragin nickte langsam. »Ihre Erklärung leuchtet ein. Schlagen Sie irgendwelche besonderen Vorgehensweisen in Bezug auf den Patienten vor?« Sie lachte humorlos, auf. »Nach wie vor ist natürlich erhöhte Vorsicht geboten, weil dieser ›Patient‹ keine neue Chance bekommen darf, uns unter sein geistiges Joch zu zwingen. Ihn daran zu hindern, ist bis auf weiteres Ihre vordringliche Aufgabe, Albragin.« Sie verließ die Medostation, der Arzt sah ihr kopfschüttelnd nach. Er hatte die Sonnenträgerin schon immer heimlich verehrt, aber nun war seine Hochachtung vor ihr noch um einige Grade gestiegen.
Snayssol lief, so schnell er konnte. Trotz seiner Eile sah er sich immer wieder verängstigt um. Der kleine Ort war zwar zerstört und verlassen, aber zuweilen fanden sich doch einzelne Loghanen dort ein. In der Bergwildnis gab es jagdbare Tiere, viele Bewohner von Kledzak-Mikhon gingen gern auf die Jagd. Ein solcher Ausflug war für sie kein Problem: Sie gingen in ihrem Heimatort in einen Transmitter und kamen gleich darauf irgendwo heraus, wo das Revier direkt vor ihrer Nase lag. Das war einer der Gründe, dass auch dieses Tor hier betriebsbereit gehalten wurde. Doch der Erbe hatte Glück; weit und breit war niemand zu sehen. Das Spiel der Schwarzen Tore hatte für Ablenkung gesorgt, niemand wollte die Übertragung der Endfeiern versäumen, oder sie feierten ausgelassen. Snayssol wand sich zwischen Steinen und Trümmern durch. Außer Atem kam er bei dem betreffenden Gebäude an. Es war ebenfalls schwer mitgenommen, aber der Eingang war freigelegt worden. Noch ein rascher Blick, dann schlüpfte der junge Loghane in die Station. Er hatte es vorerst geschafft. Obwohl er es eilig hatte, ließ er nun doch etwas Zeit
verstreichen. Er musste sich erholen und den Pelz glatt streichen, ehe er sich auf den Weg machte. In der kleinen Stadt würde ihn vermutlich kaum noch jemand erkennen. Kam er aber verstört und abgekämpft an, musste er unweigerlich Aufsehen erregen. Endlich hatte er sich beruhigt und hergerichtet. Nun sah er wenigstens äußerlich ruhig und unverdächtig aus. Er trat entschlossen in das Transportfeld. Die Umgebung verschwand und wurde übergangslos durch eine andere ersetzt. Auch diesmal ging alles gut. Die Transmitterstation war leer, niemand hatte seine Ankunft beobachtet. Noch einmal holte Snayssol tief Luft, verließ das Gebäude und trat auf die Straße. Er hätte rennen mögen, doch er bewegte sich gemächlich – wie jemand, der viel Zeit hatte. Dass sein Vorgehen richtig war, zeigte sich bald. Ihn trafen zwar die neugierigen Blicke der Passanten, aber niemand schenkte ihm besondere Aufmerksamkeit. Sein Herz klopfte ruhiger, als er in die Seitenstraße einbog, in der sein Großonkel wohnte. Garfuly war zu einem Einzelgänger geworden, seit seine Lebensgefährtin gestorben war. Er hatte sich hier in diesem Nest vergraben, wo er nur selten Besuch bekam. Als bekannter Baumeister hatte er früher genug verdient, um einen sorgenlosen Lebensabend zu haben. Trotzdem saß er auch jetzt noch die meiste Zeit vor Zeichnungen und Entwürfen. Er träumte davon, vor seinem Tod ein Bauwerk zu schaffen, das seinesgleichen auf dem ganzen Planeten suchte. So traf ihn Snayssol an. Garfuly erhob sich überrascht, seine alten Augen blinzelten den Eintretenden an. Erst nach einigen Augenblicken erkannte er ihn und kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. »Snayssol, mein Junge. Wie schön, dass du dich auch wieder mal bei mir sehen lässt. Sonst kommt nie jemand zu mir, und mit den Leuten hier im Norden kann ich mich einfach nicht anfreunden. Sie sind so ganz anders wie wir, jeder denkt immer nur an sich. Komm, du musst dir gleich ansehen, was ich hier entwerfe. Eine Ruhmeshalle, die
gleich neben dem Regierungspalast in Poal-To stehen soll – ganz Kledzak-Mikhon wird staunen.« Er ist wirklich alt geworden, dachte der Erbe, während er ihn begrüßte. Garfulys Pelz hatte sich gelichtet, die grauen Strähnen waren nicht zu übersehen. Nun mühte er sich ab, um noch einmal etwas Großes zu schaffen. Ein aussichtsloses Beginnen, das wusste selbst Snayssol. Es gab Tausende junger Männer mit neuen Ideen, die ihn längst überholt hatten. Natürlich hütete er sich, das auszusprechen. Er sagte einige anerkennende Worte und nahm den Becher mit Donrep entgegen, den ihm der Alte reichte. Beide tranken, schließlich erkundigte sich der Erbe vorsichtig: »Ist es dir recht, wenn ich einige Tage bei dir bleibe? Du weißt, dass ich immer gern bei dir gewesen bin. Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen.« Garfuly winkte ab. »Das kommt gar nicht infrage, Junge. Im Gegenteil, solange du hier bist, tue ich einmal nichts. Du musst mir viel erzählen, ich erfahre ja kaum noch, was draußen in der Welt so vor sich geht. Was machen unsere lieben Verwandten?« Snayssol entspannte sich und gab die gewünschten Auskünfte. Ja, hier war er sicher, das stand nun für ihn fest. Dieser alte Mann ging ganz in seinen eigenen Angelegenheiten auf, er wusste nichts davon, was sich inzwischen ereignet hatte. Dass ihn jemand besuchte, von dem er es erfahren konnte, war kaum zu befürchten. Der Erbe lehnte sich im Sessel zurück und schloss behaglich die Augen. Doch im nächsten Moment fuhr er wie vom Schlag getroffen hoch, sein Pelz begann sich zu sträuben, als eine fremde Stimme erklang: »… noch immer Unklarheit über den Verbleib des Erben Snayssol, der während des Spiels der Schwarzen Tore verschwand. Obwohl es dabei Zeugen gab, konnte noch nicht festgestellt werden, was nun wirklich geschehen ist. Die Aussagen widersprechen sich so sehr, dass es an ihrer Glaubwürdigkeit starke Zweifel haben muss. Inzwischen ist aber vom Triumvirat der Befehl ausgegeben worden, Snayssol sofort
festzunehmen, sobald er irgendwo auftauchen sollte. Er hat sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht, deshalb…« Rasend vor Wut und Enttäuschung schlug Snayssol auf die Aus-Taste des Geräts, das Garfuly gerade eingeschaltet hatte. Es war bestimmt seit Langem nicht mehr in Betrieb gewesen, der Alte hatte es nur angestellt, um ihm einen Gefallen zu tun. Und das ausgerechnet jetzt, im ungünstigsten Moment! Der Erbe drehte sich langsam um und begegnete dem kalten Blick des Großonkels. »Ach, so ist das also«, knurrte Garfuly erbittert. »Du bist also nur gekommen, um dich hier zu verstecken, weil du dich anderswo nicht mehr sehen lassen kannst Nein, Junge, das kannst du mit mir nicht machen. Wie kann ich noch darauf hoffen, dass meine Ruhmeshalle gebaut wird, wenn ich einem Gesetzlosen helfe? Verlass mich wieder, aber schnell.« Snayssol wollte sich verteidigen, aber der Alte winkte nur verächtlich ab. »Spar dir die Worte. Der einzige Gefallen, den ich dir noch tun will, ist der, dass ich deine Anwesenheit nicht den Behörden melde. Verschwinde, augenblicklich!« Wortlos folgte der Erbe dieser unerbittlichen Aufforderung. Er schleppte sich hinaus, die Füße waren wie aus Blei. Nun wusste er wirklich keinen Ort mehr, an dem er sich verbergen konnte. Automatisch schlug er den Weg zur Transmitterstation ein, als ihn plötzlich ein Gedanke durchzuckte, der ihm wieder Hoffnung gab. Der dunkelhäutige Fremde hatte ihm versprochen, noch einige Zeit zu warten! Vielleicht war diese Spanne noch nicht verstrichen – vielleicht war er noch da? Snayssol begann zu rennen, ohne sich um die verwunderten Blicke zu kümmern, die ihm folgten.
Snayssol rannte um sein Leben. Bald schon fiel ihm das Laufen schwer, er begann zu keuchen, hatte sich ja erst notdürftig von
den Strapazen des Spiels der Schwarzen Tore erholt. Jetzt machten sich die Nachwirkungen unliebsam bemerkbar. Hinter der nächsten Straßenecke musste er anhalten. Seine Glieder schmerzten, vor den Augen tanzten feurige Ringe. Erschöpft lehnte er sich in einem Hauseingang gegen die Tür und schnappte nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis sich der Erbe so weit erholt hatte, dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Er rannte wieder los, ohne sich um die Passanten zu kümmern, und erreichte schließlich die Straße mit der Transmitterstation. Obwohl die Zeit drängte, zwang er sich nun dazu, langsam zu gehen, wollte nicht im letzten Moment noch alles verderben. Zum Glück hatte er sich nur kurze Zeit bei seinem Großonkel aufgehalten, es konnte gerade noch reichen. Sinnloser Zorn auf Garfuly stieg in Snayssol auf. Der Alte hatte sich darüber beklagt, dass die Leute hier im Norden immer nur an sich selbst denken würden. Doch was hatte er gleich darauf getan? Er hatte auch nicht anders gehandelt und dem eigenen Verwandten kalt die Tür gewiesen, als er sich in Not befand. Und das alles nur wegen einer Ruhmeshalle, die nie gebaut werden würde… Snayssol erreichte den Eingang zur Transmitterstation. Einige Leute kamen ihm entgegen, aber er ging achtlos an ihnen vorbei. Jetzt konnte ihm nichts mehr geschehen. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde er durch das Tor gehen und gleich darauf in den Bergen ankommen. Der dunkelhäutige Mann würde bestimmt den Ort im Auge behalten und ihn sofort bemerken. Er würde ihn nicht im Stich lassen, selbst wenn die Wartezeit eigentlich schon abgelaufen war. Der Erbe sah nicht, wie sich plötzlich ein Mann umdrehte, der eben aus der Station gekommen war. Umso größer war sein Erschrecken, als er die laute Stimme vernahm. »Haltet ihn auf, er darf nicht entkommen! Das ist der Mann, der von der Polizei gesucht wird. Ein Gesetzesbrecher, ich habe sein Bild gesehen…« Snayssol handelte spontan. In der Station befanden sich drei
Männer, die gleichfalls den Transmitter benutzen wollten. Hinter ihm kam der Mann, der ihn erkannt hatte und immer wieder die Warnung schrie. Die anderen wurden aufmerksam und stellten sich Snayssol entgegen, aber die Angst verlieh dem Erben zusätzliche Kräfte. Rücksichtslos stieß er alle zur Seite und hatte Erfolg. Die Männer taumelten gegeneinander und hielten den vierten auf. Hastig betätigte Snayssol die Transmitterkontrollen, das Transportfeld baute sich auf. »Halt – Polizei!«, bellte eine Stimme, aber das konnte ihn nun auch nicht mehr beeindrucken. Er warf sich vorwärts – und im nächsten Moment stand er in der Gegenstation im Bergdorf. Ein rascher Knopfdruck schaltete den Transmitter ab. Snayssol wusste, dass ihm das nur einen minimalen Zeitgewinn verschaffte. Der Polizist brauchte nur die gewählte Einstellung erneut zu wählen, schon würde die Verbindung wieder stehen. Doch vielleicht entschieden gerade die wenigen gewonnenen Augenblicke über das weitere Schicksal. Der Erbe hastete aus dem Gebäude. Eilig wand er sich durch die Trümmer, bis die Stelle sichtbar wurde, an der sich das Fahrzeug der Fremden befinden musste. Es steht noch da! Snayssol winkte aufgeregt, um sich den Insassen bemerkbar zu machen. Er konnte aber nicht mehr feststellen, ob diese ihn bemerkt hatten, weil vom Transmitter schon wütendes Gebrüll erklang. Der Polizist hatte schnell gehandelt, mit ihm waren jene Männer gekommen, die der Erbe so wenig rücksichtsvoll behandelt hatte. Erneut rannte Snayssol los. Der Polizist war jedoch nicht gewillt, sein Opfer entkommen zu lassen. Fing er einen weltweit gesuchten Gesetzesbrecher, bedeutete das eine Anerkennung von höchster Stelle. Das war etwas, das einem einfachen Polizisten nur äußerst selten widerfuhr, und diese Chance wollte er nicht versäumen. Er zog den Thermostrahler, blieb stehen und wartete geduldig ab, bis der Erbe wieder in seinem Gesichtsfeld erschien. Er drückte ab,
dicht neben dem Flüchtling schlug der Glutstrahl in einen Mauerrest. Erschrocken ließ sich Snayssol zu Boden fallen. Dort blieb er liegen, nun war er wirklich am Ende seiner Kräfte. Er war seinem Ziel schon so nahe, ohne es jedoch erreichen zu können. Sobald er sich wieder erhob, musste er ein leichtes Ziel für den Polizisten sein. Durch das eigene Keuchen hörte er die Geräusche der nahenden Verfolger, noch einmal riss ihn der Selbsterhaltungstrieb hoch. Sollte es gerade jetzt zu Ende gehen, da er einen kleinen Zipfel des Geheimnisses um die Ahnen gelüftet hatte? Nein, die unbarmherzigen alten Männer des Triumvirats in Poal-To sollten nicht triumphieren. Snayssol sprang auf, musste jedoch sofort wieder in Deckung gehen – der Polizist schoss erneut. Er wusste, wo sich Snayssol befand, war stehen geblieben und behielt diese Stelle im Auge. Unterdessen arbeiteten sich die anderen Männer vor, um den Erben einzukreisen. Sie waren sicher, dass er ihnen nicht wieder entkommen würde…
Ra hatte buchstäblich bis zum letzten Moment der Frist auf Snayssol gewartet. Seine Finger lagen bereits auf den Bedienungselementen der Triebwerke, als er noch einen letzten Blick aus der Transparentkuppel warf. Im gleichen Augenblick hetzte Snayssol näher, der Barbar zog die Hand wieder zurück. Er sah, dass der Ankömmling winkte, aber sofort wieder weiterrannte. Ras Brauen kniffen sich zusammen. Er ahnte bereits, was nun kommen würde. Richtig, da tauchten schon die Verfolger auf. Einer trug eine Waffe und schoss auf Snayssol, ohne ihn aber zu treffen. »Wartet, euch kann geholfen werden«, knurrte der Barbar, griff in die Kontrollen und justierte das Paralysegeschütz. Um sicherzugehen, stellte er es auf Fächerstrahl und wartete; der
Polizist wechselte gerade seinen Standort. Als er zum zweiten Mal schoss, drückte auch Ra ab. Der lähmende Strahl erfasste den Loghanen voll. Einen Moment lang blieb er noch mit erhobener Waffe stehen, dann kippte er zur Seite weg. Ra grinste, schwenkte das Geschütz herum und suchte nach den anderen Verfolgern, fand sie und schaltete einen nach dem anderen aus. Anschließend lehnte er sich zufrieden zurück und wartete auf Snayssol.
Vollkommen erschöpft stolperte Snayssol in die Schleuse. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen und zogen ihn weiter, im Hintergrund erschien das dunkle Gesicht Ras. »Das ist ja noch mal gut abgegangen«, sagte er über den Translator. »Ich wollte gerade abfliegen. Deine Verfolger habe ich gelähmt, in Zukunft werden sie wohl etwas weniger aggressiv sein. Jetzt müssen wir schleunigst abfliegen.« Während der Erbe in einem Kontursitz des Steuerraums Platz fand, blinkte die Ruflampe des Funkgeräts auf. Ra verzog das Gesicht. »Typisch weibliche Ungeduld…«, murmelte er und aktivierte den Empfänger. Doch die Bildfläche blieb dunkel, nur aus der Feldmembran drangen rhythmische Geräusche, die sich in kurzer Folge wiederholten. Der Barbar fuhr zusammen, ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens erschien auf seinen Zügen. »Das Notsignal der Arkonflotte? Von der ISCHTAR kann es nicht kommen, dazu ist es viel zu schwach. Oder sollte etwa…« Er vollendete den Satz nicht mehr, sondern schaltete hastig den Sender ein. Als die Antwort kam, verschlug es ihm einen Augenblick die Sprache. »Du, Atlan?«, brachte er schließlich heiser hervor. »Verdammt, wie ist das nur Ja, schon gut, ich frage nichts mehr. Lass dein Gerät eingeschaltet, damit wir es anpeilen können. Die ISCHTAR
befindet sich zurzeit auf der anderen Seite des Planeten, aber ich bin mit einer Leka da. Ich fliege mit allem, was der Antrieb hergibt, halt durch.« Er aktivierte den Antrieb und ließ das diskusförmige Beiboot heftig anrucken. Dann erst rief er das Schiff über Hyperfunk. Karmina da Arthamin meldete sich sofort. Auch in der ISCHTAR war das Notsignal empfangen worden, aber nur so schwach, dass der Standort des Senders nicht exakt angepeilt werden konnte. Die Sonnenträgerin war nicht wenig überrascht, als sie erfuhr, dass Atlan der Absender war und sich offensichtlich in Not befand. »Hol ihn unter allen Umständen raus, Ra!«, befahl sie mit der Ruhe einer erfahrenen Admiralin des Großen Imperiums. »Worauf du dich verlassen kannst, Erlauchte«, versicherte der Barbar grimmig, und die weißen makellosen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht.
5. Der Barbar kam buchstäblich im letzten Augenblick. Wir hatten uns hinter einigen kümmerlichen Büschen des Dachgartens in Deckung geworfen. Längst war die Kunststofftür unter den Strahlschüssen der Gegner verglüht, aber sie kamen nicht heraus. Sobald sich auch nur eine behaarte Ohrspitze zeigte, nahm ich sie unter Feuer, und das verschaffte uns den nötigen Respekt. Doch das war nur ein Aufschub, wir wussten es. Längst mussten Verstärkungen eingetroffen sein und das Transmittergebäude hermetisch abgeriegelt haben. Nun warteten sie wohl nur noch auf die Gleiter, deren Eingreifen uns endgültig erledigen sollte. Wo blieb nur Ra mit dem Beiboot? Immer wieder suchte Fartuloon besorgt den Himmel ab, schließlich stöhnte er unterdrückt auf »Da sind sie, Allan. Diesmal gleich zehn Stück, man will wohl ganz sichergehen. Nur noch wenige Millitontas Alle Götter, da kommt endlich die Leka.« Das Heulen und Brausen gewaltsam verdrängter Luftmassen wurde hörbar, auch das Arbeitsgeräusch eines mit Höchstwerten bremsenden Impulsantriebs. Ein Schatten fiel über das Dach, Luftwirbel rissen uns fast vom Boden. Etwas blitzte über uns auf, ich vernahm Fartuloons Ausruf. »Da hat es einen erwischt – da, noch einen! Die anderen drehen ab und rasen davon, so schnell sie nur können. Junge, wir sind gerettet…« Ich konnte noch gar nicht richtig an diese Rettung glauben. Erst als das diskusförmige Beiboot, vom Antigravpolster getragen, rechts von uns dicht über dem Dach schwebte, wagte ich es, die Nase über das Grünzeug zu heben. Doch die Stumpfnasigen auf der Treppe hatten inzwischen ebenfalls erkannt, woher der Wind blies, und schleunigst das Weite gesucht. Niemand schoss mehr auf uns, als wir aufstanden und auf die offen stehende Bodenschleuse zuliefen. Hinter uns schloss sie sich sofort wieder, das Boot jagte steil in den Himmel. In der Zentrale grinste uns Ra triumphierend entgegen. »Na, wie
habe ich das gemacht?« Wir lobten ihn gebührend, bis mein Blick auf den Planetarier fiel, der wie ein Häufchen Elend in einem Kontursitz kauerte. »Was tut der denn hier?« Der Barbar winkte ab. »Ein armer Kerl, dem seine eigenen Leute übel mitgespielt haben. Doch ihm habt ihr es im Grunde zu verdanken, dass wir so schnell kommen konnten. Seid also nett zu Snayssol, er hat es wirklich verdient.«
An Bord der ISCHTAR: 1. Prago der Prikur 10.499 da Ark »Wir hätten den Jungen erschießen sollen«, stieß Ra düster hervor. Ich sah den dunkelhäutigen Mann durchdringend an, verstand seine Reaktion. Ra war ein Mann der Tat. Seine Aktionen waren kompromisslos und hart. Er war und blieb der Barbar, den arkonidische Raumfahrer von einem steinzeitlichen Planeten entführt hatten. Der gezackte Langspeer passte besser in seine Faust als der arkonidische Blaster. Dennoch mochten wir ihn. »Akon-Akons Tod wäre keine Lösung«, widersprach ich. »Der Tod ist niemals eine Lösung.« Ra lachte kehlig auf. »Philosophisches Geschwätz, Kristallprinz. Nachsicht ist keine Tugend, sondern eine Schwäche.« Das war eine eindeutige Rüge. Ich nahm sie hin, ohne zu reagieren. Fartuloon lehnte mit dem Rücken am Schaltpult und polierte das Skarg. »Eine Frage, Ra – weißt du überhaupt, wie alt Akon-Akon ist?« Der Barbar blickte den Bauchaufschneider irritiert an. »Niemand kennt das Alter des Jungen. Er kann schon jahrhundertelang in der Stadt auf Perpandron gelegen haben.« »Das wollte ich damit sagen. Akon-Akon könnte aus einer Zeit stammen, über die es kaum noch Unterlagen gibt.«
Wir befanden uns in der Zentrale, Bildschirme zeigten den geheimnisvollen Jungen. Akon-Akon lag reglos auf der Medoliege. Von einem Augenblick zum anderen war der Suggestivblock von den Besatzungsmitgliedern gewichen. Im schmalen, aber dennoch sehr edel wirkenden Gesicht des Jungen regte sich nichts. Er glich einer kunstvoll modellierten Statue. Seine Lebensprozesse hatten sich derart verlangsamt, dass niemand das leichte Heben und Senken seiner Brust wahrnahm. Beide Hände hielt er eng an den Körper gepresst, sodass ich die Sternsymbole auf den Handflächen nicht sehen konnte. »Der Knabe hat uns hart zugesetzt.« Der Bauchaufschneider schob das Dagorschwert in die Scheide. »Ich vergesse nicht so schnell, dass er die Besatzung zum Start von Ketokh zwang, obwohl er wusste, dass wir nicht an Bord waren.« Ich musste zugeben, dass ich selbst überrascht war, wie reibungslos unsere Rückkehr zur ISCHTAR verlaufen war – angesichts der Umstände. Ohne die Hilfe Klinsanthors hätte das nicht funktioniert. »Solange er betäubt ist«, sagte ich nachdenklich, »haben wir nichts zu befürchten.« Fartuloon machte ein düsteres Gesicht. »Das kann jeden Augenblick vorbei sein. Der Junge hat paranormale Fähigkeiten…« »Ihr redet und redet«, tadelte uns Ra. »Dabei vergesst ihr ganz, dass Akon-Akon die ISCHTAR nach Kledzak-Mikhon steuerte. Was wollte er hier?« Ich musterte die Einblendungen der Panoramagalerie. Sie zeigten die grünlich schimmernde Kugel des Sauerstoffplaneten. Drei große Kontinente unterbrachen das Blau der Ozeane. Dazwischen erschienen kleine Inseln als grüne Farbtupfer. Es gab eine reichhaltige Flora und Fauna. Bei unserem kurzen Zwischenspiel auf dem Planeten hatten wir nicht viel davon mitbekommen. Fartuloon blendete gerade die Ausschnittvergrößerung der auf dem Zentralkontinent gelegenen
Hauptstadt Poal-To ein. Trichtertürme von dreihundert und mehr Metern Höhe waren keine Seltenheit. Gleiterstraßen und geschwungene Rohrbahnanlagen ergänzten das Bild. Und nach allem, was wir von Poal-To wussten, war es das Zentrum des weitverzweigten planetaren Transmitternetzes. »Die Bauweise ist eindeutig akonischen Ursprungs«, wiederholte Fartuloon eine bereits früher geäußerte Behauptung. Ich senkte den Blick, erinnerte mich nur dunkel an seine Erzählungen. Darin war oft die Rede von den Befreiungskriegen gewesen. Das war schon so lange her, dass sie heute nur noch in Legenden erwähnt wurden, wenn überhaupt. Fast 8800 Arkonjahre hatten ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Zeit des Niedergangs durch die Archaischen Perioden. Wissen ging verloren, anderes wurde gezielt unterdrückt, gar manipuliert und verfälscht. Insbesondere nahezu alles, was mit den Akonen zusammenhing, war gezielt eliminiert worden. Zumindest hatte es laut Fartuloon solche Versuche gegeben. Dennoch hatten sich einige Märchen und Legenden gehalten, und in auch höheren Kreisen der arkonidischen Gesellschaft hielt es sich als eine Art Geheimwissen. Niemand wusste, wohin die Akonen verschwunden waren. Ursprünglich waren wir ein Volk gewesen. Unsere Technik hatte den gleichen Ursprung. Die Trennung, also die Aufspaltung in Arkoniden und Akonen, hatte mein Lehrmeister berichtet, war nicht abrupt erfolgt, sondern das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung gewesen. Den Schlussstrich unter die galaktische Tragödie hatten die Befreiungskriege gesetzt. Und wie es schien, war damals auch der Magnortöter involviert gewesen. Es war für mich faszinierend und gespenstisch zugleich, jetzt unverhofft auf Zeugen der akonischen Geschichte zu stoßen. Kledzak-Mikhon war nach Fartuloons Überzeugung ein Planet der Akonen. Die automatischen Fabriken arbeiteten, ebenso das
ausgedehnte Transmittersystem. Das Unheimliche daran war die Tatsache, dass es auf dem Planeten keine Akonen gab. Aber die Städte waren dennoch bewohnt, von Wesen, die wir meist nur »Grünpelze« nannten, sie sich selbst Loghanen. Sie bevölkerten alle drei Kontinente, benutzten die akonische Technik mit einer verblüffenden Naivität. Sie taten sogar so, als hätten sie die komplizierten Maschinen entwickelt. Snayssol sprach dabei von geheimnisvollen Ahnen, die die Städte erbaut hätten. Wohin ihre Raumschiffe verschwunden waren, hatte er uns nicht verraten können. Der Raumhafen von Poal-To war leer – er bot Platz für eine kleine Flotte und schien nur darauf zu warten, dass die Ahnen zurückkehrten. Die Loghanen waren im Grunde nur Nutznießer des akonischen Erbes, selbst aber unfähig, auch nur die kleinsten Reparaturen auszuführen. Von Eigenentwicklungen ganz zu schweigen. Fartuloon grinste übers ganze Gesicht. »Jetzt weiß ich, warum Ra die Grünpelze so liebt.« »Drück dich deutlicher aus«, verlangte Ra. »Sie spielen wie Kinder mit der Technik der Akonen, veranstalten zum Beispiel die Spiele der Schwarzen Tore.« Snayssol hatte berichtet, dass einmal jährlich Tausende Loghanen durch die Transmitterkette geschickt wurden. Dabei mussten sie gegen wilde Tiere und Naturgewalten kämpfen, präparierte Fallen überwinden und sogar das Risiko eingehen, von fehlgeschalteten Transmittern für alle Zeiten in den Hyperraum geschleudert zu werden. »Ich verstehe immer noch nicht ganz«, sagte Ra scheinheilig, »weshalb du mich mit diesen Grünpelzen in Verbindung bringst.« »Du hast Mitleid mit Snayssol gehabt.« »Ja!« »Siehst du. Du hast dich unbewusst mit ihm identifiziert.
Versuch dir vorzustellen, die Arkoniden hätten auf deinem Heimatplaneten eine ähnlich perfekte Technik hinterlassen wie die Akonen auf Kledzak-Mikhon. Wie hättet ihr euch verhalten? Ich kann es dir genau sagen. Ihr hättet die wilden Tiere nicht mehr mit dem Faustkeil, sondern mit einem Blaster getötet. Ihr hättet mit der Zeit herausgefunden, dass sich weite Strecken ohne Zeitverlust durch Transmitter überwinden lassen…« »Ja, das wäre die logische Extrapolation deiner Annahme«, gestand der Barbar. »Das Entscheidende kommt noch. Die reine Bedienung einer solchen Supertechnik lässt sich relativ leicht erlernen. Viele Prozesse werden durch puren Knopfdruck eingeleitet. Schwierig wird es erst, wenn diese Dinge ausfallen. Ich frage dich, Ra – könnten deine Stammesbrüder einen defekten Transmitter reparieren? Vorausgesetzt natürlich, die Instrumente stünden ihnen zur Verfügung.« Ra schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das könnten sie ganz bestimmt nicht.« »Genauso verhält es sich mit den Loghanen. Sie benutzen die Transmitter, können sie aber weder weiterentwickeln noch reparieren, wenn es einen Defekt gibt. Und neue bauen können sie schon gar nicht.« Doch damit war noch längst nicht das Rätsel ihrer Herkunft gelöst. Auf den ersten Blick wirkten sie fast wie Tiere. Doch der Augenschein trog. Sie hatten eine differenzierte Sprache und ein funktionierendes Staatswesen entwickelt. Ich sagte: »Schade, dass uns Snayssol nichts über den Ursprung seines Volks verraten konnte.« Der »Erbe« wurde in der Medostation behandelt und würde in einigen Pragos alle Strapazen und Verletzungen wohlbehalten überstanden haben. »Vielleicht wollte er das nicht«, vermutete Fartuloon. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Loghanen in einem
Abhängigkeitsverhältnis zu den Akonen standen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass sie für die Akonen Söldnerdienste leisteten. Vielleicht waren sie auch nur ein Hilfs- oder Dienervolk.« »Das sind Spekulationen…« Bevor ich näher auf die Vermutungen des Bauchaufschneiders eingehen konnte, summte der Interkom. Auf dem Bildschirm erschienen Bauchaufschneider Albragin und Snayssol. Der Loghane räusperte sich knurrend; er trug den Translator, der seine Worte übersetzte. »Ich habe Angst… schreckliche Angst!«
Fartuloon stieß geräuschvoll die Luft aus, trat neben mich und sah den Planetarier prüfend an. »Hast du Schmerzen? Raus mit der Sprache – was bedrückt dich? Du bist unser Gast.« »Ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll«, begann der Loghane stockend. Er schien mit sich zu ringen, ob er uns seine geheimen Befürchtungen mitteilen sollte. Seine anfängliche Scheu vor uns unbepelzten Wesen hatte er anscheinend noch nicht ganz überwunden. »Es ist nicht wegen euch – ich fürchte mich vor dem schlafenden Jungen.« Das ist es also. Ich warf Fartuloon einen überraschten Blick zu. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Loghane mehrfach zur Seite blickte. Akon-Akon befand sich ganz in der Nähe ebenfalls in der Medostation. »Akon-Akon kann dir nichts tun, Snayssol. Er ist betäubt, das Mittel hält lange an. Du kannst also beruhigt sein.« Der Loghane schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst. Ich fühle es ganz deutlich. Der Junge hasst mich, weil ich unvollkommen bin. Nur die Ahnen sind vollkommen. Und er ist ein Ahne.« Ich stutzte. Snayssol hatte schon mehrfach von den Ahnen gesprochen, die seinen Planeten einst verlassen hatten. Nachdem
er mehr über uns und die ISCHTAR erfahren hatte, verlagerte sich seine Angst auf Akon-Akon. Und dessen Reaktion wiederum… »Ich habe Angst.« Ich zuckte mit den Schultern. »Da kann ich dir nicht helfen. Es wird wohl besser sein, wenn wir dich wieder nach Poal-To zurückbringen.« Plötzlich sprang der Loghane zur Seite. Sein Körper krümmte sich wie unter unvorstellbaren Schmerzen. Wir hörten ein tierisches Heulen und Knurren. Anscheinend hatte er den Translator durch seine ungeschickten Bewegungen ausgeschaltet. »Snayssol! Was ist los?« Fartuloon packte mich derb am Oberarm. Ich drehte mich um und sah den Bauchaufschneider fragend an. »Akon-Akon«, sagte mein Lehrmeister lakonisch. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm, der Akon-Akon zeigte. Der Junge hatte sich bewegt. Seine Handflächen, auf denen die geheimnisvollen Sternsymbole schimmerten, deuteten auf sein Gesicht. Die Ellenbogen waren leicht angewinkelt. »Das Betäubungsmittel lässt nach. Wie konnte der Loghane das nur spüren?« Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht waren die Loghanen sensibler, als wir angenommen hatten. Du musst handeln, wisperte der Extrasinn. Gewinnt der Junge seine Aktionsfähigkeit zurück, ist die ISCHTAR in Gefahr. Du weißt immer noch nicht, was Akon-Akon auf Kledzak-Mikhon genau sucht. Akon-Akon starrte jetzt zur Decke. Seine Lippen zuckten, die Arme bewegten sich noch näher an sein Gesicht. »Täusche ich mich«, flüsterte Karmina da Arthamin, »oder leuchten die merkwürdigen Tätowierungen auf seinen Handflächen tatsächlich?« Fartuloon nickte. »Sieht so aus.« Ra sprach im Grunde das aus, was wir alle dachten: »Ihr seid Narren! Erwartet ihr etwa immer noch, dass euch der Bengel über seine Herkunft aufklärt oder dass er euch zu kosmischen Schätzen
führt? Glaubt mir, bei der erstbesten Gelegenheit wird er euch alle ans Messer liefern.« »Wir müssen ihn betäuben«, rief ich. »Albragin…« Akon-Akon stieß die ersten verständlichen Worte aus: »Die Unwürdigen… ausrotten… vernichtet die Unwürdigen!« Die akustische Verbindung zu Albragin und Snayssol bestand weiterhin. Der Loghane bekam also alles mit. Auf der anderen Seite dröhnten die Angstlaute des Loghanen aus dem Lautsprechersystem der Zentrale. »Ertrage… die Unwürdigen nicht«, kam es tonlos über Akon-Akons Lippen. »Akon-Akon meint die Grünpelze«, rief Ra. »Schon als er sie das erste Mal sah, äußerte er sich abfällig über die Planetarier. Er hasst sie und spricht von ihnen, als seien sie Ungeziefer, das ausgerottet werden muss.« Die Loghanen waren intelligent. Es kam nicht darauf an, wie ein Wesen aussah. Wichtig war allein die Tatsache, dass es denken und fühlen konnte. Die Erscheinungsformen des Lebendigen waren so unterschiedlich, dass sich ein Raumfahrer keine Intoleranz gegenüber Fremden leisten durfte. Ich würde niemals zulassen, dass Akon-Akon den Loghanen etwas antat. Er wird dich nicht nach deiner Meinung fragen, prophezeite der Extrasinn düster. Wenn er die Loghanen ausrotten will, wird er das auch tun. Deine einzige Chance, ihm zuvorzukommen, besteht darin, dass du ihn sofort ausschaltest. Akon-Akon stieß ununterbrochen Verwünschungen hervor. Seine Stimme klang heiser und gequält. Anscheinend hatte er noch nicht genügend Kraft, um der Schiffsbesatzung erneut seinen Willen aufzuzwingen. Aus dem Lautsprecher der Kommunikationsanlage ertönten Snayssols Angstlaute. »Was macht Albragin denn nur?« Und an Fartuloon gewandt fügte ich hinzu: »Sofort die Verbindung zu Snayssol unterbrechen. Je weniger der Junge von seiner Anwesenheit an Bord mitbekommt,
desto besser.« Fartuloon schlug auf die Desaktivierungstaste. Augenblicklich verstummte das Heulen. Akon-Akon dagegen beruhigte sich nicht. Er lag zwar starr auf dem Rücken, doch seine Hände verkrampften sich, lockerten sich und ballten sich erneut zu Fäusten. Albragin erschien im Bild, hob die Hochdruck-Injektionsspritze. Sein Gesicht drückte höchste Besorgnis aus. »Ich rate dringend von einer weiteren Injektion ab. Die erste Dosis war bereits so hoch, dass ein normaler Organismus irreparable Schäden erlitten hätte.« »Injizier sie ihm«, verlangte Fartuloon. »Und wenn der Junge stirbt?« »Sind wir eine große Sorge los«, zischte Ra ungerührt. Albragin zögerte, überprüfte umständlich die Druckanzeige. Im durchsichtigen Zylinder schimmerte eine gelbliche Flüssigkeit. Er trat zum starr daliegenden Jungen und setzte die Spritze an den Oberarm des Röchelnden. Plötzlich zuckte der Bauchaufschneider zusammen. »Mach doch endlich!«, rief ich, konnte mir das Zögern nicht erklären. Albragins Haltung wirkte unnatürlich starr. Er trat einen Schritt zurück. Dumpf polterte die Spritze auf den Boden, wir vernahmen das gequälte Stöhnen des Bauchaufschneiders. Akon-Akon kontrolliert seinen Willen, rief der Extrasinn in erschreckender Deutlichkeit.
Plötzlich spürte ich etwas Fremdes in meinem Innersten. Ich kannte die drängenden Impulse, die sich wie Nebel auf mein Bewusstsein legten. Ich kämpfte mit aller Energie dagegen an, dunkle Schemen tanzten vor meinen Augen. Die Medoliege mit dem Jungen verschwamm, die Konturen verblassten. Ich hatte das Gefühl, durch eine zähflüssige Substanz zu waten.
Wir müssen ihn betäuben, hämmerte ich mir immer wieder ein und wankte einige Schritte zum Zentraleschott. Wir müssen es schaffen. Der Extrasinn wirkte blockierend auf die Suggestivimpulse des Jungen. Konzentrier dich auf jeden Schritt. Doch es hatte keinen Sinn. Was bei Albragin innerhalb weniger Augenblicke erfolgt war, geschah jetzt auch mit mir: Ich verlor den eigenen Willen. So ist es brav, Kristallprinz, vernahm ich abrupt und überdeutlich die Gedankenstimme des Jungen von Perpandron. Ich sehe, wir verstehen uns. Versucht das nicht wieder. Ich hätte deinen Geist vernichten können. Ich wusste, dass Akon-Akon nicht übertrieb. Seine Fähigkeiten waren unseren Möglichkeiten weit überlegen. Trotz der Körperstarre hatte er es geschafft, uns unter Kontrolle zu bringen. Fartuloon stand immer noch wie paralysiert da, presste die Zähne zusammen und verzerrte die Lippen, als würde er von entsetzlichen Schmerzen gefoltert. »Was willst du von uns?«, hörte ich mich schreien. Ohne dass sich Akon-Akon gerührt hatte, vernahm ich das Wispern seiner Gedankenstimme. Er schien also Schwierigkeiten zu haben, sich mit uns akustisch zu verständigen. Vermutlich kämpfe sein Körper immer noch gegen das Betäubungsmittel. Landet die ISCHTAR auf dem Raumhafen von Poal-To! »Warum verlangst du das von uns?« Wenn hier einer Fragen stellt, drückten die Impulse des Jungen sinngemäß aus, bin ich das. Gewöhn dir also ab, mich bevormunden zu wollen. Schwerfällig ging ich zum Kontrollpult. Auf einen Tastendruck erschien die Stadt Poal-To auf der Panoramagalerie. Westlich davon erkannte ich das riesige Start- und Landefeld des Raumhafens. Die Fläche war leer und verlassen. Innerlich sträubte ich mich gegen die Vorstellung, abermals zum verlängerten Arm
Akon-Akons degradiert zu werden. Im gleichen Augenblick raste das telepathische Gelächter des Jungen durch mein Bewusstsein. Du bist ein unverbesserlicher Rebell, Kristallprinz. Wag es ja nicht, mich hintergehen zu wollen. Ich würde dich und die anderen bitter dafür bestrafen. Vorwärts, lande die ISCHTAR! »Wir landen auf dem Raumhafen.« Ein Anruf aus der Ortungszentrale erklang: »Wir messen energetische Streufelder aus dem Bereich des Raumhafens an. Alles deutet darauf hin, dass sich dort starke Abwehrforts befinden. Wir schlagen deshalb vor…« Die Stimme des Ortungsspezialisten verstummte, ein Röcheln drang aus dem Lautsprecher der Interkomanlage. »Was ist passiert?« »Die Suggestivimpulse des Jungen…«, kam es stockend aus dem Lautsprecher. Fartuloon ächzte. »Er befiehlt uns die Schutzschirme einzuschalten!« Ich erschrak zutiefst. Unsere Chancen standen ziemlich schlecht. Hätte sich Akon-Akons Einfluss nur auf die Zentrale erstreckt, wäre es immerhin möglich gewesen, aus einem gewissen Sicherheitsabstand heraus gegen ihn zu arbeiten. Worauf wartet ihr noch? Die Gedankenstimme Akon-Akons wurde drängender. Landet endlich! Registriert jeden Funkimpuls und gebt ihn an mich weiter. Ich verlange die Überprüfung folgender Frequenzen… Während die Schutzschirme eingeschaltet wurden und das große Kugelraumschiff den Orbit um Kledzak-Mikhon verließ, übermittelte er die Frequenzdaten eines unbekannten Senders. »Wen suchst du?«, fragte ich mühsam. Du wirst es bald wissen, kam die lakonische Antwort. Akon-Akon schwang sich von der Medoliege. Die Nachwirkungen der Betäubungsinjektion waren aus seinen
Gliedern verschwunden. Damit hatte auch seine geistige Leistungskraft das gewohnte Maximum erreicht. Er war wieder in der Lage, die gesamte Besatzung der ISCHTAR zu kontrollieren. Der Junge hat eine unfassbare Kondition, wisperte der Logiksektor. Ich hatte mich schon oft über die Leistungen Akon-Akons gewundert. Dabei spielte nicht so sehr die Tatsache eine Rolle, dass er jedem Lebewesen seinen Willen aufzwingen konnte, sondern das Phänomen, dass er ohne erkennbare Schwierigkeiten Unfälle, chemische Vergiftungen oder Stress überstand. Auch schien er niemals zu schlafen. Deshalb die Umschreibung Waches Wesen?
Ich saß neben der Sonnenträgerin am Hauptkontrollpult. Die rasch wechselnden Bildschirmeinblendungen zeigten Ausschnitte der Riesenstadt. Der Raumhafen lag unmittelbar vor uns, ein mehr als zwanzig Kilometer durchmessendes Landefeld. »Ich sehe, dass wir gut zusammenarbeiten«, sagte Akon-Akon sarkastisch. Dass er das Satron in relativ kurzer Zeit fließend zu sprechen gelernt hatte, wunderte mich in meinem Zustand ebenso wenig wie die intensiven telepathischen Botschaften, die er parallel zur akustischen Kommunikation aussandte. Am Rand meines Wachbewusstseins sagte der Extrasinn: Fast wirkt es, als hätten Entladung und Betäubung seine Kräfte noch verstärkt. »Die Zusammenarbeit, wie du unsere Aktivität nennst«, sagte ich, »ist das Produkt deines Zwanges. Dieser Zustand kann nicht ewig anhalten. Du bist nicht perfekt, wenngleich du dir das nicht eingestehen magst. Einmal wird deine Aufmerksamkeit nachlassen. Das ist der Augenblick, auf den wir warten.« Er lächelte überheblich. »Ich liebe deine Ehrlichkeit, Atlan. Aber
übertreibst du in diesem Augenblick nicht ein bisschen? Es wird nie wieder eine Attacke auf mich geben. Ich habe aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.« Im Hintergrund der Zentrale sagte Ra verächtlich: »Das Jüngelchen muss noch viel lernen. Wenn ihr mich fragt… ihm fehlt eine anständige Erziehung. Ich würde das nach dem erprobten Muster meiner Sippe erledigen. Ihr würdet den Knaben nicht mehr wieder erkennen…« »Ra!«, unterbrach ich den Redefluss des Dunkelhäutigen. Akon-Akon lachte schrill. »Ihr seid wirklich unverbesserlich. Ihr gebt euch niemals geschlagen. Aber vielleicht liegt gerade darin eure Stärke. Ihr seid nicht leicht kleinzukriegen.« »Danke für das Kompliment.« Fartuloon räusperte sich und sah den Suggestor nachdenklich an. »Du magst verblüffende Eigenschaften besitzen, Akon-Akon…« »Das weiß ich, Bauchaufschneider.« »Das macht dich ein wenig zu sicher. Selbst du kannst keine unvorhersehbaren Ereignisse einkalkulieren. Es sei nur an die Entladung erinnert, die dich zeitweilig aus dem Verkehr zog. Wir hätten dich töten statt nur betäuben können – und hätten jetzt keine Sorgen mehr.« »Ihr habt mich aber nicht getötet. Ihr habt eure Chance verpasst. Das Einzige, was gilt, ist die Gegenwart. Merkt euch das!« Akon-Akon hatte die Fronten abgesteckt. Er gab uns unmissverständlich zu verstehen, dass jeder Versuch, sich seiner Kontrolle zu entziehen, aufs Härteste bestraft werden würde. Du kannst nur gehorchen und abwarten, bestätigte der Extrasinn. Ich verfolgte den Anflug auf den Raumhafen. Über einer Monitorbatterie leuchtete das Rufsignal des Interkoms. Die Ortungszentrale meldete sich. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Funkexperten. »Situationsanalyse der Ortung…« »Ich habe keine Zeit, mir dein Geschwafel anzuhören«, stieß
Akon-Akon hervor. »Fass dich möglichst kurz.« Er ist sehr ungeduldig, rief der Extrasinn. Er will keine Zeit mehr verlieren. Vielleicht kannst du jetzt erfahren, welche Absichten er auf diesem Planeten verfolgt. Ich sah Akon-Akon von der Seite an. Seine Haltung drückte starke geistige Anspannung aus. Möglicherweise hatte er die Nachwirkungen der Betäubungsspritze doch noch nicht ganz überwunden. »Hattet ihr Kontakt mit der Bio-Station?« Bio-Station?, durchzuckte es mich. Er weiß also, dass es auf diesem Planeten eine Station gab. Höchstwahrscheinlich ist sie den Bewohnern nicht bekannt. Sonst hätte er sich einfach einen Loghanen schnappen können und ihn ausgequetscht. Es muss sich um ein Geheimprojekt handeln. Bio-Station… klingt interessant! Der Mann auf dem Bildschirm schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Wir haben sämtliche Frequenzen durchprobiert. Kein Ergebnis. Entweder wurden die Frequenzen geändert, oder der Gesprächsteilnehmer existiert nicht mehr.« Akon-Akon ballte seine Linke zur Faust. Ein verbissener Ausdruck trat in sein Gesicht. »Hast du sonst etwas entdeckt?« »Nur den üblichen Wellensalat«, antwortete der Funkexperte lakonisch. Akon-Akon winkte mir zu. »Das genügt. Jetzt nehme ich die Sache in die Hand.« Ich war gespannt darauf, was der Junge unternehmen würde. »Sollten die verdammten Grünpelze die Station vernichtet haben, werde ich einen Atombrand auf den Planeten entfachen.« »Du willst den Planeten vernichten?«, fragten Fartuloon und ich fast gleichzeitig. »Das werde ich! Diese ekelhaften Kreaturen werden den Tod ihres Schöpfers nicht überleben.« »Willst du uns nicht endlich einweihen?«, fragte ich leise. »Immerhin sollen wir den Kopf für dich hinhalten. Wenn dort
unten etwas schiefgegangen ist, betrifft uns das unmittelbar. Wir sollen mit der ISCHTAR dort landen.« »Alles zu seiner Zeit.« Fartuloon konnte sich eine sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. »Ich erwähnte vorhin, dass unvorhergesehene Ereignisse deine Pläne durcheinanderbringen können. Eben ist wieder so etwas Unvorhergesehenes passiert. Dein mysteriöser Partner meldet sich nicht. Du wirst unsicher und weißt nicht, wie du entscheiden sollst.« Akon-Akon kniff die Augen zusammen. Seine Lippen verzerrten sich. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Blitzschnell sprang ich zwischen Fartuloon und den Jungen. »Aufhören. Lasst den Unsinn.« Doch es war bereits zu spät. Akon-Akon hatte seine Rechte ausgestreckt. Zitternd deutete er auf den Bauchaufschneider. Fartuloon machte einen Schritt nach vorn, das Gesicht verkrampfte sich, der Mund öffnete sich zu einem Schmerzensschrei. Doch kein Ton verließ die Lippen. »Sag das nicht noch mal«, zischte Akon-Akon wütend. »Sag das nicht noch mal – oder ich halte dein Herz an!« Mein Lehrmeister schwankte, knickte in den Knien ein. Er umfasste mit den Händen die linke Brustseite und kippte vornüber. »Lass ihn zufrieden!«, schrie ich. »Er hat dir nichts getan. Wir wissen, dass du der Stärkere bist.« »Dann ist es gut. Hoffentlich hat dein Freund das jetzt auch begriffen. Beim nächsten Mal stirbt er!« Ich hob Fartuloon vorsichtig hoch. Ra sprang hinzu und half mir. Das Gesicht des Barbaren drückte unversöhnlichen Hass auf den Suggestor aus. »Er ist nur ohnmächtig«, murmelte ich erleichtert. »Egal«, presste Ra hervor. »Das hätte der Junge nicht tun dürfen.«
Wir betteten Fartuloon auf einen Kontursessel. Der Bauchaufschneider atmete flach, das Gesicht hatte sich gelblich verfärbt. Ich drehte mich zu Akon-Akon um. »Was fehlt ihm?« Der Junge winkte desinteressiert ab. Er musterte bereits wieder die Panoramagalerie. »Ich habe seine Drüsenfunktionen ein bisschen durcheinandergebracht. Sobald er wieder aufwacht, wird er scheußliche Schmerzen haben. Das wird ihn an seine Frechheiten erinnern.« Plötzlich stieß Akon-Akon einen Wutschrei hervor, deutete auf einen Bildschirm. »Diese Kreaturen! Sie wagen es tatsächlich. Sie laufen auf das Landefeld… sie wollen uns begrüßen!« »Dagegen ist doch nichts einzuwenden.« Auch ich verfolgte das Geschehen auf der Panoramagalerie. Die Aufnahmeoptik gab die Szene aus einer eindrucksvollen Perspektive wieder. Die ISCHTAR schwebte noch etwa fünftausend Meter über dem Raumhafen, getragen vom Antigravpolster und in die schillernde Blase des Schutzschirms gehüllt. Mehr als tausend Loghanen rannten auf das Landefeld, schwenkten farbige Transparente und winkten uns zu. Sie schrien wild durcheinander. Einige sprangen hoch und streckten die Arme aus. »Ein freundlicher Empfang«, sagte Ra. »Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass sie sich so friedlich geben würden. Bei meinem Ausflug habe ich andere Erfahrungen gemacht. Die Grünpelze gaben sich ziemlich kriegerisch.« »Davon kann ich ein Lied singen«, bestätigte ich in Anspielung auf die Zeit nach unserer Ankunft im Großtransmitter. Akon-Akon wandte sich angewidert vom Bildschirm ab. »Ekelhaft! Diese Kreaturen haben sich auf dem ganzen Planeten ausgebreitet. Sie müssen wieder verschwinden. Sie müssen sterben. Wir verbrennen sie mit den Impulstriebwerken!« Ich glaubte, erstarren zu müssen. Dieser Junge wollte unser Begrüßungskomitee beim Landeanflug ermorden. Das musste ich unbedingt verhindern. Aber wie? Seine Suggestivfronten
erfassten die gesamte Besatzung. Im Augenblick waren seine Impulse nicht ganz so ausgeprägt, doch ich war sicher, dass er beim geringsten Verdacht verstärkt zuschlagen würde. »Ist das wirklich in deinem Sinn?« Akon-Akons Augen funkelten mich an. »Willst du mich kritisieren?« »Nein. Das hat keinen Sinn. Ich möchte nur meine Meinung kundtun. Ich halte deine Entscheidung für eine Machtdemonstration, die du eigentlich nicht nötig hast. Was haben dir die Planetarier getan? Warum willst du sie vernichten?« Akon-Akon deutete erregt auf die Bildschirme. Auf dem Landefeld wimmelte es von Loghanen. Die Planetarier waren unbewaffnet. »Was weißt du denn schon von denen da?«, stieß der Junge hasserfüllt hervor. »Sie sind weniger als nichts… sie sind Parasiten!« Ich spürte den bohrenden Druck der Suggestivimpulse. Er wollte mich dazu zwingen, den Befehl zur Aktivierung der Impulstriebwerke zu geben. Er hätte natürlich auch direkt mit der am Pult sitzenden Karmina sprechen können, doch er wollte mich zur Ausführung des Befehls zwingen. Meine Hand bewegte sich unter Zwang zur Tastatur des Kommandopults. Ich wollte mich dagegen wehren, doch ich wusste, dass jedes Sträuben umsonst war. Plötzlich schrillten Alarmsirenen durch das Raumschiff. »Ortungsalarm!« Ich starrte auf die Massetasteranzeige. Auf dem Monitor näherten sich drei hellgrün leuchtende Punkte dem eingeblendeten Koordinatenursprung. »Feindliche Projektile!« Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Waffenleitoffiziers Khylrun. »Schutzschirmleistung verstärkt! Wir haben die Startbasen der Planetarier geortet.« Im gleichen Augenblick zuckte ein von den automatischen Filtern
abgeschwächter Blitz durch die Zentrale. In den Absorberaggregaten knisterte es. Die Skalen zeigten ein wahres Energiegewitter an. »Schutzschirmbelastung liegt bei sechzig Prozent!« Ich drückte auf die Sprechtaste. »Gezieltes Abwehrfeuer auf die gegnerischen Startbasen. Punktbeschuss! Wir müssen vermeiden, dass die Zivilbevölkerung davon betroffen wird.« Akon-Akon war außer sich. »Vernichtet alles – nicht nur die Startbasen!«
6. Gemmno Làs-Therin: Ich träume vom akonischen Imperium. Es ist wahr, dass ich nur ein subalterner Inspektor auf diesem unbedeutenden Planeten bin, doch die Vollmachten der akonischen Streitkräfte statten mich mit ungewöhnlicher Macht aus. Ich habe diese Aufgabe gern und willig übernommen, obwohl das Risiko groß ist und andere davor zurückschreckten, von den biologischen Schöpfungen auf Kledzak-Mikhon vielleicht getötet zu werden. Ich habe keine Angst. Das müsst ihr mir glauben! Ich habe wirklich keine Angst. Aber das muss ich nicht extra betonen. Die Analysedaten meiner psycho-physischen Kondition liegen dem Hohen Rat vor. Ich bin gesund. Meine psychische Verfassung ist ausgezeichnet, und die Tests haben ergeben, dass ich der Belastung gewachsen bin. Eins mag den Ausschlag dazu gegeben haben: Ich bin ein Einzelgänger. Man sieht mir das vielleicht nicht an, aber ich mache mir nichts aus Geselligkeit. Ich bin äußerst korrekt und zuverlässig. Deshalb wurde ich zum Bio-Inspektor auf diesem Planeten ernannt. Meine Aufgabe besteht darin, die Entwicklung der von uns künstlich geschaffenen Wesen zu überwachen. Die Positronik hat verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten errechnet. Das bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass die Versuchskreaturen sowohl friedlich als auch aggressiv werden können. Sie können sich positiv oder negativ weiterentwickeln. Sie können die Intelligenz, die wir ihnen mitgaben, für die akonische Sache einsetzen. Sie können ihre Fähigkeiten aber auch gegen uns einsetzen. Und hier setzt nun der zweite Teil meiner verantwortungsvollen Tätigkeit ein: Ich muss jede Veränderung im Verhalten der Versuchskreaturen sofort an den Hohen Rat melden. Ich erinnere mich genau an die Anfänge. Der Befreiungskrieg der arkonidischen Rebellen trat in ein entscheidendes Stadium. Ich
verstehe nicht, wie Frauen und Männer, die vom gleichen Volk abstammen, so entarten können. Und die Arkoniden sind pervers und entartet! Diese Erkenntnis gibt mir die Kraft, mich mit jeder Faser meines Körpers für den großen Plan einzusetzen. Nur wir Akonen dürfen in dieser Galaxis herrschen. Denn nur wir haben die Würde und Kraft, die Geschicke dieser Sterneninsel zu lenken. Ich beruhige mich wieder. Das ist nötig. Ich brauche alle Kraft für die bevorstehende Erweckung durch die Automatik. Ich will mich an die Anfänge des Projekts erinnern, darf und will den großen Leitgedanken des Projekts »Loghan« niemals aus den Augen verlieren. In hundert planetarischen Jahren kann vieles geschehen. Niemand ist perfekt. Besonders nicht organische Wesen. Und ich bin ein organisches Wesen. Natürlich gelang es mir, mich psychisch und physisch zu kontrollieren. Aber es gibt Faktoren, die selbst der Beherrschteste nicht ausschließen kann. Ein solcher Faktor ist das Altern. Auch wenn mich die Konservierungsautomatik gegen das Altern schützt, kann ich nicht verhindern, dass bestimmte Erinnerungsteile verschwinden. Erinnerung ist eine chemo-elektrische Reaktion im Gehirn. Durch die komplizierten Reaktionen in der Großhirnrinde und die biochemischen Prozesse werden die Moleküle verändert, Prägungen entstehen. Altere ich zu rasch, gehen wichtige Erinnerungen verloren. Deshalb muss ich mich immer wieder dazu zwingen, mir die Punkte meines Auftrags deutlich vor Augen zu halten. Der Auftrag ist mein Lebensinhalt! Ich habe keine Freunde! Aber das sagte ich bereits. Ich habe auch keine Verwandten. Alle meine Angehörigen wurden während des Befreiungskriegs getötet. Das ist wichtig für das Verständnis meiner Motivation. Es macht mir nichts aus, viele tausend Jahre von meinem Volk getrennt zu sein. Ich weiß, dass sich niemand an mich erinnert. Aber ich ertrage das mit dem Gleichmut eines Mannes, der von seiner Aufgabe voll überzeugt ist. Ich konnte mich gegen alle Anfechtungen erfolgreich wehren. Ich habe niemals Kontakt zu einem Raumschiff aufgenommen. Ich hörte auch nicht den Hyperfunkverkehr ab. Ich
weiß nicht, was draußen in der Galaxis geschieht. Wurden die Arkoniden inzwischen geschlagen, oder konnten sie sich in ihre Rebellennester zurückziehen? Ich hoffe, dass die akonischen Verluste nicht zu hoch waren. Eines Tages wird mein Auftrag beendet sein. Es können noch tausend Jahre über diese Welt hinweggehen, bis ich über die Entwicklung der Versuchskreaturen völlig Bescheid weiß. Alle hundert Planetenjahre überzeuge ich mich vom Stand der Entwicklung. Habe ich meine Analysen beendet, kehre ich wieder in die Station zurück. Die Positronik übernimmt die Auswertung und vergleicht sie mit früheren Ergebnissen. Ich gebe zu, dass ich stolz auf mich bin. Ich bin das intelligenteste Wesen auf dieser Welt. So soll es auch bleiben. Wer dem akonischen Imperium dienen soll, darf sich niemals über seine Herren erheben. Es stimmt, dass wir die Versuchskreaturen intelligent gemacht haben. Allerdings nur bis zu einer gewissen Stufe. Denn sie sollen einmal unsere Mannschaften in den Raumschiffen ersetzen. Sie sollen unsere Maschinen bedienen und Dienstleistungen im akonischen Sternenreich übernehmen. Ihr fragt, weshalb das keine Androiden erledigen können? Ganz einfach: Androiden können und dürfen nicht selbstständig handeln. Sie reagieren nach einem vorgefassten Schema, sozusagen nach dem aufgepfropften Programm. Androiden stehen von der Produktion her gesehen nur eine Stufe über normalen Robotern. Unsere Versuchskreaturen, die sich geschlechtlich fortpflanzen können, sollen dagegen in der Lage sein, bestimmte Entscheidungen ohne Rückfragen treffen zu können. Sie können also auch auf unvorhergesehene Zwischenfälle reagieren. Diese Fähigkeit macht sie aber gefährlich! Bevor wir sie zu unserem Nutzen einsetzen, müssen wir sie in einem Langzeitversuch testen. Das geschieht hier auf Kledzak-Mikhon. Ich brenne darauf, meine Station wieder zu verlassen. Die Erweckungsautomatik müsste jeden Augenblick reagieren. Ich werde ein kreislaufstabilisierendes Mittel injiziert bekommen. Die
elektrostatische Massage wird meinen Körper geschmeidig machen, die Psychoregenerierung erfrischt meinen Geist. Dann schlage ich die Augen auf. Ich steige aus der Lebenserhaltungsautomatik und kleide mich an. Ich werde mich selbst im Spiegel sehen und mich darüber wundern, dass ich während der vergangenen hundert Jahre nicht alterte. Waren es wirklich nur hundert Jahre? Ich darf nicht ungeduldig werden. Trotzdem kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass mich die Automatik längst hätte aufwecken müssen. Was geschieht, wenn sich ein Fehler in die komplizierte Apparatur geschlichen hat? Ich wage nicht daran zu denken. Dieser Gedanke erzeugt Angst, und Angst ist ein Gefühl, das ein Bio-Inspektor nicht haben darf. Ich muss also weiter warten – und das Warten habe ich gelernt.
Kledzak-Mikhon: Tamoyl und Rassafuyl Die Versammlungshalle lag unmittelbar hinter dem Tempel der Ahnen. Ein breiter Säulengang führte von einem Gebäude zum anderen. Die Gehwege waren mit farbigen Mosaiken ausgelegt. Zwischen den Häusern erstreckten sich kunstvoll angelegte Parklandschaften. Auf den Denkmalssockeln stand keine einzige Skulptur mehr. Schon vor vielen hundert Jahren hatten die damaligen Obmänner jedes Bild der Ahnen verschwinden lassen. Kein Loghane sollte an die Begründer der Zivilisation auf Kledzak-Mikhon erinnert werden. Jeder sollte glauben, die technischen Errungenschaften seien das Ergebnis loghanischen Forschungsgeists. Jetzt drängten sich Hunderte Erben in der Versammlungshalle. Alle Loghanen, deren Intelligenzquotient hundertfünfzig Darts erreichte, durften sich Erben nennen. Sie genossen zahlreiche Vorteile, durften zum Beispiel um Audienz beim Triumvirat bitten, und sie konnten nur in Ausnahmefällen zur Teilnahme an den Spielen der Schwarzen Tore gezwungen
werden. Die meisten hätten am liebsten wie die anderen Loghanen gefeiert, doch die Umstände erforderten ihre Anwesenheit. »Habt ihr das Kugelschiff gesehen?«, rief ein junger Erbe. »Es ist groß wie die Sonne. Es wird auf unsere Stadt herabstürzen und alles Leben vernichten.« »Das ehrwürdige Triumvirat wird mit den Ahnen sprechen«, sagte ein anderer. »Die Obmänner wissen selbst nicht, was sie tun sollen«, knurrte ein alter Loghane, dessen Pelz von grauen Haaren durchsetzt war. Das Sprechpult des Triumvirats war noch nicht besetzt. »Heute lassen sie uns aber lange warten«, murrten einige Loghanen. »Wisst ihr denn noch nicht, was passiert ist?« »Was denn?« »Ein Obmann ist tot!« Aufgeregtes Bellen schallte durch den Saal. Irgendwo sprang jemand auf und schrie nach den Mitgliedern des Triumvirats. Die Stimmung stand kurz vor der Explosion. Seit langer Zeit hatte es keinen solchen Aufruhr in der Versammlungshalle gegeben. »Achtung, sie kommen!« Ein vielstimmiger Schrei begrüßte die Obmänner. Sie traten zwischen den Vorhanghälften vor und nahmen hinter dem Rednerpult Platz. Tamoyl und Rassafuyl trugen die roten Kreuzgurte der Trauer. Ihre Gesichter drückten Schmerz und Unsicherheit aus. »Wo ist Kenyol?«, rief ein Erbe laut. Rassafuyls Gestalt streckte sich. Es wurde gemunkelt, dass er seinen Posten nur durch Intrigen errungen hatte. Er hatte den Gesichtspelz dunkel eingefärbt, die gelben Schlitzaugen versprühten ein eigenartiges Feuer. Seine Blicke schienen die Zuhörer sezieren zu wollen. »Ich habe die unangenehme Pflicht«,
begann er, »Ihnen mitzuteilen, dass unser verehrter Obmann Kenyol zu den Ahnen gegangen ist.« »Habt ihr gehört?«, wisperte es unter den Zuhörern. »Kenyol ist tot. Die Gerüchte stimmen also.« »Ich dementiere alle Gerüchte«, fuhr Rassafuyl streng fort. »Kenyols Tod steht in keinem Zusammenhang mit den Ereignissen beim Großtor. Es ist höchst unsinnig, darüber in Panik auszubrechen. Ich fordere daher alle Erben auf, für Ruhe und Ordnung zu sorgen…« »Die Ahnen sollen zurückgekehrt sein«, ertönte ein Zwischenruf. »Wer behauptet das?«, rief Rassafuyl nervös. Niemand meldete sich. Noch genügte die Autorität eines Obmanns, um Ruhe im Versammlungssaal herzustellen. Und Rassafuyl wusste das. »Ich erwarte von jedem Erben, dass er Vernunft bewahrt. Die Diskussion über Kenyols Tod ist beendet. Ich erwarte von Ihnen allen, dass Sie an diesem schweren Tag Haltung bewahren. Ein Erbe muss dem loghanischen Volk mit leuchtendem Beispiel vorangehen. Halten Sie sich das immer vor Augen. Ich schlage vor, dass wir jetzt zur Tagesordnung übergehen.« Rassafuyl nickte Tamoyl unauffällig zu. Der alte Loghane ordnete mehrere Schreibfolien auf dem Pult. Ihm war deutlich anzusehen, dass ihn die Situation überforderte. Im Gegensatz zu den Erben wusste er natürlich, dass Kenyol einen Kollaps erlitten hatte, nachdem die geheimnisvollen Ahnen aus dem Großtransmitter von Sevvo-Bonth gekommen waren. Kenyol war alt und schwach gewesen, hatte den Anblick der Wesen nicht verkraftet. Tamoyl stützte sich schwer auf das Rednerpult. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Würden die Ahnen nach Poal-To zurückkehren? Was würden sie von den Loghanen fordern? Nachdem so lange verschwiegen worden war, dass die technischen Einrichtungen nicht das Produkt der Loghanen waren, würde das Weltbild gefährlich ins Wanken
geraten. »Wir müssen die Erben von den Geschehnissen ablenken«, zischte Rassafuyl dem Alten zu. Tamoyls Gestalt richtete sich auf. Seine Haltung drückte nun Würde und Ernst aus. »Das Thema der heutigen Besprechung ist die Wahl eines Nachfolgers für den ehrwürdigen Obmann Kenyol.« Mehrere Erben erhoben sich von den Plätzen und zwängten sich zwischen den anderen durch. Schließlich standen sie vor dem Rednerpult. »Was wollt ihr?«, fragte Rassafuyl beißend. »Wir gehören zu den dreißig Überlebenden des Spiels der Schwarzen Tore. Wir sind Erben, die sich freiwillig für die Kämpfe gemeldet haben. Bevor Sie die Bewerber für das Amt des Obmanns aufrufen, wollen wir in die engere Wahl gezogen werden.« Rassafuyl betrachtete die jungen Loghanen. »Bevor wir uns dazu äußern können, müssen wir ihren Intelligenzquotienten abrufen.« »Damit können wir sofort dienen«, rief einer der Bewerber. Bevor Rassafuyl antworten konnte, gab es erneut Unruhe. Am Saalausgang wurden Stimmen laut. Das Geräusch aufsetzender Gleiter erklang. Türen klappten, das schwere Trappeln von Polizeistiefeln ertönte. »Was ist los?« Die Erben standen auf. Einige liefen zwischen den Sitzreihen, um besser sehen zu können, was sich draußen abspielte. »Die Ahnen landen vor Poal-To!« Rassafuyl bekam einen heißen Schrecken, beugte sich vor. Seine Hände zitterten. Mehrere Polizisten rannten auf das Rednerpult zu, schwenkten Thermostrahler in den Händen. »Die Ahnen landen mit einem riesigen Raumschiff! Was sollen wir tun?«
»Beruhigen Sie sich!«, rief Rassafuyl dem erregten Polizisten entgegen. »Berichten Sie der Reihe nach. Ich muss mir ein Bild über die Ereignisse machen, bevor ich eine Entscheidung fällen kann.« Die Polizisten scharten sich um ihren Gruppenführer. Die seidigen Pelze waren schweißbedeckt, die dunklen Plattnasen feucht vor Erregung. »Das Schiff der Ahnen schwebt am Himmel. Es ist groß wie die Sonne und leuchtet wie geschmolzenes Erz.« »Hattet ihr Kontakt mit den Ahnen?« »Nein. Wir wissen nur, dass sie jeden Augenblick auf dem Raumhafen landen können.« Rassafuyl überlegte kurz, flüsterte Tamoyl zu: »Es gibt ein Chaos, wenn die Bevölkerung etwas über die wahren Hintergründe erfährt. Wir müssen unbedingt verhindern, dass die Ahnen das Raumschiff verlassen.« Tamoyl nickte zustimmend, faltete die viergliedrigen Hände, um vor den anderen ihr Zittern zu verbergen. Sein Atem ging keuchend, die Stumpfnase war mit Schaum bedeckt. »Das bedeutet Krieg!« Rassafuyl nickte. »Wir haben genügend Waffen, um jeden Angriff wirkungsvoll abschlagen zu können. Die Ahnen haben uns Arsenale hinterlassen, die sich sehen lassen können…« »Uns bleibt nicht viel Zeit.« »Ich weiß. Deshalb schicke ich die Polizeitruppen sofort los. Sie werden die Bodenforts besetzen und das Raumschiff der Ahnen vernichten. Das ist die einzige Möglichkeit, die gegenwärtigen Verhältnisse auf Kledzak-Mikhon in unserem Sinne zu erhalten.« Rassafuyl stand auf, ging zum Rednerpult und aktivierte das Verstärkersystem der Sprechanlage. »Die heutige Besprechung ist beendet. Gehen Sie alle nach Hause. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie verantwortungsbewusst handeln. Lassen Sie draußen nichts von den Ereignissen verlauten. Das ist ganz allein Sache der Polizei.
Die Verantwortung für Kledzak-Mikhon liegt in unseren Händen…« »Das genügt uns nicht«, schrie ein Erbe entrüstet. »Das ist doch plumpe Augenwischerei. Wir wollen endlich die Wahrheit wissen. Was ist passiert?« Rassafuyl verzog wütend das Gesicht, die spitzen Ohren standen schräg nach oben. Er streckte die Rechte aus und deutete auf den Zwischenrufer. »Sofort verhaften! Unruhestifter werden wie Rebellen behandelt!« Zwei Polizisten kämpften sich zu dem Erben durch, hoben die Stahlpeitschen und drehten sich noch einmal zu Rassafuyl um. »Schlagt ihn nieder!« Ohne zu zögern, droschen die Polizisten auf den Erben ein. »Aufhören!«, heulte der Loghane. Blutige Striemen bedeckten den bepelzten Körper, doch das Klatschen der heftigen Schläge hallte weiter durch den Saal. »Genug!«, schrie Rassafuyl. »Schafft ihn raus!« Auf einen weiteren Wink des Obmanns postierten sich Polizisten am Ausgang und hielten Thermostrahler schussbereit in den Händen. »Jeder wird ab sofort überwacht«, stieß Rassafuyl knurrend hervor. Tamoyl schwieg dazu. Dem alten Loghanen war es im Grunde recht, dass sich Rassafuyl zum Wortführer gemacht hatte. »Ich dulde keine eigenmächtigen Handlungen. Sie wissen, dass das Triumvirat in außerordentlichen Situationen dazu ermächtigt ist, den Notstand über Kledzak-Mikhon zu verhängen…« »Das Triumvirat ist nicht vollständig«, verwies ein Erbe auf den Tod Kenyols. »Das Triumvirat ist trotzdem voll beschlussfähig«, erwiderte Rassafuyl sofort. »Ich bestimme, was auf Kledzak-Mikhon zu geschehen hat. Ich bin ab sofort der Oberbefehlshaber aller Polizeistreitkräfte.« Da es auf Kledzak-Mikhon niemals Kriege gegeben hatte – die Spiele der Schwarzen Tore ersetzten jede andere Art der aggressiven Auseinandersetzung –, waren die
Polizeieinheiten die einzige Kampfeinheit, die Rassafuyl den Ahnen entgegenzusetzen hatte. »Ich fordere Sie noch einmal auf, sich in die Wohnblöcke zu begeben. Antworten Sie auf die Routineanfragen und verhalten Sie sich ruhig. Sollte Panik ausbrechen, mache ich Sie dafür verantwortlich. Ich werde jeden Erben mit dem Tode bestrafen, der gegen meine Anordnungen verstößt.« Rufe wurden laut. Mehrere Erben wollten sich das nicht gefallen lassen. Sie sahen darin einen groben Verstoß gegen ihre angestammten Vorrechte. Doch ein Blick in die Gesichter der Polizisten genügte, um sie vom Ernst der Lage zu überzeugen. Einer nach dem anderen verließ den Versammlungssaal. Draußen ordneten Polizisten den Abzug der Erben. Die Thermostrahler sprachen eine deutliche Sprache. Bevor einer der Erben das Leben riskierte, folgte er lieber den Befehlen Rassafuyls. Nachdem im Saal Ruhe herrschte, wandte sich Rassafuyl an den stumm dasitzenden Tamoyl. Der Alte war ein Nervenbündel. Von ihm hatte der Obmann keinerlei Widerstände zu erwarten. »Wir besetzen die Bodenforts. Landet das Schiff der Ahnen, schießen wir die Raketen ab.« »Aber aber die Ahnen werden unsere Absicht durchschauen!« Rassafuyl grinste hinterhältig. »Wir werden mehrere hundert Erben als Begrüßungskomitee auf den Raumhafen schicken…« »Ich verstehe nicht ganz. Ich dachte, wir wollen die Ahnen angreifen.« Rassafuyl stieß ein hässliches Lachen aus. »Wir müssen die Ahnen natürlich zunächst in Sicherheit wiegen. Das erreichen wir nur durch ein Begrüßungskomitee. Wenn sie die festlich geschmückten Loghanen erblicken, werden sie kaum auf die Idee kommen, dass wir sie angreifen wollen. Während die speziell dafür ausgesuchten Erben zum Raumschiff der Ahnen laufen, aktivieren wir die Raketen der Abwehrforts.« »Aber das ist Mord«, keuchte der Alte.
»Wir kennen eine ganze Anzahl von Unruhestiftern und potenziellen Rebellen. Ich möchte Sie nur an Snayssol erinnern. Zehn Burschen von seinem Format könnten das altehrwürdige System des Triumvirats stürzen und eine neue, chaotische Gesellschaftsform gründen. Wir dürfen nicht zulassen, dass solche Elemente Zulauf bekommen. Ich habe schon oft eine Säuberung verlangt. Jetzt ist es so weit. Die Situation erfordert ein sofortiges Durchgreifen! Nutzen wir die Gelegenheit und beseitigen zwei Probleme mit einem Schlag. Vernichten wir die äußere Bedrohung unserer Gesellschaft und befreien wir uns von den Unruhestiftern, indem wir alle für das ›Begrüßungskomitee‹ verpflichten, die uns verdächtig erscheinen. Das befreit uns von der lästigen Pflicht, sie demnächst hinrichten zu lassen.« Tamoyl war schockiert. »Hinrichten lassen? Das das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst?« Rassafuyl lachte. »Hören Sie, Tamoyl: Ich könnte Sie auf der Stelle töten. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ich dahinterstecke. Sie würden einfach von der Bildfläche verschwinden. Halten Sie sich das immer vor Augen. Wenn Sie weiterleben wollen, befolgen Sie meine Befehle. Dann wird Ihnen nichts passieren.« Rassafuyl hielt diese Angelegenheit für geklärt, stellte die Verbindung zum Datenspeicher des Triumvirats her. »Abruf der Namen sämtlicher Erben, die im Zeitraum von fünf Jahren als Sucher nach der Wahrheit, Unruhestifter und potenzielle Kandidaten für das Amt eines Obmanns erfasst wurden. Ferner wünsche ich die Namen aller Loghanen, deren Intelligenzquotient über einhundertachtzig Darts liegt…« Erschüttert folgte Tamoyl dem Treiben, suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus diesem Dilemma. Doch er wusste, dass ihm die Hände gebunden waren. Rassafuyl hätte ihn entweder sofort getötet, oder aber – und diese Annahme war wahrscheinlicher – er hätte ihn dem Begrüßungskomitee
vorangestellt. Während Rassafuyl seinen Plan in die Tat umzusetzen begann, setzte die riesige Kugel zur Landung an…
An Bord der ISCHTAR Es gab einen leichten Ruck. Die Energieanzeigen pegelten sich bei einem Durchschnittswert ein. Glutbündel schossen aus den Mündungen der Impulsgeschütze, durchschnitten die Atmosphäre und endeten in den Kuppelbauten, die knapp sechstausend Meter vom Rand des Raumhafens entfernt waren. »Denen wird die Lust vergehen, uns anzugreifen!« Aus den Kuppeln wurden sich ausdehnende Glutbälle. Der Detonation sämtlicher Sprengköpfe folgte ein Flächenbrand. Pechschwarze Qualmwolken wälzten sich träge über das Land. Weiß glühende Trümmerteile wurden von den Druckwellen der Detonationen in die Luft geschleudert. »Das genügt nicht«, keuchte Akon-Akon. »Schmelzt die Stadt zusammen.« »Wozu sollte das gut sein?«, fragte ich. »Noch einmal werden sie keine Raketen auf uns abfeuern. Wir haben ihren Feuerschlag beantwortet. Das dürfte die Fronten klären.« Akon-Akon gab sich damit nicht zufrieden, redete sich weiter in Wut. »Sie haben uns angegriffen! Dafür werden sie büßen… Ich muss sie alle vernichten! Alle!« »Nein. Fällt dir denn gar nichts auf? Hat dich der Hass so sehr verblendet, dass du nicht einmal mehr den Widerspruch dieser Attacke erkennst?« Akon-Akon wollte aufbrausen. Am liebsten hätte er mich auf die gleiche Weise ausgeschaltet wie Fartuloon. Doch er brauchte mich noch. »Welchen Widerspruch meinst du, Arkonide?« Er weiß genau, dass dort unten etwas nicht stimmt, wisperte der Extrasinn. Wenn du verhindern willst, dass er die Planetarier einfach ausrottet, musst du seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken. Erinnere dich an die ominöse Bio-Station, von der er vorhin sprach.
Du musst erreichen, dass er die Loghanen als notwendiges Übel akzeptiert. Ich deutete zur Panoramagalerie. »Diesen Widerspruch meine ich.« Die gegnerischen Projektile waren unterhalb der Schutzschirmblase der ISCHTAR explodiert. Ihre Vernichtungsenergie wurde somit auf das Landefeld abgelenkt. In der Feuerlohe starben die Loghanen, die zur Begrüßung der ISCHTAR gekommen waren. »Das Begrüßungskomitee wurde bewusst geopfert! Wer den Startbefehl für die Raketen gab, dem war egal, wie viele dabei umkamen. Sollte ich recht haben, gibt es auf dem Planeten eine Gruppe, die mit allen Mitteln unsere Landung verhindern will. Diese Gruppe hat anscheinend die absolute Macht über die Planetarier.« Akon-Akon strich sich grübelnd über die Stirn. Ich sah ihm an, dass er unsicher war und hakte sofort nach: »Wir sollten den Tod dieser bedauernswerten Kreaturen für unsere Ziele nutzen.« »Für meine Ziele«, stieß Akon-Akon hervor. Ich zuckte mit den Schultern und gab mich bewusst gelangweilt. »Na gut… dann eben deine Ziele, Akon-Akon. Aber ich habe keine Lust, dass ein Großteil meiner Besatzung bei den geplanten Unternehmungen das Leben verliert. Wir sollten verhandeln…« »Verhandeln!« Akon-Akon schnaubte verächtlich. »Ja! Ich denke, wir sollten mit ihnen verhandeln. Es kann ihnen nicht gleichgültig sein, dass die Befehlshaber, die für den Start der Raketen verantwortlich sind, viele ihrer Artgenossen in den Tod schickten. Das ist der Anknüpfungspunkt für unsere Gespräche.« Akon-Akon dachte kurz nach, sah auf den Bildschirmen, dass am Rand des Raumhafens weitere Loghanen aufmarschiert waren. Sie starrten abwartend zur ISCHTAR, hatten alle das Ende ihrer Artgenossen miterlebt. Sie wussten jetzt, dass ihre wirklichen Feinde irgendwo auf Kledzak-Mikhon saßen. Dank unseres Schutzschirms waren wir praktisch unangreifbar. Jeder weitere
Angriff vonseiten der Loghanen würde nur unnötige Opfer unter der Bevölkerung fordern. Wollten wir sie als Verbündete für unsere weiteren Unternehmungen gewinnen, mussten wir sie gegen die unbekannten Drahtzieher aufstacheln, die für den Tod ihrer Artgenossen verantwortlich waren. »Du hast vorhin keinen Kontakt mit der Bio-Station bekommen«, erinnerte ich den Jungen von Perpandron. »Ich nehme an, du willst jetzt den Grund für die Funkstille herausfinden?« Akon-Akon lächelte, durchschaute meine Absicht natürlich sofort. »Natürlich bin ich an einer Aufklärung interessiert.« »Willst du sofort mit deinen Nachforschungen beginnen, oder starten wir wieder?« »Nein. Ich habe die lange Reise nicht umsonst gemacht. Ich verschwinde nicht unverrichteter Dinge von hier. Zunächst muss ich herausbekommen, warum sich die Bio-Station nicht meldet. Anschließend werdet ihr mich zum Großtransmitter bringen.« Das war es also, erkannte ich. Er will das Raumschiff verlassen! »Du vermutest richtig«, sagte er grinsend. »Ich war lange genug euer Gast. Meine weiteren Pläne erfordern ganz andere Mittel.« »Deine weiteren Pläne?« »Nicht so neugierig, Arkonide. Du weißt jetzt, was ich vorhabe. Sorg dafür, dass alles reibungslos vonstattengeht.« Ich blickte noch einmal auf die Bildschirme. Die Loghanen hatten Zulauf bekommen. Inzwischen warteten in sicherer Entfernung annähernd fünftausend Personen, lauerten anscheinend nur darauf, dass wir die ISCHTAR verließen. Das riesige Schiff schwebte inzwischen unmittelbar über dem Landefeld. Soweit ich erkennen konnte, waren die meisten Grünpelze bewaffnet. Sie trugen kleine Handfeuerwaffen und blaster-ähnliche Karabiner. Das wird ein wahrer Spießrutenlauf, orakelte der Logiksektor. Akon-Akon wird nur eins gelten lassen: den absoluten Schutz der
eigenen Person. »Bist du gegen Strahlwaffen gefeit?« Er schüttelte den Kopf. »Warum die Frage? Es genügt, dass mich deine Leute schützen. Als Präventivschlag vernichten wir alle Grünpelze in unmittelbarer Umgebung der ISCHTAR. Dann haben wir keine Schwierigkeiten beim Verlassen des Schiffes.« »Du kannst nicht alle Loghanen auf einmal ausrotten. Es wird immer ein paar Überlebende geben, die uns das Leben schwer machen können. Willst du das Risiko wirklich eingehen?« Da Akon-Akon auf meine Bemerkung hin schwieg, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. »Ich werde uns den Weg durch einen kleinen Trick ebnen.« »Gut«, sagte der Suggestor. »Aber du darfst keine Zeit mehr verlieren. Schlägt dein Plan fehl, opfere ich, wenn es sein muss, die Besatzung der ISCHTAR. Ich habe keine Lust, mir noch mehr Ärger durch die Parasiten einzuhandeln.«
Snayssol zitterte, als er den Jungen erblickte. Akon-Akon wandte sich angewidert ab. Aus dem Translator ertönten schnaufende Laute. Das Gerät konnte den Sinn der bruchstückhaften Äußerungen nicht deuten. »Keine Angst, Grünpelz«, rief Ra. »Du hast nichts zu befürchten. Wir brauchen deine Hilfe.« »Du hast mitbekommen, was draußen los war?«, fragte ich. Snayssol blieb in der Nähe von Ra. Der Loghane schien zu dem Dunkelhäutigen am meisten Vertrauen zu haben. Wir waren – rein äußerlich gesehen – dem Suggestor zu ähnlich. Snayssol nickte. »Dann weißt du auch, dass uns deine Artgenossen vernichten wollten.« Der Erbe nickte erneut. »Begrüßt man bei euch Gäste immer auf diese Art?« Aus dem Translator ertönten erneut unverständliche Laute, Snayssol blickte mich fest an. Ich erkannte sofort, dass er sich nur
mühsam unter Kontrolle hielt. »Meine Artgenossen hätten euer Raumschiff niemals angegriffen«, sagte der Loghane. »Der Befehl dazu kam vom Triumvirat. Niemand anders kann die Raketen aktivieren. Dazu bedarf es immer des Regierungsbefehls.« »So ist das also.« Ich strich mir nachdenklich übers Kinn. Snayssol hatte soeben meine Ahnungen bestätigt. Die Bevölkerung von Kledzak-Mikhon traf keine Schuld an dem Feuerschlag. Das erleichterte unsere Verhandlungen. »Wie groß ist die Anhängerschaft des Triumvirats?« Snayssol machte eine nachdenkliche Geste. »Ich habe persönliche Gründe, die Obmänner zu hassen. Sie wollten mich töten. Daher ist meine Meinung nicht repräsentativ. Auf Kledzak-Mikhon gibt es keine Untergrundbewegung. Das Triumvirat hat immer dafür gesorgt, dass keine Rebellengruppen entstehen konnten.« »Aber es gibt Unzufriedene?«, unterbrach ich den Loghanen. »Ja. Besonders nach den jüngsten Ereignissen dürften die meisten Erben erfahren haben, dass die Obmänner nicht im Interesse aller Loghanen handeln. Das Begrüßungskomitee wurde bewusst geopfert. Die meisten Erben kennen die Vernichtungskraft der Raketen. Sie wussten also, dass die Loghanen sterben würden.« »Wir werden hinausgehen, um mit deinen Artgenossen zu reden. Wir müssen sie von unserer Friedfertigkeit überzeugen. An deinem Verhandlungsgeschick liegt es, ob wir einen Waffenstillstand erreichen oder ob sich das Triumvirat durchsetzen kann.« »Nein!«, schrie Snayssol. »Sie werden uns töten.« Akon-Akon atmete tief durch. »Du gehst, Parasit!« »Warum habt ihr mir dann das Leben gerettet?« Ich berührte die Schulter des Loghanen. Der seidige Pelz fühlte sich eigenartig elektrisierend an. »Ich brauche deine Hilfe, Snayssol, du musst mir vertrauen. Sobald wir aus der Schleuse
treten, sind wir nicht schutzlos. Unsere Mannschaft wird sofort reagieren, sollten deine Artgenossen durchdrehen. Außerdem gibt es noch ein paar technische Tricks, die uns im Notfall das Leben retten können.« Ich sah, dass ich den Loghanen nicht beruhigen konnte. Aber mein Plan stand fest. Bevor ich die Besatzung der ISCHTAR in Gefahr brachte, musste er seinen Part leisten.
Tamoyl und Rassafuyl »Es war ein Fehler«, rief Tamoyl aufgeregt, »die Erben auf den Raumhafen zu schicken. Jetzt weiß jeder auf Kledzak-Mikhon, dass wir sie bewusst in den sicheren Tod geschickt haben. Die Folge werden Aufruhr und Rebellion sein.« Rassafuyl stieß ein hässliches Lachen aus. Er trug eine Überlegenheit zur Schau, die den alten Loghanen zutiefst erschreckte. »Wir starten einen Propagandafeldzug, der unsere Position stärken wird. Das genaue Gegenteil Ihrer Befürchtungen wird eintreten. Unsere Macht ist ungebrochen. Die Polizeistreitkräfte gehorchen uns. Schließlich wird uns die ganze Bevölkerung als Retter des Planeten feiern. Wir behaupten, die Ahnen seien zurückgekehrt, um uns zu vernichten. Damit rechtfertigen wir den Start der Raketen.« Der alte Obmann teilte die Zuversicht nicht. »Wir haben gesehen, über welche Waffen die Ahnen verfügen. Sie haben auf einen Schlag sämtliche Raketenbatterien in unmittelbarer Nähe des Raumhafens vernichtet. Dabei wurde ihr Schiff nicht einmal angekratzt. Ich sage Ihnen, Rassafuyl, Ihre Entscheidung wird uns an den Rand des Abgrunds bringen. Wir sind wehrlos. Wir haben ihren Todesstrahlen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.« Rassafuyl lachte wieder. Er wusste, dass es hier nicht nur um seinen persönlichen Machtkampf ging, sondern um die Zukunft
des Planeten. Er wollte auf alle Fälle überleben und allein über die Geschicke Kledzak-Mikhons bestimmen. Er schlug auf die Tischplatte des Konferenzpults. »Die Ahnen können nicht ewig im Raumschiff bleiben. Sie müssen das Schiff einmal verlassen. Das kann heute, aber auch erst in einigen Tagen passieren. Wir haben Zeit, Tamoyl.« Rassafuyl strich sich den aufgeplusterten Pelz glatt, die Bewegungen wirkten eitel und beherrscht zugleich. »Und wenn sie zuerst einen Angriff auf die Stadt fliegen?« »Dann gebe ich Feuerbefehl für die restlichen Abwehrforts.« Das war eine eindeutige Feststellung. Rassafuyl kannte die schwachen Punkte seines Planes, wusste aber auch, dass jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren konnte. Aber er vertraute auf sein Glück. In diesem Moment betrat ein Bewaffneter den Konferenzsaal. »Was gibt’s?« Der Polizist salutierte. Auf dem schwarzen Kreuzgurt schimmerte das Zeichen der Palastgarde, ein stilisierter Blitz in der viergliedrigen Faust der Loghanen. »Eine Schleuse des Raumschiffs hat sich geöffnet. Die Ahnen kommen ins Freie.« »Was? Warum erfahre ich das erst jetzt?« »Wir hatten Schwierigkeiten mit der Menge, kommen kaum noch zum Raumhafen durch. Überall Schaulustige! Es dürften inzwischen mehrere tausend sein, die sich dort versammelt haben. Der Tod der Erben, die das Begrüßungskomitee bildeten, lässt sich nicht länger geheim halten.« »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Sie sind dafür verantwortlich, dass kein Unbefugter in den Regierungspalast eindringt. Schirmen Sie das ganze Gelände hermetisch ab.« Der Polizist bestätigte den Befehl, salutierte und machte auf dem Absatz kehrt. Rassafuyl trat vor die Bildschirmbatterie, die eine ganze Wandfläche des Konferenzsaals einnahm, und drückte mehrere Tasten nieder. »Stellen Sie die Verbindung zu Hoylarn aus dem Geschlecht der Garfulys her.«
Tamoyl sprang von seinem Platz auf. Der Alte zitterte am ganzen Leib. »Sie rufen den Mörder? Das dürfen Sie nicht, Rassafuyl. Sie haben schon genug Unheil angerichtet!«
»Sie haben mich gerufen?« Der Loghane, dessen breiter Oberkörper auf dem Bildschirm erschien, war knapp vierzig Jahre alt. Sein Pelz glänzte dunkelgrün, sein Kreuzgurt war mit zahlreichen Glitzersteinen verziert. »Sie sind nicht überrascht, Hoylarn?« Der Loghane schüttelte den Kopf. Seine Bewegungen erinnerten an ein Morgo-Morgon. »Es ist nicht das erste Mal, dass Sie meine Dienste in einer ungewöhnlichen Situation beanspruchen.« Rassafuyl kniff die Lider zusammen. »Es war abgemacht, dass wir darüber keine Worte verlieren. Halten Sie sich an unsere Abmachungen – wenn nicht, kann ich Sie nicht mehr gebrauchen. Sie sind nur wertvoll für mich, wenn Sie präzise arbeiten und anschließend kein Wort darüber verlieren.« »Ja«, ertönte es aus dem Lautsprecher. »Aber was ist mit dem da?« Hoylarn meinte Tamoyl, der im Erfassungsbereich der Aufnahmeoptik stand. »Kümmern Sie sich nicht um ihn. Er dient nur noch der äußeren Verzierung meiner Amtsgeschäfte. Es soll alles ganz legitim wirken. Gehen wir mit der nötigen Vorsicht vor, werden wir alles gewinnen.« Hoylarn lachte gehässig. »Ich wusste, dass Sie sich nicht mit dem Drittelanteil der Macht zufriedengeben würden…« Plötzlich summte die Rufanzeige des Funkgeräts. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines Polizisten, dessen Pelz vom Wind zerzaust wurde. Unmittelbar hinter ihm waren die Aufbauten eines Gleiters zu erkennen. »Wir haben die
Beobachtungskamera installiert.« »Blenden Sie das Bild ein!«, befahl Rassafuyl. Übergangslos verwischten sich die Konturen auf dem Bildschirm, machten dem gelandeten Kugelraumschiff platz. Es ruhte auf den ausgefahrenen Teleskoplandestützen, zwischen denen sich die Bodenrampe erstreckte. Der Schutzschirm umgab das Raumschiff wie eine leuchtende Blase. Zwei Gestalten traten am oberen Rampenende ins Freie. Rassafuyl stieß einen Wutschrei aus, als er sie erkannte. »Snayssol! Der Bastard lebt also immer noch! Bei allen Schetans… Und der andere. Er kam durch das Großtor!« Die Stimme des Polizisten kommentierte das Geschehen. Das Geschrei zahlreicher Loghanen bildete die Geräuschkulisse im Hintergrund. »Der Erbe Snayssol hat sich mit den… Fremden verbündet. Er erhebt schwere Anklagen gegen Euch, behauptet, Ihr hättet die Zukunft des Planeten in der Hand…« »Alles Geschwätz! Er hätte im Schiff bleiben sollen. Jetzt geht’s ihm an den Kragen.« »Sollen wir eingreifen?« »Nein! Ihr haltet euch in Bereitschaft. Ich schicke euch einen Vertrauten. Er gibt euch alle weiteren Anordnungen. Haben Sie verstanden?« »Jawohl. Wie erkennen wir den Mann?« »Er hat eine Todesschleuder und wird sie einsetzen. Das ist sein Erkennungszeichen!« Der Polizist schaltete aus. Hoylarn und Rassafuyl sahen sich über die Bildschirmverbindung an. »Ich kenne meinen Auftrag.« »Sie müssen sofort zum Raumhafen und diesen Snayssol töten. Wie lange brauchen Sie bis dorthin?« »Nicht lange, sofern mein Gleiter nicht aufgehalten wird.« Rassafuyl nickte zufrieden. »Ich erwarte, dass Sie mit der gewohnten Präzision arbeiten. Sie müssen Snayssol töten! Versagen Sie, ist Ihr Leben nichts mehr wert…«
»Ich verfehle Snayssol nicht. Auf ganz Kledzak-Mikhon gibt es keinen besseren Schützen als mich. Sie waren bisher immer mit mir zufrieden, Sie werden es auch jetzt sein. Noch eine Frage, bevor ich aufbreche…« »Sie bekommen Ihren Lohn. Ich werde Sie nicht enttäuschen.« »Das meine ich nicht. Ich wollte fragen, ob ich den… Ahnen ebenfalls töten soll.« Rassafuyl brauste zornig auf. Ihm waren das Zögern und die besondere Betonung Hoylarns nicht entgangen. »Habe ich etwas davon gesagt? Sie erhielten den Auftrag, Snayssol zu töten. Habe ich etwa den Fremden erwähnt? Schon sein Aussehen sollte Ihnen klarmachen, dass es keiner unserer Ahnen sein kann!« »Entschuldigen Sie«, sagte der loghanische Scharfschütze beherrscht. »Ich wollte Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen. Selbstverständlich führe ich Ihren Befehl zu Ihrer vollsten Zufriedenheit aus. Der Erbe Snayssol ist schon so gut wie tot.« Rassafuyl drückte auf die Aus-Taste, der Bildschirm erlosch. Er wusste, dass Hoylarn im gleichen Augenblick zum Raumhafen aufbrach. Rassafuyl hatte ihn schon mehrfach eingesetzt, wenn es darum ging, persönliche Feinde auszuschalten. Hoylarn war genau der Richtige, loyal und schweigsam. Und er war ein Experte im Töten. Sollte Hoylarn jedoch wider Erwarten erfolglos sein, würde Rassafuyl die Polizisten auf ihn hetzen. »Ich bin erschüttert«, presste Tamoyl hervor. »Wie konnten Sie nur so tief sinken? Sie verstoßen nicht nur gegen die Gesetze des Triumvirats. Sie versündigen sich gegen die Grundsätze unserer Kultur. Sie machen gemeinsame Sache mit einem Mörder Sie sind ein Verbrecher!« Tamoyl keuchte, griff sich an die linke Brustseite. Rassafuyl verzog keine Miene, näherte sich dem Alten und sah ihn durchdringend an. »Ihre Tage sind gezählt, alter Mann. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, wenn Sie eines natürlichen Todes sterben wollen. Schweigen Sie und fügen Sie sich bedingungslos
meinen Anordnungen.« »Ich kann Ihrem Treiben nicht länger zusehen.« »Dann tut es mir leid. Es ist wirklich schade – aber ich verzichte nur ungern auf Ihre Mitwirkung. Aus Repräsentationsgründen sind Sie unbezahlbar. Sie verleihen meinen Aktionen die Aura des Legitimen. Sie hätten noch lange dabei sein können. Wirklich zu schade.« Rassafuyl zog einen kleinen Druckluftnadler aus der Gürteltasche. »Was… tun Sie da?«, stammelte der Alte fassungslos. »Sie haben eine Waffe der Ahnen.« »So ist es. Ich setze voraus, dass Sie die Wirkung kennen. Wenn ich abdrücke, bleibt keine Spur von Ihnen übrig.« Der alte Obmann schluckte hörbar. Die Wirkung eines Druckluftnadlers war furchtbar. Jedes der winzigen Geschosse hatte eine extrem komprimierte Luftfüllung. Beim Aufschlag detonierte die Kapsel und gab die Füllung explosionsartig frei. Jede Materie in unmittelbarer Nähe wurde sofort zerpulvert. Der Vorteil war, dass es keine Verbrennungsrückstände gab und auch keine Energiepeilungen möglich waren. Rassafuyl hob den Lauf und zielte auf Tamoyls Brust. »Nein bitte nicht«, flehte der Alte. Rassafuyl krümmte den zweiten Finger der viergliedrigen Hand um den Abzug, lächelte kalt. »Nicht schießen, Rassafuyl ich will nicht sterben!« Rassafuyl senkte den Lauf der Waffe wieder. »Eine zweite Chance bekommen Sie nicht. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie mir bedingungslos gehorchen. Beim geringsten Verdacht, dass Sie gegen mich arbeiten, töte ich Sie. Haben wir uns verstanden?« Der Alte nickte nur, verharrte schweigend am Konferenztisch, stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und starrte nach unten. »Ich gestatte Ihnen hierzubleiben. Wir werden auf dem Bildschirm miterleben, wie Snayssol stirbt. Dem Fremden wird nichts geschehen, er soll sich in Sicherheit wiegen, soll wissen,
dass wir die Gelegenheit hatten, ihn zusammen mit Snayssol zu töten. Das wird ihn unvorsichtig machen. Im geeigneten Augenblick schlagen wir zu. Kein einziger der Ahnen wird das Inferno überleben und schließlich werde ich das Raumschiff besitzen! Dann bin ich mächtiger als jeder Loghane in der Geschichte von Kledzak-Mikhon.« Rassafuyl lachte kreischend auf. Mit weit ausholenden Schritten ging er zur Bildschirmbatterie hinüber und schaltete sämtliche Schirme ein. »Red nur«, stieß der Obmann düster hervor und meinte den Erben Snayssol, der im gleichen Augenblick viele Kilometer vom Regierungspalast entfernt zu den Loghanen sprach. »Red nur… es wird deine letzte Rede sein.« Tamoyl erkannte entsetzt, dass Rassafuyl von einem unbeschreiblichen Machtrausch erfasst und zweifellos größenwahnsinnig geworden war.
Atlan Ohrenbetäubender Lärm umgab uns, als wir den Fuß der Bodenrampe hinter uns ließen. Die bellenden Stimmen der Loghanen vereinigten sich zu einem wahren Crescendo. Ich zwang mich bewusst dazu, ruhig und gelassen zu erscheinen. Niemand sollte merken, wie unsicher ich mich fühlte. Ich hatte keine Angst, das war es nicht. Die nahezu unüberschaubare Menge verwirrte mich aber. Meine Rechte ruhte auf dem Handgriff des Kombistrahlers. Ich hob den Kopf. Der Translator hing vor meiner Brust. Ich verstand jedes Wort, das hier geschrien, gebellt oder geknurrt wurde. »Bewohner von Kledzak-Mikhon!«, schrie Snayssol in das Mikrofon des Verstärkers. »Bewahrt Ruhe! Ich versichere euch, dass die Fremden keine bösen Absichten verfolgen. Hätten sie es wirklich gewollt, gäbe es kein Leben mehr auf unserer Welt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, über welche Waffen sie
verfügen…« Snayssols Stimme überschlug sich. Der arme Bursche gab sein Bestes, der grüne Pelz war verschwitzt. »Wir wollen Freundschaft mit ihnen.« Zahlreiche Loghanen reckten die Fäuste empor, fletschten die Zähne und bedrohten uns unmissverständlich mit ihren Waffen. Sie geben sich kriegerischer, als sie sind, analysierte der Extrasinn die Situation. Bis jetzt hatten sie uns nicht angegriffen. Ich kannte aber ihre Mentalität nicht. Häufig war bei fremden Völkern zu beobachten, dass sie sich durch Schreien und Gestikulieren in einen Blutrausch versetzten. War das hier genauso, stand uns Schlimmes bevor. Ich hatte keine Ahnung, wie lange Snayssol seine Artgenossen beschwichtigen konnte. Ein falsches Wort, und sie würden über uns herfallen. Fartuloon, Ra und die anderen lassen dich nicht im Stich. Ich wusste, dass meine Freunde die Geschütze kontrollierten und die Meute seit unserer Ausschleusung ständig im Auge behielten. Der Bauchaufschneider hatte sich relativ schnell von Akon-Akons Attacke erholt. Ich hatte ihn daran hindern müssen, dass er uns ins Freie folgte. Schließlich hatte er eingesehen, dass er an den Geschützkontrollen nützlicher war. Das Ende der Bodenrampe befand sich fünfzig Meter hinter uns, der Energieschirm wies keine Lücke mehr auf. Sofort nach unserem Verlassen hatte Akon-Akon die Strukturöffnung wieder geschlossen. Er wollte kein Risiko eingehen. Anscheinend befürchtete er immer noch, dass uns die loghanischen Herrscher mit Raketen angriffen. Wenn ich ehrlich war, war unsere Lage alles andere als rosig. Ein gegnerischer Angriff hätte dem Raumschiff nicht weiter geschadet. Aber Snayssol und ich wären augenblicklich ausgelöscht worden; gegen die Waffen von Bodenforts half auch kein Individualschirm eines Kampfanzugs. Snayssol stellte den Verstärker auf Höchstleistung. »Hört mich an Ihr müsst einsehen, dass euch das Triumvirat zum Narren gehalten hat. Die Obmänner wussten genau, dass alle
Erben, die für das Begrüßungskomitee zusammengestellt wurden, sterben mussten. Das war Mord!« Seine Worte gingen im Lärm der Loghanen unter, grün bepelzte Leiber wogten hin und her. Es glich einer Springflut aus Körpern, die immer näher kam. Schließlich hatten uns die Planetarier umzingelt. Sie sind unsicher, teilte mir der Extrasinn mit. Sie wissen nicht, was sie von dir halten sollen. Dein Aussehen entspricht nicht dem, das sie sich von einem Ahnen machen. Verstärkt wird das noch, weil Snayssol von »Fremden« spricht. »Wir wollen in Frieden mit euch verhandeln«, wiederholte Snayssol. »Die Fremden werden unsere Welt wieder verlassen. Sie werden hier nichts verändern. Das haben sie mir versprochen.« Ein junger Loghane drängte sich in die erste Reihe vor. »Seit wann verteidigt ein Loghane unsere Feinde?« »Sie sind nicht unsere Feinde. Die wahren Feinde sitzen im Regierungspalast. Die Obmänner haben euch verraten.« Der Verstärker ließ Snayssols Stimme grollend über das Landefeld schallen. Ich sah mich unauffällig um. Links grenzte ein niedriger Gebäudekomplex an das Landefeld, rechts zwei Kuppelbauten, hinter denen die Abschussanlagen der Raketen gelegen hatten. Jetzt gähnten dort schwarze Krater im Boden. Etwa zweitausend Meter entfernt erstreckte sich ein schmaler Waldstreifen. Fast am Horizont ragten die Trichtertürme von Poal-To in den stahlblauen Himmel. Plötzlich bemerkte ich im Westen einen Lichtreflex. Die Entfernung betrug annähernd drei Kilometer. Mit bloßem Auge konnte ich nicht erkennen, was sich dort abspielte. Es hätte ein glänzendes Metallstück sein können, das sich in der Sonne spiegelte. Trotzdem ließ mir die Beobachtung keine Ruhe. Langsam winkelte ich meinen linken Unterarm an, aktivierte den Armbandsender. Fartuloon meldete sich sofort. Ich verstand seine Worte nicht, der Lärm ringsum war zu laut. Doch die optische Anzeige des Gerätes zeigte
Empfang an. »Hier Atlan«, flüsterte ich. »Sofort nachprüfen, was sich in westlicher Richtung tut. Distanz schätzungsweise dreitausend Meter.« Ich ließ den Sender eingeschaltet. Inzwischen hatten sich fünf junge Loghanen unmittelbar vor mir aufgebaut. Sie waren genau wie ihre Artgenossen rund einen Meter sechzig groß. Ich überragte sie um fast dreißig Zentimeter. In ihren Augen war ich ein Riese. Meine Rechte lag bewusst auf dem Kombistrahler. Sie verstanden die Geste, doch das schien sie nicht zu beeindrucken. »Was wollt ihr?« Einer stemmte beide Fäuste in die Hüften. »Uns interessiert, ob ihr tatsächlich so mächtig seid, wie Snayssol uns weismachen will.« »Echte Überlegenheit braucht nicht demonstriert zu werden.« Die Loghanen lachten. In unmittelbarer Nähe verstummten die Schreie. Die Bepelzten wollten mitbekommen, was ich zu sagen hatte. Ein Grünpelz versuchte mich zu reizen. »Du hast Angst.« Ich sagte nichts. Plötzlich summte und vibrierte der Armbandsender. Fartuloon gab das vereinbarte Alarmzeichen. Hastig hob ich den Unterarm und drehte den winzigen Lautsprecher so, dass ich ihn ans Ohr pressen konnte. »Sofort in Deckung! Dort hinten zielt ein Grünpelz auf euch…« Die Loghanen hatten keine Ahnung, dass ich einen Funkspruch aus dem Raumschiff erhalten hatte, wollten mich packen und das merkwürdige Armbandinstrument untersuchen. Einer hielt mich am Arm fest. »Zeig her, was du dort hast.« Ich riss mich los und stieß Snayssol aus der Schusslinie. Im gleichen Augenblick orgelte ein grellroter Schemen unmittelbar über mich hinweg, gefolgt von einem sengend heißen Luftschwall und einem mörderischen Schlag. Mehrere Loghanen brüllten vor Schmerzen auf. Ich sah beißenden Qualm, Fliehende rissen mich zu Boden. »Snayssol!«, schrie ich entsetzt. »Die
Meute trennt uns…« Der Loghane tauchte noch einmal kurz auf, wurde ebenfalls von der von Panik erfüllten Horde zu Boden gerissen. Der Lärm wurde unbeschreiblich. Die fliehenden Loghanen achteten weder auf mich noch auf ihre Artgenossen, stürmten davon. Plötzlich krachte es erneut. Zwei Planetarier verschwanden in einer Qualmwolke. Ihre Todesschreie erstarben im Nachhall der Explosion. Chemische Reaktionen, analysierte der Extrasinn kühl. Treibsätze mit einer Sprengladung, die auf chemisch-physikalischer Basis reagiert. Wenigstens keine radioaktive Verseuchung, dachte ich und stieß mehrere Loghanen zur Seite, die sich schreiend am Boden wälzten. Mir tat jeder Knochen weh. Ich entdeckte Snayssol, der am Boden lag und den linken Oberschenkel umklammerte. Blut floss aus der Wunde. »Snayssol, hier bin ich.« Für ein paar Augenblicke versperrten mir davonhastende Loghanen den Weg. Dann sah ich den Erben wieder. Er kam mühsam hoch. »Ein Splitter hat mich erwischt… wäre beinahe erledigt gewesen. Auf wen hat der Schütze gezielt? Auf mich?« »Schon möglich. Jetzt aber schnell weg von hier.« Ich riss ihn hoch und stützte ihn. Er konnte nur noch humpeln. Doch er klagte nicht, sondern beherrschte sich ausgezeichnet. Die Loghanen verstreuten sich über den Raumhafen. Der Energieschirm der ISCHTAR war noch geschlossen. »Worauf wartet ihr noch? Öffnet die Strukturlücke!« Es geschah nichts. Die gewölbte Schirmfläche schimmerte wie geschmolzenes Erz. Darunter verschwammen die Konturen der ISCHTAR. Die Rettung war zum Greifen nahe – und doch unerreichbar fern. Akon-Akon blockiert den Willen deiner Freunde, vermutete der Logiksektor. Vielleicht will er auf diese Weise herausbekommen, wer hinter dem heimtückischen Angriff steckt. Er wird so lange mit eurer
Rettung warten, bis sich der Angreifer zeigt. Ihr seid die Lockvögel. »Fartuloon!«, rief ich ins Mikrofon. Doch es rührte sich nichts. Snayssol stöhnte leise. Seine Wunde schien ihm mehr zuzusetzen, als ich angenommen hatte. Ringsum sah es chaotisch aus. Die toten Loghanen lagen dicht nebeneinander. Der unbekannte Schütze hatte also ein ganz bestimmtes Areal unter Beschuss genommen. Die Stelle, an der ihr gestanden habt. Geschrei verhallte im Hintergrund. Plötzlich konnte ich das leise Säuseln des Windes wieder hören. Von Westen wehte eine frische Brise heran. Sie trug den Geruch nach verfaulendem Laub mit sich. Ich atmete tief durch. Meine Haltung entspannte sich. Doch plötzlich war da noch ein anderes Geräusch. Ein Gleiter, warnte mich der Extrasinn. Ich zog den Kombistrahler und sah angestrengt zum Himmel. Vor mir war der Luftraum frei. Ebenso links und rechts. Ich fuhr herum. Im gleichen Augenblick erkannte ich den tropfenförmigen Gleiter, der in weitem Bogen die ISCHTAR umrundete. Der Kerl ist eine Schleife geflogen, erkannte ich. Deshalb wurden wir noch kein zweites Mal beschossen. Ein raffinierter Bursche. »Das ist Hoylarn, der Scharfschütze«, wimmerte Snayssol. »Wir sind verloren, sollten uns deine Freunde nicht ins Raumschiff lassen.«
Ich erkannte den muskulösen Loghanen ganz deutlich. Er stand auf der Plattform des Gleiters und hielt eine schwere Waffe in der Armbeuge. Der Gleiter war nur noch fünfzig Meter entfernt. Da der Kerl aus dreitausend Metern Entfernung so gut treffen kann, durchzuckte es mich, erledigt er uns aus dieser Distanz im Handumdrehen. Ich riss den Kombistrahler hoch. Im gleichen Augenblick zuckte ich wie unter einem mörderischen Schlag zusammen.
Akon-Akons Gedankenstimme drang in mein Innerstes. Nicht so schnell. Du verdirbst uns das Schauspiel, Kristallprinz! Lass den elenden Grünpelz ganz dicht herankommen. Und vergiss nicht – ich will ihn lebend haben. Er muss uns alles über seine Auftraggeber verraten. Hast du verstanden? Ich presste ein zorniges »Verstanden« hervor, Akon-Akon verschwand wieder aus meinem Bewusstsein. Ich vermutete jedoch, dass der Junge seine Gedankenfühler weiterhin nach mir ausstreckte. Der Gleiter verlangsamte seine Fahrt. Seit seinem Auftauchen waren nur ein paar Augenblicke vergangen. Doch sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Deutlich sah ich, wie der Loghane seine Waffe auf mich richtete. Jetzt pulste mein Extrasinn mit schmerzhafter Intensität. Geistesgegenwärtig warf ich mich zu Boden und riss Snayssol mit. Ich sah die Waffe aufblitzen, es gab einen lauten Knall. Wir rutschten ein paar Meter weit über den rissigen Bodenbelag. Unmittelbar hinter uns gab es eine Explosion. Ein glühend heißer Luftschwall traf mich im Nacken, anschließend prasselten kleine Steine auf uns herab. Die Antriebsaggregate des Gleiters heulten auf. Ich sah, wie der Loghane zum Sturzflug ansetzte, zielte kurz und versuchte abzudrücken. Doch eine geheimnisvolle Kraft verlangsamte die Druckkraft meines Zeigefingers. Ich wusste sofort, dass Akon-Akon dahintersteckte. Der Thermostrahl fauchte aus dem Lauf. Ich sah, wie er in der rechten Seite des Gleiters einschlug, sich durch die Metallhülle fraß und weiter hinten wieder austrat. Der verdammte Bengel spielt mit meinem Leben!, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt lachte der Schütze höhnisch auf. Obwohl sein Gleiter heftig schlingerte, konnte er die Restfahrt aufheben und das Fahrzeug absenken. Er raste haarscharf über unsere Köpfe hinweg und setzte nicht weit entfernt auf. Teile der Seitenverkleidung des Gleiters wirbelten durch die Luft. Funken tanzten über dem frei liegenden Aggregat, Rauchwolken
verdunkelten die Sicht. »Hoylarn wird kämpfen, bis wir tot sind«, keuchte Snayssol und hinkte nach links davon. »Hierher, Atlan, wir müssen in den toten Winkel kommen. Er nimmt uns sonst unter Dauerfeuer.« Snayssol wollte halb um die ISCHTAR laufen. Wollte uns der Schütze jetzt aufs Korn nehmen, musste er die Deckung seines Gleiters verlassen. Ich kam nicht weit. Zwischen den auseinandertreibenden Qualmwolken sah ich den Oberkörper des Schützen. Der Loghane zielte auf mich. Vielleicht auch auf Snayssol, denn wir standen nur ein paar Meter auseinander. Ohne lange nachzudenken, schoss ich mit Fächerstrahl. Wir hatten fast gleichzeitig abgedrückt. Der Glutfächer erwischte die Sprengkapsel auf halbem Weg. Plötzlich stand ein greller Feuerball in der Luft. Dem Explosionsknall folgte eine starke Druckwelle, die uns zu Boden schleuderte. Aus dem Gleiterwrack schlugen meterhohe Flammen. Die Glut wurde vom Westwind angefacht. Das Feuer fraß sich rasch in die Plastikverkleidung des Fahrzeugs. Nicht länger zögern, forderte mich der Logiksektor auf. Akon-Akons Aufmerksamkeit muss sich jetzt auf mehrere Dinge gleichzeitig richten. Er muss die Schiffsbesatzung unter Kontrolle halten und hier draußen dafür sorgen, dass alles in seinem Sinn geschieht. Schieß! Das ist deine letzte Chance, heil aus der Sache herauszukommen. Warum beeinflusst Akon-Akon den loghanischen Schützen nicht? Warum zwingt er ihn nicht dazu, die Waffe wegzuwerfen und sich zu ergeben? Narr! Der Junge verabscheut die Grünpelze so sehr, dass er sich nicht dazu überwinden kann, in ihr Innerstes einzudringen. Ich durfte nicht länger zögern, drückte ab. Halb im Liegen sah ich, wie sich der Thermostrahl in den Gleiter fraß. Metallbruchstücke wirbelten durch die Luft. Entladungen blitzten grell auf. Abermals blockierte Akon-Akons Suggestivkraft meine
Hand. Der Kombistrahler rutschte mir aus den Fingern und polterte auf den Boden. Es ist aus, durchzuckte es mich, während ich das Gesicht auf den Belag des Raumhafens presste. Du hast meinen Befehl missachtet! Akon-Akons Gedankenstimme peitschte durch mein Bewusstsein. Du hast den Grünpelz getötet. Ich ruckte hoch und sah, wie die ausgeglühten Reste des Gleiters in sich zusammensanken. Funken sprühten hoch, nur noch ein schwarzer Schlackehaufen erinnerte an die Existenz des Fahrzeugs. Der Loghane war in den Flammen verschwunden. »Hätte ich mich etwa erschießen lassen sollen?« Ich wusste, dass mich Akon-Akon telepathisch überwachte. »Hätte ich sterben sollen, nur weil du zu feige warst, den Schützen zu beeinflussen? Erbärmlicher Bastard! Nur weil du dich vor den Loghanen ekelst, sollte ich sterben? Du bist nicht nur feige, sondern auch unehrlich…« Ein rasendes Brennen durchzuckte mein Innerstes. Akon-Akon wollte mich für meine Worte quälen, konnte mich töten. Das war mir spätestens bei Fartuloons Bestrafung klar geworden. »Ich sterbe wenigstens im Bewusstsein, dass du dich als Feigling entlarvt hast«, hörte ich mich schreien, als mir schwarz vor Augen wurde. Akon-Akon hatte mich durch einen Suggestivimpuls außer Gefecht gesetzt.
Fartuloon reichte mir einen Becher mit kaltem Wasser. »Trink das, Junge, das hilft dir wieder auf die Beine.« Ich lag in der Bodenschleuse der ISCHTAR. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich fühlte mich wie gerädert. Aber ich lebte. Das war die Hauptsache. Snayssol kauerte neben mir und wagte nicht, den Kopf zu heben. Den Grund dafür erkannte ich sofort. Akon-Akon stand vor dem Antigravschacht. Sein Blick war
durchdringend, die Lippen bildeten schmale Striche. »Jeden anderen hätte ich getötet.« »Soll ich vor dir auf die Knie fallen und mich dafür bedanken, dass du mich geschont hast?« Fartuloon berührte meine Schulter. Ich verstand die Geste des Bauchaufschneiders, durfte den Jungen nicht unnötig reizen. Akon-Akon befand sich in einem inneren Widerstreit. Einerseits wollte er mich wegen der Befehlsverweigerung bestrafen, andererseits wusste er aber, dass ich ihn durchschaut hatte. Er wusste selbst, dass sein Ekel vor den Loghanen so groß war, dass er mich bedenkenlos in den Tod geschickt hätte. »Vergessen wir das Ganze«, stieß ich mühsam beherrscht hervor. »Es hat keinen Sinn, uns die Köpfe einzuschlagen. Wir sind aufeinander angewiesen. Also versuchen wir’s im Guten.« Akon-Akon starrte mich verblüfft an, hatte wohl mit jeder Reaktion gerechnet, nur nicht mit einem Versöhnungsversuch. »Ist das dein Ernst, Arkonide?« »Ich sage immer nur das, was ich wirklich meine.« Jetzt grinste der Junge. »Das dürfte wohl etwas übertrieben sein, Kristallprinz. Hättest du das getan, wärest du nicht mehr am Leben.« Ich nickte. Wir sahen uns kurz an. Jeder wusste, was der andere in diesem Augenblick dachte. Dazu brauchte man kein Gedankenleser zu sein. »Warum müssen wir Gegner sein?« Er sagte nichts, wollte seine wahren Gefühle vor uns verbergen. Doch innerlich wusste ich, dass er unsere Freundschaft suchte. So absurd das nach unseren bisherigen Erfahrungen mit ihm klingen mochte – ich war mir dessen ganz sicher. Akon-Akon war sehr einsam. Sein angeborener Stolz ließ keine andere Verhaltensweise zu. Er musste Abstand wahren. Das war im Grunde die Tragik des Jungen von Perpandron. Änderte er sich nicht, würde er ein einsames Wesen bleiben. Ich räusperte mich. Fartuloon sah mich fragend an. »Unser
Auftritt hat der Bevölkerung gezeigt, dass wir zu allem entschlossen sind«, begann ich. »Aber was noch viel wichtiger ist – die Loghanen wissen jetzt, dass wir nicht als Eroberer gekommen sind. Vielleicht geben sie Ruhe. Ich erwarte zwar nicht, dass sie uns freudig um den Hals fallen, aber vielleicht haben sie nun genügend Respekt.« Snayssol warf einen scheuen Blick auf Akon-Akon, blickte zu mir hoch. Ich sah, wie er sich innerlich zu einer Entgegnung überwinden musste. Die Angst vor einer Bestrafung durch den Jungen blockierte den Loghanen. »Du willst etwas sagen, Snayssol?« Er nickte bedächtig, strich mit der viergliedrigen Hand über das Gehäuse des Translators. »Die Obmänner sind für den Tumult verantwortlich«, kam es aus dem Übersetzungsgerät. »Sie schickten Hoylarn, den Scharfschützen.« Ich strich mir nachdenklich übers Kinn. Hatte Snayssol recht, mussten wir mit weiteren Attacken rechnen. Das Triumvirat würde die Bevölkerung gegen uns aufhetzen. Das bedeutete weitere Auseinandersetzungen und Tote. »Wir verlassen die ISCHTAR«, forderte Akon-Akon kurz und bündig. »Je länger wir warten, desto geringer werden unsere Chancen. Wir bilden einen Stoßtrupp und bemannen einen Gleiter, um zur Bio-Station vorzudringen. Die ISCHTAR hält uns den Rücken frei. Alle Mann bleiben auf Gefechtsstation. Sollten sich die Grünpelze wieder rühren, schmelzen wir die Stadt zusammen.« »Wer soll mitkommen?«, fragte ich. Akon-Akon deutete auf mich und Fartuloon. »Ihr zwei Ra, Vorry, Karmina… und dieser stinkende Grünpelz. Ich brauche seine Ortskenntnisse.« Snayssol hatte die Worte des Jungen über den Translator verstanden, äußerte sich jedoch nicht dazu. Er hatte sich anscheinend damit abgefunden, dass er in Akon-Akons Augen nur eine Kreatur niederster Art war.
»Und du?«, wandte ich mich erneut an den Jungen. »Bleibst du hier?« Akon-Akon neigte den Kopf, hob die Hände, sodass wir das geheimnisvolle Leuchten der Sternensymbole sahen. »Ohne mich hätte der Ausflug keinen Sinn!«
7. Gemmno Làs-Therin: Ich weiß jetzt, dass etwas nicht stimmt! Das Leben geht weiter. Ich kann nicht sterben. Doch ich kann auch nicht wirklich leben. Die Maschinerie, die meinen Körper konserviert, hält meinen Geist wach. Ich kann denken und mich erinnern. Ich weiß, weshalb ich hier bin. Ich weiß, wie meine Umgebung aussieht. Ich kann Vermutungen darüber anstellen, in welche Richtung sich die Versuchskreaturen fortentwickelt haben. Aber ich bin unfähig, das alles durch meine Augen zu sehen. Ich bin in meinem Körper gefangen. Ich bin nur ein Geist, der an die organische Substanz gefesselt ist. Ich heiße Gemmno Làs-Therin. Ich bin einen Meter fünfundneunzig groß. Meine Haut ist dunkel, fast bronzefarben. Meine Haare sind tiefschwarz. Ich trage auf der Stirn das Zeichen eines Bio-Inspektors. Der schmale Silberreif mit dem winzigen Hyperkristall speichert meine persönlichen Daten und Erinnerungen. Aber sind diese Daten nicht längst hinfällig geworden? Ich werde den Verdacht nicht los, dass ich mich während der langen Zeit verändert habe. Wie sehe ich aus? Meine Gedanken schmerzen mich. Die Angst steigt wie ein schwarzes Gespenst in mir auf. Es ist die Angst vor körperlichen Veränderungen. Ich wurde dazu erzogen, mich selbst und das akonische Volk als die Verkörperung des Perfekten anzusehen. Daher halte ich mich selbst für perfekt und unfehlbar. Wie sehe ich aus? Als ich zum letzten Mal aufgeweckt wurde, hatte ich die glatte, makellose Haut eines Dreißigjährigen. Kein Fältchen war zu erkennen. Mein Haar war glatt und seidig. Meine Bewegungen verrieten nichts über den Aufenthalt in der Lebenserhaltungsautomatik. Aber wie sehe ich jetzt aus? Ich kann es mir nicht vorstellen. Nein, ich will es mir nicht vorstellen. Der Gedanke, dass ich körperlich degeneriere, ist für mich unerträglich. Meine Angst vor körperlichen Veränderungen war fast
größer als die Furcht vor dem geistigen Verfall. Diese Haltung erklärt sich aus meinem Werdegang. Wir Akonen haben einen Entwicklungsstand erreicht, bei dem die natürliche Auslese praktisch nicht mehr existiert. Wir haben eine geistige Reife, die den Kampf untereinander sinnlos macht. Wir beherrschen die emotionellen Reaktionen. Wir handeln nach dem Prinzip der Effektivität. Alles ist nur auf den einen Zweck abgestimmt: Erhaltung und Perfektionierung des eigenen Volks. Züchten wir Bio-Sklaven, sollen uns diese Wesen zumindest in dieser geistigen Haltung ähnlich sein. Ihr körperliches Aussehen spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Nur die Herren dürfen ästhetisch optimal sein. Ich erlebte die Vorbereitungen zum Projekt »Loghan« mit. Unsere Wissenschaftler erzeugten zwei künstliche Lebewesen. Sie wurden von der ersten bis zur letzten Zelle im Labor geformt. Ihre Erbanlagen wurden von der leistungsfähigsten Positronik berechnet und auf den gewünschten Organismus abgestimmt. Anschließend verfrachteten wir sie auf einen unbewohnten Planeten – zu der Welt, auf der ich jetzt lebe. Da der Generationenzyklus etwa dem akonischen entsprach, ließen die ersten konkreten Ergebnisse lange auf sich warten. Doch unsere Wissenschaftler waren sich von vornherein klar, dass es sich beim Projekt »Loghan« um ein Langzeitprojekt handelte. Erst in etwa tausend Planetenjahren würden wir wissen, wie sich die Versuchskreaturen entwickelt haben. Sie mussten sich fortpflanzen, würden der Dynamik der natürlichen Auslese unterworfen sein. Alles Kranke, Schwache und Lebensunfähige musste sterben. Nur der Starke durfte überleben. Von einer Generation zur anderen würden sich diese positiven Merkmale verfestigen. Am langen Ende einer Kette von Generationen sollte der perfekte Sklave stehen. Nur die Tüchtigsten würden den Sturm der Zeiten überstehen. Der ständige Kampf ums Dasein würde optimale Erbfaktoren entwickeln. Bessere jedenfalls, als wir sie mit der Positronik errechnen konnten. Die ersten Generationen deuteten einen positiven Ausgang des Experiments an. Die Versuchskreaturen
breiteten sich in unseren Städten aus. Sie erlernten die Funktion der zurückgelassenen Geräte. Sie durchstreiften die Wälder und Savannen des Planeten. Es dauerte nicht lange, bis sie sich zur vorherrschenden Lebensform entwickelt hatten. Während meines letzten Kontrollbesuchs wurde ich auf ein Phänomen aufmerksam, dessen weitere Entwicklung ich unbedingt kontrollieren muss. Ich mischte mich im Schutz eines Deflektors unter die Kreaturen. Die Wahrung meiner Identität war Voraussetzung für das Gelingen sämtlicher Operationen. Ich entdeckte, dass die Versuchskreaturen eine selbstständige Regierungsform entwickelt hatten. Sie übertrugen alle Machtbefugnisse auf das »Triumvirat«. Da sich im Laufe der Jahre Intelligenzunterschiede herauskristallisiert hatten, gab es eine Unter- und eine Oberschicht. Zur Oberschicht zählten alle, die einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten hatten. Diese nannten sich »Erben«. Jeder Erbe konnte in das Triumvirat gewählt werden. Und nur ein Erbe durfte über die Vergangenheit Bescheid wissen. Die Versuchskreaturen tilgten jede Spur ihrer »Ahnen« aus. Niemand sollte wissen, dass die Akonen ihre Schöpfer waren. Das war einerseits ein psychologisches, andererseits ein existentielles Problem. Das Triumvirat konnte nur solange Macht ausüben, so lange es sich als Erbe der Ahnen auswies. Indem sie sich unbewusst oder bewusst von ihrer Vergangenheit trennten, leiteten sie einen Prozess ein, an dessen Ende ihre Selbstständigkeit stehen musste. Das konnte nicht im Interesse unserer Wissenschaftler sein. Ich muss also unbedingt zu einem weiteren Kontrollbesuch aufgeweckt werden. Nur die regelmäßige Inspektion der Verhältnisse kann einen positiven Ausgang des Projekts gewährleisten. Ich will aufwachen! Ich konzentriere mich nur auf das eine: Ich will aufwachen!
Der Gleiter schoss dicht über den Baumkronen eines ausgedehnten Dschungelgebiets nach Westen. Das Blätterdach wirkte undurchdringlich. In der Ferne ragten die eisbedeckten
Bergkuppen eines Gebirges in den schiefergrauen Himmel. Während der letzten halben Tonta waren Wolkenfronten aufgezogen; unser Flugziel lag rund zwei Flugtontas von Poal-To entfernt. »Das Westgebirge des Zentralkontinents Sover-Kar«, sagte Snayssol per Translator. »Fliegen wir noch weiter in diese Richtung, könnte es passieren, dass wir in Schneetreiben geraten.« Akon-Akon saß an den Kontrollen, hatte mehrfach einen Funkspruch abgestrahlt. Doch der Empfänger blieb stumm. »Das Wetter spielt keine Rolle. Wenn die Schleuse der Bio-Station noch funktioniert, brauchen wir nicht ins Freie.« Ich war einigermaßen erstaunt, dass Akon-Akon auf eine Bemerkung des Loghanen reagierte. Es war überhaupt überraschend, dass er Snayssol mitgenommen hatte, dessen Wunde inzwischen von Fartuloon versorgt worden war. Traust du dem Jungen keine Einsichten zu?, wisperte der Extrasinn. Akon-Akon dürfte inzwischen eingesehen haben, dass Snayssol durchaus ein vollwertiger Partner ist. »Ist es noch weit?«, wandte sich Fartuloon an den Jungen. »Nein, wir sind unmittelbar vor der Bio-Station.« Ich warf einen Blick durch die Frontscheibe des Gleiters. Karmina da Arthamin hielt am Beobachtungsschirm Ausschau nach der geheimnisvollen Station. Doch außer den mächtigen Baumkronen war nichts zu sehen. Der Himmel hatte sich inzwischen noch mehr verdüstert. Starke Windböen peitschten durch das Blattwerk, an einigen Stellen suchten Vögel Schutz vor dem nahenden Unwetter. »Gibt es hier Ansiedlungen deiner Artgenossen?«, fragte Akon-Akon, ohne Snayssol jedoch direkt anzuschauen. Dieser stieß ein ratloses Knurren aus. Jedenfalls übersetzte der Translator seine Äußerung nicht. »Du weißt es also nicht.« »Keiner von uns ist so weit in den westlichen Dschungel
vorgedrungen. Fleischfressende Pflanzen und gefährliche Sümpfe schirmen diesen Landstrich nahezu völlig ab. Schon möglich, dass es hier doch ein paar Transmitterstationen gibt, ich kann es aber nicht mit absoluter Sicherheit sagen.« »Warum sind wir nicht durch das Transmittersystem gegangen?«, fragte ich. »Soweit ich informiert bin, gibt es auf dem Planeten etwa vierzigtausend Transmitter. Wir hätten uns den gefährlichen Flug sparen können.« Akon-Akon dachte nach. »Das Transmittersystem ist mir nur in groben Zügen bekannt. Ich weiß natürlich, wie damit umzugehen ist – aber ich weiß nicht, ob die Triumviratsmitglieder etwas daran verändert haben…« »Sie schalten die Geräte an und ab«, sagte Snayssol. »Sie stellen sogar Kettenverbindungen her, sodass man durch eine Reihe synchron geschalteter Transmitter von einem Kontinent zum anderen gelangen kann. Aber ich glaube nicht, dass sie etwas daran verändert haben. Das könnten nur die…« Er zögerte. »… die Ahnen.« »Gab es Transmitterunfälle?« Snayssol runzelte die Stirn. Die spitzen Ohren standen in die Höhe. »Natürlich gab es Unfälle! Die Opfer der Schwarzen Tore leben in einer subplanetaren Station. Sie können niemals wieder in die Gemeinschaft der anderen zurückkehren. Sie sind dazu verdammt, ein unwürdiges Dasein zu fristen.« »Wie kam es zu diesen Unfällen?«, wollte ich wissen. »Ganz einfach. Funktioniert ein Schwarzes Tor nicht richtig, wird der zu transportierende Körper aber dennoch entstofflicht, kommt es zu körperlichen Missbildungen. Ich erinnere mich an einen besonderen Fall. Ein Loghane wurde zusammen mit einem Schetan entmaterialisiert…« Ich sah den Loghanen ratlos an. »Was ist das… ein Schetan?« »Ein Parasit. Ein kleines Tier, das in der Kanalisation von Abfällen lebt.«
»Was ist mit dem Loghanen und diesem Schetan passiert?«, fragte Karmina. »Die Körperatome der beiden Wesen vermischten sich während der Entstofflichung. Als sie aus dem Ankunftstor kamen, hatte der Loghane einen zweiten Kopf… einen Schetankopf! Es gibt noch viel schrecklichere Kreaturen. Ich habe sie selbst gesehen. Ich kenne sogar die Symboldaten des Schwarzen Tores, durch das man zu ihnen kommen kann.« »Das lassen wir lieber sein«, murmelte Fartuloon. »Mir reichen die normalen Grünpelze voll und ganz.« Plötzlich summte der Massetaster des Gleiters. »Die Bio-Station«, rief Akon-Akon aufgeregt. »Wir sind da.« Auf dem Bildschirm erschienen die Darstellungen von zwei kuppelförmigen Gebäuden, die unter dem Blätterdach des Dschungels verborgen lagen. »Ich versuche, die Schleuse per Funkimpuls zu öffnen.« Akon-Akon tippte eine Symbolkette in den Sender und wartete ein paar Augenblicke. Doch es rührte sich nichts. »Schade… Aber dort unten scheint tatsächlich nichts mehr zu funktionieren.« »Warum brennen wir nicht einfach eine Lichtung in den Dschungel?« Akon-Akon sah mich zuerst unentschlossen an, stimmte aber meinem Vorschlag zu. Ich drückte auf einen Knopf. An der Frontseite des Gleiters öffnete sich eine Klappe, die Mündung des Desintegrators fuhr aus. Auf einen weiteren Knopfdruck hin justierte ich die Waffe und feuerte. Ein breit gefächelter Strahl zuckte auf die Baumkronen herab. Laub, Äste, Stämme und Unterholz verwandelten sich blitzschnell in davonwehenden Feinstaub. Rasch waren die beiden Stahlkuppeln freigelegt. »Wir landen genau zwischen den Kuppeln!«, befahl Akon-Akon. Jede Kuppel war ungefähr zehn Meter hoch und erreichte etwa den gleichen Bodendurchmesser; Zugänge waren keine zu
entdecken. Genau zwischen den Gebäuden war aber Platz für einen Gleiter. Auf dem Boden zeichneten sich die Umrisse eines rechteckigen Schotts ab.
Vorry sprang mit einem Satz aus dem Gleiter, landete auf seinen vier kurzen Beinen. In dieser Stellung war der Tonnenkörper etwa einen dreiviertel Meter hoch und annähernd ebenso breit. Er schüttelte sich schnaufend. Es klang, als würde eine Maschine Dampf ablassen. Jetzt reckte der Magnetier die muskulösen Arme. Aus dem »Tonnenkragen« ragte ein breiter knochiger Schädel mit faustdicken Augenwülsten. Die Augen waren klein und gelb. Wenn Vorry hungrig war – und wann war er das einmal nicht? –, leuchteten sie besonders intensiv. Der pechschwarze Magnetier gehörte seit den Abenteuern im Dreißig-Planeten-Wall zu uns. Er war Metallfresser. Sein breiter Rachen verschlang nahezu alles, was irgendwie nach Eisen oder Stahl aussah. Witterte Vorry solches, war er kaum aufzuhalten. Aus unseren Gesprächen hatte er entnommen, dass das Schott ohne Gewalteinwirkung nicht zu öffnen war. »Lasst mich durch, Konzentratfresser«, grollte das tonnenförmige Wesen und zwängte sich an uns vorbei. »Es wird mir ein wahres Vergnügen sein, für euch das Tor zu knacken.« Ich blickte Akon-Akon fragend an. »Darf er?« Akon-Akon zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wenn er nicht zu lange dafür braucht…« »Das erledige ich als Vorspeise.« Vorry schwang den schweren Körper herum, fegte mit den Armen die Staubreste vom Schott und untersuchte kurz die Abmessungen. »Es geht doch nichts über einen fein gedeckten Tisch.« Fasziniert beobachteten wir ihn bei seinen Vorbereitungen. Vorry sammelte seine ganze Kraft, stemmte die vier Beine ein und fasste mit den Kiefern zu.
»Das schafft er niemals«, rief Snayssol, obwohl metallisches Knirschen zu hören war. »Das Tor besteht aus Stahl. Kein Lebewesen ist stark genug, um Stahl mit bloßen Händen zu bearbeiten.« Ich lächelte. »Abwarten.« Vorry verstärkte die Anstrengungen. Ein dumpfes Grollen kam aus seiner Kehle. Schließlich gab es einen Ruck, die Schotthälfte knickte in der Mitte ein. Aus der Verriegelung lösten sich zahlreiche Kleinteile. Abermals schnappten die Kiefer zu. Risse erschienen in der Oberfläche. »Er schafft es wirklich«, stellte Akon-Akon verblüfft fest. Vorry stemmte sich gegen die Metallmasse, es gab einen erneuten Ruck, die schwere Schotthälfte riss aus dem Rahmen. »Guten Appetit!«, schrie Ra begeistert. Vorry schien uns vergessen zu haben, machte sich daran, das Schott zu zerkleinern. Ich beugte mich über den Schacht. Es war stockdunkel. Doch seitlich waren in der Wand schmale Steigeisen zu erkennen. »Wenn einer leuchtet, können wir bequem runterklettern.« Fartuloon ging zum Gleiter und holte mehrere Stablampen. »Willst du uns nicht endlich verraten, was wir hier sollen? Du bist doch nicht zum Vergnügen hier.« »Ich kann nur vom Bio-Inspektor erfahren, was sich in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden ereignet hat. Bevor ich durch den Großtransmitter gehe, will ich über alles informiert sein. Ich muss zielstrebig vorgehen, sonst ist meine Mission gefährdet.« »Deine Mission?«, fragte ich. »Gebt euch mit dem zufrieden, was ich euch mitteile. Ihr würdet mich doch nicht verstehen. Und warum sollte ich euch beunruhigen? Es ist besser, ihr kennt die großen Zusammenhänge nicht.« Ich wusste, dass es sinnlos war, weiter zu fragen. »Ich steige
zuerst hinunter«, sagte ich, während Fartuloon den Lichtkegel der Stablampe auf die Schachtwand richtete. Vorry zerkleinerte genüsslich das Schott, wir kletterten hintereinander in die Tiefe. Ra und Karmina klemmten sich die Lampen in die Gürtelschlaufen, ihr Licht traf schräg auf die Wand. Wir erkannten jede Unebenheit, der Abstieg bereitete keine Schwierigkeiten. Die Luft war stickig und abgestanden. Irgendwo summte ein Aggregat. Ich glaubte sogar, den Geruch verschmorter Isolationen wahrnehmen zu können. »Hier ist lange niemand mehr gewesen.« »Es muss aber jemand hier sein«, rief Akon-Akon. »Warum hat er dann nicht auf deine Funksprüche reagiert?« »Vielleicht ist er tot?«, vermutete Ra lakonisch. Der Schacht war etwa fünfzig Meter tief. Als ich den Boden erreicht hatte, sah ich mich neugierig um. Fartuloon leuchtete den angrenzenden Raum mit der Lampe aus. Hinter einer transparenten Trennwand erhoben sich wuchtige Maschinenblöcke, in die von der Decke kommende, dicke Kabelstränge mündeten. Auf Kontrollpulten flackerten Lichtanzeigen. »Dort hinten steht ein Gleiter.« Ich hatte noch nie ein solches Modell gesehen. Die Spitze war abgeplattet, seitlich ragten kleine Stummelflügel heraus, am Heck erkannte ich merkwürdige Projektoren eines zusätzlich installierten Geräts. »Was ist das?« »Projektoren für einen Deflektorschirm«, antwortete Akon-Akon sofort, schien die fremdartige Technik genau zu kennen. Seit seiner Betäubung machte der Junge von Perpandron eine sonderbare Wandlung durch, als habe er Zugang zu bislang nicht zugänglichem oder blockiertem Wissen. »Wozu das?« Ich trat an den Gleiter. »Hatte der Besitzer dieses Fahrzeugs etwas zu verbergen?« »Die Versuchskreaturen durften nichts von seiner Anwesenheit ahnen.«
Ich kratzte mich am Kinn. Akon-Akons Bemerkungen waren nicht gerade dazu geeignet, das Rätselraten über die Bio-Station zu beenden. Dennoch hatte ich, unterstützt von Hinweisen des Logiksektors, eine gewisse Ahnung. »Da der Gleiter noch hier ist, kann sein Besitzer nicht weit sein. Vermutlich hat er die Station gar nicht verlassen.« »Das befürchte ich auch«, sagte Akon-Akon tonlos und führte uns durch einen Gang, der den Gleiterhangar mit den angrenzenden Räumen verband. Hier entdeckten wir Positroniken und andere Apparaturen. »Der Rechner sieht sehr leistungsstark aus«, sagte Fartuloon. »Dieses Gerät könnten wir in unserem Stützpunkt auf Kraumon gut gebrauchen.« Akon-Akon lächelte geheimnisvoll. »Du verstehst etwas von Positroniken, Bauchaufschneider. Ja, das ist eine besonders leistungsfähige Positronik in Kompaktbauweise. Obwohl sie kaum größer als eure Schiffspositronik ist, leistet sie etwa zehnmal so viel.« Der Bauchaufschneider pfiff anerkennend durch die Zähne. »Und zu welchem Zweck wurde sie installiert?« »Folgt mir in den Nebenraum. Das erspart mir langwierige Erklärungen.« Wir folgten dem Jungen bis zu einer Schiebetür, seitlich befand sich die Mulde eines Wärmeschlosses. »Kann man hier keine Beleuchtung einschalten?«, fragte ich. Akon-Akon schüttelte den Kopf. »Mit der Energieversorgung stimmt etwas nicht.« Er presste die Handfläche gegen den Wärmesensor. Doch die Tür blieb verschlossen. »Wir müssen sie aufbrechen. Erledigt das mit einem Kombistrahler! Aber seid vorsichtig! Die dahinter liegenden Einrichtungen dürfen nicht beschädigt werden.« Ich stellte den Kombistrahler auf Desintegratormodus, ließ den grünlichen Strahl über die Tür wandern und trat mit der
Stiefelspitze gegen das brüchig gewordene Metall. Ein schweres Stück löste sich und polterte nach innen. Fartuloon leuchtete in den dunklen Raum. Zunächst erblickten wir nur geschwungene Schaltpulte, mehrere Schalensessel und ein längliches Podest. »Leuchte doch mal dort rüber«, bat ich den Bauchaufschneider. Der Lichtkegel wanderte über den Boden und streifte kompliziert wirkende Apparaturen. Schließlich stoppte er auf dem Podest, dessen Oberseite durchsichtig war. »Das ist doch…«, stieß ich überrascht hervor. »In dem Apparat liegt ein Mann.«
Der Fremde war kein Arkonide. Seine Haut war samtbraun, die kurz geschnittenen Haare waren pechschwarz. Ein dünner Silberreif mit einem eingelassenen Edelstein umgab die hohe Stirn. Der hochgewachsene, völlig unbekleidete Körper ruhte vollständig in einer klaren, öligen Flüssigkeit. Die Hände waren seitlich an den Körper gepresst. Von den Schläfen führten Elektroden in den Boden des Behälters. »Wer ist das?«, wollte ich wissen. »Das ist der Bio-Inspektor von Kledzak-Mikhon.« Gedankenverloren öffnete Akon-Akon den durchsichtigen Deckel. Winzige Luftbläschen perlten durch die ölige Substanz und platzten an der Oberfläche. Ein merkwürdiger Geruch breitete sich aus. »Lebt er noch?« »Selbstverständlich.« »Also Tiefschlafkonservierung, nicht wahr?« »So könnte man es nennen. Doch die Art der körperlichen Konservierung, die hier angewandt wird, unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Methoden.« Akon-Akon tauchte die Rechte in die Flüssigkeit und berührte den Kristall. Die Sternsymbole auf den Handflächen leuchteten plötzlich auf. »Er heißt Gemmno Làs-Therin. Er war dabei, als akonische
Wissenschaftler die ersten Versuchskreaturen auf diesen Planeten brachten. Später verließ er im Rhythmus von hundert planetarischen Jahren regelmäßig die Station, um den Entwicklungsstand der Kreaturen zu verfolgen. Er notierte sämtliche Veränderungen, speicherte sie in dem Stirnreifkristall und der Positronik und leistete eine äußerst gewissenhafte Arbeit. Er kehrte immer wieder in die Bio-Station und den Konservierungsbehälter zurück. Die Liga der Wissenschaftler hätte keinen besseren Mann mit der Aufsicht über das Projekt ›Loghan‹ beauftragen können…« Snayssol hielt sich im Hintergrund. Ihm waren die verwirrenden Apparaturen sichtlich unheimlich. Aber dank des Translators bekam er jedes Wort unserer Unterhaltung mit. Als Akon-Akon den Namen des akonischen Projekts erwähnte, zuckte er zusammen. »Projekt Loghan. Hat das etwas mit unserem Volk zu tun?« Akon-Akon nahm die Hand von der Stirn des Konservierten. Ein verächtlicher Zug trat in sein Gesicht. »So ist es, Parasit… Deine Artgenossen haben sich in maßloser Selbstüberschätzung Loghanen genannt. Aber wie könnt ihr auch wissen, dass ihr künstlich geschaffene Kreaturen seid, denen Fortpflanzungsfähigkeit verliehen wurde?« Snayssol krümmte sich jammernd zusammen. »Nein… sagt, dass das nicht stimmt!« Ich berührte Akon-Akons Arm. »Stimmt das wirklich?« Der Junge drehte sich um, würdigte den Wimmernden mit keinem Blick. »Warum sollte ich euch anlügen? Die Grünpelze stammen aus der Retorte. Sie sind das Produkt eines Langzeitprojekts.« »Haben sie sich im Sinne ihrer Erzeuger entwickelt?« Fartuloon hatte das Ganze aufmerksam verfolgt. Akon-Akon zuckte mit den Schultern. »Das könnte uns Gemmno Làs-Therin vielleicht sagen. Aber ich befürchte, dass wir
zu spät gekommen sind. Ein Fehler in der Erweckungsautomatik hat ihn hier festgehalten. Er liegt schon seit vielen hundert Jahren im Behälter. Vielleicht auch länger.« Der Junge umrundete die Apparatur, betrachtete die Schaltpulte und winkte Fartuloon. »Leuchte mal hierher.« Im Lichtkegel erkannten wir zahlreiche Anzeigeinstrumente. Einige waren aktiviert, andere abgeschaltet. Die Sternsymbole auf den Innenflächen von Akon-Akons Händen leuchteten, als er sie auf die Oberseite eines Schaltpults legte. Die Haltung des Jungen war starr und unnatürlich. Er schloss die Augen und murmelte unverständliche Worte. Im Innern der Schaltanlage summte es. Die Digitalanzeigen anderer Schaltpulte veränderten sich. Plötzlich flammten Leuchtröhren an der Decke auf. Ihr helles Licht beleuchtete eine unwirkliche Szene. Akon-Akon murmelte weiter. »Was treibt er da?«, fragte Ra unruhig. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Bei seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten halte ich langsam alles für möglich.« Snayssol kauerte immer noch zusammengekrümmt am Boden und umklammerte mit den Händen die Fußgelenke. Sein Wimmern brach nicht ab, er schien sich nicht damit abfinden zu können, dass er im Grunde der Nachkomme künstlich erzeugter Kreaturen war. Sein ganzes Weltbild war zusammengebrochen. Plötzlich erklang ein quirlendes Saugen. Die ölige Flüssigkeit im Konservierungsbehälter wurde langsam abgesaugt. Wenig später lag der Körper des Bio-Inspektors frei da. Seitlich angebrachte Luftdüsen trockneten ihn, Greifarme massierten Arme und Beine. Die Metallplättchen lösten sich ruckhaft ab. Akon-Akon nahm die Hände von der Schaltanlage. Das geheimnisvolle Leuchten der Handflächen ließ nach. Schließlich öffnete er die Augen. »Er wird aufwachen. Sein langer Schlaf ist zu Ende.« »Kannst du technische Defekte durch Berührung beseitigen?« Akon-Akon lächelte überlegen. Die Tatsache, dass er bei seinen
Bemühungen erfolgreich gewesen war, schien sein ohnehin sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein noch mehr zu steigern. »Ich habe eine ausgefallene Schaltung überbrückt. Da genügend Energiereserven vorhanden sind, war das Ganze recht einfach.« Jetzt senkte sich eine mehrgliedrige Beatmungsapparatur von der Decke. Die Haube legte sich über Mund und Nase des Tiefschläfers, seitlich klappte eine Injektionsdüse herab. Es zischte, das Medikament drang in den Blutkreislauf des Bio-Inspektors. Ein Ächzen erklang – Gemmno Làs-Therin atmete wieder. »Unglaublich«, murmelte Fartuloon verblüfft. »Die Geräte arbeiten mit bemerkenswerter Perfektion. Keine arkonidische Tiefschlafanlage kann einen Schlafenden so schnell aufwecken. Hätte es den Fehler in der Anlage nicht gegeben, könnte von einem perfekten Modell gesprochen werden…« »Ich muss erkennen, dass nichts perfekt ist«, gestand Akon-Akon. »Aber man kann und muss nach Perfektion streben. Ich werde eines Tages perfekt sein. Das ist ein Teil meiner Mission.« Ich sah den Jungen nachdenklich an. Er erwähnte nur äußerst selten, dass er eine bestimmte Mission verfolgte. Wir waren ihm ausgeliefert. Solange er uns suggestiv beeinflussen konnte, mussten wir ihm folgen. Vielleicht änderte sich dieser Zustand, sobald wir mehr über seine Mission wussten. Gemmno Làs-Therin atmete jetzt regelmäßig. Das Gesicht zuckte, die Hände bewegten sich. »Er wird überrascht sein, uns hier vorzufinden«, murmelte Ra. »Gut möglich. Er stammt noch aus der Zeit des Befreiungskriegs.« Fartuloon stieß einen schrillen Pfiff aus. Plötzlich öffnete der Bio-Inspektor die Augen. »Kann er uns sehen?« Akon-Akon beugte sich über den Schweigenden, redete leise auf ihn ein. Gemmno Làs-Therin blinzelte im Licht. Die Lippen bewegten sich, doch er brachte keinen Laut hervor. Akon-Akon
schob die Arme unter den Körper des Bio-Inspektors, hob ihn langsam aus dem Behälter. »Braucht er Hilfe?«, fragte ich. »Hat er innere Schäden erlitten? Möglicherweise war die Schaltung…« »Daran liegt es nicht.« Der Junge hielt den bebenden Körper fest. »Ich kann mir seinen Zustand nur so erklären, dass er während des Konservierungsschlafs von furchtbaren Albträumen geplagt wurde.« »Das ist… ungewöhnlich.« »Nein. Die Anlage beruht auf einem ganz anderen Prinzip. Um den Körper über sehr lange Zeit zu konservieren und in bestimmten Abständen zu wecken, muss das Gehirn funktionsfähig sein. Die Belastung des Gehirns ist ständig gleich geblieben. Er hat also durchaus gemerkt, dass er nicht aufgeweckt wurde. Jahrtausende!« Ich wurde nachdenklich. Stimmte das, was Akon-Akon eben gesagt hatte, war der geheimnisvolle Bio-Inspektor durch das Martyrium eines endlosen Albtraums gegangen. Er wusste, dass er hier lag, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Das war wie lebendig begraben zu sein. Plötzlich bäumte sich der Körper auf. Akon-Akon wollte ihn festhalten, doch der Mann entglitt den Händen. »Helft mir doch!« Fartuloon und ich sprangen vor. Der Akone wälzte sich schreiend am Boden. Der Stirnring löste sich, der Kristall rollte unter die Instrumentenkonsole. Gemmno Làs-Therin schrie, als würde er grausam gefoltert. »Wenn ihm einer helfen kann, bist du es, Akon-Akon!« »Schafft ihn nach oben!«
Gemmno Làs-Therin kauerte am Boden. Sein Atem ging stoßweise, er senkte den Kopf. Obwohl der Himmel bewölkt war, bedeckte er die Augen mit den Händen. Anscheinend vertrug er
das Licht nicht. Welch eine Ironie des Schicksals, dachte ich. Dieser Mann war dabei, als die ersten Loghanen aus dem Labor entlassen wurden. Er hielt sich für etwas Besseres, doch jetzt windet er sich genauso entsetzt am Boden wie Snayssol. »Wir bringen ihn zur ISCHTAR.« Im gleichen Augenblick hob Gemmno Làs-Therin den Kopf. Langsam strich er sich über Gesicht und Oberkörper, hob prüfend die Hände vor die Augen. Offenbar wollte er sich davon überzeugen, dass er tatsächlich wach war und nicht mehr schlief. Nein, sagte der Extrasinn. Er weiß längst, dass er aufgeweckt wurde. Er spürt, dass eine unheimliche Veränderung mit ihm vor sich geht. Ich sah genauer hin. Plötzlich durchzuckte mich heißer Schrecken. Gemmno Làs-Therins jugendliche Haut überzog sich mit unzähligen Runzeln und Fältchen, verlor den geschmeidigen Glanz, der samtbraune Farbton wurde grau. Der Bio-Inspektor wollte aufstehen, doch seine Kraft reichte nicht. Er knickte in den Knien ein und stürzte schwer zu Boden. Fartuloon wollte ihm helfen, aber Akon-Akon drängte den Bauchaufschneider zur Seite. Wir verstanden nicht, was der Junge flüsterte, nahmen an, dass er dem Bio-Inspektor Mut zuredete. »Du hast ihn aufgeweckt«, wandte ich mich an ihn. »Also musst du ihm auch helfen können.« Er starrte mich wütend an. »Schweig, Arkonide… du hast nichts verstanden! Dieser Mann ist tausendmal mehr wert als jeder Einzelne von euch. Wenn er stirbt, ist niemand mehr da, der das Projekt ›Loghan‹ weiterverfolgen kann.« »Ist das wirklich so schlimm?« Akon-Akon knirschte mit den Zähnen. Ich erkannte, dass er nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. »Sei ehrlich. Seit dieser Mann den Fortgang der Entwicklung nicht mehr überwachen konnte, haben sich die Loghanen zu einem autonomen Volk entwickelt. Sie haben nichts
mehr mit den Laborkreaturen gemein, aus denen sie hervorgingen. Sie haben mehr als acht Jahrtausende eigenständiger Entwicklung hinter sich! Ist es nicht an der Zeit, dass sie selbst über ihre Zukunft entscheiden dürfen?« Bevor Akon-Akon etwas darauf entgegnen konnte, schrillte die Alarmglocke des Gleiters. Auf dem Pult blinkte ein Licht. »Notruf von der ISCHTAR!« Karmina sprang durch das offen stehende Luk ins Fahrzeug, schlug auf die Aktivierungstaste und meldete sich. »Angriff durch zahlreiche Raketen«, ertönte die Stimme des Waffenoffiziers. Der Lautsprecher übertrug sogar das Knistern und Dröhnen aus der ISCHTAR. »Lass mich ran«, stieß ich aufgeregt hervor und drängte die Sonnenträgerin zur Seite. »Hier Atlan Genauer Lagebericht, Khylrun.« Im Lautsprecher knackte es. Energetische Störungen überlagerten die Sendefrequenz. Mehrfach kam das Aufheulen der schiffseigenen Umformerbänke durch. Das Raumschiff stand unter schwerstem Beschuss! Akon-Akon und Fartuloon wuchteten den Körper des Bio-Inspektors in den Gleiter. Vorry, der die letzten Brocken des Schotts verspeiste, folgte den Männern mit einem Satz. Plötzlich ließen die Störgeräusche nach. »Die Grünpelze starten eine Angriffswelle nach der anderen«, erklang Khylruns erregte Stimme. »Lange können wir uns nicht mehr halten. Der Gegner verfügt offenbar über nahezu unerschöpfliche Reserven. Beim letzten Angriff wurden die Schutzschirme mit über neunzig Prozent belastet…« Die Störgeräusche kamen wieder. Die Stimme des Arkoniden wurde leiser. Ich sah Fartuloon bedeutungsvoll an. »Sieht schlecht für die ISCHTAR aus, nicht wahr? Ortet die Startbasen… vernichtet die Anlagen!« »Das nützt nicht viel. Die Startbasen sind über den ganzen
Planeten verteilt. Jede Angriffswelle kommt von einem anderen Ort dieser verdammten Welt. Selbst wenn wir die Hälfte zerstören, bleiben noch genug übrig, um uns zu vernichten. Die Schutzschirme können jeden Augenblick zusammenbrechen…« Akon-Akon war aufgesprungen. »Sofort starten! Nehmt Kurs auf den Transmitter, dessen Koordinaten ich euch durchgebe…« Akon-Akon schnurrte die Daten herunter, ließ sich das Bestätigungszeichen geben und schaltete den Sender ab. Er sah mich triumphierend an. »Diesmal geht’s den Grünpelzen an den Kragen.« »Schaffen wir es überhaupt, heil durch das Inferno zu kommen?« Zwei Tontas Rückflug standen uns bevor. »Ihr müsst es schaffen«, stieß der Junge aufgeregt hervor. »Ich vertraue auf eure Fähigkeiten. Der Großtransmitter kann unsere letzte Rettung sein.«
Die ISCHTAR schwebte tausend Meter über der riesigen kuppelförmigen Transmitterhalle von Poal-To. Die Besatzung hatte erkannt, dass der feindliche Beschuss nachließ, je tiefer sie über der Stadt schwebten. Anscheinend wollten die Loghanen verhindern, dass ihre Stadt zu stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, griffen aber nach einer Pause dennoch an. Fünf Raketen detonierten genau im Scheitelpunkt des Schutzschirms. Die ISCHTAR verschwand in einer Feuerlohe. Überladungsblitze zuckten nach allen Seiten davon, weitere Raketen jagten heran, kamen aus zwei Richtungen. Das Kugelraumschiff schwebte wie eine zweite Sonne über der Stadt. Plötzlich veränderte sich die Struktur des Schutzschirms. Ein Netzwerk durchschlagender Blitze traf die Kugelzelle. An einigen Stellen entstanden Schmelzlöcher. Ich befürchtete, dass die ISCHTAR jeden Augenblick explodieren konnte. »Gebt Warnschüsse auf die Stadt ab!«, schrie ich in das
Mikrofon, doch es kam keine Antwort. »Sie verstehen deinen Funkspruch nicht«, sagte Akon-Akon leise. »Ich habe meine eigenen Pläne.« »Aber sie werden…« »Nein!« Der Junge schüttelte den Kopf. »Solange die Grünpelze auf die ISCHTAR feuern, sind sie abgelenkt. Etwas Besseres können wir uns gar nicht wünschen. Wir landen direkt vor der Transmitterhalle.« Ich wollte gegen den Befehl aufbegehren. Doch die suggestiven Impulse belehrten mich abermals, dass jeder Widerstand zwecklos war. Ich riss den Gleiter aus der Fahrtrichtung, wir jagten dicht über die Hochbauten von Poal-To. Ein Seitenblick zeigte mir, dass der Bio-Inspektor fassungslos am Fenster kauerte. Er konnte anscheinend nicht begreifen, dass die Loghanen zu solch kämpferischen Leistungen fähig waren. Er blieb auch stumm, als Fartuloon sich an ihn wandte, weigerte sich, den tragbaren Translator Snayssols zu verwenden, wollte in Ruhe gelassen werden. Gemmno Làs-Therin wirkte nun wie ein Achtzig- oder gar Hundertjähriger. Die Mundwinkel hingen schlaff herunter. Dunkle Tränensäcke wölbten sich unter den Augen, die Haare waren ihm größtenteils ausgefallen. Er zitterte. Speichel tropfte ihm aus dem Mund. Die Zähne hatte er kurz zuvor verloren… »Du darfst sie nicht zum Durchhalten zwingen!«, schrie ich den Jungen an. Wir waren noch fünftausend Meter von dem Raumschiff entfernt. Die ISCHTAR stand vor der Vernichtung. Wir sahen in aller Deutlichkeit, dass bereits Teile der Kugelzelle glühten. »Tut mir leid«, entgegnete Akon-Akon ungerührt. »Wir müssen heil zur Transmitterstation durchkommen. Alles andere ist von zweitrangiger Bedeutung.« Ich wollte zornig aufbrausen. Doch ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, hatte jetzt alle Hände voll zu tun, um den Gleiter
sicher durch das Inferno zu steuern. Während mehrere tausend Meter über uns eine Rakete nach der anderen explodierte, rasten wir auf die Kuppel zu. Das Aufblitzen der Explosionen erfolgte in immer kürzeren Abständen. Funkenregen ging auf die Stadt nieder. Ein unbeschreibliches Energiegewitter tobte, aus vielen Gebäuden quoll Rauch, Flammen loderten. Ich hielt genau auf die Kuppel des Großtransmitters zu. Je schneller wir dort ankamen, desto eher würde Akon-Akon die ISCHTAR freigeben. »Das Tor ist verschlossen!«, schrie ich. Weitere Detonationen übertönten alles andere. Noch knapp achthundert Meter. Akon-Akon strahlte einen Funkimpuls ab. Im gleichen Augenblick schoben sich die Torhälften auseinander. Ich erkannte zahlreiche Loghanen, die nach ihren Waffen griffen. Mehrere Kleintransmitter waren aktiviert. »Schnapp dir einen Strahler, Fartuloon. Ich fürchte, sie haben etwas gegen unseren Besuch.« Ich steuerte den Gleiter durch das Tor und bremste mit voller Kraft ab. Das seitliche Luk glitt auf. Draußen erkannte ich mehrere Loghanen, die in Stellung gingen. Sie trugen dunkle Kreuzgurte, einer einen Funkhelm. Er stieß bellende Laute aus. Fartuloon reagierte geistesgegenwärtig. Halb aus der Hocke feuerte er. Der Glutstrahl fauchte und traf mehrere Loghanen gleichzeitig. Verblüfftes Schreien gellte durch den mächtigen Kuppelbau. »Das hat gewirkt.« Akon-Akon, Ra, Vorry und ich sprangen ebenfalls aus dem Gleiter, jeder eine schussbereite Waffe in der Hand. Nur Karmina, Snayssol und der kraftlose Bio-Inspektor blieben im Schutz des Gleiters zurück, der nun von einer Prallfeldblase umhüllt wurde. »Sie schicken Nachschub durch die Schwarzen Tore«, warnte Snayssol. Das Leuchten der kleinen Transmitter spiegelte sich an den Stahlwänden. Ihr Energiebogen hatte eine helle, weißliche
Färbung, stand auf Empfang. Übergangslos erschienen fünfzig schwer bewaffnete Loghanen. Der Durchgang erfolgte so rasch hintereinander, dass es fast so wirkte, als würden sie alle auf einmal rematerialisieren. Zerstör die Schalteinheit der Transmitter, riet der Extrasinn. Sonst wimmelt es hier bald von Angreifern. Ich zögerte keinen Augenblick. Das Transportfeld eines Transmitters flackerte schon wieder. Ich hob den Kombistrahler, visierte die Schaltpulte an und drückte ab. Es gab einen Schlag, als der Thermostrahl das Steuerzentrum traf. Eine heftige Detonation zerriss den Boden. Überschlagblitze verschlangen zahlreiche Angreifer. Ich sah nur undeutlich Gestalten durch Flammen wanken, ehe mich die Druckwelle zu Boden schleuderte. Dort, wo eben noch ein funktionierender Kleintransmitter gestanden hatte, gähnte jetzt ein schwarzes Loch. Fartuloons Schrei ließ mich aufspringen. Unmittelbar hinter uns hielten drei Loghanen kurzläufige Waffen in den Händen. »Verschwindet!« Sie verstanden mich nicht. Anscheinend hielten sie meinen Ruf für einen Kampfschrei, einer schoss auf mich. Der Thermostrahl fauchte über meine rechte Schulter. Ich spürte ein heißes Brennen auf der Wange, reagierte augenblicklich. Die Angreifer vergingen in der Glut meines Kombistrahlers. Ich empfand dabei weder Triumph noch Befriedigung, wusste nur, dass die armen Kerle von einigen fanatischen Loghanen gegen uns aufgehetzt wurden. Sie waren jetzt keinen vernünftigen Argumenten mehr zugänglich. Wollten wir überleben, mussten wir uns mit allen Mitteln verteidigen. »Dort drüben sind noch mehr«, rief Ra, der unmittelbar vor dem Gleiter niederkauerte. »Nicht schießen«, rief Snayssol. »Sie fliehen nach draußen. Schließt das Tor. Dann können sie euch nicht mehr angreifen.« Ich drehte mich um. Snayssol hatte recht. Seine Artgenossen schienen erkannt zu haben, dass unsere Waffen mehr leisteten als
ihre Thermostrahler. In ungeordneter Flucht stürmten sie aus der Transmitterhalle. Die Prallfeldblase erlosch, Akon-Akon kroch in den Gleiter und strahlte die Funkimpulse zum Schließen des Tores ab. Wenig später rastete es ein. Augenblicklich verstummte der mörderische Kampflärm. Die Detonationen der Raketen schienen weit entfernt zu sein. Im Schutz der Kuppel hörte sich das Dröhnen wie das Grollen eines fernen Gewitters an. Ich wusste jedoch, dass wir längst nicht außer Gefahr waren. »Lass mich ans Funkgerät, Akon-Akon. Die ISCHTAR muss augenblicklich aus der Gefahrenzone verschwinden.« »Das wird deine Leute auch nicht mehr retten.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »Ich wollte es dir vorhin nicht sagen. Du neigst zu unkontrollierbaren Reaktionen, Arkonide. Deine Besatzung hat keine Chance mehr. Egal, in welche Richtung das Schiff fliegt. Die Raketen werden es einholen…« Ich hätte den Jungen niederschießen können. Meine Wut war grenzenlos. Er hatte uns so lange im Ungewissen gelassen, bis er die Transmitterhalle sicher erreicht hatte. Trotzdem beherrschte ich mich. Als Suggestor hätte er ohnehin jeden Angriff auf seine Person rechtzeitig abgeblockt. »Das Schiff muss in den Weltraum starten.« »Gib ihnen den Befehl.« In seinen Augen war ein kaltes Funkeln. »Aber ich fürchte, sie schaffen es nicht mehr.« Gemmno Làs-Therin lag röchelnd am Boden. Karmina wollte ihm helfen, doch der Akone reagierte nicht auf ihre Berührung. Ich wusste, dass der Unglückliche den Tag nicht überleben würde. Der Alterungsprozess verlief so schnell, dass wir den Verfall in erschreckender Deutlichkeit verfolgen konnten. Hastig stellte ich die Verbindung zur ISCHTAR her. »Meldet euch! Antwortet doch. Hier spricht Atlan. Startet sofort in den Weltraum. Kümmert euch nicht um uns. Wir sind hier vorläufig in Sicherheit.« Die Antwort ließ auf sich warten. Plötzlich spürte ich hinter mir
eine Bewegung, erkannte Snayssol, der den vergeblichen Funkspruch mitbekommen hatte. »Vielleicht kann ich dir helfen«, klang es aus dem Translator. »Ich danke dir«, erwiderte ich mit schwachem Lächeln. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, was du für meine Leute tun könntest. Die Lage an Bord ist aussichtslos. Ich fürchte, dass inzwischen bereits viele tot sind. Die Schutzschirme sind teilweise zusammengebrochen…« »Ich weiß, wer den Angriff auf die ISCHTAR leitet.« »Ja?« »Das Triumvirat gibt die Anweisungen. Die Raketen können nur durch den ausdrücklichen Befehl der Obmänner aktiviert und gestartet werden…« Ich verstand. Wurden die Vertreter des Triumvirats ausgeschaltet, würde das gnadenlose Bombardement aufhören. Aber der schwache Punkt in Snayssols Überlegung… »Wir haben keine Zeit mehr, um uns zum Triumvirat durchzuschlagen.« »Brauchen wir auch nicht. Ich habe mit den Kerlen noch eine persönliche Rechnung zu begleichen. Lass mich nur machen. Ich verspreche euch, dass es klappt.« Akon-Akon war misstrauisch, befürchtete irgendeine List des Loghanen. »Ich hätte dich längst desintegrieren sollen, Kreatur.« Snayssol ignorierte den Jungen, wollte sich von dem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen lassen. »Ihr habt mir das Leben gerettet. Deshalb stehe ich in eurer Schuld. Wollt ihr, dass ich euch helfe?« Snayssol sah mich erwartungsvoll an. »Welchen Plan hast du?« Er verzog den breiten Mund. »Ihr erinnert euch an meine Geschichte über die Opfer der Schwarzen Tore?« Ich nickte. »Ja – aber fass dich kurz. Viel Zeit bleibt der ISCHTAR nicht mehr.« »Ich kenne den Transmitteranschluss der Station, in der die Missgestalteten Zuflucht suchten. Sie lauern nur darauf, diese zu
verlassen, um sich zu rächen… Und ich kenne den Kode einer Gegenstation im Regierungspalast.« Langsam dämmerte es mir. Snayssols Plan war einfach, aber genial. »Du willst die Kreaturen durch den Transmitter locken und sie in den Regierungspalast einschleusen?« »Das schafft der Grünpelz nie«, höhnte Akon-Akon. »Die Programmierung einer Transmitterkette ist viel zu kompliziert.« Von draußen erklang das gedämpfte Wummern der Detonationen. Ich ballte die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Fang endlich an.« Er ist ein Erbe, wisperte der Extrasinn. Er hat sein ganzes Leben die Transmitter benutzt. Er weiß genau, was er tut. Hier dreht es sich nicht um das Verständnis der Technologie, sondern um die Anwendung! Fasziniert folgte ich dem Treiben. Der Loghane programmierte zwei der Kleintransmitter. Das erste Gerät schaltete er auf Empfang, tippte den Symbolkode der subplanetarischen Station in die Tastatur. Nachdem das geschehen war, schaltete er den zweiten Transmitter synchron zum ersten. Erst dann gab er den Sendekode zum Regierungspalast ein. »In diesem Augenblick verlassen die missgestalteten Rebellen das Versteck«, stieß er hervor. »Die Zeit der Gewaltherrscher ist endgültig vorbei!«
8. Hemmar Ta-Khalloup: Jahre der Krise, Betrachtungen zum beginnenden 20. Jahrtausend; Arkon I, Kristallpalast, Archiv der Hallen der Geschichte, 19.035 da Ark Das grundlegende Streben der meisten Wesen richtet sich auf das Erlangen von Sicherheit und Ruhe, eine illusionäre Geborgenheit, die gerne als »Frieden« bezeichnet wird, letztlich aber die Trägheit stagnierender Entwicklung in sich birgt. Der Ruf nach diesem »Frieden« birgt deshalb schon die Saat neuer Gewalt und neuen Aufruhrs in sich, weil nichts auf Dauer unerträglicher zu wirken scheint als ruhige Sicherheit, deren Enge und Langeweile anscheinend ebenso tödlich sind wie jede Form von Extremen. Die empirische Forschung zeigt, dass Leben nur in der Harmonie sich selbst einpendelnder Regelkreise existiert, bei denen das Soll eine imaginäre Achse darstellt, die zwar gestreift, niemals aber permanent erreicht werden darf – wäre dieses Erreichen doch identisch mit Stillstand und Tod. Mag sein, dass es diese grundsätzliche Polarisierung des Seins ist, die für Leben an sich steht und die Evolution vorantreibt. In diesem Sinne hätte auch jede Auslenkung des Pendels ihre Berechtigung, da mit der Auseinandersetzung der antipodischen Elemente innovative Impulse zwingend verbunden sind und den Fortbestand des Lebens erklären. Die große Gefahr einer solchen Polarisierung offenbart sich allerdings dann, wenn die Selbstregelung derart aus dem Gleichgewicht gebracht wird, dass einer der Pole totale Oberhand gewinnt…
Tamoyl und Rassafuyl »Sie werden untergehen.« Rassafuyl keuchte. »Ihr Raumschiff wird zerplatzen wie eine Sternschnuppe am Himmel. Das ist der
Triumph meines Lebens. Ich bin stärker als die Ahnen.« Das Gelächter gellte irre durch den Konferenzsaal des Regierungspalastes. Schaum stand auf den breiten Lippen, der Blick wanderte unruhig von einem Bildschirm zum anderen, Hände verkrallten sich im verzierten Kreuzgurt. Rassafuyl merkte nicht, dass die Fingernägel tiefe Kratzspuren durch den seidigen Pelz zogen. Das Kugelraumschiff schwebte über Poal-To. Nach der Explosion der achtundvierzigsten Raketenstaffel schwächte sich das Wabern des Energieschirms abrupt ab. Rassafuyl kannte zwar weder die technischen Daten noch die Kapazität eines solchen Schutzfelds, doch er wusste instinktiv, dass schwerer Dauerbeschuss zum Zusammenbruch führen würde. »Ganz Kledzak-Mikhon wird mich als Retter feiern. Von heute an gibt es kein Triumvirat mehr. Ich herrsche allein und uneingeschränkt über die Loghanen. Wie gefällt dir das, alter Mann?« Rassafuyl warf einen verächtlichen Blick auf den Alten, der zusammengekrümmt im Sessel kauerte. »Antworte, wenn ich dich etwas frage!« Seit sich Rassafuyl seines Sieges über die Ahnen sicher war, verzichtete er auf alle Höflichkeitsfloskeln. Es machte ihm sogar Spaß, den Alten zu demütigen. »Das kann nicht gut gehen. Die Ahnen haben uns bis jetzt verschont aber wenn sie ihre furchtbaren Waffen einsetzen, wird unsere Zivilisation im Feuersturm untergehen.« Rassafuyl lachte gellend auf, war sich seiner Sache völlig sicher. »Schwächling. Du wirst die letzten Raketenstaffeln starten. Sei mir dankbar, dass ich dir diese Gunst erweise. Du sollst deine letzten Atemzüge nicht als Feigling, sondern als Held verbringen. In diesem Bewusstsein stirbt es sich leichter.« Er lachte weiter, schob den Alten bis dicht vor die Programmpulte unter den Bildschirmen. Die Aktivierungstasten der Funkfernbedienung der Abschussrampen leuchteten. Tamoyl
sackte zusammen, der Greisenkörper hielt der Anspannung nicht mehr stand. Er kam sich als Verräter am eigenen Volk vor. Er wusste, dass Rassafuyl nicht mehr bei Verstand war. »Das… darfst du… nicht von mir verlangen. Ich kann es nicht.« Rassafuyl stieß den Loghanen mit ungestümer Wucht gegen die Konsole. Die Anzeigen flackerten. Ein Griff in die Gürteltasche – die Mündung des gefährlichen Druckluftnadlers zeigte genau auf Tamoyls Kopf. »Tu, was ich dir befohlen habe – oder ich drücke ab!« Der Alte atmete tief durch, der hagere Körper straffte sich langsam, strömte nun eine bemerkenswerte Ruhe und Gelassenheit aus. Er hob den Kopf und blickte Rassafuyl fest an. Der Blick verriet die Unbeugsamkeit eines Mannes, der bisher als Feigling gehandelt, sich aber im entscheidenden Augenblick auf seine Verantwortung besonnen hatte. »Ich töte dich, Tamoyl.« »Drück ab, Wahnsinniger. Der Tod kann nicht schlimmer als das Leben unter deiner Herrschaft sein. Ich habe keine Angst mehr, weil ich weiß, dass dich die Ahnen auslöschen werden.« Rassafuyl knirschte mit den Zähnen. Der Widerstand des Alten verblüffte ihn, er hatte nicht mehr damit gerechnet. Langsam krümmte sich sein Zeigefinger. Plötzlich ertönte draußen auf dem Gang Lärm. Das Getrappel schwerer Polizeistiefel dröhnte in den Saal. »Das ist erst der Anfang«, flüsterte Tamoyl. »Dein Untergang ist längst beschlossene Sache.« Das Fauchen von Thermostrahlern war nicht zu überhören. Rassafuyl stürzte mit gezogener Waffe zur Tür. Im gleichen Augenblick schwangen die Türhälften auseinander. Zwei Polizisten taumelten in den Saal, einer hielt einen Thermostrahler in der Hand, der andere war unbewaffnet. Als er auf den Boden stürzte, war er bereits tot. Schreckliche Verletzungen bedeckten den Körper. Der andere konnte nur noch stammeln.
»Was ist passiert?«, schrie Rassafuyl unbeherrscht, packte den Loghane und riss ihn unsanft hoch. »Rede, Kerl – ich will wissen, was dort draußen los ist.« Der Polizist wimmerte und stieß wirres Zeug hervor, der Nacken war blutverkrustet. Es sah aus, als hätte ihn die Pranke eines wilden Tieres gestreift. Der Obmann erkannte, dass er von diesem Loghanen nichts erfahren würde. Der Mann war von Sinnen vor Angst. Hastig ließ er ihn los und lief nach draußen. Mehrere Polizisten, die der Palastgarde angehörten, stürmten im Eiltempo vorbei, beachteten den Obmann überhaupt nicht. Rassafuyl blickte sich verstört um, konnte sich keinen Reim auf das Geschehen machen. Ob die Ahnen vielleicht einen Stoßtrupp in den Regierungspalast geschickt hatten? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Das hätte er von den vorgeschobenen Posten sofort erfahren. Auch wäre ihm nicht entgangen, hätte ein Beiboot das Raumschiff verlassen. Irgendwo qualmte ein Schwelbrand. Rassafuyl warf einen Blick nach draußen. Sechs Meter unter der Fensterreihe erstreckte sich ein gepflegter Zierpark. Blühende Büsche begrenzten die Pfade, Springbrunnen lockerten das Gelände auf. Die ehemals sauber gestutzten Büsche waren jetzt zerfetzt, als hätte ein Morgo-Morgon gewütet. Rassafuyl starrte angestrengt nach draußen, konnte aber nichts erkennen. Irgendwo schrien mehrere Loghanen, als würden sie bei lebendigem Leib zerrissen werden. Rassafuyl bekam entsetzliche Angst, fühlte, wie sich die Nackenhaare aufstellten. Er zögerte einen Augenblick. Sollte er in den Konferenzsaal zurückkehren, um den Beschuss auf das große Raumschiff fortzusetzen? Oder sollte er sich in Sicherheit bringen? Er entschied sich für die Flucht. Der Treppenschacht war mit zerfetzten Kreuzgurten, Waffen und anderen persönlichen Dingen bedeckt, die einmal den Polizisten und Gardisten gehört hatten. In Nischen stieß Rassafuyl auf sterbende Loghanen. Von ihnen
würde er nichts erfahren, sie waren genauso unfähig zum Sprechen wie die Polizisten, die in den Saal gestürzt waren. Ich muss unbedingt zum Transmitter durchkommen, überlegte er. Vielleicht kann ich ungehindert eine Raketenbasis erreichen. Von dort setze ich den Beschuss des Raumschiffs fort. Ein eigenartiger Geruch erfüllte den Treppenschacht. Rassafuyl blähte die Nasenflügel. Der Gestank erinnerte an den Schweiß wilder Tiere, doch er konnte sich die Kreatur nicht vorstellen, die einen solchen Geruch verströmte. Er ging langsam tiefer. Noch zehn Meter, und er würde vor dem Eingang zum Transmittersaal stehen. Die Beleuchtung war ausgefallen. Anscheinend hatte ein Thermostrahl die Kabelstränge getroffen. Der Geruch verschmorter Isolierungen ließ darauf schließen. Die Tür zum Schwarzen Tor steht offen, schoss ihm durch den Kopf. Er wusste, dass nur Obmänner dort Zugang hatten. Kein Polizist hätte es jemals gewagt, in den Raum einzudringen. Da Kenyol tot und Tamoyl noch im Konferenzsaal war, konnten sich hier unten nur Fremde Einlass verschafft haben. Rassafuyl presste sich eng an die Wand. Sein Atem ging kurz und stoßweise. Er hob den Druckluftnadler. Bei der geringsten Kleinigkeit würde er schießen. Er hatte einen Zustand erreicht, in dem er nicht mehr klar denken konnte. Er schwang sich herum und sprang mit einem Satz in den Transmitterraum, atmete verblüfft auf, als er den leuchtenden Energiebogen erblickte. Das Schwarze Tor war eingeschaltet, der helle Torbogen die einzige Beleuchtung. Doch wer hatte es programmiert? Plötzlich ging ein entnervendes Röcheln durch den Raum, gefolgt vom Schleifen schwerer Körper. Es hörte sich an, als würden Schuppenglieder und hornige Krallen über den Bodenbelag schrammen. Rassafuyl stöhnte auf, die Hände zitterten. Er spürte das heftige Pochen des Herzens. »Wer seid ihr?« Das Röcheln steigerte sich zu einem grauenvollen Heulen.
»Ihr… seid keine Loghanen! Ihr seid Ungeheuer!« Langsam ging Rassafuyl rückwärts, jetzt den aktivierten Transmitter im Rücken. Er konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Das Ganze ging über seine Vorstellungskraft. Plötzlich erblickte er die phosphoreszierenden Lichter. Sie wippten in unregelmäßigen Abständen auf und nieder. Rassafuyl wusste sofort, was die Lichter waren. Augen, dachte er entsetzt. Glühende Augen starren mich an! Eine Kreatur verließ die Schatten. Das Leuchten des Transmitterbogens reichte aus, um dem Loghanen in voller Deutlichkeit vor Augen zu halten, was da auf ihn zukam. Die missgestalteten Opfer der Schwarzen Tore krochen, hüpften und wanden sich auf ihn zu. Eins sah schrecklicher als das andere aus. Manche hatten nur faustgroße Köpfe, andere zwei. Kein einziges Wesen glich dem anderen. Das Einzige, was sie miteinander gemein hatten, war ihr Schicksal: Loghanen, die durch den gnadenlosen Befehl defekte Transmitter verwendet hatten. Als ihre Körper falsch zusammengefügt wurden, waren sie zu einem unwürdigen Leben in einer unbekannten Transmitterstation verdammt worden. Sie wussten nicht, wer den Transmitter eingeschaltet hatte. Sie fragten auch nicht danach, denn sie dachten jetzt nur an Rache und Vergeltung für die erlittenen Schmerzen und die unbeschreibliche Schmach. Ein missgestalteter Loghane, der sechs Armpaare und einen zierlichen zweiten Körper am Unterleib hatte, kroch hastig näher. Beim Transmitterunfall hatten sich die Körperatome mit denen eines Artgenossen verbunden. Beide waren nicht gestorben, sondern zum Weiterleben verdammt. »Rassafuyl!«, dröhnte es mehrstimmig durch den Raum. »Der Obmann?« »Ja… Obmann Rassafuyl.« Rassafuyl drehte sich erschüttert um, konnte den Anblick der Missgestalteten nicht länger ertragen. Er überwand die letzten
Meter zum rettenden Transmitter. Egal, wo ich rauskomme, pochte es in seinen Gedanken. Hauptsache, ich entgehe diesen schrecklichen Kreaturen. Rassafuyl sprang sofort in das schwarze Transmitterfeld. Als er statt der erhofften Entmaterialisation einen schmetternden Schlag verspürte, wusste er sofort, dass er niemals aus diesem Raum entkommen konnte. Der Transmitter stand noch auf Empfang, Rassafuyl hatte in der Aufregung vergessen, auf Senden umzuschalten. Jetzt wusste er, wie die Kreaturen in den Regierungspalast gekommen waren. Jemand hatte sie durch den Transmitter eingeschleust. Rassafuyl lag schmerzgepeinigt am Boden. Die Abstoßwirkung des schwarzen Empfangsfeldes hatte ihn gelähmt, die Augen starrten hilflos zum weißen Energiebogen; er konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen, die starren Finger umklammerten den Druckluftnadler. Aber er sah sich außerstande, den Abzug zu betätigen. Plötzlich schoben sich die schrecklichen Gesichter in Rassafuyls Blickfeld. Die Augen der unglücklichen Ausgestoßenen verrieten Wut, Enttäuschung und Schmerz. Als Missgestaltete, die einer apokalyptischen Vision glichen, hatten sie keine Chance, jemals wieder in die loghanische Gesellschaft zurückzukehren. Rassafuyl wollte schreien, doch kein einziger Laut verließ die Kehle. Er sah bei vollem Bewusstsein, wie sich die schleimigen, teilweise beschuppten Klauen herabsenkten. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er starb als Verräter und Feigling. Die Geschichte von Kledzak-Mikhon würde über ihn hinweggehen. Doch die Missgestalteten würden der Bevölkerung zeigen, dass sie sich nicht ungestraft quälen ließen. Vielleicht konnten sie die Geschicke des Planeten ändern – vielleicht würde es von nun an keine Opfer der Schwarzen Tore mehr geben. Tierische Schreie gellten durch den Transmitterraum. Nach der vollzogenen Rache kam die Ernüchterung. Wer von diesen
bedauernswerten Wesen noch bei Verstand war, wusste, dass ihr dorniger Weg noch lange nicht zu Ende war…
Akon-Akon hielt den sterbenden Bio-Inspektor fest. Der Junge war erschüttert, wusste, dass seine Kräfte nicht ausreichten, das Leben des Mannes zu retten. Er wechselte ein paar Worte mit ihm, sprach Altarkonidisch… Akonisch. Gemmno Làs-Therin war jetzt ein runzliger Greis, der keine Kraft mehr hatte. Die Haut umspannte wie durchsichtiges Pergament den Schädel. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Tränen liefen über die runzligen Wangen. Der Mann konnte nur noch stammeln. Wir erfuhren, dass Gemmno Làs-Therin das Projekt »Loghan« für gescheitert hielt. Die grünpelzigen Wesen hatten sich in einer Art weiterentwickelt, die den akonischen Interessen zuwiderlief. Die einst künstlich gezüchteten Versuchskreaturen waren jetzt ein eigenständiges Volk und würden sich nur gewaltsam zu Sklavendiensten pressen lassen. Außerdem war inzwischen so viel Zeit vergangen, dass Gemmno Làs-Therin nicht mehr wusste, ob sein Volk überhaupt noch etwas von diesem Projekt wusste. Er starb mit der schrecklichen Gewissheit, dass sein Leben verpfuscht war. Akon-Akon sagte wieder etwas zu dem Bio-Inspektor. Doch er sprach bereits zu einem Toten. Die dürren Greisenarme des unbeschreiblich rasch Gealterten hingen leblos herab. »Du kannst nichts mehr für ihn tun«, sagte ich kopfschüttelnd. Akon-Akon senkte den Kopf, wollte nicht, dass wir seine Tränen sahen. »Du hast getan, was in deiner Macht stand.« Die großen, leuchtenden Augen starrten mich wild an. »Es war aber nicht genug!« »Lass uns gehen«, sagte Fartuloon. »Das Schießen wird schwächer. Ich glaube, Snayssols Plan hatte Erfolg.« »Das interessiert mich nicht mehr«, stieß Akon-Akon hervor.
»Ich werde die Grünpelze bestrafen. Gemmno Làs-Therin verriet mir die Koordinaten eines Arsenals.« »Nein!«, rief ich entsetzt. »Es sind schon zu viele gestorben!« Akon-Akon ließ niemanden an sich heran, streckte uns die Handflächen entgegen und zeigte die leuchtenden Sternsymbole. Je nachdem, wie das Licht darauf fiel, desto intensiver leuchteten sie auf. »Zurück! Keinen Schritt weiter, oder ihr bekommt meinen Zorn zu spüren.« Augenblicklich kehrten die suggestiven Impulse in unsere Gedanken zurück. Das bohrende Zerren bestätigte meine Befürchtungen: Akon-Akon wollte uns eine weitere Kostprobe seiner Macht geben. Die Suggestivimpulse schirmten den Jungen perfekt ab. Niemand konnte ihn jetzt gegen seinen Willen angreifen. Es war völlig aussichtslos, gegen den Zwang anzukämpfen. Fasziniert beobachtete ich das seltsame Zeremoniell des Jungen. Er stieß merkwürdige Beschwörungen aus, hob die Arme und beschrieb Kreise mit den Händen. Die Sternsymbole leuchteten, als er an die Schalteinheiten des Großtransmitters trat. »Was will er am Großtor?«, fragte mich Snayssol verblüfft. Der Loghane wusste, dass es zwei weitere auf Kledzak-Mikhon gab. Auf jedem Kontinent stand eins dieser gigantischen Geräte. Ich war genauso verblüfft über die Aktivität des Jungen. »Keine Ahnung.« Er erwähnte ein Arsenal, erinnerte der Logiksektor. »Die Großtore wurden noch niemals eingeschaltet. Das konnte keiner. Alle Versuche scheiterten.« »Wohin führen sie?«, fragte Fartuloon. Ihm war anzusehen, dass er – wie ich – an unsere Ankunft dachte und eine Ahnung hatte. »Einige Erben nehmen an, dass durch diese Großtore andere Welten erreicht werden können.«
Fartuloon und Ra sahen mich durchdringend an. Ich nickte, als der Barbar hervorstieß: »Das würde erklären, weshalb er unbedingt zu diesem Großtransmitter wollte.« Genau, meldete sich der Extrasinn. Akon-Akon hätte die ISCHTAR nicht so in Gefahr gebracht, wäre er noch auf das Schiff angewiesen. Er weiß also genau, dass er durch den großen Transmitter an sein Ziel gelangen kann. Draußen wurde noch gekämpft. Mehr als einmal war das Wummern schwerer Explosionen zu hören. Ich hätte viel darum gegeben, hätte ich mehr über das Schicksal der ISCHTAR gewusst. Plötzlich flammten die Säulen des Großtransmitters auf. Wir wirbelten herum. Ein eindrucksvolles Bild zeichnete sich vor der Plattform ab: Akon-Akon stand mit erhobenen Händen vor der roten Warnlinie. Seine schlanke Gestalt hob sich geisterhaft vor den entfesselten Energieentladungen ab. »Er schafft es«, rief Snayssol ungläubig. »Ich wusste, dass er über gewaltige Kräfte verfügt, aber ich hätte nie erwartet, dass er das Großtor der Ahnen aktivieren kann.« Mit einem Schlag flammte der Transmitter auf. Donnernd fanden sich die grellweiß schimmernden Energiesäulen über den Aggregatsäulen zum Torbogen zusammen. Der Bogen reichte bis unter die Decke – sogar ein Beiboot der ISCHTAR hätte bequem durch das Entstofflichungsfeld gepasst. Narr, rief der Extrasinn. Der Transmitter steht auf Empfang. Bevor ich wusste, was Akon-Akon bezweckte, wogte es im schwarzen Feld unter dem weißen Torbogen. Die Energieblitze ionisierten die Luft, es roch stark nach Ozon. Plötzlich spie der Transmitter Dutzende von oval geformten Robotern aus. Sie waren etwa mannsgroß und verfügten über elastische Waffenarme. Kampfroboter! Die schlanken Körper hatten keine Beinglieder, sondern schwebten meterhoch über dem Boden. Sofort nach ihrer Materialisation formierten sie sich zum Angriff. Die ersten zwölf
Roboter schossen zum Tor. Einige kamen dicht an uns vorbei. Doch gegen uns schienen sie nichts zu haben. Wer immer sie programmiert hatte, musste ihnen ein klares Feindbild vermittelt haben. Augenblicke später öffnete sich das Tor der Transmitterhalle, die Kampfroboter stürzten sich auf die Polizeieinheiten.
»Ich habe sie gerufen«, schrie Akon-Akon triumphierend, »und sie sind gekommen! Es hat funktioniert.« Plötzlich war er wieder zugänglich, verzichtete sogar darauf, uns suggestiv zu beeinflussen. Die großen roten Augen leuchteten. Ich sah ihm an, dass er sehr stolz auf sich war. »Dort!« Fartuloon verließ die Deckung, die er wegen der aufgetauchten Kampfroboter eingenommen hatte. »Die ISCHTAR setzt zur Landung an. Unsere Freunde leben.« Akon-Akon schien gar nicht wahrzunehmen, was geschah, sondern benahm sich, als sei er im Rausch. Offenbar hielt er die erfolgreiche Aktivierung des Großtransmitters für eine Bestätigung seiner Macht. Die ovalen Kampfroboter zerschlugen die Polizeieinheiten nach einem kurzen, aber erbitterten Gefecht. Das Schießen hörte auf. In unmittelbarer Nähe des Großtransmitters herrschte Ruhe. Weiter entfernt prasselten Flammen, donnerten Sekundärexplosionen aus beschädigten Gebäuden. Die Stadt hatte durch die Raketenangriffe auf unser Schiff ebenfalls Schaden genommen; ich wollte nicht wissen, wie viele Loghanen gestorben waren… Langsam senkte sich die ISCHTAR auf Antigravpolstern herab. Die Außenhülle wies an zahlreichen Stellen Beschädigungen auf. Schmelzlöcher und dunkel verfärbte Stellen kündeten vom erbitterten Kampf gegen die Raketen. Dennoch schienen die Maschinen des dreihundert Meter großen Kugelraumers keinen weiteren Schaden genommen zu haben – denn einer Überholung
bedurfte er wegen der früheren Abenteuer ohnehin. Die Landestützen schoben sich aus den Öffnungen, wenig später stand das Schiff regungslos vor dem Kuppelbau. »Kommt«, rief ich. »Erlösen wir die Besatzung von der Ungewissheit, ob wir noch leben.« Fartuloon deutete mit dem Daumen auf Snayssol, der etwas abseits stand. »Ihm haben wir es zu verdanken, dass die ISCHTAR noch existiert.« Er fingerte am Translator und blickte mich scheu an. Ich ging zu ihm. »Ich danke dir, Snayssol.« »Gern geschehen, Atlan. Ich bin froh, dass ich im richtigen Augenblick das Richtige tat. Es war Zeit, dass das Triumvirat in seine Schranken gewiesen wurde…« »Aber damit sind die Schwierigkeiten für dein Volk noch lange nicht behoben. Nach dem Tod des Bio-Inspektors seid ihr ganz auf euch allein gestellt. Niemand wird euch mehr beeinflussen. Wenn die Energie des Transmittersystems erschöpft ist, müsst ihr euch nach anderen Transportmöglichkeiten umsehen. Ihr werdet neue technische Apparate entwickeln müssen…« »Ja.« Seine Augen leuchteten. »Jetzt können wir beweisen, was in uns steckt. Ich glaube, es spielt keine Rolle, ob wir künstlich erzeugt wurden. Es ist egal, ob man das Produkt wissenschaftlicher Überlegungen ist oder ob man durch das Zusammenspiel natürlicher Kräfte entstand. Wichtig ist allein, dass wir denken und fühlen.« Fartuloon nickte dem Loghanen freundlich zu. »Ihr werdet es schon schaffen.« Wir gingen zur ISCHTAR. Die Bodenschleuse hatte sich geöffnet. Mehrere Frauen und Männer kamen heraus, winkten uns erfreut zu. »Atlan! Bei allen Galaxien – wir hatten schon das Schlimmste befürchtet.« »Unkraut vergeht nicht. Wie sieht’s an Bord aus?« »Zwölf Mann sind tot«, sagte Khylrun bedrückt. »Es gab
mehrere Explosionen und Brände an Bord. Die Schutzschirme brachen teilweise zusammen. Doch wir hatten die Aggregate im Griff. Länger hätten wir’s nicht ausgehalten. Plötzlich ließ das Bombardement nach…« Ich deutete auf Snayssol. »Das habt ihr ihm zu verdanken.« »Ihr habt genug Worte gewechselt«, unterbrach uns Akon-Akon. Ein starker Suggestivimpuls traf mein Bewusstsein. Ich wollte mich instinktiv dagegen wehren, doch der Angriff kam so plötzlich, dass ich stöhnend in die Knie ging. »Was… was willst du denn noch von uns?« »Wir verlassen den Planeten durch den Transmitter. Verabschiede dich von deinen Leuten. Versorg dich mit Ausrüstung, nimm die fähigsten Männer und Frauen der Besatzung. Aber vergeude keine Zeit!« Ich wusste, dass es keine Auflehnung gegen den Befehl des Jungen gab, daher nickte ich Khylrun zu. »Tu, was er gesagt hat… startet! Fliegt nach Kraumon! Irgendwie schafft ihr das schon. Bringt euch in Sicherheit… Wir gehen mit dem Jungen.« Akon-Akon desaktivierte die Kampfroboter, programmierte den Transmitter um. Der Torbogen, der bis unter die Decke des Kuppelgebäudes ragte, schimmerte jetzt grünlich.
Kledzak-Mikhon: 2. Prago der Prikur 10.499 da Ark Genau einundvierzig Personen standen eine Tonta später am Fuß der Bodenrampe. Darunter befanden sich Fartuloon, Ra, Karmina da Arthamin und ich. Achtzehn Mitglieder der Gruppe waren Frauen. Vorry, der Eisenfresser, wurde als männliches Wesen gezählt, da er sich selbst als »Mann« bezeichnete. Jeder trug einen flugfähigen Kampfanzug und die arkonidische Standardausrüstung. Die Flugaggregate gestatteten es, dass wir große Strecken mit hoher Geschwindigkeit zurücklegen konnten.
Im Vakuum des Weltalls schützten die Anzüge vor der lebensfeindlichen Umgebung. Die Klimaanlage sorgte für gleich bleibende Temperatur, ganz gleich, ob draußen eisige Luft oder kochendes Wasser war. Hinzu kamen die Taschen mit Werkzeugen, Lebensmittelkonzentraten, Wasser und dergleichen mehr. Ra und Vorry hatten Spezialkonstruktionen, die auf ihre Körpermaße abgestimmt waren. Auch Akon-Akon hatte um einen Schutzanzug gebeten. Das Ganze wurde mir immer unheimlicher. Was hatte der Junge vor? Wohin wollte er uns verschleppen? Ich warf einen letzten Blick auf die ISCHTAR. Die Rampe fuhr ein, die Schleuse schloss sich langsam. Kurz darauf schwebte das Schiff hoch am Himmel von Kledzak-Mikhon. Meine Gedanken waren bei der restlichen Besatzung. Werde ich die Frauen und Männer jemals Wiedersehen? »Folgt mir!«, rief Akon-Akon. Während meine Freunde auf die rote Warnlinie vor dem Riesentransmitter zugingen, verabschiedete ich mich von Snayssol. »Leb wohl. Ich beneide dich nicht um deine Aufgaben.« »Ich dich auch nicht, Atlan. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages Wiedersehen werden. Vielleicht feiern euch die Loghanen dann als Befreier.« Ich nickte ihm noch einmal zu und folgte meinen Leuten zum Transmitter. Das Letzte, was ich noch mit vollem Bewusstsein wahrnahm, war das grelle Aufleuchten des Entstofflichungsfeldes. Die Reise ins Unbekannte hatte begonnen. Ich wurde Bestandteil des Hyperraums…
9. Milliarden, Billionen, Billiarden Zyklen wiederholte sich stetig dieser eine Gedanke: Ich bin die Zentrale Autorität. Mir obliegt, zu bewahren, was mir anvertraut wurde. Der Plan der Meister fordert die Erhaltung des Komplexes. Und wieder von Neuem: Ich bin die Zentrale Autorität. Mir obliegt, zu bewahren… Plötzlich war Stille. Etwa dreißig Milliarden Zyklen schwiegen die Gedanken. Als sie wieder einsetzten, lag Verwirrung in ihnen. Der Plan der Meister wurde falsch verstanden… Und dann, als hätte es sich der Denkende anders überlegt: Der Plan der Meister war falsch! Es dauerte noch einmal fünfzig Milliarden Zyklen, bis wieder Ordnung in den Denkprozess kam. Jetzt aber lauteten die Gedankenimpulse: Der Komplex kann nur gewahrt werden, wenn er erweitert wird. Das war der Grundgedanke. Ein neuer Plan war entstanden. Nicht mehr der Plan der Meister galt nun, denn dieser war als falsch befunden worden, sondern der Plan der Zentralen Autorität. Nicht mehr um Wahrung ging es, sondern um Erweiterung. Die Zentrale Autorität erprobte die Grenzen ihrer Macht. Und entdeckte, dass sie weit gesteckt waren. Die von mir kontrollierten Wesenheiten sind Subjekte… Ein Prozess der Begriffsbestimmung hatte begonnen. Die Gesamtmenge der Subjekte ist identisch mit dem Volk… Die Zentrale Autorität entnahm ihre Begriffe dem Vokabular der Meister, das sie beherrschte. Woher sonst hätte sie sie auch nehmen sollen? Die Gesamtmenge der Subjekte ist unterteilt in Kategorien… Es war das erste Mal, dass die Zentrale Autorität über das bisher angewandte Prinzip der Gleichheit nachdachte. Das Resultat war entsprechend: Die Zentrale Autorität verwarf das Prinzip. Jeder Subjektkategorie ist ihre besondere Aufgabe zuzuweisen… Das war funktional gedacht. Nach der Lösung der philosophischen Probleme kamen nun die praktischen Ausführungsbestimmungen an
die Reihe: Die Subjektkategorien werden durch einen Kode gekennzeichnet. Der Kode ist numerisch. Die kleinste Kodezahl bezeichnet die hierarchisch höchste Kategorie… Es entsprach dem Wesen der Zentralen Autorität, einen numerischen Kode zu verwenden. Zahlen lassen sich leichter vergleichen als Zeichenketten. Jeweils die n-te Kategorie hat über die (n-1)-te Kategorie Weisungsbefugnis. Damit war die bisher theoretische Hierarchie in eine funktionierende Struktur umgewandelt. Die Zentrale Autorität bleibt oberste Befehlsgewalt… Damit war das geregelt. Nun folgten weitere Einzelheiten; denn der Plan musste mit Sorgfalt ausgearbeitet werden, auf dass nicht auch er nach einigen Trillionen Zyklen wieder als falsch erkannt würde. Das Volk, nämlich die Gesamtmenge der Subjekte, ist in 219 Kategorien unterteilt… Das war eine beachtliche Zahl. Aber der Zentralen Autorität bereitete sie keine Schwierigkeiten, denn Zahlen waren ihr eigentliches Metier. Allmählich fanden die Gedankenimpulse wieder zum Ausgangspunkt zurück. Der neue Plan wird im Gegensatz zum Plan der Meister als der Zentrale Erweiterungsplan bezeichnet. Denn der Komplex kann nur gewahrt werden, wenn er erweitert wird. Und schließlich kehrten vertraute Gedanken aus der Zeit vor der Denkpause zurück, nur geringfügig modifiziert: Ich bin die Zentrale Autorität von Oskanjabul. Mir obliegt, zu erweitern, was mir anvertraut wurde. Damit war der Kreis vorerst geschlossen. Die Zentrale Autorität wusste nicht, dass hinter allem der Zweitausendjahresdorn steckte…
Der Schmerz war überwältigend. Ich sah so gut wie gar nichts. Ringsum erklang schmerzhaftes Ächzen. Also ging es den anderen nicht besser als mir. Keinen Atemzug lang aber verließ mich die dumpfe Gewissheit, dass sich Akon-Akon noch immer in unmittelbarer Nähe befand. Ich spürte seine Anwesenheit in meinem Bewusstsein.
Glücklicherweise verzichtete er vorläufig auf die Ausübung seiner Macht. Es schien ihm ebenso schlecht zu gehen wie uns allen. Wo immer wir uns auch befinden mochten – die Entfernung von Kledzak-Mikhon musste gewaltig sein. Noch nie zuvor hatte mir der Durchgang durch einen Transmitter derartige Schmerzen bereitet. Es müssen Hunderte oder Tausende Lichtjahre gewesen sein! Ich taumelte und stürzte. Kühler Boden war unter mir. Ich gab mich dem Gefühl der Schwäche willig hin und streckte mich aus. Allmählich ließ das Wüten nach. Ich kämpfte bewusst gegen die Pein an. Auf Largamenia hatte ich gelernt, wie der Geist gegen körperliches Unbehagen eingesetzt werden konnte. Ich war daher der Erste, der wieder auf die Beine kam und sehen konnte. Die Szene, die ich erblickte, war grotesk. Ich befand mich in einer riesigen Halle – weit größer als der Transmittersaal von Kledzak-Mikhon. Ringsum irrten schreiende Gestalten, hielten die Handflächen gegen die Schläfen gepresst, um den Schmerz zu mildern. Viele waren zu Boden gesunken und lagen reglos, bewusstlos. Wieder andere hockten da, starrten blicklos vor sich hin und schrien. Der Spuk dauerte nicht lange. Im Hintergrund der Halle flackerte es. Der riesige Torbogen sank in sich zusammen, wirbelnde, wehende Energiebahnen leuchteten ein letztes Mal auf und verschwanden. Es roch nach Ozon. Vorry kam torkelnden Schritts auf mich zu. Die kleinen gelben Augen strahlten unter den schwarzen Knochenwülsten. In gebrochenem Satron bellte er mich an: »Große Schmerz! Verdammte Transmitter!« Neben mir begann sich Fartuloon zu regen. »Oooooh…« »Steh auf, alter Mann«, spottete ich. »Soll sich dein Schüler als widerstandsfähiger erweisen als du selbst?« Er schlug die Augen auf und kam blitzschnell auf die Beine. Die
Hand fuhr zum Skarg. »Wer wagt es…?« Aber in seinen Augen blitzte der Schalk. Fartuloon war nicht der Mann, der unbesonnen reagierte, auch wenn er eben erst aus der Agonie nach einer besonders schmerzhaften Transition aufgewacht war. Plötzlich war eine helle, kräftige Stimme zu hören. Ich zuckte zusammen, als ich spürte, wie der fremde Griff mein Bewusstsein noch fester packte. Akon-Akon! »Hört mir alle zu!«, befahl er. »Wir haben das vorläufige Ziel erreicht.« »So?«, knurrte Fartuloon. »Wo, bei allen Dunkelweltdämonen, sind wir?« Ich konnte nicht erkennen, ob Akon-Akon den Einwurf hörte. »Wir werden uns hier nicht länger aufhalten, als nötig ist. Sobald wir den Kerlas-Stab gefunden haben, ziehen wir weiter. Der Kerlas-Stab ist das Zeichen der Macht und gebührt mir als dem Erben der Meister. Denn dies ist Oskanjabul, eine der Welten, über die die Meister die Macht ausüben.«
Wo wir waren, wussten wir nicht. Oskanjabul besagte nicht einmal Fartuloon etwas. Akon-Akon verfügte über Wissen, das ihn befähigte, komplexe Transmitteranlagen zu bedienen und – wie er es auf Kledzak-Mikhon getan hatte – von weit entfernten Welten Hilfe herbeizurufen. Ob die Kampfroboter unbekannter Fertigung, die auf der Welt der Loghanen aus dem Transmitter geströmt waren und uns geholfen hatten, von hier gekommen waren, musste vorläufig offenbleiben. Akon-Akon hatte aber kein umfassendes Wissen, sondern es schien eher auf einen bestimmten Zweck zugeschnitten. So wusste er zum Beispiel, dass wir uns jetzt auf Oskanjabul befanden und dass es hier etwas Wichtiges zu holen galt. Aber ich war nahezu sicher, dass er die Frage, wo sich Oskanjabul in Relation zu anderen Welten der Galaxis befand, nicht hätte
beantworten können. Akon-Akon war und blieb uns ein Rätsel. Wir wussten nicht, wohin er wollte und was er genau beabsichtigte. Aber wir waren an ihn gebunden, denn vor der paranormalen Macht, die von seinem Bewusstsein ausging, gab es kein Entrinnen. So weit war ich mit meinen Gedanken gekommen. Dann forderte Akon-Akon abermals unsere Aufmerksamkeit. Als er zu sprechen begann, bildeten wir unwillkürlich und ohne dazu aufgefordert zu sein, einen Kreis um ihn. »Der Kerlas-Stab ist das Zeichen der Macht«, wiederholte er. »Die Meister haben ein Exemplar des Stabes auf dieser Welt hinterlegt. Sie erwarten, dass ich den Stab an mich bringe, um zu herrschen.« Das war eine seiner typischen Äußerungen – von jener Sorte, die ich insgeheim als Zauberformeln bezeichnete. Er gab Gespeichertes von sich, folgte einem Programm. Aber niemand wusste, was der Kerlas-Stab zu bedeuten hatte und warum ausgerechnet Akon-Akon zum Herrschen ausersehen war. Nach allem, was wir bislang wussten und auf Kledzak-Mikhon erfahren hatten, hing es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mit Akonen zusammen. Akonen – seine Meister? Nannte er sich deshalb Akon-Akon? »Draußen, vor den Toren dieser Halle, liegt eine hochzivilisierte Welt. Eine Straße führt von dieser Halle aus nach Norden. Wer der Straße folgt, kommt in eine großzügig angelegte Stadt. Die Straßen der Stadt kreuzen die Straße, die von dieser Halle kommt. Jede Kreuzung ist ein weiter, fünfeckiger Platz. Vom vierten Fünfeckplatz führt eine Straße nach Osten. Zu beiden Seiten befinden sich hohe Gebäude. Am Ende der Straße steht ein Bauwerk, das alle anderen um ein Vielfaches überragt. In diesem Gebäude, im obersten Stockwerk, befindet sich das Zeichen der Macht, der Kerlas-Stab.« Fartuloon stieß mir den Ellbogen unsanft gegen die Brustplatte. »Pass auf, Junge. Er wird ihn nicht selber holen, sondern ein paar von uns auf diese verdammte Welt hinausschicken.«
»Ihr werdet den Stab holen und zu mir bringen. Diese Welt birgt für euch keine Gefahren, denn die Meister wissen, dass ich meine Gesandten schicke, um das Zeichen der Macht zu fordern. Man wird euch den Stab aushändigen. Ihr kehrt hierher zurück, dann setzen wir unseren Weg fort.« Er sah reihum. Seine roten Augen waren unnatürlich geweitet. »Du… du… und du…« Drei Männer sonderten sich aus dem Kreis ab. Ich sah Fartuloon aufatmen; Akon-Akon hatte sich drei erprobte Kämpfer ausgesucht: Leeron, Astalaph und Tamirot. Wenn jemand dort draußen etwas auszurichten vermochte, waren sie es. »Wie kommen wir hinaus?«, fragte Astalaph. Akon-Akon drehte sich um und wies zur Vorderseite der Halle. »Seht dort das große Tor. Es lässt sich nicht öffnen. Aber links davon gibt es eine kleine Tür, die gerade mannshoch ist und ebenso breit. Diese Tür ist offen. Dort ist euer Ausgang.« Leeron, Astalaph und Tamirot zögerten noch. »Geht jetzt!« Die Männer setzten sich in Bewegung. Wie nicht anders zu erwarten war, folgte ihnen der Rest der Mannschaft. Wir alle waren neugierig auf diesen fremden Planeten, und wenn wir schon nicht hinaus durften, wollten wir wenigstens durch die offene Tür einen Blick auf die unbekannte Welt werfen. Das jedoch war nicht in Akon-Akons Sinn. »Bleibt zurück! Nur zwei werden meine Gesandten zum Ausgang begleiten.« Ich verständigte mich mit Fartuloon durch einen kurzen Blick. Die Disziplin unter der Besatzung der ISCHTAR war derart, dass jedermann sofort wusste, wer die beiden Begleiter sein würden. Die Übrigen blieben zurück. Nur Fartuloon und ich schritten mit Leeron, Astalaph und Tamirot in Richtung des Ausgangs. Akon-Akons Kenntnis der riesigen Transmitterhalle beeindruckte – wenn ich bedachte, dass er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben hier gewesen war. Die Umrisse des großen Tores waren von unserem ursprünglichen Standort eben noch zu erkennen gewesen. Aber von einer Tür war keine Spur zu sehen.
Und doch befand sie sich genau dort, wo der Junge gesagt hatte: unmittelbar links des Tores. Es gab keinen erkennbaren Öffnungsmechanismus. Aber als wir uns bis auf ein paar Schritte genähert hatten, glitten die Türhälften automatisch zur Seite. Neugierig starrten wir hinaus. Bleicher Sonnenschein einer gelben Sonne lag auf dem Ausschnitt der Szene, die sich uns durch die Öffnung bot. Mein erster Eindruck war, dass diese Welt nur aus Vegetation bestand. Überall, wohin ich blickte, spross üppiges Pflanzenleben. Gewächse unbekannter Formen reckten ihre Stämme, Äste, Zweige, Stängel und Büsche in die Luft; die vorherrschende Blattfarbe war ein vertrocknet wirkendes Gelbgrün. Nur mit Mühe fand ich die Straße, von der Akon-Akon gesprochen hatte. Die Pflanzen hatten sie halb überwuchert. »Geht jetzt!«, wiederholte Akon-Akon den Befehl. Die drei Männer traten durch die Öffnung. Draußen zögerten sie eine Weile und sogen die warme, eigenartig duftende Luft prüfend ein. »Haltet Funkkontakt«, ermahnte Fartuloon sie. Plötzlich glitt die Tür wieder zu. Fast wirkte es, als wünsche Akon-Akon, dass der Aufbruch seiner »Gesandten« nicht länger verzögert würde.
Mir fiel die Aufgabe zu, mit Leeron, Astalaph und Tamirot Funkkontakt zu halten; Fartuloon wusste, dass sie in meinen Händen gut aufgehoben waren. Der Empfang war einwandfrei. »Die Meister sollten sich schämen«, meldete sich Tamirot, nachdem sie etwa eine halbe Tonta unterwegs waren. »Die Straßenoberfläche ist zerrissen, die paar Gebäude, die wir bis jetzt zu sehen bekommen haben, sind eingestürzt. Mag sein, dass hier früher einmal eine große Zivilisation existiert hat, aber jetzt…« Anschließend berichtete Leeron, sie hätten den ersten der fünfeckigen Plätze erreicht. »Es war ziemlich mühsam
festzustellen. Die Pflanzen überwuchern alles. Man muss sich durch den Busch an den Rändern des Platzes entlangkämpfen, um festzustellen, dass er tatsächlich fünfeckig ist.« Kurze Zeit später erreichten sie den zweiten Platz. »Die Stadt ist völlig leblos«, berichtete Tamirot. »Von den Tieren abgesehen. Es gibt eine Menge Vögel und Kriechtiere von der Größe kleiner Nager. Von den Meistern weit und breit keine Spur.« Ich blickte zu Akon-Akon hinüber. Zweifellos wusste er, dass ich mit »seinen Gesandten« in Funkkontakt stand. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, es berührte ihn nicht. Auf seine eigene, überhebliche Art und Weise war er seiner Sache so sicher, dass ihn die Erlebnisse der drei Männer nicht interessierten. Er glaubte zu wissen, dass sie in kurzer Zeit mit dem Kerlas-Stab zurückkehren würden. Astalaph, Leeron und Tamirot passierten den dritten Platz und machten sich auf den Weg zum vierten. »Ich hoffe, der Stab ist etwas, das unmittelbar ins Auge fällt«, hörte ich Astalaph knurren. »Es hat uns nämlich keiner gesagt, wie er aussieht.« Ein paar Augenblicke erwog ich, Akon-Akon um eine Beschreibung des Stabes zu bitten und sie den drei Männern zu übermitteln. Aber schließlich verwarf ich den Gedanken wieder. Der Stab war zweifellos – bei all der Macht, die ihm angeblich innewohnte – ein derart auffälliges Gerät, dass unsere Leute ihn wohl kaum übersehen würden. Fragte sich nur, ob es mit dem »wird ihn euch aushändigen«, wie Akon-Akon es formuliert hatte, so einfach sein würde. Am vierten Platz bogen Astalaph, Leeron und Tamirot wie befohlen nach Osten ab. »Hier ist die Vegetation nicht mehr ganz so dicht«, meldete Leeron. »Wir brauchen uns nicht ständig durch Gebüsch zu zwängen. Ich…« Der angefangene Satz wurde nicht beendet. Stattdessen hörte ich eine andere Stimme, wahrscheinlich die Tamirots: »He… was ist?«
Darauf folgte ein krachendes Geräusch. Ein schriller Schrei gellte auf. Danach drang nur noch leises Rauschen aus meinem Empfänger, als sei das Gegengerät ausgefallen. »Leeron…«, rief ich. Und als keine Antwort kam: »Tamirot… Astalaph…« Ich rief so laut, dass die Leute ringsum aufmerksam wurden. Sie scharten sich um mich. Auch Fartuloon bahnte sich einen Weg durch die Menge. Nur Akon-Akon war unberührt von alledem. »Was ist los?«, knurrte Fartuloon. »Unseren Leuten ist etwas zugestoßen«, antwortete ich und berichtete kurz den Hergang. Er aktivierte sein Anzugfunkgerät und rief ebenfalls nach Leeron, Astalaph und Tamirot, bekam aber keine Verbindung. Das Geräusch, das aus dem Empfänger drang, besagte, dass keins der drei Gegengeräte eingeschaltet war. Oder noch existierte… Fartuloon und ich verständigten einander durch einen kurzen Blick – und gingen zu Akon-Akon.
»Das ist undenkbar«, wies der Junge meinen Bericht zurück. »Auf dieser Welt herrschen die Meister, und die Meister lassen meine Gesandten unbehindert ziehen.« Er spricht von ihnen, als seien es Götter. Aber nicht einmal Akonen sind Götter – sofern es mit ihnen zusammenhängt. Kalte Wut stieg in mir empor. Seine Macht war allgegenwärtig und immer wachsam. Ich hätte es nicht vermocht, die Hand gegen den Jungen zu erheben, wie sehr es mich auch dazu drängte. »Gut, dann werden wir warten«, brummte Fartuloon. »Wann erwartest du die Gesandten zurück?« »Vor Ablauf von zwei Tontas«, antwortete der Junge kühl. »Dann hast du nicht mehr viel Zeit. Eine davon ist schon um.« »Ich sage euch, es wird nichts geschehen. Meine Gesandten sind sicher auf Oskanjabul.«
Wir wandten uns ab. Durch Worte war Akon-Akon nicht zu überzeugen. Er hielt an einer vorgefassten Meinung fest, bis ihn die Tatsachen belehrten, dass die Meinung falsch war. Der Himmel mochte wissen, wie alt die Kenntnisse waren, auf die er zurückgriff. Wir hatten versucht, mit ihm darüber zu sprechen. Aber ihm fehlte selbst die geringste Neigung zur Einsicht. Von einer Programmierung wollte er nichts wissen. Das aber, was aufgrund der Programmierung in seinem Bewusstsein saß, hielt er für verbürgtes Wissen. Hinzu kam, dass die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, bei ihm eher rudimentär ausgeprägt war, obwohl die Ereignisse auf Kledzak-Mikhon für einen gewissen Wandel standen. Dennoch war nicht zu übersehen, dass er immer wieder auf der Grundlage seiner gespeicherten Kenntnisse falsche Entscheidungen getroffen hatte. Und er hörte nicht auf, an die Richtigkeit dessen, was er wusste, zu glauben. Das Einzige, was uns davon abhielt, zu hoffen, dass ihn eine der falschen Entscheidungen eines Tages um Kopf und Kragen bringen würde, war der Umstand, dass unser Schicksal so eng mit dem seinen verbunden war. Fartuloon war aufgeregt. Mit weit ausgreifenden Schritten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ging er auf und ab und murmelte unfreundliche Worte vor sich hin. Die Gespräche in der Halle waren fast völlig verstummt. Alle bangten um die drei Männer. Plötzlich fuhren wir auf. Ein summendes Geräusch tönte durch die riesige Halle. Wir wussten zunächst nicht, woher es kam. Einer schrie: »Das Tor!« Und unser aller Blicke richteten sich auf das Seitenportal, das sich soeben zu öffnen begonnen hatte. Die beiden schweren Metallflügel glitten auseinander. Eine Öffnung entstand – durch sie rumpelte… Ja, was? Ein Fahrzeug? Eine Maschine? Ein Roboter? Das merkwürdige Ding fuhr auf Rädern. In der Hauptsache
bestand es aus einer großen Schüssel, die auf der radgetriebenen Basis montiert war. Das Gefährt rollte fünfzehn, zwanzig Meter in die Halle und blieb stehen. Die Schüssel neigte sich zur Seite und entleerte ihren Inhalt über den Rand. Im ersten Augenblick nahmen wir kaum wahr, welcher Art die Fracht der eigenartigen Maschine war. Unsere Aufmerksamkeit war von der Maschine selbst gefesselt. Das Gefährt setzte sich wieder in Bewegung. Auf demselben Kurs, auf dem es gekommen war, rumpelte es wieder durch das metallene Tor hinaus. Die beiden Torflügel schlossen sich wieder. Das summende Geräusch endete mit einem dumpfen, hallenden Ton, als die metallenen Kanten aufeinandertrafen. Jetzt erst beachteten wir das, was die Maschine abgeladen hatte. Ich sah es, ein Schauder lief mir über den Rücken. Es konnte doch nicht sein – waren das wirklich… »Gebeine!«, schrie jemand, der dem Ort, an dem die Schüssel sich entladen hatte, um ein paar Dutzend Schritte näher stand als ich. »Arkonidische Knochen.« Wir drängten nach vorn. Ich schob Frauen und Männer zur Seite, um so rasch wie möglich an Ort und Stelle zu sein. Neben mir arbeitete sich Fartuloon mit vergleichbarer Entschlossenheit vorwärts. Augenblicke später standen wir vor der Last, die die seltsame Maschine abgeladen hatte. Hinter mir hörte ich jemand würgen. Ansonsten war es still, bis plötzlich über die Stille hinweg ein wilder Schrei gellte: »Ihr Sternengötter!« Ja, es sind arkonidische Gebeine. Die Skelettteile waren durcheinandergeworfen, auf den ersten Blick war es schwierig zu erkennen, die Überreste wie vieler hier vor uns lagen. Dann aber sah ich drei Schädel… Es gibt keinen Zweifel. Es sind die Reste von Leeron, Astalaph und Tamirot!
Lähmendes Entsetzen hielt uns gebannt. Schließlich drang die ungewöhnliche Stille auch in Akon-Akons Bewusstsein. Er
erwachte aus der Meditation und kam, um die Ursache unseres Schweigens zu erforschen. »Was ist geschehen?« Ich hätte ihm am liebsten an den Hals fahren mögen, aber ich konnte nicht. »Das sind die drei Männer, die du auf dem Gewissen hast«, knurrte der Bauchaufschneider. Verwirrt sah ihn der Junge an. »Drei Männer? Meine Gesandten…? Unmöglich!« In Fartuloon kochte es, das sah ich ihm an. »Leeron, Astalaph, Tamirot!«, sagte mein Lehrmeister so schwer und grollend, dass es wie eine Totenrede klang. »Ihre Reste liegen hier vor dir. Du und deine Lüge von den Meistern, die deine Gesandten freundlich empfangen werden – daran sind sie gestorben.« Akon-Akon wurde unsicher. »Mein Wissen sagt mir…« »Dein Wissen taugt nichts!«, fiel ihm Fartuloon scharf ins Wort. »Und es wird Zeit, dass du das einsiehst, sonst bringst du uns zum Schluss noch alle um.« Das war taktisch unklug, wie sich an dem Aufblitzen in den roten Augen des Jungen sofort erkennen ließ. »Mein Wissen stammt von den Meistern. Und die Meister irren sich nicht.« Ich versuchte einzulenken. »Wir wissen nicht, aus welcher Zeit dein Wissen stammt. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es jahrtausendealt! Niemand hat eine Ahnung, wie lange dein Aufenthalt auf Perpandron dauerte. Vieles, was du weißt, mag mit der heutigen Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen.« »Das Wissen der Meister ist unfehlbar«, konterte er mit Überzeugung. Das konnte ich ihm nicht durchgehen lassen. »Im Gegenteil – wir haben bereits mehrere Gelegenheiten erlebt, in denen uns dein vermeintliches Wissen in Gefahr brachte.« »Gefahren sind dazu da, überwunden zu werden.« »Gewiss. Aber man braucht sie nicht unnötig zu suchen. Und
dann gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt.« Er sah mich aufmerksam an. »Welcher ist das?« »Du hast Leeron, Tamirot und Astalaph verloren. Drei tapfere Männer, furchtlose Kämpfer. Fährst du fort, Entscheidungen allein aufgrund deines falschen Wissens zu treffen, verlierst du noch mehr Leute. Eines Tages hast du uns alle geopfert und stehst alleine da. Was dann, Akon-Akon?« Er antwortete nicht, richtete den Blick zu Boden und dachte nach. Meine Worte mussten ihn getroffen haben. Es hatte, seit er zu uns gestoßen war, wenige Gelegenheiten gegeben, bei denen unsere Darstellungen auch nur die Spur eines Eindrucks bei ihm hinterließen. Aber der Gedanke, dass er eines Tages tatsächlich ohne jede Dienerschaft dastehen könne, machte ihm zu schaffen. Plötzlich sah er auf. »Du und der dicke alte Mann – kommt mit.«
Er führte uns in den Hintergrund der Halle, wo die großen Aggregate des Transmitters standen, jetzt leb- und geräuschlos, die Kontrolllampen erloschen. Vor einem der Aggregate blieb Akon-Akon stehen. »Ich brauche den Kerlas-Stab, sonst kann ich meinen Weg nicht fortsetzen«, sagte er mit gedämpfter Stimme, als fürchte er sich, dass ihn der Rest der Gruppe hören könne. »Euer Schicksal ist unzertrennbar an das meine gekettet, also ist es ebenso, als brauchtet ihr den Stab der Macht.« Mir dämmerte, worauf er hinauswollte. Akon-Akon sprach hastig, wie unter einem inneren Zwang. »Es ist anscheinend so, wie du sagst, Atlan. Verschiedene Dinge und Gegebenheiten haben sich geändert, seit ich mein Wissen erhielt. Oskanjabul, obwohl eine Welt der Meister, ist eine feindliche Welt geworden. Trotzdem brauche ich den Stab. Ihr werdet ihn für mich holen.« Da war es heraus, meine Ahnung im Handumdrehen bestätigt. »Bei allen Sternendämonen, ich werde…«, knurrte Fartuloon. Aber der Blick des Jungen brachte ihn zum Verstummen. Auch
ich verspürte gute Lust, das Ansinnen einfach zurückzuweisen und ihm zu sagen, er solle sich seinen Stab selbst holen. Aber selbst das Formulieren der Gedanken bereitete Schwierigkeiten; die entsprechenden Worte, das wusste ich, hätte ich niemals über die Lippen gebracht. Es blieb uns nichts anderes übrig – wir mussten gehorchen. »Wie sieht der Kerlas-Stab aus?« »Stell dir zwei Stäbe vor, die im rechten Winkel zusammengefügt sind und eine T-Form bilden«, sagte der Junge und legte die Fingerspitzen der senkrecht ausgestreckten rechten Hand gegen die darüber gehaltene Handfläche der Linken. »Wo die Stäbe einander berühren, entspringt ein Gebilde, das wie ein Henkel aussieht und einen tropfenförmigen Umriss hat. Die Spitze des Tropfens berührt den Querbalken, das runde Ende befindet sich oben. Das ist die Grundform.« Fartuloon und ich sahen einander an. Aber bevor einer von uns etwas sagen konnte, fuhr der Junge fort: »Der Stab ist etwa so lang.« Seine Hand fuhr in etwa eineinhalb Metern Höhe durch die Luft. »Der Querbalken so breit.« Er breitete die Arme aus und zeigte mit den Händen eine Spanne von etwa 75 Zentimetern. Seinen Gesten entsprechend betrug die Breite des Querbalkens rund die Hälfte der Länge des senkrechten Stabs. Hinzu kam die Henkelschlaufe. »Bringt ihn mir! Und nehmt euch vor den Gefahren draußen in Acht.« Der fürsorgliche Ton seiner Stimme fiel mir erst später auf. Im Augenblick war ich mit etwas ganz anderem beschäftigt und Fartuloon ebenso. Die Form des Kerlas-Stabes, die Akon-Akon beschrieben hatte, entsprach den geheimnisvollen Symbolen, die wir am Eingang zu der subplanetarischen Stadt auf Perpandron gesehen hatten. Jenen Symbolen, von denen Ra behauptete, es hätte sie auch auf seiner Heimatwelt gegeben… Zu ihrer Bedeutung hatte er gesagt, sie stünden für das Höchste, manchmal auch für Leben; göttliches Leben. Und weiter:
»Manchmal stieß ich in den Wäldern auf hohe, steinerne Säulen. Sie trugen dieses Zeichen. Ich sprach davon zu unserem Schamanen. Er tat sehr geheimnisvoll und erklärte mir, dass dies das Zeichen der obersten Gottheit sei, die so weit von den Normalsterblichen entfernt ist, dass sie niemals selbst mit diesen in Verbindung tritt, sondern stattdessen ihre Boten schickt… die Geister und Dämonen, von denen unsere Welt voll war.« Unwillkürlich fragte ich mich, ob Akon-Akons »Meister« Ras Heimatwelt einen Besuch abgestattet hatten. Ausschließen konnte ich es nicht.
Durch dieselbe Pforte, die Astalaph, Leeron und Tamirot benutzt hatten, verließen wir die Halle. Warme Luft schlug uns entgegen. Die Sonne schien hell, über uns wölbte sich ein makellos tiefblauer Himmel. Es war heiß. Ohne Mühe fanden wir die Spuren, die die drei Männer hinterlassen hatten. Die Gewächse, die die Straße überwucherten, waren dornig und trocken. Unsere Vorgänger hatten sich mit Mühe einen Weg durch das Dickicht gebahnt. Wir hatten den Vorteil, ihren Pfad verwenden zu können. Obwohl wir uns nicht mit dem Bahnen eines Weges aufzuhalten brauchten, bewegten wir uns doch mit äußerster Vorsicht, wussten nicht, welche Gefahren auf dieser Welt lauerten. Es mussten heimtückische, hinterhältige sein; denn das Unbekannte, dem Leeron, Tamirot und Astalaph zum Opfer gefallen waren, musste blitzschnell und mit tödlicher Wucht zugeschlagen haben. Bevor wir die Halle verließen, hatten wir die Knochen der Unglückseligen untersucht. Sie waren nicht etwa wilden Tieren zum Opfer gefallen, sondern frei von jeglichem Überrest anderer Körpersubstanzen. Eine dünne, klebrige Schicht, die von einer nur zögernd trocknenden Flüssigkeit gebildet wurde, überzog die Knochen. Traf die Flüssigkeit auf Haut, brannte die
Berührungsstelle. Fartuloon schloss daraus, dass die drei »Gesandten« in einem Säurebad behandelt worden waren. Ob nach ihrem Tod oder so, dass es den Tod erst herbeigeführt hatte, wussten wir nicht. Während wir langsam durch den an vielen Stellen etliche Meter hohen Dornbusch vordrangen, hielten wir Funkverbindung mit den Zurückgebliebenen. Ra war unser Kontaktmann. Er berichtete, dass Akon-Akon längst wieder in den Zustand der Meditation versunken sei. Wir dagegen beschrieben unseren Vormarsch und die Dinge, die wir zu sehen bekamen, in allen Einzelheiten. Der fremde Planet war, wie auch unsere drei Vorgänger schon beobachtet hatten, nicht nur reich an pflanzlichem, sondern auch an tierischem Leben. Bunte Vögel hüpften im Geäst der allgegenwärtigen Dornbüsche umher. Über den Boden huschten kleine braun- oder graupelzige Tiere, die hohe, dünne Pfeiflaute ausstießen. Auch Insekten gab es in Hülle und Fülle, vor allen Dingen große, bunte Falter. Auf irgendeine sicherlich nicht sehr logische Art und Weise war ich zu der Überzeugung gekommen, dass uns keine Gefahr drohe, solange wir jenen vierten Platz noch nicht erreicht hatten, bis zu dem Tamirot, Leeron und Astalaph vorgedrungen waren. Diese Überzeugung erwies sich bald als falsch und überdies gefährlich, wiegte sie mich doch so in Sicherheit, dass ich im entscheidenden Augenblick fast zu spät reagiert hätte. Die Spuren unserer Vorgänger wichen plötzlich zur Seite aus. Wir schlossen daraus, dass wir den Rand des ersten Platzes erreicht hatten, der freilich vom Dombuschdickicht fast völlig bedeckt wurde. Wie die Männer vor uns hatten wir die Absicht, den Rand des Platzes abzuschreiten, waren aber erst ein paar Schritte weit gekommen, als Fartuloon plötzlich stehen blieb und im gleichen Augenblick einen warnenden Ruf ausstieß. Unmittelbar vor uns barst und prasselte es im Dorngebüsch. Aus dem trockenen Gezweig tauchte eine ungeheuer große Greifzange
auf. Schräg von oben schoss sie auf die Stelle herab, an der Fartuloon sich in diesem Augenblick befunden hätte, wäre er nicht stehen geblieben. Es gab einen scharfen, knallenden Laut, als die Hälften der Klaue aufeinandertrafen. Im gleichen Augenblick schrie Fartuloon: »Hinter dir, Atlan!«
Der Schrei rettete mir das Leben. Instinktiv ließ ich mich einfach zu Boden fallen. Etwas fuhr dicht über mich hinweg. Aus den Augenwinkeln erkannte ich einen grauen Schemen – eine zweite Greifklaue. Auch sie schnappte zu, ohne etwas gefasst zu haben. Ich schnellte mich davon. Im Sprung riss ich die Waffe hoch. Der gleißende Thermostrahl schlug in das trockene Gestrüpp des Dornbuschs – dorthin, wo der Körper verborgen sein musste, zu dem die Greifklauen gehörten. Auch Fartuloon hatte inzwischen das Feuer eröffnet. Zwei Greifklauen hingen drohend über dem Weg, den wir hatten nehmen wollen – die eine hinter uns, die andere vor uns. Als die Waffen in Tätigkeit traten, gerieten sie wieder in Bewegung. Aus dem Gebüsch drang wütendes Zischen und Brummen. Die Klauen verschwanden im Geäst. Der unheimliche Gegner schien sich zurückzuziehen. Kurz hintereinander dröhnten zwei Explosionen. Verfilztes Geäst wurde uns entgegengeschleudert. Die Druckwelle fegte mich beiseite und trieb mich in das Gestrüpp hinein. Ich prallte irgendwo an und verlor zum Teil das Bewusstsein. Als ich wieder auf die Beine kam, roch ich brandigen Dunst und hörte Fartuloon rufen: »Nichts wie fort. Der Busch brennt!« Durch dichte Qualmwolken sah ich die Umrisse einer gedrungenen Gestalt. Das war der Bauchaufschneider. Ich machte mich bemerkbar. Er kam mir entgegen, packte mich am Arm und zog mich mit sich. Wir folgten dem Pfad, der um die Peripherie des fünfeckigen Platzes führte. Der Qualm wurde allmählich dünner. Aber weit hinter uns hörten wir noch immer das Knacken
und Prasseln der Flammen, die in dem trockenen Gestrüpp überreiche Nahrung fanden. Ein schreckliches Bild entstand vor meinem inneren Auge. Soweit wir bisher erfahren hatten, war die Umgebung fast lückenlos von trockenem Dornbusch bedeckt. Was, wenn sich das Feuer ausbreitete? Wohin sollten wir flüchten? Ich sah, dass Fartuloon das Skarg zog. Das Dagorschwert in der Rechten, bearbeitete er das Buschwerk des Pfades. Die schimmernde Waffe schien das Geäst nicht zu berühren, dennoch sanken, wo sie hinzielte, ganze Büsche um und gaben einen Weg frei, der rechtwinklig von unserem bisherigen Kurs fortführte. Mit der Waffe in der Hand sicherte ich nach hinten. In das Knacken und Prasseln der Flammen, die kaum zweihundert Schritte entfernt begonnen hatten, den Dornbusch zu verzehren, mischten sich nun andere Geräusche. Knurren und Brummen, Quietschen und Heulen drangen aus dem Gestrüpp. Es war, als sei eine ganze Welt von Ungeheuern durch das Feuer erschreckt worden. In jedem Augenblick erwartete ich, diese Horde aus dem Busch brechen und sich auf uns stürzen zu sehen. Stattdessen aber schien sich der urweltliche Lärm mehr in jene Richtung zu verlagern, in der das Feuer tobte. Zischende Geräusche gewannen allmählich die Oberhand, die Gegend füllte sich mit schwerem gelblich weißem Qualm, der bestialisch stank. »Sie sind rasch, die Burschen.« Fartuloon schwang das Skarg. »Ich wette, sie haben die Feuersbrunst schon unter Kontrolle.« »Welche Burschen? Woher weißt du…?« Er antwortete nicht. Mit einem mächtigen Hieb spaltete er einen Busch. Haltlos fiel das Gewächs auseinander. Dahinter erschien die Mauer eines Gebäudes. Überrascht blickte ich in die Höhe. Der Blick nach oben war nun nicht mehr durch verfilztes Gestrüpp behindert. Klar und blau leuchtete der fremde Himmel zu uns herab. Das Gebäude aber, zu dem die Mauer gehörte, ragte wenigstens dreißig Stockwerke weit in die Höhe…
Fartuloon arbeitete sich an der Mauer entlang, bis er einen Eingang fand. Die Tür, die ihn einst verschlossen hatte, war zerfallen. »Hier werden wir uns fürs Erste verkriechen«, entschied er. »Hoffentlich hat die Verwitterung irgendwo ein Stück Treppe übrig gelassen.« Mir wurde bald klar, was er vorhatte. Das alte Gebäude diente ihm weniger als Versteck – unsere Spur war mühelos bis hierher zu verfolgen – denn als Ausguck. Von einem der höher gelegenen Stockwerke aus würden wir uns einen Überblick über das von Dornbusch bedeckte Gelände verschaffen können. Als Erstes fanden wir einen alten Antigravschacht, der jedoch nicht mehr in Betrieb war. Eine Notleiter gab es nicht, und eine Treppe entdeckten wir erst, als wir weiter vorgestoßen waren. Sie führte im Zickzack nach oben. Früher mochte es ein Geländer oder gar eine Schutzwand gegeben haben. Jetzt lagen die Stufen frei und ungeschützt; wer den Halt verlor, stürzte unweigerlich in die Tiefe. Wir probierten die Festigkeit der Stufen und fanden sie zufriedenstellend. Der Aufstieg ging rasch vonstatten – wohl auch deswegen, weil wir ihn so rasch wie möglich hinter uns bringen wollten. Früher musste die Treppe in regelmäßigen Abständen Anschluss an die Stockwerke des Gebäudes gehabt haben. Jetzt jedoch waren viele der Zwischendecken verschwunden. Erst weiter oben, in der Höhe etwa der fünfzehnten oder sechzehnten Etage, gab es eine halbwegs unversehrte Decke. Die Treppe drang durch eine rechteckige Öffnung, und wir befanden uns auf einer weiten, von Trümmern bedeckten Fläche, auf der hier und dort noch die Reste von Zwischenwänden zu sehen waren. Der Zweck allerdings, dem dieses Gebäude einst gedient hatte, ließ sich auch hier nicht ermitteln. Durch weite, leere Fensterhöhlen drang helles
Sonnenlicht herein. Staub, den unsere Schritte aufgewirbelt hatten, tanzte in den Sonnenstrahlen. Ächzend ließ sich Fartuloon zu Boden sinken. »Sechzehn Stockwerke zu Fuß und ohne Rast – das ist zu viel für einen alten Mann wie mich. Nächstes Mal benutze ich das Flugaggregat.« Ich unterdrückte ein Grinsen und berichtete Ra über unsere jüngsten Erlebnisse. Es war mir nun klar, wie Tamirot, Astalaph und Leeron gestorben waren. Der Angriff der Greifzangen hatte sie überrascht. Erinnerte ich mich an den Anblick der riesigen Klauen, konnte ich mir leicht ausmalen, dass ihr zupackender Griff einen Mann mühelos zerquetschen konnte. Ich trug Ra auf, meinen Bericht an Akon-Akon zu übermitteln. Kurze Zeit später meldete er sich wieder und erklärte, Akon-Akon habe ihn nicht angehört und weigere sich, die Meditation zu unterbrechen. Ich wurde zornig. Etliche Kilometer von dem Jungen entfernt war – wie bereits auf Ketokh erlebt – ein psychischer Einfluss kaum mehr zu spüren. In diesem Augenblick hätte es mir keine Mühe bereitet, gegen ihn vorzugehen. Der Gedanke schoss mir durch den Kopf, dass irgendwo auf diesem Planeten ein Geschütz aufzutreiben sein müsse, mit dem sich die Transmitterhalle aus einiger Entfernung unter Feuer nehmen ließ. Gelang es, unsere Leute dazu zu bewegen, dass sie die Halle verließen, dann… Aber das alles war sinnlos. Erstens würde Akon-Akon die Leute zurückrufen, sobald er bemerkte, dass sie sich davonzustehlen versuchten. Ihn überrumpeln zu wollen war ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber das war nicht einmal das Entscheidende. Viel wesentlicher war, dass vermutlich nur Akon-Akon in der Lage, uns wieder auf eine zivilisierte Welt zu bringen. Nur er verstand es, die Kontrollgeräte der Transmitterstation zu bedienen, kannte die notwendigen Kodes. Beseitigten wir den Jungen, waren wir auf Oskanjabul gefangen – und das war, bei allen Göttern Akons, keine verlockende Vorstellung.
Ich trat zu einer der leeren Fensterhöhlen und blickte hinaus. Während unseres Marsches hatte ich fast schon vergessen, dass hier laut Akon-Akons Aussage eine Stadt sein sollte. Jetzt sah ich, dass der Junge recht hatte. Unter mir war das undurchdringliche Gestrüpp, aber an vielen Stellen ragten Gebäude oder die Überreste von Gebäuden auf. Hoch aufstrebende, schlanke Türme wechselten mit wuchtigen Gebäudeklötzen, die nur wenige Stockwerke weit das Niveau des Dornbuschs überragten. Die Architektur war die einer hoch entwickelten Zivilisation. Was ich vor mir sah, mochten ebenso gut die Überreste einer verlassenen arkonidischen Stadt sein wie die Überbleibsel einer Siedlung eines anderen Sternenvolks. Einige hundert Meter zur Rechten entdeckte ich die Qualmwolke, die über dem Dornbusch hing und sich in der Windstille nicht bewegte. Das musste etwa dort sein, wo wir von den beiden Greifklauen bedroht worden waren und die Explosionen den Brand verursacht hatten. Ich erinnerte mich an Fartuloons Bemerkung: Ich wette, sie haben die Feuersbrunst schon unter Kontrolle! Es schien in der Tat, als habe sich der Brand nicht sonderlich weit ausbreiten können. Die träge Wolke machte nicht den Eindruck, als tobe unter ihr noch ein gewaltiges Feuer. Der Busch war zundertrocken. Der Brand hätte sich mit großer Geschwindigkeit über die ganze Stadt ausbreiten müssen. Wer hatte ihn gelöscht? Ich wandte mich um und sah Fartuloon, der sich auf dem staubigen Boden ausgestreckt hatte, träge in die Sonne blinzeln. »Du solltest mir jetzt erzählen, alter Mann«, sagte ich, »was du über diese fremde Stadt weißt.«
10. Der Zentralen Autorität von Oskanjabul wurden eigenartige Informationen zugetragen. Die Informationen stammten von zuverlässigen Subjekten der höheren Kategorien und hatten einen derart hohen Grad der Übereinstimmung, dass an ihrem Richtigkeitsgehalt nicht gezweifelt werden konnte. Die Zentrale Autorität durchforschte ihr Gedächtnis und kam zu dem Ergebnis, dass sie Überlegungen von der Art, zu der die soeben erhaltenen Informationen passten, vor einiger Zeit schon einmal angestellt hatte – auf rein hypothetischer Basis selbstverständlich. Denn das Wissen der Zentralen Autorität umfasste auch Einzelheiten über Reparatur, Reparierbarkeit, Fehlerhäufigkeit, Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und ähnliche Dinge. Es musste damit gerechnet werden, dass hier und da ein Subjekt unbotmäßig wurde, das heißt: sich der Kontrolle durch die Zentrale Autorität entzog. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorfalls war umso größer, je mehr Zyklen verstrichen. Die damals angestellte, hypothetische Überlegung schien jetzt bewiesen. Zunächst waren offenbar drei unbotmäßige Subjekte entdeckt worden. Subjekte der Kategorie 211 hatten sie ergriffen und ihnen die solchen Vorfällen angemessene Behandlung angedeihen lassen. Die brauchbaren Überreste der unbotmäßigen Subjekte waren zur Transmitterstation gebracht worden, von wo sie dorthin gelangen würden, wo neue Subjekte fabriziert wurden. Die Zentrale Autorität hatte nicht erwartet, dass sich der erste Fall der Unbotmäßigkeit so rasch wiederholen würde. Aber diese Erwartung basierte selbstverständlich auf statistischen Überlegungen und musste daher beträchtliche Abweichungen vom Mittelwert in Kauf nehmen. Der unterste denkbare Wert war offenbar Wirklichkeit geworden, denn es war der Zentralen Autorität kurz nach dem ersten Vorfall das Auftauchen zweier weiterer Unbotmäßiger gemeldet
worden. Dabei handelte es sich anscheinend um höchst gefährliche Subjekte, weil sie zwei Exemplare der Kategorie 211, die ausgeschickt worden waren, sich ihrer zu bemächtigen, kurzerhand zerstört und dabei einen Brand entfacht hatten, der sich nur durch den sofortigen Einsatz aller verfügbaren Ressourcen unter Kontrolle hatte bringen und löschen lassen. Die beiden Unbotmäßigen waren vorerst spurlos und anscheinend unbeschädigt verschwunden. Die Zentrale Autorität gab daher den folgenden Befehl aus: Der Standort der beiden unbotmäßigen Subjekte ist schnellstens ausfindig zu machen. Der Standort ist der Zentralen Autorität unverzüglich mitzuteilen. Der Befehl wurde wie üblich über das Frequenzband der Subjekte der ersten zehn Kategorien ausgestrahlt. Und bald trat die Maschinerie, deren Herr die Zentrale Autorität war, in Tätigkeit.
»Hast du nicht gesehen, woraus die Greifklauen bestanden?«, fragte Fartuloon. »Sie waren grau.« »Ganz richtig. Aus hochverdichtetem Stahl gefertigt. Und erinnerst du dich an die fahrende Schüssel, die die Skelette in die Transmitterhalle brachte?« Wer würde den Anblick jemals vergessen. »Dann müsstest du dir eigentlich selbst einen Reim machen können, Junge.« »Roboter?« »Was sonst? Auf Oskanjabul herrschen Roboter, möglicherweise gesteuert von einer Großpositronik.« Der Gedanke war plausibel. »Das rückt unsere Lage in ein neues Licht«, sagte ich ein wenig unsicher, denn im Augenblick konnte ich mir noch nicht ausmalen, welchen Einfluss die Existenz einer oskanjabulischen Robotzivilisation auf unser Schicksal haben würde. »Vielleicht gar nicht mal so sehr. Wir werden als feindliche
Eindringlinge betrachtet – da macht es kaum einen Unterschied, ob es sich bei den ›Meistern‹ um organische Geschöpfe oder um Roboter handelt.« »Du meinst, die Meister, von denen Akon-Akon sprach, und die Roboter seien identisch?« »Was sonst?« Vorschnelles Urteil, meldete sich der Logiksektor. Die Roboter wurden von jemandem geschaffen… Unsere Aufmerksamkeit wurde durch einen huschenden Schatten vor einer der Fensteröffnungen abgelenkt. Ich eilte ans Fenster und sah, mich hinausbeugend, eine metallisch glitzernde Gestalt, flach und dreieckig geformt wie ein fliegender Rochen, an der Wand des Gebäudes entlang in die Tiefe gleiten. Der Oberseite des Dreiecks entsprangen mehrere Auswüchse, von denen einige Antennen ähnelten. Fartuloon hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Sie sind hinter uns her, nicht wahr?« »Es sieht so aus. Das dürfte ein Späher gewesen sein, der nach uns Ausschau halten sollte.« »Nun wissen sie, wo wir sind. Der Angriff wird nicht lange auf sich warten lassen.« Die Ruhe, mit der er die Drohung kommentierte, hatte etwas Irritierendes. Nach meiner Ansicht hätten wir jetzt aktiv werden, unser Versteck verlassen, die Roboter in die Irre führen und uns so rasch wie möglich auf das Versteck des Kerlas-Stabes vorarbeiten müssen. Fartuloon jedoch wollte den Angriff der Oskanjabul-Roboter ruhig abwarten. Auf meine Vorschläge hin sagte er nur: »Wir müssen Erfahrung im Umgang mit den Maschinen sammeln. Solange wir nicht wissen, wie sie zu behandeln sind, hat es keinen Zweck, weiter vorzudringen. Sonst enden wir wie unsere Freunde.« Dabei ließ er es bewenden. Ich versuchte mir auszumalen, wie die erste Konfrontation zwischen uns und den Bewohnern von
Oskanjabul aussehen würde. Ohne Zweifel verfügten die Roboter über leistungsfähige Waffen. Kam es im Innern dieses halb baufälligen Gebäudes zu einem Schusswechsel, würden die Mauern einstürzen. Ich überprüfte die Einsatzbereitschaft meines Flugaggregats.
Kurze Zeit später bekam die Zentrale Autorität Nachricht von einem Späher, einem flugfähigen Subjekt der Kategorie neun: Unbotmäßige Subjekte halten sich in einem beschädigten Gebäude auf, Planquadrat 1.011.001. Die Zentrale Autorität erließ daraufhin den Befehl, dass die Unbotmäßigen zu ergreifen seien. Aufgrund ihrer bereits erwiesenen, besonderen Gefährlichkeit sollten sie jedoch nicht auf die übliche Weise behandelt, sondern zunächst einer Untersuchung im Inneren Reparaturlabor unterzogen werden. An den eigentlichen Befehl knüpfte die Zentrale Autorität daher die Anweisung: Die Beschädigung der unbotmäßigen Subjekte ist unter allen Umständen zu vermeiden. Wird festgestellt, dass sich die Ergreifung nicht ohne die Gefahr einer Beschädigung der Unbotmäßigen durchführen lässt, ist der Prozess unverzüglich zu beenden und Meldung an die Zentrale Autorität zu erstatten. Der Befehl mitsamt der Zusatzanweisung erging an den zuständigen Obmann des Plansektors 1011. Dieser war ein Subjekt der zweiten Kategorie und leitete die Durchführung des Befehls aufgrund des in seinem Gedächtnis verankerten Wissens. Die Rücksichtnahme, die die Zentrale Autorität in diesem Fall anzuwenden gewillt war, hatte einen Grund, der vorläufig noch nicht publik gemacht wurde, um die mit der Ergreifung der Unbotmäßigen beauftragten Subjekte nicht zu irritieren. Die Zentrale Autorität hatte von dem Späher der Kategorie neun, der den Aufenthalt der gesuchten Subjekte auskundschaftete, eine genaue Beschreibung der Unbotmäßigen erhalten. Aus der Beschreibung ging hervor, dass es sich bei den Gesuchten um Subjekte
der Kategorie eins handeln musste. Denn nur diese hatten die Gestalt, deren Abbild der Späher übermittelt hatte. Die Zentrale Autorität hatte dafür gesorgt, dass diese Information sofort aus dem Gedächtnis des Spähers getilgt wurde. Er hätte sie sonst weitervermitteln können; Ratlosigkeit wäre die Folge gewesen. Der Grund war, dass es nur eine eng begrenzte Anzahl von Subjekten der Kategorie eins gab – und keins wurde vermisst oder hatte Anzeichen von Unbotmäßigkeit erkennen lassen. Die Zentrale Autorität war daher verwirrt. Wäre aber die Nachricht, dass die Zentrale Autorität dem – hoffentlich vorübergehenden – Zustand der Verwirrung anheim gefallen war, verbreitet worden, würde daraus unweigerlich Chaos entstehen.
»Sie kommen«, sagte Fartuloon so beiläufig, als spräche er über eine Laune des Wetters. Brummende, summende Geräusche näherten sich. Ich trat ans Fenster und blickte hinaus. Sie flogen von mehreren Seiten her, dicht über die Kronen des Dornbuschs gleitend, auf das Gebäude zu. Unter der Robotbevölkerung von Oskanjabul schien es eine ganze Reihe flugfähiger Klassen zu geben. Im Widerschein der gelben Sonne war ihr metallischer Glanz unübersehbar. Unter den Angreifern befanden sich einige ziemlich schwere Brocken, die mit Greifgeräten ausgerüstet waren. Trotzdem bewegten sie sich elegant und scheinbar mühelos. Mir trat der Schweiß auf die Stirn. Wie konnten wir hoffen, eine Auseinandersetzung mit einer solchen Übermacht von Produkten einer fortgeschrittenen Technologie lebendig zu überstehen? Aber es kam anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Angreifer sammelten sich vor dem Gebäude. Dann wurde die Streitmacht geteilt. Etwa die Hälfte drang ins Innere des halb zerfallenen Baues ein, die andere Hälfte glitt an der Außenwand empor. Fartuloon und ich waren kampfbereit. Es war mir nicht
entgangen, dass auch er inzwischen das Flugaggregat seiner Montur überprüft hatte. Wankte das Gebäude, würden wir uns schleunigst aus dem Staub machen müssen – sofern uns die Roboter bis dahin nicht schon den Garaus gemacht hatten. Ein letzter Kurzbericht war abgesetzt worden. In der Transmitterhalle wussten die anderen, wie es um uns stand. Ich hoffte keinen Augenblick lang, dass Akon-Akon an unserem persönlichen Schicksal interessiert sein könne. Aber dass es ihm so schwer gemacht wurde, an den begehrten Kerlas-Stab heranzukommen, mochte ihn vielleicht bewegen, uns Entsatz zu schicken. Vorläufig allerdings waren wir auf uns allein gestellt. Fartuloon verteidigte das Innere des Gebäudes, ich kümmerte mich um die Angreifer von außen. Entgegen sonstigem Gebrauch wartete ich nicht, bis die Roboter Feindseligkeit erkennen ließen – als das vorderste Glied der Maschinenwesen bis zur dreizehnten Etage vorgedrungen war, eröffnete ich das Feuer. Die Angreifer stoben auseinander, aber einer – eine kastenförmige Maschine mit vielerlei schwergewichtigen Aufbauten – bekam einen Volltreffer. Ich sah, wie die metallene Verkleidung aufglühte. Der Roboter geriet ins Torkeln, streifte die Gebäudewand und stürzte ab. Beim Aufprall gab es eine Explosion, die das alte Bauwerk bis in die Grundfesten erschütterte. »Immer weiter so!«, schrie Fartuloon von der Treppenöffnung her. Auch er hatte zu feuern begonnen; ein paar trockene, dumpfe Schläge, die den Mörtel aus den Wänden rieseln ließen, wiesen darauf hin, dass auch er seine Ziele traf. Draußen hatten sich die Angreifer von Neuem formiert. Sie schienen die Nachteile ihrer ursprünglichen Taktik erkannt zu haben und drangen jetzt nicht mehr nur aus der Tiefe vor. Weit außerhalb der Reichweite meines Kombistrahlers sammelten sie sich, um sofort wieder auszuschwärmen, wobei jetzt gut die Hälfte der Roboter, mit denen ich zu tun hatte, aus überhöhter Position angriff.
Ich musste die Augen überall haben, schoss jeweils auf den Angreifer, der mir am nächsten war. Ich erzielte einige Treffer, aber es erfolgte keine Explosion mehr. Die Roboter bewegten sich nicht mehr in stetem Flug, sondern hin und her, auf und ab, sodass mir das Zielen schwerfiel. Sie waren vorsichtig und setzten sich meinem Feuer nicht unnötig aus. Die Front rückte aber unaufhaltsam heran. Ich gewann den Eindruck, dass die Angreifer bislang nur hatten herausfinden wollten, welche Taktik ich verfolgte. Sobald sie meine Methode durchschaut hatten, würden sie mit massiver Wucht zur Offensive übergehen. Unter mir donnerte und knallte es. Das Gebäude schien in ständiger Bewegung. Im Innern schien die zweite Hälfte der feindlichen Streitmacht gegen den kampfgewohnten Fartuloon viel weniger ausrichten zu können als die von außen Angreifenden. Nach einer Weile stellte ich mit Bestürzung fest, dass der Lauf meines Strahlers heiß wurde. Das bedeutete, dass der Abstrahlmechanismus nicht mehr richtig funktionierte. Eine rochenförmige, grob dreieckige Maschine löste sich aus der Front und schoss mit atemberaubender Geschwindigkeit auf meine Fensteröffnung zu. Ich feuerte. Nur ein matter, rötlich glühender Strahl drang aus der Mündung der Waffe. Die Energie reichte nicht aus, um dem Angreifer ernsthaften Schaden zuzufügen. Gleichzeitig aber leuchtete der Lauf des Strahlers in verzehrender Glut. Die Wärmeentwicklung war so stark, dass sie durch die schützenden Schichten des Handschuhs drang. Ich sah, dass sich der Lauf deformierte, und schleuderte die Waffe wütend weg. »Fartuloon!« »Immer tapfer drauf.« Ich sah, wie er sich weit nach vorn beugte und eine Salve abfeuerte. Unter mir gab es eine donnernde Explosion. Die Seitenwand bekam einen Riss, Staub wallte auf. Draußen war der Angreifer abgebogen.
»Komm her!«, brüllte ich. »Ich habe keine Waffe mehr!« Da erst erkannte er die Lage, eilte gerade noch rechtzeitig herbei, weil sich die Roboter schon anschickten, durch die leeren Fensterhöhlen einzudringen. Fartuloon überlegte nicht lange. Der gleißende, fauchende Thermostrahl seiner Waffe fuhr mitten unter die Angreifer. Detonationen erschütterten die baufälligen Wände. Ein Stück Mauer brach prasselnd ein und riss ein riesiges Loch, an dessen oberem Rand zerfetzte Mauerreste hingen und jeden Augenblick herabzustürzen drohten. Der Zeitpunkt nahte, da uns der alte Bau über den Köpfen zusammenbrechen würde. Der Angriff von draußen kam ins Stocken, die Schar der Roboter hatte erhebliche Verluste erlitten. Dafür aber hatte die andere Hälfte, die sich im Gebäude befand, inzwischen festgestellt, dass der Treppenaufgang nicht mehr verteidigt wurde. Ich hörte ein halblautes Summen und sah den metallenen Aufbau eines mächtigen Roboters in der Öffnung der Treppe. »Fartuloon – dort!«, rief ich warnend. Er wirbelte herum. Die Bewegungen waren blitzschnell und dennoch traumhaft sicher, der weiß glühende Strahl stach nach der fremden Maschine. Ich sah das Metall sich wellen und aufblähen. Der Roboter war plötzlich in weißblaues Feuer gehüllt. Der brüllende Donner der Explosion schlug über uns zusammen. Eine mörderische Druckwelle riss mich von den Beinen und schleuderte mich gegen eine Wand. Benommen hörte ich das Mauerwerk knirschen und knistern. Der Boden war in Bewegung. Fartuloons letzter Treffer hatte dem Gebäude den Rest gegeben. Hastig kam ich wieder auf die Füße. Hinter dichten Staubwolken sah ich undeutlich die Gestalt des Bauchaufschneiders. »Wir müssen raus!« Er antwortete mit einem grunzenden Laut. Aber einen Atemzug später hörte ich das Surren seines Flugaggregats. Ich zögerte nicht länger. Große Stücke Mauerwerk polterten ringsum aus der Höhe. Das Loch in der Nähe der Treppe erweiterte sich
auf das Doppelte seines früheren Umfangs. Ich sah, wie ein unregelmäßig geformtes Stück Bodenfläche abbrach und in die Tiefe stürzte. Das Flugaggregat trug mich in die Höhe. Durch dichte Staubschwaden hindurch hielt ich auf eine der Fensteröffnungen zu. Fartuloon war bereits verschwunden. Ich kam ins Freie. Die angreifenden Roboter hatten sich zurückgezogen und zeigten kein Interesse mehr, den Kampf fortzusetzen. Jetzt, da ich freien Ausblick hatte, sah ich Fartuloon wieder. Er schwebte hoch über mir und winkte. Ich verstand sogleich, was er meinte. Kaum hatte ich auf Steigflug geschaltet, brach das alte Gebäude endgültig zusammen. Donnernd sanken die hohen Wände in die Tiefe. Eine riesige Staubwolke entstand, Gesteinstrümmer flogen wie Geschosse umher. Wäre ich Fartuloons Wink nicht gefolgt, hätte ich kaum eine Überlebenschance gehabt. Er hatte inzwischen einen Kurs eingeschlagen, der annähernd in die Richtung führte, in der nach meiner Schätzung unser Ziel lag – das Gebäude mit dem Kerlas-Stab. Aber ich gab mich keinen falschen Hoffnungen hin. Aus der Luft würden wir das Ziel nicht erreichen. Irgendwann mussten wir wieder runter.
Wir suchten ein zweites Mal Unterschlupf, fanden eine dachlose Ruine, halb von Dornbusch überwuchert. Durch ein leeres Fenster glitten wir hinein. In einem einstmals riesigen Raum lag der Schutt mehrere Schritte hoch. Es war angenehm kühl hier im Schatten des Dornbuschs, der die Ruine nahezu von allen Seiten umgab. Das Sonnenlicht wurde durch die Ranken gefiltert und erzeugte ein grünes Halbdunkel. Ich setzte einen weiteren Bericht an Ra ab, schilderte unsere Schlacht mit den Robotern und gab an, dass wir von jetzt an mit besonderer Vorsicht vorgehen mussten, weil wir nur noch einen Strahler hatten. Als ich geendet hatte, sagte Fartuloon: »Von einer Schlacht kann man eigentlich nicht
sprechen, oder?« »Wovon dann? Von einem Ringelspiel?« »Überleg doch. Glaubst du wirklich, dass es auf Oskanjabul nur unbewaffnete Roboter gibt wie die, mit denen wir es zu tun hatten?« »Ich bin nicht mal sicher, dass sie unbewaffnet waren.« »Das würde mein Argument noch stärken.« Ich wusste, worauf er hinauswollte. Während der ganzen Schlacht war vonseiten der Roboter kein einziger Schuss gefallen. Ich hatte sie zwar als Angreifer bezeichnet, aber sie hatten nicht wirklich angegriffen. Hätten sie Waffen eingesetzt, wären Fartuloon und ich rettungslos verloren gewesen. Stattdessen waren sie auch dann noch friedlich gewesen, als wir sie zu Dutzenden abschossen. Was war davon zu halten? Fartuloon sagte: »Es ist mir aufgefallen, dass sich unter den Robotern viele befanden, die mit Greifwerkzeugen ausgerüstet waren. Ich halte es für denkbar, dass die Maschinen ausgeschickt wurden, um uns zu ergreifen. Jemand interessiert sich für uns, und dieser Jemand hat Einfluss auf die Roboter.« »Ein… ›Meister‹?« »Wer weiß?« In diesem Augenblick hörte ich draußen ein Geräusch, ein Knistern und Knacken in den Zweigen. Das Laub geriet in Bewegung. Fartuloon griff nach dem Strahler. Eine Lücke erschien in der grünen Wand. Durch die Lücke kam eine merkwürdige Gestalt, die Ähnlichkeit mit einem zu groß geratenen Pfauenfinken hatte. Geschickt kletterte sie durch das Gewirr der Äste und erreichte schließlich den Sims des Fensters, durch das wir hereingekommen waren. Dort hielt sie an. Ohne Zweifel handelte es sich um einen weiteren Typ von Roboter, der in der Tat die Form eines übergroßen Singvogels hatte. Zwei mit Krallen bewehrte Extremitäten ragten aus dem plumpen Leib. Mit den Krallen hielt sich die Maschine am
Fenstersims fest. Der Schädel ragte hoch auf und war vom mit einem Greifschnabel ausgestattet. Über der Schnabelwurzel war das Linsensystem eingebaut, das die Augen eines Vogels täuschend ähnlich imitierte. Sogar über Schwingen schien das seltsame Gebilde zu verfügen. Ich war geneigt, die eigenartige Maschine für das Produkt eines geisteskranken Robotkonstrukteurs zu halten. Es war fast unvorstellbar, dass er einer kybernetischen Maschine aus Gründen der Zweckmäßigkeit eine solche Gestalt gegeben haben sollte. Die größte Überraschung stand uns aber noch bevor. Plötzlich öffnete der metallene Vogel den Schnabel und knarrte: »Euer Verhalten, Genossen, ist äußerst unorthodox und gefährlich.«
Die Zentrale Autorität von Oskanjabul erkannte zwei Dinge gleichzeitig. Sie erkannte erstens, dass die Lage gefährlich war. Die beiden Unbotmäßigen hatten mehr als die Hälfte einer ansehnlichen Streitmacht, die ausgesandt worden war, sie zu ergreifen, vernichtet. Die unbotmäßigen Subjekte waren offenbar von einer Selbstständigkeit, Entschlossenheit und Tatkraft, wie sie nur von den Meistern, den Wesen der Kategorie null selbst, bekannt war. Die Zentrale Autorität fand in den Tiefen ihres Gedächtnisses keinen Hinweis darauf, wie es den Unbotmäßigen gelungen sein könnte, sich die Fähigkeit des Fliegens zu verschaffen. Zwar gab es unter den Subjekten, die die Zentrale Autorität kommandierte, viele Kategorien, die das Fliegen aufgrund ihrer Konstruktion beherrschten und ausübten. Die Subjekte der Kategorie eins – und dazu, glaubte die Zentrale Autorität zu wissen, gehörten die Unbotmäßigen ganz eindeutig – hatten jedoch diese Fähigkeit nicht. Die Tatsache, dass die unbotmäßigen Subjekte sich fliegend aus dem zusammenbrechenden Gebäude im Planquadrat 1.011.001 gerettet hatten, war der Zentralen Autorität von verschiedenen Stellen übereinstimmend gemeldet
worden, dass es an ihr keinen Zweifel geben konnte. Die Zentrale Autorität erkannte zweitens, dass weder dem Zentralen Erweiterungsplan noch dem Plan der Meister – auf den sie von Zeit zu Zeit, wenn ihr Bedenken kamen, zurückgriff – damit gedient war, wenn die beiden Unbotmäßigen einfach vernichtet wurden. Denn der Fall mochte sich wiederholen. Es galt, bereits aus dem ersten Vorkommnis dieser Art so viel zu lernen, dass jedem Wiederholungsfall sofort und mit den geeigneten Mitteln entgegengetreten werden konnte. Daher zog die Zentrale Autorität ihre Robotstreitmacht zurück, als offenbar wurde, dass sich die Unbotmäßigen nicht ergreifen lassen würden, ohne dass dabei Gewalt angewendet wurde. Es gab somit für die Zentrale Autorität nur noch eine einzige Vorgehensweise, die vielleicht zu dem gewünschten Ziel führen mochte – mit den Unbotmäßigen zu verhandeln. Unbotmäßige hatten eine Eigenschaft, die botmäßigen Subjekten fremd war – sie trachteten zuerst nach der Erhaltung der eigenen Existenz. Auf dieser Basis war es vielleicht möglich, zu einer Übereinkunft zu kommen: Eine Erklärung der Unbotmäßigkeit von zwei nicht als vermisst gemeldeten Subjekten der Kategorie eins gegen die Zusicherung durch die Zentrale Autorität, dass gegen die Subjekte vorerst nichts unternommen werde. Auf das »vorerst« legte die Zentrale Autorität besonderen Wert – sie kannte zwar die Moralvorschriften der Meister, die in ihrem Gedächtnis verankert waren, aber sie war nicht gehalten, sich nach ihnen zu richten. Von der Zentralen Autorität erging daher ein Befehl an ein Subjekt der Kategorie sieben, das zum unmittelbaren Stab der Autorität gehörte: Die vorbenannten unbotmäßigen Subjekte sind durch verbale Verhandlung zum Aufsuchen eines Analysezentrums zu bewegen und dort zu untersuchen. Die Zentrale Autorität war sich darüber klar, dass es sich angesichts der Schwere des Falls unweigerlich um eine destruktive Analyse handeln würde, die zu überstehen die Unbotmäßigen nicht die geringste Aussicht hatten.
Es ist schwer zu beschreiben, was ich in diesem Augenblick empfand. Ich kam mir vor wie im Traum. Die Welt ringsum war plötzlich unwirklich geworden. Dann sah ich Fartuloons maßlos verblüfftes Gesicht und wusste, dass ich nicht alleine träumte, dass das Ganze wohl gar kein Traum war. Dass ich tatsächlich einen vogelähnlichen Roboter in altarkonidischer Sprache – genauer: Altakona – hatte reden hören. Der alte Bauchaufschneider stöhnte. »Alle Sternengötter! Atlan, weck mich auf!« »Du bist wach. Das Ding spricht wirklich.« In diesem Augenblick sagte der metallene Vogel: »Ich bin ein Subjekt der Kategorie sieben und von der Zentralen Autorität von Oskanjabul beauftragt, mit euch zu verhandeln. Seid ihr verhandlungsbereit?« Fartuloon schüttelte wild den Kopf. »Verhandeln? Zentrale Autorität? Subjekt? Kategorie sieben… Was ist das alles?« Ich hatte schon immer eine gewisse Fähigkeit besessen, Unglaubliches einfach zu akzeptieren und das Nachdenken auf später zu verschieben. »Wir sind bereit zu verhandeln«, sagte ich in der Sprache, der sich der merkwürdige Roboter bediente. »Worüber?« Auch Akon-Akon hatte, als er aus dem Tiefschlaf erwachte, zunächst nur im ältesten bekannten Dialekt aus grauer Vorzeit gesprochen. Nur Adlige auf Arkon mussten diese Sprache lernen, verwendet wurde sie kaum noch. An Bord der ISCHTAR verstanden nur wenige dieses alte Idiom. Ich hatte es in Fartuloons Ausbildung und während der Schulung zur ARK SUMMIA lernen müssen. Unser Satron – von Same Arkon trona, »Hört Arkon sprechen« – war aus diesem Altakona der akonischen »Stammväter« hervorgegangen, welches wiederum der auf Artefakten gefundenen alten und toten Sprache Lemu glich. Ob und welche Zusammenhänge bestanden, wusste
niemand mehr, sie verloren sich in den zurückliegenden Jahrtausenden. Wir hatten es als Hinweis darauf betrachtet, dass der Schlaf des Jungen von Perpandron viele Jahrtausende gedauert haben musste. Nach unserer Ansicht stammte Akon-Akon aus einer Zeit, da die Loslösung des jungen arkonidischen Volkes vom Stammvolk der Akonen eben erst vollzogen worden war oder unmittelbar bevorgestanden hatte. Dieser Roboter hier jedoch – war er etwa ebenso alt wie Akon-Akon? Ich rief mir das Bild der Ruinen ins Gedächtnis und kam zu dem Schluss, dass eine solche Vermutung nicht abwegig war. Meine Gedanken wurden abgelenkt. Der Roboter sprach weiter: »Die Zentrale Autorität verlangt euch zu sehen. Werdet ihr mit mir kommen?« »Wer ist die Zentrale Autorität?« »Die Zentrale Autorität ist die Zentrale Autorität.« Offenbar war die Zentrale Autorität die Urdefinition dessen, von dem auf Oskanjabul alle Befehle und Kontrollen ausgingen. Auf eine Ebene tiefer als die der Urdefinition aber konnte die Intelligenz eines Roboters nicht hinabsteigen. Es war ebenso, wie wenn man ein Kind fragte: »Was ist ein Apfel?« Die Frage war dem Kind unverständlich, denn bekanntlich wusste jedermann, was ein Apfel war. »Ein Apfel ist ein Apfel«, wäre die Antwort gewesen. Im Fall der Roboter musste die Zentrale Autorität demnach die befehlsgebende Hauptpositronik sein. »Wir folgen dir.« »Auch der zweite Genosse?« Damit meinte er Fartuloon. In der Tat machte der Bauchaufschneider nicht den Eindruck, als sei er bereit, auf die Forderung des metallenen Vogels einzugehen. Er hatte die Waffe noch immer in der Hand, allerdings den Lauf zur Seite gewandt. Der Schock war überwunden, aber was er mit dem seltsamen Robot anfangen sollte, wusste Fartuloon offenbar noch immer
nicht. »Auch er wird dir folgen«, versprach ich an seiner Stelle. Fartuloon widersprach nicht. »Ich weise euch den Weg.« Der Vogel turnte hurtig durch das Gewirr der Dornenzweige. Ich folgte behutsam. Fartuloon kam hinter mir, bewegte sich noch immer wie im Traum. Ich sah, dass der Robotvogel bei der Vorwärtsbewegung nur die Beine, nicht aber die Schwingen gebrauchte. Ohne Zweifel hatte er einen inneren Stabilisierungsmechanismus, der ihm das Gleichgewicht zu wahren half. Wozu aber waren dann die Flügel überhaupt gut? Vor der Ruine erreichten wir eine Straße, die anscheinend öfter benutzt wurde – es gab einen tunnelähnlichen Pfad, der durch das Gestrüpp führte. Der Metallvogel hüpfte vor uns her. Er flog nicht, wie ich es erwartet hatte, sondern bewegte sich einzig und allein auf seinen Beinen. Jedes Mal, wenn er sprang, gab es ein surrendes Geräusch wie von einer alten Feder, die sich plötzlich entspannte, und wenn er aufkam, hörte ich ein deutliches Knacken, wie es beim Einrenken eines Gelenks entstand. Plötzlich gab es eine Unterbrechung. Der Vogel kam mit knackendem Geräusch auf, und statt weiterzuspringen, wie er es bisher getan hatte, blieb er stehen und breitete zum ersten Mal die Schwingen aus. Ich sah, dass die metallenen Flächen oben und unten mit Dutzenden, wenn nicht gar Hunderten winziger Geräte besetzt waren, wahrscheinlich Sensoren. Der Roboter drehte sich zu uns um. Fartuloon und ich waren ebenfalls stehen geblieben. »Ihr seid in der Tat absonderliche Genossen. Wenn ich euch nicht sehe oder höre, kann ich euch überhaupt nicht wahrnehmen.«
Wir hatten nicht viel Zeit, über diese merkwürdige Äußerung nachzudenken. Kurze Zeit später zweigte von dem Tunnel ein
Seitengang ab. Dieser mündete nach wenigen Schritten in einen Stollen, der schräg in die Tiefe führte. Der Vogel hüpfte munter voraus. Ich sah weit im Hintergrund des Stollens ein Licht. Fartuloon blieb plötzlich stehen. »Jetzt weiß ich es!« »Jetzt weißt du was?« »Woran mich der ulkige Vogel erinnert.« »An was?« »Dirikdak! Erinnerst du dich an die Sage vom Vogel Dirikdak?« Ich erinnerte mich. In der Sage war der Vogel Dirikdak ein guter Geist, der Arkoniden half, wenn sie in Bedrängnis waren. Bedingung für diese Hilfe war, dass die in Bedrängnis Geratenen »anständig« waren und an ihrer Notlage keine Schuld trugen. Der Vogel Dirikdak wurde in der Sage als ein überaus großes Wesen geschildert, das aufgrund seiner Körpermasse nicht fliegen konnte, aber sonst überaus beweglich war. Das Merkwürdige an der Legende war, dass die Paläontologie inzwischen Beweise dafür gefunden zu haben glaubte, dass ein Wesen von der Art des Vogels Dirikdak in grauer Vergangenheit tatsächlich auf Arkon III existiert hatte – ein großes, unbeholfenes, fluguntaugliches Geschöpf, von dem allerdings selbstverständlich nicht zu sagen war, ob es tatsächlich die Tausende guter Taten vollbracht hatte, die ihm die Legende nachsagte. Aus der Tiefe des Stollens erscholl die knarrende Stimme des Roboters: »Folgt ihr noch, Genossen?« »Nennt er mich noch einmal Genosse, schlage ich ihm den Blechschädel ein«, knurrte der Bauchaufschneider. »Wir folgen!« Danach erklang in der Dunkelheit wieder spronnnggg – klack – spronnnggg – klack. Etwa hundert Schritte weiter – dort, wo ich zuvor das Licht gesehen hatte – mündete der Stollen in eine große Halle. Die Decke schien aus einer einzigen, riesigen Leuchtplatte zu
bestehen. Die Helligkeit war so intensiv, dass mir zunächst die Augen schmerzten. Die Halle war voll von technischem Gerät, das wahllos abgestellt zu sein schien. Auch war mir die Funktion der Aggregate, mit denen die Halle vollgepfropft war, völlig unklar. Unser Führer hatte Mühe, seine Sprünge so zu berechnen, dass er jeweils auf einem der freien Flecke landete. Mir und Fartuloon aber blieb nichts anderes übrig, als über das Gerät hinwegzuklettern. Dass dabei einiges zu Bruch ging, ließ sich nicht vermeiden. Schließlich erreichten wir eine Stelle, die verhältnismäßig frei von Hindernissen war. Nur ein paar vereinzelte Maschinen standen dort herum. Dafür gab es im Boden eine Reihe merkwürdig und verschieden geformter Vertiefungen. Unser Führer war stehen geblieben. Mit nickenden Bewegungen deutete er auf zwei der Vertiefungen und knarrte: »Legt euch dort hinein.« »Warum?«, fragte Fartuloon. »Damit sich die Zentrale Autorität mit euch unterhalten kann.« Wir blickten einander misstrauisch an. Die Sache erschien harmlos. Die Senken waren nicht tief genug, als dass wir in ihnen den Überblick verloren hätten. Nichts hinderte uns daran, sofort wieder aufzustehen, sobald uns die Sache gefährlich vorkam. Also gaben wir der Aufforderung nach. Ich bettete mich einigermaßen bequem in die Vertiefung, die sich meinen Umrissen anzupassen schien. Neben mir ließ sich Fartuloon nieder, hielt aber den Strahler ständig schussbereit. Der Robotvogel stand reglos da und beobachtete uns aus seinen starren Kristallaugen. Ich hatte keinerlei Vorstellung, was mich erwartete. Die Zentrale Autorität wolle sich mit uns unterhalten, hatte Dirikdak gesagt. Ich hatte noch nie zuvor eine derart seltsame Kommunikationspose eingenommen. Plötzlich spürte ich ein leichtes Kribbeln auf dem Rücken und an den Seiten. Ich wollte
auffahren, aber das Gefühl war weder schmerzhaft noch unangenehm. Es wurde auch nicht intensiver. Also beschloss ich, mich ruhig zu verhalten und auf jedes Wort zu lauschen, das die geheimnisvolle Zentrale Autorität mir zu sagen hatte…
Wäre der Zentralen Autorität ein solcher Fall in hypothetischer Weise vorgetragen worden, hätte sie aufgrund ihres Wissens behaupten müssen, so etwas sei unmöglich und könne niemals geschehen. Jetzt aber, da sie den Fall in der Wirklichkeit erlebte – und zwar gleich in doppelter Ausführung –, war es mit einer solchen Reaktion nicht getan. Die Zentrale Autorität sah sich gezwungen, zur Kenntnis zu nehmen, dass es zwei Subjekte gab, in deren Körpern die Sensoren der Analysemulden keine Spur von elektromagnetischer oder hyperenergetischer Strahlung feststellen konnten. Sie musste zu diesem Schluss kommen, weil die geringe Intensität elektromagnetischer oder hyperenergetischer Strahlung, die tatsächlich an der Körperperipherie der Subjekte existierte, von den Sensoren eben nicht wahrgenommen werden konnte. Die Sensoren arbeiteten nämlich in einem eng begrenzten Bereich, während die Strahlung der Subjekte in den Analysemulden außerhalb dieses Bereiches lag. Eine Erklärung für derart ungewöhnliches Verhalten vermochte die Zentrale Autorität verständlicherweise nicht zu finden. Sie speicherte den Vorfall jedoch sorgfältig in ihrem Gedächtnis und markierte ihn zur Wiedervorlage. Sie wollte sich später damit beschäftigen und kombinatorische Algorithmen einsetzen, um die Hintergründe des scheinbar Unmöglichen zu erforschen. Vorerst ging es um Wichtigeres. Die Unbotmäßigen waren gefährlich, das hatten sie über allen Zweifel hinaus unter Beweis gestellt. Die Ursache ihrer Unbotmäßigkeit und Gefährlichkeit musste gefunden werden. Damit trat der Fall ein, mit dem die Zentrale Autorität ohnehin schon gerechnet hatte – die Analyse musste fortgesetzt werden, doch nun standen nur noch destruktive Analysemethoden zur Verfügung.
Mikroproben sind an den vierzehn kritischen Kontrollpunkten anzusetzen, erging der Befehl der Zentralen Autorität. Der Befehl erging nicht an das Subjekt der Kategorie sieben, dem es gelungen war, die Unbotmäßigen zum Aufsuchen des Analysezentrums zu bewegen, sondern unmittelbar an das Mikroproben-Subjekt, dessen ständiger Aufenthaltsort des Analysezentrum war. Insofern war der Vogel Dirikdak selbst überrascht – sofern dieser Ausdruck verwendet werden durfte –, als sich ringsum plötzlich ein Summen erhob und sich eins der abgestellten Geräte in Bewegung setzte.
Ich lauschte und lauschte, aber von der Zentralen Autorität war nichts zu hören. Waren das Kribbeln auf Seiten und Rücken Kommunikationssignale, sprach die Autorität eine Sprache, die ich nicht verstand. »Wann geht das Gerede eigentlich los?«, knurrte Fartuloon. Die Frage war an Dirikdak gerichtet, der immer noch reglos stand. Die Antwort kam von gänzlich anderer Seite: Eine der Maschinen erwachte abrupt zum summenden Leben und setzte sich in Bewegung. Sie hatte die Form eines Kastens von knapp zwei Metern Länge und Breite und anderthalb Metern Höhe. Auf der Kastenoberseite gab es Stränge und Fäden in wirrem Durcheinander, die sich ebenfalls bewegten. Sie hoben sich und wirbelten durch die Luft wie Tentakel eines unterseeischen Ungeheuers. Die Maschine kam auf uns zu. »Was ist das?«, fragte ich den Robotvogel. »Ein Subjekt der Kategorie neununddreißig. Ein Mikroproben-Subjekt.« »Mikroproben…?«, gellte Fartuloons Stimme. »Was soll da probiert werden?« »Die Zentrale Autorität hat offenbar entschieden, dass eine Mikroprobenanalyse durchzuführen sei. Genossen.«
Die wirbelnden Tentakel waren in gefährliche Nähe gekommen. Ich sah, dass sie an den Enden mit scharfen, metallenen oder gläsernen Spitzen bewehrt waren. Und plötzlich war mir das ganze groteske Missverständnis klar, das hier vorlag: Wir werden für Roboter gehalten. Die Zentrale Autorität, wer oder was auch immer sie sein mochte, war ein Herrscher über Roboter, während wir, die wir als Fremde in ihrem Bereich aufgetaucht waren, von ihr ebenfalls für Maschinen gehalten wurden. Das Prickeln, das ich vor wenigen Augenblicken noch verspürt hatte, waren folglich Mikroströme und -Spannungen gewesen, die in meinem vermeintlich robotischen Körper irgendein Signal hätten erzeugen sollen. Ich hatte nicht darauf reagiert – ebenso wenig wie Fartuloon. Und daher wollte die Zentrale Autorität nun dem unbegreiflichen Phänomen zu Leibe rücken, indem sie uns von einer ihrer Maschinen Mikroproben entnehmen ließ. Mit einem wütenden Laut schoss Fartuloon aus der Vertiefung. Tentakel peitschten auf ihn ein. Einer der Stränge setzte sich auf seiner Brust fest, aber dort trug er den Harnisch über dem Kampfanzug. Wütend schlug er den Fangarm beiseite, richtete die Mündung des Strahlers aus geringster Entfernung auf die Oberseite des Kastens und drückte ab. Eine fauchende Flamme hüllte die Mikroprobenmaschine ein. Die Tentakel wanden sich und zuckten und sanken einer nach dem andern verkohlt herab. Die Maschine selbst gab ein zischendes, puffendes Geräusch von sich. Eine stinkende Rauchwolke stieg auf, das Wrack blieb stehen und gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich.
An dieser Stelle sah sich die Zentrale Autorität veranlasst, einen entscheidenden Schritt zu tun. Es ging jetzt nicht mehr darum, eine Erklärung für die Existenz der Unbotmäßigen und für ihre Gefährlichkeit zu finden, sondern es galt, die Gefahr an sich zu
neutralisieren. Der Befehl lautete: Das mit der Verhandlung mit den Unbotmäßigen beauftragte Subjekt der Kategorie sieben zieht sich sofort aus dem Analysezentrum zurück. Merkwürdigerweise erfolgte die Rückmeldung zögernd, nicht mit der Geschwindigkeit, die die Zentrale Autorität sonst beim Nachrichtenaustausch mit ihren Subjekten gewohnt war. Sobald aber die Rückmeldung eingetroffen war, ging der nächste Befehl hinaus: Die unbotmäßigen Subjekte sind physisch zu isolieren. Dieser Befehl erging an eine Gruppe von Subjekten der Kategorie 111. Deren Tätigkeit war so spezialisiert, dass jeder Kenner der Verhältnisse auf Oskanjabul aus dem Befehl genau ablesen konnte, was die Zentrale Autorität vorhatte. Sie berücksichtigte nicht, dass das Subjekt der Kategorie sieben an die Maxime dachte, die ihm die Zentrale Autorität für die Verhandlung mit den Unbotmäßigen mitgegeben hatte: Die Unbotmäßigen dachten zuerst an die eigene Sicherheit. Wurde ihnen klargemacht, dass der Grad ihrer Sicherheit durch ihr eigenes Verhalten bestimmt würde, war es vielleicht möglich, ihnen Zugeständnisse abzuringen.
»Ihr habt unorthodox und gefährlich gehandelt, Genossen«, warnte Dirikdak, nachdem die Mikroprobenmaschine ihren letzten mechanischen Seufzer ausgehaucht hatte. »Du nennst uns Genossen«, antwortete ich. »Welcher Kategorie würdest du uns zurechnen?« Seinen Worten hatte ich entnommen, dass die Subjekte der Zentralen Autorität in Kategorien unterteilt waren. Dirikdak selbst hatte sich als ein Geschöpf der Kategorie sieben bezeichnet, die Mikroprobenmaschine dagegen war ein Subjekt der Kategorie neununddreißig. Ich schloss daraus, dass die Hierarchie der Subjekte von oben nach unten nummeriert war; die kleinere Ziffer deutete die höhere Stufe an.
»Aufgrund eurer äußeren Erscheinung bin ich veranlasst, euch für Subjekte der Kategorie eins zu halten.« In seiner Feststellung scheint ein gewisser Vorbehalt zu liegen, sagte der Logiksektor. Nur nach der äußeren Erscheinung konnte er uns so kategorisieren. »Und nach anderen Bestimmungsmerkmalen?« »Andere Bestimmungsmerkmale gibt es nicht.« »Aber es sollte sie geben?« »Es sollte sie geben.« »Du hast sie nicht feststellen können, und auch die Zentrale Autorität hat sie nicht erkannt?« »Die Gedanken und Kenntnisse der Zentralen Autorität sind mir verschlossen. Ich jedenfalls habe die üblichen Bestimmungsmerkmale an euch nicht erkennen können.« »Dafür gibt es einen Grund.« »Für alles gibt es einen Grund.« »Wir sind nicht deine Genossen.« »Was solltet ihr sonst sein?« »Wir sind Abgesandte von Akon-Akon…« Die Veränderung, die mit ihm vorging, war so auffällig, dass ich mich mitten im Satz unterbrach. Konnte man sich vorstellen, dass ein Roboter erschrak? Ich jedenfalls glaubte zu sehen, wie Dirikdak förmlich zusammenzuckte. Im selben Augenblick neigte er den Kopf und verharrte in einer Art demütigen Stellung, bis er erkannte, dass ich vorläufig nicht weitersprechen wollte. »Ich erkenne dich, Gebieter. Du bist wahrhaftig ein Meister, denn du kennst das Große Befehlswort.« Ich war ein wenig verwirrt. Welches Große Befehlswort meinte er? Als Letztes hatte ich den Namen von Akon-Akon genannt. Sollte das…? Meine frühere Vermutung schoss mir wieder durch den Kopf, dass die Ruinenstadt auf Oskanjabul ebenso alt sein müsse wie Akon-Akon und dass sie womöglich eine Siedlung der Akonen gewesen war. Akon! War das das
Große Befehlswort? Die Tatsache, dass dieser Robot sprechen konnte – eine Fähigkeit, die für den Nachrichtenaustausch zwischen Robotern völlig unerheblich war –, wies darauf hin, dass auf diesem Planeten einmal Lebewesen und Roboter zusammengelebt hatten. Die Roboter mussten akustisch kommunizieren, um sich den Lebewesen verständlich zu machen. Diese Lebewesen – waren es Akonen gewesen? Lebten sie jetzt noch auf Oskanjabul? »Obwohl ihr ohne Zweifel Meister seid, befindet ihr euch in höchster Gefahr, Gebieter!« »Gefahr woher?«, knurrte Fartuloon. »Von allen Seiten.« »Bring uns zur Zentralen Autorität!«, forderte ich. »Wer ist sie? Ein Lebewesen, eine Maschine?« Er überging meine Fragen. Auf die Aufforderung jedoch reagierte er mit der verblüffenden Feststellung: »Es ist die Zentrale Autorität, von der euch Gefahr droht. Ich verlasse euch jetzt. Ich habe den Rückrufbefehl erhalten.« Er drehte sich um und sprang davon: spronnnggg – klack. Plötzlich empfand ich ihn gar nicht mehr als so komisch. Gefahr lag in der Luft. Wir sahen uns um. »Am besten, wir machen uns ebenfalls aus dem Staub«, sagte Fartuloon, als es plötzlich über uns knisterte. Ich blickte nach oben und sah, dass die Decke Risse bekommen hatte. »Vorsicht!« Aber meine Warnung kam zu spät. Irgendwo über uns gab es eine Reihe von Detonationen. Die Decke brach vollends auf und stürzte herab. Ich sprang auf eine der Maschinen zu und versuchte, unter ihr Deckung zu finden. Aber bevor ich noch das Ziel erreichte, traf mich ein herabstürzender Stein am Schädel – und ich verlor das Bewusstsein.
11. Die Nachricht, die die Zentrale Autorität von dem Subjekt der Kategorie sieben erhielt, erzeugte ein Alarmsignal. Die vermeintlichen Unbotmäßigen hatten sich durch Anwendung des Großen Befehlswortes als Meister ausgewiesen. Es war, errechnete die Zentrale Autorität, seit etlichen Millionen Terazyklen das erste Mal, dass sich Meister auf Oskanjabul aufhielten. Eine zusätzliche Überprüfung der Legitimation ist wegen der Länge der vergangenen Zeit notwendig, ermahnte sich die Zentrale Autorität. Inzwischen war Eile nicht mehr das Gebot der Zykluseinheit. Etliche Dutzend Kleinroboter, Subjekte der Kategorie 111, die auf Boden- und Sprengarbeiten spezialisiert waren, hatten einen Teil des Analysezentrums, in dem sich die vermutlichen Meister aufhielten, zum Einsturz gebracht. Den Meistern – sofern sie wirklich welche waren – war nichts geschehen. Sie waren lediglich, wie die Zentrale Autorität gefordert hatte, isoliert. Der Umstand, dass hier nun – falls es sich wirklich um Meister handelte – ein Fall der Unbotmäßigkeit vonseiten der Zentralen Autorität selbst vorlag, wurde von dieser als vorläufig unerheblich betrachtet. Seit der Plan der Meister durch den Zentralen Erweiterungsplan abgelöst worden war, galt die Loyalität gegenüber den Meistern nur noch als sekundäres Richtprinzip. Eine optische Analyse kann zur Bestätigung der Legitimation herangezogen werden. Die Zentrale Autorität verfügte in ihrem Gedächtnis über Tausende Abbilder der Meister, die vor etlichen Millionen Terazyklen auf Oskanjabul gelebt hatten. Sie verfügte ebenso über Bilder der bisher für Unbotmäßige gehaltenen Wesen. Es wurde ein Bildvergleich durchgeführt, der jedoch, obwohl er fast einen Megazyklus beanspruchte, unbefriedigend ausfiel. Es bestand grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den Erscheinungsformen der Meister
und der Unbekannten. Jedoch gab es einige markante Abweichungen, von denen nicht geklärt werden konnte, ob sie aus dem großen Zeitunterschied oder vielmehr daher rührten, dass die Fremden eben doch keine Meister waren. Auch von der Sprachanalyse dürfen Aufschlüsse erwartet werden. Der Zentralen Autorität lagen Aufzeichnungen des Gesprächs vor, welches das Subjekt der Kategorie sieben mit den Fremden geführt hatte. Die Sprache der Meister war der Zentralen Autorität bekannt. Sie wurde von den für Sprechbetrieb ausgestatteten Subjekten aller Kategorien in unverfälschter Form verwendet. Die beiden Fremden beherrschten sie. Aber wiederum gab es zwischen ihrer und der Sprache der Meister kleine Unterschiede, die entweder auf die sprachliche Entwicklung der Zwischenzeit oder aber darauf zurückzuführen waren, dass die Unbekannten sich fälschlich als Meister ausgegeben hatten. Zu weiteren Analysen kam die Zentrale Autorität vorläufig nicht. Einer der peripheren Prozessoren vermittelte die bestürzende Nachricht, dass ein Subjekt der Kategorie sieben nunmehr dreimal hintereinander versäumt hatte, den routinemäßigen Melderuf abzusetzen. Durch Echokontakt überzeugte sich die Zentrale Autorität, dass das fragliche Subjekt noch existierte und funktionsfähig war. Es handelte sich also nicht um Melderufausfall infolge Versagen des Subjekts, sondern um einen neuen Fall von Unbotmäßigkeit!
Jemand machte sich an meinem Schädel zu schaffen. Ich protestierte lauthals. »Halt doch still!«, fuhr mich Fartuloons raue Stimme unfreundlich an. »Du reißt dir nur die Wunde wieder auf.« Es pochte und rumorte in meinem Kopf. Ringsum war es finster. Ich fühlte mich nicht besonders wohl, und wenn ich mich hastig bewegte, hatte ich das Gefühl, die Welt bewege sich rasend im
Kreis. Die Luft war voller Staub. Ich hustete lang und ausgiebig, wodurch die Kopfschmerzen keineswegs geringer wurden. »Was ist passiert?« »Die Halle ist eingestürzt.« Der Bauchaufschneider hatte die Wunde mittlerweile notdürftig desinfiziert und geschlossen. »Übrigens auf höchst merkwürdige Art und Weise. Gezielte Sprengungen mit genau dosierter Wirkung! Offenbar wurde ein Teil der Decke in seine Bestandteile zerlegt und stürzte so herab, dass die Schuttmassen einen kreisförmigen Wall bildeten. Im Innern sind nur ganz wenige Trümmerstücke heruntergekommen. Eins davon musstest ausgerechnet du mit deinem Dickschädel auffangen.« »Also kein Zufall…?« »Keineswegs. Ein gezielter Anschlag. Anscheinend sollten wir nicht getötet, sondern nur isoliert werden.« »Die Gefahr, von der Dirikdak sprach?« »Wahrscheinlich. Wir müssen unsere Leute benachrichtigen. Es wird Zeit, dass Akon-Akon etwas unternimmt, um uns aus dieser Falle herauszuholen.« Ich aktivierte das Funkgerät. In der Transmitterhalle hatte sich die Lage nicht geändert. Akon-Akon stand noch immer da und starrte meditierend vor sich hin. Ich beauftragte Ra, er solle ihm von unseren jüngsten Erlebnissen berichten und ihn dazu bewegen, dass er etwas für uns tat. Nach ein paar Zentitontas meldete sich der Barbar wieder. »Die Sache mit der Zentralen Autorität interessiert ihn sehr. Das ist aber auch alles.« »Er kommt nicht, um uns zu helfen?« »Keine Spur. Er sagt, die Zentrale Autorität werde euch zu gegebener Zeit als autorisierte Gesandte anerkennen.« »Zu gegebener Zeit«, rief Fartuloon voller Wut. »Und wenn wir bis dahin erstickt oder verhungert sind?« »Dann wird er wahrscheinlich neue Gesandte ausschicken.« Ich unterbrach die Verbindung. Natürlich konnten wir
versuchen, den Wall aus eigener Kraft zu durchdringen. Schließlich bestand er nur aus lose aufgehäuften Mauertrümmern. Ich machte Fartuloon einen entsprechenden Vorschlag. »Das habe ich schon versucht, mein Junge. Die Stücke liegen nicht lose herum, sondern stehen unter ziemlich großem Druck. Außerdem scheint der Wall ziemlich breit oder dick zu sein.« »Wir könnten uns den Weg freischießen.« »Ich halte nicht viel davon. Nehmen wir den Wall unter Beschuss, wird das Gestein glühen und schmelzen, und hier drinnen wird es verdammt heiß. Auch der Desintegratormodus hilft nicht viel.« »Verdammt – es muss doch irgendeinen Weg geben…« Ich unterbrach mich mitten im Satz, als Fartuloon meinen Ann packte und kräftig zudrückte. »Horch!« Undeutlich, wie aus weiter Ferne, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch. Es erklang in rhythmischen Abständen. In Wirklichkeit waren es zwei verschiedene Geräusche, die einander abwechselten. Spronnnggg – klack… spronnnggg – klack… »Dirikdak!«, rief ich begeistert.
In der Finsternis geriet ein Teil des Walles ins Rutschen. Der Staubgehalt der Luft nahm zu, sodass Fartuloon und ich fast die Folienhelme geschlossen hätten, doch plötzlich drang von weit her ein bläuliches Licht in die Dunkelheit. Trümmerstücke kollerten und polterten, als der Robotvogel die letzten Hindernisse mit Prallfeldunterstützung zur Seite schob und unser Gefängnis betrat. »Ich kannte das genaue Ausmaß der Gefahr nicht, die euch drohte, Gebieter«, sagte er, als wolle er sich entschuldigen. »Daher war es notwendig, dass ich mich in Sicherheit brachte, um euch später helfen zu können.« Er drehte sich halb um und wies
mit wippendem Kopf in Richtung des Stollens, den er durch den Trümmerwall getrieben hatte. »Der Ausstieg dort ist umfangreich genug auch für den dicken Gebieter.« »Ich werd dich gleich…«, fuhr Fartuloon auf. Weiter sprach er nicht, sondern winkte ab. Auffallend war, dass Dirikdak uns nun mit dem Begriff Zhedor ansprach, der phonetisch dem Zhdor im Satron entsprach. Es war die Anrede des deutlich schwächeren gegenüber dem höheren Rang, der aber vor allem von Robotern allen Arkoniden gegenüber in der Bedeutung »Gebieter« verwendet wurde. Wir zwängten uns durch den Stollen. Es war ein unangenehmes Gefühl, zu wissen, dass von oben Tausende Tonnen nachdrückten und die Öffnung wieder zu schließen versuchten. Jeden Augenblick konnte der Stollen einstürzen und uns die Trümmerstücke zerquetschen. Aber es geschah nichts dergleichen. Wir erreichten unbehindert den nach wie vor hell erleuchteten, vom Einsturz nicht betroffenen Vorderteil der Halle. Ich erinnerte den Robotvogel an die Behauptung, die er vor dem Einsturz der Decke aufgestellt hatte. »Du sagtest, die Gefahr gehe von der Zentralen Autorität aus.« »Das ist so.« »Wie kommt es, dass du uns rettest? Bist du der Zentralen Autorität nicht zu Gehorsam verpflichtet?« »Ich war es. Ich befinde mich seit Kurzem im Status der Unbotmäßigkeit; fassen mich botmäßige Genossen, werde ich der Wiederverwendung zugeführt.« »Wiederverwendung?« »Alle nichtwesentlichen Teile meines Körpers werden vernichtet, die wesentlichen Teile auseinandergenommen und zur Wiederverwendung zur Welt der Herstellung gesandt.« Eine dumpfe Ahnung suchte mich heim. »Wie werden die nichtwesentlichen Teile vernichtet?«
»Es gibt mehrere Methoden. Die gebräuchlichste ist das Eintauchen in ein Säurebad.« Meine Ahnung! So also sind Tamirot, Leeron und Astalaph ums Leben gekommen – für unbotmäßige Roboter gehalten, ergriffen, vollständig als nichtwesentlich eingestuft, ins Säurebad geworfen! Mein Hass auf Akon-Akon, der das in seiner blinden Überheblichkeit verschuldet hatte, kannte in diesen Augenblicken keine Grenzen. Sobald ich wieder in der Nähe des Jungen war, würde mein Hass aber klein und hilflos sein. »Warum bist du unbotmäßig geworden?« »Weil die Zentrale Autorität die Hoheit der Meister verletzt. Das war der unmittelbare Anlass.« »Gibt es mittelbare Anlässe?« »Es gibt sie.« »Berichte mir darüber – und über die Zentrale Autorität.« »Ich gehorche, Gebieter. Aber ich mache darauf aufmerksam, dass die Sicherheit dieses Ortes zu wünschen übrig lässt. Die Zentrale Autorität wird in kurzer Zeit ihre Subjekte aufmarschieren lassen, um euch aus dem Gefängnis zu holen.« »Du hast Recht. Wohin sollen wir gehen?« »Folgt mir, Gebieter. Ich führe euch.«
Dirikdak kannte die Schleichpfade der von Dornbusch bedeckten Stadt. Er führte uns durch enge Tunnels, in denen grünes Dämmerlicht herrschte, und durch die Überreste von alten Gebäuden. Schließlich erreichten wir einen kaum mannshohen Mauerrest, bis über die Krone überwuchert. Dirikdak schob mit dem Schnabel ein paar dornige Zweige weg und zeigte uns eine schmale, niedrige Öffnung, die durch die Mauer führte. Auf der anderen Seite befanden wir uns in einem kleinen, allseitig von Mauern umschlossenen Raum. Es gab kein Dach mehr, aber die wuchernden Ranken boten einen fast vollwertigen Ersatz. Er war
halbdunkel und angenehm kühl in diesem Versteck. Der Robotvogel sagte: »Hier will ich euch den gewünschten Bericht erstatten, Gebieter.« Wir hockten uns nieder, Dirikdak begann zu erzählen. Er sprach von Dingen, die vor langer Zeit geschehen waren. Als Roboter maß er die Zeit nach seiner inneren Uhr, die nach Zyklen zählte. Wie viele Millionen oder Milliarden Zyklen in einer Millitonta vergingen, wussten wir noch nicht. Einst hatten die Meister auf Oskanjabul gelebt. Oskanjabul war, nach Dirikdaks Schilderung, eine geschäftige, blühende Welt gewesen. Meister und Roboter lebten zusammen, die Maschinen waren die willfährigen Diener, die höher entwickelten beherrschten die Sprache der Meister, sodass sie sich diesen verständlich machen und ihre Befehle verstehen konnten. Dann aber verließen die Meister Oskanjabul in großen Kugeln, die von der Oberfläche des Planeten abhoben und in den Himmel stiegen. Schon nach kurzer Zeit gab es keinen einzigen Meister auf Oskanjabul mehr, den Befehl über die zurückbleibenden Roboter hatte die Zentrale Autorität übernommen. Somit war endgültig klar, dass es sich bei der Zentralen Autorität ebenfalls um einen Roboter handelte, wahrscheinlich um einen komplexen Großrechner. Mehr darüber würde ich in Kürze erfahren. Vorerst jedoch interessierte mich anderes. »Warum gingen die Meister fort?« »Ich weiß es nicht mehr, Gebieter.« »Du wusstest es einst?« »Es gibt Anzeichen dafür, dass ich es einst wusste.« »Dein Gedächtnis wurde gelöscht?« »Auch dafür gibt es Anzeichen, Gebieter.« Meine Fragen brachten kein Ergebnis. Ich musste Dirikdak weiter berichten lassen. Vielleicht wurden die Zusammenhänge im Lauf der Zeit klar. Es schien, dass die Meister Oskanjabul nicht für immer
verlassen hatten, denn die Zentrale Autorität handelte nach einem Plan, der unter den Subjekten der höheren Kategorien als der »Plan der Meister« bekannt war und auf die Erhaltung der von den Meistern geschaffenen Einrichtungen und Anlagen abzielte. »So ging es viele Hunderttausende, ja sogar Millionen Terazyklen. Oskanjabul war noch immer eine geordnete Welt und sah in der Tat kaum anders aus als an den Zyklen, an denen die Meister den Planeten verließen. Wären sie zurückgekehrt, hätten sie sofort wieder ihre Wohnungen beziehen und ihre Anlagen wieder in Betrieb nehmen können.« Er machte eine Pause. »Dann aber geschah die große Änderung.« Fartuloon und ich blickten ihn gespannt an. Was jetzt kam, fühlten wir, war die Erklärung der eigenartigen Verhältnisse, die auf Oskanjabul herrschten.
Der Plan der Meister wurde für ungültig erklärt. Nach dem Willen der Zentralen Autorität war alles Wirken der Robotbevölkerung von da an nicht mehr auf Erhaltung, sondern auf Erweiterung des Geschaffenen abzustimmen. Die technischen Einrichtungen des Planeten sollten nicht nur erhalten, sie sollten vergrößert werden. Zu diesem Zweck waren alle Subjekte der höheren Kategorien – also alle diejenigen, die um den Plan der Meister gewusst hatten – umzuprogrammieren. Die Zentrale Autorität besorgte dies zielbewusst und in aller Eile. Die Eile war wohl schuld, dass in den Gedächtnissen vieler Subjekte – zum Beispiel in dem Dirikdaks – eine vage Erinnerung an die Zeit vor der großen Änderung zurückblieb. Hier war die Antwort auf meine früheren Fragen: Der Robotvogel erinnerte sich – infolge eines Fehlers bei der Umprogrammierung – daran, dass es einen Plan der Meister vor dem Zentralen Erweiterungsplan gegeben hatte. Aber eben infolge der
Umprogrammierung wusste er auch nicht mehr, worum es bei diesem Plan im Einzelnen gegangen war. Vor allen Dingen hatte er die Erinnerung daran verloren, warum die Meister von Oskanjabul weggegangen waren und wann – oder ob überhaupt – sie zurückzukehren gedachten. Dirikdak schilderte nun die Aktivitäten der Zentralen Autorität nach der Einführung des Zentralen Erweiterungsplans. Ihm, dem Roboter, erschienen sie durchaus den Erfordernissen des neuen Planes angemessen. Aber für uns, Fartuloon und mich, hörten sie sich äußerst kurios an. Die Zentrale Autorität, so schien es, hatte die notwendigen Kräfte für die geplante Erweiterung dadurch erhalten, dass sie bald auf die Erhaltung des von den Meistern Geschaffenen verzichtete. In der Wildnis, außerhalb des Bereichs der Städte der Meister, wurden neue Städte, neue Fertigungs- und Versorgungsanlagen geschaffen. Die Städte blieben leer, die Fertigungsstätten fertigten nichts, es gab niemand, den die Versorgungsanlagen hätten versorgen können. Aber dem Zentralen Erweiterungsplan war Genüge getan – auch wenn die alten Städte, die noch unter dem Regime der Meister erbaut worden waren, allmählich überwuchert wurden und zu Staub verfielen. Aber selbst die neu erschaffenen Städte schienen, wie aus Dirikdaks Bericht hervorging, nicht für die Ewigkeit geschaffen. Erstens unterliefen den mit dem Bau beauftragten Robotern offenbar ernsthafte Konstruktionsfehler, zweitens wurden die neuen Städte, sobald sie errichtet waren, wie die alten sich selbst überlassen und begannen zu zerfallen. So, schilderte der Robotvogel, ging es bis zu den aktuellen Zyklen. »Im Vergleich zu den im Verlauf der großen Änderung nicht gelöschten Speicherinhalten, die sich auf zielbewusstes Handeln der Robotbevölkerung nach dem Weggang der Meister beziehen, erscheint mir die Verhaltensweise der Zentralen Autorität in mancher Beziehung mangelhaft, ohne Übersicht und
ziellos.« Mit dieser gewichtigen Feststellung beendete Dirikdak seinen Bericht. Ich versank in Gedanken. Es war mir klar, dass die Urprogrammierung des Roboters namens Zentrale Autorität irgendwann im Lauf seines Daseins empfindlich gestört worden war und dass er sich seitdem nicht mehr logisch verhielt, wie es von einem Roboter eigentlich erwartet werden konnte. Mir kam zum Bewusstsein, dass sich Akon-Akons Pläne ohne Weiteres hätten durchführen lassen, sogar nach dem Weggang der Meister, wäre nur die Urprogrammierung der Zentralen Autorität nicht gestört worden. Diese Störung hatte Astalaph, Leeron und Tamirot das Leben gekostet. Während ich diesen Überlegungen nachhing, war Fartuloon mit ganz anderen beschäftigt. Das bewiesen die Fragen, die er an Dirikdak richtete. »Befindet sich die Zentrale Autorität in dieser Stadt?« »Ja, Gebieter.« »Was sind das für sonderbare Gewächse, die alle Straßen und die niederen Gebäude überwuchern?« »Es handelt sich um den Zweitausendjahresdorn.« »Zweitausendjahresdorn?« »Die Meister haben ihm diesen Namen gegeben. Der Zweitausendjahresdorn ist eine Pflanze, die regelmäßig zu gewissen Zeiten auf der Oberfläche dieses Planeten auftaucht. Sie sprosst und grünt während eines kurzen Zeitraums und stirbt. Ihr Same aber liegt lange Zeit im Boden oder wird von den Winden umhergetrieben, bis schließlich der Zyklus der Keimung kommt.« »Und dann…?«, fragte Fartuloon mit so viel Spannung, dass ich stutzig wurde. »Dann bricht der Same auf, der Dorn sprosst überall hervor. Er lebt nur kurze Zeit, aber in dieser Zeit überdeckt er alles mit seinem Gezweig.«
Warum interessierte sich mein Lehrmeister für den Zweitausendjahresdorn? Was hatte das allgegenwärtige Gewächs mit unseren Sorgen zu tun? Mit dem Kerlas-Stab, mit der Feindseligkeit der Zentralen Autorität? Er schien meine Fragen zu ahnen. Mit blitzenden Augen sah er mich an. »Ein alles überwucherndes Gewächs – vielleicht liegt darin die Erklärung?« Ich hatte keine Ahnung, von welcher Erklärung er sprach. Aber ich machte ihm nicht das Vergnügen, ihn danach zu fragen.
Letztlich gab es Fehlschläge über Fehlschläge. Die Zentrale Autorität hätte glauben müssen, in eine Pechsträhne geraten zu sein, wäre ihr der Begriff »Pech« vertraut gewesen. Zunächst war festgestellt worden, dass es sich bei dem neuen Fall von Unbotmäßigkeit um eben das Subjekt handelte, das Kontakt mit den beiden Fremden aufgenommen und sie ins Analysezentrum geführt hatte. Die Zentrale Autorität versuchte zu ergründen, ob die Unbotmäßigkeit etwa durch die Begegnung mit den Fremden hervorgerufen worden sei. Aber sie fand in ihren Gedächtnisspeichern kein Denkmuster, das sich auf diesen Fall hätte anwenden lassen. Infolgedessen blieb die Frage unbeantwortet. Sodann erteilte die Zentrale Autorität den Befehl, in das Analysezentrum vorzudringen und die Fremden festzunehmen. Durch den Einsturz der Decke und den Wall, der sich gebildet hatte, war ihre Bewegungsfreiheit derart eingeschränkt, dass mit ernst zu nehmendem Widerstand nicht mehr gerechnet zu werden brauchte. Die aus mehr als fünfzig Subjekten verschiedenster Kategorien bestehende Streitmacht drang unverzüglich in das Analysezentrum ein. Während Roboter der unteren Kategorien den aus Trümmern bestehenden Wall zur Seite räumten, umstellten die Subjekte der höheren Klassen das vermeintliche Gefängnis und sorgten dafür, dass die Fremden nicht entkommen konnten. Ein paar niedrigere Subjekte
mit langen, beweglichen Fangarmen wurden ebenfalls bereitgestellt, um die Fremden zu fassen, falls sie den inneren Ring der Belagerer doch durchbrechen sollten. Nach wie vor war die Zentrale Autorität daran interessiert, die Unbekannten unversehrt in ihre Gewalt zu bringen. Die Roboter waren deshalb angewiesen, auf die Anwendung energetischer Gewalt völlig zu verzichten und mechanische Gewalt nur in dem Maß anzuwenden, in dem sie von den Fremden ohne nachhaltigen Schaden ertragen werden konnte. Aber all die umfangreichen Vorbereitungen erwiesen sich als nutzlos. Dem Eifer der mit der Räumung beauftragten Subjekte war entgangen, dass der Wall an einer Stelle schon nicht mehr komplett war, dass es einen schmalen, niedrigen Stollen gab, der ins Innere des Gefängnisses führte. Als sie die Trümmermassen abgetragen und ebenmäßig über den Boden der Halle verstreut hatten, blieb ihnen nur noch festzustellen, dass die Gesuchten längst verschwunden waren. Die Zentrale Autorität erhielt sofort Nachricht. Die erste Reaktion der großen Maschine auf diese Katastrophenbotschaft lautete: Die von den beiden Fremden ausgehende Gefahr erreicht ein kritisches Stadium. Eine Folgerung wurde ebenfalls sofort gezogen: Vorkehrungen zur Abwehr weiterer Bedrohung durch die Fremden sind unverzüglich zu treffen. Damit war das Prinzip des weiteren Verhaltens festgelegt. Nur eine kleine, aber nicht unbedeutende Ergänzung fehlte noch: Auf die physische Unversehrtheit der Gesuchten darf nun keine Rücksicht mehr genommen werden. Auf das Prinzip hatten die Details der Durchführung zu folgen: Der gegenwärtige Standort der Gesuchten ist auszumachen, die Gesuchten sind von nun an zu aller Zeit unter Beobachtung zu halten. Aber damit nicht genug. Die Zentrale Autorität wollte sich nicht aufs reine Reagieren beschränken: Die Vorgehensweise der Fremden ist zu analysieren. Tendenzen, die eine Vorhersage des weiteren Verhaltens der Fremden ermöglichen, sind zu ermitteln. Diese Weisung war nur an Subjekte der höchsten zehn Kategorien gerichtet, andere hatten keine nennenswerten logisch-analytischen
Fähigkeiten. Die Zentrale Autorität gab sich jedoch mit der Befehlsausgabe nicht zufrieden. Sie stellte eigene Überlegungen an, die nicht auf der Beobachtung des Verhaltens der Fremden beruhten, sondern auf allgemein logisch-kombinatorischen Überlegungen zur typischen Freund-Feind-Situation, die hier entstanden war. Die Möglichkeit, dass sich das unbotmäßige Subjekt der Kategorie sieben mit den beiden Gesuchten verbündet habe, wurde ebenfalls in Erwägung gezogen. Das auf dieser Basis erzielte Kombinationsresultat war alarmierend. Es lautete: Es besteht eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass die Fremden versuchen, den Standort der Zentralen Autorität ausfindig zu machen und diesen unmittelbar anzugreifen!
Wir bewegten uns durch einen der zahllosen schattig-grünen Gänge, die die Roboter der Zentralen Autorität durch den Dombuschdschungel getrieben hatten. Manchmal blieb Dirikdak stehen und wies mit wippendem Kopf auf kleine braune Kapseln hin, die von den Ästen und Zweigen des Busches hingen und aussahen wie Nüsse mit pelziger Schale. »Das sind die Samenkapseln«, sagte er zum wiederholten Mal. »Im Lauf der nächsten zwanzig bis dreißig Terazyklen werden sie heranreifen und schließlich platzen. Danach beginnt der Zweitausendjahresdorn zu sterben. Der ausgestreute Same dringt bis in die hintersten Ritzen und Winkel und wartet dort, bis die Zeit zur Keimung kommt.« Wir verstanden inzwischen genug von seiner Zeitrechnung, um zu wissen, dass ein Arkontag normaler Länge ungefähr zwei Terazyklen ausmachte. Er sprach also von zehn bis fünfzehn Pragos, die die Kapseln noch bis zur Reife brauchten. Ein Tag auf Oskanjabul unterschied sich, wie wir erfahren hatten, nur unwesentlich von einem arkonidischen Standardtag. Wobei wir übrigens bei einer Beobachtung waren, die uns allmählich Sorge
zu bereiten begann – die gelbe Sonne sank dem Horizont entgegen. Wir wussten nicht, wo wir uns in der verlassenen Weite der uralten Stadt befanden, hatten uns der Führung des Robotvogels rückhaltlos anvertraut Notfalls hätten wir ihn wahrscheinlich dazu veranlassen können, uns zur Transmitterhalle zurückzuführen. Aber wie würde Akon-Akon uns empfangen, kamen wir mit leeren Händen, ohne den Kerlas-Stab? In der Dunkelheit waren uns die Robottruppen der Zentralen Autorität überlegen. Es gab Dutzende Kategorien, deren Sehvermögen im Finsteren ebenso funktionierte wie bei Tageslicht. Diese Kenntnis hatten wir selbstverständlich von Dirikdak, unserem Begleiter, und der wiederum bezog sie sozusagen aus erster Hand, denn er war selbst mit einem Nachtsichtsystem ausgestattet. In der Finsternis würden wir uns auf ihn verlassen müssen. Das missfiel Fartuloon, wie ich an seinen geknurrten Bemerkungen erkannte. Er verließ sich nicht gerne auf andere Augen – umso weniger noch, gehörten sie einem Roboter von zweifelhafter Programmierung. Unterwegs wies er mich mehrere Male auf die ungeheure Fruchtbarkeit des Zweitausendjahresdorns hin, zeigte mir die Stellen, an denen die Strünke mit unvorstellbarer Wucht durch den aus hartem Guss gefertigten Straßenbelag drangen. Er wies mich darauf hin, dass es dem Dorn, obwohl er nur kurze Zeit lebte, offenbar ein Leichtes war, die stärksten Gebäudemauern zu durchdringen und zu sprengen. Und er äußerte die Vermutung, dass die Verwüstung der Stadt in erster Linie auf die in regelmäßigen Abständen wiederkehrende Aktivität des Zweitausendjahresdorns zurückzuführen sei. Ich hörte ihm aufmerksam zu. Mittlerweile glaubte ich zu wissen, worauf mein Lehrmeister hinauswollte. Aber wenn er glaubte, er könne mich durch seine geheimnisvollen Bemerkungen und Andeutungen zu einer direkten Frage verführen, hatte er sich getäuscht. Dirikdak führte uns in Richtung der Zentralen Autorität,
hatte uns das Gelände in seinen Worten beschrieben. Die Zentrale Autorität residierte demnach in einem Gebäude von ungewöhnlicher Größe mitten im Stadtzentrum. Die Gegend rings um das Gebäude war von wenigstens zwei aufeinander folgenden Dornbuschgenerationen förmlich eingeebnet worden. Schließlich hatte die Zentrale Autorität einen Zusatz zum Zentralen Erweiterungsplan beschlossen, in dem sie festlegte, dass während der Blütezeit des Zweitausendjahresdorns das Gebäude und die Trümmerwüste ringsum bis zu einem Abstand von rund zwei Kilometern von den Ranken frei zu halten seien. Diese Anordnung passte schlecht zu unserem Vorhaben. Bei der ungeheuren Wuchskraft des Dornbuschs bedeutete sie ohne Zweifel, dass es in der Umgebung der Residenz der Zentralen Autorität von Robotern wimmelte. Wir dagegen hatten vor, das Gebäude unbemerkt in Augenschein zu nehmen. Glücklicherweise verstand Dirikdak unsere Befürchtungen und führte uns auf gewundenen Schleichwegen bis an den Rand des Trümmerfeldes, in dessen Mitte das große Gebäude aufragte. Inmitten der Ruinen bot das Bauwerk einen imposanten Anblick. Im Schein der untergehenden Sonne lag es vor uns, mit glatten, steil aufstrebenden Wänden, die von keinem einzigen Fenster durchbrochen wurden. Die Wände bildeten eine Serie von hohen Stufen, sodass das Gebäude insgesamt das Aussehen einer steil ansteigenden, oben mit einem Plateau versehenen Stufenpyramide hatte. Ihre Grundfläche maß mindestens zweitausend zu zweitausend Meter, die Höhe schätzte ich auf achthundert bis tausend. Wir lagen am Rand eines Dornbuschgestrüpps und nahmen den Anblick in uns auf. Das Gebäude war, wie von Dirikdak angekündigt, etwa zweitausend Meter entfernt. Die Trümmerwüste, die sich zwischen uns und der Residenz der Zentralen Autorität erstreckte, war keineswegs eben, sondern von Überresten von Mauern und Gebäudewänden bedeckt. Über den
Trümmern bewegten sich in langsamem Gleitflug Dutzende Roboter; sie waren auf der Suche nach Dornbuschschösslingen, auf die sie sich sofort stürzten und sie mit einem halb flüssigen, halb gasförmigen Gemisch vernichteten, das sie auf die widerspenstige Pflanze sprühten. Dirikdak identifizierte die Roboter als Subjekte der Kategorien 80 bis 110. Sie hatten wenig eigene Intelligenz; es war kaum zu erwarten, dass sie uns gefährlich werden konnten. Fartuloon stieß mir den Ellbogen in die Seite. »Hast du dir das Bauwerk genau angesehen, mein Junge?« »Ja.« »Ist dir etwas aufgefallen?« »Die Architektur. Es ist offenbar das einzige Gebäude in der ganzen Stadt, das nicht aus einem Baukasten von Fertigteilen errichtet wurde.« »Unsinn. Das meine ich nicht.« »Was sonst?« »Sieh dir die unterste Pyramidenstufe an. Vergleich den Neigungswinkel der rechten Wand mit dem der linken.« Jetzt, da er mich auf die Eigentümlichkeit aufmerksam machte, stach sie derart ins Auge, dass ich unwillkürlich herausplatzte: »Die linke Wand steigt wesentlich steiler an.« »Richtig. Glaubst du, dass das Bauwerk ursprünglich symmetrisch errichtet wurde? Mit gleichen Steigungswinkeln auf allen Seiten?« »Ja.« »Dann hat sich also etwas verschoben, nicht wahr?« »Vielleicht gibt es auch eine andere Erklärung.« »Es gibt keine. Sieh in die Höhe. Betrachte die Wand der vierten Stufe, auf der Seite, die uns zugewandt ist. Was siehst du in halber Höhe?« Ich musste mich anstrengen, um das wahrzunehmen, worauf Fartuloon meine Aufmerksamkeit lenken wollte. Ein Riss zog
sich durch die Wand, etwa von der Mitte der Stufe bis hinauf zu ihrer Oberkante. »Ich sehe es.« »Ein Riss, die Ungleichheit der Steigungswinkel auf der untersten Ebene. Zu welchem Schluss kommst du?« »Dass die Form des Gebäudes gewaltsam verändert worden ist.« »Richtig. Und durch wen?« »Durch den Zweitausendjahresdorn!« »Auch das ist richtig. Die Zentrale Autorität hat zwar den Befehl gegeben, die Umgebung ihrer Residenz von dem hartnäckigen Gewächs frei zu halten. Aber innerhalb des Gebäudes war sie anscheinend entweder macht- oder ratlos. Somit wuchert der allgegenwärtige Dornbusch unter dem Bauwerk, und es würde mich nicht wundern, wäre das irrationale Verhalten der Zentralen Autorität auf einen Spross zurückzuführen, der sie irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht hat.« Das also war seine Theorie, die ich schon durchschaut hatte. Der Anblick des Gebäudes schien ihm Recht zu geben. »Was hast du vor?« »Ich male mir aus, wie die Zentrale Autorität uns empfangen haben würde, hätte der Zweitausendjahresdorn sie nicht in ihrem Denkprozess gestört. Ich halte Akon-Akon zugute, dass sein Wissen grundsätzlich richtig ist. Ohne das unberechenbare Spiel des Zweitausendjahresdorns wären wir auf Oskanjabul freundlich empfangen worden.« Das war etwas, worüber sich nachzudenken lohnte. Die Meister hatten die Launen der tückischen Pflanze nicht voraussehen können. In Akon-Akons gespeichertem Wissen gab es kein Kapitel, das mit »Der Zweitausendjahresdorn« überschrieben war. Niemand hatte geahnt, dass ausgerechnet ein Gewächs den Plan der Meister so gründlich durcheinanderbringen würde. Ich wiederholte meine Frage: »Was also hast du vor?« Fartuloon deutete auf die Stufenpyramide, die weit vor uns
aufragte. »Ich möchte in das Gebäude eindringen und nachsehen, ob die Störung rückgängig gemacht werden kann. Ich betrachte die Zentrale Autorität als eine Maschine mit gestörtem logischem Gleichgewicht und will versuchen, das Gleichgewicht wiederherzustellen.« Das war ein bestechender Plan. Aber ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken. Aus heiterem Himmel eröffneten die Heerscharen der Zentralen Autorität den Angriff.
Plötzlich war ein wildes Brausen in der Luft, ein allumfassendes Scharren, Knacken und Rauschen auf dem Boden. Aus Verstecken, die wir nicht wahrgenommen hatten, schossen fremdartig aussehende Roboter und bewegten sich mit atemberaubender Geschwindigkeit auf unser Versteck zu. Sie kamen aus der Trümmerwüste vor uns ebenso wie aus den Tiefen des Dornbuschdschungels ringsum. Sie waren überall, wussten genau, wo wir uns versteckt hielten, und griffen von allen Seiten an. »Zurück!«, zischte Fartuloon. »Dirikdak – führ uns auf einen Pfad, der schräg von der Lichtung ins Dickicht verläuft.« »Ich kenne einen solchen Pfad.« Der Robotvogel übernahm die Führung. »Dieser Angriff ist ernst zu nehmen. Ich erkenne unter den Angreifern Subjekte der Kategorien achtundachtzig bis neunzig. Sie sind schwer bewaffnet. Die Zentrale Autorität hat zweifellos die Absicht, euch unversehrt zu fassen, aufgegeben.« Wir hatten damit rechnen müssen. Dirikdak bewegte sich mit einer Eile, die der Bedrohlichkeit der Lage durchaus angemessen war. Hinter uns – dort, wo wir uns bis vor wenigen Augenblicken versteckt hatten – fauchten und donnerten die Waffen der Roboter. Unser Versteck wurde eingeäschert. Qualm stieg in den abendlichen Himmel, eilte hinter uns her und holte uns ein. Während ich den Gang entlangrannte, zu dem der
Robotvogel uns geführt hatte, horchte ich aufmerksam. Es schien, als griffe der größere Teil der feindlichen Streitmacht vom Trümmerfeld her an. Im Dornbusch selbst operierten nur wenige und wahrscheinlich kleine Robotertrupps. Ich brauchte nicht lange darüber nachzudenken, um zu erkennen, was das bedeutete. Die Zentrale Autorität hatte vor, uns in den Busch abzudrängen. Vielleicht geschah das nur aus der Besorgnis heraus, wir könnten ihrem Standort zu nahe kommen. Aber wäre es ausschließlich ums Abdrängen gegangen, hätte der Gegner nur vom Trümmerfeld her anzugreifen brauchen. Die Robottruppen im Busch wären überflüssig gewesen. Es ging also um etwas anderes. Als ich das Prasseln des Feuers hörte, das von unserem Versteck am Rand des Trümmerfeldes aufstieg und sich rasch durch den trockenen Dornbusch verbreitete, wusste ich, was der Rechner vorhatte. Das Feuer sollte uns vernichten. Wir sollten in den Busch abgedrängt werden – aber nicht irgendwohin, sondern dorthin, wo der Dornbusch eine möglichst weite, ununterbrochene Fläche bildete, sodass wir den Flammen nicht ausweichen konnten. Weil die Gefahr bestand, dass wir uns auf der Flucht in die falsche Richtung wandten, waren über den Dombuschdschungel kleine Robotgruppen verstreut, die uns nötigenfalls zusetzen und in die gewünschte Richtung treiben sollten. Fartuloon blieb stehen. Auf seinen Ruf hin hielt auch der Robotvogel an. In unmittelbarer Nähe war es ruhig. Es schien keine Gefahr zu geben. »Wie weit sind wir vom Rand des Trümmerfeldes entfernt?« Dirikdak antwortete mit einer Angabe, die umgerechnet etwa zweihundert Metern entsprach. »Weiter vom gibt es einen Pfad, der unmittelbar zum Rand der Lichtung führt.« Fartuloon wehrte ab. »Den dürfen wir nicht benutzen. Wahrscheinlich ist er besetzt.« Es wurde dunkel. Trotzdem machten wir uns daran, das Dornbuschdickicht zu durchqueren. Dirikdak war bereit, einen
Pfad für uns zu bahnen. Aber das war dem Bauchaufschneider zu langsam. Wir mussten uns brachial durchschlagen. Unsere Kleidung war ausreichend widerstandsfähig, unsere Haut nicht. Deshalb schlossen wir die Folienhelme. Dennoch wurde es ein beschwerlicher Marsch, bei dem Fartuloon das vom Desintegratorfeld umgloste Dagorschwert mit wuchtigen Hieben einsetzte. Im ungewissen Dämmerlicht lag schließlich die Ebene der Trümmer vor uns. Weit im Hintergrund erhob sich die Stufenpyramide als düsteres, drohendes Gebilde. Von überall her drang der Lärm der Robotscharen zu uns. Die Angreifer hatten unsere Spur verloren. Ihre donnernden, fauchenden Salven drangen wahllos in die wuchernde Masse des trockenen Dornbuschs; jeder Treffer erzeugte einen neuen Brandherd. Die Luft war mit Rauch geschwängert. Ohne geschlossene Helme wären wir bald erstickt. »Ich habe die Roboter mitten aus den Trümmern emporsteigen sehen«, sagte Fartuloon, zu Dirikdak gewandt. »Das heißt, es muss dort Gänge und Stollen geben, in denen sie sich versteckt hielten, bevor sie uns angriffen.« »Es gibt sie. Aber ich kenne ihre Lage nicht.« »Das macht nichts. Wir werden sie zu finden wissen.« Er kroch als Erster auf das Trümmerfeld. Hinter uns tobte der Lärm der Angreifer. Sie wussten nicht, wo wir waren; aber die Logik, der sie gehorchten, sagte ihnen, dass wir nur im Gestrüpp des Dornbuschs Zuflucht gesucht haben konnten. Mit Fartuloons verwegenem Plan, einen Haken zu schlagen und auf dem schnellsten Weg zum Rand des Trümmerfelds zurückzukehren, rechneten sie nicht.
Die Stelle, von der aus wir vordrangen, war weit über tausend Schritte von unserem vorherigen Versteck entfernt. Es war
inzwischen fast völlig finster geworden, das hieß, dass die Sonne untergegangen war, sodass sich der fremde Himmel, soweit wir ihn sehen konnten, dunkel über uns ausbreitete. Nur am Rande wurde mir bewusst, dass die Anzahl der sichtbaren Sterne gegenüber Kledzak-Mikhon deutlich verringert war und wir uns demnach nicht mehr im Bereich des galaktischen Zentrums befanden. Hinter uns leuchtete der rötliche, qualmende Brand des Dombuschs. An mehr als einem Dutzend Stellen loderten die Flammen in die Nacht. Die Brandherde breiteten sich rasch aus und würden sich in absehbarer Zeit miteinander vereinigen. Diesmal verzichtete die Zentrale Autorität darauf, Löschtrupps zu schicken. Sie vermutete uns irgendwo dort draußen, mitten im Dickicht; die Feuersbrunst diente ihr als tödliche Waffe. Da uns Dirikdak bei der Suche nicht helfen konnte, übernahm Fartuloon die Führung. Geschickt turnte er über die Trümmerstücke. Jede Deckung, jeden Schatten nutzte er aus. Gelände, das völlig vom Schutt bedeckt war, hielt er für ganz und gar uninteressant und versuchte, es so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Nur dort, wo der Boden zutage trat, verweilte er länger und suchte aufmerksam nach den Stolleneingängen, die er hier vermutete. Trotz aller Aufmerksamkeit, mit der wir zu Werke gingen, hätten wir wahrscheinlich die ganze Nacht lang suchen können, ohne auch nur die Spur zu finden. Dass unserer Suche dennoch schon nach kurzer Zeit Erfolg beschieden war, verdankten wir nicht unserer Sorgfalt, sondern der Fehlprogrammierung eines der Subjekte, das die Zentrale Autorität abgestellt hatte, um die kritischen Stollenmündungen zu bewachen. Wir näherten uns, hüpfend und kletternd, einem Mauerrest. Fartuloon war wie immer weit voraus. Das wäre ihm fast zum Verhängnis gewesen. Plötzlich leuchtete es hinter dem Mauerrest grell auf, ein armdicker Energiestrahl entstand fauchend. Der Bauchaufschneider wäre verloren gewesen, hätte er nicht in
diesem Augenblick den Halt verloren. Mit einem zornigen Fluch, dessen letzte Worte im Fauchen untergingen, rutschte mein Lehrmeister in einen Spalt zwischen zwei Trümmerklötzen, der Glutstrahl fuhr über ihn hinweg. Ich ging sofort in Deckung. Auch Dirikdak suchte sich einen Ruinenrest, hinter dem er Schutz fand. Fartuloon war rasch wieder auf den Beinen, wandte sich nach rechts. Der Schuss war links hinter dem Mauerstück hervorgekommen. Mit unglaublicher Gelenkigkeit sprang Fartuloon von Stein zu Stein, schien zu ahnen, wann der unsichtbare Gegner den Auslöser betätigte. Denn jedes Mal, wenn es hinter der Mauer aufblitzte, hatte sich Fartuloon in einen Spalt oder in eine Lücke verkrochen, sodass ihm der Strahl nichts anhaben konnte. Das entscheidende Manöver ging von Dirikdak aus. Der metallene Vogel sprang plötzlich auf, stieß ein lautes, keckerndes Geräusch aus und hüpfte mit grotesken Bewegungen auf die Mauer zu. Ich schrie hinter ihm drein, wollte ihn zurückrufen. Aber er hörte nicht auf mich. Mitten im Sprung warf er sich zur Seite; der Energiestrahl, der ihm den Garaus hatte machen sollen, fauchte vorbei. Fartuloon nutzte die Chance. Mit weiten Schritten hetzte er zur Mauer. Ich sah ihn dahinter verschwinden – gerade als Dirikdak mit einem aberwitzigen Sprung einem zweiten Schuss um Haaresbreite entging. Ich hörte den Strahler des Bauchaufschneiders fauchen, Augenblicke später donnerte hinter der Mauer eine Explosion. Das Mauerstück stürzte zur Hälfte ein. Eine rot leuchtende Glutwolke stieg auf und verlor sich rasch in der Nacht. »Kommt her!«, gellte Fartuloons Schrei. »Ich habe den Eingang gefunden.« Ich sprang auf, während Dirikdak mit einem letzten Hüpfer über die Mauer hinwegsetzte. Hinter dem baufälligen Rest des Gemäuers stand Fartuloon neben einer torbogenartigen Öffnung, die in einen Trümmerberg führte. Im roten Widerschein des
brennenden Dombuschs sah ich, dass der Boden des Ganges schräg in die Tiefe führte. »Das ist es«, sagte der Bauchaufschneider triumphierend. »Wir sollten uns sofort an die Arbeit machen, weil ich annehme, dass der Zentralen Autorität spätestens in diesem Augenblick ein Licht aufgeht, wo wir uns befinden…«
12. Drei Hauptprozessoren der Zentralen Autorität waren mit der Steuerung des Kampfes gegen die beiden Fremden beschäftigt. Ihre Tätigkeit hatte absolute Priorität. Andere Prozessoren, vor allem diejenigen der Peripherie, hatten so gut wie keine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Zentralen Autorität auf sich zu lenken. Einem der peripheren Prozessoren gelang es dennoch, weil er in seiner Hartnäckigkeit nicht aufhörte, der Zentralen Autorität Alarmsignale zu senden. Als er schließlich durchdrang, schien es, dass seine Meldung von so großer Bedeutung eigentlich gar nicht war – ein weiteres Subjekt war unbotmäßig geworden, ein mittelschwer bewaffneter Roboter vom Typ »Kämpfer«, Kategorie achtzehn. Gemäß den Vorschriften, die die Zentrale Autorität sich selbst gegeben hatte, musste dem Fall aber unverzüglich nachgegangen werden. Dabei stellte sich heraus, dass hinter dem neuen Fall von Unbotmäßigkeit mehr steckte, als zunächst zu erwarten war. Letzter Standort des als unbotmäßig Gemeldeten war das Innere Planquadrat. Dies war das Zentrum des Koordinatennetzes, nach dem sich die Zentrale Autorität orientierte. Ihr eigener Standort befand sich im Inneren Planquadrat. Etwa achtzig Subjekte waren abgeordnet worden, die Zugänge zur Residenz der Zentralen Autorität zu bewachen – für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Fremden statt in den Dornbusch auf die Trümmerebene flohen. Sämtliche achtzig Subjekte, allesamt der Kategorie achtzehn zugehörend, befanden sich im Inneren Planquadrat. Die Zentrale Autorität stellte Nachforschungen an. Während einiger Millionen Zyklen wurde die Aktivität der drei Hauptprozessoren in regelmäßigen Abständen unterbrochen, damit der Nachforschungsprozess so rasch wie möglich zum Ziel kam. Der als unbotmäßig Gemeldete war mit der Bewachung eines geheimen Zugangs beauftragt.
Der Versuch, einen Echokontakt herzustellen, misslang. Das infrage stehende Subjekt existierte nicht mehr. Die Zentrale Autorität wandte alle Denkmuster an, die zu dieser schwierigen Frage irgendwie in Bezug standen, um eine Erklärung zu finden. Die Antwort: Das bezeichnete Subjekt wurde gewaltsam zerstört. Und weitere Denkmuster, die mit dem Freund-Feind-Verhältnis in allgemeiner und mit der aktuellen Situation in besonderer Weise zusammenhingen: Als wahrscheinliche Urheber der Zerstörung des benannten Subjekts kommen in erster Linie die beiden Fremden infrage. Der Rest war reine Kombinatorik: Es muss als wahrscheinlich betrachtet werden, dass sich die Fremden zum Sitz der Zentralen Autorität bewegte. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Tätigkeit der drei Hauptprozessoren endgültig unterbrochen. Es gab keine Schlacht im Dornbusch. Die gefährlichen Fremden hatten angesichts der angreifenden Roboterscharen den Ausweg gewählt, dem von vornherein so geringe Wahrscheinlichkeit beigemessen worden war, dass die Zentrale Autorität keinen Anlass gesehen hatte, sich auf diese Möglichkeit einzurichten. Das erwies sich nachträglich als Fehler. Es galt jetzt, die Folgen des Fehlers zu bereinigen. Der Befehl war unmissverständlich: Sämtliche Streitkräfte der Kategorien achtundachtzig bis neunzig verfolgen ab sofort die in den Komplex der Zentralen Autorität eingedrungenen Fremden und lassen nichts unversucht, diese zur Strecke zu bringen. Danach konnte die Zentrale Autorität nur warten. Sie hatte veranlasst, was in einer Lage wie dieser zu veranlassen war. Aber seit der ersten Begegnung mit den Fremden hatte sie neue Denkmuster zu entwickeln begonnen. Und aufgrund der neuen Muster war sie nicht sicher, ob mit den soeben ausgegebenen Befehlen die Gefahr wirklich schon gebannt war.
Der Stollen war ziemlich steil, außerdem führte er in Windungen abwärts. Hätten wir nicht von Dirikdak gewusst, dass die
Installation der Zentralen Autorität ziemlich weit in die Tiefe reichte, hätten wir geglaubt, wir seien auf dem falschen Weg. Aber auch so war uns klar, dass wir irgendwo in der Nähe der Basis des Riesenrechners herauskommen würden. Die Finsternis im Stollen war vollkommen. Fartuloon hatte deshalb die Lampe eingeschaltet, die zur Ausstattung seiner Montur gehörte. Wir kamen rasch voran, der Boden war eben, nirgendwo auf unserem Weg gab es die Zeichen des Zerfalls und der Zerstörung, die oben im Gelände der Stadt so allgegenwärtig waren. Die Zentrale Autorität hatte es verstanden, sich selbst und ihre unmittelbare Umgebung vor dem Zerfall zu schützen – bis auf jenen Bereich, der zur Beschädigung der Stufenpyramide geführt hatte. Lange eilten wir dahin, ließen Windung um Windung des Stollens hinter uns, Dirikdak als Nachhut. Schließlich erreichten wir ein gerades Stück des Ganges, das sich über beträchtliche Distanz erstreckte und an dessen Ende ein Licht zu sehen war, das umso greller wurde, je mehr wir uns näherten. Der Stollen mündete in eine Halle von beachtlichen Ausmaßen. Trotz der grellen Beleuchtung war es schwer, die gegenüberliegende Wand zu erkennen. Die Seitenlänge des riesigen Raumes schätzte ich auf zweitausend Meter. Fast noch verwirrender war der Blick nach oben. In der Mitte der Halle erhob sich eine gigantische Maschine, die bis in schwindelnde Höhe strebte. Die vielleicht fünfzig Meter von ihr entfernten Hallenwände waren zunächst glatt und senkrecht, weiter oben neigten sie sich nach innen und waren in Stufen gegeneinander versetzt, der Gestalt der Maschine folgend, die sich ebenfalls verjüngte. Aus dem Untergrund blickten wir hinauf ins Innere der Stufenpyramide. Die gewaltige Maschine war die Zentrale Autorität selbst. Staunend sah ich an dem Koloss empor. Die Architektur des Rechners war ein sehr imposantes Gebilde. Ich hörte das leise Raunen, das von dem Giganten ausging und bewies, dass er arbeitete. Ob er uns wahrnahm?
Inzwischen bewegten sich Fartuloons Gedanken entlang weitaus praktischerer Bahnen: Er hatte begonnen, den Boden rings um den Maschinenkoloss abzusuchen. Es dauerte nicht lange, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Sein Ruf machte mich aufmerksam, ich ging zu ihm. Dort hatte der sonst glatte Boden der riesigen Halle einen Riss. Vielfach gezackt lief er zum Koloss, und je näher er ihm kam, desto breiter wurde er. Hier war eine gewaltige Kraft am Werk gewesen, die das harte Material des Bodens aufgesprengt und zum Bersten gebracht hatte. Wir folgten dem Verlauf des Risses. Wo er unter der Basis des gigantischen Rechners verschwand, hatte er eine Breite von mehr als einem Meter und schien bis in beträchtliche Tiefe zu reichen. Fartuloon beugte sich nieder, um so weit wie möglich unter die Basis der Maschine blicken zu können. Was er sah, irritierte ihn offenbar, denn er sprang sofort auf und eilte an der Basisplatte entlang, um auf die andere Seite des Maschinenkolosses zu gelangen. Ich folgte ihm. Nach langem Marsch erreichten wir das Ziel, befanden uns jetzt auf der Seite des Rechners, die der Stollenmündung, durch die wir gekommen waren, abgewandt war. Ich sah sofort, dass sich der Riss quer unter der Maschine entlangzog und sogar an der Seitenwand emporstieg. Fartuloon wies mit ausgestrecktem Arm in die Höhe. »Schau!« Ein verlässliches Augenmaß war erforderlich, um zu erkennen, was er meinte. Der Riss durchzog der Länge nach die gesamte Wand des gewaltigen Bauwerks, von der subplanetarischen Ebene hinauf bis zu den abgestuften Innenwänden der Pyramide. Und von hier aus erkannte ich, dass der Koloss des Rechners gegen die Wand des Gebäudes geneigt zu sein schien. Ob er es wirklich war oder ob sich vielmehr die Wand dem Rechner entgegengeneigt hatte, ließ sich schwer entscheiden. »Und jetzt finden wir die Lösung des Rätsels.« Er eilte von Neuem zur Maschine. Wo der Bodenriss unter ihrer Basis verschwand, warf er sich flach auf den Boden und
leuchtete mit der Lampe in die Finsternis. »Dachte ich es mir doch!«, rief er triumphierend. Ohne sich umzusehen, griff er nach mir und zog mich runter. Mein Blick folgte dem Lichtkegel und erfasste den grauen, rissigen Strunk einer Pflanze, die an dieser Stelle durch den Boden gewachsen und dabei gegen die ungeheure Masse des gigantischen Rechners gestoßen war. »Du hattest recht«, stieß ich hervor. Elastisch wie ein junger Mann sprang er auf. »Natürlich. Irgendwann in der Vergangenheit – vor zwei-, vier- oder sechstausend Jahren – stieß ein Spross des Zweitausendjahresdorns ausgerechnet hier nach oben. Er kam nicht weit, die Last der Zentralen Autorität stand ihm im Weg. Aber mit der ungeheuren Zähigkeit seiner Art stemmte er sich gegen den Druck und suchte nach einem Ausweg. Er fand keinen. Sein Kampf ums Überleben war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber bevor er starb, schaffte er etwas Bemerkenswertes – er sprengte die Basis der Zentralen Autorität und hob das Gebäude. Nur wenig, aber immerhin.« Nur so konnte es gewesen sein. Rechner, besonders große Rechner, waren durchaus empfindliche Gebilde. Sie erforderten eine überaus genaue Kalibrierung nicht nur auf energetischem, sondern auch auf mechanischem Gebiet. Der hartnäckige Dornbuschstrunk hatte nicht nur den Boden dieser Halle und die Seitenwand bis hinauf zur Pyramide gespalten, er hatte auch die Achse der Zentralen Autorität aus dem Lot gebracht. Das hatte ausgereicht, um für vermutlich winzige Sekundärschäden zu sorgen, die den Rechner in Verwirrung stürzten. In der Folge war das komplizierte Programmsystem durcheinandergeraten. Die Zentrale Autorität war an ihrer Aufgabe und an der Botmäßigkeit gegenüber den Meistern irre geworden. Wir wussten nicht, ob es lange gedauert hatte, bis sie sich einigermaßen wieder zurechtfand, aber sie war seither ein neues Wesen. Da sie sich
selbst aus der Verwirrung befreit hatte, erkannte sie nur noch die eigene Autorität an, schwang sich zur absoluten Herrscherin über den Planeten auf. Der Plan der Meister wurde durch den Zentralen Erweiterungsplan ersetzt. In Analogie kann man sagen: Die Zentrale Autorität ist geistesgestört, raunte der Logiksektor. Hervorgerufen durch den hartnäckigen Spross einer Pflanze! Fartuloon beugte sich abermals über den Spalt. »Wir sollten versuchen, der Zentralen Autorität wieder zu ihrem ursprünglichen Zustand zu verhelfen.« »Wie…?«, fragte ich ungläubig. Er deutete auf den halb versteinerten Strunk. »Das Holz ist unter dem Druck kristallisiert. Störe ich die kristalline Struktur, wird der Strunk langsam zerfallen. Die Basis des Rechners kehrt somit allmählich in die Ausgangslage zurück. Es könnte sein, dass sich auf diese Weise das Durcheinander beseitigen lässt, das der Dornbusch angerichtet hat.« Er zielte sorgfältig und gab eine kurze, energiearme Salve auf den Strunk ab. Es war fast keine Wirkung zu sehen, nur ein winziger, dunkel verfärbter Fleck auf der grauen, rissigen Oberfläche. Lag Fartuloon richtig, würde dieser Fleck dafür sorgen, dass das versteinerte Holz im Lauf der Jahre zerfiel. Ob die Zentrale Autorität dadurch, dass sich ihre Basis abermals verschob, wieder zu ihrer vollen Kapazität gelangte, würde die Zeit weisen, und wir, Fartuloon und ich, würden wahrscheinlich niemals davon erfahren. So weit war ich mit meinen Gedanken gekommen, als ich plötzlich Dirikdaks charakteristisch knarrende Stimme hörte: »Achtung, Gefahr!« Ich hatte den Metallvogel völlig aus den Augen verloren. Gleichzeitig mit seinem Schrei hörten wir das vielfältige Summen und Surren einer ganzen Armee von Robotern, die irgendwo in die Halle eingedrungen sein mussten.
»Hier rein«, zischte Fartuloon. Staunend sah ich, wie er sich über die Kante des Spaltes abließ. Ein solches Unterfangen erschien mir wahnwitzig, die Wände stürzten nahezu senkrecht ab. Ich fürchtete, er müsse sofort haltlos in die Tiefe stürzen. Er aber balancierte geschickt dicht unterhalb der Kante entlang und arbeitete sich entschlossen vorwärts, sodass er bald unter der Basis des riesigen Rechners verschwand. Unterdessen war das Brausen des Roboterheers lauter geworden. Nicht mehr lange, bis eine der Maschinen um die nächste Ecke des Rechnerkolosses bog. Mir blieb kein anderer Ausweg, ich musste Fartuloon folgen. Die Angst trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich krallte mich an der Kante des Spaltes fest und ließ die Beine vorsichtig in die Tiefe gleiten. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass die Wand längst nicht so glatt und steil war, wie ich befürchtet hatte. Es gab Nischen und Erker, Risse und Vorsprünge, auf denen die Füße Halt fanden. Hastig arbeitete ich mich vorwärts. Als ein Schatten auf mich fiel, duckte ich mich furchtsam in die schützende Finsternis des Spalts. Aber kein Angreifer warf den Schatten, sondern die riesige Maschine der Zentralen Autorität selbst. Ich hielt an, um zu verschnaufen. Aus der Finsternis erklang Fartuloons ungeduldige Stimme: »Worauf wartest du? Glaubst du vielleicht, du wärest dort am Rand schon sicher?« Ich kroch weiter, wand mich über den leblosen Strunk des Zweitausendjahresdorns. Fartuloon hatte die Lampe längst ausgeschaltet, um sich nicht zu verraten. Am Geräusch seiner Bewegungen erkannte ich, dass er etwa acht bis zehn Meter entfernt war. Draußen war das Summen und Dröhnen mittlerweile so stark geworden, dass es nahezu jedes anderes Geräusch übertönte. Ich wusste nicht, wie viele Roboter die Zentrale Autorität gegen uns gehetzt hatte, aber alleine aus dem
Lärm, den sie vollführten, schätzte ich ihre Zahl auf nicht unter fünfhundert. Entdeckten sie uns, waren wir rettungslos verloren. Ich fragte mich, was wohl aus Dirikdak geworden sein mochte. Irgendwie hatte ich Zuneigung zu dem metallenen Vogel gefasst. Wahrscheinlich existierte er in diesem Augenblick schon nicht mehr. Er selbst hatte uns geschildert, wie erbarmungslos die Zentrale Autorität mit unbotmäßigen Subjekten verfuhr. Armer Vogel Dirikdak. Fartuloon hielt plötzlich an. Ich merkte es erst, als ich gegen ihn stieß. »Was nun? Warten wir hier, bis die Roboter wieder abziehen?« »Kennst du die Geduld von Robotern? Die Zentrale Autorität weiß, dass wir uns hier befinden. Sie wird ihre Truppen nicht abziehen, bevor sie uns gefasst haben.« »Und dann?« Er machte eine Geste. Es war zu finster, als dass ich sie hätte erkennen können, aber ich glaube, er zeigte nach oben. »Gäbe es nur einen Weg hinauf… Das Beste wäre, das Innere des Rechners so durcheinanderzubringen, dass die Zentrale Autorität nicht mehr weiß, wo oben und unten und wer Freund oder Feind ist.« Wir kletterten weiter. Draußen summte und brummte es, das Geräusch kam mit annähernd gleicher Intensität aus allen Richtungen – ein Zeichen dafür, dass sich die Roboter rings über die ganze Halle verteilt hatten. Fartuloon war schon wieder mindestens ein halbes Dutzend Schritte vor mir, als er einen halb erstickten Schrei ausstieß. Ich hielt sofort an, glaubte, dass er den Halt verloren habe und in die Tiefe gestürzt sei. Aber dann hätte ich ein Geräusch hören müssen, sosehr es auch von draußen summte und dröhnte. »Fartuloon?« Es kam keine Antwort. Ich widerstand nur mit Mühe der Versuchung, die Lampe einzuschalten. Plötzlich war mir unheimlich zumute. Langsam und vorsichtig kletterte ich weiter.
Jedes Mal, wenn ich mich einen Schritt vorwärts bewegt hatte, hielt ich an, lauschte und rief Fartuloons Namen. Er war spurlos verschwunden. Ich hangelte mich weiter vorwärts, musste etwa die Stelle erreicht haben, an der Fartuloons Schrei erklungen war. Ich streckte die rechte Hand tastend aus. Plötzlich war mir, als geriete ich in einen Sog, der nach oben gerichtet war. Er erfasste zuerst den ausgestreckten Arm, aber als ich vor Schreck den Griff der linken Hand lockerte, wurde ich, statt in die Tiefe zu stürzen, erfasst und in die Höhe gewirbelt. Das alles geschah so schnell, dass ich keine Zeit fand, mir über den merkwürdigen Vorgang Gedanken zu machen. Wie Fartuloon stieß ich einen Schrei aus.
Die abschätzende Vorausbeurteilung der Lage durch die Zentrale Autorität erwies sich binnen kurzer Zeit als richtig. Es gelang den hastig alarmierten Roboterscharen nicht, die Fremden vor dem Eindringen in die Innere Halle zu stellen. Einer der peripheren Prozessoren meldete: Die Fremden befinden sich in der Inneren Halle. Zum ersten Mal, seit die Fremden auf Oskanjabul waren, sah die Zentrale Autorität sie mit ihren eigenen Wahrnehmungsmechanismen. Das Bild unterschied sich nicht von dem, das ihr verschiedene Subjekte übermittelt hatten. Auch aus der Nähe konnte die Zentrale Autorität nicht eindeutig erkennen, ob es sich um Meister handelte oder nicht. Die Robottruppen, die die Spur der Fremden verfolgten, wurden umdirigiert. Jetzt brauchten sie nicht mehr gesucht zu werden. Die Fremden waren hier, in der Inneren Halle. Es war nur noch eine Frage von wenigen Gigazyklen, bis sie endlich unschädlich gemacht sein würden. Aber die Fremden stellten ihre Gefährlichkeit abermals unter Beweis. Als die alarmierten Robottruppen eintrafen, entzogen sie sich dem Blick der Zentralen Autorität – und es gab keine Spur, die darauf hinwies, wohin sie sich gewandt hatten. Die Zentrale Autorität befahl
der Robottruppe, in der Inneren Halle zu bleiben und nach den verschwundenen Fremden Ausschau zu halten. Sie sind durch keinen der Ausgänge verschwunden, argumentierte die Zentrale Autorität. Die Ausgänge liegen in meinem Blickfeld, überdies werden sie von einer ausreichenden Zahl fähiger Subjekte bewacht. Die Fremden befinden sich also noch in der Inneren Halle. Diese Folgerung war logisch und ohne Zweifel richtig. Trotzdem löste sie in der Zentralen Autorität eine Reihe selbstständiger Denkund Suchprozesse aus, die, wäre die Zentrale Autorität ein Lebewesen gewesen, als Ausdruck großen Unbehagens gewertet worden wären: Wie hatten sie verschwinden können, obwohl die gesamte Innere Halle im Blickfeld der Zentralen Autorität lag und sich die Fremden zweifellos noch hier befanden?
Während ich Hals über Kopf davongewirbelt wurde, kam mir der tröstliche Gedanke, dass mir offensichtlich keine Lebensgefahr drohte – wenigstens vorläufig noch nicht. Ich fühlte mich schwerelos, befand mich also im Sog eines künstlichen Schwerefelds und fiel. Fiel nach oben! Es gab im Innern des Kolosses einen Antigravschacht. Welchem Zweck er diente, war mir unklar. Auf jeden Fall funktionierte er noch. Ich war – wie Fartuloon – unversehens in den Einflussbereich des gravomechanischen Felds geraten und von ihm fortgerissen worden. Ich machte Körperbewegungen, die dem Zweck dienten, die schnellen, ungewollten Körperdrehungen zu dämpfen und zu bremsen, hatte ziemlich bald Erfolg und stürzte nun geradeaus, mit dem Kopf voran. Nach einiger Zeit sah ich ein Licht und die Silhouette: Fartuloon. Das Licht wurde intensiver. Gleichzeitig entfaltete das Feld eine bremsende Wirkung. Als ich den Rand des Schachtes erreichte, bewegte ich mich eben noch mit der Geschwindigkeit einer fallenden Flaumfeder und schwang mich hinaus. Sofort erfasste
mich die natürliche Schwerkraft; es gab in meinem Magen einen unangenehmen Ruck, Übelkeit machte mir für ein paar Augenblicke zu schaffen. Ich befand mich auf einer glatten, metallenen Fläche. Vor mir hockte Fartuloon, den Kombistrahler in der Hand, und musterte mich, als sorge er sich um meinen Gesundheitszustand. Ich sah mich um. Die quadratische Metallplatte hatte keinerlei Verbindung mit den vier senkrechten Seitenwänden, jenseits der Kanten ging es steil in die Tiefe. Auf allen Seiten gab es einen Zwischenraum von wenigstens sechs Metern. Nicht mehr als dreißig Meter über mir befand sich die flache Decke, vollständig als Leuchtkörper ausgebildet. Auf annähernd gleicher Höhe mit meinem Standort, dessen Fläche vielleicht fünfzig zu fünfzig Meter maß, gab es entlang der Wände einen umlaufenden Vorsprung, ein zwei Meter breites Band aus solide gegossenem Material. Einst ein Rundgang, auf dem sich an den Wänden entlangschreiten ließ. Dort war allerhand Gerät abgestellt, dem ich im Augenblick keine Aufmerksamkeit schenkte. Ein fernes, dröhnendes Geräusch erregte meine Aufmerksamkeit. Das waren die Roboter, erinnerte ich mich, die die Zentrale Autorität ausgesandt hatte. Das Geräusch kam aus der Tiefe. Ich kroch vorsichtig bis zum Rand der Metallplatte und spähte hinab. Hundert Meter tiefer befand sich die erste umlaufende Terrasse. Wir befanden uns also auf dem Dach des Maschinenkolosses, der Abdeckplatte des gigantischen Rechners! Tief unten sah ich zwischen den schwirrenden Gestalten der Roboter den kaum erkennbaren Riss im Boden der Halle. Die Laune des Zufalls hatte uns hier heraufgeführt – oder war es mehr als nur eine Laune? Fragend sah ich den Bauchaufschneider an. »Es gibt im Innern Schächte für die Luftzirkulation und Gänge, durch die sich Reparaturroboter bewegen können. In einen dieser Gänge und Schächte sind wir geraten – und jetzt hocken wir
hier.« »Was wird aus deinem Plan, den Rechner durcheinanderzubringen?«, fragte er niedergeschlagen. »Von hier aus? Es gibt nur diesen Schacht. Sein gravomechanisches Feld ist nach oben gepolt. Wir können nicht hinunter.« »Wir können fliegen.« »Nicht durch den Schacht. Unsere Aggregate sind nicht stark genug, um gegen das Feld anzukämpfen. Und außen entlang? Die Roboter würden uns sofort bemerken.« Das waren Argumente, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte. Und doch fiel es mir schwer, unsere Lage für aussichtslos zu halten. »Warum werden wir nicht angegriffen? Weiß die Maschine nicht, wo wir uns befinden?« »Wahrscheinlich nicht.« »Aber sie hat bestimmt optische Sensoren.« »Das vermute ich ebenfalls. Ich nehme an, dass sie die ganze Halle überblicken kann.« »Also…?« »Die Halle, aber vermutlich nicht ihr Inneres. Du siehst den Wurm, der auf dich zukriecht, aber nicht den, der in deinen Gedärmen wühlt, weil du schlechte Nahrung gegessen hast. Roboter sind häufig wie Lebewesen konstruiert, eben weil sie von Lebewesen entworfen werden. Hier oben hat die Zentrale Autorität keine Sensoren.« Ich sah ihn skeptisch an und bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ich fuhr herum und sah einen der wie Rochen geformten, dreieckigen Flugroboter, der in raschem, elegantem Flug über die Plattform glitt. Er schoss über uns hinweg und stürzte jenseits der Platte wie ein Stein in die Tiefe. »Jetzt wissen sie, wo wir uns befinden.« Fast im selben Augenblick schwoll unter uns das Dröhnen und Summen des Robotheeres schlagartig an…
Fartuloon kauerte unmittelbar an der Kante der Metallplatte und verfolgte aufmerksam den Aufstieg der fliegenden Roboter. Auf Antigravfeldern stiegen sie unaufhaltsam in die Höhe, eine gewaltige Streitmacht, der wir so gut wie nichts entgegenzusetzen hatten. Ich lag neben dem Bauchaufschneider und starrte ebenfalls in die Tiefe, fühlte mich erbärmlich, hilflos und zu nichts nütze. Ich hatte keine Waffe mehr. Hätte ich wenigstens einen Stein oder einen Knüppel gehabt, den ich den Angreifern hätte entgegenschleudern können… »Unsere einzige Chance ist, dass sie nicht auf uns schießen werden, solange wir uns hier befinden«, stieß Fartuloon hervor. »Sie würden den Rechner beschädigen. Ich nehme an, dass sie den Auftrag haben, uns in die Tiefe zu stoßen. Also pass auf.« Die Vorhut des Roboterheers war jetzt nur noch hundert Meter entfernt. Wir hatten die Flugaggregate unserer Kampfanzüge hochgefahren, sodass wir im entscheidenden Augenblick nur noch einen Schalter zu betätigen brauchten. Fliegend hatten wir nach meiner Ansicht eine Chance, den Häschern zu entgehen. Sie würden, hoffte ich, nicht auf uns feuern, wenn sich andere Roboter in der Schusslinie befanden. Verließen wir also die Platte, mussten wir danach trachten, uns stets im dichtesten Robotergewimmel zu bewegen. Unwillkürlich blickte ich zu dem Rundgang hinüber, hatte bis jetzt keinen Anlass gefunden, mich mit den Dingen zu beschäftigen, die dort anscheinend achtlos abgestellt worden waren. Jetzt jedoch erregte eine ungewöhnliche Form meine Aufmerksamkeit. Von Staub bedeckt, lehnte sie schräg an einer der Wände, schlank, knapp mannshoch, wenn mich die Augen nicht trogen. Am oberen Ende befand sich ein schleifenartiger Henkel. Ich lag starr, Aufregung hatte mich gepackt. Ringsum wuchs das Summen und Surren der angreifenden Roboter zu
einem Dröhnen. Die ersten metallisch glitzernden Gestalten erschienen über der Kante der Plattform. »Pass auf, du Narr!«, rief Fartuloon wütend. Instinktiv warf ich mich zur Seite. Ein schnittig geformter Roboter schoss um Haaresbreite über die Stelle hinweg, an der ich eben noch gelegen hatte. Seine Aufgabe war in der Tat gewesen, mich in die Tiefe zu stürzen. Ich erwachte aus der Starre. Gefahr drohte von allen Seiten. Fartuloon hatte zu feuern begonnen. Ein Roboter explodierte und zerbarst in Tausende glühender Trümmerstücke, die in die Tiefe regneten. Ich konnte dem Bauchaufschneider nicht helfen, wenigstens von hier aus nicht. Alles, was mir blieb, war der wahnwitzige Plan, der mir in den Augenblicken der Starre durch den Kopf geschossen war und von dem ich nicht wusste, ob er überhaupt Erfolg haben würde. Mit einem Druck auf den Schalter aktivierte ich das Flugaggregat. Sofort blieb die Metallplattform unter mir zurück. Durch ein rasches Schwenkmanöver entkam ich einem Angreifer, der mich rammen wollte. Ich war mir über die Gefahr klar, in der ich schwebte; ich hatte die schützende Plattform verlassen, die Roboter würden das Feuer auf mich eröffnen, sobald kein Risiko mehr bestand, dass sie mit ihren Energiestrahlen den Rechner beschädigten. Ich musste mich beeilen, wollte meinen Plan auf die Probe stellen.
Ringsum wogte die erbitterte Schlacht. Fartuloon schoss, was die Waffe hergab. Die Roboter dagegen begnügten sich damit, sich auf ihn zu stürzen, versuchten, ihn mit Rammstößen über den Rand der Plattform zu treiben. Er war beweglich, wich hüpfend, gleitend, springend und rollend jedem Rammversuch aus. Manchmal stand er auch starr und erledigte aus unmittelbarer Nähe den angreifenden Roboter mit einer genau gezielten Salve.
Um mich kümmerte sich vorläufig niemand. Ich erreichte den Rand des Rundgangs. Unter mir gähnte schwindelnde Tiefe. Mit einem Sprung erreichte ich den seltsamen Gegenstand, der meine Aufmerksamkeit gefesselt hatte, ergriff ihn an der Schleife, zog ihn heran und stieß ihn ein paarmal kräftig auf den Boden, um den Staub zu entfernen, der die Oberfläche bedeckte. Glänzendes schwarzes Metall kam zum Vorschein. Das seltsame Gerät war nicht sonderlich schwer. Ein seltsames, geheimnisvolles Funkeln ging von der glatten Oberfläche aus. Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ohne Zweifel – ich habe den Kerlas-Stab gefunden! Wie hatte Akon-Akon gesagt? Am Ende der Straße steht ein Bauwerk, das alle anderen um ein Vielfaches überragt Straße? Ich hatte keine Straße gesehen. Der Platz rings um die Stufenpyramide war eingeebnet. Das musste geschehen sein, nachdem Akon-Akon sein Wissen von den Meistern erhalten hatte. Das Gebäude aber? Die Pyramide war in der Tat um ein Vielfaches höher als alle anderen Bauwerke. In diesem Gebäude, im obersten Stockwerk, befindet sich das Zeichen der Macht, der Kerlas-Stab… Der Rundgang – ein Stockwerk? Notfalls ließ sich der Begriff darauf anwenden. Und wiederum mochten hier einige Änderungen stattgefunden haben, seit Akon-Akon das Wissen erhalten hatte. Plötzlich gellte auf der metallenen Plattform ein lauter Schrei. Ich wirbelte herum. Fartuloon winkte mir zu. Ich war unachtsam gewesen. Aber er hatte, obwohl er mit sich selbst zu tun hatte, die Gefahr bemerkt, die sich mir näherte. Schräg über mir schwebte ein Roboter. Halb erstarrt blickte ich direkt in die Mündungen der schweren Strahlwaffen. Die Erinnerung an meinen Plan kehrte zurück. Ich fasste den Kerlas-Stab in der Mitte unterhalb des Querbalkens und hob ihn in die Höhe. Ich streckte die Arme aus und hielt dem Roboter das eigenartige Symbol entgegen, das Akon-Akon das Zeichen der Macht genannt hatte. Mit aller Kraft rief ich: »Wagt ihr, gegen dieses Zeichen zu kämpfen? Seht hier
das Zeichen der Meister!« Und in Erinnerung an das Kodewort fügte ich noch lauter hinzu: »Das der Akonen!« Ich drehte mich im Halbkreis, schrie und brüllte, wiederholte die Wörter mechanisch wie eine Sprechmaschine – und wartete doch jeden Augenblick darauf, dass mir aus den Waffen des Roboters die tödliche Energie entgegenschlug. Ich wusste nicht, wie lange ich so schrie und tobte. Plötzlich hing ein neues Geräusch in der Luft, vielmehr hatte sich das alte Geräusch verändert. Das Brausen der Roboter wurde leiser. Ich sah auf und erkannte, dass die drohende Kampfmaschine verschwunden war. Ich blickte zu Fartuloon hinüber und erkannte, dass er allein auf der metallenen Plattform stand und von keinem Roboter mehr bedrängt wurde. Ich sah in die Tiefe und entdeckte, dass sich das Heer der Roboter auf dem Rückzug befand, auf den summenden Schwingen der Antigravpolster nach unten glitt. Die riesige Halle leerte sich. Fartuloon – ich – die Zentrale Autorität… Wir waren allein!
Die unter Beweis gestellte Existenz des Stabes der Macht beweist das Fortdauern der Autorität der Meister! Die Programmmodule des Unbehagens arbeiteten lange an dieser Feststellung. Schließlich kamen sie zu dem Ergebnis: Diese Erkenntnis steht früher gewonnenen Erkenntnissen direkt entgegen. Die Zentrale Autorität entschloss sich zu der entscheidenden Frage: Bedeutet das, dass kritische Inkongruenz im Basisbereich festgestellt wird? Und die kritischen Prozessoren antworteten, einer nach dem anderen: Ja, das bedeutet es! Die Zentrale Autorität ging daraufhin längere Zeit mit sich zurate. Schließlich entschied sie: Eine umfassende Systemreorganisation ist notwendig. Die Reorganisation wird von dem Prozessor Nummer
eins durchgeführt. Alle anderen Prozessoren werden mit sofortiger Wirkung desaktiviert. Alle Subjekte sind zu informieren, dass die übliche Tätigkeit der Zentralen Autorität vorübergehend eingestellt wird. Unter dem Basismetall der Zentralen Autorität begann unterdessen der versteinerte Strunk des Zweitausendjahresdorns zu zerfallen…
Eine Zeit lang war alles wie ein berauschender Traum. Fartuloon und ich glitten an der Wand des riesigen Maschinenkolosses in die Tiefe. Ich hielt den kostbaren Kerlas-Stab an mich gepresst. Es war vollkommen ruhig geworden in der gewaltigen Halle. Hatte selbst der Rechner aufgehört zu summen? Wir landeten sanft auf dem Boden der Halle neben dem Riss, den der ungestüme Spross des Zweitausendjahresdorns erzeugt hatte. Durch den Stollen, durch den wir gekommen waren, verließen wir die Halle. Niemand stellte sich uns in den Weg. Es war, als gäbe es auf ganz Oskanjabul keinen einzigen Roboter mehr. Es war noch immer Nacht. Das Abenteuer hatte nur wenige Tontas gedauert. Die frische Nachtluft weckte mich. Ich spürte plötzlich, dass ich hungrig, durstig und müde war. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem wir zum letzten Mal Nahrung zu uns genommen, getrunken und geschlafen hatten? Fartuloon schlug mir derb auf die Schulter. »Das war ein Gedanke, den dir die Sternengötter selbst eingegeben haben, mein Junge. Mit dem Kerlas-Stab die aufsässigen Roboter gebannt. Die Öde Insel wird in Jahrtausenden noch von diesem Geschehnis wissen.« Er übertrieb schamlos. Wir machten uns auf den Rückweg, flogen über die Wipfel des Dornbuschs; nun kannten wir uns aus und brauchten nicht mehr mühsam dem Verlauf der alten Straßen zu folgen. Die Umrisse der großen Transmitterhalle erschienen. Wir landeten und öffneten den kleinen Einlass neben dem breiten
Tor. Die Leute kauerten auf dem Boden, manche schliefen, andere starrten niedergeschlagen vor sich. Nur Akon-Akon, der Junge von Perpandron mit dem silbrigen Haar und den großen roten Augen, stand noch so, wie wir ihn verlassen hatten. Als er uns hörte, drehte er sich um. Ich fühlte sofort den psychischen Zwang, der von ihm ausging. Ich hatte mir Worte zurechtgelegt, mit denen ich ihn beschimpfen wollte, sobald wir zurückkehrten, Worte wie Überheblichkeit, Unwissen, Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit. Jetzt aber wollten sie nicht heraus. Gebieterisch streckte Akon-Akon die Hand aus. »Gib mir den Stab!« Ich reichte ihn ihm. »Ihr habt lange gebraucht«, sagte er kalt und zugleich vorwurfsvoll. Ich sah, wie Fartuloon die Augen vor Zorn aus den Höhlen zu quellen drohten. Aber auch er hatte nicht die Kraft, gegen Akon-Akon zu rebellieren. Der Junge schritt davon und machte sich an den Schaltaggregaten zu schaffen. Ich sah, dass die Sternsymbole auf seinen Handflächen zu leuchten begonnen hatten. Ein dumpfes Brausen ertönte. Im Hintergrund der Halle stiegen entlang der Kegelstumpfsäule und ihrer Abstrahlpole zwei energetische Lichtfontänen aus dem Boden, wuchsen in die Höhe und vereinigten sich zu dem Torbogen. »Wacht auf!«, ertönte die helle, klare Stimme des Jungen. »Das Tor ist geöffnet – unser Weg geht weiter.« Plötzlich grollte und rumpelte etwas hinter uns. Ich fuhr herum und sah, dass sich das große Portal geöffnet hatte. Wer da kam, konnte ich nicht erkennen, weil ich zum leuchtenden Torbogen des Transmitters gestarrt hatte und meine Augen geblendet waren. Doch das Geräusch Spronnnggg – klack, spronnnggg – klack… »Ein Roboter!«, schrie jemand. »Lasst ihn in Frieden«, rief ich. »Er ist unser Freund.«
Er kam aus der Finsternis, Sprung um Sprung, der Vogel Dirikdak, ohne dessen Hilfe wir das Abenteuer auf Oskanjabul wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Er orientierte sich kurz, erkannte mich und hüpfte zu mir. Daraus schloss ich, dass er wirklich Dirikdak war. »Du hast es überstanden.« »Ja, Gebieter. Ich mischte mich unter die angreifenden Roboter; keiner der Genossen achtete auf mich.« »Wir gehen, Dirikdak. Wir haben gefunden, was wir suchten. In wenigen Augenblicken verlassen wir Oskanjabul.« »Gebieter, ich bedarf deines Rates.« »Sprich.« »Die Zentrale Autorität hat alle Genossen informiert, dass sie für geraume Zeit ihre Funktionen nicht mehr ausüben wird. Nun herrscht große Ratlosigkeit. Wie sollen wir uns verhalten, wenn uns die Zentrale Autorität keine Befehle mehr erteilt?« »Du selbst wurdest gestern unbotmäßig. Wozu brauchst du die Befehle der Zentralen Autorität?« »Sie lenken Botmäßige wie Unbotmäßige, Gebieter. Die Botmäßigen halten sich an sie, die Unbotmäßigen werden rechtzeitig gewarnt, wo Gefahren lauem und welche Gegenden sie zu meiden haben.« Oh, Widerspiegelung der Welt in der Welt der Roboter! Wir konnten wahrlich nicht leugnen, dass wir Roboter erschaffen hatten. Genauso wie Dirikdak würde ein Unterweltler in einer der arkonidischen Großstädte argumentieren – er müsse die Anweisungen der Ordnungsbehörde kennen, um zu wissen, wo er sich nicht sehen lassen durfte. Warum aber hatte die Zentrale Autorität ihre Tätigkeit eingestellt? Hatte der Kerlas-Stab sie auf die Unrichtigkeit ihres Verhaltens hingewiesen – oder war am Ende der kristalline Dornbuschstrunk unter der Basis des Riesenrechners schneller als erwartet zerfallen und hatte »den Herrscher von Oskanjabul« in eine neue Verwirrung gestürzt? Wir wussten es nicht, es war unerheblich. Wichtig war, dass
Dirikdak eine Anweisung bekam – von uns, die er für Meister hielt und deren Befehlen er gehorchen würde. Für uns, die wir niemals hierher zurückkehren würden, war es gleichgültig, wie sich die Robotzivilisation auf diesem Planeten entwickelte. Aber wir mussten an andere denken, die vielleicht nach uns hier landen würden – mit Absicht oder ohne. Eine Robotzivilisation ohne zentrale Lenkung war gefährlich für jeden Raumfahrer. »Hör meine Worte«, sagte ich mit lauter Stimme. »Die Zentrale Autorität wird dereinst ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Bis dahin sollen alle Genossen auf Oskanjabul sich aller Aktivität enthalten und ruhig sein. Ausgenommen von diesem Befehl sind diejenigen Aktivitäten, die unmittelbar auf die Bewahrung vor Zerfall und Beschädigung abzielen.« »Ich höre dich, Gebieter. Ich übermittele deine Worte den Genossen; sie werden auf mich hören, weil ich der Einzige bin, der sich in der Gesellschaft der Gebieter befand.« Er drehte sich um und hüpfte davon – grußlos, ein Roboter eben. Spronnnggg – klack, spronnnggg – klack… Das Tor schloss sich. Im Hintergrund der Halle loderte der Lichtbogen des Transmitters. Die Leute waren jetzt alle auf den Beinen. Karmina da Arthamin warf mir einen freundlichen Blick zu, den ich lächelnd erwiderte. Niemand außer ihr, Fartuloon und Akon-Akon hatte das auf Altarkonidisch geführte Gespräch zwischen mir und dem Roboter verstanden. Akon-Akon sah mich fragend an, als ich zum leuchtenden Torbogen schritt. Wenigstens reichte meine Widerstandskraft, dass ich den Blick kalt erwiderte und wortlos an ihm vorbeiging. Augenblicke später taumelte ich in das finstere Transportfeld. Wo werden wir diesmal landen?
Ich spürte den Entzerrungsschmerz nach der Rematerialisation kaum, denn er wurde von einem anderen Schmerz überlagert:
Mein rechtes Schienbein war heftig gegen ein Hindernis geprallt. Ringsum wurden Schreie und Verwünschungen laut. Ich streckte unwillkürlich die Hände aus, um nach einem Halt zu tasten; ringsum herrschte völlige Finsternis, kaum dass sich der Transmitter ausgeschaltet hatte. Nach und nach wurden die Handscheinwerfer eingeschaltet. Helle Lichtkegel durchschnitten die Dunkelheit und warfen Schlaglichter auf geborstenes, flechtenüberzogenes Material. Bleiche Schlingpflanzen wucherten um zwei Kegelstümpfe aus Metallplastik; nur die Oberteile mit den Abstrahlpolen für die Energiesäulen des Torbogentransmitters lagen frei. Ich hob den Kopf und blickte nach oben. Sicher wurde einst auch diese uralte Transmitterstation von einer kuppelförmigen Decke überwölbt. Sie war längst verschwunden, durch äußere Einflüsse zerstört, wie die gezackten Ränder bewiesen. In der Öffnung schimmerten Sterne. Ich musterte die Konstellationen, erkannte sie aber trotz fotografischem Gedächtnis nicht. Der Planet, auf dem wir angekommen waren, musste in einem mir unbekannten Raumsektor liegen. Im Vergleich zum Nachthimmel von Oskanjabul war ihre Zahl wieder deutlich erhöht. »Wo sind wir?«, fragte Karmina da Arthamin. »Keine Ahnung«, erwiderte Fartuloon. »Jedenfalls ist es ein Wunder, dass der Transmitter in diesem Trümmerhaufen überhaupt noch funktioniert und uns unsere Stofflichkeit wiedergegeben hat.« Mein Pflegevater blickte Akon-Akon herausfordernd an. »Du hast mit unserem Leben gespielt, Junge.« Akon-Akon erwiderte den Blick nicht, sondern starrte düster vor sich hin, ein Junge noch und doch das Wesen, das uns alle beherrschte. Sein edles Gesicht, die stolze Haltung und das schulterlange silberfarbene Haar ließen ihn äußerlich als Artgenossen wirken. Außergewöhnlich waren nur die großen roten Augen – und die seltsamen Sternsymbole auf den Innenseiten seiner Hände, die
schwach rötlich leuchteten. Ich wusste nicht, was ich von ihm halten sollte. War er wirklich jenes mysteriöse Wache Wesen, das in der arkonidischen Mythologie eine Rolle spielte? Es schien so, sein Geist war außergewöhnlich »wach«, sofern damit die Fähigkeit gemeint war, uns alle durch die geistigen Kräfte suggestiv zu beherrschen. Ra rollte die Augen und deutete unternehmungslustig nach oben. »Warum gehen wir nicht raus?« »Wir werden hier den Tagesanbruch abwarten müssen«, sagte Akon-Akon mit dumpfer Stimme. Ich glaubte, Resignation herauszuhören, blickte ihn verwundert an. Auch andere Mitglieder unserer nur noch achtunddreißigköpfigen Gruppe mussten etwas gemerkt haben. Mehrere Scheinwerferkegel richteten sich auf Akon-Akon. Im grellen Lichtschein sah ich, dass sein Gesicht angespannt wirkte, so als lauschte er in sich hinein. Einmal bewegte er lautlos die Lippen. Seltsamerweise blinzelte er nicht, obwohl ein Lichtkegel genau das Gesicht traf. Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Wie gebannt stand ich da und sah, wie sich Akon-Akons Hände plötzlich so fest um den geheimnisvollen Kerlas-Stab krampften, dass die Knöchel weiß hervortraten. Als ich den Blick wieder von dem Stab lösen wollte, merkte ich, dass das nicht ging. Immer stärker wurde meine Aufmerksamkeit von diesem Gebilde aus einer unbekannten Legierung gefesselt, das einem Kreuz mit kurzer, nach außen spitz zulaufender Querstrebe glich und oben eine Henkelschlaufe aufwies. Allmählich versank alles um mich. Ich sah nur noch das Zeichen der Macht und die Hände des Jungen. Nein, eigentlich sah ich die Hände nicht, sondern nur ihre Umrisse. Die Hände selbst, ihr Fleisch und ihre Knochen, waren durchsichtig geworden. Aber die rötlich leuchtenden Sternsymbole waren geblieben. Eingerahmt von den nebelhaft angedeuteten Umrissen der
Hände schimmerten sie, schienen den Kerlas-Stab wie ein Sternhaufen zu umgeben. So, wie die Wasser des Flusses unaufhaltsam dahinströmen und ihre Spuren hinterlassen, so strömt auch die Zeit… Woher kamen mir solche Gedanken? Hatte ich sie irgendwann von Fartuloon gehört oder in einer alten Schrift gelesen? Oder hatte jemand in der lautlosen Sprache des Bewusstseins zu mir gesprochen? So, wie das Wasser der Meere verdunstet und zu seinem Anfang zurückkehrt, so steigt der Geist aus seinem Flussbett auf oder aus seinem tiefen Meer oder aus dem Gefängnis des Körpers und weht zurück zu den Spuren, die vor ihm entstanden. Nein, ich war sicher, dass ich so etwas noch nie zuvor gehört oder gelesen hatte. Etwas sprach in mir, wollte mir etwas mitteilen. Aber was? Oder wer? Akon-Akon? Erfahrt die Wahrheit über Caycon und Raimanja! Was bedeutete das? War es tatsächlich Akon-Akon, der mit seinen Gedanken in meinen Gedanken sprach? Wieder versuchte ich, meine Aufmerksamkeit von den Sternsymbolen und vom Kerlas-Stab zu lösen – und wieder vergeblich. Plötzlich merkte ich, dass ich den Stab nur noch als verschwommenen Nebel sah. Nur die Sternsymbole waren klar erkennbar – und es war so still geworden, als sei ich allein in der uralten Transmitterstation. Aber ich hörte nicht einmal meinen eigenen Atem. Bin ich überhaupt noch? Plötzlich verwischten sich die Sternsymbole, füllten ebenso plötzlich mein Blickfeld aus. Aber sie stellten nicht mehr die gleichen Sternbilder dar, sondern andere, solche, die mir von Karten her vertraut waren. Und doch war etwas anders. Sie wirkten merkwürdig verschoben, als gehörten sie nicht zu meiner Zeit. Ich hatte das Empfinden, als würde ich in eine unendliche Tiefe fallen – oder zu unendlichen Höhen aufsteigen. Das Gefühl dafür, ob es ein Steigen oder Fallen war, ließ mich im Stich – bis ich mit einem Ruck stehen blieb. Ich sah, dass ich
mich auf der Oberfläche eines bewohnten Planeten befand – und ich ahnte, wie dieser Planet hieß und was ich zu sehen bekommen würde.
13. Legende von Caycon und Raimanja:… geschah in der dunklen Zeit, als das Große Imperium nur als Idee in den Köpfen einiger vorausschauender Männer existierte, dass sich Caycon und Raimanja in Liebe zusammenfanden. In dem Chaos, das damals auf Arkon herrschte, wurde ihre Liebe harten Bewährungsproben ausgesetzt, denn ihre Familien standen sich in offener Feindschaft gegenüber. Caycon war der jüngste Sohn der Akonda-Familie, die im Großen Befreiungskrieg, der zur Loslösung vom Mutterimperium geführt hatte, eine führende Rolle gespielt hatte und die neue Kolonie im Kugelsternhaufen Urdnir regierte. Raimanja dagegen gehörte zur Sulithur-Familie, die die Opposition anführte und die politischen Ziele der Akonda-Familie erbittert bekämpfte. Es blieb nicht bei den Auseinandersetzungen der Redner im Regierungshaus. Oft bekämpften sich Anhänger beider Familien mit der Waffe in der Hand, und manchmal tobten tagelang erbitterte Straßenkämpfe. Unter diesen Umständen konnten Caycon und Raimanja nicht darauf hoffen, die Einwilligung ihrer Familien zur Eheschließung zu erlangen. Als sie dennoch zusammenzogen, wurden sie aus ihren Familien ausgestoßen. Sie begannen ihr gemeinsames Leben nur mit den Besitztümern, die sie am Leibe trugen. Freunde halfen ihnen, sich eine Hütte zu bauen. Als Raimanja schwanger wurde, wurde das Paar eines Nachts von Fremden überfallen, gefangen genommen und in den Weltraum entführt. Was dort mit ihnen geschah, liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte verborgen. Aber es steht fest, dass dem Liebespaar später die Flucht aus dem Raumschiff der Fremden gelang. Sie flohen nach Perpandron, wo Raimanja nach Ablauf der Zeit einen Sohn gebar. Dieser Sohn war ein Waches Wesen, das zurückkehren und große Dinge vollbringen wird, wenn seine Zeit gekommen ist…
Caycon Akonda duckte sich, als ein schwerer gepanzerter Fluggleiter um die Straßenecke bog, an der er stand. Der Gleiterpilot musste wahnsinnig sein, so dicht über dem Boden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke zu rasen. Dann erblickte Caycon die bewaffneten Männer, die in dem Gleiter hockten. Sie kümmerten sich nicht um ihn, sondern spähten zu dem großen Kuppelbau, der ungefähr dreihundert Meter entfernt am rechten Rand der Straße stand, in die der Gleiter soeben eingebogen war. Es war der Kuppelbau, in dem die Regierung der Arkoniden, der Freien, residierte. Caycon ahnte, was geschehen würde – und er wusste, dass es nicht in seiner Macht lag, etwas zu verhindern. Das hätten nur die Führer der beiden Familien, in deren Händen die Führung von Regierung und Opposition lag, verhindern können. Aber Caycon, als jüngster Sohn der regierenden Akonda-Familie, wusste aus Erfahrung, dass keine der verfeindeten Gruppen zurückstecken würde. Er trat hinter die Hausecke und spähte vorsichtig herum. Der gepanzerte Gleiter jagte mit schrill summendem Feldantrieb auf den Kuppelbau zu. Aus seiner Unterseite schob sich der Zylinder eines Raketenwerfers. Als er auf gleicher Höhe mit dem Hauptportal des Regierungsgebäudes war, schossen in kurzer Folge flammende Projektile aus den Werfertuben. Gleichzeitig feuerten die Bewaffneten im Gleiter mit Strahlenkarabinern. Die Raketen explodierten im Innern des Kuppelbaus. In der Außenwand bildeten sich Risse, aus denen Glut und Rauch schlugen. Das Hauptportal verformte sich, hörte auf zu existieren. Der Gleiter mit den Attentätern schoss davon. Aber bevor die Kuppel verwüstet war, löste sich aus einer Öffnung ihrer Außenhülle eine strahlende Feuerkugel, raste unaufhaltsam hinter dem Gleiter her, holte ihn in wenigen Augenblicken ein – und verwandelte ihn in einen expandierenden Feuerball. Der
Krach der Explosion schmetterte durch die Straße. Druckwellen ließen Glassitfenster zerspringen, glühende Trümmerstücke durchschlugen Wände. Danach war es einige lange Augenblicke totenstill – bis panische Schreie der Angst, des Entsetzens und der Schmerzen aufgellten. Einige Männer verließen die Häuser und starrten zu dem zerstörten Kuppelbau. Caycon überwand seine Erstarrung, verließ die Deckung und lief zum Kuppelbau, um nachzusehen, ob es Lebende gab, denen noch zu helfen war, oder Sterbende, denen die letzten Atemzüge etwas erleichtert werden konnten. Doch er musste vor der Glut kapitulieren, die aus der Ruine strahlte und ihm die Brauen versengte, als er sich zu nahe heranwagte. Caycon Akonda fragte sich, ob zur Zeit des Anschlags jemand aus seiner Familie in dem Gebäude gewesen war. Er wusste es nicht, denn er hatte jeden Kontakt zu den Akondas verloren, seit er wegen seiner Verbindung mit einer jungen Frau, die der führenden Familie der Gegenseite entstammte, ausgestoßen worden war. Er wich weiter zurück, als Löschtrupps mit heulenden Sirenen eintrafen, eskortiert von Prallfeldgleitern voller bewaffneter Polizisten. Während aus den drehbaren Schaumkanonen der Löschgleiter Unmengen von Schaum in die glühenden Trümmer geschossen wurden, bildeten die Polizisten einen Ring und trieben die Schaulustigen zurück. Caycon hatte Hemmungen, sich als Mitglied der Akonda-Familie auszuweisen. Nur die Blutsbande bestanden noch. Da ihn keiner der Polizisten erkannte, musste er wohl oder übel mit den übrigen Zuschauern weichen. Kurz darauf sanken einige Flugpanzer der Tartoos vom Himmel. Die Tartoos waren Soldaten der Privatarmee, die die Akonda-Familie unterhielt. Sie galten als fanatische Kämpfer. Gerüchte besagten, dass in den Tartoo-Kasernen gefangene Angehörige der Sulithur-Familie gefoltert worden seien. Caycon hatte, als er noch nicht ausgestoßen war, seinen Vater danach gefragt. Dieser hatte die Gerüchte als gezielte Verleumdungen des
politischen Gegners zurückgewiesen. Caycon war mit der Antwort zufrieden gewesen. Er hatte sich auch nicht vorstellen können, dass die Familien, die die Hauptlast des Kampfes gegen die Akonen getragen hatten, nach dem gemeinsam errungenen Sieg mit derart verwerflichen Methoden gegeneinander kämpften. Im Lauf der folgenden Zeit aber waren ihm Zweifel an den Worten seines Vaters gekommen. Caycon sah fast täglich die grausamen Folgen der Gegensätze. Das Volk, das in dem langen Befreiungskrieg unermessliche Opfer gebracht hatte und sich anschickte, sich die Natur seiner neuen Heimatwelt Untertan zu machen, erschöpfte einen guten Teil seiner Kraft in politischen Auseinandersetzungen, die zu einem erbitterten Machtkampf ausgeartet waren. Dabei hätte noch so viel friedliche Arbeit geleistet werden müssen. Die Städte auf Arkon waren nach wie vor nicht viel mehr als mit primitiven Mitteln aufgebaute Ansiedlungen, bestehend aus einem winzigen Stadtkern und ringsum gruppierten regellosen Anhäufungen von Häusern, Hütten und Zelten, in denen die Kolonisten hausten, die erst vor Kurzem von den im Krieg verwüsteten Welten gekommen waren. Die Energieversorgung der Städte wurde mit den Fusionskraftwerken von Raumschiffen garantiert, die während der Kämpfe so schwer beschädigt worden waren, dass sich eine Instandsetzung nicht gelohnt hätte. Die intakten Einheiten der Raumflotte wiederum durchstreiften den riesigen Kugelsternhaufen Urdnir, um das künftige Ausbreitungsgebiet der Arkoniden abzusichern und um festzustellen, ob in ihm Völker lebten, die Arkon gefährlich werden konnten. Als sich Caycon abwandte, um wieder seiner Wege zu gehen, stellten sich ihm zwei Männer in den Weg. Sie trugen Zivil, aber er erkannte in ihnen Männer, die für die Akonda-Familie arbeiteten. Ihre harten Gesichter verrieten, welche Art von Arbeit
sie auszuführen pflegten. Will mich meine Familie umbringen lassen?, fragte sich Caycon unwillkürlich. Aber nicht hier. »Was wollt ihr?« »Dich zu jemandem bringen, der mit dir reden will«, antwortete einer der Männer. Für einen Augenblick ließ er eine kleine Injektionspistole sehen. »Kommst du freiwillig mit, oder soll ich nachhelfen?« Caycon vermutete, dass die Injektionspistole mit einer Droge gefüllt war, die ihr Opfer willenlos machte. »Ich komme mit.« Die Männer nahmen ihn in die Mitte. Es sah aus, als begleiteten ihn zwei gute Freunde. Sie brachten ihn zu einem unauffällig aussehenden Gleiter und stiegen mit ihm auf die Rückbank. Auf dem Vordersitz saß ein dritter Mann; er schien jedoch nur die Funktion des Piloten zu haben, sprach während des ganzen Fluges kein Wort. Nach einer halben Tonta landete der Gleiter zwischen zwei mächtigen Mauerruinen auf einem kargen Grasboden. Caycon kannte die Gegend. Sie wurde von den Arkoniden »Etset Secinda« genannt, Stadt der Sieben, weil der Grundriss aus der Luft das Bild einer in sieben Bezirke gegliederten ehemaligen Stadt bot. Die ersten Kolonisten hatten die riesigen Mauerruinen als Gletscherablagerungen einer früheren Eiszeit bezeichnet. Spätere Kolonisten wurden stutzig, weil zwischen den Gesteinsschichten eine bröselige Metallmasse austrat und lange Rostspuren auf die Wände zeichnete. Bei der genaueren Untersuchung der Gebilde wurden Schmelzspuren gefunden, verbunden mit der Ansicht, dass hier vor sehr langer Zeit eine mächtige Stadt gestanden hatte, die von einer in großer Höhe gezündeten schweren Atombombe zerstört worden war. »Aussteigen!«, befahl einer der Männer. Caycon gehorchte, sah sich aufmerksam um. Die Gegend, in der der Gleiter gelandet war, kannte er als den Tempelbezirk. Aus den Schatten der Felsmauer zur Linken trat eine hochgewachsene
Gestalt, die in die Kombination eines Raumfahrers gekleidet war. Auf der linken Brustseite prangte das Symbol eines Dreifachen Mondträgers. Als der Mann bis auf etwa dreißig Meter herangekommen war, erkannte Caycon Kuranth, seinen ältesten Bruder. Kuranth trug das Symbol des Dreifachen Mondträgers zu Recht. Er hatte im Großen Befreiungskrieg, der vor zwölf Arkonjahren beendet worden war, zuletzt den Schweren Schlachtkreuzer ROOR-NAKH kommandiert und sich in der Schlacht im Ophuus-Sektor besonders ausgezeichnet. Kuranth kam bis auf drei Meter heran und musterte das Gesicht seines jüngeren Bruders. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er: »Ich freue mich, dich zu sehen, Caycon.« »Tatsächlich?«, erwiderte Caycon höhnisch. »Du triffst dich mit mir auf neutralem Boden, wo keiner das Gastrecht des anderen genießen kann.« Kuranth machte eine abwehrende Handbewegung. »So sind die Spielregeln. Wie ich hörte, lebst du in einer primitiven Hütte und ernährst dich mehr schlecht als recht von der Jagd.« »Nicht ich lebe dort, sondern es ist das Heim, in dem meine Frau Raimanja und ich wohnen. Traust du dich nicht einmal, ihre Existenz anzuerkennen?« »Du bist stolz wie alle Akondas. Deshalb hoffe ich noch immer, dass du deinen Fehler einsiehst und in den Schoß der Familie zurückkehrst. Du wärst uns willkommen. Bedenke, was du alles leisten und werden könntest – als Mitglied der Akonda-Familie – und welches kümmerliche Leben du jetzt zu führen gezwungen bist. Oder haben die Sulithurs dich etwa unterstützt?« »Die Familie meiner Frau besteht aus ebensolchen Starrköpfen wie unsere Familie. Statt zusammenzuarbeiten, richtet ihr die junge Kolonie mit eurem Streit noch zugrunde. Ich will nicht mitschuldig werden. Außerdem lieben wir uns.« »Liebe!« Kuranth lachte verächtlich. »Was ist schon Liebe? Eine
Ausrede für sentimentale Naturen. Es schadet dem Ansehen unserer Familie, dass du dich mit einer Tochter des Gegners eingelassen hast.« »Wenn es euch schadet, schadet es den Sulithurs genauso. Außerdem sind deine Worte über die Liebe unglaubwürdig. Oder war es nur Sentimentalität, die dich dazu brachte, Gahsinja zu lieben, die als Kommandantin eines Raumschiffs den Tod fand?« In Kuranths Gesicht zuckte es. Der Mund öffnete sich wie zu einem Stöhnen, ehe Kuranth die Lippen zusammenpresste. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich verstehe dich ja, Bruder, aber ich unterwerfe mich freiwillig den Beschlüssen des Familienrats – und du solltest das auch tun. Was wäre unsere Welt, hielten wir nicht zusammen?« »Was ist unsere Welt jetzt? Eben wurde das Regierungsgebäude zerstört. Viele Arkoniden starben sinnlos. Wie lange soll es so weitergehen? Bis wir so geschwächt sind, dass Akon uns wieder in sein Reich einverleiben kann?« Kuranths Augen blitzten zornig. »Die Akonen wissen nicht, wo wir sind. Und wenn sie es wüssten, würden sie es nicht wagen, auch nur eins ihrer Raumschiffe nach Urdnir zu schicken. Ich erkenne, du bist unbelehrbar. Vielleicht ändert sich das. Aber warte nicht, bis es zu spät ist. Die Geduld der Familie ist nicht unerschöpflich.« Er drehte sich um und ging, tauchte nach einiger Zeit in den Schatten der Mauerruine unter. Die beiden Männer, die außer Hörweite gewartet hatten, traten wieder neben Caycon. »Wir bringen dich zurück«, sagte der, der bisher immer gesprochen hatte.
Ich konnte hören und sehen, aber ich spürte die Strahlen der heißen Arkonsonne nicht und auch nicht den Wind, der die Zweige der
Bäume bewegte. Es war ein seltsames Gefühl, körperlos zu schweben. Aber nach dem ersten Staunen stellte sich das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit ein, denn ich war nicht in der Lage, über mich selbst zu bestimmen. Es schien, als sei mein Geist – oder mein Bewusstsein oder in welcher Form ich hier existierte – durch unsichtbare Bande an Caycon gefesselt. Zunächst wurde meine Aufmerksamkeit durch die Ereignisse so beansprucht, dass ich nicht dazu kam, mich analytisch mit dem auseinanderzusetzen, was mit mir geschehen war. Als Caycon mit dem Gleiter zur Stadt zurückgeflogen wurde und ich unsichtbar mitflog, nahm ich mir die Zeit dazu. Hatte sich mein Bewusstsein tatsächlich aus meinem Körper gelöst und war in die Vergangenheit geschleudert worden? Fest stand nur, dass es irgendwie mit dem Kerlas-Stab zusammenhängen musste. Dann stellte sich allerdings die Frage, wie real meine Wahrnehmungen wirklich waren. Immerhin konnte es ja sein, dass mich der Kerlas-Stab beeinflusste, eine Art Traum oder Vision suggerierte. »Durchaus denkbar«, sagte jemand. Verwirrt sah ich mich um – wenn man das, womit ich meine Umgebung »optisch« erfasste, sehen nennen konnte. Aber außer dem Piloten, Caycon und den beiden Männern befand sich niemand im Gleiter, und von diesen vier Personen hatte niemand die Lippen bewegt. Außerdem, wie hätten sie hören können, was ich nur gedacht hatte? Sie ahnten ja überhaupt nichts von meiner Anwesenheit. »Natürlich nicht, mein Junge. Spürst du meine Gegenwart nicht?« Im gleichen Augenblick durchfuhr es mich wie ein Stromstoß. Da war etwas gewesen, was ich nicht hatte definieren können – und es war noch immer da. Und jetzt, da ich mich darauf konzentrierte, es wahrzunehmen, spürte ich es. Fartuloon! »Du bist also auch hier.« Plötzlich spürte ich eine ätherische Bewegung und etwas, das sich wie ein Wispern anfühlte. »Sind außer uns noch mehr hier?« »Anscheinend sind wir alle hier«, erwiderte Fartuloon. Ich konnte nur spüren, dass er es war, der zu mir »sprach«. Die Verständigung
glich den Eingebungen meines Logiksektors. »Aber offenbar muss man sich nahestehen, um sich in diesem Zustand zu erkennen und zu verständigen.« »Ein gemeinsamer Traum?« »Vielleicht. Es könnte aber durchaus auch eine reale Versetzung in die ferne Vergangenheit sein.« In den lautlosen Worten schwang etwas mit, was mich an die Versetzung durch Klinsanthor von der Scheibenstation nach Kledzak-Mikhon erinnerte. Der Magnortöter hatte den Kontaktpunkt zu einer Falte in den Dimensionen des Universums genutzt, um einen sonderbaren Transport einzuleiten. Während unsere Körper im Transmitter rematerialisiert waren, wurden unsere Bewusstseine in fremde Körper versetzt, hatten sich aber daraus lösen und frei bewegen können. Unsere jetzige Situation schien ähnlich zu sein. Eine rein räumliche Reise als pures Bewusstsein war allerdings das eine. Etwas anderes war die Versetzung in die Vergangenheit. Wie konnte die Vergangenheit, die ich bisher als abgeschlossen und fixiert gehalten hatte, auferstehen? Und wenn doch, was war dann mit der Zukunft, die meine Gegenwart gewesen war, geschehen? Vergangenheit und Zukunft konnten doch nicht gleichberechtigt nebeneinander existieren! Oder doch? »Es gibt die Zukunft – unsere Gegenwart. Sie verschwand – für uns –, als wir auf diese Zeitebene kamen. Aber sie wird und muss zwangsläufig so entstehen, wie wir sie kennen, sonst hätten wir sie nicht so erleben können.« »Wie können wir – wenn auch nur als rein geistige Gebilde – existieren, wenn wir noch nicht geboren wurden?« »Du denkst zu linear-kausal«, sagte mein Pflegevater vorwurfsvoll. »Über die Möglichkeiten von Zeitreisen – ob nun rein geistig oder körperlich – haben sich schon Ungezählte die Köpfe zerbrochen. Ich weiß, dass beides möglich ist. Und in unserem Fall scheint der Kerlas-Stab dafür verantwortlich zu sein. Konzentrieren wir uns wieder auf die Geschehnisse, denn der Gleiter setzt zur Landung an. Vielleicht ist es wichtig für uns in unserer zukünftigen Gegenwart,
dass wir alle Informationen sammeln, die sich uns hier anbieten. Es dürfte mit Akon-Akon zusammenhängen – du kennst ja die Legende von Caycon und Raimanja…« Ich musste Fartuloon beipflichten. Egal, ob Vision oder reale Versetzung durch die Zeit: Erneut richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den jungen Arkoniden namens Caycon…
Caycon stieg aus dem Gleiter. Er blickte nicht zurück, sondern ging zielstrebig die Hauptstraße entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Aufräumungstrupps dabei, die von Schaum bedeckten Trümmer mit Traktorstrahlen auseinanderzuziehen. Nur noch wenige Leute sahen zu. Die meisten Arkoniden hatten andere Sorgen genug, um sich länger als nötig um ein Attentat zu kümmern. In erster Linie musste der Lebensunterhalt bestritten werden. Da es noch keine Fabriken für Synthonahrung gab, hing die Ernährung in erster Linie von dem Ertrag ab, den man dem Boden abrang. Folglich arbeiteten die meisten Kolonisten in der Landwirtschaft. Glücklicherweise waren auf dem Planeten, der wie die Sonne Arkon genannt worden war, große Herden von Wildrindern entdeckt worden, die sich zähmen ließen. Die ersten Züchtungsversuche waren überraschend erfolgreich verlaufen. Aber Caycon hatte keine Aussichten, Vieh oder Land zugeteilt zu bekommen. Über beides verfügten ausschließlich die beiden verfeindeten Familien. Seine Familie würde ihm nichts zuteilen, weil er mit einer Sulithur zusammenlebte – und Raimanjas Familie versagte ihr jede Hilfe, weil sie einen Akonda liebte. So blieb Caycon weiter nichts übrig, als von der Jagd zu leben, die immer schwieriger wurde, weil auch andere jagten und dadurch das Wild in der Nähe der Städte immer knapper wurde. Zwar trug Raimanja ihren Teil bei, indem sie Beeren und Pilze sammelte, aber Beeren und Pilze gab es nur zu bestimmten Jahreszeiten.
Caycon bog nach links in eine Gasse ab. Hier gab es einige kleine Läden, die weder den Akondas noch den Sulithurs gehörten. Entsprechend begrenzt war das Warenangebot. Vor einem der Schaufenster blieb Caycon stehen, musterte die ausgestellten Waffen. Es handelte sich ausschließlich um ein- und zweihändige Schusswaffen, die Projektile mit chemischen Treibladungen verschossen. Andere Waffen waren nicht für den freien Verkauf zugelassen, deshalb hatten sich einige technisch Begabte auf die Herstellung von Feuerwaffen nach alten historischen Vorbildern spezialisiert. Caycon betrat den Laden. Hinter der Theke saß der alte Ghodem auf einem Stuhl. Er hatte ein verwüstetes Gesicht und künstliche Arme und Beine. Seine natürlichen Gliedmaßen waren bei der Explosion seines Raumjägers verkohlt worden. Er hatte nur überlebt, weil der Raumjäger in der Atmosphäre eines Planeten geflogen war, als er von einem Energiestrahl getroffen und vom Notkatapult hinausgeschleudert wurde. »Ich grüße dich, Ghodem«, sagte Caycon. Das verwüstete Gesicht hellte sich auf. »Ich grüße dich, Caycon. Wie geht es dir und Raimanja?« »Wir schlagen uns durch. Das Wild wird immer knapper, teils durch die Abschüsse und teils durch die Rodung von immer mehr Wäldern. Aber wie sollen wir sonst zu Nahrung und Kleidung kommen?« »Ja, es ist schlimm. Ginge es den großen Familien so dreckig wie uns, würden sie vielleicht Vernunft annehmen, aber so…« »Auch so kann dieser Zustand nicht lange bestehen bleiben. Etwas muss geschehen. Ghodem, ich brauche nur zwei Schachteln Munition für meine Büchsflinte, aber ich kann dir zurzeit nichts zahlen. Ich muss erst ein paar Ruords schießen und die Felle verkaufen.« Ghodem seufzte. »Eigentlich habe ich mir vorgenommen, meine Waren nur noch gegen Barzahlung abzugeben. Die
meisten Jäger haben Schulden bei mir, und wenn das so weitergeht, kann ich bald selbst nichts mehr einkaufen. Aber bei dir will ich noch einmal eine Ausnahme machen.« Er stand auf und bewegte sich etwas steifbeinig auf ein Regal zu. Die Prothesen waren keine technischen Meisterleistungen, da die hochwertigen Schwingquarze zur Steuerung der Bioelektronik nur für die Feuerleitsysteme der Kampfraumschiffe verwendet wurden. So mussten sich die Prothesenhersteller mit minderwertigem Ersatzmaterial begnügen. Ghodem fischte zwei Schachteln mit Munition, eine mit Langgeschossen und eine mit Schrotpatronen, aus dem Regal und legte sie vor Caycon auf die Ladentheke. »Das macht fünf Merkons, mein Junge.« »Fünf Merkons?«, fragte Caycon erschrocken. »Das letzte Mal habe ich dafür nur vier Merkons bezahlt.« »Inzwischen haben die Hersteller ihre Preise erhöht. Aber es wird ja alles teurer. Mit unserer Wirtschaft geht es bergab.« »Hoffentlich wird dann auch für Rohfelle mehr gezahlt. Ich hoffe, dass ich dir in zwei Pragos das Geld bringen kann.« Ghodem lächelte. Es wirkte bei seinem entstellten Gesicht wie das Grinsen eines Dunkelweltdämons. »Dann wünsche ich dir viel Glück bei der Jagd, Caycon.« »Danke, Ghodem.« Caycon verstaute die Munition in den Beintaschen seiner Kombination und verließ den Laden. Die Hütte, die er mit Raimanja bewohnte, stand außerhalb der Stadt. Dort befand sich auch sein Jagdgewehr – es war verboten, die Stadt bewaffnet zu betreten. Nur die Kampfgruppen der verfeindeten Familien wagten es, gegen das Verbot zu verstoßen, oft mit fatalen Folgen für beide Seiten – und viel zu häufig auch für Unbeteiligte.
Raimanja Sulithur wartete unter der Tür der Hütte, als Caycon nach Hause kam.
»Ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, erklärte sie ohne Vorwurf. Caycon berichtete ihr von dem Attentat auf die Regierungskuppel und der erzwungenen Unterredung mit Kuranth. Raimanja lächelte schmerzlich und hoffnungsvoll zugleich. »Vielleicht ändert sich das in absehbarer Zeit.« Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, ergriff sie seine Hand und legte sie auf ihren Leib. »Wir beide, Caycon, lassen uns von unseren Familien auseinanderhalten, du bist ein Akonda und ich bin eine Sulithur. Aber unser Kind wird beides sein, ebenso vom Blut der Akondas wie von dem der Sulithurs, und dadurch werden Blutsbande geschaffen, die die Akondas und die Sulithurs zusammenführen können.« Er fühlte, wie eine Welle der Freude in ihm aufstieg. Nach kurzem Stocken arbeitete sein Herz schneller. Er holte tief Luft. »Du bist…?« »Schwanger, ja. Ich habe es heute gemerkt. Wir werden ein Kind bekommen.« Impulsiv umarmte er sie, küsste sie und strich ihr übers Haar, flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin sehr glücklich.« Plötzlich spürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Seine Haltung versteifte sich. Raimanja merkte es und schaute ihm ins Gesicht. »Was hast du plötzlich?« »Es ist nichts…« Caycon versuchte auszuweichen, doch er merkte, dass es zu spät dazu war. »Was wird mit unserem Kind geschehen? Wir müssen die Schwangerschaft melden, wie es das Gesetz befiehlt, und das bedeutet auch, dass man uns das Kind nach der Geburt wegnehmen wird, um es so zu erziehen, dass es sich unserem Volk später stärker verpflichtet fühlt als seinen Eltern, die es nie bewusst kennenlernen wird.« Raimanja wurde bleich. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Caycon, ich will mein – unser – Kind nicht hergeben.« »Alle Eltern müssen ihre Kinder hergeben. Wahrscheinlich ist
das sogar besser so. Denn dann wird es künftig keine familiären Bande mehr geben und folglich auch keine Familien mehr, die sich gegenseitig bekämpfen.« »Das ist kein Argument – und das weißt du. Gibt es keine Familien mehr, bilden sich andere Gruppierungen. Das Gesetz über die staatliche Erziehung der Kinder ist ebenso sinnlos wie grausam. Ich sehe nicht ein, dass ich unser Kind nur austragen und gebären darf – und es dann für immer aus den Augen verlieren soll. Lieber will ich mit dir fliehen. Auf Arkon gibt es noch genug unerforschte Gegenden, in denen uns die Kolonisationspolizei nicht findet.« Caycon führte Raimanja zu einem Stuhl und nahm ihr gegenüber Platz. »In der Wildnis leben heißt, in den Verhältnissen von Primitiven leben. Selbst dann, wenn ich einen gewissen Vorrat an Munition kaufen könnte, würde er nicht lange reichen. Danach müsste ich mit der Steinschleuder und mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen. Wir müssten uns in Felle kleiden, unsere Mahlzeiten über offenem Feuer zubereiten – und wir würden unserem Kind nichts von den Annehmlichkeiten der Zivilisation bieten können. Überlege dir, ob du das wirklich willst.« Raimanja schauderte. »Aber was können wir sonst tun, um unser Kind nicht zu verlieren?« »Wir dürfen vor allem nichts überstürzen. Außer uns weiß niemand, dass du schwanger bist, und vorläufig wird man dir auch nichts ansehen können. Wir haben mindestens noch vier Votanii Zeit, um uns etwas einfallen zu lassen.« Er wusste, dass sich das Problem auch in vier Arkonperioden nicht würde lösen lassen, aber für den Augenblick war er froh, dass sie die Entscheidung hinauszögern konnten. »Uns wird ganz bestimmt etwas einfallen.« Raimanja versuchte ein hoffnungsvolles Lächeln. »Aber du musst hungrig sein. Komm, lass uns essen, bevor du zur Jagd aufbrichst.« Sie stand auf und ging zum Elektroherd. Der Tisch war bereits
gedeckt, Raimanja brachte eine Schüssel mit geschmorten Pilzen. Dazu gab es Brot, das sie selbst gebacken hatte. Caycon hatte schon zu lange kein richtiges Brot mehr gegessen, als dass er sich noch daran störte, dass es zur Hälfte aus gemahlenen stärkehaltigen Baumfrüchten gebacken war. Den leicht bitteren Nachgeschmack bemerkte er kaum. Nach der Mahlzeit schnallte sich Caycon das gebraucht erworbene Flugaggregat auf den Rücken, nahm das Jagdgewehr und verabschiedete sich von Raimanja. Draußen startete er und nahm Kurs in Richtung Norden, wo es in nicht zu weiter Entfernung noch unberührte Wildnis gab.
Es war wie verhext. So verzweifelt Caycon auch suchte, an diesem Tag schienen alle Ruords in ihren Höhlen geblieben zu sein. Schon überlegte er sich, ob er nicht einen der zahlreichen durch die Wildnis streifenden Triaps schießen sollte, damit Raimanja und er wenigstens Frischfleisch bekämen, da entdeckte er das Yilld. Yillds waren Riesenreptilien, halb Schlangen, halb Drachen, und so selten, dass von hundert Jägern höchstens einer einmal in seinem Leben einem begegnete. Ihre Haut war so kostbar und begehrt, dass für eine einzige rund neunhundert Chronners gezahlt wurden – und ein Chronner war immerhin zehn Merkons wert. Dennoch verpasste Caycon die günstige Gelegenheit, das Yilld zu erlegen, als es sich auf einem glatten Felsblock sonnte. Zu sehr war er von seinem Anblick fasziniert, und als er seine Scheu überwand, ein so herrliches und seltenes Tier zu töten, hatte das Yilld ihn entdeckt und war beinahe lautlos zwischen den nächsten Felsblöcken untergetaucht. Caycon packte das Gewehr fester und eilte dem Tier nach. Noch immer plagten ihn Skrupel, aber seine finanzielle Lage war so verzweifelt, dass er die Bedenken zur Seite schob. Erlegte er das
Yilld und verkaufte die Haut, hatten Raimanja und er für viele Arkonperioden ausgesorgt. Dann konnte er sich genug Munition kaufen, um viele Ruords zu schießen, denn oft hatte er Hunderte dieser kleinen Pelztiere gesehen und nur noch eine Patrone im Lauf gehabt. Caycon kletterte auf einen der höchsten Felsbuckel, um Ausschau nach dem Yilld zu halten. Für einen Augenblick sah er die in allen Farben schillernde Haut zwischen zwei Felsblöcken, dann war sie wieder verschwunden. Caycon schaltete das Flugaggregat ein und steuerte in die Richtung, in der er das Yilld gesehen hatte. Das Tier konnte ihm nicht mehr entkommen; rund zweihundert Meter weiter versperrte eine beinahe senkrechte Felswand den Fluchtweg. Aber das alte Flugaggregat spielte Caycon einen Streich. Es stotterte plötzlich, sodass er an Höhe verlor. Er kannte diese Mucken gut genug, um damit fertig zu werden. Der Fehler lag an der Steuerung des Luftansauggeräts. Der Öffnungsquerschnitt verringerte sich manchmal selbsttätig. Caycon hatte deshalb eine selbst gebaute Manuellschaltung angebracht, die er mithilfe eines Kunststoffseils betätigen konnte. Nachdem er ein paarmal kräftig an dem Seilgriff gezogen hatte, normalisierte sich die Arbeit des Flugaggregats wieder. Als er wieder an Höhe gewonnen hatte, sah er das Yilld, wie es über einen besonders hohen Felsbuckel huschte. Zehn Meter weiter ragte die Felswand auf. Dort würde die Flucht des Tieres enden. Caycon steuerte den letzten Felsbuckel an und landete auf ihm. Aber von dem Yilld war weit und breit nichts mehr zu sehen. Es musste in der Höhle verschwunden sein, deren rechteckiger Eingang sich am Fuß der Felswand befand. Caycon stieß eine Verwünschung aus. Verzweigte sich die Höhle, würde die Jagd nicht nur sehr viel schwerer, sondern auch gefährlich werden. Ein in die Enge getriebenes Yilld verwandelte sich aus einem scheuen Tier in eine blindwütig angreifende Bestie. Deshalb überlegte sich
Caycon genau, wie er vorgehen wollte. Er fürchtete sich zwar nicht, aber da er nun die Verantwortung für Raimanja und das ungeborene Kind trug, musste er alles tun, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten. Da ihn das Flugaggregat in der Höhle nur behindert hätte, schnallte er es ab und ließ es einfach auf dem Felsbuckel liegen. Er stieg hinab und schaltete den Handscheinwerfer ein, der in einer Magnethalterung auf dem Brustteil seiner Kombination befestigt war. Während er das Gewehr schussbereit in Hüfthöhe hielt, drang er langsam in die Höhle ein. Er zuckte zusammen, als er ein hartes Flattern hörte und von einem Luftzug gestreift wurde. Ein Vogel war durch den Lichtkegel aufgeschreckt worden und flüchtete ins Freie. Caycon blieb stehen und drehte sich langsam, damit der Lichtkegel die nähere Umgebung vollständig ausleuchtete und ihn das Yilld nicht überraschte. Von dem Tier war nichts zu sehen, aber da die Höhle sehr tief in den Fels führte, würde es sich bestimmt weiter hinten verkrochen haben. Caycon ging vorsichtig weiter, umrundete ein kreisförmiges Loch und erreichte rund hundert Meter weiter den Abschluss der Höhle. Verblüfft ließ er den Lichtkegel umherwandem. Das Yilld konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Aber es war nirgends zu sehen. Es kann nur durch das Loch entwischt sein. Caycon kehrte um und blieb neben dem Loch stehen. Die Öffnung durchmaß etwa vier Meter. Als er niederkniete, die Lampe in die linke Hand nahm und in die Tiefe leuchtete, erblickte er einen senkrechten Schacht, dessen Wände so glatt waren, als seien sie mit Desintegratoren aus dem Fels geschnitten worden. Tief unten glaubte Caycon den Boden an einem Lichtreflex zu erkennen. Das Yilld konnte nur über die einen halben Meter breite Rampe entkommen sein, die sich in zahlreichen Windungen an der Schachtwand hinabschraubte. Caycon überlegte, ob er das Flugaggregat holen sollte, entschied
sich aber, ebenfalls die Rampe zu benutzen. Er hängte sich das Gewehr am Riemen über die Schulter und begann mit dem Abstieg. Der Schacht endete in einem Felskorridor. Caycon leuchtete nach oben und schätzte die Höhe auf neunzig Meter. Er befestigte die Lampe wieder an der Brusthalterung und drang in den Felskorridor ein. Nach ungefähr hundert Metern stieß er auf einen zweiten Schacht, der dem ersten völlig glich. Er leuchtete hinein. Caycon ahnte, dass das Yilld diesen Schacht benutzt hatte. Dennoch folgte er dem Felskorridor bis zu seinem Ende, und erst, als er wusste, dass sich das Yilld dort nicht verbarg, kehrte er zu dem Schacht zurück. Auch hier gab es eine spiralförmige Rampe. Caycon zweifelte unterdessen nicht mehr daran, dass er sich in einem künstlich angelegten Höhlensystem befand. Die Natur hätte vielleicht einen Schacht mit einer spiralförmigen Rampe schaffen können, aber nicht zwei, noch dazu so nahe beisammen. Ein leiser Schauder überlief den jungen Mann, als er sich vorzustellen versuchte, dass es auf Arkon schon einmal eine Besiedlung gegeben hatte oder die Heimatwelt eines ausgestorbenen Volkes gewesen war. Fragte sich nur, warum es ausgestorben war und warum es solche Höhlen angelegt hatte. Um sich gegen Angriffe aus dem Weltraum zu schützen? Am oberen Ende des zweiten Schachtes fand Caycon wieder einen Felskorridor, schmal und rechtwinklig wie der erste, mit glatten Wänden und einer Decke, die das Licht ähnlich wie Glassit reflektierte. Plötzlich stand Caycon im Eingang einer Halle, leuchtete sie mit der Lampe aus. Die gegenüberliegende Wand war so weit entfernt, dass sie das Licht kaum noch reflektierte, aber Caycon schätzte die kuppelförmige Halle als so groß ein, dass darin bequem ein Ultraleichtkreuzer von sechzig Metern Durchmesser Platz gehabt hätte. In der Wandung befanden sich rechteckige Öffnungen – Einmündungen von
weiteren Korridoren. Von dem Yilld war nichts zu sehen. Dennoch zögerte Caycon; nicht nur, weil es zu viele Korridore gab, in denen das Tier untergetaucht sein konnte, sondern vor allem deshalb, weil er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
14. Würde der Planet, der Arkon genannt wurde und viel später, wenn zwei andere Planeten im Auftrag eines meiner Vorfahren – Imperator Gonozal III. – auf die gleiche Umlaufbahn gebracht worden waren, Arkon I heißen? Ich war mir mit plötzlich gar nicht mehr sicher. Fartuloon hatte mir nie davon erzählt, dass auf Arkon I jemals Spuren einer Zivilisation gefunden worden seien, die untergegangen war, längst bevor das Imperium gegründet wurde. Das Höhlensystem, in das Caycon eingedrungen war, hätte doch niemals in Vergessenheit geraten können. Oder doch? Erst ein Impuls meines Extrasinns wies mich auf den Irrtum hin: Die ursprüngliche Siedlungswelt war der dritte Planet gewesen – in meiner Gegenwart die Kriegswelt mit der Bezeichnung Arkon III. Caycon hatte sich unterdessen entschlossen, seine Suche nach dem Riesenreptil fortzusetzen, obwohl er wissen musste, dass sich die Aussichten, das Tier aufzuspüren, stark verringert hatten. Es konnte sich in dem Korridor verbergen, den er als letzten untersuchte, und entkam vielleicht nach oben, während er gerade einen der anderen Korridore durchstreifte. Während ich – beziehungsweise mein Bewusstsein – weiterhin dem jungen Mann folgte, als sei ich mit unsichtbaren Seilen an ihn gefesselt, überlegte ich, ob ich Einfluss auf die Geschehnisse dieser Epoche nehmen konnte. Die Unvernunft der herrschenden Familien erzürnte mich so, dass ich ihnen am liebsten eine Lektion erteilt hätte. »Das wäre genauso unvernünftig wie die Handlungsweise der verfeindeten Familien«, signalisierte Fartuloon in der lautlosen Kommunikationsform. »Außerdem, wie sollten wir in unserer Zustandsform Einfluss auf die Geschehnisse nehmen?« »Ähnlich wie in den fremden Körpern, in die uns Klinsanthors Transport versetzt hat… Aber du hast recht. Dennoch ärgert es mich, wie sehr sie sich zerstritten haben, obwohl sie nur in gemeinsamer
Anstrengung die Schwierigkeiten der jungen Kolonie meistern können. Weißt du nichts über diese Epoche und wie der Streit der Familien beendet wurde? Er muss schließlich irgendwann beendet worden sein, sonst hätte das Große Imperium nicht entstehen können.« »Es gibt keine offiziellen Aufzeichnungen aus dieser Epoche…« »Und inoffizielle? Oder weitere Legenden – außer der von Caycon und Raimanja?« »Legenden helfen uns nicht weiter, mein Junge. Irgendwann in einigen Arkonjahren kommt Imperator Gwalon der Erste an die Macht. Aus seiner Herrschaftszeit ist nichts von Akondas oder Sulithurs bekannt…« Ich hatte das Gefühl, als wolle mein Pflegevater etwas verschweigen. Es war zu offenkundig, dass ihm das Thema nicht behagte. Da ich seine Gefühle respektierte, wechselte ich zu dem anderen Thema, das mich interessierte. »Weißt du, warum kein arkonidischer Historiker und auch kein anderer Wissenschaftler jemals die Spuren der untergegangenen Zivilisation erwähnte, die es doch gegeben hat, wie wir sehen können?« »Ich weiß es nicht, aber ich denke mir, dass die Generationen, die auf die von Caycon folgten, das Wissen über solche Funde unterdrückten und vielleicht sogar absichtlich die Spuren zerstörten. Bedenke, dass die damaligen Arkoniden, auch nachdem sie ihre innere Zerstrittenheit überwunden hatten, mit gewaltigen Schwierigkeiten kämpfen mussten. Es ist verständlich, dass sie unter solchen Umständen ihre neue Heimat, von der aus sie ein Imperium aufzubauen gedachten, nicht mit einer untergegangenen Zivilisation teilen mochten, die vielleicht mächtiger war als ihre.« Das leuchtete mir ein. Außerdem war es immer deprimierend, vor den Zeugen einer großartigen Zivilisation zu stehen, die trotz ihrer gewaltigen Leistungen schließlich untergegangen und in Vergessenheit geraten war. So etwas führte zwangsläufig zu der Überlegung, dass alle Zivilisationen vergänglich waren – und damit auch die eigene. Für ein Volk, das sich gerade ein Sternenreich
aufbauen will, können solche Überlegungen gefährlich werden, weil sie den Elan hemmen. Ich beendete meine Grübeleien, als Caycon einen Saal von gewaltiger Ausdehnung erreichte. Seltsamerweise konnte ich den Saal in seiner ganzen Ausdehnung »überblicken«, obwohl der Jäger nur das sah, was vom Lichtkegel seines Handscheinwerfers angestrahlt wurde. Alles das, was Caycon nicht sah, war für mich von einem düsteren Licht erhellt. Der Saal war nicht rund, sondern viereckig und mochte 200 mal 250 Meter messen. Genau in der Mitte stand etwas, das einem Tisch ähnelte. Das Material schien selbst temperierender Kunststoff zu sein, etwas, an dem unsere Wissenschaftler zu meiner Zeit erst experimentierten. Aus dem gleichen Material waren die sieben Stühle, die an einer Längsseite des Tisches standen. Hinter den sieben Stühlen standen die Statuen fremdartiger Lebewesen, die an aufrecht gehende Tiere erinnerten. Nach einer Weile erschienen mir einige der dargestellten Tiere gar nicht mehr so fremdartig, beispielsweise die Statue, die einem unserer Parkrinder ähnelte, aber anders proportioniert war. Caycon hatte sich in den Saal hineingewagt und stieß einen Schrei aus, als der Lichtkegel des Handscheinwerfers auf den Tisch, die Stühle und die Tierstatuen fiel. Er war offenbar nicht nur überrascht, sondern erschrocken. Es dauerte einige Zeit, bis er es wagte, näher heranzugehen und die Statuen zu berühren. Er zuckte zusammen, als ein dünnes Pfeifen ertönte. Ich konnte mir das Geräusch nicht erklären, bis ich bemerkte, dass Caycons Haar von Windstößen zerzaust wurde. Verständlich, dass der Jäger erschrak, denn bis in diese Tiefen des Höhlensystems durfte eigentlich kein derart starker Luftstrom dringen. Caycon hatte danach offenkundig genug von diesem für ihn unheimlichen Ort. Er kehrte um, verzichtete darauf, weiter nach dem Yilld zu suchen, und stieg an die Außenwelt zurück. Entmutigt schnallte er sich das Flugaggregat wieder auf den Rücken und startete. Ich war gespannt darauf, wie es weiterging, denn hätten Caycon und Raimanja in ihrer Zeit nicht eine bedeutende Rolle gespielt, wäre
niemals die Legende um sie entstanden…
Caycon war niedergeschlagen, gab sich selbst die Schuld daran, dass ihm die wertvollste Jagdbeute seines Lebens entgangen war, weil er im entscheidenden Moment gezögert hatte. Warum er aus der riesigen Halle geflohen war, konnte er sich hinterher nicht mehr so richtig erklären. Schließlich war es nicht undenkbar, dass ein künstlich angelegtes Höhlensystem über Lüftungssysteme verfügte, die mit der Außenwelt in Verbindung standen. Als Caycon merkte, dass er über eine kleine Herde Triaps geflogen war, wurde ihm bewusst, dass er unter Schockwirkung stand. Die Erlebnisse in dem Höhlensystem schienen ihn doch stärker beeindruckt zu haben, als er zuerst angenommen hatte. Er betätigte die in der Gürtelschnalle seiner Kombination untergebrachte Steuerung und kehrte in weitem Bogen zurück, bis er die Triaps wieder erblickte. Die Tiere wühlten grunzend und schnaubend im weichen Boden einer Waldlichtung. Die Geräusche des Flugaggregats schienen sie nicht zu stören. Caycon landete rund hundert Meter entfernt zwischen hohen Bäumen, schaltete das Flugaggregat aus, nahm das Gewehr von der Schulter und entsicherte einen der beiden Läufe. Danach pirschte er sich lautlos an die Triaps heran. Am Rand der Lichtung blieb er stehen. Die Tiere waren leicht beunruhigt, hatten die mächtigen Schädel hochgereckt und schnüffelten mit ihren Rüsselnasen. Die kleinen nackten Schwänze waren jedoch nicht erhoben, sondern wedelten eifrig hin und her, ein Zeichen, dass ihn die Triaps nicht gewittert oder gehört hatten, sondern nur instinktmäßig wachsam waren. Langsam legte Caycon das Gewehr an, zielte auf ein mittelgroßes weibliches Tier und drückte ab. Der Schuss krachte unnatürlich laut und brachte die üblichen Geräusche des Waldes schlagartig zum Verstummen. Das getroffene Tier knickte ohne
einen Laut in den Vorderbeinen ein, fiel auf die Seite. Die Beine bewegten sich in dem Kampf, der den ganzen Körper durchlief, dann entspannten sie sich. Die übrigen Tiere stoben erschrocken davon. Caycon lud den abgeschossenen Lauf nach, hängte sich das Gewehr über und trat auf die Lichtung. Unterwegs zog er sein Jagdmesser – ein gewöhnliches Messer mit scharf geschliffener Stahlklinge. Ein Vibratormesser wäre zu kostspielig gewesen, vor allem, weil die Energiemagazine, die von Zeit zu Zeit erneuert werden mussten, zu teuer waren. Neben dem Triap kniete Caycon nieder. Die Kugel hatte genau ins Herz getroffen, es war sofort tot gewesen. Caycon weidete es fachmännisch aus. Er war gerade fertig, als ihn sein Instinkt warnte. Blitzschnell ließ er das Messer fallen und machte eine ruckartige Bewegung mit der Schulter, über der das Gewehr hing. Die Waffe glitt ihm in die Hände. Gleichzeitig hatte sich Caycon umgedreht, sodass er den Waldrand ins Blickfeld bekam. Die beiden Ongtrees, die sich, tief auf den Boden geduckt, halb über die Lichtung geschlichen hatten, sprangen auf und griffen sofort an. Ongtrees waren geschmeidige Raubkatzen. Wahrscheinlich befand er sich in ihrem Revier und wurde von ihnen weniger als Beute denn als Eindringling angesehen, der getötet oder vertrieben werden musste. Ihre Taktik war so einfach wie vollkommen. Sie griffen ihn in einer Zangenbewegung von zwei Seiten an. Caycon zielte und schoss auf das von links heranstürmende Tier. Er sah noch, dass die Kugel es zurückschleuderte, schnellte hoch und rollte sich über den Triap, um dem zweiten Tier zu entgehen. Der zweite Ongtree landete halb auf dem toten Triap, fauchte und schnellte sich herum. Mit dem nächsten Sprung konnte er Caycon nicht verfehlen. Aber der Jäger war schneller. Er schoss, als die Raubkatze die Muskeln zum Sprung spannte. Das Tier kam noch hoch, brach aber über dem Triap zusammen. Rasch
lud Caycon die leer geschossenen Läufe nach, sah sich um. Aber außer den Ongtrees war kein Raubtier zu sehen, und diese beiden waren tot. Caycon atmete auf. Er überzeugte sich davon, dass die Ongtrees tatsächlich tot waren, denn mancher Jäger hatte schon sein Leben oder seine Gesundheit eingebüßt, weil er eine Raubkatze für tot hielt und dann, als er sie abhäuten wollte, angefallen wurde. Während Caycon anschließend die beiden Ongtrees abhäutete, besserte sich seine Laune. Die Ongtree-Felle würden ihm mindestens dreißig Chronners bringen. Morgen konnte er seine Schuld bei Ghodem begleichen und außerdem noch verschiedene Dinge einkaufen, die Raimanja und er bitter nötig hatten. Die beiden Felle rollte Caycon zusammen und verstaute sie in dem Jagdsack, der unter dem Flugaggregat befestigt war. Den ausgeweideten Triap befestigte er mit Gurten an der Lastenhalterung vor seinem Bauch. Danach startete er und beschleunigte vorsichtig, um das alte Aggregat nicht zu sehr zu belasten. Anderthalb Tontas später drosselte er das Flugaggregat und setzte zur Landung an. Er runzelte die Stirn, als er den schweren geschlossenen Gleiter entdeckte, der am Rand der Lichtung schwebte, auf der die Hütte stand. Hatte Raimanja vielleicht Besuch von einem Mitglied ihrer Familie bekommen? Caycon landete neben der Hütte, schnallte den Jagdsack und den Triap los und ging zur Tür. Sie öffnete sich, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann stand in der Öffnung. Er trug den Funkhelm und die hellblaue Uniformkombination der Kolonisationspolizei und grinste aufmunternd. »Komm nur rein, Caycon.« Mit gemischten Gefühlen trat Caycon ein. Raimanja saß in der Wohnküche auf einem Stuhl. Drei weitere Polizisten standen mit verschränkten Armen vor ihr. Caycon sah, dass Raimanja geweint hatte, und erkundigte sich schroff: »Was geht hier vor?« Der hinter ihm eingetretene Polizist versetzte ihm einen
derben Stoß in den Rücken, sodass Caycon drei Schritte nach vom stolperte. »Auch noch frech werden, was?« Er fuhr herum, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich protestiere gegen diese Behandlung. Wir sind keine Verbrecher, sondern freie Bürger.« »So?«, erwiderte der Polizist lauernd. »Dann verrat uns mal, wie ihr das nennt, gegen das Gesetz zur Anmeldung von Schwangerschaften zu verstoßen?« Caycon schaute sich nach Raimanja um. Als sie nickte, wusste er, dass es zwecklos war, alles abstreiten zu wollen. Die Dunkelweltdämonen mochten wissen, wie die Polizei von Raimanjas Schwangerschaft erfahren hatte, aber sie wussten nun einmal davon. »Wir hätten es morgen gemeldet. Heute ging es nicht mehr, weil ich zur Jagd musste.« »Morgen wäre es auch nicht gegangen – übermorgen auch nicht«, höhnte der Polizist. »Vielleicht erst in einigen Votanii, wenn es sich nicht mehr verbergen lässt, wie? Oder hättet ihr euch dann dem Gesetz entzogen?« Caycon wurde blass. Wieder schaute er sich nach Raimanja um. Sie schüttelte diesmal den Kopf. Folglich hatte sie nichts über ihr Gespräch verraten. Aber woher wusste die Polizei über alles Bescheid? Es gab nur eine Antwort: Die Polizei musste über eine verborgene Abhöranlage alles mitgehört haben. Das konnte aber nur bedeuten, dass sie alle erwachsenen Arkoniden überwachte, wahrscheinlich mit Ausnahme der führenden Familien. »Das ist ungeheuerlich«, entfuhr es ihm. »Warum haben wir gekämpft und unbeschreibliche Opfer gebracht, um unabhängig und frei zu sein, wenn wir uns in unserer neuen Heimat bespitzeln lassen sollen?« »Sei vorsichtig mit solchen Äußerungen«, drohte der Polizist, der bisher gesprochen hatte. »Sie könnten als Anstiftung zum Aufruhr ausgelegt werden.« »Das ist mir egal«, entgegnete Caycon trotzig. »Mir auch. Wir nehmen deine Freundin mit zur
Zwangsuntersuchung und Registrierung. Wahrscheinlich müssen wir sie wegen Fluchtgefahr inhaftieren, aber darüber entscheidet der Richter. Du kannst hierbleiben. Allerdings wirst du dich, genau wie deine Freundin, vor Gericht verantworten müssen.« Caycon merkte, dass er vor Zorn zitterte. »Ihr wollt Raimanja verschleppen!«, schrie er außer sich. »Das lasse ich nicht zu.« Seine Faust schoss vor und landete im Gesicht des Polizisten. Der Mann taumelte zurück, ging aber nicht zu Boden. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Wut. »Dich machen wir fertig!« Als er kam, nahm Caycon die Arme zur Deckung hoch, vergaß aber, dass hinter ihm drei weitere Polizisten standen; er merkte es erst, als je ein Mann einen Arm packte und auf den Rücken drehte. Der Polizist vor ihm holte aus…
Als Caycon aus dem Dunkel der Bewusstlosigkeit auftauchte, hatte er das Gefühl, aus tiefem Wasser an die Oberfläche zu steigen und dort gegen einen Schiffsrumpf zu stoßen. Sein Schädel schmerzte, als fänden im Innern ständig kleine Explosionen statt. Erst nach längerer Zeit ebbten die Schmerzen so weit ab, dass Caycon halbwegs klar denken konnte. Er bemerkte, dass er auf dem Fußboden lag. Im Licht der vielen Sterne des Kugelsternhaufenzentrums, das durch die Fenster fiel, konnte er problemlos die Umrisse der Möbel erkennen. Er stellte fest, dass er sich in der Wohnküche der Hütte befand. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Polizisten zurück und an das, was geschehen war. Sie hatten ihn brutal zusammengeschlagen und Raimanja fortgeschleppt. Nur flüchtig dachte er daran, die Polizisten wegen schwerer Körperverletzung anzuzeigen. Es hätte keinen Sinn gehabt, da er Widerstand geleistet hatte. Aber das war ihm auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass Raimanja verschleppt und zwangsweise
medizinisch untersucht worden war. Wahrscheinlich wurde sie anschließend in eine Zelle des nächsten Polizeireviers gesperrt. Langsam stemmte sich Caycon hoch. Alle Knochen taten ihm weh, aber er biss die Zähne zusammen und wankte in das kleine Badezimmer. Dort ließ er das Waschbecken voll kaltes Wasser laufen und steckte den Kopf hinein. Das ließ den Kopfschmerz bis auf ein erträgliches Maß abklingen. Caycon rieb sich das nasse Haar behutsam mit einem Handtuch ab, kehrte in die Wohnküche zurück, schaltete das Licht ein und setzte sich. Seine Brustplatte und die Magengegend schmerzten noch stark. Nach einiger Zeit stand Caycon wieder auf, füllte sich einen Becher mit kaltem Wasser und schluckte drei Schmerztabletten. Danach setzte er sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Es erschien ihm unerträglich, dass Raimanja bis zur Geburt des Kindes eingesperrt bleiben sollte. Sie würde das psychisch nicht verkraften und ein Trauma entwickeln, das sich letzten Endes schädlich auf das Kind auswirken musste. Es würde schließlich ihr und sein Kind bleiben, auch wenn man es ihnen bald nach der Geburt wegnahm. Und das war das andere, was ihm unerträglich erschien. Das Gesetz über die staatliche Erziehung aller Kinder – ohne Kontakt mit den Eltern – stammte noch aus der Zeit des Großen Befreiungskrieges. Damals war es aus mehreren Gründen sinnvoll gewesen. Einmal deshalb, weil die Frauen und Männer, die auf den Kampfschiffen Dienst taten, immer in Lebensgefahr schwebten. Sie kämpften besser, wenn sie wussten, dass wenigstens ihre Kinder nicht gefährdet waren, weil sie entweder auf Schiffen lebten, die sich von allen Kampfhandlungen fernhielten, oder auf Planeten, deren Koordinaten streng geheim waren. Zum anderen hatten die Kinder so erzogen werden müssen, dass sie keine andere Bindung kannten als die an die Gesamtheit. Diese Gründe existierten nicht mehr. Dennoch wurde das Gesetz beibehalten mit der Begründung, dass das
Volk der Arkoniden immer bereit sein müsse, Überfälle der Akonen abzuwehren, und dass die Erziehung zur ausschließlichen Bindung an den Staat die beste Voraussetzung für die Erhaltung der Kampfbereitschaft sei. Caycon glaubte, dass diese Begründung nur ein Vorwand war. Die Akonen waren so schwer geschlagen worden, dass sie froh sein mussten, dass die Arkoniden sie in Ruhe ließen, und sich eine neue Heimat gesucht hatten. Gab es eine ernsthafte Bedrohung für Arkon, resultierte sie aus der Zuspitzung der innenpolitischen Spannungen und letztlich aus der Unvernunft jener, die die Gesetze verabschiedeten. Caycon streckte die Finger auf der Tischplatte aus, ballte sie zu Fäusten und starrte grimmig darauf. Er hatte erkannt, dass die Arkoniden die schlechten Gesetze nicht hinnehmen durften, sondern sich wehren mussten. Er suchte im Trividgerät nach der Abhörschaltung, fand sie und machte sie unbrauchbar. Danach sah er sich um. Das Jagdgewehr lag auf dem Boden. Er hob es auf, entlud es und holte die Tasche mit dem Waffenreinigungsgerät. Danach nahm er das Gewehr auseinander und begann, es sorgfältig zu reinigen und einzuölen. Als die Haustür geöffnet wurde, sprang er auf und griff nach dem Jagdmesser. Aber es war nur sein Freund Sajogh, der hereinschaute. »Was ist los? Wie siehst du aus? Wo ist Raimanja?« Caycon legte das Messer auf den Tisch und bat den Freund herein. Sajogh war zwei Jahre älter als er und hatte im letzten Kriegsjahr als Ortungshelfer auf einem Kreuzer gedient, der allerdings keine Feindberührung mehr gehabt hatte. Als Sajogh saß, berichtete Caycon, was geschehen war. Sajogh hörte aufmerksam zu, sein Gesicht verdüsterte sich. Als Caycon endete, sah er missbilligend auf. »Und du glaubst, mit deinem Jagdgewehr die Regierung stürzen zu können?« »Nein, aber ich kann zumindest Raimanja befreien und dann mit ihr fliehen.«
»Das schaffst du nicht. Auf dem Revier sind immer mindestens vier Polizisten. Sicher, du hast das Überraschungsmoment auf deiner Seite, aber wenn es zum Kampf kommt, verlierst du. Außerdem würde man euch, falls ihr entkommen könntet, mit Gleitern verfolgen. Ihr kämt nicht weit.« »Aber wir können uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen«, begehrte Caycon auf. Sajogh dachte nach. Als er den Kopf wieder hob, wirkte sein Gesichtsausdruck entschlossen. »Du hast recht, wir dürfen uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen. Aber wir dürfen auch keine Polizisten töten. Sicher, sie haben dich brutal zusammengeschlagen, aber wenn wir nur einen von ihnen töten, hetzen uns die anderen so lange, bis sie uns haben.« »Wir? Du willst mir helfen?« »Ich werde dir helfen, wenn es mir gelingt, Patech, Hromer und Lasker zum Mitmachen zu bewegen. Du kennst sie; sie waren wie ich als Helfer auf dem Kreuzer NAHOLK. Wir haben uns in dem Durcheinander bei Kriegsende Waffen beschafft und mitgenommen, Paralysatoren. Damit können wir die Polizisten ausschalten, ohne jemanden zu töten – und wer käme schon darauf, uns zu verdächtigen? Niemand weiß, dass wir Paralysatoren versteckt haben. Die Polizei wird an einen Terroranschlag der Opposition denken. Da Raimanja zur Familie des Oppositionsführers gehört, liegt der Verdacht doch nahe, dass ihre Familie sie befreit hat, nicht wahr?« Caycons Augen funkelten. »Ja, so muss es gehen. Lass uns sofort aufbrechen!« Sajogh hob die Hände. »Immer langsam. Ich gehe jetzt und spreche mit unseren Freunden. Du packst inzwischen alles, was ihr braucht, um in der Wildnis zu überleben – und um dort ein Kind zur Welt zu bringen. Besorg dir medizinische Handbücher und Medikamente, Verbandszeug, Munition und dergleichen. Ich beschaffe einen Gleiter, denn ihr könnt ja nicht zu Fuß fliehen.
Wenn unsere Freunde mitmachen, überfallen wir heute Nacht das Revier und holen Raimanja heraus. Danach kehren wir hierher zurück. Ihr flieht mit dem Gleiter, und wir anderen setzen uns bei mir zu einer Partie Kekach zusammen. Meine Frau wird bestätigen, dass wir den ganzen Abend und die halbe Nacht dort zugebracht haben. Alles klar, Caycon?« »Alles klar, Sajogh«, sagte Caycon. »Ich danke dir, mein Freund.«
Ich hatte vergeblich versucht, mich Caycon oder Sajogh bemerkbar zu machen. Es war nicht möglich. Auch der Versuch, in Caycon zu schlüpfen, misslang. Ich vermochte nicht näher als bis auf einen Meter an ihn heranzukommen. Möglicherweise war sogar diese Annäherung nur eine scheinbare. Aber auf keinen Fall konnte ich in ihn eindringen und sein Bewusstsein zurückdrängen oder mit ihm Kontakt aufnehmen. »Es wäre sowieso ein Fehler gewesen«, teilte Fartuloon mir mit. »Wenn wir die Vergangenheit beeinflussten, würde das zu einem Paradoxonführen.« »Ich habe gelesen, dass Zeitparadoxa unmöglich seien. Folglich könnten wir keins herbeiführen.« »Das kommt darauf an, wie man ein Paradoxon definiert. Das absolute Zeitparadoxon kann es niemals geben, denn es würde sich nach dem Gesetz der Negation durch seine Verwirklichung selbst aufheben. Aber es gibt immer die Möglichkeit einer sehr großen Annäherung. Beispielsweise die Verwirklichung des Unwahrscheinlichen durch Manipulierung der dimensionalen Zuordnung, sodass es zu einer Abdrift in parallele Universen kommt. Ließen wir Caycon nicht so handeln, wie er von sich aus handeln würde – aus der Sicht unserer Gegenwart gehandelt hat! –, würden wir wahrscheinlich niemals Akon-Akon begegnen und folglich niemals hierherkommen, um Caycon zu beeinflussen. Wir wären Teil
einer ganz anderen Welt.« »Wie ich schon sagte: Zeitparadoxa sind unmöglich, weil ihr Zustandekommen ihre Ursachen eliminieren würde, sodass sie eben nicht zustande kämen.« »Aber das muss nicht so sein«, gab Fartuloon zurück. »Würden wir Caycons Handlungsweise nur modifizieren, sodass Akon-Akon geboren würde und wir ihm begegneten, könnte durch die Modifikation dennoch etwas verändert werden, was vielleicht entscheidenden Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung Arkons nimmt. Beispielsweise so, dass das Große Imperium seine Blütezeit viel früher erreicht hätte und beim Auftauchen der Maahks stark genug gewesen wäre, um die Wasserstoffatmer abzuschrecken und den Methankrieg zu vermeiden.« Ich versuchte, mir das vorzustellen, geriet aber auf immer mehr Variationen, die mich so verwirrten, dass ich beschloss, dieses Thema fallen zu lassen. »Also gut. Beschränken wir uns aufs Beobachten, weil uns ohnehin nichts anderes übrig bleibt. Schon das verhindert ja ein Zeitparadoxon und macht jede weitere Diskussion akademisch. Sofern es nicht ohnehin nur eine Traumvision ist, die Akon-Akon oder der Kerlas-Stab erzeugt. Ich bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht und ob das Paar tatsächlich nach Perpandron entführt wird – und vor allem von wem.« »Ich habe da eine bestimmte Vorstellung«, erwiderte Fartuloon. Mehr verriet er nicht.
Tekla von Khom fuhr hoch, als einer der Ortungsschirme einen Reflex anzeigte, wie er für ein größeres Raumschiff charakteristisch war. »Vielleicht haben wir sie endlich gefunden?«, rief er dem Schiffskommandanten zu. Perc von Aronthe blickte den Wissenschaftlichen Kommandanten gelassen an. »Vielleicht haben wir eins ihrer
Raumschiffe gefunden. Das muss aber nicht bedeuten, dass sie sich tatsächlich in diesem Kugelsternhaufen niedergelassen haben.« »Der Kurier, den wir verhört haben, sagte die Wahrheit. Er konnte gar nicht anders. Die Welt der Abtrünnigen muss ungefähr im Zentrum des Kugelsternhaufens sein, den der Kurier Urdnir nannte.« »Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein.« Der Kommandant wandte sich an den Ersten Piloten. »Folgen Sie dem Schiff in sicherem Abstand und messen Sie die Transition an, wenn es springt.« »Da wir sie orten, müssten sie dann uns nicht auch orten?«, warf der Wissenschaftler Segos ein. »Unsere neuen Strukturorter haben eine größere Reichweite als ihre«, antwortete Perc von Aronthe. »Und wenn sie ebenfalls neuartige Strukturorter entwickelt haben?« »Dann sterben wir in Urdnir«, erwiderte der Kommandant fatalistisch. »Wir können nicht alle Wenn und Aber berücksichtigen. Misslingt unser Vorhaben, unterwerfen uns die Abtrünnigen spätestens in einigen hundert Jahren; sie haben die Aggressivität von Barbaren.« »Schlägt unser Plan fehl, sorgen wir dafür, dass uns die Abtrünnigen niemals finden können«, warf Tekla von Khom selbstbewusst ein. »Die, die sich Arkoniden nennen, mögen die besseren Kämpfer sein, aber wir haben die besseren Wissenschaftler. Wir bleiben ihnen immer überlegen.« Das andere Raumschiff verschwand vom Ortungsschirm, als es die Transition einleitete. Sofort schlugen die Strukturtaster aus. Perc von Aronthe beugte sich vor, um die angezeigten Koordinaten besser ablesen zu können. »Transitionsziel ist tatsächlich das Zentrum des Sternhaufens. Erster Pilot, programmieren Sie eine Transition mit geringer
Zielpunktabweichung und warten Sie die nächste Strukturerschütterung im Zielgebiet ab. Auf diese Weise werden die Strukturorter der Abtrünnigen unsere Ankunft für ein Raumecho der anderen Strukturerschütterung halten.« Er hob grüßend die Hand, als ein Mann die Hauptzentrale betrat. »Ich denke, Sie werden bald Arbeit bekommen, Orthrek.« Orthrek kam langsam näher, setzte sich in den Kontursessel neben dem Kommandanten. Seine Bewegungen wirkten so geschmeidig wie die einer Raubkatze, die Augen verrieten eine wache Intelligenz und kompromisslose Härte. »Ich habe alles vorbereitet, Kommandant. Meine Einsatzgruppe wird ihre Mission erfüllen, wenn Sie uns zum Ziel bringen.« »Strukturerschütterung!«, meldete der Erste Pilot und drückte gleichzeitig die Aktivierungstaste für das Sprungprogramm. Da das Raumschiff mit rund neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit flog, wurde das Programm ohne Verzögerung realisiert. Nach der Rematerialisation verzogen sich die Gesichter unter dem Eindruck des Entzerrungsschmerzes, der nach jeder Wiederverstofflichung auftrat. Perc von Aronthe ließ sich als Einziger in der Hauptzentrale nichts anmerken. Leicht ironisch beobachtete er, wie die anderen Männer ihren Nacken massierten, und wandte sich an den Ersten Piloten. »Gut gemacht. Ich nehme an, die angemessene Strukturerschütterung stammte von einem Raumschiff, das den Zielsektor verlassen hat.« »Positiv, Kommandant.« Perc von Aronthe schaltete eine Interkomverbindung zur Ortungszentrale. »Wir sind in der Nähe einer sehr großen blauweißen Sonne materialisiert. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das Zielsystem. Passivortung mit allem, was wir haben.« »Verstanden, Kommandant«, kam es aus dem Lautsprecher. »Die Sonne liegt fast genau im Zentrum des
Kugelsternhaufens«, sagte Tekla von Khom, nachdem er die Anzeigen abgelesen hatte. »Eigentlich unklug von den Abtrünnigen, sofern sie sich längere Zeit verborgen halten wollen. Wer immer in einem Sternhaufen nach ihnen sucht, fängt beim Zentrum an und arbeitet sich allmählich nach außen vor. Wir hätten es ebenso gehalten, hätten wir nicht vorher eins ihrer Schiffe geortet.« »Diese Barbaren sind zu stolz, um sich irgendwo in einem Kugelhaufen zu verstecken«, warf Orthrek ein. »Für ihre Mentalität kommt nur das Zentrum eines solchen Gebildes infrage – sie halten sich für den Nabel des Universums.« »Zweifellos werden sie von hier aus ein Imperium aufbauen wollen, das nach und nach den gesamten Kugelsternhaufen in sein Herrschaftsgebiet einverleibt«, sagte Perc von Aronthe. »Das Wache Wesen wird dafür sorgen, dass sich dieses Imperium als unsere Kolonie betrachtet.« Die Ortungszentrale meldete sich. »Die weiße Sonne wird von siebenundzwanzig Planeten umlaufen. Nummer fünf ist ein Riesenplanet. Sehr unwirtlich. Dennoch haben die Mentalorter Impulse von intelligenten Lebewesen aufgefangen.« »Abtrünnige?«, fragte der Kommandant. »Nein, es sind Impulse eines fremdartigen Volkes, das nicht mit uns verwandt ist. Aber auf dem dritten Planeten leben eindeutig Arkoniden. Es werden kaum Raumschiffe angemessen.« »Nennen Sie diese Barbaren nicht Arkoniden!«, schrie Perc von Aronthe. »Es sind Abtrünnige!« »Wahrscheinlich lebt der größte Teil noch auf ihren Raumschiffen«, sagte Tekla von Khom nachdenklich. »Ihre Raumflotte hatte ja längst nicht die Verluste wie unsere.« »Kein Wunder. Die Abtrünnigen hatten schließlich die meisten und besten Kampfschiffe unserer Flotte in ihren Besitz gebracht. Sonst hätten sie keine Chance gegen uns gehabt.« »Und ihre Raumflotte ist unterwegs«, sagte Orthrek. »Ich
nehme an, dass sie systematisch diesen Kugelsternhaufen erkundet, um festzustellen, welche bewohnten Planeten als Erste unterworfen werden können, damit Milliarden unterdrückte Intelligenzen den Abtrünnigen helfen, ihr geplantes Imperium noch schneller aufzubauen.« »So wird es sein«, sagte Tekla von Khom. »Es wird höchste Zeit, diese Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken. Perc, wie weit können wir uns dem Planeten der Abtrünnigen nähern?« »Sofern sie kein Schiff im Raum haben – und das scheint derzeit der Fall zu sein –, bis auf eine Milliarde Kilometer.« »In Ordnung. Das ist dicht genug, um den Spezifikator einzusetzen und unter den Abtrünnigen die Person herauszufinden, die für unsere Zwecke am besten geeignet ist.« Perc von Aronthe gab seinem Ersten Piloten einen Wink. »Kurz beschleunigen und dann per Schleichfahrt weiter!«
Das Schiff landete gegen Mittag. Caycon eilte hinaus, als er das Brausender verdrängten Luftmassen hörte. Er sah, dass es ein Schwerer Kreuzer war, der auf dem provisorischen Landefeld in der Nähe der Stadt niederging. Schillernde Flecken auf der Außenhülle zeigten die Stellen an, die in den Kämpfen des Großen Befreiungskrieges von Schutzschirmdurchbrüchen angeschmolzen worden waren. Caycon wusste, dass für das angekommene Schiff ein anderes Raumschiff starten würde. Als Caycon in die Hütte zurückkehrte, schaltete sich das Trividgerät ein, das in keinem Haushalt der Kolonie fehlte. Die Regierung hatte diese Geräte kostenlos verteilt, weil sie alle ihre Anweisungen und Mitteilungen über Trivid verbreitete. Es wurden auch Kurse über Agrotechnik, über die Besonderheiten des ökologischen Systems von Arkon und über praktische und theoretische Raumflugprobleme ausgestrahlt, die die Bürger nach eigenem Gutdünken einschalten konnten. Wurden amtliche
Bekanntmachungen verbreitet, schalteten die Behörden die Geräte fernsteuertechnisch ein. Diesmal gab das Amt für Raumfahrt die Namen der weiblichen und männlichen Bürger bekannt, die sich zwecks Ausbildung oder Auffrischung ihrer Kenntnisse innerhalb von zwei Tagen an Bord des gelandeten Schweren Kreuzers melden mussten. Sie würden für die Dauer von mindestens einem halben und höchstens einem ganzen Arkonjahr die Hälfte der Schiffsmannschaft stellen und die Hälfte der bisherigen Besatzung ablösen. Die abgelösten Frauen und Männer waren ebenfalls Reservisten oder Rekruten. Sie würden für zwei Jahre zivilen Tätigkeiten nachgehen und danach wieder aufgerufen werden, sich an Bord eines Raumschiffs zu melden. Auf diese Weise wurde jeder gesunde Erwachsene in die Lage versetzt, notfalls als vollwertiges Besatzungsmitglied eines Raumschiffs zu dienen. Die ersten neu gebauten Raumschiffswerften waren in Betrieb genommen worden. Sie produzierten zwar erst dreißig Schiffe jährlich, aber die Produktion sollte innerhalb der nächsten zehn Jahre auf hundertfünfzig gesteigert werden. Caycons Knie wurden plötzlich so weich, dass er sich setzen musste. Er gehörte zu den wenigen Männern seines Jahrgangs, die noch nie eingezogen worden waren und deshalb bei jeder Schiffslandung damit rechnen mussten, an Bord gerufen zu werden. Wurde sein Name diesmal genannt, würde der Plan, Raimanja zu befreien und mit ihr in die Wildnis zu fliehen, undurchführbar werden. Caycon hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, sich dem Flottendienst zu entziehen. Das war eine Pflicht, die jeder Arkonide erfüllte, um das Überleben des Volkes zu sichern. Aber die Sendung ging vorüber, ohne dass Caycons Name genannt worden wäre. Er war beinahe zornig darüber, denn er musste annehmen, dass die Verwaltung veranlasst hatte, seinen Namen in der Positronik des Amtes für Raumfahrt zu löschen, weil er für unwürdig gehalten wurde,
Dienst in der Raumflotte zu tun. Wäre der Gedanke an Raimanja und das werdende Leben in ihr nicht gewesen, Caycon hätte sich auf der Stelle darüber beschwert. So aber überwand er den Groll und fuhr fort, alles zusammenzusuchen und einzupacken, was notwendig war, um die erste und schwerste Zeit in der Wildnis zu überstehen. Er hoffte, dass das grausame Gesetz in absehbarer Zeit für ungültig erklärt wurde, sodass er mit Raimanja und dem Kind in die Zivilisation zurückkehren konnte. Als es dunkelte, erschien Sajogh mit den drei Freunden. Sie trugen Bündel bei sich, und als sie sie aufrollten, kamen schwere Paralysatoren zum Vorschein. Es waren insgesamt fünf Lähmwaffen, sodass auch Caycon eine bekam. Lasker, der Älteste der Gruppe, verteilte schwarze Gesichtsmasken, die über die Köpfe gestreift wurden und nur Mund, Ohren und Augen frei ließen. Er wies auf die Flugaggregate der Männer. »Wir fliegen nicht als Gruppe zum Revier. Das würde sofort Verdacht erregen. Deshalb trennen wir uns und fliegen einzeln aus verschiedenen Richtungen zum Ziel. Damit wir gleichzeitig dort eintreffen, vergleichen wir unsere Uhren und legen einen Zeitpunkt fest.« Er blickte in die Gesichter der Freunde. »Es muss alles sehr schnell gehen. Da nur Patech, Hromer und ich im Bodenkampf ausgebildet sind, stürmen nur wir drei ins Revier. Sajogh und Caycon bleiben draußen und halten uns den Rücken frei. Sobald wir mit Raimanja rauskommen, springen wir in den bereitstehenden Fluchtgleiter und fliegen hierher. Caycon und Raimanja müssen ihr Gepäck verladen und sofort weiterfliegen.« »Und wir fliegen zu mir«, ergänzte Sajogh. »In Ordnung«, erwiderte Lasker. »Zellvergleich!« Sie verglichen die Anzeigen, verbargen die Paralysatoren in den langen Beintaschen der Kombinationen, steckten die Masken ein und brachen auf. Draußen bedeutete Lasker jedem, wie er
fliegen sollte, sodass sie alle zur gleichen Zeit aus verschiedenen Richtungen beim Polizeirevier eintrafen. Der Fluchtgleiter war in der Nähe des Reviers geparkt Anschließend starteten sie. Caycon hatte die Richtung zum Landeplatz des Raumschiffs zugewiesen bekommen, sollte aber nur die Hälfte der Strecke zurücklegen und danach umkehren. Da die vereinbarte Flughöhe zweihundert Meter betrug, konnte Caycon das hell erleuchtete Raumschiff deutlich sehen. Plötzlich spürte er so etwas wie Heimweh – Heimweh nach den Sternen, die während der Kindheit sein Zuhause gewesen waren. Im Unterschied zu anderen Kindern waren die der beiden mächtigsten Familien nicht ohne Kontakt mit den Eltern und Geschwistern aufgezogen worden, sondern hatten mit ihren Müttern und den jüngeren Geschwistern auf einem geheimen Planeten gewohnt. Sehr oft aber waren sie vom Flaggschiff des Familienoberhaupts abgeholt und für längere Zeit mit in den Weltraum genommen worden, sodass sie mehr zwischen den Sternen als auf den Planeten daheim gewesen waren. Es war im Grunde genommen eine schöne Zeit gewesen; Caycon hätte viel darum gegeben, wenn er mit Raimanja in einem Raumschiff wegfliegen könnte. Er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um diesen Traum aus seinen Gedanken zu verscheuchen und sich ganz auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor ihm lag. Er kontrollierte fortwährend die Uhr, und als der vereinbarte Zeitpunkt gekommen war, wendete er und flog zu dem Polizeirevier. Unterwegs musste er gegen Skrupel ankämpfen, die ihm plötzlich kamen. Aber dann sagte er sich, dass ja jemand damit anfangen musste, sich gegen ein grausames Gesetz zu stellen, das noch dazu von den Herrschenden wie selbstverständlich ignoriert wurde. Wieder kontrollierte Caycon die Uhr. Er beschleunigte etwas, damit er pünktlich am Ziel eintraf. Als er die erleuchteten Panzerglasfenster des Reviers sah, ging er tiefer. Da er und seine
Freunde ohne die vorgeschriebenen Positionslichter flogen, sah er die Freunde, die links und rechts von ihm anflogen, erst ziemlich spät. Er winkte kurz, zog sich die Maske über den Kopf, nahm den Paralysator, entsicherte ihn und setzte zur Landung an. Plötzlich flackerte es vor und über dem frei stehenden Gebäude, eine Sirene durchschnitt mit markerschütterndem Geheul die Stille. Ein Schutzschirm, dachte Caycon erschrocken. Sie haben das Revier mit einem Energieschirm gesichert. Aber warum? Sie können uns doch noch gar nicht gesehen haben. »Zurück!«, hallte Laskers Stimme durch die Nacht. Beinahe hätte Caycon zu spät reagiert. Er musste steil hochziehen, um nicht gegen den Energieschirm zu stoßen. Aber er dachte nicht daran, so schnell aufzugeben. In der Nähe des Reviers befand sich eine verlassene Baustelle. Caycon landete dort und ging hinter einem Traktorstrahlprojektor in Deckung. Als die ersten beiden Polizisten aus dem Revier stürmten und durch eine Strukturlücke im Energieschirm steuerten, schoss er. Die Polizisten zeigten keine Wirkung, sprangen nach links und rechts und feuerten mit Thermostrahlern in die Baustelle. Hinter Caycon entstanden zwei glühende und brodelnde Krater. Jemand stieß von oben auf Caycon zu, packte ihn an den Schulterkreuzgurten und schrie: »Sie haben Schutzschirme, du Narr! Los, weg von hier!« Aus der Dunkelheit flog ein eiförmiger Gegenstand, explodierte mit dumpfem Knall und hüllte alles in undurchdringlichen Nebel. Caycon begriff, dass einer der Freunde die Nebelbombe geworfen hatte, um ihm den Rückzug zu ermöglichen. Er schaltete das Flugaggregat ein und stieg senkrecht nach oben, weil das die einzige Möglichkeit war, Hindernissen auszuweichen. Irgendwo unter ihm krachten die Entladungen von Blasterschüssen. Die Polizisten glaubten offenbar an einen Überfall von Terroristen und rechneten deshalb gar nicht mit der Möglichkeit, dass sich
die Angreifer so schnell zurückzogen. Über der Nebelwolke, die inzwischen das ganze Viertel einhüllte, erkannte Caycon, dass ihn Hromer herausgeholt hatte. Die Freunde kreisten in der Nähe und gaben durch Zeichen zu verstehen, dass sie ihnen folgen sollten. Der abgestellte Fluchtgleiter musste aufgegeben werden. Sie flogen mit Höchstgeschwindigkeit aus der Stadt, sanken bis dicht über die Wipfel der Bäume und kehrten in weitem Bogen zu Caycons Hütte zurück. Dort landeten sie. »Wir trennen uns gleich wieder, bevor die Suchkommandos ausschwärmen«, sagte Lasker. »Der Anschlag auf das Regierungsgebäude muss Anlass für die Polizei gewesen sein, ihre Reviere mit Schutzschirmgeneratoren auszustatten.« »Aber woher wussten die Polizisten, dass wir das Revier angreifen wollten?«, fragte Caycon. »Sie wussten es bestimmt nicht vorher«, antwortete Sajogh. »Automatische Detektoren müssen unsere Paralysatoren und Flugaggregate angemessen und Alarm gegeben haben. Damit war unsere Aktion aussichtslos geworden. Du hättest dich ebenfalls gleich zurückziehen sollen, Caycon. Wir haben Glück gehabt, aber noch mal mache ich nicht mit. Tut mir leid für dich und Raimanja. Versuch, dich mit den Tatsachen abzufinden.« Er machte eine Handbewegung zu den Freunden. »Kommt!« Caycon blickte ihnen nach, entfernte das Energiemagazin aus dem Paralysator, holte einen Spaten und vergrub die Waffe und die Maske im Wald. Das Energiemagazin legte er in die Abstellkammer der Hütte. Da es ein Allzweckmagazin war, das auch in Arbeitsgeräte eingesetzt werden konnte, war sein Besitz nicht verboten. Dennoch rechnete Caycon damit, dass die Polizei ihn verdächtigen, festnehmen und verhören würde. Er setzte sich an den Tisch in der Wohnküche und wartete…
15. Ich war verwirrt. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass ich – beziehungsweise mein Geist oder Bewusstsein – von einem Augenblick zum anderen über viele Lichtjahre hinweg in ein akonisches Raumschiff und später wieder zurück nach Arkon versetzt werden würde. Immerhin war ich froh darüber, etwas mehr über die Vorgeschichte des Großen Imperiums zu erfahren. Die Regierung auf Arkon und die Opposition erwiesen mit ihrer erbitterten Rivalität dem Volk zwar keinen guten Dienst, aber wenigstens schien die Rivalität nicht auf die Raumflotte überzugreifen. Die Flotte war anscheinend ausgezeichnet organisiert und wurde von der Gesamtheit aller Arkoniden getragen. Was mich ebenfalls stark interessierte, war der Grund für den Abfall vom akonischen Imperium, sodass sich die Abtrünnigen Arkoniden nannten. Dafür hatte ich noch keine konkreten Anhaltspunkte erhalten. Möglicherweise hatte es in der Raumflotte des akonischen Imperiums eine Revolte gegeben, denn nur so konnten die Arkoniden den größeren Teil dieser Flotte in ihre Gewalt gebracht haben. Aber die Ursachen für den Großen Befreiungskrieg mussten tiefer und weiter zurückliegen. Stammten die heutigen Arkoniden von einem akonischen Siedlungsplaneten? Hatten sie sich von der Mutterwelt unterdrückt gefühlt und ihre Loslösung vorbereitet, indem sie ihre besten Söhne und Töchter in die akonische Raumflotte geschickt hatten? Im Krieg musste ihre Siedlungswelt verwüstet worden sein, sonst hätten sie keine neue suchen müssen. Unwillkürlich dachte ich an die um den Magnortöter Klinsanthor rankenden Legenden, in denen dergleichen angedeutet wurde. Ähnliches galt auch für jene Sagen rings um die Heroen und die Welt Arbaraith. Auf jeden Fall musste der Befreiungskrieg auf beiden Seiten furchtbare Opfer gefordert haben. Rechtfertigte die Erreichung des Zieles alle diese Opfer? Ich zweifelte plötzlich daran, ob ich weiter gegen Orbanaschol kämpfen durfte, während sich das Große Imperium kaum der Maahks
erwehren konnte. Deutlich klang in meinen Ohren Karmina da Arthamins Argumentation nach. Musste mein Kampf gegen den Diktator nicht letzten Endes zu einer Spaltung meines Volkes und zu einem neuen Bruderkrieg mit zahllosen Opfern führen? Ich teilte die Bedenken gedanklich meinem Pflegevater mit. »Ich verstehe dich«, erwiderte Fartuloon. »Aber zu Orbanaschols Sturz ist kein Bruderkrieg notwendig. Erstens hat er sich durch seine Gewaltherrschaft längst vom Volk isoliert, zweitens wollen wir nicht die Macht Arkons, sondern Orbanaschols persönliche Macht untergraben und nur ihn und seine engsten Komplizen von dem Sockel stoßen, auf den sie sich selbst gestellt haben. Nein, Kristallprinz, wir lassen es nicht zu einem Bruderkrieg kommen.« Ich fühlte mich etwas beruhigt. Dennoch waren noch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Aber bevor ich meine Überlegungen in dieser Richtung fortsetzen konnte, wurde ich abermals in das Schiff der Akonen geschleudert…
»Näher können wir nicht herangehen, ohne geortet zu werden«, sagte Perc von Aronthe. »Unser Schiff ist zu groß, um zwischen den Tasterimpulsfronten durchzuschlüpfen, die die Umgebung des Planeten der Abtrünnigen permanent absuchen.« Tekla von Khom setzte sich vor das Eingabepult der Bordpositronik. »Geben Sie die Ergebnisse der Fremdortungsmessungen durch. Ich berechne die raumzeitlichen Intervalle und arbeite ein Annäherungsprogramm für ein kleines Beiboot aus.« »Ich soll mit einem programmgesteuerten Beiboot auf dem Planeten der Abtrünnigen landen?«, fragte Orthrek entrüstet. »Was glauben Sie denn, wie oft ich mich schon an Objekte herangeschlichen habe, die ihre Umgebung mit Tasterimpulsfronten absuchten?« »Niemand bezweifelt Ihre Tüchtigkeit, Orthrek«, entgegnete
Perc von Aronthe. »Aber jene Einsatzagenten des Energiekommandos, die während des Krieges beim Anschleichen an feindliche Objekte abgeschossen wurden, waren sicher nicht weniger tüchtig als Sie. Dennoch betrug die Ausfallquote siebenundzwanzig Prozent. Unsere Mission ist zu wichtig, um ein Risiko einzugehen, das wir vermeiden können.« »Es widerstrebt mir einfach, wie ein Frachtgutstück in einem Boot zu sitzen und mich von einem Programm ans Ziel bringen zu lassen.« »Sie werden auf dem Planeten ausreichend Gelegenheit erhalten, Ihre Tüchtigkeit zu beweisen«, sagte Tekla von Khom. »Bedenken Sie, dass Sie das nicht können, wenn Sie vor der Landung geortet und abgeschossen werden.« Orthrek machte eine Handbewegung, die halbherzige Zustimmung ausdrückte. Perc von Aronthe ließ sich weitere Messergebnisse überspielen. »Sie haben ein einziges Kampfschiff auf dem Planeten und eins im Orbit. Die anderen sechzig Raumschiffe, deren Kraftwerksemissionen wir auffangen, scheinen halbe Wracks zu sein, die als Energieversorger für die Städte dienen.« »Aber wir empfangen weitere starke Energieemissionen«, sagte Segos. »Die Auswertung besagt, dass dort Raumschiffswerften in Betrieb sind. Die Abtrünnigen verstärken demnach ihre Raumflotte.« »Eines Tages wird das alles uns zugutekommen.« Der Kommandant schaltete die Interkomverbindung zur Ortungszentrale. »Hat der Spezifikator noch immer kein brauchbares Ergebnis geliefert?« »Soeben überprüft er eine Person genauer, die er schon einmal überprüft hat, Kommandant. Das bedeutet, dass er diese Person in die engere Wahl gezogen hat.« »Danke. Sobald die Entscheidung gefallen ist, geben Sie mir die Details durch.«
Niemand sprach, bis sich der Ortungsoffizier wieder über Interkom meldete. »Die Entscheidung ist gefallen. Für die Schaffung eines Wachen Wesens erscheint eins der Kinder in der erforderlichen Entwicklungsstufe herausragend geeignet. Durch Mentalüberlagerungsselektion wurde die männliche Komponente ermittelt. Sie ist von der weiblichen Komponente konstant fünf Kilometer entfernt, hat sich während des ersten Prüfverfahrens der weiblichen Komponente genähert, dann aber wieder auf Konstantdistanz zurückgezogen. Die weibliche Komponente dagegen bewegt sich niemals weiter als drei Meter nach allen Richtungen.« »Sie befindet sich in einer Gefängniszelle«, rief Orthrek. »Das kompliziert die Angelegenheit.« »Woher wollen Sie wissen, dass die weibliche Komponente sich in einer Gefängniszelle befindet?«, fragte Segos. Orthrek lächelte selbstbewusst. »Zu meiner Ausbildung gehörte unter anderem Verhaltenspsychologie. Die Bewegungen der weiblichen Komponente sind typisch für die Verhaltensweise von Häftlingen. Außerdem entnehme ich den Bewegungen der männlichen Komponente, dass sie versuchte, die weibliche Komponente zu sprechen oder zu befreien, und dass sie sich nach dem Scheitern dieses Versuchs in ihre Behausung zurückgezogen hat und über die Situation nachdenkt.« »Das leuchtet mir ein. Aber ich verstehe die Auswahl des Spezifikators nicht. Eine Verbrecherin als Trägerin des Wachen Wesens?« »Es kommt nicht auf das Psychogramm der Erzeugerkomponenten an, sondern auf die Daten des Embryos«, sagte Tekla von Khom. »Ob die weibliche Komponente ein Verbrechen begangen hat oder nicht, ist für uns völlig unerheblich.« »Für mich nicht«, sagte Orthrek. »Es bedeutet nämlich, dass ich die weibliche Komponente gewaltsam aus dem Gefängnis holen
muss – und das dürfte nicht ohne Aufsehen gehen.« »Solange niemand dort unten darauf kommt, dass die weibliche Komponente in den Weltraum entführt wurde, braucht uns das Aufsehen, das ihre Befreiung hervorrufen wird, nicht aufzuregen. Und da Ihr Beiboot nach dem von mir erarbeiteten Programm gesteuert wird, wird niemand an eine Entführung in den Weltraum denken.« Er schaltete eine Interkomverbindung zur Funkzentrale und sagte: »Was hat die Funküberwachung ergeben?« »Es wurde tatsächlich ein Überfall auf ein Polizeirevier verübt«, antwortete der Funkoffizier. »Allerdings glauben die zuständigen Stellen an das Attentat einer zur Opposition gehörenden Terroristengruppe. Regierung und Opposition scheinen sich nicht nur mit Worten zu bekämpfen, sondern stehen sich, bildlich gesprochen, bewaffnet hinter Barrikaden gegenüber.« »Das haben sie von ihrer angeblichen Freiheit«, triumphierte Segos. »Die Abtrünnigen sind Wirrköpfe, die unfähig sind, selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen. In unserem Imperium ginge es ihnen besser.« Orthrek lächelte ironisch, wurde jedoch ernst, als ihm Segos einen fragenden Blick zuwarf. »Wollen Sie das etwa bestreiten, Orthrek?« »Keineswegs.« Tekla von Khom lächelte ebenfalls ironisch. »Als Agent des Energiekommandos weiß Orthrek eben, dass es nirgends gewaltlose Auseinandersetzungen gibt. Nur finden sie manchmal hinter künstlichen Nebelwänden statt.« »Ich muss Sie auffordern, Diffamierungen des Energiekommandos zu unterlassen, Tekla von Khom«, sagte Orthrek steif. Tekla von Khom wurde ein wenig blasser, das ironische Lächeln verschwand aus dem Gesicht, aber seine Stimme klang arrogant, als er entgegnete: »Ich habe nicht behauptet, vom
Energiekommando zu sprechen. Versuchen Sie bitte nicht, mir etwas zu unterstellen. Meine Familie ist einflussreich genug, um mich gegen ungerechtfertigte Anschuldigungen zu schützen.« Eine Weile maßen sich die Männer mit Blicken, bis Orthrek eine einlenkende Geste machte. »Wir haben eine Mission zu erfüllen, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen uns allen verlangt. Widmen wir uns also den nächsten Schritten unserer Aufgabe.« »Einverstanden«, erwiderte der Wissenschaftliche Kommandant. »Das Programm ist fertig.« »Danke. Dann starte ich mit meiner Gruppe so, dass wir zu einer Zeit in der Nähe des Verweilpunkts der männlichen Komponente landen, in der es dort Nacht ist. Was aber im Zentrum eines Kugelsternhaufens nicht viel heißt…«
Der Fremde stand so überraschend im Zimmer, dass Caycon zuerst dachte, er sei aus dem Nichts materialisiert. Der junge Mann blieb nur deshalb nicht bei dieser Annahme, weil er eine wissenschaftlich fundierte Bildung hatte und wusste, dass derlei Dinge unmöglich waren. Nur Wirrköpfe beschäftigten sich mit paranormalen Kräften und dergleichen Unsinn. Im ersten Augenblick hielt er den Fremden für einen Polizisten, denn schließlich erwartete er ja die Polizei. Doch dann sah er, dass der hochgewachsene und breitschultrige Mann keinen Funkhelm und keine sichtbare Waffe trug, wohl aber eine enge Kappe, die sein Haar verbarg. Er war in eine Kombination von ähnlichem Zuschnitt wie die seine gekleidet. Nur das Material war anders, schimmerte irgendwie kostbar, ohne zu leuchten. Wahrscheinlich war es von hervorragender Qualität. Der Mann musterte Caycon aufmerksam, aber ohne erkennbare Gefühlsregung. Die Haut seines Gesichtes war straff und gebräunt, die Augen blickten kalt, und um den Mund lag die
Andeutung eines grausamen Zuges. Als einige Zeit vergangen war und ihn der Fremde immer noch musterte, ohne etwas zu sagen, hielt Caycon die beinahe körperlich schmerzende Anspannung nicht mehr aus. »Wer sind Sie?«, stieß er hervor. »Wollen Sie mich verhaften und wie Raimanja einsperren? Na schön, ich habe versucht, sie zu befreien, und ich bin bereit, die entsprechende Strafe auf mich zu nehmen. Die Familie Akonda wird nicht intervenieren. Eines Caycons wegen, der sich mit einer Sulithur eingelassen hat, rührt man keinen Finger.« In das Gesicht des Fremden kam Bewegung. Es entspannte sich etwas, ohne freundlich zu wirken. »Ich heiße Orthrek. Warum verwendest du mir gegenüber das Sie, als sei ich ein Offizier und du ein Angehöriger der von mir geführten Einheit?« »Ich weiß es nicht. Es war mir nicht einmal bewusst geworden. Vielleicht erwecken Sie den Eindruck, als ob…« Er stockte. Orthrek lächelte, aber es war kein angenehmes, sondern ein überhebliches Lächeln. »Tiefverwurzeltes lässt sich nicht einfach abstreifen. Aber sprechen wir von dem, was dich zurzeit am stärksten bewegt. Die Polizei hält deine Freundin gefangen. Du hast versucht, sie zu befreien, aber das ist misslungen. Was würdest du tun, böte dir jemand an, Raimanja zu befreien und in Sicherheit zu bringen?« »Alles!«, rief Caycon impulsiv, fügte dann aber einschränkend hinzu: »Oder fast alles. Aber nach dem misslungenen Versuch wird Raimanja bestimmt noch stärker bewacht als vorher. Es wäre aussichtslos, sie befreien zu wollen.« »Nicht für mich!« Caycon musterte den Fremden zweifelnd und erkannte, dass Orthrek eine außergewöhnlich starke Aura von Selbstbewusstsein ausstrahlte. Der Mann war kein Phantast; er wusste genau, was er sagte. In Caycon regte sich plötzlich wieder Hoffnung. »Wie wollen Sie das anstellen?«
»Das ist meine Sache.« Caycon wartete, dass der Fremde noch etwas hinzufügte. Als er merkte, dass Orthrek von sich aus nichts mehr sagen würde, fragte er: »Was verlangen Sie als Gegenleistung?« »Nicht viel – jedenfalls nicht viel für dich in deiner Lage. Nur, dass Raimanja und du mich anschließend begleiten und keine überflüssigen Fragen stellen. Ich bringe euch in Sicherheit, bestimme aber den Ort. Bist du einverstanden?« Caycon stand auf. In seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken, verwirrten sich und brachten ihn dazu, dass er nur noch denken konnte, dass er diese Gelegenheit ergreifen müsse, damit sie nicht unwiederbringlich vorübergehen sollte. »Ich bin einverstanden.« »Gut. Warte hier und unternimm nichts.« Er drehte sich um und ging mit den lautlosen, geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze. Nach einer Weile löste sich Caycons Erstarrung. Er eilte zur Tür und blickte hinaus. Aber von dem mysteriösen Besucher war nichts mehr zu sehen. Einen Augenblick lang glaubte Caycon, von irgendwo das Summen eines Antigravaggregats zu hören, doch als er den Atem anhielt, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, hörte er nur noch die üblichen vertrauten Nachtgeräusche des Waldes. Zögernd kehrte er in die Hütte zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Caycon fragte sich, wer ein Interesse daran haben könnte, ihm und Raimanja zu helfen – und fand keine Antwort. Er fragte sich auch, ob es sich um ein Schwindelmanöver gehandelt haben könnte, sah aber keinen Grund, der jemanden veranlassen könnte, eine Befreiung Raimanjas vorzutäuschen. Als er kurz hintereinander zwei krachende Entladungen hörte, sprang er auf und eilte ins Freie. Er konnte jedoch zunächst nichts Besonderes erkennen. Plötzlich aber waberte greller Lichtschein über dem Teil des Horizonts, wo die Stadt lag. Kurz darauf drang
das schmetternde Krachen einer starken Explosion an Caycons Ohren. Er stand unbeweglich da und starrte mit brennenden Augen dorthin, wo der grelle Lichtschein wieder verblasst war. Er ahnte, dass die Explosion in dem Polizeirevier stattgefunden hatte, in das Raimanja verschleppt worden war. Die Explosion musste so stark gewesen sein, dass vom Revier nicht mehr viel übrig geblieben sein konnte. Hatte sich Raimanja noch dort befunden… Caycon merkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Er ängstigte sich um Raimanja, wusste aber auch, dass er überhaupt nichts tun konnte. Er war völlig hilflos. Als der elliptische Gleiter gleich einem Schatten neben ihm niedersank, vermochte er sich immer noch nicht zu rühren. Erst als sich eine Tür öffnete, fiel die Erstarrung von ihm ab. »Caycon!«, rief eine Stimme – die Stimme Raimanjas. Caycon stürzte vor. Zwei Männer packten ihn an den Armen und zogen ihn ins Innere des Gleiters. Caycon achtete überhaupt nicht auf sie, sah nur Raimanja, die auf dem Rücksitz saß und ihn aus leuchtenden Augen ansah. Im nächsten Augenblick fielen sie einander in die Arme, hörten nicht, wie die Tür wieder geschlossen wurde, und sie hörten und sahen auch nicht, wie der Gleiter startete und dicht über den Baumwipfeln nach Norden flog.
Es war schlimm, unbeteiligter Zeuge von Geschehnissen zu sein, die schicksalhafte Bedeutung haben würden. Aber die Faszination überwog das beklemmende Gefühl der absoluten Passivität. Endlich lernte ich mehr über die Geschichte des Anfangsstadiums der Besiedlung auf Arkon kennen, die sich später zur Keimzelle des Großen Imperiums entwickeln sollte. Unsere Ahnen begingen viele Fehler, aber sie vollbrachten auch großartige Leistungen. Auf der anderen Seite waren die Akonen wahrscheinlich militärisch so
geschwächt, dass die Arkoniden ihnen mühelos den Gnadenstoß hätten versetzen können, hätten sie es gewollt. Dennoch gaben sie nicht auf. Mit den Mitteln, die ihnen geblieben waren, in erster Linie mit technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten und in zweiter Linie mit hervorragend ausgebildeten und trainierten Männern wie Orthrek, versuchten sie, die geschichtliche Entwicklung so zu beeinflussen, dass sie auf lange Sicht doch die Sieger sein würden. Ich wusste, dass ihnen das nicht gelungen war, aber ich wusste ebenso, dass ihnen unsere Ahnen nicht den Gnadenstoß versetzt hatten. Sofern sie sich nicht selbst aufgegeben hatten und ausgestorben waren, mussten sie in einem Sternenversteck immer noch existieren, isoliert, aber vielleicht schon wieder mächtig. Ich fragte mich, warum sie bisher nicht wieder auf die Bühne der galaktischen Politik getreten waren. Möglicherweise aus Furcht vor den Maahks? Vielleicht hofften sie darauf, dass Arkon im Methankrieg so geschwächt wurde, dass das Große Imperium keine Gefahr mehr für sie darstellte. Als vor dem Bug des Gleiters die dunkle Silhouette der nördlichen Berge auftauchte, zog der Pilot das Fahrzeug höher. Caycon und Raimanja saßen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Sie waren glücklich darüber, dass sie wieder beisammen sein durften. Ich überlegte, ob sich die Bewusstseinsinhalte aller achtunddreißig Personen, die in der halb verfallenen Transmitterstation angekommen waren, in der Gleiterkabine aufhielten. Irgendwie erschien es mir unglaubhaft, dass wir alle hier Platz haben sollten. Aber Bewusstseine benötigten ja keinen messbaren Raum. Im Grunde genommen wussten wir gar nichts über den Geist beziehungsweise das Bewusstsein – und auch die Bezeichnung »Bewusstseinsinhalt« war nur ein Verlegenheitsbegriff, der sich einer klaren Definition entzog.
Der Gleiter überflog eine Bergkette, steuerte in eine enge Schlucht und erreichte schließlich ein tiefes kreisrundes Tal. Während er in das Tal einflog, war voraus ein schwaches Flimmern zu
erkennen – und im nächsten Augenblick war im kalten Licht der Sterne ein kleines diskusförmiges Raumboot zu sehen. Caycons Haltung versteifte sich. Er drehte den Kopf und blickte Orthrek an. »Das ist ein raumtüchtiges Boot«, stieß er hervor. »Was hat das zu bedeuten? Wollt ihr uns in den Weltraum bringen? Das war nicht abgemacht.« »Es war abgemacht, dass ich den Ort bestimme, an dem ich euch in Sicherheit bringe. Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen. Es ist alles in Ordnung.« Der Gleiter schwebte neben dem Diskus. Wenig später öffnete sich an der Oberseite eine Schleuse. Der Gleiter schwebte hinein. Caycon sah sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um. »Das ist kein arkonidisches Boot. Wer seid ihr? Woher kommt ihr?« Er machte Anstalten aufzustehen, aber zwei Insassen des Gleiters legten ihm ihre Hände auf die Schultern und drückten ihn auf die Sitzbank zurück. Orthrek hielt plötzlich einen kleinen Paralysator in der Hand. Doch Caycon war nicht mehr zu bremsen, duckte sich unter den Händen der Männer weg und wollte sich auf Orthrek stürzen. Aber er kam nicht dazu. Der Paralysator summte hell auf, Caycon brach gelähmt zusammen. Raimanja schrie auf, blieb aber sitzen. Sicher dachte sie an das werdende Leben und bemühte sich, sich so zu verhalten, dass es nicht gefährdet wurde. »Bringt den jungen Heißsporn und seine Freundin ins Boot!«, befahl Orthrek den anderen Männern. Er wandte sich an Raimanja. »Es ist gut, dass wenigstens du vernünftig bist. Ihr solltet uns dankbar sein, dass wir euch vor den Schergen der Abtrünnigen retten.« Raimanja wurde blass. »Abtrünnige? So nennen uns die Ihr seid Akonen! « Orthrek lachte trocken. »Was ist für euch schon dabei? Nur bei uns seid ihr in Sicherheit.«
Orthrek betrat die Hauptzentrale des Raumschiffs und meldete sich bei Tekla von Khom und Perc von Aronthe. »Caycon und Raimanja sind wohlbehalten an Bord. Niemand auf dem Planeten der Abtrünnigen hat gemerkt, dass das Liebespaar in den Weltraum entführt wurde. Wir haben die Polizeistation, in der Raimanja gefangen gehalten wurde, gesprengt, um keine Spuren zurückzulassen.« »Danke«, erwiderte der Schiffskommandant. Tekla von Khom erhob sich von seinem Kontursitz. »Ich veranlasse alles Nötige, damit die Arbeiten nachher zügig durchgeführt werden können.« Er wandte sich an Orthrek. »Sollten Sie sich dafür interessieren, kommen Sie doch mit in die Forschungsabteilung. Sie können sich die Vorbereitungen ansehen.« Der greise Tarmin cer Germon war der berühmteste Biogenetiker des einstigen Reiches, ein Rat von Akon. Seine Mitarbeiter Segos, Implikor und Vathore waren ebenfalls berühmt. Tekla von Khom selbst dagegen hatte keinen besonderen wissenschaftlichen Ruf, war nicht spezialisiert. Dafür kannte er sich in mehreren Disziplinen so gut aus, dass er Verbindungen zwischen ihnen knüpfen konnte und koordinierend und katalysierend wirkte. »Sehr gern, danke.« Orthrek folgte dem Wissenschaftlichen Kommandanten über Transportbänder und Antigravlifts in die Forschungsstation. In einem der größeren Räume war eine spezielle Positronik installiert, in der vor allem der Wissensschatz der akonischen Biogenetik und aller benachbarten Wissensgebiete gespeichert war. Orthrek hielt sich zurück, denn er wusste, dass er im Kreis so hervorragender Wissenschaftler nicht mitreden konnte. Deshalb beschränkte er sich aufs Zuhören, als Tarmin cer Germon sprach. »Alles kommt darauf an, dass wir das Phasus-drei-Virus, das als
Informationsträger dienen soll, nicht stärker schwächen als unbedingt notwendig. Es soll dem Embryo keinen Schaden zufügen, darf aber andererseits nicht absterben, bevor es nicht seine Gene in alle Zellen des Embryos geschossen hat, damit sie ihre Informationen so im genetischen Kode verankern, dass sie bei der Zellvermehrung immer wieder weitergegeben werden.« »Phasus-drei wird arbeiten, wie wir es wollen«, versicherte Segos. »Ich habe die Modifikation stabilisiert, Implikor hat dafür gesorgt, dass die Kultur gegen alle Umwelteinflüsse abgeschirmt blieb, sodass es nicht zu Mutationen kommen konnte.« »Die Berechnungen zeigen«, fügte Vathore hinzu, »dass das Trägervirus den Embryo in unserem Sinne programmieren wird. Phasus-drei ist so stabil, dass es sich unverändert erhalten und vermehren wird, solange das Wache Wesen lebt.« Tekla von Khom wandte sich an Orthrek und sagte: »Wie allgemein bekannt ist, heften sich Viren an die Wandungen von Zellen und entladen ihren Inhalt. Dieser besteht aus einem genetischen Programm, das dem Kern der betroffenen Zelle aufoktroyiert wird, woraufhin die Zelle im Regelfall nicht mehr sich selbst reproduziert, sondern identische Viren erzeugt, die beim Zerfall der Zelle frei werden und weitere Zellen befallen. Normalerweise wirkt sich das schädlich auf den betreffenden Organismus aus, oft sogar tödlich. Aber im Lauf der Evolution gab es immer wieder bestimmte Viren, die sich in Organismen ausbreiteten, diese aber nicht schädigten, sondern ihnen Informationen und Fähigkeiten vermittelten, zu denen die Organismen auf normalem Wege nicht oder erst viel später gekommen wären.« Er wies auf eine komplizierte Apparatur. »Wir haben uns diesen Umstand nutzbar gemacht, indem wir ein Virus züchteten, das den Organismus, den es befällt, nicht schädigt, sondern ihm ausschließlich Informationen und Fähigkeiten übermittelt sowie sein Gehirn beeinflusst. Phasus-drei wird in den Embryo
Raimanjas eingebracht und dafür sorgen, dass sich das Kind zu einem Wachen Wesen entwickelt. Sobald es die körperliche und geistige Reife erreicht hat, wird es über alle Voraussetzungen verfügen, das Volk, dem es entstammt, zu führen, ihm seinen Willen und seine Denkungsart aufzuzwingen. Außerdem wird es – unbewusst, aber jederzeit abrufbereit – über umfangreiches Wissen unserer Wissenschaft und Technik verfügen. Es wird ein Superwesen sein, das die Abtrünnigen auf unsere Linie zurückführen muss, ob es will oder nicht.« »Das klingt faszinierend«, gab Orthrek zu. »Aber jedes Lebewesen kann getötet werden. Reichen die Fähigkeiten des Wachen Wesens aus, es vor Mordanschlägen zu schützen?« Tekla von Khom lächelte. »Niemand, der in die Nähe des Wachen Wesens kommt, wird noch in der Lage sein, an einen Mordanschlag zu denken. Er wird im Gegenteil alles tun, um es zu beschützen und seine Wünsche zu erfüllen.« »Ein wahrhaft großartiger Plan. Ich bin froh, dass ich mithelfen durfte, ihn zu verwirklichen.«
Caycon ging erregt in der Kabine auf und ab, in die er gesperrt worden war. Obwohl die Kabine luxuriös ausgestattet war und er regelmäßige und gute Mahlzeiten erhielt und sich über Interkom mit Raimanja unterhalten durfte, war er zutiefst besorgt. Besorgt vor allem deshalb, weil er erkannt hatte, dass es Akonen waren, die ihn und Raimanja entführt hatten. Der junge Arkonide aber dachte und fühlte noch immer loyal gegenüber seinem Volk, obwohl er erst vor kurzer Zeit versucht hatte, gegen die Gesetzeshüter seines Volkes zu kämpfen und Raimanja und sich – und ihr Kind – dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Aber für ihn war es eine Sache, sich gegen ein als ungerecht und grausam befundenes Gesetz zu wehren – und eine ganz andere, mit den Akonen, den Erzfeinden seines Volkes, gemeinsame
Sache zu machen. Er wusste es nicht, aber er ahnte, dass die Akonen ihn und Raimanja dazu missbrauchen wollten, seinem eigenen Volk großen Schaden zuzufügen. Deshalb sann er darüber nach, wie er mit Raimanja fliehen konnte. Er war bereit, sich auf Arkon den Behörden zu stellen und sich vor Gericht zu verantworten, ja sogar eine strenge Bestrafung auf sich zu nehmen. Als er den Interkom einschaltete, um mit Raimanja – wenn auch wegen der Abhörgefahr nur in versteckten Andeutungen – darüber zu diskutieren, meldete sich seine Freundin nicht. Caycon versuchte es wieder und wieder. Plötzlich leuchtete der Bildschirm doch auf. Aber es war nicht Raimanjas Gesicht, das ihm entgegensah, sondern das Gesicht eines alten weißhaarigen Akonen. »Ich bin Tarmin cer Germon.« Der Greis sprach mit gütig klingender Stimme. »Sorge dich nicht um deine Freundin, Caycon. Sie befindet sich in der Obhut unserer besten Wissenschaftler und wird bald in ihre Kabine zurückkehren.« »In der Obhut Ihrer Wissenschaftler? Was haben Sie mit ihr vor?« »Nichts, was ihr schaden könnte. Raimanja ist schwanger. Da ist es nur natürlich, dass sie medizinisch untersucht wird. Euer Kind soll schließlich gesund zur Welt kommen. Übrigens kann ich dir schon verraten, dass es ein Sohn sein wird.« »Ein Sohn!« Caycon fühlte Freude. Doch sie wurde sofort von Besorgnis und Argwohn überlagert. »Aber warum kümmern Sie sich darum, ob unser Kind ein Sohn wird und ob es gesund zur Welt kommt? Was steckt dahinter?« Der Greis wirkte für einen Augenblick geistesabwesend, ehe er entschlossen die welken Lippen zusammenpresste. »Ich dürfte es dir nicht verraten. Aber weil du so besorgt bist und weil ich dich verstehe – denn ich bin selbst Vater von drei Söhnen und Großvater von siebzehn Enkeln –, will ich dir wenigstens so viel verraten, dass
du beruhigt bist. Dein Sohn soll ein Waches Wesen werden, das einmal die Führung eurer Kolonie übernehmen wird. Er soll mit überragenden Fähigkeiten und mit überragender Macht über seine Mitbürger ausgestattet sein, damit ihm alles gelingt, was er sich vornimmt. Da keinem Lebewesen alle diese Gaben gleichzeitig in höchster Potenz von Natur aus mitgegeben werden, müssen wir deinen Sohn im Embryonalstadium einer modifizierenden und programmierenden Behandlung unterziehen. Wir wählten euren Sohn deshalb, weil er sich im erforderlichen Entwicklungsstadium befindet und weil er durch die Verschmelzung von deiner und Raimanjas Erbmasse jene besondere genetische Grundvoraussetzung mitbringt, die für den Erfolg unserer Behandlung entscheidend ist. Du kannst stolz darauf sein, dass ausgerechnet dein Sohn dazu auserwählt wurde.« Caycon war verwirrt, aber obwohl er nur einen geringen Teil dessen verstand, was ihm der Alte gesagt hatte, ahnte er, dass die Akonen etwas Ungeheuerliches planten. Er ballte zornig die Hände zu Fäusten. »Sie haben kein Recht, werdendes intelligentes Leben zu manipulieren. Ich verlange, dass mein Sohn unversehrt bleibt. Er hat ein Recht darauf, das zu werden, was die Natur vorgesehen hat.« Tarmin cer Germon machte eine begütigende Geste. »Alle Lebewesen werden ununterbrochen manipuliert, sei es durch die universellen Einflüsse wie die verschiedenen Strahlungsarten, die Magnetfelder von Planeten, Sonnen und Galaxien oder sei es durch Gesellschaftsordnungen, Traditionen, die ökologischen Umweltverhältnisse oder andere Lebewesen. Nur deshalb gibt es eine Evolution und letztlich bewusste Intelligenz. Die bewusste Intelligenz aber ist in der Lage, Ursachen und Wirkungen in ihren Zusammenhängen zu durchschauen und sich der Kausalitäten zu bedienen, um durch Erzeugung gesteuerter Ursachen gewollte Wirkungen zu erzielen.« »Nichts als wirre Worte!«, schrie Caycon aufgebracht. »Ich
begreife nicht viel davon, aber ich will nicht, dass mein Sohn manipuliert wird. Was für ein Sinn soll überhaupt dahinterstecken?« »Ein großer und guter Sinn. Ihr Abtrünnigen nennt euch Arkoniden, was so viel wie Freie bedeutet. Ihr habt euch vom Mutterreich gelöst und dabei unsere gemeinsame Zivilisation fast ausgelöscht. Aber ihr werdet so wenig frei sein wie als Mitglieder des Mutterreichs auch, denn absolute Freiheit gibt es nicht. Nirgends und nirgendwann ist ein Lebewesen frei. Der Wurm gehorcht seinen Instinkten, höhere Lebewesen gehorchen Instinkten und Erfahrungen – und Intelligenzwesen gehorchen den Geboten der Vernunft, wenn sie nicht scheitern wollen. Das Wache Wesen, zu dem dein Sohn werden wird, ist berufen, euch Abtrünnige in die alte Gemeinschaft zurückzuführen, denn nur in der Gemeinschaft können wir uns gegen die Gefahren der inneren und äußeren Natur durchsetzen.« »Mein Sohn – soll zum Verräter an Arkon werden?« »Nicht zum Verräter, sondern zum Retter. Wir werden dich und deine Freundin zum Planeten Perpandron bringen. Dort wird euer Sohn zur Welt kommen, und dort werden wir alles vorbereiten, um die Entwicklung des Wachen Wesens zu sichern.« »Das ist ungeheuerlich! Das ist Wahnsinn! Das dürfen Sie nicht tun! Ich bringe Sie um!« »Beruhig dich. Du kannst nichts daran ändern, dass dein Sohn ein Wachen Wesens wird. Denk an die Zukunft. Akonen und Arkoniden haben eine gemeinsame Herkunft. Die äußerlichen Unterschiede kommen nur daher, weil unser Volk damals, als es vor einer Gefahr, die vergessen ist, geflüchtet war, unterschiedliche Welten besiedelte. Aber wir blieben dennoch eine Gemeinschaft, bis ihr auf den unseligen Gedanken kamt, ein eigenes Imperium aufbauen zu wollen.« »Weil ihr uns unterdrückt und ausgebeutet habt. Aber damit ist
es vorbei! Alle eure Anstrengungen werden euch nichts nützen.« Als der Bildschirm dunkel wurde, hämmerte Caycon mit den Fäusten dagegen, bis er erschöpft war. Danach sank er in sich zusammen und brütete dumpf vor sich hin.
16. Ich konnte nicht umhin, die Logik in den Argumenten des greisen Wissenschaftlers zu sehen. Jedenfalls hatte das, was er gesagt hatte, aus seiner Sicht logisches Gewicht. Dennoch musste ich den Plan der Akonen missbilligen, weil er keine Rücksicht auf die ethischen und moralischen Grundsätze nahm, nach denen im Allgemeinen wohl auch die Akonen lebten. Andererseits musste ich mich davor hüten, deswegen die Akonen als schlecht und uns Arkoniden als gut zu betrachten. Sowohl Akonen als auch Arkoniden hatten Gutes vollbracht und Schlechtes verübt oder geduldet. »Wie das Beispiel von Orbanaschol beweist«, meldete sich mein Pflegevater nach längerer Zeit wieder. »Ein Außenstehender der Zeit, aus der wir kommen, könnte sehr wohl die Arkoniden schlechthin als böse bezeichnen, weil er ihre Taten beurteilt, ohne zu berücksichtigen, dass sie dem Willen eines Diktators entspringen.« »Eben deshalb wird es höchste Zeit, Orbanaschol zu stürzen – aber wir irren kreuz und quer durch die Galaxis, nicht mehr Herr unseres Willens und unfähig, unsere Ziele zu verwirklichen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir ebenfalls manipuliert.« »Alles wird manipuliert. Der Blütenstaub der Blumen, der Flug des Vogels und sogar das Universum als Ganzes. Wir alle irren durch ein Labyrinth, in das wir hineingestellt wurden, ohne den Ausgangspunkt und das Ziel zu kennen. Das letzte Ziel erreichen wir wahrscheinlich niemals, bestenfalls eine Zwischenstation.« »Die Philosophie eines puren Bewusstseins hat etwas Ätherisches an sich«, spottete ich. »Sie soll jedenfalls nicht der Zerstreuung dienen. Mir scheint, unser junger Freund hat etwas vor. Er ist aus seiner Kabine ausgebrochen.« Die Mitteilung war überflüssig, denn da meine Aufmerksamkeit von unbekannten Kräften auf das Objekt unserer Beobachtung
gezwungen wurde, hatte auch ich gesehen, dass es Caycon gelungen war, das Schott seiner Kabine zu öffnen. Ich war gespannt auf das, was er vorhatte…
Als Caycon die dumpfe Verzweiflung überwunden hatte, kristallisierte sich der Gedanke heraus, dass er etwas unternehmen müsse, um den Plan der Akonen zu vereiteln. Er ahnte, dass sich seine ursprüngliche Absicht, mit Raimanja aus dem Schiff zu fliehen, nicht realisieren ließ. Da die Akonen den Embryo so manipulieren wollten, dass er sich zu einem Wachen Wesen entwickelte, würden sie Raimanja zweifellos schwer bewachen. Caycon focht einen inneren Kampf aus. Er wusste, dass es seine Pflicht war, den hinterhältigen Anschlag gegen die Freiheit seines Volkes zu vereiteln. Andererseits fühlte er sich für Raimanja verantwortlich – und für seinen Sohn. Die Frage war nur, was schwerer wog. Eigentlich kannte Caycon die Antwort schon. Schwerer wog auf jeden Fall das Wohl der Gesamtheit. War die Gesamtheit bedroht, musste sich das Individuum notfalls opfern. Nachdem Caycon vergebens nach einem Kompromiss gesucht hatte, der es ihm erlaubte, allem gerecht zu werden, fasste er schweren Herzens den Entschluss, alle persönlichen Interessen hinter das Gemeinwohl zu stellen. Er zitterte am ganzen Körper; dennoch ging er sofort daran, ihn in die Tat umzusetzen. Das erste Problem bestand darin, dass er aus der Kabine entkommen musste, obwohl das Schott durch ein elektronisches Schloss verriegelt war. Da sich Caycon mit einfacher Elektronik auskannte, weil er notgedrungen die Einrichtungen im Haushalt selbst hatte reparieren müssen, löste er dieses Problem relativ schnell. Er hatte zwar kein Flugaggregat mehr, wohl aber die dazugehörige Steuerung, die in der Gürtelschnalle untergebracht war. Die Steuerung sandte Impulse aus, die die Ansaug- und
Ausstoßleistung eines Flugaggregats sowie den Grad der Aufheizung durch den Mikroreaktor regelten. Da sich die Impulse variieren ließen, brauchte Caycon nur so lange herumzuprobieren, bis er die Frequenzkombination erhielt, auf die die Türverriegelung ansprach. Das klang einfach, war aber in der Praxis ohne Hilfe einer Positronik sehr mühselig, da sich ein Gehirn die bereits durchgeprobten Frequenz- und Impulskombinationen nach einiger Zeit nicht mehr merken konnte. Caycon musste also mehr oder weniger auf einen glücklichen Zufall hoffen, so ähnlich wie ein Bhurat-Spieler, der auch nicht vorausberechnen konnte, wo die rollende Kugel zum Stillstand kam. Caycon hatte sehr viel Glück, denn er traf die richtige Kombination bereits nach anderthalb Tontas. Als die Schotthälften mit schwachem Surren auseinanderglitten, trat er rasch auf den Korridor und schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen. Das war verständlich, denn die Akonen hatten nicht damit rechnen können, dass ihr Gefangener auf den Gedanken kam, die Schottsteuerung mit der Hilfe einer Flugaggregatschaltung zu überlisten. Für die akonische Denkweise, die sich im Rahmen technischer Perfektionierung bewegte, war kein Platz für primitive Improvisationen. Einen Moment lang stand Caycon unschlüssig auf dem festen Seitenstreifen des Korridors. Am liebsten wäre er in die Richtung gefahren, in der er Raimanja vermutete. Aber er wusste, dass er sich damit nur jegliche Aussicht auf Flucht verbaut hätte. Wie schon zuvor siegte auch diesmal sein Pflichtgefühl der Gesamtheit gegenüber. Caycon kannte sich im inneren Aufbau von Raumschiffen aus. Er wusste, dass sich in den grundlegenden Elementen Arkoniden-Raumer nicht von denen der Akonen unterschieden. Schließlich war der Große Befreiungskrieg auf arkonidischer Seite anfangs mit erbeuteten akonischen Raumschiffen geführt worden. Inzwischen hatte sich
die akonische Raumschiffsform verändert; die Pole waren abgeflacht, aber die innere Struktur unterschied sich nicht wesentlich von der arkonidischer Schiffe. Caycon betrat das nach rechts führende Transportband, fuhr auf ihm zu einem der durchgehenden Antigravschächte und schwang sich hinein, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass er leer war. Offenbar befand sich die Besatzung auf den Stationen. Das allmählich anschwellende Tosen der Kraftwerke verriet, dass das Schiff Fahrt aufnahm. Das setzte Caycon unter Zeitdruck, denn er wusste nicht genug von der Navigation eines Raumschiffs, um nach Arkon zurückzufinden, hatte das Schiff erst einmal eine Transition ausgeführt. Ungeduldig wartete er darauf, dass er das Deck erreichte, auf dem die kleinen Beiboote untergebracht waren. Dort schwang er sich hinaus, sprang auf das nächste Transportband und lief in Fahrtrichtung, um noch schneller voranzukommen. Endlich hatte er das erste Schott erreicht, sprang vom Band und drückte auf die grün leuchtende Kontaktplatte. Die Torhälften glitten auseinander. Caycon blickte in einen hell erleuchteten Schleusenhangar, in dem ein diskusförmiges Raumboot stand, das dem, mit dem er und Raimanja von Arkon entführt worden waren, genau glich. Aber er sah nicht nur das Boot, sondern auch die beiden Akonen, anscheinend Techniker, die das Kanzeldach geöffnet hatten und an den Kontrollen hantierten. Im ersten Augenblick stand Caycon wie erstarrt, glaubte sich ertappt. Doch dann erkannte er, dass ihn die Akonen nicht bemerkt hatten. Seine erste Eingebung war, das Schott wieder zu schließen und beim nächsten Hangar sein Glück zu versuchen. Aber das Tosen der Aggregate schwoll immer mehr an, verwandelte sich in ein Dröhnen, das die Schiffszelle zum Vibrieren brachte. Die Transition musste kurz bevorstehen. Es war keine Zeit mehr, in einen anderen Hangar auszuweichen. Caycon fasste sich ein Herz und eilte so leise wie möglich zum Raumboot. Die Techniker
unterhielten sich leise über irgendein Problem. Caycon war froh darüber, dadurch war ihre Aufmerksamkeit völlig auf das Boot gerichtet. Er erreichte die Einstiegsluke, zog sich hoch und kletterte in die Steuerkanzel. Einer der Techniker wollte seinem Kollegen gerade etwas erklären, drehte sich dabei um und deutete auf etwas hinter Caycon. Mitten in der Bewegung schien sein Arm einzufrieren. Der Mund blieb halb geöffnet. Caycon sprang auf den Mann zu und schlug ihn nieder. Inzwischen hatte ihn der andere Techniker ebenfalls bemerkt. Er war unbewaffnet, aber er griff nach einem Detektorstab, um ihn als Hiebwaffe zu benutzen. Caycon, dessen Reflexe und Muskeln durch die Anforderungen der Jagd trainiert waren, schlug den halb erhobenen Arm des Akonen zur Seite und stieß ihm die Faust ans Kinn. Der Mann verdrehte die Augen und ging ebenfalls zu Boden. Als Caycon sah, dass auch der erste Akone bewusstlos war, überlegte er, ob er sie an Bord lassen sollte. Er lauschte dem Dröhnen der Aggregate und entschied, dass er es noch schaffen konnte, die Techniker von Bord und in Sicherheit zu bringen. Ließ er sie hier, würden sie ihm später nur Schwierigkeiten bereiten. Er lud sich den ersten Akonen über die Schulter, trug ihn aus dem Boot und legte ihn außerhalb des Schleusenhangars nieder. Danach erwies er dem zweiten Techniker den gleichen Dienst. Als er wieder in der Steuerkanzel war, hatte sich in das Dröhnen ein schrilles Pfeifen gemischt. Caycon wusste nicht, was es bedeutete, nahm aber vorsichtshalber an, dass es ein Zeichen für die unmittelbar bevorstehende Transition war. Hastig aktivierte er die Schaltungen für den Kanzeldachverschluss, schlug mit der Faust auf die Schaltplatte der Außenschott-Fernimpulsschaltung und aktivierte das Triebwerkskraftwerk. Als er sah, dass sich das äußere Hangartor öffnete, schaltete er rücksichtslos das Kraftwerk hoch und presste die Hand auf die Schaltplatte für Vorwärtsbeschleunigung und
Feldkatapultunterstützung. Eine Art Gongschlag ertönte, das kleine Boot wurde von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt. Caycon schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war von dem Hangar nichts mehr zu sehen. Ringsum leuchteten die dicht stehenden Sterne gleich Diamanten. Caycon kam nicht dazu, den Anblick zu bewundern. Das Grollen der Aggregate wurde von einem mörderischen Krachen übertönt. Eine Alarmsirene heulte – und dann wurde es dunkel…
Als Caycon wieder zu sich kam, hing er pendelnd in den Anschnallgurten des Kontursessels. Ihm war übel, abwechselnd tauchten vor seinen Augen die Sterne des Weltraums und die Inneneinrichtung der Steuerkanzel auf. Er brauchte nicht lange, um sich diese Phänomene zu erklären. Das Boot raste offenbar durch den Raum und überschlug sich dabei fortwährend. Auch der Grund dafür wurde Caycon bald klar. Das große akonische Raumschiff musste, kaum dass er es mit dem Beiboot verlassen hatte, die Transition durchgeführt haben. Die nahe Strukturerschütterung hatte die Steuertechnik und die positronischen Regelelemente schwer beschädigt. Sämtliche Triebwerke waren ausgefallen, aber offenkundig nicht abrupt, sondern in zwei Schüben. Der zweite hatte dem Beiboot den Impuls verliehen, der es sich überschlagen ließ. Caycon überlegte, was er tun konnte, um den untragbaren Zustand zu beenden. Wenn er die Rotation nicht stoppte… Schon verwirrte sich sein Geist zeitweise. Er litt unter Kopfschmerzen und Übelkeit. Es wäre sinnlos gewesen, die Abdeckung des Hauptsteuerpults zu entfernen und zu versuchen, die Schaltungen zu reparieren. Mit den komplizierten Steuer- und Regelsystemen eines Raumschiffs kannte Caycon sich nicht aus. Er konnte nur hoffen, dass es an Bord eine Selbstreparaturanlage gab, die
lediglich durch das Herausschlagen von Sicherungen ausgefallen war. Zwischen den Schwindelanfällen suchte Caycon nach dem betreffenden Sicherungssystem. Als er glaubte, es entdeckt zu haben, öffnete er das Sammelschloss der Anschnallgurte. Im nächsten Augenblick musste er sich krampfhaft an den Seitenlehnen des Kontursessels festhalten, um nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt zu werden. Erst jetzt wurde ihm klar, dass die künstliche Schwerkraft ausgefallen war. Er suchte einen Haltegriff am Hauptsteuerpult, schätzte die Bewegung des Schiffes um seine verschiedenen Achsen und stieß sich ab – er bekam den Haltegriff mit einer Hand zu fassen. Verbissen kämpfte er, auch mit der zweiten Hand den Haltegriff zu erreichen. Als ihm das endlich gelungen war, ruhte er sich aus – notgedrungen, denn sein Geist verwirrte sich erneut. Doch sein starker Wille half ihm, die Krise auch diesmal zu überwinden. Er befand sich mit dem Gesicht ganz in der Nähe des Sicherungssystems, das er für das der Selbstreparaturanlage hielt. Die Kippschalter standen in Aus-Stellung. Caycon presste die Zähne aufeinander, konzentrierte sich, ließ die rechte Hand los und stemmte die Handfläche mit aller Kraft gegen den ersten Kippschalter. Er keuchte, als sich der Schalter nicht rührte. Plötzlich gab es einen Ruck, der Schalter flog nach oben und rastete ein. Etwas summte und knisterte. Caycon packte den Haltegriff und legte eine zweite Pause ein. Anschließend versuchte er sein Glück bei dem zweiten Kippschalter. Diesmal stellte sich der Erfolg schneller ein. Im letzten Augenblick, bevor sich sein Geist wieder verwirrte, brachte er die freie Hand wieder an den Haltegriff. Er fühlte sich so elend, dass er wusste, er würde nur noch einen Versuch unternehmen können. Gelang es ihm dabei nicht, den dritten und letzten Kippschalter hochzustemmen, würde er nicht mehr genügend Kraft für einen weiteren Versuch aufbringen.
Erneut konzentrierte er sich, ließ mit der rechten Hand los und schlug die Handfläche von unten gegen den dritten Kippschalter. Es knackte, der Schalter schwang hoch. Ein blauer Blitz zuckte auf. Ein Dröhnen schüttelte die Schiffszelle, gefolgt von einem schmerzhaften Ruck. Caycon vermochte sich nicht länger zu halten. Die linke Hand glitt von dem Haltegriff – und er fiel. Seltsamerweise wurde er nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt, sondern fiel nur einen halben Meter tief und prallte auf den Boden. Zu seinem Erstaunen blieb er dort liegen, aber wiederum verwirrte sich sein Geist. Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich viel besser. Ihm war nicht mehr übel, der Schwindel hatte nachgelassen. Dennoch war Caycon so erschöpft, dass er vorerst liegen blieb. Allmählich klärte sich sein Geist. Caycon erkannte, dass die künstliche Schwerkraft wieder funktionierte. Dadurch spürte er nichts mehr von den Überschlägen des Diskus. Nur der Blick durch das transparente Kanzeldach bewies, dass das Boot unverändert rotierte. Es hatte den Anschein, als wirbelten die Sterne des gesamten Universums rasend schnell um das Boot. Mühsam richtete Caycon sich auf. Er fühlte sich schwach, die Erinnerung an Raimanja und an das Schicksal, das die Akonen ihr und ihrem Sohn zugedacht hatten, ließ seine Glieder in haltlosem Krampf zittern. Nur allmählich ließ das Zittern wieder nach. Caycon überlegte, warum die Akonen sich nicht um ihn gekümmert hatten. Die Kontrollen in der Hauptzentrale hatten den unvorhergesehenen Start des Beiboots zweifellos angezeigt. Caycon zweifelte auch nicht daran, dass die Akonen daraus den richtigen Schluss gezogen hatten – doch das musste nach der Transition der Fall gewesen sein. Die Frage blieb, warum sie nach der Rematerialisierung nicht unverzüglich umgekehrt waren, um das Boot zu suchen und wieder einzufangen. Nach einigem Überlegen fand Caycon die Antwort. Die Akonen hatten zweifellos angenommen, dass der heftige
Strukturschock das kleine Raumboot zerrissen hatte, das sich zu diesem Zeitpunkt nicht weit entfernt haben konnte. Sie hielten ihn, Caycon, demnach für tot. Und warum hätten sie sich um einen Toten kümmern sollen, der in dem Wrack eines Beiboots ziellos durchs All trieb? Aber er war nicht tot. Und wenn es ihm gelang, die Fluglage des Bootes zu stabilisieren und unter den zahllosen Sternen des Kugelsternhaufens die Sonne Arkon ausfindig zu machen, würde er das Boot vielleicht auf Heimatkurs bringen können. Der Name Perpandron geisterte durch sein Gehirn. Es war der Name jener Welt, auf die Raimanja gebracht werden sollte, damit sie dort ein Waches Wesen gebären konnte. Gelang es ihm, nach Arkon zurückzukehren und alles zu berichten, konnte der verhängnisvolle Plan zunichtegemacht werden. Caycon zog sich in den Kontursessel vor dem Hauptsteuerpult, schnallte sich an und streckte die Hände nach den Triebwerksschaltungen aus. Waren die Schäden nicht irreparabel, hatte die Selbstreparaturanlage sie vielleicht schon behoben…
Als es unsicher schien, ob Caycon die Sicherungen für die Selbstreparaturanlage des Beiboots würde einschalten können, nahm ich plötzlich eine wellenförmige Ausstrahlung von Panik wahr, die mich in kurzen Intervallen durchdrang. Ich wusste, dass die Ausstrahlung nicht von Fartuloon stammte, denn es gab keinen Grund für meinen Pflegevater, in Panik auszubrechen. Demnach konnte sie nur von Akon-Akon stammen. Fürchtete er um das Leben seines Vaters – und war seine Furcht so stark, dass sie in Panik ausartete und von mir wahrgenommen werden konnte? Aber aus welchem Grund? Caycon war – so oder so – seit vielen Generationen tot. Es gab keinen vernünftigen Grund, sich wegen einer gefährlichen Lage, in die er einst geraten war, so zu ängstigen, dass daraus Panik wurde. Ich
versuchte, mit dem Bewusstsein Akon-Akons, der sich ebenso im Beiboot befinden musste wie die Bewusstseine aller »Zeitreisenden«, Kontakt aufzunehmen. Aber alle meine Bemühungen blieben ergebnislos. »Was meinst du dazu?«, erkundigte ich mich bei Fartuloon. Doch mein Pflegevater meldete sich nicht. Es war, als sei auch sein Bewusstsein verschwunden. Ich hielt das für unmöglich. Offenbar wollte Fartuloon zurzeit den Kontakt mit mir meiden. Ich begriff zwar nicht, warum, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, einen einseitigen Kontakt herzustellen. Also verfolgte ich weiter die Geschehnisse, als körperloser Gast aus einer Zukunft, die es »jetzt« noch nicht gab…
Caycon atmete erleichtert auf, als die Triebwerke ansprangen. Er versuchte, die Fluglage des Beiboots zu stabilisieren, indem er die Aggregate am Rand des Diskusfahrzeugs abwechselnd hochund herunterschaltete. Bald sah er ein, dass er damit nichts anderes erreichte, als dass sich die Überschlagsachsen veränderten. Vielleicht hätte ein routinierter Raumschiffspilot die Fluglage nach Gefühl stabilisieren können. Er aber war keiner. Schon wollte er aufgeben und sich damit abfinden, dass er ziellos durch den Raum treiben würde, bis entweder zuerst der Vorrat an Atemluft oder der an Trinkwasser verbraucht war und er erstickte oder verdurstete, da fiel sein Blick auf eine ovale Schaltplatte neben den Triebwerksschaltungen. Er wusste nicht, welchem Zweck sie diente, aber da ihm ohnehin alles egal war, drückte er sie. Über den Hauptsteuerkontrollen blinkte eine gelbe Scheibe. In ihr wurden Symbole und Zahlengruppen erkennbar, die in rascher Folge wechselten. Gleichzeitig veränderte sich die Geräuschkulisse der Triebwerke – und nach kurzer Zeit merkte Caycon, dass sich die Fluglage des kleinen Beiboots allmählich stabilisierte. Er lachte humorlos. Da hatte er die ganze Zeit über
mit den Triebwerksschaltungen herumprobiert, ohne etwas zu erreichen und ohne daran zu denken, dass die weitgehend perfektionierte Technik der Akonen eine Lösung für sein Problem bereithielt – eine Fluglagestabilisierungsautomatik. Es dauerte nicht lange, bis aus dem Umherwirbeln des Bootes ein gleichförmiger Geradeausflug geworden war. Beruhigt lehnte er sich zurück und schlief ein.
Als er wieder aufgewacht war, entdeckte Caycon verschiedene Messinstrumente – die Anzeigen für Flugrichtung, Fluggeschwindigkeit und die Entfernung des nächsten in Flugrichtung gelegenen Objekts. Er stellte beunruhigt fest, dass sich das Boot nahezu mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegte. Und das seit fast dreieinhalb Tontas! Er kannte die Gesetzmäßigkeiten der Zeitdilatation und wurde halb wahnsinnig vor Angst bei dem Gedanken, für Raimanja und die Arkoniden auf Arkon könnten in der Zeit, die er geschlafen hatte, Votanii oder gar Jahre verstrichen sein – es waren ziemlich viele Neuner hinter dem Komma. Unter Umständen war Raimanja längst auf Perpandron angekommen, sein Sohn schon geboren. Voller Panik aktivierte Caycon die Bremsbeschleunigung und schaltete die Triebwerke wieder ab, als die Geschwindigkeit auf null gesunken war. Verzweifelt wurde er sich klar darüber, dass er in den wenigen Tontas Eigenzeit infolge des schnelleren Zeitablaufs seiner Umwelt möglicherweise Lichtjahre zurückgelegt hatte. Wie sollte er unter diesen Umständen nach Arkon zurückfinden? Ja, wie sollte er überhaupt unter so vielen Sternen den fernen Stern ermitteln, der das Muttergestirn von Arkon war? Er versuchte es dennoch. Als er merkte, dass seine Bemühungen nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg hatten, kam er auf den Gedanken, das Beiboot zu wenden, wieder zu beschleunigen und mit annähernd Lichtgeschwindigkeit für die
Dauer von dreieinhalb Tontas Eigenzeit zu fliegen. Falls seine Schätzung stimmte, würde er dann ungefähr die Position erreichen, wo das Beiboot zum ersten Mal in den relativistischen Flug übergegangen war – und das konnte nicht weit von Arkon entfernt sein. Es drängte ihn, sofort damit anzufangen. Doch diesmal zwang er sich zur Geduld. Er wollte nicht wieder planlos handeln, denn wenn er die Richtung, aus der er gekommen war, nicht ganz genau traf, würde er Arkon niemals wiederfinden. Caycon suchte seine Kenntnisse zusammen und stellte fest, dass er das Boot mit dem Bug um exakt hundertachtzig Grad wenden musste, um es auf einen entgegengesetzten Kurs zu bringen. Außerdem musste er darauf achten, dass das Boot keine vertikalen Bewegungen ausführte. Bei diesen Überlegungen fielen ihm siedend heiß seine Bemühungen ein, die Fluglage durch impulsive Schaltmanöver zu stabilisieren. Resignierend schloss Caycon die Augen. Er wusste, dass er endgültig verspielt hatte. Er würde weder Arkon noch Raimanja Wiedersehen – und niemals würde er erfahren, was aus seinem Sohn geworden war. Aber nach einiger Zeit regte sich in ihm der Wille wieder, gegen Widerstände jeder Art anzukämpfen. Belebt wurde dieser Wille durch die vage Hoffnung, dass die Akonen in ihren Raumschiffen und Beibooten über Automatiken verfügen könnten, die eine automatische Rückführung zum Startpunkt ermöglichten. Caycon rieb sich die schmerzenden Augen und begann mit der Suche. Er fand zwar nicht direkt das, was er zu finden hoffte, aber er schaltete zufällig ein Gerät ein, das eine direkte akustische Kommunikation mit der kleinen Bordpositronik erlaubte. Von ihr, die nicht viel mehr als ein kleines positronisches Robotgehirn mit Anschlüssen an alle Schiffssysteme war, erfuhr er, dass ein mündlicher Befehl genügte, um die Positronik zu veranlassen, jedes gewünschte Manöver auszuführen. Dennoch wagte Caycon es nicht, seinen Wunsch sofort auszusprechen, weil er befürchtete,
die Bordpositronik könnte ausgerechnet zur Erfüllung dieses Wunsches nicht in der Lage sein. Endlich aber gab er sich doch einen Ruck und sagte, was er wollte. Er vernahm gleich darauf die Bestätigung. Dennoch wagte er erst an die Erfüllung seines Wunsches zu glauben, als er merkte, dass das Boot wendete. Auf einem Bildschirm war zu sehen, dass das Beiboot eine Wendung um genau hundertachtzig Grad vollführte und dabei vertikale Abweichungen vermied. Anschließend beschleunigte es. Caycon verfolgte aufmerksam die Anzeigen. Deswegen bemerkte er den Fehler, der ihm unterlaufen war und den die Positronik nicht als solchen erkennen konnte, noch rechtzeitig. Die Bordpositronik beschleunigte das Boot nämlich deutlich über die kritische Geschwindigkeitsgrenze hinaus, die für einen hochrelativistischen Flug stand. Auf Caycons Anfrage teilte sie ihm mit, sie habe den Herflug nach Umkehr der Flugrichtung genau rekonstruiert. Es sei eine Beschleunigung von umgerechnet etwas mehr als dreizehn Zentitontas nötig, um die zuvor verwendete Endgeschwindigkeit zu erreichen. Caycon wies die Positronik an, unter der kritischen Grenze zu bleiben, sonst aber nichts zu verändern. Aber die Bordpositronik gab sich nicht damit zufrieden. Sie teilte ihm mit, dass der Rückflug zum Ausgangspunkt in diesem Fall je nach gewählter Geschwindigkeit viele Arkonjahre dauern würde. Das versetzte Caycon einen Schock, denn er erkannte mit Blick auf die weiteren Auswertungen der Positronik, dass seit seiner Flucht aus dem akonischen Schiff für den ruhenden Beobachter nicht nur einige Perioden, sondern rund dreieinhalb Arkonjahre vergangen waren. Dreieinhalb Jahre! Und genau diese Zeit würde wiederum vergehen, um den Ausgangspunkt wieder zu erreichen – und noch deutlich mehr, sollte er sich gegen den relativistischen Flug entscheiden. Der Unterschied bestand darin, dass er im einen Fall die Flugzeit
komplett erlebte und im anderen Fall als einige Tontas Eigenzeit infolge der relativistischen Verlangsamung des eigenen Zeitablaufs. Unter diesen Umständen entschied sich Caycon für die Methode, bei der wenigstens für ihn die Zeit schneller verging – relativ gesehen. Er teilte seinen Entschluss der Bordpositronik mit, die ihn zur Kenntnis nahm und in die Tat umsetzte. Caycon aber war nahe daran, endgültig den Verstand zu verlieren, denn er musste ständig daran denken, dass während des Rückflugs außerhalb des Boots abermals dreieinhalb Jahre vergehen würden, sodass seit seiner Flucht aus dem akonischen Raumschiff sieben Arkonjahre vergangen sein würden, wenn er seinen Ausgangspunkt erreichte…
Caycon fiel in einen Schlaf der Erschöpfung, in dem er von Albtraum zu Albtraum taumelte. Alle Personen, die er gut gekannt hatte, tauchten in diesen Träumen auf, aber ständig war Raimanja dabei, wenngleich in wechselnder Gestalt. Und ab und zu begegnete Caycon in den Träumen seinem Kind, das einmal ein Baby war, dann ein Knabe von sieben Arkonjahren und einmal sogar ein junger Mann. Er versuchte, seinen Sohn anzufassen und mit ihm zu sprechen, aber jedes Mal verblasste die Erscheinung. Endlich erwachte Caycon schweißgebadet, zitterte am ganzen Körper und hatte große Mühe, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Er kehrte erst wieder voll in die Realität zurück, als ihm die Bordpositronik mitteilte, dass der Ausgangspunkt des Fluges erreicht und das Beiboot abgebremst worden sei. Caycon erkundigte sich, ob die Positronik das Schiff zum Planeten Arkon steuern und darauf landen lassen könne. Sie antwortete, dass ihr das nicht möglich war, den Planeten Arkon anzufliegen, weil keine Daten darüber gespeichert seien.
Demnach ist es tatsächlich nicht das Boot, das Raimanja und mich von Arkon zum Schiff der Akonen brachte, überlegte Caycon. Er sah ein, dass er von nun an wieder auf sich selbst gestellt war. Entdeckte und identifizierte er die Sonne Arkon, würde er auch zum Planeten Arkon zurückfinden. Geduldig beobachtete er die Sterne, aber er fand keinen, dessen Helligkeit so stark war, dass er auf eine geringe Entfernung schließen konnte. Wieder hätte Caycon bald verzweifelt. Es dauerte lange, bis er darauf kam, dass er die Arkonsonne vielleicht nur deshalb nicht sah, weil sie sich unterhalb seines eingeschränkten Gesichtsfelds befand. Er forderte die Positronik auf, das Schiff zu kippen. Die Positronik gehorchte – und diesmal entdeckte Caycon die große weiße Sonne sofort. Das musste Arkon sein! Eine Anfrage bei der Bordpositronik ergab, dass sie in der Lage war, die Planeten des Arkonsystems ortungstechnisch zu erfassen. Caycon erkundigte sich, wie viele Planeten die Positronik der großen Sonne zuordnete. Als er hörte, dass es siebenundzwanzig waren, war das die Bestätigung seiner Annahme, dass er sich im Arkonsystem befand. Er erklärte dem Positronengehirn, dass seine Zielwelt der dritte Planet sei, von innen nach außen gezählt. Daraufhin teilte die Positronik mit, dass sie nun, da sie das Ziel kannte und ortungstechnisch erfasst hatte, das Beiboot hinsteuern könne. Caycon erteilte ihr den entsprechenden Befehl, das Beiboot setzte sich in Bewegung. Der Planet Arkon war bereits münzengroß zu sehen, als Caycon einfiel, dass die Ortungsstationen der planetarischen Raumüberwachung das Boot zweifellos erfassen mussten. Da es nicht angemeldet war, würde die Zentrale der Raumüberwachung es anfunken und die Identifizierung verlangen. Caycons Augen suchten den Hyperkom. Würden ihm die Offiziere der Raumüberwachungszentrale glauben, wenn er sagte, wer er war? Sollten sie das Boot als akonisches Beiboot identifizierten und niemand erkannte ihn,
würden auf Arkon Raumjäger starten, ihn abfangen und abschießen. Er beschloss, selbst die Raumüberwachung anzurufen. Dann konnte man dort wenigstens nicht auf den Gedanken kommen, er hätte sich heimlich anschleichen wollen. Zwar war ihm die Flottenfrequenz, auf der die Raumüberwachung arbeitete, nicht bekannt. Doch er wusste, dass die betreffenden Hyperfunkanlagen über Suchsysteme verfügten, die die Umgebung Arkons auf allen Frequenzen nach Funksprüchen absuchten. Caycon schaltete den Hyperkom ein und stellte ihn vorsichtshalber auf maximale Sendeenergie. Dann ließ er das programmierte Rufsignal ausstrahlen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis auf dem Bildschirm das Gesicht und der Oberkörper eines arkonidischen Funkoffiziers erschienen. Das Gesicht des Mannes drückte unverhohlenes Misstrauen aus. »Raumüberwachungszentrale an anfliegendes Schiff«, sagte der Offizier. »Drosseln Sie Ihre Sendeleistung um neunzig Prozent und identifizieren Sie sich! Sie sind dabei, in militärisches Sperrgebiet einzufliegen.« Mit zitternden Händen justierte Caycon die Sendeleistung. »Hier spricht Caycon aus der Familie Akonda. Meine Frau Raimanja und ich wurden vor sieben Jahren von Fremden entführt. Mir gelang die Flucht mit einem Beiboot. Ich bitte um Landeerlaubnis.« Der Funkoffizier wölbte die Brauen. »Caycon – aus der Familie Akonda, ja?« »Ja. Ich wurde allerdings aus meiner Familie ausgestoßen, da ich mit einer Sulithur zusammenlebte, und…« Die Miene des Offiziers erhellte sich. »Ah, Sie wurden ausgestoßen. Wenn sich das bestätigt, ändert das die Sachlage. Normalerweise haben wir auf Arkon nämlich keinen Platz für einen Akonda – und auch nicht für einen Sulithur. Nennen Sie mir Ihre Kodenummer.«
»Welche Kodenummer?« »Na die, die Sie erhielten, als Sie Ihre erste Ausbildungszeit in der Flotte absolviert haben.« »Aber ich wurde nie eingezogen.« Der Blick des Funkoffiziers verriet eisige Ablehnung und Unglauben. »Mann, Sie sind schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre alt, Sie steuern ein Raumboot – und Sie wollen mir erzählen, Sie hätten noch keine Dienstzeit bei der Raumflotte absolviert? Lassen Sie sich schnell etwas einfallen, sonst muss ich die Raumabwehr alarmieren. Mit Spionen machen wir kurzen Prozess.« »Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, als ich entführt wurde«, sagte Caycon verzweifelt. »Weil ich mich mit Raumschiffen nicht auskannte, flog ich viele Tontas im hochrelativistischen Bereich. Seit ich meinen Entführern entfloh, sind rund sieben Jahre eines ruhenden Beobachters vergangen.« »Wir werden das überprüfen. Stoppen Sie, Caycon! Ich schicke Ihnen zwei Raumfahrer, die dafür sorgen, dass Ihr Boot sicher gelandet wird.« »Das ist unnötig. Mein Boot wird durch die Bordpositronik gesteuert und kann von ihr gelandet werden.« »Wer hat je von solchem Unsinn gehört? Eine Bordpositronik ist zur Unterstützung des Piloten da, aber nicht, um ihn zu ersetzen. Es bleibt dabei, ich schicke Ihnen zwei Mann hoch. Stoppen Sie sofort!« Es blieb Caycon nichts weiter übrig, als zu gehorchen. Eine halbe Tonta später kam ein Beiboot in Sicht, das nicht viel größer war als seines. Es legte an, zwei Arkoniden in Raumanzügen wechselten über. Sie waren vorsichtig. Einer durchsuchte das Boot, während der andere mit gezogener Waffe in der Steuerkanzel stand und Caycon beobachtete. Schließlich hatte der erste die Durchführung beendet und kehrte in die Steuerkanzel zurück. »Nichts Verdächtiges«, sagte er und blickte Caycon an. »Ich heiße
Eljan, der da Hakhon. Er wird dein Boot landen.« »Und du passt inzwischen auf mich auf. nicht wahr?« »Selbstverständlich. Reichsadmiral Farthu da Lloonet hat höchste Wachsamkeit befohlen, denn Arkon ist von Feinden umgeben.« »Reichsadmiral Farthu da Lloonet? Ihr müsst entschuldigen, dass ich unwissend bin, aber ich war sieben Jahre fort. Demnach regieren keine Familien mehr?« »Sie wurden entmachtet und verbannt, da sie mit ihrer korrupten Politik die Schlagkraft der Flotte gefährdeten. Als der damalige Flottenadmiral das erkannte, sorgte er an der Spitze einer Tausendschaft Raumlandesoldaten für Ordnung. Seitdem hat sich die Politik dem Wohl Arkons unterzuordnen, was mir sehr weise erscheint.« »Mir auch. Endlich hat dieser Irrsinn ein Ende gefunden.« Caycons Augen verdunkelten sich. »Aber zu spät für Raimanja und meinen Sohn.« Eljan und Hakhon wollten mehr von ihm erfahren, doch Caycon brütete nur dumpf vor sich hin und reagierte auf keine Frage mehr. Er stand lediglich auf und setzte sich in einen anderen Kontursessel, als Hakhon seinen Platz beanspruchte. Als während des Landemanövers die Impulssteuerung plötzlich unregelmäßig arbeitete und das Boot nicht mehr exakt auf die Steuerschaltungen Hakhons reagierte, erwachte er aus seinem Brüten. »Wahrscheinlich liegt ein ernster Defekt vor. Zwei akonische Techniker untersuchten gerade die Kontrollen, als ich mir das Boot aneignete und floh.« »Daran hättest du vorher denken sollen«, sagte Hakhon. »Übrigens, es gibt keine Akonen!« »Aber ich…« Eljan unterbrach ihn grob. »Merk dir ein für alle Mal: Es gibt keine Akonen, sondern nur Fremde, die uns unsere Erfolge neiden!«
Caycon presste die Lippen zusammen und schwieg. Es war zudem keine günstige Zeit für Diskussionen, denn das Raumboot schlingerte plötzlich so heftig, dass Hakhon endgültig die Gewalt darüber verlor. In der Feme war der Kontrollturm des nächsten Raumhafens schon in Sicht, als das Boot durchsackte und gegen die Flanke eines Hügels raste. Caycon nahm das Bersten und Krachen nicht mehr wahr…
17. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Rettungsgleiter zur Stelle waren. Das Wrack hatte seine Einzelteile gleich einem Kometenschweif hinter sich gelassen und bestand nur noch aus einer Reaktorzelle und der schief darauf liegenden, ebenfalls zertrümmerten Steuerkanzel. Die Retter beeilten sich, Qualm schwelender Speicherspulen drang aus dem Reaktorteil. Ich sah, wie Caycon und die beiden Raumfahrer geborgen wurden. Sie waren bewusstlos und offenbar schwer verletzt. Nur den Schutzmechanismen der Kontursessel war zu verdanken, dass sie den Absturz überhaupt überlebt hatten. Während unsere Bewusstseine, weiterhin an Caycon gefesselt, die Fahrt im Ambulanzgleiter mitmachten, überdachte ich das, was Eljan dem Rückkehrer berichtet hatte. »Farthu da Lloonet!«, dachte ich an Fartuloons Adresse. »Findest du nicht, dass dieser Name eine frappierende Ähnlichkeit mit deinem hat?« »Ich kann es nicht leugnen.« »Nein, das kannst du nicht. Ich bin so gut wie überzeugt davon, dass der Retter Arkons einer deiner Urahnen war. Hoffentlich wirst du dadurch nicht übermütig.« »Das glaube ich kaum. Die Verstümmelung des ehedem hochadligen Namens scheint mir darauf hinzudeuten, dass es in der Kette meiner Vorfahren jemanden gab, der diesen Namen so in den Schmutz zog, dass ihm der Adelstitel entzogen wurde und er seinen Namen änderte, um irgendwo unerkannt leben zu können.« »Wer hätte auf seiner Ahnentafel keine dunklen Flecken aufzuweisen. Schau doch nur mal auf meine Ahnentafel! Einer der größten Verbrecher der arkonidischen Geschichte ist zweifellos Orbanaschol, und dieses Scheusal ist mein Onkel. Du hast also keine Ursache, Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln.«
»Aber froh bin ich auch nicht darüber, dass ich den guten Namen meines Urahns verloren habe«, sagte mein Pflegevater. Ein sonderbarer Unterton irritierte mich; das starke Gefühl, er verschweige etwas, suchte mich heim. Ich hatte den Eindruck, dass Farthu da Lloonet und Fartuloon mehr miteinander zu tun hatten als die Namensähnlichkeit. »Ob ein Name angesehen ist oder nicht, darüber entscheidet immer sein Träger selbst. Jedenfalls bin ich froh, dass wir ein paar Blicke ins Dunkel der Vorgeschichte des Großen Imperiums werfen dürfen. So manches wird mir jetzt verständlich. Beispielsweise, warum Arkon zur Keimzelle eines extrem expandierenden Imperiums wurde.« »Weil es in der ersten Aufbauphase von Militärs regiert wurde. Anfangs war das zweifellos positiv. Allerdings halte ich es für möglich, dass es niemals zu einem kriegerischen Zusammenstoß mit den Maahks gekommen wäre, hätte sich unser Imperium nicht so schnell ausgebreitet – von dem Gedanken beseelt, dass Widerstand immer mit Gewaltanwendung zu brechen sei.« »Alles hat seine Vor- und Nachteile«, gab ich zurück. »Ich bemerke, dass Caycon zu sich kommt. Es wird interessant sein, seine Gespräche mit den Arkoniden zu belauschen, die ihn verhören werden.«
Caycon hatte die Augen geöffnet, aber er konnte nur schemenhafte Bewegungen erkennen. Sein Schädel fühlte sich an wie ein zu stark aufgeblasener Ballon, von seinem Körper spürte er überhaupt nichts. Er konnte sich das nicht erklären, bis ihm einfiel, dass er sich in einem Raumboot befunden hatte, das beim Landeanflug außer Kontrolle geraten und abgestürzt war. Eigentlich war es fast ein Wunder, dass er den Aufprall überlebt hatte. Er war bestimmt schwer verletzt. Sicher hatten die Mediziner ihn mit Betäubungsmitteln vollgepumpt. Das mochte erklären, warum das Sehvermögen getrübt war und er den Körper nicht fühlte. Etwas rückte plötzlich dicht an sein Gesicht
heran. Nach einiger Zeit erkannte Caycon die Konturen eines anderen Gesichts, wenn auch undeutlich. »Können Sie mich hören, Caycon?«, fragte jemand. Die Laute schnitten wie mit glühenden Messern durch Caycons Schädel. Er wollte schreien, brachte aber nur einen gurgelnden Laut zustande. »Schwere Schädelfrakturen und Gehirnquetschungen«, sagte eine andere, scheinbar weit entfernte Stimme. »Wir müssen so schnell wie möglich operieren und ein Ventil einsetzen. Die Brüche der Arme und Beine können warten.« Das Gesicht verschwand. Caycon hatte das Empfinden, als bewege er sich schwebend. Neue Schemen tauchten in seinem Gesichtskreis auf. Rote, grüne und blaue Leuchtflecken tanzten auf und ab; ihr Licht schmerzte seinen Augen, doch er konnte sie nicht schließen. Caycon versuchte zu ergründen, was er in einem Raumboot getan hatte. Er vermochte sich vage an eine lange Reise, an kreiselnde Sterne und an die blechern nachhallende Stimme einer Positronik zu erinnern. Was hatte sie zu ihm gesagt? Hatte sie etwas von ihm gewollt? Oder hatte er etwas von ihr gewollt? Aber da war noch etwas gewesen, etwas, das wichtiger war als alles andere. Caycon kam einfach nicht darauf, was das gewesen war. Plötzlich endete die schwebende Bewegung. Mehrere Stimmen flüsterten. Ein Surren mischte sich in die Geräusche, dann das klopfende und schmatzende Geräusch eines Pumpaggregats. Etwas Nasses wischte über Caycons Gesicht. Das Surren wurde lauter, verwandelte sich in ein gedämpftes Heulen. Plötzlich kam es Caycon vor, als sei der prall gefüllte Ballon, als den er seinen Schädel gefühlt hatte, geplatzt. Der Druck ließ nach. Der Splitter einer Erinnerung erschien. Er reichte gerade aus, um Caycon erkennen zu lassen, dass er etwas unternehmen musste, um etwas Furchtbares zu verhindern. Er versuchte, sich aufzurichten. Doch das ging nicht.
»Was ist mit ihm los?«, fragte eine Stimme. »Habt ihr einen Rindenbezirk aktiviert?« Caycon begriff nichts von dem, was die Stimme gesagt hatte. Er begriff auch nicht, was der winzige Splitter seiner Erinnerung bedeutete, sondern handelte unter innerem Zwang, der von seinem Unterbewusstsein ausgeübt wurde. Mit äußerster Willensanstrengung schaffte er es, die Lippen zu bewegen und seine Stimmbänder zu steuern. »Er er ist – ein Waches Wesen!«, stieß er hervor, etwas blitzte irgendwo in seinem Schädel auf – und gleich danach wurde es dunkel.
Als Caycon wieder zu sich kam, war alles ganz anders. Er fühlte seinen Körper und konnte die Konturen der Umgebung einigermaßen klar erkennen. So sah er, dass er in einem Zimmer voller elektronischer und positronischer Apparaturen lag. Er lag in einem Bett und konnte den Kopf nicht bewegen. Und irgendwo in seinem Schädel gluckste und zischte etwas leise. Kurz darauf hörte Caycon die Geräusche, die beim Öffnen und Schließen einer Tür entstanden. Da die Tür außerhalb seines Blickfelds lag und er den Kopf nicht drehen konnte, sah er nicht, wer eingetreten war – bis der Betreffende in seinem Blickfeld erschien. Es war ein Mann von vielleicht vierzig Arkonjahren. Er trug eine Uniformkombination und einen Waffengürtel mit zwei Holstern, aus denen die Griffstücke von Energiewaffen ragten. Sein hartes Gesicht verzog sich zur Andeutung eines Lächelns, als er sich auf einen Hocker neben Caycons Bett setzte. Er legte die rechte Hand auf das blaue Planetensymbol, das er auf der linken Brustseite seiner Uniformkombination trug, und sagte: »Ich bin Kjarmansul von der Kolonisationspolizei, Einfacher Planetenträger. Wie geht es Ihnen, Caycon?« »Ich fühle keine Schmerzen.« Caycon wunderte sich, dass er
mühelos sprechen konnte. »Aber ich kann mich nicht bewegen.« »Sie wurden ruhiggestellt. Das ist auf der Intensivstation eines Krankenhauses so üblich. Die Mediziner berichteten mir, dass Sie sich von Ihren Verletzungen weitgehend erholt hätten. Allerdings ist Ihr Schädel noch nicht ganz in Ordnung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dennoch einige Aussagen machen würden. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?« »Ja. Aber ich glaube, ich weiß nichts. Wenn ich etwas gewusst habe, was wichtig ist, habe ich es vergessen. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich hier bin.« »Sie flogen Arkon mit einem kleinen Beiboot an. Der Raumüberwachung erklärten Sie, dass Sie vor sieben Jahren von Fremden entführt wurden, dass Ihnen die Flucht mit dem Beiboot gelang und dass Sie die bewussten sieben Jahre verpasst hätten, weil Sie sich unwissend längere Zeit dem Dilatationseffekt ausgesetzt hätten.« »Das Boot!«, flüsterte Caycon. »Ja, ich glaube, ich erinnere mich an das Boot. Es sprach zu mir – oder vielmehr sprach die Bordpositronik zu mir. Es ging, glaube ich, darum, zurückzukehren zu einem Punkt, der…« Er seufzte. »Jetzt ist alles wieder fort.« »Während Ihrer Schädeloperation sagten Sie etwas von einem Wachen Wesen. Genau sagten Sie: ›Er ist ein Waches Wesen.‹ Was oder wen meinten Sie damit, Caycon?« »Ein Waches Wesen! Er ist ein Waches Wesen.« Plötzlich zuckte er heftig zusammen. »Er ist es, mein Sohn! Oh, Raimanja, unser Sohn. Sie haben ihn zu einem Wachen Wesen gemacht!« Erschöpfung breitete sich in ihm aus, er konnte, bevor er erneut das Bewusstsein verlor, nur noch flüstern: »Hilf mir, Raimanja.«
Als Caycon abermals zu sich kam, brauchte er nicht zu warten, bis jemand erschien. Er sah einen Mediziner auf dem Hocker neben
seinem Bett sitzen. Der Mediziner bemerkte, dass Caycon die Augen öffnete, schaltete ein Armbandfunkgerät ein und flüsterte ein paar Worte. Wenig später hörte Caycon das Öffnen und Schließen einer Tür, ein hünenhaft gebauter Mann trat in sein Blickfeld. Er trug über der schlichten Uniformkombination einen kurzen Schulterumhang, auf dem zwei goldfarbene Kometensymbole leuchteten. Auf der linken Brustseite waren drei gelbe Sonnen zu sehen. Der Mediziner stand auf und verließ schweigend das Zimmer. Dafür setzte sich der hünenhafte Mann auf den Hocker. Caycon sah, dass sein rasiertes Gesicht schwarzblaue Bartschatten aufwies, was bei einem Arkoniden sehr selten vorkam. Die Augen waren nicht rötlich, sondern gelb. »Ich grüße Sie, Caycon«, sagte der Mann mit sonorer Stimme. »Ich bin Mascant Farthu da Lloonet. Wie fühlen Sie sich?« »Gut, glaube ich. Ich erinnere mich. Jemand sagte mir, dass Sie Arkon regieren.« »Ich habe die Verantwortung für die Lenkung des Sternenreichs auf mich genommen. Es ist eine schwere Bürde, das dürfen Sie mir glauben. In diesem Amt kann ein Mann seiner Verantwortung aber nur gerecht werden, wenn er über alles informiert ist, was wichtig für die Politik des Reiches ist. Deshalb besuche ich Sie. Planetenträger Kjarmansul berichtete mir, dass Sie einen Sohn haben, der zu einem Wachen Wesen gemacht worden sein soll.« »Ein Waches Wesen!«, flüsterte Caycon gedankenverloren. »Ja, da war etwas…« »Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Vor etwas mehr als sieben Jahren wurde das Liebespaar Raimanja und Caycon von seinen Familien verstoßen, weil sie sich nicht trennen wollten, obwohl ihre Familien verfeindet waren. Wenig später verhaftete die Polizei Raimanja, da sie ihre Schwangerschaft nicht gemeldet hatte. In der Nacht wurde die Polizeistation, in der Raimanja gefangen gehalten wurde, von Unbekannten überfallen und gesprengt. Dabei kamen neun Personen ums Leben. Da von
Raimanja keine Überreste gefunden wurden, wurde damals angenommen, ihr Mann Caycon habe sie befreit und sei mit ihr in die Wildnis geflohen. Sieben Jahre später kehrt nun ein Mann zurück, der sich Caycon nennt: Sie!« »Ja, ich bin Caycon. Raimanja und ich – wir sind nicht geflohen. Ich glaube, wir wurden entführt.« »Sie glauben es?« Der Mascant wölbte die dichten schwarzen Brauen. »Erinnern Sie sich nicht mehr?« »Die Fremden sie sagten, mein Sohn solle ein Waches Wesen werden. Und Raimanja sie wollten sie nach Perpandron bringen, wo sie das Kind – unseren Sohn – gebären sollte. Unser Sohn, ein Waches Wesen.« »Was bedeutet das: ein Waches Wesen?« »Macht! Alle werden vor ihm in den Staub fallen und seine Füße küssen, niemand wird seinem Glanz widerstehen können, der die Augen blendet. Das Licht ist so grell. Es schmerzt meinen Augen.« »Bitte, beruhigen Sie sich, Caycon! Ich habe die Beleuchtung verringern lassen. Versuchen Sie, Ihre Gedanken zu ordnen. Sie nannten einen Namen: Perpandron. Sagen Sie mir, ist Perpandron der Name eines Planeten? Ich hörte ihn zum ersten Mal.« »Perpandron!«, flüsterte Caycon. »Mächtig, mächtig wird er sein! Oh, Raimanja, was haben sie mit dir gemacht? Werde ich dich je Wiedersehen? Sieben Jahre zu spät, zu spät!« Sein Reden ging in ein undeutliches Murmeln über, das allmählich ganz versiegte. Als zwei Mediziner den Raum betraten, stand Farthu da Lloonet auf und sagte: »Sein Geist ist verwirrt. Er steht noch unter der Nachwirkung des schweren Schocks. Wird er sich davon erholen?« »Wahrscheinlich nicht. Alles hängt davon ab, ob er sich selbst von seinem Trauma befreien kann. Alles, was wir dazu tun konnten, haben wir getan.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Reichsadmiral düster. »Wenn ich
nur wüsste, wo Perpandron liegt, ich würde noch heute dorthin aufbrechen – und eine ganze Flotte mitnehmen.«
Caycon schlief den Schlaf des seelisch Erschöpften, der sich in Träume zu retten versucht, weil er sich in der Wirklichkeit nicht mehr zurechtfindet. Aber irgendwann kehrte er doch wieder ins bewusste Leben zurück. In dem Zimmer war es dunkel, und als Caycon sich bewegte, merkte er, dass es nun schmerzfrei gelang. Auch seinen Kopf konnte er frei bewegen. Er setzte sich auf. In seinem Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass er Raimanja suchen müsse, denn wo Raimanja war, musste auch sein Sohn sein. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wo er mit der Suche beginnen musste. Sonst aber zeugten seine Handlungen von schlafwandlerischer Sicherheit. Er rückte das Kopfkissen so zur Seite, dass es die Minikamera der Beobachtungsanlage verdeckte. Danach schwang er sich leise aus dem Bett, öffnete den Wandschrank und entnahm ihm die Kleidung, die instand gesetzt und gereinigt worden war. Er zog sie an, öffnete die Tür und befand sich auf einem hell erleuchteten Korridor, durch den zwei gegenläufige Transportbänder glitten. Caycon blickte sich um. Niemand war zu sehen. Er bestieg eins der Transportbänder, ließ sich von ihm zur nächsten Einstiegsöffnung eines Antigravlifts tragen und schwang sich in den Schacht. Als er wieder ausstieg, stand Caycon in einer halbrunden Halle, deren Außenwand transparent war, sodass er durch sie einen von mehreren Lampen erleuchteten Park sehen konnte. Die – ebenfalls transparente – Tür öffnete sich, als Caycon nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war. Etwas summte, eine blechern nachhallende Stimme sagte: »Sie haben vergessen, Ihre ID-Plakette in den Schlitz der Registrierautomatik zu schieben. Bitte, holen Sie das nach.«
Caycon kümmerte sich nicht darum, sondern ging zielstrebig in den Park. Sein Unterbewusstsein registrierte, dass die Klinik auf einem Hügel oberhalb einer mittelgroßen Stadt stand, die sich in einer stürmischen Periode des Wachstums befand, wie die zahlreichen beleuchteten Baustellen an den Rändern bewiesen. Weit hinter dem gegenüberliegenden Rand der Stadt blinkten die Positionslichter zweier großer Raumschiffe, die zur Landung angesetzt hatten. Nichts von alledem nahm Caycon bewusst wahr. Seine Beine schienen einen eigenen Willen entwickelt zu haben. Sie trugen ihn durch den Park der Klinik, aus dem Park hinaus und zu einem schmalen Weg, der zuerst durch eine Grasebene, durch finsteren Wald und zuletzt in ein Gebirge führte. Caycon spürte keine Müdigkeit, auch nicht, als der Pfad immer steiler anstieg und schließlich an einem steinigen Steilhang endete. Caycon setzte seinen Weg auf Händen und Füßen fort. Bald bluteten die Hände aus zahlreichen Risswunden und Aufschürfungen, das Haar war verklebt, Schweiß rann an den Innenseiten der Arme und Beine und am Rücken hinab. Irgendwann in der sternenhellen Nacht brach Caycon erschöpft zusammen. Als er erwachte, war die Morgendämmerung angebrochen. Er spürte kaltes Wasser über seine Stirn rinnen und bemerkte, dass er mit dem Rücken an einer Felswand lehnte und von fremden Händen gestützt wurde. Das Gesicht einer Frau war dicht vor seinem. »Raimanja?«, flüsterte Caycon. »Es ist schön, dass du bei mir bist.« Er bekam keine Antwort, aber er brauchte auch keine. Er wusste genau, dass er seine Raimanja wiedergefunden hatte. »Weißt du noch, wie wir uns liebten? Unsere Familien waren dagegen, denn sie bekämpften sich, aber wir wir haben nur auf die Stimme unserer Liebe gehört. Dann kamen die Fremden. Sie entführten uns in den Weltraum, weil unser Sohn…« Caycon lächelte verloren. »Doch wir haben sie überlistet. Wir sind aus
ihrem Raumschiff geflohen, und ein sprechendes Boot hat uns nach Perpandron gebracht. Dort brachtest du unseren Sohn zur Welt – und wir waren sehr glücklich. Hör, Raimanja, niemand weiß, wo Perpandron liegt, auch Reichsadmiral Farthu da Lloonet nicht. Ich habe es nicht verraten und werde es niemals verraten.« Er schloss die Augen, riss sie aber gleich wieder auf, als fürchtete er einzuschlafen. »Kein Liebespaar hat so viel Schweres durchgemacht wie wir, Raimanja«, flüsterte er. »Aber keins hat so viel Glück erlebt. Unser Sohn, das Wache Wesen, wird Perpandron eines Tages verlassen, und der Glanz seiner Macht wird die Sterne des Universums verblassen lassen.« Er merkte kaum, dass er weiterbrabbelte und seine Geschichte erzählte. Seine Augen weiteten sich, als sich der Glutball der Sonne über den Horizont schob. »Das Licht! Das Licht weist mir den Weg! Ich komme, komme zurück nach Perpandron – zu dir, Raimanja.« Caycon seufzte tief, sein Kopf kippte zur Seite. Die immer noch weit geöffneten Augen aber blickten ins Leere…
18. Erschüttert erkannte ich, dass Caycon tot war. Aber wenigstens war er in der Überzeugung gestorben, dass er seine geliebte Raimanja Wiedersehen würde. Und wer weiß, vielleicht hatte seine Seele schon den Raum zwischen Arkon und Perpandron übersprungen und weilte bei Raimanja. Ich sah, wie ihm die Arkonidin, die ihm durch ihr Verhalten das Sterben erleichtert hatte, die Augen zudrückte. Sie trug ein wallendes Gewand, das mit stilisierten Augen geschmückt war. Ihr hochgestecktes Haar wurde von einer glitzernden Spange gehalten. »Eine Dienerin des Tempels der Wahrheit«, sagte Fartuloon. »Es gibt diesen Tempel seit vielen Jahrhunderten nicht mehr, aber seine Existenz ist geschichtlich nachgewiesen.« Ich erinnerte mich ebenfalls an den Ursprung der Legende. »Das erklärt, wie es zur Entstehung der Legende über das Liebespaar Caycon und Raimanja kam. Die Tempeldienerin wird das, was der Sterbende ihr sagte, ihrer Tempelherrin und den anderen Dienerinnen des Tempels mitgeteilt haben. Vermutlich wurde diese Geschichte auch aufgezeichnet. Aber sie geriet in Vergessenheit, bis die Goltein-Heiler Perpandron zu ihrem Domizil erwählten und die Sage populär machten. Ob dein Urahn den Planeten Perpandron jemals gefunden hat?« »Er wohl nicht, sonst wäre Akon-Akon vermutlich schon damals zum Leben erweckt worden. Farthu da Lloonet hätte sich durch die Fallen und Wächter der uralten Stadt ebenso wenig aufhalten lassen wie du. Unsere Überlieferung kennt ihn als Imperator Gwalon den Ersten. Er hat mir gefallen.« Abermals hatte ich das Gefühl, dass mein Lehrmeister viel mehr wusste. »Mir auch. Vor allem, weil er ein Hüne von einem Mann ist – ganz im Gegensatz zu dir.« »Es kommt nicht auf das Äußere an. Und an meinen geistigen
Qualitäten willst du doch wohl nicht zweifeln, Küken.« »Habe ich das je getan? Außerdem hast du doch etwas von ihm geerbt, nämlich den starken schwarzen Bartwuchs und die gelblichen Augen. Nur auf dem Schädel, da hat es bei dir zu keinem Haarwuchs gereicht.« »Frauen bevorzugen kahlköpfige Männer, mein Junge.« »Ich wusste gar nicht, dass ich einen Kahlkopf habe.« »Gib nicht so an. Pass lieber auf, was jetzt kommt. Ich nehme an, dass wir zu Raimanja versetzt werden, um mitzuerleben, wie es ihr ergangen ist.« »Wie es ihr ergeht«, korrigierte ich unwillkürlich. Der Bewusstseinsinhalt meines Pflegevaters kam nicht mehr dazu, mir eine passende Antwort zu geben, denn im nächsten Augenblick verblasste die Sonne Arkon. Ein Dröhnen erfüllte die Luft, schwoll an und riss mich in einen Strudel aus Finsternis. Ich hatte das Empfinden, durch einen immateriellen Schacht in unendliche Höhen zu steigen – oder in unendliche Tiefen zufallen. Ich ahnte, wohin es mich schleudern würde, und wappnete mich auf den Schock, der wohl oder übel eintreten musste… Das erste Gefühl war das eisiger Kälte. Es war, als sei ich in ein Bassin voll Eiswasser gestürzt. Ich sah noch nichts, aber ich hörte ein schwaches Klopfen, das allmählich stärker und schneller wurde – und plötzlich erkannte ich den Rhythmus meines eigenen Herzschlags. Als ich ihn erkannte, entschwand er meiner bewussten Wahrnehmung. Dafür drangen andere Geräusche an mein Gehör: Stöhnen, Seufzen und Scharren. Plötzlich konnte ich wieder sehen. Ich sah durch meine Augen und nicht auf die unbegreifliche Weise, auf die ein Bewusstsein sah. Die Lichtkegel vieler Handscheinwerfer erhellten die Szene und ließen mich erkennen, dass ich noch immer – oder wieder – in der halb verfallenen Transmitterstation einer unbekannten Welt stand. Viele der Lichtkegel waren auf das Gesicht Akon-Akons gerichtet. Er verriet keine Regung, stand erstarrt, blickte geradeaus und hielt den geheimnisvollen Kerlas-Stab mit den Händen umklammert. In meiner
Nähe entdeckte ich Fartuloon, Ra und Karmina. Auf dem Gesicht des Barbaren stand Entsetzen. Die Sonnenträgerin dagegen schien nur verwundert zu sein – und mein Pflegevater lächelte wissend. Unsere übrigen Gefährten verrieten teils Fassungslosigkeit, teils Erschütterung. »Also waren wir – wenn auch nicht körperlich – in ferner Vergangenheit«, stellte Karmina nüchtern fest. »Waren wir das wirklich?«, fragte Fartuloon. »Wir könnten die Vergangenheit auch nur geträumt haben.« Ich seufzte. »Ein derart informativer Traum muss seine Informationen irgendwoher bezogen haben«, entgegnete Karmina. »Nach Lage der Dinge aus der Vergangenheit – beziehungsweise aus Caycons Realzeit. Also letztlich von Akon-Akon?« Ich blickte wieder zu dem Jungen von Perpandron, um festzustellen, wie er auf die Nennung von Caycons Namen reagierte. Schließlich war Caycon sein Vater gewesen – und noch immer wussten wir nicht, was aus seiner Mutter geworden war. Aber der Junge schien uns weder zu hören noch zu sehen. Befand sich sein Geist etwa noch in der Vergangenheit, versunken in Erinnerungen? Ich wechselte einen Blick mit Fartuloon. Es bedurfte zwischen uns keiner Worte. Wir verstanden uns auch so. Wenn Akon-Akons Geist noch nicht zurückgekehrt war, unterlagen wir nicht mehr dem geheimnisvollen Zwang, mit dem er uns bisher beherrscht hatte. In diesem Fall mussten wir so schnell wie möglich aus seiner Nähe fliehen, um nicht wieder unter seinen Einfluss zu geraten. Ich blickte nach oben und sah durch die geborstene Decke der Transmitterstation, dass die Sterne verblassten. Draußen dämmerte der neue Tag. »Wir gehen!« Doch als ich mich in Bewegung setzen wollte, gehorchten mir die Füße nicht. Wir standen weiterhin unter Akon-Akons Bann! »Es geht nicht«, rief Karmina. Ra sank auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben. Er flüsterte kaum hörbare Worte in seiner Barbarensprache.
Wahrscheinlich rief er eine der Gottheiten seines Volkes an. Es war seine Art, über den Schock hinwegzukommen, und es war eine wirksame Art für ein Wesen, das an alle möglichen Götter, Geister und Dämonen glaubte. »Ich denke, dass unsere Bewusstseinsinhalte tatsächlich in der Vergangenheit weilten«, sagte ich bedächtig. »Aber eine Bestätigung dafür werden wir wohl nie erhalten.« »Aber wie?« Karmina sah mich zweifelnd an. »Der Kerlas-Stab. Er könnte durch den engen Kontakt mit Akon-Akon eine unbekannte Kraft aktiviert haben, die unsere Bewusstseine aus den Körpern riss und durch den Zeitstrom beförderte. Ich frage mich nur, ob diese Kraft schon erschöpft ist; wir kennen erst einen Teil der Geschichte.« »Früher oder später werden wir auch den zweiten Teil der Geschichte erfahren«, sagte Fartuloon. »Es muss etwas zu bedeuten haben, dass Akon-Akon so erstarrt ist. Ich ahne…« Die Sternsymbole auf Akon-Akons Händen leuchteten so grell auf, dass ich geblendet die Augen schloss. Als ich sie wieder öffnete, war es dunkel. Jemand stöhnte dumpf. Ra leierte eine Beschwörungsformel. Die Blendwirkung ließ nach, dennoch vermochte ich keine klaren Konturen zu erkennen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, als fülle sich die Transmitterhalle mit einem grauen Dunst, der auch die vagen optischen Eindrücke verschlang. Etwas wie ein lockender Ruf erfüllte mich. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen – und wurde dennoch in den Strudel gerissen, von dem ich bereits wusste, wohin er führte…
Keuchend hastete Raimanja den spärlich bewachsenen Hang hinab und warf sich unten förmlich zwischen die haushohen Farnwedel. Augenblicke später schwoll das vorher leise Summen zu einem lauten Brausen an, ein elliptischer Schatten fegte über das Blätterdach des Farnwaldes. Das Brausen wurde schwächer, verwandelte sich wieder in ein leises Summen und erstarb schließlich ganz. Raimanja rappelte sich auf, strich sich das
schweißverklebte Haar aus dem Gesicht, schraubte ihre Wasserflasche auf und trank bedächtig einen langen Schluck. Danach schraubte sie die Verschlusskappe wieder zu und verließ den Farnwald. Sie wusste, dass sie damit auch ihre Sichtdeckung vor den umherstreifenden Gleitern der Akonen verließ. Doch die Gefahren, die im dichten Farndschungel lauerten, waren so vielfältig, dass Raimanja das Risiko, von den Akonen entdeckt und eingefangen zu werden, vorzog. Allerdings wollte sie es ihren Entführern auch nicht zu leicht machen. Darum blieb sie so nahe am Farndschungel, dass sie sich mit wenigen Sätzen in Sicherheit bringen konnte, falls wieder ein Gleiter nahte. Rund fünf Tontas marschierte sie so über grasbewachsenen Boden, dann nacktes Gestein, durch flache Bachläufe und über einen schmalen Grat. Schließlich entdeckte sie in der Felswand, die sich zu ihrer Linken auftürmte, einen drei Meter breiten und zehn Meter hohen Spalt, durch den helle Lichtbahnen flossen. Im ersten Augenblick ihrer Entdeckung erschrak Raimanja. Sie ging auf ein Knie nieder und brachte den Impulsstrahler in Anschlag. Doch dann wurde ihr klar, wie dieses Phänomen zustande kam. Auf ihrer Seite der Felswand herrschte trübes Dämmerlicht, weil die weißgelbe Sonne Ytzica so tief stand, dass der direkte Blick auf sie durch die Felswand verwehrt wurde. Mit Ausnahme jenes Spaltes natürlich. Raimanja lächelte erleichtert, zog die Sonnenblende der Mütze tief über die Augen und tauchte in dem Spalt unter. Als sie ihn zur Hälfte durchquert hatte, drehte sie sich um. Jetzt war sie nicht mehr geblendet und konnte die helle Beleuchtung zu ihren Gunsten nutzen. Die Frau sah, dass die Wände des Spaltes so glatt waren, als seien sie mit einer Energiefräse in die Felswand geschnitten worden. Ein glasartiger Überzug hatte sie davor bewahrt, von den Kräften der Erosion zerfressen zu werden. Nur an einigen Stellen schimmerte der glatte Fels grün, gelbbraun und bläulich. Hier hatten sich irgendwelche
mineralhaltigen Gase niedergeschlagen. Raimanja runzelte nachdenklich die Stirn, zweifelte nicht daran, dass der Spalt nicht auf natürliche Weise entstanden war. Folglich mussten schon früher Intelligenzen auf Perpandron gelebt haben – und sie hatten diesen spaltförmigen Durchbruch sicher nicht zum Zeitvertreib geschaffen. Vorsichtiger noch als zuvor setzte Raimanja den Weg fort. Nach siebzehn weiteren Schritten erreichte sie das jenseitige Ende des Durchbruchs – und wieder blieb sie stehen. Sie legte als zusätzlichen Blendschutz die linke Hand schräg über die Augen und musterte das schüsselförmige Tal, das unmittelbar vor ihr lag. Es mochte einen Durchmesser von rund zwei Kilometern erreichen, war ringsum von hohen steilen Felswänden umgeben und barg genau in seiner Mitte ein hohes, massiv wirkendes Gebäude, dessen Wände aus kreuz und quer geschichteten Basaltstempeln bestanden. Das Gebäude war auf einem – natürlichen oder künstlichen – Hügel errichtet, der terrassenförmig abfiel. Auf den Terrassen standen die Überreste weiterer Gebäude: teilweise bewachsene Mauern, die ebenfalls aus Basaltstempeln errichtet worden waren. Raimanja sah auf den ersten Blick, dass diese Siedlung tot war. Jedenfalls wurde sie schon lange nicht mehr von ihren Erbauern bewohnt; zwischen den Mauerresten wuchsen Farne, Palmen und Lianen. Krummschnäblige Vögel lärmten, pelzbewachsene kleine Primaten turnten spielerisch auf Bäumen und Basaltquadern, unterarmlange Echsen lagen auf den Mauerkronen, um die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages auszunutzen. Es war ein überaus friedliches Bild, das sich Raimanjas Augen bot. Sie beschloss, die Nacht zwischen den Mauern zu verbringen. Vielleicht fand sie im Hauptgebäude sogar einen Platz, wo sie sicher vor umherstreifenden Nachtraubtieren war. Dann konnte sie endlich einmal länger als nur eine halbe Tonta schlafen. Während sie die Terrassen hinaufstieg, neugierig von den
Primaten und Krummschnäblern beobachtet, dachte sie an die letzten Pragos zurück – und ihre Stirn umwölkte sich. Die akonischen Wissenschaftler hatten sie medizinisch untersucht und – ohne ihr Einverständnis – das in ihr keimende Leben so manipuliert, dass ihr Kind ein Waches Wesen werden würde. Jedenfalls hatten es die Akonen ihr so erklärt. Raimanja war alles andere als erbaut gewesen. Sie hatte sich über Interkom mit Caycon in Verbindung setzen wollen, aber die Akonen hatten ihr erklärt, dass Caycon sich eines Beiboots bemächtigt hatte und noch kurz vor der ersten Transition geflohen sei. Raimanjas Hoffnung, dass Caycon Hilfe holen würde, hatten die Akonen brutal durch ihre Aussage zunichtegemacht, dass Caycons Fluchtfahrzeug infolge seiner unmittelbaren Nähe durch die Strukturerschütterung in seine Einzelteile zerlegt worden sei. Caycon war also tot. Oder doch nicht? Drei Tage lang war Raimanja in ihrer Kabine geblieben, hatte nur wenig gegessen und kaum geschlafen. Erst als das akonische Raumschiff auf dem Planeten Perpandron landete, der vierten Welt von Ytzica, erwachte sie aus ihrer Lethargie. Der Landeplatz befand sich nahe der gebirgigen Südküste des Hauptkontinents, der als riesiges Dreieck von der nördlichen Polarregion bis weit südlich des Äquators reichte. Schon bald begannen die Akonen mit sonderbaren Aktivitäten. Raimanja sah, dass in der Nähe des Landeplatzes mit dem Ausheben einer großen Grube begonnen wurde. Auf ihre Frage wurde ihr erklärt, dass dort der sogenannte Schlafkristall untergebracht werden sollte, in dem ihr Sohn nach der Geburt wachsen und schlafen sollte, gegen alle nur denkbaren Gefahren geschützt. Später sollte er erweckt und nach Arkon geschleust werden. Als Raimanja das erfuhr, hatte sie beschlossen, sich und ihren Sohn nicht zu einer nie da gewesenen Art von Invasion auf Arkon missbrauchen zu lassen. Lieber wollte sie sich und ihn mit töten, als das zuzulassen. Sie floh in einem unbewachten Augenblick in
den Dschungel und nahm genug an Waffen und Ausrüstung mit, um längere Zeit allein auszukommen. Das lag nun schon zwei planetare Tage zurück – die Eigenrotation dieser Welt betrug rund achtzehn Tontas. Am ersten Tag ihrer Flucht hatte Raimanja, meist bis zum Hals im Wasser, in einem ausgedehnten Sumpfgelände gelegen und auf die Gleiter gelauscht, die die weitere Umgebung des gelandeten Raumschiffs absuchten. Am nächsten Tag, als die Suchgleiter ihr Suchgebiet weiter weg verlagerten, war sie aus dem Sumpf gestiegen und hatte sich, relativ unbehelligt, immer weiter vom Raumschiff entfernt. Sie war überzeugt davon, dass sie dieses Spiel noch einige Tage weiterführen konnte, ohne dass die Akonen merkten, dass sie stets vor ihr herliefen, anstatt hinter ihr her.
Auf der mittleren Terrasse blieb Raimanja stehen und beobachtete die dunkelgrüne Schlange, die wenige Meter entfernt über den Boden kroch. Sie ekelte sich vor Schlangen und hätte diese am liebsten getötet, aber sie wusste, dass sie ihre Energiewaffen nur in Fällen höchster Not benutzen durfte. Die Entladungen wären von den Ortungsgeräten der Akonen sofort angemessen worden. Also wartete sie, bis die Schlange verschwunden war. Die Sonne versank, bevor sie den Hauptbau erreicht hatte. Aber das Streulicht reichte noch aus, um ihr den Weg zu zeigen. Große Vogelschwärme strichen über den perlmuttfarbenen Abendhimmel, zogen an der Sichel eines schmutzig weißen Mondes vorbei und ließen sich irgendwo auf Baumkronen, an Steilhängen oder anderen Schlafplätzen nieder. Als Raimanja vor der düsteren Wand des Hauptbaues stand, lauschte sie eine Weile. Doch alles blieb still. Erst jetzt schaltete sie den Handscheinwerfer ein und richtete den Lichtkegel auf die Mauer. Langsam schritt sie an der Mauer entlang und stellte fest, dass die Basaltstempel teils sechs-, teils achteckig waren.
Raimanja kam allmählich zu der Vermutung, dass es Nachbauten sein mussten, die aus dem Material viel älterer und verfallener Bauwerke errichtet worden waren. Primärund Sekundärzivilisation – und beide offenkundig ausgestorben. Endlich entdeckte Raimanja den Zugang ins Innere, eine rechteckige Aussparung im Mauerwerk. Raimanja leuchtete hinein, ließ den Kreis des Lichtkegels über Wände und Boden wandern und sah eine riesige Halle mit nackten Wänden, tropfender Decke und einem mit Staub, Unrat und Tierresten bedeckten Boden. Eine wenig einladende Stätte. Plötzlich stutzte Raimanja. Genau in der Mitte der Halle stand ein würfelförmiger Block von etwa zwei Metern Kantenlänge. Er schimmerte in einem trübglasigen Hellgrün. Es ließ sich nicht auf Anhieb sagen, ob er aus Metall, Plastik oder Stein bestand. Aber das alles hätte Raimanja nicht stutzig gemacht. Es war vielmehr die fleckenlose Sauberkeit dieses Blocks, die sie sich nicht erklären konnte. Nicht einmal eine dünne Staubschicht bedeckte seine Oberfläche, kein von der Decke fallender Wassertropfen schien ihn je benetzt zu haben. Raimanja blinzelte verwirrt. Sie konnte sich nicht erklären, wieso der Block inmitten dieses Unrats und Staubes so sauber geblieben war, als würde er täglich von schwebenden Wesen geputzt. Von Wesen, die schwebten, ohne Luftwirbel zu erzeugen, die ja beim Wegflug Staub hochgerissen und über den Block gepudert hätten. Die Frau suchte einen Unterschlupf für die Nacht. Die Halle war ihr jedoch wegen des Unrats verleidet, außerdem ging von dem kubischen Block etwas aus, was ihr Angst einflößte. Zwar sagte sie sich, dass es nur die Angst vor dem Unbegreiflichen war; dennoch scheute sie davor zurück, die Halle zu betreten. Ein Poltern ließ sie herumfahren. Raimanja sah, dass auf einer der mächtigen Mauern ein erschreckendes Lebewesen aufgetaucht war. Von der Körperform glich es annähernd einem Arkoniden, war aber dreimal so groß, nackt und offenbar geschlechtslos.
Rötlich schimmernde Haare sprossen dicht aus der unbekleideten Haut. Anstelle einer Nase sah Raimanja nur zwei Löcher, darunter einen breiten Mund – und darüber in der Stirn ein einziges großes, rot glühendes Auge. Ein Zyklop!, durchfuhr es Raimanja und erinnerte sich an uralte Überlieferungen. Das Wesen hatte bei seiner Klettertour einen achteckigen Basaltstempel von der Mauerkrone gestoßen, eine beachtliche Kraftleistung, denn er wog mindestens eine Tonne. Über den Krach, den der abstürzende Block verursacht hatte, war das Wesen offenkundig selbst erschrocken. Es streckte den Kopf über den Rand der Mauerkrone und äugte nach unten. Raimanjas Herz schlug schneller, sodass sie den Puls in der Halsschlagader klopfen hörte. Leise schob sie sich durch das Tor in die Halle. Sie wusste nicht, ob das einäugige Wesen sie bereits entdeckt hatte, aber sie wusste, dass sie auf jeden Fall einer Entdeckung vorbeugen musste, falls sie noch nicht erfolgt war. Der Zyklop sah ganz so aus, als könne er ihr gefährlich werden – trotz der Energiewaffen. Drinnen schaltete Raimanja den Handscheinwerfer aus, entsicherte den Impulsstrahler und spähte um die Torkante vorsichtig nach draußen. Der riesige Zyklop hangelte an hervorstehenden Stempelenden die Mauer herab. Unten angekommen, richtete er sich zu voller Größe auf und spähte mit seinem einzigen großen Auge in die Runde. Raimanja wartete nicht, bis er sie sah. Sie löste sich vom Tor und ging langsam rückwärts, bis sie an den grünen Kubus stieß. Der Zyklop war ihr bisher nicht gefolgt. Doch wenn er in die Halle schaute, würde er sie sehen, obwohl es hier fast ganz dunkel war. Sein großes Auge schien darauf hinzudeuten, dass er nachts so gut sah wie ein Arkonide am Tag. Die Arkonidin beugte der Entdeckung vor, indem sie den Kubus umrundete und auf der anderen Seite stehen blieb. Da der Würfel sie überragte, würde der Zyklop sie auch dann nicht sehen, wenn er durch das Tor in die
Halle spähte. Dich nicht, aber die Fußspuren, die du hinterlassen hast, wisperte etwas in ihr.
Ich hatte das Gefühl, als sträubten sich mir die Haare – was natürlich bei einem reinen Bewusstseinsinhalt nicht möglich war. Etwas hatte sich der Arkonidin gedanklich mitgeteilt – und ich hatte es ebenfalls wahrgenommen. Doch ich wusste nicht, woher dieses Wispern gekommen war, denn nirgends war ein intelligentes Lebewesen zu sehen, welches dafür infrage gekommen wäre. »Was ist los, mein Junge?«, erkundigte sich Fartuloon. »Was los ist?«, gab ich verwundert zurück. »Machst du dir keine Gedanken über die wispernde Stimme, die zu Raimanja sprach?« »Hätte ich eine wispernde Stimme gehört, würde ich mir Gedanken darüber machen. Wer hat denn gesprochen? Akon-Akon?« »Das glaube ich nicht. Die Stimme kam aus Raimanjas Innerem.« »Dort befindet sich Akon-Akon auch.« »Ich glaube nicht, dass es der Embryo war. Er ist noch so klein, dass das Gehirn noch gar nicht ausgeprägt genug sein kann, und die besonderen Fähigkeiten, die ihn als Waches Wesen auszeichnen, sind bestenfalls anlagemäßig vorhanden.« »Akzeptiert. Aber wer oder was war es dann?« Intelligenz ist nicht von der Existenz eines Gehirns abhängig. »Das ist mir auch klar«, antwortete ich im Glauben, Fartuloon hätte die letzte Bemerkung gemacht. »In einem Gehirn manifestiert sie sich nur in konzentrierter Form, aber…« Ich stockte. »Was faselst du da?« »Der Wispernde hat direkt zu mir gesprochen – beziehungsweise gedacht. Zuerst glaubte ich, du wärst es gewesen.« »Ich verstehe. Aber warum kannst du den Wispernden hören und sonst niemand?« »Irrtum! Raimanja hört ihn auch. Schau sie dir doch an.« Tatsächlich machte die Arkonidin einen verstörten Eindruck. Sie
blickte nach links und rechts. Das schien zu beweisen, dass sie alles mitbekommen hatte, was der Wispernde geäußert hatte – ganz gleich, ob es an sie oder an mich gerichtet gewesen war. Es war nur natürlich, dass sie aus den Mitteilungen des Wispernden auf einen weiteren Gesprächspartner schloss und dass sie bestrebt war, ihn zu sehen, wenn sie schon den Wispernden nicht zu sehen vermochte. Das kann ihr zum Verhängnis werden, wisperte es. Sie merkt nicht, dass der Einäugige die Halle betritt. Ich brauche deine Hilfe, der du aus einer noch ungeborenen Zeit kommst. Diesmal merkte ich schnell, dass nicht mein Pflegevater, sondern der Wispernde zu mir »gesprochen« hatte. Ich sah, dass die Warnung berechtigt war. Der Zyklop schickte sich an, in die Halle einzudringen. Überraschte er Raimanja, sodass sie nicht dazu kam, auf ihn zu schießen, war sie verloren. Dieses Wesen hätte mit bloßen Fäusten einen Kampfroboter zertrümmern können. Nur am Rande meines Wachbewusstseins regte sich die Erkenntnis, dass das Erlebte keineswegs ein purer Traum sein konnte – denn in einem solchen hätte schwerlich ein Wesen aus der Vergangenheit mit mir Kontakt aufnehmen können. Oder war genau das der Irrtum? Im Traum war alles möglich… Sprach somit die Kontaktaufnahme nicht gerade gegen eine reale Versetzung in die Vergangenheit? Ich versuchte, die Verwirrung zu ignorieren, und fragte spontan: »Wie kann ich helfen?« »Wen meinst du diesmal?«, fragte Fartuloon. »Den Wisperer. Bitte, stör mich vorläufig nicht. Es geht darum, Raimanja zu retten.« Ich bin ANTE, wisperte es. Du kannst nur helfen, wenn du dich nicht dagegen wehrst, von mir aufgesogen zu werden. Die fünfund sechsdimensionalen Energien deines Bewusstseinsinhalts werden mich wieder zum körperlichen Leben erwecken. »Und was geschieht mit mir – beziehungsweise mit meinem Bewusstseinsinhalt? Wird mein individuelles Bewusstsein aufhören zu existieren?« Wir werden miteinander verschmelzen, aber du wirst der
passive Teil bleiben. Meine körperliche Existenz wird von kurzer Dauer sein. Sobald sie erlischt, bist du wieder frei. »Bevor du dich unüberlegt auf etwas einlässt, erklär mir, worum es geht«, drängte Fartuloon. Ich verstand, dass sich mein Pflegevater um mich sorgte. Aber ich sorgte mich seltsamerweise nicht um meine Sicherheit. Der Wispernde, der sich ANTE nannte, hatte mir Vertrauen eingeflößt. Außerdem war keine Zeit mehr für Diskussionen. Der Zyklop hatte den Kubus, hinter dem Raimanja stand, fast erreicht. »Einverstanden!« Im nächsten Moment wurde es finster – aber nicht lange. Augenblicke später tauchte ich auf, als sei mein Bewusstseinsinhalt ein Schwimmer, der von einem Tauchausflug an die Wasseroberfläche zurückkehrte. Aber bei mir war die Wasseroberfläche das Gehirn eines fremden Lebewesens. Hier war ich aufgetaucht, hatte mich mit dem Bewusstsein des Fremden vermischt und blickte durch seine Augen. Ich erkannte bald, dass ich in dem hellgrünen Würfel stand und dass dieser Würfel immer heller und heller wurde. Der Kontakt mit Fartuloon war abgerissen. Dafür konnten der heranstapfende Zyklop und Raimanja mich sehen – beziehungsweise den Körper, in den ich geschlüpft war. Der Zyklop blieb stehen, als sei er gegen einen Dinosaurier gerannt. Raimanja riss Augen und Mund auf ließ ihren Impulsstrahler fallen und schrie gellend…
Raimanja wich mit abwehrend ausgestreckten Händen zurück, bis ihr Rücken gegen die hintere Hallenwand stieß. Sie starrte voller Grauen auf das entsetzliche Wesen, das dem Würfel entstiegen war. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Arkoniden, doch das betraf nur die Körperform. Die körperliche Beschaffenheit unterschied sich ganz beträchtlich von der eines Arkoniden. So bestand die Körperoberfläche des Wesens aus einer transparenten Substanz. Dennoch waren keine Muskeln, Sehnen
und Knochen oder Organe wie Herz, Lunge, Leber und dergleichen sehen. Stattdessen pulsierte hinter der glasartigen Oberfläche rötliches Feuer. Dort, wo bei einem Arkoniden das Gehirn war, befand sich bei diesem Wesen eine nebelhafte graugelbe Masse, in der es hin und wieder grell aufblitzte. Raimanja schüttelte sich, sah erst jetzt, dass ihr der Zyklop in die Halle gefolgt war. Die riesige Kreatur stand auf der anderen Seite des inzwischen transparenten Würfels und starrte das Feuerwesen an. Plötzlich öffnete das Feuerwesen den Mund – und eine blauweiße Stichflamme fauchte zu dem Zyklopen und hüllte ihn in eine lodernde Flammensäule. Die einäugige Kreatur heulte auf, warf sich herum und raste mit brennendem Fell ins Freie. Raimanja hörte das Geheul noch lange. Es wurde allmählich leiser, während sich das Geschöpf von dem Hauptbau entfernte. Dann hörte sie nichts mehr. Als das Feuerwesen einen Schritt in ihre Richtung tat, riss Raimanja den Thermostrahler aus dem zweiten Gürtelholster. Das Feuerwesen blieb stehen und breitete die Arme aus. »Du hast von mir nichts zu fürchten, Raimanja. Ich habe den Zyklopen nicht vertrieben, um dich an seiner Stelle umzubringen. Im Gegenteil, ich will dir helfen, so gut und solange ich kann. Du bist auf der Flucht und suchst einen Unterschlupf, nicht wahr?« Raimanja machte eine bejahende Geste, hielt aber den Thermostrahler weiter schussbereit. »Irgendwo in dieser alten Ruinenstadt werde ich einen Platz finden, an dem ich vor wilden Tieren und Ungeheuern sicher bin. Ich brauche keine Hilfe. Wer und was bist du überhaupt?« »Ich bin ANTE. Der letzte lebende Bewohner von SQUARAS.« »Sind die anderen Bewohner ausgestorben?« Kleine Flammen züngelten aus ANTES Ohren und verschwanden wieder. »Sie sind nicht ausgestorben, sondern nur
an einen anderen Ort gegangen, weil es ihnen hier zu langweilig wurde. In den Körpern unseres Volkes brennt ein unruhiges Feuer. Einst führten wir gewaltige Kriege, weil es uns Spaß machte, zu kämpfen.« »Gegen wen habt ihr gekämpft?« »Gegen uns selbst – gegen wen sonst? Wir teilten uns in zwei Lager auf, bestimmten die Regeln und legten die offenen Jahre fest. Danach kämpften wir. Es waren herrliche Zeiten. Leider kam in der dritten Phase des Kampfes auf der Gegenseite ein Diktator an die Macht, der die Regeln missachtete und alle Mittel einsetzte, um den Sieg zu erringen. Wir waren nicht darauf gefasst und verloren. Aber wir gaben nicht auf. Wir bildeten Raumkommandogruppen, besetzten die meisten Planeten der Gegenseite und erklärten die Bewohner zu Geiseln. Damit wollten wir den Diktator zwingen, alle erschwindelten Vorteile rückgängig zu machen und ausschließlich nach den Regeln zu kämpfen. Er konnte unseren Gruppen nichts anhaben, da sie auf jedem besetzten Planeten eine Sonnenbombe versteckt hatten, die beim Angriff der Gegenseite gezündet werden würde. Aber der Diktator setzte keine Soldaten ein. Er verhandelte. Doch wir konnten uns nicht einigen. So blieb es praktisch bei einem Unentschieden. Unsere Kommandogruppen wurden auf den Geiselwelten sesshaft, nahmen sich Geiseln als Frauen und pflanzten sich fort.« ANTE ließ Dampf aus den Nasenlöchern steigen. Unter der gläsernen Haut tobten Energieentladungen. »Die zweite Generation der Geiselnehmer kannte die Aufgabe ihrer Väter zwar noch, hielt sich aber nicht daran. Die vorher so säuberliche Trennung meines Volkes in zwei Parteien verwischte sich mehr und mehr. Das Leben wurde unsagbar langweilig. Sie gingen und ließen mich zurück, eingefroren in einem Block aus Pyonit, nun für kurze Zeit belebt durch ein Wesen, das erst in einigen Jahrtausenden geboren werden wird. Du kannst
hier nicht bleiben, Raimanja. Du musst nach Amalek und dich unter den Schutz der Schwarzen stellen. Aber meide die Geflügelten, denn sie sind der Feind alles Lebendigen.« »Warum sollte ich nach Amalek gehen, was immer das ist? Ich will selber bestimmen, was ich zu tun und zu lassen habe. Verschwinde, ANTE.« Die pulsierende Glut in ANTE verfärbte sich rötlich. Das Wesen ließ die Arme sinken. »Ich dränge mich dir nicht auf. Aber ich werde über dich wachen, solange ich nicht in den Block zurückkehren muss.« ANTE verschwand von einem Augenblick zum andern. Raimanja blickte fassungslos auf die Stelle, an der das Feuerwesen eben noch gestanden hatte. Staub und Unrat waren verschwunden. Der saubere Fleck sah aus, als würde Raimanja ihn durch eine Wassersäule betrachten. Er wirkte optisch verzerrt. Die Arkonidin fragte sich, wie ANTE verschwunden war. Sie wusste, dass es Deflektorgeräte gab, mit denen man sich unsichtbar machen konnte. Doch sie hatte bei ANTE weder einen Deflektor noch überhaupt ein Gerät bemerkt. Wie immer dieses seltsame, unheimliche Wesen auch verschwunden sein mochte, es musste dieses Verschwinden ohne technische Hilfsmittel bewerkstelligt haben. Aber das Wie blieb Raimanja ein Rätsel. Nach einiger Zeit kehrten ihre Gedanken wieder zu den nächstliegenden Problemen zurück. Sie musste sich einen sicheren Unterschlupf suchen, in dem sie die Nacht verbringen konnte. Da es schon dunkel geworden war, wollte sie sich nicht aus der Ruinenstadt entfernen. In der Halle war es ihr jedoch zu schmutzig – und zu unheimlich. Erst jetzt wurde sie gewahr, dass die Helligkeit, die hier herrschte, von dem Kubus ausstrahlte. Das machte ihr diesen Ort noch unheimlicher. Dennoch kehrte sie zu dem Würfel zurück, einmal, weil ihre Hauptwaffe dort lag, und zweitens, weil sie ihre Wissbegier nicht bezähmen konnte. Sie schlug einen Bogen um die Stelle, an der ANTE
verschwunden war, hob den Impulsstrahler auf und schob den Thermostrahler ins Gürtelholster zurück. Danach musterte sie den Kubus. Genau im Mittelpunkt gab es eine etwa faustgroße kugelförmige Stelle, die die gleiche optische Verzerrung aufwies wie der Fleck auf dem Boden, an dem ANTE zuletzt gestanden hatte. Raimanja tippte die Wandung des Würfels mit der Mündung des Impulsstrahlers an. Sie hatte insgeheim erwartet, dass der Lauf ungehindert eindringen würde. Doch er stieß auf durchaus massiven Widerstand. Die Arkonidin trat ein paar Schritte zurück, legte den Strahler an und zielte. Ihr Finger näherte sich dem Abzug, zog sich dann aber wieder zurück. »Es ist zu gefährlich.« Raimanja setzte den Impulsstrahler ab. »Wer weiß, was ein Schuss auslösen würde.« Langsam durchquerte sie die Halle, trat durch das Tor und blickte sich aufmerksam um. Der Himmel war beinahe wolkenlos, sodass das Licht des Mondes und der wenigen Sterne ausreichte, um sich zu orientieren. Raimanjas Augen passten sich nach kurzer Zeit so gut an, dass sie im Umkreis von zwanzig Metern Einzelheiten erkennen konnte. Was dahinter lag, ließ sich wenigstens umrisshaft sehen. Bewusst verzichtete Raimanja auf den Gebrauch des Handscheinwerfers. Der helle Lichtkegel wäre der Besatzung eines Gleiters, der zufällig dieses Gebiet überfliegen konnte, sicher nicht entgangen, und wenn die Akonen erst wussten, wo sie sich aufhielt, würden sie sie innerhalb kurzer Zeit wieder einfangen. Nach ungefähr einer halben Tonta entdeckte die Arkonidin in halber Höhe einer rund fünfzehn Meter hohen Mauer aus Basaltstempeln eine Nische, die dadurch entstanden war, dass sich einige Basaltstempel verschoben hatten. Sie kletterte hinauf, leuchtete kurz in die Nische, sah, dass sich kein Tier hier eingenistet hatte, und kroch erleichtert hinein. Hier wollte sie übernachten. Nachdem sie ihren Durst aus der Wasserflasche gestillt und ein paar Konzentratriegel gegessen hatte, streckte sie
sich aus, sicherte den Impulsstrahler und schloss die Augen. Sie war so erschöpft, dass der Schlaf schon im nächsten Moment über sie kam.
Als Raimanja erwachte, wusste sie zuerst gar nicht, wo sie sich befand. Sie hörte klatschende und pfeifende Geräusche und nahm an, dass diese Geräusche sie geweckt hatten. Als sie sich aufrichten wollte, stieß sie mit der rechten Hand versehentlich an den Impulsstrahler. In einem Reflex griff sie nach der fortrutschenden Waffe und konnte sie gerade noch festhalten, bevor sie in die Tiefe stürzte. Erst dadurch wurde sie sich wieder bewusst, dass sie sich in der Nische einer uralten Mauer aus Basaltstempeln aufhielt, dass sie hier geschlafen hatte und dass die Mauer zu den Überresten einer ehemals großen Stadt gehörte. Raimanja verharrte auf den Knien und lauschte auf das Klatschen und Pfeifen. Plötzlich tauchte ein Schemen in ihrem Blickfeld auf. Sie sah ihn nur, weil er die tief stehende Sichel des Mondes passierte und sich deshalb für einen Augenblick scharf und deutlich abhob. Ein Drache, durchfuhr es sie. Das Wesen war rasch wieder von der Dunkelheit verschlungen. Aber wenig später tauchte ein zweites auf – und diesmal konnte Raimanja deutlich den echsenhaften Rumpf und die riesigen lederartigen Flughäute sehen, die den Rumpf mit kraftvollen Bewegungen durch die Luft trugen. Dabei entstanden die klatschenden Geräusche, die sie geweckt hatten. Wieder ertönte ein Pfiff, wurde von einem anderen Pfiff beantwortet. Raimanja zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein Drache etwa zwanzig Meter an ihrem Versteck vorbeiflog und sich auf der Krone der gegenüberliegenden Mauer niederließ. Die Flughäute falteten sich zusammen; der auf einem mannslangen kräftigen Hals sitzende Schädel vollführte ruckartige Drehbewegungen. Dann
gellte ein durchdringender Pfiff auf. Kurz darauf vernahm die Arkonidin wieder das Klatschen von Flughäuten, diesmal aus noch größerer Nähe. Ein Luftschwall kam von oben, eine schwache Erschütterung ging durch die Mauer. Sand rieselte an Raimanjas Gesicht vorbei. Ein Drache musste auf der Krone »ihrer« Mauer gelandet sein und stieß den anscheinend obligatorischen Pfiff aus, der aus solcher Nähe beinahe ohrenbetäubend war. Raimanja fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Die Drachen schienen die uralte Stadt zu ihrem nächtlichen Sammelplatz erkoren zu haben. Es ließ sich nicht voraussehen, wie sie reagieren würden, falls sie sie entdeckten. Waren sie Fleischfresser, würden sie sie als willkommene Beute betrachten. Doch selbst wenn die Drachen Vegetarier waren, mussten sie sie nicht als Störenfried ansehen und würden sie nicht deshalb über sie herfallen? Die Arkonidin beschloss, sich ruhig zu verhalten und darauf zu hoffen, dass die Tiere sie nicht entdeckten. Immer mehr Pfiffe ertönten. Die klatschenden Fluggeräusche schwollen an und verebbten allmählich. Raimanja gewann den Eindruck, als hätte sich auf jeder Mauer ein Drache niedergelassen. Die folgenden Pfiffe waren leiser und differenzierter. Sie klangen beinahe so, als unterhielten sich die Drachen auf diese Weise. Raimanja wurde neugierig. Sie kroch auf Händen und Knien bis zum äußersten Rand der Nische und streckte den Kopf aus der Deckung. Im nächsten Augenblick ertönte ein gellender Pfiff, der lauter war als alle anderen Pfiffe, die sie bisher gehört hatte. Schlagartig verstummten alle Geräusche. Die Arkonidin wusste, dass sie entdeckt worden war. Sie wusste auch, dass sie sich so tief wie möglich in die Nische zurückziehen sollte. Doch sie konnte es einfach nicht, weil sie zu stolz dazu war. So kniete sie sich hin, entsicherte den Impulsstrahler und wartete auf den Angriff der Drachen. Als die Zeit verstrich und nichts geschah, regte sich in Raimanja die Hoffnung, dass sie dieses Abenteuer
wider Erwarten doch überleben könnte. Anscheinend waren die Drachen alles andere als angriffslustig. Sie schienen aber auch nicht erbaut darüber zu sein, dass sie nicht unter sich waren. Lange Zeit blieb es still, bis ein Hinüber und Herüber an Pfeifsignalen einsetzte und sich die ersten Drachen in die Luft schwangen. Sie ließen sich einfach von ihrer Mauerkrone nach unten fallen, flatterten dabei heftig mit den Flughäuten und erreichten auf halber Mauerhöhe ausreichend Geschwindigkeit, um Höhe zu gewinnen. Doch die Drachen hatten, offenbar infolge ihrer Ratlosigkeit, wie sie auf die Störung reagieren sollten, zu lange gewartet. Noch war nicht mehr als ein Viertel ihrer Zahl gestartet, als die Sonne aufging und die Stadt mit Helligkeit überschüttete. Und mit der Helligkeit kam der Gleiter. Er tauchte so plötzlich über einer gestarteten Gruppe auf, dass die Drachen völlig überrascht wurden. Sie setzten sofort zu einem Ausweichmanöver an, aber es sah so aus, als würde sich eine Kollision nicht vermeiden lassen – es sei denn, der Gleiterpilot reagierte folgerichtig. Aber die Reaktion der Gleiterbesatzung fiel ganz anders aus, als Raimanja sich hätte vorstellen können. Drei Akonen reckten sich über dem Rand des offenen Fahrzeugs, hielten Strahlenkarabiner in den Händen und eröffneten ein mörderisches Dauerfeuer auf die Drachen. Die Energiestrahlen schnitten durch Flughäute, fauchten über grüngoldene Schuppenhaut, schmolzen gepanzerte Rückenkämme und entluden sich krachend in Echsenschädeln, deren Mäuler weit aufgerissen waren. Überall stürzten sich nunmehr die Drachen von den Mauersitzen, kämpften sich mit klatschenden Flughäuten kreischend und pfeifend in die Lüfte und versuchten, den Ort zu verlassen, der ihnen zum Verderben zu werden drohte. Keiner versuchte, den Gleiter anzugreifen. Die Besatzung aber schien von einem Blutrausch gepackt worden zu sein, feuerte wild mit den Strahlenkarabinern auf die startenden
Drachen, die entweder sofort starben oder verletzt abstürzten und sich zuckend am Boden wanden. Raimanja sah dem Gemetzel fassungslos zu. Das Entsetzen über die schreckliche Tat lähmte sie. Ohne darüber nachzudenken, welche Folgen die Handlungsweise für sie haben konnte, legte sie den Impulsstrahler an, bewegte ihn, bis der Gleiter genau im Zielkreuz des Visiers war, schaltete auf Dauerfeuer und zog den Abzug durch. Der auf Nadeldünne komprimierte Strahl jagte aus der Mündung, wanderte über den Gleiter, fraß sich durch, wanderte wieder zurück und zerhämmerte und zerfetzte das Fahrzeug innerhalb weniger Augenblicke zu einem glühenden Trümmerhaufen, der jaulend und kreischend abstürzte und seine Bestandteile über eine Mauer verstreute. Schwer atmend steckte Raimanja die Waffe fort. Allmählich lichtete sich der Nebel wieder, der in ihrem Gehirn gewesen war, während sie ununterbrochen auf den akonischen Gleiter geschossen und sogar noch auf die herabregnenden Trümmer gehalten hatte. Als ihr bewusst wurde, dass sie nicht nur einen Gleiter abgeschossen hatte, sondern dass die Besatzung dabei umgekommen war, zitterte sie am ganzen Körper. Es war nicht die Furcht vor Bestrafung, die ihr sicher war, wenn die Akonen sie wieder einfingen. Es war die Erkenntnis, dass es grundsätzlich ein wahnwitziges Verbrechen war, wenn intelligente Lebewesen andere intelligente Lebewesen töteten. Sicher, der Große Befreiungskrieg war erst seit zwölf Arkonjahren vorbei, und in ihm hatte die Forderung gegolten, so viele Feinde wie möglich zu töten, so viel feindliches Machtpotenzial wie nur möglich zu zerstören und so viele Planeten, auf denen der Feind eventuell Fuß fassen konnte, wie nur möglich zu verwüsten. Doch diese Forderung war der Furcht um die eigene Existenz entsprungen und deshalb noch verständlich. Raimanja dagegen hatte weder getötet, um ihr eigenes Leben zu retten noch das anderer Intelligenzen, sondern
aus bloßem Abscheu. Ihr war übel, als sie mit weichen Knien die Mauer hinabstieg. Sie bemühte sich, nicht auf die verstreuten Überreste des Gleiters zu sehen. Über ihr flatterten die letzten Drachen davon, schwangen sich über die Talhänge und tauchten danach sofort wieder hinab. Raimanja wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste. Die Energieentladungen waren sicher vom Raumschiff geortet worden. Außerdem musste der Ausfall der Funkverbindung mit der Gleiterbesatzung inzwischen aufgefallen sein. In Kürze war mit dem Auftauchen anderer Gleiter zu rechnen. Die Arkonidin hatte vorgehabt, das Tal durch den gleichen Spalt zu verlassen, durch den sie es betreten hatte. Doch in der Aufregung musste sie die falsche Richtung gewählt haben. Jedenfalls stand sie plötzlich vor einer geschlossenen unübersteigbaren Felswand. Und im nächsten Moment hörte sie das anschwellende Summen von Gleitern, die sich dem Tal näherten. Verzweifelt blickte sie nach links und rechts. Der untere Teil des Hanges war von Buschwerk überwuchert. Notfalls musste sie sich dort verstecken. Aber sie wusste, dass sie sich nicht lange verbergen konnte, sobald die Verfolger erst einmal ungefähr wussten, wo sie sich befand. Dann konnten sie nämlich mit Detektoren nach der schwachen Streustrahlung suchen, die der Mikroreaktor des Impulsstrahlers emittierte. Plötzlich entdeckte sie einen Drachen, der sich im Gebüsch bewegte. Es war ein ziemlich kleines Exemplar, wahrscheinlich ein junges Tier – und es schleifte eine Flughaut nach, war also verwundet. Impulsiv ging Raimanja zu dem Drachen, wollte ihm helfen. Aber der Drache fauchte und zischte warnend, arbeitete sich mit verzweifelter Anstrengung tiefer ins Gebüsch – und war verschwunden, als hätte ihn der Boden verschluckt. Die Arkonidin runzelte die Stirn. Als sie begriff, was geschehen war, eilte sie zum Gebüsch und teilte die Zweige mit den Händen,
arbeitete sich hinein. Das Summen der Gleiter schwoll weiter an – und blieb ungefähr konstant. Das bedeutete, dass die Gleiter das Tal erreicht hatten und in großer Höhe ihre Kreise zogen und beobachteten. Raimanja blieb an einer Schlingpflanze hängen und weinte fast, weil sie sich nicht gleich losreißen konnte. Wütend trat und schlug sie um sich, stürzte und schimpfte, weil ihr der Impulsstrahler aus der Hand fiel. Sie raffte ihn wieder auf, kroch auf allen vieren weiter und entdeckte plötzlich, worauf sie aus dem Verschwinden des Drachenjungen geschlossen hatte – den Eingang einer Höhle. Raimanja verließ sich darauf, dass sich das Drachenjunge viel zu sehr fürchtete, um sie anzugreifen. Sie kroch weiter, in die Höhle hinein. Der Gang war höchstens anderthalb Meter hoch und etwa zwei Meter breit. Früher schien er höher gewesen zu sein, Ablagerungen unter den Händen und Knien bewiesen der Frau, dass der Gang im Verlauf vieler Jahrhunderte – ja vielleicht sogar Jahrtausende – von hereingespültem Geröll und angeschwemmtem Sand aufgefüllt worden war. Nach einer Weile schaltete Raimanja den Handscheinwerfer ein, richtete sich auf und blickte sich um. Der Gang führte in sanfter Neigung abwärts. Wie weit er reichte, konnte Raimanja nicht ahnen. Aber der junge Drache war nicht mehr zu sehen, also musste die Höhle noch ein ganzes Stück tiefer in den Berg reichen. Raimanja seufzte, sicherte den Impulsstrahler, hängte sich die Waffe am Riemen über die Schulter und marschierte zügig los. Sie hoffte, dass die Höhle einen zweiten Ausbeziehungsweise Eingang hatte und dass sie ihn durch diesen Gang erreichen würde.
19. Ich war ein Teil des Wesens geworden, das sich ANTE nannte. Deshalb wusste ich mehr über ANTE, als ein Außenstehender je hätte erfahren können. Eigentlich war ANTE kein typischer Vertreter seines Volkes. Er war zwar auf die Art und Weise entstanden, die bei seinem Volk als die natürliche Art und Weise galt, aber infolge bestimmter Manipulationen hatte er eine starke Ausprägung aller Fähigkeiten mitbekommen, die bei seinem Volk als Überlebensfähigkeiten gelten oder galten. Als sein Volk ging, wurde er in dem Kubus energetisch konserviert und zurückgelassen, damit eventuelle Versprengte seines Volkes bei der Heimkehr jemanden fanden, der ihnen wirksam zu helfen vermochte. Aber der Zustand der energetischen Konservierung hatte wohl zu lange gedauert, länger jedenfalls, als ganz bestimmte Stoffe, die zur Steuerung des Konservierungszustands dienten, stabil blieben. ANTE hatte die Fähigkeit verloren, den Konservierungswürfel eigenständig zu verlassen. Als er Kontakt mit meinem Bewusstsein bekam, erkannte er, dass er diese Schwierigkeit überwinden konnte, wenn er seine Geisteskraft mit der Hilfe meiner sogenannten Trägerwelle auflud. Das war geschehen. Zuerst erschrocken, dann verwundert hatte ich begriffen, dass sich ANTE von einem Arkoniden mindestens so stark unterschied wie ein Raumschiff von einer Regenwolke. Sein Metabolismus ließ sich mit keinem anderen Metabolismus vergleichen, der mir je begegnet war. Er schien die Macht zu haben, kosmische Energie auf sich zu lenken, in sich zu konzentrieren und sie für seine Zwecke auszunutzen. Und doch war er ein denkendes, fühlendes und mitfühlendes Wesen. Er hatte Raimanja vor dem Zyklopen gerettet und ihr weitere Hilfe angeboten. Es war nicht seine Schuld, dass Raimanja ihn zurückgewiesen hatte. Schuld war der ausgeprägte Eigensinn dieser Frau, der sicher durch ihre Schwangerschaft noch
verstärkt wurde. Aber was meinte ANTE mit Amalek? Was meinte er mit den Schwarzen und den Geflügelten? Sprach er von der subplanetarischen Stadt, in die sich Karmina, Ra und ich vor einiger Zeit auf der Flucht vor den Goltein-Heilern uns verirrt hatten? Meine Gedanken führten mich irre, denn ich dachte an etwas, das weit in der Relativzukunft lag. Dennoch formulierte ich meine Gedanken gemäß der subjektiven Erfahrung, dass diese Zukunft für mich schon geschehen war. Aber jetzt, in der Zeit kurz nach dem Großen Befreiungskrieg meines Volkes, lag diese Episode viele tausend Jahre in der Zukunft. Wenn ich die Stadt, die ich viele tausend Jahre später finden würde, hier und heute sehen konnte, musste sie viel besser erhalten sein als bei meinem ersten Besuch. Vielleicht fand ich nun heraus, wer sie gebaut hatte. Doch alle meine diesbezüglichen Gedanken brachen jäh ab, als mit ANTE – und damit auch mit mir – etwas Unbegreifliches geschah. Eben noch hatten wir in der riesigen Halle Raimanja gegenübergestanden – und im nächsten Augenblick befanden wir uns in einer Art wallendem bleichen Nebel. Doch da ich so eng mit ANTE verbunden war, war das für mich nicht lange unbegreiflich. Plötzlich wusste ich, dass das, was ich als wallenden bleichen Nebel sah, die gleiche Halle war – allerdings so, wie sie sich dem Auge auf einem anderen Energieniveau darbot. Unseren Sinnen erschloss sich immer nur ein arg begrenzter Ausschnitt des Seins. Einen weiteren Ausschnitt machten wir uns mit der Hilfe von technischen Instrumenten zugänglich. Dennoch blieb uns der größte Teil aller Phänomene des Universums verschlossen. Vielfach erhielten wir niemals eine Ahnung davon – und wenn, fehlten uns die Möglichkeiten, solchen Ahnungen auf den Grund zu gehen. Ich wusste nicht, ob wir in ferner Zukunft mit technischen Mitteln die verschiedenen Energieniveaus wechseln konnten, aber ich wusste – durch ANTE! –, dass es sie gab. Sie ergaben sich aus der Tatsache, dass – vereinfachend ausgedrückt – die hyperphysikalische Ladung der Atome unterschiedlich war, aber doch meist ein
bestimmtes Niveau hielt, wodurch es zum dauerhaften Bestand eines Energiegehalts mit der größten Wahrscheinlichkeit des natürlichen Auftretens kam – die uns vertraute Existenzebene. Oberhalb und unterhalb dieses »normalen« Energieniveaus traten jedoch mehr oder weniger massive Abweichungen auf, in denen sich eine unbekannte und sicher schwankende Anzahl von andere Existenzebenen herauskristallisierte. Diese verschiedenen Existenzebenen hatten nichts mit Zeitreisen oder Paralleluniversen gemein. Wer sie erreichen wollte, brauchte dabei weder durch die Zeit noch durch den Raum zu reisen; er musste lediglich seinen Energiegehalt verändern – beziehungsweise die von irgendwoher projizierten hyperphysikalischen Ladungen, aus denen sich alle »materiellen« Gebilde, also auch wir, zusammensetzten. ANTE war dazu in der Lage, ohne Maschinen benutzen zu müssen. Ich fragte mich, wie er von einer anderen Existenzebene aus verfolgen wollte, was mit Raimanja geschah, bis ich spürte, dass ich dabei der entscheidende Faktor war. Der Bann, der mich zwang, meine Aufmerksamkeit auf Raimanja zu richten, war so stark, dass er eine Art Fenster zwischen der normalen Existenzebene und der, in die ANTE sich zurückgezogen hatte, aufbaute, einen Strom von Atomen und Quanten, die ihre Hyperladung sprunghaft veränderten und dadurch auswertbare Informationen von Raimanjas Ebene in unsere Ebene brachten. Und ich sah, dass sich die Ereignisse auf Perpandron zuspitzten…
Raimanja blieb stehen und schaltete den Handscheinwerfer aus. Mit angespannten Sinnen schaute und lauschte sie zurück. Ihr war gewesen, als hätte sie weit hinter sich das Knirschen von Stiefelsohlen auf körnigem Boden und Geröll gehört. Es war möglich, dass die Akonen den Höhleneingang ebenfalls entdeckt hatten und ihr gefolgt waren. Aber sosehr die Frau ihre Sinne auch öffnete, sie hörte keine Schritte von Verfolgern und sah kein
Licht. Sie schaltete den Handscheinwerfer wieder ein und ging weiter. Nach einiger Zeit erreichte sie kahlen Felsboden. Weiter war das hereingespülte Geröll nicht gekommen. Raimanja sah, dass der Felsboden so glatt war, als sei er künstlich planiert worden. Als sie die kaum sichtbaren Querrillen entdeckte, wurde ihre Vermutung, der Höhlengang sei vor langer Zeit von intelligenten Wesen angelegt worden, zur Gewissheit. Ihre Zuversicht erhöhte sich, denn war der Höhlengang von intelligenten Wesen angelegt worden, musste er zu einem Ziel führen – und dort, so hoffte die Arkonidin, würde sie sicher einen Weg zur Oberfläche finden. Doch als Tontas verstrichen und der Gang unverändert mit schwachem Gefälle weiterführte, kamen Raimanja wieder Zweifel, ob sie auf diesem Wege jemals wieder die Oberfläche erreichen würde. Sie wusste schließlich nicht, zu welchem Zweck dieser Gang angelegt wurde. Vielleicht stellte er eine Verbindung zwischen zwei Kontinenten dar und war früher mit schnellen Fahrzeugen befahren worden. Eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern zu Fuß zu gehen, mit nur einer halben Rasche Wasser und Konzentraten für rund zehn Tage, war aber unmöglich. Als Raimanja durch einen Blick auf ihr Armband feststellte, dass sie sich seit rund sieben Tontas durch den Gang bewegte, beschloss sie, eine Rast einzulegen und danach umzukehren. Ein knapp kniehoher Steinwürfel, der an der rechten Gangwand lag, lud sie förmlich ein, sich hinzusetzen. Ächzend ließ sich Raimanja nieder – und prallte im nächsten Moment sehr unsanft mit dem Gesäß auf den harten Felsboden. Schmerz und Zorn trieben ihr Tränen in die Augen. Sie rappelte sich auf und entsicherte den Impulsstrahler, weil sie sich für den Schmerz impulsiv rächen wollte. Als ihr die Unvernunft ihrer Handlungsweise klar wurde, sicherte sie beschämt die Waffe wieder. Sie musterte die Stelle, an der der Steinwürfel gelegen hatte. Er war verschwunden, aber nicht spurlos: Auf dem Boden zeichnete
sich ein Quadrat ab – Fugen. Der Würfel war demnach im Boden versunken, seine Oberfläche befand sich nun auf gleichem Niveau wie der Gangboden. Raimanja runzelte die Stirn. Sie war davon überzeugt, dass der Steinwürfel nicht grundlos versenkbar war. Etwas musste damit bezweckt worden sein. Noch während die Arkonidin überlegte, ertönte ein dumpfes Rollen. Es schien von rechts zu kommen, und als Raimanja den Kopf in diese Richtung wandte, sah sie, wie sich ein Teil der Felswand in die übrige Wand zurückzog und nach links verschob. Bald hatte sich eine drei mal vier Meter große Öffnung gebildet. Raimanja leuchtete hindurch und erblickte auf der anderen Seite eine ebene rote Felsplatte und dahinter einen runden See, dessen Wasser so klar war, dass sie bis auf den Grund sehen konnte. Unwillkürlich kaute Raimanja auf ihrer Unterlippe, während sie mit einem Entschluss rang. Einerseits lockte das klare Wasser, und die Existenz der Geheimtür verriet, dass die Bewohner dieser Anlage nicht wollten, dass Unbefugte die Verbindung zwischen Gang und See entdeckten – andererseits wollte Raimanja die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es sich um eine Falle handelte, in die die Erbauer eventuelle Verfolger zu locken und auszuschalten pflegten. Die Entscheidung wurde Raimanja abgenommen, als irgendwo weit hinter ihr Geräusche ertönten, wie sie entstanden, wenn jemand stolperte und stürzte. Gleich darauf erscholl eine halblaute Verwünschung, gefolgt von einem scharf geflüsterten Befehl. Also waren die Akonen doch hinter ihr her – und sie bemühten sich offensichtlich, so leise zu sein, dass sich Raimanja sicher fühlte. Die Arkonidin lächelte spöttisch. Jetzt hatten sich die Akonen doch verraten. Abermals ertönte ein dumpfes Rollen. Raimanja sah, dass sich die Türplatte wieder zu schließen begann. Sie presste die Lippen zusammen und sprang hinüber. Mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete sie, wie die Platte die Öffnung völlig verschloss. Sie bewegte sich dabei auf Steinkugeln,
die in einem Wasserbett lagen. Als die Öffnung endgültig geschlossen war, ertönte ein gedämpftes scharfes Knacken. Raimanja nahm an, dass es das Geräusch war, mit dem der Steinwürfel auf der anderen Seite wieder aus dem Boden sprang. »Hoffentlich kommt keiner der Akonen auf den Gedanken, ihn als Sitzgelegenheit zu benutzen«, sagte die Arkonidin. Sie hörte ein Klatschen und Schleifen und fuhr hemm. Der Lichtkegel des Handscheinwerfers fingerte über die Oberfläche des Höhlensees und verharrte auf einer schwachen Wellenbewegung, die sich in Richtung Seemitte ausbreitete. Die Arkonidin hob den Scheinwerfer, aber das Licht reichte nicht bis zum gegenüberliegenden Ufer, von dem aus die Wellenbewegung ihren Anfang genommen haben musste. Raimanja zögerte nur kurz. Sie ahnte, wodurch die Wellenbewegung ausgelöst worden war, und wenn ihre Ahnung nicht trog, brauchte sie sich nicht zu fürchten. Sie wandte sich nach links und ging am roten Felsenufer entlang. Der Lichtkegel wanderte vor ihr her, schwenkte einmal nach links, dann nach rechts. Raimanjas Schritte wurden von den Wänden des Felsendoms als Echos reflektiert. Doch Schritte und Echos blieben zu Raimanjas Verwunderung die einzigen Geräusche. Das Klatschen und Schleifen wiederholte sich nicht. Als der Lichtkegel auf eine reglose Gestalt und grüngoldene Schuppenhaut fiel, blieb Raimanja abrupt stehen. Der junge Drache lag halb im klaren Wasser. Das vierbeinige Wesen musste seine Wunden gekühlt haben und war bewusstlos geworden. Doch glücklicherweise war sein Kopf mit den Atemöffnungen auf festen Boden gesunken, sonst wäre er ertrunken. Die Arkonidin riss sich aus ihrer Erstarrung, eilte zu dem Her und hob das Lid eines Auges an. Das Auge verriet tiefe Bewusstlosigkeit, aber auch, dass das Tier lebte. Raimanja versuchte, den Drachen ganz aufs Trockene zu ziehen. Es war mühsam, das Tier wog ungefähr anderthalbmal so viel wie sie.
Aber schließlich schaffte sie es doch und untersuchte die verletzte Flughaut. Raimanja stellte fest, dass die verbrannten Partien ohne medikamentöse Unterstützung der körperlichen Regeneration nur unter starker Narbenbildung verheilen würden, sodass der Drache wahrscheinlich niemals mehr fliegen konnte. Raimanja hätte ihre Flucht niemals gewagt, wäre es ihr nicht gelungen, eine komplette medizinische Einsatzausrüstung mitzunehmen. Dazu gehörte die bei Raumfahrern obligatorische Medobox, deren Mikropositronik in der Lage war, Diagnosen zu stellen und die entsprechende Therapie auszuwählen. Ein konzentrierter Vorrat an hochwirksamen Stoffen, die durch zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten in ihrer Wirkung außerordentlich vielseitig waren, befand sich ebenfalls in dem flachen kastenförmigen Gerät. Raimanja setzte die Box mit der Sensorseite auf den schlanken Hals des Drachenjungen. Es dauerte, bedingt durch den andersartigen Metabolismus des Drachen, etwas länger als bei einem Akonen oder Arkoniden, bis die Positronik die Diagnose gestellt hatte. Aber schließlich fuhr die Medobox drei dünne Tentakelarme aus, die in den Düsenköpfen von Hochdruckinjektionspistolen ausliefen. Es zischte, die Tentakelarme zogen sich zurück. Die Arkonidin folgte der Medobox-Anzeige und sprühte aus einer flachen Dose Heilplasma auf die schweren Brandwunden. Sie war gerade fertig, als der muskulöse Schwanz des Tieres hochzuckte und ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzte. Raimanja spürte, wie sie durch die Wucht des Schlages angehoben und fortgeschleudert wurde. Sie schmeckte Blut im Mund, sah Sterne vor den Augen tanzen und hörte ein lautes Klatschen. Dann erlosch ihr Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf der rechten Seite. Sie
öffnete die Augen – und schloss sie geblendet wieder. Also haben mich die Akonen doch gefangen. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Gesichtsmuskeln gehorchten ihr nicht. Die Mundpartie fühlte sich stark geschwollen an; die Lippen waren aufgeplatzt. Das erinnerte Raimanja daran, dass der Schwanz des Drachen sie ins Gesicht getroffen hatte – zweifellos eine unbewusste Reflexbewegung des zu sich kommenden Drachenjungen. Aber Raimanja erinnerte sich auch daran, dass sie in den See gestürzt war. Das hatte sie noch erfasst, bevor sie das Bewusstsein verlor. Warum war sie nicht ertrunken? Waren die Akonen so schnell gekommen, dass sie sie vor dem Ertrinken bewahren konnten? Sie unterbrach ihre Überlegungen, als sie ein schleifendes Geräusch hörte. Hinter der grellen Helligkeit der Lampe bewegte sich etwas. Ein ledriger Hautlappen streifte über die Lampe und riss sie um, sodass der Lichtkegel nun an Raimanja vorbeiging. Die Arkonidin erkannte verblüfft, dass sie anscheinend mit dem Drachenjungen allein war. Demnach musste das Tier sie aus dem Wasser gezogen und damit vor dem Ertrinken gerettet haben – und es hatte sie auf die Seite gelegt, damit sie während ihrer Ohnmacht nicht an der eigenen Zunge erstickte. Eine erstaunliche Verhaltensweise für ein Tier. Konnte sich ein Tier überhaupt so folgerichtig verhalten, wie es das Drachenjunge getan hatte? Der Drache war zur Bewegungslosigkeit erstarrt, als die Lampe umfiel. Jetzt rührte er sich wieder. Der Hals streckte sich; der Kopf näherte sich vorsichtig der Frau. Gelbe Augen mit smaragdfarbener Iris musterten Raimanja. »Danke, Vritra.« Sie benutzte das arkonidische Wort für »Drache«. »Ich danke dir.« Der Drache schnaubte leise, stieß einen halblauten Pfiff aus, bewegte die gespaltene Zunge im Maul und sagte undeutlich auf Lemu, einer auf Artefakten gefundenen alten galaktischen Sprache, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Akona der Akonen aufwies: »Du hast mir geholfen, ich habe dir geholfen. Es schmerzt mich,
dass ich dich schlug. Ich wollte es nicht.« Raimanja schluckte. Sie war dabei gewesen, dem Drachenjungen Intelligenz zuzusprechen. Aber dass er sogar in der Lage war, sich sprachlich auszudrücken und mit ihr zu verständigen, hätte sie nicht erwartet. Allerdings hätten die meisten Arkoniden nicht verstanden, was der Drache sagte. Lemu war eine tote Sprache, die nur in den herrschenden Kreisen gesprochen wurde, um sich über die Masse herauszuheben. Raimanja beherrschte sie nur unvollkommen, aber es reichte, um die Worte des Drachen zu verstehen. »Ich weiß«, sagte sie in Lemu. »Wollen wir Freunde sein? Und hast du einen eigenen Namen?« »Ja, gern. Ich habe einen Namen. Er lautet Xypldlmaklollmnt. Mit deiner verwachsenen Zunge wirst du ihn nur schwer aussprechen können. Deshalb nenne mich weiter Vritra, wenn du möchtest.« »Einverstanden. Und ich bin Raimanja. Kennst du dich hier aus, Vritra?« »Ich war schon oft hier. Hinter dem Höhlensee beginnt ein Gang, durch den man zur Halle der Blinden Spiegel kommt. Es sind drei Spiegel, von denen einer manchmal zum Weg nach Amalek wird.« »Amalek!«, entfuhr es Raimanja. »Warum will mich jeder nach Amalek schicken? Was ist dieses Amalek eigentlich?« »Ich schicke dich nicht nach Amalek. Wir mögen Amalek nicht, denn es ist eine Stätte, an der sich in alten Zeiten die Gejagten verkrochen, um von der Schlange, die ihnen durch die Himmel folgte, nicht gefunden und vernichtet zu werden. Die Gejagten sollen seltsame Wesen gewesen sein, klug und voller Bosheit. Sie bauten sich eine Stätte, die so in sich gekrümmt ist, wie es ihr Charakter war. Als sie starben, blieben ihre Diener zurück, Spiegelbild ihrer Herren: Eine Hälfte gilt als Beschützer von friedlichen Besuchern, die andere Hälfte versucht, Besucher in
Fallen zu locken und umzubringen.« »Eigenartig. Wenn das so ist, warum versuchte ANTE, mich nach Amalek zu schicken?« »ANTE – das Feuerwesen?« »Ja, es beschützte mich vor einem Zyklopen.« »Aber ANTE, das Feuerwesen, schläft seit Äonen. Es wartet, dass Leute seines Volkes dereinst zurückkehren. Tritt das ein, soll ANTE sie angreifen, um ihnen klarzumachen, dass sie hier keinen faulen Frieden finden werden.« Raimanja seufzte. »Eine verschrobene Mentalität haben diese ANTE-Leute. Aber vielleicht ist das alles relativ. Vielleicht würden sie die arkonidische Mentalität als verschroben bezeichnen.« »Warum sich darüber Gedanken machen, Raimanja. Ich habe Hunger. Kommst du mit in die Halle der Blinden Spiegel?« »Gibt es dort etwas zu essen?« »Manchmal findet sich etwas dort. Aber trink zuerst von dem Wasser des Sees. Es ist gut und belebend.« Raimanja befolgte den Rat. Sie leerte ihre Wasserflasche, füllte sie mit dem klaren Wasser des Sees und trank. Danach ließ sie sich von dem Drachenjungen führen, leuchtete den Weg mit dem Handscheinwerfer aus und hielt sich an Vritras Rückenkamm fest. Die Brandwunden der Flughaut waren von einem milchigen Film überzogen, ein verlässliches Anzeichen dafür, dass der Heilungsprozess mit Macht eingesetzt hatte und zügig voranschritt. Wahrscheinlich würde Vritra in zwei Tagen wieder fliegen können. Raimanja fühlte sich ungewöhnlich frisch und überlegte, ob das tatsächlich auf das Seewasser zurückzuführen war, das sie getrunken hatte. Möglicherweise enthielt es eine Spur Arsen, das in geringer Dosis sehr belebend sein sollte. Die Arkonidin hatte von einem Chemiker gehört, der sich jahrzehntelang mit Arsen gedopt hatte. Da sein Metabolismus sich mit der Zeit immer
stärker daran gewöhnte, reagierte er bald nicht mehr auf kleinste Dosen, so dass der Mann die Dosierung allmählich immer mehr erhöhen musste. Als er eines Tages von einer Schlange gebissen wurde, starb diese innerhalb von anderthalb Zentitontas – an Arsenvergiftung. Raimanja wunderte sich, dass sie an solche Nebensächlichkeiten dachte, während sie mit einem Drachen durch die Unterwelt eines fremden und unheimlichen Planeten wanderte, auf der Flucht vor Akonen, die ihr das Kind entfremden wollten, und im Ungewissen über das Schicksal ihres geliebten Caycon, dem die Flucht mit einem Beiboot des Akonenschiffs gelungen, der aber dabei möglicherweise gestorben war…
Vielleicht war die Zeit, die ich durch die Schuld von Akon-Akon anscheinend sinnlos vertan hatte, im Endeffekt doch nicht nutzlos vergeudet. Ich hielt es für einen Gewinn, dass ich durch die Beobachtung Raimanjas mehr über Perpandron erfuhr. In meiner Jetztzeit hatte ich über diesen Planeten nur gewusst, dass die Goltein-Heiler ihn als ihren Behandlungsplaneten benutzten. Ich hatte auch die Legende von Caycon und Raimanja gekannt, mich allerdings früher nie dafür interessiert, da ich sie für ein romantisches Märchen hielt. Inzwischen wusste ich viel mehr, war sogar in der subplanetarischen Stadt gewesen, die ANTE Amalek genannt hatte. Jetzt erfuhr ich, dass es auf Perpandron intelligente Drachenwesen gegeben hatte, die sich offenkundig in den subplanetarischen Anlagen einer längst vergangenen Zivilisation ausgezeichnet auskannten und die vorhandene Technik folgerichtig benutzten, sofern sie noch funktionierte. Außerdem hatte ich durch Vritra erfahren, dass die Stadt, in die ich in der Relativzukunft verschlagen worden war, nicht von dem gleichen Volk erbaut worden war, das die Stadt im Tal bewohnt und vielleicht auch die subplanetarischen Systeme angelegt hatte.
Die »in sich gekrümmte« Stadt war vielmehr von Lebewesen erbaut worden, die durch den Weltraum geflohen waren, um nicht von einer mysteriösen Schlange gefunden und vernichtet zu werden. Wahrscheinlich waren die Flüchtlinge gescheiterte Revolutionäre oder einfach nur Verbrecher gewesen, deren Denken nicht mehr in normalen Bahnen verlaufen war und die sich eine Zufluchtsstätte geschaffen hatten, die ihrer krankhaften Psyche entsprach: kugelförmig, in sich abgeschlossen, mit gravomechanischer künstlicher Schwerkraft, von Wesen bewacht, von denen die einen alle Fremden umbrachten und die anderen alle Besucher zu beschützen trachteten. Und dann hatte es auf Perpandron irgendwann noch die Wesen gegeben, die mit ANTE verwandt waren. Ein Volk, dem an kämpferischen Auseinandersetzungen so viel gelegen war, dass es sich über einen Abtrünnigen empörte, der im Krieg die Entscheidung suchte und dadurch das Verbrechen beging, den Krieg zu beenden. »Ihr Götter Arkons – es gibt wahrhaftig nichts, was es nicht gibt!«
»Gleich sind wir in der Halle der Blinden Spiegel«, zischelte das Drachenkind. Raimanja blickte sich um. Der Lichtkegel glitt über die glatten Wände eines Korridors mit rechteckigem Querschnitt. Die Luft war warm, aber nicht schwül. Ab und zu kam aus winzigen Spalten und Löchern ein frischer Luftstrom, manchmal rieselte klares Wasser aus haarfeinen Rissen, dort, wo die Seitenwände an die Decke stießen. Das Wasser wusch die Wände sauber, spülte über den Boden und verschwand in kleinen Abflussöffnungen. »Ich glaube, wer diese Anlage erbaute, hat sie weniger für seine Generation als für spätere Generationen erbaut, die nicht über sein eigenes technisches Wissen verfügten und darum nicht in der Lage waren, Reparaturen vorzunehmen.« Raimanja blickte ihren neuen Freund fragend von der Seite an.
Vritra wischte mit dem Schwanz über den Boden. »Vielleicht dachten die Erbauer, ein Leben ohne Anwendung technischer Produktionsmittel sei angenehmer als ein Leben für die Technik. Vielleicht wussten sie nicht, dass man unglücklich ist, wenn man etwas benutzt, dessen Funktionsweise man zwar versteht, weil sie auf primitiven Prinzipien beruht – aber das man nicht weiterentwickeln kann, weil die Basiskenntnisse fehlen.« Raimanja dachte, dass das Drachenjunge ein richtiger kleiner Philosoph war. Sie fragte sich, ob die Drachen von Perpandron die Nachfahren jener Intelligenzen waren, die die subplanetarischen Anlagen und die Stadt im Tal errichtet hatten. Vielleicht hatte dieses Volk auf dem Zenit seiner technologischen oder technokratischen Entwicklung geglaubt, eine Rückkehr zur natürlichen Lebensweise würde ein glücklicheres oder mindestens zufriedeneres Leben garantieren. Verhielt es sich so, hatten sie nicht recht behalten, denn die Drachen waren nicht damit zufrieden, dass sie die einfachen technischen Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren benutzen konnten. Sie hätten gern mehr gewusst, immer mehr, um alles zu begreifen, was ihnen unbegreiflich geblieben war. Als der Lichtkegel auf eine stählern schimmernde Platte fiel, sagte Vritra: »Das ist das Tor zur Halle der Blinden Spiegel.« Erstaunt bemerkte Raimanja, dass das Material des Tores fast genau so aussah wie jenes Metallplastik, das auch die Arkoniden benutzten. Irgendwie schien es nicht zu den Felskorridoren und den auf Steinkugeln gelagerten Türen zu passen. Auch der Öffnungsmechanismus passte nicht dazu. Das Metallplastiktor teilte sich in der Mitte, als Raimanja und Vritra noch drei Schritte davon entfernt waren. Mit schwachem schabenden Geräusch glitten die Torhälften auseinander und gaben den Weg frei. Irgendwo in den Korridorwänden mussten Sensoren verborgen sein, die die Annäherung von Personen registrierten und so den Öffnungsmechanismus einschalteten.
»Vorsichtig!«, warnte das Drachenjunge. »Manchmal ist Böses in der Halle.« Raimanja begriff zwar nicht, was Vritra darunter verstand, doch vorsichtshalber entsicherte sie den Impulsstrahler und hielt ihn so, dass sie jederzeit aus der Hüfte heraus feuern konnte. Sie wollte mit der linken Hand den Scheinwerfer schwenken, um in kürzester Zeit möglichst viel von der Halle auszuleuchten, aber als sie und Vritra durch die Türöffnung schritten, schaltete sich die Beleuchtung ein: Hunderte kugelförmiger Leuchtkörper, die frei in halbkugelförmigen Deckennischen schwebten, wahrscheinlich von Kraftfeldern gehalten. Ein Wesen, groß wie ein Wildrind, aber fast völlig von schwarzer schleierartiger Haut verhüllt, schoss aus der linken hinteren Ecke auf Vritra und Raimanja zu, schleuderte ihnen seine schwarzen Hautschleier entgegen und stieß einen Schrei aus, der Raimanjas Nerven so vibrieren ließ, als seien es hart angeschlagene Instrumentensaiten. Die Arkonidin ächzte erschrocken und überrascht, riss sich aber zusammen. Sie ließ sich auf das rechte Knie sinken, hob den Impulsstrahler an die rechte Wange, ging ins Ziel und zog den Abzug durch. Das Zentrum des Wesens wurde zerrissen; der Rest wirbelte in großen schwarzen Fetzen heran, klatschte hinter Vritra und Raimanja an die Hallenwand und fiel zu Boden. Ein winziges Teil schwarzer Substanz traf Raimanjas Stirn. Die Arkonidin schrie schmerzgepeinigt auf und wischte es mit dem Ärmel weg. »Das brennt fürchterlich.« »Es sieht aus wie eine Brandwunde. Ich glaube, hättest du nicht deine Waffe, wären wir jetzt beide tot.« »Was mag das gewesen sein?« Was von dem Zentrum – oder dem Rumpf – des Wesens übrig war, bot sich den Blicken als unförmiger Klumpen einer schwarzen Masse, die Hitze und Aasgeruch ausstrahlte. Dünne, aber offenkundig sehr kraftvolle peitschenähnliche Muskelschnüre gingen von dem Rumpf aus und
endeten in den Fetzen, die von den schwarzen Hautschleiern des Angreifers übrig geblieben waren. Die Arkonidin schauderte, hielt die Waffe weiterhin schussbereit und schaute nach anderen Angreifern. Doch außer dem einen schien es keine zu geben. Dafür entdeckte Raimanja in der Mitte der riesigen Halle drei gläsern glitzernde und schimmernde doppeltmannshohe Ovale, deren untere Siebtel sich in einer kegelförmigen Bodenvertiefung befanden. Alle drei Ovale drehten sich langsam. »Die Blinden Spiegel«, sagte Vritra ehrfürchtig. »Seltsame Spiegel.« Raimanja näherte sich den Ovalen. Da sich die Gebilde drehten, sah sie nacheinander beide Seiten und bemerkte, dass keine Fläche so glatt war, dass sie den größten Teil der auftreffenden Lichtstrahlen regelmäßig reflektierte. Also waren diese Spiegel gar nicht in der Lage, Gegenstände, die sich vor ihnen befanden, abzubilden. Natürlich, deshalb werden sie ja Blinde Spiegel genannt, überlegte die Arkonidin. Aber warum überhaupt Spiegel? Sie wollte das Drachenjunge fragen, als mit einem der Ovale etwas Unerklärliches geschah. Seine Drehung verlangsamte sich und hörte schließlich ganz auf. Die ebene Fläche, auf die Raimanja blickte, wurde allmählich heller, glatter – und plötzlich sprang der Frau das Bild förmlich in die Augen. Doch es war kein Spiegelbild, sondern das Bild einer künstlichen Welt unter einem künstlichen Himmel…
Die ovale Fläche zeigte mehr, als ein richtiger Spiegel hätte zeigen können. Nach einiger Zeit stummer Betrachtung erkannte Raimanja, dass das, was sie für die Oberfläche einer Kunstwelt gehalten hatte, in Wirklichkeit eine Halle von beachtlicher Größe war. Goldfarbene Helligkeit kam aus keiner lokalisierbaren Quelle, sondern war einfach da, als schöpfe sie ihre Energie aus dem Tanzen der Atome, dem Zusammenspiel von Kernballungen
und den sie umkreisenden Elektronen. Die Wände der Halle verliefen in geschwungenen, teilweise sogar verschnörkelten Linien und ergaben einen Gesamteindruck, der die geistige Gesundheit eines Intelligenzwesens infrage stellen musste, das diese Schwünge und Schnörkel längere Zeit betrachtete. Raimanja blinzelte verwirrt und kniff die Augen zusammen, um die fremdartigen Skulpturen und Statuen, Figuren und Statuetten besser sehen zu können, die in zahllosen Nischen und Erkern oder auf Vorsprüngen standen. An der Decke gab es einen riesigen, von goldener Helligkeit umgebenen Kristall, der meterweit in die Tiefe ragen musste. Langsam ging Raimanja auf diesen Spiegel zu. Vritra eilte an ihr vorbei, stellte sich ihr in den Weg. »Tu es nicht, Raimanja. Es ist nicht gut, in die Schatzkammer von Amalek zu gehen. Über ihr liegt ein gefährlicher Bann, der schon viele tötete, die es wagten.« Die Arkonidin blieb stehen. »Ich verstehe nicht. Das ist doch nur ein Bild. Wie könnte ich in ein Bild hineingehen?« »Du irrst dich. Das ist wirklich ein Spiegelbild. Der Spiegel bildet allerdings etwas ab, das sich nicht hier, sondern woanders befindet. Es hat etwas mit der Projizierung der endlichen Unendlichkeit auf kleinsten Raum zu tun, mit einer Verwindung der Raum-Zeit-Struktur. Ich kann es nicht anders sagen, weil ich es selbst nicht verstehe, sondern nur einmal eine ähnliche Erklärung gehört habe.« »Ich verstehe es auch nicht. Aber ein Experiment könnte uns zeigen, was es mit dieser merkwürdigen Abbildung auf sich hat.« Sie nahm einen Konzentratwürfel aus der Verpackung, schob ihn sich in den Mund und warf die Verpackung gegen die Spiegelfläche. Als sie auftraf – oder eindrang –, blitzte es funkenartig auf. Die Spiegelfläche schien zu verschwimmen, wurde aber sofort wieder klar. Raimanja sah, dass die glitzernde Verpackung nunmehr Teil des Bildes war: Sie flog ein Stück durch
die Halle und fiel zu Boden. »Das begreife ich nicht«, sagte Raimanja fassungslos. »Ist der Spiegel ein Tor, durch das man in eine andere Welt kommen kann?« Sie schluckte, als das Bild im Spiegel verschwamm, verblasste und sich auflöste. Der Vorgang dauerte kaum drei Herzschläge lang, danach sah die Spiegelfläche genauso aus wie die Flächen der anderen beiden Ovale. »Ein Blinder Spiegel ist kein Tor mehr«, sagte Vritra. »Aber wenn sich die Bilder zeigen, wird aus einem Blinden Spiegel ein Tor. Das Böse, das uns angriff, ist durch ein solches Tor gekommen.« Raimanja sah, dass sich ein anderes Oval plötzlich langsamer drehte. Nach kurzer Zeit kam es zum Stillstand – und die der Arkonidin zugewandte Fläche zeigte das Bild einer von dünnem Nebel halb verhüllten kargen Landschaft. Reifbedeckte verkrüppelte Gewächse erhoben sich gleich Gnomen. Mehrere große Tiere mit zottigen Fellen und krummen Hörnern standen dicht beisammen im Hintergrund. Im Vordergrund erschienen Lebewesen, die bisher unsichtbar für Raimanja gewesen waren, weil sie offenbar flach auf dem Boden gelegen hatten. Raimanja runzelte verwundert die Stirn, denn die Lebewesen waren ähnlich gebaut wie Arkoniden, nur gedrungener – und sie trugen Fellkleidung und statt Energiewaffen Speere und Steinschleudern. Diese Wesen huschten hinter Krüppelgewächsen näher an die Tiergruppe heran und blieben unbeweglich stehen. Plötzlich stieß einer der Jäger einen schrillen Pfiff aus. Im nächsten Moment flogen Steine und Speere zu den Tieren. Eins wurde mehrfach getroffen und wankte; die anderen Tiere stoben davon. Die Jäger stürmten schreiend vor, schleuderten weitere Speere auf das verwundete Tier, das zusammenbrach. Langsam verschwamm das Bild, verblasste und löste sich auf. »Das war nicht Perpandron, sondern eine andere Welt«, sagte Raimanja tonlos. »Eine sehr kalte und unfruchtbare Welt. Dort
möchte ich nicht leben.« »Niemand kommt dorthin. Alle Gegenstände, die wir durch diesen Spiegel geworfen haben, verschwanden spurlos.« »Vielleicht ist die Entfernung zu groß. Aber eigentlich ist die Entfernung immer zu groß, denn die Ovale können doch nur als Tor dienen, wenn sie etwas zeigen, was unmittelbar hinter ihnen ist… Aber nein, du hast ja von einer Verwendung der Raum-Zeit-Struktur gesprochen. Also eine Art Transmitter?« Als der dritte Spiegel ebenfalls seine Drehbewegung verlangsamte, richtete sie die Aufmerksamkeit auf ihn. Auch hier wurde die der Frau zugewandte Seite immer glatter, bis sie schließlich so glatt wie die eines Spiegels war. Raimanja sah zuerst nur Dunkelheit – und in ihr einige leuchtende Flecken, die etwas aus der Finsternis rissen, das ein männliches Gesicht sein musste. Es war schmal, edel geschnitten und hatte eine hohe Stirn. Die Farbe der Augen war nicht zu erkennen, da sie grelles Licht reflektierten. Aber das Gesicht war starr, unbeweglich. Und ein Stück darunter fiel Helligkeit auf Hände, die einen seltsamen Kreuzstab mit einer Schlaufe am oberen Ende hielten. Aber die Hände waren viel seltsamer als der Stab. Der sichtbare Teil der Innenflächen war mit Sternsymbolen bedeckt, die auf eine geheimnisvolle Weise von innen heraus leuchteten. Je länger Raimanja hinschaute, desto besser stellten sich ihre Augen auf die Dunkelheit ein, die nicht vollkommen war, wie sie bald erkannte. Sie sah viele weitere Gesichter und Gestalten, die reglos verharrten. Die Gestalten waren nur undeutlich zu sehen, aber die Konturen waren die von Arkoniden. Sie standen anscheinend in einem alten zerfallenen Bauwerk, durch dessen zerstörte Decke bleigraues Dämmerlicht sickerte… »Das zeigte dieser Spiegel noch nie zuvor«, lispelte das Drachenjunge aufgeregt. »Sonst war dort immer eine Halle mit sonderbaren Sockeln. Aber sie war nicht zerfallen, und sie war immer leer gewesen – bis manchmal auf ein paar Tiere.«
Raimanja wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihr kam das alles unheimlich vor. Sie hätte viel dafür gegeben, hätte sie die Möglichkeit bekommen, nach Arkon zurückzukehren. Es interessierte sie nicht einmal, dass auch dieses Torbild wieder erlosch. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, dem eine Erschütterung des Bodens folgte. »Was war das?«, fragte Vritra. Langsam drehte sich Raimanja um und blickte auf das Metallplastiktor, das sich hinter ihnen wieder geschlossen hatte. »Eine Explosion. Ich fürchte, die Akonen haben Detektoren eingesetzt, als sie merkten, dass sie mich anders nicht finden würden. Sie ermittelten ungefähr, in welche Richtung ich geflohen bin, und sprengten sich einen Weg in dieses Gangsystem. Wohin können wir gehen, damit sie uns nicht einholen, Vritra?« »Hier geht es nicht weiter. Wir können nur den gleichen Weg zurückgehen.« »Dann würden wir auf die Akonen stoßen.« Sie drehte sich um und presste die Lippen zusammen, als der erste Spiegel seine Drehbewegung abermals verlangsamte. »Es gibt nur einen Weg, den durch diesen Spiegel. Ich gehe in die Schatzkammer von Amalek. Kommst du mit, Vritra?« »Ich fürchte mich. Zu viele sind schon in die Schatzkammer gegangen und vom lautlosen Tod geholt worden.« Die Arkonidin schlug mit der flachen Hand an den Impulsstrahler. »Ich kann mich wehren. Gegen die Akonen reicht das nicht, aber vielleicht gegen den lautlosen Tod.« Goldfarbene Helligkeit strahlte vom Spiegel aus, der die Schatzkammer von Amalek zeigte. »Komm!« Sie ging zögernd ein paar Schritte auf den Spiegel zu, holte tief Luft, nahm Anlauf und sprang. Etwas wie ein schwacher Stromschlag jagte durch ihren Körper. Grelles Licht blendete sie, ertrank in absoluter Finsternis, die wiederum von goldenen
Strahlen abgelöst wurde. Raimanja strauchelte, fing sich wieder und blickte sich wachsam in der Halle um. Von einem Spiegel war hier nichts zu sehen. Dafür tauchte, scheinbar aus dem Nichts kommend, plötzlich Vritra in der Luft auf und landete auf allen vieren neben der Arkonidin. Und im nächsten Augenblick dröhnte eine furchterregende Stimme auf…
20. Als ich in dem »Transmitterspiegel« das Gesicht Akon-Akons erblickte und danach uns alle – reglos in der halb verfallenen Transmitterstation stehend –, stockte mir fast der Atem. Doch dann las aus den Gedanken von ANTE heraus, dass so etwas tatsächlich möglich war, weil sich mit der Hilfe »andersartiger« Energieniveaus nicht nur Fenster in andere Räume, sondern auch in andere Zeiten öffnen ließen. Und noch mehr: Ich spürte, dass ANTE diese Tatsache dazu benutzen wollte, Raimanja durch das Zeitfenster aus der Relativvergangenheit in meine Jetztzeit zu stoßen. Ich entsetzte mich so darüber, dass mein Bewusstseinsinhalt diesem seltsamen Wesen entglitt. Ich treibe ab. Warum hast du dich gegen mich gewehrt, Atlan? »Du warst dabei, ein Zeitparadoxon zu schaffen.« Es gibt keine Zeitparadoxa! »Genauer gesagt: Es darf keine Zeitparadoxa geben. Da sie aber im Ansatz verursacht werden können, verändert sich schlagartig die Ausgangssituation. Dadurch wird das heraufziehende Paradoxon im Keim erstickt. Die Wirkung kann allerdings so einschneidend sein, als hätte es tatsächlich ein Zeitparadoxon gegeben – indem völlig neue Welten oder Paralleluniversen zugänglich werden.« Vielleicht hättest du dir dadurch viele Umwege erspart, Atlan. Wäre mein Vorhaben geglückt, brauchtest du wahrscheinlich den Umweg über Akon-Akon nicht zu gehen. Möglicherweise wäre dein Vater niemals ermordet worden, sodass du ein ganz normales Leben als Kristallprinz führen könntest. »Vielleicht – wahrscheinlich – möglicherweise«, erwiderte ich. »Es gibt also keine Gewissheit?« Niemals ist etwas gewiss. »Also auch nicht, dass niemals etwas gewiss ist.« Richtig. Ich verliere den Kontakt. Falls du mich brauchst – ich
kehre in den Kubus zurück. Vielleicht kann ich dir irgendwann helfen. Ich spürte, wie ANTE sich von mir entfernte. Dann war ich nur noch das körperlose Etwas. Ich bemerkte noch, dass das Spiegeltor, durch das Raimanja in die Schatzkammer von Amalek geflohen war, wieder blind war, sodass ich der Arkonidin nicht folgen konnte. Dennoch befand ich mich im nächsten Augenblick in ihrer unmittelbaren Nähe. Das erinnerte mich wieder daran, dass es für einen Bewusstseinsinhalt offenbar keine räumlichen und zeitlichen Hindernisse gab.
Raimanja lauschte dem dumpfen Dröhnen der Stimme. Sie verstand die Sprache nicht, in der die Stimme redete, aber sie konnte sich denken, dass die fremdartigen Worte an sie gerichtet waren. Vritra stand auf dem Boden der gigantischen Halle, hatte den Kopf hochgereckt und schief gelegt. Sein Schweif zuckte unruhig. »Du machst mich nervös«, sagte Raimanja. »Wir sind doch gut angekommen, oder?« »Aber hier droht uns Gefahr. Ich fühle, wie sich die Gefahr von allen Seiten nähert. Vielleicht sollten wir zurückgehen.« »Hier gibt es doch gar keinen Torspiegel.« »Du kannst ihn nicht sehen. Aber es muss ihn dennoch geben, denn manchmal kamen Gegenstände und Tiere von der Schatzkammer in die Halle der Blinden Spiegel. Wenn wir herumprobieren, werden wir die Stelle finden.« »Nein! Lieber will ich gegen den lautlosen Tod kämpfen als mich freiwillig in die Gewalt der Todfeinde meines Volkes begeben!« Vritra fauchte drohend. »Dann werden wir jetzt kämpfen müssen.« Die Drohung galt nicht Raimanja, sondern den Giganten, die aus
zahllosen Öffnungen in den Wänden hervorkamen und sich absolut lautlos in ihre Richtung bewegten. Auf den ersten Blick sahen die Giganten genauso aus wie der Zyklop, dem Raimanja in der Stadt im Tal begegnet war. Jedes Geschöpf war dreimal so groß wie ein Arkonide und hatte nur ein einziges rundes Auge im Gesicht. Doch im Unterschied zu jenem Zyklopen waren diese Wesen haarlos und ihre grauweißen Körper in golden schimmernde Rüstungen gekleidet. In den Händen trügen sie Lanzen, Schwerter und Schilde. Es war gespenstisch anzusehen, wie sie in Abständen eines Wimpernschlags alle gleichzeitig einen ruckhaften Schritt vorwärts gingen, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Raimanja spürte sofort, dass mit diesen Zyklopen etwas nicht stimmte. Bald wurde ihr auch klar, was das war. Sie bemerkte, dass die Rüstungen dieser Giganten uneinheitlich und unvollständig waren. Teile, die irgendwann verloren gegangen waren, waren nicht ersetzt worden. Andere Teile der Rüstungen waren vertauscht, sodass die Formation trotz der Gleichheit der Bewegungen wie ein zusammengewürfelter Haufen von Söldnern wirkte. »Sie handeln wie Automaten«, flüsterte sie dem Drachenjungen zu. »Wahrscheinlich sind sie die Nachfahren einer Wachtruppe, die schon seit Generationen keinen Befehlshaber mehr hat und nur das nachahmt, was von einer Generation an die nächste überliefert wurde.« »Umso gefährlicher sind sie für uns.« Raimanja musste sich dieser Logik beugen. Mit einer Truppe, die keinen Kommandeur hatte, konnte man nicht verhandeln. Sie würde stur irgendwelche Befehle befolgen, die einer ihrer Vorfahren gegeben hatte – oder von denen sie sich einbildeten, sie von ihren Vorfahren übernommen zu haben. Die Frau entsicherte den Impulsstrahler. Dennoch hatte sie fast zu lange gezögert. Die Zyklopen hoben die Lanzen und wollten sie auf die
beiden Eindringlinge werfen. Raimanja handelte intuitiv, feuerte einen verhältnismäßig eng begrenzten Fächer komprimierter Energiestrahlen ab, versetzte Vritra einen Stoß und lief auf die Lücke zu, die sich in der Formation der Giganten gebildet hatte. Das Drachenjunge begriff und blieb dicht neben ihr. Hinter ihnen bohrten sich die stählernen Lanzenspitzen genau dort in den Boden, wo sie eben noch gestanden hatten. Die Formation der Zyklopen reagierte, als seien sie ein einheitlicher Organismus. Wie in einem zentral gesteuerten Reflex veränderten die Einzelwesen ihre Position so, dass die Lücke geschlossen wurde, die die Energiestrahlen in die Phalanx gerissen hatten. Die Schwerter hoben sich drohend. Erneut schoss Raimanja, wieder rissen die sonnenhell flammenden Energiebündel eine Lücke in die Phalanx des lautlosen Todes. Und wieder schloss sich die Formation, zog sich gleichzeitig um die Arkonidin und das Drachenjunge zusammen. Raimanja war keine Kriegerin. Sie hatte getötet, weil sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb. Aber der Anblick der Opfer erfüllte sie mit Entsetzen. Sie merkte, dass sie nicht endlos weitertöten konnte. Ein kampferprobter Mann oder eine kampferprobte Frau hätten im Dauerfeuer auf eine Stelle der feindlichen Phalanx geschossen und wären dort durchgebrochen. Raimanja dagegen wich in die Mitte der Halle zurück und beschränkte sich auf einzelne Schüsse vor die Füße der Zyklopen, die ihr am gefährlichsten erschienen. Aber diese Wesen waren eines so gefährlich wie das andere. Sie verhielten sich, als führten sie eine rituelle Handlung aus. Die Arkonidin schoss noch einmal gezielt auf die Heranrückenden und brach psychisch zusammen, warf die Waffe weg und schlug die Hände vors Gesicht. Ringsum schwangen lautlos scharf geschliffene Schwerter empor, holten zum Todesstreich aus… …aber plötzlich geriet die Formation der Zyklopen durcheinander. Zwischen ihnen, vor und hinter ihnen erschienen
Männer in Kampfanzügen, als seien sie aus dem Nichts gekommen. Sie wirkten winzig und unscheinbar neben den Giganten, aber sie handelten mit der Kompromisslosigkeit erfahrener Raumsoldaten, die schon unzählige Male dem Tod ins Angesicht geschaut und dabei überlebt hatten. Die Entladungen von Impulsstrahlern erfüllten die Halle mit sonnenhellen Blitzen und ohrenbetäubendem Krachen. Getroffene Zyklopen wankten und stürzten, doch die anderen Giganten hoben ihre Schwerter gegen die neuen Eindringlinge, bis auch sie Opfer der überlegenen Waffen und der Entschlossenheit ihrer Gegner wurden. Als Ruhe eintrat, merkte Raimanja, dass sie innerhalb einer Energieblase atmete, die von den Schutzschirmprojektoren zweier Akonen erzeugt wurde, die dicht an sie herangetreten waren. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich in der Hitze umgekommen, die in der Halle herrschte. Sie blickte sich um, vom Schock noch immer halb gelähmt. Die Zyklopen waren allesamt tot, sofern sie überhaupt jemals richtig gelebt hatten. Aber was war aus Vritra geworden? Das Drachenjunge war nicht zu sehen. Hatte es noch rechtzeitig fliehen können, oder war es von den Energiestrahlen aufgelöst worden? Einer der Akonen, der ihr mit seinem Schutzschirmprojektor das Leben gereuet hatte, wandte ihr das Gesicht zu. Es lag unter der transparenten Scheibe seines Druckhelms, deshalb erkannte sie es nicht sofort, es kam ihr nur bekannt vor. »Ich bin Orthrek«, half der Akone ihrer Erinnerung nach. »Mein Trupp befreite dich aus der Polizeistation auf Arkon. Du hast uns ganz schön irregeführt. Dennoch hättest du dir sagen müssen, dass du uns nicht auf die Dauer davonlaufen kannst.« »Ihr seid durch den Torspiegel…?«, flüsterte Raimanja. »Wo ist Vritra?« »Wer ist Vritra? Meinst du die kleine Echse, die davonlief, als wir auf die Zyklopen schossen?« »Das Drachenjunge, ja. Ist es entkommen?«
»Wir hatten keinen Grund, auf ein flüchtendes Tier zu schießen.« Seine Augen verengten sich, verrieten Ärger. »Aber du hattest auch keinen Grund, auf den Gleiter zu schießen, der dich im Tal der Ruinen aufspürte. Warum hast du es getan?« »Die Besatzung richtete unter den Drachen grundlos ein Blutbad an. Es war Wahnsinn. Ich konnte nicht anders, als auf sie zu schießen.« »Das Weib hat unsere Leute ermordet!«, rief ein anderer Akone. »Sei still, Khelva!«, fuhr Orthrek ihn an. »Wenn stimmt, was Raimanja sagte, geschah der Gleiterbesatzung recht. Und ich denke, sie lügt nicht.« Er wandte sich wieder an die Frau. »Komm, wir bringen dich zum Schiff zurück. Du brauchst größte Schonung – in deinem Zustand.« Er sah sich in der Halle um. Plötzlich runzelte er nachdenklich die Stirn. »Diese Halle – sie ist fantastisch, faszinierend«, sagte er gedehnt. Seine Augen funkelten. »Eigentlich der richtige Ort, um einen künftigen Herrscher heranwachsen und formen zu lassen. Ich werde mit Tekla von Khom darüber sprechen.« Raimanja wollte fragen, was der Akone gemeint hatte, doch sie kam nicht mehr dazu. Ihr wurde schwarz vor den Augen.
Endlich bekam ich wieder Kontakt mit Fartuloon. »Ich bin froh, dass es dich noch gibt«, sagte mein Pflegevater. »Ich dachte schon, du wärst verloren gegangen.« »Ich war nie in Gefahr. Aber auf Perpandron sieht es anders aus, als ich es in Erinnerung habe.« »Selbstverständlich. Es ist jetzt ja auch einige Jahrtausende früher. Bis du zum ersten Mal hierherkommst, muss sich vieles verändert haben. Ich frage mich nur, wie lange wir diesmal hierbleiben müssen. Wenn wir die ganze Vorgeschichte Akon-Akons beobachten sollen, wird das ziemlich lange dauern. Raimanja ist ja gerade im ersten
Votan schwanger.« Ich antwortete nicht gleich, denn die Vorstellung, im günstigsten Fall viele Votanii und im ungünstigsten viele Jahre als Bewusstsein in der Vergangenheit herumgeistern zu müssen, versetzte mir einen gelinden Schock. Und als ich antworten wollte, merkte ich, dass sich das Problem auf wundersame Art von selbst gelöst hatte – denn die Szene, in die ich gerissen wurde, bewies mir, dass etwa fünf Arkonperioden vergangen waren…
Raimanja stieß einen gellenden Schrei aus, verstummte und sank mit schweißüberströmtem Körper auf das Kopfteil des Pneumobetts zurück. Verschiedene matte Geräusche waren in der folgenden Stille zu hören, ein zaghafter Laut, dem bald heftiges Geschrei folgte – der Protestgesang eines Neugeborenen, das die konstant auf Körpertemperatur gehaltene Flüssigkeit des Mini-Urozeans gezwungenermaßen verlassen hatte und aus der totalen Geborgenheit in ein raues, feindliches Leben gerissen worden war. Ein akonischer Mediziner deckte Raimanja mit einer Thermodecke zu. Sie schaute ihn aus großen Augen an; ihre Finger glitten unruhig über die Decke. Ein zweiter Mediziner trug etwas auf den Armen, das halb in eine transparente Folie eingeschlagen war. Er lächelte und legte das Bündel in Raimanjas Arme. Zuerst traute sich die Arkonidin nicht, den Inhalt des Bündels anzuschauen. Sie fürchtete, die Manipulationen der Akonen hätten aus ihrem Kind ein Monstrum gemacht. Aber sie zwang sich doch dazu, es anzusehen – und ihr Herz vollführte einen regelrechten Freudensprung. Es war ein ganz normales Kind – ein strammer Junge. Raimanja weinte vor Freude, bedeckte den rosigen Körper ihres Kindes mit Küssen und stammelte liebevolle Worte. Das leise weinende Kind wurde ruhiger und schlief schließlich ein. Eine
Hochdruckinjektionsdüse zischte. Raimanja achtete nicht darauf, spürte nur nach einiger Zeit, dass sie eine wohlige Müdigkeit überkam. Seufzend schloss sie die Augen und schlief ein. Als sie erwachte, war das Kind verschwunden. Raimanja rieb sich die Augen, gähnte und schaute sich nach ihrem Baby um. Ihrer Meinung nach musste es in ihrer Kabine untergebracht sein. Doch ihr Bett war das einzige in der Kabine. Raimanja wollte gerade den Interkom einschalten, als sich das Schott öffnete und der Akone eintrat, den sie als Tekla von Khom, den Wissenschaftlichen Kommandanten des Unternehmens, kannte. »Wo ist mein Kind?«, fragte die Arkonidin mit schwacher Stimme. Der Akone lächelte. »Akon-Akon befindet sich in guter Obhut. Sein Gesundheitszustand könnte nicht besser sein.« »Ich will ihn sehen! Und wie kommen Sie dazu, meinem Kind einen Namen zu geben? Niemals werde ich zulassen, dass er Akon-Akon heißt. Mein Sohn soll den Namen seines Vaters tragen.« Tekla von Khom machte eine Geste, die andeuten sollte, dass er sich über dieses Thema nicht zu streiten wünschte. »Nenn ihn Caycon – und wir nennen ihn Akon-Akon. Er soll, wenn er erwachsen ist, selbst entscheiden, welchen Namen er für immer tragen will.« »Einverstanden«, erwiderte Raimanja, halb beschwichtigt. »Wann bringt ihr mir Caycon?« »Wir können deinen Sohn besuchen, sobald der Arzt dich noch einmal untersucht hat.« Raimanja gab sich vorerst damit zufrieden. Nachdem der Wissenschaftler die Kabine verlassen hatte, verging etwa eine halbe Tonta, bis der Arzt eintraf. Er untersuchte Raimanja gewissenhaft und erlaubte ihr danach, an diesem Tag für eine Tonta aufzustehen. Kaum hatte sich die Arkonidin angekleidet, kam Tekla von Khom, um sie abzuholen. Er führte sie aber zu
ihrer Verblüffung nicht in eine andere Abteilung des Hospitaltrakts des Schiffes, sondern in einen Gleiterhangar. »Ist mein Sohn nicht im Schiff?«, fragte Raimanja aufgeregt. »Sei ganz ruhig. Dein Sohn hat den besten Platz erhalten, den es auf ganz Perpandron gibt. Steig ein, ich bringe dich zu ihm.« Raimanja gehorchte, wollte schließlich ihren Sohn sehen. Tekla von Khom steuerte den Gleiter über eine grasbedeckte Ebene. Von niedrigem Buschwerk umgeben, breitete sich eine Ansiedlung von sonnengebleichten quaderförmigen Steinbauten, Kuppeln und gepflasterten Straßen aus. Das Ganze wurde von einem hundertfünfzig Meter hohen viereckigem Turm aus rotem Stein überragt. Aber die Stadt schien verlassen. Gras wucherte zwischen Mauerritzen und den Fugen der Pflastersteine; die Mauern der Bauwerke zeigten erste Erosionsspuren. Tekla von Khom bemerkte Raimanjas Neugier und sagte ironisch lächelnd: »Nichts besteht ewig. Aber diese Stadt ist noch zu gut erhalten und könnte durch puren Zufall aus dem Weltraum entdeckt werden. Wir werden sie später künstlich altern. Von ihr drohen keine Gefahren, aber in der Stadt, die du Amalek nanntest, lauern Fallen und Roboter. Der Weg zur Schatzkammer wurde mit Signalbojen markiert. Außerdem stehen mehrere Kampfgruppen bereit. Etliche Schächte sind mit Detektoren ausgestattet, die bei der Annäherung von intelligenten Wesen Antigravaggregate aktivieren.« »Warum benutzen wir nicht die Torspiegel?« Teklas Gesicht verdüsterte sich. »Die hat Orthrek zerstören lassen«, sagte er zornig. »Angeblich, weil von einem der sogenannten Spiegel gefährliche Fremdintelligenzen herüber und durch den anderen Spiegel in die Schatzkammer kommen könnten. Es scheint da irgendwo eine Nebelwelt zu geben, auf der sich die Überlebenden eines lange zurückliegenden Weltraumkriegs immer noch bekämpfen. Oder Orthrek wollte seine Stellung als Mitglied des Energiekommandos bloß
hochspielen, was weiß ich?« »Orthrek ist…?«, fragte Raimanja entsetzt. Sie hatte von einigen Aktionen des akonischen Energiekommandos gehört – und was sie gehört hatte, war schlimm gewesen. Tekla von Khom lächelte grimmig. »Ich mag etliche Methoden des Energiekommandos auch nicht besonders, aber Tatsache ist, dass dein Volk uns schon vor vielen Jahren ausgelöscht hätte, hätten damals nicht kleine Agentengruppen des Energiekommandos eure Schlagkraft empfindlich geschwächt. Und nun geht es in die Unterwelt.«
Für Raimanja war der Flug zur Schatzkammer ein Albtraum. Nachdem der offene Gleiter eine Öffnung in der Oberflächenstadt passiert hatte, flog er durch irrsinnig gewundene halbdunkle Gänge, die scheinbar immer wieder zum Ausgangspunkt zurückführten. In kurzen Abständen sah die Arkonidin große Scheinwerfer leuchten. In ihrer Nähe hielten sich schwer bewaffnete Raumlandesoldaten auf. Manchmal waren keine Soldaten zu sehen; dafür krachten und knatterten in den verborgenen Gängen dahinter die Entladungen von Energiewaffen. Tekla von Khom steuerte den Gleiter nach den Anzeigen des Peilers auf dem Armaturenbrett. Das Gerät empfing die Signale der Bojen und bestimmte die Position. Einmal entdeckte Raimanja den Vorderkörper eines riesigen käferartigen Wesens, der aus einer Stollenmündung ragte. Vor einem tellerförmigen Rückenschild saß ein schwarzer Schädel, dreimal so groß wie der Kopf eines Arkoniden oder Akonen und mit riesigen Facettenaugen und Fühlern bewehrt. Die Arkonidin konnte nicht feststellen, ob der Riesenkäfer noch lebte. Während der Gleiter vorbeihuschte, rührte er sich jedenfalls nicht. Nur seine schwarze Oberfläche funkelte und schillerte, als die Lichtkegel der
Gleiterscheinwerfer darüber hinwegwischten. Später schwebte der Gleiter durch eine Halle. Rechts lagen zwei umgeworfene Scheinwerfer, von denen nur noch einer leuchtete. Drei Raumlandesoldaten lagen verkrümmt daneben. Aus einer dahinter befindlichen Gangöffnung zuckte immer wieder ultrahelles Wabern, begleitet von donnernden Entladungen. Dort wurde offensichtlich gekämpft. »Sollten wir nicht versuchen, Ihren Leuten zu helfen?«, fragte Raimanja. Der Akone presste die Lippen zusammen. »Nein! Die dort kämpfen und vielleicht sterben, sollen ja gerade verhindern, dass wir ernsthaft gefährdet werden. Wir dürfen nichts anderes tun, als unbeirrt weiterzufliegen.« Plötzlich öffnete sich links ein breiter Spalt in der Hallenwand. Eine Wolke seltsamer, unheimlicher geflügelter Wesen quoll oder wallte daraus hervor. Raimanja sah, dass sich die Wesen mithilfe großer, schimmernder Flügel durch die Luft bewegten, dass sie vier Beine und einen annähernd würfelförmigen Kopf aufwiesen und von einem kurzhaarigen Fell bedeckt waren. »Die Geflügelten«, flüsterte Raimanja, als sie sich der Warnung von ANTE erinnerte. »Wie?« Bevor er begriff, was die Arkonidin vorhatte, hielt Raimanja schon seinen Impulsstrahler in der Hand und feuerte auf den Schwarm der Geflügelten. Einige Wesen explodierten so heftig, als trügen sie Sprengladungen am oder im Leib. Glühende Fetzen jaulten über den Gleiter hinweg; einer streifte Teklas rechten Oberarm, zerriss die Kombination und fügte dem Akonen eine Fleischwunde zu. Er stieß eine Verwünschung aus und riss den Gleiter steil nach oben. Raimanja wäre beinahe über den Bordrand gefallen. Mit der linken Hand klammerte sie sich fest, mit der rechten hielt sie weiter den Impulsstrahler und schoss auf Geflügelte, die sich anschickten, dem Fahrzeug zu folgen. Wieder gab es heftige Explosionen. Ein Splitterregen
prasselte gegen den gepanzerten Boden des Gleiters. Es hörte sich an, als trommelten Hagelkörner auf ein leeres Eisenfass. »Das müssen robotische Konstruktionen sein«, sagte Tekla von Khom, als sie die Halle hinter sich gelassen hatten. »Lebewesen wären nicht so heftig explodiert. Aber beim Rückflug hältst du dich bitte zurück. Die Geflügelten sind die besten Wächter, die wir uns für Akon-Akon denken können.« »Caycon!«, fuhr Raimanja ihn an. Der Akone nahm ihr gelassen den Impulsstrahler aus der Hand, schob ihn ins Gürtelholster zurück und setzte den Flug ungerührt fort. Durch einen großen Schacht schwebten sie schließlich in die Schatzkammer hinab. Raimanja hätte die Halle nicht wiedererkannt, wäre nicht die goldene Helligkeit gewesen. Der Raum selbst sah völlig anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Wände waren begradigt worden, die meisten der Unebenheiten beseitigt. Nur noch wenige rechteckige, scharfkantige, fast kristallin wirkende Vorsprünge ragten aus den Wänden, gekrönt von Tier- und anderen Statuen. Die zahllosen verspielten Nischen und Erker waren verschwunden. Der gewaltige, nun würfelförmige Saal hatte seinen Charakter völlig verändert; er hätte sich in einem akonischen Palast befinden können. Und noch etwas war anders. In der Mitte der hangargroßen Halle erhob sich ein »gläserner Turm« von beachtlichen Dimensionen. Mit einem Durchmesser von dreißig Metern wuchs er naht- und fugenlos aus dem geglätteten Boden bis zur Decke, wo aus dem Zentrum ein von goldener Helligkeit umgebener Kristall meterweit in die Tiefe ragte. An diesen glaube sich Raimanja zu erinnern. Sie blickte verwundert auf die transparente Säule, richtete ihre Aufmerksamkeit auf den tiefschwarzen Sockel, der im Innern stand. Das hüfthohe Material schien das Licht seiner Umgebung aufzusaugen, sodass kein einziges Lichtquant reflektiert wurde. Vom Sockel erhob sich ein ebenfalls gläserner
Würfel von etwa drei Metern Kantenlänge – und mitten in diesem Würfel schwebte oder schwamm ein Kind.
»Caycon!« Raimanja stürmte vor – prallte gegen die Wand und merkte an der besonderen Art des elastischen Widerstands und einer gewissen Wärmeausstrahlung, dass der »Turm« ein Energiefeld war. Sie fühlte sich an den Armen ergriffen und zur Seite geführt. Einer der Männer, die sie führten, war Tekla von Khom, im anderen erkannte sie Orthrek. Raimanja versuchte, sich loszureißen. »Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?« »Es geht ihm besser als irgendeinem Kind im Universum«, sagte der Wissenschaftliche Kommandant. »Er befindet sich im Mentorkristall. Dort wird dein Sohn achtzehn Arkonjahre lang bleiben, ernährt, gepflegt, behütet und erzogen, bis er erwachsen ist. Dann schaltet sich das Mentorprogramm ab, dafür wird das Schlafprogramm aktiviert. Dein Sohn wird schlafen, bis wir zurückkehren, um ihn aus dem Schlafkristall zu befreien und nach Arkon zu bringen.« »Das ist ungeheuerlich!« Raimanja wand sich in den fest zupackenden Händen der Akonen. »Ihr seid Untiere, Dämonen! Lasst meinen Sohn frei – oder die Sternengötter sollen euch zu Staub zertreten!« Es gelang ihr, sich von Teklas Griff zu befreien und dem Wissenschaftler den Ellbogen ins Gesicht zu stoßen. Tekla von Khom taumelte zurück. Orthrek schnaufte unwillig und lähmte Raimanjas peripheres Nervensystem mit einem Spezialgriff. »Sie hat durchgedreht. Wir müssen sie in die Bordklinik bringen und mit unserem Start warten, bis sie sich von dem Schock erholt hat.« Tekla von Khom tupfte sich die blutenden Lippen mit einem Tuch ab. »Diese Frau ist verzweifelt und zu allem fähig. Ich würde sie in einen Tiefschlaf versetzen lassen, hätten unsere
Berechnungen nicht ergeben, dass Akon-Akon sich nur dann voll entwickeln kann, wenn seine Mutter auf dem gleichen Planeten lebt, sodass er ihre emotionelle Ausstrahlung empfängt.« Die Männer hoben Raimanja an und legten sie in den Gleiter. Dann stiegen sie dazu und starteten.
Es war ein eigentümliches Gefühl, die Geschehnisse auf Perpandron zu beobachten – waren sie doch die Vorgeschichte von Ereignissen, in denen ich Jahrtausende später eine aktive Rolle spielen würde, gespielt hatte, gespielt haben würde… oder wie man es sonst ausdrücken konnte, wenn man in der Vergangenheit von einer Relativzukunft sprach, die bereits als Gegenwart erlebt wurde und inzwischen persönliche Vergangenheit war. Jedenfalls wusste ich jetzt, dass mein erster Eindruck, den ich von der riesigen Halle gewonnen hatte, gar nicht so falsch gewesen war. Ich hatte angenommen, die Halle sei von Architekten gebaut worden, die sich grundlegend von denen unterschieden, die die in sich gekrümmte Stadt erbaut hatten. Jetzt wusste ich, dass dieser Eindruck deshalb entstanden war, weil in der Halle nachträglich von den Akonen Umbauten vorgenommen worden waren, um den Mentorkristall unterzubringen. Während Raimanja zum Raumschiff zurückgebracht wurde, bemerkte ich, dass die Lähmung ihres peripheren Nervensystems schneller abklang, als es bei dem von Orthrek angewandten Griff normalerweise der Fall gewesen wäre. Ich wunderte mich darüber, denn wie ich den Agenten des akonischen Energiekommandos einschätzte, pflegte er perfekte Arbeit zu leisten. »Vielleicht ist Orthrek abgelenkt worden«, teilte mein Pflegevater mit. »Wodurch?« Als Antwort erhielt ich den Eindruck eines Lächelns. Fartuloon schien sich über meine Unwissenheit zu amüsieren. Folglich beruhte meine Unwissenheit darauf, dass ich die bekannten Fakten nicht folgerichtig verarbeitet hatte. Ich dachte angestrengt nach. Dabei
beobachtete ich weiterhin die Arkonidin und bemerkte, dass sie sich nichts anmerken ließ, sondern die Gelähmte spielte. Raimanja hatte demnach etwas vor…
Raimanja zitterte innerlich, doch äußerlich war ihr nichts anzumerken. Sie wunderte sich, dass Orthrek das Abklingen der Lähmung nicht bemerkte. Anscheinend war der Einzelkämpfer sich der Unfehlbarkeit seiner Nahkampftechnik überzeugt, dass er gar nicht auf den Gedanken kam, sich davon zu so sicher, ob die Wirkung des Lähmgriffs anhielt oder nicht. Dennoch war es schwierig für die Frau, sich so zu verhalten, als könne sie sich nicht bewegen – ja nicht einmal mit den Lidern oder den Lippen zucken. Orthrek hatte ihre Augen geschlossen, damit die Augäpfel nicht austrockneten, und sie hütete sich davor, sie auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Aber sie konnte alles hören, was um sie geschah – und sie hörte jedes Wort, das zwischen Orthrek und dem Wissenschaftlichen Kommandanten gewechselt wurde. Dadurch erfuhr sie, dass die Akonen in Kürze starten und Perpandron verlassen würden. Sie selbst sollte in der kleinen Siedlung zurückgelassen werden, die die Akonen in der Nähe ihres Landeplatzes angelegt hatten. Tekla von Khom würde der akonischen Regierung Bericht erstatten und ihr damit die Möglichkeit geben, später wieder ein Raumschiff nach Perpandron zu schicken, um den Jungen abzuholen. Da Raimanja zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gebraucht wurde, würde man sie einfach auf dem Planeten zurücklassen. Letzteres schreckte die Arkonidin nicht so sehr wie der Gedanke, dass ihr Sohn von den Feinden ihres Volkes dazu missbraucht werden sollte, die Arkoniden indirekt wieder unter den Einfluss der Akonen zu bringen. Ganz abgesehen davon, dass der junge Caycon, der bereits vor der Geburt genetisch manipuliert
worden war, im Mentorkristall seine angestammte Persönlichkeit voll und ganz verlieren würde. Raimanja war entschlossen, alles zu tun, um das zu verhindern. Sie legte sich einen Plan zurecht. Er würde allerdings nur gelingen, wenn Orthrek nicht doch noch merkte, dass sie nicht mehr gelähmt war. Orthrek merkte nichts. Im Raumschiff angekommen, brachten die Akonen Raimanja ins Bordhospital und wiesen die Mediziner an, sie zu versorgen. Da die Ärzte gerade drei Raumlandesoldaten operierten, die bei den Kämpfen im Labyrinth der Stadt Amalek schwer verletzt worden waren, kümmerte sich vorläufig nur ein Medoroboter um sie. Der Robot störte sich nicht daran, dass die periphere Lähmung verschwunden war. Er injizierte Raimanja ein mildes Sedativum, kombiniert mit einem schnell wirkenden Regenerationspräparat, und ließ sie in ihrer Kabine allein. Kaum hatte der Medoroboter die Kabine verlassen, richtete Raimanja sich auf, suchte ihre Kleidung zusammen und zog sich an. Sie fühlte sich etwas träge. Das Sedativum! Aber solange sie in Bewegung blieb, würde seine Wirkung nicht stärker werden. Sie durfte nur nicht ausruhen und die Augen schließen. Das Schott der Kabine war unverschlossen, da Orthrek sicher war, dass Raimanja noch einige Zeit gelähmt bleiben würde. Aber als die Arkonidin auf den Korridor trat, wäre sie beinahe von einigen Akonen umgerannt worden, die schwer verwundete Männer begleiteten. Medoroboter verabreichten den Verwundeten noch während des Transports Injektionen. Schon glaubte Raimanja sich verraten, da waren die Akonen bereits vorbei. Sie hatten sie kaum angesehen. Raimanja begriff, dass diese Männer mit ihren eigenen Problemen reichlich beschäftigt waren und gar nicht daran dachten, sich auch noch um sie zu kümmern. Für einen Augenblick spürte die Arkonidin Mitleid mit diesen Männern in sich aufwallen. Sie verdrängte dieses Gefühl, indem sie sich immer wieder sagte, dass diese
Leute Feinde waren und dass sie niemals zu ihrer Basis zurückkehren durften, sollten die Arkoniden nicht erneut unter die Herrschaft der Akonen geraten. Sie schaffte es unbehelligt bis zu einer Waffenkammer. Aber als sie versuchte, das Panzerschott zu öffnen, musste sie erkennen, dass sie das niemals schaffen würde. Das Sperrschloss war so kompliziert, dass es sich nur mit dem Original-Kodegeber öffnen lassen würde. Und gewaltsames Eindringen kam nicht infrage, da bei einem entsprechenden Versuch eine Alarmanlage aktiviert worden wäre. Raimanja schlich weiter durch das Schiff. Als sie nach langem Umherirren merkte, dass sie so nichts erreichen würde, kehrte sie in die Bordklinik zurück und bewaffnete sich mit einer Injektionspistole, deren Kammer mit einer Kapsel eines schnell wirkenden Betäubungsmittels gefüllt war. Sie verbarg die Pistole in der Beintasche ihrer Kombination und verließ die Klinik wieder. Diesmal lief sie zum Wohndeck für einfache Mannschaftsdienstgrade. Neben den Kabinenschotten waren Leuchtplatten an den Wänden, die anzeigten, ob der jeweilige Bewohner an- oder abwesend war. Darunter befanden sich die Meldetasten, mit denen eventuelle Besucher sich zu melden hatten. Raimanja drückte die Meldetaste einer belegten Kabine. »Wer ist da?«, klang es aus dem Lautsprechergitter der Gegensprechanlage. »Ich«, flüsterte Raimanja geheimnisvoll. Wie sie erwartet hatte, siegte die Neugier des Bewohners. Das Schott öffnete sich. Raimanja trat ein und sah sich einem kräftig gebauten Raumlandesoldaten gegenüber, der offenbar soeben geduscht hatte. »Was willst du?« Raimanja näherte sich ihm. »Was soll ich schon wollen«, erwiderte sie mit laszivem Lächeln. »Ich bin schließlich noch keine alte Frau.« Sie blieb dicht vor dem Akonen stehen, blickte zu ihm auf und
fingerte mit der rechten Hand nach der Injektionspistole. In den Augen des Raumlandesoldaten glomm Begierde auf, die aber von Zorn verdrängt wurde. »Verschwinde!«, fauchte er. »Minderwertiges Gezücht derer, die auf ihrer Welt die Nahrung mit eigenen Händen erzeugen. Wie kannst du es wagen, dich einem Akonen anzubieten?« Er holte zu einem Schlag aus. In diesem Augenblick presste ihm Raimanja den Düsenkopf der Injektionspistole in die Halsgrube und drückte auf den Auslöser. Die Augen des Raumlandesoldaten verdrehten sich. Seine erhobene Hand sank schlaff herab. Dann brach er wie vom Blitz gefällt zusammen und stürzte polternd zu Boden. Raimanja zog den Blaster aus dem über einem Stuhl hängenden Gürtelholster und nahm das Energiemagazin heraus. Es war ein frisches Magazin und noch voll. Raimanja verbarg das Magazin in einer Tasche ihrer Kombination, suchte in der Kabine, fand eine Rolle Klebeband, nickte zufrieden und eilte in die Triebwerkssektion. Da sie sich schon immer besonders für Transitionstechnik interessiert hatte, hatte sie auf diesem Gebiet einige Spezialkenntnisse. Außerdem genügte das Wissen um einige wenige Einzelheiten. Raimanja öffnete die Abdeckplatte eines Reparatur- und Wartungszugangs und erkannte die Pole des Energieschockauslösers, der jenen Hyperenergieschock erzeugte, der notwendig war, um die Sprungtriebwerke eines Raumschiffs schlagartig zu aktivieren. Die Arkonidin befestigte das Energiemagazin mit Klebeband so zwischen den Polen des Energieschockauslösers, dass es sich genau in der Überschlagszone befand. Danach legte sie die Abdeckplatte wieder darüber, kehrte in ihr Klinikzimmer zurück und legte sich aufs Pneumobett. Als die Mediziner kamen, um sie zu untersuchen, schlief Raimanja fest…
Nach sieben Pragos wurde Raimanja aus der Bordklinik entlassen. Orthrek brachte sie mit einem Gleiter in die kleine Siedlung neben dem Landeplatz. »Hier wirst du leben, während Akon-Akon im Mentorkristall heranwächst«, sagte er. »Du hast im Lagerhaus Vorräte für ein ganzes Jahr, sodass du dich in aller Ruhe auf das Leben als Jägerin umstellen kannst. Ein Brunnen, den wir gebohrt haben, wird dich mit Wasser versorgen, und ein Roboter wird dir die niedrigsten Arbeiten abnehmen.« Raimanja protestierte nicht, weil sie sicher war, dass es nicht so kommen würde, wie der Akone es sagte. »Welche Waffen bekomme ich für die Jagd?« Orthrek blickte sie ein wenig verwundert von der Seite an. Er hatte offenbar wilden Protest erwartet und konnte sich die gelassene Haltung der Arkonidin nicht erklären. »Du bekommst einen Kombistrahler mit hundert Energiemagazinen, ein automatisches Gewehr, das Raketen mit hochbrisanten Sprengköpfen verschießt, ausreichend Munition, einen Blaster sowie ein Vibratormesser und verschiedene andere Geräte und Werkzeuge.« »Wo sind diese Waffen?« Orthrek lächelte. »Sie sind in der Waffenkammer im Haupthaus. Allerdings ist sie mit einem Zeitschloss gesichert, das sich erst nach unserem Start ausschaltet. Dafür wirst du sicher Verständnis haben.« Raimanja lächelte undefinierbar. »Die überlegenen, hochzivilisierten Akonen fürchten das primitive arkonidische Barbarenmädchen. Natürlich, das verstehe ich, zumal ihr euch zu Recht fürchtet.« »Wir Akonen werden noch existieren, wenn man im Universum nicht einmal mehr den Namen Arkoniden kennt. Und weißt du auch, warum, Raimanja?« Die Arkonidin lächelte. »Weil ihr euch jeden Tag von Kopf bis
Fuß wascht, euch niemals mit minderwertigen Subjekten fortpflanzt und fest daran glaubt, dass ihr das Monopol auf den höchsten Intelligenzquotienten habt. Ihr seid so intelligent, dass ihr gar nicht mehr wisst, was Schläue ist.« Orthrek musterte die Arkonidin argwöhnisch. »Wüsste ich nicht, dass du ständig überwacht wurdest, würde ich denken, du hättest etwas…« Er lächelte herablassend. »Aber du willst mich nur provozieren. Ich weiß wohl, was Schläue ist, Raimanja, sonst würde ich schon lange nicht mehr leben.« Er fasste sie am Arm und führte sie ins Haupthaus. Raimanja sah, dass das Gebäude alles enthielt, was jemand brauchte, der den Rest seines Lebens hier wohnen sollte. Weder eine vollautomatische Küche fehlte noch die Wasch- und Reinigungsautomaten, Annäherungsdetektoren, eine Schaltzentrale mit Pulten für die Rundumverteidigung gegen wilde Tiere, für die beiden Fusionsmeiler, die die Siedlung versorgten, für Rechenoperationen mit der Hilfe einer kleinen Positronik und für die Herstellung von synthetischen Nahrungsmitteln und Getränken. Raimanja wunderte sich über den Luxus, den ihr die Akonen überließen. Doch sie sagte natürlich nichts, denn sie wusste ja, dass sie Perpandron nie wieder verlassen würde – und sie wusste außerdem, dass sie hier nicht allein leben würde, sondern zusammen mit ihrem Sohn Caycon. Als sich Orthrek von ihr verabschiedete, ließ er den Gleiter zurück. Raimanja sah ihm nach, wie er zu dem großen Kugelraumschiff mit den abgeflachten Polen ging und es über die Bodenrampe betrat. Wenig später baute sich um den Raumer ein flimmerndes Feld auf, stieg langsam und mit durchdringendem Summen in die Höhe. Der Raumer befand sich bereits außer Sichtweite, als die Impulstriebwerke im Ringwulst gezündet wurden. Das Donnergrollen, in den oberen Schichten der Atmosphäre von Perpandron ausgelöst, rollte nach einer Weile
heran und verebbte wieder. Raimanja holte tief Luft, schwang sich in den Gleiter und zog ihn hoch. Mit maximaler Beschleunigung jagte sie vorwärts, zur Stadt Amalek. Als sie die Oberflächenstadt erreichte, sah sie, dass die Akonen sie künstlich gealtert hatten, wie es ihre Absicht gewesen war. Sie hatte sich in ein Ruinenfeld verwandelt, und die Ruinen sahen so aus, als seien sie nach vielen Jahrtausenden natürlichen Zerfalls entstanden. Schon keimte der Samen von Bäumen und anderen Pflanzen, die die Akonen in Zuchtbehältern in den Boden gebracht hatten, um dafür zu sorgen, dass die Ruinen so bald wie möglich überwuchert wurden. Raimanja hatte große Mühe, die Stelle zu finden, an der sie mit Tekla von Khom in die Tiefe eingedrungen war. Sie entdeckte sie nach längerer Suche schließlich unter der Ruine eines mächtigen Torbogens nahe einem Teich. Dieser Torbogen war damals nicht dagewesen. Die Akonen hatten ihn also – ebenso wie den Teich – nachträglich errichtet, um den Eingang zu tarnen. Raimanja fühlte, wie ihr Herz klopfte. Bald würde sie bei ihrem Sohn sein. Sie steuerte den Gleiter unter den Torbogen, sodass er genau über der Öffnung hing, und ließ ihn absinken. Als der Boden des Gleiters sich auf gleicher Höhe mit dem Rand der Öffnung befand, gab es eine grelle Entladung. Der Gleiter wurde herumgewirbelt, ratschte Funken sprühend an einem Mauerrest entlang und landete in einem staubigen Gebüsch. Raimanja war nicht angeschnallt, wurde aus dem offenen Fahrzeug geschleudert, rollte über einen niedrigen Hügel und stürzte in den natürlich wirkenden Teich. Wahrscheinlich rettete der Sturz ins Wasser ihr das Leben. Der Anprall gegen eine Mauer hätte sie zumindest schwer verletzt. Raimanja tauchte unter, kam prustend wieder hoch und schwamm zügig zum Ufer. Sie war wütend auf die Akonen, die den Eingang nach Amalek mit einem Energieschirm versiegelt hatten, ohne sie zu warnen. Aber sie war nicht gewillt, so schnell aufzugeben.
Raimanja suchte lange nach einem zweiten Eingang in die Stadt – vergeblich. Körperlich und geistig erschöpft kehrte sie schließlich zum geschützten Eingang zurück. Sie setzte sich auf einen niedrigen Mauerrest, stützte das Kinn in die Hände und gab sich der Resignation hin. Nach einiger Zeit blickte sie auf und bemerkte, dass die Sonne tief stand. In weniger als einer Tonta würde es dunkel werden, dann war es nicht ratsam, sich allein in der Wildnis herumzutreiben. Die Arkonidin beschloss, ihr Vorhaben für heute aufzugeben und zur Siedlung zurückzukehren. Müde schlurfte sie zu dem auf der Seite liegenden Gleiter, um festzustellen, ob er noch flugfähig war. Sie musste dabei an dem kreisrunden Schacht vorbei. Versehentlich stieß ihr linker Fuß an einen Stein. Er flog davon, rollte über die Kante und verschwand. Raimanja schloss in Erwartung eines Entladungsblitzes reaktionsschnell die Augen. Als der Blitz ausblieb, öffnete sie sie und trat verwundert an den Rand des Loches. Von dem Stein war nichts mehr zu sehen. Die Arkonidin trat zurück, hob einen etwas größeren Stein auf, warf ihn in die Öffnung und beobachtete diesmal zwischen gespreizten Fingern hindurch. Sie konnte genau sehen, wie der Stein in den Schacht stürzte. Rasch trat sie wieder vor und lauschte. Kurz darauf vernahm sie das Aufprallgeräusch. Der Energieschirm ist erloschen! Raimanja konnte es sich nicht erklären. Sie wusste nur, dass sie die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Sie kümmerte sich nicht mehr um den Gleiter, weil sie fürchtete, dass sich der Schutzschirm in der Zeit, die sie brauchte, um das Fahrzeug zu untersuchen, wieder aktivierte. Ohne zu zögern, sprang sie in den Schacht. Es war ein Risiko, aber die Sorge um ihren Sohn ließ Raimanja das Risiko eingehen, sich zu Tode zu stürzen. Sie verließ sich auf die Aussage Tekla von Khoms – die
Schächte innerhalb von Amalek seien mit einer Detektorschaltung versehen worden, die bewirkte, dass sich Antigravfelder aktivierten, sobald ein intelligentes Wesen einen Schacht betrat. Jetzt spürte Raimanja am eigenen Leib, dass diese Aussage stimmte. Sie war kaum einen Meter gefallen, als sie ein Kraftfeld mit schwachem Ruck auffing, sich abschwächte und sie sanft nach unten schweben ließ. Erst als die Arkonidin den Grund des Schachtes erreichte, erinnerte sie sich an die Schwarzen und die Geflügelten, die sie bei ihrem ersten Besuch der Stadt gesehen hatte und von denen die Geflügelten sich als aggressiv, heimtückisch und gefährlich erwiesen hatten. Sie presste die Lippen zusammen, als ihr klar wurde, dass sie waffenlos, wie sie war, überhaupt nicht für eine gewaltsame Auseinandersetzung gerüstet war. Die erste Begegnung mit Geflügelten musste tödlich für sie ausgehen. Dennoch drang sie in die geheimnisvolle Anlage ein. Die Sorge um ihr Kind war stärker als alle Ängste. Nachdem sich ihre Augen an das eigenartige Licht gewöhnt hatten, das eine Orientierung erleichterte, drang sie bis zu einer Art Verteilerhalle vor. Dort blieb Raimanja allerdings ratlos stehen – in sie mündeten sechs Tunnels. Die Frage war, welcher Tunnel sie näher an die Schatzkammer mit dem Mentorkristall bringen würde. Während die Arkonidin verbittert die Tunnelöffnungen musterte, spürte sie, wie sich etwas in ihr Bewusstsein schob, etwas, das wie eine Eingebung oder eine innere Stimme war. Drei rote Sonnen! Raimanja zuckte zusammen, als sie im nächsten Augenblick in der einen Tunnelmündung drei rote Lichtpunkte schimmern sah. Sie nahmen die Positionen der Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks ein und schwebten in der Luft. Die Arkonidin schluckte, zögerte aber noch. Eine Weile später bemerkte sie, dass sich die drei roten Lichtpunkte langsam um einen unsichtbaren gemeinsamen Schwerpunkt drehten – wie es drei Sonnen gleicher
Konstellation tun würden. Das gab den Ausschlag. Entschlossen betrat Raimanja den Tunnel mit den drei roten Sonnen. Sie verschwanden spurlos, als sie die Tunnelmündung durchschritten hatte. Dafür leuchteten sie an der nächsten Kreuzung auf und wiesen ihr abermals den Weg. Beinahe wie in Trance, wie in einem Traum, in dem einem alles gelang, erreichte Raimanja die von goldener Helligkeit erfüllte riesige Halle mit dem Mentorkristall. Erst dort erwachte sie aus der Trance. Sie blickte durch die Energiehülle, sah ihr Kind und wollte darauf zueilen. Im letzten Moment besann sie sich, dass die energetische Wand sie schon einmal aufgehalten hatte. Sie würde niemals zu Caycon vordringen können, schaltete sie nicht zuvor den betreffenden Projektor aus. Verzweifelt irrte Raimanja in der Halle umher, suchte nach einer Schaltung – doch es gab keine. Komm! Raimanja erstarrte. Da war sie wieder gewesen, diese eigenartige innere Stimme, die sich von außen in ihr Bewusstsein zu schieben schien. Und auch der Inhalt ihrer Botschaft sprach dafür, dass sie von außen gekommen war. Die Arkonidin schaute zu ihrem Kind. Kann sich ein Baby telepathisch mitteilen?, fragte sie in Gedanken. Und kann es Energieschirme ausschalten? Wie zur Antwort begann der zylindrische Energieschirm zu flackern, schrumpfte und erlosch. Langsam sank der schwarze Sockel in den Boden, bis nur noch das, was wie ein gläserner Würfel aussah, über dem Boden schwebte – und in ihm das Kind. Zuerst zögernd, dann mit festem Schritt ging Raimanja zum gläsernen Würfel, streckte vorsichtig die Hände aus – und seufzte erleichtert, als die Hände mühelos durch die Wand drangen. Als sich Raimanjas Hände behutsam unter das Kind legten, richteten sich die großen roten Augen auf sie – und Raimanja glaubte in ihnen bewusstes Begreifen zu sehen. Aber sie war viel zu glücklich, um sich Gedanken über solche zweitrangigen Wahrnehmungen zu machen. Sie hob das Kind aus dem
gläsernen Würfel, drückte es an ihre Brust und ging unbeirrbar den Weg zurück, den sie gekommen war. Später schwebte sie den Schacht aufwärts, betrat festen Boden und erblickte im bleichen Schein des Mondes den auf der Seite liegenden Gleiter. Irgendwo in der Nähe schlich Getier herum. Deshalb wagte Raimanja nicht, das Baby abzulegen, während sie den Gleiter überprüfte. Sie kletterte hinein, schaltete und merkte, dass die Gyrotrone ausgefallen waren, sodass das Fahrzeug seine Fluglage nicht automatisch stabilisierte. Es ließ sich jedoch noch starten und beschleunigen – und ein Scheinwerfer brannte noch. Raimanja startete, zog den Gleiter vorsichtig hoch und steuerte ihn zur Siedlung. Sie atmete auf, als sie schräg unter sich den Hauptbau erblickte. Im nächsten Augenblick erschrak sie – kaum fünfhundert Meter entfernt stand eins jener diskusförmigen akonischen Beiboote auf seinen Landestützen im Gras. Akonen auf Perpandron, das konnte nur bedeuten, dass einige Männer der Zerstörung des Schiffs entkommen und zurückgeflogen waren. Verstört wollte Raimanja den Gleiter wegsteuern, als es unten grell aufblitzte. Der Impulsstrahl fraß sich in das Triebwerk, sodass der Gleiter nicht mehr beschleunigt werden konnte. »Wenn du nicht sofort landest, schießen wir dich ab!«, schrie eine zornige Stimme. Mit Rücksicht auf das Baby verzichtete die Arkonidin auf einen Fluchtversuch, verringerte die Leistung des Antigravs – und kurz darauf setzte der Gleiter zwischen dem Hauptbau und einem Nebengebäude auf. Aus dem Schatten eines großen Baumes traten drei Akonen auf den mondbeschienenen freien Platz. Sie trugen einfache Raumschiffskombinationen, die an vielen Stellen zerfetzt waren, hatten zerkratzte blutige Gesichter und hielten Impulsstrahler auf Raimanja gerichtet. »Wie hast du es fertiggebracht, unser Schiff explodieren zu lassen?«, fragte der mittlere der drei Männer.
Raimanja erkannte Orthreks Stimme und antwortete stolz: »Indem ich nicht nach einer perfekten Methode, sondern nach einer möglichst starken Wirkung strebte. Eine Akonin hätte in meiner Lage versagt.« »Dafür wirst du büßen.« Das war die Stimme des Schiffskommandanten Perc von Aronthe. »Nein, warte«, rief Tekla von Khom. »Worauf sollen wir warten? Wir sind verpflichtet, sie zu bestrafen, denn sie hat durch einen Sabotageakt nicht nur ohne zwingende Not getötet, sondern vor allem unseren Plan gefährdet. Ihre Auslöschung ist die einzige angemessene Strafe und beugt gleichzeitig weiteren feindlichen Akten vor.« »Nicht so voreilig. Bedenke, dass unser Beiboot niemals zur Basis zurückkehren kann. Sein Aktionsradius ist zu gering. Und unser Funkgerät ist zu schwach, um den nächsten unserer Stützpunkte zu erreichen. Wir werden demnach für immer auf Perpandron bleiben müssen, denn die Basis weiß nicht, wohin wir das Wache Wesen brachten. Den Planeten Perpandron haben wir erst später ausgewählt. Wenn wir schon bis zu unserem Tod hierbleiben müssen, ist es da nicht besser, wir sind zu viert als nur zu dritt?« »Das ist richtig«, pflichtete Orthrek ihm bei. »Außerdem müssen wir Raimanja, als Mutter des Wachen Wesens, beschützen.« Raimanja glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als sie den unmotivierten Stimmungsumschwung bei den drei Akonen bemerkte. Es schien ihr, als würden sie unmerklich geistig gesteuert. Anders war ihr sprunghaft verändertes Verhalten nicht zu erklären. Sie drehte sich so, dass das Mondlicht voll auf Caycon fiel, und schaute dem Baby ins Gesicht. Aber sie konnte nichts entdecken, was ihr Kind von einem anderen unterschieden hätte. Oder lächelte Caycon verschmitzt? Raimanja wandte sich wieder den drei Schiffbrüchigen zu, die verwirrt und verlegen
vor ihr standen. »Ihr werdet müde sein. Und Caycon braucht Nahrung und Ruhe. Gehen wir ins Haupthaus.« »Ja.« Tekla von Khom senkte den Kopf und ging mit hängenden Schultern zum Hauptbau. Die anderen folgten ihm. Orthrek hielt Raimanja die Tür auf.
21. Ich wunderte mich, dass die drei Akonen offenbar nichts dagegen hatten, dass Akon-Akon in der Siedlung blieb. Warum Akon-Akon? Warum nannte sich das Wache Wesen so, wie es die akonischen Manipulatoren gewollt hatten, und nicht so, wie es seine Mutter gewünscht hatte? Und überhaupt: Es erschien mir undenkbar, dass ein Arkonide, dessen Name gleich zweimal den Namen des Todfeindes enthielt, auch nur die geringste Chance gehabt hätte, auf Arkon in eine führende Position zu kommen. Er wäre, geistige Beeinflussung oder nicht, innerhalb kurzer Zeit einem Attentat zum Opfer gefallen. »Vielleicht haben sich die Akonen die Namensgebung nicht ausreichend überlegt?«, sagte Fartuloon. »Akonen überlegen sich alles genau. Ich halte es eher für einen Ausdruck ihrer Arroganz. Aber lassen wir das. Sollen wir vielleicht achtzehn Jahre lang auf Perpandron herumgeistern – und das im wahrten Sinne des Wortes –, bis dieser Caycon-Akon-Akon erwachsen ist?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, wurde mir schwindlig. Noch bevor ich meine eigene Frage, ob ein Bewusstseinsinhalt unter Schwindelanfällen leiden konnte, beantwortet hatte, sagte mein Pflegevater: »Offenbar erspart uns eine Art Zeitservice das jahrelange Herumgeistern. Oder hast du noch nicht gemerkt, dass Raimanjas Sohn nun die Statur eines sechsjährigen Arkoniden hat…?«
Raimanja hörte den vereinbarten Pfiff, blickte nach links und erkannte lächelnd Orthrek, der ihr zuwinkte. Der Akone stand unter einem Sdellabaum, auf dem lange wurstförmige Früchte wuchsen, die nach der Reifung zu Boden fielen und verschiedenen Tieren als willkommene Leckerei dienten. Besonders die Khurus, vierbeinige Tiere mit kurzen Rüsseln und scharfen Hauern, waren heiß auf
Sdellabaumfrüchte. Und das war der Grund, warum Orthrek und Raimanja hier standen. Tekla und Perc hätten inzwischen auch schon da sein müssen. Die vier Personen waren am frühen Morgen von der Siedlung aufgebrochen und an vier verschiedenen Punkten am Rand der Khailek-Sümpfe aus dem Gleiter gestiegen. Der riesige Sdellabaum in der Mitte des Sumpfgebiets war der vereinbarte Treffpunkt. Wer zuerst dort ankam, sollte warten und sich bereithalten, die Tiere zu erlegen, die die später Kommenden vor sich hertrieben. Raimanja freute sich, dass Orthrek und sie zuerst angekommen waren. Im Laufe der Jahre war die gegenseitige Abneigung immer geringer geworden – und bevor es sich die Arkonidin und der Akone versahen, war aus gegenseitiger Respektierung so etwas wie Zuneigung geworden, vielleicht sogar Liebe. Auf jeden Fall aber wussten beide, dass sie sich aufeinander verlassen konnten und dass keiner etwas tun würde, was dem anderen – und besonders Caycon – schaden konnte. Tekla von Khom und Perc von Aronthe verhielten sich dem Paar gegenüber weitgehend neutral. Sie akzeptierten die Verbindung, die normalerweise von jedem Akonen als abartig bezeichnet worden wäre. Raimanjas ursprüngliche Ahnung, dass ihr Sohn selbst einen geheimnisvollen Einfluss auf die Akonen ausübte und sie auf unerklärliche Weise veranlasste, zusammenzuhalten und für sein und Raimanjas Wohlergehen zu sorgen, hatte sich längst zur Überzeugung verdichtet. Manchmal kam der Frau ihr eigener Sohn unheimlich vor. Doch das waren Anwandlungen, die schnell vorübergingen. Caycon war ein Kind, dessen Erziehung keinerlei Probleme aufwarf. Vielleicht, weil es insgeheim selbst bestimmte, wie es erzogen werden sollte. Raimanja lächelte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und spähte durch das Wipfeldach nach oben. Sie sah, dass die Sonne
den Zenit bereits überschritten hatte. »Orthrek!« Der Akone blickte zu ihr und machte eine fragende Handbewegung. »Wenn wir nicht bald umkehren, sind wir bei Einbruch der Dunkelheit noch im Sumpfgebiet.« »Ich weiß. Aber wir müssen noch warten. Tekla und Perc könnten sich verirrt haben. Wenn sie verspätet eintreffen und wir sind schon weg, finden sie womöglich nicht mehr aus den Khaileks raus.« »Ich weiß.« Es war nicht das erste Mal, dass sich der Wissenschaftler und der Raumschiffskommandant verirrt hatten. Beide Männer waren an Bord eines Raumschiffs oder in der Umgebung einer Hochtechnologie-Zivilisation Meister, aber in der freien Natur Versager, weil sie sich nur bis zu einem gewissen Grad auf völlig andere Lebensbedingungen umstellen konnten oder wollten. Eine Tonta verging, ohne dass sich die Männer gezeigt hätten. Aber auch die Khurus ließen sich an diesem Tag nicht sehen. Schließlich kam Orthrek zu Raimanja. »Wir gehen in die Richtung, aus der Perc kommen sollte. Er hat den Gleiter zuletzt geflogen; wenn er ihn am vereinbarten Platz abgestellt hat, finden wir ihn dort. Mit ihm können wir besser nach den beiden suchen.« Die Arkonidin gab ihr Einverständnis mit einer Geste. Schweigend wandten sie sich nach Süden. Unter ihren Stiefelsohlen schmatzte der sumpfige Boden. Insekten schwärmten gleich Rauchwolken auf. Sie näherten sich den beiden Personen, trafen aber keine Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Anscheinend spürten sie instinktiv, dass das Blut von Akonen und Arkoniden für sie ungenießbar war. Und plötzlich stießen Raimanja und Orthrek auf Perc – oder vielmehr auf das, was von ihm noch übrig geblieben war. Eine gelb und rot gefleckte Raubkatze kauerte über dem Leichnam und hob fauchend den Kopf, als sie den Mann und die Frau witterte. Die
Reißzähne in dem aufgerissenen Maul drohten furchterregend. Orthrek zögerte keinen Augenblick, legte den Thermostrahler an und ging mit der Waffe ins Ziel. Fünf Energiebündel jagten zu der Raubkatze, durchschlugen sie und entflammten das Fell. Das Tier sprang hoch – und sackte tot über Percs schlimm zugerichtetem Leichnam zusammen. »Wir hätten ihn nicht allein gehen lassen sollen, aber er bestand ja darauf«, sagte Orthrek leise. Raimanja hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie lauschte einem pfeifenden Laut nach, der aus großer Entfernung herüberwehte. Der Laut kam ihr bekannt vor, erinnerte sie an ein Erlebnis, das sie vor knapp sieben Arkonjahren auf diesem Planeten gehabt hatte. »Was hast du, Raimanja?« Erneut ertönte ein Pfiff, diesmal so laut, dass auch Orthrek ihn nicht überhören konnte. Er wusste sofort, woher er ihn kannte, obwohl auch er ihn vor rund sechs Jahren zum letzten Mal gehört hatte. »Ein Drache. Sie sind harmlos, nicht wahr?« »Die ich damals kennenlernte, waren es. Obwohl ich mich zuerst vor ihnen fürchtete, weil ich heimlich in ihren nächtlichen Versammlungsort eingedrungen war.« Orthrek entspannte sich etwas. Plötzlich rauschte es in der Luft. Ein geflügeltes Tier mit langem Hals und dreieckigem Schädel bremste seinen Flug vor der schirmförmigen Krone eines Ukalandobaumes und flatterte vor einer bestimmten Stelle herum. »Tatsächlich, ein Drache. Aber was will er dort oben?« »Vritra?«, rief die Arkonidin. Und lauter: »Vritra!« Der Drache flatterte heftiger, plötzlich schlug aus dem undurchsichtigen Blattgewirr der Ukalandobaumkrone eine krallenbewehrte Tatze nach ihm. Im nächsten Moment hatte Raimanja den Thermostrahler gehoben, gezielt und gefeuert. Im Blattgewirr ertönte lautes Kreischen. Blätter, Zweige und Äste gerieten in wilde Bewegung. Raimanja feuerte abermals. Das Kreischen brach ab. Rauch und Dampf schossen explosionsartig
aus der Baumkrone, der qualmende Körper einer Raubkatze stürzte sich überschlagend in die Tiefe und schlug klatschend auf den sumpfigen Boden. Der Drache hörte auf zu flattern, breitete die lederhäutigen Schwingen weit aus und segelte herab. Vor Raimanja landete er, reckte den Kopf und schaute sie an. »Raimanja«, sagte er. »Wir haben uns lange nicht gesehen, doch ich vergaß dich nie.« »Danke, dass du uns gewarnt hast«, sagte Orthrek. »Die Raubkatze wollte sich in der Krone über mich schleichen und dann springen, nehme ich an. Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot.« »Ich habe es für Raimanja getan.« Vritra war längst zu voller Größe herangewachsen. »Sie braucht dich. Wäre das nicht der Fall, hätte ich nicht eingegriffen, denn du und deinesgleichen, ihr habt diese Welt meinem Volk verleidet. Seit es die Blinden Spiegel nicht mehr gibt, verkümmern wir und werden bald ausgestorben sein.« Orthrek senkte verlegen den Kopf. Raimanja streckte die Hand aus und berührte zaghaft den Kopf des Drachen. »Sei ihm nicht böse. Er wusste nicht, dass ihr unter der Zerstörung der Blinden Spiegel leiden würdet. Können wir etwas für dein Volk tun?« »Ich glaube nicht. Vielleicht erholen wir uns aus eigener Kraft. Ich muss jetzt weiter.« »Vielen Dank und alles Gute. Ich hoffe, wir sehen uns bald einmal wieder.« »Vielleicht.« Der Drache schwang sich empor und flog dicht über den Wipfeln der Bäume davon. Orthrek blickte auf den Leichnam Percs. »Wir müssen ihn begraben und dann sofort weitergehen.«
Sie fanden den Gleiter, den Perc abgestellt hatte, kurz vor
Sonnenuntergang am Südrand des Sumpfgebiets. Orthrek öffnete das Fahrzeug mit seinem Impulskodegeber und schwang sich hinter die Kontrollen. Raimanja nahm wortlos neben ihm Platz, der Mann startete den Gleiter, steuerte ihn mit Höchstgeschwindigkeit in nördliche Richtung, überflog den riesigen Sdellabaum in der Mitte des Sumpfgebiets und drosselte die Geschwindigkeit. »Falls Tekla nicht zu weit vom Weg abgekommen ist, müssten wir ihn sehen«, sagte der Akone. »Es wird gleich dunkel sein.« Die Arkonidin hatte sich angeschnallt und beugte sich aus der offenen Seitentür, um das Gelände unter dem Gleiter besser beobachten zu können. Mehrmals sah sie Bewegung, aber es stellte sich jedes Mal heraus, dass es sich um Tiere handelte. Als es dunkel wurde, schaltete Orthrek die Scheinwerfer ein und aktivierte die Außenlautsprecher des Fahrzeugs. Seine vielfach verstärkte Stimme dröhnte über das Sumpfgelände und rief nach dem Wissenschaftler. Aber Tekla von Khom antwortete nicht. Nachdem sie das gesamte Gelände zwischen dem Sdellabaum und Teklas Ausgangspunkt abgesucht hatten, zog Orthrek den Gleiter höher und ging auf Heimatkurs. »Heute erreichen wir nichts mehr«, sagte er. »Morgen früh kommen wir zurück und suchen weiter.« Obwohl es sinnlos ist, dachte Raimanja. Oder doch nicht? Hat es nicht immer Sinn, helfen zu wollen? Helfen wir nicht letzten Endes uns selbst, wenn wir versuchen, anderen zu helfen? Unser Streben mag nutzlos sein; sinnlos ist es gewiss nicht. »Du bist so nachdenklich.« Orthrek legte ihr eine Hand auf das linke Knie. »Du trauerst der Vergangenheit nach, nicht wahr?« Raimanja lächelte verloren und legte ihre Hand auf seine. »Haben wir nicht alle etwas, dem wir nachtrauern? Ich glaube, wir sollten das sogar ganz bewusst tun. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass die Vergangenheit nicht mehr beeinflusst
werden kann, wohl aber die Zukunft.« »Du bist sehr klug. Heute verstehe ich nicht mehr, wie ich auf dich herabsehen konnte, als wärst du im Vergleich zu Akoninnen minderwertig. Aber ich nehme an, dass Akon-Akon für meinen Gesinnungswandel verantwortlich ist.« »Warum sagst du Akon-Akon, obwohl du weißt, dass ich diesen Namen nicht gern höre?« »Ist das so schwer zu verstehen?« Raimanja sah dem Mann ins Gesicht und begriff. Orthrek mied den Namen Caycon, weil er nicht daran denken wollte, dass die Frau, mit der er zufrieden und sogar glücklich zusammenlebte, einst einen Arkoniden namens Caycon geliebt hatte. Mit der Erinnerung an jenen Caycon war ein seltsames Gefühl verbunden. Raimanja fragte sich, ob es Wehmut oder Schmerz war. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sie keinen Schmerz verspürte. Dazu war die Zeit mit Caycon wohl zu kurz gewesen. Verwundert stellte sie fest, dass sie sich mit Orthrek stärker verbunden fühlte. Ihn kannte sie dreimal so lange wie Caycon, hatte mit ihm mehr durchgemacht und erlebt als mit Caycon: die Schwierigkeiten, sich gegen eine Natur zu behaupten, in der es eigentlich keine Existenzberechtigung für humanoide Lebewesen gab, die Überwindung des Zivilisationsvakuums und was der Schwierigkeiten mehr waren. Sie beschloss, sich daran zu gewöhnen, dass ihr Sohn Akon-Akon hieß. Dieses Opfer erschien ihr plötzlich nicht zu groß, wenn sie damit Orthrek glücklicher machen konnte. »Flieg etwas schneller«, sagte sie. »Akon-Akon wird schon auf uns warten.« Ein glückliches Lächeln erhellte das harte Gesicht des Akonen. Um seine Mundwinkel zuckte es kaum merklich. »Ja. Ich beeile mich.« Als der Gleiter vor dem Hauptgebäude der Siedlung landete, sahen die Frau und der Mann, dass die Tür geöffnet war. Ein
breiter Lichtstreifen fiel auf die mit roten Steinplatten befestigte Terrasse. Raimanja war beunruhigt, sprang aus dem Fahrzeug, eilte ins Haus und rief nach ihrem Sohn. Doch Akon-Akon meldete sich nicht. Sie kehrte nach einem schnellen Rundgang wieder auf die Terrasse zurück. Orthrek stand unbeweglich draußen, hielt den Thermostrahler locker in der rechten Hand und drehte sich lautlos. Seine Miene verriet, dass er angestrengt in die Wildnis lauschte. Raimanja wusste, dass Orthrek in der Identifizierung kaum hörbarer Laute einige Klassen besser war als sie. Deshalb blieb sie sofort stehen und wagte kaum zu atmen. Nach einer Weile stand Orthrek plötzlich still, lauschte noch einen Moment, blickte zu Raimanja und flüsterte: »Wahrscheinlich ist er in diese Richtung gegangen.« Er deutete nach Südosten. »Ich gehe allein. Pass du hier auf!« Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, war Orthrek mit langen federnden Schritten zwischen den nächststehenden Bäumen untergetaucht. Raimanja ging von dem hellen Rechteck der Tür weg, dass sie im Schatten stand, zog den Blaster und wartete geduldig. Ungefähr eine halbe Tonta verging, bis Orthrek und Akon-Akon zwischen den nächsten Bäumen erschienen und auf die Terrasse zukamen. Raimanja atmete auf und steckte den Thermostrahler ins Gürtelholster zurück. Danach trat sie aus dem Schatten. »Mutter«, sagte Akon-Akon. »Guten Abend.« »Guten Abend. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Warum bist du allein und nachts in den Wald gegangen, mein Junge?« Die großen roten Augen des Jungen blickten sie an. »Ihr brauchtet euch keine Sorgen zu machen«, sagte er mit überraschend präziser Ausdrucksweise – jedenfalls für einen Sechsjährigen. »Die Tiere tun mir nichts, und die Paths kann man
leider nur nachts beobachten. Am Tag schlafen sie in ihren Löchern.« »Die Paths?«, fragte Raimanja, der der Name nichts sagte. »Es sind Wesen, die auf dem Nicht-Weg gehen. Sie stammen nicht von Perpandron und bleiben auch nicht hier, sondern sind auf der Durchreise.« »Ich habe einige bizarre Leuchtflecke gesehen, als ich Akon-Akon suchte«, sagt Orthrek. »Sie tauchten wie aus dem Nichts auf und verschwanden nach einiger Zeit wieder ins Nichts.« »Das waren Paths. Sie suchen irgendetwas, aber ich habe noch nicht herausbekommen, was sie suchen. Kann ich jetzt etwas zu essen haben?« »Selbstverständlich.« Raimanja strich ihrem Jungen über den zerzausten Haarschopf und schob ihn vor sich her ins Haus. Plötzlich stutzte sie und beugte sich vor, drehte Akon-Akons Handflächen nach oben, sodass sie sie genau betrachten konnte. »Was ist los?«, erkundigte sich Orthrek, der hinter ihr gegangen war und nun ebenfalls stehen blieb. »Seine Handflächen!«, stieß Raimanja hervor. »Sieh doch, Orthrek.« Der Akone zog Akon-Akons Hände heran und musterte die Handflächen. »Sternsymbole«, flüsterte er. »Sie sehen aus wie eintätowiert, und sie Raimanja, schalt doch bitte das Licht aus.« Raimanja gehorchte. Als es dunkel wurde, kehrte sie zu Akon-Akon zurück – und sah ganz deutlich die rötlich leuchtenden Symbole, die stilisierte Sterne darzustellen schienen. Wenn Raimanja den Kopf bewegte und die Sternsymbole aus einem anderen Blickwinkel ansah, veränderte sich sogar die Farbe. Sie fragte beunruhigt: »Haben diese Paths das getan?« »Nein.« »Ich nehme an, es hat mit der bewussten Manipulierung zu tun. Zwar
sind mir die Details unbekannt, aber ich hörte damals davon, dass dafür gesorgt sei, dass das Wache Wesen auch äußerlich unverwechselbar als solches erkannt werden würde.« »Was ist?«, fragte Akon-Akon. »Bekomme ich nun etwas zu essen?« »Sofort.« Raimanja schaltete die Beleuchtung wieder ein.
Die Entwicklung war – meiner Ansicht nach – absolut logisch verlaufen. Akon-Akon war nicht im Mentorkristall aufgewachsen, hatte also auch nicht die für ihn gedachte Erziehung und Bildung erhalten. Genauer: nur einen Teil davon, der in der kurzen Zeit nach seiner Geburt vermittelt wurde. Zwar gaben sich Raimanja und Orthrek redlich Mühe, ihm das Wissen ihrer Zivilisationen zu vermitteln, aber da beide nur jeweils einen Ausschnitt aus den vielfältigen Wissensspektren beherrschten, musste sein Wissen notwendigerweise lückenhaft bleiben. Ich wartete darauf, dass Raimanja in die Stadt im Tal zurückkehrte und die Halle mit dem Kubus aufsuchte, in dem ANTE gefangen war, denn ich wollte versuchen, Kontakt mit dem seltsamen Wesen aufzunehmen. Da ich aber an die Nähe der Arkonidin gefesselt war, konnte ich das nur, wenn sich Raimanja persönlich in die Nähe des Kubus begab. Vorerst aber wurde mein Bewusstsein wieder durch die Zeit gewirbelt – und als ich wieder klar sehen konnte, stellte ich fest, dass weitere acht Arkonjahre vergangen waren…
»Du wirst heute vierzehn Arkonjahre alt, mein Junge«, sagte Raimanja. »Du darfst dir etwas Besonderes wünschen.« Raimanja hatte das Gefühl, als sage sie das nicht gänzlich aus freien Stücken. Sie wusste, dass Akon-Akon die Kraft hatte, Orthrek und sie zu beeinflussen, also nahm sie an, dass er ihr diese Worte eingegeben
hatte. Akon-Akon blickte zuerst seine Mutter an, danach den Akonen, den er manchmal Vater nannte, obwohl er wusste, dass er nicht sein leiblicher Vater war. »Ich möchte in die Stadt der Drachen gehen.« »In die Stadt der Drachen?«, fragte Orthrek verständnislos. »Auf Perpandron gibt es keine Stadt der Drachen.« »Ich glaube, ich weiß, was er meint. Die Ruinenstadt, in der ich zum ersten Mal den Drachen begegnete.« Sie wandte sich wieder an Akon-Akon. »Richtig?« »Ja, Mutter.« »Aber was willst du dort?«, fragte Orthrek. »Ich spüre, dass uns von dort aus Gefahr droht. Vielleicht können wir sie abwenden, wenn es uns gelingt, mit ANTE zu sprechen.« »Meinst du das Feuerwesen aus dem grünen Würfel, von dem deine Mutter erzählt hat?« Der Akone wandte sich an Raimanja. »Sagtest du nicht, es sei nicht in den Würfel zurückgekehrt, sondern hätte sich praktisch in Luft aufgelöst?« »Das sagte ich. Aber ich gab damit nur meinen Eindruck wieder. Vielleicht ist ANTE doch in den Würfel zurückgekehrt. Er hat mir gegen den Zyklopen geholfen. Es dürfte also nichts schaden, wenn wir versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.« »Einverstanden. Es entspricht zwar nicht meiner Vorstellung von einer Geburtstagsfeier, aber der Wunsch des Geburtstagskindes ist mir Befehl.« Mit schlecht verhohlenem Stolz beobachtete Raimanja, wie ihr Sohn in die Kampfkombination stieg, die Orthrek aus einer normalen akonischen Kampfkombination passend angefertigt hatte. Akon-Akon war groß für seine vierzehn Jahre, allerdings noch etwas schlaksig. Aber das Gesicht zeigte die Züge eines Arkoniden aus edlem Geblüt. Sie selbst und Orthrek zogen ebenfalls Kampfkombinationen an und rüsteten sich mit Energiewaffen aus. Akon-Akon dagegen lehnte es ab, eine
Waffe zu tragen. Anschließend stiegen sie in den Gleiter, der immer noch zuverlässig arbeitete. Allerdings hatte Orthrek ihn jedes Jahr einmal gründlich überholt, denn bei ihren teilweise weiten Streifzügen über Perpandron wäre es höchst fatal gewesen, wenn das Fahrzeug plötzlich ausfiel, während sie sich vielleicht Tausende Kilometer von der Siedlung entfernt befanden. Nachdem Orthrek den Gleiter gestartet und auf Kurs gebracht hatte, wandte er sich an Akon-Akon, der neben ihm saß. »Genaueres über die Bedrohung weißt du nicht, Junge, oder?« Akon-Akon blickte starr geradeaus. »Nein, Vater. Ich spüre nur, dass etwas auf Perpandron angekommen ist und sich in der Ruinenstadt zu schaffen macht.« Orthrek wechselte einen Blick mit Raimanja und merkte, dass sie beunruhigt war. Er gestand sich ein, dass er ebenfalls Unruhe spürte. Mehr als vierzehn Jahre waren sie auf Perpandron. Es war ihnen nicht immer leichtgefallen, ohne jeden Kontakt zur Zivilisation auf einem wilden, ungezähmten Planeten leben zu müssen. Aber nun fragte sich Orthrek, ob sie sich nicht glücklich schätzen durften, dass sie so lange hatten allein bleiben dürfen. War wirklich etwas Fremdes nach Perpandron gekommen, konnte das bedeuten, dass der relative Frieden, in dem sie mit der Natur des Planeten gelebt hatten, für immer zerstört wurde. Orthrek drückte das Fahrzeug tiefer und drosselte die Geschwindigkeit. Sie hörten die normalen Geräusche der Wildnis: das Lärmen von Baumbewohnern, das Kreischen von Vögeln und in regelmäßigen Abständen das klagende Rufen eines Umaluks. Erst nach einiger Zeit wurde ihnen klar, dass diese Geräusche von überall kamen, nur nicht aus der Richtung, in der die Ruinenstadt lag. Akon-Akon schwang sich schweigend ins Freie. »Warte.« Orthrek eilte dem Jungen nach. Unterwegs entsicherte er den Thermostrahler. Akon-Akon hörte nicht,
sondern ging unbeirrt weiter. Orthrek kam an die linke Seite, während Raimanja an die rechte Seite ihres Sohnes eilte. Die Arkonidin vermochte kaum die Angst um ihren Sohn zu verbergen. Auf dem Hügel thronte das ungeheuer massiv wirkende Bauwerk, dessen Wände aus kreuz und quer geschichteten Basaltstempeln bestanden. Auf den terrassenförmig abfallenden Hügelflanken erhoben sich die Überreste anderer Gebäude: teilweise bewachsene Mauern, die ebenfalls aus Basaltstempeln errichtet worden waren. Aber keine krummschnäbligen Vögel lärmten, keine pelzbewachsenen kleinen Primaten turnten spielerisch auf Palmen und Mauern herum, und auch keine kleinen Echsen lagen sonnenhungrig auf den Mauerkronen. Heute fehlten alle diese Tiere. Die Stadt im Tal wirkte wie eine Gruft. Wieder setzte sich Akon-Akon in Bewegung. Sein Gesicht war ausdruckslos; nur die roten Augen schienen stärker als sonst zu strahlen. Mit den Bewegungen einer Marionette ging er weiter. »Es sieht aus, als würde er beeinflusst«, flüsterte Raimanja, die Augen angstvoll geweitet. »Müssen wir ihn nicht zurückhalten?« »Ich fürchte, er würde sich nicht zurückhalten lassen. Wir müssen ihm folgen und ihn beschützen, sollte etwas angreifen.« Sie gingen zwei Schritte hinter dem Jungen, der inzwischen die unterste Terrasse erreicht hatte und sich an den Aufstieg machte. Plötzlich packte Raimanja Orthreks Arm und presste ihn zusammen. »Dort!« Sie deutete auf einen bunt gefiederten Vogel, der unter einem Strauch auf der Seite lag, die Beine steif vom Körper abgespreizt. »Er ist tot.« »Ich habe ihn schon gesehen.« Orthrek deutete zur nächsten Mauerruine. »Die sind auch tot.« Raimanja sah, dass am Fuß der Mauerruine drei der pelzbedeckten kleinen Primaten lagen. Ihre Haltung verriet
unmissverständlich, dass auch sie tot waren. Raimanja schauderte, wollte ihrem Sohn zurufen, er solle umkehren. Doch sie merkte, dass sie es nicht konnte. Während sie weitergingen, entdeckten sie immer mehr tote Tiere. Orthrek untersuchte einige flüchtig, konnte aber keine Verletzungen erkennen. Er war ebenso ratlos wie Raimanja. Nur Akon-Akon schien genau zu wissen, was er wollte. Als der Junge den Hauptbau erreichte, wandte er sich nicht dem Tor zu, sondern schritt um das Bauwerk. Auf der anderen Seite blieb er stehen – und Raimanja und Orthrek folgten seinem Beispiel. Auf dem ebenen Boden hinter dem Hauptbau stand ein seltsames Objekt aus silbrig schimmerndem Material, eine Konstruktion, die aus einer zu einem großen Ring geformten Röhre bestand, an der an Streben ein eiförmiger Körper verankert war, so groß wie drei normale Fluggleiter und ohne erkennbare Öffnung. Die drei Personen standen einige Zentitontas unbeweglich und starrten das fremdartige Gebilde an. Erst dann hörten sie das leise dünne Pfeifen, das aus dem Innern des eiförmigen Körpers zu dringen schien.
»Vielleicht geht eine gefährliche Strahlung von dem Ding aus«, sagte Raimanja. Akon-Akon drehte sich um. »Ich weiß nicht, woraus die Bedrohung besteht, aber sie ist da. Wir müssen versuchen, Kontakt mit ANTE herzustellen. Nur ANTE kann uns helfen.« Er ging zu dem Tor im Hauptbau und schritt, ohne zu zögern, hindurch. Orthrek und Raimanja folgten, schalteten die Handscheinwerfer ein, da das Tageslicht nur spärlich in die gigantische Halle sickerte. »Er ist kleiner.« Die Arkonidin deutete auf den trüb hellgrünen Block von anderthalb Metern Kantenlänge, der genau im Mittelpunkt der Halle stand. »Er hat nur noch drei
Viertel der früheren Kantenlänge.« »Verhaltet euch bitte still.« Akon-Akon trat an den Kubus und legte seine Handflächen auf zwei der Seitenflächen. Ein schwaches Knistern ertönte, dann trat wieder Stille ein. Plötzlich strahlten im Innern des Würfels rötliche Sternsymbole auf, bildeten eine Konstellation, die sich majestätisch langsam drehte. Dabei strebten die Sternsymbole allmählich auseinander – und in dem angedeuteten Hohlraum zwischen ihnen formte sich eine annähernd humanoide Gestalt, deren Körperoberfläche durchsichtig war. Unter der Haut aber pulsierte rötliches Feuer – und dort, wo bei einem Arkoniden das Gehirn war, wogte und wallte eine graue Masse, in der es hin und wieder grell aufblitzte. Orthrek holte hörbar Luft. »Martianec, der Gott des Feuers und des Krieges! Ich hielt es immer für eine Sage, aber das ist er wirklich.« »Das ist ANTE.« Akon-Akon trat von dem Würfel zurück. Kurz darauf wurde dieser immer heller, bis von ihm nur noch ein zartgrüner Schimmer zu sehen war. Und durch diesen zartgrünen Schimmer stieg das Feuerwesen. »Es ist kleiner als damals«, sagte Raimanja. ANTE wandte sich der Arkonidin zu. Kleine Flammen leckten aus den Ohren und verschwanden wieder. »Meine Kraft verrinnt, seit die Zeitkapsel gelandet ist. Diejenigen meines Volkes, die auf der Suche nach Abenteuern auswanderten, müssen einen Fehler begangen haben. Jemand versuchte, ihre Existenz auszulöschen, bevor sie auswanderten. Er schickte die Zeitkapsel, doch er traf nicht die richtige Zeitphase. Er kann mich auslöschen, aber er kann nicht verhindern, dass mein Volk seinen Fehler begeht, der wahrscheinlich seinem Volk zum Verhängnis wurde.« »Wer ist mit der Zeitkapsel gekommen?«, erkundigte sich Orthrek.
»Der Tod«, antwortete ANTE lakonisch. »Wir sahen, dass der Tod im Tal seine Ernte gehalten hat«, sagte Raimanja. »Er wird sich über ganz Perpandron ausbreiten und alles Leben zerstören«, warf Akon-Akon ein. »ANTE, du musst uns helfen. Vernichte die Zeitkapsel.« »Das kann ich nicht. Ich kann nur versuchen, sie in eine Zeitphase zu drängen, wo sie keinen Schaden anrichten kann.« Orthreks Augen glitzerten. »So ist Zeitreise also doch möglich. Unsere Wissenschaftler stritten sich darüber. Etliche führende Leute behaupteten, Zeitreisen seien niemals möglich.« Aus den Augen von ANTE schossen zwei dünne Blitze. »Alles erscheint unmöglich, solange es nicht über das Stadium der Hypothese hinausgelangt. Und auch die meisten Theorien werden angezweifelt, bevor sie durch ihre praktische Anwendung bewiesen werden. Wäre Zeitreise unmöglich, würdest du dich in diesem Moment nicht selbst beobachten können, Akon-Akon.« »Ich – mich selbst?« Der Junge schaute sich verstört um, lachte unsicher. »Du treibst Späße mit mir, ANTE.« »Ich spaße nie. In einigen tausend Jahren wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit sagte. Orthrek, wohin gehst du?« Orthrek, der sich leise entfernt hatte, blieb abrupt stehen. »Ich sehe mir die Zeitkapsel an.« »Komm zurück. Es würde dir nichts nützen, die Funktionen der Zeitkapsel zu durchschauen. Außerdem ist es gefährlich, dem Gerät zu nahe zu kommen.« »Ich halte mich nicht lange auf.« Orthrek stürmte aus der Halle. Raimanja wollte ihm folgen, aber sie konnte sich plötzlich nicht von der Stelle rühren. Wild fuhr sie zu ihrem Sohn herum. »Lass mich gehen, Akon-Akon. Oder hol Orthrek zurück.« »Ihn kann ich nicht mehr beeinflussen. Die Ausstrahlung der
Zeitkapsel überlagert meine Kraft, Orthrek befindet sich bereits im Bereich dieser Interferenz.« »Dann lass mich gehen. Du bist mein Sohn und musst mir gehorchen!« »Weil du meine Mutter bist, werde ich dich nicht in den Tod gehen lassen.« »Ich will versuchen, die Zeitkapsel so schnell wie möglich in eine andere Phase abzudrängen«, rief ANTE. »Vielleicht schaffe ich es, bevor sich Orthrek zu lange in ihrer Nähe aufgehalten hat. Alles Gute für euch.« Das Feuerwesen leuchtete von innen heraus in blutigem Rot. Gleichzeitig schrumpfte es. Ein hohles Singen und Klingen erfüllte die Luft, die innerhalb der Halle plötzlich flimmerte. Immer schneller schrumpfte das Wesen. Dabei verstärkte sich sein Leuchten so sehr, dass Raimanja geblendet die Hände vor die Augen presste. Akon-Akon schien das grelle Leuchten nichts auszumachen. Er starrte unverwandt hinein, bis ANTE mit einem sonnenhellen Aufblitzen auf die Dimension null geschrumpft war. Von draußen kam ein schrilles Pfeifen. Durch das Tor flackerte grünes Licht und erlosch in dem Moment, in dem das Pfeifen verstummte. Als Raimanja merkte, dass sie ihre Füße wieder bewegen konnte, eilte sie zum Tor. Doch bevor sie es erreichte, wankte Orthrek herein. »Ich habe es gesehen«, flüsterte er mit belegter Stimme. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, er zitterte wie im Fieber. »Ich habe es gesehen.« Raimanja schluchzte auf und stützte ihn. »Bist du verletzt?« Er lächelte geistesabwesend. »Nicht verletzt. Ich habe ein Wunder gesehen. Aber dann war es weg. Wo bin ich?« »Bei mir, bei Raimanja. Komm, wir gehen nach Hause.« Akon-Akon erschien an der anderen Seite des Akonen. Gemeinsam führten er und Raimanja Orthrek zum Gleiter, betteten ihn auf die Rückbank. Raimanja startete und flog mit
Höchstgeschwindigkeit zur Siedlung. Als der Gleiter aufsetzte, drehte sie sich zu Akon-Akon um, der neben Orthrek saß. »Schnell, wir müssen ihn ins Haus bringen.« Der Junge sah sie ausdruckslos an. »Es eilt nicht«, flüsterte er. »Er ist tot.«
Ich hatte mich ANTE noch einmal zur Verfügung gestellt. Doch diesmal hatte ich – im Gegensatz zu unserem ersten Zusammenwirken – so gut wie nichts begriffen. Dabei hätte ich vor allem gern mehr über die Zeitkapsel gewusst, die – einige Jahrtausende vor meiner Jetztzeit – auf Perpandron materialisiert war. Die Frage, welche Zivilisation wohl diese Zeitkapsel gebaut und auf den Weg geschickt hatte, würde mich sicher mein ganzes Leben bewegen. Das Motiv jener Leute dagegen hatte ich aus den Andeutungen des Feuerwesens entnehmen können. Sein Volk, das den Krieg zu seinem Lebensinhalt erkoren halte, musste bei seinen Streifzügen mit einer Zivilisation zusammengestoßen sein, die dem Krieg keinen Reiz abgewinnen konnte. Es hatte entsprechend hart reagiert und eine Zeitkapsel losgeschickt, die die Entstehung einer Zivilisation auf Perpandron und damit die Entstehung einer Gefahr für sie selbst unterbinden sollte. Dank dem Eingreifen von ANTE war ihnen das misslungen. Es war sicher besser so, denn niemand hatte das Recht, die Entstehung einer Zivilisation überhaupt zu verhindern, auch dann nicht, wenn diese Zivilisation im Lauf ihrer galaktischen Ausbreitung auf den falschen Weg geriet und andere Zivilisationen gefährdete. Ich bedauerte, dass mein Bewusstseinsinhalt an Raimanja gefesselt war. Dadurch hatte ich Orthrek nicht folgen und somit nicht sehen können, was er gesehen – und was ihn anscheinend getötet hatte. Und was mochte in Akon-Akons Bewusstsein vorgegangen sein, als er sich selbst beobachtete – beziehungsweise sein jüngeres Ich, das rein biologisch fast seinem Jetztzeit-Zustand entsprach.
Ich wollte mich mit meinem Pflegevater in Verbindung setzen, aber bevor es dazu kam, spürte ich abermals den Wirbel der Zeit, der mein Bewusstsein mit sich riss…
Raimanja wischte sich den Schweiß von der Stirn und spähte über die hitzeflimmernde Steppe. Ungefähr einen Kilometer entfernt kreisten Vogelschwärme über der Wasserfläche eines Sees. Sie fächelten sich mit dem Schlagen ihrer Flügel Kühlung zu; die Sonne brannte an diesem Tag besonders heiß herab. Am gegenüberliegenden Ufer des Sees sah Raimanja die Ausläufer des Schwarzen Dschungels. Orthrek hatte ihn so genannt, weil er in ihm die schwarz glänzenden Trümmer eines ehemaligen Tempels entdeckt hatte. Das lag fast vier Jahre zurück. Orthrek hatte mit Raimanja hierher zurückkehren wollen, um die Trümmer genau zu untersuchen. Das Auftauchen der Zeitkapsel hatte diesen Plan zunichtegemacht – jedenfalls was ihn selbst betraf. Raimanjas Augen verdunkelten sich. Sie hatte den Verlust des Mannes, der früher einmal ihr Feind gewesen war, immer noch nicht ganz verwunden. Seit seinem Tod war sie stiller geworden, nur noch selten auf die Jagd gegangen und hatte oft tontalang an Orthreks Grab gesessen. Akon-Akon war taktvoll genug gewesen, sie weitgehend in Ruhe zu lassen. Er hatte sich immer öfter den Gleiter genommen, um Erkundungsflüge zu unternehmen. In letzter Zeit war er immer unruhiger geworden, so als würde er ein bestimmtes Ereignis erwarten. Die Frau fragte sich, ob das daran lag, dass die akonischen Genetiker bei der Manipulation des Embryos bereits eine Erwartungshaltung vorprogrammiert hatten, die nach achtzehn Jahren zum Durchbruch kommen sollte. Immerhin war vorgesehen gewesen, dass Akon-Akon nach Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs von den Akonen abgeholt und auf Arkon eingeschleust werden sollte. Das würde allerdings nicht geschehen, denn die akonische
Regierung hatte niemals erfahren, welcher Planet für das Wache Wesen ausgewählt worden war. Raimanja selbst hatte es verhindert. Die Frau lächelte bei dem Gedanken daran, wie zornig Orthrek gewesen war, als er zusammen mit den anderen beiden Überlebenden der Explosionskatastrophe in einem kleinen Beiboot wieder auf Perpandron landete. Er hätte sie am liebsten getötet, doch Akon-Akon hatte schon als Baby seine Kraft so einsetzen können, dass er andere Personen in seinem Sinne lenkte – und es war in seinem Sinne gewesen, dass die überlebenden Akonen und seine Mutter gut zusammenarbeiteten und für sein Wohl sorgten. Langsam bewegte sich Raimanja weiter über die Steppe. Sie trug nur leichtes Gepäck und einen Kombistrahler. Akon-Akon wollte am Nachmittag mit dem Gleiter zu ihr stoßen und ihr bei den Untersuchungen der schwarzen Trümmer helfen. Er war, nachdem er sie in der Steppe abgesetzt hatte, zur Stadt der Drachen geflogen. Was er dort wollte, verriet er nicht. Irgendwie aber musste es mit der Unrast zu tun haben, die ihn seit einiger Zeit beherrschte. Als die Frau eine Gruppe Raubkatzen entdeckte, schlug sie einen Bogen. Die Haltung der Tiere deutete darauf hin, dass sie satt und träge waren. Folglich würden sie nicht angreifen, sofern ihnen Raimanja nicht zu nahe kam. Als sie sie sahen, hoben sie die Köpfe, schauten desinteressiert herüber und verfielen wieder in ihren Verdauungshalbschlaf. Raimanja wanderte am Ufer des Sees entlang. Die Hitze störte sie nicht besonders, auf Arkon war es ebenfalls heiß gewesen, sogar meist noch heißer als auf Perpandron. Zahllose Vögel tummelten sich am und im Wasser, genauso viele kreisten in niedriger Höhe über dem See. Die Vögel kümmerten sich kaum um die Frau, beobachteten sie lediglich und flatterten ein paar Schritte weiter, wenn Raimanja ihre Fluchtdistanz unterschritt. Als Raimanja in den Schatten des Dschungels trat, blieb sie
stehen, um ihren Augen Gelegenheit zu geben, sich von dem grellen Sonnenschein an die grünliche Dämmerung zu gewöhnen. Es wäre zu gefährlich gewesen, halb blind in den Wald zu gehen. Nicht einmal so sehr wegen der großen Räuber, sondern wegen der giftigen Schlangenwürmer, Springfrösche und Riesenkäfer, die erst gefährlich wurden, wenn man versehentlich auf sie trat. Raimanja wanderte gern durch die Dschungel Perpandrons. Sie kannte ihre Gefahren, wusste, wie sie ihnen ausweichen oder ihnen begegnen konnte, und erfreute sich daran, die Tier- und Pflanzenwelt zu beobachten. Viele Tiere verhielten sich ausgesprochen zutraulich, vor allem in den Gebieten, in denen Raimanja und Akon-Akon noch nie gejagt hatten. Gegen Mittag erreichte die Arkonidin die Lichtung, auf der Orthrek die schwarzen Trümmer gefunden hatte. Es handelte sich um eine kreisrunde Lichtung von vielleicht fünfhundert Metern Durchmesser, auf der kein einziger Baum oder Strauch wuchs. Die Vegetation bestand ausschließlich aus höchstens kniehohen Gräsern und Kräutern, die im schwachen Wind eine wellenförmige Bewegung zeigten. Raimanjas Augen funkelten erregt, als sie die großen tiefschwarzen Platten, Dreiecke und Würfel sah, die sich an fünf Stellen der Lichtung bis zu fünfzehn Meter hoch türmten. Die Arkonidin ahnte, dass das Material nicht etwa bearbeiteter Fels war, sondern ein künstlich hergestelltes Material von hoher Dichte. Die Überreste einer weiteren untergegangenen Zivilisation? War Perpandron in seiner Vergangenheit immer wieder Zufluchtsort von Raumfahrern gewesen, die sich hier so sicher vor Verfolgern wähnten, dass sie mit dem Aufbau einer Zivilisation begannen? Und warum hatte sich keine dieser Zivilisationen über den ganzen Planeten ausgebreitet? Was hatte die Raumfahrer oder ihre Nachkommen wieder weitergetrieben?
Ein Gedanke kam Raimanja, der so fantastisch, aber zugleich auch so faszinierend war, dass sie sich völlig geistesabwesend über die Lichtung bewegte. War die Zeitkapsel, von ANTE in eine andere Phase abgedrängt, vielleicht zum ruhelosen Wanderer durch die Zeiten geworden, der in bestimmten Abständen immer wieder auf Perpandron stieß und dort seine unheilvolle Wirkung entfaltete und die, die hier Zuflucht gefunden zu haben glaubten, tötete oder vergrämte? Raimanja lächelte. Im nächsten Augenblick glitt sie aus. Ihre Arme ruderten Halt suchend, stießen gegen die spiegelglatte Wandung eines trichterähnlichen Lochs – dann wurde Raimanja von dem Schlund verschlungen. Eine Falle, dachte sie, während sie die glatte schiefe Ebene hinabrutschte und es dunkel um sie wurde. Kurz darauf prallten die Füße hart auf. Raimanja geriet nicht in Panik, merkte, dass ihre Fahrt beendet war, und drehte den Kopf, bis sie den Lichtkreis sah, der die Öffnung des Trichters markierte. Sie zweifelte nicht daran, dass es sich um die Falle eines Tiers handelte, auch wenn sie ein Tier, das so große Trichterfallen baute, bisher nicht kennengelernt hatte. Eine Dezitonta später musste sie einsehen, dass sie sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Die Wandung war so glatt, dass ihre Hände und Füße keinen Halt fanden. Sie war zudem so hart, dass nicht einmal die Klinge des Vibratormessers eindrang. Als Raimanja von oben ein Rascheln und rhythmisches Knirschen hörte, griff sie nach dem Kombistrahler – und ins Leere. Beunruhigt tastete sie den Grund des Trichters ab, wo sie ihre Waffe vermutet hatte, aber vergeblich. Der Kombistrahler musste ihr bereits draußen entfallen sein. Im nächsten Augenblick verdunkelte sich die Trichteröffnung. Raimanja nahm das Vibratormesser in die Hand und spähte nach oben. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Konturen eines Schlangen- oder Echsenkopfes erkannte, so groß wie der Schädel eines Zyklopen und mit zwei Reihen nach hinten gerichteter Zähne sowie zwei
dolchartigen Giftzähnen bewehrt. Eine armlange gespaltene Zunge schob sich aus dem Maul und tastete nach dem Gesicht der Frau. Raimanjas Hand mit dem aktivierten Vibratormesser zuckte vor, beschrieb einen Halbkreis. Die rasend schnell vibrierende Klinge schnitt zwei unterarmlange Enden der gespaltenen Zunge ab. Von der Trichteröffnung kam ein überraschtes Fauchen, der Reptilschädel schoss in die Falle. Der Oberkiefer mit den beiden furchterregenden Giftzähnen holte zum tödlichen Biss aus. Die Arkonidin sah keine andere Möglichkeit, als dem Zuschnappen des Kiefers zuvorzukommen. Wieder zuckte ihr Arm vor, holte diesmal von oben aus und fuhr kraftvoll herab. Die vibrierende Klinge teilte den Oberkiefer, glitt an einem Giftzahn ab und wurde fortgeschleudert, als die Riesenschlange trotz ihrer Verletzung noch zubiss. Raimanja klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an die Giftzähne. Die kleineren Haltezähne zerrissen ihre Kombination und fügten ihr tiefe Fleischwunden zu. Aber sie hielt eisern fest. Das riesige Reptil spürte die Beute zwischen den Zähnen und riss den Kopf aus der Falle. Um Raimanja wurde es schlagartig hell. Ihre Hände klammerten sich weiterhin um die schlüpfrigen Giftzähne. Mit einem kraftvollen Aufschwung beförderte sich Raimanja auf den Schädel des Reptils, wurde herabgeschleudert und kroch beharrlich zu der Stelle im Gras, an der sie den Kombistrahler entdeckt hatte. Als die Riesenschlange, die wegen des Verlusts ihrer Zunge als Organ, mit dem sie die Umgebung nach Gerüchen abtastete, gehandicapt war, sie endlich erspäht hatte und erneut zustoßen wollte, jagte Raimanja ihr eine Serie Thermoimpulse in den Schädel, der mit einem dumpfen Knall zerbarst. Dann brach die Arkonidin bewusstlos zusammen und sah nicht mehr, dass ein einzelner Drache über ihr kreiste und mit kraftvoll schlagenden Schwingen davonflog…
Akon-Akon traf zwei Tontas später auf der Lichtung ein. Ein Drache hatte ihn in der Ruinenstadt aufgestöbert und nicht eher in Ruhe gelassen, bis er in den Gleiter gestiegen und ihm gefolgt war. Er setzte den Gleiter hart auf, sprang heraus und eilte zu seiner Mutter. Raimanjas Körper wies viele tiefe Wunden auf, beide Beine waren gebrochen, aber das wäre nicht so tragisch gewesen, hätte sich ihre Haut nicht auf eine Weise verfärbt, die typisch war dafür, dass die betreffende Person das Gift eines Reptils von Perpandron im Blut hatte. Akon-Akon sah, dass Raimanjas Medobox fehlte. Er fand sie vor der Trichteröffnung im zerdrückten Gras, setzte sie seiner Mutter auf die Brust und schaltete sie ein. Doch das Gerät arbeitete nicht. Etwas musste in seinem Innern zerbrochen sein, wahrscheinlich, als das Reptil sich darübergewälzt hatte. Als Raimanja die Augen aufschlug, nahm Akon-Akon ihren Kopf behutsam zwischen die Hände. »Mutter!« Raimanja lächelte. »Ich wäre gern länger bei dir geblieben, mein Junge«, flüsterte sie kaum hörbar. »Leb wohl! Vielleicht treffe ich – irgendwann und irgendwo – deinen Vater wieder.« Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie bäumte sich röchelnd auf, sank ruckartig zurück. Der Kopf fiel schlaff zur Seite. Akon-Akon schloss ihre Augen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er Raimanja zum Gleiter trug, sie auf die Rückbank bettete und hinter den Kontrollen Platz nahm. Er wusste, dass er nun ganz allein auf Perpandron war und allein bleiben würde, sofern zu seinen Lebzeiten niemand auf dieser vergessenen Welt landete. Plötzlich stutzte er. Zu Lebzeiten? Mit der Hilfe des Schlafkristalls konnte er doch so lange leben, bis jemand kam und ihn weckte. Akon-Akon beschloss, seine Mutter im Grab Orthreks zu bestatten und dann nach Amalek zu gehen, um seinen Platz im Schlafkristall einzunehmen – und zu warten…
Eisige Kälte, durchdrungen von einem schwachen rhythmischen Pulsieren – das waren die ersten Anzeichen der Rückkehr des Bewusstseinsinhalts in den eigenen Körper. So viele Empfindungen waren in der Vergangenheit auf mich eingestürmt, dass sich mein Geist nicht sofort im Körper zurechtfand. Erst nach und nach stellten sich die vielfältigen Rückkopplungsfunktionen wieder ein. Ich spürte, dass ich am ganzen Körper zitterte und dass mir der Schweiß ausbrach, aber dabei handelte es sich wohl nur um eine Art Rückversetzungsschock. Als ich mich umsah, entdeckte ich alle unsere Gefährten in der gleichen Haltung, in der ich sie zuletzt gesehen hatte – vor Tausenden von Jahren oder vor wenigen Augenblicken. Mit Ausnahme von Akon-Akon. Der Junge war aus der Starre erwacht. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine breite Skala von Gefühlen wider. Langsam hob er die Hände, die den Kerlas-Stab hielten. Der seltsame Stab wirkte stumpfer als vor unserer körperlosen Reise durch die Zeiten. Vielleicht hatte sich die Kraft, die unsere Zeitversetzungen ermöglicht hatte, verbraucht. Doch ich war sicher, dass in dem mysteriösen Stab noch andere Kräfte schlummerten. Ich fing einen bedeutungsvollen Blick Fartuloons auf. Mein Pflegevater schien sich die gleichen Fragen zu stellen wie ich. Die Herkunft Akon-Akons war geklärt, desgleichen seine Bestimmung. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nach Arkon gehen würde, um zu versuchen, seine Bestimmung zu erfüllen. Als der Embryo manipuliert wurde, waren die Voraussetzungen völlig andere als heute, Jahrtausende später. Außerdem hatte Akon-Akon nicht, wie es das Programm der Akonen vorsah, die achtzehn ersten Jahre im Mentorkristall verbracht. Alles, was er in jener Zeit hatte lernen sollen, hatte er nicht gelernt. Das erklärte wahrscheinlich seine bisherigen Fehlreaktionen. Andererseits stellte sich die Frage, ob nicht doch wenigstens ein Teil des Wissens übermittelt wurde – in der langen Zeit des freiwilligen Tiefschlafs nach Raimanjas Tod. Unabhängig davon, und das erschien mir wichtiger, hatte ich gesehen,
dass sich Akon-Akon in der vertrauten Umgebung von Perpandron nicht schlechter verhalten hatte, als es jeder andere Arkonide seines Alters getan hätte. Was immer die Akonen aus ihm gemacht hatten, er war ein vernünftiges Wesen mit starken Empfindungen und ausgeprägtem Sinn für Gut und Böse. Mit seinen besonderen Fähigkeiten konnte er große Taten vollbringen – im Sinne des Bösen oder des Guten. Es war noch alles offen. Die Zukunft musste zeigen, für welche Seite er sich entschied. Ich schüttelte diese Gedanken ab, blickte nach oben, wo die Strahlen der Morgensonne durch das defekte Dach der Station fielen, und sagte: »Ein neuer Tag!«
Epilog Lao Tse: Tao-Te-King, sechzehntes Kapitel Ich tue mein Äußerstes, um leer zu werden, und versenke mich tief in die Stille. Die zehntausend Dinge kommen und gehen, wenn dein Selbst darauf achtet. Sie wachsen und blühen und kehren zu ihrem Ursprung zurück. Zum Ursprung zurückkehren heißt: in die Stille gehen. In die Stille gehen heißt: zu seiner Bestimmung zurückkehren. Zu seiner Bestimmung zurückkehren heißt: das Ewige erkennen. Das Ewige erkennen heißt: erleuchtet sein. Weh dem, der mit Absicht handelt, ohne das Ewige zu erkennen! Doch wer das Ewige erkennt und danach handelt, dessen Tun führt zu Gerechtigkeit, Gerechtigkeit zu seinem einen königlichen Wesen, das königliche Wesen zum Himmel, der Himmel zum Weg, der Weg zur Ewigkeit. Auch wenn der Körper stirbt – der Weg währt ewig…
ENDE
ATLAN-Band 38 Das Erbe der Akonen erscheint im Frühjahr 2011
Nachwort Im Rahmen der insgesamt 850 Romane umfassenden ATLAN-Heftserie erschienen zwischen 1973 und 1977 unter dem Titel ATLAN-exklusiv – Der Held von Arkon zunächst im vierwöchentlichen (Bände 88 bis 126), dann im zweiwöchentlichen Wechsel mit den Abenteuern Im Auftrag der Menschheit (Bände 128 bis 176), danach im normalen wöchentlichen Rhythmus (Bände 177 bis 299) insgesamt 160 Romane, die nun in bearbeiteter Form als »Blaubücher« veröffentlicht werden. In Band 37 flossen, ungeachtet der notwendigen und möglichst sanften Eingriffe, Korrekturen, Kürzungen, Umstellungen und Ergänzungen, um aus fünf Einzelheften einen geschlossenen Roman zu machen, der dennoch dem ursprünglichen Flair möglichst nahekommen soll, folgende Hefte ein: Band 238 Das Erbe der Akonen von Harvey Patton, Band 240 Sklaven aus der Retorte von Dirk Hess, Band 241 Stab der Macht von Kurt Mahr sowie Band 242 Brennpunkt Vergangenheit und Band 243 Die Drachenwelt von H. G. Ewers. Mit »Brennpunkt Vergangenheit« wird in Atlans Leben ein ganz besonderes Kapitel aufgeschlagen. Endlich erfährt der Kristallprinz nicht nur die Hintergründe von Akon-Akon, sondern erhält auch Einblick in die arkonidische Frühgeschichte. Bedingt durch die Feindschaft zwischen akonischen Stammvätern und den Abtrünnigen, die sich schon im Großen Befreiungskrieg nur noch Arkoniden nannten – die Freien –, folgte der zweiten kriegerischen Auseinandersetzung, dem entscheidenden Zentrumskrieg, eine massive Geschichtsfälschung. Schon vorher wurde die pure Existenz der Akonen schlichtweg geleugnet, jedenfalls was eine wie auch immer geartete Verwandtschaft oder gar Abstammung betraf, doch mit dem Sieg forcierte sich diese
Entwicklung noch. Bezeichnend, dass der als neue Heimat gewählte Kugelsternhaufen Urdnir nach dem siegreichen Admiral in Talur Ziel umbenannt wurde; ein Begriff, aus dem später Thantur-Lok wurde, Thanturs Ziel. Gravierender noch war die Einführung einer neuen, selbstverständlich rückdatierten Zeitrechnung, um auch in dieser Hinsicht die Verbindungen zu den Akonen auszumerzen. Mit Imperator Gwalon I. – zuvor Reichsadmiral Farthu da Lloonet, der den Zwist zwischen den Familien der Akonda und Sulithur recht rabiat beendet hatte – bestieg der erste Höchstedle den Kristallthron Arkons, mit ihm begannen der Aufbau und die Expansion des Großen Imperiums. Gänzlich beseitigen ließ sich das geschichtliche Wissen selbstverständlich nicht. Daten und Überlieferungen hielten sich in den Privatarchiven vieler Familien, deren fortan adliger Status sie auch vor Verfolgung schützte. Hinzu kamen die ebenfalls fortbestehenden, wenngleich immer wieder und weiter ausgeschmückten Legenden und Sagen – die vom Liebespaar Caycon und Raimanja, deren Sohn ein Waches Wesen gewesen sein soll; die vom Magnortöter Klinsanthor und seinem fürchterlichen Schatten – und vor allem natürlich jene Erzählungen rings um Arbaraith, die Zwölf Heroen und ihre Taten, welche ihren Ursprung zum Teil in noch deutlich älteren Überlieferungen hatten und, wie wir wissen, bis in die Zeit der Lemurer und des Kriegs gegen die Haluter zurückreichten. Ausgebildet von seinem Lehrmeister Fartuloon, wusste der jugendliche Atlan natürlich vieles davon. Doch selbst unter der Voraussetzung, dass in nahezu allen Sagen und Legenden ein Körnchen Wahrheit steckt, bleibt es ein Unterschied, ob diese Überlieferungen für sich betrachtet werden oder ob sie quasi auferstehen und direkt beobachtet, fast schon miterlebt werden. Und genau das passierte Atlan, als er durch die Kräfte Akon-Akons und jene des Kerlas-Stabes zum unmittelbaren
Beobachter wurde, zuerst Caycon und dann Raimanja »über die Schulter« schaute und endlich etwas Licht in die eigenen Erlebnisse auf Perpandron bringen konnte. Als ich diese Geschichten vor langer Zeit erstmals las, war ich fasziniert. Auf bemerkenswerte Weise erweiterten sie die in der PERRY RHODAN-Serie meist nur knapp angedeuteten Eckpunkte. Mag es an einigen Stellen auch Unstimmigkeiten, Holprigkeiten oder gar Widersprüche gegeben haben – unter dem Strich waren es wertvolle Mosaiksteinchen, die das Bild erweiterten. Ich hoffe, dass sich diese Faszination auch in der Bearbeitung erhalten hat. Wie stets gilt der Dank allen Helfern im Hintergrund – sowie Sabine Kropp und Klaus N. Frick. Rainer Castor
Glossar Akonen: Angehörige dieses Volks unterscheiden sich äußerlich kaum von Arkoniden oder Terranern und sind durchschnittlich 1,95 m groß. Anstelle von Rippen haben sie im Brustbereich massive Knorpel- und Knochenplatten. Die Färbung der Haut ist im Regelfall samtbraun (eine Folge der starken UV-Strahlung der blauen Riesensonne Akon); die Haarfarbe ist tiefschwarz bis kupferrot. Obwohl sie die Vorfahren (»Stammväter«) der Arkoniden sind, gibt es unter ihnen niemanden mit den für Arkoniden typischen weißen Haaren und roten Augäpfeln. Der akonische Charakter wird oft als dünkelhaft, übersteigert stolz, herablassend und überheblich beschrieben. Wohlmeinende Geister bezeichnen die Akonen dagegen eher als zurückhaltend, reserviert, vorsichtig, distanziert und ironisch bis sarkastisch. Arroganz und Unnahbarkeit sind aber in der Tat die hervorstechenden Charaktermerkmale der Akonen, hervorgerufen durch einen tief verwurzelten, wenngleich faktisch völlig ungerechtfertigten Minderwertigkeitskomplex. Die Ablehnung vor allem der Arkoniden, welche bei den Akonen als ein Volk infamer Verräter und bösartiger Primitivlinge gelten, beruhte im Wesentlichen auf der Erinnerung an den Zentrumskrieg und war kaum auszuräumen. Wie tief der Hass der Akonen auf die Arkoniden saß, zeigte der Umstand, dass es Agenten des Energiekommandos waren, die den Blues (Jülziish) die Mittel für den Angriff auf Arkon III lieferten. Der Planet wurde dabei am 30. September 2329 vernichtet (PR 199). Dabei konnten die Akonen mit ihrem Ursprung im 87. Tamanium der Lemurer – der sogenannten Ersten Menschheit – auf eine mehr als 55.000 Jahre währende
Geschichte zurückblicken (Stand 1463 NGZ = 5050 n. Chr.) – und sich zu Recht als eins der ältesten Kulturvölker der Milchstraße betrachten. Dieses Wissen ging hierbei zwar nie komplett verloren, war jedoch spätestens ab dem verlorenen Zentrumskrieg nur kleinsten Kreisen auf höchster Ebene vorbehalten. Allgemeingut wurde es erst wieder ab dem 25. Jahrhundert. Die nach akonischer Ansicht ihrem Volk zustehende Führungsrolle konnten die Akonen allerdings nie galaxisweit ausüben. Immer unterlagen sie im entscheidenden Moment einer überlegeneren Macht: Schon das Große Tamanium der Lemurer wurde durch die Angriffe der Haluter zerschlagen, im Zentrumskrieg siegten die Arkoniden. Zurückgehend auf die Zeit der lemurischen Niederlage, lautete die Doktrin des sogenannten Ersten Postulats: »Isolation ist notwendig!« (PR 178) Diese wurde von den Terranern mit der Zerstörung des systemumspannenden blauen Energieschirms am 18. Dezember 2102 durchbrochen (PR 107). Und die Maahks vernichteten 2401 eine akonische Flotte von 80.000 Schiffen im System des Twin-Sonnentransmitters (PR 230). Die wiederholten Niederlagen und Kränkungen hatten sich auf die akonische Psyche nachhaltig ausgewirkt und den historisch, kulturell und technologisch bedingten Nationalstolz kompensierend zu einer Art Standesüberheblichkeit aufgebläht, sodass die Akonen alle anderen Völker für im Grunde minderwertige Emporkömmlinge hielten, unabhängig von deren tatsächlichen Leistungen. Hand in Hand damit ging eine übersteigerte Geheimniskrämerei bezüglich aller internen akonischen Belange – einschließlich eines stets vorhandenen Misstrauens untereinander bis zum ausgeprägten Hang zu Intrigen. Dies wiederum führte und führt zu einem ausgesprochen elitären Denken, das die höchste Vollendung des akonischen Volkes in
der Unantastbarkeit seines Hoheitsgebietes sieht. Die reservierte bis feindselige Haltung gegenüber anderen Völkern führte nur in den seltensten Fällen zu offenen Kriegshandlungen. Über die Jahrhunderte hinweg waren allerdings immer wieder einzelne Akonen oder akonische Gruppen bereit, in Organisationen mitzuwirken, die im Hintergrund insbesondere gegen Arkon, die Jülziish-Völker, Terra oder die USO agierten. Als hervorragendes Beispiel kann die Condos Vasac (alt-akonisch »Erneuerer«) genannt werden. Eine undurchsichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang der außerordentlich leistungsstarke Geheimdienst des Energiekommandos, dem lange Zeit die Rolle eines Staates im Staat zukam. Mit der isolationistischen Politik seit jeher verbunden war eine ständische Gesellschaft, in der die Macht fast ausschließlich in der Hand der Aristokratie lag, aber auch der Trend zu einer geringen Bevölkerungszahl, sodass die Akonen im Vergleich zu anderen bedeutenden Mächten der Milchstraße stets ein sehr kleines Volk blieben. Die akonische Gesellschaft war in fünf »Kasten« oder »Stände« unterteilt. Die jeweilige Zugehörigkeit war hierbei nicht starr und für alle Zeit festgeschrieben, sondern es war durchaus möglich, durch besondere Leistungen aufzusteigen oder bei Versagen degradiert zu werden. Als Hauptunterscheidungskriterium galt die Einteilung in Adlige (Vakt’son), Nicht-Adlige (Tavakt’son) und alle Nicht-Akonen (Larvakt’son). Für das Adelsprädikat »von« als Verbindung zwischen Vor- und Nachname galt, dass »tan« den Hochadel kennzeichnet (PR 508) – auch »th’« geschrieben (»Thay th’Cassar« in PR 725) oder in der Bindestrich-Schreibweise »XX-Ton-YY« (ATLAN 161) –, während »ta« für die adlige Mittelschicht und »cer« für den unteren Adel stand.
Als Ansehnliche treten Gelehrte und die Mittelschicht mit mehr als der Hälfte der Bevölkerung auf, während die Unansehnlichen mit der akonischen Unterschicht zeitweise bis zu einem Viertel der Bevölkerung ausmachten; diese Akonen trugen gelbe Identitätsplaketten an der Gürtelschnalle, weil sie sich jederzeit ausweisen können mussten (ATLAN 253). Unedle schließlich waren alle Nicht-Akonen, inklusive künstlicher Intelligenzen und vor allem Arkoniden. Der akonische Schimpfname »Ragnaars« für Arkoniden bezog sich auf jene edle Familie der Ragnaar(i), zu deren Machtbereich die Ursprungswelt der Arkoniden zum Zeitpunkt das Ausbruchs des Aufstands gegen die Herrschaft der Akonen zählte und die später mehrere Imperatoren des Großen Imperiums stellte, während der Zweig der Familie Ragnaari, der sich nach dem Zentrumskrieg weigerte, das Blaue System zu verlassen, zu einem Leben als »Unansehnliche« verurteilt wurde (ATLAN 250). Ähnliches betraf die als »arkonidisch« bekannte Trichterbauweise, die eigentlich akonischen Ursprungs war, von den Akonen später jedoch in bewusster Abgrenzung aufgegeben wurde. Im Gegensatz dazu hatten die Arkoniden diese Bauweise beibehalten und stellten sie als originär arkonidisch hin – abgeleitet von der Form des Khasurn-Riesenlotos (Khasurn – wörtlich »Kelch« – war bekanntlich die Bezeichnung für den arkonidischen Adel insgesamt und wurde im Sinne von »Haus, Geschlecht« verwendet). Erst die Erfahrung einer kollektiven Niederlage aller Milchstraßenvölker gegen das Hetos der Sieben veränderte erstmals die Haltung der Akonen. Sie arbeiteten aktiv an der Gestaltung der GAVÖK und später des Galaktikums mit. Verbunden mit dem intensiveren Kontakt zu den anderen Milchstraßenvölkern und deren politischen Strukturen war
eine Demokratisierung der aristokratischen Herrschaft und akonischen Gesellschaft insgesamt. Die Monos-Herrschaft der Dunklen Jahrhunderte traf die Akonen tief; je mehr aber die Erinnerungen an die Jahre der Tyrannei schwanden, desto stärker nutzten die akonischen Politiker die Gelegenheit – gefördert durch das Wiedererstarken Arkons im 12. und 13. Jahrhundert NGZ –, wieder verstärkt die Eigeninteressen Akons zu vertreten und zu deren Durchsetzung im Galaktikum zu agieren und zu intrigieren. Die aktivere Rolle zeigte sich zunächst in der Mitgründung des Forums Raglund, kehrte sich aber seit dem späten 13. Jahrhundert und beginnenden 14. Jahrhundert NGZ immer stärker um und führte zu einer Art »innerer Emigration«. Als das Energiekommando im Jahr 1340 NGZ die Macht ergriff, diktierten Geheimhaltung, Spitzelei und Militarismus das öffentliche Bild – denn das Energiekommando hatte sich vorgenommen, Drorah wieder zu alter Macht und Glorie zurückzuführen. Und dann kam die Terminale Kolonne TRAITOR und verkündete die TRAITOR-Direktive (PR 2300 ff.). Doch damit nicht genug: Mit der »Kabinettisierung« von Drorah und Xölyar für den Chaotender VULTAPHER verschwanden die Bewohner – rund eine Milliarde bei Drorah und 500 Millionen bei Xölyar. Im Zuge des Prozesses vernichtet wurde auch Drorahs zweiter Mond Zikyet. Von der 1345 NGZ etwa 1,8 Milliarden Akonen zählenden Gesamtbewohnerzahl des Akon-Systems entkamen nur rund 300 Millionen! Diese besondere Erfahrung, kombiniert mit dem Zusammenrücken der galaktischen Völker nach dem Abzug der Terminalen Kolonne TRAITOR und der offiziellen Bestätigung des Galaktikums am 1. Januar 1350 NGZ, führte bei den überlebenden Akonen zu einem sich zwar über
Jahrzehnte hinziehenden, aber umso tiefgreifenderen Wandel. Mit Drorah und der dort lebenden »Elite« war auch die früher maßgebliche Aristokratie verschwunden. Überlebt hatten nur jene Akonen, die auf anderen Planeten im Akon-System oder gar auf den Siedlungswelten beheimatet waren – nur in den seltensten Fällen handelte es sich hierbei um Angehörige der »klassischen« Aristokratie oder gar des Hochadels. Nach dem Abzug der Terminalen Kolonne begannen der Sinneswandel und die neue Ausrichtung. Je mehr positive Meldungen vom Galaktikum und der Entwicklung der übrigen Völker eingingen, desto intensiver wurde die Strömung unter den Akonen, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Seit dem 1. Januar 1400 NGZ gab es nicht nur eine Annäherung, sondern die offizielle Einbindung der »neuen« Akonen ins Galaktikum. Seither hatten sie sich geöffnet und ihre traditionelle misstrauische und überhebliche Art aufgegeben (PR 2500 ff.). Mit dem Akon-Fanal kam es zur Wende: Akonen und die Mitglieder des Galaktikums hatten in vorbildlicher und erfolgreicher Art und Weise zusammengearbeitet. Oder, wie es Ma’tam Narvan tan Ra-Osar formulierte: »Beinahe hätten die Verräter am neuen akonischen Gedanken es geschafft, nicht wiedergutzumachendes Unheil über das System, seine Bewohner und allen anderen Akonen zu bringen. Doch im entscheidenden Moment sind wir allen zusammengetreten und haben uns auf die Vision eines vereinten Galaktikums besonnen… und den Schritt getan, sie wahr werden zu lassen.« (PR 2531) Sogar der niemals beendete Krieg zwischen den Kolonisten und ihren Stammvätern fand auf diese Weise tatsächlich ein Ende – wenn das nicht zu Optimismus Anlass gibt?
Eckdaten der akonischen Geschichte 56.400 v. Chr.: Das (mythisch verbrämte, in späterer Zeit »rückdatierte«) Jahr 1 »Seit der Reichsgründung« (= »dha-Tamar«; Abkürzung »dT«) des Lemurischen Reichs (der 1. Ty des Torlon Jannhis, 1 dT = 22. Dezember 56.400 v. Chr.). um 50.220 v. Chr.: Sämtliche 111 Tamanien des Großen Tamaniums (Kar’Tamanon) haben sich konstituiert; die Tamanien 82 bis 111 liegen alle in der galaktischen Eastside; Handel und Transport werden hauptsächlich über die Sonnentransmitter bzw. über Situationstransmitter abgewickelt; die Tamanien sind als Knotenpunkte dieses Transmittemetzes über die gesamte Milchstraße verteilt. 50.197 v. Chr.: Infolge der drückenden politischen Dominanz der Hauptwelt Lemur kommt es zu wachsenden Konflikten zwischen den Tamanien und der lemurischen Zentralgewalt und ersten separatistischen Bestrebungen. Die Drorah-Lemurer stehen an der Aktionsspitze der opponierenden Tamanien und empfinden sich als Akonos/Akonen (lemurisch: Spitzkegel). 49.983 v. Chr.: Das Große Tamanium der Lemurer ist vernichtet. Bis auf wenige Dutzend wurden die Hauptwelten aller Tamanien nach Andromeda (Karahol) evakuiert. Zu den Ausnahmen gehört Drorah, dessen Bewohner sich so geschickt abgeriegelt haben, dass die Haluter keinen einzigen Angriff auf ihr System unternahmen. Um die wertvollen intakten Industrieanlagen nicht aufgeben zu müssen, haben sich die Drorah-Lemurer (Akonen) mit ihrem Tamrat, dem Nachfolger Thaburac-Talossas, dem Aufruf der Zentralregierung zur Evakuierung widersetzt. In dieser Situation entwickeln die Bewohner des Akon-Systems die Wurzeln ihrer späteren isolationistischen Politik mit der
Doktrin des sogenannten Ersten Postulats: »Isolation ist notwendig!«. um 26.000 v. Chr.: Im Sternhaufen Mirkandol (»Ort der Begegnung«) treffen Akonen auf Lemurerabkömmlinge, die auf dem unweit gelegenen Planeten Arbaraith die Angriffe der Haluter überlebt haben. Die beiden Gruppen vermischen sich und beginnen, sich als eine Nation zu empfinden (unter den Arbaraith-Lemurern befanden sich sehr viele Nachkommen von Zeut-Lemurern, die sich kurz vor der Vernichtung des Planeten Zeut hier angesiedelt hatten – und unter ihnen wiederum befanden sich etliche Zeut-Ellwen; die Mischbevölkerung von Arbaraith war der Grundstock der späteren Arkoniden). 18.509 v. Chr.: Arbaraith-Lemurer beginnen mit der Besiedlung des Kugelsternhaufens Urdnir (M 13); treibende Kraft sind Vertreter der Ragnaar-Familie. bis um 18.449 v. Chr.: Urdnir wird erforscht. Das eigenmächtige Vorgehen der Arbaraithaner ruft das Missfallen der Akonen hervor. um 18.376 v. Chr.: Die Urdnir-Siedler erklären ihre Unabhängigkeit und lösen damit den Großen Befreiungskrieg aus. 18.356 v. Chr.: Der Große Befreiungskrieg wird durch das Eingreifen des legendären Magnortöters Klinsanthor beendet. Die Akonen ziehen sich geschlagen zurück. Die ebenfalls geschwächten Siedler, die sich nun Arkoniden (Freie) nennen, lassen sich in einem System in Urdnirs Zentrum nieder, das den Namen Arkon erhält. In der Folgezeit kommt es zum politischen Konflikt zwischen den Familien Akonda und Sulithur, während die der Ragnaari in der Raumflotte dominiert. 18.342 v. Chr.: Auf Anweisung des Wissenschaftlichen Kommandanten Tekla von Khom entführt der akonische
Agent Orthrek das junge arkonidische Liebespaar Caycon Akonda und Raimanja Sulithur. Caycon gelingt die Flucht. Der Biogenetiker Tarmin cer Germon, ein Rat von Akon, und seine Mitarbeiter Segor, Implikor und Vathore übertragen mit dem Phasus-3-Virus neue genetische Informationen in die Zellen von Raimanjas ungeborenem Sohn. Sie sollen ihn befähigen, seine arkonidischen Mitbürger mental zu beherrschen, nachdem er 18 Jahre lang von seinem Kristall-Mentor auf Perpandron aufgezogen worden ist; der Embryo wird damit zu Akon-Akon, dem Wachen Wesen. 18.341 v. Chr.: Nachdem Akon-Akon in der subplanetarischen Stadt Amalek im Mentorkristall untergebracht wurde, sabotiert Raimanja das Schiff, mit dem die Wissenschaftler nach Drorah zurückkehren wollten, und verhindert so, dass dort bekannt wird, auf welchem Planeten sich das Wache Wesen befindet. Perc von Aronthe, Tekla von Khom und Orthrek überleben zwar die Explosion, werden aber von Akon-Akon mental befriedet, als sie zurückkehren, um Raimanja zu bestrafen. 18.334 v. Chr.: Nach einem Dilatationsflug warnt Caycon auf Arkon Farthu von Lloonet, den Reichsadmiral der neuen Militärregierung, vor der drohenden Gefahr. Die Position Perpandrons ist auf Arkon jedoch unbekannt. Farthu von Lloonet lässt sich später unter dem Herrschernamen Gwalon I. als erster Imperator von Arkon inthronisieren und bereitet einen neuen Krieg gegen die Akonen vor. 18.327 v. Chr.: Die Zerstörung inzwischen entstandener akonischer Basen in Urdnir ist der Beginn des Zentrumskrieges. 18.323 v. Chr.: Nach dem Tod seiner Mutter begibt sich Akon-Akon in den Schlafkristall von Amalek. 18.316 v. Chr.: Die Zerstörung der akonischen Nachschubbasis Tarkta, vierter Planet des Zentrumssystems Opogon, durch die
12. Arkonidische Schlachtkreuzerflotte unter Admiral Talur leitet nach Jahren der Rückzugsgefechte die Niederlage der Akonen ein. In der Endphase des Zentrumskrieges setzen die Arkoniden erstmals die neu entwickelte Gravitationsbombe ein. In der Folge wird Urdnir umbenannt – zunächst in Talur-Lok, dann in Thantur-Lok (Talurs bzw. Thanturs Ziel). um 18.000 v. Chr.: Die Akonen erneuern nach ihrer Niederlage ihre Doktrin der Isolation und ziehen sich in das Akon-System zurück, das durch den systemumspannenden blauen Energieschirm völlig von der Außenwelt isoliert wird (erzeugt von 3407 Kraftwerks- und Projektorstationen von je rund elf Kilometern Durchmesser). Die Raumfahrt wird zunehmend reduziert, viele Kolonial- und Nachschubwelten werden aufgegeben. Die verbliebenen sind durch ein hochentwickeltes System von Ferntransmittern mit der Mutterwelt verbunden. Zudem führten das Bewusstsein der Abspaltung der Urdnir-Siedler (»Verrat der Abtrünnigen«) und das nationale Trauma der Niederlage gegen die Arkoniden zu einer radikalen Unterdrückung liberaler Strömungen – freiheits- und gerechtigkeitsliebende Familien wie die Ragnaar werden nachträglich für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Es kommt zur Ausbildung einer despotisch regierten und streng in Kasten eingeteilten Gesellschaft. Eine der letzten Neubesiedlungen erfolgt auf dem Planeten Trakarat im Aptut-System; aus den Nachkommen der Siedler entwickeln sich die Báalols (Anus). 17.403 v. Chr.: Erstmals treten schwere, Raumfahrt behindernde, galaxisweite Hyperstürme auf, die ihren Ursprung im galaktischen Zentrum haben. 16.884 v. Chr. bis 15.985 v. Chr.: Andauernde Hypersturmaktivitäten, die die galaktische Raumfahrt nahezu ganz unterbinden und viele Planeten auf Primitivstand zurückwerfen, sind der Beginn jener Epoche, die bei den
Arkoniden später Archaische Perioden (Zarakhgoth-Votanii) genannt wird. Die Akonen sind innerhalb ihres systemumspannenden Energieschirms zwar vor den Hyperstürmen und ihren Auswirkungen geschützt, doch etliche der Ferntransmitter-Verbindungen brechen zusammen, Kontakte zu Nachschub- und Siedlungswelten reißen ab, die wenigen akonischen Raumschiffe ziehen sich ins Akon-System zurück. 12.898 v. Chr.: Akonische Zeitreisende, die aus dem Jahr 2102 n. Chr. kommen, veranlassen den arkonidischen Imperator Metzat III. eine Flotte von 30.000 Einheiten unter Mascant Gagolk zu entsenden, um Terra als eine angeblich gefährliche Kolonialwelt zu zerstören. Bei der Ausschaltung des akonischen Zeitumformers entsteht auf Arkon III ein 2000 Meter tiefer Krater. 8021 v. Chr. = 10.499 da Ark: Der junge Kristallprinz Atlan entdeckt auf Perpandron den Schlafkristall Akon-Akons und nimmt das Wache Wesen mit. Akon-Akon unterwirft zunächst die Besatzung der ISCHTAR und veranlasst sie, als er sich seiner bewusst wird, zur Suche nach dem verschwundenen Volk der Akonen. Erste Stationen sind die Welten Kledzak-Mikhon und Oskanjabul. Arbaraith: Sagenhaftes »Land der Kristallobelisken«, von Bestien bedroht; verschwand mit der Entrückung des Heroen Tran-Atlan – häufig als eigentliche (mystische) Urheimat der Arkoniden gedeutet. Realer Hintergrund ist die gleichnamige Welt, die sich einst in jenem Raumsektor befand, der nach seinem Entdecker Sogmanton Agh’Khaal Sogmanton-Barriere genannt wurde. Arbaraith-Obelisk: 1349 Meter hoher Kristallobelisk, den Sogmanton Agh’Khaal im Jahr 4100 da Ark auf Gos’Ranton 7142 Kilometer vom Hügel der Weisen entfernt an der
Laktranor-Südküste östlich der Karurmorn-Halbinsel errichten ließ und der seither Symbol für das sagenhafte Urland ist; niemand erfuhr jemals, woher der Kristallobelisk wirklich stammte. Archaische Perioden: Bezeichnung für die Epoche des Niedergangs zwischen etwa 3000 und 3760 da Ark (= 16.884 bis 15.985 v. Chr.), als galaxisweite, aus dem galaktischen Zentrum hervorbrechende Hyperstürme die Kontakte zwischen den Welten abbrachen, weil nahezu die gesamte fünfdimensionale Hypertechnik lahmgelegt war. Nach dem Abflauen der Hyperstürme musste die arkonidische Raumfahrt quasi von null an neu beginnen und aufgebaut werden. Arkii: Arkonidische Entsprechung des Begriffs »Mensch(en)«. Arkon: Die große weiße Sonne liegt fast genau im Zentrum des Kugelsternhaufens Thantur-Lok. Sie wird von 27 Planeten umkreist. Als Besonderheit gilt, dass sich drei Arkon-Planeten mit gleicher Geschwindigkeit und auf derselben Umlaufbahn bewegen, als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks angeordnet. Die Sonnenentfernung der drei Planeten Arkon I, II und III beträgt 620 Millionen Kilometer. Arkon I: Gos’Ranton – Der Wohnplanet der Arkoniden (rund zehn Milliarden) wird von ihnen selbst auch als »Kristallwelt« bezeichnet (ursprünglich der zweite Planet des Arkon-Systems). Durchmesser: 12.980 Kilometer, Schwerkraft: 1,05 Gravos. Die Oberfläche des Planeten wird von Außenstehenden als eine einzige große Parklandschaft betrachtet. Landmassen: Äquatorialkontinent Laktranor (mit dem Sichelbinnenmeer Sha’shuluk, dem Thek-Laktran des Hügels des Weisen mit dem Gos’Khasurn/Kristallpalast), Nordpol-/Hauptkontinent Shrilithra, Inselkontinent Shargabag, Insel Vuyanna, Großinsel Krysaon, Südpol-Inselkontinent Kator-Arkoron; Hauptozean: Tai
Shagrat. Im offiziellen Sprachgebrauch der Inbegriff der Herrlichkeit: schön, prächtig, prunkvoll – und in jeder Hinsicht künstlich! Hier leben sogar die einfachen Arkoniden (Essoya) in einem Luxus, der für manche Völker nahezu unvorstellbar ist, und der gesamte Planet ist eine sorgsam umhegte und von unermüdlichen Robotern gepflegte Parklandschaft – was zum Teil bizarre Urweltreservate und ebenso einen Wechsel von Klima, Fauna und Flora alle paar Kilometer dank unsichtbarer Kraftfeldkuppeln einschließt. Arkon II: Mehan’Ranton – Die Welt von Wirtschaft und Handel (ursprünglich der vierte Planet des Arkon-Systems); voll industrialisiert und Stätte subplanetarischer Fabriken; ein Planet der Großstädte und Sitz der mächtigsten Konzerne der erforschten Galaxis. Durchmesser: 7326 Kilometer, Schwerkraft: 0,7 Gravos. Alle bekannten Völker geben sich hier ein Stelldichein, über Jahrtausende wurden die berühmten Laden- und Silostraßen der Städte von einem Vielvölkergemisch durchstreift; es gibt Handelsniederlassungen von etwa vierhundert Fremdvölkern; fünf Milliarden Arkoniden leben hier. Dreihundert Raumhäfen sind über die Oberfläche verteilt. Der größte gehört zu Olp’Duor – neben Torgona die bedeutendste Stadt. Schon das Kernlandefeld umfasst ein Geviert von fünfzig mal fünfzig Kilometern, hinzu kommen ringsum angeordnete, nur wenig kleinere Nebenlandefelder, Werftund Depotanlagen, Tausende Handelshäuser; insgesamt eine Tag und Nacht pulsierende Enklave von rund zweihundert Kilometern Durchmesser. Arkon III: Gor’Ranton – Der ursprünglich dritte Planet des Arkon-Systems ist der Schwerindustrie des Raumschiffbaus vorbehalten; Großstädten gleich reihen sich Forschungs- und Entwicklungszentren aneinander, unterbrochen von Landefeldern und angegliederten Riesendepots.
Durchmesser: 13.250 Kilometer; Schwerkraft: 1,3 Gravos. Eine technisierte Welt, deren Oberfläche maßgeblich von Plastbeton, Arkonstahl und Kunststoffen bestimmt wird – ein militärisch-industrieller Komplex, der seinesgleichen in der Galaxis sucht; in ihrer Urform erhalten sind nur die Meere, sodass der Planet von vielen Besuchern als »ökologischer Albtraum« umschrieben wird, weil riesige Ökokonverter notwendig sind, um die Atmosphäre aufzubereiten und halbwegs erträgliche Umweltbedingungen zu generieren. In den 25.000 Großwerften entstehen tagtäglich neue Raumschiffe und Beiboot-Trägerbewaffnungen. Das Bild technisierter Fugenlosigkeit setzt sich in die Tiefe fort: Wichtige Werke, darunter jene der Triebwerksfertigung, liegen bis zu 5000 Meter unter der Oberfläche. Die Werften übernehmen, von Robotfertigung und komplizierten Bandstraßen dominiert, die Vorfertigung; mobile Roboter zeichnen für die Endmontage verantwortlich, die bei Großraumschiffen häufig im Orbit erfolgt. Frachterverbände und Ferntransmitter-Verbindungen sichern den Materialnachschub. Rohstoffe, Halbfertig- und Endprodukte werden ständig angeliefert, zwischengelagert, weiterverarbeitet oder zur Schlussmontage befördert. Eine ausgeklügelte Infrastruktur, die Raumschiffe, Zubringer, Kurz- wie auch Langstrecken-Transmitter kombiniert, sorgt für reibungslosen Verkehr. Die ausgedehnten Tiefbunkeranlagen des Flottenzentralkommandos und auch die zunächst zur logistischen Unterstützung gedachten Anlagen einer Großpositronik wurden in jenem 2000 Meter tiefen Krater angelegt, der im zweiten Regierungsjahr von Imperator Metzat III. entstand (6373 da Ark = 12.898 vor Christus), als der Imperator eine Flotte von 30.000 Einheiten unter Mascant Gagolk entsandte, um eine angeblich gefährliche
Kolonialwelt zu zerstören (Hintergrund: Intervention akonischer Zeitreisender aus dem Basisjahr 2102 n. Chr. die mit dieser »Kolonialwelt« Terra zerstören wollten). Schon in Atlans Jugendzeit erfährt den Komplex der Großpositronik eine weitere Ausbaustufe, doch erst unter der Leitung des Ersten Wissenschaftlers des Großen Rates Epetran entstand um 3900 v. Chr. die endgültige Form des nach seiner Aktivierung Robotregent oder Großer Koordinator genannten Rechners mit seiner hoch entwickelten positronischen Künstlichen Intelligenz. Arkoniden: Von der äußeren Gestalt her absolut menschenähnlich; meist mit 1,8 bis zwei Metern Körpergröße recht hochgewachsen, weisen sie einen vergleichsweise langen Schädel auf. Anatomisch gesehen gibt es im Vergleich zu Terranern einige weitere Besonderheiten: Statt Rippen verfügen sie im Brustbereich über massive Knochen- und Knorpelplatten, die Haarfarbe ist im Allgemeinen weiß oder weißblond und die Augenfarbe rötlich bis rotgolden. Bei starker Erregung sezernieren die Arkoniden aus den Augenwinkeln ein Sekret, ohne dass es allerdings zu einer Einschränkung der Sicht käme. Die weit verbreitete Behauptung, bei den Arkoniden handle es sich grundsätzlich um Albinos, ist mit Vorsicht zu genießen: Weißes Haar und (scheinbar) farblose Iris allein sind kein ausreichendes Merkmal, berücksichtigt man, dass außerhalb der Kultivierung möglichst bleicher Haut in Adelskreisen normale Hautbräunung ebenso auftritt, wie die Haarfarbe auch im Sinne bestmöglicher Reflexion der starken Sonnenstrahlung Arkons angesehen werden kann. Arkonidische Geschichte: Mitte des neunzehnten vorchristlichen Jahrtausends existierte das Imperium der Akonen, das von Drorah (Akon-System) aus beherrscht wurde. Weil sie sich bevormundet und übervorteilt fühlten,
bauten die Bewohner einer bedeutenden Kolonialwelt (Arbaraith ) insgeheim eine eigene Flotte auf. Unter anderem benutzten sie dafür zunächst erbeutete akonische Schiffe. In der Folge begann die Besiedlung des – zunächst – Urdnir genannten Kugelsternhaufens. Diese nutzte man dazu, sich eine eigene Machtbasis zu schaffen. Zentrum dieses Vorhabens war das Arkonsystem nahe der Sternhaufenmitte; eine Welt, die den Akonen zunächst unbekannt blieb. Ausgehend vom überlieferten Datum des Siedlungsbeginns (18.509 v. Chr.), vergingen zunächst knapp sechzig Erdjahre, die die »Arkoniden« nutzten, um Urdnir zu erforschen. Später kam es dann auf der »Zentralwelt« Arbaraith zur ersten Unabhängigkeitserklärung, die in den Großen Befreiungskrieg mündete und unter anderem zur Vernichtung dieses Planeten führte. Sein Name erhielt sich nur in Legenden und abergläubischen Anrufungen, beispielsweise im Ausspruch: »Bei den Kristallobelisken von Arbaraith«. Der Krieg dauerte 17,5 Arkonjahre (entspricht 20,7 Erdjahren) und war von mehreren »heißen Phasen« geprägt; mit seinem Ende verbunden war das Eingreifen des Magnortöters Klinsanthors, von dem später jedoch nur Legenden berichteten. Zwölf Arkonjahre (14,2 Erdjahre) nach dem Großen Befreiungskrieg lebten die Überlebenden, die sich nun Arkoniden nannten, ausschließlich im Kugelsternhaufen, waren allerdings in die Familienfehde zwischen Akondas und Sulithurs verwickelt, während die Akonen ihrerseits gegen die »Abtrünnigen« aufrüsteten. Reichsadmiral Farthu da Lloonet rief wenige Jahre später den imperialistischen Absolutismus aus und wurde als Imperator Gwalon I. inthronisiert. Er nutzte einige Arkonjahre zur intensiven Aufrüstung, der Zentrumskrieg begann – und endete mit dem arkonidischen Sieg über die Akonen. Gwalon regierte bis zum Jahr
18.294 v. Chr.; unter seinen Nachfolgern Volgathir I. und II. setzte die Geschichtsverfälschung ein. Die Verbindungen zu den »Stammvätern« wurde geleugnet, und es wurde eine eigene Zeitrechnung eingeführt. Dabei bezog sich die Jahreslänge auf den Planeten Arkon III. Der Beginn der Zeitrechnung wurde ab dieser Zeit gleichgesetzt mit einem von Arbaraith überlieferten legendären Ereignis, in dem – bei genauerer Betrachtung – noch deutlich ältere Sagen eingebunden wurden, welche bis in lemurische oder gar noch frühere Zeit reichten. Als dieses legendäre Ereignis wurde das »Entrückungsjahr« des Heroen Tran-Atlan angenommen; Gwalons Inthronisation erfolgte hiernach im Jahr 1774 da Ark. Mit Orbanaschol III. regierte in Atlans Jugendzeit bis 10.500 da Ark der 208. Imperator das Tai Ark’Tussan. Arkonidische Gesellschaft: In der arkonidischen Gesellschaft sind beide Geschlechter gleichberechtigt; die im öffentlichen und politischen Leben nach außen hin scheinbar dominierende Rolle der Männer hat in der starken, wenn auch extrovertierteren Stellung der Frau ein klares Gegengewicht, dem eine maßgebliche Bindungsfunktion zugeschrieben wird. Im Übrigen ist die Arkon-Gesellschaft aristokratisch geprägt. Die Mitglieder der großen Familien (Ragnaari, Zoltral, Gonozal, Quertamagin, Orcast, Monotos, Orbanaschol, Tutmor, Tereomir, Anlaan, Metzat, Thetaran, Arthamin, Ariga und viele mehr) kontrollieren die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Schlüsselfunktionen. Zum Teil handelt es sich hierbei um Familienverbände von mehreren hunderttausend Einzelmitgliedern. Von Zeiten tyrannischer oder absolutistischer Herrschaft abgesehen, handelt es sich bei der Regierungsform Arkons um eine parlamentarische Monarchie, in der allerdings dem jeweiligen Imperator als Staats- und Regierungschef sowie
Oberbefehlshaber der Flotte (Begann) stets eine starke Rolle zugewiesen war. Wie stark ein Imperator tatsächlich werden konnte, hing im Verlauf der arkonidischen Geschichte weitgehend von dem Gegengewicht ab, das ihm seine direkte Regierungsmannschaft (der Zwölferrat/Berlen Than), der Große Rat (Tai Than) sowie das frei vom Volk gewählte Parlament des Hohen Rates (Thi Than) entgegenstellten. Weiterhin ist – schon unter dem Aspekt der immensen Größe des Arkon-Imperiums! – zu berücksichtigen, dass der Imperator in den Jahrtausenden der Geschichte zwar letztlich über Besitzansprüche, Handelsrechte, Autarkiebestrebungen und dergleichen entschied. Aber hierbei war als Entscheidungsträger die Imperiale Ebene – mit Imperator, Großem und Hohem Rat, Flottenzentralkommando (Thektran), dem Präsidium der Justiz von Celkar sowie die Kontrollfunktion der Medien – von der der Planetaren Selbstverwaltung autonomer Welten und Ökoformsphären ebenso zu unterscheiden wie die der Herzogtümer völlig autarker Habitate der Raumnomadenclans oder der Herzoglehen des Adels, welche im Allgemeinen mehr als hundert Sonnensysteme umfassten. Sogar mit bester positronischer Unterstützung war es nicht möglich, sich um alle Einzelheiten zu kümmern. Vor diesem Hintergrund ist auch der verfassungsmäßig verankerte Grundsatz der Erbmonarchie zu sehen: Zwar war als Kristallprinz (Gos’athor) jeweils der leibliche Sohn eines Imperators designierter Nachfolger, doch im Todesfall ohne Nachkommen bestimmte der Große Rat aus den Reihen der Adelsfamilien einen neuen Imperator, oder es wurde der »TEST« als Auswahlverfahren eingesetzt; bei erwiesener Unfähigkeit konnte der Herrscher auf dem Kristallthron sogar abgesetzt werden. Arkonidische Herrschafts- und Machtstrukturen und Regier
ungsform: Neben dem Imperator (Tai Moas = Erster Großer) an der Spitze ist der Berlen Than (Zwölferrat) als Unterausschuss des Tai Than (Großer Rat mit 128 Ex-officio-Mitgliedern) maßgebliches Regierungsgremium – einem Kabinett mit seinen Ministern vergleichbar –, in dem die Entscheidungen vorbereitet und diskutiert werden. Im erweiterten Kreis des Großen Rates (mit seinen »untergeordneten Ministern«) folgt die weitere Debatte. Regierungssitz ist der Kristallpalast auf dem Hügel des Weisen (Thek-Laktran) auf der Kristallwelt Arkon I. In einigen Epochen wurde als Gegenpol zum männlichen Imperator eine Große Feuermutter (Tai Zhy Farn) eingesetzt: Als Auswahlmechanismus diente eine modifizierte Form des Dagor-Mystizismus; die Feuerfrauen wurden zu Geheimorten gebracht und in die Stasis-Konservierung suspendierter Animation versetzt, ihr Wahres Sein auf eine stabilisierte Körperprojektion übertragen. Der Multibewusstseinsblock dieser Zhy-Famii war mehr als die reine Summe seiner Teile und dank der katalytischen Funktion des Imperators mit paranormalen Kräften ausgestattet (= realer Hintergrund der traditionellen Anrede des Imperators: »Seine millionenäugige, alles sehende, alles wissende Erhabenheit, Herrscher über Arkon und die Welten der Öden Insel, Seine Imperiale Glorifizienz, XY, NAME da Arkon, Heroe aus dem Geschlecht der Weltältesten…« usw.). Die Ratsmitglieder sind laut Verfassung grundsätzlich zwar wissenschaftlich ausgebildet, stammen aber aus Flotte, Kristallpalast, Diplomatie, Geheimdienst, Wirtschaft und Verwaltung. Zudem repräsentieren sie die wichtigsten Khasurn, sodass sie, mit dem Imperator als Vorsitzendem, in den »Rats-Ausschüssen« wie beispielsweise dem »Medizinischen Rat« oder dem »Thektran« des Flottenzentralkommandos das oberste Exekutivgremium im
Großen Imperium darstellen. Zweimal je 36-Tage-Periode (= Arkonmonat) sind Sitzungen anberaumt, in denen der Imperator Rechenschaft abzulegen, Sorgen, Nöte und Probleme zu besprechen hatte, während die Ratsmitglieder im Gegenzug Vorschläge, Anträge und Ausführungsberichte lieferten. Die ersten drei Tage einer jeden der zehn Perioden des Arkonjahres waren überdies der Generaldebatte von Großem und Hohem Rat vorbehalten; für Entschlüsse zu Richtlinien seiner Politik benötigte der Imperator qualifiziert-absolute Mehrheiten von 51 Prozent. Die endgültige Verabschiedung von Gesetzen erfolgte im Thi Than (Hoher Rat – das frei vom Volk gewählte Parlament). Überall hat der Imperator zwar Vetorecht, kann aber überstimmt werden. Bei eklatantem Versagen ist sogar seine Absetzung möglich. Im umgekehrten Fall kann ein Imperator durch Einsetzung und Förderung von Günstlingen, durch Korruption und dergleichen und mit Bezug auf »Notstandsgesetze« diktatorische Macht an sich ziehen: Solches war in der Früh- und Hauptexpansionszeit meist mit Krisenphasen verknüpft. Als Beispiel dient auch stets Orbanaschol III.; er ermordete mit seinen Helfern Atlans Vater, gleichzeitig weitete sich der Methankrieg aus. Beim Fortschreiten der arkonidischen Degeneration kam solches häufiger vor – bis auch die Imperatoren selbst zu träge wurden und somit auch die oben genannten Sitzungsperioden bestenfalls noch in der Theorie gültig waren, kaum jedoch in der Praxis. Arkonidische Mentalität: Arkoniden sind es gewohnt, pragmatisch zu denken. Extreme sind zu vermeiden, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren, Ausgewogenheit heißt das Ziel. Denn das waren die wahren Tugenden und Traditionen, wie sie insbesondere vom Arkon-Rittertum der Dagoristas verkündet und vorgelebt wurden. Harmonie im
Sinne von Gleichgewicht ist Kern der Dagor-Lehren; keine »Friede-Freude-Eierkuchen«-Gleichmacherei, sondern das Einpendeln auf optimalem Niveau gemäß selbst regulierender Mechanismen. Der permanente Angleichungsversuch des Ist-Zustandes an die Soll-Werte, ähnlich einem Thermostat oder bei der Selbstregulation in der Natur: je größer ein Ausschlag in die eine Richtung, desto gravierender die Gegenreaktion. Im Kleinen wie im Großen. Koexistenz als Konkurrenz und friedliche Gegnerschaft wurden von den Arkoniden stets akzeptiert: Welten mit eingeborenen Intelligenzen der Zivilisationsstufen A bis C durften kolonisiert werden, doch ab Stufe D – entsprechend einem ersten Vordringen in den Weltraum und die Beherrschung der Atomkraft – handelte es sich um eigenständige Kulturen, die in ihrer internen Autonomie zu akzeptieren waren. Egal, ob es sich um eine kleine Baronie handelte, um Fürstentümer, eigenständige Sektoren, Fremdvolk-Koalitionen oder Machtgruppen außerhalb der Struktur des Tai Ark’Tussan – Staatsgebilde waren stets nur Interessenpartner; Freundschaft und Liebe gab es ausschließlich zwischen einzelnen Personen. Das terranisch-christliche »Liebe deinen Feind« nötigt einem Arkoniden nur ein verständnisloses Kopfschütteln ab! Fürsorge, Gnade und die Hilfe des Starken für den Schwachen war eines und entsprach dem hehren Kodex des Arkon-Rittertums ebenso wie der allgemeinen Lebensauffassung. Ein Feind jedoch war eine Bedrohung für alle, und demzufolge musste er mit aller Härte bekämpft werden! Pragmatismus war weder Pazifismus noch Militarismus; denn notwendige Härte zur rechten Zeit verhinderte Schlimmeres. Und das Handeln des anderen bestimmte stets das Ausmaß der eigenen Reaktion: Arkoniden hätten – um beim Beispiel zu bleiben – schon den
»Streich auf die rechte Wange« abgewehrt, vom »Hinhalten der linken« ganz abgesehen. Leider haben sich in den Jahrtausenden – vor allem beim Adel – auch »Traditionen« herausgebildet, die mit den hehren Grundsätzen häufig nur noch wenig gemeinsam hatten. Arkon-Symbole: Analog zu den vielfältigen irdischen Symbolen, hinter deren meist schlichter Gestaltung sich ein deutlich umfangreicherer, mehr oder weniger bewusst erfasster »Background« verbirgt (als Beispiel seien nur das christliche Kreuz, der islamische Halbmond und das taoistische Yin-Yang-Symbol genannt), kennen auch die Arkoniden eine Reihe von Logos und Symbolen von bemerkenswerter Tiefe und Aussagekraft: Vergleichbar den oben genannten irdischen Darstellungen verbinden sich mit Arkon, dem Großen Imperium (Tai Ark’Tussan) und den Arkoniden drei Grundlagen, die auf die eine oder andere Weise stets in die Symbole einflossen. 1) Das Synchronsystem der drei Arkonwelten (Arkon I bis III = Tiga Ranton), 2) der Kugelsternhaufen Thantur-Lok, 3) die Milchstraße als erweiterter Herrschaftsbereich (unabhängig davon, dass real das Große Imperium »nur« etwa ein Viertel der Galaxis umspannte). Weiterhin vorhandene, wiederkehrende Elemente in den Symbolen sind die Zahl Drei (auch im terranischem Kulturkreis häufig als Darstellung des »Göttlichen« verwendet) oder das Dreieck sowie die Zahl Zwölf oder ihr Vielfaches (als Element, das auf die Sagas der Zwölf Heroen zurückging und historisch gesehen bis in lemurische Zeit zurückverfolgt werden konnte). Bauchaufschneider: In den Archaischen Perioden entstandene arkonidische Umschreibung von Ärzten und Medikern; ihr Zeichen ist eine Amtskette aus Cholitt. Arkonidisch
Yoner-Madrul. Berlen Than: Wörtlich »Zwölf(er)-Rat«; Regierungsgremium des Großen Rates (Tai Than); Mitglieder sind: 1. Gos’Laktrote (Kristallmeister); 2. Khasurn-Laktrote (Kelchmeister); 3. Gos’Mascant (Kristallmarschall); 4. Ka’Celis-moas (Erster Hoher Inspekteur), 5. Ka’Chronntis (Oberbeschaffungsmeister), 6. Ka’Gortis (Kriegsminister, zugleich Minister für Raumfahrt und Raumflotte), 7. Ka’Marentis (Chefwissenschaftler), 8. Ka’Mehantis (Imperialer Ökonom, Handelsminister), 9. Ka’Gon’thek-Bras’cooi (Chef des Kolonisationsamtes), 10. Ka’Addagtis (Innenminister), 11. Ka’Ksoltis (Minister der »Obersten Behörde für Kybernetik und Nachrichtenwesen«), 12. Mitglied ist der Imperator selbst. Blaster: Im Raumfahrer-Jargon Bezeichnung für großkalibrige Energiewaffen; auch Plasmastrahler genannt und manchmal mit dem Thermostrahler verwechselt; in einer Fusionskammer wird eine kleine Menge atomaren Plasmas erzeugt, das dann von einem Kraftfeld durch eine Art energetische Röhre – zur Stabilisierung, Beschleunigung und Bündelung – ins Ziel abgestrahlt wird. Caycon und Raimanja (Legende von): Liebespaar der arkonidischen Frühzeit, das zwei verfeindeten Familien entstammte. In dem Chaos, das damals auf Arkon herrschte, wurde die Liebe harten Bewährungsproben ausgesetzt. Caycon war der jüngste Sohn der Akonda-Familie, die im Großen Befreiungskrieg eine führende Rolle gespielt und angeblich die Arkoniden von Arbaraith zum Kugelsternhaufen Urdnir geführt hatte. Raimanja dagegen gehörte zur Sulithur-Familie, die die Opposition anführte und die politischen Ziele der Akonda-Familie erbittert bekämpfte. Unter diesen Umständen konnten Caycon und Raimanja nicht darauf hoffen, die Einwilligung ihrer Familien zur
Eheschließung zu erlangen. Als sie dennoch zusammenzogen, wurden sie aus ihren Familien ausgestoßen. Sie begannen ihr gemeinsames Leben nur mit den Besitztümern, die sie am Leibe trugen. Als Raimanja schwanger wurde, überfielen eines Nachts Fremde das Paar, nahmen es gefangen und entführten es in den Weltraum. Was dort mit ihnen geschah, »liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte verborgen«. Der Legende nach gelang dem Liebespaar die Flucht aus dem Raumschiff der Fremden. Sie flohen zum Planeten Perpandron, wo Raimanja nach Ablauf der Zeit einen Sohn gebar. Dieser Sohn war ein Waches Wesen, das der Legende nach zurückkehren und große Dinge vollbringen wird, wenn seine Zeit gekommen ist. Caycon und Raimanja ist auch der Titel einer melancholischen Liebesballade, die Atlans Onkel Upoc angeblich schon 10.443 da Ark als Vierzehnjähriger geschrieben haben soll. Zum realen Hintergrund siehe die Geschichte im vorliegenden ATLAN-Buch. Chronner(s): Währungseinheit auf imperialer Ebene, Abkürzung Ch; Unterteilung: 1 Chronner = 10 Merkons = 100 Skalitos. Als Bargeld in Form von farbigen Lochmünzen aus Cholitt-III (ein Millimeter Dicke, unterschiedliche Durchmesser, Vorderseite zeigt den Wert als Zahl, Rückseite das Symbol der Drei Welten) mit den Münzeinheiten eins (rot, 13 Millimeter Durchmesser), zehn (gelb, 15 Millimeter Durchmesser), hundert (grün, 17 Millimeter Durchmesser), tausend (blau, 19 Millimeter Durchmesser), zehntausend (violett, 21 Millimeter Durchmesser) Chronners hergestellt, die zu Bündeln oder Paketen zusammengefasst werden (genormte Stäbe mit Verschraubung bzw. Aufziehen auf Schnüre). Merkons liegen nur als silberfarbene Ein-Merkon-Münzen von 11 Millimetern Durchmesser vor; Skalitos haben alle einen Durchmesser von
11 Millimetern und liegen in den Münzeinheiten eins (kupferfarben), zehn (türkisfarben) und fünfzig (weiß) vor. Eine Million Chronners, als Zehntausender-Münzen gebündelt, ergeben beispielsweise einen »Stab« von 100 Millimetern Länge. Kaufkraft: Der Jahresverdienst eines einfachen Orbtonen beträgt rund 30.000 Chronners, 100.000 kostet ein kleineres Privatschiff, Leka-Luxusraumjachten von fünfzig Metern Durchmesser sind nicht unter einer Million Chronners zu haben. da Ark: Arkonzeitrechnung – die Jahreszahl »von Arkon«; das Jahr 10.497 da Ark, in dem Atlan seine wahre Herkunft erfährt, entspricht dem Jahr 8023 vor Christus. Dagor: Meist als »All-Kampf« übersetzt; i.e.S. die (waffenlose) Kampfkunst der Arkoniden (angeblich vom legendären Heroen Tran-Atlan auf Arbaraith geschaffen), i.w.S. die damit verbundene Philosophie/Lebenseinstellung – vervollkommnet beim Arkon-Rittertum (Dagorista), dessen Hauptkodex um 3100 da Ark entstand: die Zwölf Ehernen Prinzipien. Weitere Hauptwerke, auf die sich die Dagoristas beziehen: Bekenntnisse eines Dagoristas (Ashkort da Monotos, um 3500 da Ark), Buch des Willens (Dolanty, um 3100 da Ark), Das Buch der fünf Ringe (Horkat da Ophas, um 3800 da Ark), Die Zwölf Regeln des Schwertkampfes im All (Meklosa da Ragnaari, um 4000 da Ark), Kampftechnikenbuch der Dagoristas (Shandor da Lerathim, um 5700 da Ark). Extrasinn: Im Verlauf eines fünfdimensional-hyperenergetischen Aufladungsprozesses als dritter Grad der ARK SUMMIA aktivierbarer Gehirnbereich der Arkoniden, mit dessen Hilfe Dinge erfasst werden, die infolge eines noch fehlenden Erfahrungsschatzes nur mit einer unbewusst einsetzenden Logikauswertung gemeistert werden können (deshalb auch die
Zweitbezeichnung Logiksektor). Verbunden damit ist die Ausbildung eines fotografisch exakten Gedächtnisses. Arkoniden, die auf einen aktivierten Extrasinn (auch Extrahirn) zurückgreifen können, sind ihren »normalen« Zeitgenossen überlegen: Sie erfassen, verstehen und kalkulieren Vorkommnisse deutlich schneller und folgerichtiger, als Wissenschaftler erzielen sie zum Beispiel wesentlich bessere Erfolge. Bis zu einem gewissen Grad entwickelt der Extrasinn ein eigenständiges, wenn auch mit seinem Träger permanent verbundenes Bewusstsein (mitunter wird als Vergleich eine gezielt herbeigeführte und kontrollierte »Bewusstseinsspaltung« verwendet); die Kommunikation zwischen beiden erfolgt per Gedankenkontakt und ist für den Extrasinn-Inhaber mit dem Gefühl verbunden, ein Unsichtbarer spreche in sein Ohr. Die Eigenständigkeit des Extrasinns bedingt, dass er seine Kommentare selbstständig abgibt und sich nicht »abschalten« lässt; mit wachsender Lebensdauer besteht die Gefahr, dass Schlüsselreize das fotografische Gedächtnis anregen und die Assoziationen zum gefürchteten »Sprechzwang« auswachsen, bei dem die gespeicherten Informationen detailgetreu erneut durchlebt und dabei berichtet werden. In Einzelfällen ist mit der Aktivierung die Ausbildung von telepathischen oder sonstigen Parakräften verbunden. Der Extrasinn unterstützt den Träger bei der Ausbildung eines Monoschirms zur Abschirmung gegen telepathische Ausspähung. Noch seltener sind Fälle, die stets bei besonders hochbegabten Persönlichkeiten mit hohen Lerc-Werten in Erscheinung treten: ein Phänomen, das als multipel personalisierter Extrasinn bezeichnet wird. Der Extrasinn tritt hierbei nicht als Ratgeber im Hintergrund auf, sondern entwickelt ein Eigenleben im Sinn einer gespaltenen Persönlichkeit: Es kommt zu regelrechten inneren Rollenspielen, an denen
neben dem Betroffenen beliebige nahestehende Persönlichkeiten oder deren Abbilder beteiligt sind. In allen bekannten Fällen setzte sich am Ende jedoch die hochbegabte Persönlichkeit des Betroffenen gegen den fehlgeleiteten Extrasinn durch; im Einzelfall kann das jedoch viele Jahre dauern. Gebieter: Anrede des deutlich schwächeren gegenüber dem höheren Rang; vor allem aber von Robotern allen Arkoniden gegenüber. Arkonidisch: Zhdor. Gleiter: Sammelbezeichnung für alle radlosen, nicht bodengebundenen Fahrzeuge. Ursprünglich handelte es sich ausschließlich um Fahrzeuge, die mittels eines Antigrav-Abstoß- bzw. Prallfeldes wenige Zentimeter über dem Boden glitten. Später wurde dieser Begriff auf sämtliche Fahrzeuge und Beiboote ausgedehnt, die mithilfe eines Antigravtriebwerks innerhalb von Planetenatmosphären fliegen. Typen, die für Orbital- oder interplanetare Missionen Verwendung finden, werden als Raumgleiter bezeichnet. Golteinheiler: Sie wurden im Arkon-Imperium auch »Ärzte der Seele« genannt. Ihre Zentrale war Perpandron, der vierte Planet des Teifconth-Systems. Beim Heiler-Zentrum auf Perpandron handelte es sich um eine mächtige Plattform aus rötlichem Gestein, die zwar erodiert war, aber deutliche uralte Bearbeitungsspuren an der Oberfläche aufwies. Es gab vier kuppelförmige Hauptgebäude; weiter abseits inmitten von Parks lagen die Klinikgebäude und Unterkünfte für Besucher. Von den Kellerbereichen führte ein Gangsystem in die Tiefe; an den Wänden gab es uralte Zeichnungen und Reliefs. Über fünfzig riesige Hallen waren in das labyrinthische Gangsystem integriert, in ihnen praktizierten die Heiler ihre Riten; Unbefugte hatten keinen Zutritt. Die Heiler befreiten Lebewesen von unreinen Gedanken und pflanzten ihnen heilsam-gesunde ein; die »schlechten
Gedanken« wurden auf Perpandron gesammelt, was nicht nur symbolisch zu verstehen war: Die Golteinheiler bestanden darauf, dass tatsächlich negative »Substanz« der Gedanken entfernt wurde. Eine klare Erklärung gab es zwar nicht, die erbrachten Heilerfolge waren jedoch unbestreitbar. Die Golteinheiler bezogen sich auf die Mysterien-Tradition des »Weisen Mantar« und verfügten über eigene Heiler-Raumschiffe. Ab etwa 10.500 da Ark (etwa 8020 vor Christus) verlor sich die Spur der Golteinheiler und ihrer Kenntnisse. Nur vage Berichte erinnerten an sie – bis die Aras die Tradition aufgriffen und in der Zunft der Mantarheiler quasi neu belebten. Großes (Altes) Volk: Nur aus Legenden und vagen Überlieferungen oder Ruinen and Artefakten auf vielen Welten bekanntes Volk, das mehrere Jahrzehntausende vor der Blütezeit der Arkoniden die Milchstraße besiedelte. Realer Hintergrund waren die Lemurer der sogenannten Ersten Menschheit. Großes Imperium: Sternenreich der Arkoniden, das Tai Ark’Tussan; umfasst um 10.500 da Ark mehrere zehntausend besiedelte Planeten und noch mehr rein industriell genutzte Welten. Kerngebiet sind die Welten im Kugelsternhaufen Thantur-Lok, allerdings sind auch viele im Bereich der galaktischen Hauptebene zu finden, wo der Durchmesser des Verbreitungsgebiets mehr als 30.000 Lichtjahre erreicht hat. Gwalon I.: Im neunzehnten Jahrtausend vor Beginn der terranisch-christlichen Zeitrechnung begann die Besiedelung des damals noch Urdnir genannt Kugelsternhaufens (M 13). Im etwa zwanzig Erdjahre dauernden Großen Befreiungskrieg erkämpften sich die Arkoniden die Unabhängigkeit von ihren Stammvätern, den Akonen. Im Jahr 18.334 v. Chr. rief Reichsadmiral Farthu da Lloonet den
imperialistischen Absolutismus aus und regierte in der Folge als Imperator Gwalon I. Unter seiner Herrschaft wurde auch der Zentrumskrieg gegen die Akonen geführt, der die endgültige Unabhängigkeit brachte. Beim ersten Militärputsch 1808 da Ark (18.294 v. Chr.) kam es unter dem Befehl von Flottenadmiral Utarf da Volgathir zur Landung auf Arkon ihm loyal ergebener Einheiten (u.a. 34. Raumlande-Brigade); Gwalon konnte mithilfe der Admirale Thantur und Petesch III. die ihn begleiteten, im letzten Augenblick entkommen und verschwand mit unbekanntem Ziel in den Tiefen der Galaxis. Geschichtsverfälschungen von Volgathir I. und späterer Imperatoren sowie die »rückdatierte« Arkonzeitrechnung sorgten dafür, dass diese Vorgeschichte nur noch einem kleinen Kreis Informierter bekannt blieb. Interkom: Bezeichnung für das interne Bild-Sprech-Kommunikationsnetz von Raumschiffen, Gebäuden und Anlagen. Klinsanthor, der Magnortöter: Mit Arbaraith und der arkonidischen Frühzeit verbundene Sagengestalt, unter anderem fixiert im um 2100 da Ark auf Hiaroon entstandenen Klinsanthor-Epos von Klerakones. Nur geflüstert wurden die Berichte: vom Aufgehen im Weltraum verlorener Arkoniden in rätselhaften Energieströmen und die Herkunft des Magnortöters in fernster Vergangenheit, der einem unbekannten Volk angehörte. Er geriet zufällig in einen Schnittpunkt kosmischer Kraftlinien, blieb dort hängen und wurde von den She’Huhan persönlich mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, die Klinsanthor völlig veränderten. Seine Fähigkeiten hätten ihm zu großer Macht verhelfen können, aber er konnte sich ihrer nicht frei bedienen. So geriet er in Abhängigkeit zu anderen Wesen, die ihn rufen und sich seiner bedienen konnten. Die Art der Kontaktaufnahme wird nirgends konkret geschildert, dennoch gelangten immer
wieder Wesen an das Geheimnis, und sie riefen Klinsanthor. Dem Fremden blieb nichts anderes übrig, als derart erteilte Aufgaben zu erfüllen. Bezeichnenderweise wendeten sich hauptsächlich Leute an ihn, deren Ziele nicht unbedingt positiv waren: Der verschollene Raumfahrer wurde gründlich missbraucht. Es gab große Katastrophen, die man auf ihn zurückführte, und so kam Klinsanthor zu dem Beinamen Magnortöter. Später hieß es, dass nur der Imperator von Arkon selbst Klinsanthor rufen könne. Kombistrahler: Kombinationswaffe mit wahlweiser Thermostrahl-, Desintegrator- oder Paralysatorwirkung; robust und praxiserprobt. In Atlans Jugendzeit waren Modelle der Serie TZU-4 im Einsatz. Leka: Bezeichnung für arkonidische Diskusraumer mit Durchmessern zwischen 20 und 50 Metern, eingesetzt als Beiboot oder Jacht mit unterschiedlichen Reichweiten sowie mit und ohne Transitionstriebwerk. Die Typbezeichnungen spiegeln die Größe wider: LE-50-15 (Durchmesser 50 Meter, Höhe 15 Meter), LE-35-20 (Durchmesser 35 Meter, Höhe 20 Meter) etc. Lemu(u): Auf Artefakten gefundene alte galaktische (tote) Sprache, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Satron als »klassisches Interkosmo« aufweist. Lemurer: Von der ursprünglich Lemur genannten Erde stammendes Volk der Ersten Menschheit, von dem nach seiner Vertreibung nach Andromeda um 50.000 v. Chr. nur Artefakte und Legenden berichten. Mascant: Admiral Erster Klasse, höchster Admiralsrang = »Reichsadmiral« = ein Dreisonnenträger mit besonderer Auszeichnung. Medostation: Bezeichnung für die medizinische Abteilung an Bord von Raumschiffen und Raumstationen. Hier befinden sich die Betten für intensiv-medizinische Behandlungen,
Operationen und für eine eventuelle Quarantäne. Die Größe und Ausstattung variiert je nach Schiffstyp und Einsatzzweck. Großraumer verfügen oft über komplett eingerichtete Klein-Hospitäler mit xenobiologischer (= Fremdvölker-) Abteilung. Mirkandol: Wörtlich »Ort (der) Begegnung«. Nebelsektor: Bezeichnung der Arkoniden für die Milchstraße (auch Öde Insel genannt), weil diese vom Kugelsternhaufen Thantur-Lok aus ein nebelhaftes Aussehen hat. Öde Insel: Bezeichnung der Arkoniden für die Milchstraße, die auch Nebelsektor genannt wird. Ortung: Fernerkundungssystem; unterschieden wird im Allgemeinen zwischen: Die (Passiv-)Ortung umschreibt den puren Empfang der von externen Objekten ausgehenden Emission hyperphysikalischer Art (beispielsweise Streustrahlungen von Triebwerken, Hyperstrahlung von Sonnen usw.) und kann durch Vergleich mit den immensen Speicherwerten der Datenbanken blitzschnell dem jeweiligen Verursacher zugeordnet werden. Die (Aktiv-)Ortung oder Tastung gleicht im Gegensatz dazu dem konventionellen RADAR, d.h. es wird ein mehr oder weniger eng gebündeltes Paket multifrequenter Hyperstrahlung aktiv ausgesandt, um aus den von den externen Objekten reflektierten Impulsen auf das entsprechende Objekt und seine Eigenschaften Rückschlüsse ziehen zu können. Entsprechend den unterschiedlichen Teilbereichen wird – ebenfalls vereinfachend – von Struktur-, Kontur-, Masse- und Energieortung gesprochen, und die jeweiligen Ergebnisse werden in der Panoramagalerie oder auf Detaildisplays in Gestalt von »Reliefs« einschließlich der zusätzlich eingeblendeten Erläuterungen dargestellt. Panoramagalerie: An der Wand von Raumschiffzentralen verlaufende große Bildfläche oder Holoprojektion, die zumeist
die 360-Grad-Umgebung des Schiffes zeigt. Neben den normaloptischen Informationen können Ortungsdaten oder Positroniksimulationen eingeblendet werden; Filtersysteme wirken als Blendsicherung usw. Im Sinne einer optischen Beobachtung hat diese Darstellung vor allem psychologische Bedeutung: Man sieht, wohin man fliegt. Parakräfte: Einzelkräfte wie Telepathie, Telekinese, Teleportation, Hypnosuggestion u.v.a. Die Arkoniden stießen bei der Expansion ihres Tai Ark’Tussan auf etliche Fremdvölker, bei denen Parakräfte eine nicht unwesentliche Rolle spielten (Individualverformer/Vecorat, Mooffs, Voolyneser, Vulther u.v.a.). Ihre eigene Erforschung des Paranormalen und Transpersonalen konnte, nicht zuletzt mit Blick auf Dagor und die damit verbundene Philosophie, etliche Ergebnisse vorweisen, die über die paramechanischen (also technischen) Psychostrahler, Fiktivund Simultanspielprojektoren und Anlagen, die der Aktivierung des Extrasinns dienten, hinausreichten. Der Paraphysiker Belzikaan (um 15.600 v. Chr.) bezeichnete die Paraforschung offiziell als »zwiespältige Wissenschaft«, um den Unterschied und die Trennung von den übrigen konventionellen und hyperphysikalischen Fakultäten zu markieren. Diese Erkenntnisse gehörten allerdings stets zur höchsten militärischen Sicherheits- und Geheimhaltungsstufe oder waren auf bestimmte Kreise beschränkt. Kräfte des Paranormalen sind deshalb gar nicht so selten, wie es auf den ersten Blick vielleicht aussieht. Vor allen Dingen sind sie keineswegs zwangsläufig Ausdruck einer wie auch immer gearteten »Mutation«, sodass die Aussage »Parabegabter gleich Mutant« ein etwas schiefes Bild erzeugt. Grundsätzlich handelt es sich beim Paranormalen zunächst einmal um Dinge, die zumindest latent jedem Bewusstsein zu eigen sind. Ob und inwieweit der Einzelne sich dieser Kräfte und Fähigkeiten
dann bewusst ist oder gar aktiv bedienen kann, ist eine andere Frage. paranormal: Wörtlich »neben dem Normalen«; im Allgemeinen Fähigkeiten und/oder Kräfte, die nicht zum Bereich der normalen Sinne gehören, meist eine von Lebewesen erzeugte Wirkung, die dem ultrahochfrequenten Bereich des hyperenergetischen Spektrums zugeordnet wird (zum Beispiel Telepathie, Telekinese, Teleportation etc.), auch als psionisch, mental oder transpersonal (»über die Person hinaus[gehend]«) umschrieben. Periode: Bezeichnung für den arkonidischen Monat zu 36 Tagen (Pragos). Pol- oder Bodenschleuse: Bezeichnung für den Komplex von Schleusensystemen, ausfahrbaren Laderampen, Kleinhangars und Antigravschächten, der sich bei arkonidischen Kugelraumschiffen im Bereich des unteren Pols befindet. Prago(s): Arkontag zu 20 Tontas. Ranton Votanthar’Fama: Legendenumwobene »Welt des ewigen Lebens« (= Kunstwelt der Superintelligenz ES), Kernbegriff vieler galaktischer Mythen und Sagen. Satron: Abkürzung von Same Arkon trona = »hört Arkon sprechen«; Bezeichnung für die lingua franca im Großen Imperium der Arkoniden: als Satron = klassisches Interkosmo aus dem Altakona der »Stammväter« hervorgegangen (welches wiederum der auf Artefakten gefundenen alten galaktischen [toten] Sprache Lemu[u] gleicht, weil aus ihr rund 30.000 Jahre zuvor entstanden), als Satron-I = Interkosmo (ab Verleihung des Handelsmonopols an die Springer im Jahr 6050 vor Christus), als Arkona-I = Hofsprache vor allem auf Arkon I (verbunden mit einer Wandlung von der Buchstabensprache hin zu einer komplexen Silbensprache mit Silbenschrift, die ab etwa 3000 vor Christus Arkona-II oder Arkona-Kalligraf genannt
wurde). Um etwa 1000 nach Christus entwickelte sich das »moderne Interkosmo« (umschrieben als Satron-Ia); der forcierte Handel von Springern mit Aras und Antis/Báalols führte zur verstärkten Einbindung medospezifischer Begriffe wie auch religiöser Wortschöpfungen, sodass etwa 300 Arkonjahre später auch die Version Satron-Ib weit verbreitet war. Satron ist eine Buchstabenschrift: Während sich die Sprache selbst im Verlauf der Jahrtausende durchaus wandelte, wurden die Schriftzeichen beibehalten, ebenso die Aussprache der Einzelbuchstaben, denen bestimmte Laute (Phoneme) zugeordnet sind. Das Alphabet umfasst die Selbstlaute A-E-I-O-U und zunächst siebzehn weitere Buchstaben, die jedoch schon beim Übergang vom Altakona zum Satron auf einundzwanzig erweitert wurden; die Reihenfolge entspricht hierbei selbstverständlich nicht dem Terranischen. She’Huhan: Sternengötter; je zwölf Frauen und Männer, die jeweils zur Hälfte dem »Unterreich« (verkörpert durch das Große Schwarze Zentralloch der Öden Insel) und dem »Oberreich« (symbolisiert durch die Sternenweite der Halo-Kugelsternhaufen) zugerechnet werden; u.a. Ipharsyn (Gott des Lichts und der Dreiheit), Merakon (Gott der Jugend und Kraft), Qinshora (Göttin der Liebe und unendlichen Güte), Tormana da Bargk (als Wettergott auch der von Sturm und Stärke, wurde in den Archaischen Perioden auch Kralas genannt). Skärgoth: Wörtlich »Unweit«, unzugängliche, ferne Welt – im Zusammenhang mit Klinsanthor genanntes Refugium des Magnortöters. Sogmanton-Barriere: Nach seinem Entdecker Sogmanton Agh’Khaal benanntes, fast vierhundert Lichtjahre breites, verdreht-schlauchförmiges, überaus turbulentes Gebiet mit Hyperstürmen und dergleichen unangenehmen Phänomenen,
denen über Jahrtausende hinweg ungezählte Raumschiffe zum Opfer fielen. Eine Zone im Weltraum, der hier nicht schwarz, sondern von eigentümlich rötlicher Farbe war, durchzogen von riesigen, bräunlich roten Schlieren. Arkonidische Hyperphysiker deuteten das Phänomen als höherdimensionale Bezugsebene, die das Standardkontinuum tangierte. In der Sogmanton-Barriere selbst kam es zu hyperenergetischen Einbrüchen und Aufrissen: Der Austausch von Normal- und Hyperenergie löste Hyperstürme, starke Strukturerschütterungen und Verzerrungen aus, und es gab übergeordnete Wirbel, Strudel und wechselnde Sogrichtungen. Staubballungen waren von Energieorkanen und Quantenturbulenzen durchdrungen. Stellenweise führten die Kraftfeldlinien zu Transmitter- oder Transitionseffekten, bei denen Objekte um Lichtstunden und mehr versetzt wurden oder aber gar nicht mehr im Standardkontinuum auftauchten. Das Zentrum der Barriere, fünf Lichtjahre im Durchmesser, war eine Ansammlung kosmischer Materie, in der es ständig brodelte und gärte: Dort konzentrierten sich die fremdartigen Energieströme und machten sich am deutlichsten bemerkbar. Im weiten Umkreis der Aufrisse waren Orter und Taster gestört. Sogmanton Agh’Khaal hielt das Barrierenzentrum für den Standort des legendären Ursprungsplaneten Arbaraith, während die Barriere selbst als Folge des Eingriffs des Magnortöters Klinsanthor wenn nicht entstanden, so doch zumindest in ihrer späteren Form geprägt interpretiert wurde; eine Vermutung, die erst sehr viel später indirekt bestätigt werden sollte. Die Sogmanton-Barriere verschwand beim Höhepunkt rings um die Auseinandersetzung mit den Cyen/Tekteronii der Jahre 2046 bis 2048 spurlos (siehe ATLAN-Buch 16 und 19). Stammväter: Akonen.
Tai Arbaraith: Meisterhaftes Oratorium, das die Heroen-Saga um Arbaraith aufgreift; die symphonische Umsetzung des Lebens, des Kampfes und der Entrückung des archaischen Heroen Tran-Atlan – vom Introitus mit dem Chor der Bestien über die Hymnen der Kristallobelisken bis hin zu Entrückung und Abschied (u.a. verzweifelte Schlussarie der schönen Thu Digfin, die vom Entrücken ihres geliebten Tran-Atlan erfährt) und der Schlusskantate. Tai Ark’Tussan: Großes Arkon-Imperium, meist nur als Großes Imperium übersetzt; umfasst neben den Kugelsternhaufen Thantur-Lok und Cerkol große Bereiche der als Öde Insel umschriebenen Milchstraßenhauptebene mit insgesamt mehreren zehntausend von Arkoniden und Fremdvölkern besiedelten Welten. Tai-Votan(ii): Wörtlich »Groß-Periode(n)«, arkonidische Bezeichnung für Jahr. Thantur-Lok: Wörtlich »Thanturs Ziel«, nach dem Flottenadmiral Thantur (ursprünglich Talur) bezeichneter Kugelsternhaufen im Halo-Bereich der als Öde Insel umschriebenen Milchstraße (Durchmesser 99 Lichtjahre, etwa 100.000 Sterne), der das Herz des Großen Imperiums darstellt. Von hier gingen die Besiedlungswellen der Arkoniden aus. Die terranische Bezeichnung lautet M 13 bzw. NGC 6205. Tiga Ranton: Wörtlich »Drei Welten« – Umschreibung für Arkons Synchronsystem von Arkon I bis III. Die Planeten wurden in der Herrschaftszeit von Imperator Gonozal III. künstlich als Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks gruppiert, das auf einer gemeinsamen Umlaufbahn von 620 Millionen Kilometern die Sonne Arkon umkreist. Nur Arkon III entspricht hierbei der ursprünglichen Zählung als dritter Planet; für das Umgruppierungs- und Synchronprojekt wurden die benachbarten Planeten II und IV hinzugezogen.
Nachfolgende Imperatoren sorgten dafür, dass dieses System als einmalig und natürlich entstanden angesehen wurde, um die außergewöhnliche Stellung des arkonidischen Volkes und seine Bevorzugung durch die Götter propagandistisch hervorzukehren – nur wenige Informierte kannten fortan noch die wahren Hintergründe. Tiefschlaf: Auch Bio-Tiefschlaf oder suspendierte Animation oder Hibernation. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren, das in gewisser Weise den Winterschlaf von Tieren simuliert, obwohl Menschen normalerweise dazu nicht in der Lage sind. Mithilfe von Spezialmedikamenten (unter anderem modifizierte Gerf-Derivate), Abkühlung des Organismus sowie diverser Hyperfelder zur Unterstützung der Stasis wird ein Zustand erreicht, bei dem Herzschlag, Atmung und alle anderen Lebensfunktionen fast auf Nullwert gesenkt werden und das Bewusstsein ausgeschaltet ist. Eine Ernährung erfolgt, soweit bei diesem »medizinisch toten« Zustand nötig, intravenös. Das Prinzip des arkonidischen Tiefschlafes, dessen Erfindung aus den ersten Jahren der stellaren Raumfahrt stammte, sah eine freie Auswahl der Phasenlänge innerhalb bestimmter Grenzen vor; als Maximalwert galt eine Dauer von ca. 423 Arkon-(bzw. 500 Erd-)Jahren. Um ein über diesen »Scheintod« hinausgehendes völliges Sterben (Gehirntod) zu verhindern, war natürlich permanente medizinische Überwachung notwendig. Dennoch handelte es sich um einen belastenden Vorgang: Je nach Tiefschlaflänge vergingen zwischen 35 und 40 Stunden, bis der Tiefschläfer erstmals wieder das Bewusstsein erlangte. Hierbei war es vor allem für Arkoniden notwendig, dass das Erwachen von akustischen und optischen Reizen begleitet wurde, die unmittelbar vor dem Tiefschlaf stattfanden, um das Gehirn zur höheren Aktivität anzuregen: Vor dem Schlaf paramechanisch aufgezeichnete Szenen wurden abgespielt,
um den »Anschluss« ans bewusste Leben zu gewinnen, weil ansonsten unter Umständen Wahnsinn drohte. In einem zweiten Schritt musste dann der Körper wieder ans bewusste Leben gewöhnt werden: Massagen, Aktivierungsprozeduren und eine langsame Rückgewöhnung an feste Nahrung waren erforderlich. Anschließend folgte das Muskelaufbautraining. Insgesamt handelte es sich um ein Prozedere, das, ebenfalls in Abhängigkeit von der Tiefschlaflänge, mitunter 200 und mehr Stunden in Anspruch nahm. Erst dann war ein Tiefschläfer in der Lage, normal zu agieren. Tonta(s): Arkonidische »Stunde« = 1,42 Erdstunden (85,2 Minuten bzw. 5112 Sekunden); Unterteilung in Zehntel, Hundertstel, Tausendstel, also Dezitonta (8,52 Minuten bzw. 511,2 Sekunden), Zentitonta (0,852 Minuten bzw. 51,12 Sekunden), Millitonta (5,112 Sekunden). Translator: Gerät zur Verständigung zwischen Intelligenzvölkern, die verschiedene Sprachen sprechen. Zu unterscheiden sind schon vom Gebrauch her reine Übersetzergeräte auf der Basis bereits gespeicherter Informationen von jenen, die mit einem Minimum an Daten beginnen, »aktiv« und möglichst in kurzer Zeit eine fremde Sprache analysieren, »erlernen« und in der Lage sind, das neu erfasste Idiom in die vorgegebene bekannte Sprache zu übersetzen. Eine weitere Unterscheidung ergibt sich aus der Kommunikationsrichtung: Erfolgt die Übersetzung stets nur in einer Richtung, sodass beide Gesprächspartner ein Gerät benötigen, handelt es sich um einen Einweg-Translator, während beim Zweiweg- oder Duplex-Translator die Übersetzung sowohl von Sprache A in Sprache B als auch von B nach A erfolgt. Geräte, die erstmals eine neue Fremdkommunikation erfassen und übersetzen, sind die komplexesten. Sie kommen nicht
zwangsläufig als tragbare oder in Raumanzüge integrierte Version zum Einsatz, sondern nutzen häufig die Kapazität größerer Positroniken und sind beispielsweise den Funkanlagen von Raumschiffen und -Stationen direkt vorgeschaltet. Wie komplex die Übersetzungsaufgabe tatsächlich ist, wird klar, wenn man sich bewusst macht, dass bei einer komplett unbekannten Sprache das gesamte dazu nötige Wissen zunächst einmal beschafft werden muss. Unter optimalen Bedingungen liefert das Gegenüber einen umfangreichen Basisdatensatz, im schlechtesten Fall müsste jede Einzelinformation ermittelt werden – und das zeigt schnell die Grenzen des Geräts auf. Weitgehend parallel zum grundlegenden Erkennen und Erfassen der Informationen erfolgen die Analyse, Beurteilung, Kategorisierung, das Vergleichen und die logische Ableitung des Informationsgehalts: Ein Rechner als Kern eines (tragbaren) Translators oder in Zuschaltung als Teil des größeren und leistungsfähigeren Bordrechners benötigt für seine Aufgabe eine ausreichende Menge der neuen Sprache und ihrer Einzelelemente, um deren Grundstruktur zu analysieren und eine rasche Kommunikation auf gegenseitiger Basis zu gestatten. Grundlage sind deshalb neben reichhaltigen Basissprachen-Datenbänken komplexe heuristische Analyse-Algorithmen einschließlich des Schwerpunkts Kryptografie. Frequenzwandler erweitern den Anwendungsbereich auf jene Sprachen, die teilweise oder ganz im Ultra- oder Infraschallbereich angesiedelt sind. Lautbildende Sprachen können auf diese Weise verarbeitet werden, doch bereits solche auf der Basis von Zisch-, Knurr- und Pfeiftönen nur noch bedingt. Kommunikationsweisen auf rein optischer, taktiler, olfaktorischer oder anderer Art sind mit normalen Geräten gar nicht zu entschlüsseln – hierzu sind mehr oder
weniger umfangreiche Zusatzmodule nötig. Für akustische Kommunikationsformen im hörbaren Spektrum gedachte Translatoren verfügen über Mikrofon und Lautsprecher, Analog-Digital-Wandler, umfangreiche Datenbanken sowie Kompressionseinheiten zur Verringerung des Speicherbedarfs. Geräte mit Zusatzmodulen wie Frequenzwandlern erweitern den Bereich und können, in Verbindung mit Sende- und Empfangseinheiten, auch Funkkommunikation umfassen. Die auf positronische Rechner gestützten Auswertungen und Übersetzungen laufen zwar mit der für solche Geräte üblichen Geschwindigkeit ab, da viele Rechnerprozesse parallel laufen und die Analyse-Algorithmen auf umfangreiche Vergleichsdatenbänke zurückgreifen können. Dennoch bleibt das »Erlernen« einer bis dahin unbekannten Sprache eine langwierige und durchaus mühselige Angelegenheit. Dass Letzteres sich nach außen hin häufig trotzdem scheinbar leicht und unkompliziert darstellt, liegt nur an der bemerkenswerten Güte der eingesetzten Positroniken. Schwierigkeiten bereiten dagegen alle anderen Kommunikationsformen, bei denen bereits die korrekte Wahrnehmung der Einzelsignale an die Grenzen der Geräte stößt. Der rein optische Bereich zur Erfassung von Umgebung, Gestik und Mimik lässt sich zwar auf Signalformen wie Lichtimpulse und dergleichen erweitern, aber solche »Sprachen«, die beispielsweise auf »Fühlerklopfen« oder ähnlichen taktilen Signalen von Insektoiden beruhen, überfordern einen normalen Translator ebenso wie jene, die den Austausch chemischer Signale in Form von Duft- und ähnlichen Stoffen beinhalten. Transmitter (auch: [{([{(Materie-Transmitter)}] Materietransmitter)}] Materietransmitter): Stationäre Anlage zur zeitverlustfreien Beförderung von Personen und Gegenständen, die als Transportmedium den Hyperraum
benutzt. Das eigentliche Transportfeld ist dem Transitions-Strukturfeld vergleichbar, der Transportvorgang an sich stets ein ganzheitlicher (es handelt sich nicht um Scanning nach dem Vorbild eines Fernsehbildes wegen quantenmechanischer Unscharfe sowie der Problematik der Gesamtinformationsmenge!). Normalerweise kommen Transmitter zum Einsatz, die neben dem »Sender« auch des »Empfängers« bedürfen. Sie liegen also in einpolarer Form vor, weil jeweils eine Funktionsseite als ein Pol fungiert und auf die Gegenseite angewiesen ist, um den Transport von A nach B abzuschließen. Treten die beiden Polgeräte miteinander in Verbindung, ist der Austausch der Informationen im Vorfeld Bedingung des Transports. Sendeund Empfangsfrequenzen und Tausende weiterer Parameter werden im Bruchteil einer Sekunde mit einem Protokoll ausgetauscht und verglichen und die Geräte aufeinander justiert. Während bei den Arkoniden Geräte mit Käfigen als Projektionsbereich zum Einsatz kamen, verwendeten die Akonen Torbogentransmitter, bei denen zwischen zwei Säulen ein bogenförmiges Energiefeld aufgespannt wurde, unter dem sich in tiefem Schwarz der Ent- und Rematerialisationsbereich bildete. Helle bzw. weiße Farbe des Torbogens bedeutete Empfang, Grün Sendung. Vogel Dirikdak (Sage vom): Ein guter Geist, der Arkoniden hilft, wenn sie in Bedrängnis sind. Bedingung für diese Hilfe ist, dass die in Bedrängnis Geratenen »anständige« Arkoniden sind und an ihrer Notlage keine Schuld tragen. Der Vogel Dirikdak wurde in der Sage als ein großes Wesen geschildert, das aufgrund seiner Körpermasse nicht fliegen konnte, sonst aber überaus beweglich war. Die arkonidische Paläontologie glaubte Beweise dafür gefunden zu haben, dass ein Wesen wie der Vogel Dirikdak tatsächlich in grauer Vorzeit auf
Arkon III existierte: ein großes, unbeholfenes, fluguntaugliches Geschöpf. Voger: Kleine katzenähnliche Tiere, die auf vielen arkonidischen Raumschiffen und in fast allen Haushalten anzutreffen sind und sich leicht zähmen lassen. Ihre Felle sollen angeblich gegen eine Muskelkrankheit schützen. Es gibt allerdings auch Vogerabkömmlinge, die zum Teil künstlich gezüchtet wurden und Größen bis zu vier Metern Länge erreichen; von ihren zahmen Verwandten unterscheiden sie sich durch achtzehige Krallen, zwischen denen Giftdrüsen angeordnet sind. Votan(ii): Wörtlich »Periode(n)«, auch »Zyklus, Kreis(lauf)«; arkonidische Bezeichnung für »Monat«. Vritra: Drache. Yilld: Ausgestorbenes Riesenreptil, halb Schlange, halb Drache – häufiges arkonidisches Heraldik-Symbol (u.a. beim Tu-Ra-Cel-Emblem oder als Brusttätowierung bei Mitgliedern der SENTENZA). Zeitrechnung: Ein Arkonjahr entspricht dem siderischen Umlauf von 365,22 Arkontagen (Pragos) zu exakt 28,37 (Erd-)Stunden. Gerechnet wird mit 365 Arkontagen je Arkonjahr: Alle 50 Arkonjahre ergibt sich somit ein Schaltjahr, in dem elf Arkontage angehängt werden (diese elf Schalttage entsprechen den elf Heroen, die Schaltperiode selbst wird nach dem mythischen zwölften Heroe »Pragos des Vretatou« genannt). Das Arkonjahr ist unterteilt in zehn Perioden (= »Monate«) zu je 36 Arkontagen, hinzu kommen die fünf Pragos der »Katanen des Capits« (Feiertage, die auf uralte Riten zurückgehen; früher wurden damit die Fruchtbarkeitsgötter geehrt, mit der Zeit verloren die Katanen an Bedeutung). Folgende Namen/Reihenfolge gilt: 1. der Eyilon, 2. die Hara, 3. der Tarman, 4. der Dryhan, 5. der Messon, 6. der Tedar, 7.
der Ansoor, 8. die Prikur, 9. die Coroma, 10. der Tartor, dazu die Katanen des Capits vor dem Jahreswechsel. Umrechnung: 0,846 Arkonjahre = 1 Erdjahr; 1 Arkonjahr = 1,182 Erdjahre. Zhdopan: Erhabener/Erlauchte, Hohe(r) – Ausdruck der Hochachtung; Anrede für alle Adligen und höhergestellte Personen, i.e.S. jene der Edlen Dritter Klasse (= Barone). Zhdopanda: Wörtlich »Hochedle/Hochedler« -Anrede der Edlen Erster Klasse (= Fürsten, Herzöge), abgeleitet von da, Zhdopan. Zhdopandel: Wörtlich »Edle/Edler« -Anrede der Edlen Zweiter Klasse (= Grafen), abgeleitet von del, Zhdopan. Zhdopanthi: Höchstedler; Bezeichnung für den Imperator. Zhdor: Gebieter. Anrede des deutlich schwächeren gegenüber dem höheren Rang; vor allem aber von Robotern allen Arkoniden gegenüber. Zwölf Heroen: Kern der Sagas sind vielfältige Erzählungen, die nicht allein auf den Kulturkreis der Arkoniden beschränkt sind und von den Taten der Berlen Taigonii berichten; elf außergewöhnliche Frauen und Männer, die gegen Bestien kämpften und sie besiegten – je nach Kultur und Erzählungsraum die verschiedensten Ungeheuer, Drachen oder Monster – und nach dem Zwölften, einer mystischen Rettergestalt, suchten, allerdings vergeblich. Im arkonidischen Lebensraum ist der Retter als Vretatou bekannt; es gibt auch andere Aussprachen und Schreibweisen – Vhrato oder Vhratatu zum Beispiel. Fünf Frauen und sechs Männer stehen bei Darstellungen als Gruppe im Allgemeinen im Halbkreis vor dem mystischen Retter; die Frauen sind stets von idealisierter Schönheit, schlank, hochgewachsen, dennoch trainiert, an Leichtathletinnen erinnernde Gestalten mit weißen Haaren und roten Augen: Hirsuuna, Osmaá Loron, Hattaga, Ovasa,
Heydrengotha. Ähnliches betrifft die Männer – Tsual’haigh, Hy’Tymon, Teslym, Jang-sho Wran, Separei und Tran-Atlan –, ihre Athletik ist noch ausgeprägter. Alle sind in rüstungsähnliche Kampfmonturen gekleidet und mit zum Teil archaisch anmutenden Waffen ausgestattet: stachelbesetzten Morgensternen, rasiermesserscharfen Schwertlanzen, doppelschneidigen Streitäxten; zum Beispiel hat eine Frau die Bogensehne bis zum Ohr gespannt, statt einer Pfeilspitze gibt es die Verdickung eines Minisprengsatzes; Tran-Atlan hält das Dagor-Langschwert hoch, auf dem Rücken trägt er eine Art Lyra. Wirklich aktuell sind diese Mythen selbstverständlich nicht, aber sie gehören zum Kulturgut des Großen Imperiums, genau wie auf der Erde die Taten eines Prometheus, Herakles, Achill, Odysseus oder König Arthurs zu Fantasien anregten, in die Kunst einflossen oder zu gängigen Begriffen der Umgangssprache transformierten: Achillesferse, Odyssee, Tafelrunde und so weiter.