Charlotte Engmann
Bruder Jakob Version: v1.0 Das Mondlicht spiegelte sich auf dem weißen Verputz des ge drungenen Fac...
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Charlotte Engmann
Bruder Jakob Version: v1.0 Das Mondlicht spiegelte sich auf dem weißen Verputz des ge drungenen Fachwerkhauses wieder und überzog die schwarzen Bal ken mit einem dunklen Schimmer. Wie um diese nächtliche Stunde zu erwarten war, fiel kein Licht durch die Fenster. Das Haus ruhte so friedlich wie seine Nachbarn, die das idyllische Seitengässchen von Zons säumten. »Er geht nicht ans Telefon.« Lukas klappte das Handy zu und steckte es in die Jackentasche zurück, ehe er noch einmal die Klingel betätigte. Erschreckend laut schrillte sie durch den Flur auf der anderen Seite der Haustür. »Vielleicht ist er ausge gangen. Oder in Urlaub gefahren«, versuchte Perdita eine Erklärung zu finden. Zwei Anrufe und mehrfaches Klingeln hätten den Spielzeugmacher längst aus seinem Schlaf reißen müssen. »Jakob ist nicht der Mann, der sich die Nächte um die Ohren schlägt. Was eine Urlaubsreise betrifft: Du erinnerst dich, dass Peter und Laurina auf den Werwolf aufgepasst haben? Jakob hat ebenfalls ein paar lästige Untermieter, die ständiger Überwachung bedürfen.«
Unwirsch schob sich Lukas eine rotblonde Strähne aus der Stirn. In seinen wasserblauen Augen flackerte Sorge auf. »Ich dachte, Jakob sei keiner von uns, sondern ein normaler Sterblicher.« »Wie man’s nimmt. Er hat es abgelehnt, zum Vampir zu werden, und obwohl Magier bei ihm ein- und ausgehen, verfügt er selbst über keinerlei Zaubermacht. Er glaubt an ein von Gott vorherbe stimmtes Schicksal, und in das seinige hat er sich gefügt.« Lukas verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Aber niemand altert so langsam wie Jakob, ohne dass Magie im Spiel ist. Ich bin mir si cher, jemand hat ihn verzaubert, damit er uns nicht so schnell unter den Händen wegstirbt.« Perdita runzelte die Stirn. »Etwas egoistisch, findest du nicht?« »Na ja, einer muss ja auf die Gremlins aufpassen.« Sie schüttelte den Kopf. Langsam gewöhnte sich Perdita daran, natürlich mit dem Überna türlichen umzugehen, denn inzwischen zählte sie schließlich selbst nicht mehr zu den normalen Sterblichen. Vor gut zwei Monaten hatte Lukas sie zum Vampir gemacht. Seitdem hatte sich ihr Leben in eine rasante Achterbahnfahrt aus unangenehmen Entdeckungen und bösen Überraschungen verwandelt. Doch musste sie zugeben, dass es durchaus auch positive Ver änderungen gab. Zum Beispiel, dass Lukas sich um sie kümmerte, sie quasi adoptiert hatte. Und er hatte wahrlich viel zu bieten. Er war selbstbewusst, ohne arrogant zu sein, gebildet, vermögend und äußerst attraktiv. Mit seinem durchtrainierten Körper, dem rotblon den Haar und den wasserblauen Augen entsprach er ganz dem klassischen Heldenideal. Er sah aus wie Anfang dreißig, aber Perdita wusste, dass er inzwischen über achthundert Jahre zählte. Wie üblich trug er ein weißes Leinenhemd und Bluejeans, dazu Ja cke und Stiefel aus braunem Leder. Das Beste an ihm war jedoch, dass er sie wie eine Erwachsene be
handelte und nicht wie den siebzehnjährigen Teenager, der sie altersgemäß war. Sicher, er hielt sie von allen Kämpfen fern und war stets als ihr Beschützer zur Stelle, doch genauso selbstverständlich ließ er sie ihre Arbeit erledigen. Lukas mache eine einladende Geste zur Haustür. Sie grinste ihn an und zückte das Etui mit den Dietrichen. Die modernen Sicherheitsschlösser waren nicht einfach zu knacken. Sie benötigte Ruhe und mehr Licht. Sie zog die kleine Taschenlampe aus dem Rucksack mit ihrer Einbrecher-Ausrüstung und klemmte sie zwischen die Zähne, während sie mit zwei feinen Metallstiften in dem Schloss herumstocherte, bis sich die Tür mit einem leisen Kli cken öffnete. Vorsichtig schob sich Perdita in den Hausflur. Der Lichtpunkt ih rer Taschenlampe tanzte über einen braunen Läufer, über eine Garderobe und eine schmale Kommode. Er hüpfte die Treppe hin auf, huschte über die Decke und blieb auf der ersten Tür links haften. »Ich schaue oben nach«, murmelte Lukas, die Haustür hinter sich schließend. »Du übernimmst Küche und Werkstatt. Aber geh nicht allein in den Keller.« »Wegen des Monsters, das unter der Treppe lauert?«, fragte Perdita spöttisch. Lukas warf ihr einen strafenden Blick zu, ehe er die Stufen hinauf verschwand, um die Zimmer im ersten Stock abzusuchen. Perdita öffnete die Tür auf der linken Seite. Dahinter lag eine winzige Küche, gerade groß genug für eine Reihe kleiner Un terschränke, einen alten Kühlschrank und einen Tisch mit vier Stüh len. Ein paar Küchengeräte standen ordentlich in Reih und Glied. Die Arbeitsplatte war sauber gewischt, ein weißes Tuch lag auf dem Tisch, und die Spüle glänzte wie frisch poliert. Na also, es geht doch, dachte Perdita freudig überrascht. Sie hatte mit einem unordentlichen, leicht schmuddeligen Haus
halt gerechnet. Immerhin lebte Jakob allein in diesem Haus und ohne die ordnende Hand einer Frau. An ihm konnten sich Jungge sellen aller Altersgruppen ein Bespiel nehmen. Die Werkstatt am Ende des Flures war ebenfalls ordentlich aufge räumt, wenn auch überfüllt mit Spielzeug aller Art. Vorsichtig trat Perdita in den rechteckigen Raum. Durch die Fens ter fiel genügend Helligkeit, sodass sie ihre Taschenlampe ausschal ten konnte. Von der Decke hingen mehrere Geschwader Modelflug zeuge. Eine Armee aus Blechspielzeug hielt die oberen Regalbretter besetzt und verteidigte sie standhaft gegen die Puppen, die von den unteren Etagen aufwärts drängten. Ferngesteuerte Autos und Puppenwagen herrschten über den Holzboden, während an der Rückwand ein Heer von Marionetten auf seinen Einsatz wartete. Die Mitte des Raumes hatte eine Werkbank erobert. Auf der einen Seite thronte ein Schraubstock, auf der anderen ein Schleifstein. Zwei der sechs Schubladen waren halb geöffnet und gaben den Blick frei auf die Werkzeuge, die Jakob für seine Arbeit benötigte. Lukas hatte erklärt, dass er Uhrmacher, Goldschmied und Feinme chaniker in einer Person war. Es gab kein Spielzeug, das er nicht richten, keine Uhr, die er nicht reparieren konnte. Ob mechanisches Instrument oder magisches Zubehör, bei Jakob war alles in besten Händen. Doch vom Meister selbst fehlte in der Werkstatt jede Spur. Sehr seltsam, dachte Perdita beklommen. Sie wollte den Raum verlassen, als sie eine Bewegung unter der Decke wahrnahm. Die Modelflugzeuge schwangen leicht in einer Brise. Perdita runzelte die Stirn. Selbst den geringsten Luftzug hätte sie mit ihren vampirisch verstärkten Sinnen wahrnehmen müssen. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Sie fuhr herum. Doch der kleine Schatten, der zwischen den Flugzeugen dahingehuscht war, war verschwunden.
Perdita drehte sich zur Tür, um die Werkstatt zu verlassen. Hier war Jakob jedenfalls nicht! Da hörte sie ein merkwürdiges Geräusch und wirbelte wieder her um. Sie sah gerade noch, wie sich ein hölzernes Flugzeug aus seiner Aufhängung löste und auf sie zuschoss. Schmerzhaft donnerte der Propeller gegen den Arm des Mädchens. »Autsch!« Perdita rieb den Oberarm. »Jetzt!«, zischte eine helle Stimme. Ein sichtbarer Ruck ging durch die Flugzeugflotte. Die Schnüre erbebten, die Knoten lösten sich. Spielzeug prasselte auf Perdita nie der. Mit einem Aufschrei riss sie die Arme hoch, um ihren Kopf zu schützen. Ihr Herz raste. Instinktiv wich sie zurück – und stolperte über einen Puppenwagen. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Um Haaresbreite verfehlte ihr Kopf das nächste Regal. Flugzeugtrümmer bohrten sich in ihren Rücken, die Beine und Arme. Vor Schmerz und Schreck schrie sie auf. Das Regal neben ihrem Kopf bewegte sich. Langsam neigte es sich nach vorn, bis es seinen Schwerpunkt überschritt und vornüber kippte. Perdita warf sich zur Seite. Nur Millimeter von ihrem Gesicht ent fernt knallte das schwere Möbelstück zu Boden und zermalmte das Spielzeug, das zwischen seine Bretter geraten war. Metallsplitter und Plastikstückchen sausten durch die Luft. Was geht hier bloß vor?, schoss es Perdita durch den Kopf. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Das Herz hämmerte wie ver rückt in ihrer Brust. Sie wusste, sie wurde angegriffen. Doch von wem und warum? Sie kämpfte sich auf Hände und Knie. Gerade wollte sie aufstehen, da jagte ein ferngesteuertes Auto auf sie zu. Eine spitze Feile ragte
wie eine Lanze über die Motorhaube. Ungläubig starrte Perdita das Gefährt an. Ich bin im falschen Film! Erst im letzten Moment sprang sie aus dem Weg. Sie prallte gegen die Werkbank. Ein Hammer rutschte von der Arbeitsplatte und traf ihre Schulter. Perdita jaulte auf. Sie griff nach der Tischkante und zog sich hoch. Da heulte der Schleifstein los. Eine Handbreit vor ihrem Gesicht drehte er sich mit mörderischer Geschwindigkeit. Funken sprühten, als ein winziges Menschlein, kaum größer als ihre Hand, einen Nagel dagegen hielt. Das Wesen trug einen ölverschmierten Overall. Unter seiner ledernen Fliegerkappe lugten zwei spitze Ohren und eine lange Nase hervor. »Gremlin!«, keuchte Perdita. »Du bist ein Gremlin!« »Und du bist totes Fleisch!«, kreischte das Wesen. Es stürmte auf sie zu, den angespitzten Nagel hoch erhoben, und wollte das glühende Metall in ihre Hand stoßen. Doch diesmal war Perdita schneller. Sie packte das Männchen, warf es in die nächste Schublade und rammte den Deckel zu. In einer einzigen Bewegung schaltete sie den Schleifstein ab und griff nach einem Besenstil, mit dem sie die Schublade verkeilte. »Lukas!«, rief sie, endlich zu Atem gekommen. Da bemerkte sie, wie das ferngesteuerte Auto erneut auf ihre Schienbeine zuraste. Hastig setzte sie sich auf die Werkbank und zog ihre Füße außer Reichweite der Feile. Die Tür flog auf. Lukas erschien auf der Schwelle. Mit einem Blick schien er die Situation zu erfassen. »Gremlins?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Ich habe einen gefangen.« »Gut gemacht. Bist du so weit in Ordnung?« Perdita nickte und rieb die malträtierte Schulter. Ein weiterer Vor teil ihrer Existenz als Vampir: Wunden und Schmerzen
verschwanden fast augenblicklich. Nur der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, flaute aber allmählich ab. Lukas öffnete die Schublade mit dem Gremlin und griff hinein. Perdita hörte einen leisen Wutschrei. Lukas fluchte und riss die Hand zurück. Ein Bleistift steckte in seinem Handrücken, doch den Gremlin hielt er fest gepackt. »Okay!«, rief er in den Raum. »Ihr hört jetzt damit auf und kommt aus euren Verstecken – oder ihr verabschiedet euch für immer von eurem Kameraden.« Ohne auf das jämmerliche Geschrei des Männchens zu achten, steckte er ihn in den Schraubstock und zog die Zwingen an. Der Gremlin kreischte zum Gotterbarmen. »Sag Auf Wiedersehen zu deinen Freunden.« Kalt funkelten Lukas’ Augen. Perdita überlegte, ob sie jetzt eingreifen sollte oder besser noch abwartete. Zwar missfielen ihr Lukas’ Methoden, doch für gewöhn lich waren sie erfolgreich. Außerdem entsprach es seiner Herkunft und Erziehung, seine Wünsche notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Sie verzog das Gesicht. Andererseits lebten sie nicht mehr im Mittel alter. »Hör auf«, bat sie Lukas. »Du tust ihm weh.« »Das will ich ja auch. Wenn seine Freunde nicht bald in Erschei nung treten, wird er einen langsamen und qualvollen Tod sterben«, drohte Lukas. »Schon gut. Reden wir«, murrte eine helle Stimme. Von einem der verbliebenen Flugzeuge seilte sich ein weiteres Menschlein ab und landete geschickt auf der Werkbank. Wie der andere Gremlin trug es einen Overall und eine Lederkappe, doch die roten Haare waren weniger struppig, die Ohren etwas kleiner und die Nase nicht ganz so spitz. Außerdem zeichneten sich unter dem Overall weibliche Rundungen ab.
»Was wollt ihr hier?«, fragte die Gremline ruppig. »Wir wollen zu Jakob. Wo ist er?«, entgegnete Lukas. Er löste den Schraubstock so weit, dass das Männchen nicht mehr gequetscht wurde, aber noch nicht entkommen konnte. Das schrille Gezeter verstummte. »Warum willst du das wissen? Hat dich die Kleine hergeführt, da mit du ihm den Rest gibst?« Die Gremline straffte sich. Sie hob den Kopf und schob trotzig das Kinn vor. »Wir werden nicht zulassen, dass ihr Überwachsenen ihm noch einmal schadet.« Perdita zuckte zusammen. »Du meinst, jemand war hier und hat Jakob etwas angetan?« Die Gremline starrte sie an, ihre dunklen Augen glühten wie Koh len. »Tu nicht so unschuldig, du verlogene Schlampe! Du weißt besser als jeder andere, was du Jakob angetan hast.« Sie bückte sich, ergriff den angespitzten Nagel und rannte auf Perdita zu. Hastig sprang diese von der Werkbank. »Ich habe Jakob nichts getan«, versicherte sie der Gremline. »Ich war noch nie …« Sie riss die Augen auf. »Du meinst Beate! Meine Schwester. Sie war hier.« Die Kleine musterte sie abwägend. »Kann sein. Ihr Über wachsenen seht doch alle gleich aus.« »Nicht alle«, schränkte Lukas ein. »Aber Perdita und Beate sind sich ähnlich genug, dass ein Gremlin sie verwechseln kann, wenn er durch Angst oder Wut abgelenkt wird.« Die kalte Drohung verschwand aus seinen Augen, seine Haltung entspannte sich. Als ein Zeichen guten Willens löste er die Zwingen. Unversehrt sprang das Männlein aus dem Schraubstock und eilte zu seiner Artgenossin. Lukas zog den Hocker unter der Werkbank hervor und setzte sich. »Also, erzählt mal, was passiert ist.« Die Gremline verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso sollten
wir?« »Weil wir Jakob nur helfen können, wenn ihr uns helft. Ich bin mir sicher, Jakob braucht die Hilfe eines Überwachsenen.« Da die Gremlins zögerten, fügte Perdita hinzu: »Bitte. Meine Schwester steht unter dem Bann eines Schwarzmagiers namens Waidinger, und wir wollen sie befreien. Sie hat Jakob bestimmt nicht freiwillig geschadet.« Die beiden Wesen tauschten einen Blick, er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, sie runzelte die Stirn. »Nun gut. Wir glauben euch«, erklärte die Gremline. Sie setzte sich auf die Werkbank, während ihr Artgenosse noch nicht wirklich überzeugt hinter ihr stehen blieb. Immer wieder warf er Lukas zornige Blicke zu, doch er machte keine Anstalten, einen weiteren Angriff zu starten. »Vor einiger Zeit erhielt Jakob den Auftrag, eine zerbrochene Spieluhr zu reparieren«, berichtete die Kleine. »Ein scheußliches Ding, mit einer Tänzerin in einer stilisierten Bauerntracht. Wir alle konnten die Magie riechen, die in diesem Teufelsding steckte, aber Jakob hat den Auftrag trotzdem angenommen.« »Vor allem, weil der Auftraggeber ihn bedroht hat. So ein elegant gekleideter Herr mit Wiener Akzent, allerdings mit ganz un eleganten Manieren.« Das Männchen wies Perdita an, die unterste Schublade der Werkbank zu öffnen und die darin liegenden Noten blätter herauszunehmen. »Die Spieluhr sollte diese Melodie spielen.« Perdita schluckte. Vor Aufregung war ihre Kehle wie ausgedörrt. Ihr Blick fiel auf den Text zu den Noten. Mutter, ach Mutter, es hungert mich, – Gib mir Brot, sonst sterbe ich. – Warte nur mein Kind, – Morgen woll’n wir backen geschwind. – Und als das Brot gebacken war, – Da lag das Kind auf der Totenbahr. Lukas, der ihr über die Schulter geschaut hatte, gab einige Flüche
von sich, die Perdita und den Gremlins die Röte in die Wangen trieben. Dennoch konnte das Mädchen ihn verstehen. Waidinger schien ih nen immer einen Schritt voraus zu sein. »Also hat Jakob die Spieluhr gerichtet«, stellte Lukas fest, nach dem er sich beruhigt hatte, »und Beate hat sie abgeholt.« »Sie kam vor zwei Tagen«, bestätigte die Gremline. »Aber anstatt zu bezahlen, hat sie gelacht und eine weitere Musikdose herausge holt. Daraus ist ein Geist entwichen, der von Jakob Besitz ergriffen hat. Seitdem schläft er, und wir schaffen es nicht, ihn wieder aufzu wecken.« »Wo ist Jakob jetzt?«, fragte Lukas. »Im Keller. Dort können wir uns am besten um ihn kümmern.« »Welche Melodie hat die Spieluhr gespielt?« »Bruder Jakob.« »Schläfst du noch«, ergänzte Lukas tonlos. Perdita spürte dank ihrer feinen Sinne, wie die Wut in ihm kochte, doch äußerlich blieb er gelassen und ruhig. »Ich befürchte, Jakob liegt in einer Art Koma«, erklärte er. »Ich hoffe, wir können ihm helfen. Aber es wird eine Weile dauern, und bis dahin wird er euch unter den Händen wegsterben. Ich schlage also vor, wir lassen ihn in ein Krankenhaus bringen, wo er solange versorgt wird, bis wir ihn aus diesem Dornröschen-Schlaf erwecken können.« Kurz beratschlagten die Gremlins, ehe sie sich einverstanden er klärten. »Nur noch eins«, sagte Lukas. »Diese Spieluhr mit der HungerMelodie … Wisst Ihr, ob es noch eine weitere gibt? Eine, die ein Lied vom Tod spielt?« Die Gremline schüttelte den Kopf. »Wir haben sie nicht gesehen. Aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Aber wenn sie existiert,
ist sie wahrscheinlich intakt.«
* »Im Grunde sind Gremlins keine schlechten Burschen. Nur wenn man sie ignoriert oder ihre Arbeit nicht würdigt, verwandeln sie sich in echte Plagegeister«, erklärte Lukas, während sie das idyllische Städtchen Zons verließen und in Richtung Autobahn fuh ren. »Oder wenn sie Freund mit Feind verwechseln«, ergänzte Perdita schmunzelnd. Nachdem sie die Gremlins besser kennen gelernt hatte, hatte sie ihnen den Angriff in der Werkstatt verziehen. Immerhin hatte es sich um eine Verwechslung gehandelt. Und wer sich aufrichtig um das Wohl eines anderen kümmerte, dem konnte sie nicht lange böse sein. Sie sank tiefer in den Autositz. Seit zwei Monaten verfolgten sie den Schwarzmagier Waidinger und die Spur von insgesamt vier Spieluhren, die er in seinen Besitz bringen wollte. Sie hatten Jakob aufgesucht, um ihn wegen der Musikdosen zu befragen – und jetzt hatten sie ihre Antwort, so wenig sie ihnen auch gefiel. »Wenigstens wissen wir, dass Beate noch lebt. Wäre mit ihr etwas nicht in Ordnung gewesen, hätten es die Gremlins bemerkt«, sagte Lukas. Mitfühlend strich er über Perditas braunen Schopf. »Soweit es in Ordnung ist, unter dem Bann eines Schwarzmagiers zu stehen«, murmelte die junge Vampirin. Entschlossen ballte sie die Fäuste. »Aber nicht mehr lange. Sobald wir sein Versteck gefunden haben, setzen wir seinem Treiben ein Ende. Nicht wahr?« »Und zwar ein für alle Mal.« Lukas schaltete den Blinker ein und fuhr auf die Autobahn. »Müssen wir nicht in die andere Richtung?«, fragte Perdita
verwundert. »Wir haben noch eine Verabredung in Düsseldorf. Mignon hat mich angerufen. Sie ist aus Frankreich zurück und will sich mit uns im Plaga Bianca treffen.« Perdita erinnerte sich an den Namen. Lukas hatte die Vampirin gebeten, einen herrenlosen Werwolf bei Freunden in der Bretagne unterzubringen. Schließlich musste jemand auf ihn aufpassen, damit er in Vollmondnächten keine Menschen anfiel. »Die Entwicklungen des letzten Jahrhunderts haben uns Vampire genötigt, einen engeren Kontakt untereinander zu pflegen«, sprach Lukas weiter. »Zum einen ist es schwerer geworden, unerkannt un ter den Menschen zu wandeln. Zum anderen will man gelegentlich mit jenen zusammen sein, die – wie man selbst – die Geschichte nicht nur aus Büchern kennen. Deshalb hat Ariadne das Plaga Bianca gegründet. Es ist neutraler Boden für die Untoten und die Unsterbli chen.« »Werden wir dort noch weitere Vampire treffen?«, erkundigte sich Perdita neugierig. Bis jetzt hatte Lukas nicht viel über ihre Artge nossen erzählt. »Ich hoffe nicht.« Lukas verzog das Gesicht. »Im Grunde sind wir Einzelgänger und sehr territorial veranlagt. Das Siebengebirge, Bonn und Köln zählen zum Beispiel zu meinem Revier. Düsseldorf und das Ruhrgebiet gehören jedoch Friedrich, und das Plaga Bianca un tersteht somit seiner Oberhoheit. Er herrscht mit strenger Hand über seine Blutkinder. Wir sind nicht gerade Freunde.« »Verständlich, da ihr euren Job als Familienoberhaupt offensicht lich unterschiedlich auffasst«, sagte Perdita im leichten Ton, doch of fensichtlich traf sie damit einen wunden Punkt. Lukas’ sonst so offenes Gesicht unter den rotblonden Haaren ver finsterte sich. Die wasserblauen Augen wurden sorgenvoll. »Ich bin kein guter Prinzipal. Ich …« »Prinzipal?«, unterbrach Perdita.
»Wir bezeichnen damit jene, von denen die anderen Vampire ab stammen, also quasi die mit dem ältesten Blut. Sie tragen Verant wortung für ihre Nachkommen, vor allem in den ersten Jahren. Doch anstatt für sie zu sorgen, bringe ich meine jüngste Tochter in Gefahren, gegen die sie nicht gewappnet ist.« Vernehmlich stieß er die Luft aus, bevor er sich zu einem Lächeln zwang. »Und ordent lich essen will sie auch nicht.« »Mach dir nichts draus. Einen essgestörten Teenager zu haben, ist heute vollkommen normal«, spielte Perdita das Thema herunter. Bis jetzt weigerte sie sich erfolgreich, direkt von einem Menschen zu trinken. Meist mussten streunende Katzen oder Hunde herhal ten, oder sie nahm, was Lukas ihr gab. »Wenigstens heute Abend haben wir kein Problem damit.« Lukas fand sein Lächeln wieder. »Im Plaga Bianca gibt es für unsereins ech te Bloody Marys.« »Erzähl mir mehr von den anderen Vampiren«, forderte sie ihn in teressiert auf. »Gibt es eigentlich viele von uns?« »Mehr als den Menschen recht sein kann, aber weniger, als man denken könnte.« Lukas begann, von den Untoten und den Unsterblichen zu erzäh len, denen er im Laufe seines langen Lebens begegnet war. Im Nu verflog die Zeit, und ehe sich Perdita versah, hatten sie den Stadtrand von Düsseldorf erreicht. Auf einem ehemaligen Fabrikgelände stellte Lukas den Wagen ab. Ein hoher Zaun riegelte eine alte Werkhalle ab. Dieser gegenüber stand ein ehemaliges Bürogebäude, das zu einem schicken Club um gebaut worden war. Über dem Haupteingang verkündete eine weiße Schrift, dass sie das Plaga Bianca gefunden hatten. »Das weiße Netz«, übersetzte Lukas für Perdita den lateinischen Namen. »Ein nicht sehr subtiler Scherz von Ariadne.« Ein Türsteher und eine Metalltür verwehrten ungebetenen Gästen den Eintritt. Doch der Zweimeter-Hüne in dem dunklen Anzug er
kannte Lukas und ließ sie ohne zu zögern ein. Die beiden Vampire betraten eine dämmrige Eingangshalle, die mehr einer gediegenen Hotel-Lounge glich, als einem hippen DiscoFoyer. Eine Ecke nahm eine große Garderobe ein. Links dröhnte hin ter einem doppelflügeligen Portal laute Dancefloor-Musik. Rechts führte eine Glastür zu einem Café mit dezenter Einrichtung. Eine Dame in einem weiß glänzenden, engen Kleid trat durch die gläser ne Tür und steuerte direkt auf die beiden Ankömmlinge zu. »Lukas, mein lieber Freund.« Küsschen rechts, Küsschen links be grüßte sie den Vampir mit überschwänglicher Herzlichkeit. »Wie schön, dich endlich mal wiederzusehen. Du könntest deine alte Freundin ruhig öfters besuchen.« Sie blickte seine Begleiterin an. »Und du musst Perdita sein. Ich bin Ariadne. Willkommen im Plaga Bianca.« »Danke.« Auch Perdita ließ diese Schickimicki-Begrüßung über sich ergehen. Instinktiv schreckte sie vor der Frau zurück. Irgendetwas schien falsch an ihr zu sein. Dabei sah Ariadne umwerfend aus. Sie war sehr groß, überragte Lukas sogar um eine Handbreit, und war dabei schlank, doch mit den richtigen Kurven an den richtigen Stellen. Ihr kurzes, platinblondes Haar umrahmte wie ein Helm ihr ebenmä ßiges Gesicht mit den vollen, sinnlichen Lippen. Ihre blaugrauen Augen strahlten so hell, dass sie fast weiß wirkten. Neben dieser Superbarbie kam sich Perdita erst recht unscheinbar und mädchenhaft vor. Sie reichte Lukas gerade bis an die Schultern, war mager und kurvenlos. Ihre schwarzen Jeans und das grüne Sweatshirt, das gut zu ihren Augen passte, entsprachen kaum dem eleganten Kleidercode in diesem Club – und sie kaschierten nicht im geringsten ihr jugendliches Alter. »Wo ist Raffaella?«, erkundigte sich Ariadne mit einem schlecht gespielten, suchenden Blick durch die Eingangshalle. »Sie ist tot. Von Waidinger ermordet«, antwortete Lukas rau.
»Das tut mir Leid.« Mitfühlend umarmte ihn Ariadne, wobei sie ihren Busen gegen seine Brust drückte und mit dem Oberschenkel sein Bein rieb. Mit ihren langen, dünnen Händen streichelte sie sei nen Rücken. Spinnenfinger, dachte Perdita schaudernd. Ariadnes Körpersprache verriet deutlich, dass sie mit Lukas’ Freundin Raffaella eine Rivalin verloren hatte. Jetzt hatte sie freie Bahn, Lukas zu umgarnen. »Ist Mignon schon da?«, fragte er, während er sich aus ihrer Umar mung löste. »Nein. Aber gehen wir doch trotzdem schon nach oben.« Ariadne führte die beiden Vampire durch eine unauffällige Seiten tür in ein schmales Treppenhaus. Mit wiegendem Gang schritt sie die vielen Stufen hinauf in den ersten Stock. Eine doppelte Si cherheitstür verwehrte Unbefugten den Zutritt, und kaum hatte Perdita den dahinter liegenden Raum erblickt, wusste sie auch warum. Man hatte die Decke und die Seitenwände herausgenommen, so dass eine weite Halle entstanden war. Mondlicht fiel in dichten Bündeln durch die Dachfenster und glänzte silbern auf riesengroßen Spinnennetzen, die sich zwischen Decke, Stützbalken und Boden er streckten. Fasziniert flüsterte Perdita: »Von wem sind die? Ariadne?« »Von wem sonst?«, antwortete Lukas mit normaler Lautstärke. Perdita knuffte ihn in den Arm. »Du hättest mir sagen können, dass sie keine Vampirin ist, sondern eine … eine Spinnenfrau. Ist das die korrekte Bezeichnung?« »Sie ziehen die Bezeichnung Arachniden vor«, erklang eine dunkle, wohltönende Stimme. Aus den dunklen Tiefen des Raumes trat ein Mann auf sie zu. Er trug einen schwarzen maßgeschneiderten Anzug mit Krawatte, und
an seiner rechten Hand glänzte ein schwerer Siegelring. Die ersten grauen Strähnen durchzogen das braune Haar, doch der stechende Blick seiner Augen und die unnatürliche Blässe seiner Haut ver rieten Perdita, dass er um Jahrzehnte, nein, um Jahrhunderte älter war, als seine vornehme Erscheinung vermuten ließ. Kritisch musterte er Perdita von Kopf bis Fuß. »Lukas, du scheinst in letzter Zeit sehr viel für dich zu behalten. Die wichtigsten Dinge verschweigst du uns.« »Da bin ich nicht der Einzige.« Lukas warf Ariadne einen wü tenden Blick zu. »Du hättest mir sagen können, dass Friedrich hier oben wartet.« »Ich hatte sie gebeten, diese Information vertraulich zu behandeln. Um Joschas Willen«, antwortete Friedrich an ihrer Stelle mit einer Stimme, süß wie vergifteter Honig. Drei weitere Vampire schälten sich aus der Dunkelheit. Eine auf gestylte Blondine im schicken Lederdress hielt einen schwarzhaa rigen Jüngling am Arm gepackt. Neben ihr baute sich ein Muskel protz im dunklen Anzug auf. In den Händen hielt er eine Armbrust, die auf Perdita gerichtet war. Augenblicklich lag Spannung in der Luft. Ohne Friedrich aus den Augen zu lassen, schob sich Lukas vor die junge Vampirin. Gefährlich leise knurrte er: »Was willst du?« In einer entwaffnenden Geste streckte Friedrich die Hände aus und erklärte übertrieben freundlich: »Mein lieber Freund, es war deine Idee, dass keiner von uns Nachwuchs zeugen sollte, ohne dass drei andere Prinzipale dem zustimmen. Doch jetzt muss ich fest stellen, dass du deine eigenen Gesetze missachtest und unsere süße, kleine Perdita hier zu einem Vampirmädchen gemacht hast. Das ist ein Fehler, der unbedingt berichtigt werden muss.« Perdita riss die Augen auf. Fest biss sie die Zähne zusammen, um nicht erschrocken auf zukeuchen. Wenn sie Friedrich richtig verstanden hatte, befand sie sich in Lebensgefahr. Man wollte sie tö
ten, weil Lukas sie ohne Erlaubnis der anderen zum Vampir ge macht hatte. »Meine Zustimmung hat er«, stellte sich Ariadne auf Lukas’ Seite. »Es tut mir Leid, aber du bist keine von uns«, wehrte Friedrich ab. Ariadnes Augen leuchteten zornig auf, doch Lukas kam ihrer Ent gegnung zuvor. »Sie saugt ihre Opfer ebenso aus wie wir.« »Das macht sie nicht zu einem Vampir«, beharrte sein Gegner. »Aber die Drecksarbeit darf ich für euch erledigen. Darüber reden wir noch, Friedrich!«, fauchte sie empört. Sie machte auf dem Ab satz kehrt und rauschte durch die Tür davon. »Wie ungeschickt, die Hausherrin zu verärgern. Ich hätte Angst, dass sie meinen Wagen zerkratzt«, spottete Lukas, dann wurde er wieder ernst. »Ich habe Raffaellas Zustimmung.« »Raffaella ist tot«, entgegnete Friedrich. »Der spätere Tod eines Fürsprechers hebt die Fürsprache nicht auf.« »Nun, unzweifelhaft war sie dein Mädchen, also lasse ich das mal gelten. Fehlen dir immer noch zwei Stimmen.« Lukas spannte die Muskeln an. Perdita war sich sicher, er würde sie nicht kampflos ihrem Schicksal überlassen. Sie musterte die anderen Vampire. Der dunkelhaarige Junge war nicht viel größer als sie und wirkte auch nicht kräftiger oder älter. Mit ihm konnte sie es vermutlich aufnehmen. Aber würde Lukas gegen die drei anderen bestehen? Eiskalt rann die Angst durch ihre Adern. Mit einem abrupten Ruck riss sich der Junge von der Blondine los. »Er hat meine Zustimmung.« Für einen kurzen Augenblick verzerrte sich Friedrichs Gesicht zu einer Maske der Wut, ehe er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Du bist zu jung, Joscha.« Der Dunkelhaarige trat an Lukas’ Seite. »Dennoch bin ich ein
Prinzipal.« »Das kann man ändern«, knurrte Friedrich. »Sei kein Narr«, mahnte Lukas. »Die Sache kann es dir nicht wert sein, dass du deswegen Heinrich aus seinem Gefängnis befreist. Sei lieber froh, dass Ariadne und ich die Gefahr gebannt haben.« »Dir fehlt jedoch immer noch eine Stimme.« »Ich bin mir sicher, Mignon wird zustimmen«, antwortete Lukas nur scheinbar gelassen. »Aber sie ist nicht da«, trumpfte Friedrich auf. Der Mann mit der Armbrust hob seine Waffe. Lukas’ Hand suchte nach dem Schwert – das an seiner Seite fehlte. Die Blondine ging in Angriffsstellung. Da schwang die Tür auf. »Entschuldige die Verspätung, Lukas!«, rief eine schlanke Brü nette. Der kurzer Haarschnitt, die rote Motorradkombi und das kan tige Gesicht gaben ihr ein androgynes Aussehen. Schwungvoll stürmte sie in den Raum und zog Perdita in ihre Arme. »Hallo! Ich bin Mignon. Lukas hat mir viel von dir erzählt. Schön, dass du da bist. Ist dein Vater wirklich der berühmte Fassadenkletterer, den man den Dachfürsten nannte?« Perdita nickte wortlos. Sie war zu überwältigt, um einen Ton über die Lippen zu bringen. Mignons Erscheinen war wahrhaft Rettung in letzter Sekunde. Ihr Auftritt ließ keinen Zweifel bestehen, dass sie Lukas ihre Stimme geben würde. Friedrich erkannte das auch. Er winkte seinen beiden Schergen – der Blondine und dem Bewaffneten – und drängte an den anderen vorbei zur Tür. »Wir sehen uns wieder.« Wortlos schaute ihm Lukas hinterher. Mit einem Knall wurde die Tür zugeschlagen; die vier übrigen Vampire waren allein. Perdita verschränkte die Arme vor der Brust. »Gibt es noch andere Gesetze, die ich kennen sollte?« Sie war sichtlich verärgert.
Lukas schob die Hände in die Hosentaschen. »Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Und ja, es gibt da noch ein Gesetz, das du kennen musst. Kein Vampir darf die schwarze Kunst erler nen, selbst wenn die Magie in dir schlummert. Wir dulden nicht, dass der Betreffende seine Zauberkräfte ausbildet und einsetzt.« Er nickte zu dem dunkelhaarigen Joscha hin. »Heinrich war sein Prinzipal, doch als er sich als ein Schwarzmagier entpuppte, haben wir ihn gefangen genommen.« »Das heißt, Ariadne hat ihn in einen Kokon eingesponnen.« Joscha schenkte Perdita ein gezwungenes Lächeln. Sie lächelte zurück. Mit dem länglichen Gesicht, der schmalen Nase und den fein gezeichneten Lippen besaß Joscha eine erstaunli che Ähnlichkeit mit Keanu Reeves. Auch hatte er die gleichen dunklen Haare und Augen, doch er war kleiner als der Schauspieler, nicht viel größer als Perdita selbst. Insgesamt fand sie ihn äußerst attraktiv. Ihr Lächeln vertiefte sich. »Seltsam. Wenn du lächelst, funkeln deine Augen wie Smaragde«, stellte Joscha verwundert fest. »Dabei hätte ich schwören können, deine Augen wären trüb wie ein verschmutztes Gewässer. Und was hat es mit diesem grauen Mann auf sich?« »Wie meinst du das? Was für ein grauer Mann?« Perdita blickte Lukas Hilfe suchend an. »Na, der Typ, der das andere Ende deiner Kette hält«, fuhr Joscha fort. »Während ihr diesen Vergnügungspark besucht.« »Ich verstehe nicht …« Sie runzelte die Stirn. »Meinst du den Wiener Prater?« Lukas legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe, was er meint. Du musst wissen, Joscha ist Maler …« »… sofern man sein Gekleckse überhaupt als Malerei bezeichnen kann«, unterbrach Mignon spöttisch. Joscha rieb mit beiden Händen seine Schläfen. Entschuldigend er klärte er: »Wenn ich die Bilder in meinem Kopf loswerden muss,
kann ich nicht auf Kunstfertigkeit achten. Ich bin einfach nur froh, dass mir nicht der Schädel platzt.« »Ich weiß.« Lukas drückte freundschaftlich seine Schulter. »Perdita, Joscha ist nicht bloß ein Maler, er ist ein Medium. Seine Bilder zeigen die Zukunft und die Vergangenheit.« »Eine mögliche Zukunft«, schwächte Joscha mit einem leichten Lä cheln ab. Doch unvermittelt verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerzen. Er presste die Hände gegen die Schläfen und kniff die Augen zusammen. Gequält stöhnte er auf. »Es geht wieder los …« »Dann wollen wir dich nicht vom Malen abhalten. Perdita, würdest du bitte mit ihm nach gegenüber in sein Atelier gehen?« »Was ist denn los? Was hat er?«, fragte sie aufgeschreckt. »Eine Vision, die er sich von der Seele malen muss. Sieh einfach zu, dass er alles hat, was er braucht: Pinsel, Farben, Leinwand. Schaffst du das?« »Ja, klar, kein Problem.« Gerne würde sie Joscha zur Seite stehen. »Was ist mit dir, Lukas? Was wirst du nun tun?« »Ich muss mit Ariadne und Mignon über Joschas Zukunft reden. Ich befürchte, er kann hier nicht länger bleiben, nicht nachdem er sich gegen Friedrich gestellt hat.« »Okay.« Vorsichtig nahm Perdita den Maler am Arm und leitete ihn durch das Treppenhaus ins Foyer. Sie verließen das Bürogebäu de und gingen über die freie Fläche zu der eingezäunten Fabrik halle. Durch eine schmale Pforte im Eisenzaun gelangten sie zu dem Gebäude mit den zugemauerten Fenstern. Perdita nahm Joscha die Schüssel ab, als er unbeholfen damit herumfummelte, und schloss den Seiteneingang auf. Die ehemalige Werkhalle hatte sich in eine Galerie verwandelt. An Dutzenden von Stellwänden hingen Gemälde und Zeichnungen ver schiedener Größe und Stilrichtungen. In der Mitte der Halle befanden sich Joschas Malerutensilien: Leere Leinwände lehnten auf drei Staffeleien, und ein Meer von Farbtöpfen und -tuben, von
Pinseln und Zeichenstiften bedeckte einen großen, runden Tisch. Fahrig griff der junge Mann nach Pinsel und Palette, um sich die quälenden Visionen von der Seele zu malen. Mit übermenschlicher Geschwindigkeit flogen seine Hände über die Leinwand. Schwarz und Dunkelblau verwandelten die weiße Fläche in eine finstere Nacht, in der zornigrote, kränklichgrüne und schmutziggelbe Fle cken wie Dämonenaugen funkelten. Da sich Joschas Zustand sichtlich besserte, wandte sich Perdita ab und erkundete das Atelier. Von der hohen Decke hingen kegelför mige Lampen, die helle Lichtpunkte auf den Boden warfen. Die Stellwände gliederten die Halle in mehrere Räume, die jeweils einer dominierenden Gestalt zugeordnet waren. Perdita entdeckte Bilder von Raffaella, von Mignon und Friedrich, aber die meisten Personen waren ihr fremd. In einem fast leeren Raum fand sie schließlich das Ölgemälde, von dem Joscha gesprochen hatte: Ein schlankes Mädchen in einem weißen Kleid und mit trübem Blick stand inmitten eines nächtlichen Vergnügungsparks. Um ihren Hals lag eine schwere Kette, die ein Mann im grauen Mantel festhielt. Dämonen und Geister umkreisten die beiden wie eine Meute Hunde, während sich Ghouls hinter den Fahrgeschäften und Fressbuden versteckten. »Es stellt eine mögliche Zukunft dar«, schreckte Joscha Perdita aus der Betrachtung des Bildes. Unbemerkt war er neben sie getreten. Sein Blick hatte sich geklärt, die Linien der Schmerzen waren aus seinem länglichen Gesicht verschwunden. »Oder ist das eine Szene aus deiner Vergangenheit?« »Nein. Ich war zwar letztens im Wiener Prater, aber da waren we der Geister noch Dämonen und schon gar nicht Waidinger. Wenn der Mann dort Waidinger ist.« »Wer ist das überhaupt?« Perdita schlang die Arme um die Brust und rieb ihre Oberarme. »Ein Schwarzmagier und Nekromant. Er hält meine Schwester Beate
als Geisel gefangen. Lukas befürchtet, dass Waidinger die vier Reiter der Apokalypse in seine Gewalt bringen will, um mit deren Hilfe die Welt zu unterjochen.« »Wie will er das anstellen?« »Mit Hilfe von vier Dämonen, die er in Spieluhren bannt. Pest und Krieg beherrscht er schon. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er Hunger und Tod ebenfalls eingefangen hat.« Perdita ballte die Fäus te so fest zusammen, dass die Fingernägel in ihre Handballen schnitten. »Wir müssen Waidinger stoppen, bevor es zu spät ist.« »Das sind keine guten Nachrichten. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Perdita, zumindest nicht allzu viele. Wenn es einer mit diesem Waidinger aufnehmen kann, dann ist das Lukas. Er hat die Sache mit Heinrich geregelt. Und er hat Reinhard von Ho henstein erledigt, von dem alle glaubten, er sei unbesiegbar.« In Joschas Stimme schwang Ehrfurcht mit. »Die meisten Untoten und Unsterblichen werden sich hüten, Lukas in die Quere zu kommen. Sein Ruf ist Legende.« Perdita war verwundert. Nun ja, sie hatte viele Seiten an Lukas kennen gelernt. Sie hatte ihn mitfühlend und fürsorglich erlebt, hatte gesehen, wie er seine tot geglaubte Liebste Clara in die Arme schloss – und sie endgültig verlor. Aber sie hatte auch am eigenen Leib erfahren, zu welcher Kälte und Grausamkeit er fähig war, und wie rasender Zorn ihn in eine wilde Bestie verwandeln konnte. Aber dass er so eine Art ungekrönter König der Nachtgeschöpfe sein sollte, hielt sie für übertrieben. »Es heißt sogar, er würde das Sonnenlicht vertragen«, fügte Joscha hinzu. Perdita nickte stumm. Ja, das stimmte. Zumindest an bewölkten Tagen konnte Lukas die brennenden Strahlen der Sonne ertragen. Dennoch stellte sich ihr die Frage: »Ist das wirklich so ungewöhn lich?« »Ungewöhnlich?« Joscha schüttelte den Kopf über so viel Naivität.
»Es ist einzigartig. Oder? Was ist mit dir?« »Ob ich die Sonne vertrage?« Perdita zuckte die Schultern. »Lukas meint nein. Entweder bin ich achthundert Jahre zu jung, oder es liegt daran, dass ich von einem Vampir abstamme und nicht von einem Dämon wie Lukas.« »Das ist also Lukas?« Joscha drehte sich um und deutete auf ein Gemälde hinter ihnen. In düsteren Farben und verzerrten Linien zeigte es eine Szene wie aus einer schwarzen Messe. Vermummte Gestalten umringten einen hellhaarigen Mann, den man auf einem Opferaltar festgekettet hatte. Ein geflügelter Dämon beugte sich über den Gefangenen und saugte das Blut aus seinen Adern. »Das Bild passt zu dem, was er mir erzählt hat«, sagte Perdita. Es fiel ihr schwer, in dem angstverzerrten Gesicht des Gefangenen Lukas’ vertraute Züge zu erkennen. Vielleicht, weil sie ihn noch nie in Todesangst gesehen hatte, vielleicht weil Joschas Stil solche De tails nicht hergab. Wie er schon Mignon erklärt hatte, malte er die Bilder, um die quälenden Visionen aus seinem Kopf zu verbannen. Da waren eine fotorealistische Wiedergabe oder lebensechte Porträts einfach nicht möglich. Joscha nahm das Bild ab und brachte es in einen anderen Raum, in dem Perdita weitere Darstellungen aus Lukas’ Leben entdeckte. Die meisten stammten aus der Vergangenheit, wie sie aus der Kleidung der Figuren schloss. Sie zeigten schaurige Szenen von Gewalt und Tod, hier eine blutige Schlacht, dort eine verwüstete Stadt oder ein schauerlicher Blick in eine Folterkammer. Alles war in be drückenden, dunklen Farben gezeichnet. Kein Wunder, dass er so geworden ist, wie er ist, dachte Perdita. Un willkürlich rieb sie ihr rechtes Handgelenk, das beinahe durch Lu kas’ Axt durchtrennt worden wäre. Achthundert Jahre voller Gewalt hinterließen eben ihre Spuren. So schnell konnte sich niemand da von befreien, erst recht nicht ein Vampir, der die Bereitschaft zu
Grausamkeit und Mordlust von Natur aus in sich trug. Es ist eher ein Wunder, dass er überhaupt über liebenswerte Seiten verfügt. »Du hast recht viele Bilder, auf denen Lukas zu sehen ist«, wandte sie sich wieder Joscha und seinen Werken zu. »Seine Persönlichkeit ist sehr stark ausgeprägt. Beinahe jedes Mal, wenn ich ihn sehe, löst er eine Vision aus.« Wieder erschien ein missratenes Lächeln auf Joschas Zügen. Er führte Perdita in den angrenzenden Raum zu einer kubistischen Zeichnung in Blautönen. »Manchmal glaube ich, die Sache mit Heinrich ist aus dem Ruder gelaufen, weil er das Bild gesehen hat.« Das Gemälde zeigte einen dunkelhaarigen Mann, der in einem gigantischen Spinnennetz hing, die Arme wie bei einer Kreuzigung ausgestreckt. Ariadne stand vor ihm und streichelte in einer zärtli chen Geste über seine nackte Brust. Winzige Funken sprangen von der blassen Haut auf die langen Spinnenfinger über: Lebensenergie, die der unerschöpflichen Quelle vampirischer Macht entsprang. »Eine grausame Strafe«, meinte Perdita schaudernd. »Hat er das wirklich verdient?« Joscha schlug die Augen nieder und betrachtete intensiv die Spitzen seiner Schuhe. Kaum hörbar gestand er: »Ich hoffe es.« Er blickte auf. »Ich bin zu jung, um das beurteilen zu können. Also muss ich den Prinzipalen vertrauen, dass sie richtig entschieden haben. Und die Alternative wäre die endgültige Vernichtung.« »Erzählst du mir die ganze Geschichte?«, fragte Perdita, während sie in einen Raum gingen, der wie ein Wohnzimmer hergerichtet war. Zwei Sessel und eine Chaiselongue standen in dem Raum, dessen Wände mit hellen, freundlichen Bildern dekoriert waren. Der Stil und die Farbwahl unterschieden sich so stark von den übrigen Werken, dass Perdita vermutete, es handele sich um Bilder aus der Zeit, als Joscha noch kein Vampir war, sondern sich in abstrakter Kunst versucht hatte. Sie nahm auf der Chaiselongue Platz, schlüpf te aus ihren Schuhen und zog die Füße unter die Beine.
Joscha setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. »In der Hochzeit der Hexenverfolgung haben die Vampire einige Regeln und Gesetze beschlossen, die unser Überleben sichern sollen. Wie Lukas schon erwähnt hat, ist es uns verboten, unsere magischen Kräfte zu schulen, sofern wir über solche verfügen. Heinrich hat dieses Gesetz missachtet, und zur Strafe wurde er von Ariadne eingesponnen. Er verbleibt in ihrer Gewalt, bis Lukas, Mignon und ich ihn freigeben.« »Warum gerade ihr drei?« »Weil Mignon und ich Heinrichs Blutkinder sind. Doch solange er gefangen bleibt, gelten wir als Prinzipale.« Perdita griff nach einem Kissen und schlang die Arme um das seidene Polster. Sie erinnerte sich an die seltsame Begrüßung zwi schen Friedrich, Lukas und Ariadne. Offensichtlich konnte man die Spinnenfrau erpressen, indem man Joscha in seine Gewalt brachte. Sie fragte: »Wie steht ihr eigentlich zueinander, du und Ariadne?« »Ich gehöre zu ihrem bevorzugten Männertyp. Deshalb – und auch, um Friedrich zu ärgern – hat sie mir die Halle als Atelier zur Verfügung gestellt. Ich bin ihr also sehr verbunden.« Wieder sein leicht gezwungenes Lächeln. »Aber da Friedrich über Düsseldorf und das Ruhrgebiet herrscht und ich ihm vorhin in den Rücken gefallen bin, muss ich mir jetzt wohl eine neue Bleibe suchen. Vielleicht nimmt mich Lukas auf, sonst muss ich eine andere Lösung finden.« »Kein Problem. Ich werde Lukas sagen, dass du bei uns einziehen sollst. Er kann mir schwerlich etwas abschlagen.« Perdita lächelte Jo scha aufmunternd an. Je länger sie sich mit ihm unterhielt, desto besser gefiel ihr der Junge. Und sie hatte das Gefühl, dass er sie ebenfalls mochte. »Wie lange bist du schon Vampir?« »Seit ungefähr zwei Jahren.« »Wie kommst du damit zurecht? Ich meine, mit … mit der Ernäh rung …« Joscha zuckte die Schultern. »Ich gehe rüber ins Plaga Bianca. Ir
gendein Mädchen findet sich immer, dem ich gefalle. Wir ver drücken uns dann in eine dunkle Ecke und knutschen so wild her um, dass sie gar nicht merkt, dass ich ihr Blut trinke. Ich nehme doch an, du machst es ähnlich, oder?« Perdita schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht.« »Und wovon lebst du dann?« »Es findet sich immer das eine oder andere streunende Tier.« Sie presste das Kissen fester gegen ihren Bauch. »Oder Lukas gibt mir was ab.« »Willst du damit sagen, dass du sein Blut trinkst?«, rief Joscha fassungslos. »Wieso? Ist das verboten?«, schnappte Perdita. »Nein, natürlich nicht. Vielleicht beschleunigt es sogar die Entwicklung deiner vampirischen Fähigkeiten. Aber es schwächt auch deinen Willen und deine Durchsetzungskraft gegenüber Lu kas. Es gibt da diesen Spruch: Wes Blut ich trink, des Lied ich sing.« Perdita starrte ihn an. Sie kannte den Spruch ein wenig anders. Je doch erklärte er, warum sie Lukas widerspruchslos gehorcht hatte, als sie von dem Hungerdämon Abiku angegriffen worden waren – und warum Raffaella Lukas nicht mit ihrem eigenen Blut gerettet hatte, sondern ihm Perdita zum Fraß vorgeworfen hatte. Wütend schleuderte sie das Kissen quer durch den Raum. Sie zog die Beine an die Brust und schlang die Arme um die Knie. Nun war sie gezwungen, sich zu entscheiden: Entweder sie unterwarf sich Lukas, oder sie begann, sich wie ein richtiger Vampir zu ernähren. Joscha setzte sich neben sie und streichelte sacht über ihren Arm. »Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Lukas ist kein schlechter Kerl, und an das Bluttrinken gewöhnst du dich schneller, als du denkst.« Perdita verzog trotzig den Mund, und Joscha lachte leise auf. »Komm, lass uns nachsehen, was für eine Schandtat von Gemälde
ich diesmal verbrochen habe«, wechselte er das Thema. »Vielleicht entdecken wir ja ein pikantes Geheimnis aus Friedrichs Vergangen heit.« Sobald die beiden Vampire die Staffelei in der Hallenmitte erreicht und einen Blick auf das Gemälde geworfen hatten, schlug Perditas Stimmung um. Der Groll über ihr Ernährungsproblem verschwand. Teils amüsiert, teils angenehm berührt betrachtete sie sich selbst und Joscha. Sie standen in seinem Atelier vor einem Bild, das sie wiederum zeigte, wie sie als winzige Figuren im Atelier standen. Und als hätte die unheimliche Gleichheit in Zeit und Ort nicht ge nügt, hatten Joscha und sie die Häupter zueinander geneigt und schienen im Begriff zu sein, sich zu küssen. Mit einem breiten Lächeln drehte sie sich zu dem Maler. Doch dieser starrte mit gerunzelter Stirn auf das Bild. Er streckte den Finger aus und deutete auf eine Ecke. »Siehst du das?« Perdita beugte sich vor und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um die bewusste Stelle genauer zu betrachten. Dabei kam sie Joscha so nahe, dass sie seinen Herzschlag vernehmen konnte. Der Duft von Aftershave stieg ihr in die Nase. Dies war der Moment, den er gemalt hatte. Perdita hielt den Atem an. Würde er sie jetzt küssen? Oder sollte sie die Initiative ergreifen? »Was ist das?«, murmelte Joscha abwesend. Sein Atem streichelte ihre Wange. »Sieht aus wie irgendein Tier.« Perdita rümpfte die Nase. So viel zum Thema Einfühlungsvermö gen und Romantik. »Vielleicht eine Maus? Oder eine Ratte?« »Nein. Sieht eher wie eine Eidechse aus.« Er drehte sich um und griff nach einem Stift, der auf dem Tisch lag. Plötzlich schrie er auf: »Ein Teufelssalamander!« Perditas Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Fast hätte sie die kleine Echse übersehen, deren schwarze Haut in dem dämmrigen
Atelier eine fast perfekte Tarnung war. Das Tier huschte um eine Stellwand herum. Wo seine Pfoten den Boden berührten, züngelten winzige Flammen empor und verlo schen wieder, da sie auf dem blanken Beton keine Nahrung fanden. Hier und da jedoch erreichten die Flammen die Stellwände und kletterten die Tapeten hinauf. »Wir müssen ihn erwischen!« Joscha schnappte sich ein Glas mit Wasser und eilte dem Salamander hinterher. »Ein Feuerlöscher!«, Feuerlöscher?«
rief
Perdita.
»Wo
hast
du
einen
»Beim Eingang.« Sie spurtete los und rannte die Stellwände entlang. Plötzlich stand sie in einer Sackgasse. Sie fluchte und eilte zurück. Der Geruch von Feuer wurde intensiver. Sie hörte ein lautes Zischen, als würde jemand Wasser über eine heiße Herdplatte gießen, gefolgt von atemloser Stille. »Es funktioniert nicht«, rief Joscha entsetzt. »Perdita, beeil dich!« Endlich erreichte sie den Seiteneingang. Sie riss den Feuerlöscher von der Wand und jagte in die Hallenmitte zurück. Sie erreichte das Rund gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Salamander auf den Tisch sprang. Die papiernen Aufkleber der Farbdosen färbten sich schwarz und fielen als bröselige Asche zu Boden. Verformte Deckel sprangen von ihren Behältern und rollten über den schwelenden Tisch. Rechts und links neben dem Teufelssa lamander explodierten die Dosen und Tuben. Farbe spritzte zur De cke und an die Wände, klatschte den beiden Vampiren ins Gesicht und auf die Kleider. Mit fliegenden Händen löste Perdita die Sicherung und drückte den Hebel des Feuerlöschers. Weißer Schaum schoss aus dem Schlauch und bedeckte den Tisch. Ein Zischen wie aus einem kochenden Wasserkessel drang an ihre
Ohren, als eine dichte, weiße Decke das Feuer erstickte und den Sa lamander unter sich begrub. Perditas Nase wurde erfüllt von dem Gestank von Chemie, geschmolzenen Metall und verbrannten Pinselhaaren. Die scharfen Dämpfe ließen ihre Augen tränen. »Was war das für Ding?«, keuchte sie, während sie den leeren Feu erlöscher achtlos beiseite warf. »Ein Teufelssalamander. Eine Kreatur der Hölle, von einem Schwarzmagier beschworen. Wie du gesehen hast, sind das echt feu rige Burschen«, versuchte Joscha den Schrecken mit einem Scherz zu vertreiben. Doch Perdita war nicht nach Scherzen zumute. Die Höllenkreatur eines Schwarzmagiers – ohne jeden Zweifel steckte Waidinger da hinter. Er musste ihnen den Teufelssalamander geschickt haben, so wie er ihnen den Hungerdämon Abiku und eine Horde Ghouls auf den Hals gehetzt hatte. Perdita verschränkte die Arme vor der Brust. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Wie nur hatte Waidinger sie hier ausfindig machen können? Sie musste sofort Lukas warnen! Sie wollte gerade loslaufen, da stieg weißer Dampf vom Tisch auf. Innerhalb eines Herzschlages verpuffte der Löschschaum. Das Me tall der Dosen schmolz silberne Flüsse in die verkohlte Tischplatte. Die Farbtuben aus Plastik verbrannten mit abscheulichem Gestank. Terpentin entzündete sich, eine Stichflamme zischte zur Decke. Hitze schlug Perdita ins Gesicht, versengte die Spitzen ihrer Haare, brannte auf ihrer Haut. Sie spürte, wie ihr vor Entsetzen übel wurde. Wie sollten sie mit dieser Kreatur fertig werden? Sie brauchten jemanden, der sich mit den Geschöpfen der Hölle auskannte! Sie griff nach dem Feuerlöscher und warf ihn Joscha zu. »Versuch, ihn damit zu erschlagen! Ich hole Hilfe.« Sie drehte auf dem Absatz um und rannte zurück zum Seitenein
gang. Hinter sich hörte sie Eisen auf Beton schlagen und Joschas ent setzte Flüche. Einen Moment lang vertrieb Mitleid ihre Angst. Wenn sie versagten, würden sein Atelier und all seine Bilder ein Raub der Flammen werden. Sie erreichte die Tür und riss sie auf. Kühl wehte ihr die Abendluft entgegen. Sie eilte über die Schwelle und rannte mit voller Wucht gegen einen ausgestreckten Arm. Der Aufprall riss sie von den Fü ßen. Schmerzhaft fiel sie auf den Rücken. Ihre Zähne schlugen auf einander, bissen eine Wunde in die Lippen. Blut füllte ihren Mund, süß und belebend. Sie schluckte gierig, noch während sie vollkom men überrascht aufblickte. Über ihr stand ein Ghoul. Sie starrte in rot glühende Augen, sah totenbleiche Haut unter zerfetzter Kleidung. Schwarzes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Die Kreatur bleckte die Zähne. Die Mordlust verzerrte sein Gesicht, als es die Hände nach Perdita ausstreckte. Zentimeterlange Fingernägel wollten sich in ihr Fleisch bohren … Doch die junge Vampirin war schneller. Sie sprang, riss die Beine hoch und rammte ihre Füße in den Bauch des Ghouls. Die Kreatur prallte zurück. Perdita kam wieder hoch, schlug die Tür zu und verschwand blitz schnell in der Werkhalle. Ein schrilles Kreischen gellte hinter ihr durch die Nacht. »Joscha!« Perdita eilte durch das Atelier. Dunkler Rauch waberte unter der Decke. Der Gestank von Feuer und brennenden Bildern wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Glutrote Flammen tanzten über die hölzernen Stellwände. Der Vampirin brach der Schweiß aus. Die Hitze zerrte an ihren Nerven, ihr Herz raste vor Todesangst. Sie wusste, selbst ein einzel ner Ghoul war eine Gefahr für sie. Sie war eine Diebin, keine Kämpferin.
»Joscha! Verdammt, wo steckst du?«, rief sie am Rande der Panik. Ein keuchendes Würgen antwortete ihr, gleich jenseits einer Stell wand. Kurz entschlossen stieß sie das hölzerne Hindernis zur Seite und quetschte sich durch den Spalt. Vor ihr kniete Joscha, von schwerem Husten gequält. Tränen rannen über sein Gesicht und wuschen helle Streifen in die rußgeschwärzte Haut. »Wir müssen hier raus!« Perdita packte ihn am Arm und zog ihn auf die Füße. »Aber der Salamander!« »Vergiss …« Zwei weitere Stellwände donnerten zu Boden. Staub und Feu erzungen stoben auf. In der frei gewordenen Öffnung erschien der Ghoul. Joscha erstarrte vor Schreck. Eiskalte Panik schwemmte über Perdita hinweg. Wie gelähmt beobachtete sie, wie die Kreatur auf sie zusprang und nach ihr schlug. Messerscharfe Fingernägel zer rissen ihren Pullover und ritzten ihre Haut auf. Heiße Wut entflammte in ihrem Herzen und fegte die Schreckens starre hinfort. Es reichte! Die Verwandlung in die Bestie Vampir setzte ein. Perditas Fang zähne wuchsen aus ihrem Kiefer, die Hände verwandelten sich in die Klauen eines Raubtiers. Fauchend wie eine Katze hieb sie nach dem Ghoul. Ihre Krallen zerteilten das schwammige Fleisch. Grünes Blut sprühte auf wie eine Fontäne und verdampfte zischend. Wieder schlug der Ghoul nach Perdita. Sie duckte sich, ging in die Knie und griff nach einem Gemälde. Mit beiden Händen schmetterte sie das Bild auf den Kopf des Ghouls. Die Leinwand zerriss, der Rahmen zerbrach, und lange Splitter fielen zu Boden. Einen fing Perdita auf und rammte ihn dem Monster in die Brust.
Aufheulend stürzte die Kreatur zu Boden. Mit gellenden Schreien krampfte sie die Hände um den hölzernen Spieß, um ihn aus ihrer Brust zu zerren. »Komm!« Joscha packte Perdita, die wütend auf den Ghoul eintrat, an den Schultern und zerrte sie durch das Labyrinth des Ateliers. Die Hitze stieg weiter an. Tosend fraßen sich die Flammen durch die Holzwände. Hungrig verschlangen sie Ölgemälde und Koh leskizzen, Bleistiftzeichnungen und Aquarelle. Immer dichter wurden die Rauchwolken unter der Decke, vom orangeroten Feuer schein gespenstisch erleuchtet. Die Lampen explodierten in der Hitze. Scherben regneten auf den Boden. Der Rauch stach in Perditas Lungen, biss in ihren Augen. Tränen raubten ihr die Sicht. Blindlings stolperte sie Joscha hinterher. Plötzlich standen sie vor einem großen Schiebetor. Nur noch eine schwere Eisenkette versperrte den Ausgang. Joscha griff nach dem Vorhängeschloss – und schrie gequält auf. Hastig riss er die schwarz verbrannte Hand zurück und presste sie an seinen Körper. Perdita fluchte. Voller Wut trat sie gegen das Tor. Ein lautes Scheppern hallte durch das Atelier und übertönte für einen Moment das Prasseln der Flammen. Ein Klopfen antwortete. Eine Männerstimme rief: »Perdita?« »Hilfe! Wir sind hier eingeschlossen.« Tränen der Erleichterung schossen in die Augen der jungen Vampirin. Hilfe war nahe! Man würde sie retten. »Das Tor … da hängt eine Kette vor.« »Tretet zur Seite!«, befahl der Mann. Perdita zog Joscha aus dem Weg. Einen Moment später erschütterte ein schwerer Schlag das Tor. Metallspäne wirbelten durch die Luft. Ein langer Riss entstand. Die Kette löste sich aus der Verankerung und schepperte zu Boden. Die beiden Vampire rannten ins Freie.
Doch kaum waren sie über die Schwelle getreten, stockte Perdita der Atem. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Die Männerstimme … Sie gehörte keinem Freund. Sondern dem Schwarzmagier Waidinger …
* Nachdem Perdita mit Joscha zum Atelier gegangen war, schenkte Lukas Mignon ein herzliches Lächeln. »Ich bin wirklich froh, dich zu sehen. Das war Rettung in letzter Sekunde.« »Was tut man nicht alles für einen alten Freund.« Mignon lächelte zurück und ihre Augen vertieften sich in seine. Sie schlang die Arme um Lukas und legte ihre Lippen auf seinen Mund. Erfreut erwiderte er ihren Kuss. Wie von selbst streichelten seine Hände ihren Rücken. Seine Rechte wanderte aufwärts zu ihrer Schulter und ihren Nacken, während seine Linke ihre Taille hielt. Genüsslich atmete er den herben Duft ihres Parfüms ein, bis sie sich sanft von ihm löste. »Ich muss noch jemanden anrufen«, erklärte sie bedauernd und zückte ihr Handy. »Aber danach können wir gerne weitermachen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich befürchte, ich muss erst Ariadne besänftigen. Friedrich war gemein zu ihr, weil sie zu mir gehalten hat.« »Wen wundert’s.« Leichtfüßig eilte Mignon aus dem Clubgebäu de, da sie vor der Tür einen besseren Empfang hatte. Seufzend wandte sich Lukas um und begab sich auf die Suche nach Ariadne. Er fand sie in ihrem Büro, von dem aus sie ihren Club führte. Ein paar Papiere lagen vor ihr auf dem Schreibtisch aus Kirschbaum holz, doch offensichtlich gönnte sie ihnen keinen Blick. Nur langsam
löste sie ihre hellen Augen von dem Gemälde, das ihrem Schreib tisch gegenüber hing, und schaute Lukas an. »Ich wollte dir danken, dass du mir geholfen hast«, sagte er ruhig. »Du wirst sehen, Perdita wird eine Bereichung für uns sein.« »Dein Wort in Friedrichs Ohr«, murrte Ariadne. »Allen kann man es eben nicht Recht machen.« Ariadne lachte leise auf. Sie erhob sich, kam hinter dem Schreib tisch hervor und nahm Platz auf dem beigen Sofa, das zusammen mit zwei Sesseln eine Sitzgruppe bildete. Sie klopfte auffordernd auf das Polster neben sich. »Erzähl mir von Perdita. Ich hätte nicht erwartet, dass du dir eine Art Tochter ins Haus holst. Oder bedeutet sie mehr für dich?« »Auf keinen Fall.« Lukas setzte sich neben sie. Entspannt lehnte er sich zurück und streckte die Beine aus. Den rechten Arm legte er auf die Rückenlehne, den linken auf die seitliche Stütze. »Perdita ist viel zu jung, als dass ich etwas anderes als ein Kind in ihr sehen könnte.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bemerkte er, dass sie nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Im Kampf gegen Waidinger hatte sich das Mädchen als wertvolle Verbündete erwiesen. Von ih rem Vater, einem berühmt-berüchtigten Fassadenkletterer und Ein brecher, hatte sie viel gelernt, und dieses Wissen hatte ihnen mehr als einmal gute Dienste erwiesen. Ebenso behielt sie selbst in gefähr lichen Situation einen klaren Kopf und verfiel nicht in blinde Panik. In ihr neues Leben als Vampir hatte sie sich überraschend gut einge funden, besonders in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände. Er lächelte unwillkürlich. In den vergangenen Wochen war ihm Perdita ans Herz gewachsen. Er genoss ihre Gesellschaft – wohl auch, weil sie frischen Wind in sein Leben brachte, alte Verhaltens normen und Werte in Frage stellte. Er musste sie aus der Schusslinie bringen, bevor sie – wie so viele andere – ihr Leben an Waidinger verlor.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Mignon betrat das Büro, ohne eine Antwort abzuwarten. Nach einer etwas unter kühlten Begrüßung zwischen den beiden Frauen und dem Aus tausch einiger Höflichkeiten, lenkte Lukas das Gespräch auf seinen derzeitigen Feldzug gegen den Nekromanten. Kurz fasste er zusammen, was bisher geschehen war, und welche Opfer bis jetzt zu beklagen waren. Er bat Ariadne, gelegentlich nach den Gremlins zu sehen, die – ihrer Aufsicht und Gesellschaft be raubt – zu fiesem Schabernack und bösen Scherzen neigten. »Sicher werde ich mich um unsere Freunde in Zons kümmern.« Ariadne lehnte sich zu ihm und legte die Hand auf seinen Ober schenkel. »Wie willst du nun weiter vorgehen?« »Das Problem ist, Waidinger ist untergetaucht. Niemand weiß, wo er sich derzeit versteckt hält. Als Erstes müssen wir also seinen neu en Unterschlupf ausfindig machen«, erklärte Lukas. »Ich …« Der Feueralarm übertönte den Rest des Satzes. Laut heulte die Si rene auf dem Dach der ehemaligen Fabrikhalle. Lukas sprang auf die Füße. Schnell wie ein Pfeil schoss er aus dem Büro und ins Freie. Auf halbem Weg blieb er wie angewurzelt stehen. Hitze wie aus einem gewaltigen Backofen schlug ihm ent gegen. Hinter den Mauern konnte er ein gewaltiges Feuer prasseln hören. Schwarzer, stinkender Rauch schlängelte sich aus winzigen Ritzen und quoll ölig aus den beiden Eingängen, der Seitentür und einem langen Riss im Garagentor. Metall knirschte und ächzte in der Feuersbrunst. »Perdita!«, brüllte er. Panik erfasste ihn. Er wollte loslaufen, seiner Tochter zu Hilfe ei len, doch er wurde zurückgerissen. Mit eisernem Griff hielt Mignon seinen Arm gepackt. »Es ist zu heiß. Selbst du würdest verbrennen!«, warnte sie. »Aber Perdita! Sie muss noch drinnen sein. Und Joscha auch. Ich muss zu ihnen!«
»Wenn sie noch da drinnen sind, sind sie längst tot«, schrie Mi gnon ihn an. »Lukas, verdammt, reiß dich zusammen!« Mit unerwarteter Kraft zerrte sie ihn in den Schatten des Büroge bäudes. Auch hier schellten jetzt die Alarmsirenen. Die Gäste ström ten aus der Eingangstür und den Notausgängen, von der Brandwar nung aufgeschreckt. Donnerndes Getöse übertönte das Prasseln des Feuers. Das Dach gab unter der Hitze nach und stürzte ein, begrub das Atelier mit allem, was sich darin befand, unter Stahl und Beton. »Nein!« Lukas’ Knie gaben nach. Er sank auf den kalten Asphalt und starrte verständnislos auf die Fabrikhalle. Die Flammen schlugen aus dem Gebäude, streckten sich wie hungrige Finger nach dem nachtdunklen Himmel aus. In diesem Hölleninferno gab es kein Überleben. Lukas schlug sich die Hände vors Gesicht. In seinen Augen brann ten die Tränen. Fortsetzung folgt