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Rubem Fonseca Bufo & Spallanzani
metro wird herausgegeben von Thomas Wörtche
Zu diesem Buch Gustavo Flávio, der natürlich nicht wirklich so heißt wie Gustave Flaubert, ist ein friedfertiger Mensch und ein berühmter Schriftsteller. Er hat Erfolg bei den Frauen und ein Geheimnis. Als seine Geliebte, die schöne Delfina Delamare, ermordet aufgefunden wird, ist ihr Ehemann racheglühend hinter ihm her. Flávio flüchtet sich in ein Luxushotel mitten im Urwald. Bei feinstem Essen, inmitten spleeniger Gäste und seltsamer Gespräche – als wär es ein Zauberberg im Dschungel – geschieht noch ein Mord. Rubem Fonseca, der nicht nur den brasilianischen Kriminalroman, sondern die gesamte Literatur des Landes zur Blüte geführt hat, zeichnet witzig, satirisch, virtuos und opulent die Bourgeoisie Brasiliens. »Der brasilianische Meistererzähler.« Süddeutsche Zeitung »Fonseca ist der zur Zeit erfolgreichste und meistgelesene Autor Brasiliens. Mit beißendem Humor, spielerischer, aber scharfer Ironie und mitleidloser Offenheit zeichnet er das Röntgenbild einer ebenso mitleidlosen Gegenwart.« Ronald Graetz, Kritisches Lexikon der fremdsprachigen Gegenwartsliteratur Der Autor Rubem Fonseca, geboren 1925 in Juiz de Fora in Minas Gerais/Brasilien. Studium der Rechtswissenschaft. Tätigkeit als Professor, Journalist und Filmkritiker, schrieb Kurzgeschichten und Romane, erhielt mehrere brasilianische Literaturpreise, 1985 den Goethe-Literaturpreis. Er lebt in Rio de Janeiro.
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Rubem Fonseca Bufo & Spallanzani Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner
Mit einem Nachwort von Patrícia Melo
Unionsverlag
Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel Bufo & Spallanzani bei Livraria Francisco Alves Editora S. A. in Rio de Janeiro. Die deutsche Erstausgabe erschien 1987 im Piper Verlag, München.
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Unionsverlag Taschenbuch 259 © by Rubem Fonseca 1985 © by Unionsverlag 2003 Rieterstrasse 18, CH-8027 Zürich Telefon 0041-1-281 14 00, Fax 0041-1-281 1440
[email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Heinz Unternährer, Zürich Umschlagbild: Touth Andrade, São Paulo (
[email protected]) Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-293-20.259-4
Die äußeren Zahlen geben die aktuelle Auflage und deren Erscheinungsjahr an: 1 2 3 4 5 – 06 05 04 03
Teil I Treibe es mit deinem Tintenfaß 1 »Du hast aus mir einen Lüstling (und einen Schlemmer) gemacht, deshalb würde ich dich am liebsten weiter so von hinten umklammert halten, genau wie Bufo, und wie ihm könnte man mir ein Bein abbrennen, ohne daß meine Begierde nachließe. Aber du möchtest jetzt, wo du befriedigt bist, daß ich wieder von Madame X rede. Na schön, ich tu’s gleich. Doch vorher möchte ich dir einen Traum erzählen, den ich in letzter Zeit häufiger gehabt habe. In diesem Traum erscheint Tolstoi vor mir, ganz in Schwarz gekleidet, mit langem zerzaustem, weißem Bart, und sagt auf russisch: ›Um Krieg und Frieden zu schreiben, habe ich zweihunderttausendmal diese Bewegung gemacht‹; er streckt seine fleischlose, wachsbleiche Hand vor, doch kommt sie nicht ganz aus dem langen Rockärmel heraus, und bewegt sie so, wie man eine Feder in ein Tintenfaß taucht. Vor mir auf einem Tisch steht ein glänzendes Metalltintenfaß, daneben liegt eine lange Feder, vermutlich ein Gänsekiel, und ein Stapel Papier. ›So‹, sagt Tolstoi, ›jetzt bist du dran.‹ Ein entsetzliches Gefühl durchzuckt mich, die Gewißheit, daß
ich es nicht fertigbringen werde, mehrere hunderttausend Male die Hand auszustrecken, die Feder in das Tintenfaß zu tauchen und die leeren Blätter mit Buchstaben und Wörtern und Sätzen und Absätzen vollzuschreiben. Dann überkommt mich die feste Überzeugung, daß ich sterben werde, ehe ich diese übermenschliche Kraftanstrengung vollbracht habe. Verzweifelt und unglücklich wache ich auf und kann die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Wie du weißt, kann ich nicht mit der Hand schreiben, wie es nach Ansicht dieses blöden Nabokov alle Schriftsteller tun sollten. Du hast mich gefragt, wie ich so produktiv sein kann, wo ich doch so viel Zeit auf Frauen verschwende. Weißt du, ich habe nie begriffen, was Flaubert gemeint hat, als er sagte: ›Bewahre dir deinen Priapismus für den Stil auf, treibe es mit deinem Tintenfaß, kühle dein Fleisch … eine Unze Sperma zu verlieren ermattet mehr als der Verlust von drei Liter Blut.‹ Ich bumse nicht mit meinem Tintenfaß, dafür pflege ich allerdings auch keinen gesellschaftlichen Umgang, gehe nicht ans Telefon, beantworte keine Briefe, überarbeite meine Texte nur einmal, wenn überhaupt. Simenon hat oder hatte genauso viele Geliebte wie ich, vielleicht noch mehr, und er hat eine Unmenge von Büchern geschrieben. Ja, das stimmt, ich verschwende nicht nur Zeit – und Sperma, wenn du so willst – auf Frauen, sondern auch Geld, denn ich bin, genau wie du, ein großzügiger Mensch. Die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, wirkt übrigens auf die Künste sehr anregend. Darf ich dir etwas gestehen? Ich bin auf einmal entsetzlich müde, und wenn es dir nichts ausmacht, schlafe
ich jetzt ein bißchen. Nein, ich träume nicht von Tolstoi, erspare mir diese Qual. Weißt du, was der Russe gesagt hat, nachdem er seine Feder so oft in das Tintenfaß getaucht hatte? ›Die Verbreitung von Schrifttum ist die mächtigste Waffe der Unwissenheit.‹ Sehr witzig. Du willst das Bild von Madame X sehen? Wir haben abgemacht, daß ich dir immer alles in aller Offenheit erzähle, aber keine Namen nenne, keine Bilder zeige und dich auch keine Briefe lesen lasse. Bei Madame X ist es genauso gewesen wie bei den anderen; ich habe mich in dem Augenblick, als ich sie sah, in sie verliebt, und daran bist auch du schuld, denn schließlich hast du mich zur Liebe erweckt. Sie war keine üppige Frau, aber ihr Körper hatte eine große Ausstrahlung; perfekt geformte Beine, Hinterbacken und Brüste. Ihre Haare waren an diesem Tag zu einem Knoten im Nacken zusammengefaßt, so daß Gesicht und Hals in ihrem ganzen Weiß erstrahlten. Sie bewegte sich so geschmeidig und betörend durch den Raum, daß ich sie wie erstarrt beobachtete. Es war auf einer Vernissage, und der Maler, der eingeladen hatte, scharwenzelte untertänig um sie herum. Ich hatte gerade Tod und Sport, Todeskampf als Leitgedanke veröffentlicht, in dem ich die Verherrlichung des Wettkampfsports anprangere, diese institutionalisierte Form der Erhaltung der destruktiven Triebe im Menschen, dieses obszöne, kriegslüsterne Ritual, diese abscheuliche Metapher des Wettrüstens und der Gewalt zwischen Völkern und Individuen. Gibt es etwas Groteskeres als diese in Sportlabors hergestellten Hormon-Konstrukte, diese affenähnlichen Zwerginnen am Stufenbarren, diese Riesen
beiderlei Geschlechts mit stierartiger Konstitution und blödem Blick, die Gewichte und Hämmer durch die Luft schleudern? Schon gut, schon gut, kehren wir zu Madame X zurück. Als Dias vorgeführt wurden, setzte sie sich, lehnte ihren geraden Rücken an die Stuhllehne und schlug die Beine übereinander, so daß ihre Knie zu sehen waren. Sie trug ein Seidenkleid, und unter dem dünnen Stoff zeichnete sich die reizvolle Form ihrer Schenkel ab. Am liebsten hätte ich mich ihr zu Füßen gekniet (vgl. M. Mendes), fand es aber besser, auf konventionelle Art Kontakt aufzunehmen. Die Dias zeigten allesamt Bilder von Chagall. ›Mögen Sie Chagall?‹ fragte ich bei der ersten Gelegenheit. Sie antwortete ja. ›Diese Leute, die da überall herumfliegen‹, sagte ich, und sie antwortete, Chagall sei ein Künstler, der vor allem an die Liebe geglaubt habe. Am Ringfinger der linken Hand trug sie einen Brillantring. Sie war vermutlich um die Dreißig und seit etwa fünf Jahren verheiratet, denn zu diesem Zeitpunkt wird den Frauen allmählich klar, daß die Ehe eine unterdrückerische, ja geradezu krank machende, ungerechte Einrichtung ist und die Menschen verkümmern läßt, ganz abgesehen davon, daß ihre sexuellen Bedürfnisse jetzt nicht mehr befriedigt werden, denn ihre Männer sind ihrer bereits überdrüssig. Eine solche Frau ist eine leichte Beute, der romantische Traum ist ausgeträumt, übriggeblieben sind Enttäuschung, Langeweile, moralische Verwirrung, Verletzlichkeit. Und da taucht ein Libertin wie ich auf und verführt die arme Frau. Ich hatte einen Menschen vor mir, der an die Liebe glaubte. ›Daß keiner sterbe, eh er geliebt‹, (vgl. Saint-John
Perse) sagte ich. Französisch mag zwar eine tote Sprache sein, aber es ist wunderschön und funktioniert hervorragend bei den Frauen der Bourgeoisie. ›Leider ist die Welt nicht so, wie die Dichter sie gern hätten‹, sagte sie. Ich lud sie zu einem Abendessen ein; sie zögerte und willigte schließlich ein, mit mir zum Mittagessen zu gehen. Es war das erste Mal, daß sie mit einem anderen Mann in ein Restaurant ging. Ihr Mann war sehr vermögend und in der Gesellschaft angesehen. Ihre Ehe hatte, wie sie sagte, jenen Punkt erreicht, an dem die Routine Langeweile erzeugt und die Langeweile Apathie und die Apathie innere Unruhe, anschließend mangelndes Verständnis, Aversion und so weiter. Sie versuchte, diese Entwicklung rückgängig zu machen, indem sie mit ihrem Mann reiste, nach Indien, nach China, immer weiter weg, als ob die Probleme nicht mitreisten. Sie brachte ihren Mann dazu, eine Fazenda in der Nähe zu kaufen (die andere, die sie besaßen, befand sich in Mato Grosso), fütterte ein paarmal die Zicklein mit der Flasche, dann machte ihr die ganze Sache keinen Spaß mehr. Sie versuchte, Kinder zu bekommen, aber sie war unfruchtbar; dann wandte sie sich der Wohltätigkeitsarbeit zu und trat in den Vorstand eines Verbandes ein, der sich bemühte, Prostituierte und Bettler zu resozialisieren. Als wir zum erstenmal zusammen zum Mittagessen gingen, aß sie praktisch nichts. Sie trank nur ein Glas Wein. Wir sprachen über Bücher, und sie sagte, brasilianische Literatur gefalle ihr nicht, und gab arglos zu, daß sie keines meiner Bücher gelesen hatte, womit deine Theorie zusammenbricht, meine Liebe, daß sie von dem
Schriftsteller hingerissen war. Ich fragte sie nach ihrem Lieblingsautor, und sie nannte Moravia. Sie hatte La Vita Interiore und L’Amante Infelice gelesen, im Original, wie sie betonte. Das Stichwort Moravia bot mir die erhoffte Gelegenheit, über Sex zu reden. Ich sagte ihr, ich sei in bezug auf Sex im Leben und in der Literatur der gleichen Ansicht wie Moravia, das heißt, Sex sei etwas, was nicht durch Metaphern verdorben werden dürfe, weil es eben nichts gäbe, was ihm ähnlich sei oder gleichkomme. Ich entwickelte diesen schlauen Gedanken weiter, und so landeten wir ganz zwanglos bei uns persönlich betreffenden Überlegungen. Geschickt brachte ich das Gespräch auf die alten abgedroschenen Themen wie sexuelle Freiheit, Liebe ohne Besitzanspruch, Hedonismus, Recht auf Lust. Es war fünf Uhr nachmittags, wir saßen noch immer im Restaurant und redeten beide ohne Punkt und Komma; ich glaube, es gab keine einzige Sekunde Schweigen zwischen uns. Ich weiß noch, daß sie mich irgendwann fragte, was der Unterschied sei zwischen Sex bei zwei Menschen, die sich lieben, und Sex bei zwei Menschen, die sich nur begehren. Ich antwortete: ›Vertrauen. Zwei, die sich lieben, wissen, daß sie sich gegenseitig vertrauen können.‹ Für eine verheiratete Frau, die zum erstenmal die Möglichkeit in Erwägung zieht, sich auf ein Liebesabenteuer einzulassen, gibt es keinen Satz, der sie mehr aufreizen und beruhigen könnte. Unser erstes Zusammensein in meiner Wohnung hatte etwas Danteskes. Ich war verrückt vor Verlangen, und sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen starr und atemlos an. Ich mußte ihr die Kleider ausziehen und sie nackt auf
das Bett legen, sie war herrlich, ihre schwarzen Haare und ihre weiße Haut schimmerten, und da geschah das Entsetzliche: Mein Penis machte schlapp, er schrumpfte zusammen. Die größte Katastrophe, die einem Mann widerfahren kann. Ich brach in Angstschweiß aus, küßte sie, liebkoste sie derart angstgepeinigt, daß meine Impotenz davon nur noch schlimmer wurde. Sie versuchte, mir zu helfen, wurde aber auch nervös und war beunruhigt, weil sie dachte, wie sie mir später sagte, es hätte sich jemand unter dem Bett versteckt. Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Ich blieb liegen und bearbeitete eine ganze Weile verzweifelt, aber vergeblich meinen Schwanz, bis ich schließlich losheulte. Stell dir mal vor, ein dicker, nackter Mann, der heulend im Bett liegt und versucht, seinen Schwanz hochzukriegen. Schließlich wischte ich mir die Tränen ab, zog einen Morgenrock über und ging nachsehen, was sie im Badezimmer machte. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen tief betrübt auf dem Klodeckel, besah sich ihre Fingernägel, hockte ziemlich krumm da, sogar ein kleines Fettbäuchlein zeigte sich an ihrem makellosen Leib; ihr Augen-Make-up war verschmiert, und sie sah mich mit Pathos im Blick an. Ich schaltete den Gasboiler ein; vielleicht meinte ich, ein Bad könne uns läutern, uns diese grauenhafte Sache vergessen lassen und bewirken, daß wieder Blut in meinen Penis strömte. Auf einmal explodierte der Boiler (vgl. Fonseca). Ich warf mich auf sie, um sie zu schützen, wir fielen auf den Boden, und in diesem Inferno voller Flammen und Rauch fanden sich unsere Körper zu einer kolossalen, wahnsinnigen Vereinigung. Erst am Abend stellte ich fest,
daß mein Körper infolge der Explosion mit Brandwunden übersät war. Ich glaube, an diesem Tag, an dem ich feststellte, daß die Wollust stärker ist als der Schmerz, habe ich beschlossen, Bufo & Spallanzani zu schreiben. Obwohl mein Körper mit Brandsalbe eingeschmiert war und meine Haut in Fetzen auf dem Laken hängenblieb, traf ich mich von da an täglich mit ihr und war potenter als Maupassant und Simenon zusammen. Jeden Tag gegen ein Uhr mittags kam sie zu mir, nachdem sie im Sportstudio gewesen war, wo sie Gymnastik machte. Während ich auf sie wartete, ging ich ungeduldig auf und ab, befühlte meinen erigierten Penis und führte Selbstgespräche. Wenn sie erschien, umklammerte ich ihren Körper mit der Gier eines Besessenen und bumste sie, ehe sie sich ausgezogen hatte, im Stehen im Flur, indem ich sie am Hintern packte, sie hochhob, gegen die Wand preßte und meinen Schwanz durch die Beinöffnung ihres Slips schob. Anschließend trug ich sie zum Bett, und wir bumsten den ganzen Nachmittag weiter. Bis dahin hatte sie noch nie einen Orgasmus gehabt. Zwischendurch las ich ihr Gedichte vor, sie mochte besonders ein Gedicht von Baudelaire, in dem von einer französischen Praktik die Rede ist: ›La très chère était nue, et, connaissant mon cœur‹, et cetera. Ich las ihr nach dem Bumsen immer Gedichte vor, genau wie dir, mein Liebling. Und jetzt laß mich schlafen.«
2 Der Polizist Guedes, ein Anhänger des Fergusonschen Prinzips der Einfachheit – wenn es zwei oder mehr Theorien zur Erklärung eines Geheimnisses gibt, ist die einfachste die richtige * – hätte niemals für möglich gehalten, daß er eines Tages der prominenten Delfina Delamare begegnen würde. Sie wiederum hatte noch nie einen leibhaftigen Kriminalpolizisten gesehen. Der Polyp wußte, wie alle Welt, wer Delfina Delamare war: das verwaiste Aschenbrödel, das den millionenschweren Eugênio Delamare, Kunstsammler, Champion im olympischen Reiteraufgebot Brasiliens, meistumworbener Junggeselle der südlichen Hemisphäre, geheiratet hatte. Die Zeitungen und Illustrierten hatten über die Hochzeit des Märchenprinzen mit dem armen Mädchen, das zu Hause eine kranke Großmutter pflegte und nie ausging, groß berichtet; und seitdem war das Paar nicht mehr aus den Klatschspalten wegzudenken. Es gab eine Zeit, da trugen Polypen Überzieher, Krawatte und Hut, aber das war, ehe Guedes in den Polizeidienst eintrat. Er besaß nur einen alten Anzug, den er nie trug und der schon so uralt war, daß er mehrmals in Mode und aus der Mode gekommen war. Im allgemeinen *
Basierend auf dem Prinzip der Denkökonomie (vgl. W. Ockham): »Non sunt multiplicanda entia praeter necessitatem.« (Auch als »Ockham’s razor« bekannt.)
zog er einen Blouson über sein Sporthemd, damit man seinen Revolver, einen Colt Cobra 38, den er unter der Achsel trug, nicht sah. Der Cobra war für ihn schlichter Luxus und der einzige Verstoß, den Guedes gegen die Vorschriften beging. Der Taurus 38, den die Dienststelle zur Verfügung stellte, war zu schwer, um ihn überall herumzuschleppen. Er hatte schon daran gedacht, den Taurus in die Schublade zu legen, aber eines Tages erlebte er in einem Bus, daß ein Straßenräuber einer Frau die Goldkette vom Hals riß, während ein anderer mit einer Waffe die Fahrgäste ringsum bedrohte. Guedes hatte eingreifen müssen und auf den bewaffneten Straßenräuber geschossen, ihn jedoch nicht schwer verletzt. (Er war stolz darauf, noch nie jemanden getötet zu haben.) Also blieb der Taurus unter seinem Arm, bis er Kommissar Raul von der Mordkommission den Cobra abkaufte, ein Fabrikat aus den fünfziger Jahren, aber in ausgezeichnetem Zustand, eine leichtere Waffe, hergestellt aus einer Speziallegierung aus Stahl und Molybdän; er hatte keinen sehr gleichbleibenden Drall, aber das spielte für Guedes keine Rolle; er hoffte, den Revolver möglichst selten benutzen zu müssen. Delfina Delamare begleitete ihren Mann nicht auf all seinen Reisen. Eigentlich reiste sie gar nicht gern. Die Schiffe waren immer voll alter Rentner und häßlicher Frauen, an Bord herrschte verlogene Eleganz, und im Laufe der Reise trat die unersprießliche Gewöhnlichkeit der Menschen zutage. Flugzeuge hatten den Vorteil, schneller zu sein, schufen aber eine klaustrophobische Nähe zu jedermann, in der man unter dicken, verschlafenen
Männern ohne Schuhe begraben wurde, selbst in der ersten Klasse. Kurz, sie hatte Reisen immer als unangenehm empfunden. Sie blieb lieber in Rio und widmete sich ihren Werken der Nächstenliebe. Die Begegnung zwischen Delfina und Guedes fand in einer der wenigen Situationen statt, in denen dies überhaupt möglich war. Es geschah auf der Straße, versteht sich, aber auf eine für beide überraschende Weise. Delfina befand sich in ihrem Mercedes in der Rua Diamantina, einer Sackgasse hoch oben im Stadtteil Jardim Botânico. Als Guedes zum Ort der Begegnung kam, wußte er bereits, daß Delfina nicht schlief, wie die Leute, die sie gefunden hatten, aufgrund ihres friedlichen Gesichtsausdrucks und der bequemen Haltung ihres Körpers im Autositz zunächst angenommen hatten. Guedes hingegen hatte noch auf der Wache von Delfinas tödlicher Verletzung erfahren, die unter ihrer Seidenbluse verborgen war. Die Stelle war bereits von der Polizei abgesperrt worden. Zu beiden Seiten der Rua Diamantina standen Bäume, und an diesem frühen Morgen strahlte die Sonne durch die Baumkronen auf die metallic-gelbe Motorhaube des Wagens, so daß er glänzte, als wäre er aus Gold. Guedes sah den Experten vom Kriminologischen Institut aufmerksam bei ihrer Arbeit zu. Am Wagen befanden sich nur wenige Fingerabdrücke, die sorgfältig abgenommen wurden. Außerdem wurden mehrere Fotos von Delfina gemacht, auch ein paar Großaufnahmen ihrer rechten Hand, die einen vernickelten Revolver Kaliber 22 hielt. An ihrem linken Handgelenk befand sich eine goldene Uhr. In der Handtasche auf dem Autositz steckten ein Scheckheft,
mehrere Kreditkarten, Schminkutensilien in einem kleinen Etui, ein Flakon französisches Parfum, ein Batisttaschentuch, eine ärztliche Bescheinigung, abgestempelt von dem Arzt Pedro Baran (Hämatologie, Onkologie), und eine Benachrichtigung vom Postamt Leblon über ein Einschreiben, das Delfina Delamare dort abholen könne. Diese beiden Papiere steckte Guedes in die Tasche. Im Handschuhfach lag neben den Autopapieren ein Buch von Gustavo Flávio mit dem Titel Die Liebenden und der Widmung: ›Für Delfina, die weiß, daß die Poesie eine ebenso exakte Wissenschaft ist wie die Geometrie. G. F.‹ Die Widmung war nicht datiert und mit einem Stift mit weicher Spitze und schwarzer Tinte geschrieben. Guedes klemmte sich das Buch unter den Arm. Er wartete, bis die Spurensicherung mit ihrer zeitraubenden Arbeit vor Ort fertig war; er wartete auch noch ab, bis der Leichenwagen kam und den Körper der Toten in einem zerbeulten, schmutzigen Blechkasten zur Autopsie in das Gerichtsmedizinische Institut mitnahm. Delfina wurde von den Männern des Leichenwagens genauso behandelt wie die Bettler, die tot in die Gosse sinken. Für Guedes bestand die polizeiliche Arbeit in der Aufklärung von Straftaten und deren Täterschaft. Eine Straftat aufzuklären bedeutete nach der Strafprozeßordnung, den Gesetzesverstoß zu untersuchen. Ihm, dem Polizisten, oblag es nicht, ein Werturteil hinsichtlich der Ungesetzlichkeit des Tatbestandes zu fällen, sondern nur, Beweise für seine Faktizität und die Täterschaft zusammenzutragen und sämtliche Vorkehrungen zur Sicherstellung der bei dem Rechtsverstoß hinterlassenen
Spuren zu treffen. Delfina Delamare konnte ermordet worden sein oder Selbstmord begangen haben. Im zweiten Fall gab es, sofern nicht jemand der Anstiftung, Überredung oder Beihilfe zum Selbstmord bezichtigt werden konnte, kein Verbrechen aufzuklären. Selbstmord war kein Verbrechen; die philosophischen Diskussionen – pro und contra – über das Recht zu sterben waren für Guedes nur akademische Übungen. Einem Selbstmörder irgendeine Strafe anzudrohen war sinnlos. Früher hackte man Selbstmördern die rechte Hand ab, pfählte sie, schleifte sie mit dem Gesicht nach unten durch die Straßen, versagte ihnen ein Begräbnis in Ehren; gehörten sie dem Adel an, wurden sie degradiert, zu Plebejern erklärt, man zerbrach ihre Schilde, zerstörte ihre Burgen. Nichts davon hatte abschreckende Wirkung gehabt. Nicht einmal Drohungen mit dem Höllenfeuer konnten viel ausrichten. Dona Delfina soll ihre Ruhe haben, dachte Guedes. Der Spurenexperte hatte gefragt, warum eine reiche und schöne Frau (und gesund war sie bestimmt auch, denn kein Mensch konnte so schön sein, wenn er nicht sehr gesund war) auf ihr Leben verzichtet hatte. »Warum nicht?« hatte Guedes erwidert. Er war schon sehr lange Polizist und glaubte, leben zu wollen sei genauso seltsam wie sterben zu wollen. Obwohl er nicht daran zweifelte, daß es sich um einen Selbstmord handelte, stellte Guedes all die Nachforschungen an, die er bei einem Mordfall unternommen hätte. Die Rua Diamantina war eine kleine Straße mit wenigen Wohnblocks und nur zwei Einfamilienhäusern. Guedes fragte in den Hochhäusern und Villen nach, ob irgend
jemand etwas über den Fall wußte. Die Schwierigkeit einer solchen Arbeit liegt darin, die Geschwätzigen zu bremsen und die Wortkargen zum Reden zu bringen. Normalerweise reden diejenigen am meisten, die am wenigsten wissen. Aber niemand hatte irgend etwas gesehen oder gehört. Ein Schuß aus einem 22er in einem Auto mit geschlossenen Fenstern machte ja auch wirklich nicht viel Krach. Der Polizist aß ein Sandwich an der Ecke der Rua Voluntários da Pátria, wo sich das Gebäude mit der Praxis von Dr. Pedro Baran befand. Vorher war er kurz in eine Buchhandlung gegangen und hatte in einem Lexikon nachgesehen, was der Terminus Onkologie bedeutete. »Ja«, sagte Baran, nachdem Guedes ihm von Delfinas Tod und seiner Vermutung, sie habe sich das Leben genommen, berichtet hatte, »sie war meine Patientin, und ihr Selbstmord überrascht mich nicht«. Baran griff nach einer Karteikarte, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Als sie zum erstenmal in meine Praxis kam, hatte der sie behandelnde praktische Arzt, Dr. Askanasi, sie hergeschickt. Sie beklagte sich über nächtliche Schweißausbrüche, Nervosität, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit. Dona Delfina schrieb diese Symptome den Sorgen zu, die sie sich wegen einer bevorstehenden Reise machte. Sie haßte Reisen, wie sie mir sagte, und ihrer Ansicht nach waren die Symptome nur eine psychosomatische Reaktion. Sie irrte sich. Patienten, die Selbstdiagnosen treffen, irren sich immer. Ich habe ihr Blut abgenommen und sie für zwei Tage darauf wieder
herbestellt. Aber sie verreiste und kam erst drei Monate später wieder zu mir, jetzt, vor ein paar Tagen. Ich zeigte ihr das Resultat der Untersuchung, das Papier, das Sie da haben: nachgewiesene Leukoblasten – Myeloblasten und Lymphoblasten –, die nur eine einzige Diagnose zuließen. Sie hatte Leukämie, eine verheerende, derzeit noch nicht heilbare Krankheit, deren behelfsmäßige Behandlung aufreibend und schmerzhaft ist. Ich sagte ihr, daß sie meiner Ansicht nach nur noch wenige Monate zu leben habe, riet ihr aber, noch einen anderen Arzt zu konsultieren.« »Wie hat sie das aufgenommen?« »Sehr gut. Sie wollte die Wahrheit wissen. Es gab so oder so keinen anderen Menschen, dem ich diese Mitteilung hätte machen können; sie trennte sich gerade von ihrem Mann, der von der Reise, die sie gemeinsam unternommen hatten, noch nicht zurückgekehrt war, sie hatte keine Kinder und keine Verwandten. Ich bin dafür, daß der Arzt dem Patienten die Wahrheit sagt, und wenn sie noch so schrecklich ist.« »Sie hat es sehr gut aufgenommen, haben Sie gesagt«, sagte Guedes. »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, erwiderte Baran, »daß sie den Freitod gesucht hat, nachdem sie die Wahrheit erfahren hat; aber für manche Menschen ist das eine Art Trost, ein Aufbegehren gegen die Grausamkeit des Schicksals.« Von Barans Praxis fuhr der Polizist zum Gerichtsmedizinischen Institut. Die Autopsie war noch nicht vorgenommen worden. In den letzten vierundzwanzig
Stunden waren eine Menge Opfer von Gewalttaten und Verkehrsunfällen im Leichenschauhaus eingeliefert worden. Delfina Delamare wartete vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben darauf, an die Reihe zu kommen. Guedes suchte im Telefonbuch nach dem Namen Gustavo Flávio, fand ihn aber nicht. Das Telefon, das ich hatte, lief nicht auf meinen Namen; ich hätte aber sowieso nicht abgenommen. Ich berichte hier über Begebenheiten, die ich nicht miterlebt habe, und beschreibe Gefühle, die nicht unbedingt zu erkennen sein müssen, aber so eindeutig sind, daß jeder beliebige Mensch sie sich vorstellen könnte, ohne über den allwissenden Überblick des Romanschriftstellers zu verfügen. Sich in die Mentalität eines Polizisten einzufühlen ist schwierig, das gebe ich zu. Aber was Delfina Delamare betrifft, nun ja, was Delfina Delamare betrifft … »Ich hatte angerufen, um mich anzumelden, aber es hat keiner abgenommen«, sagte Guedes. »Ich gehe nie ans Telefon. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, rufe ich an.« »Kennen Sie Dona Delfina Delamare?« Wir, der Polizist und ich, befanden uns in meinem Arbeitszimmer, einem großen Raum mit Bücherwänden bis unter die Decke. Ich antwortete nicht gleich. Ich wollte erst herausfinden, was für eine Art Mensch der Polizist war, den ich da vor mir hatte. Auf den ersten Eindruck wirkte er wie einer von diesen Typen, die so oft neben Arbeitern, Rumtreibern, Prostituierten und Ganoven in ordinären Stehkneipen essen und trinken, daß sie sich schließlich
diesem Gesindel brüderlich verbunden fühlen. Der Polyp war um einiges kleiner und schlanker als ich und hatte dünnes Haar. Seine Augen waren gelb, wie der Ring um die schwarzen Pupillen der Eulen. »Nicht sehr gut«, sagte ich schließlich. »Ich bin einmal oder zweimal bei ihr zu Hause gewesen, auf so einer Party mit einer ausgewogenen Mischung von Gästen, Sie wissen schon, Leute aus den verschiedensten Bereichen: Künstler, Geschäftsleute, Politiker und elegante Frauen. Ich vertrat die Literatur – der Modeschriftsteller als schmückendes Beiwerk. Normalerweise ärgern mich diese Parties, aber ich schrieb gerade an einem Roman über den Geiz der Reichen. Wenn einer viel Geld hat, will er noch mehr haben, aber nicht wegen der Sachen, die er dafür kaufen kann, Konsumfreude ist ein Tick von Leuten aus der Mittelschicht und darunter. Die Neureichen lasse ich dabei außer acht. Die Reichen quält eine furchtbare Angst: plötzlich arm zu werden. Deshalb wollen sie das Geld nicht, um etwas zu kaufen, sondern um es zu horten, zu akkumulieren. Jeder Reiche neigt dazu, ein Geizhals zu werden. Das war meine These.« »Könnte es nicht auch umgekehrt sein, daß jeder Geizhals danach strebt, reich zu werden?« fragte Guedes. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Mein Held ist jedoch von Geburt an reich, sehr reich, und in seiner Jugend hat er Ideale, Träume, schreibt Sonette und so weiter; später hingegen ist er nur noch ein widerlicher, geldgieriger Kerl. Aber Sie haben recht, dieses Verhältnis von Ursache und Wirkung kann auch wechselseitig sein. Doch um zum Ausgangspunkt unserer Unterhaltung
zurückzukommen: Welches Interesse hat die Polizei an Dona Delfina Delamare?« »Man hat sie heute morgen tot in ihrem Wagen aufgefunden. Wir nehmen an, daß es Selbstmord war.« »Das kann doch nicht sein! Das hätte ich nie für möglich gehalten.« Guedes berichtete von seinem Besuch bei Dr. Baran und dem Gespräch mit ihm. »Ich wußte nicht, daß sie krank war«, sagte ich. »Sie wirkte nicht krank.« »Im Handschuhfach des Wagens lag ein Buch von Ihnen.« »Ein Buch von mir? Welches? Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber ich habe Hunderte von Büchern geschrieben.« »Die Liebenden.« »Ach, Die Liebenden … « »Mit einer Widmung von Ihnen: Für Delfina, die weiß, daß die Poesie eine genauso exakte Wissenschaft ist wie die Geometrie.« »Das ist ein Satz von Flaubert. Und zum Glück irrte er sich. Er kannte die Philosophie der Zweifelhaftigkeit (vgl. Laktos) nicht; sie ist erst nach ihm aufgekommen und besagt: es gibt keine exakte Wissenschaft, die frei ist von Mehrdeutigkeiten, Fehlern, Nachlässigkeiten, nicht einmal die Mathematik ist das. Der Wert der Poesie liegt in ihrem Paradoxon, daß nämlich das, was die Poesie sagt, das ist, was ungesagt bleibt. Ich hätte schreiben sollen: ›Für Delfina, die weiß, daß die Poesie das ist, was sie nicht ist.‹ Eine Widmung besagt im Grunde nicht viel. Man weiß nie, was man schreiben soll, wenn man eine Widmung verfassen soll,
vor allem, wenn man Intelligenz und Tiefgründigkeit beweisen will.« »Wann waren Sie das letzte Mal mit Dona Delfina zusammen?« Ich lachte schallend los. »Wissen Sie was? Ich habe zwar ein paar Romane geschrieben, in denen ein Polizist die Hauptperson ist, aber ich hätte nie gewagt, einem von ihnen so einen Satz wie ›Wann haben Sie zum letzten Mal‹ und so weiter in den Mund zu legen. Ich habe immer geglaubt, daß ein Polizist so etwas nie sagen würde, es sei denn in einem zweitklassigen Film oder einer billigen Fernsehserie.« »Wann waren Sie das letzte Mal mit Dona Delfina zusammen?« wiederholte Guedes seelenruhig. »Das Datum weiß ich nicht mehr genau. Es war bei einem dieser Abendessen mit Hunderten von Leuten. Sie war schön und elegant, wie immer. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« »Wie immer? Aber Sie haben Dona Delfina doch nur zweimal gesehen … « »Herr Inspektor, der Kopf eines Schriftstellers unterscheidet sich vielleicht etwas von den Köpfen, in denen Sie zu wühlen gewöhnt sind. Für einen Schriftsteller ist das geschriebene Wort Realität. Ich habe so oft in den Klatschspalten gelesen, daß Delfina Delamare schön und elegant wie immer war, daß ich nicht die geringsten Bedenken hatte, dieses fremde Klischee zu benutzen, als wäre es eine eigene Beobachtung. Wir Schriftsteller arbeiten mit Wortstereotypen. Die Realität existiert nur, wenn es ein Wort gibt, das sie definiert.«
»Warum hatte Dona Delfina Ihr Buch im Handschuhfach ihres Wagens? Haben Sie eine Ahnung?« »Nein. Und ich halte das auch nicht für wichtig.« »Für uns ist alles wichtig.« Die Ruhe dieses Polypen ärgerte mich allmählich. »Ist die Polizei eigentlich immer so gewissenhaft? Sie haben gesagt, Sie haben keinen Zweifel daran, daß Dona Delfina sich umgebracht hat. Trotzdem ermitteln Sie weiter, stellen Fragen, wollen tausend Sachen wissen. Ist das vielleicht nichts als neugieriges Herumschnüffeln im Leben einer berühmten Frau? Ich stelle diese Frage ohne jede provokative Absicht, auch ich habe als Schriftsteller meine Neugier. Prinz Andrew, der Sohn der englischen Königin Elizabeth, hat in einem Interview gesagt, er würde gern Detektiv sein, aber nicht erklärt, warum. Vielleicht, weil dem Polizisten gestattet wird, ungehemmt seine Neugier zu befriedigen? Etwas, das selbst Prinzen untersagt ist? Kennen Sie den Satz von Plautus: curiosus nemo est quin sit malevolus? Niemand ist neugierig, ohne auch bösartig zu sein.« Guedes schien darüber nachzudenken, was ich gesagt hatte. »Sie haben recht. Ich nehme Ihre Zeit unnötig in Anspruch.« »Ich verreise in ein paar Tagen, der Ort nennt sich Refúgio do Pico do Gavião. Ich möchte etwas ausspannen, bevor ich richtig anfange, Bufo & Spallanzani, mein neues Buch, zu schreiben.« Von meiner Wohnung fuhr der Polyp zur Wache. Die Gutachten der Obduktion und der Spurensicherung waren
noch nicht fertig; er überlegte, ob er die Sachverständigen anrufen und sie bitten sollte, ihm das Ergebnis der Untersuchung vorab mitzuteilen, verzichtete dann aber darauf. Schließlich gab es keinen Grund für solche Eile. Der Fall war schon geklärt. Er fuhr im Bus nach Hause. In seinem Stammlokal verzehrte er ein Sandwich mit einem panierten Steak und trank ein Glas Bier. Noch während er im Stehen aß, fing er an, Die Liebenden zu lesen. Als er nach Hause kam, zog er die Schuhe aus, nahm das Halfter mit dem Cobra ab, legte sich aufs Sofa und las weiter. Vorher schlug er im Wörterbuch die Bedeutung des Wortes Bufo nach.
3 Guedes legte Die Liebenden auf den Fußboden, knipste die Tischlampe aus und schlief ein. Er war es gewohnt, in Kleidern zu schlafen; beim Bereitschaftsdienst in der Wache zog er oft noch nicht einmal die Schuhe zum Schlafen aus. Nach so vielen schlecht verbrachten Nächten war sein Schlaf ein Zustand halbbewußter Alarmbereitschaft, in dem er wie durch Nebel wahrnahm, was rings um ihn geschah. Selbst wenn er im eigenen Bett schlief, wachte er immer zerschlagen auf. Und genau so, todmüde, wachte er an diesem Tag kurz nach fünf auf, als es draußen noch dunkel war. Er duschte, rasierte sich, zog sich an. Er kochte Wasser und machte sich einen Pulverkaffee. Morgens hatte er nie Hunger, sein Frühstück bestand immer nur aus dieser einen Tasse Kaffee. Die Rua Barata Ribeiro, in der er wohnte, war leer, als er aus dem Haus ging. In ein paar Stunden würde dort ein Inferno aus Gehupe und Motorengeknatter herrschen. An manchen Tagen legte er, wenn er dazu Lust hatte, den Weg von seiner Wohnung zum 14. Kommissariat, das sich in der Rua Humberto de Campos, Ecke Avenida Afrânio de Melo Franco im Stadtteil Leblon befand, eine Strecke von über fünf Kilometern, zu Fuß zurück. Durch die Rua Figueiredo de Magalhães gelangte er zur Avenida Copacabana. Die Geschäfte waren noch geschlossen; Bettler, Arbeitslose, Bewohner der Türnischen standen schon auf und machten sich bereit, geräuschlos ihre
Schlafwinkel zu verlassen, ehe die Hauswarte und Dienstboten anfingen, die mit portugiesischen Steinen gepflasterten Bürgersteige mit Schläuchen abzuspritzen. Ohne Autos und Fußgänger war diese grauenhafte Straße wunderschön. Guedes mochte leere Straßen. Sonntags fuhr er meistens ins Stadtzentrum und ging in den menschenleeren Straßen spazieren. Als er die Rua Francisco Sá erreichte, bog er nach rechts in Richtung Ipanema ab. Auf der Praça General Osório setzte er sich auf eine Bank. Neben einem Baum entleerte ein buckliger Alter seinen Darm. Guedes bemerkte, daß aus dem Fenster eines Apartments eine Frau den Alten mit angeekeltem Gesicht beobachtete. Nachher führt sie ihren Cockerspaniel zum Scheißen auf den Platz, dachte der Polizist, und will nicht, daß die Scheiße von den beiden sich vermengt. Von dem Platz aus ging Guedes durch die Rua Visconde de Pirajá bis zur Parkanlage Jardim de Alá, einem weiteren Sammelplatz der Bettler. Zur Rechten erhob sich der Gebäudekomplex der ihm wohlbekannten Sozialsiedlung Cruzada São Sebastião. Der Polizist überquerte den Kanal, an dem ein einsamer Fischer versuchte, mit einem Kescher einen Fisch zu fangen, der vielleicht gerade von der Lagoa Rodrigo de Freitas kam oder dahin unterwegs war. In der Avenida Ataulfo de Paiva hatten die Bäckereien und Metzger schon geöffnet und auch die wenigen Kneipen, die es da noch gab. Aus den Häusern kamen die ersten Schüler in Uniform, mit bunten Rucksäcken über der Schulter. Schließlich erreichte Guedes die Rua Afrânio de Melo Franco, Die letzten Gäste des Scala, das gegenüber dem
Kommissariat lag, hatten gerade das Lokal verlassen; die Neonlichter des Nachtklubs, die für Brazilian Follies Reklame machten, brannten noch. Die Polizisten vom 14. Kommissariat waren an Guedes’ Frühaufsteher-Gepflogenheiten gewöhnt. »Kannst du mich mal eben vertreten?« fragte Mantuano, der Bereitschaftsdienst hatte. »Ich will nur kurz einen Kaffee trinken gehen.« Guedes überflog die Ereignismeldungen. Opfer von Totschlag und Morden, Verkehrsunfälle mit Todesfolge, ein Brand, eine Vergewaltigung, Diebstähle und Raubüberfälle. Raub liegt laut dem brasilianischen Strafgesetzbuch dann vor, wenn die fremde Sache der Person unter Anwendung von Gewalt oder ernster Bedrohung entwendet wird oder nachdem die Person, gleich auf welche Art, in den Zustand der Wertlosigkeit versetzt worden ist. Die alten Polizisten sagten, früher seien Diebstähle die Regel gewesen (Einbrecher, die durch offene Fenster einstiegen, Handtaschendiebe, Ganoven, die die Unachtsamkeit argloser Naivlinge ausnutzten), und Raub sei selten vorgekommen; mit brennendem Licht konnte man Einbrecher abschrecken. Heute überstiegen die Raubüberfälle die Diebstähle, denn die Verbrecher ließen sich durch nichts mehr einschüchtern. Einer der letzten Fälle, in denen Guedes ermittelt hatte, war ein Raubüberfall in einer Villa im vornehmen Alto Leblon, während eines Feijoada-Essens gewesen, an dem mehr als hundert Personen teilgenommen hatten. Nicht alle Opfer von Raubüberfällen gingen zur Polizei, und auf die Statistiken konnte man sich nicht verlassen. Wenn jemand
Gewalttätigkeiten zum Opfer fiel und starb, wurde die Sache natürlich gemeldet; ein Toter ist immer eine lästige Angelegenheit, da muß man etwas unternehmen. Auch Diebstähle wurden nicht gemeldet, mit Ausnahme der in Geschäften und Büros begangenen, weil die Opfer die Versicherungssumme kassieren wollten. Im Grunde vertraute keiner auf die Arbeit der Polizei; das Harmloseste, was man ihr nachsagte, war, sie sei unfähig, brutal und korrupt. Guedes war ein anständiger Polyp, das muß ich zugeben, und es gab noch viele andere anständige Leute; trotzdem ist das außergewöhnlich in einem Land, in dem es auf sämtlichen Ebenen der öffentlichen und privaten Verwaltung so viele Korrupte gibt, daß man sie gar nicht mehr zahlenmäßig erfassen kann. Die Klatschspalten meldeten den »tragischen Tod« von Delfina Delamare; die Stammleser würden schon wissen, daß »tragischer Tod« ohne weitere Erklärungen Selbstmord bedeutete. Nachdem Kommissar Ferreira, der Dienststellenleiter des 14. Kommissariats, die Zeitungen gelesen hatte, ließ er Guedes zu sich kommen. Ferreira hatte seine Karriere als Gerichtsschreiber begonnen und war seit über dreißig Jahren bei der Polizei. Er hatte in fast allen Revierwachen des Bezirks gedient und einmal eine Sonderkommission geleitet. Sein Verhältnis zu Guedes war sachlich. »Ich hätte gern so schnell wie möglich Ihren Bericht über den Selbstmord von Dona Delfina. Der Landesjustizminister persönlich hat mich angerufen und nähere Informationen verlangt. Sind Sie vor Ort gewesen? Wer war der Kommissar vom Dienst?«
»Dr. Bruno. Aber er war gerade nicht da, als die Meldung von der Streife kam.« Guedes teilte Ferreira alles mit, was er über den Selbstmord wußte. »Sie war mit einem einflußreichen Mann verheiratet, und der hat sich schon an den Minister gewandt, damit die Sache totgeschwiegen wird. Hat irgendein Journalist Sie befragt?« »Nein.« Als er wieder in seinem Zimmer war, rief Guedes beim Gerichtsmedizinischen Institut an. Delfina war endlich an die Reihe gekommen und obduziert worden. Der Leichnam war freigegeben und aus dem Institut abtransportiert worden. Der Gerichtsmediziner teilte ihm mit, aus dem Postmortem-Befund (Starre, Erkaltung, Leichenflecke bzw. Magen- und Darminhalt) folgere er, Delfinas Tod sei gegen ein Uhr nachts eingetreten. Anschließend rief Guedes im Kriminologischen Institut an. »Ich bin noch dabei, meinen Bericht zu schreiben«, sagte der Sachverständige, »aber eins kann ich schon sagen: Das war kein Selbstmord. Ich habe sämtliche Tests durchgeführt. Sie hat keine Schmauchspuren an der Hand, in der sie die Waffe hielt. Guedes, die Frau wurde umgebracht.« Diese Mitteilung bewirkte bei Guedes, einem kühlen und beherrschten Mann, größte Verwirrung. Er sah sich seine Aufzeichnungen an. Delfinas Auto war von innen abgesperrt, die Scheiben hochgekurbelt. Der Schlüssel
steckte im Zündschloß. In der näheren Umgebung hatte keiner etwas gehört. Er kam zu dem Schluß, daß er miserabel ermittelt hatte. Er hatte den allerschlimmsten Fehler begangen und die Ermittlung einer als richtig vorausgesetzten Mutmaßung untergeordnet und dadurch eingeengt. Von vornherein zu entscheiden, daß es sich um einen Selbstmord handelte, war idiotisch gewesen. Ein Polizist muß allen Hypothesen gegenüber offen sein. Hätte er die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes in Betracht gezogen, hätte er vielleicht feststellen können, was der Mörder im Anschluß an das Verbrechen getan hatte; jetzt war es dazu vermutlich viel zu spät. Guedes zog eine Grimasse. Was zum Teufel war mit ihm los? Nachlässigkeit? Ein nachlässiger Polizist steht kurz vor dem Zynismus. Der Zyniker kurz vor der Korruption. Guedes versetzte dem Abfalleimer einen Fußtritt, so daß er durchs Zimmer rollte. »Der Alte will dich sprechen«, sagte ein Fahnder im Vorübergehen zu Guedes, der an seinem Schreibtisch saß. »Sag ihm, ich bin unterwegs«, antwortete Guedes und zog seinen speckigen Blouson über. Er wollte nicht mit dem Kommissar sprechen. Guedes stieg in der Rua San Martín in einen Bus und machte sich wieder auf den Weg zur Rua Diamantina. Er ging durch die Rua Faro hinauf. Zwei Stunden später befand er sich in einer Kneipe in der Rua Jardim Botânico und übertrug bei einem Bier die Skizze, die er angefertigt hatte, ins reine. Falls der Mörder in einem anderen Wagen gewesen war, mußte er, um die Rua Diamantina zu verlassen, durch die Rua Faro hinuntergefahren sein, die
einzige Straße mit Fahrtrichtung zur Rua Jardim Botânico; falls er in Delfinas Wagen gewesen war oder auch nicht, sich jedenfalls zu Fuß entfernt hatte, gab es für den Mörder zwei Wege: entweder durch die Rua Faro oder über die Rua Itaipava durch die Rua Benjamim Batista zur Rua Jardim Botânico hinunter. Die Rua Faro mündete direkt in die Jardim Botânico. Wenn der Mörder aber durch die Benjamim Batista gegangen war, mußte er dabei eine der drei Straßen Abade Ramos, Nina Rodrigues oder Nascimento Bittencourt überquert haben. Ganz zu schweigen von der Treppe, die zur Praça Pio XI führte, von wo aus man die Rua Jardim Botânico über die Straßen Oliveira Rocha und Conde de Afonso Celso erreichte. In all diesen Straßen herrschte wenig Verkehr, und vielleicht war irgend jemandem zu dieser stillen Stunde, als das Verbrechen geschah, ein Fremder aufgefallen. Unseligerweise schienen sämtliche Wohnblocks dieser Straßen Gegensprechanlagen und keinen Portier zu haben. Es durfte schwierig werden, einen Augenzeugen zu finden, sofern es überhaupt einen gab. Die Reichen werden auf dem Friedhof São João Batista begraben, dachte Guedes, als er wieder in den Bus stieg. In der Rua Voluntários da Pátria, Ecke Rua Real Grandeza stieg er aus und ging das Stück zu den Friedhofskapellen zu Fuß. In der glühendheißen Sonne kam ihm der Weg länger vor, als er war. Da er seinen Blouson nicht ausziehen konnte (ein Polizist zeigt nicht einfach überall seine Waffe, selbst dann nicht, wenn es ein eleganter Cobra ist), schwitzte Guedes stark. Und da er nie ein Taschentuch benutzte, wischte Guedes sich wie die Arbeiter den
Schweiß mit den Fingern von der Stirn und aus dem Gesicht. Schließlich erreichte er die Kapellen rechter Hand vom Friedhof. Die Kapellen waren alle belegt, aber in keiner befand sich Delfina Delamares Leiche. Guedes rief von einer Telefonzelle aus im Gerichtsmedizinischen Institut an und erkundigte sich, wohin man Delfinas Leichnam gebracht habe. Ein Wagen vom Städtischen Krankenhaus hatte den Transport besorgt. Vom Krankenhaus erfuhr er, man habe in der Rua Sara Vilela, einer Straße am Ende der Rua Lopes Quintas, »ausgeliefert«. Der Leichnam sei einbalsamiert worden. Von der Rua Sara Vilela war es mit dem Auto nicht weit zur Rua Diamantina. Ein Umstand, der Beachtung verdiente. Guedes ging durch die Rua Real Grandeza zur Rua São Clemente zurück, ein Weg, für den er zu Fuß bei flottem Tempo eine halbe Stunde brauchte. Dort stieg er in einen Bus und fuhr praktisch dieselbe Strecke zurück, die er von der Rua Diamantina zum Friedhof gefahren war. Die Rua Lopes Quintas lag ein Stück hinter der Rua Faro. Guedes stieg in der Rua Jardim Botânico, Ecke Lopes Quintas aus dem Bus und ging die steile Straße bis zur Rua Sara Vilela hinauf, einer Straße ohne Wohnblocks, nur mit großen Villen. Vor dem Gartentor der Villa standen mehrere Autos. Guedes klingelte. Ein Mann öffnete die Tür. Seine Augen waren gerötet, als hätte er viel geweint. Er war jung und trug eine Hausdienerlivree. »Ist Herr Eugênio Delamare da?«
Der Hausdiener musterte Guedes von oben bis unten. »Durch den Dienstboteneingang, bitte.« Er wies auf einen Seiteneingang der Villa und schloß die Tür. Guedes klingelte noch einmal. Der Hausdiener machte die Tür auf, diesmal in Begleitung eines großen Mannes in marineblauem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte, woraus Guedes schloß, daß es der Chauffeur sein mußte. »Ist Herr Eugênio Delamare da?« »Worum geht es?« fragte der Chauffeur barsch. »Eine persönliche Angelegenheit.« »Er hat jetzt keine Zeit.« Der Chauffeur wollte die Tür schließen, aber Guedes stieß ihn mit der Schulter zurück und trat in den Garten der Villa. »Noch einen Schritt, und ich schieß Ihnen eine Kugel in den Kopf«, sagte der Chauffeur und zielte mit einer 45er Pistole auf Guedes. »Ich bin Inspektor Guedes vom 14. Polizeikommissariat«, sagte der Polyp unbeeindruckt. »Zeigen Sie Ihren Ausweis«, verlangte der Mann. Chauffeur und Leibwächter, vielleicht einer von der Polizei mit einem Nebenjob, dachte Guedes, während er seinen Ausweis vorzeigte. »Nehmen Sie’s nicht übel«, sagte der Chauffeur in einem anderen Tonfall, nachdem er den Ausweis geprüft hatte, »die Madame ist gestorben, und wir sind alle sehr nervös.« »Ich weiß. Deshalb bin ich hier. Rufen Sie Ihren Chef.« Der Chauffeur machte eine Kopfbewegung zum
Hausdiener, der ihn ängstlich und mit schamlos unterwürfigem Blick ansah. »Los«, befahl der Chauffeur. Guedes sah sich den Chauffeur an, der nun auf und ab ging. Ein großer Teil seines Körpervolumens war Fett. Den Hintern den ganzen Tag auf dem Autositz, dachte Guedes, und alle Naslang einen Happen, den der Hausdiener ihm brachte. Aber irgendwann mußte er recht sportlich gewesen sein, seine Bewegungen waren geschmeidig, und er hielt sich kerzengerade. Der Hausdiener kehrte in Begleitung eines vierzigjährigen, braungebrannten, schlanken Mannes zurück. Er begrüßte Guedes und entließ die anderen mit einem knappen »Ihr könnt gehen«. Dann faßte er den Polizisten am Arm und führte ihn durch den Garten zu einer Bank, die unter einem riesigen Oitibaum stand. Mit einer Handbewegung forderte er den Polizisten auf, sich zu setzen. Guedes, der an diesem Tag schon viel zu Fuß gegangen und dessen Hemd völlig durchgeschwitzt war, nahm erleichtert Platz. Im Schatten und im kühlen Lufthauch fühlte er sich rasch wohler. »Ich danke Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben«, sagte Eugênio Delamare mit einem traurigen Lächeln. »Sie können sich vielleicht vorstellen, was für ein Schlag, welch furchtbare Überraschung das für mich war, von einer Reise zurückzukommen und zu erfahren, daß meine Frau sich das Leben genommen hat und in einem verdreckten Fach im Leichenschauhaus liegt. Ich befinde mich in einem Zustand tiefster Trostlosigkeit, wir hingen sehr aneinander, wir haben keine Angehörigen, nur wir beide allein … Ein schwerer Schlag, den ich mit niemandem teilen kann, den
ich auch mit niemandem teilen will … Wir waren immer sehr auf uns konzentriert, haben immer sehr zurückgezogen gelebt … « Eugênio strich sich mit den Fingern über die trockenen Augen. »Ihre Frau hat sich nicht das Leben genommen. Sie wurde ermordet.« »Was?« Eugênio Delamare stand überrascht von der Bank auf. »Ermordet«, wiederholte Guedes. »Das kann nicht sein!« Eugênio setzte sich wieder; die goldbraune Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Aber man hat mir doch gesagt, daß sie sich das Leben genommen hat. Der Minister persönlich hat mit mir gesprochen.« »Vermutlich hatte der Minister noch nicht die Berichte des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung gesehen«, sagte Guedes. »Hat man irgendeine Gewaltanwendung festgestellt … Vergewaltigungsspuren, etwas in der Art?« »Nein. Sie starb an einem Schuß ins Herz. Der Mörder hat ihren Körper nicht angefaßt. Nichts wurde gestohlen. Der Revolver befand sich in ihrer Hand. Das alles hat uns zu der fälschlichen Annahme verleitet, es handele sich um einen Selbstmord.« »Hat die Polizei jemanden verhaftet? Verdächtigt sie jemanden?« Delamare hatte sich schon wieder in der Gewalt. »Dazu war noch keine Zeit. Wir haben erst heute festgestellt, daß es kein Selbstmord war.« Delamare sah Guedes in die Augen. »In dieser Stadt gibt
es sehr viel Gewalt.« Seine Stimme klang jetzt wie die eines Geschäftsmannes. »Ich habe ihr immer gesagt, daß sie sehr vorsichtig sein müsse, aber sie hörte nicht auf mich und fuhr immer wieder allein in ihrem Wagen los … Aber daß sie überfallen werden könnte, so wie es jetzt geschehen ist, dieser Gedanke ist mir nie gekommen.« »Ich glaube nicht, daß sie überfallen wurde«, sagte Guedes. »Natürlich wurde sie überfallen.« »Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Es wurde nichts gestohlen.« »Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich bin der Meinung, daß sie überfallen wurde, verstehen Sie. Ich will keinen Skandal. Und was spielt das für eine Rolle, ob derjenige, der sie umgebracht hat, ein Verrückter oder ein Straßenräuber war? Sie ist tot und wird davon, daß wir das rauskriegen, nicht wieder lebendig.« In anderem Tonfall: »Bitte, Inspektor … Wie war doch Ihr Name?« »Guedes.« »Inspektor Guedes, ich werde mich auch erkenntlich zeigen … Was ich von Ihnen verlange, ist eine Kleinigkeit, aber meine Dankbarkeit wird sehr groß sein.« Guedes hüllte sich in Schweigen, was Delamare als Zustimmung zu dem, was er gerade gesagt hatte, auslegte. »Ich will Ihnen erklären, was ich von Ihnen erwarte. Formulieren Sie diese Gutachten, Meldungen, Unterlagen, diesen ganzen Kram so, daß daraus eindeutig hervorgeht, daß meine Frau von einem Straßenräuber ermordet wurde. Falls irgendein Vorgesetzter Ihnen
Schwierigkeiten machen will, keine Sorge, ich bin mit dem Minister befreundet. Und mit noch höher stehenden Leuten.« Eugênio Delamare griff in die Tasche, zog ein Scheckheft heraus, legte es auf seinen Oberschenkel und schrieb einen Scheck aus. Er streckte Guedes den Scheck entgegen. »Das ist nur die erste Rate.« Einen Augenblick lang war alles still und starr; Delamare hielt den Scheck in der ausgestreckten Hand, Guedes sah ihn an, mit ruhigem, undurchdringlichem Gesichtsausdruck. »Ich könnte Sie wegen aktiver Bestechung anzeigen«, sagte Guedes und nahm Delamares Scheck, »aber ich werde es nicht tun, weil Sie vielleicht durch den Tod Ihrer Frau verwirrt sind und nicht wissen, was Sie tun.« Guedes warf den Scheck auf die Erde. Eugênio Delamare bückte sich und hob den Scheck auf. »Überlegen Sie sich das gut«, sagte Delamare. »Haben Sie gesehen, auf welchen Betrag ich den Scheck ausgeschrieben habe? So viel verdienen Sie mit Ihrer dreckigen Arbeit nicht mal in zehn Jahren. Und das ist nur die erste Rate, verdammt! Nehmen Sie ihn, los!« Delamare versuchte, Guedes den Scheck in die Hand zu schieben. Der Polizist nahm den Scheck, zerriß ihn und warf die Schnipsel auf die Erde. »Noch etwas«, sagte Guedes, »Ihr Chauffeur oder Leibwächter benutzt eine ausschließlich für die Streitkräfte zugelassene Waffe, was nach dem Gesetz verboten ist. Auch darüber werde ich hinwegsehen. Sie werden eine Aufforderung erhalten, zur Aussage auf dem Revier zu erscheinen.«
Guedes ging durch den Garten in Richtung Tür. Hinter sich hörte er Delamare sagen: »Seien Sie doch nicht blöd!« Der Leibwächter öffnete die Tür, und der Polizist ging. Jetzt schwitzte er wieder stark. Eilig ging er die Rua Lopes Quintas hinunter, nahm in der Rua Jardim Botânico einen Bus und stieg in der Avenida Afrânio de Melo Franco aus. Der Tag war zu Ende. Es war Freitag, und die Tankstelle an der Ecke zur Avenida Ataulfo de Paiva war voller Autos, die tanken wollten. »Wo hast du dich rumgetrieben? Ferreira hat den ganzen Tag nach dir gesucht«, sagte der diensthabende Kommissar. »Ich habe Ermittlungen gemacht.« Dr. Ferreira war gegangen und hatte die Nachricht hinterlassen, Guedes solle ihn am Abend anrufen. Ein paar Journalisten waren auf der Wache erschienen und hatten sich nach Delfina Delamares »Selbstmord« erkundigt, aber man hatte ihnen keinerlei Auskunft gegeben. »Wie wär’s mit einem Kaffee?« Das war die schwarze Marlene mit ihrer Thermoskanne und ihrem Korb voll Maisgebäck. Sie erschien immer um diese Zeit auf der Wache. Guedes trank einen Kaffee und kaufte zwei kleine Maiskuchen, die er in einen großen benutzten braunen Umschlag steckte. Vom vielen Essen in ordinären Kneipen hatte Guedes die Freude am Essen verloren. Die kleine Küche in seiner Wohnung benutzte er nur selten, damit sich dort keine Kakerlaken einnisteten.
Er ekelte sich vor Kakerlaken, und in dem alten Gebäude, in dem er wohnte, wimmelte es immer von diesen Insekten, obwohl es regelmäßig desinfiziert wurde. Es war neun Uhr abends, als er nach dem braunen Umschlag mit dem Maisgebäck griff und im Bus nach Hause fuhr. Vorher hatte er noch Kommissar Ferreira und den Direktor des Kriminologischen Instituts angerufen, mit dem er befreundet war. »Guedes, machen Sie mir bitte keine Schwierigkeiten. Der Chef hat angerufen und gesagt, der Minister sei sehr verärgert. Es scheint, daß Sie Ihre Befugnisse überschreiten, der Chef hat sogar gesagt, er will Sie wegen Amtsmißbrauch bestrafen. Ich möchte nicht ans Ende der Welt versetzt werden, Sie vielleicht?« sagte der Kommissar. Guedes erzählte von seiner Begegnung mit Eugênio Delamare. »Glauben Sie, er hat seine Frau umgebracht?« »Er war an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, nicht hier, er ist erst am nächsten Tag aus Europa zurückgekommen. Das habe ich bei der Bundespolizei überprüft.« »Dann lassen Sie den Mann in Ruhe, ja?« Der Direktor des Kriminologischen Instituts war mit dem Minister verfeindet, denn dieser wollte einen seiner Verwandten auf seinen Posten setzen. »Dieser korrupte Feigling hat dem Chef befohlen, mich anzurufen, damit ich den Bericht ändere und der Frau Schmauchspuren an der Hand bescheinige. Dieses Schwein. Ich hab’ gesagt, ich hätte das Gutachten schon
zum Revier geschickt, habe ich aber noch nicht. Morgen in aller Frühe lasse ich dir das Gutachten persönlich durch einen Boten bringen. Mach schnell einen Nachtrag zur Meldung, dann will ich doch mal sehen, ob sie die wichtigen Ereignismeldungen verschwinden lassen.« Die Unterhaltung mit dem Institutsdirektor bereitete Guedes Sorgen. Als er nach Hause kam, duschte er und aß anschließend die Maiskuchen, wobei er aufpaßte, daß kein Krümel für die Kakerlaken übrigblieb. Dann legte er sich in Unterhose und Schlafanzugjacke ins Bett und nahm Die Liebenden zur Hand. Aber kaum hatte er ein paar Seiten gelesen, schlief er ein. Mein Buch wirkte bei ihm wie ein Schlafmittel. Guedes war nicht mein idealer Leser. Meine Bücher müssen ohne Unterbrechung gelesen, verschlungen werden, insbesondere Die Liebenden.
4 Eugênio Delamare hatte gesagt, es sei ihm gleich, ob das Verbrechen von einem Straßenräuber oder von einem Psychopathen begangen worden war, seine Frau sei so oder so tot. Sein Ansinnen, die Sache so zu drehen, daß der Tod seiner Frau offiziell einem Überfall zugeschrieben wurde, mochte unmoralisch und ungesetzlich sein, bedeutete aber nicht zwangsläufig, daß Delamare etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte. Jeder Bourgeois, dessen Frau tot in ihrem Wagen aufgefunden wurde, hätte die Überfallversion der Vorstellung eines Selbstmords vorgezogen; dazu mußte er nicht einmal ein bekannter Millionär sein. Wenn es schon einen Mörder geben mußte, war es ratsam, daß sein Motiv Raub hieß oder daß es sich um die zufällige Tat eines unbekannten Psychopathen handelte. Dieser Art waren Guedes’ Gedanken zum Thema, während er sich rasierte. Er betrachtete Mord nicht als einen atavistischen Rückfall, als Charakteristikum des Menschen aus ferner Vergangenheit, das aus unbekanntem Grund vorübergehend immer wieder auftauchte. Er erlebte nahezu täglich Morde, begangen von Menschen aller Art – Armen und Reichen, Starken und Schwachen, Analphabeten und Akademikern – und glaubte, daß der Mensch seit jeher ein gewalttätiges Geschöpf war und es noch immer ist, das nur zum Vergnügen seinesgleichen und andere Lebewesen tötet. Jeder x-beliebige Mensch
konnte Delfina umgebracht haben, aber daß es kein Räuber und kein Psychopath gewesen war, dessen war er sich sicher. Wer also hatte sie ermordet? Eine junge, reiche und schöne Frau kann aus Eifersucht, aus Neid, aus Ärger, aus Gehässigkeit, aus finanziellen Interessen umgebracht werden. Ihr Mörder kann ihr Mann, ihr Geliebter, ein Verwandter, ihr Vermögensverwalter, ein Freund oder eine Freundin oder, natürlich, der Butler sein. Den Butler zählte Guedes nicht nur zum Spaß mit; im übrigen hatte er nicht viel Sinn für Humor; unter Butler verstand er jede Art von männlichem oder weiblichem Dienstpersonal. An diesem Tag kam Kommissar Ferreira früher zur 14. Wache. Er ließ sich das Buch mit den Wichtigen Ereignismeldungen zeigen und stellte fest, daß der ersten Eintragung von Delfina Delamares Tod ein Nachtrag mit den Ergebnissen der Untersuchungen im Gerichtsmedizinischen Institut und im Kriminologischen Institut hinzugefügt worden war. Damit war ihr Tod als gewaltsam deklariert. Ferreira ließ Guedes kommen. »So ein Ärger, der Tod dieser Frau«, sagte Ferreira. »Wie war noch mal Ihre Unterhaltung mit dem Mann?« Guedes berichtete noch einmal von dem Gespräch, das er mit Eugênio Delamare geführt hatte. »Ich begreife nicht, warum dieser Mann sich so verhalten hat«, sagte Ferreira. Den Nachmittag verbrachte Guedes in der Nationalbibliothek mit der Lektüre diverser Ausgaben der großen Tageszeitungen O Globo und Jornal do Brasil.
Später klopfte er, bekleidet mit seinem speckigen Blouson, erneut an meine Tür. Ich sagte sofort: »Herr Guedes, ich bin sehr beschäftigt, ich schreibe an einem Buch, Bufo & Spallanzani, ich glaube, das habe ich Ihnen schon erzählt, und ich will verreisen und muß vorher noch einiges erledigen … « »Es geht ganz schnell«, sagte der Polyp, »es geht um Dona Delfina, diese Dame der Gesellschaft, die man tot in ihrem Auto gefunden hat.« Ich machte die Tür ganz auf und ließ ihn herein. »Sie wurde ermordet«, sagte Guedes. »Ermordet? Aber gestern haben Sie mir doch noch gesagt, sie habe Selbstmord begangen.« »Irrtum unsererseits. Sie wurde ermordet.« »Haben Sie den Mörder schon verhaftet?« »Nein, noch nicht.« »Wissen Sie, wer es war?« Guedes antwortete nicht. Er strich sich mit dem Finger über die Stirn und wischte ihn an seinem Blouson ab. »Was wollen Sie nun eigentlich von mir? Wie gesagt, ich habe sehr viel zu tun.« »Ich glaube nicht, daß die Neugier bei einem Polizisten etwas Bösartiges ist. Das ist unsere Arbeit.« »Vielleicht ist die Arbeit der Polizei bösartig«, sagte ich. »Möglich«, sagte der Polyp, »aber einer muß sie machen.« »Und nun?« »Nun«, sagte er und wischte sich erneut über die Stirn, »ich vermute, daß Dona Delfina einen Geliebten hatte. Da
Sie sich in diesen Kreisen bewegen, haben Sie vielleicht irgend etwas gehört.« »Einen Geliebten? Verrückt. Dona Delfina war eine Dame von untadeliger Moral.« »Sie haben in einem Ihrer Bücher gesagt, Treue sei ein bürgerlicher Begriff und die Ehre einer Frau habe nichts mit ihrem Sexualverhalten zu tun.« »In welchem Buch habe ich das gesagt?« »In Die Liebenden.« »Haben Sie Die Liebenden gelesen?« »Ich lese es gerade.« »Ich will Ihnen was sagen: Selbst wenn es sich um Hauptpersonen handelt, selbst wenn ein Buch in der ersten Person geschrieben ist wie Die Liebenden, sind der Standpunkt, die Meinung, die Überzeugungen, die Mutmaßungen, die Werte, die Neigungen, die fixen Ideen, die Anschauungen et cetera der Personen nicht zwangsläufig identisch mit denen des Autors. Oft denkt der Autor genau das Gegenteil von dem, was seine Personen denken.« »Ist Gustavo Flávio Ihr richtiger Name?« Was wußte er wohl über meine Vergangenheit? Über meine Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft Panamericana, meine Zwangseinweisung und die Flucht aus dem Irrenhaus? Ich sah mir sein hageres Gesicht, seine gelben Augen genau an; was mochte er wohl wissen? »Wir Schriftsteller benutzen gern Pseudonyme. Stendhal hieß Henry Beyle; der richtige Name von Mark Twain war Samuel Langhorne Clemens; Molière war das Kryptonym von Jean-Baptiste Poquelin. George Eliot hieß weder
George noch Eliot und war auch kein Mann, sondern eine Frau namens Mary Ann Evans. Wissen Sie, wie der Name von Voltaire lautete? François-Marie Arouet. William Sidney Porter versteckte sich hinter dem falschen Namen O. Henry.« (Aus ähnlichen Gründen wie ich, aber das erzählte ich dem Polypen nicht.) »Das ist ein literarisches Geheimnis, ha, ha!« Guedes hakte nicht nach, aber meine Nervosität nahm zu. Ich steckte die Hände in die Taschen. Der Polyp wischte sich wieder über die Stirn. »Ich stelle die Klimaanlage an«, sagte ich. »Nicht nötig.« »Mir ist auch zu warm. Ich habe eine Anlage, die kühlt die ganze Wohnung«, sagte ich und ging zur Küche, wo sich der Kasten mit dem Apparat befand. Der Polyp kam hinter mir her. »Wer war ihre beste Freundin?« »Wessen beste Freundin?« »Dona Delfinas.« »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob sie eine beste Freundin hatte.« »Jede Frau hat eine beste Freundin. Ihre war Denise Albuquerque«, sagte der Polyp. »Dann wissen Sie mehr als ich. Verflixt, der Apparat scheint kaputt zu sein. Woher wissen Sie, wer die beste Freundin von Dona Delfina war?« »In den Klatschspalten steht alles über das Leben der feinen Leute: das heißt alles bis auf die marode Seite. Die Dame ist auf Reisen, aber ich habe erfahren, daß sie in Bälde zurückerwartet wird. Ich habe vor, mit ihr zu sprechen.«
Wir kehrten in mein Arbeitszimmer zurück. Guedes sah sich die Bücher an, als versuche er, die Titel auf den Buchrücken zu lesen. »Sie haben mir nichts weiter zu sagen?« »Was denn, zum Beispiel?« »Kennen Sie ihren Mann?« »Nein. Was noch? Ich habe viel zu tun, ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich viel zu tun habe, ich bin kein Beamter wie Sie, ich verdiene nur Geld, wenn ich arbeite, ich bin mit meinem neuen Buch Bufo & Spallanzani sehr im Hintertreffen, kurzum, es tut mir sehr leid, aber ich muß Sie bitten, kurz und sachlich zu sein.« Guedes griff in die Tasche und zog ein Blatt Papier heraus. »Lesen Sie das«, sagte er. Es war ein Brief. Mit der Hand geschrieben. Liebe Delfina. Nachdem Du abgereist bist, habe ich länger über unser Gespräch hier in Paris nachgedacht. Ich halte das für eine Wahnsinnsidee, was Du vorhast. Unter solchen Bedingungen hat sich noch keine Frau von ihrem Mann getrennt. Sie alle – die Namen brauche ich nicht zu nennen, Du weißt, wen ich meine – haben bei der Trennung ein großes Stück vom Kuchen mitgenommen, sind Millionärinnen geworden, und viele von ihnen waren nichts anderes als ordinäre Flittchen und haben ihren Mann mit Gott und der Welt betrogen. Wie man mit Männern umgeht, haben sie von Jacqueline Onassis gelernt, und Du solltest es genauso machen. Auf alles verzichten ist dumm und unvernünftig, so viel Rücksicht
hätte Eugênio auch gar nicht verdient, so wie er Dich immer behandelt hat. Im übrigen hat er so viel Geld, daß es ihm nicht fehlen wird, egal, wieviel Du aus ihm rausholst. Und dieser Mann, der Schriftsteller, verdient der so ein Opfer? Du solltest nichts überstürzen. Ich fand, Du warst sehr nervös, sehr angespannt, in gar nicht guter Verfassung, entschuldige, wenn ich so offen bin. Ich schicke Dir das Heft über Sèvres-Porzellan, ich bin einen ganzen Vormittag in der Fabrik gewesen und habe gesehen, wie das Porzellan hergestellt wird, eine tolle Sache. So viel für heute. Ich fliege am 15. zurück, unternimm nichts, bevor ich wieder da bin. Tausend Küsse, Denise. Ich setzte mich auf das Sofa im Arbeitszimmer. Guedes blieb weiter stehen. »Die Sendung mit dem Heft und dem Brief war eingeschrieben und ist aus irgendeinem Grund nicht mit der Post zugestellt worden. Es wurde nur eine Benachrichtigung geschickt, und die befand sich in Dona Delfinas Tasche. Ich bin zur Post gegangen und habe die Sendung abgeholt«, erklärte Guedes. Ich las den Brief noch einmal. Der Polyp mußte bereits von meiner Verbindung zu Delfina gewußt haben, als er zum erstenmal zu mir gekommen war. Er hatte mich einfach lügen lassen; er war nicht nur schlau, sondern auch hinterhältig. Und ich hatte geglaubt, mein Verhältnis mit Delfina sei ein Geheimnis. Es gibt keine Geheimnisse, irgend jemand erzählt es immer seinem besten Freund und
so weiter. Und am Ende weiß dann sogar so ein Scheißpolyp Bescheid. Ich gab Guedes den Brief zurück, er steckte ihn sorgfältig in seine Jackentasche. »Kannten Sie den Inhalt dieses Briefes bereits, als Sie zum erstenmal bei mir waren?« »Nein. Ich habe den Brief heute abgeholt. Ich hatte die Benachrichtigung in meiner Tasche vergessen. Ich glaube, ich werde alt. Nun?« »Ja, Dona Delfina und ich hatten eine intime Beziehung. Ich habe Ihnen das aus naheliegenden Gründen vorher nicht gesagt, um nicht den Ruf einer Dame zu schädigen. Und außerdem hätte das nicht zur Aufklärung beigetragen, ganz gleich, ob es nun Mord oder Selbstmord war.« »Wann sind Sie das letzte Mal mit ihr zusammen gewesen?« »Am Tag vor ihrem Tod. Wir haben über das gesprochen, was der Arzt zu ihrer Erkrankung gesagt hatte. Deshalb hat mich die Nachricht von ihrem Selbstmord nicht überrascht. Sie war damals sehr deprimiert.« »Wo fand diese Unterhaltung statt?« »Bei ihr zu Hause. Sie war gerade von einer Europareise zurückgekommen.« »Seit wann hatten Sie dieses Verhältnis?« »Ich habe sie geliebt.« »Ja. Seit wann?« »Ungefähr seit sechs Monaten.« »Sie wollte ihren Mann verlassen, um Sie zu heiraten?« »Das war im Gespräch.« »Besteht die Möglichkeit, daß sie zur gleichen Zeit noch
eine andere emotionale Bindung hatte, abgesehen von der zu Ihnen?« »Nein. Ausgeschlossen.« »Hatten Sie vorher oder haben Sie an diesem Tag einen vernickelten Revolver in Dona Delfinas Besitz gesehen?« »Sie hatte keinen Revolver. Vielleicht hatte ihr Mann einen, das weiß ich nicht. Ich habe nie eine Waffe bei ihr gesehen. Sie hatte entsetzliche Angst vor Waffen.« »Wissen Sie, was unser Problem ist?« fragte Guedes. Er machte eine Pause. »Unser Problem ist, daß Dona Delfina nicht von einem Straßenräuber ermordet wurde. So einer hätte das Auto mitgenommen, das ist ein Vermögen wert; er hätte den Revolver, die goldene Armbanduhr, die Ringe, die Kreditkarten mitgenommen; ein Straßenräuber hätte völlig anders gehandelt. Das war kein Straßenräuber.« Ich schwieg. »Unter Berücksichtigung der Umstände kommen zwei Personen als mögliche Täter in Frage.« Guedes sprach in neutralem Tonfall, als unterhielte er sich über die Handlung in einem Roman. »Die eine dieser Personen ist ihr Mann. Aber der befand sich an dem Tag, als sie getötet wurde, nicht in Brasilien.« »Er hätte sie umbringen lassen können«, sagte ich. »Er wußte von meiner Beziehung zu ihr.« »Ach, ja? Interessant … Daran hatte ich auch schon gedacht, an die Möglichkeit, daß er der Auftraggeber war, aber in diesem Fall hätte der Mörder alles getan, damit es nach einem Überfall aussieht, und die Wertsachen mitgenommen. Und ein professioneller Mörder benutzt keinen 22er, und wenn doch, würde er ihn nicht am Tatort
zurücklassen. Nein, es war nicht ihr Mann und auch niemand in seinem Auftrag.« Daraufhin schwiegen wir beide eine ganze Weile. »Wollen Sie nicht wissen, wer die andere Person ist?« »Wer denn?« »Sie.« »Ich?!« Ich sprang wütend auf. »Jetzt reicht’s, verschwinden Sie«, schrie ich, »Sie haben kein Recht, sich Einlaß in meine Wohnung zu verschaffen und mich zu verleumden.«
5 »Entschuldige, wenn ich dich bei deiner Meditation störe, mein Schatz, aber ich mußte mit jemandem sprechen, nachdem dieser Polyp gegangen war. Als ich ihn anschrie, er solle meine Wohnung verlassen, hat er mich eine Weile prüfend und ruhig angesehen, dann ging er nachdenklich zur Tür, weder eingeschüchtert noch triumphierend, und riet mir, zu einem Anwalt zu gehen. Du wußtest also, daß Madame X Delfina war? Warum hast du mich dann zu dieser albernen Geheimnistuerei gezwungen? Richtig: Wir hatten abgemacht, daß ich dir von meinem Sexualleben mit den Frauen, die ich gehabt habe oder habe, erzähle, daß aber geheim bleibt, wer sie sind. Auf diese Weise wollten wir deine libidinöse Neugier und meine verbale Geilheit befriedigen. Übrigens könnte ich mir diese Geschichten ja auch alle ausdenken, um unserer Lüsternheit freien Lauf zu lassen. Wenn ich von meiner Liebesgeschichte mit Delfina in Einzelheiten erzähle, ist das ein Weg, sie nicht zu vergessen. Ich werde sie nie vergessen, so wie ich auch dich nie vergessen werde. Aber zwischen uns liegen die Dinge anders: Als wir uns kennenlernten, warst du sechzehn, ohne dich gäbe es keinen Gustavo Flávio. Defoe, Swift, Balzac – ich könnte eine Ewigkeit über Schriftsteller reden, denen es schlecht ergangen ist, weil sie ihr Geld falsch investiert oder sich auf die eine oder andere Weise verspekuliert haben. Ich kann mich in diese
Gemeinde einreihen. Als ich Delfina kennenlernte, war meine finanzielle Situation total durcheinandergeraten. Die Bank, bei der ich mein Geld angelegt hatte, war zusammengebrochen und ihr Präsident, ein Ganove, der sogar einmal als zukünftiger Finanzminister im Gespräch gewesen war, aus Brasilien abgehauen, nachdem er vorher zweihundertfünfzig Millionen Dollar von der Bank abgezogen und auf einem Geheimkonto in der Schweiz deponiert hatte. Bis heute ist er nicht wieder aufgetaucht, inzwischen spricht schon keiner mehr von ihm. Ich stand ohne einen Pfennig da, behielt aber, wie Balzac, meinen Lebensstil bei. Von da ab ließ ich mir von meinen hiesigen und ausländischen Verlegern immer höhere Vorschüsse zahlen. Das habe ich dir noch nicht erzählt, um dich nicht zu beunruhigen. Mein letztes Buch, Die Liebenden, ist zwar von der Kritik hervorragend aufgenommen worden, war aber, was den Verkauf betrifft, ein Flop im Vergleich zu meinen anderen Romanen. Offensichtlich war das Publikum nicht auf eine Liebesgeschichte zwischen einer Blinden und einem Taubstummen vorbereitet. ›Liebesgeschichten mit Krüppeln, Invaliden, Behinderten, so was geht im allgemeinen nicht‹, sagte meine literarische Agentin, ›das letzte Mal, wo’s gutgegangen ist, war beim Glöckner von Notre-Dame.‹ Mein neuer Roman kam nicht über das Konzeptstadium hinaus. Normalerweise, und das weißt du besser als irgend jemand sonst, entwerfe ich das Buch im Kopf und notiere mir dabei Einzelheiten, Vignetten, Szenen, Situationen. Aber Bufo & Spallanzani war und ist noch immer festgefahren. Angefangen habe ich damit, als ich Delfina kennenlernte. Zum erstenmal in
meinem Leben kam mir eine Liebesgeschichte bei der Arbeit in die Quere. Verliebt oder auch nur an einer Frau interessiert zu sein hat mich immer sehr zum Schreiben angeregt, das weißt du. Aber diesmal wurde mir meine Arbeit gleichgültig, womit Flaubert recht bekam. Das Schlimme dabei war, daß ich schon mehrere Vorschüsse für Bufo & Spallanzani erhalten hatte und meiner Agentur in Barcelona einen hohen Betrag schuldete. Eines Tages kam Delfina zu mir und sagte, sie wolle sich nicht länger heimlich mit mir treffen. Ich hatte gewußt, daß sie das irgendwann sagen würde; trotzdem war ich entsetzt. Ich werde meinen Mann verlassen, sagte sie, ich will ganz offen mit dir zusammenleben. Ich habe keine Kinder, niemand wird unseretwegen leiden, und ich glaube nicht, daß es Eugênio viel ausmachen wird. Wir lagen im Bett. Delfina, sie war nackt, legte sich die Hände unter den Nacken, reckte ihren wunderbaren Körper und fing an, über ihre Pläne zu reden. Ich überlegte unterdessen zum wiederholten Male, warum die Frauen, selbst wenn sie noch so hinreißend sind, denen, die sie lieben, letztlich immer lästig werden. Du nicht, du bist eine ganz besondere Frau, ganz anders als alle anderen, die ich kenne. Bei den anderen kommt es immer soweit, daß sie aufgrund einer Art bürgerlichen Anstands in Verbindung mit dem Festhalten an verlogenen Konventionen die Liebe der Etikette unterordnen. Ich stellte für Delfina ein Traumbild dar oder hatte es für sie dargestellt, das aus dem Überdruß an ihren sechs Jahren Ehe entstanden war. Jetzt wollte sie mich real werden lassen, einen Ehemann aus mir machen. Laß uns beide eine weite Reise machen, wohin du willst,
sagte sie. Ich antwortete, ich wolle nicht aus Brasilien weg, ich müsse Bufo & Spallanzani schreiben, es gebe für ein Buch nichts Schlimmeres als eine Reise. Sie sagte, ich hätte das Buch noch gar nicht angefangen, ich könnte unterwegs schreiben, wir würden per Schiff reisen, sie würde mir die Bleistifte anspitzen. Hast du jemals auch nur einen einzigen Bleistift in meiner Wohnung gesehen, weißt du nicht, daß ich auf einem Computer schreibe? fragte ich. In Wirklichkeit konnte sie das gar nicht wissen, denn seit ich sie kannte, hatte ich keine einzige Zeile mehr geschrieben. An diesem Tag wurde mir, während wir uns unterhielten, bewußt, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben seit geraumer Zeit nichts mehr geschrieben hatte, und das alles wegen einer Frau. Ich hörte mir an, was sie für uns beide plante. Delfina wollte Eugênio sofort verlassen, bevor sie, wie alle zwei Jahre, nach Paris fuhren, um dort sechs Monate zu verbringen. Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, noch weitere sechs Monate mit ihrem Mann zusammenzuleben, auch nicht in Paris, vor allem nicht in Paris, sie könne es nicht ertragen, so lange weit weg von mir zu sein, sie wolle sich nicht mehr verstecken, und so weiter. Wir sollten noch ein bißchen darüber nachdenken, sagte ich. Denken, denken, du machst doch nichts anderes als das, sagte sie, was strenggenommen nicht stimmte. Was ein Schriftsteller am wenigsten tut, ist denken, sagte ich scherzhaft. Sie sagte, ich mache sie nervös, sie könne nachts nicht schlafen, sie habe keinen Appetit mehr, und schuld daran sei ihr Doppelleben, die Lügerei, daß sie mit ihrem Mann, den sie nicht liebe, ins Bett gehen müsse, was zwar vielleicht
nichts Außergewöhnliches sei, aber deswegen nicht weniger furchtbar. Irgendwann bringt mich das noch um, sagte sie. Ich gebe zweierlei zu. Erstens wollte ich Delfina nicht heiraten, obwohl ich sie sehr liebte. Zweitens wollte ich eigentlich gar nicht, daß sie ihren Mann verließ. Delfina hatte sich daran gewöhnt, reich zu sein, und wenn sie sich in einer zweifellos romantischen Kurzschlußhandlung von Eugênio trennte, würde sie anschließend ohne einen Pfennig dastehen. Wir sollten noch ein bißchen darüber nachdenken, sagte ich zum zweiten- oder drittenmal. Sie stand auf, setzte sich nackt vor den Spiegel und schminkte sich so sorgfältig, so pedantisch wie eine Schauspielerin, die sich für ihren Auftritt auf der Bühne vorbereitet. Da, als sie schwieg, wollte ich, von der Schönheit ihres Körpers erneut erregt, noch einmal mit ihr ins Bett gehen, aber Delfina wehrte mich ab. Ich erzähle es Eugênio, sagte sie. Ich erwiderte, das sei der helle Wahnsinn, unvernünftig und brutal, denn damit würde sie ihren Mann nur unnötig verletzen. Wenn ich ihn betrüge, verletze ich ihn noch mehr, antwortete sie. Es gibt nichts, was einen so zur Verzweiflung bringen kann und was so blöd ist wie eine romantische Frau, oder? Laß uns noch ein bißchen darüber nachdenken, wiederholte ich. Sie sagte, ich sei wie ein Papagei, und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ging sie. So unvorsichtig wird sie ja wohl nicht sein, dachte ich. Tatsächlich kam Delfina am nächsten Tag zur gewohnten Zeit wieder zu mir. Sie war sehr blaß und schien, obwohl das eigentlich nicht möglich ist, über Nacht abgenommen zu haben – und zwar gewaltig, will ich damit sagen. Wir gingen ins Bett, und
beim Orgasmus liefen ihr Tränen über das Gesicht. ›Ich habe mit Eugênio gesprochen. Ich habe ihm geschworen, daß ich mich nie wieder mit dir treffe. Eugênio hat mir vergebens sagte sie. ›Er hat mich gebeten, mit ihm zu fahren. Adieu‹. Anschließend verreiste sie mit ihrem Mann. Sie wußte nicht, daß sie eine unheilbare Krankheit hatte, keiner von uns wußte das, weder sie, noch ich, noch ihr Mann. Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich zum Schreiben an den Computer, gab es aber bald wieder auf. Ich bin keiner, aus dem es nur so herausfließt. Ich weiß, daß es keine Inspiration gibt; jeder alte Bock, der wie ich in weniger als zehn Jahren über zwanzig Bücher geschrieben hat, weiß, daß wir körperliche Arbeit leisten, die physische Anstrengung und Kraft erfordert. Mir kam der Verdacht, ich sei ausgetrocknet; Hemingway hat sich deshalb eine 12er Kugel in die Mundhöhle geschossen. An diesem Tag ging ich, nachdem Delfina weg war, in ein Restaurant, stopfte mich mit Essen voll, rief anschließend eine Bekannte an und packte mich zwischen ihre Beine. Aber keine elende Sekunde lang habe ich dabei nicht an Delfina gedacht. Am nächsten Tag saß ich zu Hause, mit den Gedanken gleichzeitig bei Delfina und Bufo & Spallanzani, da klingelte es. Es war die Zeit, um die Delfina immer kam, ein Uhr mittags. Das Herz klopfte mir vor Freude. Ich wußte, sie würde nicht so wahnsinnig sein, mit mir zu brechen und alles ihrem Mann zu erzählen. Ich rannte zur Tür, machte auf, und da stand er, ich erkannte ihn sofort von den Fotos in Zeitungen und Illustrierten: das
gutaussehende, braungebrannte Gesicht, die gerade Nase, das kräftige Kinn. Er war nur kleiner, als ich angenommen hatte, aber ich hatte ihn auf den Fotos auch immer nur zu Pferd gesehen. Und seine Augen waren blau. ›Gustavo Flávio?‹ fragte er. Ich nickte. Er drückte mir die Hand auf die Brust und gab mir einen Stoß. Ich bin wirklich kein Federgewicht, ich wiege über hundert Kilo, aber er hatte viel Kraft im Arm, ganz abgesehen von seiner moralischen Kraft als wütender Gehörnter, und sein Stoß brachte mich ins Schwanken und warf mich fast um. Er ging ins Wohnzimmer und sagte mit ausgestrecktem Zeigefinger: ›Wenn Sie sich noch mal an meine Frau ranmachen, bring’ ich Sie um, aber ich mach’ mir nicht selbst die Hände an Ihnen schmutzig, Sie dreckiges Schwein, ich laß’ Ihnen die Klöten abschneiden, und dann können Sie verbluten.‹ Ich sagte kein Wort. Vor mir stand ein betrogener Ehemann, der sein Recht wahrnahm, Hiebe auszuteilen. Aber nachdem er weg war, schwante mir, daß das keine leere Drohung war, kein Ausbruch eines Gehörnten, der schnell verpuffte. Die Warnung klang beängstigend glaubwürdig. Der Mann war gefährlich. Er hatte das nötige Geld und Naturell, einen ganzen Haufen von Profikillern zu engagieren. Zwei Tage lang machte ich mir Sorgen, dann las ich in den Klatschspalten der Presse, daß das Ehepaar Delamare nach Paris abgereist war. Alles andere weißt du schon. Delfina kam früher zurück, wurde tot aufgefunden, und so weiter. Ihr Mann beschäftigt mich vorläufig nicht so sehr wie dieser schäbige Spürhund, dieser Polyp Guedes. Der Fall Delfina ist hochinteressant und vermutlich der
am meisten Aufsehen und Neugier weckende Mordfall, der sich in letzter Zeit hier in Brasilien ereignet hat. Es gibt Aspekte daran, die es faszinierend und angenehm machen, ihn zu verfolgen, denn es geht um ein geheimnisvolles Verbrechen in einer Gesellschaftsschicht, in der Gewalttaten selten sind, und außerdem lassen die Nebenfiguren und andere Fälle von gewaltsamem Tod ihn noch pikanter erscheinen. Aber ich bin zu sehr daran beteiligt, um darüber schreiben zu können, hauptsächlich deshalb, weil ich Delfina geliebt habe; große Liebesgeschichten, die wir Schriftsteller selbst erleben, werden selten aufgeschrieben. Zum Erzählen eignen sich nur die mittelmäßigen Liebesgeschichten.«
6 Zwei Tage nachdem Guedes bei mir gewesen war, erhielt ich eine Vorladung zur Aussage auf der 14. Polizeiwache. Der Termin, den man für meine Vernehmung festgesetzt hatte, war der Tag vor meiner Abreise zum Refúgio do Pico do Gavião, einem schwierig zu erreichenden Ort im Bocaina-Gebirge. Um dorthin zu gelangen, mußte ich nach Pereiras fahren, einem Nest am Fuß des Gebirges, von dort aus ein ganzes Stück mit dem Bus, glaube ich, und dann mit einem Traktor, denn der Weg zum Refúgio war so steil und holprig, daß kein anderes Fahrzeug ihn passieren konnte. Ich redete mit Minolta; sie fand die Idee gut. Sie wollte, nachdem sie zehn Tage mit mir in Rio verbracht hatte (aber, gemäß unserer Abmachung, nicht in meiner Wohnung), nach Iguaba zurückfahren und meinte, vielleicht brauche Bufo & Spallanzani eine heroische Behandlung, einen ganz neuen Rhythmus, um endlich zu Papier zu kommen, was heißt, daß ich von sämtlichen Frauen auf Abstand gehen, meinen TRS-80 stehenlassen und mich mit einer Schreibmaschine auf eine einsame Fazenda zurückziehen müßte. Die Benachrichtigung der Polizei indes konnte noch alles durcheinanderbringen. Ich rief meinen Anwalt Dr. Martins an. »Gustavo«, sagte er, »ich kann zwar mitkommen, aber ich bin auf Urheberrecht spezialisiert. Von Strafrecht verstehe ich nichts. Falls ich der Meinung bin, daß die
Sache kompliziert ist, werden wir einen anderen Anwalt hinzuziehen müssen.« Ich sagte, ich wolle keinen anderen Anwalt. Pünktlich zur genannten Uhrzeit betraten wir die Wache, ein einstöckiges, kleines, schmutziges Gebäude. Martins überreichte die Vorladung einem Menschen in Hemdsärmeln, der hinter der Holztrennwand eines großen Raumes an seinem Tisch saß. Der Mensch sagte, wir sollten warten. Nach einer Viertelstunde öffnete sich eine Tür, auf der »Büro« stand, und ein dicker Mann mit Brille und einem Blatt Papier, das ich sogleich als meine Vorladung erkannte, kam auf uns zu und fragte: »Gustavo Flávio?« »Das bin ich.« »Ihre Vernehmung hat sich erübrigt«, sagte er. »Erübrigt? Wieso denn das? Ich habe eine Vorladung erhalten.« »Komm«, fiel Martins mir ins Wort und zog mich am Arm. »Der Mann hat gesagt, deine Vernehmung hat sich erübrigt, oder nicht?« »Ich will wissen, ob ich ein andermal wiederkommen muß, warum man mich eigentlich herbestellt hat.« »Komm, wir gehen«, unterbrach Martins mich wieder. Er fühlte sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl. Ich glaube, er befand sich zum erstenmal auf einem Polizeirevier. »Nein, Sie brauchen nicht wiederzukommen«, sagte der Beamte, der daneben stehengeblieben war und meine Unterhaltung mit dem Anwalt mitgehört hatte. »Warum brauche ich nicht mehr wiederzukommen?«
»Da fragen Sie am besten Inspektor Guedes. Er hat die Vorladung angeordnet und dann gesagt, daß es sich erübrigt hat.« »Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte ich. Martins, der bis dahin meinen Arm fest im Griff behalten hatte, ließ mich mit einem resigniert verärgerten Seufzer los. »Ich geh’ mal nachsehen, ob er mit Ihnen sprechen kann«, sagte der Beamte. Weitere fünfzehn oder zwanzig Minuten vergingen. Während wir auf Guedes warteten, sagte ich zu Martins: »Wenn du willst, kannst du gehen.« »Ich laß’ dich doch nicht allein hier«, erwiderte er. »Sie haben gesagt, daß sie nichts mehr von mir wollen. Es besteht also keine Gefahr.« »Es ist besser, ich bleibe«, sagte er und sah sich mit mißfälligem Blick um. »Weißt du was? Selbst wenn ich verhungern müßte – ich könnte kein Strafverteidiger werden.« »Das ist mir klar«, sagte ich. Guedes hatte seine Uniform an, den speckigen Blouson und das schmutzige Hemd mit offenem Kragen. »Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig«, sagte er. »Haben Sie noch fünf Minuten Zeit? Ich muß nur noch etwas fertig machen.« »Wirklich nur fünf Minuten? Ich bin sein Anwalt, ich – « »Sie brauchen nicht dazubleiben«, sagte Guedes und ging schon. »Wahrscheinlich ist er mitten beim Foltern und gibt gerade irgendeinem armen Teufel noch ein paar Elektroschocks«, sagte Martins.
»Wenn du gehen willst«, wiederholte ich, »kannst du gehen«. »Natürlich nicht«, entgegnete er gekränkt. Nicht einmal fünf Minuten später betrat ein Mulatte mit einem Revolver im Gürtel den Raum und fragte: »Wer ist hier Gustavo Flávio?« Wir wurden in das Zimmer von Inspektor Guedes geführt. Ein Holztisch voller Kaffeeflecken, ein paar Papiere und eine mittlere Ausgabe vom Wörterbuch Aurélio. Guedes saß und forderte uns mit einer Handbewegung auf, auf den beiden Stühlen vor dem Tisch Platz zu nehmen. »Gestern«, sagte Guedes, als wir uns setzten und der bewaffnete Mulatte hinausgegangen war, »hat eine Streife der Schutzpolizei einen von Ilha Grande entflohenen Häftling namens Agenor da Silva bei einem Überfall auf eine Bäckerei festgenommen. Als er auf der Wache war, gestand er, vor etwa zehn Tagen in einer Straße im Stadtteil Jardim Botânico eine Frau in einem Mercedes ermordet zu haben. Ich habe ihn hierher in unser Gefängnis geholt. Zuerst habe ich ihm seine Geschichte nicht geglaubt. Er hat von sich aus gestanden, und das gibt’s sehr selten.« Der Anwalt warf mir einen entsprechenden Blick zu, als wollte er sagen, für die Polizei zähle ein Geständnis nur, wenn es unter Folter zustande gekommen sei. »Er konnte auch nicht so richtig erklären, warum er den Wagen in die Rua Diamantina gefahren hatte. Er sagte, er kenne sich in jenem Teil der Stadt nicht aus und habe geglaubt, er könne von da aus in den Wald von Tijuca
kommen, wo er die Frau erst berauben und dann vergewaltigen wollte. Als er merkte, daß die Rua Diamantina eine Sackgasse war, sei er nervös geworden, und in diesem Augenblick habe die Frau zu schreien angefangen. Um sie zum Schweigen zu bringen, habe er auf sie geschossen. Auf die Frage, warum er einen 22er gehabt hätte, antwortete er: ›Der läßt sich besser verstecken.‹ Warum er sonst nichts gestohlen habe? Er habe Angst bekommen, jemand könnte den Schuß gehört haben, und habe gerade noch Zeit gehabt, die goldene Zigarettenspitze der Frau mitzunehmen. Er hatte die Zigarettenspitze bei der Festnahme noch bei sich und konnte nicht erklären, warum er sie noch nicht an einen Hehler verkauft hatte. Dona Delfinas Mann hat bestätigt, daß die Zigarettenspitze ihr gehörte. Wir müssen diesen Mann verdächtigen, auch wenn da noch ein paar Punkte zu klären sind. Ihre Aussage«, dabei sah der Polizist mich an, »wird nicht mehr benötigt. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Komm, Gustavo, wir gehen«, sagte Martins. Guedes brachte uns zur Tür. Dort hielt er mich am Arm zurück. »Ich weiß«, setzte er an und verstummte. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und sagte: »Auf Wiedersehen.« Aber seinem Blick nach hatte ich den Eindruck, als wollte er sagen: Ich kenne Ihren richtigen Namen, ich weiß über Ihre dunkle Vergangenheit Bescheid.
Teil II Meine dunkle Vergangenheit Als Zwanzigjähriger war ich noch nicht so ein Lüstling und Schlemmer, wie ich es heute bin. Ich war ein schlanker, genügsamer und unschuldiger Jüngling. Und ich hatte auch nicht vor, Schriftsteller zu werden. Lesen machte mir Spaß, aber Schreiben nicht. Ich war ein bescheidener, unbedeutender Grundschullehrer. Da lernte ich Zilda kennen; sie ging mit mir ins Bett und zog bei mir ein. Das war meine erste sexuelle Erfahrung, eine ziemlich unselige Geschichte. Keine Ahnung, wieso ich mit Zilda zusammenziehen konnte. Der Anblick des weiblichen Körpers reizte mich nicht, die Nähe des weiblichen Geschlechts erschreckte mich; wenn ich mit ihr ins Bett ging, vermied ich es, ihre Vagina zu sehen, vor deren Geruch ich mich ekelte, auch wenn sie gerade geduscht hatte. Zilda war eine ehrgeizige Frau, und sie überredete mich, meine Stelle als Grundschullehrer aufzugeben, um bei einer Versicherungsgesellschaft, bei der sie einen Typen namens Gomes kannte, mehr zu verdienen. So fing ich also bei der Panamericana de Seguros an und geriet in ein Abenteuer, das am Ende mein ganzes Leben veränderte. Ich arbeitete noch nicht lange bei der Panamericana, da erschien eines Nachmittags im Sommer ein Mann von
vierunddreißig Jahren in der Zentrale der Gesellschaft in der Avenida Graça Aranha und erklärte dem Angestellten, der ihn bediente, er wolle eine Lebensversicherung abschließen. Da es sich um eine sehr hohe Versicherung handelte, die höchste, die bis dahin bei der Panamericana abgeschlossen worden war, wurde Senhor Estrucho einer sorgfältigen ärztlichen Untersuchung unterzogen, in der ihm eine hervorragende Gesundheit bescheinigt wurde. Sein Antrag wurde akzeptiert. Monatelang bezahlte Senhor Estrucho pünktlich seine Beiträge, dann starb er plötzlich. Ein Anwalt, der die Interessen der Witwe Dona Clara Estrucho vertrat, meldete sich bei der Panamericana und teilte mit, er wolle den Verstorbenen von den Ärzten der Versicherungsgesellschaft untersuchen und damit unwiderlegbar feststellen lassen, daß er eines natürlichen Todes gestorben sei, denn er wünsche keine Verzögerungen bei der Auszahlung der Versicherung. Der Leiter der juristischen Abteilung der Panamericana hieß Carlos Ribeiroles. Ein vorsichtiger Mann, wie alle Anwälte. Er setzte sich mit seinen wichtigsten Mitarbeitern zusammen, um die Sache zu prüfen. Auf den Anruf und den anschließenden Besuch von Dona Clara Estruchos Anwalt hin hatte Dr. Ribeiroles zunächst mit der Entscheidung reagiert, keine postmortale Untersuchung vornehmen zu lassen. Wie alle Anwälte arbeitete auch Ribeiroles nicht gerne unter Druck; die Grundfesten der juristischen Tätigkeit hießen für ihn erstens Vernunft und zweitens Moral, und Vernunft war dasselbe wie gesunder Menschenverstand, so wie Moral dasselbe wie Gerechtigkeit war. Weder das eine noch das andere
rechtfertigten eine solche außergewöhnliche Untersuchung. Ganz gleich, ob der Fall verdächtig war, er hatte den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang zu durchlaufen. »Ich meine, wir sollten versuchen, eine richterliche Genehmigung für eine Autopsie zu bekommen, und nicht so eine oberflächliche Untersuchung vornehmen lassen, wie sie der Anwalt des Versicherten haben möchte«, sagte ein junger Jurist. Ribeiroles starrte ihn an, als hätte er etwas Ketzerisches gesagt. Er ergriff eine vor ihm liegende Akte und las vor: »Maurício Estrucho, Unternehmer, Großgrundbesitzer, vierunddreißig Jahre, Sohn des Curzio Estrucho und der Camila Estrucho, verheiratet mit Clara Estrucho, geborene Espinhal. Die Familien Estrucho und Espinhal besitzen große Fazendas in den Bundesstaaten São Paulo, Mato Grosso und Goiás, wo sie Kaffee, Soja, Mais und Zuckerrohr anbauen, außerdem Alkoholfabriken sowie andere Produktionsbetriebe und geschäftliche Beteiligungen in Brasilien und im Ausland, die von der Holding Estrucho & Espinhal kontrolliert werden. Diese Informationen stammen von unserer Abteilung Geheime Überprüfungen. Meinen Sie, Herr Doktor« (Anwälte werden, genau wie Ärzte, sehr förmlich, wenn sie einander anfeinden), »daß wir Grund haben, in diesem Fall einen Betrug oder ein noch schlimmeres Verbrechen zu vermuten?« »Hier in Rio weiß doch jeder, daß Senhor Maurício Estrucho ein Bruder Leichtfuß war«, sagte der junge Anwalt.
»Bruder Leichtfuß? Das ist kein juristischer Terminus«, spottete Ribeiroles. »Ein Verschwender, bekannt dafür, wie leichtsinnig er mit Geld umging«, sagte der Jüngere unbeirrt. »Und Sie meinen, das rechtfertige nicht nur einen Verdacht unsererseits, sondern auch noch, daß ein fahrlässiges Urteil darüber gefällt wird? Eine Autopsie darf nur bei Unfällen oder gewaltsamem Tod oder Verdacht darauf vorgenommen werden. Es liegt eine Sterbeurkunde vor, ausgestellt von Dr. Albuquerque Gomes, einem höchst prominenten und angesehenen Arzt, die bestätigt, daß Senhor Maurício Estrucho eines natürlichen Todes gestorben ist, an einem Herzinfarkt. Das kann man nicht leichtfertig außer acht lassen.« Die beiden Anwälte diskutierten eine ganze Weile. Im Antrag von Dona Clara Estruchos Anwalt hieß es, die Untersuchung möge in Anbetracht der Gläubigkeit des Ehepaares mit gebührendem Respekt gegenüber dem Leichnam vorgenommen werden, was den Chefjuristen in seiner Ansicht bestärkte. »Eine Million Dollar sind nicht das Risiko wert, die Panamericana der Lächerlichkeit und Schande preiszugeben«, sagte er. Die anderen Anwälte, die an der Besprechung teilnahmen, ergriffen für ihren Chef Partei und rechtfertigten ihren Standpunkt mit mehrdeutigen Phrasen, wie die Juristen sie üblicherweise verwenden. Zu guter Letzt wurde beschlossen, daß die Panamericana die Untersuchung vornehmen lassen sollte. Ribeiroles war hinsichtlich dieser Entscheidung beruhigt, nachdem er mit Dr. Gervásio Pums gesprochen hatte, dem Leiter des
Ärztlichen Dienstes der Panamericana und Erfinder einer als OMSBS, Organische Messung Semiotisch-Biologischer Systeme, bekannten Technik zur Messung des physischen und geistigen Gesundheitszustandes des Menschen. Die OMSBS analysierte die Alpha- und Betarhythmen der Gehirnströme, die nicht dem Willen unterliegenden Funktionen des Körpers (wie Herzschlag, Blutdruck, Kontraktionen des Verdauungsapparates) und schließlich die Festigkeit und Konsistenz von Muskelfasern, Haut und Knochen. Die OMSBS beruhte auf dem Einsatz von fünf Apparaten, die Dr. Pums zur Durchführung dieser Messungen erfunden hatte: des ETG, des Elektrotranscardiographen, der die Herzschläge und die Geschwindigkeit, mit der das Blut durch den Körper strömt, maß, des EMDF, Elektromyographen mit doppelter Funktion, der die Aktionsströme und Spannung der Muskeln feststellte, des DG, Dermogalvanometers, zur Berechnung der Hautfestigkeit, des EOG, Elektrosteographen, zur Beurteilung der Festigkeit und Härte der Knochen, und schließlich des EPROG, Elektroprosenzephalographen, der die elektrischen Ströme des R-(Reptilien)-Komplexes, des limbischen Systems und des Neucortex messen konnte. So wie die OMSBS in der Lage war, besser als jede andere Untersuchungstechnik die Lebenssignale des Organismus zu registrieren und zu analysieren, konnte sie auch die Todessignale feststellen. * Während die Panamericana ihre Vorbereitungen traf, saß *
Eine eingehendere Beschreibung dieser Apparate findet sich in meiner Erzählung »Der lebende Tote« in dem Buch Dädalus.
Clara Estrucho, eine große, schlanke Frau von dreißig Jahren, auf einem Stuhl der Kapelle Nr. 5 des Friedhofes São João Batista und hielt ohne jede Regung auf ihrem schönen Gesicht am Leichnam ihres Mannes Totenwache. Außer ihr befand sich niemand in der Kapelle. Sowohl Clara als auch Maurício waren mit ihren jeweiligen Familien verkracht, und Clara hatte der Verwandtschaft mitteilen lassen, sie wünsche nicht, daß irgendeiner von ihnen am Begräbnis teilnehme. Die Kapelle Nr. 5 war leer, aber aus der Kapelle nebenan, wo die Totenwache für ein junges Mädchen stattfand, das bei einem Motorradunfall gestorben war, drang Stimmenlärm, gelegentliches Lachen oder auch klagende Schreie. Um sieben Uhr abends erschien das Ärzteteam der Panamericana in der Kapelle. Zusammen mit den Ärzten kamen Dona Claras Anwalt, Dr. Ribeiroles und Dr. Zumbano, Leiter der Abteilung Geheime Überprüfungen (AGU) der Panamericana. Die wichtigsten Mitarbeiter des Teams wurden Dona Clara vorgestellt, die jeden einzelnen schweigend mit an den Körper gepreßten Händen und einem Kopfnicken begrüßte. Als die Apparate des Dr. Pums in einer Wandsteckdose angeschlossen wurden, sagte Dona Clara: »Ich möchte nicht, daß der Leichnam meines Mannes verstümmelt wird.« Ihr eigener Anwalt erinnerte sie daran, daß sie selbst die Untersuchung beantragt hatte und daß der Einsatz dieser Apparate für den Besagten keine Schmach darstelle. An Kopf, Brust, Beinen und Armen des Toten wurden Elektroden angebracht. Eine halbe Stunde lang studierten die Ärzte unter Leitung von Dr. Pums die Graphiken, die die verschiedenen Apparate
aufzeichneten. Während der Untersuchung betrat ein offensichtlich betrunkener junger Mann die Kapelle und forderte sie auf, auch seine Braut, die tote Motorradfahrerin, zu untersuchen. Nach einigem Durcheinander wurde der junge Mann aus der Kapelle entfernt und die Untersuchung fortgeführt. Es war fast elf Uhr, als sie aufhörten. Zum Kummer einiger der untersuchenden Ärzte war der Verblichene laut OMSBS tatsächlich tot. Dr. Ribeiroles teilte Dona Claras Anwalt mit, er werde ihm eine Kopie der Untersuchungsergebnisse zukommen lassen. Alle gingen. Dona Clara blieb allein. In der Kapelle Nr. 5 herrschte Frieden und Ruhe. Die Totenwache in der Kapelle nebenan blieb weiter geräuschvoll und wurde noch lauter, als jemand mit ein paar Flaschen alkoholischer Getränke kam. Es war drei Uhr nachts, da sagte der Verlobte des tödlich verunglückten Mädchens zu den anderen mit schwerer Zunge: »Dieses Luder nebenan füttert den Toten durch einen Trichter, das müßt ihr euch mal ansehen«, aber natürlich glaubte ihm keiner, und Dona Clara wurde in Ruhe gelassen. Morgens um sieben Uhr dreißig kam ein Priester in die Kapelle Nr. 5, um den Toten Gott anzubefehlen, was sich auf ein kurzes Gebet beschränkte, denn das Begräbnis war für sieben Uhr anberaumt, und der Priester hatte sich verspätet. Der Leichnam wurde auf einen Karren gelegt und vom Totengräber zur Grabstätte gefahren. Niemand folgte dem Sarg, nur Clara Estrucho. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, folgte ihm doch noch jemand anders, ein
junger Mann mit Krawatte und Jackett, der sich hinter den Grabmälern versteckte, um nicht gesehen zu werden. Dieser Mann sah heimlich beim Begräbnis zu, bis die Totengräber die Platte, mit der das Grab geschlossen wurde, fertig zementiert hatten. Dieser Mann war ein Detektiv der Panamericana. Dieser Mann hieß Ivan Canabrava. Dieser Mann war ich. Wie gesagt, ehe ich bei der Panamericana anfing, war ich Grundschullehrer. Ich habe auch gesagt, daß ich den Lehrerberuf unter dem Einfluß von Zilda aufgab, was nicht die volle Wahrheit ist. Als Lehrer bekam ich einen Hungerlohn, und ich haßte Kinder (und hasse sie noch heute). Während meiner Lehrerzeit war für mich nichts so unausstehlich, so unerquicklich, so lästig, so abstoßend, so widerwärtig wie ein Schüler in zartem Alter. So manchen hätte ich am liebsten umgebracht, bis ich dann diesen abscheulichen Beruf aufgab. Ich folgte Clara Estrucho, während sie, weiterhin Haltung bewahrend, die Alleen des Friedhofs entlangging. Ich nahm ein Taxi und folgte ihr nach Hause; sie wohnte in der Rua Redentor, wie ich bereits wußte. Ich beobachtete, wie sie das Gebäude betrat. Die Art, wie sie ging, als wolle sie die Schönheit ihres Körpers kaschieren, verwirrte mich. Mein Interesse an Sex war noch nicht erwacht, ich hatte noch nicht einmal jene Phase durchlebt, in der man auffallend wollüstige Frauen zu schätzen weiß, aber unbewußt war mir schon klar, daß die besten Frauen diejenigen sind, die sich nicht in den Hüften wiegen. Ich fuhr zur Panamericana zurück. Gomes, mein
Kollege in der Abteilung Geheime Überprüfungen, war wie immer damit beschäftigt, Kreuzworträtsel zu lösen. »Gomes«, fing ich an. Ich wollte ihm erzählen, daß ich vermutete, irgend etwas an dieser Versicherung über eine Million Dollar sei nicht in Ordnung. Kein Mensch schließt eine solche Versicherung ab und stirbt ein paar Monate später. Aber ich hielt lieber den Mund. Noch war der Augenblick nicht gekommen, die Karten auf den Tisch zu legen. Ich sagte nur, ich hätte an diesem Nachmittag im Außendienst zu tun. Ich hatte beschlossen, Dona Clara Estrucho einen Besuch abzustatten. Zurück zur Wohnung in der Rua Redentor. Der Portier fragte, wohin ich wolle. »Zur Wohnung von Senhora Clara Estrucho.« »Da ist keiner«, sagte der Portier. »Wieso ist da keiner?« Es war drei Uhr nachmittags. Ein paar Stunden zuvor hatte ich sie in diese Wohnung gehen sehen. »Die steht leer. Die sind ausgezogen.« »Aber ich habe Dona Clara heute hier reingehen sehen.« »Die sind ausgezogen«, wiederholte der Portier. »Aber ich will die Wohnung mieten. Dona Clara hat gesagt, sie würde auf mich warten. Sie hat mir den Schlüssel gegeben und gesagt, sie würde bis drei Uhr auf mich warten.« Ich sah auf die Uhr und zog mein Schlüsselbund aus der Tasche. »Oh, es ist schon nach drei, dann habe ich mich wohl verspätet«, sagte ich. »Wenn Sie den Schlüssel haben, können Sie raufgehen
und sich die Wohnung ansehen. Ich kann nicht mitkommen, ich muß hier in der Eingangshalle bleiben.« Die Wohnung befand sich im fünften Stock. Nr. 502, hinten. Ich nahm mein Werkzeugetui zur Hand und öffnete die Tür. Türen öffnen war das einzig Brauchbare, was ich von Gomes gelernt hatte. Ich ging hinein. Die Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer, Flur, zwei Schlafzimmern, Badezimmer, Küche mit Anrichte, einem kleinen überdachten Waschplatz und den winzigen Dienstmädchenräumen, bestehend aus Zimmer und Duschraum. Sie war vollkommen leer. Nein, nicht ganz. Im Wohnzimmer stand ein Regal, ohne Bücher, und auf dem Waschplatz ein voller Abfalleimer. Ich nahm den Abfalleimer und schüttete seinen Inhalt auf den Fußboden. Darin fand ich eine Flasche mit einem Rest französischen Wein – SaintEmilion, Jahrgang 1981 –, Käsereste, eine leere Schachtel Tranquilizer Marke Lorax, eine leere Schachtel Appetithemmer Marke Moderex (vermutlich nahm sie Moderex, damit sie keinen Hunger spürte, wurde davon nervös und nahm zur Beruhigung Lorax), eine Plastikverpackung mit ein paar Scheiben Roggenbrot, eine kleine Pflanze mit winzigen runden Blüten sowie eine Kröte, und die war tot. Ich zog den schwarzen Plastikbeutel, den ich immer bei mir hatte, aus der Tasche und steckte alles hinein, was ich in dem Abfalleimer gefunden hatte. Beim Hinausgehen warf der Portier einen mißtrauischen Blick auf den schwarzen Beutel in meiner Hand, sprach mich aber nicht darauf an.
»Hallo, Zilda«, sagte ich. Zilda sah sich gerade die Sieben-Uhr-Serie im Fernsehen an und antwortete nicht. Ich ging ins Badezimmer und untersuchte noch einmal den Abfall von Dona Clara Estrucho. Der Wein war am selben Tag getrunken worden; er hatte noch nicht den Essiggeruch von Resten, die in der Flasche bleiben, angenommen. Die kleine Pflanze schien zerdrückt worden zu sein, als hätte man ihren Saft ausgepreßt, um daraus ein Getränk zu machen. Ich probierte den Käse. Er schmeckte nach Ziege. »Was soll denn das? Ißt du Abfälle?« Zilda. Sie sah mir von der Badezimmertür aus zu. »Nicht direkt. Ich stelle Nachforschungen an.« »Als du noch Grundschullehrer warst, war alles besser«, sagte sie. »Weißt du«, sagte ich, noch immer mit dem Stückchen Käse in der Hand, »daß ein Kunde die Panamericana um eine Million Dollar betrogen hat? Das heißt, er wollte es, aber er kriegt sie nicht.« »Du solltest lieber jemanden um eine Million betrügen. Der Käfer ist mir wieder mitten auf der Straße stehengeblieben. Warum kaufst du nicht mal ein scheißanständiges Auto?« Wenn Zilda zu fluchen anfing, wußte ich, daß es dicke Luft geben würde. »Wenn ich diesen Fall kläre, wird die Gesellschaft – « »Die Gesellschaft, die Gesellschaft, immer diese verfluchte, beschissene Gesellschaft. Zum Teufel mit der Gesellschaft.«
»Mein Schatz«, sagte ich und streckte eine Hand aus. »Faß mich nicht an. Wenn ich schlechte Laune habe, kann ich es nicht leiden, daß man mich anfaßt. Leg den Käse weg oder iß ihn ganz auf.« Zilda stieß einen Schrei aus. Sie hatte die Kröte auf dem Wannenrand entdeckt. »Was ist das da, auf meiner Wanne?« »Eine Kröte.« Es sollte natürlich klingen, als ob ich sagte, das ist eine Schachtel Streichhölzer. »Eine Kröte! Mein Gott, eine Kröte! Zilda, dieser schreckliche Mensch hat eine Kröte ins Haus gebracht!« Sie hatte die Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, als ob sie mit jemand anderem redete. »Die ist tot«, sagte ich. »Dieser Unselige hat eine Kröte ins Haus gebracht!« schrie sie aus voller Kehle. »Denk an die Nachbarn«, bat ich. »Zum Teufel mit den Nachbarn«, schimpfte Zilda etwas leiser. »Schaff dieses Scheißvieh hier raus.« Zilda verzog angeekelt das Gesicht und rannte ins Wohnzimmer. Ich stopfte Clara Estruchos Abfall inklusive Kröte in den schwarzen Plastikbeutel und warf alles in den Mülleimer. Die kleine Pflanze versteckte ich in einer Kommodenschublade. Zilda sah sich weiter die Serie an. »So, mein Schatz, ich habe alles weggeworfen.« »Geh dir die Hände waschen und desinfiziere sie anschließend mit Alkohol«, befahl sie. Ich tat, was Zilda verlangte.
»Eine Kröte, eine tote Kröte ins Haus bringen, hast du so was schon erlebt, Zilda.« Sie brummelte weiter vor sich hin, während ich im Schlafzimmer über Clara Estruchos plötzlichen Umzug nachdachte. Diese Wohnung, aus der alle Möbel und Gegenstände ausgeräumt waren, kam mir sehr verdächtig vor. Und die Kröte? Was bedeutete diese Kröte? Wie immer in den Pausen zwischen den Serien – es gab mehrere Serien, und Zilda sah sich alle der Reihe nach an – kam sie ins Schlafzimmer, doch dieses Mal nicht, um zu sagen, daß Patricia eine verlogene, erbärmliche Person sei oder irgend etwas anderes in Zusammenhang mit der Serie, sondern um mitzuteilen: »Heute gehen wir ins Theater.« »Und was gibt’s?« »Macbeth, von Shakespeare. Es ist schon spät. Zieh dir ein frisches Hemd und den dunklen Anzug an.« Fernsehserien konnte man sich ansehen, wie man wollte, aber Theater war etwas anderes. Also warfen wir uns in Schale und machten uns auf den Weg, aber zu Zildas und meinem Ärger und Befremden waren die meisten Leute in Jeans. Das Stück – ich sah es zum ersten Mal – war gar nicht so übel. Das heißt, der Teil, den ich sah, denn wir gingen vor dem Ende. In dem Stück kommen, wie jedermann weiß, Könige und Hexen vor, und irgendwann hatten sich die Hexen alle um einen Kessel versammelt, und eine Hexe warf eine Kröte hinein und redete dabei von Gift und Schlaf, und davon bekam ich das Zittern.
»Die Kröte«, rief ich Zilda zu, »die Estruchos haben eine Hexerei veranstaltet!« »Halt den Mund«, sagte Zilda. »Die Kröte ist der Anhaltspunkt«, sagte ich aufgeregt. »Psst!« zischte einer hinter uns. »Über die Kröte komme ich ihnen auf die Spur«, sagte ich. Zilda stand auf und ging mit einem sauren Gesicht los, wie sie es in letzter Zeit dauernd machte. »Was ist denn, mein Schatz?« fragte ich am Theaterausgang. »Was ist denn, mein Schatz? Du Schwachkopf. Erst machst du im Theater so einen Aufstand, und dann fragst du, was ist denn? Und weißt du, wer hinter uns saß? Dr. Paulo Marcílio. Der Arzt aus dem sechsten Stock. Zilda, was machst du eigentlich hier? Lebst mit einem zusammen, der verrückt ist und arm und außerdem, noch nicht mal geheiratet hat er dich! Zilda, es wird Zeit, daß du was unternimmst.« Als wir zu Hause waren, sagte sie: »Es ist aus, hörst du?« Dann wurde sie richtig sanft. »Du bist ein guter Kerl, aber ein bißchen bekloppt, nimm’s mir nicht übel, nein, nicht bekloppt, Zilda, das ist zu stark. Du lebst auf dem Mond, du träumst. Du hättest Grundschullehrer beim Staat bleiben sollen. Es gibt Leute, die brauchen einen festen Job beim Staat, und du bist so einer; du wirst es im Leben nie zu etwas bringen.« Ich sah ihr zu, wie sie fluchend ihre Sachen packte. Bevor sie ging, fragte ich: »Willst du hier bleiben?
Wenn es dir besser paßt, ziehe ich aus und du bleibst hier.« Aber sie antwortete nicht, nahm ihre Koffer und stieg unten in ein Taxi, das sie per Telefon gerufen hatte. Ich ging bis zur Haustür hinter ihr her und winkte, aber Zilda reagierte nicht. Sie sah wieder hübsch aus, und das machte mich noch trauriger. Am nächsten Tag rief ich von der Panamericana aus ein Geschäft namens Die brasilianische Fauna an und fragte, ob sie Kröten hätten. Nein, hatten sie nicht. Man gab mir die Nummer eines anderen Geschäftes, und nach mehreren Telefonaten bekam ich schließlich die Telefonnummer einer Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien. Der Mensch, der da ans Telefon kam, hatte eine hohle Stimme. Am Telefon, sagte er, gebe er keine Auskünfte. »Kommen Sie vorbei«, sagte er. Er hieß Cerezo. »So wie der Fußballspieler?« fragte ich. Der Sitz der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien befand sich im Marquês-do-Herval-Haus in der Avenida Rio Branco, Ecke Avenida Almirante Barroso. Ein kleiner Raum mit einem Bücherregal, die Wände voller alter Stiche. »Wie schreibt sich der Name des Fußballspielers?« fragte der Alte. Er hatte ein so runzeliges Gesicht, daß es aussah wie die Rinde eines alten Baumes, und eine enorme weiße Kraushaarmähne. »Nein, nein, mein Name schreibt sich mit ss, Ceresso«, sagte er und sah mich eindringlich an. Dann fragte er: »Wissen Sie, was Amphibien sind?« »So ungefähr«, sagte ich. »Nennen Sie mir eins.«
»Ein was?« »Ein Amphibium.« »Kröte«, sagte ich. »Noch eins.« »Kaiman.« »Noch eins.« »Schildkröte.« »Noch eins.« »Eidechse.« »Noch eins.« »Gecko.« »Noch eins.« »Seehund.« »Noch eins.« »Seelöwe.« »Noch eins.« »Flußpferd.« »Noch eins.« »Schlange.« »Sie haben nicht die geringste Ahnung von Amphibien«, sagte der Alte mit kummervoller Stimme. »U-Boot«, witzelte ich. »Kaimane, Schildkröten, Eidechsen und Schlangen sind Reptilien der jeweiligen Ordnungen Krokodile, Schildkröten und Echsen, wobei zu den Echsen die Lacertidae zählen, das heißt, die Eidechsen und Geckos, unter anderen, sowie die Ophidia oder Schlangen. Sie alle atmen im Gegensatz zu den Amphibien von Geburt an durch die Lungen.« »Und der Seehund?«
»Der Seehund ist ein Säugetier, mein Herr. Das Flußpferd ist auch ein Säugetier. Desgleichen der Seelöwe. Die Amphibien sind in drei Ordnungen unterteilt: die Blindwühler, die neben anderen Bezeichnungen hier als Cecilien oder Riesenregenwürmer bekannt sind; die Schwanzlurche, bekannt als Molche und Salamander, und die Froschlurche, zu denen Frösche, Kröten und Laubfrösche zählen. Nur diese Tiere sind Amphibien, also Tiere, die im ersten Lebensabschnitt den im Wasser gelösten Sauerstoff durch Kiemen einatmen und im Erwachsenenalter die atmosphärische Luft durch die Lungen.« Ich ließ den Alten reden. Alte Leute mögen es nicht, wenn man sie unterbricht. Junge auch nicht, aber die sind geduldiger. Schließlich sagte er: »Sie haben mir am Telefon gesagt, Sie würden gern über Kröten und ihre Verwendung durch Hexer mit mir reden.« Als ich ihn Hexer sagen hörte, fing mein Herz an zu klopfen, und zwar schnell. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Dann fangen sie gleich mit dem Erzählen an, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.« In knappen Worten erzählte ich von Maurício Estruchos Tod, meinem Verdacht und der in dem Abfalleimer gefundenen toten Kröte samt der zerdrückten kleinen Pflanze. Ceresso hörte sich meine Geschichte schweigend an. Nicht vollkommen schweigend, hin und wieder grunzte und brummelte er etwas, was mal nach Ungläubigkeit, mal nach Verachtung klang.
»Kommen Sie her.« Ceresso führte mich an eine Wand des Raumes, an der Bilder mit lauter Darstellungen von Kröten, Fröschen und Laubfröschen hingen. »Welcher von diesen Kröten sah das Exemplar, das Sie gefunden haben, ähnlich? Nein, die da nicht, das sind Frösche, verdammt!« Ich glaube, er sagte verdammt!, oder vielleicht schnaubte er auch nur wütend. Ich wandte mich wieder dem Bild zu, auf das er zeigte. »Also, welcher von denen hier sah Ihre Kröte ähnlich?« »Sie sah so aus wie diese beiden hier«, sagte ich nach einiger Zeit und zeigte auf zwei der vielen auf dem Bild dargestellten Kröten. »Wie diese beiden? Aber sie kann gar nicht wie diese beiden aussehen, denn diese beiden sind unterschiedliche Kröten! Das ist dasselbe, als wenn man sagen würde, Clara Bow sehe aus wie Jean Harlow. Das hier ist ein Bufo marinus, bei uns bekannt als ›Cururu‹, was in der Indianersprache Nheengatu ›große Kröte‹ bedeutet. Unter dem Einfluß von Stradelli – worüber man allerdings streiten kann – sind andere Naturforscher wie Spix, d’Abbeville, Rohan und von Ihering dazu übergegangen, für diese in Brasilien vorkommende große Froschlurchart die Bezeichnung Cururu als gewöhnlichen Namen zu verwenden. Diese andere Kröte hier ist ein Bufo paracnemis, für gewöhnlich als Ochsenkröte oder Riesenkröte bekannt. Aber sie sind sehr verschieden. Der Bufo paracnemis hat diese warzenförmigen Drüsen auf der Innenseite der Oberschenkel, die auf Druck ein milchiges Sekret absondern. Seine Epithelkörperchen sind kleiner und flächiger. Diese Kröte wird bis zu
zweiundzwanzig Zentimeter lang, während der Bufo marinus höchstens achtzehn erreicht. Aber beide sind für den Menschen in absolut gleichem Maße von größtem Nutzen.« Perplex starrte ich erst auf die eine, dann auf die andere Kröte. Ich sah keinen Unterschied. »Nun?« sagte der Alte. »Nun was?« »War Ihre Kröte nun ein Bufo paracnemis oder ein Bufo marinus?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich geknickt. »So wenig zu wissen, das geht zu weit.« »Es ist keine Schande, etwas nicht zu wissen.« »Rrr, dieser verfluchte Freibrief von Cicero, der rettende Strohhalm aller Schwachköpfe – nee me pudet ut istos fateri nescire quid nesciam. Merken Sie sich eins: Die einzige wirkliche Sünde des Menschen ist die Unwissenheit.« Der Alte war so wütend, daß er seinen Kopf hin- und herwarf, als wäre ihm ein Schwarm Mörderbienen in die Haare geraten. »Sehen Sie zu, daß Sie hier rauskommen«, sagte der Alte, nachdem er der Wand einen Faustschlag versetzt hatte. »Diese hier!« Die göttliche Vorsehung hatte mich erleuchtet, und plötzlich wußte ich eindeutig, welche meine Kröte war. »Diese hier«, sagte ich und drückte meinen Finger auf eine der abgebildeten Kröten. »Bufo marinus?« »Ja, Bufo marinus.«
»Hm, grr, rr«, grunzte der Alte, »es konnte auch nur die sein. Das ist die, die Hexer gern benutzen.« Als Ceresso das sagte, klopfte mir das Herz wieder schneller, und am liebsten hätte ich mich hingekniet und seine in schiefgetretenen Stiefeletten mit Elastikeinsatz steckenden Füße geküßt. Hexer! Das Wort klang wie ein von Trommeln begleitetes Lied. »Hexer, erzählen Sie mir von Hexern!« bat ich. »Wo ist denn bloß mein Marcgrave?« Der Alte stöberte eine Weile die Bücher durch, die im Regal standen. Währenddessen redete er weiter: »Schon in der Historia Naturalis Brasiliense, die er 1648 geschrieben hat, spricht Marcgrave davon, daß die brasilianischen Hexer das Gift des Bufo marinus verwenden. Aber das ist naturwissenschaftliche Prähistorie. Lesen Sie zu diesem Thema bei Lamarque Douyon nach, einem Forscher aus Portau-Prince, der sich mit den haitianischen Zombies beschäftigt hat, lesen Sie die Artikel von Wade Davis im Journal of Ethnopharmacology und sein Buch Die Schlange und der Regenbogen, lesen Sie von E. Nobre Soares das Buch Os Bocors und Der Stechapfel und seine Zombie-Wirkung von Akira Kobayashi. Wie Sie sehen, habe ich nach Ihrem Anruf ein wenig recherchiert.« »Wo finde ich diese Bücher?« »Ich habe nur den Marcgrave, aber ich weiß nicht, wo er ist. Das Buch von Davis ist erhältlich. Das Material von Douyon zu finden dürfte wohl schwierig werden. Aber versuchen Sie es auf alle Fälle in der Nationalbibliothek. Es könnte ja sein.« »Und die Pflanze?«
»Welche Pflanze?« Ich zog eine Plastiktüte mit den Pflanzenresten, die ich in Dona Clara Estruchos Abfällen gefunden hatte, aus der Tasche. »Ist das vielleicht das Futter der Kröte?« fragte ich. »Kröten sind keine Pflanzenfresser«, sagte Ceresso. »Lassen Sie das hier. Ich seh’ mir an, was das ist. Schreiben Sie mir hier auf dieses Blatt Ihre Telefonnummer.« Leicht enttäuscht und etwas bedrückt verließ ich den alten Ceresso. In einem bestimmten Moment war ich mir sicher gewesen, daß der Alte mir den Weg zeigen würde, wie ich das ganze Geheimnis um den falschen Tod von Maurício Estrucho aufdecken könnte, und zwar in dem Augenblick, als ich den Drang verspürte, ihm die Stiefeletten zu küssen. Aber der Alte hatte mich zum Nachschlagen in die Nationalbibliothek geschickt, und da befand ich mich jetzt, auf der Freitreppe vor dem Gebäude in der Avenida Rio Branco, was mich an die Zeiten erinnerte, als ich von der Schule Pedro II. in der Rua Marechal Floriane Ecke Rua Camerino kommend die ganze Avenida bis zur Bibliothek zu Fuß hinunterging. Es war damals kein leichtes, die Bücher zu finden, die ich haben wollte; sie standen nie auf ihrem Platz, entweder wurden sie gerade neu eingebunden oder sie waren schlicht nicht vorhanden. Nach einer Stunde nutzloser Sucherei mußte ich aufhören, denn die Bibliothek machte zu. »Wenn Sie morgen wiederkommen, kommen Sie zu mir, dann helfe ich Ihnen, die Bücher zu suchen«, sagte eine
Bibliotheksangestellte. Sie war blaß und hatte dünne, glatte braune Haare. Als ich nach draußen ging und mir dabei den Zettel mit den Notizen ansah, die ich bei Ceresso gemacht hatte, stolperte ich über ein Mädchen, das auf der Freitreppe saß. Hätte sie mich nicht festgehalten, wäre ich die Stufen bis auf die Straße hinuntergepurzelt. »He Zombie, paß auf, wo du hintrittst«, sagte sie. »Hast du Zombie gesagt?« fragte ich aufgeregt. »Ja, Zombie«, sagte sie. »Nicht zu fassen, daran habe ich gerade gedacht.« »An was?« »An Zombies.« »Und bist dann selbst einer geworden«, sagte sie. Sie war wie ein echtes Hippiemädchen von früher angezogen, langer Rock, struppige Haare, Sandalen, Umhängetasche aus Stoff, und sie roch gut unter den Achseln. »Ich heiße Minolta.« »Irgendein Typ, der zur internationalen High-Society gehört, hat seinen Sohn Grammophon RCA Victor getauft.« »Ein hübscher Name«, sagte sie. »Ich heiße Ivan Canabrava.« »Canabrava. Noch besser als Grammophon.« »Studierst du?« »Studieren? Ich hab’ schon alles studiert, was ich studieren mußte. Jetzt denke ich. Ich bin Dichterin. Und du? Was hast du hier in der Bibliothek gemacht?« »Was über Hexerei nachgesehen.«
»Ich schwärme für Hexereien«, sagte Minolta. Die Bibliotheksangestellten kamen heraus, und die Bibliothekarin, die gesagt hatte, daß sie mir helfen wollte, starrte Minolta und mich an. Ich lächelte ihr zu, aber sie reagierte nicht. »Wie wär’s, wenn wir ein Bierchen trinken gehen und du erzählst dabei von Hexerei?« fragte Minolta. »Aber du mußt bezahlen, ich bin blank.« Auf ihren Vorschlag stiegen wir am Platz Cinelândia in den Bus und fuhren nach Gloria. »In diesem Lokal gibt’s superedles Bier vom Faß.« Dann redeten wir aber doch nicht über Hexer. Minolta war an diesem Tag aus ihrem Zimmer rausgeschmissen worden. Sie wollte auf der Freitreppe der Bibliothek übernachten, in der Nähe dieser Unmenge Bücher, weil ihr das ein Gefühl der Sicherheit gab. »Bücher haben eine gute Ausstrahlung.« »Willst du nicht bei mir schlafen, bis du was gefunden hast?« »Kommt drauf an. Ich weiß nicht. Versuchst du gerade, deine weibliche Seite zu entwickeln?« »Was?« »Ich hab’ diese Männer satt, die ihre weibliche Seite entwickeln wollen. Sieh mich mal an.« Ich sah sie an. Sie hatte einen Flecken auf der Lederhaut, das Ergebnis von einem Vormittag Lesen am Strand in praller Sonne. »Deine weibliche Seite ist ausdruckslos, ohne Substanz und Wurzeln. Gib’s auf. Entwickle deine männliche Seite, das bringt vielleicht was«, stellte Minolta fest.
»Du hast noch nicht geantwortet. Du kannst bei mir wohnen.« »Hast du eine Schreibmaschine? Ich kann nur auf der Maschine schreiben.« »Habe ich«, sagte ich. »Dann ja.« »Und deine Sachen?« fragte ich. »Meine Sachen sind hier«, sagte sie und drückte sich ihren Zeigefinger auf der linken Seite auf die Brust, »und hier.« Eine gewebte Umhängetasche, sie sah nach indianischem Kunsthandwerk aus. Wir waren gerade nach Hause gekommen, da klingelte das Telefon. Ich war im Badezimmer, und Minolta nahm ab. Es war Zilda. »Wer war die Frau, die abgenommen hat?« fragte Zilda. »Minolta.« »Minolta? Das ist eine Fahrradmarke«, sagte Zilda. »Sie hat gesagt, daß sie so heißt«, sagte ich. »Und was macht sie bei dir?« »Sie mußte aus ihrem Zimmer raus und bleibt hier, bis sie was gefunden hat.« »Kaum habe ich mich umgedreht, da holst du dir schon die erstbeste streunende Hündin, die dir auf der Straße begegnet, ins Haus«, sagte Zilda. Ich glaube, sie hatte vergessen, daß sie mich verlassen hatte. »Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte ich. »Nettes Mädchen. Nett wofür? Du Idiot, du hältst dich für besonders schlau, aber dich kann jede ordinäre Betrügerin reinlegen. Setz dieses Weibsstück auf die Straße, sonst siehst du mich nie wieder.«
»Mein Schatz, das kann ich nicht. Sie kann nirgends hin. Außerdem habe ich ihr schon angeboten, hier zu wohnen, jetzt kann ich keinen Rückzieher machen.« »Doch.« »Nein, das kann ich nicht.« »Dann adieu! Adieu! Aber diesmal wirklich, du Trottel, du Schwachkopf, du Vollidiot!« »Sprich nicht so, mein Schatz.« »Geh zum Teufel. Meinetwegen kannst du krepieren!« fauchte Zilda und legte auf. Zilda war sehr nervös, aber sie war kein böser Mensch. Sie meinte das alles gar nicht so, aber sie verlor leicht den Kopf, und dann sagte sie Sachen, die sie eigentlich nicht sagen sollte. »Wer war das?« fragte Minolta. »Zilda. Wir haben hier zusammen gewohnt, sie hat sich mit mir zerstritten und ist ausgezogen, und jetzt ärgert sie sich, weil du hier bist. Aber morgen ist ihre Wut wieder vorbei.« »Hast du sie gern?« »Ja. Sie ist sehr hübsch. Ich zeig’ dir ein Bild von ihr.« Ich zeigte ihr das Foto von Zilda. »Na ja«, sagte Minolta. »In Wirklichkeit ist sie hübscher.« »Kann sein«, sagte Minolta. Minolta wollte im Wohnzimmer schlafen, aber ich bestand darauf, daß sie im Schlafzimmer schlief. »Ich liebe es, auf dem Sofa zu schlafen«, sagte ich. Ich wachte sehr früh auf und hatte Rückenschmerzen. Ich duschte und rasierte mich, kochte Kaffee, machte Milch
heiß, deckte den Frühstückstisch. Dann klopfte ich an die Schlafzimmertür. Minolta machte die Tür auf. Sie war vollkommen nackt. Bis auf ihre Umhängetasche. »Das Frühstück ist fertig«, sagte ich. »Ich komm’ gleich«, antwortete sie. »Zieh dir was über«, sagte ich und ging ins Wohnzimmer zurück. Während des Frühstücks redeten wir kaum. »Ich gehe zur Arbeit und bin gegen sieben Uhr wieder hier«, sagte ich. »Mach’s dir bequem. Pulverkaffee ist da, und im Eisschrank Milch und Obst. Es muß auch noch was andres da sein.« »Wo ist die Maschine?« Ich zeigte ihr, wo die Maschine stand und wo ein dicker Block Papier lag. Ich zeigte ihr auch, wo die sauberen Handtücher waren. Als ich zur Panamericana kam, war Gomes schon da. »Alles klar?« fragte er und sah mich an, als hätte ich einen blutbefleckten Gazeverband um den Kopf. »Alles klar«, antwortete ich. »Wirklich alles in Ordnung?« Ich rückte den Schlipsknoten zurecht. »Ja.« Auf dem Tisch lag kein einziger Arbeitsauftrag. Ich ging zu Dr. Zumbanos Sekretärin Dona Duda ins Zimmer, um ihr guten Tag zu sagen. Sie hielt mich immer über die aktuellen Ereignisse auf dem laufenden. Als der Leiter der Rechtsabteilung ausgewechselt und Dr. Ribeiroles ernannt worden war, informierte sie mich noch vor dem
Allgemeinen Rundschreiben der Panamericana. Sie war sehr nett und schenkte mir immer eine Praline, die sie aus einer Schachtel in ihrer Schreibtischschublade nahm. »Wenn ich doch so wie Sie wäre«, sagte Dona Duda. »So wie ich?« »Sie essen alles, Bonbons, Pralinen und sind immer rank und schlank.« Ich steckte mir die Praline in die Tasche. »Essen Sie Ihre Praline«, sagte sie, nahm sich selbst eine heraus und verzehrte sie auf der Stelle. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« fragte sie, während sie noch eine Praline verzehrte. »Alles klar«, antwortete ich. »Haben Sie gestern die Serie gesehen?« Ich haßte Serien. Ich haßte Fernsehen. Ich haßte Kinder. (Das habe ich schon gesagt.) Aber ich hatte nicht vor, das Dona Duda zu sagen. Ab neunzehn Uhr, sobald sie nach Hause kam, sah sie sich immer drei Serien an, genau wie Zilda. Sie träumte davon, nach ihrer Pensionierung auch noch die anderen Serien zu sehen, die tagsüber liefen. Sie sah auch gern synchronisierte Filme. Die Stimmen der Sprecher waren immer dieselben, und das gefiel ihr. Tauchte mal eine neue Stimme auf – was selten geschah –, beschwerte sie sich. Einmal schrieb sie sogar einen Brief an die Fernsehgesellschaft Rede Globo: »Die Stimme, die Sie in dem Film vom Donnerstag Burt Reynolds gegeben haben, hat mir gar nicht gefallen. Was ist mit der alten Stimme passiert? Der Mann, der sonst Burt gesprochen hat, hat auch Lee Majors, Humphrey Bogart, Clark Gable, Telly
Savalas, Laurence Olivier und den Sheriff Wolf gesprochen. Wollen Sie ihn womöglich auch noch bei diesen Leuten austauschen? Duília Teixeira, Chefsekretärin.« Sie hörte gern bekannte Stimmen. Einmal wurde sie böse auf mich, weil ich sagte, Humphrey Bogart habe ein lebensgefährliches Opfer auf sich genommen, um diese heisere Stimme zu erlangen, und einen Kehlkopfkrebs nicht behandeln lassen, und wer ihn lebensecht synchronisieren wolle, müsse zumindest die gleiche Krankheit haben. An diesem Tag fragte ich Dona Duda, während ich meine Praline aß, welche Serie sie meine, die um sechs, die um sieben, die um acht oder die um zehn Uhr. »Die um sechs sehe ich nie«, sagte sie seufzend. »Die um acht.« »Die um acht habe ich nicht gesehen.« »Wissen Sie, wer Dr. Max, den Direktor der Gesellschaft, umgebracht hat?« »Nein.« »Gerard Vamprey. Aber das wußte ich schon, ich hab’s in der Revista Amiga gelesen. Gerard Vamprey, der so brav wie ein Heiliger aussieht, der hat Dr. Max umgebracht.« Und dann erzählte Dona Duda mir die ganze Folge. Mit anderen „Worten, in Dr. Zumbanos Büro gab es keine Neuigkeiten. Ich ging in das Zimmer zurück, das ich mit Gomes teilte, und stellte fest, daß er mich weiterhin merkwürdig ansah. »Zu mir kannst du Vertrauen haben«, sagte er nach einer Weile. »Ich bin dein Freund.« »Ja, ich weiß«, sagte ich in der Annahme, er habe auf
irgendeine Weise etwas von meinen Nachforschungen über den falschen Tod von Maurício Estrucho erfahren. Aber das war es nicht. Es war nur eine Intrige von Zilda. »Zilda hat mich angerufen und gesagt, du hättest einen Streßanfall gehabt.« Ich atmete erleichtert auf. »Einen Streßanfall? Das hat sie gesagt?« »Nicht wörtlich so. Sie hat gesagt, du wärst ausgeflippt, nicht ganz richtig im Kopf, du würdest Kröten an den Wänden sehen, die Abfälle von den Nachbarn essen und du hättest sie rausgeschmissen und dir ein Flittchen aus dem Puff ins Haus geholt.« »Nichts dergleichen«, sagte ich entrüstet. »Willst du damit sagen, daß zwischen euch alles okay ist?« »Nein, ist es nicht. Sie ist ausgezogen, stimmt, aber von sich aus.« »Willst du damit sagen, daß kein Mädchen bei dir wohnt?« Gomes hatte durch das amerikanische Handbuch Die Vernehmung – Befragungen und Einschätzung gelernt, wie man Verhöre führt. »Nein. Aber du weißt nicht Bescheid, Gomes. Zilda war sauer auf mich – um ehrlich zu sein, wegen einer Kröte, aber ich sehe keine Kröten an den Wänden, da kannst du beruhigt sein – und ist ausgezogen. Am nächsten Tag, gestern« – kaum zu fassen, aber das alles war erst vor einem Tag passiert –, »habe ich dieses Mädchen kennengelernt; sie saß auf der Treppe vor der Nationalbibliothek; sie heißt Minolta, ja, genau so, wie der Fotoapparat, und sie hatte keine Bleibe, und ich habe ihr
angeboten, bei mir zu übernachten, und sie hat im Schlafzimmer geschlafen und ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, und vermutlich ist sie jetzt gar nicht mehr in meiner Wohnung. Zufrieden? Wenn hier einer in dieser ganzen Geschichte verrückt ist, dann Zilda.« Gomes biß sich auf die Lippen und senkte den Blick. »Bist du zufrieden?« fragte ich noch einmal. Er biß sich weiter auf die Lippen und kratzte sich an der Nasenspitze. Ich weiß nicht, ob er überzeugt war oder nicht. Jedenfalls war es Zeit, daß ich zur Nationalbibliothek fuhr und weitersuchte. »Wenn jemand nach mir fragt, sag, ich wär’ weg, weil ich im Außendienst zu tun hätte.« Gomes nickte, ohne mich anzusehen. In der Nationalbibliothek ging ich zu der Bibliothekarin, die mir ihre Hilfe angeboten hatte. Sie hieß Carminha. Ihr Blick war traurig und schnitt mir ins Herz. Sie kannte Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien, er war ein fleißiger Benutzer der Nationalbibliothek. »Welches Gebiet interessiert Sie?« »Experimente mit Krötengift.« »Aha«, sagte sie, und ihr Blick schien noch trauriger zu werden. »Ich dachte, Sie interessierten sich für Musik. Eine dumme Idee von mir. Kröten … Da wollen wir mal sehen. Möchten Sie irgend etwas Besonderes, ein bestimmtes Buch?« »Ich möchte alles sehen, was es darüber gibt. Aber auf jeden Fall möchte ich diese hier lesen.« Ich gab ihr die
Liste mit den Namen, die der Direktor der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien mir gegeben hatte. Carminha beschaffte mir das Journal of Ethnopharmacology mit dem Artikel von Wade Davis und die Bücher von Kobayashi und Nobre Soares. Ich vertiefte mich in die Lektüre dieser faszinierenden Bücher. »Die Kröte«, hieß es bei Davis, »gleicht einem Labor, einem Chemiewerk, denn außer Halluzinogenen verfügt sie auch noch über starke, bislang nicht identifizierte Betäubungsstoffe, die das Herz und das Nervensystem angreifen.« Davis’ Forschungsergebnisse bestätigten die von Kobayashi. Danach besitzt die Kröte eine Substanz, die dem von Kobayashi beim Baiacu oder Kugelfisch gefundenen Tetradotoxin gleicht. Unter Einfluß dieser Substanz geraten die Menschen physiologisch gesehen in einen todesähnlichen Zustand, bei dem nur bestimmte geistige Fähigkeiten wie das Gedächtnis erhalten bleiben. Dieser Zustand wird als Zombieismus bezeichnet. Der Zombie bleibt – ganz gleich, ob man ihn begräbt oder nicht – zehn Stunden lang scheintot, es sei denn, ihm wird weiterhin eine Mixtur aus Krötengift und bestimmten, in manchen Pflanzen wie Pyrethrum parthenium vorkommenden chemischen Substanzen im Verhältnis von 1 mg auf 50 mg eingeflößt. Dadurch läßt sich der kataleptische Zustand ein paarmal verlängern. Wie oft, das wußten die Forscher nicht. Nachdem ich das alles gelesen und notiert hatte, war ich so aufgeregt, daß ich zu Carminha sagte: »Habe ich nun recht gehabt oder nicht?«
»Das kann ich erst beantworten, wenn Sie mir sagen, worum es sich handelt.« »Darum, daß einer so aussehen kann, als wäre er tot, aber dennoch lebt.« »Oder er kann so aussehen, als wäre er lebendig, aber er ist tot«, sagte sie. Die hat bestimmt irgendein Problem, dachte ich, armes Mädchen, so jung und blaß und dünn und hübsch. »Sind Sie traurig?« fragte ich. »Ich?« fragte sie überrascht zurück. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« »Ich habe mal eine Zeit gehabt, da war ich immer traurig«, sagte ich. »Ich bin nicht traurig«, sagte sie. »Nur … « »Nur …?« »Ich bin nicht fröhlich. Das ist etwas anderes.« »Ach so.« »Ich habe meine Arbeit«, sagte sie. »Meine Arbeit gefällt mir.« »Ach so.« »Wir schließen gleich«, sagte sie. Ich lief zurück zur Panamericana, aber da war niemand mehr, nur noch das Putzpersonal. Also beschloß ich, meinen Chef Dr. Zumbano zu Hause anzurufen. Eine Frau nahm ab und bat mich, einen Moment zu warten. »Dr. Zumbano«, sagte ich, »hier ist Canabrava.« »Wer?« »Canabrava, aus dem Büro.« »Ja, natürlich, Canabrava.« »Ich habe etwas Wichtiges in Zusammenhang mit der
Versicherung von Senhor Maurício Estrucho herausgefunden.« Zumbano schwieg einen Augenblick. »Können Sie damit nicht bis morgen warten und es mir im Büro erzählen?« »Morgen ist Samstag, da wird nicht gearbeitet.« »Ach ja, richtig, natürlich. Dann eben bis Montag.« »Dr. Zumbano, es ist sehr wichtig.« »Am Samstag und Sonntag können wir nichts machen, oder? Außerdem fahre ich jetzt gleich in mein Haus nach Petrópolis. Montag dann, ja? Gleich frühmorgens.« Minolta stand in der Küche meiner Wohnung. Sie hatte sich umgezogen. »Paß auf den Reis auf. Das ist Naturreis. Magst du Naturreis? Ich schreibe gerade ein Gedicht über das Löwenäffchen, das man hier bei uns aus den Vereinigten Staaten wiedereingebürgert hat.« Sie steckte die Hand in ihre Tasche, die sie immer umhängen hatte, und holte ein Bild heraus. »Hast du schon mal so ein hübsches Persönchen gesehen?« Es war ein Krallenäffchen, das einen Baumast umklammerte. »Kennst du die Geschichte?« »Naturreis, ist das dieser dunkle?« »Der einzige, der für die Gesundheit gut ist. Der andere besteht nur aus Stärke und ist völlig wertlos. Aber diese Äffchen waren in Brasilien am Aussterben, sie lebten hier in der Nähe, in Silva Jardim im Bundesstaat Rio, aber durch das Abholzen drohte ihnen das Ende. Da hat man ein paar Pärchen in die Vereinigten Staaten gebracht, und dort haben sie sich in Gefangenschaft vermehrt. Jetzt kommen
sie zurück, und nun stellt sich die Frage, ob sie in der Lage sein werden, in Freiheit zu leben.« »In Freiheit zu leben ist schwierig«, sagte ich. »Was willst du damit sagen?« Minolta sah mich mißtrauisch an. »Daß es schwierig ist, sonst nichts.« »Du lebst gern in eingeschränkter Freiheit, weil das einfacher ist, meinst du das?« »Nein. Ich lebe gern in Freiheit. Es ist nur schwierig, das ist alles.« Sie sah mich eine Weile an. »Wenn das schon für dich schwierig ist, dann erst recht für ein Äffchen, das in einem Käfig aufgewachsen ist, das wie ein Gefangener gefüttert worden ist und nicht gelernt hat, Nahrung zu suchen, sich zu verteidigen. Es gibt in der Natur Dinge, die giftig sind, auch wenn das widersinnig klingt. Die Umweltschützer haben vorgeschlagen, die wiedereingeführten Weibchen und Jungen zusammen mit einem Männchen auszusetzen, das hier in Silva Jardim, wo sie freigelassen werden sollen, aufgewachsen ist. Dieses Männchen – oder dieser Macho? – könnte der Familie beibringen, wie sie überleben kann. Wie findest du das?« »Gut«, sagte ich. Meine Gedanken waren weit weg. Das einzige Tier, das mich interessierte, war die Kröte – abgesehen natürlich von ein paar Vernunftwesen wie Dona Clara Estrucho. »Ich finde diese Lösung typisch für die MachoDenkweise. Warum kann man nicht die gezüchteten Männchen und Jungen mit einem wilden Weibchen von
hier zusammen aussetzen? Das Weibchen könnte es ihnen doch auch beibringen oder etwa nicht?« sagte Minolta. »Wahrscheinlich wollen sie das Weibchen nicht von den Jungen trennen«, sagte ich. »Das Weibchen ist immer eine Gefangene der Konventionen.« »Ich verstehe von Löwenäffchen nicht viel. Aber warum kann man nicht die ganze Familie, Eltern und Junge, mit einem hiesigen Männchen oder Weibchen zusammenbringen?« fragte ich. »Die Löwenäffchen sind monogam, sagen die Umweltschützer. Verstehst du das Problem?« »Vielleicht nehmen die Männchen die Jungen von anderen an und die Weibchen nicht. Jedenfalls muß nach dem, was du da sagst, bei diesem Vorhaben ein Emigranten-Pärchen getrennt werden und desgleichen ein hiesiges«, sagte ich. »Da siehst du mal, wie kompliziert die Monogamie ist«, sagte Minolta. »Ich glaube, ich schreibe ein Gedicht über die Monogamie. Ich habe keinen Rohzucker gefunden. Paß du auf den Reis auf, ich lauf mal schnell zum Paraíso da Sáude in der Rua Dias Ferreira.« Das Abendessen, das Minolta kochte, bestand aus Naturreis, einem Sojasteak und gekochtem Chuchugemüse. Wo sie den Rohzucker aufgetrieben hatte, weiß ich nicht. »Schmeckt’s?« fragte Minolta, während sie kräftig und bedächtig kaute. Es schmeckte scheußlich. »Ja«, sagte ich. Wozu die Kleine ärgern? Zum Glück gab Minolta, als wir untertauchten und nach
Iguaba zogen, diese makrobiotische Marotte auf, und wir entdeckten die Freuden von Tisch und Bett – aber das kommt später. Das Telefon klingelte. Es war Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien. »Diese Pflanze, die Sie mir gebracht haben.« »Ja?« »Ein befreundeter Botaniker hat sie für mich untersucht. Er sagte, die eingekerbten Blätter, die ovalen, in rispenförmigen Ähren angeordneten Blüten, die einsamige Schließfrucht weisen zweifelsfrei darauf hin, daß es sich um Pyrethrum parthenium handelt, eine Pflanze aus der Familie der Compositae oder Wucherblumen.« »Doktor Ceresso, eine aus dieser Pflanze gewonnene Substanz, vermischt mit dem Gift der Kröten, kann – « stotterte ich. »Ich weiß«, fiel er mir ins Wort, »das steht in dem Buch von Nobre Soares. Sie kann einen Zustand tiefer Totenstarre hervorrufen. Guten Abend.« Er legte auf. Minolta sagte: »Ich dreh’ eine Runde. Gib mir den Schlüssel, damit ich dich nicht wecke. Ich komme spät wieder.« Ich hörte kaum, was sie sagte, so nervös und aufgeregt war ich. Ich schlief mit Unterbrechungen. Ich glaube, ich hatte mehrere Albträume – als ich aufwachte, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, aber daß es Albträume waren, weiß ich, weil meine Stirn schweißnaß war und das Herz mir klopfte. Zum Glück wurde es dann hell; als ich aus dem Bett oder vielmehr vom Sofa aufstand, hatte ich wieder die gleichen Rückenschmerzen.
Ich drückte das Ohr an die Schlafzimmertür. Minolta war sehr spät gekommen, ich hatte es gemerkt, aber getan, als schliefe ich. Ich machte Kaffee, röstete das Brot, strich Butter drauf, schnitt eine Papaya à la française auf und klopfte an die Tür. »Was ist?« hörte ich. »Herein.« Minolta sah beim Aufwachen genauso aus wie beim Zubettgehen. Zilda war sehr hübsch, aber morgens waren ihre Augen verquollen. Minoltas Gesicht war klar und hatte frische Farben, wie bei einem gesunden Kind. »Zieh was an«, sagte ich und machte die Tür zu. Wenn ich nackt schlief, bekam ich eine Erkältung. Ich brauchte gar nicht ganz nackt zu sein, es reichte schon, wenn ich nur ein Teil, das Oberteil oder das Unterteil, wegließ, und schon bekam ich eine fürchterliche Erkältung, auch wenn ich mich mit dem Laken zudeckte. »Jetzt reicht es mit der Bevormundung«, sagte Minolta, als sie aus dem Schlafzimmer kam. »An so einem heißen Tag soll ich mich total einmummeln« – sie hatte knappe Shorts und eine Bluse auf bloßer Haut an –, »nur weil du die Spielregeln diktieren willst.« »Ich habe das Frühstück gemacht«, sagte ich. »Nur weil du das Frühstück gemacht hast, kannst du mir noch lange keine Vorschriften machen.« »Ich will dir keine Vorschriften machen.« »Alle Männer wollen den Frauen Vorschriften machen.« »Ich nicht.« »Das stimmt nicht. Aus welchem Grund ist die Frau, die hier bei dir gewohnt hat, abgehauen?«
»Zilda?« »Ja, Zilda. Hast du noch andere gehabt?« »Nein. Zilda ist sehr nervös.« »Sag doch: Zilda ist krank. Auf diese Weise machen nämlich die Männer die Frauen kaputt.« »Nein, Zilda ist keine kranke Frau.« »Ach, diese Zilda interessiert mich nicht.« »Na also. Laß uns lieber von den Löwenäffchen reden.« »Ich will auch nicht über Löwenäffchen reden.« Wer ein Gesicht sieht, sieht keinen Albtraum. Offensichtlich war die Nacht für sie auch nicht besonders angenehm gewesen. »Dann frühstücke.« »Ist kein Schwarzbrot da?« »Nein, leider nicht.« Minolta nahm ein Stück geröstetes Brot und biß hinein. Dann noch einmal. Und noch einmal. »Lecker, dieses Brot. Wie hast du das gemacht?« »Im Ofen. Ich habe ein zwei Tage altes Brot in ganz dünne durchsichtige Scheibchen geschnitten.« »Köstlich. Aber Weißbrot ist ungesund, das weißt du. Alle Jubeljahre mal, höchstens.« »Tja, ich muß gehen«, sagte ich. »Bist du hier, wenn ich zurückkomme?« »Vielleicht.« »Ich komm’ früh.« Als ich ins Büro kam, legte ich die Notizen, die ich in der Nationalbibliothek gemacht hatte, auf den Schreibtisch und fing an, einen Bericht für Dr. Zumbano, den Leiter der Abteilung Geheime Überprüfungen der Panamericana, zu
tippen. Ich sprach von der Kröte, die ich in der Wohnung von Dona Clara Estrucho gefunden hatte, von dem Pyrethrum parthenium, den Forschungen von Davis, Kobayashi und Nobre Soares. Obwohl ich mehrfach unterbrochen wurde – einmal durch Zilda, die am Telefon sagte: »Will diese Rumtreiberin dableiben?« (Sie hatte in meiner Wohnung angerufen, und Minolta hatte abgenommen.) »Schmeiß diese dreckige Hündin raus, sonst siehst du mich nie wieder!« –, gelang es mir, einen klaren, knappen und fundierten Bericht über den Fall Maurício Estrucho zu schreiben und darzulegen, daß die Panamericana meiner Ansicht nach Opfer eines Betruges geworden war. »Der machiavellistischste, durchtriebenste Betrug in der Geschichte des brasilianischen Versicherungswesens«, schloß ich meinen Bericht. Dr. Zumbano empfing mich nicht. »Er ist sehr beschäftigt«, sagte Dona Duda. »Er hat gesagt, ich soll heute vormittag zu ihm kommen. Ich habe ihn am Freitag zu Hause angerufen. Die Angelegenheit ist dringend.« »Aber er ist sehr beschäftigt. Eine Direktionsangelegenheit.« Zum erstenmal schenkte Dona Duda mir keine Praline aus dem unerschöpflichen Vorrat in ihrer Schublade. Ob meine Hartnäckigkeit sie störte? »Dann tun Sie mir bitte einen Gefallen und geben ihm diesen Bericht. Aber zeigen Sie ihn bitte niemandem sonst. Geben Sie ihn ihm persönlich.« »Mache ich.« »Es ist sehr wichtig.« »Ist gut.«
»Es ist sehr, sehr wichtig.« »Ich weiß.« »Geben Sie ihn nur ihm.« »Ich sage doch, Sie können sich drauf verlassen.« Ich überreichte ihr den Bericht, wartete, bis sie ihn in die Schublade gelegt hatte und schenkte ihr beim Gehen mein allerfreundlichstes Lächeln, wobei ich sämtliche Zähne entblößte. Sie reagierte nicht. »Zilda hat gerade angerufen«, sagte Gomes, als ich in unser Zimmer zurückkam. »Ich habe Dr. Zumbano einen Bericht über den Fall Estrucho gebracht.« »Sie hat gesagt, sie fährt zur Wohnung und wirft das Mädchen raus.« »Wie bitte?« »Sie hat sich anders ausgedrückt. Sie hat gesagt, ich jag’ diese widerliche Hochstaplerin, diese Nutte, mit Fußtritten davon.« Ich griff zum Hörer und rief zu Hause an. Das Telefon klingelte lange, ehe Minolta abnahm. »Du hast mich bei meiner transzendentalen Meditation gestört«, sagte sie. »Schieb den Riegel an der Tür vor und laß keinen rein. Und schon gar nicht Zilda.« »Mach’ ich«, sagte Minolta und legte auf. »Probleme, was?« sagte Gomes und sah mich schief an. »Nein. Nein. Alles okay.« »Kämm dir die Haare«, sagte Gomes. »Ich muß mit Dr. Zumbano sprechen.« »Ein Grund mehr, dir die Haare zu kämmen.«
»Ich hab’ keinen Kamm.« »Ich leihe dir meinen.« Gomes reichte mir einen schwarzen Kamm, dessen Zinken von Schuppen grau waren. Gomes’ Jackett war immer voller Schuppen. »Nein, vielen Dank.« Dr. Zumbano wollte gerade weg, als ich versuchte, mit ihm zu sprechen. »Worum geht’s? Ich bin in Eile«, sagte er, als ich ihn fragte, ob ich ihn kurz sprechen könne. Dona Duda wirkt gereizt. »Über den Fall Estrucho. Haben Sie meinen Bericht gelesen?« »Ja. Hab’ ich. Gerade eben.« »Ich meine, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, ich wette, wenn wir das Grab öffnen lassen, finden wir niemanden da drin«, sagte ich. »So einfach sind die Dinge nicht, Canabrava«, entgegnete Zumbano und hielt einen gewissen Abstand zu mir. »Ich muß mit Ribeiroles reden. Das ist eine heikle Angelegenheit.« »Dr. Zumbano, das Grab ist leer. Da ist keiner drin. Davon bin ich felsenfest überzeugt.« »Felsenfest überzeugt sein ist immer gefährlich«, sagte Zumbano. »Und außerdem, welche Beweise haben wir? Haben Sie vergessen, daß unsere Ärzte ihn untersucht haben? Der Mann ist tot.« »Er befand sich in einem Zustand tiefer Katalepsie.« »Tiefer Katalepsie?« »Haben Sie meinen Bericht nicht gelesen?« »Ja doch, ich habe ihn gelesen. Wissen Sie, wie der mir
vorkommt? Wie ein Bericht, der die Existenz von fliegenden Untertassen oder von außerirdischen Wesen beweisen will.« »Ich glaube nicht an fliegende Untertassen.« »Das merkt man nicht.« »Und wenn die Aktionäre erfahren, daß wir nichts zur Verteidigung ihrer Interessen getan und zugelassen haben, daß die Gesellschaft um eine Million Dollar geschädigt wurde?« Dr. Zumbano unterbrach mich: »Soll das eine Drohung sein?« Richtig. Ich war dabei, Dr. Zumbano zu drohen. Als mir das klar wurde, schämte ich mich. Ich wollte Dr. Zumbano nicht drohen. Ich wollte ihn überzeugen, ihn vielleicht überreden, das zu tun, was ich im Interesse der Gesellschaft für das Beste hielt. Aber nicht ihm drohen. »Nein, ich will Ihnen nicht drohen.« »Seien Sie sich nicht zu sicher. Es gibt keine absolute Wahrheit.« »Ich weiß. Aber die einfache Wahrheit, die gibt es, oder?« Zumbano machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn die Wahrheit relativ ist, ist auch die Unwahrheit relativ … Da sehen Sie mal, wie anregend das Denken ist«, sagte Dr. Zumbano. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Ich notiere mir alle Gedanken, die ich für wichtig halte, alle Gedanken, die mein geistiges Gut bereichern können.« Er wiederholte laut, während er sich notierte: »Wenn die Wahrheit relativ ist, ist auch die Unwahrheit relativ.« Dieser Aphorismus stammt von Nietzsche, er steht in
Also sprach Zarathustra, einem der langweiligsten Bücher, die ich in meinem kurzen, dürftigen Leben gelesen hatte. Ich überlegte, ob ich das Dr. Zumbano sagen sollte, fand es dann aber besser, den Mund zu halten. * »Und nun?« »Was und nun?« »Mein Bericht?« »Gedulden Sie sich, Canabrava. Ich habe ihn Dr. Ribeiroles weitergegeben, ich brauche eine Stellungnahme der Rechtsabteilung.« Nach diesen Worten drehte er mir den Rücken zu und ging, mit einem deutlichen Ausdruck von Ungeduld und Gereiztheit im Gesicht. Und in den Armen. Als wehrte er im Gehen einen Bettler ab, der ihn am Jackenärmel gepackt hatte. Als ich nach Hause kam, saß Minolta mit Leinwand, Pinseln und Farbtuben am Wohnzimmertisch. »Ich hab’ etwas Knete in der Schublade gefunden, und mir davon dieses Zeug zum Malen gekauft. Kriegst es später zurück. Ich male gerade ein Bild, Albtraum an einem sonnigen Morgen, aber guck nicht her, ich mag das nicht, wenn man meine Bilder ansieht, während ich male. Ach ja, diese Person war hier.« »Wer?« »Deine Ehemalige. Ziemlich streitsüchtig, die Gute. Aber egal.« Minolta malte weiter. Das Telefon klingelte. *
Ich habe mich geirrt. Der Satz von Nietzsche lautet: »Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.«
Es war Zilda. »Du elender Wurm! Dieses Weibsstück aus der Gosse hat mich fast umgebracht. Ich bin voll mit blauen Flecken, so hat sie mich verprügelt. Nur damit du Bescheid weißt, du stinkender Furunkel, ich geh’ zur Polizei und zeig’ die an. In den Knast gehört die, diese Hure, dieses mordlüsterne Weib.« »Aber was ist denn passiert, Zilda?« »Was ist passiert, Zilda? Diese Rumtreiberin, Geistesgestörte mit Schwarzem Gürtel, die hat mich verprügelt. Karatemeisterin ist sie, hat sie gesagt, und das macht es noch gemeiner, daß sie mich angegriffen hat. Die soll im Knast vergammeln, oder ich schieß’ dir eine Kugel zwischen die Hörner.« »Nun mal ruhig, Zilda.« »Entweder du schmeißt sie raus, oder ich komm’ mit der Polizei. Ich geh’ zur Beweisaufnahme. Die wird schon sehen, mit wem sie sich angelegt hat. Du wirst schon sehen, mit wem du dich angelegt hast.« Sie stieß noch ein paar Drohungen aus, dann knallte sie mir den Hörer ins Ohr. Minolta malte unterdessen ruhig an ihrem Bild weiter. »Gibt’s Stunk?« fragte Minolta. »Sie hat gesagt, du hättest sie geschlagen.« »Umgekehrt, sie wollte mich schlagen. Da hab’ ich sie mir vom Hals gehalten.« »Bist du Karatemeisterin?« Minolta lachte. »Das hab’ ich nur gesagt, damit die Gnädige Angst kriegt. Sie hat rumgeschrien, worauf ich gesagt hab’, sie
soll still sein. Da hat sie gefragt: ›Du Miststück willst mich zum Schweigen bringen?‹ Ich hab’ die Hände so gehalten, wie man das immer im Kino sieht, und gesagt, ich bin Karatemeisterin, dann bin ich auf sie losgegangen und hab’ dabei Sayonara gerufen, das einzige, was ich auf japanisch weiß. Bevor ich gemerkt hab’, was passiert ist, lag sie auf dem Boden. Ich glaube, sie ist ausgerutscht, denn der Schlag, den ich ihr versetzt hab’, falls man das überhaupt als Schlag bezeichnen kann, war nicht stark. Soll ich ihn dir mal zeigen?« »Wen?« »Den Schlag?« Ich dachte kurz nach. »Nein, vielen Dank. Zilda sagt, sie käme mit der Polizei her.« »Leeres Geschwätz.« »Zilda hat Haare auf den Zähnen.« »Ein großes Maul, das hat sie. Ich kenn’ mich mit diesen Tricksen aus. Aber nicht mit mir. Das zieht bei mir nicht.« »Leute in deinem, ich meine, deine Freunde, ich meine – wie alt bist du?« fragte ich. »Wie alt schätzt du mich?« »Zwischen sechzehn und dreißig«, sagte ich. »Richtig.« »Leute in deinem Alter, reden die alle so?« »Wie, so?« »In dieser Mischung aus altem und neuem Slang?« »Manchmal sage ich gern Sachen, die meine Großmutter schon gesagt hat, manchmal denke ich mir
was Neues aus, und manchmal zieh’ ich mir auch einen Satz vom Finanzminister rein. Ich halt’s mit der Polysemie.« »Würdest du mir bei einem Versuch helfen?« »Kommt drauf an.« »Worauf?« »Erst muß ich wissen, worum es geht. Ich laß’ mich nicht auf brenzlige Sachen ein.« »Ich will etwas einnehmen und sehen, ob ich davon scheintot werde.« Von den Gründen, die mich dazu bewogen, sagte ich nichts, und sie fragte auch nicht danach. Ich rief Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien an. »Dr. Ceresso, hier spricht Ivan Canabrava. Erinnern Sie sich an mich?« Das tat er. Ich fragte, ob ich ihn um einen Gefallen bitten dürfe. Er schwieg, ich dachte schon, er hätte den Hörer weggelegt. »Das dürfen Sie«, sagte er endlich. »Ich möchte Sie bitten, mir eine Kröte und etwas Pyrethrum parthenium zu beschaffen.« »Wofür halten Sie mich eigentlich? Für ein Einzelhandelsgeschäft:, das Ihnen Exemplare der Fauna und Flora der ganzen Welt liefern kann? Ich habe noch was anderes zu tun, junger Mann.« Seine Stimme klang spröde und gereizt, aber er legte nicht auf. »Dr. Ceresso, Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der mir helfen kann«, flehte ich ihn an. »Bitte.« »Ich habe viel zu tun«, sagte er, jetzt weniger kratzbürstig.
»Ich weiß, daß Sie viel zu tun haben, Sie sind ein bedeutender Wissenschaftler, der sich einer so edlen Aufgabe wie dem Schutz der Amphibien widmet«, sagte ich. »Was für eine Kröte wollen Sie? Einen Bufo marinus?« Ich bestätigte, daß es der Bufo marinus sei; die Kröte, die ich an der Wand seines Büros identifiziert hatte. »Hören Sie, junger Mann, Sie stellen mich vor eine sehr schwierige Aufgabe, die Familie der Wucherblumen ist sehr groß. Pyrethrum parthenium findet sich im Beifuß, im Wermut, in der Arnika, der Tagetes, der Ringelblume … « Ich bemerkte, daß Minolta ihre Kleider ablegte und nur ihr Höschen anbehielt. »Es ist höllisch heiß«, sagte sie. »In der Distel, der Endivie, der Klette, im Edelweiß, natürlich in der Insektenblume, die ja Pyrethrum heißt – « »Zieh das wieder an«, sagte ich und hielt die Muschel des Telefons zu, während Ceresso Pflanzennamen aus der Familie der Wucherblumen aufzählte. »Warum? Findest du meinen Körper abstoßend? Mache ich dich verrückt, wenn ich nackt bin? Schockiert dich meine Nacktheit? Sag mir einen Grund, warum ich nicht nackt sein darf.« »Tja … du kannst dich erkälten.« »Die letzte Erkältung hab’ ich vor zehn Jahren gehabt.« »Aster, Strohblume, Dahlie – « Minoltas Körper war wirklich nicht abstoßend. Die Knochen traten vielleicht an den Rippen und gleich über der Brust etwas zu deutlich hervor, was angesichts der makrobiotischen Diät nicht verwunderlich war. Ihr Hintern war klein, rund und muskulös; auch ihre Beine waren
muskulös, mit erstaunlich kräftig entwickelten Oberschenkelmuskeln. Mir wurde innerlich heiß und anschließend kalt. » … Rainfarn, Kamille, Zichorie und vielen anderen«, sagte Ceresso. Auch Minoltas Brüste waren überraschend; aus diesem Knochengerüst ragten zwei feste, aufgerichtete Kugeln hervor, als wären sie mit Silikon gespritzt. Ich bekam nicht mehr alles mit, was Ceresso sagte. »Wann könnten Sie mir das geben?« »Ich habe doch gesagt, innerhalb von zwei Tagen besorge ich Ihnen das alles. Sind Sie schwerhörig, junger Mann?« »Mein Telefon ist nicht ganz in Ordnung«, sagte ich. Ich verabschiedete mich von Ceresso mit kleinlauten, unterwürfigen Dankesworten. Beim Anblick von Minolta, wie sie nackt malte, mußte ich aus irgendeinem Grund an Zilda denken. Und wenn sie nun plötzlich auftauchte und Minolta nackt durch die Wohnung spazieren sah? Nicht auszudenken, was dann passieren konnte. »Wenn es klingelt, geh nicht an die Tür«, sagte ich, »warte, bis ich aufmache.« »Ich hab’ für uns zum Abendessen einen Bambussprossensalat gemacht«, sagte Minolta. Kaum hatte sie das ausgesprochen, klingelte es an der Tür. »Warte, ich seh’ nach.« Aufgeregt schlich ich auf Zehenspitzen zur Tür und guckte durch den Spion. Ein Mann und eine Frau, deren Gesichter durch die Linse des Spions verzerrt waren, schnüffelten bedrohlich mit ihren krummen, plattgedrückten Nasen an der Tür herum.
»Wer ist da?« fragte Minolta. Ich kehrte auf Zehenspitzen und mit ängstlich klopfendem Herzen zu ihr zurück. »Finstere Typen«, murmelte ich. »Wahrscheinlich von der Polizei.« »Ja und?« fragte Minolta. »Ja und?« flüsterte ich zurück. »Dahinter steckt bestimmt Zilda. Keine Ahnung, was sie sich ausgedacht hat. Hast du irgendwas bei dir?« »Irgendwas bei mir? Was denn?« Es klingelte wieder. »Rauschgift, Tabletten«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Rauschgift? Das war mal, mein Lieber, auf dem Trip sind jetzt Bankangestellte, Lehrer, Typen vom Milieu, die feinen Leute aus der Südzone. Laß die Polizei rein.« »Und du hier splitternackt? Zieh dir wenigstens was über.« Ich zog sie am Arm ins Schlafzimmer. »Zieh dieses Kleid an«, sagte ich und reichte ihr ein weites, langes Kleid, im übrigen das einzige, das sie besaß. Ungeduldig zog Minolta sich das Kleid über den Kopf, während ich ins Wohnzimmer zurückging. Wieder klingelte es. Wieder sah ich mir die beiden finsteren Gestalten durch den Spion an. Die Frau schien irgend etwas zu sagen wie: »Komm, wir brechen die Tür auf«. Sie wollten die Tür aufbrechen! »Die brechen gleich die Tür auf«, sagte ich zu Minolta. »Scheiße«, sagte Minolta und legte den Pinsel weg. »Warte, ich klär’ das.« Ohne durch den Spion zu sehen, öffnete Minolta die Tür.
»Polizei, na klar!« sagte sie und umarmte die beiden Neuankömmlinge. »Das hier ist Siri, und das ist Mariazinha. Sie machen Schmuck und verkaufen ihn auf dem Hippie-Markt.« »Das haben wir mal. Die Aufsicht hat uns weggejagt. Jetzt verkaufen wir vor dem Postamt in Copacabana«, sagte Mariazinha. »Ist auch egal.« »Ich hab’ dir doch gesagt, daß die beiden zu uns zum Abendessen kommen.« »Nein, hast du nicht«, sagte ich. »Doch.« »Dann hab’ ich’s vergessen.« »Das ist also der … «, fing Mariazinha an und verstummte. »Der was?« fragte ich. »Sprich’s aus«, sagte Minolta. »Der Spießer?« beendete Mariazinha ihre Frage. »Ja«, sagte Minolta. »Nett«, sagte Mariazinha. »Kümmere dich nicht um diese Frauen«, sagte Siri. »Er hat gesagt, ihr wolltet die Tür aufbrechen«, sagte Minolta. »Wir?« fragten die beiden gleichzeitig verblüfft. »Hast du nicht gesagt: Komm, wir brechen die Tür auf?« »Ich? Ich hab’ gesagt: Komm, hier macht keiner die Tür auf.« »Wer Angst hat, sieht und hört nicht richtig«, sagte Siri. »Ich schenk’ dir was«, sagte Mariazinha. »Das habe ich selbst gemacht.«
Sie gab mir eine goldfarbene Kette mit einem Anhänger. »Was ist das für ein Tier?« »Ein Gürteltier«, sagte Siri. »Häng es um«, sagte Mariazinha. Ich legte die Kette an. »Ich hab’ einen Bambussprossensalat für uns gemacht«, sagte Minolta. »Wir haben einen Weichkäse aus Ceará mitgebracht, den haben wir in São Cristóvão gekauft«, sagte Siri. Siri, wie der Flußkrebs, war kein Spitzname, wie ich später erfuhr. So hieß er wirklich. Trotz allem war mir das Paar gleich sympathisch. Nach dem Abendessen saßen wir bis spät in die Nacht zusammen und redeten. Um diese Zeit fuhren die Busse nur noch selten, und sie wohnten in Santa Teresa, wo man schlecht hinkam. Minolta lud sie zum Übernachten ein. »Ihr schlaft im Schlafzimmer. Ivan und ich im Wohnzimmer.« Sie wollten nicht, aber wir bestanden darauf, sie waren ja Gäste. »Du schläfst auf dem Sofa und ich auf dem Fußboden«, sagte Minolta, nachdem die Gäste sich im Schlafzimmer eingerichtet hatten. »Du schläfst auf dem Sofa, ich auf dem Fußboden. Schließlich bin ich der Hausherr«, sagte ich. Wir machten aus den Decken eine Art Matratze. Tatsächlich war es besser, auf dem Fußboden zu schlafen als auf dem Sofa, wie ich am nächsten Morgen beim Aufwachen feststellte. * *
Gegen Ende dieses Jahrhunderts wird Sex nicht mehr genossen, sondern als Kommunikation betrieben (vgl. Moravia), und als solche darf er von den Schriftstellern nicht einfach außer acht gelassen
Die beiden folgenden Tage verbrachte ich in qualvoller Spannung. Ungeduldig wartete ich auf eine Nachricht von Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien. Währenddessen verrichtete ich meine übliche Arbeit bei der Panamericana. Ich wußte, daß Zumbano mich nicht zu einem Gespräch bestellen würde. Ich mußte ihn mit unwiderlegbaren Tatsachen konfrontieren. Mariazinha und Siri zogen in meine Wohnung ein. Sie waren provisorisch bei Freunden in Santa Teresa untergekommen, und dann gab es irgendein Problem, und sie mußten am Tag, nachdem sie bei mir übernachtet hatten, ausziehen. Ganz arglos belegten sie mein Zimmer mit Beschlag, das im Grunde auch nicht mehr meins, sondern Minoltas war. Es blieb beim Arrangement der ersten Nacht, Minolta schlief auf dem Sofa und ich auf dem Fußboden. Aber das alles machte mir nichts aus, ich dachte nur an das Experiment, das ich machen wollte, sobald ich den Bufo marinus und das Pyrethrum parthenium bekam. Außerdem waren Mariazinha und Siri nette Leute, deren Anwesenheit mich nicht störte. Am Abend des Tages, an dem sie einzogen, erzählte ich ihnen und Minolta von dem Experiment, das ich vorhatte. Sie hörten äußerst interessiert zu. Ich fragte, ob sie mir helfen werden. Wenn in meinen Büchern ein Mann und eine Frau unter sich sind und sie zieht sich aus, geschieht etwas. Eine derartige Gleichgültigkeit, wie sie zwischen Minolta und mir in dieser Situation herrschte, wäre unmöglich. Aber so war es tatsächlich. Ich habe bereits gesagt, daß meine Lüsternheit erst spät zutage trat. Minolta hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ihr verdanke ich alles (ich glaube, das habe ich schon einmal gesagt).
wollten und darüber hinaus meinen Versuch beobachten und dann als Zeugen den Bericht unterschreiben würden, den ich für Zumbano anfertigen wollte, gesetzt den Fall, das Resultat wäre, wie ich hoffte, positiv. Sie erklärten sich begeistert einverstanden. Mariazinha machte eine Einschränkung. »Ich will nur nicht die Kröte anfassen, davor ekle ich mich.« »Das mach’ ich. Ich ekle mich nur vor Kakerlaken«, sagte Minolta. »Ich helfe dir«, sagte Siri. Ich erklärte, die Kröte brauche keiner anzufassen. Ich selbst würde dem Tier das Gift aus den Drüsen abnehmen. Dazu brauchte man nur leicht auf ihre Ohrdrüsen zu drücken. Das Problem war die Frage, wieviel von dem Gift ich nehmen mußte. Wie Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien mir gesagt hatte, war das Gift des Bufo marinus äußerst wirksam, und jedes Tier, dem man es einimpfte, bekam entsetzliche Krämpfe und starb anschließend. Selbst die Kröte reagierte auf ihr eigenes Gift und ging wie alle anderen Tiere auch daran ein. »Irgendwo hab’ ich gelesen, wenn du verhindern willst, daß dein Freund dich betrügt oder verläßt, brauchst du nur eine Kröte unter dem Bett zu halten«, sagte Minolta. »Dann verzichte ich lieber auf den Freund«, sagte Mariazinha. Ich vermied es, mich mit Gomes in der Panamericana zu unterhalten. Ich traute ihm nicht, und zwar nicht nur im Hinblick auf die geschäftlichen Angelegenheiten, sondern auch, weil ich überzeugt war, daß er für Zilda hinter mir
herspionierte. Ihre Drohung, mit der Polizei zu mir zu kommen, hatte sie nicht wahrgemacht; vielleicht führte sie etwas noch Schlimmeres im Schilde. Endlich rief mich Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien an. »Ich habe alles, was Sie haben wollen. Kommen Sie her, zur Gesellschaft.« »Jetzt? Sofort?« Ich bemühte mich, leise zu sprechen, damit Gomes am Nachbartisch nicht hörte, was ich sagte. Trotzdem sah er mich mit gespitzten Ohren an. »Ja, jetzt«, antwortete Ceresso. »Ich komme sofort«, sagte ich. Ich zog meine Jacke über und wollte hinausgehen, da stellte sich Gomes mir in den Weg. »Ich bin dein Freund«, sagte Gomes. »Ich hab’s eilig, ich muß mich um eine dringende Sache kümmern.« »Du benimmst dich in den letzten Tagen sehr merkwürdig. Ist irgendwas los? Du kannst mir vertrauen.« »Ich bin spät dran«, sagte ich, machte einen Bogen um Gomes und verließ den Raum. Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Büro der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien. Ceresso erwartete mich. »Sehen Sie sich dieses prächtige Männchen an, das ich für Sie besorgt habe«, sagte Ceresso. Es war eine riesige, grünlich-gelbe Kröte, am Bauch voller dunkler Flecken. Ihr ganzer Körper war mit Warzen bedeckt, einige von hornartigen Spitzen gekrönt. Ich merkte, daß die Kröte, je
länger ich sie ansah, immer größer wurde, ihr Bauch schwoll beängstigend an. »Diese Art ist sehr eitel«, sagte Ceresso, »und insbesondere dieses Exemplar scheint noch dünkelhafter zu sein als der Durchschnitt. Sehen Sie sich das an, wie er sich vor Stolz aufbläht.« »Ist das Ihr Ernst? Dieses Tier hält sich für schön?« fragte ich. »In Wirklichkeit denkt er, daß Sie eine Schlange sind, und bläht sich auf, damit Sie ihn nicht so leicht verschlingen können.« Auf Ceressos Lippen (es waren keine richtigen Lippen, nur ein dünner Strich zwischen Nase und Kinn) lag ein spöttisches Lächeln. Ceresso ergriff ein Glasgefäß und begann, der Kröte das Gift aus den Drüsen abzunehmen. »Man muß die Drüsen sehr vorsichtig ausdrücken, sonst kann das Sekret bis zu fünfzig Zentimeter weit spritzen«, sagte Ceresso. Er tastete die Kröte, die unbeweglich dasaß, äußerst behutsam ab. Eine widerliche Substanz mit einem scharfen Geruch, wie ich ihn noch nie gerochen hatte, löste sich aus der Haut des Tieres. Mit einem kleinen Glasspachtel fing Ceresso das Sekret auf und sammelte es in dem Gefäß. »So«, sagte Ceresso, »das haben wir. Aber denken Sie daran, Sie müssen damit vorsichtig umgehen.« »Dr. Ceresso, ich habe Ihnen schon gesagt, ich will damit einen Verbrecher, einen Betrüger, einen Schwindler entlarven. Ich diene dem Guten.« »Schwindler, davon gibt’s jede Menge in Brasilien, vor allem in der Wissenschaft«, schimpfte Ceresso. »Dreiste Stümper, die durch geschickt vertuschte Aneignung
fremden Geistesgutes Prestige erwerben. Diebe! Lumpenpack! Schurken!« Ich hörte mir Ceressos wutschnaubende Schmähungen geduldig an. Er hatte recht, dieser Situation mußte ein Ende bereitet werden. Nun, im Besitz des Krötengiftes und des Pyrethrum parthenium, machte ich mich schnellstens auf den Heimweg zu meinen Freunden, die mir helfen wollten, Minolta, Mariazinha und Siri. »Freunde«, sagte ich, »meine brüderlichen Freunde, es ist so weit. Im Verhältnis von 1 mg auf 50 mg, wie es bei den anerkannten Autoren heißt.« Mir fiel gerade nicht ein, ob es der Portugiese, der Japaner, der Amerikaner oder sonst wer gewesen war, der dieses Verhältnis bestimmt hatte. Ich war von einer fixen Idee besessen und bereit, dafür zu sterben. Die Sache sollte so vor sich gehen: Ich wollte die erste Dosis des Trunks zu mir nehmen, mich ins Bett legen und zehn Stunden liegen bleiben. Dann sollten sie mir mit Hilfe eines Trichters eine zweite Dosis durch den Mund einflößen, so wie Clara Estrucho es mit ihrem Mann gemacht hatte. Anschließend sollten sie einen Arzt holen. Danach sollten sie mich in eine Plastiktüte packen oder, besser gesagt, sie mir über den Kopf ziehen, damit ich weitere vierundzwanzig Stunden lang nicht atmen konnte (ein Grab auf dem Friedhof zu bekommen, war ausgeschlossen). »Du kannst dabei sterben, Mann«, sagte Minolta, »aber wenn’s für eine gute Sache ist, okay.« Zwei Betrüger zu entlarven, das war eine gute Sache. Bevor ich die Flüssigkeit trank, verabreichte Mariazinha
mir ein Läuterungsbad. Sie streute grobes Salz in einen Eimer heißes Wasser, stellte mich nackt in die Duschbox, und bevor sie mich mit dem salzigen Wasser übergoß, sprach sie folgendes Gebet, und ich sprach es nach: »Schutzengel, Helfer und Beschützer, verströmet euren Einfluß auf mich, auf daß ich in den Besitz von Kraft, Glaube und Festigkeit des Denkens gelange und eure Schwingungen und Segnungen fühle, während ich mich dieser Waschung unterziehe. So geschehe es.« Ich glaubte zwar nicht an Beschwörungen, aber dieses Bad stärkte aus irgendeinem Grunde meine Zuversicht. Ich legte mich auf den Fußboden. Ich wollte Siri und Mariazinha nicht um den Genuß ihres bequemen Bettes bringen. Für das Ergebnis des Experimentes spielte es keine Rolle, ob ich auf dem Fußboden oder im Bett lag. »Gib mir das Zeug zu trinken«, sagte ich. »Hast du eine Mutter?« fragte Mariazinha. »Stell dich nicht so an«, sagte ich. »Gottes Wille geschehe«, sagte Siri. »Scheiße«, sagte Mariazinha, »glaubst du jetzt auf einmal an Gott?« »Hier geht’s jetzt um Hexenwerk«, sagte Siri, »bei allen Hexereien ist Gott im Spiel.« »Hast du eine Mutter?« fragte Mariazinha nochmal. »Warum?« »Falls irgendwas Schlimmes passiert, würde deine Mutter das doch erfahren wollen.« »Mütter wollen alles erfahren, nur keine schlimmen Sachen«, sagte Siri. »Nerv uns nicht. Mach schon, Junge.« Ich schluckte den Trunk.
»Spürst du irgend etwas?« fragte Minolta. »Bislang nicht.« Ich spürte überhaupt nichts. Vielleicht dauert es, bis es wirkt, dachte ich. Und sackte weg. Ganz allmählich kam ich zu mir. Zuerst kehrte der Geruchssinn zurück – es war ein Geruch, den ich kannte, aber nicht gleich erkannte. (Es waren Räucherstäbchen, die Mariazinha verbrannt hatte.) Dann begann ich Geräusche zu hören, gedämpfte Stimmen, Geklapper von Geschirr, Hupen von draußen. Das Sehen kam zuletzt, auch deshalb, weil ich die Augen geschlossen hielt, während ich allmählich wieder zu mir kam. Die drei, Minolta, Mariazinha und Siri, beugten sich besorgt über mich. »Du hast uns einen verdammten Schreck eingejagt«, sagte Siri. »Du hast zwar gesagt, daß du wie tot sein würdest, wir waren also drauf vorbereitet, aber trotzdem haben wir uns Sorgen gemacht.« »Ich hab’ noch keinen Toten gesehen, der toter war als du. Man kam richtig auf Beerdigungsgedanken«, sagte Minolta. »Habt ihr einen Arzt geholt?« war das erste, was ich sagte. »Ja. Hier ist der Totenschein. Er hat dich untersucht und deinen Tod bescheinigt.« »Habt ihr alles gemacht, was ich euch gesagt hatte?« »Haargenau so. Als er sagte, du hättest einen Infarkt gehabt, habe ich verzweifelt gesagt, das könne nicht sein,
er solle dich noch einmal untersuchen, du hättest eine eiserne Gesundheit gehabt, es hätte in der Familie einen Fall gegeben, ein Onkel, den man für tot gehalten hätte, der sei bei der Totenwache aus dem Sarg gesprungen und hätte alle Leute erschreckt.« »Die Geschichte vom Onkel hat er nicht geglaubt, das hab’ ich ihm angesehen, wahrscheinlich hat er sie für eine Erfindung der armen verzweifelten Witwe gehalten«, sagte Mariazinha. »Aber er hat ihn noch mal untersucht.« »Weil du so geschrien hast.« »Dann hat er gesagt, es tut mir sehr leid, Senhora, aber Ihr Mann ist eindeutig tot. Da konnte ich nicht anders und hab’ vor Lachen losgebrüllt.« »Ist er da mißtrauisch geworden?« fragte ich. »Nicht die Spur. Er hat mir ein paar Pillen gegeben. Wahrscheinlich hat er gedacht, ich war’ ausgeflippt. Ich hab’ alles ins Klo geworfen. Glaubst du vielleicht, daß ich Pillen nehme?« Ich griff nach meiner eigenen Sterbeurkunde und las sie mit der größten Erregung, die in dem schläfrigen Zustand, in dem ich mich befand, möglich war. Ich hatte die Beweise, die ich brauchte, um Zumbano und die Direktoren der Panamericana dazu zu bringen, das Grab öffnen zu lassen, in dem man angeblich Maurício Estrucho beerdigt hatte, und sich davon zu überzeugen, daß es leer war. Anschließend mußte man nur noch die Totengräber ausfindig machen, die an der Betrugsgeschichte beteiligt waren, und das Schwindlerpaar entlarven. Eines war merkwürdig: Während der zwei Tage, die ich
unter der Wirkung der Droge gestanden hatte, war mein Bart nicht gewachsen. Ich rasiere mich täglich jeden Morgen und Abend, weil harte Stoppeln mein ganzes Gesicht bedecken und dunkel machen. So manches Mal hatte Zilda mich aus dem Bett geworfen, damit ich mich rasierte, weil ich sie kratzte. Aber an diesem Tag – den ich in Totenstarre verbracht hatte – war bei mir nicht ein einziges Barthaar gewachsen. Mit der Sterbeurkunde in der Tasche ging ich zur Panamericana. »Was war denn los?« fragte Gomes. »Ich habe jeden Tag bei dir zu Hause angerufen und zu hören bekommen, du wärst verreist.« »Was gewissermaßen auch stimmt«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht.« »Ich muß mit Dr. Zumbano reden«, sagte ich. »Langsam. Mach keinen Unsinn. Sonst schmeißen sie dich noch raus.« »Sollen sie doch.« Dona Duda schenkte mir keine Praline. Sie begrüßte mich kühl und sagte, noch ehe ich den Mund aufmachte: »Dr. Zumbano ist beschäftigt.« »Aber ich muß ihn unbedingt sprechen.« »Ausgeschlossen. Ich sagte schon, er ist beschäftigt.« »Tut mir leid, Dona Duda«, sagte ich. Ich machte die Tür zu Dr. Zumbanos Zimmer auf und ging hinein. Dr. Zumbano las Zeitung. Er stand überrascht auf und legte die Zeitung zusammen. »Ich habe gesagt, daß Sie beschäftigt sind, aber er ist trotzdem reingegangen«, sagte Dona Duda hinter mir.
»Hinaus«, sagte Dr. Zumbano. »Ich gehe erst, wenn Sie mir zugehört haben«, antwortete ich. »Dann schaffen wir Sie mit Gewalt raus. Rufen Sie die Wachleute, Dona Duda, damit sie diesen Geistesgestörten aus meinem Zimmer entfernen.« Er war wütend, seine Stimme zitterte. »Ich habe hier sämtliche Beweise für die Machenschaften der Estruchos.« Ich zog die Sterbeurkunde aus der Tasche und hielt sie Zumbano vor die Nase. »Ist gut, Dona Duda. Ich rede mit Herrn Canabrava.« »Sie meinen, ich soll nicht – « »Nein. Sie können gehen.« In anderem Ton zu mir: »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Canabrava, und erzählen Sie. Vielleicht haben Sie recht.« Ich erzählte Zumbano die ganze Geschichte. Von meinem ersten Verdacht, meinen Recherchen in der Nationalbibliothek (»Das steht in dem Bericht, den ich Ihnen gegeben habe«), Ceressos Hilfe und schließlich von dem Experiment, mit dem ich mich selbst in den Zustand der Totenstarre versetzt hatte, woraus der Arzt geschlossen hatte, ich sei gestorben. »Hier ist die Sterbeurkunde.« »Hm«, sagte er und las sie durch. »Sehr interessant. Hören Sie, Canabrava, sprechen Sie mit niemandem darüber, das könnte die Ermittlungen beeinträchtigen. Lassen Sie mir die Sterbeurkunde hier. Sie haben gute Arbeit geleistet. Genau das braucht die Panamericana, solche Leute, so intelligent und fleißig wie Sie. Ich werde Sie für eine Beförderung vorschlagen.«
»Vielen Dank.« »Gehen Sie in Ihr Zimmer und denken Sie daran: kein Wort. Wir müssen vorsichtig vorgehen, damit die Schwindler nicht gewarnt werden. Sie könnten einen Komplizen hier im Haus haben.« Darauf war ich noch nicht gekommen. Der Gedanke war nicht ganz abwegig. Schließlich ging es um viel Geld. Als ich in mein Zimmer zurückkam, fragte Gomes, in welcher Angelegenheit ich zu Dr. Zumbano gegangen sei. Ich redete mich damit heraus, es sei eine private Sache, ganz unwichtig. Auf einmal verdächtigte ich Gomes. Mir fiel ein, daß er in letzter Zeit sehr neugierig gewesen war, mich ausgehorcht und merkwürdige Fragen gestellt hatte. »Dann eben nicht, wenn du’s nicht erzählen willst«, sagte Gomes, »aber ich weiß, daß du mir irgend etwas verheimlichst, etwas Ernstes.« Den ganzen Tag über tat ich nichts. Gomes wurde zu Zumbano bestellt und ging anschließend einen Auftrag erledigen. Nach Büroschluß fuhr ich nach Hause. Ich erzählte Minolta, Mariazinha und Siri, was passiert war. Dann rief ich Dr. Ceresso von der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien an, um ihm zu sagen, wie großartig er uns geholfen hatte. Anschließend fragte ich ihn, ob er Lust hätte, am folgenden Samstag zu uns zum Abendessen zu kommen. »Ich bin Vegetarier«, sagte er. »Wir auch. Ich möchte, daß Sie meine Freunde Minolta, Mariazinha und Siri kennenlernen.« Ceresso nahm die Einladung an und sagte sein Kommen zu.
»Heute war hier ein Mann und hat uns befragt. Von wo kam er doch noch, Siri?« sagte Mariazinha. »Von der BNH.« »Der BNH? Der staatlichen Bank für „Wohnungsbau?« »Genau. Er wollte wissen, wie viele Personen in der Wohnung leben, was wir von Beruf sind, ob wir Kinder haben. Für eine Erhebung, die sie für irgendwas machen.« »Ein verdrehter, wirrer Typ, richtig nervtötend«, sagte Minolta. Am nächsten Tag kam ich zur üblichen Zeit in die Panamericana. Kurz vor Arbeitsbeginn, wie üblich. Am späten Vormittag, Gomes war noch immer nicht erschienen, wurde ich in die Personalabteilung gerufen. Ich ging hin und erlebte einen Schock. Man hatte mir gekündigt. »Das kann nicht sein. Das muß ein Irrtum sein.« »Anweisung der Direktion«, sagte der Angestellte der Personalabteilung. »Ich sollte Ihre Abrechnung machen. Es ist alles fertig.« Ich unterschrieb die Papiere nicht. Ich rannte zu Zumbanos Büro. In Dona Dudas Zimmer saß ein Wachmann und las Zeitung. Als ich das Zimmer betrat, gab die Sekretärin ihm ein Zeichen. »Ich möchte mit Dr. Zumbano sprechen. Da liegt ein Irrtum vor, man hat mir gekündigt«, sagte ich. »Dr. Zumbano ist nicht da«, sagte Dona Duda. »Er ist nicht da«, sagte der Wachmann und stellte sich vor die Tür. Plötzlich ging mir ein Licht auf!
Zumbano gehörte bestimmt zum Komplott! Ich Idiot, daß ich das nicht gleich zu Anfang gemerkt hatte. Statt dessen hatte ich ihm auch noch die Sterbeurkunde gegeben! Ich mußte ruhig bleiben, es nützte nichts, mich auf ihr Spiel einzulassen. Bestimmt war Dr. Ribeiroles, der Leiter der Rechtsabteilung, nicht in den Betrug verwickelt. Ich mußte mir eine neue Sterbeurkunde besorgen. Der Arzt, der sie ausgestellt hatte, hieß Pedro M. Silva. Seine Praxis lag in der Avenida Nossa Senhora de Copacabana, in der Nähe vom Kino Art Palácio. Wir hatten ihn aus dem Telefonbuch rausgesucht, weil er seine Praxis nicht weit von meiner Wohnung in der Rua Figueiredo Magalhães, fast an der Ecke Rua Domingos Ferreira hatte (bestimmt würde er sich nicht weigern, einen Kranken zu behandeln, der so nah wohnte) und weil er Herzspezialist war. Man sagte mir, der Arzt komme um zwei Uhr. Ich rief Minolta an und bat sie, in die Praxis zu gehen und mit der Behauptung, sie habe die erste Urkunde verloren, sich eine Abschrift zu besorgen. Ich verabredete mich mit ihr für halb drei am Kinoeingang. Es war elf Uhr vormittags. Ich mußte die Zeit bis zum Treffen mit Minolta irgendwie herumbringen. Ich beschloß, Ceresso in der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien im Marquês-do-Herval-Haus in der Avenida Rio Branco, Ecke Avenida Almirante Barroso zu besuchen. Eine Frau empfing mich. »Sie wissen es noch nicht?«
»Was?« »Dr. Ceresso hat sich heute nacht umgebracht. Der Ärmste.« »Sich umgebracht? Dr. Ceresso? Das kann nicht sein. Ich habe noch gestern abend mit ihm telefoniert. Das muß ein Irrtum sein.« Ich konnte nicht glauben, was die Frau gesagt hatte. »Er ist bei sich zu Hause aus dem Fenster gesprungen. Frühmorgens. Es ging ihm nicht gut, dem Ärmsten, er war sehr krank, wußten Sie das nicht?« Schaudernd fuhr ich im berstend vollen Fahrstuhl nach unten; am liebsten hätte ich geschrien. Die Halunken hatten den armen Alten umgebracht. Ich war so blöd gewesen und hatte Zumbano erzählt, daß Ceresso mir bei den Recherchen geholfen hatte. Gut möglich, daß sie mich auch umbrachten. Ich mußte schleunigst irgend etwas unternehmen. Zur Polizei gehen? Mit Ribeiroles sprechen? Erst zu Ribeiroles gehen und dann zur Polizei? Ich war ganz durcheinander. Erst die Sterbeurkunde, entschied ich. Inzwischen hatte Zumbano bestimmt schon in der Gesellschaft verbreitet, daß ich verrückt sei. Dona Duda und Gomes würden jede Behauptung dieser Art bekräftigen. Meine Situation sah gar nicht gut aus. Vermutlich gehörte der Typ, der bei mir zu Hause gewesen war und gesagt hatte, er käme von der BNH, auch zu der Bande. Ich rief zu Hause an, aber niemand nahm ab. Es war Viertel nach eins. Wie langsam die Zeit verging! Um halb drei wollte ich mich mit Minolta treffen und mir die Sterbeurkunde
geben lassen. Im Bus auf dem Weg nach Copacabana merkte ich, daß ich Selbstgespräche führte. Ich murmelte zwischen den Zähnen: Wie kann ich beweisen, daß Ceresso umgebracht wurde? Zuerst mußten die Verbrecher entlarvt werden, die direkt in der Panamericana saßen, das würde mir die notwendige Glaubwürdigkeit verschaffen, um verlangen zu können, daß man den Tod des Präsidenten der Brasilianischen Gesellschaft zum Schutz der Amphibien untersuchte. Um zwei Uhr fünfundvierzig erschien Minolta vor dem Art Palácio. Als sie mich sah, fing sie schon von weitem an, erregt zu gestikulieren und Fratzen zu ziehen. »Hast du die Bescheinigung bekommen?« fragte ich beklommen, denn ich spürte, daß irgend etwas schiefgegangen war. »Nein, der Kerl hat gesagt, er hätte überhaupt keine Sterbeurkunde auf den Namen Ivan Canabrava ausgestellt, er wüßte nicht, wer das sei, und als ich böse geworden bin und ihn als Lügner beschimpft habe, sagte er zu seiner Helferin, sie solle die Leute vom Irrenhaus rufen. Ich habe weitergeschimpft:, und die Frau hat beim Irrenhaus angerufen und gesagt, eine Patientin hätte einen Psychose-Anfall in der Praxis. Da bin ich abgehauen, was sollte ich sonst machen?« Mir kam eine glänzende Idee. »Jetzt können wir nur noch eins machen«, sagte ich. »Und was?« Ich erzählte Minolta, was ich vorhatte. »Das ist ja Wahnsinn«, sagte Minolta. »Hilfst du mir?«
»Ja, natürlich helfe ich dir. Wo können wir die Sachen kaufen?« »Dazu braucht man nur im Telefonbuch nachzusehen.« »Wir brauchen auch einen großen Sack.« »Ja, dann los, wir haben nicht viel Zeit.« Es war Viertel nach vier, als wir am Friedhof São João Batista ankamen, beladen mit einem großen Sack, in dem sich eine Spitzhacke mit kurzem Griff, ein Keilhammer, ein Stechbeitel und eine Schaufel, ebenfalls mit kurzem Griff, befanden. »Weißt du, wo der Mann begraben ist?« fragte Minolta. »Ich weiß, wo er nicht begraben ist. Ich war bei der falschen Beerdigung dabei; das Grab liegt in der Nähe von einem großen Mausoleum, ganz im Rokokostil, es ist leicht zu finden.« Mein Plan sah so aus: Ich wollte das Grab freilegen und dann den Friedhofsverwalter, die Totengräber, die Presse, die Polizei, weiß der Himmel wen rufen, damit alle sehen konnten, daß das Grab leer war. Das würde einen Skandal von solchem Ausmaß geben, daß er nicht mehr vertuscht werden konnte, das Fernsehen würde darüber berichten, und die Verbrecher würden endlich bestraft werden. Die falsche Grabstätte hatte man mit einer schwarzen Marmorplatte abgedeckt, auf der nur Maurício Estrucho und die Daten seiner Geburt und seines (angeblichen) Todes standen. »Du nimmst den Stechbeitel und den Keilhammer. Ich arbeite mit der Spitzhacke.« Dieser verfluchte Marmor! Die Platte war so
festzementiert, daß man sie zerschlagen mußte, um sie zu entfernen. Ganz offensichtlich sollte dieses Grab nie wieder geöffnet werden. Ich fing an, wie wild mit der Hacke auf den Marmor zu hauen. Minolta trieb mit dem Stechbeitel und dem Keilhammer Löcher in die glatte Oberfläche der Grabplatte. Nach und nach splitterte der Marmor ab, und endlich gelang es uns, ihn hochzustemmen, worauf die Zementplatte zum Vorschein kam, die das Grab bedeckte. »Halt! Halt!« schrie eine Stimme. Nicht weit von uns stand ein Totengräber und sah erschrocken zu uns herüber. Ich lief zu ihm. Ich packte ihn am Arm. »Halt den Mund«, sagte ich, »sei still, sonst schlag’ ich dir diese Hacke über den Schädel.« Ich mußte dieses Grab unbedingt ganz freilegen. »Hilfe!« schrie der Totengräber. »Hilfe!« Vermutlich war auch er an dem Betrug beteiligt. Auf das Geschrei des Totengräbers hin hörte Minolta auf zu arbeiten und stand ratlos da. »Halt den Mund«, sagte ich und schüttelte den Totengräber, einen alten, grauhaarigen Mann. »Hilfe!« schrie der Totengräber erneut mit kraftloser Stimme. Wir befanden uns mitten auf dem Friedhof, weitab von der Straße, und niemand schien seine Schreie gehört zu haben. »Bitte, sei still«, flehte ich. »Hilfe, Diebe!« schrie der Totengräber mit kreischender Stimme. Da schlug ich dem Totengräber die Hacke mit voller Wucht auf den Kopf. Er fiel mit blutüberströmtem Gesicht um.
»Ist er tot?« fragte Minolta. Ich hörte einen Pfiff. Von weitem, von den Kapellen her, kamen ein paar Gestalten in unsere Richtung gelaufen. »Weg hier«, sagte ich. Aber Minolta rührte sich nicht. »Ist er tot?« fragte sie und hielt noch immer Stechbeitel und Keilhammer in der Hand. Ich packte sie am Arm, riß sie mit, und da schien sie aus einer Art Trance zu erwachen und rannte mit mir durch den Hauptausgang hinaus. Unterwegs ließen wir Spitzhacke, Keilhammer, sämtliches Werkzeug fallen. Schließlich erwischten wir ein Taxi. Wir packten unsere Sachen, und während Minolta sagte: »Komm, wir müssen uns beeilen«, beschloß ich, Mariazinha und Siri eine Nachricht zu hinterlassen. Hätte ich das nicht getan, wäre ich der Verhaftung entgangen. In dem Augenblick, als wir das Gebäude verließen, fuhr ein Wagen der Polizei vor. Drinnen saß Gomes. Was danach geschah, habe ich versucht zu vergessen, aber hin und wieder kommt es in Form eines Albtraums zurück. Man brachte mich zuerst auf ein Kommissariat, dann auf ein anderes und zuletzt zur Untersuchung in die Zwangsheilanstalt. In der Zwangsheilanstalt erwies sich, daß sie mich für verrückt hielten oder dafür bezahlt worden waren, mich für verrückt zu halten. Das machte mich so rasend, daß ich mich aufführte, als wäre ich tatsächlich verrückt. Ich bekam einen Anfall von Verfolgungswahn, so sicher war ich mir, daß die Ärzte am Komplott beteiligt waren. Ich beschimpfte die Mediziner als finstere Mafiosi, wurde einem gegenüber handgreiflich und versuchte, aus der Station zu fliehen. Ich ritt mich immer tiefer hinein. Mir wurde klar, daß ich den Rest meines Lebens dort verbringen und von einem Arzt
zum nächsten wandern würde, bis ich am Ende wirklich verrückt wurde oder irgend jemanden umbrachte und ihnen damit einen Grund lieferte, mich einzusperren. Bei diesen Gedanken packte mich das Grauen. Heute versuche ich, aus meinem Kopf zu verbannen, was damals geschehen ist, und mache ständig gezielte Gedächtnisübungen, nicht um mich daran zu erinnern, sondern um das alles zu vergessen. Ich werde nicht viel über die Zeit sagen, die ich in der Zwangsheilanstalt, dieser grauenhaften Hölle, eingesperrt saß. Die normalen Anstalten, wo weniger strenge Vorschriften herrschen, sind vermutlich voll von Leuten in der gleichen Situation. Eine Zwangsheilanstalt ist viel, viel schlimmer. Wie viele Unschuldige wie ich, der den Totengräber aus Versehen getötet hatte, mochten dort zugrunde gehen? Nachdem ich ganze Nächte hindurch, wie viele, weiß ich nicht, vor Fieber zitternd Stimmen gehört und jede Hoffnung verloren hatte, ahnte ich, daß ich irgendwann wirklich durchdrehen würde. Mir war zumute wie dem Autor von Paradise Lost: So farewell Hope, and with Hope farewell Fear, / Farewell Remorse: all Good to me is lost; / Evil be thou my Good. Am Morgen des Tages, an dem meine Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam ein Wächter und sagte, meine Schwester und ein Pater hätten die Erlaubnis erhalten, mich zu besuchen. Ich lag auf der schmalen, verdreckten Pritsche der winzigen Zelle. Überrascht stand ich auf. »Ivan, mein Ivan«, sagte meine Schwester und umarmte mich. »Ich habe Pater João mitgebracht, damit du beichten kannst.«
»Lassen Sie uns allein«, sagte der Pater, ein schwarzbärtiger Mann, zu dem Wächter. Als der Wächter weg war, sagte Minolta: »Du gehst mit mir raus.« »Ich bleibe statt deiner hier«, sagte Siri und nahm den falschen Bart und die Soutane ab. »Die bringen dich hier um in diesem Inferno, das kann ich nicht zulassen, daß du so etwas für mich machst«, sagte ich. Minolta erklärte mir, Siri sei nicht so ein verrückter Grabschänder wie ich. Sie hätten einen Anwalt gefragt, und das, was man Siri zur Last legen könne, sei eine Kleinigkeit. Schließlich überzeugten mich die beiden. Unbehelligt gelangte ich durch sämtliche Türen in meiner Verkleidung als Pater, der eine arme, unglückliche junge Frau tröstete, die so laut jammerte, daß keiner auf mich achtete. Die Wächter waren dankbar, daß sie Minoltas Geschrei loswurden. Einer nahm mich sogar am Arm (worüber ich vor Schreck fast gestorben wäre) und sagte: »Pater, bringen Sie bloß dieses Mädchen schnell raus.« Von der Heilanstalt fuhren wir direkt zum Busbahnhof. In der Toilette des Busbahnhofs zog ich die Sachen an, die Minolta in einem Köfferchen mitgebracht hatte, nahm den Bart ab und steckte ihn zusammen mit der Soutane in den Koffer. Wir stiegen in einen Bus und fuhren in die Seengegend, an einen Ort namens Iguaba. Dort blieb ich zehn Jahre. Minolta schlug mir vor, Schriftsteller zu werden, und brachte mich auf die Idee zu meinem ersten Buch. Minolta trug das Buch zu einem
Verleger und sorgte dafür, daß es veröffentlicht wurde. Für mein Pseudonym Gustavo Flávio entschied ich mich zu Ehren von Flaubert; damals haßte ich die Frauen, genau wie Flaubert. Heute würde ich einem anderen Schriftsteller meine Reverenz erweisen. Minolta brachte mir die Kunst des Liebens bei. Sie brachte mir die Freuden des Essens bei. Wir machten täglich mehrmals Liebe. Ich nahm dreißig Kilo zu. Und wurde berühmt. Eines Tages kam Minolta zu mir und sagte: »Ich glaube, du kannst nach Rio zurück. Keiner denkt mehr an Ivan Canabrava.« »Kommst du mit?« »Nein. Aber ich liebe dich und werde dich regelmäßig besuchen. Ich komme alle sechs Monate zu dir. Ich will hier bleiben, an diesen menschenleeren Stränden, und meine Gedichte schreiben. Sei gut zu den Frauen.« Sie wußte, daß ich durch sie die Lust an der Liebe mit den Frauen entdeckt hatte. Seit ich vor zehn Jahren nach Rio zurückgekehrt bin, kommt Minolta mich alle sechs Monate besuchen. Ich erzähle ihr von meinen Abenteuern. Das letzte war meine Romanze mit Delfina Delamare. Zurück zu dem Bericht über die Romanze mit Delfina Delamare, den ich unterbrochen habe, um von meiner dunklen Vergangenheit zu erzählen. Nach Eugênio Delamares Drohung machte ich mir zwei Tage lang Sorgen, bis ich in den Klatschspalten der Zeitungen las, daß das Ehepaar Delamare nach Paris abgereist war.
»Den Rest kennst du schon, Delfina kam früher zurück, wurde tot aufgefunden et cetera. Ihr Mann beschäftigt mich nicht so sehr wie der Polyp Guedes, dieser schäbige Spürhund.« Das sagte ich zu Minolta, ehe ich zur Wache ging, wo Guedes mir sagte, daß ein Straßenräuber gestanden habe, Delfina ermordet zu haben. Bei der Rückkehr von der Wache plagte mich die Angst, Guedes könne meine dunkle Vergangenheit herausbekommen. Minolta beruhigte mich mit den Worten, das sei unmöglich. Es sei schon so lange her et cetera. »Viel mehr Sorgen macht mir, daß du es nicht schaffst, Bufo & Spallanzani zu schreiben«, sagte sie. Da kamen wir auf die Idee, ich könnte für ein paar Tage in ein Haus namens Refúgio do Pico do Gavião in den Bergen von Bocaina fahren. »Vielleicht wäre es das beste, wenn du deinen TRS-80 mal eine Weile stehen ließest. Du hast dich zu sehr an ihn gewöhnt, das ist nicht gut. Ein Schriftsteller muß in jeder Situation schreiben können«, sagte Minolta.
Teil III Im Refúgio do Pico do Gavião
Eigentlich kann man mir nicht vorwerfen, ich hätte Guedes unterschätzt. Wie alle Menschen – Unbescholtene wie Kriminelle – hatte ich natürlich eine Aversion gegen die Polizei. Wie ich schon sagte, hatte ich, während ich in der Zwangsheilanstalt saß, schwer gelitten in den Klauen der Hüter des Gesetzes und der Ordnung, egal, ob es Polizisten, Richter, Staatsanwälte waren oder Ärzte oder Pfleger. Kann man zum Beispiel den Starrkrampf unterschätzen? Aber ich greife voraus und spreche von Dingen, die nicht hierher gehören, und Schriftsteller verabscheuen Durcheinander und Unordnung. Das ist Teil unserer inneren schizoiden Zerrissenheit (vgl. W. Whitman). Wir lehnen das Chaos ab, mißbilligen aber noch mehr die Ordnung. Ein Schriftsteller muß von seinem Wesen her subversiv sein, und seine Sprache kann weder die mystifizierende Sprache des Politikers (oder Erziehers) noch die repressive des Herrschenden sein. Unsere Sprache muß die des Nicht-Konformismus, der Nicht-Falschheit, der Nicht-Unterdrückung sein. Wir wollen nicht Ordnung in das Chaos bringen, wie manche Theoretiker vermuten. Wir wollen es auch nicht begreifbar machen. Wir stellen immer alles in Frage, auch die Logik. Ein Schriftsteller muß ein Skeptiker sein. Er muß gegen die Moral und die
guten Sitten sein. Properz mag sich gescheut haben, gewisse Dinge zu erzählen, die seine Augen sahen, aber er wußte, daß die Poesie ihren besten Stoff aus den »schlechten Sitten« holt (vgl. Veyne). Die Poesie, die Kunst schlechthin geht über die Kriterien der Nützlichkeit und Schädlichkeit, ja selbst der Verständlichkeit hinaus. Jede auffallend verständliche Sprache ist verlogen. Dies sage ich heute, aber ich kann nicht versprechen, daß ich noch in einem Monat an diese oder irgendeine andere Aussage glaube, denn ich besitze die schöne Eigenschaft der Inkohärenz. Was die anderen Personen – Guedes, Orion, Suzy, Delfina, selbst Minolta et cetera – sagen oder denken, damit habe ich nichts zu tun. Deren Meinungen sind nicht meine. Aber nehmen wir den Faden wieder auf. Ich kam als erster auf dem Dorfplatz von Pereiras an, dem kleinen Ort am Fuße des Gebirges. Ich setzte mich in der Grünanlage, über der noch der Morgennebel hing, auf eine Bank. Ich bin heute zwar ein träger Mensch, aber ich bin auch nervös und warte nicht gern. Ich hätte lesen können, aber die Bücher, die ich mitgenommen hatte, waren im Koffer. Also zog ich einen Notizblock aus der Tasche und versuchte, mein Unvermögen, mit der Hand zu schreiben, das in den letzten Jahren durch die Gewöhnung an den TRS-80 noch schlimmer geworden war, zu überwinden und Notizen zu Bufo & Spallanzani zu machen. In diesem Augenblick fuhr eine riesige Limousine auf dem Platz vor, und ihr entstiegen eine Frau (die Frauen sah ich immer zuerst) und ein Mann. Die blasiert wirkende Frau blickte gelangweilt über den Platz und über meinen Kopf hinweg, was
beabsichtigt sein mußte, denn ich bin viel zu groß und attraktiv, als daß irgendeine Frau mich auf einem leeren Platz übersehen könnte. Der Mann sah dem Chauffeur zu, wie er drei große Koffer aus feinem Leder aus dem Kofferraum lud; anschließend entließ er seinen Angestellten mit einem angedeuteten Kopfnicken. Wie diese Menschen beschreiben? Als bemerkenswert? Außergewöhnlich? Da ich den Block in der Hand hielt (und wie sehr unterscheidet sich doch das, was man denkt, von dem, was man schreibt!), schrieb ich: Beeindruckend und ausgefallen – ungewöhnlich, wunderbar, unerhört? Oder nur extravagant – insanus, stultus? Sie waren vor allem schlank (mehr noch als geschmeidig und anmutig), mit der ganzen Sinnlichkeit, die die Schlankheit einem so monumental Dicken wie mir suggeriert. Die Frau trug lange, weite Hosen, die jedoch nicht die Massigkeit (nicht Massigkeit, die straffe Rundlichkeit) ihrer langen Schenkel verbargen; die Knospen ihrer runden, festen Brüste schienen ihre Trikotbluse durchbohren zu wollen. Bestimmte Wörter, die ich nur mit Frauen in Verbindung bringe, kamen mir in den Sinn: prachtvoll, üppig. Ihr Gesicht indes zeigte, wie ich fand, einen verächtlichen Ausdruck, zumindest in jenem Augenblick des Haßgefühls. Ich hasse alle Frauen, solange sie unbezwungen sind. Ich glaube, das ist bei allen Lüstlingen so. Und der Mann, nun, der hatte trotz seines kräftigen Kinns und seiner breiten Schultern etwas von einem verwöhnten Kind, eine gezierte Art, die Lippen aufeinanderzupressen, den Kopf zu drehen, die Hände in die Taschen zu stecken und herauszunehmen. Die beiden,
das muß ich hinzufügen, kamen mir irgendwie bekannt vor. Ich war so in Gedanken bei dem Paar, daß ich nicht sah, woher der Mensch mit dem Handkoffer kam, der mitten auf dem kleinen Platz auftauchte. Da außer der Limousine kein anderer Wagen gekommen war, konnte er auch schon vor mir dagewesen sein, sich hinter einem Baum versteckt haben. Er war einer von der Sorte, die sich vor anderen verstecken. Er sah verängstigt, schrullig und arglistig aus; er trug verwaschene Jeans und eine dick gefütterte Nylonjacke. Ab und zu rieb er seine Hände, als wäre ihm kalt. Als zwei Taxis auf dem Platz hielten, schien er in Panik zu geraten und versteckte sich schnell hinter einem Baum. Aus einem der beiden Taxis stieg ein weiteres Paar. Die Frau war jung und hatte ein rundes Gesicht mit Grübchen; ihre platinblonden Haare glänzten im Sonnenlicht, das sehr weiß hinter den fernen blauen Bergen hervorkam. Ihre Brüste waren groß und einladend. Sie bewegte sich etwas schwerfällig, wie jemand, der bis zu den Knöcheln in Schlamm geht. Der Mann in ihrer Begleitung war ebenfalls korpulent, hatte lange Haare und eine Hakennase; er trug einen Geigenkasten, den er vorsichtig auf die beiden Koffer setzte, die sie aus dem Taxi geholt hatten. Aus dem zweiten Taxi stieg ein blasser junger Mann mit sehr kurzen, hellen Haaren. Er trug ein weites, langes blaues Samtjackett, das ihn noch dünner machte. Er wirkte bedrückt, unsicher und leicht argwöhnisch, doch nicht so sehr wie der andere, der sich hinter den Bäumen versteckt hatte.
Da stellte ich fest, daß es mit mir schon sieben Personen waren, die darauf warteten, zum Refúgio do Pico do Gavião gefahren zu werden. Ich wurde sehr ungehalten. Ich nahm diese Reise ans Ende der Welt, die bestimmt unangenehm und anstrengend sein würde, auf mich, weil ich mich isolieren wollte, um Bufo & Spallanzani schreiben zu können. Am liebsten wäre ich wieder gegangen. Da fiel mir ein, daß der Mann vom Refúgio gesagt hatte, ich könnte die Mahlzeiten im Bungalow zu mir nehmen und würde die anderen Gäste überhaupt nicht merken, falls ich allein sein wollte. Zurück zur Sache. Es kamen noch zwei weitere Personen, zwei Frauen, die so taten, als merkten sie die Blicke der anderen nicht. Beide waren hübsch, die eine wesentlich älter als die andere, und beide waren unauffällig elegant gekleidet. Gleich darauf fuhr ein gelb lackierter Minibus vor. Heraus stieg ein sehr dicker und großer rotgesichtiger Mann mit Bauch und widerspenstigem, dichtem weißem Haar. Er sagte, er sei Senhor Trindade vom Refúgio do Pico do Gavião und derjenige, mit dem wir am Telefon gesprochen hatten. Außerdem entstieg dem Bus ein Fahrer namens Sebastião, der so schwarz war, daß er tiefblau aussah. Sebastião sammelte von allen das Gepäck ein und verstaute es im Bus. Der Neurotiker mit dem schwarzen Handkoffer sträubte sich ein bißchen, stieg dann aber doch ein. Der Mann mit den langen Haaren behielt seinen Geigenkasten in der Hand. Der junge Mann im Samtjackett setzte sich nach hinten. Bevor der Bus abfuhr, sprang der verschreckte Mensch mit seinem schwarzen Köfferchen heraus, lief zu aller
Verblüffung über den Platz und verschwand. Das verursachte eine kleine Aufregung, die aber nicht lange anhielt. Kurz darauf saßen wir wieder auf unseren Plätzen und fuhren ab. Unterwegs erfuhren wir, daß wir zwei Stunden bis zu der Stelle brauchen würden, wo der Traktor stand, und dann noch zwei Stunden im Anhänger des Traktors fahren müßten. Jemand fragte, ob es beim Refúgio Schlangen gebe, und Trindade antwortete, es gebe dort Pferde, Hirsche, Pakas, Otter, Tausende von Vögeln und Sternen und natürlich Falken. Die Nächte seien kalt. In diesem Augenblick hörte ich die elegante Frau zu ihrem Begleiter sagen, sie hätte ihren Bisonmantel mitbringen sollen. Sie hat also einen Bisonmantel, dachte ich, diese schändliche Räuberin, diese blöde Exhibitionistin. Ich schaute mir ihr schönes, aber kaltes Profil an. Jedesmal wenn der Bus in eines der vielen Schlaglöcher der Straße geriet, schlugen fast alle mit dem Kopf an die Decke; sie war die einzige, deren Bewegungen dann nicht grotesk wurden, und sie brachte es fertig, sich mit der Anmut einer Tänzerin hinauf- und hinunterstoßen zu lassen. Das heißt, sofern irgendein Choreograph sich einmal ein Ballett ausdenken sollte, das im Sitzen zu tanzen wäre. Der breitschultrige Mann an ihrer Seite behauptete sich ebenfalls gegen die Rüttelstöße. Die Platinblonde klammerte sich an ihren Mann und stieß kurze fröhliche Schreie aus. Der dünne junge Mann schien keine Folgen dieser unangenehmen Schaukelei zu spüren, vielleicht, weil er sehr dünn war. Je weiter wir in den Wald kamen, um so kühler wurde
die Luft, die Sonne drang mit zarten Lichtstrahlen durch die dichten Baumkronen. Endlich gelangten wir zu einer Lichtung, wo unser Traktor stand, gedrungen wie ein riesiges schlafendes Tier. Nachdem wir in den Anhänger des Traktors umgestiegen waren, wurde die Straße immer steiler, und zeitweilig schienen die Passagiere Angst zu haben, der Traktor könnte in einer Art Salto mortale rückwärts umkippen. Anhand der Unterhaltung, die im Bus und danach im Anhänger stattfand, konnte ich mir ein Bild von meinen Reisegefährten machen. Die beiden Frauen, Suzy und Euridíce, waren Cousinen, zwei hübsche Frauen, die mich aber nicht so sehr reizten wie die mit dem Bisonmantel, die, wie ich herausfand, Roma hieß. Roma und ihr Mann waren Tänzer am Colón in Buenos Aires, obwohl von Haus aus Brasilianer. (Ich muß gestehen, wenn es eine künstlerische Ausdrucksform gibt, die mich nicht interessiert, dann ist es das Ballett.) Der Mann mit der Geige war ein recht bekannter Maestro, Orion Pacheco, und seine Frau die bekannte Primadonna Juliana Pacheco. Der dürre Mensch im blauen Jackett hieß Carlos und erzählte praktisch nichts über sich; vermutlich verbrach er heimlich Gedichte. »Ich habe eine Sterbensangst vor Schlangen«, sagte Juliana. Aus der Nähe gesehen und mit ihrer Schlangenfurcht wirkte die Sängerin nicht so beeindruckend wie auf der Bühne. Dem Maestro schienen die Schluchten seitlich des Weges Sorgen zu bereiten. »Sie werden im Refúgio Tiere zu sehen bekommen, die
Sie vermutlich noch nie in Ihrem Leben gesehen haben: Hirsche, Pakas, Gürteltiere, Otter – « »Otter?« fragte Roma. »Ich glaube, ich fahre von hier mit einem Pelzmantel weg«, sagte Suzy. Suzy besaß in Rio de Janeiro eine Boutique. »Abgesehen von der Fauna werden Sie von den Sternen am Himmel begeistert sein. Das ist ein so phantastisches Schauspiel, daß ich sogar zu einer Art Amateurastronom geworden bin, seit ich hierhergezogen bin. Ein Autodidakt, verstehen Sie? Habe aber allerhand Bücher gelesen.« »Kann man das Kreuz des Südens sehen?« »Natürlich. Wir befinden uns auf dem vierundzwanzigsten Breitengrad. Um diese Jahreszeit kann man es bis vier Uhr morgens in seiner vollen Größe sehen.« Endlich erblickten wir das Hauptgebäude des Refúgio, das Trindade als den »Kasten« bezeichnete. Es lag auf einem weiten, riesigen Plateau, inmitten von Bäumen. Der Traktor hielt vor einem breiten, blaugestrichenen Tor. Von beiden Seiten des Tores zog sich eine dichte Hecke aus Hibiskus, Allamanda und Korallenkaktus bis zum Wald, wo sie zwischen den Bäumen verschwand. Orion erkundigte sich nach der Größe des Besitztums. Trindade erklärte, es seien sechshundert Minas-Alqueires, und ein Minas-Alqueire entspreche achtundvierzigtausendvierhundert Quadratmetern. »Wir haben reichlich Platz«, sagte er. Der Traktor blieb neben dem Haupthaus stehen. Hier befanden sich die Gemeinschaftsräume – Speisesaal, Küche, diverse Salons sowie die Räume, in denen
Trindade, seine Frau Rizoleta, die in der Küche das Zepter führte, und die übrigen Angestellten des Refúgio wohnten. Die Bungalows der Gäste waren nicht zu sehen. Vor der Tür des Haupthauses stand ein Toyota-Jeep. Sebastião stieg aus und lud die Koffer aus dem Anhänger. »Sebastião bringt alle im Jeep zu ihren Bungalows. Es können immer nur zwei auf einmal fahren«, sagte Trindade. Seelenruhig, als hätten sie ein Recht auf Vortritt, stiegen Orion und Juliana Pacheco in das Fahrzeug, das gleich darauf losfuhr. Die anderen, ausgenommen Carlos, gingen auf die Terrasse des Haupthauses. In der Ferne grasten ein paar Pferde, und Carlos machte sich zu ihnen auf den Weg. Die Pferde sahen ihn kommen, hoben den Kopf und schnupperten, als fingen sie den Geruch ein, der von Carlos ausging. »Die scheinen ja sehr zutraulich zu sein«, sagte Roma, als sie sah, wie Carlos eines der Tiere am Hals streichelte. »Nein, der Rappe da ist so ein gerissener, wilder Kerl, daß ich ihn nicht von Gästen reiten lasse. Einmal hat es hier schon einen schweren Unfall mit ihm gegeben. Rizoleta! Das mußt du sehen.« Rizoleta erschien auf der Terrasse. »Sieh dir den Berzabum an«, sagte Trindade. In diesem Augenblick legte Carlos dem Pferd die Arme um den Hals. »Also so was, nicht zu fassen«, sagte Rizoleta mit ihrem breiten Akzent aus dem Landesinneren. »Wissen Sie, was Berzabum bedeutet?« fragte ich.
»Ja, ich wollte ihn umbenennen, aber der ist so wild, daß ich es gelassen habe«, sagte Trindade. »Was heißt denn Berzabum?« fragte Roma. »Das ist eine Verballhornung von Beelzebub. Der Teufel«, sagte ich. »Der Fürst der Finsternis«, sagte Trindade. »So heißt er zu Recht – er ist schwarz wie die Nacht.« »An diesem Jungen ist irgend etwas«, sagte Roma, womit sie Carlos meinte, »irgend etwas Besonderes.« »Seine Blässe«, sagte Suzy ironisch. »Er sieht aus wie ein Croupier.« Sebastião kam mit dem Jeep zurück. »Können wir beide jetzt fahren?« fragte Suzy. Sie war gereizt. Die beiden stiegen in den Jeep. Ich merkte, daß Suzy Euridíce kurz anstieß oder kniff, so genau konnte ich es nicht sehen. Schließlich warteten nur noch Carlos und ich auf den Fahrer. Wir sprachen nicht miteinander. Ich, der so viele Jahre lang an chronischer Appetitlosigkeit gelitten hatte, war ausgehungert und dachte nur daran, was es wohl zum Mittagessen geben würde. Da wir nur noch zu zweit waren, fuhren Carlos und ich gemeinsam zu unseren Bungalows. Der Jeep fuhr eine Erdstraße entlang, die im Bogen um das Haupthaus führte, und schlug dann einen schmalen, von dichtem Wald gesäumten Weg ein. Grüntöne in unendlich vielen Schattierungen. Auf Carlos’ Drängen setzte der Jeep zuerst mich bei meinem Bungalow ab. Die Bungalows lagen so weit auseinander, daß man im einen nichts vom nächsten sah oder hörte. Es waren recht geräumige Holzhäuser, bestehend aus Schlafraum,
Wohnzimmer mit Kamin und Badezimmer. Sowohl innen als auch außen war das Holz lackiert. Das Mönchziegeldach war vermutlich nicht so alt, wie es aussah. Es gab kein elektrisches Licht. Das bereitete mir im Hinblick auf die Verpflegung Sorgen. Ob sie wohl Kühlschränke hatten, um die verderblichen Lebensmittel aufzubewahren? In einem kleinen Prospekt, der im Wohnzimmer auf dem Tisch lag, las ich: Willkommen im Refúgio do Pico do Gavião. Das Refúgio bietet allen, die der Hektik der Großstädte entfliehen wollen, Ruhe, Stille, saubere Luft, eine friedliche Umgebung und Naturverbundenheit inmitten unberührter Wälder, deren Fauna, Flora, Wasser und Luft noch nicht durch die Beutezüge des Menschen verunstaltet, verschmutzt oder zerstört worden sind. Obwohl wir wissen, daß dieser Hinweis überflüssig ist, möchten wir unsere Gäste daran erinnern, daß es verboten ist, zu jagen, Pflanzen zu beschädigen oder das Wasser der Flüsse und Bäche zu verunreinigen. Wir bitten nachdrücklich, bei Ausflügen kein Feuer zu machen, es sei denn unter sorgfältiger Beaufsichtigung durch einen Führer des Refúgio. Laut Prospekt gab es Tausende von Pflanzen- und Tierarten in dieser Gegend, viele davon waren namentlich aufgeführt. Unter dem Punkt Fauna standen Echsen (Rennechsen, Leguane, Tejuechsen), Vögel (Saíras, Manakins, Flageolettvögel, Glockenvögel, Juriti-Tauben,
Falken natürlich, Urus, Schakupembas, Kolibris, MariaPretas, Bemtevis), Säugetiere (Hirsche, Pinseläffchen, Wildkatzen, Fischotter, Pakas, Gürteltiere, Ameisenbären, Baumwollschwanzkaninchen, Beutelratten, Coatis, Riesenotter, Ozelots, Affen) et cetera. Schlangen, Spinnen und Ratten wurden mit keinem Wort erwähnt. Auf dem Weg zum Bungalow hatte ich riesige glitzernde Spinnweben gesehen, die wie gigantische Brautschleier aussahen. Und jetzt fiel mir ein, wie verstellt Trindades Stimme geklungen hatte, als er fragte: »Haben Sie jemals eine Schlange in der Nähe vom Refúgio gesehen?«, und wie Sebastião im Brustton der Überzeugung geantwortet hatte: »Ich? Noch nie.« Ich merke am Tonfall, wenn einer lügt. Wahrscheinlich wollten sie die Frauen, die genau wie die Affen eine panische Angst vor Schlangen haben, nicht beunruhigen. Im Vertrauen: ich fühle mich im allgemeinen zu Schlangen hingezogen, vielleicht, weil ich so wenig feminin bin. Minolta hat mir einmal gesagt, ich täte so, als hätte ich Schlangen gern, um damit meine Lüsternheit zu rechtfertigen, aber was sie damit sagen wollte, habe ich nie ganz begriffen. Richtig ist, daß ich Schlangen und Frauen mag. Und dadurch, daß ich diese beiden Arten von Tieren mag, habe ich schließlich das eine oder andere über sie gelernt. Zum Beispiel: Schlangen kommen in allen Gegenden Brasiliens vor, hauptsächlich dort, wo die Natur noch nicht vollends kaputtgemacht worden ist. Und hier, im Paradies des Refúgio do Pico do Gavião, lebten bestimmt zumindest Giftschlangen, Lanzenottern und Schauerklapperschlangen, deren schändlicher wissen-
schaftlicher Name Crotalus terrificus lautet. Der Schrecken der Affen und Frauen. Die Affen plagen, wie wir alle wissen, dreierlei Ängste: die Angst zu fallen, die Angst vor der Dunkelheit und vor allem die Angst vor Schlangen. Diese Angst der Affen und der Frauen könnte eine uralte Reminiszenz unseres Reptiliengehirns sein. Wir Männer und Frauen sind Reptilien, die zu Primaten geworden sind und seitdem ihre allerersten Ursprünge leugnen. Vielleicht schreibe ich eines Tages darüber: Die Tatsache, daß es in unserem Gehirn einen »Reptilien-Komplex« genannten Teil gibt, der nach Ansicht der einen für die »menschlichere« Seite unseres Verhaltens verantwortlich ist, nach Ansicht anderer für die »animalische«, hat mich schon immer beschäftigt. In dem Prospekt stand auch noch eine Anweisung, wie man die Gaslampen anzündete, zu welchen Zeiten gegessen wurde und welche Ausflüge geplant waren. Ich duschte. Der Gasboiler funktionierte nicht richtig, das Wasser wurde nicht warm genug, aber ich wurde vom Duschen noch hungriger. Ich zog mich an und beschloß, zum Haupthaus zu gehen und nachzusehen, wie es mit den Vorbereitungen zum Mittagessen stand. Das Essensproblem machte mir zu schaffen. Da ich ein Schlemmer war, aß ich genauso gern Ikra-Kaviar wie einen Teller schwarze Bohnen. Aber das Essen mußte schmackhaft sein, nichts ärgerte mich so sehr wie schlecht zubereitete Gerichte (unabhängig davon, ob feine oder einfache Küche). Ein kleiner Pfad führte vom Bungalow zum Weg, den ich im Jeep gekommen war. Dort war einer Hinweistafel
mit Zeichnung zu entnehmen, wie man zum Haupthaus kam. Der Himmel war wolkenlos. Ich schlenderte in der Sonne, atmete die reine Luft und empfand dabei ein angenehmes Gefühl von Sinnlichkeit und Energie. Das Haupthaus wirkte verlassen. Niemand war da, weder auf der großen Terrasse noch im Speisesaal, wo die Tische bereits gedeckt waren. Dona Rizoleta und eine zweite, dicke Frau mit rotem Gesicht schufteten vor einem riesigen Holzherd, einem schwarzen, eisernen Apparat von großer Schönheit. Den Töpfen entströmte köstlicher Essensduft. Die physischen Begierden sind eng miteinander verknüpft. Der Geruch und der Anblick dieser dampfenden Töpfe weckten in mir Sehnsucht nach weiblicher Gesellschaft. Wie schön, wenn in diesem Augenblick zum Beispiel Roma gekommen wäre. Ich ging auf die Terrasse; sie war noch immer leer. Ich setzte mich in einen der segeltuchbespannten Liegestühle, die wie an Deck eines Schiffes aufgereiht dastanden, und war enttäuscht, daß ich Roma nicht angetroffen hatte. Ich versuchte, an Bufo & Spallanzani zu denken, schließlich war ich zum Schreiben zum Refúgio gekommen und erst in zweiter Linie, um mich in Askese zu üben, vorübergehend auf eine der körperlichen (und auch seelischen, warum nicht?) Freuden zu verzichten, nämlich auf Sex. Aber diese Düfte in der Küche hatten meine Willenskraft gebrochen. Die glatte Muskulatur meiner inneren Organe, meine endokrinen Drüsen zogen sich in vorweggenommenem Entzücken über den köstlichen Schmaus zusammen. In diesem Augenblick erschien Dona Rizoleta auf der Terrasse und sagte, das Mittagessen sei fertig. Ich beeilte
mich, an den Tisch zu kommen. Der Raum war noch immer leer. Das war mir egal. Wenn ich Leckerbissen verschlinge, denke ich nicht an Frauen, und umgekehrt. Ich begann mit der Kohlrabisuppe! Danach gegrillte Forellen und schließlich Zickleinbraten mit Broccoli! Während des Essens stieg in meinem immer voller werdenden Magen ein glückliches Gefühl von Heiterkeit, Seligkeit und Fröhlichkeit auf. Als ich den Broccoli aß, der, wie ich anschließend hörte, am selben Morgen vor Sonnenaufgang noch taubenetzt gepflückt worden war, hätte ich am liebsten geweint. Zart, von makellosem Grün und einem sanften Geschmack, der perfekt mit dem hinreißend gebräunten Zickleinbraten harmonierte. Später erklärte mir Trindade, da sie keinen Kühlschrank hatten (sie hätten einen gasbetriebenen benutzen können, wollten es aber nicht), seien die von ihnen verwendeten Lebensmittel immer frisch. Die Tiere – Zicklein, Kaninchen, Hähnchen – wurden am selben Tag verzehrt, an dem sie geschlachtet wurden; die Fische – Forellen, Barsche und Karpfen – wurden an dem Tag, an dem sie in den Kochtopf kamen, in den jeweiligen Zuchtteichen und -seen gefangen. »Sie müssen sich unsere Forellenzucht ansehen«, sagte Trindade. Ich mußte mir auch den Gemüsegarten ansehen, wo Gemüse und knackige Salate ohne Pflanzenschutzmittel gediehen. Und auch die reinrassigen Kühe, die die Milch für den Käse lieferten, den wir aßen. Gerade hatte ich mein Gespräch mit Trindade beendet, da erschien Roma mit ihrem Mann. Sie hatte sich umgezogen und so elegant gekleidet, als befände sie sich in einem Country Club und nicht in einsamen Bergen. Auch
ihr Mann hatte sich umgezogen, sein Aufzug war auf Romas Kleidung abgestimmt, als träten sie in einer Modenschau desselben Couturiers auf. Fast zur gleichen Zeit erschienen die beiden Cousinen, das Musikerpaar und Carlos. Alle mit Ausnahme des letztgenannten, der dieselben Sachen wie auf der Fahrt trug, traten in neuer Garderobe auf, die im übrigen aussah, als würde sie an diesem Tag eingeweiht. Später, schon auf der Terrasse, kam mir der Gedanke, eine Notiz darüber zu machen, wie Spallanzani an dem Tag seiner Begegnung mit Bufo gekleidet war. Ich zog den Notizblock aus der Tasche und schrieb: »Eine dunkle Samthose und ein weißes, lockeres Seidenhemd mit gebauschten Ärmeln.« »Schriftsteller sind wohl immer an der Arbeit, was?« sagte Orion, der Maestro, und setzte sich neben mich. Unterwegs im Anhänger hatte Orion mich, nachdem er sich vorgestellt hatte, nach meinem Beruf gefragt. Ich hatte mir irgendeinen Beruf ausdenken wollen, aber in dem Augenblick war mir gerade keiner eingefallen, und so hatte ich schließlich gesagt, ich sei Schriftsteller. »Sie sehen die Welt ringsum, stecken ihre Nase überall hinein (das soll keine Beleidigung sein), bemächtigen sich der Seele der Leute wie ein metaphysischer Raubvogel (das soll keine Beleidigung sein), schreiben Bücher, die keiner liest.« Er fuchtelte beim Sprechen mit den Händen wie ein Dirigent ohne Taktstock und versuchte, die Unfreundlichkeiten, die er sagte, mit einem Lächeln zu überspielen. »Words are, of course, the most powerful drug used by mankind«, sagte ich. »Von wem ist das?« fragte der Maestro.
In diesem Augenblick kamen Roma und Vaslav und die beiden Cousinen Euridíce und Suzy auf die Terrasse. Sie rückten die Liegestühle so zurecht, daß sie einen Halbkreis bildeten, und machten es sich darin bequem. »Kipling«, sagte ich. »Dann sind Schriftsteller also eine Art Drogenhändler.« »Wer ist ein Drogenhändler?« fragte Suzy. »Schriftsteller. Das hat unser Schriftsteller hier gesagt. Theoretisch, natürlich«, sagte Orion. »Für mich gäbe es nichts Schöneres auf der Welt als Schriftstellerin zu sein«, sagte Euridíce. »Das ist nicht so schwierig«, sagte Orion. »Es ist ein Handwerk wie jedes andere«, sagte ich. Inzwischen waren Juliana (die länger gebraucht hatte, weil sie sich vom Kompott, den es zum Nachtisch gab, zweimal genommen hatte) und Carlos auf die Terrasse gekommen. »Musik machen ist schwieriger als Literatur«, sagte der Maestro. »Hausmädchen schreiben Bücher, pensionierte Militärs schreiben Bücher, alle Welt schreibt Bücher, Bettler, Politiker, Athleten, verunsicherte Jugendliche, Kaufleute.« »Diebe und Versicherungsangestellte«, sagte ich und dachte an Genet und Kafka. »Genau. Biggs hat auch ein Buch veröffentlicht«, sagte der Maestro. Ein Satz von Maugham fiel mir ein: It requires intelligence to write a good novel, but not of a very high order. In der Tat, es gab nicht wenige unter meinen Berufskollegen, deren intellektuelles Niveau sehr niedrig
war, aber ich dachte nicht daran, dem Maestro diese Munition zu liefern. Auch unter den Maestros gab es bestimmt Schwachköpfe. »Vom Winde verweht wurde von einer alten Hausfrau geschrieben, die danach nichts mehr zustande gebracht hat«, sagte Orion mit unverhüllter Aggressivität. Was mochte diese Feindseligkeit hervorgerufen haben? Meine Größe? Das passiert häufig, die kleingeratenen Männer nehmen mir übel, daß ich groß bin und die Frauen mich schön finden. »Orion hat beim Mittagessen gesagt, daß Sie eine Geschichte schreiben, die hier im Refúgio spielt und in der wir als Personen vorkommen«, sagte Juliana liebenswürdig; vielleicht wollte sie einen anderen Ton in die Unterhaltung bringen. »Ich habe gesehen, wie Sie zu uns herübergeschaut und Notizen gemacht haben«, sagte Orion. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es keine Notizen über Sie waren«, sagte ich. Wäre nicht Roma gewesen, die mich mit rätselhaftem Blick ansah, so daß mein Herz entflammte, wäre ich schon längst in meinen Bungalow gegangen. »Können wir das mal sehen?« fragte Euridíce. »Ich zeige nicht gern ein Buch, bevor es fertig ist.« »In drei Tagen, dann zeigt er es«, sagte Orion. »Schreiben Sie ein ganzes Buch in drei Tagen?« fragte Suzy. »Nein, nicht in drei Tagen.« »Wie viele Tage braucht man, um ein Buch zu schreiben?« fragte Carlos, der bis dahin geschwiegen hatte.
»Das kommt drauf an. Flaubert hat für Madame Bovary fünf Jahre gebraucht. Und jeden Tag stundenlang gearbeitet, ohne einen Tag Pause.« »An so einem Büchlein?« fragte der Maestro. Ich wollte schon im Gegenangriff über Mozart herziehen, aber das kam mir doch zu albern vor. »Dostojewski hingegen hat Der Spieler in dreißig Tagen geschrieben«, sagte ich. »Früher wurde auf Abendgesellschaften ein Motto vorgegeben, und der Dichter verfaßte aus dem Stegreif ein Gedicht mit Reim und Versmaß. Was wäre wohl, wenn man so Musik komponieren würde, ruckzuck, wie Pommes Frites?« sagte Orion. »Wenn ich Ihnen ein Motto gebe, würden Sie dann dazu ein Gedicht schreiben?« fragte ich. »Ein Gedicht wohl kaum. Mir persönlich sagt Lyrik nicht zu. Aber einen Prosatext, den kann nicht nur ich, sondern jeder hier von uns ohne Schwierigkeiten schreiben.« »Ich stimme dem Maestro zu«, sagte Roma in scherzhaftem Ton, »Tanzen ist auch schwieriger als Schreiben. Geben Sie mir ein Motto, und ich schreibe einen Text.« Sie sah mich an, als wollte sie sagen, ich möchte mal sehen, wie Sie einen entrechat oder auch nur einen simplen tour en l’air tanzen. Dann sah sie Vaslav an, und beide lachten amüsiert. »Wer fühlt sich sonst noch befähigt?« fragte ich. »Ich kann keine Rechtschreibung«, sagte Euridíce. »Die kann keiner, stimmt’s? Die Rechtschreibfehler der Schriftsteller korrigieren die Lektoren«, sagte Orion.
»Dann machen wir also ab, daß Portugiesischfehler nicht bewertet werden«, sagte ich. »Nein, ich mache nicht mit«, sagte Euridíce. »Aber ich«, sagte Suzy. »Juliana?« fragte ich. »Mein Metier ist Singen.« »Was ebenfalls schwieriger ist als Schreiben«, sagte ich, ehe mir ein anderer zuvorkam. »Vaslav?« »Ich trete nie gegen meine Frau an.« »Carlos?« »Nein, danke. Im Gegensatz zu allen anderen finde ich Schreiben sehr schwierig.« »Also gut«, sagte ich, »ich möchte, daß Sie feierlich versprechen, niemandem zu sagen, welches Thema Sie bekommen haben.« Trotz des Maestros Mißmut war vergnügte Stimmung aufgekommen. »Ich schwöre«, sagte Roma, »daß nicht einmal Vaslav erfahrt, welches Thema ich habe.« »Vaslav darf es wissen«, sagte ich, »aber niemand anders.« Ich zerschnitt ein Blatt von meinem Notizblock in drei Streifen und schrieb die Themen darauf. Ich faltete die Streifen zusammen und mischte sie in meinen muschelförmig zusammengelegten Händen. Dann reichte ich jedem einen gefalteten Papierstreifen. Alle sahen sofort nach. Orion und Roma schienen in größte Verwirrung zu geraten, als sie das Thema lasen, das ich ihnen gegeben hatte, vor allem Roma, sie wurde blaß und fing an zu zittern. Den Grund dafür sollte ich erst sehr viel später
erfahren. Sie schien sich zu fangen, sah zu Vaslav und schwankte, ob sie ihm den Zettel zeigen sollte, den sie in ihrer zitternden Hand hielt. Schließlich reichte sie ihm das Papier und sah ihn ängstlich an. Die gelassene Reaktion ihres Mannes schien sie zu beruhigen. »Oh, kann ich meins tauschen?« fragte Suzy. »Nein. Man darf die Zettel nicht tauschen und auch keine anderen Themen geben. So war das doch bei den Abendgesellschaften, nicht wahr, Maestro?« »Ja«, sagte Orion. Roma flüsterte ihrem Mann irgend etwas ins Ohr, hakte sich bei ihm unter, und leise sprechend gingen sie weg. Was die anderen Gäste im Laufe des Nachmittags machten, weiß ich nicht. Ich zog meinen seidenen Pyjama an und legte mich aufs Bett, das noch bequemer gewesen wäre, wenn es etwas länger gewesen wäre. Schlafen, wie schön! Schlafen, essen und lieben, die Wonnen des Lebens. Ich räkelte mich gerade, da klopfte es an der Tür. Es gibt Menschen, die brauchen nur ein Telefon klingeln zu hören, und schon fühlen sie sich verpflichtet, dranzugehen, auch wenn es nicht ihr eigenes ist. Andere rennen zur Tür und machen auf, sobald sie die Türglocke hören. Ich bin gegen solcherart Hetzerei immun. Ich weiß, die Eile der anderen ist nie meine. Derjenige, der klopfte, war nicht sehr hartnäckig. Es verging einige Zeit, bis ich neues zaghaftes Klopfen an der Holztür hörte. Ich ging ins Badezimmer und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Nach einer Siesta wache ich immer frisch und gestärkt auf, und das spiegelt sich in
meinem Gesicht. Ich kämmte mir die Haare. Es war fünf Uhr nachmittags, wie ich auf meiner Armbanduhr sah. Ich hatte ungefähr drei Stunden geschlafen. Der Betreffende hatte nicht wieder angeklopft, aber ich wußte, daß er noch da war. Ich machte auf. »Habe ich Sie geweckt?« fragte Carlos. »Nein. Ich habe mir gerade die Haare gekämmt. Kommen Sie herein.« Carlos trug noch immer dieselben Sachen, in denen er im Refúgio angekommen war. Er setzte sich in den einzigen Sessel des kleinen Wohnzimmers. Ich nahm auf dem Sofa Platz. »Ich habe alle Ihre Bücher gelesen«, sagte Carlos. »Oder fast alle.« Ich habe noch nie gewußt, was ich auf eine solche Erklärung antworten sollte. Vielen Dank? »Ihre Gedichte, Ihre Erzählungen, Ihre Romane. Und Ihre Stücke habe ich auch gesehen.« Vielen Dank? »Besonders gut gefallen hat mir auch Trápola, eine großartige Kriminalgeschichte. Warum haben Sie nicht noch mehr Krimis geschrieben?« »Das weiß ich nicht.« »Die Liebenden ist ganz anders. Eine Liebesgeschichte zwischen einer Blinden und einem Taubstummen.« »Die auf einem Sinnesinstrumentarium, das weder visuell noch auditiv arbeitet, basierende Liebe«, (vgl. Hall) sagte ich. »Für mich ist das die Geschichte von zwei Menschen,
die ihre Begrenztheit überwinden und das Glück finden«, sagte Carlos. Seine Stimme klang merkwürdig, er hatte etwas beunruhigend Weibliches an sich. »Die Liebe ist immer das Ergebnis dessen, wie wir den anderen wahrnehmen. Die Kunst hat im allgemeinen das Sehen (Form und Bewegung) und das Hören (Klang, Musik) als kognitive Elemente der Liebe gepriesen. Die Liebe zwischen meinen Romanfiguren hingegen entsteht aus Wahrnehmungen von Muskelbewegungen, Geruch und Wärme. Die Wahrnehmung vollzieht sich über die Sinne, Kant et cetera, darauf brauchen wir nicht weiter einzugehen. Was ich sagen will, ist, daß die Liebe eine Form der Wahrnehmung ist und im Fall von Die Liebenden auch eine Form der Transzendenz.« Carlos wiegte den Kopf. Meine Worte schienen ihn zu bedrücken. Er erhob sich aus dem Sessel. »Wenn Sie zum Abendessen gehen, vergessen Sie nicht, Ihre Taschenlampe mitzunehmen«, sagte er. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.« »Die Taschenlampe liegt in der Nachttischschublade im Schlafzimmer.« »Danke, daß Sie mich daran erinnert haben.« »Wissen Sie, wie Sie hinkommen?« »Ja. Das ist kein Problem.« Er schien mir etwas sagen zu wollen, wirkte aber unentschlossen. Schließlich verabschiedete er sich, streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Ich brachte ihn zur Bungalowtür. Die Luft war kühl und klar, Vögel sangen in den Bäumen, wie sie es immer tun, wenn der Abend naht. Carlos lauschte eine Weile den Vögeln und
sagte irgend etwas, was ich nicht verstand. Er sprach immer sehr leise, fast tonlos, wie jemand, der seine Stimme falsch einsetzt. Ich ging in mein Schlafzimmer zurück und versuchte, an Bufo & Spallanzani zu schreiben. Mein Verleger wollte von mir wieder so einen Krimi wie Trápola. »Bitte denk dir nichts Neues aus. Du hast treue Leser, gib ihnen, was sie haben wollen«, sagte mein Verleger. Nichts ist für einen Schriftsteller schwieriger als das zu geben, was der Leser will, und zwar aus dem ganz einfachen Grund, daß der Leser nicht weiß, was er will; er weiß nur, was er nicht will, so wie jedermann; was er in der Tat nicht will, ist etwas ganz Neues, anderes als das, was er zu konsumieren gewohnt ist. Man könnte auch sagen, daß der Leser, wenn er weiß, daß er das Neue nicht will, contraria sensu weiß, daß er das Alte, Bekannte will, das ihm erlaubt, den Text unter möglichst geringer Anspannung zu genießen. Ouverture zu Bufo & Spallanzani Der Gelehrte Spallanzani stand am Fenster und betrachtete den Dom von San Gimignano just in dem Augenblick, als die Glocke des im romanischen Stil erbauten und unter dem poetischen Namen La Ghirlandina bekannten Turmes zweimal schlug. Daraufhin wandte der Wissenschaftler seine Aufmerksamkeit wieder dem Paar zu, das sich mit ihm in dem großen, von einem hohen Milchglasoberlicht erhellten Salon befand. Beide, Bufo & Marina, wirkten sehr ruhig; Spallanzani hingegen konnte seine Nervosität nicht unterdrücken und ging in seiner üblichen Haltung, die
Hände auf dem Rücken, den Kopf vorgebeugt, im Salon auf und ab. Das Leben des Gelehrten war sehr bewegt gewesen. Als Fünfzehnjähriger war er in den Orden der Jesuiten eingetreten und hatte sehr früh die Priesterweihe erhalten. Statt sich dem Ordensleben zu widmen, hatte er sich zum Studium der Rechtswissenschaft an der Universität von Modena eingeschrieben. An der Universität lernte er Laura Bassi kennen, die wie er in Scandini geboren war. Angeblich war es Laura – sie lehrte an der Universität Physik –, die Spallanzani dazu bewegte, das Studium der Rechtswissenschaft zugunsten der Biologie aufzugeben. Allerdings blieb Spallanzani weiterhin Priester; denn zu jener Zeit, als diese Geschichte sich zutrug, trat niemand aus der Kirche aus, und schon gar nicht aus einem so unerheblichen Grund wie mangelnde Berufung zum Klosterleben. An jenem Tag hatte Spallanzani nicht die schwarze Soutane an, die er normalerweise trug. Er war mit einer dunklen Samthose und einer weißen Seidenbluse bekleidet, die seinen Körper umspielte, denn der Gelehrte liebte es, sich ungehindert bewegen zu können. Auf einem großflächigen, quadratischen Tisch aus poliertem Holz befanden sich Papierstapel, Bücher, Tintenfässer und Schreibfedern. Viele Blätter waren mit der winzigen Schrift und den peniblen Zeichnungen des Naturwissenschaftlers beschrieben. Jemand klopfte an. Es war eine Frau. In ihrer Jugend mußte sie von außergewöhnlicher Schönheit gewesen sein; im Laufe der Zeit war sie eine majestätische, dominierende
Erscheinung geworden. Bufo und Marina folgten mit dem Blick ihrer schönen, tief goldfarbenen Augen den Bewegungen der Frau, als sie in den Salon hereinkam. Spallanzani half ihr, den langen Umhang abzulegen. Darauf setzte Laura sich, und alle vier schwiegen zunächst. »Ich habe einen Namen für das Buch gefunden«, sagte Spallanzani. »Pròdromo di un’ ópera da imprimersi sópra la riproduzione animale.« Die Frau äußerte sich lobend über den Buchtitel. Dann fragte sie: »Das sind – « »Bufo und Marina.« »Marina, von marinus … « Die Frau lachte, in vollem, schwingendem Ton, der tief aus ihrer Brust kam. »Sie sind schon länger auf der Erde als wir.« »Sie konnten früher sprechen als wir«, erwiderte Spallanzani. »Und früher singen als wir, sie haben die Musik erfunden. Sie sind sehr alt, gleich nach dem Devon entstanden.« »Wir sind nur erbärmliche Emporkömmlinge«, sagte der Gelehrte. »Laß uns anfangen.« Laura stand auf und ging zum Fenster. »Willst du nicht zusehen?« fragte Spallanzani. »Und wenn Bufo nichts von ihr wissen will? Vielleicht hemmt ihn meine Gegenwart«, sagte Laura, noch immer am Fenster. »Das wird nicht der Fall sein, ich kenne ihn gut«, sagte Spallanzani, nahm drei Kerzen aus einer Schublade und zündete sie an. »Sieh nur, wie gut entwickelt Bufos Kopf ist. Schöne
ovale Ohrdrüsen. Voller Gift.« Bei dem Wort Gift schwang eine gewisse Feindseligkeit mit, als wollte der Gelehrte auf einen Makel des Lebewesens vor ihm hinweisen. »Marinas Körper wäre auf eine außergewöhnliche Art schön, hätte sie nicht auf der ganzen Haut diese weichen Drüsen, diese Hornhautspitzen, die wie Pickel aussehen«, sagte Laura. Bufo klammerte sich mit Macht an Marinas Rücken. Nachdem sie eine gewisse Zeit in dieser Umarmung verharrt hatten, löste sich aus Marinas Kloake eine lange, gewundene gallertartige Schnur durchsichtiger Eier. »Er ist von seinem blinden Arterhaltungstrieb derart besessen, daß er nichts spüren wird«, sagte Spallanzani und brannte mit einer Kerze einen Fuß von Bufo an. »Er hat fünf Zehen, das hatte ich ganz vergessen«, sagte Laura. »Die Protohand«, sagte der Gelehrte. Von dem verbrannten Muskelgewebe und der Knochensubstanz stieg ein strenger Geruch auf und verteilte sich im Raum. »Er hat keine Zähne, wußtest du das?« fragte Spallanzani, während er weiter Bufos Fuß verbrannte. »Und die giftigen Sekrete treten aus seinen Drüsen nur aus, wenn sie gedrückt werden. Bufo kann sie nicht steuern. Aber sein Trieb ist sowieso stärker als alles andere; das ist das Geheimnis seiner phantastischen Überlebensfähigkeit.« Bufos Fuß war schon vollkommen verkohlt, aber er hielt Marina noch immer fest mit den Vorderbeinen umklammert. Der Gelehrte ließ Bufos Bein und Oberschenkel verbrennen, bis sie vollständig verkohlt waren.
»Kann dieses Glied sich regenerieren?« »Bei der Kröte nicht. Bei Lurchen und Salamandern ja. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen dem Regenerationsvermögen und dem Komplexitätsgrad der Organismen. Die niederen Organismen haben ein hohes Regenerationsvermögen, doch je komplexer sie werden, um so mehr nimmt diese Fähigkeit ab.« Spallanzani sprach mit unverhohlenem Stolz, denn er hatte dies in jenem Jahr 1780 herausgefunden und hoffte, daß seine Entdeckung der Menschheit von großem Nutzen sein würde. Sorgfältig begann er, Bufos zweiten Fuß zu verbrennen. »Gestern habe ich einem Bufo marinus ein Bein abgeschnitten, und er hat sich noch dreizehn Stunden lang an sein Weibchen geklammert, bis zum Tod hat er in seiner Paarungsumarmung ausgeharrt.« »Deshalb ist er dreihundert Millionen Jahre alt«, sagte Laura. Schließlich waren beide Beine von Bufo vollständig verkohlt. Da erhoben sich aus der Kehle des Rhapsoden der Urzeit, des ersten Komponisten und Sängers der Erde, kräftige und liebliche, von Harmonie und Schönheit erfüllte Klänge. Der Gesang war von kurzer Dauer. »Ist er tot?« fragte Laura. »Ja.« Spallanzani hielt nachdenklich inne. Durch das Oberlicht drang keine Helligkeit mehr, es begann im Salon zu dunkeln. Der Gelehrte nahm die Glockenschläge der Ghirlandina nicht wahr, auch nicht den leichten Druck von Lauras Hand auf seiner Schulter. Rasch senkte sich die
kalte Nacht auf den menschenleeren Platz. »Inferno«, murmelte Spallanzani. Ich hörte auf zu schreiben. Der TRS-80 fehlte mir. Ich hatte Hunger. Ich kniff mir in die Wangen, während ich mein Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete. Ach, wie schön, wach zu sein, dachte ich. Violettrötliches Dämmerlicht bedeckte die Berge. Ich ging in Richtung Haupthaus, ohne meine Taschenlampe anzumachen, und sagte mir im stillen, daß die Natur schön sei. Alle saßen bereits auf der Terrasse des Haupthauses und sahen in die Abenddämmerung. »Da ist ja unser Chronist«, sagte Orion. Roma und Vaslav hatten sich wieder umgezogen. Sie trugen höchst elegante Lederkleidung. Ein Kleidungsstück aus Leder vorzuführen ist so, als führe man eine Jagdtrophäe vor, eine Perversität und Perversion. Meine Gefühle für Roma blieben weiterhin gemischt. Ich hatte das Blatt, auf das ich den Anfang von Bufo & Spallanzani geschrieben hatte, eingesteckt. Ich dachte, es könnte im Hinblick auf unser Spiel mit dem Thema für sie interessant sein, wenn ich ihnen vorlas, was ich für sie geschrieben hatte. »Ehe ich mit dem Lesen beginne, möchte ich alle, Orion, Suzy, Roma, an ihr Versprechen erinnern, nicht zu verraten, welches Thema sie erhalten haben.« Die drei bekräftigten ihr Versprechen. »Dann also: Der Gelehrte Spallanzani stand … «, et cetera.
Während ich las, warf ich hin und wieder einen Blick auf meine Zuhörer. Suzy sah unruhig zwischen mir und den anderen beiden am Wettspiel Beteiligten hin und her, als wollte sie etwas sagen; ich legte die Finger auf die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Orion setzte eine finstere Miene auf. »Sie sind ein Dämon«, sagte Roma, als ich aufhörte. Ich gab ihr das gleiche Zeichen wie Suzy. »Ich habe nicht ganz begriffen, was Sie mit dieser Geschichte sagen wollen«, sagte Juliana. »Es ist nur eine Geschichte über Kröten & Menschen. Sie hat nichts mit der Symbolik von Of Mice and Men zu tun. Im Klappentext wird der Verleger irgend etwas Veranschaulichendes und den Leser Motivierendes sagen. In Frankreich, denn das Buch kommt, genau wie meine bisherigen Werke, auch in anderen Ländern heraus, wird man sagen, das Buch sei eine Metapher für die Gewalt des Wissens. In Deutschland, es sei eine Anklage gegen den Mißbrauch, den der Homo sapiens mit der Natur betreibt, wobei sie nicht vergessen werden zu sagen, in keinem anderen Land der Erde werde dieser Mißbrauch in derart großem Rahmen und auf so törichte Weise betrieben wie in Brasilien. (Vgl. Urwald des Amazonas, Pantanal et cetera.) In den Vereinigten Staaten wird man das Buch als eine grausame Reflexion über die Utopie des Fortschritts bezeichnen. Das Wort Hybris wird als Bannfluch verwendet werden. Wir werden die potentiellen Käufer mit Hilfe der Klappentexte verführen.« »Dann geht es also ums Verkaufen?« sagte Orion. »Ein Schriftsteller ist das Opfer vieler Flüche«, sagte ich,
»aber der schlimmste von allen ist der, gelesen werden zu müssen. Noch schlimmer der, gekauft werden zu müssen. Seine Unabhängigkeit damit in Einklang bringen zu müssen, daß er konsumiert wird. Kafka ist gut, weil er nicht geschrieben hat, um gelesen zu werden. Shakespeare andererseits ist gut, weil er mit einem Seitenblick auf den Shilling, den er von jedem Zuschauer kassierte, geschrieben hat (vgl. Panofsky). Genausowenig, wie man das Theater allein dadurch retten wird, daß man den Mut hat, Stücke zu schreiben, die keiner sehen will, wird man die Literatur allein dadurch retten, daß man den Mut hat, noch mehr Bücher à la Finnegans Wake zu schreiben.« »Schuld an dem derzeitigen Verfall der Literatur – Sie stimmen mir doch zu, daß die Literatur sich im Verfall befindet, oder? – sind die Schriftsteller selbst«, sagte Orion. »Ja. Schriftsteller sind heute auch nicht mehr das, was sie mal waren«, sagte ich ironisch. »In einem Interview mit Borges habe ich gelesen, daß er stolz darauf ist, niemals ein kompliziertes Wort geschrieben zu haben, das seine Leser in einem Wörterbuch nachschlagen müssen. Kompliziertes Geschwätz nützt meines Erachtens nur diesen französischen Philosophen, die zyklisch in und aus der Mode kommen« (wie der Anzug dieses Polypen Guedes, dachte ich) »und die, weil sie nichts zu sagen haben, sich lieber hinter einem kryptischen Wortschwall verbergen; so wie die Ärzte ihre Rezepte in unleserlicher Schrift schreiben, um sich mit noch mehr Prestige zu salben.« »Mich kann man auch ohne Hilfe von Wörterbüchern lesen«, sagte ich. »Protohand, Hybris«, warf Orion ein.
»Die Hand der Kröte war die erste fünffingrige Hand, die es im Tierreich gab. Eine Protohand, allerdings. Hybris ist ein schönes hellenisches Bild. So was lieben die Leser.« Vielleicht hatte Orion recht damit, daß jeder Idiot Schriftsteller werden konnte, sofern er nur ein schamloser Exhibitionist mit einem großen Ego war. Und da saß nun ich und las ein paar Seiten aus meinem Roman vor, einzig um mich vor Roma aufzuspielen, ein paar Seiten, auf denen ich mir die größte Mühe gegeben hatte, den Eindruck zu erwecken, ich beherrschte nicht nur die schwierige Kunst des Schreibens, sondern sei dazu noch intelligent und gebildet. Daß ein Schriftsteller gut informiert ist, ist einen Scheißdreck wert. Als ich Tod und Sport– Todeskampf als Leitgedanke schrieb, hatte ich meinen Computer mit Tausenden von Informationen gefuttert – alles, was ich in Büchern von anderen las, die das ihrerseits in Büchern von anderen gelesen hatten, et cetera ad nauseam. Der Computer speicherte diese gewaltige Datenmenge unter den zahllosen Stichwörtern, die mich interessierten, und während ich schrieb, brauchte ich nur auf eine oder zwei Tasten zu drücken, und innerhalb einer Sekunde erschien die gewünschte Information im richtigen Augenblick auf dem Bildschirm. Tod und Sport ist nichts anderes als eine riesige Patchworkdecke aus Tausenden von kleinen Stoffresten, die, gut vermengt und zusammengefügt, wie ein Original wirken. »Mir hat der Trick gefallen, daß man erst nach einer Weile merkt, daß Bufo und Marina Kröten sind«, sagte Carlos, wie üblich mit tonloser Stimme.
»Habt ihr das als Thema bekommen?« fragte Vaslav. »Oh! Vorsicht!« sagte ich und forderte ihn mit der gleichen Geste wie Suzy und Roma zum Schweigen auf. Irgend jemand fragte, ob es Spallanzani gegeben habe. Natürlich hat es ihn gegeben. Ursprünglich hatte ich daran gedacht, ein Buch zu schreiben, in dem ein Salamander und die heilige Katharina von Siena, beide der Sage nach gegen Feuer gefeit, die Hauptfiguren sein sollten. Aus einem Grund, den ich den übrigen Gästen nicht offenbaren wollte, hatte ich dann die Protagonisten der Geschichte ausgewechselt und damit auch die eigentliche Geschichte. Für Spallanzani hatte ich mich schon seit meiner Schulzeit interessiert. Er hatte als erster eine künstliche Besamung durchgeführt, und zwar bei einer Hündin. Er beschrieb als erster die scharfen Sinne der Fledermaus, eines Tieres, das mich ebenfalls sehr interessiert. (Vgl. mein Buch Der Tanz der Fledermaus) Spallanzani war mit seinen Experimenten über Spontanzeugung ein Vorläufer von Pasteur. Er untersuchte den Blutkreislauf, die Verdauung im Magen, die Atmung und natürlich die Regeneration der Gliedmaßen bei Amphibien. Und aus diesem geheimen Grund, den ich den übrigen Gästen des Refúgio nicht offenbaren wollte, ersetzte Bufo den Salamander und trat Spallanzani an die Stelle der heiligen Katharina von Siena. Der Salamander, nebenbei bemerkt, hatte auch seinen eigenen verrückten Wissenschaftler namens Gesner, der den Exemplaren der Spezies, die er studierte, ebenfalls entsetzliches Leiden zufügte, um seine hirnrissigen Theorien zu beweisen, was ihm nicht gelang. Aber ich meinte nicht nur Irrsinn, wenn ich Spallanzani als Symbol
für die autoritäre Arroganz der Wissenschaftler benutzte (vgl. mein Buch Josef Mengele, der Engel des Todes). »Das Buch wird bestimmt nicht einfach zu lesen sein«, bemerkte Juliana. »Diese Katharina, ist das Katharina die Große?« Was soll man auf eine solche Frage antworten? Die einzige Große Katharina war in Wirklichkeit Katharina von Siena, Caterina Benincasa, mit ihren im vierzehnten Jahrhundert diktierten Texten einzigartig in der Geschichte der Weltliteratur, eine große Schriftstellerin, aber Analphabetin. Sie ist die Schutzheilige Italiens, aber der Aspekt, den ich in meinem Buch verarbeiten wollte, war der Mythos von ihrem Gefeitsein gegen Feuer. Von Hagiographie hatte ich die Nase voll. Ich antwortete nur: »Nein.« In diesem Augenblick erschien Dona Rizoleta und sagte, das Abendessen werde aufgetragen. Das Abendessen war noch köstlicher als das Mittagessen, eine Großtat von Dona Rizoleta, die ich nicht für möglich gehalten hatte. In Butter gebratener Karpfen ohne jeden Erdgeschmack (auch ein Kunststück) und geschmortes Kaninchen mit Kartoffeln und grünen Bohnen. Es gab auch frischen Spargel, der einfach unbeschreiblich war, selbst für einen so fähigen Schriftsteller wie mich. Roma hatte sich an einen Tisch in meiner Nähe gesetzt, und da geschah es, während ich das zarte Kaninchenfleisch kaute, daß ich mir, allerdings ohne jede Geilheit, vorstellte, ich bisse in ihre blühenden Wangen. Ihre Jochbeine zeichneten sich erhaben ab, sie waren von der erdharten, reinen Kraftfülle
der Früchte der Natur. Eine zum Vernaschen geeignete Frau, in jeder Hinsicht. Draußen war es kühler geworden, als wir mit dem Essen fertig waren. Man hatte den Kamin angezündet, und wir setzten uns alle in die behaglichen Sessel im Salon. »Ihre Manon hat mir sehr gut gefallen«, sagte ich zu Juliana. »Es war ergreifend, die Arie Adieu, notre petite table von Ihnen zu hören.« In Wirklichkeit war sie für die Rolle schon etwas zu alt, aber trotzdem war es beeindruckend, daß eine Frau mit einer solchen Gestalt so gut eine schöne, zarte Heldin spielen konnte. »Keine andere besitzt diese Sinnlichkeit, die diese Rolle verlangt«, sagte ich leise, damit Orion, der sich mit Vaslav unterhielt, es nicht hörte. Ich glaube, meine Abstinenz trieb mich allmählich zur Verzweiflung. »Ich mag Opern nicht, tut mir leid«, mischte sich Euridíce ins Gespräch. »Sie waren auch in der Verführungsarie des Priesters Des Grieux großartig«, sagte ich, ohne auf Euridíce einzugehen. »Manon gehört zu meinen Lieblingsrollen«, sagte sie im gleichen fast verschwörerischen Ton, den ich dem Gespräch eingangs gegeben hatte. »Aber Puccinis, nicht Massenets.« »Ich habe noch nie eine Oper gesehen«, sagte Euridíce. War sie zu dumm, um zu merken, daß sie überflüssig war? Und dazu hatte sie den Satz so laut gesagt, daß Orion aufhorchte und sich sogleich, wie immer kategorisch, in die Unterhaltung einmischte. »Das Beste an Massenets Manon ist der Satz von Guillot
de Morfontaine: La femme est un méchant animal«, sagte Orion. Er mußte die ganze Zeit mein Gespräch mit seiner Frau beobachtet haben. Nach und nach schlossen sich alle der Unterhaltung an. »Mir gefällt Turandot besser«, sagte Roma. »Weil sie ihre Verehrer köpfen läßt?« fragte Orion. »Ja, und weil sie für die Männer unergründlich ist.« Und da saß ich nun, umgeben von Frauen, Frauen voller Kraft und Geheimnisse, dieser ihnen eigenen, unwiderstehlichen Attribute, und konnte nichts machen, fühlte mich gehemmt und unterdrückt. »Sie müssen sich den Himmel ansehen«, sagte Trindade, der von der Terrasse hereinkam. In der Hand hielt er eine Taschenlampe. Wir gingen alle mitten auf den Rasen vor dem Haupthaus. Trindade machte die Taschenlampe aus. In der Dunkelheit konnte man nicht das Gesicht der Menschen neben sich sehen. Glühwürmchen blinkten und verlöschten im Flug. »Der Himmel verändert sich von Stunde zu Stunde«, sagte Trindade. »Es ist neun Uhr, im Westen können Sie den Sirius sehen. Wir befinden uns zwischen dem zwanzigsten und dem fünfundzwanzigsten Breitengrad. Dieser Stern da im Norden ist der Arcturus. Im Osten der Antares.« »Wo ist das Kreuz des Südens?« »Im Süden«, sagte Trindade und lachte zufrieden, »neben dem Rigel.« Den Rigel machte keiner ausfindig, aber alle fanden unter freudigen Ausrufen das Kreuz des Südens.
»Und der Aldebaran?« »Den kann man in diesem Monat nicht sehen. Im Juli kommt er ungefähr gegen fünf Uhr morgens.« »Und der Beteigeuze?« »Für den gilt das gleiche. Beide stehen im Osten. Der Beteigeuze neben dem Gestirn, das so wie unser Maestro heißt.« »Dann heißt also ein Gestirn genau wie Sie«, sagte Euridíce. »Prestige, meine Gute«, sagte Orion. »Kaum zu glauben, daß ich vor kurzem noch in São Paulo war, wo es überhaupt keinen Himmel gibt«, sagte Euridíce. »Einen solchen Himmel wie diesen hier gibt es nirgends auf der Welt«, sagte Trindade. »Ich weiß nicht«, sagte der Maestro. »Dieses ewige Loblied auf Brasilien kann ich nicht mehr hören.« »Da, die Glühwürmchen«, sagte Euridíce. »Wunderschön!« sagte Juliana. »Die Glühwürmchen?« »Die Glühwürmchen, die Sterne, die Menschen, das Leben. Ich bekomme richtig Lust zu singen«, sagte Juliana und berührte leicht meine Hand. Sollte es unbeabsichtigt geschehen sein? »Werd nicht übermütig, meine Liebe«, sagte Orion. »Singen Sie uns was vor«, sagte Euridíce. Angeführt von Suzy wiederholten alle im Chor: »Singen Sie uns was vor!« »Sie singt ein andermal«, sagte Orion. »Ich singe jetzt«, sagte Juliana.
»Die Kälte wird dir nicht bekommen«, sagte Orion. »Ich singe«, sagte Juliana, als stünde sie schon auf der Bühne. Suzy setzte sich auf den Rasen, und Euridíce legte sich, den Kopf auf ihrem Schoß, daneben. Roma und Vaslav taten das gleiche, Roma mit dem Kopf auf der Brust ihres Mannes. Zum Glück war es sehr dunkel, so daß ich sie kaum sehen konnte, sonst hätte das auf mich die gleiche Wirkung gehabt wie ein Sexfilm. Juliana fing an zu singen. Ich hatte diese Arie von Bellini schon mehrfach gehört, aber ich gestehe, die Szene war großartig: der Himmel sternenübersät und eine weibliche Stimme, die dem Universum noch mehr Schönheit und Harmonie verlieh. Als Juliana verstummte – »Quella pace, che regnar, regnar tu fai, tu fai nel ciel, tu fai nel ciel« –, blieben wir alle still. »Jetzt müßte Frau Luna erscheinen, diese undankbare keusche Diva«, sagte Roma. Der ästhetische Genuß hatte meine Lüsternheit noch gesteigert. Ich durfte keine Sekunde länger dort bleiben, sonst lief ich Gefahr, irgendeine Wahnsinnstat zu begehen. Rasch machte ich mich auf den Weg und verschwand in der Dunkelheit. Gleich darauf merkte ich, daß jemand hinter mir war. »Wer ist da? Ist da jemand?« Mein Herz klopfte erwartungsvoll. »Ich bin’s.« Die gedämpfte Stimme von Carlos. Mir fiel ein, daß sein Bungalow in derselben Richtung wie meiner lag. Ich beschleunigte das Tempo, damit er nicht in meine
Nähe kam. Wenn es etwas gibt, was mich nervös macht, dann, mit einem Mann zu reden. Als ich den Weg erreichte, der zu meinem Bungalow führte, rief ich in die Dunkelheit: »Gute Nacht.« »Gute Nacht«, antwortete Carlos. Er hatte fast an mir geklebt, und ich hatte nicht gemerkt, daß er so nah gewesen war. Oh, erbärmliches Leben, dachte ich traurig, während ich mich auszog und meinen Seidenpyjama anzog. Diese Frauen bringen mich noch um, dachte ich, Guillot de Morfontaine hat vollkommen recht. Aber kurz darauf rekelte ich mich und murmelte, wie schön, zu schlafen. Und schlief ein. Ich wachte früh auf, duschte und machte mich schleunigst auf den Weg zum Haupthaus. Eigentlich mußte ich den Vormittag über schreiben, aber ich warf noch nicht einmal einen Blick auf meine Notizen zu B & S. Es wäre schön gewesen, Minolta dazuhaben, damit sie mir Kraft gab. Die Tische im Salon waren gerade für das Frühstück gedeckt worden. Auf einem großen langen Tisch standen die Frühstücksleckerbissen – verschiedene Käsesorten, darunter auch Ziegen- und Schafskäse, dreierlei Bananenarten, Apfelsinen, Mangos, Pflaumen, Papayas, Jabuticabas, Honig, Maisgebäck, Käsetaschen, Toast, Joghurt et cetera. Ich häufte Käse, Gebäck, Brötchen und Obst, einen Tiegel Butter, einen Becher Joghurt und Honig auf zwei Teller und ging, während mir das Wasser im Munde zusammenlief, an einen Tisch. Ein Hausmädchen brachte Kaffee mit Milch und fragte, ob ich Eier wolle. Ich
sagte nein, aber Trindade, der in der Nähe an einem Tisch beim Frühstück saß, sagte: »An Ihrer Stelle würde ich unsere Eier probieren. Unsere Hühner laufen frei herum, sind den ganzen Tag draußen, fressen Regenwürmer, kleines Getier, Ameisen, den ganzen Tag scharren sie mit ihren Beinchen, ohne Unterlaß. Die haben kein bißchen Fett, nicht so wie diese trantriefenden Hühner in der Stadt. Das werden Sie selbst merken, wenn Sie das Huhn in Blutsoße essen, das es heute zu Mittag gibt. Die Eier … ach was, ich sage gar nichts mehr. Lucimar, bring dem Herrn zwei Spiegeleier.« Von Huhn in Blutsoße zu hören, steigerte meine gute Laune noch mehr. Es gibt nichts Schöneres, als beim Essen ans Essen zu denken. Trindade fragte höflich, ob er sich zu mir an den Tisch setzen dürfe. Er wollte dabeisein, wenn ich die Eier genoß. »Alles, was Sie bei uns essen, wird hier auf der Fazenda erzeugt, bis auf das Salz und das Olivenöl«, sagte Trindade stolz. Die Spiegeleier kamen. Das Eigelb war rubinrot und von spärlichem Eiweiß umgeben; nur ein schmaler weißer Ring ohne das schleimige Aussehen der Spiegeleier, wie ich sie kannte. Das Eigelb war schnittfest, seine Konsistenz kompakt und fest und sein Geschmack lasziv und erquickend. Ich bestellte noch zwei Eier. »Was habe ich gesagt?« Trindade lächelte zufrieden. »Das gelbe Eigelb von Hühnerfarmeiern hat, verglichen mit unserem, weder Geschmack noch Nährwert. Außerdem sind die voller Hormone. Ich habe das Gefühl«, er senkte die Stimme, »daß es jetzt soviel mehr Homosexualität und andere sexuelle Abartigkeiten gibt, das kommt daher und
auch von all dem Mist, den sie den Rindern geben. Glauben Sie nicht auch?« Ich konnte noch so glücklich sein und mich an diesen Köstlichkeiten ergötzen, aber Ignoranz brachte mich immer aus der Fassung. »Homosexualität ist keine Abartigkeit«, sagte ich. »Homosexuelle sind genauso normale Menschen wie Sie.« »Wie ich? Nein!« »Dann eben wie ich.« Trindade schwieg und wußte nicht, was er sagen sollte. Mit einem Stück Brot wischte ich den Rest Eigelb zusammen, so daß der Teller sauber glänzte. »Ich hatte eigentlich vorgehabt, Ihnen den Gemüsegarten zu zeigen«, sagte er, als hätte er von dem Plan Abstand genommen. »Ich lege größten Wert darauf, Ihren Gemüsegarten zu sehen«, sagte ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Gemüsegarten gesehen. Welch wunderschöner Anblick: Blattkohl, Salatköpfe, Rotkohl, Blumenkohl, Mangold, Senfpflanzen, Broccoli, die wie ein bunter Märchenteppich aus dem Boden sprossen. Ein Rotkohl ist schöner als eine Rose, lüsterner und wollüstiger (kraftvoller, triebhafter). Einen Gemüsegarten zu betrachten ist besser als dazusitzen und zu schreiben. Das Schreiben wurde übrigens allmählich zu einem Tripalium (vgl. Lateinisches Wörterbuch), zu einer Qual (auf einmal bildete ich mir ein, am Virginia-WoolfSyndrom zu leiden, und zitterte vor Angst); das Verflixte dabei war, daß für einen Schriftsteller wie mich, der Geld brauchte, um sein Frauenlaster zu finanzieren, jedes
verdammte Wort, jedes einzelne oh unter hunderttausend Vokabeln, bares Geld wert war. Schreiben heißt Wörter streichen, hat ein Schriftsteller gesagt, der vermutlich keine Geliebten besaß. Schreiben heißt Wörter zählen, je mehr, um so besser, hat ein anderer gesagt, der wie ich alle zwei Jahre einen Bufo & Spallanzani schreiben mußte. Doch statt zu arbeiten starrte ich verzückt auf einen Rotkohl. »Können Sie kochen?« fragte Trindade mit einer gewissen Hintergründigkeit. Erst wollte ich antworten: Ich kann kochen, sticken, häkeln, nähen, stillen, Ballett tanzen, aber wozu auf anderer Leute Vorurteile Zeit verschwenden? »Ich kann nur essen.« Diese Antwort schien Trindade zu beruhigen. Er fragte, ob ich auch den Obstgarten sehen wolle. Das üppige Grün des Blattkohls und Mangolds hatte in mir das Verlangen nach Romas Anblick geweckt, vielleicht war sie schon zum Frühstück im Salon erschienen. Ich fand eine Ausrede und ging zum Haupthaus zurück. Roma saß im Salon und frühstückte, ohne Vaslav. Sie trug wieder etwas Neues, ein raschelndes Leinengewand voller Rüschen und Falten, das sie umhüllte, als wäre sie eine Frau von einem anderen Stern. Ich sinnierte: Die Lex Opiana war gegen sie verkündet worden, Cato dachte an eine Frau wie sie, als er im römischen Senat die weibliche Extravaganz kritisierte. Sie hatte bestimmt ein leuchtendrotes, mit Purpurfarben gefärbtes Kleid in ihrem kostbaren Lederkoffer. »Darf ich mich setzen?« fragte ich. »Ja.« Sie biß in einen Toast, wobei sie ihre Zähne entblößte und mich ansah. Mir kribbelte die Haut.
»Haben Sie gut geschlafen?« fragte ich und stellte sie mir im Bett vor, auf der Seite, auf dem Bauch, auf dem Rücken liegend. »Nein, ehrlich gesagt habe ich sehr schlecht geschlafen.« »Das kommt bestimmt vom Sauerstoff«, stotterte ich. »Vielleicht. Das Problem ist, wenn ich schlecht schlafe, werde ich sehr gereizt. Ich brauche mindestens acht Stunden Schlaf täglich.« Alle Frauen, die ich kannte, brauchten täglich acht Stunden Schlaf. »Und Ihr Leben ist wie ein Roman«, sagte ich. »Ist das eine Frage oder eine Feststellung?« »Eine Feststellung.« »Aufregender, als Sie glauben«, sagte sie. »Las Ihr Priester Messen?« »Mein Priester?« »Spallanzani.« »Ja. Er las weiterhin Messen, auf Latein, mit umbrischem Akzent, und nahm Beichten ab, die Welt war voller um Vergebung bittender Sünder, das Konzil von Trient hatte, relativ gesehen, kurz zuvor stattgefunden. Sein Glaube stand nicht im Widerspruch zu seiner Wissenschaft, denn er besaß keinen Glauben, Gottes Absichten waren ihm nicht immer ganz deutlich. Warum hatte Gott Bufo geschaffen? Selbstverständlich nicht, damit er Ameisen fraß, die ihrerseits auch Kinder Gottes waren. Als eine Stufe in der Evolution des Menschen? Nun, zu jener Zeit drehte sich die Sonne noch um die Erde, und Darwin war noch nicht geboren. Deshalb sagte er: ›Inferno‹, nachdem er die Kröte dieser Tortur unterzogen hatte.«
»Ich will Ihnen etwas sagen, was der Maestro nicht hören soll: Ein Buch zu schreiben ist reichlich kompliziert«, sagte Roma. »Quelle lourde machine à construire qu’ un livre, et compliquée surtout«, sagte ich. »Das stimmt, et compliquée surtout.« »Schreiben ist eine Frage der Geduld und Ausdauer, so ähnlich wie ein Marathonlauf, wo man sich ranhalten muß, aber keine Eile haben darf.« (Kaum hatte ich den Vergleich ausgesprochen, gefiel er mir schon nicht mehr. Ich hasse Sport.) »Und wo wir schon davon sprechen, was macht Ihre Geschichte?« »Sie sind schrecklich«, sagte Roma, »mir so ein Thema zu geben wie – « Ich gab ihr ein Zeichen, nicht weiterzureden, denn in diesem Augenblick kam Carlos in die Nähe unseres Tisches. Er hatte zum erstenmal sein weites Samtjackett ausgezogen und trug jetzt einen ebenfalls sehr weiten und langen Blouson, der ihm ein merkwürdiges Aussehen verlieh. Gleich darauf kam Vaslav. »Haben Sie heute nacht eine Geige gehört?« fragte Vaslav. »Das war der Maestro«, sagte Roma. »Unser Bungalow liegt in der Nähe von seinem.« »Roma hat mich geweckt, damit ich die Geige höre«, sagte Vaslav. »Stimmt nicht. Ich war wach, und da ich es nicht ertrage, wach zu sein, wenn jemand neben mir schläft, habe ich das zum Vorwand genommen und dich geweckt.« »Erzähl, was du gesehen hast«, sagte Vaslav.
»Ich war aufgestanden und auf die kleine Terrasse des Bungalows gegangen, um besser zu hören. Und da sah ich einen Menschen mit einer Taschenlampe durch den Wald gehen.« »Das kann Trindade gewesen sein. Oder irgendein Angestellter aus dem Haus«, sagte ich. »Vielleicht. Aber der Betreffende bewegte sich wie ein Dieb. Mag sein, daß ich von der Geige beeinflußt war, die da mitten in der Nacht spielte. Verstehen Sie, es ist schön, aber gleichzeitig auch unheimlich, wenn eine Geige im Dunkeln spielt. Ich habe Angst bekommen, verstehen Sie?« Vom Tisch der Musiker winkte Juliana allegro in meine Richtung; Orion auch, ma non troppo. Trindade, in Stiefeln und Cowboyhut, kam in den Salon und teilte mit, die Pferde stünden bereit, falls jemand einen Spazierritt über das Refúgio machen wolle. Wir gingen alle zu den Pferden, nur Suzy und Euridíce kamen nicht mit. Die beiden waren nervös, als hätten sie sich die ganze Nacht gestritten. Roma sagte, sie gehe einen Reitanzug anziehen. »Wo ist der Rappe?« fragte Carlos. »Berzabum? Der ist sehr wild. Reiten Sie den hier, der geht sanft.« Trindade wies auf einen Fuchs mit einem Stern auf der Nase. Carlos sah den Fuchs an und sagte: »Ich möchte Berzabum.« »Seu Carlos, den Berzabum kann nur einer reiten, und das ist der Einsiedler, ein Mann, der da oben, auf dem Pico, bei den Raubkatzen lebt, Küken züchtet und damit die
Falken füttert. Er kommt einmal in der Woche her und reitet Berzabum, damit er nicht ganz verwildert. Seu Carlos, wenn Sie auf dieses Pferd steigen, werden Sie garantiert abgeworfen, und dabei können Sie sich verletzen.« »Das ist mein Problem«, sagte Carlos trocken. Berzabum wurde geholt. Das Pferd kam mit unwilligen Kopfbewegungen und aufgerissenen Augen. Drei Männer waren nötig, um Berzabum zu zäumen und zu satteln. Carlos ging zu dem Pferd und streichelte ihm die Nüstern. »Die Kinnkette ist zu stramm«, sagte er und verstellte die Eisenkette am Gebiß. Anschließend prüfte er am Sattelgurt, ob der Sattel fest saß, und stellte die Länge der Bügelriemen ein. »Sie können loslassen«, sagte er. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte Trindade mit einem Blick zu uns. Die Zügel in der linken Hand haltend, die er auf dem Knopf des englischen Sattels abstützte, setzte Carlos den linken Fuß in den Steigbügel, saß langsam und mühelos auf, indem er das rechte Bein über Berzabums Kruppe führte (blitzartig tauchte vor mir das Bild von Delfina Delamare auf, wie sie, nackt im Bett, mir den Rücken zudrehte!), und setzte sich im Sattel zurecht, ohne daß auch nur das leiseste Knarren von Leder zu hören war. Carlos beugte sich vor und strich dem Pferd über den Widerrist. Seine kleine weiße Hand bildete einen scharfen Kontrast zu der kompakten Schwärze der Muskulatur des Tieres. Ohne daß wir das Kommando des Reiters bemerkten, ritten Carlos und Berzabum in sanftem Galopp über die Weide davon.
»Caramba!« sagte Trindade. »Das hätte Rizoleta sehen sollen.« Ich sah mir das Pferd an, das mir zugedacht war, und beschloß, es nicht zu wagen. Wir Dicken sind keine guten Reiter. »Ich habe Rückenschmerzen«, log ich. Auch Roma machte beim Reiten eine gute Figur, aber nicht so wie Carlos. Sie hatte schwarze Lederstiefel mit braunem Besatz angezogen, eine Reithose, die sich an ihren Körper anschmiegte, ein Polohemd und ein Käppi. Es gibt nichts Hübscheres als eine hübsche Frau. Während sie auf die anderen warteten, die dann doch nicht mitritten, bewegten Vaslav und sie ihre Pferde mit großer Anmut. Trindade erklärte, die Pferde gehörten mit Ausnahme von Berzabum, einem Quarter, alle zu der Rasse Campolina. »Sonst kommt keiner mit?« fragte Trindade. Die übrigen Pferde wurden noch immer von den Angestellten festgehalten. Genau wie ich hatten Juliana und Orion, nachdem sie Romas und Vaslavs elegante Gewandtsheit gesehen hatten, keine Lust, sich zu blamieren. Orion sagte, er habe keine geeignete Kleidung; Juliana gab naiv vor, sie könne nicht reiten. »Ich verstehe nicht, wie jemand nicht reiten kann«, sagte Roma, »für mich ist das genauso, wie wenn einer nicht lesen kann.« Da ritten sie nun und ließen uns, das Fußvolk, mit dem Gefühl, Versager zu sein, stehen. Während ich Roma nachblickte, dachte ich, ich will überhaupt kein Pferd reiten, dich will ich reiten, das jedenfalls kann ich, Stuten wie dich reiten. Dieser Gedanke packte und erregte mich derart, daß ich kaum hörte, was Orion sagte.
» … etwas sehr Merkwürdiges. Ich war nicht müde – ehrlich gesagt, hatte ich im Hinblick auf unser Spiel angefangen, meine Geschichte zu schreiben« (aha, jetzt merkte er also, wie leicht Schreiben war), »mir ist nicht klar, ob … kurz, ich beschloß, ein wenig frische Luft zu schnappen. Von meinem Bungalow aus kann ich einen Hügel sehen, er liegt dort drüben, in jener Richtung, voller Bäume mit silbrigen Blättern, und während ich den Himmel betrachtete, sah ich auf einmal einen Feuerschein, es flackerte wie ein Vulkan, der in unregelmäßigen Abständen Feuer speit. Ich bin fest davon überzeugt, daß es Feuer war, aber es war kein Rauch zu sehen, und als dieses Geflacker aufhörte, ertönte ein so ungewöhnliches Geräusch, daß ich glaubte, mich getäuscht zu haben. Die Nacht war still, weder Grillen noch Kröten waren zu hören. Es gibt Bäume, die ächzen, wie die Kasuarine. Aber das!« »Was war das denn für ein Geräusch?« fragte ich. »Gelächter. Es klang wie Gelächter. Es war Gelächter.« »Gelächter?« »Ich weiß nicht, ob es wirklich so laut war, oder ob es nur so laut klang, weil es ringsum so still war.« »Ist Ihr Bungalow in der Nähe von Romas und Vaslavs?« »Er liegt in derselben Richtung.« »Roma hat gesagt, sie habe nicht schlafen können und habe jemanden mit einer Taschenlampe durch den Wald gehen sehen. Haben Sie das Feuer gesehen, bevor Sie Geige spielten, oder danach?« »Sie haben meine Geige gehört?« »Roma hat sie gehört.«
»Es war danach. Ich hörte auf zu spielen – ein Capriccio von Paganini – und sah lange zu den Sternen hinauf und überlegte dabei, was ich schreiben wollte. Und da fing das Feuer oben auf dem Berg an.« »Ich bin fast vor Angst gestorben, als Orion mir heute morgen diese Geschichte erzählt hat«, sagte Juliana. Suzy und Euridíce hatten sich auf den segeltuchbespannten Liegestühlen auf der Terrasse des Haupthauses ausgestreckt. Wir setzten uns zu ihnen, und bald danach redete Juliana von dem Gelächter, das Orion in der Nacht gehört hatte. »Das überrascht mich nicht«, sagte Suzy, »das habe ich in den Karten gelesen.« »In den Karten?« Wir erfuhren, daß Suzy Expertin in Geheimwissen¬schaften war. Die Boutique war nur ein Gelderwerb. »Ich gehe manchmal tagelang nicht dahin.« Sie kannte sich in Astrologie, Kabbala, Talismankunde, Zahlenmystik, Handlesekunst, Kartenlesen und Esoterik aus. Sie hatte die Karten gelegt und Dinge gesehen, über die sie lieber nicht sprechen wollte. Aber es waren nicht nur die Karten. Sie hatte in den Beryll gesehen und das gleiche erblickt. Der Beryll, erklärte sie, sei der Stein, den man bei der Kristallomantie benutze. Obwohl sie nur zur Erholung ins Refúgio gekommen war, hatte sie außer zwei Tarotkartenspielen und dem Beryll ein I-Ging-Buch mitgebracht, einen Satz Kaurimuscheln, einen aus Quecksilber und Blei gegossenen Talismanring, einen Tiegel Paracelsus-Lilium und eine Portion FrascatorDiscordium, vom allerreinsten, mit sämtlichen
Ingredienzien wie Styrax, Tormentill, Steckenkraut, Wiesenknöterich und sogar dem höchst seltenen Diptam aus Kreta (vgl. Sepharial). »Außerdem natürlich auch meine Eule. Von meiner Eule trenne ich mich nie.« »Eine echte Eule?« »Nein. Aus Bronze. Irgendwann zeige ich sie Ihnen!« »Ich finde diese Eule gräßlich«, sagte Euridíce. »Die Hellsicht, der Weitblick, die Voraussicht – damit muß man sehr vorsichtig umgehen«, sagte Suzy. »Ist Carlos beim Reiten?« Damals begriff ich Suzys Interesse an Carlos nicht. Aber keiner kann die Tausende von chiffrierten Informationen, die er in jeder Sekunde erhält, dechiffrieren. »Dann wollen Sie uns also nicht sagen, was Sie in den Karten gesehen haben?« fragte Juliana. »Ich kann nichts sagen«, sagte Suzy und stand abrupt auf. »Komm, Euridíce.« Das Huhn in Blutsoße zum Mittagessen war schmackhaft, köstlich, ein Genuß. Es hatte einen Farbton, der ins Mattrote spielte, was bedeutete, daß das Blut des Huhnes auf besondere Art zubereitet worden war. Nicht einmal die Gegenwart von Orion und seine aufreizenden Fragen (er und Juliana hatten sich zu mir an den Tisch gesetzt) konnten mich daran hindern, das Huhn mit seinem blutgetränkten Reis mit Lust zu verzehren. Orion fragte, warum ich nicht einen historischen Roman mit dem Duque de Caxias als Hauptfigur schriebe. Ich versuchte ihm klarzumachen, daß ich für Helden, für mächtige Männer und Frauen, die die Geschichte machen, nichts übrig hatte
(für die Männer noch viel weniger als für die Frauen). Ich mochte noch nicht einmal die große Geschichte, die Geschichte an sich. Die Geschichte eines berühmten Mannes konnte ich mit der größten Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Verachtung lesen. Aber ich war in der Lage, mich für eine Photographie zu begeistern, die einen »Mann aus dem Volk« auf der Straße oder auf dem Trittbrett einer alten Straßenbahn zeigte, und mir auszumalen, was für ein Mensch er wohl gewesen sein mochte. Mir hatte nie etwas daran gelegen, einen berühmten Mann oder eine berühmte Frau kennenzulernen. Aber liebend gern hätte ich zum Beispiel jene großäugige Telefonistin im langen Kleid gekannt, die auf dem Photo von der Einweihung der ersten Telefonzentrale in Rio de Janeiro im neunzehnten Jahrhundert abgebildet war. Orion erwiderte, für diese meine Idiosynkrasie müsse es eine Freudsche Erklärung geben. Zum Glück kam Roma vorüber, und ich fragte sie: »Wie war der Ausritt?« »Phantastisch«, sagte sie und setzte sich an unseren Tisch. Sie erzählte, daß Trindade ihnen wunderschöne Plätze, kristallklare Bäche, Wälder und so weiter gezeigt hatte. Carlos war bis zu einer bestimmten Stelle mitgekommen. »Dann trafen wir diesen geheimnisvollen Alten, der Falken züchtet, und Carlos und er unterhielten sich über das Pferd, das Carlos ritt, und dann sind die beiden zusammen in Richtung Gipfel weggeritten. Wie die Bergziegen.« »Der Alte züchtet nicht Falken, er züchtet Küken und füttert damit die Falken«, sagte ich. »Und daran tut er gut. Mir sind jedenfalls Falken lieber als Küken.«
Den Nachtisch, der immer aus hausgemachten Puddings in Soßen und Kompotten bestand, wartete ich nicht ab. Ich mag keine Süßspeisen, zum Glück, denn sonst würde ich noch mehr wiegen. Und zudem wollte ich nicht mehr bei Orion am Tisch bleiben. Männer mag ich nicht, wie gesagt. Ich ging auf die Terrasse und setzte mich mit geschlossenen Augen in einen Liegestuhl. Mir ging es nicht gut. Der verfluchte Polizist Guedes, dieser arme Teufel, ging mir nicht aus dem Kopf. Auch Delfina ging mir nicht aus dem Kopf, sie war mein Schwarzes Loch, eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Tausendfach hatte ich erfahren, daß »die Dinge sich trennen« (vgl. Heraklit), und früher oder später hätte ich mich von ihr getrennt, denn ich fürchtete, feststellen zu müssen, daß auf lange Sicht das Phlegma stärker ist als die Leidenschaft, aber auf lange Sicht werden wir alle, et cetera. Da saß ich nun und durchlitt diese Erinnerungen, die, zu Papier gebracht, theoretisch wie eine Therapie wirken konnten, aber Schreiben kuriert nicht, im Gegenteil, es deformiert die Psyche (vgl. Braine). Wenn Schreiben guttut, dann stimmt irgend etwas an unserer Literatur nicht. Schreiben ist ein mühseliger, aufreibender Prozeß, deshalb gibt es unter uns Schriftstellern so viele Alkoholiker, Drogensüchtige, Selbstmörder, Menschenhasser, Aussteiger, Verrückte, Unglückliche, früh Verstorbene und verkalkte Alte. Um aus meiner Trübsal herauszukommen, dachte ich an die Spanferkelchen, die sicherlich schon für das Mittagessen am nächsten Tag gewürzt wurden, und natürlich auch an den Stockfisch, der an diesem Tag zum Abendessen serviert werden sollte. Ich schlug die Augen
auf und stellte fest, daß Carlos und ein anderer Reiter Seite an Seite, die Pferde in versammeltem Schritt wie bei einem Reitturnier, über die Rasenfläche in Richtung Haupthaus ritten. Als sie näher kamen, stellte ich fest, daß Carlos’ Begleiter ein langhaariger, weißbärtiger Mann war, der einen Cowboyhut trug. Wahrscheinlich war das der als Einsiedler bekannte Alte, der oben in den Bergen lebte. Sie ritten an der Terrasse vorüber, und der Alte wandte sein runzliges, sonnenverbranntes Gesicht in meine Richtung, aber seine Augen konnte ich nicht sehen, sie waren vom Hut verdeckt. Sie ritten zu den Ställen, um die Pferde zu versorgen. Wieder in meinem Bungalow, versuchte ich erfolglos, weiter an Bufo zu schreiben. Nur dank der Aussicht auf das Abendessen war ich nicht vollkommen unglücklich. Wie üblich war ich der erste Gast, der den Speiseraum betrat. Es duftete nach dem Stockfisch mit Kartoffeln, Paprika und Oliven, den Dona Rizoleta gemacht hatte. Im Laufe der Menschheitsgeschichte sind Millionen von Menschen verhungert und verhungern noch immer. Manche haben sich aber auch zu Tode gegessen und tun es noch immer. (Vielleicht werde ich einer von ihnen sein.) Für die einen wie die anderen, die Mittellosen wie die Übersättigten, ist Essen die allerwichtigste Betätigung überhaupt. Essen, essen! Ach, ist essen schön! Ich gehöre nicht zu jenen, die Stockfisch in dicken Scheiben gebraten essen, das ist eine nur dem Steak Tatar vergleichbare gastronomische Schandtat. In Scheiben gebraten behält der Stockfisch seine durch das Einsalzen hervorgerufene
Sprödigkeit, auch wenn er vorher vierundzwanzig Stunden lang eingeweicht worden ist, beim Servieren reichlich mit feinem Olivenöl übergossen und anschließend mit großen Schlucken prickelnden roten Alvarelhão-Krätzers die Kehle heruntergespült wird. Aber zusammen mit Kartoffeln, die in Scheiben geschnitten abwechselnd mit dem kleingezupften Stockfisch in eine Form geschichtet werden, wird der strenge Salzgeschmack sublimiert, und beide, Stockfisch und Kartoffeln, verschmelzen zu einer dritten, kräftigen, aber gleichzeitig delikaten und grandiosen Sache. Selbstverständlich muß man das können, so wie Dona Rizoleta zum Beispiel. Kaum hatte man mir die dampfende Platte vorgesetzt, stellte ich fest, daß sich darauf ein Meisterwerk, ein außergewöhnlicher Beweis des menschlichen Könnens befand. Frieden und Freude erfüllten mein Herz. (Diese Köstlichkeit kann sowohl abends verzehrt werden, wie es am üblichsten ist, als auch nachts oder selbst morgens. Ich habe schon einmal morgens nach dem Aufwachen Stockfisch gegessen und bin anschließend wieder ins Bett gegangen, wo eine Frau mich schlafend erwartete. Diesen Tag habe ich noch deutlich in Erinnerung. Sie hieß Regina und tat, als schliefe sie, als ich, nachdem ich den Stockfisch gegessen hatte, wieder ins Bett kam; sie tat gern so, als schliefe sie, und während sie tat, als schliefe sie, tat ich, als glaubte ich, daß sie schliefe, und nahm sie so. Genauer gesagt: ich habe sie immer »im Schlaf« besessen, sie bewegte dabei ihren Körper, um die Sache einfacher zu machen, ohne die Augen zu öffnen, und stöhnte wie im Traum; und nie rührte sie danach an das
Thema, auch ich durfte nicht darüber sprechen. Sie fand immer einen Weg, vor mir ins Bett zu gehen, und wenn ich dann kam, schlief sie bereits, et cetera.) Ich war schon mit dem Essen fertig, saß aber noch am Tisch und wartete auf den Kaffee, da beobachtete ich eine interessante Szene. Als Carlos den Raum betrat, starrte Euridíce, die mit Suzy an einem Tisch in der Nähe saß, den Mann mit hingerissenem und gleichzeitig abwartendem Blick an, als hoffte sie auf eine Gelegenheit, durch Blickwechsel einen Flirt anzufangen. Schon vorher war mir bei Euridíce ein gewisses Interesse an dem jungen Mann aufgefallen, und ich hatte auch gemerkt, daß Suzy sich darüber ärgerte. Als sie sah, daß Euridíce Carlos anblickte, redete Suzy ihre Cousine schroff an. Ich hörte sie »du Blöde«, »du Idiot« sagen und einen ganzen Satz: » … später heulend um Verzeihung bitten, das nützt nichts.« Außerdem versetzte Suzy Euridíce einen ordentlichen Knuff. Carlos nahm nicht wahr, daß er dieses ganze Melodrama verursachte. Er, der sowieso ständig in Gedanken versunken war, wirkte in diesem Augenblick noch geistesabwesender als sonst und aß ohne Appetit. Derart himmlischen Stockfisch gleichgültig essen, das konnte nur ein sehr verwirrter Mensch. Juliana und Orion, die von dem Streit zwischen den Cousinen nichts mitbekommen hatten, kamen zu Suzy an den Tisch und unterhielten sich mit ihr darüber, daß sie versprochen hatte, an diesem Abend die Kaurimuscheln zu werfen. Suzy versuchte, sich herauszureden, aber Roma und Vaslav schlossen sich den Musikern an und verlangten
die Einlösung des Versprechens. Schließlich willigte Suzy ein und sagte, sie wolle die Muscheln aus ihrem Bungalow holen. »Ehrlich gesagt glaube ich an keinerlei Art von Macumba«, sagte Orion. »Muscheln werfen ist keine Macumba«, sagte Juliana. Keiner konnte so richtig erklären, was Muschelwerfen ist. Einer bot die Definition an: »Eine Methode, die Geheimnisse der Zukunft aufzudecken«, aber die anderen bezeichneten den Begriff Methode als in diesem Zusammenhang unangemessen. »Wie wär’s mit hellseherischem Schabernack?« schlug jemand anders vor. Suzy kehrte mit einem schwarzen Holzkasten unter dem Arm und in Begleitung von Euridíce aus ihrem Bungalow zurück. Die beiden schienen ihren Streit beigelegt zu haben, denn sie kamen lächelnd und Hand in Hand daher. Wir setzten uns um einen Tisch im Gesellschaftsraum. Sofort bildeten sich unterschiedliche Gruppierungen: Juliana und Euridíce glaubten an die Muscheln; Roma und Vaslav waren neutral; Carlos gleichgültig, desinteressiert; ich skeptisch; Orion, weiß ich nicht. Suzy nahm die Muscheln aus dem Kasten, schüttelte sie in den Händen und warf sie auf den stoff bespannten Tisch. »Jetzt können Sie Fragen stellen«, sagte sie, ihre Stimme klang einschüchternd. Keiner wagte, etwas zu fragen. Die Überzeugten hatten Angst vor der Antwort; der Skeptiker, also ich, wollte nicht von den anderen als Überzeugter angesehen werden; die Gleichgültigen wollten sich nicht aktiv an der Sache beteiligen.
Suzy warf noch einmal die Muscheln, sie verteilten sich über den ganzen Tisch. Ich merkte, daß ihr Gesicht sich verkrampfte, ihr Blick veränderte sich, als sähe sie auf dem Tisch zwischen den Muscheln eine Ratte: ihr Blick verriet Angst und Abscheu. Jetzt kommt der Schwindel, dachte ich. »Ich sehe einen gewaltsamen Tod«, sagte Suzy. »Durch Flugzeugabsturz?« fragte Juliana. Nach Beendigung ihres Urlaubs wollte Juliana auf eine lange Tournee gehen, bei der sie als Haupttransportmittel das Flugzeug benutzen mußte. »Nein«, sagte Suzy, »ich sehe kein Flugzeug.« »Ist der Tote ein Mann oder eine Frau?« fragte Orion. »Eine Frau«, sagte Suzy. Schweigen. »Aber dieser Todesfall hat sich schon ereignet … ich weiß nicht … ich kann ihr Gesicht nicht sehen … ich sehe, wer bei ihr ist … ich sehe ganz deutlich, wer … in diesem schrecklichen Augenblick … neben ihr ist … diese Person … die neben ihr ist … « In das anhaltende Schweigen hinein erklang ein kurzes, nicht sehr überzeugtes Auflachen von Orion, dem nichts weiter folgte. Suzy sammelte die Muscheln ein und schüttelte sie in den Händen. Was war das für ein Lächeln auf ihrem Gesicht? »Schluß!« sagte Suzy. »Schluß? Jetzt, wo es gerade interessant wird«, fragte Orion. »Bitte, machen Sie weiter.« »Wieso war jemand neben der toten Frau? Wo waren sie? Wer waren sie?« fragte Juliana.
»Schluß«, wiederholte Suzy. »Komm, Euridíce.« Suzy mit dem schwarzen Muschelkasten unter dem Arm und Euridíce (die angstvoll Carlos ansah, als sie an ihm vorbeiging) verließen gemeinsam, beide unter Spannung stehend, den Gesellschaftsraum. »Eine Künstlerin«, sagte ich. »Das müßte sie im Zirkus vorführen.« »Von wegen Zirkus, ich sterbe vor Angst«, sagte Juliana. »Jetzt wollen wir nicht übertreiben«, sagte Orion. Nachdem Suzy weg war, gab es für uns keinen Grund mehr zu bleiben, abgesehen von meiner Lust auf Roma (auf Roma, ein schöner Gedanke). Alle machten sich auf den Weg zu ihren Bungalows. Ich blieb eine Weile allein. Dann ging ich auf einen Spaziergang durch den Wald. Ich empfand etwas wie eine Art Schaudern, eine Ahnung von Gefahr, aber keine große, nur gerade so viel, daß ich davon erregt war. Ich ging einen Weg entlang, den ich noch nicht kannte und dachte an Bocage, »ich will mein Herz mit Grauen sättigen«. Es mußte schön gewesen sein, damals, als es an Orten wie diesem kopflose Maultiere und Wolfsmenschen gab. Meine Taschenlampe schaltete ich nur ein, wenn ich Angst hatte, einen Abhang hinunterzufallen. Bei einer solchen Gelegenheit sah ich einen großen Baumstumpf, setzte mich darauf, machte die Taschenlampe aus und hörte Geräusche, die wie Stöhnen, Flügelschlagen, Schritte, Hexengemurmel klangen. Während ich dasaß, mich fürchtete wie ein alter Affe und diese Angst genoß, tauchte plötzlich ein diffuser gelber Lichtschein am Himmel auf, als ob der Wald auf einmal in Flammen stünde. Aber die Helligkeit hielt nur kurz an und
verlöschte gleich wieder, worauf die Dunkelheit um mich herum noch schwärzer wurde. Es mußte das gleiche sein, was der Maestro gesehen hatte, denn kurz darauf begann es, in unregelmäßigen Abständen am Himmel aufzuflackern. Diese Lichtblitze wurden eindeutig von Feuer verursacht. Aber ein Feuer solchen Ausmaßes verlöschte und flammte nicht auf wie ein riesiger Scheinwerfer. Fest entschlossen, dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen, machte ich mich in Richtung des Lichtscheins auf den Weg durch den Wald. Es war kein leichter Weg. Ich fiel mehrfach hin, zerriß mir die Kleidung, verletzte mich an den Händen. Daß ich mir die Hände aufriß, versetzte mich in Panik, ich hatte eine fürchterliche Angst vor Wundstarrkrampf, seit eine Freundin von mir daran gestorben war, als ich ein Halbwüchsiger war. Wie ein Hund begann ich, die Wunden an meiner Hand zu lecken, um sie von den Entzündungsbazillen zu säubern. Ich leckte mich noch immer, als ich zum Fuß des Berges kam und einen Drachen erblickte, einen Drachen mit Affenkörper, der Flammen spie, die sich über den Boden wälzten und dabei wie Höllenwinde heulten. Ich sah Gespenster, das mußte die Wirkung des Wundstarrkrampfs sein. Ein kalter Schauer lief mir durch den Körper, die Muskeln in meinem Hals und Unterkiefer wurden schon hart. Ich wußte, daß es keine Infektion gibt, die den Organismus so schnell angreift, aber es gab auch keinen Drachen-Affen. »Krepieren sollt ihr, ihr verfluchten Biester, krepieren!« schrie der Affe. Zum Glück war meine Begriffsstutzigkeit von kurzer
Dauer. Ich hatte (noch) keinen Wundstarrkrampf, und auch das furchterregende Tier war weder ein Drache noch ein bloßer sprechender Affe. Es war ein Mensch, der einen Flammenwerfer, wie man sie im Kino sieht, in der Hand hielt. Dieser Mensch war, wie ich erleichtert feststellte, Trindade. »Seu Trindade«, rief ich. »Ich vernichte Ameisen«, sagte er im Dunkeln. »Aber ich bin gerade fertig, gerade eben. Sie sollten hier nachts nicht herumlaufen.« »Warum nicht?« fragte ich. »Sie könnten in eine Felsspalte fallen, selbst die Tiere, die ja Tiere sind, fallen da rein, und ein Mensch noch viel leichter.« Er log. Die Stimme eines Lügners verrät sich in der Dunkelheit. »Ich bringe Sie zu Ihrem Bungalow.« »Nicht nötig.« Ich wollte es nicht, folgte ihm dann aber doch zu meinem Bungalow. Ich ging hinein und zog mir die zerrissenen Kleider aus. Dann betrachtete ich meine Hand und sah, daß ich nur ein paar kleine Kratzer abbekommen hatte. Ich ging auf die kleine Terrasse des Bungalows und horchte auf die Geräusche, die aus der Dunkelheit kamen. Kröten, Grillen, der Schrei einer Eule. Ich war auf menschliche Töne aus. Jetzt wollte ich keine Angst haben. Ich schaltete die Taschenlampe ein und ging in den Wald. Der Weg wirkte länger, aber schließlich kam ich zu der Stelle, wo ich Trindade mit dem Flammenwerfer begegnet war. Ich leuchtete mit der Taschenlampe die Erde ab. Auf dem
Boden verstreut lagen verkohlte Tiere, die wie aus geschmolzenem Draht gefertigt wirkten und einen ekelerregenden Geruch verströmten. Mit einem Stück Holz berührte ich eines der Tiere, das vom Feuer nicht vollkommen vernichtet war. Es war eine riesige Spinne, so groß wie ein Kürbis. Deshalb hatte Trindade den Flammenwerfer benutzt, dieses Tier hätte er weder mit einem Stock noch mit einer Hacke totschlagen können. Und was, wenn noch ein paar lebten? Wenn die Spinnen mich am Bein packten, mich zu Boden warfen? Ich stellte mir vor, wie sie mich auffraßen. Sie würden an der Nase anfangen, dann an den Lippen, Lippen sind aus zartem Fleisch; dann würde eine besonders schlaue kleinere Spinne mir unter die Hose klettern, am Bein bis zum Schritt hinaufsteigen und nacheinander meine Klöten verschlingen, Klöten sind zarte Fleischhäppchen, zumindest für Spinnen, und dann meinen Schwanz … Schluß! dachte ich, mit Schwanz und Klöten soll man nicht scherzen. Ich kehrte schleunigst zu meinem Bungalow zurück. Wie schön ist doch die Natur! Mein ganzer Körper fing zu jucken an. Überall saßen Zecken. Als ich aufwachte, war ich vollkommen verquollen. Ich hatte die Zecken abgerissen, aber ihre Köpfe dringelassen. Mein Körper war mit roten Pusteln bedeckt. In den Lenden und Achseln waren die Lymphdrüsen geschwollen. Jetzt war es aus mit dem Schreiben. Ohne den TRS-80 und dazu noch vollkommen angeschwollen! Ich hatte mein neues Buch für Anfang des Jahres versprochen, bereits Vorschuß erhalten, mein Verleger drängte mich, et cetera – ich glaube, das habe ich schon gesagt. Mein Verleger wollte
ein dickes Buch, die Buchhändler wollten ein dickes Buch, die Leser wollten ein dickes Buch (eine gute Ausrede, um es zu kaufen und dann nicht zu lesen); alles, was groß ist, macht Eindruck, der Eiffelturm ist scheußlich, aber groß, die Pyramiden sind nichts anderes als ein Berg aus Stein, den aufzuhäufen es der pharaonischen Dummheit gelungen ist, aber sie sind groß; wenn es jemandem gelänge, ein Gebäude aus Scheiße, vorzugsweise menschlicher, in der Größe des World Trade Center zu bauen, dann würde dieses Fäkalbauwerk als das größte Kunstmonument aller Zeiten oder auch als ein großes Kultbild gelten. Vielleicht würde es sogar als Gott selbst angesehen. Das Gift der Zecken machte mir zu schaffen. Als ich zum Haupthaus kam, begegnete ich Trindade; er verlor kein Wort über das, was sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte. Er fragte sogar, wo ich von so vielen Zecken gebissen worden sei. Er wollte nicht publik werden lassen, daß es riesige giftige Spinnen (und was weiß ich noch) in seinem Paradies gab. Im Frühstücksraum wartete eine Überraschung. Euridíce und Carlos frühstückten am selben Tisch. Ich hätte nicht gedacht, daß Euridíce nach der Eifersuchtsszene von Suzy so vorsätzlich mit dem jungen Mann flirten würde. Euridíce sah Carlos verliebt an, obwohl er nicht darauf reagierte und wie immer geistesabwesend, introvertiert und ein wenig melancholisch wirkte. Ich befürchtete, es würde zu einem Riesendrama mit Tränen und Gekeife kommen, wenn Suzy erschien, aber Suzy hatte sich das Frühstück aufs Zimmer bestellt. Obwohl es mir schlecht ging, aß ich von sämtlichen Frühstücksleckereien – Marmeladen, Käse,
Gebäck, Toast, Eier, gebratenen Bacon. Als das Hausmädchen mir Kaffee und Milch in die Tasse goß, legte sie unauffällig einen zusammengefalteten Zettel auf den Tisch, den ich ebenfalls unauffällig ergriff und in die Tasche steckte. Mein Herz schlug wie wild, denn ich war fest überzeugt, es sei eine Nachricht von Roma, die sich nicht im Raum befand. Kaum daß ich den Raum verlassen hatte und mich auf der Terrasse befand, las ich den Zettel: »Das Hausmädchen, das mir das Frühstück gebracht hat, wird Ihnen diesen Zettel geben. Euridíce geht reiten, ich werde den ganzen Vormittag im Bungalow sein. Kommen Sie her. Ich muß mit Ihnen sprechen. Suzy.« Auf dem Zettel war skizziert, wie man zu Suzys Bungalow kam. Suzy! Was zum Teufel mochte sie wollen? Ihre sexuellen Vorlieben schienen mir eindeutig, allerdings … Ich war auch schon mit homosexuellen Frauen ins Bett gegangen und sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen einer Homo und einer Hetero. So ein Pech, daß ich von den Zeckenbissen total angeschwollen war. Auf jeden Fall aber würden so ein paar armselige Zecken mich nicht daran hindern können, die Wonnen eines Frauenkörpers zu genießen. Ich ging nach Anweisung der Zeichnung und brauchte nicht lange, bis ich Suzys Bungalow fand. Ich klopfte nur einmal, sie machte sofort auf. »Also, da bin ich.« Auf dem Tisch im kleinen Wohnraum stand die Eule, von der sie gesprochen hatte, eine etwa dreißig Zentimeter hohe Skulptur.
»Was ist mit Ihnen passiert? Entschuldigen Sie«, sagte sie lachend, »auch wenn Sie vielleicht leiden, aber Sie sehen so komisch aus mit diesen roten Flecken am Hals und im Gesicht. Sehen Sie am Körper auch so aus?« »So ungefähr«, antwortete ich und merkte, daß mich eine gewisse Übellaunigkeit befiel. »Aber ich bin nicht hergekommen, um über Zecken zu sprechen.« »Da haben Sie recht.« Suzy erzählte, sie habe schon immer leidenschaftlich gern Zeitungen und Zeitschriften gelesen, vor allem solche, die sich mit Klatsch beschäftigten. Sie liebte Skandale, wie jedermann übrigens, und gestand, ein Faible für Verbrechen, Betrügereien, Amtsverletzungen, Schiebungen, Gemeinheiten zu haben. Als Besitzerin einer Boutique und Okkultistin hatte sie überreichlich Gelegenheit, ihre Klatschsucht zu befriedigen. »Sie beugen sich über die Handfläche eines Menschen, und auf einen kleinen Anstoß hin erzählt er Ihnen nach ein paar Sekunden schon die schlimmsten Geheimnisse seines Lebens.« Nach dieser Einleitung machte sie eine kleine Pause und sah mich an. Zwischen den Fingern hielt sie eine Zigarette. Bis dahin hatte ich sie noch kein einziges Mal rauchen sehen. Sie fuhr fort: »Wissen Sie, daß wir einen Mörder unter uns haben?« »Tatsächlich?« sagte ich. »Überrascht Sie das nicht?« »Einen Schriftsteller kann nichts überraschen.« »Ach, hören Sie auf.«
»Schon gut. Ich bin sehr überrascht.« »Diese blasierte Art ist nicht sehr überzeugend«, sagte Suzy. »Darf ich Ihnen die Geschichte erzählen, die ich für unser Spiel schreiben wollte?« »Wenn Sie das tun, scheiden Sie aus dem Spiel aus.« »Das macht nichts. Sie wird Ihnen gefallen. Es ist eine Liebesgeschichte.« »Liebesgeschichten mag ich sehr«, sagte ich und ging näher an Suzy heran. »Sie haben da etwas sehr Hübsches.« Ganz leicht ließ ich meine Hand über Suzys mit einer Seidenbluse bedeckten Busen gleiten. Sie trug keinen Büstenhalter, ich spürte die feste Knospe ihrer Brust. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. »Danke«, sagte Suzy absichtlich gleichgültig und wich mit dem Körper aus, so daß mir das Ungehobelte meines Verhaltens bewußt wurde. »Der junge Mann in unserer Geschichte ist vierundzwanzig Jahre alt und das Mädchen einundzwanzig. Sie sind reich, schön, groß und lieben sich. Aber sie lieben sich auf eine possessive Art, mit der dunklen Leidenschaft der Schwachsinnigen.« »Jede leidenschaftliche Liebe ist schwachsinnig«, sagte ich und dachte an Delfina Delamare. »Aber ein Mann und eine Frau, die sich wie die Wahnsinnigen lieben, das ist nichts Neues.« »Ich weiß. Der Unterschied ist hier, daß diese beiden einen Liebespakt geschlossen haben: Wer den Partner betrügt, soll von diesem getötet werden.« »Die Leidenschaft als furchterregende Komparserie, trüber Deckmantel, unbegrenzt haftende Mittäterin. Das ist die griechische Tragödie, das lateinische Trauerspiel«,
sagte ich. »Überdruß ist der Zoll, den man für den Überfluß zahlt. Die Schönheit welkt, die Lust erschöpft sich, die Intelligenz ermüdet. Der Todespakt wird zu einem Lebensquell. Solche Vertragspartner gefallen mir.« Das Herz tat mir weh, als ich das sagte. »Wenn Sie mich alle Augenblicke unterbrechen, kann ich meine Geschichte nicht erzählen«, sagte Suzy. »Mündlich vorgetragene Geschichten bauen auf der Intrige auf. Bis jetzt haben Sie nur Soziopsychologie betrieben.« »Ich? Und was ist mit Ihrer Hausbuch-Philosophie?« »Wir wollen uns nicht streiten«, sagte ich. »Wie heißen die beiden Personen? Namen sind sehr wichtig. On ne peut plus changer un personnage de nom que de peau.« Ich wußte, daß ich zu viel redete. »Maria und Jose. Maria verbrachte ihre Vormittage im Reitklub und ritt ihre Pferde, worin sie größtes Talent besaß.« Ich war sehr nervös, als ahnte ich, was bei diesem ganzen Gerede herauskommen würde. Ich rede immer viel, wenn ich nervös bin. »Beim Reiten die Beine über den Pferderücken zu spreizen, war den Frauen jahrhundertelang als etwas Obszönes, Ruchloses verboten. Und jetzt kompensieren sie diese, diese – « »Ich habe Ihnen einen wichtigen Anhaltspunkt gegeben«, fiel Suzy mir ins Wort. »Halten Sie ihn fest.« »Das habe ich«, sagte ich. »Jose seinerseits hielt sich an die Männlichkeitsriten. Die Reichen haben feste Riten, wie Sie wissen.« »Das weiß ich nicht. Sich mit den Reichen zu
beschäftigen ist typisch für die Randfiguren des Großbürgertums wie Friseure, Restaurantbesitzer, Huren, Juweliere, Kartenleger et cetera.« (Mir fiel ein, was Minolta mir am Tag vor meiner Reise zum Refúgio gesagt hatte, als ich von meinen Schwierigkeiten sprach, Bufo & Spallanzani zu schreiben. »Dein Fehler ist«, hatte Minolta gesagt, »dein Fehler ist, daß du nicht schwarz und arm sein wolltest, deshalb bist du kein wirklich großer Schriftsteller geworden; du hast dich für das Falsche entschieden, du wolltest lieber weiß und reich sein, und in dem Augenblick, als du diese Wahl getroffen hast, hast du das Beste in dir zerstört.« Das sagte Minolta, meine Minolta! Das konnte nur ein Rückfall ins Hippietum sein. »Und was ist mit Machado de Assis? Er durfte Weißer sein, oder nicht?« entgegnete ich. »Aber er war arm«, erwiderte Minolta.) »Mich zu provozieren ist sinnlos«, sagte Suzy. »Ich lasse mich nicht auf Ihr Spiel ein.« »Dann erzählen Sie weiter.« »Der schönste Körper verliert seine Verführungskraft, wenn er zur Schau gestellt wird. Sie als Schriftsteller wissen das besser als jeder andere. Die Liebe verzehrt uns wie eine Flamme. Darf ich Ihnen etwas vorlesen?« Sie zog ein Blatt Papier aus der Tasche und las: »Ich befand mich in dieser Avenue, als sie mir entgegenkam und an mir vorüberging. Es dauerte nur wenige Sekunden. Sie trug ein leichtes, sehr fließendes schwarzes Kleid, wie aus Acetatseide. Ihr Körper war athletisch, groß und schlank, ihre schwarzen glatten Haare à la garçonne geschnitten. Das Kleid und der Körper waren untrennbar zu einem
Ganzen verschmolzen, das sich in verwirrend geschmeidigem Gang bewegte. Das tief ausgeschnittene Kleid war ärmellos, und die Frau auf hohen Absätzen trug keinerlei Schmuck. Ihre Schönheit war unvergeßlich. Ich hatte das Gefühl, mich an der Begegnung mit ihr verbrannt zu haben.« Suzy steckte sich noch eine Zigarette an. »Ich trage das bei mir, als wäre es ein Gebet. Wissen Sie, wer das geschrieben hat?« »Von Baudelaire gibt es ein wunderbares Gedicht über die Frau, die vorübergeht«, sagte ich. »So würde kein Mann schreiben, nur eine Frau kann so über eine andere Frau schreiben«, sagte Suzy. (Später fand ich heraus, daß dies eine Passage aus einem Interview mit M. Duras war.) »Und ich habe Ihnen das vorgelesen, weil es genau das war, was ich empfand, als ich zum erstenmal … Maria sah. Damals habe ich nicht begriffen, was ich empfand, aber es war dieses Gefühl, als hätte ich Feuer gefangen.« Suzy schloß die Augen und schien ihre Leidenschaft in Gedanken nachzuerleben. »Es kam wie immer – jetzt nehme ich meine kleine Geschichte wieder auf –, der Mann betrog sie. Oh, ja, vielleicht hat er sie geliebt, daran zweifle ich gar nicht, Männer können zur gleichen Zeit lieben und betrügen. Die Frau wollte ihn nicht töten, aber der Pakt mußte eingehalten werden. Sie stellte sich mit einem Revolver in der Hand vor ihn, das Bild des vor ihr knienden Mannes, den sie liebte, von ihren Tränen verschleiert, und sagte, ich will dich nicht töten, ich liebe dich. Aber trotzdem drückte
sie ab. Wissen Sie, was sie dazu brachte, abzudrücken? Erbarmen. Hätte sie ihn betrogen, hätte sie nicht mehr leben können; sie glaubte, er sei genauso anständig wie sie und wolle sterben, um seine grauenvolle Tat zu sühnen.« »Was geschah mit ihr?« (Meine Stimme zitterte. Ach, wie meine Stimme zitterte.) »Sie floh. Dieser Teil ist interessant. Ich habe einmal in ihrer Hand gelesen – damals, als ich mich in sie verliebte – und in groben Zügen vorausgesehen, was geschehen würde. Dann habe ich sie eine Zeitlang nicht gesehen, aber wir konnten nicht fern voneinander sein, das ist Schicksal, und wissen Sie, wo ich ihr wiederbegegnet bin? Wissen Sie, wo?« »Nein.« »Machen Sie sich auf eine Überraschung gefaßt«, sagte sie. »Einen Schriftsteller kann nichts überraschen«, sagte ich wieder, allerdings nicht so überzeugt wie beim ersten Mal. »Nein, das wissen Sie nicht. Morgen oder vielleicht auch später, am Abend, sage ich es Ihnen und allen anderen hier, wer sie ist. Für heute sage ich nichts mehr außer: ihr Mann ist nicht gestorben, sie hat ihn nicht einmal getroffen.« »Dann ist sie also nicht unser Mörder?« »Nein, sie ist nicht unser Mörder.« »Sie scheiden aus unserem Spiel aus, das wissen Sie, nicht? Sie haben Ihr Thema verfehlt«, sagte ich. »Mein Thema hieß Kröte. Kann irgend jemand, abgesehen natürlich von Ihnen, eine Geschichte über Kröten schreiben?« »Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten, aber erzählen
Sie es keinem, auch nicht Euridíce. Ich habe allen das Thema Kröte gegeben«, sagte ich. »Sie sind ein Schlawiner, was? Dennoch, Vorsicht, ich habe die Tarotkarten gelegt. Ich weiß, was geschehen ist, und auch, was noch alles geschehen wird. Die Karten lügen nie.« Wenn ich ein Buch mit Erzählungen veröffentliche, heißt es, sie sind nicht so gut wie meine Gedichte; meine Gedichte wiederum gelten als nicht so gut wie meine Romane; meine Kriminalromane sind nicht so gut wie meine Liebesromane, et cetera. Ganz zu schweigen von den Fehleinschätzungen, die man über meine Theaterstücke geschrieben hat. Die Welt der Kunst ist die Welt der Mißgunst und der Seitenhiebe. Wenn die Leute über ein Buch von mir nicht sagen können, daß es schlecht ist, sagen sie, daß ich ein Mulatte bin. Mich interessiert nicht, was andere über mich sagen oder denken, nicht einmal, was die Frauen über mich denken, solange sie weiter mit mir ins Bett gehen. Man bezeichnet mich als sexbesessen, aber was soll ich denn mit meinem Schwanz machen, wenn er ewig hart ist? Ein harter Schwanz ist dazu da, ihn Frauen in die Möse zu stecken, und umgekehrt. Das wissen sogar die Indianer. Ich habe viele Jahre lang abstinent gelebt, bin einen Meter neunzig groß und wiege über hundert Kilo, ich glaube, das habe ich schon gesagt. Außerdem, was war das eigentlich für ein Gerede? Ich brachte Ausflüchte vor, ich fühlte mich fiebrig. Wie wäre es mit einem Witz: Ich treibe keinen Sport, das habe ich noch nie gemacht, ich bin extrem faul, der einzige Sport,
den ich treibe, besteht darin, den Sarggriff meiner Freunde zu halten, die Sport treiben (vgl. Churchill). Kaum war ich in meinem Bungalow, ließ ich mich ins Bett fallen. Sie hatte mit mir Katz und Maus gespielt, und die Maus war ich. Ich merkte, daß mein Körper vor Fieber glühte, der Juckreiz war schlimmer geworden. Im Badezimmerspiegel sah ich, daß mein Gesicht und mein Hals rot und geschwollen waren, nicht nur an den Bißstellen. Mein Körper sah noch schlimmer aus. Wahrscheinlich war ich gegen Zeckenbisse allergisch. Ich ging zum Haupthaus und suchte nach Trindade, aber er war mit den Gästen auf einem Ausritt unterwegs und wurde erst am späten Nachmittag zurückerwartet. Ich fragte Dona Rizoleta, ob sie mir irgendein Mittel geben könne. Sie sagte, sie hätten eine Spritze, aber damit könne außer Trindade keiner umgehen. Ich hatte nicht vor, auf Trindade zu warten, denn ehe der vom Ausflug zurückkam, war ich womöglich tot. Ich ließ mir von ihr das Medikament bringen, eine Ampulle Fenergan und eine Spritze mit Kanüle zum einmaligen Gebrauch. Dann spritzte ich mir das Mittel selbst in den linken Arm. Halb benommen ging ich zu meinem Bungalow zurück. Ich reagiere sehr stark auf Betäubungsmittel. Wenn ich ein Valium nehme, schlafe ich drei Tage lang. Die Fenerganspritze machte mich so müde, daß ich Suzy und alles andere, ja sogar das Mittagessen vergaß. Ich fiel ins Bett und schlief sofort ein. Am Abend wurde ich von Trindade geweckt. Nach seiner Aussage dauerte es lange, bis ich wach wurde. Ich
weiß, daß ich noch halb benommen war, als ich die Tür aufmachte und er in den Bungalow stürzte und rief: »Man hat Dona Suzy umgebracht!« Anfangs begriff ich nicht richtig, was er sagte. Trindade mußte seine Geschichte mehrere Male wiederholen. Trindade, Carlos, Euridíce, Juliana, Orion, Vaslav und Roma waren gleich nach dem Frühstück zu einem Picknick in den Bergen aufgebrochen. Gegen vier Uhr nachmittags waren sie zum Refúgio zurückgekehrt, und Euridíce hatte Suzy nicht im Bungalow vorgefunden. Sie hatte dem keine Bedeutung beigemessen und sich, müde vom Ausflug, hingelegt, um bis zum Abendessen ein wenig zu schlafen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatte ein Hausangestellter hinter einem Gebüsch, nicht weit von ihrem Bungalow, Suzy tot aufgefunden. Trindade hatte über Funk den Kommissar in Pereiras informiert, aber der Polizist sollte erst am nächsten Tag kommen, nachts war der Weg zum Refúgio nicht passierbar. »Polizeikommissar?« fragte ich. »Was hat die Polizei damit zu tun?« »Dona Suzy ist ermordet worden«, sagte Trindade. Er fügte hinzu, die anderen Gäste säßen in diesem Augenblick im Haupthaus zusammen und wollten, daß ich dazukäme. Die Tische im Speiseraum des Haupthauses waren zusammengerückt worden, und die Gäste saßen um sie herum. Als ich mit Trindade hereinkam, hörten sie auf zu reden. Ich setzte mich auf einen freien Stuhl. Orion räusperte sich. Er sollte also als Sprecher fungieren. Es dauerte noch etwas, ehe er sprach. »Wir sind der Meinung, daß Suzy heute nachmittag
ermordet wurde, während wir auf unserem Picknick waren«, sagte er mit einer Handbewegung zu den anderen Gästen. Euridíce hielt die Hände vor dem Gesicht; Carlos war noch blasser als sonst; Juliana vermied es, mich anzusehen; Roma und Vaslav waren ernst und nachdenklich. »Haben Sie sie vielleicht heute gesehen? Die Hausangestellten haben sie zum letzten Mal beim Mittagessen gesehen. Aber Sie sind nicht zum Mittagessen gekommen, stimmt’s?« Irgendeiner übernimmt immer die Polizistenrolle, und wenn man sämtliche Guedes umbringt, es nützt nichts. »Ich war von Zecken gebissen worden und überall geschwollen, ich habe mir eine Spritze gegeben, und die hat mich umgehauen«, sagte ich. Ich sah auf meine Hände und verstummte. Dann schob ich die Ärmel hoch und besah mir die Arme. Meine Hände und meine Arme sahen normal aus. Ich stand auf, ging unter aller Blicken zu einem Spiegel an der Wand des Speiseraums und betrachtete mein Gesicht. Nicht die geringste Spur von Zeckenbissen. Ich kehrte zurück, setzte mich und sagte: »Diese Spritze wirkt Wunder.« Neuerliches Schweigen. Ein verstohlener Blick von Juliana. Euridíce vergrub noch immer den Kopf in den Händen. Wahrscheinlich war Euridíce die Frau, die versucht hatte, ihren Mann zu töten. Ich versuchte, mich an Einzelheiten des Gesprächs zu erinnern, das ich am Morgen mit Suzy geführt hatte. Nur Euridíce konnte die Maria aus der Geschichte sein, die Suzy erzählt hatte; Roma konnte es nicht sein, Juliana auch
nicht. Aus Ärger über Euridíces Flirt mit Carlos hatte Suzy beschlossen, ihre Geliebte zu verraten. Irgend etwas stimmte aber nicht an dieser Überlegung. Sollte das Ganze eine reine Erfindung von Suzy gewesen sein? Ein neuerliches Räuspern von Orion unterbrach meine Gedankengänge. »Ein Zimmermädchen hat gesagt, es habe Ihnen heute morgen einen Zettel von Suzy gegeben.« Die Stimme des Maestro klang förmlich, wie von einem Amtsrichter. »Was soll das? Glauben Sie etwa, ich hätte Suzy umgebracht? Sind Sie alle verrückt?« Ich sprang auf, so daß der Stuhl zu Boden fiel. »Immer mit der Ruhe, Seu Gustavo«, sagte Trindade. Erst jetzt merkte ich, daß er einen Revolver im Gürtel trug und den Griff abwechselnd anfaßte und losließ. »Das behauptet doch keiner. Wir machen uns nur Sorgen«, sagte Roma. »Wissen Sie was? Ich habe die Geschichte zu dem Thema, das Sie mir gegeben haben, schon geschrieben.« »Man hat diesen Einsiedler im Refúgio herumschleichen sehen«, sagte Vaslav. »Das ist alles absurd«, sagte Carlos so vehement, daß seine Stimme wie die einer Frau klang, »weder der Einsiedler noch Gustavo haben irgend etwas mit Suzys Tod zu tun.« »Aber jemand hat sie umgebracht«, sagte Orion. »Und wir sitzen jetzt hier hoch oben in einem Gebirge, von Urwald umgeben, in der Gesellschaft eines Mörders und können nicht weg von hier«, sagte Roma. »Morgen ist der Kommissar aus Pereiras hier«, sagte Trindade. »Wo ist ihre Leiche?« fragte ich.
»Im Bungalow. Euridíce bleibt über Nacht hier im Haupthaus, wir haben ihr ein Zimmer fertig gemacht, neben unserem. Rizoleta kümmert sich um sie«, sagte Trindade. »Ich gehe schlafen. Gute Nacht«, sagte ich. »Und Sie, Euridíce? Sie sagen ja gar nichts?« Sie verbarg noch immer das Gesicht in den Händen. Ich verließ die Runde um den Tisch. An diesem Tag hatte ich zum erstenmal, seit Minolta einen anderen Mann aus mir gemacht hatte, an ein und demselben Tag weder zu Mittag noch zu Abend gegessen. Und ich konnte auch nicht schlafen, was selten vorkam. Ich wälzte mich die ganze Nacht wach im Bett. Ich dachte an Delfina Delamare, an den Maizenabrei mit Zimt, den meine Mutter machte, als ich klein war, ja sogar an den armen Totengräber auf dem Friedhof São João Batista. Der Kommissar aus Pereiras kam um elf Uhr. Von der Terrasse des Haupthauses aus sah ich den Traktor mit dem Anhänger langsam näherkommen. Der Kommissar war vermutlich der Mann mit dem dicken Schnauzer, der mit zwei weiteren Männern auf der Vorderbank saß. Auf der Bank dahinter saß eine Frau, die ich mit größter Überraschung und Freude erkannte. Es war Minolta, meine geliebte Minolta. Aber ich sollte eine noch größere Überraschung erleben. Auf der allerletzten Bank des Anhängers saß, von den anderen verdeckt, ein Mann mit speckigem Blouson, bei dessen Anblick mein Herz vor Schreck einen Satz machte. Es war Guedes. Guedes, der Polyp, von dem ich gedacht hatte, daß ich ihn nie in meinem Leben wieder sehen würde.
Teil IV Die Dirne der Beweise 1 Die Kirche, zu der Guedes, der Polizist, gehörte, betrachtete die Beichte als eines der wesentlichen Elemente des Sakramentes der Buße – das Bereuen der Sünde, ohne das es keine Erlösung gibt. Das Gesetz – das Strafgesetzbuch, dem er sich unterstellte – betrachtete das freiwillige Geständnis eines Verbrechens, dessen Urheber unbekannt war oder das einem anderen angelastet wurde, als strafmildernden Umstand. Als alter Polizist und Katholik wußte Guedes jedoch, daß das Geständnis eines Verbrechers oder die Beichte eines Sünders nur dann irgendeinen Wert besaßen, wenn sie durch andere überzeugende Elemente bekräftigt wurden. Noch als Halbwüchsiger hatte er aufgehört, zur Beichte zu gehen; er fand es demütigend und gewissermaßen absurd, vor einem anderen Mann niederzuknien, ihm seine Sünden aufzuzählen, Reue zu bekunden und seine Schuld zu verbüßen (vgl. Zehntes Trienter Konzil, Abschnitt XIV, Kap. 1 bis 9). Auch bei der Polizei waren ihm Geständnisse zuwider, denn sie kamen aufgrund von direkter oder psychischer Gewalt zustande – was auf dasselbe hinauslief, denn für
viele war Angst die schlimmste Form von Folter. Daß er eine Aversion gegen Geständnisse jeglicher Art hatte und zwei Institutionen angehörte, die von der wesentlichen Rolle des confiteor überzeugt waren, erklärt vielleicht die gewundenen Gedankengänge des Polizisten, die ich hier mit Gleichmut zu erhellen versuche. Als Agenor da Silva auf der Polizeiwache gestanden hatte, Delfina Delamare umgebracht zu haben, war Guedes erste Sorge, festzustellen, ob das Geständnis unter Folter erfolgt war. Da der Mord, ein schwerwiegenderes Verbrechen als ein versuchter Raubüberfall, im Zuständigkeitsbereich seines Kommissariats begangen worden war, konnte Guedes die Verlegung des Häftlings erwirken. Begleitet von einem Kripobeamten des 14. Kommissariats holte er persönlich Agenor von der Wache ab. Der diensthabende Kommissar Wilfredo sagte, als Guedes mit dem Verlegungsbescheid für Agenor kam: »Wir haben euch die Arbeit abgenommen. Der Kerl hat alles erzählt.« Guedes kannte Wilfredo. Er wußte, daß er nicht gewalttätig war. Er fragte: »Hast du den Mann verhört?« »Nein. Sieh dir mal sein Strafregister an.« Guedes ergriff das Blatt, das Wilfredo aus einer Schublade genommen hatte. »Kann ich das mitnehmen?« »Ja.« »Wer hat Agenor verhört?« Es war ein gewisser Ribas gewesen, der frisch von der Polizeischule gekommen war. Guedes entschuldigte sich und ging zu Ribas, um sich mit ihm zu unterhalten.
Das Sonderkommissariat der Schutzpolizei befand sich in einem alten Stadthaus in der Rua Marechal Floriano. Unten im Eingang war das Zimmer des diensthabenden Kommissars. Hinten lagen der Raum für das Wachpersonal und die Zellen. Im Obergeschoß befanden sich die Räume der verschiedenen Abteilungen, die zu dem Kommissariat gehörten. Guedes stieg eine baufällige Holztreppe, deren Handlauf von Holzwürmern zerfressen war, in das obere Stockwerk hinauf. Er fand Ribas in einem kleinen Raum mit einem Lamellenfenster, dessen Scheiben zerbrochen waren. Ribas war schlank, groß und bärtig; er hatte eine Lederjacke an, die noch vom Regen naß war, und eine schwarzrote Wollmütze auf dem Kopf. »Ich bin vom 14.«, sagte Guedes, »ich will Agenor Silva abholen.« »Der Verwahrungstrakt ist unten«, sagte Ribas. »Ich weiß. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Haben Sie einen Moment Zeit?« »Worum geht’s?« »Haben Sie den Agenor irgendwie in die Zange genommen, damit er gesteht, daß er die Frau umgebracht hat?« »Ich habe ihn nicht angerührt. Ich bin gegen so was.« Ribas erzählte, wie es zu der Festnahme gekommen war. Er war mit einem Kollegen in einem Gefangenentransportwagen auf Streife unterwegs in Benfica, da hielt eine Frau den Wagen an und sagte, eine Bäckerei in der Rua Prefeito Olímpio de Mello werde gerade von einem Mann überfallen. Es war sieben Uhr abends. »Dank der
Trotteligkeit unseres Fahrers dauerte es eine Weile, bis wir dort ankamen, aber wir hatten Glück, der Mann war noch da und hielt dem Portugiesen an der Kasse einen Revolver vor die Nase. Als er uns sah, warf er den Revolver weg und nahm die Arme hoch. Nachdem wir ihn eingeladen hatten, sagte er, wir brauchten ihn nicht zu schlagen, er würde alles erzählen. Aber wir hatten gerade keine Lust zu reden und steckten ihn in die Kiste. Als wir hier ankamen, sagte er, er wolle unter vier Augen mit mir reden. Ich sagte, ich wolle aber nicht mit ihm unter vier Augen reden, er solle vor den anderen reden. Als er sagte, daß er die Dame umgebracht habe, habe ich ihn hergebracht, damit er ganz auspackt. Nicht mal schief angesehen hab’ ich ihn. Er hat geredet, und ich hab’ zugehört.« Laut Agenors Geständnis stand Delfina mit ihrem Mercedes vor einer Ampel in einer Straße im nächtlichen Leblon, da beschloß er, sie zu überfallen. Es war nicht der erste Überfall dieser Art, den er beging. Den Revolver auf Delfina gerichtet, stieg er schnell auf der rechten Wagenseite ein. Ein paar Leute hatten vermutlich den Überfall gesehen, aber keiner hatte etwas unternommen, zumal die Ampel umschaltete und Agenor Delfina befahl, Gas zu geben. Sie fuhren ziellos durch die Stadt, er wollte die Frau irgendwo vergewaltigen, aber die verschiedenen Stellen, die er sich aussuchte, waren dann doch nicht geeignet: an der einen war ein Wachposten, an der anderen merkte er, daß Leute in einem Wagen ihn beobachteten und bekam Angst, sie könnten die Polizei holen; bis er dann beschloß, in den Tijuca-Wald zu fahren. Aber weder er noch die Frau
kannten den Weg dahin, und so landeten sie in einer Sackgasse (der Rua Diamantina, wo der Leichnam gefunden wurde). Als sie in diese Straße gerieten, wurde Agenor nervös und befahl der Frau, zu wenden und sofort von dort wegzufahren. Aber sie war verängstigt, und der Wagen bockte. Er schlug die Frau, aber nur leicht, und sie fing an zu schreien. Aus Angst, es könnte jemand kommen, schoß Agenor auf die Frau. Dann öffnete er ihre Handtasche, ergriff die goldene Zigarettenspitze und verließ den Wagen, so schnell er konnte. »Warum hat er nicht die goldene Armbanduhr mitgenommen, die sie trug?« »Warum? Keine Ahnung. Danach habe ich nicht gefragt. Ich wußte nicht, daß sie eine goldene Uhr am Arm hatte. Hören Sie, Guedes, dieser Mann ist nicht in die Mangel genommen worden. Er war ganz wild danach, alles zu gestehen. Solche Leute gibt es, das wissen Sie besser als ich, der noch neu im Haus ist; der Kerl hat ein schlechtes Gewissen und muß es erleichtern. Ich hab’ ihn nicht unter Druck gesetzt, wozu sollte ich Sie anlügen? Sie sind doch nicht vom Disziplinargericht.« Ribas lügt wirklich nicht, dachte Guedes. Sie gingen zu den Zellen hinunter. In einer Zelle, in die, nebeneinanderliegend, fünfzehn Häftlinge gepaßt hätten, befanden sich dreißig. Die Schwächsten mußten im Stehen schlafen. Von Zeit zu Zeit wurden ein paar der Schwächsten umgebracht, damit der Druck etwas nachließ und die Behörden durch die Reaktion der Öffentlichkeit gezwungen wurden, die Haftbedingungen der Eingesperrten zu verbessern. Wenn
man von dem Aspekt der berechtigten Forderungen absieht, war dies ein ähnliches Verhalten, wie man es bei Ratten beobachten kann. Agenor lag auf einem halben Meter Zelle, und ein Mann fächelte ihm mit einer Zeitung Luft zu. Es war nicht Sommer, aber in dieser überfüllten Zelle war es sehr heiß. Der Gefängniswärter schlug mit seinem Schlüsselbund gegen das Gitter und rief: »Agenor da Silva, Agenor da Silva!« Als Agenor, der von einem anderen Häftling wie ein Kalif (Guedes’ Gedanke) mit Zeitungsblättern befächert wurde, seinen Namen hörte, stand er hastig auf, sagte: »Das bin ich, das bin ich« und bahnte sich einen Weg, oder vielmehr, die Häftlinge drückten sich zusammen, um ihm Durchlaß zu verschaffen. »Komm her«, sagte der Gefängniswärter und schloß das Eisengitter auf. Agenor ging mit dem Gefängniswärter nach oben zu Ribas. »Du wirst ins 14. verlegt«, sagte Ribas. »Inspektor Guedes nimmt dich mit.« »Ins 14.? Warum?« Er schien beunruhigt. »Du hast die Frau in unserem Zuständigkeitsbereich umgebracht«, sagte Guedes. Ribas nahm Agenor am Arm und führte ihn in das Zimmer von Kommissar Wilfredo. »Ist er der Zellenboß?« fragte Guedes. »Der? Nein, das ist ‘ne Memme, ein Stück Dreck«, antwortete Ribas ohne Rücksicht auf den Häftling, der das Gespräch zwischen den beiden Polizisten mithörte.
Guedes, inzwischen in Wilfredos Raum, sah sich den Häftling genauer an: Er war unruhig und kaute an seinen Nägeln. »Darf ich mal telefonieren, Doktor?« »Ja«, sagte Guedes und gab Wilfredo ein Zeichen. »Wie geht’s den Kollegen vom 14.?« fragte Wilfredo. »Ich hab’ gehört, Ferreira ist nach Bangu versetzt. Darüber hat er sich bestimmt nicht gefreut.« »Bis jetzt hat noch nichts im Mitteilungsblatt gestanden«, sagte Guedes. Guedes unterhielt sich mit Wilfredo, aber es interessierte ihn, was Agenor am Telefon sagte: »Sag Bescheid, daß ich ins 14. nach Leblon komme. Du weißt schon, wem … Stell dich nicht so dumm, Alte!« »Es gibt noch Schlimmeres als Bangu«, sagte Wilfredo. »Das stimmt«, antwortete Guedes. »Merk dir, ins 14.«, sagte Agenor und legte auf. »Danke, Doktor.« Guedes tat so, als hätte er nicht gehört, daß Agenor sich bedankte. Er unterhielt sich noch etwas mit Wilfredo, dachte dabei aber an Agenors Telefongespräch. Wem sollte die Frau Bescheid geben, daß er ins 14. verlegt wurde? Einem Anwalt? Falls er einen Anwalt hatte, warum rief er den nicht direkt an? Wenn er nicht der Zellenboß war, warum fächelte ihm dann einer in der Zelle Luft zu? Geld, um sich so viel Sicherheit und Komfort zu kaufen, besaß er nicht. Auch nicht die körperliche Kraft noch den Mut, sich in diesem winzigen Raum seinen Platz zu erobern. »Gehen wir«, sagte Guedes. Sie stiegen in einen Gefangenentransportwagen, der auf sie wartete. Guedes setzte Agenor zwischen den Fahrer und
sich. »Ich muß noch was erledigen«, sagte Guedes. »Setzen Sie uns in der Nähe der alten Kathedrale ab.« Guedes und Agenor stiegen bei der alten Kathedrale, Ecke Rua da Quitanda aus. »Hier lang«, sagte Guedes. Die Rua da Quitanda war für den Autoverkehr gesperrt. Der Polizist und sein Gefangener gingen mitten auf der Straße. Wer die beiden sah, hätte nicht geglaubt, daß sie zusammengehörten. Guedes ging ein Stück voraus und sah auf die Hausnummern, als ob sie irgendeine Anschrift suchten. Agenor folgte ihm nervös und verängstigt. Zweimal blieb er verblüfft, mit gehetztem Blick, auf der Straße stehen und sah abwechselnd auf den Rücken des vor ihm gehenden Polizisten und zum anderen Ende der Straße. Aber beide Male beschleunigte er gleich darauf den Schritt und schloß sich Guedes wieder an. Von der Rua da Quitanda gingen sie zum Busbahnhof Menezes Cortes in der Rua São José, wo Guedes ihn fragte, ob er einen Kaffee trinken wollte. Sie tranken ihn im Stehen, in einer der Passagen des Busbahnhofs. Menschenmassen bewegten sich wie Termiten in einem riesigen Bau durch die Gänge des Busbahnhofs. Von dort gingen sie zur Rua Erasmo Braga und einmal hätte Agenor Guedes in der brodelnden Menschenmenge fast verloren. Sie stiegen in einen klimatisierten Bus der Linie CasteloLeblon. Als sie in die Flamengo-Bucht kamen, sagte Guedes: »Ich habe mein Medaillon vom heiligen Georg vergessen, und ohne das bin ich nicht gern unterwegs.« Eine unwahre Behauptung, mit der Guedes eine Unterhaltung mit Agenor in Gang setzen wollte. Der Einschätzung des Polizisten zufolge verehrte Agenor
vermutlich den heiligen Georg, gehörte zur Sambaschule Mangueira (wenn man davon ausging, wo er wohnte, und das hatte er auf dem Sonderkommissariat in der Akte gesehen) und war Fan des Fußballclubs Flamengo. Über diese Themen wollte er sich mit dem Gefangenen während der Busfahrt unterhalten. Mit den ersten beiden Vermutungen hatte er recht. Allerdings war Agenor kein Rot-Schwarzer, sondern ein Vasco-Fan. »Ich bin auch Vasco-Fan«, sagte Guedes. Unterwegs redeten sie über Fußball und Karneval. »Meine Mangueira krieg’ ich ja wohl so bald nicht wieder beim Umzug zu sehen«, sagte Agenor mit tränennassen Augen. »Und Vasco im Maracanã auch nicht.« »Man sollte sich das zweimal überlegen, ehe man so eine Dummheit macht«, sagte Guedes. »Aber ich – « Agenor verstummte und wischte sich die Augen ab. Als sie im 14. ankamen, trug Guedes die Einlieferung des Häftlings ein und gab dem Gefängniswärter Anweisung, ihn in die Zelle zu bringen. Das Gefängnis des 14. war noch überfüllter als bei der Schutzpolizei. Der Chef-Protokollant kam sich bei Guedes erkundigen, ob er Agenor mitgebracht habe, denn er wollte dessen Aussage noch am selben Tag aufnehmen. »Heute nicht«, bat Guedes, »warten Sie bis morgen. Ich möchte mich vorher noch mit ihm unterhalten.« »Ferreira hat es mit den Ermittlungen eilig«, sagte der Protokollant. »Morgen können Sie ihn verhören«, sagte Guedes.
»Erzählen Sie Ferreira irgendwas. Er weiß ja gar nicht, daß der Mann schon hier ist.« Der Protokollant, der ein gutes Verhältnis zu Guedes hatte, konnte ihm die Bitte nicht abschlagen. Guedes hatte andere Dinge zu erledigen, Dinge, die nichts mit mir und dieser Geschichte zu tun hatten, also berichte ich hier auch nicht darüber. Am Abend, als er in seine Wohnung kam, nahm Guedes sich ein Blatt Papier und notierte darauf: 1. Wegen Raubüberfall (den er nicht durchführen konnte) verhaftet, gesteht einen Mord, dessen man ihn gar nicht verdächtigt hat. Im Strafregister kein früherer Raubüberfall aufgeführt. Auch kein Mord. 2. Memme, trotzdem Zellenboß. 3. Behauptet, mit Frau herumgefahren zu sein und einen Platz für Vergewaltigung gesucht zu haben. Strafregister verzeichnet keine Vergewaltigung. 4. Ist ein Dieb, nimmt aber goldene Uhr nicht mit, angeblich aus Zeitmangel. (Hatte aber genug Zeit, die Handtasche der Toten zu öffnen.) 5. Hat mehrere Fluchtchancen, flieht aber nicht. Auf einem zweiten Blatt: 1. Von der Schupo-Wache aus geführtes Telefonat überprüfen. (Mit wem hat Agenor gesprochen? Wer soll von seiner Verlegung ins 14. unterrichtet werden?) 2. Herkunft des 22er ermitteln. Wo wurde er gekauft? 3. Dieb, Betrüger, Hehler, Zuhälter, Schlepper, Fälscher. Kein Gewaltverbrechen. Spuckt nur große Töne. Anschließend sah Guedes sich Agenors Strafregister an.
Die Taten, die er begangen hatte, waren Eigentumsdelikte (Artikel 155, 168, 171, 180), Sittlichkeitsverbrechen (Artikel 227 und 230), Delikte gegen die Familie (238) und schließlich ein Delikt gegen Treu und Glauben (Artikel 297). Unter seinen strafbaren Handlungen befand sich kein einziges »Verbrechen gegen die Person«, wie das Kapitel im Strafgesetzbuch heißt. * Er legte die Blätter auf seinen Nachttisch. Dort lag mein Buch Die Liebenden, aber er griff nicht danach, um die Lektüre, die er ein paar Tage zuvor angefangen hatte, fortzusetzen. Ich glaube, er war zu dem Schluß gekommen, daß die Beziehung zwischen dem Leben des Autors und dem, was er schreibt, so oberflächlich und verlogen ist, daß es sich nicht lohnen würde, vierhundert Seiten zu lesen, um nichts in Erfahrung zu bringen. Er legte sich schlafen, fand aber nicht den ruhigen Schlaf der kleinen Beamten, die ihre Pflicht tun. Mehrmals in der Nacht wachte er auf und las seine Aufzeichnungen durch. Außerdem ging er zum Urinieren ins Badezimmer.
*
Für alle, die es interessiert: Bei den oben genannten Delikten handelt es sich der Reihenfolge nach um Diebstahl, Aneignung fremden Eigentums, Betrug, Hehlerei, Beihilfe zur Unzucht, Kuppelei, Vortäuschung von Amtsbefugnis zur Eheschließung und schließlich Urkundenfälschung.
2 Am nächsten Tag kam er noch früher ins 14. Kommissariat. Er ging zum Gefängnis. Das Gefängnis bestand aus einer großen, mit Gefangenen überfüllten Zelle. Agenor lag mitten in der Zelle auf einer Liege mit einer dünnen grauen Decke über dem Körper. Er schlief noch. »Bringen Sie Agenor zu mir in mein Zimmer«, sagte Guedes zum Gefängniswärter. Agenor kam gähnend in Guedes’ Zimmer. »Gut geschlafen?« fragte Guedes. »Ja. Ich war sehr müde«, sagte Agenor. »Konntest du ordentlich schlafen? Ist die Zelle nicht zu voll?« »Doch, aber die Leute da sind in Ordnung, man richtet sich ein, keiner macht Ärger, Sie wissen ja, wenn alle zusammenhalten, ist das Leben einfacher.« »Nette Leute, das sehe ich, sogar eine Liege haben sie dir besorgt. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Die anderen Polizisten sahen Guedes mit dem Gefangenen hinausgehen, aber man respektierte den schmierigen Polypen viel zu sehr, als daß irgend jemand ihn daran gehindert oder auch nur deswegen kritisiert hätte. In der Avenida Ataulfo de Paiva tranken sie einen Kaffee. »Wie war das, als du die Frau umgebracht hast? Du
bist nicht vom Fach, du bist doch nur ein Schwätzer.« »Das war eine Idiotie«, antwortete Agenor. »Erzähl, wie es passiert ist.« »Ich rede nicht gern darüber, Seu Guedes.« »Mit mir wirst du schon reden müssen.« Sanft, aber unerbittlich. »Das hab’ ich Ihnen doch schon erzählt.« »Dann erzähl es noch mal.« Agenor wiederholte seine Geschichte. »Wie hast du auf sie geschossen?« »Wie ich auf sie geschossen hab’?« »Ja. Du hast Zeit zum Nachdenken.« Agenor kratzte sich an der Wange. Das machte er gewöhnlich, wenn er nervös wurde. »Wie schießt man schon auf jemand? Man richtet den Revolver auf ihn und schießt.« »Warst du im Wagen oder draußen?« »Drinnen. Ich saß neben ihr.« »Hast du ihr den Revolver auf den Körper gedrückt, als du sie erschossen hast?« »Nein. Das weiß ich nicht mehr. Ich war nervös, sie hat sehr geschrien.« »Hattest du schon jemals zuvor auf einen Menschen geschossen?« »Nein.« »Wo hattest du den 22er her?« »Von einem aus meinem Viertel gekauft.« »Von wem?« »Ich verrat’ doch keinen Kumpel.« »Du kannst ruhig sagen, wie er heißt. Ich tue ihm nichts.«
»Gibi.« »Es gibt viele Gibis in Mangueira. Beschreib ihn mal ein bißchen.« »Heller Mulatte. Spielt in der Sambaschule Tamburin. Prima Kerl.« »Na schön. Du hast auf die Frau geschossen. Und dann?« »Dann bin ich abgehauen.« »Und die Zigarettenspitze?« »Ach ja, die Zigarettenspitze. Ich hab’ die Tasche aufgemacht und sie rausgenommen.« »Und die Uhr?« »Welche Uhr?« »Sie hatte eine goldene Uhr.« »Die hab’ ich nicht gesehn.« »Du bist eine ganze Zeit mit der Frau am Steuer unterwegs gewesen und hast nicht gesehen, daß sie eine massive Golduhr am Handgelenk hatte?« »Nein, hab’ ich nicht.« »Und wie war das noch, warum bist du in der Straße gelandet?« »Ich wollte in den Tijuca-Wald, ich dachte, die Straße würde dahin fuhren.« »Du wolltest in den Tijuca-Wald, um die Frau zu vergewaltigen?« »Ja.« »Hattest du schon mal eine vergewaltigt? In deinem Strafregister steht nichts von einer Vergewaltigung.« »Das wär’ die erste gewesen. Die Frau war Klasse. Stimmt doch, oder?« »Noch mal zurück zu dem Augenblick, als du auf sie
geschossen hast. Erzähl noch einmal, wie das war.« »Wir sind in die Straße gekommen, und da hab’ ich gesehn, daß das ‘ne Sackgasse war, und hab’ zu der Frau gesagt, sie soll wenden. Da ist der Wagen abgesoffen, und ich bin nervös geworden und hab’ sie geschlagen. Da hat sie angefangen zu schreien, und ich hab’ den Kopf verloren und auf sie geschossen.« »Weiter.« »Nachdem ich geschossen hab’, dachte ich nur: Nichts wie weg. Der Wagen war abgesoffen, und ich kann auch gar nicht fahren. Da bin ich abgehauen.« »Und die Zigarettenspitze? Du vergißt dauernd die Zigarettenspitze.« »Ich hab’ die Tasche aufgemacht und die Zigarettenspitze rausgenommen.« »Die Uhr hast du nicht gesehen.« »Nein, die Uhr hab’ ich nicht gesehen.« »Noch mal zurück zu dem Augenblick, als du auf sie geschossen hast. Willst du noch einen Kaffee?« »Ja, bitte.« Guedes bestellte noch zwei Kaffee. Sie standen am Tresen einer Kneipe. Außer ihnen war niemand da. Es war noch sehr früh, die Kneipe hatte gerade aufgemacht. Der Polizist und der Häftling wirkten wie zwei Freunde, die sich leise unter vier Augen unterhielten. »Du hast auf sie geschossen. Wie hat sie geschrien?« »Geschrien halt.« »Wollte sie aus dem Wagen raus, hat sie versucht, sich zu wehren, dich angegriffen? Jeder schreit auf seine Art, die einen toben, andere kuschen, jeder reagiert anders.
Wie war das bei ihr? Sie gehörte bestimmt zu der Sorte, die tobt, wenn du davon so nervös geworden bist.« »Und wie!« »Und wie? Wie was?« »Und wie sie getobt hat.« »Und der Revolver? Was hast du mit dem Revolver gemacht?« »Weggeworfen.« »Weggeworfen?« »Ach, nein, ich hab’ ihn der Frau in die Hand gesteckt, damit es wie Selbstmord aussieht.« »Und dabei die goldene Uhr nicht gesehen?« »Ich hab’ ihr den Revolver in die rechte Hand gesteckt. Die Uhr war wohl an der linken.« »Weißt du, warum ich in eine Kneipe gegangen bin, um mit dir über diese Sache zu reden?« »Nein.« »Um dir eine Chance zu geben, die Wahrheit zu sagen. Ich behandele dich fair.« »Ja, das tun Sie, Seu Guedes. Vielen Dank.« »Und dafür tischst du mir schamlose Lügen auf.« »Nein, das stimmt nicht.« »Du behauptest, du könntest nicht Auto fahren, aber ich habe in deiner Akte gelesen, daß du mal Taxifahrer gewesen bist.« »Aber ich – « »Laß mich weiterreden. Du hast die Polizei dazu gebracht, dich bei dem falschen Überfall in der Bäckerei zu verhaften, damit du den Mord an der Frau gestehen kannst. Ein feiger, zweitklassiger Schwindler, der im Knast auf
einer Liege von einem anderen befächert wird. Hältst du mich vielleicht für einen Trottel? Du weißt genau, daß ich nicht blöd bin, Agenor. Du hast diese Frau nicht umgebracht. Getobt hat sie! Sie war perfekt frisiert, du Dummkopf, als ob sie auf einen Ball ginge. Und derjenige, der sie erschossen hat, hat ihre Seidenbluse aufgeknöpft, ihr die Kugel in den Körper geschossen und dann die Bluse wieder zugemacht. Du bist ein dummer Hund. Willst du noch einen Kaffee?« »Nein.« Agenor stützte sich auf dem Tresen ab, als würde er sonst umfallen. »Komm, wir gehen zur Wache«, sagte Guedes. Auf dem Rückweg sagte Guedes: »Wenn du willst, kannst du weglaufen. Aber du willst nicht weglaufen, stimmt’s? Du bist an die Anweisungen der anderen gebunden. Du weißt nicht, ob sie wollen, daß du wegläufst, und deshalb hältst du lieber still.« Agenor antwortete nicht. »Sie haben dich dafür bezahlt, daß du aussagst, du hättest die Frau umgebracht; sie haben dir Schutz zugesagt, die Zellenbosse dazu gebracht, dafür zu sorgen, daß du es bequem hast im Knast, aber sie warten nur darauf, daß du beim Verhör aussagst, daß der Protokollant dein Geständnis zu Papier bringt und du das Geständnis unterschreibst, in Anwesenheit von zwei Zeugen, damit alles in der Akte seine Ordnung hat. Darauf warten sie nur. Und weißt du, warum?« Agenor antwortete nicht. Seine Hände zitterten, er faßte Guedes am Arm. »Ich weiß nicht, wie du dir das vorgestellt hast«, fuhr
Guedes fort. »Inzwischen haben sie schon den Trottel ausgesucht, der dann gestehen wird, daß er dich umgebracht hat – ›Er wollte mir hinten rein, Doktor‹ –, einer von den Jungs, die mit dir einsitzen. Und dann machen sie es mit einem Strick aus alten Hemden oder einem Laken. Dich mit dem Messer umlegen, davon würde die Zelle schmutzig, und es ist sowieso schon so eng. Ich begreife nicht, wie ein alter Betrüger wie du auf so eine Geschichte reinfallen konnte.« Agenor seufzte. »Der Chef-Protokollant wollte schon gestern deine Aussage aufnehmen. Das habe ich verhindert. Ich weiß nicht, ob er in der Sache mit drinsteckt. Wenn du gestern ausgesagt hättest, wärst du jetzt ein toter Mann. Aber heute mußt du auf jeden Fall aussagen. Das kann ich nicht verhindern.« »Ich leugne alles. Ich sag’, ich hab’ die Frau nicht umgebracht.« »Dann bringen Sie dich auch um. Wie konntest du dich nur so reinreiten?« Sie befanden sich vor der Wache, aber Guedes ging weiter in Richtung Ruderstadion. Die Tür zum Stadion war offen, sie gingen hinein und setzten sich auf die Tribüne. Sie schauten auf die Ruderer, die auf der Lagoa trainierten. »Mir ging’s beschissen, das Leben ist hart für einen aus meinem Fach«, sagte Agenor. »Als Betrüger, da muß man schon ganz groß sein, ich weiß.« »Ein Bekannter von mir, ein Boß vom Jacaré, hat gesagt, daß sie einen suchen, der gut reden kann, damit er gesteht,
daß er eine Madame umgebracht hat. Fünfzig Millionen jetzt auf die Hand und fünfzig später, und die Garantie, daß ich nach Ilha Grande komme und daß sie mich da rausholen. Die Leute vom Jacaré haben dafür ein richtiges System. Leute aus Ilha Grande rausholen ist für die ein Kinderspiel.« »Ich weiß. Nur, du wärst gar nicht nach Ilha Grande gekommen. Du solltest nach Caju. Hast du die Knete schon bekommen?« »Ja. Die ist versteckt.« »Du wirst sie nicht ausgeben können.« »Dann bin ich also geliefert?« »Ja, das bist du. Hat der Typ vom Jacaré dir die Knete gegeben?« »Ja. Aber die Geschichte hat mir ein Anwalt beigebracht.« »Erzähl, wie das ging.« »Der vom Jacaré hat gesagt, ich soll zur Churrascaria Plataforma kommen und mich da mit ihm treffen. Als ich hinkam, saß er mit einem am Tisch, der sich als Anwalt vorgestellt hat. Wir haben zusammen Mittag gegessen, und der Anwalt hat mir alle Anweisungen gegeben. Er hat mich sogar im Auto zu der Straße gefahren, wo sie die Frau umgebracht haben.« »Weißt du, wie er heißt?« »Dr. Jorge.« »Jorge was?« »Wie er weiter heißt, weiß ich nicht.« »Wen hast du von der Schutzpolizei aus angerufen?« »Meine Frau. Damit sie dem Anwalt Bescheid sagt, daß
ich verlegt werde. Wir hatten abgemacht, daß er Bescheid kriegt, falls das passiert.« »Wie ist seine Telefonnummer?« »Zwei vier sechs sechs zwei eins vier sieben.« »Ich will dir mal was sagen: Ihr habt eure Sache miserabel gemacht.« »Zum Glück, sonst wär’s mit mir schon aus. Und was jetzt? Gibt’s keine Möglichkeit, daß ich da rauskomm’?« »Eigentlich müßte ich dir antworten, daß du aussagen und die Wahrheit sagen, die ganze Geschichte erzählen mußt. Ich müßte dir versprechen, daß wir dich beschützen, aber ich weiß, daß sie dich über kurz oder lang doch schnappen. Ich will nicht deinen Tod auf dem Gewissen haben.« »Werden Sie aber. Sie wissen, daß ich sterben werde, und tun nichts dagegen.« Die Boote waren weggefahren, und die Lagoa lag verlassen da. Die Wasserfläche schimmerte in der Sonne. »Kannst du dich irgendwo verstecken? Irgendwo außerhalb von Rio?« »Ja. Weit weg von hier. Geben Sie mir eine Chance? Ehrenwort?« »Ein Betrüger, und redet von Ehrenwort. Das Leben ist schon komisch.« »Ich vertraue Ihnen. Ich mache auch nicht die Dummheit, daß ich Ihnen die Knete anbiete. Geschäfte macht ein Betrüger nur mit seinesgleichen, auch Dummköpfe sind Betrüger, aber wenn einer anständig ist, das merkt unsereins.« »Du kannst gehen«, sagte Guedes. »Aber mach keine Dummheiten.«
»Sie glauben, ich würde mir ‘nen Ausrutscher leisten, wo die Jungs und die Banditen hinter mir her sind? Gott segne Sie.« »Laß Gott aus dem Spiel.« »Doch, Gott segne Sie.« Ein kleines Segelboot lief aus dem Piraquê-Club aus und segelte in Richtung Corte de Cantagalo. Die Sonne war stärker geworden, Guedes wurde es allmählich zu warm. Agenors Flucht bereitete dem Polizisten keine großen Schwierigkeiten. Kommissar Ferreira ließ Guedes zu sich kommen und sagte, der Staatssekretär sei wütend, und er würde wahrscheinlich suspendiert. Indes, die Tage vergingen, ohne daß in den Amtlichen Mitteilungen eine Suspendierung veröffentlicht wurde. Es wurde auch keine Untersuchung der Flucht eingeleitet. Guedes setzte seine Spürhundaktivitäten fort. Es war nicht schwierig, den vollständigen Namen des Dr. Jorge herauszufinden, des Rechtsanwalts, der die Schwindelgeschichte mit Agenor da Silva als Hauptakteur aufgezogen hatte. Er hieß Jorge Delfim. Er war Sozius einer großen Kanzlei, die sich mit zivilrechtlichen Fragen befaßte – hauptsächlich mit Handels- und Steuerrecht. Keines der Kanzlei-Mitglieder war Strafrechtler. Das erklärt, warum sie so einen Mist gebaut haben, dachte Guedes. Aber er rief nicht Dr. Jorge an. Er ging ans Telefon und rief bei Eugênio Delamare zu Hause an. Das war am Nachmittag des Tages, an dem er Agenor da Silva hatte laufen lassen.
»Ist Dr. Eugênio Delamare da?« Guedes verließ sich auf sein Glück. Abgesehen vom Prinzip der Einfachheit glaubte er auch noch an das RisikoGewinn-Prinzip von Hohenstaufens – der Wert der Belohnung ist immer proportional zum Wert des Risikos oder schlicht und einfach: wer nicht wagt, gewinnt nicht. »Wer ist da, bitte?« »Dr. Jorge Delfim.« Eugênio Delamare kam sofort. »Dr. Delfim?« (Sie waren nicht befreundet, Jorge und Eugênio. Vielleicht merkte er nicht, daß es eine fremde Stimme war.) »Der Mann ist entkommen«, sagte Guedes. »Das weiß ich schon. Der Staatssekretär hat mich angerufen. Wir hätten das voraussehen müssen. Unsere Polizei ist ein Scheißhaufen. Ich habe bei Ihnen in der Kanzlei angerufen, aber man sagte mir, Sie seien in São Paulo.« Guedes hatte den Eindruck, daß Delamare betrunken war. Die reichen Faulenzer fangen schon beim Mittagessen mit dem Trinken an. »Ich bin gerade zurückgekommen«, sagte Guedes. »Und was jetzt?« »Mal sehen, ob wir es hinkriegen, daß der Mann in Abwesenheit als Mörder Ihrer Frau verurteilt wird. Denn das ist es doch, was Sie wollen? Daß die Schuld festgestellt wird.« »Und daß der Fall abgeschlossen wird«, erwiderte Delamare. »Ich will nicht, daß er morgen auftaucht und sagt, er wär’s nicht gewesen, verstehen Sie?«
»Keine Sorge.« »Ihre Freunde da, kümmern die sich um alles?« »Ja, keine Sorge.« »Wenn Sie noch Geld brauchen, sagen Sie Bescheid. Guten Tag.« Bei seinen Ermittlungen stieß Guedes auf eine weitere wichtige Entdeckung. Er ging in letzter Zeit jede Nacht die beiden Wege ab, die Delfinas Mörder zur Flucht aus der Rua Diamantina benutzt haben konnte. Zuerst durch die Rua Faro hinunter bis zur Rua Jardim Botânico; dann einen komplizierteren Weg – Rua Itaipava, Rua Benjamim Batista und von da abwechselnd die drei Querstraßen Abade Ramos, Nina Rodrigues und Nascimento Bittencourt hinunter zur Rua Jardim Botânico. Und auch die Treppe, die zum Platz Pio XI. fuhrt. Einem neuerlichen Glücksfall war es zu verdanken, daß er den Zeugen fand, den er so sehr suchte (mehr Schweißarbeit als Glück). Es war eine alte Frau, die ihren Hund ausführte. Sie hieß Bernarda. Als Denise Albuquerque aus Frankreich zurückkehrte, fand sie zu ihrer Überraschung zu Hause eine Vorladung auf das 14. Polizeikommissariat vor. Selbstverständlich ging sie nicht hin. Statt dessen schickte sie einen Anwalt. Aber der Polizist wollte die Frau sprechen und ließ nicht ohne weiteres von seinem Ziel ab. Ob das, was dann geschah, das Resultat einer Verständigung mit dem Anwalt oder mit Denise selbst war, weiß ich nicht. Jedenfalls vereinbarte Denise einen Gesprächstermin mit dem Polizisten bei sich zu Hause.
Sie hatte sich gerade von ihrem Mann getrennt, und es war allgemein bekannt, daß sie die beste finanzielle Regelung in der Geschichte der Ehetrennungen in Brasilien erreicht hatte. Gerüchte gingen um, denen zufolge ihr Mann sich, wie alle großen Finanziers, gelegentliche Ausrutscher leistete, und daß Denise gedroht hatte, im Prozeß vor dem Scheidungsrichter auszupacken. Denise fand den Polizisten sympathisch; schlecht gekleidete, arme Leute weckten immer eine gewisse Zuneigung in ihr. Auch Guedes fand Gefallen an ihr, vielleicht, weil sie seine Fragen so freimütig beantwortete. »Ich habe den Brief gelesen, den Sie Dona Delfina geschrieben haben.« »Ist das nicht strafbar, fremde Post zu öffnen? Oder darf die Polizei das?« »Nein, das darf sie nicht. Aber für mich war es wichtig zu erfahren, daß Dona Delfina einen Geliebten hatte.« »Ich hätte nie gedacht, daß, falls Delfina sich jemals einen Liebhaber anschaffen würde, es so einer wie dieser neunmalkluge Mulatte sein würde. Ich hatte immer gedacht, falls sie mal ein Verhältnis hat, dann mit Tony Borges. Tony war ganz verrückt nach Delfina.« »Halten Sie es für möglich, daß dieser Mensch Delfina getötet hat?« »Wer? Der Schriftsteller? Nein. Haben Sie ihn im Verdacht?« »Ich habe niemanden und alle im Verdacht. Sogar ihren Mann.« »Ich will Ihnen mal was sagen, Eugênio Delamare kommt aus einer alten und sehr reichen Familie, in puncto
Tradition und Geld sind denen nur die Guinles ebenbürtig. Alle, sowohl die Männer als auch die Frauen, haben immer reich geheiratet, die einzige Ausnahme war Eugênios Hochzeit mit Delfina, aber als Mensch war Delfina eine Million mal so viel wert wie ihr Mann. Eugênio ist ein Widerling. Wenn jemand aus einer guten Familie nichts taugt, dann ist er schlimmer als jeder Schurke. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sie hätte umbringen lassen. Ich will Ihnen mal erzählen, was mir passiert ist, als ich für eine Woche auf der Fazenda war, die die Delamares in Mato Grosso hatten. Ich habe das noch niemandem erzählt. Sie sind der erste, der diese Geschichte zu hören bekommt. Ich war damals noch mit Albuquerque verheiratet, und er kam auch mit. Was wir Frauen in diesem Sumpfgebiet wollten, weiß ich nicht. Die Männer waren die ganze Zeit auf der Jagd und beim Fischfang. Einmal bin ich übrigens mitgefahren und fand es schrecklich, mitanzusehen, wie sie mit ihren Gewehren mit Zielfernrohr schutzlose Tiere umbrachten. Eines Tages machte Delfina mit Albuquerque einen Bootsausflug; ich fuhr nicht mit, weil mir auf Booten immer schlecht wird, und Delamare sagte, er würde auch dableiben und mir Gesellschaft leisten, denn der Ausflug sollte fast den ganzen Tag dauern. Kaum waren wir allein, machte Eugênio mir bei der ersten Gelegenheit einen Antrag. Ich tat so, als hätte ich nicht verstanden, was er wollte; schließlich war er der Freund meines Mannes, es war eine sehr unangenehme Situation. Wissen Sie, was er getan hat? Er hat mich in meinem Zimmer mit Gewalt gepackt, mich genommen, mich vergewaltigt, dieser Kretin. Ich hatte
nicht den Mut, es Albuquerque und Delfina zu erzählen. Zu Albuquerque habe ich gesagt, es ginge mir sehr schlecht – und das stimmte wirklich –, und ich wollte nach Rio zurück. Am nächsten Tag haben wir uns in unseren LearJet gesetzt, der auf dem Landeplatz der Fazenda stand, und sind nach Rio zurückgeflogen. Dieser Wüstling Eugênio kam weiterhin zu uns, lud uns weiterhin zum Essen ein, als wäre nichts geschehen.« »Halten Sie es für möglich, daß er Delfina hat umbringen lassen?« »Ich weiß nicht, ob er so weit gehen würde, aber überraschen würde es mich nicht. Er wußte, daß Delfina ein Verhältnis mit diesem Schriftsteller hatte, und er ist nicht der Mann, der so etwas gelassen hinnimmt.« Die Begegnung mit Dona Bernarda: »Haben Sie keine Angst, so spät nachts durch die Straßen zu gehen?« fragte Guedes, als er sie traf. Es war ein Uhr nachts, und die Rua Abade Ramos war menschenleer. Dona Bernarda sah ihn durch die Gläser ihrer dickrandigen Brille an. »Ich bin schon zu alt, um Angst zu haben. Außerdem ist mein Adolfo krank und muß um diese Zeit raus, und ich habe niemand, der mit ihm rausgehen kann.« Guedes bückte sich und streichelte dem Hund den Kopf. »Was hat er denn?« »Ich weiß nicht. Um diese Zeit fängt er immer an zu jaulen, und wenn er, dann nicht rauskommt, kriegt er Krämpfe und seibert sich voll und macht noch schlimmere
Sachen, der Arme. Der Tierarzt weiß auch nicht, was er hat. Und Sie? Haben Sie keine Angst, um diese Zeit unterwegs zu sein?« »Ich bin bei der Polizei«, sagte Guedes. »Das ist meine Arbeit.« Dona Bernarda war eine gute Beobachterin. Ja, sie hatte so einen Mann wie den gesehen, den der Polizist ihr beschrieben hatte, er war zwei Häuser weiter über Adolfo gestolpert; ja, sie würde ihn wiedererkennen, natürlich; welcher Tag das war?, ganz einfach, das war Adolfos Geburtstag, und sie hatte ihm Zuckerei gegeben, Adolfo war verrückt nach Zuckerei, sie wußte, daß Adolfo kein Zuckerei fressen durfte, aber einmal im Jahr, das konnte doch nicht so schlimm sein. War es aber. Wie hätte sie denn so einen Tag vergessen können.
3 Währenddessen wachte Minolta in Iguaba mitten in der Nacht auf und sah eine Gestalt neben ihrem Bett stehen. Da es sehr dunkel war, sah sie nur den Umriß des weißen Gewandes der Gestalt, das fluoreszierend leuchtete. »Wer sind Sie?« fragte sie in Angst und Schrecken. »Ein Freund«, sagte die Gestalt mit heiserer Stimme. »Was wollen Sie?« »Die Zeit läuft ab«, sagte das Gespenst. Und verschwand. Minolta stand auf, packte Kleidungsstücke in eine kleine Reisetasche, setzte sich auf einen Stuhl und wartete darauf, daß es Tag wurde. Früh am Morgen stieg sie in einen Bus nach Rio de Janeiro. Nach der Ankunft in Rio de Janeiro ging sie zu dem Reisebüro, wo sie mich für das Refúgio do Pico do Gavião angemeldet hatte. Es gebe erst in drei Tagen eine Verbindung zum Pico, sagte man ihr. »Wenn man zum Pico will, muß man einen Sonderbus nehmen, der einmal in der Woche von Pereiras abfährt.« Ein junger Mann, der das Gespräch zwischen Minolta und dem Reisebüroangestellten mitangehört hatte, mischte sich ein und sagte, er habe am Vormittag mit der Kontaktperson, dem Ladenbesitzer in Pereiras, gesprochen, und er habe ihm gesagt, am nächsten Tag würde eine Sondertour gefahren, um den Polizeikommissar zum Pico zu bringen. Es habe am Pico einen Mordfall gegeben.
»Das war es, was die Gestalt mir sagen wollte«, sagte Minolta. »Wie kommt man nach Pereiras?« »Haben Sie einen Wagen?« »Nein.« »O je … « Der junge Mann kratzte sich am Kopf. »Also, das ist so, schreiben Sie sich das auf, sonst finden Sie da nie hin.« Als ihr klar war, daß sie keine Zeit verlieren durfte, rannte Minolta, sobald sie die Erklärungen aufgeschrieben hatte, die der junge Mann ihr gegeben hatte, aus dem Reisebüro. Am Ausgang stieß sie gegen einen Mann, der hineinwollte, und mußte sich an ihm festhalten, um nicht hinzufallen. »Entschuldigen Sie«, sagte Minolta. »Ich muß mich entschuldigen«, sagte der Mann in speckigem Blouson und mit gelben Augen. Minolta stieg am Busbahnhof Novo Rio in einen Bus nach Resende; dort in einen Bus nach Queluz. In Queluz nahm sie einen Bus nach Areias, immer laut Anweisung des jungen Mannes aus dem Reisebüro. In Areias einen Bus nach Pereiras. Obwohl sie tief in Gedanken versunken war, stellte Minolta fest, daß der Mann mit dem speckigen Blouson auch im Bus saß. Abends um neun kam sie in Pereiras an, stieg aus und sah nicht, wohin der Mann ging. Seit Tagesanbruch hatte sie in Bussen gesessen oder auf Busbahnhöfen gewartet, aber sie war nicht müde. Den kleinen Platz zu finden, den der junge Mann aus dem Reisebüro ihr beschrieben hatte, war nicht schwierig; es war der einzige in dem Dörfchen. Sie verbrachte die Nacht im Sitzen auf einer Bank auf
dem Platz. Gegen Morgen, als die Vögel in den Bäumen zu singen anfingen, erschien der Mann im speckigen Blouson. Die Sonne stand schon am Himmel, da fuhr ein Jeep vor, und heraus stiegen drei Männer. »Sind Sie schon seit heute früh hier?« fragte der eine. »Fahren Sie zum Refúgio?« fragte ein anderer. Sie hatten sich verspätet, und Minoltas Antwort beruhigte sie. Der Bus zum Refúgio war noch nicht gekommen. Die zu spät Gekommenen waren der Kommissar, der Amtsschreiber und der Spurenexperte von der Polizeiwache von Pereiras. Der Kommissar kam nie pünktlich, wenn er irgendwo sehr früh sein mußte. An diesem Tag hatte seine Frau ihm mit Hilfe des Amtsschreibers ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht schütten müssen, um ihn wachzubekommen.
Teil V Der Fluch 1 Alle Romane kranken an einem Fluch, in erster Linie an dem, daß sie schwunglos enden. Wäre dies ein Roman, wäre er keine Ausnahme von der Regel und würde ebenfalls simpel ausgehen. (Alle Romane haben ein schwaches Ende – vgl. Forster –, »denn die Handlung verlangt eine Auflösung; es müßte für den Roman eine Konvention geben, die es dem Romancier erlaubt, mit dem Schreiben aufzuhören, wenn er durcheinander oder des Schreibens überdrüssig ist; er müßte das Buch beenden können, bevor die Personen an Kraft verlieren, während der Autor sich noch abmüht, die Handlung zu einem befriedigenden Abschluß zu bringen«.) Daß der Roman als einzigen Anspruch den zu erfüllen hat, interessant zu sein, hat schon jemand gesagt (vgl. James). Aber, ich wiederhole, dies hier ist kein Roman. Deshalb (vgl. Nava) »gehen Sie doch zum Teufel. Und jetzt hören Sie zu.« Auch Memoiren, wie die, die ich schreibe, kranken an einem Fluch. Memoirenschreiber sind zu Groll und Lüge verurteilte Schriftsteller. Ich habe zu Beginn gesagt, ich sei ein Lüstling und ein Schlemmer, um mich von diesem
Fluch zu befreien – keine Lügen, das stand für mich von vornherein fest. Nebenbei bemerkt ist ein Buch anzufangen nicht schwieriger, als es zu beenden – woraus manche das Argument beziehen, es sei besser, den Leser am Ende zu enttäuschen, als ihn schon am Anfang von der Lektüre abzuschrecken. Ich bin an mein Bücherregal gegangen, habe wahllos ein paar Bücher von weltberühmten Autoren herausgegriffen und jeweils den ersten Satz gelesen. Wie in unserem wissenschaftlichen Zeitalter jeder Schuljunge weiß, besteht eine sehr enge chemische Verwandtschaft zwischen Kohle und Diamanten. Unser Gefängnis war hinten, dicht an der Böschung, in den Festungsbereich eingemauert. Spazierenzugehen war an diesem Tag unmöglich. Durch das Tor der Gouvernementsstadt fuhr eine ziemlich nette kleine Federkalesche herein, ein Wagen, wie er meist von Junggesellen benutzt wird. Lena sitzt am Straßenrand. Sie sieht, wie das Fuhrwerk über die Wegsteigung langsam näherrückt und denkt: Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Nunc et in hora mortis nostrae. Amen. Wieder sind wir allein. Alles ist so träge, so schwer, so traurig. Ich bin der Arzt, der in den folgenden Blättern oft und mit wenig schmeichelhaften Worten erwähnt wird. Nun, Fürst, Genua und Lucca sind nichts anderes mehr als Erbgüter der Familie Bonaparte. Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
Am Nachmittag meines einundachtzigsten Geburtstags, als ich mit meinem Buhlknaben im Bett lag, kam Ali und sagte, der Erzbischof sei da und wolle mich sprechen. * Rein zufällig ergeben diese Sätze sogar einen gewissen Sinn, was ein Beweis für die Theorie ist (falls es sie noch nicht gibt, stelle ich sie hiermit auf), daß Wörter, die auf irgendeine Weise zusammengefügt werden, immer einen gewissen Zusammenhang ergeben. (Vgl. Borroughs) Ein Roman kann also anfangen, wie es dem Autor gefällt. Kann ein Buch, das mit »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« beginnt, den Leser ab initio interessieren? Ist es möglich, daß jemand wissen möchte, was ein Erzähler denkt, der früh ins Bett geht? Oder: »Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns *
Bücher und Autoren in der Reihenfolge der Zitate: Sieg, Conrad; Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Dostojewski; Jane Eyre, Ch. Brontë; Tote Seelen, Gogol; Licht im August, Faulkner; Der Leopard, Lampedusa; Tod auf Kredit, Céline; Zeno Cosini, Svevo; Krieg und Frieden, Tolstoi; In Swanns Welt, Proust; Der Fürst der Phantome, Burgess. Allesamt sind Ausländer und tot (mit Ausnahme von Burgess). Nicht alle zählen zu meinen Lieblingsautoren. Portugiesischsprachige Autoren sind absichtlich nicht dabei, obgleich die portugiesischsprachige Literatur jener der genannten Autoren, das heißt der englischsprachigen, russischen, französischen und italienischen, in nichts nachsteht. Ich wiederhole, abgesehen von dem ersten Ausscheidungskriterium handelt es sich um eine ZufallsAuswahl, um blind aus dem Regal gegriffene Bücher. Für mich gibt es weder die zehn noch die hundert noch die tausend Meisterwerke der Weltliteratur.
in hohem Grade erzählenswert scheint.« So beginnt Mann seinen Zauberberg. Kann es für ein Buch einen blödsinnigeren Anfang als diesen geben, in dem der Autor zugibt, daß die Hauptperson Hans fade ist, daß er trotzdem seine Geschichte erzählen will, nur um seines zwanghaften Redebedürfnisses willen? In Wirklichkeit ist noch nie ein Buch nicht gelesen worden, weil ihm ein spannender Anfang fehlte. »Von allem Geschriebenen liebe ich nur das, was einer mit seinem Blute schreibt«, sagte Nietzsche, für den Blut und Geist das gleiche waren. Meine ersten Bücher sind mit Blut geschrieben worden. Nach zehnjährigem Versteck in einem Haus mußte in meinem Geist die gleiche Revolte aufkommen, wie sie den Marquis de Sade gepackt hatte. In den Jahren, in denen ich nach meiner Flucht aus der Irrenanstalt eingesperrt war (Sie können auch sagen, ich hätte mich selbst in ein Verlies gesperrt, was durchaus der Wahrheit entspricht, aber ich hatte keine andere Wahl, als mich wie ein waidwundes, umzingeltes Tier zu verstecken), entstand in mir Verachtung für die Menschheit im allgemeinen und die Mächtigen im besonderen. Ich bat Minolta, mir Bücher darüber zu beschaffen, wie das durch einen Atomkrieg verursachte Ende der Welt aussehen würde (oder wird?). Ich hatte Spaß daran, mir die Katastrophe auszumalen, die Verbrannten, die auf der Stelle zusammenschrumpfen, die Verletzten, die ohne ärztliche Hilfe mit dem Tode ringen, die Strahlenverseuchten, die langsam dahinsterben, und jene, die vor Hunger, Durst oder Kälte oder im Wahnsinn sterben, ehe die Strahlung ihre Wirkung tun kann. Ich las,
was die Russen Bajew, Boschkow, Moisjew, Sagdejew, Alexandrow und die Amerikaner Holdren, Sagan, Ehrlich, Roberts und Malone geschrieben hatten. Das grauenhafte Ende der Welt stand dicht bevor, aber weder die Wissenschaftler noch die Dichter, noch die Heiligen taten irgend etwas, um zu verhindern, daß es eintrat. Die Tage der Spezies waren gezählt. Ich stand kurz vor dem Wahnsinn, da rettete mich Minolta. Die Tage der Spezies Mensch sind vielleicht noch immer gezählt, aber der Wahnsinn lauert nicht mehr vor meiner Tür. Ich will nicht mehr morbide an Hekatomben denken. Solange das Ende noch nicht gekommen ist und um zu verhindern, daß es kommt, muß der Mensch lieben. Das ist es, was Minolta mir beigebracht hat. Und diese Hoffnung wurde mir im Bett beim Bumsen und am Tisch beim Essen vermittelt. Die einzige wirkliche Überlebenschance liegt für den Menschen darin, daß er immer mehr Freude am Leben findet. Dies ist eine so offensichtlich rettende Perspektive, daß sie schon wie kompletter Blödsinn klingt. Ich weiß, daß ich viel rede, und aus diesem Grund hat man mich auch schon als neunmalklugen Mulatten bezeichnet. Neunmalklug oder auch naseweis, was im Grunde bedeutet, daß jemand die Nase vorn hat, auf etwas hinweist. Ja, ich bin neunmalklug im Sinne von anmaßend, eitel, eingebildet und auch naseweis, denn ich weise ständig auf etwas hin. Je besser ein Schriftsteller ist, um so neunmalkluger, ich meine, naseweiser ist er auch.
2 Ich befand mich auf der Terrasse, als der Traktor mit Minolta, Guedes und den Polizisten von der Polizeiwache aus Pereiras kam. Guedes’ Anwesenheit trübte in gewissem Maße meine Freude, Minolta zu sehen. Er kam auf mich zu und begrüßte mich. »Ich habe Urlaub und wußte nicht, wohin … Da fiel mir ein, daß Sie mir von diesem Ort hier erzählt hatten.« Natürlich glaubte ich ihm nicht. Und schon gar nicht, als ich sah, wie er sich mit Trindade ins Wohnzimmer des Verwalters vom Refúgio zurückzog. Die Polizisten aus Pereiras fuhren im Jeep zu dem Bungalow, in dem Suzys Leiche lag. Nach einer Weile kam der Spurenexperte mit dem in schwarzes Plastik gewickelten Leichnam zurück. Mit Trindades Hilfe trug er den Leichnam zum Traktor. Der Spurenexperte stieg in den Jeep und fuhr zum Bungalow zurück. Wir starrten auf das schwarze Paket im Traktoranhänger, das in seiner fragilen Einsamkeit obszön und reizvoll zugleich war. Ein pestartiger Geruch ging von ihm aus; oder bildete ich mir das nur ein? Mit Ausnahme von Euridíce, die auf Romas Rat verschwunden war, kaum daß der Traktor mit den Polizisten in Sichtweite kam, waren alle da und dazu noch Guedes, der sich angesichts der Ereignisse mit einer Unauffälligkeit verhielt, wie Polypen und Katzen sie gern zur Schau tragen, wenn sie an irgend etwas besonders interessiert sind: Mal beobachtete
er einen Kolibri, der aus einer auf der Terrasse hängenden Tränke mit bunten Plastikblumen Zuckerwasser saugte, mal schaute er zu einem Baum in der Ferne, als sähe er auf einem seiner Zweige einen Schimpansen oder eine Raubkatze; einmal gähnte er sogar. Wir hörten das Geräusch des Jeeps. Diesmal saßen alle drei Polizisten darin. Sie stiegen neben dem Traktor aus und beratschlagten leise. Der Spurenexperte, der einen Kissenbezug mit einem Gegenstand darin trug, stieg in den Anhänger, setzte sich neben das schwarze Paket, und der Traktor fuhr langsam los. Trindades Büro wurde zum Arbeitsraum der Polizisten. Der Kommissar aus Pereiras hatte beschlossen, die Aussagen an Ort und Stelle im Refúgio aufzunehmen, denn in Pereiras gab es keine Hotels, wo die Leute unterkommen konnten, solange der Protokollant seine Arbeit verrichtete. Ich wurde als erster vernommen. Fragen und Antworten zusammengefaßt, verlief meine Vernehmung ungefähr so (nach den üblichen Fragen zur Person et cetera): »Kannten Sie das Opfer?« »Ich habe sie hier kennengelernt.« »Sie hatten sie vorher noch nie gesehen?« »Nein.« »Waren Sie gestern, also an dem Tag, an dem sie starb, mit ihr zusammen?« »Ja, ich war gestern mit ihr zusammen.« »Wo?« »In ihrem Bungalow. Ich hatte einen Zettel erhalten, mit der Bitte, zu einem Gespräch zu ihr zu kommen.« Ich zog
den Zettel aus der Tasche und reichte ihn dem Kommissar. Bis zu diesem Augenblick war ich unsicher gewesen, ob ich diesen Zettel zeigen sollte oder nicht. Es war ein plötzlicher Entschluß. Der Kommissar las laut: »Das Hausmädchen, das mir das Frühstück gebracht hat, wird Ihnen diesen Zettel geben. Euridíce geht reiten, ich werde den ganzen Vormittag im Bungalow sein. Kommen Sie her. Ich muß mit Ihnen sprechen. Suzy.« Anschließend reichte er den Zettel an den Protokollanten weiter. »Das behalten wir«, sagte er. »Zu Ihrem Besten«, fügte er hinzu. Zu meinem Besten? Was wollte er damit sagen? »Worüber wollte sie mit Ihnen sprechen?« Ich hatte nicht vor, dem Kommissar irgend etwas von der Geschichte mit Maria, der Beinah-Mörderin, deren wahrer Name Euridíce sein mußte, zu erzählen. Ich mußte mir irgendeine plausible Geschichte ausdenken, was nicht schwer war für einen wie mich, der darauf spezialisiert ist, glaubwürdige und annehmbare Märchen zu erfinden. »Sie glaubte, ich hätte eine – natürlich nicht entwickelte – Veranlagung zum Zweiten Gesicht.« »Was bedeutet das?« »Sie hat das auch als Hellseherei bezeichnet. Das ist die Fähigkeit, die Zukunft zu sehen, um es so auszudrücken.« »Und Sie haben diese Fähigkeit?« Ein rascher Blick zum Protokollanten. »Nein. Ich kann noch nicht einmal die Vergangenheit richtig erkennen und erst recht nicht die Zukunft. Aber Suzy glaubte an diese Sachen. Sie hat mir auch gesagt, daß Trindade nicht entwickelte mediale Fähigkeiten besäße.
Kurz, wir haben uns etwas unterhalten, und schon bald war sie über meine Skepsis enttäuscht, die ich zwar nicht durch Worte ausgedrückt habe, aber sie wurde auch so offenbar. Um unsere Fähigkeiten zu entwickeln, ist das Wichtigste, daß wir an sie glauben, sagte sie vorwurfsvoll zu mir. Ich bin nicht lange im Bungalow geblieben.« »Und danach haben Sie sie nicht mehr gesehen?« »Nein.« »Als Sie im Bungalow waren, haben Sie da eine Bronzeskulptur gesehen?« »Die Eule? Sie stand auf dem Tischchen im Wohnraum.« »Derjenige, der sie getötet hat, hat diese Eule als Schlaginstrument benutzt«, sagte der Kommissar. »Mehrere Schläge auf den Kopf, den ersten vermutlich auf die Schädelbasis. Der Spurenexperte meint, daß sie gleich nach diesem Schlag gestorben ist.« Manche meiner Erklärungen ließ der Kommissar vom Protokollanten aufnehmen. Andere hielt er vermutlich für unbedeutend, denn er ließ sie nicht festhalten. »Haben Sie irgend jemanden in Verdacht?« fragte er schließlich. »Nein«, antwortete ich. Minolta wartete auf der Terrasse auf das Ende meiner Vernehmung. Sie unterhielt sich angeregt mit Orion und Juliana. In einer anderen Ecke saßen schweigend Roma, Vaslav und Carlos. Guedes war nicht zu sehen. Carlos wurde zur Vernehmung gerufen. Er war unruhig, ich spürte richtig die Anspannung in seinem Körper. Seine Hände zitterten. Die Vernehmungen dauerten den ganzen Vormittag und keiner verließ die Terrasse, nicht einmal Minolta, die
immerhin eine Reise hinter sich hatte. Einer der Polizisten kam mehrfach mit geheimnisvollen, eiligen Aufträgen aus dem Vernehmungsraum heraus. Die Polizisten nahmen das Mittagessen im Speiseraum an einem von den übrigen Gästen abgesonderten Tisch ein. Euridíce aß auf dem Zimmer. Trindade erklärte, es gehe ihr nicht gut. Zum Mittagessen gab es ein höchst köstliches geschmortes Gürteltier, das auf dem Gelände des Refúgio erlegt worden war, aber abgesehen von den Polizisten war ich der einzige, der mit Appetit aß. Die Polizisten wirkten sorglos und lachten viel, wie Leute, die nach Erledigung einer schwierigen Aufgabe frei bekommen hatten. Nach dem Mittagessen zogen die Polizisten sich in den Raum zurück, der als provisorische Amtsstube diente. Sie sahen sich die Aussagen an. Außer den Gästen waren auch mehrere Angestellte des Refúgio vernommen worden. Aus naheliegenden Gründen forderte ich Minolta auf, sich mit mir in meinem Bungalow auszuruhen. Sie antwortete, sie wolle lieber bei den anderen auf der Terrasse bleiben und sehen, was passierte. Es herrschte eine Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen, schiefe Blicke gingen hin und her. Der einzige, der gelassen wirkte, war der Polizist Guedes, der in einer Ecke der Terrasse saß und tat, als hielte er ein Schläfchen. Schließlich kam einer der Polizisten aus dem Raum und rief nach Trindade. Sie unterhielten sich mit Trindade bei offener Tür. Dann kamen der Kommissar und Trindade zu der Gästegruppe auf die Terrasse. »Der Kommissar hat eine Erklärung abzugeben«, sagte Trindade.
»Meine Damen und Herren. Meine Kollegen und ich haben gute Gründe zu glauben, daß wir wissen, wer Dona Suzy umgebracht hat.« Nach diesen Worten schwieg er, wie ein Detektiv in einem spannenden Film. »Wer war es?« fragte Juliana in dem Augenblick, als Roma den Mund aufmachte, um vermutlich die gleiche Frage zu stellen. »Der als Einsiedler bekannte Mann«, sagte der Kommissar. Er berichtete, der Einsiedler sei von einer Angestellten der Wäscherei auf der Terrasse vor Suzys Bungalow gesehen worden. Er habe lauschend an der Tür gestanden und sich höchst verdächtig verhalten. Und es sei keiner der Tage gewesen, an denen er herkam, um Berzabum zu reiten. Es gab für ihn keinen Anlaß, zum Refúgio zu kommen. »Ich glaube nicht, daß der Mann ein Mörder ist«, sagte Carlos. »An der Stelle, wo die Leiche lag, befanden sich Abdrücke von Pferdehufen, die mit denen übereinstimmen, die man vor dem Bungalow festgestellt hat. Wir haben keinen Zweifel daran, daß diese Abdrücke vom Pferd des Einsiedlers stammen.« »Woher wissen Sie, daß es keine Abdrücke eines Pferdes von der Fazenda sind?« fragte Carlos. »Kein Pferd von der Fazenda ist in jener Gegend gewesen, und diese Abdrücke weisen eine Besonderheit auf: An einem der Hufe des Pferdes fehlt das Hufeisen. Und Alcides, unser Spurenfachmann, hat sämtliche Pferde der Fazenda untersucht, bei keinem fehlt ein Hufeisen.«
Eine Weile lang allgemeines Nachdenken. »Und was soll das Motiv gewesen sein? Vergewaltigung?« fragte ich. »Nein. Raub«, sagte der Kommissar. »Wie Dona Euridíce uns gesagt hat, ist Suzys Schmuck verschwunden. Wir haben noch keine vollständige Liste der gestohlenen Gegenstände, denn Dona Euridíce ist nicht vernehmungsfähig, aber es fehlen eine Goldkette mit einem Beryll, ein Collier aus massivem Gold in Schlangenform mit eingearbeiteten Edelsteinen, zwei Ringe, ebenfalls aus Gold, der eine davon mit einem großen Brillanten, und ein Armband.« »Jetzt muß man den Mann nur noch festnehmen«, fügte der Protokollant hinzu. »Zu diesem Zweck werde ich die Hilfe der Brigada Militar anfordern. Es wird nicht einfach sein. Seu Trindade hat mir gesagt, daß sich keiner in diesen Bergen so auskennt wie er. Aber die von der Brigada werden ihn schon kriegen. In der Brigada gibt’s Leute, die hier in den Bergen geboren und aufgewachsen sind.« Kurz danach kam der Traktor zurück, der Suzys Leichnam weggebracht hatte. Die Polizisten stiegen in den Anhänger und fuhren so ostentativ ab, wie Polizisten auch die einfachsten Dinge gern tun. Vorher beruhigte der Kommissar Juliana mit den Worten, er glaube nicht, daß der Mörder es wagen werde, noch einmal zum Refúgio zurückzukommen. »Was sollte denn dieser Mann mit dem Schmuck anfangen?« fragte Carlos. »Verkaufen«, sagte Juliana.
»Da oben im Wald, wo er lebt, braucht er kein Geld«, sagte Carlos. »Dann will er ihn wohl selbst tragen. Ohrringe stehen ihm bestimmt gut«, sagte irgend jemand. Die Atmosphäre lockerte sich allmählich. Man hatte den Schuldigen entlarvt, einen Außenstehenden. Bestimmt würde er bald verurteilt. Die Welt war wieder in Ordnung. Eine Hausangestellte brachte auf einem Tablett Kaffee in kleinen Tassen. »Nun habe ich bei unserem Spiel mein Soll doch nicht erfüllt«, sagte Orion gutgelaunt. »Aber ich. Ich habe meine Geschichte fertig«, sagte Roma. »Dann sind Sie die einzige. Ich glaube nicht, daß … Hat sie irgend etwas geschrieben?« Orion sah mich fragend an. »Nicht, daß ich wüßte.« Die Geschichte von Maria, de Beinah-Mörderin, die Suzy erzählt hatte, hatte mit unserem Spiel nichts zu tun. »Dann haben Sie gewonnen«, sagte Orion zu Roma. »Ich muß etwas gestehen. Ich habe meine Geschichte mit allem Drum und Dran im Kopf, aber wenn ich mich ans Schreiben setze, geht es nicht. Ich nehme alles zurück, Schreiben ist schwieriger als ich dachte. Das heißt, es erfordert eine enorme physische Anstrengung. Ich glaube, daß die körperliche Anstrengung größer ist als die geistige. Ist das nicht so? Geben Sie es zu.« Ehe ich etwas antworten konnte, fuhr der Maestro fort: »Wenn man seine Gedanken automatisch zu Papier bringen könnte, dann wäre meine Geschichte großartig, das schwöre ich Ihnen.« »Wie ist Ihre Geschichte denn?«
»Also, es ist eine Dreiecksgeschichte. Ein berühmter Maestro, seine Frau und der Konzertmeister. Sie wissen, welche Rolle der Konzertmeister in einem Orchester spielt?« Alle wußten es. »Nun gut, der Maestro war der Geliebte der Frau des Konzertmeisters.« »Warum nicht umgekehrt?« fragte Vaslav. »Um nicht den Berufsstand der Dirigenten zu verunglimpfen. Die Ehe brechen, ja, aber gehörnt werden? Nie im Leben«, sagte Roma. »Kann ich nun meine Geschichte erzählen oder nicht?« »Jetzt wollen wir ihn doch bitte reden lassen«, sagte ich. »Eines Tages bekam der Konzertmeister heraus, was sich abspielte. An dem Tag war Probe. Der Konzertmeister stellte den Maestro zur Rede, die beiden diskutierten und stritten sich, und bei dem Streit machte der Maestro die Geige des Konzertmeisters kaputt. Wie die Geige kaputtgeht, das weiß ich noch nicht. Ich habe schon überlegt, daß es während der Probe passieren könnte, der Maestro will den Konzertmeister treten, tritt daneben und trifft die Geige.« »Das wäre sehr merkwürdig. Warum sollte der Dirigent den betrogenen Ehemann treten?« »Eben, deshalb habe ich diese Idee mit dem Fußtritt bei der Probe aufgegeben. Kurzum, irgendwie geht die Geige des Konzertmeisters kaputt. Es war eine Janzen, aber was das bedeutet, wissen Sie nicht. Sie alle haben schon von der Stradivari gehört, die als die beste Geige der Welt gilt und die keiner je hat nachbauen können. Natürlich haben
viele Geigenbauer versucht, das Modell von Cremona zu kopieren, das über die Amatis und Guarneris an Antonio Stradivari kam, der es dann zur Vollendung brachte. Es gab noch andere berühmte Geigenbauer wie Vuillaume, Fendt, Gilkes, Lupot, Pique, sie alle haben gute Instrumente gebaut, jedoch nie die überragende Qualität der Stradivari erreicht. Langweile ich Sie?« »Im Gegenteil, ich bin fasziniert«, sagte Minolta, die gern dazulernte. »Und nun die Janzen aus unserer Geschichte. Gustav Janzen wurde in Rußland geboren, kam aber schon als Kind nach Brasilien, zunächst nach Santa Catarina. Mit dreizehn Jahren baute er seine erste Geige, vermutlich ein primitives Stück, das wissen wir nicht. Er arbeitete als Möbeltischler und begann sich schon sehr früh mit Akustik zu beschäftigen. Er hatte von der Geschichte der Stradivari erfahren und in seinem tollkühnen jugendlichen Übermut beschlossen, eine ebenso gute Geige zu bauen wie der große Meister aus Cremona. Fünfzig Jahre lang studierte Janzen die Konstruktion dieser Geige. Einen Teil seines Lebens verbrachte er in Kanada, aber das kalte Klima bekam ihm nicht, weshalb er nach Brasilien zurückkehrte und sich in Mato Grosso niederließ. Es heißt, er sei nach Mato Grosso gegangen, weil das gut für seine Lungen war, aber einer anderen Version zufolge hatte Janzen herausgefunden, daß zum Trocknen des Geigenlacks die Sonne in Mato Grosso die beste der Welt ist, sogar noch besser als die Sonne in Cremona. Fest steht, daß es in Mato Grosso war, wo es ihm endlich gelang, diese großartige Leistung zu vollbringen, an der sich im Laufe der
Jahrhunderte berühmte Geigenbauer vergeblich versucht haben: eine der Stradivari ebenbürtige Geige zu bauen.« »Phantastisch«, sagte Roma. »Ich bewundere solche besessenen Menschen grenzenlos.« »Die Bauweise der Stradivari-Geigen zu kopieren, ist durchaus möglich, sich ihre Akustikprinzipien anzueignen, ist auch nicht schwierig. Das für den Bau erforderliche Material ist selten, aber zu bekommen. Das Problem für alle, die die Stradivari imitieren oder irgendeinen der anderen großen Meister aus Cremona kopieren wollten, ist der Lack. Kein Mensch hat je wieder einen solchen Lack herstellen können. In den letzten Jahrzehnten hat man mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Chemiker, Kunsthandwerker, Macumbeiros, Künstler, Mathematiker mit ihren Computern, Wissenschaftler von der Nasa und weiß der Teufel wen aufgefordert zu versuchen, einen solchen Lack herzustellen, aber vergeblich. Nun gut, angeblich hat Janzen die geheime Lackformel von del Gesù herausgefunden. Janzen spricht nicht darüber. Jedenfalls hat er eine Geige gebaut, die viele für besser als die Stradivari halten. Der erste Anlaß, bei dem eine Janzen dieser Qualität benutzt wurde, war ein Konzert im Jahre 1983 im Cecilia-Meireles-Saal. Dieses Verdienst hat sich der Geiger Jerzy Milewski erworben. Milewski spielte bei seinen Konzerten im allgemeinen auf einer Camilo Camini, einer 1710 gebauten Geige, die ein Vermögen wert ist; aber irgend jemand brachte ihm eine Janzen, und Milewski ließ seine Camini liegen und spielte auf der Janzen. Er war so begeistert von der Qualität dieser neuen Geige, daß er eine kaufte und sie Isaac Stern schenkte. Derzeit spielen
Menuhin, Ricci, die größten Geiger der Welt auf einer Janzen. Verstehen Sie jetzt, welche Bedeutung das Instrument hat, das der Protagonist meiner Geschichte mit einem Fußtritt kaputtmacht?« »Nicht mit einem Fußtritt, das geht nicht. Das ist unsinnig«, sagte Roma. »Dann vielleicht mit einem Fausthieb?« fragte Minolta. »Geht eine Geige von einem Fausthieb kaputt? Aus was für einem Holz sind Geigen?« fragte Vaslav. »Aus bestimmten Edelhölzern wie zum Beispiel Ebenholz oder Brasilholz, das man für die Bögen benutzt. A propos Holz, Janzen hat auch andere Hölzer entdeckt, wie zum Beispiel das vom Faveiro, einem in Zentralbrasilien häufig vorkommenden Baum, das man für Bögen verwenden kann. Ob ein Fausthieb reicht? Ich nehme es an, aber sicher bin ich nicht, kein Mensch hat es je gewagt, mit der Faust auf eine Geige zu schlagen.« »Nur Ihr Eroberer, der Maestro. Und Ihre Geige, was für eine ist das?« »Meine ist eine Guadagnini von 1780, eine Kostbarkeit. Wenn meine Geige mir abhanden käme – ich glaube, dann würde ich vor Kummer sterben«, sagte Orion. »Aber kehren wir zu Janzen zurück. Er hat ein Buch geschrieben, auf deutsch – Luftsäulenraum, Akustik und Geigenbau – « »Nanu, ich denke, er war Russe?« »Er ist in einer von Deutschen kolonisierten Stadt geboren, seine Muttersprache war Deutsch, als er klein war, sprach er hier in Brasilien zu Hause Deutsch. Aber in diesem Buch sagt Janzen nicht nur, daß er die akustischen Gesetze der Stradivari herausgefunden hat – vom Lack sagt
er kein Wort –, er behauptet auch, daß die Geige mehrere Krisen durchlebt, regelrechte Entwicklungsstufen, ehe sie ihre volle Reife erreicht. Die erste nach sechs Stunden Benutzung. Die zweite, heftigere, nachdem sie sechzig Stunden gespielt worden ist. Dann verfällt die Geige in eine Depression, aus der sie erst nach acht- bis zehnstündigem Üben herauskommt. Eine Geige erreicht, nebenbei bemerkt, ihre größte Leistungsfähigkeit erst im Alter von sechzig Jahren; wir können also noch nicht wissen, ob die Janzen wirklich die neue Stradivari ist. Aber aus irgendeinem Grunde können die großen Geiger, die einmal die Gelegenheit gehabt haben, auf ihr zu spielen, sie nicht mehr weglegen. In sechzig Jahren – das habe ich aus Milewskis Mund gehört, und ich glaube, auch Lehninger hat dasselbe gesagt – wird sich zeigen, daß sie von unerreichbarer Vollkommenheit und Qualität ist.« »Wollten Sie das alles in Ihrer Geschichte schreiben?« »Natürlich nicht. Fachsimpelei ist etwas sehr Unerfreuliches. Ich habe mich in meiner Begeisterung hinreißen lassen. Ich wollte mich auf die Dreiecksgeschichte konzentrieren. Es muß eine schmerzliche Erfahrung sein, festzustellen, daß die eigene Frau etwas mit einem anderen Mann hat.« »Ich weiß nicht, ob schmerzlich das richtige Wort ist«, sagte ich. »Manche fangen dann an, um sich zu schießen«, sagte Roma. »Ich glaube, das ist von Mensch zu Mensch verschieden«, sagte Juliana. In diesem Augenblick stand Carlos, der bis dahin
geschwiegen hatte, von seinem Stuhl auf und verließ nach einem Blick zu mir, als wollte er etwas sagen, die Terrasse. In der Terrassenecke schloß Guedes seinen speckigen Blouson, denn es wurde, wie immer am späten Nachmittag, allmählich kühler. »Ein Verhältnis mit der Frau des Konzertmeisters zu haben, hatte dem Maestro keine größeren Gewissensbisse bereitet, aber daß er ihm mit einem Fußtritt oder Fausthieb oder wie auch immer die Janzen kaputtgemacht hatte, darüber war der Maestro zutiefst zerknirscht. Er wußte, wie sehr der Konzertmeister seine Geige liebte, er hatte die künstlerische Entwicklung des Konzertmeisters miterlebt, seit dieser auf der Janzen spielte. Der Konzertmeister, der ein guter Musiker war, deshalb war er ja auch die Nummer eins im Orchester, hatte nach und nach eine phantastische Klangfülle aus der Geige herausgeholt. Das ganze Orchester hatte damit gewonnen; es spielte mit größerer Brillanz und Reinheit. Und der Maestro wußte, daß dies der Janzen des Konzertmeisters zu verdanken war. Den Maestro plagte unerträgliches Schuldbewußtsein, er fing an, sich vor Reue zu verzehren. Jedes Genie hat auch etwas Einfältiges.« »Mozart war angeblich ein Schwachkopf«, sagte Roma. »Jedes Genie ist ein Schwachkopf.« »Newton war keiner.« »Soll das heißen, daß ein Schwachkopf ein genialer Künstler sein kann, aber kein genialer Wissenschaftler?« »Einstein war auch ein Schwachkopf.« »Wagner war ein Schwachkopf. Beethoven war ein Schwachkopf und taub dazu.«
»Flaubert war ein Schwachkopf.« »Wer ist kein Schwachkopf?« »Dona Rizoleta«, sagte ich. »Ein Schwachkopf bringt kein solches geschmortes Gürteltier zustande, wie sie es heute gemacht hat.« »Jetzt laßt aber Orion seine Geschichte erzählen«, sagte Minolta. »Inzwischen habe ich den Faden verloren. Wo war ich noch?« »Der Maestro fing an, sich vor Reue zu verzehren, weil er die Janzen des von ihm hintergangenen Ehemanns kaputtgemacht hatte.« »Ach, ja. Er verfällt in eine Depression, und seine Freunde wollen ihn zu einer Sonotherapie in eine Klinik bringen, sie wollen, daß er eine Analyse macht, daß er eine Reise unternimmt.« »Und der betrogene Ehemann?« »Ich muß gestehen, daß ich nicht wußte, was ich mit ihm machen sollte, und habe ihn fallengelassen. Gleich nachdem die Geige kaputt ist, verschwindet er aus der Geschichte.« »Schade«, sagte ich, »eigentlich ist die Theatralik betrogener Ehemänner interessant; sie haben ihre Illusionen und ihr Vertrauen verloren, Verrat erlitten – sie hätten mehr Aufmerksamkeit verdient, aber selbst Amateure wie Sie lassen sie mittendrin fallen.« »So ist es. Dem Maestro geht es immer schlechter, bis er sogar das Interesse an der Musik verliert. Er wird zu einem willenlosen Menschen, verbringt die Tage im Bett, wäscht sich nicht, rasiert sich nicht.«
»War er verheiratet oder Junggeselle?« »Das hatte ich noch nicht geklärt. Vielleicht sollte er besser Junggeselle sein. Junggesellen drehen unerklärlicherweise eher durch als verheiratete Männer.« »Sein Zustand verschlechterte sich also wirklich, er drehte durch, wurde verrückt, und damit endet die Geschichte?« »Richtig verrückt wurde er nicht, und die Geschichte kann damit noch nicht zu Ende sein, weil ich mein Thema noch nicht verwendet habe, das Thema, das Gustavo ausgesucht hatte.« »Wie heißt Ihr Thema?« fragte Roma. »Das kommt gleich. Unser Maestro hatte also den Höhepunkt seiner Depression erreicht, da beschloß er, auf den Vorschlag eines Freundes einzugehen und sich in die idyllische Ruhe einer Fazenda wie dieser hier zurückzuziehen. Ich wollte alles beschreiben, was ich hier gesehen habe, die Landschaft, Menschen, Tiere, kurzum, von dem Leben hier im Refúgio erzählen, um meiner Geschichte Fülle zu geben. Das macht ein guter Schriftsteller doch, nicht wahr? Er verwendet in seinen Büchern Menschen, Ereignisse, Umgebungen aus dem realen Leben, nicht wahr?« »Ja, aber in Maßen. Als guter Schriftsteller kann nur jemand gelten, der es erstens schafft, ohne Inspiration zu schreiben, und zweitens, nur aus der Phantasie zu schreiben.« »Aber diese Regel gilt nicht für mich«, sagte Orion. »Da sitzt nun also unser Maestro, tief in seinem gedankenschweren Trübsinn, beim Mittagessen, starrt auf
das geschmorte Gürteltier, das man ihm serviert hat, und empfindet so etwas wie Ekel vor diesem Essen, ist unglücklich, möchte am liebsten sterben.« »Ich finde, das geht zu weit«, sagte Roma. »Bei Anbruch der Dunkelheit – die Dämmerung ist in der Geschichte so wie hier, rosa Licht legt sich über die Berge, verleiht der Landschaft etwas Traumhaftes, aber für ihn etwas Albtraumhaftes – wird die Verzweiflung des Maestro noch größer. Nun ist er fest davon überzeugt, daß er sterben wird – « »Ich finde das nach wie vor zu dramatisch. Schließlich hat der Mann nur eine Geige kaputtgemacht«, warf Roma ein. »Eine Janzen, das dürfen Sie nicht vergessen. Die Schmerzen der Seele sind sehr subjektiv – wie bereits der Conselheiro Acácio gesagt hat«, setzte Orion schnell hinzu, als er merkte, daß Roma ihn wieder unterbrechen wollte. »Der Maestro war auf der Terrasse seines Bungalows geblieben, ihm war nicht nach Abendessen zumute, er hatte keinen Lebenswillen mehr. Es war dunkel geworden, so finster, daß er seine eigene Hand nicht sah, mit der er sich an die Stirn faßte, um den Kopf abzustützen. Da hörte er einen Laut, der aus der Dunkelheit kam, einen eigenartigen Laut, wie von einer Stimmgabel, auf den vereinzelte Stimmen folgten, anschwellende und abschwellende Töne, die plötzlich abbrachen. Die Stille hielt nur kurz an; ein harmonischer Stimmenchor erfüllte die Nacht und schien zum Firmament aufzusteigen. Der Maestro erhob sich von seinem Stuhl und ging, von den Stimmen geleitet, durch die Dunkelheit, so sicher, als sähe er den Erdboden, auf den er trat, bis er an das Ufer eines Sees gelangte. Dort war die
unsagbare Schönheit des Chorgesanges in seiner ganzen unübertrefflichen Großartigkeit zu hören. Er hatte schon die größten und stimmreinsten Chöre der Welt gehört, manche von ihnen sogar selbst dirigiert, aber keiner hatte ihn so aufgewühlt wie dieser. In diesem Augenblick der Ekstase kam der Mond am Himmel zum Vorschein und tauchte den See in silbern schimmerndes Licht. Da konnte der Maestro seine Sänger sehen. Es waren ungefähr fünfzig Kröten, die um eine auf einen Stein gekletterte Kröte einen Kreis bildeten. Alle schauten zu dieser Kröte hoch, die größer als die anderen zu sein schien und mit den Bewegungen ihres grotesken Kopfes wie eine Gottheit diesen phantastischen Krötenchor dirigierte.« »Bravo!« rief ich. »Dann hatten Sie ›Kröte‹ als Thema? Genau wie ich?« sagte Roma. »Genau wie alle anderen. Das Thema hieß für alle ›Kröte‹«, sagte ich. »Und dann? Was passierte dann?« fragte Minolta. »Nun, als der Maestro sah, daß diese Kröten fähig waren, mitten im Wald ein solches Maß an Schönheit und Harmonie zu erzeugen, wurde ihm eines klar: Die größte Freude, die es für den Menschen geben kann – « »Und für die Kröten – « kam es wieder von Roma. »– ist, Schönes zu schaffen. Und so kehrte er zu seinem Orchester zurück, schloß mit dem Konzertmeister Frieden, und sie lebten glücklich – als ménage à trois, wenn Sie so wollen, Roma – bis ans Ende ihrer Tage. Es ist eine Art Märchen, es wäre eine Art Märchen, wenn ich es aufgeschrieben hätte.«
»Ich finde sogar, Sie haben Ihre Sache richtig gut gemacht. Sie haben nichts geschrieben, aber erzählt. Mündlich erzählte Literatur gilt doch auch, oder, Gustavo?« »Nein. Es ging ums Schreiben. Geschichten erzählen, das kann jede Klatschtante.« »Und was ist mit Caterina Benincasa?« fragte Orion. Eine gute Frage, auf die ich nicht mehr antworten konnte. Trindade erschien atemlos auf der Terrasse und sagte, Carlos habe Berzabum, den verteufelten Quarter, satteln lassen, sei losgaloppiert und keiner wisse, wohin. Das sei vor über einer Stunde gewesen, und er, Trindade, mache sich Sorgen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit dauere es nicht mehr lange, und er fürchte, daß Carlos sich in den Bergen verirre. Schon einmal habe sich so eine Tragödie abgespielt, ein Reiter habe sich verirrt und sei eine Woche später leblos gefunden worden, er und das Pferd, beide hätten tief in einer Schlucht gelegen. Diese Berge seien tückisch et cetera. Während sich das alles abspielte, hüllte sich Guedes, der speckige Polizist, in diskretes Schweigen. Was hatte er eigentlich vor? Wozu war er in Wirklichkeit hergekommen? Roma lief zu ihrem Bungalow und holte ihre Erzählung. »Zeigen Sie sie niemandem«, sagte sie. Es wurde dunkel. Ich nahm Minolta am Arm und sagte zu ihr, es sei Zeit für, sie wisse schon was. Irgend jemand hat einmal geschrieben, wirklich gut seien die alten Romane, deren Helden nicht dauernd groteske – ich glaube, es war ein anderes Wort, eins, das mit Zirkus
zu tun hat – und hitzige Bumsorgien vollführten. Aber wie hätten sie überhaupt auf irgendeine Weise bumsen sollen, wenn sie, wie die Tiere in Zeichentrickfilmen, nur Figuren waren, die zwar Augen, Nase, Ohren, Hände, kleine Finger, alles besaßen, nur keine Genitalien, und einzig platonische oder metaphorische Leidenschaften ausdrücken konnten? Meine Helden und auch ich besitzen ein Geschlecht und widmen sich wann immer möglich seinen libidinösen, lustvollen Aktivitäten. Ich als feinfühliger Mensch, dem Grobheit ein Greuel ist, empfinde große Hochachtung vor den Menschen, meine Begierde ist eine Form von Hochachtung, Aufmerksamkeit, Respekt, Großzügigkeit den Frauen gegenüber. Das ist sogar den Feministinnen klar. Sobald wir im Bungalow waren, zogen Minolta und ich uns aus. Ich hob sie hoch und setzte sie mir rittlings auf die Hüften, ihre langen, muskulösen Beine waren dafür wie geschaffen; sie verschränkte die Füße über meinem Becken, und die feuchten heißen Lippen ihrer Möse öffneten sich pulsierend, verlangten nach meinem prachtvollen Glied, das bald in sie eindringen, sich tief in sie bohren sollte. Ah! Ah! Mir lief das Wasser im Mund zusammen! Wir gingen in wandelnder Bumserei – als solche konnte man es vielleicht bezeichnen – durch den Raum. »So, ja, saug dich an mir fest, so wie diese verfluchten Zecken es getan haben, oh, wie wunderbar, genau so, mein Liebling … Willst du nach draußen, unter dem funkelnden Sternenzelt bumsen? Ah, ah! Wir gehen schon, splitterfasernackt, halt deinen Orgasmus zurück, warte noch einen Moment auf die Sterne, jetzt! Da sind sie,
viele sind schon vor über tausend Jahren gestorben, nur der Lichtschein, der durch den Weltraum wandert, ist noch von ihnen da. Möchtest du, daß es uns gleichzeitig kommt? Singt, ihr Kröten! Jetzt! Verdammt! Himmel! Es kommt mir, himmlisches Gewölbe, es kommt mir!« Nach einiger Zeit sagte Minolta: »Ich kriege Krämpfe in den Beinen.« »Wahrscheinlich von der Kälte. Wir sind schon ziemlich lange hier im Freien.« »Wird dir das nicht zu viel, mich zu tragen?« »Mein Schatz, wenn ich Liebe mache, wird mir nie etwas zu viel. Aber vielleicht sollten wir lieber hineingehen, ich will nämlich die Geschichte lesen, die Roma geschrieben hat.« »Hast du Lust auf sie gehabt?« »Ja, hatte und habe ich. Du weißt, daß ich auf alle schönen Frauen Lust habe.« »Hast du sie vernascht?« »Nein.« »Hast du es versucht?« »Nein. Es ist so viel passiert. Die Zecken haben mich gebissen, jetzt sieht man nichts, aber ich war ganz verquollen. Dann wurde diese Frau ermordet … Weißt du, daß sie mich verdächtigt haben? Ich war bei ihr im Bungalow gewesen, wo sie mir eine merkwürdige Geschichte erzählt hat. Suzys Verhalten hatte mich nervös gemacht. Vielleicht wußte sie etwas von meinem Fall.« »Von welchem Fall?« »Vom Totengräber, dem Irrenhaus, dieser ganzen Sache.«
»Das ist doch schon ewig her, mein Schatz. Über fünfzehn Jahre.« »Hast du das enttäuschte Gesicht von diesem Guedes gesehen? Ich glaube, der hat gedacht, ich wäre Suzys Mörder. Er ist ganz verrückt danach, zu beweisen, daß ich jemanden umgebracht habe, egal, wen.« Unsere nackten Körper waren kalt. Wir gingen in den Bungalow, Minolta noch immer auf meinen Hüften. Ich legte Minolta auf das Bett, und wir bumsten noch einmal. Anschließend nahm ich mir die Blätter vor, die Roma mir gegeben hatte. Minolta griff nach den ersten und einzigen Seiten, die ich von Bufo & Spallanzani zustandegebracht hatte. »Mehr hast du in all diesen Tagen nicht geschrieben?« »Nein. Ich habe ja schon gesagt, es waren ereignisreiche Tage.« Ich fing an, Romas Text zu lesen. »Weißt du was?« sagte Minolta. »Was denn?« Ich legte Romas Blätter beiseite und sah zu Minolta. Sie sah mich mit liebevollem Blick an, wie immer, wenn sie eine Schwäche bei mir entdeckte. »Das hier ist ausgesprochen schlecht, mein Schatz«, sagte sie. »Was ist mit dir los?« »Schlecht?« Ich nahm ihr die beiden Seiten aus der Hand und las: »Der Gelehrte Spallanzani stand am Fenster und betrachtete den Dom von S. Gimignano … «et cetera. »Stimmt, das ist schlecht«, sagte ich, als ich fertig war. »Was ist los mit dir? Vermißt du deinen Computer?« »Vielleicht. Aber es ist nicht das allein. Ich glaube, das
Ende kommt näher. Die Zeit, Memoiren zu schreiben, und was man so im Alter macht.« »Du bist knapp über vierzig«, sagte Minolta. »Red keinen Stuß. Wir sollten lieber abschließen. Vielleicht kommt der Mörder ja wieder.« Ich schloß die Tür ab. Aber ich glaubte nicht, daß der Einsiedler nach dem, was er getan hatte, wiederkommen würde. Dann wandte ich mich wieder der Geschichte zu, die Roma geschrieben hatte. »Und was ist mit diesem Carlos. Wo kann der hingeritten sein?« fragte Minolta. »Ich habe eine Vermutung.« Minolta fragte nicht, welche. Ich las weiter Romas Geschichte. Sie war in winziger Schrift geschrieben. Ich hasse es, von Hand Geschriebenes zu lesen. Als ich mit der Lektüre dieser zweiten Geschichte über Kröten fertig war, kam mir ein Satz von Nietzsche in den Sinn (das nächste Pseudonym, das ich annehme, falls ich mich tatsächlich noch einmal verstecken muß, wird Frederico Guilherme sein – aber dieses Thema ist erst später dran), ich wiederhole, mir kam der Satz in den Sinn: »Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit … «
3 Romas Geschichte war, wie auch jene, die Orion erzählt hatte, autobiographisch. Ich glaube, das habe ich schon gesagt. Welcher merkwürdige Zufall hatte mich darauf gebracht, ihnen dieses Thema zu geben … Ich schrieb gerade an einer Geschichte von Kröten und Menschen, aber das war kein zwingender Grund, ihnen diesen Gegenstand als Thema für unser Spiel vorzugeben. »Na, wie ist die Geschichte?« fragte Minolta, als sie merkte, daß ich mit dem Lesen fertig war. »Wenn sie nicht so lang wäre, könnte man sie vielleicht als eine interessante Beichte betrachten«, sagte ich. »Willst du lesen?« »Wie schrecklich, diese Schrift«, sagte Minolta, ohne nach dem Papier zu greifen. »Und kommt eine Kröte vor?« »Ja. Und das erklärt, warum sie so nervös wurde, als sie las, welches Thema ich für sie ausgesucht hatte.« »Erzähl mir die Geschichte in Kurzfassung, ja?« bat Minolta und legte ihren Kopf auf meine Brust. »Also gut, die beiden sind Tänzer. Kennengelernt haben sie sich in sehr jungen Jahren in der Ballettschule des Teatro Municipal in Rio de Janeiro. Sie war reich und er arm. Seine Mutter nähte ihm die Schuhe, in denen er tanzte. Vaslav – in Wirklichkeit heißt er Silvio – besitzt große körperliche Kraft und noch größere technische Virtuosität, er beherrscht den entrechat dix oder auch entrechat royal, der darin besteht, hochzuspringen und vor
dem Aufsetzen auf dem Boden die Füße zehnmal in der Luft zu kreuzen, was nur wenige Tänzer in der Geschichte des Balletts geschafft haben. Vielleicht sogar nur Nijinski. Dann taucht in der Geschichte ein Mann auf, bei dem ich nicht genau weiß, ob er der Bösewicht ist, ein Argentinier namens Ricardo Berlinsko, Choreograph und künstlerischer Leiter des Colón in Buenos Aires, ein homosexueller ehemaliger Ballettänzer, der sich die Haare färbt.« »Ist er der Bösewicht, weil er homosexuell ist, oder weil er sich die Haare färbt?« »Er hat sehr dünne Beine, und wahrscheinlich hat er eine Schönheitsoperation im Gesicht hinter sich. Aber Roma gibt zu, daß er ein charmanter, gebildeter und intelligenter Mann ist.« »Heißt sie wirklich Roma?« »Nein. Aber ich möchte sie weiter so nennen. Der Name gefällt mir. Ricardo erlebt Silvio bei einer Probe in Rio und lädt ihn ein, mit nach Buenos Aires zu fahren. Sie fahren. Dort, unter Berlinskos Anleitung, entwickelt der junge Silvio seine Technik und sein Talent weiter. Er beginnt, in der High-Society von Buenos Aires zu verkehren. Diesen Teil, in dem die Partys der feinen Leute beschrieben werden, überspringe ich. Die Partys der Reichen sind überall auf der Welt gleich. Allerdings kommt hier jemand vor, der einen interessanten Satz sagt: ›Wissen Sie, wann ich arm wäre, wenn ich wie dieser von Orson Welles gespielte Mann jedes Jahr eine Million Dollar wegwerfen würde? In sechzig Jahren.‹ Solche Verschwender gefallen mir.«
»Wer sagt das? Berlinsko?« »Nein. Berlinsko ist Künstler. Der Satz stammt von einem dieser Stinkreichen, die nie in ihrem Leben gearbeitet haben, so wie unser Eugênio Delamare.« »Deine Stimme klingt komisch hier drinnen, in der Lunge«, sagte Minolta, drehte den Kopf und legte ihr Ohr auf meine Brust. »Dann kommt ein ellenlanges Stück über die dekadenten Sitten der Reichen. Aber Reiche, die Kokain schnupfen, das ist ein uraltes Klischee, also überspringe ich das. Dann kommt noch ein Teil, wo Silvio sich als Frau kleidet, das Kleid ist nach einem Bild von Gainsborough kopiert.« »Feine Leute«, sagte Minolta. »Von Berlinsko angeleitet, entwickelt Silvio seine große Virtuosität immer weiter. Jetzt schafft er auch den entrechat onze, den wir vielleicht entrechat Silvio nennen müßten, und noch andere komplizierte Schritte. Er gilt als ein Genie, die Leute kommen, um bei seinen Proben zuzusehen. Ricardo bereitet ein sensationelles Debüt für ihn vor. Ich lese dir jetzt vor, was Roma geschrieben hat: ›Silvio sollte nach Ricardos Vorstellung bei seinem Debüt an einem 17. Mai genau das gleiche Programm tanzen, das Nijinski bei seinem Debüt am 17. Mai 1909 in Paris getanzt hatte, genau das gleiche Repertoire, das aus Le Pavillon d’Armide von Tscherepnin, einem Divertissement mit dem Titel Festin und aus Fürst Igor von Borodin bestand. Die Choreographie war die gleiche, die Fokine für das Debüt des Russen entworfen hatte.‹« »Was ist ein Divertissement?« »Also, dieses Festin ist nach dem, was hier steht, eine
Art Arrangement auf der Grundlage von Musikstücken verschiedener russischer Komponisten wie RimskyKorssakoff, Tschaikowsky, Glasunow und einem pas classique hongrois.« »Das gefällt mir«, sagte Minolta lachend. »A la mode.« »Die Originalbühnenbilder und Kostüme, die Kerovine, Benois und Bakst für Nijinskis Debüt in Paris angefertigt hatten, wurden nachgemacht. Nur ein derart ehrgeiziger Mensch wie Berlinsko, sagt Roma, konnte ein derart wahnwitziges Projekt durchführen.« »War dieser Ricardo in Silvio verliebt?« »Darüber äußert Roma sich nicht eindeutig, aber ich glaube, ja. Silvios Ballettschuhe sind jetzt aus feinstem Wollsamt, er besitzt Dutzende davon, französische und italienische. Er hat immer eine Garderobe für sich allein zur Verfügung. Als das Premierendatum näherrückt, gehen sie zu ganztägigen Proben über. Die Tänzer, Choreographen, Maskenbildner, Bühnenbildner und der ganze riesige Troß von Leuten, die an der Produktion der Aufführung beteiligt sind, nehmen jetzt ihre Mahlzeiten direkt im Theater ein. Silvio probt mit dem größten Einsatz von allen. Er verschleißt täglich mehrere Paar Ballettschuhe, wiederholt bei seinen Übungen wie ein Besessener so schwierige Schritte wie den grand fouette a la seconde. Et cetera.« »Du hast mir immer gesagt, daß du Ballett haßt, und jetzt erzählst du mir diese Geschichte mit der größten Begeisterung. Du fügst doch zu dem, was du da liest, garantiert noch etwas hinzu.« »Romas Text ist interessant. Du solltest ihn lesen. Ich
füge überhaupt nichts hinzu.« Ich hielt Minolta die Blätter, die ich in der Hand hatte, vors Gesicht. »Ich will nicht. Lies mir vor. Oder vielmehr, erzähl die Kurzfassung weiter.« »Bla, bla, bla, Silvio kann nicht richtig schlafen, er ist sehr nervös et cetera. Roma und Ricardo Berlinsko meinen, das liegt daran, daß Silvio natürlich vor einer so wichtigen Premiere unter starker Anspannung steht. Am 17. Mai, sagt Berlinsko, wird Silvio als der größte Tänzer der Welt dastehen, nur mit Nijinski vergleichbar.« »Nijinski ist doch der, der verrückt geworden ist und mit Gott geredet hat?« »Genau der. Also gut, am 17. Mai ist alles vorbereitet, Bühnenbilder und Kostüme sorgfältig nach dem Vorbild der Originalproduktion von 1909 angefertigt, selbst das Colón ist etwas renoviert worden, nicht weil das nötig gewesen wäre; nur weil Ricardo abergläubisch ist, läßt er irgendwelche Arbeiten am Colón durchführen, so wie es beim Châtelet in Paris bei Nijinskis Premiere der Fall war. Ein interessanter Typ, dieser Berlinsko.« »Meinst du, das ist alles wahr?« »Ohne jeden Zweifel, meine Liebe. Glaubst du, Roma hätte so viel Phantasie, um sich diese tausend Sachen auszudenken? Silvio kommt früh, drei Stunden vor Aufführungsbeginn, ins Theater. Eineinhalb Stunden lang übt er auf der vom Vorhang verdeckten Bühne, genau wie Nijinski damals im Jahre 1909. Mit Romas Worten: ›Er war großartig, das war kein normaler Mensch da auf der dunklen, leeren Bühne; einmal, nach einem grand jeté, schwebte er reglos in der Luft, wie ein Vogel, wie ein
Engel.‹ Nach den Exercices zieht Silvio sich in seine Garderobe zurück, zusammen mit seinem Maskenbildner, einem Ungarn, der mit Zeffirelli zusammengearbeitet hatte, und seinem Friseur, beide direkt aus dem Pariser Salon von Alexandre gekommen. Als er fertig geschminkt ist, kommt die Kostümbildnerin mit ihren Assistenten, sie ziehen Silvio das Kostüm für die erste Ballettnummer an, dieses, wie heißt es doch, laß mich mal nachsehen, ach ja, Le Pavillon d’Armide. All diese Vorbereitungen sind fünf Minuten, bevor der Vorhang hochgeht, beendet. Das Theater ist total ausverkauft; von weither, aus der ganzen Welt sind Leute gekommen, um dieses neue Tanzphänomen zu sehen. Um neun Uhr ist alles für den Beginn der Vorstellung bereit. Der Maestro, der berühmte Levine, der extra aus New York gekommen ist, betritt das Pult und bekommt tosenden Beifall, woraus zu ersehen ist, welche enthusiastische Atmosphäre im Theater herrscht. Die Lichter verlöschen, man hört die ersten Akkorde von Le Pavillon d’Armide. Das Orchester, von der gleichen Erregung gepackt wie alle anderen an diesem Abend, spielt diese mittelmäßige Ouverture mit derartiger Bravour und so brillant, daß das anspruchsvolle, wohlerzogene Publikum von Buenos Aires ihm zum Abschluß begeistert applaudiert.« »Bravo!« sagte Minolta. »Jetzt lasse ich wieder Roma zu Wort kommen: ›Nach Fakines Choreographie muß der Tänzer, sobald er die Bühne betritt oder kurz darauf, einen grand jeté en tournant tanzen.‹« »Was ist das?«
»Ich glaube, dabei wirft er im Sprung die Beine nach vorn und vollführt eine ganze oder auch mehrere Umdrehungen in der Luft. Laß mich mal sehen, bla, bla, sie erklärt das nicht, sie spricht von tour en l’air, pliés und anderen Schritten, aber das lese ich nicht. Ich beschränke mich auf das Drama. Silvio soll also diesen großen Wirbelsprung machen, und weißt du, was passiert? Er bleibt wie angewurzelt stehen, klebt am Boden, rührt sich nicht – vor den fassungslosen Blicken aller Zuschauer, Tänzer, Musiker et cetera. Eine Weile herrscht Schweigen, dann fängt das Publikum zuerst auf den Rängen und dann im ganzen Theater an zu buhen. Es war grauenhaft, sagt Roma. Levine steht hilflos da, ein paar Tänzer verlassen fluchtartig die Bühne. Dann wird der Vorhang geschlossen, und jemand von der Verwaltung des Colón kommt auf die Vorbühne und sagt, aufgrund der plötzlichen Erkrankung des Tänzers müsse die Vorstellung ausfallen.« »Wie peinlich«, sagte Minolta. »Roma bringt Silvio nach Hause und läßt einen Arzt kommen. Der Arzt sagt, bei Silvio sei eine latente Schizophrenie zum Ausbruch gekommen, und schlägt eine Behandlung mit Elektroschocks vor. Ein anderer Arzt sagt, Silvio habe einen manisch-depressiven Anfall, und rät zur Einnahme von Psychopharmaka in massiver Dosierung. Silvio wirkt die ganze Zeit, als träume er mit offenen Augen.« »Wahrscheinlich hat er Nijinski so verehrt, daß er genau wie sein Idol durchgedreht ist«, sagte Minolta. »Keiner kommt ihn besuchen, et cetera, als hätte er Lepra plus Aids. Nicht mal Berlinsko will noch mit ihm zu
tun haben. Schließlich bringt Roma Silvio nach Brasilien zurück. Ich habe vergessen zu sagen, daß Roma, wie sie hier selbst feststellt, eine sehr reiche Frau ist.« »Das sieht man ihr an, daß sie reich ist«, sagte Minolta. »Woran sieht man das jemandem an?« fragte ich. »An der Mischung aus Arroganz und Langeweile.« »Das ist ein erbärmliches Klischee.« »Deshalb ist es nicht weniger wahr, nur weil es ein Klischee ist.« »Roma geht jeden Vormittag mit Silvio auf der Strandpromenade von Ipanema spazieren. Durch den Wahnsinn scheint Silvio noch schöner geworden zu sein; nicht eine Frau, die sich nicht nach ihm umdreht, sogar die, die beim Jogging vorüberlaufen, drehen den Kopf, um diesen wunderschönen Mann etwas genauer zu sehen. Da die brasilianischen Ärzte behaupten, er sei unheilbar schizophren, kann Roma nur noch in der Welt der Magie, der Macumba, des Übernatürlichen Hilfe suchen, und da gibt es noch mehr Quacksalber als unter den Ärzten. Sie geht zu sämtlichen Umbanda- und Quimbanda-Kultstätten, die man ihr nennt, konsultiert Gesundbeterinnen und Medien, die von den verschiedensten und sonderbarsten ›Gottheiten besessen‹ werden. Eines Tages bringt Roma Silvio zu einer mit großen Fähigkeiten begabten Frau namens Santinha in Caxias, an der Peripherie von Rio de Janeiro. Jetzt lese ich vor, was Roma geschrieben hat: ›Als ich Santinha sah, traf mich der Schlag. Es war ein Mädchen von etwa zehn Jahren, vielleicht noch jünger. Sie hatte lange, gelockte Haare, die ihr bis zur Taille reichten; sie war sehr blaß, mit so dünnen Fingern‹ – ich lese
wortwörtlich, was Roma geschrieben hat – ›und so schmalen Handgelenken, daß man das Gefühl hatte, sie würden bei der geringsten Anstrengung brechen. Ihre Lippen waren grau, und ihre Zähne standen einzeln, jeder Zahn für sich; sie wirkte auf mich wie eine große weiße Fledermaus oder wie ein halbfertiger Engel. Silvio und ich setzten uns, sie blieb stehen, und ich merkte, daß sie sofort erkannt hatte, daß Silvio derjenige war, der Hilfe brauchte. Mich sah sie nicht eine Sekunde an. Sie ging zu Silvio und bettete seinen Kopf zwischen ihre rachitischen Brüstchen. Da fing ihr Körper an zu zittern, und ihre Haare flogen hoch, als würden sie von einem heftigen Wind gepeitscht. Aber mit Silvio tat sich nichts, nur Santinha war ganz erschöpft und durcheinander. Mir blieb keine Zeit, über diesen ersten Mißerfolg enttäuscht zu sein. Gleich darauf ging sie aus dem Raum und kam mit einer großen Kröte in der Hand zurück –‹.« »Da kommt die Kröte. Das hat aber gedauert«, sagte Minolta. »Einer riesigen Kröte, die sie am Nacken festhielt – ich lese weiter Romas Text – ›oder wie diese Stelle hinter dem Kopf bei Kröten sonst heißt. Und in dieser Haltung streckten sich die Beine der Kröte, so daß sie riesengroß wurde. Als sie von Santinha in den Raum hineingetragen wurde, sah die Kröte mich an, sah mir ins Gesicht und dann zu Silvio, als wären wir ihr bekannt, als wüßte sie, wer wir waren und was wir dort wollten; in ihrem Blick lagen Verstehen, Einvernehmen, ein menschlicher, schrecklicher Blick. Santinha stellte sich mit der Kröte in der Hand vor Silvio. Stehen Sie auf, sagte sie zu Silvio.
Hier, sagte sie, und reichte Silvio die Kröte, damit er sie nahm. Er griff mit beiden Händen nach der Kröte und hielt das eklige Maul des Tieres auf die entsprechende Höhe seines Gesichtes. Silvio und das Tier sahen einander in die Augen, und ich merkte, wie ein flüchtiges Lächeln über Silvios Lippen glitt. Dann führte er den Kopf der Kröte näher an sein Gesicht heran, wobei sie sich weiter in die Augen sahen, immer näher, ihre Lippen kamen sich immer näher, und voller Entsetzen und Ekel sah ich, wie die Kröte ihre endlose Zunge Silvio zu einem langen, leidenschaftlichen Kuß in den Mund schob.‹« »Igitt! Da würde ich lieber für den Rest meines Lebens schizophren bleiben«, sagte Minolta. »Laß mich zu Ende lesen: ›Da überflutete leuchtendes rotes Licht den Raum, als wären wir in eine Neongasröhre geraten; es leuchtete so stark, daß es mich blendete und ich ein paar Sekunden lang weder Silvio noch die Kröte, noch Santinha sah. Nach und nach normalisierte sich mein Sehvermögen wieder, und ich sah, daß Silvio, noch halb in diesem scharlachroten Licht, ehrfürchtig die Kröte Santinha zurückgab, worauf sie das Tier, das mir noch einen letzten, begreifenden Blick zuwarf, aus dem Raum trug.‹ Eine schöne Passage, das gebe ich zu.« »War’s das?« Ich schob die Blätter mit Romas winziger Schrift zusammen und legte sie auf den Nachttisch. »Tja«, sagte ich, »danach wurde Silvio gesund und konnte wieder tanzen. Eine Geschichte mit Happy-End.« »Glaubst du, die ist wahr?« »Natürlich glaube ich das. Weißt du nicht mehr, was wir
damals vor zwanzig Jahren mit der Kröte gemacht haben? Dem Bufo marinus? Ceresso? Das menschliche Gedächtnis ist schwach!« »War er danach nicht mehr homosexuell?« »Das sagt Roma nicht. Aber was hat das mit Glücklichsein zu tun?« »Kann er noch mal verrückt werden?« »Um verrückt zu werden, reicht es, gesund zu sein. Je gesünder man ist, um so schlimmer wird der Wahnsinn.« Diese Folgerung stammte von mir. »Weißt du was? Diese Bekenntnisse öden mich an.« Aber die reizende Minolta lag schnarchend neben mir; es war kein richtiges Schnarchen, nur das leise Geräusch, das die Gerechten und die Frauen machen, wenn sie tief schlafen. Ach, ist schlafen schön!, dachte ich. Und schlief ein.
4 Als ich am Morgen zum Frühstück in den Speiseraum des Haupthauses kam (ich war spät dran, verständlicherweise, denn jetzt schlief eine Frau bei mir), waren schon alle da, selbst Euridíce, die mit Silvio und Roma (wir wollen sie weiter so nennen) an einem Tisch saß. An einem anderen Tisch Orion und Juliana. Nur Carlos fehlte. Minolta aß immer sehr wenig und war schon mit dem Frühstück fertig, als Trindade in den Speiseraum kam und sagte, er habe Carlos und den Einsiedler zu Pferd den Berg hinunterkommen sehen. Alle standen auf und liefen auf die Terrasse, ich mit einem Teller mit Käsetaschen und Maisbrot. Da kamen sie, jetzt schon auf der Wiese, die sich vor dem Haupthaus erstreckte, im Trab angeritten, der sich in einen sanften Galopp verwandelte, als sie uns auf der Terrasse sahen. Die beiden ritten an der Terrasse vorbei und verschwanden in Richtung Pferdeställe. »Sie sind weggeritten«, sagte Juliana eine Viertelstunde später. Aber gleich darauf tauchten Carlos und der Einsiedler auf, sie kamen von den Pferdeställen. Sie unterhielten sich, oder vielmehr, Carlos redete und der Einsiedler hörte zu. Von Staub und Matsch verdreckt kamen sie in dramatischem Auftritt auf die Terrasse. »Wir haben die Pferde versorgt«, sagte Carlos. »Wir sind die ganze Nacht geritten, sie waren erschöpft.«
Keiner antwortete. Carlos biß sich auf die Lippen. Zum erstenmal fiel mir auf, daß er vollkommen bartlos war, wie ein Indianer, sofern es einen so hellhäutigen und feingliedrigen Indianer überhaupt geben konnte; obwohl er die ganze Nacht geritten war, hatte er nicht eine einzige Bartstoppel im Gesicht. Schließlich brach Juliana das Schweigen. »Regnet es?« Eine unmotivierte Frage, denn draußen schien die Sonne. »Ja, oben auf dem Berg«, sagte Carlos. »Da regnet es viel«, sagte der Einsiedler. Er hatte eine tiefe, rauhe Stimme und sprach abgehackt, wie jemand, der nicht gewohnt ist zu sprechen. Neuerliches Schweigen. »Sagen Sie es ihnen«, sagte Carlos. Aus seiner Stimme klang düsterer Schmerz. Der Einsiedler kratzte sich am Bart. »Los«, sagte Carlos. »Nein«, sagte der Einsiedler. Ich hatte den Eindruck, er wollte eigentlich sagen, daß er nicht wußte, wie er seine Geschichte erzählen sollte. »Abgesehen davon, daß er jede Woche herkommt, um Berzabum zu bewegen, trifft er sich auch manchmal heimlich mit Dona Belinha, die in der Küche arbeitet«, sagte Carlos. Unsicher und unglücklich verstummte der blasse junge Mann. »O Gott«, sagte Euridíce. Ein leises Aufschluchzen kam aus ihrer Kehle. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich Trottel! Ich hatte sämtliche Teile des Puzzles in der Hand
gehabt und es nicht geschafft, sie zusammenzusetzen. Jetzt begriff ich alles. Ich wußte, wer Maria war, die Frau aus der Geschichte, die Suzy mir an dem Tag, an dem sie umgebracht wurde, in ihrem Bungalow erzählt hatte, und, mehr noch, ich wußte, wer Suzy ermordet hatte. »Weiter«, sagte Guedes, der von irgendwoher aufgetaucht war. Er war der einzige ruhige Mensch auf der Terrasse. »Dona Belinha ist nicht zu unserem Treffpunkt gekommen. Ich hab’ mein Pferd zum Trinken an den Bach Cachorro d’Água gebracht«, sagte der Einsiedler. »Fehlt Ihrem Pferd ein Hufeisen?« fragte Guedes. »Ja.« »Weiter«, sagte Guedes sanft, aber Respekt gebietend. »Dann, auf dem Rückweg, hab’ ich Geschrei aus einem Bungalow gehört. Ich bin hingeritten und hab’ nachgesehen. Da zankten sich zwei. Dann hab’ ich einen Schrei gehört. Ich bin auf die Terrasse gegangen und hab’ alles gesehen. Dann bin ich weggeritten. Das ging mich nichts an.« »Was haben Sie gesehen?« »Wie die Frau der anderen die Figur auf den Kopf geschlagen hat. Ich dachte nicht, daß sie die umgebracht hat. Das ging mich nichts an, ich bin weggeritten. Ich gehör’ da oben hin.« »Das wollte ich nicht, ich schwöre, das wollte ich nicht«, murmelte Euridíce, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Sie fing an, schlecht über dich zu reden, und sagte, sie würde allen erzählen, wer du bist.« »Das war doch völlig unwichtig«, schrie Carlos.
»Ich dachte, du wolltest nicht, daß es jemand erfährt«, sagte Euridíce weinend. Maria-Carlos nahm Euridíce in die Arme. »Was spielt das für eine Rolle, ob sie wissen, daß ich eine Frau bin? Ich bin eine Frau, zufrieden?« sagte MariaCarlos mit einem zornigen Blick auf uns. Ich stellte mir vor, wie sie als Frau gekleidet, auf hohen Absätzen, die Geschmeidigkeit ihres athletischen Körpers zeigte, den ich jetzt unter der Tarnung ihrer weiten Kleidung ausmachte, wie sie die Herzen der Männer und Frauen entfachte, die sie mit ihrem »betörend eleganten Gang« vorübergehen sahen. Ich mußte an den Diadorim bei Guimarães Rosa denken, merkte aber gleich, daß außer der Verkleidung und ihren Reitkünsten keine Ähnlichkeit zwischen den beiden bestand. Alle waren sprachlos, erregt und verwirrt, nur der Polizist Guedes nicht. Alle hatten die Geschichte bis zu einem bestimmten Punkt begriffen. Carlos war eine als Mann verkleidete Frau, und zwischen ihm, ich meine: ihr, und Suzy und Euridíce bestand, was bis dahin allen anderen nicht bekannt war, eine von Liebe und Eifersucht bestimmte Beziehung, die tödlich geendet hatte. Wir saßen mit weit aufgerissenen Augen da und hielten die Luft an. Nur ich wußte, daß Maria-Carlos versucht hatte, ihren Mann zu töten, und ich wollte dieses Geheimnis auch nicht lüften – ein Vorsatz, in dem mich der pathetische Anblick der an Marias Schulter weinenden Euridíce bestärkte. »Kann ich gehen?« fragte der Einsiedler. Die Frage war an Guedes gerichtet. »Lassen Sie mich erst mit dem Kommissar in Pereiras
sprechen, damit der Haftbefehl gegen Sie aufgehoben wird.« Als Guedes sich anschickte, in den Raum mit dem Funkapparat zu gehen, über den Trindade mit Pereiras Verbindung hielt, sagte ich zu ihm: »Sagen Sie Trindade, er soll den Anhänger fertig machen. Ich möchte so schnell wie möglich von hier weg.« »Wir auch«, sagten die anderen Gäste. Ich ging mit Minolta zum Bungalow. Wir packten die Koffer. »Bist du nicht erleichtert?« fragte Minolta. »Nein. Guedes macht mir Sorgen.« »Sorgen? Wieso? Verheimlichst du mir irgend etwas?« »Was könnte ich dir schon verheimlichen?« »Kümmere dich nicht um diesen dämlichen Polypen«, sagte Minolta. »Der ist nicht dämlich.« Der Anhänger mit dem Kommissar erschien erst nach dem Mittagessen, das an diesem Tag ziemlich karg, indes schmackhaft war. Dona Belinha, die in der Küche arbeitete, hatte beschlossen, zu kündigen und zu dem Einsiedler in den Wald zu ziehen; sie war den ganzen Vormittag mit Packen beschäftigt. Die Nachricht, daß Euridíce, der gegenüber sie in der kurzen Zeit, in der die junge Frau in ihrer Obhut gewesen war, zärtliche Muttergefühle entwickelt hatte, eine Mörderin war, hatte Rizoleta derart aus der Bahn geworfen, daß sie einen Nervenzusammenbruch bekam und sich ins Bett legen mußte. Das Mittagessen war von Trindade zubereitet worden, der zum Glück gut kochen konnte, wenn auch
nicht ganz so gut wie seine Frau, versteht sich. Jedenfalls brachte er sehr schmackhafte Schweinekoteletts, geröstetes Maniokmehl mit Wurstscheiben sowie ebenfalls sehr schmackhaftes Gürteltier mit Blattkohl à la Mineira zustande. Der Protokollant nahm die Aussage des Einsiedlers im Haupthaus des Reftigio auf. Der Kommissar wollte eigentlich den Einsiedler mit nach Pereiras nehmen. »Lebendig kriegen sie mich da nicht hin, Doktor«, sagte der, und der Kommissar merkte, daß es dem Mann ernst war, und ließ den Protokollanten die Aussage an Ort und Stelle aufnehmen. Suzys Schmuck war schließlich doch nicht verschwunden. Alle Stücke lagen in einer Tasche in einem Koffer. Der Kommissar stellte ein Verzeichnis der Schmuckstücke auf und bat mich, als Zeuge zu unterschreiben. Das lehnte ich ab. Ich wollte so wenig wie möglich mit der Polizei zu tun haben. Bevor wir alle zusammen im Anhänger nach Pereiras hinunterfuhren, gelang es Guedes, für ein paar Augenblicke mit mir allein zu sein. Wir standen in der Anrichte; ich hatte mir von dort einen Kaffee holen wollen. »Als ich ankam, herrschte hier diese ganze Aufregung, und ich konnte nicht sagen, was ich Ihnen sagen wollte.« »Sagen Sie es.« Er sagte es. Mir zitterten die Beine, als Guedes zu Ende gesprochen hatte. »Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Das ist absurd.« »Soll ich Ihnen erzählen, wie ich das herausbekommen habe?«
»Ach, da bist du«, rief Minolta vom anderen Ende des Speiseraums, »alle warten nur auf dich. Der Traktor fährt gleich los.« Während der Fahrt im Anhänger redeten Guedes und ich nicht miteinander. Ich sprach übrigens mit niemandem. »Was hast du?« fragte Minolta. Ich antwortete nicht. Was ich hatte …? Ich dachte: Bis zum Tod kann niemand mit Gewißheit sagen, daß sein Leben glücklich ist … Der sophokleische Schmerz … Mir kam in den Sinn: Ich will nicht, daß der Tod mich findet und mir dieses schmutzige, schmerzhafte und demütigende Ende bereitet, das er für mich ausgesucht hat … Der Tod ist immer schmutzig, hatte der Arzt zu mir gesagt, als ich zu ihm gegangen war, vielleicht ist er nicht schmerzhaft, vielleicht auch nicht einmal demütigend, aber schmutzig ist er immer … Valentudinis adversae impatientia … Wir kamen noch rechtzeitig in Pereiras an, um in den Bus nach Cruzeiro umzusteigen, von wo aus Anschlüsse nach Rio und São Paulo bestanden. »Was haben Sie mit meiner Geschichte gemacht?« fragte Roma mich in Cruzeiro. »Nichts. Nur gelesen, wie Sie es wollten.« »Ich mußte mir das von der Seele schreiben«, sagte Roma. »Alles hat sich genau so abgespielt, wie ich es beschrieben habe.« »Auch der Zungenkuß der Kröte?« »Alles ganz genau so. Nicht zu fassen, daß Sie mir ausgerechnet dieses Thema geben mußten. Aber es war gut, das mußte mal jemandem erzählt werden.« Ich holte die Blätter aus meinem Handkoffer. Roma
nahm sie und starrte eine Weile darauf. Dann riß sie die Blätter abrupt in kleine Schnipsel und warf sie in einen Abfallbehälter, der in der Nähe stand. Vielleicht ist genau dies der Ort, wo am Ende alles beschriebene Papier landet, Briefe, Bücher, Testamente, Tagebücher, Verträge, Urkunden, Vernehmungsprotokolle … im Abfall … Ich notierte mir die Anschrift von Roma und Silvio; ich notierte mir die Anschrift von Juliana und Orion. Ich wußte, daß ich sie nie wiedersehen würde. So wie ich auch Maria, Carlos und Euridíce nie wiedersehen würde. Ich bedauere, daß ich Carlos, ich meine, Maria, nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet habe. Sie war ein interessanter Mensch, und dieses Dreieck – die drei durch Liebe miteinander verbundenen Frauen – barg aufregende Geheimnisse, die es verdient hätten, entziffert zu werden. Ich empfand Mitleid mit Maria und Euridíce, die nun wohl auf der sicherlich kalten und häßlichen Polizeiwache von Pereiras hilflos der gemeinen Polizistenbürokratie ausgeliefert waren. Als ich Maria fragte (Euridíce anzusprechen war sinnlos, sie befand sich in einem nahezu katatonischen Zustand), ob sie Hilfe brauche, antwortete sie, nein, sie werde von Cruzeiro aus einen Anwalt in São Paulo anrufen, der sei sehr tüchtig. Eine mutige Frau. Im Bus lehnte ich an Minoltas Schulter und schlief. Als wir am Busbahnhof Novo Rio ankamen und das Gepäck in Empfang genommen hatten, sagte der Polyp Guedes zu mir: »Morgen früh komme ich bei Ihnen vorbei.«
5 Guedes kam morgens um zehn Uhr. Ich kannte seine Angewohnheiten. Bestimmt war er seit Tagesanbruch wie ein räudiger, hungriger Hund um mein Haus geschlichen. »Laß mich bitte mit ihm allein«, sagte ich zu Minolta. Gekränkt verließ sie das Wohnzimmer. Dann hörte ich die Tür mit Krach ins Schloß fallen. »Sie wird es doch erfahren«, sagte Guedes. »Was erfahren?« »Ein Verbrechen steht niemals isoliert, in makelloser Reinheit da, wenn ich das so ausdrücken darf. Drum herum finden sich weitere strafbare Handlungen und Versäumnisse, eine ganze Konstellation von niedrigen und schändlichen Taten. Das Böse ist ansteckend«, sagte Guedes. »Manche lassen sich davon inspirieren und anstacheln. Wollen wir darüber philosophieren, Inspektor?« Guedes putzte sich schniefend die Nase. »Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Zeugen habe, die Sie in der Nacht, in der Delfina Delamare tot aufgefunden wurde, in der Nähe der Rua Diamantina gesehen haben.« »Sie sind verrückt. Wenn ich Victor Hugo wäre, würde ich Sie zu einer Romanfigur machen.« »Bernarda hat Sie gesehen. Erinnern Sie sich an Bernarda? Sie hatte einen Hund dabei. In der Rua Abade Ramos.«
»Ich bin nie in einer Rua Abade Ramos gewesen. Und was ist mit dem Straßenräuber, der gestanden hat, Delfina umgebracht zu haben?« »Über den sprechen wir gleich. Aber ich kann Ihnen schon mal sagen, daß das Geständnis falsch war. Agenor war von Delfinas Mann dafür bezahlt worden.« »Und wieso weiß diese Frau noch, welcher Tag das war, an dem sie mich angeblich gesehen hat?« »Es war Adolfos Geburtstag. Adolfo ist ihr Hund.« »Ihr Mann ist der Täter. Nur Sie begreifen das nicht. Er wußte, daß sie meine Geliebte war. Seu Guedes, ich habe noch anderes zu tun, ich muß mein Buch Bufo & Spallanzani schreiben, das habe ich Ihnen, glaube ich, doch schon gesagt.« »Ja … ja … « Sekundenlang sah es aus, als hätte er es aufgegeben, mit mir zu sprechen. Das war schon einmal bei einer anderen Begegnung mit ihm passiert. Damals war der Polizist auch mitten im Gespräch abgeschweift und hatte mich nur nachdenklich betrachtet. Welche Vermutungen mochten ihm in diesem Augenblick durch den Kopf gehen? Ich hatte Guedes’ Besuch nur akzeptiert, weil ich erfahren wollte, ob er irgend etwas über meine dunkle Vergangenheit, die Untat an dem Totengräber, herausgefunden hatte. »Ich bin nicht in der Hoffnung hergekommen, Sie dazu zu bringen, ein Geständnis zu unterschreiben. Ich habe Zeit. Sie haben vorhin von Agenor Silva gesprochen, dem Betrüger, der den Mord an Delfina Delamare gestanden hatte. Man hat ihn umgebracht.« »Und was habe ich damit zu tun?«
»Die Leute, die ihn umgebracht haben, wollen noch jemanden umbringen. Ich bin hergekommen, um Ihnen das zu sagen.« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich mit dieser Sache nichts zu tun habe.« »Der andere, den sie umbringen wollen, sind Sie.« Der Polizist ging, ohne mir zu sagen, wer diese Leute waren, die mich umbringen wollten. Aber ich wußte es. Bis dahin hatte ich geglaubt, nichts könnte mir je wieder so ein Entsetzen einflößen wie die Gefahr, erneut eingesperrt zu werden. Wann immer ich nach meiner Flucht aus dem Irrenhaus mein Versteck verließ, was selten geschah, sah ich in jedem Menschen einen Handlanger des Gesetzes, einen Feind, vor allem, wenn er einen Bart trug. Damals fürchtete ich mich ganz besonders vor Bärtigen, ich sah in ihnen Psychiater, die Elektroschocks geben konnten, Spitzel, Detektive, die mich fassen würden, Justizbeamte, Staatsanwälte, die bereit waren, mich an Ort und Stelle, mitten auf der Straße unter Anklage zu stellen. Es war die Hölle, die, wie ich meinte, unerträglichste Qual der Welt. Aber die schlimmste Marter, stellte ich an jenem Tag fest, nachdem Guedes meine Wohnung verlassen hatte, ist, zu wissen, daß es jemanden gibt, der dich umbringen will, sei es aus Haß, sei es aus Rache. Als sich der Fall Estrucho bei der Panamericana abspielte, hatte ich mich auch bedroht gefühlt, aber nicht so direkt und greifbar wie jetzt. Was kann ein friedfertiger Mensch wie ich tun, wenn er erfährt, daß man ihn umbringen will? Der erste Gedanke, der jedem in den Kopf kommt, ist, zur Polizei zu gehen.
Aber ich hatte kein Vertrauen zur Polizei, ich wollte und konnte die Polizei nicht um Hilfe bitten. Und ich glaubte auch nicht, daß Guedes ein Interesse daran hatte, mich zu schützen. Bei seinen verdrehten ethischen Vorstellungen fand er es vielleicht richtig, daß man mich umbrachte, sofern er dadurch den Mörder und vor allem den Auftraggeber fassen konnte. Damit kehre ich zu meiner Frage zurück: Was soll ein friedfertiger Mensch tun, dem man nach dem Leben trachtet? Als erstes herausfinden, wer sein Widersacher ist. Ich wußte, wer es war, auch wenn Guedes es nicht gesagt hatte. Es war Eugênio Delamare. Sein Haß auf mich mußte unermeßlich sein; bestimmt hatte er die Briefe gefunden, die ich Delfina geschrieben hatte. In diesen Briefen sprach ich nicht nur von unseren Lieblingsdichtern wie Baudelaire, Pessoa, Pound, Drummond, Auden und Bocage, ich gedachte auch all dessen, was wir im Bett gemacht hatten, verzehrende, rasend wollüstige, unverblümt schmutzige Liebesspiele, mit größter Schonungslosigkeit beschrieben; Berichte, bei denen Bataille vor Neid umkommen würde, weil nicht er sie geschrieben hatte. Ich glaube, daß Delamare die Briefe noch nicht gelesen hatte, als er, nachdem er erfahren hatte, daß ich Delfinas Geliebter war, zu mir kam und mir androhte, mich kastrieren und »wie ein Schwein verbluten« zu lassen. Wahrscheinlich hatte er sie nach Delfinas Tod gefunden. Und wenn er mir das schon antun wollte, bevor er die Briefe gesehen hatte, konnte ich mir ausmalen, was er jetzt mit mir vorhatte. Großartig, dachte ich an jenem Tag, als der speckige Polizist Guedes bei mir gewesen war und die schlimme
Nachricht überbracht hatte, der erste Schritt, meinen Henker zu identifizieren, ist bereits getan. Anschließend konnte ich zweierlei tun: 1. Vor ihm, Delamare, die Flucht ergreifen. Leben heißt, sich zu retten wissen (vgl. Greene). Nichts anderes hatte ich in den letzten zwanzig Jahren gemacht. 2. Die Kraft, die mich bedrohte, unwirksam machen, das heißt, Eugênio Delamare den Garaus machen, ehe er mir den Garaus machte. Diese Vorstellung erfüllte mich anfangs mit einem gewissen Abscheu. Aber nachdem ich die Niedertracht von Delamares dreckigem Charakter bedacht hatte sowie den Umstand, daß er weder Kinder noch andere Verwandte besaß, denen sein Tod Schmerz zufügen konnte (was die angenehme Aussicht eröffnete, daß sein gesamtes Vermögen an den Staat fallen würde), gewöhnte ich mich an den Gedanken, ihn umzubringen, und schon bald gefiel er mir. Gefallen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck; es war nicht so, daß sein Tod mir Freude bereitet hätte. Aber befreit hätte er mich, das war es, was ich mir durch seinen Tod erhoffte. Von der Angst befreit zu werden. Aber auf welche Weise konnte ich Eugênio Delamare töten? Ich hatte schon einmal getötet – nur, der Totengräber war aus Versehen, durch Zufall, aus Unbeholfenheit zu Tode gekommen; in Wirklichkeit war meine Erfahrung als Mörder nicht viel wert. Delamare mit meinen eigenen Händen umbringen, ihn erwürgen? Oder ihn totschlagen? Mit einem Messer erstechen? Zu Tode trampeln? Totbeißen? (Totbeißen selbstverständlich nicht. Erstens hatte ich nicht die Angewohnheit, Menschen zu beißen, nicht einmal in Notwehrsituationen; zweitens, wenn man
einen Menschen mit Bissen töten will, muß man ein Tiger oder ein tollwütiger Hund sein.) Erschießen. Das war der beste Weg. Dabei würde ich Eugênio nicht berühren und keine Risiken eingehen. Immerhin war er sportlich, ein großer, muskulöser Mann, und konnte Widerstand leisten und kämpfen. Ich war kein Pflastertreter, so wie Guedes, der Polizist, aber im Stadtzentrum gab es viele Straßen, die mir besonders gut gefielen, wie die Rua República do Líbano, die Rua Constituição, die Rua Larga und noch ein paar andere. Ich sah mir gern die Auslagen der Geschäfte mit Musikinstrumenten und elektronischen Anlagen oder die Schaufenster der Trödler an, wo es selbst alte Nachttöpfe zu kaufen gab, aber vor allem die der Geschäfte für Jagd und Sportfischerei mit ihren Gewehren, Karabinern, Revolvern, Angelrollen, Unterwasserharpunen und die Schaufenster der Tierhandlungen, in denen man Fische, Schildkröten, Meerschweinchen, Hunde, Vögel, Katzen, Schlangen, Eidechsen, weiß der Teufel was kaufen konnte. Eines Tages stand ich vor einem Geschäft mit Jagd- und Fischereiartikeln und betrachtete ein Gewehr mit Zielfernrohr, da sprach mich ein Mann an. Er fragte, ob ich an einer Schußwaffe interessiert sei. »Bei mir kriegen Sie die für’n halben Preis. Hab’ viel auf Lager«, sagte er. »Ich sehe mir die nur an.« »Brauchen Sie auch nicht bei der Polizei anzumelden. Bleibt alles ganz geheim.« Vermutlich fand er, ich sähe wie ein Gangster oder Bankräuber aus.
»Ich hab’ eine Maschinenpistole, eine Ina, mit Munition.« Ich ging schnell weiter und blieb nie wieder weder vor diesem noch vor einem anderen Waffengeschäft stehen. Und nun stand ich da und wartete darauf, daß vielleicht derselbe Kerl oder ein anderer kam und mir wieder so ein Angebot machte. Stundenlang trödelte ich von einem Geschäft zum nächsten. Vergeblich. Keiner kam. Kehren wir ein Stückchen zurück und sehen uns an, was geschah, kurz bevor Guedes mich am Pico do Gavião aufsuchte. Man hatte Agenor in Caxias (der Stadt, in der Roma Santinha ausfindig gemacht hatte, die ihren Mann, den Ballettänzer, vom Wahnsinn geheilt hatte) in der Nähe des Stundenhotels Luxemburgo neben der Avenida Brasil tot aufgefunden. Er war mit jeweils drei Schüssen in den Kopf, in die Brust und in den Bauch ermordet worden. Etwa fünf Meter weiter lag eine Frau, die die Polizei, als sie dort eintraf, ebenfalls für tot hielt. Die Frau hatte drei Schüsse in den Rücken bekommen, war aber trotz des Kalibers der Tatwaffe noch am Leben. Die Polizei war zu dem Schluß gekommen, daß die Täter zwei 45er-Pistolen benutzt hatten. Die Patronen hatten Hartmetallhülsen, und die von Zeugen gehörten Schüsse waren in schneller Folge abgefeuert worden, was auf eine automatische Waffe schließen ließ. Agenor war von Schüssen aus einer einzigen Waffe, vermutlich mit einem neunschüssigen Magazin, getötet worden. Guedes erfuhr erst zwei Tage später von Agenors Tod. Daraufhin fuhr er sofort nach Caxias, um mit dem Ermittlungsbeamten zu sprechen.
»Die Frau war mit Agenor zusammen, vielleicht war sie aus dem Luxemburgo gekommen, aber die Angestellten des Stundenhotels verneinen das. Die Täter, mindestens zwei, wollten Agenor umbringen, die Frau hat’s nur versehentlich erwischt. Als sie weglief, bekam sie zwei Schüsse in den Rücken. Die haben sich nicht mal die Zeit genommen, nachzusehen, ob sie tot war. Der Kerl, der Agenor liquidiert hat, arbeitet sorgfältig; er hat ihm jeweils eine Kugel in die Schläfen geschossen und noch eine ins rechte Auge, für den Fall, daß die Kugeln womöglich von den Schädelknochen abgeprallt wären; so was kommt auch mal vor, wie Sie wissen. Außerdem hat er ihm noch dreimal in den Bauch geschossen. Selbst wenn er das auf einer Intensivstation gemacht hätte, wo ringsum Ärzte zum Einsatz bereit gestanden hätten, wäre Agenor hinüber gewesen. Die Frau hat Glück gehabt.« »Wo ist sie?« »Hier in Caxias im Krankenhaus. Man hat sie operiert, es geht ihr gut.« »Haben Sie sie schon vernommen?« »Ich geh’ heute hin. Wollen Sie mitkommen?« Als sie ins Krankenhaus kamen, wurden Guedes und Bráulio, der Polizist aus Caxias, ein Paraibaner, der wie ein Unteroffizier vom Marineinfanteriekorps aussah, von einem diensthabenden Arzt zu dem Bett geführt, in dem die Frau lag. Sie hatte einen Schlauch im Arm und einen in der Nase. »Sie kann noch nicht sprechen«, sagte der Arzt. In diesem Augenblick schlug die Frau die Augen auf und sah zur Decke. Ihre Augen waren grau und matt. Hätte es
an der Decke etwas zu sehen gegeben, sie hätte es nicht wahrgenommen. Die Frau war noch nicht identifiziert worden. Ihre Fingerabdrücke waren in keinem der überprüften Archive registriert. Nach Bráulios Ansicht waren die beiden auf dem Weg ins Stundenhotel; das war kein Ort, wo Leute, die woanders umgebracht worden waren, abgelegt, abgeladen wurden. Und die Leute, die im Haus wohnten, hätten bestimmt nicht einen toten Mann und eine lebende Frau herausgeschafft. Die beiden mußten auf dem Weg hinein gewesen und nicht herausgekommen sein; um in das Stundenhotel zu gelangen, mußte man an der Straße anhalten, an einer für die Mörder günstigen Stelle. Guedes meinte, wenn Brãulios Überlegungen richtig waren, dann war die Frau, die im Krankenhaus lag, vermutlich nicht Agenors Frau. »Mit der eigenen Frau ins Stundenhotel gehen, das ist was typisch Bürgerliches«, sagte der Polizist. In diesem Fall mußte Agenors Frau, die bestimmt viel wußte, noch am Leben sein und sich irgendwo versteckt halten. Guedes hielt es für klüger, Brãulio nichts von den Ermittlungen zu sagen, die er über Eugênio Delamare und Agenor Silva angestellt hatte. »Wie sieht sie aus?« fragte Brãulio. »Keine Ahnung.« »Dann ist es ja kein Problem«, antwortete Brãulio scherzhaft. Die Frau starb am Abend des Tages, an dem die beiden Polizisten bei ihr gewesen waren, ohne identifiziert zu werden und ohne irgend etwas mitgeteilt zu haben. Ihre
Leiche wurde ins Gerichtsmedizinische Institut zur Autopsie gebracht. Dort würde sie eine Weile bleiben und dann auf einem Armenfriedhof begraben werden. Guedes hatte richtig gefolgert (ich würde gern das Adjektiv »intelligent« verwenden, aber die Aversion, die ich gegen diesen Polizisten habe, gestattet mir das nicht), daß die Mörder, die Agenor und die Frau umgebracht hatten, auch hinter mir her waren. Das war der wahre Grund, warum Guedes es so eilig hatte, zum Refúgio zu kommen. Nicht, weil mein Tod ihm etwas ausgemacht hätte, er wäre ihm nur in diesem Augenblick ungelegen gekommen und hätte ihn bei seinen Ermittlungen gestört. Aber das habe ich wohl schon gesagt.
6 Zurück zu meinen Bemühungen, einen Revolver zu kaufen. Am zweiten Tag sprach mich ein kleiner, grünlicher Kerl vor einem Waffengeschäft an und fragte, ob ich an einer Waffe interessiert sei. »Ja.« »Folgen Sie mir.« Er ging los, ohne sich umzudrehen. Wir gingen in Richtung Rua Camerino. Als ich sie überquerte, sah ich das alte Gebäude meiner Schule. Plötzlich kam mir die bedrückende Erleuchtung, daß das die einzige glückliche Zeit in meinem Leben gewesen war. Tiefbetrübt stellte ich fest, wie unglücklich ich war, seit ich erwachsen war. Ich hatte nichts anderes getan als mich selbst zu täuschen, vor mir selbst davonzulaufen, mich in Sex und Essen zu flüchten. Ich dachte mir gerade die Geschichte eines epikureischen, hedonistischen et cetera Schriftstellers aus, der beschließt, sich durch Askese zu läutern, da schoß der grüne Mensch in den Eingang eines einstöckigen Hauses, an dem ein Schild verkündete: Photos – 5 Minuten. Als ich die Haustür erreichte, stieg der Mensch eine Holztreppe hinauf und stützte sich auf dem Handlauf ab. Ich hinterher. Auf dem Treppenabsatz wartete er auf mich. »Hier lang.« Wir betraten den Warteraum des Photographen. Der Mensch zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloß
eine Tür auf. Wir kamen in einen dunklen, unmöblierten Raum, und er klopfte mit den Fingern einen Code an eine dicke Tür, die gepanzert zu sein schien. In dem leeren Raum ging Licht an, in der schweren Tür öffnete sich eine Luke, und ein Augenpaar fixierte mich. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und wir betraten einen großen Raum mit einem Tisch, mehreren Holzschränken und Bürostahlschränken. »Er will einen Revolver«, sagte das grüne Männlein. »Kaliber 22, 38 oder 45?« fragte der Mann, der in dem Raum war. »Damit soll einer umgebracht werden«, sagte ich. »Wollen Sie ihn irgendwie ramponieren? Die Nase zerfetzen, die Zähne, die Schädeldecke einschlagen – nicht nur einfach umbringen?« fragte der Mann. »Wie geht das?« fragte ich. »Von einem Zweiundzwanziger ist er nur tot. Von einem Fünfundvierziger mit Dumdumpatronen wird er zerfetzt.« »Was ist eine Dumdumpatrone?« fragte ich. Die beiden Männer sahen sich an und lachten verächtlich. »Guter Mann, Sie sind wohl Laie, haben keinen blassen Schimmer. Da nimmt man das Metall von der Spitze ab, damit das Blei zum Vorschein kommt. Dann macht man ein Kreuz ins Blei. Beim Aufprall spritzt das Blei auseinander. Was das anrichtet, können Sie sich vielleicht denken?« »Fünfundvierziger mit Dumdum«, sagte ich. Der Mann öffnete einen Schrank und holte eine riesige schwarze Pistole heraus. »Magazin mit sieben Schuß, dazu
eine Patrone vor dem Schlagbolzen«, sagte er. »Geladen wird durch den Kolben, so. Wenn Sie ziehen, führen Sie eine Patrone in die Kammer ein. Jetzt müssen Sie nur noch auf den Abzug drücken.« Der Mann erklärte mir auch, wie die Sicherung funktionierte. »Wenn Sie die Waffe nicht benutzen, drücken Sie auf den Verschlußhebel, der sperrt den Hahn und den Spannhebel. Automatische Waffen sind sehr tückisch.« Bevor ich ging, fragte ich: »Und dieser Revolver ist wirklich gut, kann ich mich auf den verlassen?« »Das ist eine Pistole, kein Revolver. Ein Revolver hat eine Trommel, einen Zylinder. Sehen Sie an dieser Waffe irgendwo eine Trommel?« Der Mann schüttelte den Kopf. Als ich den Raum verließ, hörte ich, wie er zwischen den Zähnen knurrte: »Scheißtyp, einen Revolver mit ‘ner Pistole verwechseln!« Zu Hause angekommen, legte ich den Revolver, ich meine, die Pistole, auf den Tisch neben den TRS-80 und sah mir die beiden Geräte an. Die Pistole schien mir schöner zu sein, und aus irgendeinem Grund inspirierte sie mich, weckte in mir Lust zu schreiben. Ich schaltete den TRS-80 ein. Zuerst den an den Computer angeschlossenen Printer Epson FX-80. Dann schob ich den Superscripsit in das Laufwerk 0 und in das Laufwerk 1 eine Floppy disk zum Abspeichern. Die roten Lämpchen über den Laufwerken gingen abwechselnd an und aus, während der TRSDOS geladen wurde. Monat, Tag und Jahr, ENTER, Stunde, Minuten, Sekunden, ENTER, während die roten Lämpchen bei beiden Laufwerken an- und ausgingen. READY. Ich schrieb: SS.
ENTER. Das Programm-Menü erschien auf dem Bildschirm. Ich drückte O. Name of document to open? Ich schrieb: Bufo. ENTER. Auf dem Bildschirm Open Document Options: Document name: Bufo: 1 Author: Gustavo Flávio Operator: GF Comments: Roman Printer type: LP8 Lines per page: 54 Pitch: P Line spacing (to 3 +,“+“ = ½): 1 1st page to include header: 1 1st page to include footer: 1 Wieder: ENTER Dann erschien die screen page: die tab line mit dem ghost Cursor und der Status line und den Druckangaben für das Dokument. Am oberen Rand der »Seite« blinkte der cursor. Fertig zum Schreiben. Während ich schrieb, formten sich die Wörter auf dem Bildschirm. Archivmaterial. Spallanzani hält Bufo für ein stumpfsinniges Geschöpf. Bufos sexueller und gastronomischer Appetit. Bufo und ich. Parallele. So many writers, Conrad for instance, have been aided by being brought up in a metier utterly unrelated to literature. Englisch ist das Latein der modernen Zeit. Lévi-Strauss: Ich bin in der Tat nicht sehr optimistisch in bezug auf die
Zukunft der Menschheit, die sich so schnell reproduziert, daß sie zu einer Bedrohung für ihr eigenes Überleben geworden ist, noch ehe die für sie wesentlichsten Elemente wie Luft, Wasser, Raum anfangen knapp zu werden. Ich blicke auf den Revolver, ich meine, die Pistole, hier neben mir. Schluß mit dem Quatsch. Ich hörte auf zu schreiben. Print command: Ich betätigte die Taste CONTROL und drückte auf P. Ich hörte mir das ratternde Hämmern des Epson an. Dann zog ich das Blatt mit den Buchstaben, die darauf geschrieben standen, heraus und warf es in den Papierkorb. (»Des Schriftstellers bester Freund«: Singer.) Wozu dieses Zeug im Computer speichern? Ich beendete die Einheit durch Betätigung der Tasten CONTROL und X. In der Status line erschien: Delete Copy Move Adjust Search Freeze Hyph Print Linespace? Ich drückte auf die Taste D, das bedeutete Delete, Löschen. In der Status line: You have asked to remove this block. Are you sure? (Y oder N)? Sie wollen diese Einheit löschen lassen. Sind Sie sicher? (Ja oder Nein)? Der Superscripsit ist immer sehr vorsichtig, wenn man mehr als einen Absatz löschen will. Ich drückte auf Y für Ja, und im nächsten Augenblick verschwand der ganze Haufen von Buchstaben vom Bildschirm und wurde im Speicher gelöscht. Ich drückte auf die Tasten CONTROL und Q, quitting the document, und kehrte zum Programm-Menü zurück. Auf dem Bildschirm: (O) Open a document
(D) Display disk directory (S) System setup Utility (P) Proofread a document (C) Compress a document (A) ASCII text conversion Utility (E) Exit to TRSDOS Ich drückte auf die Taste E. TRSDOS Ready. Ich schrieb: KILL BUFO: 1. Ich drückte auf die Taste ENTER. Der TRSDOS suchte und fand, was im drive 1 über Bufo & Spallanzani war, und löschte alles, den ganzen Anfang, den ich abgespeichert hatte; die Begegnung des Wissenschaftlers mit der Kröte, Lauras ersten Auftritt, den Turm von La Ghirlandina mit der Glocke, Spallanzanis Kindheitsgeschichte, meine Notizen, das ganze Konzept des Buches, alles wurde im Bruchteil einer Sekunde ausgelöscht, vernichtet. Bufo & Spallanzani war von der Erdoberfläche verschwunden, alles in den großen Abfalleimer des Vergessens geworfen. Der Befehl KILL war so gebieterisch, daß der Computer, ohne über die erhaltene Anweisung zu diskutieren, gehorchte. KILL. Töten, vernichten. Um Delamare zu töten, brauchte man auch nur auf eine Art Taste zu drücken, den Abzug der Pistole neben mir. Meine Phantasie schweifte ab. Es klopfte. Durch den Spion sah ich einen Mann mit einem riesigen, mit bunten Schleifen geschmückten Rosenstrauß. »Gustavo Flávio?« fragte er. Da begriff ich und versuchte, die Tür zu schließen, aber
es war schon zu spät. Er drückte mir die Waffe auf die Brust und sagte: »Rein.« Er kam mir nach und stieß die Tür mit dem Fuß zu. Mürrisch warf er die Blumen auf den Fußboden. »Die Hände auf den Rücken«, sagte er. Geschickt fesselte er mir die Handgelenke. »Hier hinlegen«, befahl er kühl und zeigte auf den Fußboden. Ich streckte mich bäuchlings aus. Dann hörte ich ihn telefonieren. »Bin schon drin. Kinderspiel. Das Schwein hat einen Colt. Veraltet.« Er legte auf. »Hören Sie«, setzte ich an. »Halt den Mund.« Er klang nicht wütend, aber sein Tonfall war trocken und einschüchternd. Mühsam drehte ich den Kopf, um zu sehen, wo der Kerl war. Er saß aufrecht in einem Sessel im Wohnzimmer, beide Hände auf den Beinen abgestützt. Die Pistole war verschwunden. Er sah mich gleichmütig an. Wenn sein unerforschliches Gesicht überhaupt irgend etwas verriet, dann größtes Desinteresse an mir. Es klingelte, ich bekam Herzklopfen. Ich hörte, wie der Mann die Tür aufmachte. Den Geräuschen nach mußten es zwei sein, die da gekommen waren. Als ich den Kopf drehen wollte, um zu sehen, wer hereingekommen war, bekam ich einen Kolbenschlag in den Nacken. »Lieg still.« Ich merkte, daß sie mir den Gürtel lockerten und den Reißverschluß meiner Hose öffneten. Sie zogen mir die Hose herunter. »He!« protestierte ich. Noch ein Kolbenschlag, anschließend ein feiner Schmerz
im Gesäß. Sie hatten mir eine Spritze gegeben. Einer der Männer ging so dicht an mir vorbei, daß er in mein Blickfeld kam. Er hatte einen schwarzen Bart. Bilder aus den Tagen im Irrenhaus schossen mir durch den Kopf. Psychiater. Detektive. Staatsanwälte. Richter. Blumen auf einem Grab. Die Grabplatte hob sich, wie in einem Vampirfilm, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einer weißen Blume im Knopfloch sagte lächelnd zu mir: »Sehr angenehm, Maurício Estrucho.« »Am schlimmsten«, sagte Estrucho, »am arrogantesten und hinterhältigsten ist die Autorität des Künstlers: unerbittlich verurteilt er jeden, der anders denkt als er, und spielt sich dabei immer als gerecht und unparteiisch auf.« Als ich mich gerade über diesen Ausspruch von Estrucho wundern wollte, wurde sein Gesicht älter, ein weißer Bart wuchs ihm am Kinn, und wer nun zu mir sprach, war Tolstoi: »Wann bist du eigentlich endlich mit diesem verdammten Bufo & Spallanzani fertig?« Ich wollte ihm gerade sagen, daß Bufo & Spallanzani von dem Computer geKILLED worden war, da brach der Traum ab.
7 Ich hörte Stimmen. Ich saß auf einem unbequemen Flugzeugsitz. Da ich groß und dick bin, war es für mich immer beschwerlich, in den engen Flugzeugsitzen zu reisen. Dieser Sitz, auf dem ich mich befand, klemmte mich ein, genau wie alle anderen. Ich schlug die Augen auf und sah ein Paar hochgehobener nackter Beine. Das waren ja meine Beine! Was war das für ein Albtraum? Ich machte die Augen wieder zu. Irgend jemand schlug mir ins Gesicht. Erst nur leicht, dann kräftiger. Ich versuchte zu begreifen, was vor sich ging. Da war ein Mensch, den ich kannte. »Ich weiß, wer Sie sind«, stammelte ich. »Das Schwein ist noch betäubt.« »Sie sind Eugênio Delamare«, sagte ich. »Können Sie von hundert rückwärts zählen?« fragte Delamare. »Natürlich«, sagte ich. »Hundert … neun … neun … « »Ich will ihn so weit haben, daß er alles sehen und begreifen kann«, sagte Delamare zu einem der Männer neben mir. Es waren drei Männer bei ihm, allesamt in Nebelschleier gehüllt. »Das hier ist ein Weinkeller«, sagte ich. Ich wollte auf die zahllosen Weinflaschen zeigen, die in Regalen entlang der Wände lagen, aber meine Hände waren festgebunden. »Hast du die Tür oben zugemacht?« fragte Delamare.
»Ja«, antwortete einer. Das war sein Chauffeur. Die Bilder wurden allmählich etwas deutlicher. »Kannst du das hier sehen?« fragte Delamare. Es war ein Messer. Funkelnd reflektierte es das Deckenlicht. Mir lief ein Schauer über die nackten Beine. Mein Herz krampfte sich zusammen. Da merkte ich, daß ich auf einem gynäkologischen Stuhl angebunden war, wie eine Frau, die ein Kind gebären will. »Jetzt reiße ich dir deine Klöten raus. Das habe ich dir versprochen, weißt du das noch?« sagte Delamare. Die anderen Männer ringsum lachten. Einer von ihnen war der Blumenbote. In meiner Panik fing ich an zu strampeln, aber meine Arme, meine Beine und mein Rumpf waren fest mit Drähten angebunden, die mir ins Fleisch schnitten. Blut rann über meinen Körper. »Das habe ich schon oft gemacht, bei meinen Bullen auf der Fazenda. Aber bei dir macht das mehr Spaß«, sagte Delamare. Ich schloß die Augen. Ich hatte schon oft gehört, wenn ein Schmerz sehr stark ist, fühlt man ihn nicht. Das stimmt. »Er soll die Augen aufmachen.« Jemand gab mir eine kräftige Ohrfeige. »Weißt du, was das hier ist?« Delamare kam mit seiner Hand näher an mein Gesicht. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er eine beigefarbene Kugel; sie sah wie ein Teil der Jacafrucht aus, eiförmig, glatt, matt, fest. »Das ist einer von deinen Klöten, du Weiberhengst.«
Delamare riß das Ei mit den Fingernägeln auf und zog die langen Kanälchen heraus, die wie Schnüre aussahen, als wäre mein Hoden ein Knäuel dickes Garn. »Hast du schon mal Kampfhunde in Aktion gesehen?« fragte Delamare, während er die Schnüre aus meinem Hoden herauszog. »Wenn ich nach England fahre, gehe ich immer zum Hundekampf, das sind die besten der Welt, die Engländer verstehen ihr Geschäft, die haben Format, Tradition. Schon als kleinem Welpen bringt man dem Kampfhund, dem Pit-Bull-Terrier, einer Kreuzung zwischen Bulldogge und Terrier, eine Vorliebe für das Fleisch und das Blut von anderen Hunden bei.« Delamare stellte sich wie ein Redner in Positur. Mein Hoden war jetzt ein langer dünner Darm, der über den Boden schleifte. Seine Gefolgsleute hörten ihm ehrfürchtig zu. »Wenn er ins kampffähige Alter kommt, sperrt man den Hund mehrere Tage, ohne ihn zu füttern, mit einem anderen, schwachen Tier zusammen, dessen Körper man vorher blutende Wunden zugefügt hat. Ich brauche ja wohl nicht zu sagen, was dann passiert. Der Bull-Terrier zerfleischt den anderen Hund. Das wird während der Ausbildungsphase mehrfach wiederholt. Später nimmt man einen Hund ohne Verletzungen, auch der wird in Stücke gerissen und aufgefressen. Von da an sieht der Bull-Terrier in jedem Hund einen Feind, den er zerfetzen und verschlingen muß. Das werde ich zwar nicht mit dir machen, ich bin ja kein bissiger Hund. Ich schneide dir nur deine Klöten ab, schön der Reihe nach, ganz in Ruhe, ohne Hast – ich hab’s dir versprochen, erinnerst du dich? –, und
dann, zur Krönung des Festes, schneide ich dir den Schwanz ab und werfe alles in den Abfall. Ich hoffe, das tut deiner Kreativität keinen Abbruch. Deine Bücher gefallen mir. Außerdem ist es für dich für eine BelcantoKarriere viel zu spät, und ich glaube auch nicht, daß sie in den Opernhäusern heute noch Kastraten einsetzen.« Delamare schnitt sorgfältig die andere Seite meines Hodensacks auf und holte vorsichtig meinen zweiten und letzten Hoden heraus. Da fiel ich vor Entsetzen in Ohnmacht. Ich wachte im Krankenhaus auf. Das erste, was der Arzt mir sagte, war, daß ich nicht in Lebensgefahr schwebte. Ich hätte etwas Blut verloren, aber man hätte beschlossen, mir in Anbetracht der Gefahr, daß Aids, Hepatitis et cetera übertragen werden könnten, keine Transfusion zu geben. Delamare hatte keine Zeit mehr gehabt, mir den Schwanz abzuschneiden. Guedes, der schmierige Polyp, der den Millionär beschattet hatte, war noch rechtzeitig mit anderen Polizisten gekommen, um das zu verhindern. Delamare und seine Gangstergehilfen waren bei dem Schußwechsel im Weinkeller in der Rua Sara Vilela ums Leben gekommen. Auch zwei Polizisten waren getötet worden. Hoden hatte ich jetzt keine mehr. Der Arzt versicherte mir, der einzige Nachteil, den ich dadurch hätte, sei Unfruchtbarkeit. Meine sexuelle Potenz würde durch die Hodenamputation nicht beeinträchtigt. Aus psychologischen Gründen riet er mir zu einer Prothese, der Implantation von Vinylhoden, »in Gewicht und Form mit den echten identisch«.
»Wie wollen Sie denn das Gewicht und die Form der echten herauskriegen?« »Das berechnen wir, das ist nicht schwierig«, sagte er. Ich glaubte dem Arzt kein Wort. Ich war auch nicht gewillt, auf seinen Vorschlag einzugehen und einen Psychologen, Analytiker oder sonst was zu Rate zu ziehen. Ich blieb nur ein paar Tage im Krankenhaus. Sobald ich durfte, ging ich nach Hause. Aber nicht zu mir, sondern zu Minolta nach Iguaba. »Du hast dich verändert, aber ich finde es gut, wenn wir für eine Weile untertauchen.« Im Haus war ein Fernseher, aber ich vermied es, die Nachrichten zu sehen. Ich wollte von dem Fall Delamare nichts hören. Allerdings erzählte Minolta mir immer, was sie im Fernsehen gesehen hatte. Zusammengefaßt: Der Millionär Eugênio Delamare hatte den Profi-Killer Agenor Silva von der als Jacaré-Fraktion bekannten Gangsterbande, die die Zuchthäuser von Rio de Janeiro kontrollierte, engagiert, damit er seine Frau Delfina Delamare umbrachte, denn er hatte herausbekommen, daß sie die Geliebte des Schriftstellers Gustavo Flávio war. Agenor Silva war, nachdem er das Verbrechen ausgeführt hatte, von der Polizei festgenommen worden. Aber mysteriöserweise hatte er ausbrechen können. Pedro de Alcântara, genannt Der Hobel, und Jorge Luis, genannt Dickes Blei, zwei andere Pistolenhelden der JacaréFraktion, hatten in einer typischen Spurenvernichtungsaktion Agenor ermordet, um zu verhindern, daß er womöglich Eugênio Delamare beschuldigte, den Mord an
seiner Frau in Auftrag gegeben zu haben. Der Millionär Delamare wollte sich auch am Geliebten seiner Frau rächen. Der Hobel und Dickes Blei hatten in seinem Namen den Schriftsteller Gustavo Flávio entführt, um ihn zu mißhandeln und anschließend zu töten. Inspektor Guedes hatte mit zwei Helfern die Villa des Millionärs gestürmt, als der Schriftsteller gerade gefoltert wurde. Bei dem Schußwechsel zwischen der Polizei und den Gangstern starben Delamare, Dickes Blei, Der Hobel und der Chauffeur des Millionärs namens Matinho, der ebenfalls den Schriftsteller gefoltert hatte. Die beiden Polizisten, die Guedes begleitet hatten, waren verletzt worden und bei der Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Welche Rolle Guedes gespielt hat, wird derzeit von der Justiz untersucht. Wie verlautet, soll Guedes vor Agenors Flucht bei dem Millionär gewesen sein, und Delamare soll den Polizisten bestochen haben, damit er dem Todesschützen zur Flucht verhalf und seinen anschließenden Tod ermöglichte. Das Gemetzel im Haus des Millionärs, bei dem Guedes den Befehl führte, sei für den Polizisten die Möglichkeit gewesen, sämtliche Personen zu beseitigen, die seine kriminelle Beteiligung an dem verwickelten Fall enthüllen und ihn dadurch hätten belasten können. Der Polizist war von seinem Posten suspendiert worden, solange gegen ihn ermittelt wurde. »Eine nur zur Hälfte erzählte Wahrheit ist schlimmer als jede Lüge, die man sich ausdenken kann«, (vgl. Blake * ) *
Blake hat es etwas anders gesagt. Er hat gesagt: »A truth that’s told with bad intent / Beats all the lies you can invent.«
sagte ich. »Haben sie beschrieben, wie man mich mißhandelt hat?« Minolta stotterte. »Mehr oder weniger. Weißt du was? Ich glaube, das alles kurbelt den Verkauf deiner Bücher an.« »Was? Du meinst, jemand könnte ein Buch kaufen, nur weil sie den Autor kastriert haben?« Minolta sagte nichts. »Wer sich bestimmt freut, ist Zilda.« »An die hatte ich noch gar nicht gedacht«, sagte Minolta. »Aber da besteht keine Gefahr. Du hast dich sehr verändert.« »Guedes tut mir leid.« »Der Polyp? So, wie der Kerl dich verfolgt hat, und dann hast du mit dem Mitleid?« Wir schwiegen eine Weile. »Ob mein Schwanz jemals wieder hart wird?« Minolta setzte sich neben mich und zog meinen Kopf an ihre Schulter. Ich schob sie weg. »Was nützt es, weiterzuleben, wenn einem der Schwanz nicht mehr hart wird?« »Es gibt noch andere wichtige Dinge«, sagte Minolta. »Siehst du?« sagte ich entmutigt. »Du glaubst auch, daß ich ein Eunuch geworden bin.« »Sei nicht albern.« »Wir Männer haben der Welt nichts anderes zu bieten als einen harten Schwanz. Aber ihr Frauen habt alles geschaffen, das Feuer, das Rad, die Keramik, den Ackerbau, die Stadt, das Museum, die Astronomie, die Mode, die Kochkunst, die Lust, die Kunst (vgl. Mumford).
Das einzige, was die Männer haben, ist ein harter Schwanz. Und nicht mal den hab’ ich mehr.« »Hör auf, Blödsinn zu reden«, sagte Minolta. Wir gingen ins Bett, und ich tat, als schliefe ich. Aber ich konnte Minolta nicht täuschen. »Ivan? Bist du noch wach?« »Ja.« »Möchtest du über Frauen sprechen?« »Ich kann nicht.« »Ich fühle, daß du mir etwas sagen möchtest. Ich fühle, daß du mir irgend etwas verheimlichst. Ich habe sehr darunter gelitten.« Ich schwieg. Die Nacht verstrich, und wir beide lagen wach, ohne miteinander zu sprechen. Der Tag brach an. »Ich rede jetzt, aber du unterbrichst mich nicht. In Ordnung?« »Ja«, sagte Minolta. »Du sagst kein einziges Wort, solange ich rede.« »Nein.«
8 »Normalerweise traf ich mich mit Delfina um ein Uhr mittags in meiner Wohnung, das habe ich dir schon erzählt. Eugênio war noch nicht von der Reise zurückgekommen, die sie gemeinsam unternommen hatten, dieser Reise nach Europa. Sie war früher zurückgekommen, um die Freiheit zu genießen, und sagte, sie wolle die Probe meines Theaterstücks ansehen; sie fing um elf Uhr abends an. Wenn ihr Mann in Brasilien war, gingen wir nie abends aus. Wir fuhren zur Probe. Es ist schon komisch zu sehen, wie die Schauspieler sich in das hineinstürzen, was sie als Sinn in meinen Dialogen entdecken. Am besten war an diesem Tag eine Schauspielerin, eine ganz junge. Als ich hinkam, beachtete ich sie überhaupt nicht. Aber allmählich achtete ich auf ihre Beine, die Bewegungen ihres Körpers im grellen Licht der Scheinwerfer. Ich weiß noch, daß ich Delfina gegenüber irgendeinen idiotischen Gedankengang über die Bewegung geäußert habe, so etwas wie: Flüsse sind schöner als Berge, weil sie sich bewegen, und Pferde sind schöner als Flüsse, weil sie sich bewegen, wohin sie wollen, und Menschen, das heißt, Frauen, sind schöner als Pferde, weil sie Bewegungen erfinden. Irgend etwas in der Art, das Mädchen hatte mich inspiriert. Ich dachte, es wäre schön, mich in sie zu verlieben. Ich glaube, Delfina merkte das. Von der Probe fuhren wir zu mir. Wir lagen schon im Bett, da merkte ich, daß ich nicht so viel Lust auf Delfina hatte wie sonst. Um mich zu erregen, fragte sie, mit
welcher ihrer Freundinnen ich gern ins Bett gehen würde. Mit Denise, antwortete ich, und sie fragte, ob ich mit Denise das machen würde, was ich mit ihr machte. Unvermittelt erzählte Delfina, daß ihre Großmutter, die bewußte Großmutter, um die sie sich in ihrer Jugend gekümmert hatte, immer gesagt hatte, früher hätten die Kinos am Karfreitag nur das Leben Christi gezeigt, und im Radio – Fernsehen gab es noch nicht – sei nur klassische Musik gesendet worden, mit Vorliebe Trauermärsche. Dann sagte sie noch, es gehe ihr nicht sehr gut und am nächsten Tag werde sie zum Arzt, Dr. Baran, gehen und das Ergebnis von einigen Untersuchungen erfahren, die sie vor ihrer Abreise hatte machen lassen. Dr. Baran sagte, sie habe unheilbaren Krebs und nur noch ein paar Monate zu leben. Du kannst dir den Schock vorstellen, wenn jemand erfährt, daß er eine furchtbare Krankheit hat. Heute weiß ich, daß es noch Schlimmeres gibt. Sie verließ Dr. Barans Praxis und kam zu mir. Äußerlich ruhig und gewissermaßen sogar kaltblütig wirkend, sagte sie, sie habe Leukämie. Sie so beherrscht zu erleben, verschlug mir die Sprache. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß sie so couragiert war. ›Der Tod hat sich für mich einen schmutzigen, schmerzhaften und demütigenden Abschied ausgesucht‹, sagte Delfina mit einem traurigen Lächeln. Aber sie wollte auf ihre Weise Abschied nehmen und nicht so, wie der Tod es beschlossen hatte. Sie sprach jetzt vom Tod wie von einem guten Bekannten. Wahrscheinlich will sie sich mit Barbituraten das Leben nehmen, dachte ich. Tatsächlich
schien Delfina zu überlegen, ihrem Leben auf diese Weise ein Ende zu setzen, denn sie hatte die ganze Zeit ein Gläschen voller Tabletten bei sich. ›Weißt du noch, dein Buch Trápola? Diese Frau begeht Selbstmord, indem sie sich mit einem Revolver, Kaliber 22 ins Herz schießt. Du schreibst, daß sie auf der Stelle tot war, daß sie nicht gelitten hat, sich nicht einmal mit Blut beschmiert hat‹, sagte Delfina. Ich erklärte, das sei ein Roman, und ich wisse nicht, ob die Frau gelitten habe oder nicht, ob ihre Kleider schmutzig geworden seien oder nicht et cetera. Wir diskutierten eine ganze Weile, bis ich ihr schließlich recht gab. Wenn jemand sich töten wolle, sei ein Schuß ins Herz die schnellste und sauberste Methode. Aber wenn sie nicht den Mut habe, ein paar Tabletten zu schlucken, um sich umzubringen, dann habe sie auch nicht den Mut, auf den Abzug eines Revolvers zu drücken. ›Auf den Abzug drücken wirst du, stellvertretend für mich‹, sagte Delfina. ›Das darfst du nicht von mir verlangen, flehte ich sie an, ›um Gottes willen, so etwas kannst du nicht von mir verlangen!‹ Aber sie beharrte darauf, und je größer meine Verzweiflung wurde, um so ruhiger und sachlicher wurde Delfina. Wir diskutierten den ganzen Tag darüber. Mehrmals kam mir der Gedanke, wegzulaufen, sie in meiner Wohnung allein zu lassen, durch die Straßen zu rennen und zu verschwinden, und irgendwann, kurz bevor Delfina mich schließlich überzeugte, kam ein Augenblick, da wäre ich am liebsten gestorben, um der geistigen Folter zu entkommen, der sie mich aussetzte. Sie legte mir den vernickelten Revolver – keine Ahnung, wo sie ihn herhatte – in die Hand, und ich ließ ihn voller Abscheu und Angst
zu Boden fallen. Aber im Grunde war ich schon überzeugt, daß es eine gütige Geste wäre, wenn ich sie tötete, ja, sogar ein Zeichen der Reue und Großherzigkeit. Die Idee mit dem Wagen kam von ihr selbst. Delfina entschied sich für das Auto, weil es niemanden belasten würde und auch, weil man so ihren Leichnam schnell finde. Die Straße war mein Vorschlag; ich wußte, daß es eine Sackgasse war und deshalb dort wenig Verkehr herrschte. Ich hatte mich dort einmal verlaufen, als ich versuchte, eine Wohnung im Jardim Botânico zu finden. Es war Mitternacht, als wir in die Rua Diamantina kamen. Delfina fragte, ob es eine Möglichkeit gebe, ihre Bluse nicht zu beschädigen; sie wollte dem, der sie fand, keinen unordentlichen Anblick bieten. Ich knöpfte ihre Seidenbluse auf und sah die rosige Haut ihrer Brust im schwachen Lichtschein der Straßenlaterne. Sie strich mir mit der Hand über das Gesicht und wischte mir die Tränen ab. ›Ich liebe dich, vielen Dank‹, sagte sie. Ich versuchte in ihren Augen zu lesen, ob noch irgendein Funken Glut und Leidenschaft darin war, eine ähnlich unbezwingbare Flamme wie in Bufos Pupillen, aber in einer scheuen Abschiedsgeste schloß Delfina die Lider. Ich hatte mir vorgenommen, ihr die Waffe in die Hand zu legen und ihren Finger auf den Abzug zu drücken. Jeder Autor von Kriminalromanen weiß, daß bei Selbstmördern, die sich erschießen, Schmauchspuren an der Hand bleiben. Aber als sie, um meine Seele zu befrieden, so großherzig zu mir sagte, daß sie mich liebe, dachte ich nur noch daran, ihrem Leiden schnell ein Ende zu machen. Genau in dem Augenblick, als sie mich anlächelte, schoß ich in ihr
unglückliches Herz. Wie in meinem Buch trat kein Blut aus der Wunde, und ihre Bluse, die ich sorgfältig wieder zuknöpfte, war sauber geblieben. Ihr Lächeln verging, aber an ihrem Gesicht mit den geschlossenen Augen erkannte ich, daß Delfina nicht gelitten hatte und daß sie heiter, ich glaube sogar glücklich gewesen ist im letzten Moment ihres Lebens, den sie bewußt erlebt hat. Das ist es, was geschehen ist. Das ist die Wahrheit. Sieh mich nicht so an, ich kann sie nicht wieder lebendig machen, damit sie an Krebs stirbt. Und beschimpf mich nicht als durchtriebenen Unhold. Wenn du willst, gehe ich auf der Stelle zu Guedes und erzähle ihm alles, ich stelle mich der Polizei. Das Leben ist für mich wertlos geworden. Soll ich? Los, sag’s schon.«
»Es liegt etwas Prophetisches in seiner Literatur.« Patrícia Melo über Rubem Fonseca
Als ich gebeten wurde, das Nachwort zu diesem Buch von Rubem Fonseca zu schreiben, habe ich das als große Ehre empfunden. Seit ich im Alter von fünfzehn Jahren seinen ersten Roman, O caso Morel, gelesen habe, hat mich der Gedanke, Schriftstellerin zu werden, nie wieder losgelassen. Ich erinnere mich daran, daß Chico Buarque de Hollanda, einer der hervorragendsten brasilianischen Komponisten, anläßlich der Veröffentlichung seines ersten Buches von einem Journalisten gefragt wurde, ob er von Rubem Fonseca beeinflußt sei. Chicos treffende Antwort lautete: »Gibt es denn irgendeinen brasilianischen Autor, der das nicht ist?« Damit hat Chico alles gesagt. Kein Schriftsteller meiner Generation, noch der vorangehenden, ist Rubem Fonseca nicht in irgendeiner Weise Tribut schuldig. Obwohl wir in Brasilien bereits in den sechziger Jahren eine ausgeprägte urbane Kultur besaßen, war unsere Literatur bis dahin in erster Linie eine Regionalliteratur. Zur Illustration dessen sei hier nur eine der wichtigsten
Publikationen jener Zeit, der Roman Grande Sertão, Veredas von Guimarães Rosa, erwähnt. Rubem Fonseca hat dazu beigetragen, mit dieser Tradition zu brechen, und er ist damit der Begründer einer urbanen Schule, die unserer Prosa ein Universum von Möglichkeiten eröffnet hat. Die Stadt, wie wir sie heute kennen, mit ihrem Reiz und ihrer Perversität, wurde in seinen Büchern auf eine zuvor nie dagewesene Weise dargestellt, die sich von dem blassen ätherischen Bild der Stadt bei Machado de Assis stark unterscheidet. Was in der Wirklichkeit schrecklich ist, sagt Aristoteles irgendwo in seiner Poetik, kann in der Kunst bezaubern. Genau das hat Rubem getan, indem er Einsame, Mörder, Arbeiter, gewöhnliche Leute und verrückte Millionäre, Prostituierte und Hausfrauen, eben all die Geschöpfe der Stadt mit ihren Ängsten und ihren pathologischen Zügen, ihren Frustrationen und ihren Wünschen, zu den Figuren seiner Prosa gemacht hat. Seine Themen und sein Stil haben so nachhaltigen Einfluß ausgeübt, daß Rubem Fonseca seither als der Erfinder des »brutalen« Stils gilt. Es liegt etwas Prophetisches in seiner Literatur. Sein Buch Feliz ano novo aus dem Jahr 1975, in dem er in der gleichnamigen Erzählung beschreibt, wie eine Gruppe von Outlaws während der Silvesterparty eine Villa überfällt, wurde wegen seiner Brutalität und Obszönität von der Regierung verboten. O cobrador (Der Abkassierer), eine Erzählung aus dem Jahr 1979, in dem die Geschichte eines jungen Mannes aus armen Verhältnissen erzählt wird, der durch die Straßen läuft und all das einfordert, was die Gesellschaft ihm vorenthält – Geld, Bildung, Fleisch,
Blondinen, Autos und so fort –, wurde wegen seiner für unglaubhaft befundenen Darstellung der Gewalt kritisiert. Vierzig Jahre später ist ebendiese Gewalt zum Standardbild in unseren Zeitungen geworden. Doch Rubem ist nicht nur im Hinblick auf seine Thematik ein Erneuerer. Mit seiner ganz eigenen Art, Elemente der Popkultur mit gehobener Sprache zu vermischen, mit seinem schwindelerregenden Erzählduktus und seiner nüchternen Sprache fesselt Rubem den Leser und versetzt ihn in eine perverse und grausame Welt, die dennoch voller Mitgefühl und Menschenliebe ist. Der Roman Bufo & Spallanzani ist vielleicht sein humorvollstes Werk. In ihm werden die Experimente des berühmten Wissenschaftlers Bufo Spallanzani aus dem neunzehnten Jahrhundert von dem Schriftsteller Gustavio Flávio (eine Hommage an Flaubert) aufgegriffen, der in die Peripetien eines mysteriösen Affektmordes verwickelt wird. Den Rest darf ich nicht erzählen. Schließlich möchte ich dem Leser nicht den Spaß an einem der wichtigsten Romane der modernen brasilianischen Literatur verderben. Januar 2003 Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Rubem Fonseca
Rubem Fonseca wurde 1925 in Juiz de Fora/Minas Gerais in Brasilien als Sohn portugiesischer Einwanderer geboren. Als er sieben Jahre alt war, übersiedelte seine Familie nach Rio de Janeiro. Dort studierte er Jura mit Schwerpunkt Strafrecht und war einige Jahre Dozent, u. a. in den USA, später hoher Verwaltungsbeamter in verschiedenen Institutionen, zuletzt als Direktor der Elektrizitätswerke in Rio de Janeiro. Anschließend Tätigkeit als Journalist, Filmkritiker und Drehbuchautor sowie als Direktor der Abteilung Kultur des Erziehungsministeriums in Rio de Janeiro. Sein erstes Buch Os prisioneiros (»Die Gefangenen«) veröffentlichte er mit achtunddreißig Jahren. Immer wiederkehrende Themen in seinen Romanen und Erzählungen sind die Stadt, Kriminalität, Überbevölkerung, Guerilla und wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Marginalität. Fonseca ist ein international hoch angesehener Autor, sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und unter anderem ins Englische, Französische und Deutsche übersetzt. Der Autor, der in Rio de Janeiro lebt, verweigert aus Prinzip jede Auskunft über sich und sein Werk und gibt keine Interviews.
Bibliographie
Romane: O caso Morel (1973); A grande arte (1984); Bufo & Spallanzani (1985; dt. Bufo & Spallanzani, 1987 und 2003); Vastas emoçoes e pensamentos imperfeitos (1988; dt. Grenzenlose Gefühle, unvollendete Gedanken, 1991); Agosto (1990; dt. Mord im August, 1994); O selvagem da ópera (1994); E do meio do mundo prostituto só amores guardei ao meu charuto(1997); O doente Molière(2000). Erzählbände: Os prisioneiros (1963); A coleira do cão (1965); Lúcia McCartney (1970); O homem de fevereiro ou março (1973); Feliz ano novo (1975); O cobrador (1979); Romance negro (1992); O buraco na parede (1995); Histórias de amor (1997); A contraria dos espadas (1998); Secreções, excreções e desatinos (2001); Pequenas criaturas (2002). In deutscher Übersetzung sind 1989 zwei Bände mit Erzählungen erschienen: Der Abkassierer und Das vierte Siegel.
Filmographie
Lúcia McCartney. Brasilien, 1971; Regie: David Neves. Relatório de um homem casado. Brasilien, 1974; Regie: Flávio R. Tambellini. A extorsão. Brasilien, 1975; Regie: Flávio R. Tambellini. Stelinha. Brasilien, 1990; Regie: Miguel Faria Jr. A grande arte. Brasilien, 1991; Regie: Walter Salles. Agosto. Brasilien, 1993; Regie Paulo José. Bufo & Spallanzani. Brasilien, 2001; Regie: Flávio R. Tambellini.
Die Übersetzerin
Karin von Schweder-Schreiner hat in Germersheim (Universität Mainz) und Lissabon studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen u. a. Jorge Amado, Lygia Bojunga Nunes, Chico Buarque, Antonio Callado, Mia Couto, Lídia Jorge und Moacyr Scliar. Ihre Arbeit wurde zweimal (1987/88 und 1996/97) mit einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet, 1990 erhielt sie einen Förderpreis für literarische Übersetzung der Freien und Hansestadt Hamburg, 1994 den Internationalen Übersetzerpreis des brasilianischen Kulturministeriums.