EARL DERR BIGGERS
CHARLIE CHAN UND DIE VERSCHWUNDENEN DAMEN
Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre 1928 Deutsche...
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EARL DERR BIGGERS
CHARLIE CHAN UND DIE VERSCHWUNDENEN DAMEN
Ein klassischer Kriminalroman aus dem Jahre 1928 Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 2020 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe BEHIND THAT CURTAIN Deutsche Übersetzung von Dr. Dietlind Bindheim
Herausgegeben von Bernhard Matt Tod zum Nachtisch
Warum hatte sich Sir Frederic so für vermißte Frauen interessiert? Standen sie irgendwie mit einem unaufgeklärten Mordfall in London in Verbindung? Oder mit dem Mord an Sir Frederic selbst? Fünfzehn Jahre bevor Sir Frederic in San Francisco ermordet wurde, war Eve Durand in der unergründlichen Rätselwelt Indiens verschwunden. Die schöne, Jungverheiratete Frau wurde nie wieder gesehen. Vier Jahre später verschwand in Nizza eine junge Schau-
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spielerin. Und nicht lange danach ein Mannequin aus New York – und ward auch nie wieder gesehen. Und jetzt ist auf andere Weise Sir Frederic für immer und ewig verschwunden. Nach einer denkwürdigen Dinnerparty hat jemand den ehemaligen Chef von Scotland Yard ermordet. Sogar Charlie Chan muß zugeben: »Stehe wirklich vor großem Rätsel.«
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Ungekürzte Taschenbuchausgabe Copyright © 1928 by Leisure Concepts, Inc. Copyright © 1982 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1983 Umschlagfoto: MALL Photodesign, Stuttgart Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-10.623-7
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1. Kapitel
Der Mann von Scotland Yard Bill Rankin saß an seiner Schreibmaschine und suchte verbissen nach einer Einleitung für das Interview, das er schreiben wollte. Ein schwarzer Schatten flitzte an seinem Ellenbogen vorbei und landete weich auf der Tischplatte. Bill hüpfte das Herz in die Kehle und nahm ihm die Luft weg. Doch es war nur Egbert, der Bürokater. Ziemlich einsam hier, schien er zu denken. Wie wär’s mit einem kleinen Spielchen? Rankin starrte den Kater mit tiefem Abscheu an. Lächerlich, vor einem Egbert so zu erschrecken, doch wenn man sich länger als eine Stunde mit einem berühmten Mann unterhalten hat und es dabei um Mord ging, neigt man ein bißchen dazu, schreckhaft zu sein. Rankin streckte die Hände aus und schubste den Kater auf den Boden. »Verschwinde«, sagte er. »Was fällt dir ein, einen Menschen so zu erschrecken, daß ihm die Knie schlottern? Siehst du nicht, daß ich zu tun habe?« In seiner Würde zutiefst gekränkt, stolzierte Egbert durch die Wüstenei aus Schreibmaschinentischen und leeren Stühlen davon. Bill Rankin sah ihm nach, als er durch die Tür verschwand, die in den Flur führte. Es war halb sechs. Zehn Stockwerke tiefer drängten sich in den Straßen die heimkehrenden Massen, doch hier oben in der Lokalredaktion des Globe herrschte vorübergehend Ruhe. Von allen grün beschirmten Lampen im Raum brannte nur die über Rankins Schreibmaschine und verbreitete auf dem leeren Blatt, das darin eingespannt war, eine geisterhafte Helligkeit. Sogar
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der Redaktionstisch war verlassen. In seinem kleinen, gemütlichen Büro am Ende des Saales saß der Lokalredakteur des Globe, das einzige andere menschliche Wesen in Sicht. Und wenn man den jungen Männern glauben wollte, die für ihn arbeiteten, war er alles andere als menschlich. Bill Rankin wandte sich wieder seinem Interview zu. Einen Augenblick saß er noch in Gedanken versunken da, dann schrieb er: »Die genialen Einfälle und die Wunder der Technik, die im Kriminalroman die meisten Verbrechen aufklären, spielen in der Praxis des echten Detektivs kaum eine Rolle.« Das sagte Sir Frederic Bruce, der frühere Chef der Kriminalabteilung von Scotland Yard. Sir Frederic, der auf Weltreise ist und zwei Wochen in San Francisco bleiben will, ist wie kaum ein zweiter berufen, eine fachmännische Meinung zu äußern. Fast siebzehn Jahre stand er als Deputy-Commissioner an der Spitze der berühmtesten Detektivtruppe der Welt, und obwohl er jetzt im Ruhestand lebt, hat sein Interesse an der Aufklärung von Verbrechen nicht nachgelassen. Sir Frederic ist ein großer, kräftiger Mann mit einem freundlichen Blinzeln in den grauen Augen, doch gelegentlich haben diese Augen einen stählernen Glanz, der sogar den Reporter des Globe nervös machte. Hätten wir den alten Earl of Featherstonehaugh auf seinem seltenen Perserteppich getötet, sähen wir es gar nicht gern, wenn Sir Frederic die Untersuchung des Falles übernähme. Denn der große Detektiv ist einer jener Schotten, für den »Niederlage« ein Fremdwort ist. Er läßt nie von einer Fährte ab. »Ich habe sehr viele Kriminalromane gelesen«, sagte Sir Frederic. »Ich finde sie unterhaltsam, aber ein Detektiv kann nichts daraus lernen. Vom Fingerabdrucksystem und der Identifizierung von Flecken in chemischen Laboratorien abgesehen, hat die wissenschaftliche Forschung wenig zur
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Aufklärung von Verbrechen beigetragen. Mord- und andere komplizierte Kriminalfälle werden mit Hilfe von Intelligenz, harter Arbeit und Glück gelöst. Die verzwickten wissenschaftlichen Apparaturen, die den Autoren von Kriminalromanen so lieb und teuer sind, tragen wenig dazu bei…«
Plötzlich hörte Bill Rankin auf zu schreiben und richtete sich auf seinem unbequemen Stuhl kerzengerade auf. Die Gedanken, die er zu Papier brachte, klangen ihm vertraut. Er hatte sie schon zu hören bekommen, und zwar erst vor kurzer Zeit, jedoch nicht in dem gepflegten Englisch, das Sir Frederic sprach, sondern in einem anderen Idiom… Ach ja! Er lächelte, als er sich an den rundlichen kleinen Mann erinnerte, den er vor drei Tagen in der Halle des Hotels Stewart interviewt hatte. Der Reporter stand auf und begann zwischen den Schreibtischen auf und ab zu gehen. »Aber natürlich!« sagte er vor sich hin. »Und mir ist es nie aufgefallen. Da habe ich eine Riesenstory direkt vor der Nase und sehe sie nicht. Ich verliere anscheinend langsam mein journalistisches Gespür.« Er warf einen besorgten Blick auf die Uhr, setzte sich wieder und fuhr fort zu schreiben: Wir haben Sir Frederic gefragt, was seiner Meinung nach die beste Detektivarbeit ist, die je geleistet wurde. »Das kann ich nicht beantworten«, sagte er, »weil das Glück bei dieser Arbeit eine so große Rolle spielt. Wie ich schon ausführte, werden die meisten Kriminalfälle mit Hilfe von harter Arbeit, Intelligenz und Glück gelöst. Leider muß ich erklären, daß das Glück den weitaus größten Anteil daran hat. Harte, methodische Arbeit hat jedoch auch schon häufig gute Ergebnisse erzielt. Durch sie wurde zum Beispiel das
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berühmte Rätsel um Dr. Crippen gelöst. Den ersten Anhaltspunkt dafür, daß bei diesem Fall etwas nicht stimmte, bekamen wir, als die Kassiererin eines Varietetheaters…«
Bill Rankin schrieb jetzt mit Blitzgeschwindigkeit weiter, denn er wollte unbedingt fertig werden. Der Artikel, an dem er arbeitete, war plötzlich unwichtig geworden. Ihm war eine viel bessere Story eingefallen. Seine Finger flogen über die Tasten. Wenn er, was nur sehr selten passierte, eine kurze Pause machte, warf er einen Blick auf die Uhr. Er riß die letzte Seite aus der Maschine, packte die ganze Story und ging rasch ins Büro des Lokalredakteurs. Der Redaktionschef, der vor kurzem von einem erbitterten Streit mit dem Meister in der Setzerei zurückgekommen war, musterte den Reporter mürrisch und spitzte einen Bleistift. »… iss’n das?« fragte er, als Bill Rankin ihm die Story auf den Schreibtisch knallte. »Interview mit Sir Frederic Bruce«, erinnerte ihn Bill. »Sie haben ihn also gefunden, ja?« »Wir haben ihn alle gefunden. Der Raum quoll von Reportern über.« »Wo steckt Sir Frederic?« »Er wohnt in Barry Kirks Bungalow. Kirk hat in London Sir Frederics Sohn gekannt. Ich habe die Hotels abgeklappert, bis mir die Füße weh taten.« Der Redakteur schnaubte verächtlich. »Das war schön dumm von Ihnen! Kein Engländer steigt im Hotel ab, wenn er bei jemandem Unterkunft und Verpflegung schnorren kann. Sie haben schließlich schon genug britische Autoren auf Vortragsreise interviewt und könnten das wissen.« »Das Interview ist reines Blabla«, sagte Rankin. »Jede
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Zeitung in der Stadt bringt es. Doch während ich es schrieb, ist mir die Idee für ein Feature gekommen. Es wird ein Knüller –, wenn ich’s Sir Frederic schmackhaft machen kann. Ich habe mir gedacht, ich gehe noch mal hin und versuche mein Glück.« »Ein Feature?« Der Redakteur legte unwillig die Stirn in Falten. »Aber Sie sagen mir doch Bescheid, wenn Sie bei Ihrer literarischen Arbeit ganz zufällig auf eine interessante Nachricht stoßen, ja? Hier sitze ich, bemühe mich, eine Zeitung zu machen, und was liefert ihr Burschen mir? Eine Lawine hübscher, kleiner Essays. Ich habe den Verdacht, daß ihr alle hofft, eines Tages für Atlantic Monthly entdeckt zu werden.« »Aber dieses Feature ist gut!« protestierte Rankin. »Ich muß mich beeilen…« »Nur einen Augenblick noch! Ich bin natürlich nur Ihr Redakteur und möchte meine Nase nicht ungebührlicherweise in Ihre Pläne stecken…« Rankin lachte. Er war ein tüchtiger Mann und konnte sich einiges erlauben. »Tut mir leid, Sir, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit für Erklärungen. Jemand könnte mir zuvorkommen. Gleason vom Herald war heute auch da, und ihm kommt garantiert dieselbe Idee. Wenn Sie also nichts dagegen haben…« Der Redakteur zuckte mit den Schultern. »In Ordnung. Verschwinden Sie. Sehen Sie zu, daß Sie so schnell wie möglich zum Kirk-Building kommen. Und daß mir dieser plötzliche Anfall von Energie dort ja nicht abstirbt! Kommen Sie auch schnell wieder!« »In Ordnung, Sir«, erwiderte der Reporter. »Ich muß natürlich irgendwo zu Abend essen.« »Ich esse nie«, brummte sein liebenswürdiger Chef. Bill Rankin verließ das kleine Büro und durchquerte
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rasch den Redaktionssaal. Nach und nach fanden sich jetzt auch seine Reporterkollegen ein, die unterwegs gewesen waren, um Material für ihre Artikel zu sammeln, und der Raum erwachte zum Leben. In der Nähe der Tür kreuzte Egbert, schwarz wie die Nacht von Kopf bis Fuß, hoheitsvoll und abweisend mit würdevollen Schritten seinen Weg. Auf der Straße blieb der Reporter einen Augenblick unentschlossen stehen. Das Kirk-Building war nicht weit entfernt. Er konnte es bequem zu Fuß erreichen, aber die Zeit war kostbar. Angenommen, man sagte ihm, wenn er dort eintraf, Sir Frederic kleide sich zum Dinner um. Bei diesem berühmten und korrekten Engländer war das gewiß ein geheiligter Ritus, den ein vom schnellen Laufen atemloser Zeitungsmann bestimmt nicht unterbrechen durfte. Nein, er mußte bei Sir Frederic sein, ehe der Detektiv nach seinen schwarzen Perlmanschettenknöpfen griff. Er winkte einem vorüberfahrenden Taxi. Als der Wagen am Randstein hielt, tauchte ein rotwangiger junger Mann, einer der Nachwuchsreporter des Globe aus der Menge auf und öffnete mit einer tiefen Verbeugung die Tür des Taxis. »Zur Königlichen Oper, mein guter Mann!« rief er. »Und Sie bekommen einen Sovereign mehr, wenn es Ihnen gelingt, die Kutsche des Herzogs zu überholen.« Rankin schob den Witzbold zur Seite. »Mischen Sie sich nicht in die Angelegenheiten Erwachsener, mein Junge«, sagte er und setzte, für den Fahrer bestimmt, hinzu: »Zum Kirk-Building in der California Street.« Das Taxi fädelte sich in den Verkehr der Market Street ein, folgte ihr ein paar Blocks und bog dann in die Montgomery Street ein. Gleich darauf fuhren sie durch
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den Finanzdistrikt von San Francisco, in dem um diese Zeit der gewohnte abendliche Friede herrschte. Die riesigen Gebäude, in denen Treuhandgesellschaften, Investmentfirmen und Banken untergebracht waren, ragten ernst und zuverlässig in die Dämmerung. Die Eingänge der meisten waren mit abschreckenden Bronzegittern verschlossen. Rankins Blicke fielen auf vergoldete Schilder: »Yokohama Bank« oder in einem anderen Fenster »Shanghai Handelsgesellschaft«. In der Stadt am Golden Gate wurde man auf Schritt und Tritt an den Orient erinnert. Kurz darauf hielt das Taxi vor einem zwanzigstöckigen Bürogebäude, und Rankin stieg aus. Das Kirk-Building war von architektonischer Vollkommenheit und entsprach dem ausgezeichneten Geschmack, der für die Familie typisch war, seit der erste Dawson Kirk seine Millionen verdient und seinen Weg gemacht hatte. Jetzt war es das besondere Hobby des jungen Barry Kirk, der als vielbeneideter Junggeselle in dem geräumigen, aber zugigen Bungalow auf dem Dach des Gebäudes lebte. Die reinweiße Empfangshalle war makellos; die Liftgirls sahen in ihren Uniformen frisch und adrett aus, und der Mann, der die Oberaufsicht über die Fahrstühle hatte, wirkte so prächtig wie ein Admiral. Um diese Stunde war die Hektik des Tages zu Ende, und Putzfrauen knieten ehrfürchtig auf dem Marmorfußboden. Ein Fahrstuhl war noch in Betrieb, und Bill Rankin stieg ein. »Bis ganz hinauf«, sagte er zu dem Mädchen. Im zwanzigsten Stockwerk stieg er aus. Eine schmale Treppe führte zu Barry Kirks Bungalow, und der Reporter spurtete, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Vor der imposanten Eingangstür blieb er
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stehen und klingelte. Die Tür wurde geöffnet, und mit der Würde eines Bischofs vertrat Paradise, Kirks englischer Butler, Rankin den Weg. »Ich – ich bin wieder da«, sagte Rankin nach Atem ringend. »Das ist nicht zu übersehen, Sir.« Er sah mit seinem sehr dichten schneeweißen Schopf einem Bischof tatsächlich sehr ähnlich. Sein Benehmen war alles andere als verbindlich. Die vielen Reporter, die am Nachmittag hier gewesen waren, hatte er nur voller Mißtrauen und Zweifel eingelassen. »Ich muß sofort Sir Frederic sprechen. Ist er zu Hause?« »Sir Frederic hält sich eine Etage tiefer im Büro auf, ich vermute, daß er beschäftigt ist. Aber ich werde Sie melden…« »Nein, bitte bemühen Sie sich nicht«, entgegnete Rankin schnell. Er lief ins zwanzigste Stockwerk hinunter und entdeckte dort eine Tür mit Barry Kirks Namen auf der mattierten Scheibe. Als er auf die Tür zuging, wurde sie geöffnet, und eine junge Frau trat auf den Flur. Rankin blieb stehen. Es war eine bemerkenswert hübsche junge Frau, das sah man sogar in dem gedämpften Licht, das im zwanzigsten Stockwerk herrschte. Sie gehörte zu den bei Männern so beliebten Blondinen, hatte eine schlanke Gestalt, die das grüne Kleid aus irgendeinem Strickmaterial hervorragend zur Geltung brachte, und war zwar nicht besonders groß, aber… Was war das? Die junge Frau weinte. Lautlos, ganz unauffällig, aber ganz unverkennbar. Es waren nicht nur Kummertränen, sondern, soweit Rankin es beur-
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teilen konnte, auch Tränen des Zorns und der Erbitterung. Mit einem erschrockenen Blick auf den Reporter, durchquerte sie schnell den Flur und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift »Calcutta Importers, Inc.« Bill Rankin ging weiter in Barry Kirks Büro. Er kam in ein Empfangszimmer, doch da die Tür zum Nebenraum offenstand, ging der Zeitungsmann ohne zu zögern weiter. In diesem zweiten Raum saß Sir Frederic Bruce an einem Schreibtisch. Er fuhr herum, und seine grauen Augen blickten streng und gefährlich. »Oh«, sagte er, »Sie sind es!« »Ich muß mich entschuldigen, weil ich Sie wieder belästige, Sir Frederic«, begann Bill Rankin, »aber – ich… Darf ich mich setzen?« »Gewiß.« Der große Detektiv schob langsam ein paar Papiere zusammen, die auf dem Schreibtisch lagen. »Tatsache ist…« Rankins Selbstvertrauen ließ merklich nach. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er es jetzt nicht mit dem liebenswürdigen Gentleman zu tun hatte, der heute nachmittag im Bungalow ihm das Interview gab; nicht mit dem aufgeschlossenen Besucher San Franciscos, sondern mit Sir Frederic Bruce von Scotland Yard, unnachgiebig, kalt und ehrfurchtgebietend, hatte er es zu tun. »Tatsache ist«, fuhr der Reporter lahm fort, »daß ich eine Idee hatte.« »Wirklich?« Diese Augen – sie blickten geradewegs durch einen hindurch. »Was Sie uns heute nachmittag gesagt haben, Sir Frederic… Ich spreche von Ihrer Meinung über den Wert wissenschaftlicher Hilfsmittel bei der Lösung von Kriminalfällen im Vergleich mit harter Arbeit und Glück…« Rankin unterbrach sich. Er schien unfähig,
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einen Satz zu beenden. »Ich erinnerte mich, während ich meinen Artikel schrieb, daß ich erst vor wenigen Tagen von jemand anderem dieselbe Meinung gehört habe.« »Nun, ich erhebe keinen Anspruch darauf, der Urheber dieser Meinung zu sein.« Sir Frederic warf seine Papiere in eine Schublade. »Oh, ich bin nicht gekommen, um mich deshalb zu beschweren.« Rankin, der ein wenig von seiner Munterkeit zurückgewann, lächelte. »Unter gewöhnlichen Umständen hätte es nichts zu bedeuten, aber ich bekam Ihre Ansichten von einem ziemlich ungewöhnlichen Mann zu hören, Sir Frederic. Einem bescheidenen Arbeiter in Ihrem Weinberg, wenn ich mich so ausdrücken darf, einem Detektiv, der diese Theorien weitab von Scotland Yard entwickelt hat. Ich hörte sie von Detective-Sergeant Charlie Chan, einem Angehörigen der Polizei in Honolulu.« Sir Frederic zog die buschigen Brauen hoch. »Wirklich? Dann kann ich Sergeant Chan – wer immer das sein mag – zu seinen Erkenntnissen nur beglückwünschen.« »Chan ist ein Detektiv, der auf den Inseln sehr gute Arbeit geleistet hat. Zufällig hält er sich im Augenblick in San Francisco auf. Er kam mit einem einfachen Auftrag aufs Festland, der sich zu einem großen Fall entwickelte. Er hat ihn gelöst und sich damit große Anerkennung verdient. Seine äußere Erscheinung ist nicht sehr eindrucksvoll, aber…« »Ein Chinese, nehme ich an?« fiel Sir Frederic ihm ins Wort. »Ja, Sir.« Der große Mann nickte. »Und warum nicht? Ein Chine-
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se müßte eigentlich ein ausgezeichneter Detektiv sein. Die Geduld des Ostens, wissen Sie.« »Genau«, pflichtete Bill Rankin ihm bei. »Er hat sie. Und er ist bescheiden.« Sir Frederick schüttelte den Kopf. »Bescheidenheit ist keine unbedingt erstrebenswerte Eigenschaft. Selbstsicherheit, der unbedingte Glaube an sich selbst – sie helfen. Aber Sergeant Chan ist bescheiden?« »Ist er’s, oder ist er’s nicht? ›Ein Sturz tut denen am wenigsten weh, die niedrig fliegen‹, hat er einmal zu mir gesagt. Und Sergeant Chan fliegt so niedrig, daß er die Gänseblümchen berührt.« Sir Frederic stand auf und trat ans Fenster. Er blickte auf die funkelnden Lichter hinunter, die wie eine Handvoll Sterne über die allmählich dunkel werdende Stadt verstreut waren. Einen Augenblick schwieg er, dann drehte er sich zu dem Reporter um. »Ein bescheidener Detektiv«, sagte er mit grimmigem Lächeln. »Das ist auf jeden Fall etwas Neues. Ich würde Sergeant Chan sehr gern kennenlernen.« Bill Rankin seufzte erleichtert. Seine Aufgabe erwies sich nun doch als unglaublich einfach. »Um das vorzuschlagen, bin ich hier«, sagte er lebhaft. »Ich möchte Sie und Charlie Chan zusammenbringen, damit Sie sich über Ihre Methoden und Erfahrungen unterhalten können. Würden Sie Mr. Chan und mir die Ehre geben, morgen mit uns zu lunchen?« Der frühere Leiter der C.I.D. zögerte. »Ich danke Ihnen sehr, doch muß ich mich mehr oder weniger nach Mr. Kirk richten. Er gibt morgen abend ein Dinner und hat, glaube ich, auch etwas von einem Lunch gesagt. So gern ich Ihnen auf der Stelle eine Zusage gäbe, so müssen wir vorher doch auf jeden Fall mit ihm Rück-
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sprache nehmen.« »Nun, dann suchen wir ihn doch. Wo ist er?« Bill Rankin war jetzt ganz sachlich. »Ich vermute, er ist oben im Bungalow.« Sir Frederic drehte sich um, schloß die Tür eines großen Wandsafes und drehte am Kombinationsschloß. »Das haben Sie eben ganz wie ein amerikanischer Geschäftsmann gemacht, Sir Frederic.« Rankin lächelte. Der Detektiv nickte. »Mr. Kirk hat mir freundlicherweise erlaubt, sein Büro zu benutzen, während ich sein Gast bin.« »Ach, dann ist es wohl nicht ausschließlich eine Vergnügungsreise, die Sie unternehmen«, warf Bill Rankin schnell ein. Die grauen Augen schienen sich zu verhärten. »Eine reine Vergnügungsreise. Aber da gibt es gewisse Dinge – Privatangelegenheiten – ich schreibe meine Memoiren.« »Ach so! Ich bitte um Entschuldigung, Sir Frederic.« Die Tür wurde geöffnet, und eine Putzfrau kam herein. Sir Frederic wandte sich ihr zu. »Guten Abend«, sagte er. »Ihnen ist doch klar, daß Sie kein Papier, das auf oder in diesem Schreibtisch liegt, anfassen dürfen, ja?« »Aber selbstverständlich, Sir«, antwortete die Frau. »Ausgezeichnet. Und jetzt, Mr. – eh – Mr….« »Rankin, Sir Frederic.« »Ach ja, natürlich! Kommen Sie, aus dem Nebenzimmer führt eine Treppe zum Bungalow hinauf.« Sie betraten das dritte und letzte Zimmer der Büroflucht, und Bill Rankin folgte dem hochgewachsenen Engländer in die nächste Etage. Die Treppe endete auf
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einem dunklen Flur. Sir Frederic riß eine Tür auf, und Licht strömte herein. Vor Bill Rankin lag der große Wohnraum des Bungalows. Sie gingen hinein. Der Butler Paradise, der sich allein darin aufhielt, musterte den Reporter mit eisiger Geringschätzung. Barry Kirk schien sich eben zum Dinner umzukleiden, und der Butler ging widerstrebend zu ihm, um ihn von der um diese Zeit ganz und gar unschicklichen Anwesenheit des Zeitungsmannes zu informieren. Kirk kam sofort, in Hemdsärmeln, die noch nicht gebundene Krawatte um den Hals. Er war ein gutaussehender, schlanker Mann Ende Zwanzig mit einem Auftreten, das echte Weltgewandtheit verriet. Er hatte die fernsten Winkel der Erde bereist, um zu entdecken, was er dort mit dem Reichtum der Kirks erwerben konnte, und das Leben hatte keine Überraschungen mehr für ihn. »Ach ja, Mr. Rankin vom Globe«, sagte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?« Paradise eilte zu seinem Herrn, um sich der Krawatte anzunehmen, und über die Schulter des Bediensteten hinweg erklärte Rankin sein Anliegen. Kirk nickte. »Eine Pfundsidee«, sagte er. »Ich habe viele Freunde in Honolulu und schon von Charlie Chan gehört. Ich würde ihn selbst gern kennenlernen.« »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich uns anschließen wollten«, sagte der Reporter. »Das geht nicht. Sie müssen meine Gäste sein.« »Aber – der Vorschlag ging doch von mir aus«, sagte Rankin unbehaglich. Kirk winkte mit der beiläufigen Geste der Reichen ab. »Mein Lieber, ich habe bereits ein Luncheon für morgen arrangiert. Irgendein Knabe aus dem Büro des
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Bezirksstaatsanwalts hat mir geschrieben. Er interessiert sich für Kriminologie und möchte Sir Frederic kennenlernen. Wie ich schon Sir Frederic erklärte, konnte ich den Brief nicht gut ignorieren. Heutzutage weiß man nie, ob man nicht vielleicht einmal einen Freund im Büro des Bezirksstaatsanwalts braucht.« »Ist es einer von den Stellvertretern?« erkundigte sich Rankin. »Ja. Ein Knabe namens Morrow – J.V. Morrow. Kennen Sie ihn vielleicht?« Rankin nickte. »Ja, ich kenne ihn.« »Nun, unser Programm sieht so aus«, fuhr Kirk fort. »Wir treffen J.V. Morrow morgen um eins im St. Francis. Das Thema des Tages ist Mord, und ich bin überzeugt, Ihr Freund aus Honolulu wird wunderbar zu uns passen. Holen Sie Mr. Chan ab und stoßen Sie zu uns.« »Besten Dank«, sagte Rankin. »Sie sind sehr freundlich. Wir werden pünktlich da sein. Jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten.« Paradise legte einen ungewöhnlichen Eifer an den Tag, als Kirk ihn bat, Mr. Rankin hinauszubegleiten. Am Fuß der Treppe des zwanzigsten Stockwerks traf Rankin seinen alten Rivalen Gleason vom Herald. Er lachte triumphierend. »Sie dürfen auf der Stelle umkehren«, sagte er. »Sie kommen zu spät. Die Sache ist mir früher eingefallen.« »Welche Sache?« fragte Gleason mit geheuchelter Unschuld. »Ich bringe Sir Frederic und Charlie Chan zusammen, und das Urheberrecht liegt bei mir. Lassen Sie die Hände davon.«
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Mit düsterer Miene machte Mr. Gleason kehrt und begleitete Bill Rankin zu den Aufzügen. Während sie auf die Kabine warteten, kam das Mädchen in dem grünen Kleid aus dem Büro der Calcutta Importers Inc. und stellte sich ebenfalls an die Lifttür. Gemeinsam fuhren sie hinunter. Die Tränen des Mädchens waren getrocknet und hatten glücklicherweise keine Spuren hinterlassen. Blaue Augen vervollständigten das Bild. Ein bezauberndes Bild. Mr. Gleason schien auch interessiert. Auf der Straße sagte Gleason verdrießlich: »Mir ist es erst beim Abendessen eingefallen.« »Bei mir kommt der Beruf an erster Stelle«, erwiderte Rankin. »Haben Sie zu Ende gegessen?« »Das habe ich, und es war wahrscheinlich mein Pech. Nun, ich hoffe, Sie kriegen eine Mordsstory, einen Knüller, einen richtigen Klassiker.« »Besten Dank, mein Alter.« »Und ich hoffe, Sie dürfen kein verdammtes Wort davon drucken.« Rankin antwortete nicht, und sein Kollege verschwand in der Dämmerung. Das Mädchen im grünen Kleid ging die California Street hinauf. Warum hatte sie geweint, als sie von Sir Frederic kam? Was hatte er zu ihr gesagt? Vielleicht, dachte Rankin, frage ich morgen Sir Frederic danach. Er lachte trocken auf. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Sir Frederic es ihm oder sonst jemand gestattete, die Nase in seine Privatangelegenheiten zu stecken.
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2. Kapitel
Was geschah mit Eve Durand? Am nächsten Tag um ein Uhr stand Sir Frederic Bruce, eine auffallende Erscheinung in einem grauen Tweedanzug, in der Halle des St. Francis. Neben ihm, ebenso untadelig wie sein Gast, Barry Kirk, der das geschäftige Treiben mit der amüsierten Nachsicht eines jungen Mannes betrachtete, der sehr viel Zeit und überhaupt keine Sorgen hatte. Kirk hängte sich seinen Stock über den Arm und nahm einen Brief aus der Tasche. »Ich habe übrigens heute mit der Morgenpost diese Nachricht von J.V. Morrow bekommen«, sagte er. »Er bedankt sich sehr höflich für meine Einladung und schreibt, ich werde ihn sofort erkennen, weil er einen grünen Hut trage. Wahrscheinlich einen dieser grünen Plüschhüte. Ich glaube nicht, daß ich so ein Ding aufsetzen würde, wenn ich stellvertretender Bezirksstaatsanwalt wäre.« Sir Frederic antwortete nicht. Er blickte Bill Rankin entgegen, der jetzt schnell auf ihn und Barry Kirk zukam. An seiner Seite ging mit überraschend leichtem Schritt ein unauffälliger, kleiner Mann mit Bauchansatz und einem sehr ernsten Ausdruck im pausbäckigen Gesicht. »Hier sind wir«, sagte Rankin. »Sir Frederic Bruce, darf ich Ihnen Detective-Sergeant Charlie Chan von der Polizei in Honolulu vorstellen?« Charlie Chan klappte so schnell zusammen wie ein Taschenmesser. »Unglaublich große Ehre«, sagte er. »Fühle mich glücklich, im Widerschein von Sir Frederics Ruhm baden zu dürfen. Tiger hat sich zur Fliege herabgelassen.«
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Ein wenig um Worte verlegen, strich sich der Engländer den Schnurrbart und lächelte auf den Detektiv aus Hawaii hinunter. Als guter Menschenkenner, sah er schon etwas in den schwarzen, rastlosen Augen, das sein Interesse weckte. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sergeant Chan«, sagte er. »Wie es scheint, denken wir über gewisse wesentliche Punkte gleich. Wir müßten gut miteinander auskommen.« Rankin stellte Chan dem Gastgeber vor, der den kleinen Chinesen mit offenkundiger Sympathie begrüßte. »Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen«, sagte er. »Keine vierspännige Kutsche hätte mich in eine andere Richtung entführen können«, versicherte ihm Chan. Kirk blickte auf seine Uhr. »Jetzt sind wir alle hier, nur nicht J.V. Morrow«, sagte er. »Er schrieb mir heute morgen, daß er durch den Eingang in der Post Street kommt. Entschuldigen Sie mich bitte, ich will mich einmal nach ihm umsehen.« Er schlenderte durch den Korridor zu dem angegebenen Eingang. In der Nähe der Tür saß auf einem samtenen Diwan eine hinreißend schöne junge Frau. In der Nähe war kein anderer Platz frei, und mit einem interessierten Blick auf das Mädchen ließ Kirk sich auf den Diwan fallen. »Sie gestatten doch – «, murmelte er. »Aber natürlich«, antwortete sie mit einer Stimme, die irgendwie zu ihr paßte. Schweigend saßen sie nebeneinander. Nach einer Weile merkte Kirk, daß sie ihn ansah. Er blickte auf und begegnete ihrem Lächeln. »Die Leute verspäten sich immer«, sagte er.
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»Tatsächlich?« »Gewöhnlich auch noch ohne triftigen Grund. Sie schaffen es einfach nicht, pünktlich zu sein. Nichts ärgert mich mehr.« »Mir geht es genauso.« Die junge Frau nickte. Wieder Schweigen. Sie lächelte ihn immer noch an. »Man gibt sich die Mühe, jemand zum Lunch einzuladen, den man nicht kennt«, fuhr Kirk fort, »und er ist nicht einmal höflich genug, um rechtzeitig zu kommen.« »Das ist unverzeihlich«, pflichtete sie ihm bei. »Sie haben mein ganzes Mitgefühl, Mr. – Kirk.« Er zuckte zusammen. »Oh, Sie kennen mich?« Sie nickte. »Jemand hat Sie mir einmal bei einem Wohltätigkeitsbasar gezeigt.« Er seufzte. »Die Wohltätigkeit erstreckte sich leider nicht auf mich. Niemand hat mir Sie gezeigt.« Er blickte auf seine Uhr. »Derjenige, den Sie erwarten – «, begann die junge Frau. »Ein Anwalt«, entgegnete er. »Ich hasse alle Anwälte. Sie erzählen einem immer etwas, was man lieber nicht wissen möchte.« »Ja, das tun sie, nicht wahr?« »Beschäftigen sich ständig mit den Schwierigkeiten anderer Leute. Was für ein Leben!« »Fürchterlich.« Wieder Schweigen. »Sie kennen diesen Anwalt nicht, sagen Sie?« Ein ziemlich ungepflegter junger Mann kam herein und lief an ihnen vorbei. »Wie wollen Sie ihn denn erkennen?« »Er schrieb mir, er werde einen grünen Hut tragen. Stellen Sie sich das vor! Warum nicht eine Rose hinter dem Ohr?«
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»Einen grünen Hut?« Die junge Frau schien noch strahlender zu lächeln. Reizend, dachte Kirk. Plötzlich musterte er sie erstaunt. »Guter Gott, Sie tragen einen grünen Hut!« rief er. »Ich fürchte – ja.« »Sagen Sie bloß nicht…« »Doch, es stimmt. Ich bin der Anwalt. Und Sie hassen alle Anwälte. Das ist wirklich jammerschade.« »Aber ich habe nicht im Traum daran gedacht…« »J.V. Morrow«, fuhr sie fort. »Mit Vornamen June.« »Und ich dachte, das J stehe für Jim!« rief er. »Bitte verzeihen Sie mir.« »Sie hätten mich nie eingeladen, wenn Sie gewußt hätten – oder?« »Im Gegenteil. Dann hätte ich niemand sonst eingeladen. Aber kommen Sie. In der Halle warten mehrere Experten für Mord darauf, Sie kennenzulernen.« Sie standen auf und gingen rasch den Korridor entlang. »Sie interessieren sich für Mord?« fragte Kirk. »Unter anderem«, antwortete sie lächelnd. »Dann muß ich mich auch damit befassen«, sagte er. Die Männer drehten sich nicht nur einmal, sondern zweimal nach ihr um, wie er feststellte. Ihr Blick ähnelte in seiner Lebhaftigkeit dem Ausdruck von Chans Augen, und trotz aller Sachlichkeit wirkte sie weiblich und anziehend. Er stellte sie dem überraschten Sir Frederic und dann Charlie Chan vor. Der kleine Chinese verzog keine Miene. Er verneigte sich tief. »Ein Augenblick von besonderem Reiz«, sagte er. Kirk wandte sich an Rankin. »Und Sie«, sagte er vorwurfsvoll, »wußten die ganze Zeit über, wer J.V. Morrow ist.«
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Der Reporter zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Sie sollten es selbst herausfinden. Das Leben hält nur selten so angenehme Überraschungen bereit.« »Es hat mir noch nie eine angenehmere geboten«, antwortete Kirk. Sie gingen zu dem ein wenig abseits in einer Ecke stehenden Tisch, den er hatte reservieren lassen. Als sie Platz genommen hatten, wandte sich die junge Frau an den Gastgeber. »Es war so freundlich von Ihnen, dieses Essen zu arrangieren, und auch sehr liebenswürdig von Sir Frederic, mir seine knapp bemessene Zeit zu widmen.« Der Engländer verbeugte sich. »Es muß«, sagte er, »ein vom Glück besonders begünstigter Augenblick gewesen sein, als ich zu dem Schluß kam, ich sei nicht zu beschäftigt, um J.V. Morrow kennenzulernen. Ich hatte schon gehört, daß die jungen Damen in den Vereinigten Staaten emanzipiert sind.« »Und selbstverständlich billigen Sie das nicht«, sagte sie. »O doch, ich billige es durchaus.« »Und Mr. Chan? Ich bin überzeugt, Mr. Chan ist mit mir ganz und gar nicht einverstanden.« Chan sah sie ausdruckslos an. »Mißbilligt der Elefant den Schmetterling? Und wen kümmert schon, wenn er tut?« »Sie haben sich sehr diplomatisch aus der Affäre gezogen.« Die junge Frau lächelte. »Kehren Sie bald nach Honolulu zurück, Mr. Chan?« Ein Aufleuchten erhellte das bisher ausdruckslose Gesicht. »Morgen mittag erwartet man an Bord der ›Maui‹ meine bescheidene Person. Dampfen gemeinsam nach Hawaii.«
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»Sie freuen sich schon darauf, wie ich sehe«, sagte die junge Frau. »Die hellsten Augen sind manchmal blind«, erwiderte Chan. »In Ihrem Fall aber nicht zutreffend. Es sind jetzt drei Wochen her, seit ich auf Festland eingetroffen bin, um Freuden von Urlaub auszukosten. Bevor ich merke, Ereignisse überrollen mich, und wie der Postbote, der Ruhetag hat, breche ich zu langem, ermüdendem Marsch auf. Sehr töricht. Glücklich zu sagen, daß dieser Marsch jetzt zu Ende. Mit Herzklopfen ich mich wende zu kleinem Heim auf dem Punchbowl Hill.« »Ich verstehe Ihre Gefühle«, sagte Miß Morrow. »Bitte in aller Bescheidenheit um Vergebung, aber Sie verstehen nicht. Zögere vor einer Dame hinzuzufügen, daß etwas mich mit unwiderstehlicher Kraft heimruft. Werde bald glücklicher Vater.« »Zum erstenmal?« fragte Barry Kirk. »Ereignis wiederholt sich zum elftenmal«, antwortete Chan. »Dann ist es ja inzwischen eine alte Geschichte«, meinte Bill Rankin. »Das ist einzige Geschichte, die nie altert«, antwortete Chan. »Sie werden noch erfahren. Aber hier nicht der Ort für meine alltäglichen Angelegenheiten. Wir sind zusammengekommen, um berühmten Gast zu ehren.« Er blickte zu Sir Frederic hinüber. Bill Rankin dachte an seine Story. »Ich hatte die Idee, Sie beide zusammenzubringen, weil Sie die gleichen Gedankengänge haben, wie ich fand. Sir Frederic verachtet die Wissenschaft als Hilfsmittel bei der Lösung von Kriminalfällen genauso wie Sie, Mr. Chan.« »Ich habe diese Erkenntnis aus meiner Erfahrung ge-
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wonnen«, erklärte Sir Frederic. »Große Freude« – Chan strahlte über das ganze Gesicht – »zu hören, daß genialer Verstand von Sir Frederic sich in selben Bahnen bewegt wie eigene Gedanken. Komplizierte mechanische Apparaturen gut in Büchern, weniger im richtigen Leben. Erfahrung lehrt mich, gründlich über Menschen nachzudenken. Menschliche Leidenschaften. Was ist immer Hintergrund von Mord? Haß, Habgier, Rache, die Notwendigkeit, das Opfer zum Schweigen zu bringen. Studiere immer und zu jeder Zeit Menschen.« »Genau«, stimmte Sir Frederic ihm zu. »Das menschliche Element ist es, das zählt. Ich hatte mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln nie Glück. Nehmen Sie das Diktaphon. Es war beim Yard ein absolutes Fiasko.« Er sprach weiter, während sie aßen. Endlich wandte er sich an Chan. »Und was haben Sie durch Ihre Methoden gewonnen, Sergeant? Sie sind sehr erfolgreich, wie ich hörte.« Chan zuckte mit den Schultern. »Glück – immer reines Glück.« »Sie sind zu bescheiden«, sagte Rankin. »Auf diese Weise werden Sie es nicht weit bringen.« »Da stellt sich Frage – wie weit will ich überhaupt gehen?« »Aber Sie sind doch bestimmt ehrgeizig«, meinte Miß Morrow. Chan sah sie ernst an. »Einfaches Essen, Wasser zum Trinken und gebeugten Arm als Kopfkissen – das alte Definition von Glück in meiner Heimat China. Was ist Ehrgeiz? Ein Krebs, der am Herzen von weißem Mann nagt und ihn um das Glück von Zufriedenheit bringt. Greift er jetzt auch schon Herz von weißer Frau an?
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Ich hoffe nicht.« Die junge Frau wandte sich ab. »Fürchte, daß ich Opfer von primitiver Philosophie aus dem Orient bin. Der Mensch – was ist er? Nur Glied in großer Kette, die Vergangenheit und Zukunft verbindet. Immer denke daran, daß ich nur ein Glied von Kette. Unbedeutendes Glied, das Vorfahren verbindet, deren Gebeine in fernen Hügeln ruhen. Ich und meine zehn Kinder – jetzt sind es vielleicht schon elf – in meinem Haus auf dem Punchbowl Hill.« »Ein tröstlicher Gedanke«, sagte Barry Kirk. »So, das Ende erwartend, tue ich Pflicht, wie sich ergibt, betrete jeden Pfad, der sich öffnet.« Er wandte sich an Sir Frederic. »Habe viel über Arbeit bei C.I.D. gelesen, und ein Punkt macht mich neugierig. Bei Arbeit in Scotland Yard Sie folgen immer nur einer – der ›entscheidenden‹ Spur, wie Sie sagen.« Sir Frederic nickte. »So halten wir es für gewöhnlich. Wenn wir einen Mißerfolg zu verzeichnen haben, führen unsere Kritiker ihn darauf zurück. Sie sagen zum Beispiel, unsere Besessenheit, nur der entscheidenden Spur zu folgen, ist der Grund dafür, daß wir den berühmten Mord vom Ely Place nie aufgeklärt haben.« Alle richteten sich interessiert auf. Bill Rankin strahlte. Endlich tat sich etwas! »Wir haben leider noch nie etwas von dem Mord vom Ely Place gehört, Sir Frederic«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen«, erwiderte der Engländer. »Es war der erste schwere Fall, den ich vor über sechzehn Jahren zu bearbeiten hatte, nachdem ich Chef des C.I.D. geworden war. Beschämt muß ich zugeben, daß ich die Hintergründe dieser Tat nie erforschen konnte.« Er aß den letzten Bissen Salat und schob den Teller
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weg. »Da ich so weit gegangen bin, vermute ich, daß ich noch weiter gehen muß. Hilary Galt war der Seniorpartner in der Anwaltsfirma Pennock und Galt, die ihre Büros auf dem Ely Place in Holborn hatte. Die Fälle, mit denen sich die Firma seit mehr als einer Generation beschäftigte, waren in ihrer Art einmalig. Leute aus den höchsten Gesellschaftskreisen suchten bei den Anwälten Rat, und Mr. Hilary Galt und sein Schwiegervater Pennock, der jetzt seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, wurden mehr romantische Geheimnisse anvertraut, als allen anderen Anwälten in London zusammengenommen. Sie kannten die vertuschten Missetaten eines jeden Tunichtguts in ganz Europa, und sie retteten viele Leute aus den Klauen von Erpressern. Ihr ganzer Stolz war es, daß sie über ihre Fälle keine Akten führten.« Das Dessert wurde gebracht, und nach dieser Unterbrechung fuhr Sir Frederic fort: »An einem nebligen Januarabend vor sechzehn Jahren betrat der Hauswart das Büro von Mr. Hilary Galt, in dem sich um diese Tageszeit gewöhnlich niemand mehr aufhielt. Alle Gaslampen brannten, die Fenster waren geschlossen und verriegelt. Nichts deutete daraufhin, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein könnte. Aber auf dem Fußboden lag Hilary Galt mit einer Kugel im Gehirn. Es gab nur einen einzigen Hinweis, und über ihn zerbrachen wir uns im Yard monatelang vergeblich die Köpfe. Hilary Galt legte größten Wert auf gute Kleidung und duldete in dieser Beziehung nicht die geringste Nachlässigkeit. Auch diesmal war an ihm alles perfekt, bis auf eine wesentliche Ausnahme. Seine auf Hochglanz polierten Stiefel – ich glaube, Sie nennen
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Sie hier in Amerika ›Schnürschuhe‹ – standen auf einem Papierstapel auf seinem Schreibtisch. An den Füßen trug er Pantoffeln aus Samt mit einem sehr merkwürdigen Muster. Diese Pantoffeln schienen dem Yard die ›entscheidende‹ Spur zu sein, und wir machten uns an die Arbeit. Wir verfolgten die Spur der Samtpantoffeln bis zur chinesischen Botschaft auf dem Portland Place. Mr. Galt hatte dem chinesischen Minister einen geringfügigen Dienst erwiesen, der ihm am Morgen des Mordtages die Pantoffeln zum Geschenk gemacht hatte. Galt hatte sie dem Büropersonal gezeigt, und zuletzt hatten sie, lose verpackt, in der Nähe seines Hutes und seines Stocks gelegen. Weiter sind wir nicht gekommen. Sechzehn Jahre lang habe ich an diesen Pantoffeln herumgerätselt. Warum hatte Mr. Hilary Galt die Stiefel aus- und die Pantoffeln angezogen, als habe er irgendein ganz ungewöhnliches Abenteuer vor? Ich weiß es bis heute nicht. Die Pantoffeln plagen mich immer noch. Als ich in den Ruhestand trat, holte ich sie mir aus dem Schwarzen Museum und nahm sie als Erinnerung an meinen ersten Fall mit – eine unglückliche Erinnerung an einen Mißerfolg. Ich würde sie Ihnen gern zeigen, Miß Morrow.« »Das wäre aufregend«, sagte die junge Frau. »Für mich sind sie ein Ärgernis«, erklärte Sir Frederic grimmig. Bill Rankin sah Charlie Chan an. »Wie ist Ihre Reaktion auf diesen Fall, Sergeant?« erkundigte er sich. Chan kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Bescheiden bitte um Vergebung, daß ich frage«, sagte er. »Haben Sie, Sir Frederic, Angewohnheit, sich in Lage von Mörder zu versetzen?«
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»Das ist eine gute Idee«, entgegnete der Engländer, »wenn man es kann. Sie meinen…« »Ein Mann, der getötet hat – ein kluger Mann! –, er weiß, daß Scotland Yard fixe Idee hat über entscheidenden Hinweis. Seine Gedanken arbeiten präzise. Er gibt mit Freuden einen entscheidenden Hinweis, der keine Bedeutung hat und zu nichts führt.« Sir Frederic sah ihn scharf an. »Ausgezeichnet!« rief er. »Und die Theorie hat, von Ihrem Standpunkt aus gesehen, einen großen Vorteil. Sie entlastet Ihre Landsleute von der chinesischen Botschaft völlig.« »Sie könnte sogar noch mehr bewirken«, meinte Barry Kirk. Nachdenklich verzehrte Sir Frederic sein Dessert. Sekundenlang sprach niemand ein Wort. Doch Bill Rankin brannte darauf, mehr Material zu sammeln. »Ein sehr interessanter Fall, Sir Frederic«, sagte er. »Sie müssen eine ganze Menge davon im Ärmel stecken haben. Aber Morde, bei deren Aufklärung Scotland Yard erfolgreicher war.« »Hunderte.« Der Detektiv nickte. »Aber keiner davon fesselt mein Interesse noch so wie das Verbrechen vom Ely Place. Tatsächlich habe ich Mord nie so faszinierend gefunden wie ein paar andere Dinge. Die Mordfälle kamen und gingen und waren, außer der von mir geschilderten Ausnahme, rasch vergessen. Doch es gibt ein Geheimnis, das für mich immer das erregendste der Welt war.« »Und was ist das?« fragte Rankin, während alle anderen mit großem Interesse zuhörten. »Das Geheimnis vermißter Menschen«, antwortete Sir Frederic. »Die Story des Mannes oder der Frau, die still und unauffällig ihren Lebensbereich verlassen und
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nie wieder gesehen werden. Hilary Galt, der tot in seinem Büro liegt, stellt uns natürlich vor ein Rätsel. Doch man hat etwas, woran man sich halten kann, etwas Greifbares, eine Leiche auf dem Fußboden. Aber wenn Hilary Galt in den Nebel eines düsteren Abends verschwunden wäre, ohne eine Spur zu hinterlassen, wäre das eine andere Geschichte gewesen. Seit Jahren haben mich die Geschichten Vermißter besonders gefesselt«, fuhr der Detektiv fort. »Ich verfolgte die Fälle oft sogar, wenn sie nicht in meinen Amtsbereich fielen. Häufig war die Lösung einfach oder schmutzig, doch deshalb fand ich jene, die ungelöst blieben, nicht weniger aufregend. Und unter all diesen ungelösten Fällen gibt es einen, an den ich unaufhörlich denken muß. Manchmal wache ich nachts auf und denke: Was geschah mit Eve Durand?« »Eve Durand?« wiederholte Rankin voller Eifer. »So hieß sie. Eigentlich hatte ich mit dem Fall nichts zu tun. Er ereignete sich außerhalb meines Amtsbereichs – weit außerhalb. Aber ich habe ihn von Anfang an mit größtem Interesse verfolgt. Es gibt auch noch andere, die ihn nie vergessen haben. Kurz vor meiner Abreise aus England habe ich mir aus einer britischen Zeitschrift einen kurzen Artikel ausgeschnitten, der sich mit der Angelegenheit befaßt. Ich habe ihn hier.« Er entnahm seiner Brieftasche ein Stück Papier. »Miß Morrow, seien Sie bitte so freundlich, uns den Artikel laut vorzulesen.« Die junge Frau nahm den Ausschnitt entgegen und begann, mit klarer, angenehm tiefer Stimme zu lesen: »Vor fünfzehn Jahren versammelten sich auf einem Hügel außerhalb von Peshawar eine fröhliche Gruppe von Angloindern, um den Mond über der abgelegenen Grenzstadt aufge-
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hen zu sehen. Zu der Gesellschaft gehörten auch Captain Eric Durand und seine vor kurzem ›aus der Heimat gekommene‹ Frau. Eve Durand war jung, hübsch und aus guter Familie – eine geborene Mannering aus Devonshire. Jemand schlug vor, eine Weile Verstecken zu spielen, bevor man nach Peshawar zurückfuhr. Das Spiel wurde nie beendet. Man sucht noch heute nach Eve Durand. Im Lauf der Zeit beteiligte sich ganz Indien daran. Dschungel und Basare, von Mauern umfriedete Städte und Teakwälder wurden nach Eve Durand durchgekämmt. Der berühmte Secret Service weitete die Suche bis in das den Weißen unzugängliche Eingeborenenleben aus, wobei er sich aller unterirdischen Kanäle bediente. Nach fünf Jahren quittierte Captain Durand den Dienst und führte in England ein Einsiedlerleben. Eve Durand wurde zur Legende – eine Horrorgeschichte, die von den Ayahs – den indischen Kindermädchen – unartigen Kindern zusammen mit den Spukgeschichten aus dem Norden erzählt wird.«
Die junge Frau hörte auf zu lesen und sah Sir Frederic an. Es folgte ein Augenblick gespannten Schweigens. Bill Rankin brach den Bann. »Das ist vielleicht ein Versteckspiel!« sagte er. »Wundern Sie sich noch darüber, daß Eve Durands Verschwinden mich seit fünfzehn Jahren genauso verfolgt wie Hilary Galts Pantoffeln?« fragte Sir Frederic. »Eine sehr schöne Frau – im Grunde noch ein Kind –, sie war an jenem verhängnisvollen Abend in Peshawar eben achtzehn. Ein blondes, blauäugiges, hilfloses Kind, das sich im Dunkeln in jenen gefährlichen Hügeln verirrt hatte. Wohin ging sie? Was ist aus ihr geworden? Wurde sie ermordet? Was ist mit Eve Durand geschehen?« »Das würde ich selbst gern wissen«, sagte Barry Kirk leise.
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»Ganz Indien beteiligte sich an dem Suchspiel, wie es im Artikel heißt. Durch Telegraph und durch Boten wurden Erkundigungen eingezogen. Ihr verzweifelter Mann bekam Urlaub und durchstreifte unter Gefahr für Leib und Leben das wilde Land. Der Secret Service tat sein Äußerstes. Nichts geschah. Keine Nachricht erreichte Peshawar. Es war als suche man die berühmte Nadel im Heu, und mit der Zeit verlor das Spiel für die meisten Leute seinen Reiz. Die von Geschrei und Wehklagen begleitete Suche wurde aufgegeben. Bis auf einige wenige vergaßen alle den Fall. Als ich in den Ruhestand trat und zu dieser Weltreise aufbrach, stand Indien selbstverständlich auf meinem Reiseplan. Obwohl ich einen großen Umweg in Kauf nehmen mußte, war ich entschlossen, Peshawar zu besuchen. Ich fuhr nach Ripple Court in Devonshire und unterhielt mich mit Sir George Mannering, dem Onkel von Eve Durand. Armer Mann! Er ist vorzeitig gealtert. Er gab mir jede Information, die er mir geben konnte –, es waren jämmerlich wenige. Ich versprach ihm, den Versuch zu machen, die Fäden dieses alten Rätsels wieder aufzunehmen, sobald ich in Indien war.« »Und haben Sie es getan?« erkundigte sich Bill Rankin. »Ich habe es versucht. Aber, mein Lieber, kennen Sie Peshawar? Als ich dort ankam, traf mich die Hoffnungslosigkeit meines Vorhabens wie ein furchtbarer Schlag, wie Mr. Chan vielleicht sagen würde. Das Paris der Pathans, so nennt man die Stadt, und in den schmutzigen Straßen drängen sich alle Rassen und Völker des Ostens. Es ist keine Stadt, es ist eine Ka-
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rawanserei, und die Bevölkerung wechselt ständig. Die englische Garnison wird auch häufig ausgetauscht, und es gelang mir kaum, noch jemand zu finden, der zur Zeit von Eve Durand schon dort gewesen war. Ich war, wie ich schon sagte, entsetzt über dieses Peshawar. Dort ist alles möglich. Eine böse Stadt – ihre Sünden sind jene des Opiums und des indischen Hanfes, der Eifersucht, der Intrige und Gewalttätigkeit, des Mordes und des plötzlichen Todes, des Glücksspiels, merkwürdiger Rauschzustände und der Lust an Rache. Wer kann die teuflische Grausamkeit erklären, die in bestimmten Breitengraden das Blut der Menschen vergiftet? Ich ging durch die Straße der Märchenerzähler und grübelte vergeblich über die Geschichte der Eve Durand nach. Wie konnte man eine Frau wie sie, vornehm erzogen, jung und unerfahren, an einen solchen Ort bringen?« »Sie haben nichts in Erfahrung gebracht?« fragte Barry Kirk. »Was konnte ich erwarten?« Sir Frederic ließ ein kleines Zuckerstück in seinen Kaffee fallen. »Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit die kleine Picknickgesellschaft nach Peshawar zurückfuhr, zurück in den Schmelztiegel der entlegenen Garnison, und hinter sich das reiterlose Pony von Eve Durand führte. Und fünfzehn Jahre, das kann ich Ihnen sagen, verweben sich an der indischen Grenze zu einem sehr dichten Vorhang.« Wieder wandte Bill Rankin sich an Charlie Chan. »Was sagen Sie dazu, Sergeant?« fragte er. Chan dachte nach. »Stadt mit Namen Peshawar liegt sehr nahe bei Khaiberpaß, der in Wildnis von Afghanistan führt«, sagte er.
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Sir Frederic nickte. »Das stimmt. Aber jeder Meter des Passes wird Tag und Nacht von britischen Truppen bewacht, und kein Europäer darf das Land auf diesem Weg verlassen, außer unter ganz besonderen Bedingungen. Nein, Eve Durand konnte Indien nicht über den Khaiberpaß verlassen. Es wäre unmöglich gewesen. Aber angenommen, das Unmögliche wäre möglich gewesen, sie hätte bei den wilden Bergstämmen jenseits der Grenze keinen Tag lang überlebt.« Chan betrachtete ernst den Mann von Scotland Yard. »Für mich nicht erstaunlich«, sagte er, »daß Sie so großes Interesse fühlen. Wenn in aller Bescheidenheit mich selbst erwähnen darf, muß ich sagen, daß ich starkes Verlangen habe, hinter Vorhang blicken zu können, von dem Sie sprechen.« »Das ist der Fluch unseres Berufs, Sergeant«, erwiderte Sir Frederic. »Ganz gleich, wie erfolgreich wir sein mögen, es gibt immer Vorhänge, hinter die wir sehr gern blicken möchten, die uns jedoch verschlossen bleiben.« Barry Kirk beglich die Rechnung, und sie brachen auf. Als sich die kleine Gesellschaft in der Hotelhalle voneinander verabschiedete, teilte sie sich vorübergehend in zwei Gruppen. Rankin, Kirk und die junge Frau gingen zur Tür. Der Reporter bedankte sich hastig für die Einladung und stürmte ins Freie. »Es war wunderbar, Mr. Kirk«, sagte Miß Morrow. »Warum sind alle Engländer so faszinierend? Erklären Sie mir das.« »Ach, sind sie das?« Er zuckte mit den Schultern. »Erklären Sie es mir. Mir ist schon aufgefallen, daß Frauen auf sie fliegen.« »Nun ja, sie haben das gewisse Etwas. Haben Aus-
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strahlung. Sie sind nicht provinziell wie ein Rotarier, der einem einen Vortrag über das lokale Wasserwerk halten möchte. Er ist mit uns gereist. Nach London und Peshawar – ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Tut mir leid, ich muß jetzt laufen…« »Warten Sie. Sie können etwas für mich tun.« »Nach dem, was Sie für mich getan haben«, erwiderte sie lächelnd, »alles, was Sie wollen.« »Großartig. Dieser Chinese – Chan – scheint mir ein Gentleman und überaus interessant zu sein. Ich glaube, er würde bei meinem Dinner heute abend Furore machen. Ich würde ihn gern einladen, doch das brächte meine ganze Tischordnung durcheinander. Ich brauche noch eine Dame. Wie wär’s? Wird der alte Blackstone Sie für einen Abend von der Leine lassen?« »Vielleicht.« »Es ist nur eine kleine Party – meine Großmutter und ein paar Leute, die ich auf Sir Frederics Wunsch eingeladen habe. Und da Sie Engländer so faszinierend finden – Colonel John Beetham, der berühmte Asienforscher kommt auch. Er will uns ein paar Filme vorführen, die er in Tibet gedreht hat.« »Das ist ja phantastisch! Ich habe Colonel Beethams Bild in der Zeitung gesehen.« »Ich weiß, die Frauen sind alle verrückt nach ihm. Sogar meine arme Großmutter. Sie denkt daran, seine nächste Expedition in die Wüste Gobi finanziell zu unterstützen. Sie kommen also?« »Ich käme gern, aber es scheint mir anmaßend. Nach dem, was Sie über Anwälte gesagt haben…« »Das war sehr unbesonnen von mir. Ich werde es wieder gutmachen müssen. Geben Sie mir eine Chance. Sie wissen, wo mein Bungalow ist?«
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Sie lachte. »Besten Dank. Ich komme. Auf Wiedersehen heute abend.« In der Zwischenzeit hatte Sir Frederic Bruce den kleinen, rundlichen Chinesen zu einem Sofa in der Halle geführt. »Ich wollte Sie aus verschiedenen Gründen gern kennenlernen, Sergeant Chan«, sagte er. »Kennen Sie sich im Chinesen viertel von San Francisco aus?« »Sehr ehrenwerter Cousin Chan Kee Lim hoch angesehener Bewohner von Waverly Place«, antwortete Chan. »Daher oberflächliche Kenntnis von ganz Chinatown.« »Haben Sie vielleicht zufällig von einem Fremden gehört, der sich dort aufhält – einem Touristen namens Li Gung?« »Ohne Zweifel tragen viele diesen Namen. Kenne denjenigen nicht, von dem Sie sprechen.« »Dieser Mann ist Gast bei Verwandten in der Jackson Street. Sie könnten mir einen großen Gefallen tun, Sergeant.« »Gelegenheit dazu würde mit goldenen Lettern auf Pergamentrolle von Gedächtnis geschrieben«, sagte Chan. »Li Gung besitzt eine bestimmte Information, die ich haben möchte. Ich habe selbst versucht, mit ihm zu sprechen, doch der Versuch war selbstverständlich erfolglos.« »Licht beginnt zu dämmern.« »Wenn Sie ihn kennenlernen – sein Vertrauen gewinnen könnten…« »Bescheiden bitte um Vergebung, ohne Grund spioniere ich nicht hinter eigener Rasse her.« »Es gibt in diesem Fall sogar ausgezeichnete Gründe.«
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»Nur Narr könnte daran zweifeln. Aber was Sie wünschen, würde große Spanne von Zeit beanspruchen. Meine unwichtigen Angelegenheiten selbstverständlich nicht von Bedeutung für Sie, daher haben übersehen, daß ich morgen mittag eilig zu meinem Heim aufbreche.« »Sie könnten länger als eine Woche bleiben. Es würde sich sehr für Sie lohnen, Mr. Chan, davon dürfen Sie überzeugt sein.« Ein eigensinniger Ausdruck trat in die kleinen Augen. »Für mich im Augenblick nur ein einziger Weg lohnend – der zu meinem Heim auf dem Punchbowl Hill.« »Ich meinte, ich würde bezahlen…« »Wieder bitte um Entschuldigung, ich habe Essen, ich habe Kleidung, die sogar meine nicht geringen Körpermaße bedeckt. Darüber hinaus – was bedeutet schon Geld?« »Sehr gut. Es war nur ein Vorschlag.« »Heftiger Schmerz bringt Verzweiflung«, entgegnete Chan. »Aber muß ablehnen.« Barry Kirk trat zu ihnen. »Mr. Chan, ich möchte Sie bitten, etwas für mich zu tun«, begann er. Chan bemühte sich, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen, und es gelang ihm auch. Doch er fragte sich, was wohl jetzt kommen mochte. »Ungeteilte Aufmerksamkeit gehört Ihnen. Sie sind mein Gastgeber.« »Ich habe eben Miß Morrow für heute abend zum Dinner eingeladen und brauche noch einen Mann. Darf ich mit Ihnen rechnen?« »Ihre Bitte ist hohe Ehre, die nur Undank ablehnen könnte. Bin aber schon jetzt tief in Ihrer Schuld. Mehr anzunehmen, würde mich in Verlegenheit bringen.«
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»Zerbrechen Sie sich nur deshalb nicht den Kopf! Ich erwarte Sie um halb acht in meinem Bungalow auf dem Kirk-Building.« »Ausgezeichnet«, sagte Sir Frederic. »Dann können wir unser Gespräch fortsetzen, Sergeant. Meine Bitte ist nicht unbedingt eine Ehre, aber vielleicht gelingt es mir, Sie zu überreden.« »Chinesen sehr sonderbare Leute«, entgegnete Chan. »Wenn sagen nein, dann auch meinen nein. Wenn sagen ja, dann sie sich halten daran. Im Hinblick auf Dinner ich sage ja, danke sehr vielmals.« »Gut«, sagte Barry Kirk. »Wo ist dieser Reporter?« fragte Sir Frederic. »Er hatte es eilig«, antwortete Kirk. »Will wahrscheinlich seine Story unter Dach und Fach bringen.« »Was für eine Story?« fragte der Engländer verständnislos. »Nun ja – den Artikel über unseren Lunch. Ihre Begegnung mit Sergeant Chan.« Ein bestürzter Ausdruck erschien auf Sir Frederics Gesicht. »Guter Gott, wollen Sie damit sagen, daß er das drucken will?« »Aber natürlich. Ich nahm an, Sie wußten…« »Ich fürchte, ich bin im Hinblick auf amerikanische Sitten entsetzlich unwissend. Ich dachte, es handle sich um ein rein gesellschaftliches Zusammentreffen. Nicht einmal im Traum hätte ich gedacht…« »Heißt das, Sie wollen nicht, daß er die Story veröffentlicht?« fragte Barry Kirk überrascht. Sir Frederic wandte sich schnell an Charlie. »Auf Wiedersehen, Sergeant. Ich habe mich aufrichtig gefreut, Sie kennenzulernen. Wir sehen uns heute abend.« Hastig schüttelte er Chan die Hand und zog den ver-
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dutzten Barry Kirk auf die Straße. Dort winkte er einem Taxi. »Von welchem Blatt kam denn der junge Schurke?« »Vom Globe.«
»Zur Redaktion des Globe- und schnell, wenn ich bitten darf«, befahl Sir Frederic. Sie stiegen ein und schwiegen eine Zeitlang. Schließlich sagte Sir Frederic: »Sie sind vielleicht neugierig und möchten gern wissen…« »Ich hoffe, Sie finden das nicht unnatürlich.« Kirk lächelte. »Ich weiß, ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen, mein Junge. Ich habe Ihnen beim Essen nur einen kleinen Teil von Eve Durands Geschichte erzählt, aber auch er darf im Augenblick noch nicht veröffentlicht werden. Nicht hier – und nicht jetzt…« »Großer Gott, soll das heißen…« »Es heißt, daß ich fast das Ende eines langen Weges erreicht habe. Eve Durand wurde in Indien nicht ermordet. Sie lief davon. Und ich weiß, warum sie davonlief. Ich vermute sogar, auf was für eine ungewöhnliche Weise sie es bewerkstelligt hat. Mehr als das…« »Ja?« fragte Kirk lebhaft. »Mehr als das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.« Sie setzten die Fahrt schweigend fort, und schon bald hielt das Taxi vor dem Verlagsgebäude des Globe. Im Büro des Lokalredakteurs redete Bill Rankin begeistert auf seinen Chef ein. »Das wird eine Pfundsstory«, sagte er, als plötzlich jemand mit stählernem Griff seinen Arm umklammerte. Als er sich umwandte, erblickte er vor sich Sir Frederic Bruce. »Aber – aber –
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hallo!« stotterte er. »Es hat da ein kleines Mißverständnis gegeben«, sagte der Detektiv. »Lassen Sie mich erklären«, schlug Barry Kirk vor. Er schüttelte dem Redakteur die Hand und stellte Sir Frederic vor, der lediglich nickte und den allmählich taub werdenden Arm des Reporters nicht losließ. »Es ist wirklich Pech, Rankin«, fuhr Barry Kirk fort, »aber es geht nicht anders. Sir Frederic ist mit den Gepflogenheiten der amerikanischen Presse nicht vertraut und wußte daher nicht, daß Sie Material für eine Story sammelten. Er dachte, der Lunch sei eine rein gesellschaftliche Zusammenkunft, und wir sind jetzt hier, um Sie zu bitten, nichts von dem Gespräch zu veröffentlichen, das Sie heute mittag hörten.« Rankins Gesicht wurde lang. »Ich soll nichts davon veröffentlichen? Aber – ich sage…« »Wir appellieren an Sie beide«, wandte Kirk sich an den Redakteur. »Meine Antwort kann nur davon abhängen, ob der Grund für diese ungewöhnliche Bitte auch triftig genug ist«, erwiderte er. »In England würde man den Grund respektieren«, erklärte Sir Frederic. »Wie man es hier hält, weiß ich nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, daß Sie, wenn Sie etwas von diesem Gespräch veröffentlichen, die Gerechtigkeit daran hindern, ihren Lauf zu nehmen.« Der Redakteur verbeugte sich. »Nun gut, wir werden ohne Ihre Erlaubnis nichts drucken, Sir Frederic.« »Ich danke Ihnen«, antwortete der Detektiv und ließ Rankins Arm los. »Damit ist unsere Mission hier wohl beendet.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Kirk bedankte sich und folgte ihm.
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»So ein verdammtes Pech!« rief Rankin, auf einen Stuhl sinkend. Sir Frederic marschierte durch die Lokalredaktion, und der Kater Egbert betrachtete den ehemaligen Leiter des C.I.D. höchst interessiert. Unmittelbar vor der Tür blieb der Engländer stehen, denn nur so konnte er einen Zusammenstoß mit Egbert vermeiden, der langsam wie ein dunkler Schatten seinen Weg kreuzte.
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3. Kapitel
Der Bungalow im Himmel Barry Kirk verließ das Wohnzimmer seines Bungalows im Himmel durch die Verandatür und kam in den winzigen Garten, den er stolz »mein Vorgarten« nannte. Er trat an die Balustrade und genoß eine Aussicht, wie nur wenige Vorgärten sie bieten. Zwanzig Stockwerke unter ihm lagen abwechselnd Glanz und Düsterkeit der Stadt. In der Ferne bewegten sich, glimmend wie müde Leuchtkäfer, die Lichter der Fährschiffe durch den Hafen. Die Sterne waren hell und klar und erstaunlich nah, aber er hörte das Läuten der Nebelglocken bei Belvedere und wußte, daß vom Golden Gate her Nebel heraufzog. Um Mitternacht würde er das luftige Haus umwirbein und es wie durch einen dünnen Tüllschleier von der übrigen Welt trennen. Kirk liebte den Nebel. Schwer vom Duft ferner Gärten, salzig vom Atem des Pazifik, gehörte er unverwechselbar zu dieser Stadt. Kirk kehrte ins Haus zurück und schloß sehr sorgfältig die Tür hinter sich. Einen Augenblick blieb er stehen und betrachtete sein Wohnzimmer, bei dessen Ausstattung Reichtum und guter Geschmack zusammengewirkt hatten, um durch reizvolle Kontraste ein harmonisches Ganzes zu schaffen. Ein riesiges, tiefes Sofa, viele bequeme Sessel, ein halbes Dutzend Stehlampen, die warmes gelbes Licht verbreiteten, ein lebhaftes Feuer, das in einem weitläufigen Kamin prasselte – gleichgültig wie heftig der Wind an Fenstern und Türen rüttelte, hier drin herrschten Gemütlichkeit und gute Laune. Kirk ging weiter ins Speisezimmer. Paradise zündete die Kerzen auf dem großen Tisch an. Die Blumen, die schneeweiße Tischwäsche, das alte Silber ergaben ein
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vollkommenes Bild, und auch das Dinner würde ohne Fehl und Tadel sein. Kirk inspizierte die zehn Tischkarten. Er lächelte. »Alles scheint okay zu sein«, sagte er. »Das muß es heute auch. Großmutter kommt, und Sie wissen ja, wie sie über einen Mann denkt, der allein lebt. Ihrer Meinung nach bedarf jedes Heim der fürsorglichen Hand einer Frau.« »Wir werden Madam wieder einmal enttäuschen, Sir«, antwortete Paradise. »Das ist meine Absicht. Nicht, daß es etwas nützen wird. Wenn sie einen Entschluß gefaßt hat, gibt es für niemand einen Ausweg.« Es klingelte an der Tür, und Paradise entfernte sich mit langsamen, majestätischen Schritten, um zu öffnen. Ins Wohnzimmer zurückkehrend, blieb Barry Kirk einen Moment stehen – von dem Bild fasziniert, das sich ihm dort bot. Die stellvertretende Staatsanwältin war eben durch die Tür getreten, die aus der Diele ins Wohnzimmer führte. Sie trug ein einfaches orangefarbenes Dinnerkleid, und ihre dunklen Augen lächelten. »Miß Morrow«, Kirk ging lebhaft auf sie zu, »ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich sage, daß Sie heute abend ganz und gar nicht wie eine Anwältin aussehen.« »Ich vermute, daß das ein Kompliment sein sollte«, entgegnete sie. Hinter ihr tauchte der chinesische Kriminalbeamte auf. »Hier ist Mr. Chan. Wir sind zusammen mit dem Lift heraufgefahren. Himmel, sagen Sie jetzt bloß nicht, daß wir die ersten sind!« »Als ich noch klein war, aß ich immer zuerst den Zuckerguß von meinem Kuchen.« Kirk lächelte. »Womit
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ich Ihnen sagen möchte, daß bei mir das Beste immer zuerst kommt. Guten Abend, Mr. Chan.« Chan verbeugte sich. »Empfinde tiefe Rührung, weil Sie so freundlich. Erinnerung an Erlebnisse auf dem Festland wird dieser unvergeßliche Abend hinzugefügt.« Er trug ein Dinnerjackett, das nicht mehr ganz der Mode entsprach, aber sein Hemd war blütenweiß, und er hatte ausgezeichnete Manieren. Paradise folgte ihnen mit ihren Mänteln und verschwand durch eine Tür im Hintergrund. Eine andere Tür wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand Sir Frederic Bruce. »Guten Abend, Miß Morrow«, sagte er. »Auf mein Wort, Sie sehen bezaubernd aus. Und Mr. Chan. Ich habe Glück, Sie sind als erste gekommen. Sie wissen doch, daß ich Ihnen ein Souvenir aus meiner dunklen Vergangenheit zeigen wollte.« Er machte kehrt und betrat wieder sein Zimmer. Kirk führte seine Gäste an das hell lodernde Feuer. »Setzen Sie sich«, forderte er sie auf. »Die Leute fragen mich immer, wie ich hier oben San Franciscos berühmte Westwinde ertrage!« Er wies mit einer beiläufigen Geste auf den Kamin. »Das ist eine meiner Antworten.« Sir Frederic, der im Abendanzug sehr vornehm aussah, gesellte sich wieder zu ihnen. Er trug ein Paar Pantoffeln in der Hand. Sie waren aus Samt, dunkelrot wie alter Burgunder und mit chinesischen Figuren und einem Muster aus Granatäpfeln verziert. Der Engländer reichte einen Pantoffel der jungen Frau, den anderen Charlie Chan. »Wie wunderschön!« rief Miß Morrow. »Und was für eine Geschichte dieser Pantoffel hat! Der entscheiden-
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de Hinweis.« »Alles andere als das, wie es sich herausstellte.« Der große Detektiv zuckte mit den Schultern. »Sie wissen, wie ich vermute, Bedeutung von Symbolen auf Samt?« erkundigte sich Chan. »Ja«, erwiderte Sir Frederic. »Sie sind, in diesem Fall leider nicht sehr passend, wie ich glaube. Man hat mir gesagt, sie bedeuteten ›Langes Leben und Glück‹.« »Genau.« Chan drehte den Pantoffel langsam in der Hand. »Es gibt von diesem Symbol einhundertundeine Variation – einhundert für das Volk, und eine, die dem Kaiser vorbehalten bleibt. Ein zauberhaftes Geschenk. Die Fußbekleidung eines Mandarins, die nur eine hochgestellte, wohlhabende Persönlichkeit tragen darf.« »Hilary Galt trug sie an den Füßen, als er ermordet aufgefunden wurde«, sagte Sir Frederic. ›»Mögen Sie wohl darin gehen, bester aller Freunde‹, schrieb der chinesische Minister in seinem Begleitbrief. Hilary Galt ging nicht nur nicht wohl an diesem Abend, er ging überhaupt nie mehr.« Der Engländer nahm die Pantoffeln wieder an sich. »Übrigens – ich zögere, darum zu bitten –, doch mir wäre lieber, wenn Sie die Angelegenheit später beim Dinner nicht erwähnten.« »Aber natürlich nicht«, antwortete Miß Morrow überrascht. »Und auch nicht die Affäre Eve Durand. Ich – nun ja, ich glaube, ich war heute mittag ein bißchen zu geschwätzig. Seit ich nicht mehr beim Yard bin, lasse ich mich manchmal zu sehr gehen. Sie verstehen, Sergeant?« Chans kleine Augen musterten Sir Frederic so durchdringend, daß er sich unbehaglich fühlte. »Um einmal
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unbescheiden zu sein, ich darf sagen, daß ich Vorbild an Verschwiegenheit«, erklärte der Chinese. »Davon bin ich überzeugt.« Der große Mann lächelte. »Nichts könnte mich bewegen diese Dinge zu erwähnen, ich bin sicher«, fuhr Chan fort. »Sie sind kluger Mann, Sir Frederic, Sie wissen, daß Chinesen übersinnliche Fähigkeiten haben.« »Tatsächlich?« »Ganz ohne Zweifel. Etwas hat mir gesagt…« »O ja, darauf brauchen wir nicht einzugehen«, unterbrach Sir Frederic ihn hastig. »Ich habe noch einen Augenblick unten im Büro zu tun. Entschuldigen Sie mich bitte.« Er verschwand mit den Pantoffeln in seinem Zimmer. Miß Morrow wandte sich erstaunt an Kirk. »Was, in aller Welt, hat er gemeint? Gewiß war Eve Durand…« »Mr. Chan hat übersinnliche Fähigkeiten«, meinte Kirk. »Vielleicht kann er es erklären.« Chan schmunzelte. »Manchmal übersinnliche Gefühle führen absolut nirgends hin«, entgegnete er. Paradise führte zwei weitere Gäste aus der Diele ins Wohnzimmer. Eine kleine, vogelähnliche Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte Barry Kirk. »Barry, du böser Junge! Ich habe dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sag bloß nicht, du hättest deine arme alte Großmutter vergessen.« »Das könnte ich gar nicht«, erwiderte er lachend. »Nicht solange ich noch gesund und kräftig bin.« Sie ging zum Kamin. »Wie gemütlich du es hier hast!« »Großmutter, darf ich dir Miß Morrow vorstellen?« sagte Kirk. »Miß Morrow – Mrs. Dawson Kirk.« Die alte Dame nahm beide Hände der jungen Frau.
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»Meine Liebe, ich freue mich, Sie kennenzulernen.« »Miß Morrow ist Juristin«, setzte Kirk hinzu. »Juristin! Was für ein Mumpitz!« rief seine Großmutter. »Wie kann jemand, der so aussieht, Juristin sein? Das ist unmöglich.« Kirk nickte. »Genau das habe ich auch gesagt.« Die alte Dame betrachtete die junge Frau einen Augenblick. »Jugend und Schönheit«, sagte sie. »Wenn ich sie besäße, würde ich meine Zeit nicht mit Gesetzbüchern vergeuden.« Sie wandte sich an Chan. »Und das ist…« »Sergeant Chan von der Polizei in Honolulu, Großmutter.« Die alte Dame drückte Charlie mit erstaunlicher Wärme die Hand. »Weiß alles von Ihnen«, sagte sie. »Ich mag Sie sehr.« »Geschmeichelt und überwältigt«, antwortete Chan verblüfft. »Brauchen Sie nicht zu sein«, sagte sie trocken. Die Frau, die Mrs. Kirk begleitet hatte, stand ziemlich vernachlässigt im Hintergrund. Kirk holte sie in den Kreis und stellte sie vor. Sie war eine gewisse Mrs. Tupper-Brock, Mrs. Kirks Sekretärin und Gesellschafterin. Ihr Benehmen war kalt und abweisend. Chan sah sie durchdringend an und verneigte sich dann tief vor ihr. »Paradise bringt Sie in eines der Gästezimmer«, sagte Kirk zu den Damen. »Sie finden dort zwei Militärbüsten und alle Bücher über Fußball, die Walter Camp je geschrieben hat. Wenn Sie darüber hinaus noch etwas wollen, versuchen Sie, es sich zu besorgen.« Sie verließen mit dem Butler den Raum. Es klingelte. Kirk öffnete selbst und begrüßte zwei weitere Gäste.
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Mr. Carrick Enderby, der im Büro von Thomas Cook & Sons in San Francisco arbeitete, war ein großer, breiter, träger blonder Mann mit einem Monokel und nicht viel dahinter. Schönheit und Klugheit schienen in dieser Familie ausschließlich seiner Frau Eileen vorbehalten, einer dunklen, rassigen Mittdreißigerin, die schwungvoll eintrat. Sie folgte den Frauen in das Gästezimmer, während die Männer in jenem unbehaglichen Schweigen beisammenstanden, das jede Dinnerparty einzuleiten scheint. »Ich glaube, wir kriegen ein bißchen Nebel«, sagte Enderby langsam und gedehnt. »Daran besteht kein Zweifel«, erwiderte Kirk. Als die Frauen wieder erschienen, gesellte Mrs. Dawson Kirk sich sofort zu Chan. »Sally Jordan aus Honolulu ist eine meiner ältesten Freundinnen«, erzählte sie ihm. »Eine sehr gute Freundin. Wir haben beide unsere Zeit überlebt, und nichts festigt eine Freundschaft mehr. Ich glaube, Sie – eh – gehörten einmal…« Chan verneigte sich. »Größte Ehre in armseligem Leben. Ich war ihr Hausboy, und Erinnerung an ihre Güte wird bleiben, solange ich lebe.« »Nun, sie hat mir berichtet, wie Sie diese Güte vor kurzem vergolten haben. Tausendfach, sagte sie.« Chan zuckte mit den Schultern. »Frühere Arbeitgeberin hat nur eine Schwäche. Sie übertreibt fürchterlich.« »Seien Sie nicht so bescheiden«, sagte Mrs. Kirk. »Bescheidenheit ist längst aus der Mode. Die jungen Leute werden Ihnen die schrecklichsten Dinge vorwerfen, wenn Sie diese Tonart versuchen. Mir jedoch gefällt sie an Ihnen.«
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An der Tür entstand Unruhe, und Mrs. Kirk unterbrach sich. Colonel John Beetham betrat das Wohnzimmer. John Beetham, der Forscher und Entdecker, der an vielen düsteren und entlegenen Orten gewesen war, der Tibet, Turkestan, Tsaidam und die Süd-Mongolei kannte. Er hatte ein Jahr in einem Hausboot auf dem größten Fluß im Herzen Asiens gelebt, hatte zweimal die lebensgefährliche Flucht über das verschneite Hochland von Tibet überlebt und war durch die Ruinen antiker Wüstenstädte gegangen, die lange vor Christi Geburt ihre höchste Blüte erlebt hatten. Das Aussehen dieses Mannes entsprach – was ja nicht oft der Fall ist – seiner Persönlichkeit. Schlank, hochgewachsen, bronzebraun, leidenschaftliches Feuer in den grauen, Augen. Doch wie Charlie Chan, gehörte auch er einer bescheidenen Rasse an und begrüßte die Gäste, die ihm vorgestellt wurden, scheu und zurückhaltend. »Sehr erfreut«, murmelte er. »Sehr erfreut.« Eine reine Floskel. Plötzlich stand Sir Frederic Bruce wieder im Raum. Er schüttelte Colonel Beetham die Hand. »Ich bin Ihnen vor einigen Jahren begegnet«, sagte er. »Sie erinnern sich bestimmt nicht daran. Sie waren der Held der Stunde und ich ein bescheidener Zuschauer. Ich war beim Dinner der Königlichen Geographischen Gesellschaft in London anwesend, als man Ihnen dieses riesige goldene Dingsda umhängte – die Gründermedaille, hieß sie nicht so?« »Ach ja, natürlich, selbstverständlich erinnere ich mich«, murmelte Colonel Beetham. Mit Augen, die im gedämpften Licht wie dunkle Perlmuttknöpfe glänzten, sah Charlie Chan zu, wie Sir
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Frederic den Damen vorgestellt wurde – Mrs. TupperBrock und Eileen Enderby. Paradise kam mit einem Tablett herein. »Wir sind vollzählig, bis auf Miß Garland«, verkündete Kirk. »Wir warten noch einen Augenblick.« Es klingelte, und er gab seinem Bediensteten zu verstehen, daß er selbst öffnen würde. Als Kirk zurückkam, brachte er eine hübsche Frau mit. Ihr Gesicht war gerötet, und sie trug etwas in der juwelengeschmückten Hand. Sie lief zu einem Tisch und legte eine Anzahl loser Perlen darauf. »Ich hatte auf der Treppe lächerliches Pech«, erklärte sie. »Meine Halskette riß, und ich verstreute Perlen nach allen Seiten. Ich hoffe sehr, daß ich keine verloren habe.« Eine Perle rollte auf den Boden, und Kirk hob sie auf. Die Frau begann sie in eine Handtasche aus Goldgeflecht zu zählen. »Sind alle da?« fragte Barry Kirk, als sie fertig war. »Ich – ich denke schon, aber ich weiß nie genau, wie viele es sind. Und jetzt muß ich wirklich um Entschuldigung bitten, weil ich so albern hereingeplatzt bin. Auf der Bühne wäre das ein wirkungsvoller Auftritt, glaube ich, aber ich stehe jetzt nicht auf der Bühne. Hier war es wohl einfach unhöflich.« Paradise nahm ihr den Umhang ab, und Kirk stellte sie vor. Charlie Chan musterte sie lange und sehr genau. Sie war nicht mehr jung, doch ihre Schönheit triumphierte immer noch. Das mußte sie auch, denn Miß Garland war eine in Australien sehr beliebte Bühnenschauspielerin. Bei Tisch saß Charlie zur Rechten von Mrs. Kirk. Seine andere Tischnachbarin war June Morrow. Wenn die
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Gesellschaft, in der er gelandet war, ihm ein wenig Ehrfurcht einflößte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Mrs. Kirk erzählte ihm ein paar lustige Begebenheiten aus Sally Jordans Vergangenheit, und er hörte mit ernster Miene zu. Dann wandte er sich an die junge Frau an seiner anderen Seite. Ihre Augen glänzten. »Ich schnappe gleich über«, flüsterte sie ihm zu. »Sir Frederic und dieser großartige Beetham an einem Abend – und dazu noch Sie.« Chan lächelte. »Komme mir ziemlich verloren vor in dieser Löwenmenagerie«, gestand er. »Erzählen Sie mal, was es mit Ihren übersinnlichen Fähigkeiten auf sich hat. Sie denken doch nicht wirklich, daß Sir Frederic Eve Durand gefunden hat?« Chan zuckte mit den Schultern. »Für ein Wort wird ein Mann vielleicht als weise gepriesen, für anderes als töricht verdammt.« »O bitte, spielen Sie nicht den Orientalen. Stellen Sie sich nur mal vor, daß Eve Durand heute vielleicht mit uns am Tisch sitzt.« »Merkwürdige Begebenheiten gestatten sich Luxus tatsächlich einzutreten«, räumte Chan ein. Seine Augen schweiften langsam über die Tischgesellschaft, ruhten auf der schweigsamen und zurückhaltenden Mrs. Tupper-Brock, auf der lebhaften Eileen Enderby und am längsten auf der schönen Gloria Garland, die sich von ihrer Aufregung über die verstreuten Perlen inzwischen völlig erholt hatte. »Erzählen Sie mal, Sir Frederic«, wandte Mrs. Kirk sich an den Engländer, »wie gefällt es Ihnen hier in Barrys frauenlosem Eden?« »Ausgezeichnet.« Der Detektiv lächelte. »Mr. Kirk war
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ungewöhnlich freundlich. Er hat mir nicht nur seinen Bungalow zur Verfügung gestellt, er läßt mich auch in seinem Büro arbeiten.« Er sah Kirk an. »Da fällt mir ein – ich fürchte, ich habe vergessen, den Safe abzuschließen.« »Darum kann sich Paradise kümmern«, erwiderte Kirk. »O nein«, sagte Sir Frederic. »Machen Sie sich keine Mühe, nicht meinetwegen. Ich habe nichts Wichtiges deponiert.« »Ach übrigens, Colonel Beetham«, meldete Carrick Enderby sich mit dröhnender Stimme zu Wort, »ich habe kürzlich Ihr Buch gelesen.« »Tatsächlich – eh – welches denn?« erkundigte sich Beetham. »Sei kein Narr, Carry«, sagte Eileen Enderby liebevoll. »Colonel Beetham hat viele Bücher geschrieben. Und er läßt sich davon, daß du eines seiner Bücher überflogen hast, bestimmt nicht beeindrucken. Und auch das hast du nur getan, weil du wußtest, daß wir ihn heute abend hier treffen würden.« »Aber ich habe es nicht hastig überflogen«, protestierte Enderby. »Ich habe es mit größter Aufmerksamkeit gelesen. Ich meine das Buch mit dem Titel Mein Leben. Sie schildern darin alle Abenteuer, die Sie erlebten, und bei Zeus, es war spannend! Verstehen kann ich Sie natürlich nicht, Sir. Mir ist ein guter alter Whisky in einem bequemen Lehnstuhl am warmen Kaminfeuer lieber. Doch Sie – Sie zieht es wirklich in die verlassensten und entlegensten Orte der Welt, bei Gott!« Beetham lächelte. »Es sind die weißen Flecke – die weißen Flecke auf der Landkarte. Sie rufen nach mir. Ich möchte gehen, wo vor mir kein anderer gegangen ist. Der Gedanke ist so alt – oder fast so alt wie die
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Welt.« »Die Heimkehr muß natürlich wahnsinnig aufregend sein«, gab Enderby zu. »All die Könige und Präsidenten, die Sie mit Orden schmücken, die großen Dinners, die Lobreden…« »Das ist der schrecklichste Teil, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Beetham. »Also ich würde ihn jedenfalls Ihren ollen Wüsten vorziehen. Damals, als Sie sich verirrt hatten, in der – eh – der…« »Wüste von Taklamakan?« schloß Beetham. »Na ja, da saß ich ein bißchen in der Tinte, nicht wahr? Aber ich hatte mich nicht verirrt, mein Lieber. Ich war nur mit ungenügenden Wasser- und Lebensmittelvorräten zu dieser Durchquerung aufgebrochen.« »Mich hat diese Eintragung aus Ihrem Tagebuch begeistert, die Sie zitierten«, sagte Mrs. Kirk. »Sie dachten, es sei die letzte, die sie je machen würden. Ich kenne sie auswendig. ›Rasteten bei einer hohen Düne, wo die Kamele erschöpft in die Knie brachen. Sie suchten den Osten mit Feldstechern ab, überall nur Berge aus Sand, nirgendwo der berühmte Strohhalm, an den wir uns klammern können. Nirgendwo Leben. Männer und Kamele sind bis aufs äußerste geschwächt. Gott helfe uns.‹« »Aber es war nicht meine letzte Eintragung, nicht wahr«, warf Beetham ein. »In der nächsten Nacht, als ich dem Sterben schon sehr nahe war, kroch ich auf Händen und Knien weiter und kam zu einem Wald, einem ausgetrockneten Flußbett, einem Teich. Wasser. Ich kam aus der Sache viel besser heraus, als ich es verdient hätte.« »Bitte um Entschuldigung, wenn ich stelle Frage«,
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sagte Charlie Chan. »Was ist mit altem Aberglauben, Colonel? Fand Erwähnung bei Marco Polo vor sechshundertfünfzig Jahren. Wenn ein Reisender nachts durch Wüste geht, er hört merkwürdige Stimmen seinen Namen rufen. In verhextem Zustand er folgt Geisterstimmen in frühes Verderben.« »Es ist wohl offensichtlich, daß ich keinen Stimmen gefolgt bin«, antwortete Beetham. »Ich habe auch keine Stimmen gehört.« Eileen Enderby schauderte zusammen. »Ich könnte das jedenfalls nie«, sagte sie. »Ich fürchte mich entsetzlich vor der Dunkelheit. Im Dunkeln werde ich fast wahnsinnig vor Angst.« Sir Frederic Bruce sah sie scharf an. »Ich vermute, so geht es vielen Frauen«, sagte er, nachdem er ein paar Minuten lang nicht zu Wort gekommen war. Dann wandte er sich plötzlich an die Gesellschafterin von Mrs. Kirk. »Was haben Sie in dieser Beziehung für Erfahrungen, Mrs. Tupper-Brock?« »Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit«, antwortete sie kühl und gelassen. »Miß Garland?« Die durchdringenden Augen wandten sich der Schauspielerin zu. Sie schien ein wenig verlegen. »Nun ja – ich – ich muß sagen, Scheinwerfer sind mir lieber. Nein, ich kann nicht behaupten, daß ich für die Dunkelheit viel übrig habe.« »Unsinn«, sagte Mrs. Dawson Kirk. »Die Dinge sind im Dunkeln dieselben wie bei Licht. Mir hat Dunkelheit nie etwas ausgemacht.« »Warum fragen wir nicht auch die Herren?« sagte Beetham bedächtig. »Angst vor der Dunkelheit ist nicht nur eine weibliche Schwäche, Sir Frederic. Wenn
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Sie mich danach fragten, müßte ich Ihnen etwas gestehen.« Sir Frederic wandte sich ihm erstaunt zu. »Sie, Colonel?« Beetham nickte. »Als ich noch ein Dreikäsehoch war, habe ich mich entsetzlich vor der Dunkelheit gefürchtet. Jeden Abend starb ich, wenn man mich allein in meinem Zimmer ließ, vor Angst tausend Tode.« »Bei Zeus!« sagte Enderby. »Und doch verbringen Sie als Erwachsener Ihr Leben in den finstersten Winkeln der Erde.« »Sie haben diese kindliche Angst zweifellos überwunden«, sagte Sir Frederic. Beetham zuckte mit den Schultern. »Kann man so etwas je völlig überwinden? Aber wir sprechen wirklich viel zuviel über mich. Mr. Kirk hat mich gebeten, Ihnen nach dem Dinner einen Film zu zeigen, den ich vergangenes Jahr in Tibet gemacht habe. Ich fürchte, es wird Sie langweilen, wenn ich – wie sagt man in Amerika? – Ihnen allen die Schau stehle.« Man ging wieder zu Zweiergesprächen über. Miß Morrow wandte sich an Chan. »Man muß sich bildlich vorstellen«, sagte sie, »daß dieser große Forscher sich als kleiner Junge vor der Dunkelheit fürchtete. Das ist das Entzückendste und Menschlichste, das ich je zu hören bekam.« Er nickte ernst. Sein Blick ruhte auf Eileen Enderby. »Im Dunkeln werde ich fast wahnsinnig vor Angst«, hatte sie gesagt. Wie dunkel mußte es in jener Nacht in den Hügeln bei Peshawar gewesen sein. Nachdem er im Wohnzimmer den Kaffee serviert hatte, brachte Paradise eine weiße, schimmernde Projektionswand herein, die er nach den Anweisungen des
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Colonels auf einen niedrigen Tisch stellte. Barry Kirk half Beetham, aus der Diele einen Filmprojektor und mehrere Filmspulen hereinzuschleppen. »Gut, daß wir das nicht übersehen haben«, sagte der junge Mann lachend. »Es wäre höchst peinlich für Sie gewesen, hätten Sie nach Hause gehen müssen, ohne Ihre Filme zeigen zu können. Wie der Mann, der versuchte, sich mit seiner Harfe unauffällig von einer Abendgesellschaft davonzuschleichen, bei der ihn niemand aufgefordert hatte zu spielen.« Endlich war der Apparat bereit, und die Gesellschaft nahm in bequemen Sesseln vor der Leinwand Platz. »Wir brauchen natürlich absolute Dunkelheit«, sagte Beetham. »Mr. Kirk, wären Sie wohl so freundlich…« »Selbstverständlich.« Barry Kirk schaltete das Licht aus und zog vor Fenstern und Glastüren die dichten Vorhänge zu. »Ist es so in Ordnung?« »Das Licht im Flur«, sagte Beetham. Kirk schaltete auch das aus. Es folgte ein Augenblick angespannten Schweigens. »Himmel, ist das unheimlich!« sagte Eileen Enderby aus der Dunkelheit. Ihre Stimme hatte einen leicht hysterischen Unterton. Beetham legte eine Filmspule ein. »Bei der Expedition, die ich Ihnen jetzt schildern werde«, begann er, »brachen wir in Darjeeling auf. Wie Ihnen zweifellos bekannt ist, ist Darjeeling eine kleine Stadt in den Himalaya-Vorbergen an der nördlichsten Grenze von Indien…« »Waren Sie sehr oft in Indien?« unterbrach ihn Sir Frederic. »Häufig, zwischen meinen Reisen.« »Ach ja. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie unterbro-
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chen habe.« »Keine Ursache.« Der Film begann abzulaufen. »Die ersten Bilder zeigen Darjeeling, wo ich meine Männer angeworben, die Lebensmittelvorräte ergänzt und…« Schon war der Colonel inmitten seiner zwar interessanten, aber ziemlich langen Schilderung. Die Zeit verging, und seine Stimme tönte monoton durch das undurchdringliche Dunkel des Raumes. Die Luft war vom Zigarettenrauch zum Schneiden dick. Hin und wieder ging jemand im Hintergrund hin und her, gelegentlich teilte sich ein Vorhang vor einem Fenster. Aber Colonel Beetham achtete nicht darauf. Er lebte wieder im Hochland von Tibet. Die alte Leidenschaft, weiter und weiter ins Unbekannte vorzudringen, hatte ihn wieder gepackt. Er marschierte über verschneite Pfade, ließ Männer und Maultiere tot im Ödland zurück, kämpfte sich wie ein Fanatiker zu seinem Ziel durch. Ein unheimlich bedrückendes Gefühl nahm von Charlie Chan Besitz, ein Gefühl, das er auf die stickige Luft im Raum zurückführte. Er stand auf und schlich sich schuldhaft in den Dachgarten. Barry Kirk stand dort, eine schattenhafte Gestalt im Nebel, und rauchte eine Zigarette. Denn es war jetzt stark neblig, die Nebelglocke läutete warnend, das Dach war in Wolken gehüllt. »Hallo«, sagte Kirk leise. »Sie brauchen auch ein bißchen Luft, wie? Ich hoffe nur, er langweilt meine bedauernswerten Gäste nicht zu Tode. Entdeckungsreisen sind im Augenblick eine große Sache, und er bemüht sich, meine Großmutter zu überreden, eine Menge Geld in ein kleines Picknick zu stecken, das er plant. Ein interessanter Mann, nicht wahr?«
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»Sehr interessant«, gab Chan zu. »Aber ein harter Mann«, fuhr Kirk fort. »Er läßt die Toten zurück, ohne sich ein einzigesmal nach ihnen umzusehen. Ich vermute, so arbeitet nun mal das Gehirn eines Wissenschaftlers. Was bedeuten schon ein paar Tote, wenn man wieder einen weißen Fleck auf der Landkarte mit Farbe und Namen füllen kann. Das ist aber nicht mein Stil. Wahrscheinlich liegt es an meiner albernen amerikanischen Sentimentalität.« »Ist jedoch zweifellos Stil von Colonel Beetham«, antwortete Chan. »Habe es genauso in seinen Augen gelesen.« Er kehrte in den großen Wohnraum zurück und ging im Hintergrund auf und ab. Ein leises Geräusch im Flur weckte seine Aufmerksamkeit, und er trat hinaus. Ein Mann war eben durch die Tür hereingekommen, die zur zwanzigsten Etage führte. Bevor er sie schloß, fiel das Licht von draußen auf Carrick Enderbys blondes Haar. »Habe auf der Treppe eine Zigarette geraucht«, erklärte er. »Wollte die Luft oben nicht noch mehr verpesten. Ist ohnehin schon ziemlich stickig, nicht wahr?« Er schlich in das Wohnzimmer zurück, Chan folgte ihm und suchte sich einen Sessel. Leises Geschirrklappern aus der Pantry vermischte sich mit dem Surren des ablaufenden Films und dem stetigen Strom von Beethams Vortrag. Der Unermüdliche legte eine neue Spule ein. »Meine Stimme wird ein bißchen müde«, sagte er. »Ich lasse diese Spule einfach ohne Kommentar ablaufen. Er ist hier auch nicht nötig.« Er wich aus dem schwachen Licht, das von dem Apparat ausging, in
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den Schatten zurück. Nach zehn Minuten war die Spule abgelaufen, und der unbezähmbare Beetham zur Stelle. Er begann die, wie er sagte, letzte Spule einzulegen, als sich der Vorhang der Gartentür teilte, und die weiße Gestalt einer Frau den Raum betrat. Vor der milchigen Helligkeit hinter sich wirkte sie wie ein Geist. »Hören Sie auf, um Himmels willen!« rief sie. »Hören Sie auf, und machen Sie Licht! Schnell! Schnell bitte!« Jetzt klang Eileen Enderbys Stimme wirklich hysterisch. Barry Kirk sprang auf und lief zum Lichtschalter. Helligkeit überflutete den Raum. Mrs. Enderby stand leicht schwankend da, sehr blaß, mit einer Hand ihre Kehle umklammernd. »Was ist denn?« fragte Barry Kirk. »Was ist passiert?« »Ein Mann«, sagte sie schwer atmend. »Ich ertrug die Dunkelheit nicht länger, sie machte mich verrückt, also ging ich in den Garten. Als ich vorn an der Balustrade stand, sprang ein Stockwerk tiefer plötzlich ein Mann aus einem erleuchteten Fenster auf die Feuerleiter und begann hinunterzuklettern. Er verschwand im Nebel.« »Unten sind meine Büros«, sagte Kirk ruhig. »Wir sollten uns vielleicht mal dort umsehen. Sir Frederic…« Er sah sich unter seinen Gästen um. »Aber – aber wo ist denn Sir Frederic?« fragte er. Paradise war aus der Pantry hereingekommen. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte er. »Sir Frederic ist vor ungefähr zehn Minuten ins Büro hinuntergegangen.« »Ins Büro? Ja, warum denn?« »Die Alarmanlage neben Ihrem Bett summte, Sir. Und
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zwar die für die zwanzigste Etage. Ich hatte es eben entdeckt, als Sir Frederic in Ihr Zimmer kam. ›Das muß ich mir mal näher ansehen, Paradise‹, sagte er. ›Stören Sie die anderen nicht.‹« Kirk wandte sich an Charlie Chan. »Kommen Sie bitte mit mir, Sergeant.« Schweigend folgte Charlie ihm zur Treppe, und sie gingen hinunter. Alle Büroräume waren hell erleuchtet. Der letzte Raum, in dem die Treppe endete, war völlig leer. Sie gingen weiter in das mittlere Zimmer. Ein Fenster stand weit offen, und davor erblickte Chan im Nebel die Umrisse des Gestänges einer Feuerleiter. Auch in diesem Raum schien sich niemand aufzuhalten. Doch Barry Kirk, der Voranging, blieb, als er auf der anderen Seite des Schreibtischs war, mit einem erschrockenen Ausruf stehen und fiel dann auf die Knie. Chan ging um den Schreibtisch herum. Was er zu sehen bekam, überraschte ihn nicht. Doch es tat ihm aufrichtig leid, Sir Frederic Bruce lag, von einem sauberen Herzschuß getroffen, tot auf dem Boden. Neben ihm lag ein dünnes, kleines, in leuchtend gelbes Leinen gebundenes Buch. Kirk richtete sich wie betäubt auf. »In meinem Büro«, sagte er langsam, als sei das von besonderer Bedeutung. »Es – es ist entsetzlich! Guter Gott, sehen Sie doch mal!« Er zeigte auf Sir Frederic. Der Detektiv trug schwarze Seidensocken an den Füßen, aber er hatte keine Schuhe an. Paradise war ihnen gefolgt. Einen Augenblick betrachtete er wie erstarrt den toten Mann auf dem Fußboden, dann wandte er sich an Barry King.
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»Als Sir Frederic herunterging«, sagte er, »trug er Samtpantoffeln an den Füßen. Und sie haben irgendwie heidnisch ausgesehen, diese Pantoffeln, Sir.«
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4. Kapitel
Die himmlische Abrechnung Barry Kirk blickte sich in seinem Büro um. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sich in diesem ganz alltäglichen, vertrauten Raum eine Tragödie abgespielt hatte. Und doch lag da die stille Gestalt auf dem Boden, die noch vor kurzer Zeit voller Leben und Energie gewesen war. »Armer Sir Frederic«, sagte er. »Erst heute hat er mir gesagt, er sei fast am Ende eines weiten Weges angelangt. Wie es scheint, war er ihm näher, als er glaubte.« Er unterbrach sich. »Eines weiten Weges, Sergeant, nur ein paar von uns wissen, wie weit er in die Vergangenheit zurückreicht.« Chan nickte. Er hatte auf eine riesige goldene Taschenuhr geschaut, jetzt schloß er den Deckel und steckte sie wieder in die Tasche. »Tod ist Abrechnung, die Himmel schickt«, sagte er. »In diesem Fall überaus komplizierte Abrechnung.« »Was sollen wir tun?« fragte Barry Kirk hilflos. »Die Polizei verständigen, nehme ich an. Aber guter Gott, ich kenne keinen Polizeibeamten, der mit diesem Fall fertig werden könnte. Keinen uniformierten Beamten, meine ich.« Er hielt kurz inne, und ein grimmiges Lächeln flog über sein Gesicht. »Es sieht mir ganz so aus, Mr. Chan, als müßten Sie die Sache übernehmen und…« Ein eigensinniges Leuchten blitzte in den kleinen schwarzen Augen auf. »Miß Morrow ist oben«, sagte Chan. »Wirklich sehr glücklicher Zufall! Sie gehört zum Büro von Bezirksstaatsanwalt. Wenn in Bescheidenheit ich vorschlagen dürfte…«
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»Oh, daran habe ich gar nicht gedacht.« Kirk wandte sich an seinen Bediensteten. »Paradise, gehen Sie hinauf, und bitten Sie Miß Morrow herunter. Entschuldigen Sie mich bei den übrigen Gästen, und bitten Sie sie zu warten.« »Sehr wohl, Sir«, entgegnete Paradise und entfernte sich würdevoll. Kirk ging langsam im Raum umher. Die Schubfächer des großen Schreibtischs waren alle herausgezogen, der Inhalt ein einziges Durcheinander. »Jemand hat hier verzweifelt etwas gesucht«, sagte er. Vor dem Safe blieb er stehen. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. »Safe ist nicht geschlossen«, meinte Charlie Chan. »Das ist sehr merkwürdig«, erwiderte Kirk. »Heute nachmittag bat mich Sir Frederic, alles herauszunehmen, was irgendwie von Wert sei, und es oben zu verwahren. Ich habe es getan. Warum ich’s tun sollte, hat er mir nicht gesagt.« »Natürlich!« Chan nickte. »Bei Tisch er macht völlig überflüssige Bemerkung, daß er Safe nicht abgeschlossen hat. Habe ziemlich merkwürdig gefunden. Eines schon klar: Sir Frederic wollte Falle stellen. Unverschlossener Safe große Versuchung für Diebe.« Mit einem Nicken wies er auf das kleine Buch, das neben dem Toten lag. »Dürfen nichts verändern. Bitte nicht berühren, aber bitte beachten liebenswürdigerweise Buch und sagen mir, wo letzter Aufbewahrungsort.« Kirk beugte sich vor. »Das? Aber das ist ja das Jahrbuch des Cosmopolitan Clubs. Es lag gewöhnlich in dem schwenkbaren Kästen, auf dem das Telefon steht. Das hat bestimmt nichts zu bedeuten.« »Vielleicht nein. Vielleicht – « Chans kleine Augen ver-
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engten sich – »ein Fingerzeig auf etwas, das jenseits von Unbekanntem liegt.« »Das frage ich mich«, sagte Kirk nachdenklich. »Sir Frederick war Gast von Cosmopolitan Club?« »Ja, ich habe ihm eine Gastkarte für zwei Wochen gegeben. Er erledigte dort den größten Teil seiner Korrespondenz. Aber – aber ich sehe nicht…« »Er war kluger Mann. Sogar im Augenblick von Dahinscheiden seine sterbende Hand möchte den entscheidenden Hinweis hinterlassen.« »Wenn wir schon davon reden«, sagte Kirk, »wie steht es mit den Samtpantoffeln. Wo sind sie?« Chan zuckte mit den Schultern. »Die Pantoffeln waren entscheidender Hinweis in lange zurückliegendem Fall. Wohin hat Hinweis geführt? Zu absolut gar nichts. Werde diesmal eigenen Ideen folgen und mich woanders umsehen.« Miß Morrow betrat den Raum. Aus ihrem Gesicht waren die so erfreulich natürlichen Farben gewichen, die das Geschenk des Nebels an die Töchter von San Francisco sind, und sie war totenblaß. Wortlos ging sie am Schreibtisch vorbei und blickte hinunter. Sie schwankte leicht, und Barry Kirk stürzte zu ihr. »Nein, nein!« rief sie. »Aber ich dachte…« »Sie dachten, ich würde ohnmächtig. Wie lächerlich. Das ist meine Arbeit, und ich werde sie tun. Glauben Sie, ich könne nicht…« »Aber durchaus nicht«, protestierte Kirk. »O doch, Sie glauben es. Alle werden es glauben. Aber ich werde es allen zeigen. Sie haben selbstverständlich die Polizei verständigt.« »Noch nicht«, antwortete Kirk.
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Sie setzte sich energisch an den Schreibtisch und nahm den Telefonhörer von der Gabel. »Davenport zwanzig«, sagte sie. »Ist dort das Polizeipräsidium? Geben Sie mir bitte Captain Flannery… Hallo, Captain? Hier spricht Miß Morrow vom Büro des Bezirksstaatsanwalts. Im Büro von Mr. Kirk im obersten Stockwerk des Kirk-Buildings ist ein Mord geschehen. Am besten kommen Sie selbst… Besten Dank… Ja, ich kümmere mich darum.« Sie stand auf, ging um den Schreibtisch herum und beugte sich über Sir Frederic. Sie bemerkte das Buch und betrachtete dann erstaunt die bestrumpften Füße des Toten. Fragend wandte sie sich Charlie Chan zu. »Die Pantoffeln von Sir Hilary Galt.« Er nickte. »Souvenir an unglücklichen Fall schmückte seine Füße, als er herunterkam. Hier ist Paradise, er wird erklären.« Der Butler war zurückgekommen, und June Morrow sah zu ihm hinüber. »Berichten Sie uns bitte, was Sie wissen«, sagte sie. »Ich hatte in der Pantry zu tun«, antwortete Paradise, »und plötzlich glaubte ich, die Alarmanlage neben Mr. Kirks Bett summen zu hören. Sie ist mit den Fenstern und dem Safe in diesem Raum verbunden. Ich beeilte mich, nachzusehen, ob ich richtig gehört hatte, aber Sir Frederic folgte mir praktisch auf den Fersen. Man hätte den Eindruck haben können, er habe es erwartet. Ich weiß nicht, wieso ich diesen Eindruck hatte, aber ich bin ohnehin ein bißchen komisch in dieser Beziehung.« »Fahren Sie fort«, sagte Miß Morrow. »Sir Frederic betrat also gleich nach Ihnen Mr. Kirks Zimmer?« »Ja. Miß. >Da unten ist jemand, Sin, sagte ich. ›Jemand, der dort nichts zu suchen hat.‹ Sir Frederic
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warf einen Blick zurück in das stockfinstere Wohnzimmer. ›Ja, das glaube ich auch, Paradise‹ antwortete er. ›Ich kümmere mich darum, wir brauchen Mr. Kirk und seine Gäste nicht zu stören.‹ Ich folgte ihm in sein Zimmer, wo er die Schuhe auszog. ›Ich fürchte, die Treppe ist ein bißchen schmutzig, Sir‹, erinnerte ich ihn. Er lachte. ›Ach ja‹, sagte er, ›aber ich denke, ich habe genau das richtige hier.‹ Die Samtpantoffeln lagen in der Nähe seines Bettes. Er zog sie an. ›Damit gehe ich bestimmt ganz leise, Paradise‹, meinte er. An der Treppe hielt ich ihn noch einmal auf. Ich fühlte eine unbestimmte Angst – ich neige zu – zu Vorahnungen…« »Sie haben ihn also aufgehalten?« unterbrach ihn Kirk. »Das habe ich. Mit allem Respekt natürlich, Sir. ›Sind Sie bewaffnet, Sir Frederic?‹ fragte ich rundheraus. Er schüttelte den Kopf. ›Nicht nötig, Paradise‹, antwortete er. ›Ich glaube, unser Besucher gehört dem schwachen Geschlecht an.‹ Und dann ging er hinunter, Sir – in den Tod.« Sie schwiegen ein paar Sekunden und ließen sich die Aussage des Butlers durch den Kopf gehen. »Am besten gehen wir jetzt hinauf und sagen es den anderen«, schlug June Morrow vor. »Jemand muß hier unten bleiben. Ich hoffe, es ist nicht zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, Mr. Chan…« »Mit größtem Bedauern muß ich leider widersprechen«, antwortete Chan. »Bitte um Entschuldigung, aber möchte um jeden Preis beobachten, wie Nachricht oben aufgenommen wird.« »Ach ja, natürlich.« »Ich bleibe gern, Miß«, sagte Paradise.
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»Nun gut«, entgegnete Miß Morrow. »Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Captain Flannery hier eintrifft.« Sie stieg als erste die Treppe hinauf, und Kirk und der kleine Detektiv aus Honolulu folgten ihr. Barry Kirks Gäste saßen schweigend und erwartungsvoll in dem jetzt hell erleuchteten Wohnzimmer. Sie blickten fragend auf, als die drei eintraten. Kirk sah sie der Reihe nach an und wußte nicht, wie beginnen. »Ich habe leider eine furchtbare Nachricht für Sie«, sagte er. »Es hat sich ein Unfall ereignet – ein schrecklicher Unfall.« Chan ließ die Blicke rasch über die Gruppe schweifen und schließlich auf dem weißen, verängstigten Gesicht von Mrs. Enderby ruhen. »Sir Frederic Bruce wurde in meinem Büro ermordet«, schloß Kirk. Es folgte ein Augenblick atemlosen Schweigens, dann sprang Mrs. Enderby auf. »Es ist die Dunkelheit!« rief sie mit rauher, schriller Stimme. »Ich wußte es! Ich wußte, daß etwas passieren würde, während das Licht ausgeschaltet war. Ich wußte es, sage ich Ihnen…« Ihr Mann ging zu ihr, um sie zu beruhigen, und Chan stand da und sah nicht mehr sie, sondern Colonel John Beetham an. Eine Sekunde hatte es so ausgesehen, als falle eine Maske von diesen müden, enttäuschten Augen. Doch nur eine Sekunde sah es so aus. Dann begannen alle gleichzeitig zu sprechen. Nur mühsam gelang es Miß Morrow, sich Gehör zu verschaffen. »Wir müssen alle ganz ruhig bleiben«, sagte sie, und Barry Kirk bewunderte ihre Haltung. »Selbstverständlich stehen wir alle unter Verdacht. Wir…« »Wie?« fragte Mrs. Dawson Kirk. »Das macht mir Spaß! Ich stehe unter Verdacht, was sagt man dazu?« »Das Zimmer war stockdunkel«, fuhr Miß Morrow fort,
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»und es gab ein ziemliches Hin und Her. Ich möchte nicht gern auf meine offizielle Stellung pochen, aber vielleicht sind Ihnen meine Methoden doch lieber als die eines Polizeicaptains. Wer von Ihnen hat diesen Raum verlassen, während Colonel Beetham seinen Film zeigte?« Verlegenes Schweigen folgte, das von Mrs. Kirk gebrochen wurde. »Ich fand die Bilder unglaublich interessant«, sagte sie. »Zwar ging ich für einen Moment in die Küche…« »Um meinen Haushalt in Augenschein zu nehmen«, meinte Barry Kirk. »Nichts dergleichen. Ich hatte eine trockene Kehle und wollte ein Glas Wasser trinken.« »Es ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen?« erkundigte sich June Morrow. »Abgesehen von großer Verschwendungssucht, die in dieser Küche an der Tagesordnung zu sein scheint, ist mir nichts aufgefallen.« »Mrs. Tupper-Brock?« sagte Miß Morrow. »Ich habe mit Miß Garland auf dem Sofa gesessen«, erwiderte die Gesellschafterin, »und wir haben uns beide nicht von der Stelle gerührt.« Ihre Stimme klang kühl und fest. »Und das ist die Wahrheit«, setzte die Schauspielerin hinzu. Wieder Schweigen. Dann meldete sich Kirk zu Wort. »Ich bin überzeugt, daß niemand von uns eine Unhöflichkeit gegen den Colonel beabsichtigte«, sagte er. »Er hat uns ausgezeichnet unterhalten, und es war sehr freundlich von ihm, uns die Ehre zu geben. Ich war die ganze Zeit über hier und ging nur einen Moment in den Garten. Ich habe dort niemand gesehen,
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außer…« Nun war Chan an der Reihe. »Film hat mir ungewöhnlich große Freude bereitet. Nur ganz kurz ich habe Wunsch, allein zu sein, um über großartige Ereignisse ein wenig nachdenken zu können, die auf silbriger Leinwand zu sehen. Also gehe ich auch in Garten und treffe dort Mr. Kirk. Tauschen einige bewundernde Bemerkungen über ehrenwerten Colonel Beetham aus – seinen unbezähmbaren Mut, seine großen Fähigkeiten und wertvollen Dienst, den er für Menschheit leistet. Dann wir eilen zurück, damit nicht noch mehr versäumen.« Er machte eine kleine Pause. »Bevor ich mich auf Platz begebe, höre ich sehr störendes Geräusch im Flur. Eile hinaus, um Störenfried zur Ruhe zu mahnen und erblicke…« »Eh – auch ich habe den Film wunderbar gefunden«, sagte Carrick Enderby. »Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten, aber ich ging für eine Weile hinaus, um auf der Treppe eine Zigarette zu rauchen.« »Carry, du Narr!« rief seine Frau. »Das sieht dir ähnlich.« »Aber warum sollte ich nicht? Ich habe nichts gesehen. Es gab nichts zu sehen. Das Stockwerk unter mir war leer.« Er wandte sich an Miß Morrow. »Wer diese Tat auch begangen hat, ist über die Feuerleiter geflohen. Das haben Sie doch gehört…« »Haben es tatsächlich gehört«, fiel Chan ihm ins Wort. »Von Ihrer Frau.« Er blickte zu Miß Morrow hinüber, und ihre Augen trafen sich. »Von meiner Frau, ja«, wiederholte Enderby. »Hören Sie, was meinen Sie damit? Ich…« »Unwichtig«, unterbrach ihn June Morrow. »Colonel Beetham, Sie waren am Projektionsapparat beschäf-
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tigt. Abgesehen von einer Zeitspanne von etwa zehn Minuten, als Sie den letzten Film ohne Kommentar ablaufen ließen.« »Ich habe den Raum nicht verlassen, Miß Morrow«, sagte der Colonel ruhig. Eileen Enderby erhob sich. »Mr. Kirk, wir müssen wirklich gehen. Das Dinner war ganz reizend, wie tragisch, daß es so enden mußte. Ich…« »Einen Augenblick«, mischte June Morrow sich ein. »Ich kann Sie nicht gehen lassen, ehe der Polizeicaptain es nicht erlaubt.« »Was soll das?« rief die Frau. »Das ist empörend! Beleidigend! Soll das heißen, wir sind Gefangene…« »Aber Eileen!« protestierte ihr Mann. »Es tut mir sehr leid«, sagte Miß Morrow. »Ich werde Ihnen weitere Ungelegenheiten und Befragungen so weit wie möglich ersparen. Aber Sie müssen wirklich warten.« Mrs. Enderby wandte sich zornig ab, und der hauchdünne Schal, den sie trug, rutschte ihr von einer Schulter und flatterte hinter ihr her. Chan griff danach, um ihn festzuhalten. Die Frau ging weiter, und er stand mit dem Schal in der Hand da. Sie fuhr herum. Die kleinen Augen des Detektivs betrachteten, wie ihr nicht entging, mit größter Aufmerksamkeit das Vorderteil ihres hellblauen Kleides. Seinem Blick folgend, sah sie an sich hinunter. »Tut mir leid«, sagte Chan. »Tut mir sehr leid. Hoffe, schönes Kleid nicht völlig verdorben.« »Geben Sie mir diesen Schal!« rief sie und riß ihn Chan unhöflich aus der Hand. Paradise erschien auf der Schwelle. »Miß Morrow, bitte«, sagte er, »Captain Flannery ist unten.«
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»Sie werden so freundlich sein, hier zu warten«, sagte sie zu den anderen. »Sie alle. Ich werde dafür sorgen, daß man Sie so schnell wie möglich entläßt.« Mit Kirk und Charlie Chan ging sie wieder in die zwanzigste Etage hinunter. Im mittleren Zimmer fanden sie Captain Flannery, einen energischen grauhaarigen Polizisten von etwa fünfzig Jahren. Bei ihm waren zwei Streifenbeamte und ein Polizeiarzt. »Hallo, Miß Marrow«, sagte der Captain. »Das ist eine – ich meine, eine schreckliche Sache. Sir Frederic Bruce von Scotland Yard – da haben wir ja was vor. Wenn wir uns nicht ranhalten, kriegen wir’s mit dem ganzen Yard zu tun.« »Ich fürchte, damit müssen wir auf jeden Fall rechnen«, stimmte Miß Morrow ihm zu. »Captain Flannery, das ist Mr. Kirk. Und das Detective-Sergeant Charlie Chan aus Honolulu.« Der Captain musterte seinen Kollegen eindringlich. »Wie geht es Ihnen, Sergeant? Ich habe schon einiges über Sie in der Zeitung gelesen. Sie waren aber mächtig schnell am Tatort.« Chan zuckte mit den Schultern. »Nicht mein Fall, danke sehr«, antwortete er. »Gehört ganz Ihnen. Rein privater Grund führte mich hierher, bin Gast von ehrenwertem Mr. Kirk.« »Tatsächlich?« Der Captain schien erleichtert. »Und jetzt, Miß Morrow, was haben Sie inzwischen festgestellt?« »Sehr wenig. Mr. Kirk hat in seinem Bungalow ein Dinner gegeben.« Sie zählte die Namen der Gäste auf, berichtete von der Filmvorführung im Dunkeln und wiederholte die Aussage des Butlers, der gesehen hatte, wie Sir Frederic, die Samtpantoffeln an den Füßen,
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in das zwanzigste Stockwerk hinuntergegangen war. »Über die anderen Aspekte des Falles unterrichte ich Sie später«, setzte sie hinzu. »Sehr gut. Ich nehme an, der Bezirksstaatsanwalt wird sich mit diesem Fall selbst befassen wollen.« Die junge Frau errötete. »Vielleicht. Er ist heute abend nicht in der Stadt. Ich hoffe, er überläßt die Sache mir.« »Gütiger Himmel, Miß Morrow, der Fall ist wichtig!« sagte der Captain, ohne sich seiner Unhöflichkeit bewußt zu sein. »Haben Sie diese Leute oben festgehalten?« »Aber selbstverständlich.« »Gut. Ich sehe sie mir später an. Ich habe angeordnet, daß alle Eingänge des Gebäudes abgeschlossen werden und der Nachtwächter jeden heraufbringt, der sich noch darin aufhält. Jetzt sollten wir uns wohl um den Zeitfaktor kümmern. Wie lange ist er schon tot, Doktor?« »Nicht länger als eine halbe Stunde«, erwiderte der Arzt. »Bescheiden bitte um Entschuldigung, daß ich mich einmische«, sagte Chan. »Mord geschah wahrscheinlich zwanzig Minuten nach zehn.« »Sind Sie sicher?« »Es ist nicht meine Gewohnheit, leichtfertig mit Worten umzugehen. Fünfundzwanzig Minuten nach zehn wir finden Leiche, nur fünf Minuten nachdem Lady im oberen Stockwerk aus Garten hereinstürzt mit Nachricht, Mann sei aus diesem Zimmer über Feuerleiter geflüchtet.« »Hm. Der Raum scheint durchsucht worden zu sein.« Flannery wandte sich an Barry Kirk. »Fehlt etwas?«
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»Ich hatte noch keine Zeit, nachzusehen«, sagte Kirk. »Wenn der Täter etwas mitgenommen hat, muß es sich um etwas handeln, das Sir Frederic gehörte.« »Das ist doch Ihr Büro, nicht wahr?« »Ja. Aber ich habe es Sir Frederic überlassen. Er hatte eine Menge Papiere und so.« »Papiere? Was hat er getan? Ich dachte, er sei schon pensioniert.« »Er schien noch an gewissen Fällen interessiert, Captain«, sagte Miß Morrow. »Das ist einer der Punkte, über die ich später mit Ihnen sprechen möchte.« »Wieder Einmischung durch meine Wenigkeit, bedaure sehr«, sagte Chan. »Wenn wir auch nicht wissen, was genommen wurde, wissen wir doch, was Täter suchte.« »Was Sie nicht sagen!« Flannery sah Chan eisig an. »Und was war es?« »Sir Frederic englischer Detektiv und sehr bedeutend. Alle englischen Detektive schreiben anstrengende Berichte über jeden Fall. Keine Frage, daß Berichte von bestimmtem Fall hier gesucht wurden, für den Mörder großes Interesse hat.« »Möglich«, gab der Captain zu. »Wir werden uns den Raum später ansehen.« Er wandte sich an die Streifenbeamten. »Schaut euch mal die Feuerleiter an, Jungs.« Die beiden kletterten in den Nebel hinaus. Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet, die vom Vorzimmer auf den Korridor führte, und eine merkwürdige kleine Gruppe kam herein. Ein untersetzter Mann mittleren Alters führte die Prozession an. Es war Mr. Cuttle, der Nachtwächter. »Hier sind sie, Captain«, sagte er. »Ich habe alle zusammengeholt, bis auf ein paar Putzfrauen, die in die-
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sem Stockwerk nichts zu tun haben. Sie können später mit ihnen sprechen, wenn Sie wollen. Das ist Mrs. Dyke, die in den beiden obersten Stockwerken für Ordnung sorgt.« Mrs. Dyke, die sehr verängstigt war, sagte, sie sei um sieben Uhr mit Mr. Kirks Büro fertig gewesen und sei gegangen, nachdem sie die Alarmanlage eingeschaltet habe, wie es ihre Gewohnheit sei. Sie sei nicht wieder zurückgekommen. Sie habe im Gebäude auch niemand gesehen, den sie nicht gekannt hätte. »Und wer ist das?« erkundigte sich der Captain und wandte sich einem blassen jungen Mann mit sandfarbenem Haar zu, der ungewöhnlich nervös schien. »Ich heiße Samuel Smith«, sagte der junge Mann, »und arbeite bei Brace & Davis, vereidigte Buchprüfer, in der zweiten Etage. Ich war krank und wollte heute abend einen Teil der liegengebliebenen Arbeiten erledigen. Und dann kam Mr. Cuttle und sagte mir, man verlange hier oben nach mir. Ich weiß nichts über diese gräßliche Sache.« Flannery wandte sich an das vierte und letzte Mitglied der kleinen Gruppe, eine junge Frau in der Uniform einer Liftführerin. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Grace Lane, Sir.« »Sie sind in einem Aufzug beschäftigt, nicht wahr?« »Ja, Sir. Mr. Kirk ließ uns ausrichten, daß eine von uns heute abend Überstunden machen müsse. Wegen der Party.« »Wie viele Leute haben Sie nach Büroschluß heraufgebracht?« »Ich habe sie nicht gezählt. Ziemlich viele – Damen und Herren, Mr. Kirks Gäste natürlich.« »Erinnern Sie sich an keinen, der ausgesehen hat, als
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gehöre er nicht dazu?« »Nein, Sir.« »Das ist ein sehr großes Gebäude«, sagte Flannery. »Es müssen außer diesem Smith heute abend doch noch mehr Leute hier gearbeitet haben. Fällt Ihnen jemand ein?« Das Mädchen zögerte. »Ja, da – da war noch jemand, Sir.« »Ja? Und wer war das?« »Ein Mädchen, das im Büro von Calcutta Importers in diesem Stockwerk arbeitet. Eine gewisse Miß Lila Barr.« »Die hat heute abend gearbeitet? Und in dieser Etage? Ist sie jetzt nicht mehr hier?« »Nein, Sir. Sie ist schon vor längerer Zeit gegangen.« »Wann?« »Das kann ich nicht genau sagen, Sir. Vor einer halben Stunde – vielleicht auch schon ein bißchen früher.« »Hm.« Der Captain notierte sich Namen und Adressen und schickte die Leute weg. Als sie hinausgingen, kamen die beiden Streifenbeamten von der Feuerleiter herein. Flannery übergab ihnen die Aufsicht und bat, in den Bungalow hinaufgebracht zu werden. Müde und geduldig saßen die Dinnergäste in einem Halbkreis im Wohnzimmer. Mit vorgetäuschter Selbstsicherheit trat der Captain in ihre Mitte und sah sie der Reihe nach an. »Sie wissen natürlich, was ich hier tue«, sagte er. »Miß Morrow hat mir berichtet, sie habe mit Ihnen gesprochen, und ich habe nicht die Absicht, Sie alles wiederholen zu lassen. Ich brauche jedoch Namen und Adressen von jedem einzelnen.« Er wandte sich an
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Mrs. Kirk. »Fangen wir mit Ihnen an.« Sie schien bei seinem Ton zu erstarren. »Ich bin sicher, das ist von Ihnen nur schmeichelhaft gemeint«, sagte sie zuckersüß. »Ich bin Mrs. Dawson Kirk.« Sie fügte ihre Adresse hinzu. »Sie.« Flannery wandte sich an den Asienforscher. »Colonel John Beetham. Ich bin zu Besuch in der Stadt und im Hotel Fairmont abgestiegen.« Flannery ergänzte seine Liste, und als er fertig war, sagte er: »Kann jemand ein Licht auf diese Sache werfen? Wenn ja, dann sagen Sie es mir jetzt. Es wird nämlich ziemlich unangenehm für Sie, wenn ich es später selbst ausgrabe.« Niemand sagte etwas. »Eine von den Damen hat einen Mann die Feuerleiter hinunterlaufen sehen«, soufflierte er. »Oh, das war ich«, sagte Eileen Enderby. »Ich habe Miß Morrow schon alles gesagt. Ich mußte in den Garten…« Noch einmal berichtete sie von ihrem Erlebnis. »Wie hat der Mann ausgesehen?« wollte Flannery wissen. »Das kann ich nicht sagen. Eine sehr schattenhafte Gestalt im Nebel, mehr habe ich nicht gesehen.« »Nun gut. Sie können jetzt alle gehen. Vielleicht möchte ich einige von Ihnen später noch einmal sprechen.« Flannery ging an ihnen vorbei in den Garten. Einer nach dem anderen verabschiedete sich bedrückt – Mrs. Kirk und ihre Gesellschafterin, Miß Gloria Garland, dann die Enderbys und schließlich der Forscher. Charlie Chan holte sich auch Mantel und Hut, wobei Miß Morrow ihn fragend ansah. »Bis dunkle Tat das Fest überschattete«, sagte er, »Abend war reines Vergnügen. Mr. Kirk…« »Aber Sie wollen doch nicht schon gehen!« rief Miß
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Morrow. »Bitte! Ich möchte mit Ihnen reden.« »Steche morgen in See«, erinnerte er sie. »Erlebnis ermüdete mich stark. Habe großen Bedarf an Schlaf und Entspannung.« »Ich halte Sie wirklich nur ein paar Minuten auf«, sagte sie bittend, und Chan nickte. Captain Flannery kam aus dem Garten zurück. »Finster dort draußen«, verkündete er. »Aber wenn ich mich nicht irre, könnte jeder über die Feuerleiter in das untere Stockwerk gelangt sein. Habe ich recht?« »Zweifellos«, erwiderte Kirk. »Sehr wichtige Entdeckung«, lobte Chan. »Auf Kleid von Dame waren Flecke von rostigem Eisen, die möglicherweise daher stammen… Aber wer bin ich denn, daß ich so zu scharfsinnigem Mann wie Captain spreche? Ihnen ist selbstverständlich Umstand auch aufgefallen.« Flannery wurde rot. »Das – das kann ich eigentlich nicht behaupten. Welche Dame war es?« »Diese Mrs. Enderby, die Zeugnis gibt von fliehendem Mann. Brauchen nicht zu danken, Sir. Sehr glücklich, geringe Dienste anbieten zu können.« »Gehen wir wieder hinunter«, sagte Flannery grollend. Ins Büro zurückgekehrt, sah er sich eine Weile um und sagte dann: »Ich muß mich an die Arbeit machen.« »Ich werde mich verabschieden«, sagte Chan. »Sie gehen?« sagte Flannery, ohne seine Freude darüber zu verhehlen. »Gehe weit weg.« Chan lächelte. »Reise morgen nach Honolulu zurück. Überlasse Sie größtem Problem Ihres Lebens, Captain. Kann nicht behaupten, daß ich Sie beneide.« »Ach, ich schaffe es schon«, antwortete Flannery.
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»Nur Einfalt könnte daran zweifeln. Aber langer Weg liegt vor Ihnen, Captain. Beachten bitte. Wer ist großer Mann, der jetzt schweigend auf Couch liegt? Berühmter Detektiv, der Einmaliges geleistet hat. Was das bedeutet? Bedeutet tausend Siege und tausend Feinde. Über ganze weite Welt sind Männer verstreut, die mit Wonne diesen einen Mann in den Tod schicken würden. Langer Weg für Sie, Captain. Wünsche von ganzem Herzen, daß Sie Ziel finden. Möge leuchtend buntes Gewand von Erfolg von Schicksal auf Sie zugeschnitten sein.« »Besten Dank«, sagte Flannery. »Ein letzter Punkt. Entschuldigen vielmals, wenn ich letztesmal Senf dazugebe.« Er nahm ein kleines gelbes Buch vom Tisch und reichte es dem Captain. »Dasselbe lag neben Ellenbogen von Ermordeten, als er stürzte.« Flannery nickte. »Ich weiß. Das Buch des Cosmopolitan Club. Das kann nichts zu bedeuten haben.« »Vielleicht. Bin ja nur dummer Chinese von winziger Insel. Ich weiß nichts. Wäre allerdings mein Fall, würde ich über kleines gelbes Buch nachdenken, Captain Flannery. Gedanken würden mich nachts wachhalten. Leben Sie wohl, und alle guten Wünsche, die ich schon ausgesprochen habe.« Er verneigte sich tief und ging durch das Vorzimmer in den Korridor. Kirk und Miß Morrow folgten ihm schnell. Die junge Frau legte Chan die Hand auf den Arm. »Sergeant, Sie dürfen nicht reisen!« rief sie verzweifelt. »Sie dürfen mich jetzt nicht allein lassen. Ich brauche Sie.« »Sie reißen mir Herz in Stücke«, erwiderte er. »Pläne stehen jedoch fest.«
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»Aber der arme Captain Flannery, der Fall ist viel zu groß für ihn. Sie wissen mehr darüber als er. Bleiben Sie, und ich sorge dafür, daß Sie jede erdenkliche Unterstützung bekommen.« »Genau das sage ich auch«, warf Barry Kirk ein. »Sie können jetzt nicht gehen. Sind Sie denn überhaupt nicht neugierig?« »Tiefstes Blau haben immer Hügel, die am weitesten entfernt«, sagte Chan. »Schönstes Blau von allen hat Punchbowl Hill, wo meine kleine Familie auf mich wartet.« »Aber ich habe mit Ihnen gerechnet«, entgegnete die junge Frau. »Ich muß Erfolg haben – ich muß einfach! Wenn Sie blieben…« Chan trat ein paar Schritte von ihr zurück. »Tut mir leid. Postbote in seinem Urlaub, so sagt man mir, macht langen Spaziergang. Habe dasselbe getan und ich bin müde. Tut mir so leid, aber ich fahre morgen nach Honolulu.« Die Aufzugtür war offen. Chan verneigte sich tief. »Größte Freude, Sie beide kennenzulernen. Vielleicht wir sehen uns wieder. Leben Sie wohl.« Wie ein grimmiger, unnachgiebiger Buddha verschwand er in der Tiefe. Kirk und die junge Staatsanwältin kehrten in das Büro zurück, wo Captain Flannery eifrig auf der Jagd war. Chan marschierte zielbewußt durch den Nebel zum Stewart Hotel. Der Angestellte im Empfang reichte ihm ein Kabel, das Chan strahlend las. Er lächelte noch, als in seinem Zimmer das Telefon klingelte. Es war Kirk. »Hören Sie«, sagte er, »wir haben, nachdem Sie fort waren, im Büro eine höchst erstaunliche Entdeckung gemacht.«
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»Höre es mit großer Freude«, erwiderte Chan. »Unter dem Schreibtisch – eine Perle aus Gloria Garlands Halskette.« »Eröffnet weites Feld von Überraschung«, sagte Chan. »Herzlichen Glückwunsch.« »Aber hören Sie doch!« rief Kirk. »Interessiert Sie das denn überhaupt nicht? Warum bleiben Sie nicht und helfen uns, der Sache auf den Grund zu kommen?« Wieder blitzte das eigensinnige Leuchten in Charlies Augen auf. »Nicht möglich. Erst vor ein paar Minuten bekomme ich Kabel, das mich mit unwiderstehlicher Macht nach Hause zieht. Nichts kann mich noch auf Festland halten.« »Ein Kabel? Von wem denn?« »Von meiner Frau. So glückliche Nachricht. Elftes Kind ist uns geboren – ein Junge.«
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5. Kapitel
Die Stimme im Nebenzimmer Charlie Chan stand am nächsten Mögen um acht Uhr auf. Als er sich die schwarzen Bartstoppeln vom Gesicht schabte, lächelte er seinem Spiegelbild glücklich zu. Er dachte an den kleinen, hilflosen Jungen, der jetzt in der alten, schäbigen Wiege im Haus auf dem Punchbowl Hill lag. In wenigen Tagen, das versprach sich der Detektiv, würde er neben dieser Wiege stehen, und der jüngste Chan würde aufblicken und endlich das Lächeln eines Vaters sehen, das ihn auf dieser Welt willkommen hieß. Ein mürrischer Gepäckträger mit überhängenden Brauen kam und lud Chans billigen, kleinen Schrankkoffer auf einen Karren, um ihn zu den Matson-Docks zu transportieren. Der Detektiv packte seine Toilettensachen ordentlich in den Handkoffer und ging dann vergnügt zum Frühstück hinunter. Der tragische Tod von Sir Frederic nahm fast die ganze erste Seite der Morgenzeitung ein, und Chan kniff sekundenlang die Augen zusammen. Ein kompliziertes Rätsel, soviel stand fest. Wäre schon interessant, es zu lösen, doch das war die schwierige Aufgabe der anderen. Hätte sie zu seinen Pflichten gehört, hätte er sich ihr mutig gestellt, aber von seinem Standpunkt aus gesehen, ging ihn die Sache nichts an. Nach Hause – das allein hatte jetzt Bedeutung für ihn. Er legte die Zeitung weg, und seine Gedanken flogen wieder zu dem kleinen Jungen in Honolulu. Ein amerikanischer Bürger, ein künftiger Pfadfinder unter amerikanischer Flagge, deshalb sollte er auch einen amerikanischen Namen tragen. Chan hatte sich am Abend
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vorher sehr zu seinem Gastgeber hingezogen gefühlt. Barry Chan, wie klang das? Als er den letzten Schluck Tee trank, erblickte er an der Tür des Speisesaals die dünne, nervöse Gestalt von Bill Rankin, dem Reporter. Er unterschrieb seinen Scheck, ließ ein großzügig bemessenes Trinkgeld auf dem Tisch liegen und ging zu Rankin in die Halle. »Hallo«, sagte der Reporter. »Das war gestern vielleicht eine Sache im Kirk-Building.« »Sehr erschütternd«, erwiderte Chan. Sie setzten sich auf das breite Sofa, und Rankin zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe ein paar Informationen, die Sie meiner Meinung nach bekommen müssen«, fuhr der Zeitungsmann fort. »Bitte um Entschuldigung vielmals, aber ich denke, Sie unterliegen begreiflichem Irrtum«, sagte Chan. »Wieso? Wie meinen Sie das?« »Ich habe mit Fall nichts zu tun«, teilte Chan ihm gelassen mit. »Sie wollen doch nicht etwa sagen…« »In drei Stunden fahre ich unter Golden Gate-Brücke durch.« Rankin schien nach Luft zu schnappen. »Gütiger Himmel! Ich wußte natürlich, daß Sie vorhatten, abzureisen, aber ich nahm an… Mann Gottes, das ist das größte Ding, das sich seit dem großen Feuer hier ereignet hat! Sir Frederic Bruce tot – das ist eine internationale Katastrophe. Ich dachte, Sie würden sich darauf stürzen.« »Bedaure«, sagte Chan, »aber ich gehöre nicht zu Sorte Menschen, die sich auf etwas stürzen. Sehr interessanter Fall, aber wie Cousin Willie zu sagen pflegt:
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Da geht nix.« »Ich verstehe«, sagte Rankin, »der ruhige, kühle Orientale. Wahrscheinlich waren Sie in Ihrem ganzen Leben noch nie aufgeregt.« »Was hätte ich dadurch gewonnen? Habe amerikanischen Bürger beobachtet. In seinen Schläfen pocht es. Sein Herz hämmert. Alle Fasern von Körper vibrieren. Mit welchem Ergebnis? Es kostet ihn ein Jahr von Leben.« »Nun, das geht über meine Begriffe«, sagte Rankin, lehnte sich zurück und versuchte sich ein bißchen zu entspannen. »Hoffentlich langweile ich Sie nicht, wenn ich noch weiter über Sir Frederic rede. Ich habe mir noch einmal unser Mittagessen im St. Francis Hotel in allen Einzelheiten in Erinnerung gerufen, und wissen Sie, was ich denke?« »Sehr erfreut zu erfahren«, entgegnete Chan. »Fünfzehn Jahre weben einen sehr dichten Vorhang an der indischen Grenze, hat Sir Frederic gesagt. Wenn Sie mich fragen, würde ich Ihnen antworten, daß wir, um das Rätsel seiner Ermordung lösen zu können, hinter diesen Vorhang blicken müßten.« »Leicht gesagt, aber schwer getan«, sagte Chan. »Sehr schwer, und deshalb sollten Sie… Ach was, machen Sie doch Ihre Schiffsreise. Aber das Verschwinden von Eve Durand hat irgend etwas mit diesem Mord zu tun. Und vielleicht sogar der Mord an Hilary Galt.« »Sie haben Grund, das zu denken?« »Aber selbstverständlich. Als ich mich eben hinsetzen wollte, um ein hübsches Feature über den Lunch zu schreiben, stürmte Sir Frederic in die Redaktion des Globe und verlangte, ich müsse meine Story zurück-
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halten. Warum hat er das wohl getan? Das frage ich Sie?« »Und ich warte Ihre Antwort ab.« »Die kriegen Sie. Sir Frederic arbeitete noch immer an einem der beiden Fälle. Vielleicht sogar an beiden. Mehr noch, er erzielte Ergebnisse. Dieser Besuch in Peshawar war vielleicht nicht so unergiebig, wie er uns glauben machen wollte. Vielleicht ist Eve Durand jetzt in San Francisco. Jemand, der mit einem der beiden Fälle zu tun hat, ist ganz bestimmt hier – jemand, der gestern abend abgedrückt hat. Ich würde mich in diesem Fall an das französische Sprichwort ›Cherchez la femme‹ halten.« »Ausgezeichneter Plan.« Chan nickte. »Sie würden Frau suchen. Das würde ich auch tun.« »Aha – ich hab’s gewußt. Und deshalb ist die Information, die ich habe, auch ungeheuer wichtig. Ich ging vorgestern abend noch einmal ins Kirk-Building zu Sir Frederic. Paradise sagte mir, der Detektiv sei im Büro. Ich lief also wieder hinunter ins Zwanzigste, und gerade als ich die Bürotür öffnen wollte, wurde sie von ihnen aufgerissen, und eine junge Frau…« »Einen Augenblick. Bedaure sehr, unterbrechen zu müssen, aber Sie sollten mit Story zu Miß June Morrow gehen. Ich stehe mit Fall nicht in Verbindung.« Rankin stand auf. »Nun gut. Aber begreifen kann ich Sie nicht. Der Mann aus Stein. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise. Und sollte der Fall je gelöst werden, hoffe ich, daß Sie es nie erfahren.« Chan lächelte strahlend. »Freundliche Wünsche werden dankend entgegengenommen. Leben Sie wohl und alles erdenklich Gute.« Er sah dem Reporter nach, der auf die Straße stürmte,
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ging dann hinauf und packte den Koffer fertig. Ein Blick auf seine überdimensionale Taschenuhr sagte ihm, daß er noch viel Zeit hatte, und er beschloß, sich von seinen Verwandten in Chinatown zu verabschieden. Als er ins Hotel zurückkam, um das Gepäck abzuholen, wartete Miß Morrow auf ihn. »So viel Glück«, sagte er. »Noch einmal werde ich belohnt durch Anblick von sehr interessantem Gesicht.« »Ich mußte Sie ganz einfach wiedersehen. Der Bezirksstaatsanwalt hat den Fall ganz mir übergeben, und das ist meine große Chance. Sind Sie noch immer fest entschlossen, nach Hause zu fahren?« »Mehr denn je.« Er führte sie zu einem Sofa. »Gestern abend bekommen sehr erfreuliches Kabel…« »Ich weiß. Ich war dabei, als Mr. Kirk Sie anrief. Ein Junge, sagte er, nicht wahr?« »Schönstes Geschenk von Himmel.« Chan nickte nachdrücklich. Miß Morrow seufzte. »Wäre es nur ein Mädchen gewesen!« »Das Glück begünstigt Unwürdigen. Bei elf Möglichkeiten wurde ich nur dreimal enttäuscht.« »Man darf Sie beglückwünschen. Aber Mädchen sind nun mal ein notwendiges Übel.« »Sie sind unnötig streng. Notwendig, natürlich. In Ihrem Fall kein noch so geringes Übel vorhanden.« Barry Kirk betrat die Halle und kam zu ihnen. »Guten Morgen, Vater.« Er lächelte. »Wir sind gekommen, um den scheidenden Gast zur Eile anzutreiben.« Chan blickte auf seine Uhr. Miß Morrow lächelte. »Sie haben hoch viel Zeit«, sagte sie. »Geben Sie mir wenigstens einen Rat, bevor Sie uns verlassen.«
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»Mit Freuden«, erklärte Chan. »Ist wertlos, aber wenn Sie wollen.« »Captain Flannery ist völlig am Boden zerstört, obwohl er es natürlich nie zugeben würde. Ich habe ihm von Hilary Galt und Eve Durand erzählt, und er riß nur den Mund auf und vergaß, ihn wieder zu schließen.« »Bessere Männer als Captain würden mit offenem Mund nachdenken, von Zweifel und Unsicherheit gepeinigt.« »Das gebe ich zu.« Miß Morrow zog verwirrt die Stirn kraus. »Es ist alles so verstreut – San Francisco und London und Peshawar. Fast sieht es so aus, als müsse derjenige, der den Fall lösen möchte, eine Weltreise machen.« Chan schüttelte den Kopf. »Viele Fäden reichen zurück, aber Lösung liegt in San Francisco. Nehmen Sie meinen Rat an, und seien Sie tapfer.« Die junge Frau war noch immer verwirrt. »Wir wissen, daß Hilary Galt vor sechzehn Jahren ermordet wurde. Das ist lange her, aber Sir Frederic war ein Mensch, der sich nie von einer Spur abbringen ließ. Wir wissen auch, daß er sich sehr für das Verschwinden von Eve Durand interessierte. Das mochte eine ganz natürlich Neugier sein –, doch warum sollte er, wenn es nicht mehr war, zur Zeitung laufen und verlangen, daß nichts über den Fall gedruckt werden dürfe. Nein, es war mehr als reine Neugier. Er hatte eine Spur gefunden.« »Und sie fast bis ans Ende verfolgt«, ergänzte Barry Kirk. »Das hat er mir gesagt.« Miß Morrow nickte. »Fast bis ans Ende – was bedeutete das? Hatte er Eve Durand gefunden? Wollte er ihre Identität preisgeben? Und war da jemand – Eve Du-
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rand oder jemand anders –, der das mit allen Mitteln verhindern wollte? Der so fest entschlossen war, es zu verhindern, daß er vor einem Mord nicht zurückschreckte?« »Sehr klar ausgedrückt«, sagte Chan anerkennend. »Aber nicht – überhaupt nichts ist klar. Hing der Mord an Hilary Galt irgendwie mit dem Verschwinden dieser jungen Frau aus Peshawar zusammen? Die Samtpantoffeln – wo sind sie jetzt? Hat der Mörder von Sir Frederic sie mitgenommen? Und wenn ja – warum?« »Viele Fragen kommen auf Sie zu«, räumte Chan ein. »Zu gegebener Zeit bekommen Sie Antworten.« »Die bekommen wir nie«, sagte die junge Frau seufzend, »wenn Sie mir nicht helfen.« Chan lächelte. »Schmeichelei klingt süß im Ohr.« Er dachte nach. »Habe Büro gestern abend nicht durchsucht. Aber Captain Flannery hat es getan. Was wurde gefunden? Berichte? Ein Protokollbuch?« »Nichts«, sagte Kirk, »das für die Angelegenheit irgendwie von Bedeutung gewesen wäre. Nichts Schriftliches über Hilary Galt oder Eve Durand.« Chan runzelte die Stirn. »Aber Vorhandensein von Berichten und Akten kann nicht bezweifelt werden. Waren Sie Beute, die Mörder haben wollte? Ist wohl nicht zu bezweifeln. Hat er – oder sie – Berichte gefunden? Scheint so, es sei denn…« »Es sei denn – was?« fragte June Morrow schnell. »Es sei denn, Sir Frederic hat wichtige Unterlagen an entferntem Ort in Sicherheit gebracht. Wie es Anschein hat, erwartete er Einbrecher. Er mag Falle gestellt haben mit ganz unwichtigen Papieren. Wurden persönliche Sachen in Schlafzimmer durchsucht?« »Alles«, versicherte ihm Kirk. »Es wurde nichts gefun-
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den. Im Büroschreibtisch lagen ein paar Zeitungsausschnitte – Artikel über das Verschwinden anderer Frauen, die einfach in die Nacht hineingegangen waren. Allem Anschein nach waren solche Fälle ein Hobby von Sir Frederic.« »Von anderen Frauen?« sagte Chan nachdenklich. »Ja. Aber Flannery war der Meinung, diese Ausschnitte seien unwichtig, und ich glaube, er hat recht.« »Und Ausschnitt über Eve Durand war noch in Brieftasche von Sir Frederic?« fuhr Chan fort. »Bei Gott!« Kirk sah zu June Morrow hinüber. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Der Zeitungsausschnitt ist verschwunden.« June Morrows dunkle Augen verrieten Bestürzung. »Oh, wie dumm!« rief sie. »Er war nicht mehr da, und mir ist es überhaupt nicht aufgefallen. Ich fürchte, ich bin doch nur eine arme, schwache Frau.« »Vergessen Sie Verzweiflung«, sagte Chan beschwichtigend. »Man sollte Angelegenheit nicht übersehen, das ist alles. Beweist nämlich, daß Suche nach Eve Durand in Kopf von Mörder wichtigen Platz einnimmt. Müssen dann cherchez la femme. Sie verstehen.« »Die Frau suchen«, sagte June Morrow. »Das ist es. Und in solchem Fall ist Jägerin viel besser als Jäger. Denken wir an Partygäste. Mr. Kirk, Sie haben gesagt, ein Teil von Leuten seien eingeladen, weil Sir Frederic darum gebeten hatte. Wer war das?« »Die Enderbys«, erwiderte Kirk prompt. »Ich kannte sie nicht, aber Sir Frederic wollte, daß sie kamen.« »Das ist sehr interessant. Die Enderbys. Mrs. Enderby war ganzen Abend Zustand von Hysterie sehr nahe. Angst vor Dunkelheit konnte Angst vor etwas anderem bedeuten. Man kann nicht ausschließen, daß Eve Du-
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rand unter neuem Namen zum zweitenmal geheiratet und Bigamie begangen hat.« »Eve Durand war blond«, gab June Morrow ihm zu bedenken. »Ach ja. Und Eileen Enderby hat Haare so schwarz wie Nacht. Das kann guter Friseur, wie man mir sagt, sehr leicht bewerkstelligen. Farbe von Haaren kann geändert werden, aber Farbe von Augen – damit ist es etwas anderes. Und Mrs. Enderby hat blaue Augen, was nicht oft zusammentrifft mit rabenschwarzen Locken.« »Ihnen entgeht nie etwas, nicht wahr?« fragte Kirk lächelnd. »Mrs. Enderby geht in Garten, sieht Mann auf Feuerleiter und informiert uns. Aber tut sie wirklich? Oder weiß sie, daß ihr Mann, der auf Treppe Zigarette raucht, nicht so harmlos beschäftigt ist? Ist Mann auf Feuerleiter nur Erfindung von ihr, um von ihrem Mann abzulenken? Warum hat sie Flecke auf Kleid? Weil sie sich in begreiflicher Aufregung über Gartenbalustrade lehnte, die feucht war von Nebel? Oder weil sie selbst kletterte über Feuerleiter? Sie verstehen meinen Gedankengang? Wen haben Sie noch eingeladen, weil Sir Frederic es wünschte?« Kirk dachte nach. »Er hat mich gebeten, Miß Gloria Garland aufzufordern.« Chan nickte. »Das habe ich erwartet. Gloria Garland – es klingt so künstlich, nicht wie Name, der menschlichem Wesen gegeben wird. Und Australien liegt so auf Landkarte, daß sehr praktischer Endpunkt für Reise aus Peshawar. Blondine mit blauen Augen zerreißt Halskette auf Treppe. Und doch Sie entdecken Perle unter dem Schreibtisch von Büro.« June Morrow nickte. »Ja, Miß Garland kommt ganz
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bestimmt in Betracht…« »Es bleibt«, fuhr Chan fort, »Mrs. Tupper-Brock. Eine zwar ziemlich dunkle Dame, aber wer weiß? Sir Frederic hat um ihre Anwesenheit nicht gebeten?« »Nein, ich glaube nicht, daß er von ihrer Existenz etwas wußte«, sagte Kirk. »Ja? Aber bei unserer Arbeit ist immer weise, auch die kleinsten und unwahrscheinlichsten Dinge zu studieren. Mensch stolpert über Kieselstein, nie über Berg. Sagen Sie, Mr. Kirk, war Colonel Beetham auch Idee von Sir Frederic?« »Ganz und gar nicht. Und jetzt fällt mir auch ein, daß Sir Frederic sogar ein bißchen betroffen schien, als er hörte, daß Beetham kam. Aber er sagte nichts.« »Wir haben jetzt Boden vorbereitet. Sie, Miß Morrow, müssen sich aufmerksamem Studium von drei Damen widmen – Mrs. Enderby, Miß Garland, Mrs. TupperBrock. Alle im entsprechenden Alter, soweit unwürdiger Mann das in Tagen von Schönheitssalons mit gräßlichen Tricks noch abschätzen kann.« »Es kommt noch jemand dazu, der nicht Gast bei der Dinnerparty war«, sagte die junge Frau zu Chans Überraschung. »Bin in diesem Punkt völlig unwissend«, entgegnete er. »Sie erinnern sich, daß die Liftführerin von einem Mädchen sprach, das im zwanzigsten Stockwerk bei den Calcutta Importers arbeitet? Eine Miß Lila Barr. Sie war auch gestern abend in ihrem Büro.« »Ach ja!« Chan nickte. »Nun, ein Zeitungsmann, Rankin vom Globe war vor ein paar Minuten bei mir. Er sagte, daß er vorgestern abend noch ziemlich spät Sir Frederic in Mr. Kirks Büro
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aufsuchen wollte. Als er auf die Tür zuging, kam ein Mädchen heraus. Es weinte. Rankin sah, daß es sich die Augen wischte und dann in den Räumen von Calcutta Importers verschwand. Ein blondes Mädchen, sagte er.« Chans Gesicht war ernst. »Eine vierte Dame fordert freundliche Aufmerksamkeit. Fall weitet sich aus. So viel zu tun – und Sie in Mitte von allem wie Perle in schlammigem Teich.« Er stand auf. »Bitte um Entschuldigung vielmals. Aber die ›Maui‹ zerrt bestimmt schon mächtig an Haltetauen.« »Noch etwas«, warf June Morrow ein. »Sie haben so ganz besonders darauf hingewiesen, daß das Jahrbuch des Cosmopolitan Club neben Sir Frederic gelegen hatte. Halten Sie das für wichtig?« Chan zuckte mit den Schultern. »Fürchte, ich war in übermütiger Stimmung. Hielt es für schwerstes Rätsel von allen. Daher ich bin gemein genug, Captain Flannery so mit größtem Nachdruck darauf zu stoßen. Was es zu bedeuten hat, ahne ich nicht. Der arme Captain Flannery wird es nie erraten.« Er blickte auf seine Uhr. Die junge Staatsanwältin stand auf. »Jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte sie mit einem Seufzen. »Ich habe sehr viel zu tun, aber irgendwie kann ich Sie nicht gehen lassen. Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie zu den Docks. Vielleicht fällt mir unterwegs noch etwas ein.« »Wer bin ich«, sagte Chan lächelnd, »daß mir so überwältigende Ehre zuteil wird? Bin sprachlos vor Entzücken. Mr. Kirk…« »Oh, ich begleite Sie ebenfalls. Ich sehe immer gern zu, wenn ein Boot ablegt. Der liebe Gott hat mich zu
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einem reisenden Händler bestimmt.« Chan holte seine Tasche, bezahlte die Rechnung, und dann stiegen die drei in Kirks Wagen, der um die Ecke parkte. »Sehr bald naht Augenblick«, sagte der Detektiv, »in dem ich nicht ohne Bedauern verlasse drangvolles Festland. Schicksal in lächelnder Stimmung, solange ich hier war.« »Warum gehen Sie dann überhaupt?« fragte Kirk. »Lange Erfahrung«, erwiderte Chan, »flüstert mir zu, gute Laune von Schicksal nicht über Gebühr auszunutzen. Lächeln könnte vergehen.« »Wollen Sie sich unterwegs noch irgendwo aufhalten?« fragte Kirk. »Sie haben noch dreißig Minuten bis zum Auslaufen des Schiffes.« »Danke, sehr liebenswürdig, aber Abschied liegt schon hinter mir. Erst heute morgen war ich in Chinatown…« Er unterbrach sich. »Großes Glück, daß Sie mich begleiten«, setzte er, für June Morrow bestimmt, hinzu. »Ich habe vergessen sehr wichtige Information für Sie. Weiterer Pfad, den Sie beschreiten müssen.« »Du meine Güte!« Sie seufzte. »Mir ist schon ganz schwindelig. Was kommt jetzt?« »Sie müssen Information schnell weitergeben an Captain Flannery. Er muß sofort Chinesen suchen, der in der Stadt fremd ist und sich bei Verwandten in Jackson Street aufhält. Fremder Chinese heißt Li Gung.« »Wer ist Li Gung?« fragte June Morrow. »Gestern, als köstlicher Lunch zu Ende, höre ich von Sir Frederic Name Li Gung zum erstenmal.« Er gab seine Unterhaltung mit dem großen Mann wieder. »Li Gung hatte Information, die Sir Frederic unbedingt haben wollte. Das ist alles, was ich sagen kann. Cap-
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tain Flannery muß Information von Li herausholen.« »Er wird sie nie bekommen«, erwiderte June Morrow pessimistisch. »Jetzt zu Ihnen, Sergeant…« Chan holte tief Atem. »Bin völlig überwältigt von strahlender Schönheit dieses Morgens, an dem ich Festland Lebewohl sage.« Sie fuhren schweigend weiter, während die junge Staatsanwältin angestrengt nachdachte. Wenn ich nur einen Weg wüßte, diesen unnachgiebigen Mann zu erreichen und umzustimmen, dachte sie, wenn mir ein Argument einfiele, das von ihm nicht abliefe wie Wasser vom Rücken einer Ente. Schnell ließ sie sich durch den Kopf gehen, was sie je über das Wesen und den Charakter der Chinesen gelesen hatte. Kirk fuhr seinen schnittigen Roadster bis zum Pier und hielt ganz in der Nähe des Landungsstegs der ›Maui‹. Das große weiße Schiff wirkte im Schmuck der bunten Kleider und Hüte seiner weiblichen Passagiere überaus fröhlich. Taxis fuhren vor, Reisende stiegen aus, Stewards in weißen Jacken standen gelangweilt in Reih und Glied, für eine neue Fahrt bereit. Abschiedsgrüße und letzte Ermahnungen flogen zwischen Schiff und Pier hin und her. Ein Steward nahm Chans Koffer in Empfang. »Hallo, Sergeant«, sagte er. »Geht es wieder nach Hause? Welche Kabine bitte?« Chan sagte es ihm und wandte sich dann wieder den beiden jungen Leuten in seiner Begleitung zu. »Bei Gedanken an Ihre Freundlichkeit, fehlen mir Worte«, sagte er. »Ich kann nur sagen – leben Sie wohl.« »Grüßen Sie den jüngsten Chan von mir«, sagte Kirk. »Vielleicht lerne ich ihn eines Tages kennen.« »Was in mir Erinnerung weckt«, entgegnete Chan,
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»daß ich mir erst heute morgen Kopf zerbrach, wie ich ihn nennen soll. Mit gütiger Erlaubnis wird er Barry Chan heißen.« »Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, antwortete Kirk ernst. »Ich wünschte, ich könnte ihm etwas schicken – jetzt, sofort. Einen Taufbecher oder etwas Ähnliches. Sie hören noch von mir.« »Hoffe nur, er wird Namen in Ehren tragen. Miß Morrow, ich lasse in diesem Hafen allerherzlichste gute Wünsche zurück…« Sie sah ihn sonderbar an. »Danke«, sagte sie kühl. »Ich wünschte, Sie hätten bleiben können, Mr. Chan. Aber selbstverständlich verstehe ich Ihren Standpunkt. Der Fall ist zu schwierig. Charlie Chan läuft zum erstenmal davon. Ich fürchte, der berühmte Sergeant aus Honolulu hat heute sein Gesicht verloren.« Ein Ausdruck der Betroffenheit flog über das sonst so unbewegliche Gesicht. Lange sah Chan June Morrow sehr ernst an, dann verneigte er sich sehr steif. »Leben Sie wohl«, sagte er und ging, ganz gekränkte Würde, den Landungssteg hinauf. Kirk sah die junge Frau erstaunt an. »Gucken Sie mich nicht so an!« rief sie zerknirscht. »Ich weiß, es war grausam, aber es war meine letzte Chance. Ich habe alles andere versucht. Nun, auch das hat nicht funktioniert. Gehen wir.« »Warten wir doch noch«, bat Kirk. »Sie legen in einer Minute ab. Für mich ist das immer ein tolles Erlebnis. Schauen Sie – dort oben, auf dem Bootsdeck!« Er nickte zu einem hübschen Mädchen hinauf, das ganz in Grau war und einen Orchideenzweig an der Schulter trug. »Eine Braut, wenn Sie mich fragen. Und ich vermute, diese Idiot mit dem nichtssagenden Gesicht
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neben ihr, ist der glückliche Bräutigam.« Miß Morrow warf einen uninteressierten Blick hinauf. »Ein großartiger Ort für Flitterwochen – Hawaii«, fuhr Kirk fort. »Ich habe schon oft gedacht – hoffentlich langweile ich Sie nicht?« »Nicht sehr«, sagte sie. »Ich weiß. Bräute lassen Sie kalt. Scheidungen sind wohl eher Ihr Fall. Sie und Blackstone. Aber es wird Ihnen nicht gelingen, mein romantisches junges Herz zu ernüchtern.« Er nahm ein Taschentuch heraus und winkte dem Mädchen auf dem Bootsdeck zu. »Auf Wiedersehen, meine Liebe!« rief er hinauf. »Alles Glück der Welt!« »Ich sehe Mr. Chan nirgends«, sagte die junge Staatsanwältin. Mr. Chan saß nachdenklich auf dem Rand des Bettes in seiner Kabine. Das große Glück der so lange ersehnten Heimkehr war heftig erschüttert worden. Lief er davon? Fürchtete er sich vor dem schwierigen Fall? Glaubte Miß Morrow das tatsächlich? Wenn sie es glaubte, hatte er wirklich das Gesicht verloren. Aus der Nachbarkabine drang eine Stimme in seine düsteren Gedanken – eine Stimme, die er schon gehört hatte. Er lauschte, und das Herz stand ihm beinahe still. »Ich glaube, das ist alles, Li«, sagte die vertraute Stimme. »Sie haben Ihren Paß, Ihr Geld. Sie brauchen in Honolulu nur auf mich zu warten. Am besten halten Sie sich versteckt.« »Das werde ich tun«, antwortete eine hohe, singende Stimme. »Und wenn Ihnen jemand Fragen stellt, Sie wissen nichts. Verstanden?«
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»J-a-a-a, ich werde schweigen. Ich verstehe.« »Sehr gut. Sie sind ein großartiger Diener, Li Gung. Ich schmeichle Ihnen nur ungern, Sie grinsender Halunke, aber ich würde ohne Sie nicht fertig. Auf Wiedersehen und gute Reise.« Chan war aufgesprungen, hatte seine Tür einen Spaltbreit, geöffnet und spähte hinaus in den halbdunklen Gang, an dem die Kabinen des untersten Decks lagen. In dem schwachen Licht sah er eine ihm wohlbekannte Gestalt die Nachbarkabine verlassen und sich entfernen. Der Detektiv blieb einen Augenblick unentschlossen stehen. Von allen Gästen auf Barry Kirks Party hatte ihn vor allem einer interessiert und zwar so ausschließlich, daß er die anderen kaum beachtet hatte. Der hochgewachsene, finstere, schweigsame Mann, der sein Lager schon in allen Wüsteneien der Welt aufgeschlagen, der Tote auf seinem Weg zurückgelassen hatte, aber immer weitergegangen war, unbarmherzig seinem Ziel entgegen. Colonel John Beetham, der eben aus der Nachbarkabine herausgekommen war, nachdem er Li Gung einen letzten Abschiedsgruß zugerufen hatte. Chan warf einen Blick auf die Uhr. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, sich nie zu beeilen, doch jetzt mußte er es tun. Er seufzte so abgrundtief, daß die Gläser in ihren Behältern zitterten, dann griff er nach seinem Koffer. Auf dem Salondeck traf er den Zahlmeister. »Geht’s heimwärts, Charlie?« fragte er vergnügt. »Ich dachte es«, erwiderte Chan, »doch wie es scheint, ich habe mich geirrt. Im letzten Moment treibt mich etwas an Land zurück. Meine Passage ist aber
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nur für dieses Boot gültig.« »Ach, das regeln die im Büro schon irgendwie. Sie kennen Sie ja alle, Charlie.« »Danke sehr vielmals für Vorschlag. Mein Schrankkoffer ist schon verladen. Freundlicherweise verständigen meinen ältesten Sohn, der ihn holen wird, während in Honolulu vor Anker liegen.« »Aber das tu’ ich doch gern.« Zum letztenmal erklang der Ruf »Besucher von Bord«. »Bleiben Sie nur nicht zu lange auf dem sündigen Festland«, warnte der Zahlmeister. »Nur eine Woche!« rief Chan über die Schulter zurück. »Bis zum nächsten Boot. Ich schwöre!« Auf dem Pier packte June Morrow Kirks Arm. »Schauen Sie doch mal, wer da den Landungssteg herunterkommt! Colonel Beetham. Was macht der denn hier?« »Beetham, tatsächlich!« sagte Kirk. »Soll ich ihm anbieten, ihn in die Stadt mitzunehmen? Nein, ein Taxi wartet auf ihn. Lassen wir ihn gehen. Er ist irgendwie kalt, ich mag ihn nicht.« Er sah dem Colonel nach, der in ein Taxi stieg und davonfuhr. Als er sich zur »Maui« zurückwandte, waren zwei kräftige Matrosen dabei, das Fallreep einzuziehen. Plötzlich tauchte zwischen ihnen eine rundliche, kleine Gestalt auf, die mit einer Hand den Koffer umklammerte. June Morrow schrie vor Freude laut auf. »Es ist Chan«, sagte Kirk. »Er kommt an Land.« Und an Land kam Charlie, während man ihm fast das Fallreep unter den Füßen wegzog. Unsicher blieb er vor den beiden jungen Leuten stehen. »Augenblick leichter Verlegenheit für mich«, sagte er. »Reisender, der sich verabschiedet hat, kehrt zurück, bevor er geht.«
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»Mr. Chan!« rief June Morrow. »Sie sind ein Schatz! Sie wollen uns also doch helfen?« Chan nickte. »So weit schwache Fähigkeit reicht, ich bin bei Ihnen bis zum Ende, ob bitter oder süß.« Auf dem Bootsdeck der »Maui« begann die Kapelle »Aloha« zu spielen, das ergreifendste Abschiedslied der Welt. Lange Streifen bunten Papiers flogen durch die Luft. Die letzten Grüße, letzte Ermahnungen –, eine Stimme, die laut rief: »Vergiß nicht zu schreiben!« Mit einem Schleier vor den Augen sah Charlie Chan zu. Langsam entfernte sich das Boot vom Pier. Heftig winkend lief die Menge ein Stück mit ihm mit. Charlies Gestalt wurde von einem zweiten abgrundtiefen Seufzer erschüttert. »Armer kleiner Barry Chan«, sagte er. »Er wäre so glücklich gewesen, unwürdigen Vater zu sehen. Captain Flannery wird ganz und gar nicht glücklich sein. Fahren wir, damit Probleme uns nicht weglaufen.«
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6. Kapitel
Der Gastdetektiv Barry Kirk schob Chans Koffer in den Kofferraum seines Roadsters, und wieder drängte sich das Trio auf der einzigen Sitzbank des Wagens zusammen. Barry Kirk wendete, und bald darauf hatten sie den Pier hinter sich gelassen und fuhren The Embarcadero, die lange, im hellen Sonnenschein liegende Hafenstraße entlang. »Können Staunen über meine Rückkehr nicht überwinden, nicht wahr?« fragte Chan. June Morrow zuckte mit den Schultern. »Sie sind wieder da. Das genügt mir.« »Dennoch will ich meine Schande eingestehen. Wie es scheint, ist mir Umgang mit Festlandamerikanern nicht so gut bekommen, habe mich mit beinahe größtem Fehler angesteckt, den sie haben. Leide jetzt auch unter Neugier. Ereignis auf Schiff hat wie Blitz von Himmel meine verborgene Schwäche aufgedeckt.« »Auf dem Boot ist etwas passiert?« fragte Miß Morrow. »Und ob etwas passiert ist! Vorhin auf Fahrt durch Stadt erzähle ich Ihnen von Li Gung. Ich sage Ihnen daß er befragt werden muß. Jetzt er kann nicht mehr befragt werden.« »Nein? Warum nicht?« »Weil er an Bord von auslaufender ›Maui‹ ist. Große Wahrscheinlichkeit, daß er bald großes Unbehagen fühlen wird im Sitz aller Weisheit, dem Magen.« »Li Gung auf der ›Maui‹?« wiederholte die junge Staatsanwältin erstaunt. »Was hat das zu bedeuten?« »Das ist Frage, die Verstand ganz schön kitzelt«, gestand Chan. »Nicht nur ist Li Gung an Bord von
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›Maui‹, sondern wurde auch von gemeinsam Freund herzlich ermutigt abzureisen.« Er wiederholte die kurze Unterhaltung in der Nebenkabine, die er durch Zufall gehört hatte. »Colonel Beetham, wie?« sagte Barry Kirk endlich. »Nun, kann nicht behaupten, daß ich überrascht bin.« »Unsinn!« rief June Morrow warm. »Er hat bestimmt nichts damit zu tun. Ein feiner Mann wie er!« »Feiner Mann«, räumte Chan ein, »und harter Mann. Sehen Sie ihm in Augen, was erblicken da? Sind kalt und glänzen, wie bei Tiger. Nichts darf im Weg stehen, wenn solche Augen auf großen Erfolg gerichtet sind – nichts steht lange im Weg und bleibt am Leben.« June Morrow schien noch nicht überzeugt. »Ich glaube es nicht. Aber hätten wir nicht Li Gung vom Boot holen sollen?« Chan zuckte mit den Schultern. »Zu spät. Gelegenheit hatte zu schnelle Flügel und flog davon.« »Dann lassen wir ihn in Honolulu vernehmen«, sagte June Morrow. Chan schüttelte den Kopf. »Entschuldigen vielmals, wenn ich sage, das wäre nicht richtig. Kenne chinesischen Charakter zu gut. Vernehmung würde kein Ergebnis haben – außer einem. Würde nur dazu dienen, Colonel Beetham aufmerksam zu machen, daß wir ihn ansehen mit eisigem Auge. Mir schaudert bei diesem Gedanken – dieser Colonel ist kluger Mann. Schwierig genug zu beschatten, wenn er nichts ahnt. Unmöglich, wenn er auf der Hut ist.« »Was schlagen Sie dann vor?« fragte die junge Frau. »Lassen Sie ahnungslosen Li Gung überwachen. Wenn er von Honolulu Weiterreisen will, rauhe Hände werden ihn zurückhalten. Darüber hinaus wir gestatten
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ihm, sich zu verstecken, wie Wintermantel im Sommer.« Chan wandte sich an Barry Kirk. »Bringen Sie mich ins Hotel zurück?« »O nein.« Kirk lächelte. »Kein Hotel mehr für Sie. Wenn Sie versuchen wollen, dieses kleine Rätsel zu lösen, ist das Kirk-Building, wo die ganze Sache ihren Anfang nahm, der richtige Platz für Sie. Meinen Sie nicht auch, Miß Morrow?« »Das ist wirklich reizend von Ihnen«, sagte June Morrow. »Aber durchaus nicht. Wenn man nicht wenigstens einen Gast hat, fühlt man sich sehr einsam dort oben, wo der Nebel beginnt. Und im Augenblick sind mir alle Gäste ausgegangen, ich meine – eh – Mr. Chan tut mir wirklich nur einen Gefallen.« Er wandte sich an Charlie. »Sie bekommen Sir Frederics Zimmer«, setzte er hinzu. »Kann solche Güte nie vergelten, deshalb versuche ich erst gar nicht.« »Gehen wir erst mal in mein Büro«, sagte June Morrow. »Ich möchte, daß der Bezirksstaatsanwalt Mr. Chan kennenlernt. Wir müssen alle Freunde sein – wenigstens am Anfang.« »Wie Sie wünschen«, entgegnete Kirk und fuhr die Market Street entlang nach Kearny. Während June Morrow und Charlie zu den Büros der Bezirksstaatsanwaltschaft hinaufgingen, blieb er im Wagen sitzen. Als die junge Staatsanwältin und der Detektiv aus Honolulu das Büro des Staatsanwalts betraten, fanden sie Captain Flannery dort vor. »Mr. Tränt, ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte die junge Frau. »Oh, guten Morgen, Captain!« Flannerys irische Augen lächelten nicht gerade, als sie
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auf Charlie Chan fielen. »Wie ist mir denn, Sergeant?« sagte er grollend. »Ich dachte, Sie wollten um zwölf Uhr mit der ›Maui‹ nach Honolulu auslaufen?« Chan lachte schmunzelnd. »Sie werden entzückt sein zu hören, daß ich habe Pläne geändert. Miß Morrow hat mich überredet zu bleiben und schwache geistige Fähigkeit berühmtem Verstand von Captain hinzuzufügen.« »Tatsächlich?« sagte Flannery. »Ja, ist es nicht wunderbar!« rief die junge Staatsanwältin. »Mr. Chan wird uns helfen.« Sie wandte sich an ihren Chef. »Sie müssen ihm. vorübergehend den Status eines Gastdetektivs einräumen, der für unser Büro arbeitet.« Tränt lächelte. »Wäre das nicht ein bißchen irregulär?« »Unmöglich«, sagte Flannery energisch. »Aber gar nicht«, sagte June Morrow hartnäckig. »Es ist ein schwieriger Fall, und wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können. Sergeant Chan wird sich in Ihre Ermittlungen nicht einmischen, Captain.« »Das wird er ganz bestimmt nicht«, erwiderte Flannery mit Nachdruck. »Er kann in beratender Funktion handeln. Eine Persönlichkeit wie Sie nimmt auch gern einmal einen Rat an, das weiß ich.« »Wenn der Rat etwas taugt«, sagte der Captain. Die junge Frau sah Tränt bittend an. »Sie haben Urlaub, Sergeant?« fragte der Bezirksstaatsanwalt. »Der sich dehnt und dehnt wie ein Gummiband.« Chan nickte. »Nun gut. Da es der Wunsch von Miß Morrow ist, sehe ich keinen Grund, ihr die wertvolle Hilfe vorzuenthal-
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ten, die Sie ihr zweifellos sein können. Wobei Sie beide natürlich nicht vergessen dürfen, daß Sie sich nicht in Captain Flannerys Arbeit einzumischen haben.« »Das sagen Sie am besten noch einmal«, meinte Flannery. Er wandte sich an Chan. »Es bedeutet, daß Sie die Nase nicht in meine Untersuchung stecken und mir alles verderben dürfen.« Chan zuckte mit den Schultern. »Der weise Konfutse hat gesagt: ›Wer kein Amt hat, soll sich nicht ungefragt in Angelegenheiten von Regierung mischen.‹ Arbeit ist und bleibt ganz die Ihre. Ich bleibe im Hintergrund und denke nach.« »Das ist mir recht«, stimmte Flannery zu. »Ich führe alle Ermittlungen durch.« Er wandte sich an den Bezirksstaatsanwalt. »Als erste knöpfe ich mir diese Garland vor. Ich will alles über die Perle wissen, die sie unter Sir Frederics Schreibtisch fallen ließ.« »Bitte glauben Sie nicht, daß ich mich einmischen will«, sagte June Morrow liebenswürdig, »doch soweit es die Frauen betrifft, die in den Fall verwickelt sind, habe ich das Gefühl, daß ich mehr aus ihnen herausholen kann als Sie. Weil ich selbst eine Frau bin, wissen Sie? Überlassen Sie mir Miß Garland bitte!« »Das sehe ich nicht so«, sagte Flannery eigensinnig. »Ich schon«, meinte Tränt mit großer Entschiedenheit. »Miß Morrow ist eine kluge junge Frau, Captain. Überlassen Sie es ihr, die Frauen zu befragen. Sie können die Männer übernehmen.« »Ich danke Ihnen sehr.« June Morrow lächelte und setzte damit voraus, daß Flannery einverstanden war. »Dann suche ich Miß Garland auf. Es gibt da aber noch eine andere Frau, die sofort befragt werden muß – eine gewisse Miß Lila Barr. Ich muß so bald wie mög-
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lich mit ihr reden. Selbstverständlich erfahren Sie die Ergebnisse meiner Ermittlungen sofort, Captain.« Flannery warf die Arme in die Luft. »Na gut, erzählen Sie mir, was los war, wenn die Sache zu Ende ist. Ich bin ja hier der Niemand.« »Ganz falsch«, sagte Chan beschwichtigend. »Sie sind wichtigster Mann. Wenn Augenblick von Triumph gekommen, wer wird alle Ehren einheimsen? und das mit Recht? Captain Flannery, der Untersuchung von Fall leitete. Alle anderen werden verschwinden wie Nebel in Sonne von San Francisco.« Die junge Frau erhob sich. »Wir müssen weiter. Wir sehen uns später, Captain. Kommen Sie, Sergeant Chan.« Auch Chan stand auf. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. »Captain muß entschuldigen. Glaube, ich bin ihm so unangenehm wie wunder Finger. Würde genauso empfinden.« »Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Flannery. »Sie wollen sich ja im Hintergrund halten und nachdenken. Das haben Sie versprochen. Denken Sie, soviel Sie wollen, das kann ich nicht verbieten.« Sein Gesicht hellte sich auf. »Denken Sie an das Jahrbuch des Cosmopolitan Club. Ich überlasse es Ihnen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich habe anderswo zu tun. Auf etwas jedoch bestehe ich – Sie dürfen den Leuten, die in den Fall verwickelt sind, keine Fragen stellen.« Chan verneigte sich. »Bin Schüler von berühmtem Philosophen, Captain«, antwortete er. »Von altem Mann in China, der sagte: ›Narr fragt andere, weiser Mann sich selbst.‹ Wir sehen uns wieder.« Er verließ hinter June Morrow das Büro.
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Mit hochrotem Gesicht wandte Flannery sich an den Bezirksstaatsanwalt. »Feine Sache das!« rief er. »Der schwierigste Fall, der mir je untergekommen ist, und was für Helfer werden mir zugeteilt? Ein Mädchen mit einem Puppengesicht und ein Chinese! Ich – ich…« Er begann vor sich hinzufluchen. Tränt lächelte. »Wer weiß?« entgegnete er. »Vielleicht haben Sie von den beiden mehr Hilfe zu erwarten, als Sie jetzt denken.« »Ich wäre überrascht, wenn die beiden mir auch nur ein bißchen helfen könnten.« Flannery stand auf. »Eine Frau und ein Chinese! Zum Teufel, ich werde noch zum Gespött der Truppe.« Die beiden von Flannery so gering Geschätzten waren inzwischen zu dem ungeduldig in seinem Wagen wartenden Barry Kirk zurückgekehrt. »Eine innere Leere«, erklärte er, »sagte mir, daß schon Lunchzeit ist. Sie essen beide bei mir. Beeilen Sie sich bitte.« Im Bungalow auf dem Kirk-Building wies er Paradise an, noch zwei Gedecke aufzulegen, während er selbst dem Detektiv aus Honolulu sein Zimmer zeigte. Er ließ Chan dort allein, damit er auspacken konnte, und kehrte selbst zu June Morrow zurück. »Sie scheinen der ewige Gastgeber zu sein«, sagte sie lächelnd zu ihm. »Ich finde Charlie sehr amüsant«, antwortete er. »Er ist ein feiner Kerl, und ich mag ihn. Aber um Ihnen etwas zu gestehen, ich hatte noch andere Gründe, ihn einzuladen. Sie und er werden gemeinsam hier arbeiten, und das bedeutet – was?« »Es bedeutet, daß ich hoffe, viel zu lernen.« »Dadurch, daß Sie sich mit Chan zusammentun?« »Genau.«
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»Und wenn Sie sich mit meinem Gast zusammentun, werden Sie gelegentlich auch über mich stolpern – zwangsläufig. Ich bin ein kluger Junge. Ich habe es kommen sehen.« »Ich verstehe nicht. Warum wollen Sie, daß ich über Sie stolpere?« »Weil ich dann jedesmal aufspringen und Sie ansehen werde, und das wird für mich ein Feiertag sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Sie sind schrecklich leichtsinnig. Wenn ich Sie zu häufig sehe, werden Sie mich anstecken, und ich verliere meine Stellung.« »Aber bedenken Sie doch das Gegenteil, meine Dame. Vielleicht ziehen Sie mich immer höher zu sich hinauf. Das wäre durchaus möglich, wissen Sie?« »Das bezweifle ich«, sagte sie. Chan kam herein, und Paradise, den auch unerwartete Gäste nicht aus der Fassung brachten, servierte einen ausgezeichneten Lunch. Gegen Ende der Mahlzeit sagte Kirk ernst: »Ich habe über dieses Barr-Mädchen aus dem zwanzigsten Stockwerk nachgedacht. Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, wieso es kam, daß ich Sir Frederic zu mir einlud? Sein Sohn ist ein Bekannter von mir – kein Freund, ich kenne ihn nur flüchtig –, und er schrieb mir, sein Vater komme nach San Francisco. Ich rief Sir Frederic in seinem Hotel an. Von Anfang an schien er sich lebhaft für das Kirk-Building zu interessieren, ich hatte keine Ahnung, warum. Er stellte mir unzählige Fragen, und als er erfuhr, daß ich auf dem Dach wohne, hat er sich praktisch selbst eingeladen. Nicht, daß ich mich nicht darüber gefreut hätte, ihn bei mir zu haben, verstehen Sie, doch da war eine
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gewisse Unterströmung in dem, was er sagte. Nun ja, ich fühlte einfach, daß er um jeden Preis bei mir wohnen wollte. Das war doch merkwürdig, oder?« »Sehr merkwürdig«, stimmte June Morrow zu. »Nach etwa zwei Tagen fing er an, mir Fragen über die Calcutta Importers zu stellen, und schließlich schien sich sein Interesse auf Miß Lila Barr zu konzentrieren. Ich wußte nichts über die Firma und ebensowenig über Miß Barr – von ihr hatte ich überhaupt noch nie etwas gehört. Später fand er heraus, daß Kinsey, das ist mein Sekretär, das Mädchen kennt, und von da an richtete er alle Fragen an ihn, obwohl ich vermute, daß er nicht mehr so direkt fragte. Eines Tages hörte ich dann im Büro, wie Kinsey sich bei Sir Frederic erkundigte, ob er Miß Barr kennenlernen wolle, und ich hörte auch seine Antwort.« »Was hat er gesagt?« fragte June Morrow sofort. »Ganz einfach: >Später vielleicht^ und das mit einer, wie ich fand vorgetäuschten Gleichgültigkeit. Ich weiß nicht, ob das alles überhaupt irgendwie wichtig ist…« »Im Hinblick darauf, daß Miß Lila Barr einmal beobachtet wurde, als sie weinend von Sir Frederic kam, ist das meiner Meinung nach sehr wichtig«, erwiderte June Morrow. »Finden Sie nicht, Mr. Chan?« Chan nickte. »Miß Barr scheint überaus interessante Persönlichkeit«, stimmte er zu. »Sehne fast leidenschaftlich Vernehmung herbei.« June Morrow stand auf. »Ich rufe gleich mal im Büro der Calcutta Importers an und bitte Miß Barr, heraufzukommen«, erklärte sie und ging ans Telefon. Fünf Minuten später betrat Miß Lila Barr das Wohnzimmer in Begleitung des untadeligen Paradise. Sie blieb einen Augenblick stehen und musterte die drei,
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die sie erwarteten. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, ein wenig kleiner als mittelgroß, mit echtem Blondhaar, einen Ausdruck staunender Unschuld in den blauen Augen. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Die junge Staatsanwältin stand auf und lächelte dem Mädchen freundlich zu. »Ich bin Miß Morrow, das ist Mr. Charlie Chan und das Mr. Barry Kirk.« »Guten Tag«, sagte das Mädchen leise. »Ich möchte mich ein bißchen mit Ihnen unterhalten – ich komme vom Büro des Bezirksstaatsanwalts«, fuhr June Morrow fort. Einen jetzt unverkennbar erschrockenen Ausdruck in den Augen, starrte das Mädchen sie an. »Ja – «, sagte es unsicher. »Setzen Sie sich bitte.« Kirk wies auf einen Sessel. »Sie wissen selbstverständlich, daß gestern abend in Ihrem Stockwerk ein Mord begangen wurde«, begann June Morrow. »Natürlich weiß ich das«, antwortete Lila Barr kaum hörbar. »Sie haben gestern noch spät im Büro gearbeitet?« »Ja. Es ist der Monatserste, und da habe ich immer zusätzliche Arbeit.« »Um wieviel Uhr haben Sie das Gebäude verlassen?« »So gegen zweiundzwanzig Uhr fünfzehn, glaube ich. Ich bin nicht sicher. Aber als ich ging, hatte ich selbstverständlich keine Ahnung von dieser gräßlichen Sache.« »Gut. Ist Ihnen im Gebäude ein Fremder begegnet?« »Nein. Kein einziger. Überhaupt niemand.« Ihre Stimme wurde plötzlich lauter. »Sagen Sie – « June Morrow sah sie sehr eindringlich
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an –, »kannten Sie Sir Frederic Bruce überhaupt? Ich meine, kannten Sie ihn persönlich, nicht nur vom Sehen?« »Nein, ich habe ihn nie kennengelernt.« »Sie haben ihn nie kennengelernt. Überlegen Sie bitte genau, was Sie sagen. Sie haben ihn auch nicht kennengelernt, als Sie vorgestern abend bei ihm im Büro waren?« Lila Barr zuckte zusammen. »Oh, da habe ich ihn gesehen. Ich – ich dachte, Sie meinten, ob ich ihm je vorgestellt worden sei.« »Dann waren Sie vorgestern abend in seinem Büro?« »Ich ging in Mr. Kirks Büro. Im zweiten Raum saß ein großer Mann mit einem Schnurrbart hinter dem Schreibtisch. Ich nehme an, das war Sir Frederic Bruce?« »Sie nehmen an?« »Nun ja, jetzt weiß ich natürlich, daß er es war. Ich habe heute morgen sein Bild in der Zeitung gesehen.« »War er allein im Büro, als Sie hineinkamen?« »Ja.« »War er derjenige, zu dem Sie wollten?« »Nein, er war es nicht.« »Als Sie das Büro verließen, sind Sie in Tränen ausgebrochen.« Wieder zuckte Lila Barr zusammen und wurde feuerrot. »War der Anblick von Sir Frederic daran schuld?« »O nein!« rief Lila Barr heftig. »Warum haben Sie dann geweint?« »Es war eine – rein persönliche Sache. Ich brauche doch wohl nicht näher darauf einzugehen.« »Leider werden Sie es müssen«, entgegnete June Morrow. »Es handelt sich hier um eine sehr ernste Ange-
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legenheit, das wissen Sie selbst.« Lila Barr zögerte. »Nun – ich…« »Erzählen Sie mir alles, was vorgestern abend passiert ist.« »Nun ja, ich habe nicht geweint, weil ich Sir Frederic sah, sondern weil – nun ja, weil ich jemand nicht sah.« »Weil Sie jemand nicht sahen? Erklären Sie mir das bitte.« »Nun gut.« Impulsiv machte das Mädchen einen Schritt auf June Morrow zu. »Ich kann es Ihnen sagen, Sie werden es bestimmt verstehen. Mr. Kinsey, Mr. Kirks Sekretär, und ich, wir – wir sind praktisch verlobt. Mr. Kinsey wartet jeden Abend auf mich, wir gehen essen, und dann bringt er mich nach Hause. Vorgestern hatten wir einen kleinen Streit – es ging um eine ganz dumme Sache, Sie wissen ja, wie das ist…« »Ich kann es mir vorstellen«, antwortete June Morrow ernst. »Es war wirklich wegen nichts und wieder nichts. Ich wartete an diesem Abend lange auf ihn, aber er holte mich nicht ab. Deshalb dachte ich, daß vielleicht ich im Unrecht gewesen sei. Ich schluckte meinen Stolz hinunter und ging Mr. Kinsey suchen. Ich öffnete die Tür zu Mr. Kirks Büro und trat ein. Selbstverständlich nahm ich an, Mr. Kinsey würde da sein. Aber Sir Frederic war allein im Büro und Mr. Kinsey schon fort. Ich murmelte eine Entschuldigung, Sir Frederic sagte nichts, er sah mich nur an. Ich lief wieder hinaus und – vielleicht kennen Sie das Gefühl, Miß Morrow…« »Sie brachen in Tränen aus, weil Mr. Kinsey nicht auf Sie gewartet hatte?« »Ich fürchte, ja. Das war dumm von mir, nicht wahr?«
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»Nun, das macht nichts.« June Morrow schwieg einen Augenblick. »Die Firma, bei der Sie arbeiten, importiert aus Indien?« »Ja, hauptsächlich Seide und Baumwolle.« »Waren Sie je in Indien, Miß Barr?« Das Mädchen zögerte. »Als ich noch sehr klein war, lebte ich ein paar Jahre mit meinen Eltern dort.« »Wo?« »Hauptsächlich in Kalkutta.« »An anderen Orten auch?« Lila Barr nickte. »Vielleicht in Peshawar?« »Nein«, antwortete das Mädchen, »in Peshawar bin ich nie gewesen.« Chan hustete ziemlich laut, Miß Morrow fing einen Blick von ihm auf und ließ das Thema Indien fallen. »Sie hatten noch nie von Sir Frederic gehört, bevor er hierherkam?« »Aber nein.« »Und Sie haben ihn nur dieses einzigemal gesehen, und da sagte er kein einziges Wort?« »Nur dieses einzigemal.« June Morrow stand auf. »Ich danke Ihnen sehr. Das genügt im Augenblick. Ich nehme an, Mr. Kinsey hat sich entschuldigt.« Das Mädchen lächelte. »O ja, jetzt ist wieder alles in Ordnung. Nett, daß Sie gefragt haben.« Sie ging rasch hinaus. Barry Kirk war aus dem Zimmer verschwunden gewesen und kam jetzt zurück. »Kinsey ist unterwegs nach oben«, verkündete er. »Ich dachte mir, Sie sollten ihn sich schnell vornehmen, bevor die beiden ihre Aussagen aufeinander abstimmen können. Langsam werde ich selbst ein kleiner Detektiv.«
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»Ausgezeichnet.« June Morrow nickte anerkennend. Ein sehr gut gekleideter, dunkler junger Mann trat ein. »Sie wollten mich sprechen, Mr. Kirk«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich mich in Ihre Privatangelegenheiten mischen muß, Kinsey, aber wie ich höre, sind Sie mit einer gewissen Miß Lila Barr, die bei einer Firma im zwanzigsten Stock arbeitet, praktisch verlobt. Richtig?« Kinsey lächelte. »Selbstverständlich, Mr. Kirk. Ich wollte es Ihnen längst sagen, doch es ergab sich nie eine günstige Gelegenheit.« »Vorgestern hatten Sie einen kleinen Streit mit ihr?« »Ach, das war nichts, Sir.« Kinseys dunkles Gesicht umwölkte sich. »Es ist schon wieder in Ordnung.« »Das ist gut. Aber an dem Abend haben Sie, im Gegensatz zu Ihrer Gewohnheit, nicht auf sie gewartet, um sie nach Hause zu bringen? Sie sind ihr weggelaufen?« »Leider ja. Ich war ein bißchen verärgert.« »Und Sie wollten ihr eine Lektion erteilen. Das nenne ich die richtige Einstellung. Das war alles, und entschuldigen Sie bitte, daß ich so persönlich geworden bin.« »Ach, schon gut, Sir.« Kinsey wandte sich ab, um zu gehen, zögerte dann aber. »Mr. Kirk…« »Ja, Kinsey?« »Nichts, Sir«, sagte Kinsey und ging. Kirk sah June Morrow an. »Da haben Sie’s. Die Aussage von Miß Lila Barr unwiderlegbar bestätigt.« »Und eine so vernünftige Geschichte noch dazu!« Die junge Staatsanwältin seufzte. »Aber sie bringt uns nicht weiter. Ich muß sagen, ich bin enttäuscht. Mr. Chan, Sie haben gefunden, ich sei zu weit gegangen –
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im Hinblick auf Indien?« Chan zuckte mit den Schultern. »In diesem Spiel besser, wenn Gegenspieler nicht weiß, was wir denken. Große Unschuld voraussetzen, ist immer mein Ziel. Manchmal setze ich genau das Richtige voraus. Ein andermal wieder ich taste mit größter Vorsicht weiter.« »Ich fürchte, ich hätte mich mit noch größerer Vorsicht weitertasten sollen«, entgegnete die junge Frau vorwurfsvoll. »Die Geschichte klang absolut plausibel und dennoch – ich weiß nicht…« »Nun, eines steht fest«, mischte Kirk sich ein, »sie ist nicht Eve Durand.« »Woher wissen Sie das?« fragte June Morrow. »Nun ja, ich schließe es aus ihrem Alter, sie ist noch ein halbes Kind.« June Morrow lachte. »Es ist ein Glück, daß eine Frau bei dieser Untersuchung mitmischt«, sagte sie. »Ihr Männer seid doch entsetzlich blind, wenn es sich um eine Blondine handelt.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, es gibt verschiedene Kunstkniffe, die einen Mann täuschen können, aber nie eine Frau. Miß Barr ist wenigstens Dreißig.« Kirk pfiff durch die Zähne. »Ich muß vorsichtiger sein«, sagte er. »Ich hielt sie für süße Zwanzig.« Er wandte sich Paradise zu, der neben ihm aufgetaucht war. Der Butler hatte, ein Silbertablett wie die Reichsinsignien vor sich hertragend, lautlos den Raum betreten. »Was soll ich damit machen, Sir?« fragte er. »Womit denn?« »Mit den Briefen, die für Sir Frederic Bruce gekommen
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sind. Sie wurden eben von der örtlichen Filiale von Thomas Cook und Söhne hier abgegeben.« June Morrow kam lebhaft näher. »Ich nehme sie an mich«, sagte sie. Paradise verneigte sich und ging wieder hinaus. Die Augen der jungen Staatsanwältin funkelten. »An Sir Frederics Post haben wir noch gar nicht gedacht, Sergeant. Sie könnte sich als Goldmine erweisen.« Sie hielt einen Brief in die Höhe. »Hier, schon der allererste kommt aus London. Von Scotland Yard.« Rasch riß sie den Umschlag auf, zog den einzigen Bogen heraus, den er enthielt und faltete ihn auseinander. Dann schrie sie vor Verblüffung leise auf. Kirk und Charlie Chan kamen näher und betrachteten verständnislos den Briefbogen, der in dem Umschlag von Scotland Yard gesteckt hatte. Er war völlig leer.
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7. Kapitel
Trübe Wasser Verwirrung malte sich auf June Morrows Zügen, als sie auf den merkwürdigen Inhalt des Umschlags mit dem Londoner Poststempel hinunterblickte. »Ach, du meine Güte!« sagte sie mit einem Seufzer. »Das einzig Schwierige beim Detektivberuf ist, daß man es nur mit Rätseln und Geheimnissen zu tun hat.« »Entschuldigung vielmals«, sagte Chan lächelnd, »schlage vor, Sie glätten schöne Stirn wieder. Sonst bekommen Falten, und das wäre jammerschade. Hin und wieder überraschender Vorfall verleiht Leben Würze. Weiß das aus eigener Erfahrung.« »Aber was in aller Welt, hat das zu bedeuten?« fragte June Morrow. »Weiß genau, daß es eins ganz bestimmt nicht bedeutet«, antwortete Chan. »Scotland Yard schickt nicht aus Übermut leeren Briefumschlag sechstausend Meilen weit über Land und Wasser. Nein, sehr merkwürdige Begebenheit hat sich hier ereignet, und es ist unsere Pflicht, sie zu entschleiern.« Die junge Frau begann den leeren Bogen glattzustreichen, und Chan streckte warnend die Hand aus. Trotz seines Körperumfangs war die Hand schmal mit langen, spitz zulaufenden Fingern. »Bitte sehr, nicht mehr berühren!« rief er beschwörend. »Ein schwerer Fehler. Denn obwohl wir nichts sehen, ist doch etwas auf Papier.« »Was?« fragte June. »Fingerabdrücke.« Den Briefbogen vorsichtig an einer Ecke fassend, nahm er ihn ihr vorsichtig aus der Hand. »Fingerabdrücke, zierlich und fest, die von Ihnen
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stammen. Und auch Fingerabdrücke, vielleicht nicht so zierlich, von Person, die Bogen gefaltet und in Umschlag getan.« »Ach ja, natürlich!« sagte June Morrow. »Bin nicht unbedingt großer Bewunderer von wissenschaftlichen Methoden bei Polizeiarbeit«, fuhr Chan fort, »aber Fingerabdrücke erzählen uns großen Teil von Wahrheit. Bin glücklich zu sagen, daß ich Kunst, Fingerabdrücke zu lesen, selbst studiert habe. In Honolulu, mit wenig Konkurrenz in der Nähe, ich gelte als Fingerabdruckexperte. Mr. Kirk, gibt es hier Schublade mit festem Schloß, zu der nur Sie Schlüssel haben?« »Selbstverständlich«, erwiderte Kirk. Er öffnete ein Schubfach in einem schönen spanischen Schreibtisch, und Chan deponierte den Briefbogen darin. Kirk schloß ab, nahm den Schlüssel vom Ring und reichte ihn Chan. »Später«, sagte Charlie, »mit Ruß von Lampe und Kamelhaarbürste werde genauso tun wie Fachmann, für den man mich hält. Vielleicht wir entdecken, wer öffnete Post von Sir Frederic.« Er nahm den leeren Briefumschlag in die Hand. »Beachten bitte, Dampf wurde benutzt. Spuren sind unverkennbar.« »Dampf!« rief Barry Kirk. »Aber wer, um alles in der Welt… doch da fällt mir ein, Sir Frederics Post ging durch die örtliche Filiale von Thomas Cook und Söhne.« »Genau«, sagte Chan grinsend. »Und dort arbeitet Mr. Carrick Enderby.« »Sie sind kluger junger Mann.« Chan nickte beifällig. »Es ist nicht auszuschließen, daß wir auf diesem Papier finden Abdruck von großem Daumen von Mr. Enderby. Aber Vermutungen sinnlos, Tatsachen müssen
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sprechen. Miß Morrow, ich darf unhöflich erinnern an übrige Post von Sir Frederic?« »Ja, natürlich…« June Morrow setzte sich und sah die anderen Briefe durch, offensichtlich ohne interessantes Ergebnis. »Nun«, sagte sie endlich, »das wär’s. Ich überlassen den leeren Briefbogen Ihnen, Sergeant, und werde mich mit Miß Gloria Garland beschäftigen. Was hat die Perle aus ihrer Kette unter dem Schreibtisch zu suchen gehabt, neben dem Sir Frederic ermordet wurde?« »Frage voll Weisheit«, sagte Chan. »Miß Garland sollte zu kleiner Unterhaltung gebeten werden. Möge ihre Zunge beredter sein als Zunge von Miß Lila Barr.« »Ich werde sie anrufen und zu mir bitten«, schlug Kirk vor. »Und zwar werde ich ihr sagen, daß ich in meinem Büro mit ihr über die Vorfälle von gestern abend sprechen will. Vielleicht kommt sie dann nicht mit einer fix und fertigen Erklärung hier an, was bestimmt der Fall wäre, wenn sie wüßte, daß es die Polizei ist, die mit ihr reden will.« »Ausgezeichnet«, stimmte June Morrow zu. »Aber ich fürchte, daß wir Sie auf geradezu unverzeihliche Weise von Ihren Geschäften abhalten, Mr. Kirk. Sie müssen uns sagen, wenn es Ihnen zuviel wird.« »Was für Geschäfte meinen Sie?« erkundigte er sich unbekümmert. »Wie Sergeant Chan, bin ich jetzt zu Ihrer Dienststelle delegiert. Wahrscheinlich wird mein Arbeitseifer mit der Zeit noch wachsen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick…« Er ging ans Telefon und erreichte Miß Garland in ihrer Wohnung. Die Schauspielerin erklärte sich einverstanden, sofort zu kommen. Als er den Hörer auflegte, klingelte es an der Woh-
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nungstür, und Paradise ließ einen Besucher ein. Gleich darauf kam mit langen Schritten Captain Flannery ins Zimmer marschiert. »Hallo«, sagte er. »Sie sind alle hier, nicht wahr? Würde mich gern ein bißchen umsehen, wenn ich nicht störe.« »Könnte niemand willkommener sein als Captain«, antwortete Chan. »Besten Dank, Sergeant. Haben Sie den Fall schon gelöst?« »Nicht bis zu diesem Augenblick«, sagte Chan lächelnd. »Na, na, sind Sie da nicht ein bißchen langsam?« Captain Flannery war beunruhigt und nicht gerade bester Laune. »Nach allem, was ich über Sie gelesen habe, hätte ich geglaubt, daß Sie den Schuldigen längst gefunden und gefesselt in einem Kämmerchen eingeschlossen haben, um ihn mir übergeben zu können.« Chan kniff die Augen zusammen. »Herausforderung ist angenommen«, antwortete er lebhaft. »Habe bereits mehreren Polizisten vom Festland gedient, indem ich mehrere Kämmerchen füllte mit Schuldigen, die sie nicht finden konnten. Habe Pressemeldungen entnommen, daß auf diesem Gebiet noch viel zu tun bleibt.« »Tatsächlich?« entgegnete Flannery kurz angebunden und wandte sich an June Morrow. »Haben Sie mit dieser Barr gesprochen?« »Das habe ich«, antwortete sie und wiederholte, was Lila Barr ausgesagt hatte. Flannery hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. »Nun«, sagte er dann, »viel haben Sie nicht aus ihr rausgeholt.«
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»Das muß ich allerdings zugeben.« »Vielleicht nicht einmal soviel wie ich erfahren hätte, und ich bin keine Frau. Ich gehe jetzt runter und rede selbst mit ihr. Sie hat geweint, weil ihr Freund sie versetzt hat? Möglich, aber es ist mir zu dünn. Wenn Sie mich fragen, muß schon Schlimmeres passieren, damit eine Frau heutzutage noch in Tränen ausbricht.« »Da mögen Sie recht haben«, pflichtete June Morrow ihm bei. »Ich weiß, daß ich recht habe. Und lassen Sie sich von mir noch etwas sagen: Ich werde dabei sein, wenn Sie mit Miß Gloria Garland reden. Gewöhnen Sie sich gleich an den Gedanken.« »Ich werde mich freuen, Sie dabei zu haben. Miß Garland ist jetzt unterwegs hierher. Wir wollen uns unten im Büro mit ihr treffen.« »Fein, ich seh’ mir mal das Mädchen an, das so nah’ ans Wasser gebaut hat. Wenn die Garland kommt, bevor ich wieder da bin, sagen Sie mir Bescheid. Ich kenne dieses Spiel seit dreißig Jahren, junge Frau, und kein Büro eines Bezirksstaatsanwalts legt mich auf Eis. Wenn ich eine Untersuchung leite, dann leite ich sie.« Er stolzierte aus dem Zimmer. Chan blickte ihm ohne Begeisterung nach. »Wie laut dröhnt Donner und wie wenig Regen fällt vom Himmel«, sagte er leise vor sich hin. »Wir sollten jetzt wohl besser ins Büro hinuntergehen«, schlug Kirk vor. »Miß Garland muß jeden Augenblick kommen.« Sie gingen hinunter. Die Sonne schien strahlend hell in den mittleren Raum. Die Ereignisse der vergangenen Nebelnacht schienen jetzt wie ein böser Traum. Kirk setzte sich an seinen Schreibtisch, zog eine Schublade
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auf und reichte Chan ein paar Zeitungsausschnitte. »Wollen Sie sich die mal ansehen?« fragte er. »Wie ich Ihnen heute morgen schon sagte, schien Sir Frederic sich nicht für das Verschwinden von Eve Durand, sondern auch für das anderer Frauen zu interessieren.« Nachdenklich las Chan die Artikel und legte sie auf den Schreibtisch. Er seufzte schwer. »Fall von großer Reichweite«, meinte er und verstummte dann für lange Zeit. »Ein Rätsel, sogar für Sie«, sagte Kirk endlich. Zusammenzuckend kehrte Chan in die Gegenwart zurück. »Entschuldigung vielmals. Was haben Sie gesagt?« »Ich habe gesagt, daß diesmal sogar der berühmte Sergeant Chan vor einem Rätsel steht.« »O ja. Ja, das ist tatsächlich der Fall. Habe aber nicht an Sir Frederic gedacht. Unbedeutendere, kleinere Person beschäftigte meine Phantasie. Muß auf jeden Fall mit Boot am nächsten Mittwoch zu kleinem Barry Chan reisen.« »Ich hoffe sehr, daß Sie es können«, antwortete June Morrow lächelnd. »Nicht viele Männer hängen heutzutage noch so an ihren Familien wie Sie.« »Ah – Sie verstehen nicht«, sagte Chan. »Ihr Leute vom Festland – ich beobachte, was ein Zuhause für Sie bedeutet. Wohnung, die nicht Ihnen gehört, Taubenschlag, in den Sie sich verkriechen, wenn Tanz oder Autofahrt zu Ende. Wir Chinesen sind anders. Liebe, Ehe, ein Heim, wir noch hängen an altmodischen Dingen wie diesen. Heim ist Heiligtum, in das wir uns zurückziehen, Vater ist Hohepriester, Altarfeuer brennt hell.« »Das klingt aber sehr angenehm«, sagte Barry Kirk.
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»Besonders das, was Sie über den Vater gesagt haben. Übrigens müssen wir meinem Namensvetter ein Kabel schicken und ihm Glück wünschen.« Miß Gloria Garland erschien im äußeren Büro, in dem Kinsey saß, und der Sekretär führte sie in Barry Kirks Zimmer. Im unbarmherzigen Tageslicht sah sie nicht ganz so eindrucksvoll aus wie bei Kerzenschein an der Dinnertafel. Ihre Augen waren von einem Kranz feiner Fältchen umgeben, und hinter dem dicken Make-up schielte das Alter hervor. »Nun, hier bin ich, Mr. Kirk«, sagte sie. »Oh, Miß Morrow – und Mr. Chan. Ich bin ein Wrack, ich weiß das. Diese Sache gestern abend hat mich schrecklich aufgeregt. Ein so charmanter Mann, dieser Sir Frederic. Weiß man schon irgend etwas? Gibt es Spuren? Hinweise?« »Kaum«, antwortete Kirk, »jedenfalls bis jetzt noch nicht. Bitte setzen Sie sich.« »Einen Moment noch bitte«, sagte June Morrow, »ich muß Captain Flannery holen.« »Erlauben bitte, daß ich gehe«, sagte Chan und verließ das Büro. Er öffnete die Tür zu den Büroräumen der Calcutta Importers. Vor einem Schreibtisch stand mit zornrotem Gesicht Captain Flannery, und hinter dem Schreibtisch saß, wieder in Tränen aufgelöst, Lila Barr. Der Captain fuhr herum. »Was gibt’s?« fauchte er. »Sie werden gewünscht, Captain«, sagte Chan. »Miß Garland ist hier.« »In Ordnung.« Flannery wandte sich an das weinende Mädchen. »Wir sprechen uns noch, junge Frau.« Lila antwortete nicht, und er folgte Chan hinaus auf den Flur.
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»Haben großes Talent, Leute zum Weinen zu bringen«, meinte Chan. »Ja, aber eine solche Heulsuse ist mir im ganzen Jahr noch nicht begegnet. Bin aber auch nicht allzusanft mit ihr umgesprungen. Macht sich nicht bezahlt.« »Ihre Methoden natürlich haben erstaunlichen Erfolg?« »Oh, sie ist bei ihrer Geschichte geblieben. Aber Sie dürfen mir glauben, sie weiß mehr, als sie sagt. Zu viele Tränen für eine unbeteiligte Zuschauerin. Ich wette auf der Stelle um hundert Dollar, daß sie Eve Durand ist.« Chan zuckte mit den Schultern. »Meine Rasse«, sagte er, »hat große Begeisterung für Glücksspiel. Will nicht enden im Ruin und bin deshalb gezwungen zu übersehen leichte Methode, Geld zu verdienen.« Sie betraten Kirks Büro, und Barry Kirk schloß die Verbindungstür zum Zimmer des sehr interessiert die Ohren spitzenden Mr. Kinsey. Captain Flannery pflanzte sich vor Gloria Garland auf. »Ich möchte mit Ihnen sprechen. Sie wissen, wer ich bin, ich war gestern abend oben, im Bungalow. Sie heißen also Gloria Garland. Nicht wahr?« Ein wenig furchtsam blickte sie zu ihm auf. »Ja, natürlich.« »Sagen Sie mir auch Ihren richtigen Namen, meine Dame?« »Nun, es ist der, den ich seit vielen Jahren benutze. Ich…« »Oh? Es ist also gar nicht der richtige?« »Nun – nein. Es ist ein Name, den ich angenommen habe.« »Ich verstehe. Sie haben einfach einen Namen genommen, der nicht der Ihre ist?« Der Captain sagte
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das mit einem Tonfall, als sei das ein todeswürdiges Verbrechen. »Sie hatten Ihre Gründe dafür, wie ich annehme?« »Die hatte ich ganz gewiß.« Die Frau sah ihn mit wachsendem Zorn an. »Ich heiße Ida Pingle und dachte, das würde sich auf einem Theaterzettel nicht so gut ausnehmen. Deshalb nannte ich mich Gloria Garland.« »In Ordnung. Sie geben also zu, unter einem angenommenen Namen zu leben?« »Es ist mir egal, wie Sie es nennen. Viele Theaterleute haben sich Namen zugelegt, die attraktiver sind als ihre eigenen. Ich habe nichts getan, was Sie berechtigt, mich so unhöflich und grob zu behandeln.« »Ich kann Sie sehr gut verstehen«, warf June Morrow mit einem mißbilligenden Blick auf den Captain ein. »Von hier an übernehme ich die Befragung der Zeugin.« »Oh, bitte tun Sie’s doch!« sagte Gloria Garland herzlich. »Haben Sie, bevor Sie gestern abend zu der Dinnerparty kamen, Sir Frederic schon gekannt?« fragte die junge Staatsanwältin. »Nein, das habe ich nicht.« »Dann war er Ihnen völlig fremd?« »Aber ja, das war er. Warum fragen Sie?« »Sie hatten gestern abend keine Unterredung unter vier Augen mit ihm?« »Nein, keine.« Captain Flannery machte einen Schritt vorwärts und öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. June Morrow hob die Hand. »Eine Sekunde noch, Captain. Miß Garland, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß das
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eine sehr ernste Angelegenheit ist. Sie sollten die Wahrheit sagen.« »Nun – « sie war unsicher geworden –, »warum denken Sie, daß ich…« »Daß Sie lügen? Wir wissen es!« donnerte der Captain. »Als Sie gestern abend zum Bungalow hinaufgingen, riß Ihre Perlenkette«, fuhr June Morrow fort. »Wo ist das passiert?« »Auf der Treppe. Auf der Treppe, die aus dem zwanzigsten Stockwerk auf das Dach führt.« »Haben Sie alle Perlen aufgesammelt?« »Ja, ich glaube. Ich wußte die Zahl nicht genau. Natürlich brauche ich Ihnen wohl nicht sagen, daß es sich um falsche Perlen handelt. Echte könnte ich mir nicht leisten.« June Morrow öffnete ihre Handtasche und legte eine einzelne Perle auf den Schreibtisch. »Erkennen Sie sie, Miß Garland?« »Aber ja, natürlich, sie gehört mir. Besten Dank. Wo – wo haben Sie sie gefunden?« »Wir haben sie«, sagte June Morrow langsam, »in diesem Zimmer unter dem Schreibtisch gefunden.« Die Schauspielerin errötete und antwortete nicht. Es folgte ein unbehagliches Schweigen. »Miß Garland«, fuhr die Staatsanwältin fort, »ich glaube, Sie sollten Ihre Taktik lieber ändern. Die Wahrheit, wenn ich bitten darf!« Die Schauspielerin zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, Sie haben recht. Ich habe nur versucht, mich aus der Sache herauszuhalten. Eine derartige Publicity schätze ich nicht. Aber eigentlich stecke ich auch gar nicht tief drin.« »Tatsächlich ist Ihre Kette also hier im Büro zerrissen,
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als Sie mit Sir Frederic sprachen.« »Ja, das stimmt. Die Kette blieb an einer Schreibtischecke hängen, als ich aufstand, um zu gehen.« »Bitte fangen Sie nicht mit dem Augenblick an, in dem Sie gehen wollten, sondern berichten Sie von Anfang an.« »Nun gut. Als ich sagte, ich hätte Sir Frederic vor dem gestrigen Abend nie gesehen, war das die reine Wahrheit. Ich war aus dem Lift gestiegen und ging durch den Flur zur Treppe, als die Tür aufging, die in diese Büros führt, und ein Mann auf der Schwelle erschien. Er sagte: ›Ich glaube, Sie sind Miß Garland.‹ Ich erwiderte ja, so hieße ich, und er sagte, er sei Sir Frederic Bruce, Mr. Kirks Gast, und er wolle allein mit mir sprechen, bevor wir uns oben offiziell kennenlernten.« »Und? Weiter?« »Nun ja, es kam mir merkwürdig vor, aber er sah so distinguiert aus, daß ich dachte, die Sache sei bestimmt in Ordnung. Und ich folgte ihm in dieses Büro. Wir setzten uns, und er erzählte mir, wer er war – Scotland Yard und so. Ich bin Engländerin und habe vor den Leuten vom Yard größten Respekt. Nach ein paar Minuten kam er auf den Kern der Sache zu sprechen.« »Endlich!« June Morrow lächelte. »Genau daraufwarten wir.« »Er – er wollte mich etwas fragen.« »Tatsächlich? Und was war das?« »Er fragte mich, ob ich eine Frau identifizieren könne, die vor vielen Jahren verschwunden war. Eine Frau, die einfach in die Nacht hineinging, und von der man nie wieder etwas gehört hat.« Ein gespanntes Schweigen folgte diesen Worten. Leise
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ging Chan ein bißchen näher. Barry Kirks Augen ruhten voll Interesse auf Gloria Garlands Gesicht. Sogar Captain Flannery zollte ihr lebhafte Aufmerksamkeit. »Und warum glaubte Sir Frederic, daß Sie diese Frau identifizieren könnten?« fragte June Morrow gelassen. »Weil ich ihre beste Freundin war. Ich war auch die letzte, die sie am Abend ihres Verschwindens zu Gesicht bekommen hatte.« June Morrow nickte. »Dann waren Sie an jenem Abend vor fünfzehn Jahren bei dem Picknick in den Hügeln vor Peshawar dabei?« Die Schauspielerin riß vor Verblüffung die Augen auf. »In Peshawar? Aber das ist doch in Indien, nicht wahr? Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht in Indien.« Wieder ein paar Sekunden bestürzten Schweigens. Dann brüllte Flannery los: »Hören Sie, Sie haben versprochen, die Wahrheit zu sagen!« »Ich sage die Wahrheit«, protestierte sie. »Das stimmt nicht! Die Frau, nach der er sie fragte, war Eve Durand, die eines Abends in der Nähe von Peshawar mitten aus einer Gesellschaft verschwand…« »Bescheidene Bitte um Entschuldigung«, unterbrach ihn Chan, »ehrenwerter Captain sollte nicht vorschnell falschen Schluß aus Geschichte von Dame ziehen.« Er nahm die beiden Zeitungsausschnitte vom Schreibtisch. »Bitte um Freundlichkeit zu nennen den Ort, in dem Ihre Freundin verschwand.« »Aber natürlich, gern. Sie verschwand in Nizza.« »Nizza? Wo zum Teufel ist denn das?« fragte Flannery. »Nizza ist ein Seebad an der französischen Riviera«, erwiderte Miß Garland zuckersüß. »Ich fürchte, Ihre Pflichten lassen Ihnen zuwenig Zeit zum Reisen, Cap-
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tain.« »Nizza«, wiederholte Chan bedächtig. »Dann war der Name Ihrer Freundin vielleicht Marie Lantelme?« »Ja, so hieß sie«, sagte die Schauspielerin überrascht. Chan zog einen Zeitungsausschnitt aus dem Päckchen und reichte ihn June Morrow. »Bitte um Freundlichkeit, laut vorzulesen, was hier steht. Sehr interessant, das ist sicher.« Wieder, wie schon im Speisesaal des St. Francis Hotels am Tag zuvor, las June Morrow einen von Sir Frederics kostbaren Zeitungsausschnitten vor: »Was wurde aus Marie Lantelme? Es ist jetzt elf Jahre her, seit ein Theaterensemble an einem mondhellen Juniabend auf der Bühne des Theatre de la Jetee-Promenade in Nizza das Stück ›Die Dollarprinzessin‹ aufführte. Die Truppe stand unter englischer Leitung. Es war ein für alle Beteiligten denkwürdiger Abend. Das Haus war ausverkauft, vollgepackt mit Soldaten auf Urlaub, und der Manager stand kurz vor einem Zusammenbruch. Erst im letzten Augenblick hatte man ihn davon verständigt, daß seine Hauptdarstellerin ernstlich erkrankt war, und von bösen Ahnungen erfüllt, hatte er die zweite Besetzung holen lassen, ein unansehnliches Chormädchen namens Marie Lantelme. Sie trat auf die strahlend hell erleuchtete Bühne und verwandelte sich in eine andere Frau. Wie sie die Rolle spielte, wird niemand vergessen, der an jenem Abend im Theater war. Als der Vorhang fiel, begann das Publikum zu toben und wie wild nach ihr zu rufen. Der Manager stürmte nach der Vorstellung in Marie Lantelmes Garderobe, denn sie war eine Entdeckung, und sie gehörte ihm. Er wollte sie in London, ja sogar in New York, zum Star machen. Sie hörte ihm wortlos zu, zog dann ihr einfaches Kleidchen an und verließ das Theater durch den Bühneneingang. Ob sie wollte oder nicht, wird man nie erfahren. Man weiß nur, daß sie nach Verlassen des Theaters
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ins Nichts verschwand. Elf fahre sind vergangen, und von jenem Tag an hat man nie wieder von Marie Lantelme gehört – bis heute nicht.«
June Morrow verstummte, und ihre Stirn lag wieder in Falten. Captain Flannery war der Mund offen stehengeblieben. Nur Chan schien seine heitere Fassung bewahrt zu haben. »Marie Lantelme war Ihre Freundin?« fragte er Gloria Garland. »Ja, das war sie«, antwortete die Schauspielerin, »und Sir Frederic hat das irgendwie erfahren. Ich gehörte zum selben Ensemble. Allerdings übertreibt der Zeitungsartikel ein bißchen, aber das ist wohl nötig, um die Sache interessanter zu machen. Marie hat eine gute Leistung geboten, nicht schlechter als die Hauptdarstellerin, würde ich sagen. An Jubelrufe kann ich mich nicht erinnern. Doch es gibt keinen Zweifel, daß sie gut war. Sie hätte andere Rollen bekommen – bessere als früher. Das weitere jedoch stimmt. Sie verließ das Theater und wurde nie wieder gesehen.« »Außer von Ihnen?« meinte Chan. »Ja, das stimmt. Auf dem Heimweg sah ich sie auf der Promenade des Anglais in der Nähe der Mole mit einem Mann sprechen. Ich ging weiter und dachte mir nichts dabei. Später natürlich…« »Und es war dieses Mädchen, nach dem Sir Frederic Sie gefragt hat?« June Morrow sah die Schauspielerin abwartend an. »Ja. Er zeigte mir den Zeitungsausschnitt und wollte wissen, ob ich nicht bei derselben Truppe gewesen sei. Ich sagte ja. Dann meinte er, ob ich glaubte, Marie Lantelme identifizieren zu können, wenn ich sie wiedersähe. Ich entgegnete, davon sei ich sogar über-
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zeugt. ›Sehr gut‹, sagte er. ›Vielleicht werde ich, noch ehe dieser Abend zu Ende ist, diesen Dienst von Ihnen erbitten. Gehen Sie nicht, bevor wir nicht noch einmal miteinander gesprochen haben.‹ Ich sicherte ihm das zu, doch am Ende – nun ja, da konnte er mit niemand mehr sprechen.« Nach einem Augenblick des Schweigens sagte June Morrow: »Ich glaube, das ist alles. Es sei denn, Captain Flannery möchte…« Sie blickte zu ihm hinüber. Auf seinem großen roten Gesicht malte sich ein Ausdruck völliger Verwirrung. »Ich? O nein – nein, ich glaube nicht.« Er stotterte fast, so durcheinander war er. »Keine Frage mehr von mir. Nicht jetzt.« »Ich danke Ihnen sehr, Miß Garland«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Bleiben Sie jetzt eine Zeitlang in San Francisco?« »Ja. Man hat mir im Alcazar eine Rolle versprochen.« »Gut. Verreisen Sie bitte nicht, ohne mich vorher zu verständigen. Sie können jetzt gehen. Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie zu uns gekommen sind.« Miß Garland wies mit einem Kopfnicken auf den Schreibtisch. »Kann ich die Perle wieder haben?« »Aber gewiß.« »Danke. Wenn eine Schauspielerin längere Zeit ohne Engagement ist, sind nämlich auch unechte Perlen wertvoll für sie, müssen Sie wissen.« June Morrow brachte sie hinaus, und als sie zu der kleinen, schweigsamen Gruppe im mittleren Büro zurückkehrte, sagte sie nur: »Nun?« »Es ist unglaublich!« rief Barry Kirk. »Noch eine verschwundene Frau. Guter Gott. Es können doch nicht
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Eve Durand und Marie Lantelme hier irgendwo in der Nähe sein. Es sei denn, dies ist der Hafen der verschwundenen Frauen.« Chan zuckte mit den Schultern. »Wir geraten immer tiefer hinein«, gab et zu. »Muß zugeben, daß gleichfalls in größter Verwirrung.« »Ich werde der Sache auf den Grund kommen«, sagte Flannery. »Überlassen Sie das nur mir. Ich mische die Dinge schon auf.« Chan bekam ganz schmale Augen. »Meine Rasse hat altes Sprichwort, Captain«, entgegnete er sanft. »›Schmutziges Wasser, gedankenlos aufgewirbelt, wird noch dunkler. Läßt man in Ruhe, wird es bald klar.‹« Flannery warf ihm einen finsteren Blick zu und marschierte, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer. Krachend fiel die äußere Tür hinter ihm ins Schloß.
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8. Kapitel
Willie Li’s gute Tat Gedankenvoll nahm Charlie Chan Sir Frederics Zeitungsausschnitte vom Schreibtisch und verstaute sie in einer riesigen Brieftasche. Barry Kirks Blicke ruhten auf der Tür, durch die Flannery so formlos verschwunden war. »Ich befürchte sehr«, sagte er, »daß das Los unseres Polizisten kein sehr glückliches ist. Der liebe alte Captain schien ein bißchen – nun, wie läßt es sich am besten ausdrücken – ein bißchen gereizt.« June Morrow lächelte. »Er ist entsetzlich verwirrt, und das macht einen Polizisten immer ärgerlich.« »Ich hoffe, es wirkt sich bei Ihnen nicht genauso aus.« »Wenn das der Fall wäre, wäre ich im Moment so wütend, daß Sie mich ganz bestimmt nie wiedersehen wollten.« »Aber ein bißchen verwirrt sind Sie schon, nicht wahr?« »Wundert Sie das? Hat es schon jemals einen solchen Fall gegeben?« Sie nahm ihren Mantel auf, den sie aus dem Bungalow mitgebracht hatte. »Diese ganze Geschichte über Marie Lantelme…« »Schlage in aller Bescheidenheit vor, nicht an Marie Lantelme denken«, warf Chan ein. »Sie ist – wie sagen Sie? – eine Nebensache. Denken immer an eine große Tatsache – Sir Frederic tot hier auf Boden und Samtschuhe fehlen von seinen Füßen. Wenn zu weit davon abweichen, wir sind verloren. Denken an Eve Durand, denken an Hilary Galt, aber denken vor allem an Sir Frederic und gestern abend. Verwahren Marie Lantelme in Schublade in Hintergrund von Gehirn. Nur
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so wir machen Fortschritte.« Die junge Frau seufzte. »Werden wir je weiterkommen? Ich bezweifle es.« »Kopf hoch!« munterte Chan sie auf. »Weiser Mann hat einmal gesagt: ›Dunkle Wolken vergehen, blauer Himmel bleibt.‹« Er verneigte sich tief und verschwand in Richtung der Treppe, die zum Bungalow hinaufführte. Barry Kirk half June in den Mantel. Als er ihn ihr um die Schultern legte, fiel ihm ein bekannter Werbeslogan ein. »Gehorche diesem Impuls.« Aber man konnte schließlich nicht durchs Leben gehen und jedem zufälligen Impuls nachgeben. ›»Wir geraten immer tiefer hinein‹«, zitierte er. »Es sieht allmählich so aus, als werde das ein sehr langer und komplizierter Fall.« »Tja, das befürchte ich auch.« »Was heißt das – Sie ›befürchten‹? Wir beide sind zwei sehr gescheite Leute> und wir sollten es begrüßen, wenn wir Gelegenheit haben, unsere geistigen Kräfte zu messen. Setzen wir uns doch bald mal zu einem Gespräch zusammen.« »Halten Sie das für erforderlich?« »Aber selbstverständlich.« »Dann ist es abgemacht.« Sie lächelte. »Besten Dank für den Lunch, und auf Wiedersehen.« Als Kirk den Bungalow betrat, rief Charlie aus dem Zimmer nach ihm, in dem bis zum Vortag der Mann von Scotland Yard gewohnt hatte. Er ging hinein und fand den Detektiv nachdenklich vor Sir Frederics Gepäck, das jetzt ordentlich in einer Ecke aufgestapelt war. »Haben Sie die Sachen von Sir Frederic untersucht?«
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fragte Chan. Kirk schüttelte den Kopf. »Das ist wohl kaum meine Sache. Flannery hat es gestern abend getan und offenbar nichts gefunden. Er sagte mir, ich solle sie dem britischen Konsul übergeben.« »Flannery handelt mit unziemlicher Hast«, protestierte Chan. »Sie haben vielleicht Schlüssel? Wenn ja, ich habe großes Verlangen, selbst Blick hineinzuwerfen.« Kirk reichte ihm die Schlüssel und ließ ihn allein. Chan ließ sich Zeit und ging bei der Durchsuchung ganz gründlich vor. Endlich erschien er mit mehreren Büchern unter dem Arm im Wohnzimmer. »Haben Sie was gefunden?« erkundigte sich Kirk. »Nicht das geringste«, erwiderte Chan, »abgesehen von diesen ein wenig gewichtigen Ausnahmen. Belieben näher zu kommen.« Kirk stand auf und betrachtete die Bücher oberflächlich. Plötzlich fiel alle Gleichgültigkeit von ihm ab, und er rief aufgeregt: »Du großer Gott!« »Habe ich auch gesagt.« Chan lächelte. »Ihnen ist aufgefallen Name von Autor aller dieser Bücher?« Er las die Titel laut vor: »Quer durch China und zurück – Wanderungen durch Persien – Ein Jahr in der Wüste Gobi – Tibet, das Dach der Welt – Mein Leben als Forscher.« Aus
schmalen Augen sah er Kirk an. »Gesammeltes Werk von gutem Freund Colonel Eetham. Kein anderes Buch bei Sir Frederics Gepäck. Kommt Ihnen Interesse für einzigen Autor nicht auch ein bißchen merkwürdig vor?« »Aber ganz gewiß«, pflichtete Kirk ihm bei. »Ich frage mich…« »Habe nie aufgehört, mich zu fragen. Als ich gestern abend einsamem Forscher tief in Augen sehe, frage
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ich mich, was für ein Mann ist das? Und als Sir Frederic tot auf Boden liegt, meine Gedanken schweifen sofort zu geheimnisvollem Gesicht. So kalt, so gelassen, aber wer weiß, wie heiß die Feuer im Innern.« Er wählte einen von den übergroßen Bänden aus. »Möchte ein bißchen schmökern in Bibliothek von Sir Frederic. Will mich zuerst mit Biographie beschäftigen, wird mir erlauben, auf abenteuerliche Laufbahn Blick aus Vogelperspektive zu werfen.« »Eine gute Idee.« Bevor Chan anfangen konnte zu lesen, klingelte es, und Paradise führte Mrs. Dawson Kirk herein. Sie war vergnügt wie ein junges Mädchen. »Guten Tag, Barry, Mr. Chan. Ich dachte mir schon, daß ich Sie hier finden würde. Sie sind am Ende doch nicht abgereist, nicht wahr?« Chan seufzte. »Gewisse Schwierigkeiten haben verhindert, daß ich Ferien zu gutem Ende bringe. Geschichte wiederholt sich oft und gern.« »Nun, ich freue mich darüber«, sagte Mrs. Kirk. »Man wird Sie hier brauchen. Schreckliche Sache, das. Und wenn man sich vorstellt, Barry, daß es ausgerechnet in deinem Verwaltungsgebäude passiert ist! Die Kirks sind Skandale nicht gewöhnt. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.« »Das tut mir aber leid«, entgegnete ihr Enkelsohn. »Ach, das ist nicht nötig. Schlafe in letzter Zeit ohnehin nicht besonders gut. Scheine meinen Schlaf vor Jahren absolviert zu haben. Nun, was hat sich ereignet? Haben sie Fortschritte gemacht?« »Keine großen«, gestand Kirk. »Wie wäre das auch möglich? Dieser dumme Captain von der Polizei hat mich aufgeregt. Besitzt überhaupt
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kein Feingefühl. Sally Jordans Boy hier wird es ihm schon zeigen.« »Danke in aller Bescheidenheit für Kompliment.« Chan verneigte sich. »Kompliment – Unfug! Die Wahrheit, nichts sonst. Enttäuschen Sie mich nicht. Habe meine ganze Hoffnung in Sie gesetzt.« »Ich bin froh, daß du allein gekommen bist«, sagte Kirk. »Wie lange ist diese Frau – Mrs. Tupper-Brock – schon bei dir?« »Ungefähr ein Jahr. Was hat sie damit zu tun?« »Und was weißt du über sie?« »Sei kein Narr, Barry. Ich weiß alles. Sie ist in Ordnung.« »Du meinst, ihre ganze Vergangenheit liegt wie ein offenes Buch vor dir?« »Ich meine nichts dergleichen. Habe sie nie danach gefragt. Das brauchte ich auch nicht, ich bin eine gute Menschenkennerin. Ein Blick, und ich weiß Bescheid.« Kirk lachte. »Was für eine gescheite Frau du bist. Tatsächlich weißt du also überhaupt nichts von ihr, nicht wahr?« »O doch! Sie ist Engländerin, in Devonshire geboren.« »Devonshire, wie?« »Ja. Ihr Mann war Pfaffe, das merkst du schon daran, daß sie so verhungert aussieht. Er ist tot.« »Und weiter reichen deine Kenntnisse nicht?« »Du bellst den falschen Baum an, aber das sieht dir ähnlich. Ein netter Junge, aber sehr gescheit warst du noch nie. Ich bin aber nicht hergekommen, um über Mrs. Tupper-Brock zu sprechen. Mir ist nur eingefallen, daß ich gestern abend nicht alles gesagt habe, was ich weiß.«
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»Hast Beweise unterschlagen, wie?« Kirk lächelte. »Keine Ahnung. Vielleicht ist es ein Beweis, aber wahrscheinlich nicht. Sag mal, hat man Beweise für eine Verbindung zwischen Sir Frederic und dieser kleinen Mrs. Enderby gefunden?« »Nein, man hat nicht. Du schon?« »Nun, es war kurz nachdem der Film angefangen hatte. Ich ging in die Küche…« »Das sieht dir ähnlich.« »Mein Hals war wie ausgedörrt, und im Wohnzimmer entdeckte ich kein Wasser. Aber was kann man schon in einem Haushalt erwarten, der von einem Mann geführt wird? Im Flur stieß ich auf Sir Frederic und Mrs. Enderby, die in ein, wie mir schien, sehr ernstes Gespräch vertieft waren.« »Was haben sie gesagt?« »Ich lausche nicht. Außerdem sind sie, als ich auftauchte, plötzlich verstummt und haben geschwiegen, bis ich vorbei war. Als ich ein paar Minuten später zurückkam, waren sie nicht mehr da.« »Nun, das könnte von Bedeutung sein«, gab Kirk zu. »Vielleicht auch nicht. Aber merkwürdig, als Sir Frederic mir vorschlug, das Ehepaar einzuladen, sagte er mir, er kenne Mrs. Enderby nicht. Ich werde deine Information an Miß Morrow weiterleiten.« »Was hat Miß Morrow damit zu tun?« fauchte die alte Dame. »Sie bearbeitet den Fall für das Büro des Bezirksstaatsanwalts.« »Wie bitte! Willst du damit sagen, man hat einen so wichtigen Fall einem so jungen Ding überlassen?« »Beruhige dich. Miß Morrow ist eine sehr intelligente junge Frau.«
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»Unmöglich. Dazu ist sie viel zu hübsch.« »Es gibt Wunder«, sagte Kirk lachend. Seine Großmutter sah ihn eindringlich an. »Nimm dich nur in acht, mein Junge.« »Wie meinst du das?« »Die Kirk-Männer hatten immer eine Schwäche für kluge Frauen –, wahrscheinlich deshalb, weil Gegensätze sich anziehen. So kam es ja auch, daß ich in diese Familie eingeheiratet habe.« »Also an Minderwertigkeitskomplexen leidest du ganz bestimmt nicht.« »Nein, Sir. Das wird die junge Generation nie von mir behaupten können. Gut, dann erzähl deiner Miß Morrow von Eileen Enderby. Aber das wirklich wichtige Mitglied des Untersuchungskomitees hat es schon erfahren. Ich spreche von Mr. Chan.« Sie stand auf. »Ich schrieb Sally Jordan heute früh, daß ich Sie kennengelernt habe«, wandte sie sich direkt an den Detektiv. »Und ich erklärte ihr, daß wir Sie im Augenblick auf dem Festland noch nicht entbehren können.« Chan zuckte mit den Schultern. »Festland genießt Schauspiel von müdem Postboten, der sich durch Urlaubsspaziergang schleppt«, erwiderte er. »Soll nicht Kränkung sein, aber ich sehne mich nach Hawaii.« »Nun, das liegt an Ihnen«, antwortete Mrs. Kirk kurz. »Lösen Sie diesen Fall schnell, und rennen Sie, bevor der nächste kommt. Ich muß jetzt gehen, ich habe im Club eine Sitzung. Daraus besteht jetzt mein Leben – aus Sitzungen im Club. Barry, halte mich über diese Sache auf dem laufenden. Seit zwanzig Jahren passiert in meiner Umgebung zum erstenmal etwas Aufregendes. Ich möchte nichts davon versäumen.« Kirk brachte sie hinaus und kam ins Wohnzimmer zu-
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rück. Die winterliche Dämmerung brach jetzt rasch herein, und er machte Licht. »Und das«, sagte er, »bringt die kleine Eileen wieder ins Spiel. Sie schien mir gestern abend ein bißchen nervös – auch schon bevor sie den Mann auf der Feuerleiter entdeckte. Falls sie wirklich jemand dort gesehen hat. Soll ich Miß Morrow auf ihre Fährte setzen?« Chan blickte von seinem großen Buch auf und nickte gleichgültig. »Können mehr nicht tun.« »Sie interessiert Sie nicht sonderlich, nicht wahr?« Kirk lächelte. »Dieser Colonel Beetham«, erwiderte Chan, »was für ein Mann!« Kirk warf einen Blick auf seine Uhr. »Tut mir leid, aber ich esse heute abend mit einem Freund im Cosmopolitan-Club. Ich habe die Verabredung schon vor ein paar Tagen getroffen und kann nicht absagen.« »Wäre mir äußerst schmerzlich, wenn Sie sich durch mich in Ihren Plänen stören ließen«, sagte Chan. »Sagen Sie mir – unser Colonel Beetham, Sie haben ihn gesehen im Cosmopolitan-Club?« »Ja, irgend jemand hat ihm eine Clubkarte verschafft. Ich begegne ihm dort ab und zu. Ich werde Sie demnächst auch mal mitnehmen.« »Werde mich hochgeehrt fühlen«, sagte Chan feierlich. »Paradise bringt Ihnen das Abendessen.« »Kommt nicht in Frage«, protestierte Chan. »Personal aus Ihrer Küche hat freien Abend verdient nach großem Spektakel von gestern. Esse viel zuviel in Ihrem gastfreundlichen Haus. Will auch auswärts essen, habe da eine oder zwei Kleinigkeiten, die ich nachprüfen möchte.«
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»Wie Sie wünschen.« Kirk nickte, verschwand in seinem Schlafzimmer und überließ Chan dem interessanten Buch von Colonel Beetham. Um halb sieben, nachdem Kirk gegangen war, verließ auch der Detektiv das Haus. Er aß in einem kleinen Restaurant, das nicht teuer war, und schlenderte hinterher scheinbar ziellos in Richtung Chinatown. Die Chinesen sind Nachtmenschen. Die Läden in der Grant Avenue waren hell erleuchtet und wimmelten von Leuten. Auf den Gehsteigen drängten sich Müßiggänger, die mit dem angebrochenen Abend offenbar nichts anzufangen wußten. Die jungen Männer waren wie ihre weißen Altersgenossen gekleidet; die älteren, in der typischen schwarzen Satinbluse und Chinahose, schlurften in Filzschuhen daher. Ab und zu erblickte man auch eine massige, würdevoll einherschreitende chinesische Matrone, der man ansah, daß sie von Abmagerungskuren nichts hielt. Gruppen und Grüppchen junger Mädchen mit glänzenden Augen ergänzten das Bild. Charlie bog in die Washington Street ein und setzte seinen Weg zum düsteren Waverly Platz fort. Er stieg schlecht beleuchtete Stufen hinauf und klopfte an eine ihm vertraute Tür. »Überraschung« gehört nicht zum Wortschatz der Chinesen, und Chan Kee Lim empfing ihn unbewegten Gesichts. Obwohl sie sich am Morgen voneinander verabschiedet hatten, nahm sein Cousin sein Erscheinen völlig gelassen hin. »Hier bin ich wieder«, sagte Chan auf kantonesisch. »Es war mein Wille, das Festland heute zu verlassen, doch das Schicksal hat es anders bestimmt.« »Tritt ein«, sagte sein Cousin. »Hier in meinem armen
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Haus bist du immer herzlich willkommen. Geruhe dich auf jenen beleidigend häßlichen Stuhl niederzulassen.« »Du bist zu freundlich«, erwiderte Charlie. »Ich bin, wie du vermuten wirst, das Opfer meines verachtenswerten Berufs. Wenn du dich so weit herablassen würdest, hätte ich gern bestimmte Informationen.« Kee Lims Augen wurden schmal, und er strich sich über den dünnen grauen Bart. Er war, wie Charlie gut wußte, mit diesem Beruf nicht einverstanden. »Du arbeitest«, sagte er kalt, »mit der Polizei der weißen Teufel zusammen?« Chan zuckte mit den Schultern. »Unglücklicherweise ja. Aber ich bitte dich nicht, mir Geheimnisse zu verraten, die dir anvertraut wurden. Es ist nur eine harmlose Frage. Vielleicht kannst du mir etwas über einen Fremden erzählen, einen Touristen, der bei Verwandten in der Jackson Street zu Besuch war? Seine Name ist Li Gung.« Kee Lim nickte. »Ich habe ihn nicht kennengelernt, aber man hat im Tonghaus über ihn gesprochen. Er ist ein weitgereister Mann. Eine Zeitlang hat er im Haus seines Cousins, des Korbimporteurs Henry Li gewohnt, der in dem großen Apartmenthaus in der Jackson Street nach amerikanischem Stil lebt. ›Oriental Apartments‹ heißt es, glaube ich. Ich habe das Haus noch nie betreten, aber es sollen Badezimmer und andere sonderbare Einrichtungen darin sein, Dinge eben, die der weiße Teufel seine ›Zivilisation‹ nennt.« »Bist du mit Henry Li bekannt?« fragte Charlie. Kee Lim bekam harte, abweisende Augen. »Ich habe nicht die Ehre«, antwortete er. Charlie verstand. Sein Cousin wollte mit seinen Angelegenheiten nichts zu tun haben. Er erhob sich von
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seinem Stuhl aus Ebenholz. »Du warst überaus freundlich zu mir«, sagte er. »Das war mein gesamtes Anliegen. Die Pflicht befiehlt mir, mich jetzt zu entfernen.« Kim Lee erhob sich ebenfalls. »Die Kürze deines Besuches macht es zur Notwendigkeit, daß du wiederkommst. Du bist uns immer willkommen.« Charlie nickte. »Das weiß ich sehr wohl. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, aber wir sehen uns wieder. Ich sage daher auch auf Wiedersehen.« Sein Cousin begleitete ihn zur Tür. »Möge dein Weg ein sicherer sein«, entgegnete er, und Charlie hatte den Eindruck, daß es sich bei seinen Worten nicht nur um den üblichen Abschiedsgruß handelte. Chan wandte sich sofort zur Jackson Street. Auf halber Höhe des Hügels stieß er auf die grellbunte Fassade der ›Oriental Apartments‹. Hier lebten die wohlhabenderen Mitglieder der chinesischen Kolonie im Stil des von ihnen zur zweiten Heimat erwählten Landes. Er betrat den Vorraum und studierte die Namen auf den Briefkästen. Henry Li wohnte in der zweiten Etage. Die Klingelknöpfe ignorierend, versuchte Chan, die Haustür zu öffnen. Sie war nicht abgeschlossen, und er trat ein. Er stieg bis in die dritte Etage hinauf und ging, als er an Henry Lis Apartment vorbeikam, besonders leise. Einen Augenblick blieb er auf der obersten Stufe stehen und stieg dann hinunter. Auf halber Treppe schien er plötzlich das Gleichgewicht zu verlieren und landete unter großem Getöse auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage. Die Tür von Henry Lis Apartment ging auf, und ein fetter, kleiner Chinse im Geschäftsanzug schaute heraus. »Haben Sie einen Unfall gehabt?« erkundigte er sich
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besorgt. »Verflixt!« rief Chan und rappelte sich auf. »Der böse Geist verfolgt mich. Ich habe auf diesen glatten Stufen das Gleichgewicht verloren.« Er versuchte zu gehen, hinkte jedoch erbärmlich. »Ich fürchte, ich habe mir bös den Knöchel verstaucht. Wenn ich mich nur ein paar Minuten hinsetzen könnte…« Der kleine Mann öffnete weit seine Tür. »Geruhen Sie in mein unwürdiges Haus einzutreten. Meine Sessel sind einfach und unbequem, aber Sie müssen einen ausprobieren.« Mit überschwenglichem Dank folgte Chan ihm in ein wirklich erstaunliches Wohnzimmer. Seidene Wandbehänge aus Hangtschou und ein paar schöne Stücke aus Teakholz vermischt mit protzigen Möbeln aus irgendeinem Kaufhaus. Ein etwa dreizehnjähriger Junge saß an einem Radio, aus dem laute Tanzmusik plärrte. Er trug die Khakiuniform eines Pfadfinders und hatte ein knallgelbes Taschentuch um den Hals gebunden. »Setzen Sie sich bitte hierher!« Henry Li zeigte auf einen riesigen Sessel aus grünem Plüsch. »Ich hoffe, der Schmerz ist nicht allzu heftig.« »Er läßt allmählich nach«, sagte Chan. »Sie sind überaus gütig.« Der Junge hatte das Radio ausgeschaltet und stand jetzt mit lebhaft und interessiert glänzenden Augen vor Chan. »Etwas höchst Bedauerliches ist geschehen«, erklärte ihm sein Vater. »Der Herr hat sich auf unserer abscheulichen Treppe den Knöchel verstaucht.« »Das tut mir leid«, sagte der Junge. Seine Augen begannen noch mehr zu glänzen. »Jeder Pfadfinder kann Verbände anlegen. Ich hole schnell meinen Erste Hilfe-
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Kasten…« »Nein, nein«, protestierte Chan hastig. »Bemüh dich nicht. Es ist wirklich keine schlimme Verletzung.« »Aber das wäre doch keine Mühe für mich«, versicherte ihm der Junge. Nicht ohne Schwierigkeiten brachte Chan ihn davon ab, und zur größten Erleichterung des Detektivs verschwand er. »Wenn ich darf, bleibe ich einen Augenblick sitzen und ruhe mich aus«, sagte Chan zu Henry Li. »Hoffentlich falle ich Ihnen nicht zur Last. Als mir der Unfall zustieß, war ich auf der Suche nach einem Freund. Er heißt Li Gung.« Henry Lis kleine Augen ruhten einen Moment auf dem Bild eines Chinesen mittleren Alters, das in einem silbernen Rahmen auf dem Kaminsims stand. »Sie sind ein Freund von Li Gung?« fragte er. Der Moment hatte Chan genügt. »Das bin ich, und dort drüben sehe ich sein Foto, geschmackvoll gerahmt. Dann ist es wahr, daß er sich bei Ihnen aufhält? Also findet meine Suche doch noch ein glückliches Ende.« »Er war hier«, antwortete Lie. »Erst heute morgen hat er uns verlassen.« »Er ist fort!« Auf Chans Gesicht malte sich Enttäuschung. »Dann bin ich leider zu spät gekommen. Hätten Sie wohl die große Güte, mir zu sagen, wohin er gegangen ist.« Henry Li wurde abweisend. »Er ist in eigener Sache unterwegs, mit der ich nichts zu tun habe und über die ich nichts weiß.« »Natürlich. Aber es ist jammerschade. Einer meiner Freunde, ein Amerikaner, der eine große und gefährliche Reise unternehmen will, bedarf der Dienste von Li Gung. Gegen eine sehr großzügige Vergütung selbst-
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verständlich.« Li schüttelte den Kopf. »Die Sache hätte Gung ohnehin nicht interessiert. Er ist anderweitig beschäftigt.« »Ach ja? Steht er noch immer im Dienst von Colonel Beetham?« »Das ist zweifellos der Fall.« »Dennoch, das Honorar, das ihm mein amerikanischer Bekannter gezahlt hätte, wäre sehr hoch gewesen. Aber es mag ja sein, daß Gungs Loyalität, gegen Colonel Beetham sich auch dadurch nicht erschüttern ließe, eine Loyalität die sich über Jahre hinweg gefestigt hat. Ich gebe mir Mühe, nachzurechnen, schaffe es jedoch nicht ganz. Wie lange ist Ihr sehr ehrenwerter Cousin schon in Colonel Beethams Diensten?« »Lange genug, um seine Loyalität zu festigen, wie Sie sagen«, erwiderte Li unverbindlich. »Fünfzehn Jahre vielleicht?« riet Chan. »Könnte sein.« »Oder sogar noch länger?« »Das ist mir nicht bekannt.« Chan nickte. »Wenn man weiß, zu wissen, daß man weiß, und wenn man nicht weiß, zu wissen, daß man nicht weiß – das ist echte Weisheit, wie der Meister sagte.« Er bewegte seinen Fuß, und sein dickes Gesicht verzog sich wie im Krampf. »Ein großer Mann, dieser Colonel Beetham. Ein bemerkenswerter Mann. Li Gung hatte großes Glück. Mit Colonel Beetham hat er Tibet, Persien, ja, sogar Indien gesehen. Hat er Ihnen vielleicht von seinen Reisen durch Indien erzählt?« Die schrägen Augen des Hausherrn bekamen einen eigensinnigen Ausdruck. »Mein Cousin erzählt nur sehr wenig«, antwortete Henry Li.
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»Welche Charaktereigenschaft seinen Wert für einen Mann wie den Colonel nur erhöht«, meinte Chan. »Es tut mir sehr leid, daß er nicht mehr da ist. Obwohl ich zweifellos in vergeblicher Mission gekommen wäre, weil er sich Colonel Beetham verpflichtet fühlt, hätte ich es dennoch gern versucht, ihn zu überreden. Ich habe meinem Freund versprochen…« Die Wohnungstür ging auf, und der lebhafte Junge stürmte in das Wohnzimmer. Hinter ihm kam ein ernsthafter, bärtiger junger Amerikaner mit einer kleinen schwarzen Tasche. »Ich habe einen Arzt geholt!« rief Willie Li triumphierend. Chan warf dem eifrigen Jungen einen zornigen Blick zu. »Ein Unfall, wie?« sagte der Arzt lebhaft. »Nun, wer von Ihnen…« Henry Li nickte zu Chan hinüber. »Es handelt sich um den Knöchel dieses Herrn«, sagte er. »Nun, dann lassen Sie mal sehen«, sagte der Weiße. »Aber es ist nichts«, protestierte Chan. »Überhaupt nichts.« Er streckte den Fuß aus, und der Arzt streifte ihm Schuh und Strumpf ab. Er tastete den Knöchel schnell mit den Fingerspitzen ab, drehte ihn nach links und nach rechts und betrachtete ihn nachdenklich. Dann stand er auf. »Was ist los? Wollen Sie mich zum Narren halten? Dem Fuß fehlt überhaupt nichts.« »Ich sagte doch, es sei nur eine ganz leichte Verletzung«, erwiderte Chan. Er sah Henry Li an, und es entging ihm nicht, daß der Korbimporteur genau verstanden hatte, was vorging.
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»Fünf Dollar bitte«, sagte der Arzt schroff. Chan holte seine Geldbörse heraus und zählte das Geld ab. Nur mühsam hielt er sich davon zurück, zu dem Jungen hinüberzuschauen. Der „Weiße ging. Chan zog Strumpf und Schuh an und stand auf. Seine Würde verlangte, daß er die Täuschung aufrechterhielt, und er hinkte betont. »Diese Doktoren der weißen Teufel«, sagte er mürrisch. »Hohe Honorare kassieren, das ist alles, was sie können.« Henry Li musterte ihn forschend. »Ich erinnere mich«, sagte er, »daß noch jemand hier war und Fragen über Li Gung stellte. Ein Engländer – ein großer Mann. Sie sind klug und kühl, diese Engländer, wie ein Dieb inmitten eines Feuers. Habe ich heute in der Morgenzeitung nicht gelesen, daß dieser Engländer tot ist?« »Davon weiß ich nicht«, erwiderte Chan steif. »Selbstverständlich nicht.« Henry Li ging hinter ihm her zur Tür. »Wenn Sie den Rat annehmen, den ich Ihnen in aller Bescheidenheit gebe«, fügte er hinzu, »dann sollten Sie von nun an sehr vorsichtig sein. Was für ein Jammer, wenn Sie einen schweren Unfall hätten.« Chan brummte einen Abschiedsgruß und ging hinaus. An der Tür stand mit einem breiten Grinsen der kleine Willie Li. Der Zwischenfall hatte ein unerwartetes Ende genommen, aber der Junge war trotzdem glücklich. Er war Pfadfinder und hatte für heute seine gute Tat getan. Zutiefst erregt trat Chan auf die Straße. Höchst selten endeten seine kleinen Täuschungsmanöver so katastrophal. Er hatte sich praktisch selbst außer Gefecht gesetzt, bei den Ermittlungen über Li Gung war er
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nichts mehr nütze. Mit einer gemurmelten Verwünschung schickte er alle Pfadfinder in die Hölle. In einer Drogerie kaufte er eine Tüte Lampenruß und eine Kamelhaarbürste. Dann kehrte er ins KirkGebäude zurück. Der Nachtwächter brachte ihn zum Bungalow hinauf, und Chan schloß mit dem Schlüssel auf, den Kirk ihm gegeben hatte. Das Haus war still und dunkel. Er machte Licht und inspizierte alle Räume. Es schien niemand da zu sein. Er schloß die Schublade von Kirks Schreibtisch auf und holte vorsichtig das Blatt Papier heraus, das in dem Briefumschlag von Scotland Yard gesteckt hatte. Zufrieden stellte er fest, daß es stark satiniertes, billiges Papier war. Dort, wo es gefaltet worden war, mußten deutliche Fingerabdrücke zu sehen sein. Am Schreibtisch sitzend, eine helle Stehlampe neben sich, bestäubte er das Blatt da, wo er die Abdrücke vermutete, mit dem schwarzen Pulver. Dann nahm er das überschüssige Pulver sehr vorsichtig mit der Bürste ab. Er wurde mit den Umrissen des Abdrucks eines kräftigen Daumens belohnt. Er überlegte, Carrick Enderby war ein großer Mann und bei Cook’s angestellt. Irgendwie mußte sich Chan einen Abdruck von Enderbys Daumen verschaffen. Er legte das Blatt Papier in die Schublade zurück und sein »Handwerkszeug« dazu. Über die verschiedenen Wege und Möglichkeiten nachdenkend, setzte er sich in einen bequemen Sessel und vertiefte sich in die Biographie von Colonel John Beetham. Ungefähr eine Stunde später kam Paradise nach Hause. Er hielt sich einen Augenblick in der Anrichte auf und betrat dann das Wohnzimmer. Vor sich her trug er das für ihn anscheinend unvermeidliche Silbertablett,
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von dem er ein paar Briefe nahm, die er auf Kirks Schreibtisch legte. »Die letzte Post ist gekommen, Sir«, meldete er. »Ich glaube, es ist auch eine Ansichtskarte für Sie dabei.« Er hielt Tablett und Karte achtlos zwischen zwei Fingern und ließ die Hand seitlich hinunterhängen, als wolle er auf diese Weise seine Verachtung für bunte Ansichtskarten ausdrücken. Chan blickte überrascht auf. Er hatte das Hotel angerufen und gebeten, seine Post hierher nachzusenden. Das war rasche Arbeit. Paradise hielt ihm das Tablett hin, und Chan nahm die Karte mit einer gezierten Bewegung herunter. Sie kam von seiner jüngsten Tochter und sollte ihn kurz vor seiner Abreise erreichen. »Komm schnell nach Hause, ehrenwerter Vater«, schrieb sie. »Du fehlst uns sehr. Bei uns ist es jetzt sehr heiß. Hoffentlich sehe ich Dich bald wieder. Deine Dich liebende Tochter Anna.« Chan drehte die Karte um. Er sah ein Bild von Waikiki, Surfbretter auf den Wellen und dahinter Diamond Head. Er seufzte vor Heimweh und saß lange völlig reglos da. Kaum hatte Paradise jedoch das Zimmer verlassen, sprang der kleine Detektiv auf und lief zum Schreibtisch, denn Paradise hatte die Ansichtskarte mit einem großen, feuchten Daumen auf dem Tablett festgehalten, und glücklicherweise hatte der Daumen auf dem hellen Blau des schönen Himmels von Hawaii geruht. Flink hantierte Chan mit Lampenruß und Bürste. Dann holte er das leere Blatt Papier aus der Schublade und verglich die beiden Abdrücke. Mit vor Verblüffung gerunzelter Stirn lehnte er sich auf dem Schreibtischstuhl zurück. Er wußte jetzt, daß er
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die Fingerabdrücke von Carrick Enderby nicht untersuchen mußte. Der Daumenabdruck auf der Ansichtskarte und der Abdruck auf dem leeren Blatt, das in dem Briefumschlag von Scotland Yard gesteckt hatte, waren identisch. Es war also Paradise gewesen, der sich mit Sir Frederics Post zu schaffen gemacht hatte.
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9. Kapitel
Der Hafen der verschwundenen Frauen Der Donnerstag dämmerte hell und schön herauf. Chan stand aus dem Bett auf, trat ans Fenster und sah die Sonne fröhlich im Hafenwasser funkeln. Die Welt war klar und kühl, das Bild vor dem Fenster wirkte belebend. Nicht für immer würde er im dunklen Labyrinth seiner Zweifel und Verwirrung umherirren müssen. Eines Tages würde der Mord an Sir Frederic für ihn kein Rätsel mehr sein, würde er die Hintergründe der Tat so deutlich vor sich sehen wie die Türme von Oakland. Und danach – den Pazifik, den Leuchtturm auf Makapuu Point, Diamond Head, die mit Palmen bekränzten Strände und endlich seine geliebte Stadt Honolulu, die sich in die smaragdgrüne Mulde zwischen den Hügeln schmiegte. Gelassen und ohne Hast bereitete er sich auf einen neuen Tag vor. Dann verließ er sein Schlafzimmer. Makellos gekleidet und in aller Ruhe saß Barry Kirk am Frühstückstisch und las die Morgenzeitung. Chan lächelte bei dem Gedanken an die Bombe, die er gleich vor seinem liebenswürdigen Gastgeber explodieren lassen würde. Er hatte Kirk gestern abend nicht mehr gesehen. Obwohl er bis Mitternacht auf ihn gewartet hatte, um ihm von seiner Entdeckung zu berichten, war der junge Mann bis dahin noch nicht nach Hause gekommen, und Chan war müde ins Bett gegangen. »Guten Morgen«, sagte Kirk. »Wie geht es dem berühmten Detektiv heute?« »Den Umständen entsprechend gut«, antwortete Chan. »Sie fühlen sich ausgezeichnet, ich sehe, ohne fragen zu müssen.«
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»Stimmt genau. Ich stecke voller Tatendrang, Kraft und Ehrgeiz, bereit für die Entdeckungen eines neuen Tages. Übrigens habe ich gestern abend noch Miß Morrow angerufen und ihr erzählt, was meine Großmutter uns von Eileen Enderby berichtet hat. Sie will mit der Dame sprechen und möchte, daß Sie dabei sind. Ich hoffe, daß man mich nicht ausschließt.« Chan nickte. »Unterredung zweifellos erforderlich«, stimmte er zu. Hoheits- und würdevoll wie immer, trat Paradise ein, und nachdem er sie beide mit einem höflichen »Guten Morgen« begrüßt hatte, stellte er je ein Glas Orangensaft vor sie hin. Kirk nahm das seine sofort auf. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte er, »getrunken mit dem Wein des Landes. Kalifornischer Orangensaft – Sie lesen selbstverständlich unsere Inserate. Heilt alles von Schlaflosigkeit bis zum gebrochenen Herzen. Wie haben Sie den vergangenen Abend verbracht?« »Ich?« Chan zuckte mit den Schultern. »Machte kleinen Sprung nach Chinatown.« »Auf den Spuren von Li Gung, nicht wahr? Hatten Sie Glück?« »Arges Pech.« Chan schnitt eine Grimasse. »Treffe auf chinesischen Pfadfingerjungen, der unbedingt gute Tat vollbringen will und mir ungefähr schlimmste antut, die ich bisher erlebt.« Er schilderte zu Kirks Belustigung den Zwischenfall ausführlich. »Wirkliches Pech!« Kirk lachte. »Aber wahrscheinlich haben Sie alles erfahren, was Sie unter diesen Umständen erfahren konnten.« »Später war Glück mir holder«, fuhr Chan fort. Paradise brachte den Haferbrei herein, und Chan beobachtete ihn schweigend. Als der Butler gegangen war, setz-
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te er hinzu: »Gestern abend ich mache in Wohnzimmer erstaunliche Entdeckung. – Was wissen eigentlich von perfektem Diener?« Kirk zuckte zusammen. »Meinen Sie Paradise? Guter Gott! Sie glauben doch nicht…« »Er kam mit Empfehlungsschreiben?« »König Georg hätte keinen besseren haben können. Herzöge und Grafen lobten ihn in den höchsten Tönen. Und warum auch nicht? Er ist der beste Diener der Welt.« »Zu schade«, meinte Chan. »Was ist zu schade?« »Zu schade, daß bester Diener von Welt Schwäche hat, Briefe über Dampf zu öffnen…« Chan unterbrach sich mitten im Satz, denn Paradise kam mit Schinken und Eiern herein. Als er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, beugte Kirk sich über den Tisch und fragte leise und gespannt: »Paradise hat den Brief von Scotland Yard geöffnet? Woher wissen Sie das?« Charlie erklärte es ihm kurz, und Kirks Gesicht verdüsterte sich. »Ich hätte wahrscheinlich darauf vorbereitet sein sollen.« Er seufzte. »Der Butler ist immer in etwas Ähnliches verwickelt. Aber Paradise! Mein Ausbund an Tugend! Was soll ich tun? Ihn hinauswerfen?« »O nein!« protestierte Chan. »Vorläufig nur schweigen. Er darf nicht wissen, daß wir Schwäche kennen. Müssen einfach auf der Hut sein und abwarten.« »Das paßt mir gut«, erklärte sich Kirk einverstanden. »Ich behalte ihn, bis Sie die Handschellen herausholen. Was für ein Jammer wird es sein, so tüchtige Hände fesseln zu müssen.«
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»Vielleicht kommt es nicht soweit.« »Das hoffe ich!« Nach dem Frühstück rief Chan in der Redaktion des Globe an und besorgte sich die Privatadresse von Bill Rankin. Er weckte den Reporter aus einem wohlverdienten Schlaf und bat ihn, sofort in Kirks Bungalow zu kommen. Der Reporter erschien eine Stunde später voller Eifer und Tatendrang. »Sie haben’s also doch nicht ganz geschafft, wie?« sagte er spöttisch lächelnd. »Der kühle, gelassene Orientale hat im Hafen noch kehrtgemacht.« Chan nickte. »Kühler, gelassener Orientale wird Festlandamerikanern zu ähnlich, bewegt sich schon zu lange in ihrer Gesellschaft. Bin geblieben, um Captain Flannery, zu sehr wohlverborgenem Entzücken, bei Ermittlungen zu helfen.« Rankin lachte. »Ja, ich habe gestern abend mit ihm gesprochen. Er ist außer sich vor Freude, aber er gibt es nicht zu, nicht einmal vor sich selbst. Nun, wie sieht’s aus? Wer hat Sir Frederich umgebracht?« »Schwer zu sagen«, antwortete Chan. »Müssen in Vergangenheit schürfen. Habe im Augenblick kleines Problem, bei dem Sie helfen können. Deshalb habe ich gewagt, Sie zu belästigen.« »Es ist durchaus keine Belästigung. Ich freue mich, daß Sie mich angerufen haben. Wie lauten Ihre Befehle?« »Müssen aber vorläufig noch tiefes Stillschweigen bewahren. Es darf nichts veröffentlicht werden. Sie verstehen das?« »In Ordnung. Aber wenn der große Augenblick kommt, bin ich der Goldjunge, der die Story exklusiv bekommt. Sie verstehen ebenfalls?«
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Chan lächelte. »Ja, Sie sind Auserwählter. So wird es sein. Sie erinnern sich an Geschichte von Eve Durand?« »Als ob ich sie je vergessen könnte! Ich weiß nicht mehr, wann etwas einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Peshawar - die dunklen Hügel – das Versteckspiel – die kleine Blondine, die von diesem Ausflug nie zurückkehrte. Wenn das nicht aufregend ist, dann weiß ich nicht, was aufregend sein soll.« »Sie sprechen Wahrheit. Vor fünfzehn Jahren, hat Sir Frederic gesagt. Aber weder von Sir Frederic noch von Zeitungsartikel ich bekomme genaues Datum, und möchte doch so gern wissen. An welchem Tag in welchem Monat von Jahr 1913 – wahrscheinlich! - ist Eve Durand in grenzenloses Dunkel von Indien verschwunden? Könnten Sie freundlicherweise feststellen?« Rankin nickte. »Eine Geschichte wie diese muß durch die ganze Weltpresse gegangen sein. Ich sehe bei uns im Archiv nach. Irgend etwas finde ich bestimmt.« »Sehr gut«, sagte Chan. »Bitte denken an noch eine kleine Sache. Angenommen, Sie finden Berichte. Wird irgendwo Name von Colonel John Beetham erwähnt?« »Was! Beetham? Dieser Knabe? Steckt er in der Sache mit drin?« »Sie kennen ihn?« »Klar. Ich habe ihn interviewt. Ein rätselhafter Bursche. Wenn er drinsteckt, ist die Geschichte sogar noch besser als ich dachte.« »Vielleicht er hat nichts damit zu tun«, dämpfte Chan Rankins Begeisterung. »Bin von großer Neugier, das ist alles. Sie werden also in Archiv nachsehen?« »Aber gewiß. Sie hören bald von mir. Ich fliege
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schon.« Der Reporter ging und überließ Chan seinem gewichtigen Buch. Lange wanderte er mit Colonel Beetham von einem einsamen Ort zum anderen, über brennend heißen Sand jetzt und gleich darauf durch Wüsteneien aus Schnee und Eis. Männer und Maultiere blieben tot auf ihrer Fährte zurück, aber Beetham drängte vorwärts. Nichts konnte ihn aufhalten. Als sie beim Lunch saßen, klingelte das Telefon, und Kirk meldete sich. »Hallo, Miß Morrow. Selbstverständlich. Gut, ich werde dort sein. Das werde ich auch – entschuldigen Sie, was sagten Sie eben? Nein, überhaupt keine Mühe. Mr. Chan ist fremd in der Stadt, und ich möchte nicht, daß er sich verirrt… Ja - ja, ich komme, also ruhig Blut, meine Dame. Nur ruhig Blut.« Er legte auf. »Wir sollen um zwei in Miß Morrows Büro sein und treffen die Enderbys dort. Das heißt, Sie sind eingeladen, und ich begleite Sie sowieso.« Punkt zwei Uhr betraten Chan und sein Gastgeber das Büro der jungen Staatsanwältin, ein staubiges, düsteres Zimmer, in dem sich dicke juristische Folianten türmten. June Morrow stand vom Schreibtisch auf, der sehr ordentlich aussah, und begrüßte sie lächelnd. Kirk sah sich im Raum um. »Gütiger Himmel, hier verbringen Sie also Ihre Tage?« Er ging zum Fenster. »Ein wirklich bezaubernder Ausblick, das muß man sagen. Ich muß Sie demnächst aufs Land mitnehmen und Ihnen das Gras und die Bäume zeigen. Sie werden überrascht sein.« »Ach, das Büro ist gar nicht so übel«, antwortete sie. »Ich bin nicht wie gewisse Leute, die ich kenne, ich konzentriere mich auf meine Arbeit.« Flannery kam herein. »Hier sehen wir uns also wie-
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der«, sagte er. »Bereit für eine weitere Geschichte. Von Mrs. Enderby diesmal, wie? In diesem Fall gibt es mehr Frauen als bei der Liga für das Frauenwahlrecht.« »Sie scheinen noch immer verwirrt zu sein«, meinte Chan. »Bin ich auch«, gab der Captain zu. »Und wie steht es mit Ihnen? Bisher habe ich noch keine erleuchtenden Schlußfolgerungen von Ihnen gehört.« »Kann jetzt jeden Moment soweit sein, daß ich blende Ihre Augen mit strahlendem Licht«, antwortete Chan grinsend. »Meinetwegen brauchen Sie nichts zu übereilen«, sagte Flannery. »Wir haben für den Fall ja das ganze Jahr Zeit. Schließlich war es nur Sir Frederic Bruce von Scotland Yard, der ermordet wurde. Wen interessiert das schon – außer dem Britischen Empire?« »Sie haben Fortschritt gemacht?« erkundigte sich Chan. »Wie könnte ich? Jedesmal wenn ich logisch und mit Vernunft an die Sache herangehen will, muß ich hinter einer verschwundenen Frau herjagen. Ich sage Ihnen, ich habe es langsam satt. Wenn es noch mehr Unsinn über…« Die Tür ging auf, ein Sekretär führte Carrick Enderby und seine Frau herein. Eileen Enderby schien schon jetzt aufgeregt und nervös. June Morrow stand auf. »Guten Tag«, sagte sie. »Setzen Sie sich bitte. Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen.« »Das war doch selbstverständlich«, erwiderte Eileen Enderby. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was Sie von uns wollen.« »Wir müssen Miß Morrow Gelegenheit geben, es uns
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zu erklären, Eileen«, sagte ihr Mann in seiner schleppenden Sprechweise. »Aber natürlich.« Mrs. Enderbys blaue Augen wanderten von einem zum anderen und blieben schließlich an der massigen Gestalt von Captain Flannery hängen. »Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen, Mrs. Enderby«, begann June Morrow. »Fragen, die Sie, wie ich weiß, gern beantworten werden. Sagen Sie – kannten Sie Sir Frederic Bruce schon vor der Dinnerparty bei Mr. Kirk?« »Ich hatte noch nie von ihm gehört«, antwortete Eileen Enderby fest. »Ach ja. Und doch hat Sir Frederic Sie, kurz nachdem Colonel Beetham mit seinem Filmvortrag begonnen hatte, in den Flur hinausgebeten. Er wollte allein mit Ihnen sprechen.« Eileen Enderby sah ihren Mann an. Er nickte. »Ja«, sagte sie, »das hat er. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so überrascht.« »Worüber wollte Sir Frederic mit Ihnen reden?« »Es war unglaublich. Er erwähnte ein Mädchen, das ich früher mal gut kannte.« »Was ist mit dem Mädchen?« »Nun, es war alles ziemlich rätselhaft. Dieses Mädchen, von dem Sir Frederic sprach, verschwand eines Abends. Ging einfach in die Dunkelheit hinein, und man hörte nie wieder etwas von ihm.« Stille. »Ist Ihre Freundin in Peshawar – in Indien verschwunden?« fragte June Morrow schließlich. »In Indien? Aber nein, ganz und gar nicht.« »Ich verstehe. Dann meinte Sir Frederic wohl Marie Lantelme, die aus Nizza verschwand?« »Nizza? Marie Lantelme? Ich begreife nicht.« Eileen
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Enderby runzelte verblüfft die hübsche Stirn. »Wie viele Jahre ist jetzt her, daß Freundin zum letztenmal gesehen wurde?« mischte sich zum erstenmal Chan ins Gespräch. »Nun – lassen Sie mich überlegen. Sieben – ja, sieben Jahre.« »Und sie verschwand aus New York, vielleicht?« »Aus New York, ja.« »Und Name war Jennie Jerome?« »Ja. Jennie Jerome.« Chan holte seine Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Zeitungsausschnitt und reichte ihn June Morrow. »Hoffe, es ist letztesmal, daß ich bescheidene Bitte an Sie richte, vorzulesen, was unter Hinterlassenschaft von Sir Frederic gefunden habe.« Mit großen Augen nahm Miß Morrow den Zeitungsausschnitt entgegen. Captain Flannerys Gesicht war eine Studie in Scharlachrot. Die junge Staatsanwältin begann zu lesen: »Was wurde aus Jennie Jerome? Eine berühmte New Yorker Modistin und ein noch berühmterer New Yorker Illustrator gehören zu jenen Leuten, die sich in den vergangenen sieben Jahren immer wieder diese Frage stellten. Jennie Jerome war, was die Franzosen ein ›Mannequin‹ nennen, ein Modell des eleganten Modehauses DuFouret Cie auf New Yorks berühmter Fifth Avenue. Jennie Jerome war jedoch mehr als ein Modell, ein modischer Kleiderständer. Sie war ein Mädchen mit einem bezaubernden Wesen, eine ausgeprägte Persönlichkeit und eine Schönheit, die man in sieben Jahren nicht vergißt. Obwohl noch nicht lange bei DuFour angestellt, war sie bei den vornehmen Kunden des Hauses von allen Mode-Modellen das beliebteste. Ein berühmter New Yorker Illustrator sah ihr Bild in einer Zeitung, suchte sie sofort auf und bot ihr eine große Summe, damit
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sie ihm Modell stand. Jennie Jerome schien begeistert und sagte zu. Sie lud ein paar Freunde zu einer Dinnerparty in ihre Wohnung, um ihre neue Karriere zu feiern. Als die Freunde eintrafen, stand die Tür von Jennies Apartment offen. Sie gingen hinein. Der Fisch war gedeckt, die Kerzen brannten, die Vorbereitungen für das Abendessen getroffen. Aber die Gastgeberin war nicht da. Der Angestellte in der Telefonzentrale des Hauses meldete, er habe Miß Jerome ein paar Minuten vorher die Freppe herunter und durch die Halle laufen sehen. Dann sei sie in die Nacht hinein verschwunden. Er war der letzte, der Jennie Jerome zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Arbeitgeberin Madame DuFour und der Illustrator, der von ihrer Schönheit so hingerissen war, haben alles nur Erdenkliche versucht, um sie zu finden. Doch die Bemühungen führten zu nichts. Jennie Jerome hatte sich in Luft aufgelöst. Ist sie mit einem Mann durchgebrannt? Aber nie wurde ihr Name in einem Atemzug mit dem eines Mannes genannt. Wurde sie ermordet? Vielleicht. Niemand weiß es. Auf jeden Fall verschwand Jennie Jerome, ohne eine Spur zu hinterlassen, und daran hat sich seit sieben Jahren nichts geändert. «
»Schon wieder eine!« rief Flannery, als June Morrow zu Ende gelesen hatte. »Du grüne Neune, womit haben wir’s denn da zu tun?« »Mit einem Puzzlespiel«, antwortete Chan gelassen. Er schob den Zeitungsausschnitt wieder in seine Brieftasche. »Das kann man wohl sagen«, entgegnete Flannery voller Groll. »Sie haben Jennie Jerome gekannt?« sagte June Morrow zu Eileen Enderby. Mrs. Enderby nickte. »Ich war bei derselben Firma angestellt – bei DuFour. Auch ich war ein Modell. Und während ich dort arbeitete, lernte ich Mr. Enderby
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kennen, der damals in der New Yorker Filiale von Cook’s war. Ich kannte Jennie gut. Die Story, die Sie eben vorgelesen haben, wurde ein bißchen – retuschiert, wenn ich das sagen darf. Jennie Jerome war nur ein durchschnittlich hübsches Mädchen, keine hinreißende Schönheit. Ich glaube, irgendein Illustrator wollte, daß sie ihm Modell stand. Wir bekamen alle derartige Angebote.« »Lassen wir mal ihre Schönheit beiseite«, sagte June Morrow lächelnd. »Verschwunden ist sie?« »O ja. Ich gehörte damals zu den Gästen der Dinnerparty. Irgendwoher wußte Sir Frederic, daß ich mit ihr befreundet gewesen war, woher – das ist mir allerdings schleierhaft. Auf jeden Fall fragte er mich, ob ich Jennie Jerome noch erkennen würde, wenn ich sie wiedersähe. Ich sagte, wahrscheinlich ja. Er fragte: ›Haben Sie sie heute abend hier im Haus gesehen?‹« »Und Sie sagten…« »Ich sagte, nein, ich hätte sie nicht gesehen. Da meinte er, ich sollte doch mal nachdenken, aber ich begriff die Notwendigkeit nicht. Ich hatte sie nicht gesehen, da war ich ganz sicher.« »Und Sie haben sie seither noch immer nicht gesehen?« »Nein.« June Morrow stand auf. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Mrs. Enderby. Das war alles, glaube ich. Captain Flannery…« »Von mir aus war es alles«, sagte Flannery. »Wenn ich Ihnen darüber hinaus behilflich sein kann…« Mrs. Enderby erhob sich sichtlich erleichtert. »Komm, gehen wir«, sagte ihr Mann schroff, und sie gingen hinaus. Die vier im Büro Zurückbleibenden sa-
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hen sich erstaunt »Da haben wir’s!« explodierte Flannery. »Noch eine vermißte Frau! Eve Durand, Marie Lantelme, Jennie Jerome. Drei – zählen Sie nach – drei, und wenn man seinen Ohren trauen kann, war jede von ihnen gestern abend im Kirk-Building. Ich weiß nicht, was Sie davon halten, aber für mich klingt es wie ausgemachter Blödsinn.« »Es klingt nicht sehr gut, das muß ich zugeben«, stimmte Barry Kirk zu. »Der Hafen der verschwundenen Frauen, und ich dachte, ich hätte da ein ganz gewöhnliches Bürogebäude.« »Alles Unsinn«, fuhr Flannery laut fort. »Es ist nie geschehen, das ist es. Jemand hält uns zum Narren. Diese letzte Story war eine zuviel…« Er unterbrach sich und starrte Charlie Chan an. »Nun, Sergeant, wie denken Sie so darüber?« fragte er. »Denke ganze Menge.« Chan lächelte. »Endlich beginnt eine Seite von Rätsel sich aufzuhellen. Letzte Geschichte bringt Licht in tiefes Dunkel. Sie können mir natürlich folgen?« »Das kann ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.« »Sie können nicht? Wie sehr schade. Wenn Zeit kommt, zeige ich Ihnen.« »Schon gut, schon gut!« rief Flannery. »Ich überlasse diese verschwundenen Frauen Ihnen und Miß Morrow und möchte kein Wort mehr über sie hören, sonst drehe ich noch durch. Ich halte mich an die wesentlichen Fakten. Vorgestern abend wurde Sir Frederic Bruce in einem Büro im zwanzigsten Stockwerk des Kirk-Buildings ermordet. Jemand hat sich von der Party weggeschlichen, oder jemand ist von der Straße eingedrungen und hat es ihm besorgt. Neben ihm lag
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ein Buch, und auf der Feuerleiter waren Spuren – ich habe es Ihnen nicht gesagt, aber wir haben dort Spuren gefunden –, und der Mörder hat ihm ein Paar Samtpantoffeln von den Füßen gestohlen. Das ist mein Fall, mein Job, und beim Himmel, ihm werde ich nachgehen. Und wehe, wenn mir noch jemand mit Geschichten über verschwundene Frauen kommt, dann…« Er unterbrach sich. Die Bürotür wurde geöffnet, und Eileen Enderby kam herein. Dicht hinter ihr ging finster und grimmig ihr Mann. Die Frau schien sehr erregt. »Wir – wir sind zurückgekommen«, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Mein Mann denkt – er hat mir begreiflich gemacht…« »Ich habe«, fiel Carrick Enderby seiner Frau ins Wort, »darauf bestanden, daß meine Frau Ihnen die ganze Geschichte erzählt. Sie hat einen sehr wichtigen Punkt verschwiegen.« »Weil ich in einer schrecklichen Lage bin«, wandte die Frau ein. »Ich hoffe nur, ich tue das Richtige. Carry, bist du ganz sicher…« »Ich bin sicher«, unterbrach er sie schneidend, »daß in einer so ernsten Angelegenheit die Wahrheit das einzig Vernünftige ist.« »Aber sie hat mich gebeten, nichts zu sagen«, gab Eileen ihm zu bedenken. »Sie hat mich so sehr gebeten. Ich möchte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.« »Du hast kein Versprechen gegeben«, sagte ihr Mann. »Und wenn die Frau nichts Unrechtes getan hat, sehe ich nicht ein…« »Hören Sie«, mischte sich Flannery ein, »Sie sind zurückgekommen, um uns etwas zu sagen. Was war das?«
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»Sie sind zurückgekommen, um uns zu sagen, daß Sie Jennie Jerome gesehen haben, nicht wahr?« meinte June Morrow. Mrs. Enderby nickte und sagte mit deutlichem Widerstreben: »Ja, ich – habe sie gesehen. Aber erst, nachdem ich mit Sir Frederic gesprochen hatte. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Bis dahin hatte ich sie nicht gesehen – das heißt, gesehen hatte ich sie zwar, aber mir war nicht bewußt – ich merkte nicht… Man merkt es nicht, wissen Sie?« »Aber später haben Sie es gemerkt?« »Ja, auf dem Heimweg. Als wir mit dem Lift hinunterfuhren. Da habe ich sie mir gut angesehen, und es wurde mir plötzlich klar. Das Liftmädchen, das vorgestern abend im Kirk-Gebäude Dienst hatte, war Jennie Jerome.«
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10. Kapitel
Ein Brief aus London Captain Flannery stand auf und machte eine Runde durch den Raum. Er war ein einfacher Mann, und der Ausdruck seines Gesichts verriet deutlich, daß die Vielschichtigkeit seines Berufs seine geistigen Kräfte überstieg. Er blieb vor Eileen Enderby stehen. »Das Liftmädchen war also Jennie Jerome? Dann haben Sie vor ein paar Minuten gelogen, als Sie Miß Morrow sagten, Sie hätten Ihre verschwundene Freundin nicht gesehen.« »Das können Sie ihr nicht zum Vorwurf machen«, protestierte Enderby. »Sie ist freiwillig zurückgekommen, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.« »Aber warum hat Sie sie nicht sofort gesagt?« »Weil man keine Lust hat, in eine solche Sache hineingezogen zu werden. Das ist nur natürlich.« »Schon gut, schon gut.« Flannery wandte sich wieder an Mrs. Enderby. »Sie sagen, Sie hätten das Mädchen erkannt, als Sie nach dem Abendessen bei Mr. Kirk mit dem Lift hinunterfuhren, um nach Hause zu gehen. Haben Sie es sich anmerken lassen?« »O ja. Ich rief überrascht: Jennie! Jennie Jerome! Was tust du denn hier?<« »Sie haben doch gesehen, was sie machte.« »Ach, das war doch nur so dahingesagt, hatte nichts zu bedeuten.« »So, so. Und was antwortete sie?« »Sie lächelte nur und sagte ruhig: ›Hallo, Eileen! Ich habe mich schon gefragt, ob du mich wohl erkennen wirst.‹« »Was dann?«
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»Ich hätte ihr am liebsten tausend Fragen gestellt, natürlich. Warum sie damals weglief – wo sie gewesen war… Aber sie antwortete nicht, sie schüttelte nur noch immer lächelnd den Kopf und meinte, ein andermal werde sie mir vielleicht alles erzählen. Und dann bat sie mich, ihr den Gefallen zu tun und zu verschweigen, daß ich sie gesehen hatte. Sie habe nichts Unrechtes getan, aber wenn die Geschichte, auf welche Weise sie New York verlassen hatte, irgendwie herauskäme, könnte es zu einem unschönen Verdacht führen…« »Ihr Mann hat gesagt, Sie hätten ihr nichts versprochen?« fiel Flannery ihr ins Wort. »Stimmt, das habe ich nicht. Unter normalen Umständen hätte ich es natürlich sofort getan. Aber ich dachte daran, daß Sir Frederic ermordet worden war, und deshalb schien mir ihre Bitte viel zu schwerwiegend. Ich meinte daher, ich wollte es mir überlegen und würde es ihr sagen, wenn ich sie wiedersähe.« »Und haben Sie sie wiedergesehen?« »Nein. Es war alles so merkwürdig. Ich wußte kaum, was ich tun sollte.« »Dann halten Sie sich lieber von ihr fern«, meinte Flannery. »Ich halte mich von ihr fern, weil ich das Gefühl habe, sie verraten zu haben.« Eileen sah ihren Mann vorwurfsvoll an. »Du warst nicht in ihrer Schuld. In einer so ernsten Sache zu lügen, ist überaus gefährlich.« »Sie sind glücklich daran, Mrs. Enderby«, sagte der Captain. »Sie haben einen vernünftigen Mann. Hören Sie nur auf ihn, dann kann nichts schiefgehen. Ich schätze, das ist jetzt alles, Sie können gehen. Nur be-
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halten Sie diese Unterredung für sich.« »Das ist ganz selbstverständlich«, versicherte ihm Mrs. Enderby und erhob sich. »Wenn ich Sie wieder brauchen sollte, gebe ich Ihnen Bescheid«, sagte Captain Flannery. Chan öffnete ihr die Tür. »Darf ich mir respektvolle Frage gestatten«, sagte er. »Schönes Kleid mit Flecken von Rost – es ist doch nicht völlig ruiniert?« »Aber nein, durchaus nicht«, antwortete sie und blieb stehen, als sei sie der Meinung, die Sache bedürfe einer Erklärung. »Als ich den Mann auf der Feuerleiter sah, regte ich mich so auf, daß ich mich an das Geländer der Dachterrasse lehnte. Es war tropfnaß vom Nebel. Unachtsam von mir, nicht wahr?« »Im Augenblick von Erregung vergißt man leicht Vorsicht«, entgegnete Chan. Er verneigte sich tief und schloß die Tür hinter den Enderbys. »Nun«, sagte Flannery, »ich schätze, wir machen endlich Fortschritte. Obwohl – wenn Sie mich fragen, wo? – dann kann ich’s Ihnen nicht sagen. Auf jeden Fall wissen wir, daß Sir Frederic an dem Abend, an dem er ermordet wurde, nach Jennie Jerome gesucht hat, die fast direkt vor seiner Tür einen Aufzug bediente. Bei Gott, ich hätte größte Lust, sie auf der Stelle einzusperren.« »Aber Sie haben nichts gegen sie in der Hand«, wandte June Morrow ein. »Das wissen Sie doch.« »Natürlich weiß ich das. Aber die Presse fordert lauthals eine Verhaftung. Ganz wie immer. Ich könnte ihnen Jennie Jerome zum Fraß vorwerfen. Ein hübsches Mädchen zieht immer. Und wenn ich nichts Belastendes gegen sie finde, könnte ich sie in aller Stille wieder aus der Haft entlassen.«
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»Solche Taktiken sind Ihrer nicht würdig, Captain«, entgegnete June Morrow. »Wenn wir eine Verhaftung vornehmen, müssen wir schon handfesteres Material in der Hand haben. Sind Sie auch meiner Meinung, Mr. Chan?« »Ganz ohne Zweifel«, antwortete Chan. Er blickte zum Captain auf, der mürrisch die Stirn runzelte. »Wenn in aller Bescheidenheit Vorschlag machen dürfte…« »Aber selbstverständlich«, sagte June Morrow. Doch Chan überlegte es sich offenbar anders. Er behielt seinen bescheidenen Vorschlag für sich. »Geduld«, schloß er lahm, »immer beste Waffe bei schwieriger Sache. Als Meister in so schöner Tugend, ich habe schon viele grimmige Schlachten geschlagen. Amerikaner immer geneigt, zu schnell zu springen.›Geh Schritt zurück und du bist im Vorteil‹ – sehr kluges Wort.« »Aber diese Zeitungsleute – «, protestierte der Captain. Chan lächelte. »Wenn gestattet, ich möchte in dieser Angelegenheit alte Gewohnheit beibehalten. Wenn Zeitungen verrückt spielen, stopfe ich mir Watte in Ohren. Wenn darauf ankommt, bin ich verantwortlich, nicht Zeitungsreporter. Sage ihm mit großer Höflichkeit, er soll verschwinden und Mund halten.« »Ein guter Plan«, sagte June Morrow lachend. Sie wandte sich an Barry Kirk. »Wissen Sie übrigens etwas über dieses Liftmädchen? Hat sie, als wir sie vernommen haben, nicht gesagt, sie heiße Grace Lane?« Kirk schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, weiß nichts von ihr. Außer, daß sie das hübscheste Mädchen ist, das je in unserem Gebäude gearbeitet hat. Das ist mir natürlich aufgefallen.«
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»Das dachte ich mir«, sagte June Morrow. »Ich bin nicht blind, meine Dame«, versicherte er ihr. »Schönheit fällt mir immer auf. In Lifts, in der Straßenbahn – sogar in Anwaltsbüros. Ich wollte mich einoder zweimal mit dem Mädchen unterhalten, bin aber nicht weit gekommen. Wenn Sie wollen, versuche ich es gern noch einmal.« »Nein, besten Dank. Sie kämen wahrscheinlich zu weit vom eigentlichen Thema ab.« »Für mich klingt das alles ziemlich geheimnisvoll«, gestand er. »Wir dachten, Sir Frederic sei hinter Eve Durand her, und jetzt sieht es so aus, als handle es sich um zwei ganz andere Frauen. Der arme Kerl ist tot, doch er hat mir ein entsetzliches Rätsel auf die Schwelle gelegt. Ihr seid alle so nette Detektive, und ich möchte euch nicht kränken, aber würde mir freundlicherweise jemand erklären, wohin wir eigentlich treiben? Wohin uns das alles führt? Nirgendwohin, wenn Sie mich fragen.« »Ich fürchte sehr, daß Sie recht haben.« June Morrow seufzte. »Vielleicht, wenn ich diese Frau einsperrte -«, begann Flannery, der an seiner Idee hing. »Nein, nein«, widersprach June Morrow, »das können wir nicht. Aber wir können sie beschatten lassen. Und da sie zu den Leuten gehört, die ein Talent dafür haben zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, schlage ich vor, daß Sie das unverzüglich in die Wege leiten.« Flannery nickte. »Ich setze die Jungs auf ihre Fährte. Schätze, Sie haben recht. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise was. Aber – Mr. Kirk hat es gesagt – schnell kommen wir nicht weiter. Wenn ich nur einen
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einzigen Hinweis hätte, in den ich mich verbeißen könnte…« »Danke sehr vielmals, daß meine schweifenden Gedanken zurückrufen«, unterbrach ihn Chan. »So viel ist geschehen, daß ich fast vergessen habe. Kann Ihnen etwas geben, das sehr gut geeignet ist zum Hineinverbeißen.« Er nahm einen Briefumschlag aus der Tasche und zog vorsichtig ein zusammengefaltetes Blatt Papier und eine bunte Ansichtskarte heraus. »Ohne Zweifel, Captain, Sie haben mehr Erfahrung mit Fingerabdrücken als dummer Mensch wie ich. Würden Sie sagen – sind Daumenabdrücke auf Papier und Ansichtskarte identisch?« Flannery verglich lange und genau. »Für mich sehen sie gleich aus. Ich könnte sie unserem Spezialisten geben, aber sagen Sie, was ist eigentlich damit?« »Leeres Blatt Papier«, antwortete Chan, »kommt in Briefumschlag mit Absender ›Scotland Yard‹. Zweifellos hat Miß Morrow Ihnen erzählt.« »Sie hat es erwähnt. Jemand hat sich mit der Post zu schaffen gemacht. Und der Daumenabdruck auf der Ansichtskarte?« »Wurde gestern abend von Finger von Paradise zurückgelassen. Paradise ist Butler von Mr. Kirk.« Flannery sprang auf. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Jetzt kommen wir weiter. Sie haben ja doch das Zeug zum Detektiv, Sergeant. Paradise, der fremde Post öffnet. Das reicht für mich. In einer Stunde sitzt er hinter Gittern.« Protestierend hob Chan die Hand. »O nein, entschuldigen vielmal, wieder springen zu schnell. Müssen beobachten und warten…« »Zum Teufel damit!« rief Flannery. »Das ist nicht mei-
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ne Art. Ich nehme ihn fest und sorge dafür, daß er redet.« »Und ich«, sagte Barry Kirk mit einem Seufzer, »verliere meinen perfekten Butler. Soll ich ihm ein Empfehlungsschreiben mitgeben, oder zählt das im Kittchen nicht?« »Captain, warten ab und hören zu, bitte!« fuhr Chan eindringlich fort. »Wir haben keinen Beweis dafür, daß Paradise tödliche Kugel auf Sir Frederic abgefeuert hat. Aber irgendwie ist er in Fall verwickelt. Wir beobachten jeden Schritt von ihm. Ahnungsloser Mensch verrät vielleicht viel. Wir durchsuchen seine Sachen. Heute, ich glaube, hat er freien Tag. Ist das nicht so?« Er sah Kirk an. »Ja, heute ist Donnerstag, da haben die Hausangestellten frei«, antwortete Kirk. »Paradise ist wahrscheinlich im Kino, er liebt es heiß. Melodramen sind seine Schwäche.« »Glücklicher Umstand«, sagte Chan. »Auch Koch hat Ausgang. Wir kehren in Bungalow zurück und schnüffeln in Sachen von Paradise herum. Verächtliche, aber notwendige Maßnahme. Ist das nicht besser, Captain, als in überfüllten Kinos zu suchen und übereilte Verhaftung vorzunehmen?« Flannery dachte nach. »Nun ja, da haben Sie wohl recht.« »Zurück in mein Haus«, sagte Kirk und stand auf. »Wenn Miß Morrow mir zur Hand geht, lade ich Sie zum Tee ein.« »Mit mir brauchen Sie nicht zu rechnen«, sagte Flannery. »Es gibt auch andere Getränke.« »Rechnen Sie wieder mit mir«, korrigierte sich Flanne-
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ry. »Sind Sie mit Ihrem Wagen hier?« Kirk nickte. »Dann nehmen Sie Miß Morrow mit, und der Sergeant fährt mit mir.« Auf der Fahrt zum Kirk-Building sah Barry Kirk June Morrow an und lächelte. »Ja?« fragte sie. »Was ist?« »Ich habe eben nachgedacht. Das tue ich hin und wieder.« »Ist es denn nötig?« »Vielleicht nicht. Aber es wirkt belebend auf mich. In diesem Augenblick dachte ich an Sie.« »O bitte, bemühen Sie sich nicht.« »Es ist durchaus keine Mühe. Ich habe nur überlegt. In diesem Fall tauchen so viele geheimnisvolle Frauen auf. Und niemand stellt Ihnen Fragen.« »Warum sollten man?« »Warum sollte man nicht? Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Da Sie kaum Nachforschungen über sich selbst anstellen werden, sollte vielleicht ich die Aufgabe übernehmen.« »Sie sind sehr freundlich.« »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden. Natürlich sehen Sie jung und unschuldig aus, aber Sie haben mir selbst gesagt, Männer ließen sich leicht täuschen.« Er überholte einen schwerfällig rumpelnden Laster und wandte sich dann streng an sie. »Was haben Sie an dem Abend getan, an dem Eve Durand in Peshawar verschwand?« »Wahrscheinlich habe ich über einer Hausaufgabe gebrütet«, erwiderte sie. »Ich war immer sehr gewissenhaft, auch in den untersten Klassen.« »Darauf könnte ich wetten. Und wo hat diese gewaltige geistige Anstrengung stattgefunden? Nicht in San
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Francisco?« »Nein, in Baltimore. Dort war ich zu Hause, bevor ich in den Westen kam, um zu studieren.« »Tatsächlich? Dringen wir weiter in Ihre dunkle Vergangenheit ein. Warum, um Himmels willen, haben Sie ausgerechnet Jura studiert? Haben Sie eine Enttäuschung in der Liebe erlebt?« Sie lächelte. »Durchaus nicht. Mein Vater war Richter, und es hat ihm das Herz gebrochen, daß ich kein Junge war.« »Mir ist schon aufgefallen, wie unvernünftig Richter sind. Immer, wenn sie mit mir über das Autofahren geredet haben. Der Richter wollte also einen Sohn? Er hat sein Glück nicht begriffen und es mit Füßen getreten.« »Ach, er hat nach und nach entdeckt, daß ich kein totaler Verlust war. Er bat mich, Jura zu studieren, und ich hab’s getan.« »Was für ein gehorsames Kind«, sagte Kirk. »Ich hatte nichts dagegen, es hat mir sogar Spaß gemacht. Für oberflächliche Dinge hatte ich nie etwas übrig.« »Das stimmt fürchte ich. Und es macht mir Sorgen.« »Warum das?« »Weil zufällig ich zu den oberflächlichen Dingen gehöre.« »Aber Sie haben doch gewiß auch Ihre ernsthaften Seiten.« »Nein. Eine Anlage dazu ist zwar vorhanden, doch sie wurde nie fertig ausgebildet. Ich arbeite jedoch daran und werde an Ernsthaftigkeit bald nicht zu übertreffen sein.« »Also für Leute, die sich selbst zu ernst nehmen, hatte
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ich noch nie viel übrig.« »Gut, dann will ich mich an den goldenen Mittelweg halten.« »Und ich helfe Ihnen dabei«, sagte sie lächelnd. Kirk parkte den Wagen in einer Seitenstraße, und sie gingen zum Haupteingang des Kirk-Buildings. Den Lift, mit dem sie hinauffuhren, bediente Grace Lane. Kirk betrachtete sie mit neuem Interesse. Dunkelrote Haarsträhnen stahlen sich unter ihrer Mütze hervor. Ihr Gesicht war blaß, aber faltenlos und jung. Alter ungewiß, dachte Kirk, doch unverkennbar eine Schönheit. Was war das Geheimnis ihrer Vergangenheit? Warum hatte Sir Frederic diesen Zeitungsausschnitt über Jennie Jerome ins Kirk-Gebäude mitgebracht? »Ich komme sofort nach«, sagte June Morrow, als der Lift im zwanzigsten Stockwerk hielt. Kirk nickte und stieg die Treppe zum Dach hinauf. Sie folgte ihm fast auf dem Fuß. »Ich wollte ihr nur ein paar Fragen stellen«, erklärte sie. »An dem Abend, an dem Sir Frederic ermordet wurde, habe ich Grace Lane nämlich kaum beachtet.« »Was halten Sie von ihr, nachdem Sie sich sie noch einmal und gründlich angesehen haben?« »Sie ist eine Dame – wenn Sie gegen dieses überstrapazierte Wort nichts einzuwenden haben. Die Arbeit, die sie jetzt tut, ist eigentlich unter ihrer Würde.« »Finden Sie?« Kirk nahm June Morrow den Mantel ab. Chan und Captain Flannery klopften, und Kirk ließ sie ein. »Wenn Sie uns das Zimmer des Butlers zeigen würden, könnten wir sofort mit der Arbeit anfangen«, sagte er zu Kirk. »Ich habe ein paar Dietriche mitgebracht. Wir werden den Raum so gründlich durch-
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kämmen, daß uns kein Stäubchen entgeht.« »Wie steht es mit dem Zimmer der Köchin?« fragte Flannery. »Vielleicht sollten wir uns das auch gleich ansehen.« »Mein Koch ist Franzose und wohnt nicht hier«, sagte Kirk. »Ach so. Aber als der Mord geschah, war er hier?« »Ja, selbstverständlich.« »Nun, dann möchte ich mich gelegentlich gern mit ihm unterhalten.« Kirk lächelte. »Er spricht sehr wenig Englisch, aber er wird Ihnen gefallen.« Er ließ die beiden im Schlafzimmer des Butlers allein und ging zu June Morrow zurück. »Ich nehme an, schon der Anblick einer Küche ist Ihnen verhaßt«, meinte er. »Warum denn das?« »Nun ja – eine bedeutende Staatsanwältin wie Sie und Küchendünste…« »Aber ich habe auch Kochbücher studiert. Sie wären überrascht, ich kann die köstlichsten Gerichte zaubern.« Er stellte sich vor sie hin und sah sie feierlich an. »Meine Dame«, verkündete er, »Sie gewinnen bei näherer Bekanntschaft ungeheuer. Und wenn das kein Kompliment ist, dann weiß ich nicht, was eines sein sollte. Kommen Sie mit, suchen wir gemeinsam zusammen, was wir für den Tee brauchen.« Sie folgte ihm in die Küche. »Ich habe ein kleines Apartment, und wenn ich nicht zu müde bin, koche ich am Abend selbst«, sagte sie. »Wie steht’s denn immer am Donnerstag?« fragte er. »Sind Sie da sehr müde?«
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»Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Warum?« »Da haben meine Hausangestellten frei. Muß ich noch mehr sagen?« June Morrow lachte. »Ich werde daran denken«, versprach sie. Flink setzte sie den Kessel auf und begann das Teetablett vorzubereiten. »Wie ordentlich alles ist«, sagte sie. »Paradise ist ein Wunder.« »Das müssen Sie meiner Großmutter sagen«, meinte Kirk. »Sie ist überzeugt, daß ein Mann, der allein lebt, sich in Schmutz und Abfällen wälzt. Sie behauptet, jedes Heim bedürfe einer ordnenden weiblichen Hand.« »Das ist lächerlich!« rief June. »Nun ja, Großmutter ist eben ein bißchen altmodisch. Zu ihrer Zeit hüteten die Frauen Heim und Herd. Jetzt sind sie Kinofans, Clubmitglieder, Staatsanwältinnen und sonst noch alles mögliche. Muß damals ein angenehmes Zeitalter gewesen sein.« »Für die Männer, ja.« »Und Männer zählen nicht mehr.« »Das möchte ich nicht behaupten. – Ich schätze, wir haben jetzt alles.« Kirk trug das Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf ein niedriges Tischchen am Feuer. June Morrow setzte sich in einen bequemen Sessel. Kirk legte zwei große Scheite auf die schwelende Glut, ging dann ins Speisezimmer hinüber und kam mit einer Flasche, einem Siphon und Gläsern zurück. »Ich darf nicht vergessen, daß Captain Flannery nichts für Tee übrig hat.« June Morrow blickte zur Tür. »Die beiden sollten sich beeilen, sonst kommen sie zu spät zu unserer Party«, sagte sie.
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Aber Chan und Flannery tauchten nicht auf. Vor den Fenstern dämmerte der Märzabend herauf. Ein scharfer Wind fegte durch den kleinen Garten und rüttelte an den Fensterrahmen. Kirk zog die Vorhänge zu. Im Kamin flammten die frischen Scheite auf und strahlten angenehme Wärme aus. Kirk nahm aus June Morrows Hand seine Teetasse entgegen, suchte sich einen kleinen Kuchen aus und ließ sich in einen Sessel sinken. »Gemütlich, das ist das einzig passende Wort.« Er lächelte. »Wenn man Sie jetzt so vor sich sieht, würde kein Mensch vermuten, daß Sie so etwas Unweibliches wie Juristin sind.« »Ich bin eben wandlungsfähig«, erwiderte sie. »Tatsächlich? Wie sehr? Das ist etwas, was ich näher untersuchen muß. Und ich möchte hinzusetzen, daß ich einer der größten noch lebenden Feinschmecker bin und Ihre Kochkünste entsprechend streng beurteilen werde.« »Sie machen mir Angst.« »Wenn Ihre Behauptung, daß Sie gut kochen können, der Wahrheit entspricht, haben Sie nichts zu befürchten…« Ehe er fortfahren konnte, kamen Chan und Flannery herein. Der Captain schien sehr mit sich zufrieden. »Glück gehabt?« fragte Kirk. »Und was für eins!« Flannery strahlte förmlich. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand. »Ah – darf ich mir etwas einschenken?« »Nur zu«, sagte Kirk. »Sie haben einen ordentlichen Schluck verdient. Mr. Chan, was trinken Sie?« »Tee, wenn Miß Morrow Güte hätte. Drei Stück Zucker und Hauch von Zitrone.« June Morrow schenkte ihm ein, und Flannery ließ sich
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in einen Sessel fallen. »Ich nehme an, Sie haben etwas gefunden«, sagte Kirk. »Ein schlauer Kunde, dieser Paradise«, fuhr Flannery fort. »Wo, glauben Sie, hatte er es versteckt? Winzig klein zusammengefaltet in einer Schuhspitze.« »Wie klug von Ihnen, dort nachzusehen!« lobte June Morrow. Flannery zögerte. »Nun – nun ja, ei-eigentlich war ich es nicht. Sergeant Chan hat es aufgespürt. Ja, ja, unser Sergeant wird noch ein richtiger Detektiv.« »Nur unter brillanter Anleitung von Captain«, sagte Chan. »Nun, wir können alle voneinander lernen«, räumte Flannery ein. »Auf jeden Fall hat er es gefunden und mir sofort übergeben. Es ist der Brief, der in dem Umschlag von Scotland Yard steckte, da gibt es keinen Zweifel. Sehen Sie den Briefkopf?« »Darf man erfahren, was in dem Brief steht?« fragte Kirk. »Oder ist das zuviel verlangt?« Flannerys Gesicht wurde länger. »Sehr viel steht nicht drin, das müssen wir zugeben. Aber so nach und nach…« »Auch kurzer Schritt führt zum Ziel«, warf Chan ein. »Schlage in aller Bescheidenheit vor, Sie lesen Epistel laut.« »Sie ist an Sir Frederic adressiert, per Adresse Cook’s Reisebüro, San Francisco«, sagte Flannery. Er las: »Lieber Sir Frederic, Ich habe mich sehr über Ihren Brief aus Shanghai gefreut Wie schön, daß Sie nun bald am Ende Ihrer langen Suche angelangt sind. Für mich ist es in der Tat eine erstaunliche Neuigkeit, daß der Mord an Hilary Galt und das Verschwinden von Eve Durand in Peshawar miteinander
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verknüpft: sind, wie Sie mir in Ihrer endgültigen Analyse des Falles darlegen. Mir war schon immer klar, daß Sie diesen Zusammenhang von Anfang an vermuteten, doch so sehr ich Ihre Talente bewundere, ich warfest überzeugt, daß Sie sich irrten. Jetzt bleibt mir nichts mehr übrig, als mich zu entschuldigen. Ich bedauere sehr, daß Sie mir nicht ausführlicher berichteten, denn was Sie schrieben, machte mich furchtbar neugierig. Glauben Sie mir, ich brenne darauf, die Lösung dieses ungewöhnlichen Falles zu erfahren. Übrigens wird Inspector Robert Duff in einer anderen Sache in den Staaten sein, wenn Sie in San Francisco eintreffen. Sie kennen Duff natürlich. Er ist ein guter Mann. Sollten Sie seine Hilfe brauchen, telegrafieren Sie ihm ins Waldorf Hotel in New York. Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg bei Ihren Ermittlungen und bleibe immer mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung Ihr Martin Benfiel Deputy-Commissioner«
Flannery verstummte und sah die anderen an. »Nun, da haben wir’s«, sagte er. »Die Galt-Affaire und Eve Durand hängen also irgendwie zusammen. Das ist natürlich keine so große Neuigkeit für mich, ich wußte es längst. Jetzt möchte ich nur noch herausfinden, warum Paradise uns diese Information vorenthalten wollte? Was hat er für ein Interesse an dieser Sache? Ich könnte ihn sofort verhaften, fürchte jedoch, daß er schweigen wird wie eine Auster, wenn ich es tue, und deshalb kann ich es nicht riskieren. Er ahnt nicht, daß wir ihn durchschaut haben. Ich werde den Brief daher in sein Versteck zurückbringen und Paradise an der langen Leine laufen lassen. Der Sergeant will ihn im Auge behalten, und ich verlasse mich darauf, daß Sie ihn nicht weglassen, Mr. Kirk.« »Nur keine Sorge«, sagte Kirk, »ich will ihn nicht verlieren.«
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Flannery stand auf. »Sir Frederics Post kommt nicht mehr hierher?« erkundigte er sich bei June Morrow. »Nein, natürlich nicht. Sie wird in mein Büro gebracht. Aber bisher war noch nichts Wichtiges darunter, nur persönliche Dinge.« »Ich muß diesen Brief in sein Versteck bringen und dann die Beine in die Hand nehmen«, sagte der Captain und ging hinaus. »Ich habe es wohl Ihnen zu verdanken, Sergeant, daß ich Paradise noch ein bißchen behalten darf«, wandte sich Kirk an Chan. »Sie konnten Flannery zu Ihrer Ansicht bekehren, wie ich sehe. Besten Dank also.« »Wenigstens für kurze Zeit er bleibt noch bei Ihnen«, sagte Chan. »Werden feststellen können, daß ich kein Narr bin. Lasse nicht zu, daß Butler von Haus verhaftet wird, in dem ich Gastfreundschaft genieße. Lasse ihm meinen Schutz angedeihen und würde dasselbe für Koch tun.« Flannery kam wieder herein. »Ich muß aufs Revier zurück«, erklärte er. »Danke für Ihr – eh – Entgegenkommen, Mr. Kirk.« June Morrow blickte zu ihm auf. »Werden Sie Inspector Duff in New York telegrafieren?« fragte sie. »Nein, das werde ich nicht.« »Aber er könnte uns eine große Hilfe sein…« »Nix«, fiel Flannery ihr eigensinnig ins Wort. »Ich habe genug Helfer, mehr halte ich einfach nicht aus. Holen Sie ihn her, und er läuft mir dauernd im Weg herum. Nein, Sir, zuerst will ich herausfinden, wer Sir Frederic ermordet hat. Danach können alle kommen. Sind Sie nicht auch der Ansicht, Sergeant?« Chan nickte. »Captain ist weiser Mann. Schiff mit zu vielen Steuermännern erreicht nie Hafen.«
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11. Kapitel
Das trübe Wasser wird klarer Flannery ging, und June Morrow nahm ihren Mantel. Widerstrebend half Kirk ihr hinein. »Müssen Sie schon gehen?« fragte er protestierend. »Zurück ins Büro, ja«, antwortete sie. »Ich habe ungeheuer viel Arbeit. Der Bezirksstaatsanwalt fragt mich dauernd nach Resultaten in diesem Fall, und bisher konnte ich ihm nur von weiteren Rätseln berichten. Ich frage mich, ob ich je etwas anderes tun kann?« »Habe gehofft, daß wir heute Siebenmeilenschritt vorwärts machen«, sagte Chan. »Aber Schicksal will es anders. Nicht vor Montag, jetzt.« »Montag?« wiederholte June. »Wie meinen Sie das, Mr. Chan?« »Ich meine, ich habe großes Verlangen, Miß Gloria Garland noch einmal bringen in dieses Gebäude. Habe, was Cousin Willie Chan einen ›Riecher‹ nennen würde. Als ich aber heute morgen versuche, Miß Garland anzurufen, erfahre ich, daß sie nach Del Monte gefahren ist und zurückkommt erst Sonntag abend.« »Miß Garland? Was hat sie damit zu tun?« »Bleibt noch festzustellen. Vielleicht viel oder gar nichts. Hängt davon ab, was ›Riecher‹ tatsächlich wert ist. Montag wird uns offenbaren.« »Der Montag!« June Morrow seufzte. »Heute haben wir erst Donnerstag.« Chan seufzte ebenfalls. »Grolle mit selber Bitterkeit wie Sie. Dürfen nicht vergessen, daß ich geschworen habe, mit Boot am Mittwoch zu fahren. Kleiner Sohn verlangt nach mir.«
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»Geduld!« Barry Kirk lachte. »Der Doktor muß jetzt einmal seine eigene Medizin schlucken.« »Ich weiß.« Chan zuckte mit den Schultern. »Nehme häufig sehr große Dosis. Meistens wenn ich spreche von Geduld, ich zwinge sie anderen auf. Selbst finde ich nicht besonders wohlschmeckend.« »Zu Captain Flannery haben Sie aber kein Wort von Ihrem ›Riecher‹ gesagt«, stellte June Morrow fest. Chan lächelte. »Können sprechen von Ozean zu Brunnenfrosch oder von Eis zu Sommerinsekt? Der gute Captain hätte nur Hohn und Spott für mich, bis ich beweisen könnte, daß ich recht habe. Hoffe sehr, daß es Montag soweit ist.« »Bis dahin beobachten und warten wir«, sagte June Morrow. »Sie warten, und ich beobachte«, meinte Chan. Kirk brachte June Morrow zur Tür. »Au revoir«, sagte er. »Und verlernen Sie das Kochen nicht.« »Sie brauchen mir nicht ständig mit dem Zaunpfahl zu winken«, erwiderte sie. »Ich vergesse es schon nicht.« Als Kirk ins Wohnzimmer zurückkam, sagte Chan: »Höchst anziehende junge Frau.« »Reizend«, pflichtete Kirk ihm bei. »So schade«, fuhr Chan fort, »daß blühende Jugend und Schönheit in Männerberuf vergeudet wird. Sie sollte Mutterpflichten haben.« Kirk lachte. »Das müssen Sie ihr mal sagen.« Am Freitag bekam Chan einen Anruf von Bill Rankin. Er hatte die alten Nummer des Globe aus dem Jahr 1913 durchgesehen. Eine lange, mühsame Arbeit, wie er sagte. Und eine ergebnislose. Er hatte keine einzige Zeile über Eve Durand gefunden. Offenbar hatte man sich in der Redaktion des Globe für unpolitische Nach-
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richten aus dem Ausland damals nicht sehr interessiert. »Ich will’s in der öffentlichen Bibliothek noch einmal versuchen«, fuhr er fort. »Ein paar New Yorker Zeitungen müssen die Story gebracht haben. Sie scheinen mir die aussichtsreichste Möglichkeit zu sein. Ich habe schrecklich viel zu tun, beeile mich jedoch so gut ich kann.« »Besten Dank für großen Eifer«, sagte Chan. »Sie sind wertvoller Mann.« »Sobald ich etwas weiß, gebe ich Ihnen sofort Bescheid«, versprach Rankin. »Und danke für das Kompliment.« Der Sonnabend kam. Im Bungalow störte nichts den ruhigen Tagesablauf. Würdevoll wie immer stolzierte Paradise umher und ahnte nichts von der dunklen Wolke des Verdachtes, die drohend über ihm hing. Chan beschäftigte sich mit den Büchern von Colonel Beetham. Er hatte die Biographie zu Ende gelesen und nahm sich jetzt methodisch eines nach dem anderen vor, um einen Hinweis oder einen Anhaltspunkt zu finden. Samstag abend aß Barry Kirk auswärts, und nachdem er selbst gegessen hatte, ging Chan wieder nach Chinatown. Zwar gab es dort, wie er wußte, kaum etwas für ihn zu tun, doch der Stadtteil übte eine besondere Anziehungskraft auf ihn aus. Diesmal besuchte er nicht seinen Cousin, sondern bummelte durch die Grand Avenue, auf der sich die Menschen drängten. Er sah, daß das chinesische Theater erleuchtet war, und schlenderte zum Eingang. Die Chinesen sind eine seit vielen Jahrhunderten zivilisierte Rasse, sie haben für Filme nicht besonders viel übrig und ziehen das
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gesprochene Drama vor. Vor dem Theatereingang herrschte ein fürchterlicher Andrang, und Chan blieb stehen. Zwar gab es in seinem Leben genug Dramatik, um ihn zufriedenzustellen, doch heute abend verlangte es ihn nach den geschminkten Schauspielern. Plötzlich entdeckte er in der Menge Willie Li, den Pfadfinder, dessen gute Tat am Mittwoch Chans besten Plan vereitelt hatte. Wehmütig betrachtete Willie die gerahmten Bilder der Schauspieler, die im Vestibül hingen. Mit einem freundlichen Lächeln ging Chan auf den Jungen zu. »Ah, hier sehen wir uns wieder«, sagte er auf kantonesisch. »Wie glücklich bin ich darüber, denn Mittwoch abend war ich unhöflich genug zu gehen, ohne mich dafür bedankt zu haben, daß du so liebenswürdig warst, für mich den Arzt zu holen.« Der Junge erkannte Chan, und seine Miene hellte sich auf. »Ist es mir erlaubt zu hoffen, daß Ihre Verletzung besser geworden ist?« sagte er. »Du hast ein gutes Herz«, antwortete Chan. »Der Fuß bereitet mir überhaupt keine Beschwerden mehr. Hast du die Güte, mir anzuvertrauen, ob du heute deine gute Tat schon getan hast?« Willie Li zog die Stirn in Falten. »Noch nicht. Es gibt nur selten eine Gelegenheit.« »O ja, wie wahr! Aber vielleicht ergibt sich noch eine Gelegenheit, wenn du mir die Gunst gewährst, mich als mein Gast ins Theater zu begleiten. Jeder Schauspieler bekommt, wie du weißt, zu seiner Gage einen Bonus von fünfundzwanzig Cents für jeden Szenenapplaus. Komm mit, dann kannst du dir, wenn du fleißig applaudierst, einen Vorrat an guten Taten anlegen.« Der Junge war natürlich sofort dazu bereit, Chan kauf-
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te zwei Karten, und sie gingen hinein. Der schreckliche Lärm, der ihnen entgegenschlug, erschreckte sie nicht. Er war Musik für ihre Ohren. Sogar um diese frühe Stunde war das Theater schon überfüllt. Auf der Bühne führte das chinesische Ensemble ein berühmtes historisches Stück auf. Chan und der Junge hatten das Glück, Plätze zu finden. Als er sich umsah, stellte der Detektiv aus Hawaii fest, daß sich hier ausschließlich Angehörige seiner Rasse versammelt hatten. Die Frauen im Publikum trugen ihre schönsten Seidengewänder. In den Gängen zwischen den Stuhlreihen spielten mandeläugige Kinder, und hin und wieder schickte eine Mutter eine Flasche Milch zum Erfrischungsstand im Foyer, die dort erwärmt wurde und für das Baby bestimmt war, das die junge Frau auf dem Arm hatte. Die rasselnden Töne, die das sechs Mann starke Orchester erzeugte, verstummte keine Sekunde lang. Bei dramatischen Szenen spielten die Musiker leiser, aber heitere Textstellen wurden von wahren Musiksalven begleitet. Die Handlung des Stückes nahm Chan völlig gefangen, denn die Schauspieler waren hervorragend, und vor allem die Frauen bewegten sich mit unvergleichlicher Anmut. Um elf Uhr meinte Chan, es sei jetzt wohl Zeit für sie zu gehen, weil Willies Eltern sich sonst sorgten. »Mein Vater macht sich bestimmt keine Sorgen«, sagte Willie Li. »Er weiß, daß man sich auf einen Pfadfinder verlassen kann.« Dennoch verließ Chan mit ihm den Zuschauerraum und lud ihn im Foyer noch zu einem Hot dog und einer Tasse Kaffee ein – denn der Erfrischungsstand allein war amerikanisiert. Als sie durch die verlassene Straße
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zu den ›Oriental Apartments‹ gingen, sah Charlie den Jungen fragend an. »Erzähl mir etwas über deine Zukunftspläne«, sagte er, noch immer Kantonesisch sprechend. »Du bist ehrgeizig. Welcher Beruf gefällt dir denn am besten?« »Ich möchte gern Forscher und Entdecker werden wie mein Cousin Li Gung«, antwortete der Junge in derselben ein wenig steifen und gedrechselten Sprache. Chan nickte. »Ach ja, das ist der, der mit Colonel Beetham reist, nicht wahr? Hat dir dein Cousin Geschichten von Colonel Beetham erzählt?« »Viele und sehr aufregende«, antwortete der Junge. »Bewunderst du den Colonel? Hältst du ihn für einen bedeutenden Menschen?« »Warum nicht? Er ist ein Mann aus Eisen, streng, aber gerecht. Disziplin ist für ihn das wichtigste, und jeder Pfadfinder weiß, daß das richtig gedacht ist. Gerade darüber hat mein Cousin uns viel erzählt. Manchmal, hat Li Gung gesagt, wolle die Karawane revoltieren, dann ziehe der Colonel aber seinen Revolver und trete den Meuterern ganz allein entgegen. Da fingen die Männer an zu zittern und gehorchten wieder.« »Vielleicht wissen sie, daß der Colonel ohne Zögern schießen würde?« »Sie haben ja gesehen, wie er’s getan hat. Einen Zwischenfall, den Li Gung uns geschildert hat, werde ich nie vergessen.« Die Stimme des Jungen wurde hoch und schrill vor Erregung. »Es war in der Wüste, und der Colonel hatte ihnen gesagt, was sie tun durften und was nicht. Ein dreckiger Kameltreiber, ein Mensch mit niedrigem Charakter tat etwas, das der Colonel verboten hatte. Im nächsten Augenblick schon lag er im Sand, mit einer Kugel im Herzen.«
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»O ja«, sagte Chan, »etwas Ähnliches habe ich erwartet. Aber dieser Zwischenfall wird in keinem von Colonel Beethams Büchern erwähnt.« Sie standen vor dem Eingang des Apartmenthauses. »Ich möchte Ihnen sehr herzlich danken«, sagte Willie Li. »Sie haben mir eine große Freude bereitet.« Chan lächelte. »Ich habe mich in deiner Gesellschaft sehr wohl gefühlt und hoffe, daß wir uns wiedersehen.« »Das hoffe ich auch«, sagte Willie Li mit Wärme. »Gute Nacht.« Chan ging gemächlich zum Kirk-Building zurück. Er dachte über Colonel Beetham nach. Ein harter Mann. Ein Mann, der nicht zögerte, jene zu töten, die sich seinem Willen widersetzen. Am Sonntag rief Barry Kirk June Morrow an und schlug ihr einen Ausflug aufs Land und Abendessen in einem Landgasthof vor. »Nur damit Sie Ihr Gehirn von den Spinnweben befreien können, die sich im Lauf der Woche darin angesammelt haben«, meinte er. »Besten Dank!« erwiderte sie. »So also kommt Ihnen mein Gehirn vor. Verstaubt und voller Spinnweben.« »Sie wissen genau, wie es gemeint ist«, protestierte er. »Ich möchte, daß Sie munter und geistig rege bleiben. Wegen Ihrer Kochkünste natürlich nur.« Sie verbrachten einen glücklichen, sorglosen Tag auf Straßen, die unberührt blieben vom hektischen Verkehr der Großstadt. Als Kirk seiner Begleiterin am Abend vor ihrer Tür aus dem Wagen half, sagte er: »Morgen früh wird es sich erweisen, ob Charlie den nichtigen Riechen hatte.« »Was glauben Sie, welches As hat er im Ärmel?« »Ich habe keine Ahnung. Je häufiger ich ihn sehe, um
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so weniger weiß ich von ihm. Hoffen wir, daß es etwas Gutes ist.« »Etwas, das ein bißchen Licht auf den Fall wirft«, setzte June Morrow hinzu. »Ich brauche es dringend.« Sie reichte ihm die Hand. »Sie waren heute reizend zu mir.« »Geben Sie mir noch eine Chance«, sagte er. »Geben Sie mir viele Chancen. Ich werde mit der Zeit immer reizender werden.« »Ist das eine Drohung?« fragte sie lachend. »Ein Versprechen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« »Warum sollte ich? Gute Nacht.« Sie nickte ihm zu und verschwand im Haus. Montagmorgen war Chan lebhaft und sachlich. Er rief Gloria Garland an und war erleichtert, als er ihre Stimme hörte. Sie war einverstanden, sich um zehn Uhr in Kirks Bungalow einzufinden, und Charlie setzte sich sofort mit June Morrow in Verbindung, bat sie, zur selben Zeit zu kommen und Captain Flannery mitzubringen. Dann wandte er sich an Kirk. »Habe bescheidene Bitte«, sagte er. »Wäre möglich, daß Sie Paradise vor zehn Uhr mit längerem Auftrag außer Haus schicken? Möchte ihn heute vormittag nicht gern hier haben.« »Selbstverständlich«, erklärte Kirk sich sofort einverstanden. »Ich werde ihm auftragen, mir eine Angel samt Zubehör zu besorgen. Zwar komme ich leider nie zum Fischen, aber Angelzeug kann man nie genug haben.« Viertel vor zehn stand Chan auf und holte seinen Hut. Er wolle, sagte er, Miß Garland selbst in den Bungalow heraufbringen. Er fuhr mit dem Lift hinunter und be-
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zog im Vestibül des Gebäudes in der Nähe des Eingangs Posten. June Morrow und Flannery kamen von der Straße herein, doch er nickte ihnen nur kühl zu, als sie an ihm vorübergingen. Verblüfft fuhren sie zum Bungalow hinauf. Kirk öffnete ihnen. »Hier sind wir«, sagte Flannery grollend. »Ich frage mich, was der Sergeant im Schilde führt. Wenn er mich wegen eines Hirngespinsts hierhergeholt hat, weise ich ihn nach Hawaii aus. Ich habe heute zuviel zu tun, um an Spielchen Vergnügen zu finden.« »Chan hat bestimmt etwas in petto«, versicherte ihm Kirk. »Übrigens – ich nehme an, daß Sie das Liftmädchen – Jennie Jerome oder Grace Lande oder wie immer sie heißen mag – mit Ihren Adleraugen beobachtet haben.« »Ja, die Jungs haben sie beschattet.« »Haben sie etwas herausgefunden?« »Nicht das geringste. Sie hat ein Zimmer in der Powell Street. Bleibt abends zu Hause und kümmert sich, soviel man mir gesagt hat, nur um ihren eigenen Kram.« Unten am Haupteingang begrüßte Chan Gloria Garland. »Auf Minute pünktlich«, lobte er. »Sehr erfreuliche Tugend.« »Ich bin hier, aber ich weiß nicht, was Sie wollen«, entgegnete sie. »Ich habe Ihnen das letztemal alles erzählt.« »Ja, natürlich. Wollen so freundlich sein, hinter mir zu gehen? Wir fahren hinauf?« Er bugsierte sie in eine Liftkabine, die ein schwarzhaariges Mädchen irischer Abstammung führte, und fünf Minuten später betraten sie das Wohnzimmer von
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Kirks Bungalow. »Captain – Miß Morrow – wir sind vollzählig, so ist richtig«, sagte Charlie. »Miß Garland, wollen freundlicherweise Platz nehmen in Sessel.« Die Frau setzte sich, offensichtlich verwirrt. Ihre Augen suchten die von Flannery. »Was wollen Sie jetzt mit mir anstellen?« fragte sie. Der Captain zuckte mit den breiten Schultern. »Ich brauche Sie nicht. Aber der Sergeant hatte einen geheimnisvollen ›Riecher‹.« Chan lächelte. »Ja, ich bin Schuldiger, Miß Garland. Hoffe, ich habe Ihnen nicht rücksichtslos Ungelegenheiten bereitet?« »Aber durchaus nicht«, antwortete sie. »Vor ein paar Tagen Sie haben uns erzählt von Mädchen Marie Lantelme, das so geheimnisvoll aus Nizza verschwand«, fuhr Chan fort. »Wollen freundlicherweise erklären, ob Sie ihr inzwischen begegnet sind.« »Ich bin ihr natürlich nicht begegnet, wo denn auch?« antwortete Gloria Garland. »Sie sind sicher, Sie würden erkennen, wenn Sie sie sehen?« »Selbstverständlich. Ich kannte sie sehr gut.« Chans Augen wurden schmal. »Und gibt keinen Grund, warum Sie verschweigen würden vor uns, daß Sie Marie Lantelme erkannten? In aller Bescheidenheit ich darf erinnern, daß das sehr ernste Angelegenheit ist.« »Warum sollte ich es Ihnen verschweigen, wenn ich sie sehe? Aber sie ist mir bestimmt noch nicht über den Weg gelaufen.« »Sehr gut. Haben Sie Güte bis zu meiner Rückkehr zu bleiben an Ihrem Platz.« Chan verließ rasch das Zimmer und ging zur Treppe, die in das untere Stockwerk
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führte. Die Zurückbleibenden sahen sich erstaunt an, aber niemand sagte etwas. Im nächsten Augenblick kam. Chan zurück. Ihn begleitete Grace Lane, das Liftmädchen, das Mrs. Enderby als Jennie Jerome identifiziert hatte. Leicht und lässig betrat sie das Zimmer und blieb dann stehen. Die Sonne fiel ihr ins Gesicht und modellierte klar ihre zarten Züge heraus. Gloria Garland zuckte zusammen und erhob sich halb aus ihrem Sessel. »Marie!« rief sie. »Marie Lantelme! Was tust du denn hier?« Die anderen hielten den Atem an. In Chans kleinen Augen blitzte Triumph auf. Das Mädchen verlor nicht seine gelassene Haltung. »Hallo, Gloria«, sagte es leise. »So sehen wir uns also wieder.« »Aber wo warst du, meine Liebe?« wollte Gloria Garland wissen. »Wohin bist du verschwunden und warum…« Das Mädchen unterbrach sie. »Ein andermal«, sagte es. Völlig verwirrt stand Flannery auf. »Jetzt hören Sie mal«, sagte er, »das muß auf der Stelle geklärt werden.« Fast drohend ging er auf das Mädchen zu. »Sie sind Marie Lantelme?« Sie nickte. »Das war ich – früher einmal.« »Sie haben in derselben Truppe gesungen wie Miß Garland – vor elf Jahren in Nizza? Sie sind verschwunden?« »Ja, das stimmt.« »Warum?« »Ich hatte es satt. Ich stellte fest, daß ich das Thea-
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terleben nicht mochte. Wäre ich geblieben, hätten sie mich gezwungen, weiterzumachen. Also bin ich ausgerissen.« »Tja, und vor sieben Jahren waren Sie in New York – Modell in einem Modehaus. Damals nannten Sie sich Jennie Jerome. Sie sind wieder verschwunden!« »Aus demselben Grund. Die Arbeit hat mir nicht gefallen. Ich – ich bin wohl ziemlich rastlos…« »Das kann ich nur unterstreichen. Und Sie änderten immer wieder Ihren Namen. Warum?« »Ich wollte ganz von vorn beginnen. Als neuer Mensch.« Flannery musterte sie finster. »Bei Ihnen stimmt irgend etwas nicht, mein Mädchen. Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?« »Sie scheinen Polizist zu sein.« »Das stimmt. Ich bin Polizist.« »Ich habe nie etwas Unrechtes getan und fürchte mich nicht vor Ihnen.« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Aber sagen Sie mir eines – was wissen Sie über Sir Frederic Bruce?« »Ich weiß, daß er ein berühmter Mann von Scotland Yard war und letzten Dienstag abend in Mr. Kirks Büro ermordet wurde.« »Haben Sie ihn schon einmal gesehen, bevor er hierherkam?« »Nein, Sir, nie.« »Haben Sie je von ihm gehört?« »Nein, ich glaube nicht.« Ihre ruhigen, sanften Antworten nahmen Flannery den Wind aus den Segeln. Er überlegte. Sein Kurs war alles andere als klar. »Am letzten Dienstagabend«, fuhr er fort, »haben Sie
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den Lift bedient, ja?« »Ja, Sir.« »Haben Sie eine Ahnung, warum Sir Frederic Sie unbedingt aufspüren wollte? Warum er Marie Lantelme, Jennie Jerome suchte – oder wer immer Sie in Wirklichkeit sein mögen?« Sie runzelte die Stirn. »Er wollte mich aufspüren? Er hat mich gesucht? Wie merkwürdig. Nein, Sir, ich habe keine Ahnung, warum?« »Gut, dann lassen Sie sich jetzt von mir eines sagen: Sie sind eine sehr wichtige Zeugin in der Mordsache Sir Frederic Bruce, und ich werde dafür sorgen, daß Sie nicht wieder verschwinden können.« Das Mädchen lächelte. »Das denke ich mir. Ich werde ja schon seit zwei Tagen fast hautnah beschattetet.« »Von jetzt an wird man Sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen. Eine falsche Bewegung, und ich lasse Sie festnehmen. Verstehen Sie mich?« »Selbstverständlich, Sir.« »Nun gut. Tun Sie Ihre Arbeit, und wenn ich Sie brauche, bekommen Sie Bescheid. Sie können jetzt gehen.« »Danke, Sir«, sagte das Mädchen und ging. Flannery wandte sich an Miß Garland. »Sie haben sie am Dienstagabend erkannt, nicht wahr?« »Aber ich versichere Ihnen, daß das nicht der Fall war. Ich erkannte sie erst heute.« »Und das war früh genug«, sagte Chan. »Miß Garland, wir stehen tief in Schuld bei Ihnen. Dürfen jetzt gehen und danke sehr vielmals.« »Ja, Sie können gehen«, setzte Flannery hinzu. »Nehmen Sie einen anderen Lift, und halten Sie sich von Ihrer Freundin fern, bis diese Angelegenheit ge-
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klärt ist.« »Das will ich tun«, versicherte Gloria Garland. »Ich fürchte nur, es war ihr nicht recht, daß ich sie identifiziert habe. Hoffentlich habe ich sie dadurch nicht in Schwierigkeiten gebracht.« »Das kommt darauf an«, antwortete Flannery, und Kirk begleitete die Schauspielerin hinaus. Chan strahlte. ›»Riecher‹ doch ziemlich gut, nicht wahr?« sagte er mit einem leisen Lachen. »Tja, wo stehen wir jetzt?« fragte Flannery. »Das Liftmädchen ist Jennie Jerome. Dann wieder Marie Lantelme. Was hat das zu bedeuten?« »Es bedeutet nur eines«, sagte June Morrow leise. »Captain spielt Beschränkten«, meinte Chan. »Könnte in Wirklichkeit nicht so dumm sein.« »Wovon reden Sie da eigentlich?« wollte Flannery wissen. »Meinen ›Riecher‹, der Wahrheit herausgefunden hat«, erklärte ihm Chan. »Liftmädchen ist Jennie Jerome. Dann wieder Marie Lantelme. Was das bedeutet, Sie fragen? Bedeutet nur eines. Liftmädchen ist auch Eve Durand.« »Gütiger Himmel!« rief Flannery. »Überlegen gütigst, wie sehr trübes Wasser klar wird«, fuhr Chan fort. »Eve Durand flieht vor fünfzehn Jahren in dunkler Nacht aus Indien. Vier Jahre später findet man sie in Nizza. Sie spielt dort Theater. Etwas geschieht – vielleicht sieht und erkennt sie jemand –, und wieder sie rennt weg. Wieder vier Jahre vergehen, und sie taucht in New York auf, wo sie vorführt Modellkleider. Wieder passiert etwas, wieder sie verschwindet. Wohin geht sie? Nach San Francisco. Hier sind Möglichkeiten nicht so gut, und sie muß niedrige-
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re Stellung annehmen. Und dann kommt Sir Frederic, immer auf Suche nach Eve Durand.« »Herrlich, wie klar jetzt alles ist«, sagte June Morrow anerkennend. »Wie See am Abend.« Chan nickte. »Sir Frederic sucht diese Frau zwar, hat aber nie gesehen. Er findet niemand hier, der identifizieren könnte Eve Durand, aber er erinnert, daß sie einmal Marie Lantelme und dann Jennie Jerome war. In dieser großen Stadt, erfährt er, gibt es zwei Leute, die sie unter falschem Namen gekannt haben. Er ersucht, Mr. Kirk soll einladen diese beiden zum Dinner, weil er hofft, daß sie beide oder eine von ihnen ihm die Frau zeigen kann, der er so lange auf Spur war.« Flannery ging im Zimmer auf und ab. »Nun, ich weiß nicht. Das scheint mir fast zu schön, um wahr zu sein. Aber wenn sie es ist – wenn sie Eve Durand ist, kann ich sie nicht frei umherlaufen lassen. Ich muß sie noch heute einsperren. Wenn ich nur sicher sein könnte…« »Wenn ich Ihnen doch sage!« erklärte Chan fest. »Gut, gut, aber auch Sie vermuten – raten nur. Sie haben festgestellt, daß sie unter den beiden anderen Namen gelebt hat, und es wurde Ihnen bestätigt. Aber als Eve Durand…« Das Telefon klingelte, Kirk meldete sich und reichte dann den Hörer an Flannery weiter. »Für Sie, Captain«, sagte er. »Oh, hallo, Chef!« Flannery wurde plötzlich nervös. »Ja – ja… Was sagen Sie da? Oh – oh, ist er tatsächlich? Das genügt. Besten Dank, Chef. Das tue ich bestimmt.« Er legte auf und wandte sich dann mit einem breiten Lächeln an die anderen. »Jetzt wollen wir doch mal
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feststellen, wie gut Sie raten können, Sergeant«, sagte er. »Ich werde noch zwei Männer mehr auf die Dame ansetzen, aber vor morgen unternehme ich nichts. Ja, Sir, morgen abend weiß ich mit Sicherheit, ob sie Eve Durand ist oder nicht.« »Sinn von Worten, die Captain sagt, bleibt dunkel«, sagte Chan. »Der Polizeichef hat eben ein Telegramm bekommen«, erklärte Flannery. »Inspektor Duff von Scotland Yard trifft morgen um halb drei hier ein. Und er bringt den einzigen Menschen mit, der Eve Durand bestimmt erkennt, wenn er sie sieht. Er bringt ihren Mann mit, Major Eric Durand.«
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12. Kapitel
Ein nebliger Abend Als Chan und Kirk wieder allein waren, saß der kleine Detektiv da und starrte vor sich hin ins Leere. »Jetzt wird Dienstag zum großen Tag von Erwartung«, sagte er. »Was wird er enthüllen? Viel, so hoffe ich, denn meine Zeit auf Festland wird allmählich knapp.« Kirk sah ihn verwundert an. »Aber Sie wollen Mittwoch doch nicht wirklich abreisen, wenn der Fall noch nicht gelöst sein sollte?« Chan nickte eigensinnig. »Habe Barry Chan wortloses Versprechen gegeben. Jetzt ich spreche es aus. Morgen kommt Ehemann von Eve Durand. Auf ganzer Welt wir hätten nicht passendere Person finden können. Er wird Liftmädchen identifizieren als seine Frau – oder nicht. Tut er es, Fall ist vielleicht abgeschlossen. Tut er nicht« – Chan zuckte mit den Schultern – »dann ich habe alles getan, was möglich war. Dann Captain Flannery soll sich allein abzappeln.« »Nun, wir wollen keine vorzeitigen Prognosen stellen«, meinte Kirk. »Bis zum Mittwoch kann noch eine Menge geschehen. Übrigens möchte ich Sie gern in den Cosmopolitan Club mitnehmen. Wie wär’s heute zum Lunch?« Chans Miene hellte sich auf. »Habe schon lange Wunsch, berühmtes Interieur zu sehen. Zu gütig von Ihnen.« »Dann ist das abgemacht«, entgegnete sein Gastgeber. »Ich habe einiges im Büro zu erledigen. Holen Sie mich um halb eins unten ab. Und wenn Paradise zurückkommt, sagen Sie ihm bitte, daß wir auswärts lunchen.«
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Er nahm Hut und Mantel und ging zur Treppe, die ins zwanzigste Stockwerk führte. Chan schlenderte zum Fenster und blickte auf die glitzernde Stadt hinunter. Seine Blicke schweiften zum Matson-Dock, zum Kaischuppen und weiter hinaus zu den roten Schornsteinen eines ihm wohlbekannten Schiffes. Eines Schiffes, das übermorgen nach Honolulu auslief. Würde er an Bord sein? Er hatte es geschworen, ja – und doch… Er seufzte tief. Es klingelte an der Wohnungstür, und Chan öffnete Bill Rankin, dem Reporter. »Hallo«, sagte Rankin, »freut mich, Sie zu Hause anzutreffen. Ich habe gestern den ganzen Tag in der öffentlichen Bibliothek gesessen und mehr Staub aufgewirbelt als die Kampfwagen in dem Monsterfilm Ben Hur.« »Haben Sie Glück gehabt?« »Ja. Ich habe die Story schließlich gefunden, und zwar im Archiv der New York Sun. Das war damals eine große Zeitung, aber ich will nicht fachsimpeln. Es war nur ein kurzer Artikel mit dem Datum von Peshawar. Ich habe ihn abgeschrieben, hier ist er.« Charlie nahm das gelbe Blatt Papier entgegen und las eine kurze, durch Kabel übermittelte Story, die ihm nichts sagte, was er nicht schon wußte. »Artikel hat Datum vom 5. Mai«, sagte er. »Dann Eve Durand ist verschwunden am Abend von 3. Mai 1913. Sie haben nichts anderes gefunden?« »Es gab keine weiteren Artikel«, antwortete Rankin. »Und Beetham wurde nicht erwähnt, was Sie ja hofften. Sagen Sie, was, zum Kuckuck, könnte er damit zu tun haben?« »Nichts«, antwortete Chan. »War nur kleiner Irrtum
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von mir. Sogar großer Detektiv steht manchmal mit falschem Fuß auf. Mein falscher Fuß oft müde von häufigem Gebrauch.« »Nun, was geht eigentlich vor?« wollte Rankin wissen. »Ich war hinter Flannery her und habe versucht, Miß Morrow auszuquetschen, aber es war nichts zu erfahren. Mein Lokalredakteur wird immer sarkastischer. Können Sie mir vielleicht einen kleinen Tip geben?« Chan schüttelte den Kopf. »Wäre schlimme Entgleisung, wenn ich reden würde über Fall. Ich leite nicht Ermittlungen, und Captain Flannery bringt mir schon jetzt so herzliches Gefühl entgegen wie Taschendieb aus Los Angeles. Außerdem, um bei Wahrheit zu bleiben, es gibt sowieso nichts Neues. Ermittlungen noch nicht so weit gediehen, daß Erfolg in Aussicht.« »Das ist bedauerlich«, sagte Rankin. »Situation bleibt nicht so, Licht kommt. Zur Zeit wir schwimmen noch mit Fuß auf dem Boden, bald aber wir stürzen uns mitten in Fluten. Sollte ich noch da sein, wenn Erfolg sich abzeichnet, ich werde überglücklich sein zu geben kleinen, heimlichen Wink.« »Wenn Sie noch da sind? Was soll das heißen?« »Persönliche Angelegenheiten rufen mich nach Hause – laut wie Megaphon. Mittwoch reise ich, ob Fall gelöst ist oder nicht.« »Ja, ja, Sie reisen genauso ab wie vergangenen Mittwoch.« Rankin lachte. »Sie können mir nichts vormachen. Der geduldige Orientale wird nicht ausgerechnet im falschen Augenblick die Geduld verlieren. Jetzt muß ich aber wieder laufen. Vergessen Sie den Wink nicht, den Sie mir versprochen haben.« »Habe gutes Gedächtnis«, erwiderte Chan, »und schulde Ihnen schon sehr viel.« Als der Reporter ge-
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gangen war, betrachtete Charlie nachdenklich die Abschrift der aus Indien nach New York gekabelten Story. »3. Mai 1913«, sagte er laut. Erstaunlich lebhaft ging er zu einem Tisch hinüber und nahm die Selbstbiographie von Colonel John Beetham in die Hand. Hastig durchblätterte er das Buch, bis er die Seite fand, die er suchte. Dann saß er, das offene Buch auf den Knien, lange da und blickte starr ins Leere. Punkt halb eins betrat er Kirks Büro. Der junge Mann stand auf, nahm von seinem Sekretär ein paar Papiere entgegen und verstaute sie in einer Ledermappe. »Muß nach dem Lunch zum Anwalt«, erklärte er Chan. »Leider ist es diesmal kein netter Anwalt – ein Mann übrigens.« Sie fuhren in den Cosmopolitan Club. Nachdem sie Hut und Mäntel in der Garderobe abgegeben hatten und in die Halle des imposanten Gebäudes zurückgekehrt waren, sah Chan sich mit großem Interesse um. Der Cosmopolitan war ein berühmter Club, ein Treffpunkt von Künstlern, Finanziers und Journalisten. Kirk schien sehr beliebt, denn er wurde häufig und freundlich gegrüßt. Er stellte Chan mehreren Freunden vor, und bald war der Detektiv der Mittelpunkt einer sympathischen Runde. Nur mit Mühe gelang es ihnen, sich zum Lunch an einen Tisch in einer Ecke des großen Speisesaales zurückzuziehen. Gegen Ende der Mahlzeit hob Chan zufällig den Kopf und entdeckte den Mann, der ihn im Augenblick am meisten interessierte – Colonel Beetham. Sein verbissenes Gesicht wirkte bei Tag noch grimmiger. An ihrem Tisch blieb er stehen. »Tag, Kirk«, sagte er. »Wie geht es, Mr. Chan? Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?« »Aber selbstverständlich«, antwortete Kirk herzlich.
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»Darf ich Sie zum Lunch einladen? Was darf ich Ihnen bestellen?« »Besten Dank, ich habe schon gegessen.« »Dann eine Zigarette vielleicht?« Kirk bot ihm sein Etui an. »Sehr liebenswürdig.« Der Colonel bediente sich und zündete die Zigarette an. »Ich habe Sie seit dem schrecklichen Abendessen nicht mehr gesehen… Oh, entschuldigen Sie, um Himmels willen, Sie dürfen mich nicht falsch verstehen! Aber es war doch eine entsetzliche Sache – ausgerechnet einem Mann wie Sir Frederic muß das zustoßen! Hat die Polizei übrigens schon eine Ahnung, wer es getan hat?« Kirk zuckte mit den Schultern. »Wenn sie etwas wissen, verraten sie es mir nicht.« »Arbeiten Sie vielleicht an dem Fall, Sergeant Chan?« meinte Beetham. Chan bekam ganz schmale Augen. »Er ist allein Sache von Festlandspolizei. Ich bin Fremder hier, wie Sie auch.« »Ach ja, natürlich«, entgegnete Beetham. »Mir ist nur zufällig eingefallen, daß Sie abreisen wollten. Da Sie noch hier sind, glaubte ich…« »Will gern helfen, wenn möglich«, sagte Chan. Er dachte sehr gründlich nach. Ein Mann wie Colonel Beetham nahm nicht ohne Grund vom Kommen und Gehen eines Charlie Chan Notiz. »Wird die neue Expedition zustande kommen?« erkundigte sich Kirk. »Die Dinge entwickeln sich langsam – sehr langsam.« Beetham runzelte die Stirn. »Da wir gerade davon sprechen, ich wollte mich ohnehin einmal mit Ihnen über das Thema unterhalten. Ihre Großmutter hat mir
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angeboten, mir bei der Finanzierung zu helfen. Aber ich habe bisher gezögert, an sie heranzutreten. Es handelt sich um eine stattliche Summe.« »Um wieviel?« »Einen Teil des Geldes habe ich, aber ich brauche immer noch ungefähr fünfzigtausend Dollar.« Kirk zog die Brauen hoch. »Tja, das ist wirklich kein Pappenstiel. Aber wenn Großmutter es gern möchte –, es ist ihr Geld.« »Ich freue mich, daß Sie so denken«, sagte Beetham. »Es war zu befürchten, daß die anderen Familienmitglieder glauben könnten, ich versuchte, Ihre Großmutter auf ungebührliche Weise zu beeinflussen. Doch die Idee stammt von ihr, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« »Natürlich«, sagte Kirk. »Ich bin überzeugt, es wird ihr großen Spaß machen.« »Die Ergebnisse werden vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sehr bedeutsam sein«, fuhr Beetham fort. »Der Name Ihrer Großmutter käme zu hohen Ehren. Dafür würde ich sorgen.« »Um was für eine Expedition handelt es sich eigentlich?« fragte Kirk. Die müden Augen leuchteten zum erstenmal auf. »Nun ja, als ich das letztemal in der Wüste Gobi war, hatte ich ein bißchen Glück«, antwortete Beetham. »Ich stolperte praktisch über die Ruinen einer Stadt, die Anfang des ersten Jahrhunderts ein blühendes Gemeinwesen gewesen sein muß. Hatte nur Zeit für einen flüchtigen Blick, fand jedoch ein paar Münzen, die aus dem Jahr eins stammen. Ich entdeckte die ältesten Papiere, die es gibt – Papiere, die mit Kinderschriften bedeckt waren. Mit Rechenaufgaben – siebenmal
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sieben und ähnlichem. Briefe, die der Militärgouverneur der Stadt geschrieben hat, Reste von alten Gewändern, Schmuck – Artefakte von unvorstellbarem, buchstäblich unermeßlichem Wert. Ich brenne darauf, zurückzukehren und gründliche Forschungsarbeit zu betreiben. Die Unruhen in China werden natürlich recht hinderlich sein, aber in China gibt es schließlich immer Unruhen. Ich habe lange genug gewartet, irgendwie komme ich schon durch. Ich bin bisher immer durchgekommen.« »Ich beneide Sie jedenfalls nicht.« Kirk lächelte. »Ich bin nach wie vor der Meinung, daß eine Wüste wie die andere aussieht. Aber meine besten Wünsche begleiten Sie.« »Besten Dank, Sie sind sehr freundlich.« Beetham stand auf. »Ich hoffe, mit den Vorbereitungen in ein paar Tagen fertig zu sein. Und ich hoffe auch, daß der Mörder von Sir Frederic noch vor meiner Abreise gefunden wird. Schien mir ein netter Kerl zu sein, dieser Sir Frederic.« Chan blickte rasch auf. »Er war einer Ihrer größten Bewunderer, Colonel Beetham«, sagte er. »Sir Frederic? Tatsächlich?« Das klang kühl und gelassen. »Unzweifelhafte Tatsache. Bei seiner Hinterlassenschaft wir finden viele Bücher, die Sie geschrieben haben.« Beetham warf seine Zigarette in den Aschenbecher. »Das war sehr freundlich von ihm. Fühle mich geschmeichelt. Falls Sie zufällig doch an der Jagd nach seinem Mörder beteiligt sein sollten, Sergeant Chan, wünsche ich Ihnen viel Glück.« Er schlenderte langsam davon, und Chan sah nach-
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denklich hinter ihm drein. »Er erinnert mich an den Schnee von Tibet«, sagte Kirk. »Der ist genauso warm und menschlich. Das änderte sich nur, als er von seiner toten Stadt erzählte, da wurde er lebendig. Ein merkwürdiger Mensch, nicht wahr, Charlie?« »Richtiger Eiszapfen«, stimmte Chan zu. »Frage mich nur…« »Ja?« »Er bedauert Tod von Sir Frederic. Aber ist nicht vielleicht möglich, daß Mund unter weinenden Augen lacht?« Sie holten ihre Mäntel, Hüte und Kirks Aktenmappe aus der Garderobe und verließen den Club. Als sie die Straße entlanggingen, sah Kirk den Detektiv an. »Mir ist eben das Jahrbuch des Cosmopolitan Club eingefallen, das neben Sir Frederic auf dem Boden lag«, sagte er. »Glauben Sie, daß es etwas zu bedeuten hatte?« »Weiß nicht«, antwortete Chan. »Phantasie scheint Klima auf Festland nicht zu vertragen und verkümmert.« Eine Weile später trennten sie sich. Kirk suchte seinen Anwalt auf, und Charlie kehrte nach Hause zurück, um auf ein vielversprechenderes Morgen zu warten. June Morrow war die erste, die am Dienstagnachmittag im Bungalow erschien. Sie kam gegen halb vier. Der Tag war düster, windig, und es regnete. Aber die junge Staatsanwältin strahlte. Kirk half ihr aus dem Regenmantel. »Sie scheinen voller Schwung und Tatkraft zu stecken«, sagte er. »Bin den ganzen Weg zu Fuß gegangen, ich war zu aufgeregt, um in einem Taxi stillzusitzen. Man muß sich das einmal vorstellen – in ein paar Minuten wer-
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den wir Zeugen des Wiedersehens zwischen Major Durand und seiner seit langem verschollenen Frau sein.« »Ist Major schon eingetroffen?« fragte Chan. »Ja. Er und Inspektor Duff kamen vor einer halben Stunde an. Der Zug hatte ein bißchen Verspätung. Captain Flannery ist zum Bahnhof gefahren, um sie abzuholen. Er hat mich angerufen und mir gesagt, daß wir sie bald hier erwarten dürfen. Es scheint, daß sich der Major als echter Engländer weigerte, mit jemand zu sprechen, ehe er nicht in seinem Hotel ein Bad nehmen konnte.« »Das kann man ihm nach der langen Fahrt von Chikago hierher nicht übelnehmen«, sagte Kirk. »Ich glaube, die kleine Jennie Jerome Marie Lantelme hat Dienst im Lift.« June Morrow nickte. »Ja, das hat sie. Ich habe sie gesehen, als ich herauffuhr. Ob sie tatsächlich Eve Durand ist? Wäre es nicht aufregend, wenn sie es tatsächlich ist?« »Sie muß es sein. Sie ist Charlies ›Riecher‹.« »Bitte nicht allzu sicher sein«, wandte Charlie ein. »In Vergangenheit, ich habe mir oft vor falschem Baum Kehle heiser gebellt.« Kirk schürte das Feuer und stellte für June Morrow einen bequemen Sessel zurecht. »Hier bitte. Er ist zwar ein bißchen zu groß für Sie, aber Sie können ja noch wachsen. Später lasse ich Tee servieren. Vorher sind die beiden Engländer wahrscheinlich zu nichts zu gebrauchen.« June Morrow setzte sich, und Kirk, der in einem Sessel neben ihr Platz nahm, begann eine oberflächliche Unterhaltung. Hinter ihm ging Chan nervös auf und ab.
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»Sie sollten sich auch setzen, Charlie«, sagte er. »Sie benehmen sich wie ein Mann im Wartezimmer seines Zahnarztes.« »Fühle mich auch so«, antwortete Chan. »Viel steht für mich auf Spiel. Habe ich falsche Richtung eingeschlagen, wird Flannery nur Hohn und Spott für mich haben.« Es war vier Uhr, und vor den Fenstern wurde es allmählich dunkel, als es an der Wohnungstür klingelte. Kirk ging selbst, um zu öffnen. Es waren Flannery und ein untersetzter junger Engländer. Nur zwei Männer – Kirk blickte an ihnen vorbei zur Treppe, doch der dritte Mann war nicht zu sehen. »Hallo«, sagte Flannery und trat ein. »Major Durand noch nicht hier, wie?« »Allerdings nicht«, antwortete Kirk. »Sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie hätten ihn irgendwo verlegt.« »O nein!« verwahrte sich Flannery gegen diese Vermutung. »Ich erkläre es Ihnen gleich. Miß Morrow, darf ich Ihnen Inspektor Duff von Scotland Yard vorstellen?« Die junge Staatsanwältin reichte Duff lächelnd die Hand. »Ich freue mich«, sagte sie. »Ich bin entzückt«, entgegnete Duff mit kraftvoller Stimme. Er war erstaunlich jung, hatte rosige Wangen und sah wie ein Farmer $us. »Der Inspektor und ich sind vom Bahnhof in mein Büro gefahren«, erklärte Flannery. »Er sollte sich die Akten unseres Falles ansehen. Der Major ist in sein Hotel gegangen, um sich ein bißchen frischzumachen. Er muß jeden Moment hier sein. Ach ja, Mr. Kirk – Inspektor Duff. Und das, Inspektor, ist Sergeant Charlie Chan von der Polizei in Honolulu.«
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Chan verneigte sich tief. »Ein Augenblick, der in Erinnerung immer lebendig bleiben wird«, sagte er. »Wird er das – tatsächlich?« erwiderte Duff. »Der Captain hat mir von Ihnen erzählt. Wir sind in derselben ›Branche‹, nur ein paar Meilen voneinander entfernt.« »Viele Meilen voneinander entfernt«, berichtigte Chan ernst. »Hören Sie mal«, meldete sich Flannery zu Wort, »es wäre gut, wenn der Major das Mädchen im Lift erst zu Gesicht bekäme, wenn wir alle darauf vorbereitet sind. Jemand sollte hinuntergehen und mit ihm in eine andere Kabine einsteigen.« »Wäre glücklich, diesen Dienst zu erweisen«, bot Chan ihm an. »Nein, ich tue es selbst, ich kenne ihn schließlich«, widersprach Flannery. »Möchte auch ein Wort mit den Leuten reden, die ich mit ihrer Beobachtung betraut habe. Einen habe ich vor dem Gebäude gesehen, als ich kam. Ich lasse Sie hier zurück, Inspektor, Sie sind gut aufgehoben.« Er ging hinaus. Kirk bot dem englischen Detektiv einen Sessel an. »Sobald der Major hier ist, gibt es Tee«, sagte er. »Sie sind sehr freundlich«, antwortete Duff. »Sie haben den Fall mit Captain Flannery gründlich studiert?« erkundigte sich June Morrow. »Ja, von Anfang an. Es ist eine schreckliche Sache. Wirklich schrecklich. Sir Frederic war hochgeachtet – fast möchte ich sagen, er wurde von uns allen geliebt. Es scheint, als sei er in Erfüllung seiner Pflicht gestorben, obwohl er schon pensioniert war und all das hinter sich hatte. Ich kann Ihnen versichern, daß Scotland Yard es bitter ernst nimmt, wenn ein Beamter ermordet wird. Wir werden nicht ruhen, bis wir den
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Schuldigen gefunden haben, und bei dieser Aufgabe, Sergeant, sind wir für jede erdenkliche Hilfe dankbar.« Chan verneigte sich. »Meine Fähigkeiten haben bescheidenes Ausmaß, stehen aber Ihren vortrefflichen zur Verfügung.« »Ich hatte gehofft, Inspektor, daß Sie ein entsprechendes Licht auf diese Angelegenheit werfen könnten«, sagte June Morrow. Duff schüttelte den Kopf. »Es tut mir furchtbar leid. Es gibt so viele andere Männer – ältere Männer bei uns, die hier von viel größerem Nutzen sein könnten. Unglücklicherweise bin ich im Augenblick der einzige Beamte von Scotland Yard, der sich in den Vereinigten Staaten aufhält. Ich bin ein bißchen zu jung, wissen Sie…« »Das ist mir nicht entgangen«, sagte sie lächelnd. »Alle Ereignisse, die mit dem Mord an Sir Frederic in Verbindung zu stehen scheinen, haben sich vor meiner Zeit zugetragen. Ich werde mein Bestes tun, aber…« »Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?« fragte Kirk. »Besten Dank. Wenn die junge Dame nichts dagegen hat, möchte ich mir gern meine Pfeife anstecken.« »Ich habe nicht das geringste dagegen«, sagte June. »Das ist ganz in der Tradition von Sherlock Holmes.« Duff lächelte. »Aber das ist auch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihm und mir – leider. Wie ich schon sagte, bin ich noch nicht allzulange bei der Metropolitan Police – sieben Jahre erst. Selbstverständlich habe ich von dem Mord an Hilary Galt gehört, obwohl er schon so lange zurückliegt. Als junger Beamter bekam ich auch im Polizeimuseum die berühmten Samtpantoffeln zu sehen, die Galt an jenem unglückseligen Abend trug. Mit der Geschichte von Eve Durands Verschwin-
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den bin ich so ziemlich vertraut. Ich bin sogar einmal mit dem Fall in eine sehr entfernte Verbindung gekommen. Vor fünf Jahren kam das Gerücht auf, sie sei in Paris gesehen worden, und Sir Frederic schickte mich über den Kanal, damit ich mich ein bißchen umhörte. Natürlich war es wieder einmal nur ein falscher Alarm. Aber während ich meine Ermittlungen anstellte, begegnete ich zufällig Major Durand, der ebenfalls nach Frankreich gereist war. Armer Kerl, es war wieder nur eine Enttäuschung für ihn, von denen er schon eine ganze Reihe hinter sich hatte. Ich hoffe, daß er heute abend nicht wieder eine erlebt.« »Wieso hält der Major sich ausgerechnet jetzt in Amerika auf?« fragte June. »Sir Frederic hatte ihm gekabelt und ihn gebeten zu kommen«, erklärte Duff. »Von Sir Frederic um Hilfe gebeten, beeilte er sich selbstverständlich, dieser Bitte nachzukommen, und landete vor einer Woche in New York. Als ich in Chikago aus dem ›Twentieth Century‹ stieg, entdeckte ich, daß Durand im selben Zug gesessen hatte. Wir taten uns zusammen und fuhren gemeinsam weiter nach San Francisco.« »Nun, wenigstens er wird uns helfen können«, meinte June. »Das glaube ich bestimmt. Ich wiederhole, daß ich die Akten des Falles sehr sorgfältig studiert habe, aber eine Erleuchtung ist mir bis jetzt nicht gekommen. Ein Punkt interessiert mich ungeheuer – die Samtpantoffeln. Warum hat der Täter sie weggenommen? Wo sind sie jetzt? Wieder scheinen sie ein ganz wesentlicher Hinweis zu sein. Wie denken Sie darüber, Sergeant?« Chan zuckte mit den Schultern. »Pantoffeln waren vor
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langer Zeit genau das«, antwortete er. »Hinweis hat aber schon damals nirgendwohin geführt.« »Ich weiß.« Duff lächelte. »Aber ich bin nicht abergläubisch. Ich werde wieder versuchen, sie aufzuspüren. Übrigens könnte ich Ihnen in einer bestimmten Sache vielleicht doch behilflich sein.« Er wandte sich plötzlich an Kirk. »Sie haben einen Butler namens Paradise, nicht wahr?« Kirk wurde das Herz schwer. »Ja, und einen sehr guten noch dazu«, antwortete er. »Ich habe mich für Paradise interessiert«, fuhr Duff fort. »Und Paradise hat sich, wenn ich das recht verstanden habe, für Sir Frederics Post interessiert. Wo steckt er denn jetzt?« »In der Küche oder in seinem Zimmer. Wollen Sie ihn sehen?« »Bevor ich gehe, ja.« Flannery, einen großen blonden Mann in einem triefend nassen Burberrymantel im Schlepp, betrat gerade die Halle. Major Eric Durand, nicht mehr im aktiven Dienst, war der Typ des sportlichen Engländers. Seine Wangen waren gebräunt und wettergegerbt, als verbringe er die meiste Zeit im Freien auf dem Rücken eines Pferdes. Er hatte blaue, hellwache Augen. Stellte man ihn sich in einem Haus vor, dann war das ein Club, in dem er mit einer Zigarre, einem Whisky mit Soda und einem Exemplar der Zeitschrift Field am lodernden Kaminfeuer saß. »Treten Sie ein, Major«, sagte Flannery. Er stellte den Briten den übrigen vor, und Kirk nahm dem Gast den Mantel ab. Es folgte ein Augenblick verlegenen Schweigens. »Major«, begann Flannery schließlich, »wir haben Ih-
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nen noch nicht gesagt, warum wir Sie hierhergebeten haben. Sie sind nach San Francisco gekommen, weil Sir Frederic Ihnen gekabelt hatte, stimmt das?« »Ja, das stimmt«, sagte Durand ruhig. »Hat er Ihnen gegenüber eine Andeutung gemacht, warum Sie in die Vereinigten Staaten kommen sollten?« »Er teilte mir mit, er sei nahe daran, meine – Frau zu finden.« »Ich verstehe. Ihre Frau verschwand vor etwa fünfzehn Jahren unter ungeklärten Umständen aus Indien?« »Genau.« »Haben Sie danach noch irgendwann etwas von ihr gehört?« »Nie. Es gab natürlich viele Falschmeldungen. Wir sind allen nachgegangen, aber keine führte zu einem Ergebnis.« »Sie haben nie gehört, daß sie in Nizza aufgetaucht sein sollte? Oder in New York?« »Nein, nicht an diesen Orten. Nein, ganz bestimmt nicht.« »Sie würden sie selbstverständlich wiedererkennen, wenn Sie sie heute sähen, oder?« Durand blickte mit plötzlichem Interesse auf. »Ich glaube schon. Sicher bin ich nicht, sie war erst achtzehn, als sie – verschwand.« June Morrow empfand Mitleid mit dem Mann. »Aber man kann nicht vergessen, wissen Sie?« »Major«, sagte Flannery bedächtig, »wir haben Grund zu der Annahme, daß Ihre Frau sich heute abend in diesem Gebäude aufhält.« Betroffen wich Durand einen Schritt zurück. Dann
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schüttelte er traurig den Kopf. »Ich wünschte, es wäre wahr. Sie haben keine Ahnung – fünfzehn Jahre der Sorge gehen an keinem Mann spurlos vorüber. O ja, ich wünschte, es wäre wahr, doch ich habe so viele Enttäuschungen erlebt, daß ich nicht mehr hoffen kann.« »Warten Sie bitte ein paar Minuten«, sagte Flannery und ging hinaus. Angespanntes Schweigen blieb hinter ihm zurück. Das Ticken einer Standuhr klang plötzlich so laut wie Hammerschläge. Durand begann rastlos auf und ab zu gehen. »Es kann nicht sein«, sagte er zu Duff. »Nein, es kann nicht Eve sein. Nach all diesen Jahren – in San Francisco… Nein, nein, ich kann es nicht glauben.« »Wir werden es bald wissen«, antwortete Duff beschwichtigend. Die Minuten zogen sich furchtbar in die Länge. Chan wurde allmählich unruhig. Durand ging immer noch auf und ab, seine Schritte waren auf dem Teppich nicht zu hören. Noch immer fielen die Hammerschläge der Uhr in die Stille. Fünf Minuten – zehn… Die Wohnungstür wurde aufgerissen, und Flannery stürmte herein. Sein Gesicht war feuerrot, sein graues Haar wirr. »Sie ist fort!« rief er. »Der Lift steht mit offener Tür im siebenten Stockwerk. Sie ist fort, und niemand hat sie gesehen.« Durand schrie leise auf, fiel in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen.
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13. Kapitel
Alte Freunde sehen sich wieder Major Durand war nicht der einzige, für den die Mitteilung, mit der Flannery hereinplatzte, ein großer Schock und eine Enttäuschung war. Auf allen Gesichtern im Raum malte sich Bestürzung. »Fort und niemand hat sie gesehen«, wiederholte Chan. Er sah den Captain vorwurfsvoll an. »Und doch wurde sie von – ach so schlauer! – Festlandpolizei bewacht.« Flannery schnaubte verächtlich. »Das wurde sie, aber wir sind keine Übermenschen. Diese Frau ist schlüpfrig wie ein Aal. Zwei meiner Jungs waren mit der Aufgabe betraut, beide sind sehr tüchtige Beamte. Nun ja, es hat keinen Sinn, wegen vergossener Milch zu weinen. Ich hole sie mir schon wieder. Sie kann nicht…« Die Tür wurde geöffnet, und ein Kriminalbeamter trat ein. Er brachte eine kleine alte Putzfrau mit strähnigem grauem Haar mit. »Hallo, Petersen, was gibt’s?« fragte Flannery. »Hören Sie sich das mal an, Chef«, sagte Petersen. »Die Frau hier arbeitet in den Büros im siebenten Stockwerk.« Er wandte sich an sie. »Erzählen Sie jetzt dem Captain, was Sie mir gesagt haben.« Die Frau drehte ihre Schürze vor lauter Nervosität zu einem Strick zusammen. »In 709 war ich grade, Sir. Die gehen früh nach Hause, und ich war allein dort. Da geht die Tür, und das rothaarige Liftmädchen kommt rein. Hat ’nen Regenmantel an und einen Hut aufm Kopf. ›Issn los?‹ frag’ ich, aber sie rennt nur weiter ins Hinterzimmer. Ich neugierig hinterher und komm’ grad zurecht, wie sie auf die Feuerleiter klettert. Hat kein
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Wort nich’ gesagt, Sir – einfach raus auf die Feuerleiter, un’ in der Nacht verschwunden is’ sie.« »Die Feuerleiter, das dachte ich mir«, sagte Flannery. »Haben Sie sich die mal angeschaut, Petersen?« »Ja, Sir. Es ist eine von denen, die sich automatisch nach unten verlängert, wenn man auf die oberste Sprosse tritt. Es ist sehr einfach, sich so aus dem Staub zu machen.« »Irgend jemand muß sie gesehen haben, als sie aus der Seitenstraße kam«, sagte Flannery. »Wir wollen uns unten mal umhören.« Er wandte sich an die Putzfrau. »Das ist alles. Sie können gehen.« In der Halle kam die Frau an einem zweiten Kriminalbeamten vorbei, der rasch das Wohnzimmer betrat. »Ich habe eine Spur, Captain«, sagte er. »Der Junge aus dem Zigarrenladen an der Ecke hat etwas gesehen. Er hat ausgesagt, ein Mädchen in der Uniform der Angestellten des Kirk-Buildings unter dem Mantel sei vor ein paar Minuten bei ihm gewesen und habe sein Telefon benutzt.« »Hat er gehört, was sie sagte?« »Nein, Sir, sein Telefon ist in einer Zelle. Sie war nur ein paar Minuten drin und ging dann wieder.« »Das ist wenigstens etwas«, sagte Flannery. »Wartet hier auf mich, Jungs – ich habe einen Wagen. Zuallererst lasse ich die Fahndung einleiten. Ich lasse Männer an die Fähren und in alle Bahnhöfe postieren. In dieser Uniform ist sie praktisch gezeichnet. Vor Mitternacht haben wir sie und halten sie fest.« »Unter welcher Anklage?« fragte June Morrow. »Oh – oh, nun ja, als Zeugin. Ich brauche sie als Zeugin. Aber das würde zuviel Aufsehen erregen, und das kann ich im Moment überhaupt nicht brauchen. Ich
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hab’s. Ich nehme sie wegen Diebstahls fest. Die Uniform ist Ihr Eigentum, Mr. Kirk?« »Ja, aber das gefällt mir überhaupt nicht«, protestierte Kirk. »Es ist doch nur ein Vorwand. Wir werden das Delikt nicht strafrechtlich verfolgen. Darf ich Ihr Telefon benutzen?« Flannery gab telefonisch seine Anweisungen, und wieder einmal wurde auf die Frau Jagd gemacht, die ständig auf der Flucht zu sein schien. Seine Energie wuchs ins Riesenhafte. »Ich hole sie mir!« versprach er. »Es ist ein arger Rückschlag für unsere Pläne, aber er dauert nicht lange. Sie kann nicht entkommen.« »Möchte in aller Bescheidenheit erinnern, sie hat in Vergangenheit schon große Praxis im Entkommen erworben«, gab Chan ihm zu bedenken. »Ja, aber diesmal gelingt es ihr nicht«, erwiderte der Captain. »Schließlich war noch nie ich ihr auf der Spur.« Von seinen beiden Männern gefolgt, marschierte er hinaus. Major Durand kauerte niedergeschlagen in seinem Sessel, und Inspektor Duff rauchte gelassen seine alte Pfeife. »Das ist Pech«, bemerkte er. »Aber Geduld ist das einzige, was bei unserer Arbeit zählt. Habe ich recht, Sergeant Chan?« Charlie strahlte. »Endlich begegne ich DetektivKollegen, der selbe Sprache spricht wie ich.« Barry Kirk stand auf und klingelte. »Wie wäre es mit einer Tasse Tee?« sagte er. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Tief unter ihm schwammen die Straßenlaternen im Nebel. Der Wind heulte, Regen klatschte
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gegen die Scheiben, die Stadt lag wie unter einem Leichentuch, verlassen und verloren. »Es ist einer von jenen Abenden – wir brauchen ein bißchen was, das uns von innen her wärmt…« Er verstummte. Es war ein Abend wie geschaffen für Mann oder Frau, die verschwinden und nie wieder gesehen werden wollten. Paradise trat mit ruhiger Würde ein, blieb inmitten des hell erleuchteten Raumes stehen, und sein Schopf schneeweißen Haares verlieh ihm etwas wie eine strenge Ehrbarkeit. »Hallo, Paradise«, sagte Duff nach einem Augenblick des Schweigens leise. Der Butler murmelte etwas und wandte sich ab, als wolle er das Zimmer verlassen. »Einen Augenblick!« Die Stimme des Inspektors klang stahlhart und eisig. »Das ist aber eine Überraschung, Mann! Eine Überraschung für uns beide, wie ich mir vorstellen könnte. Als ich Sie das letztemal sah, standen Sie als Angeklagter vor dem Richter in Old Bailey.« Paradise senkte den Kopf. »Vielleicht wäre ich geneigt gewesen, Sie nicht zu verraten, Paradise, wenn Sie sich anständig benommen hätten. Aber Sie haben fremde Post geöffnet, nicht wahr? Sie haben sich an einem Brief zu schaffen gemacht, der an Sir Frederic Bruce gerichtet war?« »Ja, Sir, das habe ich«, sagte der dienstbare Geist sehr leise. »Das war mir klar«, fuhr Duff fort. Er wandte sich an Barry Kirk: »Tut mir leid, Ihnen Ungelegenheiten zu bereiten, Mr. Kirk. Ich glaube, Paradise war ein guter Diener?« »Der beste, den ich je hatte«, antwortete Kirk. »Er war immer ein guter Diener«, fuhr Duff fort. »So-
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weit ich mich erinnere, würde diese Tatsache in seinem Prozeß besonders erwähnt. Ein tüchtiger, treuer Mann, und er hatte viele Empfehlungsschreiben, die das bestätigten. Doch unglücklicherweise geriet er vor einigen Jahren in England in den Verdacht, einer Dame Blausäure in den Tee getan zu haben.« »Wie merkwürdig!« sagte Kirk. »In den Tee gehört Blausäure wirklich nicht. Aber ich spreche hier natürlich, ohne die Dame gekannt zu haben.« »Die Dame war seine Frau«, erklärte Duff. »Wir hatten den Eindruck, daß er die Rechte eines Ehemannes dadurch bei weitem überschritten hatte. Man machte ihm den Prozeß…« Paradise hob den Kopf. »… und konnte mir nicht das geringste beweisen. Ich wurde freigesprochen.« »Ja, Ihr Fall löste sich in Rauch auf«, gestand Inspektor Duff. »Das geschieht nicht oft, Mr. Kirk, hier war es der Fall. Technisch kann Paradise nicht mehr schuldig gesprochen werden. In den Augen des Gesetzes ist er unschuldig, meine ich, und aus diesem Grund wäre ich vielleicht geneigt gewesen, alles für mich zu behalten, hätte ich nicht erfahren, was er mit dem Brief angestellt hat. Sagen Sie, Paradise, wissen Sie etwas über Eve Durand?« »Ich habe den Namen nie vorher gehört, Sir.« »Haben Sie Informationen über einen lange zurückliegenden Mord auf dem Ely Place – dem Mord an Hilary Galt?« »Noch nie davon gehört, Sir.« »Aber Sie haben einen Brief geöffnet, der an Sir Frederic Bruce adressiert war, den Brief selbst herausgenommen und ein leeres Blatt in den Umschlag getan. Ich finde, das sollten Sie mir erklären.«
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»Ja, Sir, das will ich gern tun.« Der Diener wandte sich an Barry Kirk. »Das ist alles sehr schmerzlich für mich, Mr. Kirk. Seit ich bei Ihnen bin – und das sind mittlerweile zwei Jahre –, habe ich nichts Unehrenhaftes getan – außer diesem einen Mal. Der Herr Inspektor sagte, ich hätte meine Frau vergiftet. Vielleicht darf ich darauf aufmerksam machen, daß er in dieser Sache nicht ganz objektiv ist, da er die Untersuchung gegen mich leitete und bitter enttäuscht war, als die Jury mich freisprach. Das ist ein ganz natürliches Gefühl…« »Kümmern Sie sich nicht um meine Gefühle«, unterbrach Duff ihn scharf. »Auf jeden Fall, Sir«, fuhr der Butler zu Kirk gewandt fort, »ich wurde freigesprochen, und zwar aus dem guten Grund, weil ich unschuldig war. Doch ich wußte, daß es für Sie keine sehr angenehme Nachricht sein würde, wenn Sie erfuhren, daß ich – unschuldig oder nicht – vor Gericht gestanden hatte.« »Alles andere als das«, stimmte Kirk ihm zu. »Ich hielt es für besser, wenn niemand hier etwas davon erfuhr. Ich war hier glücklich – es ist eine ausgezeichnete Stellung. Ich bekam es daher mit der Angst zu tun, Sir, als Sie mir erzählten, Sir Frederic Bruce treffe demnächst ein und werde hier wohnen. Ich hatte nie das Vergnügen, ihn kennenzulernen, aber ich war in aller Öffentlichkeit angeprangert worden und fürchtete, er könnte mir die Ehre antun, mich zu erkennen. Nun, er kam und erkannte mich unglücklicherweise sofort. Wir unterhielten uns lange in diesem Zimmer. Ich versicherte ihm, daß ich zu Unrecht angeklagt worden sei, und ein Musterleben führe. Und ich bat ihn, mein Geheimnis für sich zu behalten. Er
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war ein gerechter Mann und sagte, er werde der Sache nachgehen. Ich vermutete, daß er die Meinung von Scotland Yard einholen wollte. Seine Entscheidung sollte ich erfahren, sobald er Näheres wußte. So weit waren die Dinge bis zu jenem Tag gediehen, an dem Sir Frederic so tragisch zu Tode kam.« »Ich beginne zu verstehen«, sagte Kirk. »Was ich später tat, geschah nur aus dem irregeleiteten Wunsch heraus, Ihre Achtung und Ihr Vertrauen nicht zu verlieren, Sir. Ein Bote von Cook’s übergab mir das Päckchen Briefe, und ganz zuoberst lag das gefürchtete Schreiben von Scotland Yard – wie ich glaubte. Ich verlor ein bißchen den Kopf, wenn ich das so sagen darf. Ich dachte, Sir Frederic habe meinetwegen an den Yard gekabelt, und das sei die Antwort. Sie würde ganz bestimmt der Polizei in die Hände geraten…« »Aber für eine Antwort war es doch noch viel zu früh«, sagte Kirk. »Woher sollte ich das wissen, Sir? Da es doch heutzutage Luftpost und andere zeitsparende Beförderungsmittel gibt. Ich beschloß, einen Blick auf den Brief zu werfen, und ihn zurückzulegen, wenn er mich nicht betraf…« »Aber er betraf Sie doch nicht, Paradise«, wandte Kirk ein. »Nicht direkt, Sir. Es wurde jedoch darin erwähnt, daß Inspektor Duff sich in New York aufhielt. Ich hatte während – während der Zeit meiner schweren Prüfung Inspektor Duffs Aufmerksamkeit genossen und geriet buchstäblich in Panik. Die hiesige Polizei würde ihn vielleicht holen lassen, nachdem sie den Brief gelesen hatte. Die Folgen waren vorauszusehen und sind jetzt
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auch eingetreten. In meiner schrecklichen Angst steckte ich also ein leeres Blatt in den Briefumschlag und klebte ihn wieder zu. Es war ein tolpatschiger Versuch der Irreführung, Sir, und einer, den ich tief bedaure. Nicht die Ungeschicklichkeit bedrückt mich, Sir, sondern der Betrug. Zwischen uns war immer alles klar und offen.« »Das will ich hoffen«, sagte Kirk. »Vielleicht gehe ich zu weit, wenn ich Sie bitte, meinen Treuebruch zu vergessen, Mr. Kirk. Ich versicherte Ihnen jedoch, daß ich nur aus Zuneigung zu Ihnen so kopflos handelte, und weil ich mir lebhaft wünschte, in Ihren Diensten zu verbleiben. Wenn wir nur zu unserer früheren Basis zurückkehren könnten, Sir, zu der Basis gegenseitigen Vertrauens und gegenseitiger Achtung…« Kirk lachte. »Ich weiß nicht. Das muß ich mir erst durch den Kopf gehen lassen. Haben Sie mich wirklich gern, Paradise?« »Sehr gern, Sir.« »Haben Sie Ihre Gefühle auch sehr sorgfältig analysiert? Gibt es nirgendwo eine verborgene Spur von Groll oder Mißbilligung?« »Nicht die geringste, Sir, Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Kirk zuckte mit den Schultern. »Nun gut, dann können Sie – jetzt gehen und den Tee zubereiten. Auf die allgemein übliche Art, wenn ich bitten darf.« »Danke, Sir«, antwortete Paradise und verließ das Zimmer. »Der liebe alte Kerl«, sagte Miß Morrow. »Ich bin überzeugt, daß er die Tat nicht begangen hat und nur ein Opfer der Umstände war.«
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»Vielleicht«, gab Duff zu. »Meiner Meinung nach waren die Beweise unwiderlegbar. Aber ich war damals noch Anfänger, vielleicht habe ich mich geirrt. Auf jeden Fall bin ich froh, Paradise aus unserem Fall eliminiert zu haben. Das klärt die Luft ein bißchen.« »Er mag aus dem Fall eliminiert worden sein«, bemerkte Barry Kirk. »Aber ich bin so frei zu gestehen, daß er für mich wichtiger ist denn je.« »Sie glauben doch nicht, daß er etwas mit dem Mord an Sir Frederic zu tun hatte?« »Nein, aber ich fürchte, er könnte etwas mit einem geplanten Mord an mir zu tun haben. Ich habe da ein privates und persönliches Problem –, und ein sehr hübsches außerdem: Ich fände es schrecklich, Paradise zu verlieren, aber noch schrecklicher fände ich es, mich selbst zu verlieren. Stellen Sie sich vor, den guten, alten Orangensaft jeden Morgen aus einer Hand entgegenzunehmen, die gern mit Blausäure hantiert. Ich finde das nicht so gut. Charlie, Sie sind mein Gast, was sagen Sie dazu?« Chan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war gewisse Abneigung gegen Ehefrau im Spiel«, meinte er. »Zu denken, daß er sie gemocht hat, wäre ja noch gräßlicher«, erwiderte Kirk. »Aber davon abgesehen, ist er eine gute alte Seele. Und manche Frauen können einen Mann schon so weit treiben. Ich denke, ich behalte ihn noch eine Zeitlang. Aber – « er sah June Morrow an – »eine innere Stimme sagt mir, daß ich sehr häufig auswärts essen werde.« »Sergeant Chan«, sagte Duff, »Sie waren doch bestimmt nicht müßig. Was haben Sie bisher für Entdeckungen gemacht?« »Nicht die geringste«, antwortete Chan. »War nur
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schlau genug, Paradise auf Spur zu kommen, haben aber eben selbst gesehen, daß völlig wertlos war. Leider sprießen auch Saaten, die nie bis Reife gedeihen.« »Das stimmt«, pflichtete der Inspektor ihm bei. »Aber Ihre Gedanken und Vorstellungen müssen sich doch auch in andere Richtungen bewegt haben. Es würde mich interessieren zu erfahren, in welche.« »Gelegentlich wir halten kleinen Schwatz«, versprach Charlie. »Zögere jetzt noch, darüber zu sprechen. Bin nicht unzartfühlend und weiß, daß Thema für Major Durand schmerzlich sein muß. Er muß Rücksichtslosigkeit entschuldigen, doch ich habe dringenden Wunsch, etwas zu hören über weit zurückliegenden Abend, an dem Eve Durand verschwand.« Durand schien aus tiefer Nachdenklichkeit aufzutauchen. »Ach ja – wie – was war das? Der Abend, an dem Eve… Es ist natürlich schon so lange her.« »Aber Augenblick wie dieser bleibt wahrscheinlich unvergessen«, meinte Chan. Durand lächelte bedauernd. »Leider, leider. Ich habe versucht zu vergessen, es schien mir das beste zu sein. Aber es ist mir nie gelungen.« »Es geschah am 13. Mai 1913«, drängte Chan. »Genau. Wir lebten seit einem halben Jahr in Peshawar, einem gottverlassenen Ort, wohin man mich einen Monat nach unserer Hochzeit versetzt hatte. Kein Ort, an den man eine Frau wie Eve bringt, die bisher nur das kultivierte englische Landleben kennengelernt hatte. Und doch waren wir glücklich«, fuhr er nach einer langen, nachdenklichen Pause fort. »Wir waren jung – Eve war achtzehn, ich vierundzwanzig. Jung und schrecklich ineinander verliebt. Mochte die Garnison
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noch so fernab jeder Zivilisation sein, wir hatten einander.« »Und was geschah an dem fraglichen Abend?« blieb Chan hartnäckig. »Wir hatten in der Garnison ein recht abwechslungsreiches gesellschaftliches Leben, und Eve nahm, was natürlich war, lebhaft daran teil. An dem Abend, von dem ich berichte, waren wir alle zu einem Picknick in den Hügeln vor der Stadt verabredet. Wir ritten auf unseren Ponys über eine holprige, steil ansteigende Straße zu einem kleinen Plateau, von wo aus wir den Mond über den Dächern der Stadt aufgehen sehen konnten. Es war ein ziemlich unbesonnener Plan, denn die Hügel steckten voller Banditen. Mir jedenfalls war nicht ganz wohl zumute. Aber die Damen bestanden darauf, und Sie wissen ja, wie Frauen sind. Und wir waren fünf Männer, alle bis an die Zähne bewaffnet. Eine wirkliche Gefahr schien es nicht zu geben.« Wieder machte er eine Pause. »Eve trug ihren Schmuck – eine Perlenkette, die sie von ihrem Onkel geschenkt bekommen hatte. Ich weiß noch, daß ich dagegen protestierte, bevor wir aufbrachen. Sie lachte mich nur aus. Manchmal dachte ich… Aber nein, ich will es nicht denken. Wurde sie wegen ihrer Perlen, ihrer Ringe getötet? Ich mußte diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Wir packten also unseren Picknickkorb und ritten aus der Stadt hinaus. Alles ging gut, bis jemand, kurz bevor wir nach Hause aufbrechen wollten, vorschlug, Verstecken zu spielen…« »Wissen Sie noch, wer das vorschlug?« fragte Chan. »Ja, es war Eve. Ich brachte Einwände vor, aber – nun ja, niemand ist gern ein Spielverderber, und wir waren
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alle fröhlich und gut gelaunt. Die Frauen zerstreuten sich unter den Tamarisken, verschwanden lachend und schwatzend in den Schatten. Nach einer halben Stunde hatten wir sie alle wieder gefunden – alle außer einer. Sie ist bis heute verschwunden geblieben.« »Wie schrecklich!« rief June Morrow. »Wie schrecklich es wirklich war, können Sie sich kaum vorstellen«, antwortete Durand. »Diese schwarzen Hügel, in denen unzählige Gefahren lauerten. Es war reine Narrheit, dieses Spiel zu spielen, ich hätte es nie zulassen dürfen. Die Nacht, die Eves Verschwinden folgte, die langen furchtbaren Tage – ich glaube, ich muß nicht weitersprechen, nicht wahr?« Er verstummte und ließ den Kopf sinken. »Es waren fünf Männer«, sagte Chan. »Mit Ihnen?« »Ja, wir waren fünf«, erwiderte Durand. »Und fünf bezaubernde Mädchen.« »Waren die vier anderen Männer ebenfalls Offiziere wie Sie?« fuhr Charlie fort. »Drei waren Offiziere. Der vierte nicht.« Chans Miene erhellte sich. »Einer war kein Offizier?« »Nein. Die Partie wurde praktisch ihm zu Ehren veranstaltet. Er war sehr berühmt, müssen Sie wissen, und jeder wollte ihm Tribut zollen. Er war vor kurzem Gast des Vizekönigs gewesen, hatte im Thronsaal einen Vortrag gehalten, und man hatte ihm alle möglichen Orden und Medaillen angeheftet. Ganz Indien sang Lobeshymnen auf ihn. Er war erst ein paar Wochen vorher von einer gräßlich gefährlichen Reise durch Tibet zurückgekehrt…« Chan kniff die Augen zusammen. »Er war Forscher?« »Einer der hervorragendsten. Ein tapferer Mann.« »Sie sprechen von Colonel Beetham?«
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»Ja, selbstverständlich. Sie wußten es also.« Kirk und June Morrow richteten sich fast gleichzeitig interessiert in ihren Sesseln auf. Chan nickte. »Ich habe erraten«, sagte er und schwieg dann wieder einen Augenblick. »Colonel Beetham im Augenblick in San Francisco«, setzte er schließlich hinzu. »Tatsächlich?« meinte der Major. »Was für ein merkwürdiger Zufall. Ich würde ihn gern wiedersehen. Er war damals sehr teilnahmsvoll.« »Party wurde ihm zu Ehren gegeben?« fuhr Charlie fort. »Ja, es war eine Art Abschiedsparty. Er wollte am nächsten Tag abreisen, wollte nach Hause. Aber natürlich nicht auf der üblichen Route – nicht Beetham. Er reiste mit einer Karawane durch die Wildnis von Afghanistan und quer durch die große persische Salz wüste nach Teheran.« »Über den Khaiberpaß?« fragte Chan. »Ja, über den Khaiberpaß. Eine gefährliche Sache, aber er hatte ein großes Gefolge von Dienern, die ihn schon auf anderen Expeditionen begleitet hatten, und der Emir von Afghanistan hatte ihn eingeladen. Er reiste am nächsten Morgen sehr früh ab, und ich habe ihn seither nie wiedergesehen.« »Sehr früh am nächsten Morgen«, wiederholte Chan nachdenklich. »Nach Hause.« Er starrte einen Moment das nebelverhangene Fenster an. »Hatte gehofft, morgen auch nach Hause reisen zu können. Doch immer geschieht etwas, das mich zwingt zu brechen Versprechen, das ich jüngstem Sohn gegeben habe. Wird mich für schlechten Vater halten. Aber« – er zuckte mit den Schultern – »was kommen soll, kommt.« Würdevoll einen Teewagen vor sich herschiebend,
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betrat Paradise den Raum. Es folgte ein Augenblick unbehaglichen Schweigens. »Der Tee, Sir«, sagte der Butler. »Hoffentlich unverfälscht«, erwiderte Kirk. Paradise schenkte June Morrow ein und wandte sich dann an Inspektor Duff. »Wie trinken Sie Ihren Tee, Sir?« fragte er. Duff sah ihm fest in die Augen. »Mit einem Stück Zucker«, sagte er, »und nichts anderem.«
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14. Kapitel
Dinner für zwei Mit ernster Miene servierte Paradise Tee, reichte belegte Brote und Kuchen herum und zog sich dann schweigend zurück. Barry Kirk hob die Tasse an den Mund, trank jedoch nicht, und in seinen Augen erschien ein fragender Ausdruck. Inspektor Duff sah es und lächelte. »Ich darf Ihnen sagen, daß Blausäure sehr intensiv nach Bittermandeln riecht.« »Danke, das ist nett von Ihnen. Ich will es mir merken.« Kirk wandte sich an Chan. »Und Sie sollten es auch nicht vergessen, Charlie. Sobald Sie den Eindruck haben, daß hier irgendwo Bittermandeln stehen, rufen wir die Stellenvermittlung an und engagieren einen neuen Butler.« »Schon gemerkt«, sagte Chan. »Auf jeden Fall«, fuhr Kirk fort, »wird das Leben von nun an eine Art Sport. ›Sein oder Nichtsein – das ist hier die Frage‹.« »Müssen Paradise freundlich und rücksichtsvoll behandeln«, meinte Chan. »Dürfen nicht vergessen, daß gutes Wort Wärme für drei Winter gibt, während einziges hartes verletzt wie sechs Monate Eiseskälte. Wir läutern nur unseren Charakter.« »Da haben Sie wohl recht«, stimmte Kirk zu. Er sah den Major an und überlegte, daß sie mit Rücksicht darauf, was ihn nach San Francisco geführt hatte, vielleicht doch ein bißchen mehr Ernsthaftigkeit an den Tag legen sollten. Armer Teufel, was für ein Leben mußte er geführt haben! In dem Bemühen, Durand in die Unterhaltung mit einzubeziehen, fiel ihm nichts
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anderes ein als die abgedroschene Frage: »Wie gefällt es Ihnen eigentlich bei uns in den Staaten, Major?« »Meine Eindrücke?« Durand wiegte den Kopf hin und her. »Ich fürchte, ich kann da nichts Originelles sagen. Der vorherrschende Eindruck für mich ist – Größe. Ausdehnung, meine ich. Ihr Land ist einfach riesig, auf mein Wort.« Duff nickte. »Wir haben im Zug kaum über etwas anderes gesprochen. Sie können sich nicht vorstellen, wie Amerika auf jemand wirkt, der aus einem Land wie England stammt. Dort fährt man – egal in welche Richtung – ein paar Meilen weit und ist an der Küste. Aber hier – tagelang haben wir aus den Zugfenstern geschaut, ungläubig, staunend. Wir dachten, wir kämen nie ans Ziel.« »Die Vereinigten Staaten sind ein weites Land, da gibt es keinen Zweifel«, entgegnete Kirk. »Ein viel zu großes, denken manche.« »Das haben wir nicht gesagt«, widersprach Durand mit einem schwachen Lächeln. »Die Möglichkeiten eines solchen Landes scheinen wirklich unbegrenzt zu sein. Hinzufügen möchte ich« – er sah June Morrow an –, »daß ich die jungen Frauen hier ganz bezaubernd finde.« »Was für ein reizendes Kompliment«, sagte sie. »Vielen Dank.« »Aber ich meine es ehrlich«, wehrte Durand sich dagegen, nur Komplimente zu machen. »Nur eines ist mir noch nicht ganz klar – was haben Sie eigentlich mit dieser Sache zu tun?« »Ich gehöre zum Büro des Bezirksstaatsanwalts.« »Er hat die gleiche Stellung wie bei uns der Kronanwalt«, erklärte Duff. »Soviel ich weiß, hat die junge
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Dame Jura studiert.« »Wie überaus merkwürdig!« sagte Durand. »Das muß man sich einmal vorstellen. Dann überrascht es mich aber, daß man in den Staaten nicht mehr Achtung vor dem Gesetz hat.« »Vielen Dank«, entgegnete June Morrow. »Das ist, wenn schon nicht für die Vereinigten Staaten, so doch für mich sehr schmeichelhaft.« Durand erhob sich. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich jetzt gehe«, sagte er. »Doch die Reise hat mich ziemlich ermüdet, und hinzu kommt noch die Enttäuschung, die ich genauso erst vor wenigen Monaten erlebte. Zwar habe ich so getan, als hätte ich keine Hoffnung, doch das traf nicht ganz zu. Tatsächlich hoffe ich immer noch, trotz aller Fehlschläge in der Vergangenheit. Und da mich diesmal ein Mann wie Sir Frederic Bruce hierherrief… Ich werde jedenfalls nicht zur Ruhe kommen, ehe ich nicht die Frau gesehen habe, die heute abend so plötzlich das Gebäude verließ.« »Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie gefunden wird«, meinte Duff. »Ich hoffe es sehr. Kommen Sie mit, alter Junge?« »Selbstverständlich«, sagte Duff und stand ebenfalls auf. »Wir beide müssen sehr bald führen unser kleines Gespräch, Inspektor«, sagte Chan. Duff blieb stehen. »Nun, ich war immer der Meinung, es gebe keine bessere Zeit als die Gegenwart. Gehen Sie vor, Major, ich komme bald nach.« »In Ordnung«, antwortete Durand. »Ich habe im ›St. Francis Hotel‹ ein Zimmer für Sie genommen. Ich hoffe, Sie sind mit meiner Wahl einverstanden.«
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»Das war sehr aufmerksam von Ihnen«, meinte Duff. »Wir sehen uns bald.« Durand wandte sich an Barry Kirk. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.« »Nicht der Rede wert. Sie müssen oft vorbeikommen. Ich hoffe, Sie werden sich hier nicht einsam fühlen. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen eine oder zwei Karten für einen Club, und außerdem können wir hin und wieder eine Party geben.« »Das ist sehr, sehr großzügig von Ihnen«, antwortete Durand herzlich. »Tausend Dank.« Er verabschiedete sich von den anderen und ging. »Armer Mann«, sagte June Morrow. »Ein netter Kerl«, stellte Duff fest und wandte sich lebhaft an Charlie. »Aber das bringt uns nicht weiter, Sergeant. Wo wollen wir anfangen? Ich habe von Captain Flannery erfahren, daß man bei Sir Frederics Sachen keine Akten gefunden hat.« »Das ist zutreffend«, bestätigte Chan. »Dann sieht es nicht nur nach Mord, sondern auch nach Diebstahl aus, da er ganz bestimmt Akten angelegt hat. Irgendwo – es sei denn, sie sind von derselben Hand vernichtet worden, die Sir Frederic tötete – muß es einen ins einzelne gehenden Bericht über den Fall Hilary Galt und das Verschwinden von Eve Durand geben.«. »Haben gehört, daß Sir Frederic glaubte, zwischen beiden Fällen besteht verborgener Zusammenhang?« fragte Chan. »Ja, ich habe die Kopie des Briefes meines Chefs vom Yard gelesen. Danach zu schließen, tappt er genauso im Dunklen wie wir. Aber ich habe ihm bereits gekabelt und ihn gebeten, mir jede Information zukommen
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zu lassen, über die er verfügt.« »Handeln mit lobenswerter Schnelligkeit«, sagte Chan anerkennend. »Etwas, das dieser Major Durand uns erzählt hat, gibt Fall ganz anderes Gesicht. Bis jetzt wußte hier niemand, daß Colonel John Beetham teilnahm an Picknick an unvergessenem Abend in Peshawar.« »Was ist mit Beetham? Er ist in San Francisco, sagen Sie?« »Er war sogar anwesend bei Dinner. Merkwürdiger, schweigsamer Mann, geistiger Rattenfänger, wenn so sagen darf.« »Aber natürlich!« meldete June Morrow sich plötzlich zu Wort. »Colonel Beetham nahm an jenem Picknick teil. Das bedeutet, daß er Eve Durand kannte. An dem Abend, an dem er hier war, muß er von Jennie Jerome Marie Lantelme im Lift heraufgebracht worden sein. Wenn sie Eve Durand ist, hat er sie wahrscheinlich erkannt.« »Zweifellos«, stimmte Chan zu. »Nun, das macht doch alles sehr einfach«, fuhr June fort. »Ich setze mich sofort mit ihm in Verbindung und frage ihn…« Chan hob die Hand. »In aller Bescheidenheit bitte um Vergebung, daß ich unterbreche. Würden Sie Blinden nach Weg fragen?« »Ja – ich… Wie meinen Sie das?« »Ich weiß seit einigen Tagen, daß Colonel Anfang Mai 1913 sich in Nähe von Peshawar aufhielt. Bis heute abend ich ließ mir allerdings nicht träumen, daß er bei Picknick dabei war. Aber letztes, das wir tun dürfen, ist ihm Fragen stellen.« »Sie glauben doch nicht etwa…«
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»Habe noch nicht entschieden, was ich denke. Mitglied von Picknickgesellschaft – Tatsache kann viel bedeuten oder aber überhaupt nichts. Weil aber möglicherweise von großer Bedeutung, wollen wir Colonel vorläufig noch nichts sagen. Könnten uns selbst dadurch schaden. War einmal ein Mann, der Baby zwickte, während er Wiege schaukelte. Er wurde nicht sehr dafür gelobt.« June Morrow lächelte. »Ich beherzige Ihren Rat natürlich.« »Danke sehr vielmals. Bevor wir handeln, erlauben, daß ich noch ein bißchen in Vergangenheit grabe.« Chan wandte sich an den Inspektor. »Vergessen wir Colonel einen Augenblick und denken wir an Samtpantoffeln.« »Ja«, sagte Duff. »Die Samtpantoffeln. Sie sind wirklich ein Rätsel. Wie es scheint, hat der Mörder sie mitgenommen. Aber warum? Und was macht er – oder sie – damit? Es ist nicht abwegig zu vermuten, daß man sich ihrer irgendwo hastig entledigt hat. In England haben wir für solche Fälle ein beinahe unfehlbares System – wir setzen eine Anzeige in die Zeitung und bieten eine Belohnung an.« »Ausgezeichnete Idee«, pflichtete Chan ihm bei. »Bestimmt hat Captain Flannery schon daran gedacht?« Chan zuckte mit den Schultern. »Captain benimmt sich wie kleines Kind, das sich in engmaschigem Netz gefangen hat. Strampelt und strampelt und gerät immer tiefer hinein. Aber muß mit Kritik zurückhalten. Gebe zu, daß Vorschlag nicht einmal mir eingefallen wäre.« Duff lachte. »Nach dem Abendessen suche ich den
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Captain auf und empfehle ihm, es mal zu versuchen. Übrigens – ich komme mir ziemlich verloren vor, kenne die Stadt nicht. Könnte ich Sie überreden, mit mir essen zu gehen, Sergeant? Wir könnten uns noch weiter unterhalten, und nach dem Essen könnten Sie mir ein bißchen was von der Stadt zeigen und mir sagen, wie ich zu Flannerys Büro komme.« »Hocherfreut über Einladung.« Charlie strahlte. »Habe noch viel zu lernen. Wo könnte ich besseren Lehrmeister finden als sehr ehrenwerten Inspektor Duff?« »Nun, das ist wohl ein bißchen übertrieben«, erwiderte Duff. »Aber es wird bestimmt ein vergnügliches Abendessen, Sobald Sie bereit sind…« »Beeile mich, Hut und Mantel zu holen«, erwiderte Chan. Duff wandte sich an Kirk und June Morrow. »Es war mir eine große Freude, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Mit einer charmanten jungen Frau an einem Fall zu arbeiten, wird für mich etwas ganz Neues sein – aber auch etwas sehr Angenehmes.« »Sie finden die Situation gewiß höchst lächerlich«, entgegnete June. Er lächelte. »Das habe ich nicht gesagt.« Chan kam zurück und verließ mit Duff die Wohnung. June Morrow nahm ihren Mantel. »Halt, halt!« protestierte Kirk. »Wohin wollen Sie denn?« »Nach Hause.« »Zu einem einsamen Abendessen.« »Sie brauchen nicht mit dem Zaunpfahl zu winken. Ich kann Sie heute abend nicht einladen. Um ein besonderes Essen für Sie vorzubereiten, brauche ich eine Unmenge Zeit.«
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»Selbstverständlich. Und ich habe auch gar nicht mit dem Zaunpfahl gewinkt. Aber merkwürdigerweise ist mir nicht wohl zumute, wenn ich mir vorstelle, daß ich in meinem gemütlichen, kleinen Nest allein essen soll. Ich schlage vor, daß wir irgendwohin gehen, wo es Licht, Lachen und einen Ober gibt, dem ich vertrauen kann. Und falls Sie nicht grausamer sind, als Sie aussehen, werde ich nicht allein zu Abend essen.« »Aber ich müßte mich zu Hause ein bißchen frischmachen.« »Unsinn, Sie sehen wie das blühende Leben aus. Wie ein blühendes Mandelbäumchen – wie komme ich denn ausgerechnet darauf? Egal. Kommen Sie mit?« »Wenn Sie wollen.« Kirk klingelte, und der Butler erschien sofort. »Ich – esse heute abend auswärts, Paradise.« Paradise sah tief betrübt aus. »Sehr wohl, Sir. Aber wenn ich mir eine Bemerkung…« »Ja, bitte. Sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben.« »Ich hoffe, das ist kein Zeichen schwindenden Vertrauens mir gegenüber, Sir? Ich habe gehofft, daß zwischen uns alles beim alten bleibt.« »Unsinn. Ich esse oft auswärts, das wissen Sie doch.« »Gewiß, Sir.« Bedrückt schlich der Butler hinaus. »Guter Gott!« Kirk seufzte tief auf. »Ich fürchte, er wird so empfindlich wie eine Mimose. Ich glaube, um ihm zu zeigen, daß ich ihm vertraue, muß ich ein großes Dinner geben und alle Leute einladen, die ich besonders gern habe.« »Ein großes Dinner?« »Nun, ziemlich groß. Meine Großmutter und Charlie Chan, ein paar alte Freunde aus dem Club und – wür-
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den Sie auch kommen?« »Wenn ich nicht käme, dann nicht deshalb, weil ich mich vor Paradise fürchte.« Sie fuhren mit dem Lift hinunter. Es war ein nebliger Abend mit gelegentlichen Regengüssen. Kirk holte seinen Wagen, half June hinein, und sie fuhren aus dem verlassenen Geschäftsviertel zum Union Square, wo sich helles Licht auf dem nassen Pflaster spiegelte. Die Glocken der »cablecars« bimmelten fröhlich, eine ganze Flottille von Regenschirmen hüpfte munter über die Gehsteige. Die Stimmung der Bevölkerung von San Francisco, die gewöhnlich sehr gut ist, läßt sich durch ein bißchen Regen nicht dämpfen. »Gehen wir zu Marchetti?« fragte Kirk. »Aber gern«, antwortete June. Sie betraten das kleine Restaurant. Auf der Tanzfläche lief eben die erste Kabarettnummer. Eine junge, bildhübsche Ballettruppe tanzte zu einer bekannte Melodie. Barry Kirk war ein gern gesehener Gast, bekam sofort einen guten Tisch, und der Ober überschlug sich fast vor Aufmerksamkeit. Sie bestellten. »Ich bin gern hier«, sagte Kirk. »Sie verwechseln nie Krach mit Fröhlichkeit.« Eine hübsche, kleine Blondine warf ihm im Vorübertanzen ein süßes Lächeln zu. »Entzückende Mädchen, finden Sie nicht?« »Ja, das sind sie wohl«, antwortete June. »Mögen Sie entzückende Mädchen?« »Ich sehe sie gern vorübergehen – auf der anderen Seite der Straße. Sobald sie anfangen zu reden, langweilen sie mich. Ihre Gespräche sind so oberflächlich. Nehmen Sie dagegen zum Beispiel eine Juristin…« »Bitte necken Sie mich nicht«, sagte June. »Ich bin heute abend nicht in der richtigen Stimmung. Bin mü-
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de und – mutlos.« »Müde – das verstehe ich«, erwiderte er. »Aber mutlos? Warum? Soviel ich weiß, sind Sie sehrtüchtig und erfolgreich.« »Das bin ich nicht. Ich bin ein bißchen weitergekommen, ja, aber was kommt jetzt? Haben Sie vergessen, was heute vor einer Woche geschehen ist?« »Sie haben zum erstenmal mit mir zu Abend gegessen…« »Heute vor einer Woche wurde Sir Frederic ermordet, und ich bekam meinen ersten Fall. Bis zu diesem Augenblick habe ich jedoch überhaupt nichts zu seiner Lösung beigetragen.« »O doch, das haben Sie. Natürlich haben Sie das Rätsel noch nicht gelöst, aber dazu ist immer noch Zeit.« »Nein, ich habe keine Zeit mehr. Jeden Moment kann mir der Bezirksstaatsanwalt den Fall wieder wegnehmen. Ich muß bald ein Ergebnis aufweisen können –, aber wie soll ich das schaffen? Überlegen Sie doch, wie weit wir bis heute gekommen sind.« »Nun, Sie haben immerhin Eve Durand gefunden.« »Und sie wieder verloren. Falls das Liftmädchen überhaupt Eve Durand ist.« »Sie muß es sein. Charlie sagt es.« June Morrow schüttelte den Kopf. »Charlie ist klug, aber auch er hat sich schon geirrt, das gibt er offen zu. Als wir heute abend darauf warteten, daß Captain Flannery das Mädchen hereinbrachte, ist etwas geschehen. In meinem Inneren. Ich hatte eine Eingebung – meine weibliche Intuition sagte mir, daß Jennie Jerome Marie Lantelme doch nicht Eve Durand ist.« »Was Sie nicht sagen! Und worauf basiert diese Eingebung?«
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»Sie hat überhaupt keine Basis. Aber ich fühlte, daß wir alle miteinander auf der falschen Fährte waren. Sie mag Jennie Jerome und auch Marie Lantelme sein, aber sie ist nicht Durands verschwundene Ehefrau. Vergessen Sie nicht, daß es für diese Rolle noch andere ›Besetzungen‹ gibt.« »Zum Beispiel?« »Wie wäre es mit Lila Barr, dem Mädchen das bei den Calcutta Importers arbeitet? Sie selbst haben uns erzählt, wie sehr Sir Frederic sich für sie interessierte, erinnern Sie sich? Was genau meinten Sie eigentlich damit?« »Ich wäre glücklich, es Ihnen sagen zu können –, wenn ich es wüßte.« »Aber Sie wissen es nicht. Dann sind da Eileen Enderby und Gloria Garland. Trotz der Geschichten, die sie uns auftischten – kommen sie wirklich nicht in Frage? Und Mrs. Tupper-Brock. Nein, wir können nicht behaupten, daß das Liftmädchen Eve Durand ist. Wir haben nur geraten – Chan hat geraten. Und jetzt werden wir es nie erfahren.« »Warum nicht? Flannery findet sie bestimmt.« »Das glauben Sie doch nicht wirklich. Wenn Sie’s glauben, haben Sie zu unserem armen, alten Captain mehr Vertrauen als ich. Angenommen, er findet sie, und sie ist Eve Durand – was dann? Sie wird sich weigern, auszusagen, und wir werden der Aufklärung des Mordes nicht einen Schritt näher gekommen sein.« »Ich wollte einen fröhlichen Abend mit Ihnen verbringen«, sagte Kirk, »und Sie sitzen da und wälzen finstere Gedanken.« »Lassen Sie mich nur noch eine Minute weiterreden. Es ist ein solcher Trost, sich aussprechen zu können.
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Wer hat Sir Frederic ermordet? Das ist mein Problem. Die Identität von Eve Durand hat vielleicht gar nicht soviel damit zu tun, wie wir glauben. Vielleicht erweist es sich, daß sie überhaupt nichts damit zu tun hat. Wer hat vergangenen Dienstag abend in Ihrem Büro den Schuß abgegeben? Carrick Enderby? Möglich. Eileen Enderby? Da waren diese verräterischen Flecke auf ihrem Kleid. Ist sie die Feuerleiter hinuntergeklettert und hat die Tat begangen? Lassen wir die Enderbys beiseite, es gibt noch andere. Wie wäre es mit Gloria Garland? Mrs. Tupper-Brock?« »Die natürlich alle mit einer unter dem Kleid versteckten Waffe zu meiner Dinnerparty gekommen sind?« Kirk lächelte. »Sie wußten aber alle, daß sie an diesem Abend Sir Frederic kennenlernen sollten. Die Pistole konnte schon vorher bereitgelegt worden sein. Um die Liste zu vervollständigen – da ist Paradise. Ich mag ihn, bin aber nicht der Meinung, daß seine Geschichte von heute nachmittag ihn von jedem Verdacht befreit. Im Gegenteil. Weiter. Der blasse junge Mann, der bei dem Buchprüfer oder Steuerberater arbeitet und um diese ungewöhnliche Zeit noch im Büro war.« »O ja – ein gewisser Smith, nicht wahr?« sagte Kirk. »Ihn hatte ich völlig vergessen.« »Ich nicht«, erwiderte June. »Dann ist da noch Li Gung, der am nächsten Tag nach Honolulu abreiste. Warum diese Eile? Ist es nicht möglich, daß er die Feuerleiter heraufkletterte… Ach, was hat es für einen Sinn? Die Liste scheint endlos zu sein.« »Auf jeden Fall ist die Ihre unvollständig«, meinte Kirk. »Wieso?«
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»Sie haben den Namen des Mannes nicht genannt, der Li Gung an Bord begleitete. Colonel John Beetham.« »Lächerlich! Ein Mann wie Colonel Beetham, in der ganzen Welt berühmt. Ein Mann, dem alle Orden und Ehrenzeichen verliehen wurden, die man nur für ungewöhnliche Tapferkeit bekommt – als ob ein solcher Mann eine so niederträchtige und gemeine Tat begehen könnte.« »Und genau da spielt Ihnen Ihre Weiblichkeit einen Streich. Keine einzige Frau kann einem gutaussehenden, berühmten Engländer widerstehen. Als weniger romantisch angehauchtes männliches Wesen muß ich sagen, daß der Colonel auf mich keinen so guten Eindruck macht. Er hat Mut, das stimmt, und er hat einen Willen, der ihm dazu verhilft, sich überall durchzusetzen und alles zu erreichen. Die Folgen seines Handelns sind ihm egal. Ich muß sagen, daß ich nicht derjenige von seinen Begleitern sein wollte, der im Hochland von Tibet vor Erschöpfung zusammenbricht und zu schwach ist, um weiterzugehen. Er würde mir nur einen verächtlichen Blick zuwerfen und mich liegenlassen. Nein, warten Sie –, ich glaube, er würde mir vorher noch einen letzten Liebesdienst erweisen.« »Und der wäre?« »Ich denke, er würde seine Waffe ziehen und mich erschießen. Dann würde er seinen Weg fortsetzen, zufrieden, daß es einen Schwächling weniger gibt.« »Ja, er ist ein harter und entschlossener Mann«, gab June zu. »Dennoch – Sir Frederic hat er nicht getötet. Der Ärmste war ja seinen Plänen nicht hinderlich.« »Nein? Woher wissen Sie das?« »Nun – ich sehe nicht…« »Überlassen wir Beetham doch Chan«, schlug Kirk vor.
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»Der kleine Mann beschäftigt sich eingehend mit ihm, und ich glaube, er weiß genau, warum. Und jetzt denken Sie nicht mehr an die ganze Sache, und tanzen Sie mit mir. Oder muß ich allein tanzen?« »Also ich weiß nicht… In meiner Stellung muß ich mich mit dem gebührenden Ernst… Die Öffentlichkeit…« »Vergessen Sie Ihre Öffentlichkeit! Kein Mensch achtet auf Sie. Kommen Sie schon.« June Morrow lachte, und sie tanzten auf der winzigen Tanzfläche einen Tango. Während des ganzen restlichen Abends ließ sie es zu, daß Kirk die Unterhaltung steuerte, und das leichtherzige Geplauder schien ihr gutzutun. »Nun«, sagte Kirk, als er die Rechnung unterschrieb, »Sie können ja doch fröhlich sein. Und ich muß sagen, es steht Ihnen.« »Ich habe alle Sorgen vergessen«, erwiderte sie mit vergnügt funkelnden Augen, »und ich habe das Gefühl, als würde ich nie wieder an sie denken.« »Das höre ich gern«, lobte Kirk. Aber bevor sie das Restaurant verließen, wurde June Morrow wieder sehr nachdrücklich an ihre Sorgen erinnert. Auf dem Weg zum Ausgang kamen sie an mehreren Nischen vorbei. Bei der letzten verhielt June den Schritt und sah, über die Schulter zurückblickend, Barry Kirk an. Im Vorbeigehen schaute auch er in die Nische und ging dann rasch weiter. Er hätte sich aber nicht zu beeilen brauchen, denn die beiden Leute, die dort beim Abendessen saßen, waren so in ein ernstes Gespräch vertieft, daß sie nicht merkten, was um sie herum vorging. »Was habe ich Ihnen gesagt!« wandte June sich auf der Straße an Kirk. »In diese Sache sind außer dem
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armen kleinen Liftmädchen noch andere Frauen verwickelt!« »Und was«, antwortete Kirk, »habe ich Ihnen über Ihren gutaussehenden britischen Helden gesagt?« June Morrow nickte. »Morgen werde ich mich mit den beiden näher befassen«, sagte sie. »Ich bin schon sehr neugierig zu erfahren, welche Verbindung zwischen Colonel Beetham und Mrs. Tupper-Brock besteht.«
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15. Kapitel
Der diskrete Mr. Cuttle Als Charlie Chan Mittwoch früh erwachte, hatte es aufgehört zu regnen, und der Nebel löste sich allmählich auf. Tapfer kämpfte die Sonne sich durch die letzten Nebelbänke und fiel auf eine funkelnde, reingewaschene Stadt. Chan stand lange am Fenster und betrachtete das herrliche Panorama. Seine Blicke schweiften über Hafen und Bucht bis hinaus zu Goat Island und zu dem wie eine Festung aussehenden Zuchthaus Alcatraz. An der Wasserfront lagen mehrere große Schiffe vor Anker und schienen auf ein Signal zu warten, um auslaufen zu können, zu neuen Ufern, fremden Häfen und Koralleninseln. Trotz des strahlenden Morgens war es Chan schwer ums Herz. Um zwölf Uhr mittags verließ das Schiff den Hafen, mit dem zu reisen er geschworen hatte, das Schiff, das am Ende unter dem Turm vor Anker gehen würde, auf dem das Wort »Aloha« stand. In dem kleinen Haus unter den Johannisbrotbäumen auf dem Punchbowl Hill würde dieselbe Enttäuschung herrschen wie jetzt in Charlies Herzen. Er seufzte. Sollte dieser Urlaub denn nie enden? Dieser arbeitsreiche Urlaub, in dem es so viele verwirrende Probleme zu lösen galt? Dieser Urlaub, der überhaupt keiner war? Als er das Speisezimmer betrat, saß Barry Kirk bereits bei Tisch, doch sein Glas Orangensaft stand unberührt vor ihm. »Guten Morgen«, sagte er zu Chan. »Ich habe auf Sie gewartet.« »Muß feststellen, Sie werden liebenswürdiger mit jedem Tag.« Chan grinste.
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»Ach, ich weiß nicht – es hat eigentlich wenig mit Liebenswürdigkeit zu tun. Irgendwie scheine ich es nicht eilig zu haben, heute Kaliforniens Lieblingsgetränk zu mir zu nehmen. Sehen Sie es sich an. Glauben Sie, daß es rein und unverfälscht ist?« Als Chan sich setze, öffnete Paradise die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, hob Chan sein Glas. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte er zu Kirk. Kirk warf einen Blick zu seinem Butler hinüber und hob sein eigenes Glas. »Ich hoffe aufrichtig, daß Sie recht haben«, sagte er leise und trank. Paradise wünschte ernst guten Morgen, stellte zwei Teller mit Haferbrei auf den Tisch und verschwand wieder. »Nun«, sagte Barry lächelnd, »bisher sind wir ja noch okay.« »Mißtrauen«, entgegnete Chan, »ist böse Sache. So steht an vielen Orten geschrieben.« »Ja, und wie weit kämen Sie mit Ihrer Arbeit, wenn Sie nicht mißtrauisch wären?« erkundigte sich Kirk. »Haben Sie gestern abend von Duff etwas Brauchbares erfahren?« »Nichts, worüber man sich Kopf zerbrechen müßte. Ehrenwerter Inspektor erwähnte nur einzigen Punkt, der nicht ganz uninteressant war.« »Was war das?« »Bitte respektvoll um Entschuldigung, möchte für Augenblick noch gewohntes Stillschweigen bewahren. Sie haben hier zu Abend gegessen?« »Nein, Miß Morrow und ich gingen in ein Restaurant.« »Ah, Augenblick angenehmer Entspannung«, sagte Chan beifällig. »Das war der Sinn der Sache, ja.«
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»Fühlen sich in Gesellschaft von junger Dame wohl?« »Nun, ich gräme mich in ihrer Gesellschaft nicht gerade. Wissen Sie, sie ist gar nicht so ernst, wie sie immer tut.« »Das ist sehr gut. Frauen wurden nicht erfunden für schwere Gedankenarbeit. Sie sollen Leben schmücken wie Pflaumenblüte.« »Ja, aber alle können auch nicht Filmschauspielerinnen sein. Ich habe nichts dagegen, wenn ein Mädchen intelligent ist, nur darf es sich nicht damit brüsten. Miß Morrow tut das nie. Es war ein sehr netter Abend, aber wir waren auch nicht blind. Als wir das Restaurant verließen, machten wir eine kleine Entdeckung.« »Gut. Und was für eine?« Kirk zuckte mit den Schultern. »Soll ich auch mein gewohntes Stillschweigen bewahren? Nein, ich bin nicht so ekelhaft wie Sie, Charlie. Wir sahen unseren alten Freund Colonel Beetham, der sich offensichtlich von den harten Realitäten des Lebens erholte. Er dinierte mit einer Dame.« »Ach ja? Mit welcher Dame?« »Einer Dame, der wir bisher kaum Aufmerksamkeit schenkten – Mrs. Helen Tupper-Brock.« »Sehr interessant. Wird Miß Morrow Sache nachgehen?« »Ja. Ich soll Mrs. Tupper-Brock heute vormittag abholen und ins Büro des Bezirksstaatsanwalts bringen. Ich erwarte mir nichts Überwältigendes. Die Dame ist so kalt und hoheitsvoll wie der Winterhimmel. Du meine Güte, ich werde poetisch. Kann das von etwas kommen, das ich zum Frühstück gegessen habe?« »Nein, das liegt eher an Erinnerungen an gestrigen Abend«, antwortete Chan.
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Nach dem Frühstück sagte Kirk, er müsse ins Büro, um ein paar Briefe zu schreiben. Chan erhob sich rasch. »Ich begleite Sie, wenn ich darf«, sagte er. »Muß Brief an meine Frau schreiben und erklären, warum ich wieder nicht komme. Hoffe, Brief noch mit auslaufendem Schiff schicken zu können, als Stellvertreter für mich. Sehr kleiner Stellvertreter.« Er seufzte. »Stimmt ja!« sagte Kirk. »Sie wollten heute ja abreisen, nicht wahr? Ein Jammer, daß Sie es nicht können.« »Was wird kleiner Barry nur von mir denken?« »Er ist wahrscheinlich so vernünftig wie sein Namensvetter. Er will bestimmt nicht, daß Sie vor Ihren Pflichten davonlaufen. Und wie stolz wird er eines Tages auf Sie sein, weil es Ihnen gelungen ist, den Mörder von Sir Frederic Bruce zu entlarven.« »Bis dahin ist noch weiter Weg«, sagte Chan. »Gebe mir noch weitere Woche. Dann, egal, was geschieht, ich schüttle Festlandstaub von Schuhen und gehe. Ich schwöre! Und diesmal ich bleibe fest wie Felsen von Gibraltar.« »Eine Woche?« wiederholte Kirk. »Da haben Sie massenhaft Zeit. Bis dahin haben Sie’s bestimmt geschafft.« »Auf Deck von Schiff nach Honolulu zu sitzen«, erwiderte Chan energisch. »Wie sagt man in San Francisco? Darauf können Sie wetten.« Sie gingen in das zwanzigste Stockwerk hinunter, und Kirk setzte sich an seinen großen Schreibtisch. Kinsey, sein Sekretär, war unterwegs. Chan ließ sich Briefpapier und Umschlag geben und nahm am Schreibtisch des Angestellten Platz.
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Mit seinen Gedanken schien er allerdings nicht bei dem Brief zu sein, den er schrieb. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sehr genau jede Bewegung, die Kirk machte. Im nächsten Moment stand er auf und ging zu Kirks Schreibtisch hinüber. »Feder hat Anfall von Widerspenstigkeit«, beklagte er sich. »Tinte will nicht fließen.« »Hier drin sind andere«, sagte Kirk und bückte sich, um eine der unteren Schubladen zu öffnen. Chans lebhafte Blicke überflogen rasch die Papiere auf dem Schreibtisch. Für jemand, der sonst so tadellose Manieren hatte, benahm er sich recht merkwürdig. Er schien seinen Gastgeber zu bespitzeln. Kirk reichte ihm einen Füller, und er ging zum Schreibtisch zurück, gab seine heimliche Beobachtung aber noch nicht auf. Kirk beendete den Brief und begann einen neuen. Als er mit dem zweiten fertig war, frankierte er beide. Gleichzeitig versiegelte Chan seinen Brief, klebte ebenfalls eine Marke darauf und stand rasch auf. Er streckte seine lange, schmale Hand aus. »Erlauben Sie mir, daß ich Post in Rohrpostschlucker auf dem Flur einwerfe?« »Gern, vielen Dank.« Kirk reichte ihm seine Briefe. Als Charlie zurückkam, sah Kirk eben auf seine Uhr. »Haben Sie Lust, sich Mrs. Tupper-Brocks Lebensgeschichte anzuhören?« fragte er. Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Danke sehr vielmals, möchte mich aber nicht einmischen. Miß Morrow ist sehr tüchtig. Schon ein paarmal habe ich mich innerlich gekrümmt und gewunden, weil fünftes Rad an Wagen. Diesmal werde ich Zeit anders totschlagen.« »Wie Sie wollen«, antwortete Kirk unbekümmert,
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nahm Hut und Mantel und verschwand. Als Chan in den Bungalow hinaufkam, wurde er im Wohnzimmer von Bill Rankin erwartet. Der Reporter blickte ihm belustigt entgegen. »Guten Tag«, sagte er. »Wie ich annehme, reisen Sie heute mittag ab?« »Schiffe zu verpassen, scheint jetzt schon Gewohnheit bei mir zu sein«, erwiderte Chan. »Ich kann nicht fort. Zu viele dunkle Wolken hängen drohend am Himmel.« »Ich hab’s ja gewußt.« Rankin lächelte. »Bevor Sie abreisen, bekomme ich von Ihnen noch eine Story, die die Stadt kopfstehen lassen wird. Ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Chinesen sind großartige Menschen.« »Danke sehr vielmals, daß Sie bescheidene Rasse loben.« »Kommen wir jetzt zum ›Geschäft‹«, fuhr Rankin fort. »Ich habe Ihnen an diesem wunderschönen Morgen ein kleines Geschenk mitgebracht.« »Sehr freundlich.« »Ich bin ein kluger Junge. Sie müssen wissen, daß Ihre ziemlich nebulosen Bemerkungen über Colonel Beetham mich nachdenklich gemacht haben. Und wenn ich denke, dann tue ich das gründlich. Ich habe die Selbstbiographie Beethams von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen und brauche Ihnen wohl nicht zu erzählen, daß am 14. Mai 1913 der gute Colonel zu einer acht Monate dauernden Reise von Peshawar nach Teheran aufgebrochen ist? Daß er die Route durch Afghanistan und die persische Wüste nahm?« Chan nickte. »Das ist mir bekannt.« »Das habe ich angenommen. Aber wissen Sie auch, daß er über diese Expedition ein eigenes Buch ge-
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schrieben hat? Über diese ›Ferien‹, wie er es nannte. Es sei keine Forschungs- sondern eine Vergnügungsreise mit ein paar Abstechern gewesen, bevor er nach Hause zurückkehrte.« »Von diesem Buch habe ich noch nie gehört«, sagte Chan interessiert. »Es ist nicht so bekannt wie seine anderen Bücher«, fuhr Rankin fort. »Ist jetzt vergriffen. ›Das Land hinter dem Khaiberpaß‹ hieß es. Ich habe sämtliche Buchhandlungen der Stadt danach abgesucht und drüben in Berkeley endlich ein Exemplar aufgetrieben.« Er reichte Chan einen dunkelrot gebundenen Band. »Das kleine Geschenk, das ich erwähnte.« Chan griff eifrig danach. »Was soll ich sagen? Könnte wertvoll für uns sein. Stehe tief in Ihrer Schuld, von Mal zu Mal tiefer.« »Nun, ich weiß nicht, ob es für Sie von Wert ist. Aber vielleicht finden Sie etwas, das ich übersehen habe. Ich habe es sehr sorgfältig gelesen, jedoch nicht das geringste entdecken können.« Chan schlug das Buch auf. »Etwas Interessantes sofort augenfällig«, sagte er. »Andere Bücher von Colonel Beetham haben nicht Widmung, dieses schon. »Langsam las er die entsprechenden Zeilen auf der zweiten Seite der Titelei: ›Für jemand, der sich erinnern und verstehen wird.‹« »Das ist mir natürlich auch aufgefallen«, meinte Rankin. »Fast sieht es so aus, als habe auch der Colonel Momente, in denen er alle Härte ablegt, nicht wahr? ›Für jemand, der sich erinnern und verstehen wird‹. Wahrscheinlich eine Jugendliebe, die sich an die Küsse unter dem Fliederbaum erinnern und verstehen wird, daß er auf seinen gefährlichen Reisen ihr Bild im Her-
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zen trägt.« Tief in Gedanken versunken, murmelte Chan etwas, das wie »möglich« klang. »Diese Engländer sind gar nicht so hartgesotten, wie sie scheinen«, sprach Rankin weiter. »Ich kannte während des Krieges einen britischen Flieger – ein zähes Rauhbein, das Stahlnägel zum Frühstück verzehrte. Und doch hatte sich dieser Mensch einen Erikazweig auf seine Mühle pinseln lassen – Erinnerung an eine alte Liebesgeschichte. Im Grunde seines Herzens ein sentimentaler Typ. Vielleicht ist Colonel Beetham auch so.« »Durchaus möglich«, stimmte Charlie ihm zu. Rankin stand auf. »Tja, ich glaube, mein lieber alter Chef weint sich die Augen aus, weil ich noch nicht erschienen bin. Er liebt mich, auch wenn er mir droht, mich hinauszuwerfen, weil ich den Mord an Sir Frederic noch nicht aufgeklärt habe.« »Unterlassung, die nicht Sie allein begingen«, sagte Chan. »Sie – Sie könnten mir für unsere Millionen sensationslüsternen Leser wohl keinen Appetithappen mitgeben?« »Noch nichts darf veröffentlicht werden.« »Aber allmählich wird es höchste Zeit, daß wir einen Blick hinter jenen Vorhang werfen«, meinte Rankin. Chan schüttelte den Kopf. »Sache ist schwierig. Wenn ich wäre in Peshawar –, aber das bin ich nicht. Ich bin in San Francisco, fünfzehn Jahre nach Ereignis, und kann immer nur raten. Möchte hinzufügen, daß Raten immer armselige Sache ist. Führt oft in ganz falsche Richtung.« »Bleiben Sie dran«, riet Rankin. »Sie werden gewin-
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nen, und wenn es soweit ist, lassen Sie mich dabei sein, mit einer direkten Telefonleitung in meine Redaktion.« »Hoffen wir, daß Phantasiebild Wirklichkeit wird«, erwiderte Charlie. Rankin ging, und Chan setzte sich ans Feuer und vertiefte sich in das Buch, das der Reporter ihm gebracht hatte. Das war viel besser, als mit Mrs. Tupper-Brock zu sprechen. Ungefähr zur selben Zeit stieg Barry Kirk vergnügt die Treppe zum Haus seiner Großmutter in Pacific Heights hinauf. Die alte Dame empfing ihn im Salon. »Hallo«, sagte sie. »Wieso bist du denn schon so früh wach und unterwegs? Und noch dazu hellwach, wenn meine schwachen Augen mich nicht trügen.« Er lachte. »Detektivarbeit.« »Gut. Was kann ich für dich tun? Ich scheine überhaupt nicht mehr auf dem laufenden zu sein, und das ärgert mich.« »Gib dich nicht der Hoffnung hin, daß das jetzt anders wird«, erwiderte er. »Ich bin nicht hier, um mich mit dir zu unterhalten, obwohl ich es sehr gern täte. Ich will zu Mrs. Tupper-Brock. Wo ist sie?« »Oben. Was willst du von ihr?« »Ich soll sie zu Miß Morrow bringen.« »Also stellt diese junge Frau noch immer Fragen? Es scheint ihr bisher an Resultaten zu mangeln.« »Findest du? Nun, laß ihr Zeit.« »Sie wird eine Menge davon brauchen. Was mischt sie sich auch in Dinge, die Männern vorbehalten bleiben sollten…« »Du verrätst dein eigenes Geschlecht. Ich finde es wunderbar, daß sie diese Arbeit tut. Ein wirklich un-
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gewöhnliches kleines Mädchen.« »An Beifall wird es ihr bestimmt nicht mangeln, solange du in der Nähe bist. Du scheinst sehr von ihr eingenommen?« »Das bin ich, vergiß das bitte nicht! Sei jetzt so lieb, und ruf Mrs. Tupper-Brock.« Mrs. Kirk warf ihrem Enkel einen vielsagenden Blick zu und stieg langsam in den ersten Stock hinauf. Ein paar Minuten später kam ihre Sekretärin herunter. Gelassen und kühl wie immer, begrüßte sie Barry Kirk ohne Begeisterung. »Guten Morgen«, sagte er. »Entschuldigen Sie die Störung, aber Miß Morrow – Sie haben Sie bei mir kennengelernt – möchte gern mit Ihnen sprechen. Wenn Sie jetzt Zeit haben, bringe ich Sie mit meinem Wagen hin.« »Aber selbstverständlich«, erwiderte Mrs. TupperBrock ruhig. »Ich bin gleich wieder da.« Sie ging hinaus, und Mrs. Kirk kam wieder. »Was ist mit dem ehemaligen Boy von Sally Jordan los?« fragte sie. »Ich dachte, er würde den Fall im Handumdrehen lösen. Doch bisher stand kein Wort darüber in der Zeitung, ich habe aufgepaßt wie ein Schießhund.« »Oh, Charlie ist schon in Ordnung. Er ist langsam, aber sicher.« »Und ob er langsam ist«, bekräftigte die alte Dame. »Sag ihm, ich werde allmählich ungeduldig.« »Das wird ihm Beine machen«, entgegnete Kirk lächelnd. »Ich wünschte, jemand würde es tun«, sagte seine Großmutter ungnädig. »Warum will deine Miß Staatsanwalt jetzt plötzlich Helen sprechen? Sie ist doch wohl nicht in den Fall verwickelt?«
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»Ich darf dir leider weder ja noch nein sagen. Sag mal, hast du Colonel Beetham eigentlich schon das Geld gegeben?« »Nein, aber ich denke, ich werde es tun.« »Ich rate dir, es noch ein paar Tage hinauszuzögern.« »Was? Er steckt doch nicht etwa mit drin? Aber er ist ein Gentleman!« »Nimm einfach meinen Rat an, und…« Kirk unterbrach sich, denn Mrs. Tupper-Brock war hereingekommen und wartete. »Jetzt hast du mich so neugierig gemacht, daß ich ganz aufgeregt bin«, klagte Mrs. Kirk. »Das ist schlecht für eine Frau deines Alters, beruhige dich nur wieder.« »Was meinst du mit ›einer Frau meines Alters‹? Ich habe erst vor ein paar Tagen von einer Frau gelesen, die hundertzwei Jahre alt ist.« »Nun, das wäre doch ein erstrebenswertes Ziel für dich, Großmutter. Auf Wiedersehen, ich schaue später noch mal herein.« Steif und offensichtlich nicht zum Reden aufgelegt, saß Mrs. Tupper-Brock neben Kirk im Wagen. Nach ein paar Bemerkungen über das Wetter, mit denen er ein Gespräch in Gang bringen wollte, gab er auf. Schweigend setzten sie die Fahrt fort, dann lieferte Kirk seine Begleiterin bei June Morrow ab. Die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin sah in dieser strengen Umgebung besonders bezaubernd aus, doch darauf legte sie im Augenblick keinen Wert. Lebhaft und sachlich begrüßte sie Mrs. Tupper-Brock und zeigte auf einen Stuhl neben ihrem Schreibtisch. »Setzen Sie sich bitte. Es war sehr freundlich von Ihnen, sich hierherzubemühen. Ich hoffe, ich habe Ihnen
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keine Ungelegenheiten bereitet.« »Aber durchaus nicht«, erwiderte die Ältere und nahm Platz. »Sie wissen natürlich«, begann June Morrow, »daß wir den Mörder von Sir Frederic Bruce suchen?« »Selbstverständlich«, bestätigte Mrs. Tupper-Brock kühl. »Warum wollten Sie mich sprechen?« »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht über Informationen verfügen, die uns helfen könnten.« »Das ist höchst unwahrscheinlich.« Mrs. Tupper-Brock nahm ein Taschentuch heraus und begann es in der Hand zu kneten. »Vielleicht.« Miß Morrow lächelte. »Wir dürfen in dieser schrecklichen Sache trotzdem nichts und niemand übersehen. Sir Frederic war Ihnen völlig fremd?« »Ja. Ich habe ihn an jenem Dienstagabend zum erstenmal gesehen.« »Haben Sie an jenem Abend auch Colonel Beetham erst kennen gelernt?« Das Taschentuch war plötzlich nur noch ein winziges Bällchen. »Nein, ich kannte ihn schon vorher. Ich lernte ihn im Haus von Mrs. Dawson Kirk kennen, die er häufig besucht.« »Ach ja, natürlich. Wie ich höre, sind Sie mit Colonel recht gut befreundet. Vielleicht kannten Sie ihn sogar schon, bevor er nach San Francisco kam?« »Nein, das ist nicht der Fall.« »Als der Colonel uns seinen Film vorführte, saßen Sie und Miß Garland auf dem Diwan. Haben Sie nichts Verdächtiges bemerkt?« »Nicht das geringste.« Das Taschentuch lag zusammengeknüllt auf Mrs. Tupper-Brocks Schoß. Sie nahm es auf und fing an, es glattzustreichen.
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»Haben Sie früher einmal in Indien gelebt?« »Nein, ich war nie dort.« »Haben Sie von dem tragischen Zwischenfall gehört, der sich in Peshawar ereignet hatte? Vom Verschwinden einer jungen Frau namens Eve Durand?« Mrs. Tupper-Brock überlegte. »Möglich, daß ich in der Presse davon gelesen habe«, gab sie zu. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Sagen Sie, ist Ihnen – rein zufällig – an jenem Dienstagabend das Liftmädchen aufgefallen, das Sie zu Mr. Kirks Bungalow hinaufbrachte?« Wieder zerknüllte Mrs. Tupper-Brock das Taschentuch. »Nein. Warum sollte es mir auffallen?« »Es war Ihnen damals also völlig fremd?« »Ich denke ja. Man beachtet solche Leute natürlich kaum.« June Morrow überlegte, wie sie die Unterhaltung auf unverfängliche Weise beenden könnte. »Sie sind Engländerin, Mrs. Tupper-Brock?« »Engländerin. Allerdings.« »Kommen Sie aus London?« »Nein. Ich bin in Devonshire geboren, und dort lebte ich auch, bis – bis ich heiratete. Dann ging ich mit meinem Mann nach York. Er war Pfarrer, wissen Sie?« »Ich danke Ihnen.« »Leider konnte ich Ihnen kaum helfen.« »Nun, damit habe ich eigentlich auch nicht gerechnet«, erwiderte June Morrow lächelnd. »Diese Fragen sind eine reine Formalität. Jeder, der an diesem Dinner teilgenommen hat – Sie verstehen? Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen.« Sie stand auf. Mrs. Tupper-Brock steckte ihr Taschentuch wieder in die Handtasche und erhob sich ebenfalls. »Das war
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alles, nehme ich an?« »Aber durchaus. Ein herrlicher Tag nach dem gestrigen Regen, nicht wahr?« »Ja, wirklich ein schöner Tag«, entgegnete Mrs. Tupper-Brock und ging zur Tür. Kirk kam aus der Ecke herüber, in der er es sich in einem alten Sessel bequem gemacht hatte. »Kann ich noch etwas für Sie erledigen?« fragte er June. »Im Moment nicht, besten Dank. Sie sind unerhört wertvoll für mich.« Mrs. Tupper-Brock stand jetzt im Vorzimmer. »Kein Wort über das Liftmädchen?« fragte Kirk leise. »Nein, kein Wort.« June Morrow seufzte. »Dieselbe alte Geschichte. Aber ich habe auch nichts anderes erwartet.« Kirk warf einen Blick in das andere Zimmer. »Und die Dame, die eben ging?« flüsterte er. »Eine totale Niete, nicht wahr? Tut mir schrecklich leid. Sie hat Ihnen nichts gesagt?« June kam ganz dicht an ihn heran, lächelnd, nach Jugend und Frische duftend. Kirk wurde ein bißchen schwindelig. »Sie irren sich«, sagte sie leise. »Die Dame, die eben ging, hat mir eine ganze Menge erzählt.« »Wie das?« »Nun, ich weiß jetzt, daß sie eine Lügnerin ist. Eine sehr schlechte noch dazu. Das werde ich beweisen.« »Kluges Kind!« Kirk verließ lächelnd Miß Morrows Büro und holte Mrs. Tupper-Brock auf dem Flur ein. Die Rückfahrt zu Mrs. Dawson Kirks Haus verlief ebenfalls in angespanntem Schweigen, und Kirk trennte sich mit einem Gefühl der Erleichterung von der düsteren, geheimnisvollen Dame. Er fuhr zum Kirk-Gebäude
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zurück und mit dem Lift in das zwanzigste Stockwerk. Als er ausstieg, sah er Mr. Cuttle vor der Tür seines Büros stehen. Cuttle war nicht nur Nachtwächter, sondern auch stellvertretender Hausverwalter, ein Titel, auf den er sehr stolz war. »Hallo, Cuttle«, sagte Kirk. »Wollen Sie mich sprechen?« »Gern, Sir«, antwortete Cuttle. »Es ist vielleicht wichtig.« Kirk schloß sein Büro auf, und sie traten ein. »Es geht um Grace Lane, Sir«, fuhr Cuttle fort, »die junge Frau, die gestern abend verschwand.« »Ach, wirklich?« Kirk war plötzlich sehr interessiert. »Was ist mit ihr?« »Die Polizei hat mir eine Menge Fragen gestellt, weil ich es war, der sie engagiert hat. Wer sie geschickt hatte und so weiter. Einen Punkt gibt es, den ich verschwiegen habe. Ich dachte, ich sollte vielleicht zuerst mit Ihnen darüber reden, Mr. Kirk.« »Nun, ich weiß nicht so recht, Cuttle. Es ist nicht sehr klug, etwas vor der Polizei verbergen zu wollen.« »Aber in dieser Sache, Sir…« »Um welche Sache geht es denn?« »Nun, um die Ermittlung von Miß Lane. Um den Brief, den sie mir von einer bestimmten Person brachte…« »Von wem denn, Cuttle?« »Von Ihrer Großmutter, Sir. Von Mrs. Dawson Kirk.« »Guter Gott! Grace Lane kam mit einem Empfehlungsschreiben meiner Großmutter zu Ihnen?« »Allerdings. Ich habe den Brief noch. Vielleicht würden Sie ihn gern sehen?« Cuttle holte einen teuer aussehenden grauen Umschlag heraus und reichte ihn Kirk, der sofort sah, daß die Zeilen von der Hand seiner Großmutter stammten. Es war unverkennbar ihre kra-
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kelige, altmodische Schrift. Er las: »Mein lieber Mr. Cuttle, die junge Frau, die Ihnen dieses Schreiben überbringt, ist eine gute Freundin von mir, Miß Grace Lane. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie im Kirk-Gebäude irgendeine Beschäftigung für sie hätten – vielleicht als Liftführerin. Miß Lane könnte zwar eine wesentlich anspruchsvollere Arbeit verrichten, doch sie hat eine Pechsträhne und nimmt alles an, was sich ihr bietet. Ich bin überzeugt, Sie werden sie willig und tüchtig finden. Ich verbürge mich in jeder Hinsicht für sie. Mit freundlichen Grüßen. Mary Winthrop Kirk«
Mit einem Ausdruck ehrlicher Verblüffung im Gesicht las Kirk den Brief zu Ende. »Ich behalte ihn, Cuttle«, sagte er und steckte den Umschlag in die Tasche. »Und ich glaube, es war recht gut, daß Sie der Polizei nichts gesagt haben.« »Das dachte ich mir, Sir«, erwiderte Cuttle tief zufrieden und marschierte ab.
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16. Kapitel
Glück und ein langes Leben In seinem Bungalow fand Kirk seinen Gast, in Colonel John Beethams Buch »Das Land hinter dem Khaiherpaß« vertieft, in einem Sessel am Fenster vor. »Ich habe etwas Neues für Sie«, sagte er zu Chan. »Eben bin ich einer neuen Verdachtsperson auf die Spur gekommen.« »Je mehr, um so größer wird Fröhlichkeit«, versicherte ihm Chan. »Belieben freundlicherweise Namen von Person zu nennen, die ungewöhnliches Verhalten an Tag legte?« »Es ist nur meine Großmutter«, antwortete Kirk. »Niemand sonst.« Charlie erlaubte sich den Luxus, kurz überrascht zu sein. »Bin überwältigt von Erstaunen. Die liebe alte Dame. Was hat sie sich Sträfliches zuschulden kommen lassen?« »Sie war es, die Grace Lane – oder wie sie heißen mag – den Job im Kirk-Gebäude besorgte.« Kirk wiederholte die Unterhaltung, die er mit Cuttle geführt hatte, und zeigte Chan den Brief. Charlie las Mrs. Dawson Kirks warme Empfehlung mit großem Interesse. Lächelnd reichte er den Brief zurück. »Großmutter wird jetzt Dame, der man auf Zahn fühlen muß. Schlage in aller Bescheidenheit vor, Sie setzen Miß Morrow auf ihre Spur.« Kirk lachte. »Das will ich gern tun. Das Feuerwerk, das daraus entsteht, wird sehenswert sein.« Er rief June an, und nachdem sie seine Geschichte gehört hatte, schlug sie vor, Mrs. Kirk für vierzehn Uhr in den Bungalow zu bitten.
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Barry ließ sich mit seiner Großmutter verbinden. »Hallo«, sagte er, »hier spricht dein Enkel. Hast du nicht erst heute morgen gesagt, du wärst gern in den Mordfall Bruce verwickelt?« »Nun, ich hätte nichts dagegen, wenn es auf eine nette Art wäre. Im Gegenteil, es würde mir Spaß machen.« »Dein Wunsch wird dir erfüllt. Die Polizei ist hinter dir her.« »Gnade! Was habe ich getan?« »Das verrate ich noch nicht. Außerdem kommst du vielleicht selbst darauf, wenn du über deine Sünden nachdenkst. Sei bitte Punkt vierzehn Uhr bei mir, Miß Morrow möchte dich vernehmen.« »Tatsächlich? Nun, ich furche mich nicht vor ihr.« »In Ordnung. Aber sei bitte pünktlich.« »Ich werde aber bald wieder gehen müssen, habe versprochen, zu einem Vortrag zu kommen…« »Den kannst du vergessen. Du kommst von hier erst fort, wenn das Gesetz mit dir fertig ist. Ich schlage vor, daß du dich darauf vorbereitest, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht sperrt man dich dann nicht ein.« »Du kannst mir keine Angst einjagen. Ich komme, aber nur aus Neugier, weil ich die junge Frau in Aktion sehen möchte. Ich bin ihr auf jeden Fall gewachsen.« »Da wäre ich nicht so sicher«, erwiderte Kirk. »Vergiß nicht, pünktlich um zwei.« Er legte auf und wartete ungeduldig auf die bevorstehende Auseinandersetzung. Viertel vor zwei traf June Morrow ein. »Das ist eine merkwürdige Wendung«, sagte sie, nachdem Kirk ihr den Mantel abgenommen hatte. »Ihre Großmutter kennt also Jennie Jerome Marie Lan-
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telme?« »Kennt sie?« rief Kirk. »Sie müssen eng befreundet sein.« Er gab ihr den Brief. »Lesen Sie das. Verbürgt sich in jeder Beziehung für sie. Gute alte Oma!« June Morrow lächelte. »Ich muß sie mit Samthandschuhen anfassen«, sagte sie. »Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie mit mir nicht einverstanden ist.« »Sie ist jetzt in einem Alter, in dem sie mit keinem Menschen mehr einverstanden ist«, antwortete Kirk. »Nicht einmal mit mir, einem guten und edlen Charakter, wie Sie selbst wissen. Und doch entdeckt sie Fehler an mir. Können Sie sich das vorstellen?« »Ausgeschlossen!« rief June. »Seien Sie nicht allzu nett zu ihr«, meinte Kirk. »Sie werden ihr viel besser gefallen, wenn Sie hart mit ihr umspringen. Es gibt Leute, die Freundlichkeit mit Schwäche verwechseln. Sie gehört dazu.« Charlie kam aus seinem Zimmer herüber. »Ah, Miß Morrow, wieder verbreiten Sie Glanz um sich. Gehe ich fehl in Annahme, daß Captain Flannery Eve Durand festgenommen hat?« »Wenn Sie das Liftmädchen meinen, gehen Sie völlig fehl. Es ist spurlos verschwunden. Glauben Sie immer noch, daß das Eve Durand war?« »War sie es nicht, ich muß in Sack und Asche gehen und darf Kopf nicht mehr hochtragen. Wäre nicht erstes Mal.« Mrs. Dawson Kirk trat ein. »Hier bin ich, auf die Sekunde pünktlich«, sagte sie. »Merkt euch das bitte.« »Hallo«, sagte Kirk. »Du erinnerst dich doch an Miß Morrow, nicht wahr, Großmutter?« »Ach ja, die Juristin. Guten Tag. Und Mr. Chan! Hören Sie, warum haben Sie diesen Fall nicht schon längst
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gelöst?« »Bißchen mehr Geduld.« Chan grinste. »Langsam wird Fährte warm. Auf Ihnen lastet Verdacht wie drohende Wolke.« »Das habe ich gehört«, sagte die alte Dame heftig. Sie wandte sich an June. »Nun, meine Liebe, Barry sagte, Sie wollten mich ins Kreuzverhör nehmen.« »Aber durchaus nicht.« June lächelte. »Ich möchte Ihnen nur ein paar höfliche Fragen stellen.« »Tatsächlich? Seien Sie nicht allzu höflich. Gegen allzu höfliche Leute bin ich immer mißtrauisch. Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte den armen Sir Frederic umgebracht?« »Nein, das nicht. Aber Sie haben einen Brief geschrieben…« »Durchaus möglich. Es ist meine Gewohnheit, indiskrete Briefe zu schreiben, und mit alten Gewohnheiten bricht man nicht so leicht. Ich schreibe aber immer ›bitte sofort verbrennen‹ darunter. Jemand hat sich nicht an meine Instruktion gehalten, wie?« June Morrow schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Sie haben sie in diesem Fall vergessen.« Sie reichte Mrs. Kirk den bewußten Brief. »Den haben Sie doch geschrieben, nicht wahr?« Mrs. Kirk überflog ihn rasch. »Gewiß habe ich ihn geschrieben. Was ist damit?« »Sind Sie mit dieser Grace Lane gut befreundet?« »In gewisser Weise – ja. Obwohl ich das Mädchen natürlich kaum kannte…« »Oho!« rief Barry. »Du hast dich in jeder Weise für diese Grace verbürgt und willst sie kaum gekannt haben?« »Halte du dich da raus, Barry«, riet ihm die alte Da-
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me. »Du bist kein Anwalt, hast nicht genug Verstand dazu.« »Dann kannten Sie Grace Lane also nur flüchtig, Mr. Kirk?« fuhr June fort. »Das sagte ich doch schon.« »Und doch haben Sie sie so warm empfohlen? Warum?« Mrs. Kirk zögerte. »Entschuldigen Sie, aber das ist meine Sache.« »Tut mir leid«, entgegnete June rasch, »Sie werden die Frage beantworten müssen. Lassen Sie sich bitte nicht davon täuschen, daß unser Gespräch in diesem Rahmen stattfindet. Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Ich komme vom Büro des Bezirksstaatsanwalts und leite die Untersuchung des Mordfalles. Die Angelegenheit ist sehr ernst.« Mrs. Kirks Augen blitzten. »Ich verstehe. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt ein paar Fragen stellen.« »Bitte. Und wenn Sie fertig sind, fahre ich fort.« »Was hat Grace Lane mit dem Mord an Sir Frederic Bruce zu tun?« »Das versuchen wir ja herauszufinden.« »Soll das heißen, sie hatte etwas damit zu tun?« »Wir glauben es. Und deshalb ist das Empfehlungsschreiben, das Sie ihr gegeben haben, nicht mehr Ihre Sache, Mrs. Kirk.« Die alte Dame saß steif wie ein Ladestock auf der Kante ihres Sessels. »Ich sage kein Wort mehr, ehe ich nicht weiß, wohin uns das alles führt«, sagte sie unnachgiebig. »Dich führt es jedenfalls ins Kittchen, wenn du nicht aufhörst, dich so eigensinnig zu benehmen«, sagte
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Kirk. »Wirklich? Nun, ich habe Freunde unter den Juristen, die mir helfen werden. Miß Morrow, ich will jetzt wissen, was Grace Lane mit Sir Frederic zu tun hatte.« »Das sage ich Ihnen gern, wenn Sie mir versprechen, es für sich zu behalten.« »Sie ist die indiskreteste Frau an der ganzen Westküste«, warnte Kirk. »Sei still, Barry! Wenn ich muß, kann ich auch schweigen. Miß Morrow?« »Als Sir Frederic hierherkam«, begann June, »war er auf der Suche nach einer Frau namens Eve Durand, die vor fünfzehn Jahren in Indien verschwand. Wir vermuten, daß Grace Lane diese Frau ist.« »Fragt sie doch. Warum fragt ihr sie nicht?« »Das würden wir gern, aber wir können es nicht. Sie ist nämlich schon wieder verschwunden.« »Was! Sie ist weg?« »Ja. Jetzt habe ich Ihre Fragen beantwortet und hoffe, Sie tun mir jetzt den gleichen Gefallen.« June Morrow wurde wieder sehr sachlich. »Zweifellos wurde Grace Lane von einem Dritten zu Ihnen gebracht – von jemand, dem Sie vertrauen. Wer war das?« Mrs. Kirk schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann es Ihnen nicht sagen.« »Sie sind sich über den Ernst Ihrer Weigerung natürlich im klaren?« »Ich – nun, ich – du meine Güte, in was hat man mich da hineingezogen? Eine respektable Frau wie mich…« »Genau«, sagte June Morrow streng. »Eine Frau, die in der ganzen Stadt hochgeachtet ist, eine Frau, die dafür bekannt ist, daß sie sich für den Fortschritt einsetzt –, ich muß sagen, Mrs. Kirk, ich bin überrascht,
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festzustellen, daß Sie die Gerechtigkeit daran hindern wollen, ihren Lauf zu nehmen. Und das nur deshalb, weil derjenige, der Grace Lane zu Ihnen gebracht hat, Sie jetzt darum bittet, die Angelegenheit geheimzuhalten…« »Das habe ich nicht behauptet.« »Aber es trifft zu, nicht wahr?« »Nun ja, es trifft zu. Und ich muß sagen, daß sie damit viel von mir verlangt…« »Sie? Dann haben Sie Grace Lane durch eine Frau kennengelernt?« »Was? Oh – o ja, selbstverständlich. Das gebe ich gern zu.« »Du hast es bereits zugegeben«, sagte Barry leise auflachend. »Sagen Sie bitte«, fuhr June Morrow fort, »haben Sie, bevor Sie hierherkamen, Mrs. Tupper-Brock gesagt, wohin Sie gehen?« »Aber natürlich.« »Haben Sie ihr auch gesagt, daß Sie hier von mir vernommen werden sollten?« »Ja.« »Und da hat sie Sie gebeten, nicht preiszugeben, daß sie es war, die Grace Lane zu Ihnen gebracht und Sie gebeten hat, dem Mädchen zu helfen?« Mrs. Kirk schwieg. »Sie brauchen nicht zu antworten.« Miß Morrow lächelte. »Tatsächlich haben Sie es nämlich schon getan. Ihr Gesicht hat Sie verraten.« Mrs. Kirk zuckte mit den Schultern. »Sie sind eine intelligente junge Frau«, beklagte sie sich. »Nachdem das erledigt ist, und ich weiß, daß Sie Grace Lane durch Mrs. Tupper-Brock kennenlernten, können Sie mir ruhig auch die näheren Umstände anver-
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trauen«, sagte June. »Wie lange ist das jetzt her?« Mrs. Kirk zögerte noch ein bißchen, gab dann jedoch nach. »Ein paar Monate«, sagte sie. »Helen brachte die junge Frau ins Haus. Sie erzählte mir, sie hätte sie auf der Fähre getroffen und seien alte Freundinnen, hätten sich schon vor vielen Jahren in Devonshire gekannt.« »In Devonshire! Fahren Sie bitte fort.« »Helen sagte auch, die junge Frau habe viel durchgemacht…« »Was?« »Ich habe nicht gefragt, ich bin nicht ganz taktlos. Außerdem sei sie völlig mittellos und brauche dringend Arbeit. Sie war ein so bescheidenes, hübsches Ding, und ich hatte sie sofort gern. Also habe ich ihr hier im Haus eine Stellung verschafft.« »Ohne vorher mit mir darüber zu sprechen«, sagte Kirk. »Warum sollte ich? Es mußte sofort gehandelt werden, und du warst, wie üblich, verreist.« »Und mehr wissen Sie über Grace Lane nicht?« fragte Miß Morrow. »Nein, mehr weiß ich nicht. Ich erkundigte mich nach ihr, erfuhr, daß sie ihre Sache ordentlich machte und sich anscheinend wohl fühlte. Als wir vorige Woche hier waren, brachte sie uns mit dem Lift hinauf. Sie bedankte sich ganz reizend bei mir. Ich finde es schade, daß man sie aus der Stadt vertrieben hat.« June lächelte. »Noch eine Frage. Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, daß Mrs. Tupper-Brock und Colonel Beetham eng miteinander befreundet sind?« »Ich glaube, sie gehen hin und wieder miteinander aus. Ich spioniere ihnen nicht nach.«
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»Das ist mir klar, Mrs. Kirk. Ich denke, das ist alles.« Die alte Dame stand auf. Sie wirkte ziemlich kleinlaut. »Danke. Jetzt komme ich doch noch rechtzeitig zu meinem Vortrag.« »Nur noch etwas«, setzte June Morrow hinzu, »ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Mrs. Tupper-Brock nicht sagten, worüber wir hier gesprochen haben.« »Ich – ich sagte es bestimmt keinem Menschen.« Mrs. Kirk lächelte grimmig. »Irgendwie scheine ich dabei keine so gute Figur gemacht zu haben, wie ich erwartet hatte.« Sie verabschiedete sich und verschwand in großer Eile. »Das war ein Volltreffer für Sie!« rief Kirk mit einem bewundernden Blick auf June. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe Ihnen schon heute vormittag gesagt, daß Mrs. TupperBrock lügt, habe jedoch nicht erwartet, es so bald bestätigt zu bekommen.« »Werden Sie sie noch einmal vorladen?« »Nein. Wozu soll ich mir noch mehr Lügen anhören? Grace Lane ist eine alte Freundin von Mrs. TupperBrock, und das bedeutet daß sie ihr wahrscheinlich aus ihrem neuen Versteck schreiben wird. Ich werde mich sofort mit der Postbehörde in Verbindung setzen, damit Mrs. Tupper-Brocks Post in Zukunft einen Umweg über meinen Schreibtisch macht, bevor sie ihr zugeleitet wird.« »Ausgezeichnet«, lobte Chan. »Haben klugen Kopf auf hübschen Schultern. Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich! Darf ich fragen, was guter Freund Flannery tut?« »Der Captain hat plötzlich eine große Zuneigung zu Miß Lila Barr entwickelt. Ich glaube, er hat sie für heute nachmittag um fünf in sein Büro bestellt, um ihr,
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wie er sagt ›auf den Zahn zu fühlen‹. Ich kann nicht dabei sein, aber wenn ich Sie wäre, würde ich mal vorbeischauen.« »Fürchte, werde vergeblich Ausschau halten nach rotem Teppich und Begrüßungsgirlande über Tür«, erwiderte Chan. »Werde aber so tun, als käme ich ganz zufällig vorbei.« »Ich hoffe, Ihre Großmutter nimmt mir diese Inquisition nicht übel«, wandte June sich an Barry Kirk. »Unsinn. Sie waren großartig, und sie ist begeistert von Ihnen. Das habe ich ihr angesehen, als sie hinausging.« Sie lächelte. »Ich nicht.« »Sie haben nicht genau hingesehen. Das ist Ihr Fehler. Sie müssen immer die Augen der Menschen beobachten, Sie werden darin viel mehr Anerkennung entdecken, als Sie vermuten.« »Tatsächlich? Aber leider habe ich dazu wohl zuviel zu tun, das muß ich den altmodischen Mädchen überlassen. Und jetzt muß ich laufen. Vielleicht gelingt es mir, Grace Lane für Captain Flanney zu finden. Irgend jemand muß es tun.« »Und das möchten gern Sie sein«, meinte Kirk. »Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder.« Er brachte sie hinaus. Um halb fünf betrat Charlie Chan das Polizeipräsidium und überraschte Captain Flannery in seinem Büro. Der Captain schien, was selten genug vorkam, guter Laune zu sein. »Wie geht’s, Sergeant?« fragte er. »Was gibt es Neues?« »Bei mir alles sieht alt und grau aus«, antwortete Chan. »Kommen nicht so schnell weiter, wie Sie erwartet
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haben, nicht wahr? Nun, das sollte Ihnen eine Lehre sein. Jeder Frosch sollte in seinem Teich bleiben. In einem Dorf wie Honolulu mögen Sie so etwas wie ein siebentes Weltwunder sein, aber hier bei uns kommen Sie doch nicht so ganz mit, da verlieren Sie ganz schön Boden unter den Füßen.« »Wie sehr recht Sie haben«, stimmte Chan ihm zu. »Bin oft so bestürzt, denke dann aber an Sie und weiß, Sie mich nicht fallen lassen. Hat freudiges Ereignis Sie in gute Laune versetzt?« »Und ob! Habe eben eine nette kleine Überraschung erlebt. Ich hatte nämlich die großartige Idee, durch eine Zeitungsanzeige nach den Samtpantoffeln zu suchen. Heute früh ist sie erschienen.« »Ach ja«, sagte Charlie grinsend, »Inspektor Duff hatte schon Vorahnung, daß Ihnen Idee sehr bald kommen wird.« »Tatsächlich? Eine Vorahnung, so so! Nun, ich nehme von Duff keine Vorschläge an. Ich wollte es schon vor ein paar Tagen tun, und dann ist es mir wieder entfallen. Duff hat mich wieder daran erinnert, das ist alles. Ich habe ein sehr vorsichtig abgefaßtes Inserat in die Zeitungen setzen lassen, und…« »Resultate zeichnen sich schon ab?« schloß Charlie. »Und ob!« sagte Flannery abermals und nahm einen in schmutziges Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand vom Schreibtisch. Die Schnur war schon aufgeknüpft, und Flannery schlug das Papier auseinander. Vor Chan lagen die roten Samtpantoffeln aus der chinesischen Botschaft, die Pantoffeln, die Hilary Galt in jener tragischen Nacht in London an den Füßen getragen hatte, die Pantoffeln, in denen Sir Frederic Bruce vor etwas mehr als einer Woche in den Tod gegangen
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war. »Was für ein Glück«, meinte Charlie. »Das kann man wohl sagen, nicht wahr? Ein Soldat von der Festung hat sie vor einer knappen Stunde gebracht. Er ist am letzten Mittwoch gegen Mittag mit der Fähre nach Oakland gefahren, um sein Mädchen zu besuchen. Auf dem Fährboot lag auf einer Bank dieses Päckchen, und er hat es mitgenommen, weil es offensichtlich herrenlos war. Selbstverständlich hätte er es abgeben müssen, aber er hat es nicht getan. Ich sagte ihm, das gehe von mir aus in Ordnung.« »Auf Fährboot nach Oakland«, wiederholte Chan. »Ja. Der Junge hat sich gefragt was er mit seinem Fund tun sollte, und war ganz glücklich, als ich ihm fünf Dollar in die Hand drückte.« Charlie drehte und wendete die Pantoffeln langsam in den Händen. Wieder interessierte ihn besonders das chinesische Schriftzeichen, das ein langes Leben und Glück versprach. Ein falsches Versprechen. Die Pantoffeln hatten weder Hilary Galt noch Sir Frederic Glück und ein langes Leben gebracht. »Wo«, sagte er nachdenklich, »stehen wir jetzt eigentlich?« »Nun, ich gebe gern zu, daß wir noch weit, weit von unserem Ziel entfernt sind«, antwortete Flannery. »Aber wir kommen weiter. Letzten Mittwoch, am Tag nach dem Mord, hat jemand diese Pantoffeln auf dem Fährboot nach Oakland liegengelassen. Absichtlich liegenlassen, wette ich. Er war bestimmt froh, sie los zu sein.« »Sie waren immer in selbem Papier verpackt?« fragte Charlie. »Ja, das ist das Papier, in dem der Junge sie gefunden
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hat. Eine Abendzeitung mit Datum vom vergangenen Mittwoch. Eine erste Ausgabe, die gegen zehn Uhr vormittag erscheint.« Chan breitete die Zeitung vor sich aus und begann sie gründlich zu studieren. »Sie haben bestimmt schon Zeile für Zeile gelesen«, sagte er zu Flannery. »Nun – hatte leider noch keine Zeit.« »Keine augenfällige Nachricht«, meinte Chan. »Außer – ah ja – hier auf dem Rand von erster Seite! Ein paar Zahlen, mit Bleistift achtlos hingekritzelt. Papier ist an der Stelle zerrissen, und sie sind fast völlig verwischt.« Flannery kam näher, und Charlie zeigte ihm die Stelle, an der offensichtlich eine kleine Zahlenkolonne addiert worden war. $ 79 103 »Hundertdrei«, sagte Flannery. »Das ist doch falsch. Neunundsiebzig und dreiundzwanzig sind nicht hundertdrei.« »Dann wir müssen suchen nach schlechtem Rechner«, antwortete Chan. »Wenn Sie nicht Einwand haben, ich notiere mir Zahlen.« »Notieren Sie nur, das ist Futter für Ihr großes Gehirn. Aber vergessen Sie nicht, ich habe dafür gesorgt, daß die Pantoffeln aufgetaucht sind.« »Und Zeitung«, setzte Charlie hinzu. »War allerbeste Leistung von Captain bisher.« Die Tür ging auf, und ein uniformierter Beamter kam herein. »Die Frau is’ jetz’ da, Captain«, meldete er. »Sie hat ihren Freund dabei. Soll ich die beiden rein-
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holen?« »Selbstverständlich«, sagte Flannery. »Es ist Miß Lila Barr«, erklärte er Chan. »Ich fing an, über sie nachzudenken, und da kam mir einiges nicht ganz astrein vor. Ich werde noch einmal mit ihr reden. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.« »Bin von großer Höflichkeit überwältigt«, sagte Chan. Schüchtern kam Lila Barr herein und hinter ihr Kinsey, Barry Kirks Sekretär. Das Mädchen schien niedergeschlagen und verwirrt. »Sie wollten mich sprechen, Captain Flannery?« »Ja, kommen Sie näher, setzen Sie sich.« Er sah zu Kinsey hinüber. »Wer ist das?« »Mr. Kinsey – ein Freund«, erklärte sie. »Ich dachte, Sie haben bestimmt nichts dagegen…« »Ihr Freund, wie?« »Nun ja – schon – glaube ich.« »Der junge Mann, der schuld daran war, daß Sie weinten, als Sie Dienstag abend aus dem Büro kamen, in dem Sie Sir Frederic gesehen hatten?« »Ja.« »Ich freue mich, ihn kennenzulernen, und ich freue mich, den lebenden Beweis dafür vor mir zu sehen, daß Sie überhaupt einen Freund haben. Trotzdem klingt mir Ihre ganze Geschichte noch immer oberfaul.« »Dafür kann ich nichts«, antwortete Lila Barr energisch. »Es ist jedenfalls die Wahrheit.« »Na schön. Lassen wir’s. Ich möchte mit Ihnen über den nächsten Abend sprechen. Den Abend, an dem Sir Frederic ermordet wurde. Sie haben an diesem Abend in Ihrem Büro gearbeitet?« »Ja, Sir. Allerdings muß ich schon weg gewesen sein,
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als – als es geschah.« »Wieso wissen Sie, daß Sie gegangen sind, bevor es geschah?« »Ich weiß es nicht. Ich vermute es nur…« »Behalten Sie Ihre Vermutungen für sich!« fauchte Flannery. »Sie hat einen guten Grund zu glauben, daß sie vor dem Mord gegangen ist«, warf Kinsey ein. »Sie hat keinen Schuß gehört.« Flannery fuhr zu ihm herum. »Wenn ich von Ihnen eine Antwort hören möchte, werde ich Ihnen auch die Frage stellen!« knurrte er und wandte sich dann wieder an das Mädchen. »Sie haben keinen Schuß gehört?« »Nein, Sir.« »Und Sie haben niemand auf dem Flur oder in der Halle gesehen, als Sie nach Hause gingen?« »Nun, ich – ich…« »Ja? Heraus damit!« »Ich möchte meine Aussage in diesem Punkt berichtigen.« »Oh, tatsächlich! Also?« »Ja. Ich habe mit Mr. Kinsey darüber gesprochen, und er meinte, es sei von mir nicht richtig gewesen zu sagen – nun ja, was ich eben sagte.« »Es sei von Ihnen nicht richtig gewesen zu lügen, meinen Sie?« »Aber ich wollte nicht in die Sache verwickelt werden«, sagte das Mädchen flehend. »Ich sah mich schon vor Gericht im Zeugenstand, und ich dachte nicht – ich hatte das Gefühl, ich könnte nicht…« »Sie könnten uns nicht helfen? Junge Frau, das ist eine sehr ernste Sache. Ich könnte Sie einsperren…«
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»Aber wenn ich meine Aussage ändere? Wenn ich Ihnen jetzt die Wahrheit sage?« »Wir werden sehen. Aber sorgen Sie dafür, daß es diesmal die Wahrheit ist. Es war also jemand im Flur?« »Ja. Ich wollte das Büro verlassen und hatte schon die Tür geöffnet, als ich mich an meinen Regenschirm erinnerte. Also ging ich zurück. Aber in dem Moment, als ich an der Tür stand, sah ich in der Nähe der Lifts zwei Männer stehen.« »Sie haben zwei Männer gesehen? Können Sie sie beschreiben?« »Einer – einer war ein Chinese.« Flannery war verblüfft. »Ein Chinese? Sagen Sie, Sie meinen doch nicht etwa Mr. Chan hier?« Charlie lächelte. »O nein, nein!« protestierte das Mädchen. »Er war älter, und er redete mit einem hochgewachsenen, mageren Mann. Mit einem Mann, von dem ein Foto in der Zeitung war.« »Ach! Und haben Sie dieses Zeitungsfoto gesehen? Wie heißt der Mann?« »Captain John Beetham, und er ist – Forscher, glaube ich.« Flannery stand auf und ging im Zimmer hin und her. »Sie haben Beetham kurz vor dem Mord im Flur gesehen, wo er sich mit einem Chinesen unterhielt, und dann sind Sie Ihren Regenschirm holen gegangen?« »Ja. Und als ich wieder herauskam, waren die beiden nicht mehr da.« »Sonst noch etwas?« »Nein, ich denke nicht.« »Denken Sie nach. Sie haben schon einmal mit der Wahrheit jongliert.«
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»Sie stand nicht unter Eid«, verteidigte Kinsey seine Freundin. »Na und? Sie hat uns trotzdem in unseren Ermittlungen behindert, und das ist nicht zum Lachen. Ich will aber großzügig sein und es vergessen, weil sie ihre Aussage jetzt berichtigt hat. Sie können gehen. Aber vielleicht brauche ich Sie noch einmal.« Das Mädchen und Kinsey verließen das Büro, und Flannery setzte sein rastloses Hin und Her in Hochstimmung fort. »Endlich sehe ich Land!« rief er. »Beetham! Ich habe ihm bisher nicht allzuviel Aufmerksamkeit gezollt, aber die verlorene Zeit werde ich von jetzt an wettmachen. Beetham unterhielt sich ein paar Minuten vor dem Mord mit einem Chinesen auf dem Flur. Und sollte um diese Zeit doch oben sein und seinen Film vorführen. Ein Chinese – haben Sie’s kapiert? Diese Pantoffeln stammen aus der chinesischen Botschaft. Himmel, endlich kommen wir ein bißchen weiter.« »Gehe ich richtig in Annahme«, sagte Chan, »daß Sie jetzt Absicht haben…« »Ich habe jetzt die Absicht, Colonel Beetham auf den Zahn zu fühlen. Er hat Miß Morros gesagt, er habe den Bungalow nicht verlassen. Ein weiterer Lügner – und diesmal ein hochgeachteter und sehr vornehmer.« »Bescheidene Bitte um Vergebung«, meinte Chan. »Beetham sehr kluger Mann. Beachten bitte, daß er Sie nicht überlistet.« »Ich fürchte mich nicht vor ihm. Mich kann er nicht zum Narren halten, dazu spiele ich dieses Spiel schon viel zu lange.« »Wunderbares Selbstvertrauen.« Charlie lächelte. »Hoffen wir, daß es sich am Ende als gerechtfertigt
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erweist.« »Das wird es, nur keine Sorge. Überlassen Sie Colonel Beetham nur mir.« »Mit allergrößtem Vergnügen«, war Charlie einverstanden. »Wenn Sie auch mir kleinen Gefallen tun.« »Und welchen?« fragte Flannery. »Ich spreche von kleinen Zahlen auf Zeitungsrand.« »Falsche Rechnung«, sagte Flannery verächtlich, »und eine armselige Spur.« »Das wird Zeit zeigen«, meinte Chan sanft.
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17. Kapitel
Die Frau von Peshawar Am nächsten Morgen um zehn klingelte das Telefon, und als Barry Kirk sich meldete, begrüßte ihn eine Stimme, die er mit größtem Vergnügen hörte. »Guten Morgen«, sagte er. »Wie schön, daß Sie sich bei mir melden! Das nenne ich einen guten Tagesanfang.« »Besten Dank«, erwiderte June Morrow. »Und nun, da Ihr Tag so glückverheißend begonnen hat, hätten Sie vielleicht nichts dagegen, sich zurückzuziehen und Mr. Chan ans Telefon zu lassen?« »Was – Sie wollen gar nicht mit mir sprechen?« »Tut mir leid, nein. Ich habe heute eine Menge zu tun.« »Nun, ich kapiere einen Wink genausoschnell wie jeder andere und weiß, wann ich unerwünscht bin. Das wollten Sie mir doch zu verstehen geben, nicht wahr?« »Bitte, Mr. Kirk…« »Hier ist Charlie. Ich bin nicht böse, aber ich bin verletzt, tief verletzt…« Er reichte Chan den Hörer. »Oh, Mr. Chan«, sagte die junge Staatsanwältin, »Captain Flannery hat für elf Uhr Colonel Beetham vorgeladen und mich gebeten, anwesend zu sein, um den Colonel an seine Aussage vom Mordabend zu erinnern. Ich bin der Meinung, daß Sie auch kommen sollten.« »Captain will, daß ich auch dabei bin?« fragte Chan. »Ich will es. Genügt Ihnen das nicht?« »Mehr als genug für mich, große Ehre«, erwiderte Charlie. »Werde pünktlich erscheinen. In Flannerys Büro, nehme ich an?«
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»Ja, lassen Sie mich nicht im Stich«, sagte June Morrow und legte auf. »Tut sich was?« fragte Kirk. Chan zuckte mit den Schultern. »Captain Flannery hat jetzt auf Colonel Beetham abgesehen. Will Colonel um elf Uhr verhören, und ich bin eingeladen.« »Wie steht es mit mir?« »Empfinde größtes Bedauern, aber Sie wurden nicht erwähnt.« »Dann kann ich kaum mitgehen«, sagte Kirk. Kurz vor elf Uhr brach Charlie zum Polizeipräsidium auf. In Flannerys düsterem Büro fand er June Morrow vor, die der dunklen Ecke, in der sie saß, ein wenig Glanz verlieh. »Guten Tag«, sagte sie. »Der Captain führt Inspektor Duff im Gebäude herum. Ich freue mich, daß Sie hier sind. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß der Captain heute etwas gegen mich hat.« »Festlandpolizei hat immer wieder dumme Launen und Anfälle von Nervosität«, teilte Chan ihr mit. Von Inspektor Duff gefolgt, kam Flannery herein. Eine volle Minute stand er da und starrte Charlie und June Morrow finster an. »Sie beide sind ja ein feines Paar!« brüllte er dann. »Was steckt da eigentlich dahinter?« »Wo soll etwas dahinterstecken, Captain?« fragte June überfreundlich. »Dahinter, daß Sie beide mich völlig im Dunklen tappen lassen«, fuhr Flannery fort. »Was glauben Sie denn, wen Sie vor sich haben? Einen Gedankenleser? Ich habe mich eben mit Inspektor Duff über Colonel Beetham unterhalten, und was mußte ich erfahren? Daß Sie beide viel mehr über den Colonel wissen, als
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Sie mir gesagt haben.« »Verstehen Sie bitte, ich habe nicht geklatscht«, warf Duff lächelnd ein. »Ich habe die Dinge nur erwähnt, weil ich glaubte, sie seien dem Captain bekannt.« »Selbstverständlich dachten Sie, daß ich Bescheid weiß!« explodierte Flannery. »Warum auch nicht? Schließlich leite ich diese Untersuchung, oder? Aber Sie beide haben die ganze Zeit Informationen ausgegraben und schön für sich behalten. Ich bin ganz schön wütend, das sage ich Ihnen…« »Es tut mir schrecklich leid«, sagte June Morrow. »Das hilft mir viel. Was höre ich da von einem Diener des Colonels, einem gewissen Li Gung? Wollen Sie jetzt reden, Sergeant Chan, oder weiterhin mit mir Blinde Kuh spielen?« »Ich bin schuld«, sagte June, »ich hätte es Ihnen sagen sollen. Mr. Chan muß natürlich gedacht haben, ich hätte es getan.« »O nein!« protestierte Chan. »Wälzen freundlicherweise alle Schuld von schönen Schultern auf meine breiten. Ich habe Fehler gemacht. Es stimmt, habe über gewisse Fakten stillschweigend nachgedacht, weil ich gehofft habe, daß große Erleuchtung kommt…« »Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn Flannery. »Aber werden Sie jetzt reden? Nur das will ich wissen. Wann haben Sie zum erstenmal von Li Gung gehört?« »An Tag von Mord an Sir Frederic, ich habe sehr große Ehre, mit ihm zu lunchen. Nach Lunch er nimmt mich zur Seite und spricht mit mir über Li Gung, einen Fremden zu Besuch bei Verwandten in Jackson Street. Sir Frederic bittet mich, heimliche Erkundigungen über diesen Mann einzuziehen, sehe mich aber leider gezwungen, abzulehnen. An Vormittag nach Mord ich bin
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in Kabine an Bord von ›Maui‹ und bilde mir törichterweise ein, ich reise nach Honolulu, da höre ich, wie sich in Nachbarkabine Colonel Beetham von Mann mit Namen Li Gung verabschiedet. Colonel ordnet an, daß Li Gung sich in Honolulu versteckthalten und keine Fragen beantworten soll.« »Und das war alles so unwichtig, daß ich es nie erfahren habe!« tobte Captain Flannery. »Und wie steht es mit der Tatsache, daß Colonel Beetham bei dem Picknick in Peshawar dabei war?« »Das haben wir erst Dienstag abend erfahren«, antwortete June Morrow. »Ach ja, ach ja, und seither hatten Sie ja nur sechsunddreißig Stunden Zeit, es mir zu sagen, wie? Am 4. Mai 1913 verließ Colonel Beetham Peshawar über den – eh – den Khaiberpaß, um nach – um die Reise nach…« »Teheran über Afghanistan und die Wüste Kevir im Norden Persiens«, half ihm Duff. »Ja. Der Inspektor hat es mir gesagt, Sergeant. Sie nicht.« Charlie zuckte mit den Schultern. »Warum Sie damit belasten? Umstand scheint ganz unwichtig zu sein. Zwar habe ich Vermutung – sehr romantische Vermutung. Aber ich sehe Sie, Captain, beschäftigt mit ernstem Mordfall. Soll ich einen solchen Mann behelligen mit Liebesgeschichte?« »Mir ist zwar nicht klar, was das heißen soll«, erwiderte Flannery, »aber wenn ich mir nicht diese Lila Barr hergeholt hätte, würde ich immer noch im Dunklen tappen. Ich war zu schlau für Sie, ich bin Beetham selbst auf die Spur gekommen. Aber das ist keine Entschuldigung. Sie beide haben mich sehr enttäuscht.«
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»Überwältigt von tiefem Bedauern.« Chan verneigte sich. »Ach, vergessen Sie’s.« Ein uniformierter Beamter führte Colonel Beetham herein. Der Colonel hatte einen guten Schneider, dem es offenbar Freude machte, für den drahtigen, schlanken Mann zu arbeiten. Er war makellos gekleidet, mit einer Blume im Knopfloch, einen Stock in der behandschuhten Linken. Einen Augenblick blieb er stehen, und die müden Augen, die so viele einsame Erdenwinkel gesehen hatten, blickten ungewöhnlich wach und lebhaft. »Guten Tag«, sagte er. Er verneigte sich vor June Morrow und Chan. »Und das ist Captain Flannery, wie ich vermute.« »Guten Tag«, entgegnete Flannery. »Darf ich Sie mit Inspektor Duff von Scotland Yard bekannt machen?« »Sehr erfreut«, sagte Beetham. »Ich bin glücklich, einen Mann vom Yard hier zu sehen. Zweifellos wird die Suche nach Sir Frederics Moder jetzt intensiver betrieben werden.« »Wir werden schon Fortschritte machen, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten – und die Wahrheit sagen«, konterte Flannery grollend. Der Colonel zog leicht die Brauen hoch. »Die Wahrheit, natürlich«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich will mein Bestes tun. Darf ich mich setzen.« »Selbstverständlich«, sagte Flannery und zeigte auf einen staubigen Stuhl. »An dem Abend, an dem Sir Frederic ermordet wurde, haben Sie einen Stock höher in Mr. Kirks Wohnzimmer mit der Laterna Magica Bilder gezeigt…« »Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Es waren Filme über Tibet…«
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»Ja, ja. Sie haben einen Vortrag gehalten und diese Bilder gezeigt, aber gegen Ende sind Sie hinausgegangen und haben den Apparat allein laufen lassen. Später fragte Miß Morrow Sie… Was haben Sie ihn gefragt, Miß Morrow?« »Mich interessierte die Zeit, während der er nicht am Projektor gestanden hat«, meinte die Staatsanwältin. »Er versicherte mir, daß er auch während dieser paar Minuten das Zimmer nicht verlassen hatte.« Der Captain sah Beetham an. »Trifft das zu, Colonel?« »Ja, ich glaube, das habe ich gesagt.« »Warum?« »Warum? Was meinen Sie damit?« »Warum haben Sie es gesagt, obwohl Sie doch verdammt genau wußten, daß Sie in diesen Minuten im zwanzigsten Stockwerk waren und mit einem Chinesen sprachen?« Beetham lachte leise. »Haben Sie nie etwas getan, das Sie später bedauerten, Captain? Mir schien die Sache nicht wichtig genug, mein kurzer Abstecher nach unten war absolut bedeutungslos. Ich hatte so etwas wie eine angeborene Scheu davor, in diesen Skandal verwickelt zu werden. Also habe ich dummerweise eine – eine leicht von der Wahrheit abweichende Aussage gemacht.« »Dann sind Sie also in das zwanzigste Stockwerk hinuntergegangen?« »Nur für eine Sekunde, ja. Sehen Sie, ein Filmprojektor und sieben Filmrollen sind eine ziemlich schwere Last. Mein alter Boy Li Gung hatte mir beim Transport geholfen. Ich dachte, ich würde um zehn fertig sein und sagte ihm, er solle mich um diese Zeit abholen. Aber Viertel nach zehn hatte ich noch immer eine
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Filmrolle übrig. Ich lief hinunter, wo Gung schon auf mich wartete, und sagte ihm, er könne nach Hause gehen, ich würde die Sachen allein nach Hause transportieren.« »Ach ja. Und er ging tatsächlich?« »Sofort. Er fuhr mit dem Lift nach unten, die Liftführerin kann das bestätigen, falls…« »Falls was?« »Falls sie sich überhaupt noch daran erinnert.« »Sie wollten sagen – falls es uns gelingt, sie zu finden.« »Warum sollte ich das sagen? Ist sie denn nicht mehr da?« »Das ist sie nicht. Vielleicht kann Li Gung inzwischen Ihre Geschichte bestätigen.« »Das kann er bestimmt, wenn Sie ihm ein Kabel schicken wollen. Er ist im Augenblick in Honolulu.« »Er ist am nächsten Tag mit der ›Maui‹ ausgelaufen?« »Ja.« »Sie haben ihn an Bord gebracht?« »Aber selbstverständlich. Er ist jetzt seit zwanzig Jahren bei mir und treu wie Gold.« »Als Sie sich von ihm verabschiedeten, sagten Sie, er solle sich drüben in Hawaii verstecken?« »Ja, ich – ja, das stimmt. Stehen Sie, es gab da gewisse Schwierigkeiten mit seinem Paß, und ich war deshalb ein bißchen in Sorge.« »Sie sagten ihm, er solle keine Fragen beantworten.« »Aus demselben Grund, natürlich.« »Sie wußten doch, daß er seinen Paß bei der Landung vorzeigen mußte. Dachten Sie denn, es würde Li Gung etwas nützen, sich hinterher zu verstecken, wenn sein Paß nicht in Ordnung war?«
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»Wie – er muß in einem anderen amerikanischen Hafen seinen Paß vorzeigen? Also wirklich, ich habe von Ihren unzähligen Vorschriften und Gesetzen keine Ahnung. Ich finde sie nur äußerst verwirrend.« »Das ist verständlich bei einem Mann, der so wenig gereist ist wie Sie, Colonel.« »Natürlich, jetzt werden Sie ironisch.« »Ach, hören Sie doch gar nicht auf mich«, sagte Flannery. »Lassen wir das Thema Li Gung. Aber ich bin noch nicht fertig. Soviel ich weiß, waren Sie am Abend des 13. Mai 1913 in Peshawar.« Beetham nickte bedächtig. »Das ist bekannt.« »Und kann nicht gut abgeleugnet werden, wie? Sie nahmen an einem Picknick in den Hügeln teil. Zur Picknickgesellschaft gehörte eine gewisse Eve Durand.« Beetham rutschte leicht auf seinem Stuhl hin und her. »An diesem Abend verschwand Eve Durand und wurde seither nie wieder gesehen. Haben Sie eine Ahnung, wie sie aus Indien herausgekommen ist?« »Wenn sie seit jenem Abend nie wieder gesehen wurde, können Sie doch nicht wissen, daß sie Indien verlassen hat.« »Lassen Sie das. Die Fragen stelle ich. Sie erinnern sich an den Zwischenfall?« »Selbstverständlich. Eine schreckliche Sache.« Flannery musterte ihn einen Augenblick forschend. »Sagen Sie, Colonel, sind Sie Sir Frederic schon einmal vor jenem Abend bei Mr. Kirk begegnet?« »Nie. Nein, Halt! Ich glaube, er sagte, er sei bei einem Dinner der Königlichen Geographischen Gesellschaft in London gewesen und habe mich dort gesehen. Doch ich erinnerte mich nicht an diese Begegnung.« »Sie wußten nicht, daß er nach San Francisco gekom-
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men war, um Eve Durand zu finden?« »Ist das wahr? Wie ungewöhnlich!« »Sie wußten es nicht?« »Natürlich nicht.« »Und hätten Sie ihm irgendwie helfen können, wenn Sie es gewußt hätten?« »Das hätte ich nicht«, antwortete Beetham fest. »Nun gut, Colonel. Sie denken nicht etwa daran, San Francisco bald zu verlassen?« »Doch, in wenigen Tagen, sobald ich die Vorbereitungen für meine nächste Expedition abgeschlossen habe.« »Sie verlassen die Stadt nicht, solange wir den Mörder von Sir Frederic noch nicht gefunden haben. Ist das klar?« »Aber, mein lieber Mann, Sie glauben doch nicht etwa…« »Ich denke, daß sich Ihre Aussagen als sehr wertvoll erweisen könnten. Ich ersuche Sie – ist das klar?« »Völlig. Dann kann ich nur hoffen, daß Sie bald Erfolg haben.« »Das hoffen wir alle.« »Selbstverständlich.« Beetham wandte sich an Inspektor Duff. »Eine schreckliche Sache. Sir Frederic war ein so reizender Mensch…« »Und sehr beliebt«, sagte Duff ruhig. »Sorgen Sie sich bitte nicht. Alles erdenklich Mögliche wird getan, Colonel Beetham.« »Ich freue mich sehr, das zu hören.« Beetham erhob sich. »Nun, wenn das alles war…« »Für den Moment ja«, sagte Flannery. »Besten Dank«, erwiderte der Colonel und verließ unbeschwert Flannerys Büro.
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Flannery sah ihm starr nach. »Er lügt wie ein Gentleman, nicht wahr?« sagte er. »Das tut er, bei Gott!« June Morrow seufzte, und ihr Blick ruhte nachdenklich auf der Tür, durch die der Forscher verschwunden war. »Nun, mich hält er nicht zum Narren«, fuhr Flannery fort. »Er weiß viel mehr über die Sache, als er sagt. Wenn er nicht gerade der berühmte Colonel Beetham wäre, würde ich ihn für ein paar Stunden einsperren.« »Aber das können Sie doch nicht tun!« rief June. »Leider nicht. Die Club-Damen aus ganz San Francisco und Umgebung würden mir den Kopf abreißen. Aber ich brauche es auch gar nicht zu tun. Er ist zu bekannt, um einen Fluchtversuch zu wagen. Ich werde ihn aber trotzdem beobachten lassen. Und jetzt an die Arbeit. Wenn nur dieser Li Gung hier wäre, würde ich schon was aus ihm herausholen. Was hat Sir Frederic Ihnen über die Verwandten von Li Gung in der Jackson Street gesagt, Sergeant? Vielleicht geh’ ich mal hin.« »Sinnlos«, antwortete Chan. »War bereits dort.« »Ach, wirklich? Und natürlich, ohne mir etwas zu sagen.« »Worte sind nutzlos. Habe kläglich versagt. Gelangte zwar in Wohnung, aber Plan wurde durchkreuzt durch übereifrigen Pfadfinder.« »Es gibt also einen Pfadfinder in der Familie, wie?« »Ja, mit Namen Willie Li. Es ist Familie Henry Li, Oriental Apartment House.« Flannery überlegte. »Nun, die junge Generation wird bestimmt gesprächiger sein als die ältere. Man sollte Willie eine Chance geben.« »Er hatte sie. Erzählt mir wenig –, außer daß einmal bei sehr schwieriger Expedition Colonel Beetham einen
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Mann tötet.« »Das hat er Ihnen erzählt? Dann weiß er einiges über Beethams Reisen?« »Ganz ohne Zweifel. Er hat Gespräche gehört…« Flannery sprang auf. »Das genügt mir. Manley von der Abteilung in Chinatown soll mir den Jungen heute abend herbringen. Diese Chinesenkinder sind alle ganz verrückt nach Manley. Wir erfahren bestimmt etwas.« Das Telefon klingelte. Flannery nahm ab und gab dann den Hörer an June Morrow weiter. Während sie ihrem Gesprächspartner aufmerksam zuhörte, begannen ihre Augen vor Erregung zu funkeln. Endlich legte sie auf und wandte sich den anderen zu. »Das war der Bezirksstaatsanwalt«, verkündete sie. »Wir haben einen Brief an Mrs. Tupper-Brock abgefangen, der in Santa Barbara aufgegeben wurde. Der Brief stammt von Grace Lane und enthält ihre derzeitige Adresse.« »Ausgezeichnete Arbeit!« rief Flannery. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie mir nicht entkommt. Ich schicke sofort einen Streifenwagen mit zwei von meinen Leuten hin.« Er sah June Morrow an. »Sie können sich die Adresse in Ihrem Büro abholen?« Sie nickte. »Ich fahre sofort zurück und gebe Sie ihnen.« Flannery rieb sich die Hände. »Endlich tut sich etwas! Also nächstes ist der Junge an der Reihe –, sagen wir heute abend um sieben. Sergeant, ich erwarte Sie ebenfalls, vielleicht brauche ich Ihre Hilfe. Sie können auch vorbeikommen, wenn Sie wollen, Inspektor.« »Besten Dank«, sagte Duff. »Und was ist mit mir?« fragte June. Er sah sie stirnrunzelnd an. »Mit Ihnen bin ich nicht
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sehr zufrieden. Diese ganzen Geheimnisse…« »Aber wenn’s mir doch so leid tut.« Sie lächelte ihm zu. »Und ich habe Ihnen doch auch ein kleines bißchen dabei geholfen, Grace Lane zu finden, nicht wahr?« »Na ja, das stimmt wohl«, gab er widerwillig zu. »Klar, kommen Sie nur, wenn Sie wollen.« Sie trennten sich, und Charlie Chan ging in den Bungalow zurück, wo Barry Kirk schon ungeduldig auf Neuigkeiten wartete. Als er von den Plänen für den Abend erfuhr, bestand er darauf, June Morrow und Chan zum Abendessen einzuladen. Um halb sieben verließen sie das versteckte kleine Restaurant, das sie ausgesucht hatten, weil der Küchenchef ein wahrer Zauberer war, und schlenderten gemütlich zum Polizeipräsidium. Der Abend war klar und kühl, und die Sterne leuchteten so hell wie Fackeln. Sie gingen am Rand von Chinatown entlang und weiter zum Portsmouth Square, dem Platz voll vergangener Romantik. Stadtstreicher und menschliches Strandgut, die tagsüber hier herumlungerten, hatten sich jetzt in ihren Schlaflöchern verkrochen, der Platz war leer. Flannery und Fuff waren schon vor June, Charlie Chan und Barry Kirk eingetroffen. »Da wären wir ja wieder mal alle beisammen«, sagte der Captain mit einem mißmutigen Blick in Kirks Richtung. »Ich dachte, Sie haben bestimmt nichts dagegen«, sagte Kirk lächelnd und ungerührt. »Ach, schon gut. Es ist ohnehin zu spät, Sie auszuschließen.« Flannery wandte sich an June Morrow. »Sie haben mit Petersen gesprochen, nicht wahr?« »Ja, ich habe ihm die Adresse gegeben.« »Er hatte Meyers bei sich. Beides sehr tüchtige Beam-
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te. Sie sind bis heute abend in Santa Barbara und fahren morgen früh bei Sonnenaufgang dort wieder ab. Wenn alles glattgeht, sind sie morgen am Spätnachmittag mit Grace Lane hier. Und wenn sie mir noch einmal ausreißt, kann sie was erleben.« Sie setzten sich; Bald darauf trat ein riesiger Polizeibeamter in Zivil ein. Er war freundlich und lächelte gutmütig, hatte jedoch den wachen Blick eines Mannes, der auf alle möglichen Überraschungen vorbereitet ist. Flannery stellte ihn vor. »Sergeant Manley«, sagte er, »Chef der Abteilung in Chinatown seit sieben Jahren – so lange hat noch keiner seiner Vorgänger überlebt.« »Sehr erfreut.« Manley gab sich verbindlich, verneigte sich vor June Morrow und wandte sich dann an Flannery. »Der Junge ist draußen. Ich habe ihn auf der Straße getroffen und gleich mitgenommen, damit er nicht nach Hause laufen kann, um sich Verhaltensmaßregeln geben zu lassen.« »Das war eine gute Idee.« Flannery nickte. »Wird er reden?« »Aber selbstverständlich! Wir sind alte Freunde, er und ich. Ich hole ihn jetzt herein.« Er verschwand im Vorzimmer und kam gleich darauf mit Willie Li zurück. Der Junge trug diesmal nicht seine Pfadfinderuniform, sah aber so aus, als hätte er sie zu seiner moralischen Unterstützung gebraucht. »Also, Willie«, sagte Manley, »das ist Captain Flannery. Er wird dich um einen großen Gefallen bitten.« »Den will ich ihm gern tun, wenn ich kann«, antwortete der Junge strahlend. »Alle Pfadfinder«, fuhr Manley fort, »sind amerikanische Staatsbürger und vertreten Recht und Ordnung.
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Das stimmt, nicht wahr, Willie?« »Wir haben es geschworen«, sagte Willie ernst. »Ich habe ihm erklärt«, sagte Manley, »daß es nicht um seine Familie geht und daß er frei von der Leber weg sprechen kann, ohne irgendeinem ehrenwerten Verwandten zu schaden.« »Das stimmt«, sagte Flannery. »Darauf gebe ich dir mein Wort, Sohn.« »In Ordnung«, entgegnete Willie. »Dein Cousin Li Gung ist seit vielen Jahren Diener bei Colonel Beetham. Hat er mit dem Colonel die ganze Welt bereist?« Willie nickte. »Er war in der Wüste Gobi, in der Wüste Kevir, in Tibet, Indien, Afghanistan…« »Hat Li Gung manchmal von den Abenteuern berichtet, die er mit dem Colonel erlebt hat?« »Ja. Oft sogar.« »Erinnerst du dich noch an das, was er erzählt hat?« »So etwas vergißt man nie«, antwortete Willie, und seine kleinen schwarzen Augen glänzten. »Du hast deinem Freund Mr. Chan gesagt, daß der Colonel einmal aus irgendeinem Grund einen Mann erschossen hat?« Der Junge kniff die Augen zusammen. »Es mußte sein. Es war kein Verbrechen.« »Selbstverständlich – selbstverständlich mußte es sein«, stimmt Flannery nachdrücklich zu. »Wir tun dem Colonel deshalb ganz bestimmt nichts. Außerdem sind wir für die Dinge, die außerhalb von San Francisco passieren, gar nicht zuständig. Wir sind nur neugierig, das ist alles. Weißt du noch, auf welcher Reise der Colonel den Mann erschoß?« »Klar. Es war die Reise von Peshawar über den Khai-
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berpaß nach Afghanistan.« »Und es passierte in Afghanistan?« »Ja. der Mann war sehr böse. Muhamed Ashref Khan, der für die Kamele verantwortlich war. Er wollte…« »Er wollte was?« »Eine Perlenkette stehlen. Colonel Beetham sah, daß er das Zelt betrat – das Zelt, das kein Mann betreten durfte, weil er sonst sein Leben verwirkt hatte.« »Was für ein Zelt war denn das?« »Das Zelt der Frau.« Es folgte ein Augenblick angespannten Schweigens, dann sagte Flannery: »Das Zelt der Frau? Was für einer Frau?« »Der Frau, die mit Colonel Beetham nach Teheran reiste. Der Frau aus Peshawar.« »Hat dein Cousin euch die Frau beschrieben?« »Sie war wunderschön, mit goldenem Haar und Augen, die so blau waren wie der Himmel. Sehr, sehr schön, hat mein Cousin gesagt.« »Und sie reiste mit der Karawane von Peshawar nach Teheran?« »Ja. Aber nur Li Gung und der Colonel wußten davon, als sie den Paß überquerten, sie war in einem Karren versteckt. Dann kam sie heraus und bekam ihr eigenes Zelt. Der Colonel sagte den Männern, daß er jeden, der das Zelt betrat, töten würde.« »Aber dieser Kamel-Aufseher hat nicht gehorcht? Und wurde deshalb erschossen?« »Das war nur gerecht«, sagte Willie Li. »Selbstverständlich«, pflichtete Flannery ihm bei. »Also, mein Junge, das war alles. Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet. Jetzt lauf. Wenn ich bei den Pfadfindern etwas zu sagen hätte, würdest du dafür eine
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Verdienstmedaille bekommen.« »Ich habe schon zweiundzwanzig«, sagte Willie Li grinsend, dann verließ er mit Sergeant Manley Flannerys Büro. Der Captain war aufgestanden und tigerte auf und ab, wie immer, wenn er aufgeregt war. »Was sagen Sie jetzt!« rief er. »Das ist fast zu schön, um wahr zu sein. Eve Durand verschwindet in der Nacht – ihr armer Mann wird vor Kummer halb verrückt, ganz Indien wird bei der Suche nach ihr auf den Kopf gestellt, während sie in aller Ruhe mit Colonel Beethams Karawane nach Afghanistan reist. Mit John Beetham, dem großen Forscher und Entdecker, den alle verehren, dem tapferen, grundanständigen Mann, den niemand auch nur im Traum verdächtigen würde.« Flannery wandte sich an Chan. »Ich verstehe jetzt, was Sie meinten. Sie nannten es eine Romanze. Nun, ich habe einen anderen Namen dafür. Ich nenne es mit der Frau eines anderen durchbrennen. Ein hübscher Skandal in der Vergangenheit unseres Colonels, ein Makel auf seinem Ruf – bei Gott, das ist großartig! Begreifen Sie, was es bedeutet?« Chan zuckte mit den Schultern. »Merke nur, daß Sie heute abend wahre Höhenflüge machen.« »Das tue ich – es ist ein sehr hoher, weiter und schöner Flug. Ich habe meinen Mann, und ich habe das Motiv. Sir Frederic kommt auf der Suche nach Eve Durand nach San Francisco. Und da ist Colonel Beetham, von allen geehrt und geachtet, schwimmt er ganz oben. Dann erfährt er, warum Sir Frederic hier ist, und wird ein bißchen unruhig. Er hört, daß der Detektiv in Indien war. Hat er herausgefunden, wie Eve Durand damals das Land verlassen hat? Wenn er
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es weiß und preisgibt, ist es mit der Karriere von John Beetham vorbei. Dann ist er am Ende, abgemeldet, kein Mensch wird ihm auch nur einen roten Heller für seine nächste Expeditionen geben. Ist er der Mann, der das einfach geschehen läßt und untätig zusieht? O nein! Was tut er also?« »Frage ist rein rhetorisch?« meinte Chan. »Zuerst will er natürlich erfahren, wieviel Sir Frederic wirklich weiß. Beim Dinner hört er, daß der Safe offen ist. Er muß hinunter, und er muß sich umsehen. Um jeden Preis. Bei der ersten Gelegenheit schleicht er hinunter, betritt Mr. Kirks Büro…« »Durch eine verschlossene Tür?« erkundigte sich Chan. »Das Liftmädchen kann ihm einen Schlüssel verschafft haben. Es ist Eve Durand, vergessen Sie das nicht. Aber Li Gung ist ja auch noch da – vielleicht nur durch Zufall, doch er kann von Nutzen sein – die Feuerleiter… Auf jeden Fall gelangt Beetham in das Büro. Er sucht wie verrückt, findet die Aufzeichnungen, sieht auf den ersten Blick, daß Sir Frederic alles entdeckt hat. In diesem Augenblick kommt Sir Frederic herein. Der einzige Mann auf der Welt, der weiß, auf welchem Weg Eve Durand Indien verlassen hat – und nicht schweigen wird. Der Mann, der Beetham für immer und ewig vernichten kann. Beetham sieht rot. Er zieht eine Pistole. Es fällt ihm nicht schwer, er hat es schon einmal getan. Sir Frederic liegt tot auf dem Boden, Beetham flieht mit den Akten – das Geheimnis des alten Skandals bleibt gewahrt. Wo gibt es ein besseres Motiv?« »Nicht zu vergessen, die Samtpantoffeln«, sagte Chan sanft. »Die Pantoffeln von Sir Hilary Galt.«
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»Ach, zum Teufel!« rief Flannery. »Seien Sie vernünftig, Mann! Immer eins nach dem anderen.«
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18. Kapitel
Hannerys große Szene Sehr mit sich zufrieden, nahm Captain Flannery hinter seinem Schreibtisch Platz. Seine Analyse des Falles und die Beweisführung gegen Beetham schienen ihm ohne Fehl und Tadel. Strahlend musterte er die Anwesenden. »Von nun an geht alles glatt, Sie werden sehen«, fuhr er fort. »Morgen abend inszeniere ich hier in diesem Raum meine große Schau, und wenn uns das nichts einbringt, dann verstehe ich nichts von der menschlichen Natur. Zuerst hole ich mir Major Durand her. Ich sage ihm, daß Eve Durand gefunden wurde und auf dem Weg zu mir ist, und während wir warten, komme ich auf die Frage zu sprechen, wie sie wohl aus Indien herausgekommen sein mag. Ich wecke sein Mißtrauen gegen Beetham. Dann hole ich die Frau herein – nach fünfzehn Jahren des Leids und der Sorge sieht er seine Frau endlich wieder. Was wird er denken? Was wird er sich selbst – und was wird er sie fragen? Wo sie in all den Jahren war? Warum sie ihn verließ? Wie sie aus Indien herauskam? In diesem Augenblick hole ich Colonel Beetham herein, stelle ihm dem Mann gegenüber, dem er so schweres Unrecht angetan hat, und der Frau, die er in seiner Karawane entführte. Ich sage Durand, daß seine Frau mit Beetham geflohen ist. Dann lehne ich mich zurück und sehe mir das Feuerwerk an. Wie gefällt Ihnen das, Sergeant Chan?« »Sie würden Baum fällen, um Amsel zu fangen«, sagte Chan. »Nun, manchmal müssen wir das tun. Es ist ein bißchen umständlich, aber es müßte klappen. Was mei-
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nen Sie, Inspektor?« »Scheint mir ein guter Stoff für ein Drama zu sein«, antwortete Duff mit übertrieben britischem Akzent. »Aber glauben Sie wirklich, daß Sie auf diese Weise Sir Frederics Mörder entlarven?« »Vielleicht. Jemand – die Frau oder Beetham – wird zusammenbrechen, etwas Unüberlegtes sagen, zugeben. Das tun sie immer. Diesmal lasse ich es darauf ankommen. Ja, Sir, morgen abend machen wir einen großen Schritt vorwärts.« Sie überließen Captain Flannery seiner Begeisterung über die eigene Klugheit und verabschiedeten sich von ihm. Auf der Straße trennten sie sich, Chan und Inspektor Duff gingen zusammen ihrer Wege, Kirk und June schlenderten den Hügel hinauf. »Soll ich ein Taxi rufen?« fragte Kirk. »Besten Dank. Ich möchte lieber laufen – und nachdenken.« »Wir haben auch einigen Stoff zum Nachdenken, nicht wahr? Was meinen Sie? War es Beetham?« »Unsinn! Das glaube ich nie und nimmer. Nicht einmal, wenn er die Tat selbst gesteht.« »Ach ja, ich weiß, er ist der Held Ihrer Träume. Aber trotzdem, meine Dame, er wäre dazu imstande. Wenn Sir Frederic ihm im Weg stand, eine Bedrohung für seine Pläne war – und allmählich sieht es ganz danach aus –, dann… Es sei denn, Sie glauben auch nicht, daß Eve Durand in seiner Karawane reiste.« »O doch, das glaube ich«, antwortete June. »Weil Sie es glauben wollen«, sagte er lächelnd. »Es ist so unglaublich romantisch, nicht wahr? Du meine Güte, schon bei dem Gedanken daran wird mir schwindlig. Die fröhliche Picknickgesellschaft in den
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Hügeln – das Versteckspiel – ein kurzes atemberaubendes Rendezvous hinter den Tamarisken… ›Ich gehöre dir, nimm mich mit, wenn du gehst.‹ Alles andere vergessen, nur noch die Liebe zählt. Der Karren, der über den Paß holpert und poltert, und soviel Schönheit unter alten Säcken versteckt. Dann die alte Karawanenstraße, die goldene Straße nach Samarkand, die Kaufleute aus dem Norden, die vorbeiziehen – Kamele und braunhäutige Männer – und im Staub der Straße die Stahlnägel, von Tausenden von Schuhen verloren, die seit Anbeginn der Zeit über diese Straße schritten.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie so romantisch sind.« »Weil Sie mir noch nie eine Chance gegeben haben. Sie und Ihre Gesetzesbücher. Acht Monate auf dieser berühmten Straße – Nächte mit weißen Sternen, Morgendämmerungen, die feucht sind vom Wüstendunst. Heiße Sonne manchmal und dann Schnee, dichtes Schneegestöber. Der Mann und die Frau zusammen…« »Und der arme Ehemann, der halb verrückt vor Sorge ganz Indien absucht.« »Ja, Durand haben die beiden vergessen, nicht wahr? Aber sie liebten sich. Es sieht mir ganz so aus, als seien wir über die Geschichte einer ganz großen Liebe gestolpert. Denken Sie…« »Ich frage mich.« »Was fragen Sie sich?« »Ich frage mich, ob das alles wahr ist, und ob es uns – wenn es so war – der Lösung des Rätsels näherbringt? Es bleibt schließlich die Frage – wer hat Sir Frederic ermordet? Captain Flannery hatte nicht den geringsten Beweis für seine wilden Theorien über Beetham.« »Vergessen Sie doch Ihre Sorgen. Tun wir so als ob.
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Diese verlassene Straße ist der Kamelpfad nach Teheran – die alte Seidenstraße von China nach Persien. Sie und ich…« »Wir beide haben jetzt keine Zeit für Seidenstraßen. Wir müssen eine Straße finden, die uns zur Lösung unseres Falles führt.« Kirk seufzte. »Na schön. Wie lautet die Schlagzeile? ›Staatsanwältin Morrow lehnt Romanzen kategorisch ab.‹ Aber warten Sie, eines Tages überrumple ich Sie, wenn Sie nicht auf der Hut sind, und dann – nehmen Sie sich in acht!« »Ich lasse mich nie überrumpeln«, entgegnete June lachend. Am Freitag nach dem Frühstück zögerte Charlie Chan ein wenig und folgte Barry Kirk dann in sein Schlafzimmer. »Bitte um Vergebung für Eindringen, habe aber unverschämte Bitte vorzubringen.« »Sie ist schon erfüllt, Charlie. Um was geht es?« »Möchte, daß Sie mich in Cosmopolitan Club mitnehmen und adleräugigem Portier vorstellen. Habe außerdem grenzenloses Verlangen, alten Angestellten von Club kennenzulernen.« »Einen alten Angestellten? Nun ja, da wäre Peter Lee. Er arbeitet seit dreißig Jahren im Club. Genügt Ihnen das?« »Beglückwünsche Sie zu großartigem Vorschlag. Muß diesen Lee bitten, daß er mir Clubhaus zeigt vom Keller bis zum Dach. Ist das möglich?« »Selbstverständlich.« Kirk sah ihn scharf an. »Sie denken immer noch an das Club-Jahrbuch, das wir neben Sir Frederic gefunden haben?« »Habe nie aufgehört, daran zu denken«, erwiderte Chan. »Bin jederzeit bereit aufzubrechen.«
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Zutiefst verwirrt fuhr Kirk mit ihm in den Cosmopolitan Club und übergab ihn Peter Lee. »Durchaus nicht notwendig, daß Sie hier Zeit totschlagen«, meinte Chan mit einem vergnügten Grinsen. »Will mich nur ein bißchen umsehen, finde dann schon allein nach Hause.« »Nun schön«, erwiderte Kirk. »Ganz wie Sie wollen.« Chan tauchte kurz vor dem Lunch wieder in Kirks Bungalow auf. Seine kleinen Augen funkelten. »Hatten Sie Glück?« fragte Kirk. »Zeit wird lehren«, sagte Chan. »Finde Festlandklima unglaublich erfrischend und appetitanregend. Fürchte sehr, werde beim Lunch Küchenvorräte plündern.« »Aber trinken Sie nicht allzuviel von der Blausäure«, antwortete Kirk lachend. »Eine innere Stimme sagt mir, daß es eine echte Kalamität wäre, wenn wir Sie jetzt verlören.« Nach dem Lunch rief June Morrow an, um ihnen mitzuteilen, daß Grace Lane in Begleitung zweier Polizeibeamten gegen vier in Flannerys Büro eintreffen würde. Sie fügte hinzu, sie habe angeregt, daß Flannery nicht nur Chan, sondern auch Kirk hinzuziehen sollte. »Wir gehen«, meinte Chan. »Große Szene von Captain Flannery soll stattfinden vor vollem Haus.« »Was wird Ihrer Meinung nach herauskommen?« fragte Kirk. »Bin selbst sehr begierig zu erfahren. Ist Szene großer Erfolg, dann meine Arbeit hier beendet. Wenn nicht…« »Ja? Was dann?« »Dann ich mich vielleicht plötzlich selbst benehme wie überheblicher Regisseur«, meinte Chan. Als Chan und Kirk das Büro betraten, waren Flannery, Duff und June Morrow schon da. »Hallo«, sagte der
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Captain, »Sie wollen beim Finish also auch dabei sein?« »Unmöglich, uns dieses Vergnügens selbst zu berauben«, erwiderte Chan. »Es ist alles vorbereitet«, fuhr Flannery fort. »Alle Pläne gemacht.« Chan nickte. »Weiser Mann gräbt Brunnen, bevor er durstig ist.« »Nun, Sie haben ja nicht allzu eifrig gegraben«, spottete Flannery. »Ich muß zugeben, Sergeant, Sie haben Wort gehalten. Sie haben es mir überlassen, diesen Fall aufzuklären, und haben sich nicht eingemischt. Aber ich war ihm gewachsen. Ich habe Sie nicht gebraucht, nicht wahr? Sie hätten gut und gern vor zehn Tagen abreisen können.« »Ein trauriger Gedanke für mich«, sagte Chan. »Kenne aber keinen Neid. Meine herzlichen Glückwünsche warten auf Sie.« Colonel Beetham wurde hereingeführt. Er wirkte wie immer völlig ungezwungen und ziemlich herablassend. »Ah, Captain«, sagte er, »hier bin ich wieder. Wie man es mir befahl…« »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen«, unterbrach ihn Flannery. »Und was kann ich mit meinen bescheidenen Kräften heute für Sie tun?« erkundigte sich Beetham und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich brenne darauf, Sie mit einer – gewissen Dame zusammenzubringen.« Der Colonel öffnete ein Zigarettenetui, nahm eine Zigarette heraus, steckte sie an. »Ach, tatsächlich? Ich habe mit Damen eigentlich nicht viel im Sinn, aber…« »Diese besondere Dame – wiederzusehen, ist be-
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stimmt von großem Interesse für Sie.« »Ach, wirklich?« »Ja, wissen Sie«, fuhr Flannery fort, »es ist nämlich eine Dame, die einmal in Ihrer Gesellschaft eine sehr weite Reise unternahm.« Beethams schmale braune Hand blieb mit dem brennenden Streichholz unbeweglich in der Luft hängen. Die Flamme brannte stetig. »Ich verstehe nicht«, sagte er. »Eine Reise, die acht Monate dauerte, soviel ich weiß. Über den Khaiberpaß, durch Afghanistan und das östliche Persien bis in die Nähe von Teheran.« Bettham warf das abgebrannte Streichholz in den Aschenbecher. »Lieber Freund, wovon reden Sie eigentlich?« »Sie wissen sehr genau, wovon ich rede. Ich rede von Eve Durand, der Dame, die Sie vor fünfzehn Jahren aus Indien herausbrachten. Niemand hat Sie verdächtigt, nicht wahr, Colonel? Ein viel zu großer Mann. Über allen Verdacht erhaben. Mit unzähligen Orden und Medaillen auf der Brust. Aber ich weiß, daß Sie es getan haben. Ich weiß, daß Sie mit Durands Frau durchgegangen sind, und ich werde es Ihnen auch beweisen. Aber vielleicht brauche ich das gar nicht, vielleicht geben Sie es zu…« Er unterbrach sich. Gleichgültig blies Beetham ein paar Rauchringe in die Luft und sah zu, wie sie sich auflösten. »Was Sie eben sagten, ist so absolut albern, daß ich mich weigere, darauf zu antworten«, erklärte er. »Wie Sie wollen«, erwiderte Flannery. »Eve Durand wird in wenigen Minuten hier sein, und ich möchte, daß Sie sie wiedersehen. Ihr Anblick wird vielleicht Ihre Erinnerung auffrischen. Sie sollen sie wiedersehen
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– an der Seite ihres Gatten.« Beetham nickte. »Ich werde mich sehr freuen. Wir sind uns vor langer, langer Zeit begegnet. O ja, ich werde mich glücklich schätzen, Zeuge der rührenden Wiedervereinigung sein, die Sie eben so bewegt schilderten.« Ein Polizist kam von draußen herein. »Major Durand ist gekommen«, meldete er. »Gut«, sagte Flannery. »Pat, das ist Colonel Beetham. Nehmen Sie ihn ins Hinterzimmer mit – in das zweite –, und bleiben Sie bei ihm, bis ich Sie beide rufen lasse.« Beetham stand auf. »Bin ich festgenommen?« fragte er. »Nein, Sie sind nicht festgenommen«, entgegnete Flannery. »Aber Sie gehen mit Pat. Ist das klar?« »Absolut. Pat, ich stehe Ihnen zu Diensten.« Die beiden verschwanden. Flannery stand auf, ging zu der Tür, die ins Vorzimmer führte, und begrüßte Major Durand. Der Major trat ein und blieb ein wenig unsicher stehen. Flannery bot ihm einen Stuhl an. »Setzen Sie sich, Sir. Sie kennen ja alle hier. Ich habe eine wunderbare Nachricht für Sie. Wir haben die Frau ausfindig gemacht, von der wir glauben, daß Sie Ihre Frau ist, und erwarten sie in wenigen Minuten hier.« Durand starrte ihn an. »Sie haben – Eve gefunden? Kann denn das möglich sein?« »Wir werden es in einer Minute wissen«, sagte Flannery. »Ich kann Ihnen zwar schon jetzt sagen, daß es meiner Meinung nach keinen Zweifel gibt, aber Sie sollen selbst sehen. Bevor sie kommt, möchte ich Ihnen noch eine oder zwei Fragen stellen. Bei diesem
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Picknick war auch Colonel John Beetham anwesend, der Forscher?« »Aber ja.« »Und am nächsten Morgen brach er zu einer langen Reise über den Khaiberpaß auf?« »Ja. Ich habe den Aufbruch zwar nicht selbst gesehen, aber man hat mir davon berichtet.« »Hat eigentlich nie jemand die Vermutung ausgesprochen, daß er Ihre Frau mitgenommen haben könnte?« Die Frage traf Durand wie eine Pistolenkugel. Er wurde blaß. »Nein, diese Vermutung hat nie jemand ausgesprochen«, antwortete er kaum hörbar. »Dann muß ich Ihnen heute sagen, daß er es aber getan hat.« Durand stand auf und begann rastlos auf und ab zu gehen. »Beetham«, murmelte er vor sich hin. »Beetham. Nein, nein, das hätte er nie getan. Er ist ein feiner Mensch, einer der besten. Ein Gentleman. Er hätte mir das nicht angetan.« »Er war eben hier, und ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt.« »Aber er hat es selbstverständlich abgestritten.« »Das hat er. Doch meine Beweise…« »Zum Teufel mit Ihren Beweisen!« rief Durand. »Er hätte das nie getan, ein solcher Mensch ist er nicht, sage ich Ihnen! Und meine Frau – Eve – was Sie da sagen, ist eine Beleidigung für sie. Sie hat mich geliebt. Ich weiß, daß sie mich geliebt hat. Ich werde – ich kann nicht glauben…« »Fragen Sie sie, sobald sie hier ist«, schlug Flannery vor. Durand fiel auf seinen Stuhl zurück und vergrub das Gesicht in den Händen.
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Lange saßen sie schweigend da und warteten. June Morrows Wangen waren vor Erregung gerötet. Duff rauchte seine unvermeidliche Pfeife. Charlie Chan saß so reglos wie ein Bildnis aus Stein. Kirk nahm nervös eine Zigarette aus dem Etui und steckte sie dann wieder zurück. Dann kam Petersen herein, staubig und alles andere als frisch nach der langen Fahrt. »Hallo, Jim!« rief Flannery. »Haben Sie sie?« »Diesmal habe ich sie«, antwortete Petersen und trat beiseite. Die Frau mit den vielen Namen kam herein und blieb stehen. Ihre Augen blickten verängstigt und müde. Wieder ein langes Schweigen. »Major Durand«, sagte Flannery, »wenn ich mich nicht sehr irre…« Durand erhob sich langsam und machte einen Schritt auf die Frau zu. Er musterte sie einen Augenblick eindringlich und forschend und hob dann mit einer kleinen Geste der Verzweiflung die Hände. »Es ist die alte Geschichte«, sagte er. »Wieder einmal die alte Geschichte. Sie haben sich nämlich geirrt, Captain Flannery. Das ist nicht meine Frau.«
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19. Kapitel
Nachtwache im Dunkeln Sekundenlang sagte niemand ein Wort. Captain Flannery sank langsam in sich zusammen wie ein leuchtend roter Ballon, den jemand angestochen hatte. Plötzlich loderten seine Augen vor Zorn. Hitzig wandte er sich an Charlie Chan. »Sie!« schrie er. »Sie haben mich da hineingehetzt! Sie und Ihr lächerlicher Riecher. ›Die Dame ist Jennie Jerome. Sie ist auch Marie Lantelme. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß sie auch Eve Durand ist.‹ Eine Vermutung – eine reine Vermutung! Und ich habe auf Sie gehört. Ich habe Ihnen geglaubt! Guter Gott, was war ich doch für ein Narr!« Charlie wirkte ehrlich zerknirscht. »Tut mir so leid. Habe dummen Irrtum begangen. Captain, ist es möglich, daß Sie je verzeihen?« Flannery schnaubte verächtlich. »Ob ich Ihnen je verzeihe? Viel wichtiger ist, ob ich mir verzeihe! Auf einen Chinesen zu hören – ich, Tom Flannery! Mit meiner Erfahrung, meinem Ruf! Ich war verrückt – total verrückt. Aber das ist jetzt vorbei.« Er stand auf. »Major Durand, ich muß mich tausendmal bei Ihnen entschuldigen. Um nichts in der Welt hätte ich Sie noch einmal dieser Enttäuschung aussetzen mögen.« Durand zuckte müde mit den Schultern. »Ach, das macht nichts. Sie haben es gut gemeint, das weiß ich. Trotz allem, was geschehen ist, habe ich mir einen Augenblick erlaubt zu hoffen – dachte ich, daß es vielleicht wirklich Eve sein könnte. Dumm von mir, ich hätte meine Lektion schon vor langer Zeit lernen können. Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Er ging zur Tür.
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»Wenn das alles war, Captain…« »Ja, das war alles. Es tut mir leid, Major.« Durand verneigte sich. »Mir auch. Wir sehen uns bestimmt wieder. Guten Tag.« In der Nähe der Tür kam er an der jungen Frau vorbei, die sich Grace Lane nannte. Todmüde, mit hängenden Schultern hatte sie dagestanden. Jetzt machte sie einen Schritt auf den Schreibtisch zu. Ihr Gesicht war blaß, ihre Augen blickten stumpf, sie hatte einen langen, schweren Tag hinter sich. »Was wird jetzt mit mir?« fragte sie. »Warten Sie einen Moment«, antwortet Flannery grollend. June Morrow stand auf und holte einen Stuhl für Grace Lane. Sie wurde mit einem dankbaren Blick belohnt. »Mir ist eben Beetham eingefallen«, sagte Flannery. Wieder warf er Chan finstere Blicke zu. »Ich habe ihn in meine Karten schauen lassen – wegen nichts und wieder nichts. Dafür kann ich mich auch bei Ihnen bedanken.« »Schuldgefühl wächst ins Riesenhafte.« Charlie seufzte tief. »Das ist nur gerecht«, antwortete der Captain. Er ging zur anderen Tür und rief laut: »Pat!« Pat kam sofort. Der Colonel folgte ihm auf dem Fuß, blieb kurz stehen und sah sich neugierig im Raum um. »Aber wo«, fragte er, »ist das glücklich vereinte Paar? Ich sehe weder Durand und ebensowenig seine Frau.« Flannerys Gesicht nahm eine noch dunklere Röte an als gewöhnlich. »Es ist ein Irrtum passiert«, gestand er. »Da sind wohl mehrere Irrtümer passiert«, korrigierte der Colonel lässig. »Fehler zu machen, ist eine gefähr-
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liche Angewohnheit, Captain. Sie sollten sich bemühen, sie zu überwinden.« »Wenn ich Ihren Rat brauche, werde ich Sie darum bitten«, erwiderte der gepeinigte Flannery. »Sie können gehen. Aber ich betrachte Sie noch immer als wichtigen Zeugen in diesem Fall, und ich warne Sie – verschwinden Sie ja nicht in irgendeine Wüste, bevor ich es Ihnen erlaube.« »Ich werde daran denken«, sagte Beetham und ging. »Und was wird jetzt aus mir?« fragte Grace Lane. »Nun, Ihnen wurde ziemlich übel mitgespielt, schätze ich«, sagte Flannery. »Ich entschuldige mich dafür. Sehen Sie, ich habe mich zum Narren gemacht und auf einen Chinesen gehört, deshalb ist mir der Fehler mit Ihrer Identität unterlaufen. Ich habe Sie unter dem Vorwand zurückbringen lassen, daß ich Sie wegen Diebstahls einer Uniform unter Anklage stellen wollte, aber wahrscheinlich hält Mr. Kirk den Vorwurf nicht aufrecht.« »Natürlich nicht«, rief Kirk und wandte sich an die junge Frau. »Ich hoffe, Sie denken nicht, das sei meine Idee gewesen. Sie können ein paar Dutzend von meinen Uniformen haben, wenn Sie wollen.« »Sie sind sehr freundlich«, antwortete Grace. »Nicht der Rede wert. Übrigens, Sie können Ihre alte Stellung natürlich sofort wiederhaben, wenn Sie wollen. Sie wissen, daß ich immer darauf bedacht bin, das Kirk-Building zu verschönern, und es ein echter Rückschlag für mich war, als Sie – äh – kündigten.« Sie lächelte, ohne zu antworten, und fragte Flannery: »Darf ich jetzt gehen?« »Selbstverständlich«, sagte er. »Laufen Sie nur.« June Morrow sah sie scharf an. »Wohin wollen Sie?«
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»Ich weiß nicht. Ich…« »Aber ich weiß es«, sagte die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin. »Sie kommen mit mir. Ich habe eine Wohnung und viel Platz. Sie bleiben wenigstens diese eine Nacht bei mir.« »Sie sind wirklich zu gut zu mir«, erwiderte Grace, und ihre Stimme schwankte leicht. »Unsinn! Wir waren alle viel zu häßlich zu Ihnen. Kommen Sie jetzt!« Die beiden Frauen verließen das Büro, und Flannery setzte sich an seinen Schreibtisch. »Jetzt werde ich die Sache zur Abwechslung einmal auf meine Weise angehen«, verkündete er. »Das war ein furchtbares Durcheinander, aber ich habe es nicht besser verdient. Wie kann man auch auf einen Chinesen hören! Wenn Grace Lane nicht Eve Durand ist, wer ist es dann? Was meinen Sie, Inspektor Duff?« »Ich möchte Sie warnen«, sagte Duff lächelnd. »Es ist auch nicht ungefährlich, auf einen Engländer zu hören.« »Aber Sie sind von Scotland Yard, vor Ihrer Meinung habe ich größte Achtung. Überlegen wir mal: Eve Durand ist irgendwo in der Nähe, davon bin ich überzeugt. Sir Frederic gehörte nicht zu den Leuten, die gedankenlos daherreden, er wußte, was er sagte. Da haben wir Lila Barr. Sie paßt recht gut zu der Beschreibung. Dann Gloria Garland – ein angenommener Name, natürlich. Weiter – Eileen Enderby. Sie hatte an jenem Abend Rostflecke auf dem Kleid. Aber die habe ich nicht gesehen. Vielleicht waren sie da – wahrscheinlich nicht. Vielleicht eine weitere Vermutung von Sergeant Chan.« »Obwohl ich mich nur widerstrebend einmische«, füg-
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te Charlie hinzu, »ist da auch noch Mrs. TupperBrock.« »Ich weiß Ihr Widerstreben zu schätzen«, spottete Flannery. »Wenn Sie Mrs. Tupper-Brock auf Ihre Liste setzen, dann streiche ich sie sofort. Welche von diesen Frauen – ich muß wieder ganz von vorn anfangen.« »Fühle mich ganz kleinlaut und zerknirscht«, sagte Chan. »Trotzdem wollen sich immer wieder Vorschläge über Lippen drängen. Haben Sie schon einmal altes chinesisches Sprichwort gehört, Captain, das heißt: ›Unterhalb von Lampe ist immer am dunkelsten. ‹?« »Mir hängen chinesische Sprichwörter zum Hals heraus«, antwortete der Captain. »Das eben von mir zitierte bedeutet – was? Daß nur über unseren Köpfen besonders helles Licht. Das ist Tatsache, Captain. Nehmen Sie Rat von mir an und zerbrechen Sie sich nicht mehr Kopf über Eve Durand.« »Warum nicht?« fragte Flannery gegen seinen Willen. »Weil Sie ganz dicht vor größtem Triumph Ihres Lebens stehen. Spätestens in ein paar Stunden jeder wird loben tüchtigen Captain.« »Wieso das?« »Weil Sie in ein paar Stunden Mörder von Sir Frederic Bruce verhaften werden«, erklärte Chan gelassen. »Ist aber Bedingung dabei. Vielleicht sehr hart für Sie. Bitte sehr um Ihretwillen, auf selbe einzugehen.« »Was ist das für eine Bedingung?« »Sie müssen hören noch einmal auf – wie Sie geringschätzig sagen – einen Chinesen. Es ist letztes Mal.« Flannery schien heftig protestieren zu wollen, aber das selbstsichere Benehmen des kleinen Mannes irritierte ihn. »Noch einmal auf Sie hören? Nie im Leben!«
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Inspektor Duff stand auf und zündete sich wieder seine Pfeife an. »Wenn es stimmt, daß Sie meine Meinung respektieren, Captain, dann möchte ich unseren Freund zitieren und mache in aller Bescheidenheit Vorschlag, daß Sie tun, um was er Sie bittet.« Flannery antwortete nicht sofort, dann sagte er: »Nun, was für einen Trumpf haben Sie jetzt im Ärmel? Oder ist es wieder ein Riecher?« Chan schüttelte den Kopf. »Nein, es ist eine Gewißheit. Ich bin dummer Mensch von kleiner Insel und irre mich oft. Diesmal ist aber kein Irrtum. Folgen Sie mir, und ich beweise es Ihnen.« »Ich wünschte, ich wüßte, was Sie meinen«, sagte Flannery. »Ich meine, daß es Verhaftung geben wird, in ein paar Stunden, wenn Sie sich so weit herablassen wollen zu tun, was ich verlange«, erklärte Chan. »Bei Scotland Yard man richtet sich in einem Mordfall nach – wie man es dort nennt – entscheidendem Hinweis. In diesem Fall hat es auch entscheidenden Hinweis gegeben.« »Die Pantoffeln?« fragte Flannery. »Nein«, antwortete Charlie. »Pantoffeln waren wertvoll, aber nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidender Hinweis wurde von jetzt toter Hand gegeben. Hand von einem Mann, der viel klüger war als alle seine Zeitgenossen. Wie traurig, daß solcher Mann sterben mußte. Als Sir Frederic Tod ins Auge sah, griff er in Bücherschrank und holte – was heraus? Entscheidenden Hinweis, der ihm aus sterbender Hand fiel und neben ihm auf staubigem Boden lag. Das Jahrbuch von Cosmopolitan Club.« Chans Stimme klang so überzeugend, daß Flannery
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sich ihrer Wirkung nicht entziehen konnte. »Nun, was soll ich tun?« fragte er. »Sie sollen in einer halben Stunde in den Cosmopolitan Club kommen. Inspektor Duff begleitet Sie selbstverständlich. Dann Sie müssen ungewohnte Geduld an Tag legen und warten wie Standbild aus Stein. Wie lange – ich kann jetzt noch nicht sagen. Doch wenn Zeit gekommen ist, ich werde Ihnen Mörder von Sir Frederic zeigen und Beweise auf Tisch legen.« Flannery stand auf. »Gut, aber es ist Ihre letzte Chance. Wenn Sie mich wieder zum Idioten stempeln, lasse ich Sie als unerwünschten Ausländer ausweisen. Wir sehen uns in einer halben Stunde im Cosmopolitan Club.« »Unerwünschter Ausländer wird Sie bei Eingang begrüßen«, sagte Charlie lächelnd, »und hoffen, daß er bald wieder erwünscht sein wird. Mr. Kirk, Sie sind so liebenswürdig und leisten mir Gesellschaft?« Sie verließen Flannerys Büro. »Mit dem Captain haben Sie es sich ja bös verscherzt«, sagte Kirk, als sie auf der Straße standen und auf ein Taxi warteten. »Captain wird bald noch viel mehr ärgerlich auf mich sein«, erwiderte Chan. Kirk starrte ihn an. »Wie das?« »Ich zeige ihm Weg zu Erfolg. Er wird ganzen Verdienst für sich beanspruchen, aber mein Anblick wird ihm Unbehagen bereiten. Strauchelnder liebt denjenigen nicht, der ihn auf höchste Sprosse von Leiter führt.« Ein Taxi hielt vor ihnen, sie stiegen ein, und Chan nannte dem Fahrer das Ziel. Dann wandte er sich an Kirk. »Und jetzt ich muß vor Ihnen im Staub knien und demütig um Vergebung bitten. Habe auf unverzeihli-
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che Weise Vertrauen mißbraucht.« »Wieso das?« fragte Kirk überrascht. Chan nahm einen Brief aus der Tasche. Der Umschlag war abgegriffen und zerdrückt, die Schrift leicht verwischt. »Vor ein paar Tagen Sie schrieben Briefe im Büro und haben sie mir übergeben, weil ich sagte, ich werfe sie ein. Habe aber nur so getan und zurückbehalten dieses Schreiben.« »Gütiger Himmel!« rief Kirk. »Sie haben es nicht aufgegeben?« »Leider nein. Was könnte abscheulicher sein? Liebenswürdigen Gastgeber so zu täuschen. Argloses Vertrauen zu besudeln.« »Aber Sie hatten doch bestimmt einen Grund?« meinte Kirk. »Sehr guten Grund, den Zeit entschleiern wird. Bin ich unverschämt, wenn ich versuche Vergebung zu erlangen?« »Aber durchaus nicht«, sagte Kirk lächelnd. »Sie sind freundlichster Mann, den zu kennen ich große Ehre habe.« Das Taxi war in den Union Square eingebogen, und Chan bat den Fahrer, anzuhalten. »Steige hier aus, um Vergehen wieder gutzumachen«, erklärte er Kirk. »Lange zurückbehaltener Brief erreicht jetzt Empfänger durch schnellfüßigen Boten.« »Aber Sie wollen doch nicht – «, rief Kirk überrascht. »Was ich will, allmählich kommt ans Licht«, erwiderte Chan und stieg aus dem Taxi. »Seien Sie so gütig, mich bei Clubeingang zu erwarten. Schutzengel jenseits von Schwelle achtet genau darauf, wem Ehre zuteil wird, Cosmopolitan Club zu betreten. War meinen Zwecken überaus dienlich, aber bitte sorgen Sie dafür, daß man mich nicht von bewußter Schwelle
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weist.« »Ich erwarte Sie«, versprach Kirk. Das Taxi fuhr wieder an, doch Kirk merkte es kaum. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander aus Fragen, Überlegungen, Vermutungen. Nein – nein, das konnte nicht sein. Aber Charlies Verhalten nach… Kurz nachdem Kirk vor dem Club aus dem Taxi gestiegen war, erschien auch Charlie, und gemeinsam betraten sie an dem goldbetreßten Portier vorbei das ehrwürdige Gebäude. Bald darauf kamen auch Flannery und Duff. Dem Captain merkte man deutlich an, daß er wider besseres Wissen handelte. »Ich schätze, das wird wieder ein Schlag ins Wasser«, jammerte er. »Sehr gut gezielter Schlag, dem Opfer nicht entgeht, denke ich«, versicherte ihm Chan. »Aber orientalische Gelassenheit dringend erforderlich. Haben Sie großen Vorrat? Vielleicht müssen wir bis Mitternachtsstunde hier Zeit vertrödeln?« »Das ist ja sehr angenehm«, erwiderte Flannery. »Na ja, warte ich eben eine Weile. Aber es ist Ihre letzte Chance, denken Sie daran.« »Und auch große Chance für Sie«, sagte Chan mit einem Schulterzucken. »Sie dürfen auch nicht vergessen. Es ist falsch von uns, hier so in Öffentlichkeit herumzustehen. Mr. Kirk, ich habe Winkel gefunden, wo wir uns unbeobachtet, aber immer beobachtend, aufhalten können. Ich sprechen von kleinem Raum hinter Büro, der auf Seite gegen Garderobe offen ist.« »Gut, ich weiß, welchen Raum Sie meinen«, sagte Kirk. Er sprach mit dem Manager des Clubs, und dann führte man sie in ein kleines, im Augenblick unbenutztes, halbdunkles Hinterzimmer. Stühle wurden hereingebracht, und alle, außer Charlie, setzten sich. Der
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kleine Detektiv lief geschäftig hin und her. Er sorgte dafür, daß seine drei Begleiter die ganze Garderobe überblicken konnten, in der Peter Lee, den Chan am Vormittag kennengelernt hatte, in eine leuchtend rosa Zeitung vertieft, hinter dem Garderobentisch saß. »Ich bin gleich wieder da«, sagte Chan und verließ den Raum durch die Tür, durch die man in die Garderobe gelangte. Er unterhielt sich kurz mit Peter Lee, dann sahen die drei Männer, die im Halbdunkel saßen, daß er einen raschen Blick in die Halle warf. Im nächsten Augenblick tauchte er hastig wieder in ihrem Versteck unter. Lässig wie immer, erschien Colonel John Beetham am Garderobentisch und gab Hut und Mantel ab. Kirk, Flannery und Duff beugten sich lebhaft vor und beobachteten, wie er die metallene Garderobenmarke in Empfang nahm und sich abwandte. Chan rührte sich nicht. Die Zeit verging. Andere Clubmitglieder kamen zum Dinner und gaben Aktenmappen, Mäntel und Hüte ab, ohne zu ahnen, daß sie aus dem kleinen Raum scharf beobachtet wurden. Flannery begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. »Was soll das alles, zum Teufel?« fragte er. »Geduld«, sagte Charlie vorwurfsvoll. »Wir Chinesen sagen: ›Mit der Zeit wird aus Gras Milch.‹« »Ja, aber ich melke lieber eine Kuh«, antwortete Flannery grollend. »Geduldiges Warten«, fuhr Chan fort, »ist wichtigstes Requisit von gutem Detektiv. Stimmt das nicht, Inspektor Duff?« »Manchmal scheint es das einzige Requisit zu sein, das man hat«, pflichtete Duff ihm bei. »Darf man hier
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eigentlich rauchen?« »Aber selbstverständlich«, erwiderte Kirk. Duff seufzte erleichtert und holte seine Pfeife heraus. Die Minuten schleppten sich hin. Die vier im Kämmerchen hörten das Geräusch von Schritten aus der Halle, hörten, wie die Clubmitglieder sich gegenseitig begrüßten, sich zum Essen verabredeten. Flannery war nervös wie eine aufgescheuchte Ameise. »Wenn Sie wieder einen Narren aus mir machen – «, begann er. Die demütigende Niederlage, die er erst vor kurzem erlebt hatte, war ihm wieder eingefallen, weil Major Eric Durand an der Garderobe aufgetaucht war und seinen Burberrymantel abgab. Der Major wirkte sehr bedrückt. »Armer Teufel«, sagte Flannery. »Dem haben wir heute einen Tiefschlag verpaßt. Und dabei war es gar nicht nötig…« Sein vorwurfsvoller Blick suchte Chan. Der Detektiv hockte in seinem Sessel wie ein fetter, blinder Buddha. Eine halbe Stunde verging. Flannery sah immer wieder auf die Uhr. »Ich habe noch nicht zu Abend gegessen«, beschwerte er sich. »Und dieser Stuhl kommt mir vor wie ein Nagelbrett.« »Leider hatten wir keine Zeit, eine Samtcouch zu besorgen«, entgegnete Chan sanft. »Beherrschen Sie sich, ich bitte sehr vielmals. Glücklicher Mann ist gelassener Mann. Nachtwache hat erst begonnen.« Wieder eine halbe Stunde später kochte Flannery bereits. »Geben Sie uns einen Hinweis!« forderte er. »Worauf warten wir? Ich will es wissen, sonst verschwinde ich hier so schnell…« »Bitte«, flüsterte Charlie, »warten auf Mörder von Sir
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Frederic Bruce. Genügt das nicht?« »Nein, das genügt mir nicht!« fauchte der Captain. »Sie und Ihre verdammten Heimlichkeiten hängen mir zum Hals heraus. Legen Sie Ihre Karten auf den Tisch wie ein Weißer. Dieser Stuhl bringt mich um, sage ich Ihnen…« »Pst!« sagte Chan. Jetzt war er es, der sich vorbeugte und durch die Tür in den Garderobenraum starrte. Die anderen folgten seinem Blick. Major Eric Durand stand in der Garderobe und warf die Marke auf den Tisch. Laut klirrend hüpfte sie über die Platte. Peter Lee brachte dem Major den Mantel und half ihm hinein. Der Major suchte etwas in seinen Taschen, holte ein kleines Kärtchen heraus und reichte es dem Garderobier. Peter Lee sah sich unter den ihm anvertrauten Schätzen um und händigte Durand dann eine schwarze Aktenmappe aus. Chan packte den erstaunten Flannery am Arm und zerrte ihn in die Halle. Kirk und Duff folgten ihnen. Sie stellten sich in einer Reihe vor der riesigen Eingangstür auf. Durand erschien und kam mit energischen Schritten näher. Als er die Gruppe entdeckte, die ihm den Weg verstellte, blieb auch er stehen. »Hier sieht man sich also wieder«, sagte er. »Mr. Kirk, es war sehr aufmerksam von Ihnen, mir die Gästekarte für Ihren Club zu schicken. Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich habe sie erst heute abend bekommen, und es wird mir ein Vergnügen sein, recht häufig hereinzuschauen…« Charlie Chan strahlte über das ganze Gesicht, und mit einer gebieterischen Geste hob er die Hand. »Captain Flannery«, sagte er, »nehmen Sie diesen Mann fest.«
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»Aber – ich – äh – ich kann nicht – «, stotterte Flannery. »Verhaften Sie Durand«, wiederholte Charlie. »Verhaften Sie ihn in Moment, in dem er Aktenmappe mit äußerst wichtigem und wertvollem Material unter dem Arm hat. Die Aktenmappe, die Sir Frederic Bruce an Nachmittag von Tag hier abgab, an dem er starb.«
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20. Kapitel
Die Wahrheit kommt ans Licht Alle Farbe wich aus Durands Gesicht. Es wirkte plötzlich so grau wie Nebel. Nach einem Blick auf den triumphierenden kleinen Chinesen griff Flannery nach der ledernen Mappe und nahm sie an sich. Der Major wehrte sich nicht dagegen. »Sir Frederics Aktenmappe!« rief Flannery. Seine Unsicherheit war dahin, er sah hellwach und selbstbewußt aus. »Zum Kuckuck, wenn das stimmt, dann ist unsere Menschenjagd zu Ende.« Er versuchte, die Tasche zu öffnen. »Das Ding ist abgeschlossen«, setzte er hinzu. »Ich möchte die Schlösser nicht aufbrechen. Dazu ist die Tasche ein viel zu wichtiges Beweisstück.« »Mr. Kirk ist im Besitz von Schlüsseln von Sir Frederic«, sagte Charlie. »Hätte mitgebracht, hätte ich Aufbewahrungsort gekannt.« »Sie sind in meinem’ Schreibtisch«, sagte Kirk. Eine neugierige Gruppe scharte sich um sie. Chan wandte sich an Flannery. »Daß wir hier stehen, macht uns zu Mittelpunkt von unerwünschter Neugier. Schlage mit Bescheidenheit vor, wir begeben uns sofort in Bungalow. Dort wir können Angelegenheit ausdreschen wie Winterweizen.« »Gute Idee«, entgegnete Flannery. »Bitte auch sehr vielmals, daß Mr. Kirk eilt in Telefonzelle und Miß Morrow ersucht, mit Eile von Wind in Bungalow zu kommen. Wäre unverzeihliche Unhöflichkeit, sie jetzt nicht hinzuzuziehen.« »Klar«, stimmte Flannery ihm zu, »tun Sie das bitte, Mr. Kirk.« »Und«, setzte Charlie, Kirk die Hand auf den Arm le-
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gend, hinzu, »sie soll bitte auch Liftführerin Grace Lane mitbringen.« »Wozu?« fragte Flannery. Chan zuckte mit den Schultern. »Zeit wird lehren.« Als Kirk sich rasch entfernte, stieß er fast mit Colonel John Beetham zusammen. Der Forscher blieb stehen und betrachtete einen Moment die Szene vor sich. Seine unergründliche Miene änderte sich nicht. »Colonel Beetham«, wandte Charlie sich erklärend an ihn, »wir haben hier Mann, der Sir Frederic Bruce getötet hat.« »Tatsächlich?« sagte Beetham gelassen. »Ohne jeden Zweifel. Da Angelegenheit auch Sie betrifft, wie ich glaube, bitte sehr vielmals, uns zu Mr. Kirk zu begleiten.« »Aber selbstverständlich«, erwiderte Beetham und ging Hut und Mantel holen. Chan folgte ihm und Heß sich von Peter Lee das Kärtchen geben, gegen das der alte Mann Sir Frederics Aktenmappe an Major Durand ausgefolgt hatte. Kirk, Beetham und Chan kehrten zu der Gruppe am Eingang zurück. »Alles erledigt«, sagte Flannery. »Kommen Sie, Major Durand.« Durand zögerte. »Ich bin mit Ihren Gesetzen nicht so vertraut, aber müßten Sie nicht einen Haftbefehl haben?« »Zerbrechen Sie sich deswegen nur nicht den Kopf. Ich nehme Sie wegen eines hinreichenden Tatverdachts fest. Einen Haftbefehl bekomme ich jederzeit. Seien Sie kein Narr, und kommen Sie mit.« Draußen hatte es angefangen, leicht zu regnen, und Nebel hüllte die Stadt ein. Duff, Flannery und Durand stiegen in ein Taxi, Chan, Kirk und der Forscher nah-
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men ein zweites. Als Charlie einsteigen wollte, schoß mit Schwung und außer Atem eine Gestalt aus der Dunkelheit – Bill Rankin. »Wer war das mit Captain Flannery?« fragte er keuchend. »Ist genauso gekommen, wie ich Ihnen sagte, als ich aus Hotel telefonierte«, antwortete Charlie. »Wir haben unseren Mann.« »Major Durand?« »Denselben.« »Bestens. In zwanzig Minuten habe ich ein Extrablatt auf der Straße. Sie haben Ihr Versprechen wirklich gehalten.« »Alte Gewohnheit von mir«, sagte Chan. »Und was ist mit Betham?« Chan warf einen Blick in das dunkle Taxi. »Hat nichts mit Sache zu tun. Da waren wir auf falscher Fährte.« »Wie jammerschade«, meinte Rankin. »Also, ich verschwinde jetzt. Einzelheiten hole ich mir später. Tausend Dank.« Chan schob sich schwerfällig in das Taxi und nannte dem Fahrer ihr Ziel – das Kirk-Building. »Darf ich ausdrücken bescheidene Hoffnung, daß mein Vergehen vergeben und vergessen ist?« wandte der kleine Detektiv sich an Kirk. »Ich spreche von verspäteter Ablieferung Ihres Briefes mit Gästekarte von Cosmopolitan Club bei Major Durand.« »Aber selbstverständlich«, sagte Kirk. »War noch nicht so weit, daß ich ihn Club betreten lassen wollte«, setzte Chan hinzu. »Da schlag doch einer lang hin!« sagte Kirk. »Da müssen Sie ihn ja schon seit einiger Zeit verdächtigt haben.«
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»Werde mit ganzer mir zur Verfügung stehender Beredsamkeit später erklären. Will jetzt nur soviel gestehen – Major Durand hatte größtes Interesse daran, daß Eve Durand nicht gefunden wurde.« »Aber, um Himmels willen – warum denn nicht?« fragte Kirk. »Leider ich kann nicht Wunder wirken. Wir werden, wie ich hoffe, später erfahren. Vielleicht Colonel Beetham kann Licht auf dunkle Tatsache werfen.« Die Stimme des Colonels klang in der Dunkelheit kühl und gelassen. »Ich bin es müde, weiterhin zu lügen«, sagte er. »Ich könnte Ihnen alles erklären. Aber ich werde es nicht tun. Ich habe nämlich ein Versprechen gegeben. Und wie Sie, Sergeant, halte ich meine Versprechen gern.« »Haben viele löbliche Eigenschaften gemein.« Beetham lachte. »Übrigens – es war ungewöhnlich anständig von Ihnen, dem Reporter zu sagen, ich hätte mit der Sache nichts zu tun.« »Hoffe nur«, entgegnete Chan, »daß Ereignisse großmütige Handlungsweise rechtfertigen werden.« Sie stiegen vor dem Kirk-Building aus dem Taxi und fuhren zum Bungalow hinauf. Flannery, Duff und ihr Gefangener waren von Paradise schon eingelassen worden. »Da sind wir alle beisammen«, sagte Flannery. »Darf ich jetzt um den Schlüssel bitten, Mr. Kirk.« Kirk holte ihn aus dem Schreibtisch, und der Captain beeilte sich, die Tasche aufzuschließen. Charlie setzte sich auf eine Sesselkante und ließ Major Durand nicht aus den Augen. Der Major saß in einem Winkel, hielt den Kopf gesenkt und blickte starr auf den Teppich. »Beim heiligen Georg, es ist Sir Frederics Tasche!« rief
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Duff. »Und hier – ja, hier ist, was wir gesucht haben.« Er nahm ein Bündel mit Schreibmaschinenschrift bedeckter Papiere heraus. »Hier sind seine Berichte über den Fall Eve Durand.« Der Inspektor begann eifrig zu lesen. Flannery wandte sich an den Major. »Nun, das macht Sie mundtot, nicht wahr? Wo haben Sie den Abholschein für die Mappe her?« Durand schwieg. »Ich werde für ihn antworten«, sagte Charlie. »Er nahm ihn aus Brieftasche von Sir Frederic an Abend, an dem er hervorragenden Mann tötete.« »Dann waren Sie schon einmal in San Francisco, Major?« fragte Flannery. Noch immer blieb Durand unbeweglich, zuckte mit keiner Wimper. »Natürlich er war schon einmal da«, sagte Chan grinsend. »Captain Flannery, Reporter werden sehr bald über Sie herfallen und fragen, wie Sie gefährlichen Mann entlarvten. Wäre es nicht besser, ich sage Ihnen, damit Sie intelligente Antwort geben können?« Flannery warf ihm einen bitterbösen Blick zu, aber Chan fuhr ungerührt fort: »Werden sehr gut aufpassen müssen. Ich überlege – wo beginnen.« Duff blickte auf. »Ich schlage vor, Sie fangen mit dem Moment an, in dem Sie Durand das erstemal verdächtigten«, sagte er und wandte sich dann wieder Sir Frederics Berichten zu. Chan nickte. »Das war hier, in selbem Raum, an selbem Abend, an dem Durand ankam. Haben Sie schon einmal gehört, Captain… Fürchten nichts, ist nicht alte chinesische Weisheit diesmal. Haben Sie schon gehört, daß Chinesen mediale Fähigkeiten haben? Es ist
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Wahrheit. Ein Blick, eine Geste, ein Tonfall – irgend etwas macht innerlich ›klick‹. Ich höre Mr. Kirk zu Major sagen, er will eine oder zwei Gästekarten für Club schicken. Und bei plötzlicher Wärme in Antwort von Major macht es ›klick‹ -Unterbewußtsein schickt mir Warnung. Sofort frage ich mich, hat Major besonderes Interesse an Club von San Francisco? Es hat Anschein. Ist er dann vielleicht Mann, den wir suchen? Nein, er kann es nicht sein. Nicht, wenn er ganze Reise von New York hierher mit unserem Inspektor Duff zurückgelegt hat. Aber – rate ich mir selbst – mach hier Pause und denk nach. Was hat Inspektor Duff über diesen Punkt gesagt? Hat gesagt, als er in Chikago aus ›Twentieth Century‹ stieg, er entdeckte, daß Major mit selbem Zug gefahren war. Ich stellte mir Frage: Hat man so klugen Mann wie Inspektor Duff getäuscht? Inspektor . tut mir große Ehre von Dinnereinladung an. Während Essen horche ich liebenswürdigen Gastgeber ein bißchen aus. Höflich erkundige ich mich, ob Inspektor Major Durand mit eigenen Augen in Zug mit Namen Twentieth Century gesehen hat, und zwar zwischen New York und Chikago. Nein, das hat er nicht. Sah ihn erst auf Bahnhof in Chikago, und Durand erklärt ihm, er sei mit selbem Zug gekommen wie Inspektor. Auch er sei unterwegs nach San Francisco. Am selben Abend sie besteigen gemeinsam Zug zur Westküste. Dann also war es möglich. Männer haben schon oft zweite Fährte über erste gelegt, damit erste nicht entdeckt wird. Wenn ich nachdenke, wieviel Zeit seit Mord verstrichen, komme ich zu dem Schluß, daß Major genau dasselbe getan haben kann. Fange an, gründlich über Durand nachzudenken. Ich erinnere mich an
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Lunch, bei dem Sir Frederic uns alles über Fall Durand sagt, daß er Onkel von Eve Durand, Sir George Mannering aufsuchte, als er plante, nach Peshawar zu reisen, um Fall zu untersuchen. Warum Onkel? Ehemann von Vermißter lebt in England und weiß doch bestimmt mehr über Affaire als Onkel. Warum also befragte Sir Frederic nicht Ehemann? Frage ist Nahrung für viele Gedanken. Ganze Zeit zerbreche ich mir Kopf über Jahrbuch von Cosmopolitan Club, das Sir Frederic aus der Hand fällt, als er stirbt. Mr. Kirk ist so liebenswürdig, mich zum Lunch in Club mitzunehmen, und gibt Aktenmappe in Garderobe ab. Mir fällt auf, daß Garderobenmarke für Kleidung aus Metall, aber Marke für Aktenmappe aus Pappe ist, und darauf steht mit zittriger Handschrift von Peter Lee, was für ein Gegenstand hinterlegt wurde. Grelles Licht blitzt in meinem Kopf auf. Angenommen, Sir Frederic hat in Club Aktenmappe mit Papieren hinterlegt, die wir so verzweifelt suchen, und Abholschein für selbe war in seiner Brieftasche, als er starb. Mörder nimmt Schein an sich, er ist kluger Mann und weiß, daß er Papiere gefunden hat, die er um jeden Preis haben muß. Aber Mörder hat Pech, Eingang zum Clubhaus wird scharf bewacht, nur Mitglieder und ihre Gäste dürfen herein. Hoffnungslos macht er kehrt, aber Abholschein in seinem Besitz erinnert ihn immer wieder daran, daß er verloren ist, wenn er nicht in Club gelangen und Aktenmappe an sich bringen kann. Er muß es tun, aber Gefahr ist groß. Dann kehren Samtpantoffeln zu uns zurück, eingepackt in Zeitungspapier. Auf Papierrand, der eingerissen ist, stehen Zahlen, jemand hat $79 und $23 zu-
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sammengezählt und $103 daruntergeschrieben. Ich gehe zu Bahnhof und stelle fest, was ursprünglich auf Zeitung gestanden haben muß, bevor abgerissen wurde. Einfach das: $79.84 plus $23.63. Das ergibt Endsumme $1O3.47 – Was ist das? Preis von Eisenbahnfahrkarte nach Chikago. Dann war Person, die Samtpantoffeln wegwarf, am Mittwochvormittag nach dem Mord auf Oakland-Fähre und nahm dann Zug von Oakland nach Chikago. Wer von allen meinen Verdächtigen konnte das getan haben? Nur Major Durand. Ich denke sehr tief, ich grüble, ich strenge nicht besonders brillanten Verstand bis aufs äußerste an. Ich studiere Fahrpläne. Nehme als gegeben an, daß Captain Durand in Zug saß, der Mittwoch mittag aus Oakland abfuhr. Er kommt Samstag morgens um neun in Chikago an. Er ist immer noch sehr beunruhigt wegen Aktenmappe von Sir Frederic, aber es scheint ihm das beste, Reise nach Osten fortzusetzen. Er eilt zu LaSalle-Street, um Zug nach New York zu erreichen und kommt gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Inspektor Duff, dem er einmal in Paris begegnete, aus Twentieth Century-Zug aussteigt. Durand ist kluger Mann, großartiger Einfall kommt ihm. Zuerst er wird so tun, als ob er aus selbem Zug ausgestiegen ist wie Inspektor, und dann wird er in Begleitung von Scotland YardBeamten nach Kalifornien zurückfahren. Wer kann ihn da noch verdächtigen? Also begleitet ahnungsloser Inspektor Duff Mörder zurück zu Schauplatz von Verbrechen. Das alles scheint sehr logisch zu sein. Aber es hängt an einer einzigen Sache – hat Sir Frederic Aktenmappe zur Aufbewahrung gegeben? Heute morgen ich besuche Peter Lee, verantwortlich für Garderobe in Cosmo-
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politan Club. Erfahre zu größter, beinahe nicht zu unterdrückender Freude, daß Sir Frederic an Tag, an dem er starb, tatsächlich Gegenstand zur Aufbewahrung gab. Mit Jahrbuch von Cosmopolitan Club wollte er uns noch im Sterben auf Tatsache hinweisen. Er wollte entscheidenden Hinweis geben. Was war das für ein Mann! Ich streichle Aktenmappe liebevoll, entdecke Staub. Ganz ohne Zweifel sie enthält wertvolle Information. Aber noch wünsche ich nicht, Tasche zu öffnen, ich wünsche Falle zu stellen. Habe grenzenloses Verlangen, Captain Flannery zu zeigen, wie Mann, den wir suchen, vor Garderobentisch steht und Aktenmappe von Mordopfer unter den Arm hält. Solcher Beweis ist unwiderlegbar. Ich verlasse Club sehr glücklich. Fall hat sich schon sehr hübsch selbst entschleiert. Noch habe ich nicht Motiv entdeckt, bin aber sicher, daß Major Durand durch Mord verhindern wollte, daß vermißte Ehefrau gefunden wurde. Er ist nicht in Vereinigte Staaten gekommen, weil Sir Frederic ihn durch Kabel darum ersuchte. Das ist Lüge. Sir Frederic wollte ihn nicht hier haben. Aber er hat, wahrscheinlich von Onkel von Eve Durand gehört, daß Sir Frederic nahe daran ist, Ehefrau zu finden. Aus Grund, den noch tiefes Dunkel verhüllt, beschließt er, daß es soweit nicht kommen darf. Er kommt zur selben Zeit in San Francisco an wie Sir Frederic. Er stellt fest, wo großer Detektiv wohnt und daß er in Büro von Mr. Kirk arbeitet. Er beobachtet ihn, wartet seine Chance ab. Um Detektiv davon abzuhalten, Ehefrau zu präsentieren, zwei Dinge sind erforderlich. Er muß Akten und Berichte vernichten, und er muß Sir Frederic töten. Er beschließt, mit Akten zu beginnen, und am Abend von Dinnerparty dringt er
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ungesehen in Büro ein. Er durchsucht es, als Sir Frederic lautlos auf Samtpantoffeln hereinschleicht und ihn überrascht. Seine Gelegenheit ist gekommen, Sir Frederic ist unbewaffnet, und er schießt ihn tot. Aber noch ist nur Hälfte von Arbeit getan, verzweifelt sucht er schriftliche Unterlagen. Er findet sie nicht. Aber er findet Abholschein für Aktenmappe. Er nimmt ihn an sich, denkt sehnsüchtig an Club, wagt sich aber nicht hinein. Mit nächstem Zug flieht er, und Abholschein brennt Loch in seine Tasche. Wenn er nur zurückkehren könnte! In Chikago bietet ihm Zufall große Chance. Auf Grundlage von diesen Überlegungen, ich stelle heute abend meine Falle. Und in Falle tappt Mann, der Sir Frederic Bruce getötet hat.« Inspektor Duff blickte auf. Allem Anschein nach hatte er gelesen und gleichzeitig zugehört. »Intelligenz, schwere Arbeit und Glück«, stellte er fest. »Diese drei tragen stets zur Aufklärung eines Kriminalfalles bei. Und ich darf hinzusetzen, daß meine Meinung nach, in diesem Fall die Intelligenz den weitaus größten Anteil daran hatte.« Chan verneigte sich. »Worte, die ich mit eifersüchtigem Stolz ganzes Leben lang wie Schatz hüten werde.« »Ja, das war recht gut gemacht«, gab Flannery grollend zu. »Sehr gut sogar. Aber die Lösung ist nicht vollständig. Was ist mit den Samtpantoffeln? Was mit Hilary Galt? Wie hängt der Mordfall Galt mit unserem Fall zusammen?« Chan grinste. »Ich bin nicht so gefräßig«, sagte er. »Überlasse einige Punkte gern Captain Flannerys scharfem Verstand.« Flannery wandte sich an Duff. »Vielleicht steht es in
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Sir Frederics schriftlichen Unterlagen.« »Ich habe sie erst zur Hälfte gelesen«, antwortete Duff. »Bisher wurde Hilary Galt nur einmal erwähnt. Und zwar steht da, daß an dem Tag, an dem der Anwalt ermordet wurde, auch Eric Durand in seiner Kanzlei war. Captain Eric Durand, das war damals sein militärischer Rang. Um festzustellen, was diese Bemerkung zu bedeuten hat, muß ich weiterlesen.« »Wissen Sie schon«, mischte Chan sich ein, »ob Sir Frederic bekannt war, welche von uns verdächtigen Damen Eve Durand ist?« »Offenbar hatte er keine Ahnung. Er wußte nur, daß sie im Kirk-Building war. Seine Favoritin schien Miß Lila Barr zu sein.« »Ach, wirklich? War ihm klar, wie Eve Durand aus Indien entkam?« »Aber natürlich.« »Er wußte, daß sie mit Karawane reiste?« »Mit der Karawane über den Khaiberpaß, in Gesellschaft von Colonel John Beetham.« Duff nickte nachdrücklich. Jetzt blickten alle zu dem Forscher hinüber, der schweigend und unnahbar ein wenig abseits saß. »Ist das wahr, Colonel Beetham?« fragte Flannery. Beetham verneigte sich leicht. »Ich will es nicht länger leugnen. Es ist wahr.« »Vielleicht wissen Sie…« »Was ich auch wissen mag, ich darf es nicht sagen.« »Ich werde Sie zwingen!« explodierte Flannery. »Das können Sie natürlich versuchen, Captain. Es wird Ihnen nicht gelingen.« Die Tür ging auf, und Miß Morrow betrat rasch das Wohnzimmer. In ihrer Begleitung war die Liftführerin.
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Jennie Jerome? Marie Lantelme? Grace Lane? Wie immer sie heißen mochte, sie kam herein, blieb stehen und starrte Eric Durand an. »Eric!« rief sie. »Was hast du getan? Oh, wie konntest du nur…« Durand hob den Kopf und sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Geh weg von mir«, sagte er dumpf. »Geh weg. Du hast mir nichts als Kummer und Leid gebracht – immer. Geh weg. Ich hasse dich.« So bösartig klang seine Stimme, daß die Frau erschrocken zurückwich. Chan ging auf sie zu. »Entschuldigung vielmals«, sagte er sanft, »vielleicht hat Nachricht Sie schon erreicht? Es war Durand, der Sir Frederic ermordete. Ihr Mann, habe ich recht, Madam?« Sie fiel in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ja«, sagte sie schluchzend, »mein Mann.« »Sie sind wirklich Eve Durand?« »J-ja.« Charlie sah grimmig zu Flannery hinüber. »Jetzt kommt Wahrheit ans Licht«, sagte er. »Daß Sie einmal auf Chinesen hörten, ist schließlich doch nicht ewige Schande.«
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21. Kapitel
Was geschah mit Eve Durand Flannery wandte sich wütend an Eve Durand. »Dann wußten Sie es schon die ganze Zeit?« rief er. »Sie wußten, daß der Major schon einmal in San Francisco war! Sie haben ihn an dem Abend gesehen, an dem er Sir Frederic umbrachte…« »Nein, nein«, protestierte sie, »ich habe ihn nicht gesehen. Ich hätte mir so etwas nicht einmal im Traum vorgestellt. Und falls er gewußt hat, daß ich an jenem Abend im Gebäude war, hat er sorgsam darauf geachtet, mir nicht über den Weg zu laufen. Denn wenn ich ihn gesehen – wenn ich etwas gewußt hätte, wäre es für mich endgültig unerträglich geworden. Ich hätte gesprochen. Ich hätte sofort die ganze Geschichte erzählt.« Flannery beruhigte sich. »Nun, gehen wir zurück. Sie sind Eve Durand, Sie geben es also endlich zu. Vor fünfzehn Jahren sind Sie in Peshawar Ihrem Mann weggelaufen. Sie schlossen sich der Karawane von Colonel John Beetham an…« Bestürzt blickte sie auf, und sah erst jetzt den Forscher. »Das ist alles wahr«, sagte sie leise, »ich ging mit Colonel Beetham.« »Sind also mit einem anderen davongelaufen? Haben Ihren Mann verlassen? Warum? Waren Sie in den Colonel verliebt?« »Nein!« Ihre Augen blitzten. »Das dürfen Sie nicht denken! Colonel Beetham handelte aus reiner Herzensgüte und sehr unbesonnen, er soll nicht darunter leiden. Vor langer, langer Zeit habe ich mir das geschworen.«
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»Bitte, Eve«, sagte der Colonel, »ich werde nicht darunter zu leiden haben. Meinetwegen brauchen Sie Ihre Geschichte nicht preiszugeben.« »Das sieht Ihnen ähnlich«, antwortete sie. »Aber ich bestehe darauf. Ich habe Ihnen gesagt, wenn man mich je fände, würde ich alles erzählen. Und nach dem, was Eric getan hat –, nein, es ist nicht mehr wichtig. Ich werde sogar erleichtert sein, mir die ganze furchtbare Sache endlich von der Seele reden zu können.« Sie wandte sich an Flannery. »Ich muß weit zurückgreifen. Ich wuchs bei einem Onkel und einer Tante in Devonshire auf, meine Eltern waren früh gestorben. Sehr glücklich war ich dort nicht, denn mein Onkel hatte altmodische Ideen. Er meinte es gut, er war freundlich, aber wir kamen einfach nicht miteinander aus. Dann lernte ich Eric kennen – er war eine so romantische Gestalt ich betete ihn an. Damals war ich erst siebzehn. An meinem achtzehnten Geburtstag heirateten wir. Er war zu einem Regiment nach Peshawar abkommandiert worden, und ich ging natürlich mit ihm. Noch bevor wir nach Indien kamen, bereute ich, was ich getan hatte. Es tat mir leid, daß ich nicht auf meinen Onkel gehört hatte –, er mißbilligte die Verbindung von Anfang an. Die blendenden Manieren waren bei Eric nur Tünche, in Wirklichkeit war er gemein und niederträchtig. Er war ein Spieler, er trank zuviel. Sein wahrer Charakter flößte mir Entsetzen ein, er war gewöhnlich, brutal und ein Betrüger. Bald nachdem wir in Peshawar eingetroffen waren, bekam er Briefe aus London. Briefe in schmutzigen Umschlägen, die Adresse von einer des Schreibens
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fast unkundigen Hand daraufgemalt. Sie schienen meinen Mann wütend zu machen. Ich war betroffen und alarmiert. An einem bestimmten Tag – dem Tag des Picknicks – bekam ich zufällig einen dieser Briefe in die Hand, weil Eric nicht zu Hause war. Damals war ich schon ziemlich verzweifelt, denn ich kannte nur zu gut die Wutausbrüche, die er immer hatte, nachdem ein solcher Brief angekommen war. Ich zögerte eine Weile, dann riß ich den Umschlag auf. Sein Inhalt zerstörte mein Leben. Der Brief stammte von dem Portier eines Londoner Bürogebäudes, und der Mann schrieb, daß er mehr Geld wolle. Sofort. Er erging sich nicht in Andeutungen, er sprach es offen aus. Eric wurde von dem Portier erpreßt. Er bezahlte ihn für sein Schweigen. Falls er nicht bezahlte, wollte der Portier preisgeben, daß er Eric vor einem Jahr eines Abends aus einem Büro kommen sah. Aus einem Büro, in dem der Rechtsanwalt Hilary Galt mit einer Kugel im Kopf tot auf dem Boden lag.« Eve Durand machte eine Pause und fuhr dann mit sichtlicher Anstrengung fort. »Mein Mann wurde also erpreßt, weil er Hilary Galt ermordet hatte. Kurz darauf kam er nach Hause – in einer für ihn verhältnismäßig guten Laune. Ich sagte: >Ich verlasse dich auf der Stelle.« Er wollte wissen, warum, und ich gab ihm den geöffneten Brief. Sein Gesicht wurde aschgrau, und er brach zusammen. Er lag vor mir auf den Knien, kroch vor mir, flehte mich an. Ohne daß ich es verlangt hätte, erzählte er mir die ganze schreckliche Geschichte. Hilary Galt und mein Onkel, Sir George Mannering, waren alte Freunde. Am Morgen jenes schrecklichen Tages hatte der Anwalt Eric zu sich bestellt und ihm gesagt, falls Eric
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weiterhin darauf bestehe, mich zu heiraten, sehe er – Mr. Galt, meine ich – sich gezwungen, meinem Onkel verschiedene höchst unerfreuliche Tatsachen aus Erics Vergangenheit zu erzählen. Eric hatte sich angehört, was der Anwalt ihm zu sagen hatte, und dann das Büro verlassen. Am Abend war er zurückgekehrt und hatte Galt getötet. Der Portier war ihm über den Weg gelaufen, als er die Anwaltskanzlei verließ. »Er habe es aus Liebe zu mir getan, behauptete er. Weil er mich haben müsse, weil nichts sich zwischen ihn und mich stellen dürfe und er fest entschlossen sei, jedes, aber auch jedes Hindernis beiseite zu räumen. Ich müsse ihm verzeihen…« »Pardon«, warf Chan an dieser Stelle ein, »hat er in unglücklichem Augenblick vielleicht ein Paar Samtpantoffeln erwähnt?« »Ja, das hat er. Nachdem – nachdem er Hilary Galt getötet hatte, sah er die Pantoffeln auf einem Stuhl liegen. Er wußte, daß die Männer von Scotland Yard immer nach einem entscheidenden Hinweis suchen und beschloß, ihnen einen solchen zu geben. Einen, der völlig sinnlos war, einen, der sie auf eine falsche Fährte bringen mußte. Also zog er dem Opfer die Schuhe aus und streifte ihm die Pantoffeln über. Darauf war er ziemlich stolz, denke ich. O ja, auf seine niederträchtige Art war er immer sehr klug. Er prahlte mit seiner Heldentat und daß es ihm gelungen war, Scotland Yard irrezuführen. Dann bettelte er wieder – er habe es für mich getan – ich dürfe ihn nicht verraten. Ich dürfe es keinem sagen. Ich sei seine Frau, niemand könne mich dazu zwingen, etwas zu sagen. Der Himmel weiß, daß ich nicht den Wunsch hatte, irgend jemand etwas zu sagen, ich wollte nur fort von
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ihm. Ich sagte wieder, daß ich ihn verlassen würde. ›Dann bringe ich dich um‹, antwortete er, und meinte es todernst. Also fuhr ich zu dem Picknick, vor den Trümmern meiner Welt stehend, verzweifelt, halb wahnsinnig vor Kummer und Angst. Colonel Beetham war auch da. Ich war ihm vorher ein einzigesmal begegnet, ein feiner Mann, ein Gentleman, kurz alles, was Eric nicht war. Er wollte am nächsten Morgen abreisen. Und dann kam mir der blitzartige Gedanke, daß er mich mitnehmen mußte. Ich schlug vor, Verstecken zu spielen, nachdem ich den Colonel gebeten hatte, sich mit mir an einer bestimmten Stelle zu treffen. Er kam. Ich nahm ihm das Versprechen ab, nie etwas zu verraten, und dann schilderte ich ihm meine furchtbare Lage. Wenn ich versuchte, ganz offen zu gehen, würde Eric seine Drohung bestimmt wahrmachen und mich töten. Colonel Beetham war phantastisch. Er arrangierte alles. Ich versteckte mich die ganze Nacht in den Hügeln. Im Morgengrauen kamen er und Li Gung mit einem Karren, den er, sobald wir über den Khaiberpaß waren, zurücklassen wollte. In diesem Karren versteckt, verließ ich Indien. Hinter dem Khaiberpaß begann dann für mich das herrlichste Abenteuer, das eine Frau je erlebte. Acht Monate auf dem Rücken eines Kamels durch wildes Land – durch Sternennächte, Staubstürme, durch die Wüste, die sich leer und geheimnisvoll vor uns erstreckte, soweit das Auge reichte. Vor Teheran trennte ich mich von der Karawane und reiste allein weiter nach Baku, von dort ging ich nach Italien. Acht Monate waren vergangen, wie ich schon sagte, und der Aufruhr um mein Verschwinden hatte sich gelegt. Doch jetzt erst wurde mir klar,
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was ich getan hatte. Colonel Beetham war ein Held, er würde überall geehrt. Wie, wenn herauskam, auf welchem Weg ich Indien verlassen hatte. Nichts kann harmloser sein, als unsere Beziehung es war, aber die Welt besteht aus Zynikern. Durch seine gütige und ritterliche Handlungsweise hatte er sich dem Verdacht ausgesetzt, mit der Frau eines anderen durchgegangen zu sein. Wenn das bekannt wurde, war es mit seiner Karriere zu Ende. Es durfte nie herauskommen.« »Und das haben Sie auch geschafft«, sagte Beetham weich. »Sie haben eben gehört, meine Herren, daß meine Handlungsweise ritterlich genannt wurde. Ich kann ihnen versichern, daß Eve Durand sich seither noch viel, viel ritterlicher verhalten hat« »Zuallererst«, fuhr Eve Durand fort, »schrieb ich einen Brief an Eric, in dem ich ihm mitteilte, er dürfe – um seinetwillen – nie versuchen mich zu finden. Denn würde ich gefunden und käme heraus, auf welchem Weg ich Indien verlassen hatte, würde ich keine Sekunde zögern, Colonel Beethams Namen reinzuwaschen, indem ich preisgab, warum ich gegangen war. Ich würde sagen, daß ich Indien verlassen hatte, weil ich entdeckte, daß mein Mann ein Mörder war. Eric antwortete nicht, aber er muß den Brief bekommen haben. Er versuchte nie wieder, mich zu finden. Er wollte aber auch nicht, daß mich jemand anders fand –, wie er erst kürzlich bewiesen hat.« Sie machte eine Pause und setzte dann hinzu: »Das ist ungefähr alles. Ich – ich hatte es ziemlich schwer. Ich mußte meinen Schmuck verkaufen und lebte eine Zeitlang von dem Erlös. Dann ging ich nach Nizza und wurde unter dem Namen Marie Lantelme Schauspielerin. Dort merkte ich zum erstenmal, daß mir ein ande-
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rer Mann auf der Spur war, einer, der nie aufgeben würde. Sir Frederic Bruce von Scotland Yard, der den Fall Hilary Galt bearbeitete. Er wußte, daß Eric an jenem unheilvollen Tag bei Galt in der Kanzlei gewesen war, und als er las, daß ich aus Indien verschwunden sei, muß er einen Zusammenhang gewittert haben. Als ich eines Abends aus dem Theater kam, hielt mich auf der Promenade des Anglais ein Inspektor von Scotland Yard auf und sagte: ›Sie sind Eve Durand.‹ Ich stritt es ab, ließ ihn stehen und floh nach Marseille. Dort schiffte ich mich nach New York ein. Ich veränderte mein Aussehen, so gut ich konnte – färbte mir vor allem das Haar –, und nahm unter dem Namen Jennie Jerome einen Job als Modell an. Wieder kam mir Scotland Yard auf die Spur, und ich mußte bei Nacht und Nebel verschwinden. Verzweifelt und ohne einen Cent kam ich nach San Francisco. An Bord einer Fähre traf ich Helen Tupper-Brock, die in Devonshire ganz in unserer Nähe gewohnt hatte. Sie war sehr gut zu mir und besorgte mir die Stellung als Liftführerin. Ich war wieder glücklich –, bis Sir Frederic auftauchte, der es immer noch nicht aufgegeben hatte, mich zu suchen.« Durand erhob sich langsam. »Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden«, sagte er heiser. »O Eric…« »Du hast mich erledigt, du kannst jetzt zufrieden sein.« Seine Augen flammten. »Du hast den makelloen Ruf deines verdammten Sir Galahad gerettet…« »Sie gestehen also?« rief Flannery erregt. Durand zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Warum nicht? Was bleibt mir sonst übrig?« Er richtete den flammenden Blick auf Charlie Chan. »Alles, was dieser Teufel sagte, stimmt bis aufs I-Tüpfelchen. Ich
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muß ihn deshalb bewundern. Ich hielt mich für klug, aber er ist mir über…« Durands Stimme steigert sich hysterisch. »Ich habe Sir Frederic getötet. Warum auch nicht? Es war die einzige Möglichkeit. Er stand mir gegenüber und lachte. Mein Gott, was für ein Mann! Er gab nicht auf. Er ließ nicht locker. Sechzehn Jahre, und er war mir noch immer auf den Fersen. Sechzehn Jahre, und er vergaß nicht Ja, ich habe ihn getötet--« »Und die Samtpantoffeln?« fragte Charlie Chan sanft. »Die er an den Füßen trug? Dieselben alten Samtpantoffeln, die ich vor so langer Zeit einem Toten angezogen hatte? Ich sah sie sofort nach dem Schuß, und da gingen die Nerven mit mir durch. Sie schienen mich anzuklagen, auf mich hinzuweisen. Ich riß sie Sir Frederic von den Füßen, nahm sie mit. Ich – ich wußte nicht, was ich damit machen sollte, war mit den Nerven völlig am Ende, aber ich hatte ihn getötet. Ja, ich hatte ihn getötet. Und ich bin bereit zu bezahlen. Aber nicht so, wie Sie glauben.« Plötzlich fuhr er herum und raste durch die geschlossene Verandatür in den Dachgarten. Die Türscheibe zerbarst mit einem explosionsähnlichen Knall. »Die Feuerleiter!« brüllte Flannery. »Wir müssen ihm den Weg abschneiden!« Der Captain, Duff und Chan waren dicht hinter Durand. Charlie lief zur Feuerleiter, doch sie war an diesem Abend nicht Eric Durands Ziel. Er sprang über das Geländer, das den Garten umgab. Sekundenlang sah man seine große Gestalt als dunkle Silhouette vor dem dunstigen Himmel. Dann verschwand sie langsam. Sie liefen zum Geländer und beugten sich darüber. Tief unten lag im bleichen Schein einer Straßenlaterne
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ein schwarzes, zusammengekrümmtes Bündel. Und schon sammelte sich eine Menge Schaulustiger –
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22. Kapitel
Rückkehr nach Hawaii Nachdem die Verfolgung ein so tragisches Ende genommen hatte, kehrte die drei Männer in das Wohnzimmer des Bungalows zurück. »Nun«, sagte Flannery, »der hat es hinter sich.« »Ist er geflohen?« fragte June Morrow. »Ja, aus dieser Welt.« Der Captain nickte. Eve Durand schrie leise auf, und June Morrow legte den Arm um sie. »Ich habe jetzt unten zu tun«, setzte der Captain hinzu und marschierte hinaus. »Wir gehen jetzt am besten nach Hause, meine Liebe«, sagte June Morrow weich. Barry Kirk brachte die beiden jungen Frauen zur Tür. Er hätte soviel zu sagen gehabt, doch unter den gegebenen Umständen schien es ihm am besten zu schweigen. »Ich fahre Sie nach Hause«, schlug er vor. »Nein, besten Dank«, antwortete June. »Wir nehmen lieber ein Taxi.« »Gute Nacht«, sagte er ernst. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen.« Als er das Wohnzimmer wieder betrat, sagte Colonel Beetham gerade: »Daß er sich das Leben nahm, war wohl das einzig Positive, das er je geleistet hat. Was für eine Pleite dieses Leben doch war! Armer Major Durand!« Ungerührt stopfte Duff seine Pfeife. »Übrigens«, sagte er, »ich habe heute ein Kabel mit einer interessanten Information über ihn bekommen. Er wurde vor zehn Jahren unehrenhaft aus der britischen Armee entlassen. Es ist also sehr fraglich, ob ihm der Titel überhaupt zustand. Doch das wußten Sie natürlich, Colonel
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Beetham.« »Ja, ich wußte es.« »Sie wußten so viel«, fuhr Duff fort, »und haben nichts gesagt. Was haben Sie an dem bewußten Dienstagabend im zwanzigsten Stockwerk gemacht?« »Haargenau das, was ich Flannery sagte. Ich lief hinunter, um Li Gung zu sagen, er brauche nicht zu warten.« »Sind Sie nicht hinuntergelaufen, um ein bißchen mit Eve Durand zu schwatzen?« Der Colonel schüttelte den Kopf. »Aber nein, mit Eve hatte ich mich schon unterhalten. Ich hatte sie nämlich schon ein paar Tage vor der Dinnerparty ausfindig gemacht. Nachdem ich sie zehn Jahre lang aus den Augen verloren hatte, kam ich nach San Francisco, weil mir das Gerücht zu Ohren gekommen war, daß sie hier sei. In den zwanzigsten Stock ging ich nur, um Li Gung Bescheid zu sagen.« »Und am nächsten Tag schickten Sie ihn nach Honolulu?« »Ja. Weil Eve mich darum gebeten hatte. Ich hatte es schon zwei Tage vorher veranlaßt. Sie hatte gehört, daß Sir Frederic sich für ihn interessierte und befürchtete, etwas könnte meine nächste Expedition gefährden. Es war unnötig, Li Gung hätte kein Wort gesagt, aber um sie zu beruhigen, tat ich ihr den Willen.« Duff musterte ihn mit offener Mißbilligung. »Sie wußten, daß Durand einen Mord begangen hatte, und doch schwiegen Sie. War das eine Ehrensache für Sie, Colonel?« Beetham zuckte mit den Schultern. »Ich denke – ja. Mir wäre nicht einmal im Traum eingefallen, daß Durand am Mordabend in San Francisco gewesen sein
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könnte. Aber selbst, wenn ich gewußt hätte, daß er hier gewesen war – nun ja, wissen Sie--« »Ich fürchte, ich weiß gar nicht«, entgegnete Duff heftig. »Ich bin Ihnen eigentlich keine Erklärung schuldig«, fuhr Beetham fort. »Aber ich will es Ihnen trotzdem erklären. Auf der langen Reise durch Afghanistan und die Wüste Kevir ist etwas geschehen. Eve war so tapfer, jammerte und klagte nicht. Ich – verliebte mich. Zum ersten- und zum letztenmal in meinem Leben. Was sie seither für mich getan hat – verdammt. Mann, ich bete sie an. Aber ich habe es ihr nie gesagt, ich weiß nicht, ob ich ihr etwas bedeute oder nicht. Solange Durand lebte, war er in gewisser Weise mein Rivale. Hätte ich ihn verraten, hätte ich mich fragen müssen, warum ich es getan hatte, und hätte meiner nie ganz sicher sein können. Ich habe Eve vorgeschlagen, ihre Geschichte zu erzählen, aber ich habe sie nicht gedrängt. Das konnte ich nicht. Ich mußte die Entscheidung ihr überlassen. Als sie an jenem Abend Flannerys Leuten entkam, half ich ihr. Wenn sie das wollte, mußte ich einverstanden sein. Tja, Inspektor, es war Ehrensache für mich, das Spiel so zu spielen, wie ich es für richtig hielt.« Duff zuckte mit den Schultern. »Merkwürdiges Ehrgefühl«, meinte er. »Doch will ich sogar so weit gehen. Ihnen Glück zu wünschen, obwohl Sie uns die Arbeit sehr erschwert haben.« »Besten Dank«, sagte Beethain und griff nach seinem Mantel. »Ich muß gestehen, daß ich aus rein selbstsüchtigen Gründen hoffte. Sie könnten ihn endlich überführen. Und Sergeant Chan hat dafür gesorgt, daß ich keine Enttäuschung erleben mußte. Meine aller-
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herzlichsten Glückwünsche, Sergeant. Aber ich kenne Ihr Volk und bin nicht überrascht.« Chan verneigte sich. »Für immer und ewig ich werde Worte bewahren wie Blumen aus lade, die nie welken.« »Dann darf ich mich verabschieden«, sagte Beetham und ging. Duff nahm Sir Frederics Aktenmappe. »Vielleicht wollen Sie sich die Aufzeichnungen und Notizen einmal ansehen, Sergeant«, sagte er. Chan zuckte zusammen. »Entschuldigen vielmals meine Dummheit, habe leider nicht aufgepaßt.« »Ich meinte, ob Sie sich vielleicht Sir Frederics Unterlagen ansehen möchten.« Charlie schüttelte den Kopf. »Neugier ist gestillt wie Feuer, das strömender Regen löscht. Endlich wir konnten hinter Vorhang schauen, von dem Sir Frederic sprach, und ich bin zufrieden. Im Augenblick ich gab mich bitteren Gedanken hin. Vor nächsten Mittwoch kein Schiff läuft aus nach Honolulu. Fünf schreckliche Tage.« Duff lachte. »Nun, ich habe mir die Aufzeichnungen flüchtig angesehen«, fuhr er fort. »Sir Frederic hatte mit Freunden dieses Londoner Portiers gesprochen, der Durand erpreßte. Aber der Mann selbst war schon gestorben, bevor man im Yard von seiner Existenz erfuhr, und die Aussagen seiner Freunde waren unklar, ohne große Beweiskraft vor Gericht. Sie bedurften der Bestätigung durch Eve Durand, und sie wollte Sir Frederic haben, um jeden Preis.« »Woher wußte Sir Frederic, daß Eve Durand sich in San Francisco aufhielt?« erkundigte sich Barry Kirk. »Das erfuhr er aus einem Brief, den Mrs. Tupper-Brock
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an eine Tante in Shanghai schrieb. Eine Kopie des Briefes ist bei den Akten. Darin schreibt Mrs. TupperBrock, daß Eve Durand hier in der Stadt sei und im Kirk-Gebäude arbeite. Und das erklärt, warum er unbedingt bei Ihnen wohnen wollte, Mr. Kirk. Aber er hat nicht herausbekommen, welche von den beteiligten Frauen Eve Durand war, er starb, bevor ihm diese Befriedigung zuteil wurde, der arme Kerl. Seine Wahl war auf Miß Lila Barr gefallen. Er wagte nicht, etwas zu Mrs. Tupper-Brock zu sagen, weil er fürchtete, Eve Durand könnte ihm wieder durch die Finger schlüpfen. An dem Abend, an dem das Dinner stattfand, stellte er eine Falle – ließ den Schreibtisch unverschlossen und den Safe offen. Er hoffte, daß jemand einsteigen und sich umsehen würde. Und außerdem vertraute er darauf, daß jemand Jennie Jerome oder Marie Lantelme identifizieren würde.« »Und wenn Mörder nicht vorher zugeschlagen hätte, Sir Frederic hätte auch Erfolg gehabt«, warf Chan ein. »Daran gibt es keinen Zweifel. In Peshawar stellte er zu seiner größten Zufriedenheit fest, auf welche Weise Eve Durand Indien verlassen hatte. Wenn er sie gefunden hätte, hätte er ihr gesagt, was er wußte, und sie hätte ihm ihre Geschichte erzählt, wie sie „es Jaetrfe abend hier tat. Seine lange Suche nach dem Mörder von Hilary Galt wäre endlich vorüber gewesen. Armer Sir Frederic.« Duff nahm seinen Mantel, und Kirk half ihm hinein. »Ich nehme die Aktenmappe mit«, setzte er hinzu. »Wir werden sie im Yard gut brauchen können.« Er streckte die Hand aus. »Sergeant Chan, Ihnen begegnet zu sein, wäre mir für die lange Reise Belohnung genug gewesen. Sie müssen eines Tages nach London kommen. Dann zeige ich
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Ihnen, wie wir drüben arbeiten.« Chan lächelte. »Zu liebenswürdig. Aber Postbote in Ferien ist so lange gelaufen, daß ihm Füße weh tun. Zu nächstem Urlaub müßte man ihn schon mit vorgehaltener Pistole zwingen.« »Das wundert mich nicht«, erwiderte Duff. »Mr. Kirk, es war mir eine große Freude, Sie kennenlernen zu dürfen. Leben Sie beide wohl, und alles Gute!« Kirk begleitete ihn hinaus. Als er zurückkam, stand Charlie am Fenster und sah auf die Dächer der Stadt hinunter. Er drehte sich zu Kirk um und sagte: »Gehe jetzt packen.« »Aber Sie haben doch noch fünf Tage Zeit«, protestierte Kirk. Charlie schüttelte den Kopf. »Gast, der zu lange bleibt, riecht bald wie verdorbener Fisch. Sie waren so freundlich – mehr mir wäre unangenehm. Entferne mich sofort.« »O nein!« rief Kirk. »Der gute alte Paradise serviert uns in ein paar Minuten das Abendessen.« »Bitte sehr vielmals, gestatten Sie mir Luxus, wenigstens Anfang zu machen, mit dem, was ich sage.« Er verschwand in seinem Zimmer und kam nach erstaunlich kurzer Zeit wieder. »Gepäck war schon fast bereit«, erklärte er. Er sah zum Fenster. »Strahlend scheint Mond heute abend in Honolulu. Ich denke an Nachte zu Hause – lange Nächte mit langen Gesprächen, langen Teestunden, langem Schlaf und langen, friedvollen Träumen.« Er ging in den Flur hinaus, wo er Hut und Mantel gelassen hatte. »Wie«, sagte er, als er zurückkam, »soll ich überwältigenden Dank ausdrücken, den ich empfinde. Angesichts von Gastfreundschaft: wie der Ihren – «
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Es klingelte lange und anhaltend. Charlie ging in sein Zimmer. Barry Kirk öffnete, und Bill Rankin, der Reporter, stürmte herein. »Wo ist Charlie Chan?« fragte er außer Atem. »In seinem Zimmer. Er kommt sofort.« »Ich möchte mich bei ihm bedanken«, fuhr Rankin laut fort. »Er hat sich mir gegenüber großartig verhalten. Ich habe tatsächlich den Knüller des Jahres herausgebracht, und das Stunden vor allen anderen. Außerdem habe ich eine Neuigkeit für Charlie. In Oakland ist vor kurzem unter höchst merkwürdigen Umständen eine Frau ermordet worden. Es gibt die tollsten Spuren, und da Charlie sowieso erst nächste Woche abreisen kann--« Kirk lachte. »Das müssen Sie ihm selbst erzählen«, meinte er. Sie warteten noch ein paar Minuten, dann ging Kirk in Charlies Zimmer. Er schrie überrascht auf. Der Raum war leer. Eine zweite Tür, die auf den Flur führte, stand ebenso offen wie die Hintertür, durch die man in die Büros gelangen konnte. »Rankin«, rief er, »kommen Sie bitte mal her!« Rankin kam. »Wo – ja, wo ist er denn?« Kirk ging die Treppe hinunter, und der Reporter folgte ihm. In den Büros war es stockdunkel. Im mittleren Zimmer knipste Kirk das licht an. Nachdem er sich rasch umgesehen hatte, zeigte er auf ein Fenster, an dem die Feuerleiter vorbeiführte. Es war so weit wie möglich hinaufgeschoben worden. »Der Postbote«, sagte er, »weigert sich entschieden, noch einen Spaziergang zu machen.« »Ist verschwunden wie Eve Durand!« rief Rankin. »Ich will verflucht sein!«
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Kirk lachte. »Keine Aufregung«, sagte er. »Ich weiß, wo er am nächsten Mittwoch Punkt zwölf zu finden ist« Mit der Absicht, seine Prophezeiung wahrzumachen, erschien Barry Kirk am nächsten Mittwoch um elf Uhr vormittags in June Morrows verstaubtem Büro. Er hatte unterwegs bei einer Blumenhandlung angehalten und ein höchst extravagantes Orchideengebinde erstanden, das er der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin jetzt überreichte. »Was soll das?« fragte sie. »Kommen Sie«, sagte er. »Der Morgen funkelt wie ein neues Goldstück, und im Hafen liegt ein Schiff vor Anker, das bald zu den lieblichsten Insel auslaufen wird, die es gibt. Mit diesen Blumen möchte ich gute Reise wünschen.« »Aber ich verreise doch gar nicht!« »Wir wollen so tun, als verreisten Sie. Bis zum Pier müssen Sie ohnehin. Holen Sie Ihren Hut.« »Sofort.« June machte sich fertig, und sie stiegen die dunkle Treppe hinunter. »Haben Sie etwas von Charlie Chan gehört?« fragte sie. »Kein Wort. Charlie geht kein Risiko ein. Aber wir finden ihn bestimmt an Bord. Darauf würde ich mein ganzes Hab und Gut wetten.« Sie stiegen in Kirks Wagen. »Was für ein Morgen!« sagte er. »Eingesperrt in Ihr finsteres Büro, haben Sie keine Ahnung, was in der Welt vorgeht. Der Frühling ist da, meine Dame.« »Das scheint mir auch so. Ach, wissen Sie übrigens, daß Colonel Beetham gestern abend nach China abgereist ist?« »Ja, das wußte ich. Was ist mit Eve Durand?« »Sie fährt morgen nach England. Ihr Onkel hat gekabelt, daß er sie erwartet. Der Colonel wird sich ein Jahr in der Wüste Gobi aufhalten und geht dann auch
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nach England. In Devonshire wird es Frühling sein, wenn er ankommt. Ein ganz wunderbarer Frühling, wie die beiden glauben.« Kirk nickte. »Aber ein ganzes Jahr getrennt. Es ist doch jammerschade, so lange zu warten. Man soll den Frühling genießen, den man jetzt hat. Das wäre mein Rat.« Er bog auf den Pier ein. Ein Schiff fuhr hinaus, das bedeutete Freude und Abschied zugleich. Ferienreisende und Geschäftsleute, gelangweilte Stewards, die geduldig warteten, aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. June Morrow und Barry Kirk gingen über den Laufsteg an Bord des großen weißen Schiffes. »Bleiben Sie hier an der Reling stehen«, sagte er. »Mit diesen Orchideen…« »Wozu, in aller Welt?« »Ich möchte sehen, wie Sie in dieser Rolle wirken. Bin gleich wieder da.« Als er zurückkam, ging Charlie Chan neben ihm. Aus dem Gesicht des Detektivs strahlte eine Zufriedenheit, die er nicht verbergen konnte. »Überwältigt von großer Aufmerksamkeit«, sagte er zu June. »Wo waren Sie?« fragte sie herzlich. »Wir haben Sie schrecklich vermißt.« Er grinste. »Versteckte mich vor Versuchung«, erklärte er. »Aber Captain Flannery nimmt den ganzen Ruhm, den Fall gelöst zu haben, für sich in Anspruch. Schließlich war es Ihre Arbeit, Ihr Erfolg. Es ist nicht fair.« Chan zuckte mit den Schultern. »Von Anfang an ich wußte, meine Arbeit in Fall Sir Frederic Bruce würde
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sein wie Verbeugung im Dunkeln. Es war mir gleichgültig. Darf ich hinzufügen, daß Sie heute morgen bezaubernden Anblick bieten?« »Wie sieht sie ihrer Meinung nach aus, Charlie?« erkundigte sich Kirk. »Ich meine, wenn sie so mit diesen Blumen an der Reling steht.« »Wie wunderschöne Braut«, antwortete Charlie prompt, wie jemand, der einen eingelernten Text aufsagte. »Wunderschöne Braut, die mit jungem Ehemann auf Hochzeitsreise geht.« »Genau«, stimmte Kirk zu. »Sie probt genau diese Rolle, wissen Sie?« »Das wußte ich ja selbst noch nicht«, wandte June Morrow ein. »Weiser Mann hat gesagt: >Schöner Vogel kommt in Käfig«, sagte Chan. »Haben keine Hoffnung zu entkommen.« June reichte ihm ein kleines Rickchen. »Das ist für – den anderen Barry. Mit meiner ganzen liebe.« »Danke sehr vielmals. Er wird stolzer Junge sein. Aber Sie ihm nicht geben ganze liebe. Werden nicht übersehen Original mit selbem Namen. Chinesen haben sechsten Sinn, und er hat zu mir gesprochen. Habe ich recht? Kostbarer Ruf von kleinem Detektiv aus Honolulu hängt an Antwort wie an seidenem Faden.« June Morrow lächelte. »Ich fürchte sehr, daß Sie – immer recht behalten.« »Jetzt ist wahrhaftig mein glücklichster Tag«, sagte Chan. »Und auch der meine!« rief Barry Kirk. Er nahm einen großen Umschlag aus der Tasche und sagte: »Da das geregelt ist, habe ich auch etwas für Klein-Barry. Geben Sie es ihm mit meinen besten Wünschen.«
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Chan nahm den Umschlag entgegen, der sehr schwer war und lauter Goldstücke enthielt. »Herz von kleinem Detektiv geht über«, sagte er. »Noch kleinerer Sohn wird danke sagen, wenn Sie auf Hochzeitsreise nach Honolulu kommen.« »Dann muß er sehr bald reden lernen«, antwortete Barry. »Aber bei einem solchen Vater…« Zum letztenmal erklang der Ruf »Besucher von Bord!« June und Barry schüttelten Charlie die Hand und liefen. In der Nähe des Laufstegs gerieten sie in einen wahren Abschiedswirbel. Umarmungen, schnelle Küsse, Versprechen und Ratschläge wurden um sie herum verteilt, als gebe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Barry beugte sich rasch zu June hinüber und küßte sie. »Aber – wie konntest du nur!« rief sie. »Entschuldige bitte. Ich habe noch immer gespielt, daß du auch abreist.« »Aber ich reise nicht. Und du auch nicht.« »Das merkt doch keiner in diesem Tohuwabohu. Komm, gehen wir von Bord.« Sie stiegen zum Pier hinunter und liefen dann am Schiff entlang, bis sie Charlie Chan gegenüberstanden. Der Detektiv hatte eine leuchtend rote Papierrolle in der Hand, hielt sie an einem Ende fest und warf sie June zu. Barry lächelte glücklich. »Wenn mir vor zwei Wochen einer gesagt hätte, ich würde eine Staatsanwältin küssen und das mit großem Vergnügen…« Das heisere Aufheulen der Schiffssirene unterbrach ihn. Langsam entfernte sich das Schiff vom Pier. Das rote Band aus Papier zerriß, die Enden schwammen im Wasser. Charlie beugte sich weit über die Reling.
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»Aloha!« rief er. »Bis wir uns wiedersehen.« Sein dickes Gesicht glänzte vor Freude. Das große Schiff schien einen Augenblick innezuhalten, erbebte und glitt dann weiter hinaus – Hawaii entgegen.
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