Ute Jonathan
Cheper Ein Fantasy-Roman
Snayder Verlag
1. Auflage 1998 Alle Rechte vorbehalten Copyright © by Snayder...
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Ute Jonathan
Cheper Ein Fantasy-Roman
Snayder Verlag
1. Auflage 1998 Alle Rechte vorbehalten Copyright © by Snayder Verlag
Layout: Nora Stach Illustration: Kornelia Speilerberg Herstellung: Janus Druck, Borchen ISBN 3-932319-71-0
Auf der Insel Tantenen leben, von anderen als Kreaturen verachtet und ausgestoßen, die Heilerinnen des Coven. Zu ihnen gehört die junge Seelah, die mit ihrem Schicksal hadert und ihre Andersartigkeit nicht zu akzeptieren vermag. Als sie beim Ritus ihrer Einweihungsfeier eine göttliche Weisung erhält, nimmt sie diese zum Anlaß, nach ihren „Wurzeln“ zu suchen und betritt unter Gefahren die verbotenen Kontinente Arman und Lufus. Doch was ist los mit den Armanern und Lufusiern? Warum haben sich die Göttlichen von ihnen abgewandt? Auf ihrer Reise durch die Kontinente macht Seelah unvermutete Erfahrungen; die Begegnungen mit den erdverbundenen Armanern und den erdverachtenden Lufusiern verändern das Wesen Seelahs. Sie ist dem Verstehen auf der Spur. Obwohl in archaischer Zeit angesiedelt, ist die Thematik des Romans zeitlos, verweist auch auf die heutige Zeit und kann als Aufforderung zur eigenen Standortbestimmung gelesen werden.
Die… Menschen aber… bekehrten sich nicht von den Werken ihrer Hände, um abzulassen von der Anbetung der Dämonen und der goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen, die weder zu sehen vermögen noch zu hören noch zu gehen; und sie bekehrten sich auch nicht von ihren Mordtaten, von ihren Zaubereien, von ihrer Unzucht und ihren Diebereien. (Offenbarung)
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ie Götter sahen, daß die Bosheit auf Erden groß war, und sie wandten sich ab von ihren Geschöpfen, erzählte der Greis mit zittriger Stimme. Er hockte unter der breiten Ulme, während die um ihn versammelten Kinderaugen gebannt an seinen Lippen hingen. Das Sonnenlicht flirrte durch das ausladende Blätterdach des mächtigen Baumes, huschte in hellen Kringeln über den Boden und die Sitzenden, verkündete große Hitze. Der alte Mann räusperte sich, ehe er mit dem Sprechen fortfuhr: „Die Allmächtigen hielten Rat und beschlossen, die Menschen von der Erde zu vertilgen. Nur wenige fanden Gnade vor ihren Augen, denn diese waren fromm und gerecht. Die Götter wollten sie verschonen und sprachen also zu ihnen: Zimmert eine große Arche aus dickem Holz. Wir werden eine gewaltige Wasserflut über die Erde schicken, und alles Lebende soll untergehen. Nur ihr sollt gerettet werden.“ „Wandererzähler…?“ „Ja?“ Verlegen malte der Kleine mit seinem Finger im Staub. „Nun frage schon!“ Gütig und ruhig sprach der Alte. Er hatte Zeit, der Tag war noch jung. Noch machten ihm keine Essensgerüche den Mund wäßrig. Er trank einen Schluck aus der Flasche, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte. „Warum haben die Götter die Menschen nicht gleich anders gemacht? Ich meine… dann hätten sie doch ihre eigene Schöpfung nicht wieder vernichten müssen!“ Der Greis überlegte. Schweigen hing in der Luft. Einige Kinder scharrten mit den Füßen, die anderen waren so gespannt, daß sie kaum zu atmen wagten. Eine Fliege brummte
um die borkige Rinde des Baumstamms, ließ sich schließlich nieder. „Vielleicht haben die Götter geirrt… falsch geplant… so etwas gibt es… auch bei ihnen.“ „Aber einige Menschen mußten doch nicht sterben. Manche waren ja anders“, rief ein sommersprossiges Mädchen aufgeregt und wand sich den Zopf um die Handfläche. „Nun… manchmal hilft sich die Natur eben selbst… es gibt da Entwicklungen…“, deutete der Alte geheimnisvoll an. „Erzähle! Erzähle!“ drängten die Kinder. „Das ist eine sehr… sehr lange Geschichte, und ich weiß nicht, ob sie immer für Kinderohren gedacht ist…“ „Du mußt sie uns erzählen!“ „Ja… Wer außer Kindern will sie auch sonst noch hören“, seufzte der Greis. „Also laßt sehen. Wie kann ich am besten beginnen…?“
W
ie oft hatte sie hier gestanden? Schon auf ganz kurzen Kinderbeinen war sie wieder und wieder in den Turm des uralten Coven hinaufgestiegen. Die Tage, da sie sich auf Schemel und Zehenspitzen stellen mußte, um an die Fensteröffnung heranzureichen, waren längst vergangen. Geblieben waren die geweiteten grünen Augen, während sie versuchte, im schwindenden Licht der untergehenden Sonne noch einen letzten Blick auf die beiden fernen Kontinente zu werfen. Die Nebel, die dem Urgewässer nun entstiegen, verdichteten sich jedoch schnell. Sie nahmen der Welt alle Farben, und weder das leuchtende Gelb Annans noch das lichte Blau von Lufus waren zu entdecken. Enttäuscht zog Seelah ihren wärmenden Schal enger um die Schultern, lehnte sich an die klammen Bruchsteine des Fensterbogens und lauschte Uriels Lied. Der Fährmann nahm sich wie so oft der kleinen Kreaturen an und sang ihnen mit seiner warmen Stimme die Überlieferung von der Geburt des Sonnenkindes Nefertem: Zu Beginn aller Zeiten, Himmel und Erde, Land und Wasser hatten sich kaum geschieden, die ersten Pflanzen und Tiere gerade das Leben gefunden, wuchs auf dem heiligen Gewässer Nun eine Lotusblüte. Lange dauerte ihr Cheper, und als sie sich in der reinen Luft eines frühen Morgens öffnete, saß das göttliche Kind in der Blüte und weinte. Aus seinen Tränen entstanden die Menschen. – Für einen kurzen Moment herrschte unten andächtiges Schweigen, dann ließ sich ein eifriges Stimmchen vernehmen: „Uriel, was heißt Cheper?“
„Cheper heißt werden“, flüsterte Seelah die Antwort, die sie selbst bekommen hatte, damals, als ihrer andächtigen Kinderseele noch so wenig fragwürdig erschienen war. Heute berührten sie andere Aspekte des Mysteriums, vor allem die Menschwerdung aus Tränen. War sie deswegen so rast- und ruhelos, so unausgeglichen, so suchend? Fühlte sie sich deshalb so eingesperrt im Coven, so verbannt auf die Insel Tantenen? Konnten aus göttlichen Tränen überhaupt glückliche Menschen entstehen? Oder lag es daran, daß sie als Kreatur, als Mißgeburt, als Ausgestoßene geboren worden war? Als Unperson, der der Zutritt zu den Erdteilen Arman und Lufus und der Kontakt zu ihrer Familie, ihren Eltern und Geschwistern, für immer verboten war…? „Seelah?“ In Kristas sanfter Frage klang das Verständnis mit, das die ältere Frau der jüngeren entgegenbrachte. Sie trat zu ihrem Zögling hin und strich ihr mit rauhen Händen über das Haar: „Wir brauchen dich! Hast du nicht gesehen, wie Uriel die Fuhre schwangerer armanischer Frauen gebracht hat?“ Seelah bemühte sich um ein Lächeln. „Ich weiß, ich komme.“ Vorsichtig stiegen die beiden Frauen die enge Wendeltreppe mit den ausgetretenen Steinstufen hinunter. Sie gingen hintereinander, tasteten nach Halt an den unebenen Wänden. „Hast du schon den Sternenkalender studiert?“ erkundigte sich Seelah bei ihrer mütterlichen Freundin. „Aber ja. Der Einfluß der fernen Gestirne Uranus, Neptun und Pluto ist vor Mitternacht am kräftigsten. Deshalb werden zunächst die Frauen aus Lufus gebären. Sie dürften sich inzwischen sicherlich genügend auf ihre Geburten vorbereitet haben, immerhin sind sie schon seit zwei Tagen hier.“ Krista hielt kurz inne, um sich eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Dann setzte sie den mühsamen Abstieg fort.
„Ab Mitternacht gewinnen Merkur, Mars und Saturn an Stärke, so daß die Frauen aus Arman wohl in den frühesten Morgenstunden niederkommen werden.“ Sie seufzte: „Das wird wohl wieder einmal eine lange und schlaflose Nacht.“ „Das denke ich auch. Hauptsache, es wird nicht wieder eine Kreatur geboren“, hoffte Seelah. Unten begab sie sich gleich in ihre schmale Kammer, um sich auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Das Wichtigste war, den Segen der Allmächtigen zu erhalten. Mit lang ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden liegend, das Gesicht der Erde zugewandt, flehte Seelah alle Göttinnen und Götter des Himmels, der Erde und der Unterwelt und den noch unbekannten Gott um Kraft und Weisheit an. Sie bat um den Mut, sich auch den schwierigen Momenten ihrer Aufgabe zu stellen, und um die Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Ihr Götter!“ betete sie. „Schenkt mir von eurem Überfluß. Laßt mich Nöte lindern, Schmerzen nehmen und Freuden teilen. Leitet mein Denken und gebt meinen Händen die Macht des Heilens.“ Es dauerte lange, bis Seelah die Präsenz der Götter in sich spürte. Die Zeit drängte nun, und sie beeilte sich damit, ihre rotbraunen Haare zu bürsten und zu einem dicken Zopf zu flechten, den sie an seinem Ende fest zusammenband. Hände und Arme wurden kräftig gewaschen, und zuletzt zog Seelah ihr violettes Gewand über. Violett! Die Mischfarbe, die von allen Heilerinnen des Coven bei der Geburtshilfe getragen wurde, da sie die Tätigkeit der Gebärmutter anregte. Während sie noch die Bänder ihres Kleides schloß, durchquerte Seelah bereits mit langen Schritten die Eingangshalle. Der große Raum war verlassen und lag, abgesehen von einer qualmenden Fackel, die in einer
Wandhalterung neben dem glimmenden Kamin steckte, im Dunkeln. Durch die geöffnete Eingangstür zog kalte Feuchtigkeit herein, legte sich auf den langen, blank gescheuerten Tisch, die vielen Schemel und den festgestampften Lehmboden. Von linker Hand hörte sie den Gesang der lufusischen Frauen, und als sie die Tür des Gebärgemaches öffnete, sah sie die hohen ätherischen Gestalten, die beinahe schwebend durch den Raum tanzten. Diesmal waren es sieben. Obwohl sie das ausdrucksstarke Schauspiel schon häufig gesehen hatte, blieb Seelah wie gebannt stehen. Sie bewunderte die zarten Frauen, die unter der Last ihrer schweren Leiber fast zusammenzubrechen schienen und trotzdem in der Lage waren, den Wehen- und Geburtsschmerz zugunsten übernatürlicher Erfahrungen zu nutzen. Diese Frauen wollten und brauchten keine schmerzlindernden Hilfen. Der Rauschzustand, in den sie sich seit Tagen hineingetanzt hatten, ließ sie sich selbst und ihre Umgebung vergessen. Sie gebaren oder, was gelegentlich leider auch vorkam, starben tanzend und singend. Die Aufgabe der Heilerinnen des Coven bestand somit eigentlich nur darin, diese Frauen zu beobachten und die Neugeborenen aufzufangen und zu versorgen, bevor sie auf den Boden aufschlugen und von den Tanzenden zertreten wurden. Auf einer Bank neben der Tür saßen Seelahs Gefährtinnen Heredita und Kagzissa. „Es ist noch nicht ganz soweit, Seelah.“ „Es werden ja immer weniger, und sie werden immer dünner!“ „Ich habe sie deswegen befragt“, erklärte Kagzissa. „Sie haben mich nicht recht verstanden. Sie meinten, zuviel Essen mache träge und reduziere die spirituellen Fähigkeiten.“
Heredita deutete auf eine bleiche, stille Gestalt, die auf einer Pritsche an einer Seitenwand lag: „Gestern ist eine von ihnen vor Erschöpfung zusammengebrochen. Sie hat daraufhin ihren Körper verlassen. Wenn sie nicht bald zurückkehrt, wird sie sterben.“ „Wir müssen ihr helfen“, drängte Seelah. „Krista hat schon nach ihr gesehen. Sie meint, man kann den Körper nicht retten, wenn Geist und Seele sich verlaufen haben. Wir können nur abwarten“, bedauerte die junge Heilerin. Nervös schlang Seelah die Arme um den Körper. Sie konnte es nicht ertragen, an ihre Grenzen zu stoßen. Wenn sie nur helfen könnte! Waren die göttlichen Ratschläge nicht oft ungerecht? Warum? Warum sollte jetzt Ungeborenes auf der Schwelle zum Leben sterben? Sie fühlte sich versucht, die lufusische Hülle zu schütteln, die Frau in ihren Körper zurückzuzwingen. Aber wo war die Person, die sie anschreien wollte, damit sie sich ihren mütterlichen Pflichten stellte? Seelah konnte nichts tun, und so flüchtete sie: „Wenn es hier noch dauert, werde ich nebenan nach den Frauen aus Arman sehen.“ Da sie kürzlich ihr siebzehntes Lebensjahr vollendet hatte und sich auf ihren Einweihungsritus vorbereitete, war Seelah in den letzten Tagen von ihren alltäglichen Pflichten befreit gewesen. Sie sollte alle Zeit und Ruhe haben, sich intensiv auf ihre Begegnung mit dem Oraculum einzustimmen. Die heutige Nacht war eine Ausnahme, weil jede Hand dringend benötigt wurde. Doch Krista hatte ihr bisher noch keine feste Aufgabe zugeteilt, und so stand es ihr frei zu wählen, wo sie sich aufhielt und nützlich machte. Im pompösen Gemach der Armanerinnen hingen die behäbigen, schwerknochigen Frauen in ihren kostbaren Gebärstühlen und jammerten über ihr schweres Los des
Kinderaustragens und -gebärens. Wimmern, Weinen und Wehklagen lagen im Raum und schufen eine bedrückende Atmosphäre. Unwillkürlich richteten sich Seelahs Körperhärchen auf, und eine Gänsehaut überlief sie. Die armanischen Frauen hatten sich erst im letzten Moment von ihren heimatlichen Tätigkeiten und Beschäftigungen freigemacht und waren spät im Coven eingetroffen. Doch nun konnten sie nicht laut genug jammern, damit auch die geringste Unpäßlichkeit sofort beseitigt würde. Schmerzen wollten sie nicht ertragen. Sie erinnerten an den Tod und lösten eine grenzenlose Panik aus, die sie nicht zu steuern vermochten. Hannah und Aradia hetzten von Stuhl zu Stuhl, verabreichten Kräuterextrakte, verschiedene Sorten farbbestrahltes Wasser, linderten durch Handauflegen, versuchten zu beruhigen und möglichst alle Forderungen zu erfüllen. Seelah betrachtete die vielen blassen, verzerrten Gesichter und fragte sich, ob wohl ihre Mutter unter ihnen sei. Nicht, daß sie gewußt hätte, wie diese aussah, aber sie hoffte doch, daß vielleicht eine seelische Ahnung, ein Moment des Erkennens… Aber auch diesmal geschah nichts dergleichen. Bald darauf hatte sie keine Zeit mehr, sich Gedanken zu machen. Rasch nacheinander drängten sich die Säuglinge ins Leben, zuerst in dem einen, dann in dem anderen Raum. Zwei – vier – acht – zehn – paarweise, je ein männliches und ein weibliches Geschöpf, je eins mit gelben und eins mit blauen Augen. Alles schien sich in natürlicher Ordnung und ohne größere Schwierigkeiten noch im Dunkel der Neumondnacht zu regeln. Trotzdem konnten die Heilerinnen des Coven die Fülle der Aufgaben kaum bewältigen. Zunächst mußten die Frauen und ihre Kinder bestmöglichst versorgt werden, und dann standen die Probleme der Umverteilung an.
Wie die übrigen Bewohner des Coven vollzog Seelah diese Aufgabe nur ungern. Sie alle zweifelten daran, daß es göttlicher Wille war, leiblichen Nachwuchs den Müttern zu entfremden. Aber hatten die Götter nicht selbst den Grundstein zu dieser Entwicklung gelegt? Denn… Als die Allmächtigen einst entscheiden sollten, welche Anlagen und Fähigkeiten sie den noch ungeprägten Menschen geben wollten, entbrannte ein Streit zwischen den Göttern des Himmels und denen der Erde. Jede der göttlichen Parteien wollte die Irdischen nach ihrem eigenen Bild und Gleichnis ausstatten. Erst die Götter der Unterwelt unterbreiteten schließlich den versöhnenden Kompromiß: „Teilt die Möglichkeiten des Werdens auf! Zu gleichen Teilen können eure Ebenbilder die Erde bevölkern, wenn die Menschenfrauen ungleiche Paarlinge gebären!“ Und so geschah es seitdem zu allen Zeiten. Doch die Menschengruppen vertrugen sich nicht und vollzogen die räumliche Trennung. Lufusierinnen und Armanerinnen lehnten die artuntypischen Kinder aus ihren Würfen ab, wollten sie nicht ansehen und im Austausch entsorgt wissen. Die Verteilung mußten die Heilerinnen des Coven übernehmen, die die Neugeborenen zwischen den beiden Gemächern hin und her trugen. Dabei gab es wie immer zuerst Empörung unter den Frauen von Arman, die nicht einsehen wollten, daß sie für ein abgegebenes Kind mit blauen Augen keines mit gelben zurückbekommen konnten. Aber schließlich war es ja schon länger so, daß die Frauen von Lufus kaum noch Kinder gebaren, und so fanden sich die Armanerinnen schließlich damit ab. Weniger Kinder hieß für
sie weniger Arbeitskräfte, bedeutete aber auch weniger Esser – also! Was sollte die Aufregung! – Ekstatisch verhielten sich die Lufusierinnen, von denen jede vier oder fünf blauäugige „Himmelskinder“ erhielt. Im Morgengrauen begann Krista, die Frauen zu befragen und die Geschehnisse und Namen in einer ihrer Schriftrollen aufzuzeichnen. Seelah, Aradia und Kagzissa schleppten Tonkrüge und packten die Nachgeburten ein, die in Lufus als Gottesopfer dargebracht wurden und in Arman als Dünger dienten. In der allgemeinen Hetze und Aufregung hatte jeder die Armanerin vergessen, die, zuerst laut zeternd über ihre lang andauernden Wehen, im Laufe der Nachtstunden immer ruhiger geworden war. Nun, im heraufdämmernden Morgen, stemmte sie sich scham- und zorngequält aus ihrem Gebärstuhl und stolperte klagend aus dem Saal: „Diese Schande… diese unnützen Ausgaben… dieses Versagen… es wird Tag… es wird eine Mißgeburt.“ Seelah, die der Frau am nächsten war, erstarrte für lange Augenblicke. Nun würde ihre schlimmste Befürchtung doch wahr werden. Als sie endlich wieder fähig war, ihre Beine zu gebrauchen, und durch die Eingangstür des Coven rannte, hatte die Armanerin, die breitbeinig vorwärts hetzte, schon den Papyrusgürtel am Ufer erreicht. Ihr Lauf wurde kurz gestoppt, als ihr das vereinzelte Neugeborene zwischen die Füße fiel. Die Frau krümmte sich zusammen und biß die Nabelschnur durch. Rasend riß sie das winzige Geschöpf hoch und holte aus, um es ins Wasser zu schleudern. Seelah sah, daß sie das Kleine nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Es war verloren. Jedoch plötzlich – Seelah wußte nicht wie – war da Uriel und entriß der Wütenden das Kind. Die rang kurz mit ihm, brach zusammen und heulte: „Töten… töten muß ich dieses Ding, diese Kreatur.“
„Sei still!“ rief Uriel. „Wer bist du, daß du solche Urteile fällst? Es wurde im Licht geboren wie Nefertem.“ – Als die Sonne aufging, war die Arbeit getan, und alle beteiligten Heilerinnen waren vollkommen erschöpft. Seelah trat hinaus vor die Tür. Trotz ihrer Müdigkeit war sie zu aufgewühlt, um sich hinzulegen und zu schlafen. Sie hockte sich auf die Eingangsstufen des Coven, blickte über das Wasser und ließ die Ruhe der Natur auf sich wirken. Nach einer Weile trat Uriel zu ihr, setzte sich neben sie und ließ seinen Blick ebenfalls in die Ferne schweifen. In seinen Armen hielt er, liebevoll eingewickelt, die neue kleine Kreatur, die ihn mit ihren grünen Katzenaugen unermüdlich fixierte. Seine Anwesenheit tat Seelah gut. Es war, als würden von seiner stillen Gegenwart erneuernde und lichtspendende Kräfte ausgehen, die in ihre Seele und ihren Geist eindrangen. Und nach einer langen Weile konnte sie plötzlich wieder lächeln: „Was ist dies nur für eine Welt?“ Uriel sah sie mit seinen so ungleichen Augen an. Er war etwas Besonderes, einzigartig. Er gehörte nicht zu den Kreaturen, nicht zu Lufus, nicht zu Annan und wurde doch von allen akzeptiert. Er drückte ihr das Neugeborene, das mittlerweile fest schlief, in die Hände. „Nun seid ihr dreizehn. Der Coven ist voll, und die Strömung des Flusses Zeit ist stark geworden. Bisheriges wird fortgerissen, und Neues wird herangetragen.“ Seine prophetischen Worte jagten Seelah einen Schauer über den Rücken. Als Uriel sich umdrehte und ging, strahlte sein blaues Auge verheißungsvoll, während sein gelbes in Tränen zu schwimmen schien.
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iederholt hatten Sonne und Sterne ihre Bahnen gezogen, und Uriel hatte die Frauen und Neugeborenen in ihre Heimat zurückgebracht. Zuerst hatten sich die Armanerinnen verabschiedet, die wie immer eilig zurückwollten. Sie fuhren mit wohlgesetzten Worten und wohlbemessenen Dankesgaben, die gierig saugenden Kinder an den schweren Brüsten hängend. Uriels Nachen, bis zur Bordkante belastet, machte nur langsam Fahrt und war erst nach Tagen zurück. Die lufusischen Frauen störte die Wartezeit nicht. Es schien ihnen recht egal zu sein, wo sie sich aufhielten. Sie berauschten sich an der Freude über die vielen schönen, neugeborenen Kinder. Stillen und wickeln wollten sie die Winzlinge allerdings nicht. Diese Tätigkeiten erschienen ihnen als zu profan, zu beschmutzend. Krista, die die Austrocknung der Kinder befürchtete, versuchte immer wieder, die Lufusierinnen umzustimmen. Sie hatte aber keinen Erfolg und ordnete schließlich an, daß die Frauen des Coven den Kindern Tee und Ziegenmilch mit Hilfe genähter Ledereuter einflößten. Dies ließen die Lufusierinnen wohl geschehen, unternahmen aber nichts zur Unterstützung der Heilerinnen. „Es sind Kinder der Götter, und diese werden für sie sorgen“, behaupteten sie überschwenglich, und Kristas rettende Anordnungen bestärkten sie nur in ihrem Glauben. Den Tod ihrer Artgenossin würdigten sie in geheimnisvollen Riten, von denen die Covenbewohner ausgeschlossen waren. Lachen, Weinen und Gesang schallten in nicht enden wollender Folge vom Ufer herüber, und zuletzt wurde der Leichnam im Nun versenkt. Alle im Coven waren erleichtert, als die Lufusierinnen nach einem gefühlvollen Abschied endlich abreisen konnten. Die
meisten von ihnen hatten nicht daran gedacht, den Heilerinnen eine Entschädigung für deren Dienste mitzubringen. Im Coven hielten sich nun nur noch wenige Armaner auf. Sie litten an den arttypischen Verknöcherungs-, Austrocknungsund Vergreisungserscheinungen, unter Lebererkrankungen und Blutarmut, suchten Linderung und Heilung. Lufusier waren schon lange nicht mehr zur Behandlung im Coven erschienen, obwohl sie in der Vergangenheit oft mit aufzehrenden Fiebererkrankungen gekommen waren. Insgesamt waren die Einkünfte der Heilerinnen gering geworden, gering genug, sich Sorgen zu machen. Nur gut, daß Uriel auf seinem Kahn oft noch Lebensnotwendiges mitbrachte. – Seelah hatte jetzt viel Zeit. Manchmal hörte sie zu, wenn die Jüngeren unterrichtet wurden, aber meist lief sie allein auf Tantenen herum und hing dabei ihren wirren Gedanken nach. Gelegentlich saß sie am Ufer und starrte in die Fluten. Aber dies geschah nicht oft, denn war die Wasseroberfläche glatt, vermeinte sie, in ihrem Spiegelbild die wolfsäugige Jungfrau oder den himmelsäugigen Jüngling zu erkennen, die vereint in ihr lebten. Anlagen, die sich nach der Zeugung nicht getrennt hatten und sie nun zur Kreatur werden ließen. Sie machten ihr Angst, denn sie zeigten ihr, was in ihr war und was sie sein könnte. Die vielen Stunden des Alleinseins und der Untätigkeit und wohl auch die jüngsten Ereignisse trugen dazu bei, daß Seelah oft in Selbstmitleid verfiel: „Warum? Warum mußten überhaupt Kreaturen geboren werden? Warum war sie eine von ihnen?“ Uriel hatte sie einmal weinend vorgefunden. „Weshalb denkst du so schlecht von dir, Seelah? Du bist kein Unmensch, keine Kreatur. Das sind doch nur Bezeichnungen Unwissender, die von Engstirnigkeit und Überheblichkeit zeugen. Du solltest
diese Einstellung nicht übernehmen. Du denkst doch auch nicht schlecht über Krista, Heredita und die anderen!“ Uriels Worte beschämten Seelah, konnten sie aber nicht recht überzeugen, ebensowenig wie die Tatsache, daß sie auch an der neugeborenen Kreatur nur Liebenswertes entdecken konnte. Aradia hatte die Aufzucht des Winzlings übernommen, und unter ihrer freundlichen Aufmerksamkeit gedieh das Kleine gut. „Ich habe ihn Zara genannt“, meinte Aradia stolz. „Sieh nur, wie aufmerksam er schon alles betrachtet.“ „Ach, es ist männlich?“ „Ja! Merkwürdig, nicht wahr? Manchmal denke ich, daß sich der alte Lebenskreis seinem Ende zuneigt. So vieles wandelt sich. Denk nur einmal an die Geburten. Früher wurden dem Coven immer weibliche Geschöpfe geschenkt, aber nun, unter den Jüngeren, ist das Geschlecht fast ausgeglichen.“ – Einige Nächte vor ihrer Einweihung wurde Seelah vom dumpfen Grollen der Götter aus tiefem Schlaf gerissen. Was hatte die Allmächtigen erzürnt? Seelah hätte sich gern unter die Felle ihres Lagers verkrochen, dachte aber an die verzweifelte Angst, die die Kleinen haben würden, und sprang auf. Durch den Fensterspalt sah sie, wie die Himmlischen mit blitzenden Pfeilen und Feuersteinen nach der Erde warfen. Die Erdgötter ließen den Nun schäumen, zischend sich aufbäumen und in Flutwellen über die Ufer treten. Als Seelah die ersten Schritte tat, bemerkte sie, daß auch die Götter der Unterwelt erbost waren: Der Boden schwankte. Um nicht zu stürzen, tastete sie sich an den Wänden entlang bis in die Eingangshalle. Die Kinder waren bereits da. Heredita und Kagzissa setzten gerade die beiden letzten weinend sich anklammernden Kleinen auf den Holztisch. Aradia hielt Zara an sich gedrückt.
Einige wenige Schafe und Ziegen, die Uriel aus den tiefer gelegenen Ställen hatte retten können, drängten sich verängstigt in einer Ecke zusammen. Das Mauerwerk knirschte, die Balken der Decke ächzten, feiner Lehmstaub rieselte herab, und im Fußboden bildeten sich Risse. Die Erwachsenen umstanden schützend den Tisch, hielten sich an seinen Kanten fest, schwiegen bedrückt. Nur Uriel scherzte mit den Kindern, um sie abzulenken. Das Ende der Welt schien gekommen… dann war es urplötzlich vorbei. Die unvermittelt einsetzende Ruhe dröhnte in den Ohren. Alle warteten gespannt auf ein Wiederaufleben der Naturgewalten, aber nur ein letztes Zittern lief durch Boden und Wände, als die Erde sich noch einmal schüttelte. In dieser Nacht wollte sich niemand mehr zu Bett begeben. Nur die Kleinsten schliefen während der leisen Gespräche in ihren Fellen auf dem Tisch ein. Der Morgen machte das ganze Ausmaß der Schäden sichtbar. Der Papyrusgürtel lag platt, Wasserlachen standen in den tiefer gelegenen Flecken, die Flut hatte die Saat aus den wenigen Feldern gerissen und das Salz den Boden verdorben. Ställe und Pferche waren zusammengebrochen, das meiste Holz fortgespült. Von den draußen verbliebenen Tieren fanden sich nur noch einige verstreute Kadaver. Schweigend, mit hängenden Schultern und Armen betrachteten die Covenbewohner die Verwüstungen. Krista standen Tränen in den Augen, aber sie straffte sich als erste: „Dann laßt uns aufräumen.“ – Trotz aller äußeren Ereignisse und Aufregungen versenkte Seelah sich nun von Tag zu Tag tiefer in ihre meditativen Übungen, die sie auf ihre Begegnung mit dem Oraculum vorbereiten sollten. Sie lauschte den vielen Stimmen, die unabhängig von ihrem Willen auf sie eindrangen, die sie
lockten und verfluchten, die schmeichelten und beschimpften. Seelah wurde immer verwirrter, und als die Zeit ihrer Einweihung gekommen war, wußte sie kaum noch, wer sie war und was sie wollte. – Den ganzen Tag verbrachte Seelah in ihrer Kammer, fastete, betete und meditierte. Nach Sonnenuntergang kam Krista und brachte das schlichte weiße Gewand des Ritus. Sie bemerkte, daß ihr Schützling zitterte, führte Seelah zum Fenster und deutete auf den leuchtenden Vollmond: „Dies ist ein bedeutender Tag, Seelah. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Die Mondgöttin ist sanft und wird hier draußen wachen, während du in die Tiefen hinabsteigst.“ Sie nahm Seelah fest in ihre Arme: „Hab keine Angst! Gleich wirst du Wicca treffen, und sie wird dich weiterführen.“ – Wicca, die weise Frau, nahm nur noch selten am Alltagsleben der Covenbewohner teil. Sie verbrachte die Tage in ihrer Kammer, hoch oben, nahe den Gestirnen, deren Lauf und Einfluß sie erforschte. Selten hatte Seelah sie zu sehen bekommen, und als sie nun der Alten gegenüberstand, starrte sie lange in dieses freundliche Gesicht, das von so vielen Falten und Runzeln überzogen war, daß kaum noch Gesichtszüge zu erkennen waren. Doch unter den schlohweißen Haaren leuchteten die grünen Augen intensiv, lebendig und jung. Wicca ließ ihr Zeit, und in dem kleinen Raum herrschte einvernehmliches Schweigen. Seelah betrachtete die ausgestopften Tiere an den Wänden, die verschiedenen Glaskugeln und Wassergefäße, die Himmelskarten, die zahme Krähe, die auf einem Ast in einer Ecke hockte, die junge Katze, die sich auf einer Matte zusammengerollt hatte. Erst als ihr Blick zu Wicca zurückfand, hub diese mit ihrer rauhen Stimme zu sprechen an:
„Wir sind dazu bestimmt, zwischen den Welten zu leben und unter ihnen zu vermitteln. Die Fortgeschrittenen unter uns können Liebe gewähren, mit Geistern sprechen, die Worte des Windes verstehen, die Zukunft erahnen, Krankheiten lindern, Häßliches schön machen und vieles mehr. Es beginnt jedoch stets damit, daß wir unseren wahren Willen entdecken und mit ihm eins werden. Es ist schwer, seinen wahren Willen zu finden, schwer, ihm zu folgen, und für manche von uns wird schon der erste Schritt zur lebenslangen Aufgabe. Oft hilft das Oraculum, das uns den Beginn unseres Weges zeigt. Es wird heute nacht auch zu dir sprechen.“ – Der Abstieg vom Turmzimmer in die tiefsten Gründe des Coven war beschwerlich und gefährlich für die alte, gebrechliche Frau, und es ging nur langsam voran. Tief unter den von Menschen errichteten Mauern lag ein weitläufiges Höhlengeflecht, das noch niemand vollständig erforscht hatte. Gleich zu Beginn, noch nahe der Treppe, befand sich die Grotte des Oraculums. Zögernd trat Seelah hinter Wicca ein. Über einer natürlichen Plattform, auf der die Heilerinnen Kerzen entzündet hatten, war ein riesiges Zeichen in die Felswand gemeißelt worden. Ein Dreieck mit gleichen Seiten, dessen Spitze nach oben zeigte, dessen Inneres von einem Kreis ausgefüllt wurde, in dem wiederum ein geschlossenes Auge zu erkennen war. Daneben war die Wand von Runen übersät. „Hier waren unbekannte Hände vor Urzeiten am Werk. Welches Geheimnis diese Schriftzüge bergen, kann ich dir nicht sagen, denn niemand vermag sie mehr zu entziffern. Mag sein, es ist eine Beschwörungsformel oder ein Gebet. Schlimm, wenn uns hier bedeutendes Wissen verlorengegangen wäre. Die Bedeutung des Zeichens ist ebenfalls nicht überliefert, aber vielleicht kannst du ihm deinen eigenen Sinn geben.“ „Wie meinst du das?“
„Wenn Abstraktes konkret wird, dann hat das Oraculum gesprochen. – Aber ich muß dich jetzt verlassen, Kind. Versenke dich, und die Götter werden dich weisen.“ Schneller als erwartet war Seelah allein. Das flackernde Kerzenlicht erhellte nur einen kleinen Bereich in dem unbekannten Dunkel, und ihr wurde bewußt, wie kalt und unwirtlich es hier war. Am liebsten wäre sie mit Wicca wieder hinaufgestiegen, aber die Tradition verlangte, daß sie diese eine Nacht hier unten verbrachte. Erst dann würde sie als vollwertiges, reifes Mitglied des Coven anerkannt werden. Seelah kauerte sich im Lichtkreis auf dem Boden zusammen und bemühte sich um Konzentration. Doch die Reise in ihr Inneres wollte nicht recht gelingen. Immer wieder zuckte ihr Kopf unruhig herum, und ihre Augen versuchten, die undurchdringliche Finsternis zu erforschen. Sie vermeinte, raunende Stimmen und leises Gewimmer zu hören. Manchmal hatte sie den Eindruck, als würde jemand mit verstohlenen Schritten hinter ihr herumlaufen und ihr seinen feuchten Atem in den Nacken blasen. Schließlich war es das Geräusch gleichmäßig fallender Wassertropfen, die wohl von einer der Quellen durch eine Höhlendecke tröpfelten, das ihr half, sich selbst zu vergessen. Und fast gleichzeitig kamen die Visionen – oder waren es Träume? Seelah gelang es später nie, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Sie gelangte aus dem Nichts in die düstere Nacht, die über einem bizarren Platz lag, fand sich umgeben von kleinwüchsigen, verkrusteten Statuen. Der Mond wurde von Wolken verdunkelt, warf nur bisweilen einen milchigen Schein auf die unheimliche Szene. Es kam ihr vor, als würden sich die Gestalten langsam bewegen, und als sie widerwillig einen Mädchenkorpus näher betrachtete, erlangte sie Gewißheit. Es
war nicht künstliches Machwerk, das sie hier umgab! Es waren lebende Menschen! Sie waren von einer Verhärtung befallen, von solcher Steifheit, daß sie sich nur noch kaum wahrnehmbar bewegen konnten. Das dumpfe Dröhnen, das über dem Platz lag, kam aus den aufgerissenen Mündern, war ein bis in die Unkenntlichkeit verzerrtes, lähmend langsames Sprechen. Auf dem abgestorbenen Baum, unter dem Seelah stand, saß ein Aasgeier. Er reckte seinen langen, kahlen Hals hinunter, glotzte Seelah aus blutunterlaufenen Augen an und höhnte: „Ich bin hier der einzige, der sich noch in die Lüfte erheben kann.“ Ihr Schrei katapultierte sie ins Nichtsein zurück, doch erneut nahm sie Gestalt an, schwebte zwischen nebelgleichen Gestalten in eisiger Luft, tief unter sich die grüne Erde. Die durchscheinenden Männer, Frauen und Kinder ringsumher lachten und jubelten, sangen von Freiheit und Lösung. Es währte jedoch nicht lange, und ein aufkommender Wind riß sie alle auseinander. Seelah versuchte, Halt zu finden und zum Boden zu gelangen… vergebens. Im Davontreiben nahm sie unter sich eine Schlange wahr, die sich auf einem warmen Stein in der Sonne zusammenrollte. Während Seelah als Wasserstreif verging, züngelte das Reptil zu ihr hinauf: „Ich bin hier die einzige, die noch festen Grund unter den Füßen hat.“ Später… viel später fand ihr Ich den Coven, und es wurde warm. Seelah sah Wicca, die den Lauf der Sterne beobachtete, sah Krista, die sich über ihre Schriftrollen gebeugt hatte; sie sah Aradia, die Zara streichelte, und Heredita und Hannah, die versuchten, den kranken Armanern im Sonnenzimmer Linderung zu verschaffen. Und Seelah sah sich selbst. Sah, wie sie unzufrieden und unruhig auf der Insel umherlief und ihr Los beklagte. Eine gewaltige Stimme aus dem Irgendwo befahl ihr:
Geh, Seelah! Geh! Suche den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, und iß von seinen Früchten! Seelah schreckte hoch. Die Kerzen waren abgebrannt. Ein helles Licht, das aus dem geöffneten Auge an der Felswand kam und auf sie gerichtet war, blendete sie. Sie stürzte zur Treppe.
A
ber was soll das alles bedeuten?“ Die älteren Covenbewohner hatten sich um den langen Holztisch versammelt und Seelah zugehört. „Das solltest du uns eigentlich sagen können“, gab Wicca ihr die Frage zurück. „Ich weiß nicht. Es waren schlimme Orte. Die Wesen schienen menschlich, doch die einen konnten nicht von der Erde weg, und die anderen wollten nicht hin. Vielleicht Erdgnome und Luftgeister? Ich konnte dort nicht bleiben. Es waren Stätten der Dunkelheit und Angst, der Kälte und Auflösung…“ „Aber dann hast du den Coven gefunden“, half Wicca weiter. „Ich sah euch und freute mich. Ihr lebtet in der Sonne, hattet alle… alle eure Aufgaben und ward es zufrieden. Ich war die Ausnahme, aber ich bekam einen Auftrag.“ „Du sollst den Baum der Erkenntnis suchen, damit du Gut und Böse unterscheiden lernst“, ergänzte Kagzissa. Seelah nickte: „Und zum Schluß war das Auge sehend geworden und leuchtete.“ „Weißt du, was du jetzt machen willst?“ wollte Aradia wissen. „Ich muß den Baum der Wahrheit suchen und werde ihn wohl in Arman oder Lufus finden.“ „Da kannst du nicht hingehen“, erregte sich die sonst so beherrschte Krista. „Uns ist der Zugang dort verboten! Du hast das falsch verstanden!“ „Krista!“ mahnte Wicca. „Noch niemand ist von dort zurückgekehrt! Wir werden sie verlieren!“
Kristas Worte weckten Kindheitserinnerungen, und Seelah sah Frauengesichter, die Uriels Boot für immer davongetragen hatte. „Ich hatte das ganz vergessen. Wie viele haben es denn versucht?“ „Solange ich zurückdenken kann, drei“, grämte sich Krista. „Ava war in meinem Alter, sie ging nach Arman. Etliche Jahre später folgte ihr Dinah. Harvel war noch etwas jünger; sie verschwand auf Lufus. Und sie alle vermeinten wie du, ihrer Bestimmung zu folgen, und wollten zudem ihre Familien suchen.“ „Sie sind ihrer Bestimmung gefolgt“, behauptete Wicca und nickte Seelah zu, damit sie fortfahre. „Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber ich weiß jetzt, daß ich gehen muß, denn so kann ich auch nicht glücklich werden. Und meine Eltern und Geschwister möchte ich auch sehen.“ „Was erwartest du denn von diesen Menschen, Seelah?“ Krista schüttelte den Kopf. „Sie wollen uns nicht, und die Entwicklung, die sie nehmen, gefällt mir auch nicht. Ihre Eigenarten werden immer ausgeprägter…“ „Bei meiner Familie bestimmt nicht, Krista. Ich kann das nicht glauben.“ „Seelah! Deine eigene Mutter wollte dich nach der Geburt ersticken. Du warst schon ganz blau, als wir dich ihr entreißen konnten!“ Seelah schluckte, flüsterte heiser: „Versteh doch. Ich muß wissen, wer ich bin… was ich will… wohin ich gehöre…“ „Du gehörst zu uns!“ Krista unternahm noch verschiedene Versuche, um Seelah von ihrem Entschluß abzubringen. Aber schließlich sprach Wicca die entscheidenden Worte:
„Genug jetzt! Die Götter haben ihr den Weg gezeigt, dem sie folgen soll. Können wir deren Anweisungen widerrufen? Also – laßt es werden!“ – Von nun an standen praktische Überlegungen im Vordergrund. Seelah wollte zuerst in Arman suchen, da dort auch ihre Eltern lebten. Krista half ihr, in den Schriftrollen Nachforschungen anzustellen: „Deine Mutter war fünfmal hier, um zu gebären, das letzte Mal vor elf Jahren. Du, als Einzelgeburt, standest an vierter Stelle. Vier deiner Geschwister leben also auf Arman, vier gingen nach Lufus. Deine Mutter hat von den Lufusierinnen zwei Austauschkinder bekommen.“ „Wo leben sie?“ „Wenn ihre Angaben stimmen, dann sind deine Eltern Bauern in dem Dorf Satana, nahe der Stadt Mephis, gut zwei Tageswege vom Ufer entfernt Richtung Nordwesten.“ „Die Kinder in Lufus?“ „Sollten alle in Tempeln als zukünftige Gottesdiener untergebracht werden. In welchen, ist mir nicht genau bekannt, aber man sprach von Diabel und Trugen. Sie liegen südlich und westlich von Uriels Anlegeplatz, der eine mitten im Regenwald.“ „Wie heißen sie?“ „Deine Mutter nannte sich Tieret, dein Vater trägt den Namen Pedans. Ihre Knaben heißen Feiges, Minder und Schablo, das Mädchen Traga. Die von den Lufusierinnen übernommenen Kinder wurden Knota und Lamus genannt. Deine Schwestern, die nach Lufus gingen… Moment…“, Krista suchte in den Schriftrollen, „… hießen Illussi, Emosa und Aske. Dein Bruder dort erhielt den Namen Egost…“ Seelah prägte sich alles sorgfältig ein, denn sie konnte keinerlei schriftliche Notizen mitnehmen. Diese hätten sie sofort verraten.
Dringlich war auch die äußerliche Angleichung. Ein armanisches Gewand wurde für Seelah so geändert, daß sie kräftiger und gedrungener wirkte, als sie tatsächlich war. An Bauch, Brust und Hüften polsterte Krista mit Wolle nach. Seelahs Haare wurden mit Wurzelextrakten so lange behandelt, bis sie das stumpfe Braun der Armaner angenommen hatten. Am schwierigsten war das Problem der Augenfarbe zu lösen. Immer wieder wurden kleine Glasscherben gelb eingefärbt und so lange angepaßt, bis sie weder Seelahs Sehfähigkeit beeinträchtigten, noch in ihren Augen Reibungen erzeugten. Krista drückte ihr einige winzige Goldklümpchen in die Hand: „Damit du im Notfall etwas Wichtiges eintauschen kannst.“ „Das kann ich nicht nehmen, Krista. Ihr habt es selbst bitter nötig!“ „Sei still! Du gehst mir nicht ohne das! Aber laß auf Arman niemanden wissen, daß du etwas besitzt. Du müßtest um dein Leben fürchten.“ Seelah fügte sich und nähte das Gold in den Saum ihres Kleides ein. „Du mußt dich auch schützen können. Wir müssen dich gut bewaffnen.“ Davon wollte Seelah zunächst nichts wissen: „Wir wollen heilen, nicht verletzen!“ Aber selbst Uriel riet ihr zu: „Auf Arman tragen schon die Jüngsten Waffen. Du würdest auffallen.“ Zu guter Letzt akzeptierte Seelah einen Dolch, den sie um ihre Hüften band, und einen Wurfstern, den sie an ihrem Gürtel befestigte. Waffen, mit denen sie nicht umgehen konnte und deren Gebrauch sie auch nicht erlernen wollte. –
Zum Abschied versammelten sich alle Bewohner des Coven am Steg. Selbst Wicca hatte die Mühen der steilen Stufen nicht gescheut. Krista weinte so sehr, daß Seelah fast allen Mut verlor. Ihre mütterliche Freundin verhielt sich wirklich so, als sei dies ein Abschied für immer. Wicca bereitete dem schweren Moment ein Ende und deutete auf Uriel, der in seinem Nachen bereitstand: „Nun geh, Kind. Wir werden die Götter bitten, dich zu schützen, und dir all unsere Kraft schicken. In meinen Kugeln und Wassergläsern werde ich dein Tun verfolgen, und solltest du den Wind verstehen, werde ich durch ihn zu dir sprechen. Geh, Kind! Mögen die Sterne dir günstig gesonnen sein!“ Das Wasser des Nun glitzerte silbern in der Morgensonne, als der Kahn mit geblähten Segeln Kurs auf Arman nahm. „Sie lassen mich nicht weit ins Land hinein“, erklärte Uriel. „Aber wenn ich dich zurückholen soll, dann richte deine Gedanken auf mich. Ich werde dich hören, Seelah, und da sein.“
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ie geplant war es tiefe Nacht, als Seelah Arman betrat. Uriel hatte nicht seinen üblichen Anlegeplatz am Flußdelta angesteuert, sondern Seelah auf der Höhe der Berge des Schweigens an Land gelassen. „Auch wenn du nur des Nachts wanderst, Seelah, ist es besser, du folgst nicht dem Flußlauf. Am Fluß des süßen Wassers leben zu viele Armaner, und du könntest dich schnell verraten. So mußt du nur durch ein kurzes Stück Wüste und kannst dann im Schutz der Berge bis auf die Höhe der Stadt Mephis gelangen. Das Dorf Satana liegt auf der anderen Seite des Flusses, doch es führen Brücken hinüber. Dein Wasservorrat dürfte für die zwei oder drei Tage, die du benötigst, ausreichend sein.“ „Danke, Uriel. Leb wohl!“ „Noch etwas, Seelah. Frage nicht zuviel, es könnte dich verdächtig machen, und hüte dich vor den Kindern. Sie haben ein feines Gespür für das Andersartige.“ Dann war Seelah allein. Sie orientierte sich an den Sternen, hängte sich ihren armanischen Beutel und die Wasserblase über die Schulter und machte sich daran, den unfruchtbaren Sandstreifen zu überqueren. Die großen Wüstengebiete und die hellen Sandsteinfelsen, die fast ganz Arman überzogen, vermittelten einem fernen Betrachter den Eindruck eines gelben Kontinents, der in der Sonne leuchtete. Arman war ein unfruchtbarer Erdteil, und Leben schien nur in den beiden Flußniederungen zu gedeihen, in denen sich auch die Ansiedlungen drängten. So war Seelah zuversichtlich, sich in den nächsten Tagen noch keiner Begegnung mit Armanern stellen zu müssen. Das Gehen in der Wüste war mühsam, der Sand sehr fein, und ihre Füße versanken bei fast jedem Schritt bis zu den Knöcheln. Sie kam nur langsam voran, und die Nacht war fast
vorüber, als sie die ersten Ausläufer der Berge erreichte. Noch vor dem Hellwerden entdeckte sie einen kleinen Felsüberhang, unter den sie kroch und sich zum Schlafen zusammenrollte. Ihre letzten Gedanken galten Wicca, und sie fragte sich, ob diese wohl von ihr wüßte. Aber der Wind rührte sich nicht, und Seelah fiel in einen tiefen Schlaf. Ihre Träume beherrschte der Fährmann: Wieder wüteten die Götter, aber Uriel trotzte den Naturgewalten. Er lief mit wehenden Haaren aus dem Coven hinaus in den Regen, stieß seinen Kahn in die tosenden Fluten. Was tat er nur? Bestimmt würden die Götter ihn in ihrem Zorn vernichten! Als Uriel die Segel hochzog, wurden sie zerfetzt. Glühende Himmelssteine fielen rings um ihn her ins Wasser, brachten es zum Kochen, ließen das Boot bedenklich schwanken. Uriel gab nicht auf, nahm ein Paddel zur Hand, kam voran. Plötzlich warf er das Paddel weg, beugte sich aus dem Nachen und zog ein triefendes Bündel aus dem Nun… eine kleine Kreatur. Das Kind schmiegte sich an ihn und lachte in seinen Armen. Uriel hielt es hoch, damit sie es richtig sehe, und rief ihr zu: „Geh, Seelah! Geh, damit deine Augen sehend werden und leuchten können über den rechten Dingen!“ Als sie aufwachte, war es früher Nachmittag, und obwohl die Sonne im Jahreskreis noch jung war, brannte sie in dieser unwirtlichen Gegend mit heißer Kraft. Seelah erwachte durstig und verschwitzt. Sie sehnte sich danach, sich zu waschen, aber das kostbare Wasser durfte nicht vergeudet werden. So trank sie nur einige wenige Schlucke, aß ein Stück trockenen Getreidefladen und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Wann immer sie unter ihrem Felsenvorsprung hervorlugte, schien sich die Sonne auf ihrer Himmelsbahn kaum bewegt zu haben. In der gleißenden, toten Landschaft rührte sich nichts, auf dem ihr
Auge hätte haften können. Kein Laut ließ sich vernehmen. Die Felsen wurden nicht von ungefähr Berge des Schweigens genannt. Seelah wurde immer unruhiger und nervöser. Am liebsten wäre sie sofort losgerannt, suchend und rufend, um irgendeinem Lebewesen zu begegnen. Nur ihre Angst und die Vernunft hielten sie davon ab. – Als sich die Abenddämmerung endlich… endlich über das Land legte, hielt Seelah es nicht mehr aus. Sie kroch aus ihrem Versteck, streckte ihre steifen Glieder und machte sich noch vor Einbruch der vollständigen Dunkelheit auf den Weg. Die ganze Nacht tastete sie sich am Rande der Berge durch die Felsen. Die Sterne und die schmale Sichel des neuen Mondes erleuchteten die Umgebung nur wenig. Die nächtlichen Stunden dehnten sich endlos, die Einsamkeit lastete erdrückend auf ihr. Immer wieder stolperte Seelah über Felsbrocken, stieß sich an Spitzen, zerkratzte sich Arme und Beine. Als sie sich gegen Morgen in einer kleinen Höhle verkroch, fühlte sie sich an Leib und Seele vollkommen zermartert. Sie hatte noch nicht lange geschlafen, als sie von einer hölzernen Stimme aus ihrer Erschöpfung gerissen wurde: „Nun sieh mal an, was für eine fette Schnecke uns da zugelaufen ist. Die wird uns noch gute Dienste leisten.“ Seelah riß die Augen auf, glaubte sich in einem Alptraum und schloß die Lider wieder. „Na komm, hoch mit dir!“ Metallisches stach sie schmerzhaft an verschiedenen Stellen ihres Körpers. Seelah kam – noch ganz benommen – schwankend auf die Beine. Gelbe Schakalsaugen unter faltigen Lidern blinzelten sie an, lehmverschmierte, steife Krallen griffen nach ihr. Einige der verdorrten Gestalten hielten lange Speere auf sie gerichtet,
stießen ihr die eisernen Spitzen ins Fleisch, aus welken Mündern grinsend. Seelah wich zurück, bis sie die Höhlenwand in ihrem Rücken spürte, fühlte sich unfähig zu weiteren Bewegungen. Kalter Schweiß drang ihr aus allen Poren des Körpers. Die Meute kroch ihr nach. Kaum eines der Wesen hatte noch Haare auf dem Kopf, Fetzen umhingen sie, dazwischen baumelten vertrocknete Geschlechtsteile. Dreckige Klauen, die scharfe Messer umklammerten, fummelten an ihr herum, bis ihr Dolch und der Wurfstern abgeschnitten waren und auf den Boden fielen. „Hände her!“ Ein kratzendes Hanfseil wand sich um ihre Gelenke, wurde festgezurrt. Es gab kein Entkommen, zu dicht umdrängten sie die ungeheuerlichen Wesen, deren widerlicher Gestank Seelah in die Nase stieg. An ihren Fußknöcheln wurden Taue verknotet, an deren Enden jeweils ein Verschrumpelter hing. „Vorwärts jetzt! Aber ganz langsam!“ Eine Gasse öffnete sich, Seelah tat einige tastende Schritte… aus der Höhle heraus… an den Felswänden entlang… genau der Weg, den sie eigentlich nachts allein… Es ging nur schrittweise vorwärts. Die Schrumpeligen ächzten, stöhnten und hinkten um sie herum, benutzten die vorhandenen Speere als Gehhilfen. Wurde Seelah ihnen zu schnell, rissen sie an den Seilen und zogen ihr die Füße weg. Nach einigen schweren Stürzen hatte Seelah sich dem Schneckentempo angepaßt, humpelte zerschlagen und geprellt vorwärts. Es war schon hoher Mittag, als die Schar um einige vorstehende Felswände herumkroch. Dahinter gähnte versteckt eine große Höhle. Drinnen an den Wänden kauerten, hockten und lagen noch erbärmlichere Gestalten als die, die sie hergebracht hatten. Sie
hoben die Köpfe und schoben sich in Richtung der Angekommenen, teils auf allen Vieren vorwärts krabbelnd. Unterdessen wurden Seelahs Füße eng zusammengeschnürt. Sie erhielt einen kräftigen Stoß vor die Brust, fiel nach hinten hinüber und schlug mit dem Kopf auf den Felsboden. Heißer Schmerz… grelle Blitze… Dunkelheit… Sie wollte der Armanerin nachlaufen, ihr die kleine Kreatur entreißen. Aber was war nur mit ihren Händen und Füßen? Sie konnte sich nicht bewegen. Schon flog der Säugling in hohem Bogen durch die Luft. Das kleine Körperchen drehte sich um die eigene Achse, Ärmchen und Beinchen wirbelten hilflos. Seelah konnte nicht alles erkennen, ihr Blick war getrübt, und der Kopf schmerzte so sehr. Klammes Entsetzen drückte ihr die Brust zusammen, als der Winzling auf die Wasseroberfläche aufschlug, sie durchteilte, für immer versank. Seelah stöhnte gequält… bekam keine Luft mehr… … riß die Augen auf. Auf ihrer Brust kniete ein erdfarbener Gnom, wühlte in ihren Kleidern. Aus den Augenwinkeln sah sie andere, die um sie herum hockten, sie selbst, ihre Wasserblase und den Beutel belauernd. Die Erinnerung holte sie ein, und entsetzt bäumte sich Seelah auf. Das verschmutzte Wesen ließ sich nicht abschütteln, grabschte weiter an ihr herum, wurde fündig: „Na bitte, was habe ich gesagt!“ Es kroch von ihr herunter, nahm ein Messer, schlitzte ihren Kleidersaum auf und pulte mit ungelenken Fingern die Goldstückchen heraus. „Sie verstecken es meist im Gürtel oder nähen es in ihre Kleider ein.“ Beifälliges Gemurmel ließ sich vernehmen, zitternde Finger streckten sich aus: „Zeig mal her… gib mal… ich will auch mal.“ Zahnlose Gaumen, bräunliche Zahnstummel versuchten die Echtheit des Metalls zu prüfen.
„Sie fühlt sich auch ganz gut an“, griente der Erdfarbene und strich ihr mit seinen verkrusteten Pfoten erst über die Brust, dann über die Schenkel. Andere wollten es ihm gleichtun und beugten sich über Seelah, während ihnen der Seiber aus den Mundwinkeln lief. Einer versuchte sie zu küssen und spie ihr dabei seinen Speichel ins Gesicht. Seelah drehte den Kopf weg, krümmte sich vor Ekel. Die lüsternen Hände hatten keine Hemmungen, drangen in ihre Kleider, zerrissen sie, wühlten in ihren intimsten Bereichen. Schon leckte eine haarige Zunge an ihr herum, als eine donnernde Stimme alle zusammenfahren ließ: „Nehmt sofort eure dreckigen Finger von ihr!“ Die Seibernden gehorchten, zogen sich folgsam ein wenig zurück. Eine junge Armanerin betrachtete Seelah. „Ihr Götter“, flüsterte sie mitleidig. Sie hob Seelahs Kopf aus der klebrigen Lache und preßte einen Lappen auf die Wunde, bis die Blutung zum Stillstand kam. Sie wusch Seelah Schweiß, Dreck und Speichel aus dem Gesicht und strich kühlende Salbe auf die vielen Prellungen. Sie bettete sie auf Felle, deckte sie zu, gab ihr aus einem Becher Würziges zu trinken. „Davon wirst du in einen erholsamen Schlaf fallen, und wenn du wieder aufwachst, wird dein Kopf nicht mehr schmerzen. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es wird sich jetzt niemand mehr an dir vergreifen. Ich werde aufpassen.“ Seelah glaubte den tröstenden Worten und entspannte sich. „Wenn du mir versprichst, nach dem Aufwachen nicht wegzulaufen, werde ich deine Fesseln lösen.“ Seelah nickte mühsam, und die Frau knotete die Stricke auf. Die Augen fielen Seelah bereits zu, als die Armanerin sie noch einmal anlächelte: „Ich heiße Dinah.“
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ch bin nicht weit gekommen, wie du siehst“, schmunzelte Dinah. Die beiden Frauen saßen auf Steinen vor dem Höhleneingang und wärmten sich in der Morgensonne, während Seelah ihr Kleid flickte und das Gold wieder einnähte. „Ich war wie du losgezogen und hatte kaum die Berge des Schweigens erreicht, als ich die erste dieser Elendsgestalten fand, eine alte Armanerin, dem Verdursten nahe. Ich gab ihr einige Schlucke zu trinken, und sie folgte mir. Als ich mich in ihrer Gegenwart das erste Mal zum Schlafen niederlegte, versuchte sie, meinen Wassersack und den Reiseproviant zu stehlen. Ich erwachte noch rechtzeitig und stellte sie zur Rede. Ich erklärte ungeduldig, daß die Blase schnell geleert sei und sie ohne mich nur schwerlich neues Wasser bekommen könne. Fortan war sie folgsam wie ein kleines Hündchen. Als wir die Höhle hier fanden, waren wir schon zu fünft. Immer wieder mußte ich zum Fluß und die ständig leere Wasserblase auffüllen. Manchmal stahl ich dabei auch Obst von den Bäumen, aber das war auf Dauer zu gefährlich. Die Bauern schützen ihr Eigentum gut und halten langbeinige Hunde, die fast jeden Eindringling stellen. Mit Dieben machen sie in Arman kurzen Prozeß. Es werden ihnen die Hände abgehackt, und man überläßt sie ihrem grausamen Schicksal. Schon bald war mein Essensvorrat aufgebraucht, und ich mußte kühner werden. Ich brach meinen kleinen Goldvorrat an, gab mich als Händlerin aus Mephis aus und kaufte den Bauern Nahrungsmittel ab. Ich erwarb auch einen zweiten und dritten Wassersack, denn unsere Zahl wuchs schnell, und ich konnte die Alten doch nicht sterben lassen.“ „Eines verstehe ich nicht“, unterbrach Seelah. „Warum sind sie überhaupt hier? Warum leben sie nicht bei ihren Familien?“
Dinahs so vertraute grüne Augen ruhten nachdenklich auf Seelah. Die beiden Frauen hatten die gelben Scheiben aus ihren Augen entfernt. „Vor den Alten müssen wir uns nicht als Armanerinnen ausgeben“, hatte Dinah erläutert. „Sie wissen, wer ich bin, und da sie mich brauchen, akzeptieren sie mich.“ Jetzt wußte sie offensichtlich nicht, wie sie Seelah die Wahrheit schonend beibringen sollte. Schließlich entschied sie sich für eine ehrliche, klare Auskunft: „Ihre Familien haben sie ausgesetzt. Immer wenn ein alter Armaner nicht mehr genügend arbeiten kann, wird er zum Sterben in die Wüste oder in die Berge gebracht. Die Alten können es nicht wagen, nach Hause zurückzukehren. Lassen sie sich in bewohnten Gegenden sehen, werden sie getötet.“ „Aber das ist ja…“, Seelah fehlten die Worte. „Die Wüste ist eine riesige Grabstätte, und als ich hier ankam, waren auch die Felsen von Gebeinen übersät. Ich habe sie nach und nach in einer Höhle zusammengetragen, deren Eingang ich mit Steinen verschließe. Ein behelfsmäßiges Grab, auch für die alten Menschen, die unter meiner Obhut eines natürlichen Todes sterben. Sie verfallen und sterben hier schnell, so fern ihrer gewohnten Umgebung. Sie wissen, daß man sie zum Sterben verurteilt hat, und verlieren ihre Kraft und ihren Lebensmut. Außerdem…“, Dinah verstummte. „Was noch, Dinah, was noch?“ Seelah wagte kaum weiter zu fragen. „Es sind nicht nur die Alten. Auch unheilbar Kranke und hilflose Krüppel werden ausgesetzt. Einmal fand ich einen kleinen Jungen. Er war wohl irgendwo heruntergefallen und hatte sich am Rückgrad verletzt. Er war vor Schmerzen außer sich, aber man hatte ihn allein gelassen… er starb in meinen Armen.“ –
Beide Frauen schauten blicklos ins Weite, innerlich mit dem Gehörten und Erlebten beschäftigt. Erst nach langem Schweigen nahm Dinah den Faden ihrer Erzählung wieder auf: „Als mein Gold verbraucht war, wurde es schwierig. Hier war ich als Händlerin bekannt, also mußte ich zu entfernteren Gehöften. Dort verdingte ich mich als Arbeitskraft und war manchmal tagelang fort, ehe ich den Alten neues Essen und Trinken bringen konnte. Ich war stets unruhig, wußte nie, was während meiner Abwesenheit alles geschah. Sie können so grausam und gefühllos sein. Du hast es ja selbst erlebt. Besser wurde es erst, als einige von ihnen in den Bergen Gold fanden. Seitdem ziehen sie jeden Morgen aus und klopfen an den Steinen herum. Das meiste, was sie anschleppen, ist unecht, Katzengold, doch sie bemerken es nicht in ihrer Gier und horten ihre eingebildeten Schätze hinten in der Höhle. Sie haben dadurch einen neuen Lebenssinn gefunden. Manchmal bringen sie auch echtes Gold, das ich dann an mich nehme und gegen Nahrung eintausche. Es reicht so gerade zum Überleben.“ „Aber Dinah, so viele Jahreskreise! Wie hast du das nur ausgehalten?“ „Ich wurde gebraucht“, entgegnete Dinah schlicht. „Wie hätte ich wieder gehen können? Ich hatte keine Wahl.“ „War es deine Bestimmung, Dinah?“ „Ja… vielleicht“, lächelte Dinah: „Bestimmung! Das ist so ein tröstliches Wort, Seelah. Es versöhnt mit dem Schicksal. Es sagt dir, du wurdest nicht umsonst geboren, die Götter verfolgen einen Plan mit dir. Es versichert: Auch wenn du es nicht begreifst, du hast nicht umsonst gelebt. Du hast etwas bewegt, für das du vorgesehen warst, vielleicht nur einen kleinen Stein, den dein Fuß lostrat, vielleicht auch Größeres… Ja! Ich glaube, ich bin für diesen Platz bestimmt.“
„Aber warum hast du nie den Coven benachrichtigt? Krista trauert bis heute und glaubt, du lebst nicht mehr.“ „Ich hatte keine Möglichkeit dazu, Seelah. Ich konnte die Alten nicht länger als unbedingt nötig allein lassen. Zudem habe ich immer gehofft, daß irgendwann einmal eine junge Covenbewohnerin hier vorbeikommt. Diese Hoffnung hat sich ja nun erfüllt. Vielleicht ist das deine Bestimmung, Seelah! Dem Coven Kunde von uns Verschollenen zu bringen.“ „Natürlich werde ich von dir berichten. Alle werden erleichtert sein, sich freuen, und Krista wird dein Leben, deine Erlebnisse aufzeichnen… aber eigentlich soll ich den Baum der Wahrheit suchen. Und Ava? Sie ging doch vor dir nach Arman. Weißt du, was aus ihr geworden ist?“ „Ich habe nie etwas von ihr gehört, Seelah, ebensowenig wie von dem Baum. Aber vielleicht kann ich dir bei deiner Suche etwas helfen, dich auf Bauernhöfe mitnehmen und so mit einigen armanischen Gewohnheiten vertraut machen. Dort kannst du dann auch unauffällig Nachforschungen anstellen.“ Dinah und Seelah hatten sich noch viel zu erzählen. Vor allem Seelah mußte ausführlich vom Coven und allen seinen Bewohnern berichten, von den Veränderungen dort und vom Anlaß ihrer Reise nach Arman. Zwischendurch sah Dinah nach den gebrechlichsten der Alten, die nicht mehr in die Berge ziehen konnten. Sie half ihnen in die Sonne und wieder heraus, gab ihnen zu trinken, sprach mit ihnen, um sie aus dumpfem Stumpfsinn zu reißen, und tröstete, wenn die Alten ihre Nutzlosigkeit beklagten. Seelah hielt sich zurück und sah zu. Allmählich legte sich ihre Furcht, und sie begann Mitleid zu empfinden. Trotzdem konnte sie sich nicht überwinden, zu helfen und die Alten zu berühren. Sie bewunderte Dinah um deren Fähigkeit, bedingungslos Liebe zu schenken. Was war sie selbst nur für eine Heilerin, daß sie hier nicht zufassen konnte?
Gegen Abend kamen die Goldsucher zurück, weiß bestäubt, müde, verschwitzt. Sie prahlten mit ihrem Katzengold, das sie stolz vor sich auf dem Boden ausbreiteten. Dinah hatte mit schnellem Blick das bißchen echte Gold ausfindig gemacht und an sich genommen. Nur ungern trat der Betroffene ihr die beiden winzigen Stückchen ab: „Warum schon wieder ich? Die anderen essen doch auch!“ Als die Ausbeute des Tages in den Hintergrund der Höhle getragen wurde, gab es Streitereien: „Da war jemand an meinem Schatz!“ „Ich hatte schon viel mehr, und die Goldklumpen lagen auch anders.“ Die Verdächtigungen drohten in Handgreiflichkeiten auszuarten, die Dinah zu verhindern wußte, indem sie begann, rote Beeren, Hirsefladen, getrocknete Fleischstreifen und Wasser zu verteilen. Es war reichlich, um satt zu werden, und dennoch äugten die Alten mißtrauisch, ob die anderen auch nicht mehr erhielten als sie selbst. Die Steinklopfer gönnten den Daheimgebliebenen die Nahrung nicht und schimpften mit vollen Mündern: „Für die schaff ich doch kein Gold herbei!“ „Ich auch nicht! So nichtsnutziges Pack sollen wir auch noch durchfüttern!“ „Finde ich auch nicht richtig! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ „Haben das Leben nicht verdient!“ Fassungslos hörte Seelah diesen Gehässigkeiten und Mißgünstigkeiten zu, und als endlich nächtliche Ruhe eingezogen war, sprach sie leise mit Dinah darüber: „Warum machen sie sich gegenseitig das Leben so schwer?“ „Sie denken so und haben es nie anders erfahren. Nur wer viel besitzt, ist in ihren Augen viel wert und hat das Recht, sich ein schönes Leben zu machen.“
„Aber sie haben in dir doch ein ganz anderes Beispiel.“ „Ich zähle da nicht. Einige von ihnen meinen, ich sei etwas wirr im Kopf. Andere sind der Überzeugung, daß ich gut an ihnen verdiene und mir schon einen schönen Berg Gold zur Seite geschafft hätte. Häufig höre ich, daß sie mich verdächtigen, sie bestohlen zu haben. Aber sie trauen sich nicht, es mir ins Gesicht zu sagen. Sie wissen genau, ohne mich bekommen sie nichts zu essen und zu trinken, und so halten sie sich mir gegenüber zurück. Untereinander haben sie da keine Hemmungen.“ „Wie kannst du das nur ertragen?“ „Es sind bedauernswerte Geschöpfe, Seelah. Sie haben nicht mehr lange zu leben, und was für ein erbärmliches Leben führen sie!“ „Um so weniger verstehe ich, daß sie es sich untereinander noch verderben. Und warum sind sie so bestrebt, Schätze zu erwerben? Was wollen sie noch damit?“ „Es gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit, Seelah. Gold hat einen hohen Tauschwert. Vielleicht ist es zudem die Hoffnung, man könne auch das Leben kaufen.“ – In dieser Nacht ging eine der alten Frauen. Es war ein kurzes, aber kein friedliches Sterben. Beim ersten Einsetzen der Krämpfe leerte sich die Höhle, und Seelah und Dinah waren mit der Sterbenden allein. „Ich will nicht“, ächzte die Alte, die wußte, was mit ihr vorging. „Kämpfe nicht dagegen an“, tröstete Dinah und kühlte ihr die Stirn. „Dies ist eine große Stunde für dich. Die Götter haben dir auf die Welt geholfen, und sie werden dir herunterhelfen. Sie stehen auf der Schwelle und holen dich ab.“ „Götter… leere Namen… leben… ich… immer.“ „Das wirst du, aber nicht auf dieser Welt, sondern in einer besseren.“
„Lüge… Medizin… gib her.“ „Es liegt nicht mehr in meiner Hand.“ „Mör… der… in!“ Sie starb mit Haß in den Augen. Haß auf alle, die jung und gesund waren, auf alle, die weiterleben durften. „Sie war so alt und krank, ihr Leben so erbärmlich. Warum konnte sie nicht sterben, Dinah?“ „Sie hatte Angst loszulassen. Sterben ist für die Armaner nicht Teil des Lebens, sondern das Ende, ein Abgrund. Sie tun alles, um nicht an ihre eigene Endlichkeit erinnert zu werden. Das ist ein weiterer Grund, warum sie die alten und todkranken Menschen aussetzen. Sie meiden den Anblick. Du siehst es ja hier. Alle sind sie fort, und sie kommen erst wieder, wenn ich die Tote beerdigt habe.“ „Aber sie töten selbst! Du hast es mir doch erzählt!“ „Das ist ihr Triumph. Herr über Leben und Tod zu sein, zu leben, während andere…“ „Sie haben keinen Glauben?“ „Sie glauben nur, was ihre Augen sehen.“
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piele finden hier schon lange nicht mehr statt.“ Seelah und Dinah ließen die Trümmer eines zerfallenen Theaters hinter sich und näherten sich dem Fluß. Der Anblick der Farben tat gut. Vor ihnen erstreckten sich Felder, von zahlreichen Bewässerungskanälen durchzogen. Die junge Saat durchbrach frisch die Schollen, an den Obstbäumen funkelten Blüten. Pferde, Kühe, Ziegen und Schafe grasten auf den Weiden. Die Katen der Bauern, aus rotgebrannten Lehmziegeln erbaut, umgeben von zahlreichen Nebengebäuden, lagerten an breiten Zugangswegen. Rechter Hand gruppierten sich Wohnhäuser und Werkstätten zu einem Dorf, das sich im Schatten eines hohen Wachturms duckte. Wohin man sah, überall gingen die Menschen emsig ihrer Arbeit nach. Keiner war müßig, und schon die Jüngsten hatten ihre Aufgaben. Die Tiere wurden gemolken, die Felder gehackt, die Wiesen gemäht. Vor den Häusern saßen Frauen und nähten und flickten. Kinder wanderten auf der Straße zwischen dem Dorf und den Höfen, Waren in Körben austragend. Im milden Wind flatterte Wäsche auf langen Leinen. Klingendes Schmiedegehämmer lag in der Luft. „Wie schön!“ Seelah holte tief Luft. „So frisch, so ruhig, so friedlich. Fast wie zu Hause.“ Dinah freute sich über Seelahs Begeisterung: „Die Bauern achten sehr darauf, ihre Anwesen zu pflegen und in Ordnung zu halten.“ „Wo sind wir hier überhaupt?“ „Bis Mephis ist es noch ein knapper Tagesweg. Die Ansiedlung nennt sich Wichten.“ „Es ist so schön warm, Dinah, und wir sind so verdreckt. Sollen wir nicht im Fluß schwimmen und uns reinigen?“ „Aber sicher. Das ist immer meine erste Handlung, wenn ich hier ankomme und meine letzte, ehe ich zu den Bergen
zurückkehre. Warte noch ein Weilchen. Beim übernächsten Bauern gibt es einen schönen Platz. Dort werde ich uns anmelden.“ „Anmelden?“ „Nun, ja. Baden kannst du hier nicht umsonst. Die Bauern betrachten den Flußabschnitt, an dem ihre Höfe liegen, als ihr Eigentum. Sie lassen es sich bezahlen, wenn du in die Fluten steigen willst. Nur zum Trinken ist das Wasser frei. Das ist hier üblich, weil jeder einmal in die Verlegenheit kommen kann.“ Der Bauer kam ihnen in gebeugter Haltung und mit schweren Schritten entgegen. Um ihn herum wedelten zwei große Hunde. Argwöhnisch schielte er auf Seelah: „Eine Neue?“ „Sie lernt bei mir“, nickte Dinah. „Sie heißt Seelah.“ „Merkwürdiger Name! Was soll’s sein?“ „Säuberung im Fluß und Wurzeln.“ Dinah drückte ihm Gold in die breite Hand. „Das gibt aber nicht viel um diese Jahreszeit.“ „Wenn ich nicht zufrieden bin, kaufe ich das nächste Mal woanders. Ich möchte noch einige Münzen herausbekommen, und eine warme Mahlzeit wollen wir ebenfalls nach dem Bad.“ „Mal sehen, was sich machen läßt“, brummte der breite Klotz und ließ sie stehen. Dinah schmunzelte: „Hier mußt du immer handeln, sonst würdest du nicht viel erhalten und außerdem unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Er hat schon manches an mir verdient und weiß das auch. Du wirst sehen, wir bekommen nachher ein gutes Essen, denn er will, daß ich wiederkomme.“ – Die kühle Frische des Wassers prickelte. Seelah und Dinah waren mitsamt ihrer Kleider in den Fluß gestiegen und genossen es, den Reisestaub abzuwaschen. Zum ersten Mal seit
Tagen hatte Seelah wieder das Gefühl, daß ihre Haut lebte und atmete. Übermütig planschten die beiden Frauen im Wasser herum, bespritzten sich lachend, jagten sich, tauchten sich unter. Einige Kinder waren am Flußufer zusammengelaufen und starrten sie verständnislos an, trollten sich aber bald wieder. Während ihre Kleider auf einem Busch trockneten, genossen Seelah und Dinah die Sonne. Sie ließen sich Zeit und betrachteten die Gegend. Dabei fiel Seelah auf, daß auf den Weiden großflächige Kreise eingezäunt waren, so daß die Tiere nicht an das innen wachsende Gras herankonnten. Auch auf den Feldern gab es diese Kreise, hier waren sie allerdings nicht eingezäunt, sondern nur mit Holzpflöcken abgesteckt. Seelah machte Dinah darauf aufmerksam: „Sieh mal, was hat das für einen Grund?“ Dinah runzelte die Stirn: „Ich weiß nicht. Das ist mir noch nie bewußt aufgefallen, aber wir können den Bauern danach fragen.“ – Auf dem Hof lief gackernd und scharrend das Geflügel herum. Die Hunde hatten sich in den Schatten der Scheunenwände zurückgezogen und schliefen. Die Bäuerin empfing sie wortkarg und führte sie in die Deele, wo auf einem wuchtigen Holztisch mit entsprechenden Stühlen bemaltes Tongeschirr bereitstand. Seelah staunte über die Pracht und den Wohlstand, den sie hier sah. Nicht Binsen bedeckten den Lehmboden, sondern farbenfrohe Webteppiche. Die Wände zierten Gerätschaften aus getriebenem Kupfer und sorgfältig gegerbte Felle. Bauer und Bäuerin hatten ihre Hände mit gelber Farbe bemalt und blitzende Ringe mit glänzenden Steinen an die dicken Finger gesteckt. Die Vier ließen sich am Tisch nieder, und schon bald schleppten zwei Mägde, die erbärmlich löcherige Kittel trugen, eine Anzahl von Platten mit Haxen, Kraut und Würsten herbei.
Seelah und Dinah hatten vom Laufen und Schwimmen großen Appetit und ließen es sich gut schmecken. An ihre Gastgeber kamen sie aber längst nicht heran. Diese hatten nur Augen für die Speisen. Es schien, als wollten sie gar nicht aufhören zu essen. Das Fett tropfte ihnen von Fingern und Lippen. Sie führten beachtliche Fleischklumpen zum Mund, kauten sie mahlend an und spülten sie mit Wein herunter. Ihre Gäste waren längst gesättigt, als Bauer und Bäuerin immer noch gierig schlangen. Endlich wischte sich der Bauer mit dem Ärmel seines fein gesponnenen Gewandes den Mund, winkte den Mägden abzutragen und wandte sich mit lautem Rülpsen seinen beiden Gästen zu. Ein Gespräch war während der Mahlzeit nicht möglich gewesen, und Seelah hielt nun den Zeitpunkt dafür gekommen. „Das war ein vorzügliches Mahl“, schwärmte sie. „So reichhaltig und gut gewürzt.“ Der Bauer nickte zufrieden und ließ einen abfälligen Blick über ihre Gestalten gleiten: „Ihr scheint euch so etwas wohl nicht leisten zu können, was?“ „Wir sind viel unterwegs“, sagte Dinah schnell, „immer zwischen Mephis und den Höfen. Da haben wir nicht oft die Gelegenheit.“ „Habt Ihr viele Kinder?“ wechselte Seelah vorsorglich das Thema und schaute die Bäuerin an. Die schwieg beharrlich, aber der Bauer blickte sie erstaunt an und machte mit seinem Arm eine ausholende Bewegung: „Alles, was hier an Kleinen herumläuft, selbstverständlich. Zudem etliche von den Größeren… die da zum Beispiel.“ Er deutete auf eine der Mägde.
Seelah, die Scharen von Kindern und Halbwüchsigen gesehen hatte, hielt dies für Prahlerei, ging aber scherzend darauf ein: „Da waren Sie aber fruchtbar, und vor allem Ihre Frau hat ganze Arbeit geleistet.“ Der Bauer kniff die Augen zusammen. „Meine Frau? Die hat nicht viel zuwege gebracht. Meine Töchter und die Mägde sind in dieser Hinsicht schon etwas brauchbarer.“ Er schmunzelte selbstgefällig. „Wir suchen einen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“, lenkte Dinah das Gespräch in eine andere Richtung. „In Mephis fragen sie nach seinen Früchten. Wir wollen sie dort verkaufen.“ – „Solche Bäume wachsen hier in der Gegend nicht“, versicherte der Bauer. „Aber“, sein Tonfall wurde überheblich, „wenn ihr wissen wollt, was gut und böse ist… das bestimme ich hier.“ Er kratzte sich nachdenklich den Kopf. „Doch wenn Bedarf an diesem Obst besteht, wäre es vielleicht gut, diese Bäume anzupflanzen.“ Seine Augen funkelten jetzt interessiert. „Wenn ihr sie ausfindig macht und mir ein paar junge Pflanzen davon mitbringt, werde ich es euch gut lohnen.“ Dinah versprach es und drängte zum Aufbruch. Der Bauer händigte ihnen eine Kiepe mit Wurzeln aus, und sie mußten versichern, den Korb beim nächsten Mal zurückzugeben. Beim Anblick der Felder und Weiden wurde Seelah wieder neugierig: „Was haben diese abgesteckten Kreise auf den Feldern und Weiden für einen Sinn?“ Das Gesicht des Bauern verschloß sich. „Was dort wächst, wird verkauft“, gab er widerwillig Auskunft.
„Aha.“ Seelah hätte gern Genaueres gewußt, gab sich aber angesichts des offensichtlichen Verdrusses, den ihre Frage ausgelöst hatte, mit der Antwort zufrieden. Der Bauer begleitete sie noch ein Stück des Weges. Seelah war es dabei unbehaglich zumute, und auch Dinah schien überrascht. Schließlich, als sich niemand mehr in Hörweite befand, baute sich der Bauer vor Seelah auf. „Eines will ich noch wissen“, dröhnte er. „Für wie alt hältst du mich?“ Bevor sich ein Lächeln auf Seelahs Gesicht ausbreiten konnte, hatte Dinah sie schmerzhaft in den Rücken gekniffen und ihr Vorsicht signalisiert. Ernst blickte Seelah dem Bauern in das feiste, schon welke Gesicht. Ihre Augen ruhten auf dem lichten Kopfhaar, in dessen tristem Braun sich schon etliche graue und weiße Strähnen eingenistet hatten. Sie tat, als überlege sie ernsthaft, und sagte dann zögerlich, den Bauern nicht aus den Augen lassend: „Schwer zu schätzen. Ihr wirkt noch so jugendlich. Vielleicht dreißig Jahreskreise?“ Eitler Stolz zog über das Gesicht des Bauern: „Nicht wahr! Das Altern scheint an mir vorüberzugehen!“ Er schlug ihr kräftig auf die Schulter und stapfte davon. – „Oh, Himmel!“ „Leise!“ Dinah ergriff schnell Seelahs Arm und zog sie vorwärts. „Warum war er so bestrebt, seinen Wohlstand ins rechte Licht zu setzen, und weshalb hatten sie ihre Hände bemalt?“ „Das Händebemalen ist hier Sitte, eine Möglichkeit, Ansehen zu gewinnen. Die Menschen zeigen damit, daß sie wohlhabend sind, wohlhabend genug, um nicht mehr pausenlos arbeiten zu müssen, reich genug, um es sich leisten zu können, die Hände müßig in den Schoß zu legen. Aber tatsächlich gönnen sie sich kaum Ruhe. Sie schaffen und scheffeln ständig.“
„Wieso behauptet er, die Kinder wären alle seine Nachkommen, und weshalb redet er sich ein, er sei noch ein junger Mann?“ „Sicher hat er Angst vorm Alt- und Ausgesetztwerden, Seelah. Und was die Kinder angeht… möglich, daß es stimmt.“ „Das kann ich nicht glauben!“ „Ein Bauer ist hier der absolute Herr auf seinem Grund und Boden. Er kann über das Wohl und Wehe aller von ihm Abhängigen entscheiden, und diese müssen sich fügen. Er wird sich nicht nur mit der Bäuerin gepaart haben.“ „Aber mit den eigenen Töchtern? Wie bei den Tieren?“ „Sie glauben, mit dem Tod sei alles zu Ende. Es ist ihm wichtig, sich in einer breiten Nachkommenschaft zu verewigen. Außerdem benötigt er Arbeitskräfte, und wenn er sie selber zeugt, braucht er keine zu erwerben.“ „Erwerben?“ „Die Bauern beschäftigen nur ungern Leute, die sie bezahlen müssen. Ich hatte es immer schwer, Arbeit zu finden, obwohl ich sehr gut webe, und das ist hier eine Seltenheit. Die Bauern kaufen sich lieber Leibeigene. Das rechnet sich besser.“ „Leibeigene?“ „Nun, es gibt immer Armaner, die sich verschulden. Diese sind dann verpflichtet, sich selbst oder ihre Nachkommen zu verkaufen. Werden auf einem Hof zu viele Kinder geboren, mehr als Arbeitskräfte nötig sind, dann werden sie ebenfalls versteigert. Und so wird hier mit Menschen gehandelt.“ „Ich habe aber niemanden gesehen, der gebunden war. Alle liefen frei herum.“ „Sie können nicht weg, Seelah. Sie werden gebrandmarkt. Hast du nicht den dunklen Kreis gesehen, den die eine Magd des Bauern auf ihrer Stirn hatte? Niemand darf einem entlaufenen Leibeigenen helfen, und niemand hat Interesse
daran. Wo sollen sie hin, in der Wüste, in den Bergen verdursten? Sie haben keine Wahl.“ „Unter den Gebärenden im Coven waren viele gebrandmarkte Frauen, aber ich habe das Mal für einen Stirnschmuck gehalten. Sie waren auch recht gut gekleidet.“ „Ihre Besitzer wollen ihren Reichtum zeigen. Sie würden nie schlecht gekleidete Leibeigene in den Coven schicken, das wäre peinlich für sie. Sie wollen auch mit der Ausstattung des Gebärgemaches beeindrucken. Ich kann mich noch gut an die wertvollen Stühle dort erinnern.“ „Das stimmt. Diese Zusammenhänge kannte ich nicht. Die leibeigenen Frauen traten im Coven immer sehr selbstbewußt auf.“ „Nun, sie hatten allen Grund, stolz zu sein. Sie taten Wichtiges, brachten ihrem Besitzer neuen Nachwuchs, neue Arbeitskräfte.“ „Was ist mit den Kindern, die die Armanerinnen von den Lufusierinnen erhalten?“ „Die werden hier ausschließlich als Leibeigene gehalten.“ „Wenn die Lufusierinnen das wüßten…“ „… würde sich auch nichts ändern, oder?“
D
ie Nacht konnten die beiden Frauen in der Scheune eines Bauern verbringen, bei dem Dinah Dörrfleisch und Hirse erworben hatte. Am kommenden Morgen wollte sie Seelah zunächst das Dorf zeigen. Sie planten, anschließend noch einmal in den Fluß zu steigen und sich möglichst früh auf den Rückweg zu machen. Dinah war um ihre Alten besorgt. Als sie ins Zwielicht der Scheune traten, hörten sie krampfhaftes Weinen. Ein Kind lag im Stroh, die schmalen Schultern zuckten. Seelah setzte sich neben die kleine Gestalt und legte ihr sanft die Hand auf den Rücken: „Warum weinst du?“ Erschrocken fuhr das Kind hoch, schlug ihre Hand zur Seite, saß kerzengerade, angespannt. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir doch nur helfen.“ Irritiert schaute der Junge sie an. „Warum weinst du?“ wiederholte Seelah teilnahmsvoll. Seine Mundwinkel zuckten: „Ich habe heute nicht genug Beeren gepflückt, und mein Vater hat mich geschlagen. Ich bekomme kein Abendessen und muß draußen schlafen.“ Er hob sein Hängerchen und zeigte Seelah den Rücken, der von aufgequollenen roten Striemen überzogen war. „Wenn ich morgen nicht viel mehr pflücke, wird er mich verkaufen. Aber ich kann nicht. Ich habe mich heute gebückt und gebückt…“ „Komm, sicher hast du Durst.“ Seelah hielt dem Kleinen die Wasserblase hin, aus der er mit gierigen Schlucken trank. Sie befeuchtete ihren Rocksaum, um ihm das Gesicht zu wischen, aber wieder schlug er nach ihrer Hand. Offenbar war er Zärtlichkeiten nicht gewohnt. „Magst du ein Stück Fladen?“
Der Junge nickte, griff eilig zu und stopfte es ausgehungert in sich hinein. Seelah reichte ihm nach. Als der ärgste Hunger gestillt war, drohten erneut die Tränen zu fließen. Seelah sann schnell auf Ablenkung: „Weißt du! Ich erzähle dir eine Geschichte!“ „Was ist das?“ „Du wirst schon hören. Paß auf…“ Sie erzählte dem armanischen Knaben einen Göttermythos nach dem anderen. Das Kind hing an ihren Lippen, regte sich nicht, die Tränen waren vergessen. Als Seelah schließlich pausieren mußte, um einen Schluck zu trinken, sprang er auf. Der kindliche Mund verzog sich verächtlich. „Du lügst“, rief er. „Das werde ich meinem Vater sagen und auch, daß du mir zu essen und zu trinken gegeben hast.“ Er stürzte hinaus. „Er weiß genau, wo seine Vorteile liegen“, stellte Dinah fest, „und er weiß sie auch zu nutzen.“ Doch offensichtlich hatte sich der Knabe diesmal verrechnet. Es dauerte nicht lange, und der Bauer baute sich im Eingang auf, stellte sie zur Rede: „Ihr seid wohl etwas wirr im Kopf, nehme ich an. Kindern dummes Zeug zu erzählen! Und laßt es euch nicht noch einmal einfallen, meinen Anordnungen zuwiderzuhandeln, oder wir haben das letzte Geschäft miteinander gemacht. Diesen Knaben habt ihr mir jedenfalls gründlich verdorben. Wie soll er jetzt noch meinem Wort gehorchen? Morgen wird er verkauft. Aus dem wird eh kein tüchtiger Arbeiter mehr. Und ihr verschwindet mit dem ersten Tageslicht, sonst…“ Wütend knallte er die Scheunentür hinter sich zu. Bedrückt schaute Seelah ihm nach. „Es ist nicht deine Schuld“, versicherte Dinah schnell. „Wir dürfen uns da nicht einmischen.“
„Dinah! Er ist ein Kind! Ein kleines noch dazu, und man verfährt so grausam mit ihm. Nur weil er nicht die Leistungen erbringt, die man von ihm erwartet.“ „Ich glaube, in Arman werden keine großen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen gemacht. Kinder werden wie kleine Erwachsene behandelt, auf ihre besonderen Eigenarten wird wenig Rücksicht genommen.“ „Ihre Phantasie… man läßt ihre Phantasie verkümmern. Der Kleine wußte noch nicht einmal, was Geschichten sind. Mir wird jetzt auch klar, was ich hier den ganzen Tag vermißt habe. Etwas fehlte…“ „Ich weiß, Seelah.“ „Kinderlachen, Dinah! Nicht eines der vielen Kinder hier hat gelacht.“ – An diesem Abend legten sie sich erst spät zum Schlafen nieder. Seelah wälzte sich unruhig hin und her, suchte nach Möglichkeiten, dem Jungen zu helfen, und plötzlich wußte sie wie: „Wir werden ihn kaufen!“ „Bitte?“ Dinah fuhr hoch. „Wir werden ihn kaufen, Dinah!“ „Wen?“ „Na, den kleinen Jungen. Den Sohn, den der Bauer versteigern will.“ „Das geht nicht!“ „Wieso denn nicht? Ich habe Gold. Es dürfte ausreichen, und dem Bauern kann es doch gleichgültig sein, wer ihn kauft.“ „Was willst du denn mit ihm?“ „Nicht ich, du. Er kann dir helfen, die Alten zu versorgen, Wasser holen und Nahrungsmittel…“ „Das ist eine Gefahr, die ich nicht eingehen kann, Seelah. Er ist in armanischen Traditionen aufgewachsen und hat dieses
Denken übernommen. Er würde die Alten und mich bei der ersten Gelegenheit verraten. Nein, das mache ich nicht.“ „Dann nehme ich ihn mit. Er kann meinen Wassersack und den Beutel tragen, und ich gebe ihn als meinen Leibeigenen aus.“ „Dazu müßtest du ihn brandmarken lassen, Seelah. Willst du das?“ „Nein, du hast recht. Ich gebe ihn als meinen Sohn aus.“ „Er wird auch dich verraten. Meinst du, ihm wird nicht früher oder später auffallen, daß du anders bist? Vor allem, wenn du ständig mit ihm zusammen bist. Auf den Kopf von Eindringlingen ist in Arman ein hoher Preis ausgesetzt. Den wird er sich verdienen wollen.“ „Er darf nicht mit anderen sprechen.“ „Er wird es trotzdem tun. Willst du ihn strafen? Er wird dir davonlaufen und dich anzeigen. Was sollte ihn daran hindern, wenn er nicht gebrandmarkt ist?“ „Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen.“ „Willst du nicht mehr schlafen oder ihn fesseln, wenn du mal die Augen zumachst? Seelah! Sieh es ein! Es geht nicht! Außerdem würdest du ihn nur unglücklich machen, wenn du ihn aus dem vertrauten ländlichen Umfeld fortnimmst. Du bist für ihn ein neuer Besitzer wie jeder andere auch. Aber du hast den Nachteil, daß du ihm noch nicht einmal die gewohnte Arbeit auf einem Bauernhof bieten kannst. Du fühlst dich mitverantwortlich am Schicksal des Kindes und machst dir berechtigte Sorgen. Aber sieh es ein! Du bist nicht die beste Lösung für den Jungen.“ „Ja… du hast wohl recht, Dinah. Ich würde nur so gern etwas für ihn tun, möchte ihn gut behandelt wissen. Aber selbst das könnte ich nicht durchhalten. Es stimmt, ich würde ihn anbinden müssen…“ „Versuch jetzt zu schlafen, Seelah.“
„Ja, gute Nacht.“ Als Seelah sich auf dem Stroh ausstreckte, schien es, als seufzte der Wind in den Bäumen erleichtert auf. – Es war noch dunkel, als sie von durchdringendem Geläute aus dem Schlaf gerissen wurden. „Was ist los?“ Seelah setzte sich auf. Draußen rannten trampelnde Füße vorüber. „Das ist die Glocke vom Wachturm im Dorf. Sie schlagen Alarm – irgend etwas ist passiert. Wir müssen hören, was los ist. Komm!“ Seelah bückte sich nach der Kiepe mit den Wurzeln, wollte sie schultern. „Nein! Laß alles liegen. Wir holen es später.“ Sie rannten zwischen den letzten Nachzüglern ins Dorf. Als sie schweißüberströmt und atemlos auf dem Dorf platz ankamen, wimmelte es hier bereits von Menschen. Etliche hielten brennende Fackeln in den Händen. Auf den Außenstufen zum Turm stand ein Mann, brüllend, wild gestikulierend, sich mit überschlagender Stimme Gehör verschaffend: „… haben zwei Kaufleute überfallen und ausgeraubt. Den einen haben sie massakriert, der andere konnte entkommen.“ Er deutete auf einen zweiten Mann, der neben ihm stand. „Wir werden dem noch diese Nacht ein Ende bereiten.“ Er ergriff eine Axt, die neben ihm an der Mauer lehnte, stieg die Stufen hinab, setzte sich in Bewegung. Die Menge drängte ihm nach, Speere, Messer, Knüppel umklammernd… alles, was die Menschen bei ihrem nächtlichen Erwachen an Waffen hatten ergreifen können. „Was ist passiert?“ schrie Dinah die Umstehenden an, erhielt aber keine Antwort. Sie packte einen halbwüchsigen Knaben bei den Schultern und schüttelte ihn: „Sag mir, was los ist!“
„In den Bergen haben ein paar Alte überlebt und sich zusammengerottet. Sie überfallen harmlose Kaufleute.“ Der Junge riß sich los und verschwand in der Menge. „Nein!“ Dinah preßte beide Hände auf ihren Mund. „Los komm!“ Sie schoben und drängten, um sich an die Spitze der Meute vorzuschieben, aber sie gewannen im Gewühle der Menschenleiber keinen Raum. „Wir müssen es außen herum versuchen!“ Dinah zerrte Seelah an den Rand der Menge. Hier ging es aber auch nicht schneller voran, weil sie vom Weg ab und in die Felder und Wiesen gestoßen wurden. Erst als sie die bewohnten Gebiete hinter sich gelassen hatten, auf Sand und zwischen Felsblöcken liefen, konnten sie etliche Armaner, vor allem Frauen und jüngere Kinder, überholen. Sie kamen zu spät. Die Meute drängte sich bereits um die vorgelagerten Felswände, als sie beim Hellwerden endlich ihr Ziel erreichten. Kein Laut drang aus dem Inneren der Höhle. Seelah und Dinah hielten sich aneinander fest, während sie warteten. Schließlich stieg jemand auf einen Felsblock und ergriff das Wort: „Wir haben die Narren im Schlaf erwischt. Sonst ist hier nichts zu holen.“ Die Armaner klatschten Beifall und zogen ab. „Mein Alter war auch darunter“, sagte jemand im Vorübergehen. „Wenn ich gewußt hätte, daß der so zäh ist…“ Allmählich kehrte Stille ein, und das Schweigen der Berge legte sich auf Seelah und Dinah. Erst gegen Mittag fanden sie die Kraft, die Höhle zu betreten.
M
ephis schien zum Greifen nahe. Die klobigen Stadtmauern mit den wehrhaften Türmen ragten gewaltig in den Abendhimmel. Auf der Brücke, die über den breiten Graben und zum östlichen Tor führte, herrschte lebhaftes Gedränge. Bald würde die Stadt sich zur Nacht einrichten und ihre Pforten schließen. Seelah setzte sich an den Wegrand, um zu beobachten und ihr Abendmahl einzunehmen. Heute würde sie Mephis besser nicht mehr betreten, sondern sich beim nächsten Bauern als Nachtgast einkaufen. Wer wußte, was sie in der Stadt erwartete, und nach Schließung der Tore säße sie dann fest wie eine Maus in der Falle. Seelah war vorsichtig geworden… sie hoffte, vorsichtig genug. Der Abschied von Dinah am Morgen war ihr schwer gefallen. Am liebsten hätte sie die neugewonnene Freundin mit sich genommen. „Ich bleibe, Seelah.“ „Aber hier ist niemand mehr, um den du dich kümmern mußt.“ „Schon morgen wird sich wieder jemand einfinden, der meine Hilfe braucht. Das Wissen darum ließe mir woanders keine Ruhe. Ich werde hier neu beginnen.“ „Ich könnte deine Hilfe auch gebrauchen, Dinah“, bettelte Seelah. Aber Dinah war fest geblieben: „Seelah! Du bist jung und kannst für dich selbst entscheiden. Du kannst kommen, bleiben und gehen, wie es dir beliebt. Die Alten haben diese Vorteile und Freiheiten nicht mehr. Sie haben nur noch mich. Es tut mir leid.“ Seelah schämte sich ihres Versuchs, Dinahs selbstlosen Entschluß zu untergraben:
„Du hast recht. Sei mir nicht böse, Dinah. Und versteh’ bitte, daß ich dir hier nicht dauerhaft zur Seite stehen kann. Ich muß weiter.“ „So war es auch nicht gedacht, Seelah. Dies ist mein und nicht dein Platz. Und ich glaube, du solltest dich schon bald wieder auf den Weg machen und deiner Weisung folgen. Was ich von Land und Leuten weiß, habe ich dir gezeigt und vermittelt. Mehr kannst du bei mir nicht lernen.“ „Ich könnte noch vieles von dir lernen, da bin ich mir ganz sicher. Aber es stimmt, es ist Zeit. Wenn ich nur einen Anhaltspunkt hätte, wo ich den Baum der Erkenntnis suchen soll.“ „Mm, es ist sicherlich nicht ungefährlich… aber Mephis ist eine Handelsstadt, Seelah. Dort verkehren Kaufleute aus ganz Arman. Sie haben Karten vom Land, und wenn du dich unter ihnen umhörst… vielleicht, daß einer von ihnen weiß…“ „Das ist eine ausgezeichnete Idee, Dinah.“ „Aber sei vorsichtig. Das Leben in der Stadt verläuft sicherlich ganz anders als auf dem Land.“ – Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Seelah stand auf, sie mußte nun allmählich ein Nachtlager suchen. „Ich weiß noch nicht, wie viele Nächte ich bei Euch bleiben möchte“, teilte sie dem Bauern mit. „Ich habe Geschäfte in der Stadt zu erledigen, möchte aber lieber außerhalb wohnen. Das dürfte auch wesentlich billiger sein.“ Der Bauer nickte. Bestrebungen zu sparen, konnte er gut nachvollziehen. „Scheune oder Kammer?“ wollte er wissen. „Scheune reicht mir.“ Sie wurden handelseinig. Seelah mußte gleich für diese erste Nacht bezahlen und bekam auf ihr Goldstückchen eine Handvoll Kupfermünzen heraus. Sie legte sich müde ins Stroh, gespannt und besorgt, was der nächste Tag bringen würde.
Wieder einmal wurde ihre Nachtruhe gestört. Scheunen schienen in dieser Gegend ein beliebter Schlupfwinkel zu sein. Rascheln, Kichern, Stöhnen ließen sie aus dem Schlaf hochschrecken. „Wer ist da?“ rief sie und strengte ihre Augen an, um in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nicht weit von ihr fuhren zwei Gestalten auseinander. Ein junger Mann riß die Hose hoch und stürzte fluchtartig aus der Scheune. Das Mädchen verhielt sich besonnener. Es zog seine Röcke herunter, strich sie glatt und sprach Seelah an: „Wir wußten nicht, daß hier heute Nacht jemand schläft, sonst hätten wir nicht gestört. Entschuldigt und bitte… bitte verratet meinem Vater nicht, daß wir hier waren. Würde ich trächtig, er würde mich verkaufen, weil ich nicht seinen Nachwuchs gebäre. Und Schablo wäre noch schlimmer dran. Er ist leibeigen und würde seiner Männlichkeit beraubt. Das wäre bedauerlich, denn es macht mir gerade mit ihm soviel Spaß. Bitte! Schweigt!“ Seelah konnte den letzten Worten des Mädchens kaum noch Gehör schenken. Schablo? Sie mußte Gewißheit haben: „Woher kommt er?“ „Das weiß ich nicht. Bitte…“ „Gut! Ich werde nichts sagen, aber eine Bedingung muß ich stellen.“ „Welche?“ „Ich will mit ihm sprechen.“ „Das Einfachste wird sein, Ihr fordert ihn beim Bauern an. Gegen Bezahlung wird er ihn ausleihen“, empfahl das Mädchen und verschwand erleichtert. Seelah vermutete schon, was das Mädchen unter Sprechen verstand, und als sie den Bauern am nächsten Morgen aufsuchte, bestätigte sich ihre Ahnung. „Ihr habt da einen Leibeigenen, Schablo…“, begann Seelah.
„Ach! Ihr braucht wohl einen Mann, was?“ brüllte der Bauer. „Na, mir soll’s recht sein. Ich könnte mich selbst zwar auch empfehlen, aber ich werd’ ihn Euch zur Nacht in die Scheune schicken. Billig ist er allerdings nicht zu haben.“ Seelah nickte, bemühte sich, ihre Verlegenheit zu verbergen, und wandte sich zum Gehen, froh, dem gemeinen Grinsen des Bauern nicht mehr ausgesetzt zu sein. – Die Straßen zur Stadt waren von Eiligen bevölkert. Mehr als einmal wurde Seelah rücksichtslos angerempelt. Als sie hinter sich das Stampfen herantrabender Hufe wahrnahm und sich umdrehte, wäre es beinahe zu spät gewesen. Im letzten Moment, eine Pferdeflanke streifte sie schon, warf sich Seelah mit ihrem ganzen Körper zur Seite und schlug schmerzhaft auf dem harten Boden auf. Der Fuhrmann beschimpfte sie lauthals und hieb unvermindert hart auf die Gäule ein. Als Seelah sich aufrappelte, war das Gefährt schon fern, eine Staubwolke zurücklassend. Die Vorübergehenden übersahen den Vorfall, strebten weiterhin vorwärts. Niemand half ihr beim Aufstehen, keiner erkundigte sich, ob sie verletzt sei. Von nun an hielt sich Seelah am Straßenrand. Offensichtlich herrschte auf den Wegen das Recht des Stärkeren. Kurz vor Mephis beobachtete sie eine Schar Kinder. Die Kleinen waren mit einem Seil zu einer langen Reihe zusammengebunden: Anfang und Ende des Stricks hielten zwei Frauen in der Hand. Mit mürrischem Gesicht und ausholenden Schritten führte die Vorangehende die Kinder zu den Feldwegen. Ein kleiner Junge, kaum seiner Beine mächtig, konnte nicht standhalten. Stolpernd fiel er über seine eigenen Füße und brach in Tränen aus. Unwirsch begab sich die Mürrische zu ihm hin, zog ihn grob auf die Füße, schimpfte. Der Kleine schluckte krampfhaft an seinen Tränen, versuchte es erneut. Doch gleich darauf stolperte er wieder. Die vorangehende Armanerin schickte sich an, den Kleinen zum zweiten Mal hochzuzerren, doch diesmal
war die Frau, die am Ende der Reihe ging, schneller. Sie hob den Jungen vorsichtig auf, band ihn los, trocknete ihm das Gesicht, sprach tröstende Worte, nahm ihn auf den Arm und begab sich mit ihrer Last erneut an das Ende des Zuges. Aufmerksam blickte Seelah ihr nach. Gab es hier doch so etwas wie Mitgefühl? Diese Armanerin interessierte sie… sehr sogar. – Vor der Brücke versuchte eine alte Frau, ihre mit Knollen beladene Kiepe abzusetzen. Sie war anscheinend am Ende ihrer Kräfte, und die schwere Last entglitt ihren Händen. Am ganzen Körper zitternd, versuchte die Alte, ihre verstreute Habe wieder einzusammeln. Seelah eilte hinzu, aber die Frau wehrte sie ab, zischte giftig: „Was wollt Ihr?“ „Euch helfen.“ „Was wollt Ihr dafür?“ Seelah begriff und suchte nach einer Möglichkeit, die alte Frau zu unterstützen, ohne sie dafür bezahlen zu lassen: „Nur einige Auskünfte. Ich bin fremd in der Stadt und benötige Unterweisung.“ Daraufhin war ihre Hilfe willkommen. Als die Knollen wieder in der Kiepe lagen, setzte sich die Alte an den Straßenrand, um zu verschnaufen. Es dauerte lange, bis sie wieder ruhig atmete. „Warum tragt Ihr so schwer?“ begann Seelah das Gespräch. „In Eurem Alter solltet Ihr Euch…“ „Alt! Wer ist hier alt? Ich noch lange nicht. Glaubt nur nicht, ich sei nicht mehr in der Lage, schwer zu arbeiten.“ Seelah stutzte… bemerkte ihren Fehler. „Nein, Ihr seid noch sehr rüstig“, beruhigte sie. „Sicher schafft Ihr dem Bauern noch reichlich Gewinn.“ „Gewiß! Gewiß doch! Wenn er mich nicht hätte… nur… das geht Euch nichts an. Also! Was wollt Ihr wissen?“
„Verschiedenes. Zunächst einmal… vorhin sah ich eine Gruppe kleiner Kinder. Sie gingen an einer langen Leine Richtung…“ „Die Brut von Kaufleuten“, unterbrach die Alte. „Sie leben im Aufzuchthaus, bis sie verständig genug sind, ihren Eltern zu helfen.“ „Warum denn das?“ „Warum? Warum?“ äffte die Alte sie nach. „Fragen stellt Ihr. Strengt doch mal Euren Verstand an. Die Eltern sind ständig unterwegs, treiben Handel. Es ist viel zu zeitaufwendig und teuer, Säuglinge und Kleinkinder mitzuführen. Also geben sie die Kinder ins Aufzuchthaus. Wenn die Gören alt genug sind, holen sie sie wieder ab. Sie bezahlen aber nur, wenn sie gesunde Kinder, die auch tatkräftig zufassen können, zurückbekommen. Also werden die Kleinen jeden Tag um die Stadt geführt, damit sie Muskeln bekommen.“ „Warum sind die Kinder angebunden?“ „Damit keines verlorengeht, denke ich… zufrieden?“ Seelah nickte: „Wo befindet sich das Haus?“ „Innerhalb der Stadtmauern… ich glaub’, gleich in der Nähe vom Osttor, aber so genau weiß ich das nicht… hab’ mich nie drum gekümmert. Noch mehr Fragen?“ „Ja. Ich treibe Handel und habe Abnehmer für die Früchte vom Baum der Erkenntnis. Ich möchte das Obst im Mephis erwerben. Wißt Ihr, wer es verkauft?“ „Nie davon gehört. Fragt auf dem Markt.“ Die Alte war es offensichtlich leid. „Eine letzte Frage beantworte ich Euch noch, aber dann reicht es… also los!“ „Auf einigen Feldern und Wiesen habe ich abgesteckte Kreise gesehen. Was hat das zu bedeut…“
Die Alte ließ sie nicht aussprechen. Ihr Gesicht lief rot an, die Adern auf Stirn und Schläfen schwollen. „Schnüfflerin!“ kreischte sie. „Schnüfflerin!“ Erschrocken sprang Seelah auf. Die Alte ergriff eine Knolle, holte aus, um Seelah damit zu bewerfen. „Schnüfflerin!“ Die Vorübergehenden wurden aufmerksam… Seelah ergriff die Flucht. – Auf der Brücke gab es eine Stockung, verursacht durch die Stadtwachen, die den Einlaßsuchenden Gebühren abverlangten. Mücken, die von der stinkenden, fauligen Brühe im Stadtgraben angezogen wurden, belästigten die Wartenden. Seelah mußte einem jungen Wachhabenden, der in seinem ausgeblichenen, ehemals purpurnen Gewand einen verkommenen, wenig vertrauenerweckenden Eindruck machte, einige Münzen aushändigen. Dann durfte sie passieren. Schon nach den ersten Schritten fühlte sie sich unwohl. Im Innern der Stadtmauern war es laut, dreckig und beengt. An den Fassaden der Häuser bröckelten die Ziegel, Unrat bedeckte die Straßen. Seelah schloß sich dem Menschenstrom an, der Richtung Stadtkern drängte. Immer wieder beanspruchten Fuhrwerke die ganze Breite der schmalen Gasse, und sie mußte sich, wie alle anderen, eng mit dem Rücken an die Hauswände drücken, um nicht von den Pferden zertrampelt zu werden. Seelah war froh, als die Straße in einen Platz mündete und die Menge sich verlief. Hier lagen die Läden und Werkstätten von Kaufleuten und Handwerkern. Die großen, halbrunden Eingangstüren standen offen, gestatteten einen Blick auf das Warensortiment der Händler, auf die Tätigkeit der Gewerbetreibenden. Ihr fiel auf, daß viele der Städter einen kranken Eindruck machten. Sie wirkten hager, zerfurcht, fahrig. Ihre Haut zeigte eine ungesunde Blässe. Sie boten einen traurigen Anblick, besonders im Vergleich mit der blühenden,
beleibten Landbevölkerung. Wie kam es zu solchen Unterschieden innerhalb ein und derselben Art von Menschen? Ob es eine ansteckende Erkrankung war? Seelah konnte keine Zeichen ihr bekannter Krankheiten erkennen, beschloß aber trotzdem, zu engen Kontakt mit den Betroffenen zu meiden. Und so näherte sie sich nur behutsam den Inhabern der wenigen Obst- und Gemüseläden. Diese eilten ihr beflissen entgegen und erkundigten sich nach ihren Wünschen. Seelah bekundete ihre Absicht, Früchte vom Baum der Erkenntnis kaufen zu wollen, erhielt aber nur bedauernde Antworten. Die Händler priesen ihr Früchte aus allen Landesteilen in überschwenglichen Tönen an und ließen sie nur ungern ohne Einkäufe ziehen. Ein Kaufmann krümmte sich mitten im Gespräch zusammen und verschwand im Innern des Hauses. Seelah hörte, wie er erbrach. Einen zweiten, der sich ununterbrochen den Schweiß von der Stirn wischte, sprach sie auf seine Beschwerden an: „Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“ „Nein, nein. Es ist nichts. Es geht mir vorzüglich. Ich bin nicht krank… nie krank gewesen… voll arbeitsfähig. Habe nur in den letzten Jahreskreisen leichte Beschwerden nach den Mahlzeiten.“ Seelah ließ es dabei bewenden und erkundigte sich nach dem Markt. Der Kaufmann wies sie ans andere Ende der Stadt.
M
üden Schrittes erreichte Seelah abends die bäuerliche Scheune. Der Tag war lang gewesen, anstrengend, voller neuer Eindrücke, und sie hatte nichts… absolut nichts erreicht. Ihr graute davor, diese häßliche, verkommene, laute und volle Stadt am nächsten Tag wieder aufsuchen zu müssen. Doch was sollte sie sonst tun? Sie hatte keine Wahl. Seelah fühlte sich beschmutzt und beschloß, sich vor der Nachtruhe noch im Fluß zu reinigen. Sie meldete dies der Bäuerin an und stieg fröstelnd ins kühle Naß. Was war das nur für ein Tag gewesen! Sie hatte lange gebraucht, um den Markt zu finden. Immer wieder hatte sie sich in den vielen engen Gassen von Mephis verlaufen, weitere Plätze entdeckt, sich neu orientiert… erneut auf die Suche gemacht. Ein weitläufiger Platz wurde von einem hohen Holzgerüst in seiner Mitte beherrscht. Dunkle Lachen ausgeronnenen Lebens klebten an den Brettern, den Balken und auf dem Boden unter der Plattform. Schmeißfliegen hatten sich in Schwärmen darauf niedergelassen, ihr widerliches Summen erfüllte den Ort. Seelah brauchte sich nicht zu fragen, welchen Zwecken diese öffentliche Vorrichtung diente… die Axt steckte noch im Holzblock. – Sie tauchte ganz ins Wasser ein, nahm eine Handvoll Sand und scheuerte ihre Haut. Es tat gut, diesen Gestank der Verwesung abzuwaschen. Auf dem Markt hatten Bauern und Kaufleute aus ganz Arman ihre Stände errichtet. Stoffe, Gerätschaften, Gewänder, Schmuck, Teppiche, Gewürze, alles, was zum Leben benötigt wurde und es verschönte, wurde hier gehandelt.
Die purpur Gewandeten, die Seelah schon vom Stadttor kannte, machten sich auch auf dem Marktplatz wichtig. Sie kassierten hohe Standgebühren von den Anbietern. „Was machen sie mit den vielen Einnahmen?“ erkundigte sich Seelah bei einem Kaufmann. „Der Monarch von Mephis erhält sie.“ „Der Monarch? Wofür?“ „Er beschützt die Stadt.“ „Die Stadt? Vor wem? Vor welchen Feinden?“ Seelah erhielt keine Antwort. Auch vom Baum der Erkenntnis und seinen Früchten hatte niemand etwas gehört. Ein Händler war jedoch bereit gewesen, ihr eine Landkarte zu verkaufen: „Kommt morgen wieder, dann sollt Ihr sie erhalten.“ – Seelah stieg aus dem Fluß und wrang ihre Haare aus. Sie mußte bald daran denken, sie nachzufärben. Der volle Mond leuchtete ihr, und sie fühlte sich getröstet. „Du Weiche, du Nachgiebige, du Fließende“, murmelte Seelah. „Auch hier verschenkst du dich… doch niemand lernt von dir.“ Auf der Suche nach dem östlichen Stadttor war Seelah wieder in die Irre gegangen. Die Stadt erschien ihr wie ein gefräßiges Labyrinth. Wen es einmal in den Fängen hatte, den drohte es zu verschlingen. Durch Zufall war Seelah auf das Kinderhaus gestoßen. Sie wäre an dem kleinen, verfallenen Gebäude achtlos vorbeigelaufen, hätte nicht eine große, hölzerne Tafel, die über der morschen Tür hing, ihre Aufmerksamkeit erregt. Aufzuchthaus stand da in schön geschwungenen Lettern, und daneben waren einige Säuglinge und Kleinkinder gezeichnet… Information für die vielen Armaner, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Hier, in diesem alten, elenden Gemäuer, sollten so viele Kinder leben? Lange hatte Seelah vor dem Haus gestanden, in der unbestimmten Hoffnung, die
mitfühlende Armanerin vom Morgen zu sehen. Aber nur die Fensterluken des Gebäudes gähnten sie an, kein Laut drang heraus, keine Bewegung ließ sich erspähen. Schließlich hatte sich Seelah auf den Heimweg gemacht. – Heim! Als sie das Scheunentor hinter sich zuzog, fühlte sie sich tatsächlich daheim. Zumindest war ihr das Nachtlager schon vertraut geworden. Erleichtert kuschelte sich Seelah ins Stroh und machte sich daran, ihre karge Abendmahlzeit zu verzehren. Der Schein des Vollmonds drang durch die Bretterritzen, und Seelahs Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht. Sie hatte den ersten Bissen im Mund, als die Tür aufgerissen wurde. Jemand schlüpfte durch den Spalt und schloß das Tor gleich wieder. Der Mondschein hatte die Gestalt kurz umspielt, und Seelah hatte eine breite, kräftige, etwas kleinwüchsige Figur erkennen können. Während ihre Augen sich erneut auf den Dämmer einzustellen versuchten, hörte Seelah, wie Gewänder raschelten und zu Boden fielen. Jemand tastete sich in ihre Richtung, stand vor ihr… nackt, das Geschlecht hoch aufgerichtet. Schablo! Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Er sprach nicht, fiel gleich über sie her. Seelah versuchte ihn abzuwehren: „Halt, Schablo! Halt! So war das nicht gemeint!“ Er hielt nur kurz inne: „Was soll das? Wozu Zeit verlieren?“ „Ich will mit dir sprechen, Schablo… unterhalten, verstehst du?“ „Gequatscht wird nicht.“ Er zerrte an ihren Bändern, keuchte. „Bringt nichts ein.“ Seelah hatte sich in das armanische Denken schon so weit eingefühlt, daß ihr die Lösung des Problems unmittelbar in den Sinn kam. Erpressung! „Hör sofort damit auf, oder ich sage dem Bauern, was ich letzte Nacht hier beobachtet habe!“
Er richtete sich langsam… widerwillig langsam… auf: „Was willst du?“ „Dir ein paar Fragen stellen.“ „Der Bauer will Gold sehen.“ „Ich werde ihn morgen bezahlen und ihm sagen, du hättest Höchstleistungen vollbracht.“ Gelbe Augenschlitze ruhten zweifelnd auf ihr: „Wenn du mich…“ „Nein, nein! Du kannst dich darauf verlassen. Ich werde dir bestimmt nicht schaden. Laß dir nur einige Fragen stellen.“ Er brachte keine weiteren Einwände vor, schwieg. Seelah nahm dies als Einverständnis: „Du bist leibeigen, wer hat dich verkauft?“ „Mein Vater.“ „Warum hat er das getan?“ „Er hatte genügend Arbeitskräfte. Der Hof war zu klein, all seine Söhne zu beschäftigen, und ich war ihm zu schwächlich.“ „Aus welchem Dorf stammst du?“ „Satana.“ „Wie lange bist du schon hier?“ „Ich war fünf Jahreskreise alt, als ich versteigert wurde.“ „Was ist mit deiner Mutter, deinen Geschwistern? Wie heißen sie?“ „Ich kann mich auf nichts besinnen… war zu klein… zu lange her.“ „Du weißt nichts mehr?“ „Meine Mutter hatte ein breites Gesicht und strenge Hände. Sie hat mich oft geschlagen. Das ist alles.“ Seelah war enttäuscht. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vor ihr stand ein Bruder, der ihr zutiefst fremd war… fremd in Erscheinung, Denken und Wesen. Ein Bruder, der keine Erinnerungen an die Familie hatte, nach der sie so…
sehnsüchtig?… suchte. Seelah wurde auf einmal klar, daß ihr Wunsch, ihre Familie kennenzulernen, schon nicht mehr so dringlich war. Mit jeder Erfahrung, die sie bisher mit den Armanern gemacht hatte, waren auch ihre diesbezüglichen Erwartungen geschrumpft. Seelah zog die Schultern hoch, überlegte… sollte sie? Doch ihre Neugierde war mittlerweile viel zu groß geworden und überschrie die Vernunft. „Es ist gut“, sagte sie zu Schablo. „Eine letzte Frage, und dann kannst du gehen. Was haben die abgesteckten Kreise auf den Feldern und Wiesen für einen Sinn?“ „Nein!“ Schablo sprang auf. „Diese Frage werde ich nicht beantworten. Meinst du, ich lasse mir die Zunge herausreißen und die Haut bei lebendigem Leib abziehen? Da riskier’ ich doch lieber meine Manneskraft! Wenn du nicht Gast vom Bauern wärst, unter seinem Schutz stündest…“ Er öffnete und schloß drohend die Fäuste. „Aber hüte dich trotzdem… ich komme nachts.“ „Schon gut!“ beschwichtigte Seelah erschrocken. „Du brauchst mir die Frage nicht zu beantworten. Damit du siehst, daß ich es gut mit dir meine… hier nimm!“ Sie hielt ihm Gold hin, um das sich seine Hand schnell schloß. „In Ordnung! Aber ein falsches Wort…“ Er stieg in seine Kleider, dann schloß sich das Scheunentor hinter ihm. In dieser Nacht schlief Seelah kaum. Sie lehnte sich mit dem Rücken an einen Balken, ihre rechte Hand umkrampfte den Dolch. So, halb aufgerichtet, wartete sie auf den Tag. Gegen Morgen fielen ihr gelegentlich die Augen zu, doch schon beim kleinsten Geräusch schreckte sie wieder hoch. Als der Hahn krähte, suchte sie ihre Habseligkeiten zusammen. Sie mußte eine andere Bleibe suchen… umgehend. Sie beglich ihre Schulden bei dem Bauern und lobte Schablos Männlichkeit, sich wohl bewußt, daß sein mißtrauisches
Gesicht aus der Stalltür spähte. Der Bauer grinste so zufrieden, als könne er sich selbst diese nächtlichen Leistungen anrechnen, und ließ sich gut bezahlen. Wieder mußte Seelah eines ihrer Goldstücke hingeben. Sie dankte Krista im stillen für deren Vorsorge und verließ eilends den Hof – froh, davongekommen zu sein. Das nächste Nachtlager würde sie sich weit entfernt, möglichst auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt suchen. Kurz vor Mephis bog Seelah auf einen Feldweg ab, von dem sie annahm, er würde sie in Verbindung mit anderen rund um die Stadt führen. In einiger Entfernung vor ihr liefen die Kinder mit ihren Begleiterinnen. Obwohl Seelah kräftig ausschritt, dauerte es eine Weile, bis sie die kleinen Füße erreicht und überholt hatte. Im Vorübergehen nickte sie der Armanerin zu, die das hintere Ende der Leine hielt. Die Frau grüßte zurück… vor ihren Füßen stolperte der kleine Junge, den sie mit ihrer freien Hand stützte und hielt. – Es fiel Seelah nicht schwer, einen anderen Bauern, eine neue Scheune auf der Westseite von Mephis zu finden. Zumindest darin hatte sie… dank Dinah… Sicherheit erworben. Seelah war so müde, daß sie beschloß, sich heute nicht mehr in die Stadt zu begeben. Sie mußte dringend schlafen, sie konnte ja kaum noch denken. Erleichtert bettete sie ihre Glieder ins Stroh… und verlor sich sofort in Traumbildern. Krista stieg die vielen Steinstufen in den Turm hinauf, verharrte kurz vor der Tür, klopfte, trat ein. Wicca hob den Kopf nicht von dem Gefäß, vor dem sie saß und in dessem Wasserspiegel ein Bild stand. „Krista! Schön, daß du kommst. Sie schläft, ich habe sie im Traum. Sie träumt nicht mehr viel… Arman ist nicht die Gegend dafür.“ „Wie geht es ihr?“ „Sie sammelt Erfahrungen… das ist nicht leicht.“
„Hat sie den Baum gefunden?“ „Sie weiß noch nicht, wo er wächst. Aber sie hat von den Früchten gegessen… den Bösen und den Guten.“ „ Kannst du mit ihr sprechen?“ „Sie schenkt dem Wind noch kein Gehör… aber sie ist auf dem Weg. Bald wird.“ Das Bild zerfloß. Seelah versank in tiefer, dunkler Traumlosigkeit.
S
ie erwachte voller Energie und Tatendrang. Endlich einmal hatten ihr Körper und Geist die nötige Ruhe erhalten, und Seelah fühlte sich als neuer Mensch. Der Schlaf hatte viele der Schatten vertrieben, die auf ihr lasteten, ihr neues Selbstvertrauen geschenkt und die Gewißheit, daß Wiccas Augen auf ihr ruhten. In die Scheune drangen die morgendlichen Geräusche des Hofes. Gerätschaften klapperten, das Geflügel wurde gefuttert, und der Bauer gab lautstark Arbeitsanweisungen für den Tag. Seelah stand auf und machte sich zuversichtlich auf den Weg. Vom Westtor der Stadt war es nicht weit bis zum Marktplatz. Der Kaufmann war noch da und erkannte sie gleich: „Ich hatte Euch schon gestern erwartet.“ Er zog die Rolle auseinander und zeigte ihr die Karte. Ganz Arman war verzeichnet: Flüsse, Wüsten, Berge, Städte… sogar die Dörfer waren angedeutet. „Der Baum, den ich suche, ist er darauf?“ „Ich sagte Euch doch schon, daß ich niemals von diesem Baum gehört habe. Ich habe die Karte selbst erstellt… also kann ich auch den Baum nicht eingezeichnet haben. Außerdem werden Bäume in Karten nicht eigens vermerkt. Was ist? Wollt Ihr die Karte nun oder nicht? Seit zwei Tagen trage ich sie Euretwegen mit mir herum.“ Seelah kaufte sie ihm ab. Vielleicht würde sie ihr noch nützlich sein. Anschließend beschloß sie, noch einmal durch Mephis zu gehen und Ausschau nach Läden zu halten, in denen sie sich noch nicht erkundigt hatte. Morgen würde sie dann nach Satana aufbrechen. – Gegen Mittag geriet sie in einer Gasse in einen Menschenstrom. Es gab kein Zurück mehr, dicht an dicht schoben sich die Menschenleiber vorwärts, nahmen sie mit bis auf den Hinrichtungsplatz. Hier wimmelte es von Menschen,
die sich eng zusammendrängten und erwartungsvolle Blicke auf die Plattform richteten. Es war deutlich, was hier bevorstand. Seelah wollte sich augenblicklich umdrehen und gehen, doch das war nicht mehr möglich. Hinter ihr hatten sich die Reihen bereits verkeilt. Niemand öffnete ihr einen Durchlaß, und mit ihren Bemühungen erregte sie unwilligen Zorn. Sie mußte bleiben, wo sie war, hielt aber den Blick zu Boden gesenkt, fest entschlossen, dem Gemetzel nicht zuzusehen. Dann breitete sich Spannung aus. Die Menschen verströmten Schwaden aufgeregten Schweißes. Auf der Plattform schien es soweit zu sein. Ein heller, schriller, unbeschreiblicher Schrei riß Seelahs Kopf hoch… ein Kind… Himmel… ein kleines Mädchen… höchstens sechs Jahreskreise alt… kniete vor dem Holzblock. Ein purpur Gewandeter hielt ihre Hand fest, ein anderer ließ die Axt fallen. Ein dumpfer Schlag, und die kleine Hand sprang auf die Bretter… die Finger bewegten sich noch. Die Menschenmenge jubelte. Aus dem schmalen Armstumpf quoll stoßweise das Blut. Der Kinderkörper fiel zur Seite – Seelah betete, daß eine Ohnmacht die Kleine in die Arme genommen hatte – aber man ließ nicht ab. Auch die zweite Hand wurde auf den Block gezerrt. Seelah hörte den Schlag, sehen konnte sie nicht mehr. Sie schwankte, die Beine gaben ihr nach, sie drohte zu fallen. Seelah versuchte verzweifelt, sich zurückzurufen, die Gefahr, totgetrampelt zu werden, war zu groß. Doch die Sinne verließen sie. Sie spürte noch, wie Arme unter ihre Achseln griffen, sie hochzogen und aufrecht hielten… Als sie wieder zu sich kam, lehnte sie halb liegend mit dem Rücken an einer Hauswand. Die Menschenmenge hatte sich verlaufen. Neben ihr kniete, Besorgnis im Gesicht, die freundliche Armanerin, die Begleiterin der Kinder.
Seelahs Augen suchten die Hinrichtungsstätte… „Es ist vorbei.“ Die Stimme klang beruhigend. Seelah griff nach der Frau, klammerte sich an ihr fest und weinte… weinte… weinte… erst krampfhaft geschüttelt, dann leiser, zuletzt erschöpft. Die Fremde hielt sie die ganze Zeit in ihren Armen, abwartend, mütterlich… streichelte ihr den Rücken. Schließlich machte sich Seelah los. Die Armanerin reichte ihr ein Tuch, und Seelah wischte sich das Gesicht ab und schneuzte. Die Frau ließ ihr Zeit. „Du bist nicht von hier“, stellte sie schließlich fest, die Augen forschend auf Seelah gerichtet. Seelah widersprach nicht. „Du stammst auch nicht aus Arman“, fuhr die Frau fort. „Du kommst von Tantenen.“ Seelah zeigte keine Reaktion, war zu kraftlos, um noch Furcht zu empfinden. Nun gut, dann war es eben jetzt so weit! Was hatte das Ganze überhaupt noch für einen Sinn? Sollte die Frau sich doch den Preis für ihren Kopf verdienen… die oder ein anderer… es blieb sich gleich. Aber die Armanerin wartete weiterhin ab, schien zu überlegen. Endlich faßte sie Seelah am Ellenbogen und half ihr auf die Beine: „Komm, wir gehen in die Felder. In der Stadt gibt es zu viele Ohren.“ Seelah folgte ihr, zunächst auf weichen, unsicheren Beinen, dann mit zunehmend festerem Schritt. Vor dem Stadttor atmete sie tief die würzige Landluft ein… ließ den Tod nicht nur räumlich hinter sich. Die Armanerin führte sie zu einem ruhigen Platz am Fluß. Sich am Ufer niederhockend, schöpfte Seelah mit ihren hohlen Händen Wasser, trank und kühlte ihre heißen Wangen. Dann wandte sie sich der Armanerin zu, bereit, in die Verhandlungen um ihr Leben einzusteigen.
„Um dir zunächst die Sorgen zu nehmen“, begann die Frau, „ich komme ebenfalls vom Coven. Vielleicht hast du schon von mir gehört. Mein Name ist Ava.“ „Aber wie…“, rief Seelah. „Wie ich dich erkannt habe? Nun, du hast es mir leicht gemacht. Das erste Mal sah ich dich vor zwei Tagen vor dem Aufzuchthaus stehen. Das war mir auffällig, und ich fürchtete, du wolltest eines der Kinder stehlen. Aber dann entferntest du dich, und ich vergaß meinen Verdacht. Er kam mir erneut, als du uns gestern auf dem Feldweg überholtest. Du hast dich zu oft nach den Kindern umgesehen. Als ich heute in der Stadt einkaufen war, sah ich dich wieder. Ich folgte dir, denn ich wollte wissen, wer du bist und was du treibst, um die Kinder nötigenfalls schützen zu können. Und dann hast du dich verraten. Eine Armanerin, die bei einer Hinrichtung ohnmächtig wird, die deswegen weint… das gibt es nicht. Außerdem…“, sie lächelte und strich Seelah über den Scheitel, „… müssen deine Haare dringend nachgefärbt werden. Man sieht schon den Ansatz.“ „Ava?“ „Ja?“ „Was machst du hier? Was ist mit den Kindern?“ „Sag mir erst einmal deinen Namen.“ „Seelah.“ „Das mit den Kindern ist eine traurige Sache, Seelah. Die Vereinigung der Kaufleute hat das Aufzuchthaus eingerichtet, und die Händler geben ihre Säuglinge nach der Geburt bei uns ab. Sie nehmen sie erst nach Jahreskreisen wieder zu sich, wenn die Kleinen alt genug sind, um zu helfen, und keine Belastung mehr darstellen. Die Händlervereinigung hat für das Aufzuchthaus drei leibeigene Frauen gekauft, die nach Lust und Laune mit den Kindern umspringen und die niemand beaufsichtigt. Sie würden die Kinder ganz verkommen lassen,
aber die Kaufleute lassen es sich etwas kosten, wenn sie später kräftige Kinder abholen können. Das ist für sie immer noch günstiger, als sich leibeigene Arbeitskräfte zu kaufen. Wenn die Kinder in dem armseligen Aufzuchthaus jedoch nicht überleben, dann wird das auch nicht als besonders tragisch angesehen, da die Ausgaben für sie insgesamt recht gering sind. Zudem ist die Kindersterblichkeit in Arman überall sehr groß. Damit die Aufzüchterinnen nicht etwa auf die Idee verfallen, die Kinder als Leibeigene zu verkaufen, führt die Vereinigung der Kaufleute genau Buch, und sie lassen sich die Kinderleichen zeigen, bevor sie die Namen ausstreichen.“ „Du befürchtest, daß Kinder geraubt werden?“ „Gelegentlich wird ein Kind gestohlen, von jemandem, der es in anderen Landesteilen verkaufen will. Dann unternehmen die Kaufleute, die Bürger der Stadt und die Gleichgewandeten in Purpur eine Treibjagd, bis sie den Dieb gestellt haben. Das macht ihnen riesigen Spaß. Da die Kinder dies meist nicht überleben, versuche ich, Raub von vornherein zu verhindern, indem ich gut aufpasse und alles Verdächtige genau beobachte. Das ist auch der Grund, weshalb du mir aufgefallen bist.“ „Aber eines verstehe ich nicht, Ava. Was hast du mit dem Aufzuchthaus zu tun? Du gehörst doch nicht zu den leibeigenen Frauen dort.“ „Nein, aber mich dauerten die Kinder. Also habe ich mich den Aufzüchterinnen als Hilfe angeboten. Sie haben mir einen Schlafplatz im Haus zugestanden, geben mir Essen, manchmal ein Kleid… aber eigentlich bin ich dort nur geduldet. Nur so lange, wie ich ihnen viel Arbeit mit den Kindern abnehme und keine Schwierigkeiten bereite. Es geht jetzt schon viele, viele Jahreskreise gut. Aber ich tue auch alles, damit ich bleiben kann… den Kindern zuliebe. Du machst dir keine Vorstellung davon, Seelah, wie sie in der Ruine dahinvegetieren. Es sind ja viel mehr als die, die du in den Feldern gesehen hast. Die
Säuglinge und Krabbelkinder verlassen das Gebäude nie. Sie werden wohl gereinigt und gefuttert, aber niemand spricht zu ihnen, niemand hat sie gern. Die Kleinsten sitzen schon mit stumpfsinnigem Blick auf der Erde, vergreisen… sterben. Ich versuche da Abhilfe zu schaffen, so gut ich kann.“ „Hast du Erfolg?“ „Es sterben nicht mehr so viele von ihnen, und das ist mir alle Mühen wert.“ „Warum sind die Kinder angebunden, wenn ihr mit ihnen spazierengeht?“ „Das ist eine Angewohnheit der Aufzüchterinnen. Es vereinfacht ihnen das Leben. Sie brauchen so nicht ständig aufzupassen, ob alle Kinder beisammen sind. Ich habe versucht, das zu ändern, aber ich konnte mich nicht durchsetzen.“ „Hast du deine Familie gefunden, Ava?“ „Ich bin nur bis Mephis gekommen. Hier traf ich auf die Kinder und wollte bei ihnen bleiben. Sie sind mir wichtiger geworden. Sie haben sonst niemanden wie mich.“ „Da ist es dir ähnlich wie Dinah ergangen. Sie verließ den Coven nach dir und kam nur bis in die Berge des Schweigens, wo sie sich um die Ausgesetzten kümmert. Du hast dir da die bessere Aufgabe erwählt.“ „Wieso?“ „Dinah versorgt nur Todgeweihte, du jedoch kümmerst dich um Kinder. Sie sind die Zukunft Annans. Erziehe, lehre sie, nimm Einfluß auf sie, und du kannst hier manche Änderung zum Besseren erreichen.“ „Da bin ich mir nicht so sicher, Seelah. Diese Hoffnung hatte ich lange Zeit auch, sie gab mir Kraft. Aber es sieht nicht so aus, als ob ich dergleichen erreichen könnte. Ich gebe ihnen all meine Liebe, aber die Kinder spielen und singen nicht. Ihre Gesichtchen sind alt, spiegeln den Mangel des Alltags und
leuchten nur vor Begierden. Nicht eines der Kinder, die das Aufzuchthaus verlassen haben, ist jemals zurückgekommen, um zu sehen, wie es mir geht, um zu danken. Die Ältesten von ihnen sind nun selbst Kaufleute und geben ihre Säuglinge im Aufzuchthaus ab. Sie haben nichts gelernt, nichts verstanden.“ „Warum gibst du nicht auf, Ava, und kehrst nach Tantenen zurück? Dort würdest du mit offenen Armen aufgenommen.“ „Ich bin mit meinem Los hier zufrieden, denn ich werde gebraucht. Ich habe gelernt, mich zu bescheiden, und freue mich, wenn viele der Kleinen überleben und heranwachsen. Außerdem bin ich mir sicher, auch wenn ich die Gründe nicht kenne, daß die Götter mich für diesen Platz vorgesehen haben, und so bleibe ich. – Aber erzähl’ mir jetzt vom Coven, von Dinah und von dir selbst, Seelah.“ Seelah berichtete lange und ausführlich und schloß mit den Worten: „Morgen gehe ich nach Satana, Ava. Dort lebt meine Familie.“ „Laß dich nicht dazu hinreißen, ihnen zu sagen, wer du bist. Frage um Arbeit nach, verhalte dich ruhig, beobachte…“ „Ja, ich weiß. Ich kenne die Gefahr. Sie würden meinen Kopf verkaufen.“ Ava mußte bald aufbrechen und zu ihrer Arbeit zurückkehren. Sie hatte Angst, sich ein weiteres Mal mit Seelah zu treffen, fürchtete, sich den Aufzüchterinnen verdächtig zu machen: „Ich muß an die Kinder denken, Seelah!“ Seelah nutzte den restlichen Tag, um am Flußufer Wurzeln zu suchen und im Schutz der Dunkelheit ihre Haare zu färben. Sie wagte es nicht mehr, über die Ereignisse auf dem Hinrichtungsplatz nachzudenken, aber sie nahm sich fest vor, niemals mehr einen Fuß nach Mephis hineinzusetzen.
V
or der Brücke, die Seelah über den Fluß des süßen Wassers führen sollte, gab es einen Menschenauflauf. Gleichgewandete in Purpur hielten sie besetzt und ließen nur diejenigen passieren, die Benutzungsgebühren bezahlten. Die Armaner murrten und wußten wohl nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. „Was soll denn das nun wieder?“ rief ein junger Bauer aufgebracht. Er hatte einen Korb mit Gerätschaften bei sich und schien es eilig zu haben. „Es dient zu eurem Schutz“, rief einer der Purpurnen und grinste mit verkniffenen Mundwinkeln. „Wer hat das angeordnet?“ wollte der junge Mann wissen, der sich durch die vielen ungehaltenen Armaner in seinem Rücken bestärkt fühlte. „Der Monarch von Mephis“, dröhnte der Wachhabende. „In seiner großen Güte hat er beschlossen, seinen Schutz nun auch der Landbevölkerung zuteil werden zu lassen.“ „Wir wollen seinen Schutz nicht!“ Der Bauer machte Anstalten, sich an den Gleichgewandeten vorbeizudrängen, die anderen Landbewohner schoben nach. Die Purpurnen faßten ihn zielgerichtet unter die Achseln und Oberschenkel, warfen ihn über das Brückengeländer in den Fluß. Das Gemurre verstummte, die Menschen wichen von der Brücke zurück. Unten im Fluß versank der Korb mit den Gerätschaften, und der junge Bauer, der nicht schwimmen konnte, bemühte sich verzweifelt, um sein Leben kämpfend, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. „So geht es allen, die der Monarch nicht beschützt!“ drohte der Sprecher der Gleichgewandeten. „Ist hier noch jemand, der seinen freundlichen Schutz ablehnt?“
Die Armaner zogen ihre Geldbeutel aus den Gürteln, bezahlten und machten sich auf den Weg. Sie gönnten ihrem Wortführer, der sich mit viel Glück doch noch hatte retten können, keinen weiteren Blick. – Es war nicht weit bis Satana. Schon auf der Brücke konnte Seelah die wenigen Häuser sehen, die den Dorfkern bildeten. Ringsherum lagen verstreut die Höfe. Endlose Bewässerungsgräben durchzogen das Land, entrissen dem Boden Leben, wo sonst keines gediehen wäre. Kurz vor dem Dorf erblickte Seelah ein unbewohntes Gebäude. Neugierig trat sie von der Straße auf den fast zugewachsenen Pfad, der einst ein Weg gewesen war, und näherte sich vorsichtig. Es war ein alter Tempel, eine Ruine. Regen und Wind hatten die Farben an seinen Außenmauern fast abgetragen. Die Balken des Dachstuhls hingen durch, und die Dachziegel waren verschwunden. Zögernd trat Seelah durch die Öffnung, die einstmals das Portal gewesen sein mußte. Drinnen gab es nichts mehr. Nur altes Laub bedeckte den Fußboden, Spinnweben spannten sich an den Wänden, und in einer Ecke lagen ein paar verstaubte Amulette. Seelah bückte sich und nahm eines der federgeschmückten Lederstücke zur Hand. Feine Zeichen, die wohl Glück bringen und Unglück abwehren sollten, waren in die Haut eingeritzt. Seelah fuhr mit ihrem Zeigefinger sanft über die zarten Linien, die kaum noch zu erkennen waren. „Ja“, sagte eine leise, traurige Stimme. „Sie haben sich von uns abgewendet.“ Unter einer Fensteröffnung, vom Sonnenlicht überflutet, stand eine helle Gestalt. Seelah blinzelte geblendet und erkannte armanisch-männliche Gesichtszüge. Im dichten erdfarbenen Haar hing ein Kranz aus leuchtenden Kornblumen, der den honigfarbenen Augen schmeichelte. Ein Duft von Gras und Sonne hüllte Seelah ein, und die Zeit verlor ihre Bedeutung.
„Zuerst haben sie uns zu Schutzgottheiten herabgewürdigt, und als wir ihre Erwartungen nicht erfüllten, haben sie uns abgesetzt. Sie warfen die Amulette fort und riefen unseren Tod aus. Heute erinnert sich niemand mehr an uns. Du bist die erste, die sich seit langem hierher verlaufen hat. Du willst wissen, wer ich bin? Die Menschen nannten mich Geb.“ Das Sonnenlicht verschwand, ihr Herz schlug wieder, und Seelah sah herausgebrochene Ziegel unter der Fensteröffnung auf dem Boden liegen. Sie sank auf ihre Knie… Geb! Einer der Erdgötter hatte zu ihr gesprochen! – Die sanfte Stimme des Gottes klang Seelah noch in den Ohren, als sie später ins Dorf trat. Trauerten die Götter um die Armaner? Wieso waren sie nicht – wie so oft – zornig und straften sie mit Naturgewalten? Oder waren sie beides? Zornig und traurig? Seelah konnte die Götter nicht verstehen… Satana war klein. Wachturm, Schmiede, Krämerladen, Schusterei und einige Wohnhäuser gruppierten sich um den Marktplatz. Das Tor zur Schmiede stand weit geöffnet, davor ein Gaul, der neu beschlagen wurde. Der noch junge Schmied war mit seinen zwei Leibeigenen bei der Arbeit. Alle drei waren mit ledernen Lendenschurzen bekleidet, die muskulösen Körper glänzten von Anstrengung und Hitze. Das Wasser im steinernen Bottich zischte auf und bildete Nebelschwaden, als der Schmied ein glühendes Hufeisen zum Abkühlen hineintauchte. Im Aufrichten begegnete er Seelahs Blick und hielt inne. „Kann ich Euch helfen?“ fragte er geschäftig. „Ich hätte gern eine Auskunft. Könnt Ihr mir sagen…“ „Auskünfte sind teuer geworden, junge Frau, sehr teuer. Nichts ist umsonst. Zeit ist kostbar. Alles hat seinen Preis. Das solltet Ihr wissen“, belehrte er sie und hielt das Hufeisen prüfend an den Pferdehuf. Seelah nahm einige Kupfermünzen und hielt sie ihm hin.
„Na dann! Was wollt Ihr wissen?“ Der Schmied griff zu. „Ich suche den Hof des Bauern Pedans. Welcher ist es?“ „Ach! Zu dem alten Wolf wollt Ihr? Ja, das ist gar nicht so weit. Rechter Hand am Wachturm vorbei, geradeaus entlang der Felder. Sind schon die seinen. Etwa zwei Gehstunden, schätze ich. Ihr könnt es nicht verfehlen.“ „Danke.“ Seelah wandte sich zum Gehen. „Ich kann Euch allerdings nicht sagen, ob Pedans noch der Bauer ist“, schwätzte der auf einmal gesprächsbereite Schmied weiter. „In der letzten Zeit sah es ganz danach aus, als wolle ihm sein Welpe die Führerschaft streitig machen.“ „Aha!“ „Ja! Gefährliches Revier dort momentan. Aber so ist der Lauf der Dinge. Die Schwachen müssen den Starken weichen.“ „Ja.“ „Was wollt Ihr dort?“ „Ach! Auskünfte sind teuer geworden, junger Mann, das solltet Ihr wissen“, wehrte Seelah ab und ließ den Schmied, der sie mit offenem Mund anglotzte, stehen. Der Weg durch die Felder und Wiesen war angenehm. Nach der bedrückenden Enge in Mephis genoß Seelah die Weite und Ruhe. Die Menschen, die auf den Äckern arbeiteten, beachteten die einsame Wanderin nicht. Überhaupt schienen sie kaum von ihren Tätigkeiten aufzublicken. Seelah nutzte die Zeit, in sich hineinzuhorchen. Sie näherte sich nun einem ihrer wichtigen Ziele auf Arman – ihrer Familie. Was bewog sie nach dem bisher Erlebten noch, diesen Schritt zu gehen? Die frühere Unruhe? Unzufriedenheit? Rastlosigkeit? Nein! Das war es sicherlich nicht mehr. Sie fühlte sich dem Coven und seinen Bewohnern mehr denn je verbunden. Dort war ihre Heimat, dort lebten ihre Seelenverwandten. Ihr Gefühl zog sie nach Tantenen. Was war es dann, das sie hier durch die Felder ziehen ließ, Unsicherem
entgegen? Neugier? Die Weisung der Götter? Sicherlich. Aber mehr wohl das Bestreben, Begonnenes zu beenden, und der dringende Wunsch, ihren eigenen Wurzeln zu begegnen. – Der Hof schien verlassen. Zwischen Haus und Nebengebäuden, Ställen und Scheune zeigten sich weder Mensch noch Tier. Nur ein Hund hatte sich vor einiger Zeit an ihre Fersen geheftet und ließ sie nicht aus den Augen. Waren alle auf den Feldern? Wohl kaum! Seelah trat auf das Haus zu und wagte einen Blick in die Deele. Ein einfacher Holztisch, einige Schemel – sonst nichts. Der nackte Boden und die kahlen Wände boten einen trostlosen Anblick. Welch ein Unterschied zu der Pracht im Haus des Bauern aus Wichten. War Pedans arm? Felder und Gebäude hatten ihr diesen Eindruck eigentlich nicht vermittelt. Alles war groß und gut gepflegt. Hinter einer Tür hörte sie Gerätschaften klappern. Seelah ging darauf zu und klopfte. Keine Reaktion. Sie klopfte erneut, lauter, und die Tür wurde aufgerissen. Eine Leibeigene stand im Rahmen und wischte sich mit feuchter Hand ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht: „Was wollt Ihr?“ „Ich möchte den Bauern sprechen. Ich suche Arbeit.“ „Der Bauer ist draußen auf den Feldern. Er kommt erst nachmittags. Du mußt warten.“ Seelah nickte: „Wo kann ich mich solange aufhalten?“ „Aufhalten? Du kannst dich schon mal nützlich machen. Wir haben heute viel Arbeit. Abends kommt ein Händler.“ Sie zog Seelah am Ellbogen hinein, drückte ihr ein Messer in die Hand und wies sie an, Kartoffeln und Wurzeln zu schälen. „Ich bin Knota“, stellte sich die Leibeigene vor, schien aber an weiteren Gesprächen nicht interessiert zu sein. Seelah schaute sich während der Arbeit um. Ein großer, gemauerter Herd mit Eisenplatte war angeheizt worden. In
dem offenen Kamin darüber hing allerlei Räucherwerk. Steinschalen auf dem Tisch enthielten verschiedene Braten und Geflügelleiber, die gespickt, gefüllt und in die Röhre geschoben werden mußten. Brotteig war angesetzt und wartete auf die weitere Verarbeitung. Zwiebeln und Schinken mußten aufgeschnitten, Salat und Pilze geputzt und Gemüse gedünstet werden. Eine Batterie von Weinflaschen lag zum Kühlen in einer Holzwanne mit Wasser. Es sah aus, als stünde ein größeres Fest bevor. „Für wen wird das alles zubereitet?“ erkundigte sich Seelah. „Der Bauer will heute abend mit dem Kaufmann, den wir erwarten, speisen. Für die Zwei eben.“ „So viel?“ „Der Bauer muß sein Ansehen wahren. Das ist gut fürs Geschäft. Außerdem ißt er gern.“ „Die Bäuerin speist nicht mit?“ „Bäuerin gibt’s hier keine mehr. Die ist zu früh gealtert. Der Bauer hat sie noch mal zu den Heilerinnen geschickt, irgendwohin übers Gewässer. Hat gedacht, es lohnt sich, weil die Bäuerin gut werfen konnte. Sie ist auch ganz frisch und jugendlich zurückgekommen. Es hat aber nicht lange vorgehalten, und schließlich ist sie nur noch rumgesessen, und er mußte sie aussetzen. Der Bauer hat sich keine neue Bäuerin gewählt. Eine Tochter, die Traga, gefiel ihm. Die kümmert sich jetzt ums Haus.“ Nein! Seelah konnte es nicht glauben. Der ganze Weg, die Mühen, und nun war sie zu spät gekommen, um die Mutter kennenzulernen. Sie drehte der Leibeigenen den Rücken zu, um die Tränen zu verbergen, die ihr vor Enttäuschung in die Augen schossen. Dabei fiel ihr Blick durch das Fenster neben der rückwärtigen Tür. Hinter dem Haus, nicht weit vom Flußufer entfernt, befand sich eine eingezäunte Wiese, auf der einige Ziegen mit ihren Jungen grasten. Noch innerhalb der
Umzäunung stand ein einfaches, flaches Gebäude, das Seelah für den Ziegenstall gehalten hatte. Doch nun sah sie Bewegung in der Tür, und eine grauhaarige Leibeigene trat heraus, rechts und links im Arm jeweils einen Säugling haltend. Sie legte die Kinder ins Gras zwischen die Ziegen, verschwand erneut in dem Gebäude und kehrte mit einem dritten Säugling zurück. Er wurde zu den anderen gelegt. Während die Grauhaarige die Ziegen heranlockte und zu melken begann, stolperten und krabbelten über die Schwelle weitere kleine Kinder. Drei – sechs – acht – und doch war kaum ein Laut zu hören. Die Kleinen verhielten sich außergewöhnlich ruhig. Die Grauhaarige nahm einen Holzbecher und gab den Kindern, die sich um sie herum versammelten, der Reihe nach Milch zu trinken. Anschließend setzte sie sich zu den Säuglingen und flößte ihnen mit einem kleinen Holzlöffel ebenfalls Milch ein. Unterdessen eroberten die Kleinkinder die Wiese, balgten miteinander, griffen nach den Zicklein, rissen Grashalme aus, untersuchten den Ziegendung und übten sich im Gehen. Eines stürzte, schlug mit dem Kopf an einen Pfosten, heulte vor Schreck und Schmerz. Sofort war die Grauhaarige bei ihm, riß es hoch und hielt ihm den Mund zu. Das Kind wand sich in ihren Armen und hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen, aber die Armanerin ließ es erst wieder los, als sie sicher sein konnte, daß es nicht mehr schrie. Das kleine Gesichtchen war krebsrot, als die Frau das Kind zu Boden setzte und sich erneut den Säuglingen zuwandte. „Das ist Tieret“, sagte Knota, die Seelahs wiederholte Blicke durch das Fenster bemerkt hatte. „Auf den Feldern ist sie nicht mehr zu gebrauchen, aber für die Kinder reicht’s noch.“ Seelah durchfuhr ein freudiger Schreck. Also lebte ihre Mutter doch noch. Nur war sie nicht die Bäuerin, war es nie
gewesen. Sie war eine Leibeigene, die mit Kindern in einem stallähnlichen Gebäude hauste. – Tieret stellte die Fütterung der Säuglinge ein und kam durch die hintere Tür in die Küche. „Ich gehe jetzt mit den Kindern nacheinander an den Fluß“, sagte sie zu Knota. „Ich muß sie reinigen. Behalte du die Zurückgelassenen im Auge.“ Sie verschwand wieder, einen strengen Ziegengeruch hinter sich zurücklassend. „Warum leben sie mit den Ziegen auf einer Wiese?“ „Das ist doch praktisch“, wunderte sich Knota über die Frage. „Die Kleinen brauchen die Milch, und so ist alles beisammen. Außerdem will der Bauer sie nicht im Haus haben. Er kann Kindergeschrei nicht ausstehen. – Aber du könntest jetzt hinausgehen und auf die Kinder achten, dann kann ich hier ohne Ablenkung weiterschaffen.“ Seelah tat wie geheißen. Draußen versuchte sie, sich mit den Kindern anzufreunden, aber die schreckten vor ihr zurück. Also beschränkte sie sich darauf, zu achten, daß die Kleinen sich den Ziegendung nicht in den Mund stopften. Wiederholt mußte sie Grasbüschel ausreißen, Hände damit sauber wischen und die Kinder zu kotfreien Stellen tragen. Dies hatte unwilliges Geschrei zur Folge. Zwischendurch kam Tieret, brachte die bereits gesäuberten Kinder zurück und wollte weitere mit sich nehmen. Angesichts des Lärms runzelte sie die Stirn und gab den weinenden Kindern ein paar harte Klapse auf die Hinterteile, was diese verstummen ließ. „Mit Kindern kannst du wohl nicht umgehen, was?“ fuhr sie Seelah an. „Sie versuchen, sich den Dung in den Mund zu stecken. Die Wiese ist voll davon. Wenn Ihr mir eine Schaufel geben würdet, könnte ich den Kot beseitigen.“
„Unsinn! Das ist guter Dünger für die Wiese. Die Kinder müssen ihre Erfahrungen machen. Laß sie in Ruhe!“ Es fiel Seelah schwer, dem zuzusehen, und sie war froh, als Tieret alle gesäubert hatte und sie in die Küche zurückschickte. „Du kannst jetzt Traga helfen, die Deele fertig zu machen“, empfing Knota sie. „Der Bauer hat ihr den Schlüssel dagelassen, und es wird Zeit.“ Sie führte Seelah durch die Deele zu einer kleinen Kammer, in der sich Möbel, Gerätschaften und Teppiche türmten. Hier war eine Leibeigene, nicht viel älter als sie selbst, damit beschäftigt, silberne Teller zu polieren. Knota machte sie bekannt. Seelah betrachtete die junge Frau aufmerksam. Das war also Traga, ihre Schwester. Traga war klein, breitknochig und hochschwanger. Ihre Haut hatte eine ungesunde gelbliche Blässe, die Haare waren dünn, strähnig, glanzlos, und ihre Augen blickten trüb. Seelah fühlte Besorgnis in sich. „Geht es Euch gut?“ „Was geht’s dich an. Faß mit an! Die Möbel müssen in die Deele.“ Schweigend schleppten die beiden Frauen die schweren Einrichtungsgegenstände und richteten die Deele her. Traga gab ihr kurze Anweisungen, sprach aber sonst nicht. Immer wieder konnte Seelah beobachten, wie sich das Gesicht ihrer Schwester schmerzhaft verzog, wie sie sich an den Leib faßte und zusammenkrümmte. „Ihr solltet in Eurem Zustand nicht mehr so schwer tragen“, riet Seelah. „Was geht’s dich an!“ verwies Traga sie. Als die Deele schon prächtig eingerichtet und Seelah angewiesen war, das restliche Silbergeschirr zu putzen und auf einen kostbaren Tisch zu stellen, erschien der Bauer im Eingang. Er war grauhaarig, schwer, verschwitzt. Seine Augen
erfaßten Traga, die damit beschäftigt war, einen Wandbehang zu befestigen: „Ah! Komm her, du dicke Kuh!“ Er griff mit seinen fetten Fingern nach ihr und drängte sie auf einen der Teppiche. Willig ließ Traga sich nieder, schob ihr Kleid hoch und spreizte die Beine. Als Pedans sich auf Traga fallen ließ und ihr das harte Geschlecht zwischen die Beine stieß, wandte sich Seelah ab. Traga schrie vor Schmerz.
I
n dieser Nacht konnte Seelah nicht schlafen. Pedans hatte sie nur kurz in Augenschein genommen: „Du suchst Arbeit? Was kannst du?“ Seelah erinnerte sich an Dinahs Erfahrungen: „Spinnen und weben.“ „Das paßt sich gut. Die Wolle von der Schafschur ist noch nicht verkauft. Du kannst sie verarbeiten.“ Er hatte ihr den Schlüssel zu der kleinen Kammer gegeben, in der die Wolle lagerte. Hier standen auch Spinnrad, Webstuhl und die anderen Gerätschaften, die für die Wollverarbeitung benötigt wurden. „Du kannst hier schlafen. Hol dir Stroh aus der Scheune. Aber nimm dich in acht. Du hast jetzt den Schlüssel und die Verantwortung. Die Wolle ist gewogen. Sollte etwas davon verschwinden…“ – Als der Kaufmann eintraf, mußte Seelah Knota und Traga bei der Bewirtung helfen. Das Gelage dauerte die halbe Nacht. Gelegentlich verschwanden der Händler oder Pedans, um sich auf dem Abort im Hof zu übergeben. Hatten sie auf diese Weise neuen Platz geschaffen, aßen und tranken sie weiter. Es schien kein Ende zu nehmen, aber schließlich zogen sich die beiden dann doch zum Schlafen zurück. Seelah half abräumen und das Mahl für den Morgen vorzubereiten. Dann durfte sie sich endlich in ihre Kammer begeben. Die ungewaschene Wolle stank, und der Geruch hinderte sie lange am Einschlafen. Als ihr die Augen zufielen, hörte sie wieder Tragas Schreie, die durchs Haus schallten. Übernächtigt stand Seelah im Morgengrauen auf und begab sich zum Fluß. Das Bad weckte ihre Lebensgeister, und hungrig ging sie in die Küche, um ihr Morgenmahl einzunehmen. Knota war schon geschäftig. „Du kannst essen, was du willst“, empfing sie Seelah. „Der Bauer zieht es dir
vom Lohn ab, ebenso die Reinigungen im Fluß. Ich muß ihm Bericht erstatten, und er führt Buch darüber.“ Seelah nahm sich etwas Brot und ein Stück kaltes Fleisch, das vom Abend übriggeblieben war. „Wo essen und schlafen die Feldarbeiter?“ erkundigte sie sich. „Die sind in den Nebengebäuden untergebracht. Sie dürfen das Haus nicht betreten. Der Bauer traut ihnen nicht und will seine Ruhe. Ich bringe ihnen das Essen hin. Tieret ißt bei den Kindern. Sie holt es sich hier ab.“ „Wer ist im Haus untergebracht?“ „Im Haus schlafen nur der Bauer, Traga, du und ich. Traga teilt sich mit dem Bauern die Kammer. Es sei denn, er sucht Abwechslung. Dann muß sie in die Scheune“, erklärte Knota unwirsch. Eingedenk Uriels Ermahnung, nicht zuviel zu fragen, ließ Seelah es dabei bewenden. Knota schien nicht neugierig zu sein und stellte ihr keine Fragen. Nach dem Mahl begann Seelah damit, die Wolle körbeweise zum Fluß zu tragen, zu waschen und zum Trocknen auszulegen. Ihr Weg führte sie dabei immer wieder an der Ziegenwiese vorbei, und so konnte sie Tieret und die Kinder beobachten. Tierets Arbeit schien sich darauf zu beschränken, die Kinder zu füttern und zu reinigen, sie zum Schlafen in das Gebäude zu führen und zum Trinken und Bewegen wieder hinaus. Sonst tat sie nichts. Sie saß stupide im Gras und schritt nur gelegentlich ein, wenn eines der Kinder zu laut wurde. Lebendiger schien sie nur zu werden, wenn es Zeit war, in die Küche zu gehen und Eßbares zu holen. Sie verzehrte es immer genüßlich, noch bevor sie den Kindern ihren Teil gab.
Mittags setzte sich Seelah zu ihr ins Gras, wurde aber nicht willkommen geheißen. Es schien, als sei ihre Gesellschaft Tieret eher lästig. Seelah biß in ihr Stück Fladen, beschloß, sich nicht abschrecken zu lassen und trotzdem einige Fragen zu stellen: „Seit wann lebt Ihr auf dem Hof?“ „Seit meiner Geburt.“ „Habt Ihr Kinder?“ „Aber ja! Ich habe viermal geworfen“, brüstete sich Tieret. „Prächtige Würflinge, drei Knaben und ein Mädchen. Alles ist immer bestens gelaufen. Hatte nie eine Totgeburt, nie eine Mißgeburt.“ „Wer ist der Vater Eurer Kinder?“ „Na, der Bauer natürlich. Sonst wäre ich wohl nicht mehr hier. Meinst du, der würde eine Leibeigene behalten, die nicht seinen Nachwuchs trägt? Das ist noch nie vorgekommen. Er rechnet nach, und wenn es nicht genau stimmt, bringt er die Mädchen zur Versteigerung.“ „Dann sind dies alles seine Kinder?“ „Fast. Das da ist von den Lufusierinnen.“ Tieret zeigte auf einen kleinen Knaben. „Die zwei sind von Traga.“ Sie deutete auf ein Krabbelkind und ein Mädchen, das bereits laufen konnte. „Traga wirft gut. Jeden Jahreskreis. Die zwei größeren von ihr arbeiten schon auf den Feldern. Drei sind ihr gestorben, als sie noch Säuglinge waren.“ „Aber“, Seelah rechnete nach, „sieben Geburten! Sie ist doch noch so jung.“ „Der Bauer hält viel von ihr. Sie ist ja auch meine Tochter“, sagte Tieret stolz. „Sie ist jetzt zwanzig Jahreskreise. Als die Bäuerin fort war, mußte Traga gleich zu ihm in die Kammer ziehen. Da war sie elf… Der Bauer mag die jungen Mädchen und manchmal auch die Knaben.“
Seelah stand abrupt auf und kehrte zu ihrer Arbeit zurück. Das war zuviel für sie. Wie konnte Pedans sich an Kindern und hochschwangeren Frauen vergreifen? Wie behütet war sie doch selbst im Coven aufgewachsen! Aber durfte sie mit ihren gewohnten Maßstäben messen? Hatten die Armaner nicht ein Recht auf andere Sitten und Gewohnheiten? Doch war es richtig, daß einzelne nach Gutdünken verfuhren? Was richtig und falsch ist, entscheide ich! klang ihr die Stimme des Bauern aus Wichten in den Ohren. Er hatte die Wahrheit gesprochen. So war es in Arman. Die Starken bestimmten und setzten sich durch. Die Schwachen, die Kinder, die Alten, die Kranken und die Leibeigenen waren ohne Schutz… und selbst unter den Schwachen herrschten wieder die Stärksten. In Arman waren die Gebote der Götter vergessen, ebenso wie die Menschlichkeit. Wäre sie selbst auch so, wenn sie hier aufgewachsen wäre? Die gelbäugige Jungfrau in ihr fühlte sich wohl in Arman, wollte Besitz, Macht, Sinnenlust und kämpfte mit dem Blauäugigen… Abends setzte sich Seelah erneut zu Tieret. „Du schon wieder“, stöhnte diese. „Was willst du denn noch wissen?“ „Wo leben Eure Söhne?“ „Der Älteste ist als Kind gestorben. Der Mittlere, Schablo, wurde verkauft. Der jüngste, Feiges, arbeitet hier auf den Feldern. Er ist elf Jahreskreise alt, fast schon ein Mann.“ „Sicherlich kommt er oft zu Euch.“ „Nein! Er muß arbeiten und ich auch.“ Tieret stand auf und begann, die Ziegen herbeizulocken. „Darf ich noch einen Blick in Eure Unterkunft werfen?“ Seelah bekam keine Antwort mehr. Für Tieret war das Gespräch beendet. Seelah sah sich dennoch in dem flachen Gebäude um. Es war ein Ziegenstall! Rechts und links eines Mittelgangs waren Verschläge abgeteilt. Auf der einen Seite
befanden sich die Tränke und das Stroh für die Ziegen, auf der anderen sah sie einen Tisch mit einer Kerze darauf, einen Schemel und Strohlager mit Fellen für Tieret und die Kinder. Trotz des Fensters, das sich in der rückwärtigen Wand befand, stank es erbärmlich nach den Ziegen. – Die Tage vergingen in geregelter Betriebsamkeit, gleichförmig, und Seelah begann sich einsam zu fühlen. Kaum jemand sprach mit ihr, niemand kümmerte sich um sie. Nur Pedans kam regelmäßig und überprüfte ihre Arbeit. Da er sich nicht äußerte, nahm Seelah an, daß er zufrieden war. Der Händler war abgereist, und Knota und Traga hatten die Deele leer geräumt. „Warum macht ihr das?“ hatte Seelah gefragt, als der Raum wieder unwohnlich wurde. „Der Bauer schont seine Sachen“, hatte sie zur Antwort erhalten. „Außerdem will er sich so vor Dieben schützen.“ – Auf ihren vielen Wegen zum Fluß und zurück bekam Seelah mit, wie Tieret immer wieder einen Teil des Essens, das sie aus der Küche holte, in den Stall brachte. Seelah wurde neugierig und wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Als Tieret einmal mit einigen der Kinder am Fluß war, schlich sie sich in das stinkende Gebäude und sah sich um. Auf dem Tisch standen keine Nahrungsmittel. Aß Tieret des Nachts? Zufällig stieß Seelahs Fuß an eine Lagerstätte, das Stroh verschob sich, und ein Brotkanten wurde sichtbar. Sie suchte unter den Fellen und fand steinharte Fladen und zu Leder gewordene Fleischstreifen. Warum tat Tieret das? Wollte sie sich einen Vorrat anlegen für den Fall, daß sie ausgesetzt würde? Aber dann würde ihr sicherlich nicht gestattet werden, etwas anderes mitzunehmen als die Kleider, die sie trug. Vielleicht war es wie bei Dinahs Alten. Tieret sammelte, was ihr zugänglich war, und schuf sich ihren Schatz. Es war ein erbärmliches Unterfangen, und es erfüllte Seelah mit Traurigkeit. Sie hätte Tieret gern etwas geschenkt, etwas, das ein wirklicher Besitz
war. Aber was konnte sie ihr geben? Ihr letztes Goldstück? Seelah legte es auf den Tisch und stahl sich davon. Später fand sie auf Tierets Gesicht keine Freude, nur Mißtrauen, und Tieret hortete weiterhin Brot und Fleisch. – Als die Wolle gewaschen und gekämmt war, setzte sich Seelah mit dem Spinnrad in den Hof. Hier sah sie die Feldarbeiter kommen und gehen. Sie hatten starre Gesichter und waren gezeichnet von den Mühen der Arbeit. In ihren Augen funkelte es nur, wenn Knota mit Körben voll Nahrung aus dem Haus trat. Seelah gelang es nicht, unter den halbwüchsigen Knaben ihren Bruder zu erkennen. Sie fragte Knota nach Feiges, aber die zuckte nur unwissend die Schultern. – Einer der Feldarbeiter fiel Seelah auf, weil er herrisch sprach und sich Pedans gegenüber herausfordernd verhielt. Er war kräftig und geschmeidig, zählte vielleicht dreißig Jahreskreise und war kein Leibeigener. Pedans kontrollierte ihn mit der Peitsche, hielt ihn mit den Hunden von sich fern. „Wer ist das?“ erkundigte sich Seelah bei Knota. „Die Fragen gehen dir wohl nie aus, was? Das ist Terros. Ein Sohn vom Bauern und von der Bäuerin.“ „Er ist nicht leibeigen?“ „Bist du wirr? Seit wann werden die ersten Söhne von dem Bauern und der Bäuerin leibeigen?“ „Er widersetzt sich dem Bauern. Warum wird er nicht verkauft?“ „Sag mal, wo kommst du eigentlich her?“ Seelah zuckte zusammen, aber Knota erwartete keine Antwort, sondern fuhr fort: „Den würd’ der Bauer wirklich gern los. Aber es ist nicht Sitte, die ältesten Knaben von der Bäuerin zu verkaufen oder zu morden. Würde es bekannt, spräche es sich herum, niemand würde mit dem Bauern noch Geschäfte machen. Sein Hof
würde verarmen. Keiner darf die natürliche Machtfolge unterbinden. Der Bauer muß Terros klein halten oder den Platz mit ihm tauschen. Aber eines Tages…“ „Was?“ „Es wird nicht mehr lange dauern, und Terros ist hier Bauer.“ Seelah hoffte, es würde bald soweit sein. Sie sorgte sich um Traga. Deren Haltung wurde immer gekrümmter, und sie hatte offensichtlich starke Schmerzen. Mit Seelah sprach sie nicht, wehrte besorgte Fragen unwirsch ab, und immer trat sie Pedans willig entgegen, wenn dieser von den Feldern heimkehrte. Sie streichelte sein Geschlecht und zog ihn in die Kammer, trotz aller Pein, die er ihr bereitete. Sicherlich hatte das ein Ende, wenn Terros Bauer würde. – Eines Morgens fielen glühende Steine vom Himmel. Nichts hatte sie angekündigt, aber sie brachten ein Unwetter mit sich, und sie überraschten die Menschen bei der Arbeit. Seelah rannte mit dem Spinnrad ins Haus und sah durch die Tür, wie sich die Arbeiter aus dem strömenden Regen in den Schutz der Gebäude flüchteten. Pedans drängte sich naß an ihr vorbei in die Deele. Traga eilte herbei und reichte ihm ein Tuch. „Leben hat es nicht gekostet“, sagte Pedans, während er an seinen Haaren rieb und mit Traga Richtung Küche ging. „Das Unwetter ist auch nicht stark genug, um die Ernte zu gefährden. Aber es sind nun auch hier einige Steine eingeschlagen. Sie werden das Gras und das Getreide vergiften. Ich muß das Verdorbene an die Städter verkaufen. Ich kann mir nicht erlauben…“ Die Küchentür fiel zu, und Seelah konnte nichts mehr verstehen. Das war es also! Das streng gehütete Geheimnis der Landbevölkerung! Pedans war aufgebracht gewesen und hatte sie nicht beachtet, sonst hätte er sicherlich nicht gesprochen. Sie war in Gefahr. Er durfte sich nicht an die fremden Ohren erinnern. Seelah nahm schnell das Spinnrad und verschwand in
ihrer Kammer. Deswegen hatten so viele Städter elend ausgesehen! Sie aßen krankmachendes Getreide und Gemüse. Ava und die Kinder vermutlich auch. Sie mußte zurück nach Mephis und sie warnen. Allerdings wäre ein plötzlicher Aufbruch verdächtig, und Pedans würde sie auch nicht gehen lassen. Nicht, bevor ihre Arbeit hier beendet war. Ob sie sich heimlich davonstehlen sollte? Vielleicht nachts? Aber Pedans würde sie sicherlich verfolgen und zur Rede stellen. Andererseits war es nicht weit bis Mephis. Einmal in der Stadt, wäre sie nur noch schwerlich zu finden. Aber war es nicht doch zu weit für eine Flucht? Tagsüber würde sie nicht unbeobachtet an den Feldern entlanggehen können, und nachts würden sie die Hunde stellen. Nein! Es ging nicht! Sie mußte sich beeilen und ihre Arbeit hier so schnell wie möglich beenden. Erst dann konnte sie nach Mephis. – Seelah ließ das Spinnrad surren.
I
m Osten dämmerte eben der Tag über dem Horizont, und Seelah war dabei sich anzukleiden, als die Hunde anschlugen. Was war los? Sie eilte in die Halle. Die beiden Tiere, die nachts im Haus gehalten wurden, sprangen an der Eingangstür hoch, zerkratzten das Holz mit ihren Krallen und bellten wie wild. Draußen ging das Gekläffe in Jaulen und Winseln über, das kurz darauf verstummte. Der Bauer erschien, die lange Peitsche schwingend. „Terros?“ knurrte er, legte die aufgeregten Hunde an die Leine und stieß die Tür auf. Im Hof wimmelte es von Gleichgewandeten und Pferden. Einige der Purpurnen waren noch dabei, ihre Lanzen aus den Hundekadavern zu ziehen. „Halt sie fest!“ brüllte der Anführer Pedans zu und deutete auf die Hunde, die an der Leine zerrten. „Sonst verlierst du sie auch noch!“ Pedans befahl den Tieren, sich zu legen, doch sie gehorchten erst dem wiederholten Befehl. Die Arbeiter streckten ihre Köpfe aus den Unterkünften und zogen sie schnell wieder zurück. Pedans stand der Übermacht allein gegenüber. „Was wollt ihr?“ rief er. „Schutzgeld für den Monarchen von Mephis. Entweder du zahlst, oder…“ „Ich habe euch schon erwartet. Ein Kaufmann hat euch angemeldet. Ihr hättet am Tag kommen und meine Hunde leben lassen können.“ „Beim ersten Mal lassen wir es nicht darauf ankommen!“ „Ihr könnt hier nicht viel holen. Ich bin arm“, beteuerte Pedans. „Die neue Ernte ist noch nicht eingebracht…“ „Das sagen alle“, grölte der Anführer. „Schaff Geld, Gold oder Gerätschaften heran. Wenn nicht, bedienen wir uns selbst.“
Er nickte einigen der Gleichgewandeten zu, die sich vor Pedans aufbauten und mit ihren Speerspitzen auf seinen Bauch zielten. Einer stach leicht zu. Pedans zuckte zusammen. „Wartet“, sagte er schnell. Er drückte Seelah die Hundeleinen in die Hand, winkte Traga, ihm zu folgen, und verschwand mit ihr in seiner Kammer. Als sie wieder herauskamen, trug jeder einen kleinen Korb mit Kupfermünzen. Sie stellten sie in den Hof. „In Ordnung“, knurrte der Anführer. Die Purpurnen verstauten das Geld in den Satteltaschen und saßen auf. „Wir kommen wieder!“ Sie rissen ihre Pferde herum und galoppierten davon. Aus den Unterkünften drängten sich jetzt die Arbeiter in den Hof. „Räumt das Aas weg“, befahl Pedans. Er ließ die Hunde von der Leine und wandte sich ab, um ins Haus zurückzukehren. Eine laute, selbstbewußte Stimme ließ ihn herumschnellen. „Pedans!“ Terros stand breitbeinig mitten im Hof, beide Hände auf den Griff einer langstieligen Axt gestützt. „Darauf hast du wohl gewartet, was?“ fauchte Pedans. „Aber hüte dich, zwei Hunde sind mir geblieben…“ Terros grinste. „Faßt ihn!“ hetzte Pedans die Hunde auf. Die verwandelten sich in Bestien, legten die Ohren an, zogen die Lefzen hoch und stürzten sich, das Gebiß fletschend, auf Terros. Der schwang die Axt und zerschmetterte einem der Tiere im Ansprung den Schädel. Das zweite verfehlte knapp seine Kehle und überschlug sich. Terros hob erneut die Axt, aber der Hund war schon wieder auf den Pfoten und umkreiste ihn, den Schwanz eingeklemmt, eine Schwachstelle suchend. Terros ließ ihn nicht aus den Augen, täuschte behende einen Angriff
vor, der das Tier zur Seite springen ließ, und nutzte den Moment der Verwirrung, ihm mit der Axt das Rückgrad zu zertrümmern. Noch während sich das Tier im Staub wälzte, ließ Terros die Axt fallen und schritt auf das Haus zu. „Na?“ griente er. „Komm nur her!“ drohte Pedans, bückte sich nach der Peitsche, ging ihm einige Schritte entgegen und ließ die harten Lederriemen durch die Luft zischen. Terros schritt beharrlich weiter auf ihn zu. Als die Schläge ihm Gesicht und Arme zerschnitten, duckte er sich, stürzte vorwärts und rammte Pedans seinen Kopf in den Bauch. Die Peitsche fiel zu Boden, und die beiden Männer begannen miteinander zu ringen. Erst stehend, dann liegend… schweigsam, keuchend, mit aller verfügbaren Kraft. Pedans spreizte die Finger und versuchte, Terros die Augen in den Schädel zu drücken. Terros ergriff die Hand, riß sie von seinem Gesicht fort, bog die Finger nach außen. Seelah hörte die Knochen splittern. Pedans, nun in seiner Kampfesfähigkeit beeinträchtigt, lag kurz darauf mit dem Rücken auf der Erde, und Terros setzte sich auf seinen Bauch. „Nun, wer ist hier der Bauer?“ „Ich!“ Pedans bäumte sich auf und versuchte ihn abzuschütteln. Terros ergriff seinen Kopf mit beiden Händen, riß ihn hoch und schmetterte ihn auf die Erde. „Wer?“ „Ich!“ Wieder und wieder knallte der Kopf auf den Boden, bis Pedans schließlich gequält aufschrie: „Du!“ „Ihr habt es gehört, Leute“, triumphierte Terros. „Aber er soll es noch einmal bestätigen. Wer ist der Bauer, Pedans?“ „Du, du, du…“
Steif und ungelenk erhob sich Terros, wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht und schritt aufs Haus zu. Geschlagen wälzte sich Pedans auf den Bauch und vergrub den Kopf im angewinkelten Arm. Traga drückte sich an die Hauswand. „Komm rein, Schwesterherz“, feixte Terros, faßte die Widerstrebende am Arm und zog sie hinter sich her. „Wollen doch mal sehen, was an dir so Besonderes ist.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Räumt die Kadaver fort!“ wiederholte er Pedans Befehl, und die Arbeiter beeilten sich, seiner Anordnung Folge zu leisten. Noch während Terros Traga in die Kammer des Bauern zerrte, flüchtete sich Seelah in den Hof. Hier setzte sich Pedans eben auf, seinen Kopf mit beiden Händen haltend. „Laßt mich Euch helfen“, bot sie an. „Ich könnte Eure Finger richten.“ Pedans richtete seine rotunterlaufenen Augen auf sie und glotzte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. „Hau ab“, knurrte er schließlich und vergrub den Kopf erneut in den Armen. Erregt begab sich Seelah an den Fluß. Sie mußte hier weg! Noch in dieser Nacht würde sie den Hof verlassen und zu Ava nach Mephis gehen. Die Gelegenheit war günstig, die Hunde tot, ihre Flucht würde gelingen. Als sie mittags auf den Hof zurückkehrte, schien das Leben wieder in den gewohnten Bahnen zu verlaufen. Tieret hockte stumpfsinnig zwischen den Kindern auf der Wiese, die Arbeiter waren auf den Feldern, auf denen mittlerweile die Einschlagskrater der Steine zugeschüttet und die wohlbekannten Kreise abgesteckt waren. Pedans war vom Hof verschwunden, und auch von Terros war nichts zu sehen. In der Deele stieß Seelah auf Traga. Die lag allein vor der Kammer des Bauern, grün im Gesicht. Ihr Körper verkrampfte
sich unter vorzeitigen Wehen, die sie brutal durchliefen. Der Rock ihres Kleides triefte vor Blut. „Kommt“, drängte Seelah. „Kommt in die Kammer des Bauern! Ihr könnt hier nicht liegenbleiben.“ Traga schüttelte nur kraftlos den Kopf. Sie war einer Ohnmacht nahe. Seelah rannte schnell in ihre Kammer, holte einen Armvoll Felle, die sie unter Tragas Kopf und Rücken schob. Sie mußte die Blutung stoppen – umgehend – sonst würde Traga sterben. Es wäre ein leichtes gewesen, Traga die entsprechenden Kräutersude zu verabreichen, doch Seelah hatte aus Vorsicht darauf verzichtet, Medizin mit nach Arman zu nehmen. Der andere Weg? War das nicht zu gefährlich? Aber sie konnte doch nicht untätig zusehen! Die Deele war verlassen… Traga schien nicht mehr mitzubekommen, was um sie herum vorging… sie würde es wagen müssen! Seelah bat die Götter um Beistand und legte Traga, als sie die Kraft der Allmächtigen in sich spürte, ihre beiden Hände flach auf den Unterleib. Sie schloß die Augen, versetzte sich in Trance, sah die Blutungen vor sich und schickte ihr Wollen durch ihre Hände in den gepeinigten Körper. Ihre Finger kribbelten von dem Strom der Macht, der sie durchfloß und der das zerrissene Gewebe heilte. Die Wunden zogen sich zusammen, und Seelah hörte nicht eher auf, als bis auch das letzte kleine Blutrinnsal versiegte. Als sie dann versuchte, die kleinen Wesen zu erreichen, die nun zu früh ins Leben geworfen werden sollten, bekam sie keine Antwort. Natürlich! Das hätte sie wissen müssen. Sie nutzte den Kraftstrom, um die Kontraktionen zu verstärken, und mit einigen starken Wehen spie der Körper die toten Kinder aus. Es war höchste Zeit für Traga. Sie mußte schon lange keine Kindsbewegungen mehr in sich gespürt haben. Bevor Seelah ihre Hände zurücknahm, überprüfte sie noch, ob sich die Nachgeburten auch
angemessen lösten. Es sah gut aus, und so gestattete sie sich, ihren Blick wieder nach außen zu wenden. Neben ihr stand Knota. Seelah wußte nicht, wie lange sie schon anwesend war, und konnte nur hoffen, daß Knota nicht verstanden hatte, was geschehen war. „Sie sind tot“, stellte Knota fest. „Da hat Traga aber Glück gehabt.“ „Glück?“ „Wenn sie nicht mehr Pedans Würflinge trägt, wird Terros sie behalten. Sie ist kräftig, arbeitet und wirft gut… er wird sie nicht entbehren wollen.“ Die beiden Frauen sahen zu, wie die Nachgeburten kamen. „Holt Hilfe! Sie kann hier nicht liegenbleiben“, forderte Seelah Knota auf. „Ja. Nur wohin mit ihr? Wir können sie nicht in die Kammer des Bauern bringen. Terros wird sie jetzt nicht auf seinem Lager finden wollen. – Sie muß in die Scheune.“ „Das geht doch nicht!“ „Aber ja. Es gibt keine andere Möglichkeit.“ Knota rief zwei Arbeiter aus den Ställen. Gemeinsam trugen sie Traga in die Scheune und legten sie ins Stroh. Damit schien für Knota die Sache erledigt zu sein, und sie schickte sich an, ins Haus zurückzukehren. Seelah lief ihr nach und ließ sich Tücher und eine Schüssel geben. „Du mußt nichts für sie tun“, riet Knota ab. „Das ist nicht deine Aufgabe. Wenn der Bauer es wünscht, wird er dir die Anweisungen dazu schon geben.“ „Terros ist nicht da.“ Gleichmütig mit den Schultern zuckend, ließ Knota sie gewähren. Seelah holte die Felle aus der Deele und bereitete Traga, so gut es ging, ein Lager. Sie zog ihr das blutige Kleid aus, wusch sie und setzte sich dann abwartend zu ihr! Als Traga wieder zu sich kam, fuhr sie zuerst mit der Hand über
ihren flachen Bauch. Sie nickte beinahe befriedigt, dann fiel ihr Blick auf Seelah. „Laß mich allein“, sagte sie abweisend, und Seelah ging, ohne die befürchteten Fragen nach den Kindern beantworten zu müssen. Im Hof kam ihr Knota entgegen: „Es hat sich schon herumgesprochen, daß Terros nun der Bauer ist. Die ersten Frauen sind bereits eingetroffen. Wir müssen ein großes Mahl bereiten und die Deele einrichten. Nur, Terros ist nicht da, und der hat den Schlüssel. Geh du erst einmal in die Küche. Dort steht ein Korb Knollen. Ich werde den Frauen den Hof zeigen. Sie wollen sehen, was der Bauer hat.“ – Die Knollen waren noch nicht geschält, als Seelah Hundegekläff hörte. Sie ließ das Messer fallen und eilte in den Hof. Terros war zurück, und er hatte neue Hunde erworben. Die zwei Leibeigenen, die ihn begleitet hatten, sperrten die lebhaften Tiere in den großen Zwinger, und Terros betrachtete sie stolz. „Sie sind schön, nicht wahr?“ sagte er zu Seelah, die neben ihn getreten war. „Haben mich auch eine Menge gekostet.“ Er schritt auf das Haus zu. Seelah blieb an seiner Seite. „Was ist? Was willst du? Wo ist Traga?“ „Sie hat heute Mittag geboren.“ „Hier? Wieso nicht im Coven?“ „Die Kinder kamen zu früh… sie waren tot.“ „Das läßt sich hören.“ Er grinste. „Gibt’s sonst was Neues?“ „Es sind Frauen eingetroffen. Knota zeigt ihnen den Hof. Sie sagt, wir müssen die Deele einräumen, aber wir brauchen den Schlüssel.“ „Schön. Das werden jetzt lustige Zeiten. Hoffentlich ist die Auswahl gut. Ich bin schließlich kein Kostverächter.“ – Bis in die frühen Morgenstunden hinein mußte Seelah einräumen, kochen, bewirten, Felle in die Scheune tragen und
Lager richten. Im Laufe des Tages und der Nacht trafen weitere Frauen ein. Sie bevölkerten den Hof, Deele und Scheune. Einige waren in Terros Alter, andere jung, fast noch Mädchen. Sie kamen in ihren besten Gewändern, mit bunt bemalten Händen und behängt mit Schmuck und Waffen. Sie besichtigten die Leibeigenen, die Felder und Tiere, die Gebäude und Gerätschaften. Sie ließen sich von Knota und Seelah bedienen, gaben barsche Anweisungen und rührten selbst keinen Finger. Sie prahlten vor Terros, der sich ebenfalls festlich gekleidet hatte, mit ihrer Arbeitskraft und Gebärfähigkeit und schwangen ihre breiten Hüften. Und sie aßen und tranken ununterbrochen. „Was wollen die alle hier?“ wunderte sich Seelah. „Bäuerin werden“, erklärte Knota. „Es sind Töchter von Bauern aus der Umgebung, freie Töchter, wie du siehst, und Terros wird eine von ihnen auswählen. Als Bauer muß er eine Bäuerin haben, mit der er Söhne zeugen kann, und von denen wird dann einer der neue Bauer werden.“ „Wann werden sie wieder gehen?“ „Erst wenn Terros sich entschieden hat. Das kann dauern. Er wird sie zunächst alle in seiner Kammer ausprobieren wollen.“ Da soviel zu richten war, fand Seelah nur die Gelegenheit, nach Traga zu sehen, als sie mit Fellen in die Scheune geschickt wurde. Traga schlief, aber es war ein Schlaf der Genesung, wie Seelah zufrieden feststellte. Das Gesicht war wohl noch bleich, hatte aber den ungesunden grünlichen Schimmer verloren, und Traga atmete gleichmäßig, ruhig und tief. – Ihre Fluchtpläne waren, das wurde Seelah immer deutlicher, im Augenblick nicht zu verwirklichen. Ständig rief man nach ihr, pausenlos wurde ihre Arbeitskraft benötigt, und Tag und Nacht herrschte reges Leben auf dem Hof. Es gab keinen Moment, in dem sie sich unbeobachtet hätte davonstehlen
können. Sie mußte sich gedulden. Irgendwann würde wieder Ruhe einkehren, und dann würde sie die erste Gelegenheit ergreifen… – Viel zu früh verließ Traga ihr Lager und übernahm wieder ihre Pflichten im Haus. Obwohl Seelah es nicht gern sah, war Tragas Mitarbeit eine große Hilfe. Aus Pedans war ein gebrochener Mann geworden. Hin und wieder sah Seelah, wie er mit den Arbeitern auf die Felder zog. Er wirkte älter und kleiner, schien nur ungern zu sprechen, und seine Antworten auf Terros Befehle erfolgten zögerlich, leise und mit gesenktem Blick. Die Vormittage verbrachte Terros damit, die neuen Hunde abzurichten. Er genoß es, unter den abschätzenden Blicken der vielen Frauen, den Tieren zu zeigen, wer der Herr war. Im Gegensatz zu Pedans schien er noch zu wachsen, wurde größer, breiter, lauter und bestimmender. Wenn er Seelah sah, wurde sein Blick kalt und abweisend, und sie fürchtete sich vor ihm. Wieso verhielt er sich so? Sie erledigte fleißig und ohne Widerspruch die Arbeit, die ihr zugewiesen wurde, hatte sich stets höflich verhalten und war sich keiner Schuld bewußt. Hoffentlich traf Terros bald seine Wahl unter den Frauen, rechtzeitig, noch bevor die Hunde den Zwinger verlassen und ihre Wachaufgaben übernehmen konnten. – Eines Mittags trafen zwei Händler mit großen Kutschen ein. Nach einem Willkommenstrunk und einem ausgedehnten Mahl führte Terros sie auf die Ziegenwiese hinter dem Haus. Hier wurde lange verhandelt, ausgiebig gefeilscht, und schließlich rief Terros einige Leibeigene herbei, die die Kinder in die Kutschen trugen. Auch Tieret wurde genötigt, sich auf eine der Ladeflächen zu setzen. Ihr Blick war starr, ihre Körperhaltung steif, als die Kutschen vom Hof rollten. Auf der Wiese zurück blieb nur der kleine Knabe, der von den Lufusierinnen stammte.
Mit einer Handvoll Kupfermünzen klimpernd, kam Terros in die Deele zurück und setzte sich zwischen die zechenden Frauen. „Man kriegt kaum noch etwas für so kleine Brut… lassen sich zu schlecht verkaufen… haben noch keinen Marktwert. Demnächst muß ich noch draufzahlen, wenn sie abgeholt werden sollen. Ziehe aber lieber meinen eigenen Nachwuchs groß als den von Pedans. Die Alte wollten sie erst gar nicht mitnehmen, doch dank meiner Überredungskunst…“
E
ndlich war es soweit! Tiefe Nacht lag über dem Hof, und Seelah saß abwartend auf einem Schemel, ihre Habseligkeiten vor sich auf dem Boden. Eben hatte sich Terros mit seiner Bäuerin zurückgezogen. Die beiden waren stark angetrunken und würden bald tief schlafen. Die abgelehnten Frauen hatten den Hof bereits verlassen, jede gekränkt und zornig, weil sie nicht die Auserwählte war, aber Terros hatte sich für die Jüngste entschieden. Noch hielt er die Hunde im Zwinger, und Seelah hoffte deshalb zuversichtlich, daß ihre Flucht gelingen würde. Es war höchste Zeit! Vor zwei Tagen hatte Terros sie zur Rede gestellt, mißtrauisch, prüfend, barsch: „Knota hat mir gesagt, du würdest dumme Fragen stellen. Du scheinst dich mit unseren Gebräuchen wenig auszukeimen. Wo kommst du her?“ Da Seelah von der Frage überrascht worden war, konnte sie zunächst nicht angemessen antworten und überlegte fieberhaft. „Na los! Antworte! Und laß dir nicht einfallen, mich zu belügen. Ich würde es merken.“ Seelah rang um Beherrschung, schaute Terros fest in die Augen und zwang sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen: „Ich bin im Aufzuchthaus von Mephis aufgewachsen. Wir Kinder lebten dort sehr abgeschieden von der übrigen Bevölkerung. Wir wurden wohl verpflegt, aber niemand hat uns auf das Leben außerhalb vorbereitet.“ „Mm, soweit ich weiß, sind im Aufzuchthaus die Kinder von Kaufleuten untergebracht. Wieso bist du jetzt nicht bei deinem Vater und hilfst ihm beim Handel?“ „Meine Eltern haben sich nie um mich gekümmert. Ich wurde älter und älter, aber keiner kam, um mich abzuholen. Zuletzt mußten wir annehmen, daß von meiner Familie niemand mehr
am Leben sei, und so habe ich mich allein auf den Weg gemacht.“ „Wieso bist du nicht verkauft worden?“ „Man wollte es. Aber ich habe versprochen, ihnen mehr Geld herbeizuschaffen, als sie durch meinen Verkauf erhalten hätten.“ „Das haben sie dir doch nicht etwa geglaubt?“ „Zunächst nicht, und ich mußte mich heimlich davonschleichen. Aber ich fand Arbeit und brachte ihnen von meinem Lohn. Nun warten sie auf mehr.“ „Was hast du gearbeitet?“ „Ich habe jede Arbeit erledigt, die ich bekommen konnte. Manchmal habe ich mich auch als Händlerin betätigt. In Mephis habe ich einige Käufer, die Früchte vom Baum der Erkenntnis erwerben wollen. Nun ziehe ich arbeitend durchs Land, auf der Suche nach dem Baum.“ „Von einem Erkenntnisbaum habe ich noch nie gehört, den wird es wohl in Arman nicht geben. – Aber ich traue dir nicht, obwohl deine Erklärungen stimmen könnten.“ „Wenn Ihr mir mißtraut, dann ist es wohl besser, wenn ich Euch verlasse. Zahlt mich für meine Dienste aus, und ich gehe noch heute.“ „Das kommt nicht in Frage! Du bist noch nicht mit dem Spinnen fertig, und du sollst auch noch weben. Eher verläßt du nicht den Hof. Du weißt selbst, wie selten ordentliche Weberinnen zu bekommen sind. Nein! Du bleibst, bis deine Arbeit beendet ist, und ich werde dich sehr gut beobachten. Nächstens werde ich zudem in Mephis zu tun haben, und dann werde ich deine Angaben bei den Aufzüchterinnen überprüfen. Solltest du gelogen haben…“ Terros fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, drehte sich abrupt um und ließ sie stehen. –
Es war nun spät genug und im Haus alles ruhig. Seelah stand auf, nahm Beutel und Wasserblase in die Hand und öffnete leise die Kammertür. Die Deele lag im Dunkeln, und sie mußte sich zur Tür tasten, leise, auf Zehenspitzen schleichend. Die Riegel ließen sich geräuschlos zur Seite schieben, doch als sie die Klinke herunterdrückte, bewegte die Tür sich nicht in ihren Angeln. Sie war abgeschlossen. Schade, daß die Fensteröffnungen zu schmal waren, um einen Menschen hindurchzulassen. Jetzt mußte sie das Haus durch die rückwärtige Tür verlassen, mußte durch die Küche, vorbei an der schlafenden Knota. Verstohlen öffnete Seelah die Küchentür, huschte hinein und schloß sie hinter sich. Im Mondschein, der durch das Fenster fiel, sah sie Knota, die sich in einem Bündel Felle vor dem Herd zusammengerollt hatte und leise schnarchte. Die Riegel der hinteren Tür quietschten, als Seelah sie zurückschob. Knota warf sich herum, das Schnarchen wurde unterbrochen, setzte aber gleich darauf wieder ein. Nach einigen Augenblicken des Wartens schlüpfte Seelah durch die Tür und zog sie vorsichtig zu. Von den Ziegen und Traga, welche seit dem Verkauf mit dem zurückgelassenen Knaben in dem flachen Gebäude hauste, war nichts zu sehen. Seelah stieg über den Zaun und schlich um das Haus. Die Hunde im Zwinger verhielten sich ruhig, waren es gewohnt, nachts Menschen auf dem Hof zu sehen, die den Abort aufsuchten. Erleichtert schlug Seelah den ihr bekannten Weg ein, der sie durch die Felder nach Satana führen würde. Sie übersah die Knabengestalt, die aus einem der Nebengebäude trat und ihr nachschaute. – Lange bevor sie das Hundegebell hörte, warnte der Wind: Lauf, Seelah! Renne um dein Leben!
Noch ehe sie die Hälfte der Strecke nach Satana zurückgelegt hatte, vernahm sie selbst Gekläff und wenig später auch das Klappern von Hufen. Nach Luft ringend, beschleunigte sie ihren Lauf und lauschte dem Geschehen hinter sich. Die Hunde kamen nicht schneller heran als die Pferde, wurden also an der Leine gehalten. Das war gut. Ihrer Fährte konnten sie jedoch zu einfach folgen. Es wäre besser, den Weg zu verlassen und durch die Felder zu fliehen. Auf dem unebenen Ackerboden stolperte Seelah vermehrt. Die Wassergräben, Gemüse und aufschießendes Getreide hemmten ihren Lauf, aber sie konnte es sich nicht erlauben, in ihren Anstrengungen nachzulassen. Schmerzhaft hämmerte ihr Herz in der Brust, dröhnte das Blut in ihrem Kopf, sang das immer gleiche Wort: Laufen… laufen… laufen. Obwohl Seelah laut keuchen mußte und ihre Seite verzweifelt stach, paßten sich die Beine dem Rhythmus des Blutes an. Laufen… laufen… laufen. Hinter ihr wurde das Bellen aufgeregter und leiser. Der Abstand zu ihren Verfolgern vergrößerte sich. Hatten die Hunde die Spur verloren, oder wollte Terros nicht durch die Felder reiten und die Ernte ruinieren? Erneut änderte Seelah die Laufrichtung, hielt nun wieder auf die Gegend zu, in der sie Satana vermutete. Sterne und Mond konnten ihr heute nur eine vage Orientierungshilfe sein, sie hatte keine Gelegenheit, sie genau zu betrachten, mußte sich auf ihre Füße konzentrieren. Obwohl der Mondschein die Umrisse größerer Hindernisse wie Gräben, Bäume und Zäune grau hervorhob, trat Seelah immer wieder in kleinere Erdlöcher und mußte darauf bedacht sein, nicht zu stürzen. Terros hatte die Verfolgung wieder aufgenommen, und das Gebell näherte sich.
Laufen… laufen… laufen. Ihre Kehle brannte, und aus den Augen liefen ihr Tränen, während ihre Beine weiterhin auf den Boden trommelten. Wie lange rannte sie schon so? Es kam ihr vor, als hätte sie nie etwas anderes gekannt, als liefe sie seit Ewigkeiten. Das Pferdegetrappel war schon nahe, aber Seelah wagte es nicht, sich umzusehen und wertvolle Augenblicke zu verlieren. Dunkle Schatten ragten in einiger Entfernung vor ihr auf. War das Satana? Dann war auch der Fluß nicht mehr weit, der sich in einem großen Bogen um Terros’ Felder schlängelte und von dort aus kaum zu erreichen war. Von den Einwohnern in Satana konnte Seelah keine Hilfe erwarten, und die Brücke würde sie nicht mehr rechtzeitig erreichen, aber sie konnte sich in den Fluß stürzen, dann würden die Hunde ihre Fährte verlieren. Hätte sie mit dieser Treibjagd gerechnet, wäre sie gleich hinter dem Haus des Bauern in den Fluß gestiegen und geschwommen. Es konnte nun nicht mehr lange dauern, dann würde Terros sie sehen können und ihr seinen Speer in den Rücken schleudern. Rechter Hand zogen die Gebäude von Satana vorbei, doch Seelah hörte bereits das Schnauben der Pferdenüstern. Zu spät! Sie würde den Fluß nicht mehr erreichen. Ob sie ihrer Erschöpfung nachgeben und sich stellen sollte? Während sie noch überlegte, sah Seelah Mauern vor sich aufragen. Der Tempel? Die Götter würden ihr den Schutz nicht versagen! Seelah rannte um die Ruine herum und über die Schwelle. An der rückwärtigen Wand mußte sie sich mit den Händen abfangen, denn ihre Füße taten sich schwer, den Lauf so unvermittelt zu stoppen. Mit dem Rücken an der Wand sitzend, die Beine, die nun endgültig ihren Dienst versagten, ausgestreckt, flehte Seelah in Gedanken die Götter Annans um Hilfe an. Sprechen konnte sie nicht mehr.
„Geb! Geb!“ bat sie auch den einen, und eine weiche Wärme hüllte sie ein. In einiger Entfernung vom Tempel verloren die Hunde die Spur. Sie winselten um die alten Mauern herum, kamen aber nicht ganz bis an die Ruine heran. Terros fluchte unterdrückt, stieg ab, zerrte sie zurück zur Fährte und versuchte es noch einmal. Wieder konnten die Hunde der Spur nicht folgen. „Wir hätten sie fast erwischt und nun das!“ „Was ist das für ein Gebäude?“ hörte Seelah die Stimme der jungen Bäuerin. „Weiß nicht.“ „Sieh mal nach, ob sie drinnen ist!“ „Bleibt bei mir, verlaßt mich nicht“, betete Seelah, als Terros’ breite Gestalt in den Tempel trat. „Schreckliche Dunkelheit hier“, schimpfte er, durchquerte den Raum und versuchte etwas zu erkennen. Kurz vor Seelah blieb er stehen, ein weiterer Schritt, und er wäre auf ihre Beine getreten. Sie konnte das Weiße in seinen Augen funkeln sehen. „Hier ist nichts!“ rief Terros, stolperte beim Hinausgehen über die Schwelle und wäre fast gestürzt. „Wir werden mit den Hunden noch die Umgebung absuchen, und wenn wir nichts finden, kehren wir um. Morgen werde ich in Mephis…“ Mehr war nicht zu verstehen, und später verlor sich auch das Hundegebell in der Ferne. Gern hätte Seelah, den Göttern zum Dank, den Tempel mit Blumen geschmückt. – Doch wo wuchsen in Arman schon Blumen? – Und so blieben ihr nur betende Worte. Fürchte dich nicht. Wir schützen dich, denn du siehst, was über dir ist, und folgst unseren Weisungen. Es mag wohl manchmal so aussehen, aber wir werden dich nicht verlassen, sang Gebs milde Stimme sie in einen kurzen erholsamen Schlaf.
Bereits im Morgengrauen stand Seelah vor der Brücke und reichte den Gleichgewandeten ihre letzten Kupfermünzen, um zu passieren. Ohne Geld kam sie nicht nach Mephis hinein, und sie mußte Ava abpassen, wenn diese mit den Kindern um die Stadt lief. Schon von weitem sah sie die Gruppe aus dem Osttor ziehen und den üblichen Weg einschlagen. Mit großen Schritten versuchte Seelah sie einzuholen. Ava ging wie immer am Ende der Reihe. Als Seelah aufschloß, begegneten sich ihre Blicke. „Ava! Ich muß dich sprechen, es ist wichtig!“ „Jetzt nicht, Seelah. Geh zu unserer Stelle am Fluß. Ich komme, sobald ich kann“, flüsterte Ava zurück. Die voranschreitende Armanerin hörte die leisen Worte nicht und schenkte Seelah keinen Blick, als sie vorüberging. Damit ihr die Zeit nicht lang wurde und sie nicht durch Müßiggang auffiel, lief Seelah lange Zeit auf verschiedenen Wegen durch die Felder, blieb aber stets in der Nähe der Stadt, um mitzubekommen, wann die Kinder ihren Rundgang beendeten. Einmal vermeinte sie, Terros zu sehen, der auf seinem Pferd nach Mephis hineinritt. Schnell drehte sie ihm den Rücken zu, doch auf die Entfernung konnte er sie vermutlich nicht erkennen. Als die Kinder wieder in die Stadt zogen, begab sich Seelah an den Fluß. Hier wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, denn Ava kam erst gegen Abend. „Tut mir leid, Seelah, ich konnte nicht früher kommen. Doch hör zu, du bist in höchster Gefahr. Ein Bauer aus Satana ist in der Stadt. Er war im Aufzuchthaus, bei der Vereinigung der Kaufleute und beim Monarchen von Mephis. Man hat einen Preis ausgesetzt für denjenigen, der dich fangt, hat Bilder von dir zeichnen lassen und läßt sie in der ganzen Stadt aufhängen. Du bist darauf sehr gut zu erkennen, selbst deine Gewänder sind genau dargestellt. Du mußt sofort die bewohnten Gebiete verlassen und nach Tantenen zurückkehren. Bald wird ganz
Arman nach dir Ausschau halten. Ich kann dir nicht viel helfen, du kennst meine schwierige Situation. Aber ich könnte mein Kleid mit dir tauschen.“ „Das geht nicht, Ava. Wie wolltest du es erklären, daß du meine Gewänder trägst. Ich werde Arman umgehend verlassen. Schon heute Nacht werde ich den Schutz der Berge erreicht haben, und in zwei Tagen sitze ich in Uriels Boot. – Doch ich bin gekommen, um auch dich zu warnen.“ Ava hörte aufmerksam und mit zunehmendem Entsetzen zu, als Seelah ihr von den vergifteten Nahrungsmitteln erzählte. „Das erklärt vieles“, meinte sie schließlich. „Dein Erscheinen hier hat die Pforten geöffnet, und ich habe nun Kontakt zum Coven. Wicca schickt mir dunkle Bilder, Warnungen…“ „Was wirst du jetzt tun? Willst du nicht mit mir zurückgehen?“ „Ich werde Tantenen nicht wiedersehen, Seelah. Mein Schicksal erfüllt sich hier. Aber ich muß erst über die nächsten Schritte nachdenken. Zunächst werde ich wohl versuchen, die Aufzüchterinnen zu bewegen, Korn und Gemüse nicht mehr in Mephis zu kaufen, sondern direkt bei den Bauern. Da dies auch billiger ist, werden sie damit einverstanden sein.“ „Du solltest den Monarchen von Mephis einschalten, damit er die Städter schützt.“ „Das würde nichts bewirken, Seelah. Der Monarch ist bestechlich und würde von den Bauern Schweigegelder erpressen. Vielleicht kann ich heimlich Plakate herstellen und in Mephis aushängen. Eine Warnung von unbekannter Hand an die Bürger. Ich muß jedoch erst über die Folgen nachdenken. Die Städter könnten es sich einfallen lassen, die Höfe zu überfallen und die Bauern zu morden. Aber das sind nun meine Sorgen. Achte du darauf, unversehrt in den Coven zurückzukommen.“
Sie schieden schweren Herzens voneinander, jede in Sorge um die andere.
D
inahs Felsenhöhle lag verlassen, war seit dem Gemetzel an den alten Menschen nicht mehr bewohnbar. Zwar hatten sie die grausam zerstochenen, zerrissenen und zu Tode geprügelten Körper noch am selben Tag im Felsengrab bestattet, doch das Blut, das Boden und Wände dunkel gefärbt hatte, war nicht zu entfernen gewesen. Es erfüllte noch jetzt die Luft mit seinem eigenen, typisch süßlichen Geruch. Hoffentlich hatte die Freundin eine neue, sichere Unterkunft gefunden und ihr die versprochene Nachricht hinterlassen! Seelah stemmte sich mit aller Kraft gegen einen Felsbrocken, der vor dem Höhleneingang lag, und warf ihn um. Ja! Auf der Standfläche des Steines war die Wegangabe, gut lesbar im klaren Morgenlicht, eingeritzt: Zwei Wegstunden in die Berge, Richtung Norden. Während sie überlegte, ob sie es wagen könne, Dinah in ihrer neuen Höhle aufzusuchen, wälzte Seelah den Felsbrocken in seine ursprüngliche Lage zurück und glättete den Sand um ihn herum, um die Spuren zu beseitigen. Einerseits sehnte sie sich nach Dinah, wollte mit ihr sprechen, ihr von Ava erzählen, sie vor der vergifteten Ernte warnen und ihren Rat hören, andererseits hatte sie Sorge, vielleicht doch verfolgt zu werden und Spuren zu hinterlassen, die ihre Häscher zu Dinah führen würden. Seelah beschloß, sich zunächst niederzulegen, etwas zu schlafen und erst dann eine Entscheidung zu treffen. Nach zwei durchwachten Nächten konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen und fror vor Müdigkeit. Sie streckte sich an einer Felswand in der Nähe der Höhle aus und fiel unmittelbar darauf in einen unruhigen Schlaf. Wäre sie nicht so abgrundtief erschöpft gewesen, hätte sie sehr wohl den Wind verstanden, der um die Felsen heulte und sie zu wecken versuchte: Seelah! Wach auf! Fliehe! Wirre Traumbilder
zeigten ihr Hunde, die einer Fährte folgten. Ihrer eigenen? Im Schlaf gelang es ihr nicht, den Sinn der Träume zu greifen und deswegen aufzuwachen. Einige Hunde zerrten im Sand an ihren Leinen. Sollten sie doch! Was ging es sie an? Sie war müde, wollte nur schlafen. Eine große, haarige Spinne seilte sich über ihrem Kopf von der Felswand ab, zirpte in hellen Tönen. Doch noch bevor sie Seelahs Gesicht erreicht hatte und sie wecken konnte, stand Terros neben ihr und trat ihr mit seinen Stiefelspitzen wütend, voller Wucht in die Seite. Stöhnend krümmte sich Seelah zusammen und blickte in das verzerrte Gesicht des jungen Bauern. „Lügnerin!“ knurrte Terros und trat erneut zu. „Lügnerin! Mich kann niemand hinters Licht führen.“ Wieder und wieder hob er den Fuß, trat in seinem Zorn unkontrolliert zu, traf schmerzhaft ihre Oberschenkel, ihre Hüften, ihren Bauch. Seelah schlang die Arme um den Körper und versuchte, sich in ihrer Wehrlosigkeit wenigstens auf diese Weise zu schützen. Unter einem besonders brutalen Tritt zerriß etwas in ihr, und Terros ließ von ihr ab, als ihr Speichel sich blutig färbte. „Dein Glück, daß der Monarch dich lebend will, sonst würdest du das hier nicht überstehen“, fauchte er, ließ sie hilflos liegen und setzte sich abseits, um in aller Ruhe sein Morgenmahl einzunehmen. In Seelahs Leib rann unterdessen das Leben aus. Ob es ihr vergönnt war, sich selbst zu helfen? Oder würde sie sterben müssen? Mit Hilfe der Götter gelang es ihr, die Todesangst zu unterdrücken und einen Weg in ihr Inneres zu finden. Sie sah den langen Riß, der durch die Lunge lief. Ihre geistigen Hände tasteten sich heran, führten den klaffenden Spalt behutsam zusammen, vereinten zerrissene Gefäße und stoppten die Blutung. Hustenanfälle schüttelten ihren Körper, als die Lunge versuchte, das gerinnende Blut auszuspeien. Eine Ohnmacht
nahm ihr die Schmerzen der vielen Prellungen, führte sie in tröstliches Dunkel. Ihr Leben war gerettet – vorerst jedenfalls. Seelah wimmerte. Eine braune Flanke arbeitete vor ihren Augen, als sie diese öffnete. Was war los? Es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, daß Terros sie quer vor sich über das Pferd gelegt hatte. Nun, da er bemerkte, daß sie wieder zu sich gekommen war, zügelte er das Pferd und zerrte sie auf die Füße. „Du wirst laufen…“, höhnte er und legte ihr eine Seilschlinge um den Hals, „… oder ersticken. Warum sollte das Pferd deinetwegen seine Kräfte vergeuden?“ Angebunden wie die Hunde, nein schlimmer, da die bewegliche Schlinge sich um ihren Hals zusammenzog, wann immer sie mit dem Schritt des Tieres nicht mithalten konnte, quälte sich Seelah hinter Terros her. Sie griff mit beiden Händen unter das Seil, um es daran zu hindern, ihr die Luftröhre zuzudrücken, denn es bereitete Terros eine grausame Freude, immer wieder mit einem festen Ruck an dem Seil zu ziehen und ihr Ringen nach Luft zu beobachten. Es war Seelahs Glück, daß sie nicht mehr allzuweit von Mephis entfernt waren und bald das Stadttor erreichten. Terros sprach mit den Wachhabenden, und einer der Gleichgewandeten geleitete sie durch die engen Gassen. Die Bürger der Stadt sahen der seltsamen Gruppe nach und lachten, wenn Seelah sich mühte, die Seilschlinge daran zu hindern, sich zu eng zusammenzuziehen. Schließlich erreichten sie ein hohes Gebäude, vor dem an Stangen purpurne Fahnen wehten. Terros stieg ab, band das Pferd und die Hunde an eine der Fahnenstangen und zog Seelah am Seil hinter sich her, die breiten Stufen hinauf durch das mächtige Portal. Der Gleichgewandete führte sie durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen, ließ sie schließlich in einem Vorraum warten und verschwand hinter einer Tür.
Nach wenigen Augenblicken war er zurück, hielt die Tür auf und hieß sie eintreten. Ein weiträumiger, prächtiger Saal tat sich vor ihnen auf. Bedienstete standen an den stuckverzierten Wänden und sahen zu, wie sie über einen langen roten Läufer auf einen aus edlen Hölzern gefertigten, mit Goldplättchen ausgelegten Thron zugingen. Vor der muskulösen, in schwarzes Leder gekleideten Gestalt auf dem Herrschersitz verneigte sich Terros. Seelah forschte in dem jugendlichen Gesicht des Monarchen von Mephis. Es war kantig und hart. Ein Goldreif wand sich um Stirn und Schädel des Tyrannen, unterstrich das machtgierige Funkeln in den gelben Pupillen, betonte die intelligenten Gesichtszüge. Eine Handbewegung des Lederbekleideten rief zwei der Bediensteten herbei, eine weitere, und sie rissen Seelah, die sich nicht gegen sie zu wehren vermochte, mit brutaler Kraft die Gewänder vom Leib. Nackt, nicht in der Lage, ihre Blöße zu bedecken, stand Seelah vor dem Monarchen, dessen abschätzende Blicke über ihren Körper wanderten. Er ließ sich das zerrissene Kleid reichen, betrachtete die eingearbeiteten Polsterungen, stand auf, griff Seelah roh in die Haare und untersuchte ihren Scheitel. Endlich nickte er zufrieden, wissend und wandte sich an Terros: „Es ist genauso, wie wir es uns gedacht haben. Du kannst gehen!“ Terros zögerte: „Das Kopfgeld?“ Das Gesicht unter dem Goldreif blickte finster: „Was? Niemand wird dem Monarchen nachsagen können, daß er Absprachen nicht eingehalten hätte. Wir werden es mit den Schutzgeldern verrechnen. Du wirst einige Monde keinen Besuch von uns erhalten. Und denk daran: Du wirst schweigen!“
Wieder hob sich der lederne Arm in einer herrischen Bewegung, zwei der Bediensteten ergriffen Terros an den Armen und zogen ihn aus dem Saal. „Und nun zu uns!“ Der Monarch bedeutete Seelah, ihm in einen Nebenraum zu folgen. Dort öffnete er eine Truhe, zog ein gebleichtes Gewand heraus und warf es ihr zu: „Bekleide dich!“ Als sie das Kleid übergezogen hatte, mußte sie auf einem Schemel Platz nehmen, und der Tyrann setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. „Auf deinesgleichen haben wir schon lange gewartet“, begann er. „Schon mein Vater und dessen Vater hatten Kopfgelder ausgesetzt, aber entweder betreten die Heilerinnen des Coven unser Land tatsächlich nicht, oder sie sind zu geschickt, um sich erwischen zu lassen. Was hast du übrigens mit deinen Augen gemacht?“ Auf Seelahs Zögern reagierte er ungeduldig: „Komm, komm! Es hat keinen Sinn mehr, sich zu verstellen. Du bist durchschaut!“ Seelah nestelte die gelben Scheiben aus ihren Augen und reichte sie ihm. Er betrachtete sie interessiert und gab sie ihr zurück. „Ganz schön raffiniert. Setz sie wieder ein! Die Bediensteten werden es vermuten, aber niemand soll genau wissen, daß du von Tantenen kommst. Terros wird schweigen, wenn ihm sein Leben lieb ist, und du ebenso.“ „Was wollt Ihr von mir?“ „Wo sind die anderen?“ „Welche anderen?“ „Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß du allein vom Coven herübergekommen bist?“
„Doch, das bin ich! Die Götter haben mich mit dem Auftrag geschickt, den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu suchen.“ „Götter!“ Er lachte hämisch. „Es ist euch betenden Weibern wirklich zuzutrauen, solchen Hirngespinsten zu folgen. Schwach seid ihr, wenn ihr euch Götter erschaffen müßt, um leben zu können. Ihr sucht einen Sinn, wo keiner ist. Schau den Tatsachen ins Gesicht! Das Leben ist absurd. Wir wurden durch Zufall hineingeworfen und vegetieren dahin, um zu krepieren. Glücklich, wer dieses Dasein so lange wie möglich festhalten kann und vermag, es zu genießen. Ihr Heilerinnen träumt zum eigenen Schaden, versucht das Wohlwollen toter Götter zu erheischen und versäumt dabei das einzige Leben, das wir haben. Ihr seid so lächerlich und bemerkt es nicht einmal!… Antworte, wenn ich mit dir spreche!“ „Ihr tut mir leid.“ „Leid? Hüte deine Zunge, Weib. Niemand wird den Monarchen von Mephis bemitleiden! Ich bin jung, alle Macht liegt in meinen Händen, und ich habe dich. Du wirst mich jung und gesund erhalten… nur mich, und du wirst es gut machen.“ „Ihr gebt Euer Leben in meine Hände, wollt mir vertrauen? Habt Ihr keine Angst, daß ich Euch schaden könnte? Schließlich bin ich nicht freiwillig hier.“ „Willst du mir drohen? Ich weiß mich gut zu schützen! Du wirst mich nicht überleben, und sollte ich erkranken, wirst du viele Tode erleiden, bevor du tatsächlich stirbst. Zudem weiß ich von deiner Bindung an eure Götter. Sie verbieten es dir, Menschen zu schaden, und ich werde dir auch keine Möglichkeit geben zu entfliehen. Du wirst gut bewacht werden, und du wirst leibeigen, wirst gebrandmarkt…“ Überlegen lächelnd stand er auf und verließ den Raum. Seelah hörte, wie er den Schlüssel im Schloß drehte und abzog. Sie trat an das kleine Fenster mit den schweren Gitterstäben
und blickte hinunter in einen verödeten Innenhof, in dem Gleichgewandete sich darin übten, Speere zu werfen. Die beklemmende Furcht in ihrem Herzen versuchte sie zu unterdrücken. Hatten die Götter ihr nicht versprochen, bei ihr zu sein…?
A
morat von Mephis hatte seine Drohungen wahr gemacht. Bald nachdem er Seelah verlassen hatte, erschienen einige Gleichgewandete in ihrer Kammer, trugen ein Becken mit glühenden Kohlen, in dem das roterhitzte Eisen lag. Seelah versuchte später, nicht mehr an den peinigenden Schmerz zu denken, der in ihrem Kopf gewütet hatte, als man ihr das Brandmal in die Stirn gedrückt hatte. Sie hatte sich nicht zu wehren vermocht. Die Purpurnen zogen sie auf den Boden, knieten auf ihren Armen und Beinen und zwangen sie, ihren Kopf stillzuhalten. Als ihr der Gestank des verbrannten Fleisches in die Nase drang, zweifelte Seelah an den Göttern und auch in den Tagen danach, als ihr Augenlicht sie verlassen hatte. Erst als sie begann, wieder Schatten und Umrisse, später Farben zu sehen, gewann sie ihr Vertrauen zurück. Die Allmächtigen würden wissen, warum sie diese Qualen erleiden mußte… Noch lag dicker Schorf auf ihrer Brandmarkung, als Amorat begann, ihre Dienste zu fordern. Fühlte er sich krank, mußte sie zu ihm kommen, um die Unordnung in seinem Körper zu beheben. Verließ er den Palast, mußte sie ihn begleiten, denn er hatte Angst, sie könnte nicht anwesend sein, wenn er ihrer Hilfe bedurfte. Trotz seiner Jugend litt Amorat an Gicht, und Seelah wußte ihm Linderung zu verschaffen, indem sie die befallenen Glieder in mit Indigo gefärbte Binden hüllte. Frühmorgens hatte sie die Freiheit, auf den Markt oder an das Flußufer zu gehen und die Kräuter, Schalen, Zweige und Wurzeln, die sie benötigte, selbst auszuwählen. Stets wurde sie dabei von Gleichgewandeten begleitet, die sie nicht aus den Augen lassen durften. Die Tränke, Salben und Binden mußte sie in ihrer Kammer zubereiten und bereithalten, wenn Amorat sie rufen ließ.
Der Monarch hielt an einem streng geordneten Tagesablauf fest und gewöhnte es sich bald an, Seelah täglich zu sich zu rufen. In den ersten Stunden des Tages erledigte er die Geschäfte, dann empfing er die Heilerin, und anschließend war die Stunde der Sinnesfreuden. Manchmal begegnete Seelah dem farbenfroh gekleideten Armaner, der die Aufgabe hatte, sich für Amorat immer neue Genüsse auszudenken, noch in der Tür. – Nachmittags war Seelah oft in ihrer Kammer eingesperrt und blickte durch das Fenster in den trostlosen Innenhof. Hier erprobten die Gleichgewandeten ihr Kampfgeschick. Waren sie mit ihren Übungen fertig, wurden die Knaben in den Hof gebracht und zornig gemacht. Auch diese Kleinsten trugen schon das Purpur der Wachhabenden des Monarchen, die Farbe der Macht und Distanz. Die Kinder wurden von den Großen aufgefordert, sich zu bekämpfen. Verhielten sie sich nicht kampfesfreudig genug, wurden sie mit Schlägen und Speerstichen dazu angetrieben. Griffen die Knaben in ihrer ohnmächtigen Wut die erwachsenen Peiniger an, wurden sie zuerst verprügelt und erhielten dann eine begehrte Honigstange. Ebenso wurden diejenigen der Kinder belohnt, die sich im Kampf untereinander wild und rücksichtslos verhielten. Der Monarch von Mephis zog sich hier seine zukünftigen Wachhabenden heran, und Seelah schaute dem oft bedrückt zu. Überrascht und froh war sie allerdings gewesen, als sie Tieret sah, die, mit dem Rücken an einer Wand lehnend, den Ereignissen im Hof zusah und die Kinder, die sich verletzt hatten, versorgte. Seelah hatte angenommen, daß ihre Mutter von den Händlern ausgesetzt worden war, aber offensichtlich war sie mit einigen der Kinder für Amorat gekauft worden. Seelah hatte ihr Gesicht an die Gitterstäbe gepreßt, ihren Arm hindurchgeschoben, gerufen und gewunken. Tieret blickte zu
ihr herauf, sah sie an, zuckte gleichgültig mit den Schultern und wandte den Blick wieder ab. Auf weitere Zurufe reagierte sie nicht mehr. – Die großen Anschläge, die eines Morgens an den Häuserwänden in der Stadt hingen, konnten nicht übersehen werden. Ihr Bürger von Mephis! las Seelah. Steine, die vom Himmel fallen, vergiften die Ernte. Die Bauern kennzeichnen das Verdorbene, verkaufen es an euch Städter, und ihr werdet krank davon. Ihr zahlt dem Monarchen von Mephis Schutzgelder. Fordert diesen Schutz nun ein! Er soll seine Gleichgewandeten ausschicken, damit sie die vergifteten Teile der Ernte auf den Feldern vernichten. Um der Bestechlichkeit vorzubeugen, müssen Bürger der Stadt die Purpurnen auf diesen Wegen begleiten. Handelt schnell! Euer Leben und das Leben eurer Kinder ist in Gefahr! Obwohl nur wenige der Armaner lesen konnten, hatte sich die Mitteilung auf den Plakaten schon herumgesprochen. Erregte Menschen hatten sich in Gruppen zusammengefunden und berieten. – Amorat schlug Seelahs Hand mit der Indigobinde beiseite, als ihn ein Wachhabender über den Inhalt der Plakate informierte und ihm eines überreichte. Er überflog die Worte, und seine Augen blitzten vor Haß, als er den Papyrusbogen in winzige Stücke zerriß. „Wer wagt es, dem Monarchen von Mephis Vorschriften zu machen…“, er sprang auf und rannte zornig herum, „… und mir Bestechlichkeit zu unterstellen? Weißt du etwas davon?“ fuhr er Seelah an. „Nein!“ stammelte sie erschrocken. Amorat hielt inne, setzte sich wieder und wandte sich an den Purpurnen. „Weiß man, wer es war?“
„Nein, Monarch!“ „Vermutlich wird es nicht schwer sein, den Übeltäter ausfindig zu machen. Sind nicht auch die Bürger und Kaufleute bestechlich? Jemand muß ihm die Papyrusrollen verkauft haben! Jemand wird ihn beobachtet haben, wie er die Anschläge aufhängte! Jemand wird sein Wissen an mich verkaufen! Ich werde den Übeltäter ausfindig machen, und sein Ende wird ein warnendes Beispiel für alle sein.“ „Draußen steht eine Abordnung der Bürger der Stadt, Monarch. Wollt Ihr sie empfangen?“ „Natürlich! Ich werde den Forderungen nachgeben und meiner Empörung über die Unarten der Bauern Ausdruck verleihen müssen. Es darf nicht sein, daß die Städter sich gegen mich zusammenrotten, weil sie um ihr Leben fürchten. Doch…“, er deutete auf Seelah, „… du wirst dich zuvor entfernen. Deine Anwesenheit muß nicht offensichtlich werden.“ – Während der Tage, als die Gleichgewandeten in die Dörfer ritten, lag der Innenhof verwaist, und Seelah hatte nichts, was sie von ihren angstvollen Ahnungen ablenkte, wenn sie durch die Gitterstäbe blickte. Doch schließlich kam die Stunde, in der sie Avas Leichnam vor den Palast schleiften und ihren Körper an einen Fahnenmast hängten. Die erschöpfende Anspannung fiel von Seelah ab, ruhig trat sie vor die körperliche Hülle der Freundin und betrachtete sie. Nun hatte sich also Avas Bestimmung erfüllt. Obwohl ihr Körper von Speerstichen zerrissen war, zeigte sich in dem vertrauten Gesicht ein Lächeln, das Seelah tröstete. Ava hatte nicht gelitten und gewußt, was sie tat. In diesen Tagen und Nächten entwickelte sich Wesentliches in Seelah, und sie begann tiefer zu sehen. Es war, als würde der runde Kreis ihrer Brandmarkung zu einem dritten Auge,
das ihr mehr zeigte als ihre angeborenen Sinne. Vor ihrem geistigen Auge erschienen ihr die Armaner als verwachsene Gnome, die sich mit Händen und Füßen an der Erde festkrallten. Sie erblickte nun die kaltfarbigen, düsteren Auren, die ihre Gegenüber umflossen. Sie bemerkte, wie nur die zerstörerischen und nicht die aufbauenden Kräfte der armanischen Planeten – des blauen Merkurs, des hellroten Mars’ und des schwarzen Saturns – aufgesogen und verwirklicht wurden. Sie erkannte den Mißbrauch von Verstand, Geschick und Macht, begriff das Unmoralische, das in dem kaltem Denken begründet lag. Sie erfaßte die Unfähigkeit der Armaner, sich untereinander zu verständigen. Sie beobachtete die Ungeduld und Willkür, die Selbstbeschränkung, die Sinn- und Gottlosigkeit, die Angst und die lähmenden Hemmungen. Sie sah vernunftbegabte Tiere, bei deren Anblick sich die Götter abwendeten und ihr Antlitz verhüllten. Als Amorat sie rief, spielte ein leises Lächeln um ihre Lippen, denn sie wußte, ihre Zeit auf Arman war vorüber, und sie würde heimkehren. „Du hast mich belogen, Heilerin. Ihr ward zu zweit. Was sagen deine Götter dazu?“ „Sie zählen nicht die Lügen, denn sie kennen die Gründe und bewerten diese.“ „Gründe? Tatsachen zählen! Deine Freundin ist tot! Krähenfraß!“ „Sie war die Chance, die die Götter euch gaben, und ihr habt sie zerstört. Die Allmächtigen haben euch gestraft, und sie haben um euch geweint. Ihr habt es nicht bemerkt, und nun haben sie euch verlassen.“ „Sollen sie gehen! Ich habe ja noch dich, Heilerin, und ich werde dich auch behalten.“ –
Es war jetzt leicht, Arman zu verlassen. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages suchte Seelah am Flußufer Heilendes. Zufällig war Tieret mit den Kindern da und sorgte für deren Reinigung. Die Purpurnen, die Seelah bewachen sollten, wurden von den Knaben und deren wilden Streitereien abgelenkt. Von irgendwo kam die Aufforderung, und Seelah sprang in den Fluß. Sie schwamm unter der Oberfläche des Wassers und wurde von der kräftigen Strömung schnell davongetragen. Einige Speere, die ihr nachgeschleudert wurden, als sie auftauchte, um Atem zu holen, verfehlten sie. Die Gleichgewandeten, des Schwimmens nicht mächtig, blieben, ratlos am Ufer hin- und herlaufend, hinter ihr zurück. – Das kühle Element trug Seelah weit und schließlich zu einem dichten Gesträuch, in dem sie sich versteckte. In der Dunkelheit der Nacht erreichte sie unbehelligt die Berge des Schweigens und zwei Tage später die Stelle, an der sie Arman vor nicht langer Zeit betreten hatte. Seelah konnte es nicht glauben, aber noch immer war es früher Sommer. Uriel, der ihren Ruf gehört hatte, war da, und sein Nachen nahm sie auf.
D
er Fährmann hatte den Duft von Rosen und Jasmin mitgebracht, der ihn auch noch umspielte, als sie sich Tantenen näherten. Das Blütenaroma berührte Seelah tief und machte ihr bewußt, daß sie auch dies in Arman vermißt hatte. Schon von weitem sah sie die großen und kleinen Gestalten, die sich auf dem Steg und am Uferrand einfanden. Die Kinder winkten ihr zu und sangen ein Willkommenslied. Krista stand ganz vorn, aufgeregt und kaum fähig, Uriels Anlegemanöver abzuwarten, um Seelah als erste in die Arme zu schließen. „Daß du nur wieder da bist, Seelah!“ „Ach, Krista! Ich hatte solche Sehnsucht nach euch.“ Aber es war keine Zeit für lange Gespräche, denn Hannah, Heredita und Kagzissa wollten Seelah ebenfalls an sich drücken. Aradia hatte Zara einige Veilchen in die Hand gegeben, die er mit seinen dicken Fingerchen zerdrückte und nicht loslassen wollte. „Komm ins Haus“, lachte Aradia. „Wir haben ein Freudenmahl bereitet.“ Nach einer fröhlichen Mahlzeit setzten sich die Erwachsenen zusammen, um von Seelahs Erlebnissen zu hören. Immer wieder wurde sie von Fragen unterbrochen, mußte alles ganz genau schildern. Die Freude des Wiedersehens verschwand schnell aus den Gesichtern, wich kummervollen Mienen, Trauer und Tränen, als Seelah von Avas Tod berichtete. „Sie haben kein Herz und keine Seele“, urteilte Heredita, nachdem Seelah geendet hatte. „Sie blicken nicht über sich selbst hinaus und haben sich eine Hölle auf Erden geschaffen. Sie finden das Licht nicht mehr und leben in immerwährender Dunkelheit“, meinte Krista. „Wie in der Vision, die dir das Oraculum gezeigt hat“, erinnerte sich Hannah.
„Ja. Besonders schlimm war es für mich, zu erfahren, daß vieles von ihnen auch in mir steckt. Ihre Art brachte Saiten in mir zum Klingen, die mich zugleich faszinierten und erschreckten. Es ist mein… unser armanisches Erbteil. Es wurde in mir geweckt, ich habe es erkannt und muß nun lernen, es zum Besten zu lenken.“ „Was ist mit dem Auftrag der Götter, Seelah, deiner Suche nach dem Baum der Erkenntnis? Du hast ihn in Arman nicht entdeckt?“ „Ich habe ihn gefunden. Doch er wächst nicht in Arman, sondern hier…“ Seelah legte ihre beiden Hände auf ihr Herz. „Und ich habe von den Früchten des Bösen gegessen. Sie gedeihen in Arman zu voller Reife.“ „Die Früchte des Guten…?“ „… werde ich wohl in Lufus suchen müssen!“ „Nein! Du wirst uns nicht wieder verlassen!“ „Nicht sofort, Krista! Ich bin froh, daheim zu sein. Doch bedenke, mein Auftrag ist noch nicht erfüllt, und ich darf ihn nicht vergessen. Doch nun erzählt mir, was sich hier während meiner Abwesenheit alles ereignet hat.“ „Wir haben viel Arbeit, Seelah. Gleich nach deiner Abreise hat Uriel ebenfalls eine Weisung von den Göttern erhalten. Er soll ein Schiff bauen, groß genug für uns alle, für Tiere, Nahrung und Wasser.“ „Warum?“ „Das haben ihm die Götter nicht offenbart. Uriel hat sogleich damit begonnen, hohe Bäume in den lufusischen Wäldern zu schlagen, hierher zu bringen und zu bearbeiten. Wir helfen ihm alle dabei. Die Stämme liegen hinter dem Coven am Uferrand, und wir können nun bald den Rumpf des Schiffes zusammensetzen. Eine Anzahl von Planken haben wir auch schon angefertigt.“ „Seltsam, und ihr habt keine Ahnung weswegen?“
„Die Götter werden es uns zum richtigen Zeitpunkt mitteilen.“ „Ich werde euch helfen, solange ich hier bin. – Übrigens, was ist mit Wicca? Ich möchte sie gern sehen. Ist sie in ihrem Raum?“ „Sie ist sehr erschöpft, Seelah, sonst wäre sie heruntergekommen. Sie ist dir in Arman gefolgt, wann immer es möglich war, und das hat ihre Kräfte aufgezehrt. Doch sie erwartet dich.“ Besorgt trat Seelah in das kleine Gemach, das dem Himmel so nahe war. Wicca saß in ihrem hochlehnigen Stuhl und hielt die gescheckte Katze auf dem Schoß. Sie hatte geschlafen, öffnete aber nun die Augen und lächelte. „Kind! Nein…“, verbesserte sie sich, „… ein Kind bist du nun nicht mehr. Die Götter haben dich zu Großem ausgewählt, und du wächst deiner Aufgabe entgegen. Du hast uns auch die Wege nach Arman gebahnt, und ich habe seitdem Kontakt zu den Unsrigen dort.“ „Ava ist tot, Wicca.“ „Ich weiß, Seelah. Ich war bei ihr in jenen Augenblicken, und ein Teil von mir ist mit ihr gestorben. Du mußt nicht um sie trauern. Es war ihr Schicksal, und die Götter haben ihre Seele zu sich genommen.“ „Dinah ist noch in Arman, Wicca. Es ist gefährlich dort, sie sollte zurückkehren.“ „Sie ist ruhig und sagt, des Menschen Zeit dauert nicht ewig. Nicht das Wielange, sondern das Wie des Lebens sind für sie entscheidend. Sie wird ihren Platz in Arman nicht verlassen, will sich selbst und den Göttern nicht untreu werden.“ Seelah nickte. „Du hast viel erfahren, Seelah, über die Menschen und über dich selbst. Was ist deine wichtigste Lehre?“
„Ich glaube, daß ich mich selbst nicht so wichtig nehmen darf. Es liegt nicht in meiner Macht, alles zu durchschauen und zu verändern. Manches muß ich einfach aushalten lernen und dann auf diejenigen vertrauen, die unser Schicksal lenken. Ich habe früher oft mit meinem Los gehadert, habe die göttlichen Entscheidungen als ungerecht empfunden…“ „Und nun nicht mehr?“ „Doch… manchmal. Aber meine Gelassenheit ist größer geworden. Besonders Ava und Dinah haben mir dabei geholfen. Nie werde ich vergessen, daß Ava im Sterben gelächelt hat.“ – Die Tage auf Tantenen vergingen schnell, waren erfüllt von geschäftigem Leben. Täglich stieg Seelah in die Grotte hinab, entzündete den Göttern auf der Felsenplattform Kerzen und versenkte sich ins Gebet. Ihre leise Hoffnung, daß das Oraculum noch einmal sprechen würde, erfüllte sich jedoch nicht, und das Auge des Zeichens blieb geschlossen. – Bald war der Schiffsrumpf, auf wuchtigen Böcken stehend, zusammengefügt, und Seelah staunte, was Uriel und ihre Gefährtinnen in den wenigen Wochen alles vollbracht hatten. Sie ließ sich zeigen, wie von Baumstämmen Planken abgespalten wurden, und half nach besten Kräften. Auf ihren Handflächen bildeten sich von den rauhen Griffen der Werkzeuge bald Blasen. „So ist es uns anfangs auch ergangen“, meinte Krista, als sie lindernde Salbe auf das nässende Fleisch gab und Binden darum wickelte. „Später wirst du darunter nicht mehr leiden. Es bilden sich nicht nur Schwielen, sondern mit jedem Tag der Arbeit wachsen uns neue Kräfte und Geschicklichkeiten zu. Die Allmächtigen helfen uns so, ihren Auftrag zu erfüllen.“ Von seinen Fahrten nach Lufus brachte Uriel nun auch Tiere mit, größere und kleinere, von jeder Art ein Paar. Sie mußten
in angemessenen Gehegen und Käfigen untergebracht und versorgt werden. „So viel Arbeit“, stöhnte Krista manchmal. Aber sie strahlte dabei und war es zufrieden, weil ihr Schützling gesund zurückgekehrt war. Wann immer Wiccas schwindende Kräfte es zuließen, rief sie Seelah zu sich und gab ihr in vielen Jahren erworbenes Wissen weiter. „Wir streben nach Einheit zwischen den Gegensätzen“, erläuterte sie einmal. „Schon die Natur gibt uns diese Pole vor: männlich und weiblich, groß und klein, steigend und fallend, hell und dunkel, warm und kalt. Auch Mondgöttin und Sonnengott stehen für einige solcher Merkmale und Eigenschaften, aus denen sich unser Ich bilden muß. Sie ist abwartend, er vorwärts strebend, sie mild und still, er rauh und laut, sie nachgebend und nehmend, er fest entschlossen und gebend. Du kennst das…“ „Es erinnert mich an das Dreieck in der Grotte des Oraculums. Die unteren Winkel, die rechte und linke Seite kennzeichnen die verschiedenen extremen Möglichkeiten…“ „Und oben überragt sie das Ich des Menschen, das nicht in ihnen gefangen bleibt, sondern sinnvoll und weise verbindet, ausgestaltet und veredelt. Damit könntest du recht haben, Seelah. Ein Mensch, der diesen Punkt erreicht, hat zu seinem wahren Wesen, seinem Selbst gefunden, weiß um Richtung und Bedeutung.“ „Warum lehrst du mich das alles, Wicca?“ „Meine Zeit ist abgelaufen, Seelah. Die Götter rufen nach mir. Doch bevor ich mich ihnen hingeben kann, muß ich meine Verpflichtungen hier erfüllen und meine Kenntnisse jemandem hinterlassen.“ „Warum mir? Krista ist geeigneter… älter… erfahrener!“
„Gerade weil du noch jung bist, Seelah. Du wirst mit Hilfe der Götter, wachsender Demut, viel Mühe und Disziplin zur Erdenreife finden. Du wirst lernen und dein Wesen vervollkommnen, und auch du wirst dein Wissen an diejenigen, die nach uns kommen, weitergeben.“ „Ich bin schwach, Wicca, und ich habe Angst.“ „Wenn du mit dir eins geworden bist, werden auch dein Selbstvertrauen und deine Selbstsicherheit gewachsen sein.“ „Du erwartest viel von mir, Wicca, und ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen.“ – Ein anderes Mal sprachen sie über die Lufusier, und Wicca erzählte folgenden Mythos: Diejenigen der Menschen, die die Himmlischen nach ihrem Bild und Gleichnis prägten, waren schön, und ihren großen Augen blieb nichts, was im Himmel geschah, verborgen. Dies mißfiel den Göttern, sie verhüllten sich und legten den Blauäugigen Schleier auf die Augen. Seitdem können die Lufusier nur noch das klar sehen, was ihnen nahe ist. Sie begannen jedoch, nach dem Verlorenen zu suchen, und haben ihre Suche bis heute nicht aufgegeben. „Wie traurig“, meinte Seelah. „Sie suchen nach ihren Göttern?“ „Sie suchen nach allem, was sie nicht mit ihren Sinnen erfassen können. Sie bilden sich ein, alles erfahren zu können, und haben vergessen, daß den Menschen Grenzen gesetzt wurden. – Wenn du zu ihnen gehst, mußt du vorsichtig sein, Seelah. Es sind nicht die einzelnen Menschen, die dich in Lufus bedrohen werden. Es ist die Atmosphäre auf dem ganzen Kontinent. Jedermann läuft dort Gefahr, sich selbst zu verlieren.“ „Ich brauche mich nicht äußerlich anzugleichen?“ „Du kannst gehen, wie du bist. Aber ich warne dich nochmals, Seelah. Auch die Sylphen, die Geister der Luft,
konnten sich in Lufus ausbreiten, und du kannst ihren Verführungen nur durch feste Beständigkeit und Entschlossenheit widerstehen.“ Seelah zögerte ihre Abreise nach Lufus hinaus, konnte sich, vor allem wenn sie an Krista dachte, nicht zum Aufbruch entschließen. Sie half weiterhin beim Bootsbau und dabei, die Samensorten, die Uriel zusammentrug, in Tüten und Schachteln zu versorgen und zu beschriften. – Zu Neumond kamen wie üblich die hochschwangeren armanischen und lufusischen Frauen, und wieder war eine kleine Kreatur unter den Neugeborenen. „Vierzehn?“ Seelah war irritiert. „Uriel hat gesagt, die Zahl der Covenbewohner sei dreizehn!“ Wicca lächelte: „Er hat recht, Seelah. Es zeigt mir, daß ich den Göttern näher bin, als ich dachte. Wenn ich dir in Lufus noch folgen soll, dann mußt du bald aufbrechen.“ Auch Uriel drängte: „Wenn du gehen willst, dann geh jetzt. Wenn die Blätter sich färben, mußt du zurück sein!“
E
s wunderte Seelah, daß dieser warme, wasserreiche und fruchtbare Kontinent so spärlich besiedelt war. In den dichten Wäldern, an den langen Flußläufen und ausgedehnten Seengebieten wucherten die Pflanzen, wimmelte es von Tieren. Weshalb waren die Menschen nicht genauso gediehen? Was war mit ihnen? Was war mit Lufus, diesem Erdteil mit den zahlreichen Wasserflächen, der ihr vom Coven aus immer wie ein blauer Amethyst erschienen war? Hier im Land verschwand dieses Bild rasch aus ihren Gedanken. Das Klima hatte nichts von der kühlenden Glätte edlen Gesteins – im Gegenteil. Die Luft war schwül und von hoher Feuchtigkeit. Sie erschwerte das Atmen und machte das Gehen anstrengend. Die Stiefel mit den hohen Schäften, die sie auf Uriels Rat hin trug, scheuerten unbequem. Die Machete, mit der sie sich Breschen durch die Wälder schlagen wollte, schlug lästig auf ihrem Rücken. Sie schwitzte, und ein feuchter Film lag auf ihrer Haut. Im fernen Dunst tobten verschiedene Wetterleuchten und Gewitter, doch brachten sie keine erfrischenden Winde. Seelah hatte sich von Uriels Anlegeplatz aus nach Süden gewandt. In dieser Richtung, so glaubte sie, würde sie den Tempel Trugen und einige ihrer Geschwister finden. Aber hatte sie wirklich gedacht, dies sei der leichtere Weg? Was kam dann wohl erst auf sie zu, wenn sie sich einen Pfad durch den Regenwald nach Diabel bahnen mußte? Schon hier konnte sie keine Straßen, Wege oder auch nur Pfade ausfindig machen. Die üppige Pflanzenwelt hatte alle Spuren menschlicher Anwesenheit ausgelöscht. Als sie sich dem Flußlauf näherte, versanken ihre Füße im zähen Morast eines Schilfgürtels. Sie mußte den Wasserlauf überqueren, mußte eine Brücke, einen Steg finden und folgte ihm.
Mittags erreichte sie die Ruinen einer Ansiedlung und rastete dort. Sie saß auf den Steinen einer zerbröckelnden Mauer und streckte ihre müden Beine von sich. Das Gehen in dem moorigen und unbequemen Gelände hatte sie sehr erschöpft. Sie war dem Regenwald nun schon näher gekommen, und er schob seine gierigen Ausläufer vor, um sich weiteres Land zu erobern. Insekten, deren Lebensumfeld das Wasser war, rochen ihren Schweiß, schwirrten um ihren Kopf, setzten sich auf ihre Arme. Sie schlug nach ihnen, konnte sie aber nicht abwehren. Trotz der Hitze mußte sie sich ihren Umhang umlegen und sich die Kapuze über den Kopf ziehen, um sich wenigstens etwas zu schützen. Entmutigt machte sie sich schon bald wieder auf den Weg, und die Stunden des Nachmittags schleppten sich dahin. Als es Abend wurde, ging sie unter Bäumen und kämpfte mit Gesträuch. Sie hatte bisher keine Möglichkeit gefunden, an das andere Flußufer zu gelangen. Gern wäre sie geschwommen, doch durch das Wasser glitten große Wasserschlangen, deren giftigen Biß sie fürchtete. Lufus schien sie abzuweisen, sich gegen ihr Eindringen zu wehren. Der Kampf zerrte an ihren Kräften, und sie war den Tränen nahe. Noch vor Einbruch der Dunkelheit trug sie mit letzter Kraft dürre Zweige und Äste zusammen und entzündete ein qualmendes Feuer, um wilde Tiere fernzuhalten. Sie suchte die Stelle, auf der sie sich zum Schlafen niederlegen wollte, nach Ungeziefer und Kleintieren ab und fiel in einen unruhigen Schlaf. Die nächtlichen Laute der lufusischen Tierwelt waren ungewohnt, weckten sie immer wieder, und sie lauschte wiederholt, vermeinte das Rufen der Sylphen zu hören. Der zweite Tag führte sie weiter westlich, fort von Trugen und ins Landesinnere. Rechter Hand war der Rand des Regenwaldes ihr ständiger Begleiter. Sie wußte noch immer
nicht, wie sie über den Fluß gelangen sollte, und überlegte, ob es sinnvoll sei, einfach weiterzugehen. Doch sie hatte keine Wahl! – Die erste Begegnung mit einem Menschen traf sie unvorbereitet. Die Lufusierin saß bewegungslos, verschmolz mit den Schatten ihrer Umgebung, und Seelah erschrak, als sie unvorbereitet vor ihr stand. Die Frau konnte noch nicht alt sein, doch ihr Zustand war erbärmlich. Fetzen ehemaliger Gewandung umhingen ihren abgemagerten Körper. Die bleiche Haut war von eitrig schwärenden Pusteln übersät. Die Schädeldecke war unter den wenigen langen Strähnen weißen Haares deutlich zu sehen, und die wirren Augen, in denen der Wahn flackerte, lagen tief in ihren Höhlen. Sie hatte die eingefallenen Wangen einer alten Frau, und als sie Seelah anlächelte, war zu sehen, daß sie kaum noch Zähne besaß. „Schau“, nuschelte sie. „Er ist zu mir gekommen.“ Sie deutete in einen tiefen Einschlagskrater, in dem einer der Himmelssteine lag. „Ich habe ihn ausgegraben…“, sie hielt ihre knochigen Hände hoch, „… ihn gewaschen und gesalbt. Ich versorge ihn, schütze ihn vor Regen und Sonne, hülle ihn in Blätter und leiste ihm Gesellschaft. Er kommt vom Himmel. Er hat Macht. Er spricht zu mir…“ „Er wird Euch töten“, unterbrach Seelah erschrocken. „Auch in Arman ist solches Gestein eingeschlagen. Es vergiftet die Umgebung, macht die Menschen krank. Es ist nichts Gutes an ihm. Kommt mit mir! Fort von hier!“ Sie sprach eindringlich, flehend, faßte die Lufusierin am Oberarm und wollte ihr auf die Füße helfen. Das Gesicht der Frau verzerrte sich, und wütend begann sie nach Seelah zu treten. „Hau ab!“ zischte sie. „Du willst ihn für dich.“ „Bitte…“
Die Lufusierin wankte auf die Beine, ergriff einen abgebrochenen Ast und schlug nach Seelah. „Verschwinde! Du bekommst ihn nicht, meinen Himmlischen.“ In hohen Tönen keifend, fuchtelte sie unkontrolliert mit dem Stock herum. Seelah duckte sich unter den schmerzhaften Hieben und versuchte ihnen zu entgehen, indem sie – zuerst zögerlich, dann im Laufschritt – floh. Die Frau, die in ihrem Zorn unerwartete Kräfte entwickelte, folgte ihr noch eine ganze Weile, ehe sie von ihr abließ. „Komm nicht zurück“, schimpfte sie hinter Seelah her. „Niemand wird mir meinen Gott nehmen oder mich von ihm trennen. Er ist mein! Hörst du! Mein eigen!“ Seelah konnte sich nur schwer dazu entschließen, ihren Weg fortzusetzen und die Lufusierin zurückzulassen. Doch was konnte sie tun? Sie hatte gespürt, wie tief der Irrsinn die Frau ergriffen hatte, daß deren kranker Seele nicht mehr zu helfen war. „Sie wird unnötigerweise, aber zufrieden sterben“, dachte Seelah. „Sie hat einen sichtbaren Gott gesucht, und sie hat einen gefunden.“ Doch war dieser fehlgeleitete, selbstzerstörerische Glaube nicht genauso hoffnungslos wie die Gottlosigkeit der Armaner? Die Lufusierin würde es nicht so empfinden, sie war glücklich. Doch Seelah sah es so.
Nachmittags zwang sie ein aufziehendes Gewitter unter das schützende Blätterdach der Urwaldriesen und hielt sie dort bis zur Nacht fest. Allmählich verzagte Seelah, zweifelte, ob ihr Vorgehen richtig sei. Wie sollte sie je über diesen Fluß gelangen? Wäre es nicht besser, zunächst davon abzusehen, nach Trugen zu gelangen und sich einen Weg durch den Regenwald nach
Diabel zu bahnen? Sie mußte sich bald auf der Höhe dieses zweiten Tempels befinden. Müde lehnte sich Seelah mit dem Rücken an einen Baumstamm, kauerte sich unter ihrem klammen Umhang zusammen, nickte ein… Sie irrte durch die Wildnis. Hier und da drangen Sonnenstrahlen in das Dunkel des Grüns, doch das Blätterdach war zu dicht, als daß sie das Gestirn hätte erkennen und sich an seinem Stand orientieren können. Sie hatte den Eindruck, im Kreis zu laufen. Diese Liane hier, jenes Gesträuch dort hatte sie doch schon vor Stunden gesehen? Sie fiel auf die Knie, brach in Tränen aus, wußte nicht weiter… Gelächter drang in ihre Ohren, luftige Hände zogen an ihren Haaren, trieben sie auf die Füße, ließen sie vorwärts stolpern… „ Wicca!“ rief sie hilfesuchend, und die Antwort kam ruhig: Beharrlichkeit… Beständigkeit… Morgens hatte das Unwetter sich ausgetobt, und Seelah folgte weiter dem Flußlauf, entschlossen, ihr ursprüngliches Vorhaben nicht aufzugeben. Nun, da sie sich entschieden hatte, fühlte sie sich besser, und die Sonne, die durch die Wolkendecke kroch und die Feuchtigkeit aus ihren Gewändern zog, verstärkte das gute Gefühl. Schon bald nach ihrem Aufbruch sah sie den entwurzelten Baum, der sich quer über den Fluß gelegt hatte und eine natürliche Brücke bildete. Es war keine Kunst, über den breiten Stamm zu balancieren, über einige Äste zu klettern und an das andere Ufer zu gelangen. Freudig sang es in ihr: „Beharrlichkeit! Beständigkeit!“, und ermutigt wanderte sie in östlicher Richtung weiter. Dann stieß sie auf die erste Ansiedlung. Das Dorf bestand aus einer Anzahl einfacher, runder, blätterbedeckter Lauben. Sie gruppierten sich um einen langblättrigen Baum, der Büschel
roter Früchte von sich warf. Die Dorfbewohner sammelten sie eifrig auf, hängten sie zum Trocknen auf hölzerne Gerüste und taten sich an ihnen gütlich. Es war eine muntere Schar, in die Seelah geraten war. Sie wurde willkommen geheißen und aufgefordert, ebenfalls von dem Obst zu essen. Seelah zögerte, sah aber die Vögel, die den Baumwipfel anflogen, um sich von den Beeren zu holen, war beruhigt und griff zu. Sie konnten nicht schaden, wenn selbst die Tiere mit ihrem sicheren Instinkt von ihnen fraßen. Die Früchte waren überreif, zerplatzten schon auf den Lippen und hatten einen frischen, leicht säuerlichen Geschmack. „Wie nennt ihr das Obst?“ erkundigte sie sich. „Es schmeckt gut.“ „Fluchton“, antwortete der Angesprochene. „Nach den Beeren wurde der Ort hier benannt. Sie sind unser Hauptnahrungsmittel. Wir sammeln jetzt, in der Zeit der Ernte, einen Vorrat für das ganze Jahr. Wir lieben die Früchte, sie machen gute Gedanken.“ „Gute Gedanken?“ „Eßt, Ihr werdet sehen.“ Doch Seelah war nun vorsichtig geworden, tat nur, als ob sie esse, und beobachtete die Dorfbewohner. Je weiter der Tag fortschritt, desto langsamer wurden sie bei ihrer Arbeit. Es schien ihnen zusehends schwerer zu fallen, Arme und Beine im Gleichklang zu bewegen, und schließlich stellte auch der letzte von ihnen seine Bemühungen ein und setzte sich unter den Baum. Sie fuhren fort, Beeren zu essen, und in ihre Gesichter trat ein Ausdruck der Seligkeit. Ihre Augen wurden leer, die Gespräche verstummten, und jeder saß mit sich allein, lächelnd, bis er schließlich einschlief. – Morgens erwachten sie fahrig, unruhig, zornig, einige klagten über Schmerzen im Kopf und in den Gliedern. Das legte sich, als sie einige der
Früchte gegessen hatten, und sie begannen erneut damit, das Obst aufzulesen und zum Trocknen aufzuhängen. Während sie ihnen half, nutzte Seelah die Gelegenheit und stellte einige Fragen: „Was erlebt ihr, wenn ihr genug von Fluchton gegessen habt?“ „Ich sehe Farben und höre Musik“, schwärmte eine Lufusierin. „Das ist gar nichts“, schaltete sich eine zweite ein. „Ich werde zu einem Mondstrahl, der durch die Nacht fliegt.“ „Ich sehe die Blätter wachsen und das Leben in ihnen fließen“, freute sich ein Jüngling. „Die Früchte machen froh. Das Leben ist so leicht mit ihnen. Sie nehmen die Sorgen, die Ängste, allen Kummer. Sie schenken Glück.“ „Glück?“ „Du siehst nicht sehr fröhlich aus! Du solltest mehr von ihnen nehmen“, empfahl er. Glück? Seelah überlegte, wann sie glücklich gewesen war. Glück war eine ganz besondere Empfindung für sie. Ein Gefühl, das geschenkt wurde. Es kam unverhofft zu ihr: beim Anblick von leuchtenden Blüten, bei der Erinnerung an unvergeßliche Kindheitserlebnisse, beim Duft der Sommerwiesen, beim Gefühl einer streichelnden Hand, als Belohnung, wenn sie ein lang angestrebtes Ziel erreicht hatte. Ihr Glücksempfinden war eng mit ihrer Person, ihrem Leben verknüpft. Sie war überzeugt, daß jedermann Glückserfahrungen kannte, fragte sich jedoch, was das für ein Glück sei, das man allein durch das Essen von Früchten herbeirufen könne. War das wirklich Glück? War es nicht Taumel, herbeigeführt durch eine Betäubung der Sinne, durch einen Rückzug aus der Umgebung und von sich selbst? Seelah sah die abwesenden Augen vom vorherigen Abend noch vor sich. Ein wildes Tier hätte in dieses Dorf einfallen und einen
von ihnen zerreißen können. Sie hätten es nicht bemerkt! Es hätte sie nicht berührt! Sie wären weiterhin… glücklich?… gewesen. Seelah schlang die Arme um sich, um die Gänsehaut abzuwehren, die sie überlief. Diese Stätte entmenschlichten Glücks würde sie umgehend verlassen müssen. Doch zunächst drängten noch Fragen in ihr und verlangten nach Antwort. Sie hielt eine der lächelnden Frauen auf: „Ich sehe hier nur wenige Kinder und keine alten Menschen. Wieso?“ „Wir müssen vorsichtig sein“, meinte die Lufusierin und steckte sich einige der Beeren in den Mund. „Man darf sie nicht im Übermaß genießen. Wer zuviel von ihnen ißt, kann keine Kinder zeugen und wird nicht alt.“ „Ihr bezahlt zuviel für euer Glück!“ rief Seelah. „Der Preis für Fluchton ist zu hoch!“ Sie sah in gleichgültige Augen, die sich bald wieder auf die Früchte richteten, und floh.
S
eit Ewigkeiten dröhnten rhythmische Trommelschläge durch die schwüle Luft und machten Seelah nervös. Sie war gereizt und ungeduldig, als sie über die ausgestreckten Beine des Lufusiers stolperte und beinahe gefallen wäre. Er richtete sich auf und schaute sie verwirrt an: „Wo sind wir?“ „Kurz vor Trugen“, antwortete Seelah, bemühte sich um Beherrschung und um Freundlichkeit. „Verratet mir, wer Ihr seid!“ „Ich bin… Ich habe es vergessen.“ „Warum liegt Ihr hier?“ „Ich fühle mich nicht wohl in dieser Welt. Manchmal träume ich, ich sei ein Baum und könnte in ihr Wurzeln schlagen, doch ich habe noch keinen Platz gefunden, an dem mir das möglich war. Darum habe ich mich hierher gelegt, lasse meinen Geist treiben und betrachte sie nur noch.“ „Was erfahrt Ihr dabei?“ „Nichts. Ich schaue.“ „Geht es Euch gut?“ „Mein Körper ist lästig. Er will essen und trinken, sich bewegen und schlafen. Ich versuche ihn zu vergessen. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll… was ich tun muß, damit er Ruhe gibt.“ „Kann ich etwas für Euch tun?“ „Auch Ihr seid lästig… geht fort… gebt Ruhe.“ Seelah entsprach seinem Wunsch und entfernte sich schweigend. Bald sah sie, was vor ihr lag. Es war mehr als ein Tempel. Trugen war ein Tempelbezirk, eine ummauerte Festung, die auf einem Hügel im Zentrum einer Stadt lag. In den engen Gassen, zwischen den flachen Lehmhütten lag eine brütende Hitze, und es fiel ihr schwer, die Beine zu heben. Sie wunderte sich zunächst, niemandem zu begegnen, sagte sich dann aber,
daß sich die Menschen wohl aus der Sonnenglut in den Schutz der Gebäude zurückgezogen hätten. Als sie den Fuß des Hügels erreichte, wurde sie eines Besseren belehrt. Auf dem Hang, vor dem schweren Zugangstor, drängten sich Lufusier aller Altersgruppen dicht an dicht. Auf einem der Türme, die rechter und linker Hand des Tores in die Höhe strebten, erschien ein in kräftiges Rot gewandeter Lufusier. Er beugte sich zu dem Trommler herunter, und die dröhnenden Schläge setzten aus. In der eintretenden Stille konnte Seelah das ehrfurchtsvolle Raunen verstehen, das durch die versammelte Menge lief: „Ruschhaft! Der Oberpriester selbst!“ Der Priester hob gebieterisch seinen Arm, das Flüstern verstummte, und nach langen Augenblicken der Spannung erklang seine kräftige Stimme: „Die Sünder haben sich innerlich gereinigt. Sie haben vierzig Tage im Angesicht Nuts gebetet und gefastet. Jetzt werden sie sich äußerlich läutern.“ Drei ausgemergelte Gestalten in Lendenschurzen taumelten auf die Plattform des zweiten Turmes. Sie trugen Geißeln und begannen, sich die harten Lederriemen mit aller Kraft auf die Rücken zu schlagen. Die Haut platzte, und blutige Striemen sprangen auf. Ruschhaft stimmte einen Gesang an, in den die Zuschauer einfielen. Immer das gleiche Wort… Nut… Nut… Nut…, monoton, begleitet vom dumpfen Schlag der Trommel, aufpeitschend. Nut… Nut… Nut! Im Rhythmus des Gesanges klatschten die Geißeln auf die blutüberströmten Körper der Büßer. Sie ließen sich gegenseitig nicht aus den Augen, schienen einen Wettkampf miteinander auszutragen. Nut… Nut… Nut! Die Frau war die erste, deren kraftloser Hand die Peitsche entfiel, die zusammenbrach. Nach einigen weiteren
Schlägen stürzten auch die Männer. Die Trommel verstummte, und Ruschhafts Stimme erhob sich noch einmal: „Die Göttin hat ihnen vergeben!“ „Sollte Nut so grausam sein?“ fragte sich Seelah, während die Menge jubelte und begann auseinanderzulaufen. Oben auf dem Turm erschienen blaugekleidete Gestalten und trugen die gemarterten Körper fort. Seelah wartete geduldig eine Weile und näherte sich dann dem Tor, um den Tempelbezirk zu betreten. Eine Wache hielt sie auf: „Was wollt Ihr?“ „Im Tempel beten.“ „Hier dürfen nur Priester, Gottesdiener und Büßer hinein. Wollt Ihr büßen?“ „Nein.“ „Dann macht, daß Ihr fortkommt!“ Ratlos verließ Seelah den Hügel und lief orientierungslos durch die schmalen Straßen der Stadt. Wie sollte sie nur in den Tempel gelangen und etwas über ihre Geschwister erfahren? Sie kam an Läden und Werkstätten vorbei, doch nur wenige waren geöffnet, nur in einigen wurde gearbeitet. Von fern hörte sie Gelächter und Gesang, folgte den Klängen der Lebensfreude und geriet in ein Viertel des Verfalls, in dem von manchen Gebäuden nur noch die Wände standen. Die Menschen saßen auf den Straßen, zwischen dem Unrat oder tanzten zu Lautenklängen selbstvergessen vor sich hin. Ein junger Lufusier eilte auf Seelah zu, nahm sie in die Arme, hieß sie überschwenglich willkommen und drängte sie auf eine wackelige Bank. Er stellte sich vor sie, zog eine Rolle auseinander, begann vorzulesen, und sie hörte aufmerksam zu. „Was ist das?“ erkundigte sie sich gespannt, als er kurz unterbrach, um eine weitere Rolle zu öffnen. „Gedichte! Meine Gedichte!“
Es waren schöne Worte, die er vortrug, berauschende Worte von großem Klang… nur, sie hatten keinen Sinn. Es störte ihn nicht, als Seelah ihn verließ… er schien es nicht einmal zu bemerken. – Vor einer Hauswand stand eine Lufusierin und hielt einen schweren Pinsel in der Hand. Von Zeit zu Zeit tauchte sie ihn in einen der Töpfe, die um sie herum auf dem Boden standen, und setzte einen Farbklecks auf die Fläche. Dann stand sie wieder ruhig, lange versunken in die Betrachtung der bunten Tupfer. „Was macht Ihr?“ sprach Seelah sie an. „Ich schaffe.“ „Das sehe ich, aber was wird es für ein Bild werden?“ „Wie soll ich das wissen? Ich bin Künstlerin! Es malt aus mir!“ Ein Ruf der Freude lenkte Seelah ab: „Ich kann es! Ich fliege!“ Ein Knabe stürzte sich vom flachen Dach eines niedrigen Hauses, schlug hart auf die Erde, blieb bewegungslos liegen. „Helft! So helft doch!“ rief Seelah und lief auf ihn zu. Sie war die einzige, die herbeieilte und sich über den Jungen beugte. Hirn war nichts geschehen. Er schaute sie an und lächelte verträumt. Sie erkannten einander sofort! Als Seelah sich von dem Knaben abwandte und weitergehen wollte, schaute sie in Harvels grüne Augen. Sie lachten sich an und stellten sich vor. „Komm fort von hier“, sagte Harvel und nahm sie bei der Hand. „In dieser Gegend sollte man sich nicht zu lange aufhalten. Hier ist alles in Auflösung begriffen. Ich nenne es das Viertel der Illusionen.“ Eine Grauhaarige stellte sich ihnen in den Weg und verlangte ihre Handflächen zu sehen: „Ich lese die Zukunft aus ihnen.“
„Kein Mensch kann die Zukunft kennen“, antwortete Seelah. „Das ist ein Vorrecht der Götter. Wir können sie höchstens erahnen. Wenn wir aufmerksam sind und uns auf einem Hügel im Land der Zeit befinden, können wir vielleicht einen kleinen Blick ins Voraus, ins Übermorgen werfen. Aber nur dann! In den Händen steht es nicht geschrieben!“ „Laß, sie versteht das nicht!“ riet Harvel und zog Seelah weiter. „Ich bin die Götter!“ rief die Alte ihnen nach, unternahm aber keinen Versuch zu folgen. – Sie suchten und fanden einen ruhigen Platz am Fuß des Hügels, ließen sich nieder und nahmen einander in Augenschein. Harvel trug ein Kleid in dem tiefen Ultramarin, das Seelah schon auf dem Tempelturm gesehen hatte. Harvel bemerkte Seelahs musternde Blicke und beantwortete die ungestellte Frage: „Das ist die Farbe der Gottesdiener. Die Priester schreiben sie uns vor. Sie soll uns ruhig halten, unser Wachstum, unsere Entwicklung hemmen, uns isolieren. Sie kennzeichnet auch unsere Stellung im Tempel. Wir sind Eigentum der Götter. Wir stehen an der Grenze. Nach diesem Blau kommt im Farbenkreis nur noch Schwarz, das Ende des irdischen Lebens, der Fall ins Unbekannte. Doch hat die Farbe auch ihr Gutes, denn sie lindert unsere Schmerzbereitschaft.“ „Ich habe den Priester Ruschhaft gesehen, er trug Rot.“ „Die Priester haben eine andere Stellung als die Gottesdiener. Sie sind die Herren, haben die Macht der Entscheidung und sind deshalb oft hochmütig. Ruschhaft ist gefährlicher Selbstvergottung verfallen, glaubt, die Göttin spricht durch ihn. Das Rot ihrer Gewänder gibt den Priestern Feuer und Hitze. Es fördert ihre Erregung, treibt sie an. Doch sie nutzen diese Energien nicht im guten Sinn. Sie lehnen das Lebende ab und zerstören es.“ „Das hört sich schrecklich an!“
„Es ist schrecklich.“ „Aber ich bin hierhergekommen, um das Gute zu suchen.“ „Das Gute?“ Seelah erzählte Harvel vom Auftrag der Götter, von ihren Erlebnissen in Annan und dem Zweck ihrer Reise nach Lufus. Harvel hörte intensiv zu und meinte dann traurig: „Lufus ist ganz anders als Arman. Die Menschen hier halten nicht verzweifelt am Erdenleben, an den Dingen fest, im Gegenteil. Doch die Früchte des Guten habe ich hier auch noch nicht gefunden. Ich kann mich natürlich irren, aber du wirst es selbst sehen.“ „Ich suche meine Geschwister, Harvel. Es sind Austauschkinder von den Armanern. Der Knabe heißt Egost, die Mädchen Aske, Illussi und Emosa. Sie wurden vermutlich in die Tempel gebracht.“ „Eine Gottesdienerin namens Emosa ist hier, Seelah. Sie ist noch jung, etwa elf Jahreskreise alt…“ „Das könnte sie sein! Kann ich sie sehen? Wie komme ich in den Tempel?“ „Das ist nicht schwer, Seelah. Du mußt nur das blaue Gewand der Gottesdiener tragen, und schon kannst du den Tempelbezirk nach Belieben betreten und verlassen. Ich kann dir so ein Kleid bringen.“ „Aber ich sehe anders aus als sie. Meine Augen, meine Haare, meine Gestalt… werden sie daran nicht Anstoß nehmen?“ „Damit hatte ich nie Schwierigkeiten. Sie sehen dich nicht richtig an, Seelah. Das blaue Gewand reicht, um sie in dem Glauben zu wiegen, alles sei in Ordnung.“ „Wenn es so einfach ist, dann besorge mir doch so ein Kleid, und ich werde dich begleiten!“ Harvel zögerte eine Weile und sagte dann vorsichtig:
„Es ist nicht ungefährlich, Seelah. Betrittst du den Tempel als Gottesdienerin, unterwirfst du dich der Willkür der Priester. Was sie in ihrem Wahn beschließen, wird an dir vollzogen. Es kann dich das Leben kosten!“ „Du lebst doch auch im Tempelbezirk.“ „Ja! Doch die Götter haben mich bisher behütet.“ „Sie haben auch mir ihren Schutz versprochen… ich werde mit dir gehen.“
E
s war eine weitläufige Anlage innerhalb der Mauern, die neben dem Tempel der Nut noch zahlreiche Gebäude für Menschen und Vieh barg. Die Priester hatten sich hier eine eigene Welt geschaffen. Harvel führte Seelah herum und erklärte: „Hier ist ein Haus, in dem die Priester leben, die nicht mehr am Geschehen der Außenwelt teilnehmen.“ Seelah blickte durch einen schmalen Belüftungsspalt und sah eine Anzahl rotgewandeter Menschen auf steinernen Bänken sitzen und liegen. Sie hielten die Augen geschlossen, rührten sich nicht und schienen selbst das Atmen eingestellt zu haben. „Sie befinden sich in Trance, gehen den spirituellen Weg, suchen Erfahrungen in anderen Dimensionen. Sie sind sich selbst genug und für diese Welt nicht mehr von Nutzen.“ „Es ist sehr selbstsüchtig, sich so zurückzuziehen.“ „Sie können nicht mehr anders. Sie sehen keinen Sinn in den weltlichen Aufgaben und haben die einfachsten Fähigkeiten verlernt. Du bemerkst den unangenehmen Geruch? Sie wissen sich nicht mehr zu waschen und zu kleiden.“ „Wer sorgt für sie?“ „Ruschhaft hat einige der Gottesdiener auf sie verpflichtet. Sie sollen die Priester nähren und pflegen. Doch häufig werden sie vergessen und sterben deshalb.“ „Das tut mir leid.“ „Sie werden dein Mitleid nicht empfinden und benötigen. Sie sind zu fern.“ „Wo sind sie?“ „Sie verirren sich in Einbildungen, in Phantasien. Manche meinen, die Götter gefunden zu haben… Aber kein Lebender kann zu den Göttlichen gehen, kann den Zugang erzwingen. Es ist ein Geschenk, wenn die Allmächtigen zu den Lebenden kommen.“ „Kann man den Priestern nicht begreiflich machen…“
„… daß sie ihr Leben verschenken? Daß sie die Gaben, die die Götter ihnen schenkten, verkümmern lassen? Daß sie ihrer Bestimmung trotzen? Nein! Sie folgen ihren Gefühlen, du kannst sie mit Argumenten nicht erreichen. Ebensowenig wie die asketischen Priester.“ „Was ist mit denen?“ „Auch sie haben sich vom Leben zurückgezogen. Doch sie sind in einem anderen Gebäude untergebracht. Sie versuchen es mit Beten und Fasten. Sie zerstören ihren Leib dabei. Ich denke, daß sie ihn verachten, ihn hassen.“ „Hier ist doch ein Tempel, Harvel! Es sollte eine Stätte des Dienens sein. Ein Ort des Dienstes an den Göttern und damit auch an den Menschen. Aber es ist…“ „… ein Ort der Zerstörung.“ – Ihr Weg führte sie an einem Schilfdach, das auf mächtigen Pfosten ruhte, vorbei. Seelah sah darunter einen ausladenden, schiefergrauen Felsen und trat heran. Harvel folgte ihr nur langsam. Es war ein Opferaltar. In den Abflußrinnen fanden sich noch Spuren von Blut. „Und sie meinen auch noch, es würde die Götter erfreuen, wenn sie Tiere schlachten? Wenn sie sinnlos Lebendes töten, das die Götter den Menschen zum wohlbedachten Nutzen gaben?“ ärgerte sich Seelah. Sie erhielt keine Antwort. „Was ist mit dir, Harvel? Was ist los?“ Harvel blickte sie nicht an, sondern schaute mit verschleierten Augen ins Nichts. Seelah ergriff eine schreckliche Angst, ein Entsetzen, das ihr die Sprache nahm: „Nein!… Du meinst…“ Harvel nickte jetzt, suchte beklommen ihren Blick. „Nein!… Das kann… Das darf nicht…“
„Bei jeder Sonnenwende, Seelah, und vor jeder wichtigen Entscheidung. Sie glauben, es würde die Göttlichen gewogen stimmen… Es trifft die Gottesdiener… Dein Bruder…“ „Egost?“ „Sie haben ihn vor zwei Jahreskreisen geschlachtet. Er war sehr stolz, ausgewählt zu werden.“ „Nein!“ Harvel nickte erneut: „Es tut mir so leid, Seelah.“ „Wie hältst du es hier aus, Harvel. Hier, wo man den Göttern so fern ist?“ „Ich werde es dir zeigen, Seelah. Du wirst verstehen… Doch nicht mehr heute, morgen. Es wird zuviel. Du hast alle Farbe verloren.“ „Emosa?“ „Morgen, Seelah.“ Harvel führte Seelah in ein Gebäude, in dem Heu für die Tiere gelagert wurde. Als Seelah sich in das duftende, weiche Gras setzte, bemerkte sie erst, wie erschöpft sie war. Doch sie konnte ihre Gedanken nicht von der Opferstätte lösen. „Wie machen sie es?“ „Seelah, nicht jetzt!“ „Bitte, Harvel, ich muß es wissen!“ „Die Opfer knien auf dem Altar nieder, und Ruschhaft schneidet ihnen die Kehle durch. Das Blut wird aufgefangen und auf die Festungsmauern gestrichen, um Dämonen abzuwehren. Wenn die Opfer ausgeblutet sind, werden sie ausgeweidet. Man betrachtet die Innereien, hält ihr Aussehen für ein Omen, das über die Zukunft des Tempels Auskunft gibt. Zuletzt wird alles Fleisch verbrannt, damit der Rauch, der zum Himmel steigt, den Göttern Kunde vom Opfer gibt.“ „Gottesdiener?“ „Nur diese… vorwiegend solche, die an der Schwelle zum Erwachsenenalter stehen.“
„So jung? Sie müssen sich entsetzlich fürchten. Die Ängste… Allein die Vorstellung ist so grauenhaft.“ „Viele gehen freiwillig, freudig. Sie waren seit Säuglingstagen den Einflüsterungen des Oberpriesters ausgesetzt und wollen sich göttlichen Anordnungen nicht widersetzen. Aber sei beruhigt, ich helfe ihnen, Seelah. Du kennst die Kräuter. Sie sind nicht mehr bei sich, wenn es soweit ist. Sie empfinden es nicht mehr…“ „Dank den Göttern, daß du hier bist, Harvel.“ „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, sie in ihrer großen Stunde zu betäuben… – Doch laß uns jetzt von anderem sprechen, Seelah. Außerdem mußt du etwas essen und trinken. Warte, ich hole ein wenig.“ Seelah mochte die Speisen nicht anrühren, doch Harvel zuliebe aß sie einige Stückchen Brot und Fleisch und eine Handvoll Beeren. Dankbar war sie für den kräftigen Wein und leerte den Becher in einem Zug. Harvel schenkte ihr nach. „Hat du deine Eltern kennengelernt, Harvel, oder deine Geschwister?“ „Nein. Sie lebten nicht mehr, als ich hierher fand. Aber ich konnte einiges über sie erfahren. Sie wohnten in einem Gebäude der Stadt und waren wohl Krämer.“ „Was ist mit ihnen geschehen?“ „Sie sind dem Wahnsinn verfallen. Mein Bruder hat sich selbst und alle Familienangehörigen getötet. Man fand bei ihnen entsprechende Gegenstände, und ich nehme an, sie sprachen mit Geistern und suchten den Zugang zum Totenreich. Es hat sie geholt.“ „Oh, Harvel!“ „Laß es gut sein, Seelah. Es ist lange her, und ich habe sie nie gekannt.“ Als Seelah vom Wein müde wurde, ließ Harvel sie allein, war aber schon beim ersten Tageslicht wieder bei ihr, und sie
nahmen gemeinsam das Morgenmahl ein. Danach bat Seelah darum, zu Emosa geführt zu werden. Harvel versuchte, Seelah auf die Begegnung vorzubereiten: „Du brauchst dir keine Sorgen um deine Schwester zu machen, Seelah. Sie ist auf ihre Art glücklich.“ „Was heißt auf ihre Art, Harvel?“ „Nun, sie sieht nur das von der Welt, was sie sehen möchte. Sie nimmt nur die angenehmen Seiten wahr und träumt den Rest hinzu.“ „Du meinst, sie ist wirr?“ „Das kann so einfach nicht bejaht werden, Seelah. Es macht Emosa sehr zufrieden, so durch das Dasein zu gehen. Ihr Wesen ist nicht fähig, sich allen Tatsachen der Wirklichkeit zu stellen, und so ignoriert sie, was Anstrengungen und Mühen verursachen, was belastend sein könnte. Du findest diese Einstellung zum Leben bei vielen Menschen hier. Die Auseinandersetzung mit Anforderungen wird gemieden, findet nur statt, wenn es gar nicht anders geht.“ „Emosa ist doch eine Gottesdienerin und hat, wenn ich dich recht verstanden habe, Pflichten im Tempelbezirk. Wie kann sie ihnen da nachkommen?“ „In dieser Hinsicht ist auf alle Gottesdiener, ja auf alle Lufusier wenig Verlaß. Gelegentlich erinnern sie sich an ihre Aufgaben und kommen diesen nach, aber häufig auch nicht. Doch was ich dir eigentlich sagen wollte: Emosa ist momentan etwas schwach. Man hat die Knaben und Mädchen ihres Alters vor einigen Tagen beschnitten.“ „Hier werden Beschneidungen durchgeführt?“ „Die Priester sind der Ansicht, daß das Paarungsverhalten und die damit verbundenen Freuden unrein machen, beschmutzend sind. Sie meinen, es sei eine animalische Prozedur, des geistigen Menschen unwürdig. Sie wollen die
Götter damit nicht beleidigen und lassen deshalb Unbeschnittene für den Dienst an den Allmächtigen nicht zu.“ „Die Götter sollen beleidigt sein, wenn die Menschen von den Organen, die sie ihnen gegeben haben, Gebrauch machen und dadurch Genüsse empfinden? Halten die Priester die Allmächtigen für so kleinlich? Es ist doch eher das Gegenteil der Fall. Die Göttlichen werden erzürnt sein, wenn die Menschen ihre Gaben verschmähen. Zudem gaben sie den Menschen den Auftrag, sich zu vermehren, und sie haben die Priester und Gottesdiener nicht davon ausgenommen!“ „Ich sehe das auch so, Seelah, doch sind die Denkgewohnheiten und Sitten in Trugen andere. Nun komm zu Emosa.“ Die Beschnittenen waren in einem kleinen, steinernen Gebäude untergebracht, und während Harvel sie mit schmerzlindernden Tränken versorgte und den Heilungsprozeß der Wunden überprüfte, näherte sich Seelah ihrer Schwester. Das schmächtige Kind saß versunken auf einem Schemel am Fenster und blickte hinaus. Seelah kniete sich neben sie. „Guten Tag, Emosa. Ich bin deinetwegen hierhergekommen. Ich wollte dich sehen, denn wir gehören einer Familie an. Ich bin deine Schwester. Ich heiße Seelah.“ Als die Kleine sich nicht rührte, sprach Seelah weiter: „Du bist beschnitten worden, wie ich gehört habe. Hoffentlich hast du keine Schmerzen.“ Das Kind drehte ihr nun das blasse Gesicht mit den fiebrig glänzenden Augen zu: „Warum machst du so einen Lärm?“ „Ich möchte mit dir sprechen, dich kennenlernen. Wir sind Geschwister.“ „Hast du gesehen, wie die Sonne aufging? Es war schön! Ich versuche immer, den Moment festzuhalten. Eines Tages wird es gelingen.“
„Ich liebe die Morgendämmerung auch sehr. Wie geht es dir, Emosa?“ „Gut, denn es ist Sommer. Ich mag die Farben der Blumen. Sie sind schön.“ „Jede der Jahreszeiten hat ihre Besonderheiten, die man bestaunen kann. Freust du dich, daß ich gekommen bin?“ Die Kleine schwieg, wandte den Kopf ab und schaute wieder aus dem Fenster. „Lebst du gern im Tempelbezirk, Emosa?“ „Es ist schön hier. Hier habe ich meine Ruhe. Nur manchmal werde ich gestört, aber das geht vorüber.“ „Willst du mit mir gehen, Emosa? Ich kann dich an einen Ort bringen, an dem Fröhlichkeit herrscht. Dort kannst du mit anderen Kindern spielen und lachen. Dort kannst du auch lernen. Ich möchte dich mitnehmen und für dich sorgen. Willst du?“ Das Kind gab ihr keine Antwort, und Seelah versuchte vergebens, das Interesse der Kleinen auf sich zu lenken. Emosa schwieg, reagierte auf Ansprache und Fragen nicht mehr. Nur einmal ergriff sie noch das Wort: „Du störst. Du machst soviel Lärm. Bitte! Geh jetzt und laß mich allein!“ Und als Seelah daraufhin verstummte. „So ist es schön.“ Als Harvel Seelahs verzagten Blick auffing, nahm sie ihren Arm und führte sie hinaus. „Sie ignoriert meine Anwesenheit.“ „Es ist ihr lästig, sich mit der Tatsache deiner Existenz auseinandersetzen zu müssen. Es tut mir leid, aber sie will dich nicht, Seelah. Du störst sie in ihrer Beschaulichkeit.“ „Ich versuche es später noch einmal.“ „Du wirst dich umsonst bemühen.“
Harvel hatte recht. Seelah besuchte die Kleine am Nachmittag und am Abend noch einmal, doch Emosa nahm ihre Anwesenheit nicht zur Kenntnis. „Laß sie in ihrer Welt, Seelah. Es hat keinen Sinn.“ „Sie findet alles schön.“ „Sie ist zufrieden so.“ „Aber wieso?“ fragte Seelah ungläubig. „Sie ist so jung und gebärdet sich, als sei sie eine Greisin! Sie muß doch leben! Neugierig sein, etwas wagen… Herausforderungen suchen und bestehen…“ „Du wirst sie nicht dazu bringen, Seelah.“ „Aber…“, Seelah stammelte, erschrocken über ihre eigenen Gedanken, „… es ist, als sei sie schon ein wenig gestorben.“ – In den verbleibenden Tagesstunden ging Seelah mit Harvel, schaute ihr bei ihren Tätigkeiten zu und half, wo sie zufassen konnte. Harvel schien im Tempelbezirk die einzige zu sein, die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit seiner Bewohner übernahm. Sie erinnerte die Gottesdiener an ihre Pflichten, drängte sie einzukaufen, zu säubern, die Priester zu versorgen. Oft hatte sie mit ihren Bemühungen keinen Erfolg und mußte die Arbeiten selbst übernehmen. Sie erntete keinen Dank, sondern zurückweisende Bemerkungen. Die Gottesdiener empfanden sie als Plage, die weltentrückten Priester beschimpften sie als lästig, und Ruschhaft und seine verbohrte Anhängerschaft verwiesen sie des Raumes, weil sie sich beim Entwurf einer neuen Predigt gestört fühlten, als Harvel ihnen zu essen bringen wollte. „Was macht der Oberpriester?“ wollte Seelah wissen. „Was gehört zu seinem Amt, seinen Aufgaben?“ „Das ist unterschiedlich und hängt von seinen Einbildungen ab. In der Regel beschränkt er sich darauf, die vermeintlichen Worte der Göttin zu verkünden, die Opferriten und Beschneidungen zu vollziehen und fanatische Städter, die sich
als Sünder empfinden, bei ihren Sühneanstrengungen bis zum Letzten zu treiben. Ruschhafts Instrument ist die Trommel. Erklingt sie, eilen die Städter herbei, lauschen seinen Worten und lassen sich nicht selten zu Ausschreitungen aufputschen, die sie dann angeblich im Auftrag der Göttin ausführen. Ruschhaft ist ein großer Redner. Er hat Charisma, und die Lufusier sind leicht zu begeistern. Auf sein Wort hin, nein – auf das vermeintliche Wort der Göttin hin, haben sich schon Menschen von den Türmen zu Tode gestürzt, sind Städter gesteinigt worden. Jüngst hat er eine Gruppe von Gläubigen auf den Weg geschickt, die den Menschen in ganz Lufus Kunde von Nuts Worten bringen und sie auffordern soll, hierher zu pilgern und im Angesicht der Göttin zu beten und zu büßen. Zu dieser Gruppe gehörte auch eine junge Gottesdienerin namens Illussi.“ „Meine Schwester?“ „Ich vermute es, Seelah.“ „Wohin sind sie gegangen? Was ist aus ihnen geworden?“ „Wir haben noch keine Nachricht von ihnen, doch ich befürchte, sie bringen den Menschen in den anderen Landesteilen wenig Gutes. Sie trugen ein Abbild der Göttin Nut vor sich her und schritten im Rhythmus von preisenden Gesängen. Doch an ihren Hüften schwangen die Schwerter, und auf ihren Rücken baumelten die Köcher mit Pfeilen.“ „Ich muß ihren Spuren folgen und Illussi kennenlernen. Vielleicht berühren sich ja unsere Herzen. Meine Familie ist so groß, Harvel, aber bisher…“ Harvel lächelte traurig: „Ich werde dich morgen auf den Weg bringen.“ – Im Laufe des Tages wunderte sich Seelah immer mehr: „Kaum jemand arbeitet hier, Harvel. Wovon leben die Menschen im Tempelbezirk?“
„Von der Stadt. Wenn Ruschhaft sie auffordert, bringen die Städter, was sie haben, selbst wenn sie anschließend verhungern. Er verspricht ihnen das Wohlwollen der Göttin, den Dank der Allmächtigen, ein glückliches Leben im Jenseits, und das genügt.“ „Vielleicht wäre es besser, wenn Ruschhaft nicht der Oberpriester wäre.“ „Das bleibt sich gleich. Es fände sich jemand anderer, der ihn ersetzen würde.“ – Am liebsten hielt sich Harvel bei den Säuglingen und Kleinkindern auf. Es gab viele davon in Trugen, Austauschkinder, die die Lufusierinnen von Tantenen mitgebracht und im Tempel abgegeben hatten. „Oft lassen die Lufusierinnen ihre leiblichen Kinder auch gleich hier“, bedauerte Harvel, als sie Seelah in das kleine Gebäude führte. „Ruschhaft segnet die Mütter für ihren Entschluß. Die Frauen sind eine für sie lästige Bürde los und ziehen hochgestimmt, ob ihres guten Werkes, von dannen. Als ich hier ankam, lagen diese sogenannten Gotteskinder nackt und verdreckt im Stall und waren vorwiegend auf die Gunst säugender Tiere angewiesen, um zu überleben. Ich habe hier Viecher gesehen, die mehr schützende Instinkte entwickelten als die leiblichen Mütter. Dieses Haus hier habe ich gleich anfangs eingerichtet und einigen der Gottesdiener die Kinderpflege beigebracht. Doch ohne ständige Aufsicht und Kontrolle ist auf sie kein Verlaß.“ „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es hier im Tempelbezirk ausgesehen haben mag, als du noch nicht hier warst, Harvel.“ „Die Sterblichkeit war sehr hoch, aber die Menschen waren vielleicht sogar zufriedener, Seelah. Ich zwinge sie zu Aufgaben, von denen sie nichts wissen wollen, die sie für unwichtig halten, die ihnen widerstreben. Wenn sie jemals
einen Gedanken auf ihr Gegenüber richten und mich als den Eindringling erkennen würden, der ich bin, ich weiß nicht, was sie mit mir täten.“ „Warum bleibst du hier, Harvel? Du hast hier keinen Gleichgesinnten und bist im Grunde einsam. Dein Leben besteht aus Arbeit und Pflichten, die du dir selbst auferlegt hast und die nicht einmal erwünscht sind. Zudem ist Ruschhaft ein unberechenbarer Oberpriester, wie du mir erzählt hast. Du bist also auch in Gefahr. Warum kommst du nicht zurück in den Coven?“ „Ich kann hier nicht fort, Seelah. Ich habe mich verantwortlich gemacht und darf mich nun nicht mehr davon entbinden, selbst wenn ich nicht das erreiche, was ich erreichen möchte. Anfangs habe ich mich oft gefragt, ob es gut ist, so in das Leben dieser Lufusier einzugreifen, wie ich es tue. Aber diese Zweifel sind nun auch vorübergegangen. Es leben hier wohl erwachsene Menschen, doch sie haben nicht die Reife… Im Grunde schütze ich sie ja nur, so gut ich es kann.“ „Hast du bei den Kindern Änderungen zum Besseren erzielt?“ „Du hast Emosa gesehen. Ich habe sie aufgezogen und liebe sie. Sie dagegen nimmt mich nur hin und richtet ihre Gefühle auf Bereiche, zu denen ich keinen Zugang habe.“ – Die Nacht war kurz, da die beiden Frauen lange miteinander sprachen und schon vor Morgengrauen aufstanden. Harvel wollte Seelah ein Stück begleiten, zuvor jedoch noch einige Aufgaben erledigen. Seelah half ihr zunächst bei den Kindern und nutzte anschließend die Gelegenheit, um in den Tempel zu gehen und die Himmelsgöttin Nut um ihren Segen zu bitten. Es war kalt in dem hohen Gebäude. Überlebensgroß, übermächtig thronte die Statue der Nut auf ihrem goldenen Sessel. Sie war blutrot gewandet, mit Diamanten geschmückt
und hielt Seelah drohend Waagschalen entgegen. In dem marmorbleichen Gesicht zeigte sich kein mitfühlender Zug, ein hartes Lächeln lag auf den schmalen Lippen. Die Pupillen, die aus wässerig blauen Topasen gefertigt waren, schienen Seelah mit durchdringendem Blick zu fixieren. Zu Füßen der Göttin wälzten sich die Sünder im Staub. Einige lagen unter den Sohlen ihrer kostbaren Schuhe, waren davon bedroht, zertreten zu werden. Leises Geläut half Seelah, ihren Blick abzuwenden und sich umzudrehen. Im Eingang zum Tempel stand eine feingliedrige, schlicht gewandete Mädchengestalt. Die azurfarbenen Augen unter dem sonnigen Haar brachten Seelahs Herz die Wärme zurück. „Ich trete hier nicht mehr ein“, sagte eine zarte Stimme. „Denn siehe, was sie aus mir gemacht haben! Es begann damit, daß sie Bilder von uns anfertigten und diese im Laufe der Zeit nach Gutdünken und Bedarf immer weiter veränderten. Sie erfanden Mythen, Gebote und gaben mir die Waage. Sie haben meine Liebe vergessen und erwarten Gerechtigkeit. Wehe, wenn sie ihnen zuteil wird!“ Das Läuten verklang… Nut war gegangen. Auch Seelah verließ den Tempel, begab sich nach draußen, um unter freiem Himmel zur Göttin des Verzeihens und der Gnade zu beten.
A
m späten Nachmittag, zwischen den Platten zweier Seen, mußten sie sich trennen. „Du solltest wirklich in den Coven zurückkehren“, drängte Seelah. „Die Götter haben sich von Arman und ich fürchte, auch von Lufus zurückgezogen. Im Herbst wird Unbegreifliches geschehen. Wir werden Zuflucht in einem Boot finden, das sie auf Tantenen bauen. Nur wohin wirst du dich wenden, wenn es soweit ist, Harvel?“ „Ich werde nicht fliehen. Ich bleibe in Trugen bei den Kindern. Sie sollen sich nicht fürchten, nicht verstehen.“ „Ich wurde ausgesandt, das Gute und das Böse zu erkennen, Harvel. Das wenige Gute, das ich fand, kam bisher immer vom Coven, und genau wie in Arman muß ich es auch hier zurücklassen.“ „Ich danke dir für deine hohe Meinung, Seelah. Wenn es wahr wäre, ich wäre sehr glücklich. Doch ich denke, ich bin auch nur ein einfaches Menschengeschöpf, das viele Fehler macht.“ „Aber welch ein Unterschied zu den Armanern und Lufusiern!“ „Wir müssen dankbar sein, daß wir anders sein dürfen.“ „Ja. Das habe ich inzwischen gelernt.“ „Dann leb wohl, Seelah. Suche nicht zu lange und kehre rechtzeitig nach Tantenen zurück.“ „Wenn ich einen Lufusier fände, der anders wäre… Nur einen…“ „Die Göttlichen wüßten von ihm.“ „Trotzdem… mein Auftrag…“ „… ist die Lehrzeit, die dir auferlegt wurde.“ Harvel lächelte ihr Gegenüber liebevoll an. „Sicherlich eine harte Ausbildung, aber sie bereitet dich… Wie hast du dich ausgedrückt?… auf das künftige, unbegreifliche Geschehen vor.“
Seelah lächelte zurück: „Vielleicht kannst du mit Wicca Kontakt aufnehmen. Sie ist zwar sehr schwach, aber sie bemüht sich darum, bei uns zu sein.“ „Das ist schwierig hier, Seelah. Die Sylphen wirbeln in der Atmosphäre herum, zerstückeln und zerstören die Botschaften.“ „Du hast Wicca schon gehört?“ „In der letzten Nacht erreichten mich einzelne Wortfetzen, die der Wind mit sich führte. Es scheint alles in Ordnung zu sein.“ „Das ist gut. Mögen die Götter dich segnen, Harvel.“ „Den Segen der Allmächtigen auch für dich, Seelah.“ Sie umarmten sich ein letztes Mal und folgten jede ihrem eigenen Weg, der sie in entgegengesetzte Richtungen führte. – Seelahs Weg führte sie nach Osten, zurück an die Küste. Die Sendboten des Tempels hatten von Ruschhaft den Befehl erhalten, den Ufern des Nun zu folgen und von dort aus Abstecher zu den Bewohnern des Landesinneren zu unternehmen. Da die Gruppe öffentlich wirken sollte, würde es nicht schwierig sein, ihren Pfaden zu folgen. In ihrem Beutel führte Seelah neben Nahrungsmitteln, die Harvel ihr vorsorglich eingepackt hatte, auch das dunkle Gewand der Gottesdiener mit sich. „Es wird dir helfen, dich unauffällig unter die Gläubigen zu mischen und mit deiner Schwester in Verbindung zu treten“, hatte Harvel ihr empfohlen. Die feuchtwarme, von zahlreichen Düften erfüllte Luft benebelte Seelahs Sinne, betäubte kaum merklich ihren Willen, lähmte ihre Entschlußkraft. Schon bald breitete sie ihren Umhang aus, legte sich in den Schutz hoher Büsche, die eine natürliche Hecke bildeten, und betrachtete verträumt die hellen Gestirne, bis sie einschlief.
„Hallo!“ weckte sie ein fröhlicher Ruf, als der Morgen schon weit fortgeschritten war. Seelah setzte sich auf und schaute sich um, konnte aber niemanden entdecken. „Hallo?“ antwortete sie. Ein lustiges Lachen erklang: „Such mich!“ Seelah stand auf und tat einen Schritt in die Richtung, aus der sie das Gelächter vernahm. „Ja, hier!“ Sie hob den Fuß, zögerte… „Richtig! Du bist auf dem Weg!“ Seelah teilte einige Büsche, hinter denen sie das Versteck der hellen Stimme vermutete. Sie hörte ein Rascheln und wieder eine muntere Aufforderung: „Gut! Nun fang mich!“ Sich durch die Sträucher kämpfend, folgte Seelah dem Brechen der Zweige und den leichten Fußtritten, die sie nun hörte. Erst ging sie langsam und vorsichtig, doch allmählich beschleunigten sich ihre Schritte, bis sie schließlich lief. Immer wieder drangen unterdrückte Fetzen amüsierter Freude an ihr Ohr. Schließlich lichtete sich das Grün, und Seelah stand am Seeufer. Suchend drehte sie sich um sich selbst, konnte aber niemanden erblicken. Sie fuhr erschrocken herum, als sich zwei warme Arme von hinten um ihren Körper legten, und blickte in das glatte Gesicht eines lufusischen Jünglings. „Gewonnen!“ lachte er sie an, nahm ihre Hand und setzte sich mit ihr an das Wasser. Seelah sah ihn aufmerksam an. Er war nur wenig älter als sie selbst, und er sah hübsch aus mit seinen leuchtenden blauen Augen und dem wirren hellen Haar. Auf seiner großen, schlanken, unbekleideten Gestalt lag der goldene Glanz der Sonne. Sein Geschlecht versprach Manneskraft, und Seelah fühlte einen Schauer über ihren Rücken laufen.
Sein Gesicht war ohne Argwohn und frei von Absichten, als er sie fragte: „Wollen wir Freunde sein?“ Auf ihren überraschten Blick hin drückte er ihr die Hand: „Man nennt mich Babis.“ „Ich heiße Seelah.“ Er streckte sich eine Weile neben ihr aus und sprang dann unvermittelt auf: „Laß uns schwimmen!“ Seelah betrachtete ihre vom Gebüsch zerkratzten und verdreckten Arme, die Blätter und kleinen Zweige, die sich in ihrem Gewand verfangen hatten, roch den süßlichen Schweiß, der sich auf ihrer Haut gebildet hatte, und stimmte zu. Als sie ihr Kleid über den Kopf zog und ausschüttelte, stand Babis schon bis zum Bauch im Wasser. Es war warm, viel wärmer, als sie erwartet hatte, erfrischte sie aber angenehm. Während sie sich mit den Füßen vom Boden abstieß und mit großen Zügen vorwärts schwamm, sah sie sich nach Babis um. Das Wasser schien sein Element zu sein. Er schwamm große Strecken unter Wasser, tauchte tief hinab, umkreiste sie in großen und kleinen Bahnen. Sie sah seinen hellen Schatten unter und neben sich im Wasser. Es war, als würde ein großer Fisch sie verspielt begleiten. Hin und wieder tauchte er auf, um Luft zu holen, und lachte ihr dann zu. Nach einer Weile drehte Seelah um, begann, zum Ufer zurückzuschwimmen. Babis folgte. Er hielt sich jetzt näher bei ihr, streifte sie mit seinen langen Haaren, seinen Armen und Beinen. Es war ein leichtes, angenehmes Streicheln, und Seelah sehnte sich nach mehr. Als ihre Füße Grund fanden und sie aufstand, schnellte auch Babis aus dem Wasser, stand dicht vor ihr. Seelah hielt still, als er sie verzückt ansah, seine Hand ausstreckte und ihre Brust umfaßte. Sie rührte sich auch nicht, als er mit beiden Händen
ihren feuchten Körper erkundete, langsam, versonnen über ihren Rücken, ihren Bauch, ihre Schenkel und ihr Geschlecht strich. Ihr Beine zitterten, in ihrem Kopf drehte sich der Schwindel und zwischen ihren Beinen pochte es, als Babis sie fest an sich zog und sein Glied an ihren Bauch preßte. Nach einer langen Weile hob er sie hoch, trug sie ins seichte Wasser am Uferrand und legte sich auf sie, während die sanften Wellen ihren Körper umspielten. Er küßte ihren Hals und saugte so lustvoll an ihren Brüsten, daß Seelah meinte, es nicht mehr ertragen zu können. Sie drängte sich an ihn, zog seinen Körper fest an sich, reckte ihren Leib dem seinen entgegen. Noch gab Babis ihr nicht nach, und seine Zunge erregte ausgiebig ihren empfindsam gewordenen Körper. Erst als die Spannung unerträglich geworden war und Seelah sich krümmte, drang er in sie ein. Ein harter Stoß zerriß den natürlichen Widerstand, und Schmerz und Ekstase ließen Seelah aufschreien. Babis bewegte sich in ihr, bis ihre Erregung explodierte und sich in überflutenden Wogen verlief.
In den nächsten Tagen verlor die Zeit ihre Bedeutung. Sonne und Mond wanderten am Himmelszelt, ohne beachtet zu werden. Die Luft blieb schwül, Boden und Wasser warm, und Seelah benutzte ihr Gewand nur, um sich darauf zu legen. Babis holte ihren Beutel und Umhang, die sie jenseits der Büsche zurückgelassen hatte. Sie ernährten sich von Seelahs Vorräten und von kleinen, pelzigen Vierbeinern, die sie mit Babis Steinschleuder erlegten und im Feuer rösteten. Babis aß mit gutem Appetit, Seelah dagegen konnte nur wenige Brocken schlucken. Sie lebte in ständiger Erwartung des nächsten Liebesakts. Babis zeigte ihr Sinnesfreuden, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, daß es sie gab, und ihr Körper verlangte nach immer mehr. Sie liebten sich im Gras
und im Wasser, stehend und liegend, bei Tag und bei Nacht. Zwischendurch schliefen sie erschöpft oder schwammen ein Stück in den See hinaus. Sie sprachen wenig miteinander, hatten kein Bedürfnis danach. Babis erzählte nur, daß er aus Kindor stamme, einem Dorf, das etwa eine Wegstunde entfernt lag. – „Wir spielen hier die schönsten Spiele“, murmelte er einmal, als sie entspannt nebeneinander lagen, und Seelah nickte. Ihretwegen hätte dieser himmlische Zustand ewig andauern können, doch im Laufe der verstreichenden Tage beobachtete sie bei Babis eine wachsende Spannung, die sie sich nicht erklären konnte. Wenn sie nun in den See hinausschwammen, und sie schwammen weit, blickte er aufmerksam umher, schien nach irgend etwas Ausschau zu halten. Als er es dann erspähte, konnte sie es nicht glauben. „Da sind sie“, schrie Babis aufgeregt und deutete auf grüne, bizarre Häute, die durch das Wasser auf sie zupflügten. Er zog an ihrem Arm. „Endlich! Nun schwimm! Versuch dich zu retten!“ Bis Seelah begriff und reagieren konnte, war er schon weit voraus. Die Reptilien schwammen schneller als sie selbst und verringerten den Abstand zusehends. Babis erreichte das rettende Ufer und sprang aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, während er das gefährliche Schauspiel beobachtete. Seelah tauchte, um die Alligatoren zu irritieren, verlor dadurch aber nur weiteren Vorsprung. Der erste Rachen öffnete sich bedrohlich und zeigte die langen Reihen der spitzen Zähne, als ihre Füße Boden fanden. Sie begann, sich laufend durch das Wasser zu kämpfen, stolperte in ihrer Hast, fiel und entging den zuklappenden Kiefern nur durch ein schnelles Beiseitereißen ihres Beines. Auf allen Vieren vorwärts schnellend, gelang es ihr, auch das letzte Stück
seichten Wassers hinter sich zu lassen und sich neben Babis ins Gras zu rollen. Babis bückte sich, hob einige Stöcke und Steine auf und warf sie den Reptilien auf die langen Schnauzen. „An Land will ich sie aber nicht haben!“ Als die Tiere abdrehten, überkam Seelah der Schock. Tränen liefen ihr über das Gesicht, ihre Zähne klapperten wie im Frost aufeinander, und ihre Glieder zitterten unkontrolliert. Babis legte sich neben sie, und seine Hände, seine Zunge begannen mit dem Liebesspiel. „Du hast gewonnen“, murmelte er, und Seelah, unfähig, ihn abzuweisen, verlor sich im Rausch der Sinne. – Erst viel später stellte sie Babis zur Rede: „Du hast gewußt, daß sie kommen würden?“ „Ich warte seit Tagen. Habe schon gedacht, sie hätten gar keinen Appetit.“ „Und dann läßt du mich so weit hinausschwimmen, ohne mich zu warnen?“ „Das gehört zum Spiel.“ „Zum Spiel?“ „Ja.“ „Was ist das für ein Spiel? Babis! Es hätte mich beinahe das Leben gekostet! Ich wäre fast zerrissen worden!“ Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Es ist eben ein spannendes Spiel… ein Spiel des Lebens.“ „Ein Spiel um das Leben? Du hättest mir helfen und die Steine früher nach den Alligatoren werfen müssen.“ „Das wäre unfair gewesen!“ „Unfair…?“ „Die Regeln sagen: Jeder muß sich selbst retten.“ „Heißt das, du hättest zugesehen, wie sie mich gefressen hätten, heißt das, du hast dieses Spiel schon öfter gespielt?“ Er nickte, legte den Arm um sie und sah sie treuherzig an:
„Was regst du dich so auf? Es war toll, und du hast schließlich gewonnen.“ „Ja, mein Leben“, erwiderte Seelah bitter, konnte seinen unschuldigen Augen aber nicht länger widerstehen, merkte, wie ihre Wut verflog. Sie brauchte ihn, ihr Körper brauchte ihn. Auch Babis spürte dies und zog sie noch näher an sich. „Laß es uns morgen noch einmal tun“, schlug er vor, während seine Finger sie erregten. „Nein! Nie mehr!“ murmelte Seelah. „Sei kein Spielverderber!“ „Nein!“ „Dann nicht. Dieses geht ebenso gut“, flüsterte er und zog sie auf sich. –
D
ann kam der Morgen, an dem Seelah aufwachte und Babis nicht neben sich fand. Zunächst wartete sie arglos, später suchte sie ihn am Seeufer, folgte rufend den ausgetretenen Pfaden zwischen den Sträuchern – vergebens. Sie harrte den Abend und die Nacht über an der kalten Feuerstelle aus, unfähig, Äste zusammenzutragen und anzuzünden, hoffend und bangend. In den fortschreitenden Stunden des Wachens und Wartens schlich sich gegen ihren Willen die bedrückende Gewißheit ein, daß Babis dieses Mal nicht spielte. Er hatte sie verlassen. Im Morgendämmer stand sie auf, nahm ihren Beutel, füllte die Wasserblase und machte sich auf die Suche nach Kindor. Sie würde ihn finden und zur Rede stellen. – Schon von weitem roch sie den Gestank verbrannten Holzes, der ihr mit dem Wind entgegenzog. Als sie ihm folgte, stieß sie auf die verkohlten, bizarren Skelette ehemaliger Behausungen. Der Eindruck des Unwirklichen, den sie vermittelten, verflog, als Seelah Gelächter vernahm. Unter dem schützenden Blätterdach eines Baumriesen hockte eine Handvoll Menschen im Kreis auf dem Boden. Sie schoben kleine Steine hin und her, ließen sich in ihrer Beschäftigung nicht stören. „Ist das hier…“, begann Seelah, nachdem sie gegrüßt hatte. „Sch… still!“ „Aber…“ „Sch… später… leise!“ Seelah setzte sich und wartete. Erst nachdem das Spiel beendet war und man dem strahlenden Gewinner huldigte, fand sie Gehör. „Ist das hier Kindor?“ Eine dürre, faltige Frau ließ sich zu einem Nicken herab. „Was ist geschehen?“ Seelah deutete auf die verbrannten Hütten.
„Oh!“ Die Augen der Frau begannen zu funkeln, sie sog aufgeregt die Luft ein. „Das war schon toll!“ „Ist richtig was los gewesen!“ fiel ein Heranwachsender, mit einem frisch verschorften Schnitt quer über der linken Wange, ein. „Aber was…?“ „Eine Gruppe aus einem Tempel… sie forderten uns heraus… wir haben nicht abgelehnt und mit ihnen gekämpft… spannend, sag ich dir… es hat Tage gedauert, aber wir haben gesiegt.“ „Sie haben euer Dorf angezündet?“ „Das war unser bester Zug… sie waren so überrascht, daß wir sie vollkommen überwältigen konnten. Gehörst du zu ihnen? Willst du eine weitere Runde?“ „Nein! Wo sind die anderen?“ „Welche anderen?“ „Die übrigen Bewohner von Kindor und die Verwundeten?“ „Nur wir sind die Sieger…“, der Jüngling kratzte an der Schorfkruste, „… es gibt keine Verwundeten.“ „Es hat sonst niemand überlebt?“ „Niemand. Wir haben sie da drüben verscharrt. Es war zu unangenehm, nicht auszuhalten.“ Er zeigte auf einen frisch aufgeworfenen Erdhügel. „Ich suche Babis.“ „Ja? Der hat das Beste verpaßt, ist erst gestern zurückgekommen. Er ist irgendwo dahinten.“ Die knochige Hand der Mageren beschrieb einen vagen Halbkreis, wies nach jenseits des Grabhügels. „Danke!“ Seelah stand auf. „Bleib hier, mach mit!“ „Jetzt nicht, vielleicht später.“ Als Seelah an dem Hügel vorüberschritt, erblickte sie eine erdverkrustete Faust, die sich durch die aufgeworfenen
Schollen hindurchgewühlt hatte. Die Faust eines Verwundeten, der sich aus der erstickenden Erde hatte befreien wollen. Es war eine kleine Hand, deren Finger da in grotesker Verkrampfung erstarrt waren. Sie hätte zu einer Frau gehören können, möglicherweise auch zu ihrer Schwester Illussi. Mit einem Stück Holz lockerte Seelah den Boden neben der Grabstätte auf, nahm die Erde, schüttete die Hand zu. Sie konnte den Anblick des Todeskampfes, den sie allzu deutlich zeigte, nicht ertragen, fand nicht einmal Worte eines Gebetes. Unmenschliches Lufus! Was gaben sie hier für ein Menschenleben? Offensichtlich lohnte es keine Mühen und Anstrengungen. Ein Leben mehr oder weniger – es schien nicht darauf anzukommen. – Als sie dem Hügel unnötigen Leidens den Rücken kehrte und ihre Suche nach Babis fortsetzte, hatte sie auch die Hoffnung begraben, einen guten Lufusier zu finden. Selbst Babis… Sie fand ihn nicht weit entfernt im Gras. Er wälzte sich mit einer neuen Gefährtin in der Erregung des Liebesspiels. Seelah sah, wie er seine von Schweiß glänzende Haut, die sie so oft liebkost hatte, an dem fremden Körper rieb. Sah, wie seine Hände, deren Berührungen sie so genossen hatte, in den Haaren der anderen wühlten und wie sein Geschlecht auch unabhängig von ihr zur Befriedigung gelangte. Sie hatte geglaubt, sie sei etwas Besonderes für ihn geworden, doch er hatte sie einfach ausgetauscht. Tränen standen ihr in den Augen, ein Wimmern entrang sich ihrer Kehle, und Babis blickte auf, lächelte: „Seelah! Da bist du ja! Komm, mach mit!“ „Nein!“ „Komm, sei kein Spielverderber. So macht es doch viel mehr Spaß!“ „Spaß! Geht es nur darum?“ „Komm her!“
„Babis, ich… die Menschen sind kein Spielzeug. Du kannst sie nicht wie Puppen hin und her schieben. Sie sind nicht leblos, sie… ich habe Gefühle, die du geweckt hast und von denen du nun nichts wissen willst. Ich…“ „Du spinnst!“ unterbrach er sie ungeduldig und wandte sich wieder seiner Gespielin zu. Seelah schleppte sich davon, zu dem Baum, unter dem die Dorfbewohner vor kurzem ihre Steinchen geschoben hatten, lehnte sich mit dem Rücken an den dicken Stamm und wartete. Worauf, das wußte sie selbst nicht. Daß Babis sich anders besinnen würde? Daß er das Gespräch mit ihr suchen würde? Sie wartete, sah teilnahmslos den Bewohnern bei ihren Vergnügungen zu, sah Babis im Dorf auftauchen und wieder verschwinden, ohne auf ihre Anwesenheit zu reagieren, sah gleichgültig die Gestirne über den Himmel ziehen und Tag und Nacht wechseln. Sie aß und trank nicht, schlief nicht, dachte nicht, fühlte nur die lähmende Leere, die übergroße Traurigkeit, die ihr ganzes Sein erfaßt hatte. Sie konnte sich selbst nicht mehr helfen. – Es war Harvel, die sie rettete. Sie kniete plötzlich neben ihr, faßte sie an den Schultern, schüttelte sie: „Um der Götter willen, Seelah! Komm zu dir!“ „Harvel?“ „Komm, trink dies.“ Sie flößte Seelah, fast gewaltsam und mit viel Geschick einen lindernden Trunk ein, der Schlaf und neue Kraft schenkte. Sie saß neben der Gefährtin und behütete sie, bis Seelah die Augen wieder öffnete. „Harvel! Du bist es wirklich! Wieso?“ „Kannst du es dir nicht denken, Seelah?“ „Wicca?“ „Ja! Die Botschaften, die zu mir durchdrangen, ließen mir keine Ruhe, und ich wußte, ich mußte dich suchen und
finden… und zwar bald. Wie ich sehe, war es nicht zu früh. Seelah! Was ist mit dir geschehen?“ „Ich habe mich in einen Mann verloren, Harvel.“ „Der Einfluß der Sylphen… dein Lufusisches Erbteil… Bestimmung…? Doch es wird höchste Zeit, daß du dich wiederfindest, Seelah, dich auf deine Aufgaben besinnst. Wir alle erleben Leid, aber wir dürfen nicht daran zerbrechen, sondern müssen lernen, damit zu leben, vielleicht sogar, daran zu wachsen. Du bist nicht nur dir selbst verantwortlich, sondern auch den Göttern und Covenbewohnern. Zudem…“, Harvel lächelte, „… sehe ich zwei kleine Auren in dir leuchten.“ Sie legte Seelah die Hand auf den Leib. „Kinder?“ Seelah schluckte. „Zwei… werden sie…?“ „Sie sind noch zu winzig, Seelah. Ihr Licht leuchtet weiß und rein. Wer kann sagen, wessen Erbteil sie tragen.“ „Ich werde beten, daß es keine ungleichen Paarlinge sind. Sie sollen wie die Bewohner von Tantenen sein… offen für das Gute…“ „Auch ich werde die Götter bitten, daß es so ist, Seelah.“ „Ich habe mich sehr verändert, Harvel. Noch vor Monden hätte ich das Gegenteil erfleht.“ „Du hast viel gesehen und gelernt.“ „Ich sollte es Babis erzählen, Harvel!“ „Was versprichst du dir davon, Seelah?“ „Nichts. Es wird ihn nicht berühren. Er wird die Verantwortung nicht übernehmen wollen. Er will, wie die anderen Dorfbewohner, nicht erwachsen werden. Das Leben ist für sie ein Spiel, das sie um der Spannung willen auch um den Preis des Lebens spielen. Sie denken nicht über ihre Mitspieler nach… Wichtig ist nur, daß ihre Spiele nicht verdorben werden und abwechslungsreich sind.“ „Dann solltest du nicht mehr mit ihm sprechen, Seelah. Laß uns Kindor verlassen!“
„Du hast recht.“ – Sie verließen den Ort ostwärts und verbrachten die Nacht am Ufer des Nun. Seelah vermeinte, in der Ferne den Fährmann in seinem Nachen über die glitzernde Wasseroberfläche gleiten zu sehen, und ganz am Horizont glaubte sie, die Insel Tantenen zu erkennen. „Du solltest heimkehren, Seelah. Du hast Heimweh. In deinem jetzigen Zustand solltest du Zuflucht und Hilfe im Coven suchen. Dein Auftrag…“ „Er ist noch nicht ganz erfüllt, Harvel. Da ist noch Aske, meine Schwester, die ich in Diabel suchen muß… vielleicht…“ „Sie wird nicht anders sein.“ „Ich weiß, dennoch würde ich mir nie verzeihen, wenn…“ „Wie gut, daß du wieder die alte bist, Seelah.“ „Das habe ich nur Wicca und dir zu verdanken, Harvel, und dem Wissen um meine neueste Verantwortung. Aber sag, jetzt, wo Tantenen so nahe ist und du nur in Uriels Nachen zu steigen bräuchtest, möchtest du da nicht heimkehren?“ „Schon der Gedanke ist eine Verlockung, Seelah. Doch ich darf ihr nicht nachgeben. Ich könnte im Coven nicht froh werden. Der Gedanke an die Kinder in Trugen bräche mir das Herz.“ „Ich kann dich gut verstehen, Harvel.“ – Am nächsten Morgen, nach einem erneuten Abschied, war Seelah wieder allein. Sie folgte dem Ufer des Nun und überquerte den namenlosen Fluß, der ihr bei ihrer Ankunft soviel Widerstand entgegengesetzt hatte, auf einer breiten hölzernen Brücke. Hinter der Brücke traf sie auf eine Lufusierin, die in sich versunken, an einen der großen Stützpfeiler gelehnt, dasaß. Die Frau hatte die Augen geschlossen und hielt sich mit ihren Händen die Ohren zu.
Seelah beugte sich herab und berührte sie am Ellenbogen. Verschwommene Augen öffneten sich: „Was?“ „Warum verschließt Ihr Eure Augen und Ohren?“ „Meine Sinne sollen keine Eindrücke aus dieser Welt mehr aufnehmen.“ „Warum tut Ihr das?“ „Es befreit mich von der Zeit. Sie beginnt zu schweben und sich auszudehnen. Ich bewege mich in ihr, und manchmal kehrt sie sich um.“ „Aber warum?“ „Ich werde lebendig in diesem Bereich, der über dem Leben liegt.“ „Lernt Ihr etwas dabei?“ „Ich bekomme Ahnungen.“ „Es erleuchtet Euch nicht, und Ihr verlaßt die einzige Welt, die Euch geschenkt wurde? Ihr verliert Euch selbst!“ „Das verstehst du nicht! Verschwinde!“ Später führte Seelahs Weg sie nach Westen, und am Mittag des zweiten Tages hatte sie den Urwald erreicht, in dem der Tempel Diabel lag. Sie hielt sich nördlich, an seinem Rand, in der Hoffnung, sich so nicht in der undurchdringlichen Wildnis zu verirren. Doch ihre Befürchtungen erwiesen sich als unnötig. Zahlreiche Lufusier schienen den Weg vor ihr beschriften zu haben. Die Tiere waren vertrieben, die Lianen niedergerissen, das Gesträuch platt getrampelt, und ein breiter Pfad zog sich durch den Urwald. An seinen Seiten fand Seelah immer wieder tote Lufusier: dürre Menschen jeden Alters, die an Entkräftung und Erschöpfung gestorben waren. Viele Kinder und ältere Menschen, die, von ihren Weggefährten zurückgelassen, wohl einsam von dieser Welt gegangen waren. Was hatte all diese Menschen in solcher Hast durch den Dschungel eilen lassen? Was war ihr Ziel? Was wollten sie in
Diabel? Es schmerzte Seelah, aber sie sah keine Möglichkeit, die Toten zu begraben, und mußte sie der Natur überlassen. In einem der Männer fand sie noch ein wenig Leben. Sie schüttelte ihn und wollte ihm, als er die Augen öffnete, aus ihrer Wasserblase zu trinken geben. Müde drehte der Mann seinen Kopf zur Seite, wehrte sie ab: „Laßt mich! Ich möchte sterben.“ „Warum?“ „Weil ich dann von diesem unliebsamen Leben befreit bin.“ „Seht Ihr keinen Sinn in Eurem Leben?“ „Der Sinn des Lebens liegt in seinem Ende. Ich muß in den Bereich gelangen, der hinter dem Leben liegt. Dabei stört mein Körper, und ich muß ihn zurücklassen.“ „Was erwartet Ihr zu finden?“ „Vielleicht das Nichts.“ „Wenn Ihr in ein Nichts eintretet, werdet Ihr mit ihm verschmelzen und habt Euch verloren!“ „Dann… werde ich unsterblich sein.“ Er schloß erneut die Augen, und Seelah saß die Nacht über bei ihm und bewachte sein Fortgehen.
D
iabel war ein Tempel der Auflösung, eine Ruine im Urwald, eine Kultstätte des Todes. Vor und zwischen den zerbröckelnden Pfosten des Zugangs drängten sich Lufusier dicht an dicht, jeder mit einem Bündel Holz oder Reisig auf dem Rücken. Andere waren damit beschäftigt, die am Rande der Lichtung stehenden Bäume zu fällen, ihnen die Äste abzuhacken oder Gesträuch auszureißen und zu entblättern, um sich ebenfalls Holz zu verschaffen. So viele Menschen! Wo kamen sie alle her? Sie mußten aus ganz Lufus zusammengelaufen sein, einem Ruf aus Diabel folgend. Beißender, schwarzer Rauch kroch über die Außenmauern des Tempelbereichs, legte sich auf die Lichtung, trieb den Anwesenden die Tränen in die Augen. Einige wurden von quälenden Hustenanfällen geschüttelt, andere verloren in dem dichten Gedränge und dem erstickenden Qualm das Bewußtsein und fielen. Die Masse zog über sie hinweg. „Paßt doch auf!“ schrie Seelah die Vorwärtsschiebenden an. „Ihr tretet sie ja zu Tode!“ Ihr erregter Ruf drang nicht an die Ohren der Wartenden, und niemand eilte ihr zur Hilfe, als sie versuchte, ein Kind unter den schweren Füßen hervorzuziehen. Vergebens – sie blickte in gebrochene Augen. Jemand hatte dem Kleinen das Genick zermalmt. „Was tut ihr nur! Gebt acht!“ schrie sie noch einmal… ohne Erfolg. Sie faßte eine der Drängelnden bei den Schultern und zwang sie, ihr ins Gesicht zu blicken: „Was macht ihr nur?“ „Eine Priesterin des Tempels hatte eine Vision. Wir folgen ihr.“ „Was für eine Vision?“ „Wer kann das wissen?“
„Ihr folgt einer Vision, die ihr nicht kennt?“ „Wir folgen den Göttern!“ „Seht her!“ Seelah deutete auf das tote Kind. „Können die Götter das wollen?“ „Wer kann das wissen?“ „Und was ist, wenn die Priesterin lügt? Ihr könnt ihr doch nicht einfach folgen!“ „Warum nicht? Wir glauben!“ „Kein Glaube ist zu entschuldigen, wenn andere durch ihn zu Schaden kommen.“ „Es ist immer gut, zu glauben.“ Die Lufusierin zuckte gleichmütig mit den Schultern und schob sich weiter nach vorn. „Was sagen diejenigen, die schon im Tempel waren?“ rief Seelah. „Ich habe niemanden gesehen, der wieder herausgekommen wäre.“ Was geschah dort drinnen? Wo blieben die Lufusier, die hinter den Mauern verschwanden? Was wurde ihnen erzählt, welchen Worten folgten sie? Seelah wollte… mußte es wissen. Wie konnte sie in den Tempel gelangen? Sie mußte sich einen anderen Zugang suchen, konnte sich nicht in die Menschenmenge einreihen, da das Gedränge das ungeborene Leben in ihr gefährden würde. Sie ging an den Mauern entlang, suchte nach einem Durchlaß und fand ein Loch, durch das sie schlüpfte. Im Innern der Mauern fanden sich nur wenige kleine und verkommene Gebäude. Seit langem hatte hier niemand mehr etwas gerichtet oder auch nur aufgeräumt. Gleichgültigkeit hatte dazu geführt, daß Diabel unbehaust wirkte, und doch lebten hier Priester und Gottesdiener. Welchem Gott, welcher Göttin hatten sie sich verpflichtet? Welcher der Allmächtigen
würde hier seine Wohnstatt beziehen? – Eine heisere Stimme riß sie aus ihren Betrachtungen, wies ihr den Weg. Sich selbst erhöhend, stand die Priesterin auf einem im Freien stehenden Altar und richtete ihre Worte an eine Gruppe von Pilgern. Sie war schwarz gekleidet und kreideweiß im Gesicht. Eine Botin des Untergangs, auch in der Botschaft, die sie verbreitete: „Ich sah, daß die Götter unser müde geworden sind. Sie haben den Untergang der Welt und all seiner Geschöpfe beschlossen. Naturgewalten werden über uns kommen und alles Bestehende vernichten. Nur diejenigen werden ihr Wohlwollen erlangen, die noch den Weg zu ihnen finden. Laßt uns zu ihnen gehen!“ Sie deutete rechter Hand auf eine Gruppe von Gottesdienern, die aus einer Reihe von Fässern Trinkgefäße auffüllten: „Trinkt einen dieser Becher des Vergessens, und ihr werdet die Widrigkeiten dieser Welt für immer hinter euch lassen. Ihr werdet euch in das Reich der Unsterblichen hinüberträumen, in die einzige Welt der Gewißheit, und mit den Göttlichen an einem Tisch sitzen. Geht und trinkt!“ Die Lufusier setzen sich willig in Bewegung, dem tödlichen Trunk entgegen. Seelah lief los, stellte sich ihnen in den Weg: „Haltet ein! Die Allmächtigen haben euch eine Warnung geschickt, eine Aufforderung, damit ihr euch ihnen zum Wohlgefallen ändert. Vielleicht ist dies die letzte Chance für Lufus, und ihr laßt euch von den trügerischen Worten der Priesterin fehlleiten. Nicht die Menschen, nur die Göttlichen beschließen über den Beginn und das Ende eines Lebens. Denkt ihr, sie haben nicht die Macht, euch zu sich zu rufen, wenn sie es wünschen? Ihr habt euer Leben noch nicht zu Ende gelebt und habt nicht das Recht, euch davonzustehlen. Die Götter haben Pläne mit euch, und ihr lacht ihnen höhnisch ins
Gesicht. Glaubt ihr, ihr könnt den Zugang zu ihnen erzwingen? Sie werden euch vor den Pforten stehenlassen.“ Seelah hätte sich ihre Worte sparen können, sie wurden nicht beachtet. Die Priesterin zog sich zurück. Die Lufusier tranken die ihnen gereichten Becher ohne Zögern bis zur Neige aus und legten sich zum Sterben nieder. Es ging schnell und schmerzlos vorüber. Die Fässer mußten ein starkes Gift enthalten. Die Leichen wurden von den Gottesdienern auf Karren gelegt, zu dem großen Feuer gefahren und mitsamt den Holzbündeln in die Flammen geworfen. Dann wurde eine neue Gruppe von Pilgern vor die Priesterin gerufen, die ihre Rede wiederholte. Noch einmal versuchte Seelah, die Lufusier von ihrem schändlichen Tun abzuhalten, und wieder waren ihre Worte vergebens. In ihrer Not stellte sie die Priesterin zur Rede: „Ihr seid ungeheuerlich! Laßt Euch von menschlichem Leid nicht mehr anrühren und geringschätzt das geschenkte Leben, die Wirklichkeit. Meint Ihr, dies haben die Götter gewollt, als sie Euch für die Vision auswählten. Ihr solltet Umkehr predigen, damit das Elend und die Einsamkeit aus Lufus verschwinden…“ Die Priesterin ließ sich nicht dazu herab, sie zu beachten, ignorierte ihre Worte, und Seelah, überzeugt am Geschehen nichts ändern zu können, verließ den Tempel und machte sich auf den Heimweg. Welche der Gottesdienerinnen ihre Schwester Aske war, wollte sie nicht wissen. Es spielte keine Rolle mehr, ihre letzte Hoffnung für Lufus war in Diabel gestorben. Hier lebten keine humanen Geschöpfe. Die Lufusier strebten nicht nur nach Freiheit von allen Bindungen und Verpflichtungen, sondern auch nach der Freiheit von sich selbst. Die hilfreichen Einflüsse von Uranus, Neptun und Pluto, den Lufusischen Gestirnen, erreichten die Bewohner des
Erdteils nicht mehr. Nur die dunklen fanden ihr Ziel in den Lufusiern, die zum eigenen und gegenseitigen Schaden vor sich selbst und der Welt flohen. Sie schwebten, wie in der Vision in der Grotte des Oraculums, durch die selbst geschaffene Kälte ihrer Welt, wurden auseinandergerissen. – Einige Lufusier, die auf dem Weg nach Diabel waren, begegneten ihr noch. Gleich Lemmingen stürzten sie mit fanatisch funkelnden Augen der Selbstzerstörung entgegen. Seelah unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten. Sie hatte es eilig… jemand rief sie dringlichst nach Tantenen. Noch bevor sie ihn sah, kündete leises Geläute Uriel mit seinen Nachen an.
A
n den Bäumen und Büschen färbten sich die ersten Blätter, als Seelah Tantenen wieder betrat. Am Steg erwartete sie diesmal nur Heredita: „Komm schnell, Seelah! Es ist Wicca! Sie möchte dich noch einmal sehen.“ Die beiden jungen Frauen eilten die steilen Stufen hinauf in das Turmzimmer, in dem Wicca, umgeben von den älteren Covenbewohnern, auf ihrem schmalen Lager lag. Sie lächelte, als sie Seelah sah und streckte ihr die kalte Hand entgegen: „Ich wußte, du würdest rechtzeitig kommen, Kind. Ich wollte dir gern noch Lebewohl sagen. – Laßt mich mit ihr allein sprechen!“ „Wicca!“ „Kein Grund, traurig zu sein, Seelah. Hast du den göttlichen Auftrag erfüllt?“ „Ich denke es. Auch in Lufus gedeihen nur die Früchte des Bösen.“ „Und? Wo willst du nun die Früchte des Guten finden?“ „Hier! Die Covenbewohner… die von Lufusiern und Armanern als Kreaturen verachteten Menschen… sie, und nur sie tragen das Gute in sich und können es verwirklichen.“ „Ich bin froh, daß du zu dieser Einsicht gekommen bist. Sie hat die Mühen gelohnt.“ „Sonst habe ich nichts erreicht, Wicca. Ich konnte in Lufus ebensowenig wie in Arman etwas zum Guten wenden.“ „Du hast dein Bestes getan, Kind. Es war ein langer und schwerer Sommer für dich. Das Übrige liegt in der Entscheidung der Götter.“ „Was wird geschehen, Wicca?“ „Arman und Lufus werden zerstört werden, Seelah. Nur ihr werdet überleben. Die Göttlichen werden euch eine neue Erde anvertrauen, und ihr werdet sie bevölkern. Du hast die
Kenntnisse und Erfahrungen, wirst lehren und darauf achten müssen, daß die neue Entwicklung eine gute ist.“ „Aber ich…“ „Erzähle ihnen von den Armanern und Lufusiern, von Dinah, Ava und Harvel. Laß sie an den Beispielen lernen, an den guten und an den schlechten.“ „Ich will es versuchen, Wicca.“ „Mach dir keine Sorgen. Uriel wird dir zur Seite stehen, wird bei euch bleiben, solange ihr seine Hilfe wünscht.“ „Uriel?“ „Ein ist ein Sendbote der Götter, Seelah. Geschöpfe, wie er eines ist, treten in die Welt, wenn die Menschen sie brauchen und rufen oder wenn die Göttlichen sie schicken. Uriel kam im Auftrag der Götter, um uns in der Zeit des Unabwendbaren beizustehen und uns zu retten. Meinst du, die Covenbewohner hätten ohne seine Hilfe ein so großes Boot bauen können, wie es benötigt wird? Von den Tieren und Pflanzen, die er eingefangen und gesammelt hat, ganz zu schweigen. Er…“, Wicca lächelte, „… wird dir auch bei der Erziehung deiner Söhne beistehen.“ „Meine Söhne?“ „Du wirst keine ungleichen Paarlinge gebären, Seelah. Das befürchtest du doch, nicht wahr? Du wirst zwei Knaben das Leben schenken, und sie werden die Anlagen ihrer Mutter in sich tragen: die armanischen und die lufusischen. Du wirst ihnen die Namen Sem und Japhet geben und wirst sie sorgfältig erziehen. Sie werden viele Kinder und Kindeskinder haben, die von ihnen lernen werden. Du wirst die Urmutter einer großen Familie werden, Seelah.“ „Ich hoffe, ich werde die Allmächtigen nicht enttäuschen, Wicca.“ „Das wirst du nicht, Seelah, und später…“ „Später?“
„Für Dinge, die nach uns kommen, sind wir nicht mehr verantwortlich, denke ich.“ „Danke, Wicca, daß du mir das alles gesagt hast.“ „Ich habe gehofft, daß ich noch dazu kommen würde, Seelah. Nun hole die anderen wieder herein. Sie sind voll der unnötigen Sorge.“ Im Morgengrauen kehrte Wicca zu den Göttern heim. Leise ging sie hinüber… so leise, daß nur ein weißes Leuchten, das für die Dauer eines Wimpernschlages ihren müden Leib umspielte, zeigte, was geschah. Die Anwesenden saßen noch lange in gedankenvollem Schweigen. Niemand weinte, ein feierlicher Ernst hatte sie alle ergriffen. Ein Leben war gelebt und nach dem Willen der Götter im rechten Moment beendet worden. Sie bestatteten Wicca, wie sie es gewünscht hatte, am Ufer des Nun. Bald würden die Schilfgewächse das schmale Rechteck wieder überzogen haben, und der Körper würde in den Kreislauf der Natur zurückkehren. – Es blieb ihnen nicht viel Zeit, über Wicca zu sprechen, ihrer zu gedenken. Uriel drängte, die Arbeit an dem großen Schiff fortzusetzen. Er brachte jetzt Ladungen klebriger, sich verhärtender Säfte, die er von den Urwaldbäumen in Lufus gewann, und sie dichteten damit die Ritzen zwischen den Bootsplanken ab. Die Arbeit war noch nicht beendet, als Hannah an einem milden Abend, während sie mit Seelah auf den Eingangsstufen zum Coven saß, das neue Gestirn bemerkte: „Seelah! Schau! Ein neuer Stern.“ „Wie hell er leuchtet.“ „Wo er wohl herkommen mag?“ In den nächsten Tagen näherte sich der Stern mit großer Geschwindigkeit und erleuchtete mit seinem Feuer zusehends
den Nachthimmel. Uriel beobachtete ihn aufmerksam und meinte schließlich: „Es ist jetzt Zeit, das Schiff auf den Nun zu lassen und an Bord zu gehen.“ Sie zogen mit vereinten Kräften die Stützpfosten fort, und das große Boot glitt, erst langsam, dann schneller werdend, mit leichter Schräglage ins Wasser. Es schwamm und war nicht leck. Sie trugen die Samen unter Deck, die Nahrungsmittel für Menschen und Tiere, füllten die Wasserbehälter mit Quellwasser und brachten zuletzt die Tiere in den verschiedenen Verschlägen unter. Die letzte Nacht, die sie auf Tantenen verbrachten, konnte Seelah nicht schlafen. Sie wanderte über die Insel, durch die vielen Räume und nahm Abschied vom Ort ihrer Kindheit. Sie suchte noch einmal die Grotte des Oraculums auf und entzündete den Göttern Kerzen auf der Felsenplattform. Als sie an Wiccas Grab stand, schien der neue Stern auf sie herabzufallen. Sie duckte sich erschrocken und lief in den Coven zurück. Wo er wohl einschlagen würde? Wie bedrohlich er aussah! Ganz anders als seine kleineren Vorgänger, deren Ankunft sie kaum zur Kenntnis genommen hatten. Noch ein letztes Mal stieg Seelah in den Turm hinauf und schaute aus ihrem Fenster in Richtung Arman und Lufus. Im hellen Feuer des Gestirns vermeinte sie, die Küsten der fernen Erdteile zu sehen. Sie dachte an Dinah und Harvel, die dort draußen aushielten und die am morgigen Tag sterben würden. „Lebt wohl“, flüsterte sie und glaubte, im Heulen des Windes eine Antwort zu hören: „Leb wohl, Seelah!“ Im Laufe der Nacht nahm der Sturm zu, Blitze zuckten über den Himmel, Donnergrollen tobte, und der Regen floß in Strömen. Am Morgen hatten sie Mühe, die Kinder durch das
Unwetter auf das Schiff zu bringen. Sobald alle wohlbehalten an Bord waren, löste Uriel die Leinen, ließ sie von Tantenen fort und auf den Nun hinaustreiben. Das bedrohliche Gestirn war nun hinter dem Horizont verschwunden, und die Erwachsenen warteten ängstlich auf den Moment seines Einschlags. Zu hören war in dem Unwetter jedoch nichts. Die Erde bebte… aus allen Himmelsrichtungen rollten die Wassermassen heran, hoben den Spiegel des Nun und mit ihm das große Schiff, das zwar gewaltig schwankte, aber den Naturgewalten standhielt. Lufus, Arman und Tantenen verschwanden in den Wogen, und ihr Boot wirbelte – ungesteuert – im Orkan umher. „Was habt ihr getan?“ schrie Seelah, als der hohe Turm des Coven in den Fluten verschwand. „Ihr Götter! Hört ihr mich? Was habt ihr getan?“ Verzweifelte Tränen strömten ihr über die Wangen. „Seelah!“ Krista legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern. „Du hast selbst erlebt, wie sich die Armaner und Lufusier entwickelt haben. Gerade du müßtest die Entscheidung der Göttlichen verstehen können.“ „So einfach ist das nicht, Krista. Gut, sie waren nicht begabt zur Freundschaft. Sie konnten weder Freund sein mit sich selbst noch mit den Menschen, der Welt oder den Göttern. Sie lebten nicht zum Wohl und Heil… ahnten nicht, weshalb sie auf der Welt waren. Sie taten Unrecht und haben die Allmächtigen beleidigt. Doch sie wußten es nicht besser, und sie konnten nicht anders! Sie waren böse ohne Willen und Absicht! Es war nicht ihre Schuld!“ „Wessen Schuld war es dann, Seelah? Die der Göttlichen?“ „Wer vermag das zu beurteilen, Krista?“ Es regnete noch vierzig Tage und Nächte, und die Kinder und Tiere wurden – trotz Uriels besänftigenden Einflusses – immer unruhiger. Auch Seelah war erleichtert, als die Sonne nach der
langen Zeit endlich wieder durch die Wolkendecke brach und sie das Oberdeck betreten konnten. „Was ist das?“ rief eines der Kinder und deutete auf einen Bogen farbigen Lichts, der sich leuchtend über dem Wasser spannte. „Ein Zeichen der Götter“, antwortete Uriel. „Ein Versprechen, daß dergleichen niemals wieder geschehen wird. Es gilt uns allen und besonders dir, Seelah.“ „Wie schön!“ rief Aradia. „Seht, er funkelt in allen Farben. Er wurde aus dem Regen geboren… laßt ihn uns Regenbogen nennen.“ – Das Wasser sank nur langsam, und ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Seelah konnte die Tage nicht mehr zählen, aber Krista, die sie in ihren Schriftrollen vermerkte, sagte, es seien fünfundsechzig gewesen, als das Schiff auf dem Gipfel eines Berges auflief. Noch zwei weitere Monde mußten sie auf dem Boot aushalten, während die Wasser sich verliefen und immer neue Bergspitzen sichtbar wurden. Schließlich sandte Uriel eine Taube aus. Als sie mit einer kleinen Blume im Schnabel zurückkehrte, ließen sie die Tiere frei, entluden das Schiff und stiegen in die Täler hinab.
U
nd so brach ein anderes Weltenalter an“, erzählte der alte Mann. „Mit Menschen, die alle Anlagen für körperliches und geistiges Leben in sich vereint hatten. Sie waren wie Licht und Schatten, wie Tag und Nacht, wie Sommer und Winter, wie Morgen und Abend, wie Mann und Frau, wie Greis und Kind. Sie waren die neue Hoffnung der Götter. Sie konnten wählen… sie verfügten über das Gemüt, die Einsicht, den Willen und die Freiheit, und vor ihnen lag die große Aufgabe, es besser zu machen als ihre Vorgänger.“ Der Greis schloß erschöpft. Die Sonne stand schon hoch im Mittag, und die Frauen riefen nach den Kindern. Es roch nach warmem, würzigem Essen. Die Fliege auf dem Ulmenstamm schien eingeschlafen zu sein. „Und was ist aus ihnen geworden? Haben sie es geschafft?“ erkundigte sich das kleine Mädchen mit den Zöpfen, deren Enden mittlerweile ganz zerfranst aussahen. Der Alte erhob sich, klopfte sich den Staub von der Hose, nahm seine Wasserflasche und wandte sich zum Gehen. „Das dürft ihr mich nicht fragen“, brummte er. „Seht euch um!“ Auch die Kinder erhoben sich, liefen den rufenden Müttern in die Arme. Eines drehte sich noch einmal um: „Wie heißt du eigentlich?“ „Uriel“, antwortete der Alte. Aber die Zeit des Zuhörens war vorüber.