Alina Kirschniok Circles of Support
Alina Kirschniok
Circles of Support Eine empirische Netzwerkanalyse
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Alina Kirschniok Circles of Support
Alina Kirschniok
Circles of Support Eine empirische Netzwerkanalyse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Diese Dissertation wurde von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommen. Tag der Disputation: 21.12.2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17248-4
Danksagung
Ausgesprochen dankbar bin ich jeweils der Stiftung Behinderung und Hochbegabung Vaduz, Lichtenstein und der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, Deutschland für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums. Unvergesslich bleiben die Eindrücke aus dem Vorstellungsgespräch mit Michael Jäger (Stiftung Behinderung und Hochbegabung). Genauso unvergesslich bleiben die Eindrücke aus den Gesprächen mit Gisela Loseff-Tillmanns (Professorin für Soziologie, Arbeitsund Mediensoziologie an der Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozialund Kulturwissenschaften) und Nils Metzler-Nolte (Professor für Anorganische Chemie an der Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Chemie und Biochemie), beide im Auswahl-Ausschuss der Friedrich-Ebert-Stiftung. In besonderem Maße danke ich Professorin Dr. Anne Waldschmidt (Politik und Rehabilitation, Disability Studies, Universität zu Köln) sowie Professorin Dr. Kerstin Ziemen (Pädagogik und Didaktik bei geistiger Behinderung, Universität zu Köln) für die Zusammenarbeit, in denen konstitutive Merkmale einer Kultur der Anerkennung stets spürbar und lebendig blieben. Ich danke für das entgegengebrachte Vertrauen und für die kritische Würdigung. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Professorin Dr. Evemarie Knust-Potter (Fachhochschule Dortmund, Behindertenpädagogik, Inclusion und Diversity), die mir einen Zugang zum Circle of Support-Feld eröffnete und den Circle of Support-Teilnehmenden für ihre Hilfe bei der Suche nach Antworten. Ich danke den Menschen mit Autismus, die mir den Falken in Rainer Marias Rilkes Dichtungen, dem Muster sozialer Ordnung in der MangaComic-Welt, der E = mc^2-Formel, der Superzelle im Universum und der Vergleichstheorie von Kreuzungen näherbrachten. Ich danke denjenigen, die mir von sozialen Hindernissen aus ihrer Sicht erzählten. Äußerst dankbar bin ich Professorin Dr. Iris Beck (Universität Hamburg, Allgemeine Soziologie und Behindertenpädagogik) für die Ein,- Durch- und Überblicke in den letzten Zügen der Promotionsphase. Dank schulde ich Dr. des Lakshmi Kotsch, Dr. Claudia Gottwald (Universität Dortmund), Miguel Tamayo und Inga Blanke (Universität Bremen). Was hätte ich nur ohne euch gemacht? Dank gilt Willi Beutler für das Lektorat, auch Alexandra Götz, Hans Greis und Veronika Schreiber halfen mit ihren Rückmeldungen. Außerordentlich dankbar bin ich meinen Eltern Adelheid und Helmut Kirschniok für ihren unermüdlichen Einsatz. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. 5
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis....................................................................................... 10 Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 11 Tabellenverzeichnis ............................................................................................ 13 Wortlegende........................................................................................................ 14 1 1.1 1.2
Einleitung .................................................................................................. 16 Gegenstand und Problemstellung .................................................... 19 Fragestellung und Methodik ............................................................ 23
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Theoretische und analytische Dimensionen der Netzwerkanalyse ............ 25 Zum Begriffsfeld des sozialen Netzwerks ....................................... 25 Funktion und Ressourcen sozialer Netzwerke ................................. 28 Dimensionen der Netzwerkanalyse.................................................. 32 Geschichte der Netzwerkanalyse ..................................................... 35 Netzwerkanalyse zwischen Theoremen und Postulaten .................. 37
3 3.1
Netzwerke und soziale Unterstützung im Kontext von Behinderung........ 40 Behinderung im gesellschaftlichen Kontext .................................... 40 3.1.1 Das autistische Kontinuum ......................................................... 45 3.1.2 Behinderung und Selbstbestimmung........................................... 51 3.1.3 Selbstbestimmung bei Menschen mit autistischem Kontinuum .. 54 Soziale Kontakte und Unterstützung im Kontext von Behinderung 56 Soziale Beziehungen im Kontext von Autismus.............................. 58
3.2 3.3 4 4.1 4.2
4.3
Erhebungs- und Auswertungsdesign ......................................................... 62 Der Forschungsprozess – im Überblick ........................................... 62 Von der explorativen Durchsicht zum Code-Baum ......................... 63 4.2.1 Datensatz I (Berichte und Protokolle von COS- Studierenden) .. 63 4.2.2 Erstellung eines Code-Baums zur Systematisierung der im Datensatz I gefundenen thematischen Aspekte ........................... 65 Analyse des Datensatzes I ............................................................... 66 4.3.1 Struktur und Funktion von Circles of Support ............................ 66 4.3.2 Unterstützungsleistungen eines Circles of Support ..................... 71 7
4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7
4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
5 5.1
5.2
5.3 5.4 5.5 8
Dis-/Harmonie Zusammensetzung .............................................. 76 Offenheit ..................................................................................... 76 Grenzen des COS-Modells.......................................................... 79 Selbstbestimmung ....................................................................... 80 Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bei der Kategorisierung von Behinderung ......................................................................... 82 4.3.7.1.1 Spannungsfeld in der Unterstützung durch die Kategorisierung von Behinderung....................................... 84 4.3.8 Relationship Map ........................................................................ 87 4.3.9 Reflexion: Analyse und Schlussfolgerungen .............................. 88 Wahl der Erhebungsmethodik: Das problemzentrierte Interview nach Witzel (1982) .......................................................................... 94 Entwicklung des Interviewleitfadens (Datensatz II) ....................... 95 Bestimmung der InterviewpartnerInnen und Durchführung der Interviews ........................................................................................ 97 Transkription der Interviews ........................................................... 99 Entwicklung und Versand der Fragebögen (Datensatz III) ............. 99 Auswertung der Datensätze II und III unter Berücksichtigung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1994) und nach netzwerkanalytischen Kriterien ..................................................... 102 Analyse der Datensätze II – III und theoretische Reflexion .................... 107 Netzwerkkarten der Fokuspersonen............................................... 108 5.1.1 Svetlana Oleg ............................................................................ 108 5.1.2 Niklas Behrendt ........................................................................ 109 5.1.3 Valerie Grebe ............................................................................ 111 5.1.4 Strukturelle und inhaltliche Morphologie der Netzwerkkarten: Vergleich und Reflexion ........................................................... 112 5.1.5 „.. es liegt einfach an der Störung, denke ich mal“ (Therapeutin Sandra Schubertz) ..................................................................... 115 Strukturelle und inhaltliche Morphologie der Circles of Support .. 116 5.2.1 Die einzelnen Circles im Überblick .......................................... 116 5.2.2 COS I ........................................................................................ 116 5.2.3 COS II ....................................................................................... 117 5.2.4 COS III...................................................................................... 118 Vernetzung der COS ...................................................................... 118 Beweggründe der Teilnahme am Circle of Support und Ziele der Akteure .......................................................................................... 120 „.. man schlüpft in viele Rollen“.................................................... 122
5.6
5.8
Netzwerkgröße, Verhältnis der Akteure und informelle Charakteristika ............................................................................... 123 Funktion und Ressourcen von Circles of Support ......................... 124 5.7.1 Zugang zu sozialen Kontakten .................................................. 124 5.7.2 Ressourcen der COS-Unterstützung ......................................... 124 5.7.3 Varianten reziproker Unterstützung .......................................... 126 5.7.4 Erweiterung des Handlungssystems (Freizeitaktivitäten) ......... 127 5.7.5 Entwicklung von mehr Selbstbewusstsein ................................ 128 5.7.6 Wissenserwerb und Entwicklung sozialer Kompetenzen ......... 128 5.7.7 Entdeckung neuer Perspektiven für das therapeutische Arbeiten..................................................................................... 130 5.7.8 Selbst- und Fremdbestimmung ................................................. 131 5.7.8.1 Exkurs: Menschen mit Autismus zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ........................................................... 131 5.7.8.2 Selbst- und Fremdbestimmung im Circle of Support ...... 133 5.7.8.3 Kontextbedingungen für Selbstbestimmung.................... 136 Grenzen.......................................................................................... 138
6
Abschlussdiskussion ............................................................................... 140
5.7
Literaturverzeichnis .......................................................................................... 156 Anhang 171 Im Online PLUS Portal des VS Verlags für Sozialwissenschaften ist der empirische Datensatz II und III der vorgelegten Studie abrufbar.
9
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abs. Abstimm. Bsp. COS ebd. et al. FB FP f ff NGO SB St. Tab. u.a. usw. vgl. WfbM z.B.
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Abbildung Abschnitt Abstimmung Beispiel Circles of Support ebenda und andere Fremdbestimmung Fokusperson folgend fortfolgend Non Governmental Organisation (Nichtregierungsorganisation) Selbstbestimmung Student/Studentin Tabelle unter anderem und so weiter vergleiche Werkstatt für behinderte Menschen zum Beispiel
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das Netzwerk-Geflecht .............................................................. 16 Abbildung 2: Innerer Netzwerk-Raum ............................................................. 18 Abbildung 3: Innerer Netzwerk-Raum mit Zeit- und Relations-Achse ............ 19 Abbildung 4: Der institutionelle Weg vs. der nicht-institutionelle Weg ........... 22 Abbildung 5: Graphen typischer ego-zentrierter Netzwerke ............................ 26 Abbildung 6: Funktion und Ressourcen sozialer Netzwerke ............................ 31 Abbildung 7: Übersicht Entwicklungslinien der Netzwerkanalyse .................. 35 Abbildung 8: Forschungsprozess im Überblick ................................................ 62 Abbildung 9: Codebaum des Datensatzes I ...................................................... 65 Abbildung 10: Relationship Map Manuel Aschermann...................................... 87 Abbildung 11: Relationship Map Eva Zimmer ................................................... 87 Abbildung 12: Curricularer Ablauf ..................................................................... 89 Abbildung 13: Analysekriterien struktureller und inhaltlicher Merkmale der COS-Studie ................................................................................. 96 Abbildung 14: Netzwerkkarte nach Bullinger und Nowak (1998: 128) ........... 100 Abbildung 15: Beispiel des ersten Kodiervorgangs im Interview .................... 104 Abbildung 16: Beispiel einer Paraphrase-Tabelle zu einem thematischen Aspekt ...................................................................................... 104 Abbildung 17: Auszug einer thematischen Verdichtung (Interviewanalyse).... 105 Abbildung 18: Beispiel eines Personengruppenvergleichs (Interviewanalyse) 105 Abbildung 19: Netzwerkkarte Svetlana Oleg ................................................... 108 Abbildung 20: Netzwerkkarte Niklas Behrendt ................................................ 110 Abbildung 21: Netzwerkkarte Valerie Grebe ................................................... 111 Abbildung 22: Darstellung der drei Netzwerk-Karten ...................................... 114 Abbildung 23: Drei Circles im Überblick ......................................................... 116 Abbildung 24: Verbindungen COS I ................................................................ 119 Abbildung 25: Verbindungen COS II und III ................................................... 119 Abbildung 26: Ziele der Akteure ...................................................................... 121 Abbildung 27: Zugang soziale Kontakte .......................................................... 124 Abbildung 28: Gegenseitige Unterstützung ...................................................... 126 Abbildung 29: Ungleichgewicht der Unterstützung ......................................... 126 Abbildung 30: Motivierende Unterstützung ..................................................... 127 Abbildung 31: Verankerung der Aktivitäten .................................................... 127 11
Abbildung 32: Entwicklung von mehr Selbstbewusstsein ................................ 128 Abbildung 33: Entwicklung sozialer Kompetenzen ......................................... 128 Abbildung 34: Entwicklung neuer Perspektiven .............................................. 130 Abbildung 35: Veränderung der therapeutischen Arbeit .................................. 130 Abbildung 36: Grenzen des COS...................................................................... 138 Abbildung 37: Strukturelle und inhaltliche Merkmale von COS im Ländervergleich ........................................................................ 150
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Kriterien zur Erfassung sozialer Netzwerke ................................... 33 Tabelle 2: Zonen für die behinderungsanalytische Perspektive bei der Untersuchung sozialer Netzwerke................................................... 43 Tabelle 3: Teilnehmende am COS-Projekt von 1998 bis 2007 ......................... 63 Tabelle 4: Activity Plans von vier Fokuspersonen ........................................... 81 Tabelle 5: Merkmale individueller Handlungen ............................................... 91 Tabelle 6: Elemente sozialer Enthinderung am Beispiel der Subgruppe Studierender .................................................................................... 93 Tabelle 7: Interviewfragestellungen einer Fokusperson ................................... 96 Tabelle 8: Themenblöcke des Interviews............................................................ 97 Tabelle 9: Unterstützungsdimensionen nach Diewald (1991:71) ................... 101 Tabelle 10: Rücklauf der Fragebögen ............................................................... 101 Tabelle 11: Ausschnitt Kodierleitfaden ............................................................ 102 Tabelle 12: Dimensionen der COS-Unterstützung ........................................... 125 Tabelle 13: Kontextbedingungen für Selbstbestimmung .................................. 136 Tabelle 14: Variable und stabile Merkmale der COS-Struktur ......................... 141
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Wortlegende
Be| Hinderung |be- drückt Einwirkung auf einen Gegenstand aus, durch lokale Bedeutung ‚um … herum’: be-graben, einschließen, be-ringen, be-reinigen, bezwingen <1061>, hindern: zurückhalten, hemmen, vorenthalten, behindern: hemmen, aufhalten, verhindern – blockieren, Hindernis – Hemmnis, Sperre <542>, Barrieren, Behinderung im medizinischen Sinne ein individuelles Merkmal von Menschen, im Sinne des sozialen Modells ist Behinderung sozial konstruiert (ausführlicher in Abschnitt 3.1 in der vorliegenden Arbeit) Ent| Hinderung |ent- drückt beispielsweise Hinwendung zu einem Gegenüber, den aufhebenden Gegensatz einer Handlung, das Entfernen aus <286> Selbst| Bestimmung |selb- existiert in Wortzusammensetzungen wie zur selben Zeit, im selben Haus, vom selben Stoff <1276>, selbstständig- für sich bestehend <1276>, das Selbst- im Sinne von ‚das seiner selbst bewusste Ich‘ (Drosdowski 1989: 666), daraus Ableitungen wie selbstbewusst, Selbstsucht, selbstverständlich, Selbstverwaltung <1227>, Bestimmung- aus ‚bestimmen‘ im Sinne von anordnen, festsetzen, auch die Stimme (sprachlich), festlegen, definieren, klassifizieren <126> Ver| Bindungen |ver- enthält vielfältige Funktionen und ist im negativen wie im positiven Sinne zu deuten: verrücken, vertreiben, aber auch verstärken <1497>, Bindung- im Sinne von Verknüpfung, Zusammenfügung, verbinden im Sinne von ‚Beziehungen zwischen Personen herstellen‘, Verbindung für Zusammenhang, enge Beziehung, auch Vorgang des Verbindens, Bündnis, Gruppierung <140> Soziales Netz| Werk |Netz als geknüpftes Maschenwerk, Fischernetz, Gesamtheit vieler sich kreuzender und abzweigender Verbindungen zu verstehen <920>, ein Geflecht von Knoten, Werk im Sinne von Handlung, das Geschaffene <1558>, sozial allgemein: die Gesellschaft betreffend, gesellschaftlich, gemeinschaftlich, gesellig, erst nach 1830 im Deutschen eingebürgert und wird zum 1
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Die in < > gesetzten Zahlen sind auf dieser und der folgenden Seite als Seitenzahlangabe zu verstehen. Die entsprechenden Angaben zum Wort sind dem Etymologischen Wörterbuch des Deutschen von Pfeifer (2005) entnommen.
politischen Schlagwort soziale Frage, soziale Verhältnisse <1312>, soziales Netzwerk (ausführlicher in Abschnitt 2.1) Soziale Kontakte |Kontakt: Berührung, Verbindung <711>, sozialer Kontakt zwischen/ zu Menschen Unter| Stützung |unter im Sinne von räumlich tiefere Lage als der Bezugspunkt, zwischen wie ‚unter uns‘, vielfältige Funktion des Wortes: unterbinden, unterbrechen <1488>, unterstützen, aus Halt geben, am Fallen, Zusammenbrechen hindern, mit einer Stütze halten, dagegenhalten, im sozialen Sinne auch ‚Halt und Hilfe bietender Mensch‘<1390> Autismus |au| körperlicher Schmerz, spontane Lautäußerung, Gefühlsregung <72>, Autismus findet sich im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (2005) nicht, im Fremdwörterbuch Duden (1990) als Störung durch starke Ichbezogenheit, mit einhergehendem Verlust des Umweltkontaktes assoziiert <94>; wird in der Psychologie/ Behindertenpädagogik oftmals mit Störung, Krankheit und/oder Behinderung in Verbindung gebracht, im DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 1998) 'als tiefgreifende Entwicklungsstörung' bezeichnet (ausführlicher in Abschnitt 3.1.1) Funktion |functio (lat.) im Sinne von Aufgabe, Wirkungsbereich <384> Ressourcen |Hilfsmittel, Reserven, (altfranzösisch) resorse für Hilfe; (mittelfranzösisch) ressourse im Sinne von Wiederaufrichtung, Wiederherstellung <1120> Circle of Support (COS) |ein Unterstützungsnetzwerk für Menschen mit Behinderung Handlung |Tat, Geschehen; handeln: Verb ‚etwas tun, tätig sein‘ <504> Struktur |Gefüge, Bau, äußere und innere Gliederung, Anordnung der einzelnen Teile eines Ganzen und ihr Verhältnis zueinander (…) Gefüge aus voneinander abhängigen Teilen (…), Ordnung, Aufbau (der Rede, Worte, Gedanken) <1384> Individuum |Einzelwesen, der einzelne Mensch, individuum (lat.) kleiner Baustein der Materie, Atom; individuell – das Individuum betreffend (…), Individualität – ‚Gesamtheit der Besonderheiten eines Einzelwesens‘ <578>
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1
Einleitung
Die vorliegende Arbeit untersucht Circles of Support (abgekürzt: COS) nicht ausschließlich aus der rehabilitationswissenschaftlichen Perspektive (‚den behinderten Akteur im Fokus‘), sondern hat auch die im Circle of Support-Kontext beteiligten Akteure im Blick (netzwerkanalytische Perspektive). Aus netzwerkanalytischer Perspektive geht es zum einen im formalen Sinne um die Darstellung von COS als ein soziales Netzwerk. Aus der netzwerkanalytischen Perspektive werden – plakativ formuliert – Akteure als Knoten in einem Netz betrachtet. Aus dieser Perspektive betrachtet ist der einzelne Mensch als Knoten Teileiner (Gesamt-)Gesellschaft. Die Knoten haben – wie die Abbildung verdeutlicht – einen inklusiven und exklusiven Charakter2. Exklusiv im Sinne von ‚sich vorzüglich fühlen‘ schließen die Knoten andere Knoten aus und sondern sich ab. Nach diesem Verständnis sind exklusive Knoten inklusiv im Sinne von ‚eingeschlossen, abgegrenzt‘. Es besteht demnach ein Doppelcharakter. Gemeint ist damit: ohne Inklusion keine Exklusion oder anders formuliert: Das eine kann nicht ohne das andere bestehen. Abbildung 1: Das Netzwerk-Geflecht, entnommen aus: Buettner (2008: 1)
2
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Exklusiv: sich gesellschaftlich abschließend, anspruchsvoll, vorzüglich, ausschließend, ausschließen, absondern, zuschließen, versperren (Pfeifer 2005: 310); begriffliche Erweiterung: Exklusion (Ausschließung). Inklusive: einschließlich, eingeschlossen, einschließen, einsperren (Pfeifer 2005: 582); begriffliche Erweiterung: Inklusion.
Zu sehen sind auch Verbindungen zwischen den Knoten. Im Ausschnitt der Abbildung zeigen sich zwei verdichtete Knoten-Netze, die über zwei Knoten miteinander verbunden sind. Das Struktur-Modell bildet die inhaltliche Morphologie jedoch nicht ab. Löst man sich gedanklich von der strukturellen Morphologie und wechselt in die inhaltlich-relationale Morphologie, so könnten die Verbindungslinien in soziale Beziehungen übersetzt werden. Die strukturelle und inhaltlich-relationale Morphologie gleichzeitig gemeinsam zu denken und visuell darzustellen dürfte schwierig sein. So kann zunächst in einer Art Zusammenschau vereinfacht postuliert werden: Soziale Netzwerke gelten als immanenter Teil unserer Gesellschaft (vgl. Pfennig 1995: 2). Darauf weisen auch Bommes und Tacke (2006: 37) hin: „Netzwerke sind ubiquitär. Es gibt keinen Bereich in der Gesellschaft, in dem Netzwerke keine Rolle spielen. Sie reichen von Nachbarschaftsnetzwerken, Wirtschaftsförderungsnetzwerken über Wissenschafts- oder Gesundheitsnetzwerk, Frauennetzwerke, Antidiskriminierungsnetzwerke bis hin zu solchen, die gemeinhin als problematisch gelten wie Schleuser- und kriminelle Schaffungsnetzwerke“. Das Netzwerkkonzept erhält in den unterschiedlichsten Forschungsrichtungen zunehmende Aufmerksamkeit. So konstatiert Weyer (2000: 1): „Der Netzwerkgedanke erfreut sich seit etlichen Jahren einer ungebrochenen Popularität in der Wirtschaftspraxis, in der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Forschung wie auch in der Industriepolitik“. Soziale Netzwerke erzeugen einerseits kommunikative Austauschprozesse und mobilisieren soziale Ressourcen, sind andererseits aber auch Schaltfunktionen für Ausgrenzung und soziale Kontrolle (vgl. v. Kardorff 1995: 403). In einem sich gesellschaftlich entwickelnden Zusammenhang – es seien an dieser Stelle nur wenige Stichworte genannt, ohne sie ausführlich zu explizieren: Industrialisierung, Sozialstaatentwicklung und Globalisierung, Prozesse der Institutionalisierung und der Individualisierung – werden soziale Netzwerke jedoch überwiegend als ein Kriterium für Modernisierungsprozesse und als wesentlicher Indikator für soziale Integration gesehen (vgl. Weyer 2000: 34). Die Netzwerkforschung als Forschungsdisziplin beschäftigt sich, wie bereits angedeutet, oberflächlich betrachtet im Wesentlichen mit fehlenden, vorhandenen und different starken Verbindungen zwischen den Knoten bzw. Netzwerken und fokussiert je nach Ausrichtung und Interessenschwerpunkten unterschiedliche zu analysierende Einheiten. Exemplarisch werden einzelne AnalyseEinheiten vorgestellt (vgl. Kap. 2). Ziel der Studie ist nicht, die Ergebnisse der komplexen Netzwerkforschung darzustellen, sondern Circles of Support auf der Grundlage relevanter netzwerkanalytischer Kategorien zu untersuchen. In dieser Studie wird davon ausgegangen, dass Knoten, Verbindungen und Netzwerke hinsichtlich ihrer Lebenszeit, Qualität und Funktion einem steten 17
Wandel unterworfen sind: Knoten existieren, verbinden sich willkürlich (interessengeleitet) und nichtwillkürlich mit anderen Knoten und bilden differente Beziehungen, Rollen, Gesellschaftsformen usw. ab. In ihnen werden differente Austauschprozesse wirksam. Fokus der vorliegenden Studie ist COS als ein soziales Netzwerk, das aus Knoten besteht. Die Knoten sind Individuen, die aus unterschiedlichster Motivation heraus zusammenkommen und ein Netzwerk bilden. Dabei wird ein COS in sozialen Strukturen eingebettet verstanden. Vergegenwärtigt man sich COS als strukturierenden und strukturierten Raum (Abb. 2) im Netzwerk-Geflecht (Abb. 1), so sind darin individuelle Handlungen vor dem Hintergrund folgender Fragestellungen darstellbar: Wer sind die Knoten (Akteure), die zusammen kommen und ein Netzwerk bilden? Was passiert in diesem inneren Netzwerk-Raum? Welche Rollen lassen sich abstrahieren? Welche Ziele verfolgen die Knoten (Akteure)? Welches Ziel verfolgt das Netzwerk? Welche Ressourcen werden in diesem inneren Netzwerk-Raum Abbildung 2: Innerer Netzwirksam? Mit wem sind die Akteure vernetzt? werk-Raum; Entwurf der Welche Ressourcen aus dem inneren Raum Zeichnung entspricht dem zirkulieren nach außen und welche werden von Marktlücken-Modell (gefunaußen in den inneren Raum re-zirkuliert? Die den bei Krogerus/Tschäppeler vorliegende Studie untersucht zusammenge2008) fasst mikroanalytisch die Funktion (Wirkungsbereich/Aufgabe) von Circles of Support. Dem inneren Netzwerk-Raum inhärent ist die Zeit- und Relations-Achse. Die Zeit-Achse ist gekennzeichnet durch einen Start-Point, welche im Ziel ihre Vollendung findet. Die Relations-Achse sinnbildlicht variable relationale (schwache – starke, enge – weite, hierarchische) Distanzen innerhalb individueller Handlungen, die sich durch die Akteure (Knoten) manifestieren. In dieser Arbeit wird somit von folgendem Theorem ausgegangen: Der Akteur mit seiner sozialen, kulturellen und historischen Prägung handelt in Raum und Zeit. Dies tut er interessengeleitet, wobei er sich dabei auch an sozialen Normen, Werten und Rollenanforderungen orientiert.
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Ziel
Zeit-Achse
Relations-Achse
Akteur – mit sozialer, kultureller und historischer Prägung in Raum und Zeit handelnd
Start-Point
Abbildung 3: Innerer Netzwerk-Raum mit Zeit- und Relations-Achse In der vorliegenden Arbeit wird auch das soziale Netzwerk von Akteuren mit Autismus betrachtet. Auf diese Weise soll ein Einblick in deren Netzwerk erhalten werden. Unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten wird die strukturelle und inhaltliche Morphologie von Circles of Support und dem sozialen Netzwerk des Akteurs mit Autismus betrachtet.
1.1 Gegenstand und Problemstellung Die hier vorliegende Studie hat so genannte Circles of Support 3 zum Gegenstand. Bei den COS handelt es sich um Unterstützungsnetzwerke für Menschen mit Behinderung. Selbstbestimmung gilt konzeptionell als ein wesentlicher Leitgedanke der Circles of Support (vgl. Knust-Potter 1998: 155). COS entstand aus der Initiative zweier Frauen in Kanada: Marsha Forest, einer Hochschuldozentin, und Judith Snow, einer Frau mittleren Alters mit Muskeldystrophie, die in einem Seniorenheim lebte. Zunächst war es Marsha Forest, die gemeinsam mit Judith Snow Ressourcen aus dem Gemeinwesen mobilisierte, damit diese mit Unterstützung und Assistenz eine eigene Wohnung beziehen konnte. Einige Zeit später, als Forest sich mit der Diagnose Krebs konfrontiert sah, entwickelte Snow gemeinsam mit Forest Pläne und Strategien zur Verbesserung von deren Lebenssituation (vgl. Pearpoint 1999). Die erste Definition von COS geht nach Mount et al (1988) auf Judith Snow und Marsha Forest zurück, nach welcher sich eine Gruppe von Akteuren in regelmäßigen Zeitabständen trifft, um einen Akteur mit Behinderung bei der Errei3
Die Kursivsetzung gibt an, dass es sich um COS am Dortmunder Beispiel handelt.
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chung selbst gesetzter Ziele zu unterstützen (vgl. Mount et al 1988, Perske 1989, Knust-Potter 1998: 155). Dabei wird der Mensch mit Behinderung die ,Fokusperson‘ genannt. Der COS-Ansatz wurde maßgeblich von der angloamerikanischen Community-Living-Bewegung beeinflusst, die gegen institutionelle Verwaltung und Fremdbestimmung von erwachsenen behinderten Menschen im Gemeinwesen argumentierte (vgl. Knust-Potter 1998: 4f, Mount et al 1988, Perske 1989). Obwohl sich der COS-Ansatz in den 1980er Jahren in Kanada und Großbritannien ausbreitete (vgl. Knust-Potter 2006), sind der Verfasserin der vorliegenden Studie nach einschlägiger Recherche empirische Studien über Circles of Support im anglo-amerikanischen und kanadischen Raum bis auf die qualitativen Studien von Gold (1994, n=1 und 1999, n=6), Whitaker, Philip/ Barratt et al (1998; n= 524), Kikabhai/ Joe Whittaker (2005, n= 9) nicht bekannt. Nach Durchsicht der veröffentlichten englischen Artikel über Circles of Support lassen sich diese in “Experiences with Relationship Maps and Activity Plans5, Tools and Stories about Building Inclusive Communities“ zusammenfassen. Ihnen liegt die gemeinsame Annahme zugrunde, die Forest et al auf den Punkt bringen: „Circles have often been built around people who have become trapped in the human service system or other forms of isolation. However, circles are change tools and are applicable to anyone who is vulnerable, isolated, or in crisis” (Forest et al 2003: 87). Kikabhai und Whittaker (2005: 6) kritisieren die Aussagen über Circles of Support in Großbritannien wie folgt: „Examples of ,circles of support/ friends‘ within the literature from an UK context is scare and what does exist, in part, appears confusing and contradictory“. Sie sprechen damit die unterschiedlichen Organi-sationsformen und Arbeitsweisen der Circles an. Gold (1994) räumt ein: “[At first, AK] I did not understand the ethos of the group” (442), am Ende ihrer Einzel-fallstudie konstatiert sie: “The debate about the value of ,circles of friends‘ as a support-providing and friendship-making strategy must go on” (451). Auch Whitaker et al machen auf das Besondere dieser Netzwerkform aufmerksam: “What is indisputable, however, is that the circles have provided a means of mobilising and expressing support of a very practical nature, at a very
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Die Studie beschreibt den Prozess der Implementierung und erfasst die Erfahrungen mit dem Konzept „Circle of friends“ aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure: 7 Schüler mit Autismus, Circle Leader, Circle Members (peer group) und Eltern. Eine Relationship Map erfasst die sozialen Beziehungen der Fokusperson. Dabei wird durch die Visualisierung von konzentrischen Kreisen nach Nähe und Distanz unterschieden. Ein Activity Plan erfasst die Wünsche und Ziele der Fokusperson, die mit Unterstützung der Circle Members erreicht werden soll.
limited cost and with few, if any, discernible drawbacks for any of the participants” (Whitaker et al (1998: 64). Forschungsaufenthalte der Verfasserin in England führten zu Gesprächen mit zwei Expertinnen von Circles Network UK (Mandy Neville und Nadine Jay6). Nach deren Vorstellung rekrutieren sich die von ihnen begleiteten Circles in der Regel aus vier bis zwölf Personen des persönlichen Umfelds der sog. Fokusperson und umfassen selbst ausgewählte Freunde, Bekannte und Nachbarn, die die Fokusperson in den unterschiedlichsten Sozialräumen (Freizeit, Arbeit, Schule) unterstützen. Dieser Circle wird dabei sukzessiv von einem Facilitator mit einer supervisorischen und koordinierenden Funktion begleitet. Hierzulande verwenden Boban (2007: 8, 2008: 232) und Lindmeier (2002: 222) den Begriff ‚Unterstützerkreis‘. In einem Unterstützerkreis treffen sich ausgewählte Personen, um über Themen wie z. B. Ressourcen sozialer Unterstützung im Umfeld der Fokusperson, Perspektiventwicklung in Form von Zukunftsvisionen und Vernetzung zu sprechen. In der Rezeption von Boban, Lindmeier und auch Doose (2000: 22) steht die Installation von Unterstützerkreisen im Rahmen der persönlichen Zukunftsplanung: Die Zukunftsplanung ist eine „Planungsmethode, deren Ziel es ist, ausgehend von den Wünschen eines Menschen mit Unterstützungsbedarf, der Hauptperson, ein Bild einer wünschenswerten Zukunft zu entwerfen und Wege zu ihrer Realisierung zu finden“ (Lindmeier 2006: 101). Aus der Zukunftsplanung heraus können Unterstützerkreise entstehen. Niedermair (2004: 72 f.) verwendet den Begriff des persönlichen Unterstützerkreises als Kernelement der individuellen Zukunftsplanung und beschreibt den Unterstützerkreis als soziale Praxis im schulischen Kontext. Auch Thimm und Wachtel (2002) führen den Begriff der Unterstützerkreise auf, die dem Circle of Support am Beispiel von Circles Network UK sehr ähnlich sind: Eine Gruppe, bestehend aus Familienmitgliedern, Nachbarn, Freunden und Mitarbeitern von Einrichtungen, wird gebeten, dem Akteur mit Behinderung bei der Umsetzung von Zielen behilflich zu sein. Dies dient der Intensivierung des sozialen Netzes aller Involvierten. Eine Hauptaufgabe besteht darin, Akteure aus dem sozialen Nahraum zu finden, die gemeinsam den Akteur mit Behinderung unterstützen. Auch Theunissen7 zählt Maßnahmen auf, die darauf abzielen, Familien mit behinderten Angehörigen zu einem selbstbestimmten Leben in der Nachbarschaft zu verhelfen; dazu gehören u. a. die konkrete Analyse der Lebenssituation und des sozialen Nahraumes einschließlich der Dienstleistungssysteme (ähnlich
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Nadine Jay ist innerhalb der Circles Network Organisation Koordinatorin im CREDO Projekt „that practices and teaches others to build inclusive communities through the development of Circles of Support“ (Jay 2003: 24). entnommen aus: http://www.assista.org/files/georg _theunissen. pdf ,15.5.06.
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wie die Relationship Map8, die im Rahmen von COS beim Erstkontakt erstellt wird). Ein weiteres Angebot zur Stärkung der Familien ist die Wegbereitung und Unterstützung von regionalen Zukunftskonferenzen – Theunissen spricht in diesem Kontext von Circles of Support als rundem Tisch mit allen Betroffenen – in denen Ressourcen auf alltagsbezogener und handlungspraktischer Ebene mobilisiert werden. In Abgrenzung zu den dargestellten Ausführungen findet sich der COSAnsatz als Theorie-Praxis-Modell bei Knust-Potter (2006). Knust-Potter implementierte an der Fachhochschule Dortmund 1998 gemeinsam mit Studierenden der Angewandten Sozialwissenschaften erstmals Circles für Menschen mit Autismus. Danach wurden im Rahmen des EU-India-Forschungsprojektes „Circles of Support for people with disabilities and autism in India and the EU“ von 2004 bis 2006 weitere Circles für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und kognitiven Differenzen eingerichtet. Nach dem Dortmunder Modell werden Fokuspersonen und Studierende von der Fachhochschule gesucht und zusammengebracht, wohingegen sich Unterstützerkreise nach dem Lindmeier/Boban-Modell aus einer Zukunftskonferenz herausbilden. Circles of Support/Circle of Friends nach dem Circles Network UK-Modell entstehen durch folgenden Prozess: Der Akteur mit Behinderung/ Unterstützungsbedarf oder deren familiäre Bezugspersonen wenden sich an die Organisation Circles Network UK und bitten einen Facilitator zu sich nach Hause, der dann gemeinsam mit den hilfesuchenden Akteuren zunächst eine Relationship Map und einen Actionplan erstellt, bevor die Circle Members in spe aus dem sozialen Nahraum zu einem Treffen eingeladen werden. Erst nach diesem Treffen kristallisieren sich die Akteure zu einem Circle of Support heraus, der je nach Interessenverfolgung in den unterschiedlichsten Kontexten Unterstützung leistet. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich in Deutschland wie in Großbritannien und Kanada unterschiedliche Konzeptualisierungen von Unterstützerkreisen/ Circles of Support abzeichnen, wie folgende Abbildungen illustrieren: Institution Hilfesuchender Akteur
Facilitator Circle Unterstützer
Abbildung 4: Der institutionelle Weg vs. der nicht-institutionelle Weg
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Relationship Map: kreisförmige Erfassung des Beziehungsgeflechts einer Person.
Zu eruieren gilt, wie sich die unterschiedlichsten Organisationsformen von COS innerhalb gesellschaftlicher Strukturen verhalten und welche Wandlungsimpulse sie auslösen. Doch dies ist nicht der Fokus der vorliegenden Studie. Ziel der vorliegenden Studie ist die Untersuchung und Darstellung von Circles of Support am Dortmunder Beispiel. Die Studie möchte systematisches Wissen zur Struktur und Funktion von Circles of Support aus der Sicht aller im COS-Kontext teilnehmenden Akteure (Fokusperson, Studierende, am Circle beteiligte Familienangehörige und therapeutische Fachkräfte) zusammentragen und damit einen originären Beitrag zur theoretischen Fundierung dieses Konzepts leisten.
1.2 Fragestellung und Methodik Häufig wird dem Netzwerkkonzept nur eine Funktion zugewiesen: nämlich die soziale Unterstützung (vgl. Keupp 1988: 118). Moos und Mitchell (1982) haben auf weitere Netzwerkfunktionen aufmerksam gemacht: Sie nennen Teilhabe an Freizeit- und sozialen Aktivitäten, emotionale Unterstützung, Beratung und materielle Dienstleistungen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass ein Circle of Support den Akteur mit Behinderung unterstützt. Empirisch ist zu klären, ob erstens ein COS hält, was er verspricht, und zweitens, was er für alle darin beteiligten Akteure bereithält. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie bildet daher folgende zu reflektierende Forschungsfrage ab: Wie ist ein typischer Circle of Support am Dortmunder Beispiel hinsichtlich seiner Struktur konstituiert und welche Unterstützung leistet er? Welche Funktion hat ein Circle of Support für die beteiligten Akteure? Oder anders gefragt: Was leistet er für die beteiligten Akteure und welche Ressourcen ziehen die involvierten Personen aus diesem Netzwerk? Dabei werden unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten die strukturellen und inhaltlichen Merkmale der Dortmunder Circles of Support für Akteure mit Autismus in den Blick genommen. Es geht dabei nicht um statistische Repräsentativität, sondern um eine qualitative Analyse der Deutungsmuster und um die Beschreibung von inhaltlichen Typologien (vgl. Lamnek 1995: 92), ihrer Entstehungsbedingungen und ihrer Funktionalität für die am COS-Projekt beteiligten Subjekte. Die qualitative Methodik eignet sich besonders, da es sich innerhalb der Untersuchung um „randständige oder noch unerschlossene Phänomene“ handelt und bei der Erfassung „individuelle Relevanzsetzungen und handlungsleitende Orientierungen“ eine vordergründige Rolle spielen (Hollstein 2006: 22; vgl. v. Kardorff 1995: 403). Die Netzwerkanalyse eignet sich nach Schnegg und Lang (2002: 47) für die Beschreibung des sozialen Umfelds eines bestimmten Akteurs. Bei der vorliegenden Untersuchung wird jedoch das soziale Umfeld der studentischen Akteure 23
nicht erhoben. Vielmehr soll das soziale Netzwerk des Akteurs mit Autismus beleuchtet werden, da sich bislang keine Studie mit der Netzwerksituation autistischer Personen beschäftigt (vgl. Abs. 3.2). In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, das Phänomen der Behinderung bzw. des Autismus im gesellschaftlichen Kontext näher zu eruieren, um zu einem besseren Verständnis der sozialen Einbettung des Akteurs mit Autismus zu gelangen. Mit der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2007) werden sowohl COS-relevante Berichte und Protokolle als auch die mit 17 Personen durchgeführten problemzentrierten Interviews (nach Witzel 1985) sowie vorliegende standardisierte Fragebögen ausgewertet. Die Ergebnisse werden auf Erkenntnisse der Netzwerk-, Unterstützungs- und Behinderungsforschung bezogen und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für Forschung und Praxis diskutiert. Vor der Analyse von COS als soziales Unterstützungsnetzwerk ist es daher in den folgenden Kapiteln notwendig, die Netzwerkdefinition zu bestimmen, die theoretisch-methodologische Positionierung der Netzanalyse zu skizzieren und eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Netzwerk- und Unterstützungsdiskussion im Kontext von Behinderung darzulegen.
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Theoretische und analytische Dimensionen der Netzwerkanalyse
2.1 Zum Begriffsfeld des sozialen Netzwerks Das Begriffspaar „Netzwerk“ deutet auf die Verschränkung zweier Ebenen hin: zum einen wird unter dem Wort „Netz“ das „geknüpfte Maschenwerk, (…) [einer, AK] Gesamtheit vieler sich kreuzender und voneinander abzweigender Verbindungen“ verstanden und zum anderen mit Vokabeln wie Nessel, Knoten, Vertrag und Verben wie nähen, binden und weben in einen näheren Zusammenhang gebracht (Pfeifer 2005: 920). Die genannten Verben weisen auf die handlungsbegriffliche Charakteristik des Wortes „Werk“ im Sinne von menschlichem Tun, Schaffen, Handeln und Wirken hin (ebd.: 1558). In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird weniger der Begriff „soziales Netz“ verwendet, sondern mehrheitlich die des „sozialen Netzwerkes“. Mitchell (1969: 1) definiert das soziale Netzwerk als ein „specific set of linkages among a defined set of persons, with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole may be used to interpret the social bevavior of the persons involved“. Auch Klusmann (1989: 38) hält fest: „Ein soziales Netzwerk ist ein System sozialer Beziehungen zwischen Individuen. Dieses System wird entsprechend der Metapher des Netzes als eine Struktur angesehen, die aus Knoten und Verbindungssträngen besteht, wobei die Knoten Personen oder andere Entitäten darstellen und die Verbindungsstränge Formen des Austausches zwischen Personen symbolisieren, etwa Freundschaft, Zuneigung oder materielle Hilfe“. Soziale Netzwerke sind demzufolge nichts anderes, als die Formation von sozialen Beziehungen zwischen einer definierten Anzahl von Akteuren, die miteinander in Verbindung stehen. Hollstein (2006) weist darauf hin, dass sowohl die Verbindungen als auch die Netzwerkakteure aus divergierenden sozialen Einheiten bestehen. „Akteure können Organisationen, politische Akteure, Haushalte, Familien oder Individuen sein. Verbindungen oder Relationen können z.B. Interaktionen, Beziehungen sein, die auf irgendeine Weise inhaltlich spezifiziert sind“ (Hollstein 2006: 15). Diese Verbindungen können einseitig, unterschiedlich intensiv und wechselseitig sein, wie Abbildung 6 beispielhaft für das egozentrierte Netzwerk zeigt: 25
Abbildung 5: Graphen typischer ego-zentrierter Netzwerke (Diaz-Bone 1997: 184) Zum Verständnis des egozentrierten Netzwerks werden im Folgenden die Differenzierungen des Netzwerkbegriffs erörtert: Die Netzwerkforschung unterscheidet in totale, partielle und egozentrierte Netzwerke. Die Analyse eines totalen Netzwerks erfasst alle direkten und indirekten Beziehungen einer eingegrenzten Bevölkerungsgruppe und interessiert sich für die Netzwerkdichte und komplexe Muster. Partielle Netzwerke als Extraktion des totalen Netzwerks untersuchen beispielsweise Nachbarschaftsverbindungen (vgl. Jansen 2006: 66). Das egozentrierte Netzwerk, unter dem „das um eine fokale Person, das Ego, herum verankerte soziale Netzwerk“ verstanden wird (Jansen 2006: 80, Hervorheb. im Original), gilt als besondere Form des partiellen Netzwerks und untersucht die Beziehungen zwischen den Netzwerk-Mitgliedern sowie „Ausmaß, Typus und Folgen der (Des-)Integration von Akteuren in ihrer sozialen Umwelt“ (Jansen 2006: 65). Eine Abgrenzung zum Begriff „Gruppe“ lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen (Pfeifer 2005: 485) expliziert „Gruppe“ als eine „kleinere Anzahl von miteinander in Beziehung stehenden, einander zugeordneten Personen oder Dingen, auch (…) durch gleiche Interessen verbundener Personenkreis'“. Für Neidthardt (1979: 642) stellt die Gruppe ein soziales System dar, „dessen Sinnzusammenhang durch unmittelbare und diffuse Mitglieder-beziehungen sowie durch relative Dauerhaftigkeit bestimmt ist.“ Auch Schäfers formuliert: „Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Zahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), die zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles (Gruppenziel) über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen 26
Kommunikations- und Interaktionsprozess stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln“ (Schäfers 1999: 20). Unterscheidet man jedoch beispielsweise zwischen primären, sekundären und tertiären Gruppen bzw. Netzwerken, so lässt sich eine Abgrenzung schon eher vornehmen. Nach Bullinger und Nowak (1998) gehören folgende vier mikrosoziale Bereiche zum primären Netzwerk: 1. das familiäre Umfeld, 2. die verwandtschaftlichen Beziehungen, 3. die nachbarschaftlichen Kontakte und 4. die selbst gewählten Beziehungen zu Freunden (vgl. Bullinger/Nowak 1998: 70). Zu den sekundären Netzwerken zählen alle öffentlich organisierten Netzwerke wie Kindergarten, Schule und Universitäten, aber auch der Arbeitsplatz (vgl. ebd.: 82). Tertiäre Netzwerke, die zwischen primären und sekundären Netzwerken platziert sind, umfassen unter anderem Selbsthilfegruppen, professionelle Dienstleistungen und Nichtregierungsorganisationen (vgl. ebd.: 85). Demnach lässt sich ein Circle of Support aus dem englischen Raum dem primären Netzwerk zuordnen. Knust-Potter (1998: 156) und Circles Network UK zufolge werden die Circle-Akteure von der Fokusperson selbst ausgewählt und zum ersten Treffen eingeladen. Das Fundament dieser Circles besteht aus informellen Kontakten zu Personen aus der nächsten Umgebung und bildet sich im weiteren Verlauf zu einem freundschaftlichen Netzwerk heraus (vgl. Jay 2003; Gold 1994). Die Circles of Support aus dem Dortmunder Raum hingegen werden von der Fachhochschule organisiert, wobei Kriterien für die Zusammenführung ähnliche Interessen und Hobbys oder die Wohnortnähe sind. Die vorangegangenen Ausführungen zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass soziale Netzwerke einen handlungsorientierten Bezugsrahmen aufweisen, oder anders formuliert: ohne das soziale Tun und Schaffen kein soziales Netzwerk. Es ist darüber hinaus deutlich geworden, dass ein soziales Netzwerk nur dann als solches bezeichnet werden kann ist, wenn eine definierte Anzahl von Akteuren in sozialer Beziehung zueinander steht. Die vorliegende Studie fokussiert im Sinne der partiellen Netzwerkuntersuchung einerseits das ego-zentrierte Netzwerk des Akteurs mit Autismus und andererseits Circles of Support als Gesamtnetzwerk. Von Interesse ist es beispielsweise, herauszufinden, in welchem mikrosozialen Bereich (primär, sekundär, tertiär) Circles of Support am Dortmunder Beispiel im egozentrierten Netzwerk der Fokusperson platziert wird. Für die Analyse von Circles of Support ist eine theoretische Auseinandersetzung mit der Funktion sozialer Netzwerke und den in sozialen Netzwerken inhärenten Ressourcen von Relevanz. Der nächste Abschnitt widmet sich demzufolge den Funktionen und Ressourcen sozialer Netzwerke.
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2.2 Funktion und Ressourcen sozialer Netzwerke Die Attraktivität eines sozialen Netzwerks besteht laut Pappi (1987: 16) in den Tauschbeziehungen bzw. Transaktionen zwischen den Individuen. Ihnen gemeinsam ist der instrumentelle Aspekt zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, dem ein intrinsischer Nutzen vorausgeht. So konstatiert Diaz-Bone (2006: 10): „Netzwerke stellen soziales Kapital dar, wenn sie Akteuren zur Verfügung stehen, um ihre Interessen durchzusetzen oder einen anderen Handlungsgewinn zu erzielen. Betrachtet man die Art und den Nutzen der Netzwerkbeziehungen für Akteure detaillierter, fallen hier die Konzepte der sozialen Unterstützung und des sozialen Tausches an. Netzwerkbeziehungen sind die Infrastruktur für die Gewährung unterschiedlicher Formen von Unterstützung“. Es lässt sich nach Diewald (1991: 70-77) ein mehrdimensionales Konzept zur sozialen Unterstützung festhalten, das folgende Inhalte aufweist: a) Personenbezogene Leistung (z. B. Betreuung) oder güterbezogene Leistung (z. B. Reparaturen) b) Handeln an dem Interaktionspartner (z. B. Pflege) c) Materielle Unterstützung d) Sachbezogene Informationen/praktisches Wissen (z. B. am Arbeitsplatz) e) Persönliche Ratschläge/Beratung f) Gemeinsame gegenseitige soziale Aktivitäten im Freizeitbereich (‚Geselligkeit‘) Die genannten Inhalte sozialer Unterstützung betonen den Verhaltensaspekt bzw. die konkreten Interaktionen. Aber auch folgend genannte Aspekte sozialer Unterstützung sind nach Diewald (1991) relevant: a) Vermittlung von Anerkennung in Form persönlicher Wertschätzung oder von Status, b) Vermittlung sozialer Normen, c) Vermittlung eines Zugehörigkeitsbewusstseins und d) Vermittlung sozialer Kompetenzen. Nicht außer Acht gelassen werden sollte der Aspekt der sozialen Integration und das Eingebettet-Sein in soziale Interaktionen (vgl. Paulus 1993: 181 f). Doch nicht automatisch bieten soziale Netzwerke auch soziale Unterstützung im Sinne materieller, kognitiver und emotionaler Hinsicht. Nestmann (1988) verweist auf mehrere Autoren, die sich mit belastenden Aspekten wie Stress, Ärger und Sorge innerhalb von Netzwerkbezügen beschäftigt haben. „Es wird in Betracht gezogen und auch empirisch berücksichtigt, dass soziale Beziehungen auch Wohlbefinden stören statt fördern können“ (ebd.: 90). Soziale Beziehungen „gegenseitiger Natur“ können durchaus schwach und antagonistisch sein (Jansen 2006: 22). 28
Daher ist die Qualität und nicht die Quantität sozialer Beziehungen von großer Bedeutung, wobei auch die Stärke schwacher Beziehungen (sogenannte weakties nach Granovetter 1973) nicht unerheblich ist, da sie den Zugang zu Ressourcen ermöglicht, die sich außerhalb des engsten Kreises befinden. Die aufgeführten Darstellungen des Wirkungsbereichs sozialer Netzwerke werden in der wissenschaftlichen Literatur auch unter dem Begriff des sozialen Kapitals diskutiert. Die unter dem Begriff des sozialen Kapitals subsumierten Aspekte können auf verschiedenen Ebenen untersucht werden: erstens auf der Akteurs-Ebene mit der Frage, welches soziale Kapital das Individuum aus seinem Netzwerk ziehen kann, zweitens auf der Netzwerk-Ebene mit der Frage, welche Gruppen oder Positionen über welches soziale Kapital verfügen. Bei der Analyse der zweiten Ebene ist die Zentralität und Brückenfunktion der Akteure entscheidend (vgl. Haug 1997: 18). Drittens kann untersucht werden, wie sich das soziale Kapital auf die Gesellschaft auswirkt (vgl. Jansen 2006: 27). Diaz-Bone (2006a: 1) kritisiert, dass der Terminus des sozialen Kapitals in soziologischen Erklärungen zirkuliert, ohne dass genauer beschrieben wird, wie sich soziales Kapital akkumuliert. Auch Haug (1997) macht auf die uneinheitliche Begriffsdefinition des sozialen Kapitals in empirischen Studien aufmerksam. Einerseits „wird soziales Kapital (analog zum Humankapital) als instrumentell einsetzbare, individuelle, aber nicht unabhängig von anderen Personen verfügbare Ressource aufgefaßt“ (Haug 1997: 1), andererseits beschrieben als eine im Sinne des Kollektivguts der „Gesellschaft inhärente Eigenschaft“ (ebd.: 27). Soziales Kapital wird also sowohl im Sinne einer individuell requirierten Ressource als auch als Kollektivgut verstanden. Soziales Kapital wird erst durch die Wertschätzung und Anerkennung innerhalb einer sozialen Beziehung als solches gesehen (vgl. Lin 1999: 41) und hat sowohl eine positive als auch eine negative Komponente. Jansen benennt sechs Ressourcen, die soziales Kapital kennzeichnen: 1. Familien- und Gruppenzugehörigkeit, 2. Vertrauen in universalistische Normen, 3. Information, 4. Macht durch strukturelle Autonomie, 5. Selbstorganisationsfähigkeit von Kollektiven und 6. Macht durch sozialen Einfluss (Jansen 2007: 28 ff.). Beim Vergleich des Sozialkapital-Konzepts unterschiedlicher Theoretiker (z. B. Bourdieu, Coleman) lässt sich das soziale Kapital strukturell auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene finden: Bourdieu versteht unter Sozialkapital „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder wenigen institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (1983: 190). Für Coleman wohnt soziales Kapital „den Beziehungsstrukturen zwischen zwei und mehr Personen inne“ (Coleman 1991: 392) 29
und mobilisiert vorwiegend Handlungsressourcen. Allen Konzepten ist gemein, dass soziales Kapital in und durch Beziehungsarbeit in sozialen Netzwerken entsteht (vgl. Lederer 2005: 20). Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussion werden die COSAkteure als Träger sozialen Kapitals definiert, die innerhalb des Netzwerks einerseits auf unterschiedliche Ressourcen zurückgreifen, andererseits aber auch investieren. Doch welche Form sozialen Kapitals produziert sich im inneren COS-Netzwerk-Raum? Da nach Diaz-Bone soziale Netzwerke als „Infrastruktur für die Gewährung unterschiedlicher Formen von Unterstützung“ (2006: 10) gelten, richtet sich der Blick der vorliegenden Studie auf die Unterstützungsaspekte, welche in und durch Circles of Support wirksam werden. Die dabei entstehenden Kosten für den Support-Leistenden gelten als evident: die emotionale Belastung, der Zeitaufwand und eine „mögliche Verschlechterung der Beziehung zum Empfänger durch ein Abhängigkeitsverhältnis“ (Gräbe 1991: 348). Aber nicht nur Kosten, sondern auch Vorteile wird der Support-Leistende bezüglich seines Selbstwertgefühls als kompetente Person in Betracht ziehen können. Da soziale Unterstützung für die vorliegende Studie als ein personeller Austauschprozess definiert wird, „in dem verschiedene Individuen in ihren sozialen Beziehungen situationsspezifisch zusammenwirken, um sich (gegenseitig) zu helfen“ (Bullinger 1998: 220), stellt sich hier auch die Frage nach dem reziproken Aspekt der Unterstützung. Nach Dinter (2001: 25) bestehen reziproke Verhaltenserwartungen und Abhängigkeiten zwischen den Netzwerkakteuren. Dies entspricht auch dem Verständnis von Gräbe, die soziale Netzwerke als „Geflecht sozialer Interaktionen“ definiert, „die sich im Austausch sozialer Leistungen objektivieren und von Reziprozität der Erwartungen geprägt“ sind (1991: 348, Hervorheb. im Original). Da eine „unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten“ für den Aufbau, das Aufrechterhalten und die Reproduktion von sozialem Kapital erforderlich ist (Bourdieu 1983: 193), rücken damit soziale Kompetenzen in den Mittelpunkt des sozialen Kapitals. Die darin wirksamen „interaktionale[n] bzw. kommunikative[n]“ Kompetenzen (Ziemen 2002: 87) schließen sprachliche, wissenschaftliche Kompetenzen und Sachkompetenzen mit ein (vgl. ebd.: 89) und zeigen sich durch selbstreflexive Prozesse. In Anlehnung an Ziemen weitet sich der Kompetenz-Begriff in unterschiedliche Breitengrade aus und kann sich beispielsweise durch bestimmte Fähigkeiten ausdrücken, z. B. durch die „Fähigkeit, Probleme zu lösen“ (ebd.: 107) oder aber auch durch die Fähigkeit, „sich selbst wahrzunehmen“ (ebd.: 108). Die Analyse von Kompetenzen kann „zunächst von beobachtbaren Fähigkeiten, Handlungen, Möglichkeiten des Denkens, Handelns und Wahrnehmens ausgehen und zur Rekonstruktion von ‚Kompetenzen‘ im weiteren Sinne fortgeschritten werden“ (ebd.: 111). Somit 30
wird der Erwerb sozialer Kompetenzen für die vorliegende Studie als weiterer Bestimmungsfaktor des sozialen Kapitals betrachtet, welches es zu erfassen gilt. Doch nicht nur die Erfassung des im inneren COS-Netzwerk-Raums produzierten sozialen Kapitals interessiert, sondern auch das Beziehungsnetz des Akteurs mit Autismus. Zur Charakterisierung des primären, sekundären und tertiären Umfelds des Akteurs mit Autismus (der sogenannten Fokusperson) sind Antworten auf folgende Fragen relevant: Welche Kontakte bestehen zu wem? Sind die Kontakte eindimensional, ist das Netzwerk engmaschig? Sind die Kontakte untereinander vernetzt? Wünscht sich die Verankerungsperson (Akteur mit Autismus) mehr Kontakt? Wenn ja, zu wem? Und nicht zuletzt: Gibt es im egozentrierten Netzwerk eine Schlüsselfigur? Zusammenfassend sind die zu eruierenden Aspekte des sozialen Kapitals für die vorliegende Studie in Abbildung 6 übersichtsartig visualisiert. Circle of Support
Egozentriertes Netzwerk des Akteurs mit Autismus
Netzwerk
Subgruppe
Akteursebene Individuum
Soziales Kapital: Komponente +/Besitz eines Beziehungsnetzes Mobilisierung von Handlungsressourcen Soziale Unterstützung Kommunikative Austauschprozesse Erwerb sozialer Kompetenzen Ausgrenzung/Öffnung
Abbildung 6: Funktion und Ressourcen sozialer Netzwerke Die einzelnen Komponenten des sozialen Kapitals lassen sich nicht in Funktionen und Ressourcen aufspalten, sondern sind im engen Zusammenhang zu sehen. Die Komponente ‚Soziale Unterstützung‘ ist zugleich Ressource und Funktion: Sie ist Hilfsmittel, Reserve (= Ressource) und Aufgabe, Wirkung (= Funktion) in einem, d. h. das eine speist sich aus dem anderen. Das in der Abbildung 6 integrierte Schaubild deutet darauf hin, dass sich die zu erfassenden Funktionen und Ressourcen des Circles of Support auf unterschiedliche Akteursebenen beziehen. Welche Akteursebenen, aber auch welche weiteren Kriterien bei der Erfassung sozialer Netzwerke eine Rolle spielen, wird im nächsten Abschnitt näher erörtert.
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2.3 Dimensionen der Netzwerkanalyse Mit der Netzwerkanalyse werden regulär „mehrere Netzwerke, die verschiedene Relationen/ Beziehungen zwischen den Elementen des gleichen Kollektivs abbilden“ untersucht (Jansen 1999: 52). In Anlehnung an Burt (1980) charakterisiert Hennig (2006: 110) folgende Untersuchungseinheiten zur Analyse von Netzwerkstrukturen: Bezugsrahmen eines einzelnen Akteurs Verknüpfung von Akteuren in einer Einheit Beziehung zwischen allen Akteuren eines Gesamtnetzwerks Akteure in Subgruppen zum Vergleich mit anderen Subgruppen. In der Analyse werden dabei der relationale und der positionale Ansatz differenziert. Unter Bezugnahme des relationalen Ansatzes wird ein bestimmter Typ von Beziehungen (z.B. Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen) aus dem Gesamtnetzwerk analysiert. Der positionale Ansatz „konzentriert sich bei seiner Betrachtung auf die Muster von vorhandenen und fehlenden Beziehungen in einem sozialen Netzwerk“ (Hennig 2006: 86) und untersucht zuerst die Position eines Akteurs innerhalb eines definierten Netzwerkes (ebd.: 112) und im zweiten Schritt dann die strukturell-äquivalenten Positionen der Akteure. Im dritten Schritt stehen die Außenbeziehungen im Mittelpunkt der Analyse. Im relationalen wie auch im positionalen Ansatz können sowohl eine einzelne Person, mehrere Subgruppen, aber auch das gesamte Netzwerk betrachtet werden. Auf der Akteursebene im relationalen Ansatz kann erstens das personale Netzwerk einer Person hinsichtlich der Dichte, Ausdehnung und der Multiplexität untersucht werden und zweitens ist von Interesse, inwieweit bestimmte Verbindungen dichte Beziehungen (z.B. Cliquen) aufweisen. Der dritte Schritt der Analyse bildet die Struktur des gesamten Netzwerkes ab (ebd.: 111f). Die Blockmodellanalyse beispielsweise betrachtet strukurell-äquivalente Positionen von Akteuren innerhalb eines Netzwerkes, wohingegen die sogenannte Kohärenzanalyse die Vernetzung von Akteuren identifiziert (vgl. Diaz-Bone 2007). Zur Erfassung sozialer Netzwerke sind folgende Kriterien zu operationalisieren (vgl. Pappi 1987: 16f; Kniel und Windisch 1987; Keupp 1987: 26ff; Windisch et al 1991: 141; Flick et al. 1995: 403, Diaz-Bone 1999: 6; Hollstein 2006: 15), welche nachstehend tabellarisch zusammengefasst sind:
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Strukturelle Morphologie Erreichbarkeit Reichweite Netzwerkgröße Dichte Stabilität Offenheit Hierarchie
Art und Anzahl der Verbindungen zwischen den Akteuren Zusammensetzung der Netzwerkmitglieder (Alter, Status, Geschlecht) Anzahl der Netzwerkpersonen Ausmaß des Verhältnisses/ der Interaktion zwischen den Beziehungen Konstanz der Beziehungen im Zeitverlauf Verbindungen zu anderen außerhalb des Netzwerks Asymmetrie
Inhaltliche Morphologie Inhalt Ausrichtung Dauerhaftigkeit Intensität Rollen Funktion
Beschaffenheit der Kontakte (Nachbarschaft, Freundschaft, usw.), Einstelllungen Multiplexe oder uniplexe Beziehung, Reziprozität Zeitraum der Beziehungen (aktivierbare oder manifeste Beziehungen) Intimitätsgrad der Beziehungen Definition der Rollenbeziehungen (z.B. Star, Isolierter) Emotionaler Rückhalt, Werteorientierung, instrumentelle Hilfe
Tabelle 1: Kriterien zur Erfassung sozialer Netzwerke Die zur Anwendung kommenden Verfahren der Netzwerkforschung sind Fragebögen zur Erhebung der sozialen Netzwerke, Interviews, Soziogramme und teilnehmende Beobachtung. Dabei werden vornehmlich quantitative AnalyseVerfahren eingesetzt (vgl. Wassermann/Faust 1994: 20; Straus 2002: 211f). Die dabei aufgestellten Kategorien sind vermessbar und optimal für die numerische Sammlung dabei relevanter Sachverhalte in spezialisierten mathematischstatistischen Verfahren (vgl. Lammers 1992: 121; Keupp 1988: 116). Eine graphentheoretische Analyse innerhalb eines Soziogramms oder die Berechnung netzwerkanalytischer Maßzahlen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Studie. Hauptsächlich interessiert die strukturelle, relationale und funktionale Dimension. Es handelt sich bei der Erhebung der vorliegenden Studie somit um eine mehrdimensionale Analyse. Zum einen ist der Bezugsrahmen eines einzelnen Akteurs in den Fokus zu nehmen – gemeint ist hiermit das egozentrierte Netzwerk des Akteurs mit Autismus. Zum anderen ist die Verknüpfung der darin angegebenen Akteure aufzuzeigen. Den Schwerpunkt bildet die Erfassung der strukturellen und inhaltlichen Merkmale des Circles of Support, den es in der vorliegenden Studie als Gesamtnetzwerk zu analysieren gilt. Das für die Studie 33
auszuwertende empirische Datenmaterial (Jahresberichte, Protokolle, Interviews) erlaubt die Einteilung der Akteure in Subgrupppen zum Vergleich mit anderen Subgruppen. Bei den Subgruppen handelt es sich um die vier folgenden: 1. Akteure mit Autismus (Fokuspersonen), 2. Studierende, 3. Bezugsperson der Fokusperson und 4. therapeutische Fachkräfte. Diese entsprechen der ersten und zweiten Säule der Akteursebene. Die dritte Säule der Akteursebene umfasst das Netzwerk als solches und fragt nach der Netzwerkgröße, der Stabilität und Offenheit. Bei der inhaltlichen Morphologie interessieren insbesondere folgende Parameter des sozialen Kapitals: die Unterstützungsleistung, der Kompetenzerwerb sowie Nutzen und Auswirkungen der Teilnahme am COS. Dass die Netzwerkanalyse als eine empirische Methode zur Erfassung von sozialen Netzwerken gilt, dürfte in diesem Abschnitt klar erkennbar geworden sein. Doch mit welchen Grenzen sieht sie sich konfrontiert? Darauf geben nachstehende Ausführungen eine Antwort: Die Grenzen der Netzwerkanalyse liegen im benötigten Zeitaufwand und in der oft einseitigen Befragung einer Auskunftsperson über das Netzwerk (vgl. Straus 2006: 487). Divergierende Angaben und verzerrte Bewertungstendenzen der untersuchten Personen haben Einfluss auf die Reliabilität und Validität formaler Netzwerkanalysen. Reliabilitätsstudien von Pfennig et al (1991) und Diaz-Bone (1997) weisen auf Zweifel an der Validität von einseitig erhobenen Netzwerkdaten hin. Deutlich wird, dass unspezifische Fragen zu Freundschaftsverbindungen wenige übereinstimmende Quoten zum Ausdruck bringen, hingegen Fragekonstellationen zu emotionaler Unterstützung und materieller Hilfeleistungen eine Kongruenz zwischen 70 und 90 % aufweisen. Auch Fragen zur Kontakthäufigkeit und zur Zeitspanne der Netzwerkbeziehung fanden eine Übereinstimmung von 80-90 % (vgl. Jansen 2006: 87). Die relationalen Eigenschaften eines Netzwerks sollen daher nicht nur aus einer Perspektive, sondern aus Sicht aller Netzwerkakteure erhoben werden (vgl. Straus 2006: 487). Diesem Anspruch kommt die hier vorliegende Studie nach, indem sie unterschiedliche COS-Netzwerkbeteiligte zu Wort kommen lässt und verschiedene Akteurssichten gegenseitig validiert. Mit der Netzwerkanalyse können soziale Strukturen und deren Eigenschaften analysiert werden. Es lassen sich zwar strukturelle von inhaltlichen Parametern unterscheiden, aber dies erklärt nicht, wie soziale Netzwerke entstehen und wie sich individuelle Handlungen in gesellschaftlichen Strukturen manifestieren. Welche theoretischen Bezugspunkte bietet hierzu die Netzwerkforschung? Dieser Fragestellung ist nachzugehen. Bevor jedoch ausgewählte Theoreme präzisiert werden, ist ein historischer Rückblick auf die Entwicklungslinien der Netzwerkanalyse notwendig.
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2.4 Geschichte der Netzwerkanalyse Wenngleich der Soziologe Georg Simmel mit seinem Aufsatz über die „Kreuzung sozialer Kreise“ (1890) als Vorläufer der heutigen Netzwerkanalyse gilt, nahmen letztendlich Arbeiten anderer ForscherInnen Einfluss auf die Entwicklung der Netzwerkperspektive (vgl. Jansen 2006: 37; Röhrle 1988: 255; Beckert 2005: 287), wie folgende Skizzierung anschaulich darstellt: 1930
Sozialpsychologische Entwicklungslinie Gestalttheorie Köhler
Anthropologische strukturfunktionale Entwicklungslinie amerik. engl. Strang
Feldtheorie Lewin Soziometrie Moreno
Warner, Mayo
Balancetheorien Heider, Newcomb Gruppendynamik
1950/60
1970
Graphentheorie Cartwright, Harary Makro Rapoport, Coleman Mikro Davis, Holland, Leinhardt
Homans
Gluckman
Barnes, Bott, Nadel
Mitchell HarvardStrukturalisten White
Netzwerkanalyse Lorrain, Breiger, Burt
Abbildung 7: Übersicht Entwicklungslinien der Netzwerkanalyse (vgl. Jansen 2006: 39 in Anlehnung an Scott 1991: 7) Nach Scott (1991) basiert die heutige Netzwerkanalyse auf zwei Entwicklungslinien: auf der sozialpsychologischen und der anthropologischen Forschungstradition (vgl. Jansen 2006: 38 f.). Die Träger der sozialpsychologischen Entwicklungslinie (Köhler, Lewin, Heider und Moreno) haben deutsche und österreichi35
sche Wurzeln. Während sich diese kognitiven und sozialpsychologischen Untersuchungen widmeten, verfolgten Rapoport und Coleman eher makrosoziologische Fragestellungen. Bei der anthropologischen Entwicklungslinie, welche aus einem britischen und amerikanischen Strang besteht, interessiert vielmehr das „Funktionieren von größeren Einheiten wie Gemeinden, formalen Organisationen, Dörfern oder Gesamtgesellschaften“ (Jansen 2006: 43, Hervorh. im Original). Zwischen dem amerikanischen und britischen Strang gibt es vielfache Berührungspunkte, wie beispielsweise Fragestellungen zur Stadt- und Gemeindeforschung9 (vgl. Jansen 2006: 39). Erst Anfang der 1970er Jahre trafen sich die beiden großen Entwicklungslinien zu der Netzwerkanalyse in ihrer heutigen Form. Der Beginn der Netzwerkanalyse zur Erhebung egozentrierter Netzwerke wird im Zeitraum um das Jahr 1950 von John A. Barnes und Elisabeth Bott eingeleitet (vgl. Jansen 2006: 43). Elisabeth Bott nutzte zu Beginn ihrer Forschung zur Abbildung der Netzwerke konzentrische Kreisdarstellungen (vgl. Straus 2002: 208; 211). Die Darstellungen von Bott erinnern an Netzwerkkarten, die im Rahmen von Circles of Support im Dortmunder Raum zur Erfassung der sozialen Beziehungen der Fokuspersonen mit Autismus eingesetzt werden. Da es der Manchester-Gruppe (Bott, Mitchell und Barnes) um die Erfassung der direkten Beziehungen eines Individuums ging und weniger um gesellschaftliche Gesamtstrukturen, lässt sich die hier vorliegende Untersuchung zu Circles of Support im netzwerkanalytischen Diskurs eher dieser Disziplin zuordnen. In den USA und Kanada hat die Netzwerkforschung ein beachtlich hohes Ansehen, während im deutschsprachigen Raum die Netzwerkanalyse vergleichsweise weniger etabliert ist (vgl. Jansen 2006: 43). Hier gelten als bekannte Protagonisten u.a. Thomas Schweizer (Ethnologie), Michael Schenk (Kommunikationsforschung), Bernd Röhrle (Sozialpsychologie) und Franz Urban Pappi (Soziologie) (vgl. Jansen 2006: 48). Forschungsfelder soziologischer Netzwerkanalyse sind beispielsweise Fragen zu sozialer Mobilität und sozialer Ungleichheit (Granovetter 1973; Lin 1990 u. a.). Die Studien untersuchen unter anderem das soziale Kapital und die Dichte der sozialen Netzwerke im Zusammenhang mit Berufs- und Einkommenschancen (vgl. Jansen 2006: 239). Auch in verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie fand das Netzwerkkonzept Ende der 1990er Jahre weite Verbreitung (vgl. Überblicke bei Ningel/Funke 1995; Otto/Bauer 2005; Röhrle 1994; Straus 2002). Erstmalig im Jahre 1983 stellte der Soziologe Christian von Ferber das Netzwerkkonzept der deutschen Behindertenpädagogik vor. Schiller transferierte 9
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So gelang das Netzwerkkonzept über die Gemeinde- und Stadtsoziologie in die Sozialpädagogik (von Kardorff/ Stark 1987: 219).
1987 den Netzwerkgedanken als Konzept sozialer Hilfe- und Schutzfaktoren am Beispiel der Lebenslage erwachsener Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in den sonderpädagogischen Kontext (vgl. Schumann et al. 1989: 95 f.). Es folgten Studien von Windisch und Kniel (1988), Niehaus (1993) und anderen, die sich Fragestellungen zur Netzwerkgröße und zur sozialen Unterstützung behinderter Menschen widmeten (vgl. hierzu Abschnitt 3.2). Insgesamt „ist die Literaturlage [der allgemeinen Netzwerkforschung, AK] kaum zu übersehen. Obwohl und vielleicht gerade weil sich das Konzept des sozialen Netzwerks breiter Anwendung in verschiedensten Forschungsrichtungen erfreut, ist es theoretisch nicht sehr ausgearbeitet“ (Hollstein 2006: 14). Der folgende Abschnitt erläutert näher die Kernpunkte der soziologischen Netzwerkforschung, die sich zwischen Theoremen und Postulaten bewegen. Hierbei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit einer Darstellung aller Theoreme erhoben.
2.5 Netzwerkanalyse zwischen Theoremen und Postulaten Ziel der Netzwerkforschung ist es – über die Darstellung und Beschreibung von Netzwerken – die Entstehung und Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen durch individuelle Handlungen zu erklären (vgl. Jansen 2006: 13). Ansätze zur Beschreibung von der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft finden sich unter anderem bei Bronfenbrenner (1976: 204), Berger und Neuhaus (1977: 2), Neidhardt (1983: 29), Weyer (2000: 239) sowie Nestmann (2001: 1685), die dabei soziale Netzwerke als intermediäres Konstrukt zwischen individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Strukturen konzipieren. In der sozialtheoretischen Diskussion wird – je nach theoretischer Ausrichtung – nach wie vor darüber debattiert, wo soziale Netzwerke zu verorten sind (vgl. Weyer 2000: 26). Aus ökosystemischer Sicht, in der sich die Strukturen der Umwelt „als eine ineinandergeschachtelte Anordnung konzentrischer, jeweils von der nächsten umschlossener Strukturen“ darstellen (Bronfenbrenner 1981: 38), sieht Bronfenbrenner (vgl. 1976: 203) das Netzwerk-Konzept als System überschreitender Beziehungen zwischen den Mikro-, Meso-, Exo- und MakroBereichen. Auch Berger und Neuhaus konzipieren Netzwerke als „solche Institutionen, die zwischen dem Individuum in seinem privaten Leben und den großen Institutionen des öffentlichen Lebens stehen“ (1977: 2). Bullinger und Nowak schlagen vor, das Konstrukt des sozialen Netzwerks als Brückenkonzept „des Individuums in seiner Mikro- und Makrowelt bzw. in der Lebens- und Systemwelt“ (1998: 123) zu integrieren. 37
Die vorliegende Studie nimmt Abstand vom Brückenkonzept zur Verortung sozialer Netzwerke, sondern geht schlicht davon aus, dass sich das Individuum in und durch soziale Netzwerke vergesellschaftet. Von dieser Prämisse geleitet ist das Individuum Teil mehrerer sozialer Netzwerke und damit auch nur Teil bestimmter sozialer Netzwerke. Es befindet sich dabei permanent im Zustand der inklusiv-exklusiven Doppelung oder genauer formuliert: Es vollbringt seinen Lebensverlauf teil-inklusiv in sozialen Strukturen bzw. Netzwerken handelnd. Sie erzeugen dabei dynamisierende Synergie- und Aggregationseffekte sowohl in gesellschaftlichen Strukturen wie bei individuellen Handlungen. Es wird davon ausgegangen, dass soziale Netzwerke Instanzen sind, über die Normen, Werte, Verhaltenserwartungen an den Akteur vermittelt werden. „Durch die Einbettung des Akteurs in Netzwerke leisten diese (und nicht die Normen oder die Institutionen an sich) die Sozialisationsarbeit sowie die Kontrolle und die Sanktion individuellen Verhaltens“ (Weyer 2000 239). Neidhardt (1983: 29) geht ferner davon aus, „daß die in bestimmten Gruppen erworbenen Orientierungen, Gefühle und Motive auch außerhalb ihrer Gruppen einsetzen“ und somit soziale Wandlungsimpulse auslösen. Er sieht in den kleinen Mikroeinheiten sozialer Netzwerke Ansatzpunkte für soziale Bewegungen. Auch Boehme und Walk (2002) gehen davon aus, dass soziale Netzwerke, Nachbarschaftsverbindungen, persönliche Beziehungen und Freundschaften das Potential eines Bewegungsmilieus enthalten, in dem sich Interessen, Widerstände in Form von Protest, Argumentationslinien und Zielvorstellungen zu einer Bewegung formieren können. „Hier entstehen die Gemeinsamkeiten, Identitäten und Solidaritäten, aus denen sich schließlich das Lebenselixier der Bewegung zusammensetzt. Der Suchprozess, in dem Bewegungen ihre Ziele definieren und allmählich eine symbolische Gemeinschaftsidentität ausbilden, hat bei der Entstehung einer Bewegung einen hohen Stellenwert“ (Boehme und Walk 2002: 14). Der Netzwerkforschung unterliegt kein einheitlicher theoretischer Bezugsrahmen, wie individuelle Handlungen Sozialstrukturen reproduzieren und verändern (vgl. Hollstein 2006:15). Kritisiert wird, dass struktur-orientierte Ansätze den Akteur weitgehend ausklammern, während sie Entwicklungstendenzen für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge behaupten, wohingegen bei akteurszentrierten handlungs-orientierten Ansätze der Fokus auf die Perspektive individuellen Verhaltens beschränkt bleibt (vgl. Weyer 2000: 239; Jansen 2006: 14). Weyer (2000) und Jansen (2006) merken an, dass es sich hinsichtlich der Verknüpfung von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungen um eine noch nicht ausgearbeitete Theorie handelt. Dabei weist Diaz-Bone (vgl. 1997: 22) auf das Potential der sogenannten strukturalen Analyse hin, die mit 38
ihrem Postulat eine Verlinkung zwischen individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Strukturen denkbar macht. „Die Zentralthese der strukturalen Analyse ist, daß die Struktur des Netzwerks eine bedingende Größe für das Handeln von Akteuren, den Erwerb und die Kohärenz von Normen in Netzwerken ist. Die soziale Struktur ist für die strukturelle Analyse Einschränkung (constraint) und Möglichkeit für soziales Handeln. Die Struktureigenschaften des Netzwerks sind so das bedeutende Erklärungsprinzip sozialer Phänomene“ (ebd.: 37, Hervorh. im Original). Burts strukturelle Handlungstheorie postuliert das zweckorientierte und zielgerichtete Handeln von Akteuren. „Human action is commonly believed to be purposive. It is assumed to have a rationale, a goal“ (Burt 1982: 1). Dabei begreift er die Interessen und Ressourcen der Akteure in Abhängigkeit von ihrer strukturellen Einbettung, welche die Handlung ermöglicht oder einschränkt und so durch soziale Struktur wiederum reproduziert und verändert. Die Handlungstheorie postuliert, dass Akteuren eine bewusste und nutzenmaximierte Wahl zwischen Alternativen zur Verfügung steht (vgl. Boudon 1998: 822). Im Hinblick auf Circles of Support kann die vorliegende Arbeit aufgrund der zu kleinen Untersuchungseinheit die Wandlungsimpulse und Auswirkungen auf gesellschaftlicher Ebene nicht untersuchen, wohl aber das soziale Handeln, welches durch die Struktur des COS-Netzwerks ermöglicht und eingeschränkt wird. Fokussiert auf die Akteure mit Autismus kann formuliert werden: Inwieweit lassen sich die Sozial- und Handlungsräume sowie die Netzwerkstrukturen autistischer Akteure durch das COS-Modell erweitern oder beschränken? Angelehnt an Burts Theorie über das zielgerichtete Handeln interessiert auch die im COS konzeptionell verankerte Selbstbestimmung: Inwiefern wird die postulierte Selbstbestimmung umgesetzt und welche Kontextbedingungen sind dabei von Bedeutung? Diesen Fragen wird in der Datenanalyse nachgegangen. Doch warum ist diese Fragestellung im Kontext der vorliegenden Untersuchung so interessant? Abschnitt 3.1.3 beleuchtet daher näher die Bedeutung der Selbstbestimmung im Kontext von Behinderung. Zuvor ist Behinderung im gesellschaftlichen Zusammenhang zu erörtern. Im Anschluss daran nehmen die Abschnitte 3.2 und 3.3 den Stand der deutschen Forschung zur Netzwerksituation und sozialer Unterstützung von Behinderung betroffener Akteure in den Blick.
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3
Netzwerke und soziale Unterstützung im Kontext von Behinderung
3.1 Behinderung im gesellschaftlichen Kontext Mit dem Sammelbegriff Behinderung werden Akteure gekennzeichnet, die „in ihrer physischen Erscheinung, ihren psychischen Ausdrucksformen oder ihren kognitiven Möglichkeiten bestimmte medizinische oder gesellschaftliche Normen nicht erfüllen“ (Metzler/ Wacker 2005: 118). Behinderung wird somit als Abweichungstatbestand zur Normalität kategorisiert (vgl. Waldschmidt und Schneider 2007: 10). „Indem festgestellt wird, daß ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägungen diesen [von Macht durchzogenen Normierungs-, AK] Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich. Sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an“ (Jantzen 1987: 18). Über viele Jahrhunderte und zwischen unterschiedlichen Kulturen haben sich große Differenzen in der Sichtweise von Behinderung und den Umgangsformen mit behinderten Individuen entwickelt. Die Stigmatisierungen dieses Personenkreises sowie der Umgang mit ihm entspringen gesellschaftlichen Einstellungen, welche von religiösen, sozialen und politischen Zusammenhängen beeinflusst sind. Die Argumentation zum Herstellungsprozess von Behinderung geht interessengeleitet voraus und bildet sich in „sozial- oder bildungspolitischer Umsetzung hinsichtlich Ansatzpunkt, Zielrichtung und Etat konkreter Maßnahmen sehr unterschiedlich“ ab (Münch 1997: 237). Die Zuschreibung von Behinderung soll als „Kategorie sozialer Geltung für einzelne Sektionen des Lebens und auf Zeit“ der Person mit Behinderung notwendige Hilfe zukommen lassen (Bleidick 1999: 19). Es ist stets ein multiples Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessenlagen und differierender Einschätzung sozialer Problemlagen zu beobachten – ein Spannungsfeld zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung, beruhend auf der Polarisierung von Brauchbarkeit und ökonomischer Nützlichkeit (vgl. Beck et al 2000: 414). Behinderung ist in der Gegenwartsgesellschaft nach wie vor mit einem „Stigma“ (Goffman 1975) und negativen Assoziationen wie „unfähig, nicht leistungsfähig, nicht nützlich“ behaftet (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales 1993: 25). Nach wie vor erfreut sich der Begriff der Behinderung „größter Vitalität“ (Felkendorff 2003: 50). Dederich (2003: 11) macht darauf aufmerksam, dass es einer Klärung bedarf, welche „wissenschaftlichen, politischen, kul40
turellen, historischen, sozialen und diskursiven Prozesse […] zur Konstruktion, Verfestigung und Transformation von Vorstellungen, Modellen und Theorien von ‚Behinderung‘ “ führt. Weder gibt es eine universelle Definition von Behinderung noch verhaften sich die Kategorisierungen von Behinderung über zeitliche Dimensionen hinaus. Die Zuschreibungen bzw. Deskriptionen sind relational, relativ und nicht absolut. Eine Annäherung an den Begriff der Behinderung kann auf verschiedenen Ebenen geschehen: durch Einblicke in biografische Publikationen, durch einen persönlichen Dialog mit Menschen mit einer sogenannten Behinderung, mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen, historischen, medizinischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Insbesondere in der Heil- und Sonderpädagogik und der Psychologie finden sich zahlreiche Abhandlungen zur Definition und Förderung von Behinderung. Diese vom medizinischen Modell ausgehende Perspektive zeigt den defizitorientierten Blick und rechtfertigt damit die Sicht der Notwendigkeit an Behandlung, Therapie und Förderung von behinderten Menschen (vgl. hierzu Theunissen 2000; Bundschuh 1999). Diese Perspektive wird jedoch stark von VertreterInnen der Disability Studies kritisiert, die Behinderung nach dem sozialen Modell nicht als individuelles Problem verstehen, sondern als Produkt gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse wie Umweltbeschränkungen, politische Verhinderungen und soziale Barrieren. Behinderung wird demnach in diskursiver Praxis gezeugt, welche sich gesellschaftlich sichtbar darstellt (vgl. hierzu Waldschmidt/ Schneider 2007). Behinderung umfasst also „nicht nur das Individuum, sondern den zwischenmenschlichen Prozess, den Bezug, das soziale Feld, das behindert“ (Bloemers/Wisch 2000: 298). Das soziale Modell von Behinderung erkennt an, dass von der Gesellschaft erschaffene Schranken vorliegen (vgl. ebd.: 305). Ziel der Disability Studies ist nicht die Behebung und Behandlung von (individueller) Behinderung, „sondern die Veränderung sozialer, politischer und kultureller Handlungsweisen“ (Maskos 2005: 130). Hier scheint eine bipolare Sichtweise auf Behinderung durch: Die Disability Studies nehmen einerseits Bezug auf Behinderung im individuellen Sinne und weiten gleichzeitig ihren Blick auf Behinderung im gesellschaftlichen Sinne aus. Sie untersuchen somit unterschiedlich weit gefasste Behinderungszonen individueller als auch gesellschaftlicher Art. Seit Ende der 1990er Jahre wird Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland auch außerhalb rehabilitationswissenschaftlicher und medizinischer Perspektive diskutiert. In den Rehabilitationswissenschaften ist vereinzelt ein Wandel von der defizitorientierten Betrachtungsweise hin zu einem ressourcenorientierten Blickwinkel zu beobachten, nicht zuletzt durch die Stimme derer, die sich nicht mehr behindern lassen wollten (vgl. hierzu Theunissen 2002). Es sind 41
demnach Umbrüche auf den Ebenen der Politik, Wissenschaft und Praxis im Kontext der Behindertenhilfe zu verzeichnen. Dieser Prozess wurde maßgeblich durch die Forderung der Selbsthilfebewegung und der Selbstbestimmt-LebenBewegung von behinderten Menschen beeinflusst (vgl. Loeken/Windisch 2005). Theunissen beschreibt den Prozess folgendermaßen: „Ausgelöst durch die Empowerment-Bewegungen, die maßgeblich zur Stärkung der Rechte und zur gesetzlichen Gleichstellung behinderter Menschen beigetragen haben, hat sich in den letzten Jahren quasi parallel dazu auch im Verständnis von Behinderung eine Veränderung vollzogen. […] Wurden bislang Schädigungen, Beeinträchtigungen und Störungen fokussiert, so werden jetzt mit Blick auf die rechtliche Entwicklung soziale Aspekte und Konsequenzen wesentlich stärker beachtet“10. Den größten Nutzen aus den Bestrebungen der Behindertenhilfe und -politik mit Blick auf Partizipation konnten vor allem Menschen mit körperlichen Mobilitätseinschränkungen ziehen. Insbesondere ihnen ist es gelungen, die neuen Entwicklungen für sich selbst zu nutzen (vgl. Waldschmidt 2003). Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung konnten in den 1990er Jahren durch die People-First-Bewegung zentrale politische Forderungen wie eigene Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten konkretisieren (vgl. Loeken/Windisch 2005). Als Experten in eigener Sache artikulieren sie eigene Interessen, Wünsche und Ziele und regeln eigene Belange selbstverantwortlich (vgl. Theunissen/Plaute 2002). Trotz der Veränderungen durch die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung bedeutet das Leben mit einer Behinderung nach wie vor oft Isolation, Fremdbestimmung durch Institutionalisierung und Professionalisierung und ist geprägt von langandauernden Abhängigkeiten (vgl. Rohrmann 2003; Thimm/Wachtel 2002; Beck 2000). Wie lassen sich unter netzwerkanalytischer Perspektive die vorangegangenen Ausführungen für die vorliegende Studie übersetzen? Netzwerkanalytisch betrachtet ist Behinderung im Knoten-Netzwerk-Modell (Abbildung 1, Seite 17) zunächst nicht offensichtlich. Wo liegt Behinderung bzw. was meint Behinderung im Netzwerk-Modell? Erst durch die soziale Zuschreibung wird festgelegt, wer oder was behindert ist. Betrachtet man das Knoten-Netzwerk-Modell eingehender und fokussiert die Knoten, so will man diese unweigerlich etikettieren und einteilen: Mensch - Tier, männlich - weiblich, Mutter - Vater, behindert - nicht-behindert, alt - jung, Hausmann - Managerin, hell-/dunkelhäutig, reich - arm, introvertiert - extrovertiert, erwünscht - nicht erwünscht usw. Man will sich unter den Knoten mehr vorstellen, man will ihnen eine Figur, einen Körper verleihen und eine Rolle, Funktion und Charakteristika zuweisen. Fokussiert man nun ein Etikett, z. B. behindert/nicht-behindert, so ist 10
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entnommen aus: http://www.ass-ista.org/files /georg_theunissen.pdf, 15.5.06.
vieles mehr zu bedenken: In welchem Jahrhundert und in welcher Kultur lebe ich? Was wird als Behinderung bzw. als Nicht-Behinderung betrachtet? Wo verläuft die Grenze zu Behinderung bzw. Nicht-Behinderung? Und wer definiert dies auf welche Weise? Was ist nun Behinderung netzwerkanalytisch betrachtet? Da Behinderung von sozialer Zuschreibung lebt, wird von folgendem Theorem ausgegangen: Behinderung ist eine variable Kategorie und kann im NetzwerkModell auf mehreren Ebenen sichtbar gemacht werden: erstens auf der AkteursEbene, zweitens auf der Verbindungslinie zischen den Akteuren (relational, kommunikativ) und drittens auf der Netzwerk-Ebene. Folgende Tabelle akzentuiert die drei Behinderungszonen näher: 1. Zone Individuum Subgruppe
2. Zone Verbindung zwischen den Individuen
3. Zone NetzwerkEbene
Diagnose einer Behinderung (z. B. Körperbehinderung) und Analyse des Netzwerkes dieser Person und ihrer sozialen Integration Diagnose einer Behinderung (z. B. Autismus), Einteilung der als behindert benannten Personen zu Subgruppen und Analyse des Netzwerkes dieser Subgruppe im Vergleich zu anderen Subgruppen (z. B. Hörbehinderung). Erweitern ließen sich beispielsweise die Kategorisierungen in „Behinderung: Blindheit/familiär eingebunden: Mutter einer sechsjährigen Tochter, verheiratet/berufstätig: Ärztin/40-jährig/in Deutschland lebend“ im Vergleich zu „Behinderung: Blindheit/familiär eingebunden: Vater einer sechsjährigen Tochter, verheiratet/berufstätig: Arzt/40-jährig/in Deutschland lebend“. Gefühlsebene: z. B. Angst, Scham, Ignoranz (innere Barrieren) Beziehungsebene: soziale Distanzen, fehlende/vorhandene Verbindungen. Kommunikationsebene: z. B. Missverständnisse durch zu schnelles oder zu leises Sprechen (z. B. bei Hörbehinderung), Vorenthalten von Informationen, Non-Stop-Speaker, den anderen unterbrechen etc. Analyse der Kommunikationsstruktur von Akteuren, die miteinander in Verbindung (in Beziehung zueinander) stehen. Exemplarisch: nicht-sprechender Akteur trifft verbal kommunizierenden Akteur. In welcher Weise können Behinderung(en)/Blockaden/Barrieren sprachlicher Art aufgespürt werden und welche Folgen hat dies für die Netzwerkbildung? Neigt dieses Netzwerk eher zur Offenheit oder eher zur Geschlossenheit? Folgt das Netzwerk eigenen Exklusionsregeln und wenn ja, was bedeutet dies auf der Netzwerk-Ebene bzw. zu welchen Blockaden/ Behinderungen/Nicht-Behinderungen führt dies? Welche Funktion haben dann die Abschottungsmanöver/Abgrenzungsrituale? Exemplarisch: die Old-Boy-Group, der wissenschaftliche Zirkel, die Schule, der Konzern.
Tabelle 2: Zonen für die behinderungsanalytische Perspektive bei der Untersuchung sozialer Netzwerke Weitere Barrieren architektonischer Art (z. B. fehlende Rampe für RollstuhlnutzerInnen), technischer (z. B. fehlende TV-Untertitelung auf allen Kanälen) und rechtlicher Art (z. B. Verwehrung von Leistungen zur Teilhabe) sind in den drei 43
dargestellten Zonen nicht aufgezeigt, sind aber sehr wichtige Indikatoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Das Zonenmodell stellt lediglich eine Orientierung für die vorliegende COS-Studie dar und ist erweiterbar. Zusammenfassend lässt sich herausstellen: Behinderung unter netzwerkanalytischer Perspektive betrachtet ist ein variables Merkmal, das differente Behinderungszonen sichtbar markiert. Die vorliegende Studie kann bei der Analyse des COS-Kontextes die drei Zonen lediglich kursorisch untersuchen und punktuell einige Aspekte aufzeigen. Es wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass Behinderung je nach Begebenheit zu einer schwachen, starken, engen oder hierarchischen Verbindung zwischen den Akteuren führt. Sie kann aber auch strukturelle Löcher im sozialen Netz sichtbar werden lassen. Diese sind dann gegeben, wenn zwischen den Akteuren gerade keine Verbindung besteht. Behinderung lässt sich empirisch beobachten, wenn folgende eingangs erwähnte Schlagworte berücksichtigt werden: Be| Hinderung |be- drückt Einwirkung auf einen Gegenstand aus, durch lokale Bedeutung ,um … herum‘: be-graben, einschließen, be-ringen, be-reinigen, be-zwingen, hindern: zurückhalten, hemmen, vorenthalten, behindern: hemmen, aufhalten, verhindern – blockieren, Hindernis – Hemmnis, Sperre, Barrieren Ver| Bindungen |ver- enthält vielfältige Funktionen und ist im negativen wie im positiven Sinne zu deuten: verrücken, vertreiben, aber auch verstärken, Bindung- im Sinne von Verknüpfung, Zusammenfügung, verbinden im Sinne von ,Beziehungen‘ zwischen Personen herstellen', Verbindung für Zusammenhang, enge Beziehung, auch Vorgang des Verbindens, Bündnis, Gruppierung Soziale Kontakte |Kontakt: Berührung, Verbindung, sozialer Kontakt zwischen/ zu Menschen.
Am Beispiel von Wohnheimen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung, in denen sich verdichtete Knotenpunkte von Behinderung betroffener Akteure zusammenfinden, erscheint Behinderung in Verbindung mit sozialen Kontakten im Lichte der Netzwerkanalyse besonders engmaschig verflechtet. Auswirkungen dieser engmaschigen Verflechtung auf das soziale Kapital sind nach Ansicht der Verfasserin der vorliegenden Studie von den Rehabilitationswissenschaften noch kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Autismus, wie die folgenden Ausführungen (in den Abschnitten 3.2 und 3.3) zu verdeutlichen versuchen. Was sich hinter dem Begriff Autismus verbirgt und in welchem Zusammenhang Autismus mit Behinderung steht, erläutert der nächste Abschnitt.
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3.1.1 Das autistische Kontinuum Zunächst ist festzuhalten: Menschen mit Autismus gehören im humanwissenschaftlichen als auch im gesellschaftlich sozialen Raum nach Schor/ Schweiggert (1999: 11) überwiegend zu dem als behindert benannten Personenkreis. Der Begriff Autismus ist als Wortneuschöpfung auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler im Jahre 1911 zurückzuführen und wurde basierend dem griechischen Wort , im Sinne extremer Selbstbezogenheit dem Bereich der Schizophrenie zugeordnet (vgl. Brockhaus Enzyklopädie 1987). Die Termini „Frühkindlicher Autismus“ und „Asperger-Syndrom“ wurden von dem amerikanischen Kinderpsychiater Leo Kanner (1943) und dem österreichischen Pädiater Hans Asperger (1944) geprägt, die unabhängig voneinander Bleulers Wortschöpfung aufnahmen, um die Ergebnisse ihrer Beobachtungen von verhaltensauffälligen Kindern zu beschreiben (vgl. dazu Wurst 1976, Wilker 1989, Weber 1970, Walther 1999). Die Aufspaltung des Autismusbegriffes in „Kanner- und Asperger-Autisten“ orientierte sich an dem Konstrukt der Intelligenz. „KANNER-Autisten sind die eher stärker behinderten, nichtsprechenden, möglicherweise geistig behinderten Kinder [Jugendlichen/ Erwachsenen, AK], wohingegen unter ASPERGERAutist ein Kind mit mehr oder minder gut ausgebildetem Sprachvermögen, besseren kognitiven Leistungen und größerer Selbständigkeit verstanden wird“ (Dzikowski 1996: 78)11. Im DSM IV (American Psychiatric Association 1998: 107ff) findet sich folgende Bündelung von Symptomen zur Diagnose des Frühkindlichen Autismus: „A. Es müssen mindestens sechs Kriterien aus (1), (2) und (3) zutreffen, wobei mindestens zwei Punkte aus (1) und je ein Punkt aus (2) und (3) stammen müssen: 1. Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche: a) Ausgeprägte Beeinträchtigung im Gebrauch vielfältiger nonverbaler Verhaltensweisen wie beispielsweise Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik zur Steuerung sozialer Interaktionen, b) Unfähigkeit, entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, c) Mangel, spontan Freude, Interessen oder Erfolge mit anderen zu teilen (z.B. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder darauf hinzuweisen), d) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit;
11
In dieser Arbeit wird zur besseren Lesbarkeit im Rahmen des autistischen Kontinuums der Begriff ‚Autismus’ und/oder ‚der autistische Mensch’ beibehalten, sofern nicht explizit eine Aufspaltung des Begriffes erforderlich ist.
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2.
B.
C.
Qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) Verzögertes Einsetzen oder völliges Ausbleiben der Entwicklung von gesprochener Sprache (ohne den Versuch zu machen, die Beeinträchtigung durch alternative Kommunikationsformen wie Gestik oder Mimik zu kompensieren), b) Bei Personen mit ausreichendem Sprachvermögen deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, ein Gespräch zu beginnen oder fortzuführen, c) Stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache oder idiosynkratische Sprache, d) Fehlen von verschiedenen entwicklungsgemäßen Rollenspielen oder sozialen Imitationsspielen; 3. Beschränkte, repetive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) Umfassende Beschäftigung mit einem oder mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, wobei Inhalt und Intensität abnorm sind, b) Auffällig starres Festhalten an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen, c) Stereotype und repetive motorische Manierismen (z.B. Biegen oder schnelle Bewegungen von Händen oder Fingern oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers), d) Ständige Beschäftigung mit Teilen von Objekten. Beginn vor dem dritten Lebensjahr und Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit in mindestens einem der folgenden Bereiche: 1. soziale Interaktion, 2. Sprache als soziales Kommunikationsmittel oder 3. Symbolisches oder Phantasiespiel. Die Störung kann nicht besser durch die Rett-Störung oder die Desintegrative Störung im Kindesalter erklärt werden“.
Ebenso wird die Zuordnung des Asperger-Syndrom durch dieselbe Form qualitativer Merkmale in der sozialen Interaktion charakterisiert, wie sie für den Frühkindlichen Autismus typisch sind, unterscheidet sich jedoch insbesondere durch das Vorhandensein von verbaler Sprache (vgl. Auszug des DSM-IV bei Roy et al 2009: 60): „Diagnosekriterien des Asperger-Syndroms nach DSM-IV (gekürzt) A) Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche: 1. Deutliche Beeinträchtigung bei vielfältigen nonverbalen Verhaltensweisen, wie dem In-die-Augen-Sehen, in der Mimik und in der Gestik 2. Unvermögen, altersentsprechende Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwickeln 3. Fehlender Wunsch, mit anderen Menschen Interessen zu teilen 4. Fehlende soziale oder emotionale Gegenseitigkeit
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B) Begrenzte repetetive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten, in mindestens einem der folgenden Merkmale: 1. Konzentrierte Beschäftigung mit begrenzten Interessen, die im Inhalt oder in der Intensität abnorm sind 2. Sture Befolgung spezieller, nicht funktionaler Routinen 3. Stereotype und repetetive motorische Manierismen 4. Anhaltende Beschäftigung mit einzelnen Teil-Objekten C) Die Störung verursacht bedeutende Beeinträchtigungen auf sozialem, beruflichem oder einem anderen wichtigen Gebiet D) Keine klinisch revelante Sprachverzögerung (Sprechen von einzelnen Worten im Alter von zwei Jahren, Nutzen von einfachen Redewendungen im Alter von drei Jahren) E) Keine klinisch bedeutsame Verzögerung in der kognitiven Entwicklung F) Die Kriterien einer weiteren tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder der Schizophrenie werden nicht erfüllt“.
Roy et al (2009: 61) führen folgende Ergänzungen des DSM-IV nach dem Adult Asperger Assessment (AAA), einem Instrument zur Diagnose des AspergerSyndroms im Erwachsenen-Alter hinzu: „Ergänzungen des DSM-IV nach dem Adult Asperger Assessment (AAA) (modifiziert) Zu A) Schwierigkeiten im Verständnis sozialer Situationen sowie von Gefühlen und Gedanken anderer Menschen Zu B) Tendenz zum „Schwarz-Weiß-Sehen“; mangelnde Fähigkeiten zu flexiblen Sichtweisen Zusätzlich: Qualitative Beeinträchtigung der verbalen und nonverbalen Kommunikation mit mindestens drei der folgenden Symptome: 1. Tendenz, Gespräche auf die eigene Person oder auf die eigenen Spezialinteressen zu lenken 2. Deutlich eingeschränkte Fähigkeiten, Gespräche zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Empfindet keinen Sinn in oberflächlichen Sozialkontakten, Höflichkeit oder in Kontakte ohne klare Sachdiskussion 3. Pedantischer Sprachstil, Verwendung zu vieler Details 4. Unfähigkeit des Erkennens von Interesse oder Langeweile des Zuhörers 5. Neigung, häufig Kommentare abzugeben, ohne die Emotionen des Gegenübers zu berücksichtigen. Zusätzlich: Beeinträchtigung in mindestens einem der Kriterien bezüglich des Vorstellungsvermögens im Kindesalter 1. Mangel an einem altersentsprechenden fantasievollen Spiel 2. Unfähigkeit, spontan fiktive Erzählungen wiederzugeben/aufzuschreiben 3. Mangelndes Interesse an altersentsprechenden Fantasiegeschichten oder Beschränkung des Interesses auf einen möglichen realen Ursprung (zum Beispiel Science-Fiction, Geschichte)“.
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Ohne einzelne Diagnosekriterien zu diskutieren, ist festzustellen, dass die Kriterien hauptsächlich defizitorientiert sind. Feuser (1984: 45) kritisiert, dass die Diagnose Autismus nicht mehr ist „als die Selbstbestätigung eines Vorurteils, ohne daran Anstoß zu nehmen, daß wir ausgehend von den Erstbeschreibern immer schon vorurteilsmäßig vorausgesetzt haben, was wir als typisch für Autismus ansehen, um es mittels der Merkmalslisten anschließend diagnostisch zu bestätigen“. Gray und Attwood (2006) distanzieren sich von den genannten DSM-Kriterien, indem sie neue Kriterien für die Diagnostizierbarkeit des Asperger-Syndroms aufstellen: „A. Qualitative Vorteile in sozialer Interaktion, manifestiert in der Mehrzahl der folgenden Punkte: 1. Beziehungen zu Altersgenossen geprägt von absoluter Loyalität und untadeliger Zuverlässigkeit 2. frei von sexistischer, ‘alters-istischer’ oder kulturalistischer Voreingenommenheit, Fähigkeit andere mit ihrem ‘Nennwert’ zu betrachten 3. man sagt, was man denkt, ungeachtet des sozialen Kontextes bzw. Festhalten an der eigenen Meinung und Einstellung 4. Fähigkeit, persönliche Theorien oder Perspektiven zu verfolgen trotz offenkundiger Konflikte 5. Suche nach Zuhörern oder Freunden mit folgenden Fähigkeiten: Enthusiasmus für einzigartige Interessen und Themen; Wertschätzung von Details; Zeit verbringen, ein Thema zu diskutieren, das möglicherweise nicht von primärem Interesse ist 6. Zuhören, ohne permanentes Urteilen oder voreilige Schlüsse zu ziehen 7. hauptsächlich interessiert an signifikanten Beiträgen eines Gesprächs; Neigung, ‘ritualistischen small talk’ oder sozial triviale Bemerkungen und oberflächliche Konversation zu vermeiden 8. Suche nach aufrichtigen, positiven, ehrlichen Freunden mit einem zurückhaltenden Sinn für Humor B. Flüssig in ‘Aspergerese’ einer sozialen Sprache, charakterisiert durch mindestens drei der folgenden Punkte: 1. Entschlossenheit, die Wahrheit zu suchen 2. Konversation frei von versteckten Bedeutungen oder Andeutungen 3. fortgeschrittenes Vokabular und Interesse an Wörtern 4. Faszination an auf-Wörter-basierendem-Humor, wie in Wortspielen 5. fortgeschrittener Gebrauch von bildhaften Vergleichen C. Kognitive Fähigkeiten, charakterisiert durch mindestens vier der folgenden Punkte: 1. starke Bevorzugung von Details vor dem Gesamtbild 2. originelle, oft einzigartige Weise der Problemlösung 3. außergewöhnliches Gedächtnis und/oder Erinnerung an Details, die oft von anderen vergessen oder ignoriert werden, wie z.B. Namen, Daten, Zeitpläne, Routinen 4. begierige Ausdauer Informationen über ein interessierendes Thema zu sammeln und zu katalogisieren
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5. Beharrlichkeit des Denkens 6. enzyklopädisches, oder ‘CD-ROM’ Wissen über ein oder mehrere Themen 7. Wissen um Routinen, und ein fokussierter Wunsch, Ordnung und Genauigkeit zu bewahren 8. Klarheit von Werte/Entscheidungen, ungeachtet politischer oder finanzieller Faktoren D. Mögliche zusätzliche Merkmale: 1. scharfe Empfindlichkeit gegenüber spezifischen sensorischen Erfahrungen und Stimulierungen, z.B. Hören, Berührung, Sehen, und/oder Geruch 2. Stärke in Einzelsportarten oder Spielen, insbesondere solche, die Ausdauer oder scharfes Sehen verlangen, einschließlich Rudern, Schwimmen, Bowling/Kegeln, Schach 3. ‘sozial unbesungener Held’ mit vertrauensvollem Optimismus: häufiges Opfer der sozialen Schwächen anderer, dennoch standfest im Glauben an die Möglichkeit ehrlicher Freundschaft 4. erhöhte Wahrscheinlichkeit über [sic!] der allgemeinen Bevölkerung nach der weiterführenden Schule eine Universität/Hochschule zu besuchen 5. oft fürsorglich anderen gegenüber außerhalb des Rahmens der typischen Entwicklung“.
Diese positive Ausrichtung findet in der Fachliteratur wenig Berücksichtigung. Die Darstellungen haben sich bisher zum größten Teil mit defizitorientierten Merkmalen bzw. Verhaltensoriginalitäten des Autismus beschäftigt. Dies verdeutlicht einerseits die vorherrschende Betrachtungsweise, die zum Ausdruck gebracht wird, und andererseits impliziert diese Betrachtungsweise, dass es, weil es Defizite gibt, im Umkehrschluss etwas Vollkommenes geben muss. Dies ist bedenklich, da sich im Rahmen des Diskurses um Diskriminierung und Antidiskriminierung (vgl. Joerden 1996) gezeigt hat, dass Merkmale einer Person, auf die sie keinen Einfluss hat (wie z. B. Geschlecht, Herkunft), besonders sozialer Andersbehandlung ausgesetzt sind. Jede Betrachtung / Definition von Behinderung muss sich daher daran messen lassen, inwiefern sie defizitorientiert oder ressourcenorientiert ist und somit zu positiver oder negativer Diskriminierung führt. Brackmann (2005) stellt signifikante Parallelen zwischen Autismus und hoher Intelligenz her und reflektiert, dass Behinderung und Hochbegabung kaum gemeinsam denkbar sind, weil sie sich im Normalfall ausschließen und widersprechen. Sie macht auf die neuronale Übererregbarkeit (geistige Überaktivität, emotionale Hypersensibilität und sensorische Überempfindlichkeit) aufmerksam, die sich bei hoher Intelligenz wie auch bei Autismus findet. „Voraussetzung für hohe Intelligenz ist eine hohe Auffassungsgabe, d. h. die Fähigkeit, viele Reize gleichzeitig wahrzunehmen und komplex zu verarbeiten. Ist das Auffassungsvermögen ,zu hoch‘, strömen in alle Sinneskanäle gleichzeitig Reize mit ungehinderter Intensität ein. Dies kann zu Reizüberflutungen, Denkblockaden und schließlich zu Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit führen“ (Brackmann 2005: 152 Hervorh. im Original). Sie stellt die Hypothese auf, dass es sich bei 49
Autismus „um eine extrem ausgeprägte Form geistiger, emotionaler und sensorischer Übererregbarkeit“ (ebd.; Hervorh. im Original) handelt. Darauf, dass das Wahrnehmungssystem der Reizverarbeitung bei Autismus anders entwickelt ist, weist Peeters hin: „They hear, feel and see, but their brains deal with this information in a different way“ (1997: 11). Eindrücke ihrer visuellen, auditiven, olfaktorischen etc. Sinneswahrnehmungen beschreiben Betroffene z. B. in autobiografischen Büchern (siehe exemplarisch Williams 1992 und 1998, Schäfer 1997). Trifft man Menschen mit der Diagnose Autismus, so verwundert ihre Heterogenität. Setzt man sich an weiter mit den ihnen zugeschriebenen Symptomen auseinander (z.B. Zurückgezogenheit, fokussierte Interessen, Kommunikationsstörungen) und beobachtet den anderen, das eigene Selbst, sein soziales Umfeld, dann stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit diese Merkmalszuschreibungen spiegelbildlich auf die Gesellschaft zutreffen oder auch nicht. Spätestens dann hat sich der eigene Blickwinkel geändert zu einem medizinischen, das heißt beurteilenden und bewertenden Blick. Doch wie flexibel, wie variabel ist dieser? Wird er gar zu etwas Starrem, möglicherweise Behinderndem? Dann wäre eine Behinderung des Blicks konstruierbar. Belässt man es bei den zwei eingeführten Perspektiven, nämlich der netzwerkanalytischen und der behinderungsanalytischen Perspektive (und ausführlicher siehe Tab. 2), so lässt sich auch die Frage aufstellen, wie Autismus netzwerkanalytisch und unter Berücksichtigung des Drei-Zonen-Modells untersucht werden kann – und welche Theorie von Autismus/Nicht-Autismus bzw. Behinderung/Nicht-Behinderung (unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten betrachtet) Menschen mit Autismus formulieren würden. Einen Ansatzpunkt bietet die Überschrift „Autism is a universe and we are all stars“ des Projekts autismus-kultur12. Sowohl inhaltlich als auch methodisch handelt es sich bei dieser Frage deutschlandweit mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein forschungstechnisches Novum. Es lässt sich auch festhalten, dass Berichte über subjektive Erfahrungen autistischer Menschen ein Desiderat in der Forschungsliteratur sind. Erst seit einigen Jahren gibt es Darstellungen über behindernde Lebensräume in Form autobiografischer Zeugnisse von Betroffenen selbst zu finden. An dieser Stelle ist das von Menschen mit Autismus initiierte Projekt Autismus-Kultur zu erwähnen, das „sich für konsequentes Infragestellen pathologisierender und defizitorientierter Autismus-Konzepte, Abbau von Diskriminierung von Autist_innen [sic!] und für Selbstbestimmung und Autonomie fern von Bevormundung und Vereinahmung engagiert“ 13. Die Aussagen von 12 13
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http://autismus-kultur.de/, 29.05.2009 http://autismus-kultur.de/ak/au-tismus-kultur/ziele-des-projektes, 23.4.2008
Menschen mit Autismus ermöglichen einen Einblick in deren Wirklichkeitserleben. Dies verhilft wiederum zu einem verbesserten „Verständnis der Besonderheiten im Denken und Handeln dieser Personen, das uns hilft, in jedem Arbeitskontext“ den Bedürfnissen von Menschen mit dem autistischen Kontinuum „besser gerecht zu werden“ (Eckert/Lechmann 2006: 147). Das Projekt AutismusKultur beispielsweise lehnt spezielle Unterstützungsformen ab. „Nur wenn die Initiative von autistischen Menschen selbst ausgeht und sie bis ins kleinste Details [sic!] selbst entscheiden, wie sie wobei unterstützt werden möchten, kann man von einer realen Unterstützung sprechen“14. Gerade die Autismusforschung benötigt dementsprechend die Zusammenarbeit mit Betroffenen „wenn sie ein reales Bild von den Problemen und Schwierigkeiten der Menschen erstellen will, um hilfreiche Unterstützungsangebote zu entwickeln. […] Grundlegend für eine derart förderliche Zusammenarbeit, ist die Tatsache, dass wir die Menschen mit autistischem Verhalten, so verschieden sie auch sein mögen, in jeder Hinsicht als gleichberechtigte und gleichwertige Partner anerkennen und akzeptieren“ (Bloemers/ Wisch 2000: 296). Doch von welchen Behinderungen im Sinne von Begrenzungen eine Kooperation und Zusammenarbeit gefährdet ist, wird in Abschnitt 3.1.2 näher erläutert.
3.1.2 Behinderung und Selbstbestimmung Nicht nur, dass den als behindert bezeichneten Menschen Mangel, Unfertigkeit und Schädigung unterstellt wird (vgl. Herriger 1997: 67), häufig wird ihnen auch Selbständigkeit und Selbstbestimmung abgesprochen. Selbstbestimmung - ein durchaus geläufiger Bestandteil unserer Alltagssprache - fungiert in der Behindertenhilfe als politischer Begriff und wird als Gegenbegriff zu Fremdbestimmung verwandt. Selbstbestimmung findet Eingang in unterschiedliche Debatten, „wo es um ethische Grundfragen und gesellschaftsrelevante Interessen- und Wertekonflikte geht“ (Krähnke 2007: 136). Gemeint sind damit Diskussionen über Abtreibung, Behinderung, Sterbehilfe und die Definition der Würde des Menschen (vgl. ebd.). Krähnke zufolge ist in der Behindertenbewegung der Selbstbestimmungsbegriff „zu einer programmatischen Leitformel geworden. Von den Sprechern dieser Bewegung wird diese Leitformel auch bewusst zur kollektiven Identitätsbildung eingesetzt“ (ebd.: 187). Der Begriff der Selbstbestimmung geht auf philosophische Diskurse zurück und wird mit Begriffen wie Freiheit, gesellschaftliche Teilhabe, Emanzipation, Mündigkeit, Selbständigkeit (vgl. Frühauf 1996: 301, Krähnke 2007: 95) assoziiert und 14
http://autismus-kultur.de/ak/autismus-kultur/ziele-des-projekts-autismus-kultur.html, 12.2.2009
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umfasst Selbstzweck, Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung, Selbstbegriff, Selbstgesetzgebung und Selbstverwirklichung (vgl. Gerhardt 1999: 145). Äußeren Zwängen „entfliehen, einem befreienden Selbstbild Einfluss [zu] verschaffen, Manipulation ab[zu]wehren [und] zu einer eigenen Stimme finden“ (Bieri 2007: 50), sowie Selbsterkenntnis, das Durchschauen innerer Zwänge (vgl. ebd.: 50) und die Durchsetzungsfähigkeit sich selbst gegenüber (vgl. Waldschmidt 2003) sind weitere im Zusammenhang mit Selbstbestimmung zu nennenden Elemente. Laut Krähnke (2007: 62) muss die Unschärfe des Selbstbestimmungsbegriffs stets beachtet werden. Bezogen auf das Völkerrecht auf Selbstbestimmung als gesellschaftliche Konstruktion – gibt es demnach „keine klare Verwendungsregel […], die den Gebrauch diesen Begriffs präzise festlegt und eindeutig einschränkt“ (ebd.: 64). Waldschmidt (1999) merkt an, dass die Selbstbestimmung nicht als ein Individualphänomen betrachtet werden kann. „Es gibt immer zugleich ihren Gegenpol, ein Anderes, das die persönliche Freiheit einschränkt, und das in der Begrenzung der Forderung nach Selbstbestimmung erst ihren Sinn gibt“ (Waldschmidt 1999: 233). Theunissen und Plaute (2002: 23) weisen darauf hin, dass Selbstbestimmung im „Zusammenspiel individueller und sozialer Faktoren“ zur Entfaltung kommt. Dieses Zusammenspiel von Sich-Gestalten-Lassen und eigenem Gestalten gerät im Zusammenhang mit Behinderung in eine Schieflage. Nach Waldschmidt (1999) wird behinderten Menschen abhängig vom Vernunftvermögen Selbstbestimmung zugestanden. „Die Vernunft scheint den eigentlichen Boden, das Fundament des Autonomiegedankens zu bilden, darauf verweist der gesellschaftliche Umgang mit behinderten Menschen und die Art und Weise, welchen Individuen in welchem Maße und in welchen Situationen Selbstbestimmung heutzutage zugestanden wird“ (Waldschmidt 1999: 25). Aus ihren Fallanalysen (ebd.: 224ff) lässt sich schließen, dass Selbstbestimmung am ehesten bei einer körperlichen Behinderung im Vergleich zu anderen Behinderungen ihren Ausdruck findet. In der Auseinandersetzung mit der Thematik der Selbstbestimmung wandten sich in den 1960er Jahren Menschen mit einer (körperlichen) Behinderung, beeinflusst durch die amerikanische Bürgerbewegung unter dem Namen „Independent Living“ als sog. „Selbstbestimmt-LebenBewegung“ gegen gesellschaftliche Ausgrenzung und fremdbestimmende Versorgungsstrukturen und bewirkten mit ihrem Verständnis von Selbstbestimmung zum Teil paradigmatische Veränderungen im rehabiltationswissenschaftlichen Bereich hin zu einer Veränderung ihrer Lebensumstände. Waldschmidt (1999: 43) markiert die zu verzeichnende Entwicklung als eine „nachholende Befreiung, eine Befreiung, die andere Gruppen schon längst für sich vollzogen haben, etwa die Arbeiter mit der Gewerkschaftsbewegung und die Frauen mit der feministischen Bewegung“. Dreißig Jahre später organisierten sich auch Menschen mit 52
einer sogenannten geistigen Behinderung, ca. 200 Jahre nach dem Entwurf des Autonomiekonzepts im Rahmen der Aufklärungsphilosophie, und begannen, Selbstbestimmung zu beanspruchen (vgl. Waldschmidt 2003: 14). Festzuhalten bleibt: auch wenn die Selbstbestimmungsdiskussion im behindertenpolitischen- und pädagogischen Diskurs eine kritische Reflexion sonderpädagogischer Theorie und Praxis (vgl. Rittmeyer 2001: 144) anregte und im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung Gesetze zur Sicherung der Selbstbestimmung behinderter Menschen erlassen wurden, ist ihre Verwirklichung immer noch begrenzt. Waldschmidt merkt an, dass für die Realisierung von Selbstbestimmung Verwirklichungsbedingungen vorhanden sein müssen. „Entsprechend müssen die Individuen, die Autonomie fordern, versuchen, der Selbstbestimmung einen Gehalt zu verleihen, der im Kontext der persönlichen Lebenssituation und als Ergebnis biographischer Erfahrungen einen spezifischen Sinn ergibt“ (Waldschmidt 1999: 72). Selbstbestimmung wird von Mühl definiert als „die Möglichkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen und Bedürfnissen oder den eigenen Wertvorstellungen entsprechen“ (1994: 93), wohingegen Fremdbestimmung als „die Unmöglichkeit oder Schwierigkeit, Selbstbestimmung zu üben“ (ebd.), charakterisiert und dadurch gekennzeichnet ist, dass den Individuen „die Kontrolle über ihr Leben ganz oder teilweise entzogen“ wird (Weisser 2007: 4). Unter Selbstbestimmung wird im Folgenden in Anlehnung an Mühl die Möglichkeit verstanden, Entscheidungen zu treffen und eigene Interessen durchzusetzen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Individuen im Lebenszyklus unterschiedliche Ausprägungen ihrer Selbstbestimmung erleben. Sich seiner selbst konstant bewusst zu sein und seine Interessen immer durchsetzen zu können klingt utopisch. Es wird davon ausgegangen, dass die Handlungsspielräume eines Individuums different sind und von sozialen Faktoren beeinflusst werden, das heißt konkret: Ein Individuum kann in bestimmten sozialen Kontexten mehr Selbstbestimmung ausüben und in anderen weniger. Selbstbestimmung unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten kann beispielsweise wie folgt operationalisiert werden: Kognitiv-emotionale Ebene Bedürfnis/Bedarf/Interesse erkunden – Entscheidung treffen, um das Ziel zu erreichen (Handlungsziel formulieren) Beispiel 1: Gefühl der Isolation überwinden – einmal in der Woche mit dem Freundeskreis etwas unternehmen – Kontaktaufnahme, um ein Treffen zu vereinbaren. 53
Beispiel 2: Finanzielles Budget ist knapp – Erhöhung des finanziellen Budgets um 300€ – im sozialen Netzwerk nach Arbeitsmöglichkeiten fragen, Annonce in der Zeitung aufsetzen, den Job-Markt in der Region erkunden. Beispiel 3: Überforderung einschränken – soziale Aktivitäten, z.B. ehrenamtliches Engagement um vier Stunden wöchentlich reduzieren – FreiwilligenAgentur benachrichtigen. Beispiel 4: Kunst-Ausstellung in Duisburg mit der persönlichen Assistenz besuchen – in Frage kommende Person einladen und die Fahrt organisieren. Interaktive Handlungsebene: Entscheidung umsetzen (mit oder ohne Unterstützung) Jedes Beispiel ist je nach individuellem Vermögen allein oder mit Unterstützung und in Abhängigkeit mit sozialen Faktoren umsetzbar bzw. nicht umsetzbar. Folgende Komponenten des sozialen Kapitals sind bei der Ausübung von Selbstbestimmung relevant: sich seiner Interessen bewusst sein, Kommunikation/soziale Kompetenzen, Wissen/Macht, Besitz eines Beziehungsnetzes, Mobilisierung von Handlungsressourcen/Erhalt sozialer Unterstützung. Von Bedeutung ist dann die Anzahl der Personen im Netzwerk (Netzwerkgröße), die Beschaffenheit der Kontakte (z.B. Freundschaft), Intensität der Beziehung usw. Für die vorliegende Studie wird der Fokus auf die Selbstbestimmung des Akteurs mit Autismus gelegt. Untersucht wird, welche Entscheidungen die Fokusperson im COS-Kontext trifft (Auswahl der Aktivitäten, Ausbau des sozialen Netzwerkes, Mobilisierung von Handlungsressourcen), inwieweit ihr Selbstbestimmung zugestanden wird und inwiefern die Selbstbestimmung der Fokusperson Begrenzungen erfährt.
3.1.3 Selbstbestimmung bei Menschen mit autistischem Kontinuum Selbstbestimmung als rechtsstaatlich abgesichertes Grundrecht, als kulturelle Notwendigkeit und ethische Verpflichtung gerät nach Feuser (2006) in einen Konflikt, „wenn die Frage der Realisierung dieser Grundrechte mit Bezug auf Personen aufgeworfen wird, die als autistisch und/oder geistig behindert klassifiziert sind“ (http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-advokat.html, 30.1.08). Die Beschäftigung mit dem Begriff der Selbstbestimmung in der deutschsprachigen Fachliteratur über das autistische Spektrum ist marginal und in autobiografischen Publikationen von Menschen mit Autismus nicht implizit vorzufinden. Standardwerke von Kusch/ Petermann (1991), Kehrer (1995), Klicpera/Innerhofer (1999) und Remschmidt (2000) berücksichtigen den Begriff der Selbstbestimmung genauso wenig wie Ratgeber für Menschen mit Autismus, Angehörige und 54
Fachleute (z. B. Aarons/Gittens 1994; Matthews/Williams 2001; Attwood 2005). Es lassen sich darin eher Begriffe wie (fehlende) Selbstdisziplin, -kontrolle, -stimulation, -regulation und -beherrschung finden. In der vom Bundesverband autismus Deutschland e. V. herausgegebenen Zeitschrift „autismus“ reflektiert einzig Prof. Dr. Seidel (2006) die Selbstbestimmung für Menschen mit Autismus vor dem Hintergrund der aktuellen Selbstbestimmungsdiskussion in Deutschland und hinterfragt den Gewinn bzw. Verlust der Selbstbestimmung durch die Strukturierung des Alltags von Menschen mit Autismus. In derselben Zeitschrift für das Jahr 2001 lässt sich der Diskussionsbeitrag einer Betreuungsrichterin finden. Sie stellt in den Vordergrund, dass Selbstbestimmung insbesondere von Zugänglichkeiten an Informationen, Möglichkeiten zum Ausprobieren und den Austausch mit anderen lebt (vgl. von Looz 2001: 35). Auch Heike Frank, eine Frau mit Asperger-Syndrom und Gründerin einer Selbsthilfe-Gruppe, leistet einen originären Beitrag, indem sie als Betroffene Selbstbestimmung wie folgt konzeptionalisiert: „Selbstbestimmt leben heißt, offen zu sein für die Bereiche des Lebens, in denen man Hilfe benötigt, und Hilfe annehmen zu können. Selbstbestimmt leben heißt auch, die Bereiche des Lebens, in denen man Stärken hat, kreativ zu gestalten und zur Freude vieler einzusetzen. Für Fachpersonal bedeutet dies, den betroffenen Menschen Spezialist sein zu lassen für sein eigenes Leben und notwendige Hilfestellung immer mit dem Ziel zu leisten, die eigene Hilfe überflüssig zu machen – selbst wenn dieses Ziel nie erreicht werden wird“ (Frank 2005: 19). Von diesen Ausführungen lassen sich folgende Fragestellungen ableiten: Wie sieht es vergleichsweise in den Circles of Support aus, wo Selbstbestimmung konzeptionell als wesentlicher Leitgedanke gilt? Wie äußert sich die Selbstbestimmung der Fokusperson bzw. worauf ist sie im COS fokussiert? Wenn es nach Waldschmidt den Gegenpol gibt, wie zeigen sich die Auseinandersetzungen im COS und auf welche Grenzen stoßen die Akteure? Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass das Leben mit Behinderung oftmals mit erschwerten Bedingungen einhergeht. Umso mehr interessiert die Bewältigung der erschwerten Bedingungen im Alltag behinderter Menschen und ihr Unterstützungsbedarf vor dem Hintergrund ihres sozialen Netzwerks. Auf welche personellen Ressourcen können sie bei der Mobilisierung sozialer Unterstützung zurückgreifen? Besonders interessiert die Erfassung der Netzwerksituation autistischer Menschen: Auf welche Weise erhalten sie Unterstützung im Alltag und auf welche personellen Ressourcen können sie dabei zurückgreifen? Eklatant ist jedoch folgende Feststellung: Bei den wenigen Untersuchungen zur Netzwerksituation und zur sozialen Unterstützung behinderter Menschen in Deutschland findet sich keine, die die Situation autistischer Menschen unter 55
netzwerk- und unterstützungsrelevanten Gesichtspunkten erfasst. Folgender Abschnitt fasst demzufolge Studien zu sozialen Kontakten und Unterstützung im Kontext von Behinderung zusammen und leitet daraus den Netzwerkumfang autistischer Menschen her.
3.2 Soziale Kontakte und Unterstützung im Kontext von Behinderung Auch wenn ein Vergleich der unterschiedlichen Zielgruppen hinsichtlich ihrer Netzwerkgröße und ihrer Mobilisierung von sozialer Unterstützung sich als schwierig erweist, werden im Folgenden die Untersuchungen überblicksartig vorgestellt. Windisch und Kniel (1988) untersuchten den alltäglichen Hilfebedarf behinderter Menschen und den Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und sozialer Abhängigkeit. Die Ergebnisse zeigen eine verstärkte Einsamkeit und erhöhte Abhängigkeit bei einem geringeren Netzwerkumfang auf (vgl. Windisch/ Kniel 1988: 386-388). Niehaus (1993) analysierte in ihrer repräsentativen Studie den sozialen Rückhalt von 227 Frauen mit überwiegend körperlichen und organischen Funktionsbeeinträchtigungen zwischen 18 und 60 Jahren und stellte fest, dass Angebote zur Stützung des informellen Netzwerkes und sozialpolitische Initiativen zum Ausbau formeller Unterstützung im sozialen Nahraum behinderter Menschen erwünscht sind (vgl. ebd.: 123). Schiller (1987) untersuchte aus sonderpädagogischer Perspektive die „social-support“- Situation von 73 erwachsenen Personen mit Sehbehinderungen und körperlichen Beeinträchtigungen im Raum Oldenburg. Die Analyse ergibt, dass die Netzwerke von körperbeeinträchtigten Menschen größer sind als die der sehbehinderten Personen. In Anlehnung an eine Vergleichsstudie zur Netzwerkgröße Studierender und behinderter Frauen von Veiel (1992) weist Niehaus (1993: 100) darauf hin, dass das Netzwerk der Studierenden aus durchschnittlich 10,6 Bekannten15 (mit einer Kontaktfrequenz von 21,4 Mal pro Woche), hingegen das Netzwerk der behinderten Frauen aus durchschnittlich 5,1 Bekannten (mit 12,7 Mal Kontakt pro Woche) besteht. Ähnliche Ergebnisse der Untersuchung von Hamel und Windisch (1993) zeigen auf, dass die Netzwerke nichtbehinderter Erwachsener größer sind als die von behinderten Erwachsenen. Verwandte gelten bei letzteren als die bedeutsamste Netzwerkgruppe, darauf weist auch Niehaus (1993: 88) mit Bezug auf Schiller (1987) und der Socialdata-Studie (1984) hin. Der Unterschied tritt dann besonders deutlich zutage, wenn es um längerfristige Unterstützung geht. Es zeigte 15
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Auch Petermann (2002: 28) und Wellmann & Hiscott (1985: 206) registrieren ebenfalls elf durchschnittliche aktive Sozialbeziehungen pro Netzwerk, wobei die primären Beziehungskontexte zur Verwandtschaft und Nachbarschaft gegenüber den sekundären Netzwerkbeziehungen überwiegen.
sich, dass die Unterstützung bei den zu untersuchten Personen häufig auf wenige Netzwerkmitglieder, oft sogar auf eine einzige weibliche Familienangehörige begrenzt ist (vgl. Hamel/ Windisch 1993: 425f). Die Studie von Schumann et al (1989) zur Untersuchung von sozialen Netzwerken von Familien mit behinderten Kindern im Landkreis Reutlingen belegt, dass sich das primäre familiäre Netzwerk zu Kontakten mit Sozialamt, Gesundheitsamt, Versorgungsamt und der Krankenkasse erweitert. Es bestehen regelmäßige Kontakte zu Kliniken und Professionellen aus dem Gesundheits- und Sonderpädagogischem Bereich (vgl. Schumann et al 1989: 89). Andere empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass Familien mit einem behinderten Kind sich sozial isolieren, um die aus der Behinderung resultierende Vielzahl an Terminen bei Therapeuten und Ärzten als auch die emotionalen und körperlichen Belastungen bewältigen zu können (vgl. Guski 1977; Thimm 1985: 184). Besonders Mütter geraten durch den Rückzug und die verstärkte Fokussierung auf das Kind in eine soziale Isolation16. Die aktuellsten Analysen im Gender-Datenreport von Michel und HäußlerSczepan (2005) bestätigen die vorangestellten Studien, die auf geringere Netzwerkgrößen behinderter Menschen aufmerksam gemacht haben. „Schwerbehinderte Frauen und Männer gaben jeweils doppelt so oft wie nicht behinderte an, überhaupt keine Freundinnen und Freunde zu haben (jede achte schwerbehinderte Frau und jeder siebente schwerbehinderte Mann). Durchschnittlich zwei Drittel der behinderten sowie nicht behinderten Frauen und Männer nannten ein bis fünf Freundinnen und Freunde, etwa jede fünfte schwerbehinderte Frau bzw. jeder fünfte schwerbehinderte Mann besaß fünf und mehr Freundinnen und Freunde, bei leicht oder nicht behinderten traf das auf ein Viertel der Frauen und Männer zu“ (Michel/Häußler-Sczepan 2005: 596). Der Gender-Datenreport wirft einen Blick auf die geringere Einbindung behinderter Männer und Frauen in außerfamiliäre Netzwerke und weist damit auf Begrenzungen bei der Wahrnehmung von gesellschaftlicher Partizipation hin. Dies wiederum wirkt sich auf die Größe und Stabilität ihrer sozialen Netzwerke aus. Erschwerende Faktoren wie geringere berufliche Integration und geringe materielle Ressourcen sowie höhere Aufwendungen bei der Alltagsbewältigung und soziale Barrieren im Zusammenleben behinderter und nicht behinderter Frauen und Männer behindern die Entwicklung tragfähiger sozialer Beziehungen zusätzlich (vgl. ebd.: 599).
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An dieser Stelle ist auf die Publikation von Thimm und Wachtel (2002) hinzuweisen, die regionale Angebotsstrukturen für Familien mit behinderten Kindern im deutschen Raum analysierten und auf mögliche Wege der Unterstützung aufmerksam machen.
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3.3 Soziale Beziehungen im Kontext von Autismus Den vorangestellten Studien zufolge können entsprechende Tendenzen des sozialen Netzwerkes und der „social-support“- Situation auch im Leben autistischer Menschen dahingehend angenommen werden, so dass deren Netzwerkumfang sich neben dem verstärkten Bezug zu therapeutischen Einrichtungen auf familiäre Kontakte und auf geringe außerfamiliäre Beziehungen beschränkt. Laut Aussage des Bundesverbandes autismus Deutschland e.V. befinden sich Menschen mit Autismus zum größten Teil in der Frühförderung, Therapie und Betreuung. „Erwachsene mit autistischen Störungen (…) werden gelenkt, eingewiesen, therapiert, aber zu wenig als Individuen akzeptiert“ (Bundesverband Hilfe für das autistische Kind 1996:12). Die Rolle des autistischen Menschen scheint dabei auf die des in Förderung und Therapie In-Anspruch-Nehmenden reduziert zu sein. Signifikante Stationen gesellschaftlicher Teilhabe eines Menschen mit Autismus ist in der Regel der Besuch von Sondereinrichtungen (vgl. Weber 1982; Hilfe für das autistische Kind 1996). Durch diesen Sonderstatus werden automatisch Möglichkeiten der gemeinwesenintegrierten Netzwerk-Entwicklung eingeschränkt. Denn: „Soziale Netzwerke und die sich daraus ergebenden Bindungen entstehen durch das alltägliche Handeln. Fehlende oder beschränkte Möglichkeiten des gemeinsamen alltäglichen (…) behindern das Entstehen von tragfähigen und selbstverständlichen Beziehungen (…)“ (Kniel/ Windisch 1987: 102). Auch Schumann et al. (1989: 100) gehen davon aus, dass die Separierung in Sondereinrichtungen isolierte Lebenswelten schafft, „die wenig Verbindungen zu dem biographisch gewachsenen Netzwerk (...) aufweist“. Der Schonraum in Sondereinrichtungen konstituiert eine spezifische Lebenswelt und manifestiert damit die Behindertenidentität. Aus einer Untersuchung von Eder-Debye (1988) zu der Frage, ob Menschen in einem guten Netzwerk weniger die Hilfe des Arztes brauchen, geht hervor, dass ambulante Dienste häufiger in Anspruch genommen werden, sobald wenig stützende Beziehungen im informellen Netzwerk gegeben sind. „Defizite im informellen sozialen Netzwerk bewirken eine Ausdehnung des Hilfesuchverhaltens auf professionelle Hilfsquellen; mangelnde oder defizitäre soziale Ressourcen werden durch die Inanspruchnahme professioneller medizinischer Dienste ,substituiert‘ “ (ebd.: 261). Anders ausgedrückt, werden soziale Bedürfnisse durch die Inanspruchnahme professioneller Dienste kompensiert, je weniger informelle soziale Kontakte bestehen. Inwieweit dies auf Menschen mit Autismus zutrifft, gilt zu eruieren. Einerseits sind soziale Beziehungen nach Badura für die Entwicklung und Wandlung des menschlichen Denkens und Handelns, „für die Erhaltung von Identität und Motivation, für psychische Stabilität und Lebenszufriedenheit von 58
zentraler Bedeutung“ (1981: 21), andererseits wird die permanente Beziehungsarbeit für die Reproduktion von Sozialkapital (vgl. Bourdieu 1983: 193) betont. Berücksichtigt werden muss, dass sich Autismus laut dem DSM-IV unter anderem in einer starken „Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Anknüpfen von Freundschaften“ zeigt (Kusch/Petermann 1991: 17). Aus den Ergebnissen einer Befragung von Ruef (2001) – darunter auch einige autistische Probanden – geht hervor, dass soziale Beziehungen für diese von hohem Stellenwert sind (vgl. ebd.: 165). Ergänzend äußert sich Zöller (1992), ein Mann mit Autismus: „Es scheint mir, dass es nicht zuerst eine Beziehungsstörung ist. Die Beziehungen können aber nicht gelebt werden, weil das Gegenüber gar nichts von der Beziehungsaufnahme merkt. Ich will schon Beziehung, aber die meisten Leute merken das gar nicht, weil ich es nicht so gut zeigen kann“ (Zöller 1992: 65). Freundschaften und Beziehungen haben für Menschen mit Autismus unterschiedlichen Stellenwert. Preißmann, Psychotherapeutin und Ärztin für Allgemeinmedizin (und vom Asperger-Syndrom betroffene Frau), bemerkt: „Es ist auffällig, dass Menschen mit Autismus häufig eine andere Definition des Begriffs ‚Freund‘ bzw. ‚Freundin‘ haben, als dies üblicherweise der Fall ist. So werden beispielsweise Menschen, die sich gegenüber dem Betroffenen freundlich verhalten, ihn vielleicht lediglich grüßen, manchmal als Freunde angesehen. […] Bereits im Kindesalter haben autistische Menschen meist nur wenige oder gar keine Freunde, sie ziehen häufig das Zusammensein mit Erwachsenen vor“ (Preißmann 2006: 268). Sie spricht vom „nahezu vollständigen Verzicht auf eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ (ebd.: 273) vieler vom AspergerSyndrom betroffener Menschen und weist darauf hin, dass das soziale Miteinander für autistische Menschen die anstrengendste Aktivität ist: „Daraus folgt, dass viele von ihnen sich sehr stark zurückziehen, sich beispielsweise durch ihre Spezialinteressen ablenken, um sich Beruhigung zu verschaffen. Die meisten Betroffenen leiden jedoch andererseits unter ihrer Einsamkeit und Isolation, darunter, keine Freunde, keinen Partner und keine Kinder zu haben, sie benötigen auch bei der Bewältigung dieser Situation, die für viele von ihnen eine große Enttäuschung darstellen wird, Hilfestellung. Es muss dabei vermittelt werden, dass ein frohes und erfülltes Leben mit und ohne Partner, mit und ohne eigene Kinder gestaltet werden kann. Manche Menschen flüchten sich in ihre Arbeit, um sich diesen Überlegungen nicht stellen zu müssen“17. Es ist empirisch zu prüfen, inwieweit sich autismusspezifische Merkmale auf das soziale Netzwerk davon betroffener Menschen auswirken. Inwieweit kann da 17
entnommen aus: http://www.aekwl.de/fileadmin/akademie/Materialien/2007/September_2007/Asperger/03_Pre issmann_Skript.pdf, 11.01.2009
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noch von Selbstbestimmung im Sinne wählbarer Optionen gesprochen werden? Es stellt sich aber auch die Frage: Liegt die Konstitution des sozialen Netzwerks autistischer Menschen an der Kommunikations- und Verhaltenskultur autistischer Menschen oder daran, dass sie selbst häufig als fehlerhaft und gestört wahrgenommen werden? Jakob (2002) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nicht die Verschiedenheit der Menschen das Problem ist, sondern aufgrund des nicht gelungenen kommunikativen Austausches ein gegenseitiges Verstehen erschwert wird. „Es wird ersichtlich, dass das eigentliche Problem (…) nicht in der betroffenen Person selbst liegt, sondern mehr in der Tatsache des Problems der gegenseitigen Verständigung oder besser gesagt, des gegenseitigen Nichtverstehens. Jedoch erkennen wir meist nicht unser eigenes Unvermögen, das Verhalten des anderen zu verstehen und übertragen somit unsere eigenen normativen Vorstellungsmuster auf die betroffene Person, was dazu führt, dass wir ihr Verhalten als fehlerhaft und gestört wahrnehmen“ (Jakob 2002: 151). Der Versuch, sich in den Interaktionspartner hineinzuversetzen und die Motive und Empfindungen aus der Perspektive des Handelnden zu erfassen, ist immer nur ein Schritt, sich auf den Anderen zu bewegend. Verständnis ist das wichtigste, was Menschen mit Autismus entgegengebracht werden sollte (vgl. Lovett 2005: 114). Die vorangegangenen Ausführungen haben einen Einblick in die Komplexität hinsichtlich der Knüpfung von sozialen Beziehungen im Kontext von Autismus aufgeworfen. Wenn der Mensch als aktiver Gestalter seiner Beziehungen (nach Beck 1983) bezeichnet wird ist, so setzt diese Annahme soziale Kompetenzen eines handelnden Individuums voraus, das in der Lage ist, spezifische Ressourcen zum Aufbau eines tragfähigen außerfamiliären Netzwerkes zu mobilisieren. Der Aufbau von sozialen Beziehungen und unterstützenden Netzwerken wird jedoch erheblich durch die Auswirkungen des Autismus erschwert. Hinzu kommen veränderte Wahrnehmungsmodalitäten und damit einhergehende Handlungsschwierigkeiten. Menschen mit Autismus thematisieren wiederholt den Wunsch nach mehr Kontakten außerhalb des Familien- und Therapeutensystems. „Ich möchte gerne, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll“ (eine beispielhafte persönliche Mitteilung, 2001). Da sich außerfamiliäre Netzwerke für Menschen mit Autismus häufig nicht von selbst entwickeln, der Wunsch und Bedarf nach erweiterten Netzwerken aber besteht, müssen sie – so die These der Verfasserin der vorliegenden Studie - gemeinsam mit der autistischen Person und deren Familienmitgliedern initiiert und begleitet werden. Grundvoraussetzung ist hierbei die Zustimmung (Selbstbestimmung) des Menschen mit Autismus. Es ist ferner kritisch zu diskutieren, ob die neben der familiären Versorgung überwiegend institutionsbasierten Hilfesysteme längerfristig gedacht eine unterstützende Funktion haben. Stattdessen soll nach Optionen gesucht werden, Men60
schen mit Behinderung mehr Teilhabe im sozialen Nahraum zu eröffnen. Hierbei ist ein besonderer Schwerpunkt auf die Unterstützung beim Aufbau von sozialen Kontakten zu legen, um Einsamkeit und Isolation der Betroffenen entgegenzuwirken. Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderung sollen nach Thimm und Wachtel (2002: 209) und Wacker et al (1998: 20) Ressourcen bereitstellen, die Interaktionsfelder im Umkreis von Menschen mit Behinderung initiieren. „Die Einrichtungen sollen den Bedarf mit Blick auf eine möglichst selbständige, gemeindeintegrierte und selbstbestimmte Lebensführung erfüllen und nicht umgekehrt den je vorhandenen Angeboten unterordnen und einpassen“, so konstatieren Franz und Beck (2007: 9, Hervorhebung im Original). An anderer Stelle heißt es: „Soziale Dienste und Rehabilitation waren bislang lediglich auf die Person des Behinderten konzentriert. Mit dem Konzept des sozialen Netzwerks ist es dagegen möglich, die sozialen Umweltbeziehungen Behinderter sowohl in ihrer sozialisatorischen und stützenden Funktion bei der Bewältigung von belastenden Lebensereignissen bzw. -situationen wie auch als Indikator für die soziale Integration angemessen zu berücksichtigen“ (Kniel/ Windisch 1987: 190). Auch Schumann et al (1989: 100) und Dörner (2005: 7) plädieren für gemeindeorientierte Unterstützungsformen. Letzterer meint Unterstützungsnetzwerke, die wie die Circles of Support mit Unterstützung initiiert und angeleitet werden. Nachdem die vorausgegangenen Ausführungen den theoretischen Rahmen zur Netzwerk- und Unterstützungsdiskussion im Kontext von Behinderung skizziert haben, leitet der folgende Abschnitt zum Erhebungs- und Auswertungsdesign über. Im ersten Teil werden dabei der Forschungsprozess, das wissenschaftliche Vorgehen und die Ergebnisse der Analyse des Datensatzes I zur Struktur und Funktion von Circles of Support am Dortmunder Beispiel transparent gemacht. Es zeigt sich im weiteren Verlauf der Studie, dass der Datensatz I (Berichte und Protokolle) einen Einblick in strukturelle und inhaltliche Relevanzen gewährt und gleichzeitig aufdeckt, weshalb andere Datensätze (Interviews und Fragebögen) erforderlich sind. Der zweite Teil des vierten Kapitels begründet die Wahl der Erhebungs- und Auswertungsmethodik für das weitere Vorgehen und stellt den Interviewleitfaden vor. Auch werden die Auswahl der InterviewpartnerInnen und die Durchführung sowie das Vorgehen bei der Transkription der Interviews erläutert.
61
4
Erhebungs- und Auswertungsdesign
4.1 Der Forschungsprozess – im Überblick Zum Forschungsdesign gehören laut Schmidt-Grunert (1999: 59) Aspekte wie das wissenschaftliche Vorgehen, die Begründung der Wahl der Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie die Beschreibung von Anlage und Durchführung der Untersuchung. Dementsprechend lassen sich die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses der vorliegenden Arbeit wie folgt kennzeichnen: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
11 12 13
Durchsicht des Datensatzes I (Berichte und Protokolle von COSStudierenden) Erstellung eines Code-Baums zur Systematisierung des Datensatzes I Literatursichtung und Aufdeckung von Forschungslücken bzw. Forschungsbedarf Wahl der Erhebungsmethodik: Das problemzentrierte Interview nach Witzel (1982) Entwicklung des Interviewleitfadens (Datensatz II) Bestimmung der InterviewpartnerInnen und Durchführung der Interviews Transkription der Interviews Entwurf theoretischer Skizzen zum Stand der Forschung Entwicklung und Versand der Fragebögen (Datensatz III) Auswertung der Datensätze II und III unter Berücksichtigung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1994) und nach netzwerkanalytischen Kriterien Verfeinerung der theoretischen Kapitel zum Stand der Forschung Darstellung der Datenanalyse und theoretische Reflexion der Ergebnisse (Schritt 11 und 12 im zirkulären Prozess) Zusammenfassung (Abschlussdiskussion) und Skizzierung der Konsequenzen für Forschung und Praxis
Abbildung 8: Forschungsprozess im Überblick
62
4.2
Von der explorativen Durchsicht zum Code-Baum
4.2.1 Datensatz I (Berichte und Protokolle von COS- Studierenden) Das Ausgangsmaterial zur Erfassung der strukturellen und inhaltlichen Merkmale sind 19 Jahresberichte mit einem Umfang von jeweils 50-80 Seiten und dazugehörige Protokolle (2-4 Seiten) aus den Treffen mit dem COS-Netzwerk, die von den COS-Studierenden wöchentlich verfasst wurden. Der Zugang zu den unveröffentlichten Datensätzen war Folge der Mitarbeit am EU-India-Forschungsprojekt „Circles of Support for people with disabilities and autism in India and the EU“ und eines anschließenden Lehrauftrags. Im Zeitraum zwischen 1998 und 2007 nahmen insgesamt 11 Fokuspersonen mit Autismus und 57 Studierende am COS-Projekt an der FH Dortmund teil, wie Tabelle 3 verdeutlicht. Um zu verhindern, dass theoretische Überlegungen vorschnell in eine bestimmte Richtung führen, wurde nach dem Prinzip der Offenheit (vgl. Lamnek 1989: 66 ff.; Bohn-sack 1991: 21 ff.) auf vorab formulierte Hypothesen verzichtet. Unter der Fragestellung „Womit hat sich der Einzelne beschäftigt? Was repräsentieren diese Daten und zu was können sie gebraucht werden?“ wurden die Jahresberichte und Protokolle Tabelle 3: Teilnehmende am COS-Projekt von 1998 bis 2007 63
explorativ gesichtet. Dabei interessiert insbesondere die Erfassung von Ereignissen, Entwicklungen und Prozessen innerhalb des COS-Settings. Was sind die Bedingungen, die die Personen zusammenkommen lassen? Wie ordnen sich die Verhältnisse der Beteiligten? Welche Funktion haben die Circles of Support?
64
4.2.2 Erstellung eines Code-Baums zur Systematisierung der im Datensatz I gefundenen thematischen Aspekte Nach Durchlauf des Materials unter Anlegung eines Stichwortverzeichnisses und dem Sammeln von Kategorien erfolgte eine Systematisierung der Kategorien in Form eines Codes-Baums. Die Daten in den Berichten und Protokollen enthalten neben einer theoretischen Abhandlung über Autismus und soziodemografischen Angaben zu den COS-Akteuren einerseits eine ausführliche Beschreibung des beforschten COS- Kontextes mit einer vorher fixierten Schwerpunktlegung, andererseits aber auch Momentaufnahmen, die Ausschnitte von Begebenheiten, Gesprächen in der Gruppe oder mit dem Gemeinwesen wiedergeben. In der Regel handelt es sich jedoch um Notizen unstrukturierter Wahrnehmungen von Ereignissen und gemeinsamen Freizeitaktivitäten, Gruppenprozessen und Reaktionen der Öffentlichkeit. Für den Zeitraum 1998 bis 2007 lassen sich folgende immer wiederkehrende thematische Schwerpunkte im Datensatz I kennzeichnen: Öffentlichkeit
Entwicklung, Lernschritte, Entdeckungen
Konzeption/ Funktion von COS
Unterstützung , Assistenz und Betreuung
Verhalten in/ der Öffentlichkeit
Wahrnehmungsund Handlungsmuster
Kommunikation in/ mit der Öffentlichkeit
GruppenProzesse Kompetenzen Kritik & Grenzen am COSModell
Motivation/ Rollenverständnis
Behinderung
Begriff/ Symptomatik Autismus
Lebenssituation
Selbst- und Fremdbestimmung Relationship Map der Person mit Autismus
Abbildung 9: Codebaum des Datensatzes I 65
4.3
Analyse des Datensatzes I
4.3.1 Struktur und Funktion von Circles of Support Das Datenmaterial weist viele Fundstellen zur Konzeption des COS-Modells auf, die ein differenziertes Bild über die Struktur und Funktion von Circles of Support am Dortmunder Beispiel vermitteln: Struktur
Funktion - Verwirklichung der Ziele des Akteurs mit Behinderung - Sammlung bereichernder Erfahrungen und gemeinsames Erleben
Gruppe von Akteuren - Unterstützer und eine Fokusperson - Ehrenamtliches Engagement
„Ein Circle of Support (COS) ist eine Gruppe von Menschen, die sich regelmäßig trifft, um die Ziele eines Menschen mit Assistenzbedarf zu verwirklichen, ihn zu unterstützen und mit ihm gemeinsam schöne Erlebnisse zu teilen. Bei den Teilnehmern [Unterstützern, AK] an diesem Projekt sollte es sich nicht um Dienstleistende handeln. Die Arbeit ist ehrenamtlich und kann von jedem Menschen, der gerne einmal über den eigenen Tellerrand schauen möchte, um neue und bereichernde Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln, ausgeübt werden“ (Svenja Humbach18, Zwischenbericht 2007: 8). „So wie ich die Art der Unterstützung kennen gelernt habe, ist COS eine Bereicherung für alle Beteiligten“ (Dunja Friedrich, Zwischenbericht 2007: 11). „Wir hatten häufiger den Eindruck, daß unser gemeinsames Ziel – Museum, Eislaufen, DASA … für sie [die Fokusperson, AK] gar nicht wichtig gewesen sind. Für sie zählte es mehr, dass wir gemeinsam etwas unternommen haben“ (Bettina Weyer, Jahresbericht 2001: 24).
18
66
Die Namen der Studierenden sind anonymisiert.
- Hilfestellung zu sozialer Teilhabe der Fokusperson am gesellschaftlichen Leben - Brückenfunktion zwischen Menschen mit und ohne Behinderung - Abbau von Vorurteilen gegenüber Behinderung Strukturelle Einbettung: Öffentlichkeit
„Der Circle of Support sollte der [von Behinderung, AK] betroffenen Person dabei helfen, sich leichter in das Gemeinwesen/ die Gesellschaft einzugliedern, beziehungs-weise die Teilhabe am alltäglichen Leben zu ermöglichen“ (Dunja Friedrich, Zwischenbericht 2007: 8)
„Ein wichtiges Bestreben des Projektes ist, die FocusPerson in ein soziales Netzwerk zu integrieren (z.B. das Herstellen von Kontakten im Gemeinwesen, so dass neue Beziehungen entstehen können). Der COS soll dazu dienen, eine Brücke zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu bauen. Die Teilnehmer erleben zahlreiche und verschiedene Alltagssituationen miteinander. Da hier auch Kontakte mit der Öffentlichkeit entstehen, können auf diesem Weg Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung abgebaut werden, so dass eine Integration stattfinden kann“ (Svenja Humbach, Zwischenbericht 2007: 8). „Wir waren mit Svetlana19 beim Sport-Miteinander, um ihren Bekanntschaftskreis zu vergrößern“ (Victoria Bruhn, Jahresbericht 2004: 37). - Unterstützung und Stärkung der Selbstbestimmung - Verbesserung der Selbständigkeit „Allerdings bedeutet für mich Circles of Support nicht 19
Die Namen der Fokuspersonen sind im Folgenden anonymisiert.
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nur die Einbindung und Teilhabe in dem Gemeinwesen/ an der Gesellschaft, sondern auch die Unterstützung und Verstärkung der Selbstbestimmung, sowie die Verbesserung der Selbstständigkeit“ (Dunja Friedrich, Zwischenbericht 2007: 9). - Erhöhung der Lebensqualität (der Fokusperson) „Ich finde, dass der Circle of Support, gerade für die betroffenen Menschen eine Bereicherung und Verbesserung für die Lebensqualität ist (Dunja Friedrich, Zwischenbericht 2007: 11). - Reziprozität: voneinander lernen „Das Projekt soll nicht nur der Focus-Person dienen, sondern allen beteiligten Menschen, denn jeder kann von dem Anderen lernen. Niemand ist perfekt und durch gemeinsame Zielsetzungen können Talente gefördert und Schwächen ausgeglichen werden“ (Svenja Humbach, Zwischenbericht 2007: 8). „Studenten bekommen durch COS die Möglichkeit, erste Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Behinderung zu sammeln oder ihre bereits vorhandenen Erfahrungen zu festigen. ‚Studenten lernen von Fokuspersonen’. Andersherum bietet COS Menschen mit Behinderung eine Möglichkeit, außerhalb ihres Alltags neue Menschen kennen zu lernen, die Freude an neuen Aktivitäten festzustellen und sich mehr in die Gesellschaft zu integrieren. ‚Fokuspersonen lernen von der COS Gruppe‘. Ein weiterer Vorteil, und das sicherlich für eher unsichere Studenten, ist die Unterstützung und der Austausch durch andere COS Mitglieder oder Gruppen. Gegenseitige Ratschläge und Vorschläge können in einer möglichen Krisensituation ein Vorankommen unterstützen. Fokuspersonen können durch COS andere Menschen mit Assistenzbedarf kennen lernen und [bei, AK] Interesse, diese Kontakte ausbauen“ (Tanja Heller, Protokoll „Pro und Contra COS“ 2006:1). 68
- Reziprozität: Entwicklung der Sensibilität für sich selbst und andere; kommunikative Austauschprozesse „Ich habe mich mit Bereichen auseinandergesetzt, mit denen ich mich vorher noch nicht befasst hatte. – Wie habe ich zuvor Menschen mit Behinderung wahrgenommen? – Warum habe ich mich zuvor noch nicht mit der Thematik befasst? – Sind Menschen mit Behinderung wirklich in unserer Gesellschaft integriert? – Warum ist dann keiner in meinem Bekanntenkreis? – Was bedeutet überhaupt Integration? – Wie und wo leben Menschen mit einer Behinderung? - Ist es nicht egoistisch von mir, überhaupt dieses Projekt zu machen? – Nutze ich Paul20, um meine Grenzen auszutesten?“ (Kirsten Bund, Jahresbericht 2004: 33). „Unter COS im Allgemeinen verstehe ich einen Kreis, in dem die Bedürfnisse jedes einzelnen berücksichtigt werden. Ziel ist es, zu lernen, sich sensibler wahrzunehmen und andere sensibler wahrzunehmen. Für mich speziell bedeutet COS, sich selbst in der Gruppe wahrzunehmen. Wo stehe ich? Welche Rolle habe ich? Und wo steht jede andere Persönlichkeit aus dem COS und welche Rolle/n hat sie? Des weiteren bedeutet COS für mich die Möglichkeit, sich weiter zu entwickeln und entdecken und am eigenen Bild zu arbeiten (zum Beispiel: Korrigieren von Vorurteilen, Dinge in einem anderen Licht sehen). COS bedeutet für mich eine Bereicherung, da ich hier die Möglichkeit habe, mich mit Menschen aus anderen Kulturen und Lebenswelten auszutauschen“ (Laura Roggendorf, Jahresbericht 2005: 73). „Seitdem ich Nina21 kennen lernen durfte, ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, Freunde zu haben. Andererseits aber auch, wie schwer es für sie ist, echte Freunde zu finden. Sie hat mir auch gezeigt, wie wichtig es ist, mit anderen zu kommunizieren, mit ihnen 20 21
Fokusperson Fokusperson
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unsere Gefühle zu teilen. (…) Es gab zwar Schwierigkeiten auf Seiten der Kommunikation, aber ich habe auch gelernt, wie man auch kommunizieren kann, wenn man nicht redet“ (Christina Schneider, Jahresbericht 2001: 27).
Strukturelle Einbettung: Eltern der Fokusperson
„Durch meine zurückhaltende und teilweise auch unsichere Art habe ich den Eltern vermutlich das Gefühl gegeben, mich der Situation mit Nina nicht gewachsen zu fühlen. Nina war in diesen Situationen anders. Sie hat versucht, gerade in Situationen, in denen viele Reize auf sie einströmten, von meiner Ruhe zu profitieren und sich bei mir Sicherheit zu holen. Zwischendurch hat sie immer wieder versucht, mich aus der Reserve zu locken oder sogar zu provozieren. So habe ich ihr das gegeben, was sie brauchte und ich geben konnte und umgekehrt. Das war schon eine beeindruckende Erfahrung“ (Indra Ketteler, Jahresbericht 2004: 44). (vgl. Abschnitt 4.3.5)
Zeitliche Dimension: Dauer 1 Jahr Weitere interessante (Denk-)Prozesse, die durch die Begegnung mit der Fokusperson ausgelöst wurden, präsentieren sich im Folgenden in der Zuordnung der Kategorie ‚Reziprozität’ als Einzelnennung: „Damals dachte ich, dass es für mich zwei Bereiche gibt, in denen ich vielleicht auf Schwierigkeiten treffen werde. Erstens kann ich nicht fließend Deutsch sprechen und zweitens wegen der unterschiedlichen Kultur. (…) Vor Beginn des Projektes waren meine Erwartungen, dass ich nicht nur die Focusperson unterstütze (…) Gleichzeitig möchte ich durch Cos meine Kommunikationsfähigkeiten verbessern und meine Schwächen ausgleichen und meine Selbstbestimmung fördern. (…) In Deutschland fühle ich mich oft wie [ein, AK] ‚Mensch mit einer Behinderung’“ (Liquin Hong, Jahresbericht 2005: 68). 70
Dass nicht nur der Akteur mit Autismus als die Fokusperson definiert wird, geht aus einer Fundstelle hervor: „Eine Fokusperson ist ein Mensch, der von weiteren Menschen innerhalb eines Circles unterstützt wird. Die Fokusperson kann innerhalb des Circles wechseln, so dass immer wieder individuell auf die Bedürfnisse aller Circle Mitglieder eingegangen“ werden kann“ (Wiebke Oeverhaus, Jahresbericht 2005: 19).
4.3.2 Unterstützungsleistungen eines Circles of Support Zur Kategorie ‚Unterstützung’, welche sich sehr facettenreich abbildet, lassen sich folgende Schwerpunkte markieren: Bindeglied- und Dolmetscherfunktion in der Öffentlichkeit
„Victoria und ich haben eine Bindeglied- bzw. Dolmetscherfunktion übernommen, die Svetlana [Fokusperson, AK] Halt gegeben hat. Bei Schwierigkeiten haben wir zwischen Svetlana und der Öffentlichkeit vermittelt“ (Andrea Schmidt, Jahresbericht 2004: 35)
Ermutigung der Fokusperson, für sich selbst zu sprechen oder ein Ziel selbständig zu erreichen
„Für mich ist diese Erfahrung insofern wichtig gewesen, dass ich festgestellt habe, wir müssen gar nicht immer das 'Sprachrohr' für Nina [Fokusperson, AK] sein. Wir können sie ermutigen, sich selbst verständlich zu machen. In der Regel sind auch die anderen bemüht, Nina zu verstehen und ihr ihre Wünsche zu erfüllen. Auch für Nina ist es sicherlich eine sehr positive Erfahrung, wenn sie feststellt, dass sie alleine an ein Ziel gekommen ist. Unsere Aufgabe ist es, ihr immer wieder solche Erfahrungen zu ermöglichen“ (Bettina Weyer, Jahresbericht 2001: 18).
Auswahlmöglichkeiten bieten
(In Überschneidung mit der Kategorie Selbstbestimmung):„ Wir schreiben meistens mehrere Alternativen auf einen Zettel und lassen ihn dann entscheiden“ (Anja Schmitz, Jahresbericht 2005: 14). 71
Abweichend von den vorangegangenen Ausführungen fanden sich zwei Darstellungen, denen zufolge die Fokusperson mit Autismus auch in der schulischen und beruflichen Weiterbildung unterstützt wurde (vgl. Susanne Wessel/ Mascha Mertens, Jahresbericht 2007: 26). Andere Berichte von Studierenden, die Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und kognitiven Differenzen unterstützten, weisen auf weitere Facetten der COS-Unterstützung hin: Hilfe beim Umzug, Begleitung zu VHS-Kursen und Tagungen, Unterstützung bei der Suche nach einem Praktikumsplatz sowie Hilfe beim Verfassen einer PartnerschaftsAnnonce. Eine weitere Ausnahme der COS-Unterstützung bildet der Mathematik-Circle von R., einem Studenten der Informatik mit Asperger-Syndrom und Nicolas Kreis, einem promovierten Physiker. Es handelt sich um einen Zweier-Circle aus dem Zeitraum 1999 bis 2004. Die Unterstützung ist unterteilt in 4 Phasen und weist unterschiedliche Kontakthäufigkeiten der Treffen und des schriftlichen Kommunizierens auf. Folgender Auszug einer Handreichung von Nicolas Kreis aus dem Jahr 2006 gewährt nicht nur Einblicke in die Unterstützungsleistung innerhalb diesen Circles, sondern gibt auch seine persönliche Stellungnahme wieder. „COS mit einem Studenten der Informatik mit Asperger-Syndrom In der folgenden Auflistung beziehen sich die Datumsangaben auf die Arbeitstreffen zwischen dem Studenten R. und mir; Organisatorisches und eMails liefen auch in den Zeiträumen dazwischen. Die Dauer der Treffen betrug jeweils etwa zwei Zeitstunden, abhängig u.a. von der Tagesform (Startschwierigkeiten, zwischenzeitliches Abdriften, Länge der erforderlichen Pausen) und von den durch die Mathematik vorgegebenen thematischen Abschnitten. Die Zahlenangabe bei den eMails beinhaltet beide Richtungen zwischen dem Studenten R. und mir, etwa 15 davon schließen auch die Mutter von R. mit ein; hinzu kommen Weiterleitungen und Nachfragen an X [Kontaktperson der Fachhochschule, AK]. Phase 1, APR'99 – FEB'00, 20 Treffen, 55 eMails Das erste Treffen diente dem gegenseitigen Kennenlernen (mit – X und XY [Kontaktperson des Therapiezentrums, AK]) und dem Kennenlernen der Räumlichkeiten der FH, in denen die Treffen stattfinden sollten. Im weiteren brachte R. das Skript Lineare Algebra (LA) mit, und es erfolgte eine erste Sichtung des Materials. Nachvollziehen von Bewiesen und Bearbeitung von Übungsaufgaben brachte erste Hinweise auf die Rechenschritte, mit denen R. wesentliche Probleme hatte. Wir begannen, den Stoff des Skripts LA zu sortieren und aufzubereiten. Mit den zu erlernenden mathematischen Methoden ließen sich auch Aufgaben aus der Medizintechnik bearbeiten (Klausurnote 2.0). Im April 00 wurde die Klausur geschrieben. R. bestand sie nicht (wie etwa 80% der teilnehmenden 72
Studenten), mit verursacht sicher auch durch die thematisch falsche Vorbereitung (s.u.). Außerdem zeigte sich ein deutlicher Einfluß der Zeitbegrenzung von zwei Studenten. R. suchte die Schuld bei sich, verfiel in Selbstzweifel und zog einen Studienabbruch in Betracht. X und ich hatten eine 'Krisensitzung'. Als Wendepunkt kann man vielleicht den folgenden eMail-Austausch bezeichnen: Mein Beitrag dazu waren die Erfahrungen aus dem Physikpraktikum für Studenten der Medizin, alles Menschen ohne Assistenzbedarf, die trotzdem und selbstverständlich mit zum Teil abenteuerlichen Begründungen heraushandeln wollten; daher meine Bitte an R. zu überdenken, ob er wirklich vor den Prüfungsbedingungen (nicht vor dem Inhalt) kapitulieren wollte, ein 'Spiel', in dem er von Anfang an immer die schlechteren Karten hatte. Bis zu dieser Zeit hatten sich die Beteiligten mit Begriffen wie 'Autismus' und 'Therapie' zurückgehalten, da R. es nicht offiziell machen wollte. Nun änderte er seine Einstellung offenbar in der Hinsicht, dass er in weiteren Bemühungen um Chancenausgleich zulassen konnte. Die Abbruchsstimmung verschwand. Phase 2, JUN'01 – SEP'01, 10 Treffen, 25 eMails Vorrangig waren jetzt Analyse und Beseitigung formaler/organisatorischer Hindernisse. Zum einen war in der Vorbereitung sozusagen das Thema verfehlt, da zwischenzeitlich eine Umschichtung der Klausurinhalte erfolgt war, von LA komplett und Analysis (ANA) komplett in MATHE 1 & 2, gemischt aus LA und ANA. Weiterhin waren die Aussagen von R. zur verlangten Form der Beweisführungen sehr vage, auch die Beispiellösungen dazu aus dem Internet keineswegs eindeutig. Phase 3, 2004, 2 Treffen, 40 eMails Im Jahr 2004 liegt hier der Schwerpunkt, zum Teil greift das Folgende auch zurück, bis in Phase 3 bzw. vor bis – April 05. Hauptsächlich wurden eMails ausgetauscht, teils persönlichen Inhalts wie Grüße vom Urlaub oder zum neuen Jahr, zum anderen wurden z.B. Spezielle Themen aus 'Rechner-Strukturen' und Bildverarbeitung mit Methoden der Schulmathematik oder LA bearbeitet. Das war offenbar erfolgreich (Punkte in den entsprechenden Klausuren), vielleicht weil für beide Seiten kein Zeitdruck bestand: R. konnte jederzeit zu vorangegangenen Schritten zurückblättern, ich konnte jederzeit zu vorangegangenen Schritten zurückblättern, ich konnte mir einen möglichst einleuchtenden Lösungsweg überlegen. In dieser Phase war ich auch Diskussionspartner für Themen, von denen ich keine wirkliche Sachkenntnis habe. Es ist aber immer sinnvoll, Probleme vorzutragen, auch wenn der andere vielleicht nicht die fertigen Antworten, sondern nur die richtigen Fragen beisteuern kann. Vor allem (siehe Anzahl) betrafen sie aber auch Organisatorisches, zum Teil Probleme, die zwischenzeitlich erfolgte Umstrukturierung des Studium von Diplom- auf Masterstudiengang mit sich brachte: Bin ich richtig angemeldet, hat das Sekretariat das richtig verstan73
den, warum stehe ich auf der falschen oder auch auf keiner Teilnehmerliste? Das bedeutete Streß bis hin zu Exmatrikulationsgedanken. Von meiner Seite war dabei oft nur eine Teillösung möglich (Datenschutz). Dann bestand meine Hilfe in einem Vorsortieren und Weiterleiten der Fragen an X, die sich auch um die Ausgleichleistungen bei den noch folgenden Klausuren kümmerte. Letztlich wurden im April'04 Diplomarbeit und zugehöriges Kolloquium mit der Note 1.7 bewertet, womit R. das Studium erfolgreich abgeschlossen hatte. Dieser Verlauf zeigt deutlich, dass die einzig wirkliche Hürde in den Mathematikklausuren bestand und es daher äußerst sinnvoll war, bei deren Überwindung Hilfestellung zu geben. Zu einem richtigen Abschluß gehört nun eine erfolgreiche Bewertung. Das ist in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ein allgemeines Problem, in diesem Fall speziell wäre es aber auch hilfreich, wenn Personalleiter über die Bedeutung von 'Autismus' oder 'Asperger-Syndrom' informiert wären. FAZIT Organisatorisches Man braucht unbedingt einen zentralen Ansprechpartner unter den Universitätsangehörigen aus dem pädagogischen Bereich: Günstig war z.B. die Bereitstellung eines Raums für die Treffen, nahe an der Uni-Atmosphäre und fern von Ablenkungen an anderen öffentlichen Plätzen oder in häuslicher Umgebung; vor allem aber ist die Realisierung des Chancenausgleichs, der hier eine wesentliche Rolle spielte, für Externe sicher mit wesentlich mehr Aufwand verbunden, beginnend mit der Legitimation vor der Verwaltung. Im Unterschied zu Gruppen, in denen rein fachliche Unterstützung erforderlich ist, waren hier die 20 Treffen der Phase 1 zu wenig Zeit für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die Klärung von Umfang und geforderter Bearbeitungsform des mathematischen Stoffes in dieser Zeit muß effektiver sein, d.h. man sollte von Anfang an den Beitrag der Fokusperson nicht überschätzen, sondern frühzeitig Kontakt zu einen Verantwortlichen aus der Mathematik aufnehmen. Wichtig war außerdem die durchgehende Ansprechbarkeit per eMail, sowohl für organisatorische als auch fachliche Probleme, in jedem Fall effektiver als ein Telefongespräch. Handwerkliches Es erwies sich als sinnvoll, mit der Einleitung der üblichen Blätter für die Klausurlösungen zu experimentieren: Als günstige Lage erwies sich DIN A4 quer, so daß eine logische Zeile auf jeden Fall in eine Zeile auf dem Papier passte bzw. noch Platz blieb für kleinere Nebenrechnungen am Blattrand, so daß man damit den Papierstapel nicht zusätzlich vergrößern musste. 74
Ebenfalls wurden verschiedene Papier- und Schriftfarben ausprobiert, um einen möglichst guten Kontrast zu erreichen. Zur Lösung solcher Probleme wären die zuständigen Professoren auch zu Klausurausdrucken in größerer Schrift oder zur Verwendung anderer Papierformate bereit gewesen. Eine weitere Erfahrung war, dass ich zwischen Spaß und Ernst gut unterscheiden und im Ernstfall meine Wortwahl genau überlegen musste, denn innerhalb eines mathematischen Problems zitierte R. oft wörtlich eine meiner früheren Argumentationen. Das hätte man im Standard-Schulalltag vielleicht als 'Einschmeicheln' beim Lehrer deuten können, ist als eine solche Reaktion bei einem Autisten natürlich unmöglich. Hier ist es wahrscheinlich eher als ein Test meiner Worte auf Verlässlichkeit zu verstehen, ob sie in gleichen Situationen auch gleiche Bedeutung haben. Interessanterweise konnte mir R. mit Hilfe 'meiner' Argumente in einigen Fällen eine schnellere Lösung einer Aufgabe bieten, als sie mir selbst eingefallen war. Was das Fachwissen in den Informatikbereichen betrifft, war mir R. weit überlegen; ich hoffe, daß ich meine Anerkennung darüber auch vermitteln konnte. Da aber auch die meisten dieser Themen mathematisch-logisch strukturiert sind, blieb mir bis zum Schluß unklar, worin das eigentliche Problem beim Hineinfinden in die Lösungsalgorithmen der LA und ANA bestand, warum die Rechenschemata offenbar häufig eher einengend wirkten statt Hilfe zu geben. Wegen der insgesamt großen Anzahl von Arbeitstreffen gab es die Zeit (und auch Interesse meinerseits) für Themen, die abseits des direkten Prüfungsstoffs lagen. So verbrachte R. einen Teil seiner Freizeit damit, für Auftritte von Popbands in einem bestimmten Lokal die dortige Elektronik einzuregeln. Erstaunlicherweise führten Gespräche über seine Arbeit am Mischpult zurück zu einem Gebiet der LA, nämlich den Eigenwerten von Matrizen. Im Gegensatz zur 'reinen' Mathematik stellte R. nun viele Fragen. Einen Bezug zum Alltag habe ich dann auch in anderen Bereichen gesucht und z.B. spezielle Fälle des Federungsverhaltens von Autos auf holpriger Straße mit Hilfe der im Skript behandelten Differentialgleichungen diskutiert. Auch so kann ein 'abgehobenes' Lösungsverfahren vielleicht 'Bodennähe' und Interesse gewinnen. Und vielleicht bietet auch das Erstellen von Computerprogrammen mehr Anwendungsbezug und Raum für eigene Ideen und wird deshalb leichter bewältigt.“ Dieser Zweier-Circle entstand aus der Initiative zweier miteinander befreundeter Frauen (Autismus-Therapie-Zentrum, Fachhochschule Dortmund), die einen Unterstützungsbedarf mit einem Unterstützungsgebot verbinden konnten. So simpel entsteht daraus ein COS, der wesentlich dazu beitrug, dass R. sein Studium fortsetzte und erfolgreich beendete. 75
Folgende Ausführungen beziehen sich wieder auf den vorherigen Datensatz I.
4.3.3 Dis-/Harmonie Zusammensetzung Insgesamt entsteht aus dem Datensatz der Eindruck, dass die Konstellation der COS-Akteure passend scheint. Folgende Abweichung zeigt sich bei Anja Schmitz (Jahresbericht 2005: 17): „Da ich zuvor noch keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit Autismus hatte, frage ich mich, ob das ein generelles Problem von mir ist oder ob es sich nur im Umgang mit Paul22 äußert. (…) Jedoch vermute ich manchmal, dass meine unguten Gefühle und Probleme mit Paul nicht nur im Autismus begründet liegen. Manchmal denke ich, dass Paul und ich einfach keinen ‚Draht’ zueinander haben“. „COS war häufig schwierig, da ich mich in meinem eigenen Verhalten als unsicher erlebt habe. Ich habe in Pauls Nähe nicht richtig ich selbst sein können, sondern war mit einer inneren Anspannung und Unruhe anwesend. Es fehlte mir eine innere Gelassenheit, die ich schon vor den Treffen nicht hatte. Ich habe mir die Treffen in Gedanken vorher vorgestellt und mich dadurch selbst verunsichert. Die Anforderungen an eine Unterstützerin, die ich mir vorgestellt habe, überforderten mich. Ich bin der Rolle als Unterstützerin nicht gerecht geworden, da ich viel mit mir selbst beschäftigt war. Mein Versuch, Paul meine Gefühle und Gedanken nicht mitzuteilen, war falsch und ist gescheitert wie ich an seiner Reflexion im vorletzten Treffen gemerkt habe“ (ebd.: 19).
4.3.4 Offenheit Die deutliche Mehrheit der COS wies eher inklusiven (in sich geschlossenen) Charakter auf, bis auf diesen dargestellten Circle: „Unsere Focus-Person hat unser Umfeld, unsere Freunde und Mitbewohner und wiederum deren Freunde kennen gelernt. Jede dieser Begegnungen war spannend. Ich habe den Eindruck, dass unsere Focus-Person sich
22
76
Fokusperson
in unserer WG gut aufgenommen und integriert fühlt. Alle Menschen, die sie kennen lernen durfte, sind offen auf sie zugegangen. Ich habe später viele positive Feedbacks meiner Mitbewohner und Freunde erhalten. Alle waren sehr an unserer Focus-Person interessiert und wollten mehr über sie und über das Thema Autismus erfahren. Durch den direkten Kontakt zu einem Menschen mit Autismus konnten Vorurteile beiseite geräumt werden. Außerdem hat unsere Focus-Person Einblicke in unser WG-Leben erhalten. Auf diesem Wege konnten alle Beteiligten voneinander profitieren“ (Svenja Humbach, Zwischenbericht 2007: 10). Die Kooperation mit den im COS-Setting sukzessiv beteiligten Eltern wurde in den meisten Fällen als positiv empfunden, wie folgende Fundstellen beispielhaft verdeutlichen: „Von Anfang an wurden wir mit offenen Armen empfangen, uns strahlte eigentlich sofort eine Herzlichkeit entgegen, so daß sich der Beziehungsaufbau mit der Familie von selbst einstellte. … Ich glaube, Paul23 [Fokusperson, AK] spürte das harmonische Verhältnis zwischen uns und seinen Eltern, was unseren Circle of Support positiv beeinflusste“ (Stefan Rybinski, Jahresbericht 1999: 59). „Zunächst einmal waren wir froh, dass uns der Einstieg in das Projekt durch die Anwesenheit von Ninas24 Mutter erleichtert wurde. Auch über einige Hilfestellungen, wie z.B. Ratschläge für den richtigen Umgang mit Nina, waren wir sehr dankbar“ (Lisa Kischel/ Karin Veiler, Jahresbericht 2005: 55). Eine einzige Fundstelle lässt sich finden, in der eine Mutter in einer Aufzählung über ihre Erfahrungen mit COS reflektiert: „…ausgesprochen positiv der Ansatz der Gruppe: >Wir kommen nicht als Lehrende, sondern wir erleben etwas zusammen und lernen voneinander<, breitgefächerte Idee, bei denen Körper, Geist und Seele angesprochen wurden“ (im Jahresbericht von Rybinski/ Husse/ Kirschniok 1999: 55). Weiter im Text beschreibt sie ihre Freude, darüber 23 24
Fokusperson Fokusperson
77
„(…) dass junge Menschen im Zeitalter von 'Jung, Schön, Erfolgreich, Gesund und Leistungsfähig' sich für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung entscheiden – dass Paul25 erleben darf, dass jemand um seinetwillen kommt, da er sonst bei Besuchen übersehen wird, nicht für voll genommen, nicht ins Gespräch einbezogen wird. Man redet in seinem Beisein über ihn, nicht mit ihm – dass Paul die Chance geboten wird, mit Gleichaltrigen in der Öffentlichkeit aufzutreten…“ (ebda.: 56). Es kommt auch zu einem Austausch von Informationen zwischen Eltern und Studierenden. Eine Studentin berichtet aus einem Gespräch mit einer Mutter: „Es wurde uns schnell klar, dass es selbst in unserer heutigen Gesellschaft sehr schwer ist, ein Kind mit Behinderung groß zu ziehen. Es werden im Alltag den betroffenen Familien oft Steine in den Weg gelegt“ (Sarah Richards, Jahresbericht 2004: 6). Abweichend zu den positiven Eindrücken, finden sich auch zwei Einzeläußerungen, in der Fremdbestimmung durch die Dominanz der Eltern deutlich wird: „Verwirrung machte sich auch in Bezug auf das Verhalten der Eltern breit, die zwar betonten, dass die COS-Zeit für Nina26 sei, die aber allzu oft versuchten, uns ihre Vorschläge und Vorgaben mit zu geben und keine Rücksicht auf Ninas Wünsche nahmen“ (Indra Ketteler, Jahresbericht 2004: 40). „Leider müssen wir sagen, dass wir es als sehr störend empfanden, dass Frau Kaiser27 sich permanent in die Planung unserer Aktivitäten einmischte. Sie legte bei nahezu jeder Verabredung den Ablauf dieses Treffens fest. Dadurch hatten wir wenig Freiheit, unsere, aber auch Ninas28 Interessen durchzusetzen (Tanja Heller, Jahresbericht 2006: 55).
25 26 27 28
78
Fokusperson Fokusperson Die Anonymisierung des Namens der Mutter wurde übernommen. Fokusperson
4.3.5 Grenzen des COS-Modells Folgende Äußerungen kennzeichnen kritisch die Grenzen des COS-Modells: Zeitliche Dimension: Dauer 1 Jahr
Segmentartige Teilhabe/ Eingliederung der Fokusperson
Keine Nachhaltigkeit: Aufbau von Freundschaften oder anderer Netzwerke
„Das Projekt COS ist auf einen bestimmten Zeitpunkt, in diesem Fall auf ein Jahr, begrenzt. COS Gruppen, die somit anfängliche Schwierigkeiten hatten und es erst nach einem längeren Zeitraum sich eine Vertrauensbasis geschaffen haben, müssen nach diesem Jahr das Projekt beenden (…) Auch für die Fokusperson stellt der plötzliche Abbruch der regelmäßigen Treffen eine enorme Veränderung dar und fällt sicherlich vielen schwer“ (Tanja Heller, Protokoll „Pro und Contra COS“ 2006:1). (In Überschneidung mit der Kategorie Selbstbestimmung): „So wie Circles of Support erklärt beziehungsweise definiert wird oder ich es mir eigentlich vorstelle, findet es in dem Ausmaß in meiner Gruppe nicht statt. Unser Circle of Support deckt nur einen kleinen Teil der Eingliederung in das Gemeinwesen/ die Gesellschaft ab. Wir, als Gruppe, gehen selbstverständlich auf die Wünsche und Bedürfnisse der Fokus Person ein. Wir versuchen ihn zu integrieren und seine Wünsche zu verwirklichen. Doch dadurch, dass er so stark in ein sehr strukturiertes Personennetzwerk, welches aus verschiedenen unterstützenden Händen besteht, eingegliedert ist, begrenzt sich unser Circle of Support auf die kreative Freizeit“ (Dunja Friedrich, Zwischenbericht 2007: 10). „Die Grundidee einen Freundschaftskreis zu bilden, so bin ich der Meinung, ist mit über zwei Semester und nur einen Wochentag nicht zu erreichen. Hierzu lässt sich in der kürzr [sic! Kürze] kein Freundschaftskreis in dem Sinne aufbauen“ (Sina Kronenberg, Jahresbericht 1999: 61).
79
4.3.6
Selbstbestimmung
Die Kategorie ‚Selbstbestimmung’ findet im Datensatz eher selten Verwendung, was angesichts der konzeptionellen „Schwerpunktlegung auf den Aspekt von Selbstbestimmung“ (Knust-Potter 1998: 155) verwundert. Folgende Fundstellen weisen darauf hin, dass Selbstbestimmung der Fokuspersonen im Circle of Support-Modell denkbar ist: Selbstbestimmung als individueller Ausgangspunkt
„Bei COS handelt es sich um ein freiwilliges Projekt. Aufgrund der freiwilligen Basis bringt jeder Teilnehmer ein massives Maß an Selbstbestimmung mit. Da kein Zwang und kein vorgegebener Plan im Bezug auf die Treffen besteht, hat jeder Teilnehmer das Recht und die Aufgabe, seine Ideen, Vorstellungen und Wünsche zu äußern“ (Dunja Friedrich/ Svenja Humbach, Protokoll „Pro und Contra COS“: 2007: 2).
Selbstbestimmung der Fokusperson hat höchste Priorität
„Im Mittelpunkt unserer Aktivitäten standen die Wünsche und Interessen von unserer Fokusperson Jenny29“ (Stefanie Unwohl, Jahresbericht 2006: 9).
Zugeständnis an Selbstbestimmung für alle COS-Akteure
Selbstbestimmung in Abhängigkeit struktureller und individueller Faktoren
„Mir war es aber auch wichtig, dass sich Selbstbestimmung nicht nur auf die Fokusperson, sondern auf alle Mitglieder unseres Circles, also auch auf Anja30 und mich bezog. Mir war es wichtig, weder Paul noch Anja zu bevormunden oder nur meine Interessen durchzusetzen“ (Wiebke Oeverhaus, Jahresbericht 2005: 24). „Selbstbestimmung im Rahmen von COS bzw. allgemein im Rahmen von Gruppen ist meiner Meinung möglich, aber nur soweit, wie es die Gruppe und die Gruppenstrukturen zulassen“ (Conny Simmel, Protokoll „Pro und Contra COS“: 2006: 2). „Dennoch gelang es uns nicht immer, ihr Selbstbe-
29 30
80
Fokusperson Der Name der Studentin wurde geändert und anonymisiert.
stimmung zu gewährleisten. Ich sehe es so, dass wir ihre Wünsche und Forderungen an uns, soweit es ging, erfüllen konnten, allerdings gab es Zeiten, an denen wir zum Beispiel nach Rücksprache und Zustimmung die Aktivität, den Tag und die Uhrzeit bestimmt haben“ (Humbach/ Friedrich 2007: 11). Die Fundstellen zeigen Varianten und Spielräume in der Selbstbestimmung der Fokuspersonen auf. Es lassen sich nur wenige Activity Plans31 finden, die eine Möglichkeit zur Überprüfung bieten, inwieweit die Wünsche und Ziele der Fokuspersonen tatsächlich umgesetzt wurden. Der Activity Plan, auch Zukunftsplan genannt, erfasst die Wünsche und Ziele der Fokusperson, die mit Unterstützung der Circle Members erreicht werden sollen und wird in der Regel vor dem ersten Treffen mit dem Circle erstellt. Für den Zeitraum 1998 – 2004 liegen keine Activity Plans vor, erst ab 2004 tauchen sie vereinzelt im Datensatz I auf. Die Activity Plans der Fokuspersonen fokussieren Handlungen, die dem Bereich „Freizeitaktivitäten“ zuzuordnen sind. Die folgende Tabelle zeigt deutlich, dass die von der Fokusperson angegebenen Wünsche und Zielsetzungen überwiegend ernst genommen und umgesetzt wurden32. Activity Plan Paul, 200433 9 Zelten am See Schiffs-Reise 9 Schwimmen 9 Eisessen 9 Rausgehen 9 Backen Kochen Freunde besuchen
Activity Plan Jenny, 2005 9 Bummeln 9 Schwimmen 9 Eisdielenbesuch 9 Pommes essen 9 Freund besuchen 9 Kino 9 Museum
Activity Plan Esther, 2004 9 Ins Kino gehen 9 In die LebenshilfeDisco
Activity Plan Niklas, 2004 9 Besuch im Planetarium 9 Besuch im Zoo
Tabelle 4: Activity Plans von vier Fokuspersonen
31 32 33
Activity Plan (engl.): Aktivitäten - Plan Quelle: Unveröffentlichtes Forschungs-Skript Kirschniok 2006: 41-43. Die angegebenen Activity Plans sind Handreichungen der Fokuspersonen vor Beginn eines COS-Jahres.
81
4.3.7 Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bei der Kategorisierung von Behinderung In der Kategorie ‚Wahrnehmungs- und Handlungsmuster’ reflektieren einige Studierende die enge Verflechtung von geringen Erfahrungskompetenzen, Angst und Vorurteilen bei Behinderung, wie beispielhaft im Folgenden aufgeführt:
Entstehung von Vorurteilen durch geringen Kontakt
Reflexion der Sicht auf Menschen mit Behinderung durch Begegnung
Der starrende Blick
„Bisher hatte ich nur wenige Möglichkeiten, mit Menschen mit Behinderung in Kontakt zu treten. Ich habe persönlich immer ausschließen können, später in diesem Feld arbeiten zu wollen, da [ich, AK] mir diese physisch und psychisch stark belastende Tätigkeit nicht zutraute und, wie ich heute rückblickend beurteilen kann, voller Vorurteile in Bezug auf Menschen mit Behinderung war, derer ich mir überhaupt nicht bewusst war“ (Kirsten Bund, Jahresbericht 2004: 46). „Anhand der vielen wertvollen Erfahrungen, die ich [durch COS, AK] sammeln durfte, war ich in der Lage, mein Menschenbild und natürlich auch mein professionelles Selbstbild neu zu reflektieren und meine Ansichten in Bezug auf Menschen mit Behinderung völlig neu zu gestalten. Vorurteile entstehen durch Erfahrungslücken und Wahrnehmungen Dritter, die man unkritisch übernimmt. So war es auch in meinem Fall. (…) Aus der Angst heraus, etwas falsch zu machen, entwickelte ich ein eher vermeidendes Verhalten. Ich denke, so geht es wohl den meisten Menschen. Die meisten starren Menschen mit Behinderung an oder gehen ihnen aus dem Weg, weil sie diese ablehnen. Vielmehr hatten sie nie die Gelegenheit, ihre Vorurteile durch selbst gemachte Erfahrungen zu ersetzen“ (Kirsten Bund, Jahresbericht 2004: 55).
Einige Fundstellen weisen darauf hin, dass sich einige COS-Studierenden ihres Blicks sehr bewusst sind, wie beispielsweise diese: „Ich habe mich aber auch bewusst nicht über das Asperger-Syndrom informiert, weil ich die Befürch82
Der medizinische Blick
tung hatte, dass ich bei E.34 nur nach ihren Defiziten suchen würde. Mein Ziel war aber, ihr ohne Vorurteile und ‚medizinischen Blick’ zu begegnen“ (Fatma Alibeik, Jahresbericht 2005: 11).
In der Kategorie ‚Behinderung und Öffentlichkeit’ werden vereinzelt betroffene bzw. abwertende Blicke registriert, wie beispielsweise diese Fundstelle illustriert: „Durch unser gemeinsames Auftreten als Gruppe, kamen wir des Öfteren in die Situation von Mitmenschen beschaut und / oder komisch angeschaut zu werden. Dies musste nicht immer mit unserem Verhalten in Zusammenhang gebracht werden, auch ich würde auf jemanden aufmerksam werden, der in der U-Bahn Tierstimmen imitiert (wie Jenny35 es von Zeit zu Zeit gerne macht), jedoch meine ich die Momente, in denen wir gemeinsam durch den Supermarkt schlendern und Menschen stehen bleiben, um Jenny von oben bis unter Der abwertende bzw. anzuschauen, mit dem Kopf zu schütteln oder einen der betroffene Blick betroffenen Blick aufzulegen“ (Anne-Marie Held, Jahresbericht 2006: 12). Interessant ist die Veränderung des Blicks auf die Kategorie der Behinderung durch die Teilnahme am COS. So schreibt beispielsweise ein Student, dass er die Fokusperson „mittlerweile nicht mehr als Mensch mit Autismus sehe bzw. spielt der Autismus bei den Treffen für mich keine große Rolle. Ich sehe sie als Menschen mit gewissen Fähigkeiten oder auch ‚Eigenarten’, die ich aber akzeptiere und respektiere“ (Lars Feldbusch, Protokoll „Zwischenbilanz“, 2005: 2). Häufig wird thematisiert, dass das theoretische Wissen über Autismus in der Begegnung mit der Fokusperson letztendlich wenig hilfreich ist oder sogar verworfen werden musste:
34 35
Fokusperson Fokusperson
83
Anhäufung von Wissen zum Abbau von Verunsicherung
Autismus-Spektrum
Kategorien des Wissens über Autismus in der Person nicht zuordbar
Im Vordergrund der zwischenmenschlichen Begegnung spielen andere Faktoren eine bedeutsamere Rolle, während das theoretische Wissen in den Hintergrund gerät
4.3.7.1.1
„Um meiner Verunsicherung etwas entgegenzuwirken, informierte ich mich im Internet über das Krankheitsbild des Autismus. Wie ich heute weiß, nutzte mir das so gut wie gar nichts, da es DEN Autisten nicht gibt“ (Kirsten Bund, Bericht 2004: 49). „Für mich ist noch wichtig zu erwähnen, daß dieses Projekt meine Auffassung über Autismus grundlegend verändert hat. Ich habe in diesem Jahr erfahren können, daß die typischen Aussagen der Gesellschaft über Autismus nicht mit dem übereinstimmen, welche ich bei N. [Nina, AK] kennen gelernt habe“ (Ricarda Ebeling, Jahresbericht 2002: 35). „Das Bild von Menschen mit Autismus, das ich vorher hatte, stellte sie [die Fokusperson, AK] auf den Kopf“ (Lena Schwarz, Jahresbericht 2002: 33). „Ganz schnell hat sie [die Fokusperson, AK] mir gezeigt, daß mein Theoriewissen zu Autismus in unserer Beziehung wenig gefragt ist. … Das Zusammensein mit N. [Nina, AK] war für mich eine Herausforderung, mein eigenes Verhalten zu hinterfragen. Eigenschaften wie Offenheit, Toleranz, Einfühlungsvermögen, Geduld und Rücksicht haben für mich eine große Rolle gespielt im Umgang mit N.“ (Cindy Brunner, Jahresbericht 2002: 38).
Spannungsfeld in der Unterstützung durch die Kategorisierung von Behinderung
In der Kategorie ‚Unterstützung, Assistenz und Betreuung’ lassen sich vereinzelte Hinweise zu einem Spannungsfeld der ‚Ohnmacht in der Unterstützung’ und der ‚Unterstützung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung’ finden, wie folgende Fundstellen verdeutlichen:
84
Kein Eingreifen/ Reflexion der Situation
Eingreifen in sozialen Grenzsituationen
Rollenambivalenz
Entwicklungsprozess: Balance zwischen Warten und Anbieten von Unterstützung
Der Fokusperson Verantwortung zugestehen
Erwachsenen Bürgern Verantwortung und Entwicklungspotential zugestehen 36
„Begegnungen mit anderen Menschen [im Gemeinwesen, AK] sind für uns immer wieder Herausforderungen gewesen. Als Begleitperson fühlt man sich oft verantwortlich, eine Erklärung abzugeben. Es ist nicht einfach, Situationen so stehen zu lassen und für sich selber auch erst einmal klar zu haben, dass sich dort gerade zwei erwachsenen Menschen begegnen und nun Erfahrungen miteinander machen“ (Bettina Weyer, Jahresbericht 2001: 16). „Zum Teil wirkte es so, als wären wir als drei Freunde unterwegs gewesen. Doch in vielen Situationen fühlten wir uns gezwungen einzugreifen, z.B. wenn Nina36 die Hände fremder Personen festhielt und nicht mehr los ließ, wenn sie im Kaufhaus heimlich etwas mitgehen ließ oder wenn sie anfing, kleine Kinder anzufassen. In diesen Momenten fühlten wir uns wie Erziehungsberechtigte und nicht wie Freunde von Nina“ (Lena Kischel/ Karin Veiler, Jahresbericht 2005: 56). „Ich bemerkte jedoch immer wieder, dass ich mit meiner eigenen Rolle in Konflikt geriet, besonders in Situationen, in denen Nina sich ganz anders verhielt, als wir es uns vorgestellt hatten. … Mein Gefühl war ambivalent: Einerseits in der Rolle des Freundes zu sein, andererseits in der des Betreuers, der versucht, eine andere Person zu einer Handlung zu bewegen, welche diese aus eigener Motivation wahrscheinlich nicht vollziehen würde. Ich fragte mich oft, wie ich in anderen Freundschaften mit derartigen Situationen umgehen würde und in wie weit mein tatsächliches Verhalten gegenüber Nina mit dieser Vorstellung übereinstimmte. Mir wurde gegenüber Nina in einigen Situationen so ein Gefälle im lebenspraktischen Bereich deutlich, da unsere Umwelt ja nun einmal so strukturiert ist, dass Menschen ohne Autismus sich leichter in ihr zurechtfinden können“ (Andreas Nau-
Der Name der Fokusperson wurde geändert und anonymisiert.
85
mann, Jahresbericht 2001: 29). „Auch dies war ein langer und schwerer Entwicklungsprozess. Zu wissen, wann Paul37 meine Assistenz benötigt und wann es wichtig ist, ihn seine eigenen Erfahrungen machen zu lassen (…) Es dauerte sehr lange, bis ich akzeptieren konnte, dass Paul ein erwachsener Mensch ist, (älter als ich!) der Verantwortung für sich übernehmen kann und auch darauf angewiesen ist, seinen Erfahrungsspielraum zu erweitern. So sah ich mich ständig in dem Konflikt gefangen, ob ich nun freundschaftlich im Sinne des COSProjektes oder aber professionell in meinem Sinne handeln sollte. Für mich war es fast unmöglich, dies so streng zu trennen“ (Kirsten Bund, Jahresbericht 2004: 56). „Im Verlauf des Projektes hatte ich in bestimmten Situationen des öfteren das Gefühl, für Nina38 verantwortlich zu sein und ihr Verhalten den Mitmenschen erklären zu müssen. Erst nach einer gewissen Zeit und einigen Reflexionsgesprächen wurde mir klar, dass es nicht immer unbedingt erforderlich ist, in Begegnungen aktiv einzugreifen, dass nicht nur Nina von ihrer Umwelt, sondern dass auch die Mitmenschen von Nina angemessenes Verhalten lernen können“ (Andreas Naumann, Jahresbericht 2001: 19).
37 38
86
Fokusperson Fokusperson
4.3.8
Relationship Map
Insgesamt fällt im Datensatz I auf, dass eine Bestandsaufnahme der sozialen Beziehungen im Leben der Fokuspersonen marginal behandelt wird. Folgende zwei Relationship Maps39 erlauben einen Einblick in das soziale Beziehungsgeflecht zweier Fokuspersonen: Im engsten Feldkreis der ersten Relationship Map befinden sich die Familienmitglieder der Fokusperson Manuel Aschermann (26 Jahre). Das zweite Kreisfeld steht leer, während im dritten Feld ein Freund des Bruders der Fokusperson und der Therapeut aus dem Autismus-TherapieZentrum angeordnet sind. Das vierte Feld steht wiederum leer. Im letzten Feld sind zwei Institutionen platziert. Außerhalb der Relation-ship Map finden sich zwei ehemal-ige Freunde der Fokusperson (vgl. Kirschniok 2006: 44; Aschermann 2004: 1).
Abbildung 10: Relationship Map Manuel Aschermann
Im Zentrum der zweiten ausgewählten Relationship Map steht die Fokusperson Eva Zimmer (17 Jahre), umrahmt von ihren Eltern. Das nächste Feld weist auf drei Freundinnen hin und das letzte Feld schließt mit den Großeltern und zwei Cousinen ab.
Abbildung 11: Relationship Map Eva Zimmer
39
Eine Relationship Map erfasst die sozialen Kontakte der Fokusperson.
87
Wirft man einen Blick auf die zwei dargestellten egozentrierten Relationship Maps, so dokumentieren sie den Ist-Zustand der für die Fokusperson bedeutsamsten sozialen Kontakte, erlauben aber keine Rückschlüsse dahingehend, ob und welche sozialen Kontakte noch erwünscht sind.Auch Angaben zur Kontakthäufigkeit fehlen. Diese Aspekte sind bei der Entwicklung des Interviewleitfadens zu berücksichtigen. Außerdem gehen aus einer Fundstelle im Datensatz I divergierende Angaben hervor. So schreibt die COS-Studentin Fatma Alibeik (2005: 11): „Sie [die Fokusperson der 2. Relationship Map: Eva Zimmer, AK] hat einen sehr engen Kontakt zu ihrer Mutter, ist nur mit dieser unterwegs. E. hat keine Freunde“. Die Aussage „E. hat keine Freunde“ steht der Aussage von Eva Zimmer konträr gegenüber. Es lässt sich im Nachhinein nicht eruieren, ob die Angabe der Studentin auch denselben Zeitpunkt der Bestandsaufnahme von Eva Zimmer mit einschließt. Zur Validität der Angaben ist es notwendig, die Netzwerksituation aus Sicht mehrerer darin beteiligter Akteure zu erheben.
4.3.9
Reflexion: Analyse und Schlussfolgerungen
Strukturelle Morphologie des Circles of Support Zur strukturellen Morphologie lässt sich Folgendes festhalten: Ein Circle of Support am Dortmunder Beispiel konstituiert sich im Regelfall aus drei bis fünf Akteuren, die für einen begrenzten Zeitraum von einem Jahr ein relativ geschlossenes Netzwerk bilden. Der Akteur mit Autismus hat eine besondere Stellung inne und wird die Fokusperson genannt. Auffällig ist im genannten Zeitraum von 1998 bis 2007 der hohe Anteil an weiblichen Akteurinnen (von 57 Akteuren und Akteurinnen sind 51 weiblich). Zwei Akteure mit frühkindlichem Autismus sind über einen längeren Zeitraum hinweg als Fokuspersonen in fünf bis sechs Circles of Support verankert. Sechs Akteure mit Asperger-Syndrom fungieren als Fokuspersonen in jeweils einem Circle of Support, zwei weitere Fokuspersonen mit Asperger-Syndrom sind allerdings in zwei Circles aktiv. Die Netzwerkgröße des einzelnen Circles verändert sich innerhalb dieser Zeit nicht, sondern bleibt stabil. Vereinzelt stoßen Akteure hinzu, wie beispielsweise Freunde der Studierenden oder der Fokusperson, die jedoch nur gelegentlich gemeinsam mit dem COS etwas in ihrer Freizeit unternehmen. Aus der Perspektive der Studierenden bestehen Verbindungen zu den Eltern der Fokuspersonen und zur Fachhochschule. Die Verbindung zur Fachhochschule bedarf an dieser Stelle einer expliziten Ausführung: Die Implementierung von Circles of Support in der Bundesrepublik Deutschland ist, wie eingangs erwähnt, in der Fachhochschule für Angewandte 88
Sozialwissenschaften eingebettet im Fachbereich Soziales unter dem ModulTitel „Handlungsfeld Inclusion and Diversity Studies: Brücken zu Empowerment und gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderung und Autismus“ von Prof. Dr. Evemarie Knust-Potter40. Abbildung 12 visualisiert den Ablauf hin zur Bildung von Circles of Support im Dortmunder Raum und gibt gleichzeitig einen Überblick über die curriculare Einbettung. Phase I Vorgespräche
Phase II Ablauf des Seminars
COS-Treffen
Studierende
Theoretische Inputs
1. & 2. Treffen mit prof. Begleitung (Sozialdienste)
Sozialdienste
Bildung COS-Gruppen
Maps und Plans Fokuspersonen
Prozessorientierte Begleitung und theoretische Inputs
Wöchentliche COS-Treffen (Zeitraum: 1 Jahr)
Abbildung 12: Curricularer Ablauf Zunächst werden Vorgespräche mit Studierenden des Sozialwesens, den Therapeuten aus dem Autismus-Therapie-Zentrum und interessierten Akteuren mit Autismus durchgeführt. Ziel dieser Gespräche ist, den Interessierten COS als Konzept vorzustellen. Dabei sind Informationen zu relevanten Fragstellungen von Bedeutung, und zwar erstens: Wer sind die TeilnehmerInnen eines COS?, zweitens: Welche Aktionen sind im COS möglich? und drittens: Welche Bedingungen sind erforderlich, um am COS-Projekt teilzunehmen? (vgl. Forschungsskript Kirschniok 2005: 19) Die Fokuspersonen werden bei diesen Gesprächen gebeten, eine Relationship Map und einen Activity Plan zu erstellen. Damit wird eine Basis für die zukünftigen Zusammentreffen der Circle-Mitglieder geschaf-
40
Von 2004 bis 2006 wurde dieses Handlungsfeld durch die Europäische Union mit einer Summe von 430.000 Euro gefördert. Ziel des Projektes war, mit internationalen Kooperationspartnern aus Indien und Großbritannien auf der Grundlage transnationaler Lernprozesse professionelles Wissen und Soft Skills für Unterstützende in den Humandiensten zu entwickeln, um COS mit und für Akteure mit Behinderung und Autismus im Gemeinwesen zu fördern und somit zu sozialer Teilhabe behinderter Akteure beizutragen (vgl. Forschungsskript Kirschniok 2005).
89
fen. Die einzelnen Wünsche oder Ziele können nach Prioritäten und Zeitphasen geordnet sein und je nach Situation individuell verändert und angepasst werden (vgl. ebd.: 16). Nach der Auswahl der interessierten Akteure mit Autismus durch die soziale Einrichtung beginnt das Seminar für die Studierenden. Es enthält folgende Bausteine zur Vorbereitung der ersten COS-Treffen: Baustein 1: Vorstellung der eigenen Person und Auseinandersetzung mit Erwartungen, Ängsten, Wünschen, Fantasien, Visionen zum COS-Projekt und Nennung von Gründen zur Entscheidung für das COS-Handlungsfeld. Baustein 2: Theoretische Inputs zu Autismus, zum sozialen Modell von Behinderung. Baustein 3: Informationen zu den autistischen Akteuren (Name, Alter, Wohnort, Hobbys und Interessen). Erst danach kommt es zur Bildung eines Circles of Support (vgl. ebd.: 20). Das erste und zweite Treffen wird im optimalen Falle durch die Therapeutin oder den Therapeuten des Autismus-Therapie-Zentrums begleitet, um anfänglichen Unsicherheiten zwischen der Fokusperson und den Studierenden entgegenzuwirken. Im wöchentlich stattfindenden Handlungsfeld-Seminar erhalten die Studierenden prozessorientierte Begleitung in Form von Reflexionen. Die Reflexionen werden abgerundet durch weitere theoretische Inputs (z. B. Autismus, medizinisches/soziales Modell von Behinderung, Situationsansatz, Wahrnehmungskonzepte, Kommunikation, verbal/nonverbal, eigene Kommunikationsmuster, eigene Handlungsmuster, Ausgrenzungserfahrungen, Unsicherheiten in der Sozialen Arbeit, Blick auf Menschen mit Behinderung, Defizitorientierung bis Ressourcenorientierung etc.) – angeglichen zum Reflexionsinhalt (ebd.: 26). Die prozessorientierte Begleitung beginnt mit der offenen Frage nach dem Erleben, nach den Erfahrungen im COS-Treffen. Die Studierenden beginnen zu erzählen. Neben der Aufmerksamkeit, die dabei jedem Erzählenden zuteil wird, fokussiert die Seminarleitung insbesondere folgenden Fragenkatalog, der bei der Reflexion hilfreich ist: Auf was habe ich besonders geachtet? Was ist mein Konzept? Wo lege ich einen Schwerpunkt bei den Erzählungen? Von welchen Hintergrundannahmen lasse ich mich leiten? Wie gehe ich an etwas heran? Wie löse ich etwas? Wie tausche ich meine Beobachtungen und Wahrnehmungen aus? Was entdecke ich dabei? Was war förderlich, was war behindernd? Wie verstehe ich das, was ich mache? Mit Hilfe dieser Fragen können sich die Studierenden ein Bild von sich machen und dadurch viel über sich lernen. Immer wieder thematisiert wird insbesondere das situative Handeln bei Interventionen an der Schnittstelle zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, der Umgang mit Nähe und Distanz, die Authentizität und Klarheit im Verhalten, das Lernen, auf den 90
Prozess zu achten, Ambivalenzen auszuhalten und Perspektivveränderungen zuzulassen (ebd.: 22). Es ist an dieser Stelle zu kritisieren, dass die Reflexionsrunden bisher nur für die Studierenden angeboten werden und die Fokuspersonen keine Reflexionseinheiten erhalten. Im Anschluss an die Beschreibung der strukturellen Morphologie wird nun näher auf die inhaltliche Morphologie eingegangen. Inhaltliche Morphologie der Circles of Support (Funktion und Ressourcen) Bei der Analyse der inhaltlichen Morphologie gilt zunächst besonderes Augenmerk der Funktion als formales Kriterium von COS-Netzwerken. Aus dem empirischen Material heraus lassen sich folgende Aussagen zur Funktion von Circles of Support treffen: Erstens hat ein Circle of Support die Aufgabe, die Fokusperson zu unterstützen und deren Ziele umzusetzen. Somit trägt ein Circle of Support zweitens zur Verstärkung des Selbstbestimmungspotentials der Fokusperson bei. Drittens bietet ein Circle of Support Hilfestellungen zur Teilhabe der Fokusperson an gesellschaftlichen Prozessen und fungiert als Bindeglied bei Austauschprozessen mit anderen Akteuren (Bezugspersonen der Fokusperson, Akteure aus der Community, Fachhochschule). Die Hilfestellung vollzieht sich dabei überwiegend auf der interaktiven Ebene. Zu eruieren gilt, inwieweit sich die Hilfestellung und Unterstützung auf der interaktiven Ebene weiter auffächern. Hierzu ist ein Analyseraster in Anlehnung an Diewald (1991) notwendig, um die verschiedensten Einzelkomponenten sozialer Unterstützung zu erfassen, welcher in Abschnitt 4.8 näher erläutert wird. Der Datensatz I lässt sichtbar werden, dass die COS-Bildung nicht nur für die Fokusperson von Nutzen ist. Aus dem Datensatz I geht insbesondere hervor, welche Ressourcen die studentischen COS-Akteure aus dieser Netzwerkform beziehen. Bei näherer Betrachtung des Materials scheinen Prozesse der Veränderung individueller Handlungen durch. Vergegenwärtigt man sich folgendes Modell mit Merkmalen individueller Handlungen (Tabelle 5), so lassen sich bei der Subgruppe Studierender Elemente einer Enthinderung überwiegend in den ersten drei Ebenen aufdecken. Ebene/Merkmale - Wissen (theoretische Konstrukte) - Wahrnehmung (Erkennen theoretischer Konstrukte ) - Einstellung (Reflexion) - Handlung (Handlungskompetenz)
Akteur
Subgruppe
Netzwerk
Tabelle 5: Merkmale individueller Handlungen 91
Dabei ist Enthinderung als ein Prozess von einem Vorher zu einem Nachher zu verstehen. Der Prozess der Enthinderung kennzeichnet ein Sich-Loslösen vom vorherigen Zustand hin zu einem erweiterten Zustand. Der erweiterte Zustand bezieht sich bei der Subgruppe der Studierenden primär auf das (An-)Erkennen reziproker Lernprozesse und die Entwicklung von Sensibilität und Empathie für sich und andere. Zusammenfassend handelt es sich um Ressourcen, die Veränderungen der Wahrnehmungs- und Handlungsebene der studentischen Akteure bewirken. Die Veränderungen auf der Wahrnehmungsebene (im Sinne kognitiver Denkprozesse) beziehen sich auf den Abbau von Vorurteilen gegenüber Behinderung. Durch die Begegnung mit dem Akteur mit Autismus vollzieht sich eine Reflexion der Sicht auf Behinderung. Entdeckt werden der starrende Blick, der medizinische Blick und der abwertende bzw. betroffene Blick. Aber auch die Sammlung von Wissen lässt sich als Ressource herausarbeiten: Das Ansammeln von Wissen, beispielsweise zum AutismusSpektrum, dient einerseits dem Abbau von Verunsicherung und andererseits wirft es weitere Verunsicherungen auf, wenn spezifizierte Autismus-Kriterien nicht im betreffenden Akteur zu finden sind. Zuweilen kann das theoretische Wissen zum Autismus-Spektrum bei der Interaktion in den Hintergrund treten. Durch die Kategorisierung von Behinderung einerseits und durch die Rollenambivalenz (Unterstützer/Unterstützerin, Freund/Freundin, Student/Studentin) andererseits entsteht ein Spannungsfeld im Interaktionsfeld. Beschrieben werden in diesem Zusammenhang Elemente aktiven Handelns, die Varianten aufweisen. Die Varianten bilden sich beispielsweise ab, wenn es zu Grenzsituationen mit Akteuren aus dem Gemeinwesen kommt, die ein Eingreifen der studentischen Akteure notwendig erscheinen lassen. Eine weitere Variante ist, die Situation so stehen zu lassen und nicht in die Interaktion zwischen Fokusperson und Akteur aus dem Gemeinwesen einzugreifen. Eine weitere Ressource reflexiven Wissens sind die Varianzen und Spielräume bezüglich der Selbstbestimmung. Die Varianten lassen sich wie folgt abbilden: 1. Die Selbstbestimmung der Fokusperson hat höchste Priorität. 2. Es existiert ein Zugeständnis an Selbstbestimmung für alle COS-Akteure. 3. Die Selbstbestimmung der Fokusperson ist in Abhängigkeit von strukturellen und individuellen Faktoren zu sehen. Können diese Varianzen auch von den autistischen Akteuren bestätigt werden? Dies gilt es, durch nachfolgende Interviews zu eruieren. Übersichtartig sind die Elemente einer Enthinderung in individuellen Handlungen der Studierenden noch einmal zusammenfassend dargestellt:
92
Zur Kategorie Behinderung Enthinderung auf der kog. Ebene hin zur Handlungsebene (Handlungskompetenzen)
Subgruppe: Studierende Einerseits: durch Ansammlung von Wissen über Autismus und Abbau von Vorurteilen gegenüber Behinderung können autismusspezifische Kriterien in den Hintergrund treten, andererseits: Durch Kategorisierung von Behinderung und die bestehende Rollenambivalenz können Spannungen im Interaktionsfeld entstehen, die Varianten der Selbstbestimmung aller Beteiligten zur Folge haben.
Tabelle 6: Elemente sozialer Enthinderung am Beispiel der Subgruppe Studierender Die Analyse stellt deutlich den Prozess der in Raum und Zeit handelnden Akteure mit ihren sozialen, historischen und kulturellen Prägungen heraus: Vor der Teilnahme am COS gab es einen bestimmten Zustand der Wissens-, Wahrnehmungs-, Einstellungs- und Handlungsebene. Vorher waren beispielsweise unreflektierte Vorurteile hindernd. Durch die aktive Teilnahme am COS entfernen sich die studentischen Akteure von dem Zustand bestimmter Wissensebenen und ersetzen sie durch neue Kriterien des Wissens. Der neue Zustand gerät zuweilen wieder in ein Spannungsverhältnis, wenn die Kategorisierung von Behinderung in Kombination mit Rollenambivalenzen zutage tritt. Weitere Grenzen von Circles of Support werden in zeitlicher Dimension (die Begrenzung der zeitlichen Dimension ist strukturell durch die Fachhochschule vorgegeben), in der segmentartigen Teilhabe der Fokusperson und in der fehlenden Nachhaltigkeit gesehen. Letzteres bezieht sich darauf, dass aus dem COS heraus keine nachhaltigen Freundschaften entstehen. Dass der Schwerpunkt der Unterstützung im Freizeitbereich liegt, hängt vermutlich mit den Interessen der Fokusperson zusammen. Hierzu sind die Fokuspersonen auch hinsichtlich ihrer Motivationen und Zielsetzungen zu befragen. Aus dem Datensatz I geht nicht hervor, in welchem mikrosozialen Segment des egozentrierten Netzwerks COS von der Fokusperson verortet wird. Wird der COS dem primären oder eher dem tertiären Bereich zugeordnet? Auch lassen sich keine Fundstellen finden, die Aussagen zu den Funktionen und Ressourcen von COS aus Sicht der Fokusperson abbilden. Den Darstellungen der Studierenden nach können die Akteure mit autistischem Kontinuum folgende Ressourcen durch COS mobilisieren: die Umsetzung selbstbestimmter Ziele, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und den Bezug sozialer Unterstützung. Unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten ist es für die vorliegende Studie von Interesse, das dem COS-Modell inhärente soziale Kapital auch aus der Sicht der Fokusperson zu erheben und die Kulminationspunkte aller beteiligten Akteure herauszuarbeiten. 93
Die Validierung der Netzwerkkarte bedarf, wie bereits in Abschnitt 4.3.8 erwähnt, einer gegenseitigen Überprüfung der Aussagen hierzu. Insgesamt ist zu kritisieren, dass es keine schriftlichen Berichte zu COS und zum egozentrierten Netzwerk aus Sicht der Fokuspersonen gibt. Aus diesem Grunde sind qualitative Interviews notwendig, um die Akteure mit Autismus selbst sprechen zu lassen. Bezug nehmend auf die Fragestellung der vorliegenden Studie nach den Funktionen und Ressourcen aller im COS-Kontext beteiligten Akteure sind Befragungen der entsprechenden Personen durchzuführen. Die folgenden Abschnitte widmen sich der Begründung der Wahl der Erhebungsmethodik und der Vorstellung des Interviewleitfadens.
4.4 Wahl der Erhebungsmethodik: Das problemzentrierte Interview nach Witzel (1982) Ausschlaggebend für die Wahl des problemzentrierten Interviews nach Witzel ist, dass diese Erhebungsform besonders gesellschaftliche Problem- oder Fragestellungen behandelt und fokussiert (vgl. Witzel 1985: 230). Das problemzentrierte Interview wurde von Witzel mit der Intention entwickelt, „die in Interviewäußerungen enthaltene Subjektivität und die darin aufscheinenden gesellschaftlich vermittelten Relevanzstrukturen zu reflektieren“ (Schmidt-Grunert 1999: 40). Das Interview fokussiert sowohl subjektive Aussagen über einen bestimmten Lebensbereich als auch Handlungsstrukturen und Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Realität (vgl. Witzel 1982: 67). Bei dem Verfahren des problemzentrierten Interviews handelt es sich um eine Kombination mehrerer Methoden: Als Bestandteile der kombinierten Forschungstechnik werden das qualitative Interview, die biografische Methode, die Fallanalyse und Gruppendiskussion genannt. Für die vorliegende Untersuchung wird das problemzentrierte Interview neben der Fallanalyse als Einzelmethode genutzt. Durch die vorangegangene Dokumentenanalyse der Berichte besteht bereits ein theoretischwissenschaftliches Verständnis, welches durch die Interviews modifiziert werden kann. Dieses Hintergrundwissen bietet einen Fundus an Fragestellungen, um in den Interviews reichhaltigere Daten zu sammeln (vgl. Witzel 1985: 249), gleichzeitig dient es als heuristisch-analytischer Rahmen, wobei eine gleichzeitige Offenheit gewährleistet sein muss, um Annahmen zu korrigieren bzw. zu erweitern (vgl. Witzel 1995: 52). Während der gesamten Forschungsphase ist in ständiger Reflexion Offenheit erforderlich, um neue Erkenntnisse in den Prozess zu integrieren (vgl. Schmidt-Grunert 1999: 42). „Der in der Forschungsprogrammatik diskutierte Wechselprozess zwischen bestehendem und zu ermittelndem Wissen wiederholt sich auf der Ebene der Kommunikationsstrategien 94
des Interviews in der Verschränkung von erzählungs- und verständnisgenerierenden Kommunikationsformen“ (Witzel 1985: 244).
4.5 Entwicklung des Interviewleitfadens (Datensatz II) Im Sinne der partizipativen Forschung wurde für die vorliegende Studie eine Fokusperson mit Asperger-Syndrom gebeten, Fragestellungen für den Interviewleitfaden zu konzipieren41. Dieser Fokusperson zufolge sollten die nachstehenden Fragen erhoben werden (vgl. Naar 2006). Fokuspersonen
Studierende
Wie hat dir der Circle gefallen? hast du mit deinem Circle gemacht? Welche Aktivitäten hast du mit deinem Circle gemacht? Hast du dich mit dem Circle positiv oder negativ entwickelt? Was hat sich bei dir entwickelt? Welche Wünsche und Ziele konntest du mit deinem Circle erreichen? Hast du mit deinem Circle Freunde gefunden? Wirst du deinen Circle jetzt verlassen oder wirst du dich auch in Zukunft mit deinem Circle treffen? Wirst du noch einen Circle machen?
Wie hat euch eure Fokusperson gefallen? Welche Erfahrungen habt ihr durch eure Fokusperson bekommen? War die Fokusperson hilfreich für eurer Studieren? Habt ihr euch mit eurer Fokusperson positiv oder negativ entwickelt? Was hat sich bei euch entwickelt? Konntet ihr alles verwirklichen, was die Fokusperson wollte? Werdet ihr eure Fokusperson jetzt verlassen oder werdet ihr euch weiterhin mit eurer Fokusperson treffen?
Fehler! Welche Erfahrungen
41
Die Partizipative Forschung vertritt die grundlegende Ansicht, dass ForscherInnen ihre Kompetenzen für Forschungsarbeiten einsetzen, die benachteiligten Gruppen von Nutzen sind (vgl. Flieger 2003).
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TherapeutIn
Familienangehörige
Hat sich Ihr Kunde nach seinem Circle verändert? Wenn ja, was hat sich an ihm verändert? Könnten Sie Ihren anderen Kunden auch einen Circle empfehlen? Ist das Arbeiten mit Ihrem Kunden durch den Circle besser oder schlechter geworden? Wie oft haben Sie den Circle begleitet? Was haben Sie in dem Circle gemacht? Hat Ihr Kunde seinen Circle auch in Ihre Therapie mitgenommen (dreidimensional, also persönlich)? Haben Ihre Kollegen auch einen Kunden mit einem Circle?
Wie oft haben Sie den Circle von Ihrem Kind begleitet? Hat sich Ihr Kind in seinem Circle anders verhalten als sonst? Wenn ja, wie? Hat sich Ihr Kind wegen des Circles positiv oder negativ entwickelt? Hat Ihr Kind mit seinem Circle Aktivitäten gemacht, die Sie mit Ihrem Kind nicht machen können?
Tabelle 7: Interviewfragestellungen einer Fokusperson
Die kursiv gesetzten Fragestellungen wurden für den Interviewleitfaden modifiziert übernommen. Die zu untersuchenden Einheiten beziehen sich auf das egozentrierte Netzwerk der Fokusperson und auf Circles of Support, wie folgende Abbildung illustriert: Strukturelle Analyse
Inhaltliche Analyse - Inhalt (Beschaffenheit der Kontakte) - Ausrichtung (Reziprozität) - Dauer (Zeitraum des Kontaktes) - Rollen (Definition der Rollenbeziehung) - Funktion (Charakteristika der Unterstützung und Selbstbestimmung, Nutzen/ persönliche Auswirkungen)
Circles of Support
Netzwerk der Fokusperson
- Netzwerkgröße und Reichweite (Anzahl und Zusammensetzung) - Dichte (Ausmaß des Verhältnisses/ der Interaktion) - Offenheit (Verbindungen zu anderen außerhalb des Netzwerks)
Fokuspersonen | Bezugspersonen | Studierende | Therapeuten
Abbildung 13: Analysekriterien struktureller und inhaltlicher Merkmale der COS-Studie
96
Zur besseren Vergleichbarkeit der Interviewaussagen sind die Interviewfragen in folgende Themenkomplexe unterteilt: Beziehungen und Netzwerke
Circles of Support
Unterstützung Selbst- und Fremdbestimmung
Beziehungen und Netzwerke autistischer Menschen Auswirkungen des Asperger-Syndroms beim Aufbau sozialer Netzwerke Nutzen und Auswirkungen von COS für die Fokusperson Leistungen von COS bezüglich des sozialen Netzwerkes, der Beziehungsqualität und der Lebensqualität Motivation/ Interessen der Akteure zur Teilnahme am COS Persönliche Entwicklungen der Beteiligten Grenzen und Behinderung des COS-Modells Unterstützungs-Typologie nach Diewald Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bei autistischen Menschen Selbst- und Fremdbestimmung der Fokuspersonen (allgemein und im COS)
Tabelle 8: Themenblöcke des Interviews Um die Willkürlichkeit von Erzählungen einzugrenzen, wurden die Fragen auch zielgruppenspezifisch eingeteilt. Dies dient „einer kontrollierten und vergleichbaren Herangehensweise an den zu explorierenden Gegenstand“ (Witzel 1985: 250). Die thematischen Unterteilungen/Kodierungen in den Fragedimensionen sind bei allen Interviewpersonen bis auf wenige Ausnahmen identisch (vgl. Interviewleitfaden im Anhang). Die interessierenden Aspekte sind dabei nicht nur die Personen und Bedingungen, die zusammenkommen, sondern auch, was in diesem Sozialraum geschieht und welche Auswirkungen die Erfahrungen mit COS auf die beteiligten Akteure haben.
4.6 Bestimmung der InterviewpartnerInnen und Durchführung der Interviews Nach der Eingrenzung der Interviewpersonen durch die Bestimmung des Auswahlkriteriums „verbal kommunizierende Fokuspersonen mit Autismus“ wurde der Kontakt zu den Befragten telefonisch hergestellt. Insgesamt wurden acht verbal kommunizierenden Fokuspersonen mit Asperger-Syndrom samt ihren Eltern und den im jeweiligen Circle beteiligten Circle Members angeschrieben. Vier Fokuspersonen sagten ihre Interviewbereitschaft zu. Dabei stellte sich während des Interviews bei einer dieser Fokuspersonen heraus, dass sie nicht auf die gestellten Fragen antwortete – so konnte die Befragung nicht weitergeführt wer97
den. Die Untersuchungspersonen der drei Circles setzen sich wie folgt zusammen: Circle I besteht aus einer weiblichen Fokusperson und drei Studierenden (2 weiblich, 1 männlich). Circle II umfasst eine männliche Fokusperson und zwei Studentinnen. Eine weibliche Fokusperson und drei Studentinnen bilden den Circle III. Eine dieser Studentinnen befand sich zum Zeitpunkt der Interviews nicht in Deutschland, da sie nach dem Studium in ihre Heimat zurückgekehrt war. Mit ihr erfolgte das Interview schriftlich über E-Mail-Kontakt. Weitere Untersuchungspersonen der Studie sind die jeweiligen therapeutischen Fachkräfte (2 weiblich, 1 männlich) und die Mütter der Fokuspersonen. In der Familienkonstellation einer Fokusperson besteht kein Kontakt mehr zum Vater und in den anderen beiden Konstellationen sind die Mütter hauptsächlich für die Betreuung der Fokusperson zuständig. Insgesamt handelt es sich bei der Untersuchung um 17 Personen: 3 Fokuspersonen, 8 Studierende, 3 Mütter und 3 therapeutische Fachkräfte. Nach Girtler lassen sich hochwertige und aussagekräftige Interviews am ehesten in der natürlichen Umgebung der Interviewten entwickeln. „Um wirklich gute Interviews zu bekommen, muß man also in die Lebenswelt dieser betreffenden Menschen gehen und darf sie nicht in Situationen interviewen, die ihnen unangenehm sind oder fremd sind“ (Girtler 1988: 151). Das Prinzip der weitestgehenden Natürlichkeit entsprach den Wünschen der Untersuchungspersonen, die für den Ort des Interviews ihr Zuhause wählten. Die Einstiegsphase umfasste zunächst die Begrüßung und ein Gespräch z. B. über die Anfahrt, den Hund im Haus, das Wetter, vergangene gemeinsam erlebte Situationen aus der Zeit im Autismus-Therapie-Zentrum oder im Zusammenhang mit COS. Nach einer Aufklärung über den Verwendungszweck der Interviews und der Zusicherung der Anonymität wurden das Aufzeichnungsgerät und die Mikrofonanlage42 mit Erlaubnis der Beteiligten aufgestellt. Bei allen Interviews waren die Mütter der Fokuspersonen bis auf eine Ausnahme zur Unterstützung – z. B. bei möglicherweise auftretenden Artikulationsschwierigkeiten – anwesend. Zur Förderung der Gesprächsbereitschaft wurden den Fokuspersonen kurz die Themenfelder des Interviews genannt und die Möglichkeit, bei Bedarf weitere Interviewtermine zu nutzen. Bei allen drei Fokuspersonen kam die COSNetzwerkkarte aus dem jeweiligen Jahr zum Einsatz, deren Visualisierung die Erinnerung und den Gesprächsfluss unterstützte. Während des Interviews wurden Verständnisfragen gestellt und je nach Bedarf mit Hilfe der anwesenden Mutter umformuliert. Nach dem Interview wurde ein Postskriptum zum Inhalt der Gespräche vor und nach dem Interview, zum Wohnumfeld und zu eventuel-
42
98
Die Mikrofonanlage dient der Hörverstärkung der Interviewerin.
len Besonderheiten der Situation erstellt, welche den Nachvollzug des gesamten Interviewprozesses bei der Auswertung erleichtern. Die Interviews wurden im Zeitraum von August 2006 bis Oktober 2006 durchgeführt. Das konkrete Interview dauerte je nach Person zwischen 1 Stunde bis 1,5 Stunden. Fragen, die sich im Nachhinein ergaben, z. B. konkrete Angaben zur Person wie beispielsweise das Alter, wurden im Laufe des Forschungsprozesses telefonisch erfragt.
4.7 Transkription der Interviews Nach der Durchführung der Interviews wurden die Tonbandaufnahmen unter Berücksichtigung folgender Regeln transkribiert: Pausen, Unverständlichkeiten, Betonungen, Lachen etc. wurden gesondert gekennzeichnet. Eingefügte Anmerkungen oder Auslassungen zum besseren Verständnis wurden in eckige Klammern gesetzt. Es handelt sich bei diesem Datensatz um einen Textrohstoff von insgesamt 6991 Zeilen. Der gesamte transkribierte Text wurde den Interviewten vorgelegt und mit ihrem Einverständnis anschließend zur Veröffentlichung anonymisiert.
4.8 Entwicklung und Versand der Fragebögen (Datensatz III) Für die vorliegende Arbeit werden die Fokuspersonen (Ego) „aufgefordert, Personen [sogenannte Alteri, AK] zu nennen, zu denen sie soziale Beziehungen unterhalten. (...) Damit das Netz als ‚Netzwerk’ qualifiziert werden kann, ist es insbesondere erforderlich, dass auch die Beziehungen zwischen Alteri (also nicht nur von Ego zu Alter) erfragt werden“ (Jansen 2007: 65). Der standardisierte Fragebogen erfasst somit unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten einerseits das soziale Netzwerk der Fokusperson und andererseits die Beziehungsqualität zwischen den Akteuren sowie die Unterstützungsaspekte im COS-Netzwerk. Der Fragebogen für die Fokusperson umfasst folgende zwei Bausteine: 1) Netzwerkkarte zur Erfassung des sozialen Netzwerks. In Anlehnung an Svedhem (1985: 156) arbeiteten Bullinger und Nowak (1998: 128) eine Netzwerkkarte heraus, die den sozialen Kontext eines Individuums in vier Areale unterteilt: (1) Familie/ Verwandte, (2) Freunde/Bekannte, (3) Selbsthilfe, NGO, Berater, (4) Schule, Arbeit, Ämter und Firmen. Die aufgezählten Areale wurden für die vorliegende Untersuchung weitestgehend übernommen, wie folgende Abbildung verdeutlicht: 99
Primäre Netzwerke Familie / Verwandschaft
Freunde/ Bekannte
Name
Selbsthilfegruppe/ Therapie Tertiäre Netzwerke
Schule/ Arbeit/ Amt Sekundäre Netzwerke
Abbildung 14: Netzwerkkarte nach Bullinger und Nowak (1998: 128) Zusätzlich wird nach der Qualität der Beziehung (intensiv/schwach) und der Häufigkeit des Kontakts gefragt. Die Einschätzung nach der Größe des Netzwerks und die Fragestellung „In welchem Feld wünschst du dir mehr Kontakte?“ runden die Netzwerkkarte ab. 2) Circle of Support. Die Fragen zum Circle of Support umfassen folgende Aspekte: Treffen mit anderen außerhalb des Circles, Bestimmung der Beziehung zu den Studierenden (freundschaftlich – kollegial – partnerschaftlich – betreuend) und deren Rolle (Therapeut – Unterstützer – Pädagoge – Bekannter – Freund). Außerdem wird danach gefragt, ob und wie die Wünsche und Zielsetzungen der Fokusperson umgesetzt wurden. Den Schluss bildet die Frage nach den Unterstützungsaspekten im COS zur Entwicklung der COS-typischen Unterstützungstypologie. Die nachfolgend aufgeführten Aspekte sind der Unterstützungstypologie von Diewald (1991) entnommen. Diewald unterscheidet drei Dimensionen sozialer Unterstützung, die den Verhaltensaspekt, den kognitiven oder den emotionalen Aspekt in sozialen Beziehungen kennzeichnen.
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Konkrete Interaktionen (Verhaltensaspekt)
Vermittlung von Kognitionen
Vermittlung von Emotionen
Unterstützung Arbeitshilfe Pflege Materielle Unterstützung Intervention Beratung Geselligkeit Alltagsinteraktion Anerkennung Orientierung Zugehörigkeitsgefühl Hilfe Erwerb sozialer Kompetenzen Geborgenheit Liebe und Zuneigung Motivation
Tabelle 9: Unterstützungsdimensionen nach Diewald (1991:71) Der Fragebogen für die Studierenden umfasst im Baustein „Circles of Support“ dieselben Fragen wie für die Fokuspersonen. Außerdem wird nach förderlichen Kontextbedingungen (Reflexion an der Hochschule, Gespräche vor und nach den COS-Treffen, direkte Kommunikation im Circle) für die Umsetzung der Selbstbestimmung der Fokuspersonen gefragt. Ergänzend dazu steht die Frage „Hältst du eine erfolgreiche Umsetzung der Selbstbestimmung ohne Supervision an der Hochschule für denkbar?“. Den Abschluss des Fragebogens an die Studierenden bildet eine Vorher/Nachher-Review auf die eigene Sichtweise von Behinderung. Nachfolgende Darstellung verdeutlicht den Rücklauf der im Frühjahr 2008 verschickten Fragebögen: COS I COS II COS III
Fokusperson (ja) Fokusperson (ja) Fokusperson (ja)
Student (ja)
Studentin (ja)
Studentin (ja)
Studentin (ja)
Studentin (ja)
Studentin (ja)
Studentin (ja)
Studentin (nein)
Tabelle 10: Rücklauf der Fragebögen 101
4.9 Auswertung der Datensätze II und III unter Berücksichtigung der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1994) und nach netzwerkanalytischen Kriterien Die Auswertung des Datenmaterials in der vorliegenden Arbeit orientiert sich weitgehend an dem qualitativen inhaltsanalytischen Verfahren nach Mayring (1988: 42), da dessen Analyseverfahren die Bearbeitung einer großen Datenmenge in verschiedensten inhaltlichen Feldern erlaubt (vgl. Flick 2004: 310). Mayring (2000)43 zufolge sind mit der qualitativen Inhaltsanalyse „Verfahrensweisen systematischer Textanalyse beschrieben worden, die Stärken der kommunikationswissenschaftlichen Inhaltsanalyse (Theoriegeleitetheit, Regelgeleitetheit, Kommunikationsmodell, Kategorienorientiertheit, Gütekriterien) nutzen, um qualitative Analyseschritte (induktive Kategorienentwicklung, Zusammenfassung, Kontextanalyse, deduktive Kategorienanwendung) methodisch kontrolliert vollziehen zu können“. Allerdings räumt er ein, dass das Analyseverfahren dort an seine Grenzen stößt, „wo entweder die Fragestellung offener, explorativer, variabler ist und der Bezug zu festen Kategorien als Beschränkung erschiene oder wo ein ganzheitlicherer, nicht zergliedernd-schrittweiser Analyseablauf angestrebt wird“. Es wurde ein Codierleitfaden konzipiert, der zu den jeweiligen Kategorien die dazugehörigen Unter-Codes und Ankerbeispiele beinhaltet. Die nachfolgende Abbildung zeigt zur Transparenz einen Ausschnitt aus dem konzipierten Leitfaden und bezieht sich exemplarisch auf eine Hauptkategorie und eine Subgruppe. Hauptkategorie Subgruppe Unter-Code 1 Ankerbeispiel
Nutzen/ Auswirkungen/ persönliche Entwicklung Fokusperson Erweiterung der Aktivitäten- und Handlungsräume in der Freizeit „Niklas war ja früher sehr stark öh beschränkt auf seine Welt, in seinem eigenen Zimmer und ich denke mal, dadurch dass er ja nach draußen tritt und Sachen auch außerhalb äh seiner jetzigen Wohnung unternimmt äh, ist das schon äh auch, was die Freizeit betrifft, ’nen großen Gewinn für ihn“ (Seite 63, Zeile 34553458).
Tabelle 11: Ausschnitt Kodierleitfaden
43
102
Mayring, Philipp (2000): Qualitative Inhaltsanalyse. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [Online Journal], http://qualitative-research.net/ fqs/fqsd/2-00inhalt-d.htm [22.4.08].
Mayring (1994) schlägt eine Validierung der Ankerbeispiele und Codierregeln durch externe Personen vor. Um diesem Vorschlag zu entsprechen, erfolgt für die vorliegende Studie eine Validierung der Codierregeln einzelner Kategorien und die Interpretation einiger Sequenzen des Interviewmaterials durch zwei externe Arbeitsgruppen. Arbeitsgruppe 1 besteht aus drei im Fachbereich Soziologie und Rehabilitationspädagogik arbeitenden Personen, die bereits über Kenntnisse im Codieren von empirischem Material verfügen. Sie befasste sich mehrere Stunden mit der Codierung der Hauptkategorie ‚Selbst- und Fremdbestimmung‘ und der Interpretation der dazugehörigen Textsequenzen. Die Arbeitsgruppe 2 besteht aus sieben Personen des Forschungskolloquiums Disability Studies der Universität zu Köln, wovon mindestens eine Person definitiv CodierErfahrungen besitzt. Die Codierarbeit der zweiten Arbeitsgruppe fokussiert die Hauptkategorie ‚Nutzen, Entwicklung und Auswirkungen‘. Es lässt sich konstatieren, dass die Bildung der Untercodes beider Forschungsgruppen eine hohe Übereinstimmung mit der Erstcodierung der Verfasserin aufweist. Für die qualitative Inhaltsanalyse bietet Mayring drei Auswertungsschritte an: die Zusammenfassung, die Explikation und die Strukturierung. Bei der Analyse der Datensätze I und II steht die inhaltliche Strukturierung im Vordergrund. „Ziel inhaltlicher Strukturierung ist es, bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen“ (Mayring 2003: 89). Die typischen Textpassagen ermöglichen „unter vorher festgelegten Ordnungskriterien“ die Ableitung von Aussagen (Mayring 1988: 53). Die Analyse des Datensatzes II und III erfolgt über eine Satz-für-Satz-Analyse und einer Zusammenfassung des Materials. Folgende Abbildung zeigt beispielhaft die Herausfilterung des Haupt-Codes 'Netzwerk der Fokusperson'.
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Interview I Svetlana Oleg und Mutter Lyudmila Maksimova, zu Hause der Befragten, 24. August 2006 Svetlana, wer sind die Menschen, mit denen Du zu tun hast? Also, wer ist in Deiner Relationship-Map? Netzwerk der Fokusperson (7) Circle of Support (5) und Familie. Also, die Familie ist drin und wer noch? Das habe ich nicht [familiär] verstanden. [Primär/ sekundär] Circle of Support. Circle of Support. Ah ja und der Circle of Support, ist der jetzt auch noch da? Mhm (9) das kann ich nicht so genau sagen. Okay, wenn wir jetzt von heute sprechen oder von diesem Jahr, wer sind die Menschen? Ist da der Circle of Support dabei, ja oder nein? Ja. Wer ist denn in Deinem Circle? Da ist äh (9) ein Mann und zwei Frauen. Ach so, okay und wie heißen die? [ Netzwerkgröße: Anzahl] Die heißen Lars (7), Anna-Lydia und Tatjana.
Abbildung 15: Beispiel des ersten Kodiervorgangs im Interview Zur Transparenz des Auswertungsprozesses sind im Folgenden die einzelnen Schritte in Auszügen dargestellt. Ein Auswertungsschritt ist das Paraphrasieren der Textstellen. Abbildung 16 zeigt exemplarisch eine Paraphrase-Tabelle zum Thema Selbstbestimmung aus der Sicht zweier Akteure des Circles II. Ziel der Paraphrase-Tabelle ist eine Übersicht über die Aussagen der einzelnen Akteure zu einem thematischen Aspekt. Selbst- und Fremdbestimmung im COS Circle II Paraphrase Fundstelle Niklas Niklas entscheidet lieber allein, z.B. im Bereich der Unterneh- 36 mungen oder Erledigungen (Spülen, Einkaufen). Im Bereich der 40-41 Therapie lässt er sich sagen, was er tun soll. Im COS sind eigene Entscheidungen möglich, aber auch die Wünsche der anderen sind zu berücksichtigen. Dunja „Ich musste ziemlich lange überlegen, ob ich ihm einen Schnaps 45 gebe“.
Abbildung 16: Beispiel einer Paraphrase-Tabelle zu einem thematischen Aspekt (Interviewanalyse) Ein weiterer Auswertungsschritt lässt sich als thematisches Verdichten bezeichnen. Abbildung 17 zeigt einen Auszug (erste Entwurf-Fassung) der thematischen 104
Verdichtung zum Code „Grenzen/ Behinderungen im COS“. Ziel der thematischen Verdichtung ist es, die Essenz eines Untercodes aus der Sicht der InterviewpartnerInnen zu abstrahieren. Nachhaltigkeit/Öffnung COS I Svetlana: Enttäuschung, da die Circle-Unterstützer nach Ende der Circle-Zeit nicht zum Geburtstag erschienen Anna-Lydia: Kontakt nach dem COS-Jahr verloren Tatjana: Ziel, längerfristige Freundschaft aufzubauen, scheiterte COS II Veronika: COS ist kein Ersatz für Freunde Ilias: keine natürliche Freundschaft – Ende nach einem Jahr COS III Laura: keine Nachhaltigkeit, künstliche Situation, keine nachhaltige Freundschaft, auch nicht unter den studentischen Circle-Members
Abbildung 17: Auszug einer thematischen Verdichtung (Interviewanalyse) Abbildung 18 stellt einen Subgruppen-Vergleich und eine thematische Verdichtung am Beispiel des Hauptcodes „Persönliche Entwicklungen“ dar. Ziel bei diesem Auswertungsschritt ist es, gemeinsame Referenzpunkte einer Subgruppe zu kristallisieren. Persönliche Entwicklungen – Fokuspersonen Svetlana Selbständigkeit; Kontakt zu anderen; erkennen, was ihr Spaß macht und was nicht; an der Kasse selbst bezahlen Mutter über Svetlana Raus aus den Stereotypien Mutter über Niklas Mehr Selbstbewusstsein; Wünsche signalisieren; Eigeninitiative Valerie „sich mehr trauen“ Mira über Valerie Fokusperson hat gar nicht d i e Struktur nötig Persönliche Entwicklungen – Studierende Anna-Lydia Sicherheit, Selbstbewusstsein, auch im Umgang mit autistischen Menschen; Erkennen eigener Grenzen (…) Tatjana Autismus begreifen; Teamwork; zuhören lernen (…) Lars Sensibilisierung der Kommunikation (…) Dunja Gelassenheit entwickeln; differenziertes Autismus-Verständnis Svenja Selbsterkenntnis, Geduld
Abbildung 18: Beispiel eines Personengruppenvergleichs (Interviewanalyse)
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Die vorangegangen Ausführungen zeigen, dass die Auswertungsschritte manuell vorgenommen wurden und nicht mit Hilfe von MAXQDA, einem Softwareprogramm zur qualitativen Textanalyse44. Im Fokus der Auswertung im folgenden Kapitel steht neben der NetzwerkDarstellung die Entwicklung zentraler Aussagen der Personengruppen zu einem thematischen Aspekt. Vor der inhaltlichen Auswertung wird das Netzwerk beschrieben. Jeder Circle und jede Subgruppe wird einzeln für sich, dann anschließend nach dem Prinzip minimaler und maximaler Kontrastierung miteinander verglichen. Ziel der Analyse ist die Herausarbeitung des Gemeinsamen und die Kenntlichmachung von Unterschieden und Querverbindungen. Zur Erhärtung und Verdichtung sind Textbelege angeführt.
44
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Bei der Anwendung des MAXQDA-Programms „verschwanden“ einzelne Codierungen der Verfasserin. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die vorliegende Version des Softwareprogramms Systemfehler aufwies.
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Analyse der Datensätze II – III und theoretische Reflexion
Die Analyse der empirischen Datensätze beginnt mit der Darstellung von drei Netzwerkkarten, die das jeweilige egozentrierte Netzwerk der Akteure mit Autismus darstellen. Sie ermöglichen ein besseres Verständnis der sozialen Einbettung der Fokusperson. Die angegebenen Kontakte zu einigen Familienangehörigen bzw. Bekannten und deren Kontakthäufigkeit können in dieser Studie aus Zeitgründen nicht mehr durch eine Befragung der genannten Personen überprüft werden. Nach der Darstellung der Netzwerkkarten erfolgt ein Vergleich von deren struktureller und inhaltlicher Morphologie. Im Anschluss an den Vergleich und eine Reflexion der Netzwerkkarten wird der Zusammenhang zwischen der Netzwerkkonstitution und den autismusspezifischen Kriterien der Fokusperson beleuchtet. Die Darstellung der strukturellen und inhaltlichen Morphologie der Circles of Support beginnt mit einer Beschreibung der Akteure, die selbst zu Wort kommen. Herauskristallisiert hat sich ein Circle, in dem überwiegend russischstämmige Akteure involviert sind. Ein weiterer Circle lässt sich als multikulturell bezeichnen, da sich in diesem Akteure mit chinesischem, deutschem und türkischem Hintergrund befinden. Bevor die Beweggründe zur Teilnahme am Circle of Support und die Ziele der Akteure sowie ihre Motivation entschlüsselt werden, wird die Vernetzung bzw. Offenheit und Geschlossenheit der Circles illustriert. Angaben zum relationalen Verhältnis der Akteure, zur Komplexität der Rollen und zu informellen Charakteristika gehen der Analyse von Funktion und Ressourcen voraus. Die Frage, inwieweit Selbst- und Fremdbestimmung im Circle of Support zum Tragen kommen, wird im Anschluss daran erörtert. Die Nennung der begünstigenden Kontextbedingungen für Selbstbestimmung zeigt die Relevanz der Supervision an der Hochschule auf. Die empirische Analyse endet mit einer Beschreibung der Grenzen von Circles of Support am Dortmunder Beispiel.
107
5.1 Netzwerkkarten der Fokuspersonen 5.1.1 Svetlana Oleg Familie / Verwandtschaft Mutter
Freunde/ Bekannte Familienentlastender Dienst: Diana
Oma COS: Anna-Lydia, Tatjana und Lars
Schwester
Svetlana
TherapieZentrum: Frau Steinke
Selbsthilfegruppe/ Therapie
Schule
Verbindungslinien: Wichtige weniger wichtige Beziehung (aus egozentrierter Sicht der Fokusperson) Außerhalb der familiären Situation miteinander vernetzte Akteure
Schule/ Arbeit/ Amt
Abbildung 19: Netzwerkkarte Svetlana Oleg (vgl. Fragebogen) Im Netzwerk der 17-jährigen russischstämmigen Fokusperson Svetlana Oleg ist im Jahr 2005 der hohe Anteil an weiblichen Akteurinnen unübersehbar: „ja was mir aufgefallen ist, dass das soziale Netzwerk hauptsächlich aus Frauen, also aus weiblichen Personen [besteht]“ (Tatjana Petrovanka, Studentin). Svetlana Oleg bestätigt diesen Eindruck, indem sie ihre wichtigsten Bezugspersonen aufzählt: „Meine Mutter, meine Oma und meine Schwester“. Die Mutter, Lyudmila Maksimova, fügt ergänzend hinzu: „Und dazu muss man noch sagen, da ist noch dieser Familienunterstützungsdienst, noch ein Mädel, die kommt zu Svetlana und die kommt parallel zum Circle of Support“. Der Circle of Support besteht aus den ebenfalls russisch sprechenden Studentinnen Tatjana Petrovanka (25 Jahre) und Anna-Lydia Ivanova (24 Jahre) sowie Lars Feldbusch (25 Jahre) (vgl. COSBericht der Studierenden 2005, Kap. 2). Sowohl die Frau aus dem Familienentlastenden Dienst als auch den Circle of Support und ihre Therapeutin sieht Svetlana Oleg regulär einmal wöchentlich, die anderen genannten Personen täglich. Es bestehen Kontakte zur Lebenshilfe, einer Vereinigung für Menschen mit geistiger Behinderung: „Das sind Freunde. Das sind nette Menschen“, zur Therapeutin Sandra Schubertz aus dem Autismus-Therapie-Zentrum (laut Lyudmila 108
Maksimova) und zur Küchenchefin aus der Werkstatt, in der Svetlana Oleg derzeit arbeitet. „Zu den anderen [aus der Werkstatt] habe ich nicht soviel Kontakt“. Die Kontakte zur Lebenshilfe und zur Werkstatt werden von Svetlana Oleg visuell nicht markiert, während wiederum der Anschluss zur Schule und zu einer anderen weiblichen Fokusperson von Svetlana Oleg und ihrer Mutter im Interview nicht erwähnt werden, von Seiten der Circle Member und der Therapeutin hingegen schon: „sie hat schon von ihr [der anderen Fokusperson] gesprochen, sie wollte schon, glaub’ ich, mehr mit ihr machen, aber irgendwie kam das dann nicht dazu“ (Tatjana Petrovanka, und vgl. Sandra Schubertz). Svetlana Oleg betont, wie wichtig ihr der soziale Kontakt zu anderen Menschen ist, „die sich für mich interessieren und mich auch nett finden“. Mit ihren MitschülerInnen ist sie „nicht so gut zurechtgekommen“, glaubt Lars Feldbusch. „Ansonsten weiß ich nicht, ob sie Freunde hat, ich glaube eher nicht, weil der Kontakt sich in erster Linie über die Familie definiert“. Svetlana Oleg stellt sowohl im Interview als auch im Fragebogen auf, wen sie als ihre Freunde bzw. Bekannten betrachtet: die Studierenden aus dem Circle of Support sowie die Frau aus dem Familienentlastenden Dienst und sagt an anderer Stelle: „Ich finde das nicht so toll, dass ich so wenige Freunde habe. Ich hätte mir gewünscht, ich hätte mehr Freunde gehabt“. Aus Sicht der Studentinnen sind keine Freundschaften im Leben der Fokusperson erkennbar: „Äh, zum damaligen Zeitpunkt war das nicht so“ (vgl. Anna-Lydia Ivanova) und „Ähm nein, sie hatte auch keine richtigen Freunde, was heißt keine richtigen, gar keine. Sie hatte nur in ihrer Phantasie Freunde, das waren Gegenstände, Spielzeugfiguren und sonstiges“ (vgl. Tatjana Petrovanka). Aus Sicht der Mutter und der Therapeutin Sandra Schubertz aus dem Autismus-Therapie-Zentrum handelt es sich „um keine richtigen Freundschaften“ im Leben der Svetlana Oleg, sondern um „von außen initiierte Kontakte“ (vgl. Sandra Schubertz).
5.1.2 Niklas Behrendt Das soziale Netzwerk der Fokusperson Niklas Behrendt (20 Jahre) besteht aus mindestens 18 Personen. „Also, aktuell [im Jahre 2006] ist es so, dass Niklas am Wochenende äh primär Kontakt zu seiner Familie hat in [X-Stadt], das sind seine Eltern äh seine Großeltern vermute ich auch und ähm einer seiner Brüder wohnt da in der Nähe, die er auch mit Sicherheit am Wochenende trifft. Unter der Woche hat er etwa fünf Termine mit [Einrichtung X] (.) Ein bis zwei Mal die Woche mit mir, etwa einen Termin in der Woche mit Circle of Support und einen Termin in der Woche hat er sich jetzt vorgenommen, wo er ein Fitnessstudio aufsucht, wo ich jetzt gar nichts zu den Beziehungen oder dem Netzwerk in dem 109
Studio sagen kann, welche Kontakte er dort hat“ (Ilias Novak, AutismusTherapeut). Familie / Verwandschaft
Mutter
Ganz viele Kunden vom Ambulant-BetreutemWohnen: Bekannte
Vater
Bruder 1
Freunde/ Bekannte
Oma
Alina: Freun-
Großeltern COS: Bekannte
Bruder 2
Niklas Autismus-Therapie
Neurofeedback-Therapie
Gesetzliche Betreue-
AmbulantBetreutes-Wohnen Betreuer Heilerzieherin Studentin
Selbsthilfegruppe / Therapie
Heilerzieherin Studentin
Verbindungslinien: Wichtige weniger wichtige Beziehung (aus egozentrierter Sicht der Fokusperson) Außerhalb der familiären Situation miteinander vernetzte Akteure
Schule / Arbeit / Amt
Abbildung 20: Netzwerkkarte Niklas Behrendt (vgl. Fragebogen) Die Aussagen der Mutter von Niklas Behrendt und den Studierenden aus dem Circle of Support zu den Akteuren im sozialen Netzwerk der Fokusperson sind übereinstimmend mit den Angaben der Netzwerkkarte (vgl. Dunja Friedrich; Svenja Humbach; Veronika Behrendt). „Mhm, die meisten Leute, die meisten arbeiten mit mir und einige Leute unternehmen etwas mit mir“, überlegt Niklas Behrendt. Das Feld der Therapie kommt ihm zwar groß vor, gleichzeitig schätzt er den hohen Anteil an professionellen Helfern und Helferinnen in seinem sozialen Netzwerk (vgl. Fragebogen und Interview). Er wünscht sich mehr Kontakt zu seinen Brüdern, insbesondere zu jenem, den er aufgrund der Entfernung nur dreimal jährlich sieht (vgl. Fragebogen), und Austausch mit Kollegen bzw. einem Arbeitsanleiter. „Inwieweit er Freundschaften hat oder pflegt, das dringt bis zu mir nicht durch“, sagt der Therapeut. Auf die Frage „Und was ist mit Kontakten zu Nachbarn oder zu Freunden?“ antwortet die Mutter: „Die hat er nicht“ und „Ja, find’ ich […] schon schade, einerseits bin ich froh, dass es von der professionellen Seite zumindest aufgefangen wird, ergänzt wird zu der Familie, dass überhaupt er lernt, zusätzliche Kontakte zu haben. Wünsch’ es mir oder als Mutter denk’ ich mir, natürlich oft ‚Schade, dass er nicht auch so Freunde hat‘ “ (Veronika Behrendt). Niklas Behrendt findet das „nicht schlimm“, er 110
vermisst keine Freunde, glaubt aber andererseits, es wäre „eher gut“, Freunde zu haben. Die einzige von ihm genannte Freundin sieht er einmal jährlich, die Bekannten aus dem Ambulant-Betreuten-Wohnen entweder „zufällig in der Stadt“, auf „Mallorca“ oder auf der „Weihnachtsfeier“ (vgl. Fragebogen). „Es ist ja irgendwo immer auch noch etwas gesteuert, was da stattfindet, halt ’ne“, fügt die Mutter hinzu.
5.1.3 Valerie Grebe Familie / Verwandtschaft
Freunde/ Bekannte
Mutter Vater
Jenny: Freundin Cousine d. Mutter
Schwester Oma
Valerie
TherapieZentrum: Frau Steinke
Lebenshilfe: Ferienfreizeit
Selbsthilfegruppe/ Therapie
Verbindungslinien: Wichtige
COS: Sunay, Liquin und Karla und Gisela: Freundinnen der Mutter
Schule: Therapeutin
weniger wichtige Beziehung (aus egozentrierter Sicht der Fokusperson) Außerhalb der familiären Situation miteinander vernetzte Akteure
Schule/ Arbeit/ Amt
Abbildung 21: Netzwerkkarte Valerie Grebe (vgl. Fragebogen) Im sozialen Netzwerk von Valerie Grebe (18 Jahre) können im Jahr 2005 folgende Personen aufgedeckt werden: die Eltern und eine Schwester, drei weibliche COS-Members und eine Therapeutin aus dem Autismus-Therapie-Zentrum (vgl. Fragebogen, Interview). „Sonst ist niemand mehr da“, resümiert Valerie Grebe. Im Folgeinterview zählt sie eine Frau namens Conny, eine professionelle Helferin aus ihrem beruflichen Umfeld (WfbM), zu ihrem sozialen Netzwerk. Die Therapeutin Mira Steinke beschreibt das soziale Netzwerk wie folgt: „Also, vor dem Circle of Support war Valerie relativ isoliert. Sie hatte ihre Familie, das heißt ihre Schwester, ihre Mutter, die ganztägig berufstätig ist, was problematisch ist und ihr Vater, der auch ganztägig berufstätig ist. Ähm, ich weiß gar nicht, ob familiär da noch mehr Kontakte waren, ich glaube eher nicht. Die El111
tern hatten einige Kontakte nach außen. Valerie hatte leider keine Kontakte zu ihren Mitschülern, nur während der Schulzeit, weil die Schulklasse sehr weit verstreut gewohnt hat. Ja, das war es, eigentlich war das ja auch der Grund dafür, ähm ihr mehr Kontakte zu verschaffen, durch den Circle of Support“. Valerie Grebe erwähnt im Interview noch andere Menschen, zu denen früher Kontakt bestand, z. B. zu Tanja, einer Integrationsfachkraft im Unterricht, zu ehemaligen Mitschülern und Mitschülerinnen, mit denen sie heute noch hin und wieder telefoniert, und zu einer Freundin namens Jenny, die sie im AutismusTherapie-Zentrum kennen lernte und sporadisch auf Ferienfreizeiten der Lebenshilfe trifft; „Normalerweise ist damals mit dem sozialen Feld am Unterrichtsende erst mal Schluss gewesen […] deshalb ist das sehr wichtig für Valerie gewesen, wenn sich was außerhalb der Schule geboten hat, das haben wir dann, wenn es okay war, wahrgenommen“, erklärt die Mutter Anne Grebe und bilanziert weiter: „Also eigentlich war das Professionelle […] überwiegend, weil ähm das andere einfach noch nicht so da war. […] Eigentlich war alles immer organisiert, wenn irgendetwas gewesen ist, dann wurde das organisiert. Von der Therapie, vom Therapiezentrum oder von Circle of Support oder von der Lebenshilfe. Es wurde immer irgendetwas organisiert“. Zur Kontakthäufigkeit wird Folgendes angegeben: Familie: immer, Freunde: monatlich, Therapie: wöchentlich, Lebenshilfe: jährlich (vgl. Fragebogen). Valerie Grebe sagt selbst aus, keine Freunde zu haben, sie vermisst diese „nicht ganz so richtig“, gibt jedoch im Fragebogen Jenny als Freundin an (vgl. Fragebogen). Auf die Frage ihrer Mutter, ob sie am Nachmittag „irgendjemanden treffen“ möchte, antwortet sie jedoch „Würde ich gerne machen, Mama“ (vgl. Interview).
5.1.4 Strukturelle und inhaltliche Morphologie der Netzwerkkarten: Vergleich und Reflexion „Das soziale Netzwerk von der Valerie ist eigentlich äh, wenn man es nicht bietet, nicht vorhanden“ (Anne Grebe, Mutter). Diese Aussage zieht sich wie ein roter Faden durch das Interviewmaterial. Familienbeziehungen stehen Cantor (1979: 454) zufolge an erster Stelle und haben gegenüber anderen Beziehungskontexten eine herausragende Stellung. Es ist sicherlich interessant zu eruieren, wer in welcher Rangfolge soziale Unterstützung leistet und bezieht, um einen Vergleich zu anderen Personengruppen zu gewährleisten. Für die vorliegende Studie gilt es zunächst, die sozialen Kontakte im egozentrierten Netzwerk der Fokusperson genauer anzusehen, denn: „Wichtig für die Struktur eines Netzwerks sind nicht nur die bestehenden Verbindungen, sondern gerade auch die nicht vorhandenen Kontakte, die ebenso zur Struktur des Netz112
werks gehören“ (Beckert 2005: 289). Alle die in vier Areale unterteilten Netzwerkfelder der drei vorangestellten Karten sind besetzt. In keiner der drei dargestellten Netzwerkkarten sind nachbarschaftliche Kontakte angegeben. Es lassen sich weitere Gemeinsamkeiten herausstellen: Das Feld der Familie wird von den Fokuspersonen als groß empfunden. Wenngleich die Kontakte außerhalb der familiären als „organisiert“ bezeichnet werden, ist eine höhere Kontakthäufigkeit erwünscht. Auch wenn eine höhere Kontakthäufigkeit kein Maßstab für die Qualität der Beziehung ist, ist sie dennoch ein relevanter Indikator für die soziale Einbettung in Netzwerken. Feststellbar ist auch, dass der Circle of Support bei allen drei Netzwerkkarten im Feld der Freunde und Bekannte platziert wurde. Die beiden weiblichen Fokuspersonen begreifen die Verbindung zum Circle of Support als wichtig, die männliche Fokusperson hingegen als weniger wichtig. Freunde im Allgemeinen sind für die Fokuspersonen Niklas Behrendt und Valerie Grebe weniger bedeutsam, für Svetlana Oleg indessen schon. Eine Übertragung der sozialen Kontakte als Knoten bzw. Punkte (= Personen) in Abbildung 22 erleichtert den Vergleich der drei vorangestellten Netzwerkkarten. Die Punkte sind marginal verändert positioniert und entsprechend der ursprünglichen Darstellung miteinander über Linien vernetzt dargestellt. Jede Verbindungslinie zeigt an, dass zwischen den Personen eine direkte bzw. indirekte Beziehung besteht. Karte I stellt das Netzwerk von Svetlana Oleg da, welche ohne die Fokusperson neun Kontakte umfasst. Der Punkt oben links visualisiert die Mutter, die zu allen in dieser Netzwerkkarte dargestellten Personen eine Verbindung unterhält und aus netzwerkperspektivischer Sicht eine Schlüsselfigur45 verkörpert. Bei Karte II handelt es sich um das soziale Netzwerk der Fokusperson Niklas Behrendt, das aus mindestens 18 Kontakten besteht. Auch in diesem Netzwerk repräsentiert die Mutter eine bedeutende Schlüsselfigur, wobei zwischen dem Vater und beispielsweise dem Circle of Support und dem Sozialdienst des AmbulantBetreuten-Wohnens ebenso Verbindungslinien bestehen.
45
Eine Schlüsselfigur ist die Person, die neben der Fokusperson zu allen sozialen Kontakten eine Verbindung unterhält und die wichtigste Ansprechpartnerin im Netzwerk ist.
113
Netzwerkkarte I
Netzwerkkarte II
Netzwerkkarte III
Abbildung 22: Darstellung der drei Netzwerk-Karten Karte III umfasst 13 Kontakte; wie in den anderen Netzwerkkarten sind hier keine isolierten Kontakte festzustellen. Auch in diesem Netzwerk hat die Mutter eine zentrale Position als Schlüsselfigur inne. Bemerkenswert ist, dass alle drei Netzwerkkarten identische vorhandene (Familie, Therapie, Circle of Support) und fehlende Punkte bzw. Dyaden/Triaden46 (keine altersgerechten Freunde/Bekannte außerhalb des Circles of Support, des Familienentlastenden Dienstes etc.) aufweisen. Dieser Befund entspricht dem Ergebnis von Schumann et al (1989), die dichte Kontakte der Familien mit behinderten Kindern zu Professionellen aus dem Gesundheits- und Sonderpädagogischem Bereich thematisieren. Als Hypothese darf aufgestellt werden: Der Autismus der Fokusperson sowie der Bedarf an Unterstützung der Familie ist gleichermaßen die Voraussetzung und Brücke zum Aufbau einer Verbindung zu den im Netzwerk vorhandenen Teil-Netzwerken. Interessant könnte für nachfolgende Studien sein, welche (weiteren) Anliegen die im Netzwerk involvierten Akteure zusammenkommen lassen und in welchem Ausmaß z. B.
46
114
Eine Dyade ist die kleinste mögliche Einheit und besteht aus zwei Punkten, wohingegen eine Triade drei miteinander vernetzte Punkte kennzeichnet (vgl. Hennig 2006: 473).
Behinderung als vorherrschendes Thema bestimmte Strukturen im Netzwerk bildet. Die sozialen Netzwerke der Akteure mit Autismus sind darüber hinaus als engmaschig zu bezeichnen, da eine hohe Verbindungsdichte zwischen den Punkten besteht. Daraus lässt sich in Anlehnung an Granovetter (1973) schließen, dass die untersuchten Akteure mit Autismus in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht integriert sind. Granovetter stellte einen Zusammenhang zwischen der Reichweite der Kontakte und der Integration in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft fest.
5.1.5 „.. es liegt einfach an der Störung, denke ich mal“ (Therapeutin Sandra Schubertz) Fragt man danach, weshalb das soziale Netzwerk der Fokuspersonen in der dargestellten Weise konstituiert ist, fällt auf, dass dies auf autismusspezifische Kriterien der Fokusperson zurückgeführt wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kommunikations- und Kontaktkultur sowie fokussierte Interessen der Fokusperson und deren Rezeption sozialer Situationen sich auf die Beschaffenheit ihres sozialen Netzwerks auswirken. Folgendes Bild lässt sich rekonstruieren: „Ja also, aufgefallen ist mir, dass sie mit wenigen Worten gesprochen hat, also nur mit ja und nein, also sehr kurz, sehr knapp, sich nicht öffnen wollte (…) Am Anfang, wie gesagt, hat das schon so ein bisschen die Kommunikation äh behindert, sag’ ich einfach mal, weil wenn man sie irgendwas gefragt hat, sagte sie nur ja oder nein, also man musste schon drum herum fragen“ (Tatjana Petrovanka). Dies erfordert eine aktive Kommunikation des anderen, denn „Autismus bedeutet ja eher, das ‚In-sich-rein-Verziehen‘, in sich Abkapseln von der Umwelt und mit Hilfe von Stütze äh kann ich mich dem eher öffnen oder leichter öffnen“ (Veronika Behrendt). Ist diese Stütze nicht vorhanden, „… dann ist da natürlich auch nichts passiert“ (Laura Roggendorf). Interessant ist, dass sich der Blick überwiegend auf die Fokusperson richtet und weniger auf ihr soziales Umfeld. Folgende Fundstelle schließt jedoch soziale Faktoren nicht aus: „Also, ich denke, da kommt so beides zusammen, die Stärke ihrer Behinderung, die Art ihrer Behinderung und ähm auch das Umfeld passten einfach nicht, um Kontakte zu ermöglichen“ (Mira Steinke). Wünschenswert ist eine größere Akzeptanz von Seiten des direkten sozialen Umfelds (vgl. Anne Grebe). Die folgenden Abschnitte bilden das Kernstück der vorliegenden Studie und sind mit Absicht kurz gehalten, um die Ergebnisse in der Abschlussdiskussion vor dem Hintergrund der forschungsleitenden Fragestellung umso ausführlicher zu erörtern. 115
5.2 Strukturelle und inhaltliche Morphologie der Circles of Support 5.2.1 Die einzelnen Circles im Überblick Bei den untersuchten Circles of Support der vorliegenden Studie handelt es sich bis auf die 17-jährige Fokusperson Svetlana Oleg um junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Von elf Akteuren sind neun weiblich und zwei männlich.
Fokuspersonen
Studierende
COS I
COS II
COS III
Svetlana Oleg (w/17)
Niklas Behrendt (m/20)
Valerie Grebe (w/18)
Anna Lydia Ivanova (w/24), Tatjana Petrovanka (w/25), Lars Feldbusch (m/25)
Dunja Friedrich (w/21), Svenja Humbach (w/22)
Sunay Kemal (w/22), Liquin Hong (w/22), Laura Roggendorf (w/25)
Abbildung 23: Drei Circles im Überblick Svetlana Oleg und Valerie Grebe sind Schülerinnen und besuchen eine Schule für Körperbehinderte. Niklas Behrendt hat derzeit die Ausbildung zum Gärtner abgebrochen. Die Studierenden befinden sich im 5. Semester des Studienganges Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. Teildisziplin der Angewandten Sozialwissenschaften ist die Behindertenpädagogik, darin verortet sich das Handlungsfeld ,Circles of Support, Inclusion und Diversity‘. Im Folgenden werden die Akteure der drei Circles näher beschrieben.
5.2.2
COS I
Anna-Lydia Ivanova und Tatjana Petrovanka kommen ursprünglich aus Weißrussland. So schildert Anna-Lydia Ivanova: „Im Jahre 2001 bin ich zusammen mit meinen Eltern und Geschwistern als Spätaussiedlerin in Deutschland eingereist und lebe seitdem in Dortmund. In Russland habe ich 5 Semester lang Ger116
manistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität in Barnaul studiert“ (COS-Jahresbericht 2005: 27). „In Deutschland ist mir aufgefallen, dass man die geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen nicht versteckt, wie man es in Russland öfters macht“ (ebd.: 29). Tatjana Petrovanka ergänzt: „Dort werden solche Menschen als ‚Invaliden‘ bezeichnet und meistens von der Umwelt isoliert. Hier in Deutschland sieht die Situation zwar anders aus, jedoch erleben viele betroffene Menschen doch zu wenig persönlichen Kontakt zu den anderen“ (ebd.: 29). Lars Feldbusch hebt sich in diesem Circle of Support nicht nur als gebürtiger Deutscher und als männlicher Akteur hervor – er ist auch der Einzige, der ein breites Spektrum an Kenntnissen in der Zusammenarbeit mit behinderten Menschen mitbringt. Seine Familie verfügt ebenfalls über diesbezügliche Kenntnisse: Die Schwester war einige Jahre zuvor auch COS-Unterstützerin, die Mutter arbeitet als Erzieherin in einer Tagesstätte für Kinder mit Lernschwierigkeiten (vgl. Lars Feldbusch, Jahresbericht 2005: 28). Allen studentischen Akteuren im COS I ist gemeinsam, dass sie das erste Mal einer Person mit Asperger-Syndrom begegnen (vgl. Lars Feldbusch, Jahresbericht 2005: 34). Die Fokusperson verfügt bereits über COS-Erfahrungen, die Studierenden hingegen noch nicht (vgl. Kirschniok 2006: 32).
5.2.3 COS II Dunja Friedrich und Svenja Humbach kommen aus Deutschland und leben gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Svenja Humbach entschied sich für die Teilnahme am COS, um Erfahrungen im Umgang mit autistischen Menschen zu sammeln. „Ich hatte im Vorfeld nicht die Gelegenheit mit Menschen mit einer autistischen Störung zu arbeiten bzw. diese näher kennen zu lernen. Das COSProjekt schien mir ein geeigneter Weg zu sein, mich mit diesem Arbeitsfeld vertraut zu machen und zu erkennen, wo meine eigenen Stärken und Schwächen liegen“ (Humbach 2007: 8). Dunja Friedrich hingegen kennt Kinder mit frühkindlichem Autismus und schildert rückblickend: „Die Unterschiede zwischen Asperger-Syndrom und Frühkindlichem Autismus, so wie ich ihn kennen gelernt habe, wurden mir durch unsere Fokusperson bewusst“ (Friedrich 2007: 10). Die Fokusperson Niklas Behrendt kommt aus dem Rheinland und lebt erst seit kurzem in derselben Stadt wie die Studentinnen. Er kann wie Svetlana Oleg auf Erfahrungen mit COS zurückgreifen.
117
5.2.4 COS III „Mit großen Ängsten und Bedenken bin ich an die Sache ran gegangen, woher die Ängste kamen, wusste ich nicht“ (Kemal 2005: 55). Für Sunay Kemal, eine Frau mit türkischem Migrationshintergrund, findet im COS der erste direkte Kontakt mit Autismus statt. Auch für Liquin Hong, die mit 22 Jahren als Studentin nach Deutschland reiste, bestand zu Beginn des COS aus demselben Grund „ein großes Gefühl der Unsicherheit“ (Hong 2005: 37). Sie erinnert sich jedoch an ihre ersten Tage in Deutschland: „Ich konnte in den Sprachkursen sehr wenig verstehen. Nach dem Unterricht konnte ich nicht mit anderen diskutieren (…). Ich fühlte mich damals wie ein ‚Mensch mit einer Behinderung‘ “ (ebd.: 37 f.) und schildert: „Vor Beginn des [COS-] Projektes hatte ich Angst wegen der unterschiedlichen Kultur, dass Missverständnisse zwischen mir und Menschen mit Autismus entstehen könnten. Besonders bei der Körpersprache von Mimik und Gestik. Später fand ich heraus, dass es fast keinen offensichtlichen Unterschied zwischen China und Deutschland bei der non-verbalen Kommunikation gibt“ (ebd.: 58). Anders sieht es bei Laura Roggendorf aus, die bereits ein einjähriges Praktikum in einer WfbM absolvierte und dies als positive Voraussetzung wertet (vgl. Roggendorf 2005: 42). Für die tierliebende Fokusperson Valerie Grebe, welche sich um „10 Meerschweinchen, ein Löwenkopfkaninchen, einen Hund und eine Katze“ kümmert (Jahresbericht Kemal, Hong und Roggendorf 2005: 39), ist dieser Circle bereits der zweite.
5.3 Vernetzung der COS „Ich denke, ich sehe darin [im COS, AK] so ’ne Art öhm Übergangs öhm so ’ne Verbindung, also weder eine rein professionelle ähh Verbindung noch ’ne familiäre, ich würde das also, wenn ich das jetzt anschaulich sagen würde, das würde ich dann so in die Mitte stellen“ (Veronika Behrendt, Interview). Laut Fragebogen-Analyse bestätigen die Studierenden die Vernetzung mit den Bezugspersonen (überwiegend mit der Mutter) der Fokusperson. Folgende drei Schaubilder visualisieren den inneren und den äußeren COS-Kontext und zeigen auf, wer mit wem vernetzt ist.
118
COS I
Abbildung 24: Verbindungen COS I Im COS I bestehen außerdem noch Verbindungen zu Freunden/ Bekannten der Fokusperson, auch wenn im Nachhinein nicht klar zu eruieren ist, um wen es sich handelt. COS III
COS II
KieserTraining
Abbildung 25: Verbindungen COS II und III Abweichend zu den anderen Circles ist, dass im COS II Verbindungen zu Freunden der Studierenden bestehen. COS II tritt außerdem geschlossen zur Beratung und Anmeldung des Kieser-Trainings der Fokusperson auf. Im COS III wird von einer Studentin die Verbindung zu Bekannten der Fokusperson bestä119
tigt. Ansonsten werden keine weiteren Verbindungen nach außen genannt. Auch wenn dies nicht explizit den Fragebögen zu entnehmen ist, so sind die studentischen Akteure des COS I und COS III über die Fachhochschule miteinander vernetzt: Sie besuchen zeitgleich die Supervision zum Handlungsfeldseminar ‚Circles of Support, Inclusion und Diversity’.
5.4 Beweggründe der Teilnahme am Circle of Support und Ziele der Akteure Auf der einzelnen Netzwerk-Ebene (COS I, COS II und COS III) sind bei jedem Akteur zweckorientierte und egozentrierte Ziele erkennbar, wie Abbildung 26 illustriert. Bei den differierenden Motivationen lassen sich zwei Beweggründe herausbilden: die Hoffnung bzw. Erwartung und die Vertiefung. Hoffnung bzw. Erwartung zeigt sich insbesondere bei den Müttern, welche sich z. B. auf mögliche Veränderungen der Alltagsroutine der Fokusperson richten oder auf etwas, was die Persönlichkeit „voranbringen kann“, oder aber auf das Erleben von „ein bisschen Normalität“ und auf die Schaffung von Freiräumen für die Familie. Eine Studentin gibt unter anderem die Isolation von Menschen mit Behinderung als Motivation an und erhofft sich durch die Teilnahme am COS, so die sozialen Kontakte der Fokusperson zu erweitern. Eine Fokusperson geht davon aus, „viel Spaß“ zu haben „und ganz viele andere Dinge [zu] erlernen“. Der Wunsch nach Vertiefung zeigt sich bei einer Fokusperson, wenn diese sagt: „(…) das mache ich, weil das was ist, was die anderen Mädchen aus meiner Klasse auch machen“. Sich mit etwas Unbekanntem – der Behinderung – auseinandersetzen zu wollen findet sich bei einer Studentin als Triebfeder wieder, während andere Studierende die Suche nach neuen Erfahrungen und das Interesse an Autismus als die treibende Kraft angeben. Nicht nur der Reiz des Unbekannten, auch der Wunsch nach Vertiefung bereits bestehender Erfahrungen kann Anlass sein. So erinnert sich eine Studentin an den Spaß, den sie in einer WfbM hatte. Einige Studierende und eine Therapeutin begründen ihre Motivation damit, Gefallen am COS-Modell zu finden. Neben den dargelegten intrinsischen Antrieben weisen andere Textstellen auf extrinsische hin: Die Überzeugung des COS-Modells einer anderen Person wird von einer Fokusperson als Motivation geschildert. Ein Therapeut bezieht sich unter anderem auf die Zufriedenheit bisheriger COS-Teilnehmender, während eine andere Therapeutin schildert: „Ja, da bin ich [durch die Übernahme einer Klientin mit einem COS, AK] ja so reingerutscht, ’ne?“.
120
Fokuspersonen
COS I
COS II
COS III
Spaß haben und Neues lernen wollen
„Überzeugerin“ zufrieden stellen wollen
Wie die anderen sein wollen
Innerer COS-Kontext Studierende
Mütter Äußerer COS-Kontext
Therapeuten
Erfahrungen mit Autismus sammeln Soziale Kontakte der Fokusperson erweitern wollen Der Fokusperson neue Möglichkeiten eröffnen
Theorie und Praxis verbinden wollen PraxisErfahrungen sammeln wollen
Behinderung verstehen wollen PraxisErfahrungen sammeln wollen Über sich selbst etwas lernen wol-
Nachmittagsaktivitäten der Fokusperson sollen verändert werden
Die Fokusperson soll „voran gebracht“ werden
Normalität und Freiräume für die Familie, Entspan-
Der Fokusperson GruppenErfahrungen ermöglichen wollen
Die Fokusperson in eine Gruppe einbinden wollen
(entfällt)
Abbildung 26: Ziele der Akteure
121
5.5 „.. man schlüpft in viele Rollen“ (Svenja Humbach, Fragebogen). Nach Schenk (1984: 27) lassen sich für jeden Einzelnen im Netzwerk folgende Schlüsselrollen nachweisen: Star/zentrale Position, Brücke, Gatekeeper und Isolierter. Eine zentrale Position im Circle of Support nimmt aus Sicht der Studierenden die Fokusperson ein. Betrachtet man die in der Abbildung 26 dargestellten Motive/Ziele der einzelnen Subgruppen näher, so lassen sich durchaus Verbindungen zu den ihnen zugeschriebenen Rollen herstellen. Die Mutter präsentiert sich als die an das Kind oder die Familie Denkende. Die therapeutische Fachkraft möchte die sozial stark isolierte Fokusperson in den Gruppenkontext einbinden. Die Studierenden zeigen sich in der lernenden Rolle und spielen die Figur der Unterstützenden. Auch die Fokusperson wird der ihr zugewiesenen Rolle gerecht, indem sie die Verwirklichung egozentrierter Bedürfnisse anstrebt. Laut Fragebogen-Analyse sehen sich die Studierenden bis auf eine Ausnahme in der Rolle der Unterstützenden. Die Studentin Laura Roggendorf des COS III steht zwischen zwei Rollen: der der Unterstützerin und der der Freundin. Die Fokuspersonen sehen die Studierenden ebenfalls in der Rolle der Unterstützenden, einzig Svetlana Oleg aus COS I betrachtet die Studierenden außerdem noch als Pädagogen/Pädagoginnen sowie Freunde/Freundinnen. Die Interviews lassen noch weitere Rollen erkennen: Valerie Grebe aus COS III verwendet den Begriff des Helfers und erläutert: „Die eine hat meinen Hund herum geführt“. Wiederholt zeigt sich in den Interview-Textstellen, dass die Rolle der Studierenden nicht klar abgegrenzt und von Ambivalenzen geprägt ist: Einerseits sei man nicht „so eine bestimmende Person“ (Tatjana Petrovanka), andererseits treten Elemente hervor, die pädagogischen Charakter haben: „[Da] wollte ich ihr [der Fokusperson, AK] klar machen, dass es halt nicht immer nur nach ihrer Vorstellung alles gehen muss, sondern dass wir halt auch da sind und dass wir auch berücksichtigt werden müssen und dass es halt im Leben so ist, dass es (..) sie muss halt lernen, dass es nicht immer läuft, wie sie das haben wollte, zum Beispiel“ (ebd.,). Oder an anderer Stelle: Einerseits „ich bin einfach morgens aufgestanden, hingegangen“, andererseits „Ich musste ziemlich lange überlegen, ob ich ihm jetzt einen kleinen Schnaps gebe oder nicht“ (Dunja Friedrich). Drei Studierende fühlen sich dagegen eher als Privatperson. Von außen betrachtet sind die Studierenden für die Mutter der Fokusperson aus COS I „ganz normale Menschen“ mit einer „fachlichen Kompetenz“ (Lyudmila Maksimova). Ähnlich sieht es die Therapeutin Mira Steinke: „Ja, das Gefühl hatte ich schon, also – sie wussten auf jeden Fall, wie man mit Menschen umgeht, die Besonderheiten haben“ (Interview). 122
5.6 Netzwerkgröße, Verhältnis der Akteure und informelle Charakteristika „Weil man immer das Gefühl hatte, dass man nicht alleine ist dadurch und das nimmt einen unheimlich viel Sorge und Ängste“ (Lars Feldbusch). Über die Netzwerkgröße des Circles of Support äußern sich die Akteure übereinstimmend positiv. Zwei Fundstellen im Interview weisen beispielsweise auf das breitere Spektrum an Kommunikation hin, die durch die Zusammensetzung mit drei bis vier Akteuren gegeben ist. Relativ häufig wird genannt, dass die Anwesenheit der anderen im COS beteiligten Akteure Unterstützung und Sicherheit bietet. Die Analyse der Fragebögen erlaubt folgende Aussagen zum Verhältnis der Akteure: Das Verhältnis unter den Studierenden wird von ihnen bis auf eine Abweichung als freundschaftlich bezeichnet. Von Seiten der Fokuspersonen wird das Verhältnis zu den Studierenden ebenfalls mit der Kategorie ‚freundschaftlich‘ bewertet. In COS I und III kommen seitens der Studierenden zur Fokusperson neben der Kategorie ‚freundschaftlich‘ auch ‚betreuende‘ Elemente hinzu, wohingegen in COS II das Verhältnis zur Fokusperson einmal als freundschaftlich/kollegial und einmal als partnerschaftlich betrachtet wird. „Ich möchte mit meinem Circle keine Probleme lösen. Ich möchte mit meinem Circle schöne Dinge machen“ (Niklas Behrendt). Auch die Fokusperson des COS I formuliert es ähnlich: „Wichtig ist für mich, dass Circle of Support viel mit mir unternimmt, dass sie auch mal mit mir in eine andere Stadt fahren und solche Sachen machen“ (Svetlana Oleg). Kernpunkt innerhalb der Begegnung zwischen den Studierenden und der Fokusperson ist die „freundschaftliche Basis“, auf der in ungezwungener und lockerer Atmosphäre ein Teil der Freizeit gemeinsam gestaltet wird. Dabei spielen Aspekte wie Freiwilligkeit und Flexibilität eine ausschlaggebende Rolle. Der informelle Charakter mag gleichzeitig Ursache und Wirkung sein, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Ilias Nowak, der Therapeut der Fokusperson aus COS III, überlegt, „inwieweit sich Niklas dessen bewusst ist, dass er den Circle of Support auch für andere Dinge nutzen kann, zum Beispiel zum äh Reflektieren, welche Berufswünsche er hat und das dann noch mal auf eine ganz andere Ebene zu besprechen oder auch ähm Zukunftsvorstellungen, Familie (.) Diese Gespräche sind dort seltener, aber ich vermute auch, weil Niklas nicht bewusst ist, dass er sie auch dort auch führen kann und es ist so eine einge- [sic!] er ist schon etwas länger im Circle of Support und es hat sich einfach eingespielt durch die Studierenden und durch Niklas, dass der Fokus immer auf Freizeit gerichtet wird und ähm wenn man da Impulse rein gibt, dass auch andere Dinge möglich sind, weiß ich nicht, was sich daraus entwickeln würde“ (Ilias Nowak). 123
5.7 Funktion und Ressourcen von Circles of Support 5.7.1 Zugang zu sozialen Kontakten Die Netzwerkbildung eines Circles of Support bietet den Fokuspersonen Zugang zu sozialen Beziehungen, wie im Folgenden näher expliziert ist. Neue Menschen kennenlernen, mit ihnen inAbbildung 27: Zugang soziale Kon- teraktiv und kontinuierlich im Kontakt sein, kurzum: „… der COS ermöglicht takte auf jeden Fall neue Beziehungen“ (Therapeutin Sandra Schubertz). Einerseits handelt es sich hierbei um eine besondere, eher nicht alltägliche Beziehung zu annähernd gleichaltrigen Studenten des Sozialwesens, mit denen sich die Fokusperson einmal wöchentlich verabredet, andererseits können Kontakte zu Freunden der Studierenden erschlossen werden, wie dies beispielsweise im COS II der Fall ist. Auch den studentischen Akteuren bietet COS Zugang zu sozialen Kontakten, nämlich zur Fokusperson, deren engstem sozialem Umfeld und zu anderen studentischen Akteuren. Welche Dimensionen sozialer Unterstützung durch die Netzwerkbildung wirksam werden, zeigt der folgende Abschnitt.
5.7.2 Ressourcen der COS-Unterstützung Die Ressourcen sozialer Unterstützung im COS richten sich insbesondere auf die in Tabelle 12 markierten Felder. Das Unterstützungskonstrukt im Circle of Support besteht aus verschiedenen Einzelkomponenten. Unterstützungsaspekte wie Arbeitshilfe, Pflege und materielle Unterstützung werden von keinem der befragten Akteure genannt, wohingegen die Beratung, Geselligkeit und Alltagsinteraktion insbesondere in den Circles I und II zutage treten. Der Aspekt Geselligkeit wird bis auf eine Ausnahme von allen Akteuren genannt. Die Vermittlung von Hilfe, Anerkennung, Orientierung sowie die des Gefühls der Zugehörigkeit erfährt im COS II eine höhere Relevanz als in den anderen beiden Circles. Der Erwerb sozialer Kompetenzen verdichtet sich als durchgehender Kernpunkt – wobei dies sowohl auf die Fokusperson als auch auf die studentischen Akteure zutrifft. Welche Aspekte sozialer Kompetenz gemeint sind, ist in Abschnitt 5.7.6 näher erläutert.
124
COS I FP
COS II St1
St 2 St3
FP
St1
COS III St 2
FP
St1
St2
Aspekt | Häufigkeit Intervention (2) x x Beratung (7) x x x x x x x Geselligkeit (9) x x x x x x x x x Alltagsinteraktion (8) x x x x x x x x Anerkennung (7) x x x x x x x Orientierung (4) x x x x Zugehörigkeit (8) x x x x x x x x Hilfe (8) x x x x x soz. Kompetenzen (10) x x x x x x x x x x Geborgenheit (2) x x Liebe u. Zuneigung Motivation (8) x x x x x x x x FP = Fokusperson, St = StudentIn, COS I = FP Svetlana Oleg, St 1 = Lars Feldbusch, St 2 = Anna-Lydia Ivanova, St 3 = Tatjana Petrovanka, COS II = FP Niklas Behrendt, St 1 = Dunja Friedrich, St 2 = Svenja Humbach, COS III = FP Valerie Grebe, St 1 = Laura Roggendorf, St 2 = Liquin Hong
Tabelle 12: Dimensionen der COS-Unterstützung Die qualitative Analyse des Fragebogens hat deutlich gezeigt, dass die individuellen Beispiel-Angaben der COS-Akteure zu den einzelnen Aspekten der Unterstützungskonstrukte nicht miteinander im Einklang stehen. Einzig zwei identische Referenzpunkte zeigen sich bei der Analyse auf der Netzwerk-Ebene. Der eine gemeinsame Kondensationspunkt einer Fokusperson und einer Studentin aus demselben Netzwerk findet sich im COS II: Beide geben an, dass der Circle of Support dahingehend motivierend wirkt, (neue) Aktivitäten auszuprobieren. Der zweite identische Referenzpunkt zeigt sich zwischen denselben Akteuren insofern, als die Studentin der Fokusperson ihre Anerkennung bezüglich des Umzugs in eine eigene Wohnung ausspricht und die Fokusperson sich an dieses Lob erinnert. Bei eingehender Betrachtung der einzelnen Aspekte lässt sich kritisieren, dass sie empirisch nicht eindeutig voneinander unterscheidbar sind. Zusammenfassend lässt sich demzufolge festhalten, dass die Ressourcen der COS-Unterstützung zwar einen facettenreichen Charakter haben, aber empirisch noch eingehender hinsichtlich ihrer Deckungsgleichheit zu überprüfen sind. Der nächste Abschnitt untersucht das Ausmaß und die Varianten der gegenseitigen Unterstützung zwischen den Akteuren. 125
5.7.3 Varianten reziproker Unterstützung Die im Schaubild visualisierte Form stellt die Stützung bzw. Unterstützung dar. Das Gefühl, sich gegenseitig unterstützt zu haben, besteht überwiegend unter den Studierenden. Bei auftretenden Schwierigkeiten konnte im COS I mit der Unterstützung durch einen anderen studentischen Abbildung 28: Gegenseitige COS-Teilnehmenden gerechnet werden. Sich Unterstützung aufeinander verlassen zu können oder Anregungen durch den anderen (Ideen, Durchsetzungskraft) zu erhalten, wird durch die Studentinnen des COS II als gegenseitige Unterstützung gekennzeichnet. Im Vergleich zur reziproken Unterstützung der Studierenden ist ein Ungleichgewicht der Unterstützung feststellbar. Unterstützung durch die Fokusperson wird – wenn auch marginal – dennoch thematisiert. Eine Fundstelle weist darauf hin, dass sich die Unterstützung durch die FokusAbbildung 29: Ungleich- person eher unbeabsichtigt vollzieht. Dadurch, gewicht der Unterstützung dass die Fokusperson im COS III die studentischen Akteure „in ihre Welt herein“ holte – „da waren viele Tiere drin in dieser Welt und da hat [Sunay, die Studentin, AK] wirklich [ihre] Berührungsängste [gegenüber den Tieren] verloren“ –, hat sie diese unbeabsichtigt unterstützt. Auch hier wird eine unbeabsichtigte Unterstützung deutlich: „Valerie [die Fokusperson, AK] (…) hat mich in dem Sinne auch darin unterstützt, einfach zu sehen, was für eine Position hab’ ich eigentlich in so einer Gruppe oder wie stehe ich auch zu ihr“ (Laura Roggendorf). Andere Fundstellen deuten auf eine aktivere Unterstützung hin: So berichtet ein Student des COS I, dass die Fokusperson den Studierenden den Weg zur Bushaltestelle wies, oder im COS II informierte die Fokusperson auf Anfrage über unterschiedliche Therapieformen.
126
5.7.4 Erweiterung des Handlungssystems (Freizeitaktivitäten) Es gilt als charakteristisch, dass Menschen mit Autismus eher ihnen bekannte Handlungen wiederholend ausführen, ohne ihr Handlungsrepertoire dabei zu erweitern. „… den Rest mussten wir dann immer so anstoßen halt“ (Dunja Friedrich, Interview). Erst durch die Anwesenheit Abbildung 30: Motivieren- anderer ist es beispielsweise der Fokusperson aus de Unterstützung COS II gelungen, in den Zirkus zu gehen. Folgende Fundstelle zieht sich sinngemäß durch die Aussagen aller Akteure: „Mhm, die Fokusperson hat [durch COS] die Möglichkeit, Dinge zu unternehmen, die sie vielleicht sonst nicht unternehmen würde, weil sie sie noch nicht kennt oder weil niemand gerade die Zeit hat oder irgendwie (..) etwas mit ihr zu machen, ’ne?“ (Lars Feldbusch). Nicht nur, dass die Fokusperson neue Einblicke erhält, „was man alles noch so mit seiner Freizeit anfangen kann“ (Therapeutin Mira Steinke) und „mehr vom Leben mitbekommt“ (Anna-Lydia Ivanova), auch die Verankerung einiger Aktivitäten über die COS-Zeit hinaus lässt sich markieAbbildung 31: Verankerung ren: So geht die Fokusperson aus COS I jetzt der Aktivitäten selbstständig ins Café oder die Fokusperson aus COS II besucht eigenständig ein Fitness-Studio. Betreffend der Fokusperson aus COS III sei auf einen Dialog zwischen Tochter und Mutter verwiesen (Interview): Mutter: So, wenn Du heute in die Stadt alleine einkaufen gehst, das ist genau das, was Du mit Circle of Support gemacht hast. Fokusperson: Ja. Mutter: Ja ’ne, nur heute nimmt sie nicht Circle of Support mit, heute nimmt sie den Hund mit. Mutter: Genau und geht dann einkaufen, kauft sich was, kauft für mich was ein, ’ne? Das finde ich auch immer ganz toll und das ist auch was, das ist hängen geblieben. Das hat sie vorher nicht gemacht, aber das macht sie jetzt noch, denn das habt ihr oft gemacht, ’ne?
127
5.7.5 Entwicklung von mehr Selbstbewusstsein
Neben den bisher genannten Aspekten/Ressourcen wird ein Zuwachs an Selbstbewusstsein thematisiert: So sagt die Fokusperson aus COS III, dass sie sich „mehr traue“ (Valerie Grebe, Interview). „Ja genau, ihr Selbstbewusstsein, ihr Ego ist einfach, ich sag’ mal, ein ganz Abbildung 32: Entwicklung ganz klein wenig ausgeprägter geworden“ (Anne von mehr Selbstbewusstsein Grebe). Auch die Mutter der Fokusperson aus COS II beobachtet: „Ich denke mal schon, dass er[die Fokusperson, AK] ’ne ganze Portion selbstbewusster geworden ist und auch gelernt hat, äh eigene Wünsche zu signalisieren“ (Veronika Behrendt). Mehr Bewusstsein im Sinne von Selbsterkenntnis erlangte die Fokusperson des COS I, indem sie aufspüren konnte, was ihr Spaß macht „und was nicht“ (Svetlana Oleg).
5.7.6 Wissenserwerb und Entwicklung sozialer Kompetenzen x Handlungskompetenzen in der Begegnung mit Autismus x Ansammlung von Wissen
Abbildung 33: Entwicklung sozialer Kompetenzen
Fragt man die Studierenden nach dem persönlichen Nutzen durch die Teilnahme am COS, sprechen diese beispielsweise die Aneignung von Wissen über Autismus an, welches dabei hilft, das Verhalten eines Menschen mit Autismus adäquat einzuschätzen oder Sicherheit im Umgang mit autistischen Personen zu entwickeln. Dieser Ansicht ist auch Niklas Behrendt.
„Mhm, wenn mein Circle über Autismus Bescheid weiß, dann kann mein Circle besser auf mich eingehen und mein Circle kann auch besser mit mir umgehen“ (Niklas Behrendt). Die autismusrelevanten Informationen, die vor der ersten Begegnung notwendig sind, lassen sich in autismusrelevante Informationen allgemeiner Art und in personenspezifisches Wissen unterteilen. Relativ häufig betonen die Studierenden die Vorteile des Wissens: Beispielsweise hilft die Ansammlung autismusrelevanter Informationen, sich mental auf die erste gemeinsame soziale Interaktion vorbereiten zu können. Das Grundwissen über Autismus kann eventuelle Ängste reduzieren und zur Entspannung beitragen: „… 128
wenn ich weiß, was auf mich zukommt, dann gehe ich da viel lockerer dran“ (Svenja Humbach). Personenspezifische Informationen, z. B. über die Interessen der Fokusperson, hingegen ermöglichen beim ersten Kontakt einerseits Anknüpfungspunkte für ein Gespräch, bergen andererseits Gefahren: „Das hat mir schon geholfen, mir ein Bild über sie zu machen, also die war mir dann nicht so fremd. Allerdings entstehen dabei automatisch irgendwelche ja Urteile oder Vorurteile, das ist das Negative dabei“ (Tatjana Petrovanka). Autismusrelevante Informationen können helfen, Verhaltensweisen der Fokusperson einzuschätzen, sich empathisch in die Erlebniswelt des anderen einzufühlen und adäquater zu reagieren. Die folgenden zwei Aussagen „…ich glaube, die haben gar nichts über Autismus gewusst und ich fand das jetzt nicht unbedingt ein Nachteil, das hat super funktioniert“ (Sandra Schubertz) und „…man sollte vielleicht einfach in diese Situation rein gehen und schauen was passiert, ’ne?“ (Lars Feldbusch) bleiben Einzelnennungen und heben sich von den anderen ab. Weitere Fundstellen weisen auf eine Zunahme von Selbstreflexion sowie Gelassenheit und Geduld hin. Eine neue Einstellung zu Behinderung zu gewinnen wie „.. die [Menschen mit Behinderung, AK] sind nicht anders als wir“ (Sunay Kemal) lässt sich ebenso als Entwicklung sozialer Kompetenzen wie die Kompetenzentwicklung hinsichtlich gegenseitiger Rücksichtnahme und Sensibilisierung der Kommunikation bewerten. x Verschiebung des Blicks auf Behinderung, x Entwicklung sozialer Kompetenzen x Handlungskompetenzen in der Begegnung mit Autismus x Ansammlung von Wissen Fünf von sieben befragten studentischen Akteuren geben im Fragebogen Prozesse der Verschiebung ihres Blicks auf die Behinderung der Fokusperson an. So etikettiert Lars Feldbusch aus COS I: „Die Fokusperson war durch den Autismus zunächst im Verhalten sehr auffällig“, im Laufe der Zeit traten die Auffälligkeiten in den Hintergrund, „je besser ich die Fokusperson kennen lernte. Sie waren natürlich noch zu bemerken, aber sie spielten nicht mehr so eine große Rolle, weil die Fokusperson uns akzeptierte und wir sie und wir irgendwann wussten, wie sie in gewisser Weise reagiert“ (Fragebogen). Auch Svenja Humbach (COS II) berichtet, wie beim ersten Treffen die Behinderung wahrgenommen wurde, später aber nicht mehr auffiel. Liquin Hong aus COS III zählte die Fokusperson zunächst zur „schwache[n] Gruppe“ bevor sie zum gleichberechtigten Personenkreis erkoren wurde. Diese Aussagen verdeutlichen, wie Abweichungen 129
Bewertungsprozessen ausgesetzt sind. Veränderungen hin zu Akzeptanz, Sensibilität und Verständnis hinsichtlich der Behinderung lassen sich bei zwei studentischen Akteurinnen feststellen. Einzig Laura Roggendorf berichtet, dass sich ihr Blick auf die Behinderung der Fokusperson nicht verändert habe, sondern vielmehr geschärft wurde, obwohl ihr Interesse mehr der Person im Kontext der Gruppe als ihrer Behinderung galt.
5.7.7 Entdeckung neuer Perspektiven für das therapeutische Arbeiten Peer-Group
Abbildung 34: Entwicklung neuer Perspektiven
Abbildung 35: Veränderung der therapeutischen Arbeit
130
Die Auswirkungen von COS für die Therapeuten sind sehr unterschiedlich: Ilias Nowak, der Therapeut der Fokusperson aus COS II, achtet seitdem auf die Entwicklung von Peer-Groups bei seiner Klientel und entdeckt für sein therapeutisches Arbeiten, „dass es doch gut und sinnvoll ist, sich viel zurück zu halten, sich nicht immer einmischen zu müssen in Dinge und Prozesse, die passieren“ (Ilias Nowak).
Die Therapeutin der Fokusperson des COS III arbeitet seit der Erfahrung mit Circles of Support im therapeutischen Setting „auch anders“ (Mira Steinke), d. h. mit weniger Vorgaben und Struktur (vgl. ebd.,). Hier zeichnet sich ein ähnliches Szenario des variablen Unterstützungsmodells ab. Einzig für die Therapeutin der Fokusperson des COS I hat die Kooperation mit den COS-Akteuren keinerlei Auswirkungen auf das therapeutische Arbeiten – sie entdeckte jedoch wie Mira Steinke neue Seiten an einer Fokusperson, die im Rahmen von Circles of Support erstmalig und ungewohnt offen über Autismus spricht (vgl. Sandra Schubertz).
5.7.8 5.7.8.1.1
Selbst- und Fremdbestimmung Exkurs: Menschen mit Autismus zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
Feuser (2006) und Seidel (2006) haben auf den Konflikt der Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Autismus aufmerksam gemacht. Auch die in COS I und II involvierten Therapeuten thematisieren eine verstärkte Fremdbestimmung bzw. begrenzte Mitbestimmungsmöglichkeiten im Alltag der Fokuspersonen und verweisen dabei auch auf andere Menschen mit Autismus (vgl. Schubertz/Steinke). Unselbstständigkeit und Überforderung werden als Begründung für Fremdbestimmung gesehen: „Weil sie viele Sachen haben, ja, wo sie unselbstständig sind und das nicht alleine hinkriegen. Deswegen kommt dann einfach viel von außen (..) ich denke, sie sind mit vielen Sachen einfach überfordert und sie können das aufgrund der Störung nicht äh selbst bestimmen“ (Sandra Schubertz, Interview). Hinzu kommen beobachtbare Differenzen der Selbstund Fremdwahrnehmung, die das Codieren sozialer Situationen erschweren: „Ähm und ich finde das ganz ganz schwierig, also Menschen [mit Autismus, AK], die sich selber so schwer einschätzen können und ähm ihre eigenen Emotionen und auch ihre ähm ihr Verhalten in Situationen nicht wirklich gut zuordnen können, da ist es natürlich extrem schwierig, auch sich selbst einzuschätzen und einzuschätzen, was kommen wird und wie man sich verhält, also auch diese Konzepte dafür zu haben (.)“ (Mira Steinke). So subsumiert die Mutter der Fokusperson des COS I: „Ja, ich weiß nicht viel von anderen Menschen mit Autismus, aber bei Svetlana muss man viel Fremdbestimmung [einsetzen, AK], weil sie selbst kann Situationen nicht [ein]schätzen, das ist meine Meinung“ (Lyudmila Maksimova). Die Aneignung von Selbstbestimmungskompetenzen setzt einerseits hohes Reflexionsvermögen über die soziale Natur des Menschen und andererseits Durchsetzungsfähigkeit voraus. Dafür ist jedoch soziale Orientierung am anderen unabdingbar. Gerade bei Menschen mit Autismus ist es eine Herausforderung, sie für die soziale Orientierung „freiwillig“ zu gewinnen. „Ohne soziale Orientierung ist keine Bildung (als Aneignung der Kultur und ihres Reichtums an Weitsicht und Lebensmöglichkeiten) […] möglich; diese wiederum kann nur entstehen, wenn ein Mensch ausreichend die Erfahrung macht, dass er selbst etwas bestimmen kann, also mit seinen Intentionen und Bedürfnissen, Vorlieben und Kompetenzen und Mitteilungen ernst genommen und beantwortet wird“ (http://homepages.compuserve.de/KlaussTheo/Selbstbestimmung.html,23.05.06. Es geht in der Ebene der Interaktionsbeziehung darum, das Verhältnis in den Blick zu nehmen. Erforderlich sind dafür nicht nur selbstkritische Reflexionen 131
hinsichtlich eines möglichen Machtgefälles, sondern auch das Anerkennen von Kompetenzen des behinderten Menschen. Dabei ist es relevant, die Transparenz der Identifikation eines möglichen Machtgefälles kommunizieren zu können, sich zuständig zu fühlen und Unterstützung bei der Schärfung, Artikulation und Vertiefung des eigenen Willens zu leisten. Moosecker ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Ohne eine grundsätzliche Ethik der Anerkennung [des anderen, AK] ist die Zuerkennung einer Selbstbestimmung nicht denkbar“ (Moosecker 2004: 114). Eine Kultur der Anerkennung bringt dem anderen Respekt und Achtung entgegen. Erst über die Reflexion einer Notwendigkeit der Anerkennung lässt sich ein Fundament legen, welches asymmetrische Beziehungs- und Machtstrukturen in den Hintergrund rückt (vgl. Moosecker 2004: 115). Unter dieser Prämisse kann Behinderung und Enthinderung nicht nur neu gedacht, sondern auch neu erlebt werden. Dies erfordert jedoch im rehabilitationswissenschaftlichen/ behindertenpädagogischen bzw. -politischen Kontext komplexe Kompetenzen, insbesondere wenn die Bestrebungen nicht in die Richtung von Normalisierung und Rehabilitation einschlagen sollen, sondern in die Richtung, in der gefragt wird, wie die Kompetenz des Selbst-Bestimmens „ausgebildet werden kann“ (Klauß 2006: 18). „Sagt er nur immer ‚Ja‘ der anderen zuliebe (…)?“ (Veronika Behrendt). Es besteht Ungewissheit, inwiefern „der Mensch mit Autismus nun den Willen hat, da alleine zu wohnen oder ob er das in irgendeiner Fernsehsendung gehört hat und das deshalb unbedingt tun will“ (Mira Steinke). Allen drei Fokuspersonen ist gemeinsam, dass sie im Alltag gern Entscheidungen treffen und es für wertvoll erachten, wenn ihnen ein Mitspracherecht zugestanden wird. Dass Selbstbestimmung von der Selbstvertretung anderen gegenüber lebt und eine klare Position erfordert, wird an dieser Stelle deutlich: „Ja, glaube ich auch, also für Leute mit so einer starken sozialen Beeinträchtigung oder mit so einem starken sozialen Anderssein kann ich mir das ganz schwierig vorstellen, das einzuschätzen und es auch so rüberzubringen. Vor der anderen Seite es so zu erklären, dass es nachvollziehbar wird, da muss man dann schon wieder leben und Vergleiche haben. […] Also, einfach schon von der Art etwas rüberzubringen, wo sie selber stehen und aber da ja auch nicht wissen, was gibt es alles um mich herum und was will ich und das nur, weil es außen so ist oder weil ich es selber so möchte, das scheint ja irgendwie zu verschwimmen, zu verschmelzen und völlig unklar zu sein“ (Mira Steinke). Die Gefahr einer Manipulation ist besonders dann gegeben, wenn wenig Klarheit darin besteht, was man selbst will, und wenn man ein dominantes Gegenüber vor sich hat, das ein bestimmtes Konzept, eine Idee oder Weltanschauung durchzusetzen versucht. Lyudmila Maksimova weist darauf hin, dass ihre Tochter bereits bei geringen Spuren von 132
Manipulation ins Schwanken gerät und ihre Meinung ändert (vgl. Lyudmila Maksimova). „Die war jemand, der sehr viel fremdbestimmt hat und hat sich entwickelt zu jemanden, der ja, der auch ähm andere Menschen die Möglichkeit gegeben hat, auch zu bestimmen“ (Mira Steinke). Abweichend von den vorangegangenen Ausführungen wird die Fokusperson des COS III als fremdbestimmend wahrgenommen, da sie stets ihre Interessen zu verwirklichen versucht. Dem musste von therapeutischer Seite entgegengewirkt werden, sonst „hätten wir wahrscheinlich bis zum bitteren Ende irgendwelche ähm äh Filmszenen nachgespielt, wortwörtlich, wo ich dann eine bestimmte Rolle übernommen hätte und sie eine bestimmte Rolle und es wäre immer um Bösewichter oder um grüne Gegenstände, die böse wären, gegangen oder wir hätten Kassetten gehört, das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Das wär’ es dann aber auch (lacht). (…) ja oder sie hätte mir stundenlang von Meerschweinchen erzählt und wie sie sich kreuzen und warum sie zwei Männer braucht, mit denen sie auch Kreuzungen vornehmen kann, damit sie vergleichen kann, wie das bei Menschen und Meerschweinchen ist“ (Mira Steinke). Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Autismus eine besondere Spannung erfährt. Im Folgenden wird unter anderem dargestellt, inwieweit sich dieser kritische Punkt auch innerhalb der Circles of Support bestätigt.
5.7.8.2
Selbst- und Fremdbestimmung im Circle of Support
Dass der Circle of Support den involvierten Akteuren einen sozialstrukturellen Rahmen für die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbestimmung bietet, wurde bereits durch die Dokumenten-Analyse der Jahresberichte offensichtlich (vgl. Kap. 4.3.6). Bis auf die Fokusperson in COS II explizieren die Akteure im Interview nicht, was sie konkret mit Selbstbestimmung meinen. So definiert Niklas Behrendt aus COS II Selbstbestimmung wie folgt: „Selbstbestimmung heißt, dass der Betroffene selbst entscheiden kann, was er möchte“ (Interview). Dies entspricht im weitesten Sinne der Definition von Mühl (1994) und impliziert gleichzeitig, dass der Akteur zumindest wissen muss, was er will. Als genereller Befund aller drei Circles lässt sich festhalten, dass den Fokuspersonen mit Autismus im Circle of Support Selbstbestimmung zugestanden wird. Verstärkt entsteht der Eindruck, dass sich das Bedürfnis nach Selbstbestimmung bei den Fokuspersonen nur auf den Bereich der Unternehmungen in der Freizeit konzentriert. Alle befragten Akteure bestätigen, dass Wünsche und 133
Zielsetzungen der Fokuspersonen in Abstimmung mit der Fokusperson umgesetzt werden. Fragt man mithilfe einer Skala (wenig – mittel – hoch) nach den Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Fokuspersonen im Circle of Support, so sticht mehrfach die Einschätzung der ‚goldenen Mitte‘ hervor. Das aufmerksame Wahrnehmen der Bedürfnisse und die Zielvorstellungen der Fokusperson im COS ist der wichtigste Ausgangspunkt. Ist sich die Fokusperson ihrer Zielvorstellungen nicht bewusst, so werden von den studentischen Akteuren Vorschläge eingebracht, die der Fokusperson Auswahlmöglichkeiten bieten. Die Selbstbestimmung der Fokusperson in COS III stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn die Auswahl der Aktivitäten „immer wieder ins Gleiche abrutscht“ (Laura Roggendorf) oder wenn die Fokusperson grenzverletzendes Verhalten in der Öffentlichkeit zeigt, z. B. indem sie andere Leute durch einen Stoß körperlich ins Wanken bringt. Die Unterstützerinnen haken sich dann links und rechts bei der Fokusperson ein und hindern diese durch Ablenkung, das grenzverletzende Verhalten zu wiederholen (vgl. Sunay Kemal). In COS II und III werden Zweifel bezüglich der Selbstbestimmung der Fokuspersonen thematisiert: So gerät die Studentin Dunja Friedrich in Schwierigkeiten, als die Fokusperson auf einer Geburtstagsfeier nach hochprozentigem Alkohol fragt. „Ich musste ziemlich lange überlegen, ob ich ihm jetzt einen kleinen Schnaps gebe oder nicht (…) Ich wollte es erst nicht tun, aber er hatte halt gefragt und ähm ich habe ziemlich lange mit meiner Antwort gebraucht, aber dann habe ich mir gedacht: ‚Okay, er möchte das‘. (…) nun ja, dann bekam er halt ein Schnäpschen (..) aber, ähm ich habe ihn dreimal drauf hingewiesen, dass da Alkohol drin ist (lacht)“ (Dunja Friedrich). An anderer Stelle äußert die Studentin Laura Roggendorf Bedenken: „ (…) sie [die Fokusperson, AK] hat schon schnell ‚Ja‘ gesagt. (…) wenn wir gesagt haben ‚Hast Du Lust, das und das zu machen?‘ und dann weiß ich nicht, ob das fremdbestimmend war oder ob sie wirklich Lust gehabt hat, das zu machen“ (Laura Roggendorf). Parallelen hierzu lassen sich bei Lyudmila Maksimova, Veronika Behrendt und Mira Steinke finden. Sie berichten darüber, dass die Fokuspersonen als leicht beeinflussbar wahrgenommen werden. Es bestehen auch Unklarheiten, ob die Zielvorstellungen der Fokuspersonen tatsächlich auf ihre ureigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückgehen: „Es ist echt immer die Frage, übernehmen Menschen mit Autismus dann wieder eins von vielen neuen Konzepten und sagen so, ‚Selbstbestimmt sein ist ganz ganz wichtig‘ ’'ne und das Selbstbestimmt-Sein heißt erstens, zweitens, drittens und sind da aber wenig flexibel und haben vielleicht auch nicht so dieses ausgeprägte Bild davon. Könnte sein, kann aber auch ganz anders sein, ähm ja schwierig einzuschätzen finde ich es, kann genau so eine Beeinflussung sein wie äh, wenn 134
jemand sagt ‚Okay, du gehst ins Wohnheim‘ und der sagt ‚Oh, Wohnheim ist toll‘, weil der [andere, AK] hat gesagt ‚Wohnheim ist toll‘, also hmm, schwierig festzustellen, woran will man das festmachen und vor allen Dingen, dieses Fremdbestimmt-Sein, ich habe ja Klienten, die denken fremdbestimmt sein und das auch so fühlen, fremdbestimmt zu sein. Wenn ich mir Beispiele anhöre, sehe ich das völlig anders, die aber so eine Interpretation haben, dass ständig also ihnen ständig jemand etwas will, irgendjemand die Freizeit stiehlt, irgendjemand sagt, was sie da tun müssen und da tun müssen und dabei sind das einfach ähm einfach soziale Regeln, die zum Zusammenleben dazu gehören, die sie aber auf Grund ihrer Selbstbezogenheit für sich nicht anwenden wollen, können, wie auch immer“ (Mira Steinke). Auffällig ist, dass die Konzeptualisierung von Fremdbestimmung von einzelnen studentischen Akteuren unter folgenden Punkten diskutiert wird: „(…) wir geben Niklas oftmals so ein Ruck, so ein Ansporn“ (Svenja Humbach), es werden Vorschläge gemacht (vgl. Tatjana Petrovanka; Svenja Humbach, Interview) oder Fragen gestellt wie „Was hältst du davon?“ (Svenja Humbach, ebd.). Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend zu vermuten, dass die Fokuspersonen keine Fremdbestimmung im Sinne von Weisser (2007) durch die studentischen Akteure erfahren. Grenzen ihrer Selbstbestimmung erleben allerdings die studentischen Akteure, wenn sie wie in COS III auf eine Fokusperson treffen, die ihre bevorzugten Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die anderen durchzusetzen versucht. So fühlten sich die Unterstützerinnen beispielsweise gezwungen, zweimal in denselben Kinofilm zu gehen. An anderer Stelle zeigt sich, dass die Mutter der Fokusperson aus COS I verstärkt auf die Studierenden einwirkt, so dass diese sich fremdbestimmt fühlen. Der Appell der Mutter richtet sich an die Studierenden, während der COS-Zeit darauf zu achten, welche Lebensmittel die Fokusperson einnimmt. „Also, ich würde sagen, dass wir in diesem Falle eher die Mutter unterstützt haben, die in der Situation in Anführungsstrichen das Sagen hatte“ (vgl. Lars Feldbusch, Interview). Diesen Appell abzuwehren, zu einer eigenen Stimme zu finden (Bieri 2007) oder zumindest die verlängerte Stimme der Fokusperson zu sein gerät an dieser Stelle in einen Konflikt. Zum anderen ist anzumerken, dass der Fokusperson hier Selbstverantwortung abgesprochen wird. Selbstverantwortung als ein Aspekt der Selbstbestimmung, den beispielsweise Gerhardt (1999) aufgegriffen hat, wird scheinbar außer Acht gelassen. Schmidt geht davon aus, dass Selbstverantwortung am ehesten unter der Annahme von Selbstbestimmung aufgeht (vgl. Schmid 2007: 125), nimmt aber auch einen anderen Blickwinkel ein, indem er auf das souveräne Selbst aufmerksam macht. „Ein souveränes Selbst ist keineswegs dasjenige, das überall und jederzeit vollkommen frei über sich selbst bestimmen kann, sondern dasjenige, das relative Klar135
heit darüber gewinnt, wo Selbstbestimmung möglich ist und wo nicht. Souverän ist es darin, das eine vom anderen unterscheiden zu können und sich auch bestimmen zu lassen statt immer nur selbst bestimmen zu wollen“ (ebd.: 130, Hervorh. im Original). Der folgende Abschnitt eruiert begünstigende Kontextbedingungen der Selbstbestimmung aus Sicht der Studierenden.
5.7.8.3
Kontextbedingungen für Selbstbestimmung
Die deutliche Mehrheit der Studierenden gibt die einmal wöchentlich stattfindende Reflexion an der Hochschule als begünstigende Kontextbedingung für Selbstbestimmung an, wie folgende Tabelle verdeutlicht: COS I
Anna-Lydia Tatjana Lars
Kontextbedingungen für Selbstbestimmung Reflexion an der Gespräche vor Direkte KomOhne SuperviFachhochschule und nach den munikation im sion an der FH (FH) Treffen Circle x x x Ja Nein x x x x
COS II
Dunja
Reflexion an der Fachhochschule (FH) x
Svenja
x
COS III Reflexion an der Fachhochschule (FH) Liquin Laura
x
x
x
x
Kontextbedingungen für Selbstbestimmung Gespräche vor Direkte KomOhne Superviund nach den munikation im sion an der FH Treffen Circle x x Ja x Nein x
x
Kontextbedingungen für Selbstbestimmung Gespräche vor Direkte KomOhne Superviund nach den munikation im sion an der FH Treffen Circle x x Ja Nein x
x
x
Tabelle 13: Kontextbedingungen für Selbstbestimmung „Die Gespräche in der FH waren wichtig, um Situationen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten“ (Svenja Humbach, Fragebogen). Bereits die Auseinandersetzung eines Circles mit der Thematik bietet eine Inspiration, sein eigenes Verhalten im COS zu reflektieren, und mündet in einer „Dis136
kussion über eigene Bedürfnisse“ und im Umgang mit den Bedürfnissen, Zielen und Wünschen der Fokusperson. Interessanterweise finden sich zwei Stimmen, die eine erfolgreiche Umsetzung der Selbstbestimmung der Fokusperson ohne Reflexion an der Hochschule für denkbar halten. Die wöchentliche Reflexion bietet sich an, sich seiner selbst bewusster zu werden. Es geht auf der Ebene der Interaktionsbeziehung darum, das Verhältnis in den Blick zu nehmen. Dabei ist es nicht nur relevant, die Transparenz der Identifikation eines möglichen Machtgefälles kommunizieren zu können, sondern auch, Achtsamkeit zu entwickeln und sich sowohl für sich als auch für den anderen zuständig zu fühlen. Dies gelingt über einen gemeinsamen Dialog. Dasselbe ist für Fokuspersonen zu konstatieren: Die Teilnahme der Fokuspersonen an der wöchentlichen Reflexion in der Hochschule und im COS kann dazu verhelfen, sich das „Zusammenspiel individueller und sozialer Faktoren“ (Theunissen und Plaute 2002: 23) und die eigenen Selbstbestimmungsfähigkeiten und -grenzen bewusst zu machen. „Selbstbestimmung gewähren lassen oder schadet es, Dinge auszuprobieren, von denen die Fokusperson zunächst nicht überzeugt ist?“ (Lars Feldbusch, Fragebogen). In derselben Häufigkeit als begünstigende Kontextbedingungen sind Gespräche vor und nach den Treffen als auch die direkte Kommunikation im Circle markiert. Die Gesprächspartner vor und nach den Treffen sind in der Regel die anderen studentischen COS-Akteure und die Eltern der Fokusperson. Bei einem Gespräch vor und nach den Treffen kann man beispielsweise darüber sprechen, ob es der Fokusperson ‚schadet‘, Aktivitäten auszuprobieren, die sie von sich aus nicht gewählt hätte bzw. von denen sie ‚überzeugt‘ wird. Betrachtet man diese Fremdeinwirkung als Anregung, kann Souveränität entwickelt werden. Andererseits: Diese Vorgehensweise bekommt einen erzieherischen Charakter, wenn nicht mit, sondern über den Köpfen der Fokuspersonen hinweg derartige Gespräche stattfinden. Daher ist nachfolgende Zeile konstitutiv für ein ‚mit‘: „Wir haben Niklas oft nach seinen Wünschen gefragt und versucht, sie zu ermöglichen und umzusetzen“ (Svenja Humbach, Fragebogen). Innerhalb der direkten Kommunikation ist es beispielsweise wichtig, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie die Fokusperson zur Umsetzung ihrer Selbstbestimmungsfähigkeiten beiträgt. Dies kann nur kurzfristige Hilfestellung sein, die sich keinesfalls verfestigen sollte. Zwar ist Seidel (2006: 5) zuzustimmen, wenn er sagt, dass sich Selbstbestimmungsfähigkeiten dort am besten entfalten, „wo relevante Erfahrungen mit vollzogener Selbstbestimmung gemacht werden können“, aber eine ausschließlich fürsorgliche Haltung kann dazu führen, dass sich eben diese Struktur der gegenseitigen Erwartung verfestigt. Letzter Punkt dieses Kapitels ist es nun, die Grenzen von Circles of Support am Dortmunder Beispiel aus Sicht der Akteure in den Blick zu nehmen. 137
5.8 Grenzen COS I
COS II
COS III
Fokuspersonen
Kontaktverlust nach Auflösung des COS
Keine kostenintensiven Aktivitäten möglich
Kurzlebigkeit
Studierende
Kontaktverlust nach Auflösung des COS; Kurzlebigkeit Ziel einer längerfristigen Freundschaft nicht erreicht Kurzlebigkeit; Kooperation mit der Mutter und Zugang zur Fokusperson
Zeitintensivität; verspätetes theoretisches Wissen über Autismus; auftauchende Langeweile, wenn keine Anbindung an andere Akteure Keine Anbindung ans Ehrenamt; Zeitintensivität;
Zeitintensität/ Erschöpfung; Kommunikation mit der Fokusperson; die Tiere der Fokusperson Zeitintensität; keine Therapie Kontaktverlust, künstliche Situation
Mütter
COS ist kein Ersatz für Freunde
Therapeuten
Keine natürliche Freundschaft; Kontaktverlust nach Auflösung des COS
Keine Freundschaft; Kontaktverlust nach Auflösung des COS
Kurzlebigkeit
Wenig Absprache zwischen Institution und Hochschule; räumliche Grenzen
Abbildung 36: Grenzen des COS Die Grenzen eines Circles of Support sind zeitlicher und sozialer Art. Die Kurzlebigkeit eines COS mit der zeitlichen Spanne von einem Jahr wird von einigen 138
Akteuren als Grenze betrachtet. Ins Bewusstsein muss gerückt werden, „dass es halt nur immer eine abgeschlossene Sache ist, also nicht längerfristig und irgendwann ist das Projekt vorbei und dann ebbt dieses neue Netzwerk auch komischerweise wieder ab“ (Lars Feldbusch). Andererseits wird von Seiten einiger Studierender aus COS II und III die Zeitintensität eines Circle-Treffens von 3 bis 4 Stunden als eine Herausforderung empfunden, insbesondere, wenn sie in anderen Verpflichtungen involviert sind oder den Eindruck haben, ihre eigene Freizeit wird eingeschränkt. Als eine Begrenzung in der sozialen Dimension werden von einigen Akteuren sowohl interne als auch externe Kommunikationsschwierigkeiten thematisiert. Weitere Begrenzungen in der sozialen Dimension umfassen einerseits den Aspekt der Bindung und andererseits den der Öffnung. Wird die soziale Beziehung zwischen den Akteuren nicht aufrechterhalten, so hat dies Kontaktverlust nach Auflösung des COS-Netzwerks zur Folge. Die Öffnung des COS hin zu anderen sozialen Kontakten ist zwar möglich (vgl. Abschnitt 5.3), führt aber nicht zu längerfristigen Freundschaften oder zur Erweiterung des sozialen Netzwerks der Fokusperson.
139
6
Abschlussdiskussion
Anliegen der Studie war die Erfassung struktureller und inhaltlicher Merkmale der Circles of Support am Dortmunder Beispiel. Gefragt wurde nach der Struktur und Funktion eines Circles of Support und den Ressourcen, die die involvierten Akteure aus dieser Netzwerkform beziehen. Zur Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes wurden Circles ausgewählt, deren Fokuspersonen die Diagnose Autismus/ Asperger-Syndrom tragen. Den Zugang zur Erfassung der strukturellen und inhaltlichen Merkmale der Circles bildeten schriftliche Dokumente in Form von Jahresberichten und Wochenprotokollen, die von teilnehmenden Akteuren der COS verfasst wurden. Es handelt sich um Schriftstücke, die COS aus Sicht der studentischen Akteure beschreiben. Die Analyse dieser neun Jahre COS-Praxis am Dortmunder Beispiel hat nicht nur sozialstrukturelle Merkmale, sondern auch thematisch wiederkehrende Relevanzen herausgearbeitet. Die Analyse zeigt, dass sich die bisherige Definition eines Circles of Support am Dortmunder Beispiel nicht mehr halten lässt. Die ursprüngliche Annahme, ein Circle of Support sei ein Unterstützungsnetzwerk einzig für den Akteur mit Autismus/Asperger-Syndrom, lässt sich erweitern. Es zeichnet sich schon früh ab, dass sich hinter Circle of Support mehr verbirgt. Es dient nicht nur der Fokusperson, sondern trägt auch zu einer Erweiterung der Denk- und Handlungsprozesse der Studierenden bei. So kann man sich spätestens hier fragen: Wer unterstützt eigentlich wen und welche weitere Funktion hat COS für die Fokusperson? Daran schließt sich auch die weitere Frage an: Welche Ressourcen beziehen die anderen beteiligten Akteure aus dieser Netzwerkform? Für den dieser Studie zugrunde liegenden methodologischen Ansatz der Netzwerkanalyse müssen alle Akteure des COS berücksichtigt und in die Analyse einbezogen werden, um letzten Endes die Funktion von COS herauszufinden und kritisch zu diskutieren. Die Herausforderung der vorliegenden Studie war zum einen inhaltlicher Art: So sind zentrale Begriffe wie Netzwerk, soziales Kapital, Funktion, Ressource und Behinderung schwer abgrenzbar und lassen sich bislang keiner einheitlichen Theorie zuordnen. Zum anderen bestand eine Herausforderung in zeitlicher Hinsicht insofern, als die qualitativen Aussagen der Subgruppen miteinander verglichen werden mussten. Die Abschlussdiskussion der vorliegenden Studie teilt sich in drei Stränge auf: Im ersten Strang sind Ergebnisse der empirischen Analyse hinsichtlich der 140
forschungsleitenden Fragestellung nach der Struktur, Funktion und Ressourcen der Circles of Support dargestellt. Im Rahmen der Meta-Analyse haben sich variable und stabile Merkmale der COS-Struktur herausgebildet. Im Anschluss an den ersten Strang wird COS als solcher kritisch diskutiert. Der zweite Strang betrachtet unter Berücksichtigung der netzwerk- und behinderungsanalytischen Perspektive den Circle of Support im egozentrierten Netzwerk des Akteurs mit Autismus/Asperger-Syndrom. Die aus beiden Strängen resultierenden Konsequenzen für Forschung und Praxis bilden den dritten Strang der Abschlussdiskussion. Schlusslicht der Studie ist der Versuch einer Definition von Circles of Support und seiner Abgrenzung. Dieser Abschnitt fasst die Ergebnisse der empirischen Analyse zusammen und stellt dabei konstitutive Merkmale der COS-Struktur heraus. Der StrukturBegriff der hier vorliegenden Studie fokussiert in Anlehnung an Wienold (2007: 639) die soziale Basis, den Überbau und das individuelle Handeln. Innerhalb der COS-Struktur zeigen sich variable und stabile Merkmale. Ein stabiles Merkmal ist dadurch als solches gekennzeichnet, da es sich innerhalb der COS-Struktur als gesichert und beständig herausstellt. Ein variables Merkmal hingegen bezeichnet das Veränderliche, das Schwankende und Auswechselbare innerhalb der Struktur. Tabelle 14 gibt eine Übersicht über die konstitutiven Merkmale, die entsprechend ihrer Zuordnung variabel und/oder stabil sind. Der Aspekt ‚Handlungen‘ befindet sich zwischen den beiden Merkmalen, da es einerseits stabile Merkmale trägt, aber durch die autonomen Akteure Varianten in den Handlungsspielräumen aufzeigt. Auch der Aspekt ‚Rollen und Positionen‘ ist von stabilen und variablen Merkmalen gekennzeichnet, wie im Folgenden noch näher erläutert wird. Stabiles Merkmal COS in curricularen Strukturen; zeitliche Begrenzung Netzwerk- und Akteursstruktur Einbettung der COSStruktur in gesellschaftlichen Strukturen Innere und äußere COSStruktur Thematische Relevanzen Informelle Charakteristika und uniplexe Beziehung
Variables Merkmal Akteure mit differenten Motivationsrelevanzen und Interessen; Ziele der Subgruppen Handlungen
Kulturell differente Akteure
Rollen und Positionen
Tabelle 14: Variable und stabile Merkmale der COS-Struktur 141
COS in curricularen Strukturen Die Formation eines Circles of Support am Dortmunder Beispiel vollzieht sich über das Handlungsfeld ‚Circles of Support, Inclusion und Diversity‘, welches am Fachbereich ‚Angewandte Sozialwissenschaften‘ als Theorie-Praxis-Projekt in curriculare Strukturen der Fachhochschule Dortmund eingebettet ist. Der zeitliche Rahmen ist konzeptionell vorgegeben. Netzwerk- und Akteursstruktur Bis auf den Zweier-Circle (Informatik-Student und promovierter Physiker) konstituiert sich ein Circle of Support am Dortmunder Beispiel aus drei bis vier Akteuren, die für ein Jahr ein relativ geschlossenes Netzwerk bilden. Tragendes Element der Netzwerk-Formation hinsichtlich der Rollenerwartungen ist zunächst das ‚Uneindeutige‘, da die Akteure ohne jeglichen Vertrag zu vorher festgelegten Verhaltenserwartungen und Rollendefinitionen bezüglich der zukünftigen Zusammenarbeit agieren. Für die vorliegende Studie wurden zur Differenzierung der einzelnen Akteure Bezeichnungen wie ‚die Fokusperson‘, ‚die Studentin‘, ‚die Mutter‘ der Fokusperson und ‚die Therapeutin‘ der Fokusperson gewählt. Die Akteurs-Struktur am Dortmunder Beispiel ist neben ihrer Stabilität als „starr“ zu bezeichnen. Es ist zu kritisieren, dass COS am Dortmunder Beispiel ausschließlich aus studentischen Akteuren besteht. Dies ist der curricularen Struktur geschuldet, aber auch auf die Zielverfolgung der Fokuspersonen zurückzuführen. Keine Fokusperson hat eine Netzwerkerweiterung als Ziel angegeben. Innere und äußere COS-Struktur Innerhalb der Sozialstruktur bilden sich der innere und der äußere COS-Kontext ab. Der innere COS-Kontext konstituiert sich aus dem aktiven Kern der einzelnen Fokusperson und der zwei bis drei Studierenden pro Circle. Im äußeren COS-Kontext befinden sich die Therapeutin und die Bezugsperson(en). Einbettung der COS-Struktur in gesellschaftlichen Strukturen Das als COS definierte Netzwerk ist in gesellschaftliche Strukturen eingebettet. Dies wird offensichtlich, da im inneren wie im äußeren COS-Kontext auch andere Akteure in Erscheinung treten, die jedoch nur gelegentlich am COS-Kontext teilnehmen. Thematische Relevanzen Die thematischen Relevanzen eines Circles of Support am Dortmunder Beispiel gestalten sich vielschichtig. Schwerpunktartig lassen sich folgende vier festlegen: 1. Behinderung der Fokusperson, 2. Unterstützung, Spannungsfeld der Unterstützung, 3. Selbst- und Fremdbestimmung und 4. Lernprozesse. 142
Akteure mit differenten Motivationsrelevanzen und Interessen Ein Circle of Support am Dortmunder Beispiel besteht aus handelnden Akteuren, die motivationsgeleitet zusammentreffen, ohne vorher bekannt zu sein. Sie gehen freiwillig Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten ein. Dem voraus geht ein erklärter Wille, für einen bestimmten Zeitraum zusammenzuarbeiten. Das der Motivation zugrunde liegende Interesse bildet sich different ab. Stärkste Triebfeder ist jedoch der Wunsch nach Veränderung und eine spätere Gewinnerwartung. Ziele der Subgruppen Die Ziele der Fokuspersonen und der Studierenden lassen sich als egozentrierte Ziele charakterisieren. Die Ziele der Therapeuten sind ihrem Auftrag entsprechend fokuspersonorientiert. Die Ziele der Mütter sind einerseits egozentriert, andererseits familienorientiert. Kulturell differente Akteure COS I besteht überwiegend aus weiblichen Akteurinnen mit russischem Migrationshintergrund, wohingegen COS II sich aus Akteuren mit deutschen Wurzeln konstituiert. COS III ist multikulturell geprägt: Zwei Akteurinnen stammen aus Deutschland, eine Akteurin hat türkischen Migrationshintergrund und eine Akteurin stammt aus Peking. Letztere kehrte nach China zurück. Die anderen leben derzeit in Deutschland. Die kulturelle Differenz kann nicht für alle Circles des untersuchten Zeitraums von 1998 bis 2007 konstatiert werden. Es handelt sich demzufolge um ein variables Merkmal der COS-Struktur. Positionen und Rollen Die Berichtsanalyse stellt heraus, dass die Fokusperson eine zentrale Position im Circle of Support einnimmt. Dieses Ergebnis lässt sich nach der Auswertung der Interviews nicht mehr halten, vielmehr nimmt jeder einzelne Akteur im Circle of Support eine zentrale Position ein. Durch die Kategorisierung von Rollen (‚die Fokusperson‘, ‚die Studentin‘, ‚die Therapeutin‘) jedoch bilden sich Positionen heraus, die augenscheinlich ein Ungleichgewicht produzieren, weil jeder aus seiner Position heraus sich je nachdem als ‚wissend‘, ‚unwissend‘, ‚sicher‘ oder ‚unsicher‘ positioniert. Im Prozess kommt es zumeist zu einer Auflösung von Unsicherheit dadurch, dass sich die Akteure miteinander beschäftigen. Außerdem bilden sich differente Konstruktionen bezüglich der Rollenzuschreibungen heraus: Diese differenten Rollen reichen von ‚Unterstützer‘ bis hin zur ‚Freundin‘, manchmal aber auch von der ‚Pädagogin‘ bis zur ‚Privatperson‘. Ungeachtet dessen, wer welche Rolle oder welche Position einnimmt: Jeder einzelne Akteur ist zugleich in der Rolle des ‚Lernenden‘.
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Informelle Charakteristika und uniplexe Beziehung Das Verhältnis unter den studentischen Akteuren wird wechselseitig als freundschaftlich bezeichnet. Auch die Fokuspersonen definieren das Verhältnis zu den studentischen Akteuren als freundschaftlich. Studentische Akteure aus COS I und III sehen das Verhältnis zur Fokusperson nicht rein freundschaftlich, sondern durchwachsen mit pädagogisch-betreuenden Elementen. Die Beziehung zwischen den Akteuren des inneren COS-Kontextes lässt sich als uniplex bezeichnen, da sie im Gegensatz zur multiplexen Beziehung auf nur einen Kontext spezifiziert ist. Eine multiplexe Beziehung ist nach Schnegg und Lang (2002: 28 Hervorh. im Original) „in unterschiedlichen Kontexten zugleich von Bedeutung“. Die informelle Charakteristika bzw. das eher freundschaftliche Verhältnis zwischen den Akteuren des inneren COS-Kontextes ist bei aller Varianz (freundschaftlich-kollegial bis hin zu freundschaftlich mit ‚fürsorglichbetreuenden‘ Elementen) ein stabiles Merkmal. Handlungen Die Unterstützung im COS bezieht sich primär auf das soziale Miteinander, auf das Gesellige, auf Alltagsinteraktion, Orientierung und Anerkennung. Die Zieldefinitionen der Fokusperson bilden bei der Formation eines Circles zunächst den Ausgangspunkt. Die Zieldefinition ist das gestaltende Instrument des stattfindenden Prozesses und Orientierung zugleich. Das Dortmunder Beispiel verfolgt dabei überwiegend Aktivitäten im Freizeitbereich. Die Handlungen der Akteure sind letztendlich autonom und daher auf die Gestaltung gemeinsam geplanter Aktivitäten ausgerichtet, welche die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Die COS-Struktur bietet den studentischen Akteuren den Vorteil einer gegenseitigen Unterstützung. Die Berichtsanalyse stellt heraus, dass einige Studierende in ein Spannungsfeld geraten: Die Fokusperson zeigt auffälliges Verhalten in der Öffentlichkeit und die Studierenden geraten in einen Konflikt, weil sie sich verantwortlich fühlen. Ihr Handlungsspielraum ist von Variationen gekennzeichnet: vom Eingreifen in die Situation bis hin zum passiven Geschehen-Lassen. Dem geht meist ein Erkenntnisprozess voraus: „Die Fokusperson ist selbst verantwortlich und ich – die sogenannte Unterstützerin – muss mich fragen, wie sieht in solch einem Fall die optimale Unterstützung aus? Vermittelnd, belehrend? Oder frage ich besser die Fokusperson?“ Die Antwort darauf ist von COS zu COS verschieden, da die Akteure und die Situationen in der Öffentlichkeit verschieden sind. Metaanalytisch zeigen die Berichtsanalyse wie auch die Interviewanalyse, dass den Akteuren den Ereignissen entsprechend ein anpassungsorientiertes und flexibles Verhalten abverlangt wird, das hohe soziale Kompetenzen erfordert.
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Im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessenverfolgung während der Aktivitäten sind die Akteure in natürlicher Weise mit Selbst- und Fremdbestimmung konfrontiert. Es ist davon auszugehen, dass die Studierenden dadurch, dass sie in besonderer Weise durch theoretische Reflexionen (Diskurse zu Behinderung, Selbstbestimmung) sensibilisiert sind, die Selbstbestimmung der Fokusperson anerkennen. Selbstbestimmung und Behinderung wird nicht nur diskursiv hergestellt, sondern auch praktisch verhandelt. Behinderung als soziale Kategorie Die Analyse der Berichte, der Interviews und der Fragebögen zeigt, dass Behinderung eine soziale Kategorie ist, die je nach Akteur unterschiedlich weit gefasste soziale Konstruktionen umfasst. Thematisiert werden der isolierte Invalide in Russland, der Behinderte, der Kranke und der Behinderte mit besonderen Fähigkeiten, aber auch ist vom Autisten die Rede und davon, dass sich die Wahrnehmung von Behinderung nach einer gewissen Zeit ändert und Behinderung kaum noch wahrgenommen wird. Die Vielfalt der Assoziationen spiegelt die Komplexität der Akteurinnen wider: Orientiert am medizinischen Modell von Behinderung nehmen sie ihren Ausgangspunkt an der Fokusperson, erweitern ihren Blick im Sinne des sozialen Modells von Behinderung und zirkulieren zwischen beiden Modellen hin und her. Auch hier ist eine Dynamik erkennbar: Die Textstellen zeichnen nicht nur differente Assoziationen zu Behinderung nach, sondern dokumentieren auch ihre Prozesshaftigkeit. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der chinesischen Akteurin, die die Gruppe der Behinderten vom niedrigen Status in den gleichberechtigten Status erhebt. Auch bei Sunay Kemal, der Akteurin mit türkischem Hintergrund, wird der Kranke zum Behinderten bis hin zum Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Interessant ist, dass die zwei studentischen Akteurinnen aus Deutschland (COS II), die Erfahrung im Umgang mit Behinderung haben, der Aneignung und Unterscheidung autismusspezifischer Kriterien viel Bedeutung beimessen. Dies scheint dem COS jedoch nicht zu schaden, da dies keine Diskriminierung zur Folge hat. Eher das Gegenteil ist der Fall: Dieser COS ist im Vergleich zu den anderen untersuchten COS am wenigsten geschlossen, da er auch Verbindungen zu Freunden der zwei studentischen Akteure aufweist. Funktion Der Circle of Support am Dortmunder Beispiel bietet insbesondere den Fokuspersonen Zugang zu sozialen Kontakten – in diesem Fall zu Studierenden – und damit Zugang zu Ausschnitten von deren Lebenswirklichkeit. Die befragten Fokuspersonen sind nach eigenen Angaben zur Erweiterung ihres Handlungsspektrums auf andere angewiesen. Dies wird von den anderen Interviewpartnern bestätigt. COS bewirkt nicht nur eine Erweiterung des Handlungssystems der 145
Fokusperson. Auch erfolgt die Entwicklung von mehr Selbstbewusstsein der Fokusperson. Für die Studierenden bringen insbesondere die Auseinandersetzung mit Rollen, Rollenerwartungen und Ambivalenzen, der Wissenserwerb hinsichtlich Autismus/Behinderung und die Entwicklung sozialer Kompetenzen den größten Nutzen. Das Wörterbuch der Pädagogik bezeichnet Kompetenz als „die Fähigkeit einer Person, Anforderungen in bestimmten Bereichen zu entsprechen“ (Schaub/ Zenke 2002: 326). Heyse und Erpenbeck (2004) unterscheiden vier Kompetenzbereiche: 1) Personale Kompetenzen (Selbstreflexion, Selbstorganisation, Zuverlässigkeit usw.) 2) Aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen (Selbständigkeit, Kreativität) 3) Fachlich-methodische Kompetenzen (Projektmanagement) 4) Sozial-kommunikative Kompetenzen (Beziehungsfähigkeit) Die Fokuspersonen entwickeln insbesondere sozial-kommunikative und aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen. Die studentischen COS-Akteure entwickeln personale, aktivitäts- und umsetzungsorientierte und sozialkommunikative Kompetenzen. Die Therapeuten hingegen entdecken wie die Mütter entweder neue Seiten an der Fokusperson (z. B. Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit) oder entwickeln neue Standards für die therapeutische Arbeit. Für die Mütter hat COS die Funktion der Beruhigung bzw. Entlastung. Sie wissen ihr Kind ‚in guten Händen‘. Es lässt sich nicht die Funktion charakterisieren, da individuell eine andere Relevanz- und Schwerpunktsetzung erfolgt. COS erweitert in unterschiedlichem Maße die Einstellungs-, Erfahrungs- und Handlungsdimension aller Beteiligten. Die Funktion ist das Erwerben sozialer Kompetenzen im Umgang mit Differenz. Damit sind eigene Differenzen wie auch die der anderen gemeint. COS hat die Funktion, die Denk- und Handlungsstrukturen der Akteure anzuregen, zu erweitern und zur Sicherheit im Umgang mit Differenz beizutragen. Damit lässt sich ein Mehrwert von COS für das Gesamtgesellschaftliche nur aufzeigen. Ressourcen Die Ressourcen, die die Akteure aus dem COS-Netzwerk ziehen, sind vielfältig. Der Möglichkeitsrahmen ist unterschiedlich weit gezogen und beinhaltet unterschiedliche Gestaltungs- und Nutzungschancen. COS bietet jedem Akteur Entfaltungsmöglichkeiten und den Raum für Selbstorganisationsprozesse. Versteht man unter dem Begriff Ressource eine Art Hilfsmittel, so lässt sich für COS im Kontrast zu finanziellen Hilfsmitteln insbesondere die personelle Ressource konstatieren. Die personelle Ressource ist der andere und das Selbst: Erst das Vorhandensein des anderen mit seiner kulturellen Prägung und das eigene individuelle Handeln im Netzwerk bilden die Basis für den Erwerb sozialer Kompe146
tenzen. Die Akteure greifen während der aktiven Phase im COS auf eigene Ressourcen zurück und bieten ihre eigenen Kompetenzen, Sichtweisen und Einschätzungen an. Sie tauschen Wissen und Informationen aus. Das dem COS inhärente soziale Kapital zirkuliert streng genommen insbesondere während der aktiven Phase. Aber auch in der nicht-aktiven Phase, z. B. nach Ende der COSZeit, greifen die Akteure auf einen Reichtum an Erfahrungen zurück und nutzen diesen in der Gegenwart. Dies wird besonders deutlich bei den Erzählungen: Die Akteure verankern ihre neu gewonnenen Handlungskompetenzen auch über die COS-Zeit hinaus in ihr jetziges Leben. Vergleich zur englischen COS-Studie (Whitaker/ Barratt 1988) Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen Parallelen zur Studie von Whitaker/ Barratt et al (1988) auf. Whitaker/ Barratt et al beschreiben in ihrer Studie den Implementierungs-Prozess von Circles of Support bei sieben Kindern/ Jugendlichen mit Autismus im schulischen Kontext. Befragt wurden 52 Akteure, die in diesem Prozess in unterschiedlicher Funktion teilnahmen. Zum einen handelt es sich bei den befragten Akteuren um die Fokuspersonen mit Autismus/ Asperger-Syndrom und die gleichaltrigen Peers, zum anderen wurden auch die Eltern und Organisatoren/ Ansprechpartner der Circle, sogenannte Facilitatoren befragt. Aus der Perspektive der Organisatoren wurde eine Reduktion von Ängsten des autistischen Kindes in der sozialen Interaktion mit anderen beobachtet sowie eine höhere soziale Integration durch ein höheres Level an sozialen Kontakten. Die Peers stellten ihre eigene Entwicklung in den Vordergrund: sie lernten, den Fokus auf Fähigkeiten zu legen, sie entwickelten eine höhere Sensitivität und Empathie anderen gegenüber. Fairness und Respekt wurden als wichtige Ressource des Sozialen entdeckt, aber auch traten Gefühle von Stolz auf. Der Stolz bezieht sich nicht nur auf die Zugehörigkeit zu einem Circle, sondern meint auch die geleistete Unterstützung im Sinne von „It’s good to help“ (ebd. 63). Die Einbindung und der Enthusiasmus der einzelnen Circle-Mitglieder ist unterschiedlich: „As well as coming to the cirle meetings, 40 of the circle members reported working, playing or spending time with focus child in school. And yet only three circle members referred to the focus child as a friend. Only one focus child had been invited home by a circle member and one had been visited at home (by four members of this circle)” (ebd.: 64). Ein weiterer Befund ist folgender: “Out of 52 circle members, only four said they wanted to discontinue their involvement in the cirle. Forty expressed a desire to carry on, and similar figures were obtained in response to a question about whether they would recommend involvement in a circle to a friend” (ebd.: 63). Dieses zuletzt genannte Ergebnis lässt sich für die Circles am Dortmunder Beispiel nicht konstatieren. Auch kann nicht behauptet werden, dass COS am Dortmunder Beispiel zu einer höheren sozialen Integration der Fokusperson führt. 147
Grenzen des Circles of Support am Dortmunder Beispiel Weitere Grenzen des COS am Dortmunder Beispiel lassen sich anführen: Die Akteure wachsen nicht über ihre Rolle hinaus und treffen sich nicht außerhalb der vorgegebenen Struktur. Aus COS erwachsen daher keine lang anhaltenden Freundschaften zwischen den Akteuren. Auch findet keine Anbindung an nachbarschaftliche Kontakte oder ans Ehrenamt statt. Zu kritisieren ist, dass diese Netzwerkform relativ geschlossen bleibt und dadurch unweigerlich Fragen zur Inklusion/Exklusion aufwirft. Der COS am Dortmunder Beispiel trägt nicht dazu bei, das Netzwerk der Fokusperson zu erweitern und zu stabilisieren. Die Zielverfolgung der Akteure bleibt auf Aktivitäten im Alltag beschränkt. Inwiefern die spezifizierte Zieldefinition im Zusammenhang mit Autismus zu setzen ist, muss noch eruiert werden. Menschen mit Autismus sind in besonderer Weise gefordert, in einer komplexen Welt, in der soziale Regeln auf bestimmte Weise vorherrschen, ihre Beziehungen zu gestalten. Sie sind generell gefordert, für den Aufbau und die Aufrechterhaltung ihres Netzwerkes selbst Sorge zu tragen. Netzwerkanalytische Perspektive im Kontext von Behinderung und Konsequenzen für die Forschung Betrachtet man die egozentrierten Netzwerkkarten der befragten Akteure mit Autismus, so lässt sich feststellen, dass die sozialen Kontakte überwiegend auf die Familie und Akteure aus dem Therapie- und Sozialdienst begrenzt bleiben. Insgesamt wird deutlich, dass Autismus/Behinderung im sozialen Netzwerk der Fokusperson eine entscheidende Funktion besitzt. Begreift man Funktion einerseits als Beitrag eines Individuums zum Weiterbestand und zur Fortentwicklung eines Ganzen und Dysfunktion als Gefährdung desselben und orientiert sich andererseits an Parsons (1975), die Anpassung, Zielerreichung, Integration und Aufrechterhaltung als die Funktion sozialer Systeme herausgearbeitet hat (vgl. Lahusen 2008: 73), so lässt sich unter Berücksichtigung der netzwerk- und behinderungsanalytischen Perspektive folgende Frage stellen: Ohne Behinderung keine Fokusperson und ohne Fokusperson kein Circle of Support? Somit erfüllt Behinderung zweierlei Funktionen: Zum einen ist sie die Brücke, über die sich eine Verbindung zwischen Individuen herstellen lässt, und zum anderen lässt sich unter netzwerkanalytischer Perspektive auch das genaue Gegenteil festhalten: Behinderung führt zu den sogenannten strukturellen Löchern zwischen den Individuen, d. h. sie lässt keinerlei Verbindungen entstehen, da soziale Barrieren zwischen den Individuen zu stark sind bzw. zu einer sozialen Distanz führen. Die in Abschnitt 3.1 der vorliegenden Arbeit postulierte Annahme, dass die soziale Kategorisierung von Behinderung und damit einhergehende Separierung, z. B. in Form von Wohnstätten, eine engmaschige Verflechtung bestimmter sozialer Kontakte zur Folge hat, ist aus Sicht der Verfasserin von der Rehabilita148
tionswissenschaft eingehend zu untersuchen. Welche Funktion hat Behinderung bei der Verflechtung sozialer Kontakte oder anders formuliert, wer hat welche Kontakte zu wem und weshalb gerade nicht? Welche Funktion haben die sozialen Kontakte? Ermöglichen sie Zugänge zu anderen oder sind sie besonderen Behinderungen ausgesetzt? Weitere Fragen netzwerkanalytischer Untersuchungen im Kontext von Behinderung können folgende sein: Welchen Nutzen hat das soziale Netzwerk bezüglich der Zugänge und Behinderungen? Handelt es sich bei dem Netzwerk um eine jederzeit abrufbare Ressource? Welche Ressourcen sind innerhalb des Netzwerks mobilisierbar und welche eher nicht? Hat das Netzwerk Integration zum Ziel oder tendiert es durch seine Geschlossenheit eher zur Exklusion? Erforschung der COS-Praxis Um die Wirkung und den Nutzen von COS auf der Makroebene zu untersuchen, benötigt es die Implementierung von Circles of Support als eine frei wählbare und jederzeit verfügbare soziale Ressource. Untersuchungen zur Wirkung und zum Nutzen von COS können beispielsweise in Großbritannien erfolgen, wo die COS weiter verbreitet sind. Wünschenswert aus Sicht der befragten Akteure ist, COS in Deutschland bundesweit institutionell zu verankern, wie dies in Großbritannien der Fall ist. Nach Ansicht der Verfasserin ist es empfehlenswert, dass diese institutionelle Verankerung mit Supervision einhergeht. Die Jahresberichte und Interviews zeigen deutlich auf, dass die Supervision an der Hochschule erheblich zum Erfolg beiträgt. Die Supervision gibt Anregungen im Umgang mit Schwierigkeiten, die sich im Spannungsfeld der Rollenambivalenz und der Unterstützung bei Behinderung im sozialen Miteinander ergeben können. Die vorliegende Arbeit fokussierte die grundlegende Erforschung des Dortmunder COS-Modells und überprüfte empirisch deren Struktur und Funktion. Eine Erforschung und der Vergleich praktizierter COS-Modelle auf der Länderebene stehen noch aus. Abbildung 37 gibt einen Überblick und dient der ersten Orientierung ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
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Jahr Rahmen
Kanada
UK
Community-LivingBewegung
CommunityLivingBewegung
Ende 1980
seit 1994
Marsha Forrest/ Judith Snow
Circles Network UK
Deutschland
Indien
seit 1998
2004 - 2006
Theorie-Praxis-Konzept in curricularer Struktur (Prof. Dr. E. KnustPotter, Fachhochschule Dortmund)
Utkal University, NYSASDRI (NGOOrganisation)
1-2 bzw. 2-4 Akteure
COS-EUIndia-Projekt
Schule, Freizeit, Beruf
Jugendliche, Erwachsene
Kinder, Jugendliche, Erwachsene
seit 2006
Freizeit, Studium, Alltag
Struktur Funktion
4-12 Akteure Kinder, Jugendliche, Erwachsene
COS als Modul im BA Programm der University of Bolton
COS in den Dörfern Indiens
Schule, Freizeit, Beruf
Forschungsprojekt „Persönliche Zukunftsplanun g und Unterstützerkreise“, Ines Boban, Universität Halle-Wittenberg (in Vorbereitung)
Abbildung 37: Strukturelle und inhaltliche Merkmale von COS im Ländervergleich Es könnte interessant sein, zu untersuchen, in welchen Ländern die COS eine knappe soziale Ressource darstellen und in welchen Ländern gerade nicht. 150
Untersuchenswert ist auch die Frage nach der Ursache und inwieweit sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen sind. Die Entwicklung von COS in Deutschland steckt im Vergleich zu Großbritannien noch in den Kinderschuhen. Definition von COS und Abgrenzung Weyer (2000) definierte das soziale Netzwerk als „eine eigenständige Form der Koordination von Interaktionen […], deren Kern die vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber interdependenter (wechselseitig voneinander abhängiger) Akteure ist, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten und dabei auf die Interessen des jeweiligen Partners Rücksicht nehmen, weil sie auf diese Weise ihre partikularen Ziele besser realisieren können als durch nicht-koordiniertes Handeln“ (Weyer 2000: 11, Hervorheb. im Original). Für COS gilt, dass sich die Eigenständigkeit, die Koordination und das Vertrauen erst im Laufe des Prozesses entwickeln und nicht voraussetzungslos gegeben ist. Für COS gilt aber auch, dass die Beteiligten für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten und dabei voneinander abhängig sind. Die Fokuspersonen erreichen mit Hilfe des COS definitiv ihre manifesten Ziele, und auch die Studierenden sehen einen engen Zusammenhang darin, dass die Erreichung ihrer Zieldefinitionen leichter zu realisieren ist, wenn diese sozial koordiniert und an Strukturen gebunden sind. Im idealen Fall könnte der COS als ein variabel-stabiles Netzwerk bezeichnet werden. Es lässt sich nicht behaupten, dass ein COS am Dortmunder Beispiel ein variabel-stabiles Netzwerk ist, da er aufgrund der Akteursstruktur zu starr ist. Wohl aber kann festgehalten werden: Ein COS am Dortmunder Beispiel ist ein stabiles Netzwerk mit variablen Unterstützungskomponenten, das den involvierten Akteuren eine anpassungsorientierte Unterstützung bietet. Das anpassungsorientierte Handeln vollzieht sich über die Sozialstruktur des Netzwerks und die interessengeleiteten Relevanzen der Akteure. Die Handlungen der Akteure sind auf ihre Ziele und Rollen ausgerichtet und bleiben dabei Maßstab und Orientierung zugleich. Die Dortmunder Circles of Support sind als gerichtete Netzwerke zu definieren, da sie im Gegensatz zu ungerichteten Netzwerken themenbezogen organisiert sind. „Gerichtete Netzwerke arbeiten themenbezogen, haben mehr oder minder klar von den Akteuren gemeinsam definierte Aufgaben und Ziele; ihre autonomen Akteure […] treten bewusst und freiwillig in verschiedene Beziehungen zueinander, um diese Ziele zu erreichen“ (Diller 2002: 58). Ein COS arbeitet themengerichtet, weil er sich an der Zieldefinition der Fokusperson orientiert, aber auch an den Wünschen und Bedürfnissen der anderen beteiligten Akteure. Ziel des COS-EU-India-Projektes am Dortmunder Beispiel (2004-2006) war die gemeinsame Entwicklung mit Studierenden von professionellem Wissen und Soft Skills für Unterstützende, um COS mit und für Personen mit Behinderung 151
im Gemeinwesen zu fördern. Ein COS unterstützt die studentischen Akteure somit in ihrer Ausbildung zum Sozialpädagogen und hilft, das professionelle Selbstverständnis zu reflektieren. Zu hinterfragen ist, ob der Mensch mit Autismus sich dadurch als ‚Versuchskaninchen‘ missbraucht fühlt und inwieweit das Interesse der Studierenden tatsächlich als echtes Interesse zu bezeichnen ist. Denn sobald sich die vorgegebene curriculare Struktur auflöst, reißt der Kontakt zwischen den Akteuren ab. Brauchen Menschen im Allgemeinen vorgegebene Strukturen, um Kontinuität herstellen zu können? Zu hinterfragen ist auch, ob die studentischen Akteure am COS teilnehmen, nur um Credit Points und Leistungsscheine zu sammeln. Wer so fragt, darf nicht vergessen, dass das Studium immer leistungsorientierter wird. Wer nach Credit Points fragt, muss auch fragen: Ist das (universitäre) Bildungssystem in Deutschland allgemein zu sehr leistungsorientiert und vernachlässigt Aspekte wie Kommunikation, Selbstentfaltung und Emotionales Erleben? Produziert es Stress und Hektik? Produziert es sogar den scheinbar ‚vernetzten Egoisten‘? Wo sind die curricularen Module, die Studierende zu mehr sozialem Engagement und Verantwortungsbewusstsein für soziale Projekte ausbilden? Es stellt sich anderseits aber auch die Frage, welche Folgen es hat, die Akteure des inneren COS-Kontextes schablonen-artig auf die Rolle des Studenten und der Fokusperson zu reduzieren. Dadurch gerät man in die Gefahr, zu vergessen, dass die Akteure mehr sind als das ihnen zugewiesene Etikett. Die Interviews haben darauf aufmerksam gemacht, dass die studentischen Akteure mehr sind als nur Studenten zu sein. Besonders bei der Etikettierung der Fokusperson ist darauf zu achten, dass man nicht im Sinne des medizinischen Modells ausschließlich Behinderung fokussiert, sondern ressourcenorientiert ihre Vielfalt anerkennt. So können sie in erster Linie als Bürger einer Gesellschaft, als Akteure mit einer spezifischen sozialen, kulturellen und historischen Prägung wahrgenommen werden, und in zweiter Hinsicht als Fokusperson (mit einer Behinderung). Bezieht man die Vielfalt eines Individuums ein und berücksichtigt Alter, Herkunft, Geschlecht, Sozialisation usw., entgeht man der Gefahr, sich zu fragen, ob es sich um ein ‚Versuchskaninchen‘ handelt. Mit der Bezeichnung ‚Versuchskaninchen‘ reduziert man den Akteur mit Autismus auf eine Rolle und stigmatisiert ihn. Mit einer offenen Geisteshaltung können hingegen andere Facetten, aber auch die kulturelle Unterschiede und soziale Differenzen wahrgenommen und vor allem für wertvoll erachtet werden. Dies entspricht dem Diversity-Ansatz, der Kompetenzentwicklung im Umgang mit sozialen Differenzen zum Ziel hat. Die COS-Akteure bestechen durch ihre Aufgeschlossenheit dem Anderen gegenüber. Sie erkennen das Potential, das sich ihnen offenbart, wenn sie sich ihren Ängsten und ihren Konzepten stellen und die Erfahrung machen, dass Konzepte sich durch die Konzepte eines Anderen bereichern lassen. Besonders im Daten152
satz I lassen sich Fundstellen markieren, die auf Phasen der Ablehnung (Angst/ Vorurteile, Herabsetzung, Ignoranz) bis hin zur Akzeptanz (Toleranz/ Integration) hinweisen. Die COS-Akteure durchlaufen damit die Phasen, die von Stuber (2008) in Anlehnung an Hayles und Mendez-Russel (1996) in einem DiversityPhasenmodell beschrieben sind. Das Phasenmodell zeigt deutlich, dass man Vielfalt wahrnehmen muss, um sie begreifen und verstehen zu können (vgl. Stuber 2008: 76). Der COS-Ansatz entspricht Diversity-Grundsätzen, da es Umdenken, verändertes Erleben und neues Handeln ermöglicht. Emotionales Erleben, Erkennen von Chancen, Engagieren – all dies sind Ankerpunkte, die Diversity-Strategien entsprechen (vgl. Stuber 2008). Das Potential von COS sind gerade die nicht-geplanten Lernprozesse. In der Begegnung finden Lernprozesse statt, die sich keinem Lehrbuch entnehmen lassen. Ethik, Verantwortungsbewusstsein, soziale Kompetenzen, Selbstbestimmung und Behinderung können theoretisch vermittelt werden, aber erst in der sozialen Praxis zeigt sich, was – plakativ formuliert – vom Kopf ins Herz gerutscht ist. Wie lässt sich COS nun definitorisch abgrenzen? Ein COS am Dortmunder Beispiel ist von einer Helferkonferenz abzugrenzen. Helferkonferenzen als eine Technik sozialer Netzwerkarbeit „vereinen professionelle HelferInnen und Klienten. Sie sind immer dann angezeigt, wenn ein Betroffener gleichzeitig von mehreren professionellen HelferInnen aus unterschiedlichen Hilfebereichen und Institutionen betreut wird und die Hilfemaßnahmen aufeinander abgestimmt werden müssen“ (Bullinger/Nowak 1998: 193). Die Netzwerkkonferenz geht einen Schritt weiter: Sie bezieht alle Mitglieder eines sozialen Netzwerks ein, um eine Intervention im Netzwerk durchzuführen (vgl. ebd.: 195). Ein COS nach dem Dortmunder Beispiel unterscheidet sich von der Gruppentherapie, da er keinen therapeutischen Auftrag verfolgt. Ein COS unterscheidet sich von der Selbsthilfegruppe insofern, als dass Selbsthilfegruppen nach eigenem Selbstverständnis nicht auf professionelle Unterstützung angewiesen sind, sondern sie sich problemorientiert Leidensgenossen suchen, um sich gegenseitig zu unterstützen (vgl. Bulinger/ Nowak 1998: 121). Weder handelt es sich bei den Akteuren des COS um Leidensgenossen noch können sie auf professionelle Unterstützung (z.B. Supervision an der Hochschule) verzichten. Ein COS nach dem Dortmunder Beispiel ist in die Nähe des EmpowermentModells (z. B. nach Theunissen/Plaute 1995; Herriger 1997) zu setzen, da er Menschen ermutigt, „ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen und den Wert selbsterarbeiteter Lösungen schätzen zu lernen“ (Keupp 1996: 164). Ein COS unterstützt insbesondere die Fokuspersonen bei ihrer Selbstbemächtigung.
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Der COS-Ansatz am Dortmunder Beispiel weist zwar keine Anbindung ans Ehrenamt auf, ist aber dennoch in die Nähe des ehrenamtlichen Engagements zu setzen, da sich die Akteure ohne finanzielles Entgelt aufeinander einlassen. Die Circles of Support am Dortmunder Beispiel sind auch von der persönlichen Assistenz abzugrenzen. Die in erster Linie aus der Körperbehindertenbewegung stammende Konzeption der persönlichen Assistenz sieht den Assistenzgebenden nach dem sogenannten Arbeitgeber-Modell als Ausführungshilfe, der den Anweisungen der Asssistenznehmenden Folge zu leisten hat (vgl. Urban 1995: 68; Weber 2002: 11). Die Fokusperson im Circle of Support gibt streng genommen keine Anweisungen, die die studentischen Akteure auszuführen haben. Die Interaktion zwischen der Fokusperson und den studentischen Akteuren verläuft nicht hierarchisch, sondern kooperativ. Diese Annahme ist allerdings noch empirisch zu prüfen. Auch wenn die von den Fokuspersonen mit Autismus gesetzten Zieldefinitionen verstärkt den Freizeitbereich fokussieren, ist COS nicht als Freizeitgruppe zu definieren. Dies würde dem Ansatz nicht gerecht werden, da am Beispiel des Zweier-COS offensichtlich ist, dass es hier nicht nur um eine reine Spaß- und Freizeitkultur geht. Auch andere Beispiele der Dortmunder COS (mit Akteuren mit Mobilitätseinschränkungen), auf die in der Berichtsanalyse nur am Rande eingegangen wurde, verfolgen Ziele wie beispielsweise die Planung eines Umzugs, den gemeinsamen Besuch eines Volkshochschulkurses etc. Auch sind COS am Dortmunder Beispiel von Peer-Support-Groups abzugrenzen. Unter Peer-Beziehungen versteht man „Beziehungen unter in etwa gleich alten Kindern und Jugendlichen, [die] [v]on ihrer Qualität […] jedoch sehr unterschiedlich sein [können]“ (Fend 2000: 312). Gemeint ist demnach der Umgang mit flüchtigen Bekannten ebenso wie mit guten Freunden (vgl. ebd.: 312). Weder sind die Akteure eines COS am Dortmunder Beispiel etwa gleich alt, noch können die Akteure untereinander von guter Freundschaft oder von flüchtigen Bekanntschaften sprechen. Die in Abschnitten 5.5 und 5.6 aufgeworfenen relationalen Beziehungsstrukturen stellen die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Begriffe in den Vordergrund. Ein COS am Dortmunder Beispiel ist ein autonomes soziales Netzwerk, da es sich relativ eigenständig in gesellschaftlichen Strukturen bewegt. Es könnte seine Autonomie verlieren, wenn eventuell gegen die Interessen der Fokusperson gearbeitet wird. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn die Fokusperson keine Unterstützung zur Netzwerkerweiterung anstrebt und zufrieden mit der vorgegebenen COS-Struktur ist. Hierzu ist jedoch weitere Forschung notwendig. Verfolgt die Fokusperson das Ziel einer Netzwerkerweiterung mit Akteuren aus der direkten Nachbarschaft und benötigt dabei Unterstützung, so muss sich die weitergehende Forschung mit den dafür notwendigen Schlüsselkompetenzen 154
eines COS-Facilitators auseinandersetzen. Dazu sind die bisher beteiligten COSAkteure zu befragen. Die Erkenntnisse können in curriculare Module bzw. in die professionelle Ausbildung einfließen. Von Bedeutung ist in diesem Kontext die Zusammenarbeit mit der Fokusperson. Erweitert man das COS-Modell zu einer intervenierenden sozialen Netzwerkarbeit, gerät es automatisch in die Nähe gemeindeorientierter Praxis. Als eine Handlungsstrategie sozialer Netzwerkarbeit geht es bei der Netzwerkförderung im Sinne personenbezogener Netzwerkarbeit um die Initiierung sozialer Unterstützungsnetzwerke (vgl. Überblick Konzepte sozialer Netzwerkarbeit bei Bullinger/Nowak 1998: 130 ff.). Erforderlich ist dann die Bereitstellung finanzieller Ressourcen. Notwendig für eine erfolgreiche Umsetzung der COS ist der Facilitator, der wie in Großbritannien den COS gemeinsam mit der Fokusperson initiiert, aufbaut und begleitet. Unabdingbar ist eine entsprechende Ausbildung zum COS-Facilitator. Das Dortmunder Beispiel hat auf die Notwendigkeit professioneller Supervision aufmerksam gemacht. An dieser Stelle sind die Humanwissenschaften und ihre spezifischen Teildisziplinen wie beispielsweise die Rehabilitationswissenschaft und die Sozialarbeitswissenschaft besonders aufgefordert, sich der Curriculumsentwicklung gemeindeorientierter Unterstützungssysteme zu widmen. Angebracht ist die Erarbeitung und Einführung von COS-relevanten Modulen in der Lehre und in der professionellen Weiterbildung. COS mit einer variablen Akteurs-Struktur und als jederzeit abrufbare soziale Ressource hat in Deutschland ansonsten noch einen langen Weg vor sich.
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170
Anhang Fragebogen (Fokusperson) Name: männlich
weiblich
Alter:
Netzwerk - Karte 1) Bitte trage hier die Namen der Leute ein, die zu deinem Netzwerk gehören und schreibe hinter dem Namen die Funktion der Person, z.B. Name (Großmutter).
Familie / Verwandschaft
Freunde/ Bekannte
Name
Selbsthilfegruppe/ Therapie
Schule/ Arbeit/ Amt 171
2) Markiere bitte anschließend, wie diese Verbindung zu der anderen Person ist. Intensiv (diese Person ist mir sehr wichtig) schwach (diese Person ist mir nicht so wichtig)
______________
3) Trage bitte hier ein, wie oft du diese Personen siehst. Name
Häufigkeit des Kontakts (wöchentlich, monatlich oder jährlich)
4) Trage hier bitte ein, welches Feld dir klein, groß oder mittel vorkommt.
Familie/ Verwandtschaft klein
mittel
groß
Freunde/ Bekannte klein
mittel
Selbsthilfegruppe/ Therapie 172
groß
klein
mittel
groß
Schule/ Arbeit/ Amt klein
mittel
groß
5) In welchem Feld wünschst du dir mehr Kontakte?
Feld Familie/ Verwandtschaft
Kontakte zu wem?
Freunde/ Bekannte Selbsthilfegruppe/ Therapie Schule/ Arbeit/ Amt
173
Fragen zum Circle of Support
1) Gab es Treffen mit anderen ausserhalb des COS? Ja
Nein
Falls ja, mit wem? Meine Eltern
Freunde
Nachbarn
- von mir - der anderen Studierenden
Schule/ Therapie
- von mir - der anderen Studierenden
(Nichtzutreffendes bitte streichen) Sonstige:
2) Dein Verhältnis zu den Studierenden freundschaftlich
kollegial
partnerschaftlich
betreuend
Sonstiges:
3) Die Rolle der Studierenden Therapeut
Sonstiges: 174
Unterstützer
Pädagoge
Bekannter
Freund
4) Sind deine Wünsche/ Ziele im Circle of Support umgesetzt worden? Ja
Nein
Falls ja: mittel
wenig
hoch
5) Wie wurden deine Wünsche und Ziele im COS umgesetzt? Die Studierenden haben sich mit mir abgestimmt Die Studierenden haben sich untereinander abgestimmt Sonstiges: 6) Unterstützung im COS: was trifft zu? - Mehrfachnennung möglichAspekt Arbeitshilfe Pflege Materielle Unterstützung Intervention Beratung Geselligkeit Alltagsinteraktion Anerkennung Orientierung Zugehörigkeitsgefühl Hilfe Erwerb sozialer Kompetenzen Geborgenheit Liebe u. Zuneigung Motivation
Zutreffend
Beispiel
Sonstiges: 175
Zum besseren Verständnis der ersten Fragestellung wurde folgende frei erfundene Netzwerkkarte dem Fragebogen beigelegt:
176
Fragebogen (StudentIn)
Name _________________________________________________________
1) Gab es Verbindungen zu anderen ausserhalb des COS? Ja
Nein
Falls ja, mit wem? Eltern Freunde Nachbarn Institution der Fokusperson - der Fokusperson - der Fokusperson - der anderen - der anderen Studierenden Studierenden (Nichtzutreffendes bitte streichen) Sonstige:
2) Dein Verhältnis zu der Fokusperson freundschaftlich
kollegial
partnerschaftlich
betreuend
Sonstiges:
2a) Deine Rolle Therapeut
Unterstützer
Pädagoge
Bekannter
Freund
177
3) Dein Verhältnis zu den anderen Studierenden freundschaftlich
kollegial
partnerschaftlich
betreuend
Sonstiges:
4) Sind die Wünsche/ Zielsetzungen (Selbstbestimmung der Fokusperson) im Rahmen des Circles umgesetzt worden? Ja
Nein
Falls ja: mittel
wenig
hoch
5) Wie wurden die Wünsche und Ziele (Selbstbestimmung der Fokusperson) im COS umgesetzt? Eher in Abstimmung mit der Fokusperson
Sonstiges:
Eher in Abstimmung mit den anderen Studierenden
6) Welche Kontextbedingungen sind förderlich gewesen für die Umsetzung der Selbstbestimmung (der Fokusperson)? - Mehrfachnennung möglichReflexion an der Hochschule Beispiel: Gespräche vor oder nach den Treffen Mit wem/ worüber? Beispiel: 178
Direkte Kommunikation im Circle Beispiel:
7) Hältst du eine erfolgreiche Umsetzung der Selbstbestimmung ohne Supervision an der Hochschule für denkbar? Ja
Nein
8) Unterstützung im COS: was trifft zu? - Mehrfachnennung möglichAspekt Arbeitshilfe Pflege Materielle Unterstützung Intervention Beratung Geselligkeit Alltagsinteraktion Anerkennung Orientierung Zugehörigkeitsgefühl Hilfe Erwerb sozialer Kompetenzen Geborgenheit Liebe u. Zuneigung Motivation
Zutreffend
Beispiel
Sonstiges:
179
9) Inwiefern hat sich dein Blick auf die Behinderung der Fokusperson im Laufe des COS-Jahres verändert? Vorher:
Nachher:
Interview-Leitfaden BEZIEHUNGEN UND NETZWERKE Fokuspersonen 1) Wer sind die Menschen, mit denen du zu tun hast? 2) Fehlt dir etwas in deinem sozialen Netzwerk? 3) Hättest du gern mehr Freunde, professionelle Helfer etc.? 4) Was leistet COS für dich, in Bezug auf Beziehungen, für die Verbesserung der 5) Lebensqualität, zur Erweiterung deiner Aktivitäten im Alltag? 6) Welche Auswirkungen hat Autismus bei zwischenmenschlichen Kontakten und beim Aufbau von sozialen Netzwerken und Beziehungen? Studierende | Eltern | Therapeuten 7) Woraus besteht aus deiner Sicht das soziale Netzwerk der Fokusperson? 8) Wie findest du das, dass dort viele/ wenige Freunde/ Helfer etc. sind? 9) Was leistet COS für die Fokusperson, in Bezug auf Netzwerke und Beziehungen? (weiter wie oben) CIRCLES OF SUPPORT Fokuspersonen 10) Was war deine Motivation, an COS teilzunehmen? 11) Welche Wünsche und Ziele konntest du mit deinem Circle erreichen?47 12) Welche Entwicklungen konntest du durch COS machen? 13) Welchen Nutzen haben die Erfahren mit COS für dein Leben? 14) Was hat dein Circle nicht leisten können? Was war behindernd im COS? 15) Wünschst du dir eine Fortsetzung von COS? Studierende Dieselben Fragestellungen wie im Leitfaden für Fokuspersonen, zusätzlich bzw.
47
180
Die kursiv gesetzten Fragen entstanden in Zusammenarbeit mit einer Person mit AspergerSyndrom.
verändert: Von welchen Hintergrundannahmen hast du dich bei den ersten Treffen leiten lassen? 16) War die Fokusperson hilfreich für dein Studium? 17) Gab es Rollenkonflikte zwischen der einen Rolle als Pädagoge und der anderen als Freund/ Bekannter/ Unterstützer? Eltern Dieselben Fragestellungen wie im Leitfaden für Fokuspersonen, zusätzlich bzw. verändert: 18) Hat sich Ihr/ dein Kind im Circle anders verhalten als sonst? 19) Welchen Nutzen haben die Erfahrungen mit Circles of Support für das familiäre Zusammenleben? Therapeuten Dieselben Fragestellungen wie im Leitfaden für Fokuspersonen, zusätzlich bzw. verändert: 20) Von welchen Hintergrundannahmen hast du dich bei der Begleitung der ersten Treffen leiten lassen? 21) Welchen Nutzen haben die Erfahrungen mit Circles of Support für das therapeutische Arbeiten? COS VS. THERAPIE Fokusperson | Studierende | Eltern | Therapeuten 22) Was ist der Unterschied zwischen COS und der Therapie im AutismusTherapie-Zentrum? Ist eins wichtiger als das andere? 23) Ist COS für Menschen mit Autismus eine sinnvolle Ergänzung zur Therapie? 24) Wo findest du, dass COS die Therapie unterstützt? UNTERSTÜTZUNG Fokusperson | Studierende 25) Denkst du, dass es wichtig ist, dass die Unterstützer im COS Informationen über Autismus haben? Falls ja, was ist dabei wichtig zu wissen? 26) Wie sieht eine gute Unterstützung im COS aus? 27) War es förderlich, dass du von mehreren Unterstützern umgeben warst? 28) Gab es im COS gegenseitige Unterstützung? 29) War die Unterstützung im COS auch mal belastend/ einengend/ unangenehm? Eltern | Therapeuten Dieselben Fragestellungen wie im Leitfaden für Fokuspersonen und Studierende; die letzten drei Fragen entfallen. FREMD- UND SELBSTBESTIMMUNG Fokuspersonen 181
30) Magst du es lieber, wenn dir andere sagen, was du tun sollst oder entscheidest du lieber alleine? Wie sieht es in deinem Alltag aus? Bestimmst du mehr selbst oder bestimmen mehr andere über dich? 31) Ermöglicht dir der COS mehr Selbstbestimmung? 32) Wie bewertest du den Einfluss, den andere im COS auf dich haben – auf einer Skala von 1-3? (1= wenig Einfluss, 3= sehr viel Einfluss?) 34) Kennst du die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung? 35) Warum denkst du, sind die Entwicklungen der Selbstbestimmt-LebenBewegung bei autistischen Menschen noch nicht angekommen, wie zum Beispiel bei Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung? Studierende | Eltern | Therapeuten 36) Wo sind die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bei autistischen Menschen? 37) Ermöglicht der COS mehr Selbstbestimmung für die Fokusperson? 38) Inwiefern werden Fokuspersonen im COS-Kontext mehr oder weniger fremdbestimmt (als im professionellen Kontext)? 39) Welchen Einfluss hast du auf die Fokusperson – auf einer Skala von 1 bis 3? (1= wenig Einfluss, 3= viel Einfluss)
182