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Paul Wolf Coco und der Teufelsschüler ERICH PABEL VERLAG KG RASTATT/BADEN DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1977 by Erich Fabel Verlag, Rastatt Deutsche Erstveröffentlichung Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis incl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Waldbäur-Vertrieb. Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstr. 11,2000 Hamburg 1, Telefon 0 40/33 96 16 29, Telex: 02 161 024 Printed in Germany April 1977
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Er saß rittlings auf dem zappelnden Fellballen, auf den er immer wieder mit dem langen Messer einstach; er war schweißgebadet, auf seiner nackten Brust prangten die blutigen Buchstaben G. d. R. sein Gesicht hatte einen verzückten, fanatischen Ausdruck, und sein Mund war aufgerissen, ging schnappend auf und zu, und es sah so aus, als wolle er lachen, doch kein Laut kam aus seiner Kehle, denn er war auch stumm. Dann, nach dem letzten Dolchstoß, fiel das Lammfell auseinander. Darunter kam der verstümmelte, blutbesudelte Körper eines Jungen zum Vorschein… „Mir scheint, du bist nicht ganz bei der Sache, Coco“, sagte der Mann und wälzte sich von dem Mädchen, so daß er auf dem Rücken zu liegen kam. Er angelte sich von dem Tischchen neben dem Himmelbett eine Zigarettenpackung und zerknüllte sie fluchend, als er feststellte, daß sie leer war. In der anderen Packung fand er noch ein paar Zigaretten, zündete eine an und steckte sie dem Mädchen zwischen die sinnlichen Lippen. Coco Zamis zog automatisch daran, starrte aber weiterhin zum Baldachin hinauf, der sich über die kunstvoll geschnitzten Säulen des schweren Holzbettes spannte. „Entschuldige, Dorian“, sagte sie nach zwei Zügen. „Ich mußte eben an die furchtbare Tat des Taubstummen denken… Wie war doch sein Name?“ 3
„Pablo Canillo“, antworte Dorian Hunter zähneknirschend. Er drehte den Kopf zu ihr herum. „Hast du immer noch die fixe Idee, daß hinter seiner Wahnsinnstat mehr stecken könnte? Glaube mir, Coco, diesen Fall kann man nur vom pathologischen Gesichtspunkt betrachten. Canillo hat einfach durchgedreht – es war kein Ritualmord. Du hast ihn selbst überprüft und festgestellt, daß er keine Anzeichen von Besessenheit aufwies.“ „Wenn er nicht taubstumm wäre, hätte ich unter Hypnose vielleicht die volle Wahrheit von ihm erfahren“, murmelte Coco. „Nicht wenn er wirklich verrückt ist“, erwiderte Dorian und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. Er fluchte wieder. „Verdammt, wir haben kaum noch Zigaretten im Haus.“ „Ich kann auf dem Rückweg aus Andorra la Vella welche mitbringen“, bot sich Coco an. „Du willst also unbedingt beim Lokaltermin dabeisein?“ „Das lasse ich mir nicht nehmen. Ich habe mir sagen lassen, daß es dabei recht mittelalterlich zugeht.“ „Aber das ist nicht der wahre Grund. Du glaubst immer noch, daß mehr hinter Canillos Tat steckt.“ Coco nickte, beugte sich über ihn, um ihre Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. Dorian lächelte süffisant, als ihre festen Brüste unterhalb seines Kinns zu liegen kamen. Sie merkte es, lächelte zurück, 4
schmiegte sich an ihn und küßte ihn. „Wir haben noch Zeit“, hauchte sie, aber er schüttelte, noch immer anzüglich lachend, den Kopf. „Ich bin kein Roboter. Nützen wir die Zeit sinnvoller.“ Er schob sie von sich und stützte sich auf, blickte ihr forschend in die grünen Hexenaugen, die eine einzige Frage waren. Dorian fuhr fort: „Wir kennen uns nun schon eine halbe Ewigkeit, Coco, und trotzdem weiß ich noch wenig über dich. Ich meine, über deine Vergangenheit, als du noch eine Hexe warst…“ „Aha, mein Herr und Gebieter wünscht eine Beichte“, sagte sie eingeschnappt. „Sei nicht albern, Coco.“ Er zündete sich wieder eine Zigarette an, gab ihr einen Zug. „Mir geht es nicht darum, zu erfahren, was du alles angestellt haben könntest, bevor du mich kennenlerntest. Du hast dich in mich verliebt und wurdest deswegen aus der Schwarzen Familie ausgestoßen. Das ist der beste Beweis für mich, daß du die Vergangenheit überwunden hast. Wenn ich mich dennoch dafür interessiere, dann nur, um die Zusammenhänge besser verstehen zu lernen. Ich möchte mehr über den Alltag der Dämonen erfahren, über ihr Zusammenleben innerhalb der Schwarzen Familie… Verstehst du das?“ „Doch“, sagte sie abwesend. „Doch. Was willst du wissen?“ „Wie es damals weiterging, nachdem deine 5
Familie die Winkler-Forcas ausrottete, die euch die Vormachtstellung in Wien streitig machten.“ „Einen, und zwar Peter Winkler-Forcas, ließen wir als abschreckendes Beispiel am Leben“, berichtigte Coco. „Ich weiß, daran erinnere ich mich noch“, sagte Dorian. „Ich würde nun gern erfahren, was dieser gewonnene Dämonenkrieg eurer Familie einbrachte. Soweit ich mich erinnere, hast du die Winkler-Forcas praktisch im Alleingang erledigt. Hat man dich danach als vollwertiges Mitglied der Schwarzen Familie akzeptiert, oder sah man dich trotzdem weiterhin als ,Weißen Raben’ der Zamis an? Wie stellte sich Asmodi dazu, dem du dich verweigert hattest?“ Coco seufzte und drehte sich im Bett herum. Durch die zugezogenen Vorhänge fiel ein Streifen Tageslicht. Draußen war es düster, der Himmel war wolkenverhangen, und durch den Spalt sah Coco tanzende Schneeflocken… Castillo Basajaun im Winterkleid war ein märchenhafter Anblick. „Muß das sein, Dorian?“ fragte sie. „Nein, es muß nicht sein!“ Jetzt war er eingeschnappt. Sie drehte sich wieder zu ihm. „Na schön. Jetzt ist es ohnehin schon egal.“ Sie seufzte wieder. „Ich wollte die Erinnerung an die Vergangenheit verdrängen, sie zählt ohnehin nicht mehr, aber du hast die Bilder in mir wachgerufen…“ 6
Sie sah die karstigen Abruzzen vor sich, als wäre sie dorthin versetzt worden. Da war das Castello della Malizia, das Ingvar Zamis, dem Bruder ihres Vaters, gehörte – dorthin hatten sich die Zamis zurückgezogen, um die Entscheidung mit den Winkler-Forcas zu suchen. Und dort war der scheinbar verlassene Bauernhof, in dem sich die Feinde der Zamis eingenistet hatten. Coco war von den WinklerForcas als schwächstes Glied der ZamisFamilie erkannt und beeinflußt worden. Coco konnte von ihnen beliebig manipuliert werden. Doch sie hatte den Spieß herumgedreht. Coco war in das Versteck der Winkler-Forcas gekommen und hatte sich zum Schein in ihre Familie aufnehmen lassen, indem sie Peter zu ihrem Gefährten nahm. Dadurch waren die Winkler-Forcas gezwungen worden, den Bann von ihr zu nehmen. Als Coco frei war, hatte sie zum Vernichtungsschlag gegen die Winkler-Forcas ausgeholt. Sie schauderte bei der Erinnerung daran, wie sie die Forcas gegeneinander ausgespielt hatte, wie sie die Ahnungslosen mit ihrem hypnotischen Bann belegte und dazu brachte, sich gegenseitig umzubringen, und wie sie die Überlebenden zum Castello della Malizia ins Verderben führte, wo sie in Treibsand gerieten und von Ingvar Zamis’ Riesenameisen bis auf die Knochen abgenagt wurden… „Ich habe damals nichts Böses getan“, sagte Coco. „Im Grunde tat ich nichts anderes als 7
heute – ich habe Dämonen bekämpft. Aber glaube mir, Dorian, ich bin nie gegen normale Sterbliche vorgegangen, sondern habe im Gegenteil versucht, sie vor den Dämonen im allgemeinen und vor meiner Familie im besonderen zu beschützen.“ „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, Coco“, sagte Dorian zärtlich. „Ich bin auch so überzeugt, daß du dir nie etwas zuschulden kommen ließest. Du warst immer eine ehrbare Hexe, sonst hätten wir nie zueinandergefunden.“ „Leicht war es damals nicht für mich, das kannst du mir glauben“, sagte sie mit einem bitteren Lächeln. „Überhaupt nachdem meine Familie erkannte, welche Fähigkeiten in mir steckten. Natürlich wunderten sich meine Eltern und meine Geschwister, warum ich gegenüber den Menschen nicht so aus mir herausging, wie im Kampf gegen die WinklerForcas. Das brachte mich in ein arges Dilemma.“ „Und wie reagierten Asmodi und die anderen Dämonenfamilien auf deine Heldentat?“ fragte Dorian ohne jeden Spott. „Überhaupt nicht, weil niemand etwas von meinem Einsatz erfuhr“, antwortete Coco. „Das verstehe ich nicht“, gestand Dorian verwirrt. „Du hast mir gesagt, daß Peter Winkler-Forcas als einziger seiner Familie am Leben blieb, damit er als Zeuge aussagen konnte. In diesem Zusammenhang muß er vor Skarabäus Toth, dem Schiedsrichter der 8
Schwarzen Familie, ausgesagt haben, was für eine Rolle du gespielt hast. Oder wie war es?“ „Natürlich berichtete Peter vor Toth darüber, wie seine Familie besiegt wurde“, erklärte Coco. „Doch vorher wurde er von meinem Vater entsprechend beeinflußt, damit er keine Einzelheiten erzählen konnte. Unser Familienrat kam nämlich zu dem Schluß, daß wir den anderen nicht auf die Nase binden sollten, wie wir unsere Feinde besiegt hatten. Das geschah zu unserem Selbstschutz, denn es war möglich, daß wieder einmal eine Familie, zum Beispiel die Lexas oder die Nowotnys, versuchen würden, uns die Herrschaft streitig zu machen, und deshalb wollten wir unseren potentiellen Feinden keine Hinweise auf unsere Verteidigungsmöglichkeiten geben. Mir war das natürlich nur recht, daß ich nicht ins Rampenlicht trat, denn so konnte ich weiterhin meine eigenen Wege gehen. Stell dir vor, es hätte sich herumgesprochen, welche Rolle ich gespielt habe – nicht auszudenken, in welche fatale Lage ich gekommen wäre! Die Schwarze Familie hätte ständig weitere Kostproben meiner Fähigkeiten erwartet – und damit meine ich, daß man mich dazu getrieben hätte, Grausamkeiten nicht nur gegen Feinde innerhalb der Schwarzen Familie zu begehen, und bestimmt hätte mir Asmodi die ,Ehre’ zuteil werden lassen – wie er es schon einmal gewollt hatte –, ein Kind mit ihm zu zeugen…“ Coco schüttelte sich bei diesem Gedanken. 9
Sie blickte Dorian zärtlich an, fuhr ihm über das unrasierte Kinn und zwirbelte seinen Schnurrbart. „Da war es mir schon lieber, im verborgenen zu blühen und darauf zu warten, bis ein Sterblicher kam und mich erlöste und mir ein Kind schenkte.“ Sie umarmte ihn plötzlich und küßte ihn leidenschaftlich. „Verstehst du jetzt, warum ich nicht an diese schreckliche Zeit denken möchte, Dorian?“ flüsterte sie ihm bebend ins Ohr. „All die vielen Wenn und Aber… Ich möchte nicht daran denken, was alles hätte passieren können, wenn ich über irgendeine Kleinigkeit gestolpert wäre und mein Leben in einer anderen Bahn verlaufen wäre. Ich habe damals oft versucht, in die Zukunft zu sehen, und ich erfuhr, daß ich mein Glück würde finden können, wenn gewisse Voraussetzungen zutrafen. Ich habe darauf hingearbeitet, aber… Bitte lassen wir das.“ Ihre Augen waren feucht geworden, sie klammerte sich zitternd an ihn. „Freuen wir uns über unser Glück, Dorian, und lassen wir die Vergangenheit ruhen. Unser Leben ist so schon nicht einfach, weil wir ständig darum bangen müssen, daß Dämonen unsere Zukunft zerstören. Ich möchte mich nicht noch auch mit der Vergangenheit abquälen. Es kommt der Tag, da ich in der Stimmung sein werde, dir mehr über mein Leben als Hexe zu erzählen – aber 10
nicht jetzt, bitte.“ Er schloß sie schweigend in die Arme. Als sie später in wohliger Erschöpfung nebeneinanderlagen, sagte Dorian: „Ich möchte nur noch eines wissen.“ Als sie ihm den Finger auf den Mund legte, schob er ihn weg und fügte hinzu: „Wie wurdest du nach den Vorkommnissen in den Abruzzen von deiner Familie behandelt? Hattest du dich wenigstens bei den Zamis rehabilitiert?“ „Nicht ganz“, sagte sie widerwillig. „Vater war ja schon immer der Ansicht, daß ich die Anlagen für eine Hexe besaß, die es in der Schwarzen Familie weit bringen konnte. Aber er war auch der Meinung gewesen, daß ich zu viele Skrupel und Hemmungen hätte, um richtig aus mir herauszugehen. Die Geschehnisse in den Abruzzen änderten an dieser Meinung nichts. So, jetzt ist aber endgültig Schluß damit.“ Sie sprang unvermittelt aus dem Bett, schlüpfte in ihren Morgenmantel und wandte sich der Badezimmertür zu. „Warum denn auf einmal diese Eile?“ wunderte sich Dorian. „In einer Stunde findet der Lokaltermin statt“, rief Coco über die Schulter und verschwand im Bad.
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Zuerst schnitt er sich die Buchstaben G. d, R. in die nackte Brust, dann stach er wie rasend auf das in ein Lammfell gewickelte Opfer ein… So schilderte später eine Augenzeugin, die Mutter des ermordeten Jungen, die Tat des taubstummen Pablo Canillo. Coco kamen die Worte wieder in den Sinn, als sie den Range Rover die verschneite Schotterstraße von Castillo Basajaun in das Tal des Valira del Norte lenkte. Sie kam über die alte Steinbrücke und mußte einen Citroen vorbeilassen, der aus Richtung El Serrat kam, bevor sie in die N 3 einbiegen konnte. Es war schon fast Mittag. Sie fuhr schneller, holte den gelben Citroen mit dem französischen Kennzeichen und den drei Skipaaren auf dem Gepäckträger ein, der gemächlich vor ihr herzuckelte. Coco betätigte ungeduldig die Lichthupe. Das Seitenfenster auf der Fahrerseite wurde heruntergekurbelt. Ein gebräuntes Männergesicht erschien, grinste sie an und warf ihr eine Kußhand zu. Coco resignierte, auf der schmalen Straße war bei diesen Bedingungen nicht ans Überholen zu denken. Dorian hatte ihr aufgetragen, aus Andorra la Vella Zigaretten und Whiskey mitzubringen – Bourbon und Player’s Navy Cut; es gab nur einen Laden auf der Plaza del Princep Benlloch, wo sie das Gewünschte bekommen konnte. Ihre Gedanken schweiften wieder zu dem 12
Taubstummen ab. Nach seiner Wahnsinnstat war er geflüchtet. Als ihn die Polizisten wenige Stunden später in seinem Versteck aufstöberten, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Pablo Canillo hatte sich in der abgebrannten Hütte der Hexe Sixta verkrochen. Er kam auf die Aufforderung der Polizisten mit erhobenen Händen heraus. Er war ganz ruhig, öffnete seine Jacke und zeigte ihnen die nackte Brust mit den drei blutigen Buchstaben. G.d.R. Welche Bewandtnis hatte es damit? Coco hätte sich vorbehaltlos Dorians Meinung angeschlossen und sich nicht weiter um diesen Fall gekümmert, wenn nicht diese drei Buchstaben gewesen wären. Sie war sicher, daß sie eine besondere Bedeutung hatten. Vielleicht fand sie beim Lokaltermin weitere Anhaltspunkte. Es war schon vorgekommen, daß Täter sich verrieten, wenn sie zum Ort ihres Verbrechens zurückgebracht wurden. Coco war so in Gedanken versunken, daß sie es fast zu spät bemerkte, als der gelbe Citroen vor ihr plötzlich abbremste. Einige Leute standen an der Brücke über den Valira del Norte. Auf der anderen Seite der Brücke, an der Straße zu dem kleinen Dörfchen Anyos, das sich an den Berghang schmiegte, waren drei Polizeiwagen geparkt. Die französischen Touristen verließen ihren Citroen und traten interessiert zu der kleinen Menschenansammlung. Offenbar hatten sie 13
entdeckt, daß einer der Männer Handschellen trug. Coco fuhr den Range Rover an den Straßenrand und stieg ebenfalls aus. Ein Polizist versuchte gerade, die drei französischen Touristen abzuwimmeln; es waren zwei junge Männer und eine hübsche Blondine. „Hier gibt es nichts zu sehen, fahren Sie weiter.“ „Man wird sich doch wohl noch die Beine vertreten dürfen“, maulte einer der beiden jungen Männer. Coco zwängte sich an ihnen vorbei, lächelte dem Polizisten kurz zu, und betrat die Brücke. Die Prozession mit dem in Handschellen gelegten Pablo Canillo hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt. An der Spitze ging der Landvogt mit dem Gerichtsdiener Alfonso Roelas, mit dem Coco schon einige Male wegen verschiedener Formalitäten im Zusammenhang mit Castillo Basajaun zu tun gehabt hatte und mit dem sie sich ausgezeichnet verstand. Dahinter kam der Angeklagte, von zwei Polizisten flankiert. Außer einem halben Dutzend Einheimischer schlossen sich noch einige Touristen an, unter ihnen nun auch die drei Franzosen aus dem Citroen. Sonst fiel Coco nur ein alter Mann mit verrunzeltem Gesicht von vielleicht sechzig Jahren auf, der einen zerschlissen wirkenden und bis zum Boden reichenden Mantel 14
unbestimmter Farbe trug; auf dem Kopf saß eine Baskenmütze, und um den Hals hatte er sich einen überlangen Schal mit Norwegermuster geschlungen. Cocos Augen wanderten zu Pablo Canillo. Sein Gesicht war bar jeglichen Ausdrucks, die Augen blickten stumpf vor sich hin, der Mund verschwand hinter einem verwilderten Vollbart. Er trug eine Militärjacke mit Kapuze, die er in den Nacken geschoben hatte. Er ging gebeugt und mit schlurfenden Schritten. Sie erreichten eine Scheune. Etwas abseits davon stand eine schluchzende Frau. Der Mann an ihrer Seite hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt, mit der anderen hielt er eine schwere Axt. Er hatte nur Augen für Canillo, der jedoch den Kopf noch mehr senkte, als er an dem Paar vorbeikam. Die Frau schluchzte auf, als die Prozession in der Scheune verschwand; ein Polizist kam zu dem Mann und redete beschwichtigend auf ihn ein. Es waren die Eltern des ermordeten Kindes. Coco blieb im Scheunentor stehen. Sie wußte vom Gerichtsdiener, was jetzt kommen würde. Von den eigentümlichen Sitten, die sich in Andorra über Jahrhunderte erhalten hatten – so gab es zum Beispiel erst seit 1970 das Wahlrecht für Frauen – , war dieser mittelalterliche Rechtsbrauch wohl der seltsamste. Der Landvogt hatte sich mit dem Täter und dem Gerichtsdiener an den Ort des Verbrechens zu begeben. In diesem Fall war es die Scheune, wo Pablo Canillo die 15
grauenvolle Tat begangen hatte. Der Gerichtsdiener Alfonso Roelas trat vor und sagte in das entstandene Schweigen auf Katalanisch: „Toter, steh auf, das Gericht befiehlt es.“ Er wiederholte diese Worte noch zweimal. Pablo Canillo zeigte dabei keine Regung. Von draußen erklang wieder das haltlose Schluchzen. „Toter steh auf, das Gericht befiehlt es.“ Naturgemäß wurde dieser Aufforderung auch beim drittenmal nicht Folge geleistet, deshalb fuhr der Beamte fort: „Wer hat dich getötet?“ Erneut stellte sich Schweigen ein. Coco beobachtete Pablo Canillo. Sie stellte fest, daß er zu zittern begonnen hatte. Der Landvogt wollte schon zur Tagesordnung übergehen und das Protokoll erstellen, als Canillo plötzlich mit den gefesselten Händen die Polizisten beiseite stieß und sich dann breitbeinig vor die Schaulustigen hinstellte, die entsetzt zurückwichen. Nur Coco und der Alte mit der Baskenmütze blieben gefaßt, als Canillo vorn seine Jacke öffnete, sein Hemd über der Brust zerriß und diese reckte, so daß deutlich die blutigen Narben in Form der drei Buchstaben G. d. R. zu sehen waren. Coco hatte das Gefühl, als wolle der Mörder durch diese Entblößung den Umstehenden einen Hinweis geben, denn seine Handlung war der Frage: „Wer hat dich getötet?“ 16
unmittelbar gefolgt. Lag hier etwa ein Hinweis auf den wahren Täter? Oder auf sein Motiv? Wenn Canillo nur nicht taubstumm gewesen wäre! Dann hätte Coco ihn hypnotisieren und die Wahrheit von ihm erfahren können. Inzwischen hatten die Polizisten Canillo wieder überwältigt. Trotz heftiger Gegenwehr zerrten sie ihn zum Arrestantenwagen. Canillo gab unartikulierte Laute von sich, er quälte sich geradezu ab, so als wolle er trotz seiner Unfähigkeit zu sprechen, etwas sagen… Unter den Schaulustigen entbrannten leidenschaftliche Diskussionen. „Hätten die Augen gemacht, wenn der Tote auf Geheiß des Gerichts tatsächlich aufgestanden wäre!“ hörte Coco einen der Franzosen sagen. Sein Freund und das Mädchen lachten. „Geschmacklos“, erklang es neben Coco auf deutsch. Sie drehte sich überrascht um und sah den Alten mit der Baskenmütze. Er machte ein Gesicht, als fühle er sich ertappt. „Oh, Sie verstehen deutsch?“ „Ja, es ist meine Muttersprache“, antwortete Coco. „Wie klein doch die Welt ist.“ Der Alte schüttelte den Kopf und deutete in die Scheune. „Dieser mittelalterliche Rechtsbrauch ist ja wirklich recht seltsam, aber deswegen braucht man angesichts eines so abscheulichen Verbrechens nicht gleich dumme Witze zu machen. Finden Sie nicht auch?“ 17
„Ganz Ihrer Meinung“, sagte Coco abwesend. „Sind Sie nur auf der Durchreise?“ fragte der redselige Alte. „Nein, ich wohne zeitweilig in Andorra.“ „Na so was! Vielleicht begegnen wir uns wieder. Ich habe auf dem Envalira-Paß ein Haus gemietet.“ „Vielleicht will es der Zufall, daß sich unsere Wege wieder kreuzen“, sagte Coco. „Leben Sie wohl.“ „Auf Wiedersehen.“ Coco erreichte den Range Rover. Als sie losfuhr, sah sie den Alten einsam an der Bushaltestelle stehen. Sie hielt vor ihm an, kurbelte das linke Seitenfenster hinunter und rief ihm zu: „Bis zum Envalira-Paß komme ich zwar nicht. Aber wenn Sie wollen, kann ich Sie nach Andorra la Vella mitnehmen.“ Sie fand, daß sie den Alten doch zu unhöflich behandelt hatte, und wollte das wiedergutmachen. „Das würde schon passen“, sagte der Alte und kletterte in den Wagen. Coco fuhr los. Diesmal war der gelbe Citroen hinter ihr, und der Fahrer fand es wohl spaßig, sie ständig mit der Lichthupe anzublinken.
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Was für ein seltsamer Kauz! Coco blickte dem Alten nach, den sie auf dem Plaza del Princep Benlloch abgesetzt hatte, wo sie auch den Range Rover parkte. Er hatte ihr während der Fahrt erzählt, daß er über Andorra ein Buch schreiben wolle… Sonst wußte sie nichts über ihn; er hatte sich nicht vorgestellt und auch ihren Namen nicht wissen wollen. Er drehte sich noch einmal um, schenkte ihr ein eigenartiges Lächeln, dann war er in einer Seitengasse verschwunden. Bald darauf hatte Coco ihn vergessen. Sie erledigte die Besorgungen, kaufte drei Flaschen Bourbon und eine Stange filterloser Player’s und verstaute alles unter den Decken im Laderaum des Wagens. Dann bummelte sie eine Weile durch die Hauptstadt von Andorra, nahm in einem Lokal einen kleinen Imbiß und rief von dort im Castillo an. Sie ließ Dorian ausrichten, daß sie am Nachmittag der Verhandlung gegen Pablo Canillo beiwohnen wolle, die um 14 Uhr im Casa de la Vall beginnen sollte. Nachdem das Gespräch beendet war, zahlte sie und machte sich auf den Weg. In Gedanken versunken kehrte sie auf den Hauptplatz zurück und betrat die kleine Straße neben der Kirche. Der schlichte, massive Bau der Casa de la Vall mit dem ins Auge springenden Erker tauchte auf. Es schneite nicht mehr, die Wolkendecke war aufgerissen, der Schnee auf der Straße wurde zu Matsch. 19
In dem Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert trat der Generalrat von Andorra zu seinen Sitzungen zusammen. Hier wurden aber auch die Gerichtsverhandlungen geführt. Coco sah, wie einige wenige Einheimische das romanische Portal betraten, das mit den Wappen der Täler bekrönt war. Alfonso Roelas hatte ihr erzählt, daß der Schlüssel zu diesem Tor vierzig Zentimeter lang sei und fast eineinviertel Kilo wiege… G. d. R. Was bedeutete diese Abkürzung? War es das Sigill eines Dämons aus der Schwarzen Familie? Obwohl sich Coco das Gehirn zermarterte, konnte sie keine Antwort auf ihre Fragen finden. Wie eine Traumwandlerin betrat sie das Gebäude, schritt den Gang entlang zum Gerichtssaal. Die Verhandlung hatte noch nicht begonnen. Es waren kaum zwei Dutzend Leute erschienen – seltsam, daß ein aufsehenerregender Fall dieser Art nicht mehr Schaulustige anlockte! Vermutlich aber entsprach das der Mentalität der Bewohner von Andorra. Coco blickte sich um. Dort saß der Vater des Opfers. Die Mutter war nicht da. Langsam füllte sich der Gerichtssaal. Nur noch wenige Sitzplätze waren leer. Gleich würde das Gericht zusammentreten… Aus dem Gang ertönten aufgeregte Rufe. Schritte hallten durch das Haus. Die Gerichtssaalkiebitze reckten die Köpfe. „Da ist irgend etwas passiert!“ 20
Etwas flog von draußen gegen die Tür des Gerichtssaales, so daß sie unter dem Gewicht zuschlug. Coco sprang auf und lief zur Tür. Als sie sie zu öffnen versuchte, spürte sie einen nachgiebigen Widerstand, so daß sie einige Mühe aufwenden mußte, sie aufzubekommen. Sie zwängte sich durch den Türspalt auf den Gang. Dort lag auf dem Boden ein Beamter, sein Oberkörper lehnte an der Tür. Er wimmerte leise vor sich hin; eine Gesichtshälfte war eine formlose, blutige Masse. Vom Portal des Gebäudes rief jemand: „Das Haupttor ist abgesperrt! Sie sind in die andere Richtung geflüchtet!“ Über die Treppe kamen aus dem Obergeschoß zwei Männer. Ein Polizist mit schußbereiter Waffe deutete auf die in den Keller führende Treppe; sein Gesicht war leichenblaß und zeigte hektische rote Flecken. „Da hinunter sind sie… der Keller hat einen zweiten Ausgang“, sagte er keuchend. „Wie konnte das denn nur passieren?“ fragte einer der beiden Männer. Der Polizist wirkte völlig konfus. „Wir rechneten nicht damit. Pablo hat sich völlig ruhig verhalten. Als wir ihn aus seiner Zelle holten, benahm er sich noch ganz normal. Aber als dann sein Komplize auftauchte, begann er zu toben…“ „Haben Sie den Komplizen gesehen? Wie sah er aus?“ 21
„Wie… wie ein wandelnder Leichnam“, stotterte der verstörte Polizist. Coco hatte genug gehört. Wenn Canillo einen Komplizen hatte, dann hatte er die Tat wahrscheinlich auch nicht allein oder zumindest nicht aus eigenem Antrieb begangen. Möglicherweise gehörte er einer geheimen Sekte an, was Cocos Theorie, daß es sich um einen Ritualmord gehandelt hatte, erhärten würde. Und die Beschreibung, die der Polizist von Canillos Komplizen abgegeben hatte, war eine weitere Bestätigung für Cocos Vermutung, daß hier dämonische Mächte im Spiel waren. Sie erreichte die Kellertreppe, eilte hinunter, ohne sich um die drei Männer zu kümmern. Aus dem Keller drangen ferne Schritte und vereinzelte Rufe zu ihr, die sie jedoch nicht verstehen konnte. Vor ihr lag ein Gewölbe, von dem zwei Gänge abzweigten. Da die Geräusche aus dem linken Gang kamen, drang sie in diesen ein. Der Gang wurde von nackten, verstaubten Glühbirnen erhellt, die in Porzellanfassungen von der Decke hingen. Ein furchtbarer Schrei hallte durch den Keller, und Coco zögerte nicht länger, ihre Fähigkeit anzuwenden. Sie versetzte sich in einen rascheren Zeitablauf und erreichte auf diese Weise einen Seitengang. Dort wäre sie beinahe über eine am Boden liegende Gestalt gestolpert. Es war ein Polizist, der auf dem Rücken lag. Eine Gesichtshälfte war wie von Säure zerfressen. 22
Coco hob den Temporär-Effekt auf, um herauszufinden, ob der Polizist noch lebte. Als sie in den normalen Zeitablauf zurückfiel, hörte sie den Beamten stöhnen. Er deutete mit einer müden Bewegung nach vorn. „Das Scheusal ist dorthin… Ahhh! Brennt das…“ Der Polizist wischte sich mit dem Ärmel der Uniform über die zerfressene Gesichtshälfte und schrie bei der Berührung auf. „Bleiben Sie ruhig. Ihnen wird bald geholfen“, sagte Coco und eilte bereits weiter. Sie bildete sich ein, daß der Beamte ihr noch etwas nachrief, doch sie konnte es nicht verstehen, weil sie sich bereits wieder mit vielfacher Geschwindigkeit vorwärtsbewegte. Sie erreichte einen Stiegenaufgang, an dessen Ende eine aufgebrochene Tür in den Angeln hing. Dahinter war Tageslicht. Coco kam in eine Seitenstraße, die auf den Plaza del Princep Benlloch führte. Auf dem Hauptplatz war nur ein einzelner Passant zu sehen, der zur Bewegungslosigkeit erstarrt schien, weil sich Coco immer noch in einem rascheren Zeitablauf befand. Der Mann hatte sich einem Schaufenster zugewandt. Ein Wagen, aus südlicher Richtung kommend, schob sich wie in Zeitlupe ins Bild. Der Fahrer hatte den Kopf zur Seite gewandt, auf seinem Gesicht zeichnete sich Entsetzen ab. Daraus schloß Coco, daß er etwas Ungewöhnliches entdeckt hatte – vielleicht sogar den Unbe23
kannten, der wie ein wandelnder Leichnam aussah… Ohne ihre Geschwindigkeit zu verlangsamen, stürmte sie auf den Hauptplatz. Aber von dem Unheimlichen, der Pablo Canillo zur Flucht verholfen hatte, war nichts mehr zu sehen. Dafür fand sie ein weiteres Opfer. Es lag halb auf einem der geparkten Wagen, klammerte sich mit einer Hand am Außenspiegel fest und stützte sich mit der anderen am Boden ab. Coco erkannte an dem Norwegerschal und der Baskenmütze den wunderlichen Alten, den sie während des Lokaltermins kennengelernt hatte. Sie begab sich zu ihm, stützte seinen ausgemergelten Körper und versetzte sich zurück in den normalen Zeitablauf. Auf diese Weise fing sie seinen Körper auf, bevor er zu Boden fallen konnte. Der Alte drehte den Kopf und ließ die Augen rollen. Plötzlich zeigten seine rissigen Lippen ein Lächeln. „Was für ein erfreulicher Anblick, nachdem…“ Er unterbrach sich und atmete schwer. „Was ist passiert? Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet?“ fragte Coco und blickte sich auf dem Plaza suchend um. Der Wagen mit dem einzigen Augenzeugen war längst verschwunden. „Ich hörte Schritte hinter mir“, berichtete der Alte atemlos. „Als ich mich umdrehte, sah ich plötzlich eine furchtbare Fratze vor mir… Ob Sie’s glauben oder nicht, der Mann hatte einen 24
Totenschädel mit Fleischresten drauf und lose in den Höhlen hängenden Augen…! Er gab mir einen Stoß und flüchtete…“ Coco überlegte, ob sie die Verfolgung fortsetzen sollte. Aber in welcher Richtung sollte sie nach dem Flüchtigen suchen? Außerdem konnte sie ihre Temporär-Fähigkeit nicht unbegrenzt lange beanspruchen, sie fühlte sich bereits etwas geschwächt. „Wie geht es Ihnen?“ fragte sie den Alten. „Sind Sie verletzt?“ „Nein.“ Er schüttelte den Kopf und klopfte sich den Schneematsch vom Mantel. „Ich werde mich gleich noch besser fühlen.“ Mit diesen Worten holte er aus der Innentasche seines Mantels ein Fläschchen, schraubte den Verschluß ab und nahm einen kräftigen Schluck. Er seufzte genüßlich und fragte Coco: „Wollen Sie auch?“ Als Coco dankend ablehnte, steckte er das Fläschchen weg. Plötzlich wurde er aschfahl im Gesicht und taumelte. Coco fing ihn auf; sie spürte sein Gewicht kaum. „Was ist mit Ihnen?“ fragte sie besorgt. Sie hoffte nur, daß ihr der Alte nicht in den Armen starb. Er verdrehte die Augen, und sein Körper wurde ganz steif. „Nichts weiter…“, brachte er mühsam hervor. „Ein altes Leiden… aber… gleich wieder vorbei.“ „Sind Sie sicher, daß Sie keinen Arzt brauchen?“ fragte Coco. Der Alte schüttelte schwach den Kopf. 25
„Nur etwas Ruhe.“ „Ich werde Sie nach Hause bringen“, sagte Coco entschlossen und führte ihn zu ihrem Wagen. „Das kann ich nicht verlangen… Ich will Sie nicht schon wieder belästigen.“ „Keine Widerrede!“ Sie öffnete die Beifahrertür des Range Rover und schob ihn auf den Nebensitz. Während sie um den Kühler herum auf die andere Seite des Wagens ging, überlegte sie, daß ihr der Alte vielleicht weitere Anhaltspunkte über Canillos unheimlichen Komplizen geben konnte, wenn er sich erst wieder erholt hatte. Schließlich war er der einzige, der mit ihm auf Tuchfühlung gewesen war und dies relativ heil überstanden hatte. Der Alte war auf dem Nebensitz eingeschlafen. Coco brauchte ihn nicht zu wecken, weil sie wußte, daß er auf dem Envalira-Paß eine Hütte gemietet hatte. Bei normalen Straßenverhältnissen schaffte Coco diese Strecke mit dem Range Rover in einer knappen Dreiviertelstunde. Doch der Schneematsch und die teilweise vereiste Straße hielten sie zu besonderer Vorsicht an, und so benötigte sie für die etwas über zwanzig Kilometer bis Soldeu, dem höchstgelegenen Ort Andorras, über eine Stunde. Der Alte regte sich. Er öffnete die Augen, blickte aus dem Seitenfenster und dann zu Coco. 26
„Sie haben es also doch getan“, sagte er tadelnd. „Ich wollte Ihnen doch nicht zur Last fallen.“ „In Ihrem Zustand konnte ich Sie doch nicht allein lassen“, meinte Coco, „und von ärztlicher Hilfe wollten Sie nichts wissen. Sie müssen mir nur sagen, wie es weitergeht.“ „Wir sind bald da“, erklärte der Alte. „Einen Kilometer vor der Paßhöhe die Abzweigung links. Ich sage es Ihnen noch rechtzeitig.“ Eine Weile fuhren sie schweigend die steile Straße hinauf. Links und rechts türmten sich meterhohe Schneewächten. Als sie um die nächste Biegung kamen, tauchte vor ihnen ein Schneeräumfahrzeug auf. Coco wartete bis zur nächsten Geraden und überholte dann. „Achtung!“ rief der Alte. „In zweihundert Metern müssen wir links abbiegen.“ Coco trat auf die Bremse. „Jetzt! Da ist die Abzweigung.“ Coco fuhr noch langsamer, dennoch hätte sie die Seitenstraße fast übersehen, denn sie war total eingeschneit. Sie zögerte einen Moment, weil sie befürchtete, daß der Wagen im Schnee steckenbleiben könnte. Aber dann schaltete sie auf Allradantrieb und gab Gas. Der Range Rover bahnte sich wie ein Pflug seinen Weg über die verwehte Straße. Als Coco die erste Steigung genommen hatte, sah sie zu ihrer Erleichterung, daß die Straße nun ziemlich flach verlief. Sie fuhren durch einen kleinen Wald, an einigen Baumgruppen vorbei – und da tauchte die halb unter 27
Schneemassen begrabene Hütte auf. „Da sind wir“, rief der Alte aus und kicherte. „Ich hätte Sie ja gebeten, mich an der Hauptstraße abzusetzen, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Sie waren so nett zu mir, daß ich Sie bitte, mein Gast zu sein. Schlagen Sie mir diese Bitte nicht ab.“ „Wie könnte ich…“ Coco fiel diese Zusage nicht leicht. Es war schon spät, und es würde bald dunkel werden. Sie hätte wenigstens in Basajaun anrufen sollen, damit sich Dorian nicht unnötig sorgte. „Haben Sie hier Telefon?“ „Telefon?“ wiederholte der Alte und lachte wie über einen gelungenen Witz. „Wo denken Sie hin! Ich lebe von der Umwelt völlig isoliert, fernab der Zivilisation. Hier ist die Zeit stehengeblieben. Ich brauche die Einsamkeit. Diese Hütte ist geradezu ideal für meine Zwecke, darum habe ich sie gemietet. Hierher verirrt sich nie jemand.“ Coco hielt den Wagen an, stellte den Motor ab. Von dem Gebäude war kaum etwas zu sehen, nur an einer Stelle lugte das Gemäuer aus Natursteinen zwischen den Schneewächten hervor. Der Alte öffnete den Wagenschlag und kletterte behende ins Freie; er schien sich wieder völlig erholt zu haben. „Ich mache Ihnen gleich etwas Warmes“, rief er überschwenglich, während er durch den tiefen Schnee zu der Hütte stapfte. „Die Nächte sind hier oben bitterkalt, da muß man 28
sich innerlich aufwärmen. Und Hunger haben Sie sicher auch.“ Bevor Coco irgend etwas einwenden konnte, hatte sich der Alte bereits durch den Schnee einen Weg zum Eingang gekämpft. Er holte einen Schlüsselbund heraus, fingerte an dem Vorhängeschloß herum, und die schwere Holztür schwang quietschend auf. „Ich mache gleich Licht“, rief er und verschwand im Eingang. Als Coco ihn erreichte, war der darunterliegende Raum bereits vom rötlichen Schein einer Petroleumlampe erhellt. Der Alte kniete vor dem offenen Kamin und bemühte sich, ein Feuer zu entzünden. Es war kalt in der Hütte. Endlich brannte der Zunder, und die Flammen griffen auf die Holzscheite über. „Setzen Sie sich hierher“, riet der Alte und klopfte auf die Ofenbank. „Hier wird es gleich anheimelnd warm. Ich setze inzwischen den Tee auf. Was essen Sie dazu? Kuchen? Von mir selbst gebacken! Oder ziehen Sie was Kräftigeres vor? Wurst, Brot und Käse?“ „Auch von Ihnen?“ fragte Coco scherzhaft. „Ah, Sie trauen mir nicht viel zu?“ Der Alte machte sich am gekachelten Herd zu schaffen. Er kicherte wieder. „Ich bin deshalb nicht beleidigt, bilde mir auf meine Kochkünste nicht viel ein. Aber wenn man Selbstversorger ist, muß man von allem ein bißchen verstehen.“ Er richtete sich auf, blickte Coco fest an und sagte ernst: „Und ich verstehe von vielen 29
Dingen, von denen Sie sich nichts träumen lassen, einiges.“ „Ich wollte Sie nicht…“ „Sagte ich nicht, daß ich nicht beleidigt bin?“ Am Kamin wurde es schnell warm. Coco beobachtete den Alten, wie er geschäftig am Herd hantierte, und blickte sich in dem Raum um. Vermutlich handelte es sich hier um eine Jagdhütte, die der Alte jedoch nach seinem persönlichen Geschmack verfremdet hatte. Helle Flecken an den Holzwänden zeugten davon, wo einmal Jagdtrophäen, bäuerlicher Hausrat und Wanddecken mit Sinnsprüchen gehangen haben mochten; jetzt war nicht einmal mehr das obligate Kruzifix vorhanden. Statt dessen hingen an den Wänden vergilbte Fahnen mit mittelalterlich wirkenden Wappen. Die Wand gegenüber dem Kamin wurde von der Reproduktion eines Bildes eingenommen, das die Jungfrau von Orleans an der Spitze ihrer Getreuen darstellte; der Kopf eines der Männer hinter ihr, der eine Soldatenuniform der damaligen Zeit trug, war mit rotem Stift eingekreist. Über dem Herd hingen seltsame, altertümlich wirkende Werkzeuge, von denen manche wie Schürhaken und Kohlenzangen aussahen, so daß sich Coco keine weiteren Gedanken darüber machte. Daneben war ein Regal, auf dem neben einem Sammelsurium obskuren Nonsens auch einige dicke Wälzer mit abgegriffenen Lederrücken lagen. 30
„Sie fragen sich sicherlich, warum ich die stilgerechten Accessoires fortgeworfen und durch diesen Plunder ersetzt habe“, sagte der Alte und kam mit dem Teekessel zu dem grobgezimmerten Tisch am Fenster, auf dessen Brett die Petroleumlampe stand. „Kommen Sie her, gleich können Sie sich innerlich wärmen.“ „Ich habe nicht gesagt, daß es sich um Plunder handelt“, meinte Coco und folgte zum Tisch. „Für jemand, der keine Beziehung zu diesen Dingen hat, muß das Zeug wertlos sein“, erklärte der Alte. „Ich schare den Kram nicht aus nostalgischen Gründen um mich, sondern weil ich ihn für meine Arbeit brauche. Schenken Sie sich ein, gleich gibt’s was zu essen.“ Der Alte hatte nur eine Tasse auf den Tisch gestellt, lief zum Schrank zurück und kam mit einem Brett, einem halben Brotwecken und einer Käseglocke, in der auch Wurst war, zurück. „Und Sie?“ fragte Coco, auf die einzelne Tasse deutend. Der Alte kicherte und holte sein Fläschchen hervor – er trug immer noch Mantel, Schal und Baskenmütze. Er setzte das Fläschchen an die Lippen und tat einen kräftigen Schluck daraus. „Das ist Medizin für mich“, behauptete er, nachdem er abgesetzt hatte, das Fläschchen sorgfältig verschraubte und es wieder unter 31
seinem Mantel verschwinden ließ. „Trinken Sie nur, das wärmt.“ „Glauben Sie wirklich, daß Alkohol für Sie das Richtige ist?“ sagte Coco tadelnd. „Alkohol?“ Der Alte lachte. „Wo denken Sie hin! Das ist ein Elixier – das einzige, was mich am Leben hält.“ Coco lächelte, weil sie es für einen Witz hielt. Sie schlürfte ihren Tee – er schmeckte abscheulich. „Was sagen Sie zu meinem Gebräu?“ fragte der Alte erwartungsvoll. „Es ist Kräutertee, nach meinem eigenen Rezept.“ „Nicht schlecht“, log Coco. „Dann trinken Sie. Es ist noch mehr davon da. Sie können die ganze Kanne leeren, aber ich fürchte, das wäre zuviel des Guten. Der Tee ist sehr stark.“ Coco nickte und lächelte schwach. „Das fürchte ich auch.“ Sie fühlte sich auf einmal ganz seltsam. Irgendwie leicht – und doch wiederum bleischwer. Ihr war, als würde sie schweben, aber gleichzeitig spürte sie ihre Glieder als Ballast. Sie hatte den Eindruck, als wären ihre Sinne geschärft, und konnte Geräusche hören, die sie zuvor nicht vernommen hatte. Andererseits vernahm sie ein Rauschen und Pfeifen, das fast schon wie Sphärenmusik klang – und damit meinte sie, daß sie sich diese Geräusche nur einbildete. Der Alte plapperte munter weiter, Coco verstand nicht, was er sagte, und er schien 32
nicht zu merken, daß sie ihm nicht zuhörte. Plötzlich platzte seine plärrende Stimme in ihr Bewußtsein und übertönte alle anderen Geräusche. „… hat mir die Beschäftigung mit der Vergangenheit viel Wissen eingebracht, das längst schon in Vergessenheit geraten ist. Wer glaubt denn heute noch, daß die geheimen Wissenschaften unserer Vorfahren…“ „Seien Sie still!“ herrschte Coco ihn plötzlich an und fuhr von ihrem Platz hoch. „Ich habe ein Geräusch gehört. Es muß jemand draußen sein.“ „Sie müssen sich irren“, behauptete der Alte. „Hierher verirrt sich nie jemand.“ „Ich habe mich nicht geirrt“, sagte Coco überzeugt. Sie verließ den Tisch und huschte zur Tür. Als sie sie erreicht hatte, lauschte sie wieder. Jetzt war nur ein fernes Pfeifen zu hören, das so klang, als würde jemand durch den gespitzten Mund die Luft ausstoßen. Die anderen Geräusche waren verklungen. Coco riß die Tür auf und stürzte ins Freie. Die kalte Luft raubte ihr fast den Atem. Ihr war schwindlig, und das Panorama der verschneiten Pyrenäengipfel schien sich um sie zu drehen. Da war niemand. Sie entfernte sich einige Schritte von der Hütte und stieg auf einen Schneehügel, von wo aus sie die Umgebung überblicken konnte. Noch immer konnte sie keine Menschenseele entdecken – doch da 33
waren Fußspuren. Sie führten vom Haus fort zur nächsten Baumgruppe. Coco verfolgte sie mit den Blicken zurück bis zu ihrem Wagen. Und da entdeckte sie, daß die Heckklappe offenstand. Und von dort kam auch das Pfeifen entströmender Luft. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihr auf. So schnell sie konnte, eilte sie zu ihrem Wagen und besah sich die Reifen. Sie waren platt, alle vier. Das Pfeifen verstummte endgültig, als der letzte Rest der Druckluft entwichen war. Coco betrachtete einen Reifen genauer. Als sie sich hinunterbückte, erfaßte sie wieder ein Schwindel, und sie mußte sich am Kotflügel festhalten. Aber obwohl alles vor ihren Augen verschwamm, konnte sie es an einem Pneu metallisch blitzen sehen. Irgend jemand hatte einen Nagel in den Reifen getrieben, und der Nagel ragte noch halb aus dem Gummi. Es kostete Coco keine große Mühe, ihn herauszuziehen. Sie betrachtete den Metallstift. Es schien sich um einen ganz gewöhnlichen Nagel von Fingerlänge zu handeln. Als sie ihn jedoch genauer besah, entdeckte sie, daß in das glatte Metall drei Buchstaben eingeritzt waren: G. d. R. Sie erhob sich und begab sich zur Heckklappe. Die Decken waren zerwühlt. Coco hob sie auf und stellte fest, daß die Werkzeugkisten darunter fehlten. 34
Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie brauchte nicht erst die Spuren im Schnee zu untersuchen, um festzustellen, daß sie nur in eine Richtung führten – nämlich vom Wagen fort. „Was ist?“ Der Alte tauchte neben ihr auf. Sein Gesicht bekam einen erschrockenen Ausdruck, als er die platten Reifen sah. „Wer – wer kann das getan haben?“ „Pablo Canillo“, sagte Coco. Es gab für sie keinen Zweifel, daß er sich in ihrem Wagen versteckt, hatte. „Vielleicht ist er noch in der Nähe. Wir müssen…“ „Wir müssen ins Haus zurück und uns verbarrikadieren“, fiel ihr der Alte ins Wort. „Kommen Sie schon! Wahrscheinlich ist der Mörder bereits auf dem Weg zur französischen Grenze, aber man kann nie wissen.“ „Ich kann nicht hierbleiben“, sagte Coco und sträubte sich, als der Alte sie zurück zu seiner Hütte führen wollte. „Ich muß…“ „Nichts müssen Sie“, sagte der Alte bestimmt. „Ich stehe in Ihrer Schuld, und ich bin froh, wenn ich mich revanchieren kann. Es ist sicherer, wenn Sie die Nacht hier verbringen. Wer weiß, in der Dunkelheit würden Sie wahrscheinlich nicht einmal die Straße erreichen. Und wenn Sie sich verirren und erfrieren? Ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen.“ Coco sträubte sich nicht mehr. Irgendwo in ihrem Innern schlug eine Warnglocke an, als wittere ihr Hexeninstinkt Gefahr. Der Alte 35
erschien ihr auf einmal verändert. Er wirkte so fremd. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm – dabei benahm er sich nicht anders als zuvor. Dennoch war Cocos Mißtrauen geweckt, aber sie konnte die Zusammenhänge nicht mehr klar erkennen. Das Denken fiel ihr immer schwerer ;. Der Tee! Hatte der Alte ihr irgend etwas hineingegeben? Aber warum? Das ergab doch keinen Sinn! Und doch stimmte einiges nicht, stank geradezu zum Himmel… Wenn Pablo Canillo sich in ihrem Wagen versteckt hatte – wo blieb dann sein unheimlicher Helfer? Coco fand sich im Haus wieder. Die Petroleumlampe brannte schwächer als zuvor – oder die Sehkraft ihrer Augen hatte nachgelassen. Ihr Blick fiel auf die Reproduktion des Gemäldes mit Jean d’Arc. Aber die Jungfrau von Orleans war mit all ihren Gefolgsleuten von der Dunkelheit verschluckt worden. Nur der Offizier, dessen Kopf mit rotem Stift eingekreist worden war, hob sich deutlich ab – sein Gesicht leuchtete wie Phosphor. „Wer ist das?“ fragte Coco müde. „Sie meinen Gilles de Raiz?“ Der Name elektrisierte Coco förmlich. Gilles de Raiz, dessen Initialen G. d. R. waren! „Wissen Sie denn, wer das war?“ sagte Coco. Sie merkte es nur unbewußt, daß der Alte sie durch einen dunklen Gang in einen Nebenraum brachte. Er hielt eine Kerze, deren 36
flackerndes Licht ein breites, wuchtig wirkendes Bett beleuchtete. „Gilles de Raiz war ein französischer Marschall, der an der Seite der Jungfrau von Orleans gegen die Engländer kämpfte“, erklärte der Alte und drückte Coco auf das Bett. Während sie hintenüber auf die weiche Unterlage sank, sträubte sich alles in ihr dagegen. Ihr Geist war hellwach, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. „Gilles de Raiz war aber auch ein Massenmörder – ein Satanist!“ rief Coco. „Er hat weit mehr als hundert Opfer bei Schwarzen Messen den Dämonen geopfert…“ Die Stimmbänder versagten ihr den Dienst. Ihre Zunge lag wie ein aufgequollener Fremdkörper in ihrem Mund. Ihr wurde schwarz vor Augen, und das letzte, was sie hörte, bevor sich Schweigen über sie senkte, war das schrille Kichern des Alten. Coco fragte sich ein letztes Mal, was das alles zu bedeuten hatte – sie begriff die Zusammenhänge bis zuletzt nicht.
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Coco war an Armen und Beinen gefesselt. Sie konnte sich nicht bewegen. Aus der Ferne hörte sie ein Rumoren, es klang, als würde ein schwerer Fels über eine ebenfalls felsige Unterlage gerollt; und dann war da noch das Knarren von Holz unter einer schweren Last. Die ehemalige Hexe drehte den Kopf – und sah voller Entsetzen, wie ein haushoher Mühlstein auf sie zurollte. Er kam langsam näher, immer näher. Und sie konnte sich nicht bewegen! Der Mühlstein drehte sich, rollte über sie – sie sah die Wölbung des rauhen Steins über sich hinausragen… Nur noch eine Handbreit, dann würde der viele Tonnen schwere Stein auf ihr lasten… Coco schrie. Und da verpuffte der Mühlstein und die ganze Szene. Sie atmete erleichtert auf, als sie erkannte, daß alles nur ein Traum gewesen war. Aber das Rumoren konnte sie immer noch hören. Es schien von überall aus dem Raum zu kommen. Mit Schrecken erinnerte sie sich ihrer Situation. Die platten Reifen, die von Nägeln mit den Initialen G. d. R. durchgestochen worden waren… Pablo Canillo mußte das getan haben… Und der Alte hatte gesagt, daß die drei Buchstaben die Initialen des Gilles de Raiz waren… Oder nein, das hatte sie selbst daraus geschlossen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Geräusche, die nun auch aus dem massiven 38
Bett zu kommen schienen. Über ihr knarrte die Decke. Coco öffnete die Augen und sah schwere Deckenbalken, die auf sie niederzusinken schienen. Oder schwebte sie zu ihnen empor? Die Deckenbalken bildeten jedenfalls ein viereckiges Gestell. Coco sah hölzerne Handräder darauf und Seilzüge… Wahrscheinlich konnten die Holzklötze und Balken zueinander verschoben werden, wenn man an den Handrädern drehte. Das Ganze mutete wie ein Folterinstrument an. Coco wollte sich herumwerfen, aber da drückte sich das schwere Gewicht der Deckenkonstruktion auf ihren Körper. Dumpf krachte Holz auf Holz, Halterungen schnappten ein. Endlich war Stille, das Rumoren an der Decke, im Bett und in den Wänden war verstummt. Aber Coco konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Hände und Füße steckten in Holzblöcken, ihr Brustkorb wurde von drei Querbalken niedergedrückt. Über ihren Hals spannte sich ein breiter Lederriemen, so daß sie den Kopf nur ein Stück heben konnte. So lag sie lange Zeit da, und die Stille vermittelte ihr den Eindruck von Ewigkeit. Endlich wurde die Stille durch Geräusche unterbrochen, die aus dem Nebenraum zu kommen schienen. „Ist niemand da?“ rief Coco. Der Klang ihrer 39
eigenen Stimme war ihr fremd; sie klang müde und belegt. Der Alte mußte ihr irgend etwas in den Tee gegeben haben. Sie schalt sich eine Närrin, daß sie ihm so blindlings vertraut hatte. Bestimmt war alles ein abgekartetes Spiel. Sie lauschte wieder. Durch die Tür waren schleichende Schritte zu hören, dann erklang das verhaltene Kichern des Alten. Coco erinnerte sich, daß der Wohnraum durch einen Gang von diesem Schlafzimmer – oder sollte sie sagen: von der Folterkammer? – getrennt war. Die Schritte kamen nun näher, mußten ihre Tür erreicht haben. Sie konnte heraushören, daß es sich um mindestens drei Personen handelte. Stimmengemurmel wurde laut, aber sie konnte nichts verstehen. Sie drehte den Kopf zur Seite, um zwischen den Balken der Holzkonstruktion, die schwer auf ihrem Körper lastete, zur Tür sehen zu können. Aber ihr Blickfeld war so eingeengt, daß sie nur einen kleinen Ausschnitt erblicken konnte. Bewegte sich die Tür? Jedenfalls knarrten die Türangeln. Und plötzlich wurde die Tür mit einem Knall aufgestoßen. Die Kerze flackerte im Luftzug und drohte zu erlöschen. Ein Schatten stürzte in den Raum. Coco sah einen schwarzen Umhang, der wie die Flügel eines Vogels flatterte. In den wirbelnden Umhang war ein verzerrtes Gesicht eingebettet, das von einem Spitzhut aus schwarzem Filz gekrönt wurde. 40
Auf dem Spitzhut waren seltsame Symbole aufgemalt, die magische Bedeutung haben konnten, Coco jedoch fremd waren und sinnlos erschienen. Ein irres Gelächter erklang. Der schwarze Schatten tanzte heran. Hinter ihm tauchten zwei weitere Gestalten auf – Coco konnte auf der gegenüberliegenden Wand die verzerrten Schatten erblicken, die die flackernde Kerze warf. Der Kopf mit dem Spitzhut beugte sich über Coco, und sie erkannte das Gesicht des Alten, der sie in seine Hütte gelockt hatte. So harmlos sie sein zerfurchtes Gesicht in Erinnerung hatte, so schrecklich erschien es ihr jetzt. In den hervorquellenden Augen loderte der Wahnsinn; die Lippen erschienen ihr verzerrt, der Mund war schief, die großen Hautporen muteten ihr wie Krater an und hatten grünliche Ränder. Der Alte kicherte wieder, und Coco erkannte, daß nicht nur sein Blick, sondern auch sein Lachen das eines Wahnsinnigen war. „Ah“, machte der Alte genüßlich und näherte sein Gesicht dem ihren, daß sie sich fast berührten; Coco wollte sich abwenden, aber da wurde sie von einer knochigen Hand an den Haaren gepackt und herumgedreht. „Ah“, wiederholte der Alte mit einem zufriedenen Seufzen. „Habe ich dich endlich, Hexe! Wie lange habe ich auf den Augenblick meines größten Triumphes warten müssen! 41
Aber endlich ist es soweit.“ Auf der anderen Seite tauchte ein zweites Gesicht auf. Coco erblickte aus den Augenwinkeln Pablo Canillo, den entflohenen Mörder. „Erkennst du ihn wieder, Hexe?“ fragte der Alte. „Das ist mein gehorsamer Diener Pablo. Er tut alles für mich.“ „Dann hat er auch in Ihrem Auftrag den Mord begangen“, stellte Coco fest. „Mord?“ Der Alte kicherte. „Es war ein Opfer an den Dämon Barron, um ihn versöhnlich zu stimmen und auf mich aufmerksam zu machen. Barron mag mich vergessen haben, aber ich werde mich ihm wieder in Erinnerung rufen. Und du wirst mir behilflich sein, Hexe!“ „Sie sind wahnsinnig“, stellte Coco fest. Aber der Alte kicherte nur. Er griff hinter sich und zog etwas zu sich heran. Es stellte sich heraus, daß es sich um die dritte Person handelte. Es war ein Junge von kaum zwanzig Jahren. Sein glattes, rundes Gesicht ohne den geringsten Bartflaum wirkte unschuldig und drückte Staunen aus – aber in seinen großen Augen lag der gleiche Fanatismus wie bei dem Alten. „Das ist mein zweiter Gehilfe – Charles“, erklärte der Alte und drückte freundschaftlich den Nacken des Jungen, der pflichtschuldig nickte, sich aber aus dem Griff des Alten zu befreien versuchte. „Charles bekam bisher nur unbedeutendere Aufgaben aufgetragen. Aber jetzt hat er seine Lehrzeit beendet und kann 42
für höhere Aufgaben herangezogen werden. An dir, Hexe, soll er zeigen, was er kann.“ „Sie müssen wahnsinnig sein“, sagte Coco fest. „Anders ist es nicht zu erklären, daß Sie mich für eine Hexe halten.“ Der Alte lachte meckernd, wandte sich an seine Helfer und fragte: „Habt ihr das gehört?“ Pablo gab unartikulierte Laute von sich, Charles fiel in das Gelächter des Alten ein, der sich nun wieder an Coco wandte. „Erkennst du mich denn nicht?“ fragte er. Und er gab sich selbst die Antwort. „Wohl kaum, denn ich habe mich sicher sehr verändert. Ich bin gealtert – verdammt, ich bin alt geworden. Eigentlich sollte mein Körper längst in irgendeiner Grube verfaulen. Und ich trage die Verwesung auch schon längst in mir. Aber als Dämon Barron mir noch diente, erhielt ich ein Elixier von ihm, das meinen Tod hinauszögert. Ja, dieses Elixier verlängert mein Leben. Aber das ist mir nicht genug. Ich will die Unsterblichkeit! Und du wirst sie mir beschaffen, Hexe – oder sterben.“ Coco blieb ruhig. Der Alte war ein Schwätzer, das war seine Achillesferse. „Sie müssen mich verwechseln“, sagte Coco. „Ich kenne Sie bestimmt nicht – und ich bin alles andere als eine Hexe.“ „Nein, nein, ich irre mich nicht“, sagte der Alte. „Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du siehst immer noch nicht viel älter als siebzehn aus, obwohl du vierundzwanzig sein müßtest. Oder ist es noch länger her, daß wir 43
uns in Wien kennenlernten?“ Das waren die ersten Anhaltspunkte. Der Alte mußte sie aus einer Zeit kennen, als sie noch der Schwarzen Familie angehörte und von den Zamis noch nicht ausgestoßen worden war… lange bevor sie sich in Dorian Hunter verliebte. Sie versuchte sich zu erinnern, aber das war eine so turbulente Zeit gewesen, und das Gesicht des Alten kam ihr überhaupt nicht bekannt vor. „Selbst wenn Sie mich aus Wien kennen“, sagte Coco, „so sind Sie einige Jahre zu spät dran. Ich bin keine Hexe mehr.“ „Ich weiß, ich weiß, die Liebe zu einem Sterblichen hat dich einige deiner Fähigkeiten gekostet“, sagte der Alte. „Ich weiß alles über dich – oder zumindest fast alles. Als ich mich von Wien aus nach dir auf die Suche machte, habe ich alle Informationen in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen. Ich sah mich ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber, aber die Mühe hat sich gelohnt. Endlich habe ich dich, Hexe!“ Coco kam nicht darauf, wer der Alte war. Handelte es sich um den Exorzisten Helnwein, mit dem Dorian bis zu dessen unnatürlichem Tod zusammengearbeitet hatte? War Helnwein als Wiedergänger zurückgekommen? Das würde mit den Aussagen der Beamten übereinstimmen, die Pablos Komplizen als „lebenden Leichnam“ beschrieben hatten. Aber nein, das war doch zu absurd – außerdem hatte Coco den Exorzisten erst spä44
ter kennengelernt, und überhaupt… „Wer sind Sie denn eigentlich?“ fragte Coco geradeheraus. „Mein Name ist Anselm Graubarth“, sagte der Alte. „Erinnerst du dich jetzt an mich?“ Anselm Graubarth! Ja, der Name war ihr gut im Gedächtnis. Und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Es paßte alles zusammen. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen! Die Initialen G. d. R. hätten Sie darauf bringen müssen – spätestens, als sie erfuhr, daß damit Gilles de Raiz gemeint war, hätte sie die Wahrheit erkennen müssen. Aber andererseits, wer dachte schon daran, daß nach so vielen Jahren die alten Schrecken wieder lebendig werden würden? Außerdem glaubte sie Anselm Graubarth in sicherem Gewahrsam. „Ich sehe, es hat bei dir gefunkt, Hexe“, sagte der Alte. „Jetzt wirst du auch wissen, daß ich nicht spaße. Ich meine es todernst.“ „Ja“, sagte Coco, „ich erinnere mich wieder daran, daß Sie mich schon vor Jahren traktierten. Sie wollten über mich dem Teufel Ihre Seele verschreiben und dadurch Unsterblichkeit erlangen. Obwohl ich eine Hexe war und noch der Schwarzen Familie angehörte, war es mir schon damals nicht möglich, Ihre Wünsche zu erfüllen. Und heute, wo ich eine Ausgestoßene, eine ganz normale Sterbliche bin, ist es mir erst recht nicht möglich. Geben Sie auf, Graubarth.“ 45
„Du kannst mich nicht täuschen, Hexe“, erklärte der Alte. „Einmal eine Hexe, immer eine Hexe. Du kommst vom Schwarzen Blut nicht los. Du hast immer noch Kontakte zu den Dämonen, und die Beschwörungsformeln, um sie anzurufen, kannst du nicht vergessen haben.“ „Sie vergeuden nur Ihre Zeit“, sagte Coco. „Das wird sich noch herausstellen.“ Der Alte entfernte sich und kam gleich darauf wieder. Er hielt in jeder Hand eine Reißzange, wie sie im Mittelalter für Folterungen verwendet wurden. „Du weißt, daß ich die Praktiken des Gilles de Raiz’ kenne und sie auch anzuwenden verstehe. Ich bin überzeugt, daß mir derselbe Erfolg wie ihm beschieden sein wird.“ „Gilles de Raiz wurde gehängt!“ rief Coco. Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich habe alte Unterlagen gefunden, die beweisen, daß der Teufelsschüler de Raiz Unsterblichkeit erlangt hat. Und nach den alten Aufzeichnungen habe ich dieses Foltergerät konstruiert.“ Während er das sagte, klopfte er mit einer Reißzange auf das Holzgestell, in dem Coco gefangen war. Es war zwecklos, sich daraus befreien zu wollen. „So“, sagte der Alte , als sei er zu einem Abschluß gekommen. „Du weißt jetzt, woran du bist, Hexe. Ich gebe dir etwas Bedenkzeit, damit du dich mit deiner Lage abfinden kannst. Charles wird bei dir bleiben und dich gelegentlich daran erinnern, daß du nicht zum 46
Vergnügen hier bist. Aber glaube ja nicht, daß du Charles mit deinen Hexenkünsten bestricken kannst. Du wirst sicher schon festgestellt haben, daß ich dir ein sehr wirkungsvolles Mittel in den Tee gegeben habe, das deine Fähigkeiten lähmt. Und selbst wenn die Wirkung des Mittels nachlassen sollte – Charles ist trotz seiner Jugend gegen alle Verführungskünste gefeit. Er weiß, wie man sich gegen Hexen schützen kann.“ Der Alte wandte sich ab. Bevor er endgültig aus Cocos Gesichtskreis verschwand, sah sie, wie er sein Fläschchen unter dem Umhang hervorholte und es leerte. Dann erst wandte er sich der Tür zu. Der taubstumme Pablo folgte ihm. Die Tür fiel hinter den beiden krachend ins Schloß. Coco war mit dem jungen Charles allein. „Spielen wir miteinander?“ hörte sie ihn plötzlich in hart akzentuiertem Deutsch fragen. Coco wurde zugleich kalt und heiß beim Klang seiner Stimme. Plötzlich spürte sie den Druck von Holz zwischen ihren Beinen. Ein Keil schob sich zwischen sie und drückte sie auseinander. Gleichzeitig wurden ihre Knie von entgegengesetzt wirkenden Keilen zusammengedrückt. Coco schrie. Charles’ Jungengesicht tauchte über ihr auf. „Sprich, Hexe“, verlangte er mit unschuldigem Lächeln. Nur seine Augen glühten satanisch. „Sprich!“ 47
„Was willst du hören?“ fragte Coco stöhnend. „Erzähle von früher“, verlangte der junge Mann. „Ich höre mir immer wieder gerne Hexenschicksale an. Denn es sind meistens sehr ergreifende Geschichten. Erzähle!“ Und Coco kam der Aufforderung nach.
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Ich sah dem Beginn des Sabbats mit Furcht entgegen. „Die Omen sind günstig“, sagte Thekla, meine Mutter, und hob ihr blasses Gesicht zum wolkenverhangenen Himmel empor. Ihr Blick war dabei stechend – und als hätte sie es kraft ihrer Augen bewirkt, brach die Wolkendecke auf und gab den Vollmond frei. Auf den kahlen Bäumen rund um unsere Villa hockten Schwärme riesiger Krähen. Sie verhielten sich ruhig und rührten sich kaum. Aber jedesmal, wenn ein neuer Gast eintraf, begannen sie lauthals zu krächzen und flatterten wie verrückt mit den Flügeln. Das war ihr Willkommensgruß. Es waren jedoch nicht nur Dämonen geladen, sondern es kamen auch normale Sterbliche, die sich ahnungslos in den Teufelsreigen eingliedern ließen. Ihnen gaben die Krähen keinen Willkommensgruß. Ich wandte mich dem unbeleuchteten Haus zu. Als ich die finstere Halle betrat, verstellte mir der Hüter des Hauses den Weg. Er war nur einen Meter groß und trug eine große, buntbemalte Holzmaske vor dem Gesicht, unter der sich ein von Würmern wimmelndes Gesicht befand. Sein schwarzhäutiger Körper war nackt. „Dein Platz ist unter den Gästen, Coco“, sagte er mit seiner heiseren, krächzenden Stimme. „Ich habe schon einmal einem Sabbat 49
beigewohnt und möchte die Greuel kein zweites Mal erleben“, sagte ich und versuchte an der gnomenhaften Gestalt vorbeizukommen. Aber der Hüter verstellte mir wieder den Weg. „Damals hast du große Schande über deine Familie gebracht“, kam es heiser durch die Holzmaske, und in den Augenschlitzen glühte es böse auf. „Der Sabbat fand dir zu Ehren statt. Asmodi erschien persönlich, um dich feierlich in seine Schwarze Familie aufzunehmen. Doch statt das dir zugedachte Opfer zu töten, versuchtest du ihm zur Freiheit zu verhelfen. Das soll sich nicht wiederholen.“ Ich blickte den Hüter verzweifelt an, versuchte seine Augen durch die Schlitze der Holzmaske zu ergründen, doch da war nur das nebulose Glühen. „Erinnerst du dich denn nicht, Rupert?“ fragte ich, den Hüter bei seinem früheren Namen ansprechend. „Ich habe das damals doch nur für dich getan. Du warst das auserwählte Opfer. Ich liebte dich und brachte es nicht über mich, dich zu töten…“ Ich brach ab. Es war sinnlos. Das Wesen, das einmal Rupert Schwinger gewesen war, hatte seine Erinnerung an sein früheres Leben verloren. Dafür sorgte meine Familie. Und sie hatte auch dafür gesorgt, daß sich Rupert nicht seiner Freiheit erfreuen konnte. „Kehre zu den Gästen zurück!“ verlangte der Hüter. Ich wandte mich um und begab mich wieder 50
ins Freie. Rupert war ein mahnendes Beispiel dafür, daß ich keine Beziehungen zu normalen Menschen knüpfen durfte. „Was machst du für ein Gesicht, Coco?“ hörte ich meine Schwester Lydia neben mir sagen. Sie kam an der Seite eines stattlichen, gutaussehenden jungen Mannes, der einen Smoking trug. Lydia war älter als ich und unserer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir waren uns überhaupt nicht ähnlich, weder im Aussehen noch im Charakter. Lydia war mannstoll; als sie mir einmal über ihre dämonischen Liebesspiele zu erzählen begann, war mir schlecht geworden. Früher war Lydia ständiger Gast bei den monatlichen Sabbaten der Lexas gewesen. Sie war eigens deshalb jedesmal aus London gekommen, doch es war zweifelhaft, ob nach der Ausrottung der Winkler-Forcas die LexasClique Lydia weiterhin dulden würde. „Darf ich dir Mario Meger vorstellen?“ sagte Lydia. „Er ist Aktmodell an der Akademie. Er hat einen tollen Körper. Ich habe jeden seiner Körperteile x-mal und überlebensgroß gezeichnet. Meinst du, daß ich Talent habe, Mario?“ Ihr Begleiter, der nicht zur Schwarzen Familie der Dämonen gehörte, grinste mich wie eine Zahnpastareklame an. „Lydia hat bei allem, was sie von mir zeichnete, maßlos übertrieben“, sagte er und 51
fuhr sich geziert über das pomadisierte Haar. „Aber sie hat unzweifelhaft ihre besonderen Talente, die jedoch nicht weit übers Bett hinausreichen…“ Der Mann hatte kaum ausgesprochen, als ihm plötzlich alle Farbe aus dem Gesicht wich. Lydia hatte ihm mit der geballten Faust in den Unterleib geschlagen, und er knickte zusammen wie ein Taschenmesser. „So muß man dahergelaufene Männer behandeln“, sagte Lydia belehrend, hob ihrem Galan das Kinn an, so daß er ihr in die Augen blicken mußte, und sagte: „Es ist nichts zwischen uns vorgefallen. Wir sind ein Herz und eine Seele, Mario.“ „Ein Herz und eine Seele“, wiederholte ihr Begleiter röchelnd und richtete sich mühsam auf. Ich blickte ihnen nach, wurde aber durch das Eintreffen weiterer Gäste abgelenkt. Die Krähen stimmten ein schauriges Gekrächze an, so daß sich die normalen Sterblichen unter den Gästen ängstlich duckten. Das Tor in der zwei Meter hohen Steinmauer, die unser Grundstück umgab, ging auf, und zwei Männer und eine Frau erschienen darin. Es handelte sich um Perez Lexas, das Sippenoberhaupt dieser Familie, seine Frau Marcha und deren ältesten Sohn Eustache. Die Lexas waren einst von Südamerika gekommen und hatten in Wien geherrscht, bis unsere Familie vor fünfzig Jahren von Rußland emi52
grierte und das Kommando in einer blutigen Auseinandersetzung an sich riß. Die Lexas-Sippe trug den Zamis nichts nach und hatte sich bei der Auseinandersetzung mit den Winkler-Forcas neutral verhalten. Dennoch hatte mein Vater behauptet, daß Perez Lexas es lieber gesehen hätte, wenn die Forcas die Oberhand behalten hätten. Nachdem das Geschrei der Krähen verstummt war, empfing Vater die Lexas. „Perez, sei mein Ehrengast“, sagte mein Vater zur Begrüßung. „Du hast das Recht auf das erste Opfer. Es stehen genügend knusprige Dinger zur Auswahl.“ „Willst du mich etwa dem Fürst der Finsternis vorziehen, Michael“, tat der Sippenführer der Lexas erstaunt. „Das wäre ein Affront gegen ihn.“ „Asmodi wird nicht kommen“, sagte mein Vater zähneknirschend; er verstand die Anspielung von Lexas sehr wohl. Schnell fügte er hinzu: „Aber das hat nichts zu sagen. Unser Sieg über die hinterhältigen Forcas wurde voll anerkannt.“ „Daran zweifle ich nicht.“ Mein Vater ging zusammen mit Perez Lexas und seiner Frau zum Haus. Ich hörte ihn noch sagen: „Skarabäus Toth muß jeden Augenblick mit dem überlebenden Forcas eintreffen. Dann wird Rechenschaft abgelegt…“ „Du hast dich ganz schön gemausert, Coco!“ Ich fuhr erschrocken herum, als ich die 53
Stimme hinter mir hörte. Da stand Eustache Lexas. Er war klein und fett und stank nach Schweiß. Auf seinen wulstigen Lippen platzten ständig Speichelblasen. Er war mir widerlich. „Wirst du mit mir den Reigen eröffnen, Coco?“ fragte er. Mir fiel sofort die Ermahnung meines Vaters ein, der mir eingeschärft hatte, daß ich unter keinen Umständen verraten durfte, was wirklich in den Abruzzen vorgefallen war. Und er hatte gesagt, daß die Lexas versuchen würden, uns auszuhorchen. Eustaches Annäherungsversuch mußte unter diesem Aspekt gesehen werden. „Lieber würde ich mit einer Ratte die Sardana tanzen“, erwiderte ich giftig. „Die könnte nicht widerlicher sein als du, Eustache.“ Er lachte laut, und das machte ihn nur noch abstoßender. „Das ließe sich vielleicht machen“, meinte er. „Lydia hat dir sicherlich von meinen Tierversuchen erzählt – und sie hat das Vergnügen mit meinen Monstren sichtlich genossen. Frage sie nur.“ Ich wandte mich ab, doch er blieb mir auf den Fersen. „Für eine Hexe, die ein Totalversager ist, riskierst du eine reichlich große Lippe“, zischte er mir ins Ohr. „Es gehen Gerüchte um, wonach du ein hilfloses Medium der Forcas warst, Coco. Ich könnte mir vorstellen, daß etwas Wahres dran ist.“ 54
Ich spürte die Wut in mir hochsteigen und war nahe daran, ihm zu sagen, daß ich es gewesen war, die den Untergang der WinklerForcas eingeleitet hatte. Aber dann erkannte ich, daß er mich nur provozieren wollte, und mir wurde ganz heiß bei dem Gedanken, daß ich mein Geheimnis beinahe verraten hätte. Niemand in der Schwarzen Familie durfte erfahren, welche Fähigkeiten in mir steckten! „Ich mag die Schwächste meiner Familie sein“, sagte ich. „Aber ich nehme es noch immer mit jedem Lexas auf. Nenne mir einen großen Dämon, den eure Sippe in den letzten dreißig Jahren hervorgebracht hat. Und was dich betrifft, Eustache, so frage ich dich, ob es stimmt, was man sich über dich erzählt. Suchst du dir deine Opfer wirklich unter den Todeskandidaten von Krankenhäusern und Altersheimen?“ Ich bezeichnete ihn damit indirekt als einen leichenfressenden Ghoul, was für einen Dämon eine der schlimmsten Beschimpfungen war. Das sollte Eustache erst einmal verdauen. Mein Bruder Georg kam, und Eustache machte sich schnell aus dem Staub. Georg war nach Adalmar, der in den Abruzzen geblieben war, der Zweitälteste, beherrschte die Schwarze Magie jedoch fast so perfekt wie Vater. Er war eine unauffällige Erscheinung, besaß das Aussehen eines Durchschnittsmannes, den man für einen Buchhalter oder einen Archivar halten konnte. 55
Ich mochte Georg ganz gern, obwohl ich wußte, daß auch er einiges auf dem Kerbholz hatte. „Hattest du Streit mit Eustache?“ erkundigte er sich. „Der Bastard wollte mich aushorchen“, antwortete ich zornig. „Wenn er mir noch einmal in die Nähe kommt, werde ich ihm einen Denkzettel verpassen, den er so schnell nicht wieder vergißt.“ „Sei vorsichtig, Coco“, ermahnte mich Georg. „Niemand darf erfahren, was in dir steckt. Du weißt, daß du dich um deiner eigenen Sicherheit willen verstellen mußt.“ Ich nickte. Wieder schrien die Krähen, als vier Mitglieder der Thimig-Sippe eintrafen. Die Thimigs waren unbedeutende Dämonen, Werwölfe, deren Jagdgebiet sich über den Wienerwald und die Außenbezirke erstreckte. Nicht einmal wenn sie menschliche Gestalt angenommen hatten, konnten sie ihre Verwandtschaft zu den Wölfen verleugnen. Mein Vater übersah ihre Ankunft geflissentlich und überließ die Begrüßung Volkart, seinem jüngsten Sohn, der seinen Zwillingsbruder Demian während des Dämonenkrieges gegen die Winkler-Forcas verloren hatte. Nacheinander trafen dann noch einige Dämonen von Wiener Familien ein, deren Namen mir aber allesamt nichts sagten. Es waren zumeist Einzelgänger ohne Format, die es nie verstanden hatten, sich innerhalb der Schwarzen Familie zu profilieren und ihr Fähn56
chen immer nur nach dem Wind drehten. Daß sie Dämonen ohne klingende Namen waren, machte ich ihnen nicht zum Vorwurf, aber ich wußte aus Erfahrung, daß solche Einzelgänger oft viel grausamer und schrecklicher wüteten als bekannte Dämonen. Und das machte sie für mich so abstoßend. Endlich waren die Gäste vollzählig – und als hätte er nur darauf gewartet, traf Skarabäus Toth ein, der Schiedsrichter der Schwarzen Familie. Er war auch im bürgerlichen Leben eine angesehene Persönlichkeit und ein erfolgreicher Anwalt, denn er verstand es äußerst geschickt, seine Klienten ins Verderben zu führen und dies als einen Erfolg erscheinen zu lassen. Das, was er im bürgerlichen Leben und den Menschen gegenüber zu sein vorgab – nämlich eine absolut integere Person –, war er in Wirklichkeit nur zu den Mitgliedern der Schwarzen Familie. Er war groß und dürr, hatte eine runzelige, verwelkt wirkende Haut mit einem gelblichen Stich, ein Gesicht, wie vom Tod gezeichnet, und wenn er sprach, hörte es sich an wie raschelndes Laub. Dennoch war immer klar verständlich, was er sagte. An seiner Seite befand sich Peter WinklerForcas, der einzige seiner Sippe, den mein Vater am Leben gelassen hatte. Er war blaß und schien um Jahre gealtert. Er hatte den Untergang seiner Sippe bestimmt noch nicht verwunden, und es würde Jahre dauern, bis er 57
sich von diesem Schock erholt hatte. Skarabäus Toth nickte den anderen Dämonen nur zu und begrüßte auch meinen Vater nur höflich, aber distanziert; er wollte nie den Anschein erwecken, irgend jemandes Partei zu ergreifen, und das gelang ihm vorzüglich. Mein Vater geleitete ihn und den überlebenden Forcas ins Haus. Georg forderte die anderen Dämonen auf, ihnen zu folgen. Einige erkundigten sich ungeduldig, wann der Sabbat beginnen würde, und Georg machte sie darauf aufmerksam, daß zuerst die Formalitäten zu erledigen waren. „Was soll diese Geheimniskrämerei?“ hörte ich Lydias Begleiter aufbegehren, als sie ihm klarmachte, daß er sie nicht ins Haus begleiten durfte. Meine Schwester versuchte nicht erst, ihm umständlich klarzumachen, daß nur Schwarzblütige bei dieser Besprechung anwesend sein durften, sondern küßte ihn scheinbar leidenschaftlich; als sie ihn jedoch losließ, war er leichenblaß, und seine Mundpartie schimmerte bläulich, wie vereist. Volkart und ich achteten darauf, daß auch die anderen potentiellen Opfer dem Haus fernblieben. Volkart machte mit drei Filmstarlets kurzen Prozeß: Er hypnotisierte sie dahingehend, daß sie sich die Kleider vom Leibe rissen und nackt ins Schwimmbecken sprangen. Und das mitten im Winter, aber es muß erwähnt werden, daß in dieser Nacht in 58
unserem Garten regelrechte Treibhaustemperaturen herrschten. Als ich mich unbeobachtet fühlte, versuchte ich zwei blutjunge Mädchen, die Volkart aufgegabelt hatte, zu warnen. Als gutes Zureden nichts fruchtete, rief ich den Hüter des Hauses herbei. Ich nahm ihm die Holzmaske ab, so daß sie sein zerfressenes Gesicht sehen konnten, in dem fette Würmer wie Maden herumkrochen. „Wenn ihr mit diesem Scheusal schmusen wollt, könnt ihr bleiben!“ herrschte ich sie an. Das wirkte. Sie rannten davon, als sei Asmodi selbst hinter ihnen her. Doch noch bevor sie das Gartentor erreicht hatten, stürzten sich die Krähen auf sie und hieben mit ihren Schnäbeln auf sie ein, bis sie kehrtmachten und sich in einem Winkel des Gartens verkrochen. „Warum bist du schon wieder rückfällig geworden, Coco?“ sagte Volkart. „Du weißt doch, daß solche Extratouren nichts einbringen. Ich will den Vorfall vergessen, aber du mußt mir versprechen, diesen Sabbat nicht mehr zu stören.“ Ich versprach es und ging mit ihm ins Haus. Die Dämonen hatten sich im Wintergarten versammelt. Skarabäus Toth hatte gleich neben dem Eingang Platz genommen. Um ihn war unsere Familie versammelt, und Volkart und ich gesellten sich zu ihnen. Zwei Schritte entfernt stand einsam Peter Winkler-Forcas. Er war in Trance. Vor ihm hatten sich die 59
anderen Dämonen versammelt, allen voran die drei Vertreter der Lexas, und zu ihren Füßen kauerten die kriecherischen Werwölfe der Thimig-Sippe. Skarabäus Toth hatte über seinem Haupt drei Irrlichter entzündet, deren grünliche Flamme die Gesichter der Umstehenden in ein gespenstisches Licht hüllten. Der Schiedsrichter sprach die zeremoniellen Worte, die jeden Wahrspruch einleiteten, dann erklärte er, daß er Asmodi bereits Bericht erstattet und daß der Fürst der Finsternis keinen Einspruch gegen die Abwicklung des Verfahrens erhoben hatte. Danach stellte er die Frage: „Ist jemand unter uns, in dessen Adern Schwarzes Blut fließt und der Einwände gegen meine Person als Schiedsrichter hat? Wenn es einen gibt, der Einspruch gegen mich erhebt, so soll er jetzt die Lichter über meinem Haupt löschen und sich zu erkennen geben – oder fortan schweigen.“ Es fand sich niemand, der die Irrlichter löschte. „So will ich den Zeugen sprechen lassen“, verkündete Skarabäus Toth. Er schloß die Augen und spannte sich an, um sich voll und ganz auf den in Trance befindlichen WinklerForcas zu konzentrieren. Es dauerte nicht lange, da begann der überlebende Forcas zu sprechen. Er begann damit, wie seine Familie der unseren den Krieg erklärt hatte, ohne sich uns 60
jedoch zu erkennen zu geben. Er schilderte, daß man meinen Bruder Demian bei einem Ritual bis an den Rand des Todes gefoltert hatte, um durch seine Schmerzensschreie mich heranzulocken und mich durch eine Todesmelodie den Forcas gefügig zu machen… Bis hierher ließ Peter keine Einzelheiten aus. Die folgenden Kampfhandlungen, die in Wien begonnen und schließlich in die Abruzzen getragen wurden, schilderte er jedoch nur in groben Umrissen. Er erwähnte mit keiner Silbe die Rolle, die ich dabei gespielt hatte, deutete nicht einmal an, daß ich mir das Vertrauen seiner Familie erschlichen hatte, indem ich mich zum Schein mit ihm vermählte. Er erwähnte nur die Tatsache, daß einige seiner Familienmitglieder sich gegenseitig töteten und sich dann auffraßen und daß andere in die Fallen der Zamis gerieten und darin umkamen. Daß hinter all dem ich gesteckt hatte, brachte er nicht zum Ausdruck. Natürlich führte das bei den Anwesenden sofort zu Protesten. „Es ist doch klar, daß der Zeuge beeinflußt wurde“ regte sich Perez Lexas auf. „Dadurch wird der Schiedsrichterspruch zur Farce!“ „Sie zweifeln meine Integrität demnach an, Perez?“ erkundigte sich Skarabäus Toth streng. „Das habe ich nicht gesagt.“ Der Lexas wand sich. „Aber warum lassen Sie zu, daß die Zamis den Zeugen beeinflußt haben?“ 61
„Das geschah unter meiner Aufsicht“, erklärte der Schiedsrichter. „Ich kann bezeugen, daß Peter Winkler-Forcas die Wahrheit spricht. Die Zamis haben ihn nicht dahingehend beeinflußt, die Unwahrheit zu sprechen.“ „Aber warum erfahren wir keine Einzelheiten?“ wagte der wölfische Walter Thimig einzuwerfen. Die Nähe der Lexas machte ihm Mut. „Warum erfahren wir nicht, wie es die Zamis fertigbrachten, daß sich die Forcas gegenseitig zerfleischen? Solche Einzelheiten würden uns interessieren.“ Skarabäus Toth lächelte wissend. „Die Zamis denken sich, daß ihre Feinde solche Einzelheiten wissen möchten, um im Falle eines Falles Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und gerade deswegen verschweigen sie sie. Dafür hat sogar der Fürst der Finsternis Verständnis.“ Walter Thimig begann entsetzt zu winseln. „Wie kann man meiner Sippe unterstellen, ein Feind der Zamis zu sein!“ heulte er auf. „Wenn meine Frage so ausgelegt wird, ziehe ich sie hiermit zurück und erkläre unsere Verbundenheit zu der Zamis-Sippe.“ Skarabäus Toth nickte zufrieden. „Wenn keine weiteren Einwände vorliegen, verkünde ich jetzt Asmodis Urteilsspruch.“ Und der Schiedsrichter der Schwarzen Familie sprach uns den gesamten Wiener Besitz der Winkler-Forcas zu, namentlich deren Villa in Perchtoldsdorf und das dort 62
gesammelte magische Kapital, verbannte den überlebenden Forcas aus Wien und unterstrich unsere Vorherrschaft in dieser Stadt. Dann verkündete er: „Der Sabbat kann beginnen!“ Die Dämonen stoben mit wildem Geheul davon und stürzten, einer wilden Horde gleich, ins Freie, um ihre auserwählten Opfer in ihren ausschweifenden Teufelsreigen aufzunehmen, der mit Blut und Tränen, Grauen und Qual – und mit Tod enden würde. Vor diesem Augenblick hatte ich mich die ganze Zeit über gefürchtet.
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Eine magische Sphäre schirmte unser Anwesen ab, so daß nichts von den Geschehnissen nach draußen dringen konnte. Die Starlets im Schwimmbecken kreischten vergnügt, als sich zwei Thimigs angekleidet zu ihnen ins Wasser stürzten. Einer von ihnen tauchte unter – und tauchte als Werwolf wieder auf. Die nackten Mädchen flohen schreiend aus dem Wasser und rannten geradewegs Eustache Lexas in die Arme, der sie in eine Gartenlaube führte, wo er einer Krähe das Genick umdrehte und aus ihren hohlen Knochen und einigen Federn ein Musikinstrument bastelte, auf dem er anschließend schaurige Töne hervorbrachte. Meine Schwester Lydia hatte sich mit ihrem Begleiter ins Haus zurückgezogen, wobei sie ihm verheißungsvoll verkündete: „Unseren Keller mußt du sehen, Mario. Komm, schnell, bevor sich auch die anderen dorthin zurückziehen.“ Meine Brüder Volkart und Georg waren ebensowenig zu sehen wie meine Eltern. Skarabäus Toth hatte sich überhaupt zurückgezogen. Ich hatte noch gehört, wie mein Vater ihn bat, Peter Winkler-Forcas hierzulassen. „Er soll keinen Schaden erleiden“, versprach mein Vater. „Wir möchten nur ein kleines Mysterienspiel mit ihm veranstalten.“ Später sah ich Peter mit offenen Augen durch den Garten wandeln. Er konnte jedoch nichts sehen, denn offenbar hatten ihn Vater 64
oder Georg geblendet. Als Peter einen der Dämonen am Arm zu fassen bekam und ihn fragte, wer er sei, wurde ihm geantwortet: „Ich bin dein Vater Radmin. Erkennst du mich denn nicht?“ Peter wollte sich daraufhin abwenden, doch der Dämon hielt ihn zurück und versprach: „Begleite mich, mein Sohn, durchs Totenreich. Ich will dich ein letztes Mal deine anderen Familienangehörigen sehen lassen.“ Und ich war sicher, daß Peter wegen seiner Blendung auf magische Weise nacheinander alle verstorbenen Winkler-Forcas zu sehen glaubte, obwohl man ihm die abscheulichsten Dinge in die Hand drückte. Ich fand das grausam, und Peter tat mir leid, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte auch für die gequälten Menschen nichts tun, die noch unschuldiger in diesen Sabbat geraten waren und deren Schicksal mir noch mehr am Herzen lag. Die Krähen waren nach und nach verschwunden. Aber sie waren nicht davongeflogen; ihre Kadaver lagen vielmehr über den ganzen Garten verstreut, ihre Federn bedeckten den Boden wie schwarzer Schnee, und das Wasser des Schwimmbeckens war von einem schwarzen Flaum bedeckt. „Heißa! Heißa!“ schrie ein uralt wirkender Mann, der sich in Ekstase gesteigert hatte, und ergriff mich am Arm. Er war bis auf einen Schurz aus Krähenfedern nackt, und sein ausgemergelter, knochiger Körper stieß mich 65
ab, obwohl er keiner aus der Schwarzen Familie war. Der Alte tanzte keuchend die Sardana; er würde solange tanzen, bis er tot umfiel. Da tauchte Eustache Lexas auf und ergriff den Alten an der anderen Hand. „Tanz, Väterchen, tanz!“ feuerte er ihn an; dabei troff ihm der Speichel von den Lippen. „Stampfe und wackle und verrenke dich!“ Der Alte mußte gehorchen. Er bot ein groteskes Bild. Ich hatte plötzlich Mitleid mit ihm. „Warum versuchst du es nicht mit mir, Eustache?“ rief ich und stürzte mich auf den Fettsack. Seine Hand fühlte sich so weich und schleimig an wie die eines Ghouls. Ich zerrte ihn mit mir fort, indem ich mich in einen immer schnelleren Zeitablauf versetzte. Dann, als er sich so schnell drehte, daß die anderen ihn nicht mehr sehen konnten, ließ ich ihn einfach los und entließ ihn aus dem Temporär-Feld. Er wirbelte noch eine ganze Weile um seine Achse, bis er endlich erschöpft zu Boden sank. Dort kroch er mit zuckenden Gliedern umher, unfähig, sich zu orientieren, zu schwach, sich zu erheben, aber in Ekstase gesteigert. Ich hatte ihm die häßliche Maske vom Gesicht gerissen – jetzt zeigte er seine wahre Natur. Ich sah mich nach dem Alten um. Ein Thimig hatte sich seiner angenommen, und obwohl er sich in seiner Wolfsgestalt zeigte, schien sein 66
Anblick dem Alten nichts auszumachen. Im Gegenteil, der Alte jagte sogar dem Werwolf Angst ein, als er plötzlich unsinnige Laute von sich gab und Verrenkungen mit den Armen machte, während er gleichzeitig aus einem Lederbeutel, den er unter seinem Federschurz versteckt hatte, eine silberne Gabel hervorholte. „Edelmetalle schrecken die Nachtgeschöpfe“, rief er dabei. „Und Silber kann Werwölfe töten.“ Der Thimig wich entsetzt zurück, als er die Silbergabel über sich schweben sah. Der Alte fuhr unbeirrt fort: „Keine Angst, du Satansbraten. Ich will dich nicht töten, sondern dich nur zu meinem Diener machen. Gehorche mir und verschaffe mir Kontakt mit dem Fürsten der Finsternis.“ Ich eilte schnell hinzu und entwand dem Alten die Gabel; auf unserem Anwesen konnte ich solche Ausschreitungen nicht dulden. „Verschwinde, dieses lächerliche Gerippe gehört mir“, herrschte ich Thimig an, der sich augenblicklich verkroch, wohl froh, die zersetzende Kraft des Silbers nicht zu spüren bekommen zu haben. Dann versetzte ich mich mit dem Alten in einen schnelleren Zeitablauf und brachte ihn auf die Straße, nicht ohne ihm vorher einen Mantel über die Schulter geworfen zu haben, der ihm zwar viel zu groß war, der ihn aber wenigstens wärmte, denn außerhalb der Begrenzungsmauer war es frostkalt. 67
„He, was soll das“, begehrte der Alte auf. „Ich will das Teufelsfest noch nicht verlassen. Der Dämon Barron hat versprochen…“ „Dich hat jemand reingelegt, Alterchen“, versicherte ich ihm. „Und jetzt mach, daß du nach Hause und hinter deinen warmen Ofen kommst.“ „Kommt nicht in Frage…“ Ich brach seinen kindischen Widerstand, indem ich ihn einfach hypnotisierte und ihm den Befehl gab, sich zu trollen. Da mußte er gehorchen. Als ich wieder in den Garten zurückkehren wollte, tauchte plötzlich Lydia vor mir auf. „Meine mißratene Schwester hat schon wieder mal den Samariter gespielt“, sagte sie sarkastisch. „Du wirst noch mal als Freak enden, Coco.“ Sie wußte, daß ich mich davor fürchtete und spielte deshalb bei jeder Gelegenheit darauf an. „Der Alte ist verrückt“, verteidigte ich mich. „Der hätte am Ende noch den ganzen Sabbat geschmissen.“ Lydia winkte ab. „Wie dem auch ist. Du sollst ins Haus kommen. Vater hat die ganze Familie im Keller zusammengetrommelt. Aber unsere Gäste sollen davon nichts merken.“ Ich fragte mich, was Wichtiges vorgefallen sein könnte, daß Vater während eines Sabbats den Familienrat einberief. Vater, Mutter und meine beiden Brüder 68
Georg und Volkart saßen auf dem Boden um einen magischen Kreis, über dem eine leuchtende Kugel aus Irrlichtern schwebte. Lydia und ich reihten uns so ein, daß wir geschlossen den magischen Kreis umsaßen. „Tut mir leid, dich in deinem Vergnügen stören zu müssen, Coco“, sagte Vater nicht ohne Spott, der genau wußte, daß es mir nicht leid tat. „Aber das hier ist wichtiger. Wir müssen nur schnell machen, bevor den Sabbatteilnehmern unser Verschwinden auffällt. Niemand soll erfahren, was hier geschieht.“ Ich blickte mich forschend um, aber die Gesichter der anderen waren ausdruckslos. „Bezähme deine Neugierde“, sagte meine Mutter rügend. Obwohl ich noch immer nicht wußte, worum es ging, konnte ich mir zusammenreimen, daß mein Vater mit jemandem über große Entfernung in Verbindung treten wollte. In solchen Fällen wurden nämlich meist Irrlichter oder auch Irrwische als Gedankenverstärker zu Hilfe genommen. „Konzentriert euch auf die Irrlichterkugel“, befahl mein Vater, und wir gehorchten. Eine Weile herrschte Stille. „Boza, hörst du mich?“ sagte mein Vater schließlich und wiederholte die Frage mit erhobener Stimme. „Klar, ich bin doch nicht taub“, kam postwendend die Antwort aus der Irrlichterballung. „Und wage es nicht noch 69
einmal, mich Boza zu schimpfen, sonst… Na, Schwamm drüber! Warum hat es denn so lange gedauert, bis du auf meinen Anruf reagiertest, Vetter?“ „Wir haben Gäste im Haus“, entschuldigte sich mein Vater. „Du weißt ja wohl inzwischen, daß sich bei uns einiges getan hat.“ „Allerdings, Vetter“, sagte die grollende Stimme aus der Lichterkugel. „Warum hast du nicht mich gerufen, dann wäre die Sache viel schneller erledigt gewesen. Du kennst meine Macht! Aber die Angelegenheit ist noch nicht vorbei. Ich weiß aus Erfahrung, daß eine Fehde die andere nach sich zieht. Ihr braucht in Wien eine starke Hand. Auch wenn du mich nicht gerufen hast, werde ich kommen, um unter den großsprecherischen MöchtegernDämonen aufzuräumen.“ „Aber die Winkler-Forcas sind ausgerottet“, sagte Vater. „Irgendwelche entfernte Verwandte werden sich doch finden lassen!“ Die Irrlichterballung erzitterte vom Timbre der Stimme. „Los, Vetter, bereite alles zu meinem Empfang vor! Ich komme sofort. Und ich bringe einige Überraschungen mit, bei denen dir die Augen übergehen werden.“ „Nicht so hastig!“ sagte Vater schnell. „Wir brauchen noch etwas Zeit…“ „Für einen Zamis gibt es das Hindernis Zeit nicht“, polterte der unsichtbare Sprecher. „Oder seid ihr bereits so sehr degeneriert? Na, es wird Zeit, daß ich bei euch einmal nach 70
dem Rechten sehe.“ „Wir rufen dich, wenn es soweit ist“, sagte Vater und brach den Kontakt ab. Die Leuchtkugel löste sich in Dutzende von Irrlichtern auf, die durch Ritzen in der Teufelsstatue für magische Beschwörungen verschwanden. „Das war mein Vetter Boris, der in unserer Heimat verblieben ist“, erklärte Vater. „Er ist rechthaberisch und herrschsüchtig und in seiner Einstellung geradezu mittelalterlich. Aber er ist auch überaus mächtig. Deshalb darf man ihn nicht reizen. Wie ihr gehört habt, konnte ich ihm nicht ausreden, uns zu besuchen. Soll er also kommen. Da ich ihn hier im Hause aber nicht haben will, werden wir ihn in der Villa der Winkler-Forcas in Perchtoldsdorf einquartieren. Dort kann er, so hoffe ich wenigstens, weniger Schaden anrichten.“ Die anderen nickten zustimmend. Ich verstand jedoch nicht, was Vater meinte, und fragte: „Was haben wir von Boris zu befürchten, wenn er unserer Familie angehört?“ „Er ist ein ganz übler Bursche“, antwortete Georg. „Vater hat einige seiner Charaktereigenschaften schon angedeutet. Aber eines hat er nicht deutlich genug ausgesprochen. Boris fühlt sich nämlich als Sippenoberhaupt aller Zamis. Und wenn er sich hier im Hause einnistet, muß befürchtet werden, daß er versucht, das Kommando zu 71
übernehmen. Das würde nur böses Blut geben. Außerdem können wir es uns nicht leisten, unangenehm aufzufallen. Unser Ruf ist innerhalb der Schwarzen Familie ohnehin nicht der beste.“ Ich verstand die Anspielung und senkte den Blick. „Das war sicherlich nicht als Vorwurf gemeint“, warf Mutter ein. „Seit du dich im Kampf gegen die Winkler-Forcas bewährt hast, wissen wir, daß du die besten Anlagen zu einer guten Hexe hast. Nur…“ Vater winkte ab. „Damit du siehst, welches Vertrauen wir in dich setzen, sollst du darauf achten, daß Boris nicht über die Stränge schlägt, Coco!“ Ich fuhr erschreckt hoch. „Ihr wollt mich mit diesem Wilden allein in der Forcas-Villa lassen?“ „Ich bin sicher, daß du mit ihm fertig wirst, Coco“, behauptete Vater. „Entscheide dich schnell, Coco, der Sabbat geht weiter.“ Ich hatte das Gefühl, daß mein Vater damit andeuten wollte, ob es mir lieber sei, bei den Greueln des Sabbats mitzumachen. „Ich gehorche“, sagte ich deshalb. „Gut, dann wird Georg dich in die Villa bringen“, bestimmte Vater. „Er kann dir auf dem Weg dorthin alles Nötige erklären.“ Mir fiel plötzlich etwas ein, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und ich brachte den Einwand vor. Plötzlich lachte mein Vater; es geschah 72
selten genug, daß er das tat, und ich glaubte, daß Asmodi selbst dieses oft als allzu menschlich bezeichnete Ausdrucksmittel für Gefühle nicht diabolischer hätte handhaben können. Vater sagte: „Natürlich haben wir die Forcas-Villa nicht erforscht, und wenn es dort irgendwelche Fallen gibt, hat Boza wenigstens Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wenn er versagt, nun… Egal. Georg, macht euch auf den Weg.“ Vaters Anspielung machte mir klar, daß er seinem Vetter nicht gerade ein ewiges Leben wünschte, und irgendwie erleichterte mich das.
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Auf der Fahrt nach Perchtoldsdorf sagte Georg zu mir: „Du magst über uns denken wie du willst, Coco, aber du wirst noch darauf kommen, daß wir im Vergleich zu anderen Dämonen geradezu kultiviert sind. In dieser Beziehung ist Boris ein Außenseiter der Zamis.“ Wenn ich zurückdenke, so finde ich, daß Georg recht gehabt hat. Natürlich habe ich irgendwie eine idealisierte Vorstellung von meinen Eltern und Geschwistern, und ich kann ihnen dennoch nicht nachtrauern. Bestimmt haben sie wegen ihrer vielen Greueltaten den Tod verdient – zumindest vom menschlichen Standpunkt aus. Dennoch glaube ich nicht, daß sie herkömmliche Dämonen waren, sondern daß jeder von ihnen einen guten Kern gehabt hat, nur daß er eben nicht wie bei mir zum Durchbruch kam; und vielleicht gaben sie sich oft besonders grausam, um das Gute in sich zu überwinden und zu zeigen, daß das Schwarze Blut in ihren Adern dominierte. Wenn sie noch länger gelebt hätten, wären sie vielleicht denselben Weg gegangen wie ich. Vielleicht aber auch nicht, denn trotz aller Fortschrittlichkeit waren sie konservativ und der dämonischen Tradition verbunden. Ich erwähne das, um mein Verhältnis zu ihnen im richtigen Licht erscheinen zu lassen; denn irgendwie fühlte ich, daß auch sie anders als andere Dämonen waren, und deshalb hing ich an ihnen. Und ich weise darauf hin, um 74
deutlich werden zu lassen, daß Boris Zamis das genaue Gegenteil vom Wiener Familienzweig war. Georg erzählte mir einiges über ihn, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. Wir kamen nach Perchtoldsdorf und hielten vor der Forcas-Villa. Die Villa wirkte wie ein Spukschloß aus billigen Horrorfilmen und zeugte von der Geschmacklosigkeit der Winkler-Forcas; sie hatten in keiner Weise Stil und Format gehabt. Das Gebäude war zweistöckig und wies überall Erker und Türmchen auf. Die Fassade zeigte unzählige Dämonengestalten und Fabelwesen, entweder beim grausigen Leichenschmaus oder bei Beschwörungen oder wie sie Jungfrauen Gewalt antaten. Das Grundstück war bestimmt sechs Hektar groß und verwildert; durch die Dornenbüsche waren furchteinflößende Steinstatuen zu sehen. Ein schmiedeeiserner Zaun mit magischen Ornamenten schloß das Grundstück ein. Georg stieg aus dem Wagen und ging zur Einfahrt. Er berührte das Schloß des Tores, es klickte, und ein schmiedeeiserner Flügel schwang quietschend auf. Mein Bruder kam zum Wagen zurück und fuhr über den kiesbestreuten Weg bis zum Portal der düsteren Villa. „Die Forcas haben bestimmt einige Fallen hinterlassen, die auch noch nach ihrem Tode 75
wirksam sind“, meinte Georg, während wir ausstiegen und uns dem Eingang näherten. „Aber wir werden uns nicht mit langwierigen Untersuchungen aufhalten, sondern die Festung im Zeitraffertempo nehmen.“ Ich nickte dazu. Georg gab mir ein Zeichen, und ich versetzte mich gleichzeitig mit ihm in einen rascheren Zeitablauf. Er rannte gegen das massive Holztor an, machte einige Zeichen in der Luft, und das Schloß barst splitternd, als er mit seinem Körper dagegen prallte. „Achtung!“ rief Georg und sprang über eine sich wie in Zeitlupe öffnende Falltür hinter dem Eingang. Noch im Springen schüttelte er aus seinem Ärmel ein halbes Dutzend Irrlichter, die die Umgebung in ein grünliches Licht tauchten. Ich wich der Falltür aus, und als ich in den Abgrund blickte, sah ich unten aus einer schleimigen Brühe den skelettartigen Echsenschädel eines Ungeheuers herausragen. Georg eilte weiter. Er wandte sich der breiten Treppe am Ende der Halle zu. Links und rechts von der Treppe standen steinerne Figuren mit aufgepflanzten Schwertlanzen. Als Georg auf halbem Wege der Treppe war, neigten sich die Klingen der Schwertlanzen wie Fallbeile. Da wir uns um ein Vielfaches schneller bewegten, konnten wir den tödlichen Klingen, deren Wirkung durch magische Symbole verstärkt war, mühelos ausweichen. Ich rannte die Treppe im Zickzack hinauf, 76
Georg wartete in der ersten Etage auf mich. „Wir haben nicht genug Zeit, um das ganze Haus auf Fallen zu untersuchen“, sagte er, während er auf die Galerie von Gemälden starrte, die auf beiden Seiten des Korridors hingen. „Deshalb rate ich dir, dich später nur in den Gängen und Räumen aufzuhalten, die wir jetzt erforschen. Überlasse es Boris, die Geheimnisse der Villa zu ergründen. Vielleicht haben wir Glück, und er kommt dabei um.“ Damit sprach Georg deutlich aus, was Vater nur angedeutet hatte. Mein Bruder wies auf die „Ahnengalerie“ der Winkler-Forcas. „Wenn du die Bilder eingehend betrachtest, wirst du bemerken, daß sie doppelbödig sind“, erklärte er. „Unter dem optisch sichtbaren Bild ist ein zweites, magisches. Wenn man die zweite Bedeutung erkennt, ist es sicherlich schon zu spät. Aber zum Glück sind wir schneller als die Forcas-Magie.“ Ich betrachtete das Bild, das mir am nächsten war. Es zeigte irgendeinen grimmigen Urahn der Winkler-Forcas. Während ich es noch betrachtete, begannen die Augen des Abgebildeten zu glühen – und im nächsten Moment glitt eine wabbernde Lohe auf mich zu. Sie war jedoch zu langsam, um mich einzuholen. Georg entschärfte das Bild, indem er dem Porträtierten die Augen ausstach. Das nächste Bild zeigte eine nackte Frau. Während wir daran vorbeigingen, bewegte 77
sich ihr Haar, und Schlangen formten sich daraus. Georg gefiel sich darin, eine Schlange auf den Arm zu nehmen. Sie kroch langsam bis zu seiner Schulter hoch – und als sie das Maul aufriß und nach Georg schnappen wollte, biß er ihr den Kopf ab. Er spuckte ihn angewidert aus. Als er meinem Blick begegnete, machte er ein leicht betretenes Gesicht. „Entschuldige“, sagte er und fügte schnell hinzu: „Es wäre nicht klug, den Bildzauber der Forcas zu zerstören, er kann gegen unerwünschte Eindringlinge nützlich sein. Später kannst du dich damit beschäftigen, den Zauber zu ergründen und steuern zu lernen.“ Wir ließen die „Ahnengalerie“ ohne weitere Zwischenfälle hinter uns; die Irrlichter wiesen uns den Weg. Georg öffnete nacheinander alle Türen, an denen wir vorbeikamen, rümpfte aber jedesmal die Nase. Dann fand er ein Zimmer, das ihm zusagte. „Hier wirst du wohnen, Coco.“ Mein Bruder stieß die Tür auf und betrat den Raum. Ich blieb auf dem Korridor stehen, während er das Zimmer untersuchte. Es hatte eine weibliche Note, war zwar ohne Geschmack eingerichtet und mit abstoßenden Trophäen geschmückt, wie sie eine Dämonin in einem langen Leben zusammenraffte, aber es enthielt auch alles, um meinen Bedürfnissen zu genügen. Georg brauchte nicht lange, um die Magie der früheren 78
Bewohnerin auszumerzen. „Jetzt hast du in diesem Raum nichts mehr zu befürchten“, sagte Georg. „Aber rühre die Salben und Tinkturen nicht an. Das Zimmer hat Eurika gehört. Sie war eine uralte, häßliche Giftmischerin. Asmodi allein weiß, was aus ihr geworden ist.“ „Können wir nicht…?“ fragte ich schwach, denn ich fühlte, wie meine Kräfte nachließen. „Ja, wir können in den normalen Zeitablauf zurückkehren“, sagte Georg sofort. „Bleibe du einstweilen im Zimmer. Ich suche den Beschwörungsraum der Koreas und hole deine Sachen aus dem Wagen. Dann werde ich Boris anrufen.“ Der Beschwörungsraum der Forcas befand sich auf dem Dachboden, Satan mochte wissen wieso. In dem Gebälk nisteten Fledermäuse und Spinnen, überall standen verstaubte Marterinstrumente, seltsame Fetische und andere Utensilien herum. Georg trieb die Magie der Forcas aus, so daß wir nicht mehr davon beeinflußt werden konnten. Dann rief er die Irrlichter zusammen, so daß sie sich zu einer magischen Leuchtkugel formten. „Wir sind bereit, Vater“, sagte Georg laut vor sich hin. „Wir setzen uns mit Boris in Verbindung und lotsen ihn. Verdammt, Boza hätte auch auf konventionellem Weg nach Wien kommen können!“ „Wer wagt es, mich zu beleidigen?“ ertönte da die grollende Stimme. „Dem nächsten, der 79
mich so zu nennen wagt, verpflanze ich ein Teufelsei in die Gedärme!“ Ich vernahm einige beruhigende Impulse meines Vaters, mit denen er seinen Vetter Boris zu besänftigen versuchte. Dann trat die Aura meines Vaters in den Hintergrund, und eine fremde Persönlichkeit machte sich breit und wurde immer dominierender. Ich spürte, wie sich das Böse zu manifestieren begann und fröstelte. Boris Zamis’ Gegenwart wurde immer stärker, obwohl er sich körperlich noch nicht hier befand. „Ich lasse dich jetzt allein, Coco“, hörte ich Georg raunen. „Es ist besser, wenn ich nicht mit Boza zusammentreffe…“ Ich versuchte meinen Bruder zurückzuhalten. Ich hatte Angst, mit dem Ostdämon allein zu sein… aber da war Georg bereits entschwunden. Ich war allein. „He, warum geht das so schleppend?“ polterte es zornig. „Macht schneller, sonst verliere ich die Geduld und…“ Ich schrie auf, als ich plötzlich den Eindruck hatte, als klammerten sich Krallen in meinem Gehirn fest. Mir war, als müßte ich ein schweres Gewicht aus der Tiefe herausziehen – oder die Welt auf meinen Schultern tragen. Dabei war es nur Boris Zamis’ Geist, der auf mir lastete… Plötzlich riß die Finsternis auf. Ich sank erschöpft zurück. Als ich die Augen öffnete, 80
erblickte ich vor mir eine massige Gestalt. Und daneben eine mannshohe Kiste, die hochkant stand. Der Mann, bei dem es sich um Boris Zamis handeln mußte, war nicht größer als ich, aber fast ebenso breit. Um seinen kugeligen Bauch spannte sich ein breiter Gürtel, der mit rostigen Nieten beschlagen war. Er hatte einen kahlen, fast quadratischen Schädel, das Gesicht eines Affen und abstehende Ohren. Aus dem Ausschnitt seines kragenlosen Hemdes standen Haarbüschel wie Drahtgeflecht hervor. Er hatte große Hände, die Handrücken waren über und über behaart, die Finger so kurz und fleischig wie kleine Würste. Er hatte lange schwarze Nägel, und als er nun den Mund öffnete, sah ich, daß auch seine überlangen Zähne schwarz waren. Er kratzte sich provozierend zwischen den Beinen und spuckte in hohem Bogen einen grünlichen Priem aus, und wo die Masse auf dem Dachboden auftraf, begann der Estrich zu brodeln, als handle es sich um Säure. Er stierte mich aus blutunterlaufenen Augen an und griff ungestüm nach mir. „Bist du mein Gastgeschenk?“ erkundigte er sich und ließ seine dicke Zunge zwischen den gespitzten Lippen hin und her pendeln. „Nein, nein, ich bin Coco Zamis, deines Vetters jüngste Tochter“, sagte ich schnell. Da ließ er mich angewidert los und spuckte wieder aus. „Was!“ rief er wütend. „Dich mißratenes 81
Stück hat man zu meinem Empfang geschickt?“ Er stampfte ärgerlich auf, daß das Haus erzitterte, und sah sich mit wildem Blick um. „Michael! Michael, was soll das! Wo versteckst du dich? Ist das der Empfang, den man dem Sippenmächtigsten bietet?“ „Vater kann dich nicht hören“, sagte ich kleinlaut. „Er ist unabkömmlich, auch die anderen haben Verpflichtungen, die keinen Aufschub dulden. Blieb also nur ich… Aber ich verspreche dir, mich zu bemühen, dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Betrachte mich als deine Dienerin.“ Boris knurrte etwas Unverständliches und sagte dann versöhnlicher: „Also meinetwegen. Vorerst will ich mich damit begnügen. Wo sind wir hier? Was ist das für eine Bruchbude?“ „Die Villa der Winkler-Forcas. Sie steht dir zur Verfügung, du kannst dich hier wie zu Hause fühlen.“ Boris grunzte, was sich überaus vulgär anhörte. „Eigentlich bin ich viel zu müde, um mich aufzuregen“, meinte er. „Die Reise hat mich doch angestrengt, dazu kommt noch, daß du mir keine große Hilfe warst, Coco.“ Er betrachtete mich kritisch und – wie mir erschrocken bewußt wurde – wohlgefällig. „Du trägst eine raffinierte Maske. Aber jetzt zeige dich mir gefälligst in deiner wahren Gestalt.“ „Das… das ist mein wahres Aussehen“, erklärte ich unbehaglich. „Ich kann gar kein 82
anderes annehmen.“ „Mir wäre es lieber, du wärst eine häßliche Vogelscheuche und verstündest dafür etwas von Schwarzer Magie.“ Er rülpste und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Na, nicht so wichtig. Ich werde dich unter meine Fittiche nehmen. Dann wird schon noch eine richtige Hexe aus dir. Aber das hat Zeit… Wo ist unser Zimmer?“ Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. „Es gibt genügend Zimmer. Du kannst dir irgendeines aussuchen, das dir am besten gefällt. Ich habe mein eigenes Zimmer!“ „Ja, ja, schon gut.“ Er zog die Luft durch die großen Lücken zwischen seinen Zähnen und spuckte etwas Zappelndes aus, das er dann zertrat. „Ich weiß, daß Michael nichts von Inzest hält. Na, dann wollen wir mal.“ Er stapfte zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und deutete mit einem Wurstfinger auf die Kiste. „Sei besser nicht neugierig“, ermahnte er mich. „Laß die Finger von diesem Behältnis. Wenn du auch nur einen Blick hineinwirfst, bist du verloren.“ Ich betrachtete die Kiste. „Was ist denn darin?“ „Meine gesammelten Schrecken!“ Und damit wandte er sich ab und lachte, daß es durchs ganze Haus dröhnte. Plötzlich wurde das Lachen immer schriller, bis es die Gehörschwelle überschritt. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß sich Boris in einen 83
schnelleren Zeitablauf versetzte. Ich machte, daß ich auf mein Zimmer kam. Es wurde eine unruhige Nacht. Ständig rumorte es irgendwo im Haus. Mal polterte es, dann wieder war ein geisterhaftes Raunen zu hören, dann wieder ertönte aus den Gängen ein Getrampel wie von einer ganzen Armee. Ich rührte mich nicht aus dem Zimmer. Nicht daß ich mich gefürchtet hätte. So ein schreckhaftes Ding war ich längst nicht mehr – oder besser gesagt, war es nie gewesen. Schließlich floß in meinen Adern Schwarzes Blut. Wenn ich den Dingen nicht auf den Grund ging, dann deswegen, weil ich hoffte, daß die von den Forcas zurückgelassenen Schrecken mein Problem mit Boris vielleicht von selbst erledigten. Ich hörte ihn manchmal auf Russisch fluchen. Einmal schrie er so laut, daß es bis auf die Straße zu hören sein mußte: „Bringt mir einen Schamanen, Coco, einen Schamanen!“ Ich reagierte nicht, machte mir nicht einmal Gedanken darüber, was er mit einem Schamanen wollte. Gleich darauf war das Gerassel von Ketten zu hören, das sich bald mit Kampf lärm vermischte. Ein Geschrei erhob sich, das sich rasch meinem Zimmer näherte. Zwischen den Flüchen von Boris ertönte immer wieder hysterisches Gekläffe und das Gepolter näher 84
kommender Schritte. Plötzlich wurde meine Tür aufgestoßen, und Boris erschien darin. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Fratze. „Wollt ihr mich umbringen?“ herrschte er mich an. „Oh, habe ich vergessen, dir zu sagen, daß wir noch nicht Zeit fanden, die Magie der Forcas zu entschärfen?“ sagte ich unschuldig. „Mach nicht so ein abstoßendes Nonnengesicht!“ wies er mich zurecht. „Das zieht bei mir nicht… Also gut, ich will nicht nachtragend sein und es als eine Art Bewährungsprobe ansehen.“ Damit entfernte er sich. Und das Toben im Haus ging weiter. Als der Morgen dämmerte, wurde es endlich still im Haus. Ich dachte, daß ich nun die wohlverdiente Ruhe finden könnte, denn wenn es auch allgemein nicht bekannt sein dürfte: auch Hexen benötigen Schlaf. Doch bevor ich einschlafen konnte, erklang ein geisterhaftes Rufen. „Komm, komm“, lockte es. „Du mußt meinem Ruf folgen, Hexe! Ich habe dich gebannt und erwarte dich…“ Dann wurde die ferne Stimme befehlender: „Gehorche, du bist meine Sklavin! An meine Seite mußt du kommen. Im Staub mußt du vor mir liegen, Hexe. Dienen sollst du mir!“ Obwohl es keineswegs so war, daß ich dem Ruf folgen mußte, verließ ich das Bett. Zuerst 85
hatte ich gedacht, daß Boris doch noch versuchte, mich in sein Zimmer zu locken. Doch der hätte es als mit allen Wasser gewaschener Magier nicht mit solch untauglichen Mitteln versucht. Außerdem war es sicher nicht seine Art, jemanden zu locken… Er nahm sich einfach, was er wollte. Ich blickte aus dem Fenster. Es herrschte diesiges Wetter. Es nieselte. Ich hatte einen Ausblick auf den halben Garten und auf die Straße, die an der Vorderfront der Villa vorbeiführte. Die Straße lag verlassen da. Ich ließ meinen Blick über den Park wandern – und da sah ich die groteske Gestalt. Ich erkannte den Alten vom Sabbat sofort wieder. Er trug immer noch den viel zu großen Mantel, den ich ihm umgehängt hatte. Er kauerte innerhalb eines magischen Kreises und zeichnete ständig Symbole in den Boden. Er erreichte damit einige Wirkung – immerhin hörte ich seine Beschwörung – aber stark war seine Magie nicht. Dennoch fragte ich mich, woher er sein Wissen hatte. Und wie war es ihm möglich gewesen, mich zu finden? Ich schlüpfte schnell in meinen Mantel und verließ mein Zimmer mit vielfacher Normgeschwindigkeit, um mich nicht mit den Fallen der Forcas herumschlagen zu müssen. Als ich das Portal erreichte und ins Freie trat, kehrte ich in den normalen Zeitablauf zurück. Der Alte sah mich sofort. In seine Augen trat 86
ein fanatisches Glühen. „Hat mein Zauber dich also gerufen!“ verkündete er triumphierend und vollführte einen Veitstanz, was wohl zu seiner lächerlichen Beschwörung gehörte. „Hierher mit dir, Hexe! Zu mir sollst du kriechen auf allen vieren!“ Ich kam zu ihm. Vor dem magischen Kreis hielt ich an, der nur eine schwache Abwehrwirkung hatte. Ich hätte die Barriere mühelos überwinden können. „Was soll der Unfug, Alterchen?“ zischte ich wütend. „Wenn du weiter solchen Krach machst, weckst du noch Boris. Aber dann wird dir die Lust vergehen, ehrbare Hexen um den verdienten Schlaf zu bringen.“ „Boris?“ wiederholte der Alte hellhörig. „Einen solchen Dämon kenne ich nicht. Barron heißt mein Schutzgeist!“ „Den kenne ich nun wieder nicht“, erwiderte ich. „Barron hat mich an dich verwiesen, Hexe“, rief der Alte und machte wieder sinnlose Beschwörungen. Er streute Kräuterstaub, getrocknete Krötenherzen und Fledermausknochen aus, die auf mich überhaupt keinen Eindruck machten. Aber er hatte etwas gesagt, das mich neugierig machte: Dieser ominöse Barron hatte ihn auf mich angesetzt. Dies ließ mich zumindest dazu verleiten, ihn zu hypnotisieren; das war weiter nicht schwer. Der Alte erstarrte und stierte schielend ins 87
Leere. Ich fragte ihn, wie er den Dämon Barron kennengelernt hatte. „Durch eine Beschwörung.“ „Und wann ist er dir zum erstenmal erschienen?“ wollte ich wissen. „Überhaupt nicht. Ich hörte nur seine Stimme. Barron ist nicht besonders mächtig. Aber er versprach mir, mich mit einflußreicheren Dämonen zusammenzubringen. Und er brachte mich zum Sabbat.“ „Und wie verfielst du auf mich?“ erkundigte ich mich. „Barron hat mich beim Sabbat an dich verwiesen.“ Also mußte sich hinter diesem Decknamen ein Dämon verbergen, der am Sabbat teilgenommen hatte. Aber was bezweckte er damit, den Alten auf mich zu hetzen? Ich konnte es mir nur so denken, daß sich jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubte. Vielleicht Volkart oder meine Schwester Lydia? „Wie heißt du?“ fragte ich. „Anselm Graubarth.“ Ich fragte ihn auch nach seiner Adresse: Er wohnte in der Inneren Stadt, in einem alten Haus in der Blutgasse. Was sollte ich mit ihm tun? Ich entließ ihn aus der Hypnose und beließ ihm die Erinnerung daran. Als ihm zu Bewußtsein kam, daß ich ihn überlistet hatte, bekam er beinahe einen Tobsuchtsanfall. „Wenn ich gewollt hätte, hätte ich dir das 88
Herz aus dem Leibe reißen können, Anselm“, sagte ich, um ihn einzuschüchtern. „Und wenn du mich noch einmal belästigst, werde ich es auch tun. Jetzt verschwinde!“ „Gut, ich gehe“, sagte er wütend. „Aber ich komme wieder. Ich lasse nicht locker. Ich werde mein Ziel erreichen. Und das nächstemal fahre ich schwerere Geschütze auf. Dann mußt du mir dienen.“ Er trottete sich davon. Was für ein armer Irrer, dachte ich und kehrte ins Haus zurück, um endlich den versäumten Schlaf nachzuholen. Damals ahnte ich noch nicht, daß ich Anselm Graubarth völlig falsch einschätzte. Vielleicht hätte ich das Unheil verhindern können, wenn ich seine Gefährlichkeit erkannt hätte.
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Boris schlief drei Tage und drei Nächte. Dabei „träumte“ er jedoch manchmal so intensiv, daß es zu verschiedenen Erscheinungen kam. Gegenstände erhoben sich wie von Geisterhand bewegt und schwebten durch das Haus. Katzen wurden angelockt und veranstalteten eine wilde Jagd. Man sagt uns Hexen zwar nach, daß wir zu Katzen eine besondere Beziehung hätten, was gar nicht unrichtig ist, aber gegen die von Boris angelockten Katzen war ich machtlos. Immerhin erfüllten einige von ihnen einen guten Zweck: Sie gerieten in Fallen der Forcas, so daß ich darauf aufmerksam wurde und sie entschärfen konnte. Manchmal sprach Boris im Schlaf. Er nannte Namen von seinen Opfern und seinen sibirischen Freunden. Einmal rief er verzweifelt: „Wohin bin ich geraten…? Was ist das für ein Ort, an dem es keine Schamanen gibt?“ Als ich daraufhin zu Hause anrief und Vater fragte, warum Boris auf Schamanen solchen Wert legte, verriet er mir, daß die meisten Ostdämonen – und vornehmlich die sibirischen – eng mit Sterblichen zusammenarbeiteten und sie verschiedene Geheimnisse der Schwarzen Magie lehrten. Das waren die Schamanen. Vater verlangte von mir auch, daß ich Boris unter allen Umständen daran hindern solle, unserem Haus in der Ratmannsdorfergasse 90
einen Besuch abzustatten. Denn: Wenn er sich erst einmal irgendwo eingenistet hatte, war er nicht wieder zu vertreiben. Vater versprach aber, Boris einen Höflichkeitsbesuch in der Forcas-Villa abzustatten, damit er nicht das Gefühl hatte, von uns verstoßen zu werden. Als ich Vater von dem „Behältnis des Schreckens“ erzählte, das Boris aus Rußland mitgebracht hatte, beschwor er mich, den Rat seines Vetters zu beherzigen und nur ja die Hände von der Kiste zu lassen. Boris’ „Träume“ führten auch zu Komplikationen. In der zweiten Nacht geschah es, daß plötzlich die Glocke läutete. Als ich schlaftrunken aus dem Fenster blickte, sah ich am Gartentor drei nackte Frauen – jede von ihnen eine Walküre von besonderem Kaliber und keine leichter als 100 Kilo. Trotz der späten Stunde hatten sich auf der anderen Straßenseite einige Schaulustige eingefunden. Ein Mann in Pantoffeln und Morgenrock kam über die Straße gelaufen und klammerte sich verzweifelt an eine der nackten Walküren; wahrscheinlich ihr Mann. Ich hörte ihn flehen: „Ich will dir diesen Boris verzeihen, Roswitha, aber komm zu mir zurück.“ So komisch die Szene mit den nackten Frauen der Schwergewichtsklasse für die Passanten ausgesehen haben mochte – ich konnte nicht darüber lachen. Ich wollte schon einschreiten und sie davonjagen, doch da ging das Tor auf, und die drei Nackten kamen zielstrebig aufs Haus zu. Auch das Eingangstor 91
war kein Hindernis für sie, und sie stiegen die Treppe in den zweiten Stock hoch und begaben sich in Boris’ Zimmer, als hätte ihnen er selbst den Weg gewiesen. Was ja auch stimmte. In dieser Nacht verwandelte sich die ForcasVilla in ein Tollhaus, und mir blieb die unangenehme Aufgabe, den aufgebrachten Ehemann, der die magische Barriere nicht überwinden konnte, und die schaulustigen Passanten so zu beeinflussen, daß sie den Vorfall vergaßen. Ich fragte mich, wie es der Ostdämon erst trieb, wenn er nicht schlief. Als es am anderen Morgen still im Haus wurde, schlich ich mich in Boris’ Zimmer. Er lag nackt in seinem Bett, hatte die Augen geschlossen, und sein Bauch hob und senkte sich. Auf dem Boden lagen die drei Frauen. Ich wußte nicht, was Boris mit ihnen angestellt hatte, aber offenbar entzog er ihnen im Schlaf die Lebensenergien… Ich mußte alle verfügbare Kraft aufbieten, um die Walküren eine nach der anderen aus seinem Einflußbereich und aus dem Haus zu schaffen. Ich brachte sie auf den Hauptplatz und setzte sie dort aus. Dann kehrte ich in die Villa zurück. In der dritten Nacht fand eine regelrechte Invasion von Ungeziefer und Schädlingen statt. Ich erwachte vom Flügelrascheln der Fledermäuse auf dem Dachboden. Die 92
Fledermäuse schienen regelrecht zu toben. Als ich mein Zimmer verließ, um nach dem rechten zu sehen, sah ich im Kerzenschein eine Kolonne von Ratten die Treppe hinauf huschen. In der Luft waren Schwärme von Mücken, wie man sie sonst um diese kalte Jahreszeit nicht sah. Den Ratten folgte ein Spinnenheer. Spinnen jeder Größe und Art unternahmen den mühevollen Aufstieg in die oberen Geschosse. Ich folgte der seltsamen Prozession. Dabei zertrat ich etliche Tiere, denn die Treppenstufen waren förmlich mit ihnen übersät. Ich dachte, daß irgendein magischer Zauber der Forcas wirksam geworden sei – und war auf der Hut. Aber als ich auf den Dachboden kam, erkannte ich, daß die Ungezieferinvasion einen anderen Grund hatte. Von den Fledermäusen war längst nichts mehr zu sehen. Aber mir war klar, daß sie denselben Weg genommen haben mußten, den das andere Kleingetier ging. Boris’ Behältnis stand noch an seinem Platz. Aber etwas hatte sich daran verändert – der Deckel stand wie die Tür eines Schranks einen Spalt offen. Und auf diesen Spalt hielten die Ratten, Mäuse, Spinnen und Käfer und die Mückenschwärme zu. Das Behältnis verschluckte sie. Keines der Tiere kam zurück. Ich fragte mich, wohin die Tiere gingen und was aus ihnen wurde. So groß der Schrank auch war, er konnte in seinem Innern nicht 93
größer sein als in seinen Außenmaßen. Oder – warum eigentlich nicht? Auch in dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Denn das Tapsen der Rattenpfoten klang so laut, als würde eine endlose Armee durchs Haus marschieren. Dazu kam, daß etliches Ungeziefer den Weg durch mein Zimmer gewählt hatte. Aber wenn Boris geglaubt hatte, mich erschrecken zu können, wenn er Scharen von Spinnen über mein Bett spazieren ließ, hatte er sich getäuscht. Schlafen konnte ich trotzdem nicht. Ich war froh, als Boris am nächsten Abend aus seinem Zimmer kam und lautstark nach meinem Vater verlangte. Ich verständigte ihn davon, und Vater versprach, sofort mit Mutter und Georg zu kommen. Ich räumte den Schwarzen Salon im Erdgeschoß auf und entfernte einige Gegenstände, die unangenehm an die Winkler-Forcas erinnerten. Boris beobachtete mich dabei- und ich hatte das Gefühl, daß er durch mein Kleid hindurchblicken konnte. Er betrachtete mich ausgesprochen lüstern. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fragte ich: „Was hatte die Ungezieferinvasion letzte Nacht zu bedeuten?“ „Ich habe nichts davon bemerkt. Ich habe geschlafen“, antwortete er grinsend. „Die Ratten und Fledermäuse und Spinnen verschwanden alle in deinem Behältnis“, fuhr ich fort. „Wozu?“ 94
„Wenn du den Kopf hineingesteckt hättest, wüßtest du es jetzt“, meinte er und lachte widerlich. „Aber ich will mal nicht so sein.“ Daraufhin erklärte er mir, daß alle Schädlinge einen besonderen Saft in sich hätten, den er für bestimmte Zwecke brauchte. Doch jedes dieser Wesen besäße nur so wenig davon, daß sämtliche Tiere, die er letzte Nacht eingefangen hatte, nur wenige Tropfen des begehrten Elixiers geliefert hätten. „Aber natürlich sind auch Teile ihrer Kadaver noch verwertbar“, fügte er wie nebenbei hinzu. Vater, Mutter und Georg trafen ein. Vater und Boris fielen sich um den Hals, als könnten sie ohne einander nicht leben. Später sagte Boris jedoch: „Ich habe das Gefühl, daß ich euch nicht willkommen bin.“ „Wie kannst du das nur annehmen!“ empörte sich Vater. „Es ist nur leider so, daß es nach dem Sieg über die Winkler-Forcas viel für uns zu tun gibt. Wir müssen Wien leider für einige Zeit verlassen. Aber Coco wird bei dir bleiben, um dich zu betreuen.“ Das traf mich wie ein Schock. Ich glaubte mich verhört zu haben! Vater konnte mich doch nicht allein mit diesem Scheusal zurücklassen! Als ich hilfesuchend zu Georg sah, wich er meinem Blick aus. Auch Mutter blickte betreten zu Boden. Es herrschte die ganze Zeit über eine 95
gedrückte Stimmung. Boris und Vater palaverten über belanglose Dinge, erzählten einander ihre Schandtaten… Ich merkte, daß Georg mir ein verstohlenes Zeichen gab, und folgte ihm in die Halle hinaus. „Sei tapfer, kleine Coco“, raunte er mir zu, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Boris unser Gespräch nicht mithören konnte. „Vater setzt großes Vertrauen in deine Fähigkeiten; nur deshalb läßt er dich mit Boris allein. Du kannst dir denken, was er von dir erwartet.“ „Ich soll Boris…?“ Georg gebot mir Schweigen, denn Vater kam mit Mutter und Boris in die Halle. „Wir haben es eilig, Coco“, sagte Vater nur und verließ grußlos das Haus. Georg und Mutter folgten ihm. Ich war mit Boris allein. „So, du mißratene Hexe, jetzt stürzen wir uns in das Wiener Nachtleben“, grölte Boris vergnügt. „Wir beide werden etwas Leben in diese öde Stadt bringen. Ich muß mir nur einige Kleinigkeiten aus meinem Behältnis holen. Dann kann es losgehen.“ Er verschwand über die Treppe. In diesem Moment verspürte ich einen heftigen Stich in meinem Geist. Und dann erklang eine beschwörende Stimme, die ich nun schon zum Überdruß kannte: „Hexe, Hexe, Hexe! Höre und gehorche…“ Ich eilte in den Garten hinaus und entdeckte zwischen einigen Büschen den lästigen Alten. 96
Diesmal hatte er einen viel aufwendigeren magischen Kreis rund um sich gezeichnet, und ich mußte feststellen, daß es mir unmöglich war, diesen zu durchdringen. „Was willst du denn schon wieder hier, Anselm?“ fragte ich. „Dich bezwingen, Hexe. Und diesmal wird es mir gelingen. Du kannst dich nicht mehr gegen mich wehren. Du mußt mir zu willen sein.“ „Was willst du eigentlich von mir?“ fragte ich. „Einen Pakt“, erklärte er. „Du kannst von mir verlangen, was du willst – und ich will dafür die Unsterblichkeit.“ „Mehr nicht?“ „Du kannst dafür meine Seele haben“, erklärte der Alte. „Alles will ich dir geben. Verlange jedes Opfer von mir – nur hilf mir, den Tod zu überlisten.“ „Und wenn ich das nicht kann?“ „Dann mußt du mich mit mächtigeren Dämonen zusammenbringen“, verlangte er. „Ja, ich würde sogar Asmodi meine Seele verschreiben. Du mußt dich meinem Willen unterordnen. Sieh nur, was ich hier habe.“ Er hob die Hand, und ich sah, daß ein Büschel langen schwarzen Haares darin lag. Als er in ein Haar einen Knoten machte, verspürte ich in der Herzgegend einen schmerzhaften Stich. „Das ist Haar von dir!“ rief er triumphierend. „Barron hat es mir verschafft. Wenn du mir 97
nicht gehorchst, verbrenne ich es – und dann mußt du schmoren.“ Schon wieder dieser ominöse Barron! Nein, keiner meiner Geschwister konnte sich hinter diesem Namen verschanzen, denn weder Lydia noch Volkart würden soweit gehen, mich einem Irren auszuliefern. Während ich noch fieberhaft überlegte, was ich tun sollte, hörte ich aus dem Haus Boris’ polternde Stimme. „Du mußt jetzt verschwinden, Anselm“, beschwor ich den Alten. „Ich werde mich wieder bei dir melden. Dann kann ich dir vielleicht helfen.“ „Ich erwarte dich um Mitternacht an meinem Altar in der Blutgasse, Hexe!“ „Ich komme, aber es kann später werden“, sagte ich ungeduldig. „Es kommt darauf an, wann ich Boris abwimmeln kann.“ „Ich erwarte dich“, sagte Anselm Graubarth. Er zeigte mir demonstrativ die Haarsträhne. „Und denke daran, was für ein Pfand ich von dir habe. Für jede Minute, die du dich verspätest, werde ich ein Haar anzünden…“ Ich kehrte ins Haus zurück. „Mit wem hast du gesprochen?“ fragte Boris mißtrauisch. „Es war nur ein Bettler“, log ich. „Wo ist er? Ich hätte ein schönes Präsent für ihn!“ rief Boris ausgelassen und schleuderte eine Münze von sich, die sich im Flug in einen Vogel mit Schlangenkörper verwandelte. Mich konnte er mit diesem Trick nicht 98
beeindrucken, aber ich stellte mir vor, was passierte, wenn er ihn in Gegenwart normaler Sterblicher vorführte. „Können wir gehen?“ fragte ich unbehaglich. Ich sollte der Vollständigkeit halber vielleicht noch erwähnen, daß Boris sein auffallendes Kosakenkostüm trug. „Hast du ein Programm für uns zusammengestellt?“ erkundigte er sich, während er sich in den Wagen zwängte. „Ich schlage vor, daß wir erst einmal einige Nachtlokale abklappern“, sagte ich und dachte dabei an Spelunken, wo sich der Abschaum dieser Stadt traf und wo Boris nur geringeren Schaden anrichten konnte.
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Ich war auf einiges gefaßt, aber es kam viel schlimmer, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Es begann damit, daß Boris alle meine Pläne durcheinanderbrachte. Als wir die Mariahilferstraße hinunterfuhren, deutete er auf die Lichtreklame eines vornehmen Restaurants und sagte: „Das ist unsere erste Station.“ Ich versuchte es ihm auszureden, indem ich ihm die Laster der Spelunken ausmalte, die auf meiner Liste standen, doch er beharrte bei seinem Entschluß. Also parkte ich schweren Herzens. Boris erregte allein durch seine Erscheinung beträchtliches Aufsehen. Der Geschäftsführer, der uns am Eingang versicherte, daß alle Tische besetzt seien, wurde von Boris eines Besseren belehrt: An einem der Tische saß ein jüngeres Paar, das bei Boris’ Anblick plötzlich Magenkrämpfe bekam und schreiend aus dem Lokal stürzte. Aber Boris wollte den freigewordenen Tisch auf einmal nicht mehr, sondern stolzierte wie ein Pfau durch das Lokal und fixierte einen Gast nach dem anderen mit seinem bannenden Blick, worauf alle plötzlich das Bedürfnis hatten, schreiend aus dem Lokal zu stürmen. Als alle Tische leer waren und sich nur noch ratlose Kellner und der verzweifelt um seine Fassung bemühte Geschäftsführer im Restaurant befanden, sagte Boris rügend: „Sie haben uns belegen. Dafür werden Sie 100
Buße tun!“ Der Geschäftsführer wurde unter Boris’ Blick blaß. Er begann am ganzen Körper zu zittern, die Augen und die Zunge quollen ihm hervor, als habe er einen Erstickungsanfall. „Laß es genug sein, Boris“, beschwor ich den Ostdämon. „Der Abend hat erst begonnen.“ Wenigstens erreichte ich, daß er den Geschäftsführer am Leben ließ. Wir fuhren weiter. Auf meinen neuerlichen Vorstoß, ein Stripteaselokal mit Separees aufzusuchen, meinte Boris: „Ich sorge für Striptease, wo ich will.“ Und er veranlaßte mich, vor einem vornehmen Hotel in der Innenstadt anzuhalten. Ich versuchte das Ärgste zu verhindern, indem ich mich in einen schnelleren Zeitablauf versetzte und, in der Hoffnung, daß Boris mein kurzes Verschwinden nicht merkte, schnell in die Hotelhalle eilte und allen Leuten, die ich in dieser kurzen Zeit beeinflussen konnte, einsuggerierte, daß ein Feuer ausgebrochen sei. Dann kehrte ich zu Boris zurück und tat, als sei nichts geschehen. Als wir die Hotelhalle betraten, schenkte uns niemand seine Aufmerksamkeit – trotz Boris’ exotischer Aufmachung. „Feuer!“ gellte es von überall. Ich tat entsetzt. „Hast du das gehört, Boris? Laß uns verschwinden. Die Flammen wären unser sicherer Tod!“ 101
„Hiergeblieben, kleine Hexe“, sagte der Ostdämon und packte mich am Genick. „Um mich reinzulegen, mußt die früher aufstehen.“ Er zwang mich, neben ihm in der Hotelhalle Platz zu nehmen. Hier versammelte sich eine beachtliche Menge hysterischer Leute, und immer weitere Gäste und Hotelangestellte strömten herbei. „Feuer! Feuer!“ riefen sie. „Rette sich, wer kann!“ Aber anstatt ihr Heil in der Flucht zu suchen, entledigten sie sich ihrer Kleider, die tatsächlich zu glosen begonnen hatten. Boris genoß das Schauspiel eine Weile sichtlich, verließ das Hotel dann aber mit der Bemerkung: „Das sind doch alles nur Kindereien!“ Ich überlegte mir verzweifelt, was ich ihm bieten sollte, um ihn zufriedenzustellen – und da fiel mir das Gourmand-Gourmet ein. Dieses Lokal war ein beliebter Dämonentreff, in das sich gelegentlich auch normale Menschen verirrten, die aber nicht zu bedauern waren, weil sie ahnen konnten, was sie dort erwartete; die Reklame war entsprechend aufgezogen. Besitzer waren ebenfalls Dämonen, ein Brüderpaar namens Toni und Henning Obrecht. Ich überredete Boris zu einem Besuch, und wir ließen den Wagen stehen und machten uns zu Fuß auf den Weg. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr, und ich hatte das Gourmand-Gourmet auch deshalb 102
ausgewählt, weil es sich in der Nähe der Blutgasse befand. Ich wollte unbedingt um Mitternacht bei dem verrückten Alten sein und hoffte, Gelegenheit für einen kurzen Abstecher zu finden. Ich mußte diesem Anselm Graubarth die Flausen ein für allemal austreiben. Eigentlich sollte man Menschen, die sich unbedingt Dämonen verschreiben wollten, gewähren lassen, aber mir ging es darum, nicht in diese Sache hineingezogen zu werden. „Wenn der Laden nicht hält, was du mir versprochen hast“, drohte Boris, „veranstalte ich einen Teufelszauber, den man in Wien nicht so schnell wieder vergißt!“ „Du wirst bestimmt nicht enttäuscht sein“, versicherte ich, ohne davon überzeugt zu sein. Aber wenn Boris dieses Lokal dem Erdboden gleichmachte, würde ich sogar aufatmen. „Dort trifft sich die dämonische Hautevolee von Wien.“ „Auch schon was.“ Er ließ einen fahren. „Aber ich komme wohl nicht umhin, einige Kontakte zu knüpfen. Bringen wir es also hinter uns.“ Ein Mädchen, das in der düsteren Gasse ihrem Gewerbe nachging, machte eine abfällige Bemerkung über Boris, worauf sich der Ostdämon auf sie stürzen wollte. Ich reagierte jedoch schneller und brachte die Dirne aus seiner Reichweite. Ich dachte, sie würde in Sicherheit sein, wenn ich sie kurzerhand in ein vorbeifahrendes Taxi 103
steckte, das für mich praktisch ohne Fahrt war. Als ich jedoch zu Boris zurückkam, sagte er: „Du solltest dich besser nicht in meine Angelegenheiten mischen, Coco, denn dadurch machst du alles nur noch schlimmer.“ Er blickte dem Taxi nach, das immer schneller wurde. Ich hielt den Atem an, als der Wagen in eine Seitengasse einbog und der Fahrer, statt abzubremsen, Vollgas gab. Der Wagen wurde aus der Kurve und gegen eine Hauswand geschleudert. Eine der Attraktionen des GourmandGourmet waren zwei Freaks als Kellner. Nicht genug, daß die aus der Schwarzen Familie Ausgestoßenen von Asmodi durch körperliche Makel gezeichnet waren, wurden sie von den Gästen noch zusätzlich traktiert. Der Eingang war schmal und unbeleuchtet, wie überhaupt die ganze Außenfassade nicht gerade vielversprechend war. Die Obrechts vertrauten auf die Mundpropaganda. Wenn man durch die kleine Tür ging, kam man in einen finsteren Raum, der von qualvollem Stöhnen erfüllt war. Man mußte sich seinen Weg im Dunkeln suchen, und selbst die Nachtgeschöpfe unter den Dämonen konnten hier nichts sehen. Der Raum war jedoch nicht allein dazu da, ängstliche Gemüter abzuschrecken, sondern hier wurden die Gäste gesiebt. Und je nachdem, ob man als Dämon oder Mensch klassifiziert wurde, durch einen der beiden Zu104
gänge gelotst. Für Menschen gab es eine Wendeltreppe in den Keller – zur sogenannten „Bühne“ –, Schwarzblutige gingen durch die andere Tür und kamen auf die „Galerie“. Es war jedoch üblich, daß sich die Dämonen zu vorgerückter Stunde mit den Gästen auf der Bühne vermischten. Boris fand den Zugang zur „Galerie“, und wir kamen in den Rundgang mit den Logen und Separees. Ein Raunen wurde unter den Schwarzblütigen laut, als sie mich an der Seite des geradezu abenteuerlich gekleideten Boris erblickten. Ich erkannte Gert Lexas, der gelangweilt in einer Loge lümmelte. Seine breiten Schultern sprengten beinahe das modische Sakko, sein breites Indianergesicht war ausdruckslos. Seine Finger spielten mit einer Kette, die ich von Lydias Beschreibung her kannte. Lydia hatte nicht nur über die monatlichen Sabbate der Lexas geschwärmt, sondern vor allem von der Wirkung dieser Kette, die die Liebesfähigkeit des Trägers fast „bis zur Selbstaufgabe“ steigerte. Gert Lexas machte auf einmal eine Handbewegung und schleuderte die Kette in meine Richtung. Ich hätte mich mühelos aus der Flugbahn bringen können, doch das war gar nicht nötig. Die Kette wurde langsamer, veränderte die Richtung und schwebte dann über Boris’ Kopf. Gert Lexas wurde blaß, und als Boris mit mir auf seine Loge zusteuerte, begann es in seinem Gesicht zu zucken. 105
Boris drückte mich auf einen Stuhl und nahm selbst Platz. „Ich bin Boris Zamis“, sagte der Vetter meines Vaters, „und ich denke, ich bin zur rechten Zeit gekommen, um dafür zu sorgen, daß der Name unserer Familie den ihm zustehenden Klang bekommt.“ Gert blinzelte zu der Kette über Boris’ Kopf hinauf, beleckte sich die Lippen und sagte: „War ja nur ein Scherz.“ Boris nickte und grinste verstehend. „Na, dann wollen wir mal sehen, ob auch du Spaß verstehst.“ Eine Weile saßen wir schweigend da – bis einer der beiden Freaks kam. Er war eine Ausgeburt an Häßlichkeit. Sein Kopf war lang und schmal, er hatte einen Wolfsrachen, und die untere Gesichtspartie war um gut fünf Zentimeter nach links verschoben. Er hatte große Henkelohren, über die er Klappen trug, um irgendwelche Wucherungen zu verbergen. Seine Haut hatte das pastellfarbene Zartrosa eines Schweins. Boris betrachtete ihn wohlwollend – und dann schwebte der Liebeskranz über den Kopf des Freaks und senkte sich auf ihn hinunter. Boris erhob sich und gab dem Freak einen Stoß, daß er auf Gert Lexas fiel. „Ich wünsche höchste Lust!“ sagte Boris und ging davon. Ich folgte ihm bis zu einer leeren Loge, in der er sich niederließ. „Dem hast du es aber gegeben“, sagte ich sarkastisch. „Wenn du so weitermachst, 106
bekommen wir bald die nächste Kriegserklärung.“ „Oder aber sie kommen alle angekrochen, um euch die Füße zu lecken“, erwiderte Boris und fügte hinzu: „Entweder alles oder nichts.“ Plötzlich erhob er sich wieder. „Was ist jetzt los?“ fragte ich. „Wir mischen uns unters Volk“, erklärte Boris. „Hier oben komme ich vor Langeweile noch um.“ Wir begaben uns über eine Wendeltreppe nach unten. Hier waren die Wände mit schwarz gefärbtem Sackleinen bespannt, Tische und Stühle standen so dicht beieinander, daß man mit dem Nebenmann unweigerlich Tuchfühlung bekam. Auf jedem Tisch brannten schwarze Kerzen und standen Gongs. Eine Negerkapelle spielte südamerikanische Musik, und zu den rassigen Klängen wiegten sich auf der Tanzfläche engumschlungene Paare. Auf einer kleinen Bühne machte eine knochige Blondine eine dilettantische Teufelsbeschwörung. Henning Obrecht erschien an unserem Tisch, kaum daß wir Platz genommen hatten. „Es ist mir eine Ehre, den größten lebenden Zamis in meinem bescheidenen Etablissement begrüßen zu dürfen“, sagte er katzbuckelnd. „Bescheiden trifft zu“, meinte Boris. „Ist das blonde Gerippe eure größte Attraktion?“ Henning Obrecht lachte pflichtschuldig. „Wir haben heute Publikumsabend, dabei dürfen sich normale Sterbliche produzieren. 107
Sie heizen sozusagen die Stimmung an – und es endet in allgemeiner Ekstase. Jetzt wirkt noch alles etwas steif, aber die Leute kommen noch in Schwung.“ „Dafür werde ich schon sorgen“, versicherte Boris, was Obrecht zu einem unsicheren Lächeln veranlaßte. Er entfernte sich mit einer Entschuldigung. Auf der Bühne hatte die Blondine damit begonnen, aus Wachs eine fünfzig Zentimeter große Teufelsstatue zu formen. Gäste erhoben sich von ihren Plätzen und brachten ihr weitere schwarze Kerzen. Einige blieben gleich auf der Bühne. „Versnobte Menschen müssen das herrlich dekadent finden“, meinte Boris, aber in seinen Augen glomm bereits Interesse auf. Ich hoffte, daß er bald aus sich herausgehen würde, denn es war bereits Viertel vor zwölf. Die Negerband spielte immer heißere Rhythmen, im Lokal wurde es immer finsterer, weil die Kerzen von den Tischen verschwanden. „Heil, Satan!“ rief ein Mädchen auf der Tanzfläche und beugte sich in den Armen ihres Partners weit nach hinten. Der zweite Freak erschien, der eine Tonnenbrust und dünne Glieder hatte, dazu ein knochiges Gesicht mit etlichen schwarzen Beulen und Spinnenfingern, die unglaublich biegsam waren und sich wie Schlangen wanden. Außerdem konnte er nur wie eine Krabbe seitwärts gehen. Er erkundigte sich 108
nach unseren Wünschen. „Borschtsch!“ verlangte Boris. Der Freak sah ihn ratlos an. Dann beugte er sich vertraulich zu ihm hinunter und raunte ihm zu: „Wir können auch die ausgefallensten Gaumenwünsche erfüllen. Bestimmt ist auch Ihr Lieblingsgericht dabei…“ „Borschtsch“, wiederholte Boris. Der Freak stellte sich taub. „Eine liebliche Jungfrau“, schwärmte er, und mir wurde fast übel, als ich erfaßte, welches Menü er anbot. Mir graute plötzlich. Jetzt verstand ich, was gemeint war, wenn man von Obrechts Spezialitäten sprach. Ich hörte weg, als der Freak in vielen Details die Art der Zubereitung und die Zusammenstellung der verschiedenen Menüs erklärte. Boris verlor die Geduld. Er blickte den Freak nur an, und dieser verstummte. Dann sagte er ihm das Rezept für sein Lieblingsgericht, und der Freak wiederholte ‘es. „Ich werde die Zubereitung überwachen“, trug ich mich an und folgte dem Freak, bevor Boris etwas einwenden konnte. Auf der Bühne waren die Akteure in Ekstase geraten und gaben der wächsernen Teufelsstatue immer neue Formen. Ich war dem Freak im schnelleren Zeitablauf vorausgeeilt, glitt durch die Pendeltür neben der Negerband, orientierte mich kurz und begab mich in die Küche. Ich erblickte Eustache Lexas und zwei Gehilfen, wie sie 109
gerade ein großes Tablett garnierten, auf dem ein nacktes Mädchen lag. Ihr Körper war mit einer Masse überzogen, die wie Aspik aussah – und hätte ich nicht gewußt, daß es sich um ein menschliches Wesen handelte, ich hätte sie selbst für eine Attrappe gehalten. Das war das besonders Teuflische an der Sache: Die Brüder Obrecht servierten den Ahnungslosen unter den Gästen das von Eustache raffiniert arrangierte Opfer in völliger Dunkelheit, so daß sie nicht wußten, woran sie sich delektierten. Und die Dämonen ergötzten sich daran, wie Menschen, ohne es zu wissen, zu Kannibalen wurden. Es war fünf vor zwölf! Eustache wurde mir immer widerlicher, und ich hatte keinerlei Skrupel, mein Vorhaben auszuführen. Ich konzentrierte mich auf das Mädchen und weckte es aus der Trance. Als sie die Augen öffnete, beeinflußte ich sie durch Hypnoseimpulse dahingehend, daß sie vom Tablett stieg. Dann wandte ich mich Eustache Lexas zu, nahm ihn zu mir in den schnelleren Zeitablauf. Seine Augen wurden vor Entsetzen groß, als er mich erkannte. Aber ich gab ihm keine Gelegenheit, sich in Sicherheit zu bringen. Die Lexas waren durchwegs Schwächlinge, und Eustache war der schwächste von ihnen. Es kostete mich keine Mühe, ihm meinen Willen aufzuzwingen und ihn zu veranlassen, daß er sich entkleidete und seinen unförmigen Körper 110
anstatt der Jungfrau aufs Tablett legte. Danach brauchte ich nur noch die Gehilfen zu zwingen, ihn mit der geleeartigen Masse zu überziehen. „Wie gefällt es dir, Eustache, von normalen Sterblichen aufgefressen zu werden?“ fragte ich süffisant. Ich stellte es mir bildlich vor – und schüttelte mich vor Grauen. Nicht etwa, daß mir Eustache leid tat. Ich hatte nur Mitleid mit den Menschen, denen dieser grausige Schmaus zugedacht war. Deshalb änderte ich meinen Bann dahingehend, daß Eustache in letzter Sekunde aus der Starre erwachen sollte. Ja, es war viel besser, wenn er mit dieser Schmach weiterleben mußte. Und wie ich ihn einschätzte, würde er tausend Todesängste ausstehen. Ich nahm das völlig apathisch wirkende Mädchen in mein Temporär-Feld auf und brachte sie aus dem Lokal. Auf der Straße überließ ich sie sich selbst. Mehr konnte ich im Augenblick nicht für sie tun, denn ich mußte mich auch um mein eigenes Wohlergehen kümmern. Es war gleich Mitternacht. Aber ich war sicher, es noch rechtzeitig bis zur Adresse des verrückten Teufelsschülers zu schaffen.
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Die Welt bot sich mir in einer Momentaufnahme, während ich im schnelleren Zeitablauf in die Blutgasse eilte. Für mich war es schon fast zur Routine geworden, meine phantastische Fähigkeit einzusetzen, und deshalb wurde mir die Faszination der zur Bewegungslosigkeit erstarrten Umgebung kaum mehr bewußt. Aber in manchen Momenten, vornehmlich wenn ich am wenigsten Muße dazu hatte, so wie in diesem, prägten sich gewisse Situationen unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. So mußte sich der Prinz in dem magischen Märchen „Dornröschen“ vorgekommen sein, als er das verwunschene Schloß betrat. Da war ein Liebespaar, eng umschlungen; sie verdrehte die Augen, während er eine aufschneiderische Grimasse gezogen hatte. Ein leichtes Mädchen, das etwas enttäuscht in seine Börse blickte. Dort – eine betagte Dame, die sich verstohlen umblickte, weil ihr Köter an der Leine die Radkappe eines Jaguar anpinkelte… In der Momentaufnahme wirkte das künstliche Licht der Reklamen besonders grell, die Straßenbeleuchtung dagegen hatte die Wärme von Kerzen. Noch brannten alle Lichter – um Mitternacht würde jede zweite Lampe ausgelöscht werden. Ich bog in die Blutgasse ein. Ein Betrunkener stand schief da, mit der einen Hand stützte er sich an der Wand ab, das eine Bein hatte er abgewinkelt angehoben und betrachtete seine 112
verschmutzte Schuhsohle: Er war in Hundekot getreten… Da war das Biedermeierhaus, eingezwängt zwischen zwei modernen Bauten mit kahler, nüchterner Fassade. Ich betrat es. Das Stiegenhaus war eng und niedrig, die Wände bekritzelt. Die Treppe wand sich spiralförmig nach oben. Im Parterre gab es nur zwei Türen. Die eine führte in den Lagerraum einer Spedition, die andere gehörte zu einer Galerie. Im Zwischenstock wieder nur zwei Türen – ohne Namensschilder. Ich erreichte den ersten Stock. Auf einer der beiden Türen klebte eine Visitenkarte. Darauf stand: Dr. mag. Anselm Graubarth Teufelsbeschwörer Diese Selbsternennung zum Doktor der Magie und zum Teufelsbeschwörer ließ mir den Alten nur noch lächerlicher erscheinen. Aber er hatte ein Pfand von mir, deshalb mußte ich mich mit ihm einlassen. Ich fiel in den normalen Zeitablauf zurück und drückte die Klingel. Hinter der Tür erklang ein schrilles Läuten. Im selben Moment schlug eine ferne Kirchenglocke an; ich wußte, daß sie zwölf mal schlagen würde. Von der Straße war das Fluchen des Betrunkenen zu hören, dazu ein schleifendes Geräusch, als er ein Bein nachzog, um den Hundekot von der Schuhsohle abzubekommen. Die Tür ging nach innen auf. Ein Fremder stand mir gegenüber. Er war 113
jung, blond und hatte ein hübsches Gesicht, nur seine Lippen waren etwas zu dünn. Er blickte ernst und irgendwie teilnahmslos, wirkte aber durch das schwarze Gewand, das einem Nachthemd ähnelte, überaus feierlich – ähnlich einem Leichenbestatter. „Coco Zamis?“ fragte er mit angenehmer Stimme. Ich ging wortlos an ihm vorbei. Das Vorzimmer war ein einziger Abfallhaufen. Überall lag Gerumpel herum, stapelte sich zu Bergen. Ausrangierte Kinderwagen, Teile von Puppen und zerknitterte Plakate lagen zwischen Sesselbeinen, Schranktüren, unbrauchbaren Gasherden und Autofelgen und Gipsmodellen von Händen, Köpfen, Beinen und Geschlechtsteilen. Es war ein Chaos. Die Tür fiel ins Schloß. Ich betrachtete wieder den jungen Mann. Obwohl er abwesend wirkte, machte er nicht den Eindruck, als befinde er sich in Trance. „Wie heißen Sie?“ fragte ich ihn. „Gerhard Pusch“, antwortete er. „Ich bin ein Lehrling des Meisters. Er trug mir auf, Sie sofort zu ihm zu führen. Folgen Sie mir.“ Er näherte sich der einzigen Tür, die dem Eingang gegenüberlag. Bevor er sie öffnete, drehte er sich nach mir um. „Sind Sie wirklich eine echte Hexe?“ fragte er. Er machte ein ungläubiges Gesicht, schien es nicht verstehen zu können, daß ich wie ein normaler Mensch durch die Tür kam. Hexen 114
mußten schließlich auf Besen oder im 20. Jahrhundert vielleicht auf Raketen – reiten und durch den Kamin kommen. Lächelnd fixierte ich ihn mit einem Auge und suggerierte ihm ein, daß ich einen Katzenkopf bekäme und meine Hände zu Pfoten mit langen Krallen würden, die nach ihm zielten. Er schrie vor Schreck auf… was wohl seine Harmlosigkeit am deutlichsten demonstrierte. Plötzlich durchraste meinen Körper ein flammender Schmerz. Ich schien zu brennen. Ohne lange zu überlegen, warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür, die sofort nachgab. Ich taumelte in einen schummrig beleuchteten Raum – es war ein Alptraum in Rot und Schwarz. Am anderen Ende sah ich Anselm Graubarth in lächerlicher Verkleidung – sein Hexergewand hätte besser auf einen Karneval gepaßt. Aber was er tat, war keineswegs lächerlich. Er hielt zwischen Daumen und Zeigefinger eines meiner Haare, das in einer grünlichen Flamme gloste. „Halt!“ gebot er mir, als ich auf ihn zustürzen wollte. Das Haar war verbrannt, der Schmerz in mir ließ nach. In meinem Kopf hallte nur noch ein dumpfes Dröhnen nach. „Warum hast du das getan, Anselm?“ fragte ich keuchend. „Ich bin deinem Ruf gefolgt!“ Der Alte lächelte und blies die Reste meines Haares von seinen Fingerkuppen. „Das sollte nur ein Vorgeschmack darauf 115
sein, was dir blüht, wenn du mir nicht gehorchst.“ Er trat einen Schritt zur Seite, und jetzt erst sah ich, daß sich hinter ihm eine schwarzverhüllte Gestalt befand. Ich vermutete, daß es sich um eine Teufelsstatue handelte. Der Alte fuhr fort: „Ich hatte bisher den Eindruck, daß du mich nicht ganz ernst nimmst, Hexe. Du hältst mich wohl für einen senilen, leicht vertrottelten Alten. Das muß sich ändern. Was ich gesagt habe, ist mein tödlicher Ernst. Ich will das ewige Leben!“ „Das kann ich dir nicht verschaffen, Anselm“, sagte ich wahrheitsgetreu. „Selbst wenn du mich völlig in deine Gewalt bekommst, kann ich dir die Unsterblichkeit nicht geben. Ich bin nicht mächtig genug.“ „Aber du bist mächtiger als der Dämon Barron!“ behauptete er. „Er hat es selbst zugegeben und mich an dich verwiesen. Er hat mir geraten, dich in meine Gewalt zu bekommen, weil über dich der Weg zu mächtigeren Dämonen führt.“ Ich wog die Situation ab. Anselm Graubarth hatte sich nicht durch einen magischen Kreis abgesichert, weil er zu glauben schien, daß ich ihm nun nichts mehr anhaben könnte. Dabei hätte es mich keine Mühe gekostet, ihn zu überwältigen. Aber das wäre nicht klug gewesen. Außerdem hielt ich ihn immer noch für einen ungefährlichen Spinner. Was konnte es also schaden, auf sein Spiel einzugehen? Vielleicht erfuhr ich auf diese Weise, wer sich 116
hinter dem Decknamen Barron wirklich verbarg. „Ich kenne keinen Dämon mit Namen Barron“, sagte ich. „Wahrscheinlich bist du einem Hochstapler aufgesessen, Anselm.“ „Es gibt Barron!“ rief der Alte mit sich überschlagender Stimme. „Schon Gilles de Raiz hat diesen Dämon angerufen und über ihn Unsterblichkeit erlangt. Gilles de Raiz ist mein großes Vorbild.“ Ich konnte auch mit diesem Namen nichts anfangen, wollte meine Unwissenheit aber nicht eingestehen. Es war möglich, daß dieser Mann eine bekannte Persönlichkeit war, von der ich nur noch nichts gehört hatte, weil ich noch nicht lange genug in der Schwarzen Familie war. Schließlich hatte ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr auf dem Land gelebt und von meiner wahren Abstammung keine Ahnung gehabt. „Wenn Gilles de Raiz sein Ziel erreicht hat und du nicht“, sagte ich, „dann liegt es wahrscheinlich daran, daß du Fehler in der Beschwörung gemacht hast. Sage mir, wie du Barron gerufen hast, dann kann ich dir vielleicht sagen, was falsch war.“ „Ich weiß, was in meiner Beschwörung fehlt“, erklärte der Alte. Er lachte schrill. „Oh, ich weiß es sehr gut! Man kann Dämonen nur für sich gewinnen, wenn man ihnen Opfer bringt. Sie wollen Blut sehen und den Lebensatem Sterbender in sich einsaugen. Ich weiß alles! Gilles de Raiz ist mein Vorbild – ich 117
werde ihm nacheifern.“ Er hielt plötzlich ein langes Messer in der Hand, mit der anderen öffnete er den Umhang über seiner Brust. „Da, der Beweis meiner Opferbereitschaft!“ schrie er und ließ das Messer auf seine Brust sinken. Ich befürchtete schon, daß er sich erdolchen würde, doch dann erkannte ich, daß er den Stoß abfing und mit der Messerspitze nur seine Brust ritzte. Mit schnellen Bewegungen schnitt er sich die Buchstaben G. d. R. in die Brust, und die Wunden verfärbten sich sofort blutrot. „Genug, Anselm!“ rief ich ihm zu. „Du hast mir deine Opferbereitschaft bewiesen.“ „Nein, es ist noch lange nicht genug“, erwiderte er, und jetzt loderte endgültig der Wahnsinn in seinen Augen. Doch er war nicht wirklich wahnsinnig, denn das hätte ich an seiner Ausstrahlung erkannt. Er war nur regelrecht besessen – ob von einem Dämon oder nicht. Er breitete die Arme aus und richtete seinen Blick nach unten, als wolle er geradewegs in die Hölle blicken; das Messer hielt er umkrampft. „Wollt ihr Blut sehen, Dämonen? Ja?“ gellte er. „Dann sollt ihr es bekommen! Es soll in Strömen fließen, damit ihr darin baden könnt.“ Er wirbelte plötzlich herum und zielte mit dem Messer auf die schwarzverhüllte Gestalt. Das alles kam so überraschend für mich, daß 118
ich zu spät schaltete. Wie sollte ich auch wissen, daß er tatsächlich beabsichtigte, ein Menschenopfer darzubringen? Ich hätte nicht geglaubt, daß er so weit gehen würde… Ich versetzte mich in einen rascheren Zeitablauf. Während seine Bewegungen langsamer wurden, raste ich auf ihn zu. Das Messer durchstieß die schwarze Hülle, drang tiefer… Noch einen Schritt, dann hatte ich den Alten erreicht… Ich griff nach seinem Arm mit dem Dolch – er hatte ihn schon bis zum Heft in den schwarzen Umhang getrieben… Da verfärbte sich der schwarze Stoff rötlich. Ein Schwall Blut spritzte in Zeitlupe durch die Öffnung. Die Tropfen trieben wie rote Luftblasen davon. Ich ließ mich resignierend in den normalen Zeitablauf zurückfallen, da ich ohnehin nicht mehr helfen konnte. „Blut! Blut! Blut!“ schrie Anselm Graubarth immer wieder. Und jedesmal stieß er erneut mit dem Dolch zu. Der schwarze Umhang riß, darunter kam eine nackte weibliche Gestalt zum Vorschein. Der Umhang fiel von ihr ab. Ich sah ein Mädchengesicht, das einmal hübsch gewesen sein mußte. Jetzt war es von ekstatischem Schmerz entstellt. Der Körper wies bereits unzählige Wunden auf. Endlich faßte ich mir ein Herz und wollte dem Alten das Handwerk legen. Aber bei jedem Dolchstoß war mir, als dringe die Klinge in meinen Körper ein… Das Mädchen ging in die Knie, drehte sich halb um seine Achse. 119
Ich zuckte vor Schmerz zurück. Und da erkannte ich, was mich so hilflos machte. Auf der Haut des Mädchens klebten vereinzelte Haare. Schwarze Haare – obwohl das Mädchen blond war! Da wußte ich, daß der Alte mein Haar auf ihrem Körper ausgelegt hatte. Deshalb war ich machtlos. Endlich ließ Anselm Graubarth von seinem Opfer ab. Das Mädchen lag auf dem Boden. „Adept Gerhardus!“ schrie der Alte. Sein Gesicht schien in diesen wenigen Sekunden um Jahre gealtert. Das Gesicht seines Totenschädels glich dem einer Mumie – und er verfiel immer mehr. Seine Haut verfärbte sich grünlich. „Adept Gerhardus – die Dämonen fordern noch mehr Blut!“ gellte es schaurig durch den Raum. „Folge deiner Geliebten in die Ewigkeit, lasse deinen Körper zu meinem Jungbrunnen werden.“ Was hatte der Alte nur mit seinen Opfern angestellt, daß sie ihm so hörig waren und sich von ihm willig zerstückeln ließen? Gab es tatsächlich einen Dämon Barron, der dem Alten Macht über andere Menschen gab? Ich traute meinen Augen nicht, als sich der junge Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, das schwarze Gewand über den Kopf zog und sich so dem Alten näherte – seinem Mörder! Anselm Graubarth war bereits so weit verfallen, daß er einem Untoten ähnelte. Seine Haut hatte sich giftiggrün verfärbt, die Lippen waren ihm so weit geschrumpft, daß sein 120
Gebiß vortrat. Alles Fleisch um seine Augenhöhlen war verschwunden, die Augen selbst hingen nur noch an den Sehnerven und pendelten bei jeder Bewegung in den schwarzen Augenhöhlen. Es schien fast, daß das Blut seiner Opfer ihn rasend schnell altern ließ, anstatt ihm die Jugend zurückzugeben. Gerhard Pusch erreichte ihn. „Stirb!“ schrie der Alte und hob kraftlos den Dolch. Aber immerhin wäre er noch in der Lage gewesen, einen tödlichen Stoß anzubringen. Deshalb eilte ich hinzu und brachte das verhüllte Opfer außer Reichweite. Der Dolch durchschnitt die Luft und stieß ins Leere. Durch die Wucht des Stoßes wurde der Alte nach vorn gerissen und stürzte zu Boden. Ich befreite den jungen Mann aus dem schwarzen Sack. Er starrte mich überrascht und bestürzt an. „Schnell, ziehen Sie sich an, Gerhard“, befahl ich ihm. „Wenn es wirklich den Dämon Barron gibt, sind Sie noch nicht außer Gefahr. Ziehen Sie sich an. Ich werde Sie in Sicherheit bringen.“ Der junge Mann nickte, hob sein am Boden liegendes Gewand auf und zog sich an. Ich warf einen Blick auf den Alten, der in seinen letzten Zuckungen lag. Er gab seltsame Laute von sich. Er hatte sich mit den Zähnen in Bretter des Fußbodens verbissen und sich mit den Händen darin verkrallt. Bestimmt war es am besten, wenn er hier 121
sein Leben aushauchte. Ich wandte mich ab. Als Gerhard Pusch angezogen war, verließ ich mit ihm schnell die Wohnung.
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Ich brachte meinen Schützling in eine Diskothek. Obwohl die Atmosphäre nicht für eine ernste Unterhaltung geeignet schien, wählte ich dieses Lokal, weil ich meinte, daß wir hier besser untertauchen könnten. Gerhard Pusch war endlich zur Besinnung gekommen. Er kippte hintereinander drei Whisky pur, dann schien er sich besser zu fühlen. „Sagen Sie, daß ich alles nur geträumt habe“, sagte er dumpf. „Das Leben kann oft ein Alptraum sein“, erwiderte ich. „Erzählen Sie mir etwas über sich. Wie sind Sie an diesen Wahnsinnigen geraten?“ Gerhard Pusch stammte aus geordneten Familienverhältnissen. Das triste bürgerliche Leben kotzte ihn an. Er suchte Abwechslung, fand sie in verschiedenen Exzessen, die immer mehr ausarteten. Schließlich geriet er in einen sogenannten Magischen Zirkel, in dem Schwarze Messen abgehalten wurden. Dort lernte er Hilda kennen… die nun in einer Wohnung eines Biedermeierhauses in der Blutgasse in ihrem Blut lag… Hilda brachte ihn mit Anselm Graubarth zusammen, der Adepten für seine Beschwörungen suchte. „Ich hätte nicht gedacht, daß der Mensch so tief sinken kann“, sagte Gerhard verständnislos. „Ich schäme mich fast, es zu sagen… Aber ich sah den Schmerzen, die mir mein Meister bereiten würde, voll Lust entgegen. Ich war wie von Sinnen. Ich wußte 123
doch, daß Hilda verstümmelt worden war, dennoch… Läßt sich das mit Magie erklären? Hat mich der Meister verhext?“ Ich sagte ihm nicht die Wahrheit. „Ja, er hat dich in seinen Bann geschlagen und willenlos gemacht“, log ich. Dann fügte ich hinzu – und das empfand ich wirklich so: „Jetzt hast du diese Phase überwunden, Gerhard. Du wirst ein neuer Mensch werden. Vielleicht wirst du nie wieder in deinem Leben lachen und fröhlich sein können. Aber bestimmt wirst du auch nicht mehr dem Bösen verfallen.“ Ich zog ihn zur Tanzfläche, und wir tanzten engumschlungen. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an mich. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte mich, wie ich es erst einmal in meinem Leben gespürt hatte. Damals, als ich drauf und dran war, mich in Rupert Schwinger zu verlieben… der nun eine gnomenhafte Schreckensgestalt war und als Hüter in unserem Haus ein erbarmungswürdiges Dasein führte und für mich ein abschreckendes Beispiel geben sollte. Unwillkürlich rückte ich von Gerhard ab. „Was ist?“ fragte er. Er ließ mich los, blickte schuldbewußt auf seine Hände und nickte. „Sie sind schmutzig – und voll Blut.“ Er wollte fliehen, aber ich hielt ihn zurück. Als ich ihn umschlang und fest an mich preßte, entspannte er sich wieder. „Halt mich fest, Gerhard, und laß mich nie wieder los“, bat ich. 124
Ich wußte, daß diese Bekanntschaft nur eine kurze Episode sein durfte. Aber solange sie dauerte, wollte ich sie genießen. Er küßte mich, zärtlich zuerst, dann immer leidenschaftlicher, seine Hände, die wie suchend und forschend über meinen Körper glitten, elektrisierten mich. Die Welt versank um uns. Wir waren nahe dran, zu vergessen, daß wir zwischen schwitzenden Körpern eingekeilt waren. Aber dann öffnete ich die Augen – und die brutale Wirklichkeit stürzte auf mich ein. Neben uns tanzte ein älterer, distinguiert wirkender Herr, dessen Gesicht mir bekannt vorkam, mit einer kleinen, pummeligen Blondine. Plötzlich erinnerte ich mich an die beiden. Der Graumelierte war einer der Gäste in jenem Hotel gewesen, in dem Boris die Leute zu einem unfreiwilligen Striptease veranlaßt hatte. Bei der Blondine handelte es sich um ein Zimmermädchen. Ich trat auf etwas Weiches und blickte hinunter. Dort lag der Geschäftsführer des Restaurants, in das’ Boris mit mir zu Beginn unserer Tour eingekehrt war, rücklings auf dem Boden. Jedesmal, wenn jemand auf ihn trat, stöhnte er. Als ich mich genauer umsah, entdeckte ich plötzlich viele bekannte Gesichter, zumeist Gäste des Restaurants und des Hotels, aber auch einige Passanten, denen ich mit Boris begegnet war. 125
Boris mußte sie alle hypnotisiert und hierherbestellt haben. Und dann entdeckte ich auch Gäste aus dem Gourmand-Gourmet… und etliche Dämonen: Walter und Henning Obrecht, einen Thimig, der sich langsam in einen Werwolf zu verwandeln begann, Gert Lexas, der mit ausdruckslosem Indianergesicht einem Barmädchen seine Liebeskette umlegte. „Amüsierst du dich gut, kleine Coco?“ flüsterte jemand an meinem Ohr. „Boris!“ entfuhr es mir erschrocken. Ich versuchte Gerhards Kopf herumzudrehen, damit Boris nicht sein Gesicht sehen konnte. Ich stammelte: „Was… Wie…“ „In dem Dämonentreff war überhaupt nichts los“, erklärte Boris; er tanzte mit einer üppigen Blondine, die etwas mitgenommen aussah. „Deshalb“, fuhr Boris fort, „haben wir alle einen Tapetenwechsel gemacht – so sagt man doch?“ „Und warum seid ihr ausgerechnet hierhergekommen?“ fragte ich. Boris zuckte die Achseln. „Vielleicht ahnte ich, wo ich dich treffen würde.“ Er stieß mich an und deutete auf Gerhard. „Wer ist der Jüngling?“ „Eine flüchtige Bekanntschaft…“ Boris ging nicht näher darauf ein. „Paß auf“, raunte er mir zu, „gleich wird dieser Fleischberg platzen. Gib zu, daß du in dieser Walküre nicht mehr die knochige Blondine wiedererkennst, die auf der Bühne 126
des Gourmand-Gourmet mit der Wachsstatue geschmust hat. Übrigens, dein Gag mit dem Schwarzblütigen in Aspik hat eingeschlagen…“ Ich blickte auf Boris’ Partnerin, deren Gesicht immer mehr aufzuquellen schien. „Was hast du mit ihr gemacht?“ fragte ich entsetzt. „Ich habe sie ein Teufelsei aus meiner Überraschungskiste schlucken lassen“, rief Boris lachend. Die Blondine schrie plötzlich auf und schlug um sich. Die Tanzenden flüchteten vom Parkett und bildeten einen Kreis um die Blondine. „Komm, schnell fort“, sagte ich zu Gerhard und zog ihn zum Ausgang. „Aber…“, versuchte er aufzubegehren. „Willst du nicht mit mir allein sein?“ fragte ich schmachtend. Das wirkte. Ich bahnte mir einen Weg durch die johlende Menge. Die Leute klatschten und pfiffen und dachten, daß ihre Anfeuerungen die Blondine in Fahrt bringen würden. Als ich mich noch einmal umblickte, waren der Frau alle Haare ausgefallen. Sie hatte die Kleider vom Körper gerissen – und so war deutlich zu sehen, wie ihre Haut überall Risse bekam. Sie platze förmlich, wie Boris es prophezeit hatte. Aber statt Blut brach aus den Wunden Eiter, und dann zuckte es in den Wunden. Ich sah noch, wie die ersten Ratten und Spinnen aus ihrem Körper schlüpften… Endlich erreichten wir das Freie. Ich lief mit 127
Gerhard zu einem Taxistandplatz. „Nach Perchtoldsdorf“, trug ich dem Fahrer auf, als ich neben Gerhard in den Rücksitz gesunken war. Nach Perchtoldsdorf, hallte es in meinem Geist nach. Und ich fragte mich bange, ob es klug war, Gerhard in die Forcas-Villa zu bringen. Vor dem ominösen Barron war er dort bestimmt nicht sicher, aber es gab dafür ein anderes Problem: Boris. Es war eigentlich viel leichter, als ich geglaubt hatte, Gerhard in der Villa zu verstecken. Komplikationen ergaben sich eigentlich nur dabei, ihn ins Haus zu bekommen. Zuerst weigerte er sich, die „Bruchbude“ zu betreten; als ich ihn dann soweit hatte, wäre er gleich beim Betreten fast in den Bann eines magischen Auges geraten, wie sie die Forcas überall im Haus zurückgelassen hatten. Aber ich löste das Problem, indem ich Gerhard kurzerhand hypnotisierte. Das brachte noch den Vorteil mit sich, daß er auch gegen die anderen Schrecken gefeit war – so etwa gegen die in den Bildern der Forcasschen Ahnengalerie lauernden Monstren. Als Gerhard auf meinem Zimmer war, entsetzte er sich über die altmodische Einrichtung und die seltsamen Reliquien, die alle noch von Eurika Forcas stammten. „Wenn du mit einer Hexe zusammenleben willst, mußt du dich an ihre kleinen 128
Eigenheiten gewöhnen“, sagte ich kokett. „Wer weiß, ob ich das noch will“, meinte er mit leichtem Unbehagen. „Ich glaube, du hast gar keine andere Wahl, Gerhard“, sagte ich. „Anselm Graubarth ist zwar tot, aber der Dämon Barron kann dir immer noch gefährlich werden. Solange du in seinem Bann stehst, kann er dir seinen Willen auf zwingen. Ich muß erst versuchen, seinen Bann zu brechen.“ „Und solange bin ich in diesem Loch dein Gefangener“, sagte er zerknirscht. Ich schmiegte mich an ihn. „Vielleicht ist diese Gefangenschaft gar nicht so schlimm, wie du annimmst.“ Er küßte mich und wollte mich aufs Bett drücken. „Nein, nicht!“ Ich befreite mich aus seiner Umarmung. Obwohl alles in mir nach seinen Zärtlichkeiten verlangte, wußte ich, daß ich es nicht zum Äußersten kommen lassen durfte. Rupert Schwingers Schicksal war mir ein warnendes Beispiel. „Wie du willst.“ Gerhard zuckte die Achseln und wandte mir demonstrativ den Rücken zu. „Da ist noch etwas.“ Ich erhob mich und ging zu dem großen Spiegel an der Wand, der jedoch blind war und überhaupt nichts reflektierte. Es sah aus, als sei Milchglas in einen prunkvollen Rahmen gefaßt. Ich nahm an, daß dieser Spiegel Eurika Forcas für übersinnliche Wahrnehmungen gedient hatte 129
– vielleicht konnte sie in ihm sogar die Zukunft sehen, doch ich war noch nicht hinter seine letzten Geheimnisse gekommen. Immerhin hatte ich jedoch herausgefunden, daß sich hinter dem Spiegel ein Versteck befand: Ein kleiner Raum mit einer Schlafgelegenheit. Einmal hatte ich mich darin versteckt, als Boris in mein Zimmer gekommen war, und er hatte mich nicht einmal auf magische Weise wahrnehmen können. „Du mußt dort hinein, Gerhard“, erklärte ich. „Das Haus gehört nämlich nicht mir allein, ich bewohne es mit einem entfernten Verwandten. Er ist ein wahres Scheusal, und wenn er dich entdeckt…“ „Ich verstehe schon“, meinte Gerhard schmollend und verschwand ohne weiteren Kommentar durch die milchige Fläche des Spiegels. Ich überlegte, ob ich ihn zurückrufen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Es wäre bestimmt wieder auf das eine hinausgelaufen, das ich zu verhindern versuchte. Aber warum hielt ich Gerhard dann hier fest? An die Gefährlichkeit des Dämons Barron glaubte ich nicht, das war nur eine Ausrede gewesen, um Gerhard zu halten. Er gefiel mir. Aber wäre es in diesem Fall nicht nur natürlich gewesen, mich ihm hinzugeben? Ich wollte es, mit jeder Faser meines Körpers verlangte ich nach seinen Zärtlichkeiten – die Vernunft sagte mir jedoch, daß ich es nicht durfte. Ich wollte Gerhard nur in meiner Nähe 130
haben, das genügte mir. Ihm aber nicht, wie sich bald herausstellte. Am nächsten Tag ließ ich Gerhard für einige Stunden aus seinem Versteck, aber ich verbot ihm, das Zimmer zu verlassen. Ich mußte noch einige weitere Verbote für ihn erlassen. „Rühre in diesem Zimmer nichts an“, befahl ich ihm. „Die Salben und Wässerchen, so harmlos sie auch aussehen, könnten verheerende Auswirkungen auf dich haben. Und die anderen Dinge, vom Kerzenhalter bis zu dieser seltsam geformten Schere, sind magisch aufgeladen.“ Er nickte nur, starrte aus dem Fenster. „Ich möchte Spazierengehen“, verlangte er unvermittelt. Ich kam zu ihm, strich ihm zärtlich über den Rücken, lehnte den Kopf an ihn… es war ein unbeschreibliches Gefühl, ihn so nahe zu spüren. Das Zucken seiner Muskeln, das Auf und Ab seines Rückens, wenn er atmete, jede kleinste Bewegung von ihm verursachte mir ein wohliges Prickeln. Er drehte sich langsam um. Ich blickte mit verschleierten Augen zu ihm auf, und zum erstenmal wurde mir deutlich bewußt, wie groß er war. Er legte die Arme um mich und ließ sie sanft meinen Rücken hinauf- und hinunterwandern. Dann ließ er sie an meinem Gesäßansatz zur Ruhe kommen, drückte meinen Körper fest an sich. In diesem Moment war ich Wachs in seinen Händen, das 131
er beliebig formen konnte. Und er wußte es. Und er tat es. Langsam näherte sich sein Gesicht dem meinen, unsere Lippen verschmolzen miteinander. Ich schwebte… „Der Russe kommt! Der Russe kommt!“ lispelte der Irrwisch, den ich als Aufpasser eingesetzt hatte. Das ernüchterte mich. Ich stieß Gerhard von mir und drängte ihn in das Versteck im Milchglasspiegel. Er konnte von dort das ganze Zimmer einsehen, ohne selbst entdeckt zu werden. Aber er konnte sein Versteck nicht ohne meine Einwilligung verlassen. Ich verließ das Zimmer. Als ich auf die Treppe kam, erschien Boris gerade in der Halle. Sein Gewand war zerfetzt und blutverschmiert. Er war völlig berauscht. Er blickte mit einem dümmlichen Lächeln zu mir herauf. „War das ein Fest“, schwärmte er. „Du weißt gar nicht, was du alles versäumt hast, Coco. Aber sicher hast du dich anderweitig schadlos gehalten.“ „Mir war nicht nach Vergnügen zumute, deshalb habe ich mich zurückgezogen.“ Er kam die Treppe hoch und zwinkerte mir zu. „Und der Junge?“ „Ich habe ihn aus den Augen verloren.“ „Na, es geht mich auch nichts an… Übrigens, so übel sind manche der Burschen aus den 132
Wiener Familien gar nicht.“ Er ging auf sein Zimmer und ließ sich zwei volle Tage lang nicht blicken. Meine Sorge, daß er wieder so intensiv „träumen“ würde, daß sich die Villa in ein Spukschloß verwandelte, war unbegründet. Ich merkte seine Anwesenheit volle achtundvierzig Stunden nicht und vergaß fast, daß er sich im Hause befand. Dafür hatte ich mit Gerhard meine liebe Not. Er wurde immer mürrischer und schweigsamer, obwohl ich versuchte, mich ihm gegenüber so normal wie möglich zu geben. Ich kochte für ihn, brachte ihm frische Wäsche und servierte ihm das Frühstück ans Bett. Er aß kaum. Ich versuchte ihn aufzumuntern, indem ich mit ihm Karten und Schach spielte; ich ließ ihn manchmal sogar gewinnen, damit er nicht die Lust daran verlor. Aber auch das fruchtete nichts. Wenn ich ihn aus seinem Versteck ließ, stand er oft stundenlang am Fenster und blickte hinaus. Ich mußte an ein gefangenes Tier denken, das sehnsüchtig durch die Gitter seines Käfigs in die Freiheit blickte. „Ich tue alles nur um deinetwillen, Gerhard“, versicherte ich ihm. „Wenn ich erst einmal den Dämon Barron zur Strecke gebracht habe, dann…“ Er drehte sich um und sagte haßerfüllt: „Bisher hast du noch nicht einmal versucht, 133
etwas über Barron herauszufinden, geschweige denn, ihn unschädlich zu machen.“ Er hatte recht. Ich biß mir auf die Lippen. Ohne ein Wort zu verlieren, baute ich auf dem Kartentisch verschiedene Gegenstände auf, die ich für eine Beschwörung benötigte, und stellte eine magische Kristallkugel in die Mitte – als Ersatz für eine Irrlichterkugel. Ich konzentrierte meine Gedanken auf meinen Bruder Georg und bekam schnell Kontakt mit ihm. „Georg, ich brauche deine Hilfe“, sagte ich. „Macht Boris dir Schwierigkeiten?“ fragte er besorgt. „Nein, es ist nicht wegen Boris. Ich möchte nur etwas über ein Mitglied der Schwarzen Familie mit Namen Barron erfahren. Er macht seit einiger Zeit in Wien von sich reden, ohne daß man ihn zu sehen bekommt.“ „Hast du nähere Angaben über ihn?“ fragte Georg aus der magischen Kugel; aus den Augenwinkeln sah ich, wie Gerhard interessiert näher kam. „Ich weiß nur, daß er einem Menschen namens Gilles de Raiz zur Unsterblichkeit verhelfen haben soll“, erklärte ich. Da begann Georg schallend zu lachen. „Wie naiv du bist, kleine Coco!“ Georgs Stimme klang belustigt. „Da bist du aber einem Witzbold aufgesessen. Der Fall Gilles de Raiz ist weltbekannt – und nicht nur innerhalb der Schwarzen Familie. Dieser Mann lebte vor 134
über fünfhundert Jahren menschlicher Zeitrechnung. Er hat Barron an die hundertundfünfzig Kinder geopfert, in der Erwartung, daß ihm der Dämon zu Reichtum und ewigem Leben verhilft. Aber Barron dachte nicht daran, eine Gegenleistung zu erbringen wahrscheinlich konnte er es gar nicht –, und so endete Gilles de Raiz am Galgen.“ „Was ist aus Barron geworden?“ „Es heißt, daß er größenwahnsinnig wurde und Asmodi I herausforderte. Aber Barron unterlag und wurde zu einem Freak gemacht. Seine Gebeine sind längst vermodert…“ „Danke, das genügt“, sagte ich schnell. „Ich melde mich wieder, Georg.“ Damit unterbrach ich die Verbindung. Gerhard stand neben mir, die Hände zu Fäusten geballt. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. „Es gibt also gar keinen Dämon, der Barron heißt“, sagte Gerhard gepreßt. „Er ist nur ein Phantom, ein Hirngespinst. Aber du mußt mich vor ihm beschützen, nicht wahr? Du mußt mich gefangenhalten, damit mir nichts geschehen kann.“ „Ich beschütze dich vor jenem Dämon, der sich für Barron ausgibt“, sagte ich verzweifelt. „Wirklich?“ Seine Stimme klang ätzend wie Säure. „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, daß du mich nur unter einem Vorwand festhalten willst. Wie lange willst du es tun? Ein paar Monate? Ein Jahr? Oder soll ich bis an 135
mein Lebensende dein Gefangener sein? Ich durchschaue dich, du – Hexe! Freiwillig bleibe ich keine Sekunde mehr in diesem Haus. Du mußt mir schon deinen Willen aufzwingen.“ „Du siehst das alles falsch, Gerhard“, beschwor ich ihn. „Daran, daß ich dich nicht beeinflusse, mußt du doch erkennen, daß ich dich so will, wie du bist. Ich brauche dich…“ Ich unterbrach mich, bevor ich etwas sagen konnte, das ich dann wieder bereute. „Und wozu brauchst du mich?“ fragte er kalt. Ich warf mich ihm um den Hals, aber er blieb starr. Ich suchte seinen Mund, seine Lippen blieben geschlossen. „Liebst du mich denn nicht mehr?“ fragte ich. Er schluckte. „Und wie steht es mit dir?“ Ich erkannte, daß ich mich jetzt entscheiden mußte. War es wirklich Liebe, die ich für ihn empfand? Oder waren meine Gefühle nur eingebildet und wurde ich nur von fleischlicher Begierde getrieben? So wie Lydia, meine Schwester, die es ohne Unterschied der Abstammung mit jedem trieb… „Ich glaube, ich… liebe dich, Gerhard“, sagte ich stockend. Jetzt war es heraus. Ich spürte, wie sein Körper auftaute. Ich bekam eine Gänsehaut, als seine Hände an mir hochwanderten. „Wovor hast du dich die ganze Zeit gefürchtet, Coco?“ hörte ich ihn flüstern. „Glaubst du, daß du nicht lieben darfst, nur weil du eine Hexe bist? Im Grunde genommen 136
ist jede Frau eine Hexe, und das ist gut so. Kein Mann, der sich nicht gerne verhexen ließe… Liebe ist Verzauberung…“ In mir war ein Rauschen wie von der Meeresbrandung. Ich ließ mich von den Wogen treiben, auf und ab, glitt einmal tief hinab, so daß ich Gerhard irgendwo über mir schweben sah, dann war ich wieder obenauf. Irgendwann kam aber der Moment, wo ich wieder gegen das Meer ankämpfte, ich wollte mich aus seinem Sog befreien, mich auf den festen Boden der Vernunft retten. Aber Gerhards zärtliche Leidenschaft spülte meine Bedenken fort… Lydia, Lydia, könntest du dieses Erlebnis nur einmal haben, dann würdest du wissen, was schöner ist als satanische Fleischeslust! Dann war wieder die Angst vor den Folgen ‘da, die Angst schnürte das Glücksgefühl ab. Ich hatte den Eindruck als seien überall um uns unsichtbare Augen, die uns beobachteten. Alle Zamis sahen zu! Verachtung sprach aus ihren Blicken. „Sie soll ein Freak werden! Sie hat nichts anderes verdient…“ Ich verscheuchte diese Alpträume, und Gerhard war mir dabei behilflich. „Du brauchst keine Angst zu haben, Coco. Ich bin bei dir.“ Obwohl ich wußte, wie wenig er mir im Ernstfall helfen konnte, tat es gut, seinen Beistand zu haben. Das Gefühl, auf einen Menschen bauen und ihm vertrauen zu 137
können, war überwältigend. War das Liebe? Dennoch konnte ich meine Angst nicht überwinden. Ich hatte noch immer das Gefühl, als wäre außer uns noch jemand im Raum, der uns mit glühenden, gierigen Augen beobachtete. Ich hätte in diesem Augenblick am liebsten geweint, aber Hexen haben keine Tränen. Mir war es nicht wie anderen Frauen gestattet, mir auf diese Weise ein Ventil für meine Ängste zu verschaffen. Das war die Hemmung, die es Hexen unmöglich machte, echte Gefühle zu empfinden… „Der Russe ist aufgewacht! Der Russe ist aufgewacht!“ Die Warnung des Irrwischs brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich versteckte Gerhard, der nicht wußte, wie ihm plötzlich geschah, hinter dem Spiegel und legte mich ins Bett. Boris kam wie immer ohne anzuklopfen ins Zimmer. Er hatte blutunterlaufene Augen und keuchte. „Hier riecht es nach Sünde“, grölte er. „Ja, du hast recht“, erwiderte ich schlagfertig. „Du hast diesen Geruch mitgebracht.“ Boris wurde ernst. Der Irrwisch, der sich dicht an meinem Ohr eingenistet hatte, warnte mich. „Achtung, der Russe führt eine Teufelei im Schilde. Er rechnet nicht mit deiner 138
Gegenwehr, deshalb könntest du ihn überlisten.“ Ich versetzte mich in einen rascheren Zeitablauf und verließ, nackt wie ich war, das Bett. An meine Stelle legte ich den Irrwisch und gab ihm mein Aussehen. Ich hoffte, daß Boris meine Identität nicht überprüfte – dann floh ich zu Gerhard hinter den Spiegel. Boris kam ans Fußende des Bettes und starrte meinen Doppelgänger durchdringend an. Ich hoffte, daß er nicht versuchen würde, mich zu beeinflussen… Zum Glück war das auch gar nicht seine Absicht. Ich merkte, daß er für den Bruchteil einer Sekunde verschwand, und als er wieder an seinem Platz war, hatte er seine Stellung etwas verändert. Kein Zweifel, daß er sich kurz in einen rascheren Zeitablauf versetzt hatte. „Ich erwarte heut Nacht Besuch, Coco“, sagte er dann zu meinem Doppelgänger. „Es wird vielleicht etwas laut werden… Oder möchtest du mal einen Sabbat nach sibirischer Art miterleben?“ „Nein“, sagte der Irrwisch. „Eben.“ Er lachte grölend. „Dann wünsche ich dir einen guten und festen Schlaf.“ Er verließ das Zimmer. Ich wollte schon mein Versteck verlassen, um zu sehen, was er mit dem Irrwisch angestellt hatte. Doch dann kam Boris zurück. Er machte einige beschwörende Bewegungen und rief laut meinen Namen. Der Irrwisch mit 139
meinem Aussehen rührte sich nicht. Boris grinste diabolisch und ging endgültig. Warum hatte Boris versucht, mich einzuschläfern? Vermutlich wollte er bei seinem „sibirischen Sabbat“ nicht gestört werden. Meine Neugierde war geweckt. „Coco“, flüsterte Gerhard heiser, und ich gestattete ihm, mir für einige köstliche Augenblicke meine düsteren Gedanken zu vertreiben.
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Es war klug gewesen, die magischen Einrichtungen der Forcas bestehen zu lassen, so war es mir möglich, die Vorgänge im Hause durch die magischen Augen zu beobachten, ohne mein Zimmer zu verlassen. Im Bett lag immer noch der Irrwisch mit meinem Aussehen. Gerhard schlief ebenfalls in seinem Versteck. Ich saß an Eurikas Schminktisch, der genau im Fokus einiger magischer Augen stand. Von hier konnte ich in die Halle, in den Schwarzen Salon, in den Beschwörungsraum auf dem Dachboden sehen und einen Teil des Parks überblicken. Das kostete mich keine besondere Anstrengung. Es war gleich Mitternacht. Boris befand sich noch in seinem Zimmer. Da tauchte im Garten eine geduckte Gestalt auf. Zuerst hielt ich sie für einen Hund, erkannte dann aber, daß es sich um einen Werwolf handelte. Das konnte nur ein Thimig sein. Er umschlich das Haus und heulte. Als er die Rückseite erreichte, verschwand er aus meinem Blickfeld. Er kam aber gleich wieder ans Portal und legte sich winselnd auf die oberste Stufe. Boris kam über die Treppe und begab sich in den Schwarzen Salon. Er tat, als hörte er das Geheul des Werwolfs nicht, und legte auf dem Tisch zwei Dutzend formlose Gegenstände zurecht, die wie Steine aussahen. Ich vermutete, daß er sie seinem „Behältnis des 141
Schreckens“ entnommen hatte. Verdächtigte ich Boris zu Unrecht des Verrats an meiner Familie? Ich wußte nicht, ob ich darüber froh sein sollte, falls ich mich irrte. Als er das Gesicht in Richtung eines magischen Auges wandte und ich es deutlich vor mir sah, wußte ich, daß ich keinem Irrtum erlag. Es zeigte einen entschlossenen Ausdruck, seine Augen funkelten gefährlich. Jetzt tauchten im Garten zwei weitere Gestalten auf. Ihre unförmigen Körper schwabbelten bei jedem Schritt wie Sülze, ihre gedrungenen Schädel waren mit einem rotbraunen Fell bedeckt, das ihnen bis auf die Brust herunterfiel. Es handelte sich um Toni und Henning Obrecht in ihrer Monstergestalt. Sie gesellten sich zu dem Werwolf, der nun menschliche Gestalt annahm und sich als Walter Thimig entpuppte. Endlich begab sich Boris in die Halle, hob die magische Sperre auf und ließ die drei ein. „Warum hast du uns so lange warten lassen?“ beschwerte sich Walter Thimig. Boris versetzte ihm einen Tritt ins Hinterteil, daß er sich winselnd zurückzog. Nacheinander trafen weitere Dämonen ein. Perez Lexas mit seinen Söhnen Eustache und Gert; Konstantin und Nikodemus Thurgau, zwei Vampire aus der Provinz; die SpandornAmazonen Ethel, Clara und Diana, gorgonenähnliche Weiber, deren faszinierende Haarpracht sich in eine Brut von ekelerregenden Würmern verwandeln konnte; 142
dazu kam noch ein Dutzend Dämonen, die mir unbekannt waren. Als letzter stieß zu dieser illustren Gesellschaft noch einer, den mir Georg einmal im Vorübergehen gezeigt hatte. Er hieß Paldur Zoraster und war nur ein Halbdämon. Er stammte von normalen Menschen ab, war aber während eines Sabbats geboren worden und im Sinne der Schwarzen Familie erzogen worden. Er spielte oft eine Vermittlerrolle zwischen rivalisierenden Familien und war ein wichtiger Informationsträger. Georg hatte gesagt, daß ihm nicht über den Weg zu trauen sei. Seine Anwesenheit und die Tatsache, daß niemand von der Nowotny-Sippe gekommen war, die einen guten Ruf hatte und als korrekt galt, waren eine erste Bestätigung für mich, daß hier eine Verschwörung im Gange war. Insgesamt hatte Boris vierundzwanzig Dämonen geladen, doch hinter den meisten standen größere Sippen, so daß Boris über sie an die hundertundfünfzig Dämonen erreichte. „Ihr wißt, warum ihr hier seid“, begann Boris. „Ihr seid meinem Ruf gefolgt, weil ihr mit den herrschenden Zuständen unzufrieden seid. Euch wäre es lieber gewesen, wenn die Winkler-Forcas die Herrschaft übernommen hätten, weil sie leichter beeinflußbar gewesen wären. Das sei euch verziehen. Ihr müßt die Stärke der Zamis nach ihrem Sieg über die Winkler-Forcas anerkennen. Aber nach allem, was ich gehört habe, seid ihr nicht froh darüber, daß der Zamis-Sippe mit meinem 143
Vetter Michael ein unentschlossenes, ja, sprechen wir es aus, ein verweichlichtes Oberhaupt vorsteht.“ Die Dämonen pflichteten fast durchwegs bei, nur einige verhielten sich reserviert. An diese wandte sich Boris, als er weitersprach: „Michaels Zeit ist um. Es ist nötig, daß er abtritt. Ihr braucht jemanden, der euch mit starker Hand führt, der diese Stadt zu einer Hochburg der Schwarzen Familie macht. Und es wird auch Zeit, daß der Name Zamis wieder den Klang erhält, den er einmal hatte. Es gibt keinen anderen als mich, Boris Zamis, der Michaels Nachfolge antreten könnte. Ich habe mich nach reiflicher Überlegung zu diesem schweren Entschluß durchgerungen, weil ich keinen anderen Ausweg sehe.“ „Und wie stellst du dir das vor, Boris?“ erkundigte sich Perez Lexas. „Ich werde mit meinem Vetter reden“, sagte der Ostdämon, „Ich bin sicher, daß er sich meinen Argumenten nicht verschließen kann.“ „Das haben die Winkler-Forcas auch geglaubt“, warf einer der beiden ThurgauVampire ein. „Diese Beleidigung überhöre ich geflissentlich, aber noch einmal möchte ich mit den Forcas nicht verglichen werden“, sagte Boris grollend. „Sie waren Stümper, das zeigt sich an den leicht durchschaubaren Fallen in diesem Haus. Michael lockte mich in diese Villa, zweifellos in der Hoffnung, daß ich in einer der Fallen umkomme. Und setzte mir 144
seine mißratene Tochter in den Pelz, um mich einzulullen. Aber ich habe mich durchgesetzt.“ „Was ist denn mit Coco?“ erkundigte sich Eustache Lexas. „Wenn sie nun in unsere Versammlung platzt? So dumm ist sie nun wieder auch nicht, daß sie nicht unsere Absichten durchschauen würde.“ Boris lachte grölend. „Das süße Kind schläft tief und fest. Wenn ich erst Oberhaupt der Wiener Zamis-Sippe bin, versteigere ich sie an den Meistbietenden.“ „Damit wären wir wieder beim Thema“, sagte Perez Lexas. „Was gedenkst du zu tun, wenn Michael Zamis nicht mit sich reden läßt, Boris?“ „Er wird mir Platz machen, so oder so“, erklärte Boris; das war deutlich genug. „Dennoch muß ich wieder an das Schicksal der Forcas erinnern“, sagte Ethel, die älteste der drei Spandorn-Amazonen. „Auch die Forcas fühlten sich siegessicher – dennoch unterlagen sie schließlich, weil die Zamis eine geheime Waffe einsetzten.“ „Michael kann nichts, was ich nicht auch kann“, behauptete Boris. „Und ich kann alles besser als mein Vetter. Warum glaubt ihr wohl, hat er Wien verlassen? Um einer direkten Konfrontation mit mir aus dem Wege zu gehen. Er hofft wohl, daß ich nach seiner Rückkehr nicht mehr hier bin. Aber da hat er sich getäuscht. Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Wenn mein Vetter nicht freiwillig 145
abtritt, werde ich ihn zwingen. Habe ich eure Unterstützung?“ Die meisten bejahten diese Frage. Einige, so zum Beispiel Perez Lexas – nicht aber sein Sohn Eustache – nickten zurückhaltend. „Es genügt mir schon, daß keiner gegen mich ist“, erklärte Boris zufrieden. Er deutete auf den Tisch, wo die vierundzwanzig magischen Steine lagen. „Ich habe hier für jeden von euch ein Geschenk.“ „Was sollen wir damit?“ fragte Henning Obrecht. „Mit diesen Steinen hat es eine besondere Bewandtnis“, erklärte Boris grinsend. „Wenn ihr sie an euch nehmt, geht ihr mit ihnen eine Symbiose ein. Ihr kommt von den Steinen erst los, wenn ich tot bin. Sonst erwachsen euch aus dieser Symbiose keine Unannehmlichkeiten – solange ihr nicht Verrat an mir begeht. In einem solchen Fall allerdings wird der Stein für den Verräter zu einer tödlichen Bombe. Greift zu, die ihr den Pakt mit mir ehrlich meint!“ „Wenn es wahr ist, daß ich dir dadurch auf keine andere Weise verpflichtet bin, habe ich keine Bedenken“, sagte Perez Lexas und nahm einen der magischen Steine an sich. Nacheinander folgten die anderen seinem Beispiel. Zum Schluß blieb nur Paldur Zoraster übrig. Er sagte: „Ich glaube, daß mir ein solches Geschenk nicht zusteht, da ich kein vollwertiges Mitglied der Schwarzen Familie bin.“ 146
„Greif nur zu, als mein Verbündeter steht auch dir ein Geschenk zu“, ermunterte ihn Boris. „Oder hat dein Zögern andere Gründe?“ „Nein, nein“, versicherte der Halbdämon und nahm den letzten Stein an sich. Als er ihn in seiner Hand hielt, begann der Stein auf einmal zu glühen. Zoraster schrie auf, versuchte sich des glühenden Dinges zu entledigen, doch es schien auf seiner Handfläche zu kleben. Der Rest ging schnell. Ein Zischen wurde laut, und der Halbddämon wurde mit unwiderstehlicher Kraft von dem Stein aufgesogen, der dann zu Staub zerfiel. „Ich bin froh, daß nur ein Verräter unter uns war“, sagte Boris in die Stille. „Jetzt wäre es an der Zeit, unser Bündnis zu feiern.“ „Ob das der richtige Ort ist?“ meinte Henning Obrecht unbehaglich. „Immerhin befindet sich mit Coco ein Mitglied der Zamis-Sippe im Haus, das zu deinem Vetter steht. Sie könnte unerwartet aufwachen.“ „Möglich, aber dann wird sie sich mit ihrem Liebhaber vergnügen“, meinte Boris mit einem schmierigen Grinsen, das mich erschauern ließ. „Das Dummchen glaubt, daß ich nichts davon weiß. Dabei habe ich sie bei ihrem Treiben die ganze Zeit über beobachtet.“ Ich versteifte mich. Unbändige Wut überkam mich. Deshalb also hatte ich mich beobachtet gefühlt, als… „Wenn ihr wollt, könnt ihr auch dabeisein“, bot Boris den Dämonen an. „Ihr kommt 147
bestimmt auf eure Rechnung.“ Die Dämonen stimmten begeistert zu. Boris ging voran, und die anderen folgten ihm. Er führte sie in den Beschwörungsraum auf dem Dachboden. „Es geht nichts über die reine, wahre Liebe“, schwärmte er den Dämonen vor. „Es gibt nichts Ergötzlicheres…“ Die Dämonen kreischten vor Vergnügen und in Erwartung des kommenden Schauspiels. Ich wollte in diesem Moment am liebsten sterben, denn ich hatte nur die Wahl, ihnen entweder das erwartete Schauspiel zu bieten – oder mich durch meine Passivität zu verraten. Meine Entscheidung wurde schließlich von dem Wunsch nach Rache beeinflußt. Nur deshalb entschloß ich mich, die Schmach zu ertragen. Durch das magische Auge sah ich, wie Boris vor den Augen der erwartungsvollen Dämonen den Deckel des „Behältnisses des Schreckens“ wie eine Schranktür öffnete und die Dämonen dann einen nach dem anderen eintreten ließ. „Ihr werdet nicht nur unbeteiligte Zuschauer sein“, verkündete Boris verheißungsvoll, „sondern das Gefühl haben, selbst aktiv zu sein…“ Ich weckte Gerhard und holte ihn aus dem Versteck. Ich ließ es mir nicht anmerken, wie elend ich mich fühlte. „Ich liebe dich, Gerhard“, sagte ich und küßte ihn leidenschaftlich. 148
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Da mein Verhältnis mit Gerhard sowieso kein Geheimnis mehr war, hielt ich es nicht für nötig, ihn länger zu verstecken. Natürlich tat ich so, als wüßte ich nicht, daß unsere Beziehung längst schon Tagesgespräch unter den Wiener Familien war und ich mich zum Gespött der Dämonen gemacht hatte; Boris gegenüber erweckte ich den Anschein, als versuchte ich Gerhard immer noch vor ihm versteckt zu halten. Aber ich sah keine Veranlassung, Gerhard nicht aus dem Haus zu lassen. Manchmal machten wir ausgedehnte Spaziergänge durch die Winterlandschaft, wir gingen aus und benahmen uns in der Öffentlichkeit überhaupt wie ganz normale Liebende. Aber in mir fraß der Haß. Ich überlegte mir immer wieder, wie ich Rache an Boris nehmen könnte. Ich spionierte ihm nach und wartete auf meine Gelegenheit. Boris war viel zu sehr mit seinem Ränkespiel beschäftigt, als daß ich sein Mißtrauen hätte erwecken können. Es war zwei Tage, nachdem Boris mich vor allen Dämonen gedemütigt hatte. Die Sonne schien, in der Nacht war Schnee gefallen. Gerhard und ich waren zu Fuß nach Mauer gegangen. Wir hatten zu Mittag in einem kleinen Gasthof gegessen. Jetzt sagte Gerhard zu mir: „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“ Und er nahm mich an der Hand. Wir kamen über steil aufwärtsführende Asphaltstraßen 150
auf einen Hügel, vorbei an trostlosen Gärten mit geschmacklosen Einfamilienhäusern. Schon von weitem war ein imposantes Bauwerk zu sehen. Es bestand nur aus gewaltigen, viele Tonnen schweren Betonklötzen, die sich übereinandertürmten und ineinander verschachtelt waren. „Das ist der Georgiberg“, sagte Gerhard nur, aber seine Augen bekamen dabei einen besonderen Glanz. Ich dachte, daß es sich bei dem avantgardistischen Gebäude um ein Museum oder etwas Ähnliches handelte und stellte keine Fragen. Meine Gedanken beschäftigten sich auch mit anderen Dingen. Schon den ganzen Tag über, seit wir die Villa in Perchtoldsdorf verlassen hatten, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, ständig beobachtet zu werden. Jetzt war dieser Eindruck wieder stärker geworden. Ich war sicher, daß Boris mich von einem seiner Handlanger beschatten ließ. Wir erreichten das Ende der Straße, ein gewundener Weg führte zu dem Betongebäude auf der Hügelkuppe. In den schmalen Fenstern, die es überall zwischen den Betonklötzen in den verschiedensten Formen gab, spiegelte sich die Nachmittagssonne. Vereinzelte Spaziergänger bestaunten das Gebäude, schüttelten die Köpfe, schienen etwas ratlos zu sein. Ich war von der nüchternen Strenge des Bauwerks angetan; nur etwas zu spartanisch erschien es 151
mir. Gerhard hielt meine Hand jetzt fester. Ein Mann mittleren Alters kam uns entgegen. Er stieß wie unbeabsichtigt gegen mich und raunte mir zu: „Ich erwarte Sie beim Nordbunker.“ Dann ging er ohne Entschuldigung weiter. Gerhard und ich erreichten die Anhöhe. Die Front des Betongebäudes mit einer großzügig erscheinenden Glastür war keine dreißig Meter entfernt. Dahinter erstreckte sich ein verwahrlostes Heidefeld. „Eine Schande, daß das Bundesheer ausgerechnet hier einen Truppenübungsplatz unterhält“, sagte Gerhard und zog mich an der Hand auf das Gebäude zu. „Siehst du die Bunker? Sie verschandeln die Landschaft. Man sollte sie in die Luft sprengen.“ Ich nickte. Besonders der Bunker im Norden stach mir ins Auge. Plötzlich fühlte ich mich ganz seltsam. Eine nicht erklärliche Übelkeit stieg in mir auf. Und dann erkannte ich, daß mir mit jedem Schritt, den ich mich dem Gebäude näherte, übler wurde. „Was ist das für ein Haus?“ fragte ich würgend. „Ein Gotteshaus“, erklärte Gerhard. „Eine moderne Kirche.“ „Nein!“ rief ich entsetzt und wollte fliehen, doch Gerhard hielt mich fest. „Ich kann nicht…“ „Du mußt dich überwinden, Coco“, redete 152
Gerhard auf mich ein und zerrte mich auf den Eingang zu. „Reiß dich zusammen, dann wirst du es schaffen.“ „Aber ich bin eine Hexe!“ Mein Blick viel auf die kahle Betonwand des Portals. Ein winziges Kreuz war dort eingemeißelt, nicht viel größer als eine Handfläche. Aber es blendete mich geradezu. Gerhard stieß die Glastür auf. Plötzlich schrie er auf. Ich hob widerwillig den Blick. Dort war der Altar, der keine Ähnlichkeit mit anderen Altären hatte. Es handelte sich um einen Marmorblock in einem Stück. Darüber hing ein über drei Meter hohes Kreuz an Seilen von der Decke. Seltsamerweise ging davon keine zerstörerische Ausstrahlung aus, und ich erkannte, daß es entweiht worden war. Und während ich noch auf das Kruzifix starrte, wurde mir langsam klar, warum Gerhard immer noch schrie. An das Kreuz war ein Mensch geschlagen. Ein junger Mann. Er war nackt und hatte eine blutige Brustwunde. Ich wirbelte herum, riß mich von Gerhard los und floh aus der entweihten Kirche. Ich rannte über das Heidefeld auf den Nordbunker zu. Ein eisiger Wind kam auf und zerrte an mir. Die Sonne verschwand hinter einer schwarzen Wolke. Ich erreichte den Bunker. Niemand war zu sehen. Stufen, die fast unter Schutthalden verschwanden, führten in die Tiefe. Ich bildete 153
mir ein, aus der Dunkelheit des unterirdischen Gewölbes ein Stöhnen zu vernehmen. Schnell lief ich die Stufen hinunter – und prallte entsetzt zurück. In einem Winkel kauerte der Mann, der mich auf dem Weg zur Kirche angesprochen hatte. Sein Mantel war geöffnet und ihm mit Pullover und Hemd über die Schultern gezogen worden. Seine Kehle war durchschnitten. Ich wandte mich ab und kehrte langsam zum Hügel zurück. Gerhard hockte apathisch auf einem Stein; er war ganz käsig im Gesicht. Wir verließen diesen Ort des Schreckens, bevor die Polizei eintraf, und kehrten in die Forcas-Villa zurück. Ich erzählte Gerhard nichts von dem zweiten Toten. Warum sollte ich ihn damit belasten? Ich beschloß sogar, mit ihm groß auszugehen, damit er auf andere Gedanken kam. Ich glaubte auch schon zu wissen, wer die beiden Opfer auf dem Gewissen hatte, behielt meinen Verdacht aber für mich. Für mich stand fest, daß nur Boris dahinterstecken konnte. Er plante irgendeine Teufelei gegen mich, und ich ahnte, daß die beiden Menschenopfer nur der Auftakt für eine Serie von Bluttaten waren. Am Nachmittag – Gerhard befand sich in seinem Versteck hinter dem Spiegel – kam Boris in mein Zimmer und sagte: „Da hat jemand ein Geschenk für dich abgegeben.“ 154
„Wo ist es?“ fragte ich ohne Interesse. „Vor dem Haus.“ Boris zog sich mit schallendem Gelächter zurück. Als ich aus dem Haus trat, stolperte ich über einen menschlichen Leichnam. Ich ließ mir nichts anmerken, riß in Boris’ Anwesenheit sogar einen Witz darüber. „Hast du eine Ahnung, wer sich solche makabren Scherte mit dir erlaubt?“ fragte er mich. „Keine Ahnung“, log ich. „Aber ich werde es schon noch herausfinden und es dem Witzbold doppelt heimzahlen.“ „Wenn du willst, höre ich mich in der Schwarzen Familie um“, schlug Boris vor; er verhehlte es nicht, daß ihn die ganze Sache nur maßlos erheiterte. „Tu das“, sagte ich. Boris’ Terror gegen mich ging in dieser Form weiter. Nach zweiundzwanzig Uhr verließ ich mit Gerhard die Villa. Ich hatte ihm die Erinnerung an das schreckliche Erlebnis in der Kirche genommen, ihm aber das Wissen darüber, daß er versucht hatte, mich in ein Gotteshaus zu locken, gelassen. Jetzt kam er wieder auf dieses Thema zu sprechen. „Wenn du wirklich versuchen willst, eine normale Frau zu werden, mußt du deine Angst vor allem Sakralen ablegen“, redete er auf mich ein, während wir mit dem Taxi nach 155
Wien fuhren. „Du schaffst es ganz bestimmt, Coco.“ „Ja, vielleicht… Aber du mußt etwas Geduld mit mir haben, Gerhard. Laß mir Zeit…“ Wir suchten ein Nachtlokal auf, von dem ich wußte, daß es von Dämonen der Schwarzen Familie kaum frequentiert wurde; ganz sicher konnte man natürlich nirgends sein. Aber wir hatten Glück. Den ganzen Abend tauchte kein Dämon auf, und auch das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, stellte sich nicht ein. Langsam begann ich aufzutauen, und ich war froh, das Beisammensein mit Gerhard wieder einmal ungestört auskosten zu können. Über unsere Zukunft dachte ich nicht nach. Ich versuchte auch nicht daran zu denken, was aus meiner ersten Liebe Rupert Schwinger geworden war… Als Gerhard von der Toilette zurückkam, war er leichenblaß. Er zitterte am ganzen Körper und konnte kaum gehen. Ich fragte ihn, was passiert sei, aber er kippte zuerst ein Glas Whisky, bevor er antwortete: „Ich habe in der Toilette Anselm Graubarth getroffen.“ „Das ist unmöglich!“ erklärte ich. „Du hast selbst gesehen, wie er starb.“ Gerhard schüttelte den Kopf. „Ich weiß… Aber ich kann mich nicht getäuscht haben. Graubarth war mir zum Greifen nahe…“ „Es kann sich nicht um den Teufelsschüler 156
gehandelt haben“, versicherte ich ihm. „Ich bin sicher, daß du der Suggestion eines Dämons aufgesessen bist. Graubarth ist tot.“ „Vielleicht wurde er durch Schwarze Magie zum Leben erweckt und ist als Wiedergänger zurückgekommen“, meinte Gerhard. „Ich werde der Sache auf den Grund gehen“, versprach ich und nahm mir vor, Boris schnellstens das Handwerk zu legen. Ein Kellner kam an unseren Tisch und sagte zu mir: „Sie werden am Telefon verlangt, Miß Zamis.“ Ich betrachtete den Kellner. Er konnte mich nicht dem Namen nach kennen, denn er war neu im Lokal. Ich hatte ihn vorher jedenfalls noch nicht gesehen. „Bücken Sie mir in die Augen“, verlangte ich, um ihn zu hypnotisieren. Doch da stürzte er mit einem Aufschrei davon. Ich fand es nicht der Mühe wert, ihn zu verfolgen, sondern suchte die Telefonzelle auf. Ich ergriff den Hörer und meldete mich. Zuerst war nur ein heiseres Keuchen zu hören, dann sagte eine Stimme: „Ich bin es – Gilles de Raiz. Ich hoffe, du freust dich über meine Opfer, Hexe, und wirst dich bald erkenntlich zeigen. Ich weiß, ich weiß, ich habe dir noch nicht genug geopfert. Aber ich werde mein Bestes geben… Schließlich will ich die Unsterblichkeit…“ „Wer sind Sie denn eigentlich?“ fragte ich, um den Anrufer hinzuhalten. Ich hatte mir den 157
Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und versuchte eine Beschwörung, um den Anrufer in meinen Bann zu schlagen. Ich mußte nur etwas Zeit gewinnen, damit die Beschwörung wirksam wurde. „Ich bin die Reinkarnation des Gilles de Raiz – sagte ich es nicht?“ ertönte es aus dem Hörer. „Wenn du mir nicht glaubst, Hexe, dann komm in den Stadtpark. Zum JohannStrauß-Denkmal. Dort erfährst du mehr…“ Im nächsten Augenblick war das Besetztzeichen zu hören. Der Anrufer hatte eingehängt, bevor ich ihn in meinen Bann schlagen konnte. Ich kehrte zu Gerhard zurück. „Wir machen einen kleinen Spaziergang“, erklärte ich ihm. „Es würde uns nicht schaden, etwas frische Luft zu schnappen.“ „Und – sonst hast du mir nichts zu sagen?“ erkundigte er sich. „Vielleicht klärt sich in wenigen Minuten alles auf“, antwortete ich ausweichend. Fünf Minuten später überquerten wir den Ring und betraten bei Hübners Kursalon den Stadtpark. Meine Sinne waren angespannt, aber ich konnte keine dämonische Ausstrahlung spüren. Wir schlenderten über die gewundenen Wege, als hätten wir es nicht eilig. Aber ich strebte zielbewußt dem JohannStrauß-Denkmal zu. Ich sah schon von weitem, daß damit etwas nicht stimmte; deshalb ließ ich Gerhard einfach stehen und versetzte mich in einen 158
schnelleren Zeitablauf. Das Denkmal war in einen Teufelsaltar umfunktioniert worden. Johann Strauß trug eine Teufelsmaske aus Holz, seine Geige war blutgetränkt. Die steinernen Jungfrauen, die ihn umschwebten, waren ebenfalls mit Blut beschmiert. Dreizehn schwarze Kerzen waren über das Denkmal verteilt. Sie brannten mit ruhiger Flamme, obwohl ein ziemlich starker Wind ging. Ich ging zur Rückseite des Denkmals. Dort lag der Kellner, der mich in dem Nachtlokal zum Telefon gerufen hatte. Sein Oberkörper war entblößt, in seine Brust waren die Buchstaben G. d. R. geritzt. Aber diese Wunden hatten ihn nicht getötet. Er war erwürgt worden, und zwar mit einer Schnur, die eine Reihe seltsamer geschlungener Knoten aufwies. Ich kehrte zu Gerhard zurück, der sich kaum von der Stelle gerührt hatte. Als hätte ich plötzlich keine Lust mehr zum Spazierengehen, verlangte ich, daß wir in die Forcas-Villa zurückkehrten. „Ich dachte, du wolltest herausfinden, ob Graubarth tatsächlich noch lebt“, sagte er vorwurfsvoll. „Morgen wird sich alles aufklären“, versprach ich. Ich hatte mich entschlossen, Boris das Handwerk endgültig zu legen. Am nächsten Tag wirkte Boris vergnügt. „Nanu, so guter Laune?“ fragte ich, als ich 159
ihn im Schwarzen Salon traf. Er saß am Tisch und spielte mit seltsam geformten und unnatürlich wirkenden Steinen. Er verschob sie immer wieder, so daß sie ständig neue Konstellationen zeigten. Mir wurde ganz schwindlig vom Zusehen. „Ich hatte eine Reihe erbaulicher Erlebnisse“, meinte er grinsend. „Wien ist gar keine so langweilige Stadt, wie ich immer geglaubt habe. Ich könnte es hier schon eine Weile aushalten, aber ich fürchte, mein Vetter Michael würde es gar nicht gern sehen, daß ich mich hier niederlasse.“ „Du machst doch ohnehin nur, was du willst“, hielt ich ihm vor. Er lachte. „Stimmt. Und soll ich dir sagen, wozu ich mich entschieden habe?“ sagte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und fragte: „Was hast du vor?“ Er lachte plötzlich wieder, gab einem der Steine einen Stoß, so daß er im Zickzack über den Tisch rollte und nacheinander mit den anderen kollidierte. „Ah, ein gutes Omen“, sagte er dann zufrieden. Er blickte mich entschlossen an und grinste dabei teuflisch. „Du möchtest also wissen, was ich vorhabe! Leider muß ich dich enttäuschen. Bezähme deine Neugierde noch bis zur Rückkehr deines Vaters. Dann wirst du alles erfahren.“ 160
„Du willst dich doch nicht in unsere Familienangelegenheiten einmischen?“ meinte ich. Aber er lachte nur und wechselte das Thema. Er versuchte mich auszufragen, was ich denn die ganze Zeit über treibe und warum ich ihm aus dem Wege ginge. Dabei war ich überzeugt, daß er über jeden meiner Schritte informiert war. Wie sonst hätte er mir ständig Leichen in den Weg legen können? Seine Anspielungen auf mein Privatleben wurden immer anzüglicher, und ich merkte, wie sein Atem dabei immer rascher ging. Schließlich keuchte er nur noch. Ich tat, als hätte mich das Gespräch mit ihm angeregt. „Ich glaube“, sagte ich schließlich mit verschleiertem Blick, „ich sollte mich jetzt lieber auf mein Zimmer zurückziehen. Es gibt dort noch so viele Geheimnisse zu ergründen… Eurikas Hinterlassenschaft ist überaus interessant. Ich könnte mich stundenlang damit beschäftigen.“ „Ja, tu das“, sagte er; er versuchte nicht erst, die Begierde in seinen Augen zu verschleiern. „Ziehe dich auf dein Zimmer zurück, kleine Coco. Ich werde dich bestimmt nicht stören.“ Ich erhob mich und verließ schnell den Schwarzen Salon, als könnte ich es nicht mehr erwarten, in mein Zimmer zu kommen. Dort angelangt, begab ich mich sofort ans magische Auge bei Eurikas Schminktisch. Ich 161
schloß die Augen, um mich auf den Schwarzen Salon zu konzentrieren. Als die Verbindung hergestellt war, konnte ich gerade noch sehen, wie sich Boris von seinem Platz erhob und eilig den Raum verließ. Als er zur Treppe kam, nahm er mit seinen kurzen Beinen drei Stufen auf einmal. Das sah grotesk aus, geradezu lächerlich. Boris war so aufgeregt, daß er ganz vergaß, sich in einen rascheren Zeitablauf zu versetzen. Ich lächelte zufrieden – Boris war doch nicht ganz so schlau, wie er dachte, denn sonst hätte er sich nicht so leicht von mir täuschen lassen. Aber er war viel zu überheblich und unterschätzte mich. Ich sah im magischen Auge, wie er den Dachboden erreichte und vor sein Behältnis des Schreckens trat. Aus seinen Augen sprach zügellose Begierde. „Gerhard“, flüsterte ich beschwörend. „Geliebter, komm in meine Arme.“ Während ich im magischen Auge Boris seine hochgestellte Kiste betreten sah und seine Anwesenheit hier im Raum immer stärker zu spüren bekam, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Gerhard sein Spiegelversteck verließ. Ich schloß die Augen und lehnte mich erwartungsvoll zurück. Gerhard trat von hinten an mich heran und beugte sich über mein Gesicht. Ich lächelte verträumt zu ihm hinauf. „Ich hatte schon solche Sehnsucht nach dir, 162
Coco“, flüsterte er und küßte mein Gesicht ab. „Endlich können wir uns wieder ungestört lieben.“ „Ja“, hauchte ich. „Ich habe den fetten Russen abgewimmelt, indem ich ihm vorschwindelte, die Geheimnisse dieses Zimmers ergründen zu müssen…“ „So gelogen war dies nicht einmal“, sagte Gerhard schmunzelnd. Plötzlich drehte er mich ungestüm zu sich herum und küßte mich leidenschaftlich. Er hob mich hoch und trug mich zum Bett. Ich konnte nun Boris’ gierige Blicke fast körperlich spüren. Sollte ich noch warten, oder sofort zuschlagen…? Ich ließ es zu, daß Gerhard mich entkleidete, dann ertrug ich die erniedrigende Situation nicht länger. Gerhard erstarrte mitten in der Bewegung, als ich mich in einen schnelleren Zeitablauf versetzte. Ich sprang, nackt wie ich war, aus dem Bett, verließ das Zimmer und raste die Treppe hinauf. Ich erreichte den Dachboden und stürzte in den Beschwörungsraum der Winkler-Forcas. Da war die Kiste. Sie war verschlossen – und Boris steckte noch in ihr. In diesem Moment mußte er bemerkt haben, daß ich ihn getäuscht hatte, denn der Deckel ging auf. Doch ich war sofort zur Stelle und stieß ihn wieder zu. Bevor Boris ihn ein zweites Mal öffnen konnte, versiegelte ich ihn mit einigen äußerst wirksamen magischen Symbolen. 163
Dann erst hob ich den Temporär-Effekt auf. „Boris!“ rief ich. „Kannst du mich hören?“ „Ja… Was soll das, Coco?“ ertönte es dumpf aus der Kiste. „Du wirst jetzt sterben, Boris“, erklärte ich. „Das ist die Strafe dafür, daß du gegen meine Familie zu intrigieren versuchst. Ich habe dich längst durchschaut und nur auf diesen Augenblick gewartet. Du bist verloren, Boris!“ Ich holte aus einem Regal ein Dutzend spitze Eisenstangen, die ich schon bei meinem ersten Besuch hier entdeckt hatte. Jeder dieser Opfernägel war über einen Meter lang und wog zehn Pfund. „Coco“, ertönte Boris’ gedämpfte Stimme aus der Kiste, die ihm zum Sarg werden würde. „Ich gebe zu, daß ich dich unterschätzt habe. Du hast es meisterhaft verstanden, dich zu verstellen. Ich bin bereit, dir jede Art von Genugtuung zu geben…“ „Es freut mich, daß du deinen Tod so gelassen hinnimmst“, sagte ich sarkastisch. „Bei Asmodi… Coco, du willst es doch nicht wirklich tun! Ich bin sicher, daß wir uns arrangieren könnten. Ich will alles tun, was du verlangst!“ Ich trieb den ersten Opfernagel bis zur Hälfte in die Kiste. Boris schrie entsetzt auf. „Coco, halte ein!“ flehte er. Ich trieb nacheinander die anderen Nägel von allen Seiten in die Kiste, so daß sie nur noch einen halben Meter herausragten. „Du hast kein Erbarmen verdient, Boris“, 164
sagte ich, um mir meine Skrupel selbst auszureden. „Du wolltest Vater stürzen und unsere Familie unterdrücken und hast die anderen Familien gegen uns aufgehetzt. Aber dein Todesurteil hast du erst selbst erwirkt, als du meine Gefühle in den Schmutz gezerrt hast. Das kann ich dir nicht verzeihen.“ „Nur wegen eines Sterblichen…“ „Jawohl“, sagte ich kalt. Ich erinnerte mich erst in diesem Moment daran, daß mein Bruder Demian auf ähnliche Weise gestorben war: in ein Faß magisch eingeschlossen, war er von den Opfernägeln der Winkler-Forcas durchbohrt worden. Was für eine seltsame Fügung, daß nun ein Verräter an unserer Familie auf die gleiche Art sterben sollte. Ich war sicher, daß die mit Boris intrigierenden Dämonen den Zusammenhang verstehen würden. „Eines sollst du noch wissen, Boris“, sagte ich abschließend. „Die Geheimwaffe, die von meiner Familie gegen die Winkler-Forcas eingesetzt worden war, war ich.“ „Du verdammte Hexe!“ kreischte Boris plötzlich. „Ich werde dafür sorgen, daß deine Verfehlung mit diesem Sterblichen in der ganzen Schwarzen Familie bekannt wird und du als Freak endest.“ „Ha, ich werde sagen, daß Gerhard Pusch mir nur Mittel zum Zweck war“, erklärte ich. „Und niemand wird mir das Gegenteil nachweisen können.“ 165
Ich verlor keine Zeit mehr. Denn wenn ich noch länger wartete, gelang es Boris womöglich noch, einen Gegenzauber wirksam werden zu lassen. „Stirb, Verräter!“ schrie ich und schlug den ersten Opfernagel vollends in die Kiste ein. Ein markerschütternder Schrei ertönte, und die Kiste erbebte wie unter einer Explosion. Ich fürchtete, daß sie auseinanderfallen würde, aber sie hielt. Als ich den zweiten Nagel bis zum Kopf in die Kiste trieb, begann durch die Ritzen Blut zu sickern. Boris begann mit schriller Stimme um Gnade zu flehen. Ich wollte seih Gezeter nicht hören, um nicht doch noch weich zu werden. „Das ist für den Mann, den du in der entweihten Kirche gekreuzigt hast“, sagte ich, als ich den nächsten Nagel in ihn trieb. „Und das für den Mann im Bunker… für den Kellner im Stadtpark und für den Toten, den du mir geschickt hast…“ „Damit habe ich nichts zu tun, Coco“, brüllte Boris mit immer schwächer werdender Stimme. „Ich könnte dir verraten, welcher Dämon sich hinter dem Decknamen Barron versteckt…“ Ich hörte nicht hin und hielt erst inne, bis keiner der Opfernägel mehr aus der Kiste herausragte. Boris war verstummt. Unter der aus dem Winkel geratenen Kiste hatte sich eine Blutlache gebildet. Ich wandte mich erschöpft 166
ab – und erstarrte. Gerhard stand in der Tür des Beschwörungsraumes. „Du Ungeheuer!“ brachte er würgend hervor, dann übergab er sich. „Gerhard“, sagte ich, „das habe ich alles nur für dich getan. Ich mußte…“ „Komm mir nicht zu nahe!“ rief er entsetzt und taumelte vor mir zurück. Er wollte etwas hinzufügen, aber dann forderte die Natur wieder ihr Recht. „Versteh mich doch, Gerhard, ich mußte es tun“, sprach ich auf ihn ein. „Ich hatte keine andere Wahl. Es hieß, entweder er oder wir. Jetzt steht unserem Glück nichts mehr im Wege.“ „Bleib mir nur ja vom Leib!“ schrie er verzweifelt, als ich mich ihm wieder nähern wollte. Er deutete auf die blutige Kiste. „Damit wolltest du unser Glück festigen? Egal, warum du es tatest, ich kann es nicht akzeptieren. Denn ich habe es mit angesehen, wie du es tatest. Fort von mir!“ Er zuckte zusammen, als ich eine schwache Bewegung mit den Armen machte. Ich ließ resigniert die Schultern sinken. „Warum mußtest du mir auch nachspionieren, Gerhard?“ sagte ich. „Es hätte so schön werden können…“ „Ich habe die Schreie gehört und hielt es im Zimmer einfach nicht mehr aus“, erklärte er. „Ich dachte, dir drohe Gefahr – Narr, der ich war! Ich bin froh, daß ich deine wahre Natur 167
erkannt habe. Ich dachte, meine Liebe zu dir könnte dich ändern. Aber jetzt weiß ich, daß das nicht möglich ist. Du wirst immer eine blutrünstige Hexe bleiben!“ Ich wollte mich rechtfertigen, aber ein Blick in seine Augen zeigte mir, daß das zwecklos war. Ich konnte ihn nicht mehr für mich gewinnen. „Ich weiß, daß du mich in deinen Bann schlagen kannst“, rief Gerhard, und jedes seiner Worte drang wie ein Pfeil schmerzhaft in meinen Körper. „Du kannst machen, daß ich dir hörig werde. Wer weiß, wahrscheinlich hast du mich sogar verhext, denn sonst wäre ich wohl kaum auf dich hereingefallen. Aber jetzt habe ich einen lichten Moment und kann dir sagen, was ich von dir halte. Na los, worauf wartest du! Zwinge mir deinen Willen auf!“ Ich ertrug seine Schmähungen nicht länger und entschloß mich schweren Herzens, das Unvermeidliche zu tun. Ich hypnotisierte ihn und befahl ihm, alles zu vergessen, was wir miteinander erlebt hatten. Ich löschte die Erinnerung an mich aus seinem Gedächtnis. Dann geleitete ich ihn hinunter, brachte ihn vor die Tür und schickte ihn fort. Ich blickte ihm nach, bis er zwischen den Häusern verschwunden war. Als ich ins Haus zurückkehren wollte, entdeckte ich die Leiche. Sie lag halb hinter einem Gebüsch versteckt. Das erinnerte mich 168
an Boris* Behauptung, daß er mit diesen Morden nichts zu tun habe und daß er wisse, welcher Dämon sich hinter dem Namen Barron verberge. Dieses Problem mußte ich noch lösen. Ich begab mich in mein Zimmer und setzte mich über eine Irrlichterkugel mit meiner Familie in Verbindung. Wieder meldete sich mein Bruder Georg. „Boris hat die verdiente Strafe erhalten“, berichtete ich ihm. Ich konnte förmlich hören, wie er aufatmete. Kurz darauf kam seine Antwort. „Wir sind alle stolz auf dich, Coco. Wenn du möchtest, können wir sofort zurückkommen…“ „Es eilt nicht.“ „Gut, dann erwarte uns morgen auf dem Schwechater Flugplatz. Wir werden eine Linienmaschine nehmen.“ „Ist gut.“ Ich unterbrach den Kontakt. Die Stille in der Forcas-Villa wurde mir auf einmal unerträglich, und ich floh in die Nacht hinaus.
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Ich irrte eine Weile durch den trostlosen Garten und versuchte nicht an die Leiche neben dem Portal zu denken. Aber es zog mich magisch zu ihr hin. Jetzt war ich sicher, daß Boris diesen Menschen nicht auf dem Gewissen hatte, ebensowenig wie die anderen Opfer. Denn im Angesicht des Todes hätte er mich bestimmt nicht belogen. Ich kniete vor dem Toten nieder. Wenn Georg hier gewesen wäre, hätte er mir helfen können. Er besaß phantastische Fähigkeiten und kannte alle Möglichkeiten der Schwarzen Magie. Unter anderem war es ihm gegeben, von toten sowie lebenden Dingen auf vergangene Ereignisse zu schließen und so in die Vergangenheit zu blicken. Er hatte schon einige Male versucht, mich diese Gabe zu lehren, doch ohne besonderen Erfolg. Georg war aber auch der Meinung gewesen, daß ich in dieser Richtung ein Talent besaß, das geweckt werden könnte. Jedenfalls kannte ich den Weg, den man gehen mußte, um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Ein Versuch konnte also nicht schaden. Ich begann mit der Beschwörung des Toten, wie Georg es mir beigebracht hatte. Nachdem die Vorbereitungen abgeschlossen waren, rief ich den Geist des Toten an. „Steh auf und führe mich zu deinem Mörder!“ verlangte ich. Die Leiche wurde von einem Zittern erfaßt, der Kopf drehte sich ruckartig herum, sank 170
dann jedoch wieder leblos zurück. Sonst erfolgte keine Reaktion. Ich wiederholte meine Beschwörung und verlangte mit eindringlicher Stimme: „Steh auf! Erhebe dich! Ich gebe dir die Kraft dazu.“ Der Tote reckte sich und kam schließlich hoch. „Führe mich zu deinem Mörder!“ befahl ich. „Bringe mich an den Ort, an dem dich dieses grausige Schicksal ereilt hat.“ Der Tote setzte sich in Bewegung. Ich eilte ihm auf die Straße voraus, wo ich den Wagen geparkt hatte, und öffnete die Fahrertür. Ich blieb abwartend stehen. Der Leichnam kam wankend auf die Straße, zögerte und ging dann zum Wagen. Ich startete und ließ den Motor anlaufen. „Steige ein und fahre mich“, gebot ich dem Toten. Mit seltsam eckigen Bewegungen nahm er hinter dem Lenkrad Platz, trat mit voller Kraft die Kupplung durch und legte den Gang ein. Es funktionierte! Schnell setzte ich mich in den Beifahrersitz, dann fuhr der Wagen ruckend an. Ich hätte lieber selbst das Steuer übernommen, doch ich wußte nicht, wie ich den Toten zum Sprechen bringen konnte, damit er mir das Ziel nannte. Ich konnte nur erreichen, daß er mich zum Tatort führte. Er fuhr in Richtung Wien. Die Fahrt war ziemlich anstrengend, denn der Tote 171
kümmerte sich nicht um Verkehrszeichen und beachtete auch nicht die Verkehrsampeln. Das wäre auch zuviel verlangt gewesen. Zum Glück war in den Außenbezirken nur wenig Verkehr, so daß sich die brenzlichen Situationen in Grenzen hielten. Irgendwie kamen wir ohne größere Zwischenfälle in die Innere Stadt. Dort fuhren wir allerdings verkehrt durch eine Einbahnstraße und hätten beinahe einen Polizisten überfahren, der uns stoppen wollte. Aber ich konnte dem Toten noch im letzten Moment ins Lenkrad greifen und den Wagen verreißen. Als der Tote in die Blutgasse einbog, verschwanden meine letzten Zweifel. Ich hätte jetzt den Bann von ihm nehmen können, um ihm die verdiente Ruhe zu geben. Doch ich tat es aus zwei Gründen nicht. Erstens wollte ich nicht, daß man seine Leiche in meinem Wagen fand, zweitens würde sein Auftauchen am Tatort recht effektvoll sein und konnte mir außerdem noch Vorteile verschaffen. Ich bremste den Wagen ab und öffnete dem Toten die Fahrertür. Er stieg aus und strebte zielbewußt dem zwischen zwei Neubauten eingekeilten Biedermeierhaus zu. Ich ließ ihn vorangehen. Seine Bewegungen wurden immer schneller, je näher wir dem Tatort kamen. Als er im ersten Stock die Tür mit Anselm Graubarths Visitenkarte erreichte, gab er zum erstenmal einen Ton von sich. Er stieß einen gurgelnden Laut aus und warf sich gegen die Tür, die unter seinem Gewicht 172
krachend aufflog. Der Tote stolperte durch den Vorraum, riß auch die gegenüberliegende Tür auf und drang in Anselm Graubarths Teufelstempel ein. Ich hörte den Toten rumoren und folgte ihm. Der Raum war verdunkelt, es brannte kein Licht. Aber langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Der Tote stürzte sich auf den Altar und stieß mit wütendem Knurren die Teufelsstatue um. Dann hob er das Podest hoch und schleuderte es gegen die Wand. Mir war, als atme er befreit auf. Ich nahm den Bann immer noch nicht von ihm, sondern wartete ab. Wo blieb Anselm Graubarth? Wenn er noch am Leben war, warum ließ er sich dann nicht blicken? Vom Gang drangen Geräusche herein. Vorsichtige Schritte näherten sich, und eine verängstigte Frauenstimme erkundigte sich: „Was geht hier vor?“ Einer plötzlichen Eingebung folgend sagte ich: „Ein Verrückter… Bitte verständigen Sie die Polizei, bevor er Unheil anrichten kann.“ „Das ist ja furchtbar!“ Die Schritte entfernten sich. Der Tote hatte hinter dem Altar eine weitere Tür erreicht und trat sie ein. Ich folgte ihm. Das Zimmer dahinter war klein und schlauchförmig. Zwischen Bergen von zerschlissenen Matratzen, die blutgetränkt waren, lag eine ausgemergelte Gestalt mit giftiggrüner Haut, knöchernen Händen und 173
einem Totenschädel, in dem die Basedowschen Augen wie zwei Fremdkörper in den Höhlen lagen. Das war Anselm Graubarth, wie ich ihn in Erinnerung hatte, als ich ihn in der Meinung zurückließ, daß er sein Leben aushauchte. Aber er lebte – irgendein Dämon mußte seinen Tod durch Schwarze Magie verhindert haben. Als sich der Tote auf seinen Mörder stürzen wollte, kam Bewegung in Graubarth. Er wälzte sich auf die Seite, holte unter der Matratze eine Flasche hervor und tat einen tiefen Zug daraus. Er lachte schrill, als er mich erblickte. „Ah, hast du endlich den Weg zurück zu mir gefunden, Hexe?“ rief er, während er dem zweiten Angriff des Toten auswich und gleichzeitig ein zweites Mal unter die Matratze griff. Diesmal kam seine Hand mit einem Dolch zum Vorschein. Mit einer blitzschnellen Bewegung hieb er auf den Toten ein, so daß auch das Scheinleben aus ihm wich. „Ich wußte, daß du meine Opfer nicht Verschmähen würdest“, erklärte der Alte, mit dem langsam eine merkliche Veränderung vor sich ging. Er regenerierte sich. Sein Knochengesicht wurde wieder fleischig, über den Augen bildeten sich Lider, und seine Haut bekam die natürliche Farbe zurück. Es dauerte kaum eine Minute, bis er wieder wie früher aussah – er wirkte nur ein wenig gealtert, aber nichts erinnerte mehr daran, 174
daß er soeben noch wie eine verwesende Leiche ausgesehen hatte. „Hat dich der Dämon Barron von den Toten wiederauferstehen lassen, Anselm?“ erkundigte ich mich. „Das ist doch auch eine Art Unsterblichkeit. Du solltest zufrieden sein. Warum mordest du dann weiter?“ „Von Barron habe ich ein Lebenselixier, das meinen körperlichen Verfall verzögert“, antwortete der Alte. „Aber ich will mehr…“ Er senkte plötzlich den Kopf und betrachtete mich von unten her mißtrauisch. „Wie hast du mich eben genannt, Hexe? Anselm?“ Er lachte kreischend. „Ich bin Gilles de Raiz. Ich weiß es jetzt ganz genau, daß ich in einem früheren Leben der Marschall der Jungfrau von Orleans war. Damals hat man mich gehängt und anschließend verbrannt, aber ich erlebte in diesem Körper eine glorreiche Wiedergeburt. Barron hat mich erhört. Es gefiel ihm, daß ich ihm damals so viele Menschenopfer darbrachte. Die Anklage warf mir damals hundertundvierzig Morde vor, aber in Wirklichkeit waren es tausend. Und in diesem Leben will ich diese Zahl noch überbieten…“ „Wer ist Barron?“ fragte ich scharf. Aus dem Nebenraum ertönten laute Schritte von mehreren Personen. „Seien Sie vorsichtig, der Mann soll den Verstand verloren haben“, hörte ich jemand sagen. Ich versetzte mich schnell mit Anselm Graubarth in einen schnelleren Zeitablauf, um 175
Zeit zu gewinnen. „Wer ist Barron?“ wiederholte ich meine Frage. „Barron dient mir. Er muß mir gehorchen, weil ich ihm opfere“, erklärte der Alte und fuchtelte mir mit dem Messer vor dem Gesicht herum. „Und jetzt mußt auch du mir zu Diensten sein. Bald werde ich – Gilles de Raiz – der Meister aller Dämonen sein…“ Ich versuchte den Alten zu hypnotisieren, doch er stand zu stark unter einem fremden Bann. Mir wurde klar, daß ich von ihm nichts erfahren konnte. Ich konnte nur eines tun: nämlich dafür zu sorgen, daß dieser besessene Alte aus dem Verkehr gezogen wurde und aus dem Einflußbereich des geheimnisvollen Dämons Barron gelangte. Vielleicht konnte er dann geheilt werden. Um das jedoch zu erreichen, mußte er in eine geschlossene Anstalt gebracht werden. Denn nur dort, unter Geistesgestörten, die eine für Dämonen unerträgliche Ausstrahlung hatten, war er vor Barrons Zugriff sicher. Deshalb entließ ich den Alten aus dem Zeitfeld und zog mich selbst in den Nebenraum zurück. Von dort beobachtete ich unbemerkt, was weiter geschah. „Hexe, wo bist du?“ hörte ich den Alten rufen. Da betraten zwei Polizisten den schlauchförmigen Raum. Sie hatten Pistolen in den Händen. „Achtung, er hat ein Messer!“ warnte der 176
eine von ihnen. Der andere entdeckte in diesem Moment den Toten. „Er hat schon einen damit kaltgemacht“, sagte er mit belegter Stimme. „Grauenhaft. Wir sollten ihn über den Haufen knallen!“ „Ich habe schon mehr geopfert, als ihr zählen könnt“, schrie der Alte. „Es sind mehr als tausend, die am Altar des Dämons Barron ihr Leben hingaben. Und es werden noch weit mehr werden.“ Die beiden Polizisten näherten sich dem Alten von zwei Seiten und redeten beruhigend auf ihn ein. „Ich bin Gilles de Raiz! Wagt mich nicht anzurühren, oder Barron wird euch furchtbar strafen. Verflucht sollt ihr sein…“ In diesem Moment zeugten Kampfgeräusche davon, daß sich die Polizisten auf den Alten stürzten. Es gelang ihnen fast mühelos, ihn zu überwältigen und ihm das Messer abzunehmen. Anselm Graubarth wehrte sich verzweifelt, aber es half ihm nichts. Die Polizisten legten ihm Handschellen an. „Ein Irrer“, sagte einer der Beamten. „Aber ein gefährlicher Irrer. Es würde mich nicht wundern, wenn er auch hinter den anderen bestialischen Morden steckt.“ „Mich auch nicht. Dennoch bleibt er ein Psychopath. Man wird ihn in eine Irrenanstalt stecken.“ Das hoffte ich. Und ich nahm mir in diesem 177
Augenblick vor, darüber zu wachen, daß der Dämon Barron dies nicht verhindern konnte. Sie kamen wie ganz normale Menschen durch die Abfertigung. Ich sah sie durch die Glastrennwand. Dann ging die automatische Schiebetür auf. „Coco!“ Mutter schenkte mir ein flüchtiges Lächeln; ihr wächsernes Gesicht besaß nur ein bescheidenes Mienenspiel. Ich nahm ihr die Reisetasche ab. Dahinter kamen Georg und Volkart. „Coco, du Tausendsassa!“ meinte Volkart grinsend. Georg legte mir eine Hand um die Schulter. „Alles in Ordnung?“ fragte er. „Du siehst bedrückt aus.“ „Alles in Ordnung“, versicherte ich. „Ich werde euch auf der Fahrt nach Hause alles erzählen.“ Mein ältester Bruder Adalmar blickte finster wie immer. „Hoffentlich hast du uns in der Zwischenzeit nicht allzu große Schwierigkeiten gemacht“, meinte er mürrisch. Vater folgte als letzter. Auch er bedachte mich zur Begrüßung mit einem recht unfreundlichen Blick. „Wo ist Lydia?“ fragte ich ihn. „Sie ist nach London weitergereist“, antwortete er. Wir verließen die Halle. Ich hatte den Wagen im Halteverbot geparkt. Ein Polizist war gerade dabei, ein Strafmandat unter den 178
Scheibenwischer zu stecken. Adalmar stürmte hin und funkelte den Beamten wild an, woraufhin dieser das Strafmandat unter dem Scheibenwischer wieder hervorholte. Er knüllte es zusammen, steckte es sich in den Mund und begann zu kauen. Volkart lachte über diesen Dummejungenstreich. Georg setzte sich ans Steuer. Ich hielt für die anderen den Wagenschlag offen. Da verspürte ich einen elektrisierenden Schlag. Ich drehte mich langsam um. Da sah ich ihn auf mich zukommen. Er war schlank und blond und zeigte ein einnehmen-’ des Lächeln. Ich starrte ihm verwirrt entgegen. Er blickte mir in die Augen, hob eine Augenbraue und zwinkerte mir kokett zu. Für einen Moment dachte ich, daß mein Zauber nicht gewirkt hätte… Doch dann war er schon an mir vorbei, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen. „Was ist, Coco?“ fragte Georg von seinem Platz hinter dem Lenkrad aus. Ich ließ mich neben ihn gleiten. „Nichts“, sagte ich einsilbig. Der Wagen fuhr an. Vater sagte aus dem Fond: „Wir wissen alles, Coco. Die Lexas haben sich mit uns in Verbindung gesetzt und über deine Eskapaden berichtet. Du hast es wieder mit einem Menschen getrieben. Mir ist nicht entgangen, wie du den blonden Jüngling angesehen hast. War er es?“ „Er war es“, gab ich zu. „Er heißt Gerhard 179
Pusch, aber er besitzt keine Erinnerung mehr an die Vorfälle.“ „Warum hast du das getan, Coco?“ fragte Mutter leise. „Um die Lexas, die Thimigs, die Thurgaus, die Spandorn-Amazonen und wie sie sonst alle heißen, hinters Licht zu führen“, antwortete ich. Die Lüge kam mir glatt über die Lippen. Dann erzählte ich von der Verschwörung, die Boris angezettelt hatte, und wie ich ihn in seiner eigenen Kiste unschädlich machte. „Das läßt die Sache natürlich in einem anderen Licht erscheinen“, sagte mein Vater. Er klopfte mir von hinten auf die Schulter. „Du hast uns nicht enttäuscht, Coco. Nun müssen wir uns überlegen, welche Repressalien gegen die verräterischen. Familien unternommen werden sollen.“ Den Rest des Weges legten wir schweigsam zurück. Als wir unser Haus in der Ratmannsdorfgasse im 13. Wiener Gemeindebezirk erreichten, begann es gerade zu regnen. Es herrschte ein unnatürlich warmes Föhnwetter. Ich war sicher, daß Mutter damit zu tun hatte. Sie konnte manchmal sehr launisch sein und spielte dann liebend gern mit dem Wetter. „Die kalte Witterung mit Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt wird andauern. Ein nördliches Tief…“ Georg drehte das Autoradio ab. Mutter lächelte. „Thekla, du wirst die Meteorologen noch ins Irrenhaus bringen“, meinte Vater 180
schmunzelnd. „Sei vorsichtiger.“ „Irrenhaus“ war das Stichwort für mich, um sofort an Anselm Graubarth zu denken. Ich hatte dafür gesorgt, daß er in eine psychiatrische Klinik gebracht worden war. Wir gingen ins Haus und begaben uns sofort in den Beschwörungsraum im Keller. Schweigend kleideten wir uns um, dann saßen wir im Kreis zusammen. „Irgendwelche Vorschläge?“ fragte Vater. „Ja“, sagte ich. „Wir könnten natürlich Skarabäus Toth heranziehen und Schwarze Briefe an die verräterischen Familien schicken lassen. Es wäre nur gerecht, wenn wir von jeder der beteiligten Familien einen Kopf forderten. Aber das würde nur böses Blut machen. Außerdem müßten wir dann Einzelheiten darüber verlauten lassen, wie wir die Verschwörung zerschlagen haben. Aber das ist nicht in unserem Sinn, oder?“ „Nein, niemand soll erfahren, daß du es im Alleingang geschafft hast, Coco“, sagte Vater. „Dann sollten wir es bei einer Warnung bewenden lassen“, meinte ich. „Und wie stellst du dir diese vor?“ wollte Georg wissen. „Verschicken wir die Kiste mit Boris’ Überresten nacheinander an alle beteiligten Familien – ohne Kommentar“, schlug ich vor. „Man wird diesen Wink schon verstehen.“ „Ein ausgezeichneter Vorschlag“, mußte selbst Adalmar zugeben. Er wurde noch in dieser Nacht verwirklicht. 181
Der Erfolg blieb nicht aus. Nacheinander trafen bald darauf die Sippenführer der betroffenen Familien bei uns ein und versicherten uns ihrer Treue und bestätigten uns unsere führende Rolle in dieser Stadt. Damit war das Problem endgültig gelöst, und ich dachte, daß auch meine persönlichen Probleme zur Zufriedenheit erledigt seien. An Anselm Graubarth verschwendete ich keinen einzigen Gedanken mehr.
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„Das war eine ergreifende Geschichte“, sagte Charles. „Nur der Schluß ist unbefriedigend. Es fehlt noch etwas. Hast du deinen Geliebten, diesen Gerhard Pusch, nicht mehr wiedergesehen?“ Coco hatte diese Frage erwartet. Sie hatte ihre Ge-1 schichte absichtlich so aufgebaut, daß ihre Beziehungen zu Gerhard Pusch besondere Bedeutung bekamen – und das war nicht einmal gelogen. „Doch, ich habe ihn später wieder getroffen“, sagte sie. Doch das entsprach nicht mehr der Wahrheit. Sie wollte damit nur den Jungen ködern. Sie wollte erreichen, daß er sich in Gerhards Rolle versetzte und gewisse Spekulationen anstellte. „Was war? Erzähle!“ drängte Charles, und sein Gesicht glühte vor Aufregung. „Oder soll ich erst nachhelfen?“ Er drehte wieder an einem Handrad des Holzgestells, in dem Coco gefangen war, und sofort verspürte sie einen starken Druck gegen ihre Oberarme. „Nicht!“ flehte sie. „Du brichst mir die Arme!“ „Dann rede endlich!“ „Ja.“ Coco atmete auf, als der Druck gegen ihre Oberarme nachließ. „Als ich damals Gerhard auf dem Flughafen begegnete, holte er gerade eine Jugendfreundin ab. Das erfuhr ich einige Wochen später, als ich ihn aufsuchte und den Bann von ihm nahm. Es war wieder alles wie in alten Zeiten. Nur 183
weihte ich ihn diesmal in alle Geheimnisse der Schwarzen Magie ein. Bei einem Ritual opferten wir seine Jugendfreundin, und dabei lernte er die magischen Praktiken. Schließlich brachte ich ihn so weit, daß er in die Schwarze Familie aufgenommen wurde…“ „Einzelheiten, ich will Einzelheiten hören“, schrie Charles Coco an. Wieder drehte er an einem Handrad, und die dicken Holzbalken rückten zusammen und drückten gegen ihren Brustkorb. „Nicht“, stöhnte Coco. „Wenn du mich folterst, kann ich nicht sprechen!“ „Doch, doch“, widersprach er. „Hexen haben überall und zu allen Zeiten nur unter der( Folter die Wahrheit gesagt. Du aber versuchst mich zu belügen. Aber ich werde schon die Wahrheit aus dir herauspressen.“ Plötzlich drehte er rasend schnell an den verschiedensten Handrädern. Coco spürte plötzlich, wie sie an den Beinen in die Länge gezogen wurde, gleichzeitig wurden ihre Knöchel zusammengepreßt. Holzkeile quetschten ihre Hände, scharfe Kanten drückten sich in ihre Arme, und der Lederriemen um ihren Hals spannte sich. Ihr ganzer Körper wurde von einer Schmerzwoge durchrast. Für eine endlos scheinende Zeit war sie keines klaren Gedankens fähig. In ihrem Kopf war ein Pochen, ihre Glieder wurden gefühllos – und dennoch tobte ein flammender Schmerz in 184
ihnen. „Ich höre, Hexe!“ gellte Charles’ Stimme durch den Raum. Coco vermeinte von fern ein zufriedenes Gelächter zu hören. Das mußte Anselm Graubarth sein. Wahrscheinlich ließ der Teufelsschüler seinen Lehrling sich austoben, bevor er selbst auf den Plan trat, um zum Höhepunkt der grausamen Prozedur zu schreiten. „Ich kann nicht mehr“, stöhnte Coco. „Meine Stimme versagt… Du mußt näher kommen, Charles.“ Das bartlose Jungengesicht tauchte über ihr auf. Es glänzte vor Schweiß, in den Augen lag ein gieriges Glühen. „Du hattest recht“, flüsterte Coco, aber ihre Stimme wurde mit jedem Wort schneidender. „Der Schmerz hat meine Sinne geschärft. Auf einmal hat die Wirkung des Gifts, das mir dein Meister gab, schlagartig nachgelassen. Ich bin wieder im Besitz meiner Fähigkeiten…“ Der Adept des Teufelsschülers machte ein entsetztes Gesicht und wollte zurückweichen. Doch es war bereits zu spät. Coco hatte ihn hypnotisiert. Er befand sich in ihrer Gewalt. „Charles“, sagte sie mit verschwörerischer Stimme, „du wirst alles tun, was ich von dir verlange. Du kannst dich mir nicht widersetzen. Du gehorchst von nun an nur noch meinen Befehlen.“ „Jawohl, ich gehorche nur noch dir“, sagte der Junge mit entrückter Stimme und konnte 185
die Augen nicht von ihr abwenden. „Zuerst wirst du mich aus diesem Folterinstrument befreien“, befahl Coco. „Öffne alle Verschlüsse, so daß das Gestell nur noch lose auf mir liegt. Gehorche!“ Und Charles gehorchte. Goco atmete auf, als er sein Werk vollendet hatte. Sie stemmte sich versuchsweise gegen das Holzgestell und konnte es ohne besondere Mühe anheben. Während sie noch überlegte, ob sie sich sofort befreien sollte, um dem Teufelsschüler das Handwerk zu legen, drangen vom Gang Geräusche an ihr Ohr. Dann wurde die Tür auf gestoßen. Zuerst tauchte Pablo Canillo auf. Sein Gesicht war rußig. Er schob ein Eisengestell vor sich her, das halb mit glühenden Kohlen gefüllt war. Darin lagen einige Reißzangen und Brandeisen verschiedener Form und Größe. Hinter ihm folgte Anselm Graubarth. „Charles hat dich nur ein wenig aufgewärmt, Hexe“, verkündete der Teufelsschüler. „Aber jetzt wird dir heiß werden.“ „Nimm Vernunft an, Alter, ich kann dir nicht helfen“, sagte Coco. „Aber gewiß doch“, behauptete der Alte. „Wenn du stirbst, ist das auf jeden Fall eine Erleichterung für mich. Du wirst dafür büßen, was du mir angetan hast. Der Aufenthalt in der Irrenanstalt war die Hölle für mich.“ Er holte tief Atem, bevor er weitersprach. „Zuerst versuchte ich Barron durch Opfer für 186
mich zurückzugewinnen. Doch bald mußte ich erkennen, daß ich unter all den Irren von dem Dämon isoliert war. Meine Opfer waren umsonst. Da änderte ich mein Verhalten. Ich erschlich mir das Vertrauen meiner Wärter, schwor zum Schein dem Teufel ab und versuchte mich so normal zu geben, wie es die Ärzte haben wollten. Ich wollte erreichen, daß man mich als geheilt entließ. Und das war nur recht und billig, denn ich war alles andere als verrückt. Aber ich wäre es in der Klapsmühle fast geworden, nur mein starker Wille rettete mich damals vor dem Wahnsinn.“ Er hielt keuchend inne, ging zu dem Kohlenfeuer, stülpte sich einen Lederhandschuh über die Rechte und holte eine glühende Zange heraus. Er hob sie hoch und betrachtete fasziniert das fast weißglühende Eisen. Dabei bekam sein Gesicht einen verklärten Ausdruck. „Ich hatte noch immer mein altes Ziel vor Augen – die Unsterblichkeit“, murmelte er versonnen vor sich hin. „Manchmal zweifelte ich daran, ob ich wirklich die Inkarnation des Gilles de Raiz war, weil ich so gar keine Erinnerung an sein Leben hatte. Aber dann wieder überkamen mich seltsame Träume, in denen ich ganz deutlich vor mir sah, wie er seinen Opfern das Leben aus den geschundenen. Körpern trieb und es in sich aufsog. Das machte ihn stark, unüberwindlich – und unsterblich. In solchen Momenten, da erkannte ich, daß ich, wenn ich schon nicht er 187
war, zumindest sein geistiges Erbe übernommen hatte. Etwas von Gilles de Raiz ist in mir! Das Wissen über die geheimen Kräfte habe ich von ihm. Und dies machte mich zuversichtlich!“ Wieder unterbrach er sich, um die ausgeglühte Zange ins Feuer zurückzulegen. Er holte ein Brandeisen heraus, das die spiegelverkehrten Buchstaben G. d. R. aufwies, und näherte sich damit Coco. „Ich erkannte, was ich zu tun hatte“, fuhr er fort. „Etwas nagte in mir, bereitete mir schlaflose Nächte, ließ mich schweiß überströmt aufwachen und verursachte mir Schüttelfrost. Ich wußte, daß mich der Haß auf dich, Hexe, krank gemacht hatte. Nur wenn ich meine Rache bekam, konnte ich wieder an Geist und Körper gesunden. Und nur wenn ich dich töten könnte, würde ich den Dämon Barron wieder versöhnen. Das war es, was er wirklich von mir forderte: deinen Tod, Hexe!“ Coco sah die glühenden Buchstaben G. d. R. langsam näher kommen. Sie spürte bereits die Hitze des rotglühenden Eisens im Gesicht. Sie spannte ihre Muskeln an. Der Alte war zu allem entschlossen. Er würde durch nichts von seiner fixen Idee abzubringen sein. Coco erkannte, daß sie ihn in keiner Weise beeinflussen konnte. Zu sehr war er noch in der Abhängigkeit des ominösen Dämons Barron – auch wenn er schon über Jahre hinaus keinen Kontakt mehr zu ihm 188
gehabt haben mochte. Während Coco diese Gedanken durch den Kopf gingen und sich das glühende Eisen immer mehr ihrem Gesicht näherte, erkannte sie, daß mit dem Alten eine Veränderung vor sich ging. Seine Haut verfärbte sich grünlich, seine Wangen sanken ein, das Fleisch unter der verwelkenden Haut schrumpfte, die Augenhöhlen vertieften sich… Die unheimliche Verwandlung schritt nun immer schneller voran. „Barron! Barron!“ schrie der Alte mit versagender Stimme. „Mächtiger Barron, erhöre deinen Schüler Gilles de Raiz! Nimm diese Hexe als Opfer und belohne deinen Diener Gilles de Raiz!“ Bei den letzten Worten holte er mit dem Brandeisen aus. Coco versetzte sich für einen Moment in einen rascheren Zeitablauf und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Foltergestell. Sie hob es über sich und schleuderte es auf den Alten. Dann sprang sie vom Bett und fiel gleichzeitig in den normalen Zeitablauf zurück. Der Teufelsschüler schrie auf, als ihn das schwere Holzgestell traf. Das Brandeisen entglitt seiner Hand und traf mit dem glühenden Ende den taubstummen Pablo Canillo an der Stirn, der sich mit einem unartikulierten Laut krümmte und die Hände an den Kopf preßte. Als er sie wegnahm, prangten an seiner Stirn die rauchenden Initialen des Gilles 189
de Raiz. Der Alte raffte sich vom Boden auf und griff nach einer glühenden Zange. „Ich werde dir das Herz aus dem Leibe reißen, Hexe!“ zeterte er, und dabei baumelten seine Augen in den leeren Höhlen. „Du wirst nicht mehr im Namen Gilles de Raiz’ morden“, sagte Coco gepreßt und verließ blitzschnell ihren Standort, so daß der Alte mit dem Folterinstrument ins Leere rannte. Coco wurde plötzlich von hinten ergriffen. Sie war nur einen Augenblick unachtsam gewesen, da hatte Pablo sie mit eisernem Griff gepackt. „Halte sie fest!“ befahl der Alte mit sich überschlagender Stimme. „Jetzt muß sie sterben!“ Er ließ die Zange aufschnappen und stieß gleichzeitig blitzschnell nach Coco, die sich jedoch im schnelleren Zeitablauf außer Reichweite des Folterinstruments brachte. Der Alte konnte seinen Schwung jedoch nicht mehr bremsen und bekam mit der glühenden Zange den hinter Coco stehenden Pablo um die Mitte zu fassen. Der Taubstumme schlug verzweifelt um sich, ergriff die Zangenschenkel, um sich daraus zu befreien, verbrannte sich jedoch die Hände. Es stank nach verbranntem Fleisch. Als der Teufelsschüler erkannte, was er angerichtet hatte, ließ er das Folterinstrument entsetzt fallen und wich an die Wand zurück. „Barron, laß deinen Diener nicht im Stich!“ 190
bettelte er. „Ja, zeige dich, Barron!“ rief Coco. Der Alte sprang plötzlich wie ein gereiztes Raubtier aus seiner Ecke. Er stieß Coco beiseite und rannte auf die Tür zu. Dabei stieß er das Eisengestell um, daß die glühenden Kohlen nach allen Seiten davonflogen. „Komm, Charles“, befahl Coco dem hypnotisierten Jungen, der teilnahmslos abseits gestanden hatte, und folgte dem Alten in den Wohnraum. Der Alte kauerte dort auf dem Boden und raffte alle erreichbaren Fetische zusammen, um sie um sich aufzubauen. Dabei krächzte er und gab immer wieder glucksende Laute von sich. „Ah, das wird mich vor dir schützen“, sagte er und blickte Coco von unten her an. „Und es wird mich Barron näherbringen.“ Coco ließ ihn gewähren. Vielleicht trat der geheimnisvolle Dämon doch noch auf den Plan. „Hast du nichts mehr von dem Lebenselixier, das Barron dir vermacht hat?“ fragte die ehemalige Hexe. „Du könntest etwas davon brauchen. Deine Bewegungen werden langsamer, Anselm, die Kräfte verlassen dich. Du bist vom Tode gezeichnet.“ „Barron wird mich erhören“, redete sich der Teufelsschüler ein und breitete mit fahrigen Bewegungen die Fetische aus. „Er wird in mich fahren und mir die Kraft geben, dich zu töten.“ 191
Coco blieb unbeeindruckt. Der Alte war schon so schwach, daß er sich mit einer Hand abstützen mußte, um sich überhaupt halbwegs aufrecht halten zu können. Jede Überanstrengung würde seinen körperlichen Verfall nur beschleunigen, einer größeren Belastung war sein Körper nicht mehr gewachsen und mußte unweigerlich seinen Tod bedeuten. „Barron, Barron, Barron“, rief der Teufelsschüler seinen Dämon in einem weinerlichen Singsang an. Es klang fast wie ein Grabgesang. „Erhöre deinen gelehrigsten Schüler…“ Und da erhörte ihn der Dämon. Coco sah, wie der Körper des Alten zusammenzuckte, als sei ein Blitz in ihn gefahren. Ein schauriges Lachen erfüllte den Raum, das aus dem Mund des Alten kam. Anselm Graubarth wurde von einer unheimlichen Macht auf die Beine gerissen. Sein Körper begann unkontrolliert zu zucken. Der Dämon, der in ihn gefahren war, schien nicht zu merken, daß er sich in einem sterbenden Kör per befand. Er sprach mit donnernder Stimme aus dem Mund des Alten, dem bereits vereinzelt die Zähne auszufallen begannen. „Ich hätte nicht mehr gedacht, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen, Coco“, erklang die höhnische Stimme. Der Alte taumelte, seine Hände zuckten hoch, preßten sich ans Herz. „Aber was unerwartet kommt, ist 192
doppelt erfreulich.“ „Wer bist du, der du dich hinter dem Namen Barron versteckst?“ fragte Coco herausfordernd. „Gib dich zu erkennen!“ „Warum nicht?“ Der Alte machte einen Schritt auf sie zu, stolperte und sank auf die Knie. „Du sollst wissen, durch wen du stirbst. Ich bin Eustache Lexas, den du verachtet und gedemütigt hast. Du hast mich verschmäht und mir normale Sterbliche vorgezogen. Deshalb habe ich den Teufelsschüler auf dich gehetzt – und woran ich selbst nicht mehr geglaubt habe, ist doch noch eingetreten. Mein Diener hat dich gestellt! Die Schwarze Familie wird es mir danken, wenn ich dich zur Strecke bringe.“ Coco sah den kleinen, fetten Dämon förmlich vor sich, wie er geiferte und schwitzte, und sie bildete sich sogar ein, seinen Gestank zu riechen. „Du wirst nichts dergleichen tun, Eustache“, sagte Coco. „Denn indem du in diesen sterbenden Alten gefahren bist, hast du seine letzten Lebensenergien verbraucht. Sein Herz war dieser Belastung nicht gewachsen. Und du wirst mit ihm sterben.“ Anselm Graubarth bäumte sich noch einmal auf, dann fiel er leblos nach hinten. Ein geisterhafter Schrei erklang, der immer leiser wurde und schließlich verhallte. Stille trat ein. Coco blickte auf die verwesende Leiche des Teufelsschülers, die rasch verfiel und sich bald in Staub aufgelöst 193
hatte. Mit Anselm Graubarth war auch der Dämon zugrunde gegangen, der ihn beherrscht hatte. Eustache Lexas war nicht mehr. Coco verspürte darüber eine tiefe Befriedigung.
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Coco erinnerte sich erst wieder der umgestürzten Feuerstelle, als sie das Prasseln und Knistern der Flammen hörte. Aber da war es längst zu spät, das Feuer zu löschen. Coco durchsuchte oberflächlich den Wohn räum, fand ein Faksimile der Anklageschrift des Gilles de Raiz und nahm sie an sich. Dann verließ sie mit Charles das brennende Haus. Draußen war stockdunkle Nacht. Im Schein der Flammen fand sie den Weg zum Wagen mühelos. Sie setzte sich hinters Lenkrad und startete. „Charles!“ rief sie, und der Junge, der im Eingang des Hauses abwartend stehengeblieben war, kam sofort herangeeilt. „Steig ein.“ Der Junge gehorchte. „Schließ die Tür!“ Coco fuhr langsam an. Sie hoffte, daß die Felgen nicht allzu arg beschädigt wurden, wenn sie mit luftleeren Reifen fuhr. Aber der weiche Schnee würde auf jeden Fall eine dämpfende Wirkung haben. „Wie bist du eigentlich zu dem Alten gekommen?“ fragte Coco im Plauderton; Charles stand noch immer unter Hypnose. „Er hat mich in Frankreich von der Straße aufgelesen“, erzählte der Junge. „Ich wollte per Anhalter nach Spanien – überhaupt in den Süden. Er nahm mich in seinem Wagen mit. Aber wir kamen nicht weit, dann hatte er einen Autounfall. Er stieß frontal mit einem entgegenkommenden Kleinwagen zusammen. 195
Beide Insassen wurden dabei lebensgefährlich verletzt. Bevor er Fahrerflucht beging, tötete er die beiden Unfallopfer und weihte sie seinem Dämon. Ich hatte Angst, in die Sache hineingezogen zu werden, doch Anselm sagte, daß ich sowieso schon zu tief drinstecke und auch mir nur noch Barron helfen könne. Deshalb folgte ich ihm nach Andorra…“ Coco fuhr langsam. Einmal blieb sie im Tiefschnee fast stecken, mußte ein Stück zurückfahren, um dem Schlagloch ausweichen zu können. Zum Glück hatte die verschneite Straße keine Steigung, so daß sie ohne weiteren Zwischenfall die Paßstraße erreichte. „Gibt es in der Nähe eine Tankstelle, Charles?“ erkundigte sie sich. „Ja. Etwa fünfhundert Meter die Straße hinauf, hinter der nächsten Kurve.“ „Das könnten wir schaffen.“ Sie bog in die vom Schnee geräumte Straße ein, und der Range Rover rumpelte praktisch auf den Felgen über den Asphalt. Kein Wagen kam ihnen entgegen. Coco dachte darüber nach, was mit dem Jungen geschehen sollte. Wenn sie ihn einfach laufen ließ, bestand die Gefahr, daß er rückfällig wurde. Sie wußte ja nicht, wie weit er sich dem Teufelsschüler bereits angeglichen hatte. Aber wie er sie behandelt hatte, das hatte ihr einen Vorgeschmack dessen gegeben, was alles noch in ihm steckte. Sie hatte wohl keine andere Wahl, als die Zeit, die er mit dem Teufelsschüler zusammengewesen 196
war, aus seinem Gedächtnis zu löschen. An die Möglichkeit, ihn den Behörden zu übergeben, dachte sie keine Sekunde. Wenn sie seine Erlebnisse mit Graubarth ungeschehen machte, hatte Charles alle Chancen, auf den rechten Weg zurückzufinden. Die Tankstelle tauchte auf, und Coco bog auf den Parkplatz ein. Wie nicht anders zu erwarten, brannte nirgends Licht. Auch das angeschlossene Cafe lag im Dunkeln. „Kann man den Pächter erreichen?“ erkundigte sich Coco. „Er wohnt gleich über dem Lokal.“ Coco stellte den Motor ab und blieb sitzen. „Sieh mir in die Augen, Charles“, befahl sie dem Jungen. „Sieh mir tief in die Augen.“ Er wandte ihr das Gesicht zu, und sie schlug ihn mit ihrem Blick in ihren Bann. „Du wirst vergessen, Charles“, schärfte sie ihm ein. „Du wirst den Namen Anselm Graubarth und alles, was damit zusammenhängt, aus deinem Gedächtnis streichen… Du bist jetzt in Frankreich, versuchst einen Wagen anzuhalten – aber er fährt weiter. Du erkennst nur, daß darin ein uralt wirkender Mann sitzt. Du vergißt ihn sofort wieder. Erst der nächste Wagen nimmt dich mit. Du kommst bis an die Grenze von Andorra – und nun bist du auf dem EnvaliraPaß. Du hast mich angehalten, und ich wollte dich bis nach Andorra la Vella mitnehmen, aber dann hatten wir diese Panne und konnten 197
gerade noch die Tankstelle erreichen…“ Coco schnippte mit dem Finger. „Du bist frei, Charles“, sagte sie eindringlich. Der Junge zuckte kurz zusammen, dann blickte er sich befremdet um. Er lächelte entschuldigend. „Ich muß eingeschlafen sein“, sagte er in seinem gebrochenen Deutsch. „Entschuldigen Sie, Mademoiselle…“ „Vielleicht kann man uns hier helfen“, sagte Coco und stieg aus dem Wagen. Sie lief zur Tankstelle und drückte die Klingel. Nach dem vierten Läuten ging in einem Fenster über dem Cafe Licht an. Das Fenster wurde geöffnet. Ein zerraufter Mann um die Fünfzig steckte den Kopf heraus und fragte mit verschlafener Stimme: „Was soll denn das?“ „Wir haben eine Panne, Monsieur“, rief Coco hinauf. „Können Sie uns helfen? Alle vier Reifen sind platt.“ „Um diese Stunde! Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Drei Uhr vorbei!“ „Tut mir leid, aber wir haben uns den Zeitpunkt nicht ausgesucht.“ „Alle vier Reifen, sagen Sie?“ Der Mann schüttelte den Kopf. Bevor er verschwand, knurrte er: „Einen Moment, ich komme.“ Er wollte schon das Fenster zuschlagen, da stutzte er, und sein Kopf tauchte wieder auf. „Da unten brennt es!“ rief er aus. „Das könnte die Hütte des verrückten Österreichers sein…“ 198
„Tatsächlich!“ rief Charles erstaunt aus. „Der Himmel hat sich dort hinten rötlich verfärbt.“ Oben wurde das Fenster endgültig zugeschlagen. Eine Weile war nichts zu hören, dann ging hinter der Milchglastür das Licht an. Schritte waren zu hören, kamen schlurfend zur Tür. Ein Schlüssel wurde im Schloß herumgedreht, die Tür ging auf. Der Tankwart erschien. Er hatte sich eine knielange Felljacke übergeworfen, darunter war sein Pyjama zu sehen. „Kommen Sie schnell herein“, sagte er. „Ich muß inzwischen in Soldeu anrufen, daß jemand kommt, um den Brand zu löschen.“ „Sie haben Telefon?“ sagte Coco erfreut und folgte dem Tankwart durch eine Verbindungstür ins Lokal. Er holte unter der Theke einen Telefonapparat hervor, wählte eine Nummer und meldete das Feuer. „Darf ich bei Ihnen telefonieren?“ fragte Coco, als er eingehängt hatte. „Nur zu, bedienen Sie sich.“ Der Tankwart deutete auf den Apparat. „Könnten Sie sich inzwischen den Wagen ansehen?“ bat sie. „Ich habe es eilig. Es soll ihr Schaden nicht sein.“ Der Tankwart warf die Arme in die Luft. „Geld, Geld!“ rief er abfällig. „Alle glauben, damit alles erreichen zu können. Als ob Geld alles wäre!“ „Es ist wirklich dringend“, sagte Coco. Sie wollte so schnell wie möglich von hier fort. „Ich werde Ihnen helfen, Monsieur“, bot sich 199
Charles an. Der Tankwart murmelte etwas Unverständliches und fügte hinzu: „Ich muß mich wärmer anziehen.“ Damit verschwand er nach oben. Wenige Minuten später kam er in einem Overall und einem Rollkragenpullover darunter zurück. Er ging mit Charles nach draußen. Als Coco allein war, wählte sie die Nummer von Castillo Basajaun. Dorian war sofort am Apparat, als hätte er daneben gelauert. „Ich bin es – Coco“, meldete sie sich. „Coco, wo bist du? Was ist passiert?“ fragte Dorian besorgt. „Ich wurde durch einen alten Bekannten aufgehalten“, antwortete sie müde. „Aber das ist erledigt. Ich werde dir alles erzählen, wenn ich zurück bin.“ „Wann wird das sein?“ „Das kann ich nicht genau sagen. Aber vor drei Stunden brauchst du mich nicht zurückzuerwarten. Dorian…“ „Ja?“ „Ich liebe dich.“ „Ich dich auch… Aber warum sagst du das so, als hättest du es eben erst entdeckt?“ „Weil ich noch vor kurzem glaubte, daß ich dir das nie wieder würde sagen können. Aber lassen wir das. Bis später.“ Sie legte auf, ging ins Freie und hinüber in die Werkstatt und sah den beiden Männern dabei zu, wie sie die Reifen flickten. Um Charles brauchte sie sich keine Sorgen 200
mehr zu machen, das erkannte sie, als er bei ihrem Auftauchen hochblickte und sie offenherzig anlächelte.
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