Simon Borner
Crestfallen Point Professor Zamorra Hardcover Band 34
ZAUBERMOND VERLAG
Crestfallen Point, British Col...
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Simon Borner
Crestfallen Point Professor Zamorra Hardcover Band 34
ZAUBERMOND VERLAG
Crestfallen Point, British Columbia Die Sommersaison ist vorüber. Eigentlich will das beschaulich provinzielle »Bücherdorf« vor der Küste Vancouvers nur noch in den allwinterlichen Dornröschenschlaf fallen. Da erschüttert es ein übernatürlicher Angriff in seinen Grundfesten. Abgeschnitten vom Festland und der Zivilisation werden die Bewohner der winzigen kanadischen Insel zu Figuren in einem grausamen Spiel, dessen Regeln der Tod diktiert, und dessen Ursprung in den staubigen Regalen der Antiquariate von Crestfallen Point lauert. Professor Zamorra nimmt den Kampf gegen die Mächte der Finsternis auf – und sieht sich unerwartet mit den Geistern seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert …
Historische Einordnung Dieser Roman spielt nach Band 927 der Heftserie »Professor Zamorra – Der Meister des Übersinnlichen«. Nicole Duval hat den Dämonenjäger verlassen. Merlins Stern, Zamorras mächtiges Schutzamulett, befindet sich bei Asmodis, der versuchen soll, das für seinen Träger gefährlich gewordene Relikt des verstorbenen Magiers zu reparieren.
Ein wahrhaft gutes Buch regt mich nicht allein zum Lesen an. Bald schon muss ich es niederlegen und seine Anregungen umsetzen. Was ich durch Lesen begann, muss ich durch Taten beenden. – Henry David Thoreau
Prolog – Echos in der Dunkelheit Abgrund der Zeiten Die Nacht war kalt und gnadenlos. Sie rüttelte an den Läden, klapperte gegen die Türen und griff mit ihren Klauen aus eisiger Schwärze nach jeder Lücke, jedem Halt, der ihr eine Chance auf Einlass bieten mochte. Doch sie kam nicht herein. Vielleicht, weil auch sie sich vor dem jenseits der verschlossenen Türen fürchtete. Wusste sie etwa, dass es Orte gab, die sogar der Dunkle Schnitter mied? Orte wie diesen? Nur Schatten und Spinnweben. Dicke Vorhänge, dicke Teppiche. Selbst die Luft war staubig. Sie roch nach abgestandenem Rauch und gestorbenen Träumen, nach stehengebliebener Zeit. Kälte überall. Selbstgefällig und majestätisch wie eine Schlange kroch sie durch die Stille, denn dies war ihr eigenes Reich, das ihr seit langem nichts und niemand mehr streitig machte. Also breitete sie sich aus, drängte sich hinter die Tapeten, kletterte die Wände hinauf und zauberte Eisblumen an die gerahmten Fotos aus vergangenen Dekaden, auf die gläsernen Vitrinen und die Fenster. Hinter deren blind gewordenen Scheiben tobte das Untier namens Wind durch ein nachtschlafendes Draußen, und sein wildes Heulen – ein krasser Gegensatz – hallte wie aus weiter Ferne durch das ewig scheinende Schweigen auf der anderen Seite. Plötzlich … »Der Junge ist wieder da. Obwohl sein Herz kräftig schlägt und warmes Blut durch seine Adern pumpt, steht er vor seinem eigenen Grab, starrt fassungslos auf den Stein mit seinem Namen …« Laute im Nichts! Sie wehten durch die Räume, die abgewetzte Treppe hinab und vorbei an den Möbeln unter ihren dicken weißen Laken. »Das wird nicht genügen.« Die zweite Stimme klang, als dulde sie keinen Widerspruch. Herrischer als die vorherige. »Es ist nicht neu
genug.« »Aber bisher hat es doch immer seinen Zweck erfüllt.« Trotz schwang in den Worten mit. Und … ja, tiefe Trauer. Erschrecken? »Bisher war es auch nicht die hundertste Wiederholung.« Eine dritte Stimme, männlich wie die erste, aber brüchig und schwach. Kaum mehr als ein Echo im Wind. »Gibt es überhaupt noch welche, die keine Wiederholung sind?« Die zweite Stimme antwortete. »Bald, fürchte ich. Ein Sturm bahnt sich an. Spürt ihr es nicht? Er bringt …« »Leben«, beendete die brüchig klingende dritte Stimme den Satz. »Leben und Sterben. Ideen.« »Neuigkeiten«, bestätigte die erste nahezu ehrfurchtsvoll. »Veränderung.« »Und Opfer«, hauchte die zweite. War das Sehnsucht in ihrem Tonfall? »Vor allem Opfer …«
Kapitel 1 – Und vergib uns unsere Schuld Sie hatten Gesichter aus Stein, und in ihren grausamen Augen loderte ein Feuer, das direkt aus der Hölle kam. Fassungslos starrte Jack McPhee auf das Schauspiel vor ihm, gefangen in einer Schockstarre, die endlos schien. Mit knirschenden Geräuschen – Stein auf Stein reibend – kam Bewegung in die mannshohen Engel, die nackten Knaben mit Harfen und in die anderen Statuen. Kunstvoll gemeißelte Glieder, die eigentlich zu keiner Regung fähig sein durften, zuckten plötzlich. Schwingen aus poliertem schwarzem Marmor breiteten sich aus und wurden eins mit der Nacht. Arme hoben und senkten sich, steinerne Hände ballten sich allen Gesetzen der Logik trotzend zu Fäusten und öffneten sich wieder – fordernd, greifend, gierig. Gemeißelte Münder wurden hissend aufgerissen, und hinter ihren leblosen Lippen züngelten rote Flammen, als befände sich im Kern jedweder dieser Absonderlichkeiten ein Hochofen. Ein hungriges, ewigliches Feuer, das alles verschlingen mochte, was in seine Nähe geriet. Unmenschliche Hitze schlug Jack mit einem Mal entgegen und rettete ihm dadurch vielleicht das Leben. Sie ließ ihn blinzeln, zwang ihn zu einer Reflexreaktion – und riss ihn so aus seiner Starre. Ein heiseres Krächzen bahnte sich seinen Weg aus seiner Kehle. Sofort drehten die steinernen Kreaturen ihre Köpfe, wandten sich der Quelle dieses Lautes zu. Ihm! Und sie waren schnell … Endlich reagierte Jack. Fluchtinstinkte übernahmen die Kontrolle über sein Handeln und damit den Job seines Verstandes, der längst die Feiglingsbremse gezogen und sich in den hintersten Winkel seines Bewusstseins zurückgezogen hatte. Dorthin, wo die Wirklichkeit noch Wirklichkeit war und nicht von widernatürlich anmutenden Fakten widerlegt werden konnte. Mit dem Mut der Verzweiflung
wandte McPhee den Monstern den Rücken zu und nahm die Beine in die Hand. Lange, schnelle Schritte im Dunkel. Nackte Füße auf taufeuchtem Gras. Jack rannte. Vorbei an den Monumenten aus Marmor und dem rau behauenen Basalt, den Kränzen und Blumenarrangements, all den flackernden Kerzen und den Kübeln voller Immergrün. Hier ruht in ewigem Frieden … Der Güte des Herrn überantwortet, schloß hier unser geliebter … Stein folgte auf Stein, Sinnspruch auf Sinnspruch. Hüfthohe Fanale wider das Vergessen, so zwecklos wie ein Tropfen Wasser in der Wüste. Reihe um Reihe ließ Jack die Gräber hinter sich, beachtete sie kaum. Sein Atem ging stoßweise, und jeder Zug wurde von einem hilflosen Wimmern begleitet, das er selbst gar nicht wahrnahm. Wild pochte sein Herz in seiner Brust, und jeder Schlag hallte in seinen Ohrmuscheln wider, stakkatoartiger Rhythmus der Panik. Ein fahler Mond, halb hinter dünnen Wolkenschwaden verborgen, warf sein bläulich wirkendes Licht auf den Friedhof und zeigte Jack den Weg zurück zur Mauer, zum Ausgang. In die Normalität. Der Mond riss die Grabsteine aus der Dunkelheit, nahm den finsteren Schatten ihre Macht. Er ließ seinen Schein durch die kahlen Äste der hohen Laubbäume fallen und spiegelte sich auf den steinernen Abdeckplatten und den Messingbuchstaben, mit denen die Namen der Verstorbenen noch für ein Stückchen Ewigkeit in Erinnerung gerufen werden sollten. Jack hatte immer gewusst, dass auch er über kurz oder lang auf einem Totenacker wie diesem enden würde – nur nicht, dass es so bald geschah! Hachhhhhh … Heiliger Jesus, sie fauchten! Die Kreaturen, deren stampfenden Schritte er hinter sich so deutlich hörte, als wären es seine eigenen, hissten und fauchten wie Raubtiere auf der Jagd. Und sie kamen näher! Jack spürte ihre Wärme im Nacken, die unnatürliche Hitze ihres inneren Höllenfeuers auf seinem Rücken. Ihr Blutdurst war nahezu greifbar. Schweißperlen liefen Jack über die Schulterblätter, eisig kalt. Das kann doch alles gar nicht sein!, protestierte sein Verstand aus der
Sicherheit seines Versteckes heraus wie ein trotziges, unbelehrbar stures Kind. Grabfiguren, die zum Leben erwachen? So ein Blödsinn! Und auf rationaler Ebene mochte er sogar Recht haben, doch was hier geschah, hatte längst nichts mehr mit Rationalität gemein. Der Horror war real, das spürte Jack. So echt, wie er nur sein konnte. Und wenn er ihn in seine kalten, leblosen Klauen bekam, schlug auch für Jack McPhee die letzte Stunde. Oder brachten diese Kreaturen gar Schlimmeres als den Tod? Zwanzig Meter noch. Himmel, warum war der Scheißacker auch so groß? Jack sah die Mauer genau vor sich, eine gerade Linie, die den Horizont verdeckte. Bruchsteine, über die Moos und Efeu wucherten, als wäre die Heckenschere nie erfunden worden. Er musste sie erreichen – musste es einfach! –, denn hinter ihr wartete die Welt. Voller Menschen, Lichter, Naturgesetze. Hinter diesen Steinen lag das gelobte Land, von dem die anderen verblendeten Pfaffen auf ihren Kanzeln predigten. Dort war Sicherheit. Jack klammerte sich an diesen Gedanken, wie sich ein Ertrinkender an eine rettende Planke im sturmumtosten Ozean klammern mochte. Es war Jahre her, dass er zuletzt gebetet und es damit auch ernst gemeint hatte, doch in diesen Momenten der blinden Panik kamen ihm die Worte wieder in den Sinn, die er schon als Kind und später im Priesterseminar hatte lernen müssen. Jeder Schritt war eine in Gedanken formulierte Silbe, jeder Atemzug ein Flehen um Gnade. Um Rettung vor den Mächten des Grauens und der Nacht. Vater unser im Him… Der Schmerz kam so plötzlich, dass Jack zunächst gar nicht wusste, wie ihm geschah. Irgendwo war ein leises Zischen erklungen, kaum mehr als ein Flüstern im Nachtwind, und einen Sekundenbruchteil später hatte etwas Kaltes, Hartes und vor allem Spitzes seine rechte Wange gestreift. Jack schrie auf – halb aus Überraschung, halb aus Schreck – und hob die Hand. Seine Wange fühlte sich feucht an, warm. Als er die Hand vor die Augen führte, sah er, dass sie voller Blut war, dunkel glitzernd in der Nacht. Was zum Teufel …? Ein Blick nach links ließ ihn aufkeuchen. Im Stamm des Baumes neben ihm steckte plötzlich ein steinerner Pfeil, etwa von der Größe eines chinesischen Essstäbchens. Der Pfeil zitterte noch, war soeben
erst gegen diesen Widerstand geprallt – und zweifelsfrei für ein anderes Ziel bestimmt gewesen. Für ihn! Schon sirrte der zweite heran, ein den Tod verheißendes, spitzes Versprechen aus Stein. Jack reagierte sofort, warf sich im Lauf herum und duckte sich gerade noch rechtzeitig. Mit einem leisen Zischen riss das Geschoss ihm den Stoff im Rücken seines Talars auf, (Talar? Warum trug er denn einen Talar?) doch es berührte seine Haut nicht. Binnen einer einzigen, endlos scheinenden Sekunde ließ sich Jack auf die Knie fallen, stützte sich mit den Händen im feuchten Gras ab und hob vorsichtig den Kopf. Dann sah er den Schützen. Keine fünf Meter entfernt thronte er auf einem grob beschlagenen Grabstein, als gehöre ihm die Welt: ein kleiner, kaum armlanger Wicht aus weißem Marmor, dem Aussehen nach ein Kind. Lockiges Haar über Pausbäckchen, keinerlei Kleidung – nur einen Käscher mit Pfeilen trug der nackte Knabe auf dem Rücken, und in den Händen hielt er einen gespannten Bogen. Amor!, ging es Jack durch den Kopf. Ich wäre beinahe von Amor aufgespießt worden! Die Erkenntnis war so absurd, dass er für einen Augenblick tatsächlich lachen musste. Dann hatte der steinerne Liebesgott nachgeladen. Jack warf sich zu Boden, rollte sich über die Schulter ab und hechtete hinter einen Grabstein, um irgendwo Deckung zu finden. Prompt prallten zwei weitere Geschosse in rascher Folge gegen die Vorderseite des Monuments. Klein-Amors Vorrat schien nicht zur Neige zu gehen. Ein nüchterner, irrationaler Teil von Jack – der zynische Teil, der eigentlich seine Persönlichkeit ausmachte – fragte sich, welche Sorte Mensch sich einen Liebesgott aufs Grab setzen ließ. Dann dachte er daran, dass er in seinen Shows schon weit unsinnigere Bitten gehört und begrüßt hatte. Und schon sirrte ein neuer Pfeil direkt über seinem Kopf hinweg und ließ Jack sich noch tiefer in Deckung kauern. … geheiligt werde dein Name, dein Reich komme … Unglaublich, wie schnell und vor allem mit welch aufrichtiger Inbrunst ihm die alten Worte wieder in den Sinn kamen. Dabei waren sie ihm jahrelang hohl vorgekommen, zynische Illusionen für die stupiden Massen von Schäfchen, die sich lieber hinter Ritualen und
sinnfreien Phrasen verbargen, als der Realität ins gnadenlose Auge zu sehen. Doch in dieser Nacht war Jack selbst, als wolle er sich hinter einem Schutzwall aus Glauben vor der Wirklichkeit verbergen. In dieser Nacht war ihm jede Hilfe recht, auch die vom großen Mr. Nada. Was konnte es schaden? … dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden … Ob Gott ihm zürnte, weil er ihn jahrelang verspottet hatte? Jack hoffte es nicht. Immerhin: Sagte man ihm nicht nach, er sei gütig und vergäbe? Nun, hier und heute würde diese Theorie auf den Prüfstand gestellt werden. So oder so. … unser tägliches Brot gib uns heute … Im Nu waren Amors Gesellen, die anderen steinernen Ungetüme, herbei. Lauernd und selbstgefällig streiften sie zwischen den Gräberreihen umher, kreisten ihn ein und näherten sich Jack von allen Seiten, ihre Augen und aufgerissenen Mäuler lodernde Fanale in der Dunkelheit. Der Anblick war so grauenerregend und gleichzeitig so absurd, dass Jack für einen Moment an einen Film denken musste, den er vor Jahren gesehen hatte, irgendetwas mit Golems – tönernen Kunstmenschen. Die hauen ähnlich ausgesehen. Und auch sie hatten Tod und Verderben gebracht. Hachhhhhh …. Wieder das Fauchen. Es wehte mit dem Nachtwind über den von allen guten Seelen verlassenen Gottesacker, strich katzengleich um die Steine, Bäume und Bänke, ließ Kerzen flackern. Jack sah, wie seine Jäger die Arme ausstreckten. Die Engel schlugen mit ihren Flügeln, marmorne Füße pressten das Erdreich fest, und eine in weite Roben gewandete Harfespielerin, keine zwei Grabreihen entfernt, winkelte plötzlich den Arm an, als wolle sie ihr Instrument als Wurfgeschoss verwenden. Zu spät begriff Jack, dass sie genau das tat! Mit einer Geschwindigkeit, die ihrer Statur Hohn sprach, schleuderte die Statue die Harfe auf ihn. Hart prallte das Ding gegen Jacks ungeschützte Brust, ließ ihn rücklings gegen den Grabstein schlagen und raubte ihm den Atem. Der Schmerz war unbeschreiblich. Ein Vorschlaghammer schien Jacks Rippen zu traktieren und presste ihm die Luft aus der Lunge.
Für einen kurzen Moment sah McPhee Sterne. Übelkeit stieg in ihm hoch, Galle füllte seinen Mund. Die ganze Welt drehte sich vor seinen Augen, verschwamm und drohte gänzlich zu verschwinden. Nur noch die Feuerhöhlen in den grausam verzerrten Visagen der Kreaturen drangen durch den Nebel, der sein Bewusstsein zu umschlingen drohte, zu ihm vor. Nein! Nicht ohnmächtig werden! Wenn du jetzt wegdriftest, ist alles vorbei! Aber war es nicht das, was er eigentlich wollte: dass dieses Grauen ein Ende nahm? Welchen Unterschied machte es noch, ob es jenseits der Friedhofsmauer endete, oder gleich hier? Jack war doch so müde, so kalt … Dass er die Augen schloss, merkte er schon nicht mehr. Hachhhhhh … Sie waren jetzt direkt an seinem Ohr. Ihre Hitze ließ Jacks Haare zu Berge stehen und schickte, Fieberschüben gleich, einen Schauder über seinen Leib. Steinerne Finger schlossen sich um sein linkes Fußgelenk, drückten zu, hart und unerbittlich. Eine Hand wie eine Schraubzwinge schien sich um seinen rechten Unterschenkel zu legen, und kühle Nachduft, aufgewirbelt von steinernen Schwingen des Todes, schlug Jack entgegen. Schon krallten sich die Klauen der Monster in den Stoff seines Priestergewands, rissen Bahnen der Zerstörung in seine Kleidung, legten sein Fleisch frei. Sein zuckendes, zitterndes Opferfleisch. … und vergib uns unsere Schuld …
»Und das ist dann der Moment, an dem Sie aufwachen, Mr. McPhee?« Jack nickte stumm, schluckte trocken. Die Erinnerung war ganz offensichtlich weitaus lebhafter und heftiger ausgefallen, als er vermutet hatte, und sie ängstigte ihn spürbar. »Entweder da«, begann er krächzend und räusperte sich sofort, »oder später. Wenn … Wenn die Statuen die ersten Wunden in meinen Körper schlagen. Manchmal sehe ich noch, wie sie sich mit Krallenhänden Stücke aus meinem Leib reißen, sie triumphierend gen Himmel strecken. Und wä…
während mein Bewusstsein endgültig schwindet, tropft mein eigenes Blut aus ihren gnadenlosen Händen auf meinen Leichnam hinab.« Nolans Stift flog nahezu über das Klemmbrett, das sich der ältliche Mediziner auf den Schoß gelegt hatte. »Gut, gut«, murmelte er unpassenderweise. »Aber so weit wollen wir heute noch nicht vordringen. Alles zu seiner Zeit.« Dann blickte er auf, helle Augen unter buschig-weißen Brauen, die ein faltiges Knautschgesicht dominierten. »Ich muss schon sagen, Mr. McPhee, ich bin sehr positiv überrascht. Sie machen Fortschritte, wirklich!« »Fühlt sich nicht so an …«, murmelte Jack. Er wirkte, als erfröre er innerlich. Nolan, ganz der jovial-skurrile Halbzuhörer, hob die Linke. »Aber es stimmt. Was Sie gerade erleben, wird ein wenig umgangssprachlich auch als posttraumatisches Tief bezeichnet. Die Talsohle, die auf die Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Defiziten nahezu unweigerlich folgen muss. Ein wichtiger Meilenstein in unserer gemeinsamen Therapie. Sie werden sehen – schon bis zu Ihrer nächsten Sitzung haben Sie selbst den Aufstieg aus diesem Tal begonnen. Ganz ohne mein Zutun. Weil Sie es wollen, Jack! Schließlich sind Sie genau deswegen hier, richtig? Um Ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.« Vor den weiten Fenstern des Behandlungszimmers, das Nolan auch als Büro diente, spielte das Licht der kanadischen Sonne mit den herbstlich grünen Blättern eines stattlichen Ahornbaumes und brach sich in der Ferne auf der Oberfläche des Wassers, das die Insel vom Festland trennte. Zamorra hörte das Zwitschern der Vögel durch den offenen Schlitz eines der Fenster und roch die frische, natürliche Luft. Sie tat gut. Vermutlich käme sie auch dem ehemaligen Prediger nicht ungelegen. McPhee hing in seinem Sessel wie ein Häufchen Elend. Seine Haut war nahezu leichenblass und von Schweißbahnen gezeichnet, und die Finger, mit denen er sich nun über die Augen fuhr, als könne er so den Albtraum ungeschehen machen, den zu rekapitulieren er Nolans eigenartig altertümliches Sprechzimmer aufgesucht hatte, zuckten fahrig. Der braucht keine Luft, korrigierte sich der Meister des Übersinnli-
chen in Gedanken, sondern einen Schnaps. Oder besser gleich zwei. »Nun, wir wollen nichts überstürzen«, setzte Nolan zu einer Verabschiedung an und strich sich imaginäre Staubflusen vom Ärmel seines Tweedjacketts. »Etappensiege sind das Ziel, das wissen Sie ja zur Genüge. Jeder Schritt bedeutet einen kleinen Meilenstein. Morgen um die gleiche Zeit?« McPhee hob die Schultern und lachte leise. Es klang hilflos. »Sie sind der Doc, Doc. Ich habe nichts anderes vor. Wie Sie schon sagten: Dafür bin ich hier.« Nolan lächelte nickend. Mit keiner anderen Reaktion hatte er gerechnet, daran bestand kein Zweifel. »Gut, gut«, sagte er, erhob sich und deutete seinem Patienten höflich aber bestimmt, es ihm gleichzutun. Sein ausuferndes graues Haar wogte bei jeder Bewegung. »Dann also bis morgen. Es soll warm werden heute, von daher genießen Sie den Tag, Mister McPhee – und die Gewissheit, dass es aufwärts geht. Auch wenn es sich noch nicht so anfühlen mag.« Der Ex-Priester sah Nolan an, als habe dieser gerade verkündet, er wolle fortan mit Wackelpudding jonglieren. Doch er reichte ihm die Hand, nickte einmal kurz in Zamorras Richtung und verschwand dann aus dem Büro. Mit einem leisen Klack fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. »Starker Tobak, oder?«, fragte Nolan im gleichen Moment und wandte sich zu dem Meister des Übersinnlichen. »Hab schon heftigere Geschichten gehört«, erwiderte Zamorra ausweichend. »Und trotzdem sind Sie hier …« Und trotzdem war er hier. Zamorra seufzte innerlich. Es kam oft vor, dass er Leuten wie Nolan begegnete – Unwissenden, die selbst im Angesicht des Übersinnlichen noch auf ihre Rationalität und ihr festgefahrenes Weltbild pochten. Naive, die sich mit einer schon ans Radikale grenzenden Sturheit an Wahrheiten klammerten, selbst wenn die Wirklichkeit sie widerlegte. Der etwa sechzigjährige und schon großväterlich wirkende Mediziner vor ihm war ein Musterbeispiel dieser Gruppe von Menschen. »Ich bin hier, Dr. Nolan, weil ich mich für Mr. McPhees Geschichte interessiere. Wie Sie wissen, hat mich Ihr Artikel in Medicine Today
auf den Fall aufmerksam gemacht.« William hatte den Text gefunden – und Zamorra, ohnehin gerade auf der Suche nach Ablenkung und ein wenig … unumgänglich, hatte den unausgesprochenen Hinweis seines langjährigen Hausdieners dankend angenommen und war der Spur gefolgt. Ein Ex-TV-Prediger, der behauptete, Gott habe ihn als Strafe für seine Sünden mit einem Fluch belegt, der seine Albträume wahr werden ließ – das war einfach zu gut, um ignoriert zu werden. Vor allem, wenn man sich gerade sehr anstrengte, um etwas anderes zu ignorieren … »Aber Ihre Schlüsse, Monsieur!«, erwiderte Nolan und riss Zamorra gerade noch rechtzeitig aus seinen düsteren Gedanken, bevor die Erinnerung an die vor kurzem aus dem Château ausgezogene Nicole sich in sie schleichen konnte. Der Traumforscher hob entrüstet die Arme. »Welche Schlüsse ziehen Sie aus meinem Artikel? Ich bitte Sie, das ist doch absurd. Ein Mann, dessen Träume Wirklichkeit werden – Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes weismachen, dass Sie diesen Stuss glauben? Sie, ein Wissenschaftler!« Lustig, dachte Zamorra. Irgendwie führen wir wieder und wieder die gleiche Unterhaltung. »Das habe ich nie gesagt«, antwortete er ruhig. »Ich finde McPhees Geschichte einfach nur interessant genug, um den Fall näher unter die Lupe nehmen zu wollen. Nichts anderes hat mich hergebracht. Ob Ihr Patient wirklich die Fähigkeiten besitzt, von denen er uns eben erzählte, oder nicht, muss die Zeit zeigen.« Insgeheim bezweifelte er es, doch war es zu früh, die Zelte abzubrechen und nach Frankreich zurückzukehren. Überhaupt: Was erwartete ihn dort schon? Ein leeres Bett, ein Stapel schmerzhafter Erinnerungen und unbeantwortete Fragen. Probleme, denen er nur zu gern aus dem Weg ging. Selbst wenn es nur für eine Weile war. Nolan wirkte enttäuscht, war aber offensichtlich zu höflich, seinen Gefühlen Luft zu machen – und der Tatsache, dass er Zamorra für einen leichtgläubigen Spinner hielt. »Es ist Ihre Zeit, Monsieur, die Sie verschwenden«, erwiderte der Wissenschaftler. »Ich betreibe nun schon seit Jahrzehnten Traumforschung und kann Ihnen sagen: McPhees Fall basiert nicht auf Akte X und auch nicht auf dem Zorn eines allmächtigen Gottes, sondern auf einem beeindruckend kom-
plexen Gespinst aus Psychosen und Neurosen, gekoppelt mit einem – wohlwollend ausgedrückt – gerade noch erbsengroßen Selbstwertgefühl. Was unser guter Priester erlebt, hat nichts mit dem Übersinnlichen zu tun, das Sie zu Ihrem Steckenpferd erkoren haben, sondern mit Erziehung. Mit Selbstanspruch und dem Fall, der auf jeden übereilten Höhenflug folgt. Mit einem Unterbewusstsein, das sich schämt. Noch vor Monaten prangte McPhees Konterfei auf Plakatwänden im gesamten Mittleren Westen der USA, wussten Sie das? Er war ein Star, der selbsternannte Anchorman Gottes. Und heute? Heute hat dieser einstige multimediale Titan beinahe Angst vor seinem eigenen Schatten.« Nolan schüttelte den Kopf, wirkte ehrlich bestürzt. »Dieser Mann ist krank, Zamorra. Nicht besessen.« Besessen. Der Professor unterdrückte ein Lachen. Nolan verglich Äpfel mit Birnen und bemerkte es nicht einmal. »Dem mag so sein, Doktor, aber vielleicht ist seine Krankheit nur die Spitze des Eisbergs. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich mich gerne noch ein wenig mit seiner Akte befassen, bevor ich Ihre Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehme.« Nolan trat zurück zu seinem Schreibtisch – einem futuristisch wirkenden Gebilde aus Glas und Chrom, das so gar nicht zu der konservativen Schrankwand hinter ihm passte –, ließ sich in seinen Sessel fallen und seufzte theatralisch. »Na, ich schätze, dafür haben Sie sich auf den Weg gemacht, oder? Und McPhee hat ohnehin eingewilligt. Wer wäre ich also, Ihnen diesen Gefallen zu verweigern? Aber vergessen Sie nicht, dass es im Sacred Heart um Medizin geht, nicht um Seancen.« Dann beugte er sich vor und betätigte einen Knopf an der Gegensprechanlage, die auf der Tischplatte stand und beinahe unter den Papierstapeln und Kladden unterging. »Miss Fisher, unser Gast hätte gern die Bänder von Mr. McPhees bisherigen Therapiesitzungen angehört. Könnten Sie sie aus dem Archiv holen lassen?« Ein Rauschen antwortete, bis die Stimme seiner reizenden und blutjung aussehenden Sekretärin den Äther erfüllte, einer frisch von der Uni gekommenen Schönheit mit blonden Haaren und Rundungen, die einen Mann an die Existenz Gottes glauben machen konnten. »Gern, Doktor«, trällerte sie durch den Lautsprecher.
»Wie lange wird das dauern?« »Eine halbe Stunde, Doktor. Ich schicke gleich jemanden los.« »Danke, Miss Fisher.« Nolan trennte die Verbindung und lächelte Zamorra entschuldigend an. »Sie ist hübsch, aber nicht gerade die Schnellste«, sagte er leise. »Kein Problem.« Der Professor winkte ab. »Der Tag ist jung, und ich hatte ohnehin noch keine Gelegenheit, mir den Ort im Hellen anzuschauen. Ich mache einfach einen kleinen Spaziergang. Vielleicht kommt mir dabei ja eine Idee, wie ich … diese X-Akte angehen kann.« Zamorra war am späten Vorabend eingetroffen, bei Dunkelheit. Nolans privates Klinikshuttle Sigmund – eine pompös ausgestattete Luxusfähre mit allerhand Komfort, rotem Plüsch und integrierter Sektbar – hatte ihn vom Hafen Vancouvers direkt zur hauseigenen Anlegestelle befördert. Nolan sah ihn an, als habe er gerade erklärt, alle Sonntage hießen ab sofort Günther. »Aber erwarten Sie nicht zu viel. Die paar Häuser waren schon verlassen, als ich den Grundstein für mein Sanatorium legte. Da gibt's eigentlich nichts zu sehen.« Nolans Institut, das halb Kurzentrum und halb wissenschaftliche Forschungseinrichtung war, hieß Sacred Heart und befand sich seit fünf Jahren auf Crestfallen Point, einer kleinen Insel vor der Küste der kanadischen Metropole. Es war ein wahrer Palast von einer Einrichtung, ein opulent ausgestatteter und modisch designter Tempel der Medizin, in dem jeder Quadratmeter PVC, jeder Teppich und jeder Ledersessel den Odem der Besserverdienenden verströmte. Wer sich hinter diesen Mauern behandeln ließ, verfügte über entsprechende finanzielle Mittel und erwartete einen gewissen Standard. Nolan selbst, dessen alleiniges Baby Sacred Heart war, erwartete ihn sichtlich auch. »Keine Sorge. Ich werde meine Erwartungshaltung runterschrauben.« Mit einem Grinsen im Gesicht machte der Meister des Übersinnlichen kehrt und verließ den Raum. Wenige Minuten später schlenderte er durch den verlassenen Ort, der den Namen der kleinen kanadischen Insel trug.
Crestfallen Point, das Dorf, widersprach seiner deprimierenden Betitelung mit einer Vehemenz, die schon ans Irrationale grenzte. Von wegen hoffnungslos – es war ein Idyll reinster Sorte, wenngleich eines, das längst aufgegeben wurde. Bis vor einigen Jahren schienen hier Menschen ein zufriedenes Leben geführt zu haben. Ein paar wenige Häuser standen nebeneinander gekuschelt in der Nähe des Ufers, meist mit dunklem Holz verkleidete Steinbauten von maximal zwei Etagen Höhe, und gruppierten sich um einen zentralen und sorgfältig geteerten Platz, von dem sämtliche Straßen der Insel abzugehen schienen. Wenige Meter weiter hangabwärts kam der Hafen des Ortes – eine Erscheinung, für die das Wort »Hafen« ein paar Nummern zu groß schien – und mit ihm die einzige Verbindung, die die einstige Winzsiedlung, da sie noch aus Tagen vor Sacred Heart stammte, zum Festland gehabt hatte. Zweimal am Tag, so wusste Zamorra aus Nolans Schilderungen und eigenen Recherchen, hatte früher eine Fähre dort Station gemacht und Touristen abgeliefert, dreimal in den Sommermonaten. Wanderer und Buchliebhaber waren an Bord gewesen, die auf eine Tasse Kaffee und zum Stöbern geblieben waren. Städter auf einer Tagestour im Grünen. So friedlich das verfallene Dorf wirkte, so ruhig war es mittlerweile jedoch. Hinter den Fenstern der überraschend vielen Ladengeschäfte regte sich nichts mehr, und auch die Straßen und Bürgersteige waren menschenleer. Die einstigen Insulaner waren längst zum Festland übergesiedelt. Zamorra schlenderte an den staubigen Fassaden ihrer einstigen Häuser vorbei, ließ sich von der morgendlichen Sonne wärmen und von seiner Neugierde leiten. Antiquariate, Antiquariate … Wohin er auch blickte, fielen ihm die kleinen, verlassenen Buchläden auf, die gebrauchte Literatur zu Spottpreisen angeboten hatten. Wobei »Läden« ein hochgestochener Begriff war. Die meisten dieser einstigen Geschäfte waren in Wohnhäuser hineingewachsen. Hinter deren Außenmauern stand noch immer Regal neben Regal, vollgestopft mit Taschenbüchern aus aller Welt. Sie waren Relikte der Vergangenheit, die niemand mehr abzuräumen für nötig erachtet hatte. Ein kleiner Werkzeugschuppen unten an der Ecke der Straße war zum Beispiel ein Zeitungskiosk
geworden – und die letzten Auslagen hingen nach wie vor an dem rostigen Ständer vor der Tür, regennass und bis zur Unleserlichkeit aufgeweicht. Ein trotziges Memento des Vergangenen. Dieses Dorf konnte einem leidtun, fand Zamorra. Es hatte schlicht zweitverwertet, was in seiner eigentlichen Blütezeit – damals, als die Besucher noch der Natur wegen hergekommen waren und die kleine Gemeinde für eine kurze Zeit dem Irrglauben aufgesessen war, sich als Touristenmekka etablieren zu können – schnell verkümmert war. Die Bewohner selbst hatten für diese Verwandlungen verantwortlich gezeichnet, indem sie, den neuen Trend erkennend, schlicht ihre Wohnzimmer freigeräumt und zu Gewerbsräumen umfunktioniert hatten. Crestfallen Point hatte sich an seine zweite Chance namens Bücherdorf geklammert. Und auch das hatte langfristig nicht funktioniert. Trotzdem keine schlechte Idee, fand der Dämonenjäger. Zumindest sollte sie als Alleinstellungsmerkmal reichen. Zweifelsfrei hatten einst sogar Reiseführer den Ort wegen seiner Buchläden als Besonderheit gepriesen – und so das Interesse der Besucher geschürt; ganz, wie es die Einwohner der Insel erwarteten. Schade nur, dass es langfristig zu nichts geführt hatte. Vom Ufer aus, an dem das Wasser der Straße von Georgia gegen den kanadischen Inselboden spülte, konnte Zamorra die Skyline Vancouvers ausmachen, einer Metropole nicht nur im Vergleich zu diesem von der Zivilisation vergessenen Eiland. Dort hinten glänzten Hochhäuser im Licht des jungen Tages, brachten Flugzeuge Menschen hin und her, regierte der alltägliche Trubel. Und hier, nur wenige Kilometer Wasserlinie entfernt, bestand der Höhepunkt eines Tages vermutlich allein noch darin, dass Fuchs und Hase sich abermals Gute Nacht gewünscht hatten. Der Gegensatz hätte kaum deutlicher sein können. Es wunderte Zamorra nicht, dass Nolan sich diesen Ort für sein Sanatorium ausgesucht hatte. Die Insel war perfekt: weit vom Schuss, aber trotzdem zivilisationsnah. Wer hier in Pflege ging, fand nichts vor, was ihn von seiner Genesung ablenkte. Nur Natur, frische Luft und glitzernd blaues Wasser. Der Professor glaubte sich zu erinnern, dass Nolan von einem
zehnköpfigen Mitarbeiterstab gesprochen hatte. Zumindest ein Großteil dieser Personen dürfte während der Dienstphasen im Klinikkomplex wohnen – bei einer Schlafklinik lag es nahe, dass die Hauptarbeitszeiten des Nachts stattfanden –, einige pendelten aber sicherlich täglich von Vancouver hier herüber. Und die Patienten … Zamorra schmunzelte. Gewissermaßen war Nolans Entourage die neue Bevölkerung von Crestfallen Point – und sie trat unbewusst in die Fußstapfen der alten. Wie die vom Tourismus lebenden Einwohner von früher profitierte schließlich auch der eigensinnige Mediziner mit dem wallenden grauen Haar und den buschigen Brauen von der idyllischen Lage und der grünen, wohltuenden Natur dieser kleinen Oase vor den Toren Vancouvers. Zamorra beschloss, Nolan bei nächster Gelegenheit auf diese Parallele anzusprechen. Als er auf die Uhr schaute, merkte er, dass seine halbe Stunde längst abgelaufen war. Schweren Herzens löste er sich vom Anblick des leise gegen das Ufer spülenden Wassers und machte sich auf, nach Sacred Heart zurückzukehren. Er hatte sich gerade orientiert, da sah er aus den Augenwinkeln ein Schiff, das über das Wasser auf ihn zuhielt. Es war eine Fähre. Vermutlich kamen ein paar abenteuerlustige Touristen, denen die City zu langweilig geworden war. Ganz wie früher, dachte der Professor amüsiert. Vielleicht hat doch noch nicht jeder Städter diese Insel vergessen. Dann wandte er sich endgültig ab und ging zurück zum Sanatorium. Und das Chaos begann.
Kapitel 2 – Klassenfahrt Samantha Becken schlug den Kragen ihres aschgrauen Mantels hoch und blickte über die rostige Reling. Der Geruch des Wassers stieg ihr in die Nase, und die Gischt sowie die von Süden in den kleinen Meeresausläufer fallende Brise ließen sie trotz des blauen Himmels erschaudern. Die Fähre legte ein strammes Tempo vor. Kurz vor dem Horizont konnte Samantha bereits die Insel ausmachen, ein länglicher Brocken in den sanft schwingenden Wellen, der sich aus dem morgendlichen Nebel schälte. Sie sah grün aus, grün und erschreckend klein. »Hab ich zu viel versprochen?«, drang Flynns Frage an ihr gutes Ohr. »Genau, wie es im Prospekt stand: Schon von weitem sehen Sie die einladende Küste von Crestfallen Point, dieser Oase gleich vor den Toren Vancouvers …« Na prima. Sie waren noch nicht einmal richtig angekommen, und er zitierte schon auswendig aus dem Reiseführer, wie ein alter Pedant. Da hätte sie auch direkt mit ihrem Vater fahren können. Sag mir noch mal warum ich überhaupt mitgekommen bin?, bat sie in Gedanken. Bestimmt nicht deswegen. Ich hätte mich doch so leicht krankmelden können … Dieser ganze Außendreh war ohnehin eine bescheuerte Idee. Doch Libby schwieg. Vermutlich hatte sie längst aufgegeben. Wenn ja, konnte Samantha es ihr nicht verdenken. »Na, freust du dich?« Sam drehte den Kopf ein wenig nach links und musterte ihren Begleiter. Flynn Morris grinste wie ein Honigkuchenpferd. Der Wind hatte seine graumelierten Haare zerzaust, ließ seinen modischen Schal flattern und bauschte seinen schwarzen Trenchcoat auf. Hätte Samantha den Mann nicht besser gekannt, sie hätte ihn in diesem Moment für grenzdebil gehalten. Wenn man bedenkt, dass mich Millionen von Frauen um einen solchen
Augenblick beneiden dürften …. dachte sie und musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht lauthals loszulachen. Lässt einen doch am Geschmack des Mainstreams zweifeln, oder? »Zumindest wundere ich mich, dass ein Ort mit einem derart abstoßenden Namen überhaupt einmal auf Touristik setzte«, antwortete sie auf seine Frage und zeigte auf den zerfledderten Schmöker, den Flynn irgendwo ausgegraben haben musste und nun in der Manteltasche trug. Das dünne Bändchen sah aus, als habe es schon Jahrzehnte auf dem Buckel. »Crestfallen Point, was ist damit überhaupt gemeint? Hoffnungsloser Ort? Punkt der Mutlosigkeit?« »Damit ist gemeint«, sagte er, schlang seine Arme um ihre Hüften und zog sie näher, »dass wir drei Tage lang Ruhe und Frieden haben werden. Abgeschiedenheit statt Stress und Fotografen. Nur du und ich … Okay, und ein paar Leute vom Fernsehen.« Da war sie wieder, die Nydek-Stimme. Immer, wenn Flynn romantisch wurde, schaltete er innerlich auf Rollenmodus um. Samantha bezweifelte, dass er sich dieser Marotte bewusst war, aber das machte sie nicht weniger real. Die ersten zwei, drei schüchternen Male, als sie sich nach Drehschluss in Flynns Apartment am teuren Kerslan Drive verirrt und er plötzlich wie Chris Nydek geklungen hatte, war sie sich verarscht vorgekommen. Hielt er sie etwa auch nur für eines der dümmlichen Uralt-Groupies, die die Produktionshallen von Night Fighter umlagerten wie Fliegen einen Scheißhaufen? Eine jener traurigen Hausfrauen, die mit Morris in die Kiste stiegen, um eine Nacht mit Nydek zu verbringen? Sie hatte sich damals billig gefühlt und geglaubt, in seinen Augen nicht mehr als ein Pappbecher zu sein, den er wegwarf, sobald er mit ihm fertig war. Denn glaubte man Flynn, hatte es in seiner langen Karriere schon viele Pappbecher gegeben. Doch Samantha hatte sich geirrt. Das hatten ihr diese zwei oder drei ersten Nächte deutlich gezeigt. Flynns Schlafzimmertimbre war schlicht identisch mit der Nydek-Tonlage von damals, die noch heute tagtäglich aus den Boxen der amerikanischen Fernsehgeräte widerhallte, auf ewig gefangen irgendwo in der Wiederholungshölle. Sie war Zufall, nicht mehr als das. »Wieder der Doc?« Flynn stutzte, hatte Samanthas Skepsis offen-
bar bemerkt. Sie nickte und schenkte ihm ein breites Lächeln. »Sorry«, sagte Flynn. »Ich … Ich scheine den alten Knaben einfach nicht mehr los zu werden.« »Kein Problem.« Samantha winkte ab. »Ist nur immer wieder überraschend, wenn ich mit meinem Co-Star ausgehe und mich plötzlich akustisch neben einer amerikanischen Institution wiederfinde.« Autsch! Der Satz war draußen, bevor ihr recht bewusst wurde, was sie da sagte. Akustisch … Nur akustisch. Zugegeben: Es war lange her, dass Flynn Morris als engagierter Kinderarzt Dr. Chris Nydek die Endlos-Seifenoper Great Hopes are Forever veredelt hatte. Damals war sein Haar noch schwarz und voll gewesen, sein latent ausgeprägter Bierbauch noch im Sixpack verborgen und er der zweifelsfrei begehrteste Frauenschwarm auf den Bildschirmen. Mittlerweile … hatte sich zumindest all das geändert. Nach Great Hopes war es um Flynns Karriere deutlich stiller geworden. Ein paar TV-Filme hier und da, deren Qualität stetig sank. Ein paar Skandälchen für den Marktwert im Boulevard, bis auch der das Interesse verlor. Schließlich das vermeintliche Gnadenbrot im Werbefernsehen – bis der Anruf aus Vancouver gekommen war und Flynn, dem einstigen Charmeur des Pantoffelkinos, wie ihn die Presse zu Glanzzeiten zu preisen pflegte, neuen Auftrieb gab. Und die Hauptrolle in Night Fighter, einer in Samanthas Augen alles andere als nennenswerten TV-Horrorserie, die ihre nahezu peinlich hohe Popularität hauptsächlich Flynns Ruhm aus vergangenen Tagen verdankte. Ganz, wie es ihre Produzenten gehofft hatten. Die Fähre ließ ihr Nebelhorn tuten – Nebelhorn? Fähren hatten so etwas? – und riss Samantha aus ihren Gedanken. Besorgt sah sie zu Flynn, doch der hatte ihren unfreiwillig beleidigenden Kommentar entweder gar nicht bemerkt oder schon wieder vergessen. In letzter Zeit vergaß er vieles. Seinen Text zum Beispiel. Seit drei Wochen las er ihn nur noch von den Pappschildern ab, die ihm Produktionsassistenten hinter den Kameras hochhielten – was seiner ohnehin nicht gerade großen schauspielerischen Begabung wenig zuträglich war. Was willst du auch erwarten, der Mann ist knapp sechzig.
Libby! Obwohl sie nahezu anklagend klang, freute sich Samantha über die Rückkehr ihrer Schwester. Sechzig vielleicht, erwiderte Samantha in Gedanken, aber nach wie vor eine Granate im Bett! Außerdem sieht man ihm die Jahre kaum an. Hm. Libby klang indigniert. Und dann fragst du mich allen Ernstes, warum du hier bist? Manchmal – insbesondere dann, wenn Libbys spitze Kommentare auf sie niederprasselten – kam sich Samantha tatsächlich wie eines von Flynns Groupies vor. Sie, eine achtundzwanzigjährige Halbwegs-Schönheit, die sich mit einem Mann einließ, der mehr als doppelt so viele Lenze auf dem Buckel hatte – war das etwa gesund? Brauchte sie das? Fürs Ego bestimmt nicht. Angesichts von Flynns Alter fand sie es auch absurd, die Anziehung, die sie ihm gegenüber verspürte, als Vaterkomplex zu erklären. Eher schon als Großvaterkomplex, aber das klang in ihren Ohren noch ekliger. »Woran denkst du?«, fragte Flynn und strich ihr eine Strähne ihres wild im Fahrtwind flatternden Haares aus der Stirn. Hinter ihm kam der Hafen der Insel in Sicht, eine erschreckend unspektakuläre Kombination aus zwei halb verfallenen einstöckigen Holzhäusern und einem langen Steg, der ins Meer hinaus ragte. Weit und breit kein anderes Schiff. Der Rest war Wald. Samantha schmunzelte über sich selbst. »Daran, dass ich nicht ganz schlau aus dir werde«, antwortete sie dann. Das war die halbe Wahrheit, aber es würde genügen. »Mhm«, machte er wissend. »Geht Count Blessed genauso.« Bei der Erwähnung des sinistren Vampirs, der der Hauptbösewicht von Night Fighter war, musste sie lachen – eine Reaktion, die Flynn offensichtlich so sehr gefiel, dass er gleich nachsetzte. »Aber verzagen Sie nicht, Penforth!«, posaunte er los, mit einem Mal ganz in seiner Rolle, und unterstrich jedes Wort mit pathetischer Gestik und Mimik. »Genau das ist nämlich die Schwachstelle, die diesem untoten Scheusal eines Tages zum Verhängnis werden wird.« »Ach, echt?« Sie hob verspielt die Brauen. »Und ich dachte, das übernähme früher oder später sein armseliges Make-up! Nichts für ungut, Herr Dämonenjäger, aber Ihre Nemesis ist eine Lachnummer.«
Flynn rümpfte in gespielter Entrüstung die Nase. »Gut für uns, dass das acht Millionen Amerikaner Woche für Woche anders sehen«, sagte er leise. »Und jetzt lass uns nicht länger von der Arbeit sprechen, okay? Dafür ist später immer noch Zeit.« Seine Arme umstreichelten ihre Hüften, seine Hände schmiegten sich an ihren bemantelten Rücken, zogen sie näher zu sich heran. Schon spitzte er den Mund zu einem Kuss, beugte sich zu ihr hinunter … »Sprechen Sie von der Arbeit?« Diese quiekende Stimme konnte nur einem gehören: ihrem neuen Regisseur. Samantha seufzte leise, Flynn rollte mit den Augen. Der hatte ihnen gerade noch gefehlt. Quatermill war der Inbegriff Mensch gewordener Verständnislosigkeit. Subtil war ein Wort, das in seinem Wortschatz nicht vorkam. So einer merkte nicht, wenn er störte – und genau deshalb störte er eigentlich immer. Die Tatsache, dass niemand im Team Lust auf seine Extrawurst namens Außendreharbeiten hatte, unterstrich den negativen Eindruck noch, den der Mann auf die zumeist langjährigen Mitarbeiter von Night Fighter machte, seit er vor nicht einmal einer Woche zum ersten Mal ihre Produktionshallen in Vancouver betreten hatte. »Denn falls ja«, fuhr Quatermill gerade fort, »hätte ich hier ein paar Drehbuchänderungen für sie beide.« Als Samantha sich umdrehte, sah sie, wie er auf sie zugestapft kam. Selbst sein Körperbau erinnerte an ein Schwein. Klein, feist und wohlgenährt war der Mittvierziger; sein Gesicht unter den straßenköterblonden kurzen Locken bestand aus rosa Wangen, kleinen roten Äuglein und einem Kinn, das so viele Lagen besaß, dass es locker für vier Personen gereicht hätte. Wie immer, seit Samantha ihn kannte, trug der Mann das bunte, kurzärmelige Hawaiihemd, das er offenbar für sein Markenzeichen hielt. Vermutlich trug er es bei jedem Wetter – einem verqueren, selbstauferlegten Image-Anspruch folgend. Künstler …. dachte sie. Bewahre uns vor Künstlern … »Änderungen?« Flynn klang besorgt, versuchte aber merklich, diese Sorge mit gespielter Entrüstung zu übertünchen. »Ich weiß nicht, David … Immerhin wollten Sie gleich nach unserer Ankunft die ers-
te Szene drehen. So kurzfristig werden wir uns kaum auf neuen Text vorbereiten können.« Na klar. Du vor allem nicht. Libby, sei still, dachte Samantha zurück und fragte sich doch im gleichen Augenblick, warum sie Flynn überhaupt in Schutz nahm. Trotzdem fuhr sie fort, genau dies zu tun. Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm die Dialoge nicht mehr so leicht in den Kopf gehen wie früher. Er ist auch nicht mehr der … Ja? Libby klang mit einem Mal lauernd. Als wisse sie genau, was Samantha hatte sagen wollen. Nicht mehr der was? Der Jüngste, okay?, gab Samantha zu. Der Jüngste. Bist du jetzt zufrieden? Kleine, das fragst du mich? »Ach, nur keine Sorge, Hynn.« Quatermill grinste wie ein Honigkuchenpferd und schlug seinem Hauptdarsteller jovial auf die Schulter. »Sie machen das schon. Ihr Kollege Mister Dilmore ist auch schon eifrig am Auswendiglernen. Sehen Sie es positiv: Jede Änderung ist eine Verbesserung des Ausgangsmaterials, richtig? Ich garantiere Ihnen: Diese Episode wird in die TV-Geschichte eingehen! Nicht umsonst hat Ihr Produzent mich angeheuert.« Er gluckste zufrieden, was seine diversen Kinns mit wohligen Beben quittierten. »Wir legen in dreißig Minuten an. Angesichts der noch trüben Wetterlage möchte ich möglichst schnell mit den Außenaufnahmen beginnen. Von daher … Sagen wir: Drehbeginn in einer Stunde? Gleich auf dem alten Dorfplatz?« Flynn wirkte nun ganz und gar unglücklich, doch Quatermill lächelte nur. »Carpe diem, Flynn«, sagte der Regisseur aufmunternd. »Nutzen wir den Tag.« Damit drückte er ihnen jeweils fünf aneinander getackerte ScriptSeiten in die Hand – die gelben, wie üblich bei derart kurzfristigen Überarbeitungen –, grüßte noch einmal freundlich und verschwand in den Untiefen des Oberdecks, aus denen er gekommen war. Irgendwo da hinten musste der Rest des Drehteams stehen, wusste Samantha. Sollte er denen doch auf die Nerven gehen. Diese ganze Tour hatte ohnehin schon etwas von einer Klassen-
fahrt, fand sie. Sie war genauso juvenil, bescheuert, sinnlos … In den vier Jahren, die sie nun schon an Night Fighter arbeiteten, einer eigentlich US-amerikanischen, aus Kostengründen aber in Kanada produzierten Billigserie, hatte es noch nie Außenaufnahmen gegeben, die sich nicht in dem kleinen Wäldchen hinter dem Studio hatten realisieren lassen. Aber nein, pünktlich zur hundertsten Episode war das Übliche nicht mehr gut genug – und die Produktionsfirma »spendierte« dem Team einen abgehalfterten, ehemaligen Kult-Regisseur sowie einen Kurztrip nach Crestfallen Point, der von Gott und allen guten Geistern verlassenen Provinz vor den Toren der Stadt. Wobei »spendierte« in diesem Zusammenhang so viel bedeutete wie »zwang es zu«. Zumindest soweit es Samantha betraf. »Lampenfieber?« Flynn sah sie verwundert an. »Mhm«, verneinte sie. »Nur sehe ich immer noch nicht ein, welchen Nutzen diese ganze Aktion haben soll. Drei Tage im Nirgendwo, um ein bescheuertes Script zu verfilmen, das auch genauso gut im Studio hätte realisiert werden können?« »Aber nicht von ihm«, widersprach Flynn mit spöttischem Lächeln. »Quatermill will nicht Standardware abliefern, sondern eine mediale Revolution anzetteln. Genau dafür hat das Studio ihn doch für unsere Jubiläumsshow gebucht.« Samantha seufzte abermals. »Und just mit diesem Möchtegern-Tarantino fangen die Probleme an. Wenn der überhaupt jemals eine Folge unserer Scheißserie gesehen hätte, wüsste er, dass Night Fighter kein Projekt ist, mit dem man das Medium revolutioniert. Sondern eher ein Ort für letzte Atemzüge.« Kurze Zeit später legte die Fähre an. Das Drehteam ging von Bord, begann mit seiner Arbeit. Und Samantha vergaß die Bemerkung, die sie eben gemacht hatte. Da wusste sie ja noch nicht, dass sie bald eines Besseren belehrt werden würde. In beiden Punkten.
Bücherdörfer waren ein relativ junges Phänomen. Nichtsdestotrotz gingen sie Kevin Eubanks schon gehörig auf die Nerven. Vor seinem Aufbruch nach Crestfallen Point hatte sich der junge Tontechniker ein wenig eingelesen und verstand nach wie vor nicht, welchen Nut-
zen sie haben sollten. Gut, es ging um Fremdenverkehr, um Alleinstellungsmerkmale im Kampf um die Aufmerksamkeit der Unmengen von Touristen, die eine Region in den Sommermonaten überfielen, aber das … Die Regale im Inneren des Häuschens oberhalb des verlassenen Hafens drohten, unter der Last der ihnen auferlegten Bücherberge zu zerbrechen. Stapel auf Stapel türmten sich abgewetzte Folianten neben zerfledderten Taschenbüchern, Uralt-Magazinen und Bergen von National Geographics. Eine Kiste voller Comichefte lag neben Shakespeares gesammelten Werken in der Superbillig-Edition, ein Schwedisch-Wörterbuch neben einem Schwung Ellery-Queen-Krimis. Und über allem lag unendlich viel Staub. »Als hätte hier vor zehn Jahren ein Flohmarkt stattgefunden«, murmelte Kevin und strich sich über den dunklen Rollkragenpullover, als könne er den Schmutz so von sich abwehren, »und niemand hat es für nötig befunden, den unverkauften Schrott danach wieder mitzunehmen.« Der Geruch in der ehemaligen Buchhandlung war unerträglich. Feucht, modrig. So roch Verwesung. Es war … »Perfekt!« David R. Quatermill jubilierte. »Besser kann's gar nicht sein.« Der Fleischberg von Regisseur stand inmitten des leer stehenden Ladenlokals – einem von vielen in der kleinen Inselortschaft – und wirkte, als sei er im Himmel. Seine beiden Mitarbeiter waren weniger begeistert. Kevin hielt sein Stabmikrofon umklammert, als wäre es eine Waffe, mit der er sich gleich gegen eines der Bücher verteidigen musste. Und Kameramann Keith Charles, den alle Charlie nannten, hatte einen Ausdruck im Gesicht, der zwischen Fassungslosigkeit und Ekel gefangen zu sein schien. Quatermill schien es ihnen nicht zu verdenken. Fast sah er aus, als wisse er mehr als sie. »Meine Herren, wo bleibt ihr Unternehmergeist?«, fragte er grinsend. »Dieser ganze Ort ist einfach wie für uns gemacht. Ich bitte Sie: ein Dorf im Nichts. Voller alter Schätze und Geheimnisse. Von allen guten Geistern verlassen – was daran ist nicht ideal für eine Horrorserie?« »Alles?« Kevin wusste nicht, wie ehrlich er sein durfte. »Ich meine,
was an diesem Stuss ist so wichtig, dass wir extra herkommen mussten? Hier ist doch kein Mensch. Alle Bewohner dieses Kaffs haben vor Jahren aufgegeben und sind in die Stadt gezogen, heißt es.« »E-ben, mein junger Freund.« Quatermill schlug ihm auf die Schulter. »Crestfallen Point ist der ideale Drehort für das, was mir vorschwebt. Lassen Sie die Atmosphäre doch einmal auf sich wirken. Gescheiterte Träume, einstige Größe, die Spuren derer, die vor uns hier waren und gingen …« Die Atmosphäre wirken lassen. Pff! Nichts anderes versuchte Kevin seit Minuten. Und bisher … Nun ja. Wo alles Schrott war, blieb in seinen Augen wenig Atmosphäre übrig. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte dieses Kaff in den Sechzigern einen gewissen touristischen Reiz besessen – die grüne Lunge Vancouvers war es genannt worden. Scharenweise waren die Städter in den Sommermonaten hergepilgert, um ein wenig Natur zu genießen. Doch im Laufe der Zeit waren sie zunehmend weggeblieben. Charlie räusperte sich. »Verstehe ich das richtig, Mister Quatermill? Dieses Dorf war früher ein … Bücherort? Was ist das überhaupt? So was wie eine Stadt voller Buchhandlungen?« Schon beim Gang über den zentralen Platz, um den die wenigen mit Holz verkleideten Steinbauten gruppiert waren, die den Ortskern von Crestfallen Point ausmachten, hatte Kevin gesehen, dass nahezu jedes Gebäude in den letzten Tagen des Dorfes auf die eine oder andere Weise als Bücherladen gedient hatte. Als Antiquariat. Aber die Bauten wirkten, als seien sie nachträglich dazu umfunktioniert worden. So hatte es einst offenbar eine Metzgerei gegeben, in deren Schaufenster sich nun aber vergilbte Bildbände der gnadenlosen Sonne offerierten. Eine Bäckerei, deren Werbeschild notdürftig überpinselt und danach per Hand mit Colbert's Fine Olde Books beschriftet worden war. Selbst Garagen und Schaukästen dienten als behelfsmäßige Ladenfläche für Bücher, Bücher, Bücher. Und sie alle sahen aus, als habe sie seit langem niemand mehr angerührt, außer dem Wind. »Bücherdorf«, korrigierte Quatermill. »Ich habe mich da mal schlaugemacht. Bücherdörfer sind eine recht moderne Erscheinung, als Modell vielleicht zwanzig Jahre alt, tauchen aber schon auf der
ganzen Welt auf. Sozial schwache Gegenden, die gerne mehr Touristen anlocken würden, diesen aber wenig zu bieten haben, entschließen sich, von nun an einen auf literarisch zu machen. Jeder, der mitspielen möchte, eröffnet kurzerhand einen Second-Hand-Buchladen, und wenn genügend zusammengekommen sind, um daraus eine Zeitungsmeldung mit Originalitätscharakter zu zimmern, meldet sich die jeweilige Gemeinde bei der Lokalpresse. Ein, zwei Berichte erscheinen, vielleicht sogar im Fernsehen, und schwuppsdiwupps ist der Ort wieder im Gespräch. Endlich kommen wieder Menschen. Betagtere als früher, zugegeben, aber immerhin. Sie kommen, um in den Regalen nach Schätzen zu stöbern, eine Tasse Kaffee zu trinken, einen Spaziergang zu machen. Das perfekte Ausflugsziel für einen launigen Sonntagnachmittag.« »Ich habe gehört, sogar in Japan gibt es schon solche Orte.« Die Stimme gehörte Samantha Beckett, der Hauptdarstellerin von Night Fighter. Kevin drehte sich um und sah die junge Frau in der Tür stehen, die hinaus auf den Dorfplatz führte. Das Licht der Morgensonne, die sich langsam durch den Nebel kämpfte, fiel in den Raum und verlieh Samantha eine Art Aura, ließ sie nahezu strahlen. Es passte zu ihr, fand Kevin. So schöne Frauen hatten jeden Glanz verdient. Hinter ihr im Freien schienen sich Morris und die Drehbuchautorin Ellen Whesson gerade um eine Dialogzeile zu streiten. »Ah, Miss Beckett.« Quatermill nickte begeistert. »Wie ich sehe, sind auch Sie nicht unvorbereitet gekommen. Gut, gut. Und Sie haben das korrekt beobachtet – Bücherdörfer finden sich tatsächlich überall.« »Aber funktionieren sie überhaupt?«, fragte Charlie skeptisch. »Bringen sie wirklich den touristischen Aufschwung, den sich ihre Initiatoren erhoffen? Im Falle von Crestfallen Point scheint die Mühe ja nichts genutzt zu haben …« Er hob die freie Hand und ließ sie durch den Raum schweifen, als wolle er gleichzeitig auf alles zeigen, das sich um sie herum stapelte. In der anderen Hand hielt er seine Kamera und filmte das Chaos noch. Quatermill seufzte. »Da haben Sie vollkommen Recht, Mister Charles. Crestfallen Point hat sich auch damit nicht mehr vor der Bedeutungslosigkeit retten können. Aber es hat es wenigstens ver-
sucht.« »Und seitdem auch die letzten loyalen Lokalpatrioten den Kampf aufgegeben haben …«, begann Samantha. Der Regisseur beendete ihren Satz mit sichtlicher Begeisterung. »… schläft dieses Dorf den Dornröschenschlaf. Quasi unangetastet, seit jenen Tagen. Als wäre die Zeit hier stehen geblieben.« Wieder dieses begeisterte Grinsen. »Wie ich sagte: der perfekte Schauplatz für unser kleines cineastisches Experiment, nicht wahr?« Kevin sah, wie Charlie mit den Augen rollte, und konnte es seinem Kollegen nicht verdenken. Was Quatermill vorschwebte, war so bescheuert, wie es unnötig war. Niemand, aber wirklich niemand erwartete von einem 08/15-Genreschrott wie Night Fighter, der sich eher durch Pappkulissen und unfreiwillige Komik als durch Innovation auszeichnete, ein zweites Blair Witch Project! Aber genau so etwas schien sich der Regisseur vorgenommen zu haben. Mit der von ihm inszenierten hundertsten Serienfolge wollte Quatermill televisuelle Maßstäbe setzen – genau wie sie der Horrorfilm über die Hexe von Blair für das Kino gesetzt hatte. Einen modernen Klassiker schaffen, gedreht mit nahezu null Budget und einem Minimalteam. Das zumindest passte genau, fand Kevin und strich sich unbehaglich über den schwarzen Rollkragenpullover. Auch Night Fighter krebste finanziell am Existenzminimum. Und das Team, das Quatermill mit auf seinen Außendreh genommen hatte, umfasste gerade mal sieben Personen: Kevin selbst, Charlie, Whesson, dann waren da die drei Stammschauspieler Samantha, Flynn und Roger Dilmore sowie Quatermill. Fertig. Im Studio arbeiteten sie mit einem Vielfachen dieser Anzahl, doch für sein persönliches Blair-Witch-Projekt wollte Quatermill offensichtlich rudimentärste Bedingungen und hatte auf weitere Unterstützung verzichtet. Selbst das Make-up mussten die Schauspieler selbst machen. Vermutlich fand der schrullige Regisseur, es fühle sich sonst nicht »echt« genug an. Kevin kannte diese Künstlertypen. Denen ging es doch immer nur darum, »echt« zu wirken. Ob das den Fans der Serie schmeckte, wagte er allerdings zu bezweifeln. Die wollten keine Kunst. Herrje, selbst die Handlung musste ihnen schnurz sein, zumindest legte die durchgehend unter-
irdische Qualität der Drehbücher das seit Jahren nahe. Alles, was die Zuschauer von Night Fighter erwarteten, war die Gelegenheit, einmal pro Woche Flynn auf ihren Fernsehmonitoren anschmachten zu dürfen. Und das reichte für eine Einschaltquote, die die Show nun schon in die vierte Staffel getragen hatte und ein Produktionsteam von über dreißig Personen in Lohn und Brot hielt. Nein, fand Kevin, es gab keinen Grund, das Erfolgsrezept der Serie zu verändern. Im Gegenteil. Aber ihn fragte ja niemand. »Also«, unterbrach Quatermill seine Gedanken und klatschte in die Hände. »Wollen wir? Szene 1, erster Take. Count Blessed kommt von rechts ins Bild, und dann …«
Kapitel 3 – Rauch und Spiegel Es ist mir egal, hören Sie? Schließlich kenne ich Sie nicht. Warum sollten Sie mir also etwas bedeuten? Warum sollte mich Ihr Leben auch nur im Entferntesten tangieren? Nein, mein armer Freund: Die Bewahrung Ihres Seelenheils ist nicht meine Aufgabe. Heulen Sie sich gefälligst woanders aus. Es wird Ihnen ohnehin nichts nützen. Nun, da Sie Ihre Lektüre meiner Aufzeichnungen begonnen haben, gibt es für Sie kein Zurück mehr. Welche Ironie! Ich kenne Sie nicht, doch zumindest in diesem letzten Punkt sind wir uns sehr, sehr ähnlich: Es gibt kein Zurück für uns. Wir sind verloren, einer wie der andere. Meine Hand mag zittern, während sie den Füller über diese Seiten gleiten lässt, aber lassen Sie sich nur nicht vom Schriftbild täuschen. Ich bin mir meiner Handlungen bewusst. Ich begehe sie willentlich. Es ist mir egal. Ebenso egal wie die Folgen. Was kümmert es mich, ob sie mir glauben schenken? Ob sie mich fortan als Märtyrer feiern oder mich ebenfalls nach Bedlam verfrachten, im weißen Riemenkittel mit auf dem Rücken verknoteten Ärmeln – ganz so, wie sie es dem bedauernswerten Winters angetan haben? Ich sage: Sollen sie mich doch abholen! Wenn sie diesmal an die Türe hämmern – die albernen Schlagstöcke in den geballten Fäusten und das Funkeln gottesfürchtiger Christen in den weit aufgerissenen Augen, die doch nichts sehen – werde ich ihnen sogar bereitwillig öffnen und meinen Leib willentlich auf dem Altar ihrer beschränkten Vorstellungen von Schuld und Sühne opfern. Dann gestehe ich ihnen alles. Warum länger schweigen? Was kümmert es mich, was aus meiner Haut und meinen Gebeinen wird? Es gibt schlimmere Abnehmer als die Menschen … Sollen sie meine Überreste also ruhig mitnehmen, sage ich, und ihre aus Angst geborene Wut an ihnen abreagieren, solange ein derartiges Unsinnsverhalten ihnen nur dabei hilft, die lächerlichen Illusionen weiterhin aufrecht zu erhalten, die sie in ihren Erbsenhirnen als »Recht und Ordnung« definiert haben. Ihr Bild einer heilen Welt und einer auf erfassbaren
physikalischen Gesetzen fußenden Existenz. Ist ohnehin nur Augenwischerei. Rauch und Spiegel, allesamt. Nichts weiter. Früher glaubte ich noch, ich müsste sie von ihrem Irrglauben befreien. Ich dachte, es sei meine Aufgabe, ihnen die Schleier von den Gesichtern zu zerren und sie zu zwingen, die Wahrheit zu akzeptieren. Doch mittlerweile weiß ich, dass das gar nicht möglich ist – nicht mir, und vermutlich sogar niemand anderem dies- und jenseits der Schwelle. Denn die menschliche Ignoranz ist noch resistenter, als es die Gier und der Neid je sein könnten. Sie wird das Letzte sein, was dereinst von uns übrig bleibt, mein unbekannter Freund hören Sie auf meine Worte! Was ist? Erschreckt Sie mein Fatalismus etwa? Verprelle ich Sie mit meinen Ansichten? Finden Sie gar, ich ginge zu harsch mit meiner eigenen Spezies ins Gericht, zu radikal? Mitnichten. Es gibt hier kein Richtig und kein Falsch. Das ist die Wahrheit, der sich die meisten dieser Ignoranten seit Menschengedenken erfolgreich zu entziehen trachten. Richtig und Falsch sind künstliche Konzepte, geprägt von der jeweils vorherrschenden öffentlichen Meinung und die wiederum basiert auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie ist ein Konsens des Blökens, gebildet von eingeschüchterten Schafen. Nun, ich blöke nicht mehr. Dieses Schaf hier ist das schwarze in der Herde, klar? Das schwarze Schaf mit dem schwarzen Peter. Und der gehört ab sofort Ihnen, mein neuer Freund. Pech für Sie.
Ellen Whesson stutzte, als sie die Seiten berührte, um zu blättern. Fast war ihr, als ginge eine gewisse Energie von ihnen aus, einer elektrischen Ladung gleich, die sich von dem per Hand beschriebenen Papier auf ihre Finger übertrug. Das Gefühl war unangenehm. Sie hatte sich ins Innere einer der staubigen Buchhandlungen zurückgezogen, um ein wenig zu stöbern, während dieser aufgeblasene Quatermill draußen seine ersten Szenen drehte. Nun saß sie auf einem abgewetzten Stuhl und las in einem uralt wirkenden Folianten, den sie absolut willkürlich aus der Menge an Titeln gewählt hatte, die sich hier überall stapelten. Es schien sich um eine Art Tagebuch zu handeln, und der Verfasser war offenbar … nun ja, wahn-
sinnig. Ellen wusste, dass Bücherdörfer wie Crestfallen Point von Sachspenden aus aller Welt lebten. Offensichtlich hatte irgendwann einmal auch dieses Journal seinen Weg in die kleine Ortschaft gefunden, aber nie einen neuen Besitzer. Zu Recht, wie Ellen fand. Leicht angewidert blätterte sie weiter. Die anderen werden es nicht glauben. Wie sollten sie auch? Dabei sind sie die wahren Träumenden! So viel zumindest meine ich begriffen zu haben. Sie sind es, nicht die Bruderschaft. Nun, sie werden erwachen müssen, wenn wir nicht schnell handeln, Sie und ich. Erwachen … und sterben, allesamt. Denn ich kann nicht mehr. Wenn ich die Zeichen richtig deute, ist die Zeit für Duckmäuser ohnehin vorbei. Die Schatten in meiner Umgebung sind wieder dunkler geworden, die Winkel des kleinen Dachzimmers fremdartiger, nahezu uneuklidisch. Ein seltsames Rauschen liegt hier in der Luft, und in den frühen Morgenstunden kann ich den Herzschlag der schlafenden Stadt wieder hören. Ihn und das Pochen der Kreatur. Des Tiefen. Er klopft gegen die Grenzen, hämmert sich ein Loch in die Barriere, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass er sich nicht mehr allzu lange wird anstrengen müssen. Oh, natürlich begegne ich diesen Omen, wie ich es immer tat: mit aller mir zur Verfügung stehenden Macht und mit der kompromisslosen Konsequenz eines Mannes, der seine Moralvorstellungen gemeinsam mit seinen Skrupeln beerdigt hat. Dennoch befürchte ich, dass meine Kräfte diesmal nicht ausreichen werden. Denn wenngleich ich weiß, dass ich nicht zu Schlampigkeiten neige, ertappe ich mich doch vermehrt bei Flüchtigkeitsfehlern. Besser gesagt: Ich ertappe die Fehler. Fehler, die da sind obwohl ich sie nie begangen habe! Letzte Nacht war mir zum Beispiel, als sei einer der in der Sommerhitze stinkenden Taubenkadaver, die ich als Notfallreserve stets auf meinem Fenstersims angeordnet halte, (Sechs, es müssen immer sechs sein, hören Sie? Zahlen sind wichtig! Sechs Tauben, sechs Köpfe, sechs Worte am Beginn jeder meiner Lektionen an Sie!) verschwunden, sodass ich spontan noch einmal aus der Kammer musste, um Ersatz zu besorgen. Haben Sie je versucht, im nachtschlafenden London eine Taube zu finden, der Sie den Hals umdrehen konnten, ohne dabei einem Bobby oder einem der verkommenen Halsabschneider über den Weg zu laufen, die dieses Pflaster prägen, sobald es
dunkel wird? Schwierig sage ich Ihnen. Erst recht, wenn Sie unter Zeitdruck stehen. Wenn sie schon hören können, wie sich das Ding von jenseits der Schwelle nähert. Denn eines ist gewiss: Was immer diesmal zu uns kommt, ist stark! So stark, dass es schon jetzt weiß, wie es meine Siegel umgeht, meine Hand manipuliert, meine Tauben entfernt. Es ist noch nicht richtig da, und doch schon in meinem Kopf. Wie, bitte sehr, soll ich mich gegen so etwas zur Wehr setzen? Ist das vielleicht fair, frage ich Sie? Nein, es wird Zeit für mich, reinen Tisch zu machen. Mein Wissen weiterzugeben – für den Fall, dass ich nicht länger derjenige sein kann, der die Wacht hält. Der die Zahlen kennt. Wenn ich auf meinen Instinkt höre, ist es bald so weit. Ich habe schon viel zu lange geschwiegen. Ist es nicht so, dass man im Alter weise wird? Nun, alles, was ich noch tun kann, ist, meine Geschichte zu erzählen. Mein Joch an den nächsten Esel weiterzureichen – an Sie! Und darum zu beten, dass meine Worte auf fruchtbaren Boden fallen. Dass sie Gehör finden bei Menschen, die meinen Posten einnehmen werden, bis auch ihre Kräfte versiegen. Menschen, die, wie ich, mit der Zeit lernen werden, sich der Sache verpflichtet zu fühlen. Dies ist keine angenehme Pflicht, Mann! (Wieder sechs Worte. Nicht viel, aber es muss genügen, Ihnen die Ernsthaftigkeit meines Strebens ins Hirn zu treiben. Mir fehlt die Zeit, ordentlicher vorzugehen.) Keine Aufgabe, mit der Sie Ihre selige Mutter stolz machen würden. Keine, die Ihre Seele vor den Feuern der Hölle erretten wird. Ganz im Gegenteil! Aber es ist eine, die Sie erledigen müssen – genau wie ich sie erledigen musste. Denn wenn nicht, gnade uns Gott. (Abermals sechs, sehen Sie? Guter Gott, sehen Sie, wie WICHTIG ES MIR IST?) Wenn nicht, weiß ich nicht, was uns erwartet. Nein, das war gelogen. Ich weiß es genau. Und ich fürchte es! Verstehen Sie mich also nicht falsch: Was Sie hier lesen, ist nicht der Versuch einer Rechtfertigung. Es gibt keine Rechtfertigung für die Dinge, die ich getan, für die Schrecken, die ich verbreitet, und die Gräuel, die ich mit eigenen Händen verursacht habe. Was Sie hier lesen, ist ein Versuch wider das Vergessen. Ein letzter Strohhalm – doch die Gestalt, die sich gerade krampfhaft an ihn klammert, ist längst verloren. Und, bei Gott, sie weiß es auch …
Langsam wurde die Sache unheimlich, fand Ellen. Als sie vorblätterte, stieß sie auf Schilderungen abartiger Morde! Der namenlose Verfasser beschrieb – in farbenfrohen Worten und allen Details! – wie er mehrere Personen auf grausamste Weise umgebracht hatte, um damit irgendeiner Art Gottheit zu dienen. Nein, korrigierte sie sich, nicht zu dienen. Um sie abzuwehren. Wie bescheuert! Wie überaus abstoßend! Was für ein großartiger Fund … Das, entschied Ellen, während ihr Blick über die eng beschriebenen Seiten flog, war der Stoff, aus dem die Blockbuster geschneidert wurden, die großbudgetierten Kinofilme. Wenn sie es schaffte, dieses bizarre Geständnis eines Mannes aus dem London des späten neunzehnten Jahrhunderts zu einem Filmdrehbuch zu adaptieren, könnte es ihr Weg nach Hollywood sein. Endlich raus aus der stupiden Fließbandmaschinerie einer TVSerie. London, kurz vor 1900. Guter Gott, schon der historische Rahmen erinnerte an Jack the Ripper und Konsorten. Das Publikum würde den Stoff lieben! Dieser obskure Fund war ein Geschenk! Ellen las weiter.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Der Volksmund lügt, wenn er dies behauptet. Lassen Sie sich das von niemandem weismachen! Sie trennt nur die Männer von den Feiglingen, sonst nichts. Und wenngleich ich in den letzten Jahren gezwungen war, wie ein Monstrum zu leben, so gebe ich die Hoffnung nicht auf, wenigstens meinen Abgang von dieser Eierschale namens Existenz wie ein Mann zu ertragen. So viel Pathos. Verzeihen Sie mir. Ich scheine die unangenehme Neigung entwickelt zu haben, mich selbst ein wenig zu wichtig zu nehmen. Wie sagte Narziss noch gleich zu seinem Nachbarn? »Natürlich dreht sich alles um mich! Immerhin passierten alle wirklich wichtigen Dinge, die mir je widerfuhren, während ich zugegen war!« Heh. Heh, heh, heh.
Nun, sollten Sie dies bis zum Ende lesen – sollten Sie demnach derjenige sein, für den ich dies schreibe –, werden Sie mir meinen Narzissmus bald nachsehen, davon bin ich überzeugt. Diese egozentrische Eigenart kommt mit dem Posten, sozusagen. So beginne ich dieses … Ja, wie soll ich es nennen? »Bericht« klingt so sachlich, aber was ich zu berichten habe, dürfte die Grenzen dessen, was unsere ach so aufgeklärte Gesellschaft als Sachlichkeit bezeichnet, sprengen. »Warnung«? Das entspräche der Realität vermutlich eher, käme in meinen Ohren aber einer zum Himmel schreienden Untertreibung gleich. Also nenne ich es »Geständnis« – und hoffe, dass meine Darlegungen zumindest einen Teil der Schuld auszugleichen helfen, die ich auf meine Seele geladen habe, seit dieser Wahnsinn seinen Lauf nahm. Nochmals: Ich beginne dieses Geständnis aus freien Stücken und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, also in einer Lage, die in meinem bedauernswerten Fall eine absolute Seltenheit geworden ist. Denn die Mauern sind dünner als zuvor und die Zwänge – »Ticks« hat Brittle sie immer genannt – dementsprechend heftiger geworden. Guter alter Brittle. Ebenfalls einer, der zu früh gehen musste. Ich weiß noch immer, wie sein Gehirn aussah, damals im Licht des Mondes. Wie es schmeckte. Aber ich schweife ab. Im Augenblick scheint ES zu schlafen. Diese Chance muss ich nutzen, denn ansonsten kann ich meine Schilderungen auch gleich lassen. Wenn ES erwacht, werde ich wieder mehr als genug zu tun haben. Also weiter. Immer weiter. Ich kann gar nicht in Worte kleiden, wie gut es tut, wieder einmal einen Moment solch unbeschwerter Klarheit genießen zu dürfen. Gedanken zufassen, die meine eigenen sind Derartige Momente müssen genügen, um Ihnen mitzuteilen, was Sie von nun an zu tun haben. Halten Sie mich ruhig für herzlos, doch es bekümmert mich nicht im Geringsten, Ihnen diese Bürde aufzulasten. Ich kann mich nur wiederholen: Es ist mir egal. Oder hat man mich etwa je nach meinem Willen gefragt? Fragte man Winters, Brittle oder eines meiner anderen Opfer?
Ellen schrie vor Schreck, als plötzlich Roger Dilmore in den Raum platzte, so sehr hatte sie die Lektüre in ihren Bann gezogen. Der gut siebzigjährige Darsteller war Ellens ganz persönliches Sorgenkind.
So jemand hatte bei einer Gurke wie Night Fighter nichts verloren, ihrer Ansicht nach. Dilmore war viel zu zart besaitet, um dem Stress und der kreativen Mittelmäßigkeit, die eine wöchentliche TV-Serie prägten, lange standhalten zu können. »Hier sind Sie. Mensch, ich suche Sie schon überall …«, begann er, hielt aber inne, sowie er ihre Reaktion sah. »Oh, habe ich sie erschreckt?« Sein Make-up, schon im Normalfall mehr als albern, wirkte an diesem Tag, als habe ein Fünfjähriger es aufgetragen. Die spitzen Ohren aus Plastik standen in absurd anmutenden Winkeln vom Kopf ab, die Kombination aus künstlicher Halbglatze und Perücke war so schlecht aufgesetzt und abgepudert worden, dass selbst ein Blinder die Täuschung erkannt hätte, und sein Gesicht war derart weiß bemalt, dass die kirschrot gezogenen Lippen im Gegensatz dazu auffielen wie leuchtende Neon-Werbeschilder in einer mondlosen Nacht. So sah kein Vampirfürst aus, fand Ellen, sondern ein betrunkener Insasse einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung auf der Halloween-Party seines Bettentraktes. »Nicht weiter wild«, log Ellen und bemühte sich, ihren Herzschlag wieder zu normalisieren. Dieses bizarre Buch hatte ihre Nerven doch mehr angespannt, als sie vermutet hatte. »Was kann ich für Sie tun, Mister Dilmore?« Die Frage war eigentlich völlig unnötig. Dilmore kam immer nur in einem Fall zu ihr: wenn er Probleme mit seinem Text hatte. Das, was ihm an Make-up-Talent fehlte, glich Roger nämlich durch übertriebenes Künstlergehabe aus. Er zählte zu den Schauspielern, die ihren Beruf noch als künstlerische Leistung verstanden, und nicht als Handwerk. Mehr als vier Jahrzehnte auf Kanadas Theaterbühnen, während derer er alles zwischen Shakespeare und Brecht gespielt hatte und dafür von Kritik und Publikum umjubelt worden war, hatten ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Dumm nur, dass er nun, im unwürdigen Nachklapp seiner einstigen Karriere, immer noch mit dem gleichen Anspruch an die Arbeit ging. Dass er Shakespeare erwartete, wo bitterste Trivialität regierte. Auf den Fanwebseiten, die es im Internet zu Night Fighter gab, hatte Ellen gelesen, dass amerikanische Collegestudenten sich ein Trinkspiel zur Serie ausge-
dacht hatten: ein Glas auf Ex, wann immer Roger Dilmore seinen bescheuerten Text so aufsagte, als handele es sich dabei um einen verschollenen Hamlet-Monolog. Vermutlich, fand Ellen, lagen die Studenten schon vor der zweiten Werbeunterbrechung sturzbetrunken unter dem Tisch. Aber das kann ich dir nie sagen, Roger, dachte sie. Es würde dein Herz brechen, oder? Vorausgesetzt, du kannst es überhaupt nachvollziehen … Sie mochte Dilmore. Der Mann war harmlos. Weltfremd, aber harmlos. »Es geht um diesen Dialog hier«, sagte er nicht überraschend und zog das Drehbuch der aktuellen Episode aus der Tasche seines dunklen, nach Mottenkugeln und billigem Polyester stinkenden Kostüms. »Count Blessed konfrontiert Stryker gerade mit der Tatsache, dass er das gesamte Trinkwasser der Stadt mit einem Vampirkeim infiziert hat, wodurch sich alle Einwohner in Kreaturen der Nacht verwandeln würden. Und dann sagt er …« Ellen stand auf und ging mit ihm zurück nach draußen. Es wurde Zeit, zu den Lebenden zurückzukehren, zur Mittelmäßigkeit namens Night Fighter. Das Buch, das sie gefunden hatte und das ihr Ticket nach Hollywood sein könnte, hatte schließlich jahrelang unangetastet in dieser Ex-Buchhandlung gewartet. Da kam es auf ein paar Stunden mehr oder weniger sicher nicht an. Was sollte schon passieren?
Kapitel 4 – Sex, Drugs & Jesus Christ In seinen Augen waren sie Schlachtvieh. Tumbes Herdengetier, das wiederkäute, was immer man ihm vorsetzte, und sich dankbar jeder Richtung unterordnete, die ihm von oben gegeben wurde. Sie waren nichts weiter als Schafe, blökende Erbsenhirne mit der Selbstachtung und der Willensstärke von Schaumwölkchen. Hatten sie es verdient, dass er sie ausnahm? Dass er sich an ihnen gütlich tat, seinen Finger in ihre Wunden legte und sie für ihre Dummheit und ihre Leichtgläubigkeit bluten ließ? Oh ja. Zum Teufel, ja! Dummheit gehörte bestraft, und irgendjemand musste es schließlich tun. Was konnte Jack dafür, dass er – ganz im Gegensatz zu ihnen – ein Hirn besaß und es zu nutzen verstand? Sie waren Menschen, doch für Jack McPhee hatten sie schon vor Jahren alles Menschliche verloren. In seinen Augen waren sie Schlachtvieh, so einfach war das. Und er war ihr Schlächter! Wie immer, wenn er kurz vor der Show hinter einer Bühne stand und auf seinen Auftritt wartete, spürte Jack das Kribbeln wieder. Die innere Anspannung, den Nervenkitzel. In Momenten wie diesem fielen die Träume von ihm ab, die Bilder, die ihn mittlerweile fast jede Nacht heimsuchten und quälten. Momente wie diese waren selten geworden. Er kostete sie aus. »Noch zwei Minuten, Mr. McPhee.« Die Stimme der kleinen Maus – Jenny? Penny? Er erinnerte sich nicht mehr – drang über Funk in sein Ohrteil. Lustig, dass sie ihn wieder mit Nachnamen ansprach. Dadurch wollte sie wohl professionell wirken. Sich im »beruflichen Umfeld keine Blöße geben«, wie Püppchen ihrer Sorte das wohl in ihren Managerseminaren nannten. Na, gestern Nacht in seiner Suite hatte sie ihn anders genannt. Gestern Nacht hatte sie seinen Namen geschrien, bis Jack ihr den letzten Rest ihrer Selbstachtung aus dem Verstand gevögelt hatte.
Sie mochte das anders sehen, aber es stimmte: Auch sie war Vieh. Ein Schaf, wie der Rest da draußen. Darüber täuschten selbst ihre schönen Brüste und der Kleinmädchen-Augenaufschlag nicht hinweg, den sie zweifelsfrei heimlich vor dem Spiegel übte. Für ihre eigenen Kribbelmomente. Jenseits des Vorhangs legte die Band los, die Heavenly Herolds. »God Is My Guide, Why Should I Worry.« Eine flotte Gospelnummer, eigens für den Anlass geschrieben. Die Herolds spielten sie immer, wenn es auf Tour ging und es darauf ankam, die träge Landbevölkerung von den Plastiksitzen zu reißen. Schließlich machten sie hier eine Show, die für eine spätere DVD-Auswertung aufgezeichnet wurde, und da brauchte es ein Publikum, das der Ekstase nah war. Jack überließ nichts dem Zufall – erst recht nicht die Wahl seiner Mitarbeiter. Vier Takte voller Keyboardgesülze und E-Gitarren hallten durch den Raum jenseits des Vorhangs, dann setzte der Chor ein. Vierzig schwarze und rechtschaffene Christenkehlen, mit Hallelujas und dem ganzen Kram. Ein Klischee? Von wegen. Ein Standard! »Rock das Haus, Jack«, erklang Jennypennys Stimme noch einmal in seinem Ohr, ein verschwörerisches Flüstern aus dem Äther, das ihn lächeln ließ. Oh, das würde er. Jefferson City würde sich noch lange an diesen Abend erinnern. Und der Rest des verschlafenen Mittleren Westens gleich mit ihm. Wie aufs Stichwort öffnete sich der Vorhang einen Spalt. Jack sah die Scheinwerfer, die Kameras, hörte die grölende, jubelnde, stampfende Masse jenseits der Technik, und spürte, wie ihn die Energie durchströmte. Der Saal war groß, fasste gut zweitausend Leute. Ein Convention Center, irgendwo im amerikanischen Nirgendwo, Produkt verschwenderischer Städteplaner. Morgen würden hier schon wieder Frauengruppen ihre Häkeldeckchen ausstellen, Traktorenhersteller ihre Gefährte. Irgendwann mochte sogar ein Popsternchen der C-Liga hier Station machen oder ein Motivationstrainer seinen Sermon auf beeinflussbares Jungvolk ergießen. Doch heute Abend gehörte der Saal ganz McPhee. God's Anchor. So hieß die Show, die Jack nun schon seit Jahren abspulte. Es gab
sie auf DVD, es gab sie auf den kleineren Regionalsendern, es gab sie live. Jacks himmlisches Imperium aus Merchandiseprodukten basierte auf ihr. Und auf den Muttchens und Dorftrotteln, die ihm den ganzen Stuss nicht nur abkauften – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne des Wortes –, sondern ihm auch noch Geld dafür gaben, dass er kam und sie persönlich beeindruckte. Denn Jack McPhee, Gottes selbsternannter Anker, war ein Mann des Volkes. Zumindest durften die Schafe das ruhig glauben. Es half ihnen, nach den Shows im Fanshop ihre Börsen zu öffnen und willig Überweisungsträger auszufüllen. Ein Raunen ging durch den Saal, als der Follow Spot Jack fand und anstrahlte. Showtime. Zeit, Gottes Wort zu sprechen und Gottes Willen zu tun. Denn Gott wollte, dass Jack dem leichtgläubigen Landvolk Heiligenpüppchen aus billigem Plastik verkaufte, Weihwasser zu überteuerten Preisen, Poster und Billigbibeln und sakrale »Kunst«. Gott wollte, dass sie obskure Spendenkonten mit ihrem Sauerverdienten füllten – Geld, das letzten Endes und über den Umweg einer Briefkastenfirma mit Sitz auf den Caymans in Jacks Tasche floss. Doch, doch, das wollte er. Zumindest der Gott, an den Reverend Jack McPhee zu glauben gelernt hatte. Der, dessen Heilige Schrift die Ziffern auf den Dollarscheinen waren. Als die Herolds verstummten, war Jack bereit, doch Stille lag über dem Raum. Irgendwo hustete jemand. Sie wollten ihn also zappeln lassen? Kein Problem, er hatte schon ganz andere Schnarchnasen auf Touren gebracht. »Die Welt ist ein schlechter Ort«, murmelte er mit sonorer Stimme in sein schwarzes Funkmikro, während ihn knapp zweitausend Augenpaare von jenseits der Lichter und Kameras beobachteten. »Ein schlechter, enger Ort.« In der ersten Reihe sah er eine Oma nicken. Sie trug einen Strohhut und ein ärmelloses Sommerkleid mit blauem Blumenmuster. »Und wer sind wir? Wer, wenn nicht Vieh?« An dieser Stelle unterdrückte er stets ein Schmunzeln. »Wer, wenn nicht die Opferlämmer? Wanderer auf der Erde, den Gezeiten und dem Willen des
Windes unterworfen.« Jack schaltete einen Gang höher. »Ist nicht alles Windhauch? Im Buch Kohelet heißt es: Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?« Er seufzte strategisch. »Sagt mir, meine Schwestern und Brüder, welchen Vorteil verschafft uns unser Hab und Gut? Wo ist der Nutzen irdischen Wohlstands, wenn alles, worum es uns gehen sollte, doch unser Seelenheil ist? Wenn die Welt, in der wir diesen unnützen, vergänglichen Besitz anhäufen und mit Waffengewalt verteidigen, trotzdem eng und kalt bleibt. Sie ist nichts weiter als ein Stein im All, eine Zwischenstation auf unserem Weg zu Seinem Tisch im Jenseits.« Wie lange war es eigentlich her, dass er die Wahrheit hinter dem ganzen Mumpitz erkannt hatte? Dass er die Riten und Gebete als das gesehen hatte, was sie waren – sinnlose Gesten, eine Maschinerie im Leerlauf? Jack war ein Kind derselben Gegend wie diese Schafe dort auf den billigen Klappstühlen. Auch er war in der Provinz groß geworden und hatte den christlichen Glauben mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen. Seine gesamte Kindheit und Jugend hindurch hatte er brav gebetet und sich um ein sündenfreies Dasein bemüht. Tugendhaft, rechtschaffen. Er hatte Gott gelobt und geehrt, ganz wie es die Kirche von ihren Besten erwartete. Aber im Gegensatz zu all den Jim-Bobs und Mary-Sues da vorne hatte er irgendwann die Kurve gekriegt. Der Priesterkragen, den er seit seiner Weihe trug, war längst kein Ausdruck innerer Überzeugung mehr, sondern ein Kostüm. Arbeitskleidung für die Rolle, die er in der Öffentlichkeit spielte. Das Volk mochte Menschen, die ihm Richtungen wiesen, und Jack verdiente sich eine goldene Nase dabei, dieser Mensch zu sein. Es gab keinen Gott. Schon die Annahme war bescheuert und zeigte von mangelnder Intelligenz. Gott war eine Geschichte, nichts weiter. Er war Fiktion. Es gab nur Idioten, die an einen Gott glauben wollten. Weil der Gedanke sie erschreckte, dass alles, was geschah, keinen höheren Sinn haben könnte. Vater unser? Blödsinn. Nada unser! Da war nichts. Das gewaltige Kreuz, das Jacks Roadies vor jeder Show über die Bühne hängten, war so wenig ein Stück Menschheitsgeschichte, wie
es die ägyptischen Aliens waren, von denen andere Augenwischer schrieben, etwa dieser Erich von Däniken. Das Kreuz war Nada. Nichts. Nur ein weiteres Merchandisesymbol, vergleichbar mit Fanschals bei Sportmannschaften. Andenken, die sich im Kleinformat wunderbar verkaufen ließen, wenn God's Anchor in die halbstündige Pause ging. Alles war Nada, alles war Unterhaltung. Der Glaube war eine Show wie alle anderen. Man musste sie nur richtig aufziehen, und schon war man ein Star. Eine Bewegung riss Jack aus seinen zynischen Gedanken. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Paul und seine Truppe den Raum betraten und begannen, die Opferkörbchen durch die Zuschauerreihen zu reichen. Zu früh, ihr Idioten! Ich bin doch noch gar nicht beim guten Teil angekommen. Er musste sich beeilen. Jede Sekunde war nun bares Geld. »Wir sollten genügsamer sein, Freunde«, sagte er in dieser besonders reumütigen Tonlage, die er sich exklusiv für Notfälle aufhob, und sah der ersten Reihe direkt in die tumben Gesichter. »Bescheidener. Wir sollten zu den Werten zurückkehren, die uns unsere Mütter und Vater lehrten, findet ihr nicht?« Versteckte Lautsprecher transportierten seine Worte durch den Saal, in offene Ohren und hoffentlich matschige Hirne. »Werte, die die Priester unserer Kindertage Sonntag für Sonntag von ihren Kanzeln herunterbeteten. Denn wisst ihr, was? Das sind die Dinge, auf die es dem Herrn ankommt. Nicht unser Kontostand. Nicht unser Haus, unser Auto, unser Jahresurlaub.« Wohin er auch blickte, nickten die Köpfe. Immerhin hörten sie zu. Also los. »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!« Jedes Wort war nun eine Anklage, jedes Wort ein Treffer. Guter alter Matthäus, der funktionierte immer. Der perfekte Evangelist, voller Zitate für alle Lebenslagen. Schafe liebten es, wenn ein Prediger aus der Schrift zitierte. »Niemand kann zwei Herren dienen«, legte Jack noch einen drauf. »Meine Freunde, trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes!« Erste Rufe der Zustimmung drangen aus der Masse aus Köpfen. Jack ging aufs Ganze: »Bekomme ich ein Amen?« Wie ein Pokerspie-
ler setzte er alles, all in. Wenn sie jetzt nicht reagierten … »Amen!«, antwortete der Saal plötzlich wie ein Mann – viel lauter, als Jack zu hoffen gewagt hätte. Es schien doch Leben in diesen Landeiern zu stecken. »Bekomme ich ein Halleluja?«, hakte er nach. Gierig. »Halleluja!!« »Bekomme ich ein Preist Jesus?« »Preist Jesus!!!« Das Eisen war heiß. Geld fiel in Opferkörbe. Viel Geld. Er wusste es, und die Gewissheit verlieh ihm Flügel. Was Jack tat, war keine Sünde. Nicht in seinen Augen. Eine Sünde wäre es, dieses Eisen nicht zu schmieden. Es bot sich ihm doch an wie eine Hure. Jacks Stimmungsmacher begannen zu jubeln. In den hinteren Bereichen – dort, wo er seine Spione wusste – standen die ersten auf, preisten und lobten, und das Vieh folgte brav. Herdentrieb. Auf ein Zeichen von Jack hin legten die Herolds wieder los, und Jack begann zu tanzen. Der Tanz hatte noch jeden Saal aufgemischt. Er tanzte wie David vor Mister Nada, tanzte wie Moses' Wüstenkumpane vor ihrem Kalb, tanzte wie einer, der eine Horde von faulen Säcken zum Mitmachen animieren musste, bevor sie ihm wegschlief. Und die Mühe zeigte Wirkung. Angestachelt von der Musik, dem Gesang und Jacks eigenem Einsatz wogte die Menge mit. Manche sprangen auf Stühle, andere drängten in die Gänge zwischen den Stuhlblöcken und wiegten sich im Takt. Arme flogen nach oben, Hüte wurden in die Luft geschmissen. Der Saal war Rhythmus. Er sang, bebte, lebte – er wollte die Show! Endlich hatte Jack sie da, wo er sie mochte. Endlich konnte er kassieren. Dann sah er den Engel und erstarrte. Sein Herz setzte zwei Schläge aus. Sie haben mich gefunden! Der Gedanke war absurd, doch im ersten Augenblick schoss ihm durch den Kopf, dass er aufgeflogen war. Dass es irgendwo eine Bauernfängerpolizei gab, die ihn enttarnt hatte und nun öffentlich verhöhnen würde, bevor sie ihn bestrafte. Aber das war ein Engel … Das unheimliche Wesen stand rechts im Abgang der Bühne, wo
nur Jack es sehen konnte. Ein steinernes Ungetüm von knapp zwei Metern Größe, mit breiten Flügeln und einem Kranz aus Dornen auf dem Haupt. Und seine Augen glühten wie die Feuer der Hölle. Die Bilder der Nacht kehrten zurück. Erinnerungen an den Albtraum, der ihn seit Tagen quälte. Immer derselbe Traum. Aber das war im Schlaf gewesen, war nicht real! Seit Tagen hatte er nicht mehr gekokst, nichts geschmissen. Auf Befehl seines Hausarztes. Er konnte gar keine Halluzinationen haben, verdammt! Jack kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Sicher war er schlicht übermüdet, weiter nichts. Seine Phantasie spielte ihm einen Streich. Doch als er wieder aufblickte, war der Engel noch da. Und nun hielt er einen Bogen in den gemeißelten Händen. Die Spitze eines marmornen Pfeils zeigte direkt auf Jack! Mittlerweile hatte die Band bemerkt, dass mit ihrem Boss etwas nicht stimmte. Die Musik brach ab, der Chor verstummte mitten im Satz. McPhee keuchte. Er war nie ein Schisser gewesen. Die letzten drei Nächte, in denen er schreiend und schweißgebadet aufgewacht war, hatten ihm Seiten von sich gezeigt, die er nicht kannte. Seiten, die er nie wieder sehen wollte. Und es hatte ihn unglaublich gewurmt, dass ausgerechnet Collegeschnepfe Jennypenny bei einem dieser Ausbrüche zugegen gewesen war. Jack war doch stark, gottverdammt! Ein Macher. Ein Schlächter. Warum wurde ihm dann plötzlich eiskalt? Fragende Rufe drangen an sein Ohr, Skepsis und Kritik. Er hörte, wie er den Saal wieder verlor. »Hast du deinen Text vergessen?« »Reverend, was ist? Kommt die göttliche Erleuchtung, oder musst du nur mal kacken?« Das waren die Spötter. Die wenigen letzten Zweifler im Saal fühlten ihre Stunde gekommen und weideten sich an Jacks vermeintlichem Patzer. Sie sahen nicht, was er sah. Niemand konnte das. »Jack, was ist los?« Jennypenny in seinem Ohr, über Funk. »Mach weiter, Jack. Du schaufelst dir sonst dein eigenes Grab.« Ein irrationaler Teil von ihm lobte sie für den so passenden Vergleich. Dann flog der erste Pfeil und machte jegliches Denken zu-
nichte. Jack duckte sich zu spät. Zischend kam das Geschoss heran, streifte seine rechte Schulter. Stoff riss, als eine Schneise im dunklen Armani-Jackett entstand. Das Publikum reagierte irritiert. Manche lachten sogar. Jack aber schrie! Der Angriff hatte gereicht, ihn aus seiner Schockstarre zu lösen. Schnell preschte er vor, duckte sich und sprang von der Bühne ins Auditorium. Alles, nur raus aus der Schusslinie! Der Engel setzte nach. Jack hörte das Knirschen der steinernen Gelenke, als das Monstrum in Bewegung kam. Mit einer Geschwindigkeit, die seiner klobigen Gestalt Hohn sprach, kam der lebende Grabstein aus den Schatten des Bühnenaufgangs – kam, um Jack zu holen! – und lud seine todbringende Waffe nach. Ein Raunen ging durch den Saal. Damit hatten Jim-Bob und MarySue offenbar nicht gerechnet. Sie waren zum Wanderprediger gekommen, und nun bot man ihnen … Ja, was? Fantasy? Jack lief an ihnen vorbei und las die Skepsis aus ihren Gesichtern. Sie halten das für einen Teil der Show!, dachte er fassungslos, während sein Herz ihm bis zum Hals schlug und ihm der kalte Schweiß der Panik in die Augen tropfte. Sie glauben, das ist ein Scherz. Ein Spezialeffekt. Schon von weitem sah er den Ausgang, die weiten Türen mit den goldenen Beschlägen. Jenseits ihrer Flügel wartete die Lobby. Er musste raus, bevor dieses Vieh ihn traf! Ein Jim-Bob trat ihm in den Weg. Der Mann wirkte nicht gerade freundlich. »Hey, Freundchen, ich hab Eintritt bezahlt!«, drang es aus dem Landei-Mund. »Wo willst du denn hin?« Jack schubste ihn beiseite, verlangsamte nicht. Keine Zeit für Erklärungen. »Haut ab!«, rief er keuchend. »Flieht, ihr Spinner!« Abermals sirrte ein Pfeil an ihm vorbei. Er bohrte sich in die Lehne eines Klappstuhls, keine zwei Meter weiter rechts. Der Engel zielte gut! Es war nur eine Frage von Sekunden, bis er sein Opfer treffen würde. Sekunden, die Jack ihm nicht gab. Schon hatte er die Tür erreicht, stürzte hinaus ins menschenleere Foyer, schloss sie hinter sich und lehnte sich keuchend dagegen. Durch das dünne Holz hörte er die
murrenden Rufe seines erzürnten Publikums. Sie verstanden noch immer nicht, in welcher Gefahr sie schwebten. Vielleicht aber taten sie das gar nicht. Vielleicht war der Engel nur wegen ihm hier. Irgendwo jenseits der Tür begannen die Herolds wieder zu spielen, um die Menge zu besänftigen. Es kam Jack vor wie aus einer anderen Welt, schien aber seinen Zweck zu erfüllen. »Kannst du mir mal erklären, was du da abziehst? Der Scheiß war nicht mit uns abgesprochen!« Taylor Riggs, Jacks langjähriger Regisseur, war nun am Funkgerät. Und er klang alles andere als amüsiert. »Ehrlich, Mann – ich liebe dich und so, das weißt du. Aber bevor du einen auf Actionheld machst, solltest du deine Crew darüber informieren. Wir wussten gar nicht, wo wir mit den Kameras hin sollten. Bist du bescheuert?« Jacks Herz überschlug sich fast. Erst jetzt bemerkte er, dass er immer noch das Mikro in der Hand hielt. »Riggs?«, fragte er keuchend. »Boss? Sag nichts Falsches, die da drin können jedes Wort von dir hören.« »Riggs, ich … Ich muss weg! Das … ist nicht Teil der Show! Der ist hinter mir her!« Gelächter jenseits der Tür. Hohn. Es knackte im Ohrstöpsel, dann war Jennypenny dran. »Du bist das größte Arschloch, McPhee, weißt du das? War das auch schon Teil deiner Show, letzte Nacht? Dein angeblicher Albtraum? Alles gespielt! Alles nur Vorbereitung für den Stuss, den du hier gerade abziehst. Leck mich.« »Nein«, widersprach er. »Ihr versteht nicht!« Eine Bewegung vor den Glastüren des Convention Centers ließ ihn innehalten. Es war die Harfespielerin! Das steinerne Monster aus seinem Traum, das ihn mit seinem Instrument beworfen hatte, stand leibhaftig da draußen und starrte Jack durch die Scheibe an! Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich auf den glatt polierten Roben der Friedhofsstatue, und in ihren Augen glühte ein Feuer, das Jack nur zu gut kannte. »Was wollt ihr von mir?«, flüsterte er, vor Schreck wie steif gefroren. Seine Lippen bebten, sein ganzer Körper verkrampfte sich vor Angst. »Was hab ich euch getan?«
»Boss?«, fragte Riggs. »Machst du Witze? Annie, lass uns lieber mal einen Krankenwagen bestellen. Ich glaub, der tickt nicht mehr ganz sauber …« Jack ignorierte den Ohrstöpsel. Er hatte nur noch Augen für die Harfespielerin. Sie hatte inzwischen die Tür geöffnet, das Gebäude betreten. Nun stand sie keine fünf Meter von ihm entfernt. Starrte ihn an. »Ich habe nichts getan«, wimmerte er. »Was soll die Scheiße?« JACK MCPHEE, DU HAST GOTTES WORT MISSACHTET UND SEINEN NAMEN MISSBRAUCHT. Die Stimme erklang direkt in seinem Kopf, und jedes Wort war wie eine Mauer, gegen die eine unsichtbare Hand ihn schleuderte. Der Mund der Statue regte sich nicht, wie auch ihr restlicher bizarrer Körper ruhig verharrte. DER HERR IST NICHT ZUFRIEDEN MIT DIR. Jack schüttelte den Kopf, als könne er die Wirklichkeit so ungeschehen machen, schneller und schneller. Es war die einzige Bewegung, zu der er noch fähig war. Und die Statue öffnete den Mund … Im gleichen Augenblick explodierten die Neonlampen in der Decke des Foyers. Ein Funkenregen fiel zu Boden, untermalt vom zischenden Geräusch durchschmorender Leitungen, vom Brechen der Birnen. Kabel rutschten wie von Geisterhand bewegt aus ihren Kanälen. Lianen gleich hingen sie aus der Decke, an den Rändern verschmort und kokelnd. Weißer Rauch stieg von ihnen auf – und aus den Halterungen der Lichter. Die Harfespielerin stand inmitten dieses Chaos, wie eine Dirigentin vor ihrem Orchester. In ihrem nun weit geöffneten Schlund sah Jack züngelnde Flammen. Hitze schlug ihm entgegen – so intensiv, dass sie ihm den Atem raubte und ihn schwitzen ließ. DER HERR WIRD KOMMEN, DICH ZU RICHTEN!, fuhr das Monstrum hinter seiner Stirn fort. SEI BEREIT! DIE TAGE SIND GEZÄHLT. TUE BUSSE, JACK MCPHEE. Damit hob sie den Arm und schleuderte ihm ihr Instrument gegen die Brust. Der Aufprall riss Jack von den Füßen, schleuderte ihn rücklings gegen die Tür. Holz gab nach – und im nächsten Augenblick kam Jack auf dem Saalboden des Convention Centers auf,
gleich neben den hintersten Stühlen. Dann verlor er das Bewusstsein.
So hatte es angefangen. Zamorra schaltete das letzte Tonband ab und lehnte sich im Sessel seines kleinen Gästezimmers zurück. Er hatte die vergangenen Stunden damit verbracht, Nolans Aufnahmen zu lauschen und die medizinischen und psychologischen Berichte zu studieren, die das Team von Sacred Heart über diesen Patienten zusammengestellt hatte. Es war eine beeindruckend umfangreiche Mappe: Evaluationen, Fotos, DVDs von God's Anchor-Ausführungen, sogar Ausschnitte aus Tageszeitungen befanden sich darunter! Zweifellos hielt Nolans Personal den Ex-Priester für einen interessanten Fall. Es würde Zamorra nicht wundern, wenn Nolan insgeheim schon darüber nachdachte, ein wissenschaftliches Buch über McPhees Krankheitsverlauf zu veröffentlichen, natürlich mit geänderten Namen. Dass der skurrile Traumforscher und Psychologe eher an Publicity interessiert war, als an der Genesung seines Patienten, hatte schon der Tenor seines Artikels in Medicine Today bewiesen. Starker Tobak, in der Tat. Zamorra schloss die Augen und dachte nach. Seinen eigenen Aussagen zufolge hatte McPhee die Engel nach dem Vorfall bei der Show noch drei weitere Male gesehen: zweimal in Hotelzimmern, in denen er die Nacht allein verbrachte, einmal auf offener Straße, als Jack gerade auf dem Weg zu einem Meeting war. Doch selbst wo es Zeugen gegeben hatte, hatte niemand ihm zweifelsfrei bestätigen können, dass seine Wahrnehmung ihn nicht täuschte. Die Filmaufnahmen von Jefferson City hatten nur Jack gezeigt, der plötzlich in Panik aus dem Saal gestürmt war. Wen Jack auch darauf ansprach: Entweder hielt er es für einen schlechten Scherz, oder er hatte nichts bemerkt. Selbst das Ereignis im Convention Center hatten Publikum und Jacks Team als übertriebene und/oder misslungene PR-Maßnahme des Predigers gewertet. Jacks Firma hatte schlicht eine Rechnung von der Hausverwaltung erhalten, sowie ein paar Klagen von erzürnten Zuschauern. Nichts, was sich mit Geld nicht hatte regeln lassen, und Geld besaß McPhee in
rauen Mengen. Nein, McPhee stand allein mit seinen Ansichten. Mit den Geschichten von Gottes steinernen Herolden, die ihm seinen drohenden Untergang prophezeiten. Und im Laufe der Zeit hatte er sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Die extrovertierte Macher-Persönlichkeit, die ihn früher ausgezeichnet hatte, war einem eingeschüchterten, getriebenen Mann gewichen, der in jedem Schatten einen Feind lauern sah. Einen mit Augen wie Höllenfeuer. Patient McPhee geht davon aus, dass ihm die imaginären Engel von Gott geschickt wurden. So hatte es Nolan in den Akten notiert. Sie seien Vorboten des Gerichts, welches der Herr über McPhee halten wolle – als Strafe für McPhees Verhalten. Nolan ging davon aus, dass Jack sich die ganze Aktion einbildete. Eine Psychose, geboren aus einem Unterbewusstsein, das sich gegen das Schindluder auflehnte, das Jack mit den christlichen Lehren getrieben hatte. Laut seiner Biographie war McPhee streng christlich erzogen worden und hatte den Priesterberuf freiwillig und aus Überzeugung gewählt. Irgendwann musste er von diesem Weg abgekommen sein und begonnen haben, die Rituale und Manierismen nur noch des Geldes wegen aufrechtzuerhalten – und damit war der Erfolg gekommen. Jack war binnen kurzer Zeit zu einem der bekanntesten TV- und Wanderprediger der USA aufgestiegen, und das Geld seiner Schäfchen hatte ihn reich werden lassen. Nolans Argumentation ist nachvollziehbar, dachte der Meister des Übersinnlichen. Schlechtes Gewissen … Schuldgefühle … Der überzeugte Katholik in Jack gewinnt unterbewusst wieder die Oberhand … Und irgendwann ist er so verzweifelt, dass er sich wider besseres Wissen auf eine Psychotherapie einlässt. Alles, nur lass es aufhören. Oder? Und doch war da etwas an diesen Akten, das Zamorra zweifeln ließ. Etwa die Wunden, die Jack von seinen Begegnungen mit den Engeln zurückbehalten hatte. Die waren keine Illusion, und sie passten genau zu Jacks Schilderungen. Zamorra hatte Fotos gesehen, Röntgenbilder. Kaum vorstellbar, dass McPhee sich diese Verletzungen selbst zugefügt haben sollte, Wahn hin oder her. Und dann die Sache mit dem Urteil.
Jack ging fest davon aus, dass die Engel wiederkehren würden – um ihren Auftrag zu beenden. Sie waren die Wegbereiter des Herrn, lebendig gewordene Boten Gottes. Und sie bereiteten ihm den Boden, auf dem er Gericht über Jack McPhee halten würde. Wie Zamorra aus den Unterlagen wusste, hatte Jack sich eine Auszeit nehmen müssen. Irgendwann hatte sein Team ihn schlicht für überarbeitet erklärt, ihn Ärzten überantwortet, Psychologen und Stresstherapeuten. Doch sie alle hatten nichts bewirkt. Jacks Angst war geblieben, und sie wuchs mit jedem neuen Tag. Er wartete. Nach einem missglückten Selbstmordversuch hatte Jacks behandelnder Arzt ihn an Seymour Nolan verwiesen, einen Psychologen, der auch auf dem Gebiet der Traumforschung eine Koryphäe war. Da Jack keinerlei finanziellen Sorgen hatte, konnte er sich Nolans exklusiven Palast hier auf Crestfallen Point leisten – und wurde seitdem von Nolan und dessen Mitarbeitern gehätschelt und gepflegt. Aber Jack ist noch immer überzeugt, dass seine Träume wahr werden und Gott ihm Boten schickt. Um ihn zu bestrafen. Zamorra nickte. Das war wirklich starker Tobak. Und interessant noch dazu, mit oder ohne übersinnliche Komponente. Es wurde Zeit, dass sich der Professor einmal unter vier Augen mit Nolans Lieblingspatienten unterhielt. Zamorra erhob sich, sortierte die Unterlagen und verließ sein Zimmer.
Kapitel 5 – Knochensymphonie Es begann harmlos. Kleine Bemerkungen hier und da, beleidigte Blicke, resolute Gesten. Dinge, die erklärbar waren, niemanden verwunderten. Schließlich hatte keiner von ihnen Lust auf diesen Ausflug gehabt. Logisch, dass sie ein wenig gereizter als sonst reagierten, oder? Aber es blieb nicht dabei. Es wurde schlimmer. Beim Mittagessen – mitgebrachte Käsebrote und warme Suppe aus der Thermoskanne – stieß Ellen Whesson ihren Teller um. Teurer Import-Gouda und Weißbrot flogen umher, und es sah auch wirklich wie ein Unfall aus, allerdings nur, weil sich niemand vorstellen konnte, dass sie Charlie, der den Großteil ihres Essens auf den Pullover geschmiert bekam, absichtlich hatte treffen wollen. Ein paar Sekunden nach der Tat konnte das sogar Ellen selbst nicht mehr. Danach drehte Flynn kurzzeitig durch. Samantha und er hatten sich in einer Zigarettenpause ein wenig abseits in die Büsche geschlagen, um ganz teeniehaft herumzuschmusen, als Flynn plötzlich einen Stock vom Boden gehoben und Samantha angesehen hatte, als wolle er sie damit windelweich schlagen. Abermals dauerte der bizarre Moment nur Sekunden, und abermals entschuldigte Samantha ihn mit der Annahme, all das sei nur auf die Umstände zurückzuführen. Flynn war genervt, dachte sie sich, und sein Humor ohnehin noch nie der beste gewesen. Aber ein kleiner Restzweifel blieb. Und sein Name war Libby.
»Cut!« David R. Quatermills Stimme überschlug sich fast. »Schnitt! Schnitt!! Leute, was ist denn? Das haben wir doch geprobt.« Samantha schluckte und schaltete ihre Ohren auf Durchzug. Das war jetzt das dritte Mal in Folge, dass entweder Flynn oder Roger ihre gemeinsame Szene versauten. Und langsam wurde die Zeit
knapp. Kein Wunder, dass Meister Hawaiihemd allmählich das Gesäß auf Grundeis ging. »Ich weiß auch nicht, David«, versuchte sich Flynn neben ihr in seinen üblichen Rechtfertigungsfloskeln. »Irgendwas an diesem Dialog holpert.« Klar. Immer auf die anderen. Als ob das Drehbuch was dafür kann, dass du dir den Stuss nicht merkst. Normalerweise freute sich Samantha über Libbys Gesellschaft, doch seit dieser Ausflug nach Crestfallen Point begonnen hatte, troffen die Kommentare ihrer Schwester vor Spott und Zynismus. Insbesondere diejenigen, die Flynn zugedacht waren. Wenn du nichts Besseres beizutragen hast. blaffte Samantha zurück, dann halte dich doch einfach raus, ja? Langsam hab ich's satt … Libby verstummte sofort. Vermutlich war sie beleidigt. Samantha konnte es ihr nicht verdenken, war die Erwiderung doch alles andere als freundlich gewesen. Natürlich hatte sie Libby nicht satt – wie konnte sie? Ihre Schwester war nicht selten der einzige Lichtblick im Wahnsinn. Ohne Libby wäre das Leben noch eintöniger, noch trostloser. Nicht zuletzt deswegen hielt Samantha seit einem Vierteljahrhundert so vehement an ihr fest. Oh, es hatte Phasen in ihrem Leben gegeben, in denen sie ohne die imaginäre Begleiterin ausgekommen war. Doch daran hatten die Kinderpsychologen Schuld gehabt, zu denen sie ihre Eltern nach »der Sache« wieder und wieder geschleppt hatten, nicht sie. Immerhin war es laut Mum und Dad nicht »normal« und »gesund« gewesen, dass Samantha sich nicht von Libby löste. Die Seelenklempner hatten ihnen zugestimmt und von Trauerarbeit gesprochen, von Traumata und seelischen Wunden, die angeblich nicht heilten, solange man die Vergangenheit nicht auf sich beruhen ließe. Manche von ihnen hatten es sogar geschafft, Samantha von ihrer Libby-Fixierung zu befreien. Aber nur auf Zeit. Libby war immer wieder zu ihr zurückgekehrt. Und warum auch nicht? Sie waren Schwestern gewesen, Herrgott noch mal! Einfach unzertrennlich, nichts weiter. Samantha hatte ohnehin nie verstanden, was daran falsch sein sollte. Und zumindest sie hatte ihre Schwester nie aufgegeben und vergessen, ganz im Ge-
gensatz zu gewissen anderen Personen aus ihrer Familie. Nein, irgendwann hatte Sam es einfach für sich behalten, dass sie nach wie vor im Geiste mit der Toten sprach – und damit sich und ihre Erzeuger gleichermaßen glücklich gemacht. Ihre Eltern hatten sowieso nie begriffen, was damals wirklich geschehen war. Mittlerweile machte Sam ihnen deswegen auch keine Vorwürfe mehr. Sie war dabei gewesen und verstand es doch selbst kaum. Wie soll man verstehen, warum sich der Boden unter den Füßen plötzlich öffnet und die Hölle zur Realität wird? Ein zwitschernder Vogel riss die junge Schauspielerin aus ihren trüben Erinnerungen und zurück in die nicht minder trostlose Gegenwart auf Crestfallen Point. Das Drehteam von Night Fighter stand im hinteren, vom Hafen abgewandten Teil der ehemaligen MiniSiedlung. Halb verfallene Bauten mit spinnwebenumrankten Fenstern und mit Dächern, durch deren Löcher die Natur frei wüten konnte, bildeten aktuell die Kulisse für eine der stets zu nichts führenden Konfrontationsszenen, mit denen die Autoren der mittelmäßigen Horrorserie so etwas wie Spannung erzeugen wollten. Diese Momente liefen stets nach dem gleichen Muster ab: Rick Stryker alias Flynn stellte seine Nemesis, den von Roger gespielten Blutsaugergrafen, zur Rede – und für einen kurzen Moment sah es tatsächlich so aus, als zöge Blessed diesmal als Sieger vom Platz. Doch in Night Fighter war das Happy End nie fern und jeder Rückschlag nur ein weiterer Motivationsschub. So verlangte es das Gesetz der Serie – und auch das weibliche Stammpublikum. Es wollte den Helden gewinnen sehen, Hynn Morris alias Dämonenjäger Rick Stryker, und nicht den Bösewicht. Während der in die Jahre gekommene Frauenschwarm, mit dem sie sich seit Wochen das Bett teilte, noch mit dem Hawaiihemd diskutierte, trat Samantha ein paar Schritte zur Seite und blickte sich um. Es war längst Nachmittag geworden. Die Herbstsonne strahlte angenehm warm auf die Insel hinunter und tauchte die leerstehenden Bauten, die verwilderten Wiesen und die vielen Bäume und Büsche, deren Blattwerk in allen möglichen Farben zu schimmern schien, in helles Licht. Ein idyllischer Ort, fand Samantha, während sie an den Fassaden der Ruinen entlang zum Waldrand schlenderte, wo
Schatten und Ruhe warteten. Kein Wunder, dass hier einst Leute gelebt hatten. Und kein Wunder, dass diese Leute bis zuletzt darum gekämpft hatten, ihre bezaubernde Heimat wirtschaftlich relevant zu halten. Man konnte viel gegen diesen Quatermill sagen, doch seine offenkundige Sympathie für die einstigen Bewohner des vergangenen Crestfallen Point, jene Underdogs der kanadischen Metropole Vancouver, war nachvollziehbar. Sie hatten es nicht geschafft, aber sie hatten es versucht. Vielleicht kam es wirklich nur darauf an. Stopp! Das war Libby. Sie wirkte aufgeregt. Was ist los?, fragte Sam und stutzte. Ich weiß es nicht. Aber … Spürst du das nicht? Irgendwas ist da vorne. Sam nickte langsam. Ohne Libbys Hinweis wäre es ihr vielleicht nie aufgefallen, doch nun … Mit einem Mal war ihr, als zöge sich trotz des angenehmen Wetters eine Gänsehaut über ihren Körper; als hätte sie unwissentlich eine Grenze überschritten, die unsichtbar war. Die kurzen Haare in Sams Nacken stellten sich auf. Ihre Pupillen weiteten sich, Muskeln verkrampften, und ihr Magen schien sich mit einem Ruck zusammenzuziehen. Es war völlig irrational, entbehrte jeglicher benennbaren Ursache, aber Samantha bekam Panik! Sie war von den Häusern weggegangen und hatte die ersten Ausläufer des Waldes erreicht, der den Großteil der Insel bedeckte, und buchstäblich von einem Augenblick auf den anderen hatte die Natur ihr Aussehen verändert. Nein, nicht das Aussehen, korrigierte sie sich in Gedanken. Die Atmosphäre! Die herbstlich geschmückten Laubbäume, Büsche und Sträucher, die vor ihr so weit das Auge reichte ins Innere des Eilands führten, wirkten plötzlich bedrohlich. Wie dürre, schweigsame Riesen, die ihre zu knochigen Armen mutierten Äste klagend gen Himmel streckten, als wollten sie den Schöpfer selbst angreifen und ihm mit spitzen Rinden die gütigen Augen ausstechen. Der Wald vor Samantha war nicht länger idyllisch! Nicht in diesen Augenblicken, in denen die Welt wie ein Negativ wirkte und Licht und Dunkel die Seiten tauschten. Er erschreckte sie. Er kam ihr nun wie ein dunkles, verwunschenes Reich vor, in dem die Gesetze der Physik nicht länger Gültigkeit hatten und es niemanden scherte, was aus einer jun-
gen Frau wurde, die sich zu tief in ihn hineinwagte. Weil niemand da war, nur die Schatten und die Stille. Und die Riesen. Sam zitterte, konnte den Blick aber nicht abwenden. Wie hypnotisiert hing er an den Stämmen und Schatten, den Ästen und Blättern. Sie lockten sie, winkten ihr, reckten sich vor, um nach ihr zu greifen. Um sie zu packen. Zu nehmen. Vor Samanthas Augen schien der Forst zu verschwimmen. Umrisse verloren an Schärfe, Winkel gaben ihre Maße auf und verdrehten sich ins Absurde. Sie glaubte, ein Spiegelbild zu sehen, nicht das Original, eine Reflexion wie auf einer Wasseroberfläche. Das Bild waberte; wellenartige Schübe zogen vom Kern zu den Rändern, ließen Statisches erbeben, brachten Bewegungen ins Dunkel. Unheimliche, unerklärliche Bewegungen. Sammy, hau ab! Abermals Libby. Sie klang verzweifelt, den Tränen nah, dringend und flehend. Die Angst, die in ihren Worten mitschwang, war nahezu greifbar und brach Samantha Beckett das Herz. Doch Libby war fern. Ihre Stimme kam nur schwach bei Sam an. Als lägen längst Welten zwischen ihnen. Hörst du?, fuhr die Schwester fort, jedes Wort ein Anker, jeder Laut, der in Samanthas Gedanken drang, wie ein Rettungsseil, das man Ertrinkenden zuwarf. Hau ab. Da … Da ist etwas. Ich kann es sehen! Es … Es greift nach mir … Lauf. Verdammt noch mal, lauf. Libby war immer die Stärkere von ihnen beiden gewesen, doch nun klang sie, als stünde sie vor dem Abgrund des Wahnsinns, und die Zehen baumelten schon frei. Samantha hörte sie, konnte aber nichts tun. Nicht reagieren. Nicht anhalten. Nicht antworten. Schneller und schneller wurden diese Wellen, und noch immer war die junge Schauspielerin unfähig, sich zu rühren. Regungslos musste sie zusehen, wie ihre Sinne ihr einen Streich spielten. Übelkeit stieg in ihr auf. Ihre Atmung wurde flacher, ihr Mund stand sperrangelweit offen. Spucketropfen sammelten sich auf ihrer Unterlippe, gingen zu Boden. Sam wollte schreien, wollte auf sich aufmerksam machen, doch es ging nicht. Ihr Körper war ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Und der Wald … Sammy, ich verliere dich! Es ist da draußen in den Schatten! Ich … Scheiße, ich kann es SEHEN! Es lauert! Es will dich holen, merkst du das
nicht? Holen und … Oh, verflucht, hau da ab! Bei allem, was dir heilig ist – HAU AB!! … kippte zur Seite. Das Blut des Flughörnchens ist warm. Genau wie seine Gedärme. Es dampf in der Herbstluft, glänzt in den Strahlen der Sonne, die sich durch das trotz der Jahreszeit noch recht dichte Blätterdach des Waldes den Weg hier hinunter geschlängelt haben. Und es tut gut, so unendlich gut. Wie lange hat sie auf derart reine Energie warten müssen? Zu lange. Sie saugt sie in sich auf, weidet sich an ihr – und an den Bildern, die mit einem Mal über sie hereinprasseln. Bilder von Bäumen und dem Waldboden, von Feinden und Beutetieren. Momentaufnahmen aus dem Leben eines Nagers. Ihr ist, als sei nach den Gedärmen nun auch der Geist des Tieres, das sie gerade mit den bloßen Händen aus der Luft gefangen und getötet hat, ein offenes Buch für sie. Und wenngleich die Geschichten, die ihr dieses Buch erzählt, nicht sonderlich facettenreich sind wirken sie doch wie Offenbarungen. So hungrig war sie nach neuen Eindrücken. So gierig. Ihre Hände sind verklebt, aber das stört sie nicht. Wieder greift sie in den Kadaver, wühlt in den Innereien des Nagetiers wie ein Schatzsucher auf den Spuren eines Pharaonengrabes. Dann führt sie den dampfenden Leib zum Mund legt den Kopf in den Nacken und lässt das Gemisch aus Körpersäften und zerdrückten Organen auf ihre Lippen tropfen, ihre Zunge berühren. Herrlich. Echtes, ehrliches Leben, unverfälscht und authentisch. Der Odem der Welt. Sie schmatzt, kaut, genießt. Der rote Saft rinnt über ihr Kinn, tropft auf ihren modischen Pullover und zaubert Flecken auf ihre dünne Lederjacke. Es kümmert sie nicht. Sie will mehr, immer mehr! Samantha Beckett stöhnte gequält auf, als der Wald wieder in den Fokus rückte. Das … Das war nicht sie! Wer immer diese Gedanken hatte, wer immer ihr diese ekelhaften, grausamen Bilder schickte … Bilder von Tod und Jagd und Qual … Sie stammten nicht von ihr. Doch sie drohten, sie zu verschlingen! Samantha schluckte. Ein metallischer Geschmack breitete sich in ihrer Kehle aus, und für einen kurzen, grauenvollen Moment sah sie das Flughörnchen wieder vor sich, erinnerte sich an den Geschmack seines Blutes, an die Farbe seiner Organe … Erst dann merkte sie,
dass es ihr eigenes Blut war, das sie da schmeckte. Sie hatte sich während der … Vision? … offensichtlich auf die Zunge gebissen. Ein schwacher Trost. Sam spürte, wie ihr Geist sich immer mehr in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins zurückzog. Das Fremde dort draußen, es hatte einen Weg in ihren Verstand gefunden, hatte sie gebannt – geistig wie körperlich –, und nun machte es sich auf, sich an ihr, seinem neuesten Opfer, gütlich zu tun. Irgendwo zirpte ein Vogel. Oder war es das Heulen einer Eule? Geräusche drangen in Sams Ohren, als wären sie in Watte gepackte Kostbarkeiten, die zu wertvoll waren, um genossen, benutzt, verwendet zu werden. Sie konnte sie nicht länger auseinanderhalten, eins klang wie das andere. Und dann diese Bilder … Wenn sie die Augen schloss, sah sie die Tiere. Tot und blutbeschmiert. Dampfende Innereien im Dämmerlicht des Waldes. Ihr Anblick widerte sie an, doch je länger sie den fremden Eindrücken ausgesetzt war, desto mehr spürte sie, dass auch ihr eigener Körper auf die fremdartigen, abartigen Reize reagierte. Schon regte sich erstes Verlangen in ihrer Brust, fühlte sie, wie ihre Beine sie forttragen wollten – hinein in den Forst und zur Jagd. Ein hungriges Monstrum schien ihr Handeln bestimmen und sie zu einem Räuber machen zu wollen, wie es selbst einer war. Zu seinem Ebenbild. Und irgendwo im letzten Winkel ihres Verstandes schrie der Teil von ihr, der noch immer Samantha Beckett war, sich die Seele aus dem Leib.
Sobald das Tier ihr nichts mehr bieten kann, wirft sie es weg. In hohem Bogen fliegt es ins Gebüsch, landet plumpsend auf dem herbstlichen Laub. Und sie sucht weiter. Das kann doch nicht schon alles gewesen sein! Diese Kleinigkeit? Gerade, wo sie auf den Geschmack gekommen ist, soll sie aufhören? Also lässt sie sich auf die Knie fallen, stützt sich am Erdboden ab, betrachtet die Welt von unten. Mit einem Mal glaubt sie, die Natur selbst hören zu können. Jeder Grashalm, jeder Zweig ist wie Musik in ihren Ohren. Sie wachsen, wiegen sich im Wind, und sie empfängt all das mit einer Klarheit, die die Grenzen des Rationalen übersteigt. Wachsendes Gras. Bis
zu diesem Moment hat sie nicht gewusst, wie wundervoll das klingt. Wie lebendig. Aber Grünzeug kennt keine Geschichten. Sie ist nicht hier, um dem Gras zuzuhören, sondern um ein weiteres Tier zu finden. Ein Größeres vielleicht? Wie Waschbären wohl klingen? Da! Nur wenige Schritte entfernt läuft ein Vogel an einem Baumstamm entlang. Sein blaugraues Gefieder wirkt in ihren Augen wie ein Signal, eine Einladung. Er ist vielleicht anderthalb Handspannen groß, fast noch kleiner als das »fliegende« Eichhörnchen von vorhin, aber das kümmert sie in diesem Moment nicht. Leise schleicht sie sich an. Ihre Nase hat längst Witterung aufgenommen. Sie riecht die Sorglosigkeit des Vogels und hört seine tapsenden Hüpfer auf der Rinde so deutlich, als wären es die Schritte eines Menschen. Zwei Meter noch, einer … Dass sie so schnell springen kann, hätte sie nie gedacht, dennoch gelingt es ihr. In einer einzigen, geschmeidigen und raubtierhaften Bewegung hechtet sie vor, die Arme zum Angriff erhoben, und streckt gleichzeitig die Knie durch. Als sie den Baum erreicht, steht sie schon wieder auf ihren Beinen – und hält den bebenden, warmen Leib des Tieres in ihren Händen. Hart drücken ihre Finger zu, und als es endlich knackt, ist ihr, als habe sie nie zuvor ein derart schönes Geräusch vernommen. Der Tod ist eine Symphonie, die mit Knochen gespielt wird und jede Aufführung dieses wohl edelsten aller Musikstücke ist definitiv, unverwechselbar und einzigartig. Gierig reißt sie den Leib des toten Vogels auf, mit Fingern und Zähnen, mit Kraft und Finesse. Ihre Nase stößt gegen die Eingeweide, und sofort ist der Duft wieder da, der wohlige Odem des Lebendigen. Sie zögert nicht. Sie weiß, was sie zu tun hat. Was ihr Körper verlangt, ihr Instinkt ihr diktiert. Abermals legt sie den Kopf zurück, öffnet den Mund, hebt die Hände zum Himmel und lässt fremdes Leben in ihren Rachen fließen, fremde Erinnerungen in ihren Geist. Ein Sonnenstrahl fällt ihr genau ins Auge, und ihr ist, als spräche Gott zu ihr. Als verstehe er sie – und sie ihn. Endlich.
Nein! Samantha schauderte, sträubte sich innerlich, lehnte sich gegen die Bilder auf. Doch alles Mühen war vergebens. Sie hing fest, wie im Netz einer Spinne. Was immer das war, es ging vor wie ein Vampir. Es hungerte,
lechzte nach dem Blut, dem Leben und der Kraft anderer Wesen. So viel hatte Sam Beckett mittlerweile begriffen. Und es scherte sich um nichts, kannte keine Grenzen und keine Zurückhaltung. Kein Maß. Sammy! Verdammt, Samantha, reagiere auf mich! Höre mich! Bleib stehen!! Libbys Worte in ihrem Kopf, ausgesprochen in Panik und mit schriller, spitzer Stimme, waren Tropfen auf heiße Steine. Sinnlos, nutzlos. Sam nahm sie wahr, doch wann immer sie versuchte, sich an ihnen zu orientieren und aus dem Nebel herauszufinden, der ihren Geist umfangen hielt, kam sie nicht weit. Sie war allein – mit dem Wald und dem Etwas, das darin lauerte. Wartete. Nach ihr rief. Selbst die Stimmen der anderen Mitglieder des Drehteams, der Normalität, waren schon vor Minuten hinter ihr zurückgeblieben. Und der ganze Rest der Wirklichkeit mit ihnen. Es gab nur noch das Vorne. Den Weg ins Verderben. Mittlerweile hatte Samanthas gebannter Körper dem Drängen nachgegeben, das wie ein für menschliche Ohren unhörbarer Befehl aus dem Dickicht des Waldes schallte. Schritt für staksenden, unmenschlich ungelenk wirkenden Schritt trug er sie in die Schatten, vorbei an hohen Bäumen, hinter dichte Büsche und mit Moos bewachsene Steine von der Größe eines Erstklässlers. Wie eine Marionette ging sie über das hinabgefallene Laub, trampelte Moose und Farne nieder. Äste streiften ihr Gesicht, doch sie konnte die Arme nicht heben, den Kopf nicht drehen oder senken. Sie konnte gar nichts, außer dem Drängen des Waldes zu gehorchen und ihren Leib seinen unbekannten Wünschen preiszugeben. Sich dem Wald darzubieten, als lebende, atmende Opfergabe. Es war, als hielte ihr jemand eine Waffe an die Schläfe und zwinge sie zu Taten, die gegen ihr besseres Wissen geschahen. Taten, die sie freiwillig nie unternommen hätte. Sie war hilflos in diesen endlos scheinenden Minuten, wehrlos, gefangen in sich selbst. Und jeder Schritt, den sie wider ihren Willen in die Schatten machen musste, ferngesteuert von unbekannten Mächten, brachte Samantha weiter von ihren Kollegen fort. Weiter ins Dunkel. Noch immer stellte sich der Wald der entsetzten jungen Frau nicht mehr als das dar, was sie noch vor Minuten als Normalität empfun-
den hatte, sondern wie dessen dunkler Bruder – ein bizarres, ins Gegenteil verkehrte Abbild der Wirklichkeit, in dem was eigentlich friedlich und idyllisch wirken sollte, eine Abfolge von Schrecken und Ängsten barg. Bösartig war bis ins Mark. Sam ging geradeaus, blickte nicht nach rechts oder links. Aus den Augenwinkeln glaubte sie zu erkennen, wie sich die Äste der großen Bäume nach ihr reckten und sie zu fassen versuchten. Unwillkürlich fühlte sie sich an den »Herrn der Ringe« erinnert, und an die Ents – jene trägen und robusten Baumwesen aus der Fantasy. Doch das hier war real, zumindest wirkte es so auf sie. Und es gierte nach ihr! Spitze Äste streiften ihre Arme, pieksten in ihre Haut, hinterließen Striemen. Samantha spürte, wie kleine Wunden entstanden, wo die Natur ihr Kostüm zerriss. Als Jane Penforth, Rick Strykers treue Sekretärin und Mitstreiterin im Kampf gegen das Böse, war sie stets modisch und leger gekleidet. Momentan trug sie zu enge Blue Jeans – ein Muss für junge Hauptdarstellerinnen im Fernsehen –, eine cremefarbene und figurbetonte Bluse sowie eine leichte hellbraune Jacke im Outdoor-Look, den so viele Modelabels nachzuahmen trachteten, und die Bluse schien zunehmend den Angriffen der Natur zum Opfer zu fallen. Erste Risse im Stoff zogen sich über Samanthas Brust und ihren Bauch, legten Haut frei. Haut, die bluten konnte. Auch in ihren kastanienbraunen, schulterlangen Haaren verfingen sich Äste, zerrten an ihnen, rissen ganze Bündel an den Wurzeln aus. Und noch immer ging Sam unbeirrt weiter, geleitet vom Ruf ihres unbekannten Puppenspielers, ihres Entführers. Libbys flehende Bitten hallten in ihren Gedanken wider, so hilflos wie das Nebelhorn der Fähre am Morgen.
Es ist noch nicht vorbei. Oh, nein. Gott ist groß. Ist mächtig. Und er kümmert sich um die, die die Seinen sind. Sie weiß es, weil ER es ihr sagt. ER spricht zu ihr, mit einer Stimme, die den Posaunen Jerichos zur Ehre gereicht hätte. Eine Stimme, die Lazarus aus seinem Grab, Moses aus der Wüste geführt hatte. Die Adam und Eva
verstieß. So eine Stimme ist wie eine Naturgewalt! Sie geht bis ins Mark, reißt Mauern der Scham und der Hemmungen nieder, setzt frei, was Konvention und Erziehung jahrelang einzudämmen versuchten. Endlich frei. Und so hungrig. ER weitet ihre Sinne aus, lässt sie spüren, was sie umgibt. Die Schöpfung ist SEIN Geschenk an sie, und jeder Winkel des Waldes liegt mit einem Mal vor ihr wie die Seiten eines aufgeschlagenen Buches. Sie hört das Gras nicht mehr nur – wenn sie es möchte, ist sie das Gras! So umfassend ist SEIN Geschenk, dass die Natur ihr ihre Blaupausen zeigt, ihr den Schlüssel in die Hand drückt, das Steuer überlässt. Access All Areas. Backstage im Garten Eden. Hundert Meter rechts von ihr steht ein Kitz im Unterholz und äst. Es ist noch klein, unerfahren. Reizvoll, aber da ist mehr drin. ER garantiert es. Also weiter. Knapp zweihundert Meter links von ihr streif eine Waschbärenfamilie über den Waldboden. Vier Wesen, strotzend vor Lebenskraft. Der Gedanke an die Tiere bringt sie fast um den Verstand, aber sie muss sie ziehen lassen, will sie ziehen lassen, denn ER verspricht bessere Beute. Lohnenswertere. Alles, was sie dafür tun soll, ist warten. Und den Geist weiter öffnen. Sie gehorcht. Jubiliert. Vertraut. Gibt sich hin. Und dann … Ein Mensch! Herr im Himmel, ER schickt ihr einen Menschen! Tränen der Dankbarkeit wallen in ihr auf, laufen über ihre blutbesudelten Wangen. Ein ganzer Mensch! Sie lauscht ihm entgegen, wittert seinen Duft, seine Aura. Ihr ganzer Körper vibriert vor Verlangen und Gier. Da kommen zweiundfünfzig Kilogramm, ein Meter zweiundsiebzig Größe. Jung dem Geruch nach, aber nicht zu jung. So riecht Erfahrung, riechen Schweiß und Rückschläge, Höhen und Tiefen. All diese Eindrücke empfängt sie, nein, nimmt sie sich aus der Umgebung, als hätte sie Derartiges schon immer getan. Wie selbstverständlich. Niemand hat ihr beigebracht, wie das geht, doch sie kann es. Es ist SEIN Geschenk. Genau wie die junge Frau es ist, die dort gezielten Schrittes auf sie zu kommt. Die junge, starke, köstliche Frau.
Als Ellen Whesson in Sicht kam, traute Samantha Beckett ihren Augen nicht. Die stämmige Drehbuchautorin stand auf einer kleinen Lichtung von vielleicht drei Metern Durchmesser, hatte die Arme ausgebreitet und einen Ausdruck im Gesicht, der sich nur mit dem Wort selig beschreiben ließ. Ihre Wangen und ihr Mund waren blutbeschmiert, zwischen ihren Zähnen hingen Fellfetzen, und ihre Kleidung sah aus, als habe sie mit ihr den Boden eines Schlachthofes gewischt. Zu Ellens Füßen lagen ein paar Kleintierkadaver in der Herbstsonne herum, die Leiber mit Wunden verunstaltet. Schlagartig begriff Samantha, was hier geschehen war. Woher die Visionen stammten, die sie empfangen hatte. Und warum sie selbst ins Dickicht des kanadischen Forsts gezwungen worden war. Aus Ellens Augen sprach die Gier, der Hunger. Die Autorin machte einen Schritt vor, streckte die Arme aus. Und Samantha … Nein! Neinneinnein! Bitte nicht so! Libby! Libby hilf mir!! Gegen ihren Willen hob Samantha die Hände, streifte sich die Jacke ab, Hör auf, Sammy! Ich kann nichts dagegen tun. Hör auf. öffnete die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse Was tust du da, Samantha? Hör auf Lauf, solange du noch kannst! und präsentierte der so fremd gewordenen Kollegin ihren Hals. Ihre pulsierende, zuckende Schlagader. Ferngesteuert. Wehrlos. Sammy! Bitte! Renn weg! Für mich! Aber Ellen kam näher. Ellen öffnete den Mund. Ellen entblößte ihre Zähne. Samantha Beckett schloss die Augen. Die Schwärze hinter ihren Lidern war eine Gnade.
Kapitel 6 – Beben Der Schmerz kam so plötzlich, dass Zamorra für einen Moment die Kontrolle über seinen Körper verlor. Ein Stechen wie von tausend Nadeln durchfuhr ihn! Heiß, brennend bohrten sie sich in seine Schläfen, übernahmen seinen Geist! Sein ganzer Leib schien mit einem Mal in Flammen zu stehen. Hitzeschübe wallten über ihn, hüllten ihn ein wie unsichtbare Elmsfeuer. Was … Das ist … Zwecklos. Der Schmerz zog und zerrte an seinem Wesen selbst, überlagerte alles. War alles. Wer konnte denken, wenn schon das Atmen zur unerträglichen Qual wurde? Magie! Er musste einen Zauber wirken, seine magischen Kräfte nutzen, um einen Ausgleich … Prompt reagierten seine über lange Jahrzehnte antrainierten Reflexe. Sie öffneten seinen Geist, legten ruhendes Potenzial frei, gaben neue Energie. Doch die Nadeln blieben stärker. Ein leises Winseln schlich sich aus Zamorras Mund, als die ohnehin schon unvorstellbare Pein noch weiter zunahm und ihm endgültig die Kontrolle raubte. Zamorra keuchte. Hilflos sackte er in die Knie. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, sich an der Wand des Sanatoriumflures abzustützen; wenn nicht, wäre er rücklings zu Boden gegangen. Vor seinen Augen drehte sich der Gang. Die Welt kippte zur Seite, und in seinem Inneren tat es ihm sein Magen gleich. Eine unangenehme Mischung aus halb verarbeitetem Kaffee und bitterer Galle schoss dem Meister des Übersinnlichen in Mund und Nase, und der Schlag seines wie wild pochenden Herzens hallte in seinen Ohren wider – ein panisches Trommeln, so laut als liefe ein Presslufthammer in seiner Brust Amok –, und jeder neue Schlag trieb ihn bis an die Grenze des Wahnsinns. Es war das einzige Geräusch, das er noch hörte, und das einzige überhaupt, denn der Flur von Sacred
Heart war menschenleer. Die wenigen Patienten, die Nolan momentan im Haus betreute, schlummerten entweder dank medikamentöser Hilfe in ihren überteuerten und privatfinanzierten Bettchen, während die Angestellten des Hauses ihnen dabei zusahen, sich Notizen machten und Computermessungen auswerteten, oder sie vertrieben sich den Tag an der frischen Luft – im Sanatoriumsgarten. Zamorra war allein. Allein mit den Nadeln und dem Presslufthammer … … und mit der unsichtbaren Schraubzwinge, die sich plötzlich um seinen Brustkorb zu legen schien – und zudrückte! Der zweite Schub übertraf den ersten um Längen. Der Dämonenjäger fühlte sich hinterrücks von einer Welle gepackt und mitgerissen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Jeder Muskel seines Körpers verkrampfte, jeder Finger krümmte sich im verzweifelten Versuch, irgendwo Halt zu finden. Vergeblich! Binnen Sekunden lag Zamorra rücklings auf dem Boden, japsend wie ein Fisch, den die raue See an Land gespült hatte. Und genauso wehrlos. Das Licht der schmucklosen Neonröhren an der Decke des Ganges brannte in seinen Augen, ihr leises Summen auf einmal so laut wie das ganzer Heerscharen von Bienen. Ihm war, als blicke er ungeschützt in eine weiße, alles verschlingende Sonne, doch er konnte den Kopf nicht drehen. Bewegungen – jede Art von Bewegungen – schienen unmöglich! Phiiiipp! Phiiiipp! Einzig seine Atemzüge waren noch Siege gegen die Machtlosigkeit, quietschende Lebensspender, die sich ihren Weg durch fest zusammengebissene Zähne bahnen mussten. Speichel tropfte von Zamorras bebenden Lippen und bildete eine kleine Lache auf dem harten PVC. Etwas Warmes, Feuchtes breitete sich in seinem Schritt aus. Zamorra stöhnte, als auch seine Extremitäten zu zucken begannen. Arme, Beine schlotterten mit einem Mal spastisch, unkontrolliert. Und noch immer tobte einem Tsunami gleich die Welle aus Schmerz über ihn hinweg, noch immer drehte sich die Welt. Plötzlich erzitterte sie! Ein Schrei, gellend wie aus tausend Kehlen, hallte durch den wild vor seinen Augen wirbelnden Flur, dann erbebte der Boden. Stampfende Laute begleiteten die Erschütterungen,
jedes WUMM! heftiger als das vorhergehende, und brachten Zamorras überstrapazierte Nerven endgültig zum Reißen. Zu spät begriff er, dass die Beben von Füßen stammen mussten, die sich ihm im Laufschritt näherten. Von Helfern. Es klang wie die Füße von Elefanten. Als die erste Hand seinen Arm berührte, glaubte er, innerlich zu explodieren. Der Druck der fremden Finger gegen seinen Ellbogen war so immens, so vernichtend, dass er Zamorra bis ins Mark fuhr. Die Nerven!, dachte der Professor in einem Sekundenbruchteil seltsamer Klarheit. Das sind nur die Nerven! Wer immer da gekommen war, wollte ihm helfen, doch diese Gewissheit machte keinen Unterschied mehr. Wäre Zamorras gequälter Körper eine Maschine, so hätten längst sämtliche Alarmsirenen und Fehlermeldungen ihren Dienst aufgenommen. Und sie quittierten jede Veränderung des Status Quo mit lautem Protest. Jemand drehte ihn zur Seite, und irgendetwas in Zamorra brach. Ein animalischer Schrei explodierte aus der Kehle des Professors; Schmerz und Pein verbanden sich zu nichtmenschlichen, heiseren Tönen der tiefsten Verzweiflung, während ihn seine unfreiwilligen, unwissenden, gut meinenden Folterer weiter stützten und ihm eine Bahre unter den Rücken schoben. Finger strichen über seine schweißnasse Stirn, um sie zu trocknen, doch alles, was sie erreichten, war, die unsichtbaren Nadeln noch tiefer zu treiben. Münder näherten sich seinen Ohren, riefen seinen Namen und fragten nach seinen Symptomen, doch sein ganzer Verstand schien unter dem Hall ihrer Worte zu erzittern, sein Hirn zu vibrieren. Zu kochen. Aus dem Augenwinkel sah Zamorra die Spritze, blitzend im klinischen Licht der Röhren – und er begriff, dass all dies nur der Auftakt gewesen war! Die wahre Folter begann erst jetzt! Nein … Muss aufhören … Kann nicht … Abermals überlagerten das Feuer und die wachsende Panik sein Denkvermögen. Zamorra wollte sich wehren, wollte den Arm mit der Spritze beiseite schlagen, bevor Schlimmeres geschah, aber seine mentalen Befehle erreichten seine Gliedmaßen nicht, sein Geist rannte gegen Windmühlen an. Das Zucken hielt an, wurde rastloser, panischer. Zamorras Brust-
korb hob und senkte sich unregelmäßig und schneller, nahezu stakkatoartig. Jedes Schnappen nach Luft war ein Kampf sondergleichen, ein Triumph über das Chaos. Und dann … Zamorras Atmung setzte aus. Raschelnd wurde sein rechter Hemdsärmel hochgeschoben. Schläge wie von hölzernen Prügeln hieben in seine Armbeuge, brachten die Vene zum Vorschein. Als die Nadel der Spritze durch die Haut stieß, war ihm, als schössen zigtausend Volt gleichzeitig durch seinen Leib. Die Bewusstlosigkeit war eine Gnade.
»Was um Gottes willen …« Nolans fragender Blick hatte schon etwas Komisches an sich. Der alte Mediziner stand an Zamorras Bett, das Klemmbrett mit den Biowerten in der Linken, und wirkte hoffnungslos verwirrt. Und überfordert. Die hellen Augen unter den buschig-weißen Brauen blitzten, die Stirn lag in Falten, und der dicke Schnurrbart zitterte vor Anspannung. »Können Sie mir vielleicht erklären, was da gerade passiert ist?«, presste Nolan hervor. Zamorra schluckte – langsam und vorsichtig – und zog die Bettdecke höher. Ihm war noch immer kalt, unendlich kalt. »Ich vermute, es handelte sich um einen kleinen Schwächeanfall«, antwortete er gespielt heiter. »Nichts Ernstes.« »Nichts Er… Wie bitte?« Nolan riss die Arme hoch, dass seine Hemdsärmel aus dem Tweedjackett glitten. »Monsieur, Sie kollabieren am helllichten Tag im Flur meines Instituts, strecken spastisch alle viere von sich wie ein auf dem Rücken liegender Maikäfer und brüllen bei der kleinsten Berührung das ganze Haus zusammen. Ihr Puls steht kurzzeitig auf über 160, und über ihren Blutdruck will ich erst gar nicht nachdenken! Ihre Blase entleert sich auf meinem PVC, ihr Hemd ist schweißnass … Selbst jetzt zittern Sie noch wie Espenlaub – sehen Sie sich doch an! Und Sie behaupten tatsächlich, das sei ein Schwächeanfall gewesen?« Er hatte ja Recht. Zamorra wusste das so gut wie er. Aber er konn-
te sich nicht leisten, dem knautschgesichtigen Wissenschaftler zuzustimmen. Vor dem Fenster des Einzelzimmers im Westflügel des Instituts prangte die Sonne über den Hügeln von Vancouver Island und tauchte die Straße von Georgia in ein Meer von Farben. Bäume wiegten sich im Wind, Vögel hüpften auf ihren Ästen entlang, als wäre nichts gewesen. Für einen kurzen Moment stellte Zamorra sich vor, Nolan würde es ihnen gleichtun. Dann nickte er. »Glauben Sie mir, Doc, mehr war es nicht. Ich kenne meinen Körper. Das kommt öfter vor … Alte Kriegsverletzung, sozusagen. Lästig, ja, aber nicht dramatisch.« Auf Nolans Zügen kämpfte Unverständnis gegen Fassungslosigkeit. Letztere gewann. »Für wie dämlich halten Sie mich eigentlich, Zamorra?«, brauste er auf, und seine Haare bebten unter der Wucht seines unterdrückten, aus Sorge geborenen Zorns. »Gut, ich mag kein Allgemeinmediziner sein, aber glauben Sie mir: Auch ich habe während meines Studiums Vorlesungen gehört, deren Inhalte weit über den Tellerrand eines Schlafforschers und Psychologen hinausgingen. Ich sehe, wenn jemand krank ist, Herrgott noch mal! Ich … Ach, das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand! Und Ihnen sagt er es auch. Glauben Sie, ich merke es nicht, wenn man mich anlügt?« Der Vorwurf hing in der Luft, doch Zamorra ging nicht weiter darauf ein. Dies war nicht der Moment für Streitgespräche – und Nolans Sorge war verständlich, sogar nachvollziehbar. Nicht umsonst hatte der Kanadier bereits damit gedroht, einen Hubschrauber zu bestellen, um Zamorra zum Festland fliegen zu lassen, wo es richtige Krankenhäuser gab. Aber wenn der Professor zugab, Nolans Sorge zu verstehen, konnte er seine Chancen, dieses oder ähnliche Krankenzimmer in naher Zukunft zu verlassen, gleich in den Wind schreiben. Und er musste raus. Das spürte Zamorra mit jeder Faser seines Körpers – und nicht nur mit den fünf Sinnen, die Nolan ihm vermutlich zugestanden hätte. Wenn nur dieses Zittern nicht wäre. Machte denn hier niemand die Heizung an? »Aber Sie sehen doch, dass ich wieder völlig auf
dem Damm bin«, warf der Dämonenjäger von der Loire ein und bemühte sich, ruhig und gefasst zu klingen. Selbstsicher. »Was sagt denn Ihr Klemmbrett? Alle Werte sind wieder normal, richtig? Diese Anfälle kommen so schnell, wie sie dann auch wieder verschwinden, Doc. Und sie sind es nicht wert, sich ihretwegen über Gebühr den Kopf zu zerbrechen.« Hätte Zamorra seinem Gegenüber verkündet, von nun an unter dem Namen Gibblifrutzz der Große in einer Wellblechhütte im Nildelta Dart-Scheiben herstellen zu wollen, Nolans Gesicht hätte nicht ungläubiger wirken können. Der Kanadier starrte ihn an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn sofort noch mal. Dann rollte er mit den Augen. »Als Nächstes sagen Sie mir wahrscheinlich, dass Sie sich zur Not freiwillig entlassen werden, nicht wahr? Auch gegen meinen Rat.« Der Spott in Nolans sonorer Stimme war nahezu greifbar. »Dass Sie sich jeglicher weiterführenden Behandlung verwehren, egal ob von mir und meinem Team oder von anderen Medizinern.« Seit Zamorra den kauzigen Mann kannte, hatte er ihn nie so ernst gesehen. Nolan war ein eigensinniger Typ, schrullig und verschroben – trotz seiner fachlichen Kompetenz. Aber wütend? Nun, er war es jetzt. Sehr sogar. Dennoch wusste der Meister des Übersinnlichen, dass er gewonnen hatte. Nolans letzte Bemerkung hatte es ihm bewiesen. »So ist es«, sagte Zamorra betont lässig. »Wirklich, Nolan, es besteht kein Grund zur Sorge. Mir geht es gut.« »… sagte der 300-Kilo-Koloss und biss in den nächsten Burger. Mann, Mann, Mann … Normalerweise sind Ärzte die schlimmsten Patienten, aber Sie übertreffen sämtliche Quacksalberkollegen, die mir je untergekommen sind, noch um Längen.« Der Institutsleiter legte das Klemmbrett beiseite, trat zum Bett und legte Zeige- und Mittelfinger an Zamorras Handgelenk, um ihm den Puls zu messen. Nach ein paar Sekunden lachte er, doch es klang wie ein Weinen. »Wissen Sie, was Sie sind?«, fragte er leise. Der Professor grinste. »Ein sturer Bock?« »Ein medizinisches Rätsel«, antwortete Nolan. »Und ein sturer Bock. Eigentlich müssten Sie fix und fertig sein. Es grenzt schon an
ein Wunder, dass wir überhaupt diese Unterhaltung führen.« Zamorra schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Sie wirkten bleich unter dem hellblauen Krankenhauskittel, nahezu käsig. »Aber ich bin fit und fidel! Wenn Sie also gestatten, würde ich mich jetzt gerne wieder ankleiden. Ich habe noch einen Termin.« Nolans Gesicht sprach Bände, doch sein Mund schwieg. Einen langen Moment hielt er Zamorras Blick stand, dann schnaubte er kurz und humorlos und trat zur Tür. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Monsieur«, sagte er. »Aber eins garantiere ich Ihnen: Bevor Sie den Fuß über die Schwelle meines Hauses setzen, unterschreiben Sie mir, dass Sie gegen meinen ausdrücklichen Rat handeln, klar?« »Klar.« Zamorra grinste. »Und danke, ehrlich. Hätten ihre Leute nicht so besonnen reagiert, wäre ich vermutlich längst nicht so schnell wieder auf dem Damm gewesen.« Das war eine Lüge, aber auf eine mehr, fand er, kam es nun auch nicht mehr an. »Sicher«, murmelte Nolan, während er die Tür hinter sich schloss. »Was auch immer.« Dann war er fort und Zamorra endlich allein. Für einen Augenblick drohte ihn der Schwindel zu übermannen, den er seit Minuten zu unterdrücken versuchte, doch diesmal war er stärker. Was er da erlebte, waren nur noch die Nachwehen der Hauptattraktion von vorhin, das wusste er. Nichts als körpereigene Folgeschäden. Zwei, drei Schritte an der frischen Luft, und alles war wieder gut. Zumindest in gesundheitlicher Hinsicht. Kaum hatte Zamorra den Stuhl erreicht, auf dem Nolans Pfleger seine Sachen gefaltet hatten, suchte seine Hand auch schon nach dem Handy in der Tasche seines weißen Jacketts. Es war ein Leichtes, die Nummer des Château Montagne im Speicher des Gerätes zu finden. Die Verbindung stand bereits, als er das Telefon ans Ohr hielt. »Monsieur?« »William, gut, dass Sie gleich dran gehen. Hören Sie, ich müsste Sie um einen Gefallen bitten …« Mit wenigen Worten beschrieb der Meister des Übersinnlichen, was vorgefallen war. Dann seine Vermutung.
»Und nun wollen Sie, dass ich …« William begriff sofort. »Werfen Sie den Para-Scanner an«, scherzte Zamorra. »Nein, im Ernst. Irgendetwas ist hier geschehen. Ein magisches Ereignis von derartigem Ausmaß, dass ich … Ja, dass ich schlicht überrannt wurde.« Sein Spidey-Sinn trog ihn nie, und diesmal hätte er ihn fast ins Verderben gezogen. »Recherchieren Sie, William. Nachrichten, Webseiten, Polizeiberichte … Alles, was Sie in die Finger, an die Leitung oder auf den Monitor bekommen können, mag entscheidende Informationen enthalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich der Einzige bin, dem das unbekannte Phänomen aufgefallen ist – was immer es auch gewesen sein mag.« »Und Sie?« Der langjährige Butler klang besorgt. »Soll ich Ihnen eine Heimreise organisieren, damit Sie sich von den Strapazen erholen können? Dr. Nolan mag fachfremd sein, aber seine Einwände sind durchaus nicht unbegründet – auch im Falle eines Dämonenjägers wie Ihnen.« Zamorra rollte mit den Augen. Was hatten nur alle mit seinem Wohlbefinden? »Nett von Ihnen, aber ich helfe hier niemandem, indem ich erst einmal verschwinde. Außerdem geht's mir schon wieder gut. Nein, ich werde mich draußen umschauen und umhören. Dieses Crestfallen Point beginnt allmählich, mich zu interessieren.« Willkommen in Kanada, dachte er und musste schmunzeln. Kommen Sie für unseren Rotlachs, bleiben Sie für unsere paranormalen Erscheinungen. William seufzte. »Und was ist mit diesem Prediger? Haben Ihre diesbezüglichen Untersuchungen überhaupt schon Ergebnisse gebracht?« Schwang da etwa ein Vorwurf in der Stimme des Butlers mit? »Das kann ich so nicht sagen«, gestand Zamorra ein wenig widerwillig. »Aber ich habe ein gutes Gefühl bei der Sache. Beweise liegen mir nicht vor, aber mein Instinkt sagt mir, dass ich Geduld haben soll.« »Ihr Bauchgefühl …«, murmelte William kaum hörbar. Es klang, als wisse er nicht, ob er lachen oder resignieren sollte. »Mal wieder.« Zamorra hob die Brauen. »So viel Kritik hätte ich von Ihnen gar nicht erwartet.«
»Was?« William schluckte. »Verzeihen Sie, Monsieur. Ich … Das war nicht für Ihre Ohren bestimmt. Ich habe nur laut gedacht.« »Leise geschimpft trifft es eher«, tadelte der Professor in gespielter Entrüstung und lächelte. »Schon gut, William. Ihre Sorge ehrt mich, aber glauben Sie mir, ich habe hier alles unter Kontrolle.« Wie erwartet, enthielt sich der Butler jegliches weiteren Kommentars in dieser Sache. »Verstanden, Monsieur«, sagte er schlicht – und Zamorra stellte sich vor, wie er dabei mit den Augen rollte. »Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder. Seien Sie vorsichtig.« Mit einem leisen Klick wurde die Telefonverbindung getrennt, und Zamorra war abermals allein mit seinen Gedanken. Es waren keine guten. Der Meister des Übersinnlichen nahm sich seine Hose, das Hemd und das Jackett, trat zum Fenster und schaute hinaus. Während er aus dem Kittel in seine gewohnte Kleidung wechselte, ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen. Es muss groß gewesen sein. Groß und mächtig. Heftig. Aber alles, was ich hier sehe, ist ein verfallenes Postkartenidyll. Herbstlich bunte Blätter, Sonnenstrahlen auf azurblauem Wasser und ein paar ramponierte Häuser inmitten all der Natur. Das war ein friedliches Bild, kein bedrohliches. Auf einem Kinderspielplatz drehte sich ein metallenes und von Rost übersätes Karussell leicht im Schwung der kühlen Brise, die vom Wasser herüber aufs Land getrieben kam. Blätter segelten von Ästen aufs Gras, wo sie zweifellos an Eichhörnchen erinnernden Nagern auf die Köpfe flogen. Nichts deutete darauf hin, dass hier erst vor kurzer Zeit ein allem Anschein nach schwarzmagisches Ereignis von unbekanntem, aber vermutlich immensem Ausmaß stattgefunden haben musste. Und doch wusste Zamorra, dass es so war. Und die Tatsache, dass Crestfallen Point wirkte, als sei alles beim Alten, erfüllte ihn mit mehr Sorge, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. Bei sichtbaren Veränderungen hätte ich zumindest schon mal einen Ansatz. Etwas, gegen das ich gezielt vorgehen könnte. Aber so … Es half nichts. Von seinem Beobachterposten in Nolans piekfeinem Sanatorium aus war kein Krieg zu gewinnen. Wenn Zamorra dem Rätsel dieser kleinen Insel auf die Spur kommen wollte, musste er diese Spur erst finden – und das würde ihm sicher nicht im Inneren
eines Hospitalzimmers gelingen. Keine zehn Sekunden später war er im Flur und marschierte zielstrebig auf den Ausgang zu. Die kanadische Sonne begrüßte ihn wie einen alten Freund, als er aus der zweiflügeligen Tür des Sanatoriums trat und in den Hof kam. Warm und angenehm fiel ihr Licht auf sein Gesicht, hüllte ihn ein wie eine Decke. Es vertrieb die Kälte, die noch in seinen Knochen gesteckt hatte, und ließ den Schweiß auf seiner Stirn trocknen. Zamorra spürte förmlich, wie jeder weitere Schritt, den er von Nolans Palast und Arbeitsstätte fort machte – jeder Schritt an der frischen Luft und in der Sonne – ihm neue Kraft gab, ihn innerlich gesunden ließ. Und Sie wollten mir nicht glauben, Doc, dachte er amüsiert. Als er ans Ende der asphaltierten Sanatoriumszufahrt kam, fühlte er sich schon um Längen besser. Nun musste er sich entscheiden: rechts oder links? Vor ihm traf die Zufahrt auf die einspurige Teerstraße, die, wie er wusste, in die und aus der kleinen Ortschaft führte, in welcher die einstigen Einheimischen gelebt hatten. Links ging es in den Ortskern, den er bereits von seinem Fenster in Auszügen hatte erblicken können, rechts ging es weiter ins Innere der Insel. Nolan zufolge standen dort nur noch zwei, drei Häuser, unbewohnt wie der Rest, danach kam bloß freie Natur. Wanderwege, ein zugewucherter Zeltplatz. Die Crux eines planlosen Vorgehens bestand darin, dass man nicht wusste, welcher Weg derjenige war, der zum Ziel führte. Rechts oder links? Zamorra stand kurz davor, ernsthaft zu erwägen, eine Münze zu werfen, als eine Bewegung im Gebüsch direkt neben ihm ihn innehalten ließ. Irgendetwas war da hinter den Blättern und Ästen. Ein Tier vielleicht? Dafür war es eigentlich zu groß. Soweit Zamorra wusste, gab es auf Crestfallen Point keine für den Menschen gefährlichen Räuber, und falls doch, hätte sich wohl kaum ein Bär oder Ähnliches so nah an Sacred Heart herangetraut. Oder war es gar ein Mensch? »Hallo?«, fragte der Professor leise. »Ist da jemand?« Abermals raschelte es. Zweifellos verbarg sich etwas in den Sträuchern, die Nolans Gelände vom Rest der Insel abtrennten. »Sind Sie Patient hier?« Dumme Frage, wer sonst sollte es sein?
»Brauchen Sie Hilfe?« Zamorras Para-Instinkt war wie die Nadel eines Geigerzählers, und nun schlug sie voll aus. Sämtliche Alarmsirenen in seinem Geist gingen los. Ohne die Büsche aus den Augen zu lassen, machte der Meister des Übersinnlichen einen Schritt zurück auf das Haus zu. Langsam, ganz langsam. »Ich kann Hilfe holen, wissen Sie? Hier sind Ärzte …« Er redete eigentlich nur noch, um sich selbst zu beruhigen. Das da hinter den Ästen scherte sich sicher nicht darum. Und es brauchte auch keinen Arzt. Aber was war es? Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem gewaltigen Satz brach ein Koloss aus dem Buschwerk. Blätter segelten nach allen Seiten davon, Äste brachen – und ein steinerner Engel von gut und gerne zwei Metern Größe sprang auf den Rasen des Instituts. Seine breiten Schwingen waren kunstvoll gefertigt, seine weite Robe sorgfältig aus dem Stein gemeißelt worden. Und sein Gesicht nicht minder detailreich wie das eines Menschen. Der Engel neigte den Kopf, sah Zamorra direkt an. Seine Schwingen blockierten die Sonne. Und der Professor begann zu laufen. McPhees Traummonster! Sie sind real! Nicht zum ersten Mal verfluchte er den Tag, an dem er Merlins Stern bei Asmodis »in Reparatur« gegeben hatte. Das magische Amulett hätte ihm in dieser Situation gute Dienste leisten können – vorausgesetzt, es hätte fehlerfrei funktioniert, was es kaum noch tat. Stampfende Schritte hinter ihm. Zamorra hörte das charakteristische Fauchen des leblosen Ungetüms, spürte den heißen Atem des Engels in seinem Nacken. Alles war, wie der Prediger es beschrieben hatte. »Monsieur!!« Als er aufblickte, sah er Nolan am Fenster seines Büros stehen. Der weißhaarige Alte sah aus, als sei er LUZIFER persönlich begegnet. Aus weit aufgerissenen Augen beobachtete er, was sich wenige Meter vor seiner eigenen Tür abspielte.
»Verschließen Sie sofort die Türen, Nolan!«, rief Zamorra, ohne seinen Lauf zu verlangsamen. »Und die Fenster. Riegeln sie das gesamte Gebäude ab!« Wo ein Engel existierte, konnten auch weitere sein, und Zamorra wollte keine Risiken eingehen. Schon ahnte er die steinernen Krallen des Monstrums in seinem Rücken, als er über die Schwelle von Sacred Heart preschte und die Tür hinter sich schloss.
Kapitel 7 – Lichter des Grauens Nicht mehr lange. Die Wände sind dünner als sonst, brüchiger. Die Chancen stehen gut. Geduld ist eine Tugend und wer sie besitzt, dem zahlt sie sich irgendwann aus. Daran besteht kein Zweifel Was gerade geschieht, ist Beweis genug. Mehr sogar. Die Ränder wabern schon, leuchtend kalt und immer schon. Erste Fühler strecken sich bereits ins Jenseits hinüber, sondieren, tasten. Sie schaffen Kontakte, bereiten vor. Und sie leisten ganze Arbeit. Endlich ist die Möglichkeit da, ein Weg entsteht aus dem Nichts. Bald. Aus tausend Bildern wird eine Erzählung, tausend Eindrücke machen ein Objekt. Worte sind mächtiger als Taten und Gedanken mächtiger als Worte. Gedanken mächtiger als Worte.
Im ersten Moment dachte Kameramann Keith »Charlie« Charles, irgendjemand wolle ihn veralbern. Er hatte sich von der Gruppe entfernt und seine Kamera auf dem Waldboden abgelegt, um sich hinter einem Busch zu erleichtern – und stand auf einmal vor einer … Ja, vor was? Wie konnte er beschreiben, was sich nicht einmal erfassen ließ? Mitten im Wald, etwa achtzig Zentimeter über dem mit Nadeln und Blättern übersäten Erdboden, schwebte ein glitzerndes Etwas von vielleicht zwei Armeslängen Durchmesser. Es war weiß wie die Sonne an einem nebligen Himmel, hell wie der Kern einer Explosion, und es schien aus diversen in sich wabernden und zitternden Lichtfragmenten zu bestehen. Keith fühlte sich an einen Vorhang aus Glasscherben erinnert, an ein Windspiel im Sonnenschein … Doch dieses Ding war kalt. Feindselig. Es rührte sich keinen Millimeter vom Fleck – fast, als wäre es gar nicht wirklich da. Nein, dachte Keith, als gehöre es nicht hierher.
Ihm war, als hätte eine unbekannte Macht eine durchsichtige Folie über die Wirklichkeit geworfen, und dieses Lichtdings da vorne gehörte nicht zu Keiths Welt – sondern zur Folie. Es überlagerte die Realität. Zumindest die, die er kannte. Normalerweise war Keith ein einfacher Mann. Er mochte Dosenbier, Footballübertragungen und den allwöchentlichen Ausflug zur Mall, lachte über Charlie Sheen und hielt »CSI« für den ungekrönten König der dramatischen Fernsehserien. Theoretische Abhandlungen und wissenschaftliches Gedankengut waren sein Metier nicht. Entsprechend stark überraschte es ihn, wie schnell und wie sicher er den Folien-Vergleich gezogen hatte. Wie sehr er von ihm überzeugt war. Erst jetzt bemerkte der gut vierzigjährige Arbeiter, dass es völlig still geworden war. Kein Laut war mehr zu hören, absolut nichts. Selbst die Schritte und das Gemurmel seiner Kollegen, die nur wenige Meter entfernt durch das Unterholz streiften, um einen geeigneten Drehplatz für die nächste Szene zu finden, drangen nicht mehr an seine Ohren. Die Natur hielt den Atem an. Wartete. »Hey!«, rief er, einem plötzlichen Impuls folgend, in das Schweigen. »Hey, Leute, das solltet ihr euch mal ansehen …« Der Satz war noch nicht beendet, da explodierte die Welt! Das wabernde Etwas weitete sich rasend schnell aus, wurde zu einer gleißend hellen Supernova und raubte »Charlie« Charles erst die Sicht, dann die Kontrolle. Augenbrauen kokelten, Haut schlug Blasen, platzte, legte Fleisch und Nervenbahnen frei. Hart schlug der Kameramann auf dem Waldboden auf, doch für ihn war der Boden verschwunden, war alles verschwunden. Nur noch das Licht existierte – und es verschlang ihn, wie es schon seine Welt verschlungen hatte. Keith verstand nicht, was geschah. Es entzog sich jeglicher Erklärung. Und doch war es real, das wusste er. Als Nächstes kamen die Bilder. Bizarre Landschaften zogen an Keiths schreckgeweiteten Augen vorbei, jede so fremd und unwirtlich aussehend wie die vorherige. Er schwebte über ihnen, schwerelos wie ein Vogel im Wind. Da war eine Ödnis, über der blutende Sonnen an einem feuerrot leuchtenden Himmel hingen und ihren ätzenden, alles verdorrenden Schein
vergossen. Da standen Wälder, deren Bäume und Sträucher gefangene Wesen waren, für alle Zeit verwurzelt und zu einem regungslosen Dasein im Halbdunkel gezwungen. Keith sah Kreaturen, fremdartig und durch und durch abstoßend. Wie ausgeweidet lagen sie auf dem Boden, während ihre Innereien aus offenen Wunden herauslugten, zuckend und bebend. Todesszenen voller Grausamkeit. Er sah Städte – so surreal, wie sie kein irdischer Maler hätte entwerfen können –, in deren Kern ein gewaltiges körperloses Auge thronte, ein Baal inmitten eines Kultes aus dunklen und trostlosen Gebäuden. Grün und gehässig starrte dieses unmenschliche Auge in den nächtlichen Himmel und sah Keith bis auf den Grund seiner Seele. Es wirkte siegessicher, auf ewig triumphierend. Unfassbare Eindrücke. Bilder jenseits des Rationalen. Doch Keith spürte, dass sie real waren. Es gab all diese Orte und Wesen – irgendwo, irgendwann, auf anderen Ebenen der Folie! Das Licht verband sie mit ihm, mit seiner Gegenwart. Und es … nährte sich an ihnen. Die Luft vibrierte, dröhnte gegen seine Knochen und in seinem Hirn. Unsichtbare Beben packten seinen geschundenen Leib, rissen ihn herum. Dreck drang in seine Wunden (Dreck? Woher kam der Dreck?) und brannte wie die Feuer der Hölle. Keith schrie sich die Kehle heiser – aus Angst, aus Wut, aus Schmerz – aber er hörte nicht einmal sich selbst. Dann war es vorbei. So unvermittelt, wie sie gekommen war, schwand die Lichtexplosion wieder, die absurden Szenarien gingen mit ihr, und der Wald kehrte zurück. Keith spürte die vertrauten Blätter an seiner Stirn, roch die würzige, klare Luft. Vorsichtig tastete er an sich hinab, befühlte sich die Wangen. Keine Wunden – konnte das sein? Hatte er nicht selbst gespürt, wie seine Haut weggeflammt war, sein Fleisch gekocht hatte und seine Haare brannten? Ganz langsam richtete er sich auf, schaute an sich hinab und fand keinerlei Anzeichen eines Schadens. Seine Kleidung war dreckig, aber es fehlte ihm nichts. Als er sich umdrehte, sah er das glitzernde Etwas wieder, zurückgeschrumpft auf seine Ausgangsgröße. Fassungslos starrte Keith es an, unfähig das Erlebte zu verarbeiten. Als Quatermill ihn an der Schulter berührte, zuckte er schreiend
zusammen, wirbelte herum und riss den fettleibigen Regisseur von den Füßen.
Kalte Lippen auf ihrer Haut, Hände an ihren Schultern. Gierig, klammernd. Samantha Beckett stand regungslos da, während Ellen Whesson sie griff, sich gegen sie presste und begann, ihr die Kehle zuzudrücken … Plötzlich warf die Autorin den Kopf zurück! Ellen riss den Mund auf, blickte zum Himmel hinauf und schrie so laut, dass im Umkreis von mehreren Dutzend Metern Vögel aufstoben und Nagetiere das Weite suchten. Ein animalisches Gebrüll, frustriert und ängstlich zugleich. Dann verstummte sie von einem Augenblick auf den anderen. Ihre Arme sackten herab, ihr Kopf sank auf ihre Brust. Gleich einer Puppe, deren Fäden gekappt worden waren, stand sie nun vor Samantha, und nur das Heben und Senken ihres Brustkorbs verriet, dass noch Leben in Ellen war. Erst nach und nach begriff Sam, dass sie wieder klar denken konnte. Dass ihr Geist frei war. Libby? Sie keuchte, blinzelte hektisch die Phantome fort, und sah an sich hinab. Ratlos. Hilflos. Libby, wo bist du? Wo bin ich? Was … Was ist passiert? Sie kam sich vor, als sei sie aus einem Albtraum erwacht, dessen Ausläufer noch immer an ihr klebten. Nur mühsam erfasste sie die Situation, erinnerte sich an die vergangenen, unfassbaren Minuten. Ellens nahezu reglose Gestalt war ihr dabei eine hervorragende Hilfe. Ich weiß es nicht, antwortete die Schwester in ihren Gedanken. Aber was immer es war, jetzt ist es vorbei. Zumindest für den Moment. Die Irre schläft oder so. Mach einfach, dass du wegkommst, bevor sich das wieder ändert, klar? Diesmal musste ihr niemand zweifach sagen, was die Stunde geschlagen hatte. Endlich wieder Herrin ihrer fünf Sinne, machte Samantha Beckett auf dem Absatz kehrt und lief los. Nach ein paar Metern hielt sie inne.
Und Ellen? Was immer mich … beherrscht hat, muss auch für ihr Verhalten verantwortlich sein, oder? Vielleicht ist sie ebenfalls wieder normal. Vielleicht kann ich ihr helfen! Libby wirkte nicht überzeugt. Vielleicht springt sie dich aber auch wieder an, sobald du ihr zu nahe kommst, und beendet ihren Job. Deine Nächstenliebe in allen Ehren, Mädchen, aber rette zunächst mal deine Haut. Hol Hilfe. Als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, kam just in dieser Sekunde wieder Leben in den untersetzten Leib von Ellen Whesson. Die Autorin von Night Fighter hob den Kopf und blickte Samantha über die Distanz von vielleicht zwanzig Schritten hinweg an. Aus Augen, die nicht länger glühten. Der Schauspielerin war, als könne sie in diesem Gesicht lesen wie in einem Buch. Sorge und Angst standen dort geschrieben. Ratlosigkeit … und Scham. »Ellen?« Sam konnte nicht anders. Sie musste es versuchen, musste helfen. Auch Ellen war Opfer. »Ellen, ist alles in Ordnung? Weißt du, wer ich bin?« Die Produktionskollegin wirkte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, hoffnungslos überfordert. Trotz ihres unförmigen Wollpullovers zitterte sie am ganzen Körper. Samantha war, als könne sie das Klappern von Ellens Zähnen bis zu sich hinüber hören. Sie wollte gerade einen Schritt nach vorn machen, als Ellen Whesson zusammenzuckte. Dann wirbelte die Autorin herum, nahm die Beine in die Hand und verschwand ziellos im Unterholz. Lass sie, kommentierte Libby seltsam ungerührt. Wir finden sie auch noch, wenn wir mit den anderen zurückkommen. Allein haben wir ohnehin keine Chance. Lass uns wieder zum Dorf gehen und berichten, was hier vorgefallen ist. Dann organisieren wir einen Suchtrupp. Samantha seufzte. Was genau war denn vorgefallen? Wie sollte sie erklären, was sie nicht einmal verstand? Aber sie musste ihrer Schwester Recht geben. Es hatte keinen Zweck, ohne Hilfe nach Ellen zu suchen. Sie brauchte Unterstützung, wenn sie aus dieser verrückten Situation einen Sinn herausarbeiten wollte. Außerdem hatte sie nichts dagegen, den Wald und seine Schatten erst einmal hinter sich zu lassen. Seit Samantha aus ihrer mentalen
Starre erwacht war, wirkte die Umgebung zwar wieder völlig friedlich und normal, doch wenn sie im Laufe ihres Lebens eines gelernt hatte, dann, nichts als selbstverständlich hinzunehmen. Nichts vorauszusetzen. Noch nicht einmal die Logik selbst. Nach etwa zwanzig Minuten – in denen sie sich alle paar Schritte umgedreht und erwartet hatte, das erneut zur hasserfüllten, mordlüsternen Fratze verzerrte Gesicht Ellens direkt hinter sich zu erbücken – erreichte sie die verlassene Siedlung. Crestfallen Point sah aus wie immer. Die niedrigen Häuser, kaum mehr als eine Handvoll, standen friedlich in der Gegend herum, badeten im Licht der Sonne, und hinter ihnen glitzerte die Straße von Georgia wie ein Strom aus Diamanten. Möwen flogen in niedriger Höhe über der Wasseroberfläche, hielten nach Fischen Ausschau. Raubtiere allesamt. »Flynn?« Samantha preschte aus dem Dickicht aus Bäumen, Sträuchern, Moos und Schatten wie eine Marathonläuferin kurz vor der Zielgeraden. »Roger? Jemand zu Hause?« Stille antwortete ihr. Weit und breit zeigte sich kein Mensch. Sam trat auf den Dorfplatz und blickte sich um, doch alles, was sie sah, war ihr eigenes Abbild – gespiegelt in den Schaufenstern der verlassenen Antiquariate. Sie sah furchtbar aus. Ihre Haare waren zerzaust, ihre Bluse kaum mehr als ein Fetzen, unter dem ihr blutbeschmierter Oberkörper und der BH herauslugten, und ihre Jeans strotzte vor Dreck. Rote Striemen zogen sich über ihre Stirn und ihre Wangen, und ihr Hals wirkte, als habe er in einer Schraubzwinge gelegen. Die blauen Flecken, die darauf schimmerten, würden in den nächsten Stunden noch größer werden, daran bestand kein Zweifel. Mit einem Mal spürte Samantha jeden Knochen in ihrem Leib und kam sich unendlich alt vor. Alt und allein. Wo waren nur alle hin? Panik stieg in ihr auf, als sie sich vorstellte, das Team von Night Fighter habe die Segel gestrichen, die Insel verlassen – und Samantha mit der wahnsinnigen Ellen ihrem Schicksal überantwortet! Unsinn, rief sie sich mental zur Ordnung. Warum sollten sie das tun? Sie wissen doch nichts von dem, was im Wald vorgefallen ist. Und
Flynn würde niemals ohne mich aufs Festland zurückkehren. Es sei denn, er hat dich vergessen, stichelte Libby. Genauso, wie er seinen Text vergisst. Oder ihnen ist das Gleiche widerfahren: Vielleicht sind sie allesamt wie wahnsinnig in den Wald gerannt, Nagetiere töten. Samantha ignorierte sie und sah zum Wasser hinab. Weit und breit machte sie keine Fähre oder ein anderes Beförderungsmittel aus. Nein, die anderen waren noch auf Crestfallen Point, daran bestand kein Zweifel. Sie musste sie nur finden. Als sie sich umdrehte, um die Häuser nach und nach abzusuchen, stieß sie fast mit Roger Dilmore zusammen. Der Darsteller des Vampirfürsten stand direkt hinter ihr – seltsam, dass sie ihn gar nicht kommen gehört hatte –, hielt der Kollegin aber den Rücken zugewandt. Der Kragen seines Capes war hochgeschlagen und verlieh ihm das Aussehen eines breiten dunklen Quaders, aus dem unten zwei Beine und oben ein halber Kopf herauslugten. »Roger?« Samantha war gleichermaßen erleichtert wie überrascht. »Mensch, hast du mich erschreckt. Ich hatte schon gedacht, ihr wärt weg.« »Sind sie auch, die anderen.« Dilmores Stimme klang gepresst, nasal. Als bereite es ihm Mühe, die Worte auszusprechen. Seine Schultern zuckten mit jeder neuen Silbe zusammen wie unter Schlägen, und seine lächerliche Blessed-Halbglatze hing ihm halb in den Nacken. »Einen Drehort im Wald auskundschaften. Soll auf dich warten. Bin deshalb noch hier.« Sam machte einen Schritt zurück. »Roger?«, wiederholte sie leise, skeptisch. Ihr war auf einmal sehr, sehr kalt. Oh-oh! Plötzlich wandelte sich Rogers Tonfall. Seine sonst so luftig-leichte Künstlerstimme wich einem heiseren Wispern. »Lauf, Samantha!«, krächzte er, und die Zuckungen nahmen zu. Sie ließen ihn sich krümmen und in die Knie gehen. »Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aufhalten kann! LAUF!!« Sam Beckett reagierte sofort. Ohne darüber nachzudenken, wirbelte sie herum und rannte fort, den Abhang hinunter und auf den Hafen der ehemaligen Siedlung zu. Das Wasser leuchtete ihr entgegen, strahlend, friedlich. Trügerisch.
Crestfallen Point war keine Idylle, das begriff Samantha in diesen Minuten ein für alle Mal. Es war eine Falle. Und das Team ihrer bescheuerten TV-Serie war mitten hineinspaziert. Schon hörte sie Rogers Schritte hinter sich, stampfend und schnell. Sein Atem klang pfeifend, nah. Oh, so nah! »Nein!« Sie kreischte und rannte weiter, rannte um ihr Leben. »Lass mich!« Das Bootshaus kam in Sicht, eine einstöckige Holzbude neben dem Anlegesteg, der hinaus ins Wasser führte. Ob es in ihm irgendwo eine Waffe gab? Ein Ruder vielleicht oder ein Eisen? Irgendetwas, das sie gegen das Ding einsetzen konnte, das in Roger gefahren war? Noch fünf Meter bis zur Tür. Sie hing schief in ihren Angeln. Es würde ein Leichtes sein, sie zu öffnen. Hoffentlich … Pass auf! Libbys Warnung kam zu spät. Schon spürte Samantha die Hand ihres Co-Stars auf der Schulter. Verzweifelt riss sie sich los, taumelte vor und machte einen Ausfallschritt, um ihr Gleichgewicht zu wahren, doch Roger war wieder schneller. Sein Arm schlang sich um ihr Standbein, riss es zurück. Mit einem lauten Schrei fiel Sam zu Boden – und Roger Dilmore, der vor Jahrzehnten für seine so einfühlsame Darstellung des Willy Loman aus »Tod eines Handlungsreisenden« mit dem wichtigsten Theaterpreis Kanadas ausgezeichnet worden war, Roger, der so vergeistigte Künstler, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und unfähig war, ohne fremde Hilfe eine Glühbirne auszuwechseln – eben dieser Roger sprang auf ihren Rücken, pinnte sie mit spitzen Knien auf den trockenen, staubigen Asphalt und vergrub seine Hände in ihren braunen Haaren. Danach riss er ihren Kopf zurück. Grob. Eine Stimme, die wie eine pervertierte Kopie von Roger Dilmore klang, krächzte: »Showtime …« Samantha wand sich in seinem Griff, schlug nach seinen Armen, doch für jede ihrer Bewegungen verstärkte das Dilmore-Ding den Zug an ihren Haaren. Seine freie Hand fand den Weg zu ihrem Hals und schloss sich um ihre Kehle.
»Roger!«, stöhnte Samantha auf. »Das bist nicht du! Kämpf dagegen an!« Dann spürte sie einen stechenden Schmerz im Hinterkopf und sah nur noch, wie der Straßenboden plötzlich rasend schnell näher kam …
Kapitel 8 – Das Schlimme am Wahnsinn Es ist wirklich nur zu deinem Besten, Jack. Bleib noch ein paar Tage, Jack. Komm erst mal wieder auf die Beine. Jedem brennen mal die Sicherungen durch, Mann – das ist völlig normal. McPhee seufzte und ließ die Briefe sinken. Sein Team, mal wieder. Jeden Tag schickten sie ihm Durchhalte-Episteln, pinselten ihm verbal den Bauch und legten dabei jedes einzelne Wort auf die Goldwaage, um den ach so angeschlagenen Patienten nicht über Gebühr zu belasten. Jack hatte schon eine ganze Schublade voll mit dem Weicheigesülze, und allmählich gingen die Briefe ihm gehörig auf die Nerven. Denn obwohl sie freundlich klangen, waren sie nicht so gemeint. Hinter diesen Schreiben steckte keine Anteilnahme, sondern schnöde Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Ein simpler Dreisatz: 1. Wer für God's Anchor arbeitete, machte ordentlich Kohle. 2. Jack war der Goldesel seines gesamten Unternehmens. Darauf folgte 3.: Klar, dass seine Mitarbeiter ein gesundes Interesse an seinem Wohlbefinden hatten. Interesse an, aber keine Sorge um ihn! Langsam ließ er den Blick durch den Raum schweifen, den er in Nolans schrägem Klapsmühlenpalast bewohnen durfte. Kein Quadratzentimeter, der nicht nach Luxus und Exklusivität schrie, nach Geld. In jeder Sekunde, die er hier verbrachte, verbrannte Jack mehr von seinem Reichtum, als er es in der »freien Welt« da draußen mit Gewalt vermocht hätte – und das alles zum Zwecke der Heilung. Nolan war überzeugt, dass die Engel nur Illusion waren. Und je länger Jack dem Mann zuhörte, desto mehr war er geneigt, dieser Annahme zuzustimmen – auch wenn sie ihn als Verrückten abstempelte. Besser verrückt als verflucht, richtig? »Das Schlimme am Wahnsinn ist nicht, dass man wahnsinnig ist«, murmelte er leise in das ansonsten menschenleere Zimmer. »Sondern, dass man irgendwann nicht mehr erkennt, wo die Grenzen
verlaufen. Normalität ist ein Begriff, der rein subjektiv interpretiert wird.« Wie hatte das in diesem Film geheißen, in Twelve Monkeys? Es gibt kein Richtig und kein Falsch, sondern nur die öffentliche Meinung. Na bitte. Die Öffentlichkeit – zumindest der Teil von ihr, der über Jacks Lage informiert war – hielt ihn für krank. Vielleicht sollte er schlicht auf sie hören. Es würde die Situation vereinfachen. Jack stand auf. Mit einem Mal fühlte er sich besser, gefestigter. Hatte er wirklich gerade Frieden mit seinen Problemen geschlossen? Lief es etwa tatsächlich so, wie Nolan gesagt hatte? Begann hier und jetzt der Aufstieg? Er hoffte es. Nein, er spürte es. Weil er es wollte. Zeit für einen Kaffee. Jack trat zur Tür, öffnete sie und … Er hatte den Flur noch nicht betreten, als Dr. Nolan persönlich an ihm vorbeirannte. Der Institutsleiter sah aus, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, seine Augen waren weit aufgerissen. Er fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft und schien nicht nach rechts oder links zu schauen. Panisch. Dann hörte Jack, was der Mediziner schrie. Und sein Herz setzte einen Schlag aus. »Sie sind hier! Die steinernen Engel sind draußen vor der Tür! Sie sind real!« Irgendwie kippte der Fußboden weg. Oder gaben nur Jacks Knie nach? Eine eiserne Faust schien sich um seinen Brustkorb zu legen, und er musste sich am Türrahmen stützen, um nicht vornüber in den Flur zu stürzen, so sehr rissen ihn Nolans Worte aus dem inneren Gleichgewicht. Die Engel! Jack schüttelte den Kopf. Das … war schlicht unmöglich! Gehörte diese Nummer etwa zur Therapie? Baute Nolan auf eine Mischung aus Schock und Streicheleinheiten? Jack hatte doch eben erst akzeptiert, wie es wirklich um ihn stand. Was sollte nun dieser Versuch, ihm wieder das Gegenteil einzureden? Wut brandete in ihm auf und verlieh ihm neue Kraft. Jack atmete durch, straffte sich und trat hinaus, um Nolan zur Rede zu stellen, der unbeirrt weiter den Gang runter lief und vor sich hin krakeelte.
Doch bevor Jack auch nur einen Laut sagen konnte, bog Miss Fisher um die Ecke, Nolans süße Assistentin. »Doktor«, rief sie vorwurfsvoll, »warten Sie. Was zum Teufel soll dieses Spektakel? Sie wecken ja das ganze Haus auf!« Nolan blieb stehen, drehte sich um. »Miss Fisher«, keuchte er. »Lassen Sie sofort alle Ein- und Ausgänge des Sanatoriums schließen. Verriegeln Sie die Fenster. Wir befinden uns im Krieg!« Nun verstand die Kleine gar nichts mehr. »Doktor?«, fragte sie unsicher. »Er hat Recht«, erklang eine Stimme aus einem Nebengang. Jack blickte zur Seite und erkannte diesen seltsam gekleideten Franzosen wieder, der schon seiner Sitzung am frühen Morgen beigewohnt hatte. Santora oder so. Er rannte ihnen entgegen und kam schwer atmend neben Jack zum Stehen. »Ich verstehe nicht«, sagte Fisher verwirrt. »Und wir haben leider keine Zeit für Erklärungen«, erwiderte der Franzose knapp. »Sacred Heart wird belagert. Wenn wir nicht sofort handeln, kommen sie herein. Sperren Sie alle Türen und Fenster, Miss Fisher. Sofort!« »Monsieur Zamorra«, sagte die junge Frau betont freundlich, »Sie hatten erst kürzlich einen Zusammenbruch. Vermutlich sind Ihre Nerven schlicht überreizt. Warum legen Sie sich nicht einfach ein paar Stunden hin?« Zamorra winkte ab. Jack zögerte. »Sie meinen doch nicht wirklich, dass …« »Ich bin Paraforscher, Mister McPhee«, fiel der Besucher aus Frankreich ihm ins Wort. »Vertrauen Sie mir – und Sie auch, Miss Fisher. Bitte! Ich kenne mich in derartigen Dingen aus.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Jack den Mann im weißen Anzug an. Die Wahrheit war offensichtlich, doch er weigerte sich, sie anzuerkennen – genau wie er sich noch vor Minuten geweigert hatte, das Gegenteil zu glauben. Dann zersprang die Scheibe des Panoramafensters in seinem Zimmer zu tausend Scherbenstücken – und ein steinerner, gut einen Meter achtzig großer Friedhofsengel schwebte in den Raum! Der Anblick war so bizarr, dass Jacks Hirn sich schlicht sperrte:
Gut und gerne mehrere Dutzend Kilogramm Gestein flogen in der Luft, einen halben Meter über den Zimmerboden, gehalten von steinernen Schwingen, die sich knirschend und schwer hoben und senkten! Das Feuer in den Augen und dem zu einer gierigen Fratze verzerrten Mund des Wesens spiegelte sich auf den Scherben, die den dicken Teppich übersäten. Als es Jack sah, hisste es. Wie die Engel aus seinen Träumen. Real. Es ist alles real. »Kommen Sie, schnell!« Zamorra griff Jack an der Schulter, riss ihn zur Seite und schlug die nach wie vor offen stehende Zimmertür zu. Das Monster blieb dahinter verborgen, doch für wie lange? Irgendwo schrie Fisher, ein schrilles Kreischen. Es ließ ihn an Fingernägel auf einer Schiefertafel denken. Jack sah Nolan auf und ab springen wie ein wild gewordener Trampolinsportler. Der Mediziner rief etwas, doch Jack hörte nur das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren. Seinen Herzschlag. Er wurde langsamer. »… mir nicht weg, klar? Ich brauche …« Zamorras Stimme drang wie durch Watte zu ihm durch. Jack spürte, dass Hände ihn wegschoben, den Gang hinab. »… Sie verstanden, McPhee? Sie müssen mir helf…« Jack blinzelte. Helfen? Wie sollte er helfen? Er begriff ja nicht einmal. Sie hatten das Ende des Ganges fast erreicht, als Jacks Gehör zurückkehrte. »Kommen Sie, Mann, reißen sie sich zusammen«, forderte Zamorra ihn gerade auf. Jack sah ihn stumm an und blickte dann zu Nolan, zu Fisher. »Kann mir jemand erklären, was zum Teufel hier gespielt wird?«, murmelte er schließlich. Ihm war, als habe sein Gehirn Reset gedrückt und fahre erst langsam wieder hoch. »Was soll die Hektik? Ich wollte mir doch nur einen Kaffee holen.« Mit einem lauten Poltern flog einige Meter hinter ihnen die Tür zu Jacks Zimmer aus ihren Angeln. Funken flogen, weißer Rauch stieg auf, und in der Luft hing der beißende Geruch von geschmolzenem Plastik. Der Engel schwebte in den Gang, den Mund weit geöffnet. Kleine Flammen züngelten daraus hervor. Fisher kreischte und krallte sich an Jacks Arm. »Hat er die Tür
etwa weggesprengt? Mit … Mit seinem Atem?« »Der atmet nicht«, erwiderte Zamorra. »Um zu atmen, muss man leben!« Der Parapsychologe drängte sie weiter, doch als sie sich umwandten, trat wenige Meter weiter vorn ein zweiter Steinerner in ihren Weg. Es handelte sich um eine Figur, die latent an griechische Statuen erinnerte: muskulöser Torso, kurzgeschorenes Haar, wohlgeformte Glieder. Sobald sie die Gruppe der Flüchtenden sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze. »Wir stecken in der Falle!« Nolan hyperventilierte fast. Schweiß lief ihm von der Stirn und verfing sich in seinen buschigen Brauen und in den tiefen Knautschfalten, aus denen der Großteil seines Gesichtes zu bestehen schien. »Vor uns einer, hinter uns einer. Monsieur, was sollen wir tun?« Zamorra sah sich grimmig nach allen Seiten um, doch Jack wusste, dass es zwecklos war. Es gab allein zwei Richtungen, die sie noch einschlagen konnten, und in beiden wartete ein Engel nur darauf, dass sie sich rührten. Auf einmal hörte er sie wieder. In seinem Geist. JACK MCPHEE, DIE ZEIT IST GEKOMMEN. DAS URTEIL WIRD GESPROCHEN WERDEN. DER HERR ERWARTET DICH. Fisher zuckte zusammen, als sei sie geschlagen worden. »Was … um Himmels willen war das?« »Haben Sie es auch gehört?«, fragte Nolan verwundert. »Als ob es direkt in meinem Kopf erklungen wäre.« »Das ist es auch«, sagte Zamorra. »Und um Ihre Frage zu beantworten, Doktor: Wir kämpfen!« Damit drängte er seine unfreiwilligen Begleiter an die Wand und stellte sich auffordernd in die Mitte des Ganges. »Ihr wollt uns?«, rief er den beiden Wesen entgegen. »Dann kommt und holt uns.« Fisher schrie auf. Nolan schlug die Arme um den Kopf. Und Jack … sah fassungslos zu, wie Zamorra einen eigenartigen Kristall aus der Tasche seines Jacketts zog und ihn in der flachen Hand hielt. Fast schien ihm, als ginge eine eigenartige Wärme von dem blau funkelnden Objekt aus. »Was tun sie da?«, murmelte er ängstlich. »Die Dinger wirken
nicht gerade, als könne man sie mit blauen Steinen bremsen.« Zamorra lächelte, doch sein Blick blieb kalt. »Abwarten.« Dann schloss der Parapsychologe die Augen und legte die Stirn in Falten. »Er konzentriert sich.« Fisher bebte vor Entsetzen, schmiegte sich nahezu an Jack. »Schauen Sie, er konzentriert sich!« »Fragt sich nur, worauf«, wisperte Jack. Dann kam Bewegung in die Statuen. Als hätten sie sich abgesprochen, eilten sie plötzlich näher – eine zu Fuß, wobei jeder ihrer Schritte eine Delle im PVC-Belag des Ganges hinterließ, eine mit knirschenden und jegliche Naturgesetze verhöhnenden Flügelschlägen. Und Zamorra keuchte. »Ich komme kaum durch«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Der Dhyarra … Es ist, als ob meine Kraft selbst mit ihm nicht ausreicht, um sie zu besiegen.« Jack hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Aber er erkannte einen versagenden Plan, wenn er ihn sah. Seine Gedanken überschlugen sich. Er brauchte einen Ausweg, schnell! Von irgendwoher drangen die Schreie der anderen Insassen des Sanatoriums herüber, der Patienten, Angestellten und Mediziner. Jack hörte es klirren und knirschen, roch den Rauch und einen schwefligen Odem, der durch die Gänge wehte. Also waren diese zwei Statuen nicht die einzigen im Haus. Die Engel kamen immer näher, mit ausgestreckten Armen und flammenden Mündern. Sie kesselten sie ein. Zamorras Stirn lag in Falten. Er schwitzte, stöhnte. Und mit einem Mal wusste Jack, was er zu tun hatte. »Genug!« Es überraschte ihn selbst, wie fest seine Stimme plötzlich war, doch sein Schritt, mit dem er sich aus der Deckung löste und neben den Franzosen trat, war nicht minder sicher. »Ihr seid wegen mir gekommen, nicht wegen den anderen«, fuhr der Ex-Prediger die unmöglichen Erscheinungen an. »Sagt mir, wohin ich gehen soll, und ich werde es tun. Aber lasst die anderen Menschen in Frieden, hört ihr?« »Nein!« Fisher heulte auf wie ein getretener Hund. Nie zuvor hatte sie auf Jack so kindlich und überfordert gewirkt. »Doktor, nein!«
Nolan hielt sie stumm im Arm und starrte Jack an. DIESES ANGEBOT IST ANGEMESSEN, hallte es im Innern von Jacks Schädel – und, wie er ahnte, auch in denen der anderen. Nicht mehr als das. Die Engel verharrten regungslos, abgesehen vom Schlagen der steinernen Schwingen. Jack hörte, wie die Schreie und Explosionen in den anderen Sektoren des Gebäudes sofort verklangen. Ruhe kehrte ein – die Sorte, die man auf Schlachtfeldern hören mochte, kurz nach einer Kapitulation. »Sind Sie wahnsinnig, Mann?« Zamorra packte ihn bei den Schultern. »Sie wissen doch gar nicht, worauf Sie sich da einlassen!« Der Blick des Fremden im weißen Anzug war gleichzeitig flehend und anklagend. »Doch«, widersprach Jack und spürte, wie die innere Balance, die er eben noch in seinem Zimmer gefunden zu haben geglaubt hatte, wieder in ihn zurückkehrte. Die Sicherheit. »Doch, das weiß ich sogar ziemlich genau, Monsieur. Das, was auf uns alle wartet, wenn unsere Zeit gekommen ist.« Er lächelte leicht und streifte Zamorras Hände ab. »Das jüngste Gericht.«
Leichen überall. Blut an den Wänden, den Scheiben, auf Möbeln und Zierpflanzen. Vor dem Fenster des Flurs, durch den sie ihn trieben, sah Jack ins Absurde verdrehte Körper auf den Hecken des Institutsgartens liegen und wusste, dass sie aus den Fenstern ihrer Zimmer geworfen worden waren. So sicher, wie er das Ziel seines eigenen Weges wusste: Näher mein Gott zu dir … Dich, Gott und Vater, liebe ich. Und darum schmerzt und reut es mich, dass ich missachtet dein Gebot und hörte nicht auf dich, mein Gott. Irgendwann hatte er im Geiste zu Beten begonnen – aufrichtig, nicht das Showbeten, wie er es früher als God's Anchor perfektioniert hatte! Er war selbst erstaunt, wie sicher und natürlich ihm die Worte von damals noch einfielen. Mit welcher Inbrunst und Aufrichtigkeit er sie im Geiste rezitieren konnte. Hatten sie also trotz allem einen Nutzen? Vermutlich, fand er. Aber keinen, der ausgerechnet ihm
noch helfen würde. Seine Würfel waren längst gefallen. Er hielt es schlicht für angebracht, seinem Schöpfer nicht ganz unvorbereitet gegenüberzutreten. Trotz der Situation musste Jack schmunzeln. War die katholische Erziehung letzten Endes doch zu irgendetwas gut. Dass ich gesündigt, tut mir leid. Zu Bessern mich bin ich bereit … Das waren Kleinkindbitten. Zerknirschte Geständnisse für Menschen, denen das Wasser schon bis zu den Augenringen stand. Diese Sätze mochten tatsächlich Macht besitzen, fand Jack, aber sicher nur, wenn man sie regelmäßig mit einer solchen Überzeugung empfand. Wenn nicht … war ohnehin alles egal. Für einen Augenblick wünschte er sich sein Publikum zurück, all die Jim-Bobs und Mary-Sues. Den Stuss und die heiße Luft hatten sie ihm all die Jahre aus der Hand gefressen. Nun aber, da er endlich eine wahre Erkenntnis gefunden hatte, die er weitergeben konnte, war niemand da. Niemand außer den Engeln, die rechts und links von ihm durch den Gang schwebten oder an den Wänden des Flurs Spalier standen wie Soldaten. Es waren unzählige, eine ganze Armee. Zwei von ihnen hatten Jack an den Oberarmen gepackt und zerrten ihn mit sich. Ihre Schwingen knirschten und knarrten, doch sie flogen, Jack flog. Seine Schuhsolen schwebten keine zehn Zentimeter über dem Boden. Was aus Zamorra und den anderen geworden war, wusste er nicht. Er hoffte, sie hatten nicht leiden müssen. Schwefliger Gestank drang aus dem Inneren der höllischen Statuen. So intensiv, dass Jack die Galle hochkam. Nie zuvor war er den Wesen so nah gewesen – nicht einmal in seinen Träumen. Und dies war definitiv kein Traum. »D … Darf ich fragen, wie die … Verhandlung ablaufen wird?«, wagte er eine Äußerung. »Habe ich Gelegenheit, mich zu verteidigen?« DEINE TATEN WERDEN FÜR DICH SPRECHEN, erklang die Antwort in seinem Geist. ODER GEGEN DICH. DIE WAHRHEIT IST NICHT INTERPRETIERBAR. Also gegen mich, dachte er. Die Gewissheit ließ ihn kalt. Er hatte sei-
nen Frieden gemacht. Sie flogen immer tiefer in den Bauch des weitläufigen Gebäudes. Irgendwo dort vorne musste der Speisesaal sein, dahinter die Küche. Rechts und links von ihnen gingen Türen in Räume des Sanatoriums ab. Vor einer davon machten die Engel Halt. DREI STATIONEN ERWARTEN DICH. DANN FOLGT DAS URTEIL. WÄHLE DEINE WORTE WEISE, JACK MCPHEE. »Ich verstehe nicht«, sagte er und spürte zum ersten Mal seit Minuten wieder Boden unter den Füßen. »Was für Stationen?« Noch bevor die Engel antworten konnten, öffnete sich die Tür und gleißende Helligkeit hüllte den Ex-Wanderprediger ein.
Es ist Annie, und sie ist nackt. Zarte Haut, engelsgleiches Haar. Jugend. Er erinnert sich an ihren Geruch, an das Gefühl ihres warmen Körpers gegen dem seinen. An ihre gemeinsame Nacht in Jefferson City. Ein angenehmer, wohltuender Gedanke. Unfassbar, dass ihm dieses Geschenk einst so wenig wert gewesen war, dass sogar ihr Name keinerlei Relevanz für ihn gehabt hatte. Annie ist wütend. Er sieht es ihr an. Sie hat die Arme unterhalb der Brust verschränkt und hält den Kopf leicht schief. Ihre Augen blitzen wie explodierende Feuerwerkskörper. »Annie, was … was machst du hier?« Sie schnaubt abfällig. »Na, da bin ich aber froh, dass du mich noch kennst. Wundert mich, ehrlich gesagt. Ein Mann deines Alters hat's nicht mehr so mit dem Gedächtnis, richtig? Erst recht einer, der sich einen Scheißdreck um seine Mitmenschen schert!« Zwischen ihren Augen bildet sich eine tiefe Falte. Spucke fliegt aus ihrem Mund, wenn sie spricht, so aufgebracht ist sie. Das weiße Leuchten hüllt sie ein wie ein Ozean aus Licht. Sie ist nicht real. Er begreift es sofort, aber macht das überhaupt einen Unterschied? Sie ist hier, um ihn mit seinen Verfehlungen zu konfrontieren. »Wie viele meiner Sorte gab es eigentlich?«, fährt sie anklagend fort. »Praktikantinnen, Assistentinnen … Von den normalen Groupies ganz zu schweigen. Komm schon, Jack! Du hältst doch sonst nicht mit deinen Lorbeeren hinterm Berg. Nenn doch mal eine Zahl. Hast du hundert Kerben
im Bettkasten? Zweihundert?« »Ich weiß nicht, was … Welchen Zweck soll das haben?« Er spricht zu ihr, weiß aber, dass die Frage den Engeln gilt, die ihr Abbild vor ihn gezaubert haben. »Soll ich mich etwa dafür rechtfertigen?« DAS URTEIL? Die Worte des unsichtbaren Steinernen lassen ihn aufkeuchen, als sie hinter seiner Stirn erklingen. Hier im Weiß scheinen sie noch intensiver zu sein. WIE SCHNEIDET JACKMCPHEE AB? Annies Augen funkeln böse. »Schuldig.« SCHULDIG, wiederholt die Stimme. STATION ZWEI.
Als es diesmal dunkler wird, steht ein Muttchen vor ihm. Erst beim zweiten Hinschauen merkt er, woher er sie kennt. Ärmelloses Blumenkleid Strohhut … Die saß in Jefferson City im Publikum, während die Engel erstmals am Tag erschienen. Ob auch sie über ihn gelacht hatte? »Nein«, sagt Jack in das Gleißen. »Ich weigere mich, diese Farce mitzumachen. Alles, was ihr mir mit diesen Anklagen beweisen wollt, gebe ich doch freimütig zu. Warum die Mühe?« Die Alte reagiert, als habe er nicht gesprochen. »8000 Dollar«, zischt sie und zückt demonstrativ ein Scheckbuch. »Mein gesamtes Erspartes. Ich habe es Ihnen überwiesen, Reverend. Für die Armen in Afrika. Aber sagen Sie mir: Haben die es je bekommen? So, wie Sie es uns allen versprachen? Oder wurde auch mein Geld zu weißem Pulver, das Sie sich in die Nase zogen?« Jack seufzt. »Das wisst ihr doch«, sagt er zu den Engeln. Er spürt, dass sie ihn hören. »Kinder in Afrika … Ich bitte euch! Der Mann, der ich damals war, gab einen Dreck auf Kinder in Afrika! Der war schon froh, wenn's nicht seine eigenen waren!« DAS URTEIL? Muttchen grinst breit und zeigt zwei lückenhafte, gelbliche Zahnreihen. »Schuldig.« Was auch sonst?, denkt Jack. »Station drei, na los. Bringen wir's hinter uns.« Aber dann wird alles dunkel. Stockfinster.
Kapitel 9 – Stadt aus Nacht und Leere So musste es sich anfühlen, wenn man vom Blitz getroffen wurde. Keith Charles' Körper bebte vor Energie. Seine Haut, seine Haare zitterten unter der Kraft der weißen Entladungen. Und wie er sah, ging es seinem Regisseur nicht anders. David R. Quatermill hatte ihn erschreckt, als er sich an den orientierungslosen Kameramann angeschlichen hatte – doch nichts kam dem Schrecken gleich, den Keith nun empfand. Nun, da sie nur Sekunden später beide in das unheimliche Licht gehüllt dastanden, das aus der bizarren Erscheinung im Wald strömte, und sich kaum rühren konnten. Wie Elmsfeuer tanzten die Blitze über ihre Körper, ihre Kleidung. Sie hüllten sie ein, und das prasselnde Geräusch, das sie verursachten, hallte in Keiths Ohren wider wie ein unheimliches Echo. Was zum Teufel geschah hier? »Das ist das Ding!«, presste Quatermill hervor. Zwar ging sein ungläubiger Blick über Keiths Schulter, doch wusste der Kameramann genau, was er meinte: das Loch in der Wirklichkeit. Den Riss in der Folie. »Was immer das ist, es …« Keith versuchte, seine Füße zu bewegen, ein Bein vor das andere zu setzen. Wenn er und Quatermill es schafften, ein paar Schritte zu machen, konnten sie vielleicht aus dem Einzugsbereich der Erscheinung fliehen. Aber es gelang ihm nicht. Als wären seine Muskeln verkümmert, kam er keinen Zentimeter vom Fleck. »Können Sie … sich bewegen?«, fragte er gequält. Er musste schreien, um sich über dem Rauschen der unglaublichen Entladungen Gehör zu verschaffen. »Ich kann rufen«, antwortete der Regisseur. »Kevin! Flynn!! Hört mich jemand?« Keine Antwort. Quatermill wand sich in der Umklammerung der weißen Strahlen, öffnete wieder und wieder den Mund und brüllte um Hilfe, doch nichts geschah. Minutenlang standen die beiden
Fernsehschaffenden inmitten des kanadischen Forstes und sahen sich an – Gefangene eines Ereignisses, das sie nicht verstanden. Das sie fürchteten. Das sie quälte. Dann begann der Wahnsinn. Von einem Moment auf den nächsten verlor Keith abermals den Boden unter den Füßen. Ihm war, als würde er von innen heraus auf links gedreht, als wendete sich sein gesamter Körper einmal um sich selbst. Unbeschreibliche Schmerzen brachten ihn fast um den Verstand und ließen ihn die Augen schließen. Seine Zähne bissen so fest aufeinander, dass Keith schon glaubte, sie müssten zerbrechen. Irgendwo schrie Quatermill, ein schriller, verzweifelter Laut über dem Prasseln der Entladungen. Und mit einem Mal war es vorbei. Keuchend und zitternd brach Keith zusammen. Kaltes Gestein fing seinen Fall ab. Als er die Augen öffnete, sah er Dunkelheit, Schwärze. Der Wald war fort, doch … Wo … Wo bin ich? Langsam tastete Keith an sich hinab, befühlte seine Beine und seinen Brustkorb. Nirgends fanden sich Wunden, alles war intakt. Genau wie nach der ersten Attacke des seltsamen Lichtdings. Nur hatte sich diesmal die ganze Szenerie verändert. Je mehr Keith sich umsah, desto größer wurden seine Augen. Der Anblick überstieg seine kühnsten Phantasien. Der Kameramann von Night Fighter lag plötzlich auf dunklen Pflastersteinen, einer Straße. Kälte umgab ihn, und eine Stille, die nahezu unwirklich schien. Als er aufblickte, sah er auf Häuserfassaden. Karge, schmucklose Bauten ragten rechts und links von ihm in einen sternenklaren Nachthimmel, an dem ein großer, fahler Mond prangte, halb verdeckt von den Hochhäusern. Diese waren riesig, Stockwerk folgte auf Stockwerk, und so dunkel, als hätte man sie mit Tinte verputzt. Es waren glatte Wände, ohne die geringste erkennbare Unregelmäßigkeit. Als wären die Wolkenkratzer nicht gebaut, sondern aus einem Guss erzeugt worden. Makellos. Auch die glaslosen Fenster, die wie blinde Augen in ihnen prangten und in tiefschwarze Räume führten, über die Keith nicht einmal nachdenken wollte, hätten nicht gleichmäßiger angeordnet sein können. Keith war allein. In einer Umgebung, die menschenleer wirkte,
fremdartig und entvölkert. Nein, schoss es ihm durch den Kopf, nicht entvölkert. Hier hat nie etwas gelebt. Darauf würde ich wetten. Der Ort schien tatsächlich zu steril, nicht organisch gewachsen zu sein. Er ähnelte mehr der Nachbildung einer Stadt, als dass er wie eine echte aussah. Als wäre er von einem Wesen erschaffen worden, das nie eine richtige gesehen hatte, und aus einem Material, das nicht irdisch war. Keith hatte sich nie sonderlich für Astronomie interessiert, konnte also nicht beurteilen, ob er an dem nachtschwarzen Himmel über sich noch auf vertraute Sternkonstellationen blickte, doch er bezweifelte es. Ist das real? Bin ich tatsächlich hier? »Quatermill?« Der Ruf hatte seinen Mund verlassen, bevor Keith darüber nachdenken konnte, was er da eigentlich tat. Und schon als das Wort von der kalten Nachtluft getragen die gepflasterte Straße entlang schallte, verfluchte er sich für seine Unachtsamkeit. Wo immer er sich befand – es war sicher keine gute Idee, auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht lebte ja doch etwas hinter diesen glaslosen Fenstern. Vielleicht hatte es nur auf einen Besucher wie ihn gewartet … Regungslos stand Keith da und lauschte in die Stille. Sein Herz pochte wie wild. Näherte sich jemand? Antwortete man ihm? Noch regte sich nichts, und irgendwie erfüllte ihn das mit Erleichterung. Keith wusste nicht, woher er die Gewissheit nahm, doch er spürte es instinktiv: Wenn überhaupt etwas in dieser Gegend lebte, konnte es nicht menschlich sein. Und dann wollte er ihm lieber nicht begegnen. Er bemerkte, dass seine Kamera nur wenige Meter entfernt auf dem Boden lag. Mehr aus Reflex, denn aus freien Stücken ging er zu ihr und nahm sie in Augenschein. Das Gerät wies keine erkennbaren Schäden auf. Instinktiv schulterte er es und schaltete es ein. Der Akku hatte noch genügend Saft, und der kleine Scheinwerfer oberhalb der Linse brachte zumindest ein wenig Licht in das Dunkel, das Keith umgab. Dann begriff er, und die Erkenntnis raubte ihm kurzzeitig den Atem. Die Folie!
Er war auf eine andere Ebene der Folie gewechselt! In eine der Realitäten, die er während der bizarren Vision von vorhin gesehen hatte! Gott allein mochte wissen, wie das möglich sein sollte, aber in diesem Moment hatte Keith keinerlei Zweifel daran, dass seine Vermutung zutraf. All dies war wirklich geschehen, war Realität. Auf irgendeine mit physikalischen Mitteln nicht zu erklärende Art hatte er Crestfallen Point und mit ihr auch seine Welt verlassen – und war verloren in einer fremden Existenz. Panisch blickte er sich um und schlang den freien Arm in einer Schutz suchenden Geste um den Körper. Nie zuvor hatte er sich so wehrlos und derart auf dem Präsentierteller gefühlt. Jeder Wolkenkratzer rechts und links der schmalen Straße war wie eine Gefahr; hinter jedem der offenen Fenster mochte ein unbekannter, unmenschlicher Gegner nur darauf warten, vorzupreschen und ihn zu vernichten. Keith drehte sich im Kreis und reckte den Kopf in dem so verzweifelten wie vergeblichen Versuch, gleichzeitig in alle Richtungen zu blicken. Was sollte er nur tun? Wie konnte er sich gegen das Unmögliche verteidigen? »Charles? Charles, sind Sie das?« Quatermill! Die Stimme des Regisseurs klang nah – und zutiefst ängstlich. »Wo sind Sie?«, rief Keith zurück. Zum Teufel mit der Vorsicht. Da draußen war ein Kollege, ein Gleichgesinnter, ein Mensch – und wenn Keith sein Leben aufs Spiel setzen musste, um in diesem Irrsinn nicht allein zu bleiben, würde er es eben tun. »Hier!«, antwortete der Regisseur mit hörbarer Erleichterung aus dem Irgendwo. »Oh Gott, hier!« Diesmal gelang es Keith, die Richtung zu bestimmen, aus der der Ruf gekommen war. Wenige Meter vor ihm war eine Kreuzung, an der die Pflasterstraße, auf der Keith stand, auf ihr scheinbares Ebenbild traf. Quatermill musste irgendwo rechts von ihm sein, vermutlich gleich um die Ecke. Nur ein paar Schritte entfernt. Vorsichtig eilte er voraus, immer darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu machen. Wie groß diese Wahnsinnsstadt war! Nirgends sah er ein Ende. Die Hochhäuser setzten sich fort, so weit das
Auge reichte. Straßenecke folgte auf Straßenecke, und alle wirkten identisch. Keith lief mitten auf »seiner« Straße, um möglichst großen Abstand zwischen sich und die unheimlichen Bauten zu bringen. Sie wirkten lauernd, so absurd das auch klang. Fast so, als warteten sie nur auf den richtigen Moment, ihn zu überfallen. Als er sich der Kreuzung näherte, von der Quatermills Ruf herübergeweht sein musste, bemerkte er das grüne Leuchten. Es kam von rechts, ein Glühen und Strahlen, das auf die Straße fiel und sich an den Häuserwänden spiegelte. Nie zuvor hatte Keith etwas Derartiges gesehen. Es kam ihm ungesund vor, so irrational das selbst für ihn klang. Ungesund und … hasserfüllt. Konnte Licht überhaupt eine Emotion transportieren? Keith bezweifelte es, doch die Feindseligkeit, die in diesem Leuchten lag, war nahezu greifbar. Er ballte die freie Hand zur Faust. Atmete tief durch. Dann bog er um die Ecke. »Charles!! Bleiben Sie fort!!« Quatermills hysterische Schreie waren nur das Tüpfelchen auf dem i. Nur die Krone des Wahnsinns, der sich dem kanadischen Kameramann plötzlich offenbarte. Für einen kurzen Moment setzte Keiths Verstand aus. Wenige Schritte vor seinen Füßen führte die gepflasterte Straße auf einen Platz von vielleicht fünfzig Quadratmetern Größe. Die üblichen Hochhausattrappen umgaben ihn, und sie schienen nahezu zu glühen. Das grüne Leuchten hüllte sie ein, fiel in ihre offenen Fenster und auf ihre glatten, einheitlichen Fassaden. Und es kam von … … dem Auge! Dem riesigen, grausamen, körperlosen Auge aus Keiths Vision. Es nahm fast den gesamten Platz ein – ein titanenhaftes, lidloses Etwas inmitten des Pflasters. Das bizarre Gebilde starrte hinauf in die Nacht, eine schlitzartige dunkle Pupille inmitten eines ovalen Sees aus Grün, und es war gigantisch. Grauenvoll. Keith glaubte, dem Herrscher dieser Sphäre zu begegnen, und für einen Sekundenbruchteil war ihm, als müsse er auf die Knie gehen, um dieser bizar-
ren Gottheit seine Reverenz zu erweisen. »Charles!!!« Als er aufblickte, sah er den Regisseur. Quatermill stand an einem der Fenster, im fünften Stock eines Hauses auf der anderen Seite des bizarren Platzes. Sich mit den Händen an den Wänden abstützend, hatte er sich vornüber gebeugt, um hinab auf das irrsinnige Panorama blicken zu können. Ein von irgendwo stammender Nachtwind bauschte sein Hawaiihemd auf und fuhr ihm durch das Haar. »Charles!«, schrie Quatermill erneut. »Was zum Teufel ist das hier? Wo sind wir?« Keith schluckte trocken. »Ich … Ich weiß es nicht«, antwortete er halbwahr. »Ich vermute …« Der Satz war noch nicht aus seinem Mund, da schallte ein Schrei über den Platz, der Keith die Haare zu Berge stehen ließ. Ein irres, panisches Kreischen, das von den glatten Hauswänden widerhallte wie das Echo eines Wahnsinnigen. Keith sah, wie Quatermill zusammenzuckte, den Kopf wandte und nach links blickte, wo er die Quelle des Geräuschs vermutete … und tatsächlich trat nur Sekunden später eine Gestalt an ein Fenster, nur drei Stockwerke oberhalb des Regisseurs. Selbst auf die Entfernung erkannte Keith sie genau. Ellen! Die dickliche Autorin wirkte, als habe sie monatelang unter Wilden gelebt. Ihr Gesicht war blutbeschmiert und zur Fratze verzerrt, ihre ohnehin unvorteilhafte Kleidung starrte vor Dreck und war mehrfach zerrissen worden, und ihr verfilzt wirkendes Haar stand ihr in wilden Büscheln vom Kopf ab und bildete eine bizarre Korona. Für einen kurzen Augenblick musste Keith an Einstein denken. Nur, dass in Einsteins Augen vermutlich nie diese Leere gegähnt hatte. Dieser Eindruck des Unbewohnten, Verlorenen. »Whesson?« Quatermill klang verunsichert und gleichzeitig erleichtert. »Sind Sie das? Wie sind Sie hierher gekommen? Was …?« Ellen beachtete ihn gar nicht. Sie zog die Nase hoch, spuckte Rotz. Im Licht des unheimlichen Platzes schienen ihre Wangen zu glühen. Dann verschwand sie vom Fenster, glitt wieder in die Schwärze und die Schatten zurück … … und sprang nur einen Sekundenbruchteil später aus der Öff-
nung hinaus in die Luft! »Elleeeen!« Keith glaubte seinen Augen kaum. Sie musste Anlauf geholt haben. Ellen flog durch die Nacht, wirbelte im hohen Bogen aus dem glaslosen Fenster und stürzte in rasender Geschwindigkeit hinunter. Direkt auf das glühende, grüne, dämonische Auge zu! Ellen fiel lautlos, ohne einen Mucks. Fast so, als habe sie innerlich resigniert. Fassungslos vor Entsetzen verfolgte Keith das Geschehen, das doch nur einen Moment andauerte. Sobald die Autorin das Auge berührte, kehrte das weiße Leuchten zurück – und die Stadt explodierte! Abermals fühlte sich Keith innerlich zerrissen. In seinem Leib schien ein schwarzes Loch zu wüten, das sein gesamtes Wesen ansaugte, umstülpte und auf der anderen Seite von Irgendwo wieder ausspuckte. Ohne Rücksicht auf Verluste. Der Schmerz war unerträglich, allumfassend, verzehrend wie hungrige Flammen. Keith schloss die Augen und betete um ein Ende. Irgendeines. Plötzlich zwitscherten Vögel, und der Duft von Blättern, Erde und Moos drang in seine Nase. Friedliche Gerüche. So roch Normalität. »Charles!« Laub raschelte neben seinem Ohr. Dann legte sich eine Hand auf Keims rechte Schulter und rüttelte an ihm. »Charles, wachen Sie auf!«, drängte Quatermill stöhnend. Langsam öffnete der Kameramann die Augen – und schloss sie gleich wieder, als das Licht der kanadischen Herbstsonne ihn blendete. »Ja, gut so«, hörte er seinen Regisseur murmeln. »Einen Schritt nach dem anderen, Mann. Gut, Sie wieder bei uns zu haben.« Quatermill klang, als sei er den Tränen nahe. Der Griff seiner Hand verstärkte sich nahezu sekündlich, als suche er nach einem Anker in der Wirklichkeit. Nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. »Was ist passiert?«, fragte Keith gequält und rieb sich die pochenden Schläfen. »Das wissen Sie nicht? Diese Stadt … das Auge …« Natürlich wusste er es. Er hatte nur gehofft, es sei eine Illusion gewesen, ein Fiebertraum oder so etwas. »Mhm«, machte er leise. Also war Quatermill auch dort gewesen. »Sind wir wieder zurück?« »Im Moment schon«, antwortete der Regisseur mit zittriger Stimme, »aber damit das so bleibt, sollten wir schnellstmöglich von hier
verschwinden. Bevor dieses … Loch da vorne zum nächsten Angriff übergeht.« Ein Teil von Keith bewunderte David R. Quatermill für seine effiziente Art. Noch vor Stunden hätte er dem Möchtegern-Avantgardefilmemacher gar nicht zugetraut, so sachlich und nüchtern vorzugehen, nun aber schien Mister Hawaiihemd wie selbstverständlich die Initiative zu ergreifen. »In Ordnung«, murmelte der Kameramann, ließ sich von ihm auf die Beine helfen und hob seine abermals unbeschädigt aussehende Kamera vom Waldboden auf. Sie lief noch immer, doch Keith achtete kaum darauf. Ein letzter vorsichtiger Blick zurück zum abermals auf Normalgröße geschrumpften Glitzerkreis dort über dem Erdboden, und dann suchten die beiden ungleichen Männer gemeinsam das Weite. Sie waren keine zwei Minuten unterwegs durch den Forst von Crestfallen Point, als sie auf Flynn Morris stießen. Der Schwarm mancher amerikanischen Hausfrau jenseits der Fünfzig kroch gerade auf allen vieren aus dem Unterholz und wirkte dabei so gerädert und zerzaust wie jemand, der nächtelang im Wald geschlafen hatte. Seine Haare standen nach allen Richtungen ab, sein Kostüm war zerknittert und sein Gesicht machte den Eindruck, als sei er innerhalb der letzten Minuten um Jahre gealtert. Flynn sah fahrig aus, fahrig und überfordert. »Haben Sie das auch gesehen?«, fragte er, sowie er seiner Kollegen ansichtig wurde. »Dieses Auge? Diese verlassene Totenstadt? Was im Namen aller Heiligen war das?« Keith half ihm auf die Füße, legte dem älteren Schauspieler den freien Arm um die Schultern und drängte ihn weiter in Richtung Waldrand. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Und ich will es gar nicht wissen. Ich will nur …« »… weg«, beendete Quatermill den Satz. »Ich hab's mir anders überlegt, meine Herren. Die Scheißjubiläumsepisode funktioniert im Studio genauso gut.« Flynn nickte. »Endlich wird er vernünftig.« Die beiden anderen Männer lachten leise. Dann schüttelte Quatermill den Kopf. »Wo ist eigentlich Eubanks? Und …«
Er brach ab, doch Keith wusste, was er hatte sagen wollen: und Ellen. Nicht zuletzt, um sich selbst am Nachdenken zu hindern, rief er: »Kev? Kevin? Wo steckst du?« Stille antwortete ihnen, nur unterbrochen vom Zwitschern der Vögel und dem Rauschen des Windes in den Blättern und Büschen. Keith, Quatermill und Flynn stapften schweigend fort, orientierten sich am Stand der Sonne jenseits der immer kahler werdenden Baumwipfel und an ihrem Instinkt. Schließlich gelangten sie an den Rand des Waldes. Schon von weitem sahen sie die Umrisse der Häuser von Crestfallen Point durch die Blätter. Und den Leichnam von Ellen Whesson, der rücklings auf dem Stamm eines gefällten Ahornbaumes lag! »Himmel!« Flynn Morris zuckte zusammen, schüttelte Keiths Arm ab und rannte humpelnd zu ihr. Die anderen folgten prompt. Schweigend und mit vor Entsetzen aufgerissenen Mündern sahen sie auf die Kollegin hinab. Ellen streckte alle viere von sich und starrte mit offenen, gebrochen wirkenden Augen in den Himmel. Aus ihrem breiten Mund zog sich ein dünnes, dunkelrotes Rinnsal über ihre Wange hinab und zu Boden. Es war eingetrocknet, genau wie das restliche Blut, das aus ihren zahlreichen Wunden gedrungen war. Ihr Kopf saß eigenartig schief, als sei er im Nacken mehrfach gedreht worden. Überhaupt machte ihr ganzer Körper den Eindruck, an diversen Stellen gebrochen zu sein. Wider besseres Wissen beugte Keith sich hinunter, fühlte ihren Puls und suchte nach Anzeichen einer Atmung. Er fand keins von beidem. »Sie ist tot«, murmelte er. Quatermill nickte. »Und sie sieht aus, als …« Diesmal war es an Flynn, den Satz zu beenden. »Als sei sie aus mehreren Metern Höhe hinuntergefallen«, sagte er leise. »Wie in dieser Stadt … Mister Quatermill, wenn Ihr Angebot noch steht, würde auch ich sehr gerne zurück ins Studio fahren. Was immer auf dieser Insel vor sich geht, kann gerne ohne mich weitermachen.« »Mister Morris, Sie sprechen mir aus der Seele.« Keith schluckte schwer, als er mit seinen verbliebenen Kollegen aus dem Wald trat und sich den heruntergekommenen Bauten des
Dorfes näherte. Das Bild der wie zerschmettert wirkenden Autorin ging ihm nicht aus dem Kopf. Es schien sich auf seine mentale Netzhaut eingebrannt zu haben, und dort, so befürchtete er, würde es für immer bleiben. »Fehlen nur noch die anderen«, sagte er – nicht zuletzt um sich selbst abzulenken. »Samantha, Dilmore, Kevin …« »Miss Beckett und Mister Dilmore sollten hier auf uns warten«, erwiderte Quatermill und fuhr sich nervös mit den Händen durch die Haare. »Zumindest hoffe ich das. Je schneller wir verschwinden können, desto besser für uns alle. Was Mister Eubanks angeht … Ich fürchte, auch er wird unser Erlebnis von vorhin geteilt haben. Vielleicht ist er nicht mehr zurückgeke…« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn im nächsten Augenblick bog Roger Dilmore um die Ecke eines der verlassenen Antiquariate und auf den Dorfplatz. Dilmore sah furchtbar aus. Selbst sein unsägliches Vampir-Make-up täuschte nicht darüber hinweg, dass der einstige Theaterstar höllische Augenringe hatte. Seine Plastikglatze hing schief, sein Cape war so zerknittert, wie seine schwarze Hose dreckig war, und sein sonst so sorgfältig gestärktes und gebügeltes weißes Hemd mit der schwarzen Fliege schien der gesamten Royal Canadian Mounted Police Vancouvers als Fußabtreter gedient zu haben. Ein dünner Blutfaden lief Roger aus der geschwollenen Nase und übers Kinn. Doch all das schien ihn nicht zu stören. Seine Augen glühten förmlich vor Energie. Sein ganzer Leib schien innerlich zu beben, als stünde er kurz vor dem Bersten. Roger wirkte wie ein Sack Flöhe – jederzeit bereit, loszuspringen. Und in seinen Armen … »Sam!« Flynn Morris wollte schon lospreschen, doch bevor er auch nur zwei Schritte auf Samantha zu gemacht hatte, presste Roger ihr den Lauf des Revolvers, den er in der rechten Hand hielt, noch fester gegen die Schläfe. »Nichts da, alter Knabe!«, sagte er drohend – in einer bizarr anmutenden Kopie seiner gewohnten Stimme. »Du bleibst schön, wo du bist, klar? Das gilt für euch alle. Eine dumme Bewegung, und ich blase ihr die Lichter aus.« Beckett sah aus wie der Tod auf zwei Beinen. Ihre Kleidung war zerfetzt und mit Flecken erst kürzlich getrockneten Blutes verun-
ziert, ihre Frisur nur noch ein wilder Busch aus kastanienbraunen Haaren. Schweiß lief ihr über das Gesicht und den Hals, wo er sich mit rotem Blut vermischte. Ihre unnatürlich blassen Lippen bebten, doch davon abgesehen verhielt sie sich völlig ruhig. Die Arme wehrlos baumeln lassend, ergab sie sich dem Griff ihres Co-Stars, der sie mit Waffengewalt vorantrieb und sie dabei wie einen menschlichen Schutzschild vor sich herschob. »Was soll das, Roger? Hast du den Verstand verloren? Was hast du mit ihr angestellt?« Flynn zitterte vor Zorn und Hilflosigkeit. Die Hände zu Fäusten geballt stand er da und starrte seinen Kollegen mit hasserfülltem Blick an. »Das ist nicht Roger Dilmore«, sagte Quatermill leise. Sachlich. Keith nickte langsam. »Was?« Morris schien nicht zu wissen, ob er lachen, weinen oder gleich wild um sich schlagen sollte. »Was reden Sie denn da?« Eine gewaltige Kraft schien in ihm zu brodeln. Weit mehr, als Keith ihm zugetraut hätte. Flynn war unruhig. »Es mag wie Ihr Kollege aussehen«, antwortete der Regisseur ungerührt und ohne »Count Blessed« aus den Augen zu lassen, »aber da hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Achten Sie nur auf seine Sprechweise, seine Bewegungen. Das da ist ein ferngesteuerter, fremdgesteuerter Mensch.« »Wie Ellen«, flüsterte Samantha in diesem Moment. Panik lag in ihrem Blick, doch sie schien sie niederzukämpfen, um ihren Begleitern etwas mitzuteilen. »Im Wald. Ellen hat mich angegriffen, bevor sie – au!« Ein Hieb mit dem Griff des Revolvers machte ihrer Erklärung ein Ende. Der vermeintliche Dilmore funkelte sie böse an. »Hab ich dir erlaubt zu sprechen?«, fragte er schrill. »Habe ich irgendjemandem von euch erlaubt, sich zu äußern?« »Nein, und wir bedauern unser anmaßendes Verhalten«, antwortete Quatermill an ihrer Stelle. Der stämmige Regisseur redete gefasst, nahezu diplomatisch kühl – trotz des Wahnsinns, dem sie alle gerade ansichtig wurden. Nie zuvor hatte er auf Keith so diplomatisch gewirkt. »Wenn Sie uns unsere Kollegen aushändigen, machen wir uns sofort auf den Weg zurück zum Festland. Wir wollen Ihre
Gastfreundschaft wirklich nicht länger provo…« Diesmal war es ein Schuss, der David R. Quatermill unterbrach. Und er verfehlte ihn nicht. Quatermill zuckte zusammen, sein Kopf schnellte zur Seite, und im nächsten Moment sah Keith, wie die linke Kopfhälfte des Regisseurs in einer Blutfontäne unterging. Doch als Keith zu ihm eilen wollte, hob der Regisseur abwehrend die Hand. »Geht schon«, sagte er gequält. Er war in die Hocke gegangen, um seinen drohenden Sturz abzuwenden, richtete sich nun wieder auf und befühlte die betroffene Stelle mit den Fingern. Seine Augen verengten sich vor Schmerz. »Ist nur eine Fleischwunde, wenn ich das richtig einschätze. Aber ich fürchte, das Ohr kann ich abschreiben, sofern wir nicht bald einen Arzt auftreiben.« »Sie werden noch viel mehr abschreiben können«, drohte das Dilmore-Ding, und nun war es offenkundig hörbar: Die Stimme, die aus seiner Kehle drang, hatte nichts mehr mit der sanften, ruhigen Sprechweise des Theatermimen gemeinsam. »Wenn Sie nicht endlich Folge leisten. Sie sind nicht zum Spaß hier, meine Herren.« »Ach, nicht?«, erwiderte Flynn angriffslustig. »Ich hatte mich schon gewundert. Na, vielleicht sagen Sie uns, warum wir hier sind. Als Zielscheiben?« Samantha, die seit Quatermills Beinah-Zusammenbruch die Hände vor dem Mund zusammengeschlagen hatte, wirkte, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Keith schluckte. Und Roger Dilmore … … fiel kommentarlos zu Boden! Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, kippte das menschlich aussehende Monstrum nach hinten weg und schlug auf dem staubigen Teer des Dorfplatzes auf. Dann regte es sich nicht mehr. Beckett stand stocksteif da, verunsichert. Zwei Schrecksekunden vergingen, in denen sie alle nur starrten und staunten. Irgendwo krächzte eine Möwe. Schließlich riss sich Samantha von dem Anblick Dilmores los und lief Flynn in die Arme. »Alles in Ordnung?«, fragte der Hauptdarsteller besorgt, doch sie nickte bloß. »Was zum Teufel geht hier nur vor?« Quatermill, der sich ein Stofftaschentuch an die blutende Kopfwunde presste, trat zu dem
wie bewusstlos wirkenden Dilmore und nahm ihm den Revolver aus der Hand. Irgendwo rechts von ihnen begann jemand zu applaudieren. Sofort wirbelten die vier herum. Keith hatte die Fäuste erhoben, Quatermill die Waffe, und Flynn schob sich ganz gentlemanlike vor seine Partnerin – doch aus dem Schatten neben eines der zum Wald gewandten Häuser trat nur Kevin Eubanks, ihr Tontechniker. Er wirkte wie immer: Blue Jeans und ein schwarzer Rollkragenpullover, kurzes braunes Haar. Aber er grinste spitzbübisch, nickte zufrieden – und in seinen Augen lag das gleiche Glühen, das schon das Dilmore-Ding ausgezeichnet hatte. Und Ellen davor. Noch einer, dachte Keith und stöhnte innerlich. Der Regisseur reagierte sofort. »Keinen Schritt weiter.« Mit ausgestrecktem Waffenarm machte er einen Schritt auf den falschen Kevin zu. »Wir wollen keinen Ärger, aber wenn Sie uns nicht ziehen lassen, habe ich kein Problem damit, das Ding hier zu benutzen.« Kevin nickte anerkennend. »Nutzen Sie's«, sagte er auffordernd, und abermals war die Stimme, die Keith hörte, nicht die seines Kollegen. Die hier war viel tiefer, grollender. Sie hallte, als stamme sie aus den Untiefen der Hölle selbst. »Nur zu. Es wird Ihnen nichts bringen. Glauben Sie, damit könnten sie mich aufhalten? Haben Sie nicht selbst gesehen, wozu ich in der Lage bin?« »Wer sind Sie?«, fragte Samantha zitternd. »Was wollen Sie von uns?« »Zwei berechtigte Fragen«, sagte der falsche Kevin und strich sich imaginäre Flusen von seinem dunklen Rollkragenpullover. »Aber ich bin nicht für Fragen gekommen. Sondern für Antworten. Um unterhalten zu werden. Von Ihnen. Ich will Ihre Wahrheiten hören.« Quatermill blinzelte verwirrt. »Ich verstehe nicht.« »Oh, daran habe ich keinen Zweifel«, erwiderte sein Gegenüber. »Aber Ihre reizende Kollegin wird Ihnen sicherlich auf die Sprünge helfen.« Flynn Morris sah Samantha ratlos an. Die seufzte. »Das hat … das Roger-Ding auch verlangt, während ihr fort wart. Dass ich ihm ›meine Geschichte‹ erzähle. Meine Wahrheit, was immer das sein soll.«
Eubanks schüttelte missbilligend den Kopf. »Na, na, Miss Beckett. Stellen Sie sich nicht dümmer, als sie sind. Sie sollten mehr als alle anderen wissen, was die Stunde geschlagen hat. Immerhin begegnen wir beide uns nun schon zum dritten Mal.« Nun war es an Samantha, verwirrt zu blinzeln. »Er meint Dilmore«, sagte Keith und deutete auf den Bewusstlosen. »Was immer er ist, es war eben noch in Dilmore. Das Ding hat den Körper gewechselt. Und vorher war es in …« »Ellen«, keuchte Samantha, als Keith ratlos zu ihr blickte. »Es war in Ellen und hat mich im Wald angegriffen. Aber irgendwann hörte es auf, ich kehrte hierher zurück und lief prompt Roger in die Arme.« »Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Flynn. »Wollen Sie Geschichten? Erzählungen? Sollen wir Sie in den Schlaf reden, oder was? Das ist doch völlig verrückt!« Eubanks grinste. »Es wundert mich nicht, dass sie das so sehen. Immerhin ist es Ihr Job, erfundene Geschichten mit Leben zu erfüllen.« »Na gut«, schaltete sich Quatermill ein. Abermals wirkte er, als wählte er seine Worte mit Bedacht. »Wie gesagt, wir wollen keinen Ärger, sondern einfach von hier verschwinden. Wenn es also das ist, um das es Ihnen geht: Es war einmal ein König, der hatte …« Flynn sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. Doch schon im nächsten Augenblick riss der Schauspieler den Mund auf. »Quatermill!« Wie von einer unsichtbaren Hand gepackt, flog der Regisseur gut einen Meter hoch in die Luft. Völlig perplex kippte er nach hinten weg und schlug mit dem Schädel voran wieder auf dem Dorfplatz auf. Die Waffe wurde ihm zeitgleich aus der Hand gerissen, machte einen hohen Bogen und verschwand irgendwo jenseits des Waldrandes. »Sehen Sie das als Anzahlung«, sagte Eubanks ungerührt, während die anderen zu dem regungslos daliegenden Regisseur eilten, der aus seiner Kopfwunde blutete. »Und kommen Sie mir nicht auf die alberne Tour. Ich will keine Fiktion, auch wenn das Ihr Handwerk sein sollte. Nicht den erfundenen Quatsch, der in den Regalen
dieses Kaffs vor sich hin staubt. Sondern die Wahrheit!« Plötzlich war Keith, als koche die Luft. Hitze drang in seine Nasenlöcher, ließ seine Haare zittern und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. »Was …«, murmelte er erschrocken und sah sich um. »Charlie?« Samantha Beckens sorgenvolle Stimme drang wie aus weiter Ferne an seine Ohren. Eine eiserne Faust schien sich um seine Lunge gelegt zu haben, und drückte unerbittlich zu. Schweiß trat auf seine Stirn, die Welt verschwamm vor seinen Augen. Dass er auf die Knie fiel, merkte er kaum. Dann war es vorbei. Keuchend stützte Keith sich am Boden ab und rang um Luft. »Ich hoffe, ich habe mich deutlich gemacht«, sagte der falsche Kevin drohend. »Keine Tricks. Denken Sie erst gar nicht darüber nach, zu fliehen. Es würde Ihnen nicht gelingen. Und falls Ihnen diese kleine Demonstration meiner Stärke nicht ausgereicht hat … Nun, wie wäre es hiermit?« Lächelnd hob er die Hand, schnippte einmal mit den Fingern – und die Welt wurde finster. Stockfinster. Keith sah keine zwei Schritt mehr weit, konnte die Hand kaum vor Augen ausmachen. Ihm war, als sei die Sonne eine elektrische Lampe, deren Schalter umgelegt worden war. Zurück blieb nur ein dunkler Kellerraum namens Erde. Morris keuchte. »Was zum …« »Verscherzt es euch nicht mit mir, Night Fighter«, drang Kevins Stimme aus der Schwärze. »Ich kenne mehr Tricks, als ihr ahnt. Und ich werde sie anwenden. Bald.« Es raschelte leise, als das fremde Wesen, das Kevin Eubanks Körper übernommen hatte, im Wald verschwand. Zurück blieb ein zutiefst verwirrtes Filmteam.
Kapitel 10 – Das Jüngste Gericht Zamorra krümmte sich vor Schmerzen. Eben noch hatten steinerne Dämonen ihn und seine verbliebenen Begleiter zu einem unbekannten Ziel eskortieren wollen, und nun … Mit einem Mal war die Welt fort, ersetzt durch blitzende Punkte, die vor seinen Augen schwebten und ihm die Orientierung raubten. Sein Brustkorb brannte, seine Ohren rauschten. Nichts hielt mehr. »Monsieur!« Das war Fisher. Nolans junge Assistentin schrie seinen Namen, irgendwo im Dunkel jenseits der Blitze. Zamorra wollte sich an ihrem Ruf festhalten, in ihr einen Anker finden, doch es gelang ihm nicht. Die Wirklichkeit war ihm entglitten, und nun kam er nicht mehr zurück. Der Schmerz machte es unmöglich. »Bitte, Monsieur, Sie müssen bei uns bleiben! Monsieur!« Ihre zarten Hände krallten sich in sein Jackett. Sie weinte. »Zamorra, was ist mit Ihnen?« Nolans buschiges Gesicht kam in sein Blickfeld, jedes Wort wie ein Schlag in die Magengrube. »Ist es wieder so ein Anfall?« So ein Anfall. In den letzten Stunden war so viel geschehen, dass Zamorra die Attacke, die ihn im Flur des Sanatoriums ereilt hatte, schon fast verdrängt gehabt hatte – und nun schlug sie zurück, brachte sich mit qualvoller Intensität wieder in Erinnerung. Als hätte er nicht genug andere Dinge zu tun. Überreizte Nerven. Ein Körper, der in Panik reagierte, weil er die Störungen, die ihn plötzlich plagten, nicht verstand. Rational konnte der Meister des Übersinnlichen alle Symptome erkennen und erklären, nur das Aufhalten fiel ihm schwer. Es schien unmöglich. Fishers Hand legte sich auf seine Stirn, und ihm war, als zerplatze sein Kopf unter der Berührung. Zamorra schrie zwischen zusammengebissenen Zähnen, brüllte den Schmerz, den Frust und die Sorge hinaus. Er konnte nicht anders.
»Das war ein Ja«, dröhnte Nolans Stimme in seinen Ohrwindungen. »Ich glaube, ich weiß, was ich zu tun habe.« Nein! Nicht! Zamorra wollte Nolans Hände wegschlagen, doch seine Arme verweigerten den Dienst. Ein Gefühl wie von brennend heißen Nadeln zog über Zamorras Brustkorb, als Nolan sein Hemd weiter öffnete. Finger tasteten über seinen Oberkörper, befühlten seinen Hals. Jede Berührung war ein Schlag, jede Hilfe eine Potenzierung der Qualen. »Nol … an«, zischte er. Es kostete ihn unendlich viel Überwindung. »Lasssssn … Sie …« »Den Teufel werde ich tun, Zamorra«, drang die Stimme des Traumforschers wie Posaunengeheul auf ihn hinab. »Ich habe Sie einmal damit durchkommen lassen, aber kein zweites Mal. Nein, Sir!« Dann explodierte Zamorra. Zumindest fühlte es sich so an. Irgendwo in seinem Inneren brach ein Damm, und die Flut, die plötzlich über ihn hereinbrach, ließ ihn sich aufbäumen. Der Dämonenjäger wand sich auf dem Boden, warf sich unkontrolliert hin und her. Spastisches Zucken, Muskeln im Wahn. Nach ein paar endlos scheinenden Sekunden war es vorbei. Die Normalität kehrte zurück. Keuchend und zitternd schüttelte der Meister des Übersinnlichen den Kopf, um seine Sinne wieder freizubekommen. Sein Hemd klebte ihm wie eine zweite Haut am schweißnassen Rücken, und vor seinen Augen kam das Karussell namens Welt erst allmählich wieder zum Stehen. »Was zum …«, murmelte Nolan. »Zamorra, waren Sie das?« Der Professor blinzelte. Vorsichtig ließ er sich von Fisher aufhelfen und stützte sich dankbar auf die junge Frau. Seine Beine wirkten wie Pudding. Erst nach einigen Augenblicken merkte er, worauf der Sanatoriumsleiter eigentlich anspielte. Die Engel. Sie waren fort! »Was immer Sie gemacht haben, Monsieur, ich danke Ihnen.« Nolan klang fassungslos, aber erleichtert. »Ich werde Ihren Beruf nie wieder mit albernen TV-Serien vergleichen, das verspreche ich.«
Zamorra schluckte. »Das war ich nicht«, keuchte er atemlos. »Zumindest glaube ich das.« »Aber was soll sonst geschehen sein?«, fragte Fisher kleinlaut und klammerte sich so fest an Zamorra, dass er sich fragte, wer hier eigentlich wen stützte. »Sie sagten doch, Sie würden sich in derartigen Dingen auskennen …« Seine Gedanken rasten. Erstens: Ich bekomme einen Anfall, der meinem Bauchgefühl zufolge ganz eindeutig auf schwarzmagische Aktivitäten von immensem Ausmaß verweist. Zweitens: Der Anfall verschwindet so schnell, wie er kam. Drittens: Kurz darauf tauchen McPhees Statuen hier auf … Zamorra hatte geglaubt, dass beide Ereignisse miteinander zu tun hatten, und die Tatsachen schienen diese Folgerung zu belegen. Bis eben. Denn da ist noch Viertens: Ich bekomme einen zweiten, nahezu identischen Anfall, und als er diesmal vergeht, sind die Viecher wieder weg? Welchen Schluss sollte er daraus ziehen? Welches Muster steckte in diesen Geschehnissen? Wenn die Engel verschwanden, hieß das doch, dass sie besiegt worden waren – irgendwie, irgendwo. Richtig? Nicht von ihm, so viel zumindest stand fest. Und warum empfand er bei ihrem Verschwinden die gleiche Qual wie bei ihrem Auftauchen? Es sei denn, dass die Anfälle und die Engel gar nichts miteinander zu tun haben. Er schüttelte den Kopf. Oder zumindest nicht vollständig übereinstimmen. Ich bekomme allmählich die Befürchtung dass irgendwo ganz in der Nähe noch etwas passiert. Etwas, von dem ich gar keine Kenntnis habe. Und was immer es ist, es ist nichts Gutes … Der Gedanke war erschreckend. Die Macht der Steinernen war schon so beeindruckend gewesen – und so unangenehm –, dass die Aussicht auf eine noch größere Portion Übel ihm ganz und gar nicht behagte. Selten zuvor hatte Zamorra sich mehr gewünscht, mit seinem Bauchgefühl falsch zu liegen. »Ich kenne mich auch aus«, sagte er zu Fisher und Nolan, die ihn ansahen wie Schlachtvieh. Ratlos, hilflos. »Und genau deshalb rate ich Ihnen, sich irgendwo einzuschließen, bis ich Sie holen komme. Ich will Jack suchen. Dieses Puzzle hat mir noch zu viele Löcher, und vielleicht kann er ein paar von ihnen schließen. Eigentlich hätte
ich schon vor Stunden mit ihm sprechen müssen …« Nolan schüttelte derart vehement den Kopf, dass seine weiße Mähne nur so wogte. »Nichts da, Monsieur. Wir weichen nicht von Ihrer Seite.« Auch Fisher machte keinerlei Anstalten ihn loszulassen. Nicht zum ersten Mal fragte sich der Dämonenjäger, wie alt die blutjung wirkende Assistentin tatsächlich war. »Also gut«, gab er schließlich klein bei. »Aber bleiben Sie hinter mir. Und keinen Mucks, bis ich es sage!« Er seufzte. Wie war das mit Menschen, dachte er, die im Angesicht des Übersinnlichen unsinnig reagierten?
Als das Licht zurückkehrte, traute Jack McPhee seinen Augen nicht. Fort war die gleißende Leere, fort waren die anklagenden Echos von Personen aus seiner Vergangenheit. Stattdessen … befand er sich am Eingang der Küche von Sacred Heart. Sonnenstrahlen fielen rechts von ihm durch das Panoramafenster des Speisesaales. Über Tische und Stühle lagen Leichen verteilt, manche in Morgenmänteln, andere in weißen Kitteln und Schürzen. Auch ein paar Reinigungskräfte sah er unter den Toten. Hatte denn niemand anderes überlebt? So viel Zerstörung, während jenseits der Scheibe die Welt aussah, als wäre nie etwas gewesen! Und warum? Jack blickte sich um, doch die Engel waren fort. Nur die Verwüstung, die sie hinterlassen hatten, kündete noch von ihrer einstigen Anwesenheit. »Was …« Jack tastete an sich hinab und suchte nach Wunden, die er nicht fand. Was war geschehen? Warum hatten sie von ihm abgelassen? Und weshalb ausgerechnet hier? Das alles ergab keinerlei Sinn! »Muss es auch nicht«, erklang eine dunkle Stimme aus dem Dickicht aus umgestoßenen Regalen, herumliegenden Töpfen und Pfannen und allerhand anderem Küchenzubehör vor ihm, als hätte der Sprecher Jacks Gedanken gelesen. »Nicht alles, was du siehst, ist für deinen beschränkten Verstand gedacht, Jack McPhee. Findest du
es nicht überheblich, das vorauszusetzen?« Jack kniff die Lider enger zusammen und spähte in die Küche. Chaos überall. Blinkende Neonröhren an der Decke des fensterlosen, weiß gefliesten Raumes unterstrichen die unangenehme Atmosphäre nur noch, die er ausstrahlte. »Wer ist da?«, fragte Jack. Erst dann merkte er, dass er unbewusst die Hände zu Fäusten geballt hatte. »Wen willst du denn sehen?«, erwiderte die Stimme amüsiert. Jack schluckte. »Wen zu sehen hat man dich denn hergebracht?«, fuhr die Stimme fort. Sie klang alt, weise. Jack schwitzte. Das … konnte nicht sein! Gut, nichts anderes hatten die Engel ihm in Aussicht gestellt, aber … Die Tatsache war schlicht zu groß, um sie zu akzeptieren. »Du … Ihr …«, stammelte der Ex-TV-Prediger. Seine Beine wurden weich. »Ich …« Ein leises Lachen folgte. »Immer ich«, sagte der Fremde, dessen Namen er nicht einmal zu denken wagte, ruhig. »Das ist so typisch für euch. Es geht immer nur ums eigene Ego. Weißt du, Leute wie du fragen mich wieder und wieder, warum eure Welt so unperfekt ist. Ich kann's dir sagen, Jack: Weil ihr darauf herumlauft. Alles, was hier falsch läuft, geht auf eure Kappe. Damit hab ich nichts zu tun. Und, unter uns gesagt, bin ich es leid, euch ständig hinterherzuräumen. Wer bin ich, euer Butler?« Es schepperte. Schüsseln flogen auf, weggeworfen von unsichtbaren Händen. Metallene Kochlöffel, die wie unachtsam zur Seite gestoßen gegen die Wand prallten. Dann trat eine Gestalt in Jacks Blickfeld, und seine Atmung setzte aus. Äußerlich war es ein Mann von vielleicht dreißig Jahren. Mittelgroß, aber schmächtig, sicher kaum sechzig Kilo schwer. Kurze schwarze Haare, die ihm im schlechten Versuch einer Frisur um den Schädel fielen. Bartstoppeln auf Kinn, Wangen und Oberlippe. Er trug ein ausgewaschenes kirschrotes Shirt mit unleserlichem Aufdruck, eine an den Knien aufgerissene Jeans und eine Lederjacke, die aussah, als habe eine Elefantenkuh jahrelang auf ihr genächtigt. Buttons prangten an ihrem Kragen. Sie priesen britische Alternative-
Rockbands an und betonten die Vorzüge von Oralsex. »Hallo, Jack«, sagte der Mann. »Oder sollte ich dich Anker nennen?« Er lächelte zynisch, und hinter seinen gelblich schimmernden Zahnreihen sah McPhee das Höllenfeuer lodern. »Alter, was bin ich sauer auf dich …« »Ich verstehe nicht«, keuchte Jack. »Wer sind Sie?« Der Fremde kicherte. »Den Teil hatten wir bereits. Aber, okay, die Reaktion ist mir vertraut. Auch das hat mit eurer Überheblichkeit zu tun. Ich bitte dich: ein graubärtiger Großvatertyp, der von Harfen umgeben auf einer Wolke sitzt? Ist das wirklich euer Ernst? Harfen? Mal ehrlich, Mann, würdest du dir freiwillig Harfenmusik anhören, wo es doch so viel besseres Zeug da draußen gibt? Na also.« Er machte einen Schritt auf Jack zu, dann noch einen. Dabei krempelte er sich betont langsam die Jackenärmel hoch – fast so, als bereite er sich auf eine Schlägerei vor. »Aber nein, ihr Idioten wollt natürlich Mister Übervater persönlich, sonst käme er euch nicht mächtig genug vor. Und Opas wie der stehen nun einmal auf Opamusik.« Ein leises Schmunzeln. »Alles, nur keine Eigenverantwortung übernehmen – richtig, Jack?« »Ich … verstehe nicht«, wiederholte McPhee. Kalter Schweiß lief ihm in die Augen. Starr vor Schreck stand er da, während der Fremde immer näher kam und dabei bedrohlich grinste. »Klar tust du das. Wenn ihr ehrlich seid, versteht ihr das alle. Aber ihr gesteht es euch selbst nicht ein. Wer gibt schon gerne zu, dass er ein Weichei ist, das lieber auf den großen Oberboss vertraut, als sich selbst die Hände schmutzig zu machen, he? Wie kindisch …« Der Mann fuhr sich mit der Rechten durch das Haar. Erst jetzt bemerkte Jack, dass er ein Stoffarmband trug – genau so eins, wie sie auf Rockfestivals als Eintrittskarte ausgegeben wurden. »Aber kommen wir zur Sache, Jack. Du glaubst also, du könntest hier ungestraft in meinem Namen den großen Reibach machen? Könntest dir Gottes Groupies gönnen, meine Fanbase als Goldesel nehmen und zur allgemeinen Volksverdummung beitragen, indem du dich in meiner Abwesenheit zum Superstar erklärst?« Nun trennten sie nur noch wenige Zentimeter. Jack spürte den heißen Atem des Mannes auf seinem Gesicht, sah das Glühen in seinen
tiefschwarzen Pupillen. Und der Fremde fuhr fort: »Um ehrlich zu sein, geht mir das sogar am Arsch vorbei. Nein, wirklich! Schau dich doch um. Wie viele Typen auf diesem blauen Ball namens Erde machen genau dein Ding? Wie viele Prediger ziehen übers Land und lullen die Dorftrottel so lange mit ihren Psalmen und als Predigten getarntem Motivationstrainergesülze ein, bis die Jim-Bobs ihnen bereitwillig ihre Geldbeutel öffnen?« Er zwinkerte wissend. »Sollen sie. Mir doch schnurz. Ich habe das Ding hier nicht erschaffen, um mich mit jedem Kleinkram zu befassen, den ihr so anstellt. Wer nicht denken kann, muss zahlen – richtig, Jack?« McPhee schüttelte so stark den Kopf, als könne er damit den Fremden verschwinden lassen. Sein ganzes Wesen sträubte sich gegen die Akzeptanz dessen, was gerade mit ihm geschah. »Aber keiner von denen«, sagte der Mann leise und stieß fast mit der Nasenspitze gegen Jacks Nase, »hat die Dreistigkeit besessen, sich als Teil von mir zu bezeichnen! Als mein Anker, mein Halt auf Erden! Keiner von den ganzen Spinnern da draußen ist so verdorben, sich auch noch derart überheblich zu geben, die Existenz dessen, das seine Taschen füllt, öffentlich abzustreiten! Keiner!« Die Augen des Fremden schienen zu funkeln. Angriffslustig, wütend. Jack wusste nicht, woher er den Mut dazu nahm. Der Mann stand unmittelbar vor ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte zu. Trotzdem platzte es aus Jack heraus: »Das stimmt nicht. Kann gar nicht stimmen.« Bockige Worte, ausgesprochen wie von einem ungezogenen Kind. Nicht anders kam Jack sich vor. »Ach, nicht?« Der Fremde hob eine Braue. »Dann weißt du also mehr als ich, ja?« Die Hand des Mannes war wie ein Schraubstock auf Jacks Schulter, sein Gesicht eine Visage der Bedrohung. Feuer loderte in diesen dunklen Augen – Flammen, in denen ein Sterblicher wie Jack McPhee vergehen mochte. »Du weißt also mehr als der alte Mister Nada«, fuhr der Mann fort, jedes Wort wie ausgespuckter Rotz, verächtlich und bitter. »Gut zu wissen.« In dem Moment, in dem er den Namen hörte, wusste Jack, dass es vorbei war. Nada. Bis hierher hatte sich sein Verstand der Erkenntnis
dessen, was da vor ihm stand, verweigert, doch das Nada riss sämtliche mentalen Mauern nieder, die in langen Jahren gelebter und geliebter Agnostik entstanden waren. Jack war sich kaum bewusst, dass er auf die Knie ging und den Kopf sinken ließ, wie ein Ministrant vor dem Altar. »Herr«, sagte er, die Stimme kaum mehr als ein Hauch. »Herr, vergib mir.« Stille. Dann ein spöttisches Schnauben. »Lass mich raten: Denn du wusstest nicht, was du tatest?« Gott lachte abfällig. »Wenn ich einen Dollar für jedes Mal hätte, an dem ich den ollen Spruch schon zu hören bekam … Und ihr meint auch noch, damit wäre die Sache dann gehalten! Kindisch. Kindisch und feige, das seid ihr. Ihr solltet euch schämen.« Der Mann legte seine Hand unter Jacks Kinn. Finger wie Eis. »Glaubst du wirklich«, fuhr er anklagend fort, »angesichts deiner Situation könntest du mit Reue noch was ausrichten? Glaubst du, ich mache mich auf den weiten Weg zu dir und lasse mich dann mit einem simplen ›Sorry, Alter‹ abspeisen? Aber was rege ich mich auf? Auch das ist typisch Mensch: Ihr kommt immer erst auf den Trichter, wenn euch die Brühe bis zur Kinnlade steht. Bah, was widert ihr mich manchmal an …« Als Jack aufblickte, hatte Gott sich verwandelt. Aus dem schmächtigen Möchtegern-Noel-Gallagher war eine Lichtgestalt geworden, ein wabernder Schemen aus gleißendem Weiß. Kristallin wirkende Splitter tanzten in seinem Inneren, einem bizarren Windspiel gleich, und wogten im Rhythmus seiner Bewegungen. Jack war, als schaue er plötzlich direkt in den Himmel, in eine andere, bessere Sphäre. Da war ein Loch in der Wirklichkeit, eine Offenbarung, und sie schwebte direkt vor seinen Augen. »Herr«, murmelte er, und die Splitter kamen näher. »Herr«, wisperte er, und die Splitter berührten seine Haut, seine Kehle. Kalt und oh, so unendlich scharf. »Herr«, hauchte er. Dann schloss er die Augen und spürte Gottes Klinge, Gottes Zorn, Gottes Macht. Das Urteil, hier war es. Das Ende. »Jack!« Etwas polterte hinter ihm. Holz fiel auf den Boden, als
würden Stühle umgestoßen, Tische beiseitegeschoben. »Jack, verflucht, ist alles in Ordnung? Was zum Teufel machen Sie da?« »Mister McPhee! Großer Gott, sie leben!« Die erste Stimme hatte diesem Franzosen gehört, das da musste Fisher sein. Fehlte nur noch … Jack hatte den Gedanken nicht beendet, da spürte er schon, wie sich warme, menschliche, lebendige Hände um seine Arme legten und ihn schüttelten. »Wachen Sie auf, Mann«, rief Nolan ihm ins Ohr. »Wie kann man nur im Knien einschlafen? So was hab ich ja noch nie gesehen …« Irritiert blinzelte Jack die Augen auf – und sah nichts außer seinen drei Begleitern von vorhin. Sie waren unverletzt und sahen ihn an, als käme er vom Mars. Gott war nirgends zu sehen, weder die Britpop-Version noch das Mobile aus Lichtern. »Wo ist er hin?«, fragte Jack. Es klang beinahe enttäuscht. »Wo ist er? Ich sollte gerichtet werden, und jetzt ist er weg!« Fassungslosigkeit war wie eine Krankheit. Sie höhlte innerlich aus, machte taub. Machte dumm. »Von wem reden Sie?« Nolan kniff die Lider eng zusammen. »Hier war niemand. Nur Sie, kniend vor der offenen Küchentür. Als ob sie den Herd anbeten wollten.« Das Chaos war noch da, all die wild durcheinander gewirbelten Einrichtungsgegenstände und Küchenutensilien. Nur der Verursacher fehlte. Jack schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn doch gesehen. Er hat mit mir gesprochen.« Seine Stimme wurde zunehmend leiser, weinerlicher. Irgendwo in seinem Verstand machte etwas Ping. »Wen haben Sie gesehen, Jack?«, drängte Zamorra und sah aus, als wisse er die Antwort längst. »Wer war hier?« Jack schluckte, zog Rotz durch die Nase. Tränen stiegen in seine Augen. »Gott«, wisperte er.
»Das … glauben Sie doch nicht wirklich!« William klang, als hätte er gerade einen schlechten Scherz gehört. »Sie … Nein, Monsieur. Nein!« Zamorra schmunzelte. Es gehörte einiges dazu, seinen treuen Butler der Fassade professioneller Contenance zu berauben, die ihn
stets umgab wie eine zweite Haut. Und nun war es ihm gelungen, dank Jacks Schilderungen. »Was ich glaube, ist nicht weiter relevant, William«, erwiderte der Dämonenjäger schmunzelnd, »wenngleich ich Ihnen voll und ganz zustimme. Aber feststeht, dass dieser McPhee von der Begegnung voll und ganz überzeugt ist. Und angesichts dessen, was ich hier am eigenen Leib miterleben musste, will ich zumindest nicht ausschließen, dass er irgendetwas gesehen hat. Die Frage ist nur, was war es?« »Und wo ist es hin. Sie sagten ja, dass von einem Augenblick auf den anderen alle … Erscheinungen verschwanden. Geschah das zeitgleich mit Gottes Bühnenabgang?« Selbst durch den kleinen Lautsprecher seines Mobiltelefons glaubte Zamorra den abfälligen Gesichtsausdruck zu hören, den William im heimischen Loiretal zweifelsfrei gerade aufsetzte. »Nicht ganz, fürchte ich«, antwortete er. »Soweit ich die Angelegenheit rekonstruieren konnte, kam zuerst mein Spidey-Sinn, dann das Verschwinden der Engel, und danach wurde Nietzsches Vision eines toten Gottes Realität.« »Zumindest eines abwesenden …«, murmelte William hörbar amüsiert, fing sich aber sofort wieder. »Wie belieben Sie nun vorzugehen, Monsieur?« »Wenn ich das nur sagen könnte.« Zamorra seufzte. »Bis vorhin war ich fest davon überzeugt, dass mein erster Anfall auf das Erscheinen dieser Traumwesen zurückging. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Mir ist, als tanze die Antwort vor meiner Nase, aber ich bekomme sie nicht zu fassen.« Auch Williams Recherchen hatten keinen helfenden Ansatz gebracht: Crestfallen Point schien ein unbeschriebenes Blatt zu sein, zumindest in magischer Hinsicht. Keine Erscheinungen, keine Druidengräber, klaffenden Höllenschlunde, ungeklärten Morde oder andere Stolperfallen einer dunklen Vergangenheit. Zumindest nichts, was irgendwo aktenkundig wäre. Auch Nolan und sein Team waren unbefleckt und ohne Verbindungen zu Personen, Orten oder Ereignissen, die sich schwarzmagisch nennen ließen. Mit Ausnahme Jacks ließ sich Selbiges auch über die Patienten von Sacred Heart sagen. »Vielleicht täuscht Ihr Instinkt«, schlug der Butler vor und riss Za-
morra wieder aus seinen Gedanken. »Vielleicht reagierte Ihr übersinnliches Naturell durch den ersten Anfall auf das Kommen der Engel und durch den zweiten auf die Wiederkehr des Schöpfers auf Erden.« »Mag sein, aber warum dann diese Zeitverschiebung? Warum durfte ich mich erst von Attacke Nummer eins erholen, bevor die Statuen auftauchten? Und warum trat Jacks Gott erst auf den Plan, als ich schon längst wieder auf den Beinen stand? Nein, William. So absurd es auch klingt, hier geht noch mehr vor sich. Ich habe das ungute Gefühl, nur die Spitze dieses Eisbergs gesehen zu haben. Und der Rest von ihm dürfte meine offenen Fragen beantworten – ich muss ihn nur finden.« »Und besiegen«, ergänzte William nüchtern. »Und besiegen.« Zamorra grinste. Es tat gut, in all dem Chaos und der Zerstörung, die ihn in Sacred Heart umgaben, einen Moment zum Ausgleich zu finden. William schien das zu verstehen. »Also ein ganz normaler Tag im Leben«, fuhr der Butler fort, in sachlichem, ruhigem Ton. »Schön, dass Sie das auch so sehen.« Wohin der Dämonenjäger auch blickte, fielen ihm die Resultate der übersinnlichen Attacke ins Auge, die das luxuriöse Privatinstitut nahezu entvölkert hatte. Laut Fisher gab es nur acht Überlebende: Jack, Nolan, Fisher selbst, Zamorra, zwei ältliche Patienten und zwei Mechaniker, die im Keller mit der Reparatur der Heizung beschäftigt gewesen waren und – man höre und staune – von dem ganzen Tohuwabohu überhaupt nichts mitbekommen hatten. Sie alle waren traumatisiert und hatten sich im Garten des weitläufigen Anwesens an einen Tisch gesetzt, um das Geschehene zu besprechen. Es wurde zwar langsam dunkel – und damit herbstlich kühl –, doch hatte der Gedanke, noch eine Sekunde länger im Haus zu bleiben, niemandem von ihnen behagt. Niemandem außer Zamorra. Seit einer guten halben Stunde wanderte der Meister des Übersinnlichen bereits durch die leeren Gänge, sah in offene Zimmer und hinter Fahrstuhltüren, über Stationspulte und unter Betten. Er suchte nach Spuren, nach einem An-
satz, einem Plan, und der Spaziergang half ihm beim Nachdenken. Zumindest baute Zamorra darauf. »Der Weg ist eigentlich ganz offensichtlich«, sagte er schließlich und seufzte leise. »Ich muss mir den Rest dieser Insel vornehmen. Das Sacred Heart scheint keine weiteren Geheimnisse zu verbergen. Also findet der Rest dieser Show woanders statt. In der Nähe, das beweisen meine Attacken zweifelsfrei, aber nicht hier.« »Ich wünschte, Sie hätten mehr als nur den Dhyarra dabei«, sagte William. Zamorra schmunzelte. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich auch mit dem Kristall einiges auszurichten verstehe. Keine Sorge, William. Ich komme schon klar. Bisher hat's noch immer funktioniert.« »Verstanden, Monsieur«, sagte William wieder ganz sachlich. »Wenn Sie weitere Hilfe meinerseits benötigen, wissen Sie ja, wie Sie mich errei…« Von einem Augenblick auf den anderen war er fort, die Leitung schwieg. »William?«, fragte Zamorra ins Handy. »Hören Sie mich?« Statisches Rauschen erklang im Lautsprecher, den er an sein Ohr hielt. »William!« Seltsam. Irgendwo musste das Funknetz zusammengebrochen sein, oder … Bevor Zamorra den Gedanken beendet hatte, verklang das Rauschen und machte der vertrauten Stille des vorherigen Gesprächs Platz. »William, sind Sie noch dran?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. Und eine Stimme antwortete: »William, sind Sie noch dran?« Es war eine männliche Stimme, stark und sonor. Jung, maximal vierzig Jahre alt. Und sie gehörte nicht William! »Wer ist da?«, fragte Zamorra und spürte, wie sein interner ParaSensor Alarm schlug. Was immer hier vor sich ging, es war kein technischer Defekt. Technisch gesehen war es sogar unmöglich. »Wer ist da?«, wiederholte die Stimme auf seltsam angriffslustige Weise. Sie sprach die Worte gedehnt aus, langsam. Fast so, als bereite es ihr Mühe, sie zu formulieren. War das jemand, der des Französischen nicht mächtig war? »Wer ist da?«, fuhr die Stimme fort.
»William, sind Sie das?« Es lag ein Hall in diesen Worten, der Zamorra schaudern ließ. Irgendetwas daran … klang falsch, besser konnte er es nicht ausdrücken. Irreal. »Was wollen Sie?«, fragte er. »Wer sind Sie? Stecken Sie hinter all dem?« Erst jetzt kam der Professor auf die Idee, das Display des Telefons in Augenschein zu nehmen – und bemerkte zu seiner Verblüffung, dass er gar kein Netz mehr hatte! »Hinter all dem«, plapperte die Stimme, die er eigentlich gar nicht hören durfte, ihm nach. Sie klang hämisch, selbstsicher, überheblich. Und ihr Tempo nahm zu. »Hinter all dem. Hinter all dem.« Zamorra musste an eine Spinne denken, die auf ihr Opfer wartete. »Was wollen Sie?«, wiederholte der Professor. »Reden Sie mit mir. Lassen Sie uns dieses Problem aus der Welt schaffen, bevor noch mehr Menschen sterben müssen.« »Was will ich?«, fragte die Stimme zurück »Ganz einfach. Wer sind Sie?« Im nächsten Augenblick verschwand die Sonne vor den Fenstern von Sacred Heart, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Pechschwarze Dunkelheit lag plötzlich über Crestfallen Point, dessen Himmel nunmehr so finster war, dass nicht einmal Sterne an ihm Platz fanden.
Kapitel 11 – Flucht »Zamorra!« Er hatte das Gebäude kaum verlassen, da schallte ihm auch schon Nolans panischer Ruf entgegen. Der Mediziner stand im hinteren Bereich des Sanatoriumsgartens und hielt ein Feuerzeug hoch, damit Zamorra ihn trotz der Finsternis ausmachen konnte. »Hier hinten«, rief er dabei. »Hier sind wir.« Mit vorsichtigen Schritten stapfte der Meister des Übersinnlichen durch die Dunkelheit. Schon der Weg aus dem Institut hinaus war einem Spießrutenlauf gleichgekommen. Dreimal war Zamorra gegen Wände oder offene Türen geprallt, weil er kaum eine Handbreit sehen konnte. Hier im Freien fanden sich sicherlich noch mehr Hindernisse. Ich komme mir fast vor, als wäre ich erblindet, dachte er. Von einer Sekunde auf die andere. Die unheimliche Stimme am Telefon war längst verstummt, die Leitung tot. Zamorra hatte mehrfach versucht, William noch zu erreichen, doch keiner der Anrufe war überhaupt aufgebaut worden. Entweder war das Gerät kaputt, oder das Problem war weitaus größer. Angesichts der Finsternis, die über die kanadische Insel gekommen war, neigte der Professor zur zweiten Alternative. Auch wenn das die Unangenehmere war. »Gott sei Dank, dass Sie da sind«, murmelte Nolan, als der Dämonenjäger die Gruppe der Überlebenden des Engelangriffe erreichte. »Wir haben schon versucht, das Festland per Handy zu kontaktieren, um die Behörden zu informieren, aber niemand von uns kommt durch. Und jetzt das …« Die Erwähnung des Wortes Festland ließ Zamorra herumfahren. Mit fest zusammengekniffenen Augen suchte er die Umgebung ab. Von Nolans Fenster hatte er noch am Vormittag die Straße von Georgia und hinter ihr sogar die Skyline Vancouvers ausmachen können – zumindest ein Bruchteil dieses Panoramas sollte sich auch auf
Bodenniveau erkennen lassen. Doch da war nichts. Nur Schwärze. »Es ist, als sei die ganze Welt plötzlich verschwunden«, sagte Fisher leise. »Weg, einfach so. Nur wir sind übrig.« Sie klang nahezu andächtig. »Oder es ist genau umgekehrt.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Vancouver ist sicher noch da. Aber sind wir das auch? Mich würde interessieren, wie der Gegenblick wohl aussieht.« »Wie eine Kuppel«, murmelte Jack McPhee. »Eine Kuppel aus Dunkelheit. Sie liegt über uns, über der gesamten Insel, und schneidet uns von allem ab. Deswegen sehen wir auch keine Sterne: Weil keine da sind. Da draußen scheint nach wie vor die Sonne, sie kommt nur nicht zu uns durch.« Eine Kuppel aus samtener Schwärze, aus Nichts? Ein gleichermaßen faszinierender wie erschreckender Gedanke. Zamorra nickte langsam. Die Theorie war nicht schlecht. »Ob das die Engel waren?«, fragte einer der Techniker, die sich im Heizungskeller des Hauses befunden hatten. Offensichtlich hatten die anderen Anwesenden sie vom Geschehen in Kenntnis gesetzt. »Erleben wir gerade eine neue Form von biblischer Plage oder so etwas?« Nolan schnalzte tadelnd. »Reden Sie nicht solch einen Unsinn, Mr. Thebadieux. Sie sollten sich mal hören. Nein, ich bin sicher, dass es für all das eine vernünftige Erklärung gibt. Eine, die ich mir gerne anhöre, sobald sie feststeht – aber aus sicherer Entfernung.« Er hob die Arme und machte auffordernde Gesten. »Meine Herren, Miss Fisher, ich finde, wir haben lange genug auf diesem im wahrsten Sinne gottverdammten Eiland zugebracht. Was immer hier sein Unwesen treibt, macht es deutlich, dass es an unserer Gesellschaft nicht interessiert ist. Und wenn Sie mich fragen, sollten wir diesen Hinweis beherzigen und verschwinden, bevor es noch deutlicher wird. Also, wer kommt mit zur Sigmund?« Die Erwähnung von Nolans luxuriöser Privatfähre ließ Zamorra stutzen. »Glauben Sie wirklich, dass Sie da noch durchkommen?«, fragte er den ältlichen Sanatoriumsleiter und deutete in das blickdichte Dunkel, das sie in nur wenigen Schritten Abstand umgab. »Vancouver ist weg, der Himmel fehlt … aber Ihr kleines Schiff
kommt durch die Kuppel? Ich bitte Sie, Nolan! Denken Sie nach.« Trotz seiner warnenden Worte sah Zamorra, dass Vernunft bei Nolan keine Chance mehr hatte. Im Schein der kleinen Feuerzeugflamme wirkte der Institutsleiter wie ein Uralt-Spartakus, der in den Katakomben Roms eine Revolte anzettelte: mürrisch und entschlossen. So sahen Männer aus, die nicht länger bereit waren, sich zu ducken und auf bessere Zeiten zu hoffen. »Papperlapapp«, sagte der Traumforscher abfällig. »Das sind doch nur Theorien, Professor. Nichts als Fantasy-Geschwafel. Akte X, nicht wahr? Außerdem bestreite ich ja gar nicht, dass Crestfallen Point zu einem Schauplatz ganz nach Ihrer Profession verkommen ist. Ich sage nur, dass ich nicht länger willens bin, diesen Platz zu betreten. Gerade weil dem so ist.« »Ich bin dabei, Dr. Nolan«, sagte der Techniker namens Thebadieux mit Nachdruck. »Hauen wir ab.« Sein Kollege nickte eifrig. Auch die beiden Patienten, die das Massaker der Statuen überlebt hatten, stimmten sofort zu. Einzig Fisher und McPhee schienen zu zögern. »Ich bleibe«, sagte Jack schließlich. Seine Stimme klang fest, und trotz der Dunkelheit glaubte Zamorra, ein entschlossenes Funkeln in den Augen des Ex-Predigers zu erkennen. »Ich habe diese Sache angefangen, ich bringe sie auch zu Ende.« »Genau wie ich«, sagte Zamorra. »Und ich rate Ihnen allen, zu bleiben und sich …« »Nein«, fiel Fisher ihm ins Wort. »Tut mir leid, Monsieur, aber Dr. Nolan hat Recht. Wir haben schon viel zu lange gewartet. Das hier hat nichts mehr mit der Normalität zu tun. Sofern wir auch nur den Bruchteil einer Chance haben, diese Normalität wiederzufinden, sollten wir ihn nutzen. Und die Sigmund kann uns diese Chance bieten. Vancouver liegt da draußen! Davon bin ich überzeugt. Wir müssen es nur erreichen.« Nolan legte ihr die Hand auf die zitternde Schulter. »Keine Sorge, Miss Fisher. Das werden wir.« Die Worte wirkten beruhigend, das sah Zamorra. Fisher nickte dankbar, und ihr Zittern ließ ein wenig nach. Dann wandte sich der Sanatoriumsleiter an den Professor. »Letzte
Gelegenheit, Zamorra. Wir gehen, was immer Sie auch sagen. Kommen Sie mit uns. Lassen Sie uns Hilfe von außen holen. Was wollen Sie schon allein gegen dieses … Etwas hier anrichten?« Gute Frage, dachte Zamorra. Aber ich schätze, das sehe ich, wenn ich dort bin. Ein letztes Mal versuchte er, seinen Begleitern Vernunft einzureden, doch Nolans Versprechen einer Welt jenseits des Irrsinns hatte sie zu sehr angestachelt, als dass es für sie noch ein Zurück gab. Mit Vernunft und klugen Worten war ihrem Fluchtwillen nicht mehr beizukommen, daran bestand kein Zweifel. »Viel Glück, Nolan«, sagte Zamorra schließlich und resignierte. »Wenn Sie mich fragen, begehen Sie einen schwerwiegenden Fehler, aber viel Glück« Der Sanatoriumsleiter nickte, streckte die Hand aus und schüttelte Zamorras Rechte fest. »Das wünsche ich Ihnen auch«, sagte er mit einem aufrichtig wirkenden, warmen Lächeln. »Und Ihnen, Mister McPhee. Sie sind wirklich der … eindrucksvollste Patient, den zu betreuen ich in all meinen Berufsjahren die Ehre hatte.« Wenige Minuten später waren sie aufgebrochen. Der Weg zur Anlegestelle der Sigmund war nicht weit, denn Nolan transportierte seine Patienten mit dem Gefährt regelmäßig zu und von »seiner« Insel, und nicht wenige von ihnen waren schlecht zu Fuß. Schon nach ein paar Schritten verschluckte die Dunkelheit, die über Crestfallen Point gefallen war, die Schemen der Fliehenden. »Die rennen in den sicheren Tod«, murmelte Jack McPhee, sobald Nolans Gruppe außer Sicht geraten war. »Gut möglich«, sagte Zamorra leise. »Aber vielleicht sind sie auch auf dem Weg in Sicherheit. Wir werden es sehen, wenn wir diese Sache hinter uns gebracht haben.« »Diese Sache?« McPhee hob die Brauen. Trotz der Schwärze, die alles umgab, sah Zamorra das überraschte Funkeln in den Augen des einstigen Wanderpredigers. »Und welche Sache soll das genau sein?« »Ich versuche seit Stunden, sie zu benennen«, bekannte der Professor, »aber bisher entzieht sie sich jeglicher Definition. Alles, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass Ihre Engel nicht das Einzige wa-
ren, was auf dieser Insel vor sich geht.« McPhee schluckte hörbar. Erst jetzt fiel Zamorra ein, dass er sich offensichtlich die Schuld an dem Geschehenen gegeben hatte. »Nehmen Sie's nicht auf Ihre Kappe, Jack«, sagte er sanft. »Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben. Warum sollte es von Ihnen ausgehen? Mag sein, dass Ihr Gott Jagd auf Sie macht, aber ich für meinen Teil habe den Kerl nirgends gesehen oder gespürt, und solange ich ihn nicht sehe, glaube ich nicht daran, dass er hinter all diesem Chaos steckt. Uns fehlen die Fakten, um Schuldzuweisungen auszusprechen.« Der Ex-Prediger wirkte unendlich erleichtert, aber auch … Zamorra stutzte. War das Demut in McPhees Blick? Je länger er sich in der Gegenwart dieses Mannes aufhielt, desto mehr erstaunte ihn Jack McPhee. Erst das selbstlose Opfer zur Rettung von Nolan, Fisher und Zamorra selbst, dann die Annahme der Schuld am Geschehen … Für einen Mann, dessen Vermögen auf seiner Skrupellosigkeit und seinem Talent zur Bauernfängerei basierte, durchlief Jack gerade einen ziemlichen Wandel. Andererseits brachen vielleicht auch nur Charakterzüge hervor, die schon immer in ihm gesteckt hatten. Züge, die unter einer Fassade aus Show und Gier verborgen gewesen waren. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Jack nach einer kurzen Weile, die sie schweigend in der Stille und der Finsternis gestanden hatten, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. »Nolan und die anderen sind vermutlich längst jenseits von Gut und Böse. Suchen wir uns eine andere Methode, sinnlos zu sterben?« Ein schwaches Lächeln umspielte Zamorras Mundwinkel. »So in der Art, Jack«, antwortete er leise und dachte an seinen nächsten Zug in diesem bizarren Puzzlespiel. »So in der Art.«
Das Wasser spülte ruhig und gleichmäßig gegen den Bug des Schiffes. Ein wohltuendes, Konstanz verheißendes Geräusch. Nolan fand, dass es das Schönste der ganzen Welt war. »Schnell, alles an Bord«, forderte er seine Begleiter hastig auf und machte einen kleinen Satz, um von den Planken des Anlegestegs
aufs Deck der Sigmund zu gelangen. »Machen Sie es sich bequem, und bedienen Sie sich ruhig nach Herzenslust an der Bar. Heute geht alles aufs Haus. Wir legen sofort ab.« Letzteres ließen sich die anderen Überlebenden von Crestfallen Point nicht zweimal sagen. Binnen weniger Sekunden waren die Patienten, Handwerker und Miss Fisher vom Steg auf das luxuriös ausgestattete Wasserfahrzeug gestiegen und strömten in den rundherum mit doppelverglasten Panoramafenstern ausgestatteten Passagierraum. Ein dicker, edler Teppich schluckte ihre Schritte, und in der Luft lag – ausgeströmt von in den Wänden eingelassenen Düsen – ein sanfter Duft von Lavendel, der exklusiv und beruhigend wirken sollte. Nolan selbst hatte sich schon zur Brücke durchgetastet, einem kleinen Raum am Bug des Decks, und suchte fieberhaft nach dem Startknopf. »Einen kleinen Moment noch, dann haben wir … Ah, ja, da ist es!« Ein Rütteln ging durch das Schiff, sowie Nolan ein paar Schalter umlegte und den Motor aktivierte. Im gleichen Moment gingen die Lichter in der Decke des Passagierraums flackernd an, was seine Begleiter mit wohligen Beifalltönen quittierten. Na also, dachte der Traumforscher. Ein Stück Normalität ist schon da. Er tat das Richtige, daran bestand für ihn kein Zweifel. Was auf der Insel geschah, gehörte in den Kompetenzbereich von Profis wie Zamorra, die sich mit derlei Dingen auskannten. Jeder andere war da nur Bauernopfer, und Nolan hatte keinerlei Interesse, noch mehr Bauern fallen zu sehen. Es mochte sein, dass er durch eine Flucht nicht alle Antworten erhielt und vielleicht nie erfuhr, was sich wirklich auf Crestfallen Point abgespielt hatte – aber wenigstens würde er noch lebendig sein, um diese fehlenden Informationen vermissen zu können. »Besser dumm als tot«, murmelte er leise. »Besser dumm als tot.« »Wie meinen Sie, Doktor?« Fisher war herbeigetreten und sah ihn fragend an. Im Schein der Monitore und Signallampen, die auf den wenigen und übersichtlich angeordneten Brückenkonsolen zum Leben erwacht waren, sah die junge Assistentin ganz blau aus. »Nichts«, antwortete er ruhig. »Aber wenn Sie schon einmal hier
sind: Könnten Sie rausgehen und die Taue lösen? Sie wissen ja, wie das geht.« Unfassbar, dass er sie vergessen hatte. Seine Konzentration war nicht mehr die beste. »Gern, Doktor.« Mit einem dankbaren Lächeln wandte sie sich ab und trat aus der Tür ins Freie. Durch die Fenster sah er schemenhaft, wie sie sich vorsichtig an der Reling entlang hangelte. Dann begann sie, die Sigmund loszubinden. Zufrieden wandte sich Nolan wieder seinen Konsolen zu. Wenige Sekunden später schrie Fisher auf! Der Institutsleiter fuhr zusammen und blickte auf – doch da kam sie schon wieder ins Innere der Brücke. Die junge Frau zitterte wie Espenlaub, und ihr Gesicht war kreidebleich. »Was ist denn, Fisher? Haben Sie es nicht geschafft?« »D… Doch, Doktor«, antwortete sie stotternd, »aber da … da draußen …ist etwas!« Nolan blinzelte. »Ich verstehe nicht. Haben Sie etwas gesehen? Wieder einen dieser Engel?« Fisher wirkte völlig irritiert, schüttelte den Kopf. Nolan konnte nicht beurteilen, ob sie damit seine Frage verneinte oder schlicht die Gesamtsituation meinte. »Ganz ruhig, Fisher«, murmelte er in dem sanften, väterlichen Tonfall, den er sich für besonders traumatisierte Patienten aufhob. »Wir sind so gut wie draußen. Nur noch ein paar Minuten, und Vancouver liegt vor uns.« Zumindest hoffte er das. Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Fisher schien väterlichen Beistand zu brauchen und klammerte sich dankbar an jedes Versprechen, das Nolan ihr gab. Widerstandslos ließ sie sich von ihm in den Passagierbereich fuhren, wo er sie auf einen der Plüschsessel setzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie zurechtkommen würde, kehrte er auf die winzige Brücke zurück, ergriff das Steuer der Sigmund und stach in See. An ihrer breitesten Stelle kam die Straße von Georgia, jener Wasserstreifen zwischen dem kanadischen Festland und den nahen Inseln, auf eine Weite von dreißig Kilometern. Touristen liebten die
Gegend, nicht zuletzt weil sich immer wieder Wale in ihr blicken und fotografieren ließen. Mit ihren zweihundertvierzig Kilometern Länge war die Straße zwar nicht gerade klein, doch musste man sich schon sehr anstrengen, um auf ihr ein Ziel aus den Augen zu verlieren – vorausgesetzt, man sah es überhaupt. Wenn Nolan aus den Fenstern seines Schiffes blickte, sah er fast nur Finsternis. Der Bug der Sigmund schimmerte noch leicht durch das Dunkel, danach war Schluss. Keine fünf Meter, dachte der Traumforscher seltsam fasziniert. Man sieht keine fünf Meter weit. Unfassbar. Aber es kümmerte ihn nicht, durfte ihn nicht aufhalten. Hinter ihm warteten Menschen darauf, dass er sie in Sicherheit brachte. Schutzbefohlene! War es nicht seine Aufgabe, sich um die Bedürftigen zu kümmern? Auch Zamorra und McPhee hatten sicher nichts dagegen, dass er Hilfe vom Festland organisierte. Nein, die Sigmund würde auch ohne Tageslicht zurechtkommen. Ein so fortschrittliches Gefährt hatte alles an technischem Schnickschnack, was es gab. Und es lagen ohnehin nicht einmal zwanzig Kilometer Luftlinie zwischen dem Hafen von Sacred Heart und dem Festland. Sobald er das Schiff mithilfe der Brückenkonsolen auf Kurs gebracht hatte, bemühte sich Nolan um eine Funkverbindung zum Hafen. Vergeblich. Wie schon bei den Handys, blieb auch das Funkgerät stumm. Nicht einmal das charakteristische Ätherrauschen drang aus den Lautsprechern. »Als wären wir allein auf der Welt«, murmelte Fisher. »Abgeschnitten. Herausgefallen.« Sie hatte sich abermals vorgewagt, ohne dass er sie hatte kommen hören. Nolan hob die Brauen. »Papperlapapp. Lassen Sie sich von technischen Mängeln nicht ins Bockshorn jagen.« Er sah sie an, und die Angst auf ihren Zügen traf ihn bis ins Mark. Gab es denn nichts, womit er diesem Kind helfen konnte? Plötzlich kam ihm eine Idee. »Warten Sie, ich beweise es ihnen.« Irgendwo hier muss doch … Nolan beugte sich hinunter, um in den Schränken und Schubfächern zu wühlen, auf denen die Brückenkonsolen angebracht waren. Es dauerte nur Sekunden, bis er gefunden hatte, was ihm vorschwebte.
»Na bitte«, sagte er und riss die Leuchtpistole triumphierend in die Höhe. Eine einzelne Patrone, mehr hatte er nicht an Bord. Aber das würde reichen. »Geben Sie mir eine Minute, Fisher, und ich gebe ihnen die Welt zurück.« Sie sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Na, ein Licht«, erklärte er und deutete auf die Waffe. »Ich schieße in die Luft, und das Licht der Rakete erhellt den Himmel. Schon können wir weiter sehen – zwar nur für einen Moment, aber der sollte ausreichen, um Ihnen zu beweisen, dass die Welt noch da ist. Alles klar?« Er hatte die Tür schon erreicht, die hinaus aufs Deck führte, als Fisher endlich reagierte. »Nicht, Doktor«, bat die junge Frau flehend. »Gehen Sie nicht hinaus. Ich … Da ist etwas in diesem Dunkel. Ich habe es doch gespürt.« Nolan lächelte nachsichtig. »Was Sie gespürt haben, war Ihre eigene Sorge. Nichts als überreizte Nerven, Miss Fisher. Phantasie. Keine Angst, ich sorge für Klarheit.« Ehe sie etwas erwidern konnte, verließ er die Kabine. Draußen war es ungewohnt frisch. Kein Lüftchen regte sich, und das Klatschen des Wassers gegen den Bauch der Sigmund wirkte nahezu lustlos. Unnatürlich. Fröstelnd knöpfte sich der Traumforscher das Tweedjackett zu und schlug den mit Leder besetzten Kragen hoch – kleine Routinehandlungen, die vielleicht bei einem Wintermantel einen Unterschied bewirkt hätten, hier aber nahezu völlig effektlos blieben. Es war kalt, Punkt. Nichts, was er tun konnte, würde daran etwas ändern. Die Leuchtpistole fest umklammernd, wagte sich Nolan in die Dunkelheit vor, die Augen immer auf den Boden gerichtet, wo ihm die Deckplanken wenigstens ein bisschen moralischen Halt signalisierten. Zwei Meter, drei … Schon hatte er den Bug erreicht, die vorderste Spitze des Decks, und starrte voraus, sah aber nichts. Irgendwo da vorne musste Vancouver liegen, keine zehn Minuten entfernt, und doch bohrte sich Nolans Blick in eine undurchdringliche Mauer aus Schwärze. Da waren keine Lichter, keine Skyline oder Strandausläufer. Nicht einmal andere Schiffe konnte er ausmachen, geschweige
denn hören. Erst jetzt fiel ihm wirklich auf, wie still es geworden war. Selbst die Möwen, die sonst jeden Meter Fahrt der Sigmund begleiteten, schienen auf dieser irreal wirkenden Tour wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Höchst mysteriös, fand Nolan. Höchst ungewöhnlich. Dennoch … Nein. Ich weigere mich, darüber auch nur nachzudenken. Ein Schritt nach dem anderen. Fest entschlossen hob er die Waffe, streckte den Arm aus und zielte nahezu senkrecht in den Himmel, der nicht da war. Wir sind unterwegs, das allein zählt. Jeder Meter bringt uns der Normalität ein Stück näher. Ich muss es ihnen nur zeigen. Hieß es nicht, Stillstand sei der Tod? Nun, sterben konnte man genauso gut beim Versuch, einen Unterschied zu bewirken. Dann aber hatte man sich wenigstens bemüht. Nolan krümmte den Zeigefinger am Abzug der Leuchtpistole. Mit einem lauten Plopp entledigte sich die Heckler & Koch ihrer Ladung, die zischend in die Dunkelheit entschwand, ein gelblicher Blitz auf nachtschwarzem Hintergrund. Meter um Meter schraubte sich die Signalpatrone in die Finsternis. Nolan beobachtete ihren Lauf. Eine eigenartige Nervosität hatte von ihm Besitz ergriffen, die er nicht abschütteln konnte. Er kam sich fremd vor hier draußen in der Leere. Wie ein Mann, der seines Kontextes beraubt worden war. Das Gefühl behagte ihm ganz und gar nicht. Ein Knall erklang, und die Patrone detonierte zu einer Kugel aus Helligkeit, riss der Schwärze für einen Bruchteil des Augenblicks die Welt aus den Klauen. Nolan sah die See vor sich, dunkles Wasser, das windstill dalag. Er sah die Sigmund, die mit stolzer Geschwindigkeit vorauspflügte. Und er sah … Dass ihm die Waffe aus der Hand fiel, merkte er gar nicht. Auch den Schrei, den sechs Kehlen hinter ihm ausstießen und der so laut war, dass er sogar durch die doppelverglasten Kabinenscheiben drang, nahm er kaum wahr. Etwas anderes beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Etwas, das sich am Rand des Lichtkreises bewegte, den die Pistole erzeugt hatte. Etwas Großes! Als die Dunkelheit zurückkehrte, hatte der Traumforscher das Bild noch immer vor Augen: ein gewaltiger, unförmiger Leib in der Dun-
kelheit. Zuckende, sich windende Tentakel voller Geschwüre und … ja, und Mäuler. Rasiermesserscharfe Zahnreihen, ein Schädel mit pechschwarzen Reptilienaugen. Gewundene Hörner, spitz wie der Tod. »Doktor!« Fisher, irgendwo hinter ihm. Kreischend, wimmernd, flehend. »Doktor, kommen Sie zurück! Bitte! Kommen Sie rein!« »Nolan, was zum Teufel war das?« Thebadieux. Der Handwerker. Nolan hörte sie alle, verstand jedes Wort, doch er konnte sich weder bewegen, noch vermochte er sich zu ihnen umzudrehen. Einzig den Kopf konnte, nein, musste er schütteln. Panisch. Vehement. Das Bild … Oh Gott, dieses Bild … Er hatte von dieser Kreatur geträumt, als Kind. In seiner Phantasie hieß sie Morgathon. Er hatte sie erfunden; sein Unterbewusstsein hatte damit die Traumata seiner Kindheit kompensieren wollen und Nolan so manche schlaflose Nacht verschafft. Er hatte Jahre gebraucht – und ein psychologisches Studium –, um diese Schlüsse ziehen und sich endgültig von der Erinnerung an Morgathon befreien zu können. Und nun war er wieder da! Unsinn! Die Kreatur war nie real gewesen. Sie war nichts als kindliche Einbildung, Fiktion. Was also machte sie vor dem Bug der Sigmund? Unmöglich. Das ist schlicht unmöglich. Wasser plätscherte in der Stille. Die Luft roch plötzlich nach Schwefel und Eiter. Und irgendwo in der Finsternis hisste ein gewaltiger, riesiger Leviathan angriffslustig. Dr. Nolan schüttelte noch immer den Kopf, als sich der erste Tentakel über die Reling wand, sein Bein umfasste und ihn in die Höhe riss. In die Dunkelheit.
Irgendwo auf der nahezu glatten Oberfläche der Straße von Georgia trieb ein Wrack. Niemand sah es oder hörte das Klatschen des Wassers gegen seinen Kiel. Es trieb in Schwärze, fern von Mensch und Tier. Fern vom Licht. Hätte es jemand gesehen, er wäre vermutlich erschrocken aufgesprungen und hergeeilt, um zu helfen. Um nach Überlebenden zu
suchen. Denn das Wrack sah schlimm aus. Die Fenster der Brückenund Passagierkabine waren eingeschlagen. Dicke Risse zogen sich über die Deckplanken, und der Bug des Schiffes, an dessen Seiten man mit viel Phantasie noch das Wort Sigmund hätte ausmachen können, war derart stark eingebeult, dass es einem mittleren Wunder gleichkam, dass dieses Ding überhaupt noch gerade schwamm. Ein Leichnam lag zerschmettert über der Reling, den kopflosen Oberkörper zum Wasser gewandt, und blutete aus. Ein zweiter Körper lag auf dem Dach der Kabine, die Gliedmaßen ins Absurdeste verdreht und das Gesicht zu einem Klumpen zerschlagen, der an das Innere eines verfaulten Pfirsichs erinnerte. Beide waren männlich und trugen blutbeschmierte Blaumänner, von denen eine seltsam schleimige Substanz troff. Sie rochen nach Schwefel und vertanen Chancen. Hätte der theoretische Beobachter seinen Blick ins Innere der Kammer gerichtet, wäre ihm sicherlich der Rest des grausamen Bildes nicht entgangen. Denn auch dort lagen Leichen – besser gesagt: Leichenteile. Eine junge Frau, die einmal sehr hübsch gewesen sein musste, war offensichtlich hinterrücks gegen die Brückenkonsolen geschleudert worden. Die Wucht des Aufpralls hatte ihren Brustkorb zerschmettert und ihr den Kiefer gebrochen. Ein breiter Spalt trennte ihren Schädel in zwei Hälften, darunter war der Kopf so leer, als hätte etwas ihn ausgehöhlt. Auch hinter der Unglücklichen sah es aus, als habe eine Bombe eingeschlagen. Überall Gliedmaßen, Köpfe … zur Unkenntlichkeit zerfetzt und wahllos verteilt. Auf den Plüschsitzen, der Minibar, dem teuren Teppich. Alles war besudelt mit Schleim, Eiter und diversen Körperflüssigkeiten. Ein wahnsinniger Riese schien die Sigmund in die Hand genommen und so lange geschüttelt zu haben, bis sich nichts mehr in ihr regte. Selbst der Motor war verstummt, zweifelsfrei für immer. Es war niemand da, dieses Bild zu sehen und zu bewahren. Niemand, der der Nachwelt vom Schicksal dieser armen Menschen berichten konnte. Sie waren allein gestorben. Verloren in der Nacht.
Zwischenspiel – Und hoffen? Ein Wimmern in der Dunkelheit, weinerlich und schwach. »Es ist vorbei. Was sollen wir jetzt noch tun? Alles ist verloren.« Nur Schweigen antwortete. Irgendwo in der Stille tickte eine Uhr, als wolle sie die Eindringlichkeit der Lage dadurch noch unterstreichen, dass sie jede vergehende Sekunde markierte. Unwiederbringlich. »Das … hätte nie passieren dürfen«, erklang eine zweite Stimme. Sie war gefestigter als die erste, dennoch klangen die Worte gepresst. So sprach man unter Druck. Wenn man mit dem Rücken zur Wand stand und nur noch resignieren konnte. »Es ist … nicht vorgesehen.« »Nicht vorgesehen?« Die erste Stimme wurde sekündlich schriller. »Es ist geschehen, oder? Mag sein, dass es nicht den Regeln entsprach, aber das ändert jetzt auch nichts mehr!« Abermals hatte die Nacht vor den staubigen Fenstern Einzug gehalten und hüllte den Raum ein, doch diese Nacht war anders. Fremd. Ihre Kälte mochte vertraut wirken, doch ihre Art war nicht natürlich; ihr Ursprung widersprach allem, was hätte sein dürfen. Nachts war es still, aber nicht so still. Nachts war es einsam, aber nicht so einsam. Wahre Nächte fühlten sich nicht derart hoffnungslos an. »Und es ist sicher, dass er …«, setzte die zweite, festere Stimme wieder an. »Ich meine, hat er sich wirklich ver…« Ein Schnauben, spöttisch und trotzig zugleich. »Keine Atmung«, sagte die erste Stimme ungehalten. »Keine Regung, oder? Nichts. Er ist von uns gegangen – ob du das einsehen willst oder nicht. Und um ehrlich zu sein, kann ich seinen Entschluss nachvollziehen. Ich wünschte sogar, ich könnte es ihm gleichtun.« Nun verlor die zweite Stimme vollends die Beherrschung. »NIEMALS!«, schrie sie so laut, dass noch im Nebenzimmer die staubigen Gläser auf den Regalbrettern wackelten und die Bilder an den
vergilbten Tapeten verrutschten. »Hör mir genau zu: Niemals wieder will ich eine solch unsinnige und verachtenswerte Aussage von dir hören, verstanden? Niemand tut es ihm gleich!« »Aber warum?«, fragte die erste Stimme ruhig, sanft. »Welchen Unterschied macht es denn noch? Nun, da der Kreis gebrochen …« »Was geschehen ist, war ein Unfall!«, unterbrach die zweite Stimme mit Nachdruck Sie bebte vor Erregung. »Ein bedauernswerter Nebeneffekt, der genauso sehr auf sein Alter wie auf die Ereignisse draußen zurückzuführen ist. Klar? Nichts hiervon hat mit Freitod zu tun! Nichts!« Gequältes Schnaufen folgte. Die schweren Atemzüge einer Frau, die sich nur mühsam wieder unter Kontrolle zwingt. »Er würde uns nie im Stich lassen, und das weißt du so gut wie ich. Also wage es nicht, diese unbeschreibliche Tragödie als Vorwand zu nehmen, deine Pflicht zu vernachlässigen!« Die Worte hallten von den Wänden wider, huschten durch die leeren Räume. Sie waren ein Fanal, duldeten kein Veto. Abermals kehrte Stille ein. Selbst die Uhr verstummte – fast schien es, als wolle sie ebenfalls über das nachdenken, was hier gesprochen wurde. Jenseits der fast blinden Fensterscheiben, wo die Welt aussah, als habe sich eine schwarze Decke über sie gelegt, zuckte plötzlich ein heller Blitz in den Himmel, wo er prompt explodierte und für ein paar Momente zumindest einen kleinen Lichtkegel in die Finsternis riss. Er spiegelte sich im ruhigen Wasser und ließ ein kleines Schiff erkennen, das trotz der Umstände den Weg hinaus aufs Meer gewählt hatte. Und er brachte etwas anderes zum Vorschein. Etwas mit Klauen, Zähnen und gierigen Augen. Der Anblick verging so schnell, wie er gekommen war. Aber er verfehlte seine Wirkung nicht. »Und jetzt?«, fragte die erste Stimme nach einer Weile. Es hätte wie eine Anklage klingen können, doch der kindische Trotz von vorhin war fort. Stattdessen hatte sich etwas weitaus Schlimmeres in ihren Tonfall geschlichen: Resignation. »Was sollen wir noch tun?«, fuhr sie nahezu monoton fort. »Nur wir? Nichts können wir tun.«
Die Frau stieß Luft durch die Nase aus. Dann sagte sie: »Vielleicht doch. Wir machen das, was wir immer gemacht haben. Wir warten.« »Und hoffen?«, hakte die erste Stimme nach. Neuer Mut schien sie ergriffen zu haben. »Dürfen wir immer noch hoffen?« Irgendwo im Dunkel des Raumes nickte ein faltiger Kopf. Niemand sah ihn, doch er war da. Staub rieselte von ihm hinunter, aufgewirbelt von der so ungewohnten Bewegung, und landete auf einem weiten, von Spinnweben übersäten Kleid. »Immer«, flüsterte die Frau.
Kapitel 12 – Windstille »Zamorra! Hierher, schnell!« Sobald Jacks Ruf erklang, preschte der Dämonenjäger vor. Äste streiften sein Gesicht, und mehr als einmal drohte er, über einen Stein oder eine Wurzel zu stolpern, weil er sie nicht rechtzeitig sah, doch das kümmerte ihn nicht. Nicht jetzt. »Was ist los, Jack? Halten Sie durch!« Dann war er an den Bäumen vorbei, drängte sich durch das Buschwerk und das hüfthohe Unkraut – und glaubte seinen Augen kaum. »Sagen Sie das nicht mir«, murmelte Jack McPhee, der kreidebleich vor ihm stand, und berührte ihn am Arm. »Sondern dem da.« Mit erstaunlicher Zielgenauigkeit führte der Ex-Prediger den Professor durch die widernatürliche Nacht. Zamorra sah Hauswände neben sich aus der Dunkelheit auftauchen und wieder verschwinden. Gespenster aus Holz, Stein und Spinnweben. Alles wirkte so fremd, und doch war es ihm vertraut. »Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte er Jack. »Crestfallen Point«, antwortete der. »Das Dorf, meine ich. Ich war nie hier, habe aber einiges darüber gelesen, bevor ich zu Nolans Patienten stieß. Und damit wären wir beim Stichwort … Kennen Sie sich mit Erster Hilfe aus?« Jack war stehen geblieben und deutete schräg voraus. Als Zamorra die Augen etwas mehr zusammenkniff, gelang es ihm, Konturen in der Schwärze auszumachen. Menschliche Umrisse. »Wer zum Teufel sind Sie denn jetzt?«, fragte eine männliche Stimme ungehalten. »Der Rettungsdienst?« »Kommt drauf an«, murmelte Zamorra. Je länger er voraus starrte, desto mehr Details der Szene erschlossen sich ihm. Da waren drei Personen, zwei Männer und eine Frau, und sie alle hockten um den leblos wirkenden Körper eines vierten, eines stämmigen Burschen im weiten Hawaiihemd, der blutend am Boden lag. Einer der Män-
ner schien eine Art Lampe auf der Schulter zu balancieren, mit der er seinen blutenden Begleiter beleuchtete. Nein, keine Lampe, dachte Zamorra. Eine Kamera. Und das Ding sieht ziemlich professionell aus. »Samantha Beckett«, stellte sich die Frau vor. Sie wirkte überrascht und eingeschüchtert, doch ihr Tonfall war nüchtern und sachlich. »Das sind Keith Charles und Flynn Morris. Und der da heißt David R. Quatermill. Er hat zwei böse Kopfverletzungen erlitten. Können Sie ihm helfen, ja oder nein?« Der Meister des Übersinnlichen ging in die Knie und befühlte den Bewusstlosen vorsichtig. Wenn er die Augen schloss und seinen Geist öffnete, gelang es ihm vielleicht, auf astraler Ebene ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. »Ich habe Stimmen gehört und bin ihnen einfach gefolgt«, sagte Jack entschuldigend. »So fand ich diese Gruppe.« Der Prediger und er waren seit einer ganzen Weile unterwegs und hatten das Sanatorium längst hinter sich gelassen. »Sie sagten ja, dass vermutlich noch andere auf der Insel sind.« Zamorra nickte und konzentrierte sich ganz auf Quatermill. Binnen Sekunden hatte er die Wunden lokalisiert. »Hier«, sagte Charles und reichte ihm einen Beutel. »Das ist unser Erste-Hilfe-Vorrat. Ellen war diejenige, deren Job das Verarzten war …« »Und Ellen ist?«, fragte Zamorra, nahm den Gegenstand und durchwühlte ihn im Schein der Kameralampe. Schnell fand er, was er brauchte. »Tot«, antwortete Beckett. Die junge Frau wirkte erstaunlich sachlich, obwohl sie aussah, als habe die Hölle sie verschluckt und wieder ausgespuckt. »Während Sie arbeiten, kann ich Ihnen gern erzählen, was vorgefallen ist.« Mit wenigen Worten beschrieb sie eine Geschichte, die Zamorra zutiefst verblüffte. Auch Jack wirkte beeindruckt, gelinde gesagt. Und erschrocken. »Das ist es«, sagte McPhee, nachdem die junge Frau geendet hatte. »Das ist das zweite Ereignis, nach dem Sie gesucht haben, Zamorra, richtig? Dieser Kevin-Typ?« »Was wurde aus Dilmore?«, fragte der Dämonenjäger. »Ist er im-
mer noch hier?« »Wir haben ihn in eines der Häuser getragen. Er ist okay, soweit ich das beurteilen kann, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder bei Sinnen ist.« Samantha klang nicht gerade, als ob sie das störte. Flynn Morris schaltete sich ein. »Was hat er damit gemeint: das zweite Ereignis?«, fragte der ältliche Frauenschwarm und zeigte anklagend auf Jack. »Gab es ein erstes? Ich will nicht undankbar klingen, Mister, nicht zuletzt, da Sie Quatermill helfen. Aber Sie und Ihr seltsamer Partner schulden uns immer noch eine Erklärung für Ihr Kommen. Also wiederhole ich meine Frage von vorhin: Wer zum Teufel sind Sie?« »Im Prinzip das Gleiche wie Sie«, antwortete Zamorra. Trotz der ernsten Lage empfand er ein spitzbübisches Vergnügen dabei, diesen Menschen zu begegnen. »Ein Geisterjäger.« Zwar hatte der Professor dieses Night Fighter nie gesehen, war sich der Existenz und der inhaltlichen Ausrichtung derartiger Trivialprogramme aber durchaus bewusst. Mit ihrer simplen Schwarzweiß-Zeichnung der Protagonisten hatten sie ihn immer schon amüsiert. Morris schnaubte ungehalten und legte Beckett einen Arm um die Schultern. »Jetzt wird man auch noch verspottet … Willkommen beim Außendreh des Verderbens, Leute. In meiner gesamten Karriere ist mir so etwas noch nicht untergekommen.« Zamorra hob die Hand und deutete seinem »fiktiven Kollegen«, sich zu beruhigen. Dann beschrieb er dem Filmteam, was sich in Nolans Sanatorium zugetragen hatte. Beckett und Charles lauschten gebannt, einzig der pikiert wirkende Morris schien jedes Wort für Ironie zu halten. »Mir ist klar, dass Sie das nicht ernst nehmen«, schloss der Professor seinen Bericht, indem er sich direkt an den Schauspieler des Rick Stryker wandte, »aber Sie werden nicht bestreiten können, dass hier übersinnliche Mächte am Werk sind. Nun, genau die sind mein Metier.« Morris grunzte. »Nicht einmal Whesson hätte sich erlaubt, uns einen derartigen Käse vorzulegen«, murmelte er. Zamorra ließ ihn schimpfen. Mit seinen trotzigen Bemerkungen versuchte Flynn nur, seine Sorge zu überspielen. Das konnte er ver-
stehen. »Und was machen wir jetzt?«, schaltete sich Charles wieder in die Unterhaltung ein. »Gibt's in Ihrem Sanatorium vielleicht eine zweite Möglichkeit, diese Insel zu verlassen? Unsere Fähre sollte uns erst übermorgen abholen kommen – sofern es sie überhaupt noch gibt.« »Bedaure«, antwortete der Professor. »Bis auf weiteres sitzen wir hier fest. Aber um ihre Frage von vorhin quasi zu beantworten, Mr. Morris: Ich gehe tatsächlich davon aus, dass zwischen Ihren Erlebnissen und dem Vorfall in Sacred Heart ein Zusammenhang besteht. Mister Charles, haben Sie …« »Nennen Sie mich Charlie. Macht ohnehin fast jeder.« Zamorra lächelte. »Charlie. Ich frage mich, wie viel von dem, was Miss Beckett eben schilderte, wohl auf Ihrem Band festgehalten wurde.« Der Kameramann stutzte. »Band? Oh, Sie meinen das Baby hier!« Er klopfte gegen die Kamera auf seiner Schulter. »Gute Frage. Ich weiß auch nicht, warum ich sie ständig anschalte. Aus Gewohnheit, vermutlich. Wenn es Sie stört, kann ich sie auch ausstellen.« »Stört?« Der Meister des Übersinnlichen winkte ab. »Im Gegenteil. Sie ersparen mir vielleicht einiges an Mühe, wenn Sie mir einen Blick auf Ihre Aufnahmen gewähren.« »Super«, hörte Zamorra den Hauptdarsteller leise murmeln. »Wir stehen kurz davor, dem Kevin-Ding zum Opfer zu fallen, und was macht der Herr Dämonenjäger? Night-Fighter-Rohmaterial anschauen. Erinnere mich bitte daran, Sam, dass ich mich nie wieder über die Qualität unserer Drehbücher auslassen werde. Die Realität ist ja noch unglaubwürdiger als die Fiktion!« Dann hatte Charlie die Kamera abgesetzt und den daran befindlichen kleinen LCD-Monitor aufgeklappt. Gebannt verfolgten der Professor, Jack und die Überlebenden des Filmteams die Aufnahmen.
Als sie vorüber waren, kam Quatermill gerade wieder auf die Beine. Der Regisseur wirkte angeschlagen, aber wach und alert. Zamorras Heilkünste hatten mehr gebracht, als Sam zu hoffen gewagt hätte.
Vorsichtig half sie dem Regisseur hoch und machte ihn mit den beiden Fremden bekannt. Bei der Erwähnung des Wortes Dämonenjäger machte Quatermill große Augen, nahm die Information aber ohne Skepsis hin. »Sie wirken nicht überrascht«, bemerkte Zamorra. »Monsieur, bei allem, was ich heute gesehen habe, würde es mich auch nicht überraschen, wenn Sie sich als Außerirdischer vom Planeten Knurrzlfrix zu erkennen gäben. Im Gegenteil. Ich glaube, ich fände das sogar noch erfrischend abwechslungsreich.« Sam lachte, trotz der Umstände. Es tat gut, inmitten dieses Wahnsinns ein wenig Normalität zu verspüren, auch wenn sich diese in Galgenhumor äußerte. »Andererseits …«, fuhr Quatermill fort. »Hey, Ihr Begleiter ist der Jack McPhee, richtig? God's Anchor? Und das hier auf diesem buchstäblich von allen guten Geistern verlassenen Flecken Erde. Wissen Sie was, Zamorra? Mich verblüfft ab sofort gar nichts mehr.« Jack sah aus, als sei ihm die Erwähnung seines Berufs unangenehm. Wollte er nicht erkannt werden? Das musste jemandem mit seinem Bekanntheitsgrad doch nahezu alltäglich passieren. Vermutlich hat er einfach genug von dem ganzen Rummel, schlug Libby in Sams Gedanken vor. Wie wir. War alles ein wenig viel heute … Falls das stimmte, konnte Samantha es ihm nicht verdenken. Wie so ziemlich jeder US-Amerikaner hatte sie von Jacks »Arbeit« gehört, aber nie etwas für Teleprediger und deren Maschen übrig gehabt. In ihren Augen waren das Bauernfänger, die mit der Leichtgläubigkeit des Publikums spielten. Und doch … Er wirkt anders, als ich ihn mir vorgestellt hätte. Irgendwie kleiner. Nicht körperlich, aber im Gebaren. Sie betrachtete ihn im Schein der Kameralampe. Jack hatte etwas Ängstliches an sich, das nicht zu dem Bild passte, das Sam sich von Menschen seiner Profession gemacht hatte. Eine Rampensau sieht anders aus, stimmte Libby zu. Der da ist … Sammy, pass AUF! Libbys Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Plötzlich rappelte es rechts neben der jungen Frau in der Dunkelheit. Sofort sprang Sam auf, und die anderen folgten ihr.
»Das kommt aus dem Haus«, sagte Jack McPhee und deutete auf die Fassade eines kleinen Antiquariats, die sich gerade noch in der Finsternis abzeichnete. »Sagten Sie nicht, Sie hätten Ihren Kollegen dort untergebracht?« Guter Gott, Dilmore! Kaum hatte Jack ihn erwähnt, schallte auch schon Rogers weit tragende Stimme aus der offenen Tür des Gebäudes. »Was in Genesius' Namen geht hier vor?« Keine zwei Sekunden später trat der Darsteller ins Licht der Kamera. Er schwankte und hielt sich den Kopf, als habe er einen Kater, abgesehen davon schien er aber ganz der Alte zu sein. Keine Spur mehr von dem Monster, das in seiner Gestalt auf Sam losgegangen war. »Professor Zamorra«, sagte Quatermill erleichtert. »Darf ich Ihnen Roger Dilmore vorstellen? Roger, das sind ein Dämonenjäger von der Loire und ein amerikanischer TV-Prediger. Sie befinden sich zur Kur auf der Insel.« Dilmore sah ihn an, als habe Quatermill den Verstand verloren. »Warum auch nicht?«, sagte er trocken. Libby kicherte. Vermutlich denkt er gerade, dass er dringend mit seinem Agenten telefonieren muss. Um aus dem Vertrag mit Night Fighter rauszukommen. Denken wir das nicht alle?, erwiderte Sam. Nach ein paar Minuten hatten sie auch Dilmore auf den neuesten Stand gebracht. Der Mime wirkte zutiefst erschüttert, als er sich ihr zuwandte. »Samantha, ich … Was kann ich sagen? Ich sah, was mit mir geschah, aber ich konnte es nicht aufhalten! Ich war wie gefangen in diesem Körper, der Dinge tat, die nicht in meiner Absicht lagen.« Er rang mit Worten. Tränen der Hilflosigkeit glitzerten in seinen Augen. »Schon gut, Roger«, sagte sie und winkte ab. »Das warst nicht du. Genauso wenig, wie Ellen vorhin im Wald noch Ellen gewesen ist.« »Im Wald und in dieser bizarren Stadt«, stimmte der Professor zu. »Wir können sie leider nicht mehr fragen, und ich will keine unhaltbaren Spekulationen äußern, aber ich vermute, dass Miss Whesson sich mit ihrem Sprung richten wollte. Vielleicht als Strafe für das, was sie Ihnen, Miss Beckett, antat.« Sam schluckte. »Aber das war sie doch nicht«, protestierte sie trau-
rig. »Das war dieses Ding. Das, was nach ihr in Roger und dann in Kevin gefahren ist.« Flynn trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Dankbar ließ sie es geschehen. »Und doch zeigt uns Mister Dilmore«, fuhr Zamorra fort, »dass sich die … nennen wir sie mal: Besessenen … durchaus an das Geschehen erinnern.« Für einen Moment schwiegen alle. Sam dachte an Ellen – die Ellen, die sie seit vier Jahren kannte –, und mit einem Mal drohte die Trauer sie zu überwältigen. »Ruhig, Kleines«, flüsterte Flynn und strich ihr über den Kopf. »Nichts, was wir noch ändern könnten.« Darauf lief es ohnehin raus, oder? Was immer hier mit ihnen geschah, ließ sich nicht mehr ändern. Sie saßen fest – abgeschnitten vom Rest der Welt, sofern sie Zamorras Theorie glauben wollten – und waren der Gnade eines Wesens ausgeliefert, dessen Motive sie so wenig verstanden wie seine Herkunft. Eines Wesens, das in den vergangenen Stunden mehr als deutlich gemacht hatte, wie wenig es auf Konzepte wie Gnade gab. Wir sind erledigt, dachte Sam resignierend. So einfach ist das. Aus und vorbei. Dann explodierte die Welt hinter ihrer Stirn. Bilder strömten auf sie ein, Visionen von Dingen und Szenen, die sie im Laufe des Tages erlebt hatte. Wie ein Wirbelwind tanzten sie vor ihrem geistigen Auge, rissen sie von den Füßen und raubten ihr das Gleichgewicht. Hätte Flynn sie nicht gestützt, Sam wäre zweifellos zu Boden gegangen. »Miss Beckett?« Zamorras drängende Stimme an ihrem Ohr. »Miss Beckett, hören Sie mich?« »Was ist mit ihr, Professor?«, fragte Flynn hörbar entsetzt. »Sam?« Plötzlich berührten sie Fingerkuppen an der Schläfe. Sie spürte ihren Druck, der sanft aber bestimmend war, und das Karussell wurde langsamer. Keine zehn Sekunden später war der Spuk vorbei. »Es geht schon«, sagte Sam keuchend, sobald das, was auf Crestfallen Point noch als Normalität durchging, sie wiederhatte. »Alles in Ordnung.« Mit einem Mal war ihr bitterkalt. Und sie wusste auch, warum.
»So siehst du nicht gerade aus«, murmelte Flynn besorgt. »Was war los?« Sam lächelte humorlos. Wie sollte sie diese Frage beantworten, ohne sich als Verrückte zu outen? »Ich habe mich an etwas erinnert«, sagte sie schließlich, was zumindest indirekt die Wahrheit war. »Etwas, das in diesem Gebäude geschah.« Sie hob den Arm und zeigte auf die ehemalige Second-Hand-Buchhandlung, in der Roger geruht hatte. »Und das wäre?«, fragte Zamorra sanft. Er schien zu wissen, dass sie eine Information von Wert für ihn hatte. Und er war klug genug, nicht nach dem Woher zu drängen. »An ein Buch«, antwortete Sam. »Es ist sehr alt. Ellen hat in ihm gelesen, kurz nachdem wir hier angekommen sind. Und ich glaube … Ich glaube, es hat etwas mit dem zu tun, was hier vor sich geht.« »Moment mal.« Flynn kratzte sich am Kopf. »Woher willst du wissen, in was die Whesson hier herumgestöbert hat?« Das war es doch gerade: Sie konnte es gar nicht wissen. Und trotzdem war die Erinnerung plötzlich da, in ihrem Kopf! Eine Erinnerung, die nicht von ihr stammte, sondern von Ellen. Zamorra nahm die selbst für Sams Ohren unhaltbar klingende Aussage ohne jegliches Anzeichen von Skepsis hin. »Können Sie mir dieses Buch zeigen, Miss Beckett?«, fragte er ohne Zögern. Und ob wir das können, antwortete Libby in Sams Gedanken. Schließlich hat das Bild dieses Schmökers uns eben fast aus den Schuhen gehauen. Und Samantha Beckett nickte.
Kapitel 13 – Meer aus Nichts Es roch nach Spargel. Das war das Erste, was Gryf ap Llandrysgryf bemerkte, als er in der Küche des Château Montagne materialisierte. Spargel und, wenn er sich nicht irrte, Sauce Hollandaise. Dann kam der Schrei. Der Druide vom Silbermond achtete meist darauf, mit seinem plötzlichen Auftauchen so wenig Menschen wie nötig zu erschrecken, doch es gelang ihm nun einmal nicht immer. Der zeitlose Sprung war kein Talent, das sich bis ins letzte Detail steuern ließ. Gryf konzentrierte sich, stellte sich sein Ziel im Geiste vor, und schon konnte er sich dorthin teleportieren – und im Grunde war es egal, wie viel Weg zwischen seinem eigenen und dem gewünschten Aufenthaltsort lag. Als Wesen aus dem System der Wunderwelten verfügte er über ein Magiepotenzial, das das der meisten Erdbewohner, denen er in seinem längst in die Jahrtausende gehenden Leben begegnet war, bei weitem überstieg. Aber hin und wieder kam es vor, dass er in Situationen platzte, die er so nicht vorhergesehen hatte. Zum Beispiel in Madame Claires Küche. »Mon dieu!« Die wohlbeleibte Köchin stand mit dem Rücken zur Wand und presste sich einen hölzernen Kochlöffel an die Brust, als sei er eine Waffe. »Monsieur, da bleibt einem ja das Herz stehen!« Gryf schmunzelte verlegen – eine Geste, mit der er reihenweise Mädchenherzen zum Schmelzen bringen konnte. »Verzeihen Sie, Madame. Ich hatte nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen.« »In meiner Küche?« Madame schien sich wieder gefangen zu haben und rollte theatralisch mit den Augen. »Mein Kind, in meiner Küche sollten Sie mich immer erwarten!« Mein Kind … Typisch Madame Claire! Zamorras Köchin schien einen gewaltigen Mutterkomplex zu pflegen, neigte sie doch dazu, nahezu alle Menschen so zu nennen, die nicht Zamorra waren. Nur beim Professor machte sie eine Ausnahme. Ihm hatte sie die Be-
zeichnung »Chef« verpasst, was respektvoller gemeint war, als es mitunter wirkte. Im Falle des Silbermonddruiden ließ sich die verallgemeinerte Verkindlichung allerdings verschmerzen, denn trotz seiner über achttausend Lenze sah Gryf aus, als sei er gerade erst in die Zwanziger gekommen. Sein Kleidungsstil unterstrich diesen Eindruck zudem: Zur ausgewaschenen Jeans trug er aktuell ein dunkles T-Shirt und einen leichten, langen Mantel, der schwarz gehalten war. Auf seinem schmalen Kopf, aus dem zwei aufgeweckt wirkende und schalkhaft blitzende Augen die Welt beobachteten, prangte eine blonde Mähne, die sich seit Menschengenerationen jedem Versuch widersetzte, sie in etwas zu zwingen, das die Bezeichnung Frisur auch nur im Ansatz verdiente. Gryf hatte, wenn er es darauf anlegte, ein nahezu natürliches Talent zum Schlafzimmerblick. Zu seinem Glück verstand er es, ihn gewinnbringend einzusetzen, und ließ selten eine Gelegenheit aus, ein junges weibliches Wesen mit seinem Charme zu bezaubern. »Suchen Sie den Chef?«, fragte Madame Claire so passend, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Monsieur ist derzeit nicht im Haus. Aber fragen Sie mich nicht, wo er sich aufhält. Ich behalte da schon im Normalfall keinen Überblick, und seitdem Mademoiselle Nicole uns verlassen hat, komme ich erst gar nicht mehr hinterher.« Uns verlassen. Gryf entging die Formulierung nicht. »So schlimm?«, fragte er leise. Claire wirkte überraschend mitteilungsbedürftig – das wollte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Oh, Sie können sich gar nicht vorstellen …« Madame hob die Hände. »Ich will nicht behaupten, viel von den Geschäften des Professors zu verstehen, aber selbst mir entging nicht, wie eifrig er sich seit ihrem Weggang auf selbst die kleinsten Details stürzt. Dinge, die früher nicht eine Minute seiner Zeit verdient hätten, werden nun zu wichtigen Informationen aufgebauscht. Und warum?« Sie seufzte. »Wenn Sie mich fragen, nur damit er Ablenkung findet. Damit er nicht über das nachdenken muss, was wirklich wichtig ist.« Sie meinte natürlich Nicole, doch Gryf wusste, dass Zamorras Leben momentan auch ein paar weitere, nicht minder grundlegende Krisenherde beinhaltete. Dennoch war der Bruch mit der langjähri-
gen Berufs- und Lebenspartnerin ein einschneidendes Erlebnis. Eines, das Zamorras Basis beeinträchtigte. »Zamorra weiß schon, was er tut«, sagte er leicht defensiv. »Ach, tut er das?« Madame Claire klang wenig überzeugt. »Ihr Wort in Gottes Ohr, junger Mann, aber wenn dem wirklich so ist, frage ich Sie eines: Warum treibt er sich dann in der Weltgeschichte herum, anstatt nach Mademoiselle zu suchen? Warum schiebt er berufliche Pflichten vor, die er sich selbst an den Haaren herbeizieht, anstatt sich um die häuslichen zu kümmern? Die, die wirklich zählen? Männer … Ihr seid nicht dumm und auch nicht untalentiert, aber wenns ans Eingemachte geht, zieht ihr schneller den Schwanz ein, als man gucken kann.« Gryf traute seinen Ohren kaum, als Madame ihren Sermon über ihm ausschüttete. Mitteilungsbedürftig war noch untertrieben gewesen. Claire wirkte aufrichtig besorgt um das Wohlergehen des unlängst Single gewordenen Dämonenjägers. Es kam ihm vor, als habe sie nur auf ein geduldiges Ohr gewartet, bei dem sie sich diese Sorge von der Seele reden konnte. Ich glaube, so viele Worte haben wir noch nie am Stück miteinander gewechselt, dachte der Druide halb amüsiert, halb entsetzt. Die Lage muss schlimmer sein, als ich befürchtete. »Die Lage muss schlimmer sein, als ich befürchtete!« Die Küchentür schwang auf, und William trat ein. Der langjährige Butler wirkte irritiert, gelinde gesagt. Ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen, marschierte er in den Raum, die Augen auf ein kleines schnurloses Telefon gerichtet, das er in der Rechten hielt. »Verzeihen Sie die Störung, Madame, aber dürfte ich vielleicht den Apparat in der Küche versuchen? Dieser hier hat gerade mitten in einer Unterhaltung mit dem Professor den Dienst aufgegeben, wie mir scheint.« Erst jetzt sah er auf – und blieb sofort verdutzt stehen. »Mister ap Llandrysgryf«, sagte er verblüfft und betrachtete Gryf. Einundzwanzig, zweiundzwanzig …. zählte der Druide in Gedanken. »Gesundheit«, murmelte Madame Claire, die den Namen für ein Niesen des Butlers gehalten haben musste. Gryf nickte resignierend. Na bitte, irgendwer sagt's immer.
»Guten Tag, William«, grüßte er zurück. »Verzeihen Sie mein unangemeldetes Auftauchen. Ich wollte nur nach dem Rechten sehen … Sie wissen schon …« »Wegen Miss Duval«, vermutete William. »Ich verstehe.« »Madame hier hat mir schon einiges erzählt …« William hob die Brauen. »In der Tat?«, fragte er überrascht, und Gryf biss sich auf die Zunge. Hatte er die so angenehm indiskrete Köchin etwa gerade verpetzt? »Nein, nein«, wehrte der Druide ab. »So meine ich das nicht. Sie … Sie wirkte einfach besorgt. Und da geht es mir nicht anders.« Nun war es an William zu nicken. »Ihre Anteilnahme ehrt Sie, Mister ap Llandrysgryf«, sagte er im gewohnten, britisch-reservierten Tonfall, »aber ich versichere Ihnen, dass Professor Zamorra die Situation im Griff hat.« Genau. Und die Klimaerwärmung ist auch nur Mumpitz, mit dem das Fernsehen seine Nachrichtensendungen füllen will. Gryf wollte schon widersprechen, als ihm auffiel, wie seltsam der Butler den Satz betont hatte. »Diese Situation, William? Sie scheinen da etwas andeuten zu wollen … Was hat er denn nicht im Griff?« William seufzte und trat zur gegenüberliegenden Wand, wo ein kleines Telefon auf Brusthöhe am weißen Verputz befestigt worden war. »Um Ihnen das zu beantworten, müsste ich ihn erst einmal ans Telefon bekommen. Eben noch sprach ich mit ihm, und da schien auch alles wieder in Ordnung zu sein – zumindest für den Augenblick. Doch als dann so plötzlich der Kontakt abbrach, wurde ich stutzig.« »Aber Sie sagten doch, es läge am Telefon.« »Ich vermute, es liegt daran. Diese Theorie bedarf allerdings noch einer empirischen Überprüfung, um als Tatsache gelten zu dürfen.« Er hob den Hörer ab und begann zu wählen. »Genau deswegen bin ich hier.« Schweigend beobachteten Gryf und Madame Claire, wie William am Telefon ausharrte. Der Butler ließ dem Gerät Zeit, eine Verbindung aufzubauen, dann zuckte er die Schultern. »Nichts«, sagte er. »Kein Freizeichen, kein Rauschen – absolut nichts. Es ist, als gäbe es den Mobilanschluss des Professors nicht länger.«
Gryf sah, wie Madame Claire bei dieser Bemerkung ein wenig erblasste. »Wo ist er denn?«, hakte er nach. »Zamorra, meine ich.« »Kanada«, antwortete der Butler. »Er ist nach Vancouver gereist, um in einem Sanatorium dem Fall eines TV-Predigers nachzugehen, der von sich behauptet, von den Engeln des biblischen Gottes verfolgt und gequält zu werden. Engeln, die er sich selbst erträumt hat.« »Eine abenteuerliche Geschichte«, sagte Gryf anerkennend, schmunzelte abermals und nickte Madame zu. Offensichtlich hatte Claire nicht übertrieben, als sie sagte, dass sich Zamorra derzeit auf jede noch so dahergelaufen klingende Meldung stürzte, nur um abgelenkt zu bleiben. »Abenteuerlich und zutreffend, fürchte ich«, sagte William trocken. »Bei unserem Gespräch von vorhin berichtete mir Monsieur, dass die Engel gerade erfolgreich versucht hatten, das Sanatorium zu stürmen. Der Großteil des Personals und der Patienten kam bei der blutigen Attacke um – und besagter Prediger ist seitdem überzeugt, dem Schöpfer persönlich begegnet zu sein.« Gryf blinzelte. »In einem Sanatorium in Kanada«, wiederholte er ungläubig. »Gott. Höchstpersönlich.« Der Butler nickte. »Soweit ich hörte, sah der Allmächtige aus, wie ein … Wie hat der Professor es ausgedrückt? Ah, ja: wie ein in die Jahre gekommener Britpopper. Was immer das heißen soll.« Das Problem lag nicht darin, dass Gryf die Worte zwar hörte, sie aber nicht verarbeiten konnte. Das Problem lag vielmehr darin, dass er die Worte hörte! Punkt. Der christliche Gott tauchte also in einem kanadischen Sanatorium auf, sah aus wie der ältere Bruder von Liam Gallagher und hatte einen Schwung Engel als Groupies dabei, die die Belegschaft der Einrichtung dezimierten. Aha. Wo um alles in der Welt fand Zamorra nur immer diese unfassbaren Abenteuer? Hätte Gryf den Dämonenjäger und seinen Butler nicht so gut gekannt, er wäre sich veralbert vorgekommen. »Lassen Sie mal sehen.« Gryf trat zu William und überprüfte beide Telefone. Sie funktionierten einwandfrei, soweit er feststellen konnte. »Dann besteht also kein Zweifel«, murmelte William. Trotz seiner
stoischen Butlerfassade glaubte Gryf die Sorge im Blick des treuen Faktotums von Château Montagne zu erkennen. »Das Problem liegt auf Professor Zamorras Seite.« »Kanada, sagten Sie?«, fragte Gryf und rüstete sich innerlich bereits für den nächsten zeitlosen Sprung. »Wo genau?« »Der Ort nennt sich Crestfallen Point – eine kleine Insel vor der Küste Vancouvers. Das dortige Sanatorium heißt Sacred Heart und gehört einem gewissen Seymour Nolan, Psychologe und Schlafforscher. Zamorra deutete allerdings an, dass er als Nächstes den Rest der Insel erkunden wollte. Diese Aufgabe dürfte er inzwischen begonnen haben, sofern er …« »Alles klar«, sagte Gryf, als der Butler nicht weitersprach. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Madame Claire ihn entsetzt beobachtete. Jetzt war nicht die Zeit, der Köchin die Feinheiten des zeitlosen Springern zu erläutern. Sie würde es einfach hinnehmen müssen. Zamorras Leben mochte davon abhängen, dass Gryf schnell reagierte. »Kanada also. Heim des Ahorns und des Sirups, des Lachses und der …« Er sprang. »… olympischen Winterspiele 2010«, beendete er den Satz verblüfft, als er sich mit einem Mal in einer bodenlosen, substanzlosen Leere wiederfand.
Die Sensation dauerte nicht an. In einem Moment war Gryf noch, als schwebe er schwerelos in einem Meer aus Schwärze, im nächsten fand er sich schon in einem kleinen, muffigen Kabuff wieder. Der Raum war vielleicht vier Quadratmeter groß und bis unters Dach mit Akten vollgestopft. Er roch nach Staub, vergilbtem Papier und dem Rauch unzähliger verbotener Zigarettenpausen. Ohne meine Kontrolle? Er stutzte. Was immer gerade geschah, es hat mich gegen meinen Willen umgelenkt. Zumindest kommt es mir so vor. Vor sich sah er eine kleine hölzerne Tür und wollte sie schon öffnen, als sein Arm gegen einen Besen stieß, der neben ihr an der Wand lehnte und prompt geräuschvoll umfiel. Nahezu sofort schwang die Tür auf. Ein ältliches Männlein erschi-
en auf der Schwelle. Es hatte die Arme auf Brusthöhe erhoben, und seine gebrechlich wirkenden Hände umklammerten eine Schusswaffe, deren gähnender Lauf direkt auf Gryfs Gesicht gerichtet war. »Okay, Freundchen«, knurrte das Männlein. »Ich weiß nicht, wer du bist, und ich weiß nicht, woher du kommst, aber dein Timing lässt mich nichts Gutes vermuten – von daher immer schön hoch mit den Flossen!« Der Mann hatte lichtes schlohweißes Haar, das ihm in dünnen Strähnen über die Augen fiel, ein käsiges Gesicht und eine Hakennase. Sein schmächtiger, gebückter Leib steckte in einem blauen Overall, und auf seinem Kopf prangte eine Mütze, die aussah, als habe sie ganze Jahrhunderte auf dem Buckel. Gryf tat, wie ihm geheißen. »Ich komme in Frieden«, sagte er und biss sich im Geist auf die Zunge, um nicht laut loszulachen. Das klang so nach Fünfziger-Jahre-Horrorfilm. »Würd ich an deiner Stelle auch sagen.« Overall war nicht überzeugt. »Wie zum Teufel bist du hier hereingekommen? Und was ist da draußen los, hä?« Die erste Frage wollte Gryf nicht beantworten, also konzentrierte er sich auf die zweite. »Ach, Sie meinen die … Schwärze?«, wagte er einen Schuss ins Blaue. »Nun, lassen Sie mich kurz nachsehen, dann …« Der Revolver klickte leise, als Väterchen Blue den Bolzen zurückschob. »Bingo. Genau die meine ich. Wer seid ihr Jungs? Ivans? Al Kaida? Und was wollt ihr von Kanada, Mann? Die USA liegen ein paar Meilen weiter südlich!« Vorsichtig näherte sich Gryf dem Bewaffneten – und tatsächlich: Der Mann reagierte wie gewünscht, machte instinktiv ein paar Schritte rückwärts und erlaubte dem Druiden unbewusst, aus dem Kabuff zu treten. Als er die Schwelle überquerte, fand Gryf sich in einem kaum weniger zugemüllten kleinen Büro wieder, das aussah, als sei es seit vierzig Jahren nicht modernisiert worden. Auf einem kleinen Holzofen stand eine blecherne Kaffeekanne, ein Schreibtisch aus lackiertem Pressholz bog sich unter unentwirrbaren Bergen von Papierkram, und vor den Fenstern tauchte die untergehende Herbstsonne gerade die Straße von Georgia in atemberaubende Farben.
Nur war eine Farbe zu viel. »Was in Julian Peters' Namen ist das denn?«, fragte Gryf. Vor lauter Verblüffung vergaß er den Overall für einen Augenblick und trat unaufgefordert zum Fenster. In der Ferne, gleich über der Wasseroberfläche, stand eine schwarze, in den Himmel reichende Säule. Sie war gut und gerne dreißig Meter hoch, sofern er das auf die Entfernung abschätzen konnte. »Hey, hey!« Väterchen wirkte nicht begeistert von seiner Dreistigkeit. »Jetzt mal langsam, Bursche. Die Fragen stelle ich hier, klar? Und das? Du hast doch eben selbst zugegeben, dass das auf euer Konto geht. Also, raus mit der Sprache: Was wollt ihr Terroristenpack dieses Mal von Amerika?« Aus den Augenwinkeln schielte er bereits zum Telefon, einem vorsintflutlichen Gerät mit Wählscheibe, zweifellos um die Behörden zu alarmieren. »Ich bin kein Terrorist«, sagte Gryf. »Im Gegenteil. Ich bin hier, um zu helfen.« »Ayuh. Und ich bin Black Bartelmy. Erzähl mir keine Märchen, Mann, sonst rufe ich sofort bei der Hafenverwaltung an und verpfeif dich.« Hafenverwaltung. Also war Gryf am Hafen gelandet. Hatte William nicht was von einer Insel erzählt? Seine Gedanken überschlugen sich. Ich will auf eine Insel, lande aber am Hafen vor der Insel. Warum? Weil irgendeine Dunkelheit meinen Weg blockiert. Und was sehe ich vor der Küste dieses Hafens? Eine Kuppel aus eben dieser Dunkelheit. »Seit wann ist das da so?«, fragte er und deutete auf die Erscheinung inmitten der Straße von Georgia. In der Ferne sah er, wie sich Polizeiboote dem Dunkel näherten, aber in sicherem Abstand bremsten. Also waren die Behörden nicht minder ratlos. »Das fragst du noch? Seit vielleicht dreißig Minuten, wie du sehr wohl weißt, Bin Laden!« Gryf seufzte innerlich. Das passierte, wenn man Leuten zu viel erklären musste: Man verlor wertvolle Zeit. »Nichts für ungut, Pop«, sagte er freundlich, »aber ich fürchte, das Frage-und-Antwort-Spiel müssen wir vertagen.« Noch bevor Väterchen Blue reagieren konnte, hatte sich Gryf abermals auf sein eigentliches Ziel konzentriert und sprang.
Kapitel 14 – Der Tod und das Mädchen Wenn er nur raus könnte. Zamorra schüttelte den Kopf. Er hatte die Filmaufnahmen gesehen, aber gar nicht bemerkt, was ihm da gezeigt wurde. Nicht, bis er auch das Buch in Händen hielt. Das Buch des vermeintlich Wahnsinnigen, der im London des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts sein Unwesen getrieben hatte. Ellen Whesson, die verstorbene Drehbuchautorin hatte es gefunden. Sie hatte darin geblättert, ihren Geist seinem Inhalt geöffnet … und damit eine Lawine losgetreten, der sie sich vermutlich nicht einmal im Ansatz bewusst gewesen war. Eine, die sie mitgerissen hatte. Gnadenlos. Und ich kann nicht einmal die Außenwelt kontaktieren. Dabei bräuchte ich nur … »Und Sie wissen wirklich, womit wir es zu tun haben?« Sam Becketts Frage riss den Dämonenjäger aus seinen Gedanken. Sie hatten den verfallenden Ort verlassen und strichen nun durch den Wald, vorsichtig und leise. Alles war besser, als genau dort zu warten, wo »Kevin« sie vermutete, wenn er irgendwann zurückkam. »Mit einer Erscheinung, die bereits früher meinen Weg kreuzte«, antwortete Zamorra. »Ein Freund von mir wäre damals fast an ihr gestorben.« Das war eine harte Bemerkung, aber eine ehrliche. Beckett machte nicht den Eindruck, als müsse er sie mit Samthandschuhen anfassen. »Fast, aha. Tröstlich zu wissen. Wo ist Ihr Freund heute?«, fragte sie leise. »Im Wahnsinn …« Es raschelte im Dunkel. Flynn Morris trat näher. »Dämonenjäger«, sagte der Schauspieler laut. Es klang so spöttisch, als habe er Wunderheiler oder Hellseher gesagt – Berufe, denen Morris vermutlich genauso wenig Achtung entgegen brachte.
»Erklären Sie mir das noch einmal, bitte schön. Dieser … Londoner da hat also einen Tick gehabt, und deswegen wurden die Grenzen der Wirklichkeit dünn?« »Nicht deswegen, nein«, antwortete er geduldig. »Im Gegenteil. Alestair St. John, der Verfasser des von Miss Whesson gefundenen Buches, pflegte diesen Tick, wie Sie es ausdrücken, damit selbige Grenzen bestehen blieben. Zumindest glaubte er, sie durch Rituale, durch Verhaltenskonstanten aufrecht erhalten zu können – und die Realität bestätigte ihm diese Annahme. Also machte er weiter. Die Hintergründe seiner Überzeugungen sind dabei nicht weiter relevant. Entscheidend ist, dass St. John wusste, dass es Welten neben der unseren gibt. Dimensionen. Manche davon sind gut, andere böse – um es vereinfacht auszudrücken.« Das war sogar mehr als vereinfacht, aber Zamorra hatte das Gefühl, dass Morris nur für Erklärungen auf Vorschulniveau zugänglich war. Wenn überhaupt. »St. John war Zeuge eines Zwischenfalls, an dem die Wände der Wirklichkeit nachgaben und … Energien aus einer anderen Dimension überwechselten. Und er machte die Bekanntschaft einer Bruderschaft von Wächtern, die Wege gefunden hatte, dem Ansturm der Energien etwas entgegenzusetzen. St. John schloss sich dieser Geheimloge an – und sah sich fortan gezwungen, Dinge zu tun, die Sie und ich als irr und in manchen Fällen sogar als abscheulich betrachten würden. Nur so glaubte er, seinen Posten als Wächter ausüben zu können.« »All das stand in dem Buch?«, murmelte Morris. Er klang, als wisse er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Richtig. Als er sein Lebensende nahen spürte, schrieb er sein Wissen nieder – in der Hoffnung, einen Nachfolger finden zu können, der seine Arbeit weiterführte.« »Moment«, unterbrach Beckett. »Wenn es doch eine Loge gab, warum sprang die nicht ein? Warum musste dieser Alestair sich selbst um Nachwuchs kümmern? Und was bezweckte er damit, sein Wissen schlicht aufzuschreiben? Warum hat er nicht einfach jemanden bestimmt und ihm gesagt oder gezeigt, was zu tun war?« »Genau das tat er«, antwortete Zamorra. »Indem er es aufschrieb. Sehen Sie, nicht jeder Mensch eignet sich als Wächter. Das ist das
Besondere an diesem Buch – es ist ein Scanner. Es findet selbst den geeigneten Kandidaten. Wer es liest und den Voraussetzungen entspricht, muss sich seinem Sog hingeben. Tut er es nicht, ist alles vergebens. Dann brechen die Grenzen ein. Das Buch sucht sich seinen Leser von allein.« »Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Samantha. Zamorra versuchte es mit einem Beispiel. »Russisches Roulette. St. John war des Mordens überdrüssig. Vielleicht wollte er niemanden auswählen, dem er die Bürde seines Erbes auflastete. Dennoch musste ein Nachfolger her. Also schuf er das magische Buch – eines, das die Auswahl selbst übernahm. Alles, was St. John noch tun musste, war, es irgendwo auszulegen, wo Menschen es fanden. Und dann nahm das Schicksal automatisch seinen Gang. Das Buch fand den geeigneten Leser, der Leser wiederum wurde zwangsweise zum neuen Wächter – und St. John starb zumindest mit einem etwas leichteren Karma-Konto.« »So ging das von Generation zu Generation?« Zamorra nickte. »Davon ist auszugehen.« »Und irgendwann kam es nach Crestfallen Point«, murmelte Samantha. »Exakt. In ein Bücherdorf. Einen Ort, der wie ein Elefantenfriedhof für alte Schmöker ist, die niemand mehr zu brauchen glaubt. Ich bezweifle stark, dass die Besitzerin des ehemaligen Colbert's Olde Fine Books wusste, was sie da gespendet bekam, als sie das Paket auspackte. Sie wird das Buch einfach zu den anderen ins Regal gestellt und auf Kundschaft gewartet haben.« Morris schnaubte verächtlich. »Also ehrlich. Ich fand ja schon die Seelenfänger-Episode unserer letzten Staffel hanebüchen hoch zehn, aber das … Ihr solltet euch mal hören!« Abermals bewunderte Zamorra Becketts Stoizismus. Auch für ihre Ohren musste sich das, was er mitzuteilen hatte, absurd anhören. Doch im Gegensatz zu ihrem Co-Star nahm die Schauspielerin es als Wahrheit hin. Ja, sie ordnete sich sogar kritiklos Zamorras Fachkompetenz unter. Fast könnte man annehmen, sie habe bereits Erfahrung mit derlei Dingen, dachte er. Erfahrung die über das, was hier geschieht, hinausgeht …
»Was in Dreiteufelsnamen ist das?« Quatermills Ruf riss den Professor aus seinen Gedanken. Er hob die Hand, deutete seinen Begleitern inne zu halten, und näherte sich dem Regisseur im Schein des Kameralichts, mit dem Keith Charles der Nacht wenigstens ein paar Zentimeter Land entriss. »Was meinen Sie, Quatermill?« Der stämmige Filmemacher deutete stumm voraus. Seine Unterlippe zitterte. Zamorra folgte seinem Wink – und erstarrte. Vor ihnen im Buschwerk des kanadischen Waldes glühten zwei feuerrote Augen.
Sam Beckett presste sich gegen den Stamm des Baumes, spürte die raue Rinde an ihrem Rücken und schloss die Augen. Sirrend flogen die Geschosse rechts und links von ihr durch die Luft – fliegende, todbringende Grüße aus der Hölle. Erinnerungen an eine bittere Vergangenheit. Der Angriff der Steinernen hatte so unerwartet begonnen, dass sich das Team von Night Fighter nur mit Mühe in Deckung werfen konnte. Auf Zamorras Warnschrei hin hatte sich jeder einfach zu Boden fallen lassen und war durch die Schwärze gerobbt, panisch und orientierungslos. Charlies Kameralicht, das Sam in wenigen Metern Entfernung hinter zwei Büschen aufblitzen sah, war nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es brachte keine Helligkeit. Nicht, wenn man unter Beschuss geriet und jeder Schritt der letzte sein konnte. »Sam?« Flynns sorgenvoller Ruf drang von irgendwo rechts zu ihr, wo sich ein paar umgestürzte Bäume aus dem Dunkel schälten. »Sam, wo bist du?« Sie wollte ja antworten. Sogar mehr als alles andere. Aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Die Wucht der Erinnerung war zu groß. Wie oft konnte ein und dieselbe Scheiße einem Menschen widerfahren? Steinerne Engel standen dort in der Finsternis. Zischende Götterboten aus Zorn und poliertem Marmor, die Augen und Münder lodernden Hochöfen gleich. Sie waren das Einzige, was in der Schwär-
ze noch deutlich zu sehen war, leuchtend rote Fanale des Todes. Und sie gaben nicht nach. »Sie ist hier!« Es raschelte, und Zamorra duckte sich direkt neben Sam gegen das Holz. Sie konnte sein Gesicht geradeso ausmachen. Er wirkte besorgt – aber nicht wegen der Engel. »Alles in Ordnung! Bleiben Sie, wo Sie sind, Morris. Das gilt für alle!« Dann wandte er sich Sam zu. »Ganz ruhig, Beckett. Solange Sie in Deckung bleiben, kann Ihnen nichts geschehen.« Ja, genau. Als ob sie nicht längst gelernt hätte, was von diesem bescheuerten Rat zu halten war. »Sehen Sie das hier?«, fragte er und zog einen bläulich schimmernden Stein aus der Tasche seines weißen Jacketts. »Das ist ein Dhyarra. Ein Kristall, wenn Sie so wollen, der magische Energie besitzt. Mit ihm kann ich versuchen, unsere Angreifer aufzuhalten. Wenn ich richtig aufgepasst habe, handelt es sich diesmal nur um zwei Engel, und sie bewegen sich nicht von der Stelle.« Abermals sirrten die Pfeile aus Stein durch die Luft. Zischend zogen sie an Sam und dem Professor vorbei und verschwanden irgendwo weiter hinten in den Tiefen des Waldes. »W … Wo kommen die auf einmal her?«, fragte Sam. Das Sprechen fiel ihr unglaublich schwer, aber je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto besser wurde es. Zamorras Gegenwart machte es leichter, irgendwie. Neben seinem Kopf schlug ein Pfeil ins Holz, doch Zamorra ignorierte die Gefahr. »Ehrlich gesagt würde ich diese Frage gern Mr. McPhee stellen«, antwortete er ruhig und ohne den Blick von Sam zu nehmen. »Sie wissen nicht zufällig, wo er steckt?« »Hier!«, rief der Ex-Prediger im gleichen Moment. Als Sam sich nach links drehte, sah sie ihn. Im Licht von Charlies Kamera tauchte der Amerikaner aus dem Gestrüpp eines Strauches auf, die Hände erhoben, und blickte nahezu stoisch in Richtung der beiden Engel, die kaum mehr als rote Punkte im Dunkel waren. »Ihr seid wegen mir hier, also kümmert euch auch um mich. Nur um mich, klar? Lasst die anderen aus dem Spiel.« »Nicht schon wieder«, murmelten Sam und Zamorra gleichzeitig – und dann sah der Professor sie an. Fragend. Hinter seiner Stirn schi-
en es zu arbeiten, und ein Hauch von Verständnis schlich sich auf seine Züge, der Samantha fast das Herz brach. »Ich …«, begann sie leise. Doch Zamorra hob die Hand. »Später«, flüsterte er und nickte in Richtung des ehemaligen Geistlichen. »Erst muss ich dieses Feuer löschen.« Sie nickte, obwohl sie kaum verstand. Zu viel ging ihr durch den Kopf, als dass sie sich noch auf ihn hätte konzentrieren können. »Es wiederholt sich«, sprudelte es aus ihr heraus. »Alles. Ich habe mal gedacht, es hinter mir gelassen zu haben. Aber seit ich hier bin, weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Es hat mich gefunden.« Zamorra sah sie an, und ihr war, als ginge sein Blick ihr bis zum Grund der Seele. Sie fühlte sich nackt, bloß und durchschaut – aber es war kein unangenehmes Gefühl. Es war anders als bei den Therapeuten aus ihrer Kindheit. Anders als bei ihren Eltern, ihren Freunden von einst. Anders als bei Flynn, in dessen erfahrenen Armen sie einst glaubte, Sicherheit gefunden zu haben. Zum ersten Mal in ihrem Leben schien jemand hinter Sams Fassade zu blicken und zu verstehen, was er dort fand. Wirklich zu verstehen. »Später«, wiederholte der Meister des Übersinnlichen leise. Es klang nach Trost und Versprechen. Nach Heilung. Dann hob er den seltsamen Kristall, den er in der Hand trug, schloss die Augen und sah aus, als müsse er sich sehr anstrengen. Ein geistiges Duell, schlussfolgerte Sam atemlos. Was immer er versucht, es geschieht auf mentaler Ebene. Hilf ihm. Libbys Stimme hinter ihrer Stirn ließ die Schauspielerin zusammenzucken. Hilf ihm. Sams Gedanken rasten. Aber wie?, fragte sie. Was habe ich, dass ich jemandem wie ihm anbieten könnte? Sowie sie die Worte im Geiste gebildet hatte, kam ihr die Antwort. Fast, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Sam nach ihr suchte. Dich … Und Samantha Beckett erkannte, was zu tun war.
Zamorra zuckte zurück, als die junge Frau seinen Arm berührte. Er öffnete die Augen, für einen Moment um die Konzentration gebracht. Verstand Sam denn nicht, wie wichtig es war, dass er seine Magie einsetzte? Vielleicht hatten sie noch eine Chance, wenn er den Dhyarra mit seinem Geist verband! Der Sternstein nahm seine Energie aus Weltraumtiefen und ermöglichte es einem magisch Begabten wie dem Professor, allein durch Gedankenkraft Unterschiede zu bewirken. Dazu musste er den Stein nur mit der Haut berühren und sein ganzes Denken auf das gewünschte Ziel ausrichten – ein Unterfangen, das leichter klang, als es war. Insbesondere wenn die Zeit knapp wurde und die Feinde überlegen waren. »Sam, Sie müssen …« Nun war es an ihr, die Hand zu heben. »Nicht«, unterbrach ihn die Schauspielerin und nickte in Richtung des Dhyarras, dessen bläulicher Schimmer ihr Gesicht aus der Schwärze riss. Entschlossenheit brannte wie Feuer in ihren Augen. »Machen Sie weiter«, sagte sie fest. »Ich … Ich kann helfen.« Sie wirkte unsicher, doch irgendetwas an ihr ließ Zamorra spüren, dass sie es ernst meinte. Sie mochte nicht wissen, was sie tat, aber sie ahnte, dass sie es konnte. Das würde genügen müssen. Abermals schloss der Professor die Augen und richtete seine Energien auf den Stein in seiner Hand. Vor seinem geistigen Auge verschwand die Dunkelheit und wurde durch eine bizarre Darstellung des Waldes ersetzt. Zamorras Phantasie und seine Magie machten die Illusion perfekt und zauberten ein Bild, das wie das Negativ zu einer Fotographie der Szene wirkte, in der er sich befand. Zamorra »sah« … … Morris und Quatermill in ihrer Deckung … … Jack, wie er sich im Lichte von Charlies Kamera langsam den wartenden Engeln näherte … … Dilmore mit weit aufgerissenen Augen hinter einem Büschel Farnen hocken … Und er sah … Ein kleines Mädchen stand zwischen dem Filmteam und den Engeln. So selbstverständlich, als könnten beide ihm nichts anhaben.
Es hatte kurze braune Haare, die von einem rosa Band gehalten wurden, trug ein niedliches Sommerkleid und Sandalen. Und es blickte Zamorra direkt ins Gesicht. So wird es funktionieren, erklang die Stimme des Kindes direkt in seinen Gedanken. Glauben Sie mir! Gemeinsam können wir es schaffen. Der Professor zögerte nicht. Er richtete sich auf, eilte aus seiner Deckung, ergriff in der Vision die ausgestreckte Hand des Mädchens und trat mit ihm vor. Sinne weiteten sich und nahmen Dinge wahr, die ihnen normalerweise verborgen blieben. Magie glich aus, was Auge und Ohr nicht zu leisten vermochten. Zamorra war, als könne er mit einem Mal alles in seiner Umgebung auf einmal erfassen – vor ihm, hinter ihm, über und unter ihm wurde eins. Und er hatte den Überblick. Er steuerte. Die Szene war wie ein Standbild, dessen Perspektive er nach Herzenslust beeinflussen konnte. Die Welt verlangsamte ihren Lauf. Bewegungen wurden zäh, schienen im Raum zu erfrieren. Die steinernen Pfeile hingen in der Luft, als habe jemand die Zeit angehalten. Es war ein Kinderspiel, ihnen auszuweichen. Das Mädchen und Zamorra zogen an Jack vorbei, ließen die anderen hinter sich. Zuversicht lag auf den Zügen des Kindes, und es strahlte den Dämonenjäger an, als kenne es ihn seit Jahren. Wer war es? Wie kam es in seine Phantasie? Unzählige Fragen schossen dem Meister des Übersinnlichen durch den Kopf, doch dies war nicht der Moment, sie zu stellen. Es wurde Zeit, dass sie handelten. Jetzt, sagte die Kleine, ohne den Mund zu öffnen. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, nur freudiges Strahlen. Vertrauen. Versuch es noch einmal. Zamorra sah auf seine Hand, wo der Dhyarra glühte, ein dunkler Fleck im Negativ dieser Vision. Stärke ging von dem Sternstein aus, wie Wärme von einem Ofen. Der Professor hob die Hand, richtete den Stein auf die nur noch wenige Schritte entfernt stehenden Engel – und die Magie geschah. Unbändige Kraft schoss durch seinen Körper, flutete seinen Geist. Energie, die von ihm, dem Kristall und dem Kind an seiner Seite ausging, brandete über die Szenerie hinweg wie eine Welle über
einen Strand. Sie riss Zamorra von den Füßen, ließ ihn nach hinten wegkippen. Das Kind entglitt seinem Griff. Nein! Hart prallte er auf dem Boden auf. In einem bizarren Moment war ihm, als sähe er plötzlich Gryf ap Llandrysgryf vor sich. Der Silbermonddruide, der schon so manches Mal an Zamorras Seite gekämpft hatte, schwebte vor seinem geistigen Auge ins Negativ-Bild und drehte sich, die Arme ausgestreckt, wie im Wirbel eines unsichtbaren Hurrikans. Die Vision war zu schön, um wahr zu sein; dennoch wollte sich Zamorra instinktiv vorwerfen und nach dem Gefährten greifen, doch der Sog der eigenen Welle war zu stark. Sie drückte ihn ins Gras, raubte ihm die Kontrolle. Und die Illusion verschwand. Engel hissten, fauchten. Sie erinnerten ihn an die Realität. Und noch immer presste die Wucht der ungezügelten Magie den Meister des Übersinnlichen zu Boden. Er sah das Kind, die Engel, das Ziel, aber er erreichte es nicht! Dann war Gryf wieder da. Diesmal konnte Zamorra nur sein Gesicht erkennen, eine schreckgeweitete, körperlose Fratze der Sorge. Der Kopf des Druiden schwebte inmitten des Standbilds, als habe die Vision des Waldes einen Riss bekommen, durch den er sich nun hineinzwängte. Gryfs Mund öffnete sich und formte Worte, die der Professor nicht verstand, denn das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Fauchen der Engel gleich neben ihm übertönte alles. Wo … Zamorra konzentrierte sich. Seine Augen verfolgten Gryfs Züge, lasen von den Lippen des Freundes. … bist … … du? War das real? Der Professor zweifelte an seinem Verstand. Spielten ihm seine überreizten Sinne einen Streich? Gryf? Hier? Aber es wirkte so echt. So aufrichtig. Wie … kann … helfen? Abermals gelang es ihm, die Worte des Freundes zu erahnen. Unfassbar! Hatte die Macht des Dhyarras etwa ein Loch in die Wand geschlagen, die Crestfallen Point von der Außenwelt trennte? Die
Macht des Mädchens? Zamorra zögerte nicht. Dies mochte der Kontakt nach draußen sein, auf den er gehofft hatte. »Bring Remy her!«, schrie der Meister des Übersinnlichen in das Negativ, das Rauschen und das Hissen der Statuen. »Hol Remy und bring ihn zu mir! Ich brauche ihn!« Er musste nicht alles verstehen. Manchmal genügte es, einfach zu handeln. Die Augen der Gryf-Vision weiteten sich verblüfft, dann nickte der Druide vom Silbermond. Zamorra sah, wie das körperlose Gesicht kleiner wurde und buchstäblich vor seinen Augen verschwand. Das Mädchen schrie. Dann kehrte die Welt zurück. Blinzelnd schüttelte der Dämonenjäger den Kopf. Die Nacht hatte ihn wieder, die Vision war vergangen, und er lag rücklings auf dem kalten Waldboden. Der Dhyarra ruhte schwer in seiner Hand, und das rätselhafte Kind war fort. »Zamorra!« Wie aus heiterem Himmel ging Jack McPhee neben ihm in die Knie. »Was haben Sie gemacht? Wo sind sie?« Verständnislos schaute der Professor zur Seite. »Die Engel …« Keith Charles kam näher, wie sein Kameralicht deutlich machte. »Was immer Sie da getrieben haben, es hat funktioniert«, murmelte der Mann erleichtert. »Die Viecher verschwanden so plötzlich, wie sie auftauchten.« »Aber sie waren hier«, sagte Roger Dilmore. Der Schauspieler trat in den Schein der Kamera und hielt einen der steinernen Pfeile hoch, den er irgendwo aufgeklaubt haben musste. »Wer garantiert uns also, dass sie nicht wiederkommen? Immerhin war das nicht ihr erster Auftritt für heute, richtig?« Jack nickte. Offensichtlich hatte er sich diese Frage ebenfalls schon gestellt. »Wir müssen weiter. Sehen, ob wir nicht doch einen Weg von dieser verfluchten Insel finden. Aber falls nicht«, sagte er und blickte Zamorra eindringlich an, »werde ich mich ihnen opfern. Nur so kann dieser Wahnsinn ein Ende finden!« »Dieser vielleicht«, murmelte Quatermill, der sich gemeinsam mit Morris nun ebenfalls näherte. »Aber was wird aus Kevin? Was ist mit unserem Antagonisten? Indem Sie Ihre ganz persönliche Nemesis
vom Spielfeld nehmen, beenden Sie noch lange nicht die Partie, Mr. McPhee. Zumindest befürchte ich das.« »Was das angeht, kann ich vielleicht weiterhelfen«, sagte Samantha Beckett. Die junge Schauspielerin, deren Gesicht noch vor Minuten eine Mauer des Schweigens und des Entsetzens gewesen war, trat aus der Dunkelheit und wirkte mit einem Mal selbstbewusster, als Zamorra sie je gesehen hatte. »Sam, was …«, begann Morris. Doch sie deutete ihm zu schweigen. »Wir sollten reden, Monsieur«, sagte sie und blickte Zamorra direkt in die Augen. »Sie und ich. Meine Schwester bat mich gerade, Ihnen etwas auszurichten.«
Ein Rumpeln. Körper, die hart gegeneinander prallten. Dann schepperte es laut. Und eine Stimme rief: »Himmel, Arsch und Zwirn!« Als sich die Tür zum Archiv öffnete, hatte Robin Charles Scherbatsky Sr. die Waffe bereits entsichert und erhoben. »Keinen Schritt weiter, du Punk!«, knurrte er – den Spruch hatte er mal in einem Film gehört und für effektiv befunden. Nur hatte er aus Clint Eastwoods Mund deutlich härter geklungen. Eastwood hatte es auch nie mit Terroristen zu tun, die sich nach Gutdünken unsichtbar machen konnten. Der junge Mann mit der wilden Haarpracht stolperte abermals in das kleine Büro, in dem seit Jahren nur noch Scherbatsky arbeitete. Manchmal glaubte der knapp Siebzigjährige, dass die Hafenleitung längst vergessen hatte, dass es dieses Büro überhaupt noch gab. Die Akten, die hier lagerten, interessierten niemanden mehr. Zumindest niemanden, der nicht der Al Kaida angehörte. Der Fremde verharrte mitten in der Bewegung und blinzelte. Dann sah er Robin. Ein tiefer Seufzer drang aus seinem offen stehenden Mund. »Sie schon wieder?«, fragte er gequält. »Dabei hätte ich es fast geschafft. Ich war so gut wie durch!« Robin verstand kein Wort. Aber was immer der Mann meinte, es konnte nichts Gutes bedeuten. »Was geschafft, hä? Den Hafen zu sprengen? Rede, du … du …« Verdammt, warum fiel ihm ausge-
rechnet jetzt kein anderes Schimpfwort ein? »… Punk! Was haben du und deine Bin-Laden-Freaks mit uns vor?« In dem Blick, den ihm der junge Terrorist zuwarf, spiegelten sich Unglaube und Fassungslosigkeit, und für einen unangenehmen Moment glaubte Robin, der Fremde bräche in schallendes Gelächter aus. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf. »Bedaure, aber Bin Laden kommt heute nicht. Und ich muss jetzt auch weiter.« »Ah ja?«, brauste Robin auf. Ob der Fremde merkte, dass seine Waffenhand fast so stark zitterte wie seine Knie? »Und wohin, wenn ich fragen darf? Rede, Punk! Sonst mach ich dir Beine.« »Nach Paris«, antwortete der junge Mann geistesabwesend. »Remy suchen …« Dann machte er einen Schritt zur Seite … und verschwand abermals. Zwei geschlagene Minuten stand Robin nur da und starrte auf die Stelle, an der der Mann eben noch gestanden hatte. Was er hier erlebte, war unmöglich. Es widersprach allen Gesetzen der Logik. Menschen – selbst Terroristen – konnten sich nicht einfach in Luft auflösen, verdammt! Hilflos sah er sich um, und sein Blick blieb an der seltsamen Erscheinung draußen vor dem Fenster hängen. Der schwarzen Säule, die Crestfallen Point dem Anschein nach von der Außenwelt abschottete. Irgendjemand musste Licht in dieses Dunkel bringen, fand Robin. Jemand musste … Im nächsten Augenblick schlug er sich mit der flachen Hand gegen die faltige Stirn. Wie hatte er nur so dumm sein können? Anstatt hier zu warten und sich über Unmöglichkeiten zu wundern, hatte er doch die Chance, einen Unterschied zu bewirken. Gerade er! Binnen weniger Minuten hatte er das kleine Büro nach dem durchsucht, was er brauchte. »Handbuch Crestfallen Point – Fernabfrage« stand in schwarzen Lettern auf dem dünnen Bändchen. Wusste überhaupt noch jemand, dass die verlassene Insel einen Leuchtturm besaß? Selbst die Hafenleitung dürfte ihn vergessen haben, wie sie auch Robin schon vor Jahren vergessen hatte, den Leuchtturmbeauftragten hier auf dem Festland. Doch Robin hatte stets seinen Dienst verrichtet – heute würde keine Ausnahme sein.
»Wollen wir doch mal sehen, ob wir euch Al Kaidas nicht in die Suppe spucken können«, murmelte er und suchte nach den Konsolen, mit denen er das Licht auf Crestfallen Point einschalten konnte.
Kapitel 15 – Alte Wunden Sorbonne Florence Baudoin sah aus, als wolle sie ihn schlagen. Gryf fühlte sich, als hätte er es verdient. Jeden einzelnen Hieb. Die Mittfünfzigerin bebte. Äußerlich ruhig, die Handflächen auf der karierten Kuchentischdecke liegend, sah der Druide ihr doch an, wie sehr es in ihr kochte. Ihr Gesicht war eine Fratze des Schmerzes, und es brach ihm das Herz, dass er der Verursacher solcher Pein sein musste. »Es tut mir leid«, begann er. »Florence, ich …« »Wage es nicht!« Ihre Stimme war wie ein Messer im Fleisch der fassungslosen Stille, die sich über die Küche gelegt hatte. »Wage es nicht, auch nur einen Deut davon auf die Umstände zu schieben! Auf Zamorra oder die Unschuldigen in dem Schlamassel, in das dein feiner Freund sich wieder hineinmanövriert hat!« Ihre Augen funkelten vor kaum beherrschten Zorn. »Wir haben Besseres verdient, Gryf ap Llandrysgryf, findest du nicht? Mehr als Floskeln.« Worte konnten Waffen sein, und ihre schossen scharf. »Remy …« Gryf wandte sich an ihn, den dritten und letzten Anwesenden. Baudoin saß auf der kleinen Eckbank seiner Wohnung, in sich zusammengesunken, zerstört. Selten zuvor hatte der Druide einen Menschen gesehen, der so leer wirkte, so ausgehöhlt. »Ich muss, Remy. Glaub mir.« Und der runde Kopf mit den kurzen Haarstoppeln und der kleinen runden Brille nickte langsam. »Ich weiß.« Ein nahezu tonloser Kommentar. Gryf kannte die »Akte Baudoin« nur am Rande, war bei dem Vorfall nicht zugegen gewesen. Wenn er sich recht entsann, war das jetzt gut und gern zwanzig Jahre her. Remy war Geograph gewesen,
ein alter Bekannter des Professors, und damals durch Zufall in eine Sache geraten, die seine kleine Welt für immer aus ihren Fugen gehoben hatte. Eine, deren Narben der stille Koloss von einem Mann noch heute trug. Aus Gründen, über die der Druide nichts wusste, war Remy in eine parallele Dimension gezogen worden, und Zamorra hatte ihn gerettet. So weit die Fakten. So weit, so alltäglich, konnte man vielleicht sogar sagen. Doch was die sachliche Inhaltsangabe gnädig verschwieg, war die emotionale Komponente. Der Wahn. Remys Aufenthalt im Irgendwo hatte ihn verändert und aus einem einstmals jovialen, lebensfrohen Menschen eine graue Maus gemacht. Einen Mann, der die Sphäre, in die es ihn einst verschlug, gedanklich nie wieder völlig verlassen hatte. Gryf wusste, dass Remy seitdem unter der Erfahrung litt. Psychisch wie körperlich. Gryf hatte von Angstneurosen gehört, von Zwangsvorstellungen und zwanghaftem Verhalten, das Remy glauben ließ, absurde und bizarre Dinge tun zu müssen, damit sich das Vergangene nicht wiederholte. Und Zamorra, so viel hatte der Druide im Laufe der Zeit mitbekommen, unterstützte ihn in seinem Tun. Hielt es für richtig, für wichtig. Er hatte Baudoin einen Weg gewiesen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, denn ein normales Leben war dem Geographen nicht mehr möglich. Seitdem kam die deBlaussec-Stiftung für den Lebensunterhalt der Baudoins auf – zweier Menschen, die nichts lieber wollten, als endlich allein zu sein. Menschen, die genau das nicht sein konnten. Es muss sein, dachte Gryf. Zamorra braucht ihn. Warum auch immer. Remy schmunzelte wider Erwarten, als er endlich zu Gryf aufblickte. Doch seine Augen glitzerten feucht. »Irgendwie habe ich immer geahnt, dass dieser Tag kommt«, sagte er leise. Der Klang der Resignation. »Dass er irgendwo ein weiteres der schimmernden Löcher findet. Ich habe ihm damals meine Hilfe angeboten, weißt du? Nur für den Fall …« Florence verbarg das Gesicht in den Händen, graumeliertes Haar über ausgemergelter Haut. Sie schluchzte. Remy sah zu Boden. »Bist du bereit?« Gryf hasste sich. Für sein Hiersein. Für das Leid,
dessen Überbringer er war. Dafür, dass er diese Menschen aus ihrem Exil riss. Alte Wunden waren die Schlimmsten, denn wenn sie erneut aufbrachen, wusste man genau, welcher Schmerz einem bevorstand. An der Wand über der Kochzeile tickte die Uhr. Vor dem Fenster pfiff der Wind um die Häuser des fünften Pariser Arrondissements. Geräusche so normal, wie die beiden Menschen hier. Das Paar, das nichts weiter wollte, als sich gemeinsam zu verkriechen. Remy streckte die Hand nach Gryf aus. Er sah seine Frau nicht an. »Gehen wir«, sagte er leise. Der Druide nickte. Tischbeine schrubbten quietschend über den Boden, als Florence aufsprang und wortlos das Zimmer verließ. Ihre Schultern zuckten. Gryf schaute weg. Schweigend ergriff er Remys Hand und bereitete sich auf den zeitlosen Sprung vor. Doch er hoffte, an dem Kloß in seinem Hals zu ersticken.
Crestfallen Point Es waren die Träume. Zamorra begriff das nun. Er hätte es früher schon sehen müssen. Sein Instinkt hatte es ihm gesagt, doch die Ereignisse hatten ihn zu sehr abgelenkt. Es waren die Träume. Remy. Natürlich … Sein ehemaliger Kollege von der Sorbonne war vor vielen Jahren ebenfalls einem Dimensionsriss begegnet, wie Keith Charles ihn im Wald gefunden hatte, doch im Gegensatz zu den Fernsehschaffenden von Crestfallen Point war Remy auch körperlich jenseits der Schwelle gelandet. Fast wäre er in dem Chaos verloren gegangen, das auf der anderen Seite gewartet hatte. Und ohne Zamorras Hilfe gäbe es ihn heute nicht mehr. Zumindest nicht auf dieser Ebene der Folie. Doch auch hier kam Remy kaum noch dazu, sein Leben zu genie-
ßen. Er mochte gerettet sein, doch er hatte Schaden genommen, der sich nicht mit einem Verband und ein paar Pflastern reparieren ließ. Schaden an Seele und Geist. Remy Baudoin war ein Leid-Speicher geworden, so hatte Nicole es damals ausgedrückt. Besser konnte Zamorra es auch nicht in Worte fassen. Zu viel an dieser ganzen Angelegenheit entzog sich rationalen Regeln. Fest stand, dass das Erlebnis Remy noch immer heimsuchte – in spastisch anmutenden Attacken, die ihn immer und überall ereilen konnten. Unkontrollierbar. Während dieser Phasen, die Minuten oder ganze Stunden dauerten, durchlebte der stämmige Geograph mit dem Teddybärgemüt unbeschreibliches Grauen. Visionen voller Schmerz und Pein. Er sah Welten, die sich jeglicher Logik entzogen. Wesen, die all seine Vorstellungskraft überstiegen. Und er spürte ihre Narben. Ihre seelischen Macken. Am eigenen Leib. Wenn er in der Phase war, empfand Remy alles unmittelbar, als geschähe es ihm selbst. Sie machten ihn lebensunfähig. Genau da lag die Verbindung. Zamorra hatte keinen Zweifel mehr. Was auf Crestfallen Point geschah … St. Johns verstörendes Buch … Alles griff plötzlich zusammen, und Schuld daran trug die Begegnung mit einem Mädchen, das seit über einem Vierteljahrhundert nur noch in der Phantasie seiner Schwester existierte. Libby. Im Prinzip geht es ihnen nicht anders als Remy, dachte der Professor, während er Seite an Seite mit Jack und den Fernsehleuten durch den dunklen Wald stapfte. Nur, dass sie nicht die Echos anderer Wesen erleben. Stattdessen wurden ihre eigenen Narben wahr. Gleich hier auf Crestfallen Point. Ihre Phasen handelten nicht vom Leid auf anderen Ebenen der Folie, sondern machten ihr eigenes Leid lebendig. Weil der Dimensionsriss es real werden lässt. Der Schmerz, den Remy im Irgendwo jenseits der Schwelle erlebte und seitdem immer und immer wieder durchleiden muss … Welche Energie auch in diesem Riss steckt, hier wirkt sie wie eine Rückkopplung. Sie macht aus den seelischen Schäden der Menschen, die auf Crestfallen Point gekommen sind Wirklichkeiten. McPhees Engel. Hatte es sie außerhalb von Crestfallen Point wirk-
lich je gegeben? Zwar sprach vieles dafür, nicht zuletzt Jacks eigene Schilderung der Ereignisse, aber wenn sich Zamorra richtig an die Unterlagen erinnerte, die er über den Ex-Prediger gelesen hatte, ließ sich alles, was Jack zuvor angeblich widerfahren war, auch als Halluzination erklären. Als Hirngespinst, Manifestation seines eigenen Schuldkomplexes. Leute wie Nolan mochten bessere Begriffe dafür haben, aber es kam auf das eine heraus: Erst Crestfallen Point hatte Jacks Engel wirklich zweifelsfrei entstehen lassen. Und dann Beckett. Eben erst hatte die junge Schauspielerin dem Professor und dem Rest der Gruppe von Libby erzählt. Von der Nacht vor gut fünfundzwanzig Jahren, in der sich das furchteinflößende Wesen ins Kinderzimmer der kleinen Schwestern geschlichen und Libby getötet hatte. Zamorra mochte sich irren, aber Sams Beschreibung nach konnte es sich um einen Coluhpe gehandelt haben – ein dämonenhaftes Wesen, von dem hispanische Sagen berichteten. Dieses Monstrum stahl sich den Überlieferungen zufolge in kalifornische Kinderzimmer und raubte den schlafenden Kleinen die Atemluft. Nun, Beckett kam aus Kalifornien. Aber war das wirklich geschehen? Zamorra wusste es nicht. Möglich, aber im Geist eines traumatisierten Kindes konnten viele Geschichten entstehen und sich wie Wirklichkeit anfühlen, die nur peripher mit der Realität zusammenhingen. Entscheidend war, dass Libby in jener Nacht starb – und Sam die Erinnerung an die Schwester dadurch aufrecht erhielt, dass sie fortan im Geiste mit ihr sprach, als sei Libby gar nicht gegangen. Das zumindest war nichts Ungewöhnliches, fand der Professor. Viele Kinder hatten imaginäre Freunde. Beckett war nur nie aus dieser Phase herausgewachsen – und hier auf Crestfallen Point, wo die Geister der Vergangenheit Form annehmen konnten, hatte Libby plötzlich eigenständig ins Geschehen eingegriffen. Sie hatte Sam vor Gefahren gewarnt, war Zamorra sogar in einer Vision begegnet und hatte ihn auf die Fährte dessen gesetzt, auf das er nun hinarbeitete. Auf die Chance, dem Chaos zu entkommen. Den Leuchtturm. Den, dessen Licht erst vor kurzer Zeit in der Dunkelheit erschienen war, als hätte jemand ihn aktiviert. Wie ein Fanal stand es in der Nacht. Sie mussten nur in seine Richtung ge-
hen. »Was werden wir dort finden?« Becketts Stimme riss den Meister des Übersinnlichen aus seinen Gedanken. »Kevin? Die finale Konfrontation, wie im letzten Akt einer Night Fighter-Folge?« »Kevin …« wiederholte er und winkte ab. »Vergessen Sie den Antagonisten, Samantha. Ist Ellen etwa der Widersacher geblieben? Roger? Night Fighter mag nicht ohne Count Blessed auskommen, aber hier geht es nicht um die Guten und die Bösen. In der anderen Ecke unseres Boxrings steht kein Gegner, sondern eine … nennen wir es Energie. Die Kraft, die aus dem Dimensionsriss auf unsere Ebene der Folie strömt – um Charlies gelungenen Vergleich abermals zu bemühen. Was wir erleben, sind Rückkopplungen dieser Energie. Realitätsbeben. Wir müssen keinen Bösewicht bekämpfen, sondern ein Loch stopfen.« »Eines, das uns verschluckt, wenn wir ihm zu nahe kommen. Wie Ihren Freund Remy.« »Mag sein«, erwiderte er. »Aber was das angeht, habe ich Vorkehrungen getroffen. Zumindest hoffe ich das.« »Und das finden wir im Leuchtturm? Das Loch?« Sie lächelte, doch in ihren Augen lag Angst. Es klang anmaßend und mehr als nur leicht überheblich, doch für einen kurzen Moment glaubte Zamorra zu wissen, warum sie sich mit jemandem eingelassen hatte, der mühelos ihr Vater sein konnte. Aus dem gleichen Grund, aus dem sie instinktiv Zamorras Führung akzeptiert und ihm ihre Geschichte offenbart hatte. Bis vor einer halben Stunde hatte nicht einmal Flynn Morris von Libby gewusst. »Die Bruderschaft«, antwortete er leise. »St. Johns Team. Das käme mir zumindest sehr gelegen.« Es musste einfach so sein. Wo der Riss war, mussten auch Menschen sein, die ihn im Bann hielten. Menschen wie der verrückte Engländer, dessen Buch die Fernsehschaffenden erst in dieses Abenteuer gezogen hatte. Menschen wie Remy, der sich seit seinem Erlebnis von damals ebenfalls seltsamen Ticks ausgesetzt sah. Zamorra hatte es gesehen, bei mehreren Besuchen, es aber stets als reine Panikreaktion abgetan. Als etwas, das Baudoin nur glaubte tun zu müssen. Soweit er wusste, befand sich Remy sogar deswegen in
Therapie. Ein Gedanke schoss dem Professor durch den Kopf. St. Johns Buch war im Bücherdorf aufgetaucht, aber hatte es schon vor Ellen einen Leser gefunden? Hatte die Lektüre dieses Buches den Dimensionsriss erst entstehen lassen, oder war er immer da gewesen? Was kam zuerst, Henne oder Ei? Zamorra seufzte. Irgendetwas sagte ihm, dass er auf seine Version dieser ewigen Frage auch keine Antwort finden würde. »Ich dachte, die Insel sei verlassen.« Sam blinzelte fragend. »Die Dorfbewohner von einst sind doch fort. Als Libby sagte, ich solle Sie an die Bruderschaft erinnern und Sie nach Westen schicken …« Zamorra nickte. Woher diese Libby, was immer sie sein mochte, wusste, welchen Weg er einschlagen musste, um dieses Erlebnis zu überstehen, war auch ihm ein Rätsel. Vermutlich aus dem gleichen Grund, aus dem sie in seinem Kampf gegen die Engel aufgetaucht war: Die Insel machte sie real. Die Energie, die Crestfallen Point durchzog, hatte sie erschaffen. Warum sollte sie also nicht über eben diese Energie Auskunft geben? Wer konnte schon beurteilen, was im Angesicht des Unfassbaren noch logisch war? Entscheidend blieb, dass der Ansatz, den Zamorra gesucht hatte, seit der erste Engel vor Sacred Heart aus dem Busch gesprungen war, endlich vor ihm lag. Alles, was er noch tun musste, war, der Spur zu folgen. Und auf alles gefasst zu sein. Wirklich alles.
Kapitel 16 – Sonne Kur vor dem Turm hieß er ihnen, anzuhalten. Im Schutz der Dunkelheit, die vom Licht des jahrzehntealten Bauwerks zumindest ein wenig erhellt wurde, bildeten sie einen Kreis und nahmen den Professor in ihre Mitte. Das Ende des Weges war nah. Es wurde Zeit für die Kavallerie. Bist du da, Libby? Zamorra. kniete sich auf den kalten Erdboden, schloss die Augen und griff nach dem Dhyarra in der Tasche seines Jacketts. Ich weiß nicht, wie wir das vorhin gemacht haben, aber wenn du mir helfen kannst, kriegen wir's vielleicht noch einmal hin. Die Magie des Sternsteins strömte durch seinen Körper, öffnete Schleusen in seinem Geist und setzte Energien frei, von denen andere Menschen nur träumen mochten. Jahre der Erfahrung und des Kampfes gegen die Mächte der Finsternis kulminierten in einem Moment reinster Konzentration – und die Welt vor Zamorras geistigem Auge wurde wieder zum Negativ. Schwarz wechselte zu Weiß, Helles wurde dunkel. Standbild. Er »sah« die Umrisse seiner Begleiter, den weißen Turm, der sich nahezu trotzig in der Ferne auf der Klippe präsentierte … und direkt vor sich, im Kreis der Menschen, das Kind, das es nicht gab. Libby lächelte. Fast glaubte er, sogar ihr Kleid rascheln zu hören, als sie abermals den Arm hob und ihm die Hand darbot. Zamorra ergriff sie. Er musste ein Leiter werden, ein Verbindungsstück. Sein Geist, seine Macht, ihre Rissenergie, alles sollte eins sein. Nur so ließ sich die Lücke herstellen, die sie brauchten. Wenn sein Plan funktionieren sollte, reichte es nicht, ein Abbild zu erzeugen. Gryf? Kumpel, hörst du mich? Nichts geschah. Sekunden, lang wie Ewigkeiten, verstrichen. Jede endgültiger als die vorherige. Doch Libbys Lächeln blieb so fest und so aufrichtig, wie es immer gewesen war. Es gab ihm Kraft, Zuversicht. Komm schon, Gryf. Sag nicht, dass ich mir dich nur eingebildet habe.
Das wäre jetzt richtig unpraktisch … Die Welt schwieg. Nichts regte sich. Er wusste nicht, wie viel Zeit verging. Nur, dass er warten musste, warten konnte. Weil Libby da war und an ihn glaubte. Und weil ihm sonst keine Alternative blieb. Dann … Es kam wie ein Schlag aus dem Nichts. Unbändige Energie schoss mit einem Mal durch seinen Körper. Zamorra fühlte sich an die Attacken in Sacred Heart erinnert, spürte, wie er hinterrücks umkippte und sein ganzer Leib vom Boden abhob. Bebend und zitternd, mit zusammengebissenen Zähnen und Muskeln aus Feuer, schwebte er in der Luft, unfähig sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Alles war Schmerz, alles war überspannte Nerven und Qual und unerträgliches Elend … Bis es plötzlich verging. Von einem Augenblick auf den anderen. Und als er wieder aufblickte und sich keuchend und zitternd in die Wirklichkeit zurückgleiten ließ, war das Standbild fort und Libby mit ihm. Stattdessen standen der Silbermonddruide und Remy Baudoin an ihrer Stelle! »Was in Gottes Namen …« Jack McPhee sah aus, als stünde er kurz vor einer Ohnmacht. Auch die Überlebenden des Night FighterTeams reagierten für einen Moment eher panisch auf die so unvermittelt erschienenen Männer. Zamorra konnte es ihnen nicht verdenken. »Danke«, sagte er und stand auf, um seinen Freunden die Hand zu reichen. »Auch dir, Remy. Vor allem dir.« Der stämmige Franzose mit dem nahezu kahlgeschorenen Kopf und der kleinen Brille nickte. »Legen wir los? Ich schätze, du hast endlich eins von den Scheißteilen aufgestöbert.« Er klang gefasst, aber schwach. Eine Stimme, die seiner Leibesfülle Hohn sprach. »So ist es. Und ich fürchte, ich brauche deine Hilfe, um es zu vernichten.« Remy schnaubte leise. »Vernichten …« »Verzeihen Sie, wenn ich Ihre Wiedersehensfreude dämpfe, Gentlemen«, sagte Flynn Morris plötzlich und deutete in Richtung des Leuchtturms, der vielleicht fünfzehn Meter hinter ihm lag. »Aber ich fürchte, für ein Klassentreffen haben wir keine Zeit.« Im Licht des Bauwerks war eine weitere Gestalt erschienen. Eine,
die Zamorra aus Charlies Filmaufnahmen kannte. Kevin Eubanks applaudierte. Ein anerkennendes Grinsen lag auf seinen markanten Zügen. »Gefunden«, rief er. »Respekt.« Remy legte dem Dämonenjäger die Hand auf den Arm. »Zamorra, spürst du das? Das ist …« »Ich weiß«, sagte der Professor knurrend. »Mir geht es wie dir.« Der Geograph von der Sorbonne wirkte, als bräche gerade seine Welt zusammen. Jahrzehntelang hatte er sich verkrochen, um dem zu entfliehen, was ihm widerfahren war, und nun, Tausende von Kilometern von seiner heimischen Isolation entfernt, stand er ihm wieder gegenüber. Die Begegnung riss mehr als nur alte Wunden wieder auf. Zamorra musste kein Telepath sein, um das zu erkennen. Es stand im pausbäckigen Gesicht seines Freundes so deutlich, wie Worte auf den Seiten eines Buches. Auch Zamorras Innerstes kochte. Instinkt, Bauchgefühl, interner Para-Sensor – wie immer er die Eigenschaft nennen wollte, die ihn oft in seinen Abenteuern leitete, sie befand sich in einem Zustand äußerster Alarmiertheit. »Zurück!«, wies er seine Begleiter zischend an. »Niemand spricht ihn an, verstanden? Keine hektischen Bewegungen.« Ihm war, als brenne irgendwo eine Lunte, und dort vor ihm stand, gehüllt in die wehrlose Form eines friedliebenden Tontechnikers, das dazugehörige Pulverfass. Konnte er die Explosion verhindern? Ließ sich dieses Unglück eindämmen, bevor es zum Äußersten kam? Die Gelegenheit war da – und Professor Zamorra setzte alles auf eine Karte. Mit einem schnellen Blick nach rechts und links vergewisserte er sich der Unterstützung seiner Freunde. Gryf hatte das Kinn vorgeschoben und wirkte kampfbereit, Remy zumindest gefasst genug, um ebenfalls eine verlässliche Konstante zu sein. Drei Kandidaten. Drei Mächtige gegen das Chaos. Das musste reichen. Zamorra nickte knapp, und Gryf und Remy nahmen seine ausgestreckten Hände. »Du musst uns führen, Remy«, bat er leise. »Wir bauen den Weg, aber nur du kennst die Schritte.« Baudoin schluckte, wirkte ratlos. »Sagst du …« »Klingt nach einer sicheren Sache«, murmelte Gryf unbehaglich.
»Ein Dämonenjäger, der nach innerem Autopiloten handelt, und ein Dimensionsgänger, der eigentlich keine Ahnung hat, was er machen soll. Wird mal wieder ein Kinderspiel, oder?« Zamorra schloss die Augen, öffnete seinen Geist. Er spürte die Nähe seiner Gefährten, ahnte ihre Energien – und im gleichen Augenblick verband sich seine magische Kraft mit der des Druiden! Abermals schob sich ein bizarres Abbild der Wirklichkeit vor sein geistiges Auge. Es wirkte wie eine Thermoaufnahme der Szenerie, nur dass sie statt Wärmeunterschiede magische Strömungen aufzeigte. Der Professor sah die weiße Aura, die von ihm, Gryf und Remy ausging, sah letzte Energiereste an den anderen kleben wie Kaugummi an einer Schuhsole – und vor allem sah er das gleißende Licht, aus dem Kevin Eubanks' Körper in dieser Vision zu bestehen schien. Der Tontechniker war eine Gestalt aus Licht. In ihm glitzerten Formen, gleißend hellen Glassplittern gleich. Der Riss! Er steckte in ihm, ganz wie Zamorra vermutet hatte. »Bingo«, murmelte Gryf an Zamorras Ohr. »Mal sehen, ob wir da nicht was machen können.« Als hätten sie sich abgesprochen, stürmten sie plötzlich los. Wie ein Mann rannten die drei Kämpfer auf die Erscheinung zu, wappneten ihren Verstand so gut es ging gegen das Kommende und warfen dem Etwas vor ihnen alle Macht entgegen, die sie aufbringen konnten. Zauber, älter als das menschliche Leben, entfalteten ihre Kraft. Ein Wille, geformt aus drei Seelen und stärker als die Finsternis, bahnte sich seinen Weg. Die Aura der Gefährten weitete sich! Einer Kuppel gleich näherte sie sich der glitzernden Erscheinung, hüllte sie ein. Energie, die Energie bannte. Zamorra stöhnte vor Schmerz, knirschte mit den Zähnen und spürte, wie jede Faser seines Körpers auf realer und astraler Ebene unter der Anstrengung dieses magischen Angriffe litt, doch er gab nicht nach. Durfte nicht. Wenn sie es richtig anstellten, die fremde Kraft isolierten und in der mentalen Kuppel sicherten … Vielleicht konnten sie Kevin dann retten. Schließlich hatte die Energie auch die anderen Opfer dieses Tages wieder verlassen, ohne dass bleibende Schäden entstanden waren – ein Segen, der dem armen Remy seinerzeit nicht gegönnt war.
Die Ereignisse auf Crestfallen Point waren anders als der Fall Baudoin. Aber das musste nicht heißen, dass alte Tricks nicht zweimal funktionierten. Plötzlich merkte der Meister des Übersinnlichen, wie sich Remy neben ihm versteifte, stehen blieb. »Nicht«, flüsterte der stämmige Geograph. »Es … Nein! NEIN!« Gryf und Zamorra wirbelten herum, rissen sich gewaltsam aus ihrer magischen Trance, doch es war zu spät. Vor ihren entsetzten Augen hob Eubanks vom Boden der Insel ab. Höher und höher schwebte die Hülle des Tontechnikers, an der Wand des Leuchtturms entlang bis zu dessen Spitze – in einem einzigen, schrecklichen Moment. Sam schrie irgendwo. Jack keuchte. Und Remy … Der Mann aus Paris war weiß wie eine Wand. Seine Knie gaben nach. Fassungslos vor Entsetzen beobachtete er und wusste doch, was geschah. Wer besser als er? Geschichte wiederholte sich. Sie hatten versagt. Zamorra wollte sich gerade schützend über ihn werfen, da brach die Energie aus Kevin Eubanks fliegendem Körper heraus! Kevin glühte, brannte und war im Nu nicht mehr als Asche. Ein Kreis aus Licht, das Loch in der Wirklichkeit, schwebte an seiner Stelle über den Köpfen der Menschen und des Druiden, glitzernde Formen aus gleißendem Schein. Wie eine bizarre Sonne hing der Riss in der falschen Nacht, wabernd und pulsierend. Abermals bemühte sich Zamorra um Trance. Er musste sehen, brauchte den astralen Bonus, verdammt, doch das Bild, das ihm sein geistiges Auge bot, war noch grauenvoller als die Normalität: Schübe aus Licht gingen auf astraler Ebene von der Erscheinung aus, Wellen in einem Ozean der Energie. Sie schwappten über die Szene, bedeckten die Bäume, den Boden, den Turm. Und sie rissen die Menschen, die sich in Zamorras Schutz begeben hatten, von den Füßen. Raubten sie ihrer Freiheit, ihrer Selbst. Nein! Nicht, wenn ich es verhindern kann! Zamorra griff nach dem Dhyarra und warf Gryf einen Blick zu. Der Druide nickte, schloss die Augen – und schleuderte erneut all seine magische Macht in den Ring. Kräfte, stärker als die Ewigkeit,
tobten auf der kleinen Klippe. Ein Sturm aus entfesselten Energien brach sich an ihrer schroffen Wand, dem aufgewühlten Pazifik gleich. Doch der Riss weitete sich. Tosende Elemente überall. Wind kam auf, brauste vom Meer herüber und zerrte an den Personen und Bauten, den Ästen und Wurzeln, dem ganzen Wesen von Crestfallen Point. Laute schwangen in ihm mit, die nicht von dieser Welt stammten, die näher kamen. Bäume kippten, brachen splitternd und krachend. Dreck und Gras, aufgewirbelt und jeglicher Bodenhaftung beraubt, wirbelte hoch, peitschte den Menschen in die Gesichter. Zamorra sah, wie Roger Dilmore den sich wehrenden Flynn schützend zu Boden warf und sich Halt suchend neben ihn kauerte. Quatermill und Kameramann Charlie stemmten sich gegen die Gewalten und suchten im Schutz einer umgestürzten Sitka-Fichte Deckung. Einzig Sam und Jack standen noch dort, wo der Professor sie verlassen hatte. Regungslos, machtlos. Nach wie vor gebannt von der Flut des Risses. Ihre Körper hatten eine Aura aus Energie, die direkt von dem Ding über ihren Köpfen ausging. Wind peitschte gegen sie, zerrte an ihren Haaren und Kleidern. Die Augen und Münder der beiden waren offen, ihre Gesichter Fratzen des Schmerzes. Leerer Blick. Schon flogen erste Äste und Blätter in den Himmel, angesaugt von dem stetig wabernden Riss. Einem gigantischen Staubsauger gleich begann die Erscheinung diese Ebene der Charlesschen Folie anzuziehen, wie einst schon Baudoin von einer ganz ähnlichen Öffnung verschluckt und in das Chaos jenseits der Schwelle geworfen worden war. »Was sollen wir tun?« Gryf war wieder zu Zamorra geeilt. Der Druide wirkte geschwächt, sprach gepresst. Die immense Konzentration schien selbst einem Wesen wie ihm einiges abzuverlangen. »Wir müssen es stopfen, bevor es hier alles verschlingt!« Nur wie? Selbst die gekoppelte Magie des Druiden, des Dämonenjägers und des Sternsteins war kaum mehr als ein Wellenbrecher im Angesicht des Sturmes. Das hatte der Versuch, Kevin zu retten, deutlich gezeigt. Ihnen waren Grenzen gesetzt, die der Macht dieses wabernden Grauens unterlagen. Nicht einmal Remys qualvolle Er-
fahrung hatte ihnen mehr als einen Sekundenbruchteil Vorsprung verschafft. Kein »Tick« der Welt konnte dem Tosen, das über Crestfallen Point hereingebrochen war, jetzt noch Einhalt gebieten! Und über allem stand das Licht des Leuchtturms, Lotse in der Finsternis, steter Freund in der Nacht. »Natürlich!« Zamorra fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Turm! Was war nur los? Abermals hatte er sich von der Wucht der Eindrücke ablenken lassen. Seit er diese verfluchte Insel kannte, ließ seine Zielgenauigkeit arg zu wünschen übrig. In Gryfs Augen blitzte ein Hoffnungsfunke. »Was?«, rief er über das Heulen des Windes hinweg. »Ich warne dich: Wenn du jetzt etwas anderes sagst, als dass du gerade die Erleuchtung bekommen hast, geb ich LUZIFER deine Handynummer, klar?« »Nicht gerade«, rief der Dämonenjäger zurück. »Aber der Rest stimmt, hoffe ich.« Schnell deutete er dem Druiden und Remy, sich ihm anzuschließen. »Zum Turm!«
Kapitel 17 – Opfer Drei Kammern. Längliche Röhren aus Metall und Plastik, knapp zwei Meter groß und einen im Durchmesser. Sie standen im vorletzten Stock des kleinen Turmes, und als Zamorra sie sah, wusste er, dass er das Ziel seiner Reise erreicht hatte. Das, was Libby ihm die ganze Zeit hatte zeigen wollen. Seine Chance. »Was beim Lächeln der Peters-Zwillinge ist das?« Gryf ap Llandrysgryf stand auf der Schwelle der Tür, die von der steinernen Treppe in den kleinen, behaglich eingerichteten Raum führte, und starrte das Gebilde aus Kabeln, Schläuchen und blinkenden Lichtern in klobig-schrankhaften Gehäusen an. Und die Mumien, die in ihnen ruhten. Es waren drei, eine pro Röhre, und ihr Anblick ließ sich kaum in Worte fassen. Zwei Männer und eine Frau, der Kleidung nach zu urteilen, schienen in den vorne offenen Kammern zu schlafen, wirkten aber eher tot als lebendig. Ihre Haut war dünn wie Pergament. Eingefallene Wangen, dünnes, wild gewachsenes Haar, Nägel so lang wie Kinderfinger. Schläuche gingen aus zahlreichen Körperöffnungen, pumpten seltsame Flüssigkeiten in oder aus ihren Leibern und verschwanden irgendwo im Wust der klobigen Technik, die den hinteren Teil des nur von Monitoren und den Energieblitzen außerhalb des Fensters erhellten Raumes dominierte. Verwesungsgeruch lag in der Luft. »Sieht aus wie eine NASA-Bodenstation«, murmelte Remy. Zamorra nickte. »Aber eine, die seit mindestens drei Jahrzehnten nicht modernisiert wurde.« Sollte das die Bruderschaft sein? Vertreter jener Wächterloge, von der St. John in seinen Notizen schrieb? Der Anblick entsprach so gar nicht der Vorstellung, die sich Zamorra von ihr gemacht hatte. Die Zeit drängte. Irgendwo in dem Chaos aus Maschinen und blinkenden Lichtern musste eine Antwort sein. Mit wenigen Schrit-
ten war der Meister des Übersinnlichen an den Konsolen, ließ seinen Blick suchend über die Tasten und Anzeigen gleiten, fand aber nichts, was sich ihm erschlossen hätte. Staub lag auf allem. Draußen vor den nahezu blinden Fenstern tobte der Krieg, den der Dimensionsriss entfacht hatte, ungehindert weiter. Gab es denn nichts, was sie dagegen unternehmen konnten? Wie hatte St. John das Unfassbare in Schach gehalten? »Die lebt!!« Remys entsetzter Schrei ließ Zamorra herumfahren. Der stämmige Franzose war an die mysteriösen Kammern getreten, die in der Raummitte einen Halbkreis bildeten, und starrte auf die linke der bizarren Leichen hinab. Nur, dass diese plötzlich zurückstarrte! Ein Arm, dünn und zerbrechlich wie ein trockener Ast, schoss hervor. Krumme Finger schlossen sich um Baudoins Handgelenk. »Endlich …« Es war mehr Seufzer denn wirkliches Sprechen, doch Zamorra und Gryf zögerten keine Sekunde. Im Nu waren sie bei dem Freund, der kreidebleich auf seinen Arm blickte. »Endlich kommt ihr«, flüsterte die Frau. Trotzdem sie aussah wie der Tod, brannte ein Feuer in ihren Augen, das Lebenswille hieß. Zamorra sah eiserne Widerstandskraft in ihrem Blick, kompromisslose Stärke. Hielten die Maschinen die drei Menschen etwa am Leben? »Wer sind Sie?«, fragte er. »Kate Colbert«, hauchte sie schwach, ließ Remy los und deutete in Richtung der anderen Kammern. »Mein Sohn Stephen, mein Mann Jon.« Colbert … Der Name klang vertraut. »Ihnen gehörte das Antiquariat«, begriff der Professor. »Das, in dem St. Johns Buch gelandet ist.« Wind pfiff um den Turm, heulend wie ein Rudel tollwütiger Wölfe. Blitze aus weißer Energie zuckten vor dem Fenster durch die Finsternis, doch er ignorierte sie. Colbert nickte, und Staub rieselte bei jeder ihrer Bewegungen. »Die verfluchte Spende. Hätte ich sie nur nie geöffnet.« Es kostete ihr sichtlich Mühe, ihre Geschichte zu erzählen, doch sie tat es – in knappen, sachlichen Worten und mit einer Sicherheit, als
habe sie Ewigkeiten darauf gewartet, sie weitergeben zu können. Sie sprach von den Bücherpaketen, die aus aller Welt nach Crestfallen Point gekommen waren. Von dem Tag, an dem St. Johns Journal des Wahnsinns in ihren Laden gelangte. Wie im Zwang hatte sie die Seiten betrachtet, und ihr Inhalt hatte ihren Geist kontaminiert, sie zum Handeln gezwungen. »Das war in den letzten Tagen des Ortes«, sagte sie. »Die meisten Bewohner waren schon weggezogen, hatten das Projekt Bücherdorf aufgegeben und sich anderswo neue Arbeit gesucht.« Doch die Colberts waren noch da. Und dann … Es klang absurd, aber der Beweis befand sich direkt vor Zamorra: Kate Colbert und ihre Familie hatten den Kampf aufgenommen, denn die Magie des Buches ließ ihnen keine Wahl. Sie bauten dieses … technische Etwas in den verlassenen Leuchtturm der Insel, als Bastion gegen die Nacht, die jenseits der Dimensionsgrenze lauerte. »Ein passender Ort, finden Sie nicht?«, fragte sie leise und lächelte mit spröden, blassen Leichnamslippen. »Ein Lotse in der Dunkelheit …« »Aber was ist das hier alles? Wie funktioniert es?« Remy schüttelte den Kopf. »Nichts von dem deckt sich mit meiner Erfahrung, und ich bezweifle, dass dieser Engländer schon an Hightech und Computer dachte, als er vor zwei Jahrhunderten seine Wacht verrichtete.« »Es funktioniert gar nicht«, sagte eine zweite Stimme. Stephen Colbert war erwacht und sah die Besucher aus wissenden Augen an. »Nicht mehr. Nicht, seit Vaters Tod.« Die Geschichte wurde noch unglaublicher. Stephen, der ebenfalls aussah wie der wandelnde Tod, beschrieb ihr Vorgehen. Wie sie mithilfe diverser Kontakte zur Industrie ein Lebenserhaltungssystem für drei Personen entwickelt und gebaut hatten. (»Drei«, betonte er. »Zahlen sind wichtig.« Remy nickte wissend.) Wie sie sich opferten, um die Grenzen zu sichern. Ihr Dasein gegen eine Existenz als ewig Schlafende eintauschten. Die Maschinen hielten ihre Biowerte gering, versetzten sie in einen nahezu katatonischen Zustand, in dem ihre Körper kaum mehr etwas brauchten, fast nur ihr Geist noch existierte. Träumte.
Die Colberts waren längst zu schwach, um etwas anderes zu tun. Ihr Wandel war endgültig gewesen. Das ultimative Opfer, schlimmer als der Tod: ein Leben im Traum. Irgendwo unten krachte es. Holz brach, stampfende Geräusche kamen näher. Die Engel!, wusste Zamorra plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit. Jacks Götterboten waren wieder da, Resultat der Realitätsbeben, die von dem Riss ausgehend über die Insel zogen. Und sie kamen den Turm hinauf – um endlich zu beenden, was sie im Wald begonnen hatten. »Schnell!« Kate Colbert sah ihn flehentlich an. Auch sie musste erkennen, was geschah. »Geschichten! Wir brauchen neue Geschichten, nur so können wir den Riss wieder schließen.« Geschichten! »Das ist es! Das ist die Antwort!« Zamorra blickte zu Gryf. »Die Energie war immer auf Leben aus, aber nicht wegen dessen körperlicher Energie, sondern wegen der Erfahrung, die mit Leben einhergeht. Wegen den Schicksalen, den emotionalen Narben. Kevin selbst hat es zu Sam gesagt.« Und zu mir, fiel ihm ein. Am Telefon in Sacred Heart. Ich hielt es für sinnfreies Nachgeplapper, doch auf meine Frage nach seinem Begehr antwortete er aufrichtig: Wer sind Sie? Er wollte wissen, woran ich leide. Was mich ausmacht … »Deswegen Jacks Engel«, sagte Remy und nickte. »Sams Schwester. Alles seelische Narben.« Zamorra schluckte. »Bringen wir's zu Ende, bevor auch noch eine Nicole-Kopie hier auftaucht …« Nur wie? »Das Bücherdorf war unser Segen«, erklärte Kate mit brüchiger Stimme. »So viele Schicksale, so viele Wahrheiten. Gespeichert auf Buchseiten und in den Köpfen der Leser. Unseren Köpfen.« Ein Elefantenfriedhof für Ideen. Zamorra selbst hatte es so formuliert, vorhin im Wald. »Mit der Erinnerung an sie hielten wir die Grenzen aufrecht«, ergänzte Stephen. »Doch wir müssen drei sein. Die Zahl ist entscheidend. Und jetzt …« »Jon«, sagte Gryf und deutete auf die dritte Kammer. Erst jetzt be-
merkte Zamorra, dass ihr Insasse längst verwest war, kaum mehr als vermoderte Überreste. »Er starb.« Stephens schwache Stimme wurde noch leiser. »Es scheint unmöglich, doch es geschah. Denn neue Menschen kamen auf die Insel, neue Schicksale, und ihre Energien verstärkten den Hunger, der jenseits der Schwelle lauert. Zumindest erkläre ich es mir so. Sie machten es schwerer und schwerer, sich ihm entgegenzustellen. Nun, Dad hat es nicht mehr lange geschafft.« Der Professor begriff. Erst Nolan und seine Leute, dann Night Fighter … Crestfallen Point war nicht die verlassene Einöde geblieben, die sie war, als die Colberts ihren Posten einnahmen. Und irgendwann waren selbst sie überlastet. Kate und ihr Sohn waren seitdem gefangen in ihrer eigenen Waffe, unfähig in das Geschehen einzugreifen, das wenige Kilometer neben ihnen seinen Lauf genommen hatte. Sie brauchten einen dritten Erzähler, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. »Ich mach's«, sagte Remy leise. Sanft. »Dafür bin ich hier, oder? Um es aufzuhalten. Wer von uns dreien hat schon mehr Geschichten drauf als ich? Immerhin war ich drüben. Scheiße, ich bin voll mit Narben …« Gryf und Zamorra starrten ihn an. Der stämmige Geograph trat an Jons Röhre und begann damit, den Leichnam des Inselbewohners hinauszuhieven. Sein Gesicht war ausdruckslos, ein Spiegel völliger Resignation. »Nein«, keuchte Gryf. »Zamorra, das kannst du nicht zulassen. Er hat so viel geopfert. Wir … Wir müssen einen anderen Weg …« Gab es den? Die Schritte auf der Treppe wurden sekündlich lauter, die Blitze vor den Fenstern dicker, intensiver. Der Riss gewann, wenn sie nicht schnell handelten, richtig handelten! »Ich hätte einen Vorschlag.« Als er sich umdrehte, standen Sam und Jack in der Tür, keine Engel. Becketts Augen blitzten vor Entschlossenheit. »Ihr wart das?« Der Professor stutzte. Waren die beiden nicht im Sog der Energie gefangen gewesen? Offensichtlich nicht für lange. »Ich dachte schon, McPhees Statuen würden uns erneut beehren.« »Das nicht«, sagte Sam, »aber von ihnen stammt die Idee. Sozusa-
gen.« Sie musste einiges der Unterhaltung gehört haben, die Zamorra und seine Begleiter mit den Colberts geführt hatten. »Libby.« Jack nickte nachdrücklich. »Nehmt Libby als dritten Träumer.« Gryf stutzte. »Ich bin noch nicht lange im Team, aber … ist die nicht tot?« »Nicht auf dieser Insel«, antwortete Sam. »Zamorra, Sie selbst sind ihr begegnet. Sie wissen, dass wir Recht haben. Machen Sie Ihren Zauber, bringen Sie sie her – und dann lassen Sie sie machen. Schnell!« Ein Wesen, das nur in Gedanken existierte … Ein bizarrer Vorschlag, fand der Professor. So bizarr, dass er nahezu maßgeschneidert schien. Wer eignete sich besser als mentaler Schutzwall, als ein Gedanke, eine Idee? »Gryf!« Im Nu hatte er den Arm ausgestreckt, die Hand des Druiden ergriffen und mit der anderen den Dhyarra aus der Tasche gezogen. »Ein letztes Mal. Versuchen wir's.« Dann schloss er die Augen. Rief sich das Standbild in den Geist. Magie verband sich mit Magie, Kraft mit Willen. Erfahrung und Mut formten eine Welt, eine Chance. Und Libby lächelte.
Epilog »Und das war's dann?« Der grauhaarige Moderator der Podiumsveranstaltung lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste zufrieden. »Diese Libby ersetzte den verstorbenen Grenzwächter, die Lebenserfahrungen der drei Opferkandidaten schlossen den Dimensionsriss wieder, und alle Überlebenden des Abenteuers kehrten in ihre alten Leben zurück. Wie man es von einem Happy End erwarten darf, richtig?« »Richtig.« David Quatermill nickte. »Die Insel hatte Libby real werden lassen, von daher konnte Zamorra ihr Bewusstsein in den Körper des Toten übertragen oder … So ganz habe ich das auch nicht verstanden, aber es hat funktioniert.« Er lächelte entschuldigend. »Danach brachten er und sein Sidekick den Geographen wieder nach Frankreich. Fragen Sie mich nicht, was aus ihnen wurde. Keine Ahnung. Aber ich hatte das Gefühl, dass den Dämonenjäger noch andere Dinge umtrieben. Dinge, die daheim auf ihn warteten. Und was den Rest von uns angeht, nun, das wissen Sie ja.« Wohlwollendes Gelächter aus dem Publikum. Sie mochten ihn. Quatermill ließ seinen Blick über das im Halbdunkel liegende Auditorium des Kinos gleiten und fühlte sich wie im Himmel. Vor ihm die voll besetzten Sitzreihen, hinter ihm der rote Vorhang, der die Leinwand vor ihren Blicken verbarg. Sie hatte ihren Dienst für heute getan, und das Ergebnis konnte kaum besser sein. »Wissen wir«, bestätigte der Moderator schmunzelnd. »Immerhin sind Sie hier auf dem Filmfestival von Sundance, um uns von Ihren Heldentaten zu berichten. Übrigens sehr praktisch, dass die ganze Zeit eine Kamera lief, finden Sie nicht?« »Ob Sie's glauben oder nicht, das war reiner Zufall. Charlie – so nennen wir unseren Kameramann, wie Sie im Film sahen – drehte alles aus purer Gewohnheit. Eine Reflexhandlung. Der menschliche Geist klammert sich an die albernsten Routinen, wenn die Normalität ihm wegbricht.«
Abermals lachten sie fröhlich. Applaus kam auf. »Eine hervorragende Antwort«, sagte der Moderator und legte seine Karteikarten beiseite – sicheres Zeichen dafür, dass das Ende des Abends bevorstand. »Nun, wir alle können ›Charlie‹ nur danken, dass er die Geschehnisse auf der Insel mitgeschnitten hat. Sonst wäre uns ein, und bitte verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, höllisch guter Horrorfilm entgangen. Meine Damen und Herren: der Regisseur des wohl bahnbrechendsten Genrefilms der letzten zehn Jahre, Crestfallen Point, Mister David R. Quatermill!« Unter dem frenetischen Jubel der gut fünfhundert Zuschauer erhob sich Quatermill von seinem Sitz, reichte dem Moderator die Hand und verließ die Bühne. Durch einen Nebenausgang schleuste man ihn aus dem Lichtspielhaus und auf die Straße. Der sternenklare Himmel über Utah begrüßte ihn. »Hey, Quatermill! Wie ist es gelaufen?« Sein Ensemble stand schon am Straßenrand, wo die parkenden Limousinen warteten. Morris, Dilmore, Beckett, Charles … Selbst McPhee war extra angereist, um der Filmpremiere beizuwohnen. Soweit Quatermill wusste, arbeitete er mittlerweile irgendwo im Mittleren Westen als Gemeindepfarrer. »Gut«, antwortete der Mann im Hawaiihemd. »Sehr gut, sogar. Zwar halten sie den Stoff für pure Fiktion, aber sie lieben ihn. Und das ist gut fürs Geschäft, wenn Sie mich fragen.« Zufrieden ließ er sich in eine der Limos fällen. »Für unser aller Karrieren«, stimmte Flynn zu und sah Sam Beckett an. »Nicht wahr?« Sie seufzte scherzhaft. »Immer dasselbe: Das Volk will triviale Fiktion. Dabei sind Wahrheiten doch so viel intensiver …« Charlie klopfte Flynn jovial auf die Schulter. »Stopf ihr den Mund, alter Mann. Von Wahrheiten hab ich für die nächsten achtzig Jahre genug!« Und Sam Beckett bekam den Kuss ihres Lebens.
Danksagung Mein kollegialer Dank gebührt allen, die vor mir hier waren und trotzdem sagten: Mach du mal. Insbesondere neige ich mein Haupt vor dem restlichen Autoren- und Lektorenteam von »Professor Zamorra« (großartige Leute – past and present), winke allen anderen Verfechtern der gepflegten Pulp Fiction, danke dem Mainzer Phantasten-Stammtisch für Kritik und Gespräch sowie jenem mir unbekannten ARTE-Redakteur, der mir mit seinem vielleicht fünfminütigen Bericht über Bücherdörfer unbeabsichtigt die Idee zu diesem Roman lieferte. S.B.