Martin Caidin
Cyborg IV
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Band 21 113
Science Fictio...
70 downloads
1444 Views
786KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Martin Caidin
Cyborg IV
Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH
Band 21 113
Science Fiction-Action
Amerikanischer Originaltitel: CYBORG IV
Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck
© Copyright 1975 by Martin Caidin
All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe
1979 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Titelillustration: Blair Wilkins
Umschlaggestaltung: Bastei-Graphik (W)
Druck und Verarbeitung:
Mohndruck Reinhard Mohn GmbH Gütersloh
Printed in Western Germany
ISBN 3-404-01122-8
Der Traum vom Fliegen ist so alt wie die Menschheit selbst. Dabei sind unsere Flugzeuge nur ein Kompromiß, der uns glauben läßt, wir beherrschten die Luft. Noch kennt jedoch kein Mensch das Gefühl eines Vogels, der vom Wind getragen frei und ungehindert durch die Atmosphäre gleitet. Der Cyborg Steve Austin will als erster dieses waghalsige Experiment durchführen. Er will „fliegen“ wie ein Vogel!
I
Er sah die Frau an mit einem Ausdruck, bei dem der Schmerz vom Haß überlagert war. Der Schmerz verzerrte sein Gesicht zu einer grotesken Maske. Anstrengung und Qual verkrampften die Halssehnen. Die eine Schulter war höher als die andere, an seinem Nacken traten die Muskelstränge hervor, und sein Haar glitzerte feucht vom Schweiß. Unter dem Griff, mit dem seine Hände die Holme packten, zwischen denen er unsicher stand, bebten seine kräftigen Arme. Seine Beine trugen ihn kaum, obwohl sie mit Schienen versehen waren, die an eine Zeit erinnerten, als die Kinderlähmung so manches Opfer forderte. Aber dieser Mann war kein Opfer der Polio. Er war zerrissen, zerschnitten und verbrannt worden, als sein Düsenjäger von der Landebahn abkam und mit einem Schlag Metall und Boden und der hilflose Mann innerhalb dieses Tornados der Zerstörung in eine blutige Masse verwandelt wurden. Das war viele Monate her. Monate intensiver medizinischer Behandlung, Monate tiefer, brütender Depression. Denn mochten auch alle Verletzungen heilen, einem Problem standen die Ärzte immer noch machtlos gegenüber. Beide Beine würden gelähmt bleiben. Nie wieder würde er stehen oder gehen können. Ein abgerissenes Metallstück war durch seinen Fliegeranzug, seine Unterkleidung und seine Haut in die komplizierte Struktur seiner Wirbelsäule eingedrungen, in das alles verbindende System von Nerven und Muskeln. Jetzt konnte das Gehirn keine Botschaften mehr an Punkte des Körpers schicken, die unterhalb jener schrecklichen Verletzung lagen. Sein Unterkörper und seine Beine waren zu
funktionsunfähigen Teilen geworden. Er konnte sie nicht mehr bewegen und nicht einmal etwas darin spüren. Er war jung und er sah gut aus, oder vielmehr hätte er immer noch gut ausgesehen, wenn aus seinen Augen nicht das Gefühl der Niederlage gesprochen hätte und sein Gesicht nicht vor Pein verzerrt gewesen wäre. Er war sich nicht bewußt, daß alles an ihm verriet, wie sehr er die Frau, die vor ihm stand, verabscheute. Noch einiges andere fiel an ihm auf. Er trug einen Gürtel mit kleinen, aber leistungsfähigen Quecksilberbatterien, die bei voller Kapazität mehrere Stunden lang Energie spenden konnten. Teile seines Rückens ähnelten einem aufs Geratewohl gespickten Stecknadelkissen. Dünne Drähte in PlastikSchutzhüllen verschwanden auf der oberen Hälfte seines Rückens in der Haut. Sie waren mit einer noch unerprobten chirurgischen Technik direkt in seine Wirbelsäule eingepflanzt worden. Die Frau, die vor den verdrahteten Überresten dieses Mannes stand, hatte diese Arbeit erst vor wenigen Tagen vorgenommen. Leitungen aus Metall waren mit äußerster Vorsicht an die Leitungen aus menschlicher Substanz angeschlossen worden, die viele Jahre lang in seinem Körper gewachsen waren. Die Drähte erstreckten sich vom oberen Teil seines Rückens bis zu einem Punkt gerade unterhalb der Verletzung, wo das Metallstück eingedrungen war und in einem einzigen Augenblick die Fähigkeit seines eigenen spinalen Nervensystems, Befehle vom Gehirn an die unteren Extremitäten zu übermitteln, vernichtet hatte. Die ganze Zeit über hatte die Frau den Mann beobachtet. Ihr Gesicht war ausdruckslos, aber ihren scharfen Augen entging nichts. Dr. Page Rossi entging nie etwas. Page Rossi, Doktor der Medizin. Doktor der Biowissenschaften. Pilotin. Rehabilitationsfachärztin. Eine Frau, die über den menschlichen Körper ebenso gut Bescheid wußte wie über
elektrische Energie. Mit elektromagnetischen Wellen, ob diese nun durch Drähte flossen oder als Mikrowellen von Scheibenantennen ausgestrahlt wurden, war sie gleichermaßen vertraut wie mit den Nervenimpulsen, die elektrochemische Quellen innerhalb des menschlichen Gehirns durch den Körper schicken. Sie hatte ihre eigene intellektuelle Verbindung zwischen beiden Wissenschaften geschaffen, etwa wie man das menschliche Gehen auf eine gemeinsame Formel mit dem Rollen eines Wagens bringen könnte. Das Endergebnis wäre das gleiche, unabhängig von der Art der Fortbewegung und der Gestalt des sie ausübenden Körpers. Dr. Page Rossi war mit ihrer Vermählung von elektronischen und menschlichen Systemen – dieser Schönen Neuen Welt der Bionik – die erste Frau in den Vereinigten Staaten, die einen akademischen Titel auf dem Gebiet der Bionik errungen hatte. Das war besonders bemerkenswert, weil sie nur elf Vorgänger hatte. Und keiner dieser elf war in der neuen Disziplin so schöpferisch tätig geworden wie sie. Dr. Rossi vertrat die Meinung, daß Nervenverletzungen durch Einführung künstlicher Nervenbahnen kompensiert werden könnten. Für das, was die Natur nicht mehr heilte, müßte es möglich sein, Ersatz zu schaffen. Sie hatte ein entsprechendes Forschungsprojekt im United States Air Force Medical Research Center durchgesetzt. Es lag nördlich der Cheyenne-Berge und damit in unmittelbarer Nähe der Air Force Academy. Dr. Rossi hatte mit grauenhaften Fällen zu tun. Schließlich lieferte das Unterfangen, Tonnen von Metall mit messerscharfen Tragflächen durch den Himmel zu steuern, einen unabdingbaren Prozentsatz von zerschlagenen, zerrissenen und verstümmelten jungen Männern. Männer, die in einem einzigen Augenblick ihre Jugend verloren. Eben waren sie noch helläugige, schnell
reagierende Piloten, und gleich darauf Bündel aus zerfetzten Nerven und Sehnen, lebende Tote. Der Mann, der die stützenden Holme umklammerte und mit verzerrtem Gesicht Dr. Rossi anstarrte, schüttelte den Kopf. Vor vier Monaten war er einer der besten RS-71-Piloten des Landes gewesen. Bei der Landung hatte sich die große Blackbird, die er flog, überschlagen, und als Folge davon stand er jetzt hier. Dick Manners, der vor noch nicht langer Zeit die Abzeichen eines Air-Force-Captains getragen hatte, bemerkte nichts von der dunklen Schönheit in dem Gesicht der Frau. Nicht einmal ihr Ärztekittel konnte die anmutigen weiblichen Linien ihres Körpers verbergen. Darauf achtete Dick Manners nicht. Er war schweißüberströmt und versuchte, sein Gewicht zu verlagern. Mit zusammengebissenen Zähnen würgte er einen plötzlichen Schmerzensschrei hinunter. Ein Blutfaden sickerte von seiner durchgebissenen Unterlippe. »Nicht… nicht möglich«, keuchte er. »Ich… kann einfach nicht.« »Das glaube ich Ihnen nicht!« Ein scharfes, bitteres Auflachen, das eher einem gequälten Grunzen glich. »Gehen Sie… gehen Sie zur…« »Immerhin haben Sie noch Kraft genug, mich zu verwünschen.« Sie warf einen Blick auf den metallenen Gegenstand, den sie in der Hand hielt, kleine Skalen und ein Durchflußanzeiger. Ganz gleich, was dieser Mann denken mochte, es floß tatsächlich neurale Energie von seinem Rücken in die Drähte und unterhalb der Verletzung wieder in seinen Körper. Aber hier galt es nicht, Metall oder Muskeln zu aktivieren, sondern die magischen Kräfte des Geistes. »Sie können mich nicht erreichen, Captain. Mit Ihnen ist’s aus.«
Von dem Mann war nur ein zischendes Atemholen zu hören. »Aus und vorbei ist’s mit Ihnen.« »Ich werde…« »Gehen Sie, statt sich in Selbstmitleid zu wälzen!« Seine Finger verkrampften sich zu Klauen. Gott, wenn er ihr nur nahe genug kommen könnte, um sie mit diesen starken Händen zu packen! Er würde… »Sie rückgratloses Nichts, gehen Sie!« Er zuckte und kämpfte.
Steve Austin, das Kinn in eine Hand gestützt, beugte sich vor. Er war von der Szene, die er auf verschiedenen Monitoren verfolgen konnte, fasziniert. »Sieh dir das mal an!« forderte er Dr. Rudy Wells auf. »Sie ist ein Barrakuda mit den Fängen eines Säbelzahntigers.« Wells nickte. »Ja, sie ist gut.« Steve drehte sich zu ihm um. »Gut?« »Du erkennst nicht, was sie tut. Glaubst du vielleicht, sie will den Mann mit ihren Worten verletzen?« »Es geht nicht um ihre Worte, Rudy«, gab Steve mit einiger Aufregung zurück. »Er leidet, und sie dreht das Messer…« »Sie gibt einem beidseitig gelähmten Mann eine Chance, zu gehen, statt zu einem Leben im Bett oder Rollstuhl verdammt zu sein.« Rudy Wells hielt es für unnötig, hinzuzufügen, daß er mit dem Mann, der jetzt an seiner Seite stand, einmal dasselbe Problem gehabt hatte, damals, als ein bewußtloser, verbrannter und zerfetzter Steve Austin in der Mojave-Wüste aus den Trümmern des Raumtransporter-Prototyps geborgen worden war. Es war überflüssig, eigens darauf hinzuweisen, daß Steve Austin selbst ein bionisches Wunder darstellte. Steve Austin seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Für eine Weile richteten die beiden Männer ihre
Aufmerksamkeit auf die Monitoren, die ihnen aus sechs verschiedenen Blickrichtungen zeigten, was in dem anderen Raum vor sich ging. »Ich will dir was sagen, Doc«, unterbrach Steve schließlich das Schweigen. »Mit einer Frau habe ich in diesem Programm nie gerechnet, ganz zu schweigen von der berühmten – oder berüchtigten – Dr. Page Rossi. Nach dem, was ich gehört habe, ist sie mehr eine Maschine als eine Frau.« »Nicht so voreilig, Colonel. Ich weiß nicht, was du über Page Rossi gehört hast, aber ich kann dir versichern, daß die Frau, die du vor dir auf dem Bildschirm siehst, tatsächlich die beste ihres Fachs ist, wenn es darum geht, verletzte Nerven und Muskeln durch bionische Stromkreise zu überbrücken. Mag sein«, setzte Wells, sich korrigierend, hinzu, »daß ich mit dem Ausdruck ›bionisch‹ zu leichtfertig umgehe. Wir, die wir immerzu mit diesem Fachgebiet zu tun haben, vergessen manchmal, daß es praktischere Lösungen geben kann.« Steves Augen verengten sich. »Praktischere Lösungen?« »Du bist ein einzigartiges bionisches System«, erinnerte Wells ihn unnötigerweise. »Es gibt nicht genug Ärzte und Spezialisten und nicht genug Geld, jedenfalls zur Zeit nicht, um das, was wir tun könnten, einer größeren Anzahl von Menschen zugute kommen zu lassen. Das wird erst in Zukunft möglich sein. Deshalb hat Dr. Rossi einen anderen Weg eingeschlagen. Sie hat ihre Arbeit aus dem Laboratorium in das Trainingszentrum für beidseitig Gelähmte verlagert. Natürlich kann man mit Recht von Bionik sprechen, aber trotzdem wird Dr. Rossi auf einer ganz anderen Ebene tätig. Zum Beispiel arbeitet sie nicht mit Amputierten, das überläßt sie Spezialisten. Sie widmet sich Männern wie Dick Manners.« Wells wies auf den Bildschirm. »Es gibt so viele mit derartigen Verletzungen, die früher niemals eine Hoffnung gehabt hätten. Die Krankenhäuser sind voll mit solchen Menschen. Auf diesem Gebiet muß noch viel getan werden.«
Sein Gericht spiegelte seine aufrichtige Bewunderung für diese Frau wider. »Sie versucht, beschädigte Nervensysteme wieder zum Leben zu erwecken. Sie pflanzt Drähte ein wie andere Ärzte Plastikröhren zur Wiederherstellung von Venen oder Arterien. Wenn eine Reparatur nicht möglich ist, überbrückt sie die verletzte Stelle, gerade wie sie es im Augenblick bei diesem Mann tut. Sein Rückgrat ist beschädigt, Steve. Man hat es mit allem möglichen versucht, und nichts hat geholfen. Dick Manners gehörte zu den Fällen, die schon als hoffnungslos abgeschrieben waren. Sie hat ihn mit einem System versorgt, das die zerstörte Körperstelle in beiden Richtungen umgeht, und…« Er unterbrach sich, weil aus dem Lautsprecher die barsche, zornige Stimme der Frau ertönte. »Elender Feigling! Und so etwas will ein Mann sein!« Der Pilot dachte an nichts anderes mehr, als wie er es schaffen könne, dies bösartige Geschöpf vor ihm mit seinen Händen zu packen. Erneut verriet sein Gesicht den Kampf zwischen dem Schmerz und dem dringenden Verlangen, die Frau zu vernichten. Er versuchte zu gehen. Sein Körper zuckte. Ehe er noch verstand, was sie machte, ehe er auf ihre plötzliche Bewegung reagieren konnte, trat sie vor in die Reichweite seiner Arme. Mit einer einzigen geschickten Bewegung berührte ihre Hand den Leistungsregler an seinem Batterie-Gürtel, und schon hatte sie die Energie, die in sein Nervensystem floß, von NIEDRIG auf MAXIMUM geschaltet. Der Strom durchfuhr seinen Körper mit einem grausamen Stoß. Sein Kopf kippte zurück, während er darum rang, die ihn durchdringenden Impulse zu kontrollieren. Steve Austin ächzte mitfühlend. »Gott, sie…« »Gehen Sie!« befahl die Ärztin. Gleichzeitig mit dem elektrischen Strom durchflutete ihn der Haß. Schwankend und zuckend nahm Dick Manners, ohne zu
wissen, was er tat, seine Hände von den Holmen und streckte seine klauenartig gekrümmten Finger aus. Es war das Zerrbild einer menschlichen Bewegung. Aber er ging. Er stolperte vorwärts, und wenn die Bewegung seiner Beine auch noch ungelenk war, so war das doch weit besser als nutzlose Beine. Er stelzte wie das Frankensteinsche Ungeheuer, und doch brachte er es irgendwie fertig, in ihre Nähe zu kommen. Als er nach ihr greifen wollte, schlüpfte sie in seine Arme mit den gekrallten Fingern. Sogar auf den Bildschirmen erkannten Steve Austin und Dr. Rudy Wells, welches Erstaunen sich auf dem Gesicht des Mannes abzeichnete. Denn sie war menschlich geworden. Tränen standen ihr in den Augen. »O Gott, Dick, Sie haben es geschafft… Sie gehen… Sie…« Und ihre Arme umschlangen und hielten ihn. Aber sie hielten ihn nicht aufrecht. Steve wandte sich Rudy Wells zu, der lächelte, als er Steves plötzlichen Respekt vor der Ärztin erkannte. Steve Austin schüttelte den Kopf. Nach einer Weile erklärte er: »Ich hätte nicht geglaubt, daß sie so menschlich ist.« Wells erhob sich langsam. Er beugte sich vor und schaltete die Monitoren ab. Was jetzt zwischen Dr. Page Rossi und Captain Dick Manners vorging, gehörte ihnen allein. Er hatte nicht den Wunsch, den Störenfried zu spielen. »Sie ist nicht menschlich«, stellte er fest. Als Steve ihn überrascht ansah, setzte er hinzu: »Nein, das ist sie nicht. Nicht in dem Sinn, wie du es dir denkst, weil du ihre Augen hast feucht werden sehen. Das war ebenso Theater wie die Beschimpfungen. Steve, ich glaube, in Page Rossi hast du einen Menschen deinesgleichen gefunden. Sie ist erstens, letztens und überhaupt immer Ärztin.« Wells überlegte. »Ich sollte noch erwähnen, daß sie auch eine sehr gute Psychologin ist.«
Steve war ebenfalls aufgestanden. »Und mit so etwas soll ich arbeiten?« Wells lachte. »Irgendwer mußte in den sauren Apfel beißen, Colonel.« Sie verließen das Zimmer und gingen zusammen den Krankenhausflur hinunter. »Wann fliegst du morgen?« fragte Wells. »Um neun wird das Fahrwerk eingezogen«, gab Steve zurück. »Das bedeutet, daß wir in drei Stunden aufbrechen müssen. Über Nacht bleiben wir in der Edwards Air Force Base.« Wells nickte. Er dachte an die Killermaschine, zu der Steve zurückkehrte. »Steve, was empfindest du bei dem Gedanken an… na, du weißt schon. An diese Maschine.« »Normalerweise würden mir vor Angst die Haare zu Berge stehen. Jetzt nicht mehr, nachdem ich deine Dr. Rossi in Aktion gesehen habe. Im Vergleich zu ihr ist das gemeinste Flugzeug der Welt ein Schmusekätzchen. Relativ gesehen, natürlich.«
II
Sie kamen in dem großen F-4-Düsenjäger in dreiundfünfzigtausend Fuß Höhe von Colorado herunter. Die mächtige Phantom bewegte sich in der dünnen Stratosphäre mit stolzer Mühelosigkeit. Weit hinter ihnen heulten zwei Strahltriebwerke, aber der Donner erreichte sie nicht. Steve Austin nahm den vorderen Sitz des Tandem-Cockpits ein, Dr. Rudy Wells saß, vorschriftsmäßig bekleidet mit Druckanzug, Fallschirmgurten, Helm und Sauerstoff-Flasche, angeschnallt auf dem zweiten Platz. Rudy Wells war viele Jahre lang, an die er sich nur ungern erinnerte, von einer unvernünftigen Furcht vor dem Fliegen besessen gewesen. Man stelle sich das vor: Ein Fliegerarzt, der schon so oft geflogen war und sich zu Tode ängstigte, wenn seine Füße mehr als einen Zentimeter vom Boden entfernt waren! »Sobald ich in die schreckliche Höhe von dreihundert Fuß komme«, hatte Wells zuweilen engen Freunden kläglich anvertraut, »bekomme ich sofort Nasenbluten.« Und doch befand er sich nun hoch genug, daß er die Krümmung des Planeten sehen konnte. Durch die PlexiglasKabinenhaube leuchtete der tief purpurblaue Himmel und verriet, daß gleich jenseits der Zwiebelschale von Atmosphäre das Vakuum lag. Trotzdem fühlte Rudy Wells sich so behaglich, als sitze er auf einer Couch in seinem Wohnzimmer. Im Augenblick konnte er von Steve nur den von einem Helm bedeckten Hinterkopf und die Bewegungen seiner Arme sehen. Aber Steve hatte einen Spiegel vor sich, in dem er Rudy Wells beobachten konnte, wenn sich die Notwendigkeit oder der
Wunsch dazu ergab, und Wells erhaschte darin Blicke des Piloten. Unter ihnen erstreckte sich eine merkwürdige Welt. Die Entfernung flachte die Gebirge zu sanft gewellten Sanddünen ab. Das harte Sonnenlicht löschte Einzelheiten aus, und der Horizont schwang sich schnell aus dem weißen Tageslicht in das staubfreie Purpurblau, das die Nähe des Weltraums ankündigt. Sie spürten buchstäblich nichts davon, daß sie sich bewegten. In der Luft gab es keine Störungen, keine Turbulenzen, nicht die leiseste Brise. Rudy Wells hatte, ringsum von Plexiglas umgeben, eine herrliche Aussicht. Trotz ihrer großen Geschwindigkeit schienen sie durch den Himmel zu gleiten. Eine zu oft benutzte Beschreibung, aber die einzige genau zutreffende. Sie merkten nichts von den ungeheuren Kräften, die sie mit flammenden Düsen durch die dünne Luft schleuderten. Es machte den Eindruck, als drehe sich die Erde langsam unter ihnen und als ständen sie selbst still. Von Colorado bis zu der trockenen, flachen Wüste von Colorado war es ein Katzensprung über lächerlich kleine Berge und Flüßchen, die dünnen Bleistiftlinien glichen. Wie war das nun mit der Angst vor dem Fliegen? Steve hatte ihm gesagt, es gäbe nur eine Möglichkeit, damit fertig zu werden. Man durfte nicht gegen die durch große Höhe und Geschwindigkeit hervorgerufenen Empfindungen ankämpfen, durfte nicht versuchen, sie zu rationalisieren. »Rudy, vertraust du mir?« Rudy Wells vertraute ihm bedingungslos. Daß er Steve Austin am Leben erhalten hatte, nachdem er als ein zerschmettertes Bündel in der Wüste gelandet war, hatte gegenseitiges Vertrauen erzeugt. Steve hatte beide Beine und einen Arm verloren, ein Auge war ihm von heißem Stahl ausgelöscht worden, die Rippen waren gebrochen. Das war kein Leben mehr für einen Mann, der die meiste Zeit seines
Lebens geflogen und der letzte Amerikaner war, der die Oberfläche des Mondes betreten hatte. Steve das Leben zu retten und ihn in diesem Zustand zu belassen, wäre grausam gewesen. Rudy Wells hatte besser an Steve gehandelt… Jetzt verbannte der Arzt die Gedanken an das damalige Geschehen und dachte statt dessen noch einmal über die Frage nach, die Steve ihm, dem Arzt mit der irrationalen Furcht vor dem Fliegen, der Höhe und der schnellen Bewegung, gestellt hatte. Ja, er vertraute Steve Austin. Zwei Männer konnten sich nicht näherstehen. Nachdem Steve Wells einmal gezwungen hatte, diesem Vertrauen Ausdruck zu geben, konnte er fortfahren: »Das nächste Mal, wenn wir fliegen« – und sein Gesicht und der Ton seiner Stimme waren ganz ernst – »mußt du die Tatsache akzeptieren, daß du dabei den Tod finden wirst.« »Du bist verrückt«, hatte Wells schlicht geantwortet. Steve grinste. »Akzeptiere es. Hämmere es in deinen Kopf. Es gibt nichts, was du dagegen tun könntest. Du bist hilflos.« »Und dann?« »Dann lehne dich zurück und genieße es.« »Das ist doch blöd!« »Nein, nur deine Furcht vor dem Fliegen ist dumm.« »Da hast du recht.« »Ich meine genau das, was ich sage«, redete Steve ihm zu. »Akzeptiere die Tatsache, daß du absolut nichts tun kannst. Und wenn du das geschafft hast, entspanne dich. Etwas anderes bleibt dir ja nicht übrig, stimmt’s? Und weißt du, was dann geschieht? Der Pegel deiner Sinneseindrücke steigt. Was vorher deinen Magen zusammengekrampft hat, wird zu einem Vergnügen. Du fängst an, zu sehen, zu beobachten, dich zu freuen über das, was geschieht, weil du keine Angst mehr davor hast.«
»Ich bin also tot, wie? Okay, ich werde mir das immerzu sagen.« Es hatte tatsächlich funktioniert! Natürlich war es anfangs sehr schlimm gewesen. Wells kämpfte gegen die Empfindungen an, die ihm fast die Eingeweide zerrissen. Er schwitzte und stöhnte, seine Zähne klapperten, und dann sagte er plötzlich zu sich selbst, daß er wirklich lieber tot sein als das noch länger ertragen wolle. Und die Himmel erwachten für ihn zum Leben. Als der große Düsenjäger über eine Tragfläche kippte und sich langsam um seine Längsachse drehte, bis er auf dem Rücken lag und der Erde entgegensank, schrak Rudy Wells nicht mehr davor zurück, daß die Berge wuchsen, die Seen anschwollen und alles sich, während die Erde nach oben schoß, mit rasender Schnelligkeit vergrößerte. Diesmal sah er eifrig nach unten und sog die unglaubliche Erfahrung in sich hinein. Er sah, wie sich der Horizont zu beiden Seiten der Plexiglashaube nach oben bog, wie die dunstigen Ränder der Wolken scharfe Umrisse annahmen, wie aus dem flachen Boden auf einmal Einzelheiten hervorsprangen – und seine Augen konnten gar nicht genug schauen. Als sie danach wieder vorwärtsschossen, die g-Werte hochkletterten und die Blasen in seinem Druckanzug ihn kniffen, überließ er sich bewußt seinen Empfindungen. Jeder Augenblick machte ihm Freude. Nach diesem Looping hing er nicht mehr wie vor Angst versteinert in den Gurten. Er war ein aufgeschlossener, freudig erregter Beobachter geworden. Gerade wollte er Steve anreden, als der Pilot selbst das Wort ergriff. Es war, als habe er seine Gedanken gelesen. »Willst du es mal versuchen, Doc?« Rudy lachte vor Vergnügen. Eine Zeitlang blieb Steve bei ihm an den Kontrollen und lenkte seine Hände und Füße, bis Wells gelernt hatte, wieviel Druck er auf die
überempfindlichen Steuerungen ausüben mußte. Frei von der Furcht, die ihn früher im Griff gehalten hatte, vollführte er, Rudy Wells, mit einem mächtigen Düsenjäger Rollen und Loopings. Er raste durch die Schallmauer und wieder zurück, er ging steil nach oben und nach unten, und er verwandelte den Horizont in ein verrückt umherwirbelndes Rad. Danach hatte er niemals mehr Angst, wenn die Erde unter den sich aufschwingenden Tragflächen zurückfiel. Die Erfahrung war um so bemerkenswerter, weil Dr. Rudy Wells diesen Mann von einer Furcht befreit hatte, die ebenso verzehrend war wie seine eigene, ja, eigentlich noch schlimmer. Denn Steve Austin hatte sich vor dem Leben gefürchtet. Daran mußte Rudy Wells denken, als Steve jetzt die Nase des großen F-4-Jägers unter den Horizont drückte. Sie befanden sich über der hartgebackenen kalifornischen Wüste. Sie beide verband mehr mit den trockenen Seenbetten, den langen Landebahnen und den Hangars der Edwards Air Force Base. Da unten hatte die Air Force ihr Flugtestzentrum untergebracht. Die Air Force, die Navy, die NASA, die Army und die FAA versammelten dort ihre Experten um sich an das Unbekannte zu wagen. Die Wüste da unten war auch der Ort, wo Steve Austin aufgehört hatte, ein Mensch zu sein – das heißt, nach seiner eigenen Definition des Begriffes »Mensch«. Die Nase der Phantom tauchte um Haaresbreite tiefer, und Rudy Wells brauchte nicht erst die Instrumente abzulesen, um zu wissen, daß sich der Abstand zu der unnachgiebigen Erde verringerte. Wells sah hinaus, bis er die Landmarken entdeckte. Dort waren der Lonely Mountain, der San Bernardino, der San Gabriel und die Shadow Mountains. Wells richtete seinen Blick auf den steinharten Boden des Rogers Dry Lake. Das war die MojaveWüste, wo Menschen das von der Natur wie eigens dazu
erschaffene Gelände zu einem riesigen Rollfeld für seltsame, geflügelte Maschinen gemacht hatten. An seinem westlichen Rand hatten sie einmal eine lange Nacht mit den Vorbereitungen für den nächsten Morgen zugebracht, an dem Steve Austin in den schimmernden Metallkörper der M3F5, die ihrerseits unter der Tragfläche eines gewaltigen H-52 Bombers hing, eingesiegelt werden sollte. War das ein Flugzeug? Ein Raumschiff? Im Grunde keins von beiden, denn die Form der M3F5 sprach allen aerodynamischen Erfordernissen Hohn und erschien dem menschlichen Auge wie eine reine Ausgeburt der Fantasie. Sie sah aus wie eine Badewanne mit knubbeligen Auswüchsen. Die drei befremdlichen Flossen, die seitlich und nach oben vom Heck abstanden, hätten genügt, um jeden normalen Piloten in Erstaunen zu versetzen. Vorne befand sich eine Glaskapsel, in der er angeschnallt wurde. Von dort hatte er, auf alles, was ihm während des Fluges begegnete, eine ungehinderte Aussicht. Ein Witzbold in der Bodenmannschaft hatte die Maschine »Die Schnauze« genannt. Das war ein durchaus passender Name, denn sie wirkte wie ein kleiner Wal mit einer transparenten Schnauze. Rudy Wells sah, wie der Wüstenboden beim Landeanflug näherkam. Vor seinem geistigen Auge rollten die Ereignisse von damals ab: Steve Austin hatte sich von der großen Metallfläche, dem Flügel der B-52, ausgeklinkt. Er hatte die Raketen gezündet, die Nase hochgezogen, und das kleine Ungeheuer verschwand kreischend im Vakuum. Erst hatte er die M3F5 auf eine Höhe von mehr als dreihunderttausend Fuß gebracht und dann wieder zurück in die Atmosphäre. Rudy Wells stand auf dem heißen Wüstenboden und spähte nach dem silbernen Flugkörper aus. Diese bösartige fliegende Badewanne war vorn von einem Schwarm Jäger umgeben. Wie bösartig sie tatsächlich war, entdeckten sie kurz darauf,
als eine Bö eine abgerundete Ecke dieses Flugobjektes gegen die Landebahn knallte. Wells schloß die Augen, und die Erinnerung an das Schreckliche überwältigte ihn. Er sah noch einmal, wie die Flugzeugnase herumgewirbelt wurde – dieses hilflose Schwanken! Dann bohrte sich ein Bein in den Grund und schnappte zu, wie ein Greifvogel. Ein dumpfes Grollen und Donnern zerriß die friedliche Ruhe der Landschaft. Wells sah es alles von neuem vor sich. Er versuchte, die Gedanken zu verscheuchen, aber es war, als sei er dazu verdammt, diesen Film immer wieder von Anfang bis Ende betrachten zu müssen. Er sah und hörte, wie die Wucht des Aufpralls den metallenen Körper der Badewanne zerriß, wie er gleich einem verletzten Lebewesen wild zurück in die Wüstenluft sprang. Dann zersplitterte er in tausend Stücke, zeigte der Welt sein Inneres. Flüssigkeiten und Trümmer flogen nach allen Richtungen. Und die ganze Zeit wußte Wells, wer sich darin befand, er wußte, was jetzt mit Steve Austin geschah. Er sah den wachsenden Schaum von Staub, Treibstoff und Blut und dann ein loderndes Feuer, das Maschine und Mensch einhüllte. Rudy Wells war einer der ersten an der Absturzstelle gewesen, zusammen mit der Rettungsmannschaft, der Feuerwehr und den Ärzten. Sie konnten Steve gerade noch rechtzeitig herausholen, um ihm das Leben zu retten. Aber das war auch ungefähr alles, und Steve haßte sie dafür, daß sie ihn nicht mit seinem Schiff hatten umkommen lassen. Es war eine Gnade, daß er bewußtlos war. Mehr gab es über Steve Austin nicht zu sagen. In dem einen Augenblick war er ein erstklassiger Testpilot, ein Astronaut, ein Mann, dessen Füße durch den luftlosen Staub der Mondoberfläche geschritten waren. Und einen zeitlosen Augenblick später war er nur noch das Zerrbild eines Menschen. Rudy Wells kniff die Augen fester
zusammen und versuchte, den Film der Erinnerungen aus seinem Schädel zu treiben. Aber so leicht ging das nicht, denn das Geschehen hatte lange Zeit jeden wachen Moment seines Lebens erfüllt und ihn in seinen Träumen verfolgt. Ein Mann, dem beide Beine abgerissen worden waren. Die Überreste des linken Arms trennte das Skalpell des Chirurgen ab. Zerschmetterte Rippen, die erst einmal an Ort und Stelle gehalten werden mußten, bevor sie geflickt und ersetzt werden konnten. Das war das Schlüsselwort – ersetzen. Flicken, verdrahten, reparieren, integrieren… Sie fügten das, was von seinem Kiefer übriggeblieben war, wieder zusammen und ersetzten die fehlenden Teile. Steve Austin wurde zu einer unfaßlichen Montage aus Fleisch, Knochen, Stahl, Aluminium, Keramik, Drähten, Spulen und Kunststoffen, alles mit außerordentlicher Präzision ineinander verwoben. Sie hatten eine Operation am offenen Herzen durchgeführt und eine Hufnagel-Klappe anstelle der beschädigten implantiert. Er hatte einen Schädelbruch. Eine Gehirnerschütterung. Verbrannte Haut. Schock. Das linke Auge war aus seiner Höhle gerissen worden. Für lange Zeit wurde die Entscheidung, was mit dem linken Auge geschehen sollte, zurückgestellt. Zunächst wurde das, was von Steve übrig war, in eine mit reinem Sauerstoff gefüllte Überdruckkammer gebracht, und ein in sein Gehirn geleiteter elektrischer Summton hielt ihn wochenlang bewußtlos. Steve brauchte einen Freund… die Zeit. Zeit, um den Schock langsam abklingen zu lassen, den Zellen Gelegenheit zu geben, sich neu zu bilden und sich der verstümmelten Gestalt anzupassen. Sie hielten ihn am Leben, und dann begann das eigentliche Wunder. Es hatte einer Reihe von Wundern bedurft, kleiner und großer, um den Menschen auf den Mond zu befördern. Die
Technologie für den Abschuß eines hunderttausend Pfund schweren Raumschiffs samt seiner Besatzung zu einer anderen Welt hatte weitere Wunder geboren – miniaturisierte und subminiaturisierte und superminiaturisierte… Erfindungen auf dem Gebiet der Elektronik, die wenige Jahre vorher nichts als ein nebelhafter Traum gewesen waren… Materialien, die zehn Jahre früher noch nicht einmal existieren… Die großen Computer, die Myriaden von Möglichkeiten zur Lösung eines Problems studieren und mit der richtigen Antwort in Tagen statt in Jahrhunderten aufwarten konnten. In Washington gab es eine Organisation, genannt: OSO – Office of Special Operations. Eine Art Auslese aus CIA und FBI, zur militärischen Abwehr und der Nationalen Sicherheit. Das OSO verfügte über ungewöhnliche Macht. Zu seinen größten Stärken gehörte, daß es für seine eigenen Zwecke medizinische, technische und wissenschaftliche Forschungsprojekte ins Leben rufen konnte. Lange schon hatte man sich dort gewünscht, einen Menschen in verbesserter Ausführung bauen zu können. Steve Austin war nur noch ein Wrack von einem Menschen, aber er hatte das, worauf OSO seit geraumer Zeit wartete: überdurchschnittlichen Verstand, technische und wissenschaftliche Ausbildung, bereits unter Beweis gestellten Mut, kurz, alle die Faktoren, die OSO in Zusammenhang mit einem bionischen Produkt brauchte. Halb Mensch, halb Maschine. Tief in den Flanken des Felsengebirges von Colorado wurde ein Laboratorium für die Grundlagenforschung betrieben. OSO konnte der Air Force sechs Millionen Dollar zur Verfügung stellen. Diese Summe, die zerfetzten Überreste eines Menschen und ein Laboratorium speziell für die Kombination von Technik und Wissenschaft, sowie Kybernetik und Biologie, wie es sonst nirgendwo auf der Welt zu finden ist.
An dieses geheime Laboratorium hatte sich für Rudy Wells die Vorstellung der linken Hand Gottes geknüpft. Die dort Tätigen wußten, wie sie sämtliche Konstruktions- und Bewegungsmerkmale zum Beispiel des Arms und der Hand eines Menschen in ein Elektronengehirn einzuspeisen hatten. Der Computer schuf das zahlenmäßige Äquivalent zu Fleisch und Blut, Sehnen und Muskeln, Venen und Arterien, Knochen und Mark und dem beinahe unendlichen Komplex von Chemikalien und elektrischen Impulsen, die ein menschliches Wesen ausmachen. Die Neuschaffung von Steve Austin – die gegen seinen Willen geschah – zog heftige Diskussionen über die Bedeutung der Worte »Leben« und »lebendig« nach sich. Schließlich handelte es sich in diesen elektrischen Leitungen um die gleiche Form von Energie wie im menschlichen Nervensystem. Ungeachtet der besonderen Eigenschaften, die einem Menschen Leben verleihen, sind auch Botschaften, die durch elektrische Impulse vermittelt werden, lebenswichtig. Neurale Energie ist elektrische Energie, und auch wenn das Wunderwerk des menschlichen Körpers einen besseren Vergleich verdient, ist er mit einer schwachen Selbstladebatterie zu vergleichen. Bei der bionischen Arbeit gab es keinen Streit um Definitionsfragen. Es wurde einfach getan, was getan werden konnte. Unter der Leitung der beiden Ärzte Dr. Michael Killian und Dr. Rudy Wells stellte das Team sich der Herausforderung, einen neuen Steve Austin zu bauen. »Bionik« ist von dem griechischen Wort Bios = Leben abgeleitet, bedeutet soviel wie Nachahmung des Lebens. Ein bionisches System ist die Nachbildung desjenigen Lebens, das von Gott oder der Natur geschaffen worden ist. Steve Austin wurde ein Cyborg, ein kybernetischer Organismus. Zerschmetterte Knochen wurden durch Cäsium
und neue Legierungen ersetzt, und sein Schädel erhielt eine schwammige Einlage zum Schutz des Gehirns. Jetzt konnte Steve unbeschadet einen Schlag auf den Kopf aushalten, der zehnmal härter war als einer, der einen menschlichen Schädel gebrochen hätte. Sie ersetzten und flickten nicht nur. Sie implantierten auch – Sehnen, Kunststoffe, Röhren, Drähte, brückenartige Metallstrukturen. Die Sehkraft des verlorenen linken Auges konnten sie ihm nicht zurückgeben. Sie konnten Wunder vollbringen, aber sie konnten kein neues Leben erschaffen. Das menschliche Auge ist ein göttliches Werk aus Gallerte und Wasser und lichtempfindlichen Elementen und Stäbchen und Nervenbündeln und elektrischen Impulsen, und all das ist wunderschön verbunden mit einem, aus vielen Windungen bestehenden Computer, dem menschlichen Gehirn. Der Sehnerv von Steves linkem Auge war zerschnitten. Und damit war es aus. Bei seinen ersten OSO-Einsätzen trug Steve in der linken Augenhöhle eine Minikamera. Damit konnte er sowohl bei normalem als auch bei infrarotem Licht Aufnahmen machen. Er hatte diese Kamera unter Wasser, auf dem Land und in der Luft benutzt. Jetzt war sie aus seiner Augenhöhle entfernt worden. Der letzte OSO-Auftrag war Monate her, und die Air Force hatte die Gelegenheit wahrgenommen, etwas völlig Neues auszuprobieren. Zwar konnte Steve mit dem linken Auge immer noch nicht »sehen«, doch es war durch ein elektronisches System mit seinem rechten Sehnerv verbunden worden. In dem keramischen Augapfel befand sich ein genial konstruierter Entfernungsmesser. Er war aus den Mikrostromkreisen der Raketen mit Zielsuchlenkung entwickelt worden. Das Auge war durch einen leichten Druck
auf die linke Schläfe zu aktivieren. Dadurch hatte er die Möglichkeit, alles was er sah, zwanzigfach zu vergrößern. So konnte er jetzt Entfernungen genau bestimmen. Das größte Wunderwerk aber war der Ersatz seiner beiden Beine und seines linken Arms. Er bekam nicht einfach Prothesen, sondern weit mehr. Die neuesten Erkenntnisse aus Elektronik, Technik und Wissenschaft und sechs Millionen Dollar hatten Steve Austin mit von Menschen geschaffenen lebenden Gliedmaßen versorgt. Sie funktionierten in jeder Hinsicht wie seine eigenen mit der Ausnahme, daß er damit keinen Schmerz empfinden konnte. Die bionischen Strukturen, die auf mannigfache Weise mit den Stümpfen verbunden wurden, waren, bis auf die bionischen Knochen, lebende Nachbildungen. Sie hatten keine flüssigkeitsdurchlässigen Zellen, keinen Blutkreislauf und keine Haare mit kinesthetischem Empfindungsvermögen. Aber ihre Leistungsfähigkeit überstieg die normaler Gliedmaßen und gab Steve außergewöhnliche Kraft. Bei der Herstellung der bionischen Gliedmaßen hatten die Ärzte und Wissenschaftler die Nervenfibern zur Übermittlung der Gehirnimpulse genau nachgeahmt. Steves linker Arm war jetzt zehnmal stärker und widerstandsfähiger als früher. Die Nerven, Muskeln und Sehnen des Stumpfes wurden mit ihren bionischen Äquivalenten fest verbunden. Aber die durchkommenden Signale, die für Fleisch und Blut stark genug gewesen wären, waren für ein bionisches System viel zu schwach. Deshalb wurden in seine Arme und Beine winzige Atomgeneratoren eingebaut, die sich geräuschlos mit einer Geschwindigkeit drehten, die in Tausenden von Umdrehungen pro Sekunde gemessen wurden. Steves künstliche Finger waren ebenso gelenkig wie natürliche, aber anfangs unempfindlich, und so bestand die Gefahr, daß er menschliche Knochen zusammendrückte wie
ein Papiertaschentuch. Die Lösung wurde in Form von Vibrationspolstern, Sensoren und Verstärkern gefunden. Jetzt konnten diese Finger mit den stählernen Knochen nicht nur mit der Wucht einer Keule zuschlagen, sondern auch die Haut einer Geliebten streicheln. Rudy Wells schüttelte den Kopf, als sie sich, eine Tragfläche nach unten, die andere himmelwärts zeigend, der Erde näherten. Je näher sie der harten, trockenen Erde der Edwards Air Force Base kamen, desto näher kamen sie auch jenem entsetzlichen Punkt, an dem Steve verstümmelt worden war. Doch war es ebenso eine Wiedergeburt wie Zerstörung gewesen. Nur mit der Wiedergeburt hatte sich der Schmerz verbunden, den jeder Phönix empfinden muß, wenn er sich aus der eigenen Asche erhebt. Die Verwandlung dieses menschlichen Krüppels in einen Cyborg war höllisch gewesen. Eine körperliche und seelische Folter. Zuweilen haben die Ärzte daran gezweifelt, ob Steve diese Qualen überstehen würde. Denn monatelang stolperte und fiel, taumelte und schwankte er. Seine Systeme arbeiteten unregelmäßig und verkrampft. Es gab Kurzschlüsse und Überlastungen. Er war unbeholfen und tölpenhaft und von Haß und Wut erfüllt. Wells wußte, daß Steve aus diesem Grund ein solches Mitgefühl für Dick Manners hatte, der sich aus dem Gefängnis seiner Lähmung erst noch freikämpfen mußte. War das Ergebnis die Qual wert? Mehr als einmal hatte Steve versucht, den Lebensfunken in sich auszulöschen. Aber sie hatten ihn immer wieder durchgebracht. Seine seelische Gesundung war ein ebenso großes Wunder wie seine körperliche Umwandlung. Aber es gab Belohnungen für ihn! Mit seinem bionischen Arm konnte er weit mehr tun als früher. Der Arm war nun eine Ramme, ein Schraubstock, ein Schraubenschlüssel, eine Zange, ein Knüttel. Er war eine Hand, ein Werkzeug und vor
allem eine Waffe. Seine bionischen Beine arbeiteten wie Kolben. Die nuklearen Generatoren, die die Befehle seines Gehirns verstärkten, trugen zu der Bewegungsenergie bei und vergrößerten seine Ausdauer. Wie früher und wie jeder andere Mensch blieb Steve Austin weiter abhängig von seinem Herz und seinen Lungen, seinen Nieren, seiner Blase und seinen Drüsen. Aber seine bionischen Teile verliehen ihm übermenschliche Kraft und Ausdauer. Bei richtiger Kräfteeinteilung konnte er einen Tag, eine Nacht und einen weiteren Tag laufen. Denn die auf die Erde hämmernden bionischen Beine verbrauchten keine körpereigene Energie. Den größten Sieg errang Steve Austin mit Hilfe von Dr. Rudy Wells! Er half ihm, seine seelische Gesundheit wiederzufinden. Er war aufsässig und kontaktscheu gewesen und hatte nicht für OSO arbeiten wollen. Doch das war jetzt alles überwunden, und er war mit seinem neuen Körper ein neuer Mensch geworden. Rudy Wells spürte den langsam ansteigenden Druck, als Steve die große Maschine genau über die Landebahn der Edwards Air Force Base brachte. Seltsam, dachte er, hier ist die Stelle, wo der Aufprall meinen Körper zerrissen und das Feuer mich verbrannt hat. Und jetzt kehre ich zurück mit Fähigkeiten, die kein Mensch angesichts meiner Verletzungen für möglich gehalten hätte. Steve war in mehr als einer Beziehung wieder »zu Hause«. OSO stand nun hinter ihm, und er befand sich von neuem in dem Element, das ihn mehr als alles andere geformt hatte: Das war der Himmel und das, was jenseits davon lag. Es gab einen neuen Auftrag für ihn, bei dem es sich um mehr als einen Flug handelte. Eine Mission, ein Projekt, ein Programm, das vielleicht von noch größerer Bedeutung sein würde als die Wunder seiner bionischen Wiedergeburt. Morgen früh sollte es beginnen.
Der Düsenjäger jagte auf die Landebahn zu. Steve hob die Nase leicht an, und Rudy Wells auf dem Rücksitz der Phantom spürte den Druck des g-Anzugs, als Steve Knüppel und Querruder zur Seite zog und das Flugzeug sich auf eine Tragfläche legte. Dann setzte es zur Landung an. Wie immer verlor Wells beinahe das Bewußtsein. Ich bin allmählich zu alt für derartigen Unsinn, dachte er benommen. Er schüttelte den Kopf, um die verschwommenen Farben zu vertreiben. Jemand anderem als sich selbst hätte er das niemals eingestanden.
III
Auf dem Vorfeld, wo Steve die Phantom abstellte, wartete der ungewöhnlichste Offizier der US Air Force auf sie. Colonel Ted Anderson, Leiter des Flugtestzentrums, hockte auf dem Kühler eines Jeeps und sah müßig zu, wie Steve das Bugfahrwerk genau an eine Bodenzapfstelle rollen ließ. Ted Anderson war ungewöhnlich, aber nicht aus einem einzelnen Grund. Ted Anderson war einzigartig. Schon, daß er bei einer Außentemperatur von 115 Grad Fahrenheit im Schatten einen Jeep benutzte, war etwas noch nie Dagewesenes. In seinem Dienstrang stand ihm eine Limousine mit Klimaanlage zu. Andere Colonels benutzten sie auch. Anderson tat das höchst selten. Er wollte nicht in einem Wagen eingeschlossen sein, der ihn der Geräusche und Gerüche seiner Umgebung beraubte. Immer hatte der Wind auf seine Uniform Staub geblasen und das sollte auch so bleiben. Das Auffälligste an ihm aber war – bei einem aktiven Colonel der Air Force beinahe unmöglich – ein struppiger, wilder Bart. Der Bart war einfach unpassend für einen Colonel der US Air Force. Als das Pentagon Anderson anwies, sich seines Bartes zu entledigen, antwortete er dem Pentagon, man möge sich daran erinnern, wo und wie ihm der Bart gewachsen sei. Das brachte die Lamettaträger einigermaßen aus der Fassung, denn Andersons Leistung in der Antarktis kannte inzwischen die ganze Nation. Damals hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern einen Absturz in einem abgelegenen, eisstarrenden, sturmgepeitschten Gebiet überlebt. Eine Rettung schien unmöglich. Ted Anderson flog, nur begleitet von einem ebenso wahnsinnigen Master Sergeant, mit einem riesigen C-130
Turboprop-Transporter los. Irgendwie fanden sie die Absturzstelle. Anderson schaffte es, die Hercules in dem blendenden Schnee runterzubringen, sie hatte volle Treibstofftanks, Notrationen und von Hilfsgeneratoren gespeiste Heizöfen mitgebracht. Doch Anderson konnte die Maschine wegen eines fürchterlichen Sturms nicht mehr starten. Zwölf Tage und zwölf Nächte lang hielt er die Wissenschaftler am Leben. Jeder glaubte, Anderson sei ebenso tot wie die Männer, die er hatte finden wollen. Nach diesen zwölf Tagen – und da war der Bart schon ganz hübsch gewachsen – ließ der Sturm nach. Anderson konnte es wagen, mit dem großen Transporter zu starten. Aber zuerst mußte der Schnee niedergetrampelt werden. Die Wissenschaftler fielen und brachen vor Erschöpfung zusammen und weigerten sich schließlich, in die bittere Kälte hinauszugehen. Colonel Ted Anderson hatte den Wissenschaftlern solange zugeredet, hatte ihnen gedroht, hatte geschrien bis sie eine saubere Piste für das Flugzeug zustandegebracht hatten. Und dann hatte er sie ausgeflogen. Danach hat er sich den Bart nicht mehr abrasiert. Er trug ihn, wenn auch ordentlich gestutzt, als ihm das Air Force Cross an die Brust geheftet wurde, die zweithöchste militärische Auszeichnung für Tapferkeit. Hinter geschlossenen Türen beschlossen die Spitzen der Air Force später, es sei besser, Dienstvorschriften zu umgehen, als die außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses unersetzbaren Piloten und Offiziers zu verlieren. Und jetzt steckte er bis über die Ohren in Flugtestprogrammen, war voller Schweiß- und Staubflecke und voller Begeisterung. Steve hob die Kabinenhaube der F-4, nahm den Helm ab und winkte Anderson zu. Der bärtige Riese ließ sich vom Kühler des Jeeps plumpsen und marschierte auf den Düsenjäger zu. Von Rudy Wells konnte er im Moment
nichts anderes sehen als zwei Augen, die unter dem Helmrand hervorspähten. »Wo ist der Quacksalber, Steve?« rief Anderson. Steve wies mit dem Daumen hinter sich. »Da taucht er gerade auf.« Welles nahm langsam den Helm ab und löste die Gurte. »Geht beide zum Teufel«, murmelte er. Ein Sergeant half dem Arzt bei seinem unsicheren Abstieg. Er hatte Doc Wells schon aus vielen Flugzeugen geholfen und hatte Verständnis für seine gereizte Stimmung. Jeder im Testzentrum kannte Rudy Wells. Er war doch der Arzt, der bei Steve Austins Absturz als erster zur Stelle gewesen war und ihn von den Toten zurückgeholt hatte. Wells hatte den Jeep erreicht. »Warum können Sie keinen zivilisierten Wagen fahren?« erkundigte er sich bei Anderson. »Weil ich kein zivilisierter Mensch bin«, gab Anderson in aller Gemütsruhe zurück. »Die Welt ist voll von zivilisierten Leuten. Sie treffen sich in Genf und besprechen sich, wie sie künftige Weltkriege führen wollen. Ich aber bin unzivilisiert und…« »Und barbarisch«, beendete Wells. »Um Gotteswillen, Ted, das ist doch hier kein Härtetest. Bringt mich unter Dach und Fach, wo ich ein kühles Bier bekommen kann.« »Alles zu seiner Zeit«, lautete die Antwort, und Wells erkannte, daß ihm noch eine lange Fahrt bevorstand. Es war ihm gar nicht so unlieb, denn es war lange Zeit her, daß er hiergewesen war, und schon bei einer Abwesenheit von wenigen Monaten erwartete einen bei der Rückkehr zum Flugtestzentrum jedesmal eine neue Welt. »Übrigens, Steve«, verkündete Anderson, während er den Jeep um das Heck einer großen B-52 lenkte, »zu deinem neuen Projekt gehört auch ein neuer Projekt-Offizier.« Die beiden anderen warteten gespannt.
»Und das bin ich, mein Sohn.« »Laß mich auf der Stelle aussteigen«, verlangte Steve. »Tut mir leid. Hier darf ich nicht anhalten.« Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Es wurde ihnen bewußt, welche ungeheuren Entwicklungen auf der Edwards Air Force Base in aller Stille vor sich gegangen waren. Hier wurden die Mauern, die die Geschwindigkeit beschränken, eingedrückt, hier wurden die tödlichen Schockwellen eingedämmt. Männer trainierten den plötzlichen Höhenwechsel beim Hochgeschwindigkeitsflug. Sie erhoben sich unter Schmerzen in die dünne Luft, die die unterste Stufe des Vakuums darstellt. Sie kämpften sich in der Atmosphäre durch immer stärker werdenden Widerstand, bis die Schallmauer überwunden war und sie an die Hitzegrenze stießen. Jetzt wurde ihre Geschwindigkeit durch die Temperaturen, bei denen Plexiglas weich und Metall schwach wird, begrenzt. Es war buchstäblich ein Wettlauf mit dem Tod, wenn die Maschine, in der man saß, der Hitze nachzugeben begann. Sie flogen massige Kolbenmaschinen und riesige Propellerflugzeuge in jeder möglichen Form: Ungeheuer von hundert Tonnen, die nur aus Tragflächen bestanden. Die Basis war nach einem Testpiloten benannt worden, der bei Versuchen mit einer solchen Nur-Flügel-Maschine den Tod gefunden hatte. Es hing viel mehr an der Arbeit dieses Zentrums als in den Berichten stand. Männer testeten Stabilitätssysteme, die, wenn sie einmal ganz ausgereift waren, großen Bombern, Transportern und Linienmaschinen unter gefährlichen Flugbedingungen bedeutend mehr Sicherheit verleihen würden. Sie testeten superempfindliche Tragflächen. Tragflügelprofile in verrückten Formen, von denen eine Leistung zu erwarten war, die Träume wahr werden ließ. Und
sie warfen ihre Maschinen freiwillig in bösartige Drehungen, nur um festzustellen, wo die Grenzen der Belastbarkeit lagen. Die Unterscheidung zwischen atmosphärischem Flug und Raumflug war schon seit langem aufgegeben worden. Colonel Anderson fuhr mit Steve Austin und Dr. Rudy Wells an den unterschiedlichsten Maschinen vorbei. Vom federgewichtigen Verbindungsflugzeug bis zu Ungeheuern, die achthunderttausend Pounds auf die Waage brachten. Ein nadelförmiges schwarzes Gebilde wurde gerade abgeschleppt. Anderson trat auf die Bremse, um die beiden Männer zusehen zu lassen. »Sieht wie eine von den Blackbirds aus, nicht wahr?« fragte er. »Aber sie hat Tragflächen, wie ihr sie noch nie gesehen habt. Druckablaß von den Maschinen für konstanten Abzapfluft-Auftrieb. Wir haben damit einen gleichmäßigen Marschflug von hundertdreißigtausend erzielt. Die zischt ab!« Langsam fuhr er weiter. »Da ist noch eine andere, die wir zusammen mit der NASA entwickeln. Dabei sind wir zu der alten Ramjet-Idee zurückgekehrt. Wir arbeiten mit einer neuen Maschine, die wir ›Scramjet‹ nennen. Es ist eine Kombination von Turbinenpropeller und Staustrahltriebwerk. Wir bekommen Anfälle deswegen, aber wenn es funktioniert…« Er beendete den Satz nicht. Sie kannten beide das Programm. Hyperschallflug – Flug mit fünffacher Schallgeschwindigkeit – und das als Dauerleistung und ohne Raketen. »Was ist mit dem Eimer?« fragte Steve. »Charlie Howell erzählte mir davon.« Anderson nickte. »Wir sind noch immer damit beschäftigt. Jetzt sind es fünfzehn Jahre, daß wir daran arbeiten.« »Eimer?« fragte Rudy Wells von hinten. »Eimer oder Bagger, die Crew denkt sich die verrücktesten Namen aus«, erklärte Anderson. »Aber die ganze Idee ist ebenso verrückt. Wir benutzen RS-71-Triebwerke, um das
Ding auf genügende Höhe zu bringen. Die innere Maschinerie hat einen einstellbaren Rührflügel, der Luft hereinholt und beinahe bis zur Verflüssigung komprimiert. Während des Fluges gewinnt das Ding aus der Stauluft Wasserstoff, der verflüssigt und mit einem Tiefstkühlsystem superkalt gehalten wird. Wie beim flüssigen Wasserstoff in den oberen Stufen der Saturn-Rakete. Wenn der »Eimer« die Tanks füllt, mischt er den Wasserstoff mit flüssigem Sauerstoff. Wir zünden die Raketen, das Düsentriebwerk schaltet sich ab, und wir haben ein reines Raketenflugzeug, bei dem die Flügel nur noch totes Gewicht sind.« Rudy Wells konnte es nicht glauben. »Das bedeutet doch, daß es die obere Atmosphäre als seine eigene Tankstation benutzt.« Colonel Anderson grinste. »Das ist die beste Beschreibung, die ich bis jetzt gehört habe. Ich werde sie dem Projekt-Team mitteilen. Sie wird den Leuten gefallen.« »Aber warum wird einem solchen Programm nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt?« protestierte Wells. »Es könnte alle unsere Unternehmungen im Raum revolutionieren und…« »He, Doc«, fiel Anderson ein, »Sie vergessen, daß wir daran bereits seit fünfzehn Jahren arbeiten. So etwas verstehen die Leute im Kongreß, die die Gelder bewilligen müssen, nicht. Wenn wir ein eigenes Projekt daraus machten, würde Washington termingerechte Ergebnisse verlangen. So weit sind wir aber noch nicht. Deshalb haben wir das Programm in den allgemeinen aerodynamischen Forschungen versteckt.« Er sah nicht glücklich darüber aus. »Mit der Inflation und all den Rückschlägen, die wir durchgemacht haben, würden sie dies Programm abwürgen. Wir haben deshalb…« »Aber warum?« fragte Rudy Wells. »Weil es Zeiten gibt, in denen die Regierung in Washington nicht so schlau ist, wie sie gern sein möchte«, antwortete Anderson leise. »Oder wie wir sie gern sähen.« Auf seinem
Gesicht lag ein Lächeln. »Wie in den Tagen, als die American Medical Association die Meinung vertrat, Tee sei für den menschlichen Körper eine der gefährlichsten Substanzen.« Wells starrte ihn erst an, dann nickte er. Ein riesiges Gebilde verdeckte die Sonne. Der Jeep hielt unter der Tragfläche einer massigen Boeing 747, an deren Rumpf ein 1:1-Modell des Raumtransporters befestigt war. Die Air Force und die NASA wollten diese Kombination 1979 zum erstenmal bei orbitalen Flügen einsetzen. Die beiden Maschinen zusammen boten einen unglaublichen Eindruck, der trotz des in der Nähe geparkten enormen Lockheed-C-5A Galaxy-Transporters überwältigend war. Die 747 mit dem Raumtransporter sollte bald mit den ersten Testflügen beginnen. Ziel war die aerodynamischen Eigenschaften zu erproben. Der Raumtransporter hatte selbst ungefähr die Größe eines Douglas-C9-Düsenflugzeugs. Später, wenn die ersten Flugmodelle des Raumtransporters bereit waren, ihre Schwingen zu erproben, würden sie von der 747 in eine große Höhe gebracht und dort abgeworfen werden, um mit eigener Kraft zu fliegen. Und noch später, wenn die ersten Raumtransporter aus ihrer Umlaufbahn zurückkehrten und auf den trockenen Seenbetten der kalifornischen Wüste landeten, würden sie von den Boeings für neue Starts in den Weltraum zurück zum Kennedy-Raumfahrtzentrum nach Florida gebracht werden. Die seltsamste Maschine, die sie auf ihrer Rundfahrt entdeckten, war jedoch das Schrägflügel-Experiment. Eine Stretch DC-8, ein herkömmlicher Transporter mit langgestrecktem Rumpf, war mit einem spitz zulaufenden Flügel ausgestattet worden. Dieser drehte sich um eine oben auf dem Rumpf angebrachte Angel. Das eine Ende stach in die Luft, das andere schleppte nach, als drehe es sich in verrückter Weise um seinen eigenen Mittelpunkt. Beim Start und bei der
Landung rotierte der Flügel in normale Position. Bei großer Höhe und Geschwindigkeit stellte er sich in diesem Winkel fest und erfüllte damit seine Aufgabe besser als irgendeine andere Tragfläche auf der ganzen Welt. Das war wieder einmal ein Beispiel dafür, daß das einzige, was man bei diesem Geschäft erwarten konnte, das Unerwartete war. Vor ihnen lag, abseits von den Reihen der Hangars und Werkstätten, ein Gebäude. Schon von weitem war zu sehen, daß es auf jeder Seite ein großes Q trug. Es war von zwei hohen Zäunen umgeben, die ganz bestimmt unter tödlicher Spannung standen. Daneben gab es Schutzmaßnahmen, die wirksamer und weniger auffällig waren. Colonel Anderson ließ den Jeep ausrollen. Sobald dieser zum Stehen kam, fiel die Wüstenhitze über sie her und die Welt erfüllte sich mit den Geräuschen des Windes, der Motoren und mit dem heiseren Flüstern großer Maschinen, die durch dünne Atmosphäre krachten. Steve Austin beugte sich vor, ganz in seine eigenen Gedanken versunken. Der Terminplan sah einen Besuch des schwer bewachten Gebäudes erst für den späten Abend vor. Impulsiv drehte Steve sich zu Colonel Anderson um. »Laß uns hineingehen, Ted.« »Wir sollen aber…« »Jetzt gleich«, drängte Steve. Anderson richtete seine Augen auf den Arzt, der hinter ihm saß. Wells gab den Blick zurück und zuckte mit den Schultern. Mochte auch Anderson der Projekt-Offizier und Wells der Fliegerarzt und sechs Generale die Beobachter sein, so war doch Steve Austin der Mann, der das innerhalb des Hangars verborgene Ungeheuer fliegen mußte. »Okay«, gab Anderson nach. Er ging stets auf die Einfälle und Wünsche seiner Testpiloten ein. Die guten, die Besten – und Steve gehörte zu den Besten – hatten im Gegensatz zu
anderen Piloten Vorahnungen, Stimmungen, plötzliche Eingebungen. Er kämpfte nicht dagegen an, sondern zeigte Verständnis dafür. Ein wenig ungeduldig ließen sie die langwierigen, sorgfältigen Sicherheitsprüfungen über sich ergeben. Innerhalb der elektrischen Zäune war ein Warnschild angebracht: VERSUCHE MIT WAFFENSYSTEMEN – VORSICHT! EXPLOSIONSGEFAHR! Natürlich diente das nur der notwendigen Tarnung. Weitere stahläugige Wachtposten nahmen sie in Empfang, immer einer hinter dem anderen stehend. Sie hatten Selbstladegewehre und Handgranaten und zwei große Hunde. Die eiserne Faust im Samthandschuh des Protokolls.
Für die Maschine, die vor ihnen unter den hellen Flutlichtern stand, konnte man hundertmal nach einer Beschreibung suchen und würde doch keine passenden Ausdrücke finden. Ihr Name war recht einfach: Sie nannten sie Asp, die Abkürzung von Aerospace Plane. Es war ein Raumfahrzeug, trotz der Tragflächen. Tragflächen? Das Asp hatte von der Nase ausgehende, scharf zurückgebogene, krummsäbelartige Gebilde, deren Enden sich plötzlich abspreizten, als sei jemandem nachträglich eingefallen, es müsse mit Flügeln ausgestattet werden. Keine Ansaugöffnungen, keine Düsen innerhalb des dicken, aber täuschend schnittigen Körpers. Ganz hinten in diesem Ding befand sich eine Kammer mit dicken Wänden, die morgen mit einer Mischung von Flüssigkeiten gefüllt werden sollte, von der eine mehrfach höhere Energieleistung erwartet wurde als von jedem jemals benutzten Raketentreibstoff. Steve ging langsam um das Asp herum und studierte jede Einzelheit. Sein Gesicht verriet nichts. Weder Wells noch
Anderson störten ihn bei dieser eingehenden Musterung der Maschine. Denn das Asp war eine Weiterentwicklung der M3F5, mit der Steve beinahe ums Leben gekommen wäre, die ihn verstümmelt und gefoltert hatte. Er erinnerte sich an diese grauenhafte Zeit, als er nichts anderes mehr empfunden hatte als Haß auf das Leben. Jetzt schloß sich der Kreis. Als ein bionisches Geschöpf kehrte er in das Flugtestzentrum zurück, und er sollte aufs neue mit einem Gebilde aus Stahl und Glas und flüssigem Stickstoff vermählt werden. Aufs neue flammende Energien entfesseln, um mit ihnen durch die Atmosphäre darüber hinaus zufliegen. Das war keine geringe Anforderung, und die beiden Männer, die Steve Austin beobachteten, hatten Verständnis für die seltsamen Gefühle, die sich allmählich auch auf seinem Gesicht zeigten. Langsam stieg er die Metalleiter hinauf, die von dem glatten Betonboden zu der langen Haube und dem merkwürdigen Cockpit darunter führte. Eigentlich war es gar kein Cockpit, eher eine Mischung aus Cockpit, Laderaum und Kabine. Er stieg ein. Mit unbewußter Vorsicht ließ er sich auf den breiten Sitz gleiten. Im Augenblick war er viel zu groß für ihn, aber Steve wußte, daß er genau richtig sein würde, wenn er Druckanzug und Helm trug. Vorerst kam er sich wie ein Kind in dem Armsessel eines unmöglich großen Erwachsenen vor. Es war ein Tandem-Cockpit, also zwei Sitze hintereinander, die durch ein mit Instrumenten, Kabeln und Spezialausrüstungen vollgepfropftes Schott getrennt waren. Der Pilot würde den vorderen Sitz einnehmen. Steve Austin, Pilot. Und Astronaut. Und Versuchsperson. Der vordere Sitz hatte Kontrollen wie ein Jäger, die mit Querrudern, Spoilern und Klappen einen aerodynamischen Flug ermöglichten. Dazu kamen Kontrollen, die für den
Antrieb im Vakuum bestimmt waren. Das Asp war innerhalb des Luftmantels der Erde und außerhalb desselben zu Hause. Zu Steves Erstaunen war auch der hintere Sitz mit Kontrollen ausgerüstet. Das hatte er noch nie zuvor gesehen. Er stellte sich auf den Sitz, sah nach hinten auf die abgerundete ComputerKonsole und die Instrumentenbänke und schüttelte den Kopf. Nun, er würde Zeit haben, zu lernen, was das alles zu bedeuten hatte. Nun machte er es sich auf seinem eigenen Platz bequem und versuchte, sich vorzustellen, wie es sein mochte, diese Maschine zu fliegen. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er merkte, daß der Colonel sich neben ihm im Cockpit befand. »Steve, wenn du das Asp morgen fliegen willst, sollten wir zusehen, daß wir das erledigen, was für heute auf dem Terminplan steht«, meinte Anderson. »Für die Besprechung mit den Wartungs- und Kontrolleuten sind wir bereits spät dran.« Steve nickte. Er folgte Anderson zurück auf den harten Betonboden. An der Sicherheitstür blieb er stehen und drehte sich zu einem langen Blick um. Gräßlich. Herrlich. Ihn überkam das wohlbekannte Kältegefühl.
IV
Auf dem Flug 603 der Trans Pacific Airlines berührte der Copilot die Schulter des Mannes zu seiner Linken. Der Pilot blickte in die Richtung, die ihm der ausgestreckte Zeigefinger wies. Sie befanden sich über Kalifornien, vielleicht vierzig Meilen von der Küste entfernt und flogen in südlicher Richtung. Rechts von ihnen, nach Westen hin war die Welt in Schwärze gehüllt. Daran war nichts Bemerkenswertes; es war einfach ein Schwarz ohne Lichter. Am Boden gab es natürlich Lichter, aber sie waren zu weit entfernt, und zwischen ihnen und dem Flugzeug zogen Wolkenfetzen dahin. Zu sehen war nur ein einziges Licht. Keiner der beiden Männer brauchte auszusprechen, was sie beide dachten. Das Licht, das so plötzlich in der Dunkelheit aufgetaucht war, stieg in die Höhe. Langsam, aber mit zunehmender Geschwindigkeit schwoll es an und verwandelte sich von einem dunklen Orange zu einem hellen Orange und dann zu einem intensiven, flammenden Gelb. »Muß eine große Rakete sein«, meinte der Pilot. Der Copilot schwieg. Eine Antwort war nicht notwendig. Der Start einer Titan III D ist nachts, auch aus einer Entfernung von vierzig Meilen, ein umwerfender Anblick. Eine Schubkraft von mehr als drei Millionen Pounds spaltet die Schwärze, gießt Feuer über die Wolken und schießt weiter nach oben. Jetzt, da die Sicht durch nichts mehr behindert wurde, sah es aus, als entfliehe eine kleine Sonne dem Planeten, der ihr das Leben geschenkt hatte. Unter den faszinierten Piloten in der Linienmaschine brannte die Erde heller und heller der heulend aufsteigenden Rakete nach. Das
Startgelände der Vandenberg Air Force Base zischte und knatterte, als ob sich Tausende von Litern Wasser unter hohem Druck über die Abschußrampe und den Versorgungsmast ergossen und das von den Flammen zum Glühen gebrachte Metall abkühlten. Aber das Feuer hoch über ihnen brannte weiter. Plötzlich begann die Flamme zu sprühen. Die großen Feststoffraketen hatten ihren Treibstoff verbraucht. Kleine weiße Explosionen folgten, als die erste Stufe abgesprengt wurde. Augenblicke später erwachte die zweite Stufe der Titan zum Leben. Da sie keinen Kohlenwasserstoff in ihren geräumigen Tanks hatte, war die Zündung ein schnelles Aufzucken grellen weißen Lichtes, das sich gleich darauf in Suchscheinwerfer gleichenden Zwillingskreise verwandelte. Die Haupttriebwerke brannten mit kaum sichtbarer Flamme. Die Titan verschwand im Dunkel der Nacht. Die beiden Piloten in dem Düsenflugzeug sahen, wie das Licht verblaßte und zwischen all den Funken am Himmel verschwand.
Das spezielle russische Kommando, mehrere Teams, die rings um die Erde verteilt waren, zählte den Countdown der Amerikaner für den Start der Titan-Rakete mit. Zwei elektronische Monitor-Satelliten der Russen hatten die Sendungen zwischen dem Startzentrum in Vandenberg und den Bahnverfolgungsstationen längst entdeckt und gemeldet. Dieser Start erregte mehr als das normale Interesse. Andere russische Teams standen in Bereitschaft und warteten darauf, was geschehen würde. Alles, was sie taten, mußte zeitlich genauestens abgestimmt werden. Es hing von dem Einschuß der feuerspeienden Titan in die Umlaufbahn ab und dann von den orbitalen Parametern – Höhe, Geschwindigkeit, Winkel zum Äquator und anderen.
Der unbemannte Satellit, der sich in eine polare Umlaufbahn begab, war als Big Bird bekannt. Er bestand aus einer eindrucksvollen Anhäufung von elektronischen Geräten, Sensoren, Meßund Funkgeräten, Filmkameras, Fernsehsendern und anderen computergesteuerten Einrichtungen, mit denen Filmplatten programmgemäß aus der Umlaufbahn zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten abgeworfen werden konnten. Der Big Bird hatte alles, was ein militärischer Überwachungssatellit braucht. Er konnte die Erde mit verschiedenen Kameras überblicken. Einige von ihnen übermittelten Filme für den Fernsehempfang. Wenn genaue Einzelheiten gebraucht wurden, machten die schweren Kameras an Bord des Big Bird Fotos. Die Platten wurden ausgestoßen und verließen die Umlaufbahn. Spezialflugzeuge fischten sie aus der Luft auf. Der Satellit konnte seine Aufnahmen in normalem, in blauem und rotem, in infrarotem und in ultraviolettem Licht machen. Er konnte chemische Emissionen russischer Raketen entdecken, radioaktive Spuren ausschnüffeln und mit einem besonders talentierten elektronischen Ohr die sowjetischen Radio- und MikrowellenKommunikationen abhören. Der Big Bird war eine Mischung aus den früheren militärischen Aufklärungssatelliten Midas, Ferret und Samos. Viele neue Fähigkeiten machten ihn seinen Vorgängern weit überlegen. Die Vereinigten Staaten starteten alle drei Wochen einen der vierzig Fuß langen Big Birds. Wenn es notwendig war, noch öfter. Dieser Fall trat allerdings nicht allzu häufig ein, denn der Big Bird war gut genug ausgerüstet, um während seiner Lebenszeit von drei Wochen allen Aufgaben gerecht zu werden. Dieser Satellit war der Schlüssel zu einer kontinuierlichen Aufklärung über dem Gebiet der UdSSR und anderen Teilen
des Globus. Er konnte tatsächlich aus einer Höhe von 130 Meilen das Zulassungsschild eines Automobils erkennen. Russen wie Amerikanern war klar, welche ungeheure Bedeutung diese Aufklärung aus dem Raum hatte. Und die Ausschaltung dieser Satelliten. Der Start der Titan verlief reibungslos. Die Hauptstufe mit ihren beiden Triebwerken war erschöpft. Sprengbolzen trennten sie von der oberen Stufe. Eine Flamme schoß in den Raum, als die große obere Stufe gezündet wurde, die den schweren Big Bird in ihre Umlaufbahn einschließen sollte. Es war geschafft. Die leere Stufe wurde abgesprengt, Schutzhüllen abgeworfen und Sensoren erwachten zum Leben. Das computergesteuerte Stabilisierungssystem begann zu arbeiten, richtete den Satelliten nach dem Horizont aus und die Linsen und Sensoren erdwärts. Signale rasten zu den mit der Bahnverfolgung beauftragten Flugzeugen, Schiffen und Bodenstationen. Der Big Bird befand sich jetzt in der Umlaufbahn und funktionierte tadellos. Beim vierten polaren Umlauf überquerte der riesige Satellit eine Ecke der Sowjetunion. Die russischen Radarstationen hatten ihn schon ausgemacht. Die russischen Computer kannten jede Einzelheit des Hugs und konnten für jeden Zeitpunkt und jeden Raumsektor die Position mit höchster Genauigkeit angeben. Im genau richtigen Augenblick erhob sich von einem geheimen Startgelände eine Flamme. Der Big Bird erkannte den Energieausbruch. Sofort erfaßte er sämtliche Daten über Infrarot-Struktur, Beschleunigung, Zeit, Position, Flugwinkel und Einschuß in eine Umlaufbahn. Diese Daten wurden auf Band gespeichert und sollten später bei Überquerung der Vereinigten Staaten in einem gerafften Funkspruch abgesetzt werden. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Das russische Raumschiff glitt in die gleiche Umlaufbahn wie der Big Bird. Als es
achthundert Yards von dem amerikanischen Satelliten entfernt war, öffnete sich eine Luke. Durch langsam brennende Feststoffraketen angetrieben, näherte sich dem Big Bird ein Schwarm von Fluglenkkörpern, die Infrarot, Radar und direkte Sichterfassung benutzten. Drei Geschosse trafen den Flugkörper, und ihre Gefechtsköpfe detonierten.
Auf der Air-Force-Basis in Vandenberg studierte ein Major seinen Radarschirm und griff nach einem roten Telefon, das ihn automatisch mit dem Hauptquartier des North American Air Defense Command in Colorado verband. Ebenfalls automatisch wurde sein Anruf im Pentagon aufgenommen. »Sie haben es wieder geschafft«, meldete er. »Wir haben nur noch eine Trümmerwolke auf dem Schirm. Der Big Bird ist verloren.«
V
»Du sollst heute morgen um neun Uhr starten.« Dr. Rudy Wells holte Steve um sechs aus den Federn. Er tat es behutsam. Leichtfertigkeit schien am Morgen des Tages, wo Steve ein feuerspeiendes Ungetüm fliegen sollte, nicht am Platz zu sein. Wells trat mit zwei Tassen und einer Kanne voll dampfendem Kaffee in Steves Quartier. Dieser saß auf der Bettkante und nippte langsam an dem heißen Getränk, während der Arzt es sich in einem Sessel bequem machte. Der Pilot betrachtete ihn mit stillem Mißvergnügen. Schon immer hatte es ihm nicht gefallen, wenn der Start so früh angesetzt wurde, daß er seinen Schlaf deswegen abbrechen mußte. Jetzt stand der Arzt auf. »Ich lasse dir sechs Minuten zum Duschen und Rasieren. Wenn du in den Speisesaal kommst, werden Steak und Eier schon bereitstehen. Verspäte dich nicht.« Rudy Wells saß mit Ted Anderson am Tisch und wartete auf Steve. Der bärenhafte Colonel kratzte sich seinen Bart wie ein Grisly, der beim Aufwachen feststellt, daß er einen schlimmen Zahn hat. »Du hast reichlich lange gebraucht. Wir halten hier auf Disziplin.« Steve goß sich frischen Kaffee ein. »Halt den Mund.« »Wie heißt das?« »Halten Sie den Mund, Sir.« »Das klingt schon besser. Ihr jungen Burschen müßt lernen, Respekt vor uns alten Helden zu haben.« Steve ging von der Neckerei auf wichtigere Fragen über. »Wie steht es draußen?«
»Alles in bester Ordnung«, antwortete Anderson. »Sie haben das Asp auf Charlie Fünf gebracht. Ich bin dabeigeblieben, bis sie mir bestätigten, daß die Versorgungsleitung angeschlossen war.« Steve nickte kauend. »Was hat die Wetterstation zu berichten?« »Ein Wetter wie gemalt. In achttausend Fuß Höhe leichte Wolken, und weiter oben, vielleicht bei etwa zwanzigtausend, Zirruswolken, aber das ist alles. Die Hauptlinie einer scharfen Strahlströmung liegt fünfzig Meilen südlich von der Stelle, wo du die Gesetze des Fliegens brechen wirst.« »Hört sich gut an«, meinte Steve. »Ich habe persönlich dafür gesorgt«, behauptete Anderson.
Als sie zurück in den Pilotenquartieren waren, nahm Rudy Wells an Steve Austin eine schnelle, aber gründliche medizinische Untersuchung vor. Die Daten wurden in einen tragbaren Computer eingespeist, der sie an das große kybernetische Zentrum der Basis weiterleitete. Während des ganzen Fluges würde Steve biomedizinische Sensoren am Körper tragen, die ihre Messungen in einem ununterbrochenen Strom zurücksandten. Wich eine Funktion wesentlich vom Normalwert ab, bedeutete das Alarm für Wells, Anderson und das ganze Team, das die heutige Mission unterstützte. Die medizinische Untersuchung war beendet, es war alles in Ordnung. Wells reichte Steve an die Anzug-Techniker weiter. Ted Anderson tat, als halte er sich ganz zufällig im Hintergrund des Ankleideraums auf, aber ihm entging nichts. Für sie alle war es eine altgewohnte Sache, und doch nahmen sie es niemals leicht, wenn es darum ging, die Kräfte herauszufordern, die hoch über der Erde auf Steve warteten.
Steves Aufmerksamkeit wurde zeitweilig von den Geschehnissen in diesem Raum abgelenkt. Ein Teil seines Ichs arbeitete mit den Anzug-Technikern zusammen. Seine Gedanken aber wanderten zurück in die Vergangenheit. Bei wieviel anderen Gelegenheiten war er schon wie heute ausgerüstet worden? Natürlich gab es bei jedem Anzug Unterschiede, doch das Grundprinzip war immer das gleiche. Der Fluganzug für den Start mit der Saturn V bei dem Flug zum Mond… der Schutzanzug und das Lebenserhaltungssystem auf seinem Rücken für die freie Bewegung auf der Mondoberfläche. Die Anzüge, die er als Testpilot für Düsenjäger, Raketenflugzeuge, Raumtransporter getragen hatte – alle unterschieden sie sich nur wenig voneinander, aber alle hatten sie die gleiche Funktion. Sie gaben ihm einen eingekapselten Teil der Erde mit Sauerstoff, Druck und Energie mit, so daß sein Körper weiter normal funktionieren konnte, wenn die Maschine, in der er saß, beschädigt wurde, und es ihm trotzdem möglich war, sie nach Hause zu bringen. Einen Augenblick lang überfiel ihn die Angst, und Rudy Wells brauchte nicht erst auf seine Instrumente zu schauen, um zu wissen, daß Steve einen heftigen Schweißausbruch hatte. Mit so etwas hatte der Arzt gerechnet. Ted Anderson sah es ebenfalls, aber die beiden Männer wechselten nicht einmal einen Blick miteinander. Steve war mit seinen Gedanken an dem Morgen, an dem er seinen letzten Flug in der M3F5 unternommen hatte. Diesem bösartigen Raumtransporter, der ihn beim Aufprall auf die Erde zerschmettert hatte. Es war ihm nicht möglich, die Erinnerung an den damaligen Tag, als er ebenso wie heute angezogen worden war, zu verdrängen. Seinerzeit hatte er auch neckende Worte mit Wells getauscht, das Wetter war gut und der Himmel einladend gewesen. Damals war die M3F5 unter
der Tragfläche einer B-52 in die Höhe gehoben worden. Heute würde er in dem Asp sitzen, das oben auf einer C-5A festgemacht war. Aber geändert hatten sich nur die Äußerlichkeiten. Das Aufsteigen in eine Höhe, wo Menschen das Unbekannte versuchten, war im wesentlichen das gleiche. Steve konnte dem Gedanken nicht entkommen, daß sich auch alles andere wiederholen mochte. Die Erinnerung an das, was damals geschehen war, und die Vorstellung, daß es erneut geschehen könnte, waren eine Qual. Trotzdem wußte Steve genau, daß er dem Drachen nur ins Gesicht zu sehen brauchte, um ganz ruhig zu werden. Tatsächlich gelang es ihm gleich darauf, seine Aufmerksamkeit ganz den Anzug-Technikern zuzuwenden, die ihn für das Leben in einer anderen Welt ausstatteten. Er konzentrierte sich darauf, was hier und jetzt geschah. Es wäre eine besonders dumme Art, bei einer Mission wie dieser zu versagen, nur weil die Kühlflüssigkeitsleitungen im Unterzeug nicht funktionierten. Als alles fertig war, wurde Steve an das Kühlsystem angeschlossen, das er in der Hand trug. Draußen in der Sonne würde er in dem völlig abgeschlossenen Anzug sonst innerhalb weniger Augenblicke in seinem eigenen Schweiß kochen. Die tragbare Klimaanlage sorgte dafür, daß gekühlte und dehydrierte Luft durch seinen Anzug floß. Er würde durch dieses Gerät leben, bis man ihn an die Systeme des Asp angeschlossen hatte. Der leitende Techniker trat einen Schritt zurück und wies auf die Armaturen. »Jetzt können Sie auf die Party gehen, Colonel«, teilte er Steve mit. Dieser nickte unter dem Helm. »Vorwärts, christliche Soldaten«, sagte er zu Wells und Anderson. Wieder überfiel sie alle auf diesem ihnen so vertrauten Weg die schreckliche Erinnerung… Von dem Ankleideraum ging es
einen langen Korridor hinunter zu dem Eingang, wo der Transportwagen wartete. Er war mit seinem blendenden Weiß und den auffallenden orangefarbenen Leuchtstreifen nicht zu verkennen. Steve folgte Wells in den Wagen, Anderson stieg nach ihm ein. Vor und hinter ihnen fuhr je ein Polizeiwagen mit blauem Blinklicht. Es war eine lange Fahrt bis zu Charlie Fünf, wo das Ungeheuer stand. Selbst aus der Ferne wirkte die Kombination von zwei Flugzeugen gewaltig. Die C-5A war selbst schon ein massiver, dickleibiger Riese. Sie kauerte auf ihren Fahrwerken am Boden und ließ die Tragflächen faul hängen. Beim Flug würde die Dynamik der Luft die gewaltigen Metallflächen aufwärts drücken, so daß sie ihre Aufgabe erfüllen konnten. Zu der Größe, die das Mutterschiff sowieso schon hatte, kam noch die oben auf dem Rumpf angebrachte Montageplattform. Darauf thronte das schimmernde Asp mit seinen krummsäbelförmigen Schwingen. Zu dem Eindruck der Überlebensgröße trug außerdem der daneben stehende Kran bei. Er war mit einer Kabine versehen, in der Steve und seine zwei Begleiter gerade Platz fanden. Darin würden sie auf die Höhe des Asp-Cockpits gehoben werden. Jetzt hatte Steve nichts weiter mehr im Kopf als den ihm bevorstehenden Flug. Alle anderen Gedanken hatte er durch die völlige Konzentration auf das, was jetzt, in den nächsten paar Minuten und in der Zeit danach geschehen würde, verbannt. Er dachte nur an die Gegenwart und an die unmittelbare Zukunft, wie er es tun mußte, wenn er das Ungetüm, das er fliegen würde, unter Kontrolle halten wollte. Deshalb war er überhaupt nicht darauf vorbereitet, die Gestalt von Dr. Page Rossi zu erblicken. Sie stand neben der wartenden Kabine des Krans, mit der er zu dem Asp hochgehoben werden sollte. Er entdeckte sie erst, als er den Transportwagen verlassen hatte und auf die Kabine zuging. Da
blieb er wie angewurzelt stehen. Die Überraschung, die sich auf seinem Gesicht malte, war sogar durch den Helm zu erkennen. »Dr. Livingstone, nehme ich an?« Die Versuchung, diese Bemerkung zu machen, war zu groß für sie. Er blickte erst sie, dann Rudy Wells durchbohrend an. Natürlich konnte Dr. Page Rossi ihn nicht hören, denn er konnte sich in seinem geschlossenen Anzug nur mit den Leuten verständigen, die wie Rudy Wells einen angeschlossenen Kopfhörer trugen. »Was hat sie denn hier zu suchen?« fragte Steve grob. Wells antwortete nicht sofort. Er hatte schon den Mund geöffnet, aber die Worte erstarben ihm auf den Lippen, weil er an jenen schrecklichen Tag vor vielen Jahren denken mußte, als Steve zum Start mit der M3F5 unter der Tragfläche der B 52 aufbrach und hier an dem gleichen Platz Steves Verlobte gestanden hatte. Und sie hatte auch neben Rudy Wells gestanden, als der Raumtransporter, in dem Steve saß, auf dem Wüstenboden zerschellt war. Und jetzt war sie auf Drängen des Arztes aus Steves Leben verschwunden. Rudy Wells holte tief Luft. »Dr. Rossi ist nicht als Zuschauerin hier, Steve.« »Spuck’s aus«, verlangte Steve ärgerlich. »Sie ist dienstlich hier.« »Warum?« Wells gefiel die zunehmende Gereiztheit gar nicht. Er kam sofort zur Sache. »Dr. Rossi«, erklärte er mit Nachdruck, »ist von der Air Force zum Kontrolloffizier für das Projekt bestimmt worden.« »Sie?« Wells sah, daß Steve ungläubig den Kopf schüttelte. »Sie ist Ärztin«, gab Wells scharf zurück. »Außerdem ist sie Lieutenant-Colonel der Air Force und Wissenschaftlerin und – «
»Schon gut, Doc«, fiel Steve ein. »Komm wieder auf den Teppich. Ich habe kapiert.« »Danke«, sagte Wells erleichtert. Aber auch wenn er nur seine Befehle befolgte, fühlte er sich doch schuldig, daß er Steve den wirklichen Grund, warum Page Rossi mit ihm flog, nicht mitteilen konnte. Dieser Grund hatte neue Bedeutung gewonnen durch das von NORAD verfolgte Schicksal des Big Bird-Überwachungssatelliten. Dessen Zerstörung hatte auch im Pentagon einige Aufregung hervorgerufen. »Gib Doktor Rossi den Kopfhörer«, verlangte Steve plötzlich. Wells war froh, daß er durch dies Verlangen aus seinen ihn peinigenden Gedanken gerissen wurde. Steve wartete, bis Page Rossi den Kopfhörer aufgesetzt hatte. »Können Sie mich hören, Dr. Rossi?« »Ja.« »Wo werden Sie sich während des Flugs aufhalten?« »In der Trägermaschine, Colonel. Sie ist zur vollständigen Überwachung der Mission eingerichtet.« Diese Frau besteht aus nichts als eiskalter Sachlichkeit, dachte er. Sie hatte noch etwas sagen wollen, aber er unterbrach die Verbindung und trat in die Kabine des Krans. Wells und Anderson folgten ihm schnell. Als die Kabine bis zur Höhe des Asp-Cockpits emporgeschwebt war, hatte Steve Dr. Rossi schon wieder völlig vergessen. Sobald es ernst wurde, pflegte er sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Da hatte nichts anderes in seinen Gedanken Platz. Vorsichtig wechselte er von der Kabine in den Vordersitz über. Ted Anderson half ihm dabei. Dann verband Steve seine Anzug-Systeme mit dem Raumschiff. Sorgfältig überprüfte er die Anzeigen über Energie und Druck. Anderson hatte es gar nicht eilig, sich zu verabschieden. Beide Männer gingen Punkt für Punkt eine
lange Check-Liste durch. Jeder ihrer Schritte wurde sowohl von einer Bodenmannschaft als auch von dem Überwachungsteam innerhalb der gewaltigen C-5A verfolgt. Während des Aufstiegs bis zu der Höhe, wo die beiden Maschinen sich voneinander zu trennen hatten, würde es weitere Kontrollen geben, aber für den Augenblick waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Das Asp war zum Leben erweckt worden, und eines der Hauptelemente seines Lebens war Steve Austin. Die Check-Liste wurde beiseite gelegt. Ted Anderson beugte sich in das Cockpit vor. »Vergiß nicht, deine Überschuhe anzuziehen, mein Sohn«, riet er. »Ich werde sie nur anziehen, wenn es regnet.« Anderson zögerte. Er berührte Steve leicht an der Schulter. Dann trat er zurück in die Kabine des Krans und sah zu, wie die Cockpit-Haube sich senkte und einrastete. Auf Steves Instrumentenbrett leuchtete das grüne Sicherheitslicht auf. »Holt mich ‘runter«, wies Anderson die Bodenkontrolle an. Kurz darauf berührten seine Füße wieder den Betonboden. Er schaute nach oben. Irgendwie sah das Ding mit den krummsäbelförmigen Tragflächen jetzt anders aus. Ganz anders. Sein Freund befand sich darin. Ein Mann, der sich gerade den Kräften, die ihn grausam verstümmelt hatten, von neuem ausliefern wollte.
VI
Metall schimmerte vor ihm, eine See aus Aluminium. Die dicken, abgerundeten vorderen Abschnitte der gewaltigen C 5A zitterten leicht, als sich in der unteren Stratosphäre die großen Tragflächen unter ihrer Last beugten. Schon lange vorher hatte Steve Austin die Sonnenblende seines Helms runtergeklappt. Bei jedem Zittern tanzten die Sonnenreflektionen über das Metall und warfen ihm Bündel blendenden Lichts genau in die Augen. Auf diese Weise konnte man schnell sonnenblind werden, und da Steve nur ein Auge hatte, mußte er besonders vorsichtig sein. Die C-5A würde ihn in eine Höhe von 41 000 Fuß bringen und dort in den Horizontalflug übergehen. Noch genau vierzehn Minuten hatte Steve, um die letzten Überprüfungen durchzuführen. Im Augenblick begnügte sich Steve damit, sich in das »Gefühl« für das Asp einzuleben. Er hielt seinen Blick auf den Kontrollen und Anzeigen. Ganz heimisch wollte er in diesem Raumflugzeug werden. In diesem Punkt konnte man nie genug tun. Die 41 000 Fuß waren erreicht. Steve verglich die Angaben seiner Instrumente mit denen der C-5A. Das war ein ausgezeichneter Schlußtest für die Kontrollen, die er beim aerodynamischen Flug benutzen würde. Luftgeschwindigkeit, Mach-Zahl, Höhe, Aufstiegsrate, Außentemperatur, magnetischer Kompaß, Kreiselkompaß. Langsam und gründlich ging er die Liste durch und gab jede Zahl dem Flugingenieur in der riesigen Maschine unter ihm an. »Drei Minuten bis zum Ausklinken, Colonel Austin«, wurde ihm aus der C-5A gemeldet. Steve lächelte vor sich hin. Es war
ulkig, daß die alten Ausdrücke beibehalten würden, obwohl sie jetzt nicht mehr zutrafen. Ausgeklinkt hatte er sich damals, als er den M3F5-Raumtransporter flog, der unter der Tragfläche des B-52-Mutterschiffs nach oben getragen worden war. Da diesmal das Asp auf dem Rücken der C-5A saß, würde es die Trägermaschine, dieser gewichtige Wal, sein, die zurück zur Erde fiel. »Bestätige drei Minuten«, antwortete Steve auf die Durchsage. Noch während er diese Worte sprach, sah er, daß der Horizont zu kippen begann. Zur Erreichung der Startposition schwenkte es aus ihrer bisher südlichen Richtung um neunzig Grad nach Westen. Steve überprüfte den Horizontkreisel, der ihn über seine Fluglage informierte. Das große Flugzeug rollte mühelos aus, geriet jedoch in eine Turbulenz. Die ganze Struktur der beiden miteinander verbundenen Maschinen wurde erschüttert. Die C-5A ritt eine Turbulenz nicht ab wie ein anderes Flugzeug. Sie schob und stampfte und wälzte sich hindurch. Der Flug der B-52 war unter den gleichen Luftverhältnissen ganz anders. Damals… Steve verjagte die Erinnerungen. »Zwei Minuten.« »Bestätige zwei Minuten«, antwortete er. Er führte die letzten Checks aus. Energie flutete in die Systeme des Asp. Bereits neunzig Sekunden vor dem Ausklinken war Steve von der Trägermaschine unabhängig. »Versorgungsleitung lösen«, befahl er. »Jawohl, Sir. Versorgungsleitung lösen.« Steve spürte einen leichten, dumpfen Schlag, als die Hauptenergiekabel von der C-5A aus dem Bauch des Asp gezogen wurden und die Türen der Zuleitungsschächte zuschnappten.
Dreißig Sekunden später war Steve bereit. Er bestätigte die Zeitdurchsage von der C-5A. Auch die Jagdflugzeuge, die sie begleiteten, funkten ihre Bestätigung. Steve warf einen Blick nach links und nach rechts auf die großen RS-71-Blackbirds, von denen jeder einen dicken Kondensstreifen hinter sich herzog. Sobald er sich von der C-5A trennte, würden sie auf volle Kraft gehen und in lockerer Formation bei ihm bleiben, solange sie konnten, um alles genau zu beobachten. Er war mit der Check-Liste fertig. Der Radar gab grünes Licht. Das Bahnverfolgungsflugzeug war in Position. Die Rettungsflugzeuge kreisten. Letzte Wetterdurchsage. Alles war in Ordnung! Ein letztes Mal bestätigte er den Countdown bei minus dreißig Sekunden. Von nun ab würde er sich nicht mehr über die Sprechverbindung meiden. Er war jetzt zu einem Teil des Asp geworden, durch das Gefühl in seinen Eingeweiden mit dem Raumschiff verbunden. Sein Blick glitt über das Armaturenbrett, suchte nach Abweichungen, nach Fehlern, nach einem Flackern. Nichts war zu finden. Die Muskeln seiner rechten Hand spannten sich an, lockerten sich dann, um dem Steuerknüppel genau den nötigen Druck zu geben. Seine linke Hand griff, bereit, sich zu bewegen, nach der Gashebelführung. »Zehn – neun – acht – sieben – sechs – fünf – « Bei vier konzentrierte sich Steve ganz auf das, was geschehen würde, wenn die beiden geflügelten Ungeheuer sich voneinander trennten. »Ausklinken!« Nicht er klinkte sich aus, sondern die Maschine unter ihm. Die Verbindungsbolzen, die die C-5A und das Asp zusammenhielten, wurden weggesprengt. Der Schlag war in beiden Flugzeugen zu verspüren. Im gleichen Augenblick drückte der Pilot des Mutterschiffes die Nase nach unten und
begann mit dem Abstieg. Bei diesem Manöver war eine genaue zeitliche Abstimmung von lebenswichtiger Bedeutung. Steve hielt in dem Asp die Kontrollen ruhig. Er hatte seine Maschine bereits so getrimmt, daß die Nase leicht nach oben zeigte. Er sah den Klumpen Aluminium unter sich wegfallen, und gleichzeitig zog er das Asp nach rechts. Unter ihm setzte die C-5A den Abstieg fort und schaffte weiteren Abstand zwischen ihnen. Steve drehte nur um fünfzehn Grad ab, dann rollte er aus. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo er elektrischen Strom in das Marschantriebsystem leiten mußte. Sein ganzer Körper wurde von dem Schlag einer riesigen, aber seltsam sanften Hand getroffen, als das Triebwerk hinter ihm zündete. Die Beschleunigung setzte sofort ein, aber weich. Er ließ sein Auge ständig zwischen den Anzeigen des Marschantriebsystems und den Fluginstrumenten hin- und herwandern. »Saubere Zündung!« rief er. »Bestätigung, Asp«, ließ sich einer der Jagdflugzeugpiloten hören. »Sie haben eine saubere Flamme. Die Schockdiamanten sind sichtbar. Von hier aus sieht alles prima aus.« »Ist es auch«, antwortete Steve. Seine linke Hand bewegte sich um Haaresbreite vorwärts. Treibstoff strömte durch Leitungen, traf in der Brennkammer zusammen, warf eine lange Flamme zurück. Steve grinste. Er konnte nicht anders. Ein großartigeres Gefühl gab es nicht. Die Macht, die er in dem Asp unter seinen Fingerspitzen spürte, übertraf selbst das Erlebnis, auf der Spitze des hohen Vulkans zu sitzen, den man Saturn V nannte. Kein bemanntes Raumfahrzeug hatte je einen stärkeren Schub erfahren als die beinahe acht Millionen Pounds, die beim Start zum Mond auf dem Kennedy-Raumfahrtzentrum entfesselt wurden. Aber man saß nur da, man wartete, die Computer erledigten die ganze Arbeit, und man hatte einfach nicht das Gefühl, man
entwickele tatsächlich wahnsinnige Geschwindigkeit. Klar, die einzelnen Stufen der Saturn V schmetterten einen mit nahezu 4 g auf die Andruckliegen. Jedesmal, wenn eine Stufe ausgebrannt war, wurde man schwerelos, und sobald die nächste Stufe zündete, kam ein neuer Tritt in den Hintern. Trotzdem war man nichts als ein Passagier, und je länger die Triebwerke heulten, desto verdrießlicher wurde man. In dem Asp war das ganz anders. Man konnte es kontrollieren. Man konnte das Feuer aus der großen Brennkammer so genau dosiert herausquetschen wie Wasser aus einer Hochdruckdüse. Und wenn man den Pferden die Zügel losgab, dann würde das Asp einen heftig genug gegen Sitz und Kopfstütze schleudern, daß man sich lange Zeit daran erinnerte, denn man hatte in dem Asp vergleichsweise mehr Schub als mit der Saturn V. Diese gigantische Rakete war ein Cadillac, doch das Asp war ein Wagen mit frisiertem Motor, und der konnte ein Rennen liefern, wie man es noch nie erlebt hatte. Bei dem Asp konnte der Schub zwischen einem Minimum von 10 000 Pounds und einem Maximum von 200 000 Pounds reguliert werden. Das obere Ende der Skala entsprach der dritten Stufe der Saturn V. Das Asp trug jedoch nur einen Bruchteil des Gewichts jener größeren Rakete, und deshalb brummte es lauter und ein bißchen tiefer. Steve sah auf die Treibstoffanzeigen. Diese und die Anfangsbeschleunigung überzeugten ihn, daß er keine Probleme mit Blasenbildung haben werde. Vorsichtig verstärkte er die Flamme. Um ihn war noch genug Atmosphäre, daß er die aerodynamischen Kontrollen benutzen konnte. In das Asp war ein automatisches Sensor- und Kompensationssystem eingebaut. Sobald das Asp auf die aerodynamischen Kontrollen nicht mehr ansprach, zündeten die Steuerraketen, so daß Steve sich nicht die Mühe zu machen
brauchte, von einem System auf das andere umzuschalten. Im Augenblick war die Luft, während er stetig beschleunigte, noch dick genug, so daß das Asp wie ein Flugzeug funktionierte, ungeachtet seines heulenden Feuerschweifs. Allmählich hatten die begleitenden Jagdflugzeuge die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht. Sie hielten sich nicht erst damit auf, ihm mitzuteilen, daß sie zurückfielen. Die zunehmende Krümmung des Horizonts und der schnell dunkler werdende Himmel über ihm sagten Steve schon genug. Es freute, ja, es entzückte ihn, daß er die schnellsten Flugzeuge der Welt hinter sich lassen konnte, daß er mit seiner Geschwindigkeit die großen schwarzen Gestalten, die bis jetzt mit ihm Schritt gehalten hatten, in Sperlinge verwandelte. Dann vergaß er die Jagdflugzeuge und alles andere außer der Maschine, in der er saß, und dem Vakuum, das direkt vor und über ihm auf ihn wartete. Er hatte den Schub nun auf 30 000 Pounds verstärkt und beschleunigte immer noch, aber bis jetzt reagierte das Asp auf die aerodynamischen Kontrollen. Dann zeigte das erste Zittern der Steuerraketen an, daß die Luft zu dünn wurde. Das Asp war den alten Gemini- und Apollo-Raumschiffen, bei denen die Steuerraketen direkt zur Kontrolle der Fluglage benutzt wurden, einen Quantensprung voraus. Steve Austin flog das Asp, als sei es ein Flugzeug und nicht eine Maschine, deren Fluglage allein durch die Steuerraketen kontrolliert wurden. Ein Computer im Bauch des Asp nahm die Bewegungen des Steuerknüppels auf und übersetzte sie in kurze oder längere Raketenschübe. Das Asp war nun wirklich unterwegs. Der Himmel verwandelte sich in das Schwarz, das Steve so gut kannte, und der Horizont fiel links und rechts von ihm in einer immer stärker werdenden Krümmung zurück.
Der Andruck hielt ihn angenehm auf seinem Sitz fest. Bei konstanter Beschleunigung konnte er spüren, wie der Druck in seinem Anzug stieg. Steve lachte laut heraus. Er konnte bei weitem mehr g-Werte verkraften als alle anderen Piloten. Schließlich brauchte er sich keine Sorgen darüber zu machen, ob sich das Blut in seinen Beinen staute! In den »alten Tagen«, der Zeit vor dem Absturz und der darauf folgenden medizinischen Behandlung, die ihn zu einem bionischen Lebewesen gemacht hatte, war es auch für ihn eine Pein gewesen, wenn die Blasen in seinem Anzug seine Beine und Schenkel drückten. Jetzt aber war Steve Austin für seinen Beruf bestens ausgerüstet, wenn man den Ausdruck verwenden kann. Er befand sich immer noch im flachen Teil der Aufwärtskurve. Doch nun kam der ernstere Teil seiner Aufgabe. Diesmal handelte es sich nicht einfach um einen Raketenstart in den Raum. Er mußte zeigen, daß er diese Maschine fliegen konnte. Steve bewerkstelligte Manöver, wie er sie noch nie in seinem Leben fertiggebracht hatte. Er setzte mit dem Asp zu einem Looping an, der weder in noch außerhalb der Atmosphäre jemals von einem Piloten geflogen worden war. Den Schub hielt er jetzt konstant und die Nase immer noch leicht erhoben. Er wußte, daß die stetige Kurve nun auch für die Steuerraketen zuviel wurde und daß das große Triebwerk hinter ihm in seiner kardanischen Aufhängung herumschwang, um das Manöver, das er dem Schiff befahl, auszuführen. Und dann schoß er senkrecht nach oben von der Erde weg, immer noch mit dem gleichen Schub und der Andruck wurde ziemlich stark. Das Asp verkörperte Macht und Schönheit, und wie es flog, war ein Gedicht. Es kam aus der Senkrechten heraus und lehnte sich immer weiter nach hinten, bis es auf dem Rücken
liegend in die Höhe stieg, und mit der Flamme, die es ausstieß, schossen ionisierte Gase nach allen Richtungen und breiteten sich zu einer riesigen Plasma-Wolke aus. Das Asp hatte jetzt die Fluglage, in der der große Raumtransporter fliegen würde, wenn er endlich mit Hilfe riesiger Feststoffraketen zuzüglich seiner eigenen Triebwerke starten konnte. Steve hielt die Maschine weiter auf dem Rücken. Himmel und Erde hatten in einem verrückten Spiel ihre Plätze vertauscht. Dann verlangte Steve ein weiteres Kunststück von dem Ungeheuer mit den krummsäbelförmigen Schwingen. Er gab ein bißchen Schub mit der Steuerrakete unter der einen Tragfläche, Gegenschub mit der unter der anderen, und das Asp rollte langsam und majestätisch um seine Längsachse. Es war ein wildes, großartiges Manöver, aber der Schub des Haupttriebwerks hinter ihm war jetzt linear. Steve stoppte die Bewegung, als das Asp mit der rechten Tragfläche nach oben wies. Der Winkel verringerte sich weiter, doch der Schub war immer noch so enorm, daß Steve vom Sitz gehoben und gegen die Haltegurte gepreßt wurde. Jetzt raste er auf den Pazifik zu. Radar-Höhenmesser und Durchsagen der Bodenkontrolle informierten ihn über seine Höhe. Höhe achtundvierzig Meilen. Wahre Geschwindigkeit 9000 Meilen pro Stunde. Wenn er in diesem Augenblick das Triebwerk abstellte, würde er irgendwo an der anderen Seite des Pazifik landen. Er hatte jedoch nicht die Absicht, dergleichen geschehen zu lassen. Der Zeitpunkt für den eigentlichen Test war gekommen.
VII
In dieser Höhe über dem Planeten hatte die Fluglage des Asp keine Wirkung auf seinen Kurs. Oberhalb der Atmosphäre machte es überhaupt nichts aus, ob es wie ein Pfeil vorwärtsflog oder mit der Breitseite voran oder langsam rollte oder einfach kopfüber, kopfunter dahintaumelte. Es bewegte sich wie auf einer ballistischen Wurfbahn. Wenn der Pilot nichts tat, um die Fluglage zu kontrollieren, war das Asp nichts weiter als ein toter Gegenstand, der zwar präzise dem hohen Parabelbogen über der Erde folgte, aber innerhalb dieser Bahn jede beliebige Position einnehmen konnte. Der Pilot, der in der mächtigen Maschine saß, hatte nicht die Absicht, seinen Flug zu einem solchen zufälligen Purzeln werden zu lassen. Seine Anwesenheit hatte einen bestimmten Zweck. Jetzt war der Augenblick zum Eingreifen gekommen. Er konzentrierte sich auf seine Instrumente. Mittelpunkt seiner Welt war sein Horizontkreisel, eine mit Markierungslinien überzogene Kugel, der er seine genaue Fluglage relativ zum Erdhorizont entnehmen konnte. Nur gelegentlich sah er auch auf das zweidimensionale Gitternetz mit Längen- und Breitengraden, auf denen die Position des Asp durch einen leuchtenden Punkt angegeben wurde. Jetzt mußte er die Fluglage des Asp ändern, um es auf den geplanten Kurs zu bringen. Natürlich würde nichts, was er mit den Steuerdüsen tat, den Kurs selbst ändern, denn im Augenblick glich das Asp einem Wurfgeschoß, das sich in einem aufsteigenden Bogen erhob und dann wieder zurückfallen würde.
Im Grunde war es ein einfaches Manöver, und er hatte es viele Male mit dem Apollo-Raumschiff ausgeführt. Er zündete die Steuerdüsen. Winzige Flammenfinger stachen ins Vakuum. Ohne in seiner rasenden Vorwärtsbewegung innezuhalten, begann das Asp, langsam um die Querachse zu rotieren. Steve war auf dem parabolischen Kurs schwerelos, ausgenommen in den Momenten, wo er den Raketenantrieb benutzte. Er sah, wie sich der Horizont des Planeten gemächlich um ihn drehte, als stünde das Asp still. Dann zeigte ihm der Horizontkreisel, daß das Asp mit der Nase genau auf der Flugbahn lag. Er stoppte die Rotation ab. Nun flog die Maschine geradeaus, und Steve wandte sich um und blickte zurück. Unter ihm breitete sich das überwältigende Panorama der Westküste der Vereinigten Staaten und Mexikos aus. Der Pazifische Ozean glänzte wie wallendes Quecksilber, und die Landmassen waren mit so überraschender Deutlichkeit zu erkennen, daß sie wie eine von Seitenlichtern erhellte Reliefkarte wirkten. Er gönnte sich ein paar kostbare Augenblicke, um dieses Bild zu betrachten. Diesen Luxus ließ er sich nie entgehen, wenn er sich über die Atmosphäre erhob. Von jetzt an war alles eine Kombination von Auge und Computer. Er mußte das Asp exakt in der gegenwärtigen Fluglage halten, aber es bestand keine Notwendigkeit, den Superpiloten zu spielen. Einen Teil der Aufgaben konnte der Computer übernehmen. Steve gab ihm die Daten ein, die ihn befähigten, die Steuerdüsen zu betätigen, bis die Geschwindigkeit genügend herabgesetzt war. Dann würde der Computer die Zündung abstellen und ihm das Ergebnis seiner Aktivitäten in Leuchtzahlen melden. Steve war mit der Fütterung des Computers fertig. Es gab noch eine weitere Sicherheit. Die Flugkontrolle meldete sich. »Wir haben übereinstimmende Datenangaben, Asp. Noch fünfundsiebzig Sekunden bis zur Zündung.«
»Sehr gut, Kontrolle.« »Geben Sie bitte Umschaltung auf Automatik für minus fünfzehn ein.« Steve drückte die entsprechenden Tasten auf der ComputerKonsole. Das Warnlicht ging an. Fünfzehn Sekunden vor der Zündung würde der Computer das Asp übernehmen. Dann flog Steve nur noch wie ein Passagier. Aber einer seiner behandschuhten Finger blieb um den Notschalter gehakt, mit dem er alles abschalten konnte, falls die Ereignisse nicht programmgemäß abliefen. »Dreißig Sekunden bis zur Zündung. Zehn Sekunden bis zur Umschaltung auf Automatik.« »Alle Lichter grün, Kontrolle.« »Schön zu hören, Steve. Das Startlicht für die Automatik müßte aufleuchten… jetzt.« »Ist geschehen.« »Zehn Sekunden bis zur Zündung.« Die Sekunden tickten vorbei. Es war als trete ihm ein Pferd in den Magen. Steve hatte ganz entspannt dagesessen und sich nicht darauf eingestellt, daß das Einsetzen der negativen Beschleunigung ihm einen solchen Schlag verpassen würde. Aber dennoch war es immer wieder ein großartiges Erlebnis für ihn, wenn er spürte, wie ein Schiff auf diese Weise zum Leben erwachte. Er kostete das Gefühl völlig aus. Dabei hing sein Auge jedoch unverwandt an den Anzeigen, die ihm Treibstoffdruck und fluß, den Schub des Haupttriebwerks, die g-Werte, die sich langsam stabilisierten, und die ständig abnehmende Geschwindigkeit nannten. Dann waren die letzten Sekunden vorbei. Die Meldung der Flugkontrolle kam verzerrt herein, denn das Triebwerk stieß eine gewaltige Plasma-Wolke aus. »Zehn Sekunden bis zum Abstellen des Triebwerks.« »Verstanden.«
»Fünf Sekunden. Vier, drei, zwei, eins – Shutdown.« Wie ein Donnerschlag brach die Stille herein. Das explosive Ende des Feuers drängte ihn vom Sitz und gegen die Haltegurte. Es war wie ein Turmsprung in die NullSchwerkraft. »Bestätige Shutdown. Sieht aus, als wäre alles in bester Ordnung, Kontrolle.« »Roger, Steve. Ihre Höhe beträgt fünf-sieben Meilen und Ihre Geschwindigkeit eins-vier-null-null. Sie sind ein wenig langsamer geworden.« Steve lächelte. »Mein Computer scheint mit eurem einer Meinung zu sein.« Der Sprecher der Flugkontrolle war auch schon im Raum gewesen. »Wie sieht es da draußen aus, Steve?« Steve wandte den Blick von den Instrumenten ab. »Unglaublich«, erklärte er. »Absolut unglaublich.« So war es auch. Denn jetzt befand er sich in der Mitte eines ungeheuerlichen Schweifs aus gefrorenen Partikeln, die das Triebwerk ausgestoßen hatte. Sie glichen Milliarden von der Sonne erhellter Glühwürmchen, und jedes davon fing beim Drehen, Rotieren, Wirbeln oder Taumeln die Sonnenstrahlen ein und warf sie mit kaleidoskopischer Pracht zurück. In dem einen Augenblick war Steve im Mittelpunkt einer Galaxie, im nächsten wurde er wie durch Zauberkraft in das Herz eines Schneesturms in Technicolor geworfen. Dann wieder tanzten rings um ihn glühende, glitzernde, funkelnde Schmetterlinge. Der Anblick, der ihn mit höchstem Entzücken erfüllte, war nicht mit Worten zu beschreiben. Doch noch während er hinsah, verblaßten die Lichter, weil sich der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen änderte. »Asp, hier Flugkontrolle. Hören Sie mich?«
Mit einem Ruck riß sich Steve aus seiner Träumerei. »Ganz deutlich, Kontrolle. Ich habe nur ein wenig die Aussicht genossen.« »Verstehe. Sind Sie bereit für den Haupttest, Steve?« Er studierte seine Instrumente. Das Asp näherte sich, immer noch mit negativer Beschleunigung, dem Scheitel der ballistischen Kurve. Wenige Augenblicke später war der höchste Punkt erreicht, und es würde zur Erde zurückfallen. Aber seine Position über der Erde und seine niedrige Geschwindigkeit bedeuteten, daß eine Landung auf den trockenen Seenbetten, wohin er das Schiff zurückbringen sollte, nicht möglich war. Nun, das war eingeplant. Jetzt kam der wichtigste Test. »Es kann losgehen«, antwortete Steve der Flugkontrolle. Von jetzt an würde die Bodenkontrolle sich nicht mehr einmischen. Der Test sollte unter anderem zeigen, daß ein Asp-Pilot ausschließlich mit Hilfe der Bordsysteme zurechtkommen konnte. Sollte ernstlich etwas schiefgehen, würde die Kontrolle sofort wieder da sein und ihm Warnungen und Korrekturmanöver durchgeben. Ansonsten konnte er nach eigenem Gutdünken handeln, und was dann geschah, das wollte man ja gerade herausfinden. Es ging wieder nach unten. Das Asp stürzte aus den dünnen Ausläufern der Atmosphäre zurück in den wartenden Luftozean. Aber die Schicht, die dicht genug war, um das AspRaumschiff wieder in ein Flugzeug zu verwandeln, war noch weit entfernt. Es würde geraume Zeit dauern, bis Steve wirklich aus dem Vakuum heraus war. Er brachte die Nase mit den Steuerdüsen nach unten und verfolgte den Abstieg sowohl auf den Instrumenten als auch durch das sichtbare Anschwellen der Erdoberfläche selbst. Es war Zeit, die große Aufgabe in Angriff zu nehmen.
Das Computersystem, das an den Steuerknüppel in Steves rechter Hand angeschlossen war, folgte dessen Bewegungen. Ein Feuerstoß, und die Maschine beschleunigte bei einem Schub von 10 000 Pounds zurück in die Atmosphäre, aber entlang einer flachen Kurve, bei der die Nase nur sieben Grad unter dem Horizont stand. Bei diesem Teil des Testflugs war das Wichtigste, daß er den Schub im richtigen Winkel hielt. Er überprüfte den Zeitmesser und schnitt die Energiezufuhr ab. Mit einem Schlag verschwand das Dröhnen, das bisher durch den Körper des Asp gegangen war. Durch das plötzliche Aussetzen der Beschleunigung wurde Steve gegen die Haltegurte geschleudert. So weit, so gut. Zu gern hätte er dies Ungetüm in der Art geflogen, wie er es viel weiter unten mit einem Flugzeug getan hätte, aber in dieser Höhe ging das nicht. Zuvor war noch eine Reihe von Energieschüben und ständig wechselnder Steuermanöver notwendig. Steve zwang sich zur Ruhe. Trotz jenes langen Feuerstoßes plumpste Asp weiter auf die Erde zu und… Das 0,05-g-Licht flammte auf. Das war die erste Spur der Abbremsung durch die dicker werdende Luft. Darauf hatte er gewartet. Er konnte die erste leise Berührung fühlen. Sie war nicht mehr als ein Hauch dünnen Windes und doch genug, um ihm das Gefühl des aerodynamischen Fluges zu vermitteln. Jetzt sollte die Bodenstation auch einmal etwas für ihr Geld tun. »Kontrolle, redet Ihr Computer noch mit meinem Computer?« »Roger, Asp.« »Wie sieht es mit den Radar-Vektoren aus?« »Völlige Übereinstimmung von beiden Systemen, Steve. Sie können sich nach ihren eigenen Angaben richten.« »Ausgezeichnet, Kontrolle.«
Weit unten lag die pazifische Küste unter einer Decke niedrigen, dichten Nebels, aber er konnte die Berggipfel und das helle Braun der Wüste deutlich sehen. Bei der Art, in der er jetzt flog, während die zunehmende Dichte der Luft ihm mehr und mehr von seiner Geschwindigkeit wegnahm, hätte er es nicht einmal bis zur Küste schaffen können. Auch das war Bestandteil des Tests: die Fähigkeiten der Maschine unter genau diesen Bedingungen zu zeigen. Eine halbe Sache hatte keinen Sinn. Um das zu erreichen, was sie im Endeffekt wollten – nämlich die Unterstützung des Kongresses für den bemannten Flug innerhalb des Raumfahrtprogramms –, brauchten sie zur Untermauerung ihres Anliegens gewichtigere Dinge als Projektionskarten. Er war auf einer Höhe von 60 000 Fuß und kaum noch über der Schallgeschwindigkeit. Anmutig fiel er wie ein Pfeil, als der Computer mehr Energie für die Düsen verlangte. Aber diesmal war nur ein kurzer Feuerstoß notwendig. Steve überprüfte die elektronischen Systeme, vergewisserte sich, daß die Triebwerke heiß genug waren und begann mit dem Minimalschub von 10 000 Pounds, den er rasch auf 90 000 Pounds erhöhte. Er wurde in seinen Sitz zurückgedrückt, doch er faßte den Steuerknüppel. Er flog das Asp mit Hilfe des Horizontkreisels und zog es scharf nach oben. Als er einen Anstieg von fünfundsechzig Grad erreicht hatte, stimmten Geschwindigkeit, Winkel und Höhe mit den vom Computer verlangten Werten überein. Er stellte die Triebwerke ab. Jetzt war er auf einer neuen ballistischen Kurve, die jedoch weniger heftig verlief als die vorige. Er ließ das Asp ohne Antrieb bis auf den Scheitelpunkt der Bahn steigen, und als es von da ab nach unten ging, benutzte er die Steuerraketen, um die dicker werdende Luft in der richtigen Fluglage zu erreichen.
In 70 000 Fuß Höhe überflog er die Berge. Die BlackbirdJagdflugzeuge waren gleich auf beiden Seiten hinter ihm her und gaben ihre Positionen durch. Sein Kurs führte ihn über ein begrenztes Gebiet. »Jagd-eins an Asp, Gleich müssen Sie Treibstoff abwerfen. Sechzig Sekunden, Steve.« »Verstanden, Eins. Ich werde es durchsagen.« »Wir warten.« Ein Licht blitzte auf dem Instrumentenbrett auf. Steve drückte den Ausstoß-Schalter, und ein Strom nicht verbrauchten hypergolischen Treibstoffs wurde durch die Geschwindigkeit des Asp in einen feinen Sprühregen verwandelt. Der Vorgang nahm vierzig Sekunden in Anspruch. Das Asp, jetzt viel leichter geworden, benahm sich wie ein superschnelles Segelflugzeug. Immer noch war es knifflig zu fliegen, aber doch viel angenehmer als jene groteske Badewanne, die… Ärgerlich verdrängte er die Erinnerungen und befahl sich selbst, diesen Vogel hier zu fliegen. »Treibstoff abgeworfen, Jagd-eins. Wie sind die Türen?« Die Blackbird hatte sich genähert, und der Mann auf dem hinteren Sitz betrachtete das Asp durch ein Fernglas. »Asp, ich bestätige, daß die Treibstoffausstoßtüren geschlossen sind.« Kurze Pause. »Die Landevorbereitungen sollen in zwei Minuten beginnen. Sind Sie bereit zum Ausfahren des Fahrwerks?« Steve vergewisserte sich über Höhe, Geschwindigkeit und Position. »In sechzig Sekunden, Eins.« »Okay.« Eine Minute später drückte Steve auf den Fahrwerkhebel. Das sinkende Asp schüttelte sich, als sich das niedrige, dreirädrige Fahrwerk in die Luft schob. Die Türen schlossen sich. »Wie sieht es aus, Eins?«
»Fahrwerk unten, Türen geschlossen, Steve. Dreißig Sekunden bis zur Landung.« »Verstanden.« Seine schlimmen Vorahnungen lösten sich in Nichts auf, weil die Maschine so unvergleichlich auf seine Hände und Füße reagierte. Er rollte in die Senkrechte, fegte aus dem Himmel, kam in den Wind und näherte sich dem langen schwarzen Streifen auf dem Wüstenboden. Die Jagdflugzeuge neben und über ihm wurden langsamer. Am Boden hielten Rudy Wells und Ted Anderson und jeder Mann und jede Frau, die den Absturz damals miterlebt oder von ihm gehört hatten, den Atem an. Aber es gab keinen Aufprall, kein Springen, keine sich in die Erde bohrende Flügelspitze. Steve glitt mit dem Asp vom Himmel und setzte federleicht auf. Während das Asp ausrollte, lächelte Steve Austin im Cockpit zufrieden vor sich hin. Er fühlte sich großartig, bereit zu allem. Und das war genau das, was man beabsichtigt hatte…
VIII
Alle wollten sie das Ereignis feiern. Die Leute von der Flugdynamik schäumten über vor Begeisterung. Das Asp hatte die Voraussagen der Fachleute über sein Verhalten sowohl in der Atmosphäre als auch im Vakuum übertroffen. Jedes System hatte perfekt funktioniert. Der Übergang vom aerodynamischen Flug zur Raketensteuerung war nahtlos gewesen. Das hatte sich besonders in jenem Zwischenbereich gezeigt, wo ein bißchen von beidem notwendig gewesen war. Das Asp flog, als sei es für die gefährliche Schicht aus dünner werdender Atmosphäre und herankriechendem Vakuum geboren. Durch diesen Testflug waren die Leute, die seit Jahren behauptet hatten, ein Raumschiff könne geflogen und nicht nur von Zentrifugalkräften herumgestoßen werden, glänzend bestätigt worden. Das Asp war zwar noch nicht in eine Umlaufbahn geflogen worden, aber es gab keine Zweifel mehr, daß das möglich war. Steve hatte nicht mehr als 90 000 Pounds Schub gegeben, und das bedeutete, daß weitere 110 000 Pounds nur darauf warteten, losgelassen zu werden. Es gab einen zusätzlichen Faktor – die Kosten. Wenn man eine Folge von Einschüssen in eine Umlaufbahn, die Woche für Woche erfolgen mußten, zusammenrechnete, war das Asp wesentlich billiger als der große NASA-Raumtransporter. Das Asp verbrauchte nichts anderes als Treibstoff. Sogar der Raumtransporter mußte den großen Treibstofftank abwerfen und beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühen lassen. Und bei den großen Feststoffraketen, die die NASA wiederverwenden wollte, wenn sie erst einmal aus dem Meer
aufgefischt waren, entstanden für die Bergung und Aufbereitung auch hohe Kosten. Abgesehen davon: was die NASA in ihren Presse-Verlautbarungen über die Möglichkeit der Wiederverwendung sagte und was die Ingenieure insgeheim darüber dachten, das waren zwei Paar Schuhe. Nachdem das Asp in den Hangar gerollt worden war, wurde Steve Austin von Rudy Wells und mehreren anderen Fliegerärzten einschließlich einem Verbindungsmann von der NASA gründlich untersucht. Zwei Stunden verwendete Steve anschließend für ein Gespräch mit einer Reihe von Piloten, die ihn mit Fragen über jede Einzelheit der Mission vom CockpitStandpunkt aus bombardierten. Später würde alles, was Steve dieser Gruppe mitteilte, mit den während des Flugs aufgenommenen Daten verglichen werden, um ganz sicher zu gehen, daß auf dem Gebiet der Raumschiffentwicklung nichts versäumt wurde. Die Flugdynamik hatte ebenfalls ein paar Fragen an Steve über die Raketenantriebsphase. Das Asp in seiner gegenwärtigen Gestalt konnte in eine niedrige Umlaufbahn gehen, aber nicht, zumal wenn es eine volle Nutzlast trug, in eine hohe. Schon wurde an einem verbesserten Fahrzeug gearbeitet. In der Zwischenzeit wurde ein bemannter Flug in einer polaren Umlaufbahn – bisher noch nie erfolgt – in der Air-Force-Basis Vandenberg unter Einsatz der großen Titan 3X-Rakete vorbereitet. Sie brauchten Steve dort für eine Besprechung über alle Probleme, die sich aus der Verbindung des Asp mit dieser Rakete ergaben. Steve, der müder war, als er gedacht hatte, wünschte das Ende der Gespräche herbei. Manchmal erschöpften sie ihn mehr als die eigentliche Mission. In den kritischeren Momenten eines solchen Fluges floß Adrenalin in den Blutkreislauf wie Wasser aus einem Schlauch, und wenn alles
vorbei war, setzte die Reaktion ein, und der Körper verlangte gebieterisch seine Ruhe. Deshalb war Steve völlig unvorbereitet auf das, was nach den technischen Abschlußbesprechungen und der von Rudy Wells verschriebenen energiereichen Mahlzeit kam. »Noch eine Konferenz? Ich dachte, wir hätten alles erledigt.« »Es handelt sich nicht um das Asp«, erklärte Ted Anderson. »Ich meine, nicht um den letzten Flug.« »Und um was handelt es sich dann, Ted?« Anderson unterdrückte den Impuls, dem Arzt einen schnellen Blick zuzuwerfen, bevor er Steve antwortete: »Wir haben eine Sitzung mit Dr. Rossi.« »Ist sie schon wieder da?« »Und noch jemand.« Sie verließen die Messe und kehrten in den Konferenzsaal zurück. Auf Steves Gesicht malte sich Überraschung ab, als er Oscar Goldman entdeckte. Der OSO-Mann nickte lächelnd. »Ich weiß«, sagte er anstelle einer Begrüßung, »du bist auch der letzte, den ich in dieser Woche zu sehen erwartete.« Steve ließ sich in einen Sessel sinken. »Oscar, was dich betrifft, hätte ich es mir längst abgewöhnen können, überrascht zu sein.« Er sah sich Goldman genau an. Wie immer trug er einen dunklen Anzug und eine schmale Krawatte. Das schütter werdende Haar hatte er sorgfältig über seinen gebräunten Kopf gekämmt und er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit, die er sich in langen Jahren der Geheimdiensttätigkeit angeeignet hatte. Oscar machte den Eindruck, als gehöre er eher in eine Werbeagentur auf der Madison Avenue oder in eine Bank als auf den Posten des zweitwichtigsten Mannes im Office of Special Operations. Was hatte Oscar hier zu tun? Steve war im Augenblick wieder im Dienst als Colonel der Air Force. OSO hatte ihn freigegeben, solange seine Hilfe für die Entwicklung des Asp zu einem echten Raumfahrzeug nötig war.
Die Anwesenheit von Dr. Page Rossi gab Steve ebenfalls Rätsel auf. Sie war wirkliche eine Schönheit. Steve schätzte sie auf achtundzwanzig Jahre. Sie trug einen Fliegeranzug und… Rudy hatte erwähnt, Page Rossi sei Lieutenant-Colonel in der Air Force, und sie hatte tatsächlich verblaßte silberne Blätter an ihrem Dreß. Doch die Schwingen eines Piloten trug sie nicht. Steve setzte zu einer Frage an, unterbrach sich aber, weil Dr. Rossi, die in Papieren herumblätterte, das Wort ergriff. Sie vergeudete keine Zeit und kam direkt zur Sache. »Colonel Austin, könnten Sie nach dem, was Sie über die bemannten russischen Raumschiffe wissen, das neueste davon mit dem Asp ausmanövrieren?« »Darauf gibt es keine direkte Antwort, Dr. Rossi. Äpfel und Birnen kann man nicht addieren.« »Wieso?« Steve beugte sich vor. »Sie könnten mich ebenso gut fragen, ob eine voll beladene C-5A einen F-4-Jäger ausmanövrieren könnte.« »Eine solche Frage würde ich nicht stellen.« »Warum nicht?« Sie war verblüfft. »Nun, weil es doch ganz klar ist, daß der F 4-Jäger das überlegene Flugzeug ist.« »Das ist gar nicht klar, und Sie haben unrecht. Der F-4-Jäger ist zwar wendiger, kann schneller und höher aufsteigen, aber bezüglich der Ladekapazität und der Reichweite ist die C-5A ihm überlegen. Das Wort ›Manöver‹ hat verschiedene Bedeutungen. Wenn Sie ausprobieren wollten, ob der F-4 eine ebenso große Last tragen kann wie die C-5A – nun, dann würden Sie nur die Reifen plattquetschen, und sonst würde gar nichts passieren.« »Sie lieben wohl Haarspaltereien?« »Jawohl, Doktor, denn wenn Sie keine präzisen Fragen stellen, werden wir immerzu aneinander vorbeireden.«
Sie nickte. »Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich haben Sie recht. Wie würden denn Sie die Frage formulieren?« »Das hängt davon ab, worauf Sie hinauswollen. Zum Beispiel könnte die Apollo die Sojus auf viele Arten ausmanövrieren. Sie hat viel mehr Treibstoff für die Steuerdüsen, so daß sie es sich leisten kann, Treibstoff zu vergeuden und teure – in bezug auf den Energieverbrauch teure – Manöver durchzuführen. Sie kann sogar drastische Änderungen der Umlaufbahn bewerkstelligen. Auch hat sie ein besseres Steuersystem und mehr manuelle Kontrolle. Verglichen mit der Apollo ist die Sojus ein Güterzug, der seine Schienenstrecke nicht verlassen kann.« Vorsichtig fragte Page Rossi: »Und was ist, verglichen mit der Apollo, das Asp?« »Jetzt sind wir auf der gleichen Wellenlänge, Doktor. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Das Asp ist in jeder Beziehung der Apollo so weit überlegen wie die Apollo der Sojus.« »Was ist mit dem neuen russischen Raumschiff? Demjenigen, das sie Sturm nennen.« »›Sturm‹ hört sich großartig an, aber trotzdem…« »Soviel ich weiß, Colonel, ist es von der Sojus aus gesehen ein Quantensprung.« Steve schüttelte den Kopf. »Voskhod, ihr Raumschiff der zweiten Generation, war nichts anderes als eine modifizierte Vostok. Sie haben einige Umbauten vorgenommen, damit sie in eine ursprünglich für einen Mann gedachte Kugel zwei oder drei Männer stopfen konnten, aber im wesentlichen ist es das gleiche Schiff. Meiner Meinung nach ist erst die Sojus die zweite Generation. Da gingen sie zu getrennten Abteilungen und dem gleichen Hitzeschild für den Wiedereintritt, wie wir ihn bei Gemini hatten, über. Aber selbst die Sojus hat beschränkte Manövrierfähigkeiten. Die automatische Steuerung überwiegt die manuelle bei weitem. Der Sturm, das
neue Schiff, ist im wesentlichen eine verbesserte Sojus. Ein Raumschiff der dritten Generation kann man es ehrlicherweise nicht nennen. Sehen Sie, wir haben die alte Apollo für den Fall modifiziert, daß wir sie als Rettungsschiff einsetzen müßten. Wir könnten einen Haufen Zeug ausbauen und sechs Männer sicher darin unterbringen. Dadurch wäre die ursprüngliche Kapazität verdoppelt. Merken Sie, worauf ich hinauswill? Wir haben nur den Innenraum umgebaut. Das Volumen haben wir nicht vergrößert. Nun, genauso ist es mit der Weiterentwicklung der Sojus zum Sturm. Ich bin überzeugt, daß die Russen die Systeme weiterentwickelt haben und daß es ein besseres Schiff ist. Aber hauptsächlich soll es als Transporter eingesetzt werden – es soll schwerere Lasten oder bis zu sechs Mann Besatzung befördern. Wenn es auf Wechsel der Höhe und der Umlaufbahn ankommt, werde ich die alte Apollo immer noch für überlegen halten.« »Und Sie sind fest überzeugt, Asp sei ein Quantensprung von der Apollo?« »Ich weiß es. Ich habe beide Schiffe geflogen. Asp ist unerreicht.« »Könnte Sturm die gleichen Manöver ausführen wie Sie in Asp?« »Ausgeschlossen.« »Und wenn Sie nun einen Sturm mit dem Asp zerstören müßten?« Die Frage kam unerwartet. Asp war mit Waffen ausgerüstet – das gehörte zu den meistgehüteten Geheimnissen des ganzen Programms… – aber Steve verstand nicht, wie eine Ärztin an diese Information gekommen war. Er richtete seinen Blick auf Ted Anderson. »Es war mein Wunsch, daß Dr. Rossi erst alle ihre Fragen stellen sollte, ehe wir weitergehen«, erklärte Anderson. »Deine Antworten sollten völlig unbeeinflußt sein. Dr. Rossi fürchtete,
du könntest erraten, was sie herausfinden will, und wenn du über ihre Rolle in der Angelegenheit Bescheid wüßtest, würdest du nicht mehr unbefangen auf ihre Fragen eingehen.« Steve fuhr zu der Ärztin herum. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Doktor, sagen Sie mir doch geradeheraus, was Sie von mir wissen wollen, und heben Sie sich Ihre Klassenzimmer-Psychologie für die Lieutenants und die Krüppel auf.« »Sie haben kein…« Sie unterbrach sich, holte tief Luft und überschüttete ihn mit einem Schwall von Fragen. »Wenn Sie in dem Asp mit einem Sturm-Raumschiff in ein Gefecht verwickelt würden, wer würde dann wohl Sieger werden?« »Darauf gibt es keine einfache Antwort. Sie müssen die Umstände spezifizieren.« »Angenommen, es wäre unter genau gleichen Umständen?« »Setzen Sie Ihr Geld auf das Asp, Doktor.« Sie nickte. »Das Asp kann mit den unterschiedlichsten Waffen ausgerüstet werden. Gibt es einen Typ, den Sie vorziehen würden?« »Auch das hängt von den Umständen ab.« »Wenn Sie in der gleichen Umlaufbahn mit einem Sturm wären und jedes Schiff versuchen würde, das andere zu vernichten, hätten Sie dann gern Lenkflugkörper?« »Nein.« Seine Antwort überraschte sie ebenso wie alle anderen Anwesenden. Steve bemerkte, daß Oscar Goldman zum erstenmal ein Lebenszeichen von sich gab. »Warum nicht, Colonel Austin?« fragte Dr. Rossi. »Gegen einen Lenkflugkörper kann eine Menge unternommen werden. Man kann ihn durch elektronische Gegenbefehle blockieren. Man kann ihn mit eigenen Raketen abschießen. Man kann einen Metallschild aufbauen – wenige
Zentimeter zwischen dem Schild und dem eigenen Schiff verhindern schon einen Aufschlag. Ein Meteroiten-Schild arbeitet nach dem gleichen Prinzip. Der Felsen zerspringt an ihm. Wenn ein Lenkflugkörper nicht an der Oberfläche des Schiffes detoniert, erzielt er überhaupt keine Wirkung. Eine Granate mit Aufschlagzündung ist im Raum ziemlich nutzlos. Ihr Hauptwerk ist, einen enormen Überdruck zu erzeugen und Schockwellen auszusenden. Aber wenn keine Atmosphäre da ist, die sich aufheizen und expandieren kann, gibt es auch keine Schockwelle. Halten Sie sich vor Augen, Doktor, daß selbst eine Atombombe, wenn sie im Vakuum gezündet wird, nicht mehr Lärm macht als zwei Schneeflocken, die sich in der Nacht begegnen.« Darüber mußte sie lächeln. »Ich denke, über nukleare Gefechtsköpfe brauchen wir nicht zu diskutieren. Wie wäre es mit einer Stalinorgel und kleinen Raketen?« »Ein Schiff, das schnell genug reagieren kann, wird Ihnen ausweichen. Beschleunigungsfaktoren, Timing und so weiter…« »Sagen Sie das bitte noch einmal. Über das Reagieren, meine ich.« »Wenn man Raketen abfeuert, hängt viel von ihrer Geschwindigkeit und ihrem Trefferbild ab. Wenn man mit dieser Waffe eine zuverlässige Wirkung erzielen will, muß man eine fast perfekte Übereinstimmung der Umlaufbahnen erreichen. Wenn Ihr Schiff, von dem ich in diesem Fall annehme, daß es das Asp ist, leistungsfähige Steuerdüsen und die Fähigkeit zu sofortiger Reaktion und genug Treibstoff für diese Art von Spielen hat, kann es den ankommenden Raketen einfach ausweichen.« »Könnten Sie das mit dem Asp tun?«
»Ja, wenn ich Platz und Zeit genug hätte. Aber wenn von beidem nicht viel da ist?« Er rieb sich das Kinn. »Möglich wäre es schon.« Sie warf Anderson einen schnellen Blick zu und wandte sich dann wieder an Steve. »Was halten Sie von Lasern?« »Vergessen Sie sie, wenigstens in diesem Stadium. Sie brauchen ungeheuer viel Energie. Platz, Energie, Masse – das sind alles Probleme, die sich nicht ignorieren lassen. Zudem bleibt Ihr Ziel ja nicht stehen. Schon ein kurzes Wackeln beschneidet die Wirksamkeit eines Laserstrahls gewaltig.« »Welche Bewaffnung würden Sie, Colonel Austin, denn für ein Raumschiff wie das Asp im allgemeinen vorschlagen, wenn man die vielen Faktoren, die hineinspielen können, abzuschätzen versucht?« »Zwei Waffensysteme. Lenkflugkörper für große Reichweiten, wobei für die Lenkung auch Leitstrahlen eingesetzt werden… aber immer unter Beachtung der schon erwähnten spezifischen Probleme bei diesem System.« »Und zweitens?« »Ein Maschinengewehr.« »Wie bitte?« »Ein Maschinengewehr. Nicht der Gatling-Typ mit rotierendem Lauf und hoher Feuerrate… Ich spreche von einem altmodischen Maschinengewehr. Eins mit einer Trommel wäre besser als eins mit Munitionsgurt.« Er merkte, wie sehr er alle mit seiner Meinung überrascht hatte, und setzte hinzu: »Flugkörper mit Zielsuchlenkung, die sich bei elektronischen Gegenbefehlen jedoch automatisch ausschalten und auf direkte optische Erfassung übergehen. Das beste Kaliber wäre dreizehn Millimeter. Man muß jedoch einen leichtgewichtigen Typ nehmen und die Waffe der Hitze wegen außen am Rumpf unterbringen.«
»Dreizehn Millimeter? Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Page Rossi. Steve zuckte die Schultern. »Dreizehn Millimeter ist dasselbe wie Kaliber sechzig. Wir haben sie damals im Zweiten Weltkrieg benutzt. Allerdings waren nur zwei Jäger damit ausgerüstet. Sie wurden nie in Massenproduktion hergestellt, weil das alte Kaliber fünfzig so gut war und wir davon in kürzester Frist große Mengen brauchten.« »Ich hätte nicht gedacht, daß… nun, daß Sie sich für eine altmodische Waffe entscheiden würden, Colonel Austin.« »Ich habe auch nicht vorausgesetzt, daß Sie es sich denken würden, Doktor. Aber wenn Sie es sich richtig überlegen, werden immer noch altmodische Waffen hergestellt und gelagert. Napalm zum Beispiel ist so ziemlich dasselbe wie das Griechische Feuer.« Er wandte sich von ihr ab, um Oscar Goldman, den OSOMann, anzusehen. »Okay, Oscar. Genug mit dem Frage- und Antwortspiel der Frau Doktor. Jetzt erzähl’ mir freundlicherweise, um was es hier eigentlich geht.«
IX
»Sie hauen uns auf den Kopf, sie machen unsere militärischen Überwachungssatelliten kaputt. Darum geht es. In den letzten sechs Monaten sind wir in unseren Beobachtungen ihres Territoriums in zunehmendem Maß behindert worden.« Steve fragte nicht zurück. Daß Oscar mit »sie« die Russen meinte, war klar. »Weiter«, forderte er Goldman auf. »Ich werde versuchen, es dir in allen Einzelheiten auseinanderzulegen«, fuhr Goldman mit ruhigerer Stimme fort. »Vom Anfang bis zum Ende, das, wie du inzwischen erraten haben wirst, du erledigen sollst. Wir alle wissen, daß wir kurz vor dem ersten amerikanisch-sowjetischen Weltraumunternehmen stehen. Das Apollo-Sojus-Test-Projekt, kurz ASTP genannt. Jedermann weiß es, denn es wird seit zwei Jahren auf den Titelseiten der Zeitungen darüber berichtet. Unsere Leute sind drüben und schlagen sich den Bauch mit Stör voll, und ihre sind bei uns und mampfen Hamburgers. Wie nett! Händeschütteln über dem Pol. Und es ist auch für sie und für uns eine gute Sache, denn solange wir uns damit beschäftigen, können wir unsere Energie nicht darauf verwenden, uns gegenseitig an die Kehle zugehen. Es gibt aber auch einen weniger erfreulichen Aspekt. Im Grunde handelt es sich dabei um nichts weiter als eine große Schau, und während unsere Regierung in der Öffentlichkeit ihre Freude über das gemeinsame Raumprojekt kundtut, fragt sie sich im stillen, ob wir da nicht zu einer Schlittenfahrt verladen worden sind, bei der, entschuldige den Ausdruck, eine Troika die Spitze hält.
Sieh mal, ich brauche dir doch keine einführende Vorlesung über unsere militärischen Überwachungssatelliten zu halten. Das Überleben ist abhängig davon geworden, daß unsere beiderseitigen Kräfte im Gleichgewicht bleiben. Darum bemühen wir uns seit den frühen sechziger Jahren. Eine ganze Zeitlang hatten wir einen Vorsprung. Erst mit den U-2’s und dann mit den großflügeligen RB-57B-Foto-Flugzeugen. Aber auch ein Flug in einer Höhe von 105 000 Fuß garantiert die Unverletzlichkeit nicht. Als wir begannen, die Satelliten zu verbessern, wurden sie leistungsfähiger als jedes Flugzeug. Unser Big Bird ist den russischen Satelliten in allem, was die Gebiete Elektronik, Fotografie, Infrarot und Ultraviolett und so weiter betrifft, überlegen. Wir wissen über die militärische und industrielle Stärke der Gegenseite ganz genau Bescheid. Ihre Möglichkeiten, einen Krieg vorzubereiten, anzufangen und durchzuführen, kennen wir. Unsere Satelliten und andere Systeme vermitteln uns einen guten Einblick in das, was die Russen tun, was sie getan haben und sogar in das, was sie planen. Wir kennen beinahe jeden Flugplatz, jedes Raketenstartgelände, jedes Kraftwerk und jedes Industriezentrum. Umgekehrt sind wir so gut wie sicher, daß auch sie über uns Bescheid wissen, und das erhält den Frieden aufrecht. Die Einsicht, daß der andere nicht nur ebenso stark ist, sondern wahrscheinlich sogar etwas stärker. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß wir – obwohl unsere Gesellschaft die bei weitem offenere ist – über ihre militärische und industrielle Kapazität immer mehr gewußt haben als sie über unsere.« Die nächsten Worte sprach Goldman mit besonderer Betonung. »Jetzt aber könnte die Situation in ihr Gegenteil umschlagen.« Er sah jeden einzelnen Anwesenden an. »Das Gleichgewicht bezüglich der Überwachungssatelliten ist dabei,
sich zu ihrem Vorteil zu ändern. Und das geschieht nicht zufällig. Bitte, nimm das ganz ernst.« »Ich stimme dir in allem zu, Oscar«, sagte Steve, »aber ich verstehe nicht, was das Apollo-Sojus-Projekt damit zu tun hat. Wenn unsere beiden Länder einmal gemeinsam an einer Sache gearbeitet haben – « »Wir haben andere Gemeinschaftsprogramme. Eine ganze Gruppe ihrer Atomphysiker arbeitet im Mittelwesten, und amerikanische Wissenschaftler sind in ihren wichtigsten Laboratorien zu Gast. Ein Austausch dieser Art findet ständig statt. Aber alles zusammengenommen hat nicht ein Prozent der Werbewirkung, die wir – und die Russen – dem Händeschütteln im Orbit zumessen. Bei uns wird ständig alles ausposaunt, bei ihnen nicht, ansonsten machen sie alles genau wie wir, nur daß sie keine grauen Anzüge aus der Madison Avenue tragen und an alle Umstehenden Zigarren verteilen.« Mit Nachdruck setzte Goldman hinzu: »Offiziell kann kein einziger Amerikaner darauf hoffen, zwischen der Apollo Sojus-Mission im Juli 1975 und etwa dem Jahr 1980, wenn der erste Raumtransporter seinen Testflug machen soll, in den Raum zu gelangen. Das bedeutet eine Wartezeit von mindestens fünf Jahren. Das ist auch der Grund, daß die Russen nicht weiter als zu ihrem Sturm-Raumschiff gekommen sind. Sie haben eine Gnadenfrist von fünf Jahren erhalten, in denen sie so ziemlich tun können, was sie wollen. Und wenn diese Zeit vorbei ist, wird ihre große Rakete – die mit dem Elfmillionen-Pounds-Schub in der ersten Stufe – ihnen wahrscheinlich nicht mehr beim Start um die Ohren fliegen, und sie werden soweit sein, daß sie damit eine Nutzlast von zweihundert Tonnen in eine Umlaufbahn schießen können.« »Und vergessen Sie nicht zu erwähnen«, fiel Ted Anderson mit angespanntem Gesicht ein, »daß über die Fähigkeit des
Asp, in einen Orbit zu gehen, in der Welt nichts bekannt ist. Die Russen machen sich einige Gedanken über diese neue Entwicklung, aber wir haben das Asp sehr wirksam in den Überschallflugprogrammen versteckt. Das hat dazu beigetragen, daß sie uns ihre Karten ein bißchen deutlicher zeigen mußten.« Rudy Wells heischte mit erhobener Hand um Aufmerksamkeit. »Ich fürchte, da komme ich nicht mehr mit.« Anderson sah Oscar Goldman an, und der OSO-Mann nickte dem Colonel zu, er möge fortfahren. »Wie Oscar schon gesagt hat, zerstören die Russen unsere Überwachungssatelliten«, nahm Anderson den Faden auf. »Daraus können Sie entnehmen, was sie vorhaben. Sie wollen uns unsere Satellitenaugen ausstechen, während wir zum Zurückstecken gezwungen sind. Täten sie das nur mit unbemannten Schiffen, könnten wir uns auf dieselbe Weise revanchieren. Aber nach der Apollo-SojusMission? Dann werden wir nicht ein einziges bemanntes Raumschiff haben, und sie werden die Sturm-Schiffe haufenweise nach oben schicken. Dann…« »Sie gehen zu schnell vor, Colonel«, unterbrach Goldman ihn. »Während der letzten paar Monate hat einer unserer Satelliten nach dem anderen versagt. Die Lage ist nicht nur ernst – sie ist kritisch. Einige taumeln, und alles, was wir tun, kann sie nicht mehr unter Kontrolle bringen. Andere funktionieren aus unerklärlichen Gründen nicht mehr. Wieder andere sind einfach explodiert. Nein – « – Goldman schüttelte heftig den Kopf – »sie sind nicht einfach explodiert, sie sind zerstört worden. Wir haben mehr als achtzig Prozent unserer Überwachungskapazität im Raum verloren. Jetzt sind die Russen im Vorteil. Wir erblinden, wir können nichts sehen, und die Abwehr heult laut, weil es deutliche Anzeichen gibt,
daß die Russen neue Raketenkomplexe bauen, während wir nicht wissen, wie und wo sie das tun. Seit einiger Zeit ist uns bekannt, daß die Russen Fortschritte bezüglich der Manövrierbarkeit innerhalb der Umlaufbahn gemacht haben. Sie…« Steve fiel ein: »Oscar, wir haben die gleichen Fähigkeiten wie sie. Warum setzen wir sie nicht ein?« »Dazu ist es bereits zu spät. Die Abwehr meint – und das sagt einem auch der gesunde Menschenverstand –, daß die Russen für einige Zeit aufhören werden, unsere Satelliten zu fressen, falls wir die Dummheit begehen, Wind zu machen und die Detente-Politik vor den Augen der Welt aufs Spiel zu setzen. Und sie wissen, daß das unwahrscheinlich ist – nicht nur wegen der Detente, sondern auch, weil wir ihre Überlegenheit auf dem Gebiet der militärischen Satelliten nicht publik machen wollen. Darum haben wir uns über ihr Vorgehen nie öffentlich beschwert. Die Folge ist, daß wir jetzt nicht mehr aufheulen oder öffentlich gegen sie vorgehen können. Sobald wir es täten, würden sie vom Dach des UN-Gebäudes herunterbrüllen, die USA gefährde den Frieden und so weiter. Das ist auch der Grund, warum sie für das bemannte Gemeinschaftsunternehmen eine solche Werbung treiben. Reißen wir zu diesem Zeitpunkt den Mund auf, werden die Russen behaupten, unser unüberlegtes Verhalten zwinge sie, die Apollo-Sojus-Mission aufzugeben. Für unsere Position im Raum wäre das auf nationaler wie auf internationaler Basis ein schwerer Schlag. Man würde uns dann nachsagen, wir hätten absichtlich jahrelange Vorbereitungsarbeiten zunichte gemacht. Von neuem wird es mit dem Geschwätz über die kapitalistische Rüstungsindustrie und die Kriegstreiber losgehen. Mit anderen Worten, die Russen haben ihre Karten sehr geschickt ausgespielt, und wir haben Verluste einstecken müssen. Jetzt sind sie uns auf dem Gebiet der
Überwachungssatelliten überlegen. Statt achtzehn funktionierenden Satelliten hatten wir in den vergangenen sieben Monaten nur zwei.« Goldman richtete seinen Blick auf Ted Anderson. »Ted, bitte fahren Sie da fort, wo ich Sie vorhin unterbrochen habe.« Anderson stand auf und ging langsam auf und ab. »Ich sprach über die bemannte Raumfahrt – davon, daß wir nach der Apollo-Sojus-Mission für einen Zeitraum von fünf Jahren offiziell keine haben werden. Es kann auch noch länger dauern. Das hängt davon ab, wie die Stimmung bei Kongreß und Fiskus ist. Wissen Sie, was das bedeutet?« Er blieb stehen. Der Zorn flammte ihm aus den Augen. »Es bedeutet, daß wir ihnen in die Hände gespielt haben. In dem Augenblick, wo das Apollo-Sojus-Programm beendet ist, werden die Russen anfangen, unsere Überwachungssatelliten mit bemannten Raumschiffen abzuschießen. Mit bemannten, ist Ihnen das klar?« Er schlug mit der Faust in die Handfläche. »Und vermutlich werden wir nicht fähig sein, irgend etwas dagegen zu unternehmen, weil wir mit den Russen einen Nichtangriffspakt bezüglich bemannter Raumschiffe abgeschlossen haben. Und – « »Und«, führte Goldman den Satz für ihn zu Ende, »sie haben fünf Jahre Zeit, in denen sie unsere Überwachungssatelliten vernichten können, ohne mit Widerstand rechnen zu müssen. Jedesmal müssen wir hilflos zusehen, denn wenn wir ein bewaffnetes Robotschiff gegen sie einsetzen, können sie mit Recht laute Klage darüber führen, wir hätten Waffen gegen Menschen benutzt. Damit vergewaltigen sie Geist und Sinn des von uns unterzeichneten Vertrages«, setzte Goldmann voller Erbitterung gegen die Politiker hinzu, die sich eines kurzlebigen Public-Relations-Gewinns halber in solche Dinge einmischen, »aber wir stehen da, als hielten wir uns weder daran noch an unsere UN-Resolutionen. Haben Sie allmählich
eine Vorstellung davon, welcher Situation wir entgegensehen?« Ein langes Schweigen entstand. Dr. Rossi durchquerte den Raum und goß sich schwarzen Kaffee ein. »Steve?« fragte sie, und er nickte. Sie brachte Kaffee für Steve, Rudy Wells und sich selbst an den Tisch. Die körperliche Bewegung half, die Spannung zu lösen. Steve nahm einen großen Schluck von dem heißen Getränk und wandte sich Goldman zu. »Alles richtig, Oscar, aber auf den springenden Punkt sind wir bei dieser Zusammenkunft noch nicht gekommen.« »Stimmt«, gab Goldman zu, »und der ist das Asp. Auf der Publicity-Welle für das Apollo-Sojus-Projekt werden die Russen sich mit unserer Regierung wegen einer gemeinsamen Raumstation in Verbindung setzen. Da werden wieder kräftig die Werbetrommeln gerührt werden, aber das Ganze wird nichts weiter als eine Vernebelung sein. Sie wissen, daß der Kongreß im Augenblick nicht die Mittel für eine Raumstation hat, jetzt, wo wir die Probleme mit dem arabischen Öl, mit der Rezession und Inflation am Hals haben. Unsere Freunde im Kongreß müssen schon wie die Wilden darum kämpfen, das Geld für das bereits genehmigte Raumtransporter-Programm lockerzumachen. Es gibt keine Möglichkeit, die Umrüstung einer Saturn-V-Rakete für eine Raumstation zu finanzieren. Das ganze Programm muß warten, bis der Transporter fertig ist, und dann, irgendwann zwischen 1983 und 1984, wird, vorausgesetzt, daß die wirtschaftliche Lage es erlaubt, der Transporter benutzt werden, um die Raumstation stückweise nach oben zu bringen und in der Umlaufbahn zusammenzusetzen. Dollar für Dollar, das ist der beste Weg.« »Und inzwischen hauen sie unsere militärischen Überwachungssatelliten zusammen«, stellte Rudy Wells ruhig fest.
»Genau.« »Lassen Sie uns auf das Asp kommen«, drängte Wells. Ted Anderson warf ein: »Offiziell ist das Asp nichts anderes als ein suborbitales Forschungsprojekt. Halten Sie sich das vor Augen. Wir haben Freunde im Kongreß, die wissen, um was es geht, aber wir müssen auch Verständnis für ihre Probleme haben.« »Was willst du damit sagen, Ted?« erkundigte sich Steve. »Daß wir das Asp-Programm in langsamen Schritten bewältigen müssen«, lautete die sofortige Antwort. »Unsere Freunde werden für die entsprechenden Genehmigungen sorgen, aber wir müssen alles, wovon wir behaupten, daß wir es tun können, beweisen. Deshalb haben wir ein Programm ausgearbeitet, bei dem es um weit mehr geht, als einen im Orbit manövrierbaren Abfangjäger zu fliegen. Unsere Freunde im Kongreß wollen eine Probe dafür, daß das neue Raumfahrzeug, für das sie uns Rückendeckung geben, auch wirklich die endgültige Lösung ist.« Er sah Page Rossi an. »Doktor, jetzt sind Sie dran«, schloß Anderson. Sie wandte sich Steve zu. »Wir nennen es Projekt Symbot«, begann sie.
X
»Symbot?« echote Steve unwillkürlich. »Abgeleitet von symbiotisch«, antwortete Page Rossi. »Und es handelt sich dabei um eine Dreiergruppe – das Asp, Sie und« – sie zögerte für einen winzigen Augenblick – »mich selbst für die bioelektronische Kontrolle.« »Doktor, Sie haben meine volle Aufmerksamkeit«, erklärte Steve liebenswürdig. »Wir tun damit einen Quantensprung in der Steuerung eines bemannten Raumschiffs. Das Programm befaßt sich sowohl mit den körperlichen Möglichkeiten des Menschen als auch mit den technischen des Schiffs. Dabei geht es nicht um ein neues Marschantriebssystem oder dergleichen«, fuhr Page Rossi fort. »Auf diesen Gebieten können wir fortlaufend Verbesserungen einführen. Aber das reicht nicht, um einen nennenswerten Vorsprung vor der Konkurrenz zu gewinnen. Der Grund, warum ich mit hinzugezogen worden bin, ist folgender: Wir wollen den Zeitverlust abbauen, der entsteht, wenn ein Mann erst den Entschluß faßt, was sein Schiff tun soll, dann Bewegungen ausführt, die das Schiff reagieren lassen, darauf die Reaktion kontrolliert und gegebenenfalls weitere Maßnahmen trifft, um die Reaktion abzustoppen. Wir möchten einem Raumschiff die Reaktionsfähigkeit geben, die ein Pilot mit einem Jagdflugzeug hat. Selbstverständlich sind mir die Unterschiede zwischen aerodynamischem Flug und Manövern in einer Umlaufbahn bekannt, und ich benutze den Ausdruck ›Jagdflugzeug‹ nur als
Gleichnis. Aber haben die Astronauten sich über das GeminiRaumschiff nicht ähnlich geäußert, Steve?« »O ja. Pete Conrad und Dick Gordon nannten es das letzte der kampfflugzeugähnlichen Raumschiffe.« »In diesem Sinn möchte ich mich ebenfalls verstanden wissen«, setzte Page ihre Ausführungen fort. »Der erfahrene Pilot braucht sein Gehirn selbst in gefährlichen Situationen nicht sonderlich anzustrengen, um zu entscheiden, was er zu tun hat. Er handelt unbewußt. Er und seine Maschine werden eins, eine einzige Wesenheit, als ob die Körper des Mannes und des Flugzeugs eine gemeinsame Seele hätten. Er…« »Sie haben eine poetische Ader, Doktor«, warf Steve ein. Sie errötete leicht. »Vermutlich neige ich dazu, mich hinreißen zu lassen…« »Macht nichts«, lächelte Steve. »Kehren wir zurück zu Ihrer Beschreibung des Einswerdens von Pilot und Maschine. Was Sie da sagen, stimmt genau. Das erste, was wir jungen Piloten beibringen, ist, daß sie, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, zu einem Teil ihres Flugzeugs werden müssen. Man denkt nicht geradeaus oder ‘rauf oder ‘runter oder in derartigen Begriffen. Man fliegt, und es ist gleichgültig, ob man dabei auf dem Rücken liegt oder rollt oder sonst etwas. Was den aerodynamischen Flug betrifft, bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung. Aber was ich nicht verstehe – und ich will Ihnen geradeheraus gestehen, daß ich es für Wunschdenken halte –, ist, wie Sie so etwas bei einem Raumschiff erreichen wollen?« »Wollen Sie damit sagen, es sei unmöglich?« »Wenn ich die Energieabgabe der augenblicklichen Treibstoffe und andere Dinge in Betracht ziehe, ist es, wenn nicht unmöglich, so doch nahe daran.« »Dies ist doch… ein rein sachliches Gespräch?« Er betrachtete sie aufmerksam. »Was denn sonst, Doktor?«
»Nun, dann… Sie sind selbst gewissermaßen unmöglich.« Hastig ergänzte sie: »Physiologisch gesehen.« Sie sah, wie er sich bei dieser unverblümten Anspielung auf seine bionischen Körperteile verkrampfte. »Hören Sie, Steve, ich will ja nicht persönlich werden, aber mir konnte Ihre Reaktion auf meine Worte nicht entgehen und…« »Rudy sagte, daß Sie als eine gute Psychologin gelten.« »Das bin ich auch, und außerdem bin ich Ärztin und Spezialistin für Bioelektronik, eingeschlossen bionische Körperteile. Wir werden sehr eng zusammenarbeiten, und ich kann nicht ständig auf Ihre Empfindlichkeit wegen Ihrer bionischen Strukturen Rücksicht nehmen.« Steve antwortete nicht gleich. Er blickte zu Rudy Wells hin, der plötzlich außerordentliches Interesse an der Zimmerdecke gefunden zu haben schien. Natürlich hatte Page Rossi recht. Steve nickte. »Ein Punkt für Sie, Doc.« »Es steht also fest« – sie verschwendete keine Zeit mit Redensarten – »daß Sie als bionisches Lebewesen, gemessen an dem Stand, den Medizin und Bionik noch vor wenigen Jahren hatten, unmöglich sind. Ebenso ist es mit einer Menge anderer Dinge, die uns heute alltäglich vorkommen.« »Das ist richtig, aber denken Sie bitte daran, daß ich von den augenblicklichen Bedingungen gesprochen habe.« »Und ich gebe Ihnen durchaus recht. Deshalb spreche ich ja in Gleichnissen… Die Air Force verfolgt schon seit langem das Ziel, einem Raumschiff die Manövrierfähigkeit eines Jagdflugzeugs zu geben. Tatsächlich wird bereits seit Jahrzehnten daran gearbeitet, und ich bin überzeugt, Sie wissen ebenso gut darüber Bescheid wie jeder andere.« Steve antwortete mit einem Nicken. »Aber ganz gleich, wieviel theoretische Vorarbeiten schon geleistet worden sind, wir brauchen zu deren Überprüfung Testflüge in der Umlaufbahn. Das Asp ist eine der
Möglichkeiten, mit denen sich verwirklichen lassen mag, was wir geplant haben. Im wesentlichen ist das, was wir gebaut haben, ein Raumschiff, das frei von den lästigen Instrumenten und Kontrollen ist, die ich immer die Standard-RaumschiffHardware nenne – Apollo und Sojus sind gute Beispiele dafür.« Sie holte tief Atem. Steve hatte den Eindruck, sie lasse einen wichtigen Punkt aus, über den sie erst später sprechen wollte. »Wir haben mit dem Projekt Symbot vor einigen Jahren angefangen. Es ist so eine Art Waisenkind, auf das kein Elternpaar Anspruch erhebt. Das Geld ist von verschiedenen Stellen der Air Force gekommen, und daher hat die Öffentlichkeit bisher nicht erfahren, daß es sich um ein einziges, einheitliches Projekt handelt.« Oscar Goldman warf ein: »Sogar OSO hat Mittel zur Verfügung gestellt.« Was in den nächsten Minuten gesprochen wurde, sollte Steve Austin mehr erschüttern als beinahe alles, was er je erlebt hatte. »Was die Air Force versucht hat zu erreichen«, fuhr Page Rossi fort, »war die Schaffung einer echten Symbiose zwischen Mensch und Maschine. Die körperlichen und geistigen Fähigkeiten eines Menschen sollten durch ein bionisch-elektronisches System direkt mit dem Raumschiff verbunden werden. Dabei würde der Mensch mit seinem Körper und durch die Signale, die sein Gehirn erreichen, alles spüren und empfinden, was das Raumschiff tut. Die Fluglage, das Rollen, die Beschleunigung, äußere Hitzeeinwirkungen, Strahlungsenergie, der Treibstoffverbrauch, der Wiedereintritt in die Atmosphäre – all das würden Erfahrungen seines eigenen Körpers sein. Eine Mensch-Maschinen-Symbiose wird es ermöglichen, daß der Mensch selbst ohne die Instrumente des Raumschiffs Entfernungen, Annäherungsraten und andere
in der Raumfahrt wichtige Daten bestimmt. Alles, was ich erwähnt habe, wird zur Errechnung der Geschwindigkeit und sonstiger Vektordaten mit dem Bordcomputer verbunden werden.« »Page, ich nehme an, Sie beschreiben das Projekt Symbot.« Sie erwiderte Steves eindringlichen Blick. »Ja, das tue ich.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, aber jetzt war sie sicher, daß er ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte. Sie konnte es über den Tisch hinweg beinahe körperlich fühlen. »Bitte, hören Sie jetzt nicht auf«, sagte er ruhig. Sie hatte gar nicht die Absicht. »Normalerweise werden diese Daten durch Instrumente und Computer-Terminals angezeigt. Egal ob in einem Flugzeug oder in einem Raumschiff. Wenn uns dieser Quantensprung gelingt, können wir den langen Weg über die Instrumente, die Anzeiger, das Ablesen und Auswerten seitens des Piloten bis zur Reaktion des Piloten, abkürzen. Die Frage, die wir uns in all diesen Jahren gestellt haben, ist einfach: Kann ein Mensch mit seinem Raumschiff auf elektronische Weise so verbunden werden, daß er die Flugbewegungen des Schiffs in seinem eigenen Körper und Gehirn verspürt? Kann zum Beispiel die Beschleunigung auf eine Art gemessen werden, daß der Mensch nicht nur ihr Vorhandensein merkt, sondern auch die genauen Werte feststellen kann und außerdem weiß, ob es sich um eine lineare oder eine Winkelbeschleunigung oder einen dauernden Wechsel von beiden handelt? Kann er ein Rollen über multiple Achsen auf diese Weise empfinden? Kann er beim Beginn des Wiedereintritts den steigenden g-Druck, die Stärke der Schockwellen, die Hitzeentwicklung und alles andere mit der erforderlichen Exaktheit ermessen?« Steve starrte sie an. Sie glaubte tatsächlich, was sie da erzählte!
»Wenn all das vollbracht werden kann«, sprach sie mit wachsender Begeisterung weiter, »dann wird der Mensch das Schiff. Er braucht keine Instrumente mehr abzulesen, er sieht mit den Instrumenten des Raumschiffs, und er fliegt so instinktiv, wie er die Glieder seines eigenen Körpers bewegt. Ich nehme an, daß dies Erlebnis weit über das Gefühl beim Segelfliegen hinausgehen wird, denn der mit dem Schiff symbiotisch verbundene Mensch ist kein Gefangener der Schwerkraft. Der Vergleich mit dem Segelfliegen trifft auch insofern zu, als es keine anderen Instrumente und Geräte gibt als den Mann und sein Schiff.« Langsam ließ sie ihren Blick von einem der Anwesenden zum anderen wandern und heftete ihn dann wieder auf Steve. »Dies System ist bereits in beträchtlichem Ausmaß getestet worden«, erklärte sie mit Nachdruck, »und wir dürfen jetzt hoffen, von der Forschungsarbeit auf die praktische Erprobung überzugehen.« »Dr. Rossi.« Das hatte sie befürchtet. Steve Austin sprach mit eiskalter Stimme. »Dr. Rossi, Sie hoffen also, von der Forschungsarbeit auf die praktische Erprobung überzugehen. Wollen Sie mit dieser hochgestochenen Formulierung sagen – beziehungsweise, fürchten Sie sich, es zu sagen –, daß Sie soweit sind, einen Mann und eine Maschine zusammenstöpseln zu können? Jetzt sofort?« »Ja, Sir«, antwortete sie. Ihre Förmlichkeit überraschte ihn. »Sprechen Sie von mir, Dr. Rossi?« Sie stand auf und sah von ihm zu Rudy Wells. »Ich finde, der Rest dieses Gesprächs sollte in meiner Abwesenheit erledigt werden«, erklärte sie. Sie verließ den Konferenzsaal.
In dem nun folgenden Schweigen kümmerte sich Rudy Wells um den Kaffee. »Nun gut«, meinte Steve schließlich, »klärt mich vollständig über dies Geheimnis auf, Ted«, wandte er sich an den Colonel, »du hast mir eine Menge verschwiegen. Und was unsern Freund, den Doktor, betrifft, so…« »Und was ist mit mir?« fragte Oscar Goldman. »Oder bin ich deines Grimms nicht würdig?« »Bei dir rechne ich sowieso mit allem.« »Natürlich hast du recht«, beeilte Wells sich zu versichern. »Wir haben es vor dir verheimlicht, Steve. Niemand hat angenommen, du würdest dich über das Projekt freuen, aber die Alternative dazu war, jedenfalls in dieser Phase der Entwicklung, Ablehnung der Idee oder sogar offene Feindseligkeit von deiner Seite. Medizin muß man in kleinen Dosen eingeben.« »Dann erzählt mir jetzt alles. Sofort.« »Das sind wir dir wohl schuldig.« Wells lehnte sich über den Tisch vor. »Als vorbereitende Maßnahme haben wir dafür gesorgt, daß du die Fähigkeiten verschiedener Leute erst einmal kennen und akzeptieren lernst.« »Die von Page Rossi zum Beispiel?« »Sie ist die wichtigste Person.« »Dann will ich euch mal etwas sagen«, ereiferte sich Steve. »Die Frau ist mehr als tüchtig. Ich habe ihr bei der Arbeit zugesehen. Sie ist große Klasse. Ich akzeptiere alles, was ihr mir über ihre Fähigkeiten verkaufen wollt. Ich zolle ihr ja auch widerwillig Respekt, aber…« »Ich freue mich sehr, das zu hören«, sagte Wells. »Aber das ist nicht genug.« Steve schlug erregt mit der Handfläche auf die Tischplatte. Es gab einen lauten Krach, gefolgt von einem prasselnden Geräusch, denn seine bionische
Hand hatte das Holz zersplittert. »Das war nicht meine Absicht.« Steve seufzte. »Ich wollte nur sagen, daß alles, was ich über Page Rossi gehört habe, mag es auch noch so eindrucksvoll sein, einen entscheidenden Mangel nicht ausgleichen kann. Ihr ganzes phantastisches Gerede über die Parallelen zwischen Flugzeug und Raumschiff, über die Art und Weise, wie man ein Jagdflugzeug zu fliegen hat und was man mit einem Raumschiff anfangen kann, wenn zwischen ihm und seinem Piloten eine symbiotische Verbindung besteht… das könnte ich nur dann ernst nehmen, wenn sie auch tatsächlich Erfahrung darin hätte, im Cockpit zu sitzen. Und zwar mit keinem anderen Menschen an Bord. Sie müßte einmal ganz allein eine solche Maschine geflogen haben und… nun, über diese Barriere komme ich nicht hinweg.« »Würdest du denn gern darüber hinwegkommen?« forschte Wells. »Ja. Mir hat von dem, was sie gesagt hat, eine Menge eingeleuchtet.« Das Telefon läutete. Colonel Anderson nahm den Hörer auf, lauschte eine Weile und sagte: »Sehr gut, wir werden gleich da sein, danke.« Er hängte ein und erhob sich. »Steve, Rudy und Oscar, ich möchte, daß ihr alle mal mitkömmt. Ich möchte euch etwas zeigen.« »Noch mehr von dem Katz- und Maus-Spiel, Ted?« »Na klar, Junge. Du weißt doch, daß ich niemals aufgebe.« Die vier Männer verließen den Konferenzraum und stiegen auf das Dach des Gebäudes. Von dort konnte man die Hauptstartbahn überblicken. Ganz hinten ließ ein Pilot gerade die Motoren eines F-4-Jagdflugzeugs warmlaufen. Das dumpfe Dröhnen der Nachbrenner klang wie hohles Donnern zu ihnen herüber. Dunkler Rauch kochte in einer aufsteigenden Wolke hinter dem Flugzeug hoch. Dann rollte es los, schneller und schneller, die große Nase auf die Startbahn gesenkt. Das
Donnern wurde lauter und vermischte sich mit dem Kreischen der Luft, die in die Ansaugöffnungen strömte, bis das Geräusch ohrenzerreißend wurde. Dann kam die Nase nach oben, die Maschine hob vom Boden ab, aber das Fahrwerk war immer noch draußen. Der Pilot schien sehr gut zu sein. Die große Phantom ging mit erhobener Nase in eine Rolle, die Nachbrenner peitschten die Luft mit diamantenbesetzten Schockwellen, das Donnern heulte über sie weg, als das Jagdflugzeug, immer noch in der Rolle, ihren Beobachtungspunkt überflog. Schließlich, als die Nase wieder nach unten kam, zog der Pilot das Fahrwerk ein. Aber er war noch nicht fertig. Denn als bei immer noch donnernden Nachbrennern die Nase nach unten kam, ließ der Pilot die Phantom bis zum letzten möglichen Augenblick auf die Startbahn zustürzen. Erst dann zog er sie in einem weiten Looping wieder nach oben. Hoch über ihnen lag das Flugzeug, wie auf magische Weise dort aufgehängt, auf dem Rücken, bis der Pilot über dem entgegengesetzten Ende der Startbahn den Looping vollendete. Wieder raste die Maschine über ihren Köpfen dahin. Jetzt vollführte die Phantom eine Reihe teuflischer Rollen, wobei die aufblitzenden Tragflächen wie wirbelnde Rasiermesser immer von neuem rundum schwangen. Nach einem kurzen Horizontalflug zurück zum Beginn der Startbahn zog das Jagdflugzeug mit mindestens sechs g nach oben. Wie ein tanzender Derwisch wirbelte die Phantom in eine Höhe von mehr als 10 000 Fuß. Sie stieg in weichen Rollen, die, wie Steve wußte, mehr Geschicklichkeit erforderten als die heftige Korkenzieher-Bewegung des Aufstiegs, wieder zur Erde herab. Schweigend sahen sie zu. Jede Bemerkung war überflüssig. Sie alle erkannten, was in diesem Cockpit geleistet wurde. Knapp unterhalb der Schallgeschwindigkeit brauste der große Düsenjäger über sie weg. Die Nase kam nach oben, um den
notwendigen Abstand vom Boden zu gewinnen, und plötzlich standen die Tragflächen senkrecht. Der Pilot warf den Dreck ab, das Fahrwerk wurde ausgefahren. Die Phantom schien von einem unsichtbaren Netz im Himmel gefangen zu werden, als der Pilot sie ohne Eigengeschwindigkeit seidenweich am Ende der Startbahn aufsetzte. Wenige Augenblicke später blähte sich der Bremsschirm auf. »Ist das ein Pilot!« rief Steve voller Anerkennung. Die große Phantom rollte vom Flugfeld, ließ den Bremsschirm zur Entfernung durch die Bodenmannschaft fallen und blieb vor dem Gebäude stehen. Die Kabinenhaube ging auf. Das Motorengeräusch erstarb in einem hohen Winseln. An der Seite des Flugzeugs wurde eine Leiter angelegt. Der Pilot nahm seinen Helm ab. Steve starrte Page Rossi, die ihnen aus dem Cockpit zunickte, ungläubig an. Er drehte sich zu Ted Anderson um, dem es beinahe gelang, keine Miene zu verziehen. »Wir dachten uns, Steve, es würde auf dich weit mehr Wirkung haben, zu sehen, was sie kann, als wenn wir es dir bloß erzählen würden.« Rudy Wells ergänzte: »Page ist mehr als eine ausgezeichnete Pilotin, Steve. Sie ist die erste voll qualifizierte Astronautin der Air Force.«
XI
»Den Start einer der großen Raketen habe ich noch nie miterlebt«, sagte Page. Lachend setzte sie hinzu: »Es ist albern, aber ich bin so aufgeregt wie ein Kind. Ich bin wohl ein paarmal in Vandenberg beim Abschuß einer Thor-Rakete dabei gewesen, und einmal habe ich am Kap eine Centaur gesehen, aber etwas so Gewaltiges wie die Saturn noch nie und…« Sie sah Steve auf dem Nebensitz an. »Ich rede zuviel, was?« »Das tun Sie«, antwortete er, »aber ich habe nichts dagegen. Es gefällt mir sogar.« Seine Stimme klang freundlich. Sie wandte sich ab und blickte aus dem Fenster der Linienmaschine. 37 000 Fuß unter ihnen lag die Golfküste von Florida, geradeaus und zu ihrer Rechten sah sie unter einem Schleier nachmittäglichen Nebels die Westküste der Halbinsel. »Wir werden bald landen«, meinte sie und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Und von Orlando aus ist es nur eine Stunde Fahrt zum Strand.« Sie forschte in seinem Gesicht. »Für Sie ist das ganz anders, nicht wahr? Ich meine, weil Sie schon so oft hiergewesen sind.« Er nickte. »Nun ja, wir sind oft genug hergeflogen, und wir haben einige Zeit auch hier gelebt.« »Und Sie sind von hier zum Mond gestartet. Mein Gott, Steve, das ist doch etwas, wobei einem immer noch der Verstand stehenbleibt. Als ich ein Kind war, da war das alles… ja, ein Science-Fiction-Traum. Die Vorstellung faszinierte uns. Meine ganze Familie beschäftigte sich mit Fliegerei und Medizin und mein Bruder war einer der ersten Raketentechniker, aber es war noch nicht Wirklichkeit
geworden. Verstehen Sie, was ich meine? Und dann, mit einem Mal… Ein bemanntes Raumschiff im Orbit. Menschen waren unterwegs zum Mond, und das Unglaubliche geschah. Eines Morgens wachte die Welt auf beziehungsweise blieb in der Nacht wach, und da gingen Armstrong und Aldrin über den Mond und traten mit ihren Stiefeln in den Staub, und man konnte es kaum glauben, daß sie wirklich eine Viertelmillion Meilen weit weg waren und…« Sie schüttelte den Kopf, und das Haar wehte ihr ums Gesicht. »Wissen Sie, was ich getan habe, als ich Neil die Leiter herunterkommen sah? Als dies geisterhafte Bild auf dem Fernsehschirm erschien, wußte ich ganz tief in meinem Inneren, daß ich Zeuge eines unvorstellbaren Augenblicks in der menschlichen Geschichte war. Ein Mann war dabei, den ersten Schritt auf einer anderen ›Welt‹ zu tun. Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe geweint. Geheult habe ich, ob Sie es glauben oder nicht.« »Ich glaube es Ihnen, und ich freue mich, daß Sie es mir erzählt haben.« »Gut… und jetzt, Sir, ist es unvermeidlich, daß ich Sie um Ihr Autogramm bitte.« »Wissen Sie, Page, wenn ich daran denke, wie Sie neulich mit dem F-4 umgegangen sind, dann finde ich, ich sollte vielleicht Sie um Ihr Autogramm bitten.« Sie faßte seinen Arm und sagte nichts mehr. Plötzlich und unerwartet waren sie sich ganz nahe. Steve brach das Schweigen erstmals der lange Abstieg nach Orlando begann. »Ich denke gerade, es ist zu schade, daß Sie die Saturn V nicht fliegen sehen können.« »Diese Saturn IB reicht mir durchaus«, antwortete sie. Sie sprach von dem bemannten Flug, dessen Start sie vom Kennedy-Raumfahrtzentrum sehen wollte. Der amerikanischen Hälfte des Apollo-Sojus-Gemeinschaftsunternehmens. »Aber sie ist viel kleiner – allerdings auf ihre Art recht eindrucksvoll. Doch nun stellen Sie sich einmal vor, daß nur
eines der fünf Triebwerke aus der ersten Stufe der Saturn V so stark ist wie alle acht bei der ersten Stufe der Saturn IB…« Er schüttelte den Kopf. »Bei dieser Saturn V habe ich anfangs geglaubt, wir kriegten das Ding nie vom Boden hoch.« »Ich werde mir die IB ansehen, und Sie erzählen mir dann über Big Mamoo. So haben Sie die Saturn V doch genannt, glaube ich.« »Woher wissen Sie das?« »Rudy hat mir verraten, welche Namen Sie Ihren Spielzeugen geben.« »Spielzeuge?« »Sie kennen doch das alte Sprichwort, Steve. Der einzige Unterschied zwischen Männern und Knaben ist der Preis ihrer Spielzeuge.« »Spötterin.« Sie lachte und dann schwieg sie, während die Maschine sich einen Weg durch die Wolken bahnte. Als sie den weißen Dunst hinter sich hatten, erstreckten sich unter ihnen die Ebenen von Florida, aber sie waren immer noch hoch genug, daß die Autos nichts weiter als Pünktchen auf den fadendünnen Straßen waren. »Es ist schon traurig, wenn man darüber nachdenkt«, sagte Page wie im Selbstgespräch. »Page, mit Ihren Stimmungen geht es tatsächlich rauf und runter. Was ist traurig?« »Ich mußte nur gerade daran denken, daß dies die letzte Saturn ist, die je starten wird. Es ist schwer, sich damit abzufinden.« »Sie werden es wohl müssen«, antwortete er, »und so traurig ist es außerdem gar nicht. Mit jedem Projekt steigen wir eine Stufe höher. Solche Klagen wie jetzt von Ihnen haben wir auch gehört, als Gordon Cooper nach Mercury Neun abstürzte. Al Shepard sollte eine weitere Mercury-Mission fliegen, aber die
NASA blies die Sache ab. Sie waren der Ansicht, wir hätten von den Konservenbüchsen-Raumschiffen alles gelernt, was wir konnten, und das Geld sollte besser für Gemini verwendet werden. Damit haben wir dann zehn bemannte Raumflüge durchgeführt, und als das Gemini-Programm abgesetzt wurde, gab es wieder Tag und Nacht großes Geschrei. Aber uns hatte es gelehrt, was wir brauchten, um die Entwicklung der Apollo vorantreiben zu können.« »Das leuchtet mir alles ein«, erwiderte sie, »aber ich kann nicht verstehen, warum die letzten vier Mondlandungen gestrichen worden sind. Stellen Sie sich vor, was wir alles hätten lernen können, wenn – « »Jetzt vergessen Sie etwas. Sicher, vier weitere Mondlandungen wären eine großartige Sache gewesen. Aber jemand an der Spitze hatte eine Entscheidung zu treffen. Die Gelddecke wurde dünn, Page. Sollten wir die Mondflüge mit der Apollo fortsetzen, oder sollten wir uns auf Skylab konzentrieren? Auf lange Sicht war Skylab die bessere Wahl.« Es überraschte sie, das von einem Mann zu hören, der selbst den Fuß auf den Mond gesetzt hatte. »Glauben Sie das wirklich, Steve?« Er lachte. »Ich bin jetzt älter und klüger, Page. Darum keine Krokodilstränen um diese letzte Apollo für das Gemeinschaftsprogramm mit den Russen! Alles, was wir mit der Apollo tun können, können wir hundertmal besser mit dem Raumtransporter tun. Mir gefällt die fünfjährige Verzögerung ebenso wenig wie jedem anderen, aber wir bekommen den großen Eisenvogel und – « »Vergessen Sie jetzt nicht, was wir vor ein paar Tagen mit Goldman besprochen haben?« »Ich vergesse nichts. Wir reden von zwei verschiedenen Dingen. Ich finde es bemerkenswert, daß wir trotz unseres Talents dafür, uns gegenseitig über den Kopf zu hauen,
zusammen mit den Russen diese Mission fliegen. Es ist doch wirklich noch nicht lange her, daß so etwas ins Reich der Fantasie gehörte. Ein Freund von mir hat darüber geschrieben. Haben Sie je das Buch ›Marooned‹ gelesen?« »Nein, aber ich habe den Film gesehen.« »Und nun erleben Sie mit dem Apollo-Sojus-Flug, wie der Film zur Wirklichkeit wird. Wenn sich aus dieser Unternehmung das entwickelt, was wir uns davon erhoffen, dann, Page, steht es fest, daß jeder von uns dem anderen, der in Gefahr gerät, zu Hilfe kommen kann.« Sie durchflogen eine Turbulenz, und Steve zog seinen Haltegurt fester. »Es gibt noch mehr erstaunliche Dinge zwischen Himmel und Erde«, bemerkte er. »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel hätte ich in tausend Jahren nie geglaubt, daß sich hinter all der eiskalten Routine eine wirkliche Frau verstecken könnte.« »Und nun haben Sie sie gefunden?« »Wer weiß?« lächelte er. Durch die DC-8 ging eine Erschütterung, als das Fahrwerk ausgefahren wurde und der Pilot mit einem Aufheulen der Maschinen noch einmal Energie zuführte. Das Flugzeug ging in die Schräglage. Sie sahen hinunter und erblickten eine grüne Landschaft. Steve spürte das Umschlagen ihrer Stimmung beinahe ebenso schnell wie er den Wechsel ihres Gesichtsausdrucks bemerkte. Sie wurde ernst. Offenbar versuchte sie, für das, was sie sagen wollte, die richtigen Worte zu finden. »Steve…« »Was es auch sein mag, immer heraus damit!« Sie nickte und sah ihn gerade an. »Steve… wann wären Sie soweit, daß Sie das Asp in eine Umlaufbahn fliegen könnten?«
Er maß sie mit einem prüfenden Blick. »Ich bin soweit. Dies ganze Training in Edwards zielte doch auf einen Orbitalflug hin. Bisher haben wir es nur noch nicht versucht. Wir brauchen nichts weiter als einen stärkeren Schub dazu. Mit dem neuen Treibstoff für das Asp« – er zuckte die Schultern – »würde schon eine Titan 3X genügen.« »Darf ich mal ein paar ›Wenn‹-Fragen stellen?« »Könnte ich Sie daran hindern?« »Das will ich nicht hoffen. Also gut. Angenommen, wir hätten eine Rakete und das Asp wäre startbereit. Weiter angenommen, daß – « »Page, was wollen Sie mir da schonend beibringen?« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Bitte, haben Sie Geduld mit mir.« »Wollen Sie wissen, wann ich selbst startbereit wäre, wenn wir für die Maschine grünes Licht hätten?« Sie nickte. »Morgen früh. Ist Ihnen das früh genug? Wenn ich nämlich darüber nachdenke, daß ich wieder – « Er unterbrach sich und blickte nach draußen. Das Flugzeug setzte gerade zum endgültigen Anflug auf Orlando an. »Okay, ich habe Ihre Frage beantwortet, und nun darf ich eine stellen, ja?« Sie sah vor sich hin und nickte. »Um was geht es eigentlich, Page? Auf was wollen Sie hinaus?« »Es geht um unsere Reise hierher. Daß wir uns den ApolloStart ansehen wollen.« »Und was hat es damit auf sich? Es kommen ein paar hunderttausend Leute her, um das Ding fliegen zu sehen.« »Wir sind aus einem anderen Grund hier. Unser gemeinsames Eintreffen ist eine Tarnung. Sie werden hier am Kap gebraucht. Sie können sich nicht zeigen, ohne daß Sie erkannt werden. Wenn Sie als Colonel im Dienst hier aufkreuzten,
würden sofort Fragen gestellt werden. Wir hätten auch ohne den Raketenstart herkommen müssen. Aber es trifft sich gerade gut, daß wir durch das zeitliche Zusammentreffen einen Vorwand haben.« Seine Verblüffung war ihm unschwer vom Gesicht abzulesen. »Es ist ein Vorwand, daß wir uns den Start ansehen wollen?« »Ja, das… und noch etwas anderes.« Die Düsenmaschine sank auf die Landebahn. Ihre Worte wurden von dem plötzlichen Maschinenlärm beinahe übertönt. »Wir sollen uns häufig zusammen sehen lassen, damit der Eindruck erweckt wird… damit… also, die Tarnung besteht darin, daß wir uns als Verlobte ausgeben.« Er verschluckte sich. »Aus welchem Grund? Um Himmelswillen, warum das ganze Theater?« Sie rollten von der Landebahn auf die Flughafengebäude zu. Page senkte ihre Stimme. »Steve, Sie werden wieder in eine Umlaufbahn fliegen.« Jetzt beeilte sie sich fortzufahren: »Schon seit mehreren Monaten haben wir hier am Kap ein Asp. Niemand weiß etwas darüber. Es befindet sich auf dem Titan-Komplex im Vertical Integration Building. Dort werden die Änderungen vorgenommen, die sich aus den Testflügen von Edwards aus ergeben haben. Wie gesagt, niemand hat auch nur eine Ahnung.« »Sie meinen, ich werde das Ding fliegen… an der Spitze einer 3X?« »Ja.« »Aber… das ist doch großartig! Unglaublich! Ich verstehe nur nicht, wozu die Geheimnistuerei dienen soll. Nicht gegenüber der Öffentlichkeit, sondern mir gegenüber. Warum durfte ich das erst in diesem Augenblick erfahren?« »Weil ich mit Ihnen fliegen werde, Steve.«
XII
Eine Reihe von Pelikanen flog, einer hinter dem anderen, knapp an dem Balkon vorbei und warf tanzende Schatten auf das Panoramafenster des Apartments an der Küste des Atlantischen Ozeans. Diese im sechsten Stock gelegene Wohnung hatte Steve Austin von einem Freund geliehen, damit es keine Schwierigkeiten mit den ständig am Kap herumwimmelnden neugierigen Presseleuten gab. Dort hatte er im Augenblick eine heftige Diskussion mit den drei Männern, mit denen er auch im Konferenzsaal der Edwards Air Force Base in Kalifornien zusammengesessen hatte: Dr. Rudy Wells, Colonel Ted Anderson und die Nervensäge Oscar Goldman von OSO. »Ihr seid verrückt, alle drei«, erklärte Steve ihnen gerade. »Schließlich wird es das erste Mal sein, daß dieses Schiff in eine Umlaufbahn geht.« »Irgendwann ist es immer das erste Mal, Junge«, antwortete Anderson. Er hatte es sich auf der Couch am Fenster bequem gemacht und sah mit Vergnügen der Pelikan-Parade zu. »Ja, aber sie ist noch nie im Orbit gewesen!« »Du auch nicht, bevor du es zum erstenmal gemacht hast«, warf Goldman ein. »Übrigens, wieviel Monderfahrung hattest du denn, bevor du zum Mond geflogen bist?« »Das ist nicht dasselbe.« »Wer behauptet das denn?« Jetzt attackierte ihn auch Rudy Wells. »Als Fliegerarzt kann ich nur sagen, Page Rossi ist für diese Mission voll qualifiziert.« »Und als Leiter des Testflugprogramms in unserem Wüstenpalast kann ich nur sagen«, faßte Anderson nach, »daß
sie als Pilotin und Astronautin voll qualifiziert ist. Und dazu kommt noch – du wirst es zwar nicht gern hören –, daß sie von euch beiden die wichtigere Person ist. Ich kann mehr als einen erfahrenen Astronauten bekommen, doch sie ist für die Mission einmalig.« »Aber warum diese Hast?« wollte Steve wissen. »Sie und ich haben keine Gelegenheit gehabt, gemeinsam zu trainieren. Wenn wir mit dem Asp in eine Umlaufbahn gehen, müssen wir als Team zusammenarbeiten, und so etwas braucht seine Zeit.« »Jetzt hast du Zeit dafür, Steve«, widerlegte ihn Anderson. »Und du solltest jede Minute nutzen«, fiel Goldman ein. »Unser Symbot-Terminplan ist gerafft worden.« »Warum sagt ihr mir nicht offen und ehrlich, was vorgeht? Von der ganzen Geschichte habe ich zum erstenmal durch Page gehört. Wie wäre es, wenn ihr mir den Rest erzähltet?« »Wie du zweifellos schon vermutet hast, ist die Sache geheim«, ergriff Goldman das Wort. »Aber kompliziert ist sie nicht. Die Gruppe im Kongreß, mit der wir zusammenarbeiten, hat sich endgültig entschlossen, uns die Mittel zur Verfügung zu stellen, die wir für das Asp und das Projekt Symbot brauchen. Nur verlangen sie von uns, daß wir sofort unter Beweis stellen, was wir damit leisten können. Du willst eine offizielle Information beziehungsweise einen Befehl? Hier ist er: Solange du hier bist, um scheinbar mit Page Rossi dem Apollo-Start zuzusehen, wirst du einen Teil deiner Zeit damit verbringen, innerhalb des Vertical Integration Building die Systeme und die vorgenommenen Änderungen an dem Asp zu überprüfen. Wenn du abreist, werden die Umbauten fortgeführt, und dann wird der Vogel an die Abschußrampe gerollt.« »Wenn du abreist«, ergänzte Wells, »heißt es für dich, zurück nach Colorado für die bionische Anpassung. Dr. Rossi kommt auch mit. Das ist alles schon – «
»Moment mal«, fuhr Steve dazwischen. »Warum bist du nicht mehr für die bionische Arbeit verantwortlich?« »Ich bin immer noch für dich verantwortlich. Ich leite den bionischen Teil der Angelegenheit, aber Dr. Rossi ist für das Asp-Programm am besten geeignet, und sie wird die integrierten Schaltungen einbauen, die dir die Symbiose mit dem Raumschiff ermöglichen. Sie wird die Arbeit überwachen, sie wird die Wirksamkeit der Bioelektronik beurteilen. Aber was sie auch in Colorado erledigen kann, die endgültige Bestätigung auf physiologischem und bionischem Gebiet wird erst der Orbitalflug bringen – erst dann kann sie prüfen, wie es mit deiner Leistungsfähigkeit und der des Schiffes und dem Ausmaß der Integration steht.« Ted Anderson fügte von der Couch aus hinzu: »Steve, du weißt doch schon recht gut, was von dir verlangt wird. Solange du hier am Kap bist, hast du zwei Aufgaben. Eine davon ist, zusammen mit Page Rossi in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Wir werden dafür sorgen, daß die Zeitungen, angefangen mit ›Today‹, kleine Berichte über euch bringen. Wir werden Bill Cummins veranlassen, daß sein Sender euch auch erwähnt – « Goldman wandte sich Steve zu. »Unterschätze die Bedeutung des gesellschaftlichen Lebens nicht. Du bist dir doch im klaren darüber, daß du dich nicht zeigen kannst, ohne die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Ober das Gemeinschaftsunternehmen wird ausführlich von der Presse berichtet. Auch die Russen haben Beobachter hier. Sie werden dich sehen, und sie werden ihren Ehrgeiz darein setzen, herauszufinden, was du hier zu tun hast. Wenn wir sie überzeugen können, daß es sich um eine Kombination aus Sightseeing und Liebesgeschichte handelt, haben wir deine Spuren ganz schön verwischt.« Anderson griff den Faden wieder auf. »Die meiste Zeit wirst du auf deine Arbeit im Titan-Komplex verwenden müssen. Im
Vertical Integration Building natürlich. Übrigens werden wir die Asp-Crew von Edwards einfliegen, damit sie mit dir zusammenarbeiten kann. Wenn du dann mit allen Checks fertig bist, verfügst du dich nach Colorado. Noch Fragen?« Steve antwortete nicht gleich. Ohne die drei Männer zu beachten, trat er auf den Balkon und sah aufs Meer hinaus. Einige Minuten lang dachte er an überhaupt nichts. Er beobachtete die Pelikane und die auf- und niedersteigenden Möwen. Er horchte auf ihre Schreie, die die Brandung übertönten. Rechts hob sich in weiter Entfernung eine Boeing ARIA von der Patrick Air Force Base in die Luft. Ihr gedämpftes Donnern mischte sich mit dem Brechen der Wellen ganz in der Nähe. Zu seiner Linken standen die Türme von Kap Canaveral gegen den Horizont. Schließlich kehrte Steve in die Wohnung zurück. Anderson begann, über Einzelheiten der Mission zu berichten, von der er durch Page nur in großen Umrissen gehört hatte. »Wir würden am liebsten gleich einen Flug mit polarer Umlaufbahn machen«, sagte Anderson, »aber soweit sind wir noch nicht. Wir haben die Maschine, doch wir möchten sie zuerst unter weniger harten Anforderungen testen. Du wirst, zusammen mit Colonel Rossi als Systemüberwacher, ein mit Titan-Rakete ausgerüstetes Asp hier vom Kap starten. Dabei werden die Tragflächen ins Innere des Schiffes gezogen sein. Die Unternehmung wird auf dieselbe Art geheimgehalten werden wie die Viking- und andere Missionen. Zur Tarnung verbreiten wir die Nachricht, es handele sich um einen ganz neuartigen militärischen Satelliten, um einen unbemannten natürlich… Abgesehen von den mit dieser Sache befaßten Schlüsselpersonen wird niemand wissen, was sich an der Spitze der Titan 3X befindet. Nichts wird auf einen bemannten Flug hindeuten. Alle Kommunikationen, alle Fernmessungen
werden den Eindruck erwecken, es handele sich wirklich um den Satelliten, von dem wir gesprochen haben.« Anderson holte tief Luft. »Es wird keine Spur davon geben, daß sich eine Rettungsmannschaft in Bereitschaft hält.« Er bemerkte, daß Steve eine Augenbraue hochzog. »Aber natürlich werden wir eine ARIA auf der Einschußbahn haben, und die Navy schickt Schiffe und Unterseeboote in die entsprechenden Unterflugkorridore. Allerdings werden nicht einmal sie wissen, um was es geht, das heißt, sie werden nicht wissen, daß es sich um einen bemannten Raumflug handelt. Kommt es zum Absturz, werden die Rettungsmannschaften wie üblich in Aktion treten. Fallschirmspringer von C-130 und 141-Flugzeugen, Unterseeboote, wenn möglich, in Position. Du kennst das ja, Steve.« »Wenn wir überhaupt eine nennenswerte Höhe erreichen, können wir die Tragflächen ausfahren und fliegen.« »Das stimmt«, sagte Anderson. »Aber ich habe dir offiziell mitzuteilen, daß du wegen der geringeren Rettungsbereitschaft bei dieser Mission durchaus berechtigt bist, dich zu entscheiden, nicht – « »Hör auf, Ted, und erkläre mir alles übrige.« »Ich glaube, da kann Oscar am besten tun.« »Warum du, Oscar? Das ist doch keine Angelegenheit von OSO.« »Da irrst du dich, Steve. Wir haben dich nicht abgeschrieben. Du weißt ja, daß wir dich nur ausgeliehen haben. Aber auch abgesehen davon ist es sehr wohl eine OSO-Sache. So wichtig der Flug an sich ist, es ist noch mehr mit dieser Mission verbunden… Du wirst in einem Neigungswinkel von achtundzwanzig Grad in die Umlaufbahn gehen.« Steves Gesicht zeigte seine Überraschung.
»Ja, du hast richtig gehört«, führ Goldman fort. »Wir wollen einen vollständigen Wechsel der Ebene durchexerzieren. Und dann wirst du ein Rendezvous mit Skylab durchführen.« Steve konnte nicht glauben, was er da vernahm. Ein Rendezvous mit dieser großen, verlassenen Hülle der Raumstation? Die Möglichkeit, die Ebene zu wechseln, brauchte nicht erst erprobt zu werden. Das hatten sie mit Gemini und Apollo so oft getan, daß – Er schüttelte den Kopf und forderte Goldman auf weiterzusprechen. »Die Raumstation befindet sich in stabiler Position auf einer Höhe von zirka 236 Meilen.« Goldman zögerte, und dann kam er auch noch mit dem Rest heraus. »Ihr werdet euch in das Innere des Dings begeben – « »Was sollen wir?« »Du und Dr. Rossi, ihr werdet das Skylab betreten – « »Du bist verrückt! Niemand weiß, in welchem Zustand es sich heute befindet.« »Es ist stabilisiert worden«, erinnerte Anderson ihn. »Das ist nicht genug.« Steves Ton deutete an, daß er dort draußen gewesen war und aus erster Hand wußte, um welche Probleme es ging. »Steve, das Programm steht fest«, fiel Goldman ein. »Einschließlich Rendezvous mit Skylab und Betreten der Station. Ihr beide werdet ins Skylab gehen. Du wirst das Andocken mit dem Kontrollraum genau ausarbeiten. Aber du wirst hineingehen und davon Filmaufnahmen machen. Dramatische Filmaufnahmen, mit denen wir die maßgeblichen Herren beeindrucken können. Der Flug wird nicht aus wissenschaftlichen Gründen unternommen. Du wirst einiges an Spezialausrüstung mit zurückbringen, das eigens für diesen Zweck in der Station gelassen worden ist.« Steves Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Eines der letzten Teams das oben im Skylab war«, erklärte Goldman, »hat auf Befehl der Air Force ein paar Gegenstände oben gelassen. Wir hatten uns schon vor langer Zeit ausgerechnet, daß wir eines Tages in genau der Situation sein könnten, in der wir jetzt tatsächlich sind, und wir haben damals bereits die ersten Schritte unternommen. Das ist alles mit vollem Wissen der NASA geschehen. Denen gefällt es ebenso wenig wie uns, daß wir fünf Jahre lang auf die bemannte Raumfahrt verzichten sollen.« Die Erkenntnis, daß die Air Force, die NASA und das OSO jahrelange Intrigen gesponnen hatten, machte Steve keine Freude. In Gedanken beschäftigte er sich mit den Problemen, die sich aus dem Betreten der aufgegebenen Raumstation ergeben mochten. Sicher, die NASA hatte für Stabilisierung mit den Steuerdüsen gesorgt, und die Instrumente und einige Kameras für die Forschungs- und Kontrolltestarbeit waren immer noch in Betrieb, denn die Raumstation gewann auch weiterhin Energie aus den Sonnenzellenflächen. Trotzdem ließ sich nicht vorhersagen, was geschehen sein konnte – Meteoriteneinschläge, Beschädigungen an der Ausrüstung, giftige Gase, Fehler an der Entlüftung… Und wenn alles gut ging, mußte er noch einmal auf den Operationstisch, um an seinen eigenen Systemen die notwendigen Änderungen für eine polare Umlaufbahn vornehmen zu lassen – und wieder würde Page Rossi dabei sein. Immerzu tauchte sie jetzt in seinem Leben auf, und das würde wohl für geraume Zeit so weitergehen… »Wir brauchen von diesem Augenblick an deine volle Kooperation«, ließ sich Goldman hören, »denn das SkylabRendezvous gibt uns die Möglichkeit, die Fahrkarte für die polare Umlaufbahn zu kaufen. Wer auch immer das Raumschiff fliegen mag, er wird mit ihm zu einem Verstand, zu einem Körper zusammengeschlossen werden. Und Page
Rossi ist, ganz gleich was du oder sonstwer darüber denkt oder sagt, die einzige Person in diesem Land, die mit dieser Aufgabe fertig werden kann. Wir haben nicht die Zeit, andere Leute bis auf ihr Niveau zu bringen. Sie fliegt als Systemüberwacher mit und – « »Als Systemüberwacher? Warum sagst du nicht gleich als Babysitter? Sieh mal, ich fliege das Ding. Was ist, wenn ich sie nicht dabei haben möchte?« »Colonel Austin, dann werden Sie überhaupt nicht mehr fliegen.«
XIII
So schlimm war es gar nicht. Wenn sie nicht gerade als Ärztin oder als Lieutenant-Colonel oder als Wissenschaftlerin oder gar als Astronautin auftrat, konnte Page bemerkenswert charmant und feminin sein… in einem Abendkleid beim Dinner… in einem Bikini auf dem flachen Sandstrand von Cocoa Beach. Sie war hübsch anzusehen, sie war geistreich, und bei ihrem Anblick stolperten die Männer über die eigenen Füße. Sie und Steve sorgten dafür, daß sie an den bekanntesten Plätzen entlang der Platinküste gesehen wurden – und das hieß in Cocoa Beach im »Ramon«, im »Surf« und in der »Mausefalle«. »Bei Alma« nahmen sie ein Spaghetti-und Wein-Dinner, und auf der anderen Straßenseite tischte Pedro wundervolle spanische Mahlzeiten auf. Sie fuhren zum »Ocean Grill« in Vero Beach, flogen mit Freunden nach Tampa und besuchten dort »Bern’s Steakhouse«. Sie machten das alles wirklich sehr gut. Aber wenn sie sich auf dem abgesicherten Titan-Startgelände innerhalb der höhlenartigen Bereiche des Vertical Integration Building an ihre Arbeit am Asp machten, schien Page Rossi eine Art von innerem Schalter zu betätigen und wurde auf der Stelle kalt, unerreichbar, tüchtig – und, was Steve Austin betraf, nervtötend. Er selbst hatte in vielen Jahren die Fähigkeit entwickelt, hart zu arbeiten, ohne sich das äußerlich anmerken zu lassen. Page Rossi verließ sich in nichts auf andere. Sie mußte jedes kleinste Detail selbst besichtigen und kritisieren. Mehr als einmal war Steve nahe daran, die Beherrschung zu verlieren und aus der Sache auszusteigen.
Er tat es jedoch nicht. Der Sirenengesang – das war es für ihn – des Raums war viel zu verführerisch und zu eindringlich. Dazu kam, daß der Gedanke der Mensch-Maschinen-Symbiose ihn faszinierte. Stundenlang dachte er darüber nach, wie es sein würde, wenn sein Verstand und sein Körper mit dem schimmernden Raumschiff zu einer neuen Wesenheit zusammenschmolzen. Wenn sie den Komplex durch die scharf bewachten Tore verließen und auf der nach Süden führenden Straße auf das Außentor zufuhren, wenn sie dann schließlich die lange, rings um Port Canaveral herumlaufende Straße erreicht hatten, wurde der Schalter wiederum betätigt. Page hielt nichts davon, ihre – oder seine – Arbeit von der Arbeitsstelle mit nach Hause zu nehmen. Auch beim Treffen mit anderen Astronauten via Mary Bubb, die nicht nur die alten hektischen Zeiten am Kap, sondern bereits den Jahrzehnte zurückliegenden Krieg miterlebt hatte und stets der Mittelpunkt von Partys war, an denen Astronauten, ausgewählte Journalisten und Freunde teilnahmen, trat Page nur als Steves Verlobte auf. Bei diesen gesellschaftlichen Ereignissen hatte niemand eine Ahnung, daß die fröhliche, charmante Dame an Steves Arm gleichzeitig die erste voll qualifizierte Astronautin des Landes war. Ebenso wie Steve Austin machte Page Rossi nichts halb.
Steve lernte es, sowohl mit den zwei Seelen in Pages Brust als auch mit seinen eigenen gemischten Gefühlen ihr gegenüber zu leben. Dabei wuchs sein Respekt vor ihren beruflichen Fähigkeiten ständig. Und beinahe, ehe sie es merkten, war der Morgen des Apollo-Starts da. Steve wäre gar zu gern mit Stafford, Slayton und Brand in den Quartieren der Crew im Kennedy-Raumfahrtzentrum
gewesen, aber das letzte, was er tun konnte, war, Page Rossi dorthin mitzunehmen, und die Air Force (angestachelt von dem sich im Hintergrund haltenden OSO) bestand darauf, daß sich »das Paar« weiterhin ständig in der Öffentlichkeit zeigte. So schlossen sich Steve und Page auf den Presseplätzen von Komplex 39, unmittelbar südlich des riesigen, monolithenhaften Vertical Integration Buildings gelegen, den Journalisten an. Diese waren gekommen, um einer Geburt und einem Begräbnis beizuwohnen – einem großartigen Start und dem Totengeläut für die Saturn-Raketen. Der geplante Ablauf wurde nicht ganz eingehalten. Die Saturn IB hätte um 12.32 Uhr abheben sollen, aber dann mußte der Countdown unterbrochen werden, weil ein Druckregler abweichende Werte zeigte. Für die Techniker begann das altbekannte Spiel, herauszufinden, ob die Meßdaten richtig waren und der Fehler an der Rakete lag oder ob die Instrumente verrückt spielten und die Rakete in bester Ordnung war. In der Zwischenzeit hatten die Russen ihre Sojus in eine niedrige Umlaufbahn eingeschossen. Sie hatten einige Probleme damit gehabt, die gewünschten Konstanten für den Orbit zu erreichen, aber ihre Korrekturen waren erfolgreich, und die Computer zeigten, daß das russische Schiff für das Rendezvous mit der Apollo in der richtigen Position sein würde. Die NASA entschied, daß der Start jederzeit stattfinden solle, sobald sich das nächste Fenster öffne, was um 18.30 an diesem Abend der Fall war. Dieser Einsatz lohnte sich. Nach Stunden des Wartens, Schlafens, Kartenspielens und des Herunterrasseins vieler Seiten Text erwachte das Pressekorps wieder zum Leben, als der Countdown bei minus 52 Minuten von neuem aufgenommen wurde. Die magischen Worte »Countdown läuft« machten sie alle munter.
»Du hast Glück«, versicherte Steve Page. »Was anfangs nach nichts anderem aussah als einem weiteren Start, wird jetzt ein Nachtschuß werden. Hast du schon einmal gesehen, wie mitten in der Nacht die Sonne aufgeht?« Sie hing an seinem Arm und sah mit anbetenden Augen zu ihm auf. Steve konnte sich denken, daß sie ein paar Kameraleute entdeckt hatte, die gerade herzbewegende Aufnahmen von dem letzten Mann machten, der über den Mond geschritten war – zusammen mit der Dame, die höchstwahrscheinlich seine erste Frau werden würde. »Page, ich habe im Ernst gesprochen.« »Ich weiß. Habe nur meine Pflicht erfüllt. Steve, können wir nicht weg von hier gehen, nur bis an die Ecke des Bassins? Ich möchte den Kameras gern entfliehen.« Er sah sich um und nickte. »Die beste Idee, die du heute gehabt hast.« Sie stiegen von der Tribüne und schlossen sich den Leuten an, die sich in der einfallenden Dämmerung um das Wasser versammelten, wo jahrelang die großen Saturn-Stufen vorbeigetrieben waren. Jetzt hatten sie niemanden mehr vor sich, und sie verloren sich in den Gruppen, die neben und hinter ihnen standen. Steve reichte Page sein Fernglas. In einer Entfernung von fünfzehntausend Fuß sah die Saturn IB immer noch überlebensgroß aus. Weiße Suchlichter spielten auf den glitzernden Eismänteln um die Kryogentanks. Die Saturn IB stand auf einem massiven Postament, weit über der Plattform der Abschußrampe, und die Kryogentanks mit dem tiefstgekühlten flüssigen Sauerstoff und flüssigen Wasserstoff entsandten in Windrichtung lange Schweife wirbelnden Dampfes. In dem von den Suchscheinwerfern durchdrungenen Zwielicht hörten sie das ständige Dahintröpfeln der Durchsage, die die entschwindenden Minuten und Sekunden zählte.
Als die letzten Augenblicke gekommen waren, hatte der Tag sich endgültig verabschiedet. Hoch über ihnen war es noch hell. Auf dem Boden waren sie mit der untergegangenen Sonne in ihrem Rücken in Dunkelheit gehüllt. Diesmal wurde der Countdown bis zum Ende durchgeführt. Page merkte, daß sie vor Aufregung und Furcht ihre Finger in Steves Arm gekrallt hatte. Er drückte sie fest an sich, als unter der großen Rakete eine Sonne aufloderte. Für lange, unendlich lange Sekunden war die Startrampe ein blendender Katarakt aus Flammen. Die Rakete stand da, an Metall angekettet, unbeweglich, aber sie konnten es beinahe fühlen, wie das Ungeheuer sich anstrengte, um freizukommen. Endlich sprangen die haltenden Arme zur Seite, ein herrliches goldorangefarbenes Feuer brach aus, und die Saturn hievte sich nach oben. Jetzt war nichts anderes mehr zu sehen als Licht – reines, goldenes Licht, das sich in einem zackigen, dicken Strom nach unten ergoß. Die Rakete selbst war unsichtbar geworden, verloren in der blind machenden Explosion nackten Lichts. Rings um die aufsteigende Sonne wurde die Nacht vertrieben, und Page sah zu ihrer Überraschung Tausende von Vögeln, die durch das unerwartete, heftige Einbrechen des Tageslichts erschreckt worden waren, in die Luft flattern. Es kam ihr merkwürdig vor, daß sie ganz in der Nähe das Flattern der Vogelschwingen hörte. Da stimmte doch etwas nicht! Dann wurde ihr klar, daß der Schall von der Startrampe bis zu dem Platz, wo sie und Steve standen, fünfzehn Sekunden brauchte. Und in diesem Augenblick überfiel sie mit ohrenzerreißender Heftigkeit das Brüllen des aufsteigenden Giganten. Es war nicht einfach ein Brüllen… Hier kletterte eine Schubkraft von einer und einer halben Million Pounds langsam in den Abendhimmel. Die Schockwellen fielen übereinander her und durchdrangen sich, so daß statt eines Brüllens
zerhackte, sich überlagernde Donnerschläge in ihre Ohren und auf ihre Körper prallten. Als das Geräusch von immer höher ertönte und ein eigenes Echo gewann, wurde es zu einem großen Messer, das den Himmel zerteilte. Sie wurden Zeugen, wie ein Vulkan aufstieg und die Erde erschütterte. Je weiter die Rakete aufstieg, desto mehr klang der Lärm ab, bis er zu dem Geheul eines Riesen wurde, der vor sich selbst davonlief. Die Rakete warf die Nacht beiseite, setzte dünne Wolken in Flammen und raste hindurch. Nun konnten sie die Schockwellen sehen. Gelb vertiefte sich zu Orange und wurde zu Rot. Eine Korona entstand, als die Saturn die Region des maximalen aerodynamischen Drucks durchstieß. In feuriger Glorie entfaltete sich die Flamme wie eine Rose nach allen Richtungen. Was dann folgte, war noch nie zuvor bei einem Saturn-Start beobachtet worden. Die gewaltige Rakete erreichte im Raum die Grenze des Schattens, den die Erdkugel warf. In dieser großen Höhe herrschte Tageslicht, und die Saturn heulte aus der Nacht in die letzten Spuren des Tages weit über der Erde. Schlagartig wurden die Rakete und ihr sich immer noch ausbreitender Schweif von der Sonne getroffen. Die Flamme wechselte wiederum die Farbe. Sie wurde blutrot, verwandelte sich zurück in ein klares Orange, und während das Plasma der Flamme im sich nähernden Vakuum verschwand, entstanden an den Rändern violette Feuerstreifen. Jede Sekunde wurde der Anblick phantastischer. Die Saturn hatte den Treibstoff der ersten Stufe verbraucht. Im Fast-Vakuum verstummten die acht Triebwerke. Einen Augenblick lang war keine Flamme zu sehen, wohl aber das tiefrote Glühen der Brennkammern. Zwischen den beiden Raketenstufen blitzte ein weißer Ring auf. Die Sprengbolzen trennten die nutzlos gewordene erste Stufe ab.
Plötzlich trat mit einer Explosion die obere Stufe ins Leben. Im Schweigen des Raums erschien ein glitzernder Halo um die brennende S-IVB-Stufe und ihr einziges Triebwerk. Ionisierte Gase rasten von der beschleunigenden Rakete in alle Richtungen und breiteten den Halo mit erschreckender Geschwindigkeit aus. Normalerweise wäre dies mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen gewesen, aber in diesem Moment, diesem besonderen Moment, der den Tag von der Nacht schied, absorbierte die Aureole die volle Sonnenbestrahlung, während Steve und Page und alle die anderen Zuschauer im Dunkeln standen. Der Halo wurde zu einer großen, pulsierenden Kugel, die hellgrüne Farbe annahm und dann begann, glitzernde Punkte in Rosa und Purpur zu zeigen. Er schwoll an wie ein gigantischer Tränentropfen, bis er einen Durchmesser von mehr als hundert Meilen hatte. Und in diesem Ding saßen Menschen. Inmitten der im Raum glühenden Gase, deren grünliche Tönung sich ständig vertiefte, erschienen sich bewegende Lichter. Wegen der Plasma-Träne waren die Flammen der oberen Raketenstufe nicht in dem vertrauten Rot oder Gelb oder Orange zu sehen, sondern in einem weißlichen Grün mit pulsierenden blauen Saphiren. Während sie von Sekunde zu Sekunde schneller aufstiegen, erzeugten sie ihre eigene sich aufblähende Gaskugel, die innerhalb der viel größeren PlasmaTräne anwuchs. Bald darauf konnten sie beobachten, wie das Licht in der Form von Wirbeln und Turbulenzen zu ihnen zurückkehrte, glitzernde Spiralen, eine nach der anderen, ein Plasma-Strudel weit über den oberen Ausläufern der Atmosphäre. Und das S IVB-Triebwerk brannte weiter und schob die Rakete höher und höher.
Dann erschien am Himmel rechts unterhalb dieses Lichts ein einzelnes flammendes Juwel – ein hartes, weißlich-grünes Licht, das nicht von der Saturn-Rakete stammte. Es war der Planet Venus, der durch das wirbelnde Kaleidoskop aus Grüntönen schimmerte. Noch ein Licht tauchte auf, und es stand scheinbar höher als alles andere. Das war eine optische Täuschung. Die leere erste Stufe der Saturn, die kopfüber, kopfunter aus dem Raum taumelte, fiel zurück in die Atmosphäre. Die Reibung zerrte an ihrer Metallhaut, brachte sie zum Glühen und schließlich zum Brennen. Der kreiselnde Fall der Raketenstufe fügte dem überwältigenden Schauspiel am Himmel einen orange purpurfarbenen Schein hinzu, der für das nackte Auge jetzt die Szene beherrschte. Die Träne hatte sich in die Länge und Breite gestreckt, bis sie zu einem gewaltigen weißen Ballon aus hauchfeiner Substanz, gesprenkelt mit grünen Wirbeln, geworden war. Steve betrachtete den Himmel durch sein Fernglas. Ohne ein Wort zu sprechen, reichte er es Page, und als sie es an die Augen führte, überraschte es ihn gar nicht, daß sie ein erstauntes Aufkeuchen von sich gab. Durch das Fernglas gesehen, explodierten die Farben zu neuen Protuberanzen. Das flammende Raketentriebwerk ließ den seltsamen Strudel im Raum kreiseln und entsandte in alle Richtungen glitzernde Bänder, bis Page durch verschiedene Schichten von Wirbeln sah, die sich alle bewegten, aneinanderstießen und sich durchdrangen. Die abstürzende erste Stufe schien aufgrund der Erdkrümmung höher zu sein als die noch arbeitende obere Stufe und die Venus. Die S-IVB-Stufe mit der Apollo-Kapsel folgte in großer Höhe dem Kreisbogen des Planeten. Aber die leere erste Stufe war den Beobachtern auf dem Boden viel näher. Deshalb schien sie höher zu sein. Es war gerade so, als
wenn jemand den niedrig über dem Horizont stehenden Mond »unter« den Zweigen eines Baumes erblickt. Langsam verblaßte das himmlische Feuerwerk. Schließlich blieb nur noch der Schein der Venus, der die sich zerstreuende Träne durchdrang. Page gab Steve das Fernglas zurück. Sie setzte zum Sprechen an, doch dann schüttelte sie langsam den Kopf. Auch er schwieg. Dieser Augenblick gehörte einzig und allein ihnen.
XIV
Was empfindet ein Mensch, wenn er an die Stätte zurückkehrt, wo er wiedergeboren wurde? Nicht geboren, sondern wiedergeboren. Oder neu erschaffen. Sie hatten einen harmlos klingenden Namen dafür – die Werkstatt. Ein geschmackloser Witzbold hatte einmal versucht, »Metzgerwerkstatt« daraus zu machen. Die Werkstatt, das war das einzigartige bionische Forschungslaboratorium, in dem Dr. Michael Killian und Dr. Rudy Wells medizinische und bionische Wunder vollbracht hatten. Es befand sich tief innerhalb eines unwirtlichen Berges, der für seine steilen, nackten Felsflächen und seine zerklüfteten Auswüchse bekannt war. Vor ihm breitete sich im Osten der Rocky Mountains eine fruchtbare Landschaft aus, die der richtige Trost für jedes bekümmerte oder erschöpfte Gemüt war. Für das tief in schwarzen Granit eingebettete Laboratorium war es der ideale Standort. Ganz in der Nähe lag südlich entlang des Gebirgswalls die Stadt Colorado Springs, überschattet von dem gewaltigen Massiv des Pike’s Peak. Das unweit der Stadt gelegene Peterson Airfield diente nicht nur Colorado Springs als Flughafen, sondern auch der Werkstatt und der Air Force Academy. Ebenfalls in diesem Gebiet befand sich das weite Gelände von Fort Carson, das jahrelang als Army-Camp benutzt worden war und seinen eigenen Flugplatz, das Butts Army Field, gehabt hatte. Ein weiterer, aber von außen nicht sichtbarer Nachbar des bionischen Laboratoriums war NOR AD, das Hauptquartier des North American Defense
Command, dessen große Tunnel und Höhlen tief in die Cheyenne-Mountains eingesprengt waren. In diesem bionischen Laboratorium, die Werkstatt genannt, war Steve Austin neu geschaffen, war er wiedergeboren worden. NORAD war das elektronische Nervenzentrum für Bahnbeobachtungen im Raum, für Ortungen und für die Überwachungssysteme in aller Welt. Es würde als das Herz der Flugkontrolle für Steve Austin und Page Rossi arbeiten, wenn sie mit dem Asp in die Umlaufbahn gingen. Für NORAD war es gleichgültig, ob diese Bahn vom Kap aus den Äquator kreuzte oder von Vandenberg aus direkt zum Pol ging. In der Werkstatt fühlte sich Dr. Rossi trotz ihres unpersönlichen, selbstbewußten, professionellen Auftretens wie ein Lehrling unter Meistern. Hierher hatte Rudy Wells die zerfetzten Überreste Steve Austins gebracht. Das Ergebnis seiner und Dr. Killians und ihrer Mitarbeiter Tätigkeit war ein bionisches Wunder. Sie hatten auf der Ebene individueller Körperzellen, von einer Zelle zur anderen laufender individueller elektrischer Botschaften arbeiten müssen. Es war auf biologischem Gebiet das gleiche gewesen wie die Submikrominiaturisierung der fortschrittlichsten elektronischen und kybernetischen Systeme. Page war voller Bewunderung für diese Pionierarbeit, für diese erfolgreiche Anwendung theoretischer Erkenntnisse auf ein lebendes Objekt. Das Wissen der Spezialisten um die Nervenstruktur des menschlichen Gehirns war so weitreichend, daß sie künstliche Nervensysteme schaffen konnten, die den natürlichen gleichwertig waren. Dr. Killian machte von der Kybernetik in der Weise Gebrauch, daß er zuerst einmal die Grundelemente der Maschinerie, die das Denken erlaubte, erforschte – ob menschlich oder künstlich, das spielte für ihn keine Rolle. Sobald er das Wunderwerk zu seiner eigenen Zufriedenheit verstand, wobei es ihm ziemlich gleichgültig
war, wer seine Meinung teilte und wer nicht, begann er seine eigenen Nachbildungen der menschlichen Nervenbahnen zu schaffen, die vom Gehirn in den es beherbergenden, ernährenden und transportierenden Körper führen. Killians mit der Unterstützung von Rudy Wells durchgeführte Forschungsarbeit war ein unglaubliches Abenteuer. Sie tasteten sich dabei durch ein Labyrinth mit Milliarden verschlungener Pfade, und sie mußten nicht nur einen richtigen Weg finden, sondern einen weiten Komplex von Wegen, in denen buchstäblich mit Gedankenschnelligkeit Schaltungen vor sich gingen. Dies wunderbare, komplizierte Gebilde mußte auch noch vorausberechnet werden, sie mußten vorhersagen können, wie es zu jedem beliebigen zukünftigen Zeitpunkt funktionieren würde. Und schließlich mußten sie eine Möglichkeit entdecken, wie das künstliche System in jenes zu integrieren war, für dessen Entwicklung die Natur viele Hunderte von Millionen Jahren gebraucht hatte. (Es wäre noch hinzuzufügen, daß sie sich die Unvollkommenheiten der Natur nicht erlauben konnten.) Nun mußte sich Dr. Page Rossi von neuem mit allen Einzelheiten der bionischen Glieder und der künstlichen Systeme Steve Austins beschäftigen. Auch sie mußte sich jetzt mit der schwierigen Frage auseinandersetzen, was eigentlich »Leben« ist. Ein bionisches Glied war im Grunde ein aus anorganischen Stoffen hergestellter künstlicher Gegenstand. Zwar war es nach dem Vorbild eines lebenden Originals geschaffen worden, aber ganz gleich, wie vollkommen die Nachahmung war, es blieb ein künstlicher Gegenstand – bis es mit dem menschlichen Körper verbunden wurde. Von diesem Augenblick an durchliefen es dieselben elektrischen Signale, die von Steve Austins Gehirn in sein eigenes Nervennetz aus Leitungen, Zentralen, Schaltstationen und Empfängern fluteten.
Sobald das bionische Glied an den Körper Steve Austins angeschlossen wurde, war es kein toter Gegenstand mehr. Es erfüllte sich mit dem Leben des Mannes und wurde zu einem integrierten Bestandteil seines Körpers. Page Rossi mußte sich in acht nehmen, daß sie zwischen den künstlich geschaffenen und den natürlichen Teilen von Steves Körper keinen Unterschied machte. Natürlich gab es Unterschiede. Wenn sie zum Einbau eines Biosensors einen Fußnerv freilegen mußte, brauchte sie sich keine Gedanken darüber zu machen, ob Steve Schmerz dabei empfand, denn der Biosensor war kein Element, das Steves bionischer Wesenheit einverleibt war. Haut konnte durchtrennt werden, solange es Plastikhaut war, denn es gab keine Blutungen, keinen Schmerz und keinen Zeitverlust bei der Heilung. Aber trotzdem mußte sie mit großer Sorgfalt arbeiten und sich ständig vor Augen halten, daß der Mann seine bionischen Glieder benutzte, ohne besonders darüber nachzudenken, daß es nicht seine eigenen waren. Wurden die Fähigkeiten des Fußes zur Signalübermittlung gestört, dann stellte das einen Eingriff in Steves gesamtes Nervensystem dar. Sie mußte eng mit Rudy Wells zusammenarbeiten, denn bei vielem, was sie tat, wurden die körpereigenen Gewebe und Nerven Steves in Mitleidenschaft gezogen. Da sie selbst keine Chirurgin war, übermittelte sie Wells ihr Spezialwissen in solcher Weise, daß seine überaus geschickten Hände die notwendigen Operationen für sie vornehmen konnten. Für Steve war die Qual, daß an ihm herumgepiekt und geschnippelt wurde, eine alte Erfahrung. Dazu kamen zahlreiche Tests und Änderungen. Wären nicht seine eigene Begeisterung für seinen Beruf, sein Vertrauen in Rudy Wells und besonders seine wachsende Faszination für das Konzept einer Symbiose mit dem Raumschiff gewesen, hätte er sich
kaum Stunden und Stunden Behandlungen unterzogen, die in seinen Augen Experimente waren. Pages Hauptaufgabe war, in Steves Körper ein zusätzliches bionisches Sensor-System einzubauen. Seine eigenen Sinne erlaubten es ihm, Hitze, Kälte, Beschleunigung (linear oder nichtlinear), Druck und andere Dinge, die auf seinen Körper einwirkten, wahrzunehmen. Das Aufnehmen dieser Sinneseindrücke geschah auf primitive animalische Art. Es gab keine Möglichkeit, Parameter abzulesen und die in Rede stehenden Energien exakt zu messen. Der menschliche Körper vollbringt Wunderbares, und das Erstaunlichste daran ist, daß er so vieles gleichzeitig tun kann, das alles von dem besten jemals gebauten Computer, seinem Gehirn, gesteuert wird. Aber für die Natur gab es keine Notwendigkeit und keinen Grund, Zeitkoordinaten oder Raumvektoren oder das Erfassen einer Dreieckspannung zu entwickeln, und gewiß ist die biologische Uhr der Natur nicht dazu eingerichtet, die Zeit in Hundertsteln von Sekunden zu messen. Ein Raumschiff kann jedoch mit seinen eingebauten Sensoren Energien und Eindrücke messen und beurteilen, die das »grobe menschliche System«, wie Page Rossi es nannte, entweder überfordern oder von ihm mangels entsprechender Sinnesorgane gar nicht wahrgenommen werden. Zum Beispiel kann ein Mensch Wärme empfinden, aber er kann nicht im Infrarotbereich sehen. Wenn ihm Instrumente zur Verfügung stehen, die ihm diese Arbeit abnehmen und ihn mit diesbezüglichen Informationen versorgen, liest er die Daten, die er braucht, von ihnen ab. Das ist jedoch ein langsamer und zuweilen mühsamer Prozeß, der eine Reihe unbeholfener Zwischenschritte erfordert. Diese benötigen Zeit, und die daraus entstehende Verzögerung konnte im Vakuum bei einem Ritt auf den unsichtbaren orbitalen Kräften tödliche Folgen haben.
Page Rossi pflanzte in Steves Fußsohlen Infrarotmesser ein. Das ganze Asp-Raumschiff war von Systemen durchzogen, die dem Messen und Melden von Infrarotstrahlen dienten und weit über einfache Sensoren hinausgingen. Die Informationen aus diesem System wurden auf einen einzigen Punkt fokussiert. Wenn Steve im Vordersitz des Asp saß und seine Füße auf die Ruderpedale stellte, tat er damit wesentlich mehr als ein normaler Pilot. Die Pedale dienten zunächst wie üblich dazu, die Flugbewegungen des Asp innerhalb der Atmosphäre zu kontrollieren. Aber im Vakuum, im Raum fielen ihnen zusätzliche Aufgaben zu, und eine davon war das Erfassen von infraroter, das heißt Wärmestrahlung. In jedem Pedal befand sich eine mit Drehverschluß versehene Zufuhr. Wenn Steve auf seinem Sitz Platz nahm, preßte er die Füße auf die Zufuhren, diese rasteten in seine Stiefel ein, und die Stiefel wiederum stellten eine Verbindung her, die in seine Füße reichte. Drehte er sich um dreißig Grad nach rechts, »verschloß« er die Zufuhr. Dieselbe Bewegung nach links öffnete sie. Außerdem gab es eine Notschaltung, durch die eine Infrarotmessung wieder via Instrumente erfolgen konnte. Auch Page hatte an ihrer Konsole auf dem hinteren Sitz Kontrollen, die »verschließen« und »öffnen« konnten sowie einen Hauptschalter, der es ihr ermöglichte, alle in Steves Körper führenden Leitungen abzuschalten. Dieser eine Aspekt der Symbiose mit dem Asp gab Steve die menschliche Fähigkeit, die von den Detektoren des Raumschiffes aufgenommene Infrarotstrahlung zu spüren. In dem alten Asp hatten nur die Instrumente die gemessenen Werte angezeigt. In dem umgebauten Asp wurde dieselbe Information auch in Steves Füße eingespeist und von da an sein Gehirn weitergegeben. Es war ungefähr so, als ob seine
Haut (beziehungsweise eine sensitivierte Plastikhaut) die Hitze einer Kerzenflamme spürte. Normalerweise hätte dies nur bedeutet, daß Steve durch das System eine recht ungenaue Information über vorhandene Infrarotstrahlung erhielt. Aber Pages Symbot-Programm sah mehr vor. Beim Training in der Werkstatt wurde Steve variierender Thermalstrahlung ausgesetzt. Das, was er durch die Sensoren in seinen Füßen fühlte, wurde ihm gleichzeitig durch Instrumentenanzeigen vorgeführt. Zusätzlich hatte er einen Bildschirm vor sich, auf dem durch Biofeedback eine optische Umsetzung der Infrarotstrahlung in Alpha- und BetaWellen erfolgte. Mit zunehmender Praxis lernte er es, die von den Füßen in sein Gehirn geleiteten Informationen verstandesgemäß zu erfassen. Als er erst einmal die Wellen, die er fühlte, vor sich sah, war es nur noch eine Sache der Zeit und der Disziplin. Dieser Punkt in dem Programm des symbiotischen Zusammenschlusses von Mensch und Maschine hatte einen bestimmten Zweck. Die Werte zeigten, an welchem Teil des Raumschiffs durch direkte Sonnenbestrahlung Hitze entstand. Auch für den Wiedereintritt in die Atmosphäre war Steves neue Fähigkeit sehr wichtig. Das ganze Wiedereintrittsmanöver konnte allein mit Hilfe der Infrarotempfindungen geflogen werden. Außerdem erzeugte die Detonation von Waffen im Raum eine Wärmestrahlung, deren Erkennen dem Mensch-Raumschiff-System zu sofortiger Reaktion verhalf. Diese Infrarotempfindlichkeit war jedoch nur eine Maßnahme unter vielen. Steve wurden weit mehr Leitungen eingebaut. Wenn er erst vollständig mit dem Asp zu einer neuen Mensch-Maschine-Wesenheit verbunden war, würde er so denken, wie das Raumschiff es täte, wäre ihm Denkvermögen gegeben.
Und ihm wurde Denkvermögen gegeben – sobald Steve ein lebender Teil des Raumschiffs wurde. Es gab Möglichkeiten, die meisten Systeme vorher zu überprüfen. Raumschiff-Simulatoren, genauso gestaltet wie die richtige Maschine, wurden an Computer angeschlossen, die alle Situationen, die beim tatsächlichen Flug auftraten (einschließlich der Beschleunigung, aber mit Ausnahme der Schwerelosigkeit), durchspielen konnten. Steve verbrachte jeden Tag mehrere Stunden in einem dieser Simulatoren und paßte sein Denken langsam dem des großen Körpers mit den Krummsäbelschwingen an, den er bald in eine Umlaufbahn fliegen sollte. Page Rossi und Rudy Wells wiederum lebten in einer Welt der Submikrominiaturisierung, denn sie arbeiteten auf dem Niveau der Nervenzellen des menschlichen Körpers. Steves Innenohren wurden mit den vielleicht feinsten Sensoren von allen ausgestattet, denn das Gleichgewichtsorgan – bestehend aus dem Bogengangsapparat und dem Säckchenapparat – wurden mit den Fluglagensensoren des Asp verbunden. Rollte das Raumschiff zum Beispiel dreißig Grad nach rechts, war es Steve, der diese Drehbewegung vollführte. Das Endziel war, daß er selbst vollständig das Gefühl hatte, sein eigener Körper rolle. Auch in seine Gesäßbacken wurden Sensoren eingepflanzt, mit denen er die Beschleunigung und Wechsel in der Beschleunigung empfinden konnte. Wie hoch befand er sich zu irgendeiner Zeit über der Oberfläche der Erde? Radar-Höhenmesser und Laserstrahlen lieferten dem Raumschiff diese Information, und dies wiederum speiste die Daten sofort Steves Bio-Systemen ein, so daß er im gleichen Augenblick wußte, was die Instrumente maßen.
Nur ein großes Problem blieb noch zu lösen, und das war die Fluglagenkontrolle während der Mission. Konnte Page ein System entwickeln, das es Steve erlaubte, wie ein mechanisches Gerät zu funktionieren? Wie ein automatischer Pilot, der einen künstlichen Horizont benutzt? Es lag Ironie darin, daß Steves damalige Verstümmelung bei dem Absturz des Raumtransporters die Lösung lieferte. Wie konnte Steve, wenn er nicht auf den Horizontkreisel blickte, die Fluglage relativ zum Erdhorizont beurteilen? Es war unmöglich, Sensoren in den unglaublich verwickelten, gallertartigen Apparat, den das menschliche Auge darstellt, zu implantieren. Da schien nichts anderes übrigzubleiben, als in diesem Fall ein Instrument zu benutzen. Aber Steve Austin hatte nur ein Auge. Sein künstliches Auge war während seiner früheren OSO-Aufträge mit einer Kamera ausgestattet gewesen, die später durch einen Entfernungsmesser ersetzt wurde. Jetzt brachte die Submikrominiaturisierung die Rettung. Das bionische Laboratorium hatte Monate mühevollster Arbeit – und das hauptsächlich unter Mikroskopen – damit zugebracht, eine miniaturisierte Version des für das Asp entworfenen Horizontkreisels zu bauen… klein genug, um die Maße eines menschlichen Augapfels nicht zu überschreiten. Es brauchte Stunden kompliziertester chirurgischer Arbeit, bis er in Steves Augenhöhle eingesetzt war. Als das geschafft war, hatte Steve einen kompletten Horizontkreisel als Auge, der seine Daten von dem größeren Instrument des Raumschiffs erhielt. Es reichte nicht, daß dies System nun fest in seiner Augenhöhle saß und daß er es um 360 Grad bewegen konnte. Er mußte außerdem auch fähig sein zu »sehen«, und das hatte das künstliche Auge ja nie gekonnt. Aber es war möglich, den optischen Eindruck des linken Auges durch eine »lebende Brücke« aus bionischen Nerven mit dem Sehnerv des rechten,
normalen Auges zu verbinden, wodurch die Informationen, die Steve mit Hilfe des Horizontkreisels erhielt, in das Gehirn gelangten und er die Gitter und Linien »sehen« konnte. Page Rossi und Rudy Wells beschlossen, dem System vorerst keine weiteren Fähigkeiten zu verleihen, damit Steve Zeit hatte, sich an dies anomale Sehvermögen zu gewöhnen. Nach dem ersten Testflug sollte er mit speziellen Prismen ausgerüstet werden, die es ihm ermöglichen würden, gerade vor sich in der Luft den leuchtenden Horizontkreisel zu »sehen«. Noch eine kritische Entscheidung mußte getroffen werden – diesmal mit Steves Wissen und Zustimmung. »Wir sind längst nicht fertig, wir würden noch vier Monate benötigen, um deine Systeme zu vervollkommnen«, teilte Page ihm in der Abschlußkonferenz vor ihrer Abreise nach Cape Canaveral zu dem wartenden Asp mit. »Ich fürchte, wir könnten sie überladen. Ganz gleich, welche Ergebnisse die Simulatortests hatten, wir können nicht vorhersagen, welche Wirkung Schock, Kreislaufanspannung, Beschleunigung und Schwerelosigkeit in ihrer Gesamtheit auf dich haben werden. Deshalb schlage ich vor, daß wir nicht höher als auf eine dreißigprozentige Kapazität gehen.« »Meinst du damit, daß diese Symbiose nur zu dreißig Prozent funktionieren wird?« »Ja.« »Mir scheint, du willst dir ein Hintertürchen offenlassen«, bemerkte Steve trocken. »Es gibt noch einen anderen Grund. Wir sollen bei dieser Mission das Skylab betreten, und das bedeutet, daß alle deine Verbindungen mit dem Asp gelöst werden müssen. Das könnte ein größerer Schock sein als wir alle, und auch du selbst, uns jetzt vorstellen. Als ob – nun, als ob du vom Mutterleib getrennt würdest.«
Steve starrte sie an. »Das kann nicht dein Ernst sein.« »Doch. Wir wissen es nicht, Steve, und wenn wir feststellen, daß wir den symbiotischen Austausch zwischen dir und dem Raumschiff unterschätzt haben, während wir uns in der Umlaufbahn befinden, könnte es zu einer Katastrophe kommen. Gibst du mir deine Zustimmung für die niedrigere Intensität der Verbindung? Schließlich ist unser nächster Flug ja eigentlich nur ein Test und – « Er winkte ihr zu, sie solle schweigen. Nach einer Pause erklärte er: »Nun gut. Es war mir vorher nicht so klar wie jetzt, aber das ist nun wirklich dein Baby.«
XV
Sie verbrachten zehn Tage am Kap, um sich auf die Mission vorzubereiten. Es gab noch soviel zu tun, daß sie vierundzwanzig Stunden am Tag hätten arbeiten können. Wider Willen mußte Steve darauf verzichten, die Systeme des Raumschiffs, wie es sonst seine Gewohnheit war, selbst zu überprüfen. Diese Aufgabe übernahm für ihn Ron Kevin, der Pilot der Kommandokapsel bei der Apollo-XVII-Mission, der in den aktiven Dienst bei der Air Force zurückgekehrt war. Da er Kevin genau kannte, brachte Steve es fertig, sich unbesorgt völlig auf die Symbiose mit dem Asp zu konzentrieren. Für die erste Woche verordnete Rudy Wells sowohl Steve als auch Page eine Mittagspause. »Es ist gar nicht notwendig, daß Sie dasselbe Vorbereitungsprogramm einhalten wie bei früheren Flügen«, sagte er zu Page. »Sie werden nicht der Pilot sein. Wenn Sie, sollte Steve etwas zustoßen, das Schiff in einem Stück zurückbringen können, genügt das völlig.« »Aber es gibt in diesen wenigen Tagen noch so viel zu erledigen«, protestierte sie. »Ich muß einfach – « »Sie müssen meinen Befehlen gehorchen. Das meine ich ernst, Page. In diesem Fall ist mein Urteilsvermögen besser als Ihres. Sie und Steve haben seit Monaten nach einem vollgestopften Terminplan gelebt. Wenn Sie nicht auch einmal abschalten – und dafür sorgen, daß er ebenfalls abschaltet –, muß ich den Flug verschieben, weil meine Astronauten nicht fit sind. Ich rede ja nicht vom Ausgehen und von Nachtclubs. Gehen Sie mit ihm im Laufe des Tages mal an den Strand. New Smyrna liegt nur ein paar Meilen nördlich von hier, und dort ist es beinahe menschenleer. Ihr müßt jeden Tag eine
Arbeitspause machen. Die letzten zweiundsiebzig Stunden werden noch so anstrengend, daß Sie sich wünschen werden. Sie könnten einmal ausruhen.« Colonel Ted Anderson überließ bei dem Projekt nichts dem Zufall. Es war nicht notwendig, eine besondere Crew für die Startrakete zusammenzustellen. Das Titan-3X-Team kannte seine Arbeit nach sieben einwandfreien Erfolgen bei sieben Starts in Perfektion. Die Presse wurde durch das Informationsbüro der Air Force Eastern Test Range auf der Patrick Air Force Base in meisterhafter Weise irregeführt. Die Firma Hughes Electronics arbeitete eng mit der Air Force zusammen und bereitete sogar eine Satelliten-Attrappe vor, die genau dem komplizierten, übergroßen Gegenstand an der Spitze der Titan-3X-Rakete glich. Der Start konnte natürlich nicht heimlich erfolgen, und deshalb mußte zur Tarnung eine andere Geschichte in Umlauf gebracht werden. Kein Mensch geriet auf den Verdacht, es könne sich statt um den militärischen Satelliten um ein bemanntes Raumschiff handeln. Im Gebiet der Abschußrampe herrschten strengste Sicherheitsmaßnahmen, und nur eine Handvoll von Männern, die innerhalb des Titan-Komplexes arbeiteten, hatten das Asp selbst gesehen. Als es aus dem Vertical Integration Building zur Abschußrampe gebracht worden war, hatte man es mit großen Hüllen bedeckt, und die blieben dran, bis der Start unmittelbar bevorstand. Die zehn Tage gingen mit der harten Arbeit und den erzwungenen Ruhepausen schnell vorbei. Wie Wells vorher gesagt hatte, verschwammen für Page die letzten drei Tage zu einem, in dem sie sich selbst für den Flug vorbereitete und die Systeme im Asp überprüfte. Fünf Stunden vor dem festgesetzten Zeitpunkt des Starts waren sie fertig. Zuerst überwachte Page das Anlegen des Anzugs bei Steve, denn ihr oblag der endgültige Check aller
Symbotverbindungen und -geräte innerhalb des Anzugs. Danach traf sie ihre eigenen Vorbereitungen. Die Techniker kamen nie ganz darüber hinweg, daß sie eine schöne Frau für einen Raumflug ankleiden mußten. Es war schlimm, daß sie keiner Menschenseele außerhalb der eigenen Gruppe ein Wort darüber erzählen durften. Als sie beide in ihren Anzügen steckten, wurden Steve und Page in einem Lastwagen, auf dem VORSICHT – EXPLOSIONSGEFAHR! stand, zur Abschußrampe gefahren. Diese Vorsichtsmaßnahme war vielleicht überflüssig, wurde aber trotzdem unter Beachtung aller Einzelheiten durchgeführt. Beim Start einer Titan 3X wurden zusätzlich zu den Raketentreibstoffen gefährliche Säuren und Chemikalien verwendet, und deshalb war an dem Lastwagen mit seiner Aufschrift nichts Auffälliges. Ted Anderson ließ die Pressetribünen des Titan-Komplexes für die Journalisten öffnen. Mehr als hundert Vertreter der Weltmacht Presse strömten herbei und berichteten eifrig über den neuen militärischen Satelliten. Keiner von ihnen kam darauf, daß sie unabsichtlich ausgezeichnete Arbeit darin leisteten, die wirklichen Geschehnisse zu verschleiern. In den letzten Stunden blieb für Page selbst nichts anderes mehr zu tun übrig, als ihre Kontrollkonsole zu überprüfen, sobald Steve mit den Asp-Systemen verbunden worden war. Nur drei Leute durften dableiben, als die Symbiose hergestellt wurde. In diesem Bereich achtete Anderson auf strengste Geheimhaltung. Und dann war alles getan. Anderson und Wells sprachen die letzten Abschiedsworte von Angesicht zu Angesicht mit dem Mann und der Frau in dem Raumschiff. Die Plexiglas-Haube wurde zugeklappt, verschlossen und versiegelt. Als das geschehen war, benutzte Anderson die Sprechleitung zum AspCockpit. »Wir sind hier fertig«, verkündete er.
»Dann seid so freundlich und geht aus dem Weg«, gab Steve zurück. »Das werden wir tun. Auf dem Weg nach unten werde ich persönlich für dich die Bremsklötze legen.« »Tu das.« »Page, können Sie mich hören?« »Klar und deutlich, Ted.« »Ihr beiden werdet euch doch benehmen, wenn ihr da oben in der Raumstation seid?« »Bestimmt. Nicht mehr als drei Glas Bier. Das verspreche ich.« »Gute Reise«, wünschte Anderson und zog die Leitung heraus. Dreißig Minuten später begann der Kran zurückzurollen.
Die Zündung erfolgte mit einem Schlag, der selbst Steve überraschte. Da er sich in halb liegender Stellung befand, während das Raumschiff mit eingezogenen Tragflächen senkrecht nach oben zeigte, hatte er einen Stoß erwartet, der nur etwas stärker sein würde, als er ihn von der Saturn V her kannte. Aber das war kein Stoß. Wenn die massiven Feststofftriebwerke gezündet wurden, baute sich der Schub nicht allmählich auf. Den einen Moment saßen sie noch erwartungsvoll da, und im nächsten quetschte eine unsichtbare Riesenhand sie in die Sitze. Der g-Messer sprang wie verrückt in die Höhe. Steve hörte Page unter der Last der Beschleunigung keuchen. »Halt dich fest«, rief er ihr zu. »Es wird noch schlimmer, bevor es besser wird.« Sie holte tief Luft, sie zwang sich, ruhig durchzuatmen. Und dann war ihre Stimme zu hören, überrascht, angespannt und gleichzeitig freudig erregt.
»Mein Gott!« stieß sie hervor. »Sei vorsichtig. Da, wo du hingehst, könntest du eine Antwort bekommen.« Zu seiner Freude brachte sie sogar ein Lachen zustande. »Mich kann nichts mehr überraschen.« Eine lange Pause entstand. »Ich vermute – « »Spare deinen Atem, Page. Du wirst ihn noch brauchen.« Er warf einen Blick auf die Instrumente und zögerte. Im Augenblick waren die symbiotischen Verbindungen zwar alle hergestellt, aber noch nicht eingeschaltet, denn bei dieser Beschleunigung hätte jeder einzelne seiner Sensoren ausbrennen können. Während des Aufstiegs hatte er die gleichen Aufgaben wie bei früheren Starts auch – er beobachtete wie ein Habicht die angezeigten Werte. Diesen zufolge hatte die Beschleunigung das Optimum erreicht. Das bedeutete, es verlief alles wie geplant. Wegen der Hülle konnte er nicht nach draußen sehen, und die Flugkontrolle verzichtete für den Fall, daß sie abgehört wurden, in dieser kritischen Phase des Einschusses in die Umlaufbahn auf eine Sprechverbindung. Aber Steve brauchte niemanden, der ihm mittels seiner Stimme die Hand hielt. Er hatte die Daten vor sich. Vom Augenblick der Zündung an gab der Computer laufend die Höhe, die Entfernung von der Startrampe, die Zeit der verschiedenen Brennfolgen an – es war alles da, und wenn nicht etwas schiefging, war eine Unterhaltung auch nicht notwendig. Er hatte in einer aufsteigenden Rakete noch nie mehr als 5 g erlebt, und jetzt waren sie schon über 8 g. Es würde wirklich noch etwas schlimmer werden, bevor es besser wurde. »Page, bist du noch da?« »… gut.« »Halt dich fest. 8 g. Gleich sind wir beim Maximum.«
Sie spürten die Erschütterung, als die Titan 3X die Region maximalen aerodynamischen Druckes durchstieß. Dann hörte das Getöse auf, und es gab nur noch die starken, tiefen Vibrationen der Feststofftriebwerke. Bei 11 g wurde das Atmen schon recht mühsam, aber er hatte es in der Zentrifuge sechzig Sekunden lang bei 14 g ausgehalten und brachte es immer noch fertig, zu sprechen. »Paß – auf – gleich – schwerelos«, warnte er Page, indem er mühsam ein Wort nach dem anderen zwischen den Zähnen herauspreßte. Die letzten Sekunden vergingen, und die Feststofftriebwerke verstummten. Der plötzliche Wechsel von 11 g auf mehrere Sekunden der Schwerelosigkeit war beinahe schlimmer als das andauernde Zerquetschtwerden. Als die Beschleunigung aussetzte, wurden sie mit aller Gewalt gegen ihre Gurte geschleudert. Steve war darauf vorbereitet. Er ließ die Luft aus seinen Lungen explodieren und atmete, sobald sie leer waren, tief ein. Er hoffte, daß Page es genauso machte, andernfalls würde die Zeitspanne, in der die Zwillingskammern der Flüssigtreibstoffstufe zündeten und Schub aufbauten, schrecklich für sie sein. Es war keine Zeit, darüber zu reden. Sekunden nachdem die Feststoff-Stufe ausgebrannt war, riß eine Folge von Stakkato-Explosionen entlang der Außenseite die beiden Stufen auseinander. Die abgesprengte erste Stufe wirbelte davon. Auf Steves Konsole flammte ein grünes Licht auf. Er hob seine rechte Hand, um den manuellen Zündschalter zu betätigen, falls – Weit unter ihnen erwachten die Zwillingskammern der Hauptstufe zum Leben. Es gab einen weniger heftigen Stoß als bei der Zündung der Feststoff-Stufe. Steve verfolgte die Anzeigen des Marschantriebssystems. Alles in Ordnung. Treibstoff-Fluß, Druck, Temperatur, Schub, Beschleunigung – alle waren sie da, wo sie hingehörten, im grünen Bereich.
Diesmal entwickelte sich die Beschleunigung langsamer und war deshalb leichter auszuhalten. Ein Warnlicht flackerte. »Achtung, die Hülle wird abgeworfen«, rief er Page zu. Keine Zeit für eine Antwort. Drei Sekunden später gab es wieder eine Serie von kleinen Explosionen, diesmal viel näher. Die Sprengkörper rissen die Hülle in zwei Hälften und stießen sie weg. Licht flutete in das Raumschiff, und Steve tastete mit seiner behandschuhten Rechten nach seinem äußeren Visier, um die Sonne abzublenden. »Page, hörst du mich?« »Oh…ja. Steve… es ist… O Gott, es ist herrlich.« So war es. Sie waren bereits hoch über dem Atlantik. Mit jeder Sekunde, die die Titan weiter ins Vakuum raste, krümmte sich der Erdhorizont stärker. Jetzt waren sie so hoch und so schnell, daß Steve die Notzündung für das Asp abstellen konnte. Wenn nun noch etwas schiefgehen sollte, brauchten sie sich nur von der Rakete zu trennen und konnten dann mit eigener Kraft zurückkehren. Er betrachtete das Instrumentenbrett. Der Computer war emsig mit seinen mannigfaltigen Aufgaben beschäftigt. Die krummsäbelförmigen Schwingen entfalteten sich, und dadurch wurde der Einfall des Sonnenlichts auf beiden Seiten stärker. Das Aufleuchten grüner Lichter zeigte an, daß die Tragflächen in der richtigen Position eingerastet waren. Steve hielt die Augen weiter auf den Anzeigen. Die Lichter gingen eins nach dem anderen an und meldeten ihm, daß die Treibwerke gezündet werden konnten und die aerodynamischen Kontrollflächen fest verriegelt waren. Die Vorrichtungen für das Ausstoßen der Schleudersitze wurde gegen unabsichtliche Auslösung gesichert. Wenn man in dieser Höhe aus dem Schiff geblasen wurde, konnte das einem den ganzen Tag verderben…
Eine Warnlampe flackerte. »Ich bin bereit«, hörte Steve Page sagen, bevor er sie noch fragen konnte. Die Zwillingskammern weit unter ihnen waren ausgebrannt, und der Computer stellte die Triebwerke ab, bevor sie noch zu stottern begannen. Die Trennung erfolgte reibungslos. Sie sahen einen weißen Blitz, als die Sprengbolzen die leere Schale der Hauptstufe abwarfen. Wieder gab es eine kurze Periode der Schwerelosigkeit, und dann brüllte die zweite Stufe der Kernrakete auf. Auch diesmal war die Beschleunigung leicht zu ertragen, und sie wußten, der Schub würde nur langsam auf 4 g anwachsen, bevor er aussetzte. Jetzt machte ihnen der Flug Vergnügen. Ein grünes Licht flammte auf. Sie hatten es geschafft. Selbst wenn die letzte Raketenstufe sie im Stich lassen sollte, hatten sie eine genügende Geschwindigkeit erreicht. Das Asp selbst hatte mehr als ausreichende Energie zur Verfügung, um sie in die Umlaufbahn zu bringen, und mit jeder Sekunde gewannen sie zusätzliche Zeit und Energie für das Manöver, zu dem sie aufgestiegen waren – dem Rendezvous mit der verlassenen Raumstation. Weitere Lichter meldeten, daß die Bahnverfolgungsstationen unten auf der Erde deutliche Radarsignale von ihrem Flug empfingen. Eine Sprechverbindung war allerdings immer noch nicht möglich. Die Flugkontrolle erhielt telemetrische Anzeigen über das Funktionieren des Raumschiffs und der Rakete, und solange die Rakete für den Antrieb sorgte, erfuhr Rudy Wells durch die biomedizinische Fernmeßtechnik alles, was er über ihren physischen Zustand wissen mußte. Es gab noch ein weiteres Kommunikationsmittel. Während dieser Phase der Mission drückten sowohl Steve als auch Page in regelmäßigen Abständen einen Knopf auf ihrem Instrumentenbrett und gaben dadurch bekannt, daß alles wie geplant verlief.
Das letzte Raketenwarnlicht blitzte auf. Die Sekunden verrannen. Die Triebwerke verstummten. Schwerelosigkeit. Ein Völlegefühl im Kopf, ein Zutreiben auf die Haltegurte. Steve ignorierte das. Die Automatik arbeitete perfekt. Die Sprengbolzen wurden gezündet und schnitten das Raumschiff von der letzten Raketenstufe unter ihnen ab. Sie konnten alles von ihren Instrumenten ablesen. Die Abweichung von der vorherberechneten Höhe, Geschwindigkeit und Bahn betrug nur ein Prozent. Sie hatten neunzig Prozent der Geschwindigkeit erreicht, die sie für das Einschießen in die Umlaufbahn benötigten. Sieben Minuten lang würden sie sich im freien Fall auf einer ballistischen Kurve bewegen. Dann wollte Steve das Asp-Triebwerk einschalten. Er befragte den Computer und erhielt die Information, die er brauchte. Es war die uneingeschränkte Bestätigung des ursprünglichen Flugplans. Wieder ging ein Licht an. Jetzt konnte die Sprechverbindung hergestellt werden. Jede Äußerung wurde zerhackt, so daß es den Russen oder anderen Stellen unmöglich gemacht wurde, mitzuhören. Ein ständiges telemetrisches Signal würde, wann immer sie in Reichweite des ARIA-Flugzeugs oder der Bodenstationen waren, zum und vom Raumschiff abgestrahlt werden, und das stärkere Geräusch des Signals überdeckte ihre Mitteilungen. »Kontrolle an Asp. Hören Sie, Steve?« Von Förmlichkeiten hielten sie nicht viel. »Klar und deutlich, Kontrolle. Wir befinden uns im freien Fall. Noch für fünf Minuten. Sagen Sie der Crew an der Startrampe, sie hätten sich ihr Geld verdient.« »Von hier aus sehen Sie auch prima aus. Bitte geben Sie mir zur Überprüfung die Daten über die zurückgelegte Bahn durch. Over.«
Steve drückte Knöpfe auf der Computer-Konsole und las die Daten ab. Die Flugkontrolle bestätigte sie. Zwei Minuten noch. Steve hörte, daß Page sich in die Verbindung einschaltete. »Asp-zwei an Kontrolle. Wir werden drei Minuten nach Stillegung des Triebwerks die symbiotische Verbindung herstellen. Bestätigen Sie, bitte.« Steve schüttelte verwundert den Kopf. Man hätte glauben können, Page habe so etwas schon ihr ganzes Leben lang gemacht. »Bestätigung, Zwei«, rief die Flugkontrolle zurück. »Für unbestimmte Zeit wird außer mit mir keine Kommunikation möglich sein«, gab Page bekannt. »Verstehe Sie laut und deutlich, Asp-zwei. Bitte gehen Sie auf ständige Sendung, so daß wir Ihre Gespräche im Cockpit mithören können. Wir werden Sie nicht unterbrechen und Sie nicht anrufen, bevor wir nicht von Ihnen gehört haben. Over.« »Sehr gut, Kontrolle.« Aber soweit waren sie jetzt noch nicht. »Sechzig Sekunden bis zur Zündung«, sagte Steve. »Sechzig Sekunden«, wiederholte die Flugkontrolle. Steve machte sich nicht die Mühe, ein weiteres Wort zu sprechen. Er übte in diesem Augenblick die direkte Kontrolle über das Raumschiff aus, und für eine Weile würde er ganz hübsch zu tun haben. Auf der Digitalanzeige tickten die Sekunden vorbei. Zündung! Mit einem Schub von 10 000 Pounds erwachte das Asp zum Leben. Sie wurden in ihre Sitze gedrückt, aber eine Belastung war das nicht für sie. Steve erhöhte langsam auf 40 000 Pounds. Das Asp schoß auf einer gekurvten Bahn vorwärts, die sie drei Stunden später in Sichtkontakt mit der Raumstation bringen würde. Wieder blitzte der Computer seine Meldungen. Steve verringerte den Schub, als das Brennschluß-Licht zu blinken
begann. Die nächsten Minuten verbrachte er im Gespräch mit dem Computer, indem er Fragen eintastete und Bestätigungen zur Antwort erhielt. Noch zwei Stunden und sechsundfünfzig Minuten. Jetzt mußte Page Rossi etwas für ihr Geld tun, indem sie ihre eigene umfangreiche Check-Liste durchging. »Bestätige alle Systeme an Automatik«, teilte sie ihm mit. »Auf Automatik.« Von hier an würde das Asp für sich selbst sorgen – beziehungsweise wenigstens so lange, bis er die direkte Kontrolle übernahm. »Symbot-Verbindung in drei Minuten, Steve.« »Ich bin soweit.« »Es ist wichtig, daß du so entspannt wie möglich bist.« »Ich schlafe beinahe.« »Ich möchte dich noch einmal daran erinnern, daß wir weniger als dreißig Prozent der Leistungsfähigkeit haben werden.« »Weiß ich.« »Du mußt dir unbedingt vor Augen halten, daß du nur ein schwaches Abbild der Wahrnehmungen des Asp erhältst. Ich möchte, daß du deine Augen für mindestens dreißig Sekunden schließt, bevor wir – « »Mich einschalten?« Pause. »Ja. Das wird in weniger als einer Minute von jetzt an geschehen.« Er sah in die absolute Finsternis um sie, auf die Planetenkugel unter ihnen. Er setzte zu einer scherzhaften Bemerkung an, aber der Anblick dieser massiven, schimmernden Welt ließ ihn innehalten. Wie mochte es sein, wenn er die Augen öffnete und die Welt so sah, wie das Raumschiff sie sah? Er zwang sich, daran zu denken, daß seine Sensoren mit weniger als einem Drittel ihrer
Leistungsfähigkeit arbeiten würden. Aber alles, was fehlte, würde er durch die eigene Kontrolle ergänzen. »Steve, schließ jetzt bitte die Augen.« Er holte tief Atem. Und wartete.
XVI
Gleiten. Schwereloses Dahingleiten… aber mehr als das. Stärke. Ungeheure Stärke war da, aber… sie wurde nicht angewendet. Sie blieb im Hintergrund. Empfindsamkeit. Alles war so… lebendig. Er konnte hören. Hören? Im Raum? Im Vakuum? Unmöglich. Und doch war es wahr. Er hörte… ultraviolette Strahlen, ein ständiges Prasseln auf seine Haut – »Steve, hier ist Page. Hörst du mich?« »Ja.« »Ich möchte, daß du still liegst. Bewege deine Arme oder Beine nicht, drehe den Kopf nicht. Verstehst du mich?« Hör auf, mich zu ärgern. Ich – »Ja.« »Denke daran, nicht bewegen! Gut, Steve, öffne die Augen.« Herrlich… verwirrend. Zum erstenmal in meinem Leben… Jetzt weiß ich erst wirklich, was Sinneseindrücke sind! Alles ist so scharf… klar… »Wie… wie ist es, Steve?« Mit Mühe gelang es ihm, sich zu konzentrieren. »Es ist unglaublich.« »Was ist dein erster Eindruck?« »Ich lebe. Zum erstenmal.« »Erzähle mir, was du fühlst, siehst, hörst.« »Ich bin mein ganzes Leben lang blind und taub und stumpf gewesen. Ich kann die ultravioletten Strahlen hören… die infraroten sind warm, glühend… sie kommen in Wellen an mit plötzlichen stillen Stößen… das muß die Sonnenreflektion von
der Erde sein… auf meiner einen Seite… ist die Wärmeeinwirkung stark. Die andere Seite kühlt sich sehr schnell ab.« Page hätte nicht erfreuter sein können. Er sprach wie das Raumschiff selbst, und nicht wie der Mann, der dessen Instrumente ablas. Steve fühlte tatsächlich die Infrarotstrahlen. »Ein Signal… ich empfange ein Signal. Einen Laserstrahl…« Das war im Programm vorgesehen. Eine der Bodenstationen schickte einen Laserstrahl in ihre Flugbahn. Er war schwach, kaum zu entdecken, und sein einziger Zweck bestand darin, die Laser-Sensoren des Asp zu aktivieren. Und Steve hatte ihn gefühlt. »Wie nimmst du ihn wahr, Steve?« »Leichter… Druck. Auf der Haut.« Da würden im bionischen Labor sicher ein paar Leute vor Begeisterung überschnappen. Mit einer solchen Reaktion hatte niemand gerechnet. »Geh ganz langsam an die Sache heran, Steve«, warnte sie. Sie hatte bereits die ersten Zeichen von Identitätsproblemen entdeckt. Steve geriet durcheinander, was sein wirkliches Selbst war – Ich-Steve oder Ich-Asp. Gott sei Dank, daß sie nur eine dreißigprozentige Kapazität geplant hatten! Unter der Wucht einer völligen Identifikation mit dem Raumschiff wäre Steve möglicherweise zusammengebrochen. Page hatte ein regelrechtes »Erweckungs«-Programm für ihn ausgearbeitet, das nur hier, wo sie sich jetzt befanden, ausgeführt werden konnte, jetzt, da sie im freien Fall schwerelos waren. Aber noch konnte sie nicht damit beginnen. Er war nicht bereit dazu. Die Eindrücke waren zu überwältigend. »Steve.«
Eine lange Pause. Dann vernahm sie seine gedankenverlorene Stimme. »Ja?« »Wir werden den geplanten Test ein wenig verschieben.« »Warum?« »Ich möchte, daß du erst… ein bißchen besser mit dem Schiff bekannt wirst.« Mein Gott, sie behandelte ihn wie ein Kind! »Ja, Page. Das ist recht.« Ein noch länger andauerndes Schweigen, dann – »Page?« »Was ist, Steve?« »Wußtest du, daß Radiowellen farbig sind?« Die Frage ließ sie zusammenfahren. »Sag das noch einmal!« »Die Radiowellen. Ich kann das ganze Spektrum sehen. Sie sind wie Regenbogen, die sich überlappen.« Dankbar stellte sie fest, daß seine Stimme wieder kräftiger wurde. »Allmählich… finde ich mich damit zurecht. Aber es stimmt, was ich über die Radiowellen gesagt habe. Die Frequenzen ändern sich entsprechend der Wellenlängen. Ich glaube, wenn wir… wenn wir erst einmal damit umgehen können, wird uns eine Kommunikation mit den Radiowellen selbst möglich sein.« »Was gibt es sonst noch, Steve?« »Ich will etwas ausprobieren.« »Noch nicht, Steve.« »Keine Bange, ich strecke nur eben mal meine Muskeln.« Sie brauchte geraume Zeit, bis ihr klar war, was er mit »Muskeln« meinte. Plötzlich feuerten die Heckdüsen und hörten sofort wieder auf. Gleich danach gab Steve einen kurzen Stoß aus den Nasendüsen ab, um die zusätzliche Geschwindigkeit wieder auszugleichen. »Ich rolle jetzt, Page. Nach links.« Sie hielt den Atem an und versuchte vergeblich, mit einem Druckhandschuh die Finger zu kreuzen.
Einen Augenblick später hörte sie wieder einen kurzen Feuerstoß. Der gekrümmte Horizont weit unter ihnen schwang majestätisch zur Seite, während Steve das Asp durch eine vollständige Rolle brachte. Mit dem Fingerspitzengefühl eines Chirurgen beendete er die Bewegung. »Mein Gott…« »Stimmt etwas nicht, Steve?« »Es stimmt alles…« In seiner Stimme schwang die Überwältigung, die freudige Aufregung mit. »Ich habe das alles… selbst getan.« Page ließ den angehaltenen Atem ausströmen. »Gibt es irgendwelche Probleme?« »Nein, gar keine. Es kam mir nur gerade zu Bewußtsein, daß ich die Rolle machen wollte, und dann lehnte ich mich nach links, und schon rollte ich…« Er hatte die Brücke überschritten. Die Wesenheit. Die Identifikation mit dem Raumschiff war erreicht. Mach dir nichts vor, schalt Page sich selbst. Es ist mehr als eine Identifikation. Er wird zu dem Raumschiff… Wieder dankte sie der Vorsehung, die ihr den Entschluß diktiert hatte, die symbiotische Verbindung anfangs auf dreißig Prozent zu beschränken. »Steve, die Check-Liste. Hast du sie vor dir?« »… Ich habe soeben den Sonnen wind gespürt. Es ist, als wehe hier draußen… eine Brise. Wie mag es wohl in einem Protonensturm sein? Das möchte ich gern einmal erleben. Weißt du was, Page? Hast du jemals einen meilenweit von deinem Standpunkt entfernten Wolkenbruch beobachtet? Genauso sieht der Van-Allen-Strahlengürtel aus… ein weit entfernter nebliger Sturm.« »Die Check-Liste«, erinnerte sie ihn scharf. »Wie? Ja, ich habe sie.«
»Dann werden wir jetzt arbeiten, Colonel Austin.« Sie legte alle Geschäftsmäßigkeit, über die sie verfügte, in ihre Stimme. »Können wir anfangen?« »Na klar. Wann du willst.« »Ich will jetzt anfangen.« Mit Absicht sprach sie ärgerlich, um ihn von seiner Wolke herunterzuholen. »Bitte aktiviere die Konsolenanzeigen.« Plötzlich erhellte sich ihr eigener Bildschirm, der ein Duplikat des Terminals war, das Steve vor sich hatte. Page war davon überzeugt, sobald sie sich einmal an die Arbeit gemacht hatten, die Check-Liste durchzugehen, würde Steve zu seinem tüchtigen, disziplinierten Selbst zurückfinden. So war es auch. Nach und nach kam er aus dem rosigen Rausch, den seine Steve-Asp-Persönlichkeit erzeugt hatte, wieder zum Vorschein. Page trug zu seiner Ernüchterung bei, indem sie die ganze Zeit mit kalter Stimme Antworten und Erklärungen von ihm verlangte. Innerhalb einer halben Stunde war Steve wieder normal. Jetzt begannen sie mit einer Reihe von Tests, die Steves Reaktionszeit prüfen sollten. Page drückte in zufälliger Reihenfolge Knöpfe auf ihrer Konsole, worauf bei Steve Lichter aufleuchteten, die von ihm Handlungen erforderten, bei denen er eine vorgeschriebene Zeit nicht überschreiten durfte. Und er zeigte sich dabei als der Testpilot, der er war. Dann kam der Teil, den Page für den schlimmsten hielt. Steve hatte sich von Sinnes eindrücken und Kräften, die er sich in seinen wildesten Träumen nicht hätte vorstellen können, überwältigen lassen – und nun mußte die symbiotische Verbindung mit dem Raumschiff wieder unterbrochen werden. Aber es war beinahe Zeit, die Vorbereitungen für das SkylabRendezvous zu treffen. Bald würde die Raumstation in Sicht kommen und sie –
»Skylab-Kontakt«, meldete Steve. Page war überrascht, aber natürlich… Steve-Asp standen die Radar-Systeme zur Verfügung… »Ausgepeilte Richtung null-drei-null. Abstand drei Meilen. Bei der gegenwärtigen Annäherungsrate…nein, warte. Da ist eine unerwartete Abdrift. Wir brauchen ein wenig zusätzliche Geschwindigkeit für das Rendezvous-Manöver.« Page setzte ihr ganzes Vertrauen auf seine Fähigkeit, das selbst zu besorgen. »Dann los, Steve.« Er antwortete nicht, aber sie konnte in den Spiegeln sehen, daß er sich bewegte und sich darauf wieder ruhig verhielt. Angespannt beobachtete sie ihn. Sein Körper beugte sich leicht nach vorn, und die Beschleunigung drückte sie auf ihren Sitz. Er ließ das Triebwerk nur für sieben Sekunden bei minimalem Schub feuern. Dann drehte sich das Asp in einer leichten Rolle um seine Achse, und wieder wurde das Triebwerk gezündet. »Jetzt haben wir die Richtung haargenau«, verkündete er. »Neun Minuten.« »Gut, Steve. Beginne jetzt bitte mit den Vorbereitungen für das Andocken.« »Weiches Andocken. Stillegung der Haupttriebwerke. Nach Anlegen der Sicherheitsleinen wird Abstand durch Laserstrahlen gehalten.« »Richtig.« Im Geist kreuzte sie die Finger. »Du wirst mit dem Asp in symbiotischer Verbindung bleiben, bis wir das Rendezvous und das weiche Andocken hinter uns haben. Erst dann wird die Trennung erfolgen.« Er gab keine Antwort, und sie drängte ihn nicht. Sie wußte, was in seinem Kopf vorging. Der Gedanke, allein der Gedanke daran, daß er die symbiotische Verbindung mit dem Raumschiff aufgeben mußte, hatte ihm die Stimme verschlagen. Page war froh, daß sie jetzt schon davon gesprochen hatte. So hatte er Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen.
Langsam wuchs das Skylab vor ihren Augen, bis es wie ein gigantischer Raumwal auf sie zutrieb. Soviel sich von außen sehen ließ, war die Raumstation bemerkenswert gut erhalten. Zwar hatten Farbe und Metall der Außenhaut Flecken, und auf den großen Sonnenzellenflächen gab es dunkle Bereiche, aber der riesige Körper reflektierte das Sonnenlicht immer noch mit blendender Klarheit. Rings um die Raumstation war ein Glühen zu bemerken, das sich, wenn die Sonnenstrahlen im richtigen Winkel einfielen, in eine schimmernde Korona verwandelte. Page wußte, daß dies eine Wolke aus Gasen und anderen Stoffen war, die aus dem Inneren gedrungen waren und jetzt das Skylab umkreisten wie dieses die Erde. Der Anblick war so großartig, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Sie mußte an die drei verschiedenen Mannschaften denken, die zu der Raumstation geflogen waren und in ihr gelebt hatten – im Falle des letzten Trios 84 Tage lang. Sie dachte an Pete Conrad und das Kunststück, das er vollbracht hatte, als er die Station rettete, indem er den eingeklemmten Sonnenflächenflügel, den sie direkt vor sich sah, losgemacht hatte. Und dann zwang sie sich, ihre Gedanken von diesen Erinnerungen loszureißen und sich darauf zu konzentrieren, was jetzt getan werden mußte. Wie die NASA der Air Force mitgeteilt hatte, stand der Raumstation noch genug Energie zur Verfügung, um während mehrerer Tage ständiger Inanspruchnahme eine konstante Lage einzuhalten. Als das Asp die Station erreicht hatte, konnten sie sehen, daß die NASA recht gehabt hatte. Die Sensoren hielten das Skylab in gleichbleibender Position über dem Horizont, und es stand fest wie ein Felsen. Steve brachte das Asp längsseits und beauftragte die Automatik mit dem Einhalten der Position. Sie konnten das
Asp nicht einfach frei schweben lassen, wenn sie die Raumstation betraten; sie mußten es irgendwie unter Kontrolle halten. Die Lösung war, daß das Asp Sensoren auf die Station richtete, die den Abstand kontrollierten. Durch geringfügige Steuerschübe sorgte der Computer dafür, daß das Asp sich nicht mehr als hundert Fuß vom Skylab entfernte und nicht näher als dreißig Fuß an es herantrieb. Jetzt, wo die Abdrift ihr Minimum erreicht hatte, war das ziemlich leicht. Sie würde wieder stärker werden, wenn ihre Körper sich vom Asp wegbewegten, aber die Automatik konnte mit dem Einhalten der Position innerhalb des Spielraums von zwei Sicherheitsleinen ohne Schwierigkeiten fertig werden. Das einzige Problem bestand darin, Steve aus der Verbindung mit dem Raumschiff zu lösen, denn Page fürchtete mit Recht, Steve habe sich schon zu sehr mit dem Asp identifiziert. »Steve, laut Check-Liste kommt jetzt die Lösung der Verbindung dran.« »Ich weiß.« »Steve, ich will von dir mehr hören als nur, daß du es weißt.« »Was denn zum Beispiel?« »Du sollst Punkt für Punkt nach der Check-Liste vorgehen. Jetzt.« »Ich – « »Fang mit der Check-Liste an! Armverbindung lösen.« »Äh… Armverbindung gelöst.« Sie mußte dafür sorgen, daß er dabei blieb. »Verbindung zu den Triebwerken lösen.« Er zögerte, dann tat er es. »Gelöst.« »Eine vollständige Antwort, bitte.« »Verbindung zu den Triebwerken gelöst.« Jetzt waren sie sicher vor plötzlichen Antriebsmanövern. Das war der erste äußerst wichtige Schritt. Page hob ihre behandschuhten Finger von dem Hauptschalter, mit dem sie
den gesamten Antrieb lahmlegen konnte. Steve hatte keine Ahnung davon, daß es ihr möglich war, dem Asp mit einem einzigen Handgriff alle Energie zu entziehen. Jetzt wußte sie, daß es nicht mehr nötig werden würde. Langsam gingen sie die Check-Liste weiter durch. Schritt für Schritt, Stück für Stück, Verbindung für Verbindung trennte Steve den einen Teil seines Selbst von dem anderen. Schließlich war es getan. Page konnte sich denken, daß Rudy Wells im Kontrollraum auf der Erde voller Beunruhigung Steves telemetrische Biodaten verfolgen würde. Er war wie leblos zusammengesunken. Im Augenblick war er nicht ansprechbar. Sie konnte nachfühlen, wie schlimm es für ihn war, und sie wartete, solange sie konnte. »Steve, hörst du mich?« Seine Stimme schien aus einem tiefen Brunnenschacht zu kommen. »Ja-a. Höre dich. Page?« »Ja, Steve.« Der klagende Ton seiner Stimme machte ihr Sorgen. »Page… mein Gott, ich komme mir vor… als sei ich blind und taub und stumm, als stecke ich mitten in einem schwarzen Nebel…« Also war er schon bei dreißigprozentiger Intensität so tief in die symbiotische Verbindung verstrickt worden! Ihr Erfolg bei diesem Projekt hatte den Mann beinahe ruiniert. Page faßte einen Entschluß und betätigte ihren Hauptschalter. Steve hatte die letzte Verbindung mit dem Asp gelöst und war jetzt wieder in der Situation eines normalen Piloten, aber Page wollte kein Risiko eingehen. Jetzt war es ihm nicht mehr möglich, die Symbiose wiederherzustellen, selbst wenn er das wollte. »Steve, hör mir zu. Öffne deinen Helm. Nimm das Nahrungsmittelpaket aus der Seitentasche. Das orangefarbene. Du brauchst so schnell wie möglich Energie.« Sie machte eine
Pause. »Ich glaube nicht, daß du eine Droge brauchst. Konzentrierte, energiereiche Nahrung wird genügen.« Er brauchte beinahe eine Minute, bis er aus seiner Lethargie erwacht war. Wie ein Wolf verschlang er die Ration, und dann holte er sich zwei weitere aus der Tasche. Page atmete auf. Innerhalb einer halben Stunde hatte er zu seinem alten Selbst zurückgefunden. Sie erkannte es daran, daß er wieder mit vernünftiger Stimme sprach. Aber er benahm sich ihr gegenüber sehr zurückhaltend. Dafür hatte sie Verständnis. Welche emotionale Belastung war das für ihn! Er hatte die symbiotische Verbindung lösen müssen, und er hatte es auch getan. Doch gewollt hatte er es nicht, und im Augenblick hegte er für niemanden besonders freundliche Gefühle. Das war ganz in Ordnung. Sollte er sich auf seine Arbeit konzentrieren. »Anzug-Check«, kommandierte er. »Wir beginnen die Vorbereitungen für den Ausstieg.« »Jawohl. Anzug-Check.« Punkt für Punkt gingen sie die Check-Liste durch, und Steves Stimme wurde immer kälter und härter. So kannte sie ihn noch gar nicht. Die Heftigkeit seines Zorns überraschte sie, aber sie wagte es nicht, eine Bemerkung darüber zu machen. Bei dem, was sie jetzt taten, hatte er den Befehl, und sie gehorchte jedem Kommando schnell und zuverlässig. Sie ließen die Luft aus dem Cockpit, und die große Haube glitt auf ihren Teleskoparmen nach oben und zurück. Steve befahl, Page solle angeschnallt bleiben, um sich an das Gefühl des Anzugs im Vakuum zu gewöhnen. Sie waren nun beide an die Lebenserhaltungssysteme, die sie auf dem Rücken trugen, angeschlossen. Steve hakte seine Sicherheitsleine am Schiff fest, stieß sich leicht ab und trieb seitlich nach oben davon. Für Page war es eine unwirkliche, überwältigende Empfindung, den Mann schwerelos treiben zu sehen. Er feuerte zwei kurze
Stöße aus der kleinen zweidüsigen Steuerrakete ab und glitt auf die Schleuse der Raumstation zu. Dort arbeitete er vielleicht zehn Minuten lang. Er brachte zwei Sicherheitsleinen an dem Skylab an. Dann kehrte er zum Schiff zurück. »Aktiviere die automatische Abstandskontrolle«, befahl er. Page schaltete das Laser-System an, das die Triebwerke zünden würde, sobald das Asp mehr als dreißig Fuß an die Station herantrieb, und es umgekehrt zurückdirigierte, wenn es sich mehr als hundert Fuß von ihr entfernte. Auf diese Weise wurden die beiden Raumfahrzeuge davor bewahrt, gegeneinander zu stoßen, und die Sicherheitsleinen sorgten dafür, daß das Asp nicht abtreiben konnte. Steve beobachtete Page scharf, als sie sich selbst von dem Raumschiff abstieß. Mit einer Hand faßte er ihre Gurte, und mit der anderen feuerte er die Steuerrakete ab. Das Gefühl der Unwirklichkeit wurde noch stärker, weil das Asp sich langsam von ihnen zu entfernen schien. Zu ihrer Linken und unter ihnen wölbte sich die massive Erdkugel, und Page erkannte auf ihr den Terminator, die Linie, die den Tag von der Nacht trennt. »Wir sind schon beinahe da«, sagte er zu ihr. Wenige Augenblicke später hörte ihre Vorwärtsbewegung auf. Sie hatten die Station erreicht. Er half ihr an die Schleuse. »Hake deine Sicherheitsleine los«, befahl er, und dann machte er beide Leinen an den dafür vorgesehenen Vorrichtungen fest. »Folge mir.« Er sprach kein weiteres Wort, während er sich in die höhlenartigen Räume des Skylab gleiten ließ. Dort machte er Filmaufnahmen von Page, wie sie von einem Deck zum anderen bewegte. Dann filmte sie Steve, und sie machte ein paar Großaufnahmen, als er die Ausrüstungsgegenstände abmontierte, die die letzte Skylab-Crew für eben diesen Zweck hiergelassen hatte. Sie verbrachten vierzig Minuten in der Station. Page fragte sich, wie es gewesen sein mochte, frei von beschwerlichen Druckanzügen hier oben zu leben. Drei
Monate der Schwerelosigkeit! Wenn man einen Raum durchqueren wollte, kostete es einen keine größere Anstrengung, als mit einem Finger gegen eine Wand zu drücken und… »Wach auf aus deinem Tagtraum.« Die Worte rissen sie aus ihrer Versunkenheit. Sie drehte sich unbeholfen um sich selbst und hielt sich schnell mit einer Hand fest. Steve klopfte auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Noch fünfzehn Minuten, und wir sind auf Reserve. Gehen wir.« Wie Federn schwebten sie in Längsrichtung durch die Raumstation. In der Schleusenkammer hakte er Pages Sicherheitsleine wieder an, überprüfte zweimal ihren Sauerstoffdruck und half ihr hinaus. Vor ihnen breitete sich in unglaublicher Gewaltigkeit das Universum aus. Für einen Augenblick wurde Page von Schwindel erfaßt, als sie, aus den geschlossenen Räumen der Raumstation kommend, auf einmal ins Weite blickte. Sie merkte gar nicht, daß sie wild um sich schlug, bis sie Steves Hände fühlte. »Immer mit der Ruhe, nicht dagegen ankämpfen. Bleib da, mach keine plötzlichen Bewegungen. So, und jetzt tief durchatmen.« Sie tat es. »Ich – ich bin wieder in Ordnung. Danke.« Er faßte erneut nach ihren Gurten. Seine Füße stemmte er gegen die Raumstation und stieß sich für das Zurückschweben zu dem wartenden Asp ab. Zweimal zündete er die Steuerrakete, und dann hatten sie ihr Schiff erreicht, und er half ihr auf den hinteren Sitz des Cockpits. Sobald sie sich innerhalb des Asp festhalten konnte, erholte sie sich wieder ganz. Steve sah ihr zu, wie sie vom Lebenserhaltungssystem auf die Sauerstoff- und Energieversorgung durch das Asp umschaltete. Er reichte ihr die Gegenstände, die sie aus dem Skylab mitgenommen hatten, und die Kameras, und er achtete
darauf, daß alles ordentlich verstaut wurde. Nun löste er die Sicherheitsleinen, die sie mit der Raumstation verbanden. Page bewunderte die Leichtigkeit, mit der er sich in der Schwerelosigkeit bewegte. Es war, als sei er dafür geboren. Natürlich hatte er den langen Flug zum Mond und zurück gemacht. Da war er eine Woche lang schwerelos gewesen. Und außerdem hatte er Erfahrungen beim Ausstieg aus der Apollo gesammelt. Trotzdem – er machte das ungeheuer elegant. Steve ließ sich in den Vordersitz gleiten und schnallte sich an. Er schaltete die Energiezufuhr ein. »Haube wird geschlossen. Fertig?« »Fertig«, antwortete sie, und die große Schale senkte sich über sie. Die automatischen Verschlüsse rasteten ein, und das grüne Licht ging an. Wenige Augenblicke später hatten sie 5,5 psi im Cockpit, und sie konnten die Verbindung zu den Lebenserhaltungssystemen lösen. Nach weiteren zehn Minuten war Steve mit der Check-Liste fertig, anhand der er das Asp ins Leben zurückrief. Ein scharfer Feuerstoß brachte sie mehrere hundert Yards von der Raumstation weg. Page hatte weiter nichts zu tun als zuzusehen und sich des Flugs zu erfreuen. Steve drehte das Schiff, so daß es in die Richtung ihres Flugs zeigte. Mehrere Minuten lang befragte er den Bord-Computer, und zum erstenmal, seit sie ins Asp zurückgekehrt waren, setzte er sich mit der Bodenkontrolle in Verbindung. Die Angaben des Computers im Kontrollraum stimmten mit denen des Bord-Computers überein. »Sieben Minuten«, kündigte Steve an. Diese Zeitspanne benutzte Page dazu, unverwandt auf die Erde zu blicken. Die Geschehnisse der letzten Stunden waren wie ein Wunder für sie. Dann war die Frist vorbei, und sie mußte sich von diesem Anblick losreißen. Steve zündete die
Haupttriebwerke. Der Computer bestätigte, daß sie genau die vorausberechnete Geschwindigkeit erreicht hatten und auf der langen, flachen Abstiegskurve zurück zur Erde waren. Mit beinahe fünf Meilen pro Sekunde tauchten sie wieder in die Atmosphäre der Erde ein. Von der Reibung erzeugte Flammen leuchteten in einem feurigen Orange auf… Page wußte, daß sie das nie vergessen würde. Sie befanden sich über dem Pazifik. Unter sich erkannten sie die dünnen weißen Bänder von Kondensstreifen in der Luft. Eine C-5A war mit einer Asp-Attrappe auf dem Rumpf von der Edwards Air Force Base gestartet. Über dem Meer, weit weg von allen Beobachtern, würde das falsche Asp abgeworfen werden und in den Wellen verschwinden. Die Welt wußte nichts anderes, als daß ein weiterer Testflug mit krummsäbelförmigen Tragflächen durchgeführt wurde. Die C-5A war mit einem Asp gestartet und kam ohne es zurück. Steve vollführte eine schnelle, glatte Landung auf dem Wüstenboden. Geistesabwesend blickte Page auf die Fahrzeuge, die auf sie zur asten. Sie fühlte sich bedrückt – die Schwerkraft… Nach der Schwerelosigkeit, nach den wunderbaren Empfindungen, die kein an die Erde gebundenes Geschöpf je erleben konnte, kam ihr der Heimatplanet wie ein Gefängnis vor. Und sie verstand besser, als sie es für möglich gehalten hatte, wie schrecklich es für Steve gewesen sein mußte die symbiotische Verbindung mit dem Asp aufzugeben. Es mußte grauenhaft sein, nur noch die leere Hülle dessen darzustellen, was man einmal gewesen war.
XVII
»Dann würden Sie also sagen, dieser erste Test habe alle Ihre Erwartungen erfüllt?« Oscar Goldman klopfte mit einem Bleistift auf den Konferenztisch. Es kostete ihn mehr Anstrengung, sein inneres Jubilieren zu verbergen, als sich Dr. Page Rossi oder die anderen Teilnehmer an der Besprechung vorstellen konnten. Ihm lag absolut nichts daran, ihnen zu enthüllen, wie wichtig das Symbot-Programm für das OSO war, das sehr viel mehr investiert hatte als Steves Probeflüge mit dem Asp-Raumflugzeug. Das OSO hatte in das Projekt Zeit und Geld hineingesteckt, und Oscar Goldman sowie eine kleine Gruppe, die seit Jahren auf diesem Gebiet arbeitete, hatten bemerkenswerte Leistungen vollbracht. Aber trotzdem war ihnen nur ein Bruchteil des Erfolgs beschieden gewesen, den Dr. Page Rossi bei diesem ersten Flug mit Austin errungen hatte. Page schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Mr. Goldman«, erwiderte sie schnell. »Vielleicht habe ich mich nicht ganz klar ausgedrückt. Wie Sie wissen, haben wir diese Mission mit einer nur zu zweiunddreißig Prozent effektiven symbiotischen Verbindung geflogen, weil die Intensität der Verbindung und die daraus folgenden Handlungen unmöglich vorherzubestimmen waren, ehe wir nicht tatsächliche Erfahrungen mit der Freiheit der Bewegung in schwerelosem Zustand gemacht hatten. Allerdings war Steve trotz dieser nicht vollständigen Symbiose – nun, er war in vieler Beziehung das Raumflugzeug selbst. Ich habe zuvor nicht gewußt, daß selbst bei dieser geplanten Einschränkung der Manövrierfähigkeit die neue Wesenheit – «
»Die was?« »Die neue Wesenheit. Steves völlige Identifikation mit dem Raumflugzeug… Zwei Gehirne und zwei Körper, die des Mannes und die der Maschine, verschmolzen buchstäblich zu einem Wesen.« »Sie hatten den Eindruck, es sei tatsächlich zu einem vollständigen Verschmelzen gekommen?« »Es war… Ich scheue mich nicht, das Wort ›unglaublich‹ zu benutzen. Die Identität, das Eingehen in eine neue Wesenheit, war so kraftvoll, daß es Steve Austin als Individuum beinahe auslöschte. Die Wucht des Geschehens und der Mangel an Widerstand auf Steves Seite, das war es, was mich überraschte. Dr. Wells und ich hatten damit gerechnet, daß Steve sich anfangs sträuben würde, seine Individualität aufzugeben, aber wie es sich dann entwickelte, verlor er nichts, wenigstens nicht von seinem Standpunkt aus. Er gewann. Er fügte seinem Ich neue Dimensionen hinzu.« »Page, was wird Ihrer Meinung nach wohl geschehen, wenn Sie eine hundertprozentige Verbindung herstellen?« fragte Ted Anderson. Sie sah ihm in die Augen. »Er wird das Raumflugzeug sein, Ted. Und das Asp wird er sein. Das Bemerkenswerte daran ist, daß es sich nicht einfach um die Kopplung eines biologischen Mechanismus, wie Steve ihn darstellt, mit den Sensoren des Asp handelt, sondern um die Einheit, um den Rapport, wenn man es so ausdrücken kann, zwischen dem Computer des Schiffes und Steves Verstand. Es war, als habe Steve seinen Körper zugunsten der überlegenen Systeme des Raumflugzeugs aufgegeben, während der Computer sich wiederum Steves Kontrolle unterstellte. Ich weiß wirklich nicht, welcher Grad der Verschmelzung erreicht werden wird, wenn wir die Widerstände entfernen und die beiden – « Sie lächelte. »Mir selbst passierte es, daß ich an
den Mann und die Maschine als an eine einzige Wesenheit dachte.« Das Lächeln verschwand, als ihre Gedanken zurückwanderten. »Aber das war eine Notwendigkeit. Ich wagte es nicht, Steve Austin als Individuum anzusprechen, denn der Steve, wie ich ihn kannte, existierte nicht mehr. Und mit dem Asp-Computer als einem kybernetischen System konnte ich mich doch erst recht nicht direkt in Verbindung setzen, wobei zu bedenken ist, daß auch das Schiff nicht mehr dasselbe wie früher war. Ich hatte gar keine andere Wahl, als die da oben neu entstandene Wesenheit zu akzeptieren. Genau das war aus der Verbindung entstanden.« Rudy Wells erkundigte sich: »Glauben Sie, daß Sie imstande sein werden, Steve während der Mission Befehle zu übermitteln? Mir geht es um folgendes: Wenn Sie erneut mit Steve starten und es kommt diesmal auf ein Timing in Sekundenbruchteilen an, ein blitzschnelles Abschätzen der Lage, unter Umständen einen Angriff… ist dann bei einer vollständigen Symbiose zwischen Steve und dem Asp noch eine wirksame Kommunikation möglich?« »Ich glaube, ja, Dr. Wells.« Goldman fiel ein: »Sie glauben es? Wissen tun Sie es nicht?« Page schüttelte den Kopf. »Wissen kann man etwas immer erst hinterher, Mr. Goldman. Bevor ich das Experiment durchgeführt habe, kann ich die Wirkung nur abschätzen, und ganz gleich, wie nahe ich der Wahrheit komme, handelt es sich doch nicht um Wissen… Ich nehme wohl zu Recht an, daß Ihre Frage nicht akademisch ist?« »Das ist sie allerdings nicht, Dr. Rossi.« »Wir müssen so schnell wie möglich einen neuen Start bewerkstelligen«, wandte Ted Anderson sich ihr zu. »Aber wir sind erst vor neun Tagen zurückgekommen! Wir haben noch nicht einmal alle Daten ausgewertet. Ich habe einen weiteren Monat für Tests eingeplant und – «
»Wir haben keinen Monat Zeit.« »Steve kann bestenfalls in zwei Monaten wieder starten.« »Vielleicht von Ihrem Standpunkt als Wissenschaftlerin aus – « »Von meinem Standpunkt als Ärztin aus!« »Tut mir leid, aber da ist Doktor Wells’ Meinung ausschlaggebend, Page. Wenn Steve fähig ist zu fliegen, ist er für uns auch einsatzbereit – und zwar für die Endphase des Projekts Symbot.« Goldman ergriff jetzt das Wort. »Ich habe Verständnis für Sie, Dr. Rossi, aber vielleicht hören Sie sich auch einmal unsere Argumente an. Die Apollo-Sojus-Mission war ein Erfolg, der in der Öffentlichkeit ein breites Echo gefunden hat. Die Welt klatscht den im Orbit zur Freundschaft ausgestreckten Händen Beifall. Die beteiligten Astronauten und die Angehörigen der Bodenmannschaften, ja, eigentlich alle Menschen halten diesen Schritt für die am besten geeignete Maßnahme, um jetzt den Frieden zu bewahren und in Zukunft weitere gemeinsame Unternehmungen im Raum zu ermöglichen. Unglücklicherweise wurde da nicht viel mehr als eine Schau abgezogen. Die Russen haben vor aller Welt um eine neue Apollo-Sojus-Mission ersucht. Aber sie wissen genug über unsere Bestände und unsere Budget-Probleme, um sich ausrechnen zu können, daß der Kongreß nicht einwilligen und die Sache nicht Zustandekommen wird. In der Zwischenzeit haben sie zwei bemannte Flüge in einer polaren Umlaufbahn durchgeführt, Doktor. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Zwei bemannte Flüge mit ihrem neuen SturmRaumschiff, und sie haben niemandem gegenüber ein einziges Wort davon verlauten lassen! Offenbar haben sie großes Vertrauen zu ihren bemannten Systemen, denn bei einer polaren Umlaufbahn ist eine Rettungsaktion eine sehr haarige
Angelegenheit. Und ihre Astronauten folgen bedingungslos ihren Befehlen… wie unsere es auch tun würden. Während sie jetzt die Pressetrommeln für ein neues Gemeinschaftsprojekt rühren, bauen sie eine für uns äußerst gefährliche bemannte militärische Kapazität für offensive Operationen im Raum auf. Die Gefahr besteht nicht einfach darin, daß sie da oben sind und wir nicht. Wenn wir es zulassen, daß sie uns zu weit überflügeln, wird die Versuchung groß sein, sich in dem Glauben zu wiegen, noch mit viel mehr durchkommen zu können. Die Folge wird sein, daß sie uns härter auf den Pelz rücken und wir uns wehren müssen und daß wir beide im Handumdrehen an einen sehr steilen Abgrund gelangt sind. Nur zu leicht kann so etwas zum Krieg fuhren. Diese beiden bemannten russischen Sturm-Schiffe haben es fertiggebracht, zwei unserer Big-Bird-Satelliten, die der militärischen Aufklärung dienten, das Lebenslicht auszublasen. Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wir sind gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ich habe mit Mitgliedern des Kongresses Einvernehmen darüber erzielt. Sie haben uns grünes Licht gegeben. Ihr erfolgreiches Anfliegen der Raumstation mit dem Asp hat alle unsere Hoffnungen erfüllt – von Ihrem Standpunkt aus ebenso wie von dem unsrigen.« Goldman versuchte, Pages Gesichtsausdruck zu deuten, und brach seine vorbereitenden Erklärungen ab. »Dr. Rossi – Colonel Rossi –, die Abwehr hat in Erfahrung gebracht, daß die Russen in siebzehn Tagen ein weiteres bemanntes Raumschiff starten werden. Wir haben daraus den Schluß gezogen, daß dieser Start zeitlich genau darauf abgestimmt ist, daß wir sechsunddreißig Stunden vorher einen weiteren Big Bird in die Umlaufbahn bringen wollen. Sie machen sich dann mit ihrem Sturm hinterher, und darin sitzen Männer mit Waffen.«
Goldman machte eine Pause, um seinen Blick von Anderson zu Wells wandern zu lassen. Beide Männer nickten als Antwort auf die unausgesprochene Frage. Goldman wandte sich wieder Page Rossi zu. »Sie müssen zum gleichen Zeitpunkt, ab heute in siebzehn Tagen, mit dem Asp von Vandenberg starten, Doktor. Außerdem muß Steve bis dahin bei hundertprozentiger symbiotischer Verbindung und voller Waffenkapazität mit dem Schiff umgehen können – « »Aber wir stecken mitten in den kompliziertesten Experimenten, die Sie sich nur vorstellen können! Für Steve Austin war der erste Versuch eine ungeheure emotionale Belastung. Ich glaube nicht, daß er in siebzehn Tagen – « »So gesehen, kommen wir niemals zu einem Abschluß.« Anderson schüttelte den Kopf, um weitere Einwände abzuwehren. »Page, wir stellen durchaus in Rechnung, daß Sie auf eine derartige Entwicklung nicht gefaßt waren. Niemand hat Ihnen je gesagt, Sie müßten bei einem bewaffneten Einsatz Ihr Leben riskieren. Ganz gewiß befehlen wir Ihnen den Start nicht, aber wir sind – « »Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß ich nicht mit Steve gehe. Sie haben mich einen Babysitter genannt. Sie wissen gar nicht, wie recht Sie damit hatten. Denn wenn bei voller symbiotischer Verbindung etwas schiefgeht, wird Steve programmgemäß das Bewußtsein verlieren.« Sie erhob sich. »Und ich allein kann ihn wieder zu sich bringen.«
XVIII
Page verspürte nichts von der freudigen Erregung, die ihrem ersten Einschuß in eine Umlaufbahn von Cape Canaveral aus vorangegangen war. Sie war zu besorgt darüber, daß Steve mit solcher Hast auf die volle symbiotische Verbindung mit dem Asp zugeführt wurde. Es war ihr klar und alles andere als gleichgültig, daß sie und Steve mit bewaffneten Astronauten zusammentreffen konnten, die durchaus den Auftrag haben konnten, Amerikaner, die sie bei der Zerstörung eines der großen USÜberwachungssatelliten erwischten, zu töten. Auch mußte sie ständig daran denken, daß sie eine polare Umlaufbahn einschlagen würden und daß eine Rettungsaktion, falls sie nicht genau da herunterkamen, wo es geplant war, von der Stelle abhing, wo sie aus dem Vakuum zurück in die wartende Atmosphäre fielen. Aber hauptsächlich machte sie sich Sorgen um Steve. Er war mehr als ein gewöhnlicher Mensch. Er war der außerordentliche, der einzigartige Vorläufer der Zukunftswesen. Der Mensch würde nicht für immer auf seinem Heimatplaneten bleiben. Er hatte bereits damit begonnen, zu anderen Welten zu reisen, und damit würde er fortfahren, solange sein Mut ungebrochen blieb. Ohne Hilfsmittel war das nicht möglich. Wie nie zuvor brauchte er die Unterstützung durch Technik und Wissenschaft. Aber es war ein großer Unterschied, ob man sich auf unbeholfene und gefährliche Weise ins Weltall vorwagte oder diese Einheit zwischen Mensch und Maschine und Computer schuf. Von
dieser neu erschaffenen Wesenheit ließ sich mit Fug und Recht erwarten, daß sie fremde Welten erobern würde. Steve Austin, dies kostbare Versprechen der Zukunft, wurde jetzt aber für ein kurzfristiges politisches und militärisches Ziel aufs Spiel gesetzt. Dieselben Menschen, die Steve und das Versprechen möglich gemacht hatten, gingen nun das Risiko ein, daß er vernichtet wurde. Natürlich steckten sie in einem schwierigen Dilemma, aber Page war der Überzeugung, sie hatten die Prioritäten falsch gesetzt. Trotzdem war sie verpflichtet – schon wegen ihrer Verbundenheit mit Steve –, ungeachtet ihrer eigenen Meinung bei den Plänen dieser Leute mitzumachen, und sie wußte, Steve würde es auch tun. Sie steckte ebenso tief drin wie Goldman oder Anderson oder Rudy Wells. Rudy Wells… wenigstens er mußte im Gegensatz zu allen anderen ebenso empfinden wie sie selbst. Plötzlich fühlte Page sich diesem guten Mann, der mehr als jeder andere das Wunderwerk, das Steve Austin darstellte, ermöglicht hatte, sehr nahe.
Beim Bau des neuen Asp war keine Zeit verschwendet worden. Page fuhr mit dem Aufzug in den weißen Raum an der Spitze des Service-Towers auf der Vandenberg Air Force Base, die sich zwischen bewaldeten Hügeln an der Küste des Pazifik verbarg. Hier würde sie Tag und Nacht arbeiten, um die Maschine auf die Aufnahme der Mannschaft vorzubereiten, die aus ihr selbst und Steve Austin bestand. Äußerlich hatte das Asp sich geändert. Der glatte Bauch trug Höcker, die Hülsen für die Raketenwaffen waren. Jede Hülse konnte vor dem Abfeuern in jede beliebige Richtung gedreht werden. Mehrere lange Geschosse steckten im Rumpf, die, wenn ihr Einsatz notwendig wurde, ausgefahren werden
konnten Page wußte nicht, wieviel Raketen sich in der Maschine verbargen, aber sie wußte, daß sie es nur zu bald herausfinden würde. Hauptsächlich graute ihr davor, daß jetzt Wirklichkeit geworden war, was sie Steve vor vielen Wochen hatte beschreiben hören: Aus einem abgeplatteten Turm streckte sich ein einziger Lauf. Sie betrachtete den vorderen Cockpit-Sitz, wo Steve angeschnallt und mit dem Asp verbunden werden würde. An einigen Kontrollen waren aufgrund ihrer nach dem Flug zum Skylab ausgesprochenen Empfehlungen Änderungen vorgenommen worden. Außerdem war eine völlig neue Reihe von Schaltern und Kontrollen eingebaut worden – für die Geschütze und deren Bedienung. Page erschauerte und kletterte in ihren eigenen Sitz. Aber diesmal würde es keine Lebenserhaltungssysteme und Sicherheitsleinen geben. Bei dieser Mission würden sie die ganze Zeit im Asp bleiben. Darüber war Page froh. Sie bezweifelte, daß sie imstande sein würde, Steve dazu zu bringen, die symbiotische Verbindung zu lösen, wenn er erst einmal die hundertprozentige Kapazität erlebt hatte. Er würde erst dann dazu zu bewegen sein, wenn das Asp zurück auf der Erde war, unbeweglich durch die Schwerkraft an den harten Wüstenboden genagelt, verlassen von aller Energie. Außerdem gab es, wie ihr wohl bewußt war, das Risiko, daß die symbiotische Verbindung zu überwältigend war, um eine Rückkehr überhaupt noch zu erlauben.
Sie hatte alles getan, was getan werden konnte. Mit Steve waren alle Checks durchgeführt, die Anzüge waren bereit, die Raketen waren aufgetankt und warteten. Die Anschlüsse für die symbiotische Verbindung waren wiederholt überprüft worden. Die Startmannschaften waren alarmbereit, und ein
zweites Team hatte Bereitschaftsdienst. Flugzeuge und Schiffe waren auf Wartepositionen. Die Russen schluckten den Köder. Colonel Anderson brachte ihnen die Neuigkeiten, als sie in den Bereitschaftsräumen der Crew warteten. »Die Russen haben bereits ein Schiff nach oben gebracht«, verkündete er. »Vor ein paar Stunden hat sich der ›Sturm‹ dem ›Big Bird‹ genähert. Mit dem Rendezvous haben sie einige Schwierigkeiten, aber nichts, womit sie nicht früher oder später fertig werden müßten. Nur wissen sie nicht, daß dieser besondere Big Bird dazu eingerichtet ist, alles, was sie im Orbit tun, aufzunehmen. Die Sensoren und Kameras haben bereits wichtige Einzelheiten des Sturm entdeckt, und wir erhalten sowohl Realzeit – als auch geraffte Sendungen. In dem Augenblick, wo die Russen an den Big Bird herankommen, was er uns ja mitteilt, startet ihr. In einer Stunde von jetzt an kann es losgehen.« Es kam nicht soweit. Das russische Schiff hatte größere Probleme, als die Russen lösen konnten. Sie verbrauchten mehr Treibstoff als vorhergesehen, und so mußte das Unternehmen abgebrochen werden. Page Rossi empfand ungeheure Erleichterung, aber die hielt nicht lange vor. »Sie haben bereits ein zweites Schiff auf der Startrampe«, teilte Anderson ihr mit. »Wir halten euch auf dem laufenden.« »Gott, wenn ich nur ein bißchen Schlaf bekommen könnte«, sagte sie zu Rudy. Er sah sie sich aufmerksam an und nahm dann Rücksprache mit Anderson. Es würde mindestens noch sechs Stunden dauern, bevor sie wußten, was der neue russische Sturm zustande brachte. »Sie können schlafen«, informierte Rudy sie. Was auch in der Pille, die er ihr gab, sein mochte, es wirkte wie ein Schmiedehammer. Fünf Stunden lang wußte Page nichts mehr von der Welt.
Dann meldete Anderson: »Wir sind dran.« Diesmal verließ er den Bereitschaftsraum nicht. Er blieb bei Steve, während dieser angezogen wurde, und Wells begleitete Page. Sie fühlte sich ganz betäubt und überließ es Rudy und den AnzugTechnikern, sich Sorgen zu machen. In ihrem weißen Lastwagen fuhren sie direkt zur Startrampe. Alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen waren getroffen worden; es gab keine Schwierigkeiten mit Journalisten. Der Einstieg ins Asp ging reibungslos vonstatten. Die Gurte wurden befestigt, die Haube geschlossen und die abschirmende Hülle entfernt. Bei minus achtzehn Minuten wurde der Countdown unterbrochen. In qualvollem Warten vergingen drei und eine halbe Stunde. Wieder lag es daran, daß die Russen das Rendezvous mit dem Big Bird nicht fertigbrachten. Dann waren die Russen dort. Der Überwachungssatellit hatte Bilder gesandt, auf denen zu sehen war, daß sich in dem russischen Raumschiff eine Luke öffnete. »Asp, wir nehmen den Countdown in drei Minuten wieder auf.« »Ich fragte mich schon, ob Sie unsere Fahrkarten überhaupt noch mal lochen würden«, rief Steve zurück. Aber der Countdown wurde fortgesetzt, und die letzten achtzehn Minuten gingen zwar nicht schnell, doch ohne Unterbrechung vorüber. Dann waren es nur noch Sekunden, und diesmal wußte Page, was auf sie zukam. Als die gigantische Feststoffrakete zündete und die Beschleunigung sie traf, kämpfte sie nicht gegen den heftigen Schlag an. Denn jetzt hatte sie alles aus ihren Gedanken ausgeschlossen, was nicht die Sicherheit und das Leben des Mannes vor ihr betraf. Die Erde fiel unter ihnen zurück.
XIX
Viel Zeit, die Aussicht zu genießen, bekam Page bei diesem Start von Vandenberg nicht. Von Kalifornien ging es südwärts über das Meer, und als sie den Äquator überquerten, hatten sie bereits die Höhe der Umlaufbahn erreicht, 110 Meilen über der Erde. Die Raketen wurden abgesprengt wie leere Güterwagen von einem stark beschleunigenden Zug. Ihr Flugplan sah vor, daß sie, während sie sich noch weit hinter dem Big-BirdSatelliten und seinem russischen Besucher befanden, in die gleiche Umlaufbahn mit ihnen gehen sollten. Sobald alle Systeme durchgecheckt waren und Steve sich in voller symbiotischer Verbindung mit dem Asp befand, sollte Steve auf ihre Beute, den russischen Sturm, losgelassen werden. Als Page ihre vorläufige Cockpit-Überprüfung abgeschlossen hatte, war ein Viertel der Entfernung rings um den Planeten zurückgelegt. Pages Überraschung darüber, wie schnell sie sich diesmal an die Schwerelosigkeit angepaßt hatte, löste sich in einem Lächeln auf. Sie war so auf ihre Arbeit konzentriert gewesen, daß sie über das Fehlen der Schwerkraft gar nicht weiter nachgedacht hatte. Ebenso akzeptierte sie die Beschränkungen als normal, die ihr der Druckanzug und die Reihen von Konsolen, Instrumentenbrettern, Schaltern und Kontrollen rings um sie auferlegten. Mit Steve hatte sie nur kurze Bemerkungen über die Operationen des Raumschiffs ausgetauscht. Jetzt rief er sie wieder, und in seiner Stimme schwang ein Ton mit, der bisher gefehlt hatte. »Page, hörst du mich?« Die Frage riß sie aus ihrer Konzentration. »Ja, Steve. Was ist?«
»Ich gehe auf – warte mal. Halte den Kopf nach unten, sieh nicht nach draußen. Ich sage dir, wann du den Kopf wieder heben kannst. Ich werde uns kippen, so daß wir beinahe senkrecht nach unten zeigen. Wenn ich dir Bescheid sage, daß du aus dem Loch herauskommen kannst, blicke einfach geradeaus.« Einige Augenblicke später hörte sie die Triebwerke feuern und wußte, das Schiff stellte sich auf die Nase. Ein zweites Feuern stoppte die Bewegung. Ein lange Pause entstand, bis – »Page.« Seine Stimme klang seltsam angespannt. »Du kannst aufsehen.« Es verschlug ihr den Atem. Vor ihr breitete sich in ihrem weißen Mantel, kreisförmig um das Ende des Planeten gelagert, die Antarktis aus. Eine niedrigstehende Sonne verwandelte Berge und Eisflächen zu scharfen Reliefs. Während sie hinsah, nahm das blendende, reflektierende Weiß die ersten Spuren von Muschelrosa an. Der eisige Kontinent zeigte messerscharfe, von der Sonne zersägte Berggrate, und die zerklüfteten Gipfel hoben sich ausdrucksvoll von dem Samtschwarz des Raums ab. Page konnte sich dies herrliche Bild nur kurze Zeit ansehen, denn sie hatten eine Geschwindigkeit von fünf Meilen pro Sekunde, und schon fielen sie um die Krümmung der Erde, von der untergehenden Sonne in die Dunkelheit. Der Augenblick war gekommen, wo die neue Wesenheit geschaffen werden mußte. Steve und das Raumschiff mußten vereint werden. Eine nach der anderen schloß Steve die Anschlüsse, die ihn körperlich, geistig und seelisch an das Killer-Raumschiff banden. Page tat ihr Bestes, nicht in zuviel Mitgefühl mit ihm zu versinken, denn sie wußte, diese Schwäche würde ihn ihrer Geschicklichkeit und Erfahrung berauben. Deshalb schlüpfte sie wieder in die Rolle des Mentors und Führers und
unterdrückte ihre persönlichen Gefühle. Sie ging die vom Computer ausgegebene Check-Liste durch, und Steve tat dasselbe. Je weiter seine Verbindung mit dem Asp fortschritt, desto fremder wurde seine Stimme. Seine Persönlichkeit verblaßte und verschmolz mehr und mehr mit der des Asp. Und dann – es war mehr ein Gefühl als eine exakte Wahrnehmung – entglitt Steve ihr. Er war vollständig an das Asp angeschlossen, aber sie hatte die Intensität des Identifizierungstransfers eingedämmt, indem sie das Ausmaß von dem Rheostaten vor ihr ablas. Es begann, als sie siebenunddreißig Prozent erreichte. Da merkte sie an seinen Antworten, daß er, wie bei ihrem ersten Flug, sehr weit von ihr entfernt war. Bei sechsundvierzig Prozent war die Persönlichkeit des Individuums Steve Austin verschwunden. Und das Asp konnte sie nicht mehr als Maschine behandeln, ganz gleich, wie genau es den Kontrollen gehorchte, wie exakt seine verschiedenen Systeme funktionierten. Bei sechsundvierzigprozentiger Intensität war das Schiff zu einem Lebewesen geworden, verschmolzen mit dem Sein und der Persönlichkeit von Steve Austin. Sie waren eins geworden. Sie merkte es, als Steve nicht mehr auf ihre Fragen antwortete. Jetzt gab er die Befehle, und der Klang seiner Stimme verriet, daß er sich auf unbedingten Gehorsam verließ. Page war zu einer Gefangenen in einem System von Fähigkeiten geworden, die weit über alles hinausgingen, was sie aus eigener Kraft zuwege bringen konnte. Die neu erschaffene Wesenheit tolerierte ihre Anwesenheit bloß.
»Erhöhe Symbot-Verbindung auf hundert Prozent!« befahl die Mensch-Maschine. »Noch nicht«, gab sie schnell zurück. »Ich halte es für das beste, wenn wir die Intensität in langsamen Schritten steigern, Steve…« Die Stimme versagte ihr, als sie auf den Instrumentenanzeigen bemerkte, daß die Symbot-Verbindung auf Maximum schwang. Sie drehte den Rheostat, doch während sie es tat, wußte sie schon, daß es zwecklos war. »Page, laß die Finger von den Symbot-Kontrollen.« Auf ihrer ersten Mission hatte sie mit ihm wie mit einem Kind gesprochen. Jetzt war es genau umgekehrt. »Gut, Steve. Was soll ich tun?« »Weiter nichts, als die Systeme überwachen. Wenn irgendwelche Anomalien auftreten, laß es mich bitte sofort wissen.« »Ja.« Beinahe hätte sie gesagt: »Ja, Sir«, aber sie konnte das zweite Wort gerade noch verschlucken. »Sichere deine Haltegurte«, wurde ihr befohlen. »Ich werde unsere Manövrierfähigkeiten ausprobieren.« Die Haltegurte saßen fest. Page entspannte sich und lehnte den Helm an die Kopfstütze. »Dann mal los, Steve.« Ein Lachen antwortete ihr – ein freies, starkes Lachen. – Und dann begann das Asp ein Ballett. Die Raketen feuerten mit atemberaubender Schnelligkeit, und Steve kontrollierte sich nicht das Schiff, hielt Page sich vor Augen, sondern sich selbst mit einer Geschicklichkeit und Wendigkeit, die jeden Verfahrenstechniker sprachlos gemacht hätte. Das Triebwerk hinter ihnen wurde an- und abgestellt. Das Asp rotierte, wirbelte, rollte, trudelte, schleuderte, glitt von Seite zu Seite. Wenn eine schwerelose Maschine auf einer Umlaufbahn schweben konnte, dann würde Steve-Asp es vermutlich fertigbringen.
Zehn Minuten später war es vorbei. Während sie im freien Fall dahintrieben, überprüfte Steve-Asp die Endergebnisse von allem, was er getan hatte. Sie hörte wieder seine Stimme, aber er sprach nicht mit ihr, sondern mit der Flugkontrolle. »Kontrolle, hier Asp-eins.« »Sprechen Sie, Eins.« »Alle System-Checks durchgeführt. Symbot-Verbindung auf hundert Prozent. Over.« Das Zögern konnte keinem von beiden entgehen. Nach dieser einen Herzschlag währenden Pause fragte die Flugkontrolle: »Asp-zwei, bestätigen Sie das?« »Hier Asp-zwei«, antwortete Page sofort. »SystemÜberwachung ist überzeugend. Symbot-Verbindung ist total. Leistungsfähigkeit übertrifft Vorhersage. Over.« Diesmal gab es kein Zögern. Page wußte, daß Rudy Wells jedes Wort mithörte, daß er über die Fernsehverbindung zwischen dem Startzentrum und der NORAD-Flugkontrolle durch ein Nicken angeordnet hatte, Page – Asp-zwei – direkt anzusprechen. »Das bestätigen wir, Zwei. Asp-eins, sind Sie bereit zur Entgegennahme der Daten für Ihre Mission?« »Legen Sie los, Kontrolle.« »Gut, Steve. Sind Sie bereit, die Orbitaldaten aufzunehmen?« »Zwei wird sie aufnehmen und mit dem Computer kommunizieren, Kontrolle«, sagte Steve. »Ich werde mithören und Gebrauch davon machen. Over.« Wieder entstand eine Pause. Es sah Steve Austin überhaupt nicht ähnlich, auf diese Weise mit der Flugkontrolle zu sprechen, und nur Rudy Wells und Ted Anderson wußten, woran es lag. Page konnte sich denken, daß der Flugüberwacher erneut mit einem Nicken zum Weitermachen aufgefordert hatte.
Es folgte eine lange Reihe von Orbitaldaten über das SturmRaumschiff, das sich weit vor ihnen und über dem Horizont bei dem Big Bird befand. Page war es bewußt, daß sie, während sie diese Daten dem Computer eingab, auch mit der vollen geistigen Kapazität von Steve in Verbindung stand, ohne daß ein Wort gewechselt wurde. Als sie fertig war, bekam sie keine Gelegenheit zu einer Antwort mehr. »Asp-eins an Kontrolle. Fertig. In dreiundsiebzig Sekunden gehe ich auf volle Kraft, um den Sturm einzuholen.« »Verstanden, Eins… Übrigens, wir haben den Sturm im Visier. Sieht nach einer Besatzung von vier Mann aus, Eins. Im Augenblick sind zwei Kosmonauten außerhalb des Schiffs, und es scheint, daß sie Manövrier-Einheiten benutzen… Eins, wir haben außerdem den Eindruck, daß sie eine Art von Raketenprojektor mit sich führen. Sehr gesund kann das Klima da oben nicht sein, Eins.« Eine Flamme schoß ins Vakuum, und das Asp raste zu seinem Rendezvous mit dem Sturm und dessen vier Kosmonauten.
XX
Page konnte überhaupt nichts sehen und mußte sich zwingen, daran zu denken, daß Steve-Asp ein Sehvermögen über ein unglaubliches Spektrum hatte, das ihren normalen menschlichen Sinnen und deren beschränkten Fähigkeiten versagt blieb. Außerdem konnte er Dinge in viel weiterer Entfernung entdecken als ein menschliches Auge. In diesem Moment benutzte er den Mikrowellen-Gesichtssinn des Radarsystems. Page wußte, daß die Angaben der Flugkontrolle über ihre Entfernung, ihre Annäherungsrate und den Zeitpunkt des Rendezvous demnächst eintreffen mußten, aber gerade jetzt war die Bodenstation mit all ihren komplizierten Computern langsamer als die Kombination von Computer und menschlichem Gehirn, die Steve-Asp darstellte. »Zweiunddreißig Meilen, kommen rasch näher, haben sie in neun Minuten in der Reichweite unserer Waffen«, kündigte Steve ihr an. »Kontrolle an Asp-eins, wir haben einige Daten über Ihre – « Aus dem Cockpit antwortete eine scharfe, schneidende Stimme: »Eins an Kontrolle. Ich brauche Ihre Daten nicht. Stören Sie die Operationen nicht, es sei denn, es gebe etwas Neues über die Besatzung des Sturm-Raumschiffs. Ich wiederhole: Stören Sie die Operationen nicht. Setzen Sie sich, falls notwendig, mit Asp-zwei in Verbindung. Eins nimmt keine Durchsagen mehr entgegen, ausgenommen den Fall, daß Asp-zwei eine Einmischung für notwendig hält. Haben Sie das aufgenommen, Kontrolle?«
Diesmal dauerte die Verzögerung so lange, daß Steve seine Forderung wiederholte: »Asp-eins an Kontrolle, bestätigen Sie die Aufnahme!« Seine Ungeduld war nicht zu verkennen. »Wir bestätigen Ihre Botschaft, aber – « Page merkte, daß es an der Zeit war, einzugreifen. Ihr war klar, was mit Steve-Asp geschah – er hatte durch die Sensoren, den Computer, die Erfahrung des qualifizierten Astronauten und etwas, das kein Computer hatte, nämlich die menschliche Fähigkeit, aus gegebenen Daten Schlüsse zu ziehen, einen vollständigen Überblick über die Situation. »Asp-zwei an Kontrolle, bestätige die Notwendigkeit, den Wünschen von Asp-eins zu entsprechen. Es ist äußerst wichtig, daß Eins nicht gestört wird, es sei denn, es handele sich um einen Notfall. Ich wiederhole: Eins darf nicht gestört werden. Haben Sie verstanden? Over.« Es mußte wieder eine schnelle Beratung innerhalb des Kontroll-Teams stattfinden. Page erkannte Andersons Stimme. Der Colonel hatte sich eingeschaltet. »Page, wir haben die Botschaft erhalten und verstanden und werden Ihren Wünschen entsprechen. Wir bleiben in Bereitschaft.« Über die Bordverbindung kam Steves Stimme. »Gut gemacht, Page. Hast du schon Sichtkontakt?« Sie strengte ihre Augen an, so sehr sie konnte. War das eine Lichtreflektion oder – »Nimm das Fernglas, Page.« Sie holte das Fernglas hervor und führte es an die Augen – und es krachte, als das Fernglas gegen die Sichtscheibe ihres Helms stieß. Page schüttelte über sich selbst den Kopf, öffnete das Visier und hob das Fernglas von neuem. Sie richtete es auf die Reflektion. Da – der Sturm. Das war wirklich ein dicker Brocken. Daneben befanden sich zwei glitzernde Punkte… die beiden Kosmonauten, die ausgestiegen waren. Und rechts von
dem russischen Raumschiff – der lange Zylinder, der der Big Bird-Satellit war. »Ich habe sie, Steve. Zwei Männer sind draußen und – « »Ich weiß«, unterbrach er sie. »Leg das Fernglas weg und schließe deinen Helm. Vergewissere dich, daß du aus dem Anzug mit Druck und Sauerstoff versorgt wirst. Aktiviere deine Reserveschaltungen für Bereitschaft und Automatik.« Page tat, was ihr gesagt worden war, und dabei legte sie sich die Gründe dafür zurecht. Wenn sie in einen Kampf verwickelt wurden, konnte der Druckverschluß der Raumschiffkabine leicht zerrissen werden. Wurde sie dann durch den Anzug versorgt und hatte sie die Reserveschaltungen so eingerichtet, daß die Automatik übernehmen konnte, würde es nicht so gefährlich für sie werden, wenn die Hülle einen Augenblick offen war. »Fertig«, gab sie gleich darauf bekannt. Währenddessen verwandelte sich die weit entfernte Szene aus glitzernden Lichtspiegelungen zu deutlichen Formen und Gestalten. Als sie einen Abstand von vier Meilen erreicht hatten, stießen die vorderen Triebwerke des Asp eine Flamme aus, und für einige Augenblicke standen sie auf der Stelle. Gleich darauf feuerten die Seitentriebwerke, und dann gab es noch einen Schub. »Auf uns ist ein Mikrowellenstrahl gerichtet«, erklärte SteveAsp. »Es ist der Leitstrahl einer Zielsuchrakete. Sie ist nicht sehr schnell, denn es kostet sie Zeit, sich erst auf uns auszurichten und dann den Gefechtskopf zu aktivieren und wieder das Ziel anzupeilen. Unser Tänzchen hat ihr Programm durcheinandergebracht. Für ein Ziel, das sich willkürlich bewegen kann, ist sie nicht konstruiert.« Steve-Asp hatte die Russen herausgefordert. Durch sein plötzliches Anhalten mitten im Flug hatte er ihnen gezeigt, daß er sie durchschaut hatte. Es war ein Bluff. Konnte es sein,
überlegte Page hoffnungsvoll, daß die Russen zu dem Schluß kamen, es lohne sich nicht für sie, dies mit Tragflächen ausgestattete Raumschiff anzugreifen, das die Amerikaner so unerwartet ins Spiel gebracht hatten? »Steve«, fragte sie, »müssen wir… uns auf ein Feuergefecht mit diesen Leuten einlassen?« »Wir müssen gar nichts. Und alles, was sie müssen, ist, einzupacken und abzuhauen. Nur glaube ich nicht, daß sie das tun werden. Sie können stur sein.« Bei diesen Worten stachen kleine Flammenfinger ins Vakuum und warfen das Asp auf die Seite. »Aber so wichtig ist dieser Satellit doch gar nicht«, fuhr Page fort. »Er besteht aus weiter nichts als einer Ansammlung von Geräten, die wir leicht ersetzen können. Was wir mit dir und diesem Schiff gelernt haben, Steve, das ist jedoch…gerade du solltest doch verstehen…« Es erschütterte sie, daß die Antwort ebenso von dem Raumschiff wie von dem Mann kam. »Nein, Page, das können wir nicht machen.« Wir – diese beiden… einer von ihnen… »Hier steht mehr auf dem Spiel als dieser Überwachungssatellit. Was hier geschieht, ist eine Kraftprobe. Wenn wir sie nicht bestehen, werden die Leute, die diese Männer nach oben geschickt haben, Schritte unternehmen, um ihre Vorherrschaft im Raum zu halten und zu verstärken. Goldman hat es dir doch erklärt… Es geht um das militärische Gleichgewicht, nicht darum, wer besser oder wer schlechter ist. Man macht einem Skorpion keinen Vorwurf daraus, daß er sich mit seinem Stachel verteidigt. Dies Gleichgewicht dient auch der neuen Detente-Politik. Und die großen Bomben und die Armeen bleiben zu Hause, während einige wenige von uns hier oben ihre Kräfte messen. Das halte ich für den besseren Weg.«
Schweigen. Page sah, daß die Russen eifrig beschäftigt waren. Sie schossen mit Hilfe ihrer Steuerraketen hin und her. »Was hast du vor?« »Wir gehen nahe heran. Wir werden sie verwirren. Sie wissen nicht, welche Karten wir in der Hand halten – oder welche wir ausspielen werden.« Page erinnerte sich daran, was vorging. Der Mann dachte, und das Schiff reagierte. Beide waren zu einer Einheit verschmolzen, zu einem Menschenschiff… Sie waren nur noch zweihundert Yards entfernt, und das Asp, das perfekt kontrollierte Bewegungen vollführte, blieb mit einem Ruck stehen, als sei es gegen eine Mauer gestoßen. Die Russen hatten ihnen die Köpfe zugewandt. Wenn Page durch die reflektierende Schutzschicht ihrer Sichtscheiben hätten blicken können, hätte sie auf ihren Gesichtern ungläubiges Staunen über dies seltsame Schiff, das sich wie ein Lebewesen bewegte, erkannt. »Jetzt kommt die Kraftprobe«, verkündete Steve. »Sie wollen uns von den Seiten her fassen. Zu schade. Ich hatte genau wie du gehofft, sie würden einfach nach Hause gehen. Nun wird es ernst.« Page warf einen Blick auf die Monitor-Konsole vor sich. Die Waffen des Asp waren scharf gestellt. Bereit zu feuern.
XXI
Der Eröffnungszug in dem Spiel bestand darin, daß der russische Kosmonaut zu ihrer Linken seine Position stabilisierte und ein flammendes Rohr auf sie richtete. SteveAsp sah sich die Sache genau an. Teleskoplinsen holten ihm den Mann und seine Ausrüstung ganz nah heran. Entfernungsmesser informierten ihn exakt über den Abstand; Laserstrahlen verfolgten die Bahn des Geschosses, das der Kosmonaut abgefeuert hatte, und der Computer berechnete sofort die Geschwindigkeit. Die Infrarotdetektoren von SteveAsp analysierten die Strahlung, und sofort wurden in das menschliche Gehirn die Art des Raketentreibstoffs, seine Brenndauer, die Temperatur der Flamme und die erwartete Geschwindigkeit eingespeist. Ebenso wußte er, wann das Geschoß sein Ziel erreichen würde. Um Page über das, was geschah, auf dem laufenden zu halten, sprach Steve laut vor sich hin. Sie konnte nicht alles verstehen, denn er spulte nur mit monotoner Stimme seine eigenen Gedanken ab. Aber aus dem, was sie mitbekam, ging hervor, wie hervorragend die Koordination des Menschenschiffes war. »Keine Zielsuchlenkung… zu gefährlich für sie, so etwas von einem bemannten Raumschiff aus abzufeuern… könnte umkehren und auf ihre eigene Thermalstrahlung gelenkt werden, wenn sie nicht aufpassen… nun sehe sich einer das an…« Das Sonnenlicht schimmerte auf den Flanken einer Rakete, die auf sie zuschoß. Page wurde vor Angst die Kehle eng, als sie den sich nähernden Flugkörper größer und größer werden
sah. Der Gefechtskopf der Rakete zersplitterte zu einem Dutzend zackiger Teile, die in keilförmiger Formation weiterrasten und sie wie wirbelnde Meteoriten treffen mußten. Plötzlich konnte Page überhaupt nichts mehr sehen. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie wurde durchgerüttelt, als das Menschenschiff zum Leben erwachte. Die Triebwerke zu ihrer Rechten spien unter maximalem Schub Flammen. Trotz der Schnelligkeit der Bewegung verarbeitete der Computer jede Einzelheit über die sich nähernden Bruchstücke. Wieder feuerten die Triebwerke und hoben das Raumschiff über die berechnete Bahn der Geschosse. Steve-Asp ließ sie gefährlich nahe kommen. Page schien es, die Katastrophe sei unvermeidlich geworden. Aber für Steve-Asp mit seinen Instrumenten-Sinnesorganen und seinem Computer-Verstand war es verhältnismäßig einfach, den tödlichen Geschossen auszuweichen. Es war, als springe ein Federgewicht-Boxer vor den langsamen, schwerfälligen Schlägen eines Riesen beiseite. Die zackigen Raketenteile flogen vorüber. Pages Erleichterung dauerte nur kurze Zeit, denn ihr fiel ein, daß dort draußen noch einige andere Gegner waren. Das Asp tanzte auf seinen Feuerstößen. Es wartete nur darauf, daß die russischen Kosmonauten Energien und Geschosse verschwendeten und dieses Phänomen anstarrten, das aller Regeln für das Manövrieren im Raum zu spotten schien. Das Beschleunigen und Abbremsen warf Page von einer Seite auf die andere, bis ihr ganz schwindelig war und sie nur noch verzweifelt nach Luft ringen konnte. Sie wußte, daß sie zuviel Kohlendioxyd abgab und gleich das Bewußtsein verlieren würde. Das durfte nicht geschehen! Wenn Steve etwas zustieß, mußte sie die Kontrolle übernehmen und das Asp wegbringen.
Steve-Asp war jetzt kein Raumschiff, keine Maschine mehr. Es war ein Geschöpf, das endlich zu seinem eigenen, wilden Leben erwacht war, zu dem Leben im Vakuum, in dem es sich unbehindert bewegen konnte. »Sie haben den ersten Schritt getan. Es ist an der Zeit, ihnen etwas zum Nachdenken zu geben – « Das Menschenschiff warf sich zur Seite, schoß vorwärts, schlug erneut einen Haken. Page sah orangefarbenes Licht unter ihrem Schiff aufflammen, das sich ausbreitete und beinahe so schnell, wie es aufgetaucht war, wieder verblaßte. Leuchtende Punkte erschienen im Vakuum… Page starrte ungläubig darauf, dann begriff sie. Steve hatte einen Sprühregen von schrot-korngroßen Geschossen abgefeuert, die auf die Russen zuschwärmten. Ihre Bewegung war so langsam, daß es den Kosmonauten leicht sein mußte, ihnen mit ihren Steuerraketen auszuweichen. Und genau das war es, was Steve-Asp erreichen wollte. Page sah zu, wie die Russen, die Sklaven ihrer langsamen Schubkräfte waren, aus der Bahn der Geschosse schwebten. Jetzt feuerte Steve-Asp ein Bündel Nadelraketen ab. Lange gelbe Flammenstreifen breiteten sich fächerförmig wie ein Spinnennetz aus und fingen den Kosmonauten zu ihrer Linken ein. Er machte heftige Armbewegungen, aber die Nadelraketen bohrten sich wie schwirrende Skalpelle in seinen Druckanzug, rissen ihn auf und zerfetzten Haut und Venen und Arterien. Der hohe Innendruck des Anzugs verflüchtige sich durch die zahlreichen Löcher. Es entstand eine Dekompression, die die Körperflüssigkeiten des Mannes explodieren ließ. Ehe Page noch dem Brechreiz, der sie befiel, unterlag, machte eine plötzliche Beschleunigung sie beinahe bewußtlos. Das Schiff konnte sich schneller bewegen als jeder Mensch, und der Mensch konnte schneller denken als jede Maschine. Von dem Gegner war eine Reaktion zu erwarten, und Steve
Asp, mit dem vereinten Verstand eines Menschen und eines Computers ausgerüstet, war schon unterwegs, um dem, was als nächstes kommen mußte, auszuweichen. Als das Sturm-Raumschiff seinen ersten Feuerstrahl entsandte, schickte Steve-Asp zwei kleine Raketen los. Es waren keine Waffen. Jede von ihnen gab ein elektronisches Signal ab, das dem des amerikanischen Raumschiffes glich, aber viel stärker war. Die Raketen bildeten daher ein leichter anzupeilendes Ziel als das Asp selbst. Die Fluglenkkörper, die das Sturm-Raumschiff abschoß, verfolgten daher nicht das Asp, sondern ließen sich von den beiden elektronischen Attrappen weglocken. Währenddessen tanzte Steve-Asp aus dem Gefahrenbereich. Jetzt ging es nicht mehr um ein Spiel, sondern um die entscheidende Frage, wer überleben würde – und wer nicht.
XXII
Es waren erfahrene Kosmonauten. Sie hatten, lange bevor zum erstenmal ein Sturm-Raumschiff in den Orbit eingeschossen worden war, Sojus-Missionen geflogen, und sie waren für alle möglichen Vorkommnisse ausgebildet worden – einschließlich direkten Widerstandes durch ein amerikanisches Raumschiff. Die Tatsache, daß das Asp nicht auf ihrer Liste bekannter Fahrzeuge stand, hielt sie nicht lange davon ab, das zu tun, worauf sie trainiert waren: schneller und härter als der Gegner zuzuschlagen. Die beiden Männer innerhalb des Sturms drückten auf Feuerknöpfe, und ein Sperrfeuer aus kleinen Projektilen raste von dem russischen Schiff direkt auf das amerikanische zu. Das war aber weg. Auch das Menschenschiff hatte die Zeit berechnet, die der Russe für das Manöver brauchen würde, eine Salve entgegengesetzt zu der bisherigen Richtung abzufeuern. Im Unterschied zu der Behendigkeit des Asp mußten die Russen ihre Haupttriebwerke zünden, um ihre Waffen zum Einsatz bringen zu können. Für sie und ihr großes, aber verhältnismäßig unbeholfenes Raumschiff gab es keine andere Möglichkeit, als auf dieselbe schwerfällige Weise vorzugehen wie die Kosmonauten, die sich außerhalb des Schiffes befanden, mit ihren Steuerraketen. Die Raketen schossen aus dem Sturm-Raumschiff, aber das Asp war weg. Page litt sehr unter den schnell wechselnden Beschleunigungen. Sie war fest in dem Raumschiff angebunden, sie wußte, was es tun würde, dies Wesen, das soviel stärker war als sie… Steve konnte körperlich viel mehr
aushalten. Aber er wagte es nicht, an Pages Zustand während seiner Manöver zu denken. Das hätte seine Bewegungsfreiheit so eingeengt, daß den Russen ein Treffer glücken mußte. Die schlimmsten Folgen der Beschleunigung waren das plötzliche Anrucken und Abbremsen. Dadurch wurde in Pages Körper das Blut auf gefährliche Weise gestaut. Das Raumschiff sprang von völliger Schwerelosigkeit auf einen grausamen Andruck, und ehe Page sich noch der sie zerquetschenden Kraft anpassen konnte, schaltete Steve auf negative Beschleunigung. Nun wurde das Blut in entgegengesetzte Richtung gepreßt. Adern platzten. Page blutet aus Nase und Mund. Sie nahm das Risiko einer Dekompression auf sich und öffnete ihre Sichtscheibe. Die Gefahr, daß sie an dem Blut zwischen Gesicht und Helm erstickte, war im Augenblick viel größer. Sie mußte mit der Hand hineinlangen und mit einem Taschentuch Mund und Nase abwischen. Sie brachte es fertig, und dann schloß sie den Helm sofort wieder. Außerdem zog sie ihre Haltegurte so fest an, wie es ihre Kräfte zuließen und erhöhte den Innendruck ihres Anzugs auf Maximum. Dadurch wurde die Bewegung der Körperflüssigkeiten eingedämmt, besonders der vorübergehende, aber äußerst unangenehme Blutstau in den Gliedmaßen. In dieser ganzen Zeit stand das Menschenschiff niemals still. Kurze Rucke wechselten mit langen, kraftvollen Sprüngen ab und brachten die Russen aus dem Konzept. Steve war bekannt, daß sie ihre Zielsuchraketen nur nach Sicht abfeuern konnten. Sie mußten das Asp dabei genau im Visier haben. Daher manövrierte das Sturm-Raumschiff ständig, um seine Position zu ändern, aber es hing dabei mehr von seinen verstandeslosen automatischen Kontrollen als von menschlichem Geschick ab. Sie feuerten alles auf das Asp ab, was sie hatten – die Raketen, deren Gefechtsköpfe bei der Annäherung
zersplitterten, die Geschosse, die dem einen noch außerhalb des Schiffes befindlichen Kosmonauten zur Verfügung standen, und zwei Zielsuchraketen. So sehr Page zu leiden hatte, merkte sie doch, daß Steve versuchte, genau festzustellen, welches die Kampfkraft eines bemannten russischen Raumschiffs in einer Umlaufbahn war. Der Big-Bird-Satellit, der von den Sturm-Kosmonauten jetzt nicht mehr beachtet wurde, nahm außerdem alles mit Filmund Fernsehkameras auf. Plötzlich durchfuhr Page der Gedanke, daß es jetzt mit ihrem Glück zu Ende war. Aus der Richtung des Sturms erschienen zwei große orangefarbene Flammenblüten. Zwei riesige Raketen rasten mit entsetzlicher Geschwindigkeit auf sie zu. Diesmal schienen es Zielsuchraketen zu sein, und denen konnte auch das Asp mit all seiner phantastischen, tänzerischen Behendigkeit nicht ausweichen. Eine Explosion. Und Page Rossi verlor das Bewußtsein.
XXIII
Schwärze fiel über sie her, ehe sie noch begreifen konnte, daß der Verstand des Menschenschiffes bereits den einzigen Weg erkannt hatte, auf dem es noch Hoffnung für sie gab. Angesichts der beiden Zielsuchraketen und einem zweiten Sperrfeuer anderer Geschosse gab es nur die Möglichkeit, Geschwindigkeit und Kurs des Asp relativ zu dem SturmRaumschiff entscheidend zu ändern. Das Erkennen der notwendigen Maßnahme und das Umsetzen in die Tat waren für Steve-Asp eins. Das Haupttriebwerk feuerte mit voller Kraft. Ein Schub von 200 000 Pounds hämmerte auf die Körper der beiden Insassen. Da aus dem Raumschiff schon sehr viel Treibstoff und Waffen ausgestoßen worden waren, war die Beschleunigung so groß, daß sie Page bewußtlos machte und Steve schwer erschütterte. Aber sie blieben dadurch am Leben. Der wahnsinnige Schub schleuderte das Asp von der Stelle, wo es eben noch gewesen war, an eine ganz andere – und das bedeutete auch bezüglich der Zielsuchraketen einen Zeitgewinn. Das Manöver brachte noch einen weiteren Vorteil mit sich, der nicht eingeplant gewesen war: Das Zünden der Triebwerke blendete mit ihrem gleißenden Licht und dem Ausstoß einer ionisierten Wolke die eine der beiden Raketen. Sie nahm beides als Ziel an, und als sie sich mitten in der Plasma-Wolke befand, explodierte ihr Gefechtskopf, nicht ohne seinerseits ein helles Licht zu erzeugen. Dies nahm die zweite Rakete auf, drehte sich auf ihrer Bahn um und begann, auf ihre stumpfsinnige Art irgendein Ziel zu suchen. Sie kam da an, wo der blendende Lichtschein gewesen war – und fand nichts.
Darauf beschrieb sie einen weiten Kreis. Ihre Sensoren erfaßten das erste leuchtende Objekt, das in ihre Reichweite kam – und das war der Kosmonaut außerhalb des SturmRaumschiffes, der immer noch seine Steuerraketen benutzte. Entsetzt ging er auf volle Schubkraft, um der sich erbarmungslos nähernden Rakete zu entfliehen. Sein Druckanzug reflektierte das Licht von der nackten Sonne. Währenddessen feuerte Steve einen weniger heftigen Stoß ab, um ihre Geschwindigkeit abzubremsen. Er rotierte das Raumschiff für die negative Beschleunigung und flog wieder auf das russische Fahrzeug und die schaurige Szene zu, wie eine Rakete ein menschliches Ziel verfolgte. Page kam noch gerade rechtzeitig wieder zu sich, um zu sehen, wie der Kosmonaut in einer letzten, hoffnungslosen Geste die Arme hochwarf. Dann stieß die Rakete mit dem Mann zusammen.
Beinahe hätte es ihren Tod bedeutet, daß sie dem Geschehen in entsetzter Faszination zusahen. Da Steve ebenso wie Page für einen Augenblick abgelenkt wurde, gewann der Sturm Zeit, zu einem endgültigen Angriff anzusetzen. Page, die den salzigen Geschmack von Blut auf den Lippen spürte, war sich bewußt, daß die Russen jetzt alles, was sie noch in ihrem Arsenal übrig hatten, auf sie abfeuern würden, um diesen vor ihnen tanzenden Killer zu vernichten. Diesmal war es unmöglich, vor den sich nähernden Geschossen davonzulaufen. Die kurze Verzögerung hatte den Russen einen Vorteil in die Hände gespielt. Eben noch hatte das Asp sich durch einen gewaltigen Sprung retten können. Jetzt ging das nicht mehr. Was hatten die Russen nur alles mit diesem Sturm nach oben gebracht? Ihr Arsenal mußte mindestens die Hälfte der Nutzlast ausgemacht haben.
Vielleicht hatten sie an dem Big Bird Zielübungen machen wollen. Steve-Asp flog das Raumschiff wie ein Jagdflugzeug. Er benutzte die Triebwerke wie die aerodynamischen Kontrollen eines Düsenjägers. Er ging auf konstante Beschleunigung. Obwohl diese nicht ganz so schrecklich war wie vorhin, wurde Page doch auf ihrem Sitz festgenagelt. Aber sie blieb bei Bewußtsein, und sie war selbst eine so gute Pilotin, daß sie verstand, was Steve tat. Er beschrieb eine Verfolgungskurve, er benutzte die Drehbeschleunigung dazu, die Raketen zu verwirren. Mit Erleichterung sah sie das Sonnenlicht auf einem zylindrischen Körper aufblitzen, als die letzte der Zielsuchraketen hinter ihnen vorbeistrich. Aber immer noch konnte Steve nicht darauf warten, ob die Russen weitere Überraschungen hatten. Das Asp hatte keine Raketen mehr. Jetzt trug die Unterhaltung Früchte, die vor so langer Zeit unten auf der Erde stattgefunden hatte. Steve beobachtete das russische Raumschiff genau, und der Entfernungsmesser in seinem linken Auge, der ebenfalls mit dem Asp verbunden war, lieferte ihm die Daten über den Abstand, den Winkel, die Kompensation für die Beschleunigung. Unter ihnen begann plötzlich die 13-mmKanone zu hämmern. Ein kurzer Feuerstoß nach dem anderen erschütterte das Asp. Page sah den aufblitzenden Stäubchen nach, von denen jedes eine kleine, aber hochexplosive Ladung trug. Ihr war, als spiele sich alles in Zeitlupe ab. Das war eine Folge des Blutabzugs aus dem Gehirn, hervorgerufen durch die Beschleunigung… Die kaum sichtbaren Wespen schwebten durchs Vakuum… eine dünne Wolke bewegte sich auf das Sturm-Raumschiff zu…die Geschosse explodierten. Auf einmal war da eine weiße Wolke… Ein Sprühnebel von augenblicklich gefrorenen Gasen und Flüssigkeiten, die durch die Dekompression aus dem Sturm geschleudert wurden. Erst
schien sich die Wolke, dann das Schiff an hundert Stellen auszubauchen… Eine Flamme schoß in die Höhe und breitete sich pilzartig aus, verwandelte sich in eine aufblühende Rose. Das Sturm-Raumschiff und seine Besatzung starben lautlos. Seitlich von ihnen, nun in großer Entfernung, trieb der lange Zylinder des Big-Bird-Satelliten vorbei. Page mußte an die Szenen denken, die seine Kameras aufgenommen hatten, und – Sie wurde nach vorn gegen die Haltegurte geschleudert. Steve hatte das Haupttriebwerk wieder abgestellt. Erneut waren sie schwerelos. Page wand sich in unerträglichen Schmerzen. Sie war gefangen in einem symbiotischen KillerRaumschiff, das selbst ernsten Schaden erlitten hatte. Wie schwer sie getroffen worden waren, wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß sie überlebt hatten, und nicht die schwer bewaffneten Russen. Für wie lange? Erst mußten sie bei einer Geschwindigkeit von dreihundert Meilen pro Minute hinuntertauchen in die Atmosphäre, wobei eine Reibungshitze von mehr als 10 000 Grad entstehen würde. Das mußten sie in einem verkrüppelten Raumschiff überstehen. Und mit einem Mann, der durch seinen Zusammenschluß mit der Maschine seiner Sinne beraubt sein mochte.
XXIV
Der Zeitpunkt war gekommen, wo die Verbindung gelöst werden mußte. Seit das russische Raumschiff zerstört worden war, trieben sie nun schon etwa eine Stunde dahin, ohne irgendein Manöver unternommen zu haben. Die Flugkontrolle hatte sie mehrmals angerufen, aber das Asp hatte keine Antwort gegeben. Langsam kam Page wieder zu Kräften. Sie stieg empor aus den schmerzhaften Tiefen, in die sie versunken war. Ihr kam zu Bewußtsein, daß wahrscheinlich auch die symbiotische Wesenheit Schaden genommen hatte. Das Schiff war schwer getroffen worden, aber wie schwer, das wußte sie nicht. Von Steve war kein Wort gekommen. Sie öffnete ihre Sichtplatte und atmete tief durch, um ihre Gedanken zu klären. Sie mußte die Flugkontrolle rufen. Sie drückte den Sendeknopf und begann zu sprechen. Die Worte erstarben ihr in der Kehle. Das »An«-Licht leuchtete nicht auf. Sie versuchte es auf mehreren Frequenzen. Endlich begriff sie – die Funkgeräte funktionierten nicht mehr. Sie studierte das Instrumentenbrett. Das Raumschiff schien in Schlaf versunken zu sein. Alle wichtigeren Systeme standen noch auf Optimum, aber es trieb einfach. Sie sah nach draußen. Zum erstenmal bemerkte sie, daß der Horizont sich langsam drehte. Ihre Fluglage war nicht konstant. Das bedeutete, daß die Automatik, die für Stabilisierung relativ zum Horizont sorgte, entweder keine Energie mehr hatte oder außer Betrieb war; sie fürchtete das letztere. Page beugte sich vor, um einen besseren Blick auf verschiedene Instrumente zu bekommen – und ein scharfer Schmerz durchzuckte sie.
Ihr rechter Knöchel war verrenkt. Durch den Druckanzug konnte sie nicht an ihn gelangen, aber sie löste die Haltegurte und fühlte mit der Hand. Der Knöchel war stark geschwollen, vielleicht sogar gebrochen. Sie versuchte, Gewicht auf ihren Fuß zu legen, und sie mußte sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Irgendwann während dieser wahnsinnigen Manöver hatte sie ihre Gurte so fest wie möglich angezogen und einen heftigen Schlag abbekommen – wahrscheinlich als Steve bei der negativen Beschleunigung auf volle Kraft der Haupttriebwerke gegangen war. Sie hatte immer geglaubt, wenn mit Steve irgend etwas schiefgehen sollte, würde sie imstande sein, das Schiff zurück in die Atmosphäre zu bringen. Doch jetzt, mit einem Fuß, den sie nicht benutzen konnte? Das war bei einem Flugzeug, das durch Ruderdruck kontrolliert wurde, unmöglich. Sie zwang sich zum Nachdenken und schaltete die Bordsprechverbindung ein. Mehrmals rief sie Steve. Keine Antwort. Die medizinische Konsole! Sie aktivierte die Gehirnwellenmessung. Bewußtlos. Mein Gott… er war schon die ganze Zeit, die sie dahintrieben, bewußtlos. Wie lange dauerte das jetzt? Zwei Stunden? Warum? Mit Hilfe der Konsole prüfte sie die lebenswichtigen Funktionen. Sie schienen alle in bester Ordnung zu sein, außer daß er bewußtlos war. Das mußte durch die Überladung der symbiotischen Verbindung verursacht worden sein…als das Schiff beschädigt wurde, hatte Steve das als Schmerz empfunden. Page schaltete den Asp-Computer ein. Tot. Alles hing davon ab, daß Steve wieder zu sich kam.
Als der Computer versagte, mußte das für Steve wie ein Schlag auf den Kopf gewesen sein. Die beiden waren eins – welchen Schaden der Computer auch genommen haben mochte, Steve hatte ihn in seinem eigenen Kopf empfunden, obwohl er keine direkte Gehirnverletzung erlitten hatte. Wenn dem so war, war sein Problem psychosomatisch – was real genug war. Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden… Page zwang sich, langsam zu denken und den Schmerz in ihrem Fuß zu ignorieren. Sie öffnete ein versiegeltes Fach, in dem sich der Schalter zur Unterbrechung der symbiotischen Verbindung befand, der Schalter, von dem nicht einmal Steve etwas wußte. Sie holte tief Atem und drückte den Knopf ein. Steve-Asp war zertrennt in einen Mann und eine Maschine. Aber Steve blieb bewußtlos. Wenn sie diese Bewußtlosigkeit nur in einen erholsamen Schlaf überführen konnte! Solange Steves Gehirn nur auf dieser unterbewußten Ebene arbeitete, ging das nicht. Sie mußte ihn Schritt für Schritt aus diesen Tiefen herausholen. Zunächst mußten die Anschlüsse an Steves Anzug gelöst werden. Sie tat es mit einem nach dem anderen – Beine, Arme, Augen, Rumpf, Finger… Stückchen für Stückchen nahm sie die Verbindungen zwischen dem Mann und der Maschine weg. Endlich war sie mit dieser ersten Stufe fertig. Wenigstens war der Mann, der bewußtlos vor ihr im Cockpit saß, wieder ein Mann. Ein Mann mit bionischen Teilen, aber doch ein Mann. In Steves Kopf arbeitete keine Maschine mehr. Nun die. Stimulanzien. Sie waren in den Anzug eingebaut. Page drückte die Knöpfe, Nadeln stachen in Steves Hals und Arm, nicht süchtig machende Drogen wurden ihm zugeführt. Jetzt das Gehirn… Page stellte die Alpha-Frequenz auf Minimum ein und aktivierte die Leitung. Der Helm, den Steve trug, enthielt gegen seine Schädeldecke gepreßte
Metallsonden, und diese leiteten nun Alpha-Wellen direkt in sein Gehirn. Wenn der Schlag, den Steve während seiner symbiotischen Verbindung mit dem Computer erhalten hatten, keinen dauernden Schaden verursacht hatte, würde Page das bald von seiner Gehirnwellenstruktur ablesen können. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie die ersten Änderungen entdeckte – und die ersten Anzeichen dafür, daß Steve in einen tiefen, entspannten Schlaf glitt. Sie schloß die Augen und wartete. Fünfunddreißig Minuten später war er in einen normalen Schlaf gesunken. Noch zweimal fielen sie rings um die Welt, bis er langsam wieder aufwachte. Page hatte unterdessen die Geistesgegenwart besessen, alle Kontrollsysteme abzuschalten, nur für den Fall, daß Steve mit der Vorstellung aus seiner Benebelung auftauchte, er müsse dringend den Kampf gegen das feindliche Raumschiff fortsetzen. »Page…« Es war wieder eine menschliche Stimme. Sie erzählte ihm alles, was geschehen war. Dann zwang sie ihn, einige energiereiche Rationen zu essen. Er fand langsam zu seinem alten Ich zurück. Müde, ja, das war er – aber trotzdem der erfahrene, tüchtige Astronaut. »Du wirst das Asp zurückbringen müssen, Steve.« Sie informierte ihn über ihren Fuß, aber nicht über ihre inneren Verletzungen. Wenn er davon erfuhr, würde er versuchen, die leichteste Wiedereintrittskurve zu fliegen, um die g-Werte niedrig zu halten, und Page wußte – auch wenn Steve das nie zugeben würde –, daß die Kontrolle über das verkrüppelte Raumschiff der Schlüssel zu ihrem Überleben war. Langsam führte er den Systemen des Schiffs wieder Energie zu und prüfte sie behutsam. Zwei Triebwerke waren
ausgebrannt. Der Treibstoff war gefährlich knapp, aber für einen langen Feuerstoß zum Abbremsen reichte er noch. Schwierigkeiten machte es ihnen, daß sie ohne Computer und ohne Funkverbindung waren. Steve mußte nach Sicht abschätzen, wo er mit dem Wiedereintritt anfangen, wo er hinunter in die Atmosphäre tauchen sollte. Auf eine Ziellandung genau auf der Landebahn der Edwards Air Force Base in der kalifornischen Wüste brauchten sie gar nicht erst zu hoffen… in ein so kleines Nadelöhr konnte er sich ohne Computer nicht einfädeln… aber er konnte das Asp irgendwo in der Mitte der Vereinigten Staaten zurück in die Atmosphäre bringen. Er war sicher, daß er, wenn er erst einmal die größte Reibungshitze hinter sich hatte und das Asp wieder wie ein Flugzeug fliegen konnte, überall zu landen fähig war. »Überprüfe deine Gurte«, sagte er. Es war scheußlich, sich mit dem klopfenden Fuß und dem schmerzenden Körper von neuem fest anschnallen zu müssen. Rund um das Ende der Welt kamen sie nach oben, die Antarktis lag hinter ihnen, Südamerika raste unter ihnen vorbei. In dem Augenblick, als er es für richtig hielt, feuerte Steve den Bremsstoß ab. Die Flamme schoß in das Vakuum, und die riesige Plasmawolke breitete sich vor ihnen aus. Steve hielt die negative Beschleunigung bei minimalem Schub für siebzehn Sekunden, und Page war dankbar dafür, daß der Schmerz sich in erträglichen Grenzen hielt. Sobald der Andruck aufhörte, verschwand das Gefühl, ein Gewicht zu haben. Steve dirigierte das Asp mit den Steuerraketen. Er hielt die Nase hoch, denn jetzt waren sie auf dem Weg nach unten. Das Band der Zentrifugalkraft war zerschnitten, und die Schwerkraft griff nach ihnen. Elf Minuten später, während der er mit Hilfe des Horizontalkreisels das Asp exakt in seiner Fluglage gehalten hatte, teilte er Page ruhig mit: »Das Licht ist an.« Dieses Licht
verkündete, daß die Atmosphäre nun dick genug war, um die 0,05-g-Anzeige einzuschalten. Die Abbremsung hatte begonnen – und ebenfalls die Reibung durch die Atmosphäre, in die sie mit beinahe 18 000 Meilen pro Stunde eintauchten. Als die g-Werte stiegen, zog Steve die Nase des Asp hoch. Das Raumschiff vollführte einen Sprung über den Luftozean der Erde, und dabei verloren sie einige tausend Meilen pro Stunde an Geschwindigkeit. Beim nächsten Eintauchen war der Aufprall leichter, die Reibung und die Hitze geringer. Noch einmal ließ er die g-Werte ansteigen, noch einmal ließ er das Asp über die Atmosphäre hüpfen wie einen flachen Stein über einen Teich. Dann stiegen sie endgültig ab. Mit jeder Sekunde gerieten sie in dichtere Atmosphäre. Sie kehrten zurück in die Welt der Menschen, die auf dem Grund des Luftmeers leben. Die Welt verwandelte sich mit steigender Hitze in ein orangefarbenes Glühen, das von ihnen wegstrahlte und in einem ungeheuren Schweif ionisierter Gase hinter ihnen herzog. Die Hitze ließ nach, das orangefarbene Glühen verblaßte, und Steve spürte, daß die krummsäbelförmigen Tragflächen Luft faßten. Ein unglaubliches Gefühl… Das Raumschiff war verschwunden, und sie saßen wieder in einem Flugzeug. Er bereitete sich darauf vor, allen übriggebliebenen Treibstoff von den Raketentriebwerken auszustoßen. In einer langen, flachen Kurve glitten sie nach unten, und die Vereinigten Staaten von Amerika breiteten sich unter ihnen wie eine Landkarte aus. »Wir sind weiter westlich, als ich angenommen hatte«, teilte er Page mit. Und dann wußte er, wo er landen würde, denn er erkannte das zu ihnen hochrasende Land, und mit diesem Hochgeschwindigkeits-Segelflugzeug würde er ohne Treibstoff keine zweite Chance haben. Das Schlimmste, so dachte er, lag nun hinter ihnen. Immerhin flog er, und das machte er recht gut. In Kürze würden sie
bestimmt Gesellschaft bekommen. Zwar waren sie ohne Funkverbindung gewesen, aber trotzdem war ihre Bahn mit Radar verfolgt worden. Die Computer waren schon dabei, die möglichen Landeorte auszuspucken. Ted Anderson konnte Steves Gedankengänge nachvollziehen und würde bereits Jagdflugzeuge und Hubschrauber in der Luft haben. Steve verbannte alle diese Überlegungen aus seinen Gedanken. Er warf den Treibstoff ab und verringerte ihr Gewicht dadurch noch mehr. Das Schiff schien unter seinen Händen träge zu reagieren. Ihm wurde klar, daß er die federleichte Empfindsamkeit des Fluges in der symbiotischen Verbindung vermißte. Steve mußte lachen. Was er jetzt am meisten benötigte, war seine Geschicklichkeit als Pilot. Schließlich war immer noch keine Maschine und kein Computer erfunden, die nach dem Sitz ihrer Hosen fliegen konnten. Gerade das konnte er aber sehr gut. Ihre Geschwindigkeit wurde ständig geringer, und als sie unter die Schallgrenze kamen, wurde das Asp von den Schockwellen erschüttert. Jetzt flogen sie nicht mehr schneller als ein Düsenverkehrsflugzeug, und der Zeitpunkt war gekommen, wo es auf Biegen oder Brechen ging – »He!« brüllte er. Page fuhr zusammen, doch es freute sie, die Aufregung in seiner Stimme zu hören. Sie kamen über Utah hinunter, überquerten die Pequop Mountains und erreichten die ersten Ausläufer der Salzwüsten von Utah und Nevada. Diese großen weißen Flecken auf der Erde waren isolierte Salzfelder, jedes Tausende von Fuß breit und hervorragend als Landmarken für die Annäherung geeignet. Steve fuhr das Fahrwerk aus. Es rumpelte aus seinem Schacht, die Türen schlossen sich, und sie glitten dahin ohne ein anderes Geräusch als das Vorbeistreichen des Windes an ihrer Kabinenhaube.
Dann waren sie über eine letzte Kette hoher Berge hinweg, und vor ihnen lagen, blendend weiß in der Sonne, die riesigen Bonneville-Salzebenen. Im Gegensatz zu dem Anblick, den sie vom Raum aus gehabt hatten, verrieten die Salzebenen keine Einzelheiten. Sie waren nichts anderes als vierzehn Meilen glatter Fläche. Trotz allem, was sich ereignet hatte, war es ein überwältigendes Erlebnis, aus dem Himmel in einen See von reinem Weiß zu fallen. Auf einer Seite rief die Sonne schmerzhafte Spiegelungen hervor und zeigte eine blaugrüne Oberfläche, die selbst eine kleine Sonne zu sein schien. Dort war ein Gebiet, wo Salz verarbeitet wurde, und der Eindruck, man sehe auf gewaltige Scheiben farbigen Glases, wurde dadurch hervorgerufen, daß sich dort Chemikalien verteilt hatten. Die sich ändernde Stellung der Sonne verwandelte die Chemikalien in einen großen See von brennendem Rot, in schillernde Regenbogenfarben – rot und blau und purpur und grün. Steve riß seine Aufmerksamkeit davon los und konzentrierte sich auf die über Leben und Tod entscheidenden Augenblicke. In einer weiten Kurve zog er über die Salzebenen und versuchte, die Windrichtung zu erkennen, die Maschine nach unten zu bringen und abzufangen. Das reine Salz dort unten bildete eine so gleichmäßige Ebene, daß es aus der Luft unmöglich war, mit einiger Genauigkeit die Höhe abzuschätzen. Steve wußte, daß mehr als ein Pilot versucht hatte, hier zu landen, wobei er den tödlichen Irrtum beging, auf normale Weise hinunterzugehen. Es war, als wolle man ein Wasserflugzeug auf einem ganz ruhigen Teich mit spiegelglatter Oberfläche aufsetzen, die die Tiefe nicht erkennen ließ. Endlich fand er, wonach er Ausschau gehalten hatte – eine kaum zu erkennende dunkle Linie, die vierzehn Meilen lang
durch das Herz der Salzebenen genau geradeaus lief. Es war die Markierung für die Rennwagen, die hier Weltrekorde aufstellten. Den Wind konnte Steve immer noch nicht beurteilen, aber er hatte vor sich eine Landebahn, die mehr als 70 000 Fuß lang war. Steve begann mit einem stetigen Abstieg. Zum Schluß verzichtete er darauf, irgend etwas beurteilen zu wollen, indem er aus dem Schiff hinaussah – das würde ihn nur durcheinanderbringen. Er flog allein nach den Instrumenten, hielt die Tragflächen waagerecht, die Nase nach oben und richtete sich nach dem Kurskreisel. Er war bereit, in dieser Position zu landen, ganz gleich, wie ihre Höhe war. Ein Wispern. Sie erkannten erst in dem Augenblick, als sie dies Geräusch hörten, daß die Gummireifen des Asp die Salzebene berührten und sie über das schneeige weiße Feld rollten. Sie waren unten. Sie hatten sehr viel Platz zum Ausrollen. Allmählich wurden sie langsamer. Das Asp stand. Steve öffnete die Haube. Sie lösten ihre Gurte. Rings um sie war heiße Luft. Es war wundervoll. Steve half Page beim Aussteigen. Halb zog und halb trug er sie aus der Maschine. Ihre Stiefel knirschten auf dem Salz. Sie warfen ihre schweren Anzüge ab, standen da, ohne sich zu bewegen, hielten sich aneinander fest, und in ihren Ohren rauschte die Stille… In diesem Reich von reinem Weiß war nichts zu hören. Steve führte Page unter eine Tragfläche, wo sie sich auf dem Salz im Schatten ausruhen konnte. Langsam entfernte er sich von dem krummsäbelförmigen Flügel. Die Stille erdrückte ihn, aber er achtete nicht darauf. Den Kopf zurückgeworfen, stand er in der Sonnenglut. Verrückte Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Dann vernahm er die Geräusche, die er erwartet hatte – das Donnern
von zwei Düsenmaschinen. Man hatte sie gefunden. Über den Bergen entdeckte er kleine Punkte. Hubschrauber. Doch er schenkte ihnen nicht viel Aufmerksamkeit. Er war wieder im Orbit und dachte an das, was dort geschehen war – besonders daran, wie sich die symbiotische Verbindung im Kampf bewährt hatte. Gab es etwas, das sie nicht tun konnten? Mit dieser Symbiose war die Reise zum Mond ein Nachmittagsausflug, für den man die Computer im Kontrollraum nicht brauchte. Der Mars lag gleich um die Ecke… Er war im Vakuum geflogen. Warum nicht zu anderen Welten? Warum nicht?