DAN SIMMONS
AUTOREN Aus: DAS SCIENCE FICTION JAHR 1996 Heyne Verlag, München Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
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DAN SIMMONS
AUTOREN Aus: DAS SCIENCE FICTION JAHR 1996 Heyne Verlag, München Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Chamäleon der Nacht: Dan Simmons von Uwe Vöhl
Dan Simmons, Jahrgang 1948, geboren in Illinois,
USA: Seiten pflastern seinen Weg zum Erfolg. Tausende von Seiten. Ein Vielschreiber, ein vom Schreiben Besessener einer, der sich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, hart erarbeiten mußte. Ein von sich Überzeugter, dem man glaubt, daß er es ernst meint, wenn er sagt: »Im Gegensatz zu Lovecraft vertrete ich in meinen Werken die These, daß egal wie gewaltig und mächtig diese andere Kraft ist, menschliche Wesen dagegen angehen können.«1 Trotzdem: Das hat nicht immer Qualität, was da glänzt oftmals war es nur der schnöde Schein eines typischen JUMBO-Überfliegers. 1 Darrell Schweitzer: »A Conversation with Dan Simmons«, erschienen in Cemetary Dance, Summer 1992, Volume 4, Issue 3.
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Er gilt als eine Art Erneuerer des Genres und dabei ist doch auf keinen mittlerweile so sehr Verlaß in positiver wie in negativer Hinsicht wie auf ihn: Egal, welches Buch man aufschlägt: Spannung, Atmosphäre, Schrecken all die Ingredienzien, die man von einem Horrorschmöker oder Thriller erwartet, Simmons bietet sie en masse. Die Klassifizierung Schmöker2 trifft dabei den Punkt genau: Denn obwohl in Zusammenhang mit seiner Person und seinen Büchern oft das Wörtchen »intellektuell« und »Literatur« fällt, ist Simmons keineswegs der tiefschürfendere der beiden Kings (zu dessen Werken er manche Gemeinsamkeiten aufweist wenngleich noch nicht den wirklich herausragenden Bestsellererfolg). Vielleicht ist er der Weltläufigere. Während der Meister aus Maine selten in seinen Werken über den Tellerrand blickt, zieht es Simmons Protagonisten ins ferne Kalkutta (Göttin des Todes) oder nach Rumänien (Kinder der Nacht). Simmons ist der »europäischste« erfolgreiche US-Horrorautor, und damit kokettiert er gern. Tatsächlich aber habe ich die Erfahrung gemacht, daß Leser außerhalb des Genres gerade mit Simmons nur wenig anfangen können. Ganz im Gegensatz wiederum zu King, der ja gerade dem ansonsten anspruchsvolleren Bildungsbürgertum seinen enormen Erfolg verdankt (und nicht etwa der Handvoll Horrorfreaks auf der Welt). So wird es außerhalb des Fandoms auch niemanden interessiert haben, daß Simmons gleich mit seinem ersten Roman Göttin des Todes 1985 den World Fantasy Award gewann. Genre-Ehren und allgemeine Popularität: zwei Welten, die sich selten genug als kompatibel erweisen. Nicht ganz unschuldig für den Ruf des »Erneuerers« (den er zweifellos nicht einlösen kann), ist Simmons selbst. So kündigte er seinerzeit an, Kraft des Bösen würde eine Art »Dissertation über die Gewalt in unserem Jahrhundert darstellen«3 ein sicherlich übertrieben formuliertes Ziel. Ebenso wie die auf dasselbe Buch bezogenen Aussagen, ein neues archetypisches Monster kreieren oder Genre-Barrieren niederreißen zu wollen. Simmons selbst gab später zu, daß es ein Fehler gewesen sei, Aussagen dieses Kalibers publik zu machen. Selbst wenn er sie als persönliche Ziele definierte: Der Leser konnte 2 Schmöker (v. niederdt. smöken rauchen), altes angerauchtes Buch, heute meist mit dem Nebenklang der lit. Minderwertigkeit (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1969, 5. Auflage). 3 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, erschienen in Midnight Graffity, Winter 90/91
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sie jederzeit am fertigen Ergebnis wie Kraft des Bösen messen und sich sein eigenes Urteil bilden. Simmons zeigte Einsicht: »Ich glaube, der Schriftsteller ist der letzte Mensch, der objektiv und erfolgreich Ziele wie diese messen kann...«4 Ein weiteres Attribut, das in bezug auf Simmons immer wieder auftaucht, ist das des Spätzünders, der nach einer relativ langsamen Entwicklung erst seit ein paar Jahren mit seinen Büchern im Licht der Öffentlichkeit steht. Wo, zum Teufel, hat der Mensch all die Jahre gesteckt? Sicherlich kam der Erfolg nicht über Nacht, und wenn man genau hinsieht, so ist Dan Simmons doch schon ziemlich lange dabei (immerhin war er im Jahre 1982 einer der allerersten Twilight Zone Award-Gewinner). Zu tun hat das sicherlich auch mit der Bandbreite seiner Themen: Nach Göttin des Todes erschienen innerhalb eines einzigen Jahres ein weiterer Horror-Roman (Kraft des Bösen), der mit den intellektuellen Attitüden in Göttin des Todes nun wirklich nichts mehr gemein hat, ein im besten Sinne zu klassifizierender Mainstream-Roman (In der Schwebe) sowie zwei reinrassige SF-Romane (Hyperion und Das Ende von Hyperion), die unter Horror-Lesern freilich als absolut unlesbar gelten. Diese Vielseitigkeit mußte einfach Verwirrung stiften. Wiederum fühlt man sich an Stephen King erinnert, der in Interviews oft genug betonte, daß er nach dem Erfolg von Carrie nichts mehr scheute, denn als Horror- und Genreautor festgelegt zu werden (ein vergeblicher Kampf, wie man heute weiß, trotz Dolores Claiborne). Solcherart Weigerung, einem Genre zugehörig zu gelten, führte zumindest in Simmons Fall zunächst nicht zu dem Erfolg, den sich die Verleger von seinen Werken versprachen. Erst seit Simmons mit Sommer der Nacht die Fäden des reinen Horrors wiederaufnahm, ist eine gewisse Kontinuität, auch was den Erfolg anbelangt, zu verzeichnen. Simmons selbst scheint diesen Schritt nicht ganz freiwillig gegangen zu sein, denn zuweilen gibt er zu, diesen Roman hauptsächlich um des Geldes willen geschrieben zu haben. Die Erfolgsformel in diesem Falle hieß King as King can aber das Ergebnis kann sich, auch inhaltlich, durchaus sehen lassen. Was heute, im nachhinein, auf den ersten Blick wie ein zielstrebiger Erfolgsdurchmarsch aussieht, entpuppte sich für Sim4 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, erschienen in Midnight Graffity, Winter 90/91
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mons bereits mit der Veröffentlichung seines ersten Romans, Göttin des Todes, als zweifelhaftes Vabanque-Spiel mit ungewissen Erfolgsaussichten. Er selbst sprach in einem Interview einmal davon, daß sein erstes Buch »erschien und wieder verschwand« 5: Der kommerzielle Erfolg von Göttin des Todes stand im umgekehrten Verhältnis zu den wohlwollenden Kritiken, mit denen das Buch aufgenommen wurde. Weder Bluejay noch Tor (nach der Würdigung mit dem World Fantasy Award) konnten wesentliche Umsätze damit verbuchen. Strenggenommen hat das Buch eigentlich nichts mit Dark Fantasy zu tun, denn die phantastischen Momente sind eher traumatischer Natur und selbst diese lassen sich an einer Hand abzählen. Daß der Roman mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde, hat er denn auch wohl eher wie Spötter vermuten der Tatsache zu verdanken, daß er eben keine phantastischen Elemente enthält, und das wertet einen Award dieser Kategorie ja dann auch wieder auf. Lesenswert sind allenfalls die letzten 35 Seiten aber die unbedingt! »Merkwürdigerweise sind die meisten Dinge in Göttin des Todes wahr. Tatsache: Vieles davon habe ich entweder selbst erlebt oder habe es aus zweiter Hand gehört. Das ganze schreckliche Zeug ist natürlich nicht mir selbst passiert. Im übrigen war es natürlich ziemlich arrogant von mir, ausgerechnet über Kalkutta zu schreiben, oder Indien. Ich habe mich gerade mal 9 Wochen in Indien aufgehalten, auf Schusters Rappen im Sommer 1977 ... Während dieser Zeit verbrachte ich gerade mal zweieinhalb Tage in Kalkutta.«6 Hier zeigt sich die Ehrlichkeit und Bescheidenheit eines Dan Simmons, andere Autoren hätten sicherlich anders argumentiert (lch kenne Kalkutta: Immerhin hab ich mich 9 Wochen in Indien herumgeschlagen ...). Und es spricht für seine Stärke, daß er dennoch seinen Weg gemacht hat. »Am Anfang hatte ich keineswegs vor, eine Story oder einen Roman zu schreiben, der völlig in Indien spielt, aber nachdem ein paar Jahre vergangen waren und ich für Harpers einen Artikel darüber verfaßt hatte, sagte ich mir: Warum nicht ein ganzes Buch ...?«7 Dennoch, trotz dieser sicherlich nicht nur gestellten Bescheidenheit, kommt mir Göttin des Todes insofern sehr überheb5 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, erschienen in Midnight Graffity, Winter 90/91 6 Darrell Schweitzer: »A Conversation with Dan Simmons«, a.a.O. 7 Ebd.
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lich vor, daß in dem Roman eine ganze Stadt, ihre Kultur und ihre Menschen abqualifiziert werden: »Manche Orte sind so böse, daß man ihre Existenz nicht dulden sollte. Manche Städte sind so wüst, daß man sie nicht ertragen kann. Kalkutta ist so eine Stadt... Manche Orte sind so böse, daß man ihre Existenz nicht dulden sollte«, lauten die ersten Sätze des Buches.8 Natürlich geschieht diese Wertung im Rahmen einer Fiktion, aber dennoch bewegt sie sich auf gefährlichem Terrain auch und gerade von der sprachlichen Ebene her gesehen. Denn immerhin urteilt der Erzähler hier über eine real existierende Stadt und ihre Bewohner! Ich muß sagen, daß diese Sicht mein Urteil über Göttin des Todes sicherlich negativ mitbeeinflußt hat. Auch In der Schwebe, ein Roman über einen ehemaligen Apollo-Astronauten auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, beginnt in Indien. Trotzdem handelt es sich dabei nicht um eine Wiederaufnahme des Fadens, wie er in Göttin des Todes gesponnen wurde. Dan Simmons hatte In der Schwebe (laut seiner Aussage eines seiner eigenen Lieblingsbücher) bereits vor Göttin des Todes begonnen, dann jedoch einige Jahre erst einmal beiseite gelegt. Der Roman gehört eindeutig zu jener interessanten Phase, in der Dan Simmons noch nicht wußte, in welche Richtung er gehen sollte und sich noch nicht an den Schreibtisch setzen mußte mit dem Gedanken: So, jetzt schreibe ich einen neuen erfolgreichen Horror-Roman! In der Schwebe enthält keinerlei phantastische Szenen, und im Vergleich zu Göttin des Todes nahm Simmons insofern noch einmal den Fuß vom Gaspedal, daß In der Schwebe auch keinerlei unheimliche oder wirklich an den Nerv gehende Passagen enthält. Obwohl es ein technisch und stilistisch hervorragendes Buch ist, reichte es in den Augen der Kritiker und Leser nicht aus. Vielleicht ist es auch so, daß die Leser, die Dan Simmons als Genreautor lieben, andere, bessere Bücher lesen, wenn sie wirkliche Literatur goutieren wollen. Ein Vergleich mit Peter Straub drängt sich auf, der am Anfang seiner Karriere drei durchschnittliche, wenig phantastiklastige Romane schrieb, die den Anspruch echter Literatur haben sollten. Erst über den Umweg der großen Genrewerke wie Geisterstunde oder Der Hauch des Drachen gelang es ihm dann, seinen Büchern eine völlig andere Dimension zu verleihen. 8 Dan Simmons: Göttin des Todes (München: Heyne, 1991), Seite 7
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Der Schlund ist natürlich noch immer keine große Literatur, aber er atmet doch genügend Gefühle, Liebe und Wut, daß er stellenweise über den üblichen Genrewerken anzusiedeln ist. Nach Göttin des Todes holte Dan Simmons zum zweiten Streich aus, doch die Sitten sind rauh im blutrünstigsten aller Genres: Man stelle sich vor, da säße man und schriebe wie irrsinnig, fügte Satz um Satz zu einem Roman von annähernd achthundert Seiten, hielte gewissenhaft die Deadline ein und müßte dann praktisch in der Zielgeraden erfahren, daß der Verlag, in dem man sein Werk bereits untergebracht zu haben glaubte, dichtgemacht hätte. Denn so erging es Dan Simmons mit Kraft des Bösen. Dan Simmons: »In Auftrag gegeben hatte es Jim Frankel von Bluejay Books, die auch mein erstes Buch, Göttin des Todes, herausgebracht hatten. In der gleichen Woche, in der ich Kraft des Bösen fertig hatte, ging Bluejay pleite ... Dadurch geriet das Manuskript erstmal in die Versenkung, bevor Tor dafür Interesse zeigte. Man versprach mir, möglichst schnell zu einem Ergebnis zu kommen, aber dann zeigte es sich, daß sie eigentlich nicht genau wußten, was sie mit dem Manuskript nun machen sollten. Die Sache schleppte und schleppte sich dahin ich weiß nicht, wieviele Monate das so ging vielleicht zwanzig Monate. Damals hatte ich mich entschlossen, in meinem Job als Lehrer nur noch halbtags zu arbeiten, weil Tor mir bereits umfangreiche Korrekturen und Überarbeitungen an Kraft des Bösen angekündigt hatte. Aber dann kam und kam nichts. Man kann sich vorstellen, was es heißt, mit der Hälfte eines Lehrerlohns auskommen zu müssen! Ungefähr nach 18 Monaten kamen sie dann mit einigen Änderungswünschen an, und die waren schlichtweg undurchführbar. «9 Die Schwierigkeiten der Verleger hatten weniger mit der inhaltlichen Güte als mit dem Umfang zu tun. Wer kauft ein Buch von achthundert Seiten eines fast unbekannten Autors? Man sieht die Schwierigkeiten in Deutschland: Göttin des Todes hätte bei seinem Umfang von etwa 300 Seiten in jeder xbeliebigen Taschenbuchreihe herauskommen können, aber was macht man mit einem 800-Seiten-Wälzer wie Kraft des Bösen? Auch der flappige 34-Mark-Jumbo bei Heyne ist da sicherlich nicht die beste aller Lösungen und deutet das Dilemma an: Qualität ist teuer, auch in der Produktion, aber andererseits hat Dan Simmons nicht den Namen und die Zug9 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, a.a.O.
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kraft, daß es verlegerisch ratsam gewesen wäre, das Buch als Hardcover herauszubringen. Tor dachte zeitweilig daran, Kraft des Bösen in zwei oder gar drei Bänden herauszubringen. Dan Simmons sagt dazu: »Das wäre nicht unbedingt schlecht gewesen, obwohl ich sicherlich nicht vor Freude in die Luft gesprungen wäre. Das war auch nicht das Problem. Das Problem war, daß aus einem Buch erst zwei, dann drei Bücher und schließlich wieder nur eines werden sollte aus dem man aber Hunderte von Seiten wahllos herausgeschnitten hätte. Die redaktionellen Anregungen waren sehr spezifiziert, aber einfach surreal: Sie stellten gezielte Fragen, in der Art, warum ein kleines Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit noch im Hof draußen spielte, und ich antwortete: Also, es ist 4:30 in Charleston, an einem 19. Dezember, und so weiter. Es ist ein eingezäunter Hof, und ihr ist nur warm, und so weiter. Als nächstes pflegten sie zu sagen: Kürzen Sie die Philadelphia-Passage. Nun, die Philadelphia-Passage umfaßte 380 Seiten ...«10 Irgendwann platzte Dan Simmons verständlicherweise der Kragen, er kaufte die Rechte zurück und bot das Manuskript Dark Harvest an. Zwischenzeitlich hatte auch Putnam Interesse daran gezeigt. Zumindest der Inhalt konnte begeistern, aber auch dort konnte man sich nicht damit anfreunden, das Buch in ganzer Länge zu bringen. Trotz eines sehr lukrativen Angebots lehnte Simmons in diesem Fall ab (schloß jedoch einen Vertrag über zwei andere Bücher mit Putnam). Es waren ohne Zweifel frustrierende Jahre für Simmons (er selbst und seine Frau bezeichnen sie als »lean years«11. Zehn Monate lang hatte er fleißig an Kraft des Bösen gearbeitet, hatte alles dafür stehen und liegen lassen, war ein halbes Jahr danach noch völlig fertig (»it knocked me out!«12) und mußte dann zweieinhalb Jahre auf eine Veröffentlichungschance warten. Zumindest jedoch mit dem schriftstellerischen Ergebnis war Dan Simmons zufrieden. Die selbstgestellten inhaltlichen Ziele schienen ihm erreicht. »Bezogen auf meine persönlichen Anliegen, über die ich schreiben wollte, wie individuelle Gewalt, gesellschaftliche Gewalt, institutionelle Gewalt, glaube ich wirklich, daß ich eines meiner Ziele erreicht habe. Ich 10 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, a.a.O. 11 Ebd. 12 Ebd.
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benutzte das Buch als riesige Leinwand, auf der ich all die Dinge pinselte, die mir am Herzen lagen.«13 Trotzdem muß man vorsichtig sein, das Buch als Meilenstein des Horror-Genres anzusehen. Es ist ohne Zweifel äußerst spannend, bietet einige gut herausgearbeitete Charaktere, aber leider auch die typischen Trivialklischees und genretypischen Figuren (Sheriff, FBI-Agent, jüdischer Psychiater etc.). Mehr als ein paar Tage eskapistisches Lesevergnügen darin hineininterpretieren zu wollen, schadet dem Roman eher, als daß es ihm nützt. Erstaunlicherweise präsentierte sich Dan Simmons in der Dark Harvest-Ausgabe aber auch noch von einer anderen Seite in Bestform: Zusammen mit einem Freund zeichnete er das Cover und die Innenillustrationen (die leider in der deutschen Ausgabe fehlen). In den Jahren 1989 und 1990 legte Dan Simmons seine beiden Hyperion-Bände vor. Es ist natürlich riskant, der Problematik, die ein neuer Autor wie Dan Simmons damit hat, auf ein Genre festgelegt zu werden oder eben nicht! ausgerechnet mit Science Fiction begegnen zu wollen! Für das Mainstream- oder gar literarische Publikum (erst recht dem deutschen!) ist SF sicherlich noch mehr als Horror ein typisch triviales Genre. Ein Problem, das Wolfgang Jeschke in seinem Vorwort zum SF-Jahr 1992 folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Zum anderen mußte man feststellen, daß man einem Horror-Leser nicht einfach einen SF-Roman reinsten Wassers wie Dan Simmons Hyperion als Horror vorsetzen kann (wie, zum Teufel, soll er sich ein Haus vorstellen, von dessen Zimmern jedes auf einem anderen Planeten liegt und in dem der Bewohner beim Schritt über die Schwelle unbemerkt eine vierdimensionale Warpmembran durchquert), obwohl eine Menge schrecklicher Szenen voll von Horror-Elementen enthalten sind? Er dankts nicht; die Absatzziffern beweisen es.«14 Beide Bände erschienen in der Allgemeinen Reihe, suggerierten von der Titelbildgestaltung aber tatsächlich, es hier mit einem Roman à la Göttin des Todes zu tun zu haben. Ein Dean R. Koontz-Zitat15 auf den Covern zeigt deutlicher noch, wen man als Käufer anvisierte. 13 »Dan Simmons an Interview with Bob Morrish«, a.a.O. 14 Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr, Ausgabe 1992 (München: Heyne, 1992), Seite 13/14 15 »Dan Simmons schreibt brillant«. Tiefsinniger als die Ausgabe dieses Zitates dürfte natürlich die Tatsache sein, daß Dean R. Koontz in erster Linie dem Horror-Leser ein Begriff sein dürfte.
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Und tatsächlich stehen die Hyperion-Bücher in Simmons OEuvres für sich und werden wohl kaum die Brücke zu den Horror- und Mainstreamlesern zu schlagen vermögen. Wenngleich der Ausgangspunkt recht intellektuell klingt (Simmons versucht hier, zwei unvollendete Gedichte von John Keats über Götter in einem kosmischen Konflikt auf seine Weise weiterzuentwickeln), und obgleich in einem anspruchsvollen Stil verpackt und mit ambitionierten Themen aufwartend, vermag wohl in erster Linie nur der mit SF-Literatur vertraute Leser die Qualität zu goutieren und zu würdigen. Wenn man also in Zusammenhang mit den Hyperion-Büchern (wohl völlig zu recht) von einem Meisterwerk der SF spricht, so heißt dies leider auch: wohl nur der SF. Nach der Tour de force mit Kraft des Bösen kehrte Dan Simmons erst mit Sommer der Nacht zu den Wurzeln des Horrors zurück. Dessen Kosmos entspricht einer Art »Ray Bradbury Country«16, wie Dan Simmons dies einmal ausdrückte. »Der Roman handelt von Kindern, aber es sind keine kindischen Themen, die ich anspreche. Es geht um die Unschuld unseres Landes und um das Ende unserer eigenen Unschuld, die der sogenannten Baby-Boom-Generation ... Nur sehr wenig von dem, was ich lese, macht mir Angst, aber einiges, über das ich schreibe, flößt mir Furcht ein. Das kann natürlich ganz persönlicher Natur sein, daß es nur mir Angst macht, aber ich hoffe, daß es vielleicht ein paar andere Leute ebenfalls etwas nervös macht. Einiges in unserer Kindheit und in unserer nationalen Vergangenheit entwickelte sich um 1960 herum äußerst schrecklich.«17 Tatsächlich muß man auch hier wiederum relativieren, daß es sich bei Sommer der Nacht keineswegs um hohe Literatur handelt. Was den Roman jedoch so heraushebt, das ist die eindrucksvolle Schilderung einer amerikanischen Kindheit, in der die Welt trotz aller Schrecken noch in Ordnung ist. Simmons nimmt sich viel Zeit, diese Momente, die einem erst in der Reflexion als Erwachsener so viel bedeuten, anzusprechen und auszuarbeiten. Freunde, Geschwister, Heimat, Eltern, Blut und Boden dieser ganze Wertetraditionalismus. Nicht umsonst spielt Sommer der Nacht in einer Zeit, in der Amerika noch groß, die Zukunft rosig und selbst eine »sterbende Kleinstadt« noch beschaulich war. Die gute alte Zeit: Simmons be16 Darrell Schweitzer: »A Conversation with Dan Simmons«, a.a.O. 17 Ebd.
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herrscht den Kniff perfekt, und daher finden wir Sommer der Nacht wahrscheinlich so schön. Simmons Kindheitsträume und -ängste entsprechen den gängigen Klischees, und sie tragen die Wahrheit in sich. Auf den ersten 250 Seiten ist man versucht, das Buch als eine einzige Liebeserklärung an die Kindheit zu deuten, mit all ihren verborgenen, echten wie unechten Schrecken, aber leider gelingt es Simmons nicht, dieses Niveau weiter zu halten. Vielleicht hatte er auch von Anfang an nichts anderes vorgehabt und glaubte, sich dem Publikumsgeschmack anpassen zu müssen: Mit fast mathematischer, von King abgekupferter Genauigkeit schlägt der Roman mit Beginn der zweiten Hälfte ins eindeutig Phantastische um, wobei sich die Grenzen des Zumutbaren immer rascher verwischen. Sommer der Nacht gewann dennoch sicherlich zu Recht den LOCUS AWARD 1992 für den besten Horror/Dark FantasyRoman (haushoch, nämlich mit fast doppelt soviel Stimmen!) vor Clive Barkers Imajica.
1992 war das Jahr für Dan Simmons. Während in Deutschland besagter Sommer der Nacht erschien, zweifelsohne das Buch, das ihm bei den deutschen Lesern den Durchbruch verschaffte und ungeahntes Interesse auch bei uns wachrief (alle fragten sich plötzlich: »Wer, zum Teufel, ist dieser Dan Simmons??«), holte der neue Shooting-Star in Amerika bereits zu neuen Schlägen aus: Putnam veröffentlichte Kinder der Nacht, während bei Bantam The Hollow Man herauskam und Spectra die Taschenbuchausgabe der Storysammlung Prayers to Broken Stones auf den Markt warf. Und das, während sich auch in den USA die Paperback-Ausgabe von Sommer der Nacht noch sehr gut verkaufte! Von seiner Storysammlung Prayers to Broken Stones sagt Dan Simmons recht werbewirksam: »Wenn diese Storysammlung ein Mord wäre und kein Buch, würde es keine zehn Minuten dauern, bis man mich verhaften würde. Meine Fingerabdrücke sind nämlich überall darauf zu finden ... auf jeder einzelnen Seite, in jeder einzelnen Zeile.«18 Prayers to Broken Stones versammelte Stories aus zehn Jahren professionellen Schaffens (war aber bereits 1990 bei Dark Harvest erschienen). 18 Book-Promotion, erschienen in Locus #376, May 1992
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In Kinder der Nacht verknüpfte Simmons zwei seiner früheren Werke zu etwas vollständig Neuem. Zum einen ist der Roman eine Art Fortsetzung von Sommer der Nacht, insofern, daß er eine der Hauptfiguren, Mike ORourke, inzwischen zum Priester herangereift, als Erwachsenen agieren läßt. Zum anderen basiert Kinder der Nacht aber auch auf der ebenfalls preisgekrönten Story »Draculas Kinder«. Tatsächlich ist es eine Story, die mehr als alle seine bisherigen Romane unter die Haut geht. Das Bild der dahinvegetierenden, AIDS-verseuchten Kinder in Rumänien vergißt so schnell niemand, der die Story gelesen hat. Dagegen verblaßt die Absicht Simmons, AIDS und Dracula-Mythos genretypisch aufzubereiten zu stark sind diese Bilder der Nacht. Während Dan Simmons nach eigener Aussage die Story nur aufgrund seiner Kenntnisse der aktuellen Fernsehnachrichten schrieb, hatte ihn selbst das Thema gepackt, und er fuhr persönlich nach Rumänien, um vor Ort zu recherchieren. Die Authentizität merkt man dem Roman deutlich an wie schon in Göttin des Todes. Kinder der Nacht beginnt mit fast derselben Szene wie die Story: eine amerikanische Delegation reist durch das nachrevolutionäre Rumänien, wo sie auf die Waisenhäuser mit den AIDS-verseuchten Kindern stoßen. Und im Gegensatz zur Story (wo, wie gesagt, der Vampir-Mythos zu aufgesetzt und im Grunde überflüssig wirkte) gelingt es Simmons, die Themen Vampirismus und AIDS glaubwürdiger und auf eine für den Roman sicherlich förderlicheren Weise zu verknüpfen. Wenngleich man auch hier sagen muß, daß angesichts der aufgelisteten und der mittlerweile ja schon historischen Wirklichkeit nachempfundenen Greueltaten der Horror klassischer Prägung geradezu nichtig wirkt. »Kinder der Nacht beschert die rigoroseste und zugleich interessanteste wissenschaftliche Erklärung für Vampirismus, die ich je gelesen habe, indem Simmons den Mythos aus dem Reich des Horrors in die Science Fiction transferiert. Aber es kommt noch eine weitere literarische Spielart hinzu, und dabei (auch wenn man begierig Seite um Seite umblättert und es kaum erwarten kann, was als nächstes kommt), zerschmilzt die Eleganz der Logik wie transsylvanischer Nebel«, urteilt Faren Miller.19 Tatsächlich bedient sich Simmons hier wieder wie schon 19 Faren Miller: Reviews, erschienen in Locus #376, May 1992
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in Kraft des Bösen besonders unangenehm auffallend der Spielarten des Thrillers, mit wilden Verfolgungsjagden, Kidnapping und dergleichen mehr. Wie gesagt, das ist durchaus spannend zu lesen, aber wie auch bereits in Sommer der Nacht fällt doch ein eigenartiger Bruch in Handlung und Atmosphäre auf. Da verwundert es nicht, daß die Filmrechte von Kinder der Nacht bereits mit der Veröffentlichung des Buches vergeben waren ...
Seinen Ruf als Chamäleon untermauerte Simmons, indem er in den USA fast zeitgleich mit Kinder der Nacht den Roman The Hollow Man (Das leere Gesicht) herausbrachte. Wie schon in seinen Hyperion-Büchem und mehr noch in dem Roman In der Schwebe verarbeitet Simmons Science Fiction auf die ihm eigene Weise. Diesmal ist es ein T.S.Eliot-Gedicht, aus dessen apokalyptischer Wortgewalt er in seiner Erzählung schöpft. In der Tat gibt es erstaunliche Parallelen, angefangen vom Titel und Kapitelüberschriften, bis zur ganzen Stimmung. Daneben bedient sich Simmons auch noch aus Dantes Inferno, quasi um die Handlung voranzutreiben. Inhaltlich geht es darum, daß die Frau eines Professors beide sind sie telepathisch begabt stirbt, und der Mann seiner Frau auf telepathischen Spuren ins Reich der Toten folgt... The Hollow Man ist sicherlich kein Roman, den Sommer der Nacht- oder Kinder der Nacht-Leser von ihm erwartet hätten. Und vielleicht noch nicht einmal ein Roman, den viele mögen werden. Aber auf jeden Fall einer, der Dan Simmons nach wie vor als einen der interessantesten, weil unberechenbarsten Autoren erscheinen läßt. Ein Roman, über den Edward Bryant begeistert urteilt: »The Hollow Man ist der beste Science Fiction-Roman des Jahres. Und einer der besten Romane überhaupt.«20 Daneben schaffte es Simmons im Jahre 1992 aber auch, ein obskures Werk namens Summer Sketches zu veröffentlichen ein schmales, aber wertvolles Bändchen über Schriftsteller und übers Schreiben eine Zusammenstellung von Tagebucheintragungen, Gedankengängen sowie Bleistift- und Tusche-Skizzen, in denen Simmons von neuem sein illustratives Talent unter Beweis stellte. 20 Edward Bryant: Reviews, erschienen in Locus #380, September 1992
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Auch für die Zukunft ist mit Dan Simmons auch in Deutschland sicherlich zu rechnen. Bereits 1992 verkaufte er an Warner eine Sammlung mit fünf längeren Geschichten (Lovedeath). Der Band ist mittlerweile erschienen und auch bereits übersetzt. Die meisten der Stories sind vorab in den HEYNEJahresbänden erschienen. Der seit langem angekündigte dritte Hyperion-Roman (Endymion) soll nun im November 94 endgültig erscheinen. Gegenwärtig ist Dan Simmons damit beschäftigt, einen neuen, in Hawaii spielenden Horrorroman, Peles Fire (deutsch: Die Feuer von Eden), zu vollenden. Und dann gibt es da noch das berühmte Buch, das er schon immer einmal schreiben wollte; eines seiner Traumprojekte, an denen er seit Jahren arbeitet: Es ist ein Roman mit dem Titel The Crook Factory, der in den Jahren 41/42 während Ernest Hemingways Aufenthalt in Cuba spielt. In jedem Fall also Grund genug für die Vermutung und Hoffnung, daß Dan Simmons trotz aller Ausfälle und negativen Seiten seiner Werke auch in Zukunft noch so manche Überraschung auf Lager hat! Ein kürzlich veröffentlichtes Interview in LOCUS läßt diesen Schluß ebenfalls zu: »Die nächsten beiden Bücher werden mich formen, oder sie werden mich zerbrechen. Die nächsten beiden Bücher werden entweder meine Theorie bestätigen, daß es möglich ist, verschiedene Leserschichten zu vereinigen. Also werde ich entweder mit einer Flasche in einer braunen Tasche auf der Straße sitzen, oder ich werde leichtfüßig auf ihr entlangspazieren ... Ich habe einen Horror-Roman geschrieben, ich habe einen SF-Roman geschrieben, ich habe einen Mainstream-Roman geschrieben, und alle meine Leser haben sich nie getroffen. Mein Wunsch ist es, sie alle einander vorzustellen, sie auszuführen und sie alle die Hände schütteln lassen.«21 Ich glaube, bei diesem Ereignis wären wir alle gern dabei. ANMERKUNGEN Nicht in deutscher Sprache vorliegende Zitate wurden von Uwe Vöhl übersetzt.
Copyright © 1996 by Uwe Vöhl
21 »Dan Simmons: hangin around the ruins...«, erschienen in Locus #401, Juni 1994
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AUTOREN
Über die Mauern des Genres
Dan Simmons Meister des Horrors und der SF... und mehr Ein Autorenporträt von Jürgen Thomann
Einführung Es war 1990 auf dem WorldCon in Den Haag. Als langjähriger Phantastik-Leser befand ich mich auf meiner zweiten Convention überhaupt, und alles war neu und aufregend für mich. Die Möglichkeit, viele bekannte Autoren, die man bislang nur als anonyme Namen auf Buchdeckeln kannte, leibhaftig zu sehen und die sogar ansprechbar waren, begeisterte mich und legte den Beginn meiner intensiven sekundärliterarischen Beschäftigung mit der Phantastik. Wie den meisten unter den Lesern dieses Artikels wohl bekannt ist, wird alljährlich auf diesem meist in den USA stattfindenden Großereignis ein Publikumspreis vergeben der Hugo Award, benannt nach dem Begründer der modernen Science Fiction Hugo Gernsback, der in den zwanziger Jahren das erste reine SF-Magazin herausgab. Und in jenem Jahr stand auf der Liste der Anwärter für den Preis »Bester Roman« auch das Werk eines Newcomers: Hyperion von Dan Simmons. Obwohl ich keines der nominierten Bücher kannte selten gibt es bereits ein Jahr nach Erscheinen der englischsprachigen Originalausgabe eine deutsche Übersetzung , kaufte ich mir den Roman in der Überzeugung, den Gewinner des Hugos zu erstehen. Und ich sollte recht behalten. Hyperion gewann den Preis und das zu Recht, wie ich bei der Lektüre des Buches feststellte. In den folgenden Monaten entstand ein erster Artikel über diesen neuen Autor bei uns war bislang so gut wie nichts von ihm erschienen , was sich natürlich ändern sollte. Auch wenn die angekündigte Fortsetzung meines Artikels über das zweite HYPERION-Buch nie erschien, verfolgte ich in den folgenden Jahren aufmerksam den Werdegang dieses Autors. Viele gute Bücher sind seitdem von ihm erschienen, und so 14
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nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, an dieser Stelle einen der besten und innovativsten Science Fiction- und Horror-Autoren unserer Zeit und sein Werk zu präsentieren. Eine letzte Vorbemerkung zum Aufbau dieses Artikels sei mir noch erlaubt. Gut ein Jahr später, auf dem HillCon 91, hatte ich, zusammen mit einem Bekannten, die Gelegenheit, Dan Simmons persönlich zu sprechen, der Ehrengast jener Veranstaltung war. (Bei der Hugo-Verleihung 1990 hatte er nicht anwesend sein können.) Leider konnte dieses Interview bis heute nicht veröffentlicht werden, da wir den Fehler machten, das Gespräch in der Bar des Conhotels zu führen. Die vielen Hintergrundgeräusche ließen viele Passagen der mittels eines einfachen Handdiktiergeräts mitgeschnittenen Aufnahme nahezu unverständlich werden. Da der Rest des Gespräches immer noch recht informativ ist, selbst fünf Jahre später, bin ich froh, doch noch eine späte Verwendungsmöglichkeit zu finden. Ich habe im folgenden, begleitend zu meinen Ausführungen, Teile jenes Interviews in den Text mit aufgenommen. Der Beginn einer Schriftstellerkarriere Nach seinen vielen preisgekrönten Romanen und Erzählungen ist Dan Simmons unstrittig einer der größten Autoren von Horror und Science Fiction des letzten Jahrzehnts. Und im Gegensatz zu manchem ausgeschriebenen »Großmeister« kann man sich von ihm noch so manch bahnbrechendes Werk erwarten. Da mag man es sich kaum vorstellen, aber es ist einem glücklichen Zufall zu verdanken, daß er überhaupt professioneller Schriftsteller werden konnte. 1981 stand Dan Simmons kurz davor, seine diesbezüglichen Aspirationen aufzugeben. Eine letzte Chance wollte er sich auf Drängen seiner Frau noch geben, dann würde er die vermeintliche Sinnlosigkeit seiner Bemühungen einsehen. Bereits 1979 hatte Simmons eine erste Version seiner Debutstory »The River Styx Runs Upstream« geschrieben. Zu der Zeit war er schon etliche Jahre als Grundschullehrer tätig, und später für die Förderung von besonders intelligenten Schülern. Den Rat eines Brieffreundes, ein bekannter Autor, sich über Veröffentlichungen in Fan- und semiprofessionellen Magazinen über Jahre einen Ruf aufzubauen, um so schließlich 15
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leichter bei den Verlagen anzukommen, schlug er in den Wind. Er versuchte die harte Tour, direkt bei den Verlagen mit dem zu befürchtenden Ergebnis.1 Zwei Jahre später, im Sommer 1981. Mutlos, eingeschüchtert, unter dem Räderwerk der Ablehnungen gebrochen, von der Realität gezüchtigt, »gab ich auf«, für eine Veröffentlichung zu schreiben, und tat etwas, das ich mir geschworen hatte, nie zu tun: ich machte mich auf den Weg zu einem Autorentreffen. Zahlte, um zu einem Autorentreffen zu gehen. Diese Art von »wie mans macht«, »so gestaltet man ein Manuskript«, »setzenwir-uns-im-Kreis und wir werden es kritisieren«-Autorentreffen. Das war mein Schwanengesang. Ich ging, um die dort anwesenden Autoren zu hören und zu sehen, und begann das Schreiben mehr als Hobby denn eine Besessenheit anzusehen. Und dann traf ich Harlan Ellison. (l, 14/15) Und dem fiel das große Talent Dan Simmons sofort auf. In seinem Vorwort zur Storysammlung Prayers to Broken Stones sind die denkwürdigen Ereignisse nachzulesen, die der exzentrische Autor in unverkennbarem Stil erzählt. Ellisons Ermunterung sorgte dafür, daß Simmons mit seiner Kurzgeschichte an dem Wettbewerb des TWILIGHT ZONE MAGAZINES, um den Rod Serling Award, teilnahm, den der dann auch gleichauf mit einem anderen Autor gewann. Am 15. Februar 1982, am Tag der Geburt seiner Tochter, wurde »The River Styx Runs Upstream« veröffentlicht. Um was geht es in dieser Geschichte, die Harlan Ellison nach eigenen Worten zu Tränen rührte? (II, 7) Der Protagonist, ein kleiner Junge, muß miterleben, wie seine Mutter stirbt. Die erste Szene der Geschichte ist ihre Beerdigung. So steht am Anfang ein Ende. Doch, wie der Titel andeutet, im folgenden wird der Strom des Lebens wieder umgekehrt. Der Vater des Jungen hat eine Firma damit beauftragt, seine Frau zu reanimieren. Doch dieses Unterfangen hat seine Tücken. Gegen den Tod ist letztlich kein Kraut gewachsen. Was da in die Familie zurückkehrt, ist nicht die geliebte Frau und Mutter, sondern ein apathisch herumtapsender, stummer Zombie. Ohne auf ihre Umwelt zu reagieren, bewegt sie sich gemäß ihren alten Routinen. So gießt sie zum Beispiel eine Pflanze, die nach ihrem Tod längst eingegangen ist. Bei aller Liebe, die Verwandten haben sich längst entsetzt abgewandt, kann aus dieser widernatürlichen Situation nichts 16
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Gutes werden. Der Vater verliert seine Arbeit und wird zum Trinker. Der Bruder des Protagonisten versucht auszureißen, aber letztlich ergibt er sich seinem Schicksal. Einzig der kleine Junge läßt sich in seiner kompromißlosen Liebe nicht beirren bis zum bitteren Ende! In der Folge sollte Dan Simmons noch diverse weitere Kurzgeschichten veröffentlichen, ehe er 1985 mit Song of Kali seinen ersten Roman schrieb, mit dem er dann auch gleich den World Fantasy Award gewann; der eigentliche Durchbruch sollte ihm jedoch erst 1990 mit Hyperion gelingen. Kurzbiographie und der erste Roman Dan Simmons wurde 1948 im US-amerikanischen Bundesstaat Illinois geboren. Eine Tatsache, die sich in zumindest einem seiner späteren Werken niederschlagen sollte. Auf die Frage, wann er denn auf die Idee gekommen sei, Schriftsteller zu werden, meint Simmons: »Eigentlich schon mit sieben lahren. Ich schrieb damals Kurzgeschichten für die anderen Kinder in der Schule. Ich reichte ein Notizbuch herum und freute mich einfach, ihnen beim Lesen zuzusehen. Und wenn etwas witzig sein sollte, lächelten sie manchmal, und wenn es an die Nerven gehen sollte, wurden sie manchmal nervös. So entschied ich mich damals dazu, Schriftsteller zu werden.« (III) Zunächst einmal durchlief Simmons eine gehobene Ausbildung und ergriff einen bürgerlichen Beruf. Die Entscheidung, Lehrer zu werden, erklärt Simmons folgendermaßen: »Als ich aus dem College kam und mein Auskommen verdienen mußte und Lehrer wurde, liebte ich es zu unterrichten. Das tat ich nicht wirklich, um einmal Schriftsteller zu werden. Das war nur ein Traum. Und es machte mir so viel Spaß zu unterrichten, daß es mich zehn Jahre beschäftigte, bevor ich versuchte, veröffentlicht zu werden. So 1978 oder 1979, zehn Jahre nach dem College, fing ich wieder an, Kurzgeschichten zu schreiben. Es machte mir also wirklich nie etwas aus, zu unterrichten. Ich würde wahrscheinlich immer noch Lehrer sein, wenn mir nicht die Zeit gefehlt hätte. Ich konnte nicht gleichzeitig einen Roman schreiben und Lehrer sein.« (III) Die Mühen und das große Risiko, einen sicheren Beruf aufgegeben zu haben, zahlten sich für Simmons zum Glück schlußendlich aus. Zunächst arbeitete er aber noch halbtags, 17
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und eigentlich bis 1990 lebte er finanziell unabgesichert mit von dem Einkommen seiner Frau. Der Erfolg seines Erstlingsromans verhieß jedoch einen guten Start in die angestrebte Karriere. Song of Kali gewann 1986 den World Fantasy Award viele weitere Auszeichnungen sollten folgen. Und schon bei diesem Werk läßt sich eine große Stärke Simmonsscher Schreibweise erkennen. Seine Bücher sind ausnahmslos gut recherchiert; oft ist er vor Ort gewesen und kennt die Schauplätze aus eigener Anschauung. (»Ich hielt mich nur drei Tage in Kalkutta auf. Aber in Indien war ich für zehn Monate.« [III]) In diesem ersten Werk der Langform, einem Horrorroman der ganz speziellen Art, dient das geheimnisvolle Indien als Hintergrund, genauer die Stadt Kalkutta mit ihren Slums. Und schon hier wagt sich Simmons an den ganz realen Horror heran eine Gratwanderung, die ihm jedoch fast immer gelingt. »Ich wollte Kalkutta in ein Ding verwandeln, wo die Leute von dieser Kreatur verschlungen werden.« (IV, 1 7) Robert Luzcak, ein Experte für fernöstliche Lyrik, bekommt die einmalige Gelegenheit geboten, das neueste Werk eines lange als verschollen geltenden indischen Poeten zu begutachten. Er fliegt nach Kalkutta, um sich von der Authentizität des Werkes zu überzeugen und dessen Rechte für seine amerikanischen Auftraggeber zu sichern. Seine aus Indien stammende Frau samt ihrem Säugling begleiten ihn. Doch schon die Ankunft in Kalkutta gestaltet sich als schwerer Kulturschock. Von dem allgegenwärtigen Elend überwältigt, sinkt die Stimmung des Protagonisten rapide und beim Leser stellt sich ein unangenehmes Gefühl ein, das ihn bis zum Ende des Romans und vielleicht auch noch darüber hinaus verfolgt. Luzcak meint schon früh zu erahnen, daß hinter der brodelnden Kulisse des allgegenwärtigen Überlebenskampfes weit verhängnisvollere Kräfte am Werk sind. Der Leser wird durch den Kapiteln vorangestellte Gedichtzitate entsprechend eingestimmt.2 Die Arbeit Luzcaks stellt sich als schwerer heraus als gedacht. Der mysteriöse Dichter verweigert einen persönlichen Kontakt, und es ergeben sich Hinweise, daß sein Wiedererscheinen mit einer Sekte der Göttin Kali zusammenhängt, die in ihren Ritualen Menschenopfer darbieten soll. Und als er jenes Manuskript endlich zu Gesicht bekommt, ist er entsetzt 18
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über dessen Inhalt. Das voluminöse Gedichtepos handelt von einem Endkampf der Götter. In grausamen Details wird dort geschildert, wie das Zeitalter der Kali anbricht; der Untergang der Menschheit wird kommen, wenn ihr Lied erklingt. Luzcak kann nicht glauben, daß jenes bluttriefende Werk aus der Feder des wegen seiner lyrischen und humanistischen Gedichte verehrten Dichters stammt. Er versucht den Verschollenen aufzuspüren, was ihm schließlich auch gelingt mit schlimmen Konsequenzen für ihn und seine Familie. Für ein Erstlingswerk ist Song of Kali erstaunlich ausgereift. Die Schockeffekte sitzen, da Simmons den Leser zuvor geschickt einzulullen weiß. Der Roman ist ein organisches Ganzes oberflächlich gesehen ein Horrorkrimi mit mythologischem Unterbau. In seiner Essenz jedoch stellt er ein Protokoll einer Regression dar, einer Annäherung an das Chaos. Da ist jener Kontrast zwischen westlicher humanistisch geprägter Weltanschauung und den alten östlichen Mythen, die wieder Macht gewinnen, in einer Welt, die dem Infarkt durch Überbevölkerung entgegentaumelt, wie er sich an der Person Luzcaks und jenem Dichter kristallisiert. Im Verlauf des Geschehens findet eine zunächst unmerkliche, sich dann aber mit erschreckender Vehemenz abspielende Annäherung des Literaturforschers an seine Umgebung statt. Aus einer Verschwörung von außen wird schließlich eine innere Verwandlung. Zum Schluß haben sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum verwischt. Und dann gibt es noch die nur zu reale Ebene der Slums von Kalkutta. Dieses Indien, in seiner extremsten Form, das sich in seiner eigenen Agonie suhlt, birgt doch mächtige Kräfte. Der einzige Schatz, auf den sich die Mächte des Dunkels stützen, ist der nackte auf sich selbst zurückgeworfene Mensch. Mehr kann nicht als Opfer geboten werden; doch es gibt genug davon. Für Simmons wird Indien mit seinen darbenden Massen zum Opferaltar Kalis, die eine westlich geprägte industriell orientierte Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts ins Dunkel der Frühzeit zurückwerfen wird. So gesehen zeigt er den Trend auf, daß das Zeitalter der Kolonialmächte endgültig vorbei ist die Dritte Welt besinnt sich ihrer Wurzeln und erhebt sich aus den Fesseln.
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Die frühen Kurzgeschichten Bevor sich Dan Simmons als Autor von exzellenten Romanen durchsetzen konnte, durchlief er, wie viele andere Schriftsteller auch, eine Zeit, in der er sich auf dem Gebiet der Kurzgeschichte übte. Auch nach seinem furiosen Erstling dauerten diese »Lehrjahre«, wie Simmons sie selbst nennt, noch eine Weile an. Gefragt, was er damit meinte, daß Song of Kali »erschien und wieder verschwand«: »Tja, das wäre eine höfliche Art es auszudrücken. Es gab keinen kommerziellen Erfolg.« (III) Durch den Erfolg ermutigt, den der Roman aber bei der Kritik hatte, machte sich Simmons an den voluminösen Horror-Roman Carrion Comfort, der sich aber als eine Art Sorgenkind herausstellen sollte, wovon im weiteren noch die Rede sein wird. Jedenfalls mußte er auf seinen Durchbruch als Romanautor noch weitere vier Jahre warten. In dieser Zeit legte Simmons jedoch die Fundamente für einige seiner besten Werke der frühen neunziger Jahre. In der Folge entstanden so eine Anzahl von Kurzgeschichten, die in den verschiedensten Publikationen erschienen. In Prayers to Broken Stones lassen sich nahezu alle dieser frühen Arbeiten gesammelt nachlesen, ergänzt durch einige Geschichten der späten Achtziger.3 Auch wenn diese Jahre für Simmons auf eine Weise quälend gewesen sein mußten, hatten sie für ihn als Autor sicher auch ihr Positives, wie Simmons selbst erläutert: »Mir gefällt die Vorstellung, daß man zuerst Kurzgeschichten schreibt, bis man dort seine eigene Stimme gefunden hat und dann Romane schreibt. Das ist auch aus kommerziellen Gründen besser; man bekommt Kurzgeschichten leichter veröffentlicht.« (III) Bereits seine chronologisch zweite Erzählung in Prayers to Broken Stones sollte Jahre später zu einem Roman werden. In »Eyes I Dare Not Meet In Dreams« erzählt Simmons von einem Mathematiker, der nach dem Verlust seiner Frau zunächst seine Lebensfreude verliert und herunterkommt, dem aber durch den Kontakt mit einem blinden, geistig zurückgebliebenen Jugendlichen Seltsames widerfährt. Jener Protagonist ist, genau wie seine verstorbene Frau, ein Telepath. Bei seinem Versuch, in den Geist des Kranken einzudringen, stößt er auf die Traumwelt des Jungen. Und in ihr findet er seine Frau. Diese Vereinigung nach dem Tod stellt 20
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sich als durchaus real dar; für die drei gibt es keine Schranken mehr. Interessant wird diese eindrücklich geschilderte Story dadurch, daß Simmons neben seinen Erfahrungen als Lehrer moderne wissenschaftliche Konzepte einbaut eine Methode, die er noch oft anwenden sollte und die mit zu der Tiefe und Authentizität seiner Romane beiträgt. In der Geschichte kommen Theorien der Chaosphysik zu tragen, vor allem die Vorstellung von dem menschlichen Geist als eine Art Hologramm. Ein einziges Bruchstück enthält nach dieser Vorstellung sämtliche Informationen des Ganzen. Und so dient der Geist des Jungen, der in sich abgeschottet bis dahin keinerlei Eindrücke von der Außenwelt erhalten hatte, als Bühne für das Wesen des Protagonisten. Denn durch den innigen telepathischen Kontakt mit seiner Frau ist diese ein Teil von ihm geworden und lebt damit fort. »(...) es war für mich interessant, die Implikationen der ChaosMathematik zu erforschen und der Idee, daß der menschliche Geist tatsächlich das Universum strukturiert. Daß wir uns ein Bild vom Universum machen, das sich selbst überwacht und sich selbst korrigiert. Und wenn jemand die Implikationen der chaotischen Zustände erklären kann, mag vielleicht sogar noch mehr dahinterstecken als diese alberne Idee.« (III) Auch die nächsten beiden Geschichten der Sammlung sollten später als Grundlage für Romane dienen. Und Simmons eigene Bedenken »ich fühlte mich immer etwas unangenehm bei Kurzgeschichten oder Erzählungen, die sich zu Romanen entwickelten. Ich frage mich dann: War die Geschichte unfertig oder ist der Roman lediglich ein Ausdehnen des kürzeren Stückes?!« (V, 359) erscheinen mir gegenstandslos. Sowohl »Carrion Comfort« als auch »Remembering Siri« wurden später Teil von äußert umfangreichen Werken. Die zweitgenannte Erzählung baute Simmons zu einem der Erzählstränge von Hyperion aus. Erzählt wird die Geschichte eines Raumschiffkadetten, der während seiner Ausbildung mehrere Male auf einem abgelegenen Planeten landet, wo er ein Verhältnis mit einer Einheimischen hat. Durch den Effekt der Zeitdilatation bei den fast lichtschnellen Flügen ist diese Siri jedes Mal um viele Jahre gealtert. Dennoch hält ihre Liebe bis zu ihrem Tode an und darüber hinaus. Bei seinem letzten Besuch, bei dem gleichzeitig auch die 21
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Transmitterstation eingeweiht werden soll, die von da an das direkte Reisen ohne Zeitverluste ermöglichen soll, erfährt er, daß seine Geliebte eine Rebellin war und die Ursprünglichkeit ihres Planeten vor den zerstörerischen Einflüssen der sternenübergreifenden Hegemonie schützen wollte. Für den Kadetten ist klar, welches sein letzter Liebesbeweis sein wird. Simmons ist mit dieser Geschichte eine anrührende Variante des Romeo-und-Julia-Motivs gelungen. Mit einer sanften Sprache, die so ganz anders ist als die seiner Horrorromane, führt er dem Leser dieses so spezielle Schicksal vor Augen und Herzen. Sie dürfte mit die reifste der später sieben Episoden von Hyperion sein. »Carrion Comfort« dagegen ist nahezu unverändert die einleitende Szene des gleichnamigen Romans, enthält aber auch schon dessen Schluß, ist also als eine Art Keimzelle der Romanfassung zu betrachten. In der Erzählung »Carrion Comfort« sind die Grundlagen für jenen Konflikt angelegt, der die vielen hundert Seiten des Romans bestimmt. Ein Treffen zwischen drei besonderen Menschen, die die Gabe haben, anderen ihren Geist autzuzwingen, gerät zur Abrechnung langjähriger Konflikte. Seit ihrem ersten Treffen im Wien der Zwischenkriegszeit betrieben Nina und Melanie, zwei Damen aus den Südstaaten, und Wilhelm von Borchert, Altnazi und späterer Filmproduzent in Hollywood, ein makabres Spiel, bei dem sie sich darin messen, möglichst viele unbescholtene Bürger zu »übernehmen« und zu Morden zu veranlassen. Nach dieser geistigen Vergewaltigung lassen sie die Opfer sich selbst umbringen. Neben dem reinen »Vergnügen«, das die drei bei dieser Betätigung haben, erfahren sie auch eine Art Nährung mit der Lebensenergie der Übernommenen. So halten sie sich durch ihre Missetaten künstlich jung. Es handelt sich dabei also um eine originelle Variante des Vampirmotivs. In der Kurzgeschichte beschränkt sich Simmons darauf, den tödlichen Zweikampf der beiden Frauen zu schildern, die noch alte Rechnungen offen haben. Mit drastischen Effekten beschreibt er diesen Showdown. Viel mehr als die blutigen Details schockt jedoch die Skrupellosigkeit, mit der die Kontrahenten die Opfer als Figuren ihres Kampfes benutzen. »Albert«, flüsterte ich, »es sind noch vier Patronen übrig. Man soll immer die Patronen zählen, nicht wahr? Geh in die Eingangshalle. Erschieß den Geschäftsführer. Erschieß eine weitere 22
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Person, die am nächsten ist. Steck dir den Lauf in den Mund und betätige den Abzug. Bei einem Versager drück noch mal ab. Halte die Waffe versteckt, bis du in der Halle bist.« (VI, 402) Und genau diesen perfiden Einfall machte Simenons zur Grundidee des Romans Carrion Comfort. Das Buch ist als ein Schachspiel der Gewalt angelegt zwischen zwei übermächtigen Vertretern jener unmenschlichen Mutanten. Während sich Simmons in der Erzählung darauf beschränkt, Willi in einem von Nina herbeigeführten Flugzeugabsturz umkommen zu lassen, wird er im Roman zum Schachspieler im Hintergrund. Sein Tod ist lediglich vorgetäuscht. Sein Gegner ist ein Milliardär mit mächtigen Freunden. Seit Jahrzehnten gehen bei ihm die Präsidenten ein und aus. Unterstützt von vier »Kollegen«, bilden sie den »Island Club«. Alljährlich veranstalten sie eine Menschenjagd auf einer abgelegenen Insel vor der Ostküste der USA. Wilhelm von Borchert hat das nicht nötig; sein Jagdrevier ist die Welt. Nachdem er als Offizier und Lagerleiter im 2. Weltkrieg seinen Gelüsten freien Lauf lassen konnte, plant er, »das Spiel« auf eine neue Dimension zu heben. Nicht mehr einzelne Personen sollen als Figuren dienen, sondern ganze Völker. Zwischen die Fronten geraten drei Personen, die versuchen, dem Unheil entgegenzutreten. Neben dem Sheriff der Stadt, in der das anfängliche Massaker stattfindet, und einer schwarzen Fotografin, deren Vater eines der ersten Opfer war, ist da, als eigentlicher Gegenpart und Verkörperung der Rechtschaffenheit, Saul Laski, ein Überlebender des Holocaust. Seit der Zeit, als er im Lager Chelmno zum ersten Mal von Borchert mißbraucht wurde und nur aufgrund glücklicher Zufälle überlebte, versucht er ihn wiederzufinden. Simmons wagt sich im weiteren auf etwas unsicheren Boden, wenn er andeutet, daß viele unmenschliche Taten von Vertretern jenes Geschlechts von Gedankenvampiren verursacht wurden. Dominante Personen wie Napoleon und Hitler werden dabei in diesen Dunstkreis einbezogen, Verantwortung für Greueltaten von den Tätern genommen. »Ich verzweifle angesichts des Ansteigens heutiger Gewalt. (...) Ich sehe das amerikanische Schlachthaus, die wahllosen Angriffe auf Päpste, Präsidenten und zahllose andere, und ich frage mich, ob da draußen noch viele mit der Gabe sind oder ob Massaker einfach der moderne way of life geworden sind.« (VII, 23) 23
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Ich halte diese Vorgehensweise, die ja nur eine Art Wiederbelebung der christlichen Vorstellung ist, daß das Böse eine zu personifizierende Macht sei, die den Menschen von außen bedroht, und wie sie in vielen anderen Horrorromanen auch vertreten wird, für eher ungeschickt, sogar gefährlich. Dies ist mit der Hauptgrund, weshalb man der Horrorliteratur durchaus begründet vorwerfen kann, daß sie eigentlich zutiefst konservativ sei; es nicht darauf anlege, alles im Chaos versinken zu lassen, sondern im Gegenteil anhand von Schreckensvisionen die vorhandene Wertegesellschaft bestärkt. Bei Simmons jedoch zählen weniger solche abstrakte Modelle. Seine Stärke liegt darin, daß er die wichtigen Charaktere dieses Buches mit Leben zu erfüllen weiß. Bei den »Bösen« ist das weniger Willi oder Barent, sondern Melanie. Immer wieder sind Kapitel eingeschoben, die das Geschehen aus ihrer Sicht schildern. Und zunächst erhält man den Eindruck von einer altjüngferlichen Frau, die etwas in der guten alten Zeit der Südstaaten verhaftet ist. Erst im Verlauf der Handlung dämmert es einem, daß diese Frau genauso skrupellos wie ihre Genossen ist und zudem noch schwer geistesgestört. Im letzten Teil des Buches jedoch wird sie zur mächtigsten Gestalt und verhilft ungewollt den »Guten« zum vermeintlichen Sieg. Der wichtigste Charakter des Romans ist aber eindeutig Saul Laski. Der ruhige Psychiater, der nach den ersten Mordfällen seine Hilfe anbietet, weiß von Anfang an, um was es wirklich geht. Er war damals Borcherts »Bauer« in einem unmenschlichen Schachspiel. Und im weiteren Verlauf der Handlung wird er von diesem für seine Zwecke mißbraucht. Aber am Ende muß Borchert dafür bezahlen, daß er Laski unterschätzt hat. Mit die gelungenste Passage ist nämlich jene, in der Saul Laski das Schicksal der unzähligen Opfer des Holocausts als Waffe gegen die Übernahme durch Willi anwendet. Simmons bleibt dabei glaubwürdig und begeht nicht den Fehler zu pauschalisieren oder gar ins Burleske abzugleiten, wie es ja oft bei Amerikanern geschieht, wenn sie in ihren Werken Nazis auftreten lassen. Carrion Comfort ist ein äußerst voluminöses Buch, im Umfang im Bereich Horror eigentlich nur von Kings The Stand übertroffen.4 Man hätte vielleicht durchaus an der einen oder anderen Stelle vorsichtig um ein paar Dutzend Seiten kürzen können. Gerade das lange Mittelstück, das eine Auseinander24
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setzung in den Slums eines Vorortes von Pennsylvania schildert, läuft etwas zäh an und ist insgesamt zu umfangreich. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß Simmons damals als noch nicht so bekannter Newcomer seine Probleme hatte, das Werk ungekürzt und an einem Stück zu veröffentlichen. Ein Problem, auf das er bei seinem SF-Hauptwerk Hyperion ebenfalls stieß. »Ich habe über drei Jahre kämpfen müssen, um mein vorheriges Buch Carrion Comfort in einem Band zu veröffentlichen. Und es war wirklich ein schlimmer Krieg, um das zu erreichen. Es ist mir gelungen, aber ich habe jeden genervt, mich eingeschlossen. Ich habe sehr gute Angebote von sehr großen Verlagen abgelehnt, die es in zwei oder drei Bänden herausbringen wollten. Ich kaufte das Buch von einem Verlag zurück, als ich das Geld dazu beisammen hatte. Ich konnte nicht mehr als Lehrer tätig sein, und so nahm ich meine Abfindung, um es zurückzukaufen und es anderswo anzubieten. Schließlich wurde es bei dem Kleinverlag Dark Harvest veröffentlicht, von mir selbst illustriert. Und alles kam zum Guten, aber es waren drei Jahre der Prüfung.« (III) Die Hyperion-Cantos Für manchen Horrorfan mag Hyperion als eine Art »Ausrutscher« erscheinen. Setzt man sich aber über die Barrieren des Genredenkens hinweg, und betrachtet man die Qualität des Gesamtwerkes und die Wirkung, die die einzelnen Romane hatten, so kommt diesen beiden Science Fiction-Büchern eine Schlüsselposition zu. Zum einen erreicht Simmons mit Hyperion den endgültigen Durchbruch, nachdem er einige Jahre Lehrgeld hatte ableisten müssen. Der Gewinn des HUGO Awards öffnete viele Türen. Und so sehr sich der Autor über die Ambivalenz solcher Auszeichnungen bewußt ist, wäre es töricht, ihre Wichtigkeit zu verkennen. »Wenn ich nichts von ihnen hielte, wäre das ja eine Beleidigung der Leute, die ihn mir gaben. Aber ich glaube nicht an die Vorstellung, daß sie eine Menge Geld für einen bedeuten. Ich weiß, wenn man einen HUGO gewonnen hat, dann lesen einen Leute, die das vorher nicht taten, was wundervoll ist. Ich hätte vor einem ]ahr in Holland sein sollen, um den HUGO entgegenzunehmen, aber ich konnte es mir nicht leisten. Ich 25
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mußte den HUGO gewinnen, um genug Geld zu verdienen, daß ich hätte zur Verleihung kommen können. Ich denke, ein Grund, weshalb die Science Fiction immer noch Wände um sich herum hat, ist, daß man eine Menge Zeit darauf verwendet, einander Preise zu vergeben. Die meisten, die jemals Autoren waren, gewinnen entweder Preise, versuchen Preise zu gewinnen, treten einer neuen Vereinigung bei und schaffen einen neuen Preis, wie die Horror Writers of America. Es gibt mehr Jurys als Preise, und es nimmt kein Ende. Ich denke, wir sollten vielleicht ein zehnjähriges Moratorium ausrufen, einfach eine Auszeit festsetzen, in der es keine Preise mehr gäbe. Ich schreibe dann genauso gut wie vorher. Was ich mir wünschte, wäre, daß man Science Fiction-Autoren für gute Arbeit besser bezahlte, als daß sie sich gegenseitig Statuetten überreichen. Nachdem ich das gesagt habe wissen Sie, ich liebe meinen HUGO und würde ihn für nichts weggeben und auch nicht den World Fantasy Award und den Bram Stoker Award, weil das eine Anerkennung ist. Als ich ein Kind war und die anderen Kinder beim Lesen meiner Geschichten beobachtete, wurde ich dadurch belohnt, wenn sie lachten und zur richtigen Zeit nervös herumrutschten. Und jetzt sehe ich niemanden meine Bücher lesen. Von Stephen King weiß ich, daß er, wenn er an Bord eines Flugzeugs geht, seine Bücher jeden lesen sieht. Aber ich sehe nie jemanden. Ich weiß also nicht. Außer wenn ich bei Signierstunden mit Lesern rede oder bei ähnlichen Gelegenheiten, bekomme ich kein Echo. In diesem Sinne sind Preise gerechtfertigt. Andererseits: Auszeit!« (III) Angelegt ist Hyperion in der Tradition der Chaucerischen Erzählungen der Canterbury Tales ein Werk des 13. Jahrhunderts, das mit den Beginn einer eigenständigen englischen Literatur markierte. Die Grundhandlung berichtet von einer Reisegesellschaft, die, unfreiwillig beisammen, eine schwere Mission zu erfüllen hat. Und auf dieser Reise erzählen sich die einzelnen Protagonisten ihre Geschichte und enthüllen dem Leser damit Zug um Zug die komplexen Zusammenhänge des die Reise bedingenden Konflikts. Den Titel haben die beiden Hyperion-Teile jedoch von zwei epischen Gedichten des englischen Poeten John Keats, in dem vom Sturz des alten griechischen Götterhimmels durch die neue Generation um Zeus die Rede ist. Dieser grundsätzliche 26
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Kampf dient auch als Grundhandlung von Simmons Roman. Des weiteren taucht eben jener Keats in verschiedenen Formen, teils sogar als materielle Wiedergeburt, in der Handlung auf. Seiner Vorliebe für klassische englische Stoffe frönt Simmons auch durch das Zitieren von Gedichten, besonders im Rahmen des Berichts eines der Reisenden, einem Poeten, der sich auf der Suche nach seiner Muse befindet. Zur Handlung: In einer fernen Zukunft über das genaue Jahr gibt es widersprüchliche Angaben5 hat sich die Menschheit in den Raum ausgebreitet und ein großes Sternenreich begründet die Hegemonie. Die wichtigsten Welten, um die 150, sind mittels Teleporterstationen sogenannten Farcastern problemlos erreichbar, manche Randwelten jedoch lassen sich lediglich per Raumschiff erreichen, mit den bekannten relativistischen Effekten der Zeitdilatation. Um eine dieser abgelegenen Welten, Hyperion, entbrennt nun ein Kampf mit den Ousters. Dieses fremdartige Volk lebt mitten zwischen den Sternen, taucht in Schwärmen auf und überfällt unerwartet die Welten der Hegemonie. Die Ousters besitzen menschliche Vorfahren, vor einigen Hundert Jahren, nachdem die Erde bei einem Atomunfall einer Kernschmelze unterlag, spalteten sie sich in der Hegira, dem Auszug der Menschheit ins All, ab. Hyperion erweist sich nun als Kristallisationspunkt vieler verschiedener Interessen. Als einer von acht anderen Planeten weist er ein unterirdisches Höhlensystem auf, das vor vielen Jahrtausenden gebaut worden ist, und zudem die Zeitgräber, in denen ein schreckliches Ungeheuer, das Shrike, hausen soll ein drei Meter großes Metallwesen mit langen scharfen Schneiden am ganzen Körper. Die Kirche des Shrikes weiß von dem baldigen Ende der Welt, denn die Zeitgräber werden sich öffnen, das Shrike holt sich immer wieder Opfer; daher ruft sie eben jene Mission aus. Im ersten Band wird die Rahmenhandlung lediglich aufgebaut, Simmons läßt die Reisegesellschaft sich langsam den Zeitgräbern nähern. Und auf der Reise werden die sieben Geschichten der Protagonisten erzählt. Jede von ihnen ist für sich eine spannende Erzählung, die es wert gewesen wäre, einen eigenen Roman zu bilden. Dadurch, daß jede Geschichte inhaltlich und stilistisch unterschiedlich beschaffen ist, wird Hyperion zu einem bunten Kaleidoskop, das auf eine Weise einen Überblick über die Science Fiction in ihren verschiede27
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nen Ausprägungen darstellt. Auf eine Weise stellt das Buch so auch das Ergebnis einer neuen Beschäftigung Simmons mit der SF dar, die er nach der High School lange Jahre nicht mehr gelesen hatte. Und so finden sich Geschichten, die einem Larry Niven Tribut zollen, oder auch eine Chandlerhafte Erzählung. Und auch der Cyberpunk kommt zur Geltung. Neben der bereits erwähnten Geschichte von dem Soldaten, der eine Jahrzehnte währende Liebschaft hat, die er im Leben nur ein paar Mal sehen kann, ist eine weitere Hauptperson ein Militär. Simmons schildert in dessen Erzählung eindrücklich dessen Heranbildung zu einem unerbittlichen Kämpfer. Doch verfällt er einer geheimnisvollen Frau, die ihn immer wieder auf unerklärliche Weise heimsucht. Lamia (falsch, Anm. d. PDFfers), so ihr Name wieder hat der Autor einen Bezug zu Keats Werk geknüpft , so wird sich herausstellen, hat direkt mit dem Shrike zu tun. Daneben gibt es noch einen Dichter, der auf der Suche nach seiner Muse ist und sie in der Gestalt des Shrikes gefunden hat. Diese Figur des polternden, verkrachten Poeten stellt eine Art Personifizierung des kreativen Gedankens dar. Kunst entsteht nicht in einem hermetisch abgeschlossenen Elfenbeinturm, sagt uns der Autor damit, sondern ist vielmehr eine harte Knochenarbeit. Meine liebste Erzählung jedoch ist gleich die erste. Ein katholischer Priester die Kirche ist zum Zeitpunkt der Handlung längst zu einer unbedeutenden Sekte verkommen berichtet von den Erlebnissen auf Hyperion, als er seinen Mentor suchte, der dort auf einer Expedition verschollen war. Bei einem Stamm Ureinwohner angelangt, muß er erkennen, daß diese eine ganz eigene Art der Wiederauferstehung praktizieren. Mittels eines organischen Symbionten, der »Kruziform«, kommen sie innerhalb dreier Tage wieder ins Leben zurück. Selbst schwerste Verletzungen werden dabei wieder regeneriert. Die Tatsache, daß dieser zeremonielle Vorgang erschrekkend an den christlichen Ritus erinnert, macht dem Priester zu schaffen. Und als er den Verschollenen findet, ist der Horror komplett. Als Opfer einer eigenen Kruziform konnte er den erwünschten Tod nicht finden. Diese Geschichte allein wäre es wert gewesen, als eigener Roman ausgebaut zu werden. Was überhaupt für ein gut Teil 28
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dieser Novellen im Roman gilt. Der Reiz bei dieser Art der Komposition liegt aber darin, daß durch das wechselseitige Erzählen des Schicksals der Reisegefährten sich viele Aufschlüsse über den zugrunde liegenden Konflikt ergeben. Stück um Stück setzt sich ein kompliziertes Puzzle zusammen, so daß am Ende des Buches der Ausgangspunkt für ein großes Finale geschaffen ist obwohl an äußerer Handlung an sich noch gar nichts geschehen ist. Demgegenüber ist der Aufbau des Folgebandes der erst ein Jahr nach dem ersten erschien, was zu einigen Verstimmungen Anlaß gab eindeutig konventioneller.6 Das ist aber in gewisser Weise durchaus zu begrüßen, gibt es doch so viele offene Handlungsstränge zu entwirren und aufzulösen, daß stilistische Experimente eher abträglich gewesen wären. So finden sich die Reisenden zu Beginn von The Fall of Hyperion auf dem Gelände der Zeitgräber wieder. Ihre Erlebnisse werden geschildert anhand der Träume des Keats-Klons, der als doppelter, zunächst scheinbar unbeteiligter Beobachter, als persönlicher Adjutant der Hegemonieobersten Goldstone fungiert und so die sich entwickelnde Krise direkt mitbekommt. Denn die Lage spitzt sich zu. Die Zeitgräber öffnen sich, und die Ousters überfallen mit einem Trick das Netz die totale Vernichtung droht. Und immer mehr kristallisiert sich heraus, daß der grundsätzliche Konflikt ein ganz anderer ist. Das Techno-Core, der Verbund der Künstlichen Intelligenzen, spielt falsch. Schließlich entpuppt sich der vermeintliche Feind genauso als Marionette in einem kosmischen Spiel wie die Welten des Netzes. Hintergrund des ganzen Konflikts ist der Versuch des Techno-Core, eine Maschinengottheit zu schaffen, sich von den menschengeschaffenen Wurzeln zu lösen. Ein kosmischer Machtwechsel soll vollzogen werden. Und aus der Zukunft drifteten die Zeitgräber zurück mit ihrem Gesandten, dem schrecklichen Shrike. Simmons hält in diesem Buch die Spannung bis zum Schluß aufrecht. Mit fester Hand behält er die vielen Handlungsstränge in der Hand und bringt sie in einem furiosen Finale zu einem Ende. Jeder auch nur einigermaßen an der Science Fiction Interessierte sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die beiden Hyperion-Bände zu lesen. Schon jetzt sind sie Klassiker, und man wird sie wohl auch in Jahrzehnten noch 29
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dazu zählen. Simmons in Deutschland Dan Simmons erste Veröffentlichung bei uns war nicht etwa Song of Kali oder Hyperion, wie man vielleicht denken könnte, sondern drei Kurzgeschichten, die in der von Douglas E. Winter herausgegebenen Anthologie Nightvisions 5 enthalten sind.7 Und mit Erscheinen des Bandes 1990 sorgte er gleich für Aufsehen. Nicht die anderen Beiträge der etablierten Autoren kamen gut an, sondern die Stories dieses Newcomers. In »Metastasis« greift Simmons ein kontroverses Thema auf. Er läßt den Protagonisten der Geschichte erkennen, woher Krebserkrankungen kommen. Als einziger ist er nach einem Schädeltrauma in der Lage zu sehen, wie gräßliche Monster, Krebsvampire, sich über ihre Opfer hermachen und ihnen Maden in die Körper stecken. Die vermehren sich und fressen sich durch den Leib der Todgeweihten und werden dann, derart genährt, vom Vampir gefressen. Die drastische Sprache, deren sich Simmons dabei bedient, läßt die Lektüre dieser Story zu einem Schockerlebnis werden. Jedoch einem beeindruckenden. So schrecklich die Idee mit jenen Krebsvampiren ist, so sehr wünscht man sich, daß sich diese heimtückische Krankheit so leicht erklären ließe. Als noch gelungener muß die Erzählung »Iversons Pits« bezeichnet werden, in der die grausamen Schlachten des amerikanischen Sezessionskrieges thematisiert werden, dem traumatischsten Krieg bis Vietnam. Ausgehend von einem modernen Mythos, daß auf einem jener Schlachtfelder der Wein besonders gut wachse, macht Simmons sich seinen eigenen Reim darauf. Unter der Erde ruhen die Gebeine der Gefallenen keineswegs, nein, die Schuld der Väter bricht sich ihren Weg nach oben frei. Riesige Tunnelsysteme aus Knochen und organischem Material durchziehen das Erdreich. Die Ausarbeitung dieser direkten Metapher gelingt Simmons dabei hervorragend. In der Eindrücklichkeit dieses »organischen Horrors« erinnert mich die Geschichte an Greg Bears Blutmusik, in dem die Transformation der gesamten irdischen Biosphäre in ein neues organisches Gesamtsystem geschildert wird. Bei »Vanni Fucci Is Alive and Well and Living in Hell« schließlich handelt es sich um eine amüsante Abrechnung mit dem amerikanischen Phänomen der TV-Prediger. Diese schmieri30
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gen Scheinheiligen des Fernseh-Zeitalters ziehen den armen Sündern Unsummen aus den leeren Taschen.8 Widerstand erfährt einer ihrer Vertreter aber von ungeahnter Seite aus der Hölle! Vanni Fucci, der, seitdem Dante durch sein Inferno die Hölle schuf vorher hatte sie nicht existiert! , in einem seiner Kreise schmort, muß als neueste Tortur regelmäßig die Show jenes TV-Predigers ansehen, worauf er auf Rache sinnt, als man ihm einen kleinen Urlaub in der Oberwelt gewährt. Und die fällt dann auch äußerst drastisch aus. Mit dieser ersten Veröffentlichung wurde aber auch die Vermarktung festgelegt, mit der man hierzulande diesen neuen Autor den Lesern schmackhaft machen wollte. Handelt es sich doch bei zwei der Geschichten um Horrorstories, die dritte rangiert eher unter Satire. Im folgenden reduzierte man Simmons auf einen Horrorautor, was nicht nur dem vielseitigen Autor nicht gerecht wird, sondern auch manche (Horror-)Fans fehlleitete. Die Romane, die als erste in deutscher Übersetzung herauskamen, erschienen ebenfalls in der Allgemeinen Reihe des Heyne-Verlags, und zwar mit einer Titelbildgestaltung in gleicher Machart. Was bei Song of Kali noch einigermaßen ansprechend wirkt, mißlang bei Hyperion leider gänzlich die Leser mußten den Eindruck gewinnen, es mit einem Horrorroman zu tun zu haben. Und auch das Titelbild des Folgeromans Fall of Hyperion wurde in ähnlich nichtssagender Weise gestaltet. Schade, während in der Science Fiction-Reihe des Verlags erfreulicherweise häufig die Titelbilder der Originalausgaben verwendet werden, wenn sie etwas taugen, herrschen in der Allgemeinen Reihe offenbar andere Gesetze; spricht man doch ein weiteres Publikum an, von dem man anscheinend andere Prioritäten als ausschlaggebend bei der Kaufentscheidung annimmt. Von den übrigen Kurzgeschichten vor 1990, wie sie in Prayers to Broken Stones gesammelt erschienen, wurde zunächst, außer den schon erwähnten, lediglich »Two Minutes Forty-Five Seconds« veröffentlicht, eine Shortstory um einen Flugzeugingenieur mit Höhenangst, der, nachdem er sich einen Absturz als Achterbahnfahrt aus Kilometerhöhe vorstellt, schließlich tatsächlich die zwei Minuten fünfundvierzig lange Reise zur Erde antritt. 31
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Erwähnenswert sind zwei weitere Kurzgeschichten späteren Datums, die in den von Robert Vito herausgegebenen HorrorAnthologien bei Goldmann erschienen sind. Neben »My Private Memoirs of the Hoffer Stigmata Pandemic« von 1991 sei im besonderen »This Years Class Picture« genannt. Bei erstgenannter zeigt sich Simmons erneut von seiner sarkastischsten Seite. Aus unbekannten Gründen erfährt die ganze Weltbevölkerung eine erschreckende Verwandlung. Von einem Moment zum anderen verformen sich die Gesichter, ganz entsprechend dem Charakter und der Intelligenz. Niemandem ist es mehr möglich, sich hinter einem glatten Gesicht zu verstekken. Jede Hinterlist und Lüge schlägt sich sofort nieder. Simmons beschreibt dabei bis ins ekligste Detail, was den Großen unserer Welt widerfährt, die, um in ihre Positionen zu kommen, so manche Missetat begangen haben. Es ist einfach ein Spaß, wenn man geschildert bekommt, wie sich dieser oder jener Politiker darbietet. Ein bloßer Spaß bleibt diese Geschichte dann aber doch nicht. Die Reaktionen der derart vom Schicksal Gestraften geraten nur zu realistisch, und die Opfer sind wieder einmal die Schwächsten, in dem Fall die noch nicht gezeichneten, unschuldigen Kinder. Ja, wenn jeder im Gesicht tragen würde, was er denkt...! In »This Years Class Picture« greift Simmons erneut ein klassisches Horrormotiv auf und gibt ihm eine interessante Neuinterpretation. Verdientermaßen wurde diese Zombie-Story mit dem Bram Stoker Award 1993 ausgezeichnet. In einer Welt, in der die Menschheit sich selbst nahezu ausgerottet hat, schotten sich die wenigen Überlebenden in verbarrikadierten Häusern ab oder ziehen als Banden marodierend durch die Lande. Die alte Ordnung hält als einzige eine Lehrerin aufrecht, die sich durch nichts beirren läßt und weiterhin ihre Klasse unterrichtet. Nur, daß diese nun aus Zombiekindern besteht! In ihrem Kampf gegen Eindringlinge von außen und gegen ihre Lieben, die sie zum Fressen gern haben, scheint sie keine Chance zu haben und mutet wie ein Atavismus an, der wie der letzte Mensch in Richard Mathesens Ich bin Legende konsequenterweise untergehen muß. Aber unerwarteterweise fällt ihre Liebe auf fruchtbaren Boden das alljährliche Klassenfoto zeigt eine fröhliche Schar von zugegeben etwas abgerisse32
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nen (bzw. angeknabberten) Kindern. Ansonsten bleibt aber wohl Heyne auch weiterhin der Verlag für Dan Simmons Werke bei uns. Nach den ersten Büchern in der Allgemeinen Reihe kamen die später erschienenen Romane Simmons Summer of Night, Carrion Comfort und Children of the Night in der mißratenen JumboReihe heraus. Bei dieser Subreihe handelte es sich um den letztlich gescheiterten Versuch, in Deutschland das überformatige Paperback zu etablieren.9 Nach dem großen Erfolg von Es, dem ersten Band in dieser neuen Aufmachung, sollten etliche weitere Bücher in der Reihe folgen, bis zu ihrer Einstellung 1993. Ein Grund dafür mochte vielleicht die eher unansehnliche Aufmachung gewesen sein und das bei Verkaufspreisen, die an den Hardcoverbereich herankamen, deren Bände aber eher wie bedrucktes Klopapier wirkten, das man lieblos zu häßlichen Ziegeln gebunden hatte. So war es nur zu konsequent vom Heyne Verlag, eine Offensive nach vorne einzuleiten und, nach Einstellung der Jumbo-Reihe, potentielle Bestseller von Koontz und King als gebundenes Buch herauszubringen. Dan Simmons scheint noch nicht ganz in solche Bestsellerkreise vorstoßen zu können, kam die deutsche Ausgabe seines Romans The Hollow Man doch wieder als Taschenbuch in der Allgemeinen Reihe heraus. Die Romane nach 1990 Seinen Ruf als »Horror«-Autor hat Dan Simmons mit seinen beiden Romanen Summer of Night und Children of the Night gefestigt, die 1991 und 1992 erschienen. Beide sind auf ihre Art große Romane, leiden aber unter gewissen strukturellen Schwächen, die verhindern, daß wahre Meisterwerke aus ihnen hätte werden können. Zu Summer of Night meint Simmons: »Das Buch ist mein bisher amerikanischstes. Wie es ist, Kind zu sein im Bundesstaat Illinois, wo man sich direkt im Herzen des Landes befindet. (...) Ich machte Fotos von der Stadt, wo das Buch angesiedelt ist. (...) Und ich stellte fest, wie wahr es ist. Das ist das Herz des Landes. Es gibt wahrscheinlich keinen amerikanischeren Ort als das zentrale Illinois. Nicht, daß jemals jemand es besuchen wollte.« (III) Es gibt einige Mythen, wie sie in den USA zum geistigen Allgemeingut gehören und immer wieder in der Literatur auf33
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gearbeitet werden. Einer davon ist der von der verklärten Jugend in der amerikanischen Provinz. Sehnt sich jeder Erwachsene nach jener Zeit der Unschuld zurück, als alles doch so einfach schien, kommt in diesem Fall noch ein gewisser patriotischer Unterton hinzu. Aufzuwachsen auf dem Lande, aus dem Mutterschoß der Nation, gilt gerade unter den Bewohnern der Megalopolen, deren Verhältnis zur Natur sich oft auf die wenigen Besuche in den Stadtparks beschränkt, als eine Art ideale Kindheit. Auch in der phantastischen Literatur gibt es Beispiele, wo diese Vorstellung thematisiert wurde neben Kings Novelle Stand By Me und natürlich deren kongenialer Verfilmung von Rob Reiner fallen einem sofort die Kurzgeschichten von Ray Bradbury ein. »Ich sprach mit dem Verleger über Summer of Night, bevor ich es schrieb Verleger werden immer mehr wie Filmleute, sie wollen alles in wenigen Sätzen zusammengefaßt haben; das ist ein Hollywoodbegriff, high concept. Der Film Predator wurde mit dem Spruch Stellen Sie sich Alien trifft Rambo vor verkauft. Da sagte man: Okay, hier sind 38 Millionen. Also versuchte ich einen high concept-Spruch für Summer of Night zu finden. Ich sagte: Stellen Sie sich Bradbury mit Zähnen vor, und sie sagten: Okay, schreiben Sie es. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, Tom Sawyer, wie wenn Shirley Jackson das Buch geschrieben hätte, die Autorin von The Hunting of Hill House.« (III) Simmons ist sich dieser Bezüge also bewußt; ebenso wie die Parallelen in der Handlung zu Es. Aber man kann es ihm abnehmen, wenn er die Eigenständigkeit seines Werkes betont. »Es geht um eine abgelegene Kleinstadt in den Sechzigern, in der Ungeheuer aus dem Untergrund kommen. Und ich hoffe, daß es die Leute ängstigt. Auf eine Art ist es ein Horrorroman. Es behandelt gewisse Ereignisse und Geheimnisse der Kindheit; in diesem Sinne kann man ihn richtig mit Stephen King vergleichen. Es gibt Parallelen. Kinder in der Kleinstadt, die etwas Böses bekämpfen. King hat mich besucht, um darüber und anderes zu sprechen. Er schreibt das Drehbuch zur Verfilmung von Carrion Comfort. Die Rechte für Summer of Night wurden ebenfalls vergeben, und der Produzent will den Film machen. Daran ist King nicht beteiligt. 34
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Er meint nicht, daß Summer of Night und Es viele Ähnlichkeiten aufweisen. Aber wir beide sind im gleichen Alter, nur einige Monate auseinander geboren. Wir lebten in der gleichen Stadt und trafen uns nie. Er zog 1974 nach Colorado. Wir saßen oft im gleichen Publikum bei Autorenlesungen. Wir haben also die gleichen Erinnerungen als Elfjährige im Jahr 1960, die ähnlichen Gegenden des Lands; wir stellten fest, daß wir ähnliche Sichtweisen haben. Die Geschichte ist ziemlich verschieden.« (III) Nun, es soll jedem Leser selbst überlassen werden, inwieweit er Parallelen sieht oder gar als störend empfindet. Hier nur ein kurzer Handlungsabriß. In diesem Roman hat sich das Böse in einem Schulhaus manifestiert, das damit beginnt, Kinder zu verschlingen. Von den Erwachsenen wird die Gefahr zunächst nicht ernstgenommen, man glaubt den alarmierten Kindern nicht. Was folgt, ist der Kampf einer kleinen Gruppe von Schülern gegen diese Bedrohung. Simmons gelingt es in der ersten Hälfte seines Romans, die ganz spezielle Stimmung einzufangen, die symptomatisch für jene Zeit im Leben ist, kurz vor der Pubertät, wo alles möglich erscheint und vieles verwirrend ist. Wenn man 12 ist, dann sind noch bedingungslose Freundschaften möglich. Noch wird man nicht für voll genommen, hat aber doch schon genug Verständnis von den Dingen, um gegen diese Unterdrückung zu rebellieren. Summer of Night hätte eine beeindruckende Parabel auf diese Umstände werden können, wenn sich Simmons nicht entschlossen hätte, in der zweiten Hälfte des Romans auf einen Showdown hinzusteuern, der nur zu gegenständlich ist und das Buch als zwar spannend erzähltes Horrorgarn, aber ohne größeren Tiefgang enden läßt. Mit Children of the Night kommt Simmons erneut auf das Vampirmotiv zurück. Diesmal jedoch nimmt er es sich in seiner ursprünglichen Form vor. Doch Simmons wäre nicht der herausragende Schriftsteller, der er ist, wenn dies nicht auf eine innovative Weise geschehen würde. Werke, in denen versucht wird, eine wissenschaftliche Deutung für den Vampirismus zu finden, sind relativ selten.10 Meist beschränkt sich eine solche Erklärung auf ein paar dahingeworfene Sätze ohne wirkliche Relevanz. In Children of the Night hingegen wird ein regelrechtes wissenschaftliches Mo35
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dell aufgestellt, so detailreich, daß manche Passagen für den Durchschnittsleser fast schon wieder zuviel sein dürften. Grundlage dieses Modells sind aktuelle Forschungen auf dem Gebiet der Gentechnologie, die auf dem Gebiet der Blutsynthetisierung gemacht werden. »Wieder einmal schrieb ich über das Dracula-Motiv, diesmal brachte ich aber die Wissenschaft mit ein. Die Recherchen, die ich betrieb, waren die bislang härtesten für mich. (...) Ich habe daher Recherchen über Gentherapie gemacht. (...) Es geht um künstlich produziertes menschliches Blut, indem man, sagen wir, einem Schwein ein Gen injiziert. Und das Schwein würde damit beginnen, zehn oder fünfzehn Prozent seines Blutes als menschliches Hämoglobin zu produzieren. (...) Selbst für Plasma braucht man zuerst Blut. Aber auf diese Weise kann man eine unbegrenzte Menge produzieren.« (III) Und so ist die Protagonistin des Buches eine Immunologin, die bei ihrem Aufenthalt in Rumänien auf ein Baby mit einer seltsamen Krankheit stößt, deren Symptome bei Verabreichung von Blut kurzzeitig verschwinden. Sie adoptiert das Kind und schafft es trotz der Wirren nach Ceausescus Sturz außer Landes. Zu Hause in den USA stellt sie bei ihren Forschungen fest, daß es an der Magenwand ein »Schattenorgan« besitzt, das bei einer Transfusion mit Fremdblut dafür sorgt, daß die relevanten Werte des eigenen Blutes normal werden. Das Kind ist ein Vampir! Vampirismus als seltene Krankheit, eine wirklich interessante Idee. Simmons setzt noch einen drauf, indem er die Forscherin hoffen läßt, daß mit ihrer Heilung auch ein Mittel gegen AIDS gefunden werden kann. Doch bevor eindeutige Ergebnisse erzielt werden können, kommt es zur Katastrophe. Das Kind wird entführt, das Haus der Forscherin brennt ab, und ihr Ex-Mann und eine Bekannte kommen ums Leben. Es gibt Kräfte, die es nicht zulassen können, daß jenes Baby in die USA gebracht wurde. Denn es ist nicht irgendein kleines Kind, sondern der legitime Nachfolger jenes Vlad Dracul, der den Mythos begründete und immer noch im Hintergrund seine Fäden zieht. Die Passagen des Buches, in denen jener dunkle Fürst, auf dem Totenbett liegend die Krankheit, deren Nebeneffekt ein überlanges Leben ist, führt schließlich doch zum Tode , seine lange Geschichte Revue passieren läßt, gehören zu seinen stärksten Momenten. Ansonsten unterläuft Simmons lei36
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der wieder derselbe Fehler wie in Summer of Night. Zum Schluß reduziert sich die Handlung auf eine spannende Verfolgungsjagd um das Kind. Von einem historischen Ort zum anderen hetzend, versucht die Protagonistin die Inthronisation des Dracula-Nachfolgers zu verhindern. Viel von dem Lokalkolorit, das Simmons kenntnisreich in die Handlung eingewoben hat, verkommt so letztlich als Staffage. Geradezu unlogisch erscheint zudem die undurchschaubare Intrigenhandlung unter den verschiedenen Fraktionen der Vampire, die zum Teil den regierenden Diktator gestützt hatten. Es wird nie so recht erklärt, wie es überhaupt dazu hat kommen können, daß der Sproß des Dracula in jene Klinik verschleppt werden konnte, wo ihn die Forscherin fand. Was bleibt, ist ein rasanter Horrorroman mit interessanten historischen und wissenschaftlichen Aspekten. Wirklich beeindrucken kann das Werk trotz des Locus Award für den besten Horrorroman jedoch nicht. Wenn auch die Kritik des Rezensenten in FOUNDATION etwas zu harsch ausfiel: »Das letztjährige Summer of Night war Simmons schwächstes, aber erfolgreichstes Werk, und Children of Night ist im wesentlichen ein Bruder, ein Pop-Horror-Roman, schnell geschrieben, für ein großes Publikum. Der einzige aufregende Aspekt an ihm ist seine klar kommerzielle Herkunft; er gehört nicht in die ambitionierte, deutlich literarische Linie, die die Hyperion-Romane und Phases of Gravity durchzieht.« (VIII, 111) Das dritte Buch, das in diesem Zusammenhang vorgestellt werden soll, ist The Hollow Man, Dan Simmons zweites Werk der Science Fiction nach dem zweibändigen Hyperion-Epos. Doch Simmons wäre nicht der Autor, der er ist, wenn sich auch in diesem Fall die Einordnung in ein bestimmtes Genre so einfach bewerkstelligen ließe. Ausgehend von der Kurzgeschichte »Eyes I Dare Not Meet in Dreams«, die schon weiter oben besprochen wurde, taucht Simmons noch tiefer in die Gefilde der Chaosmathematik ab und fördert eine atemberaubende Theorie über die Natur des menschlichen Geistes hervor. Wie schon in Children of the Night erweist sich der Autor als Meister der wissenschaftlichen Recherche, und er scheut sich auch nicht, komplexe Sachverhalte in die Handlung einzubauen, gar mit physikalischen Formeln zu operieren. In Ergänzung zur Kurzgeschichte baut Simmons den Abstieg des telepathischen Protagonisten Jerry Bremen aus. Immer tie37
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fer läßt er ihn in die Kreise der Hölle steigen, die Parallelen zu Dantes Inferno sind dabei beabsichtigt. Dieser Teil des Buches weist auch die größten Affinitäten zum Horror auf. In einer Episode nach der anderen taucht Jerry immer tiefer in den privaten Horror ein. Höhepunkt ist dabei sein Kampf gegen eine Verrückte, die ihn auf einer abgelegenen Farm zu ihrer Sammlung von Opfern ins Kühlhaus hängen möchte. Als das stärkste Horror-Element jedoch erweist sich die Schilderung der Mißhandlung des behinderten Jungen, der am Ende der Odyssee von Jerry sein Bettnachbar im Krankenhaus ist. Diese Passagen bringen den wahren Horror zum Ausdruck, kann man sich doch nur zu gut vorstellen, daß Ähnliches in der realen Welt immer wieder vorkommt. In seiner Substanz jedoch ist The Hollow Man ein SF-Roman. Ausgehend von der holistischen Theorie, daß der Geist des Menschen eine stehende Welle ist, die keine Grenzen kennt und sich seine eigene Wirklichkeit schafft, gelangt Simmons schließlich zur Parallelwelttheorie. Er schreckt dabei auch nicht zurück, mathematische Formeln in den Text einzustreuen, was gelungenermaßen den Effekt der Glaubwürdigkeit bestärkt. Nicht viele Autoren hätten riskiert, auf die Weise Leser zu verlieren. Das drastische Ende mit dem Selbstmord des Protagonisten stellt daher eine Art Happy-End dar; dem Leser bleibt überlassen, ob er den Wechsel in eine Welt, in der Jerrys Frau noch lebt, für möglich hält. Auffallend ist zudem, daß der Roman über weite Strecken ohne genrespezifische Elemente auskommt. Mir scheint dies eine grundsätzliche Entwicklung bei Simmons zu sein. Gegen die Konventionen Dan Simmons bemüht sich immer wieder zu betonen, daß er als Autor in keine Schublade eingeordnet werden möchte. Und in der Tat hat er sowohl in der Science Fiction als auch dem Horror große Erfolge gefeiert. »(...) die Verleger, mit denen ich es zu tun habe, wissen, daß ich sehr störrisch bin, wenn es darum geht, mich einzuordnen daß ich schreibe, was ich möchte. Und ich glaube, es gibt ein Verständnis, daß es da draußen eine Leserschaft dafür gibt. Und das freut mich. Es macht mich froh zu sehen, wenn irgendein Autor die ausgetretenen Pfade des Genres verläßt und die Leserschaft das annimmt. So wissen sie, daß die Leute es lesen.« 38
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(IV, l 7) Bei seinem Versuch, die Grenzen zu durchbrechen, wechselt er nicht nur mit jedem neuen Buch zwischen den Genres, sondern selbst innerhalb eines solchen. Simmons versucht diese fiktiven Barrieren einfach als nicht existent zu betrachten. In dem Maße jedoch, da man ihn auch weiterhin versucht auf eine literarische Richtung festzulegen, scheint sich aber das Scheitern dieses Vorhabens zu manifestieren. Nicht zuletzt auch wegen der Inflexibilität mancher Leser. Eine essentielle Stellung in dem bisherigen Werk von Dan Simmons hat für mich sein Roman Phases of Gravity, der mittlerweile auch auf Deutsch erschienen ist. Aus durchaus nachvollziehbaren Gründen kam er bei der (Fan-)Kritik nicht gut weg was ich aber als glatte Fehleinschätzung werten muß, auf der anderen Seite aber verstehen kann. Was soll der geneigte SF- oder Horror-Fan denn davon halten, wenn er sich den neuen Reißer des Autors erwartet, um dann mit den introvertierten Erlebnissen eines alternden Astronauten bedient zu werden, ohne daß auch nur irgendwelche phantastische Elemente in dem Roman zu verzeichnen wären? Ich dagegen bin äußerst angetan von dem Buch. Simmons gelingt es hier, genau die Tiefe und Aussagekraft durchzuziehen, die ihm bei seinen Genrebüchern im Verlauf der Handlung zumeist abhanden kommt (man denke an Sommer der Nacht oder Kinder der Nacht). Der Titelheld, ein Astronaut der zweiten Generation, der 1971 seinen Mondspaziergang unternehmen durfte, befindet sich zum Zeitpunkt der Handlung in seinen Mittfünfzigern und in einer Lebenskrise. Von seiner Frau ist er nach über 20 Jahre Ehe geschieden, sein Sohn zieht es vor, statt seinen Abschluß zu machen, nach Indien zum Ashram eines Gurus zu ziehen. Richard trifft ihn dort, kann ihn aber nicht zur Rückkehr bewegen, weswegen er sich Vorwürfe macht. Im folgenden macht sich der alternde Astronaut auf den Weg, die Stationen seines bisherigen Lebens nachzureisen, um dabei sich selbst wiederzufinden. In diesem Zusammenhang nehmen sogenannte »Orte der Kraft« einen wichtigen Stellenwert ein. Die Kapitel des Buches sind dementsprechend benannt. Bei vielen dieser Orte handelt es sich um Berge, und das kommt nicht von ungefähr. Will man das Buch wirklich verstehen, sollte man seinen Titel durchaus wörtlich nehmen. Bis in kleine Details geht es um die Bestimmung des Titelhelden, die Auseinandersetzung mit 39
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der Schwerkraft und ihrer Überwindung.11 Dieses Motiv steht für die persönlichen Verwicklungen, die den Roman letztlich ausmachen. Simmons selbst meint zu seinem Roman: »Phases of Gravity ist sicher eines meiner Lieblingsbücher, eine Arbeit der Liebe. (...) Es ist ein Mainstreamroman über einen Ex-Apollo-Astronauten, der eine Art verspätete Midlifecrisis durchläuft. (...) Er begibt sich auf eine epistemologische Suche, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Auf dieser Suche erfährt er Ähnliches wie in Dantes Paradiso. Er bewegt sich durch Kreise der Philosophie, von den einfachsten mystischen zu den fundamentalistischen Religionen, zu mehr ausgeklügelten Philosophien, zu der Offenbarung, daß sein Leben eine Probe war, sogar die Landung auf dem Mond. Man hat sich vorbereitet und sich darauf gefreut, und als es geschah, ist es nur eine weitere Simulation. Das ist keine schlechte Metapher, diese Art von Desillusionierung zu behandeln.« (IX) So trifft er im weiteren die beiden Kameraden jenes Mondflugs wieder der eine ist zum »wiedergeborenen« Prediger geworden, der andere, dem seine Späße bei seiner Karriere immer Probleme bereitet hatten, wurde Kongreßabgeordneter. Als besonders wichtig stellt sich aber die vermeintliche Zufallsbekanntschaft mit einer Freundin seines Sohnes heraus, die ihn eigentlich erst auf seine Reise bringt. Über die Qualität der Übersetzung kann ich nichts sagen. Aber wenn auch nur ein wenig des grandiosen Stils in die andere Sprache hinüber gerettet wurde, müßte auch dem aufmerksamen deutschen Leser die Größe dieses Werkes aufgehen wenn er sich wirklich auf den Text einlassen kann. Als Beispiel seien die vielen poetischen Schilderungen aus der Vergangenheit des Astronauten Baedeckers genannt, die alle auf die eine oder andere Weise das Motiv des Sichlösens von der Erde, die Sehnsucht nach den schwerelosen Weiten des Alls enthalten. Da wird geschildert, wie er als Junge über eine geborstene Brücke springt, um von seinem Vater gerettet zu werden, oder sein wiederkehrender Traum von einem Flugzeugabsturz, der in seiner poetischen Dichte mitreißt. An solchen Stellen ist Simmons besser als in jedem seiner Horrorromane! Das soll nun aber nicht heißen, daß das Buch ein bedeutungsschwangerer Langweiler wäre. Als komödiantisches Element taucht zum Beispiel (wie in »Vanni Fucci...« und Carrion 40
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Comfort) das Motiv des korrupten Fernsehpredigers auf. Simmons erlaubt sich den Spaß, ein weiteres Mal die offensichtlichen Schwächen dieser modernen Ablaßgauner anzuprangern. Noch erwähnt sein sollen, der Vollständigkeit halber, zwei kleinere Veröffentlichungen, als da wären Summer Sketches, eine Sammlung von kleinen Texten. Es enthält Tagebuchaufzeichnungen aus zwölf Jahren sowie Gedichte und ist vom Autor selbst illustriert; zum Beispiel Zeichnungen der Straßen von Kalkutta. Going After the Rubber Chicken wiederum ist eine Sammlung von Reden Simmons. Die neuesten Werke Die Tatsache, daß es einem Schriftsteller gelingt, eine Novellensammlung zu veröffentlichen, spricht für seine Popularität. Wie Dan Simmons zu Recht in der Einführung zu Lovedeath erwähnt, gibt es für einen Verleger keine ungeeignetere Form als eben diese langen Erzählungen. Für einen Roman sind sie zu kurz, als Erzählung sind sie schwer unterzubringen. Auf der anderen Seite aber bietet die Form der Novelle auch Möglichkeiten wie keine andere. »Denn für den Autor kann die Novelle die perfekte Länge sein, um ein fiktionales Universum zu betrachten, ohne das unweigerliche Verschwimmen des Fokus zu erleiden, den die große Linse des Romans notwendigerweise in den Prozeß einbringt. Eine Novelle erlaubt es dem Autor und, mit Glück, dem Leser tief in Charakterisierung, Setting, Thematik und gemächliches Erzählen einzusteigen, ohne die zusätzlichen Verunreinigungen wie Subhandlung, zusätzliche Charaktere, Kapitelunterbrüche und das unvermeidliche Nachlassen, das die Atmosphäre jedes Romans außer den besten verdunkelt. Eine Novelle verlangt, wie jede Kurzgeschichte, daß jeder Satz nein, jedes Wort mindestens doppelten Grund für seine Existenz hat.« (X, 4) Und in Lovedeath erweist sich Simmons als Meister dieser Langform der Erzählung. Gleichermaßen wie der Titel, mutet auch der Inhalt von »Entropys Bed at Midnight« zunächst rätselhaft und mysteriös an. Der Protagonist, Vertreter einer Autoversicherung, lebt von seiner Frau getrennt und hat nur noch gelegentlichen Kontakt zu seiner kleinen Tochter, die er sehr lieb hat. Anhand der Nacherzählung einiger absurder Autounfälle, die dem Mann im Lauf der Zeit bei der Behandlung von Versi41
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cherungsfällen begegnet sind, eröffnen sich dem Leser Rückschlüsse auf die Erlebnisse des Protagonisten. Diese sogenannten »orange files« benannt nach der Farbe des Ordners, in dem sie abgeheftet sind werden zum Sinnbild der Furcht des Mannes vor der allgegenwärtigen Entropie, die die zielgerichteten Anstrengungen der Menschen mit ihrem Sinn für chaotische Unfälle zunichte macht. Nach und nach erfährt man dabei, daß dieses zerstörerische, zufällige Element das Leben des Protagonisten zerstört hat. Als weiterer morbider Fall wird geschildert, wie ein Junge beim Absenken einer Hebebühne eines Lastwagens eine Kopfverletzung davonträgt und stirbt. Dieser Junge war der Sohn des Versicherungsvertreters. Doch die Geschichte endet versöhnlich. Durch den Kontakt mit seiner Tochter findet er zur Familie zurück. Er findet sich mit der Unberechenbarkeit des Lebens ab, arrangiert sich mit der Entropie. Der Titel der Geschichte rührt aus einem Mißverständnis, bei dem der Protagonist ein Shakespearezitat falsch widergibt und »Entropy« mit »Gravity« verwechselt. Und so gestaltet sich die Schlußszene der Geschichte, eine furiose Schlittenfahrt mit seiner Tochter, bei der er lernt, die Dinge gehen zu lassen, ungeachtet der Gefahren, zum Sinnbild der Überwindung dieses Mißverständnisses. Die Gravitation siegt über die Entropie, und beide gelangen wohlbehalten am Fuße des Berges an. Als der Phantastik zugehörig kann man diese Geschichte wirklich nicht bezeichnen. Aber dennoch mutet sie in ihrer dichten, komplexen Art auf eigentümliche Weise über die Realität hinausgehend an. Für »Death in Bangkok«, erhielt Simmons 1994 den Locusund den Bram Stoker Award. Es ist wohl für einen amerikanischen Schriftsteller obligatorisch, daß er auch einmal das große Trauma der USA, den Vietnam-Krieg, aufarbeitet. Simmons hat dies in dieser Geschichte getan. Hauptaugenmerk liegt jedoch auf einer anderen Thematik, der zeitliche und geographische Hintergrund dient da eher als exotische Ausmalung. Ort der Handlung ist Bangkok, das schon lange vor dem Einfall der Sextouristen eine »gute« Adresse für gewisse Unterhaltung war. Der Protagonist der Geschichte läßt sich von einem Kameraden auf seinem Fronturlaub in diese Freuden 42
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einführen. Doch schon bald erweist sich dieser Thrill als nicht mehr ausreichend, er ist reif für Stärkeres. In einem verborgenen Bordell der ganz besonderen Art werden sie Zeuge sexueller Perversionen, in deren Mittelpunkt eine mystische Schlangengottheit steht. Doch der Ausflug endet im Schrecken. Der Kamerad erholt sich von den Ausschweifungen nur schwer und wird schließlich ermordet. Daß diese Geschichte ebenfalls die einer großen Liebe ist, stellt sich erst zum Ende der Handlung heraus. Zwanzig Jahre später rächt der Protagonist, mittlerweile zu Reichturn als Arzt gelangt, seinen Freund auf ganz besondere Weise. Und wieder einmal läßt Simmons die Seuche AIDS auftreten; hier fungiert sie als eine ganz spezielle Art des Mordes. Die einzige reine SF-Story in dieser Sammlung ist »Flashback«. In ihr erfährt das Grundthema eine unaufdringlichere Bearbeitung. Im Zentrum der Geschichte jedenfalls steht eine Droge, die es dem Konsumenten ermöglicht, wie der Titel andeutet, Vergangenes wieder zu erleben. Und zwar nicht wie einen Traum, sondern in zeitlich gleicher Abfolge, nur vor dem geistigen Auge. Die Auswirkungen einer solchen Droge wären verheerend, und Simmons führt sie auch plastisch vor Augen. Immer mehr Menschen würden sich aus der augenblicklichen Wirklichkeit ausklinken, Unangenehmem ausweichen und sich statt dessen in schönen Erlebnissen verlieren. Neben den Effekten, die das auf die Gesellschaft als solche hat, würde dies eine Zerstörung vieler persönlicher Beziehungen mit sich bringen. Das Ermahnen einer Mutter an ihren Sohn, die Droge nicht zu nehmen, wirkt natürlich unglaubwürdig, wenn sie selbst, wann immer möglich, zu ihr greift. Daß ihr mißratener Sprößling aber Gewalterlebnisse nacherlebt, ahnt sie nicht. Immer öfter kommt es so zu scheinbar unmotivierten Morden, die auf Flashback-User zurückzuführen sind. Überhaupt gelingt es Simmons sehr anschaulich, eine amerikanische Gesellschaft zu schildern, die an der Droge zugrunde gegangen ist und von den Japanern und Mitteleuropäern aufgekauft wurde. Diese Demütigung kristallisiert sich in der Person des Großvaters jener Kleinfamilie. Sein privater Horror ist der qualvolle Tod seiner Frau an Krebs, und unbewußt sieht er sich bei seinen Flashbackerlebnissen immer wieder in der gleichen Rolle, als Bodyguard, der die Ermordung John F. Kennedys nicht verhindern konnte. Und das, obwohl er niemals eine solche 43
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Funktion innehatte. Die Ereignisse kulminieren schließlich, und die Flashbacksucht der drei Hauptcharaktere, die zunächst so verschieden anmuten, führt zu einer Katastrophe, die das vereinheitlichende Element der unheilvollen Droge dokumentiert. Lediglich dem Großvater bleibt in seiner Sterbeminute der Triumph, im Flashback das Attentat verhindern zu können. Der Autor läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß dies nur die Vollendung einer hilflosen Flucht ist. Die für mich stärkste Geschichte ist »Sleeping with Teeth Women«. Angesiedelt in der Zeit vor dem letzten großen Aufbäumen, schildert sie das Schicksal eines jungen Sioux, der zum Propheten des indianischen Volkes werden soll. Simmons gelingt es hervorragend, Details jener kämpferischen, aber auch auf eine Art freien Kultur mit einfließen zu lassen. Seine Abrechnung mit Dances with Wolves, dem der Autor, zu Recht, Scheinheiligkeit vorwirft, gelingt auf zweierlei Weise. Zunächst nimmt man Simmons ab, was er beschreibt. Bei ihm sind die Indianer Individuen und keine Abziehbilder einer weißen Projektion, im guten wie im schlechten. Dennoch erhält man den Eindruck einer fremden, undurchschaubaren Kultur. Fest macht sich das an dem Initiationsritus, den der Protagonist zu Beginn der Geschichte durchlaufen muß. Seine Vision von drei schönen Frauen mit Zähnen in ihrem Geschlecht, von denen eine jedoch die Rettung der indianischen Zivilisation bewirken kann, wenn sie erkannt wird, ist märchenhaft und doch kraftvoll. Und unmerklich wandelt sich diese Erzählung von einer ethnischen Studie mit Abenteuercharakter zu einer ganz speziellen Phantastik. Der Held der Geschichte sieht sich, aus seinem Stammesverband herausgerissen, auf eine Mission geschickt, die zu durchschauen er nicht in der Lage ist. Immer tiefer dringt er dabei in das Reich seiner Visionen ein und sieht sich schließlich vor die Entscheidung gestellt, die das Schicksal seiner Brüder bedingen wird. Über die Details in der Ausgestaltung jener Vision ließe sich streiten, ob nicht doch das eine oder andere Element vielleicht etwas zu plakativ geraten ist, insgesamt aber liefert Simmons mit »Sleeping with Teeth Women« ein überzeugendes Meisterstück einer Story, wie sie nur in Amerika geschrieben werden kann. Es wäre interessant zu erfahren, wie die geschilderten Indianerstämme die Geschichte aufgenommen haben. 44
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Seiner Vorliebe, authentische Literatur in seine Werke einzubinden, frönt Simmons schließlich in »The Great Lover«. Wieder ist der Krieg das Thema, und diesmal als zentrales Motiv. Die Geschichte umfaßt die in einem Tagebuch festgehaltenen Erlebnisse eines britischen Offiziers in den Schützengräben der Schlacht an der Somme, der diesen Terror überleben sollte und später ein großer Dichter wurde. Ein Schicksal, daß vielen seiner Künstlerkollegen nicht vergönnt war. Simmons gelingt es erschreckend gut, den Horror jenes ersten Krieges, der mit den modernsten Mitteln der industriellen Revolution geführt wurde und der doch so archaisch blutig ablief, zu schildern. Mit schwarzem Humor, wie er nur zu realistisch anmutet, berichtet der Protagonist von den verlustreichen Versuchen, die Front ein paar Meter weiter zu verschieben. Und inmitten dieses Terrors hat er Visionen von einer schönen Frau, die ihn immer dann heimsuchen, wenn sein Leben auf dem Spiel steht. Irgendwie kommt sie ihm bekannt vor, und er erinnert sich schließlich, sie auf einem Gemälde in seinem Vaterhaus gesehen zu haben, das den Titel »Liebe und Tod« hatte. Obwohl er nun zu wissen meint, daß sie sein Ende bedeutet, gibt er sich ihr hin. Die wahren Stärken dieser Erzählung liegen aber weniger in den phantastischen Elementen, fast will es einem erscheinen, daß sie lediglich Versatzstücke sind, um den Genreleser nicht vor den Kopf zu stoßen. Als fiktives, aber nur zu glaubwürdiges Dokument eines menschenzerreibenden Krieges, der einmal der große genannt wurde, bevor ein noch schrecklicherer folgen sollte, steht »The Great Lover« in der Tradition von Im Westen nichts Neues. Insgesamt hat Simmons mit dieser Novellensammlung sein bisher reifstes Werk vorgelegt. Man muß abwarten, wie seine Leserschaft die zunehmenden Ausflüge in den Mainstreambereich honorieren wird. Ich denke mir aber, daß er mit jedem Leser, den er so verliert, zwei neue gewinnt, die zum Beispiel Gefallen an den exotischen Settings seiner Geschichten haben. Daß er sich den Mainstreambereich erschließen kann, scheint mir auf absehbare Zeit nicht gegeben. Mit Fires of Eden (ursprünglich als Peles Fire angekündigt), erschien 1994 ein neuer Roman, der auf Hawaii spielt und die Sagen und Mythen der dortigen Urbevölkerung aufarbeitet.12 45
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Für die nächste Zeit hat Simmons angekündigt, ein drittes Hyperion-Buch zu schreiben mit dem Titel Endymion ebenfalls nach einem Gedicht von John Keats. Die Arbeiten an diesem Werk ziehen sich aber anscheinend hin, da der Autor schon 1991 erwähnte, an dem Buch zu schreiben. Ein interessantes Mainstreamprojekt ist ein Buch ganz anderer Art. Dabei geht es um Ernest Hemingway. Anhand tatsächlicher Ereignisse auf Kuba 1941 will Simmons einen Stoff schreiben, in dem Hemingway eine Geheimdienstorganisation gründet und Probleme mit dem FBI bekommt, weil er Informationen über dessen Zusammenarbeit mit den Nazis erhält. Was auch immer uns Dan Simmons in Zukunft präsentieren wird, es kann davon ausgegangen werden, daß es ein interessantes Werk sein wird, ungeachtet welcher literarischen Richtung man es zuordnen möchte oder auch nicht. ANMERKUNGEN: 1 In den drei Jahren, die sich Simmons um eine Veröffentlichung bemühte, stand er zweimal kurz vor dem Erfolg. Aber Ironie des Schicksals: Beide Magazine GALAXY und GALILEO , die Stories ankaufen wollten, gingen vor einer Veröffentlichung ein. 2 Eine Vorgehensweise, der sich Simmons auch in seinen späteren Werken gerne bedient. Wie überhaupt literarischen Bezügen in seinen Büchern große Bedeutung zukommt, wie gerade in der Besprechung der Hyperion-Bücher zu erörtern sein wird. 3 Bei uns wurde der Großteil dieser Collection, über viele verschiedene Anthologien verstreut, veröffentlicht. Vor kurzem ist nun endlich die Sammlung geschlossen bei Heyne herausgekommen. Nicht in dieser Sammlung erschienen sind nach (IV, 17/18) die beiden für GALAXY und GALILEO gedachten und bisher unveröffentlichten Kurzgeschichten, die Simmons noch einmal überarbeiten möchte. Eine davon ist »eine kurze Science Fiction Story mit Titel Bonus Baby es ist eine Art Meta-Fiction-Story über vergangene Cyberpunk-Ära«, sein gedachter Beitrag für die immer noch ausstehende Last Dangerous Visions-Anthologie sowie eine in Gary Raisors Anthologie Obsessions erschienene Geschichte. 4 Wobei man sich noch streiten könnte, ob jenes Werk überhaupt dem Horror zuzurechnen ist. Die Ausgangssituation um ein tödliches Virus, das aus einem Versuchslaboratorium freigekommen ist, ist nur zu real, also eher Science Fiction. Danach gerät der Roman von einer Endzeitschilderung immer mehr zur mystischen Fantasy. 5 Im Text werden Ereignisse erwähnt, die darauf schließen lassen, daß zumindest ein paar Jahrhunderte vergangen sind. Als konkrete Zahl tauchen Angaben wie »400 Jahre nach der Hegira« und genauer »900 Jahre nach Keats« auf. Letzteres würde die Handlung auf das Ende des 27. oder den Anfang des 28. Jahrhunderts legen. (Lebensdaten John Keats: 1795-1821) 6 Zu dieser Verlagspolitik und der Unterschiedlichkeit der beiden Bände meint Simmons: »Aber ich wußte, daß Hyperion eine lange Geschichte werden würde und es zwei Bände geben mußte. Natürlich wollte ich für die beiden Bücher verschiedene Stile wählen. Das erste Hyperion ist wie die Canterbury Tales erzählt; das zweite hat einen mehr konventionellen, linearen Stil. Also machte es mir nichts aus. Ich wünschte nur, daß man die Leute auf dem Titelbild besser auf diese Tatsache hingewiesen hätte, was bei der amerikanischen Ausgabe auch zunächst so war, dann aber kurzfristig geändert wurde.« (III) 7 Man muß diese Tatsache wohl eher als glücklichen Zufall bezeichnen, sind die anderen Beiträge doch von George R. R. Martin und vor allem Stephen King. Und nur so ist auch zu erklären, daß bislang lediglich dieser fünfte Band dieser
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Anthologienreihe bei uns erschienen ist. 8 Mit Pat Roberts ist ja auch schon seit längerem einer von ihnen als Präsidentschaftskandidat im Gespräch. Und es würde mich nicht wundern, wenn er es noch schaffen könnte. Ein Land, das einen drittklassigen Schauspieler zu den höchsten Ehren kommen läßt, schreckt auch vor einem solchen Schritt nicht zurück. 9 In den USA sind diese Art von Bücher, Trade Paperback genannt, sehr verbreitet. Bei uns heißen solche überformatigen Bücher Paperback, im englischen Sprachgebrauch meint dieser Begriff jedoch das normal-formatige Taschenbuch. Beide Bezeichnungsarten sind irreführend, da es sich immer um »Paperbacks« handelt, also geleimte Bücher mit einem Kartonumschlag. 10 Spontan fällt mir da George R. R. Martins Fiebertraum ein, ein köstliches Garn, in dem es Vampire in die USA verschlagen hat und dort eine Art Krieg zwischen der aufgeklärten Fraktion, die Menschen nicht behelligt, und der traditionell orientierten ausgetragen wird. Das Ganze spielt dazu noch auf dem Mississippi zur Zeit der Raddampfer, eine wirklich exotische Kulisse mitten in Amerika. Eine unbedingte Leseempfehlung! 11 Es ist daher wirklich kein Zufall, daß das Buch mit einer Flugzeuglandung beginnt, die der Protagonist als traumatisch empfindet, und mit einem befreiten, geistigen Flug endet. Thematisch hat sich der Kreis geschlossen. 12 Seit seinem ersten richtigen Urlaub seit langem, 1991, der ihn zu eben jenem 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten führte, zeigt sich Simmons von Hawaii begeistert. Seine Pläne, sich dort ein Ferienhaus zu bauen, dürfte er sich mittlerweile erfüllt haben. QUELLEN: I Dan Simmons: »Introduction to The River Styx Runs Upstream«, in Dan Simmons: Prayers to Broken Stones, Bantam Spectra, 1992 II Harlan Ellison: »Introduction«, in Dan Simmons: Prayers to Broken Stones, Bantam Spectra, 1992 III Jürgen Thomann/Matthias Hotmann: »Interview mit Dan Simmons auf dem HillCon II«, unveröffentlicht, 1991 IV Bob Morrish: »Dan Simmons an Interview by Bob Morrish«, in MIDNICHT GRAFFITI, Winter 1990/91 V Dan Simmons: »Introduction to Carrion Comfort«, in Dan Simmons: Prayers to Broken Stones, Bantam Spectra, 1 992 VI Dan Simmons: »Carrion Comfort«, in Dan Simmons: Prayers to Broken Stones, Bantam Spectra, 1992 VII Dan Simmons: Carrion Comfort, Heyne, 1993 VIII Gregory Feeley: »Children ot the Night and The Hollow Man«, Rezension in FOUNDATION 57, Frühling 1993 IX N.N.: »The Year of Dan Simmons«, Interview in LOCUS 350, März 1 990 X Dan Simmons: »Foreword«, in Dan Simmons: Lovedeath, Headline, 1993 Die Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden vom Autor dieses Artikels übersetzt. SEKUNDÄRLITERATUR: (in alphabetischer Reihenfolge der Autoren) Charles N. Brown/William G. Contento: Science Fiction, Fantasy & Horror: 1990, Locus Publications, 1991 Edward Bryant: »Children of the Night«, Rezension in LOCUS 379, August 1992 Edward Bryant: »The Hollow Man«, Rezension in LOCUS 380, September 1992 Edward Bryant: »Summer Sketches«, Rezension in LOCUS 381, Oktober 1992 Edward Bryant: »Lovedeath«, Rezension in LOCUS 394, November 1993 Edward Bryant: »Fires of Eden», Rezension in LOCUS 405, Oktober 1994 Dan Chow: »Hyperion«, Rezension in LOCUS 344, September 1989 John Clute: »True and Blushful Chutzpah«, in INTERZONE 38, August 1990 John Gute/Peter Nicholls: The Encydopedia ot Science Fiction, Orbit, 1993 Gregory Feeley: »Children of the Night and The Hollow Man«, Rezension in FOUNDATION 57, Frühling 1993 Thomas Harbach: »Carrion Comfort Ein Einstieg in den Horror von Simmons, Dan?«, in FANDOM NEWSLETTER 40, April 1991 Joachim Körber: »Dan Simmons Biographie« in: Joachim Körber: Bibliographisches Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur, Corian, März 1994
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Signe Kurde: »Göttin des Todes«, Rezension in: Franz Rottensteiner/M. Koseler (Hrsg.): Werkführer durch die utopisch-phantastische Literatur, Corian, Januar 1994 Garsten Kuhr: »Göttin des Todes«, Rezension in SCIENCE FICTION MEDIA 83, April 1991 Garsten Kuhr: »Sommer der Nacht«, Rezension in SCIENCE FICTION MEDIA 94, März 1992 Garsten Kuhr: »Horror goes real: Dan Simmons Kraft des Bösen«, Rezension in SCIENCE FICTION MEDIA 107, April 1993 Armin Möhle: »In der Schwebe«, in ANDROMEDA NACHRICHTEN 150, Mai 1994 Faren Miller: »Hyperion«, Rezension in LOCUS 344, September 1989 Faren Miller: »The Fall of Hyperion« in LOCUS 349, Februar 1990 Faren Miller: »The Hollow Man«, Rezension in LOCUS 375, April 1992 Faren Miller: »Lovedeath«, Rezension in LOCUS 394, November 1993 Faren Miller: »Fires of Eden«, Rezension in LOCUS 404, September 1994 Bob Morrish: »Dan Simmons An Interview by Bob Morrish«, in MIDNIGHT GRAFFITI, Winter 1990/91 N.N. »The Year of Dan Simmons«, Interview in LOCUS 350, März 1990 N.N. »Born-Again Vacationist«, Interview in LOCUS 365, Mai 1991 N.N. »Hangin Around the Ruins«, Interview in LOCUS 401, Juni 1994 Harald Pusch: »Sommer der Nacht«, Rezension in SCIENCE FICTION TIMES IM/92, 1992 Jürgen Thomann: »Mystische Ausblicke vom Rande des Trivialen Ein neuer Titan der SF betritt den Ring Ein Blick auf Dan Simmons preisgekrönten Roman Hyperion«, in FANDOM NEWSLETTER 38, Februar 1991 Jürgen Thomann: »Göttin des Todes«, Rezension in FANDOM NEWSLETTER 42, 1991 Jürgen Thomann: »Kinder der Nacht«, Rezension in BLIZZ 29, Januar 1994 Jürgen Thomann: »Das leere Gesicht«, Rezension in ANDROMEDA NACHRICHTEN 154, Februar 1995 Uwe Vöhl: »Phantom der Nacht: Dan Simmons«, in ORGASMIC NIGHTMARE 5, Oktober 1993 Janeen Webb: »The Hunting of the Shrike. A Tale in Two Parts: Hyperion and The Fall of Hyperion«, in FOUNDATION 51, Frühling 1991 Tom Whitmore: »Hyperion«, Rezension in LOCUS 344, September 1989 Tom Whitmore: »The Fall of Hyperion«, Rezension in LOCUS 351, April 1990 Tom Whitmore: »The Hollow Man«, Rezension in LOCUS 375, April 1992 Scott Winnett: »The Hollow Man«, Rezension in LOCUS 375, April 1992 Andreas Wolf: »Draculas Sohn: Dan Simmons Kinder der Nacht«, Rezension in SCIENCE FICTION MEDIA 113, Oktober 1993 Gary K. Wolfe: »The Hollow Man«, Rezension in LOCUS 376, Mai 1992 Nicht vorliegend, aber nachgewiesen: Edward Bryant: »Writer of the Year: Dan Simmons«, in Robert Collins/Robert Latham (Hrsg.): Science Fiction & Fantasy Book Review Annual 1990, Greenwood, 1991 Robert Collins: »Dan Simmons: New Frontiers in the Cult of Violence«, in FANTASY REVIEW, Oktober 1986 John Gilbert: »Poetic Justice: Dan Simmons Interview«, Interview in FEAR!, Mai 1990 John Gilbert: »First Dan«, in DARK HORIZONS 32, 1991 Maureen Harrington: »Award Winning Author Saves Excitement for the Books«, in DENVER POST, September 10, 1990 und in NEWBANK. LITERATURE 105, 1990 Darrell Schweitzer: »A Conversation with Dan Simmons«, in CEMETARY DANCE, Sommer 1992 DAN SIMMONS-BIBLIOGRAPHIE: Kurzgeschichten: Die Einzelveröffentlichungen, die später in den Sammlungen nochmals veröffentlicht wurden, werden mittels eines Kürzels entsprechend kenntlich gemacht. Sammlungen: Prayers to Broken Stones (1990) |PBS] (Styx, Heyne, 1995) Lovedeath (1993) [LD] (Liebe und Tod, Heyne, 1995) Einzelveröffentlichungen:
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»All Draculas Children«, in The Ultimate Dracula, 1991 (»Draculas Kinder«, in Das Beste von Dracula) Banished Dreams (1990) »Carrion Comfort«, in OMNI MAGAZINE, Sept.-Okt. 1983 [PBS] »The Counselor«, in Gary Raisor: Obsessions, 1991 »The Death of the Centaur«, 1990 [PBS] »Determine Your Censorship Quotient«, in GAUNTLET, 1990 »Dying in Bangkok«, in OMNI MAGAZINE, 1992; als »Death in Bangkok« [LD| »Dying Is Easy, Comedy Is Hard«, mit Edward Bryant, in Martin Greenberg (Hrsg.): The Further Adventures of the Joker, 1990 »E-Ticket to Namland«, in OMNI MAGAZINE, November 1987 [PBS] Entropys Bed at Midnight, 1990 [LD] »Eyes I Dare Not Meet In Dreams«, in OMNI MAGAZINE, September 1982 [PBS] (»Alptraumaugen, die ich fürchte«, in Heyne Jahresband 1994, Heyne, 1994) »Flashback«, 1993 [LD] »The Great Lover«, 1993 [LD] »Iversons Pits« in Douglas E. Winter (Hrsg.): Night Visions5, 1988 [PBS] (»Iversons Gruben«, in Douglas E. Winter [Hrsg.]: Nachtvisionen, Heyne 1990) »Metastasis«, in Douglas E. Winter (Hrsg.): Night Visions 5, 1988 [PBS] (»Metastasis«, in Douglas E. Winter [Hrsg.]: Nachtvisionen, Heyne 1990) »My Private Memoirs of the Hoffer Stigmata Pandemic«, in J. N. Williamson (Hrsg.): Masques IV, 1991 (»Meine persönlichen Erinnerungen an die Kainsmale der Hofferschen Epidemie«, in Robert Vito [Hrsg.]: Das große Horror Lesebuch II, Goldmann, 1993) »The Offering«, Fernsehskript von »Metastasis«, 1989, aufgeführt in Monsters, 1990 [PBS] »Remembering Siri«, in ISAAC ASIMOVS SCIENCE FICTION MAGAZINE, Dezember 1983 [PBS] »The River Styx Runs Upstream«, in ROD SERLINGS THE TWILIGHT ZONE MAGAZINE, April 1982 [PBS] »Shave and a Haircut, Two Bites«, in J. N. Williamson (Hrsg.): Masques III, 1989 [PBS] »Sleeping with Teeth Women«, 1993 [LD] »This Years Class Picture« (1993) (»Das diesjährige Klassenfoto«, in Robert Vito [Hrsg.]: Das große Horror Lesebuch III, Goldmann, 1994) »Two Minutes Forty-Five Seconds«, in OMNI MAGAZINE, 1988 [PBS] (»Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden«, in Joachim Körber [Hrsg.]: Horror vom Feinsten 2, Heyne, 1993) »Vanni Fucci is Alive and Well and Living in Hell«, in Douglas E. Winter (Hrsg.): Night Visions 5, 1988 [PBS] (»Vanni Fucci lebt in der Hölle«, in Douglas E. Winter [Hrsg.]: Nachtvisionen, Heyne 1990) »Vexed to Nightmare by a Rocking Cradle«, in HIGH FUTURES, 1985 [PBS] Romane: Song of Kali (1985) (Göttin des Todes, Heyne, 1991) Carrion Comfort (1989) (Kraft des Bösen, Heyne, 1993) Phases of Gravity (1989) (In der Schwebe, Heyne, 1994) Hyperion (1989) (Hyperion, Heyne, 1991) The Fall of Hyperion (1990) (Das Ende von Hyperion, Heyne, 1993) Summer of Night (1991) (Sommer der Nacht, Heyne, 1992) Children of the Night (1992) (Kinder der Nacht, Heyne, 1993) The Hollow Man (1992) (Der hohle Mann, Heyne, 1994) The Fires of Eden (1994) (Die Feuer von Eden, Goldmann 1997) Sonstige: Going After the Rubber Chicken (1991) Summer Sketches (1992) Copyright © 1996 by Jürgen Thomann
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INTERVIEW
Den Waschbären kosten
Ein Gespräch mit Dan Simmons von Stan Nicholls
»Die beste Science Fiction hat eine echte Verbindung mit unserer menschlichen Natur und reifen Erfahrung«, glaubt Dan Simmons. »Als ich noch Lehrer war, erkannte ich, daß man immer die aufgewecktesten vorpubertären oder frühen Jugendlichen herausfinden konnte, indem man fragte: Wer liebt Science Fiction?« Im Alter von sieben liebte Simmons selbst bereits SF so sehr, daß er auf der alten Schreibmaschine seines Vaters stokkend seine eigene tippte. »Ich erinnere mich besonders an das Hochgefühl, diese erste Science Fiction-Story zu tippen. Ich brachte sie meiner Lehrerin der dritten Klasse und sagte: Dies ist eine Erzählung, wie ein Trip zum Mond sein wird. Sie informierte mich ganz vernünftig darüber, daß der Mensch nie zum Mond fliegen würde. Es würde nicht geschehen. Bedaure. Wenn ich jetzt in eine Grundschule eingeladen werde und soll den Kindern erzählen, wie man Schriftsteller wird, sage ich gewöhnlich: Schreib für die anderen Kinder. Zeig es nicht den Lehrern. Denn in der vierten Klasse, das war im Alter von acht oder neun Jahren, schrieb ich mit der Hand eine Story und ließ sie unter meinen Schulkameraden herumgehen. Ich nehme an, sie mein Werk lesen zu sehen hat mich festgehakt an der Idee, Schriftsteller zu sein.« Damals erkannte er es nicht, sieht aber jetzt, daß das auch einen mündlichen Aspekt hatte. »Ich bin immer an Komikern wie Bill Cosby interessiert gewesen, der in der Innenstadt von Philadelphia aufwuchs, wo ich eine Zeitlang Lehrer war. Er war nicht robust genug, um ein harter Kerl zu sein, nicht schnell genug, um ein Sportler zu sein, so wurde er die Person, die andere zum Lachen brachte, statt einer, auf der sie herumtrampeln konnten. In meinem Fall war ich es, der die phantasievolle Grundlage präsentierte für das, was wir spielen wollten, ob es Cowboy, Soldat oder was auch immer war. Ich lieferte den Hintergrund, in TV-schriftlicher Ausdrucksweise 50
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gab ich ihnen die Bibel. In dem Sinne war ich schon von früh an ein Geschichtenerzähler. Ich bin noch nie einem Schriftsteller begegnet, der nicht von Kindheit an ein unersättlicher Leser war. Es war dasselbe bei mir. Die Schatzinsel war das erste wirkliche Buch, das ich im Alter von sechs Jahren zu lesen versuchte. Ich erinnere mich auch daran, daß ich einen Science Fiction-Roman von A. Bertram Chandler las, den mein älterer Bruder herumliegen ließ. Er enthielt eine Szene, bei der sich jemand in der Schwerelosigkeit übergab, und von dem Moment an wußte ich, daß dies eine Fiction war, die mir gefiel!«
Nach Abschluß seiner Ausbildung dem Erwerb eines Bakkalaureus der philosophischen Fakultät in Englisch am Wabash College, Indiana, und eines Masters in Pädagogik an der St. Louis Washington Universität vernachlässigte er Genre-Fiction eine ganze Weile. »Ich las jahrelang keine phantastische Literatur«, erinnert er sich, »außer ein wenig Stephen King, der damals gerade erschien und ein ziemliches Phänomen war. Erst als ich versuchte, selbst veröffentlicht zu werden, begann ich wieder Science Fiction zu lesen.« Er fand eine Anstellung beim amerikanischen öffentlichen Schulsystem, unterrichtete Kinder auf der Grundschulstufe und wurde später an einem innovativen Programm beteiligt, das dafür gedacht war, begabte Kinder zu fördern. »Die einzige Inspiration, auf die ich in der Zeit meiner Lehrertätigkeit verweisen kann, war die, einer Klasse von Kindern während eines ganzen Schuljahrs täglich eine halbe Stunde lang eine Story zu erzählen. Das waren 182 Tage. Es war eine epische Geschichte, so lang, so kompliziert, und durch ihr mündliches Erzählen so sehr entwickelt und gestaltet, daß es eine denkwürdige Erfahrung für mich war, und ich hoffe auch für die Kinder, die daran teilhatten. Meine beiden großen Science Fiction-Romane, Hyperion und Das Ende von Hyperion, sind tatsächlich Fragmente dieser Science FictionGeschichte, die ich den Kindern erzählte.« War dies der Ursprung seines Romans, der den Hugo Award gewann? »Er war es tatsächlich. Es wurden bestimmte Ereignisse erwähnt, die später Hyperion formten, aber sie waren nur ein winziger Teil eines sehr großen Gobelins. Und mich freut, daß außer dem Material, das ich später für Hyper51
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ion verwertete, alles dahin ist. Als die Kinder am Ende des Schuljahrs gingen, war es vorbei. Ich habe zwar damit begonnen, es niederzuschreiben. Ich kam bis zu dreihundert handschriftlichen Seiten, aber ich erkannte, daß es mindestens fünftausend Seiten werden würden, und gab auf; so beließ ich es einfach als das, was es war; eine Geschichte, die nur die Kinder in ihrer Gesamtheit kennen werden. Wissen Sie, sie waren rabiate Redakteure und wiesen auf jeden Irrtum des Zusammenhangs hin. Sie entdeckten, daß eine Figur eine rote Baskenmütze trug, als wir sie das letzte Mal erwähnten etwa vor drei Monaten und jetzt eine grüne. Wir hatten in der ganzen Klasse Tabellen, wir hatten Diagramme, wir hatten Listen der Figuren und Zeichnungen von ihnen, die ich für die Kinder anfertigte; wir hatten eine sich rund um den ganzen Raum erstreckende Landkarte, die den Spuren dieser Figuren auf ihrer Odyssee folgte. Es war ein Riesenspaß.«
In der Zeit der späten 1970er legte Simmons Science FictionMagazinen Stories vor. »Galileo« nahm eine an, scheiterte jedoch, bevor es zu einer Veröffentlichung kam, und dasselbe geschah bei »Galaxy«. »Ich erkenne jetzt, was ich für ein Schwächling war, daß ich mich durch ein paar Ablehnungen und die Tatsache, daß ich zwei meiner liebsten Zeitschriften umbrachte, entmutigen ließ. Es bedurfte nicht viel, mich auf den Gedanken zu bringen, ich könnte keinen Erfolg haben. Heute würde ich jedem den Rat geben, beharrlich zu sein, auch wenn man alle Zeitschriften umbringen muß. Ich versuchte Artikel an The Atlantic Monthly zu verkaufen und erhielt einen netten Brief, der besagte: Dies ist wirklich gut, aber ein wenig zu lang für unseren Bedarf. Warum versuchen Sie es nicht bei The Nation? Ich bekam ziemlich gute Signale, aber damals wollte ich einfach nur veröffentlicht werden und fand alles entmutigend, was nach Ablehnung schmeckte. Aber man muß realistisch sein, und man muß entschlossen sein. Das ist es, was letztendlich die Schriftsteller von den Nichtschriftstellern trennt. Ich stimme der Theorie zu, daß kein verdientes Werk der Literatur unveröffentlicht bleibt. Ich glaube nicht, daß große Meisterwerke in zu vielen Schubladen liegen. Die Leute, die qualifiziert schreiben, werden frü52
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her oder später veröffentlicht.« Enttäuscht von seinen vergeblichen Versuchen, gedruckt zu werden, beschloß er, seine Schreib-Ambitionen aufzugeben. Und um auf diese Weise seinen schriftstellerischen Bestrebungen ein letztes Lebewohl zu sagen, besuchte er einen sechstägigen Schriftsteller-Workshop in Colorado, wo er Harlan Ellison und Ed Bryant begegnete, die ihn ermutigten, es weiter zu versuchen. »Harlan und auch ich zitieren die Zusammenkunft, versuchen sie zu epischen Proportionen aufzupumpen, und es war sehr dramatisch. Aber alles, was Harlan tut, ist sehr dramatisch. Wenn ich ihn Leuten erzählen höre, daß er mich entdeckt hat, erinnere ich ihn stets daran, daß ich wußte, wo ich mich befand. Dies ist wie Kolumbus, der Amerika entdeckt, wissen Sie? Ich war ein Indianer, und wir kannten unsere Gegend ringsumher, bevor Sie ankamen, vielen Dank. Aber er hat mich entdeckt. Er war es, der sagte, ich müßte weiterhin schreiben.« Tatsächlich schwor Ellison in Bezeigung der Art von Untertreibung, für die er bekannt war, ihm »persönlich den Kopf abzureißen«, falls Simmons daran dächte, aufzugeben. »Das war etwa so diplomatisch, wie er manchmal sein kann. Ich nahm diese Drohung ziemlich ernst, denn obwohl ich ihn erst seit ein paar Tagen kannte, wußte ich doch, daß eine Drohung von Harlan niemals leer ist. Aber ich verstand, daß er tatsächlich meinte, daß Schreiben eine Unumgänglichkeit war und mir keine andere Wahl blieb. Neben der Bemerkung lch reiße Ihnen den Kopf ab, wenn Sie nicht schreiben hielt er aus dem Stegreif eine wunderbar überzeugende Rede obwohl ich sicher bin, daß er sie irgendwo mit jemandem einstudiert hat , die im wesentlichen davon handelte, daß Schriftsteller ihren Weg unbeirrt fortsetzen müssen. Er sagte auch, daß dies seinen Preis habe, daß es einen sozusagen das kostet, was man im Leben tun will. Der zu zahlende Preis ist, daß alles neben dem Schreiben an zweiter Stelle kommt. Er hatte recht.« Nach der Zusammenkunft in Colorado hatte Ed Bryant die Aufgabe, einen Workshop für Science Fiction-Schriftsteller in Milford zu leiten, und bat Simmons, teilzunehmen; es war das erste Mal, daß ein unveröffentlichter Schriftsteller jemals eingeladen worden war. »Ich war damals zu naiv, um zu wissen, welche Ehre das bedeutete. Es war einer der letzten Milford 53
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Workshops; sie haben seitdem keinen weiteren gehabt, und ich verbrachte eine Woche damit, Science Fiction-Schriftsteller vom Kaliber wie Ellison, Bryant, George R. R. Martin und Connie Willis kritisch zu besprechen und von ihnen kritisch besprochen zu werden. Es war eine unglaubliche Erfahrung, eine fruchtbare Erfahrung für mich.« Es war hart. »Oh, unglaublich. Aber ich wußte, was gute Fiction war. Ich spürte das wirklich. Ich bin vielleicht nicht imstande, einen guten Wein zu erkennen, aber ich wußte immer, wann ich etwas Gutes oder nicht so Gutes las. Indem ich nun denselben Zollstock benutzte wie bei allem, was ich las, war ich zumindest in einem gewissen Ausmaß imstande auszudrücken, warum ein Text gut war oder wo er verbessert werden könnte. Ich habe das immer bei meinem eigenen Schreiben getan. Darum ist mein eigenes Schreiben so enttäuschend für mich gewesen.« Soll das heißen, daß er ein Perfektionist ist? »Ich glaube nicht, daß es eine Sache der Perfektion ist. Es ist eine Sache der Mindestanforderungen. Die Mindestanforderung für Fiction sollte sehr, sehr hoch sein. Ich weiß, warum und wo ich mich enttäusche. Gewiß neige ich dazu, auf meine Apfelsinenkiste zu springen, wenn jemand sagt: Nun, es ist ja nur Science Fiction, auf diesem Gebiet können wir die Anforderungen senken. Zum Beispiel im Sinn von Charakterzeichnung! Ich meine, daß ist einfach nicht akzeptabel.« Er gibt zu, daß sich die Charakterzeichnung in der SF sehr verbessert hat, sieht sie jedoch im Vergleich zur MainstreamFiction immer noch dahinschlurfen. »Ich glaube nicht, es ist genug zu sagen: Jetzt haben wir das Richtige getan, denn die Raumschiff-Captains und die Hälfte der Soldaten sind Frauen. Das ist für mich Spiegelfechterei. In den TV-Folgen Los Angeles Law ist jeder Richter bei jeder Gerichtsverhandlung entweder schwarz oder eine Frau, und es kostet die Produzenten nichts. Ich bin sicher, Sozialhistoriker werden in zweihundert Jahren unsere TV-Sendungen und Kinofilme ansehen und sich sagen, ist doch merkwürdig, daß damals in Amerika jeder Polizeirevier-Captain ein Schwarzer war. Ich bin an der Art von Charakterisierung interessiert, die die Figuren lebendiger werden läßt als die meisten wirklichen Menschen, die wir kennen. Ich glaube, während wir reden, geht irgendwo Huckleberry Finn den Fluß entlang, und ich würde gern ähnliche Charakterzeichnungen in der Science Fic54
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tion sehen. Es gibt zu wenig davon. Man kann an Ursula K. Le Guins Planet der Habenichtse denken und so weiter, ein paar Figuren stehen eisern da und kümmern sich um den Rest des Gobelins. Aber es gibt nicht genug.« Sieht er seine eigenen Figuren im Besitz derselben unabhängigen Existenz wie Huckleberry Finn? »Ja und nein. Sagen wir, eine Figur funktioniert für mich nur, wenn ich sie komplex genug erschaffe, daß ich nicht weiß, was er oder sie tun wird. Es ist zu einfach zu sagen, daß die Figuren lebendig werden, sich auf den Weg begeben und Dinge eigenmächtig tun. Das tun sie nicht. Aber sie haben Geheimnisse und Verschwiegenheiten, nach denen ich forschen und graben muß. Ich muß tatsächlich manchmal aufhören zu schreiben, weil ich sehe, daß eine Figur nicht ganzheitlich genug ist und man nicht all die Ecken und Kanten kennt. Ich glaube, es ist zu einfach, wenn man sich in der Science Fiction mit der Figur des Soldaten begnügt, mit der Figur des Raumschiff-Captains, mit welcher Figur auch immer. Ich bewundere Cyberpunk sehr, aber oft sind dort die Charaktere für mich eine Art jugendliche Wunscherfüllung.«
Die Milford-Erfahrung schien funktioniert zu haben, denn innerhalb von ein paar Monaten wurden Simmons Stories veröffentlicht. Die erste, The River Styx Runs Upstream, erschien in »Twilight Zone«, das anständig genug war, nicht zusammenzuklappen, bevor es sie brachte. The River Styx war Mitgewinnerin des jährlichen Kurzgeschichten-Wettbewerbs des Magazins und schlug zehntausend andere Vorlagen. Längere Stories erschienen in »Asimovs« und »Omni«, in letzterer die für den Nebula Award nominierte Kraft des Bösen. Er hat heutzutage wenig Zeit, Kurzgeschichten zu schreiben, bewahrt jedoch eine Vorliebe für diese Form. »Ich liebe die Kurzgeschichte absolut. Ich liebe die Tatsache, daß man dabei kein Wort vergeuden kann. Ich liebe ihre Feinheit. Es gibt immer noch Schriftsteller, die ich hauptsächlich in der kurzen Form vorziehe, wie John Updike, den ich in der Langstrecke nicht zu mir nehmen kann. In der Wildnis von Süd-Illinois gibt es eine besondere Art von Sport, Waschbären zu jagen. Aber die Jäger gehen nicht auf die Jagd; sie sitzen um ein Lagerfeuer und trinken, während die Hunde die ganze Nacht hindurch die Waschbären 55
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aufstöbern. Eine weise Erfahrung besagt, daß man niemals einen Hund Waschbärenfleisch versuchen lassen darf, denn wenn das einmal der Fall war, bringt er die Beute viel schneller zur Strecke. Man kann einen Waschbären-Hund verderben, indem man ihn Waschbärenfleisch kosten läßt. Ich glaube, wenn man einen Roman schreibt, ist das so ähnlich. Wenn man erst einmal davon gekostet hat, wird man verändert. Wenn man imstande ist, einen Stoff auf Romanumfang zu bringen, ist es schwer, zu Kurzgeschichten zurückzukehren, wenn man nicht gewaltige Selbstdiziplin besitzt. In erster Linie fühlte ich mich zu Science Fiction hingezogen durch die Kurzgeschichten in Magazinen wie Galaxy, die sich damals mit ziemlich interessanten sozialen Fragen befaßten. Mein hungriger, halbwegs entfalteter Geist konnte nirgendwo sonst Stories finden, die solche Themen behandelten. Aber ich konnte zum Beispiel etwas wie Gravy Planet begreifen. Als ich diese Story las, begann ich Ökonomie zu verstehen, und daß der Kapitalismus vielleicht doch nicht so großartig war, wie ich ihn einschätzte. Es ist wunderbar, daß es immer noch einen blühenden Markt für kurze Science Fiction gibt, und das ist besonders für die beginnenden Schriftsteller schön. Andererseits gebe ich nichts auf den Rat von vielen Fachleuten an junge Schriftsteller, zuerst einen Roman zu schreiben. Kurzgeschichten und Romane sind völlig unterschiedliche Medien. Bei der Kurzgeschichte gibt es einen intensiven Lernprozeß.«
Nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit des Schreibens von Stories wandte er sich Romanen zu. Sein Erstling, Song of Kali (dt. Göttin des Todes), war einzigartig darin, als erster Erstlingsroman den World Fantasy Award zu gewinnen (1986). Göttin des Todes schildert einen Journalisten, der zusammen mit seiner Frau und Tochter im Babyalter in der Suche nach einem berühmten Dichter nach Kalkutta reist. Jeder glaubt, daß dieser alte Mann tot ist, aber es tauchen Texte auf, die neuere Proben seines Werkes sein müssen. Dieses Geheimnis wird von einer Fantasyschicht überlagert, die von dem KaliTotenkult handelt, der immer noch im geheimen existiert, obwohl er vermeintlich in den 1850ern von den Engländern ausgemerzt wurde. Göttin des Todes wurde als Horror-Roman veröffentlicht. 56
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Aber so hatte Simmons es eigentlich nicht gesehen. »Ich wußte, das Plot war ins Übernatürliche gesteigert, jedenfalls an den Rand des Übernatürlichen, aber ich habe mir auch große Mühe gegeben sicherzustellen, daß nichts offensichtlich übernatürlich darin war. Alles in Göttin des Todes kann erklärt werden. Es wurde als Horror-Roman vermarktet, was mich nicht sonderlich begeisterte, und gewann den World Fantasy Award, was mich wirklich veranlaßte, mich am Kopf zu kratzen. Der Preis freute mich natürlich besonders, denn so wenige Leute hatten das Buch gelesen. Es erschien und verschwand, wie es bei den meisten ersten Büchern von Autoren der Fall ist, aber der Preis war wenigstens eine feste Sache: ich konnte ihn ab und zu anfassen, und so wußte ich, daß ich ein Buch geschrieben hatte.« Eine der Leistungen des Romans ist seine Darstellung von Kalkutta als einem Kessel von quälender Verzweiflung und Brutalität. Aber er ist mehr als nur ein normaler finsterer Thriller. Er nimmt Stellung zu der Bedrohung durch Gewalt in der modernen Welt und unserer offensichtlichen Bereitwilligkeit, sie zu tolerieren. »Ich verbrachte im Jahre 1977 einen Sommer damit, in Indien zu reisen«, sagte er, »als Lehrer einer Fulbright Fellowship. Ich hielt mich nur ein paar Tage in Kalkutta auf, aber viele der Dinge in dem Buch hatte ich in verschiedenen Teilen des Landes unmittelbar gesehen und gehört. Ich hatte es nicht als Roman geplant, ich war noch nicht bereit, einen zu schreiben. Ich wollte eine Kurzgeschichte schreiben, kürzte es auf diese und jene Weise. Schließlich gab ich auf und erkannte, daß ich es als ein Buch schreiben mußte.« Ein Buch mit einem überraschenden Schluß. Sein Held widersteht unter Hinwegsetzung über die Tradition populärer Fiction der Gelegenheit, Rache für ein schreckliches Unrecht zu nehmen, das ihm und seiner Familie zugefügt wurde. Er weigert sich, zu dem ihn umgebenen sinnlosen Zyklus der Gewalt beizutragen. »Die Tragödie, die den Schluß bildet, hat mich mehr als jedes Interesse, meine Eindrücke von Indien mitzuteilen, zum Schreiben des Buches bewogen. Bis ich jedoch zu dem Teil des Buches kam, wollte ich inzwischen den Schluß nicht mehr, besonders, da die Tragödie einem sieben Monate alten Kind zustößt und meine Tochter zu 57
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der Zeit auch sieben Monate alt war. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich die Szene schreiben mußte, in der das Kind stirbt. Ich machte mir einen freien Tag, ging in die Berge hinauf, kletterte den ganzen Tag umher und dachte mir Schlüsse aus, die befriedigender sein könnten; Schlüsse, die befriedigender als Formeln waren, und von denen ich wußte, daß sie befriedigender für meine Leser sein würden. Dann kam ich zurück und schrieb die letzten drei Kapitel auf die Weise, wie ich sie mir ursprünglich vorgestellt hatte. Ich habe das seitdem immer getan, wenn eine Figur sterben mußte. Ich gehe fort, denke nach und warte ab, was geschieht. Gelegentlich ändere ich die Dinge daraufhin, aber in diesem Falle wußte ich, es mußte auf diese Weise sein.« Das Jahr 1989 brachte Simmons eine hohe Erfolgskurve mit drei in rascher Folge veröffentlichten Romanen. »Ich war nicht begeistert, daß drei meiner Bücher so kurz hintereinander erschienen, gelinde gesagt. Mehrere Jahre lang versuchte ich, die Veröffentlichung von Carrion Comfort (dt. Kraft des Bösen), dem aus der in Omni erschienenen Story erweiterten Roman, in gebührender Form zu erreichen. Alles wäre zeitlich schön eingeteilt gewesen, wenn ich dem zugestimmt hätte, was ich als die Kompromisse betrachte, die die Verleger bei diesem Buch machen wollten. Ich gab die Lehrtätigkeit auf, hatte ein paar Verträge und war im Begriff, freier Schriftsteller zu werden. Dieses Ereignis führte dazu, daß ich zwei Jahre ohne Einkommen verbrachte; ich mußte Kraft des Bösen tatsächlich vom Verleger zurückkaufen, weil er es kürzen wollte. Dann wollten sie den Roman in zwei oder drei Bänden herausbringen und alles mögliche tun, das ihn verletzt hätte. So gab ich meine ganzen Ersparnisse aus und kaufte das Buch zurück. Die schließlich erschienene Ausgabe, wie unvollkommen auch immer, hatte die von mir gewünschte Form. Es klappte ganz gut.« Kraft des Bösen handelte wieder von Gewalt. Es dreht sich um eine Gruppe alter Leute, die sich zu einem jährlichen Treffen versammeln. Sie scheinen harmlos zu sein, sind aber tatsächlich überlebende Leiter der Nazi-Todeslager und besitzen psychische Kraft, die sie befähigt, andere zu beherrschen. In diesem Fall war die Bezeichnung Horror angemessen. »Ja, es war ein Horror-Roman; er besaß echt schreckliche Aspekte. Er enthielt Elemente, die in gewissem Sinne als übernatürlich ausgelegt werden können, wenn Menschen andere Menschen 58
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mental beherrschen. Man könnte ihn auch als Science Fiction betrachten; Telepathie und Beherrschung des Geistes, wissen Sie? In erster Linie war es ein Roman von Aktion, Abenteuer und Spannung. Ich war zufrieden mit Kraft des Bösen in seiner Form als Kurzgeschichte, aber der Stoff kam immer wieder zu mir zurück. Ich dachte weiterhin über die Figuren nach, besonders die der Melanie Fuller, diese nette 78 Jahre alte Dame, in Wirklichkeit ein entsetzliches Monster, die dort sitzt und strickt, während sie diese mentalen Wellen aussendet, um zu morden. Sie war die Person, die wirklich absolute Macht über andere hatte. Daher blieb sie bei mir. Ich wußte jedoch nicht, wie umfangreich diese Story werden würde. Sie beherrschte anderthalb Jahre lang mein Familienleben. In einem Maße, daß man sagen kann, die Kraft des Bösen beherrschte mich und meine Frau. Es war eine schreckliche Zeit. Alles wurde der Entstehung des Buches geopfert. Es war gewiß die intensivste Erfahrung des Schreibens, die ich jemals machte.«
Phases of Gravity (dt. In der Schwebe) kam als nächstes, ein 1987 veröffentlichter Mainstream-Roman. Er schildert einen ehemaligen Apollo-Astronauten, der sich einigen unschmackhaften Wahrheiten seines Lebens gegenübersieht, wie es seit dem berauschenden Hurra des Raumprogramms verlaufen war. »Das Buch war geschrieben, aber ich war nicht so ganz zufrieden damit. Ich wußte, es fehlte etwas. Dann explodierte Challenger, und ich schrieb es um. Als ich schließlich die philosophischen Wanderungen der Hauptfigur in der Wüste mit dem Suchen der NASA nach dem Spalt in dem Raumtransporter in Übereinstimmung gebracht hatte, fing es an, Sinn zu ergeben.« Simmons denkt, die Verpackung des Romans vermittelt den falschen Eindruck von seinem Inhalt. »In der Schwebe ist keine Science Fiction. Der Roman handelt davon, was als langweiligste Sache der Welt erscheinen muß: die Midlife-Crisis. Für mich war es aufregend, denn die Figur ist die sensibelste, die ich geschaffen habe, und übertrifft meine eigenen Sensibilitäten, wenn das möglich ist. Zweitens befaßte ich mich mit philosophischen Fragen, die ich wichtig fand. Das ganze Leben meines Helden war eine 59
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Simulation gewesen. Auch die Mondlandung, die er vor 14 Jahren erlebte, war nur eine Simulation. Aber wozu? So ist er im Alter von etwas über 50 philosophisch bankrott und wandert umher bei dem Versuch, einen Platz zu finden, um noch einmal von vorn anzufangen. Das ist nicht, was einen Science Fiction-Leser anziehen könnte.« Was SF-Begeisterte anzieht, findet nicht immer Simmons Beifall. »Ich war einmal auf einer kleinen Science Fiction-Convention und wohnte einer Diskussionsrunde bei, in der sie jeden Autoren fragten, warum er oder sie SF schriebe. Sie gaben alle ziemlich beeindruckende, interessante Antworten, aber ein Schriftsteller, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, sagte: Ich schrieb Science Fiction, weil ich ein Schriftsteller sein wollte. Ich war 1 5 Jahre alt und wußte überhaupt nichts. Ich hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, noch nie Geld verdient, noch nie ein Steuerformular ausgefüllt, ich konnte meine Krawatte nicht binden. Und hier saß ich nun und wollte schreiben. Ich konnte unmöglich über meine Mutter schreiben, die versucht, mich zum Aufräumen meines Zimmers zu bewegen, daher war es leichter, Science Fiction zu schreiben. Ich würde einige Fehler machen bei dem Versuch, Autofahren zu beschreiben, denn ich konnte nicht fahren, aber ich konnte ein Düsenauto fahren, ein Raumschiff fliegen. Ich berichte das lang und breit, aber ich glaube, es gibt in einer Science Fiction zu viel von genau diesem Element: Wir schreiben Science Fiction, weil wir nicht über das Leben schreiben können. Wenn wir später immer noch dieselbe Art von Science Fiction schreiben, die uns als Leser im Alter von 12 Jahren interessierte, liegt, glaube ich, eindeutig ein Defizit vor. Wir haben es nicht geschafft, reif zu werden. Einiges von der Science Fiction, die ich als Kind begeistert las, war wunderbar, aber erwachsene Science Fiction zieht mich ebenfalls an.« Sein Beitrag zur erwachsenen Science Fiction ist Hyperion und Das Ende von Hyperion, eigentlich ein Roman in zwei Bänden. Beide Bücher haben ihre Titel aus unvollendeten Gedichten von Keats und ihre Struktur aus Chaucers Canterbury Tales. Sie erzählen, wie die Menschheit in ferner Zukunft ein Netzwerk künstlicher Intelligenz baut, das ihre Erschaffer zu sublimieren oder sogar zu zerstören droht. »Es war immer als eine Erzählung gedacht, aber ich wußte, es würde in zwei Bänden herausgebracht werden. Ich kämpf60
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te nicht darum, es in einen einzigen Band zu bringen. Ich hatte gerade zwei Jahre Stellungskrieg hinter mir, um Kraft des Bösen herauszubringen, und war nicht bereit, es wieder zu versuchen. Sie kennen doch diese warnenden Hinweise auf Zigarettenschachteln Dies ist gefährlich für Ihre Gesundheit? Etwas in der Art wollte ich auf dem ersten Hyperion-Buch haben, um den Leser zu warnen, daß die Handlung erst mit Das Ende von Hyperion abgeschlossen sein würde. Sie setzten es auf die Rückseite, und es war bis zur letzten Fahne vorhanden. Aber als das Buch herauskam, war es durch einen Klappentext oder irgend etwas ersetzt worden. Das hat mich zur Verzweiflung getrieben.« Hyperion war ein riesiges und komplexes Thema, und das machte einen Teil seiner Faszination aus. »Es klingt überheblich, aber bei Hyperion war es im wesentlichen die Größe der Leinwand, die mich anzog, obwohl eine große Leinwand nichts außer dem Verbrauch einer Menge Farbe garantiert. Manchmal zweifelte ich jedoch an meinem Verstand, als ich mich dann wirklich und wahrhaftig in die Sache hineinkniete und erkannte, wie viele Fäden es da miteinander zu verbinden gab. Ich muß Dinge ziemlich sorgfältig planen, weil ich dazu neige, mich in meinen eigenen byzantinischen Plots zu verirren. Die Hyperion-Bücher waren die ersten, die ich in Fragmenten vorlegte, weil der Künstler sie benötigte und so weiter, und der Marketing-Direktor las Teile, die ich einsandte. Als ich etwa zu zwei Drittel hindurch war, rief er an und sagte: Wissen Sie, wie dies enden wird? Werden Sie imstande sein, all diese Dinge miteinander zu verbinden? Ich sagte: Absolut. Dann legte ich auf und dachte: O Gott! Ich hatte keine Ahnung, wie all diese Dinge zusammenkommen würden. Aber sie wußten es. Ich glaube, einer der Gründe dafür war, daß die Figuren kräftig genug waren, um mir zu dem Schluß zu verhelfen. Sie wußten, was zu tun war, auch wenn ich mir nicht allzu sicher war. Während ich mir Namen, Figuren und Orte ausdachte, schrieb ich sie auf Zettel und heftete sie an die Wand. An einem Punkt ging eine Invasion vor sich, und das war das erste Mal, daß ich mein kleines Universum wirklich aufzeichnen mußte. Es war erforderlich für mich zu wissen, wann diese Invasoren ein bestimmtes Sternensystem in welcher Zeit 61
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bei Lichtgeschwindigkeit erreichten. Daher hatte ich ein Diagramm mit dreidimensionalem Hintergrund, das die Wellen der Invasoren und darunter vermerkte Zeiten darstellte. Aber sonst gab es wirklich nichts Mechanisches dabei. Es war nur eine Methode, um zu sehen, was als Nächstes geschah, und zu versuchen, mich daran zu erinnern. Es war mein wichtigstes Ziel, dieses riesige Werk zu schreiben, und es wie einen kurzen, schnellen, lebhaften Roman voranschreiten zu lassen. Denn ich hatte als Leser zu oft die Erfahrung gemacht, daß es in den meisten umfangreichen Büchern, die mir am liebsten sind, tote Zonen gibt, und ich mache mir nichts aus diesen toten Zonen. Auch wenn keine tatsächliche Handlung vor sich geht, habe ich doch gern das Gefühl unbedingter Notwendigkeit. Das war der schwierigste Teil beim Schreiben des Buches. Was für ein Gefühl ich zu erzeugen versuchte? In der Beziehung hatte ich eine sehr bestimmte Absicht. Als ich ungefähr neun war, kam mein älterer Bruder zu Weihnachten nach Hause und brachte mir drei große Schachteln voll Ace-SF-Romanen und Heften von Fantasy & Science Fiction und Astounding mit. Ich schnappte über. Ich geriet aus dem Häuschen. Ich erinnere mich, daß ich diese Bücher und Magazine bis in den Frühling hinein las. Diese Leseorgie nach Weihnachten, als ich neun Jahre alt war, und das gewaltige Gefühl von damit verbundener Bereicherung und Weite habe ich versucht, in Hyperion zu feiern.« Originaltitel: »CHEWING THE RACCOON« Copyright © 1992 by Stan Nicholls Erschienen in Interzone, Mai 1992 Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Übersetzt von Kamala Kiel und Abel Miser
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