GORDON BLACK Band 14
Das Blutschloß von Norman Thackery
Wenn im Turm des Blutschlosses das Geisterlicht brennt und di...
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GORDON BLACK Band 14
Das Blutschloß von Norman Thackery
Wenn im Turm des Blutschlosses das Geisterlicht brennt und die Dohlen um die Zinnen und Türme fliegen, dann kommt Unheil über das Land. Denn dann geht der Grünhäutige um und holt sich seine Opfer. Auf dem Schloß kam er einst zur Welt – als Sohn der Kastellansfrau und des Satans. Das Böse wurde ihm gleich in die Wiege gelegt. Als er den Kindern des Burgherrn die Kehle durchschnitt, nagelten ihn mutige Männer an das Schloßtor – mit einem dicken Eisen und mitten durch seinen Kopf. Aber er überlebte die Zeiten… Mit zunehmendem Unbehagen registrierte Jack Delano die feuchten Wolkenfetzen. Sie entstanden aus dem Nichts, ballten sich vor dem Nachthimmel zusammen und drückten herab. Ihn fröstelte. Er schlug den Kragen seiner dünnen Jacke hoch und schritt schneller über das alte Kopfsteinpflaster dahin. Jetzt mußte er doch schon die spärlichen Lichter von Kilmarnock sehen können und die Dächer und Giebel der schiefen Häuser! Er sah nichts.
Das Dorf war wie vom Erdboden verschwunden. Blödsinn, sagte er sich, das Dorf kann nicht verschwinden! Diese verdammten Wolken sind schuld! Die erdrücken und verschlucken alles! Ein solches Mistwetter hatte es seit Jahren nicht gegeben. Nicht mitten im Sommer. Und schon gar nicht so plötzlich. Am veränderten Klang seiner Schritte hörte er, daß sich auch noch Nebel breit machte. Jedes Geräusch klang gedämpft. Wie durch Watte hindurch. Fadendünner Regen begann aus den Wolken zu nieseln. Die Feuchtigkeit schlug sich auf Jacks Gesicht nieder. Unter seiner Nase bildete sich ein Tropfen. Er überlegte, ob er nicht besser umkehren sollte. Bis er Samsons Gasthaus erreichte, war er bestimmt aufgeweicht bis auf die Knochen. Das passierte aber auch, wenn er heimwärts ging. Besser naß und bei Samson mit einem Bier in der Hand in der Kneipe, als naß und ohne Bier daheim und Brendas mürrisches Gesicht vor Augen, dachte er. Außerdem war heute sein Tag. Es war Gewohnheit, daß er am Freitag zu Samson ging und ein paar Gläser Bier trank. Bestimmt saßen sie alle schon in der Kneipe zusammen, die freitags immer hinkamen. Keiner brachte seine Frau oder die Freundin mit. Jeder konnte reden, wie er wollte, und jeder hörte zu. Brenda daheim hörte ihm nie zu. Er mußte ihr zuhören. Sie nörgelte schon, kaum daß er sein klappriges Motorrad abstellte und ins Haus trat. Sie zankte mit ihm, während er aß – immer das gleiche, sie ließ sich nie eine Abwechslung im Küchenzettel einfallen, wenn er nach einer Woche Abwesenheit von seiner Arbeitsstelle in Sheffield heimkam. Und sie schimpfte hinter ihm her, wenn er dann zu Samson ging, um Freunde zu sehen. Einen Herumtreiber nannte sie ihn, einen Saufkopf, der nie
genug Geld heimbrachte und das auch noch in die Kneipe trug. Er seufzte. Er konnte von Glück reden, daß er überhaupt eine Arbeitsstelle hatte. Auch wenn sie im fernen Sheffield lag und er mit dem Motorrad sechs Stunden für eine Fahrt unterwegs war. Darum hatte er sich auch einen billigen Schlafplatz in Sheffield besorgt. Andere aus Kilmarnock waren schlimmer dran. Die hatten keine Arbeit und wußten nicht, wie sie das Salz in der Suppe bezahlen sollten. Aber davon wollte Brenda nichts wissen. Solche Einwände wischte sie mit einer Handbewegung beiseite. Sie wollte wegziehen aus Kilmarnock. Am liebsten in die Stadt. Da war das Leben nicht so eintönig und langweilig. Da gab’s schöne Wohnungen und nicht bloß ein einsames altes Haus eine Meile vom Dorf entfernt, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Unzufrieden war sie, jawohl. Kein gutes Wort gab sie ihm mehr. Vorhin, als er aus dem Haus gegangen war, hatte sie ihm sogar nachgerufen, der Teufel möge ihn doch holen! Daheim war es wahrhaftig nicht mehr zum Aushalten. Da war er bei Samson entschieden besser aufgehoben. Der Gedanke an die trockene Gaststube heimelte ihn an und wärmte ihn von innen. Er schritt schneller aus. Durch die feuchte Nacht drang ein unheimlicher Laut. Jack erschauerte. Es klang wie von einem Nachtvogel und kam vom Fluß drüben, aus dem offenbar der Nebel stieg. Dann hörte er ganz deutlich näherkommende Schwingenschläge. Die Wolkenfetzen wirbelten, der Nebel brodelte, ein heimliches Knarren erfüllte die Nacht. Jack gefror fast das Blut in den Adern, als ihn kalte Luftstöße trafen. Seine Augen weiteten sich, denn Wolken und Nebel rissen auf. Ein Loch entstand. Plötzlich konnte er hinauf bis zum Rabenstein blicken. Der halbe Mond stand über dem schaurigen Gemäuer von Tinmore
Castle. In einem Fenster brannte ein Licht. Jack blieb wie gelähmt stehen. Tinmore Castle war seit Jahrhunderten unbewohnt. Die letzten Herren da oben hatten sich mit Gift und Dolch gegenseitig umgebracht. Landauf, landab hieß Tinmore Castle das Blutschloß. An dem Ort war es nicht geheuer. Es spukt, sagten die Leute. Früher sollten immer wieder Menschen verschwunden sein. Jack kannte niemand, der je zum Blutschloß hinaufgestiegen war. Mit den Mauern, Türmen und Zinnen mußte es wahrhaftig eine unheimliche Bewandtnis haben. Sie zerfielen nämlich nicht. Und jetzt brannte ein Licht da oben! Ein Geisterlicht! Er hatte die Männer in Samsons Gasthaus schon oft davon reden hören, daß es so etwas gab. Geglaubt hatte er es nicht. Und bis heute hatte er auch nie ein solches Licht gesehen. Die Nebel wallten und brodelten, Wolkenfetzen trieben vor das unheimliche Bild. Aber sie verdeckten es nicht gänzlich. Vor dem halben Mond bewegte sich etwas. Jack quollen die Augen aus den Höhlen, als er ein riesiges geflügeltes Wesen erspähte. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde es mit trägem Schwingenschlag um die unvergänglichen Türme und Mauern von Tinmore Castle schweben. Das war ein Trugschluß. Es war viel näher. Fast schon bei Jack, denn wieder spürte er kalte Luftstöße. Sie erfolgten synchron mit der Bewegung der Schwingen. Die Furcht griff wie eine kalte Faust nach Jacks Herz. Er verspürte den unbändigen Wunsch, wegzulaufen. Hinein nach Kilmarnock, zu Samsons gemütlicher Kneipe. Er konnte aber nicht die Füße bewegen. Sie verharrten wie
festgewachsen. Das grauenhafte Wesen schwebte auf ihn nieder. Am Kopf begannen zwei Augen zu glühen. Unter dem Körper reckten sich mächtige Krallen hervor. Ein geflügeltes Monster! Jacks Mund stieß krächzende Töne aus. Namenloses Entsetzen schüttelte den Mann. Das geflügelte Monster schien sich an der Qual des Menschen zu ergötzen. Es gab ein seltsames Knarren von sich. Und dann lachte es. Es lachte wahrhaftig. Wild, böse und gemein. Die Schwingen legten sich an den gedrungenen Körper. Noch unheimlicher glühten die Augen. Behäbig senkte sich das dämonische Wesen auf Jack Delano nieder. Die Krallen öffneten sich weit. Im nächsten Augenblick schlugen sie sich in beide Achseln. Ein Schmerz wie von tausend glühenden Messern raste durch Jacks Körper. In seinem Kopf brauste und dröhnte es. Vor seinen Augen brodelte es. Der geisterhafte Nebel war plötzlich rot. Ein gequälter Schrei floh über seine Lippen und stieg zitternd in den Nachthimmel hinauf. Ein ganzer Berg schien auf ihm zu lasten. Ächzend sank er in die Knie. Dabei stieß er die Arme nach oben und wehrte sich gegen das Monster. Seine Fäuste stießen in den Leib des unheimlichen Angreifers. Die Haut war eisenhart. Und wie mit Schuppen bedeckt fühlte sie sich an. Der grausige Kopf mit den glühenden Augen näherte sich Jack. Ein weit geöffneter Mund mit scharfen Zähnen hackte auf ihn ein. Jack boxte und schrie und wimmerte. Ungehört verhallten seine Hilfeschreie. Die Krallen ließen ihn nicht mehr los, und der gierige Mund biß immer mörderischer zu.
Jacks Kraft erlahmte. »Warum?« würgte er keuchend hervor, seiner Sinne kaum noch mächtig. »Wer bist du?« Ein schauriges Kichern war die Antwort. Ein Wispern war in der Luft: »Du gehörst jetzt mir, du gibst mir dein Leben!« »Nein!« brüllte Jack Delano auf. Er schlug nach dem Mund, der ihm Schmerzen und gräßliche Wunden zufügte. Sofort peitschten ihn die Schwingen, daß er seine Knochen krachen hörte. Dann preßten sie ihn unbarmherzig zusammen. Es gab kein Entrinnen für ihn. »Dein Leben – gib es mir!« wisperte es. Riesengroß schnappte der zähnebewehrte Mund vor Jacks Gesicht auf. Jacks entsetzter Schrei brach schlagartig ab, als der schreckliche Mund zubiß und der Schädel zerplatzte. Droben auf dem Rabenstein erlosch das Geisterlicht in einem Fenster von Tinmore Castle. Drunten im Tal brodelten und wallten noch eine Weile die nassen Wolken und der Nebel. *** »Ein Dreckswetter ist das heute!« schimpfte Henry Bishop und schüttelte hinter der Tür von Samsons Kneipe die Nässe von seiner Kappe. Als er sich umwandte, starrte ihn ein Dutzend Gesichter an, als hätte er zwei Köpfe oder sonst ein auffälliges Merkmal. Er versah das Bürgermeisteramt in Kilmarnock. Die Arbeit erforderte bestenfalls zwei Stunden Arbeit am Tage. Die übrige Zeit arbeitete er in seiner Schmiede und in der Werkstatt, wo er Pflüge und Wagen reparierte und dann und wann einen Traktor. Gelegentlich zapfte er auch Benzin, wenn jemand welches brauchte. Die einzige Tankstelle des Dorfes gehörte
auch ihm. Meist waren es Fremde, die an seiner Tankstelle anhielten. Kilmarnock war arm, im Ort gab es gerade fünf Autos und zwei Dutzend Motorräder. »Dreckswetter?« fragte der alte Kilrain und zeigte grinsend seine drei letzten Zähne. »Hat dir deine Frau einen Eimer Wasser übergeschüttet, weil sie dich nicht gehen lassen wollte?« Die anderen lachten schadenfroh. Henry Bishop war der wohlhabendste Mann im Ort – gleich nach Doktor Garrick. Seinen bescheidenen Reichtum neideten sie ihm eigentlich alle. Mit anderen Worten hatte ihn niemand so recht ins Herz geschlossen. Auch wenn seine Sippe zu den ältesten Familien von Kilmarnock zählte. Oder vielleicht gerade deshalb. Daß er jetzt log und behauptete, draußen sei schlechtes Wetter, ließ die Männer grinsen. Als sie zu Samson gekommen waren, war der Himmel klar gewesen. Das war noch keine Viertelstunde her. Und so schnell zog nicht einmal in Kilmarnock ein Unwetter auf. Sie konnten auch gar nichts hören – kein Donnergrollen und nicht das Rauschen des Regens. Es sah ganz danach aus, wie der alte Kilrain gesagt hatte – Bishop war unter einen Wassereimer geraten. Henry Bishop deutete die feixenden Gesichter richtig. »Ihr glaubt mir wohl nicht?« Er riß die Tür auf. Draußen wogte Nebel, daß nicht das Haus gegenüber zu erkennen war. Ein Schwall feuchte Nachtluft drang in die Kneipe. Das Grinsen gefror auf den Gesichtern. Kopfschüttelnd sagte ein junger Mann: »Das gibt es doch nicht! Eben war’s noch klar, daß man bis nach Abbot sehen konnte.« Abbot lag weiter unten im Tal des Tinmore, fünf Meilen entfernt. Nur wenn es ganz klar war, konnte man die Häuser
sehen. Oder abends die Lichter. Zufrieden schloß Bishop wieder die Tür und hängte seine Kappe auf den Haken. Während er zu dem großen Tisch ging, wo sie freitags immer saßen, zapfte ihm Samson ein Bier. Bishop sah, daß Jack Delano noch fehlte. Und der Doktor auch. »Meine Frau hat noch nie einen Eimer Wasser nach mir ausgeschüttet«, brummte Bishop. »Weiß der Himmel, woher das Wetter so plötzlich kommt.« Der alte Kilrain machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Sie sind heute wieder geflogen«, deutete er an. »Das ist kein gutes Zeichen. Immer ist was passiert, wenn sie geflogen sind.« »Wer?« fragte der junge Mann. Sein Blick ging zwischen Bishop und Kilrain hin und her. »Hör nicht auf ihn!« Bishop machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er meint die Bergdohlen vom Rabenstein. Das ist der Aberglaube der alten Leute.« »Noch jedesmal ist was passiert«, beharrte Kilrain. Samson brachte Bishops Bier an den Tisch. »Der Doktor ist nach Glanstony und kommt später, denke ich. Halloran hat den Knecht zum Doktor geschickt, seiner Frau geht es nicht gut. Und Jack wird schon noch herfinden. Der kommt immer.« »Bis er eines Tages ganz in Sheffield bleibt!« Der alte Kilrain kicherte gehässig. »Seine Frau hat Haare auf den Zähnen, die macht ihm das Wochenende zur Hölle.« Niemand wollte sich näher dazu äußern. Sie wußten, daß Brenda Delano ein böses Weib war und Jack bei ihr nichts zu lachen hatte. Dabei hatte er nie ein abfälliges Wort über sie im Beisein Dritter gesagt. Aber es hatte schon etwas zu bedeuten, daß er immer als letzter Gast die Kneipe verließ. Der junge Mann, der gern mehr über die Bergdohlen wissen wollte, rückte näher an Kilrain heran. »Was ist das für ein Aberglaube?« »Schluß jetzt, kein Wort mehr davon!« brauste Samson auf.
Er wußte, daß Kilrain gruselige Geschichten erzählen konnte. Und wie! Da richtete es einem beim Zuhören die Haare auf. Dann lauschten die Männer wie gebannt und tranken wenig. Solche Spukgeschichten waren nicht gut fürs Geschäft. »Du hörst es nicht gern, wie?« Kilrain lachte vergnügt und rieb die mageren faltigen Hände. Seine Haut raschelte wie Pergament. »Keiner will davon hören, aber Bescheid weiß jeder. Kauf mir ‘ne Zigarre, Archy, und ich erzähle dir vom grünen Monster auf dem Blutschloß.« Der Alte leckte sich die Lippen, seine Augen funkelten begehrlich. Archy überlegte scharf. Er hatte knapp ein halbes Pfund in der Tasche und das ganze lange Wochenende noch vor sich. Aber eine Geschichte von einem grünen Monster war die Ausgabe für eine Zigarre wert. Er schaute Samson an. »Gib ihm eine, ich komme dafür auf.« »Brav, mein Junge!« lobte Kilrain. »Du hast noch Mumm in den Knochen und weißt, was sich gehört.« Samson war unentschlossen, ob er beide hinauswerfen oder die Zigarre bringen sollte. Es war nicht gut, wenn in den alten Geschichten herumgerührt wurde. Das brachte auch Unglück. Sein gesunder Erwerbssinn behielt die Oberhand. Er verkaufte lieber eine Zigarre, statt zwei Gäste vor die Tür zu weisen. Kilrain beschnupperte das gute Stück ausgiebig und zog es unter der Hakennase hin und her. Genußvoll biß er schließlich ein Ende ab, spuckte es unter den Tisch, ließ sich von Archy Feuer geben und paffte eine dicke Rauchwolke gegen die trübe Lampe. »Also, mein Junge«, hob er an, »hör gut zu. Als es da oben auf dem Rabenstein noch die Herren von Tinmore gab – das war ein böses Pack, kann ich dir bloß sagen! – hatten die Leute im ganzen Tal nichts zu lachen. Sie mußten den Zehnten auf die Burg liefern, Steuern bezahlen, die Wege in Ordnung
halten, Vorspanndienste für die Herrschaft leisten und das Feuerholz einschlagen. Und daneben noch die Felder bestellen. Manchmal ist das Tinmore-Pack recht übermütig geworden, die noblen Herren kamen herunter und suchten sich die schönsten Frauen und Mädchen aus und nahmen sie für eine Nacht mit hinauf aufs Schloß.« Samson guckte unwillig. Denn statt zu trinken, sperrten die Gäste Mund und Ohren auf. Auch Henry Bishop, und der kannte die Geschichte längst. »Manche ehrsame Frau ist lieber von der Schloßmauer gesprungen, das kannst du mir glauben, Archy, als mit einem Hundsfott von Tinmore das Lotterbett zu teilen. Aber es sind nicht alle gesprungen. Hier in der Gegend und besonders drunten in Abbot hat manche Familie einen Tinmore im Stammbaum.« Der alte Kilrain funkelte den Wirt höhnisch an. »Was willst du damit sagen?« knurrte Samson gereizt. »Dem Tinmore-Pack kann man vieles vorwerfen, aber nicht, daß es sich nicht um seinen illegitimen Nachwuchs gekümmert hätte. Die Ableger wurden mit allerlei Privilegien ausgestattet. Zu diesen Vorrechten gehörte auch die Schankerlaubnis…« »Hirnloser Schwätzer!« giftete Samson und erntete ein Grinsen der Männer. Jedermann wußte, daß seine Familie seit ein paar hundert Jahren das Wirtshausgeschäft in Kilmarnock betrieb. »Es ist die Wahrheit«, brabbelte Kilrain und betrachtete die weiße Asche seiner Zigarre, bevor er einen Zug machte. »Manche Leute nehmen das alles viel zu persönlich! – Archy, Junge, jetzt stell dir mal vor, wie viele Verdammungsflüche auf das Tinmore-Pack damals niedergeprasselt sind. Und wie viele Gebete gesprochen wurden, um den himmlichen Beistand zur Bestrafung der lästerlichen Sippe zu erflehen. Na, irgendwann hat das alles doch gewirkt, die noblen Herren haben sich schließlich gegenseitig ausgerottet.« Archy schaute unzufrieden. Die Geschichte war keine
Zigarre wert. »Und das grüne Monster?« drängte er. »Kommt noch«, dämpfte Kilrain seinen Eifer. »Als das Pack noch vor Saft und Kraft strotzte und hinter einer Kanne Wein darauf sann, wie es dem Herrgott den nächsten Tag stehlen sollte, kam ein neuer Kastellan aufs Schloß. Er hatte das hübscheste Mädchen von Glanmarten zur Frau genommen. Ein blitzsauberes junges Weib und das liederliche Tinmore-Pack – das konnte nicht gut gehen. Du kannst einem alten Fuchs auch nicht einen herrlichen duftenden Gänsebraten vor die Nase halten und ihm verbieten, reinzubeißen. Er tut’s doch. Das Gesindel setzte dem jungen Weib jedenfalls arg zu, aber immer rechtzeitig war der Kastellan zur Stelle. Die noblen Herren sannen auf Abhilfe. Sie schickten den jungen Mann in angeblich wichtigen Geschäften über Land, so daß er ein paar Tage von Tinmore Castle fernbleiben würde. Die Rechnung hatten sie allerdings ohne die junge Frau gemacht. Eher würde sie mit dem Teufel buhlen, sagte sie, als einem von den Tinmores zu Willen zu sein.« Genießerisch nahm der Alte einen mächtigen Zug. »Und?« fragte Archy begierig. »Das ließ sich der Teufel nicht zweimal sagen. Er kam noch in der nämlichen Nacht. Das ganze Schloß hat nach Schwefel gestunken, daß sogar die Pferde in den Ställen umgesunken sind. Anderntags sind die Schloßbewohner mit dicken Köpfen aufgewacht, aber den Herren dämmerte es doch, daß etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Sie ließen das Weib in Ruhe. Der Kastellan kehrte nach der vorgesehenen Zeit nichtsahnend zurück. Über neun Monate brachte seine Frau ein Kind mit grüner Haut zur Welt, vor dem sich alles fürchtete. Es war ein Kanbe, und er entwickelte sich zu einem rechten Satansbraten und versetzte das Land in größeren Schrecken als alle Tinmores zusammen. Der Kastellan begriff sehr wohl, daß ihm da ein Wechselbalg untergeschoben worden war. Er gab seiner Herrschaft die Schuld, wurde wunderlich und schließlich
verrückt. In einer stürmischen Gewitternacht erschlug er drei seiner Herren mit der Axt und erhängte sich am Glockenseil. Die Frau floh vom Schloß und wurde nie mehr gesehen. Des Teufels Wechselbalg aber schnitt den männlichen Kindern der Tinmores den Hals durch. Von da ab heißt Tinmore Castle das Blutschloß. Weil nämlich das Blut in Strömen den Berg herabgeflossen sein soll. Über den Verlust ihrer Kinder kamen einige von dem Pack um den Verstand. Die anderen rotteten sich zusammen, holten den Abt aus dem Kloster von Glanmarten, das es früher dort gab, und bekamen mit seiner Hilfe und Gottes Beistand den grünhäutigen Teufelsjüngling zu packen. Der eine wollte ihn in siedendem Öl braten, ein anderer ihm die Haut bei lebendigem Leib abziehen, wieder ein anderer hätte ihn gerne von vier Pferden zerrissen gesehen. Der Abt riet ihnen, ihn am Schloßtor anzunageln. Das gefiel ihnen. Also schleppten sie ihn zum Tor und trieben ihm einen siebenzölligen Eisennagel durch den Kopf. Bei meiner Seele, es ist nicht gelogen.« »Und der ist das grüne Monster?« fragte Archy und spürte, wie ihm eine Gänsehaut wuchs. Auch die anderen Zuhörer guckten unbehaglich. Kilrains Geschichten waren die unheimlichsten. »Das will ich wohl meinen«, brummte der Alte und rieb seinen faltigen mageren Hals. »Das Reden macht eine trockene Zunge. Schenk ein, Samson.« Er schob dem Wirt sein leeres Glas hin. Die anderen tranken aus. Das sah Samson gern. Der Abend versprach doch noch etwas einzubringen. Wie er gerade am Zapfhahn hantierte, ertönte von der Treppe im Hintergrund ein lautes Niesen und ein leises Poltern. Samson war Kilrains schaurige Erzählung ans Gemüt gegangen. Er fuhr zusammen und ließ ein Glas fallen. Zum Glück zerbrach es nicht. Die Männer am Tisch fuhren ebenfalls zusammen. Am
heftigsten Archy. Seine Zähne schlugen plötzlich aufeinander. Grauenhafte Stille breitete sich über die verräucherte Gaststube. Zwei kleine weiße Hände tauchten zwischen dem Treppengeländer auf und griffen um die Holzstäbe. »Allmächtiger!« stöhnte jemand am Tisch. Archy glaubte nichts anderes, als daß jetzt ein Geist erschien. Kilrains Gruselgeschichte hatte den Boden vorbereitet. »Billy, du Rotznase, komm da heraus!« polterte plötzlich Samson los. Hinter den Holzstäben geriet ein sommersprossiges Gesicht in den Lampenschein. Die Augen blickten halb erschreckt und halb trotzig und ließen keinen Zweifel aufkommen, daß Billy ein ebenso gebannt lauschender Zuhörer von Kilrain gewesen war wie die Männer. Er war Samsons Jüngster, nicht gerade der beste Schüler seines Jahrgangs, aber ein hellwaches Bürschchen. Zögernd, als wollte er seinen Vater provozieren, tauchte er hinter dem Treppengeländer in die Höhe. »Seit einer Stunde solltest du im Bett liegen!« wetterte Samson. »Verschwinde, oder es setzt was!« Billy verzog schmollend den Mund. »Mann, wo es gerade so schön spannend ist! Noch fünf Minuten!« Samson ließ sich auf keinen Handel ein. Er mochte seine Erfahrungen gemacht haben. Statt ein Wort zu sagen, streckte er den linken Arm aus und wies zum oberen Ende der Treppe. Die Unerbittlichkeit der Geste war unmißverständlicher als strenge Worte. Maulend zog Billy ab und schmiß zornig oben die Türe zu, daß die Gläser im Regal hinter der Theke verhalten klirrten. Die Männer hielten sich heraus. Es war Samsons Sache, seine Kinder zu erziehen.
Er kehrte hinter die Theke zurück und füllte die Biergläser. Fünf Minuten später lauschten die Männer wieder atemlos dem alten Kilrain, der noch mehr vom grünen Monster wußte. »Also, sie haben ihn ans Tor genagelt, da bin ich doch stehengeblieben, oder?« brabbelte der Alte und streifte umständlich die Asche von der Zigarre. »Normalerweise ist jeder Mensch auf der Stelle tot. Er war nicht tot. Er war ja kein Mensch. Er hat weitergelebt und hat sie verflucht. Und versprochen hat er, daß er sie holen werde, einen nach dem anderen. Auch den Abt. Was soll ich euch sagen – der Abt ist nie mehr im Kloster angekommen. Ist auf dem Heimweg spurlos verschwunden. Das Kloster ist bald darauf in Flammen aufgegangen, die Mönche sind darin verbrannt. Der Teufelsjüngling hat noch eine ganze Woche am Nagel gehangen. Unaufhörlich quoll schwarzes Blut aus seinem Kopf. Es ist nicht geronnen und hat gestunken, daß es auf Tinmore Castle nicht mehr zum aushalten war. In der siebten Nacht hat sich dicker Nebel auf den Berg und das Blutschloß gelegt. So dick, daß ein paar Leute erstickt sind. Beim ersten Hahnenschrei war der Grünhäutige fort. Aber der Nagel steckte noch. Niemand hat ihn je herausziehen können.« »Dann – dann ist er heute noch zu sehen?« fragte Archy keuchend. Betulich nickte Kilrain. »Es sind nicht viele hinaufgestiegen zum Blutschloß, aber ich war zweimal oben. Leute, das ist ein böser Ort, man spürt das Unheimliche in jedem Torwinkel und auf jeder Treppe. Der Nagel steckt noch, sicher. Mit dieser Hand habe ich ihn berührt. Im gleichen Atemzug hat mich ein Schwall eiskalte Luft getroffen, daß ich fast erfroren bin. Und das war mitten im Sommer.« Um die Glaubwürdigkeit seiner Behauptung zu untermauern, reckte er den Männern die rechte Hand entgegen. Mit einem Schrei prallte Archy zurück. Die anderen rissen weit und entsetzt die Augen auf.
Mit Kilrains Hand ging eine grausige Veränderung vor sich. Die faltige Haut verdorrte zusehends, die pergamentene braune Farbe verlor sich. Die Haut wurde grün. Ein unangenehmer Geruch entströmte ihr. »Großer Gott, du bist verhext!« schrie Henry Bishop. Kilrains Augen quollen hervor. Er schlug mit der linken Hand auf die rechte und zupfte prüfend daran. Er spürte keinen Schmerz, er sah nur, daß die Hand dürr und grün und wie abgestorben war. Ein gellender Schrei drang aus Archys Mund. Der Anblick war zuviel für ihn. Samson schlug das Kreuz. Im nämlichen Augenblick hörten sie alle ein bösartiges Fauchen. Es füllte die Gaststube bis in den hintersten Winkel aus. Ein Schwall Eiseskälte rührte die Männer an und ließ sie frieren. Mit einem Knall sprang die Tür auf. Sie sahen niemand, aber alle spürten sie, daß etwas die Kneipe verließ. Das Licht fiel in die Gasse auf das Kopfsteinpflaster und gegen die Wand des Hauses gegenüber. Der Nebel, durch den Bishop gekommen war und den sie alle gesehen hatten, war verschwunden. Eine neue Veränderung zeigte sich an Kilrains rechter Hand. Die grüne Farbe verblaßte, das Fleisch schwoll, die Haut nahm wieder ihre pergamentene Beschaffenheit und ihre wetterbraune Farbe an. »O Gott, das war der Teufel!« ächzte Bishops Nachbar. »Beschrei es nicht!« Samson war einer Panik nahe. Kilrain zitterte am ganzen Körper. Ungläubig zerrte er an seiner rechten Hand. Sie war fest dran, angewachsen, wie es sich gehörte, und sonst war nichts mit ihr los. Er schnappte nach der guten Zigarre, die ihm entfallen war. Hastig paffte er ein paar Züge. »Ich sage nichts mehr!« gelobte er. »Das grüne Monster
lebt. Das war der Beweis.« Das Grauen saß ihnen allen in den Knochen. Beklemmende Stille folgte den Worten des Alten. Dann rückten die Männer enger zusammen. Um nichts in der Welt wären sie jetzt hinaus in die Nacht gegangen. Samson ging schließlich zur Tür und schloß sie. In auffälliger Hast kehrte er an den Tisch zurück. Zwischen seinen Gästen fühlte er sich entschieden sicherer. Es dauerte lange, bis eine leise Unterhaltung aufkam. Aber ängstlich wurde alles vermieden, was mit dem Blutschloß und dem Rabenstein in Verbindung zu bringen war. Archy war auch nicht mehr begierig, zu erfahren, was aus den Tinmore-Pack geworden war und warum ein Unglück bevorstand, wenn die Bergdohlen um den Rabenstein flogen. Er trank sein Bier aus und ließ sich ein neues geben. Immer wieder schaute er scheu auf Kilrains rechte Hand, als fürchte er, sie könnte wieder verdorren und die grüne Farbe annehmen. Die Männer tranken. Mehr als sonst. Sie warteten auf Jack Delano. Und auf Doktor Garrick. Der war ein gelehrter Mann, zwar auch nicht mehr der jüngste und zuzeiten arg von der Gicht geplagt, daß er sich tagelang nicht aus dem Haus schleppen konnte, aber bestimmt fand er eine Erklärung für die gruseligen Vorgänge in der Gaststube. Es ging schließlich auf Mitternacht. Jack Delano kam nicht. Auch der Doktor blieb aus. Mit Hallorans Frau in Glanstony schien es doch schlimmer zu stehen. »Ja, dann!« machte Samson andeutungsweise. Er wollte ins Bett. Die Männer überhörten seine sanfte Aufforderung. Noch saß ihnen die Furcht in den Knochen. Sie blieben lieber sitzen, sie wollten nicht hinaus in die Nacht. Vor allem, wo gleich die Geisterstunde begann. Zwischen der gedämpft geführten Unterhaltung fiel jedem
von ihnen eine Geschichte ein, die vom grünen Monster handelte. All die Leute, die immer wieder verschwanden – daran schien doch was Wahres zu sein. Nur Archy kannte keine von den alten Geschichten. Er kannte nur die vom alten Kilrain. Aber die genügte ihm. Er kaute aufgeregt an den Fingernägeln und dachte mit Entsetzen an den Heimweg. Er wohnte draußen am Tinmore, ganz in der Nähe der Brücke, die in den Fluß gefallen war. Vor langer Zeit schon. Sie war aus Holz, aber sie verrottete nicht. So wenig, wie die Türme und Mauern von Tinmore Castle verwitterten. Das war schon eine unheimliche Sache. Da hinaus brachten ihn jetzt keine zehn Pferde. Er schreckte plötzlich hoch. Ein seltsamer Laut von draußen drang an seine Ohren. Auch die anderen hörten es jetzt. Eine angstgepeitschte keuchende Stimme schrie um Hilfe. Die Stimme einer Frau. Stolpernde Schritte kamen in der Gasse auf dem Kopfsteinpflaster näher. Den Männern richtete es die Haare auf. Die Frau schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Sie torkelte am Fenster vorbei. Fast wie ein Schatten anzusehen. Dann prallte ein Körper gegen die Tür, und eine Hand schlug matt gegen das Holz. »Um Gottes und der Barmherzigkeit willen, laßt mich rein!« bettelte die Frau. »Er ist hinter mir her – er bringt mich um!« Samson war schon unterwegs zur Tür. Die letzten Worte ließen ihn innehalten, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. »Wer ist draußen?« fragte er keuchend. »Brenda Delano!« war die schwache Antwort. »Bitte – er kommt – er ist dicht hinter mir – laßt mich ein!« »Wer will Sie umbringen?« fragte Samson und rührte sich
nicht von der Stelle. »Jack«, wimmerte die Frau. »Er ist verrückt geworden!« Sie warf sich gegen das Türholz. Ich kann Jack verstehen, dachte Samson, die hätte ich schon längst umgebracht! Das konnte er natürlich nicht laut sagen. Und es ging auch nicht, daß Jack seine Frau umbrachte. Das brachte den Ort in Verruf. »Moment, ich öffne!« sagte er und schritt wieder voran. »Öffnen Sie nicht!« schrie Archy genau in diesem Augenblick los. So durchdringend, daß sie alle erschrocken zusammenzuckten. »Das ist bloß ein Trick! Das ist er, versteht ihr? Er ist zurückgekommen. Jetzt ist seine Stunde. Da hat er die größte Macht. Er wird uns auch umbringen…« Kilrain legte ihm die Hand auf die Achsel. Es sah spielerisch aus, aber in der Hand steckte solche Kraft, daß Archy aufstöhnte und auf den Stuhl zurückfiel. »Es ist Jacks Frau, Junge, du hörst es doch. Nimm dich zusammen.« Henry Bishop war aufgesprungen und eilte zu Samson. Archy schielte auf die welke Hand des Alten. Erst empfand er Ekel. Es war die ■ rechte, die sich verwandelt gehabt hatte. Dann wurde er mißtrauisch. Wieso steckte in dem alten Knaben solche Kraft? Das ging doch auch nicht mit rechten Dingen zu! Er erschrak furchtbar und rutschte sofort von Kilrain weg. Der Alte war verhext. Vielleicht steckte er mit dem Grünhäutigen sogar unter einer Decke. Oder er war selber das Monster! Gerade öffnete Samson die Tür. Eine Gestalt taumelte herein und Henry Bishop genau in die Arme. Es war Brenda Delano. Sie sah schlimm aus. Als hätte sie einen Kampf hinter sich. Und als sei sie von ihrem Haus bis hierher gerannt, ohne einmal anzuhalten.
Sie atmete keuchend und klammerte sich an Bishop. Plötzlich war von draußen ein anderes Geräusch zu hören. Ein tiefes Ächzen und Schnaufen. Dann schlurften Schritte unbeholfen über das Kopfsteinpflaster. Er kam! Brenda Delano schrie gellend auf. Geistesgegenwärtig warf Samson die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal. Er gab Bishop einen Stoß und beförderte ihn samt der Frau aus der Nähe der Tür fort. Mit wilden Sätzen rannte er ins Nebenzimmer und riß eine Schranktür auf. Die Männer hörten ihn keuchen und kramen, während sie voller Furcht dem näherkommenden Schlurfen und dem entsetzlichen Ächzen lauschten. Jetzt war es genau vor der Tür. Samson kehrte aus dem Nebenraum zurück. Er hielt ein Gewehr in Händen, das er eigentlich gar nicht besitzen durfte. Danach fragte jetzt niemand. Er richtete den Lauf auf die Tür. Von draußen ließ sich ein feines Wispern vernehmen. Dann knackte die Tür unter dem Druck eines anlehnenden Körpers. Eine rauhe Hand schien auf der Suche nach der Türklinke herumzuwischen. Das Schaben war deutlich zu hören. »Laßt mich ein!« verlangte schließlich eine rauhe Stimme. Sie gehörte einem Mann, gar keine Frage. Aber es war niemals die von Jack Delano. Die kannten sie nämlich. »Verschwinden Sie!« schrie Samson. Er kam wieder in Panik. Der Gewehrlauf wackelte. »Oder ich schieße!« Dröhnende Schläge ließen die Tür erzittern. »Er kommt herein!« rief Brenda Delano gehetzt. »Er hat auch bei mir die Tür eingeschlagen!« ***
Eine Stunde zuvor hatte sie voller Grimm die Rückkehr von Jack erwartet. Das war immer die Zeit, zu der er um ein paar Glas Bier schwerer und um eine Pfundnote leichter aus dem Dorf heimkam. Ein paar scharfe Worte hatte sie sich schon zurechtgelegt. Wie es aussah, sollte sie in dieser trübsinnigen Gegend versauern. Und er hatte seinen Spaß die Woche über in Sheffield und am Wochenende auch noch in der Kneipe in Kilmarnock. Ein fernes Scheppern ließ sie ans Fenster treten. Das war das alte Auto vom Doktor. Es kam auf der alten Straße von Glanstony den Hügel herab. Die beiden Lichtkegel griffen wie weiße Finger in die Nacht und streiften für einen Moment das Haus. Dann war das Auto vorbei umd rumpelte klappernd dem Ort zu. Die schwachen roten Rücklichter waren bald nicht mehr zu sehen. Brenda wollte schon ihren Platz am Fenster aufgeben, als sie in Richtung der nahen Straße zwei merkwürdige glühende Punkte in der Nacht entdeckte. Aus schreckgeweiteten Augen starrte sie hin. Was war das bloß? Und was schnaufte und ächzte dort so abscheulich? Hatte sich Jack am Ende einen solchen Affen angetrunken, daß er diese Geräusche machte? Ihr Grimm war größer als ihre Furcht. Sie öffnete die Haustür, um ihn gleich gehörig zu empfangen. Das Licht aus Tür und Zimmerfenster reichte fast bis zur Straße hin. Es war schwach, aber es ließ sie eine schwankende Gestalt erkennen, deren Augen fast weiß leuchteten. »Jack?« fragte sie unsicher, und die Angst umschloß ihr Herz wie eine eiserne Faust. »Jack, bist du das?« Ein tiefes Brummen antwortete ihr. Es schien irgendwie Zustimmung auszudrücken.
Die Nacht war kalt, vom Boden stieg Feuchtigkeit auf. Brenda trat rückwärts ins Haus. »Komm du mir nur herein!« versprach sie drohend. Das war bestimmt Jack. Sonst kam hier um diese Zeit niemand mehr vorbei. Weiter draußen wohnte keiner mehr. Jack mußte tüchtig geladen haben, daß er nicht auf Anhieb zur Tür hereinfinden konnte. Er tappte draußen herum. Mit einem bösen Wort auf den Lippen wandte sich Brenda um. Was sie sagen wollte, blieb ihr im Halse stecken. Die Angst schnürte ihr nämlich buchstäblich die Kehle zu. Mit unheimlich leuchtenden Augen torkelte Jack auf sie zu. Nur an seiner Hose und den Schuhen erkannte sie, daß es Jack war. Das Gesicht war eine blutige Masse, in der nur die Augen intakt waren. Sie glühten auf entsetzliche Art. Jacks Kopf war eine unförmige Masse. Seine Jacke war voller Blut und total zerfetzt. An den Achseln fehlte der Stoff völlig. Große Löcher klafften dort in seinem Körper, Fleisch hing in roten Fetzen herab. Im ersten Erschrecken dachte Brenda, daß der Doktor Jack auf der Straße nicht gesehen und mit dem Auto überfahren hatte und daß sich Jack schwerverletzt gerade noch bis zum Haus schleppen konnte. Aber dann hörte sie ein grausiges Lachen. Irgendwo in der unförmigen blutigen Masse des Kopfes, aus dem zerbrochene Knochen stachen, war ein Mund. Und aus diesem drang das satanische Lachen. So hatte Jack noch nie gelacht. Das war nicht Jack! Oder wenn er’s war, dann hatte er sich auf furchtbare Art verändert. Und überhaupt konnte mit solchen Verletzungen ein Mensch gar nicht überleben. Nicht eine Sekunde.
Sie wich angstvoll noch weiter zurück. Die Gestalt, die vielleicht Jack war, befand sich nur noch wenige Schritte von der Türschwelle entfernt. Sie schleuderte die Arme nach vorn. Die Hände waren ebenfalls blutig und sahen wie zerhackt und zerbissen aus. Die Finger krümmten sich und vollführten würgende Bewegungen. Brenda dämmerte es, daß diese Hände sich im Geiste schon um ihren Hals legten und ihn zusammendrückten. Sie schmetterte die Tür zu und erspähte im letzten Sekundenbruchteil eine blutige kreisrunde Öffnung, von zum Teil abgebrochenen Zähnen umgeben, und einen ekelhaften roten Schlund dahinter. Die Knie wollten ihr den Dienst aufsagen. Zitternd lehnte sich Brenda gegen die Tür. Etwas Furchtbares war mit Jack passiert. Und er stand draußen. Er war gekommen, um sie umzubringen! Es war Jack. Und er war es doch wieder nicht. Jedenfalls sein Körper. Vielleicht war der Teufel in ihn gefahren. Die Leute redeten ja so seltsame Dinge über das Blutschloß droben auf dem Rabenstein. All die Jahre hatte sie es für dummes Geschwätz gehalten. Die grausame Wirklichkeit belehrte sie, daß es kein Aberglaube war. Das gräßliche Stöhnen war direkt hinter ihrem Rücken. Nur das Holz der Tür war zwischen Jack und ihr. Sie hörte, wie seine Hände über das Holz grapschten. Da – jetzt hatten sie die Türklinke erreicht. Mit einem Schrei wirbelte Brenda herum. Ihre Hände packten den eisernen Riegel. Im allerletzten Augenblick konnte sie ihn vorschieben. Ein Augenzwinkern später, und Jack hätte die Tür aufgehabt. »Brenda – Täubchen, mach auf!« sagte er schnaufend und
mit tiefer Stimme. »Nein!« Ihre Stimme drang gellend durchs Haus. Angstvoll wich sie von der Tür zurück. Er schlug mit den Händen gegen das Holz. »Mach auf – ich bringe dich zu ihm. Ich muß ihn füttern. Mein Täubchen, es tut überhaupt nicht weh!« Er kicherte wie ein Dutzend Teufel. Er war verrückt geworden. Oder von einem bösen Dämon besessen. Brenda verstand gar nicht richtig, was er gesagt hatte. Sie hörte nur, daß er ins Haus wollte. Das Fenster im Wohnzimmer! Es ließ sich hochschieben, und sie hatte den Sicherungshaken nicht eingehängt! Sie wirbelte herum. Mit bebenden Gliedern lief sie ins Wohnzimmer. Vor dem Fenster bewegte sich eine schattenhafte Gestalt. Jack hatte sich an das Fenster erinnert. Wieder war sie um einen Sekundenbruchteil schneller als er und konnte den Haken einhängen. Jack rüttelte am Fenster. Dann brüllte er voller Wut. Brenda konnte den Anblick des formlosen Klumpens auf seinen zerfleischten Achseln nicht ertragen. Schluchzend wandte sie sich ab. Er würde hereinkommen. Sie ahnte es. Er wollte sie umbringen. Und jemanden damit füttern! Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie brauchte Hilfe. Aber sie hatte keine Nachbarn. Und das Dorf war eine Meile entfernt. Jack stand draußen, beugte sich vor und glotzte durch die Scheibe ins Wohnzimmer. Wieder entrang sich dieses schreckliche Stöhnen seinem zerfetzten Körper. Brenda eilte zur Tür und schaltete das Licht aus. Wenn er mich nicht sieht, verschwindet er, dachte sie. Zum Glück steckte der Schlüssel außen auf der Wohnzimmertür. Sie drehte ihn mit fliegenden Händen. Im selben Moment hörte sie das Fenster zersplittern. Jack war im
Haus! Verbarrikadieren! hämmerte es in ihrem Kopf. Ich muß die Tür zustellen. Das hält ihn auf! Mit schier übermenschlicher Kraft rückte sie die schwere Dielentruhe vor die Tür und hörte ihn drinnen in der Dunkelheit die Möbel zerschlagen. Er wütete blindlings. Er suchte und fand sie nicht. Schluchzend wuchtete Brenda den alten Eichentisch auf die Truhe und stapelte die Stühle obenauf. Sie hoffte, daß ihn das aufhielt. Ein Stuhl kippte gegen die Wohnzimmertür. Es gab einen dumpfen Laut. Sofort war es drinnen still. Dann lachte Jack gräßlich. Als wüßte er genau, daß sie die Tür zubaute. Glassplitter knirschten unter Schuhsohlen. Plötzlich war es totenstill. Brenda hoffte, daß er zur Ruhe gekommen war. Aber da hörte sie schon wieder seine Schritte. Vor der Haustür. Er war einfach aus dem Fenster hinausgeklettert. Jetzt schlug er nicht mehr bloß mit den Händen gegen die Tür. Er wummerte mit den Fäusten dagegen und brüllte fürchterlich dazu. Brenda war es himmelangst. Er schlug die Tür entzwei. Lange konnte es nicht mehr dauern. Ohne nachzudenken flüchtete sie ins winzige Obergeschoß mit den schrägen Wänden. Jack hatte es in zwei Wintern ausgebaut. Er war nicht damit fertig geworden. Heftige Schläge donnerten unten gegen die Haustür. Der eiserne Riegel klapperte. Ob er hielt? Brenda wollte sich in eine dunkle Ecke verkriechen und sich die Ohren zuhalten. Vor Angst war sie wie von Sinnen. Sie hatte keine Erklärung für das, was mit Jack geschehen war. Überhaupt überstieg alles ihr Begriffsvermögen. Unten ging mit einem ohrenbetäubenden Bersten die
Haustür in Trümmer. Brenda fuhr zusammen. Jack durchsuchte das ganze Haus, wenn er sie im Erdgeschoß nicht fand. Wenn sie ihn auf der Treppe… Sie sah sich nach einer geeigneten Waffe um. Aber ihr gehetzter Blick fiel nur auf ausrangierte Möbel, die sie hier abgestellt hatten, weil sie sie noch nicht wegwerfen wollten. Sie faßte einen ramponierten Hocker. Auf der Treppe dröhnten schon seine Schritte! Er suchte gar nicht unten nach ihr! Zielsicher kam er herauf! Wie war das möglich? Woher wußte er, wo sie sich verkrochen hatte? Brenda schleuderte den Hocker, als er die halbe Treppe oben war. Sie traf ihn. Er brüllte auf und taumelte. Seine blutigen zerhackten Hände bekamen gerade noch das Geländer zu fassen und bewahrten ihn vor dem Sturz. Der rote Schlund und die abgebrochenen Zähne ließen Brenda nach einer Tischplatte greifen. Sie stürzte sie auf Jack hinab und ließ das Tischuntergestell, einen alten Koffer, einen Sessel und wacklige Stühle folgen. Ein Tischbein verfing sich im Treppengeländer. Das Untergestell blieb hängen, und die anderen Dinge krachten hinein und verstopften die Treppe. Brenda atmete auf. Fürs erste war Jack aufgehalten. Aber dann? Es wurde ihr bewußt, daß sie in der Mausefalle saß. Er brüllte unten auf der Treppe in Tönen, die niemals von einem Menschen stammen konnten. In besessener Wut schlug er mit den Armen auf die Möbel ein, die ihm den Weg versperrten. Tischbeine brachen wie Streichhölzer. Sogar der schwere Sessel zerbarst unter seinen wuchtigen Schlägen. Er räumte die Treppe frei. Vielleicht dauerte es noch ein paar Minuten, aber dann war
er oben. Aus ungläubigen Augen sah Brenda, wie er die alten Möbel zertrümmerte. Sie schluchzte wieder und spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Sie war ganz allein, sie hatte von niemand Hilfe zu erwarten. Ein wahnwitziger Gedanke zuckte ihr durch den Kopf. Wenn es ihr gelang, Jack für eine Weile im Haus zu beschäftigen, und wenn sie an zusammengeknoteten Tüchern aus dem hinteren Giebelfenster kletterte, konnte sie einen Vorsprung gewinnen! Sie mußte nach Kilmarnock hinein. Dort waren Menschen. Dort erhoffte sie Hilfe. Sie hastete zu den alten Möbeln. Vor einiger Zeit hatte sie doch ausgesonderte Bettücher und eine löchrige Decke in eine wurmstichige Kommode getan! Wo war die vertrackte Kommode bloß? Der Lärm auf der Treppe hetzte sie vorwärts. Die Truhe stand in einer Ecke unter der Dachschräge. Brenda riß die Laken und die Decke aus den Schubladen und knotete sie aneinander. Zwei Fingernägel brachen. Von der Treppe kam wieder das schreckliche Stöhnen. Der Krach wurde leiser. Jack schien das Hindernis beseitigt zu haben. Auf der Treppe dröhnten schon wieder seine Schritte. Unaufhaltsam, unerbittlich. In wilder Verzweiflung zerrte Brenda die Kommode in Richtung Treppe. An dem Möbelstück brach auch noch ein Fuß ab. Mit letzter Kraftanstrengung stieß sie die Kommode hinunter. Jack hatte nur noch vier Stufen zu nehmen. Die stürzende Kommode riß ihn mit hinunter. Ein Teil der Treppe brach ein. Die Kommode zerbarst. Jacks Wutgebrüll verstummte. Er lag unter den Trümmern. Brenda atmete auf und lehnte sich zitternd an die Wand. Sie
hoffte inbrünstig, daß er tot war. Oder es – das Wesen, das aus ihm geworden war. Aber schon begann es sich unter den Holztrümmern wieder zu regen. Ein lautes gräßliches Stöhnen drang bis in den hintersten Winkel des Hauses. Brenda wirbelte herum. Mit zitternden Händen knotete sie ein Ende des Bettlakenseiles um einen Dachsparren, das andere Ende warf sie zum Giebelfenster hinaus. Sie schaute gar nicht erst, ob es bis hinab reichte. Sie kletterte hinaus, bekam einen Knoten zu fassen und hangelte sich keuchend und weinend hinab. Was sie erlebt hatte, überstieg ihre Nervenkraft. Und es war noch nicht zu Ende. Sie hörte Jack im Haus brüllen und toben. Er vermutete sie noch oben, und er wollte über die halb zerstörte Treppe hinauf. Brendas Füße berührten den Boden. Sie begann zu laufen. Der Boden war feucht und glitschig. Sie strauchelte und bewahrte nur mit Mühe das Gleichgewicht. Endlich erreichte sie die Straße und hastete über das Kopfsteinpflaster Kilmarnock zu. Ängstlich schaute sie hinter sich. Er war noch im Haus. Sie hörte den Krach. In der Diele und oben brannte das Licht. Hundert Schritte war sie schon fort. Dann zweihundert. Ihr Atem ging bereits stoßweise und keuchend. Lieber Himmel, laß mich bis zum Dorf durchhalten, flehte sie im stillen. Als sie wieder hinter sich blickte, sah sie ihn im hellen Rechteck der Haustür stehen. Er legte den unförmigen Kopf schief. Wie ein lauschendes Tier. Ein Tier! War es das, was aus ihm geworden war? Die Furcht peitschte Brenda vorwärts und verlieh ihr noch einmal Kraft.
Sie flog förmlich die Straße entlang dem Dorf zu. Endlich tauchten vor ihr die Umrisse und dunklen Schatten der Häuser auf. Nirgendwo brannte Licht. Sie hämmerte gegen die erste Haustür. Erschöpft stützte sie sich an der Wand ab. Ihr Herz drohte zu zerspringen, in ihrem Kopf rauschte es wie Meeresbrandung. Sie hörte zweierlei – eine unwillige verschlafene Stimme in der Tiefe des Hauses. Und tappende Schritte und wieder das gräßliche Stöhnen aus der Richtung, aus der sie geflüchtet war. Er kam! Er hatte sich nicht abschütteln lassen. Brenda stieß sich von der Wand ab und schrie gellend um Hilfe. Sie lief keuchend und mit einem abscheulichen Stechen in der Seite weiter ins Dorf hinein. Samsons Kneipe! Dort mußte Jack doch gewesen sein. Dort hockten vielleicht noch seine Zechkumpane beisammen. Jedenfalls waren es Menschen. Minuten später bog sie in die Gasse ein, in der sie die Kneipe von Samson wußte. Ihre Hilferufe hallten von den Hauswänden wider. Gottlob, aus den Fenstern des Gasthofes fiel noch Licht auf das Kopfsteinpflaster. Sie warf sich gegen die Tür. Aber die ging nicht auf. Matt hämmerte sie mit der Hand gegen das Holz und bettelte um Einlaß. Ihre Nerven drehten durch. Jemand fragte sie. Sie antwortete, aber sie wußte kaum, was sie sagte. Endlich wurde die Tür geöffnet, und freundliches mildes Lampenlicht übergoß sie. Sie torkelte in die Kneipe und hielt sich am Ende ihrer Kräfte an einem Mann fest. Ihr Verstand setzte erst wieder voll ein, als die Tür in ihrem Rücken unter harten Schlägen erzitterte. Jack war draußen! Er schlug auch diese Tür ein.
Sie sah, daß sie sich an Henry Bishop festgeklammert hatte. Ein paar Schritte entfernt stand Samson, bleich wie ein Leichentuch, und hielt nicht sehr sicher ein Gewehr in Händen, mit dem er auf die Kneipentür zielte. *** Eine Holzplanke splitterte aus der Tür. In dem länglichen Loch erschienen zwei blutige zerhackte Hände und fetzten weitere Planken beiseite. Im Nu entstand ein ansehnliches Loch. In der Öffnung zeigte sich eine kopfähnliche zerfetzte Masse mit einem weit aufgerissenen Mund. Archy schrie gellend auf. Die anderen Männer waren von dem grauenvollen Anblick wie gelähmt und verharrten in Untätigkeit. »Es ist Jack – glaubt mir doch!« schrie Brenda. »Ein Ungeheuer ist aus ihm geworden! Er will mich umbringen. Er muß jemanden füttern!« Henry Bishop schob die Frau nicht sehr sanft von sich. Das Loch in der Tür wurde immer größer. Ein Arm angelte herein und tastete umher. Über dem Arm war dieses grauenvoll verunstaltete Gesicht zu sehen, von dem unentwegt Blut zu tropfen schien. Samson feuerte einen Schuß ab. Daneben! Links in der Tür saß plötzlich ein kleinfingerstarkes Loch. Samson lud die Waffe durch und schoß auf sechs Schritte Distanz mitten in das schrecklich anzuschauende Gesicht hinein. Jeder in der Kneipe sah, daß die Kugel saß. Und jeder hörte das wilde Gebrüll. Aber das Wesen war nicht tot. Oder Jack, wenn es stimmte, was Brenda Delano sagte.
Samson feuerte wieder. Dann noch einmal. Drei Kugeln hatte er untergebracht, und das Wesen tobte immer noch vor der Tür herum. Es hatte aber wenigstens den Versuch aufgegeben, die Tür aufzureißen und hereinzukommen. Wie es sich anhörte, torkelte es draußen in der Gasse herum und wütete. Dann entfernte es sich unter lautem Stöhnen. Wie ein böser Spuk verschwand es in der Nacht. Der Lärm und die Schüsse hatten die Leute von Kilmarnock munter gemacht. Die ganz mutigen fanden sich zuerst ein. Auch Doktor Garrick erschien. Er trug noch den Mantel, den er bei Fahrten über Land anzog. »Bin vorhin erst aus Glanstony zurückgekommen«, sagte er und betrachtete die zerstörte Wirtshaustür und diverse Blutspuren draußen auf dem Pflaster. »Was ist passiert?« Brenda Delano und Samson erzählten gleichzeitig. Dennoch bekam Doktor Garrick Ordnung in das Durcheinander. »Ein Monster?« meinte er dann skeptisch, weil Samson zuletzt behauptete, ein solches hätte seine Wirtshaustür demoliert. Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte Garricks Lippen. »Das ist natürlich barer Unsinn. Aber um eine geheimnisvolle Sache scheint es sich dennoch zu handeln. Als ich nämlich durch die Hügel über dem Tal gefahren bin, habe ich droben in einem Fenster von Tinmore Castle ein Licht brennen sehen.« Das trug nicht dazu bei, die Aufregung zu dämpfen. Brenda Delanos Nerven, die genug strapaziert waren, rissen endgültig. Die Frau erlitt einen hysterischen Weinkrampf. Doktor Garrick schickte Archy zu seiner Haushälterin nach der Arzttasche und verabreichte dann Brenda eine kräftige Beruhigungsspritze. Eine Familie aus der Nachbarschaft von Samson bot sich an, sie fürs erste aufzunehmen, bis man mehr und genaueres wüßte.
»Ja, richtig, wir müssen die Polizei verständigen«, sagte Doktor Garrick. »Ich übernehme das. Und man müßte natürlich versuchen, diesem Unhold auf den Fersen zu bleiben. Ein paar kräftige und beherzte Männer werden dazu ausreichen.« Aber auf dem Ohr hörten die männlichen Bewohner von Kilmarnock nicht. Im ganzen Ort schien es mit einem Schlag keine kräftigen und beherzten Männer zu geben. Hatte so schon niemand Lust verspürt, in der ungewissen Nacht herumzusuchen, wo jeden Augenblick der entsetzliche Unhold aus einem Winkel auftauchen konnte, so lieferte Garricks Erwähnung des seltsamen Lichts auf dem Blutschloß den Leuten nur weitere Argumente, doch besser in der Sicherheit des Dorfes zu bleiben und bis zur Ankunft der Polizei zu warten. »Und wie steht es mit Ihnen, Archy?« fragte Doktor Garrick. »Wenn wir beide suchen? Oder sind Sie weniger mutig als ich?« Archy hatte fürchterliche Angst. Kein Wunder nach all dem, was er an diesem Abend erlebt und gesehen hatte. »Was könnten wir schon ausrichten?« sagte er und verwünschte im stillen den Doktor, weil der ihn vor den Leuten bloßstellen wollte. »Eine Menge, denke ich.« Doktor Garrick faßte seine Arzttasche fester. »Kommen Sie mit?« Dieser Teufel! dachte Archy. Er legt es darauf an, er zeigt uns allen, daß er ein mutiger Kerl ist. Wir stehen alle wie die Feiglinge da! In diesem Moment haßte er den Doktor. Überhaupt war Garrick wegen seiner mürrischen und unausgeglichenen Art nicht sehr beliebt bei den Leuten. Aber er war der einzige Arzt im Umkreis von zwanzig Meilen. Sie konnten sich keinen anderen aussuchen. Der alte Kilrain kicherte. »Überlegen Sie es sich zweimal, Doktor!«, mahnte er. »Ich habe mein Fett gekriegt.« Er wedelte
mit seiner rechten Hand. »Dahinter steckt das grünhäutige Monster, ich wette meine Seele darauf.« Archy wurde vom Grauen gepackt. Der alte Kilrain war bestimmt verhext. Mit rechten Dingen war das mit seiner Hand nicht zugegangen. Auf den Doktor hatte er auch einen Verdacht. Am Morgen hatte er ihn von der Gicht gebeugt herumhumpeln sehen. Am späten Nachmittag hatte er sich sogar von Hallorans Knecht und seiner Haushälterin ins Auto helfen lassen müssen, so schlecht ging es ihm. Und jetzt lief er herum, als sei er kerngesund. Der Doktor war vielleicht auch verhext wie Kilrain! Garrick trug ein spöttisch-herausforderndes Lächeln zur Schau. »Kommt noch jemand mit?« erkundigte er sich. Henry Bishop schritt ein. Er war der Bürgermeister. »Niemand geht da hinaus!« bestimmte er. »Sie auch nicht, Doktor! Rufen Sie die Polizei an. Mehr können wir nicht tun.« Garricks spöttisches Lächeln vertiefte sich. »Wie Sie meinen, Bishop. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde meine Entscheidung anders lauten.« Mit hoch erhobenem Haupt verließ er die Kneipe. Von seiner Gicht war ihm nicht die Spur anzusehen und anzumerken. Scheu und gedrückt verließen etliche Leute die Kneipe. Als Samson mit einem Arm voll Bretter, mit Nägeln und dem Hammer kam, um das Loch in der Tür zuzunageln, gingen auch die anderen. Sogar der Stammtisch löste sich hastig auf. Kilrain hatte ein Stück des Heimweges mit Archy gemeinsam. Aber der junge Bursche wollte nicht mit ihm gehen. Wie von Höllenfurien gehetzt lief Archy davon. Kilrains hohles Lachen verfolgte ihn noch ein ganzes Stück seines Heimweges.
*** Die Polizei der Grafschaft fuhr zwei Stunden nach Sonnenaufgang mit zwei Autos in Kilmarnock ein. Ein Hundeführer mit zwei Suchhunden war dabei. Und der Konstabler aus Abbot. Den hatte man unterwegs zugeladen. Ein Inspektor Ness leitete den Einsatz, und offensichtlich war der Mann vom Konstabler aus Abbot mit den alten Gruselgeschichten um das Blutschloß versorgt worden. Er zeigte sich jedenfalls informiert und einfühlsam. Samsons Kneipentür wurde fotografiert, und die Teilnehmer der Stammtischrunde mußten getrennt die schaurigen Erlebnisse der Nacht schildern. Inspektor Ness kniff jedesmal nervös die Augen zu, wenn von Kilrains verwandelter Hand die Rede war. Samson mußte sich eine Menge peinlicher Fragen nach der Herkunft des Gewehres gefallen lassen. Immerhin handelte es sich um eine Militärwaffe. Gaststube und Haus wurden vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Der Verdacht von Ness, hier könnte sich ein geheimes Waffendepot irischer Terroristen befinden, wurde nicht bestätigt. Behalten durfte Samson das Gewehr nicht. Es wurde entschädigungslos eingezogen. Darüber kamen der Hundeführer mit seinen Tieren und die zwei mitgegebenen Beamten zurück, die vor der Kneipentür die schwache Spur aus eingetrocknetem Blut aufgenommen hatten. »Sir – er oder es ist zu diesem verdammten Schloß hinaufgestiegen, scheint’s«, berichtete der Hundeführer. »Zwischen dem Ort und dem Berg fließt ein Fluß –« »Der Tinmore«, unterbrach Ness ihn ungeduldig. »Was heißt scheint’s? Ist er oben oder nicht?« Der Hundeführer hob die Achseln. »Die Spur läßt sich zum
Dorf hinaus gut verfolgen. Auch noch über einen morschen Steg über den Fluß. Es gibt da auch noch eine alte Brücke, aber die ist längst ins Wasser gefallen. Auf dem Burgweg verliert sich in halber Höhe die Spur. Die Hunde wollten auch nicht weitergehen.« »So, wollten sie nicht?« machte Ness ergrimmt. »Und warum haben Sie sich nicht da oben umgesehen?« Dem Hundeführer wurde es unbehaglich unter dem strengen Blick. »Sir, die Leute aus dem Ort sagen, gestern seien den ganzen Tag die Dohlen um das Schloß geflogen. Das bedeute großes Unglück.« Entsetzt hob Ness die Hände. »Verschonen Sie mich damit. Diesen Unsinn habe ich mir heute schon zwei Dutzend Mal anhören dürfen. Also, was wollen Sie?« »Die Dohlen fliegen nicht, Sir. Es sind überhaupt keine zu sehen. Dabei ist so ein Berg doch ihr bevorzugter Aufenthaltsort.« Ness knurrte wild. »Mir scheint, die Angst der Leute hat Sie angesteckt. Wir sehen uns später da oben um. Fahren Sie jetzt zum Haus der Delanos hinaus. Es soll dort wüst aussehen. Der Bürgermeister war schon draußen.« Danach besuchte der Inspektor im Nebenhaus Brenda Delano, die mit einem schlimmen Nervenfieber zu Bett lag. Doktor Garrick war gerade da und sah die Vernehmung gar nicht gern. Aus der Frau brachte Ness wenig genug heraus. Nach seiner Meinung litt sie unter einem Verfolgungskomplex. Immer wieder sagte sie mit matter Stimme und fiebrig glänzenden Augen, ihr schrecklich verstümmelter Mann habe sie umbringen wollen, weil er jemanden füttern müsse. Unzufrieden beendete Ness die Vernehmung. Der Doktor verließ mit ihm das Haus. Im Flur unten blieb Garrick stehen und überzeugte sich, daß es keine
unerwünschten Zuhörer gab. »Das Monster, wie es die Leute beschreiben, habe ich natürlich nicht gesehen«, erklärte er dem Inspektor mit gedämpfter Stimme. »Als ich vor Mitternacht von einem Patientenbesuch in Glanstony zurückkehrte, habe ich oben im Blutschloß ein Geisterlicht bemerkt. Unvorsichtigerweise habe ich gegenüber den Leuten davon gesprochen. So etwas beflügelt natürlich die Phantasie.« »Dann glauben Sie auch an den Quatsch?« »Das Licht war da. Möglicherweise übertreiben die Leute aber etwas.« »Das denke ich auch. Haben Sie eine Erklärung für das Licht, Doktor?« »Keine.« Garrick hob die Achseln. »Jedenfalls keine übernatürliche. Vielleicht ein Schabernack junger Leute aus dem Ort. Dummerweise brannte das Licht in jenem Gebäudeteil, in dem vor langer Zeit eine furchtbare Bluttat verübt wurde. Ein mißgestalteter Mensch hat dort den Kindern der Burgherren den Hals durchgeschnitten. Sie kennen die Geschichte?« »Und ob!« Ness schnaubte. »Halten Sie es für möglich, daß ein ganzes Dorf verrückt spielt?« Garrick überlegte sich die Antwort gründlich. »Es ist nicht wahrscheinlich, aber es soll vorgekommen sein.« Ness nickte. »Ich denke, hier liegt so ein Fall vor.« Eine halbe Stunde später dachte er anders darüber. Da wurde er nämlich zum Haus der Delanos geholt. Im Wohnzimmer war einiges zertrümmert, die Tür von außen verbarrikadiert. Einen ganz und gar trostlosen Anblick bot die Diele. Zerschmetterte Möbel lagen herum, und die Treppe war zur Hälfte zusammengebrochen. Brenda Delano konnte diese Verwüstung niemals selber angerichtet haben, um möglicherweise von einem Verbrechen abzulenken. Andererseits war der Verdacht von Ness gegen sie
nicht ausgeräumt. In seinem Gedächtnis haftete fest, was die Leute über das Ehepaar gesagt hatten. Die Ehe war nicht gut gegangen. Brenda Delano war ein Zankbesen, und ewig hatte sie auf Jack herumgehackt, weil sie aus Kilmarnock wegziehen wollte. Ness ließ eine Leiter zur Stelle schaffen und kletterte über die zerstörte Treppe ins Obergeschoß. Eingehend prüfte er das zusammengeknotete Lakenseil, das aus dem hinteren Giebelfenster hing. Die Ergebnisse ließen ihn nachdenklich zum Blutschloß auf dem Rabenstein hinaufsehen. »Wir nehmen uns jetzt das Schloß vor!« befahl er seinen Leuten. *** Henry Bishop mußte trotz seiner vielen Einwände mit hinauf auf den Rabenstein. Er war hier die Amtsperson. Außerdem hatte jemand Ness erzählt, wenn sich jemand da oben auskenne, dann der Bürgermeister. Ness ertappte sich dabei, daß er nach den Bergdohlen Ausschau hielt. Die gruseligen Geschichten, die er heute schon zu hören bekommen hatte, zeigten Wirkung. Von den Vögeln war nichts zu sehen. Seltsam! Dabei waren gerade Burgen und Gebäude auf Bergspitzen die Orte, die sie liebten. Auf halber Weghöhe weigerten sich die Hunde, noch einen Schritt weiterzugehen. »Das ist der Platz, Sir«, erläuterte der Hundeführer. »Hier waren wir heute schon einmal.« »Versuchen Sie es!« verlangte Ness. Der Hundeführer lockte und drohte. Die Tiere verweigerten ihm den Gehorsam. »Bringen Sie die Biester zurück!« entschied Ness. Er stieg
mit seinen Männern weiter hinauf. Der Weg war steil und beschwerlich. Es war kaum vorstellbar, daß hier einmal die Steine für Tinmore Castle herauf geschafft worden waren und daß sich der ganze Verkehr mit der Burg darauf abgespielt hatte. »Einen anderen Weg gibt es nicht?« fragte Ness den Bürgermeister. »Nur vom Ort bis zum Fluß. Hier herauf nicht.« Henry Bishop zeigte in die Tiefe. Deutlich erkennbar führten vom Dorf her zwei Wege. Einer war verkommen. Den hatten sie eben benützt Er führte zu dem wackligen Steg über den Tinmore. Der andere war von ein paar Häusern gesäumt. Das letzte war das von Archy. Der junge Mann stand auf dem Hof und starrte herauf. Erst hinter den Häusern war der Weg kaum noch auszumachen. Niemand benützte ihn mehr, denn die alte Brücke, zu der er führte, lag unten im Wasser. Auf dem diesseitigen Ufer zog der Brückenweg ein Stück am Tinmore entlang und vereinigte sich mit dem steilen Pfad. Ness zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Nachdenklich schaute er zu den vom Alter geschwärzten Bastionen, Mauern, Türmen und Torburgen hinauf. Eigentlich hätte Tinmore Castle eine Ruine sein müssen. Doch alles sah erstklassig erhalten aus. Nirgendwo zeigte sich eine Spur von Zerfall. Das war auch recht eigenartig. Er wandte sich an den schnaufenden Bishop, der neben ihm ging. »Wem gehört das Gemäuer eigentlich?« »Früher der Grafschaft. An die ist es gefallen, als die Tinmores ausstarben. Seit drei Generationen gehört es den Waters. Aber sie stecken keinen Penny hinein und waren auch noch nie hier.« »Water?« »Sir Randolph Water, der Haferbrei-König.« Bishop wischte
sich über das Gesicht. Der Name sagte Ness etwas. Sir Randolph Water war ein millionenschwerer Mann. Halb England löffelte morgens seinen Porridge vom Teller. Das brachte verständlicherweise Geld in die Kasse. Wie Ness aber die reichen Leute kannte, leisteten die sich keine Fehlinvestition. Oder selten eine. Wozu besaßen die Waters dieses uralte unheimliche Schloß, wenn sie es nicht benützten? Henry Bishop schien zu spüren, wohin die Gedanken des Inspektors gingen. »Der Großvater hat’s gekauft«, erklärte er. »Damals ging es der Grafschaft dreckig. Das Schloß war fast für umsonst zu haben.« Umsonst – das war ein relativer Begriff. Zu Königin Viktorias Zeit hatte es auch Leute gegeben, die es als amüsanten Zeitvertreib betrachteten, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Dieses Gruselschloß zu besitzen – das war Geld zum Fenster hinausgeworfen. Die Waters residierten in London. Das war weit. Oder gab es andere Gründe, die den Haferbrei-König davon abhielten, Wohnung auf Tinmore Castle zu nehmen? Vielleicht diese alten Spukgeschichten? Bishop als Bürgermeister wußte vielleicht in diesem Punkt mehr. »Warum wohnt die Familie nicht hier?« Henry Bishop zuckte die Achseln. »Weiß ich’s? Vielleicht ist den Leuten die Gegend zu abgeschieden. Ich habe mal gehört, daß Sir Randolph versucht hat, den Besitz zu verkaufen. Er muß erhebliche Steuern dafür aufbringen. Aber wer kauft heutzutage noch ein Schloß?« Ness kannte das Dilemma. Die britischen Schlösser wurden besteuert, daß den Besitzern die Schwarte knackte. Wenn die Leute nicht schließlich an den Bettelstab kommen wollten,
mußten sie die Schlösser der Öffentlichkeit zugänglich machen und für Geld besichtigen lassen. Meist deckte es noch nicht einmal die laufenden Kosten. Außer den Steuern verursachte dieses Schloß jedoch keine Kosten. »Warum zerfällt es nicht?« fragte der Inspektor den Bürgermeister. Bishop wurde das Thema zu heiß. »Ich glaube, es hat mit der – der alten Geschichte zu tun«, sagte er abweisend. Sie setzten den Aufstieg fort und langten zehn Minuten später auf dem Rabenstein an. Der Ausblick ins Tinmore-Tal war atemberaubend. Bis weit hinter Abbot und Glanstony war das Land zu sehen. Samt der alten Kopfsteinpflasterstraße, die sich durchs Tal wand. Ness war mit seinen Leuten nicht heraufgekommen, um die Aussicht zu genießen. »Fangen wir an!« befahl er. Noch vor der ersten Torburg schützte ein Vorwerk mit moosgrünen Mauern den Zugang. Türen waren keine mehr vorhanden. Aber sonst sah es aus, als würden die Bewohner jeden Augenblick zurückkehren. Das Vorwerk enthielt keinen Hinweis auf Jack Delano oder den Unhold oder was immer gestern abend sein Unwesen im Ort drunten getrieben hatte. Eine wuchtige Bohlenbrücke führte über einen Felsspalt zur Torburg. Mißtrauisch begutachtete Ness die Holzbohlen. Sie waren unregelmäßig beschaffen und stammten erkennbar aus einer Zeit, in der Balken noch mit Beilen zugerichtet und nicht gesägt wurden. Er stampfte mit dem Fuß auf. Nicht eine Bohle war morsch. Nirgendwo sah er Spuren von Verwitterung. Und Dohlen, nach denen er verstohlen schaute, entdeckte er ebenfalls nicht. Ein unheimliches Gefühl wandelte ihn an.
Es schien kälter zu werden, obwohl die Sonne schien und ihren höchsten Stand hatte. Seine Leute waren unentschlossen. Sie erwarteten, daß er ihnen als Beispiel voran ging. »Sie kommen doch mit hinein?« Er schaute auf Henry Bishop. Das Erschrecken stand dem Bürgermeister im Gesicht. »Da hinein kriegen mich keine zehn Pferde, Inspektor. Ich habe Sie heraufgebracht, alles andere erledigen Sie!« Ness rümpfte die Nase und schritt über die uralte Bohlenbrücke. Beide Torflügel waren erhalten. Einer stand auf. Die Schritte des Inspektors hallten geisterhaft hohl in der Wölbung des Durchganges. Dahinter öffnete sich ein kleiner Hof. Er war von hohen Bastionen begrenzt, in denen Ness zwei Dutzend Schießscharten zählte. Der Torburg gegenüber wuchtete ein zweiter Turm zum Himmel, größer und massiger. Ness konnte sich gut vorstellen, daß er einst der Kern der Verteidigungsanlage gewesen war. Sein Schritt stockte. Ungläubig weiteten sich seine Augen. Er starrte auf das Tor im Turm gegenüber. Es war geschlossen. An einem Flügel hing eine menschliche Gestalt. Ihre Füße schwebten drei Fuß über dem Boden, und durch ihren unförmigen blutigen Schädel war ein gewaltiger Eisennagel getrieben. »Mein Gott!« würgte Ness hervor. »Er ist ans Tor genagelt!« *** Es fehlte nicht viel, und seine Leute wären davongelaufen. Die schaurige Gestalt entsprach genau der Schilderung des
Unholds, der hinter Brenda Delano hergewesen war und auch die Gasthaustür zerschlagen hatte. Es kostete Ness starke Überwindung, näherzutreten. Der Beschreibung nach war es nicht nur der Unhold, sondern auch Jack Delano. Er mußte von einem Monster zerfleischt worden sein. Monster – das war der treffende Ausdruck. Ness konnte sich keinen Menschen vorstellen, der so etwas Abscheuliches tat. Die Gestalt sah so vertrocknet aus, als hinge sie schon seit Tagen hier. Die Haut sah wie altes Papier aus. Bedrückt und mit Entsetzen im Blick standen die Polizisten eng beisammen. Sie spürten die Unheimlichkeit des Ortes. Das Grauen kroch aus den Mauern und den zahllosen Winkeln des Blutschlosses. Ness löste sich aus seiner Erstarrung. »Steht nicht dumm herum, nehmt ihn endlich herunter!« Das war leichter gesagt als getan. Sie konnten den Nagel nicht entfernen, der den Körper festhielt. Ness schickte zwei Leute zum Dorf, um eine Leiter und Werkzeug zu holen. In der Zwischenzeit durchsuchte er mit dem Rest seiner Truppe die weitläufige Anlage der Gruselburg. Nicht ein Dach war verwittert, nirgendwo hatte es je hereingeregnet. Die dunklen Gänge, die zugigen Hallen und Zimmer waren bestens erhalten. Falls jemand einziehen wollte, brauchte er nur die Möbel hereinzustellen. Und er mußte natürlich auf eine Menge Annehmlichkeiten verzichten. Es gab keine elektrische Beleuchtung, kein fließendes Wasser. Und was den damaligen Burgbewohnern als sanitäre Einrichtung gedient hatte, war eine ziemlich abenteuerliche Angelegenheit. Zugige Ausbauten hoch an den Mauern nach außen nämlich – fertig.
Irgendwelche Anzeichen dafür, daß Jugendliche aus dem Ort in der vergangenen Nacht einen Schabernack gespielt hatten und das Geisterlicht leuchten ließen, fanden sich nicht. Auf den Doktor war auch kein Verlaß. Sämtliche Keller- und Dachräume und die Gewölbe konnte Ness nicht durchsuchen. Dafür waren Tage erforderlich. Einmal war ein fernes Grollen zu hören. Es schien aus den Tiefen des Berges zu kommen. Die Polizisten wurden nervös. Ness sah ein, daß er seinen Leuten nicht mehr zumuten konnte. Er gab das Kommando aus, daß sie sich aus dem Schloß zurückzogen. Mittlerweile mußten auch die beiden Leute mit der Leiter und dem Werkzeug da sein. Ness erlitt den Schock seines Lebens. Seine beiden Männer waren noch nicht zurück. Aber die entsetzlich zugerichtete Gestalt war vom Torflügel verschwunden. Am Holz fanden sich nicht einmal Blutspuren. Nur der eiserne Nagel ragte aus dem Tor. *** Die Polizei gab nach zwei Tagen ihre Bemühungen auf, Licht in die unheimlichen Vorgänge zu bringen oder die verschwundene Leiche wiederzufinden. Ness fuhr mit seinen Leuten davon. In Kilmarnock blieb die Angst zurück. Brenda Delano verließ nach einer Woche den Ort. Sie wollte in die Stadt, sagte sie, und von dort aus das kleine Haus verkaufen. Niemand vermißte sie. Hallorans Frau in Glanstony starb am selben Tag. Niemand wußte, woran. Doktor Garrick hob nur die Achseln und hüllte sich in Schweigen. Und an manchen Tagen plagte ihn die Gicht, daß er sich kaum rühren konnte und seine Patienten
vergebens auf ihn warteten. Archy kam nicht mehr im Samsons Kneipe. Zeitweise redete er ziemlich verworrenes Zeug, und um den alten Kilrain machte er einen solchen Bogen, daß es jedermann auffiel. Heimlich tippten sich die Leute an die Stirn. In Archys Kopf war wohl nicht mehr alles richtig. Die schrecklichen Erlebnisse in jener Nacht verkraftete er nicht. Einmal drang Kunde aus Abbot nach Kilmarnock, daß Sir Randolph Water im fernen London sich höchst schockiert gezeigt hätte über die Ereignisse und jetzt einen Dummen suche, dem er das Blutschloß andrehen könne. Danach hörte man nichts mehr von seiner Absicht. In Kilmarnock kehrte der Alltag ein, aber die Furcht ließ die Menschen nicht los. Drohend und düster überragte Tinmore Castle das Tal. Das Schreckliche konnte sich jederzeit wiederholen. *** Finsteres Gewölk ballte sich an einem hellen Mittag um die Türme und Zinnen des Blutschlosses zusammen. Ein paar Dohlen tanzten in den Windböen und schienen mit den dunklen Wolken um die Wette zu jagen. Unten im Tal schien die Sonne. Ein fernes und unheimliches Brausen drang vom Berg herunter. Henry Bishop schaute aus dem Fenster seiner winzigen Bürgermeisterei und bekreuzigte sich. »Nicht schon wieder!« murmelten seine Lippen. Hastig schloß er ab und eilte nach Hause, wo er die Schmiede, die Werkstatt und vor dem Haus die Tankstelle hatte. Die Leute hatten ebenfalls gesehen, was sich droben am Rabenstein abspielte. Sie kamen voller Entsetzen von den
Feldern herein. Andere riefen die spielenden Kinder ins Haus. An der Ecke, wo sich die Straße zu einem kleinen Platz weitete, blieb Bishop wie angewurzelt stehen. Doktor Garrick bog im nämlichen Moment aus einer Gasse ein. Aber das war es nicht, was Bishop stutzen ließ. Sondern die mächtige Limousine vor der Tankstelle. So ein Fahrzeug fuhren nur fürchterlich reiche Leute. Weil die sich so etwas leisten konnten. Der Wagen trug ein Londoner Kennzeichen. Doktor Garrick erkannte, was Bishops ganze Aufmerksamkeit fesselte. »Dann haben die Männer Sie also nicht gefunden«, meinte er trocken und zeigte auf das Fahrzeug, das in Kilmarnock wirkte wie ein edles Rennpferd in einem Ziegenstall. »Wer?« würgte Bishop heraus und spürte, daß Unheil in der Luft lag. »Ich war die ganze Zeit in der Bürgermeisterei.« Garrick grinste auf seine bissige Art. »Einer hat sich als Sekretär von Sir Randolph Water vorgestellt, der andere scheint der Kleidung und der Sprache nach ein Amerikaner zu sein. Sie haben bei mir vorgesprochen. Wollen das Schloß besichtigen.« »Das Schloß? Sind die denn wahnsinnig geworden? Haben Sie sie denn nicht zurückgehalten?« In völliger Unschuld hob Garrick die Achseln. »Ich dachte, sie kommen zu Ihnen, und Sie reden es ihnen aus. Außerdem, was soll schon passieren? Es ist heller Tag.« »Himmelherrgott, haben Sie in den letzten Minuten mal zum Rabenstein hinaufgesehen?« brauste Bishop gegen den Arzt auf. »Die Dohlen fliegen! Und da oben ballen sich Wolken zusammen!« »Ein kleines Unwetter, es ist die Jahreszeit dafür«, meinte Garrick. »Und der Inspektor hat auch gesagt, daß die Dohlen gar nichts zu bedeuten haben. Entschuldigen Sie mich, ich muß
noch über Land. Meine Patienten halten mich in Trab.« Brummend ging er über den Platz und verschwand in einer Gasse gegenüber, wo sein Haus lag. Henry Bishop setzte sich langsam in Bewegung. Zwei Männer waren also zum Rabenstein unterwegs. Fremde. Vielleicht waren sie schon oben. Das erklärte vielleicht die Dohlen, die sich gestört fühlten. Aber doch nicht das dunkle Wetter genau über dem Blutschloß! Es war wohl gut, wenn er Ness verständigte. Er wollte in die Gasse gehen, hörte aber Garrick mit der Haushälterin sprechen. Eine Wagentür klappte, der Anlasser surrte, und dann setzte sich das klapprige Auto des Doktors in Bewegung. Es fuhr die andere Richtung. Sonst hatte niemand Telefon. Ein fernes Brausen und Rumoren drang an Bishops Ohren. Einer seiner Nachbarn trieb sein Viehgespann in höchster Eile in seinen Hof. Aus Richtung der Felder im mittleren Tal kamen noch Menschen ins Dorf gehastet und suchten Zuflucht hinter den Mauern ihrer Häuser. Die nackte Angst breitete ihre Schwingen über den Ort. Bishop blieb neben der schweren Limousine stehen. Die Männer waren ohne Chauffeur gekommen. Er schaute ins Wageninnere, als könnte er etwas sehen, was ihm Aufschluß über den Zweck ihres Besuches gab. Wenn der zweite Mann wirklich ein Amerikaner war, wie Garrick vermutete, dann hatte Sir Randolph Water vielleicht doch einen Dummen gefunden, dem er Tinmore Castle andrehen konnte. Seinen Sekretär hatte er bestimmt nicht bloß auf eine Spazierfahrt geschickt. Bishop schaute zum Blutschloß hinauf. Die dunkel drohenden Wolken hatten jetzt die Mauern und Türme eingehüllt. Von den Dohlen war nichts mehr zu sehen. Ein typisches Sommerunwetter braute sich dort oben aber
auch nicht zusammen. Es hätte längst geblitzt und gedonnert. Bishop kam es vor, als sollten die Wolken etwas einhüllen und verbergen. Er wurde seine Sorge und Unruhe nicht los und versuchte, ein paar Männer zusammenzutrommeln. Als die hörten, daß er mit ihnen zum Blutschloß hinaufsteigen wollte, gebrauchten sie sehr heftige und derbe Worte gegen ihn und verweigerten ihm die Hilfe. Sogar Samson brüllte ihn an. Seit ihm Ness das Gewehr hatte abnehmen lassen, war mit ihm nichts mehr los. Henry Bishop kehrte um, betrachtete nachdenklich den vornehmen Wagen aus London und ging zu Garricks Haushälterin. Er redete mit Engelszungen auf die hagere mürrische Frau ein, damit sie ihn das Telefon benutzen ließ. Nur mühsam konnte er sie überzeugen, daß die Polizei verständigt werden mußte. Sie ließ ihn ins Haus und zeigte ihm den Apparat in der Diele, wo es nach selbstgemachter Medizin roch. Die Nummer mußte er sich selber aus dem abgegriffenen Telefonbuch heraussuchen. Kilmarnock schien bei der Grafschaftspolizei keinen guten Ruf zu haben. Der Beamte war sehr zurückhaltend und sagte, er werde Ness eine Nachricht hinlegen. Wenn der Inspektor es für erforderlich halte, werde er zurückrufen. Bishop wollte noch erklären, daß das schlecht ging. Aber da hatte der Beamte schon aufgelegt. Garricks Haushälterin nahm ihm vierzehn Pennies für das Gespräch ab. Zu gleichen Teilen betroffen und wütend verließ Bishop das Haus. Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Wollte ihm denn nicht ein Mensch helfen? Empörung und Grimm erfüllten ihn. In einem plötzlichen Entschluß machte er sich allein auf den Weg zum Rabenstein. Vielleicht waren die beiden Männer
schon auf dem Rückweg. Niemand begegnete ihm. Auf dem morschen Steg packte ihn das Grauen. Aber mehr über seinen trotzigen Mut. Er lauschte den Berg hinauf. Die Sturmböen brausten und orgelten um Kanten und Bäume und um die uralten Mauern. Schritte oder Stimmen hörte er nicht. Er war so halb entschlossen umzukehren. Aber dann fiel ihm ein, daß es Fremde waren und daß sie womöglich vom Weg abgekommen waren. Ab der halben Berghöhe war alles in dunkel drohende Wolken gehüllt. Da oben sah man bestimmt nicht die Hand vor Augen. Henry Bishop stieg keuchen den uralten Weg hinauf, auf dem seine Vorfahren zur Fronarbeit nach Tinmore Castle gegangen waren. Bald streiften ihn erste Wolkenfetzen. Sie waren feucht und schwer und berührten sein Gesicht wie Spinnweben. Nach fünfzig Schritten umgaben ihn die Wolken. Ihre Feuchtigkeit legte sich ihm beklemmend auf die Brust. Er hatte Mühe, Atem zu holen. Sein Herz klopfte rasend, er spürte jeden Schlag bis in die Schläfen hinauf. Nach weiteren fünfzig Schritten blieb er stehen. Der Mut verließ ihn. Außerdem war sein Vorhaben doch sinnlos. Die Männer blieben vielleicht oben und warteten ab, bis sich das Unwetter verzog. Wenn sie überhaupt oben waren. Rufen konnte er ja mal! »Hallo, he, ist da jemand?« schrie er. Die feuchten Wolken schienen seine Worte aufzusaugen. Er lauschte. Wie ein Wispern drang es an seine Ohren. Es klang höhnisch und boshaft.
»He, wer ist da?« Die Furcht kroch ihm ins Genick. Er schaute sich nach einem dicken Stock um, den er als Waffe verwenden konnte. Da war etwas. Er spürte seine Nähe. Es kam auf ihn zu. Er fand keinen Stock, nur einen faustgroßen Stein. Den hob er auf. Plötzlich bewegte sich etwas in den Wolken. Genau auf ihn zu. Den Weg abwärts. Eine Gestalt schälte sich aus dem dunklen Grau. Henry Bishop stieß einen gequälten Schrei aus, als er das blutbeschmierte Gesicht sah und die Hände, die blutige Arbeit verrichtet hatten. Für die beiden Männer kam jede Hilfe zu spät, das begriff er in diesem fürchterlichen Augenblick. »Sie?« röchelte er, ließ den Stein fallen und hob abwehrend die Hände, als die Gestalt immer näher auf ihn zukam. »Sie sind es also?« Die Gestalt kicherte. Ihre Augen begannen in einem unheimlichen Feuer zu glühen. Sie reckte sich und erschien Bishop plötzlich riesengroß. »Dein Pech, Bürgermeister. Du wärst besser im Dorf geblieben.« Die Gestalt brachte ein Handbeil zum Vorschein mit breiter geschwungener Klinge und altersschwarzem Holzstiel. Mit einem schrillen Schrei warf sich Henry Bishop herum. Nur fort, nur weg! Hier drohte ihm der Tod! Mit blitzschnellen Schritten holte ihn die Gestalt ein. Beide Hände führten das Beil. Ein mächtiger Schlag spaltete Henry Bishop den Schädel. Die Gestalt nahm das blutige Beil an sich und streichelte mit einem bösen Lachen die mörderische Klinge. Dann hüpfte sie den Weg abwärts. Die treibenden Wolkenfetzen verschluckten sie.
*** Gegen Abend löste sich der mächtige Wolkenturm auf, der den Rabenstein und das Blutschloß über Stunden eingehüllt hatte. Die Leute sahen es, aber sie blieben in ihren Häusern und riskierten nur scheue Blicke aus dem Fenster. In der Dunkelheit kehrte der Doktor von seinen Patientenbesuchen zurück. Die Lichtfinger seiner Autoscheinwerfer streiften die fremde Limousine vor der Tankstelle. Er hielt an und klopfte bei Bishop. Die Frau öffnete ihm. Sie war besorgt und hatte ein verhärmtes Gesicht. »Henry ist nicht da, Doktor. Er ging im Dorf herum und suchte Hilfe.« »Wohin ist er?« fragte Garrick bissig. »Doch nicht etwa hinauf?« Der Frau schossen die Tränen in die Augen. Sie nickte. »Ich glaube, er – er ist dann allein gegangen«, schluchzte sie. »Der Narr!« brauste der Doktor auf. »Unten steht noch der Wagen aus London. Demnach sind die Männer auch noch nicht zurück?« Bishops Frau schüttelte den Kopf. Garrick verabschiedete sich knapp. Neben dem fremden Wagen blieb er stehen. Lange starrte er zum Rabenstein und den Türmen und Mauern des Blutschlosses hinauf, die sich schwarz vor dem hellen Nachthimmel erhoben. Er kniff den Mund zusammen, stieg in sein klappriges Auto und fuhr die letzten Meter zu seinem Haus. Die Haushälterin klapperte in der Küche und bereitete ihm das späte Abendessen. Als sie es auftrug, sagte sie ihm, daß Bishop mit der Polizei telefoniert hatte. Vor Stunden schon. Seinem unzufriedenen Gesicht nach sei er abgekanzelt worden. Aber sie habe natürlich nichts verstanden. Garrick aß schweigend die Mahlzeit.
Später zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, füllte Karten aus und bereitete noch eine Medizin und zwei Salben. Seine Patienten mochten ihn nicht, aber seine Medizin schätzten sie. Spät beendete er die Arbeit. Er dehnte die Schultern. Irgendwie fühlte er sich wie neugeboren. Die Gicht plagte ihn nicht. Prüfend betastete er die Knoten an den Fingern. Sie waren verschwunden. Wieder einmal. Das konnte er häufiger an sich feststellen. Mal waren sie da und dann wieder weg. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür gab es nicht. Statt zu Bett zu gehen, verließ er noch einmal das Haus. Ein Raunen und Wispern war in der Gasse. Als seine Schritte über das Kopfsteinpflaster tappten, verstummten die seltsamen Laute. Garrick scherte sich nicht darum. Er ging bis zu dem kleinen Platz und sah auf das fremde Auto. Es stand unberührt. Der Doktor zuckte die Achseln und kehrte zurück. Am Morgen waren die beiden Fremden noch immer nicht zurück. Auch Henry Bishop war nicht heimgekommen. Inspektor Ness mußte her, ob es ihm gefiel oder nicht. Als er gegen Mittag eintraf, knirschte er noch mit dem Zähnen. Henry Bishop fanden sie um zwei Uhr mit gespaltenem Schädel auf dem Weg zum Blutschloß hinauf. Um drei Uhr entdeckten sie den Mann, den Doktor Garrick als Amerikaner beurteilt hatte. Er hing am Tor des großen Turmes, und der mächtige eiserne Nagel war durch seinen Kopf getrieben. Sein sonstiger Zustand sagte aus, daß er seit mehreren Tagen schon tot sein mußte. Er war ausgetrocknet, seine Haut fühlte sich wie brüchiges Pergament an. Alles in Ness sträubte sich, die Tatsachen anzuerkennen. Denn eine Tatsache war auch, daß der Wagen erst gestern aus
London gekommen war. Dafür gab es genug Zeugen. Und daß zwei Männer gesund und munter den Wagen verlassen hatten und durch das Dorf zum Tinmore gegangen waren. Ein Beamter kam mit weichen Knien und kreidebleich aus dem Innenhof. »Sir, den anderen haben wir auch«, würgte er krächzend hervor. Ness ließ sich hinführen. Der Sekretär von Sir Randolph Water hatte durch ein Rundtor einen Flügel des unheimlichen Schlosses betreten wollen. Jedenfalls zeigte sein Gesicht ins Gebäude. Von oben war ein Fallgatter herabgesaust, das früher im Verteidigungsfalle eingedrungene Angreifer aufhalten sollte. Das Gatter hatte den Sekretär von oben her der Länge nach aufgespießt. Zwei Eisenpfähle steckten in seinem Körper. Der Mann stand fast aufrecht. Der Tod mußte ihn in Sekundenschnelle ereilt haben. Ness wollte nicht, daß die Toten ebenfalls auf unerklärliche Weise verschwanden wie Jack Delanos Leichnam. Er hieß seine Männer höllisch aufpassen und machte sich mit zwei handwerklich begabten Leuten auf die Suche nach dem Mechanismus, mit dessen Hilfe das Fallgatter heraufzuziehen war. Sie entdeckten über dem Rundtor einen Raum, der eine primitive Seilwinde enthielt. Sie war nichts anderes als ein Stück Baumstamm mit Randspaken. Der Raum reichte aus, um das Gatter aufzunehmen. Ness und seine beiden Helfer holten das Gatter herauf. Durch Löcher im Steinboden sahen sie, daß der Tote unten blieb. Plötzlich vernahmen sie Tumult. Von bösen Ahnungen geplagt rannte Ness die enge ausgetretene Treppe hinab, die in einem unscheinbaren Mauerwinkel endete. Seine Wachen schauten ihn an, als sei er der Teufel
persönlich. Der Tote war spurlos verschwunden. Er hatte sich vor den Augen der Beamten aufgelöst, die ihn bewachen sollten. Ness fluchte lästerlich und raste zum Tor, wo der andere Tote hing. Oder hängen sollte. Der war auch fort. Ness war klug genug, seinen Leuten nicht den Befehl zum Ausharren und zu einer sinnlosen Suche zu geben. Der Ort war verhext. Das glaubte er jetzt auch. Noch an diesem Tag bat er seinen Vorgesetzten offiziell, ihn von dem Fall Tinmore Castle zu entbinden. Er sah sich der Sache nicht gewachsen. *** Einige Tage später in New York. Der renommierte Rechtsanwalt Gordon Black hatte eine kurze Unterhaltung mit seiner Sekretärin und Freundin Hanako Kamara. Renommiert war er in doppelter Hinsicht. Er legte die Verteidigung seiner Klienten immer blendend an, was ihm sogar seine Gegner, die Ankläger, zähneknirschend bescheinigten. Und er hatte einen Ruf als Geisterjäger. Was wiederum die Anwaltskammer von New York gar nicht erbaute. Dort knirschte man auch mit den Zähnen. »Kennen wir einen Hector Beecham?« fragte Hanako, setzte sich ungezwungen auf Gordons Schreibtischkante und schlug in blutdrucksteigernder Art die Beine übereinander, wobei der Rocksaum handbreit hochrutschte. Es war ein verführerischer Anblick. Aber so früh am Tag hatte Gordon Black keine Verwendung für verführerische Anblicke. »Ich kenne einige Beechams, aber
keinen Hector. Was hat er ausgefressen?« »Nichts, wie er aussieht. Er schleppt einen Stapel Wirtschaftszeitungen mit sich und sieht ungemein distinguiert aus. Ein richtiger Gentleman.« »Al Capone soll zeitweise auch wie ein Gentleman ausgesehen haben und war doch keiner. Wünscht er seine Verteidigung, dieser Hector Beecham?« »Deinen Rat. In einer delikaten Angelegenheit, wie er sich ausgedrückt hat. Willst du ihn sehen, oder soll ich ihn abwimmeln?« Gordon Black schaute für Augenblicke aus dem Fenster. Er konnte es sich leisten, seine Klienten auszusuchen. Er war nicht darauf angewiesen, jeden schrägen Vogel vor Gericht herauszupauken. »Anhören will ich ihn mir«, sagte er und schloß eine Akte in den Schreibtisch. Hanako glitt von der Schreibtischkante und holte den Besucher herein. Er war grauhaarig und mindestens fünfzig. In der Tat sah er wie ein wahrer Gentleman aus. Hector Beecham schaute sich prüfend im Raum um. Er genoß sichtlich die verhaltene Eleganz der Einrichtung. Er empfand sie als solide. Genau das hatte er auch erwartet. Von der Art, wie sich ein Mann einrichtet, konnte man auch auf seine Arbeit schließen. »Hector Beecham«, stellte er sich dem Anwalt vor. Gordon Black horchte auf. Da war ein unverkennbarer englischer Unterton in der Sprache. »Black. Willkommen, Mister Beecham. Nehmen Sie Platz.« Gordon wies auf eine Sesselgruppe. Dort ließ es sich ungezwungener reden als am Schreibtisch. »Sie haben ein Problem, und es ist delikater Natur. Schießen Sie los.« »Lesen Sie das!« Hector Beecham legte dem Anwalt die Zeitungen vor. Er hatte rot umrandet, worauf es ihm ankam.
Gordon las schnell und sicher. Im wesentlichen ging es um einen gewisssen Sir Randolph Water, der als britischer Haferbrei-König bezeichnet wurde, und daß sein Imperium unter Druck geraten war und zu bröckeln begann. Recht verhalten wiesen die Blätter auf gewisse Vorgänge hin, die die beherrschende Marktstellung das Water-Produkts in ernste Gefahr gebracht hatten. Aber näher ließen die Artikelschreiber sich nicht aus. Immerhin handelte es sich um Wirtschaftsveröffentlichungen und nicht um billigen Tratsch, wie ihn die Boulevardpresse unters Volk bracht. »Schön und gut, dieser Haferbrei-König wackelt«, faßte Gordon zusammen. »Und wo ist da ihr Problem? Haben Sie Geld in dem Geschäft?« »Leider nicht«, sagte Hector Beecham leidenschaftslos. »Porridge ist auf der Insel die beste Anlage. Eine wahre Goldgrube. Meine Familie stammt von drüben.« »Was Sie nicht sagen! Meine auch.« »Ich weiß. Und ich weiß noch mehr. Sehen Sie, ich mache mein Geld mit Elektronik. Chips und so. Der Verdienst ist auskömmlich. Seit Jahren bemühe ich mich, in der Heimat meiner Väter ein standesgemäßes Haus zu erwerben, das meiner Familie als Standort bei Reisen durch Europa dienen soll. Ich dachte an ein Schloß oder etwas in dieser Art. Die Angebote, die ich bekam, waren unseriös, oder die Forderungen waren überzogen. Immerhin aber bekam ich Kenntnis vom Marktwert englischer Schlösser. Oder wie die Besitzer den Marktwert einschätzen. Leider hat die englische Steuergesetzgebung auch die Gesinnung der Besitzer verdorben. Kürzlich nun erhielt ich ein Angebot von eben diesem Haferbrei-König. Eine Makleragentur in London ist von mir beauftragt, nach guten Objekten zu realistischen Preisen Ausschau zu halten. Sir Randolph ließ mir ein Schloß namens Tinmore Castle irgendwo nördlich von Sheffield anbieten. Zu einem atemberaubend niedrigen Preis. Das
machte mich stutzig. Zu dem Zeitpunkt lauteten alle Auskünfte über Sir Randolph günstig. Also fragte ich mich, was ihn bewegt, sein Schloß praktisch zu verschleudern. Es handelt sich angeblich um ein Geisterschloß, und es soll sich kürzlich eine gräßliche Bluttat dort ereignet haben. Oder im Zusammenhang mit dem Schloß stehen. Im Herzen bin ich Brite, und das verpflichtet mich geradezu, an die Existenz von Geistern zu glauben. Aber ich bin in Amerika aufgewachsen, und hier geschehen jeden Tag schreckliche Bluttaten, und niemand bringt sie mit Geistern in Verbindung.« Hector Beecham zupfte ein weißes Tuch aus der Tasche und trocknete seine Stirn. »Verstehe.« Gordon nickte. »Diese Bluttat sind jene Vorkommnisse, auf die in den Artikeln angespielt wird.« »Nein. Ein zufälliges Verbrechen könnte auch niemals einen Sir Randolph finanziell umstoßen«, sagte Hector Beecham mit beherrschter Stimme. »Ich fahre besser in der Reihenfolge fort. Das Angebot jedenfalls erschien mir schon günstig. Aber eine Katze im Sack wollte ich doch nicht kaufen. Also schickte ich vor einer Woche meinen Vermögensverwalter nach England, um das Objekt auf Herz und Nieren zu prüfen und bei günstigem Befund den Ankauf zu tätigen.« Jetzt wurde die Stimme Hector Beechams etwas leidenschaftlicher. »Er ist mit dem Sekretär von Sir Randolph zu diesem Schloß gefahren. Und dann – es ist unglaublich. Deshalb komme ich zu Ihnen.« »Sicher, sicher«, beschwichtigte Gordon den Besucher, dessen Atem plötzlich keuchend ging. »Was war dann?« Hector Beecham strich sich mit zitternder Hand über das Gesicht. »Man hat Harvill gefunden – tot, mit einem Nagel durch den Kopf an ein Schloßtor genagelt. Wie das Opfer jener Bluttat zuvor. Der Sekretär war von einem Fallgatter aufgespießt. Ein
Dutzend Polizisten hat beide gesehen. Und plötzlich waren die Leichen verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen. Den Bürgermeister des Ortes hat man beim Schloß mit gespaltenem Schädel gefunden. Nur seine Leiche blieb der Polizei.« »Aha, langsam komme ich hinter den Sinn«, faßte Gordon zusammen. »Diese gewissen Vorkommnisse – damit ist das scheußliche Verbrechen an Ihrem Beauftragten, an Sir Randolphs Sekretär und dem Bürgermeister gemeint. Das Schloß gehört Sir Randolph, das Schloß kommt ins Gerede, und das färbt auf den Besitzer ab und endlich auf sein Produkt. Der Umsatz geht zurück?« »Rapide. Der Markt reagiert unberechenbar und zumeist dramatisch.« »Hm!« Gordon schaute aus dem Fenster auf das UNO-Gebäude. »Die Tat eines Verrückten vermutlich. Man wird den Mann oder die Frau fassen, und bald legt sich die Aufregung.« Beharrlich schüttelte Hector Beecham den Kopf. »Einen Umstand möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Er ist der bedeutsamste. Harvill und Kemble – das war der Sekretär – sind dienstags in Kilmarnock angekommen. Man fand sie anderntags. Aber übereinstimmend haben die beteiligten Polizisten samt dem ermittelnden Inspektor ausgesagt, daß ihre Körper gänzlich ausgetrocknet wirkten und so, als seien sie schon seit mehreren Tagen tot. Die Haut soll sich wie altes Pergament angefühlt haben. Ich bitte um Vergebung, daß ich Sie mit solchen unappetitlichen Einzelheiten bekannt mache. Harvill war mir durch zwanzig Jahre hindurch ein treuer und verläßlicher Mitarbeiter. Es widerstrebt meiner Natur, seinen Tod als gegeben hinzunehmen. Ich will ihm nichts schuldig bleiben, und darum bitte ich Sie, sich dieses Falles anzunehmen.« Der Besucher schaute erwartungsvoll.
»Sie wollen das Schloß also erwerben?« »Nein. Ich wünsche aber, daß Harvills sinnloser Tod und sein unheimliches Verschwinden eine Aufklärung erfährt. Die polizeilichen Ermittlungen sind auf einem toten Gleis angelangt.« Gordon Black faßte den Besucher ins Auge. »Mit anderen Worten werden sie nicht weitergeführt. Warum? Ich nehme doch an, daß Sie Informationen aus erster Hand besitzen. Bei Ihren weitreichenden Geschäftsbeziehungen.« »Die Umstände deuten auf eine übernatürliche Ursache der Bluttat hin. Die Grafschaftspolizei fühlt sich dafür nicht zuständig. Sie erscheinen mir als der geeignete Mann. Ich habe Vertrauen zu Ihnen.« Um seine Worte zu unterstreichen, zog er einen Scheck aus der Tasche. »Sie können jede Summe unter fünfzigtausend Dollar einsetzen«, ließ er Gordon Black wissen. »Qualität hat ihren Preis.« Gordon schaute ihn verblüfft an. Im Herzen mochte Hector Beecham wie ein echter Brite empfinden, was aber seine Geschäftsmethoden anbetraf, die waren hemdsärmelige Yankee-Art. Der Scheck war unterschrieben. Nur Summe und Datum mußten noch eingetragen werden. Gordon ließ den Scheck auf dem Tisch liegen. »Sie wollen nicht den Rechtsanwalt einkaufen, sondern den Geisterjäger. Was voraussetzt, daß Sie doch an die Existenz von Geistern glauben.« »In diesem Falle ja«, gab Hector Beecham unumwunden zu. »Bei den Leuten dort wird der Platz das Blutschloß genannt. Das geht auf eine grauenvolle Bluttat vor langer Zeit zurück, die ein grünhäutiges Monster verübt haben soll. Dieser Unhold treibt zuzeiten sein Unwesen. Jedenfalls verschwanden immer wieder Menschen, und man lastete es ihm an. Kilmarnock ist eine sehr ländliche Gegend, wo geheimnisvolle Dinge ein ganz
besonderes Gewicht haben.« »Was ich mir sehr gut vorstellen kann«, bestätigte Gordon. »Nirgendwo blüht der Aberglaube kräftiger als auf dem Lande. Andererseits sind die Menschen dort naturverbundener und noch nicht so abgestumpft wie ein Stadtbewohner. Sie finden eher eine Beziehung zum Übersinnlichen.« Hector Beecham nickte wohlwollend. »Ich merke schon, ich sehe mein Problem bei Ihnen gut aufgehoben.« Er sammelte seine Wirtschaftszeitungen ein. »Ich darf mich zurückziehen – mit Ihrer Erlaubnis.« Er sah nicht nur wie ein Gentleman aus, er hatte auch das Format eines Gentleman. Mit keinem Wort fragte er, wann Gordon die Sache in Angriff zu nehmen gedachte. Er setzte einfach voraus, daß nunmehr eine Abmachung bestand und daß sie eingehalten wurde. Gordon brachte den seltsamen Besucher hinaus. Hector Beecham konnte noch nicht einmal bei den Aufzügen des Bürohochhauses in der Nähe der Grand Central Station angelangt sein, als Hanako herausplatzte: »Ich habe gelauscht, Gordon. Ist der Scheck auch echt?« »Daran zweifle ich nicht eine Sekunde. Ich entdecke eine neue Eigenschaft an dir – die Habgier. Gute Sekretärinnen lauschen nicht.« »Gute Sekretärinnen haben jederzeit umfassend informiert zu sein. Wie sie das schaffen, bleibt ihrem Einfallsreichtum überlassen. Gute Chefs sollten das würdigen«, konterte sie. Gordon setzte eine gespielt strenge Miene auf. »Er würdigt es. Dann buche für uns zwei Plätze auf der morgigen Frühmaschine nach London. Und was die Informationsbeschaffung betrifft – versuche, die Grafschaftspolizei anzuzapfen. Aber decke unsere Karten nicht auf. Gib dich meinetwegen als nahe Verwandte des unglücklichen Harvill aus.«
*** Sir Randolph Water entpuppte sich als ein unausstehlicher Mensch von fast zwergenhaftem Wuchs. Und er erwies sich so unergiebig wie eine ausgetrocknete Ölquelle. Zu Tinmore Castle konnte er nichts sagen. Oder er wollte nicht. Wegen des Umsatzeinbruches seiner Haferbrei-Produkte schien ihm überhaupt das Thema unverdaulich im Magen zu liegen. Er räumte lediglich ein, daß sein Großvater einst das verdammte Gemäuer gekauft hätte und er sich damit nun herumschlagen müsse, es loszuwerden. Im Gegensatz zu Hector Beecham, der echtes Mitgefühl für seinen Vertrauten Harvill gezeigt hatte, erwähnte Sir Randolph seinen Sekretär Kemble mit keinem Wort. Er gab seinen beiden Besuchern zu verstehen, daß seine Zeit kostbar und knapp bemessen und die Audienz somit beendet sei. Draußen schüttelte sich Gordon. »Früher hatte England noch Männer von Format vorzuweisen. Die sind bis ans Ende der Welt gestürmt.« Mit dem Kopf machte er eine Bewegung auf Sir Randolphs kostbares Mahagonizimmer. »Bei solchen Gemütszwergen wundert es mich nicht, daß es mit dem Empire ständig bergabging.« Mit einem herrlich altmodischen Taxi fuhren sie zu der von Beecham beauftragten Makleragentur und fragten die Leute über dieses ominöse Blutschloß aus. Sie erfuhren nicht mehr, als Hanako in einem zweihundert Dollar teueren Telefongespräch mit der Grafschaftspolizei bereits gehört hatte. Unerklärliche Dinge waren dort in grauer Vergangenheit geschehen und geschahen immer noch. Manchmal sah man Dohlen fliegen, was allemal als Anzeichen eines nahenden Unheils angesehen wurde. Es gab Nebelerscheinungen und
Wolkenballungen, unterirdisches Rumoren, ohne daß ein Haus einstürzte, und ein Geisterlicht, das bisweilen in einem Fenster des Blutschlosses brannte. »Mager«, meinte Gordon nach dem Besuch. »Es bestätigt aber, was die Polizei erfahren hat und bereitwillig herausrückte.« »Für zweihundert Dollar darf man schließlich auch etwas erwarten.« Fauchend stemmte Hanako die Arme auf die Hüften. »Und du wirfst mir Habgier vor? Wer daheim einen Scheck im Safe liegen hat, dessen Wert er selber bestimmen kann, der muß auch Unkosten machen.« »Sparsamkeit ist des Touristen erste Pflicht«, erwiderte Gordon grinsend. »Darum fahren wir auch mit der Bahn nach Sheffield. Du hast Gelegenheit, Bekanntschaft mit der altehrwürdigen Victoria-Station zu machen.« Sie beorderten ihr Gepäck zu diesem berühmten Bahnhof und fuhren nach Sheffield. Mangels einer geeigneten Verbindung noch an diesem Tag nahmen Sie Quartier in einem Hotel. Der nächste Bus ging erst am frühen Morgen. Laut Fahrplan war es auch der einzige. Gordon verzichtete auf den Bus. Die Verkehrsverbindungen in die ländliche Gegend, in der ihr Ziel lag, schienen überhaupt eher abenteuerlich als romantisch zu sein. Gordon wollte beweglich bleiben und mietete einen Wagen. Um die Mittagszeit langten sie in einem Ort namens Abbot an. Dort bog eine scheußlich gepflasterte Straße ins Tinmore-Tal ab, an dessen Ende Kilmarnock liegen sollte. Gleich hinter Abbot erblickten sie eine stattliche Burg hoch auf einem schroffen Felsen. Die Szene war atemberaubend schön. Eine weitere Burg war nicht zu sehen. Also mußte es sich bei der Anlage um das geheimnisvolle Blutschloß Tinmore Castle handeln.
Hanako geriet in Verzückung. Gordon dagegen sah die Angelegenheit von der praktischen Seite. »Kein Grund, gleich in Raserei auszubrechen«, sagte er fast unwirsch zu seiner Begleiterin. »Denke auch mal an die armen Teufel, die damals ihren Leibherren diese Burg errichten mußten. Das hat viel Blut und Tränen und hektoliterweise Schweiß gekostet. Genau genommen war die vielgepriesene gute alte Zeit eine grausame Epoche.« Hanako mäßigte ihre Begeisterung. Die kopfsteingepflasterte Straße erwies sich als eine niederträchtige Einrichtung. Der Mietwagen war zwar klein und gemütlich, aber neu. Der Zählerstand zeigte erst eine Leistung von knapp achthundert Meilen an, und da waren die Federn noch tadellos in Ordnung. Dennoch fürchtete Gordon, bei der Holperei mit dem Kopf zum Dach hinauszustoßen. Er drosselte das Tempo. Vorsorglich hatte sich Hanako an den einzigen Haltegriff vor dem Beifahrersitz geklammert. Grinsend meinte Gordon: »Und jetzt stell dir vor, du würdest auch noch in einer Postkutsche sitzen. Kein Wunder, daß die Reisenden glaubwürdig versicherten, nach spätestens einer Tagesreise hätte es ihnen das Rückgrat zur Brust herausgerüttelt.« Hanako brauchte es sich nicht vorzustellen. Sie glaubte es. Die Kostprobe war überzeugend. Bald tauchte linker Hand ein zauberhaftes Cottage auf, eines dieser typisch englischen Landhäuser. Klein, aber urgemütlich. Erst aus der Nähe wurde der verwahrloste Zustand erkennbar. Die Fenster waren ausgebaut, die Tür entfernt und das Dach nicht vom Moos gereinigt. Zerbrochene Möbelstücke lagen im Hof. Die Bewohner hatten das Haus aufgegeben. Es war der Delano-Besitz. Gordon und Hanako wußten es nicht.
Zwei Steinwürfe weiter mündete von links kommend ein noch üblerer Weg in die miserable Straße. Ein schiefer Wegweiser stand an der Gabelung. Die Schrift auf den gußeisernen Tafeln war kaum noch zu entziffern. Ein Arm wies zu dem Weg und nach einem Ort namens Glanstony, der andere zeigte die Straße entlang auf Kilmarnock. Noch eine Meile. Rechts am Talrand türmte sich der Fels auf, den das Blutschloß krönte. Aus der Entfernung war der Anblick faszinierend gewesen. Aus der Nähe wirkten die Türme, Zinnen und Mauern nur noch unheimlich, düster und drohend. Diesem Eindruck konnte sich Hanako nicht entziehen. »Die Herrschenden wußten schon, wie sie ihren Untergebenen imponieren konnten.« »Wobei sich die Frage stellt, ob die Herrschenden die Eingesperrten waren oder die Untergebenen die Ausgesperrten. Leute, die hinter solchen Mauern lebten, hatten wohl viele gute Gründe, sich zu schützen.« Gordon fuhr noch langsamer und musterte die Mauern. Ein steiler Pfad führte am Fels hinauf. An den Abhängen hatten vereinzelt Bäume ein karges Auskommen gefunden. Sie verstärkten noch den abweisenden Eindruck der Anlage. Richtige Wälder gab es erst an den zurückliegenden Talhängen. Die grünen Säume zogen sich bis zu den Kämmen hinauf. Die Felder im Talgrund waren wohlbestellt. Nirgends schickten Schlote ihren Dreck in die Luft. Die Gegend mit dem Dorf war eine Idylle. Das Paradies hatte offensichtlich aber seine tödlichen und grausigen Tücken. Langsam lenkte Gordon den Wagen in den Ort Kilmarnock hinein. Die meisten Häuser waren krumm und schief und uralt. Die Straße weitete sich zu einem kleinen Platz.
Gordons Blick fiel auf eine bescheidene Tankstelle. Die Pumpe wurde noch im Handbetrieb bedient. Ein paar Leute schenkten dem fremden Wagen ihre Aufmerksamkeit. Jedoch nicht in dem Maße, die eigentlich natürlich gewesen wäre. Wollten die Leute mit Fremden nichts zu tun haben? Landbevölkerung pflegte durchaus abwartend und zurückhaltend zu sein. »Huh, der Ort macht aber auch einen unheimlichen Eindruck«, äußerte Hanako ihre Gefühle. Gordon stimmte ihr nicht zu. Er fand ihn anheimelnd. Das war etwas anderes als die seelenlosen Betonkästen von New York und die rumorenden Straßenschluchten. Er lenkte den Wagen an der Tankstelle vorbei, zu der eine Schmiede und eine Werkstatt zu gehören schienen. Gearbeitet wurde aber nicht. Das Anwesen machte einen sehr stillen Eindruck. Gordon fuhr gemächlich in dem Ort herum, bis er sicher war, keine Gasse ausgelassen zu haben, durch die überhaupt ein Auto paßte. Immerhin hatte Kilmarnock einen Doktor und eine Kneipe. Er hatte die Schilder gelesen. Sogar zwei Autos hatte er erblickt und ein paar Motorräder. »Hoffentlich bekommen wir in der Kneipe Zimmer«, äußerte er seine Bedenken. »Oder ein privates Quartier. Ich möchte nicht jeden Tag die Rüttelstrecke von Abbot herüber fahren müssen.« »Frage doch einfach«, schlug Hanako vor. Gordon suchte die Gasse, wo er das Wirtshausschild hatte im Wind schaukeln sehen. ›Tinmore Inn‹ hieß die Kneipe. Der Wirt war ein Mann in mittlerem Alter, der Gordon etwas schreckhaft ansah und sofort fragte, ob er auch von der Polizei sei.
Gordon spürte, daß etwas los war. »Nein, nein, ich bin in diesem Land geboren, und ich komme als Tourist zurück«, sagte er, was zur Hälfte nicht einmal gelogen war. Allerdings war er in Schottland geboren. »Amerikaner?« fragte der Wirt. Er grinste schüchtern. »Man hört’s.« »Haben Sie nun zwei Zimmer?« Gordon konnte sich nicht so schnell auf die betuliche Gangart einstellen. »Es wird sich einrichten lassen! Ich bin Samson.« Der Wirt streckte seine Hand aus. Gordon ergriff sie und verzog etwas das Gesicht. Der Händedruck war überaus kräftig. »Und wie steht es mit dem Essen?« Gordon schätzte es nicht, bei den alltäglichen Notwendigkeiten Überraschungen zu erleben. »Meine Frau wird für Sie kochen, wenn Sie das mögen«, schlug Samson vor. »Was man hier eben so ißt.« »Ich habe es lange vermissen müssen«, sagte Gordon freundlich. »Ihre Frau ist bestimmt eine vortreffliche Köchin. Kann ich das Gepäck schon hereinholen?« Samson guckte etwas genant. »Ich muß erst zwei Zimmer herrichten lassen«, meinte er entschuldigend. »Wir haben selten Gäste.« »Dann eben später«, schlug Gordon vor. »Weshalb fragten Sie, ob ich von der Polizei käme?« »Weil – na ja, die Polizei kommt jetzt öfters her. Heute ist sie auch schon wieder da.« Ein besorgter Ausdruck zeigte sich in Samsons Gesicht. »Wollen Sie Ausflüge in die Umgebung machen?« »Mit Sicherheit.« Samson zögerte. Etwas bedrückte ihn. Er rückte dann doch damit heraus. »Sie sollten damit besser noch warten. Ein Verrückter treibt sich herum. Wahrscheinlich ist er in die Wälder geflohen. Die
Polizei hat ihn bestimmt bald aufgespürt.« Samson war sichtlich erleichtert, daß er’s los war. Das Wohlergehen eines zahlenden Gastes lag ihm wirklich am Herzen. Gordon wagte einen dicken Bluff. Er nickte. »In Abbot hörten wir was von einem Unhold, der umgeht.« Samson zuckte zusammen und wurde bleich wie eine frisch getünchte Wand. Stammelnd sagte er: »Nein – nein, das ist es nicht. Und die Leute – ich meine, man redet viel und dummes Zeug. Der Verrückte ist hier aus dem Ort. Ein junger Bursche. Schade um ihn.« »Man wird ihn sicher bald haben«, sagte Gordon, als handle es sich um eine Belanglosigkeit. »Die englische Polizei hat ja einen fabelhaften Ruf.« »So?« machte Samson skeptisch. Er schien eine andere Meinung zu haben. Über dem Treppengeländer im Hintergrund des Gastraumes sah Gordon Black ein bleiches, aber recht trotziges Jungengesicht auftauchen. Die Augen bettelten. Gordon hatte das Empfinden, daß der Junge wünschte, ihn nicht zu verraten. Der Bengel hatte gelauscht und wollte nicht, daß sein Vater davon erfuhr. »Bis zum Nachmittag dann!« Grüßend hob Gordon die Hand. Und er blickte zur Treppe und zeigte ein winziges Lächeln. Samson brachte seinen künftigen Gast vor die Tür. Es war nicht pure Höflichkeit. Gordon verstand. Der Mann wollte wissen, für wen das zweite Zimmer war. Verblüfft schaute Samson auf Hanako, die ihn mit einem reizenden Lächeln aus dem Wagen heraus grüßte. Gordon klemmte sich hinter das Steuer. Als er losgefahren war, sagte er: »Das mit den Zimmern klappt, und verhungern müssen wir auch nicht. Aber ein Verrückter treibt sich herum. Seinetwegen ist die Polizei da. Sei also auf der Hut, wenn dir ein junger Bursche begegnet, der geistig nicht auf der Höhe zu
sein scheint.« »Seit wann fängt die Polizei Verrückte ein?« wunderte sich Hanako. »Ist das in England so üblich?« Gordon fand es nun auch eigenartig. »Eigentlich nicht.« Und blitzartig dachte er an Harvill und Kemble und den Bürgermeister dieses Ortes und ihr entsetzliches Ende. Sollte der Verrückte…? Es war nicht gut möglich. Harvill und Kemble waren vor den Augen der Polizisten verschwunden. Das heißt, ihre Leichen verschwanden. Einfach so. Und das brachte weder ein Verrückter zuwege, noch war es mit irgendwelchem Hokuspokus zu bewerkstelligen. Da waren andere Mächte an der Arbeit gewesen. Plötzlich legte Hanako die Hand auf Gordons Arm. »Sieh mal, da sind sie.« Ihr Kinn zeigte eine Gasse entlang. Gordon war sie auch schon gefahren, aber in der Gegenrichtung. Da hatte er nicht gesehen, was sich hinter seinem Rücken tat. Die Gasse ging in einen liederlichen Weg über, an dem die Abstände zwischen den Häusern immer größer wurden. Schnurgerade führte der Weg zu einem Fluß und auf den Fels mit dem unheimlichen Schloß darauf zu. Vor dem letzten Haus stand eine dunkle Polizeilimousine mit der Lichtkuppel auf dem Dach. Kinder und Halbwüchsige und ein paar Erwachsene bildeten neugierige Zuschauer. Gordon lenkte langsam den Wagen den Weg entlang; er befand sich in wirklich schlechter Verfassung und schien uralt zu sein. Zwischen den Pflastersteinen wuchs Gras. Womöglich war das einmal der Hauptweg zu diesem Spukschloß gewesen. In dem Garten bei dem letzten Haus gruben drei Polizisten nach den Anweisungen ihres Vorgesetzten den Boden um. Die Ankunft eines fremden Wagens erregte naturgemäß Aufsehen.
Gordon störte sich nicht daran. Er hielt an, und er und Hanako stiegen aus. Die Zuschauer gaben sich äußerst schweigsam. Eine Weile sahen Gordon und Hanako den grabenden Polizisten zu, die mit verbissenem Eifer wühlten. Der Vorgesetzte schaute mehrmals kritisch her. Schließlich kam er an den Zaun. »Sind Sie Verwandte?« Hanako zuckte leicht zusammen. Die Frage erinnerte sie peinlich an ihre Schwindelei. Immerhin hatte sie sich am Telefon für eine Verwandte von Harvill ausgegeben. »Von wem?« Gordon zeigte Interesse. »Von Archy natürlich!« Der Polizist schnaubte über soviel Schwerfälligkeit. Zweifel erwuchsen ihm. »Oder sind Sie gar nicht von hier?« Eine nicht gerade scharfsinnige Frage. Schon die Kleidung wies Gordon als Mann aus der Stadt aus, und erst recht dokumentierte Hanakos asiatisches Aussehen, daß sie kein Kind dieses Landes war. »Touristen«, erklärte Gordon gleichbleibend freundlich. »So?« Der Polizist schnaubte und warf einen eigentümlichen Blick zum Blutschloß hinauf. Er hielt das fremde Paar für neugierige Gaffer und sonst nichts. Die Kinder im Hintergrund sprachen wieder untereinander. Gordon und Hanako sperrten die Ohren auf. Wenn man uneingeladen lauschte, erfuhr man meist mehr als durch gezielte Fragen. »Die kriegen ihn nie!« »Er wäre auch schön blöd, wenn er sich erwischen ließe.« Und ein Mädchen sagte: »Mir hat er das Fahrrad repariert, und ganz umsonst. Es wäre gemein, wenn sie ihm was tun.« Die Sympathien der Kinder gehörten ganz offensichtlich diesem Archy. So sehr verrückt schien der Bursche gar nicht zu sein. Hinter dem Zaun nahmen sich die drei Polizisten nun die
letzte unangetastete Ecke des Gartens vor. Schaufel für Schaufel hoben sie die Erde um und stocherten mit Eisenstangen in die Tiefe. »Da ist absolut nichts, Sir!« meldete einer schließlich seinem Vorgesetzten. Er schaute auf seine blasenbedeckten Hände und über den umgewühlten Garten. »Ein schönes Stück Arbeit, möchte ich sagen.« Sein Vorgesetzter hatte nur ein Knurren für diese ungehörige Bemerkung übrig. »Weiß der Himmel, was sie suchen«, raunte Gordon Hanako zu. »Ich denke, heute abend erfahren wir es. Ich möchte mich mit der Gegend vertraut machen. Kommst du mit?« Sie ließen den Wagen stehen und folgten dem verkommenen Weg, verfolgt von vielen mißtrauischen Blicken. Fünf Minuten später standen sie an einem träge dahingleitenden Fluß, der bräunliches mooriges Wasser führte. Eine steinerne Brücke hatte einst zum anderen Ufer geführt. Beide Bögen lagen im Wasser. Hinter dem Pfeiler mitten im Fluß gurgelte verhalten ein Strudel. Irgendwo in den Hügeln im Osten mußte es Hochmoore geben. Eine andere Erklärung bot sich für die bräunliche Brühe nicht an. Gordon zeigte zum Blutschloß hinauf. »Es verlockt direkt zu einer Besichtigung. Was hältst du von einem kleinen Höhenspaziergang?« Hanako äußerte Bedenken. »Die sicherste Methode, sich bei den Leuten im Ort unbeliebt zu machen, denke ich. Hier ist es zu unheimlichen Vorfällen gekommen, also haben sie Angst. Das ist eine ganz natürliche Reaktion. Außerdem sind sie – na, sagen wir mal – weniger aufgeklärt als Bewohner einer Stadt. Wenn sich also irgendein unheimlicher Zwischenfall ereignen würde, könnten sie uns die Schuld geben. Wir wollen hier etwas herausfinden, Gordon, nicht Zwischenfälle provozieren.« »Verschieben wir den Spaziergang eben«, lenkte Gordon
ein. Er ging mit Hanako am Flußufer hinauf bis zu einem höchst bedenklich aussehenden Steg, der sich hier über den Fluß spannte und drüben auf einen Pfad mündete. Das war der steile Weg zum Schloß hinauf. Aus unmittelbarer Nähe sah der spitze Berg alles andere als verlockend aus. Die gewaltigen Mauern oben wirkten wie eine körperliche Bedrohung. Hanako zog die Achseln hoch. »Direkt auf seltsame Gedanken kommt man. Geht es dir auch so?« Gordon brummte etwas, das sie nach Belieben auslegen konnte. Sie kehrten zurück. Mehrmals und unabhänging voneinander drehten sie sich um. Beide hatten sie immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber da war niemand. Nicht auf dem Steg und nicht auf dem steilen Weg zum Blutschloß hinauf. *** Die Polizei hatte ihre Arbeit eingestellt. Ein Mann brachte die Schaufeln ins Dorf zurück. Neben dem Mietwagen stand ein Junge, dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er hatte wache Augen und schaute Gordon irgendwie herausfordernd an. Dem war, als hätte er den Jungen schon einmal gesehen. »Kennen wir uns nicht?« fragte er freundlich. Der Junge nickte. »Vom Gasthof, Sir. Ich bin Billy Samson, und glauben Sie bloß kein Wort von wegen, daß Archy jemanden umgebracht hat.« Er sah scheu nach allen Seiten. »Jemand hat ihm das bloß eingebrockt, ich weiß aber nicht, wer der Kerl war.« Billy machte seine Mitteilung mit großem Ernst in der
Stimme, und seine Miene drückte die Wichtigkeit des Gesagten aus. Allerdings kam Gordon nicht ganz hinter den Sinn. Daß dieser Archy bei den Kindern des Ortes beliebt war, hatte er ja schon gehört. Die Erwachsenen schienen da ganz anderer Meinung zu sein. Die Polizei erst recht. Gordon machte eine hilflose Geste. »Ich glaube, mir fehlt noch der rote Faden, Billy, der mich die Dinge besser verstehen läßt. Was ist denn nun mit Archy?« »Ja, aber mein Vater hat Sie doch vor ihm gewarnt!« »Das ist richtig, und er erwähnte, daß die Polizei hinter Archy her ist. Warum, was hat der junge Mann ausgefressen?« »Gar nichts!« stieß Billy fast haßvoll hervor. Haßvoll auf die Erwachsenen. »Seit einiger Zeit ist er ein wenig komisch, ich glaube, seit das mit Kilrains Hand passiert ist…« Lachend hob Gordon die Hand. »Wer ist nun wieder Kilrain?« »Einer von den Alten, Sir. Er hockt oft bei uns in der Kneipe. Also, das mit der Hand war so…« Billy brachte das kleine Kunststück fertig, Gordon und die hübsche asiatische Frau an seiner Seite umfassend zu informieren. Mit kindlichen Worten zwar und natürlich aus seiner Sicht, aber die beiden Fremden konnten sich doch ein recht gutes Bild machen. Die Verwandlung von Kilrains Hand war wirklich eine grausige Sache. Sie beeindruckte Gordon tief, und er konnte erahnen, wie sehr erst Billy beeindruckt war. »Und da fing es, glaube ich, damit an, daß Archy manchmal dummes Zeug geredet hat. Alle seien sie verhext, hat er mal geschrien, Kilrain, der Doktor, alle.« Billy redete wie aufgezogen. Mit einer Handbewegung stoppte Gordon den Redefluß. »Hat sich denn auch die Hand des Doktors verwandelt, oder
warum sonst soll er nach Archys Meinung verhext sein?« Dieser Billy brachte immer mehr Leute ins Spiel. Gordon fürchtete, daß am Ende die ganze Dorfbevölkerung in seiner Erzählung vorkam. Billy winkte ab. »Ach, das hat er sich bloß eingebildet. Wissen Sie, den Doktor kann eigentlich niemand leiden, aber die Leute müssen Mister Garrick schon holen, wenn sie krank sind, denn wir haben keinen anderen Arzt. Manchmal schreibt er sogar was für’s Vieh auf. Na ja, und an manchen Tagen wird der Doktor so arg von der Gicht geplagt, daß er selber das Bett hüten muß, und dann wieder spaziert er ganz vergnügt herum. Und da hat halt Archy gemeint, Mister Garrick sei auch verhext.« »Ach so!« Die Sache war also harmlos. »Aber wie ist denn nun Archy in die Lage gekommen, daß die Polizei ihn sucht?« »O Mister!« machte Billy und verdrehte die Augen. »Das war ein Tag! Da sind droben auf dem Rabenstein«, seine Hand wies auf den Berg und das Blutschloß, »fürchterliche Dinge passiert. Wie ich meinen Vater kenne, wird er Ihnen noch vor dem Abendessen davon erzählen. Zwei Fremde sind umgekommen. Einer war ‘n Amerikaner wie Sie.« In seinen Augen glimmte ein Licht auf. »Sind Sie seinetwegen gekommen? Klar, Mister, jetzt hab ich’s. Wissen Sie, Touristen sind noch nie nach Kilmarnock gekommen. Mein Vater hat sich auch gewundert, und er hat’s natürlich auch nicht geglaubt.« »Du bist vom Thema abgekommen, Billy«, erinnerte Gordon. »Du wolltest uns doch was ganz anderes erzählen.« »Von Archy und seinem Schlamassel, klar. Keine Sorge, Mister, ich hab’s nicht vergessen. Also, an dem Tag ist auch unser Bürgermeister ermordet worden. Man hat ihn auf dem Weg rauf gefunden. Jemand hat ihm mit ‘nem Beil den Kopf gespalten. Archy hat fast durchgedreht. Von da ab ist er nur noch mit ‘nem Knüppel in der Hand aus dem Haus gegangen.
Und ‘n paar Nächte später habe ich jemand gesehen, der in seinem Garten was vergraben hat.« »In Archys Garten?« vergewisserte sich Gordon. Er stutzte. »Hör mal, treibst du dich immer nachts draußen herum?« »O Mann, verraten Sie mich bloß nicht!« bettelte Billy. »Kein Wort sage ich!« gelobte Gordon feierlich. »Ein paar andere machen auch noch mit«, gestand Billy. »Wir gucken den Leuten in die Fenster oder legen einen Stein auf den Kamin, dann stinkt der Rauch das ganze Haus aus, und die Leute kommen hustend heraus und schimpfen.« Gordon mußte an sich halten, um nicht laut zu lachen. Billy verübte mit seinen Freunden die üblichen Streiche, die auf dem Dorf möglich waren. Eine schreckhafte Seele konnte darin natürlich auch Geisterspuk sehen. Ein Gefühl sagte Gordon allerdings, daß hinter den schrecklichen Dingen in Kilmarnock keine Jungenstreiche steckten. »Und da hast du also jemand gesehen, der was vergraben hat?« half Gordon dem Jungen zum roten Faden seiner Geschichte zurück. »War zu dunkel, ich habe nicht erkennen können, wer es war. Aber ein Geist bestimmt nicht.« »Und warum nicht?« »Kann ein Geist Schnupfen haben? Mann, der hat geniest und geschneuzt, daß es bis zum Fluß zu hören war.« »War denn Archy nicht zu Hause?« Billy schüttelte den Kopf. »Im Dorf unterwegs. Ich glaube, er hat da ein Mädchen, aber aus der Sache ist nun natürlich nichts geworden. Angst hatte ich ja schon. Weil doch so unheimliche Sachen passiert sind. Da bin ich auch gar nicht näher rangeschlichen. Aber ein Mann war’s. Und er hat was vergraben. Ich habe mich mucksmäuschenstill verhalten, bis er fort war, dann bin ich über den Zaun geklettert. Aber ich habe nichts finden können. Und am anderen Morgen bin ich ganz
früh hergekommen. Sehen konnte ich auch nichts, nachts hat es geregnet gehabt. Pech auf der ganzen Linie.« Billy schnaufte entsagungsvoll. Gordon drängte ihn nicht. Billy wußte, daß er die wichtigste Person war. Das kostete er aus. »Es muß natürlich schon was Wichtiges gewesen sein, was der bei Archy verbuddelt hat. Ich war mächtig gespannt. Ein paar Tage später kam auch die Polizei und hat aus einem Beet ein Beil herausgeholt. So ein uraltes Ding. Ich glaube, die Henker hatten so eines, wenn sie die Leute köpfen mußten. Es war Blut dran, und die Polizisten haben es in eine Plastiktüte getan und mitgenommen. Es wurde untersucht. Dann hat es im Dorf geheißen, mit dem Beil hätte Archy den Bürgermeister umgebracht, wo er es doch in seinem Garten versteckt hatte. Die Polizei ist wieder gekommen und wollte Archy abholen. Aber der ist abgehauen. Irgendwo dort draußen ist er jetzt.« Billy machte eine Handbewegung gegen den grünen Saum der Wälder auf den Talhängen. Gordon und Hanako machten gleichzeitig tiefe Atemzüge. Was Billy ihnen erzählte, war ja höchst aufschlußreich. Demnach hatte jemand diesen Archy in die Pfanne gehauen. Nachdem er das Beil verbuddelt hatte, hatte er auf irgendeine Weise die Polizei auf Archy gehetzt. Aber der hatte etwas anders reagiert, als es geplant war. »Hast du denn niemand von deiner Beobachtung erzählt?« fragte Gordon. »Damit kannst du doch Archy helfen.« »Aber dann käme doch heraus, daß ich manchmal nachts daheim abhaue!« meinte Billy vorwurfsvoll. Aus seiner Sicht war das natürlich das schwerwiegendste Argument, warum er nichts gesagt hatte. Er dachte in erster Linie an seine eigene Haut. Daß er andererseits Archy hätte entlasten können, dafür fehlte ihm die Einsicht. Er war ja noch ein halbes Kind. Viel Phantasie war nicht nötig, um zu dem Schluß zu
kommen, daß der Mörder des Bürgermeisters die Tatwaffe in Archys Garten gebracht hatte. Damit man in jedem Falle einen Schuldigen fand. Und vielleicht hatte Billy unterschwellig auch vermutet, bei der nächtlichen Gestalt könnte es sich um eine Erscheinung gehandelt haben. Auch wenn er spöttisch gesagt hatte, ein Geist könnte wohl keinen Schnupfen kriegen und herumniesen. Wegen der Geschehnisse hatten die Erwachsenen Angst. Da war es nur natürlich, daß sich auch die Kinder fürchteten. In Billys Erzählung steckte aber ein Hinweis, der möglicherweise auf die Spur des Mörders führte. Außerdem mußte sich ja herausfinden lassen, wer vor ein paar Tagen Schnupfen gehabt hatte. Vielleicht war da ein Gespräch mit diesem Doktor hilfreich. Gordon nahm sich vor, dem Arzt baldigst seine Aufwartung zu machen. Und wenn ihm schon der Wirt nicht abnahm, daß er und Hanako als Touristen nach Kilmarnock gekommen waren, dann brauchte er auch kein großes Theater zu spielen. »Sag mal, Billy, du hast dann die Gestalt auch wieder fortgehen sehen?« Der Junge nickte energisch. »Na, in welche Richtung denn?« Billy legte den Finger an die Nase. »Das ist es doch, Mister. Wenn der Kerl zum Dorf gegangen wäre, hätte ich gleich gewußt, es ist jemand von uns. Er ist aber durch die Wiesen zum Steg gegangen. Ich habe sogar seine Schritte auf den Brettern poltern hören. Und nach einer Weile habe ich ihn noch einmal niesen hören. Da muß er aber schon ganz schön weit den Weg zum Blutschloß hinaufgegangen gewesen sein. Nicht mal für einen Sack voller Gold wäre ich ihm nachgeschlichen. Da oben geht’s nicht mit rechten Dingen zu.« Seine Augen waren ganz groß und rund und voller Furcht. »Ja, davon haben wir schon gehört. Es ist jedenfalls ganz schön wichtig, was du uns über deine Beobachtung gesagt hast.
Vielleicht können wir für Archy etwas tun.« Als Gordon das sagte, leuchtete es in Billys Augen froh und hoffnungsvoll auf. »Das wird ihn aber freuen –« Erschrocken hielt sich der Junge den Mund zu. Gordon lächelte besänftigend. Er hatte sich schon gedacht, daß Archy nicht bloß von Beeren und wilden Früchten dort draußen lebte. Billy hatte sich verplaudert. Archy wurde aus dem Dorf versorgt. Wahrscheinlich von Billy. Und möglicherweise noch von ein paar anderen Kindern. Und das war natürlich ein ganz großes Geheimnis. »Sie sagen aber bestimmt nichts?« vergewisserte sich Billy, noch immer fast zu Tode erschrocken über seine Ungeschicklichkeit. »Mein ganz großes Ehrenwort!« versprach Gordon. Billy rammte die Hände in die Hosentaschen. Ein Seufzer der Erleichterung hob seine Brust. »Sie sind schwer in Ordnung, Mister!« fand er dann und gesellte sich zu den anderen Kindern, die überaus mißtrauisch aus einiger Entfernung beobachtet hatten. Gordon und Hanako stiegen in den Mietwagen. Samson konnte inzwischen die Fremdenzimmer hergerichtet haben. »Warum hat die Polizei noch einmal im Garten gegraben?« wunderte sich Hanako. »Das Beil hat sie doch schon.« Blitzartig ging Gordon ein Verdacht durch den Kopf. »Die verschwundenen Toten, Mädchen! Harvill und Kemble. Einem Verrückten traut man schließlich alles zu.« Hanako schüttelte sich. »So entstehen Justizirrtümer.« Gordon widersprach ihr nicht. Ihn bewegte etwas anderes aber weit mehr. Der Kerl, den Billy beim Vergraben des Mordbeiles beobachtet hatte, war zum Blutschloß hinaufgestiegen! Mitten in der Nacht! Entweder grauste es dem Kerl vor überhaupt nichts. Oder er war gar kein Mensch, sondern doch ein Spukgeist! Dann hatte Billy mehr Glück als Verstand gehabt. Die Sache
hätte für ihn tödlich enden können. *** Im Dorf hatte sich herumgesprochen, daß zwei Fremde bei Samson Quartier genommen hatten. Die Neugierde war geweckt. Und das Mißtrauen. In Kilmarnock gab’s keine Attraktionen für Touristen. Am Abend füllte sich jedenfalls die altersdunkle Gaststube mit Männern, die dem fremden Mann und der Frau ein wenig auf den Zahn fühlen wollten. Gordon und Hanako erklärten bereitwillig, daß sie aus Amerika kamen und daß sie zufällig in Abbot etwas von geheimnisvollen Vorgängen gehört hatten. Das habe ihre Neugierde geweckt, darum seien sie jetzt da. Die Männer von Kilmarnock konnten ihnen nicht das Gegenteil beweisen. Überhaupt räumte dieses Eingeständnis die anfänglichen Vorbehalte aus. So machten Hanako und Gordon die Bekanntschaft dieses Kilrain, der sich als munterer alter Kauz entpuppte und gern schnorrte. Gordon wollte gerne erfahren, was nun wirklich mit der Hand des Alten damals geschehen war, aber er wollte den Mann nicht verprellen und gleich am ersten Abend mit der Tür ins Haus fallen. Es ergab sich sicher eine bessere Gelegenheit. Schon eine versteckte Frage in diese Richtung hätte garantiert die aufgekratzte Stimmung verdorben. Später stieß noch ein gebeugt gehender Mann zu der Abordnung Kilmarnocker Bewohner. Die Gespräche wurden schlagartig leiser geführt. Beliebt schien der Mann nicht zu sein. Er ließ sich von Samson ein Bier geben und setzte sich in der Nähe des Tisches nieder, an dem Hanako und Gordon mit Kilrain und etlichen anderen Männern saßen. Der Ankömmling senkte den Blick und hörte in die wieder
auflebenden Gespräche hinein. Nach einer Weile ergriff er sein Bierglas, stand auf und brachte seinen Stuhl mit. Ungebeten nahm er am Tisch der beiden Fremden Platz. »Hörte, daß Sie sich für unsere Gegend interessieren«, meinte er und schoß unter buschigen grauen Augenbrauen einen scharfen Blick her. »Ist mir in meiner langjährigen Tätigkeit hier noch nicht vorgekommen, daß jemand einen Narren an Kilmarnock gefressen hat. Ich bin Doktor Garrick.« »Gordon Black. Die junge Dame ist Miß Kamara.« »Genau so sieht sie auch aus«, sagte Garrick in beleidigendem Ton. Er schien es darauf anzulegen, daß ihn niemand mochte. Ihm genügte es offensichtlich, daß man ihn brauchte. Er war auch ein Kauz. Auf eine andere Art als der alte Kilrain. Nicht gerade liebenswert, aber überaus einprägsam. Garrick wartete auf eine Antwort. Er legte es darauf an, sie vor all den Leuten zu bekommen. Er riß einfach das Gespräch an sich und wollte seinen Verlauf diktieren. Gordon und Hanako husteten ihm was. Wegen dieses schrulligen Doktors wollten sie sich nicht alle Chancen verderben. Waren erst einmal die Leute verprellt, bekamen sie von denen keine Auskünfte mehr. Außerdem hatten Gordon und Hanako sorgfältig vermieden, auf die entsetzlichen Vorgänge anzuspielen. Der Doktor stocherte mitten ins Wespennest hinein. »Sie wollen schnüffeln, was?« Er lachte grob. »Erzählen Sie mir nichts! Ganz England weiß doch, was bei uns los ist. Ihnen gebührt die Ehre, die ersten neugierigen Nasen zu sein.« Er genehmigte sich einen kräftigen Schluck und störte sich nicht daran, daß sich lähmende Stille im Gastraum ausbreitete. Gordon erkannte, daß der Doktor ein boshafter Mann war. Daß es ihm Vergnügen bereitete, andere in die Enge zu treiben. Garrick hatte den Angriff eröffnet Da half nur ein Gegenangriff.
»Wir haben in Abbot von ein paar seltsamen Vorkommnissen gehört. Sie sagen schnüffeln, Doktor! Warum? Hat Kilmarnock etwas zu verbergen? Dann wäre das Wort angebracht.« Doktor Garrick zog die buschigen Brauen einigermaßen überrascht hoch. »Oh, ein Rhetoriker!« staunte er. Dabei befühlte er die Gichtknoten an seinen Fingern. »Verbergen? Eigentlich nicht. Daß sich hier in der Gegend ein Verrückter herumtreibt, wissen Sie ja inzwischen. Sie waren draußen bei Archys Haus und haben der Polizei zugesehen.« Gordon grinste. »Das Zuschauen war nicht sehr ergiebig. Wonach wurde denn gesucht?« »Nach Leichen!« Garrick lachte kurz und trocken. Darauf, daß die Polizei nach Harvill und Kemble gegraben hatte, war Gordon schon eher gekommen. Gordon zeigte Interesse. Der Doktor und die Leute hätten es als unnatürlich empfunden, wenn er keine Neugierde bekundet hätte. »Leichen? Hat er jemand umgebracht?« »Unseren Bürgermeister. Sagt die Polizei. Vielleicht noch andere.« »Und das halten Sie für ausgeschlossen?« Gordon klopfte sich eine Zigarette aus der Packung und rauchte. »Für nicht sehr wahrscheinlich. Wenn einer zum Mörder wird, geschieht es nicht plötzlich, es steckt bereits lange in ihm drin. Archy galt bisher als gutmütig. Aber leider kann man einem Menschen nicht ins Gehirn sehen und seine Gedanken lesen. Vielleicht war er es doch.« »Der Experte sind Sie«, gab Gordon zu. Wenn der Doktor gewußt hätte, was Billy beobachtet hatte! Archy war unschuldig wie ein neugeborenes Kind! Samson wurde das Gespräch zu heiß. Ziemlich unfreundlich sagte er: »Wir sollten nicht an diesen Dingen rühren. Es bringt Unglück.«
Boshaft versetzte der Doktor: »Na, vielleicht fliegen morgen wieder die Dohlen.« Er lachte und nahm dann einen Schluck aus seinem Glas. Die Zuhörer erschraken zutiefst. Hanako und Gordon registrierten es. Und ihnen entging auch nicht, daß der alte Kilrain besorgt seine rechte Hand betrachtete und verstohlen daran zupfte. Garrick schien der Ansicht zu sein, daß er genug Gift verspritzt hatte. Er leerte sein Glas und fixierte Gordon. »Wir sollten uns unterhalten. Sie sind gebildet. Hier habe ich keine Gelegenheit zu einem gehobenen Gespräch. Besuchen Sie mich.« Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging gebeugt hinaus. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, zischte jemand: »Der Teufel! Die Gicht sollte ihn zur Strafe noch viel mehr plagen.« Beifälliges Nicken folgte den bösen Worten. Der Doktor war in der Tat äußerst unbeliebt. Samson brachte schnell ein anderes Gespräch auf. Der Abend verging, und der alte Kilrain erbte etliche Zigaretten und einige Bier, die ihm der Fremde spendierte. Gordon verfolgte eine Absicht damit. Er wollte bei Kilrain in guter Erinnerung sein, wenn er ihn nach der Sache mit seiner verwandelten Hand befragte. Morgen oder übermorgen, wie es sich ergab. Mit den Leuten hier hieß es behutsam umgehen. Gegen Mitternacht brach die Gesellschaft geschlossen auf. Die Männer hatten einen harten Tag hinter und keinen leichten vor sich. Und sie mußten früh heraus. Samson zählte die Münzen in seine Kasse und machte ein zufriedenes Gesicht. Der Abend hatte ihm einen netten Umsatz außerhalb der Reihe gebracht. Von ihm aus konnte es jeden Abend so sein. Die Fremdenzimmer lagen im ersten Stockwerk und waren
über die Treppe im Hintergrund der Kneipe zu erreichen. Oben war die Luft zum Schneiden dick. Der Zigaretten- und Zigarrenqualm war hinaufgestiegen und staute sich vor der Tür, die Samsons Wohnung von seinen Gastzimmern trennte. Billy hatte sich nicht gezeigt, aber Gordon hegte den starken Verdacht, daß der Bengel doch irgendwo gelauscht hatte. »Dann schlaf mal süß und träume nicht von bösen Geistern«, sagte Gordon scherzhaft zu Hanako. Ihr Zimmer grenzte an seines. Eine Verbindungstür gab es nicht. Auf dem Dorf achtete man auf Sitte und Moral. »Hoffentlich schlafe ich überhaupt. Gute Nacht, Gordon.« Sie verschwand in ihrem Zimmer. Gordon betrat seines und knipste das Licht an. Eine spärliche Lampe verbreitete matte Helligkeit. Sein Schritt stockte. Während er unten in der Kneipe gesessen hatte, war jemand in seinem Zimmer gewesen. Das Gepäck war durchsucht. Gottlob war der doppelte Boden des Koffers nicht entdeckt worden, in dem er einige seiner Requisiten versteckt hielt, die vielleicht von Nutzen waren. Billy? Er hielt es nicht für sehr wahrscheinlich. Der Bengel war neugierig wie ein Nest voller Elstern, aber nicht unehrlich. Auf dem Boden lag ein Zettel, der am frühen Abend nicht dort gelegen hatte. Der unbekannte Besucher schien ihn verloren zu haben. Neugierig geworden hob ihn Gordon auf. Er zuckte zusammen. Nur ein paar Worte waren auf das Papier gekritzelt. »Wer schnüffelt, stirbt!« Das Papier sah mächtig alt aus. Ebenso die Tinte. Das gab es doch gar nicht! Wer konnte denn mit alter Tinte auf altem Papier eine aktuelle Drohung niederschreiben? Und dann auch noch ungesehen in dieses Zimmer praktizieren? Gordon steckte den Zettel ein. Jetzt noch Hanako damit zu behelligen erschien ihm unmenschlich gehandelt. Sie hatten
gestern den mörderischen Flug und die Tour durch London und bis Sheffield gemacht, und der Tag heute war auch kein reines Zuckerschlecken gewesen. Es reichte, wenn er ihr den Zettel am Morgen unter die Nase hielt und das Frühstück verdarb. Aus dem doppelten Boden des Koffers nahm er eine kleine silberne Statue und legte sie unter das schwellende Kopfkissen. Sicher war sicher. Er wollte nicht von einem Geist oder dem Unhold, der hier umging, unsanft aus dem Schlaf geweckt werden. *** Er tappte über glitschige Stufen und kicherte manchmal vergnügt vor sich hin. Die Lampe in seiner Hand warf seinen verzerrten Schatten an die rauhe Wand. Hier unten kannte er sich aus. Er hätte seinen Weg auch ohne Licht gefunden. Aber wegen der Ratten war es besser. Sie mochten das Licht nicht und wichen ihm aus. Feuchtigkeit tropfte von den Wänden. Schimmel wuchs aus den Fugen, die schon längst keinen Mörtel mehr enthielten. Dies war der älteste Teil von Tinmore Castle, tief drinnen im Berg. Diese Narren draußen hatten ja keine Ahnung von den geheimen Gängen und Gewölben, die von den Leibeigenen hatten gebaut werden müssen. Damit sie auch wirklich geheim blieben, waren die Bauern lebendig eingemauert worden. So war das Geheimnis bewahrt worden. Schlurfend und kichernd stieg er jetzt eine uralte Treppe hinauf. Er kannte hier jeden Schritt und jeden Tritt. Hier war sein Reich. War es schon immer gewesen. Er gelangte in ein weites Gewölbe. An den Wänden standen steinerne Sarkophage. Die jeweils auf Tinmore Castle Herrschenden hatten diesen Raum zu ihrer letzten Ruhestätte
auserkoren. Aber er hatte mit den steinernen Särgen Besseres vorgehabt. Verächtlich stieß er gegen bräunliche morsche Knochen, die er irgendwann einmal aus den Särgen gerissen hatte. Er haßte sie immer noch, die einst Wesen aus Fleisch und Blut gewesen waren. Außer diesen schäbigen Knochenresten war nichts von ihnen geblieben. Er stellte seine Lampe auf eine Deckplatte, die einen Steinsarg abschloß. Er machte sich an den letzten Sarkophagen hinten an der Nordwand zu schaffen. Mit bedächtiger Unbeirrtheit schob er die Deckplatten beiseite, holte die Lampe und leuchtete in die Särge hinein. Sie waren schon mit Schimmel überzogen. Auch die, die er zuletzt heruntergebracht hatte. Er stieß sie an. Sehr haltbar waren sie nicht. Ihre Haut wies schon Löcher auf. Sie würden schrumpfen wie die vielen anderen, würden braun werden und dann schwarz wie der verfluchte Abt, mit dem alles begonnen hatte. Sie würden zusammenrücken müssen. Es paßten auch zwei in einen Steinsarg. Da war ein Neuer aufgetaucht. Der konnte ihm gefährlich werden, das spürte er. Besser, er holte ihn beizeiten und wartete nicht ab. Er war ein Lebender. Er konnte den Bann sprechen. Vor dem Bann fürchtete er sich sehr. Und er mußte auch noch den Toten holen. Und vielleicht auch den, hinter dem die Polizei her war. Kichernd beugte er sich in einen Sarkophag hinein und tätschelte einer schimmelüberzogenen Leiche die Wangen. In der Stirn klaffte ein großes schwarzes Loch. Der eiserne Nagel hatte es gerissen. Der Nagel, an dem sie ihn… Er krümmte sich, weil er die Schmerzen spürte. Es war Jahrhunderte her, aber er empfand sie immer noch, als müßte er
sie gerade erleiden. Die Berührung der Leiche erfrischte ihn und machte ihn die Schmerzen rasch vergessen. Alle, wie sie hier lagen, spendeten sie ihm noch Kraft. Sogar der schwarze kleingeschrumpfte Abt, dem er den eigenen Rosenkranz um den Hals gedreht hatte, bis seine Seele entflohen war. Er brauchte sie. Sie waren auf eine ungewöhnliche Art seine Speise. Langsam tappte er zum nächsten Steinsarg. Der darin lag, den hatten er unter das Fallgatter gelockt. Schade eigentlich, daß er so schnell gestorben war und gar nichts davon gehabt hatte. Und nebenan der andere, dem er den Schädel zerbissen hatte. Ein kräftiger Mann mit viel innewohnender Kraft. Ganz besondere Pläne hatte er mit ihm gehabt. Sein Diener hatte er werden sollen. Ein getreuer Paladin, der ihm half, neue Opfer heranzuschaffen. Aber der Dummkopf hatte schon beim ersten Opfer versagt. Hatte es entkommen lassen. Jetzt blieb er eben hier an seinem Platz. Das war die gerechte Strafe. Für jeden Leichnam hatte er ein paar höhnische Worte. Er unterhielt sich aber nur mit seinen neuen Gästen. Die anderen waren ihm längst vertraut. Schließlich rückte er die steinernen Deckel in die ursprüngliche Lage zurück, ergriff die Lampe und verließ das Gewölbe. Er stieg eine verborgene Treppe hinauf. Manchmal stöhnte er, und seine vertrocknete grüne Haut raschelte wie Pergament. Im dicken Turm, wo er damals den Kindern die Hälse durchgeschnitten hatte, stellte er die Lampe ins Fenster und ließ sie weithin ins Land leuchten. Die Lebenden sollten Furcht haben. Und der Neue sollte noch neugieriger werden. Je mehr, umso sicherer tappte er ihm in die Falle. Einen Köder hatte er schon ausgelegt. Ein guter Köder,
fürwahr. Er schüttelte sich vor Lachen und knetete seine dürren Finger. Schaurig hallte sein satanisches Gelächter von den kahlen Wänden des Blutzimmers wider. In den Mauerlöchern raschelte und schnarrte es. Er tappte hin und streichelte die schwarzen Dohlen, die träge in das milde Licht seiner Lampe äugten. »Bald, meine Freunde, bald fliegt ihr wieder«, sagte er sabbernd. »Die da unten sollen in ewiger Furcht leben. Heute brennt das Licht, morgen fliegt ihr.« Die Dohlen antworteten mit heiserem Krächzen. Sie hatten ihn verstanden. Er verließ den dicken Turm und wanderte im Schloß herum, bis er vor das Tor trat und zu dem eisernen Nagel im Holz hinaufstarrte. Sein uralter Haß entbrannte heftig. Seine Gefühle ließen den Nagel hellrot aufglühen. Aber er verbrannte das Holz des Torflügels nicht und lockerte sich auch nicht. Unverrückbar saß er fest, gebannt durch den Spruch des Abtes. Er schüttelte drohend die Faust und stieß lästerliche Höllenflüche aus. Später kehrte er zurück und holte seine Lampe. Der Lichtschein war längst verschwunden, als immer noch aus den Tiefen des Blutschlosses sein Schlurfen und Ächzen und sein Kichern zu hören war. *** Die Frühstückslaune wurde gleich beiden verdorben. Einer der Männer, die gestern abend in der Kneipe gewesen waren, stürzte herein und sagte, ohne auf Samsons Gäste Rücksicht zu nehmen: »Das Geisterlicht hat wieder gebrannt! Meine Alte hat’s gesehen und hat mich vor lauter Angst nicht
geweckt. Und Rose und Claggertys Schwiegervater und sogar die Haushälterin vom Doktor haben es auch gesehen …« »Schscht!« machte Samson. Sein Blick ging zu seinen Gästen, denen er gerade den Tee auftragen wollte. »Und die Dohlen fliegen!« Der Mann ließ sich nicht bremsen. »So früh sind sie noch nie geflogen.« »Halt doch endlich das Maul!« sagte Samson grob. »Was sollen meine Gäste für einen Eindruck bekommen?« Dem Nachbarn war der Eindruck wohl ziemlich gleichgültig, den die Fremden bekamen. »Und bei dir ist letzte Nachte ja auch einiges los gewesen.« Gordon sperrte die Ohren auf. Hatte der Mann etwa jemanden beobachtet, der sich am Fenster zu schaffen gemacht hatte? Irgendwie mußte ja die Drohung auf dem alten Papier ins Zimmer gekommen sein. »Bei mir? Wieso?« Samsons grenzenlose Verblüffung war der beste Beweis für seine Unkenntnis. »Jemand ist doch ums Haus geschlichen. Hast du das nicht gemerkt? Meine Alte meint, es sei Archy gewesen. Na, ich weiß nicht, das hat doch alles etwas zu bedeuten!« Sein Blick brannte sich an Gordon und Hanako fest. Es ging schon los. Gordon hatte es befürchtet. Wenn etwas passierte, machten die Leute von Kilmarnock sie dafür verantwortlich. Und nun war noch nicht mal etwas Ernsthaftes passiert, und schon hatten die Bewohner einen Sündenbock gefunden. Gordon schaute den Wirt an. »Was der Mann sagt, Mister Samson, ist langweilig und uninteressant. Ich hoffe, Ihr Tee ist viel besser.« Samson stellte die Steingutkanne auf den Tisch, faßte den Nachbarn am Arm und redete wütend und leise auf ihn ein. Dabei bugsierte er ihn zum Ausgang. Mit einem verunglückten Grinsen kehrte er zurück. »Lassen Sie sich den Tag nicht verderben, Mister Black«, sagte er
hoffnungsvoll. »Baines übertreibt gern.« Das mochte stimmen, aber der Mann hatte sich seine schlechten Nachrichten ja nicht gerade aus den Fingern gesogen. Und er hatte eine Menge Zeugen benannt. Das interessierte Gordon sehr. Schließlich durfte Hector Beecham erwarten, daß er für den Blanko-Scheck jeder halbwegs vernünftigen Spur nachging. »Was hat es mit dem Geisterlicht auf sich, Mister Samson?« Der Wirt zog eine Grimasse. Er hatte schon eine nichtssagende Antwort auf den Lippen. Seinem Gesicht war’s anzusehen. Er überlegte es sich dann doch anders. »Manchmal kann man da oben auf dem Schloß ein Licht sehen, und dann passiert bald etwas«, brummte er und rückte sinnlos Stühle. Gordon goß Hanako Tee aus. »Der Mann hat auch etwas von Dohlen gesagt. Wie steht es damit?« »Na ja, sie fliegen eben.« »Gestern sind keine geflogen.« Samson druckste herum. »Hier im Ort heißt es, wenn das Licht brennt, dann fliegen auch die Dohlen, und es bedeutet Unheil.« »Und sonst fliegen sie nicht?« »Nein. Das ist das seltsame daran, Mister Black. Sonst sieht man sie nie. Haben Sie alles? Ich muß mich jetzt kümmern. Rufen Sie nach meiner Frau, wenn Sie noch was brauchen.« Samson verließ die Gaststube. Hinter dem Haus hörten Hanako und Gordon ihn Vieh aus seinem Stall holen und einschirren und einen Wagen anspannen. Das Rollen und Rumpeln der Räder entfernte sich hinten hinaus. Stille herrschte in der Gaststube. In den holzgetäfelten alterschwarzen Wänden knackte es. So laut und unheimlich, daß es Hanako kalt überrieselte. »Hat es mit uns zu tun?« fragte sie nach einer Weile. »Kaum. Ich habe mich bemüht, etwas aufzufangen, eine
Strahlung, fremde Gedankenströme oder andere Empfindungen – nichts.« Sie nickte. »Mir geht es ebenso. Wenn es so ist, wie dieser Mister Baines gesagt hat, dann steckt die Furcht in den Leuten, und wir bekommen nichts aus ihnen heraus. Ich hatte eigentlich gedacht, daß wir dem komischen alten Mister Kilrain einen Besuch machen. Ist dir auch aufgefallen, wie er gestern immer wieder an seiner rechten Hand gezupft hat? Als müßte er sich überzeugen, daß sie vorhanden ist.« Gordon nickte. Er löffelte in seinem Porridge herum. Der traditionelle Haferbrei erinnerte ihn an Sir Randolph Water und die unergiebige Begegnung in seinem Londoner Büro. Nach einer Weile legte er den Löffel hin. »Letzte Nacht scheint tatsächlich jemand um das Wirtshaus herumgestrolcht zu sein. Das habe ich in meinem Zimmer gefunden.« Er legte den Zettel hin. »Muß hineingebracht worden sein, während wir noch hier unten saßen.« Hanako las. Dann prüfte sie zwischen Daumen und Zeigefinger die Beschaffenheit des alten Papiers. »Ist die Drohung ernst zu nehmen?« erkundigte sie sich. »Billy?« »Kaum. Der stiehlt sich zwar nachts aus dem Haus und treibt sich mit seinen Freunden herum, aber das traue ich ihm nicht zu. Mich interessiert mehr, wer den Wisch verfaßt hat – ein Geist oder ein Mensch. Jedenfalls nimmt uns der Urheber unsere Touristenrolle nicht ab. Zudem war mein Gepäck durchsucht. Das Versteck ist aber nicht gefunden worden.« Hanako atmete heftiger. »Na, das wäre was geworden!« Gordon ließ den Zettel verschwinden und frühstückte zu Ende. Nach einer Weile kam Samsons Frau und trug den Tisch ab. Von Billy war nichts zu hören und zu sehen. So direkt wollte Gordon nicht nach ihm fragen. Dem Alter nach ging der Bengel noch zur Schule. Und
heute war ein normaler Wochentag. »Hat Kilmarnock eine Schule?« fragte er die Frau. Mrs. Samson machte einen bedrückten Eindruck. Sie schüttelte den Kopf. »Die Kinder müssen nach Abbot rüber. Morgens fährt ein Bus. Sie müssen raus bis zur Abzweigung nach Glanstony. Bei jedem Wetter.« Billy konnte er also nicht fragen, ob er vielleicht sich den Streich mit dem Zettel ausgedacht hatte. Und ob er vielleicht nachts um das Wirtshaus seiner Eltern geschlichen war. Gordon holte noch einmal den Zettel heraus. Die Schrift war verstellt, aber ausgereift. Es erschien ihm jetzt ausgeschlossen, daß Billy der Verfasser war. Er ging mit Hanako ins Dorf und den Weg zu Archys Haus hinunter. Sie konnten förmlich spüren, wie die Angst in den Häusern nistete. Es wurde verständlich, wenn sie berücksichtigten, was diese Leute schon mitgemacht hatten und wie sehr sie ständig mit der Bedrohung durch den Unhold lebten. Hanako zeigte zum Blutschloß auf dem Rabenstein hinauf. »Sie fliegen wirklich.« Wie schwarze Punkte kreisten die Vögel um die Türme. »Sollen wir heute hinaufsteigen?« »Mehr als unbeliebt machen können wir uns nicht«, meinte Gordon. Und damit war entschieden, was sie unternahmen. *** Sie hielten sich am Fluß und benutzten den Steg. Sie waren noch nicht ganz drüben, als Hanako einen leisen Schrei ausstieß und zum Blutschloß hinaufzeigte. Eben noch hatte sich ein klarer und makelloser Himmel über der Burg gespannt, und jetzt braute sich da oben ein Wetter zusammen. So atemberaubend schnell, daß es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte.
Wolkenfetzen jagten mit den Dohlen um die Wette. Sie brodelten und ballten sich und hüllten schon die höchsten Türme ein. Augenblicke später waren auch die Mauern den Blicken entzogen. Und die Dohlen waren verschwunden! Das Wolkenungetüm hüllte das Blutschloß ganz und gar ein. Und das Gebilde bestand nur dort oben auf dem Berg. Über dem Tal und den entfernten Hängen lag Sonnenschein. Hier waren übernatürliche Kräfte am Werk. Das war eindeutig. Gordon Black und Hanako ließen sich nicht von ihrem Aufstieg abhalten. Für ein Unwetter und eine Begegnung mit dem Unheimlichen waren sie zwar nicht besonders gut gerüstet, aber die Gelegenheit war zu günstig. Da oben tat sich etwas. Sie wollten beide gern erfahren, was es war. Und was damit bezweckt wurde und wer dahinter steckte. Wenn sich das überhaupt feststellen ließ. Ein hohles Heulen und Brausen drang vom Berg herab. Es klang schaurig. Der Geisterjäger und Hanako hatten jedoch schon schlimmeres gehört, sie ließen sich nicht schrecken. Nach ihrer Schätzung hatten sie die Hälfte des Aufstieges vollbracht, als sie merkten, daß ihnen die Wolken entgegenkamen. Mit feuchten Fetzen griffen sie nach ihnen wie mit Fingern. Beide spürten sie ein ekliges Gefühl im Gesicht. Als würden Spinnweben durch die Luft treiben und sich auf alles legen, was ihnen im Weg stand. »Bei dem Wetter werden wir da oben nicht viel zu sehen bekommen.« Gordon blieb stehen. Es schien keinen Zweck mehr zu haben. Voraus, wo schon die Wolken wie dichter Nebel den Berg umklammerten, war es fast dunkel. Die Wolken schienen das Tageslicht völlig aufzusaugen. Das war eine physikalische Unmöglichkeit. Aber was hier geschah, ließ sich nicht mit wissenschaftlichen Maßstäben
messen. »Dann sollen wir umkehren?« Hanako blieb stehen und wischte über das Gesicht. »Ein Gefühl sagt mir, daß es besser wäre.« Sie wandten sich also den Pfad abwärts. Aber die Wolken waren viel schneller als sie und holten sie ein. Binnen weniger Augenblicke waren der Mann und die Frau völlig eingehüllt. Sie sahen kaum noch die Hand vor Augen. Das Atmen fiel ihnen schwer, Nässe rieselte aus den Wolken und schlug sich auf ihnen nieder. Gordon mußte jeden Schritt ertasten, bevor er den Fuß fest aufsetzte. Ein Fehltritt vom schmalen steilen Weg herunter – und sie fielen in die Tiefe. Vielleicht war es auch so gedacht,daß sie den Weg verfehlen und sich das Genick brechen sollten. »Gib mir deine Hand, Mädchen!« sagte Gordon. »Bevor wir uns noch verlieren.« Er streckte die Hand nach hinten, weil er dort Hanako zuletzt gesehen hatte. Sie ergriff sie. Gordon sprang wenigstens drei Fuß hoch in die Luft, so sehr erschrak er durch die Berührung. Die Hand war nicht warm und nicht fraulich. Sie war dürr und hart und raschelte. Und ein Kichern und Stöhnen drang aus dem Wolkennebel an seine Ohren. Wie Eiswasser rieselte es Gordon den Rücken hinab. Er hatte nicht Hanako an der Hand, sondern den Unhold! *** Außer seinem Hexendolch hatte er keine Waffe bei sich. Er verfluchte seinen Leichtsinn. Der Druck der harten Hand verstärkte sich. In den wallenden Nebeln zeichnete sich eine Gestalt ab. Etwas gebeugt, aber so groß wie er. Sie schälte sich langsam heraus.
Der Anblick war fürchterlich. Das Wesen war ein grünhäutiges Monster mit weiß hervorquellenden Augen. Die Haut war welk und mit Schrunden übersät und sah aus, als würde sie bei jeder Bewegung abblättern. Die Augen glühten in einem unheimlichen Feuer. Das Gesicht war grob und durchaus menschenähnlich, aber verzerrt – vor Freude oder aus Wut. Der eckige Mund klaffte. Übler Geruch schlug dem Geisterjäger entgegen. Im ersten Moment war Gordon wie gelähmt. Das mußte ihm passieren! Dann dachte er an Hanako. »Lauf weg, Mädchen!« brüllte er aus Leibeskräften. Seine Worte schienen aufgesogen zu werden. Vielleicht waren sie fünf Schritte weiter schon nicht mehr zu vernehmen. »Gordon?« Ganz schwach hörte er Hanakos Stimme. »Wo bist du? Was bedeutet das?« »Er ist hier – er hat mich!« schrie der Geisterjäger. Aufstöhnend ging er in die Knie. Die Monsterhand preßte so hart zu, daß er fürchtete, seine Hand sei zerquetscht. Mit der linken fingerte er nach dem Hexendolch. Das unheimliche Monster schien zu merken, daß er trachtete, seine einzige Waffe in die Hand zu bekommen. Es riß ihn mit einem so harten Ruck zu sich heran, daß es ihm fast den Arm auskugelte. Ganz nah, ganz dicht war das schreckliche Gesicht. Es veränderte sich plötzlich, aus der Nase schien ein Schnabel zu werden, der Mund veränderte sich und zeigte scharfe spitze Zähne. Und auf der Stirn… Gordon blieb fast das Herz stehen. Auf der Stirn des höllischen Wesens klaffte eine schreckliche Wunde. Wie von einem dicken Nagel, den man dem Monster durch den Kopf geschlagen hatte. Schwarzes Blut quoll daraus hervor und
tropfte auf den Weg. Hanako schrie. Es klang schon merklich näher. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig – Gordon bekam den Griff des Hexendolches zu fassen und riß das Messer hervor, und er spürte, wie die grausige Hand des Monsters ihren Druck noch verstärkte. Vor Schmerzen und brüllend krümmte sich Gordon abwärts. Genau vor den Augen hatte er die Hand des Unheimlichen. Die Finger waren dürr und die Haut darüber trocken und von diesem grünen Aussehen. An den Gliedgelenken saßen dicke Knoten. Er registrierte es beiläufig und stieß mit dem Hexendolch in den Arm des Unholds. Der Schrei des Monsters ließ den Berg erzittern. Der Stahl fraß sich durch das harte Fleisch. Es zischte und dampfte. Weil aus dem gräßlichen Loch in der Stirn des Monsters Blut floß, rechnete Gordon natürlich damit, daß auch Blut aus dem Arm trat. Nicht ein Tropfen war zu sehen. Ein Stück des Armes löste sich buchstäblich auf. Als würde der Körper des Unheimlichen die gestochene Stelle abstoßen. Gordon holte aus. Im selben Augenblick ließ das Monster los und breitete die Arme weit auseinander. Eine Bewegung, die Gordon ziemlich sinnlos vorkommen wollte. Aber er war erst einmal froh, daß der mörderische Druck um seine rechte Hand verschwunden war. Das grünhäutige Monster wich weiter zurück und machte mit den gespreizten Armen flügelschlagende Bewegungen. Und plötzlich erhob sich das Wesen. Es flog davon! Gordon versuchte noch, in eines der Beine die Klinge des Dolches zu stoßen. Die Waffe fuhr ins Leere.
Mit rauschendem Flügelschlag entflatterte das Monster. Die Wolken wirbelten und drohten Gordon zu ersticken. Keuchend kauerte er sich auf den Boden. Der Schock saß ihm tief in den Knochen. Um ein Haar wäre es dem Monster gelungen, ihn zu überraschen. Und das wäre das Ende gewesen, das war ihm bewußt. Hanako fiel fast über ihn. Sie sah ihn zu spät am Boden kauern. »Was ist passiert?« rief sie angstvoll. »Bist du verletzt? Da ist doch etwas fortgeflogen! Ich habe Schwingenrauschen gehört.« Jetzt erblickte sie den Hexendolch in seiner Hand. Erschrocken verstummte sie. Keuchend stand Gordon auf. Er. betrachtete prüfend die rechte Hand. Sie war noch deformiert, und sie schmerzte höllisch. Mit Sicherheit würde sie dick anschwellen. »Ich wollte dich an die Hand nehmen und hielt plötzlich das grünhäutige Monster fest. Ich glaube, der Kerl hat mir doch was gebrochen.« Er versuchte, die Finger zu bewegen. Es ging nur unter großen Schmerzen. »Grünhäutiges Monster? Es war hier?« Hanako schaute sich um. Die Wolken brodelten immer noch, aber sie ließen wieder mehr Tageslicht durch. Der Weg war ein Stück weit zu erkennen, ein paar klägliche Büsche an seinem Rand – und auf dem Boden ein häßlicher schwarzer Fleck. »Was ist das?« Sie bückte sich und wollte den Finger hineintauchen. »Laß das!« brüllte Gordon sie an. »Das Monster hat ein klaffendes Loch in der Stirn. Da heraus ist Blut geflossen. Schwarzes Blut, verstehst du?« Hanako nickte und murmelte etwas in der Sprache ihrer Väter. Schwarzes Blut besaßen die Geschöpfe der Hölle!
*** Die Wolken lösten sich so rasch auf, wie sie sich gebildet und zusammengezogen hatten. Das war das Werk teuflischer Zauberei. Gordon malte sich lieber nicht aus, was in den Köpfen der Leute im Ort vorging und was passierte, wenn die sie vom Berg herabkommen sahen. Aber vermeiden ließ es sich wohl nicht. Als sie heraufgestiegen waren, hatten sie im Tal Bauern bei der Feldarbeit gesehen. Jetzt lagen die Äcker leer und verlassen. Jedenfalls menschenleer. Aber Geräte und Wagen und sogar zwei Viehgespanne waren zurückgeblieben, ein Zeugnis dafür, in welcher Hast die Leute ins Dorf geflüchtet wären. Gordon zog die Unterlippe zwischen die Zähne und schaute nachdenklich zum Blutschloß hinauf. »Jetzt erst recht!« sagte er in einem Anflug von wildem Trotz. Hanako sagte nichts dazu. Sie scharrte etwas Erde über den schwarzen Blutfleck und registrierte mit einiger Erleichterung, daß der Geisterjäger den Hexendolch in der linken Hand behielt, die rechte klemmte er sich in die Linke Achselhöhle. Von den Dohlen war nichts mehr zu sehen und zu hören. Das unheimliche Brausen und Rauschen der Sturmstöße war verklungen und vergangen wie das Wolkenungetüm. Vom bloßen Schein ließ sich Gordon aber nicht täuschen. Er blieb wachsam und sprungbereit. Falls das Monster einen neuen Angriff vorbereitete, würde er anders erfolgen. Das grünhäutige Höllenwesen hatte zu spüren bekommen, daß er sich seiner Haut und seines Lebens zu wehren verstand. »Was Billy damals in der Nacht beobachtet hat«, sagte Gordon plötzlich, »diesen Kerl, der das Beil vergraben hat – der ist nicht ins Dorf gegangen, sondern hier herüber zum
Berg. Ob er derselbe ist, mit dem ich eben unfreiwillig Bekanntschaft geschlossen habe? Es spricht einiges dafür.« »Aber es ist doch unlogisch, Gordon. Hat ein Geist oder ein Monster es nötig, einen Lebenden so hereinzureiten, wie es mit Archy geschehen ist? So handelt nur ein Mensch.« Das war nun auch wieder richtig. Gordons Überlegungen bewegten sich im Kreis. Ein Geist kam bestimmt nicht auf die Idee, eine Mordwaffe im Garten eines Unschuldigen zu vergraben und dann die Polizei aufzuhetzen. Das war ein rein menschliches Verhalten. Dazu paßte nicht, daß der Bösewicht auf den Berg gestiegen war. Die Leute aus dem Tal mieden den Ort wie die Pest. Dazu paßte erst recht nicht der Angriff eben. Der Gegner war ein Höllenmonster gewesen. Eines, das obendrein sich auch noch auf Schwingen davonmachen konnte. Gordon spürte, daß irgendwo dazwischen die Lösung lag. Er schaute auf das Dorf hinab. In den Gassen zeigte sich Bewegung. Die Leute kamen wieder aus den Häusern. Mit Sicherheit starrten sie herauf und fragten sich, was aus den beiden Fremden geworden war. Eine halbe Meile vom Ortsrand entfernt in Richtung des hinteren Tales sah Gordon den Friedhof von Kilmarnock. Einen Totenacker hatten die Leute wenigstens. Aber keine Kirche. Vielleicht gab es in Abbot ein Kirchenbuch, das Aufschluß über die Vorgänge in grauer Vergangenheit versprach. *** Die Leute wichen ihnen scheu aus, als sie ins Dorf kamen. Gordon ging zum Doktor, damit der Mann einen Blick auf die Hand warf und ihm notfalls eine Salbe verordnete. Die Haushälterin, die Haare auf den Zähnen hatte, wies ihn an der Haustür ab. »Es geht heute nicht!« Ihr Blick war streng
und durchbohrend. »Kommen Sie morgen wieder. Seine anderen Patienten müssen auch warten. Und die hat er länger als Sie.« Sie wollte ihm die Türe vor der Nase zuschlagen. »Ich müßte vielleicht nur eine Salbe haben.« Gordon stellte den Fuß in die Tür. »Ich halte den Doktor auch wirklich nicht auf.« »Zeigen Sie her!« Die resolute Frau begutachtete die Hand. »Ein warmes Bad«, verordnete sie, »das tut’s auch.« »Hören Sie, mir wäre aber lieber, wenn der Doktor…« Sie trat ihm auf den Fuß. »Er ist heute ganz schlimm dran. Schon gestern ging es ihm nicht gut. Die Gicht. Das hat man Ihnen doch schon im Dorf erzählt. Heute kann er sich nicht rühren. Manchmal dauern die Anfälle Tage. Gehen Sie endlich.« Sie nahm ihren Fuß weg, und Gordon zog seinen aus der Tür. In Kilmarnock wurde er noch zum Invaliden, das sah er kommen. Im Hof stand das klapprige alte Auto des Doktors. Es war nicht besonders gepflegt. Garrick schien es lediglich als Fortbewegungsmittel zu betrachten. Sammler wären in Verzückung ausgebrochen, wenn sie das Fahrzeug hätten erwerben können. Nicht des Dreckes wegen, sondern weil es schon ein altehrwürdiges Stück war. Hanako schaute sich auf dem kleinen Platz in der Ortsmitte die Bauernhäuser an und die kunstvoll geschmiedeten Eisengitter. In manchen Türstock war die Jahreszahl der Erbauung des Hauses eingeschnitten. Gordon störte seine Mitarbeiterin in ihren kunstsinnigen Betrachtungen. »Der Doktor ist noch schlimmer dran als ich, sagte seine Haushälterin. Ich muß ohnehin nach Abbot. Fährst du mit?« »Jemand muß ja auch dich aufpassen.« Also fuhren sie nach Abbot hinüber. Einen Arzt gab es
nicht, Garrick versorgte auch dieses Dorf. Und Kirchenbücher waren erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts vorhanden. Alle früheren Unterlagen waren beim großen Brand von Abbot vernichtet worden. Sie hatten gar nichts erreicht. Mißmutig fuhren sie nach Kilmarnock zurück und entdeckten den Schulbus, der vor ihnen über die Straße schaukelte. An der Gabelung nach Glanstony hielt er an, die Schulkinder von Kilmarnock stiegen aus. Unter ihnen war Billy. Gordon stoppte und drehte das Wagenfenster herab. »Tag, Billy. Willst du mit uns fahren?« Der Junge schaute triumphierend seine Schulgenossen an und genoß es, beneidet zu werden. »Klar, Mister Black.« Er feuerte seine Bücher ins Wageninnere und kletterte herein. Gordon zog ohne viele Worte den Zettel aus der Tasche und hielt ihn Billy hin. »Hast du ihn geschrieben und in mein Zimmer gelegt?« Billy schüttelte den Kopf und buchstabierte die Botschaft. »Nein, großes Ehrenwort, ich war’s nicht.« »Hast du jemand gesehen, der sich an der Tür zu schaffen gemacht hat?« »Auch das nicht. Wer hätte denn auch ins Haus kommen sollen, Sir?« »Vom Gastraum aus vielleicht jemand, während wir alle beisammensaßen.« Billy schüttelte wieder den Kopf. »Auf der Treppe hört man jeden Schritt. Nein, niemand ist heraufgekommen.« Billy wußte also auch nichts. Aber vielleicht hatte er eine Erklärung für die Gestalt, die man um die Kneipe hatte schleichen sehen. »Warst du das?« fragte er ihn geradeheraus. Billy setzte eine trotzige Miene auf. »Ich werde auch gerade um unser Haus herumlaufen und mich erwischen lassen!« »Aber du warst wieder unterwegs. Bei Archy? Jemand muß
ihn ja verpflegen.« Gordon lachte leise, »Wenn mein Vater merkt, daß ich Brot fortschaffe, schlägt er mich tot! Natürlich war ich bei Archy. Ich habe ihm von Ihnen erzählt und daß Sie gesagt haben, Sie wollten was für ihn tun.« »Das könnte ihn so neugierig gemacht haben, daß er hergekommen ist.« »Der kommt nicht ins Dorf. Die Polizei sucht ihn doch. Vielleicht – vielleicht ist es der Grüne gewesen, Sir!« »Das Monster? Das wäre wohl kaum ums Haus gelaufen, sondern hereingekommen.« Gordon schüttelte den Kopf. Also auch hier Fehlanzeige. Aber Billys Andeutung, es könnte auch das grünhäutige Monster gewesen sein, setzte sich in seinem Gehirn fest. Und darüber begann er zu grübeln. *** Samson schaute düster auf seine Gäste. »Sie waren oben, nicht wahr?« Gordon lächelte süßsauer. »Zur Hälfte. Dann hat sich ein Wolkenungetüm zusammengeballt, daß wir dachten, wir würden keinen Schritt mehr machen können. Es wurde naß und kalt und ungemütlich und richtig dunkel. Es erschien uns besser auf der Stelle umzukehren.« »Sonst war nichts?« Ein verhaltenes Lauern klang aus Samsons Worten mit. »Hätte etwas sein sollen?« fragte Gordon in totaler Unschuld. »Ja, doch, richtig, wie wir uns umgedreht haben und auf den Berg schauten, hatten sich die Wolken auf wundersame Weise aufgelöst. Auch die Dohlen sind nicht mehr geflogen.« »Wundersam?« Samson lachte bitter auf. »Das ist alles andere als wundersam. Das ist ein Fluch.« Näher ließ er sich aber nicht aus. Er rüstete sich wieder zur Feldarbeit, die er
ebenfalls unterbrochen hatte, als sich die Wolken wieder einmal um den Rabenstein zusammenballten. Gordon und Hanako versuchten, den alten Kilrain zu finden. In seinem kleinen Haus war er nicht und auch nicht im Hof. Vielleicht bewirtschaftete er irgendwo ein Stück Boden und war zur Arbeit hinausgegangen. Von Samsons Frau ließ sich Gordon am Abend einen Topf mit heißem Wasser geben und badete die rechte Hand bei einer Temperatur, die er gerade noch ertragen konnte. Doktor Garricks Haushälterin schien sich auf nützliche Wasseranwendungen zu verstehen. Jedenfalls brachte das heiße Bad spürbare Linderung. Hanako saß auf dem Bett und wippte mit dem übergeschlagenen Bein. »Kilrain müßte zurück sein«, sagte sie. »Gehen wir noch mal zu ihm hin?« »Das hatte ich fest vor.« Gordon trocknete sich die Hand ab. Plötzlich legte er den Kopf schief – und war mit zwei Sätzen bei der Tür. Er riß sie mit einem ungestümen Ruck auf. Hanako erschrak zu Tode. Und erst recht Billy. Er taumelte rückwärts, als das Licht aus dem Zimmer auf ihn fiel. Mit dem Rücken prallte er gegen die jenseitige Wand. »Man lauscht nicht!« ermahnte Gordon den Bengel. »Man klopft an oder geht weiter. Aber jetzt komm erst mal herein. Was gibt es?« Er drückte hinter Billy die Tür zu. Der Junge schaute sich scheu um und fragte leise: »Sie sind beide oben gewesen? Die Leute im Dorf reden darüber.« »Sind wir, und wir leben, wie du siehst«, bestätigte Gordon. Er gewann den Eindruck, daß Billy nicht bloß aus reiner Neugierde gekommen war. »Hm!« machte Billy skeptisch. »Archy sagt aber, er hätte drei Leute gesehen, und zwei hätten gekämpft, und es sei gerufen worden.«
»Hat er das? Dann muß er aber mächtig dicht dran gewesen sein, Billy. Hat er am Berg sein Versteck? Keine Sorge, ihm soll nichts geschehen. Aber er scheint nicht zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebt. Wir hatten eine Begegnung, das ist richtig.« »Mit dem Grünhäutigen, nicht wahr?« »Ja. Warum willst du das so genau wissen, Junge?« »Dann lügt Archy also wirklich nicht.« Billy atmete erleichtert auf. Offensichtlich hatte er Archy die abenteuerliche Erzählung nicht abgenommen. Gordon überlegte. Dieser Archy, den sie alle – mit Ausnahme der Kinder – für verrückt hielten, hatte demnach sein Versteck drüben am Berg. Ganz in der Nähe vom Weg. Und Billy war gerade natürlich drüben gewesen. Oder er hatte sich mit dem jungen Mann irgendwo getroffen, wo niemand sie beobachten und entdecken konnte. Kind waren wirklich einfallsreich. »Er lügt nicht«, bestätigte Gordon dem Bengel vom Wirt. Billy stand überlegend. »Wissen Sie, er hat da nämlich auch andere Sachen erzählt. Ist schon eine Weile her, und das kam mir doch ziemlich gelogen vor. Aber er scheint nicht zu schwindeln. Er hat nämlich jemand in den Berg hineingehen sehen. Jemand aus dem Dorf.« »In den Berg?« »Sehen Sie, Sir«, sagte Billy triumphierend, »Sie glauben das auch nicht. Aber Archy beschwört es.« »Aus dem Dorf?« Auf dem Ohr hörte Gordon. Hanako setzte sich erwartungsvoll auf. »Ja. Er hat nicht erkennen können, wer es war, aber es war eine Gestalt, die von den Häusern her gekommen ist. Nach ein paar Stunden ist sie aus dem Berg wieder herausgekommen. Archy meint, er sei vielleicht zu dicht herangegangen, denn die Gestalt hätte sich nach ihm umgedreht. Aber es sei ja Nacht gewesen, und er hätte sich sofort hinter den Busch geduckt.«
»Hm. Wann war denn das, Billy? Weißt er das noch, habt ihr darüber gesprochen?« »Aber klar, Sir. Das war in der Nacht, als der Unhold Jack Delano geholt und selber zum Monster gemacht hat. Archy hatte Angst vor dem alten Kilrain, weil sich seine Hand verwandelt hat, und ist fortgelaufen, statt mit dem Alten heimzugehen. Vorher waren sie ja beide bei uns in der Kneipe.« »Dann muß Archy also seine Beobachtungen gegen Morgen gemacht haben«, hielt Gordon fest. »Kann schon sein. In der Nacht war ja der Teufel los.« Billy nickte. »Und Archy kennt die Stelle, wo die Gestalt in den Berg ging und auch wieder heraustrat! Ist er selber mal reingegangen?« »Nein, ich glaube nicht. Allein hat er zu viel Angst.« »Das soll er auch schön bleiben lassen, sag ihm das, Billy.« Der Junge nickte, schob die nicht sehr sauberen Hände in die Hosentaschen und verließ das Zimmer. »Jemand aus dem Dorf also!« sagte Gordon. »Und Archy wurde in der Nacht doch entdeckt. Darum die vergrabene Mordwaffe in seinem Garten. Der wirkliche Mörder wollte Archy auf elegante Art loswerden. Bloß hat Archy nicht mitgespielt. Ich denke, der Bursche ist gar nicht so verrückt, wie die Leute tun. Er hat nur Angst, und die läßt ihn anders handeln. Er ist nicht zu berechnen.« *** Stunden später näherte sich eine gebeugte Gestalt dem Friedhof. Sie verharrte, schaute zum Dorf und den wenigen Lichtern hin und schwang sich über die Mauer aus Feldsteinen, die lose aufeinandergeschichtet waren. Sicher tappte die Gestalt quer über die Gräber. Sie kannte
ihr Ziel. Sie ging schnurgerade darauf zu. Es war der Erdhügel, der sich über Henry Bishops Sarg wölbte. Die paar Blumengestecke waren verwelkt, die Erde bröckelig. Mit abgewendetem Gesicht näherte sich die Gestalt dem hölzernen Grabkreuz, das am Kopfende in den Hügel gesteckt war. Ein blitzschneller Tritt – das Kreuz flog aus der Erde und fiel hinter der nächsten Gräberreihe auf einen Weg. Die Gestalt kicherte zufrieden und wandte sich nun ihrem eigentlichen Geschäft zu. Sie begann mit den dürren Armen den Hügel zu öffnen und die Erde wegzuschaufeln. Zu dumm auch, daß die Beute nicht einfach herauszuziehen war. Sie lag in geweihter Erde. Da hatte die Macht des Bösen keine Wirkung. Die Gestalt schnaufte und stöhnte. Und sie merkte nicht, daß hinten an der Mauer zwei Köpfe in die Höhe wuchsen und vier Augen ihrem Treiben zusahen. Billy und Archy hatten vor Aufregung und Furcht heiße Gesichter und zitterten am ganzen Körper. Aber um nichts in der Welt hätten sie jetzt, wo sie keine Gefahr für sich sahen, Fersengeld gegeben. Billy war daheim wieder abgehauen und zu Archys Versteck gelaufen. Und wie sie gerade miteinander reden wollten, war eine gebeugte Gestalt aus dem Berg geschlurft, und Archy hatte geflüstert, das sei der Kerl, den er schon häufiger gesehen hätte. Es war zu dunkel, um zu erkennen, wer es war. Aber die Gestalt ächzte so laut, daß Archy und Billy ihr fast ohne Mühe zum Friedhof folgen konnten. So kam es, daß der Unheimliche an Henry Bishops Grab zwei heimliche Zuschauer hatte. Ein Mondstrahl hätte wahrscheinlich schon genügt, um den beiden Beobachtern zu zeigen, wer der Kerl war – ein Mensch oder der Unhold. Aber der Mond versteckte sich hinter dicken
Wolken. Es sah nicht so aus, als käme er überhaupt noch in dieser Nacht zum Vorschein. Der Unheimliche arbeitete sich tiefer. Sein Schnaufen und Ächzen verriet, daß er schon ein stattliches Loch ausgegraben hatte. Einmal drang ein Niesen durch die Nacht. Es zündete bei Billy. Dieses Niesen hatte er schon gehört. Auch in so einer Nacht. Als das Mordbeil in Archys Garten gekommen war. Und jetzt machte sich dieser Unheimliche sogar am Grab von Mister Bishop zu schaffen. Auf dem Friedhof polterte es dumpf aus der Erde. Der Unheimliche war auf den Sarg gestoßen. Er brach ihn auf und zog den Toten heraus. Mit einer spielerischen Leichtigkeit trug er den Leichnam über den Totenacker, stieg mit ihm über die Mauer unweit der Stelle, wo Archy und Billy mit wild klopfendem Herzen flach im Gras lagen, und schlug die Richtung zum Rabenstein ein. Den beiden heimlichen Beobachtern schlugen die Zähne aufeinander. Sie hatten gemeint, ihr letztes Stündlein sei gekommen, als der Unheimliche mit der Leiche aus dem Grab gestiegen war und genau auf sie zukam. Geistesgegenwärtig hatten sie sich ins Gras geworfen. »Ich – ich will – heim!« bibberte Billy. »Wird auch besser sein.« Archy klopfte ihm auf die Schulter. »Jetzt passiert uns nichts mehr. Er ist wieder fort. Du – er hat den Bürgermeister geholt. Ob er den jetzt auch verhext?« »Wen hat er denn schon verhext?« fragte Billy. Die Schritte und Laute des Unheimlichen waren verklungen, das machte ihn wieder mutiger. »Bestimmt Kilrain. Ich habe gesehen, wie dem die Hand ganz grün und trocken wurde und trotzdem nicht abgefallen ist.
Und dann war sie mit einem Schlag wieder richtig. Wie deine oder meine. Und dann auch der Doktor. Mal kann er gar nicht gehen, oder er schlurft krummbucklig herum. Und dann wieder hüpft er hinter seinem Haus im Garten herum. Da habe ich ihn schon gesehen, und ich glaube, es war ihm nicht recht. Er hat mich böse angeblickt.« Billy ließ das nicht gelten. »Der Doktor ist ein komischer Mann, das hat nichts zu bedeuteten. Und Kilrain soll doch mal mit der Hand den Blutnagel berührt haben. Vielleicht ist es deshalb. Aber verhext sind die zwei bestimmt nicht.« »Sind sie doch!« Billy wollte nicht mit Archy streiten. Sie schlichen geduckt vom Friedhof fort und wollten sich am Weg trennen. In diesem Augenblick hörten sie das dumpfe Pochen der Schritte des Unheimlichen. Er war auf dem Steg, und er trug Henry Bishops Leiche immer noch mit sich. »Du, nimmt er den mit in den Berg?« fragte Billy. Es war ihm unheimlich. »Klar, er läßt ihn doch nicht draußen liegen«, erklärte Archy. »Paß nur auf, wenn die Leute das offene Grab finden, sagen sie, ich hätte es gemacht. Wart’s nur ab, genau so kommt’s.« Es kam ganz anders. *** Er hatte die Anwesenheit von zwei Lebenden deutlich gespürt. Sie sahen ihm auf dem Friedhof zu. Es wäre nur eine geringe Mühe für ihn gewesen, sie beide zu packen und fortzuschleppen. Er spürte jedoch, daß der eine Verbindung zu dem Neuen hatte, den er als Opfer auserkoren hatte und von dem ihm Gefahr drohte. Wie sehr, das hatte er erfahren. Er hatte die Wolken gemacht und seine Boten fliegen lassen,
und er hatte das neue Opfer schon sicher an der Hand gehabt, um es in einen Zustand zu bringen, in dem es ihm als Speise dienen konnte. Aber das Opfer hatte einen Dolch gezogen, der mit magischen Flüchen beladen war. Der Dolch hatte ihn gestochen und alle Pein erleiden lassen, die er damals ertragen mußte, als sie ihn ans Tor nagelten. Das Opfer war der Fremde. Er mußte ihn besiegen. Dafür würde ihm seine Kraft bis zum Ende der Ewigkeit zur Verfügung stehen. Sein erster Versuch, ihn zu bezwingen, war gescheitert. Jetzt wußte er, wie er den Fremden doch noch in die Hand bekommen konnte. Er kicherte satanisch vor sich hin und setzte fest seine Schritte auf die Bretter des Steges. Ein dumpfes Echo kam von der Felswand zurück. Drüben legte er den Leichnam auf den Boden. Er wartete. Seine Geduld war grenzenlos. Er maß nicht in Stunden und Tagen, er rechnete in Jahrhunderten. Er hatte gelernt, geduldig zu sein. Er spürte sie, bevor er sie sah und hörte. Sie folgten ihm vom Friedhof. Ihre Gedanken besagten, daß sie ihn schon im Berg glaubten. Er kicherte in sich hinein und veränderte seine Gestalt etwas. Dazu breitete er die Arme aus, die sich zu Schwingen umformten. Als seine beiden Verfolger auf dem Steg waren, stieß er sich ab und schwang sich in die Luft. Mit einem heiseren Schrei schwebte er auf sie zu. Der Größere war Archy. Oh, den kannte er gut. Vor allem seinen Garten. Archy schrie furchterfüllt auf, warf sich herum und raste über den Steg zurück, als würde der im nächsten Augenblick zusammenbrechen.
»Komm doch, Billy!« schrie Archy dabei gellend. »Er kommt! Lauf los!« Billy stand wie gelähmt. Er riß Mund und Augen auf, klammerte sich ans Geländer und sah dem riesigen Ungetüm entgegen, das halb Mensch und halb Tier war. »Neiiin!« brach es endlich gequält und gellend aus ihm heraus. Er löste die verkrampften Hände, warf sich herum und raste hinter Archy her. Der Steg schwankte und knackte. Das Monster stieß ein Fauchen und dann ein heiseres Lachen aus. Billy warf sich vorwärts. Als er das Ende des Steges erreichte, machte er einen mörderischen Satz und lief das Ufer hinauf, daß seine Schuhsohlen rauchten. Ein Luftzug streifte ihn. Ganz nah glitt das Monster über ihn hinweg. Die Krallen unter seinem Körper zuckten, als hätten sie nur um Haaresbreite und versehentlich das Opfer verfehlt. Billy duckte sich und lief in dieser Haltung weiter. Er merkte irgendwie, daß das Monster abdrehte und über den Fluß zurückflog. Der Junge riskierte einen Blick hinter sich, während sein Herz vor Aufregung und Anspannung zu zerspringen drohte. Sein Atem ging keuchend, sein Gesicht war verzerrt und schweißnaß, die Fäuste hatte er an die Brust gepreßt, um notfalls auf den Gegner einboxen zu können. Aber der Unheimliche kam nicht zurück. Er verschwand drüben in den tintenschwarzen Schatten der Nacht. Nur zwei große Fledermäuse flatterten vor dem Nachthimmel herum. Und vom Blutschloß herunter klang es wie Lachen. *** Gordon war plötzlich hellwach.
Wie spät es war, wußte er nicht. Jedenfalls stand vor dem Fenster noch die Schwärze der Nacht. Aber eines wußte er – ein Geräusch hatte ihn geweckt. Ein Geräusch, das ganz in seiner Nähe entstanden war. Er wollte sich aufsetzen. Da spürte er, daß jemand im Zimmer war. Ein unterdrücktes Atmen hörte sich wie geisterhaftes Seufzen an. Dann knarrte leise eine Diele. Gordon unterdrückte den Wunsch, aus dem Bett zu springen und sich auf den ungebetenen Besucher zu werfen. Erst mußte er genau wissen, wo der stand. Und dann erst entscheiden, was zu tun war. Vorsorglich schob er seine Hand unter das Kopfkissen und schloß seine Hand um die kühle Silberfigur, die er zu seinem Schutz dort verborgen hatte. Die Figur war imstande, böse Mächte und Teufelsflüche abzuwehren. Auch dämonische Einflüsse. Wenn es gar nicht anders ging, konnte er sie dem Eindringling auch über den Schädel hauen. Er entsann sich eines Kollegen, der sich in Kalifornien als Geisterjäger betätigt hatte und eines Tages einem Teufelsclan auf die Spur gekommen war. Der Mann hatte sich mit allen möglichen magischen Symbolen gegen den Einfluß der Höllendiener geschützt. In einer mondlosen Nacht drang ein Mitglied des Teufelsclans in sein Schlafzimmer ein und stieß ihm einen simplen Holzpflock durchs Herz. Gegen eine so gewöhnliche Waffe hatten ihn seine magischen Symbole nicht schützen können. Ruckweise zog Gordon die Silberfigur hervor. Das unterdrückte Atmen war jetzt ganz nah. Neben seinem Bett. Im Zimmer war es finster wie in einem zugenähten Sack um Mitternacht. Gordon hatte die Augen weit geöffnet und sah doch nichts anderes als Schwärze. Stoff raschelte. Er stellte sich vor, daß der Eindringling jetzt
langsam beide Arme hob, um eine Waffe beim Stoß zu führen. Jetzt! Gordon schleuderte das Federbett zur Seite, riß den Arm mit der schweren Silberfigur hoch – und zögerte. Ein Geruch nach Stall, nach feuchter Erde und Gras drang in seine Nase. »Mister Black?« wisperte es in der Dunkelheit. Die Stimme kannte er. Gordon ließ den Arm sinken. Der Schweiß brach ihm aus. Nur einen Sekundenbruchteil später, und er hätte Billy Samson die Figur auf den Kopf gehauen. »Bist du völlig verrückt geworden?« zischte er. »Wie kommst du herein?« Die Frage erschien Billy ziemlich dumm. »Durch die Tür natürlich. Machen Sie bloß keinen Krach! Ich – ich muß Ihnen was erzählen.« »Weißt du, wie spät es ist? Hat es nicht Zeit bis morgen früh – oder heute? Du hast vielleicht Nerven.« Gordon griff zum Schalter und drehte das Licht an. Die Helligkeit war nicht berückend. Dennoch blinzelte Billy. Gordon sah, daß der Junge nasse und verdreckte Kleider hatte und sich im Zustand größter Aufregung befand. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, als sei Billy dem Teufel begegnet. Statt ihm die Leviten zu lesen, wies er auf die Bettkante. »Setz dich her! Du bist ja ganz außer dir. Also, schieß los, was hast du zu sagen?« Billy schluckte. »Er – er hat Bishop geholt.« »Der ist tot.« »Er hat ihn ausgegraben und mitgenommen. Archy und ich haben ihm zugesehen. Dann ist er über die Friedhofsmauer geklettert und beinah in uns hineingetreten. Wir sind fast gestorben vor Angst. Zum Glück hat er uns nicht bemerkt. Wir sind ihm nachgeschlichen. Aber dann hat er uns doch entdeckt. Mitten auf dem Steg. Er ist durch die Luft geflogen und hat mit
den Krallen nach mir gegriffen.« Das Grauen packte Billy hoch einmal und schüttelte ihn. »Und dann?« fragte Gordon. Billy und Archy hatten sehr leichtsinnig gehandelt. Dem Jungen deswegen Vorhaltungen zu machen war überflüssig. Das schreckliche Erlebnis war schlimmer als jede Strafe. »Er ist über den Fluß zurückgeflogen und verschwunden, glaube ich. Aber gelacht hat er noch. Ganz schaurig.« Wie Friesel rann es über Billys Körper. »Wo ist Archy jetzt?« Gordon schob die Silberfigur unter das Kopfkissen. »Sag ich nicht!« »Mir kannst du’s schon sagen. Ich möchte nicht, daß ihm etwas passiert. Und das kann leicht geschehen, wenn er da draußen in der Nacht ist. Das Monster hat euch doch bemerkt, auch wenn ihr das Gegenteil geglaubt habt. Es findet euch überall. Ich bringe Archy in Sicherheit, und du bleibst im Haus und rührst dich nicht, ganz gleich, was geschieht. Wo finde ich Archy?« Billy überlegte ernsthaft, ob er dieses Geheimnis verraten durfte. Wenn die Polizei Archy schnappte, war das sicher nicht so schlimm, als wenn das Monster ihn fand. »Er hat ein Versteck in Parkers Scheune.« »Und wo finde ich die?« »Den Weg zum Steg runter. Der vorletzte Hof auf der linken Seite gehört den Parkers, dann kommt Kilrains Haus, und das allerletzte Haus auf der rechten Seite, da wohnt Archy.« »Das kenne ich. Wie komme ich an die Scheune ran?« »Um den Hof herum, über Kilrains Land, und dann von hinten her. Ich habe ihm von Ihnen erzählt.« »Das hast du schon gesagt. Marsch, ab mit dir! Und sei leise und wecke nicht das Haus auf.« Fast auf Zehenspitzen huschte Billy hinaus. Gordon schüttelte den Kopf. Der Bengel war in dem Alter,
in dem die abenteuerliche Ader überwog. Da wischte man alle Bedenken beiseite und hielt die Erwachsenen für schrecklich rückständig. Er kleidete sich an und entnahm seinem Kofferversteck ein geweihtes Kreuz und die Pistole. Leise schob er das Magazin ein, das die Patronen mit den silbernen Kugeln enthielt. Aufmerksam lauschte er. Im Haus blieb es still, Billys nächtlicher Ausflug war unentdeckt geblieben. In Hanakos Zimmer rührte sich nichts. Gordon ließ sie schlafen. Diesen Gang erledigte er besser allein. Er nahm die Schuhe in die Hand, huschte auf Socken aus dem Zimmer und in den Gastraum hinunter: Die Tür zur Gasse war abgeschlossen, aber das Schloß bereitete ihm keine Schwierigkeiten. In weniger als einer Minute hatte er es auf und glitt unhörbar hinaus. Erst am Ende der Gasse schlüpfte er in die Schuhe. Sein Blick ging zum Blutschloß hinauf. Es brannte kein Geisterlicht da oben, und es ballten sich auch keine Wolkenungetüme zusammen. Der Rabenstein sah unverfänglich aus. Und dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl. *** Im Dorf schlug ein Hund an. Gordon verharrte, bis sich der Köter beruhigte. Leise setzte er seinen Weg fort. Der Unheimliche, dieses grünhäutige Monster, hatte bisher jeden bekommen, den es haben wollte – wenn er alles richtig verstanden hatte. Warum waren dann Billy und Archy entkommen? Weil das Ungeheuer mit Bishops Leiche beschäftigt war? Oder steckte dahinter etwas ganz anderes? Eine Falle vielleicht? Wenn ja, für wen?
Er hatte doch mit dem Monster nur eine kurze, wenn auch heftige Begegnung gehabt. Sollte die ausgereicht haben, um dem Wesen zu signalisieren, daß ihm von ihm Gefahr drohte, daß er seinetwegen nach Kilmarnock gekommen war? Besser, er stellte sich darauf ein. Er zählte die Höfe ab. Kilrains Haus lag klein und dunkel in der Nacht. Von dem erfolglosen Besuch wußte Gordon, daß der alte Mann keinen Hund hatte. Also konnte er unbesorgt über das Grundstück gehen, um von hinten an Parkers Scheune zu gelangen. Das strohgedeckte Dach tauchte vor dem Nachthimmel auf. Gordon orientierte sich. Mit dem Knie prallte er gegen eine kleine Steinmauer, die die Grenze zwischen Kilrain und Parker markierte. Er rieb sich die schmerzende Stelle und atmete scharf ein. Und da sah er das Licht! Er erschrak mächtig. Das Licht schwankte den sanften Hang hinauf in Richtung Friedhof. Gordon wurde mißtrauisch. Seltsam, daß das Licht genau in dem Zeitpunkt auftauchte, wo er hierher kam. Das sah wie bestellt aus. Ein Irrlicht vielleicht, das ihn hinauslocken sollte! Hinaus zu dem grünhäutigen Unhold, der auf dem Blutschloß wohnte. Er legte die Hand an die Pistole und folgte dem vorantanzenden Licht. Archy mußte warten. Vielleicht schlief er, was nach der Aufregung aber nicht sehr wahrscheinlich war. Womöglich kauerte er auch bibbernd vor Angst in der Scheune und beobachtete das Irrlicht. Gordon schritt schneller aus. Er wurde unsicher. Es sah so aus, als sei die Lichtquelle eine Laterne, die jemand vor sich hertrug. Immer wieder wurde sie etwas verdeckt. Archy? War der unterwegs zum Friedhof? Ganz schön leichtsinnig von dem Burschen. Was wollte er dort überhaupt noch? Nach Billys Worten
hatte der Unhold den toten Bürgermeister aus dem Grab geholt und fortgeschleppt und die beiden jungen Burschen so neugierig gemacht, daß sie ihm nachgeschlichen waren. Jetzt gab es auf dem Totenacker außer einem leeren Grab doch nichts zu sehen! Deutlich sah Gordon jetzt eine Gestalt vor dem Licht. Ein Mensch! Ein Mann! Der Weg führte steil herauf, und die Anstrengung ließ ihn keuchen. Der Unbekannte stieg auch nicht über die Mauer. Wäre er das Monster gewesen, hätte er sich die Sache leicht machen und darüberfliegen können. Jetzt hörte Gordon auch seine Schritte aus der Nacht dringen. Eine Eisentür knarrte abscheulich. Der Unbekannte benutzte das Friedhofstor, wie es sich gehörte. So schlimm kann es also nicht werden, dachte Gordon und ging hinter der Mauer in Deckung. Das mußte ungefähr die Stelle sein, von wo aus Billy und Archy dem Treiben des Unheimlichen zugeschaut hatten. Das Licht schwankte zwischen den Gräbern heran. Nahe bei der Mauer setzte der Unbekannte seine Lampe ab und beugte sich über ein geöffnetes Grab. Jetzt erkannte Gordon ihn. Es war der kauzige alte Kilrain, der so gern schnorrte und gruselige Geschichten erzählte. Der Mann schien nicht überrascht zu sein, ein geöffnetes und leeres Grab vorzufinden. Hatte er etwa auch heimlich zugesehen wie Billy und Archy und war nur heimgegangen, um eine Lampe zu holen? Kilrain las ein paar Stücke des zerbrochenen Sargdeckels auf und band sie offensichtlich zu einem Kreuz zusammen. Es sah einigermaßen seltsam aus. Bis Gordon begriff, daß es das Keltenkreuz war. Woher Kilrain diese Kenntnis hatte, blieb ihm schleierhaft.
Der alte Mann reckte das Kreuz über die leere Grube und hob seine rechte Hand. Er murmelte etwas in einer unbekannten Sprache. Kannte Kilrain die Geheimnisse der Druiden, der alten keltischen Priester, die unvorstellbare Beschwörungen vollzogen hatten? Die rechte Hand Kilrains begann grünlich zu schimmern. Die Erscheinung wurde intensiver, bis die Hand regelrecht leuchtete. Ein wildes Knarren drang aus der Nacht. Es hörte sich gemein, bösartig und hinterhältig an. Das geflügelte grünhäutige Monster kam! Instinktiv duckte sich Gordon und zog die Pistole aus dem Hosenbund. Es war fraglich, ob er mit den silbernen Kugeln das Monster töten konnte. Zumindest aber machten sie den unirdischen Wesen schwer zu schaffen. Kilrains Hand leuchtete wie eine Zielmarkierung. Und das war auch die Absicht. Gordon verstand jetzt den Sinn der unheimlichen Zeremonie an dem aufgerissenen Grab. Kilrain beschwor das Monster an den Ort seiner letzten Untat zurück, und wie es aussah, wollte er mit ihm abrechnen. Seine Stimme wurde lauter, eindringlicher, unheimlicher. Die alten keltischen Priesterworte übten einen spürbaren Bann aus. Sogar auf Gordon, der merkte, wie sich sein Herzschlag verlangsamte, statt sich in der Aufregung zu steigern. Kilrain mußte ein Abkömmling der Priester sein. Woher sonst hätte er die Worte und die Riten gewußt? Ein mächtiges geflügeltes Etwas strich heran. Gordon spürte den kalten Lufthauch. Seine Nackenhaare richteten sich auf, seine Handfläche am Pistolengriff wurde feucht. Wie ein mächtiger Raubvogel ließ sich das Wesen auf der frisch aufgeworfenen Erde nieder. Das Licht warf einen dürftigen Schein. Dennoch sah Gordon einen unheimlichen
Kopf mit einem Raubvogelschnabel. Darunter aber war ein großer eckiger Mund mit drohenden Zähnen. Und in der Stirn des Monsters klaffte ein grauenhaftes Loch. Kilrain zitterte, aber er blieb am offenen Grab. Er redete. Nicht mehr in der keltischen Sprache. »Fluch über dich, du Brut des Satans! Dreimal seist du verdammt! Die Hand brennt, und so soll auch dein Kopf brennen!« Er reckte dem Wesen seine Hand entgegen, die nun wahrhaftig in grünem Feuer zu glühen schien. Das Wesen kicherte und sagte krächzend: »Du armeseliger Narr, du willst Macht über mich gewinnen? Du bist nur ein Wurm.« »Dein Kopf soll brennen!« wiederholte Kilrain. »Brennen bis zum jüngsten Tag. Du hast diesen Platz geschändet, der den Druiden immer heilig war! Sei verdammt, verdammt, verdammt!« Der alte Mann schleuderte dem Monster die Verdammung entgegen, und der Unhold zuckte zusammen wie unter Peitschenschlägen. Aber der Fluch schien zu schwach zu sein. Der grauenhaft anzusehende Kopf begann nicht zu brennen. Das Monster breitete die Flügel aus, der Kopf nahm menschliche Züge an. Gordon kniff die Augen zu und riß sie wieder auf. Er glaubte eine Ähnlichkeit zu bemerken. Mit jemand, der ihm kürzlich begegnet war. Die Züge verzerrten sich schaurig. Die trockene grüne Haut knisterte. Ganz überraschend stürzte sich das Monster auf Kilrain. Die Schwingen prügelten auf den alten Mann ein, die Krallen griffen ins Fleisch, und der Schnabel hackte nach seinem Kopf. Gordon zielte über die Mauer hinweg. Kilrain und das Monster kämpften verbissen miteinander. Sie wirbelten herum, daß die Gefahr groß war, daß der alter Mann die Kugel erwischte.
Jetzt! Der gräßliche Monsterkopf schnellte in die Höhe. Gordon feuerte. Im selben Sekundenbruchteil stieß der Schädel nieder. Die Kugel zischte knapp vorbei. Aber der Knall toste über den Friedhof und das schlafende Dorf hin. »Fort, wer immer da ist!« schrie Kilrain. »Schnell fort, er gewinnt Macht über mich!« Die Kämpfenden kamen dem Licht zu nahe. Es stürzte in das Grab und verlöschte. Gordon sah nichts mehr. Das Ziel war verschwunden. Dafür hörte er das widerliche Geräusch von brechenden Knochen und Kilrains schrillen Todesschrei, der jäh abbrach. Ein Rauschen erhob sich, heftige Luftstöße trafen sein erhitztes Gesicht. Erst im allerletzten Moment erkannte er den dunklen Schatten, der riesengroß vor ihm auftauchte und Kilrains Körper zwischen den Fängen trug. Ein Schwingenschlag traf ihn mit Wucht am Kopf und schleuderte ihn gegen die Mauer. Er hörte ein Dröhnen und Rauschen und rutschte besinnungslos zu Boden. *** Als er wieder einigermaßen klar denken konnte, dröhnte sein Kopf wie eine Kesselpauke. Etwas zerrte außerdem an ihm. Nicht sehr fest, aber unablässig. Er bewegte die Hände und spürte feine Stiche. Dann roch er es – Heu. Er lag in einem Heuhaufen. War er nicht am Friedhof gewesen? Wie kam er denn ins Heu? Eine Stimme sagte in der Dunkelheit: »Sie sind der Fremde, der bei den Samsons wohnt, nicht wahr?« »Archy?« Gordon richtete sich stöhnend auf. Die Stimme des jungen Mannes klang klar und vernünftig, nicht wie die eines Verrückten. Aber daß Archy eine Macke hatte, war ihm
von Anfang an zweifelhaft erschienen. »Ich habe den Schuß gehört. Hier – Ihre Pistole. Ich dachte, es sei besser, wenn sie nicht gefunden wird.« »Gefunden? Wo bin ich überhaupt?« Gordon sah Bretter vor sich und Ritzen, hinter denen es hell war. Draußen graute der Morgen. Demnach hatte er ganz schön was an die Birne gekriegt, daß er so lange ohne Besinnung gewesen war. »Eine Scheune, ein gutes Versteck. Leiser, draußen sind Leute! Sie haben schon das offene Grab gefunden. Das schieben sie mir auch wieder in die Schuhe.« »Billy hat mit mir diese Nacht gesprochen, Archy. Ich will das Monster zur Strecke bringen, und ich denke, du kannst mir dabei helfen. Dann könnte ich auch deine Unschuld gegenüber der Polizei beweisen.« Mit Beweisen sah es natürlich mager aus. Gordon hatte überhaupt keine. Deshalb fügte er hinzu: »Ich werde mit der Polizei reden und mich für dich einsetzen. Aber zuerst muß ich das Monster kriegen. Es hat Kilrain getötet.« Archy zuckte zusammen. Das schien er nicht mitbekommen zu haben. »Kilrain? Aber – aber – der Alte ist doch verhext – der hat doch – seine Hand – verstehen Sie?« stotterte er. »Die Hand habe ich gesehen. Kilrain war nie verhext. Ich denke, er verstand etwas von der Kunst der alten keltischen Priester. Genützt hat sie ihm nicht. – Billy sagte, du hättest die Stelle gesehen, wo die Gestalt aus dem Dorf in den Berg geht und wieder herauskommt. Kannst du sie mir zeigen?« »Mehr verlangen Sie nicht?« »Nein. Warst du mal im Berg drin?« Diese Frage entsetzte Archy. Er hob abwehrend die Hände. »Bin ich verrückt? Ich gehe auch nicht mit Ihnen hinein!« »Das brauchst du auch nicht. – Still!« Draußen näherten sich aufgeregte Stimmen. Jemand rüttelte am rückwärtigen Scheunentor. Natürlich war es offen. Jemand
kam herein. Archy und Gordon Black sanken ins Heu. »Der ist über alle Berge, laß nur!« rief draußen ein Mann. »Soll sich doch die Polizei nun endlich um ihn kümmern.« »Eine Schande, daß sowas frei herumläuft!« schimpfte der Mann, der unentschlossen im offenen Scheunentor stand. Er ging endlich hinaus. Archy zischte böse: »Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Das gilt mir, sie denken, daß ich auf dem Friedhof war.« Gordon stand auf. »Hier ist es zu gefährlich. Vielleicht besinnen sie sich anders und kommen zurück. Sicher kennen auch andere als Billy dein Versteck.« Archy nickte. »Andere bringen mir auch zu essen.« »Wenn die Kinder hören, daß du das Grab von Bishop aufgemacht haben sollst, redet vielleicht eines. Warten wir das erst gar nicht ab. ich bringe dich in die Tinmore Inn, da bist du sicher. Wir müssen nur ungesehen hinkommen.« »Wird schwierig werden«, meinte Archy. »Jetzt stehen auch die auf, die den Schuß nicht gehört haben.« »Versuchen wir es. Und dann beschreibst du mir genau den Ort, wo der Eingang zum Berg liegt.« Sie huschten aus der Scheune. Archy kannte verschwiegene Pfade zwischen den Häusern. Sie kamen ungesehen zum Gasthof. Einmal hasteten sie hinter dem Rücken einer Frau her, die im Hof Wäsche aufhängte. Ihr Hund schoß bellend aus dem Haus und bis zu einem Törchen, bis sie aber genau hinguckte, war dort nichts mehr zu sehen. Archy mußte ebenfalls die Schuhe ausziehen. Gerade noch kamen die beiden ins Haus, da rumpelte schon ein Leiterwagen vorbei. Gordon verschloß die Tür und trieb Archy die Treppe hinauf in sein Zimmer. Nur ein paar Minuten später verkündete ein Poltern im Haus, daß die Samsons aufstanden. Gordon atmete auf. Archy war erst einmal in Sicherheit.
Hanako mußte ihn unter ihre Fittiche nehmen, und vor allem mußte Archy vor den Samsons verborgen werden. Wenn das neueste Gerücht erst im Dorf herum war, hatte Archy keine Freunde mehr, die noch zu ihm hielten, das war sicher. Zu einem verrückten Grabschänder stand man nicht. *** Gordon holte Hanako aus dem Bett und informierte sie über die turbulente Nacht, die nicht sehr schmeichelhaft für ihn geendet hatte. Gemeinsam entwarfen sie eine Strategie. Danach wollte Hanako Migräne vorschützen und auf dem Zimmer bleiben und sich das Essen heraufbringen lassen. Insbesondere würde sie ein wachsames Auge auf Archy haben. Bei sich im Zimmer, das war am unkompliziertesten. Sie kam herüber und machte sich mit ihrem Schützling bekannt. Archy starrte sie fasziniert an. Gordon sah’s mit Erstaunen und schätzte, daß Archy von Stund an sich für die Weiblichkeit interessierte. Er hatte den richtigen Anstoß bekommen. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »So, jetzt machen wir mal Nägel mit Köpfen! Also, Archy, beschreibe mir den Eingang ganz genau.« Der junge Mann hatte eine plastische Art, die Dinge zu schildern. Danach lag der Eingang, in dem er die Gestalt hatte verschwinden und wieder auftauchen sehen, ganz in der Nähe der Stelle, an der Gordon unverhofft das Monster am Händchen gehalten hatte statt Hanako. Und zwar zog sich dort eine Rinne den steilen Fels hinauf. In der Rinne wuchs nur ein dichter Busch. Und hinter dem Busch klaffte ein Loch, das aussah, als sei dort bloß eine Steinplatte aus einer Felsschicht herausgefallen.
»Wann wollen Sie denn los?« fragte Archy. »Nach dem Frühstück. Ich schätze, wer immer es ist, er steckt noch im Berg – falls es jemand hier vom Dorf ist.« »Ja – aber – ich denke, es ist ein Monster?« Archy schien nun wirklich bald den Verstand zu verlieren. »Vielleicht beides. Was wissen wir denn schon?« meinte Gordon. »Deshalb will ich es ja herausfinden.« Dabei dachte er an die Ähnlichkeit, die ihn auf dem Friedhof verblüfft hatte. Sie war nur für Augenblicke vorhanden gewesen, aber sie war immerhin eine mögliche Spur. Er legte eine Taschenlampe bereit und nahm aus seinem Kofferversteck nach einigem Überlegen vier eckige Gebilde, die wie Feuerwerkskörper aussahen. Es waren Schwefelbrandsätze. Mit denen hatte er gute Erfahrungen gemacht. Sie brannten sich in jede Materie, die aus Fleisch bestand oder einmal bestanden hatte. Wasser wäre natürlich auch gegangen, aber wie sollte er Wasser in den Berg hineinschaffen? Es brauchte es in Massen, nicht nur kannenweise. Das Gesicht, zu dem er eine Ähnlichkeit erkannt zu haben glaubte, hatte er an dem Abend unten in der Kneipe gesehen, als die Männer vom Ort zur Begutachtung der vermeintlichen Touristen zu Samson gekommen waren. Wenn es stimmte, dann lebte das Monster in der Maske eines Dorfbewohners in Kilmarnock. Mitten unter den ahnungslosen Leuten, die jedesmal fast vor Furcht vergingen, wenn die Dohlen um das Blutschloß kreisten. Er steckte die Brandsätze ein. Auf die Pistole und das geweihte Kreuz und seinen Hexendolch allein wollte er sich nicht verlassen. Die Dämonenpeitsche nahm er erst gar nicht mit. Kilrain hatte das Monster als Brut des Satans bezeichnet. Wenn das stimmte, war die Peitsche ohnehin nutzlos. Er setzte sich nur der Gefahr aus, sie zu verlieren – falls es zu einem Kampf kam.
Den bösen Mächten durfte sie nicht in die Hände fallen. Weil sie sonst von diesen gegen das Gute verwendet wurde. »Verschwindet jetzt nach nebenan«, sagte er. »Ich sage der Frau Bescheid, daß sie das Frühstück heraufbringt.« Gordon wartete, bis Hanako mit Archy drüben war. Dann ging er hinunter zum Frühstück. Dabei fiel ihm ein, daß es in England Tradition war. Daß man den Todeskandidaten die Henkersmahlzeit auch immer in der Frühe servierte. *** Die Haushälterin von Doktor Garrick begegnete ihm. Sie hatte bei einem Bauern einen Topf Milch geholt. Sofort entsann sie sich seiner verstauchten und geprellten Hand. Jedenfalls musterte sie sie kritisch und nickte dann gönnerhaft. »Ist nichts mehr zu sehen«, meinte sie brummig. »Man soll nicht immer gleich was draufschmieren. Die Natur hilft sich meist selber.« Sie setzte ihren Weg fort und scheuchte Hühner davon, die auf das klapprige Auto vom Doktor geflogen waren. Garrick schien noch an seinem Gichtanfall zu leiden, sonst wäre er bestimmt schon zu seinen Patienten unterwegs gewesen. Auf dem kleinen Platz stockte Gordons Schritt. Da ging er. Und wie er ihn anschaute! Es war der Mann, der in der Frühe zu Samson hereingestürzt war und berichtet hatte, daß wieder das Geisterlicht auf dem Blutschloß gebrannt hätte. Eine große Ähnlichkeit bestand nun freilich nicht. Außerdem war das Licht auf dem Friedhof dürftig gewesen. Gordon kratzte sich am Kopf. Hatte er sich verguckt? Hatten ihm die Nerven einen Streich gespielt? Wenn der Mann hier war, dann konnte er nicht gleichzeitig drüben als grünhäutiges Monster im Berg hausen. Oder der Unhold war ins Dorf zurückgekehrt und war in
seine Maske geschlüpft. Gordon machte die Probe aufs Exempel. Er faßte in die Tasche und umschloß das geweihte silberne Kreuz. Dann beschleunigte er seine Schritte und holte den Mann ein. Der blieb stehen. Seine Augen blickten böse. »Was wollen Sie?« Gordon brachte die Hand aus der Tasche zum Vorschein. »Wissen Sie, ob man ein ähnliches Stück drüben in Abbot zu kaufen bekommt?« fragte er und öffnete die Hand. Das geweihte Kreuz fiel heraus und baumelte an der Kette. Der Mann schaute erkennbar wohlwollend. »Sie sind fromm?« meinte er. In einer Art, als hätte er Gordon bisher für den gottlosesten Menschen im ganzen Land gehalten. »In Abbot vielleicht nicht, aber droben in Glanmarten bekommen Sie bestimmt eines. Es ist alt, nicht wahr?« Er faßte das Kreuz behutsam an. Wäre er das Monster gewesen, wäre er längst zurückgeprallt. Gordon lächelte süßsauer. »Ziemlich alt, ja. Besten Dank auch.« Er ließ das Kreuz in die Tasche gleiten. Der Mann war es nicht. Er hatte sich geirrt. Seine Sinne hatten ihm auf dem Friedhof einen Streich gespielt. Aber deswegen gab er sein Vorhaben nicht auf. Jetzt erst recht nicht. Das Monster mußte noch drüben im Berg sein. Oder oben im Blutschloß. *** Ohne Archys exakte Ortsbeschreibung hätte er den Eingang wohl nie gefunden. Er prüfte die Felsen auf Spuren. Es gab keine. Aber das besagte überhaupt nichts. Tageslicht reichte ein Stück weit in den Felsspalt hinein.
Dann stutzte Gordon. Der unregelmäßig ausgezackte Spalt nahm eine wohlgefällige Form an, fast wie ein Bogen. Das erstaunte ihn. Er knipste die Taschenlampe an. Das war vielleicht eine Überraschung. Er stand in einem uralten Gang, der aus grob behauenenen Steinen errichtet war. Längst war der Mörtel aus den Fugen gerieselt. Die Luft roch modrig und abgestanden. Gordon beguckte sich die Sache genau. Sein Eindruck war, daß es sich um einen Gang handelte, der vom Blutschloß innerhalb des Berges herabführte. Offensichtlich hatte er einst bis hinunter auf die Talsohle gereicht, aber ein Felsabbruch mußte den unteren Gangteil fortgerissen haben. Damit die Herren von Tinmore Castle in einem wirklichen Notfall nicht wie die armen Mäuse in der Falle hockten, hatten sie einen neuen Ausgang für ihren Geheimgang brechen lassen. Es war ganz einfach – wenn man erst einmal Bescheid wußte. Dieser Gang führte stufenweise steil aufwärts. Außerdem beschrieb er Bögen wie eine gigantische Wendeltreppe. Er war nur dort ausgemauert, wo das Gestein sich als unzuverlässig oder bedenklich erwiesen hatte. Über weite Strecken war er einfach grob aus dem Fels geschlagen. Ebenso die Stufen. Irgendwo tropfte Wasser. Lehm hatte sich auf den Stufen abgelagert, die Spuren eines Wassereinbruches. Schimmel wucherte an den Wänden. Uralte eiserne Fackelhalter rosteten in der modrigen Feuchtigkeit traurig an den rauhen Felswänden. Nach jeweils zwanzig Stufen war ein Fackelhalter befestigt. Aber Fackeln steckten schon lange keine mehr darin. Ab und zu lauschte Gordon. Ein Angriff in diesem engen Gang konnte üble Folgen haben. Er hörte nichts, er spürte auch nicht die Nähe eines unirdischen Wesens. Wie es aussah, war er allein.
Er zählte die Stufen noch bis zur dreihundertsten mit, dann gab er es auf. Der Einstieg befand sich ungefähr auf halber Höhe. Nach seiner Schätzung mußte er soweit oben sein, daß er jetzt auf die Gewölbe und untersten Gelasse des Blutschlosses stoßen mußte. Die Stufen wurden glitschig, Wassertropfen glitzerten im Strahl der Taschenlampe. Wie er erwartet hatte, weitete sich der Gang und wurde hoch und licht. Der Lichtstrahl griff in einen verblüffend großen Raum und riß Sarkophage aus der Dunkelheit, die an den Wänden aufgereiht waren. Sie waren nicht zerstört. Die Ruhestätte der Herren von Tinmore schien durch alle Zeiten hindurch respektiert worden zu sein. Er schritt die Reihen ab. Teilweise waren die steinernen Särge kunstvoll gestaltet, andere waren schlicht, ohne Ornamente. Aber keine Inschrift, keine Bleiplatten verkündetete, wer in ihnen schlummerte. Gordon wollte das Gewölbe schon wieder verlassen, als er eine verschobene Sarkophagplatte gewahrte. Sofort verband er damit die Vorstellung, daß eventuell hier das Monster ruhte. Ähnlich wie ein Vampir, der sich auch immer tagsüber in seine Totenkammer zurückziehen mußte. Er schob die Steinplatte ganz zur Seite. Es erstaunte ihn, wie leicht es ging. Mit der Taschenlampe leuchtete er hinein. Er prallte zurück. Er hatte nicht damit gerechnet gehabt. In dem Sarkophag lag der alte Kilrain! Und noch jemand, der aber schon mit Schimmel überzogen war. Anhand seines bis zum Kinn gespaltenen Schädels kam Gordon aber zu dem Resultat, daß es sich um den Bürgermeister Henry Bishop handelte. Das grünhäutige Monster bewahrte seine Opfer in Steinsärgen auf!
Nacheinander öffnete Gordon die anschließenden Sarkophage. Er fand Leichen, die entsetzlich zugerichtet waren, andere, die kaum eine Verletzung aufwiesen. Eine der jüngeren identifizierte er als die Überreste von Harvill. Der zweite Tote bei ihm mußte dann wohl Kemble sein, der Sekretär von Sir Randolph Water. Die Toten waren zwar vor den Augen der Polizei spurlos verschwunden, aber sie waren nicht für alle Ewigkeit verschwunden. Das Monster hatte sie geholt und hier eingelagert. Das war der treffende Ausdruck. Der Unhold hatte hier ein richtiges Lager angelegt. Gordon stellte fest, daß der Zustand der Leichen schlechter wurde, je weiter er in der Reihe kam. Einige der Opfer waren erst ein paar Tage hier unten, Kilrain sogar nur Stunden. Andere aber mußten schon Wochen und Monate da sein und andere viele Jahre. Sie waren von Schimmel überwuchert, ihre Haut hatte große Löcher bekommen. Und sie begannen zu schrumpfen und bräunlich zu werden. Und dann hatte Gordon das Gefühl, jemand würde ihm geschmolzenes Blei in den Nacken schütten! Er richtete den Lampenstrahl noch einmal auf einen vertrockneten Toten, den er nur kurz angeleuchtet hatte. Er war besser erhalten als die anderen, die seltsamerweise alle nicht in Verwesung übergingen. Verstört betrachtete Gordon die dürren trockenen Finger, die gefaltet waren. An den Gelenken saßen dicke gichtige Knoten. Wie bei…! Die Hand, die er statt der von Hanako ergriffen hatte, war doch auch voller Gichtknoten gewesen! Und die von Doktor Garrick! Löcher waren in die Haut gebrochen. Der Tote lag schon seit Jahren im Steinsarg, aber er war Doktor Garrick.
Gordon griff sich an den Kopf und fürchtete, daß es jetzt passiert war! Er schnappte über! Er leuchtete noch einmal gewissenhaft die Leiche an. Jeder Zweifel war ausgeschlossen – das war der Doktor. Wenn der aber hier lag, dann konnte er doch nicht gleichzeitig leben und seine Patienten besuchen und… Eine Bewegung ließ Gordon herumfahren. Er hatte sich zu intensiv mit seiner entsetzlichen Entdeckung abgegeben und völlig vergessen, daß sein Gegner das grünhäutige Monster war. Es kauerte im Eingang, als wollte es ihn für ewige Zeiten versperren. Es blinzelte in das Lampenlicht. Gordon stierte auf die Hände. Sie waren voller Gichtknoten. Und das Gesicht – es hatte eine Ähnlichkeit mit dem von Doktor Garrick. Oder dem Wesen, das er als Garrick kennengelernt hatte. Das Maul verzog sich grausam. Hinter den spitzen Zähnen stieg ein gehässiges Lachen hervor. Dann schmatzte das Monster und bewegte die Arme. Grün schimmerte die trockene Haut. Aus der Nase wurde ein Raubvogelschnabel. »Du hast zuviel geschnüffelt«, sagte das Monster. Und es war Garricks Stimme. Die gleiche, die Gordon auf dem Friedhof gehört hatte, als Kilrain sterben mußte. Gordon riß die Pistole heraus, wechselte die Taschenlampe in die linke Hand und feuerte. Die Silberkugeln gingen einfach durch das Monster hindurch. Sie taten keine Wirkung. Sie reizten den Grünhäutigen nur zur Heiterkeit. Er lachte unbändig, daß es schaurig von den schimmeligen Wänden widerhallte. »Du kommst hier nie mehr fort!« versprach er dann Gordon. »Du bist ein Erdenwurm, sonst nichts.« Gordon steckte die Pistole ein und zündete geistesgegenwärtig einen Schwefelbrandsatz, als das Monster
die Arme ausbreitete und ihm augenblicklich Flügel wuchsen. Es schwang sich in die Luft und stürzte sich dem Geisterjäger entgegen. Es stieß mit dem Brandsatz zusammen und brüllte schrecklich auf, als sich die blauen Flammen sofort in seine Brust fraßen. Schwefelgestank breitete sich aus. Rauch stieg auf. Gordon warf den nächsten Satz. Er zielte nach dem Kopf mit der fürchterlichen klaffenden Nagelwunde. Sein Geschoß brannte sich in die linke Wange des Monsters. Die trockene Haut begann zu brennen. Das Wesen schrie zum Steinerbarmen. Aber der Geisterjäger kannte keine Gnade. Der Grünhäutige hatte auch nie Gnade gewährt. Gordon zündete die beiden anderen Sätze und schleuderte sie auf das Höllengeschöpf. Die Flügel brannten schon, das Feuer griff auch nach den Beinen. Die Krallen fielen ab. Ein dumpfes Grollen drang aus dem Boden und schüttelte die Sarkophage. Der Boden schwankte, von der Gewölbedecke rieselte Mörtel. Raus! war Gordons einziger Gedanke. Er rannte auf das sterbende Monster zu – und sauste ins Leere. Der Grünhäutige hatte sich aufgelöst. Nur Schwefelqualm und Gestank blieben zurück. Und ein paar glimmende Hautreste auf dem Steinboden. Noch im Sterben hatte sich die Höllenbrut aus dem Gewölbe entfernt. *** Keuchend langte Gordon beim Ausstieg an. Er war gelaufen, was seine Beine hergaben und die Lungen
aushielten. Er hatte einen bestimmten Verdacht, und er wollte sehen, ob er zutraf. Aus dem Gewölbe hatte er keinen anderen Ausgang nach oben gefunden. Mit der Suche hatte er sich nicht aufgehalten und lieber den Umweg über den uralten Gang abwärts und dann den Weg zum Blutschloß hinauf in Kauf genommen. Als er oben ankam, fand er zwar den Blutnagel, der immer noch im Tor steckte. Aber der Grünhäutige hing nicht daran. Genau das hatte er aber gehofft. Er dachte nach. Er hatte etwas übersehen. Oder war das Monster dahin zurückgekehrt, wo es jahrelang die Rolle des Doktors gespielt hatte? In seinem perfekt nachgebildeten Körper? Mit dem medizinischen Wissen und dem fachlichen Können eines Landarztes? Er hielt das nicht mehr für ausgeschlossen. In größter Eile hastete er zum Dorf hinunter. *** Er hatte Zeugen auf Verdacht mitgebracht. Zeugen waren immer gut. Samson guckte verwundert, drei andere Männer maulten, weil sie lieber zur Feldarbeit wollten. Hanako war auch mitgekommen. Gordon klopfte die Haushälterin heraus. Die bissige Frau betrachtete den Aufmarsch vor der Haustür. »Was gibt das?« »Zu Doktor Garrick!« sagte Gordon höflich und bestimmt. »Ob er nun einen Gichtanfall hat oder nicht.« Er schob die Frau einfach beiseite. Aber sie wieselte an ihm vorbei und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor einer Tür auf. »Nein, das geht nicht, er ist sehr krank.« Gordon schob die Frau weg und öffnete die Tür.
Der gellende Schrei der Haushälterin ging ihm durch Mark und Bein. Und einer seiner Zeugen floh aus dem Haus. Doktor Garrick war nicht sehr krank, er war tot. Ein schwarz verbranntes kleines Etwas lag in seinem Bett. »Allmächtiger, was ist das? Was ist mit dem Doktor passiert?« stöhnte Samson. »Doktor?« Gordon atmete langsam aus. »Der Doktor ist schon ein paar Jahre tot. Ich habe seine Leiche auf dem Blutschloß gefunden. Und die Leichen von vielen anderen auch, die in dieser Gegend verschwunden sind.« Er zeigte auf das schwärzliche Bündel im Bett. »Das hier ist das grünhäutige Monster.« Er trat neben das Bett und rollte die Reste herum. Im geschwärzten Stirnknochen prangte ein großes Loch, spitze Zähne ragten aus dem schwarzen Mund. »Er hat letzte Nacht Kilrain geholt, und er hat auch den Bürgermeister getötet«, fuhr Gordon fort. »Archy hat mit der ganzen Sache insofern zu tun, als er mich auf die richtige Spur gebracht hat.« Er hielt inne und schaute die Männer an, die einen irren Ausdruck in den Augen hatten. »Es wäre gut, wenn jemand die Polizei verständigen würde.« Er wandte sich ab, legte den Arm um Hanakos Schulter und verließ das Haus. Draußen strömten Menschen zusammen. Noch zeigten die Gesichter blankes Entsetzen, aber da und dort entdeckten Gordon und Hanako in den Augen erste Anzeichen von Erleichterung. Der Terror des Grünhäutigen war von diesem Land genommen. Wahrscheinlich verfiel jetzt das Blutschloß. Hector Beecham kaufte es bestimmt nicht. ENDE Gordon Black erscheint im Wolfgang Marken Verlag GmbH & Co., Eintrachtstraße
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