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Seewölfe 113 1
Roy Palmer 1.
Als sich der Sturm über den unergründlichen Tiefen des Pazifischen Ozeans erhob und die See in eine kochende dunkelgrüne Landschaft mit schäumenden Gipfeln, steilen Hängen und gähnenden Schluchten verwandelte, stand Philip Hasard Killigrew auf dem Achterdeck seiner Dreimastgaleone „Isabella VIII.“ und schaute zum wiederholten Mal zu Dan O’Flynn in den Großmars auf. Der hatte sich längst auf der luftigen Plattform festgebunden, sonst wäre er von dem wild hin und her schwankenden Posten gefegt worden wie ein unnützes Bündel Lumpen. Der Wind heulte aus Südwesten heran und zerrte an der Segeltuchverkleidung, die den Großmars umspannte. Der Schimpanse Arwenack war längst auf Deck abgeentert, er hatte nicht den Nerv, hier oben einen heulenden Orkan durchzustehen. Dan richtete sich kurz auf, klammerte sich mit beiden Händen fest und schrie nach unten: „Deck - verdammt! Ich kann nirgends Land entdecken!“ Der Seewolf hatte verstanden und antwortete, aber seine Stimme nahm sich nur schwach gegen das Sturmtosen aus. „Der Teufel soll dich holen, Dan!“ „Aye, aye, Sir!“ Nein, es gab keine Insel inmitten der brüllenden Urgewalten, einen Hort des Schutzes und der Zuversicht, in dessen Bucht sie sich verholen konnten. Hasard stand da und stieß eine Serie deftiger Flüche aus. Er hielt die Handleiste der Five-Rail fest umspannt, balancierte die tanzenden Decksbewegungen aus und verfolgte, wie seine Crew auf dem Hauptdeck die letzten Manntaue spannte. Unerwartet hatte das Wetter gewechselt. Der Wind hatte geschralt und nicht mehr wie vorher aus Südosten geblasen, aber anfangs hatte das Ganze nur nach einem simplen Aufbrisen ausgesehen. Dann hatte sich jedoch eine schwarzblaue Wolkenwand auf die „Isabella“ und den schwarzen Segler zugeschoben, rasch und
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drohend, und gigantische Türme mit bizarren Formen gebildet. Es war kalt geworden. Dieser Wind schien direkt aus den Regionen des ewigen Eises heranzuorgeln. Hasard spürte ein frostiges Prickeln auf seiner Rückenhaut, aber nicht wegen der Temperatur, sondern weil er sich dessen entsann, was er im Packeis erlebt hätte. Das Abenteuer lag noch nicht sehr lange zurück. Er blickte zu Siri-Tongs schwarzem Viermaster hinüber. Auch sie hatte die Sturmbesegelung setzen lassen. Der „Eilige Drache“, sonst trotz seiner Größe ein schnelles, manövrierfähiges Schiff, taumelte wie betrunken durch die Fluten. Ben Brighton hangelte an den Manntauen von der Kuhl aufs Achterdeck und brüllte noch auf dem Niedergang: „Es ist wie verhext! Kein Land in Sicht. Wir haben nur noch eine Chance.“ „Ja, Ben!“ rief Hasard. „Wir müssen diesen elenden Sturm abreiten.“ „Die Osterinsel und Sala-y-Gomez liegen auch bereits viel zu weit hinter uns.“ „Mehr als hundert Meilen!“ schrie der Seewolf gegen das Heulen und Brausen an. „Wir können nicht dorthin zurückkehren. Es wäre sinnlos, es überhaupt zu versuchen. Legt also alle Mann die Ohren an und paßt auf, daß sie euch nicht abgerissen werden.“ „Aye, Sir!“ rief Ben. „Sir John, du Rabenaas!“ brüllte auf der Kuhl Profos Edwin Carberry. „Wo, zum Teufel, steckst du?“ „Achterdeck schrie Big Old Shane. „Ich hab ihn im Schott verschwinden sehen, als auch Arwenack stiften ging!“ „Umso besser“, stieß Carberry grollend aus. „Sonst verlieren wir unser Viehzeug nämlich in dieser riesengroßen Scheiße.“ Er verstummte, denn ein Brecher rollte gegen die Bordwand der „Isabella“. Ein Rütteln lief durch den Schiffsleib, Sturzseen hieben auf das Oberdeck, und der Profos und einige andere Männer wurden von Gischt eingehüllt. Der Sturm wütete und entwickelte sich. Das Unheil war steigerungsfähig. Es war Tag, aber der Himmel hatte sich schwarz
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wie die Nacht gefärbt, und die See war ein Höllenfluß, der sie geradewegs dem Leibhaftigen in den Rachen spülte. „Odin galoppiert auf seinem achtbeinigen Roß!“ schrie Thorfin Njal, der Wikinger, an Bord des schwarzen Schiffes. „Geri und Freki, die Wölfe, heulen um die Wette, und die Raben Hugin und Munin begleiten sie als schwarze Boten des Todes!“ „Der Blitz soll deine verflixten Götter treffen!“ wetterte Juan. „Wotan, der Herr über Blitz und Donner, wird dich vernichten“, prophezeite der Wikinger. Siri-Tong stand neben den beiden und hielt einen Arm unter eine Nagelbank des Achterdecks gehakt, um Halt zu haben. Sie ging nicht auf das Wortgefecht ein, sondern rief nur: „Himmel, wir werden die ‚Isabella’ aus den Augen verlieren, wenn das so weitergeht Thorfin, Juan, BostonMann - versuchen wir, den Kontakt zu Hasard zu halten.“ Sie sagte es und wußte dabei ganz genau, daß alle Bemühungen in dieser Richtung nichts fruchten würden. Schon jetzt war die „Isabella“ von einem Gischtschleier umgeben, torkelte in tintenschwarze Sphären hinein und war immer schwerer zu erkennen. Desgleichen das schwarze Schiff. Sein Kampf gegen den Sturm fand auf einer Ebene statt, die nie die gleiche wie die der „Isabella“ war, ein rollender Tanz, ein ewiges Heben und Senken und Schlingern war das, in dem jeder für sich dastand. Hasard stellte in diesem Augenblick ähnliche Überlegungen an wie Siri-Tong. Eine Barriere senkte sich zwischen sie, er war machtlos dagegen. Sie wurden auseinandergetrieben. Wer das Toben überstand, würde nach dem Bundesgenossen suchen, wer nicht, würde das nicht mehr nötig haben, denn die eine positive Seite ließ sich dem Tod abgewinnen: Wer über die düstere Schwelle ins Jenseits gesprungen war, brauchte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Probleme des Diesseits keine Sorgen mehr zu bereiten. Den Pazifischen Ozean überqueren wollte der Seewolf, aber es schien eine Macht zu
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geben, die ihn immer wieder davon abhielt. Vor der Ankunft auf den Philippinen und in China hatte der liebe Gott mannigfache Widrigkeiten gesetzt: die Amazonashölle, Bahia, den Rio de la Plata, graue Giganten, Vulkaninseln, Eis und Verdammnis, die Osterinseln —und jetzt dies. Dabei hatte es so gut angefangen. Nach den Abenteuern auf den Osterinseln hatten sie unter Ausnutzung des Südost-Passats westlichen Kurs genommen, waren also mit Backstagswinden Lind auf Steuerbordbug liegend dem fremden Kontinent entgegengesegelt. Magellan, Drake - auf ihren Spuren bewegte sich der Seewolf. Er wußte nicht genau, wie es denen bei der Weltumseglung ergangen war, die Details waren ihm nicht bekannt geworden, aber sie hatten es lebend überstanden, während der Teufel, dem er so gern ins Gesicht spuckte und ein Ohr absegelte; ihn um jeden Preis vernichten zu wollen schien. Das Schicksal war ihm nicht wohlgesonnen. Bewahrheiteten sich die düsteren Voraussagen der Roten Korsarin? Sie hatte ihn ja gewarnt, bis in das Land ihrer Ahnen vorzu- dringen, begleitete ihn jedoch, weil er durch nichts, aber auch gar nichts von seinem Vorhaben abzubringen war. Nur durch den Tod. Der Sturm brachte sie vom Westkurs ab und drückte sie nach Nordosten. Sie waren ihm ausgeliefert, weil es in diesen Breiten nicht ein einziges noch so winziges Eiland zu geben schien. Aber das war bei weitem nicht das Schlimmste. * Als der Sturm seinen vernichtenden Höhepunkt erreichte, kuschelten sich Arwenack und Sir John in einem der Achterdecksräume zusammen. Der Schimpanse hatte den Papagei in seine Vorderpfoten geschlossen. Es schien eine schützende Geste zu sein, aber er hatte genauso viel, wenn nicht noch mehr Angst als der karmesinrote Ara.
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Arwenack brabbelte fast unausgesetzt vor sich hin und rollte die Augen. Sir John zog den Kopf ein, wenn es gegen die Schiffswände donnerte und bis in die letzten Verbände knackte und knirschte. Seine Nackenfedern waren gesträubt, und er stieß alle Flüche aus, die Ed Carberry ihm beigebracht hatte, beispielsweise „Himmelkreuzdonnerwetter“ oder „Schockschwerenot“ oder „Himmel, Arsch und Zwirn“. Und als er die wüstesten Kraftausdrücke auf englisch von sich gegeben hatte, krächzte er die spanischen Verwünschungen hinaus. Arwenack nickte dazu, jammerte, brabbelte und keckerte, obwohl er nichts verstand. Tief in seinem Inneren jedoch war er mit dem Federtier einig darüber, daß dies eine, gemeine Welt war, in der es keinen Platz für anständige Affen und Papageien gab. Er hätte das auch herausgebrüllt, wenn er einer Sprache mächtig gewesen wäre. Die See hob die „Isabella“ hoch und ließ sie wieder fallen, daß Arwenack ganz schlecht im Magen wurde. Er kollerte quer durch den Raum, stieß sich den Kopf, heulte und ließ Sir John los. Sir John flatterte umher und rappelte wieder die englischen Flüche herunter, weil die spanischen aufgebraucht waren. Arwenack wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Er kauerte sich verzweifelt zusammen und nahm Sir John von neuem zwischen die Pfoten, als dieser zu ihm segelte und nach einem Unterschlupf suchte. Es krachte und donnerte, die „Isabella“ schien auseinanderzubrechen. „Ihr Rübenschweine!“ krähte Sir John. „Euch zieh ich die Haut. in Streifen von euren ...“ Weiter gelangte er mit diesem CarberryZitat nicht, denn die Galeone wurde von neuen, noch fürchterlicheren Stößen geschüttelt. Wieder schleuderte es die beiden Tiere durch den Raum. Der Weltuntergang schien dazu sein, die Sintflut, und es gab keine rettende Arche Noah.
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Arwenack und Sir John lebten sonst nicht in trauter Eintracht miteinander auf der „Isabella“. Im Gegenteil, der Affe war eifersüchtig auf den Papagei, Sir John schien ähnlich zu empfinden, und beide suchten immer nach Möglichkeiten, den lästigen Rivalen zu ärgern. Nur in dieser Stunde größter Not schlossen sie Burgfrieden - und das war der Gradmesser für die Stärke und Ungeheuerlichkeit des Unglücks, das da über Schiff und Mannschaft hereingebrochen war. * Hasard hielt auf dem Achterdeck aus und bangte um Dan O’Flynn, der jeden Augenblick trotz der Leinen, die ihn hielten, aus dem Großmars gerissen werden konnte. Warum, zum Teufel, war Dan auch nicht abgeentert, als die Sturmstärke es noch zugelassen hatte? Es war völlig sinnlos, diese Frage zu stellen. Dan war der beste Ausguck, den man sich denken konnte, er hatte seinen Posten halten wollen. Jetzt konnten seine Freunde nur noch beten, daß das Schicksal ihn vor einem grausamen Ende bewahrte. Hasard fluchte und betete abwechselnd und hielt sich an der Five-Rail fest. Aber dann brach die Five-Rail, er stürzte von dem abschüssigen Achterdeck nach vorn aufs Quarterdeck und krachte schwer gegen das Ruderhaus. Er richtete sich auf und klammerte sich wieder fest - und das war sein Glück, denn eine Sekunde später wischte ein Brecher mit voller Wucht über Deck und riß alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. „Hasard!“ schrie Ben Brighton. Er stand bei Pete Ballie im Ruderhaus und hatte verfolgt, wie der Seewolf mit der splitternden Balustrade nach unten gesaust war. „Mein Gott - alles in Ordnung?“ „Soweit ja!“ brüllte Hasard zurück. „Was ist mit dem Ruder?“ „Noch hält es!“ „Gut so!“ schrie Hasard. „Haltet die Stellung!“ Er arbeitete sich am Ruderhaus entlang
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zum nächsten Manntau, hangelte daran zum Steuerbordniedergang und kroch auf Teufel komm ‘raus auf die Kuhl hinunter. Er wußte, daß es lebensgefährlich war, aber er mußte nach Carberry und den anderen schauen. Die Sturmsegel hingen in Fetzen von den Rahen. Die „Isabella“ war ein Spielball der Urgewalten geworden, von Stabilität konnte keine Rede sein - und doch, im Unglück hatte der Seewolf noch Glück. denn das Ruder hielt. Er hatte das Rad festzurren und achtern eine Trosse Uförmig ausbringen lassen, um dem Schiff wenigstens ein bißchen Halt -in der verrückt gewordenen See zu verleihen mehr konnte er weiß Gott nicht für die „Isabella“ tun. Gischt fegte über die Kuhl und verzerrte die Konturen der Männer. Jemand brüllte, daß etwas ganz verdammt am Dampfen sei, und Hasard wußte nicht nur, was gemeint war, ihm war auch klar, daß es nur einen Mann mit einem solch gewaltigen Organ an Bord gab. „Carberry!“ schrie er. „Sir?“ „Blas den Dampf weg und komm zu mir ‘rüber!“ Aus der Gischt tauchte die wuchtige Gestalt des Profos’ auf. Er kämpfte sich an den Manntauen auf seinen Kapitän zu und hörte nicht auf zu fluchen. Er rutschte aus. rappelte sich wieder auf und stand dann auf schwingenden, glitschigen Planken vor dem Seewolf. „Sir - ich hab Angst, daß sich eine der Culverinen aus den Brooktauen lösen könnte“, stieß er hervor. „Dann laß doch das Deck räumen, Ed!“ rief Hasard. „Das habe ich getan ...“ „Und warum, zum Teufel, stehst du hier noch rum?“ „Meine Pflicht, Sir!“ schrie Carberry. Hasard schob sich noch ein Stück näher auf ihn zu. „Ed, willst du, daß dir eine Kanone über die Plattfüße rollt, Himmel noch mal? Mann, selbst wenn sich ein verdammtes Geschütz selbständig macht
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und durch das Schanzkleid fegt - ich pfeife darauf.“ „Jawohl, Sir ...“ „Los, nichts wie weg hier!“ rief Hasard ihm zu. Er dirigierte ihn auf die Back zu. Das Vorkastell war wie die Poop eine Bastion im Orkan, ein Wehrturm, der aus den Fluten aufragte und ein letztes Gefühl von Widerstandsfähigkeit und Sicherheit vermittelte. Der Seewolf erkannte Gestalten, die sich dort oben bewegten. Smoky, Al Conroy und Ferris Tucker. Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, stieß eine Verwünschung aus. In diesem Augenblick begriff Hasard, daß oben etwas nicht in Ordnung war. „Ferris, was ist los?“ rief er. Aber ein Brecher bäumte sich an der Bordwand der „Isabella“ auf, die See rauschte über das Oberdeck, der Sturmwind riß Hasards Worte in Fetzen und trug sie in das schwarze Inferno hinaus. Carberry fluchte auch, und im selben Moment sah Hasard den Fockmast wanken. Gleichzeitig knirschte es vernehmlich. Es war ein Geräusch, das sich peinigend in die Herzen der Männer grub. Sie kannten es, erlebten das nicht zum erstenmal. „Der Fockmast!“ brüllte der Profos. „Er bricht!“ „Du merkst aber auch alles, Hölle und Teufel!“ schrie Smoky zurück. „Ferris!“ rief der Seewolf. „Wir helfen dir!“ Tucker hatte weitere Taue angeschlagen, um den Fockmast zu halten, unter Einsatz seines Lebens. Smoky und Al assistierten ihm, so gut sie konnten. Alle drei hatten sich festgelascht, um nicht von Bord gerissen zu werden. Hasard und Carberry waren auf der Back, banden sich ebenfalls an und klammerten sich mit an den Tauen fest, die den Fockmast vor der totalen Zerstörung bewahren sollten. Dann erschienen auch noch Big Old Shane, Matt Davies, Luke Morgan und Bob Grey, und andere Männer drängten von den Niedergängen aus nach.
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Mit vereinten Kräften trachteten sie, den Mast zu halten, aber es nutzte nichts. Brecher von unsagbarer Macht rammten das schiff und überspülten es, und wieder war da das fürchterliche Knacken und Knirschen. Ferris Tucker wetterte Mord und Bein, Carberry fiel mit ein, aber auch das hatte wenig Zweck. Der Fockmast lehnte sich nach Backbord und kippte wie ein gefällter Baum. „Hinlegen!“ brüllte Hasard. „In Deckung! Haltet euch fest!“ Der Mast hieb auf das Backbordschanzkleid nieder und zerdrückte es. Hasard konnte gerade noch Al Conroy packen und zu sich heranziehen, sonst wäre sein Waffenmeister unter dem Holz begraben worden. Der Mast lag zu gut zwei Dritteln seiner Länge außenbords in Schaumseen und Sprühwasser, ging aber nicht völlig verloren, weil er an der Bruchstelle noch mit dem splittrigen Stummel verbunden war, der aus dem Vordeck aufragte. Die „Isabella“ krängte gefährlich nach Backbord, ihr Oberdeck war eine steile Rutschbahn, die die Männer in die tosende See zu werfen drohte. „Wir schlagen quer!“ rief Shane. „Besorgt mir eine Axt!“ schrie Hasard. Ferris Tucker hatte bereits seine Zimmermannsaxt gezückt und rückte auf den Maststummel zu. Big Old Shane zog den Tschakan, die türkische Wurfaxt, aus dem Gurt. Sie war ein Überbleibsel der Abenteuer im Mittelmeer und hatte Shane schon mehrfach gute Dienste geleistet. Matt Davies hatte es geschafft, ins Vorschiff zu kriechen. Jetzt kehrte er robbend auf die Back zurück und händigte seinem Kapitän die Axt aus, die er hatte beschaffen können. Hasard, Ferris und Shane hieben wie die Besessenen auf die Bruchstelle des Fockmastes ein, kappten die Wanten und Fallen und das gesamte laufende und stehende Gut. Sie vollbrachten akrobatische Leistungen, denn auf dem abschüssigen Deck konnte kein Mann
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mehr stehen — nur noch in seinem Haltetau hängen, liegen, kriechen. Das Backbordschanzkleid der „Isabella“ schnitt unter und war nicht mehr zu sehen. Bedrohlich hatten sich der Groß- und Besanmast zur Seite geneigt. Jeden Augenblick konnte das geschehen, was Shane prophezeit hatte, sie waren nicht mehr weit davon entfernt. Wenn die Galeone querschlug, gab es keine Rettung mehr. Selbst wenn der Seewolf dann noch die Boote zu Wasser bringen und bemannen konnte, waren die Überlebenschancen gleich Null. Nein, er mußte den Ballast loswerden, um jeden Preis. Wütend hackte er mit der Axt auf den Maststummel ein. Zoll um Zoll barst das Holz. Der Mast ruckte, die „Isabella“ krängte noch weiter, Splitter wirbelten unter den Hieben der drei Männer. Das Holz war hart und widerstandsfähig. Gute englische Eiche, die vor der Orkanstärke zwar hatte kapitulieren müssen, sich jetzt aber weigerte, endgültig der See geopfert zu werden. So erschien es den Männern jedenfalls. Sie kämpften gegen die Tücke des Objekts, gegen den drohenden Untergang. Dann, endlich, verlor der Fockmast seinen letzten Halt zur „Isabella“. Knirschend löste er sich von dem Stumpf, rutschte beschleunigend über das demolierte Schanzkleid und verschwand im kochenden und brodelnden Wasser. Für Sekunden krängte die „Isabella“ noch weiter nach Backbord. Bis der Mast nicht endgültig außenbords gerast war, bildete das Oberdeck eine beinahe vertikale Gleitfläche. Ausgerechnet in diesem Moment riß Ferris Tuckers Haltetau. Er sauste in die Tiefe - dem Fockmast nach. 2. Ein-einziger Aufschrei gellte über Deck. Die Männer schickten sich an, ihrem rothaarigen Kameraden nachzuspringen, aber Hasards Ruf stoppte sie.
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„Keiner rührt sich von Bord - keiner außer mir!“ Er schlug mit der Axt gegen sein Tau und durchtrennte es etwa zwei Handspannen von der Hüfte entfernt. Sofort glitt auch er die teuflische Rutschbahn hinab und jagte auf das Backbordschanzkleid zu. Die „Isabella“ richtete sich jedoch wieder auf, weil der Fockmast baden gegangen war, und diese Bewegung fing Hasards Schwung etwas ab. Er landete mit den Füßen unten am Schanzkleid, stieß sich mit den Händen vom Deck ab, schwang hoch und hechtete über die Handleiste weg in die schäumende See. Er sah gerade noch Ferris Tucker untertauchen. Wenige Yards entfernt schwamm der Fockmast, er mutete wie eine riesengroße Vogelscheuche an, die mit ausgebreiteten Armen und Beinen hilflos im widrigen Element trieb. Hasard streckte die Arme weit vor und tunkte kopfunter ein. Die Fluten rissen ihn sofort mit, sie schienen aus Tausenden von Strudeln zusammengefügt zu sein. Hasard riß die Augen auf, konnte aber nichts erkennen als tintenschwarze Finsternis. Er ruderte mit den Gliedmaßen gegen das Saugen und Wirbeln des Wassers an, richtete aber kaum etwas aus. Dabei mußte er noch aufpassen, nicht mit dem Fockmast zu kollidieren. Prallte er von unten gegen das Ding, konnte es ihm glatt die Besinnung rauben. Und Ferris Tucker? Himmel, dem konnte das gleiche passieren! Hasard tauchte auf, schnappte Luft und schloß den Mund, als eine Woge ihn unterzuwühlen drohte. Ein gurgelnder Schub Wasser brandete gegen ihn an, er hätte es gallonenweise geschluckt, wenn er nicht sofort wieder den Mund geschlossen hätte. Schreie wehten von der „Isabella“ herüber. Das Schiff war ein grauer Schatten im Sturm, angeschlagen, seinem Schicksal ausgeliefert. Die Crew war kaum zu erkennen, nur schwach gezeichnete Punkte bewegten sich am Schanzkleid hin und her, das waren die Köpfe der Männer. Die Unzulänglichkeit des Menschen zeigte sich
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in dieser Kraftprobe mit der Natur in aller Deutlichkeit. Hasard dachte, die Männer schrien nur aus Sorge um ihn und Ferris Tucker, aber dann hörte er doch noch mehr heraus. Sie wollten ihn auf etwas hinweisen - und das konnte bei diesen Verhältnissen nur von Dan O’Flynn ausgehen. Dan, dieser Mordskerl! Er hielt sich nach wie vor im Großmars und schien durch die Gischt hindurch etwas entdeckt zu haben: „Weiter nach achtern!“ brüllte Carberry. Achtern — Hasard orientierte sich an der „Isabella“ und kämpfte sich in Richtung auf ihr Heck zu. Die Wogen zerrten an ihm, wollten ihn nicht, versuchten, ihn zu vernichten. Er stieg wie von einem Katapult befördert in einen der schäumenden Kämme auf, verharrte für eine Sekunde, vielleicht für zwei, und sah unter sich den Fockmast. Die Welle riß ihn in die Tiefe, auf den Mast zu. Sie drohte ihn unterzubaggern und gegen das Holz zu werfen, aber Hasard tauchte. Er schwamm mit aller Kraft, so tief er konnte. In seinen Ohren war das Urbrüllen der Welt. Der Teufel schien hier unten näher zu sein als anderswo. Aber der Seewolf preßte die Zähne zusammen und dachte nur das eine: Fahr du selbst zur Hölle, du Satansbraten! Die Fluten stießen ihn vor sich her. In seinen Lungen machte sich die Atemnot bemerkbar, er mußte wieder auftauchen. Er drehte sich um die Körperlängsachse und blickte nach oben. Etwas Schemengleiches schien über ihm dahinzuhuschen. Er ließ sich vom Auftrieb mitnehmen, schwang an die Oberfläche und pumpte wieder Luft in sich hinein. Der Fockmast trieb keine fünf Yards hinter ihm. Plötzlich sah er auch Ferris Tucker. Ferris befand sich in unmittelbarer Nähe des Mastes, Dan hatte also richtig beobachtet. Hasard drehte sich im Wasser, schwamm auf den Rothaarigen zu — und kriegte einen Schreck. Ferris Tucker bewegte sich nicht. Wie tot trieb er in der See. Kein Zweifel, er war zu dicht an den Fockmast geraten und
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wahrscheinlich gegen die Vormarsrah geprallt. Die schweren Spiere mußten seinen Kopf getroffen haben. Er war ohnmächtig und schluckte Wasser. Hasards Arme ruderten unablässig, er bewegte die Beine heftig auf und ab. Ungeachtet des Orgelns und Tobens, Kochens und Schäumens des Wassers hielt er auf Ferris zu. Er war bei ihm, als der Rotschopf schon unter der Oberfläche der See verschwand. Hasard tauchte, griff Ferris von hinten unter die Arme und zog ihn mit sich hoch. Sie schossen hoch und drohten erneut unterzugehen. Hasard strampelte mit den Beinen, arbeitete sich auf den Fockmast zu und packte den ersten Halt, der sich bot. So wurde der Mast. der sie beinahe alle ins Verderben gestürzt hätte und Ferris zum Verhängnis geworden war, jetzt ein Rettungsmittel. Anfeuernde Rufe tönten von der „Isabella“ herüber. Hasard hörte Carberrys, Ben Brightons und Dan O’Flynns Stimmen heraus. Es wäre heller Wahnsinn gewesen, ein Boot zur Übernahme der beiden Männer abzufieren. Es wäre sofort gekentert. Ben Brighton ließ deshalb beidrehen, soweit das im Orkan möglich war, und rief: „Werft Taue aus!“ Der Seewolf sah, wie die Taue flogen und ins Wasser klatschten. Er ließ den Mast wieder los, weil er sich zu weit von der „Isabella“ entfernte, nahm Ferris in Schlepp und schwamm rücklings auf sein Schiff zu. Es wurde ein Unterfangen, das ihn beinah umbrachte. Er schluckte Wasser und spie es wieder aus, litt Atemnot und japste unter, der Last des bewußtlosen Schiffszimmermanns. Ferris Tucker war ein wuchtiger Mann mit einem Kreuz „so breit wie ein Rahsegel“. Er drohte wie ein Bleigewicht in die Tiefe abzusacken und seinen Kapitän dabei mit zum Ersaufen zu bringen. Aber plötzlich lag da ein Tampen in Griffnähe, und Hasard streckte die Hand danach aus, Er kriegte ihn zu fassen und krallte sich fest. Das Tau war wie ein Lebensnerv, der, einmal verloren, einmal
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durchtrennt, nicht wiedererlangt werden konnte. „Aufhieven!“ brüllte Carberry. „Hievt an, ihr Himmelhunde, schuftet, daß die Schwarte kracht, oder ich zieh sie euch in Streifen ab! Jawohl, diesmal tu ich’s wirklich, das schwöre ich euch!“ Ein Ruck lief durch das Tau, und der Seewolf brauchte plötzlich nicht mehr zu kämpfen, um an der Wasseroberfläche zu bleiben. Die Männer zogen ihn, er glitt auf die „Isabella“ zu. Brecher überspülten ihn und Ferris Tucker, aber es kümmerte ihn nicht mehr. Hier hatte nur noch das eine Wert: so schnell wie möglich an Bord der Galeone zu gelangen. Die Bordwand der „Isabella“ war eine tödliche Mauer, an der man zerschellen konnte. Ben Brighton ließ die beiden Schiffbrüchigen zwar in Lee übernehmen, aber die Brecher rollten von allen Seiten gegen das Schiff an. Die Gefahr, sich die Knochen zu brechen, bestand also auch hier. Hasard gab den Männern ein Zeichen, dann knüpfte er das Tau kurzerhand um Ferris’ Oberkörper fest. Er war froh, daß er es fertiggebracht hatte, lachte wild und bedeutete der Crew durch eine Gebärde, den rothaarigen Riesen hochzuziehen. Ferris erhob sich wie ein Klotz aus den Fluten und baumelte über ihm. Unter Carberrys Hau-ruck-Rufen schwebte er ziemlich rasch hoch. Die „Isabella“ krängte nach Steuerbord, und er drohte hart gegen die Backbordseite zu schlagen, aber die Männer konnten die Bewegung im Tau auffangen und dämpfen. Ferris prallte zwar gegen die „Isabella“, wurde aber nicht verletzt. Hast hievten die Männer ihn vollends hoch. Hasard hielt alle viere von sich gestreckt und rauschte auf die Bord wand seines Schiffes zu. Er setzte auf, begann zu kriechen und enterte auf diese Weise tatsächlich allmählich auf. Er rutschte aus, strauchelte fast, fluchte, gab aber nicht auf. Zwei Taue flogen, Ben Brighton hatte sie neu werfen lassen. Eins davon ergriff der Seewolf, als sich die „Isabella“ wieder auf die Backbordseite legte. Er klammerte sich
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fest, verlor den Kontakt zur Außenhaut, schwebte frei und drohte in die See hinabgestoßen zu werden. Die Crew feuerte ihn wieder an, und er klomm an dem Tau hoch, daß selbst Arwenack darüber gestaunt hätte. Hände schoben sich ihm entgegen, packten sein Tau, holten es hoch, griffen auch nach ihm, hatten ihn endlich im Griff und zogen ihn über das Schanzkleid auf die Oberdecksplanken. Sie banden ihn fest. Keine Sekunde zu früh, denn schon donnerte der nächste Brecher über Deck. Hasard setzte sich am Schanzkleid auf, hielt sich fest und blickte zu Ferris Tucker. Shane und Ben Brighton hatten Ferris rasch an einer Nagelbank festgezurrt und hielten ihn noch zusätzlich fest. Die Gestalt des Rothaarigen war nach wie vor schlaff. Er regte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Es schien kein Leben mehr in ihm zu stecken. * Unter schwierigsten Bedingungen transportierten die Seewölfe Ferris Tucker unter Deck. Der Eile halber brachten sie ihn gleich ins Vorschiff, wo der Kutscher seinen Behandlungsraum eingerichtet hatte. Bevor sie Ferris auf einer Koje festbanden, beugte sich der Kutscher, der der Koch und Feldscher der „Isabella“ war, über ihn und lauschte an seiner Brust nach dem Herzschlag. „Er lebt“, sagte er. „Ich kann das Herz nur ganz schwach hören, aber, Hölle und Teufel, unser Zimmermann scheint durch nichts kleinzukriegen zu sein.“ „Was machen wir mit ihm?“ sagte der Profos. „Wir können ihn doch nicht einfach so liegenlassen.“ „Wir müssen ihn wiederbeleben“, entgegnete Hasard. Er hielt sich an der Koje fest. Er stand noch ein bißchen wacklig auf den Beinen, und die wilden Schlingerbewegungen des Schiffes drohten ihn umzureißen. „Er muß opfern, was er bei dem unfreiwilligen Bad in sich
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‘reinschlingen mußte. Stimmt’s, Kutscher?“ „Stimmt, Sir.“ „Hab ich doch gesagt!“ rief Carberry. „Und jetzt laßt mich mal ‘ran, ich — ehm — ich wollte sagen, bitte um die Erlaubnis, Tucker wiederbeleben zu dürfen, Sir.“ „Dann mal los, Ed“, sagte Hasard. Carberry hatte eine ganz rüde Methode, so was zu regeln, aber der Seewolf war sicher, daß nur eine so konsequente „Behandlung“ den Mann schnell ins Bewußtsein zurückholen konnte: Carberry legte sich den Rothaarigen bäuchlings übers Knie, was bei dem Tanzen und Rollen der „Isabella“ auch nicht gerade leicht war. Ferris reagierte, wie jeder andere es tut, wenn er ein fremdes Knie in der Magengrube hat: er opferte. Mehrere Gallonen Seewasser sprudelten in den Raum und verliefen durch die Türritze in Richtung auf den Vordecksgang. Und dann, ja, dann konnten die Männer auch plötzlich wieder lachen, trotz aller Gefahren und trotz des Sturms. Ein kleines, zappeliges Lebewesen schoß aus Ferris Tuckers Mundhöhle und landete auf den Planken. Es hüpfte, kam aber nicht vom Fleck. „Ein Fisch“, stieß Carberry hervor. „Ich werd verrückt, Ferris hat einen Fisch mit Haut und Gräten gefuttert, bei lebendigem Leib. Mann, muß der einen Kohldampf gehabt haben!“ Sie lachten und bogen sich vor Vergnügen. Der Kutscher wollte sich den Fisch greifen, rutschte aber aus und stürzte. Er schlidderte quer durch dis Kammer, bumste mit dem Kopf gegen die Tür und gab einen Wehlaut von sich. Die Männer wollten sich ausschütten vor Lachen, und der Seewolf fiel mit ein, denn dieser ungestüme Heiterkeitsausbruch war gleichzeitig eine Möglichkeit, einen Ablaß für die aufgestauten Sorgen zu finden. Der Kutscher drehte sich um, kroch zu dem Fisch und kriegte ihn jetzt doch zu fassen. Carberry schüttelte währenddessen Ferris Tucker wie einen Kartoffelsack. und der gab auch den letzten Rest aller
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Geheimnisse preis, die er in seinem Magen hütete. Auf Hasards Befehl hin ließ der Profos den Schiffszimmermann dann rücklings auf die Planken plumpsen. Der Kutscher kniete sich hin und wollte mit den Wiederbelebungsversuchen anfangen, die er von Sir Anthony Abraham Freemont gelernt hatte, aber Ferris schlug plötzlich die Augen auf. „Hey“, sagte er heiser. „Was ist denn hier kaputt? Was ist los, Kutscher? Bist du nicht ganz dicht?“ Carberry grinste wie der Leibhaftige höchstpersönlich. „Das mußt du gerade sagen. Sieh doch mal, was du alles ausgespuckt hast.“ Al, der den Fisch vom Kutscher übernommen hatte, zeigte das hüpfende Etwas vor. Ed Carberry sagte: „Du bist nicht ganz dicht, Ferris. Du hast ein Faß Wasser mit ‘nem Hering drin abgelassen.“ Big Old Shanes Augen glitzerten. Er schaute von Carberry zu Ferris Tucker, sah Ferris’ einmalig verblüfften, fragenden Gesichtsausdruck, lief dunkel an — und prustete los. Es war der auslösende Impuls für die anderen, sie stimmten mit in die Lachsalve ein. Ferris zog verwundert die Augenbrauen hoch. Er streckte die Hand aus, sah Al Conroy an, und der übergab ihm den Fisch: Eine Weile hielt der rothaarige Riese das Tierchen zwischen Daumen und Zeigefinger an der Schwanzflosse fest und beäugte es. Er suchte nach einer Erklärung, fand sie aber nicht. „Das ist kein Hering“, sagte er schließlich mit verkniffener Miene. Shane ließ fast seinen Halt los, so ulkig fand er die Bemerkung. Er japste, schnappte. nach Luft und fragte dann mühsam beherrscht: „Kein Hering, Ferris? Aber was dann?“ „Du Barsch“, knurrte Tucker. „Das weiß ich erst, wenn ich ihn gegessen hab.“ Er warf den Fisch mit erstaunlich sicherer Bewegung dem Kutscher zu und sagte: „Den brätst du mir zum Abendbrot, klar?“ Ein Grinsen kerbte sich in seine Mundwinkel, er blickte vom einen zum anderen. „Ich weiß nur noch, daß ich in die
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See gefallen bin und mir irgendwo den Kopf gestoßen habe. Aber wenn ihr glaubt, ich hab ein Ding verpaßt gekriegt wie damals — auf dem Höllenriff — unser guter alter Smoky, dann habt ihr euch gewaltig getäuscht.“ Smoky begehrte auf: „Heda, müßt ihr immer wieder die alte Geschichte aufwärmen? Meine Schuld war’s doch auch nicht, daß ich den Tempo ... äh, den Dingsbumsschwund gehabt habe. Außerdem ist das längst wieder vorbei, ich bin kuriert.“ „Yeah“, meinte Ferris gedehnt. Er versuchte aufzustehen und fixierte dabei grimmig Big Old Shane. „Und wer hier glaubt, er könnte mich aufziehen und veralbern, der hat sich ...“ „Augenblick“, sagte der Seewolf. „Dreimal tief Luft holen und sitzen bleiben, Ferris. Laß dir erst mal erzählen, was sich zugetragen hat. Die Männer wollen dich nicht auf den Arm nehmen. Sie sind bloß heilfroh, daß du die Sache gut überstanden hast.“ Er berichtete, und als er am Ende angelangt war, holte Ferris wirklich dreimal Luft. „Mann“, stieß er aus. „Das ist vielleicht ein Hammer. Daß ich nicht von allein an Deck zurückgekehrt bin, konnte ich mir aber auch denken. Schockschwerenot. Hasard — äh — ich danke dir, daß du mich ...“ „Geschenkt“, erwiderte der Seewolf. „Ich erwarte keinen Dank. Was ich getan habe, würde ich jederzeit für jeden von euch wiederholen.“ „Wir auch für dich“, sagte Shane. Er war jetzt stockernst geworden. „Das ist die Stärke unserer Crew: der kompromißlose Zusammenhalt.“ „Ich hoffe bloß, daß nun keiner mehr aus dem Teich gezogen zu werden braucht“, meinte Ferris. Er blickte seinen Kapitän an. „Und daß der verdammte Sturm bald nachläßt. Was ist denn aus dem schwarzen Schiff geworden?“ „Das wissen wir nicht“, erwiderte Hasard. „Vorläufig sind Siri-Tong und ihre Männer spurlos verschwunden. Drücken wir ihnen
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die Daumen, daß sie keinen Schiffbruch und keine Verluste erleiden.“ * Fromme Wünsche, aber sie gingen nur zum Teil in Erfüllung. Die Seewölfe steuerten ihre „Isabella“ ohne Fockmast durch die aufgepeitschte See, und weitere Schäden waren vorläufig nicht zu verzeichnen. Hasard hatte bei allem Unglück immer noch den einen Trumpf in der Hand: Das Ruder hielt, und die Galeone blieb begrenzt manövrierfähig. Die Männer gaben auf sich acht und prüften ständig die Widerstandsfähigkeit der Taue, an denen sie sich hielten. So ging denn auch wirklich keiner mehr „im Teich baden“, wie Ferris Tucker sagte. Nur der Rest ließ auf sich warten. Das Sturmtoben hielt mit unverminderter Gewalt an und hatte sie fest im Griff. Es schüttelte sie und ließ sie nicht wieder los. Die Dunkelheit nahm noch zu. Der Tag war gewichen, und den Männern stand die längste und schaurigste Nacht seit langem bevor. In diesen Stunden rechnete so mancher ganz für sich. mit sich selbst und seinem Leben ab und zog einen Schlußstrich. „Falls wir’s überstehen“, sagte der alte Donegal Daniel O’Flynn düster, „können wir uns wie neugeboren fühlen. Was meint ihr denn, wie weit schaffen wir es mit dem ramponierten Kahn noch?“ „Nicht unken“, warnte Big Old Shane. „Damit machst du alles bloß noch schlimmer, Donegal. Was ist? Bist du unter die Zittergreise gegangen?“ Sie saßen mit Hasard in der Kapitänskammer und lauschten dem fortwährenden Knarren, Knacken und Poltern im Schiffsleib, dem Heulen des Windes, dem Rauschen und Brüllen des Seewassers an den Bordwänden. Sie saßen im Finstern, denn keiner durfte es wagen, auch nur eine Talglampe anzuzünden. Die Gefahr, daß sie ihm entglitt und ein größeres Feuer entfachte, war bei diesem Seegang zu groß.
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Old O’Flynn stapfte mit dem Holzbein auf. „Ich gehöre noch lange nicht zum alten Eisen, merk dir das, du Bär.“ Shane grinste. „Wir brauchen dich also noch nicht wegzuschmeißen?“ „Was fällt dir ein ...“ „Dann hör mit der Unkerei auf“, sagte Shane drohend. Der Alte wollte etwas Giftiges erwidern, aber in diesem Augenblick wurde gegen die Tür geklopft. Hasard wandte den Kopf und rief: „Herein! Was zum Teufel gibt’s?“ Ferris steckte den Kopf zur Tür herein. „Verdammt, Hasard, wir haben ein paar Lecks im Achterschiff entdeckt.“ „Ein paar? Was heißt das präzise, Ferris?“ „Drei oder vier. Wir fangen sofort mit dem Abdichten und Lenzen an, aber ich kann nicht für den Erfolg garantieren. Ich meine, ich weiß nicht, wie schwer die Schäden an der Außenhaut sind: Die können wir natürlich erst reparieren, wenn sich die See wieder beruhigt hat.“ Hasard sprang auf. „Ist klar. Hör zu, ich spreche selbst mit Smoky und den anderen und teile Schichten ein, die sich beim Lenzen ablösen. Lauf du schon wieder nach unten und sieh zu, daß du die Arbeit einleitest.“ „Aye, aye, Sir.“ Von nun an standen stets vier Männer tief im Achterschiff bis zu den Knöcheln im Wasser und sorgten dafür, daß nicht noch mehr Naß eindrang, beziehungsweise, daß es abgeschöpft und wieder ins Meer zurückbefördert wurde. Auf Oberdeck ließ der Seewolf die sechzehn 17-Pfünder durch zusätzliche Brooktaue sichern, weil er auch hier unliebsame Überraschungen erwartete. So wurde fast ununterbrochen geschuftet. Der Kampf ums nackte Überleben dauerte die Nacht hindurch und auch noch den darauffolgenden Tag. 3. Nach zwei Tagen Sturm empfanden die Seewölfe es als eine Fügung des Himmels, überhaupt noch am Leben zu sein. Endlich
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ließ der Sturm ein wenig nach. Im Heraufziehen des neuen Tages brachen die düsteren Wolkenbänke auf und ließen zunächst diffuses Licht auf die Decks des arg lädierten Schiffes fließen. Später bahnten sich blasse Sonnenstrahlen einen Weg bis aufs Wasser. Sie wurden rasch intensiv, und bald hatte die Dünung silbrig glitzernde Kronen. Hasard stand im Ruderhaus und beschäftigte sich mit dem Kompaß, den Karten und seinen anderen Navigationsinstrumenten wie Astrolab, Jakobsstab und Quadrant. Zum erstenmal seit Beginn des Orkans ließ der Seegang es wieder zu, einigermaßen genaue Berechnungen anzustellen. Hin und wieder blickte er auf und musterte besorgt seinen Rudergänger. Pete Ballie hatte einen Dreitagebart, seine Augen waren von Schatten umgeben und lagen tief in den Höhlen. Wenn er sprach, brachte er nur ein trockenes Krächzen hervor. Auf der Kuhl hatten sich die Männer auf den Niedergängen und der Gräting niedergelassen. Sie schauten zu, wie die See sich zusehends beruhigte, und sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Am liebsten hätten sie eine Art Freudentanz oder etwas Ähnliches aufgeführt, aber sie konnten es nicht. Sie waren zu schwach dazu. Wie Pete Ballie waren sie alle fix und fertig. Achtundvierzig Stunden Kampf gegen die Macht und Tücke der Natur hatten ihnen alles abverlangt, was an Energiereserven in ihnen steckte. Naß wie die Ratten und völlig erschlafft hockten sie da. Carberry sah zu dem alten O’Flynn, der gerade über die Kuhl hinkte. „He, Donegal“, sagte er heiser. „Ich hab gehört, wir können uns unsere Geburt noch mal bescheinigen lassen.“ „Ja“, knurrte Old Donegal. „Sollen wir uns auch gleich taufen lassen?“ „Tu, was du nicht lassen kannst.“ „Mit Rum“, flüsterte Matt Davies. „O Mann, das gibt eine Feier.“
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„Bloß haben wir keinen Kaplan an Bord“, sagte Gary Andrews zu Edwin Carberry. „Was wird das für eine Taufe ohne einen richtigen Gottesmann?“ „Wir können den Rum auch so trinken“, murmelte Jeff Bowie. Carberry schob sein Rammkinn vor und sagte: „Nur wenn der Seewolf den Befehl dazu erteilt. Es gibt immer noch eine Borddisziplin auf diesem Kahn, und ich sorge dafür, daß sie eingehalten wird.“ „Mensch“, sagte Big Old Shane verhalten. „Eigentlich sollten wir froh sein, daß wir nicht krepiert sind. Aber wir sind’s nicht. Hey, Kutscher.“ „Frag mich nichts“, sagte der Kutscher lahm. „Sind wir alle durchgedreht?“ fragte Shane. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.“ Carberry, der auf dem Backbordniedergang saß, wandte plötzlich den Kopf. Er hatte ein Geräusch gehört. Das Achterdecksschott hatte geknarrt. Mit der Hand tastete er unwillkürlich nach der Waffe. Seine Nerven waren strapaziert und immer noch bis zum äußersten angespannt. Drohten sie ihm einen Streich zu spielen? Das Schott öffnete sich, und etwas Buntes flatterte daraus hervor, gefolgt von einer fast menschenähnlichen Gestalt: Sir John und Arwenack. „Sir John“, sagte der Profos. „Hierher, du alte Saatkrähe. Ho, wer hätte denn gedacht, daß du noch lebst, was, wie?“ Sir John ließ sich auf seiner Schulter nieder und zwackte ihn vor lauter Wiedersehensfreude am Ohrläppchen. Mit müdem Grinsen wehrte der Profos es ab. „Laß das, du verlauste Nachteule“, sagte er. „Ahoi`“, krächzte Sir John. „Alle Mann an Bord. Affenärsche und Satansbraten, anbrassen und hoch an den Wind.“ Carberry pflückte ihn von der Schulter, ließ ihn auf den Zeigefinger seiner rechten Hand krabbeln und betrachtete ihn. „Sir John“, sagte er heiser. „Du besoffenes Huhn — jetzt hab ich schon genauso eine Stimme wie du. Was sagst du dazu?“
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Sir John duckte sich, nickte aufgeregt und antwortete: „Dich holt der Tintenfisch.“ Arwenack war in den Luvhauptwanten aufgeentert und fand im Großmars einen ausgelaugten Dan O’Flynn vor. Die ganze Zeit über hatte Dan den Posten gehalten, eine Ablösung war nicht möglich gewesen. „Besorg was zu saufen, alter Junge“, flüsterte Dan. „Ist mir egal, was der Kutscher sagt. Und der Profos soll von mir aus auch ‘rummotzen. Ich brauche einen anständigen Schluck, sonst kratze ich hier noch ab, und keiner merkt was davon.“ Arwenack legte den Kopf ein bißchen schief und blickte Dan aus traurigen Augen an. Er war fast genauso zermürbt wie die Männer, auch an ihm waren die Sturmtage nicht spurlos vorübergegangen. „Mann Gottes“, raunte Dan. Er hob die Hand und vollführte mit dem Daumen eine Bewegung zum Mund hin. „Was zu saufen.“ Diesmal hatte der Schimpanse verstanden. Er kehrte auf die Wanten zurück und hangelte in den Webleinen nach unten. Während er sich in die Kombüse schlich und den Kutscher zu überlisten trachtete, setzte Carberry seinen Plausch mit Sir John fort, und der Seewolf ermittelte im Ruderhaus ihre Position. „Wir sind nicht weit vom Äquator entfernt, Pete“, sagte er. „Aye, Sir.“ „Die genaue Länge kann ich nicht feststellen, aber wir sind ziemlich weit nach Osten zurückgedrückt worden.“ „Bis nach Neu-Granada, Sir?“ „Wie kommst du darauf?“ „Es könnte doch sein ...“ „Pete, wir laufen mit südlichen Winden in nördlicher Richtung, und nach meinen Messungen können wir dabei unmöglich auf das Festland der Neuen Welt stoßen.“ „Ja, Sir. Verzeihung, Sir.“ „Ich lasse dich jetzt am Ruder ablösen“, sagte Hasard. Pete drehte ihm das verhärmte, gezeichnete Gesicht zu. Seine Augen hatten einen fast fiebrigen Ausdruck. „Nein, Sir. Ich bitte darum —nicht abgelöst zu werden.“
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„Pete“, erwiderte der Seewolf langsam. „Ich danke dir für deine Ausdauer und Zähigkeit. Ich habe ehrlich gestanden auch niemanden, der deinen Posten übernehmen könnte. Versprich mir nur eins: Sag Bescheid, wenn du glaubst durchzudrehen.“ Pete nickte hastig. „Jawohl, Sir, das versprech ich dir. Wenn ich durchdrehe, sag ich Bescheid.“ Hasard trat ins Freie, wandte sich nach achtern und stieg zu Ben Brighton aufs Achterdeck. Ben suchte mit dem Spektiv die See ab. „Nichts“, sagte er. „Kein Land. Und wenn welches in Sicht wäre, würde Dan es als erster melden.“ „Mein Gott, Dan O’Flynn ...“ Hasard sprach nicht weiter, er drehte sich nur um und schaute zum Großmars hoch. Er spielte mit dem Gedanken, sofort selbst aufzuentern, aber in diesem Augenblick erschien Dans stoppelbärtiges Gesicht. Er grinste schwach und hob den Daumen — zum Zeichen, daß alles in Ordnung sei. „Ben, die Jungs halten sich großartig“, sagte der Seewolf. „Aber ich kann es nicht länger verantworten, daß sie sich derart aufopfern. Die Crew muß sich erholen: „Die ,Isabella’ auch“, erwiderte sein Bootsmann und erster Offizier. „Sechs Lecks im Achterschiff, und jeweils sechs Männer arbeiten ohne Unterbrechung an den Lenzpumpen, bis sie zusammenbrechen. Der Fockmast ist dahin, die Sturmsegel auch, selbst das Rigg ist zerfetzt. Die Five-Rail ist im Eimer, das Schanzkleid an mehreren Stellen beschädigt, wir laufen nur wenig Fahrt.“ „Wie eine lahme Ente“, präzisierte Hasard. „Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Und was mir noch Sorgen bereitet, ist, daß wir den schwarzen Segler nicht wiedergesehen haben. Wo steckt der bloß?“ „Hoffen wir das Beste“, sagte Ben. „Hoffen, hoffen“, wiederholte Hasard. „Damit ist es nicht getan. Wir müssen irgendeine verdammte Insel anlaufen, die Sturmschäden reparieren und dann nach Siri-Tong und ihrer Mannschaft suchen.“
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Ben sah ihn an. „Verzeihung, aber ich wollte damit auch nicht sagen, daß wir uns einen Kehricht um die Rote Korsarin scheren sollen.“ „Schon gut“, erwiderte der Seewolf. „War nicht so gemeint.“ Er kehrte ins Ruderhaus zurück, überprüfte seine Positionsberechnungen und trug dann die Navigationsgeräte und Karten in die Kapitänskammer zurück. Unterwegs dachte er angestrengt nach. Er mußte froh sein, daß er den Orkan einigermaßen glimpflich hinter sich gebracht hatte, vor allem, daß er keine Männer eingebüßt hatte. Trotzdem war er gereizt, denn die Sorgen um das schwarze Schiff ließen sich durch nichts, durch keine Erwägung verdrängen. Was nun, wenn „Eiliger Drache über den Wassern“ mit Mann und Maus untergegangen war? Das Eisenholz konnte einem solchen Unglück auch nicht trotzen. Er zwang sich, nicht weiter daran zu denken. Hatten sie nicht schon öfter gemeinsam Stürme abgeritten, in denen sie voneinander getrennt worden waren? Beispielsweise vor Bahia — dort hatten sie sich auch eine Zeitlang suchen müssen, bevor sie wieder aufeinandergestoßen waren. Aber diesmal war alles anders. Ein böses Omen schien unausgesprochen in der Luft zu schweben. Hasard sah vor seinem geistigen Auge die düstere Vision eines sinkenden schwarzen Viermasters. Er betrat die Kapitänskammer, rammte wütend die Tür ins Schloß und sagte zu sich selbst: „Philip Hasard Killigrew, bilde dir bloß nicht ein, verrückt spielen zu können. Für Spökenkiekerei und anderen Blödsinn ist an Bord dieses Schiffes kein Platz. Verstanden?“ Ganz tief in seinem Inneren schien eine Stimme zu antworten: Aye, aye, Sir, das schon, aber... * Er kehrte auf das Oberdeck zurück und wurde von Ed Carberry angesprochen. „Sir, wo befinden wir uns eigentlich?“
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„In der Nähe des Äquators, und wahrscheinlich nicht weit vom 90. Längenkreis entfernt“, entgegnete Hasard. „Das sagt mir nicht viel ...“ „Etwa sechs- bis siebenhundert Meilen westlich von der Küste Neu-Granadas, Ed.“ „Dann sind wir praktisch zurückgeworfen worden.“ „So ist es.“ „Wäre es nicht das beste, wir segelten dorthin und sagten den Dons guten Tag?“ „Ed, nach meinen Ermittlungen dürfte das schwieriger sein und mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wenn wir vor dem Südwind her weiter nach Norden segeln. Falls meine Seekarten nicht total verkehrt gezeichnet sind, müssen wir demnächst auf eine größere Inselgruppe stoßen.“ „Das wäre ‘ne Menge wert“, sagte Carberry heiser. „Wir alle setzen darauf“, erklärte Hasard. „Wie ist es, Ed, kannst du die Männer nicht schichtweise in die Kojen schicken? Es wäre gut, wenn die Crew rundum wenigstens ein paar Stunden verschnaufen könnte.“ Carberry schüttelte den Kopf. „Das ist nicht drin. Wir brauchen auch bei diesem elenden Schlabbertörn immer noch Männer, die die Segelmanöver ausführen, einen Ausguck, einen Rudergänger – und genügend Leute zum Lenzen im Achterschiff. Das einzige, was ich genehmigen kann, ist das hier.“ Er vollführte eine ausholende Gebärde, die die auf Deck kauernden Männer erfaßte. „Wer gerade nicht zuzupacken hat, hält ein kurzes Nickerchen.“ „Aber wir müssen was tun“, sagte der Seewolf. „Los, wir sehen in der Kombüse nach, wie es um die Rumvorräte bestellt ist. Der Kutscher soll einen Trank zubereiten, von dem die Männer wenigstens wieder halbwegs munter werden.“ „Starker, unverdünnter Rum“, schwärmte der Profos, „heißgemacht und mit reichlich Zuckerrohr darin weckt auch einen drei Tage toten, völlig steifen Seemann wieder zum Leben auf.“
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Hasard überquerte die Kuhl, stieß das Kombüsenschott auf - und sah den Kutscher auf einem Holzschemel kauern. Sein Kopf war vornüber gesunken, sein Oberkörper wippte leicht, es sah so aus, als würde er jeden Augenblick von seiner Sitzgelegenheit kippen und sich auf den Planken die Nase eindellen. „Kutscher“, sagte Hasard scharf. Der Kutscher gab einen heftigen Laut von sich, der verdächtig nach einem verunglückten Schnarcher klang, hob den Kopf und plierte den Seewolf aus kleinen, geröteten Augen an. „Ja, Sir? Was, Sir? Melde mich zum Dienst.“ Carberry trat hinter Hasard ein und fixierte den Kutscher mißtrauisch. „Wie ist das mit dem Frühstück, du verbiesterter Kombüsenhengst, was? Ich sehe keine Kessel auf dem Feuer und rieche nichts.“ „Der Kutscher hat eben angestrengt darüber nachgedacht, wie er den Küchenzettel reichhaltiger gestalten kann“, sagte der Seewolf. Er mußte sich ein Grinsen verkneifen, als er die verdatterten Mienen der beiden sah. Gelassen fuhr er fort: „Als erstes schlage ich heißen, unverdünnten Rum mit Zuckerrohr darin’ vor, dazu ein paar ordentliche Kanten von dem Brot, das du neulich gebacken hast es ist doch noch welches da, oder?“ „Ja, Sir“, erwiderte der Kutscher wie aus der Pistole geschossen. „Und die Rumvorräte sind auch noch ansehnlich. Ich-ich hab auch irgendwo noch ein paar Tropfen Chicha, wenn mich nicht alles täuscht.“ „Hochprozentiger, scharfer Maisschnaps der Araukaner“, murmelte der Seewolf. „Los, inspizieren wir die Vorratsschapps, Kutscher. Keine Müdigkeit vorschützen, verstanden?“ Der Kutscher würde tatsächlich rot im Gesicht. Er eilte an seinen Kohleherden vorbei, trat zielsicher auf eins der Schapps zu und öffnete beide Flügel. Sir John, der wieder auf Carberrys Schulter hockte, sagte warnend: „Wahrschau, ihr Heringe, Schiff in Sicht!“ Der Kutscher erstarrte plötzlich.
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Jemand saß in dem großräumigen Schrank und kroch in sich zusammen. Sir John schlug mit den Flügeln, Carberry stieß einen würgenden Laut hervor, Hasard mußte lachen - und der Kutscher fluchte, was er eigentlich sonst sehr selten tat. „Verflucht und zugenäht - Arwenack, du Rübenschwein!“ Der Schimpanse gab einen leisen, jaulenden Laut von sich. Zu seiner Verteidigung hatte er nichts vorzubringen, erstens, weil er der Menschensprache nicht mächtig war, zweitens, weil man ihn ja sowieso in flagranti ertappt hatte und weil er das Corpus delicti noch in den Händen hielt: die Flasche mit dem Chicha. Des Kutschers wohlbehüteter Schatz! Er selbst trank kaum, war sein schlechtester Gast und gleichzeitig so etwas wie ein unbescholtener, unnahbarer Hüter des Grals. „Das haut dem Faß den Boden aus“, flüsterte er. „Diesmal kommst du mir nicht so billig davon wie sonst, du Dieb.“ „Dem zieh ich die Haut in Streifen ab, aber ehrlich“, röhrte der Profos. „So ein Affenarsch ...“ „Im wahrsten Sinn des Wortes“, vervollständigte der Seewolf. „Aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Arwenack hat den Auftrag, die Notration für einen Verdurstenden zu besorgen - für einen, der im Großmars verschmachtet.“ „Ich hab schon begriffen“, sagte Carberry. „Aber es ist trotzdem eine Schweinerei.“ „Wenn ihr mich fragt, ich hätte große Lust, den beiden Übeltätern eine Ladung Rizinusöl zu verabreichen“, sagte der Kutscher mit grimmigem Blick auf Arwenack. Der Schimpanse wurde ganz fürchterlich vom schlechten Gewissen geplagt. Er schrumpfte noch ein bißchen mehr und klammerte sich an der Flasche fest. Beschämt blickte er zu Boden. Der Seewolf sah zum Kutscher, dann zu Carberry. „In Anbetracht der Lage sehe ich von einer Strafe ab. Wir sind zu dritt, weitere Mitwisser braucht es nicht zu geben, wenn ihr den Mund haltet. Das hier
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- ich nehme es ausnahmsweise mal auf meine Kappe.“ Er nahm dem total eingeschüchterten Arwenack die Flasche Chicha ab. „Los, Junge, nun steig schon aus dem Schapp“, sagte er. „Du schlägst sonst noch Wurzeln.“ Arwenack kroch sehr langsam auf eine Holzkiste, in der der Kutscher Küchengeräte aufbewahrte, schob sich leise und behutsam auf allen vieren von der Kiste auf den Boden und schlich zum Schott. Als er es fast erreicht hatte, trat Carberry mit dem Fuß auf und stieß einen zischenden Laut aus. Der Affe zuckte zusammen und war plötzlich wie der Blitz durch den Türspalt verschwunden. Hasard vertauschte die Flasche Chicha mit einer Flasche Rum. „Kutscher, bereite jetzt den Trank zu und kipp ein bißchen Chicha mit hinein, das gibt mehr Wirkung. Ich besuche inzwischen unseren Ausguck im Großmars.“ Er klemmte sich die Flasche unter den Arm, stieg auf die Kuhl und klomm wenig später in den Hauptwanten nach oben. Er stieg über die Segeltuchverkleidung des Großmars hinweg und ließ sich neben Dan O’Flynn nieder. Dan kniete und ließ die Hände über die Verkleidung weg nach außen baumeln. Er sah mehr tot als lebendig aus, beobachtete aus dieser Position heraus aber nach wie vor die Kimm. „Hallo, wie geht’s denn so, alter Junge?“ sagte der Seewolf. Dans Antwort bestand zunächst aus einem kehligen, röchelnden Laut, dann formulierte er mühsam: „Nie so prächtig in Form gewesen.“ „Und wo steckt Arwenack?“ „Keine Ahnung ...“ „Scheint sich irgendwo verkrochen zu haben, der Bruder“, meinte Hasard. „Hoffentlich heckt er keine Dummheiten aus und klaut dem Kutscher was von den Vorräten.“ „Hoffentlich nicht.“ „Der Kutscher kann fuchsteufelswild werden.“ „Tja...“
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Hasard grinste und zeigte die Flasche vor. „Ich habe dir ein bißchen Rizinusöl mitgebracht, damit du wieder auf Vordermann kommst. Sieh mal, die Farbe das ist erste Qualität.“ Dan wedelte entsetzt mit der Hand. „Nee, Sir, keinen Schluck trinke ich von dem Teufelszeug. Außerdem - es hätte verdammte Folgen für die Decksleute, wenn ich - von hier oben ...“ „Schon gut“, entgegnete der Seewolf. „Dann probiere ich aber wenigstens selbst, ob es noch gut oder schon ranzig ist.“ Dan kriegte richtige Stielaugen, als Hasard die Flasche entkorkte, sie an den Mund hob und einen tiefen Zug daraus nahm. Er setzte sie wieder ab, grinste und sagte: „Teufelszeug? Mann, das schmeckt ja hervorragend.“ Dan hob die Hand und streckte sie vor. „Laß mich auch mal kosten.“ „Du hast doch Angst ...“ „Bitte.“ „Unter einer Bedingung.“ „Die wäre?“ „Versuche zu verhindern, daß irgendjemand Arwenack zum Klauen anstiftet.“ Dan hustete, grinste verunglückt, hustete wieder und erwiderte dann: „Aye, aye. Ich schwör’s feierlich. Wenn mir einer zwischen die Finger gerät, der den armen Affen auszunutzen versucht— o gnade ihm Gott!“ Hasard reichte ihm die Flasche. Dan wischte mit der Hand über die Öffnung, setzte an - und nicht wieder ab. Hasard legte die Hand auf die Flasche und drückte sie langsam herunter. „Mensch, O’Flynn, nun mach aber mal Schluß. Willst du aus dem Großmars fallen?” Dan lächelte selig. „Nein. Ich habe den Orkan heil überstanden, und ich versacke auch jetzt nicht. Ich schwör’s dir, Hasard.“ „Was du so alles schwörst.“ „O Jesus, Rizinusöl, das nach echtem, gutem Rum schmeckt - so was hat die Welt noch nicht erlebt“, sagte Dan O’Flynn begeistert. Plötzlich aber richtete er sich stocksteif auf und blickte an Hasards rechter Schulter vorbei. „Da ist was. Nein,
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ich bin nicht besoffen. Doch nicht von einem einzigen Schluck - Rizinusöl. Augenblick.“ Er zog das Spektiv auseinander und schaute durch die Optik. Der Seewolf hatte ebenfalls den Kopf gewandt und schaute in die von Dan angegebene Richtung: Nord-Nord-Ost. Zuerst entdeckte er nichts, aber dann sah auch er den schwachen Punkt, der über der Kimm stand. „Das ist ein Vogel“, sagte Dan. „Und er hält auf uns zu. Ein Vogel - Himmel, Hasard, das bedeutet ja „Land. Wir haben es geschafft.“ Der Seewolf richtete sich auf, lehnte sich über die Segeltuchverkleidung und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Ben! Drei Strich Backbord! Wir gehen auf Kurs Nord-Nord-Ost!“ „Drei Strich Backbord“, wiederholte Ben Brighton vom Achterdeck aus. Aus dem Ruderhaus ertönte etwas, das wie ein gekrächztes „Aye, aye“ klang, und Pete Ballie befolgte den Befehl. Er war also noch nicht durchgedreht. Die „Isabella“ schwenkte ziemlich schwerfällig auf den neuen Kurs, ihr Vorsteven mit dem stolz aufragenden Bugspriet wies nun genau auf den Punkt, der sich zu einem dunklen Fleck entwickelt hatte. Hasard ließ sich von Dan das Fernrohr geben. Er visierte den Fleck an und sah ihn als tanzenden Schattenriß über dem Wasser. „Kommt mir so vor wie der typische Flug einer Ente“, sagte Dan. Er griff sich die Flasche und nahm rasch noch einen Schluck daraus. „Aber Enten fliegen im Schwarm“, sagte Hasard. „Vielleicht hat sie sich verirrt.“ „Du meinst, sie hat ihre Artgenossen verloren?“ „So was passiert.“ „Du könntest recht haben“, erwiderte Hasard. Aber er blieb nach wie vor skeptisch. Er glaubte nicht daran, daß es sich bei dem Vogel um eine Ente oder eine kleine Wildgans-Art handelte. Es schien
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vielmehr ein Tier zu sein, wie sie es noch nie gesehen hatten. Welche Spezies auch immer, sie hielt weiter auf die „Isabella“ zu. Hasard begleitete sie auf ihrem etwas schwerfälligen Flug unausgesetzt mit dem Kieker, dann, als das Tier über dem Schiff war und eine Schleife zog, richtete er das Glas himmelwärts. „Langer Schnabel, weißer Hals, braunes und blaues Gefieder“, sagte er. „Blau?“ echote Dan verblüfft. „Was ist denn das für ein Vieh?“ „Fragen wir doch mal“, sagte Hasard. „Der Kamerad setzt zur Landung an.“ Wirklich, der Vogel ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Achterdeck der „Isabella“ nieder. Er reckte den Hals, hielt den Schnabel nach oben und nahm eine wunderliche Haltung ein. Die Flügel waren jetzt regelrecht verkantet und schräg nach oben gerichtet. Er watschelte auf und ab und gab zwei, drei gackernde Laute von sich. Die Seewölfe stimmten ein heiseres Begrüßungsgebrüll an. Der Vogel war ein lebendiger Beweis dafür, daß die Inseln, von denen Hasard gesprochen hatte, nicht mehr fern sein konnten. Der Vogel war in diesem Augenblick so etwas wie ein Himmelsbote für sie — entsprechend nahmen sie ihn auf. Carberry trat aus der Kombüse, er hielt eine Muck mit heißem Rum in der Hand. „Na, was ist das denn für eine Nachteule?“ murmelte er. „So ein zutraulicher kleiner Kerl.“ Sir John hatte den bunten Vogel ebenfalls gesichtet und begann empört zu schnattern. Er war eifersüchtig, genau wie Arwenack, der sich vorsichtshalber in den Vormars verkrochen hatte und von dort aus argwöhnisch auf den Fremdling äugte. Der Profos klopfte Sir John mit der freien Hand auf den Kopf und brummte: „Halt’s Maul, du gerupfter Geier.“ Prompt verstummte der Aracanga. Er hüpfte auf die nahe Back und verzog sich beleidigt. Ben Brighton schritt als erster auf den Ankömmling auf dem Achterdeck zu. Der Vogel nickte aufgeregt, legte die Flügel an
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und hüpfte ihm entgegen. Er setzte sich auf seinen Stiefel, dann rieb er zärtlich seinen Schnabel an Bens Hosenbein. „Das gibt’s doch nicht“, sagte Ben. 4. Hasard war aus dem Großmars abgeentert. Die Flasche Rum hatte er vorsorglich wieder mitgenommen. Im Vorbeigehen händigte er sie Carberry aus. Bei dem war sie sicher. Hasard klomm aufs Achterdeck und verfolgte amüsiert, wie der fremde Vogel auf Bens Hände stieg, als dieser sich nach ihm bückte. Er tippte Ben mit der Schnabelspitze gegen die Brust und gab etwas von sich, das wie „Kra“ oder „Gna“ klang. Langsam rückten nun auch die anderen Männer auf das Achterdeck zu. Bald hatten sich fast alle um den freundlichen Besucher versammelt. Carberry sagte: „Na, damit wäre unser Tiergarten ja wohl vollständig, was?“ „Er hat keine Angst vor uns, nicht die geringste Scheu“, meinte Ben. Der Vogel war ihm inzwischen auf die Schulter geklettert. „Für mich ist das eigenartig, daß ein Tier sich Menschen nähert, statt vor ihnen zu flüchten.“ „Möglich, daß er eine lange Reise hinter sich hat“, sagte Shane. „Vielleicht war er am Ende seiner Kräfte und ist froh, bei uns verschnaufen zu können.“ „Was mit anderen Worten bedeutet, daß die Insel, von der er stammt, noch weit entfernt liegen kann“, sagte der alte O’Flynn. Er handelte sich die wütenden Blicke der Kameraden ein. Sie wollten ihrer Freude einfach keinen Dämpfer verpassen lassen. Hasard trat dicht vor Ben hin. Der Vogel blickte ihn an, nickte und gab wieder einen dieser unvergleichlichen Laute von sich. „Er ist so groß wie eine Ente, gehört aber einer anderen Gattung an“, sagte Hasard. „Ein Teil seines Gefieders und seine Füße sind blau gefärbt. Zwischen den Zehen hat er Schwimmhäute.“
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„Ein lustiger Kerl“, stellte Ferris Tucker fest. „Zahm und anhänglich, dabei ein bißchen tollpatschig - ein kleiner Tölpel. Warum geben wir ihm keinen Namen?“ „Nennen wir ihn Blaufußtölpel“, sagte der Seewolf. „Zu deiner Äußerung, Donegal das Tier sieht mir nicht erschöpft aus. Seine Zutraulichkeit scheint andere Gründe zu haben. Vielleicht hat er noch nie Menschen gesehen. Vielleicht ist das Eiland, von dem er stammt, ein richtiges kleines Paradies.“ „Genau das, was wir suchen“, erwiderte Ben Brighton. „Eine Insel mit gutmütigen Tieren, ohne Eingeborene, die uns Schwierigkeiten bereiten. Dort können wir in aller Ruhe unser Schiff reparieren.“ „Ho, hey!“ klang es plötzlich hoch über den Köpfen der Männer. Sie schauten auf und sahen Dan O’Flynn im Großmars gestikulieren. „Was ist mit dem los?“ sagte Carberry. Seine Stirn war plötzlich drohend umwölkt. „Ist der übergeschnappt - oder besoffen?“ „Unmöglich“, entgegnete Hasard. Er hat mit meiner Genehmigung _ nur zwei Schlucke Rum getrunken.“ „Schiff Backbord voraus!“ brüllte Dan O’Flynn. „Ich werd verrückt - das ist ja ein Viermaster!“ Hasard enterte kurzerhand in den Besanwanten auf und hielt mit dem Spektiv Ausschau. Bald hatte auch er den Segler entdeckt, der sich da über die Kimm schob und allmählich zu einer wohlbekannten Form entwickelte. „Der schwarze Segler!“ rief er. „Das ist ja fast zu schön, um wahr zu sein“, sagte Ferris Tucker. „Jetzt fehlt uns bloß noch ein Fleckchen Erde zu unserem Glück.“ „Kutscher!“ rief der Profos. „Zum Teufel, wo bleibst du denn mit deinem Höllengesöff?“ „Ich teile es aus“, meldete sich der Kutscher von der Kuhl. Er war tatsächlich dabei, den wenigen auf dem Hauptdeck verbliebenen Männern das Rum-Chicha Gebräu in die Becher zu gießen. Gerade war die Reihe an Bill, dem Schiffsjungen.
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Der Kutscher schöpfte diesmal die Kelle nur halb voll, aber Carberry brüllte: „Kutscher, du Himmelhund, gib dem Jungen die volle Ration, oder du kriegst es mit mir zu tun, Bill kann schon mal einen ordentlichen Schluck vertragen.“ „Geht in Ordnung“, antwortete der Kutscher. Er wartete, bis Carberry sich wieder dem Seewolf zugewandt hatte, dann sagte er zu Bill: „Willst du, daß dir nachher hundeelend zumute ist?“ „Nein, natürlich nicht“, erwiderte Bill. Er war ein ruhiger und verständiger Junge, der jedem an Bord den nötigen Respekt zollte keine Zweitausgabe von Dan O’Flynn also. „Dann begnüge dich mit der halben Ration.“ „Aye, aye, Kutscher“, sagte Bill. Er ging mit seiner Muck zum Backbordschanzkleid der Kühl, setzte an, trank -und hustete erst einmal kräftig. Er hatte sich die Zunge verbrannt und verschluckt. Beim zweiten Schluck war es nicht mehr halb so schlimm, beim dritten tat das „Höllengesöff“ seine erste Wirkung. Es belebte tatsächlich die Energie. Beim vierten Schluck sah auch Bill über den Rand der Muck weg, wie sich an Backbord der „Isabella“ das schwarze Schiff buchstäblich aus der See zu heben schien. Big Old Shane stand gleich unter dem Seewolf an den Besanwanten und spähte aus schmalen Augenschlitzen zu „Eiliger Drache über den Wassern“ hinüber. „Die haben auch einen ordentlichen Schlag weg“, sagte er langsam. „Das Rigg ist ein Haufen Fetzen, wenn mich nicht alles täuscht.“ „Richtig“, erwiderte Hasard. „Und irgendwas scheint mit der Steuerung nicht zu stimmen. Vielleicht ist das Ruder kaputt, jedenfalls dreht Siri-Tong nicht bei, obwohl sie uns längst erkannt haben müßte Ferris, haben wir noch Brandsätze an Bord?“ „Da muß ich Al Conroy fragen ...“ „Dann frag ihn, zum Teufel!“ Ferris trat an die Five-Rail, steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen schrillen Pfiff erschallen. Al Conroy löste
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sich keine zwei Yards neben ihm aus der Gruppe, die sich um Ben Brighton geschart hatte. „Was ist denn in dich gefahren, Ferris?“ fragte er müde. Tucker fuhr herum. „Mann, hättest du nicht gleich sagen können, daß du hier bist?“ „Hat mich jemand gerufen?“ Al hob die Hand zu einer resignierenden Geste. „Verzeihung, aber ich bin erst vor kurzem an der Lenzpumpe abgelöst worden. So was schlaucht. Ich bin nicht mehr ganz richtig da.“ „Hasard will wissen, ob wir noch Brandsätze haben“, stieß Ferris ächzend hervor. „Haben wir.“ „Her damit!“ rief der Seewolf. „Wir feuern einen davon vom Achterdeck aus ab.“ Carberry grinste. „Jetzt versteh ich. Wir knallen Siri-Tong zur Feier des Tages ein Ding vor den Bug, äh, ich meine ...“ Er schwieg, als er den zurechtweisenden Blick des Seewolfes bemerkte. Etwas bekümmert kaute er auf der Unterlippe herum. Ungewollt hatte er eine Zweideutigkeit gesagt, dabei hatte er es bestimmt nicht vorgehabt. Al hastete davon. Auf der Kuhl drückte der Kutscher ihm eine Muck mit brühheißem Gebräu in die Hand. Al nahm sie mit ins Vordeck. Kurze Zeit später erschien er wieder, brachte zwei Brandsätze angeschleppt und hatte die Muck ausgeleert. Er sah jetzt aufgeweckter aus. Das „Höllengesöff“ vollbrachte auch bei den anderen Besatzungsmitgliedern, die der Kutscher Zug um Zug damit versorgte, ähnlich Positives -Carberry hatte mit der Bemerkung über den drei Tage toten, steifen Seemann gar nicht mal so ganz unrecht. „Zünden“, sagte der Seewolf, als Conroy bei ihm angelangte. „Aber nur den einen Satz, verstanden, Al? Und jag ihn so flach wie möglich über die Wasserfläche, sonst machen wir möglicherweise noch andere Schiffe auf uns aufmerksam.“ „Spanier beispielsweise”, sagte Carberry.
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„Was du nicht sagst“, meinte Old O’Flynn spöttisch. Etwas später zischte der Brandsatz vom Achterdeck und huschte wie ein Irrwisch über die See. Sein gleißendes Licht verlor sich in der Ferne. Vom schwarzen Schiff aus konnten solche „Raketen“ mittels bronzener Gestelle im Vor- und Achterkastell abgefeuert werden. Die Zopfmänner, die den Viermaster erbaut hatten, hatten auch die Verwendung der von ihnen erfundenen Wunderwaffen perfektioniert. Außer Siri-Tong hatte in diesen Gefilden nur einer die Brandsätze: der Seewolf. Wenn die Rote Korsarin also noch Zweifel gehabt hatte, ob sie tatsächlich die „Isabella“ vor sich hatte oder eventuell einen im Sturm zerzausten Spanier - jetzt hatte sie die endgültige Gewißheit. Trotzdem drehte sie nicht bei. „Klarer Fall“, sagte Hasard. „Ihre Ruderanlage ist im Orkan zu Bruch gegangen. Siri-Tong und ihre Männer halten im spitzen Winkel auf unsere Kurslinie zu. Pete, den Kurs beibehalten!“ „Aye, Sir“, tönte es schon etwas heiterer als vorher zurück. Hasard enterte zu den Männern ab und sagte: „Die Rote Korsarin segelt am Wind, aber sie scheint auch von einer Strömung nach Osten gedrückt zu werden. Wir befinden uns noch in dem kalten Strom, der von Süden zum Äquator fließt, aber bald stoßen wir mit der Gegentrift zusammen.“ Der Vogel mit den blauen Füßen zeigte wieder ein paar seiner eigenartigen Verrenkungen und gab einen gutturalen Laut von sich. Als Al Conroy den Brandsatz gezündet hatte, war er ein wenig zusammengezuckt, hatte Ben Brightons Schulter aber nicht verlassen. Carberry sah ihn an und lachte. „Du bist in Ordnung, Bursche“, sagte er. „Sir John, diese alte Giftnudel, kann sich von dir noch eine Scheibe abschneiden, was die Freundlichkeit betrifft.“ Sir John meldete sich mit Gezeter von der Großrah, als habe er das Gesagte verstanden.
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Bevor die beiden Schiffe sich an der Schnittlinie ihrer Kurse trafen, beschäftigte Hasard sich wieder mit seinen Navigationsinstrumenten und fand heraus, daß der Äquator nun nicht mehr weit entfernt sein konnte. Etwa eine halbe Stunde später ging die „Isabella VIII.“ bei dem schwarzen Segler längsseits. Das Wiedersehen wurde mit Rum und Chicha begossen, und die Mannschaften erzählten sich, wie es ihnen im Orkan ergangen war. „Odins schützende Hand schwebt über uns“, sagte Thorfin Njal, und es klang beinahe feierlich. Ferris Tucker lachte und schlug ihm auf die Schulter. „Doch wohl nicht deinetwegen, du behelmter Nordpolaffe. Übertreibe es nicht. Gib lieber zu, daß du nicht mit deinem Odin, sondern mit dem Teufel und den Wassermännern verbündet bist. Wäre der Äquator-Gegenstrom nicht gewesen, hätten sie dich glatt samt Schiff und Mannschaft bis in deine kalte Heimat hinaufbefördert.“ „Daß auch das Ruder beschädigt werden mußte“, sagte Siri-Tong. „Ferris, kannst du es dir nicht mal anschauen? Ich meine, Thorfin Njal, Juan und der Boston-Mann haben sich schon stundenlang darum bemüht, es wenigstens halbwegs wiederherzustellen. Ohne Erfolg. Aber vielleicht kennst du ja doch einige Mittel und Wege mehr, es provisorisch zu reparieren – du als Schiffszimmermann und Experte in diesen Dingen.“ „Ich steig mal ‘runter und seh mir das Ding an“, erwiderte Ferris heiser. „Versprechen kann ich aber leider auch nichts, Madame.“ Er schritt davon, und man sah ihm an, daß er sich durch die Worte der schönen Eurasierin gebauchpinselt fühlte. Hasard lächelte. „Du sollst meinen Männern nicht den Kopf verdrehen, SiriTong. Wir haben unsere Vereinbarungen, oder hast du das vergessen?“ „Oh“, hauchte sie. „Ich hätte nicht gedacht, daß auch Ferris Tucker bei jeder Bemerkung gleich Feuer fängt.“ „Du weißt ganz genau, welchen Einfluß du auf die Männer hast.“
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„Aber ich wahre die Gesetze der Borddisziplin. Ich bin unnachgiebig und kann hart durchgreifen.“ Sie sah ihn durchdringend aus ihren großen dunklen Mandelaugen an und senkte die Stimme. „Aber müssen wir so förmlich miteinander sprechen –jetzt, nachdem wir um ein Haar dem Tod entronnen sind? Geht es nicht auch anders?“ „Nicht vor den Männern“, entgegnete er. „Wir dürfen uns in der Richtung keine Blöße geben.“ „Gehen wir in meine Kammer.“ „Später“, sagte Hasard und lächelte immer noch. „Ich bin ziemlich sicher, daß wir bald Land vor uns haben. Wir werden eine geschützte Bucht suchen und vor Anker gehen. Ach, übrigens, ich habe ganz vergessen, dir unseren Gast vorzustellen. Ben!“ Ben Brighton betrat das Achterdeck des schwarzen Schiffes, auf dem Hasard und die Rote Korsarin standen. Der bunte Vogel hockte immer noch auf seiner Schulter, aber als er Siri-Tong erblickte, plusterte er sich wieder zu einer seiner grotesken Posen auf. „Das ist unser Blaufußtölpel“, sagte der Seewolf. „Er ist uns zugeflogen, bevor wir euch sichteten.“ Siri-Tong lachte auf. „Ach, wie niedlich! Mein Gott, was für ein reizender kleiner Kerl!“ Der Blaufußtölpel gackerte und hüpfte von Bens auf ihre Schulter. Ben schaute in diesem Augenblick ziemlich belämmert drein. * Als sich die Schiffe wieder voneinander getrennt hatten und Kurs Nord-Nord-Ost nahmen, brüllte Carberry zuerst mit rauher Reibeisenstimme seine Kommandos, dann marschierte er grübelnd auf dem Hauptdeck auf und ab. Ferris Tucker hatte unter viel Fluchen und Schwitzen das Ruder des schwarzen Schiffes grob instand setzen können, so daß man jetzt gemeinsam nach der Insel des Blaufußtölpels suchen konnte und sich
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nicht wegen Schwierigkeiten beim Manövrieren wieder verlor. Sie hielten also direkt auf den Äquator zu. Carberry brannte darauf, jemandem seine Geschichten über den Mittelpunkt der Welt auseinanderzuhäkeln, aber die kannte leider schon jeder, nicht mal Bill, dem Schiffsjungen, konnte er diesen dicken Bären noch aufbinden. Wer sonst sollte ihm das Seemannsgarn abkaufen? Sir John landete auf Carberrys Schulter. Er war froh, daß der Blaufußtölpel jetzt drüben auf dem schwarzen Schiff war. Blieb nur noch Arwenack als Rivale Und Störenfried, aber Sir Johns Papageienhirn besaß auch so was wie ein Gedächtnis, und da hatte sich vorläufig die Erinnerung an den Burgfrieden während des Sturms festgesetzt. Ergo: Der Schimpanse konnte erduldet werden. „Du kommst wie gerufen, altes Scheusal“, sagte Carberry. „Hör zu, du stammst zwar vom Amazonas, aber weißt du wirklich, was der Äquator ist? Wir sind gleich dort, und das Überqueren läuft nicht so glatt ab, wie du es dir vielleicht vorstellst.“ „Schockschwerenot“, krähte der Ara. „Der Äquator, mußt du wissen, ist eine richtige Schwelle. Höllisch heiß ist es dort natürlich, du merkst ja schon, wie die Wärme zunimmt. Und dann sperr die Augen auf, du Federvieh, denn wir werden Zaunpfähle zu sehen kriegen, jeden mit ‘nem Schild daran, auf das ein großes A gemalt ist, das heißt Äquator. Wer bei Nacht drüber hinwegsegelt, der muß den Mond mit einer Stange weiterschieben, sonst bleibt der zurück und es wird stockfinster.“ „Dich holt die Wasserfrau“, stieß Sir John aus. Er schlug dabei mit den Flügeln. Die Federn kitzelten Carberrys Wange und Nase, und plötzlich mußte der Profos niesen. Wenn Edwin Carberry nieste, klang es fast wie Geschützdonner. Sir John ergriff unter diesem Lärm hastig die Flucht, segelte bis zur Großmarsrah hinauf und krächzte: „Äquator, Äquator!“
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Der Profos stand gebückt. Er holte tief Luft, richtete sich wieder auf und begann, sich umständlich die Nase zu schnäuzen. „Mistvieh“, sagte er dabei. „Warte nur, ich häng dich an der Rahnock zum Zappeln auf, wenn du dir einbildest, mich ärgern zu können.“ Er verstummte, denn Smoky stürmte aus dem Vordeck und rief: „Was ist los, haben die Dons geschossen?“ „Nein. Ed hat nur geniest“, sagte Matt Davies. Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen. „Ihr Kakerlaken, wollt ihr euren Profos verarschen?“ rief Carberry. Smoky trat auf ihn zu. Er brachte es fertig, ganz ernst zu bleiben. „Ach wo, Ed. Ich habe wirklich einen Schreck gekriegt, weißt du? Mal abgesehen von den Dons — ich habe auch an den Äquator gedacht.“ „An den Äquator?“ „Na, es rumpelt doch, wenn man drüber hinwegfährt, oder?“ „Klau mir nicht die Story!“ brüllte der Profos ihn an. „Denk dir lieber selbst eine aus!“ Er unterbrach sich, denn Dan O’Flynn stieß gerade wieder einen alarmierenden Ruf aus. „Deck, Deck! Land in Sicht!“ Smoky drehte sich um und stürzte zur Back. Carberry blieb stehen, kratzte sich am Kinn und setzte eine überlegene Miene auf. „Nun macht doch nicht die Pferde scheu, ihr verlausten Kanalratten. Ich wußte ja, daß wir bald festen Boden unter die Füße kriegen. Aber das ist noch lange kein Grund zum Zwergenaufstand.“ Die Männer grölten und warfen ihre Mützen in die Luft. Die Heiterkeit sprang wie ein Funke auf das schwarze Schiff über,. das im Kielwasser der „Isabella“ segelte. Bald tönten auch von dort Rufe und Pfiffe herüber. Die Freude kannte kaum noch Grenzen - und Pete Ballie drehte dieses Mal fast wirklich durch, so aufgeregt wurde er. Hasard trat zu ihm ins Ruderhaus. Pete beruhigte sich sofort zusehends, er blickte voraus und gab sich Mühe, einen seriösen Eindruck zu erwecken.
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„Sir - ist das- eine Insel?“ fragte er. „Mehrere“, erwiderte Hasard. „Bis jetzt haben wir zwei gezählt, aber nach meinen Karten zu urteilen, muß es sich um einen ganzen Archipel handeln. Ich glaube, es sind wirklich die Galapagos. Ein Mann namens Tomas de Berlanga ist vor mehr als vierzig Jahren als erster Europäer dort gelandet.“ „Ein Don?“ „Ja, ein Spanier, und zwar ein Erzbischof, der bei einer Reise von Panama nach Peru in eine Flaute geraten war. Durch Zufall gelangte er also auf diese Inseln. Es heißt, die besondere Zutraulichkeit der Tiere soll ihn überrascht haben.“ Ben Brighton schaute ins Ruderhaus. Er hatte Hasards letzte Worte mitgehört und sagte: „Ja, das habe ich auch mal gehört. Aber weißt du auch, was der Name Galapago bedeutet, Hasard?“ „Eine alte spanische Bezeichnung für Sattel, nicht wahr?“ „Ja.“ „Aber warum vergleichen die Dons die Inseln mit Sätteln?“ fragte Pete Ballie. „Haben sie etwa eine solche Form?“ Jeff Bowie erschien neben einem der offenen Fenster und grinste träge. „Wer, die Dons oder die Inseln?“ fragte er. „Ach, hör auf, du bringst mich durcheinander!“ fuhr Pete ihn an. „Das ist so“, erklärte der Seewolf. „Auf den Galapagos soll es große Schildkröten geben. Ihre Panzer erschienen den spanischen Entdeckern sattelartig - daher der Name.“ Pete riß die Augen weit auf. „Große Schildkröten? Wie groß? Riesig? Mann, ich krieg zuviel.“ „Die Maße kennt keiner genau“, erwiderte Ben Brighton. „Ich habe mal einen Spanier von Tieren reden hören, die so groß wie ein Ruderrad sein sollen, aber es ist ja zur Genüge bekannt, wie solche Leute übertreiben.“ „So wie Carberry mit seinen Märchen über den Äquator“, fügte Jeff hinzu. Pete Ballie richtete seine grauen Augen nacheinander auf Hasard, Ben und Jeff, dann auf das Ruderrad.
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„Sicher“, sagte er. „Ist doch klar. Alles erstunken und erlogen. Auf den Inseln gibt es keine Riesenschildkröten. Höchstens ein paar Vögel mit blauen Füßen.“ 5. Hasard wählte die kleinste der Inseln aus, weil er dort eine Bucht entdeckt hatte, die für ihre Zwecke ideal war. Das andere Eiland, das sich nordöstlich versetzt über der Kimm erhob, bot auf den ersten Blick keine ähnlichen Möglichkeiten, außerdem lag es eben weiter entfernt, und dem Seewolf kam es darauf an, sich so schnell wie möglich in einen natürlichen Hafen zu verholen. Im Westen hatte er noch eine dritte Insel entdeckt, aber die Distanz dorthin war noch größer als die Entfernung zur nordöstlichen Nachbarinsel. Es war Nachmittag geworden. Ein mattblauer Himmel spannte sich über der See, das gleißende Licht der Sonne War jetzt etwas abgeschwächt, und auch die Hitze ließ allmählich nach. Die Bucht kerbte sich in das Nordufer der kleinen Insel. Hasard schaute mit dem Spektiv hinüber, als sie am Südwind auf Steuerbordbug liegend darauf zusteuerten. Er überprüfte die Position mit seinen Eintragungen, schaute auf seine Karte und markierte die Stelle mit einem Kreuz aus schwarzer Kreide. „Die Spanier haben die Insel Espanola getauft“, sagte er. Ben trat neben ihn und warf ebenfalls einen Blick auf die Karte. „Da haben sie aber mal wieder viel Phantasie bewiesen, die Dons. Die Nachbarinsel im Nordosten wäre demnach San Cristobal, die im Westen Santa Maria.“ „Richtig. Die Hauptinsel heißt Isabela, mit nur einem 1.“ Ben lachte. „Ist ja großartig. Hier müßten wir uns wie zu Hause fühlen.“ Sie traten ins Freie, und der Seewolf schaute zum schwarzen Schiff. Soeben erhob sich der Blaufußtölpel mit erregtem Geschnatter in die Luft. Er streckte seinen Hals vor, daß der lange, spitze Schnabel
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wie ein Pfeil wirkte, und hielt auf das Eiland zu. „Er verläßt uns also wieder“, sagte Hasard. „Letztlich fühlt er sich bei seinen Artgenossen doch wohler als bei den Menschen — trotz aller Neugierde.“ „Deck!“ rief Dan O’Flynn. Er lehnte sich aus dem Großmars und wies auf die See. Hasard, Ben und die meisten anderen traten sofort ans Schanzkleid. Sie verhielten unwillkürlich den Atem. Bill stieß sogar einen entsetzten Laut aus. Da war eine Menge Bewegung in den Fluten. Bärtige Gesichter schoben sich hervor, schwarze Kugelaugen blickten forschend zur „Isabella“ und zum schwarzen Schiff, Glatzköpfe mit pfiffigen Gesichtern schienen es zu sein, die ebenso schnell wegtauchen konnten, wie sie hochschossen. Carberry trat neben Bill und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du brauchst dir keine Sorgen zu bereiten, Junge. Das sind Seelöwen, und die sind soweit ungefährlich. Wenn ich im Wasser schwimmen würde, würde ich allerdings nicht mit den Brüdern scherzen und mich auch nicht mit ihnen anlegen.“ „Warum nehmen sie nicht Reißaus vor uns?“ „Der Seewolf sagt, das ist auf diesen Inseln so.“ „Daß alle Tiere Freundschaft mit den Menschen schließen?“ „Tja“, sagte der Profos skeptisch. „Wie im Paradies“, sagte Bill begeistert. „Hey, Mister Carberry, sehen Sie doch mal, wie die Seelöwen spielen!“ Die Tiere balgten sich übermütig in dem kristallklaren Naß — etwa so, als müßten sie den Ankömmlingen eine Begrüßungsvorstellung liefern. „Das sieht zwar ulkig aus“, meinte Ed Carberry mürrisch, „aber ich trau dem Braten trotzdem nicht.“ Bills Blick wanderte von der Tiermeute im Wasser zur Insel. Die Einfahrt der Bucht war von einem schwarzen Küstenstreifen gesäumt —Lavaerde. Fast die gesamte Insel bestand aus dieser dunklen Substanz und sah bei weitem nicht so einladend und
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paradiesisch aus, wie die Männer es sich vorgestellt hatten. Nur in der Bucht schimmerte der Strand goldgelb, und oberhalb der Uferböschung erhoben sich Palmen, deren Wipfel sanft im Wind schaukelten. Die Bucht war so etwas wie eine Oase, wie geschaffen als Ankerplatz für die „Isabella“, und den schwarzen Segler. Die Dreimastgaleone hatte die Einfahrt fast erreicht, und der Seewolf lief jetzt auf die Back, um ihr Einlaufen zu dirigieren. Smoky lag bereits auf der Galionsplattform und lotete die Wassertiefe aus. „Neun Faden“, meldete er. „Gut.“ Hasard drehte sich um und rief: „Pete, Kurskorrektur! Zwei Strich Backbord!“ „Zwei Strich Backbord, Sir!“ Der Seewolf warf wieder einen Blick durch das Spektiv und tastete den Sandstrand ab. Eine große Robbe hockte darauf, hatte den Kopf gehoben und blinzelte zu den Schiffen herüber. Ein Blaufußtölpel stolzierte ihm vor der Nase herum, aber ob es der war, der die Seewölfe besucht hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Sie befanden sich jetzt in der Mitte der Einfahrt, und Smoky rief: „Achteinhalb Faden!“ „Selbst wenn der Grund noch weiter ansteigt, wir brauchen maximal fünf Faden in der Bucht, um manövrieren zu können und nicht aufzulaufen“, sagte der Seewolf. Der Kutscher trat in diesem Augenblick neben Carberry, Bill und ein paar andere Decksleute und schickte sich an, einen Kübel mit Fischabfällen außenbords zu kippen. Die Seelöwen begleiteten die „Isabella“ und „Eiliger Drache“ nach wie vor. Sie steckten ihre spitzen Nasen aus dem Wasser und schnüffelten gierig. „Verdammt, die haben das Zeug schon gewittert“, stieß der Profos aus. „Aber du entleerst den Kübel nicht, verstanden, Kutscher? Wenn du ihnen auch noch was zu futtern gibst, werden wir sie überhaupt nicht mehr los.“ „Aber sie tun uns doch nichts“, protestierte der Kutscher.
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„Weißt du das?“ „Ich schließe es aus ihrem Verhalten.“ „Kutscher“, sagte Carberry mit mühsam erzwungener Ruhe. „Wenn ich dich mitsamt dem Kübel ‘runterschmeiße, dann kannst du selbst mal ausprobieren, wie es sich so zwischen den Viechern aushalten läßt. Und dann können wir aus deinem Verhalten schließen, ob du endlich vernünftig schwimmen gelernt hast.“ Der Kutscher wurde um eine Nuance blasser und zog sich zurück. Über der Insel schien sich plötzlich eine Wolke zu bilden, sie verdichtete sich mehr und mehr und glitt wie durch Spuk genau auf die „Isabella“ zu. „Seht euch das an!“ schrie Dan O’Flynn. „Wir kriegen schon wieder Besuch!“ Die Wolke war über der Bucht und entpuppte sich als großer Vogelschwarm. Zu welcher Art die Tiere zählten, ließ sich noch nicht feststellen. Sie waren etwa so groß wie Stare und fielen mit mörderischem Gezeter über das Schiff her. Der Kutscher hatte die Kombüse noch nicht wieder erreicht und konnte sich vor dem jähen Ansturm nicht retten. Als erstes nahmen sich die quicklebendigen, aufdringlichen Vögel seinen Abfallkübel vor. Er schimpfte, wehrte sie mit der einen Hand ab, dann auch mit der anderen – und der Kübel polterte auf Deck. Der übelriechende Inhalt ergoß sich auf die Planken, und die Vogelschar war eine quirlige Masse, die darauf herumtanzte. „So was habe ich noch nicht erlebt“, sagte der Profos entgeistert. „Da hast du sie, deine paradiesischen Zustände, Bill.“ „Ich glaube, die Vögel wollen nur fressen, weiter nichts, Mister Carberry.“ „Und? Reicht das nicht? Die fressen uns die Haare vom Kopf, wenn das so weitergeht“, wetterte der Profos. Hasard hatte sich unterdessen auf der Back umgedreht und blickte belustigt auf das Treiben zu seinen Füßen. „Ich glaube, das sind Spottdrosseln“, sagte er zu Smoky, Al, Gary und Batuti, die sich gerade in seiner Nähe befanden. „Harmlose, aber sehr gierige Zeitgenossen. Mit denen wird der Kutscher noch seine
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Freude haben. Smoky, wie steht es mit der Wassertiefe?“ „Konstant acht Faden.“ „Gut. Soweit scheint also alles in Ordnung zu sein. Kannst du irgendwo Korallenbänke, Tang oder andere Hindernisse erkennen?“ „Nein, Sir.“ Hasard ging nach Backbord und schaute selbst in die Fluten. Sie waren so klar, daß er fast den Grund sehen konnte. Unliebsame Überraschungen schien es hier nicht zu geben. Nur auf eins hatte der Seewolf noch zu achten: auf Treibsand. Dieses tückische Zeug ließ sich erst entlarven, wenn man den Fuß daraufsetzte, und dann war es oft bereits zu spät zur Umkehr. Mit Treibsand hatte Hasard äußerst unangenehme Erfahrungen sammeln müssen. Er nahm sich vor, darauf achtzu- geben. Die Spottdrosseln hatten die Fischabfälle vertilgt. Jetzt flatterten sie dem Kutscher nach. Er zog sich in die Kombüse zurück, schaffte es aber nicht mehr, das Schott zuzurammen. Der Ansturm der Vögel war derart heftig, daß er zurückwich. Der zirpende Schwarm strömte herein, es war unheimlich anzusehen, und der Kutscher kriegte es echt mit der Angst zu tun. Sie setzten sich auf seine Schultern, auf seinen Kopf, auf den ganzen Körper. Er deckte das Gesicht mit den Händen ab, weil er Angst hatte, sie würden ihn picken und ihm womöglich die Augen verletzen. Aber sein Argwohn war unbegründet. Die Drosseln stießen ihn aufmunternd mit den Schnäbeln an, zupften ihn an Nase und Ohren, wie Sir John das bei Carberry zu tun pflegte. Der Kutscher schaute auf. „Also gut“, sagte er. „Ich gebe euch, was ihr haben wollt, aber dann haut ihr ab, ja?“ Er ging zu einer Truhe, in der die härtesten Brotreste lagerten. Der Kutscher kannte Rezepte, bei denen sich diese Krumen hervorragend verwenden ließen, aber er beschloß, sie im Interesse des allgemeinen Friedens lieber zu opfern. So öffnete er den Deckel — und im Nu ließen die
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Spottdrosseln von ihm ab und fielen über das Brot her. Carberry steckte sein kantiges Haupt zum Schott herein. „Hier ist die Welt total verdreht“, sagte er mißmutig. „Das paßt mir gar nicht, Kutscher. Kapierst du jetzt, warum ich die Tiere nicht füttern will?“ „Leider“, erwiderte der Kutscher. Vielleicht lag das Paradies doch woanders. Nicht auf Galápagos. * Die Anker rauschten aus. Danach ließ der Seewolf ein Beiboot abfieren und begab sich kurz an Land, um die Festigkeit des Sandes zu prüfen. Das Ergebnis war zufriedenstellend. Es gab keine trügerischen Stellen, an denen man wie in einem Sumpf einsinken konnte. Der große Seelöwe und sein Freund, der Blaufußtölpel, beobachteten Hasard aus zehn, zwölf Yards Entfernung. Die Robbe, offenbar ein Bulle, zeigte weder Furcht noch Feindseligkeit. Hasard ließ sich zurück zur „Isabella“ pullen, enterte an Bord und wandte sich an Carberry. „Ed, rund um die Bucht scheint es keine Gefahren zu geben. Du tust jetzt folgendes: Schicke ein Drittel der Crew in die Kojen. Die Männer sollen im umschichtigen Turnus von acht Glasen ruhen. Alle anderen helfen Ferris Tucker und mir bei den Reparaturarbeiten — außer denen, die ich als Wachtposten an Land einteile, und denen, die dich bei der Erforschung der Insel begleiten.“ Der Profos zog die Augenbrauen hoch, seine Stirn war gefurcht. „Ich soll ...“ „Wer denn sonst, Ed? Ich kann hier nicht weg, weil ich die Arbeiten selbst leiten muß. Die ‚Isabella’ ist diesmal so hart angekratzt worden, daß ich auf jeden Fall einen genauen Plan mit Ferris und Shane aufstellen muß, bevor wir anfangen. Und Ben Brighton ist hier auch unabkömmlich.“ „Ich meine ja auch nur“, brummelte Carberry. „Natürlich müssen wir diese verdammte Insel erkunden. Wir wissen ja
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noch nicht einmal, ob sie bewohnt ist, von Menschen, meine ich.“ „Eben“, erwiderte Hasard lächelnd. Carberry wechselte das Standbein und kratzte sich am Hinterkopf. „Also, dann wollen wir mal.. He, meldet sich jemand freiwillig zum Landgang?“ Er schaute sich um. „Was ist, habt ihr die Hosen voll, ihr Helden?“ Pete Ballie stieg vom Quarterdeck hinunter und hob die Hand. „Ich nicht. Ich komme mit. Freiwillig.“ „Ausgerechnet du, Pete“, sagte der Seewolf. „Du bist doch zum Umfallen müde.“ „Bitte, Sir, ich möchte sehen, ob es hier wirklich die großen Schildkröten gibt.“ „Große was?“ wiederholte Carberry. „Ich hör wohl nicht richtig.“ „Schildkröten mit Panzern, so riesengroß wie Ruderräder“, präzisierte Pete. „Falls die hier ‘rumkrauchen, will ich mir den Anblick nicht entgehen lassen.“ „Du bist ja nicht ganz dicht“; schnaubte Carberry. „Legende oder nicht“, sagte Hasard. „Ihr werdet ja wohl keine Angst vor so ein paar harmlosen Tierchen haben.“ Dabei schaute er unentwegt seinen Zuchtmeister an. Carberry blähte die Lippen, dann meinte er: „Das wäre ja noch schöner. Wir haben schon ganz andere Sachen geschaukelt.“ Siri-Tong war mit einem Boot übergesetzt, sie stieg jetzt an Bord der „Isabella“ und rief den Männern zu: „Falls ihr vorhabt, an Land zu pullen, würden euch Thorfin Njal und zwei seiner Wikinger gern begleiten. Ich bleibe hier, weil ich genug mit der Instandsetzung des schwarzen Seglers zu tun habe.“ Sie schritt auf Hasard zu und sah wieder einmal umwerfend aus in ihren enganliegenden schwarzen Schifferhosen und der roten Bluse. „Ich würde gern einiges mit dir durchsprechen und brauche auch wieder den Rat von Ferris Tucker.“ „Ja“, entgegnete Hasard. „Das Ei des Kolumbus wäre es wohl, die Schiffe aufzuslippen, zumindest die ‚Isabella’ wegen der Lecks unter der Wasserlinie. Da das aber praktisch unmöglich ist, werden wir sie krängen müssen.“
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„Aber vielleicht ist das bei meinem Schiff nicht unbedingt nötig“, sagte Siri-Tong. „Im wesentlichen haben wir ja nur mit der Ruderanlage Probleme. Mit einem Notruder ist uns auf die Dauer nicht geholfen.“ Ferris trat hinzu. „Wir müßten mal genau prüfen, welchen Teil der Reparatur wir außenbords durchführen müssen und welchen binnenbords. Vielleicht kann ich tauchen und die Außenarbeiten auf diesem Weg erledigen.“ Carberry löste sich von der Gruppe, räusperte sich vernehmlich und sagte: „Gary Andrews und Batuti, ihr begleitet Pete Ballie und mich. Los, wir pullen zum schwarzen Schiff, holen die Wikinger ab und gehen an Land.“ Etwas später war der komplette Trupp am Strand angelangt und zog das Boot aufs Trockene. Der Sand knirschte. Sie setzten sich in Marsch. Batuti wies auf den Seelöwenbullen, der immer noch dahockte und die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Spätnachmittags auskostete. „Großer Tierbruder mit Geist von Menschen drin“, sagte der Gambia-Neger. „Großer Zauber. Batuti hat Respekt.“ „Ach, rede doch kein dummes Zeug“, fuhr der Profos ihn an. „Das abergläubische Gewäsch nimmt dir doch keiner ab. Ich kenne mich mit Tieren aus.“ Unwillkürlich suchte seine Hand nach Sir John, der ihn meistens auf der Schulter oder in der Wamstasche begleitete. Aber diesmal war der Papagei nicht mit von der Partie. Er war an Bord der Galeone zurückgeblieben und erholte sich. Der Sturm, der Tölpel, die Spottdrosseln - das alles war zuviel für ihn gewesen. „Ich werde euch jetzt mal zeigen, wie der Bursche gleich die Flucht ergreift“, sagte Carberry. Er nahm sich ein Herz. Schließlich war er der Profos und hatte der Crew mit gutem Beispiel voranzugehen. Das bedeutete: Mut beweisen, den Männern ein Vorbild sein. Er ging zu dem Robbenbullen, aber der ließ sich überhaupt nicht stören. Er wackelte nur ein bißchen mit dem Kopf
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und gab einen grunzenden Laut von sich. Carberry verlangsamte seinen Schritt. Er hatte die Hand auf den Pistolenkolben gelegt und wartete darauf, daß der Seelöwe einen Ausfall gegen ihn unternahm. Aber der Seelöwe reckte nur den Kopf vor und schnupperte neugierig an dem Profos herum. Für kurze Zeit berührten sich ihre Nasen, das Tier gab einen sanften, liebenswürdigen Laut von sich. Als dann auch noch der Blaufußtölpel - der Freund der Robbe - auf Carberrys Stiefel hüpfte, wurde es jenem zuviel. Er fluchte, schüttelte den Vogel ab und zog sich von den beiden Kreaturen zurück. „Na bitte, ich sag’s ja, der Seebär ist nicht gefährlich. Los. weiter jetzt. wir haben keine Zeit zu verlieren.“. Thorfin Njal nickte. „Bis zum Dunkelwerden sind es höchstens noch vier Glasen.“ „Vier Glasen“, echote der Stör, der die dämliche Angewohnheit hatte, immer den letzten Satz oder die letzten Worte seines Steuermanns nachzuplappern. Dafür handelte er sich jedesmal mindestens einen wütenden Blick Njals ein, so wie jetzt. Aber wenn der fellgekleidete Wikinger so richtig in Rage geriet, konnte es passieren, daß er dem Stör wegen seiner verdammten Wiederholerei auch mal eine langte. 6. Sie passierten die palmengesäumte Uferböschung und schritten über krustiges Lavagestein. Carberry bildete die Spitze des siebenköpfigen Trupps, Thorfin Njal befand sich hinter ihm. Es sollte ein sehr denkwürdiger Ausflug werden, aber das ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Vegetation nahm zu und wurde bald dschungelartig. Die Männer mußten sich ihren Weg mit den Entermessern und Säbeln bahnen. „Verfluchte Schufterei“, wetterte der Profos. „Das haben wir gern.“ „Ob es hier auch Giftschlangen gibt?“ fragte Pete Ballie. Es raschelte über ihm im Baumgestrüpp, und er zog sofort den Kopf
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ein. Gary Andrews, der hinter ihm schritt, lachte auf. „Pete, das ist nur ein Vogel.“ „Mit blauen Füßen?“ „Nein, ein kleiner. Eine Art Fink, glaube ich.“ Thorfin Njal drehte sich zu ihnen um. „Davon habe ich vorhin schon welche gesehen. Es scheint die verschiedensten Arten zu geben.“ Der kleine Fink hüpfte von Ast zu Ast und begleitete sie auf ihrem Weg. Gary blieb stehen und streckte den Finger aus, und da hüpfte der zwitschernde Geselle darauf, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. „Hier können keine Menschen leben“, sagte Thorfin Njal, als er das sah. „Hätten die Tiere Gelegenheit gehabt, die Schlechtigkeit der Zweibeiner kennenzulernen, wären sie bestimmt nicht so zutraulich. Sie sind nur so freundlich, weil sie keine natürlichen Feinde haben.“ „Wie kariert du sprichst“, höhnte der Profos. „Ich meine, wir halten trotzdem die Augen offen, klar? Mich legt hier so schnell keiner ‘rein. Wenn du erst einen Giftpfeil im Wanst stecken hast, redest du auch anders daher, Wikinger.“ Thorfin Njal kratzte sich an seinem Kupferhelm. Und das irritierte den Profos mal wieder. Er beschloß, Siri-Tongs Steuermann vorerst keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Der Urwaldgürtel riß auf, und sie traten wieder auf kargen Felsen. Um in die höhergelegenen, wieder üppig bewachsenen Regionen der Insel Espanola zu gelangen, mußten sie durch Schluchten und Felsspalten aufsteigen. „Dann wollen wir mal“, brummte Carberry. „Wir müssen ja die ganze Insel ergründen. Wer weiß, ob dort oben nicht. ein Kopfjäger-, Kannibalenoder Seeräubernest verborgen ist.“ Er stapfte voran und führte die ,Gruppe durch eine enge Schlucht, deren Boden ziemlich steil anstieg. Die Sonne schien die Sohle nicht auszuleuchten, auch wenn sie im Zenit stand, der Untergrund war hier feucht und schlüpfrig.
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Carberry erreichte den Auslaß, blickte nach links, wo es noch höher hinaufging, dann nach rechts — und stand plötzlich wie gelähmt da. Thorfin Njal, der ganz dicht hinter ihm ging, paßte für einen Moment nicht auf und prallte mit ihm zusammen. Sie fluchten beide, rutschten auf dem feuchten Boden aus und fielen hin. „Wotan, was ist denn jetzt los?“ stieß der Wikinger aus. „Sieh doch selbst“, würgte der Profos hervor. Thorfin Njal sah nach rechts, hatte zunächst aber einen Gesteinsvorsprung vor der Nase und mußte sich erst auf die Arme stemmen, um freien Ausblick zu haben. Er erstarrte plötzlich auch, schluckte und sagte: „Bei Odin und allen Göttern.“ Hinter dem Vorsprung fiel eine recht glatte Felsenlandschaft bis zur See ab. Sie konnten die Brandung sehen, die schäumend über das schwarze Gestein leckte, aber dieses eigentlich idyllische Bild wurde durch eine schreckliche Erscheinung gestört. Dicht vor den Männern hockte eine Ausgeburt der Hölle auf einer Steinplatte! Grünrot, mit geblähtem Rückenkamm und bösartig funkelnden Knopfaugen schob sich das Geschöpf auf sie zu. Zwischen seinen schwartigen Lippen lispelte eine lange Zunge. „Ein Drache“, stammelte Carberry. Mehr brachte er nicht hervor. Sogar seine berühmten Flüche waren ihm im Hals steckengeblieben. Er keuchte, rappelte sich auf und geriet dabei mit dem Wikinger ins Gehege, der nur schwerfällig wieder auf die Beine kam. „Ein Ungeheuer, mehr als zehn Yards lang und fünf Yards hoch!“ brüllte Thorfin Njal. „Das ist das Ende! Zückt eure Waffen, Männer, laßt uns kämpfen bis zur Vernichtung ...“ „Bis zur Vernichtung!“ rief der Stör, obwohl er noch in der Schlucht steckte und eigentlich nicht begriff, was los war. Gary, Pete und Batuti rückten vor, wandten die Köpfe und entdeckten nun ebenfalls das Scheusal, allerdings schien ihnen das
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Maß, das Thorfin Njal genannt hatte, ziemlich übertrieben. Der grünrote Drache war höchstens fünf Yards lang und zwei Yards groß oder vielleicht auch etwas weniger. „Verdammt und zugenäht, nun laß mich doch aufstehen!“ schrie Carberry. „Steh doch auf!“ schrie Thorfin Njal zurück. „Ja, steh doch auf“, sagte der Stör. Carberry war dunkelrot im Gesicht, aber er konnte wenigstens schon wieder fluchen, das war auch was wert. und Teufel, du Polaraffe, ich kann doch nicht, wenn du dauernd auf meinen Beinen herumtrampelst!“ Njal stapfte ein Stück zur Seite und zückte sein Schwert. Er pflegte es liebevoll „sein Messer“ zu nennen, aber es handelte sich um einen gutgeschliffenen Zweihänder, an dem selbst ein Scharfrichter seine Freude gehabt hätte. Die anderen Männer folgten dem Beispiel des Wikingers. Jetzt endlich erhob sich auch der Profos und riß das Entermesser aus dem Gurt. Der Drache war inzwischen über den Gesteinsvorsprung hinweggekrochen, und sie konnten alle die Krallen sehen, die furchterregend aus seinen Zehen ragten. Er verließ seinen Stein, drang in die Schlucht ein und —ja, er wirkte jetzt noch ein bißchen kürzer und gedrungener als vorher. Batuti verdrehte die Augen so, daß fast nur noch das Weiße zu sehen war. Er legte einen Pfeil an die Bogensehne, spannte und zielte auf das Untier. Eike und der Stör rückten vor. Der Stör stolperte dabei um ein Haar über Gary Andrews’ Fuß, wich aus, geriet doch aus der Balance und taumelte. Thorfin Njal hob das Schwert und brüllte: „Die Hölle hat ihre Dämonen gegen uns ausgeschickt, aber wir geben uns nicht geschlagen - wir nicht!“ „Wir nicht!“ schrie auch der Stör. „Auf ihn mit Gebrüll!“ stieß Edwin Carberry hervor und meinte natürlich das Scheusal.
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Der Wikinger fügte noch hinzu: „Odin, deine Söhne kommen!“ Ein Ruf, in dem echte dramatische Grandezza mitschwang. Der Stör trampelte auf ihn zu. Er fuchtelte mit dem Schwert und versuchte immer noch, das schwankende Gleichgewicht wiederzuerlangen. „Odin!“ gellte sein Schlachtruf. „Deine Söhne ...“ In diesem Augenblick kochte Njal über. Er holte mit dem Fuß aus und trat dem Stör mit voller Wucht in den Achtersteven, als dieser an ihm vorbeistürzte. Der Stör schoß förmlich aus der Schlucht — und genau auf den Drachen zu. Der wollte das Beste daraus machen, den Helden spielen, aber auch das mißlang. Unversehens strauchelte er doch, denn er war mit dem Fuß hinter einen Stein gehakt, den er auf dem dunklen Schluchtgrund schlecht erkennen konnte. Mit einem Aufschrei stürzte er hin und verlor zu allem Übel auch noch sein Schwert. Er kollerte dem Monstrum genau vor die Krallentatzen. „Erbarmen“, stöhnte er. Der Drache blieb bei ihm stehen, beschnupperte ihn ein bißchen und fuhr ihm mit der Zunge durchs Gesicht. Der Stör stöhnte, wie er noch nie in seinem Leben gestöhnt hatte. Carberry und Thorfin Njal standen der Szene am nächsten. Eigentlich hätten sie mit ihren Waffen zuhauen sollen, aber etwas hielt sie zurück. Die Ausgeburt der Hölle gab einen beleidigten Grunzlaut von sich und wandte sich ab. Gemütlich kehrte sie auf den Gesteinsvorsprung zurück, verharrte eine Weile darauf und schob sich dann weiter. Immer hübsch langsam. Angst hatte sie vor den Schwertern und Pistolen der Männer nicht. Wahrscheinlich wußte das Tier gar nicht, welche Bedeutung die Dinger in den Fäusten der Zweibeiner hatten. „Ich krieg zuviel, das gibt’s doch nicht“, sagte der Profos total verdattert. „Das geht auf keine Kuhhaut“, meinte Pete Ballie, weil ihm nichts Besseres einfiel. Die anderen gaben ähnlich belanglose Kommentare ab.
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Der Stör stemmte sich hoch und grinste. „Eins steht fest, Leute, ich lebe noch.“ „Das Monstrum ist also nicht gefährlich“, sagte Thorfin Njal. Der Stör wollte den Satz wiederholen, sah aber davon ab, als er den grimmigen Blick bemerkte, den Anführer auf ihn abschoß. „Und so lang, wie wir anfangs gedacht haben, ist das Urviech auch nicht“, sagte Gary Andrews. „Zwei Yards, schätze ich.“ „Höchstens“, sagte Pete. „Eine große Eidechse“, stellte Eike fest. „Hört jetzt auf“, sagte Carberry. „Sonst bleibt von der Kreatur überhaupt nichts mehr übrig, und ihr bestreitet, sie überhaupt gesehen zu haben. Also schön, wir lassen sie leben. Aber ich will wenigstens wissen, wohin sie kriecht.“ Er trat auf den Felsvorsprung, stieg auf der anderen Seite wieder hinunter und folgte dem davonwatschelnden Echsentier um eine bogenförmig gewachsene Felswand herum. Sekunden darauf blieb er wieder wie erstarrt stehen. Die Männer waren ihm nachgeschritten, sie verhielten dicht hinter ihm, und Thorfin Njal raunte: „Was ist denn jetzt schon wieder?“ „Komm her, dann brauche ich’s dir nicht zu erklären.“ Thorfin schob sich neben den Profos. Er hatte jetzt auch den Blick auf jenen Teil des Felsenufers frei, der vorher für sie im toten Winkel gelegen hatte. Seine Kinnlade rutschte langsam tiefer, es war ein in dieser Situation verständlicher und natürlicher Vorgang. Im ausklingenden Licht des Tages taumelten sich viele Artgenossen des Geschöpfes auf den schwarzen Felsen. Langsam gesellte sich der Drache zu ihnen, mischte sich unter sie und war nicht mehr von den anderen zu unterscheiden. „Ein ganzes Volk von Ungeheuern“, flüsterte der Wikinger. „Mindestens zweihundert oder dreihundert.“ „Oder hundert“, korrigierte jemand hinter ihm. Njal drehte sich zu ihm um und sah, daß es Gary Andrews war. Wäre der Stör der Sprecher gewesen, so hätte er sich eine
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Maulschelle eingehandelt, denn der bärtige Wikinger war immer noch mächtig in Rage. Carberry kratzte sich an seinem narbigen Rammkinn, und das klang wieder mal so, als marschiere eine Kolonie Kombüsenschaben über ein Blatt Pergament. „Also, wenn ihr mich fragt, es sind zwar widerliche Biester, aber wir sollten uns doch nicht weiter mit ihnen abgeben. Solange sie uns nicht angreifen, lassen wir sie auch in Ruhe. Was haben wir davon, wenn wir hier ein sinnloses Gemetzel veranstalten?“ „Gar nichts“, erwiderte der Wikinger. „Du meinst, leben und leben lassen, nicht wahr?“ „Ja.“ Der Profos sah zu den Echsen und verfolgte, wie ein paar von ihnen jetzt zur Brandung krochen und sich träge in die Fluten rutschen ließen. Sie .konnten schwimmen und tauchen und waren echte Amphibien. Er konnte sich eines kalten Schauers auf dem Rücken nicht erwehren. Ruckartig drehte er sich zu den anderen um und sagte: „Was steht ihr also noch und gafft Löcher in den Himmel wie die Ölgötzen? Marsch. marsch, ihr Kakerlaken, wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns, wenn mich nicht alles täuscht.“ * Damit behielt er recht. Die Insel war zwar nicht besonders groß, aber in ihren höhergelegenen Zonen sehr unwegsam. Sie gelangten nur langsam voran und mußten bald wieder eine Bresche in den Urwald schlagen und dornige Bodensträucher niedertreten. Das alles konnte ihre Stimmung nicht heben. Der Profos drosch mit seinem Entermesser auf das widerspenstige Gestrüpp .ein und wischte sich hin und wieder den Schweiß aus dem Gesicht. Er spürte jetzt auch die Müdigkeit in den Knochen. Sie drohte ihn zu übermannen. Er drückte sich und den sechs anderen die Daumen, bald wieder an Bord der Schiffe zurückkehren zu können.
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„Hier oben gibt es wenigstens keine Drachen“, sagte Pete. „Das ist schon mal was. Sie scheinen nur am Wasser zu leben. Habt ihr gesehen, wie sie schwimmen?“ „Erinnere mich nicht daran“, erwiderte der Stör mit sauertöpfischer Miene. „Pfui Teufel, daß mir das Biest auch das Gesicht ablecken mußte. Ob ich jetzt krank bin? Euer Kutscher muß mich untersuchen.“ „Soll er sich huch deinen ramponierten Achtersteven ansehen?“ fragte Gary. „Hoffentlich ist dein Ruder nicht in Mitleidenschaft gezogen.“ „Die Männer lachten, oder besser: Sie gaben ein kollektives Gekrächze von sich, das der Federfamilie von Sir John zur Ehre gereicht hätte. Espanola lag in der Dämmerung da wie eine düstere Festung. Von einem erhabenen Aussichtspunkt aus konnten die sieben Männer gerade noch die Schiffe in der Ankerbucht erkennen. Carberry setzte rasch den Kieker ans Auge und suchte die Umgebung nach fremden Schiffen ab. „Nichts zu entdecken“, sagte er. „Die Luft scheint rein zu sein.“ Sie strebten weiter voran und wurden auf ihrem Erkundungszug von Finken und Spottdrosseln, Tölpeln und anderen Vögeln begleitet. Bevor sie zum seichten Südufer abstiegen, entdeckten sie noch etwas, das ihnen auf den ersten Blick erneut den Atem raubte. Schwärzliche Buckel ragten aus einem Tümpel inmitten des Hochlandes auf. Verhaltene Laute drangen herüber Schmatzen und Gluckern, Quatschen und Patschen und gelegentlich ein hohles, dumpfes Geräusch, wenn zwei der Buckel aneinanderstießen. „Allmächtiger, was ist das denn?“ sagte der fassungslose Carberry. Pete Ballie grinste diesmal. „Das sind sie. Es hat sich also doch gelohnt.“ „Mensch, reiß dich zusammen. Wovon sprichst du?“ Der Profos schnitt eine Grimasse. als wollte er den guten Pete mit Haut und Haaren verschlingen. „Die Riesenschildkröten“, sagte Pete einfach. „Mann, sind das vielleicht dicke Johnnys.“
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Sie traten vorsichtig an den Rand des Tümpels. Hier bewahrheitete es sich: Gut zwei Dutzend gigantische Panzerechsen wühlten sich in die Moraststelle ein. Der Durchmesser ihrer Buckel entsprach tatsächlich dem des Ruderrades auf der „Isabella VIII.“, vielleicht betrug er auch noch ein bißchen mehr. „Die Nacht ist ihnen zu kalt, schätze ich“, sagte Eike. „Und der Schlamm hält warm. Gar nicht. so dumm, die Brüder.“ Pete lachte leise. „Was sie wohl sagen, wenn wir einen von ihnen mit aufs Schiffe nehmen. Schildkröten enthalten eine Menge Fett, außerdem habe ich mir sagen lassen, daß das Fleisch auch recht schmackhaft sein soll ...“ „Schlag dir das aus dem Kopf“, unterbrach ihn Carberry. „Solange ich der Profos bin, kommt so was nicht in Frage. Weißt du was, Pete Ballie? Hier ist eine ganze Welt verquer. Auf dieser Scheißinsel geht es nicht mit rechten Dingen zu.“ Pete zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst.“ Sie verließen den Schlafplatz der Riesenschildkröten und kletterten auf den Strand im Süden der Insel hinunter. Tölpel bewohnten einen breiten Streifen dieser Region. Sie hatten nicht nur blaue, sondern zu einem großen Teil auch rote Füße, wie Carberry feststellte, und sie lebten in friedlichem Einvernehmen mit Fregattenvögeln, Kormoranen und Pelikanen. Sogar ein paar Seelöwenweibchen befanden sich in der Nähe. „Der Bulle, dieser blöde Hund“, murmelte Carberry. „Er sollte sich lieber um seinen Harem kümmern, statt uns dauernd anzuglotzen.“ ,,Von wem sprichst du?“ erkundigte sich Thorfin Njal. „Von der Robbe an der Ankerbucht der Schiffe.“ „Hier, seht euch das mal an“, sagte Eike plötzlich. Er hatte sich hingekniet und untersuchte sehr eingehend den dunklen Sand. Die Schatten der Nacht senkten sich über die Insel und das Meer, und allzu viel war
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nicht mehr zu sehen. Doch die etwas undeutlichen Konturen, die auch Carberry sah, als er sich neben Eike niederließ, ließen keine Fehldeutungen zu. „Fußabdrücke“, flüsterte der Profos. „Von Menschen, meine ich. Sie führen vom Strand ins Inselinnere und wieder zurück. Mit wem haben wir es zu tun? Mit zufälligen Besuchern, die gleich wieder abgehauen sind, als sie die Drachen und die Riesenschildkröten gesehen haben? Das glaube ich nicht.“ „Warum nicht?“ fragte Thorfin Njal. „Ich traue dem Frieden nicht, das habe ich doch schon ein paarmal gesagt. Die Leute, die hier herumspaziert sind, haben ausnahmslos nackte Fußsohlen gehabt. Die Spanier laufen gewöhnlich nicht ohne Stiefel durch die Landschaft, es sei denn, sie haben Schiffbruch erlitten.“ Er rieb sich die Nase mit dem Handrücken, dann fuhr er fort: „Bleiben Wir bei dem Nächstliegenden. Wilde könnten hier leben. Oder Piraten. Und wenn sie nicht hier, auf Espanola, hausen, dann sind sie vielleicht auf einer der nächsten Nachbarinseln untergekrochen.“ „Möglich ist es“, sagte auch Thorfin Njal. „Aber davon sollten wir uns nicht beeinflussen lassen. Wir haben ja genügend Wachen aufgestellt.“ Carberry richtete sich wieder auf. „Ich gehöre auch nicht zu den Hosenscheißern, das wißt ihr. Ich rechne auf dieser verfluchten Insel bloß mit allem. Kommt, wir folgen jetzt dem Verlauf der Küste, kehren zu Hasard und Siri-Tong zurück und melden, was wir alles entdeckt haben.“ Sie marschierten am Ostufer entlang und hielten ständig Ausschau nach weiteren Überraschungen. Aber von nun an blieb alles verhältnismäßig ruhig. Nur ein Rotfußtölpel flatterte einmal neugierig auf Carberry zu und stieß fast mit ihm zusammen, weil er in der Dunkelheit kaum etwas sah. Und der Seelöwenbulle, der immer noch an der Bucht im Norden wachte, kroch auf den Trupp zu, als dieser beim Boot anlangte und es ins Wasser schob.
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„Hau ab“, sagte Carberry. „Schwimm zu deinen Weibern, sonst schnappt sie dir noch einer weg.“ Die Robbe bewegte den Kopf, es sah wie ein Nicken aus. Carberry wunderte schon gar nichts mehr. Er hielt es jetzt sogar für möglich, daß das Tier irgendwann das Maul öffnete und in astreinem Englisch antwortete: „Halt’s Maul, du Affenarsch.“ Hier ist alles drin, dachte er, als er auf die Heckducht kletterte und nach der Ruderpinne griff. 7. Die „Isabella“ war gekrängt worden und lag wie ein großes, verwundetes Tier mit Schlagseite im Wasser der Bucht. Die Taue, die Ferris Tucker und seine Helfer am Ufer an Bäumen und in den Untergrund getriebenen Pflöcken angeschlagen hatten, hielten die Galeone in dieser Lage, und die Anker verhinderten, daß sie auf das Ufer zutreiben konnte. Ferris, Shane, Will Thorne und die anderen von der Schicht, die gerade Dienst hatte, arbeiteten auch im Dunkeln noch. Der Seewolf hatte aus Sicherheitsgründen keine Laternen anzünden und auch an Land keine Feuer entfachen lassen. Das Licht lockte nur ungebetene Gäste an. Sie hatten das oft genug erlebt. Ferris Tucker und die anderen arbeiteten also unter ungünstigsten Bedingungen, aber auch das konnte sie nicht des Eifers berauben, die „Isabella“ so schnell wie möglich wieder instand zu setzen. Auf dem schwarzen Schiff hatte Ferris auch schon Inspektion gehalten und festgestellt, daß es wegen der Wiederherstellung des Ruders nicht gekrängt zu werden brauchte. Carberry ließ sein Boot bei der „Isabella“ stoppen und winkte Ferris und den anderen an Bord zu. „Wo ist der Seewolf?“ „Drüben bei Siri-Tong, mit den meisten Männern unserer Crew. Zehn oder zwölf Männer befinden sich an Land und gehen Wache. Um Mitternacht werden sie abgelöst. Ist bei euch alles in Ordnung?“ „Soweit ja. Aber wir haben Fußspuren entdeckt.“
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„Dann meldet das Hasard“, sagte Ferris. „Wie weit seid ihr mit den Reparaturen?“ wollte der Profos Wissen. Ferris Tucker, der wie ein Affe an der Außenhaut der Galeone hing, drehte sich um und erwiderte: „Vier Lecks haben wir innen und außen abgedichtet. Morgen krängen wir, die Lady zur anderen Seite und befassen uns mit den anderen Löchern. Danach sind die Five-Rail, das Schanzkleid und der Fockmast dran. Will Thorne fertigt neue Segel an. Beim schwarzen Schiff tauche ich morgen, um am Ruder zu arbeiten.“ Carberry grinste. „Paß auf, daß du dir nicht auf die Finger hämmerst.“ Damit wandte er sich wieder ab und ließ zum schwarzen Segler weiterpullen. Als er mit Thorfin Njal und den anderen an der auf der Backbordseite ausgebrachten Jakobsleiter aufenterte, sah er als ersten Cookie, den Koch der Siri-TongMannschaft. Schimpfend kroch der Mann, der eigentlich Rod Bennet hieß und dem man nachsagte, seine Pfannen und Töpfe wären nicht die saubersten, auf der Kuhl herum. „Was ist dir passiert?“ fragte Thorfin Njal. „Ärger mit den Spottdrosseln gehabt“, erwiderte Cookie. „Die Biester sind beim Austeilen der Abendmahlzeit über mich hergefallen, und dann sind mir die Kübel umgekippt. Jetzt klare ich auf.“ „Weitermachen“, sagte der Wikinger. Er übernahm die Führung, wie es sich für ihn als Steuermann und Miteigner des Viermasters gehörte. Er brachte die Garde ins Achterkastell und klopfte mit der Faust gegen die Tür von Siri-Tongs Kammer, wie sich das so gehörte. Hasard öffnete ihnen. Ob er mit der Roten Korsarin über den weiteren Verlauf der Instandsetzungen oder über weitaus privatere Dinge gesprochen hatte, blieb den Männern ein Geheimnis. Weder aus Hasards und Siri-Tongs Äußerem noch aus ihren Blicken, Gesten und Worten oder dem Zustand der Kammer ließ sich schließen, ob sie ein Rendezvous gehabt hatten. Die Liebe, die sie füreinander empfanden, hatte nur begrenzt Platz auf
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zwei Schiffen wie der „Isabella“ und dem schwarzen Segler. Meistens waren sie voneinander getrennt, und auch, wenn sie wie an diesem Abend zusammen waren, vermieden sie es, intim zu werden, solange die Situation ihnen ihre volle Einsatzbereitschaft abverlangte. „Berichte“, sagte der Seewolf zu seinem Profos. , Sie nahmen Platz, alle neun, und Carberry schilderte, was sich auf der Insel zugetragen hatte. Weder Hasard noch SiriTong unterbrachen ihn, bevor er geendet hatte. Zum Schluß sagte Hasard: „Wegen der Tiere brauchen wir uns nicht die Köpfe zu zerbrechen. Die Spanier nennen die Meerechsen übrigens Iguanas, wie ich mal vernommen habe. Und von den Riesenschildkröten haben die Galapagos zu Recht ihren Namen erhalten. So weit, so gut. Aber die Abdrücke nackter Fußsohlen, auf die ihr gestoßen seid, geben mir zu denken. Wir werden sofort die Wachtposten entsprechend unterrichten. Ich rechne nicht damit, daß wir schon heute nacht Besuch kriegen - aber ich kann mich genauso gut täuschen.“ „Großer Zauber auf der Insel“, sagte Batuti, und er meinte es wirklich ernst. „Wenn du mich fragst, Espanola ist verwunschen“, entgegnete der Profos. „Hier ist mir so manches nicht geheuer.“ Hasard schaute ihn und die anderen der Reihe nach an. „Jetzt hört mal gut zu. Fangt nicht wieder mit eurem Gemunkel von Spuk und Geistern an. Ihr wißt, daß ich das nicht leiden kann. Die ausgefallene Tierwelt der Insel ist bestimmt kein Grund dafür, überall Unheil zu vermuten.“ „Aye, Sir“, sagte Carberry zerknirscht. * Der Verdruß stellte sich doch schon in dieser Nacht ein. Eigentlich hatte Dan O’Flynn nach vier Glasen Ruhezeit wieder den Dienst aufnehmen wollen, denn er hatte sich für die Landwache gemeldet. Aber Hasard hatte ihm strikt untersagt, schon jetzt
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wieder anzutreten. Er hatte ihm sozusagen den Befehl gegeben, sich wieder in die Koje zu packen und erst einmal kräftig durchzuschlafen. So geschah es, daß nicht Dan, sondern einer von Siri-Tongs Männern auf der westlichen Landzunge Wache ging, die die Ankerbucht nach Norden von der See abschnitt - Barry Winston. Auf der gegenüberliegenden Nehrung hatte Missjöh Buveur Posten bezogen. Barry und der Franzose waren gute Seeleute und Kämpfer, abgesehen davon, daß Missjöh Buveur jeder Flasche gern auf den Grund ging, falls ihr Inhalt alkoholischer Art war. Nein, sie waren keine schlechten Wachen und pennten auch nicht ein. Trotzdem, mit den scharfen Augen, die ein Dan O’Flynn hatte, konnten weder sie noch die anderen Wachtposten konkurrieren. Und so geschah es. Barry Winston sah als erster die Schatten aus der Nacht auf die Bucht zugleiten. Er sprang auf. Wenig später war auch Missjöh Buveur, der sich drüben gleichfalls niedergelassen hatte, auf den Beinen und stieß einen Pfiff aus. Die Schatten waren sehr schnell. Sie stahlen sich aus der Nacht hervor und wurden zu Bootskonturen. Nein, es waren bootsähnliche Schiffe mit jeweils einem Mast, die da in die Einfahrt steuerten, Seegefährte, wie weder Barry noch der Franzose sie je gesehen hatten. Barry Winston rief: „Alarm!“ Er griff sich seine Muskete, spannte den Hahn - und dann duckte er sich, denn er hörte etwas auf sich zuschwirren. Im nächsten Moment lag er platt auf dem Bauch und fluchte, denn ein ganzer Hagel von Pfeilen strich über seinen Rücken weg. Und die merkwürdigen Einmaster befanden sich schon in der Einfahrt zur Bucht! Missjöh Buveur schoß, Barry feuerte seine Muskete ab, und danach wurde von verschiedenen Stellen an Land und auf dem schwarzen Segler aus geschossen. Die „Isabella“ lag nach wie vor gekrängt. Nur zwei Wachen befanden sich auf ihrem
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abschüssigen Deck. Als schwimmende Festung konnte sie vorläufig nicht eingesetzt werden. Barry Winston glaubte, eine der Gestalten in dem vordersten Einmaster getroffen zu haben, war aber nicht sicher. Er stellte nur das eine fest: Die Angreifer waren Indianer. Sie stimmten nämlich in diesem Moment ein mörderisches Geheul an und hielten genau auf den schwarzen Segler zu. Drei, .vier, fünf bootsähnliche Schiffe immer mehr von diesen Gefährten drangen in die Bucht ein. Die wenigen Sekunden, die Dan O’Flynn den Verband wahrscheinlich früher entdeckt hätte, fehlten jetzt. Die Müdigkeit der Männer an Bord und zu Land hatte auch ihre bösen Folgen. Es mangelte an dem sofortigen massiven Widerstand der Seewölfe und Siri-Tong-Piraten, und genau das gab den fremden Indianern überhaupt nur die Chance, den dunklen Viermaster zu erreichen. Mit geradezu unheimlicher Schnelligkeit gingen die kleinen Schiffe längsseits des schwarzen Seglers, sowohl an Backbord als auch an Steuerbord. Das Geheul der Rothäute steigerte sich zu einem schrillen, anhaltenden Ton - sie enterten. Wie die Katzen klommen sie an den Bordwänden hoch. Hasard und Siri-Tong hatten auf Missjöh Buveurs Pfiff und Barrys Schrei hin in der Kapitänskammer aufgehorcht und waren aufgesprungen. Längst befanden sie sich auf dem Oberdeck und ließen die Geschütze gefechtsklar machen. Aber das nutzte nur noch wenig. Erste Angreifer schoben sich über das Schanzkleid und legten mit ihren Waffen auf sie an. Hasard stellte sich vor Siri-Tong hin. Er hatte die doppelläufige Radschloßpistole in der Faust und legte auf die Gegner an der Backbordseite an. Als er abdrückte, lief das Rad schnurrend ab, die Funken sprühten, und die erste Kugel raste unter dumpfem Krachen auf einen der Indianer zu. Der Kerl stand auf dem Schanzkleid. Er hatte eine Flinte, mit der er feuern wollte, kam aber nicht mehr dazu. Plötzlich ließ er
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die Waffe los und lehnte sich hintenüber. Er stieß einen klagenden Laut aus und stürzte in die Tiefe. Seine Stammesgenossen heulten vor Wut. Drei, vier Burschen drängten nach, aber der Seewolf gab auch den zweiten Schuß ab, und dann waren weitere Männer neben ihm, die ebenfalls feuerten. Batuti und Shane, die sich mit an Bord des Viermasters befanden, ließen ihre Pfeile auf die Angreifer losschwirren. Ein ganzer Hagel von Geschossen brandete jetzt gegen die Indianer. Aber auf die Dauer konnten sich die beiden Crews nicht halten. Zu viele wild entschlossene Rothäute kletterten an den Bordwänden hoch und glitten an Deck. Es war eine Übermacht. Als sie auch mit Gewehren und Pistolen zu schießen begannen, wuchs der beiderseitige Waffenlärm zu einem unausgesetzten Krachen zusammen. Hasard schrie: „Musketenfeuer!“ Dann griff auch er sich einen Blunderbuss, der von dem Kutscher herangeschleppt worden war, spannte den Hahn und zielte auf einen Pulk Widersacher, der gerade an Steuerbord auf das Kuhldeck zu strömen drohte. Woher haben sie die Feuerwaffen? fragte er sich immer wieder. Er drückte ab. Der Rückstoß rammte den Tromblon-Kolben gegen seine Schulter, eine geballte Ladung aus gehacktem Eisen, Blei und Glas spuckte aus der trichterförmig erweiterten Mündung über Deck. Plötzlich fielen die Kerle reihenweise. Hasards und Siri-Tongs Männer setzten ein, was sie an Musketen, Arkebusen, Blunderbüchsen und Pistolen zur Verfügung hatten, und zwischendurch schwirrten fast ununterbrochen auch Shanes und Batutis Pfeile aus Groß- und Vormars auf die Feinde nieder. Schnell hatten die Indianer ihre Flinten und Pistolen leer gefeuert. Sie griffen zu Pfeil und Bogen und zu ihren Messern und stürzten sich im Nahkampf auf die weißen Männer und die schöne schwarzhaarige Frau, die mitten unter ihnen stand und wie drei Männer kämpfte.
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Plötzlich sah der Seewolf, wie sich eine Rothaut von der Back aus auf den Steuerbordniedergang zuschob und eine kleine Streitaxt hob. Gleich vor den Stufen des Niederganges stand auf der Kuhl Big Old Shane und raufte sich mit zwei messerschwingenden Kerlen herum. Er hielt dem Schuft auf der Back den Rücken zugewandt. Hasard duckte sich und begann zu’ laufen. „Shane, Vorsicht!“ und „Zieh deinen verdammten Schädel ein!“ brüllte er im Dahinhetzen. Gleichzeitig zückte er seinen Degen. Der Indianer auf der Back richtete sich auf. Shane hatte in diesem Augenblick die beiden anderen Gegner an den Hälsen gepackt und hieb ihre, Köpfe zusammen. Sie sanken hin, und Shane mußte sich dabei zwangsläufig bücken, weil er sie immer noch festhielt — eine Geste, die ihm das Leben rettete. Der Indianer in seinem Rücken schwang die Streitaxt. Sein Gesicht war haßverzerrt, seine Augen von fast wahnsinnigem Funkeln erfüllt. Er war ein großer Mann mit nacktem, wie Bronze glänzendem Oberkörper und sehnigen Beinen, die an den Oberschenkeln mit einem Lendenschurz bekleidet waren. Hasard blieb nur eine Wahl. Im Laufen holte er aus und schleuderte den Degen. Die Waffe flog nur zwei oder drei Handspannen über Shanes Kopf weg und erreichte den Indianer, der jetzt auf dem Niedergang stand. Tief stieß die Degenklinge in seinen Leib. Shane drehte sich um, sah den heimtückischen Angreifer fallen und stieß einen erstaunten Ruf aus. Erst jetzt war er seiner gewahr geworden und begriff, was die Warnrufe des Seewolfs bedeutet hatten. Er registrierte aber noch etwas. In den Fockwanten kauerte ein Indianer, der mit Pf eil und Bogen auf Hasard anlegte. Hasard stand praktisch unbewaffnet da. Shane riß den Tschakan aus dem Gurt, drehte ihn um und warf ihn so auf den Seewolf zu, daß dieser ihn am Stiel packen konnte.
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„Paß auf!“ schrie Shane. „In den Fockwanten!“ Hasard reagierte augenblicklich. Er fing den Tschakan auf, sprang mit einem federnden Satz auf den Niedergang und holte aus. Mit zwei kreisenden Armbewegungen verlieh er der türkischen Wurfaxt den nötigen Schwung, dann ließ er los und duckte sich, weil jetzt auch der Indianer den Pfeil von der Bogensehne huschen ließ. Hatte man die nötige Übung, konnte man mit einem Tschakan erstaunliche Leistungen vollbringen. Er war für Flugstrecken konstruiert, die bis zu fünfzig Yards betragen konnten, und auf diese Distanz brachte ihn ein routinierter Wurfschütze auf den Zoll genau ins Ziel. Hasard hatte mit dem Tschakan geübt. Als sich der Pfeil des Indianers neben ihm in einen Holm der Balustrade bohrte, vernahm er auch den gurgelnden Laut des Gegners. Er schaute auf und sah ihn aus den Fockwanten stürzen. Die Wurfaxt hatte seine Brust getroffen. Hasard bewaffnete sich wieder mit seinem Degen und enterte die Back. Er stellte sich einer Handvoll Indianer entgegen, die aus Richtung Vorsteven hochgeklommen waren. Sie hatten die Galionsplattform geentert und glaubten nun, dem weißen Feind in den Rücken fallen zu können. Hasard säbelte zwei von ihnen nieder, dann hatte er auch wieder Shane an seiner Seite. Zu zweit fochten sie gegen die spitz schreienden Kerle. Zurückdrängen konnten sie sie auf die Dauer nicht, es waren zu viele. Aber sie konnten sie dezimieren und verhindern, daß das Gros der Meute bis auf die Kuhl stürmte. Der Kampf tobte über das Oberdeck, und es zeichnete sich immer noch keine Wende ab. Hasard verschaffte sich mit dem Degen Luft und hatte Gelegenheit, einen Blick auf die Kuhl zu werfen. Mitten in dem Gewühl der Leiber, in dem sich kaum noch Freund von Feind unterscheiden ließ, sah er einen Mann, der einen Federschmuck auf dem Kopf trug. Die übrigen Indianer hatten keinerlei Bedeckung oder Verzierung auf
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den Häuptern, sie hielten ihre dunklen Haare entweder zusammengeknotet oder trugen sie offen. Der einfache Federschmuck hob den Mann folglich aus der Schar der Angreifer hervor. Er mußte ihr Häuptling sein, und was Hasard jetzt noch zu seinem Entsetzen konstatierte - er arbeitete sich verbissen auf die Rote Korsarin zu. „Smoky!“ schrie Hasard. Smoky, der Decksälteste, balgte sich nicht weit entfernt am Backbordschanzkleid der Back mit einem schlaksigen Indianer herum. Beide hatten sie ihre Messer verloren, und so hieben sie mit den Fäusten aufeinander ein. Der Indianer konnte einen Haken auf Smokys Brust landen, aber dann fintierte Smoky, der Gegner ging darauf ein und spürte unversehens einen Schlag unter dem Kinn, der ihm das Bewußtsein raubte. Smoky stieß ihn auf die Planken, wandte sich ab und lief zu seinem Kapitän. „Halte hier mit Shane die Stellung!“ rief Hasard ihm zu. Damit lief er zur Balustrade, die die Back zur Kuhl hin abgrenzte, flankte darüber und landete mitten zwischen den Kämpfenden auf dem Hauptdeck. 8. Er riß einen Indianer mit sich um, rammte ihm die Faust gegen die Schläfe und rappelte sich auf. Einer zweiten Rothaut, die sich mit gellendem Kampfschrei auf ihn stürzen wollte, stieß er den Degen in die Schulter. Dann hastete er weiter. Er sah Ben Brighton, Matt Davies, Al Conroy und Luke Morgan kämpfen, sah Thorfin Njal das Schwert schwingen, erkannte SiriTongs Bootsmann Juan, der sich im wütenden Duell mit einem stämmigen Indianer befand. Vom Wasser her erklangen wieder ein paar Schüsse. Ferris Tucker und die anderen, die ihr Lager und ihre Posten an Land hatten, hatten sich inzwischen die Boote genommen und waren zum schwarzen Schiff gepullt. Sie versuchten, einen Keil in den Verband der Einmaster zu treiben.
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Mehr als ein Dutzend dieser Schiffe umlagerten jetzt den Viermaster. Hasard hatte die Rothaut mit dem Federschmuck vor sich, einen muskelbepackten und hochgewachsenen Mann. Wie seine Stammesbrüder war auch er mit einem Lendenschurz bekleidet. Seine Züge waren stolz und scharfgeschnitten - wie aus Holz geschnitzt. Er focht mit einem Säbel. Hasard bezweifelte, daß diese Waffe von den Indianern hergestellt worden war, wie die Pistolen und, Flinten mußte sie von irgendwelchen Weißen stammen. Vielleicht hatten die Rothäute sie den Spaniern abgenommen. Ein Umstand, der die Gefährlichkeit dieser Burschen noch unterstrich. Denn so leicht ließen sich die Spanier nicht überlisten und niedermachen. Sie hatten die Inkas und die Mayas, die Azteken, die Chibchas und andere große Indianervölker unterworfen und vernichtet - wer wollte ihnen heute, fünfzig Jahre später, in der Neuen Welt noch Einhalt gebieten? Ja: Wer waren diese Indianer? Sie waren größer und kräftiger gebaut als die Ureinwohner des Kontinents, denen der Seewolf bisher begegnet war. Sie gaben ihm ein Rätsel auf. Was der Häuptling vorhatte, war unschwer zu erkennen. Er wollte Siri-Tong überwältigen, sie an sich -reißen und den Kampf für sich entscheiden, indem er drohte, sie zu töten. Hasard schob sich neben ihn, blockte seinen Vormarsch ab und kreuzte den Degen mit seiner Säbelklinge; „Streich die Flagge, du schaffst es nicht, Bastard!“ rief er ihm zu. Auf spanisch. Kaum merklich zuckte es in dem Gesicht des Häuptlings. Er schien die Sprache zu verstehen. Vor allem die Bezeichnung Bastard schien ihm zuzusetzen. Er schrie auf und warf sich voll gegen den Seewolf. Irgendjemand hatte ihm die Kunst des Fechtens recht gut beigebracht. Er hielt seine Deckung, führte Paraden, unternahm zweimal gefährliche Ausfälle
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gegen den Gegner. Und doch, es mangelte ihm am nötigen Elan bei dem Duell. Hasard lockte ihn allmählich aus der Reserve. Der Indianer verausgabte sich und ließ sich zu unkontrollierten Ausbrüchen verleiten. Hasard trieb ihn mit System bis ans Steuerbordschanzkleid, zerhieb mit zwei, drei Streichen seine Deckung und rasierte ihm den Federschmuck ab. Der Bursche brüllte auf, hieb zu, aber es nutzte ihm nichts mehr. Hasard hatte den längeren Atem und die größere Selbstbeherrschung in dieser Auseinandersetzung. Er wehrte ab, holte dann wieder aus und knallte den Degen mit größter Wucht gegen den Säbel. So hart, daß der Indianer ihn aus der Hand verlor. Der Säbel wirbelte außenbords. Hasard riß den Degen zurück. Der Indianer starrte ihn aus unnatürlich geweiteten Augen an, schrie wieder -und wollte sich in den Degen stürzen. Aber der Seewolf ließ den Degen fallen. Er quittierte das Vorhaben des Gegners mit einem trockenen, sauber angesetzten Faustschlag. Er traf das Kinn, und der Kerl taumelte zurück, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Er stieß mit der Hüfte gegen das Schanzkleid. Bevor Hasard bei ihm war, hatte er das Übergewicht erlangt und kippte außenbords. Hasard zögerte nicht. Er jumpte auf die Handleiste des Schanzkleides, ließ sich mit Kopf und Armen vornübersinken und sprang dem Stürzenden nach. Er sah seine Gestalt zwischen zwei Einmastern eintauchen. An Bord der kleinen Schiffe befanden sich noch einige Indianer, die sich gerade anschickten, das schwarze Schiff zu entern, jetzt aber innehielten. Sie hatten ihren Häuptling erkannt und identifizierten die zweite springende Gestalt als einen der weißen Feinde. Rasch griffen sie zu ihren Waffen. Sie schossen Pfeile auf Hasard. Aber er bewegte sich zu schnell abwärts und bot kein sicheres Ziel. Die Pfeile prallten wirkungslos vom Hartholz der Bordwand ab.
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Das Geschehen war von noch jemandem beobachtet worden — von Ferris Tucker. Er stand im Bug eines Bootes, das von fünf Seewölfen auf den Viermaster zugepullt wurde. „Auf sie!“ rief er. „Hey, sie dürfen den Seewolf nicht erwischen!“ Hasard war untergetaucht. Die Indianer auf den Einmastern trafen Anstalten, sich ebenfalls ins Wasser zu stürzen. Ferris fluchte wie der Leibhaftige persönlich. Er hielt noch die glimmende Lunte, mit der er eine Arkebuse leer gefeuert hatte. Die Arkebuse ließ sich auf die schnelle nicht nachladen. Unmöglich. Aber der rothaarige Schiffszimmermann bückte sich, zog etwas unter der Bugducht hervor und hielt wild entschlossen die Lunte daran. Es war eine mit Pulver, Blei und Nägeln vollgestopfte Flasche - eine der von Ferris gebastelten „Höllenflaschen“, die erwiesenermaßen sogar unter Wasser hochgingen, wenn sich der Funke in der Zündschnur bis durch den Korken gefressen hatte. „Köpfe einziehen!“ rief Jeff Bowie, einer der Männer auf den Duchten. „Tucker geht aufs Ganze!“ Ferris warf die Höllenflasche. Natürlich gefährdete er den Seewolf, wenn er sie ins Wasser beförderte. Also schleuderte er sie präzise an Bord des nächstgelegenen Einmasters. Bevor die Indianer ins Wasser springen konnten, stach ein Feuerblitz himmelan und zerriß den schwarzen Vorhang der Nacht in zwei Teile. Das kleine Schiff zerfetzte, die Trümmer stoben gegen das schwarze Schiff, aber auch das konnte dem Eisenholz nichts anhaben. Menschenleiber wirbelten, Schreie gellten. Das Boot der Seewölfe tanzte auf den durch den Explosionsdruck entstandenen Wellen. Von dem anderen Indianerschiff ließen sich nur noch zwei Indianer in die Fluten gleiten. Ferris Tucker entging das nicht. Er drehte sich zu den Männern um und sagte: „Weiter, los, beeilt euch. Hasard ist immer noch nicht außer Gefahr.“ Der Seewolf konnte unter Wasser nichts erkennen, aber er orientierte sich instinktiv
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und kriegte den Indianerhäuptling am Oberkörper zu fassen. Der Mann war immer noch besinnungslos. Als jedoch die Explosion erfolgte und sie beide ein Stück von dem schwarzen Schiff fortkatapultierte, kam er plötzlich zu sich. Er schluckte Wasser, schlug um sich und strampelte mit den Beinen. Hasard packte ihn von hinten und zerrte ihn mit sich hoch. Es brauste in seinen Ohren, eine Folge der Druckwelle, die durch das Wasser lief. Was an der Oberfläche geschehen war, Hasard nicht. Er ahnte es nicht einmal, denn vor seinem Eintauchen hatte er Ferris Tucker und die anderen Seewölfe nicht gesehen. Hasard tauchte mit dem verzweifelt zappelnden Indianer auf. Es war kein leichtes Stück Arbeit, ihn im Griff zu behalten und dabei auch noch Wasser zu treten, um nicht wieder unterzugehen. „Hasard!“ Das war Ferris Tucker. Hasard wandte den Kopf und sah zu seiner Freude, wie die Männer heranpullten. Lange konnte er sich nicht mehr im Wasser behaupten, es kostete ihn sämtliche Kraft, den verrückt spielenden Indianer zu parieren. Zwei dunkle Objekte ragten plötzlich rechts und links neben ihm aus den Fluten auf – Köpfe. Sie gehörten den zwei Indianern, die den Einmaster verlassen hatten. Die Messer zwischen die Zähne geklemmt, so schwammen sie auf Hasard zu und nahmen ihn in die Zange. Aber dann war auch Ferris Tucker mit dem Boot heran. Er klaubte seine leergefeuerte Arkebuse auf und hämmerte den Kolben gegen den Schädel des einen Indianers. Sofort ging der Kerl unter. Der zweite war bei Hasard angelangt. Er packte das Messer mit der rechten Hand und wollte es dem verhaßten Gegner in den Leib rammen. In dieser Situation hatte der Seewolf nur noch eine Chance. Er riß den Häuptling im Wasser herum und hielt ihn als lebendigen Schutzschild vor sich hin. Der Angreifer antwortete mit einem Wutschrei darauf. Er wagte es nicht mehr zuzustoßen. Er ließ die Waffe sinken, schwamm weiter und umkreiste Hasard
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und den Gefangenen in dem zornigen Bestreben, endlich zustechen zu können. Aber er kam nicht mehr dazu, die Bluttat zu verüben. Ferris Tucker war heran. Das Boot dümpelte ganz dicht neben Hasard auf den allmählich abflachenden Wellen. Ferris hob die Arkebuse hoch, nahm Maß und ließ sie niedersausen, und auch dieser Angreifer versank mit gurgelndem Laut. Hasard schleppte den Häuptling zum Boot. Jeff Bowie, Bob Grey und die anderen drei Männer auf den Duchten streckten hilfreich die Hände aus. Der Indianerführer konnte soviel schlagen und strampeln, wie er wollte, er kam nicht wieder frei. Sie hielten ihn fest und drückten ihn zwischen zwei Duchten auf den Bootsboden. Hasard schob sich ebenfalls in das Boot. „Bob, gib mir dein Messer“, sagte er keuchend. Grey reichte ihm das Messer, und Hasard drückte die Spitze der Klinge gegen den Halsansatz des Häuptlings. Wieder sprach er spanisch mit ihm. „Ergib dich jetzt, oder ich mache wirklich Ernst und bringe dich um.“ Diesmal unternahm der stolze Mann keinen Selbstmordversuch. Er antwortete nicht, sondern blickte Hasard nur starr an. Seinen Widerstand gab er auf. Er sah ein, daß es keinen Zweck hatte. „Wir fischen die beiden Kerle auf, die du niedergeschlagen hast, Ferris“, sagte Hasard. „Ja, sieh mich nicht so verdutzt an. Ich will nicht, daß sie absaufen. Es darf keine weiteren Toten geben. Es ist genug Blut vergossen worden.“ * „Aufhören!“ Die Stimme des Seewolfs tönte über Deck. Siri-Tong, den Degen gegen einen langmähnigen Indianer erhoben, schaute zum Achterdeck ihres Schiffes und sah Hasard an der Five-Rail stehen. Er hielt den Häuptling mit dem zerrupften Federschmuck fest, preßte ihm das Messer gegen den Hals — und die Rothaut brüllte etwas in ihrer Sprache.
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Die Indianer hielten inne. Siri-Tong hob die Hand und gebot ihren Männern ebenfalls, den Kampf zu unterbrechen. Ben Brighton stoppte die Seewölfe durch eine Gebärde. Stille breitete sich aus. Der Seewolf stand mit leicht abgewinkelten Beinen da. Das Wasser troff ihm vom Leib, dem Häuptling auch, sie waren beide in aller Windeseile an einer Jakobsleiter des schwarzen Schiffes aufgeentert. Erst jetzt folgten auch Ferris, Jeff und Bob sowie die anderen aus dem Boot nach. Sie schleppten die beiden Indianer mit, die Ferris mit dem Arkebusenkolben überwältigt hatte. „Ich weiß, daß du die spanische Sprache beherrschst“, sagte Hasard in seinem nahezu perfekten Kastilisch zu dem Häuptling. „Also hör mir gut zu. Sag deinen Leuten, daß ich dich töte, wenn sie nicht aufgeben. Sie sollen vernünftig sein. Wir lassen euch leben und krümmen euch kein Haar, wenn ihr die Flagge streicht.“ In dem Gesicht des Mannes zuckte es fast krampfhaft. Er schien angestrengt nachzudenken, ob er auf die Worte seines Bezwingers eingehen sollte. Aber da war noch mehr. Hasard hatte die ganze Zeit über etwas Unnatürliches in seiner Miene gelesen - und auch in den Gesichtern der anderen. Es war, als läge ein Bann auf diesen Wilden, etwas Erzwungenes... Der Häuptling begann wieder in seiner Sprache zu reden. Es mußte ihn beeindruckt haben, daß Hasard ihn nicht getötet hatte, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Vielleicht begriff er auch das Sinnlose jedes weiteren Aufbegehrens und glaubte an das Versprechen Hasards. Was immer es war, die Indianer ließen ihre Waffen auf Deck fallen, einer nach dem anderen. „Ausgezeichnet“, zischte Mike Kaibuk, einer von Siri-Tongs Männern. „Und jetzt schneiden wir diesen Hurensöhnen die Hälse durch. „Das tun wir nicht“, sagte die Rote Korsarin. Mike Kaibuk sah sie an. „Madame. diese Hunde haben ein paar von uns verletzt, und
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es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns alle umgebracht!“ „Aber jetzt haben sie sich ergeben“, erwiderte sie. „Daß mir keiner die Gefangenen anrührt!“ rief Hasard vom Achterdeck. „Bezwingt eure Wut, Männer. Die Indianer haben in letzter Minute Vernunft bewiesen, und ich will nicht, daß ihr euch an Wehrlosen vergreift.“ „Aye, aye“, sagte Ben Brighton. „Das ist ein Befehl“, sagte Siri-Tong zu Mike Kaibuk und den anderen Männern. „Ihr wißt, daß ich voll auf der Seite des Seewolfs stehe. Wer quertreibt, kriegt es mit mir zu tun.“ Keiner wagte sich gegen diese Order aufzulehnen. Viele der Piraten auf dem schwarzen Segler hatten eine andere Auffassung von Redlichkeit und Fairplay gegenüber dem Feind. Das machte mit die feinen Unterschiede zwischen Piraten und Korsaren aus. Aber jedermann beugte sich der Autorität der Roten Korsarin. Was es hieß, sich gegen ihre Anweisungen aufzulehnen, hatte schon so mancher am eigenen Leib erfahren müssen. Und der größte Teil dieser Aufmüpfigen weilte jetzt nicht mehr unter der Crew, sondern in einer ganz anderen Sphäre, aus der es kein Zurück mehr gab. Eben. weil sie sich aufgelehnt hatten. Der Seewolf ließ seinen Blick über die Gestalten der Männer schweifen. Soweit es sich im Dunkeln schätzen ließ, hatten gut drei bis vier Dutzend Indianer den Kampf überlebt. Sie standen mit hängenden Köpfen da und warteten ihr weiteres Schicksal ab. „Fesselt sie und sperrt sie in einen der Frachträume“, befahl Hasard. „Später befassen wir uns eingehend mit ihnen.“ Bevor nicht alle Rothäute mit Stricken gebunden und abgeführt worden waren, ließ er den Anführer nicht los. Erst als auch der letzte Gefangene im Bauch des schwarzen Schiffes verschwunden war, winkte er Thorfin Njal heran und übergab ihm den Mann. „Du und deine Wikinger — ihr bringt diesen Burschen ins Achterkastell.“
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„Wohin denn da?“ wollte Thorfin Njal wissen. Siri-Tong war aufs Achterdeck gestiegen und entgegnete: „In meine Kammer. Dort werden wir uns gleich mit ihm unterhalten.“ Der Wikinger packte den Indianer, winkte Eike, Arne, Oleg und den Stör heran und dirigierte ihn auf sie zu. Gemeinsam marschierten sie auf das Achterdecksschott der Backbordseite zu. Die Rothaut hatte keine Chance zu entwischen. Erstens hielt Thorfin Njal ihn am Arm fest, und zweitens waren die fünf Wikinger die beste „Leibgarde“, die man sich vorstellen konnte. „Haben wir Verluste zu verzeichnen?“ fragte Hasard Siri-Tong und Ben Brighton. „Nur Verletzte“, antwortete die schöne Frau. Ben nickte bestätigend dazu und sagte: „Der Kutscher hat gut zu tun. Aber ich glaube, er flickt die Männer einwandfrei wieder zusammen. Schwere Blessuren hat nämlich keiner erlitten. Es braucht nicht amputiert zu werden.“ Der Seewolf atmete auf. „Wir haben sehr viel Glück gehabt. Wie sieht es bei den Indianern aus?“ „Vierzehn Tote und eine stattliche Zahl von Verletzten“, sagte Siri-Tong. Hasard wandte sich an Ben. „Der Kutscher soll auch sie versorgen, sobald er mit unseren Leuten fertig ist. Die verwundeten Indianer werden natürlich zu den anderen in den Frachtraum gesperrt. Wenn du auf Oberdeck fertig bist, kommst du bitte zu uns in die Kapitänskammer, Ben.“ Er warf noch einen prüfenden Blick auf die Kuhl, dann ging er mit der Roten Korsarin ins Achterkastell hinunter. Im Gang zur Kammer trat ihnen Thorfin Njal entgegen. Er hatte ein Talglicht angezündet und hielt demonstrativ einen kleinen Beutel aus Rohleder hoch. „Den haben wir dem Kameraden abgenommen. Was da wohl drin ist“, sagte er. Hasard nahm ihm den Beutel ab, öffnete ihn und roch daran. „Koka. Jetzt wird mir einiges klar. Den Indianern mangelt es
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nicht an Mut, aber so blindwütig konnten sie nur vorgehen, weil sie sich vorher berauscht hatten. Wahrscheinlich befindet sich ihr Unterschlupf auf einer der Nachbarinseln, und sie sind auch die Urheber der Fährten am Südufer von Espanola. Aber ich will mehr über sie erfahren. Beispielsweise, woher sie die Schußwaffen und die reichverzierten Degen und Säbel haben, mit denen sie uns angegriffen haben.“ Er unterbrach sich, denn aus der Kammer von Siri-Tong ertönte plötzlich ein klagender Laut – eine Art Wimmern. Thorfin Njal fuhr herum und lief nach achtern. Hasard und Siri-Tong schlossen sich ihm an. Arne und Eike, die vor der Tür Wache hielten, drangen bereits in das Allerheiligste der Roten Korsarin ein. Oleg hatte auf Thorfin Njals Geheiß hin auf der Heckgalerie Posten bezogen. Der Stör war in der Nähe des Indianerhäuptlings geblieben, damit dieser keine Gelegenheit zu Dummheiten fand. Es war die perfekte Bewachungsmethode, und doch schien irgendetwas schiefgelaufen zu sein. Thorfin, Eike, Arne, Hasard und Siri-Tong bot sich folgendes Bild: Oleg starrte verdutzt zu der Tür herein, die die Kammer mit der Heckgalerie verband. Der Indianerhäuptling lag nicht weit von ihm entfernt auf dem Fußboden und krümmte sich. Der Stör fuchtelte mit etwas, das sich noch nicht genauer identifizieren ließ, vor seiner Nase herum, und dabei stieß der Gefangene diese eigentümlichen Laute aus. „Mensch, Stör, hab ich dir nicht gesagt, du sollst ihm ganz dicht auf dem Pelz bleiben?“ schrie Thorfin Njal. „So dicht wie die Zecke am Arsch einer Kuh“, gab der Stör fröhlich zurück. „Tue ich ja auch.“ Er gewahrte Siri-Tong, verschluckte sich und hustete. „O Verzeihung. Madame...“ Hasard trat auf ihn zu. „Was hast du denn da in der Hand, Stör?“ „Ein Krokodil.“ „Das ist der Kaiman, den wir vom Amazonas mitgebracht und ausgestopft haben“, sagte Oleg. „Aber ich verstehe
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nicht, wieso dieser nackte Wilde sich hingelegt hat und so komisch ‘rumstöhnt.“ „Er hat Angst davor“, erklärte der Stör. „Ja, Angst. Ich hab das Vieh mehr, aus Zufall am Schwanz gepackt und ihm gezeigt, und da hat er gleich so zu winseln angefangen.“ Der Indianer kroch ein Stück auf dem Fußboden und steuerte auf Oleg zu. Hasard verstellte ihm den Weg. „Passen wir auf, daß er nicht auskneift. Es könnte ein Trick sein.“ „Nur über meine Leiche kommt der hier ‘raus“, versetzte Oleg grimmig. Er legte die Hand um den Griff seiner Pistole. Auch die anderen Männer griffen zu ihren Waffen. Siri-Tong sagte: „Ich glaube nicht, daß er uns was vorgaukelt. Seine Angst ist echt.“ „Böser Geist“, stieß der Häuptling jetzt in gebrochenem Spanisch hervor. „Böser Geist, der Fluch über Santa Barbara bringt! Fort, fort!“ Hasard nahm dem Stör den ausgestopften Kaiman ab. Es war die trockene, mit Stroh gefüllte Hülle eines Schwarzalligators, der gefährlichsten Art dieser Echsenfamilie. In der Mythologie der Amazonasindianer nahm er allerdings einen ganz anderen Platz ein als den, den der Häuptling ihm beimaß. Dort, bei den Assurini und den Amazonen, wurde er mehr verehrt als gefürchtet. „Hier, faß ihn ruhig einmal an“, sagte Hasard. „Er ist tot. Tot, verstehst du?“ Der Indianer schaute auf. „Tot“, murmelte er. „Mann, der hat die gleiche Angewohnheit wie ich“, meinte der Stör. „Sei still“, brummte Thorfin Njal. Hasard nahm die Hand des Häuptlings und legte sie auf die borkige Haut der Trophäe. Diesmal ließ der Mann sich überzeugen. Er war sichtlich erleichtert. Langsam erhob er sich. Er blieb mit verschränkten Armen stehen und deutete zu der schönen Frau und den Männern hin eine Verneigung an. „Du siehst, wir hegen keine Rachegefühle gegen dich“, sagte der Seewolf. „Wir schätzen die Indianer nämlich, und wenn ihr nicht angegriffen hättet, hätten wir euch
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bestimmt als Freunde gewonnen. Aber vielleicht können wir ja doch noch Frieden schließen.“ Er hob die rechte Hand und bewegte sie nach links, dann nach rechts. „Frieden, verstehst du?“ „Frieden“, wiederholte der Indianer, und der Stör konnte sich ein verstohlenes Grinsen nicht verkneifen. „Warum berauscht ihr euch mit Koka und fallt dann über den weißen Mann her?“ Hasard hielt den Rohlederbeutel hoch. „Was versprecht ihr euch davon? Reichtümer? Was nutzt euch unser Geld, was unsere Ausrüstungen, wenn wir euch zu den Fischen schicken?“ Der wilde Mann beschrieb mit den Händen ein paar umständliche Gebärden. „Hidduk und seine Männer kommen mit Piraguas von weit her“, formulierte er schwerfällig. „Neu-Albion. Santa Barbara. Viele Monde Reise. Schwere Zeit.“ „Hidduk heißt er also“, sagte Eike gedämpft. „Jetzt wissen wir wenigstens seinen Namen.“ „Aber was bedeutet Piragua?“ wollte Oleg wissen. „Das sind die einmastigen Kanu-Schiffe“, erwiderte der Seewolf. „Und Neu-Albion und Santa Barbara?“ fragte Siri-Tong. „Die nördlichsten Siedlungen im oberen Neuspanien.“ Hasards Blick ruhte auf ihrem Gesicht. „Albion ist, wenn mich nicht alles täuscht, von Francis Drake gegründet worden.“ Er sah wieder zu Hidduk. „Weißt du, wer Drake ist? Drake.“ Hidduk antwortete nicht. „Welchem Stamm gehört ihr an?“ „Serrano“, sagte Hidduk voll Würde. „Aber du kannst mir nicht weismachen, daß ihr hier auf den Galápagos keinen festen Stützpunkt habt“, fuhr der Seewolf fort. „Ihr seid schon längere Zeit hier und nicht aus purem Zufall zum selben Zeitpunkt hier aufgetaucht wie wir. Wo ist euer Lager, Hidduk? Welches Geheimnis hütest du? Und woher habt ihr die Waffen der weißen Männer? Wie kommt es, daß du dich aufs Säbelfechten verstehst, wenn die meisten Indianer nur mit Pfeil und
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Bogen, Messer, Speer oder Blasrohr umzugehen verstehen?“ Wieder entgegnete Hidduk nichts. Hasard trat ganz dicht vor ihn hin. „Hör zu, ich spiele mit offenen Karten. Ich bin Philip Hasard Killigrew. Die Spanier nennen mich El Lobo del Mar — den Seewolf. Die Frau mit den schwarzen Haaren ist Siri-Tong, die Rote Korsarin. Wir ziehen mit unseren Mannschaften über die Weltmeere und nehmen den Spaniern ab, soviel wir können. Wir stehen auf der Seite Englands und all derer, die von den Spaniern unterdrückt und schlecht behandelt werden. Kannst du mir folgen?“ Hidduk hüllte sich in Schweigen. „Du verschließt dich?“ fragte Hasard. Hidduk musterte ihn mit kühlem Blick. Sein Gesicht hatte einen starren, abweisenden Ausdruck angenommen. „Das finde ich verdammt unfair“, sagte Hasard gedehnt. „Stör, reich mir noch mal den Kaiman.“ Er nahm die Trophäe aus der Hand des Wikingers entgegen, hielt sie Hidduk dicht unter die Nase und fuhr fort: „Du willst den Fluch der bösen Geister wirklich auf dich lenken. Du legst es ja geradezu darauf an.“ Hidduk lächelte dünn. Er stand da wie eine aus Wachs gegossene Statue und war nicht mehr zum Sprechen zu bewegen. „Der Alligator-Zauber wirkt nicht mehr“, sagte Siri-Tong auf englisch. „Wir haben diese Medizin selbst zerstört.“ „Ich, wolltest du wohl sagen“, erwiderte Hasard. „Aber ich habe nicht mehr damit gerechnet, daß dieser Bursche so maulfaul werden würde. Jetzt muß ich mir was anderes einfallen lassen. Wenn ich ihm einen neuen Schock versetzen kann, gibt er seine Halsstarrigkeit vielleicht auf.“ Er grübelte nach, aber nicht sehr lange. Plötzlich richtete sich sein Blick auf Thorfin Njal. „Ihr habt doch an Land diese schwimmfähigen Echsen entdeckt, die die Spanier Iguanas nennen.“ Er sprach immer noch englisch, damit Hidduk ihn nicht verstehen konnte. „Weißt du was, Thorfin?“
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„Wir führen den Indianer zu dem Platz, dann fängt er an zu winseln und wird weich“, erwiderte der Nordmann. „Nein - ihr holt so ein Tierchen an Bord.“ „Wir?“ „Carberry und du, ihr seid die richtigen Männer für die Ausführung einer so delikaten Mission“, sagte Hasard lächelnd. 9. Kurz nach Mitternacht stolperte Carberry leise schimpfend durch die Schlucht, die zu dem Felsen der Meerechsen führte. Eigentlich hatte er hierher nicht zurückkehren wollen, aber was blieb ihm anderes übrig, wenn der Seewolf ihm den Befehl dazu erteilte? Er war doch kein Meuterer. „Einen Drachen fangen!“ wetterte er. „So ein dicker Hund. Das hätte aber auch jemand anders erledigen können.“ „Wir sind die richtigen Männer dafür“, entgegnete Thorfin Njal, der hinter ihm hertrottete. „Was willst du darauf erwidern? Daß du dich vor den Scheusalen fürchtest? Die Blöße willst du dir doch wohl nicht geben.“ „Ach Quatsch“, sagte der Profos ungehalten. „Ich hab keine Angst vor diesen Biestern. Sehe ich so aus? Ich hab nur einen Widerwillen vor ihnen. Ich ekle mich, das ist es. Lieber jage ich einen Bären oder einen Wolf, einen Wal oder einen Hai.“ Sie blieben am Ausgang der Schlucht stehen, dort, wo der Gesteinsvorsprung war, hinter dem sie die erste Echse gesehen hatten. „Denk daran, wir sollen den Iguana lebendig auf das schwarze Schiff bringen, ihn nicht töten“, erklärte der Wikinger. „Das macht mehr Eindruck auf Hidduk, sagt der Seewolf.“ „Und wenn diese Rothaut bloß darüber lacht?“ „Vor dem Krokodil hat er sich auf dem Boden gewälzt.“ „Na schön“, sagte der Profos. „Packen wir’s.“ Entschlossen schritt er voran. Sein Schneid ließ aber merklich nach, als sie den Felsen
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gerundet hatten und auf das steinige Ufer der Drachen hinunterstiegen. Da war plötzlich ein mehrstimmiges Röcheln, ein Zischeln und Keuchen, und vor ihnen im Dunkeln waberte es unheimlich über den Untergrund. Schleifende, tastende Schritte. Sabberndes Gemurmel. Laute, die weder Carberry noch Thorfin Njal näher einzuordnen wußten. Ein blubbernder Seufzer, ein trockener Klatscher - der Profos der „Isabella“ hätte am liebsten aufgestöhnt, aber er riß sich zusammen. „Verdammter Mist, warum haben wir bloß keine Fackel mitgenommen“, raunte er. „Ist das eine Finsternis auf diesem Scheißfelsen.“ „Das Licht könnte weitere Gegner anlocken“, erwiderte der Nordmann. „Vergiß das nicht. Draußen auf See könnten noch mehr Feinde lauern. Wir müssen mit allem rechnen.“ „Ja, stimmt, müssen wir. Hey, du behelmter Nordpolbär, paß doch auf, du trampelst mir schon wieder auf dem Fuß herum.“ „Nein, das bin ich nicht.“ „Wer dann, zum Teufel?“ stieß Carberry wütend aus. Im nächsten Augenblick verstummte er betroffen. Sein ohnehin schon leicht angekratzter Gemütszustand schlug in offene Bestürzung und dann in Entsetzen um. Das Grauen war eine kalte schwarze Spinne, die ihm den Rücken heraufkroch. „U-ah“, sagte er. „Was ist los?“ fragte der Wikinger. „Hier — mir sitzt so ein Biest auf den Stiefeln.“ „Warte, ich greife mir den Burschen.“ Thorfin Njal bückte sich, erkannte undeutlich die Konturen des Iguanas - und packte zu. Auch er konnte sich eines Schauderns nicht erwehren, als er die Hände um die krustige Haut der Meerechse schloß. Aberglaube und Spökenkiekerei waren in ihm genauso tief verwurzelt wie in Ed Carberry. Im Gefecht auf den Gegner eindreschen und sich selbst in Teufels Küche bringen, das war etwas anderes als die Begegnung mit dem Unbekannten,
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Unfaßbaren. Ein Drache war und blieb ein Drache, wenn er auch nur ein kleiner, harmloser Vertreter dieser Höllengattung war. Aber - hatten er, Thorfin Njal, und die anderen Männer der Roten Korsarin nicht auch den Spuk des schwarzen Seglers zu meistern verstanden? „Also bitte“ und „Bei Odin“, sagte der Wikinger, dann hob er den Iguana entschlossen hoch und hielt ihn Carberry vors Gesicht. „Sieh ihn dir an, unseren lieben kleinen Freund“, sagte er gepreßt. „Ist er nicht niedlich?“ Der grünrote Drache lispelte mit der Zunge und wollte den Profos wie ein Hund ablecken, aber dieser wich rasch zurück. „Ein schönes Exemplar“, sagte er. „Ich schlage vor, wir taufen ihn auf den Namen Philipp.“ „Warum ausgerechnet Philipp?“ wollte der Wikinger wissen. „Hört sich so familiär an“, sagte Carberry grimmig. Sie trugen den furchterregenden Gesellen zum Ufer. Am Boot fertigte der Profos aus einem dünnen Tau eine Leine mit Halsband an und paßte sie dem buntschillernden Drachen mit großer Überwindung an. „Damit du uns nicht doch noch abhauen kannst“, sagte er. „Los, Wikinger, ins Boot mit dir und dann nichts wie weg. Hasard wartet auf uns.“ Er vernahm ein tiefes Grunzen hinter sich und drehte sich um. „Sag mal, bist du jetzt schon so maulfaul, daß du nur noch brummen kannst, statt eine klare, deutliche Antwort Er unterbrach sich. Hinter ihm stand nicht Thorfin Njal, der befand sich einen Yard weiter abseits. Der Urheber des Grunzens war vielmehr der neugierige Seelöwenbulle. Schnuppernd schob er sein bärtiges Gesicht auf Carberry zu. „Du kannst mich mal“, sagte Carberry. .Er zeigte dem dickfelligen Vertreter der Tierwelt die kalte Schulter und kletterte ins Boot. Njal hatte es vom Strand ins flache Uferwasser geschoben. Jetzt nahm auch er
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auf einer Ducht Platz, und sie begannen beide zu pullen. Den Iguana knotete Carberry kurzerhand mit dem dünnen Tau am Heck fest und ließ ihn im Kielwasser des Bootes schwimmen. „Das ist Quälerei“, sagte der Wikinger. „Mit Sir John würdest du so was nicht tun.“ „Der kann ja auch nicht schwimmen“, entgegnete der Profos folgerichtig. Er blickte zum Ufer und erspähte, wie sich der Seelöwenbulle ins Wasser schob und von einer ganzen Reihe dunkler, dicker Leiber verfolgt wurde. „Die Robbenweibchen“, sagte er. „Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt. Statt zu seinem Harem abzuhauen, hat dieser Blödmann von einem Seelöwen das Frauenvolk zu sich gepfiffen. Na, der hat vielleicht Nerven. Weißt du was, Thorfin?“ „Hier ist die ganze Welt verdreht, oder?“ „Ja, aber mich kann das alles nicht mehr jucken. Ich schere mich einen Dreck darum, was dieses Viehzeug anstellt.“ Carberry schnaufte und zerrte an dem Riemen. „Mann, ich würde mich nicht mal mehr wundern, wenn einer der Seelöwen den dämlichen Drachen am Schwanz ziehen würde.“ Wenig später waren die Robben dicht hinter dem Boot. Eins der Weibchen schob sich auf den Iguana zu, tunkte den glatten Kopf unter und schnappte aus purem Spieltrieb mit dem Maul nach dessen Schwanz. Philipp stieß ein empörtes Quieken aus. „Schau mich nicht so bescheuert an“, sagte Carberry zu dem grinsenden Wikinger. * Hasard brauchte Philipp nur an die Leine zu nehmen und ihn hübsch gemächlich auf Hidduk zukriechen zu lassen. Sofort ließ sich der Indianerhäuptling auf den Boden der Kapitänskammer sinken und deckte das Gesicht mit den Händen ab. Er stieß etwas in seiner Sprache hervor, dann jammerte er auch auf spanisch. „Nicht! Jagt den bösen Geist wieder fort! Nein!“
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„Er bringt ewiges Unheil über dich’ und deinen Stamm, wenn du nicht endlich sprichst“, sagte der Seewolf. „Ich rede!“ „Gut, dann versuchen wir es mal.“ Hasard schaute sich zu Siri-Tong, Carberry, Ben Brighton, Ferris Tucker, Shane und den Wikingern um. „Bis jetzt hat Philipp uns gute Dienste geleistet. Nach dem Abschluß der Aktion soll der Kutscher ihn mit einer Festmahlzeit versorgen.“ „Der wird sich freuen“, meinte der Profos. Hasard zog die Meerechse von dem Häuptling fort, nahm auf der Koje Platz und winkte Hidduk aufmunternd zu. Hidduk setzte sich auf. Er begann wirklich zu sprechen, zunächst stockend, dann aber immer fließender, wenn auch mit hartem Akzent. „Die Serranos — sind Seeräuber. Mit Piraguas aufgebrochen und nach drei Monden auf den Inseln gelandet. San Cristobal ...“ „Unsere Nachbarinsel im Nordosten“, sagte Hasard. Hidduk nickte. „Eine geschützte Bucht, wo die Sonne aus dem Wasser steigt. Lagerplatz für die Männer mit ihren Piraguas.“ „Wenn wir ihn heute mittag entdeckt hätten, hätten wir ihn angesteuert“, murmelte Siri-Tong. „Dann hätten wir die Auseinandersetzung vorweggenommen. Aber es hat wohl nicht sein sollen.“ „Vögel, Vogeleier und große Schildkröten sind die Nahrung der Serranos“, fuhr der Häuptling fort. „Manchmal kommen sie nach Espanola, denn hier gibt es mehr große Schildkröten als auf San Cristobal. Daher die Fußspuren am Strand. Aber wir segeln immer schnell wieder fort, weil wir Angst vor den bösen Drachengeistern haben. Die gibt es an unserem Lager nicht.“ Er hob die Hände. „Hidduk wollte bald wieder aufbrechen, aber es traf ein Schiff der weißen Männer ein, das sich vor einem Sturm in die Bucht von San Cristobal rettete. Wir haben es überfallen. Und ein paar Monde später — noch ein Schiff. Dieses Mal größer. Eine Galeone.“ „Spanier?“ fragte der Seewolf.
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Wieder bejahte der Indianer. „Aber bevor wir angreifen können, überbringt der Kapitän uns Geschenke. Er gibt uns zu essen und zu trinken, breitet Goldschmuck und grüne Steine vor uns aus. Wir verhandeln.“ Hasard und seine Freunde horchten auf. Jetzt kam endlich der hochinteressante Teil der umständlichen Schilderung — das, worauf Hasard hinauswollte. Das Geheimnis. Grüne Steine? Er ahnte, daß es Smaragde waren. „Wir haben einen Pakt geschlossen“, sagte Hidduk. Sein Spanisch war etwas weicher geworden, obwohl er die vielen komplizierten Beugungen hoffnungslos durcheinanderwarf. „Sabreras und ich. Sabreras ist der Kommandant der großen Galeone. Er schenkt mir Pistolen, Flinten, Säbel und Degen, wir besiegeln alles und kauen Koka und Tabak. Sabreras hat einen großen Schatz, den er verstecken und behüten muß, und alle Eindringlinge, die auf die Inseln kommen, müssen umgebracht und vertrieben werden.“ „So wie wir“, sagte der Seewolf leise. „Sabreras hat den Schatz in die Höhlen an der Ankerbucht von San Cristobal gebracht“, erläuterte der Häuptling. „Viele grüne Steine, so viele, wie Fische im Ozean sind.“ „Donnerwetter, das muß ja eine ansehnliche Beute sein“, meinte Carberry. „Und wo ist dieser Sabreras jetzt?“ „Weg“, sagte Hidduk. „Fort. Halber Schatz, so hat er gesagt, gehört den Serranos, weil sie darauf aufpassen. Er kehrt nach zwei oder drei Monden immer auf die Galápagos zurück und bringt neue grüne Steine.“ „Wie oft hat er das schon getan?“ erkundigte sich Hasard. „Fünfmal.“ „Donnerwetter. Und woher hat er die Esmeraldos?“ Esmeraldo war das spanische Wort für Smaragd. „Neu-Granada“, antwortete Hidduk. „Bist du dort gewesen?“ „Ja.“ „Sabreras hat dich, seinen Companero, einmal mit auf den Kontinent genommen?“
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„Weil ich es wollte, ja. Das Vertrauen des weißen Mannes in den roten Mann darf keine Grenzen kennen, wenn er will, daß wir Blutsbrüder werden.“ Hidduk setzte wieder eine würdige Miene auf. „Hidduk“, sagte der Seewolf. „Das war schlau von dir. Du hast dich absichern wollen und diesem ominösen Kommandanten Sabreras auch den letzten Teil seines Geheimnisses abgeluchst. Trotzdem wird er versuchen, dich übers Ohr zu hauen.“ „Nein. Aber er wird Hidduk töten, weil Hidduk das große Geheimnis preisgegeben hat.“ Der Blick des Indianers huschte zu der Echse Philipp. „Dazu geben wir ihm keine Gelegenheit.“ Der Seewolf erhob sich von der Koje. „Morgen früh, wenn Ferris das Steuerruder des schwarzen Seglers instand gesetzt hat, setzen wir nach San Christobal über. Die „Isabella’ bleibt gekrängt in der Bucht liegen, und auch eure Piraguas lassen wir hier zurück, Hidduk. Wie viele deiner Leute befinden sich drüben?“ Hidduk hob alle zehn Finger und streckte sie fünfmal vor. „Männer, Frauen und Kinder“, sagte er. „Fünfzig“, sagte Edwin Carberry. „Donnerschlag.“ * In aller Frühe begann Ferris Tucker mit einigen Helfern, an dem kaputten Ruder von „Eiliger Drache über den Wassern“ zu arbeiten. Als es dann hell wurde, tauchte er und arbeitete unter Wasser weiter. Dabei bediente er sich eines recht grotesk anzusehenden Gestells, das er selbst erdacht und konstruiert hatte. Es handelte sich um ein Gebilde aus Schilfrohr, Bambus und Kork, dessen oberer Teil auf der Oberfläche der Bucht dümpelte. Es ermöglichte dem rothaarigen Schiffszimmermann ein ziemlich regelmäßiges Atmen ohne Zeitverlust durch das dauernde Auftauchen. Wenn er wollte,. konnte er sich auf diese Weise Stunden unter Wasser aufhalten.
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Bereits nach zwei Glasen war er aber fertig und kehrte an Bord zurück. „Das war weniger kompliziert, als ich dachte“, sagte er. „Hasard, ihr könnt jetzt aufbrechen. Ich arbeite während eurer Abwesenheit ohne Unterbrechung an der ‚Isabella’ weiter.“ „Du mußt doch hundemüde sein“, sagte Hasard. „Nach der schlaflosen Nacht ...“ Ferris lachte. „Ich habe mich doch noch zwei Stunden aufs Ohr gehauen und fühle mich putzmunter.“ „Wie du meinst. Ich nehme nur ein paar Männer mit, alle anderen bleiben bei dir und gehen dir zur Hand.“ „Fünfzig Indianer auf San Cristobal“, versetzte Ferris nachdenklich. „Um die wirkungsvoll zu bekämpfen, brauchst du wahrscheinlich jeden Mann. Schätze ich jedenfalls.“ „Nein. Sie werden sich nicht mit uns anlegen. Und wir haben auch keine kriegerischen Absichten. Meinst du, wir metzeln Frauen und Kinder nieder?“ „Natürlich nicht“, erwiderte Ferris. „Ich will nur sagen: Ihr müßt verdammt auf der Hut sein, weil ihr in eine Falle tappen könntet.“ „Wir sind doch keine Anfänger oder Trottel“, stieß der Profos grollend aus. „Hau schon ab, Rotkopf, damit wir endlich ankerauf gehen können.“ Nach diesen freundlichen Abschiedsworten pullten Ferris, Shane, Will Thorne und der Rest des Arbeitstrupps beruhigt zur „Isabella“. Wenig später verließ das schwarze Schiff mit geblähten Segeln die Bucht von Espanola. Seelöwen schwammen mit, und auf Oberdeck hatten der Kutscher und Cookie alle Hände voll zu tun, die aufdringlichen Spottdrosseln abzuwehren. Die Überfahrt nach San Cristobal nahm nicht mehr als eine Stunde Zeit in Anspruch. Hasard stand mit Siri-Tong, Ben Brighton, den beiden O’Flynns und den Wikingern auf der Back und blickte durch das Spektiv auf das Eiland. Hidduk stand mit auf den Rücken gebundenen Händen vor Thorfin Njal. Der Stör hielt Philipp an seinem Halsband fest,
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damit das Tier nicht von Bord springen konnte. Der Kutscher hatte ihm zwar Salat, Brot und jede Menge anderer Vorräte vorgesetzt, und Philipp hatte auch alles schmatzend in sich hineingeschlungen. Trotzdem wußten sie nicht, ob er auf die Dauer gern unter den Zweibeinern blieb. Arwenack saß mit Sir John im Vormars. Beide äugten zornig auf das häßliche, schillernde Tier hinter. In ihrer glühenden Eifersucht hatten sie wieder Burgfrieden geschlossen. In der Optik des Kiekers wirkte San Christobal eher noch unwirtlicher und abweisender als Espanola mit seiner schwarzen Lavaerde. Die Vegetation war spärlicher, das Land öder. Als sie vor dem immer noch aus Süden wehenden Wind am Ostufer entlangsegelten, entdeckte der Seewolf bald die Bucht der Indianer und sah auch die schwarzen Höhlenlöcher, die sich von den Hängen der ans Ufer stoßenden Berge abhoben. Wenig später sah er auch die Menschen, die am Ufer auf und ab liefen. Piraguas wurden flottgemacht, Krieger setzten die Segel und hielten auf das schwarze Schiff zu. „Jetzt wird es ernst“, sagte Siri-Tong zu dem Häuptling. „Sie denken, du hast unser Schiff erobert und kehrst im Triumphzug zu ihnen zurück. Wenn sie den Schwindel bemerken, mußt du sie am Schießen hindern.“ „Ja“, entgegnete Hidduk. „Versuche keine Tricks“, warnte Hasard. „Ich lasse sonst den Dämonen der Hölle auf dich los. Und nicht nur das. Vergiß nicht, daß mehr als dreißig deiner Stammesbrüder in unserem Frachtraum hocken.“ „Ich denke daran. Immer.“ Er wagte es dann auch wirklich nicht, seine noch freien Männer in den heranrauschenden Piraguas aufzuhetzen. Er sprach zu ihnen, als sie längsseits des schwarzen Schiffs zu gehen versuchten. Hasard und Siri-Tong traten neben ihn. Der Viermaster war längst gefechtsklar, drohend schoben sich die Mündungen der Fünfundzwanzigpfünder aus den
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Stückpforten. Auch die Luken für die Gestelle, von denen im Vor- und Achterkastell die Brandsätze abgefeuert werden konnten, waren offen. Binnen Sekunden vermochte der Segler sich in eine feuerspeiende Bastion zu verwandeln. Aber die Indianer in den Piraguas schossen nicht auf Hasard und Siri-Tong. Sie trafen keine Anstalten zu entern. Sie resignierten, gaben nach, weil Hidduk ihr Häuptling war und ihnen in ihrer Stammessprache offenbar sehr anschaulich darlegte, was geschehen war und was noch passieren konnte. Siri-Tong ließ beidrehen. „Eiliger Drache“ lief in die Bucht der Serranos, luvte an, ging fast in den Wind und verlor rasch an Fahrt. Nachdem die Segel aufgegeit waren, fierten die Männer zwei Beiboote ab. Hasard, Siri-Tong, Juan, der Boston-Mann, die Wikinger, Ben Brighton, Carberry und die O’Flynns begaben sich mit Hidduk und dem Iguana an Land. Männer, Frauen und Kinder hatten sich am Ufer versammelt. Eine Aura der Feindseligkeit ging von ihnen aus und schlug den Fremden entgegen. Als sie den grünroten Drachen sahen, wichen die Serranos entsetzt zurück. Ein Schamane bediente eine. Rassel und stimmte einen monotonen, eindringlichen Singsang an. Der Seewolf und seine Begleiter landeten, schritten in stummer Prozession an Land und stiegen zu den Höhlen auf. Der Weg am Hang hinauf war steiler und schmaler, als Hasard angenommen hatte. Sie erreichten die erste Höhle, schritten jedoch daran vorbei, weil Hidduk ihnen bedeutete, hier läge der Schatz noch nicht. „Hasard“, sagte Carberry. „Wenn er denkt, uns doch ‘reinlegen zu können, hat er sich getäuscht. Vielleicht will er uns vom Hang stürzen. Vielleicht lauern in den Höhlen seine Kerle. Möglich auch, daß er türmen will. Aber ich schwöre dir, ich brenne ihm ein Loch in den Pelz, wenn nur eins davon zutrifft.“ Zur Unterstützung des Gesagten klopfte er mit der Hand auf den Pistolenkolben.
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„Laß nur, Ed“, erwiderte Hasard. „Hidduk ist nicht so übel, wie du annimmst. Ich schätze sogar, wir werden noch Freunde.“ „Das glaubt, wer selig wird“, meinte der Profos. Der Serrano-Häuptling geleitete sie in die zentral gelegene Grotte. Und hier bestätigte sich dann, daß er mit seiner Rede von den grünen Steinen, die „so viele wie die Fische im Ozean“ sein sollten, beinahe noch untertrieben hatte. Berge von Edelsteinen türmten sich da vor den Seewölfen und ihren Freunden auf, eine unvorstellbare Pracht grüner, glitzernder Steine. Das Morgenlicht, das von außen eindrang, brach sich funkelnd in ihnen, alle Farben des Regenbogens schimmerten an den Wänden der Kaverne. „Unfaßbar“, sagte Siri-Tong. „Eine so große Ansammlung von Esmeraldos, nein, überhaupt von Edelsteinen, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.“ „Dagegen verblaßt fast der ganze Schatz auf der Schlangen-Insel“, fügte Ben Brighton hinzu. Hasard trat neben Hidduk, der ganz vorn stand und betrübt in den aufgeschichteten Reichtum blickte. Er bückte sich, hob einen der Steine auf und drehte ihn zwischen Zeigefinger und Daumen. „Ein Zweikaräter“, sagte er. „Dieser Sabreras untersteht natürlich dem Kommando der Casa de Contratacion und Seiner durchlauchten Majestät, des Königs von Spanien, aber daraus scheint er sich nicht viel zu machen. Die Mine, die die Dons in Neu-Granada entdeckt haben und jetzt ausschöpfen, wird offenbar von Sabreras in Alleinregie beaufsichtigt. Ungeheuerlich. Ich frage mich, was wohl Philipp II. — also nicht unsere Echse — sagen würde, wenn er das hier sehen könnte.“ Der junge O’Flynn lachte auf. „Und Sabreras? Was würde der sagen, wenn er uns hier vor seinem geklauten Smaragdberg sehen könnte?“ „Die Augen würden ihm übergehen“, erwiderte Hasard. „Er wird noch staunen, das ist gewiß.“
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„Sabreras hat eine Streitmacht, der die Serranos von Santa Barbara nicht gewachsen Sind“, erklärte Hidduk erstaunlich ruhig. „Das ist das Ende meines kleinen Volkes. Der Fluch der Götter hat uns getroffen, weil wir Piraten sind und uns nehmen, was uns nicht gehört.“ „Du irrst dich.“ Hasard wandte sich zu ihm um und schaute ihn ernst an. _Du wirst es noch begreifen. Du büßt deinen Bundesgenossen und ‚Blutsbruder’ ein, das ist gewiß. Aber du gewinnst einen neuen Companero, der dir bald mehr, viel mehr bedeuten wird.“ Hidduk sah ihn fragend an. „Etwas anderes“, sagte Hasard. „Wie hat Sabreras diesen unermeßlich wertvollen Schatz von seiner Galeone aus hier heraufgeschafft? Etwa einfach so — lose?“ „In Säcken und Truhen“, antwortete der Indianer. „Erst nach seiner Abreise öffneten wir die Behälter und schütteten die grünen Steine zu den anderen, die schon in der Höhle lagen. Wenn Sabreras wiederkommt, geben wir ihm wie jedesmal die Sache und Truhen zurück.“ „Verstehe“, sagte der Seewolf. „Auf diese Weise verhindert er, daß seine Männer auf der Galeone herausfinden, was er da heimlich entwendet und beiseite schafft. Er wird ihnen irgendwas vorgeschwindelt haben. Allenfalls einen kleinen Kreis von Verschwörern hat er, vielleicht die Offiziere seines Schiffes. Aber auch sie wird er bald ausbooten.“ „Ich verstehe dich nicht“, sagte Hidduk. „Wer arbeitet in den Minen von NeuGranada, Hidduk?“ „Sklaven.“ „Schwarze Männer wie der Goliath, den du bei meiner Mannschaft gesehen hast?“ „Nein. Indianer. Sie gehören zum Stamm der Chibcha.“ „Und du bist nicht bereit, etwas für sie zu tun?“ sagte Siri-Tong. „Himmel, sie gehören doch derselben Menschenrasse an wie du, du mußt dich doch mit ihnen verbunden fühlen.“ „Ihr Anblick hat Hidduk tief ins Herz geschnitten“, erklärte der Häuptling.
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Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das glaube ich dir. Außerdem ist dein Stamm nicht stark genug, die Chibchas von ihrem bitteren Los zu :befreien. Alles, was du gewonnen hättest, wenn du dich gegen Sabreras gewandt hättest, wäre eine Niederlage gewesen — und lebenslange Zwangsarbeit. Ich verstehe dich.“ „Wirklich?“ „Wirklich und wahrhaftig.“ Der Seewolf trat einen Schritt zurück und wandte sich seinen Männern zu. „Ich habe meine Entscheidung gefällt. Siri-Tong, es steht dir wie üblich frei, ob du dich uns anschließen willst, aber ich denke, du wirst kaum etwas einzuwenden haben. Hört zu. Die Smaragde beschlagnahmen wir im Namen Ihrer Majestät, der Königin von England.“ „Es lebe die Königin!“ rief Ben Brighton. Die anderen Männer wiederholten den Ruf, er tönte bis ins Freie, und unten am Ufer hoben die Serranos verdutzt die Köpfe. „Wir nehmen die Esmeraldos an Bord“, fuhr Hasard fort. „Dann segeln wir nach Neu-Granada und kaufen uns diesen Sabreras. Wir versuchen, noch mehr Steine an uns zu reißen, befreien die ChibchaIndianer und fügen den Dons auf diese Weise mal wieder einen empfindlichen Schlag unter der Gürtellinie zu.“ Zu Hidduk sagte er: „Du begleitest uns du und ein paar deiner besten Krieger. Damit ihr später unabhängig von uns auf die Galápagos zurückkehren könnt, führen wir eine der Piraguas auf dem Deck unserer ,Isabella’ mit.“ Der Indianer blickte ihn immer noch verständnislos an. „Du bietest mir deine Freundschaft an?“ fragte er. „Wie kann ich wissen, daß du es ehrlich meinst und mich nicht an Sabreras auslieferst?“ „Ich gebe dir ein Beispiel“, erwiderte Hasard. „Ich schicke den Höllendrachen davon.“ Er nahm dem Stör die Leine ab, zog Philipp mit sich und verließ die Höhle. Er schritt auf dem schmalen Pfad in die Tiefe, trat mitten zwischen die Serranos, die vor ihm zurückwichen - und entließ den Iguana in das Wasser der Bucht.
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In diesem Augenblick hätten sie ihn niederstrecken können. Aber keiner trachtete danach, es zu tun. Was der Seewolf tat, war so unfaßbar für sie, daß sie minutenlang wie unter einem Bann standen. Philipp schwamm in die Bucht hinaus.
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Hasard lächelte, winkte ihm nach und sagte: „Du bist ein kluger Junge, Philipp. Den Weg zurück nach Espanola findest du bestimmt, und wenn du wider Erwarten schlappmachst, helfen dir deine Freunde, die Seelöwen.“
ENDE