Jose Carlos
SOMOZA
Das
Einstein-
Projekt
THRILLER Aus dem Spanischen von Elisabeth M ü l l e r
Ullstein
PROLOG
Sierra de Ollero 12. Juli 1992 10.50 Uhr Nebel u n d Dunkelheit hatten sich verflüchtigt, u n d die Sonne strahlte v o m H i m m e l , erhaben wie ein griechischer Gott. Die Welt war üppig grün und erfüllt vom Duft nach Fichtennadeln und Blumen, vom Zirpen der Zikaden u n d Summen der Bienen und v o m g e m ä c h l i c h e n P l ä t s c h e r n eines Bachlaufs. Nichts, so dachte der M a n n , konnte diese pralle Natur, dies Licht u n d Le ben t r ü b e n , doch unwillkürlich beschlich ihn bei diesem Gedan ken ein ungutes Gefühl. Vielleicht wegen des Gegensatzes z w i schen dem, was er vor Augen hatte, und dem, was seines Wissens nach jederzeit passieren konnte: Der Zufall (oder etwas Schlim meres) konnte auch das größte Glück auf tausenderlei Arten zer stören. Nicht, dass er ein Pessimist gewesen wäre; doch die m i t den Jahren gewachsene Erfahrung meldete sich, wann immer i h m eine Situation allzu paradiesisch erschien. Der M a n n wanderte am Bachlauf entlang. Ab u n d zu blieb er stehen u n d betrachtete nachdenklich seine Umgebung, bevor er den F u ß m a r s c h fortsetzte. Schließlich erreichte er eine Stelle, die i h m geeignet erschien: B ä u m e spendeten den n ö t i g e n Schatten, und ein frischer Luftzug w ü r d e die Schwüle fern halten. Etwas weiter vorn führte der Weg v o m steinigen Bachufer fort u n d zu einem kleinen felsigen H ü g e l , wo er endete. Deshalb ging der M a n n davon aus, dass er die gesuchte Abgeschiedenheit gefun den hatte und so ungestört sein w ü r d e wie in einem Naturschutz
gebiet, zu dem niemand Z u t r i t t hatte. Ein flacher Felsbrocken sollte i h m als Sitzplatz dienen. Von dort wollte er den Angelha ken auswerfen und das Warten g e n i e ß e n , die stille Landschaft und das funkelnde Wasser. Nichts war für ihn entspannender. Er bückte sich und stellte den Korb m i t den Ködern und der Angel rute ab. Als er sich wieder aufrichtete, h ö r t e er die Stimmen. Sie tauchten so überraschend aus dem stillen Morgen auf, dass er vor Schreck zusammenzuckte. Die Laute wehten vom Felshü gel zu i h m herüber, den er nicht ganz überblicken konnte, aber dem hellen Klang nach zu urteilen, musste es sich um spielende Kinder handeln. Der M a n n nahm an, dass sie in der Umgebung zu Hause waren. O b w o h l i h n die Anwesenheit anderer etwas störte, tröstete er sich m i t dem Gedanken, dass spielende Kinder an einem sonst perfekten Tag wie diesem noch die angenehmste S t ö r u n g waren. Er nahm die Kappe vom Kopf, wischte sich den Schweiß ab und lächelte. M i t einem Mal erstarrte er. Das war kein Spiel. Da stimmte etwas nicht. Eines der Kinder schrie auf eine sonderbare A r t . Die Worte ü b e r s c h l u g e n sich förmlich, so dass der M a n n nichts verstand, aber das Kind, das da schrie, war alles andere als glücklich, es war in großer Not. Plötzlich waren sämtliche Stimmen verstummt, sogar die V ö gel h ö r t e n für einen Augenblick auf zu singen, als hielte die Welt in Erwartung eines besonderen Ereignisses den Atem an. Kurz darauf zerriss ein ganz anderer Schrei die Stille u n d zuckte ü b e r den H i m m e l , dass die blank geputzte blaue Luft wie Porzellan zu zersplittern schien. Der M a n n am Ufer des Baches dachte, dass dieser s o n n t ä g liche Sommermorgen des Jahres 1992 sich anders entwickelte, als er es erwartet hatte. Etwas hatte sich verändert, vielleicht nur geringfügig, aber endgültig.
Mailand 10. März 2015 9.05 Uhr I n m i t t e n der h ä u s l i c h e n Stille hallte der Schrei noch wie ein Echo in den Ohren von Frau Portinari fort. U n d erst als er nach einer winzigen Pause erneut ertönte, war Frau Portinari zu einer Reaktion imstande. Sie nahm die Lesebrille ab, die sie an einer Perlenkette um den Hals trug, und ließ sie vor der Brust bau meln. »Was war das denn?«, fragte sie dann laut, obwohl ihre junge Haushaltshilfe aus Ecuador um diese Uhrzeit - die Digitaluhr im Regal, die sie als Werbegeschenk von ihrer Bank erhalten hatte, zeigte 9.05 U h r - noch nicht eingetroffen und sie aüein zu Hause war. Doch seit ihr M a n n vier Jahre zuvor gestorben war, führte Frau Portinari oftmals Selbstgespräche. »Guter Gott im H i m mel! Was ...?« Der Schrei wiederholte sich ein drittes M a l , gellte noch lauter. Frau Portinari fühlte sich an den Hausbrand in ihrer ehemali gen Wohnung im Zentrum von Mailand erinnert, der ihren Mann u n d sie vor fünfzehn Jahren fast das Leben gekostet h ä t t e . Erst nach dem Tod ihres Mannes hatte sie beschlossen, in die Via Giardelli umzuziehen. Die Wohnung unweit der Universität war kleiner, aber auch ruhiger und angemessener für eine allein ste hende ältere Dame. Sie wohnte gern hier, weil in diesem Stadt viertel niemals irgendetwas passierte. Bis zu diesem Moment.
Frau Portinari lief zur Tür, so schnell ihre Gelenke es erlaub ten. »Heilige Mutter Gottes!«, murmelte sie und umklammerte den Gegenstand in ihrer Hand, um a n s c h l i e ß e n d festzustellen, dass es sich um den Kugelschreiber handelte, m i t dem sie gerade ihre Einkaufsliste für die Woche gemacht hatte. Sie hielt sich da ran fest, als wäre es ein Kruzifix. A u f dem Treppenabsatz hatte sich bereits ihr Nachbar einge funden und starrte nach oben. »Es k o m m t aus der Wohnung von Professor M a r i n ü « , rief Herr Genovese. Der Grafiker wohnte ihr gegenüber, u n d Frau Portinari hätte ihn wesentlich sympathischer gefunden, hätte er nicht diese auffällige Neigung zur H o m o s e x u a l i t ä t gezeigt. »Der Herr Professor!«, t ö n t e es aus einer anderen Wohnung. Der Herr Professor, dachte sie. Was dem armen Kerl w o h l zu g e s t o ß e n war? U n d von wem stammte dieses entsetzliche Ge heul? Zweifellos die Stimme einer Frau. Wer es auch sein mochte, Frau Portinari wusste nur eins: Schreie wie diese hatte sie noch nie vernommen, nicht einmal w ä h r e n d des schrecklichen Haus brands. Dann waren Schritte zu h ö r e n , das Getrappel von jemandem, der hastig die Treppe herunterkam. Weder Herr Genovese noch sie reagierten sofort, sie standen weiter auf dem Treppenabsatz vor ihren Wohnungen und starrten nach oben, so bleich vor Schreck, dass sie auf einmal beide ganz alt aussahen. M i t klop fendem Herzen machte sich Frau Portinari auf das Schlimmste gefasst: den Verbrecher oder das Opfer. Doch sie wusste instink tiv, dass es nichts Entsetzlicheres geben konnte als diese gräss lichen Schreie einer gepeinigten Seele, die sich wie ein Echo fort setzten, ohne dass man sah, woher sie kamen. Als sie dem Urheber ins Gesicht blickte, wurde ihr allerdings bewusst, wie sehr sie sich geirrt hatte. Es gab noch wesentlich Schlimmeres als diese Schreie.
I.
DER ANRUF
Auch ist es besser, Gefahren auf halbem Wege entgegenzugehen, wenn sie nicht n ä h e r kommen, als auf ihr Herankommen zu warten. Francis Bacon
1
Madrid 11. März 2015 11.12 Uhr Genau sechs M i n u t e n u n d d r e i ß i g Sekunden, bevor ihr Leben eine entscheidende, ja schreckliche Wendung nehmen sollte, tat Elisa Robledo etwas völlig Banales: Sie gab fünfzehn Drittsemes tern an der Fachhochschule für Ingenieurwesen eine freiwillige Unterrichtsstunde ü b e r die neuesten Theorien der Physik. In i h rem Innern mochte sie eine Vorahnung haben, was ihr in Kürze widerfahren sollte, denn im Gegensatz zu zahlreichen Studen ten u n d nicht wenigen Dozenten, die in diesen Räumlichkeiten manchmal Beklemmungen bekamen, fühlte sich Elisa in einem Hörsaal stets sicherer als in ihrer eigenen Wohnung. Das war ihr bereits in der Schule, wo sie A b i t u r gemacht hatte, so gegangen und später in den kargen S e m i n a r r ä u m e n ihrer Fakultät. Inzwi schen arbeitete sie in den modernen, hellen Sälen der Fachhoch schule für Ingenieurwesen, die der Alighieri-Universität in M a drid angegliedert war. Diese luxuriöse private Lehranstalt verfügte ü b e r H ö r s ä l e m i t g r o ß e n Fenstern, v o n denen aus man einen herrlichen Blick ü b e r den Campus hatte, sowie eine hervorra gende Akustik, u n d ü b e r a l l roch es nach edlen H ö l z e r n . Elisa w ä r e dort ohne Z ö g e r n eingezogen. Denn unbewusst war sie überzeugt, dass ihr an einem O r t wie diesem niemals etwas Bö ses zustoßen k ö n n t e . Doch da irrte sie sich, u n d es blieben ihr bis zu dieser Feststel lung nicht mehr als sechs M i n u t e n .
Elisa war eine brillante Hochschullehrerin und hatte einen entsprechenden Ruf. An jeder Universität gibt es Dozenten und Studenten, über die Gerüchte in Umlauf sind, und die rätselhafte, u n e r g r ü n d l i c h e Elisa Robledo bot sich hervorragend dafür an. Dass es das »Elisa-Mysterium« gab, war nicht weiter verwun derlich, denn sie war eine allein stehende junge Frau mit langem, gewelltem schwarzen Haar, und ihr Gesicht und ihre Figur wä ren eine Zierde gewesen für das Titelblatt jedes S c h ö n h e i t s m a gazins. Gleichzeitig hatte sie sich m i t ihrem analytischen Geist, ihrer außergewöhnlichen mathematischen Begabung und ihrem A b s t r a k t i o n s v e r m ö g e n einen festen Platz in der kühlen Welt der von wissenschaftlichen Prinzipien beherrschten theoretischen Physik erobert. Theoretische Physiker waren hoch geachtet, ja wurden beinah verehrt. U n d von Einstein bis Stephen Hawking galten die theoretischen Physiker als der unumstrittene und viel gepriesene Inbegriff der Physik. Obwohl die Themen, m i t denen sie sich befassten, abstrus und für die breite Masse mehr als un begreiflich waren, wurde eine Menge Aufhebens um sie gemacht, und in der Regel hielt man sie für den Prototyp des kühlen, men schenscheuen Genies. Bei Elisa Robledo war indes von dieser Kühle nichts zu s p ü ren: Sie war eine leidenschaftliche Lehrerin, und das ü b e r t r u g sich auf ihre Studenten. Doch damit nicht genug, sie hatte auch hervorragende fachliche Qualitäten, war d a r ü b e r hinaus eine lie benswerte, stets hilfsbereite Kollegin. Äußerlich war nichts Son derbares an ihr. U n d das war das Sonderbarste. Allgemein herrschte die Meinung, dass Elisa zu perfekt sei, zu intelligent. Und dass sie sich eigentlich zu schade sein müsste, an der Alighieri im unbedeutenden Fachbereich Physik zu arbeiten, der für die Studenten der Wirtschaftswissenschaften nur Wahl fach war. Ihre Kollegen waren davon überzeugt, dass sie eine sehr viel bessere Stelle bekommen k ö n n t e : einen Posten im Wissen schaftsrat des Erziehungsministeriums, einen Lehrstuhl an einer staatlichen Universität oder eine wichtige Stellung in irgendei
nem angesehenen a u s l ä n d i s c h e n Institut. Elisas Fähigkeiten schienen an der Alighieri verschwendet. H i n z u kam, dass sich m i t keiner Theorie - und Physiker halten viel von Theorien - zu frieden stellend erklären ließ, weshalb Elisa m i t ihren zweiund dreißig, fast d r e i u n d d r e i ß i g Jahren (sie hatte im nächsten M o nat Geburtstag, also im A p r i l ) i m m e r noch solo war und fast keine Freunde hatte, aber dennoch glücklich war, als erwarte sie nicht mehr v o m Leben. Noch nie war von einer Beziehung zu einem M a n n - oder zu einer Frau - die Rede gewesen, und ihre Bekannten rekrutierte sie im Kollegenkreis, ohne indes m i t i h nen die Freizeit zu verbringen. Dabei war sie keineswegs arro gant, ja nicht einmal eitel, obwohl sie ihr attraktives Ä u ß e r e s durch eine Sammlung ausgefallener, eng anliegender Designer kleider und -hosen noch in fast provokantem M a ß e zu betonen pflegte. Dennoch schien sie m i t dieser Aufmachung weder Auf sehen erregen noch die Legionen von M ä n n e r n anlocken zu wollen, die sich nach ihr den Kopf verdrehten. Unterhaltungen m i t ihr kreisten stets um strikt Berufliches, sie war höflich, lä chelte viel. Das »Elisa-Mysterium« war u n e r g r ü n d l i c h . N u r gelegentlich irritierte etwas an ihr, nichts Konkretes, eher eine gewisse Weise zu schauen, ein Flackern in der Tiefe ihrer braunen Pupillen oder eine A r t innerer Unruhe, die nach einer kurzen Unterhaltung in ihren G e s p r ä c h s p a r t n e r n aufkam. Es war, als hütete sie ein Geheimnis. Ihr Kollege Victor Lopera und der Fachbereichsleiter Noriega, die sie am besten kannten, hat ten das unbestimmte Gefühl, dass es vielleicht besser wäre, dass Elisa ihr Geheimnis für sich behielt. Es gibt Menschen, die in u n serem Leben nie eine Rolle spielen und an die w i r nur ein paar unbestimmte Erinnerungen bewahren, dennoch sind sie uns u n vergesslich: So jemand war Elisa Robledo, und alle wollten, dass sie es blieb. Allerdings v e r s p ü r t e Victor Lopera zuweilen das dringende Bedürfnis, ihr Geheimnis zu lüften. Einige Versuche in dieser Richtung hatte der Hochschullehrer für theoretische Physik und einer von Elisas wenigen echten Freunden schon gestartet. Den
letzten i m vergangenen Jahr, genauer i m April 2014, als der Fach bereich beschloss, an Elisas Geburtstag eine Ü b e r r a s c h u n g s p a r t y zu veranstalten. Die Idee stammte u r s p r ü n g l i c h von Teresa, Noriegas Sekretä r i n , aber der ganze Fachbereich hatte sich dafür begeistern lassen, sogar ein paar Studenten. Voller Eifer hatten sie einen Monat lang die Party vorbereitet, bot sich doch die ideale Möglichkeit, in Elisas magischen Zirkel einzudringen u n d der Unfassbaren n ä h e r zu kommen. M a n kaufte Kerzen m i t den Zahlen drei u n d zwei, einen Kuchen, Luftballons u n d einen g r o ß e n Teddybären u n d großzügigerweise steuerte der Fachbereichsleiter ein paar Flaschen Cava bei. Die Kollegen schlossen sich im Lehrerzimmer ein, s c h m ü c k t e n es rasch, zogen die V o r h ä n g e zu und löschten das Licht. Als Elisa morgens zur Fakultät kam, machte sie der eingeweihte Hausmeister darauf aufmerksam, dass eine »Son d e r k o n f e r e n z « stattfinde. W ä h r e n d die anderen im Dunkeln warteten, ging die T ü r auf, und Elisas Silhouette zeichnete sich in der Ö f f n u n g ab. Da brachen der Applaus u n d das Geläch ter los, es wurde Licht gemacht, u n d Rafa, einer ihrer fortge schrittensten Studenten, filmte die Verwirrung der jungen Lehr kraft m i t einer der neuesten Videokameras, die auf dem Markt waren. Doch die Feier fiel kurz aus und diente nicht dazu, tiefer in das »Elisa-Mysterium« einzudringen. Noriega sprach ein paar be wegende Worte, es wurden die ü b l i c h e n Lieder gesungen, u n d Teresa schwenkte ein spaßiges Plakat vor der Kamera, auf das ihr Bruder, der Zeichner war, eine Karikatur von Isaac Newton, Albert Einstein, Stephen Hawking u n d Elisa Robledo gemalt hatte, wie sie gemeinsam denselben Kuchen verzehren. Alle hat ten Gelegenheit, Elisa ihre Zuneigung zu zeigen und ihr das Ge fühl zu vermitteln, dass man sie mochte, wie sie war, u n d dass man nichts anderes von ihr erwartete, als dass sie das verführe rische Mysterium bliebe, an das sie sich inzwischen gewöhnt hat ten. Elisa selbst war, wie immer, perfekt: Ihre Miene spiegelte das rechte M a ß an Staunen und Freude, ja, ihre Augen ließen sogar
ein wenig R ü h r u n g erkennen. A u f dem Video sah sie m i t ihrer traumhaften, von Kurzjacke u n d Hose betonten Figur wie eine Studentin aus oder wie der Ehrengast bei einem besonderen Er eignis ... oder wie ein Pornostar m i t dem ersten Oscar in der Hand, wie Rafa seinen Freunden auf dem Campus zuflüsterte: »Einstein und Marilyn Monroe m i t gefärbtem Haar, endlich in ein- u n d derselben Person vereint«, sagte er. Trotzdem konnte ein aufmerksamer Beobachter in der Auf zeichnung etwas bemerken, das dieses Bild störte: Elisas Gesichts ausdruck, als das Licht angeschaltet wurde. Keiner achtete auf dieses Detail, denn letzten Endes hatte nie mand wirklich Interesse daran, sich eingehender m i t den Bildern eines fremden Geburtstags zu beschäftigen. Allein Victor Lopera nahm die entscheidende, wenn auch flüchtige V e r ä n d e r u n g wahr: Als die Lichter angingen, spiegelten Elisas Züge nicht nur die Verblüffung ü b e r die Ü b e r r a s c h u n g , sondern eine viel tiefer gehende Empfindung, ja E r s c h ü t t e r u n g . Keine Zehntelsekunde später lächelte Elisa wieder, hatte ihre Fassung zurückgewonnen. W ä h r e n d dieses winzigen Lapsus freilich hatte sich ihre S c h ö n heit in Auflösung befunden. U n d wer sich das Band ansah, a m ü sierte sich ü b e r den »Mordsschrecken«, den sie ihr eingejagt hat ten. Nicht so Lopera. Denn i h m war noch etwas aufgefallen. Was? Da war er sich nicht sicher. Vielleicht den W i d e r w i l l e n seiner Freundin gegen diesen als geschmacklos empfundenen Scherz, extreme S c h ü c h t e r n h e i t oder noch etwas anderes. Konnte es Angst gewesen sein? Victor, der aufmerksame u n d intelligente Beobachter, fragte sich unwillkürlich, wovor sich Elisa in dem dunklen Zimmer wohl gefürchtet hatte. A u f welche A r t von »Mordsschrecken« war sie gefasst gewesen, bevor an jenem düsteren Ort für die mys teriöse, wunderschöne, perfekte Hochschullehrerin Elisa Robledo die Lichter angingen und Gelächter und Beifall losbrachen. Er h ä t t e alles darum gegeben, es zu wissen. Was Elisa an diesem Unterrichtsvormittag erfahren sollte, was sich in kaum sechs M i n u t e n an jenem friedlichen, abgeschiede
nen O r t zutragen w ü r d e , h ä t t e Victor Lopera auf eine F ä h r t e bringen k ö n n e n , aber leider war er nicht dabei. Elisa gab sich stets M ü h e , Beispiele zu finden, mit denen sie die überfütterten Gehirne der Kinder aus besseren Familien wach rütteln konnte. Keiner ihrer Studenten w ü r d e sich auf theoreti sche Physik spezialisieren, so viel war sicher. Sie wollten nur im Eiltempo die abstrakten Lerninhalte eingetrichtert bekommen u n d die P r ü f u n g e n bestehen, um m i t dem Zeugnis unter dem A r m die begehrtesten Posten in Wirtschaft und Industrie zu er gattern. Die Fragen nach dem Wie und Warum, welche die Wis senschaft bestimmten, seit der menschliche Geist diese auf Er den eingeführt hatte, waren ihnen einerlei: Sie wollten Antworten, Effekte, schwierige Aufgabenstellungen, um gute Noten einzu heimsen. Dennoch war Elisa b e m ü h t , ihnen den Stoff so zu prä sentieren, dass sie nach den Ursachen fragten, nach dem Unbe kannten. Sie versuchte gerade, ihren Studenten das a u ß e r g e w ö h n l i c h e P h ä n o m e n nahe zu bringen, dass die Realität mehr als drei D i mensionen hat, vielleicht sogar sehr viel mehr als die auf den ers ten Blick sichtbaren » H ö h e Breite Tiefe«. Einstein hatte mit sei ner allgemeinen Relativitätstheorie bewiesen, dass die Zeit eine vierte Dimension ist, und die komplexe String-Theorie, deren Schlussfolgerungen die moderne Physik vor große Herausforde rungen stellten, besagte, dass der Raum mindestens neun wei tere Dimensionen kennt - kaum nachvollziehbar für den mensch lichen Geist. Elisa fragte sich bisweilen, ob die Leute ü b e r h a u p t eine A h nung hatten, was die Physik bisher entdeckt hatte. M i t t e n im 2 1 . Jahrhundert, im so genannten Wassermannzeitalter, faszi nierten immer noch ü b e r n a t ü r l i c h e oder paranormale P h ä n o mene die breiten Massen, als wären die natürlichen und norma len Ereignisse weithin bekannt und nichts läge davon mehr im Dunkel. Dabei musste man nicht erst fliegende Untertassen oder Gespenster sehen, um zu begreifen, wie ü b e r a u s verstörend un
sere Welt selbst für die verwegensten Geister ist, fand Elisa. Z u mindest dies wollte sie den fünfzehn Studenten in dieser beschei denen Unterrichtsstunde einmal demonstrieren. Sie begann m i t einem einfachen, witzigen Beispiel, indem sie eine Folie mit der Strichzeichnung einer menschlichen Figur und eines Quadrats auf den Overheadprojektor legte.
»Dieser M a n n « , erklärte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Figur, »lebt in einer Welt mit nur zwei Dimensionen, H ö h e und Breite. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet und ein Ver m ö g e n angespart: einen Euro.« Sie h ö r t e Gelächter und wusste, dass es ihr gelungen war, die Aufmerksamkeit von einigen der fünfzehn gelangweilten Augenpaare auf sich zu ziehen. » D a m i t niemand den Euro stiehlt, beschließt er, i h n auf die sicherste Bank seiner Welt zu legen: ein Quadrat. Dieses Quadrat hat nur eine einzige seitliche Öffnung; unser Freund steckt den Euro dort hinein, damit ihn kein anderer herausholen kann.« M i t einer raschen Bewegung holte Elisa aus ihrer Jeanstasche eine E i n - E u r o - M ü n z e , die sie zu diesem Zweck dort hineingetan hatte, und legte sie in das Quadrat auf der Folie. »Unser Freund meint nun, dass seine Ersparnisse auf dieser Bank sicher w ä r e n . Niemand, absolut niemand kann von der Seite in das Quadrat eindringen . . . Das heißt niemand aus sei ner Welt. Ich aber kann i h m das Geld problemlos entwenden, i n dem ich m i r die dritte Dimension zunutze mache, die für die Be
wohner jenes flachen Universums nicht wahrnehmbar ist: die Tiefe.« Elisa nahm die M ü n z e und ersetzte die Folie durch eine andere. »Ihr k ö n n t euch vorstellen, wie es dem armen M a n n geht, wenn er sein Quadrat öffnet und feststellt, dass seine Er sparnisse verschwunden sind. Wie nur konnten sie aus einem Quadrat entwendet werden, wo dieses doch die ganze Zeit ge schlossen war?«
»Echt fies«, murmelte ein junger M a n n m i t B ü r s t e n s c h n i t t und bunter Brille in der ersten Bankreihe und provozierte damit neues Gelächter. Elisa s t ö r t e n die Lacher nicht und auch nicht die mangelnde Konzentration ihrer Studenten: Sie wusste, dass das simple Beispiel eigentlich zu banal war für dieses Semester, aber genau das war ihre Absicht. Sie wollte die E i n g a n g s t ü r so
weit wie möglich öffnen, weil sie wusste, dass am Ende nur we nige den Ausgang erreichen w ü r d e n . Die allgemeine Heiterkeit legte sich, als sie einen leiseren Ton anschlug. »Dieser Mann kann sich genauso wenig vorstellen, wohin sein Geld verschwunden ist, wie wir uns vorstellen k ö n n e n , dass an dere Dimensionen um uns herum existieren. Also«, sie betonte jedes Wort, »zeigt dieses Beispiel, auf welche Weise andere Dimen sionen Einfluss auf uns haben und sogar Ereignisse auslösen k ö n nen, die wir automatisch als übernatürlich einordnen würden ...« Ihre Worte gingen in der Welle von Kommentaren unter. Elisa wusste, warum. Sie glauben, dass ich den Unterricht mit Anleihen bei der Science-Fiction aufpeppe. Doch sie sind Physik studenten und wissen, dass ich bei den realen Fakten bleibe, nur können sie es nicht glauben. Aus dem Dickicht der hochgereck ten Arme wählte sie einen. »Ja, Yolanda?« Das M ä d c h e n m i t dem langen blonden Haar und den g r o ß e n Augen g e h ö r t e zu den wenigen Studentinnen in der m ä n n l i c h dominierten Gruppe. Es gefiel Elisa, dass ausgerechnet sie als Erste einen ernsthaften Einwand vorbringen w ü r d e . »Aber das Beispiel hinkt«, sagte Yolanda. »Denn die M ü n z e ist dreidimensional, sie hat also eine gewisse H ö h e , wie gering auch immer. Wenn sie gezeichnet wäre wie der M a n n und das Qua drat in dem Beispiel, dann wäre es Ihnen nicht so leicht gefallen, sie wegzunehmen.« Allgemeines G e m u r m e l war die Folge. Elisa, die auf den E i n w a n d vorbereitet war, tat ü b e r r a s c h t , um die scharfsinnige Studentin nicht zu e n t t ä u s c h e n . »Gut beobachtet, Yolanda. Und vollkommen korrekt. Die Wis senschaft lebt von Beobachtungen wie dieser: scheinbar simpel und doch subtil. Wenn die M ü n z e auf das Papier gezeichnet ge wesen wäre, so wie der M a n n und das Q u a d r a t . . . hätte ich sie allerdings ausradieren k ö n n e n . « Gelächter unterbrach für Se kunden - exakt fünf - ihre Ausführungen. Elisa ahnte nicht, dass nur noch zwölf Sekunden fehlten, ehe ihr Leben in Stücke brechen sollte.
Die g r o ß e U h r an der Wand g e g e n ü b e r der Tafel markierte unaufhaltsam diese letzte Galgenfrist. Elisa warf einen gleichgül tigen Blick darauf, ohne zu wissen, dass der auf dem Zifferblatt v o r r ü c k e n d e Zeiger bereits den Countdown begonnen hatte, der ihre Gegenwart und Zukunft m i t einem Schlag für immer ver nichten w ü r d e . Für immer. Unwiederbringlich. »Ich m ö c h t e , dass ihr versteht«, fuhr sie fort, unerreichbar für alles, was sich nicht auf der zu ihren Studenten aufgebauten Wel lenlänge abspielte, und beschwichtigte das Gelächter m i t einer Handbewegung, »dass sich die verschiedenen Dimensionen ge genseitig in die Quere kommen k ö n n e n . Dazu noch ein Bei spiel.« Bei den Vorbereitungen für diese Unterrichtsstunde hatte sie sich vorgenommen, den n ä c h s t e n Vergleich als Tafelbild an schaulich zu machen. Aber ihr Blick fiel auf die gefaltete Zeitung, die auf dem Lehrerpult lag. Vor dem morgendlichen Unterricht kaufte sie stets die Zeitung am Kiosk vor der Fakultät und las sie mittags in der Cafeteria. Ihr kam der Gedanke, dass die Studen ten das nächste, weitaus schwierigere Beispiel anhand eines Ge genstandes vielleicht besser verstehen w ü r d e n . Sie schlug die Zei tung auf einer beliebigen Seite auf und strich sie glatt. »Stellt euch vor, dass dieses Blatt eine Fläche im Raum i s t . . . « Sie senkte den Blick, um die Seite aus der Zeitung herauszu nehmen, ohne sie zu beschädigen. Da sah sie es. Das Grauen ist blitzschnell. Es überwältigt uns, bevor es u n ser Bewusstsein erreicht. W i r wissen noch nicht, weshalb, u n d doch zittern uns bereits H ä n d e und Knie, w i r werden blass, und unser Magen krampft sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Elisas Blick ruhte auf einer Schlagzeile in der rechten oberen Ecke, und noch ehe sie ü b e r h a u p t deren Bedeu tung begriff, d u r c h s t r ö m t e sie ein heftiger Adrenalinschub. Binnen Sekunden erfasste sie die Kernaussage der Notiz. Se kunden, in denen sie ihre Studenten nicht wahrnahm, die sich
wunderten und auf die Fortsetzung der Vorlesung warteten, ob wohl sie merkten, dass etwas nicht stimmte: Sie stießen sich m i t den Ellbogen an, r ä u s p e r t e n sich, einige blickten sich fragend nach den Kommilitonen u m . Eine andere Elisa hob die Augen und stellte sich dem erwar tungsvollen Schweigen, das sie selbst herausgefordert hatte. » A h m ... stellt euch vor, die Fläche w ü r d e hier von diesem Punkt aus gefaltet.« Sie sprach ohne jedes Zittern m i t der Auto matenstimme eines Navigationssystems weiter. Ohne zu wissen, wie, nahm sie den Faden ihrer Erläuterungen auf, schrieb Gleichungen an die Wandtafel, löste diese fehlerfrei, stellte Fragen und veranschaulichte das Ganze mit weiteren Bei spielen. Die Anstrengung war ü b e r m e n s c h l i c h und blieb doch unbemerkt. Oder hatte jemand etwas davon mitbekommen? Sie fragte sich, ob die aufgeweckte Yolanda, die sie aus der ersten Reihe scharf ins Auge fasste, ahnte, welche Panik sie in Atem hielt. »Schluss jetzt«, sagte sie fünf M i n u t e n vor Unterrichtsende und zuckte angesichts der Ironie in ihren Worten unwillkürlich zusammen: »Ich mache euch darauf aufmerksam, dass von nun an alles komplizierter wird.«
I h r B ü r o lag am Ende des Ganges. Glücklicherweise waren die Kollegen alle beschäftigt, so dass ihr auf dem Weg niemand be gegnete. Elisa schloss die T ü r von innen ab, setzte sich an den Schreibtisch, schlug die Zeitung auf und zerriss vor Hektik fast die Seite, las sie m i t bangem Gefühl, wie jemand, der eine Liste von Toten durchsieht und hofft, darauf keinen A n g e h ö r i g e n zu entdecken - wohl wissend, dass unweigerlich der Name wie be fürchtet vollständig und gut erkennbar, gleichsam farbig mar kiert auftauchen w i r d . Die Meldung enthielt kaum konkrete Angaben, nur das wahr scheinliche Datum des Ereignisses: Obwohl die Entdeckung erst einen Tag später gemacht worden war, schien sich das Ganze in der Nacht zum 9. M ä r z 2015 zugetragen zu haben. Vorgestern.
Sie rang nach Luft. Da verdunkelte sich das Milchglas ihrer Tür. Elisa wusste, dass dies wahrscheinlich eine ganz banale Erklä rung hatte (ein Student, ein Kollege), trotzdem stand sie v o m Stuhl auf, unfähig, ein Wort herauszubringen. Heute kommt er zu dir. Der Schatten verharrte reglos vor der Scheibe. Dann vernahm sie ein Geräusch im Türschloss. Elisa war alles andere als feige, aber in diesem Moment hätte ihr sogar das Lächeln eines Kindes tödliche Angst eingejagt. Sie nahm etwas Kühles, Flaches an Rücken und Gesäß wahr und be merkte erst jetzt, dass sie unwillkürlich bis zur Wand zurückge wichen war. Das lange, schwarze Haar hing ihr ins verschwitzte Gesicht. Endlich tat sich die T ü r auf. Es gibt Schreckensmomente, die uns so eiskalt erwischen wie ein u n a n g e k ü n d i g t e r Tod, der uns m i t einem Schlag der Stimme u n d des Augenlichts beraubt, den Atem stocken lässt, das Den ken ausschaltet und das Herz zum Stillstand bringt. Einen solch entsetzlichen M o m e n t durchlebte Elisa. U n d auch der M a n n machte einen Satz rückwärts, als er sie entdeckte. Es war Pedro, einer der Hausmeister. Er hatte seinen Schlüsselbund und einen Stapel Post in der Hand. »Verzeihung . . . Ich dachte, es wäre keiner da. Nach den Vor lesungen sind Sie doch sonst nie hier. Kann ich reinkommen? Ich bringe nur die Post.« Elisa murmelte etwas, der Hausmeister trat ein u n d legte lächelnd die Briefe auf den Schreibtisch. Dann wandte er sich wieder zum Gehen, nicht ohne zuvor einen Blick auf die aufgeschlagene Zeitung u n d Elisas Gesicht zu werfen. Das war ihr egal. Im Grunde hatte diese plötzliche Unterbre chung ihr sogar geholfen, die Angst unter Kontrolle zu bekom men. M i t einem Mal wusste sie, was sie zu t u n hatte. Sie faltete die Zeitung zusammen, steckte sie in ihre Tasche, sah rasch die Post durch. Interne Mitteilungen und Briefe von
anderen Universitäten, m i t denen sie in Kontakt stand, nichts, was in dieser Situation für sie von Belang war. Dann verließ sie das Büro. Jetzt gab es nur noch eines: Sie musste am Leben bleiben.
2
Das B ü r o von Victor Lopera lag Elisas direkt gegenüber. Victor war gerade eingetroffen u n d machte sich am Fotokopierer zu schaffen, um das Bilderrätsel aus der Morgenzeitung abzulich ten. Er sammelte diese Knobeleien, hatte ganze Alben m i t Rät seln aus dem Internet, aus Tageszeitungen und Zeitschriften ge füllt. Als das Blatt aus dem Schlitz kam, h ö r t e er ein leises Pochen an seiner Tür. »Ja?« M i t ruhiger Miene blickte er Elisa an, nur die dichten, dunk len Brauen hoben sich unmerklich, und die Mundwinkel gaben dem glatt rasierten Gesicht m i t den Brillengläsern einen Aus druck, der auf der Verhaltensskala seines Besitzers eventuell als Lächeln einzuordnen war. Elisa kannte den Charakter ihres Kollegen und mochte Victor trotz seiner extremen Z u r ü c k h a l t u n g sehr. Er g e h ö r t e zu den Menschen, denen sie am meisten vertraute. Dennoch w ü r d e er ihr in dieser Situation nur auf eine A r t helfen k ö n n e n . »Na, wie ist das Rätsel von heute?« Elisa lächelte u n d schob sich die Haare aus der Stirn. Diese Frage war beinah ein Ritual zwischen ihnen. Victor freute sich, wenn sie für sein Hobby I n teresse bekundete, und erzählte ihr manchmal von seinen w u n derlichsten Entdeckungen. Es gab nicht viele, m i t denen er dar ü b e r reden konnte.
»Fast zu einfach.« Er legte ihr das soeben kopierte Bilderrätsel vor. Ein Mann, der in einen Stock biss. »Bist du taub?«, stand da runter. »Die A n t w o r t lautet: >Stocktaub<. Verstehst du?« »Nicht schlecht«, sagte Elisa u n d lachte. Tu so, als wenn nichts wäre. Ihr war danach, laut loszuschreien, wegzulaufen, aber sie wusste, dass sie sich beherrschen musste. Niemand konnte ihr helfen, schon gar nicht in dieser Situation: Sie war allein. »Weißt du was, Victor? K ö n n t e s t du bitte Teresa ausrichten, dass ich das Seminar zur Quantentheorie heute Nachmittag nicht halten kann? Sie ist n ä m l i c h nicht in ihrem B ü r o , weißt du, aber ich w ü r d e jetzt gerne gehen.« »Kann ich machen.« Ein weiteres, kaum merkliches Heben der Brauen. »Ist was?« »Ich habe Kopfschmerzen, ich glaube, ich habe Fieber. V i e l leicht bekomme ich eine Grippe.« »Ach was.« »Ja, ein Pech.« Dieses >Ach was< d r ü c k t e bei Victor g r ö ß t e Anteilnahme aus, u n d Elisa wusste das. Ihre Blicke trafen sich noch einmal, u n d Victor sagte: »Keine Sorge. Ich sage es ihr.« Sie dankte i h m u n d h ö r t e noch im Hinausgehen ein »Gute Besserung«. Reglos blieb Victor m i t der Fotokopie in der Hand stehen u n d starrte auf die Tür. Hinter den g r o ß e n Gläsern seiner altmodi schen Drahtbrille zeigte sich nur gelindes Erstaunen, aber in sei nem Innern machte sich ein Unbehagen breit. Elisa fröstelte unter dem fast w e i ß e n H i m m e l dieses k ü h l e n M ä r z m o r g e n s , als sie zu ihrem Wagen eilte, den sie auf dem U n i v e r s i t ä t s p a r k p l a t z abgestellt hatte. Sie wusste, dass sie keine Grippe hatte, fand diese N o t l ü g e in ihrer Lage jedoch verzeih lich. Ab und zu wandte sie p r ü f e n d den Kopf. Niemand. Du bist allein. Und noch immer kein Anruf. Oder doch?
Sie holte das Mobiltelefon aus der Tasche und sah die einge gangenen Mails durch. Nichts. Auch auf ihrer Digitaluhr am Handgelenk blinkte kein Hinweis auf eine neue SMS. Allein. M i l l i o n e n von Fragen wirbelten ihr u n a u f h ö r l i c h im Kopf herum, ein Strom von Ängsten und Möglichkeiten. Wie nervös sie war, bemerkte sie erst, als ihr beinahe der Autoschlüssel aus der Hand gefallen wäre. Sie m a n ö v r i e r t e den Wagen vorsichtig aus der Parklücke und gab Gas. Das Lenkrad mit beiden H ä n den fest umklammernd, betätigte sie Gas, Bremse und Kupplung so vorsichtig wie eine Schülerin bei der F a h r p r ü f u n g . Sie be schloss, das GPS nicht einzuschalten und sich ohne Navigator ganz auf das Fahren zu konzentrieren: Das w ü r d e ihr helfen, die Ruhe zu bewahren. Sie verließ das Universitätsgelände und bog auf die ColmenarAutobahn Richtung M a d r i d . Im Rückspiegel war nichts Außer gewöhnliches zu sehen: Andere Autos ü b e r h o l t e n sie, niemand schien sie zu verfolgen. Als sie das nördliche Ende der Stadt er reicht hatte, nahm sie die Abfahrt zu ihrem Stadtviertel. W ä h r e n d sie Hortaleza durchquerte, hörte sie plötzlich den ge wohnten Klingelton ihres Mobiltelefons. Sie warf einen kurzen Blick auf den Beifahrersitz: Das Handy war in ihrer Handtasche, weil sie vergessen hatte, es an die Lautsprecher a n z u s c h l i e ß e n . Sie drosselte die Geschwindigkeit, steckte die rechte Hand in die Tasche und fischte hektisch darin herum. Der Anruf. Das K l i n geln schien aus dem Z e n t r u m der Erde nach ihr zu verlangen. Wie eine Blinde tastete sie sich vor: eine Halskette, ein Porte monnaie, da, die Kanten des Handys . . . Der Anruf, der Anruf... Endlich hielt sie das Mobiltelefon in der Hand, aber als sie es herausholte, glitt es ihr aus den schwitzigen Fingern. Sie sah es vom Beifahrersitz zu Boden plumpsen und wollte es aufheben. Da stürzte wie aus dem Nichts ein Schatten auf die Windschutz scheibe zu. Sie hatte nicht einmal die Zeit zu schreien, sondern trat instinktiv auf die Bremse und s p ü r t e , wie sie nach vorne fiel und ihr der Sicherheitsgurt in die Magengrube schnitt. Der F u ß
gänger, ein junger Mann, sprang z u r ü c k und schlug dann erbost m i t der Faust auf die K ü h l e r h a u b e . Erst da merkte Elisa, dass sie mitten auf einem Zebrastreifen stand. Den hatte sie völlig ü b e r sehen. Sie hob entschuldigend die Hand. Durch die hochgekur belten Fensterscheiben drang die Schimpftirade des jungen Man nes. Passanten warfen ihr tadelnde Blicke zu. Ruhig. So erreichst du gar nichts. Fahr ganz ruhig weiter nach Hause. Das Mobiltelefon war verstummt. Noch auf dem Zebrastrei fen den Protest der Autofahrer hinter sich ignorierend, beugte Elisa sich vor und hob das Telefon auf, dann prüfte sie das Dis play: Die Nummer des Anrufers war nicht gespeichert. Mach dir keine Sorgen. Wenn es der Anruf war, werden sie es noch einmal versuchen. Sie ließ das Telefon auf dem Beifahrersitz liegen und rollte wie der an. Zehn Minuten später stellte sie ihr Auto in der Tiefgarage ihres Wohnhauses in der Calle Silvano ab. Sie entschied sich ge gen den Aufzug und stieg stattdessen die drei Stockwerke zu Fuß hoch. Obwohl sie wusste, dass ihr das nichts n ü t z e n w ü r d e , verrie gelte sie alle drei Sicherheitsschlösser an ihrer W o h n u n g s t ü r , die sie drei Jahre zuvor für ein V e r m ö g e n hatte einbauen lassen. Dann legte sie noch die Sicherheitskette vor, a u ß e r d e m ließ sie vorsichtshalber die Alarmanlage eingeschaltet. A n s c h l i e ß e n d ging sie durch alle R ä u m e und ließ die elektrischen Metalljalou sien herunter, auch die zum H o f hinter der Küche, gleichzeitig machte sie überall das Deckenlicht an. Bevor sie das Rollo im Wohnzimmer schloss, schob sie die Lamellen der Jalousie ausei nander und warf einen Blick auf die Straße. Autos fuhren vorbei, und die Menschen glitten v o r ü b e r wie in einem schallgedämpften A q u a r i u m , g e g e n ü b e r sah sie die be kannten M a n d e l b ä u m e und Graffiti an den H a u s w ä n d e n . Das Leben nahm seinen Lauf. Weit und breit war niemand zu sehen, der ihr auffällig vorgekommen wäre. Sie schloss auch dieses letzte Rollo. Dann schaltete sie noch die Stehlampen in Küche und Bade
zimmer an sowie in ihrem Trainingsraum, der keine Fenster hatte. Sie vergaß auch nicht die Nachttischlampen links und rechts von ihrem Bett, wo sich Fachzeitschriften neben Unterla gen ü b e r Mathematik und Physik stapelten. Knäuel schwarzer Seidenwäsche lagen vor dem Bett verteilt. Letzte Nacht hatte sie sich wieder dem Spiel m i t dem M a n n mit den w e i ß e n Augen hingegeben und ihre Dessous einfach auf dem F u ß b o d e n liegen lassen. Sie sammelte sie auf und stopfte sie in die Kommodenschublade. Bevor sie das Zimmer verließ, blieb sie vor dem g r o ß e n Leuchtrahmen m i t dem Bild des Mondes stehen, das sie jeden Morgen als Erstes erblickte, wenn sie die A u gen aufschlug, und betätigte den Schalter: Der Satellit erstrahlte in phosphoreszierendem Weiß. Zurück im Wohnzimmer, knipste sie mit einem Sammelschalter die restlichen Lichter an, also die Stehlampe und die Dekoleuchten im Regal, und dann von Hand zwei weitere m i t A k k u betriebene L ä m p c h e n . A u f dem Display des Anrufbeantworters blinkten zwei Nach richten. Sie hielt die Luft an u n d h ö r t e sie ab: Eine war von einem Wissenschaftsverlag, bei dem sie eine Zeitschrift abon niert hatte, die andere von ihrer Haushaltshilfe, die stundenweise kam. Elisa bestellte sie nur ein, wenn sie selbst auch zu Hause war, weil sie i n ihrer Abwesenheit nicht wollte, dass jemand in ihre I n t i m s p h ä r e eindrang. Die Haushaltshilfe wollte den ver einbarten Termin verschieben, sie habe einen Arzttermin. Elisa löschte die Nachricht, ohne z u r ü c k z u r u f e n . Dann schaltete sie den 40-Zoll-Bildschirm ihres Digitalfern sehers ein. A u f den vielen Nachrichtensendern kamen Wetter berichte, Sport und Wirtschaftsmagazine. Sie öffnete ein Dialog feld, tippte das Passwort u n d ihre Suchbegriffe ein, damit das Gerät die automatische Suche nach der Meldung startete, die sie interessierte - ohne Erfolg. Sie ließ eine amerikanische Nach richtensendung von C N N laufen und stellte den Ton leiser. Sie zögerte kurz, dann lief sie in die Küche, öffnete eine elektri sche Schublade unter dem automatischen Thermostat und fand ganz hinten den gesuchten Gegenstand. Sie hatte ihn vor einem
Jahr für genau diesen Anlass gekauft, wohl wissend, wie sinnlos es eigentlich war. Und für ein paar Augenblicke betrachtete sie die eigenen angst erfüllten Augen in der spiegelblanken Stahlklinge des Fleischer messers.
Sie wartete. Sie war wieder im Wohnzimmer und hatte sich m i t dem Mes ser auf den Knien in einen Sessel vor den Fernseher gesetzt, nach dem sie sich vergewissert hatte, dass das Telefon funktionierte u n d der A k k u ihres Mobiltelefons aufgeladen war. Sie wartete. Der große Plüschbär, den ihr die Kollegen vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatten, hockte vis-ä-vis in einer Sofaecke. Er trug ein Lätzchen m i t den in Rot gestickten Worten h e r z lichen Glückwunsch<, darunter das Logo der Alighieri-Univer sität nebst Dantes Adlerprofil. A u f seinem Bauch stand in golde nen Lettern das Motto der Uni: >Das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren<. Die a u f g e n ä h t e n Augen des Bären schienen Elisa auszuspio nieren u n d seine herzförmige Schnauze sah aus, als w ü r d e er zu ihr sprechen. Du kannst tun, was du willst, dich nach besten Kräften versuchen zu schützen, du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, du könntest dich verteidigen. Denn eines ist sicher: Du bist so gut wie tot. Ihr Blick wanderte zur Mattscheibe, wo gerade der Start einer neuen europäischen Raumsonde gezeigt wurde. Tot, Elisa. Genauso tot wie die anderen. Beim Schrillen des Telefons machte sie fast einen Satz aus dem Sessel. Aber dann geschah etwas Erstaunliches: Ohne Z ö g e r n streckte sie den A r m aus und nahm in vollkommener Ruhe das G e s p r ä c h entgegen. Jetzt, wo der Anruf endlich da war, kam eine unerschütterliche Gelassenheit ü b e r sie. Kein Beben war in ihrer Stimme.
»Ja, bitte?« Eine halbe Ewigkeit lang sagte niemand ein Wort. Dann h ö r t e sie: »Elisa? Ich bin es, Victor ...« Vor E n t t ä u s c h u n g war sie völlig perplex. Als hätte sie ihre ganze Konzentration auf den Schlag gerichtet, nur um festzustel len, dass der Kampf unterbrochen war. Sie atmete tief durch, u n t e r d r ü c k t e eine Anwandlung von Wut auf ihren Freund. Victor konnte nichts dafür, aber in diesem Moment war seine Stimme wirklich das Letzte, was sie h ö r e n wollte. Lass mich. Lass mich in Ruhe. Leg auf und lass mich in Ruhe. »Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht... du hast vorhin ausgesehen ... na ja, nicht gerade gut. Du weißt schon ...« »Es geht wieder besser, mach dir keine Gedanken. Es sind nur Kopfschmerzen. Ich glaube nicht einmal, dass ich eine Grippe habe.« »Wie gut.« Räuspern. Pause. Victors wohlbekannte Langsam keit brachte sie schier zur Verzweiflung. »Das mit deinem Semi nar geht klar. Noriega hat gesagt, es wäre kein Problem. Wenn du den Rest der Woche nicht kommen kannst, dann . . . sollst du nur Teresa rechtzeitig Bescheid sagen.« »In Ordnung. Danke, Victor.« Sie stellte sich vor, was Victor von ihr denken würde, wenn er sie jetzt sehen k ö n n t e , wie sie zit ternd und schweißgebadet auf dem Sessel kauerte, ein 45 Zenti meter langes Messer aus rostfreiem Stahl in der rechten Hand. »Ich . . . ich wollte dir auch noch sagen, dass . . . « , begann er schließlich wieder. »Also, im Fernsehen, da bringen sie gerade eine Meldung ...« Elisa richtete sich kerzengerade auf. »Hast du den Fernseher an?« Hektisch suchte sie m i t der Fernbedienung den von Victor ge nannten Kanal. Sie sah ein Apartmenthaus und davor einen Spre cher m i t Mikrofon. »... in seinem Haus im Universitätsviertel von Mailand. Der Vorfall hat ganz Italien aufgewühlt...« »Du hast ihn gekannt, nicht wahr?«, fragte Victor.
»Ja«, erwiderte Elisa ruhig. »Wie traurig.« Spiel die Gleichgültige. Verrate dich bloß nicht am Telefon. Victors Stimme nahm noch einmal h ö r b a r Anlauf zu einem neuen Satz. Elisa entschied, dass es Zeit war, das G e s p r ä c h zu beenden: »Entschuldige, aber ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich später noch mal an. Danke für alles, ehrlich.« Sie wartete nicht einmal seine A n t w o r t ab. Es tat ihr zwar Leid, m i t Victor so u m zuspringen, aber in diesem M o m e n t ging es nicht anders. Sie drehte den Ton des Fernsehers lauter und verschlang jedes Wort. Der Reporter versicherte, die Polizei habe umfassende E r m i t t lungen aufgenommen, doch als M o t i v komme am ehesten ein Raubüberfall in Betracht. M i t aller Kraft klammerte sich Elisa an diese idiotische Hoff nung. Ja, vielleicht war es das. Ein Raubüberfall. Schließlich habe ich den Anruf noch nicht erhalten ... Der Reporter stand unter einem Regenschirm. Mailand war grau verhangen. Elisa hatte das beklemmende Gefühl, das Ende der Welt m i t anzusehen.
Die Fenster des gerichtsmedizinischen Instituts der M a i l ä n d e r Universität waren hell erleuchtet, obwohl alle Mitarbeiter bereits vor einer Weile nach Hause gegangen waren. Ein schwach anhal tender Nieselregen vernebelte die Nacht, u n d von der italieni schen Flagge, die an einem Fahnenmast vor dem Eingang des schmucklosen G e b ä u d e s hing, rann u n a u f h ö r l i c h das Wasser. Genau unter dieser Fahne hielt der dunkle Wagen, der eben aus der Via Mangiagalli eingebogen war. Schemenhaff schwebte ein Schirm vorbei. Unter dem Portal wartete jemand, der jetzt die beiden dem Auto entstiegenen Gestalten empfing. Es wurde kein Wort gewechselt: Jeder schien zu wissen, m i t wem er es zu t u n hatte und m i t welchem Auftrag der andere da war. Der Schirm wurde zugeklappt. Die Gestalten verschwanden. A u f den Fluren des Instituts hallten die Schritte der drei M ä n
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ner wider. Sie trugen dunkle Anzüge, die N e u a n k ö m m l i n g e zu sätzlich Regenmäntel. Vorneweg ging der Mann, der unter dem Portal gewartet hatte. Er war jung, sehr blass und so nervös, dass er sich beinahe h ü p f e n d fortbewegte. W i l d gestikulierend redete er ein Englisch m i t u n ü b e r h ö r b a r e m italienischem Akzent. »Eine genaue Untersuchung w i r d vorgenommen . . . Bisher liegen noch keine eindeutigen Ergebnisse vor. Gestern Morgen wurde es entdeckt... Die Spezialisten sind aber erst heute ein getroffen.« Er blieb stehen und öffnete die T ü r des gerichtsmedizinischen Labors für Anthropologie u n d Zahnmedizin. Nach der Inbe triebnahme im Jahr 1995 war das Labor 2012 modernisiert und mit der neuesten Technik ausgestattet worden. Es galt als die W i r kungsstätte gleich mehrerer namhafter europäischer Gerichtsme diziner. Gerade passierten sie drei Gipsbüsten, doch die N e u a n k ö m m linge schenkten den Skulpturen und Fotografien an den W ä n d e n des Flurs keine weitere Beachtung. »Wie viele Zeugen haben . . . die Ü b e r r e s t e gesehen?«, fragte einer der M ä n n e r , der ältere m i t w e i ß e m Haar und einer kahlen Stelle auf dem Schädel, die er m i t einer gewissen Haarlänge aus zugleichen suchte. Er sprach ein neutrales Englisch, in dem sich verschiedene Akzente mischten. »Nur die Frau, die jeden Morgen zum Saubermachen zu i h m kam. Sie hat ihn entdeckt. Die Nachbarn haben so gut wie nichts gesehen.« »Was heißt das, so gut wie nichts?« »Sie haben die Frau schreien h ö r e n und sie m i t Fragen be s t ü r m t , aber niemand hat die Wohnung betreten. Dann haben sie sofort die Polizei gerufen.« Vor einer anatomischen Zeichnung von einer gehäuteten Frau mit einem Fötus im geöffneten Leib blieben sie stehen. Der junge M a n n stieß die Stahltür daneben auf. »Und die Frau?«, wollte der Weißhaarige wissen. »Im Krankenhaus, ruhig gestellt und unter Beobachtung.«
»Sie kann erst entlassen werden, wenn w i r sie untersucht ha ben.« »Das habe ich bereits in die Wege geleitet.« Der ältere Herr wirkte desinteressiert, sprach ohne eine Miene zu verziehen oder die H ä n d e aus den Manteltaschen zu nehmen. U n d der junge M a n n antwortete i h m im beflissenen Ton eines Untergebenen. Der andere Mann schien eigenen Gedanken nach zuhängen. Er war reichlich übergewichtig, der Anzug und sogar der Mantel schienen zwei N u m m e r n zu klein. Er war j ü n g e r als der Weißhaarige, wenn auch nicht so jung wie der andere. Er hatte einen Bürstenschnitt, klare, auffallend g r ü n e Augen und ein run des graues Bärtchen ü b e r einer beeindruckenden Säule von Hals. Er schien als Einziger die elegante Kleidung nicht gewohnt zu sein. Entschlossen setzte er einen F u ß vor den anderen u n d r u derte dazu mit den Armen, was i h m das typische Aussehen eines Militärs verlieh. Sie durchquerten noch einen Flur u n d betraten einen weite ren Saal. Der junge M a n n schloss hinter ihnen die Tür. Es war kalt hier. W ä n d e und Boden waren in einem sanften, leuchtenden Ton gehalten, einer A r t Apfelgrün, wie das Innere eines geschliffenen Kristalls. Mehrere Personen in Chirurgen kleidung standen aufgereiht da inmitten von Tischen m i t tech nischen Apparaten. Sie wandten sich wie ein Empfangskomitee den drei M ä n n e r n zu, die gerade eingetreten waren. Einer von ihnen, m i t silbrigem Haar und Seitenscheitel, der merkwürdiger weise unter dem Chirurgenkittel H e m d und Krawatte trug, trat vor. Der junge M a n n ü b e r n a h m das Vorstellen. »Die Herren Har rison und Carter. Doktor Fontana.« Der Arzt begrüßte sie mit einem Kopfnicken, welches der Weiß haarige und der Bullige erwiderten. »Sie k ö n n e n ganz offen sein, brauchen keine Informationen zurückzuhalten.« Für einen Moment herrschte Schweigen. Ein angedeutetes Lä cheln, fast ein Grinsen huschte ü b e r das bleiche, w ä c h s e r n e Ge sicht des Arztes. Sein rechtes Lid zuckte. Ein Tic. Als er zu spre
chen begann, wirkte er fremdbestimmt, wie die Puppe eines Bauchredners. »So etwas habe ich nie zuvor gesehen . . . in meiner ganzen Praxis als Gerichtsmediziner noch nicht.« Die anderen Ärzte wichen zurück, als wollten sie die Besucher auffordern, n ä h e r zu treten. Hinter ihnen stand ein Untersu chungstisch. Die Deckenbeleuchtung fiel auf einen Haufen in der Mitte unter einem Laken. Ein Arzt zog es weg. Nur der Weißhaarige und der Bullige richteten den Blick auf das, was sich darunter verbarg. Die anderen beobachteten die beiden Besucher, als w ä r e n sie das eigentliche Untersuchungs objekt. Der weißhaarige Herr öffnete den M u n d , schloss ihn sogleich wieder und wandte die Augen ab. N u r der Bullige betrachtete nun noch das B ü n d e l auf dem Tisch. Steif stand er da, m i t gerunzelter Stirn, als zwinge er seine Augen, etwas anzuschauen, was sonst niemand im Saal sehen wollte.
Um Elisa war es Nacht geworden. Ihre Wohnung blieb eine I n sel aus Licht, w ä h r e n d sich in den anderen allmählich Dunkel heit ausbreitete. Noch immer s a ß sie in der gleichen Haltung da, das Schlachtermesser auf dem Schoß, vor der erloschenen Matt scheibe. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen u n d keinen Moment geruht. Sie sehnte sich nach ihrem K ö r p e r t r a i n i n g und der Wohltat einer langen, entspannenden Dusche, wagte aber nicht, sich von der Stelle zu bewegen. Sie wartete. Sie w ü r d e so lange warten wie nötig, egal, wie lange das in i h rem Fall sein w ü r d e . Sie haben dich verlassen. Sie haben dich belogen. Du bist allein. Und das ist noch nicht das Schlimmste. Weißt du, was das Schlimmste ist? Der Plüschbär breitete die Arme aus und lächelte sie mit sei
nem herzförmigen Maul an. In den schwarzen Knopfaugen spie gelte sich eine winzige, bleiche Elisa. Das Schlimmste ist noch nicht passiert. Das Schlimmste kommt noch. Das Schlimmste wird dir passieren. Plötzlich klingelte ihr Handy. Wie immer, wenn wir etwas er sehnen oder voller Furcht erwarten, wurde Elisa gleichsam aus ihrer Starre gerissen, als das Ereignis eintrat, und abrupt in ei nen anderen Geisteszustand versetzt. Noch bevor sie antwortete, hatte ihr Gehirn schon Hypothesen aufgestellt und wieder ver worfen u n d als Tatsache vorweggenommen, was noch gar nicht geschehen war. Beim zweiten Klingeln nahm sie den A n r u f an und hoffte im Stillen, dass es Victor war. Er war es nicht. Es war der erwartete Anruf. Die Verbindung dauerte nicht länger als zwei Sekunden. Aber diese zwei Sekunden g e n ü g t e n , dass sie weinend zusammen brach. Jetzt weißt du es. Jetzt weißt du es endlich. Lange saß sie so da, das Telefon in der Hand, vornübergebeugt im Sessel und weinte. Nachdem sie ihrer E r s c h ü t t e r u n g Luft ge macht hatte, stand sie auf und sah auf die Uhr: Etwas Zeit blieb ihr noch vor dem Treffen. Sie w ü r d e ein paar Ü b u n g e n machen, duschen und etwas essen. Dann wollte sie sich der schwierigen Entscheidung stellen, ob sie allein weitermachte oder Hilfe suchte. Der Gedanke, sich jemandem anzuvertrauen, war nicht neu. Es musste jemand von a u ß e n sein, eine Person, die m i t dem Ganzen nichts zu t u n hatte und sich die Geschichte einfach von v o r n bis hinten a n h ö r t e , um dann unvoreingenommen dazu Stellung zu beziehen. Aber wer? Victor. Ja, vielleicht. Damit war ein gewisses Risiko verbunden. A u ß e r d e m musste sie noch etwas bedenken: Wie sollte sie i h m klar machen, dass sie seine Hilfe benötigte und zwar sofort? Wie k ö n n t e sie i h m das vermitteln? Doch zuerst einmal musste sie sich beruhigen, nachdenken.
Ihre Intelligenz war stets ihre wirkungsvollste Waffe gewesen. U n d wer, wenn nicht sie, wusste, dass die menschliche Intelligenz gefährlicher sein konnte als das Messer in ihrer Hand? Immerhin, so dachte sie, hatte der A n r u f sie erreicht, auf den sie seit dem Vormittag gewartet hatte u n d von dem jetzt ihr Schicksal abhing. Sie hatte die Stimme kaum erkannt, so zittrig und zögerlich hatte sie geklungen, als ob der Anrufer genauso verängstigt ge wesen wäre wie sie. Aber es gab keinen Zweifel, dass es der Anruf gewesen war, denn das einzige Wort, das der M a n n gesagt hatte, war das erwartete: »Zickzack.«
3
Victor Lopera war ganz vertieft in die transzendentale Frage, ob seine Araliae aeroponicae Teil der Natur waren oder nicht. A u f den ersten Blick waren sie das, schließlich handelte es sich um Lebewesen, um echte Dizygothecae elegantissimae, die atmeten, Licht und Nahrung aufnahmen. Andererseits hätte die Natur sie niemals genauso reproduzieren k ö n n e n , sie trugen die Hand schrift des Menschen und waren ein Resultat der modernen Wis senschaft. Victor züchtete sie in durchsichtigen Plastikgefäßen, damit er die faszinierenden Fraktale ihrer Wurzeln beobachten konnte. M i t elektronischen Messgeräten kontrollierte er Tempe ratur, pH-Wert und Wachstum. Um zu verhindern, dass sie die üblichen eineinhalb Meter erreichten, fütterte er sie m i t einem Spezialdünger. Allein deshalb waren die vier Aralien m i t ihren silbrig schimmernden bronzefarbenen Blättern und ihren kaum fünfzehn Zentimetern H ö h e seine Schöpfung. Ohne ihn und die moderne Wissenschaft h ä t t e es sie nie gegeben. Demnach war die Frage, ob sie noch Teil der Natur waren, durchaus berechtigt. Seine Antwort lautete ja. Unter Vorbehalt zwar, aber grundsätz lich ja. Denn für Victor ging die Frage ü b e r die engen Grenzen der Pflanzenwelt hinaus. U n d wer sich damit auseinander setzte, musste sehr bald bekennen, ob er Technologie u n d Fortschritt eher skeptisch gegenüberstand oder an sie glaubte. Victor jeden falls gehörte zu denen, die der Naturwissenschaft vertrauten. Er
glaubte fest daran, dass die Wissenschaft etwas Natürliches war, ja sogar eine neue Art, die Religion zu betrachten, wie er von Teil hard de Chardin gelernt hatte. Diese optimistische Einstellung hatte ihre Wurzeln in seiner Kindheit, als er erkannt hatte, dass sein Vater, der Chirurg war, ins Leben eingreifen und dessen Feh ler beheben konnte. Dennoch, u n d obwohl er die Kunst seines Vaters bewunderte, hatte er sich gegen eine »biologienahe« Laufbahn entschieden und war weder Chirurg geworden wie sein Bruder noch Tierärz t i n wie seine Schwester, sondern ha.tte die theoretische Physik ge wählt. Er fand die Berufe seiner Geschwister zu hektisch und be vorzugte etwas Ruhigeres. Früher einmal hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, Schachprofi zu werden, denn seine mathe matischen und logischen Fähigkeiten waren beachtlich. Bald je doch war er dahintergekommen, dass i h m der ständige Wettbe werb ebenfalls zu hektisch wäre. Das Nichtstun war allerdings auch nicht seine Sache, nein, er wollte einfach nur in einer fried lichen Umgebung arbeiten, um sich seinem geistigen Ringen mit den Rätseln dieser Welt in Ruhe widmen zu können, Fragen wie der gerade eben, oder verzwickte Knobeleien zu lösen. Er füllte einen Rundsprenger mit der neuen Düngermischung, die er zunächst bei Aralie A ausprobieren wollte. Er hatte seine Pflanzen in getrennten Gefäßen untergebracht, um mit jeder ein zeln experimentieren zu können. Anfangs hatte er kurz erwogen, ihnen poetischere Namen zu geben, doch schließlich hatte er sich für die ersten vier Buchstaben des Alphabets entschieden. »Wieso machst du so ein Gesicht?«, flüsterte er der Pflanze zärt lich zu und schloss den Deckel des Sprengers. »Hast du kein Ver trauen zu mir? Du solltest dir ein Beispiel an C nehmen. Schau nur, wie sie sämtliche Veränderungen m i t m a c h t . . . Veränderun gen, Kleines, gehören nun einmal dazu. Ich hoffe ja, dass wir zwei das von unserer Freundin C noch lernen.« Einen Moment lang fragte er sich, warum er solchen Blödsinn schwafelte. In letzter Zeit war er irgendwie niedergeschlagener als gewöhnlich. Vielleicht benötigte ja auch er einen neuen Dünger.
Er unterdrückte ein Grinsen. Verdammt noch mal, was sollte diese billige Psychologisiererei? Er hielt sich für einen glücklichen Menschen. Er unterrichtete gern und hatte eine Menge Freizeit, die er der Lektüre, der Pflanzenpflege u n d dem Lösen von Bil derrätseln widmete. Er hatte die beste Familie der Welt: Seine Eltern waren zwar schon alt u n d im Ruhestand, erfreuten sich jedoch noch guter Gesundheit. Er war seinen zwei Neffen ein vorbildlicher Onkel, die Kinder seines Bruders vergötterten i h n . Wer konnte schon von sich behaupten, dass er beides bekam: seine Ruhe u n d die Zuwendung der Familie? Na schön, er war allein, das stimmte w o h l . Aber dieser U m stand war mehr oder weniger selbst gewählt. Die Fäden seines Schicksals hielt allein er in der Hand. Wieso sich das Leben u n nötig schwer machen, indem er m i t einer Frau zusammenzog, die ihn doch nicht glücklich machte? M i t seinen vierunddreißig Jahren war er noch jung u n d hatte nichts an Optimismus einge büßt. Im Leben, so fand er, ging es vor allem darum, warten zu können: Eine Aralie entwickelte sich eben nicht in zwei M i n u ten, u n d eine Beziehung erst recht nicht. Außerdem spielte da bei der Zufall eine nicht geringe Rolle. Eines schönen Tages würde er jemanden kennen lernen, oder es riefe i h n jemand an, den er schon kannte ... »Und paff, ich würde wachsen wie C«, sagte er laut und lachte. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. A u f dem Weg zum Regal in seinem kleinen Wohnzimmer rät selte er, wer i h n da wohl anrief. Um diese späte Stunde war es wahrscheinlich sein Bruder, der ihn seit etlichen Monaten damit nervte, dass er die Abrechnungen seiner chirurgischen Privatkli nik durchsehen sollte. »Du bist doch das Mathegenie in der Fa milie. Es w i r d ja wohl nicht zu viel verlangt sein, dass du m i r ein wenig unter die Arme greifst oder ... ?« Luis Lo opera (sprich Luis, der Operateur - der alte Familienwitz) verließ sich nicht auf Computerprogramme u n d hätte daher gern gehabt, dass Victor seine Rechnungsbücher absegnete. Victor war es satt, i h m zu er klären, dass die Mathematik genauso ihre Fachgebiete kannte
wie die Chirurgie: Einer, der Drüsen entfernt, kann schließlich keine Herztransplantation vornehmen. U n d er war in der Phy sik der Elementarteilchen zu Hause, die nichts zu t u n hatte m i t Einnahmen u n d Ausgaben. N u n , eins stand fest: Wenn seinem Bruder mal etwas entfernt werden musste, dann die Drüse der Sturheit. Victor fischte den Telefonhörer aus einem Meer gerahmter Fotos: Bilder von seinen Neffen, seiner Schwester, seinen Eltern, von Teilhard de Chardin, vom Abt u n d Wissenschaftler Georges Lemaitre, von Einstein. Dann sagte er: »Ja?«, u n d unterdrückte ein Gähnen. »Victor? Ich bin's. Elisa.« Die Langeweile war wie weggeblasen oder verblasste wie ein Traum. »Hallo«, Victors Gedanken eilten m i t Volldampf voraus. »Wie geht es dir?« »Besser, danke ... Ich dachte erst, es wäre eine Allergie, aber jetzt glaube ich, ich bin einfach nur erkältet.« »Mensch ... da bin ich froh. Hast du die Nachricht gehört?« »Welche Nachricht?« »Dass M a r i n i gestorben ist.« »Ach so, ja, der Ärmste«, sagte sie bedauernd. »Du hast ihn doch mal in Zürich getroffen, oder?«, fing Victor wieder an. Doch Elisa unterbrach i h n , als hätte sie es eilig, zur Sache zu kommen. »Stimmt, hör mal, Victor. Ich rufe dich an, w e i l . . . « , sie lachte. »Du wirst sicher denken, dass das albern ist ... Aber für mich ist es sehr wichtig. Sehr wichtig. Verstehst du?« »Ja.« Er runzelte die Stirn und war gespannt wie ein Flitzbo gen. In Elisas Stimme schwangen Freude u n d Unbeschwertheit m i t . Und gerade das war es, was Victor alarmierte, denn er meinte sie zu kennen und wusste, dass ihre Stimme noch nie so geklun gen hatte. »Also, es geht um meine Nachbarin. Sie hat einen halbwüch sigen Sohn, ein netter K e r l . . . Und der hat plötzlich seine Leiden schaft für Bilderrätsel entdeckt. Er hat sich lauter Bücher u n d
Zeitschriften gekauft. Ich habe ihr erzählt, dass ich einen Crack auf diesem Gebiet kenne. N u n ist es so, dass er gerade an einem konkreten Rätsel knobelt u n d es einfach nicht herausbekommt. Er w i r d langsam ungehalten, u n d seine Mutter fürchtet schon, er könnte dieses Hobby aufgeben und weniger harmlose Interes sen entwickeln. Als sie das vorhin erwähnt hat, ist m i r eingefal len, dass ich genau das Bilderrätsel ja kenne, weil du es m i r mal gezeigt hast, aber ich komme nicht mehr auf die Lösung. U n d da habe ich gedacht: Ich brauche Hilfe. U n d außer Victor ist nie mand in der Lage, m i r zu helfen. Verstehst du?« »Natürlich. Welches meinst du denn?« Victor war nicht ent gangen, wie nachdrücklich Elisa die letzten Worte betont hatte. Ein Schauder erfasste i h n wie ein mysteriöses Wesen aus einer anderen Welt. War das nur Einbildung, oder wollte sie i h m zwi schen den Zeilen etwas mitteilen? »Das m i t dem Satzzeichen u n d dem Po ...« Sie brach in Ge lächter aus. »Du erinnerst dich doch, oder?« »Ja, es i s t . . . « »Hör mal«, schnitt sie i h m das Wort ab. »Es ist nicht nötig, dass du mich anrufst. Tu es einfach. Ich verlass mich auf dich«. Wie der dieses unvermittelte Lachen. »Auch die Mutter von dem Jun gen verlässt sich auf dich ... Danke, Victor. Tschüs.« Er hörte es in der Leitung klicken, dann war die Verbindung unterbrochen. Die Nackenhaare hatten sich i h m aufgestellt, als hätte der Hö rer i h m einen Stromschlag versetzt. So hatte er sich noch selten gefühlt. Die verschwitzten Hände rutschten v o m Lenkrad ab, der Puls ging immer schneller, er hatte ein Stechen in der Brust u n d den Eindruck, trotz größter Mühe nicht richtig durchatmen zu kön nen. Diese Empfindungen kannte Victor, sie stellten sich fast i m mer vor einem Rendezvous ein. Bei den wenigen Verabredungen m i t einem Mädchen, bei de nen er wusste oder ahnte, dass er m i t ihr im Bett landen könnte,
hatte er ähnliche Ängste ausgestanden wie jetzt. Leider oder Gott sei Dank hatten die Mädchen dann doch nie etwas in der A r t an gedeutet, so dass sie am Ende m i t einem Kuss oder einem >Ich r u f dich an< auseinander gegangen waren. U n d jetzt? In wessen Bett könnte er heute Abend landen? Schließlich hatte er heute ein Rendezvous m i t niemand Gerin gerem als Elisa Robledo. Wow. Er war natürlich schon bei ihr gewesen, schließlich waren sie Freunde oder hielten sich dafür, doch nie zuvor um eine solche Uhrzeit u n d fast immer in Begleitung eines Kollegen u n d m i t gutem Grund: eine Feier, Weihnachten, Semesterende, oder um gemeinsam ein Seminar vorzubereiten. Von einer Gelegenheit wie dieser träumte er, seit sie sich zehn Jahre zuvor auf einer u n vergesslichen Unifete an der Alighieri kennen gelernt hatten allerdings hatte er sich die so nicht vorgestellt. Eigentlich hätte er schwören können, dass es nicht w i r k l i c h Sex war, was er von Elisa erwartete. Der Gedanke brachte i h n zum Lachen, und das tat gut, es be ruhigte die Nerven. Er stellte sich Elisa in Slip u n d BH vor, wie sie ihn zum Empfang küsste und voller Sinnlichkeit sagte: >Hallo, Victor. Du hast die Botschaft verstanden. K o m m rein.< Das Ge lächter breitete sich in seinem Innern aus wie ein Ballon, der in seiner Magengegend aufgeblasen wurde, bis er platzte und Victor seinen gewohnten Gleichmut wiederfand. I h m gingen all die Dinge durch den Kopf, die er getan, gedacht oder sich zurecht fantasiert hatte, seit er vor einer Stunde jenen seltsamen A n r u f erhalten hatte: die Zweifel, das Zögern, die wiederholte Versu chung, sie zurückzurufen und um eine Erklärung zu bitten, ob wohl sie i h m zu verstehen gegeben hatte, das nicht zu t u n - u n d nicht zuletzt das Bilderrätsel, paradoxerweise das geringste Pro blem. Obwohl er sich gut an die Lösung erinnern konnte, hatte er sich den Zeitungsausschnitt in dem betreffenden A l b u m noch einmal angeschaut. Es war erst vor kurzem erschienen und be stand aus einem Satzzeichen, genauer einem Komma, daneben
einem Po, einer -5 u n d dem Hinweis, dass der erste u n d zweite Buchstabe zu vertauschen seien. Darunter stand die Frage: »Was soll ich tun?« Damals hatte er es in weniger als fünf M i n u t e n rausgehabt. Die dargestellten Worte waren: Komma u n d Arsch, beim ersten Wort sollte man den fünften Buchstaben streichen u n d beim zweiten die beiden ersten gegeneinander vertauschen. Die Lösung ließ keinen Zweifel zu: K O M M RASCH. Das war einfach. Die Aufregung, die Angst, die er verspürte, rührten nicht daher. Aber er fragte sich unwillkürlich, weshalb i h m Elisa nicht freiheraus gesagt hatte, dass er noch an diesem Abend zu ihr kommen sollte. Was war mit ihr los? Um Gottes w i l len, war vielleicht jemand bei ihr u n d bedrohte sie? Eine andere Möglichkeit beunruhigte i h n am meisten: Elisa war krank. U n d es gab eine letzte Deutung, zweifellos die beste, obwohl auch sie ihn nicht kalt ließ. Er stellte sich die Szene so vor: Er käme bei ihr an, sie öffnete i h m die Tür, und dann folgte dieses peinli che Gespräch: >Victor, was tust du hier?< - >Du hast mich gebeten zu kommen.< - >Ich?< - >Ja, ich sollte machen, was beim Bilderrät sel rauskommt.< - >Nein, also hör mal!< Sie würde sich vor Lachen ausschütten. >Ich habe zu dir gesagt, dass du das Bilderrätsel ma chen sollst. Womit ich meinte, du sollst es heute Abend lösen! < >Aber du hast mich doch gebeten, dich nicht anzurufen ... < - >Ja, um dir keine Umstände zu machen, ich wollte mich später bei dir melden. < Er würde an der Tür stehen und sich vorkommen wie ein Vollidiot, während sie ihn weiter auslachen würde. Nein. I r r t u m . Diese Szene war absurd. M i t Elisa stimmte etwas nicht. Etwas an ihr jagte i h m Angst ein. Eigentlich wusste er das seit Jahren: An Elisa war etwas, das i h m Angst machte. Diesen Verdacht hatte er schon immer gehabt. Wie alle zu rückhaltenden Menschen hatte auch Victor unfehlbare Senso ren für das, was ihn interessierte, und wenige Dinge interessier ten i h n auf dieser Welt mehr als Elisa Robledo Morande. Er
beobachtete sie beim Reden, beim Gehen, jede ihrer Bewegungen u n d dachte bei sich: Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Wie magnetisch folgten seine Blicke ihrem athletischen Körper, dem Wippen ihrer langen schwarzen M ä h n e , u n d er zweifelte keine Sekunde: Sie verbirgt ein Geheimnis. Er glaubte sogar zu wissen, seit wann sie dieses Geheimnis hatte. Aus der Zeit in Zürich. Victor bog in einen Kreisverkehr und weiter in die Calle Silvano. D o r t bremste er u n d begann, nach einer Parklücke Ausschau zu halten. Keine zu sehen. In einem abgestellten Auto entdeckte er einen M a n n am Steuer, der i h m durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er nicht die Absicht hatte wegzufahren. Er fuhr an Elisas Haus vorbei u n d suchte weiter. Plötzlich entdeckte er eine g r o ß e Parklücke. Er bremste und legte den Rückwärtsgang ein. In diesem Augenblick passierte es.
Kurz darauf fragte er sich, weshalb sich unser Gehirn in Extremsituationen so verhält. Denn als sie wie aus dem Nichts aufgetaucht war u n d auf der Beifahrerseite an die Scheibe geklopft hatte, war i h m nicht etwa ihr entsetzter Gesichtsausdruck aufgefallen, weiß wie ein Stück Käse im Mondlicht; nicht ihre A r t einzusteigen, regelrecht aufzuspringen, sobald er ihr die T ü r öffnete; u n d auch nicht die Miene, m i t der sie sich umdrehte und ihn anschrie: »Fahr los! Schnell bitte!« Genauso wenig, wie i h m das aufgebrachte Hupkonzert, verursacht durch sein brüskes Manöver, oder die Scheinwerfer, die im Rückspiegel aufblendeten, nicht das Reifenquietschen hinter i h m , bei dem i h m - seltsamerweise - das geparkte Auto m i t den erloschenen Scheinwerfern und dem M a n n hinter dem Lenkrad in den Sinn kam. Das alles erlebte er zwar, aber nichts davon überschritt die Schranke seines R ü c k e n m a r k s . Denn sein Gehirn, das Zentrum seines intellektuellen Lebens, registrierte nur eins.
Ihre Brüste. Elisa trug unter der Lederjacke ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, das sie offenbar einfach so gegriffen und übergezogen hatte. F ü r die kühlen Märznächte war es jedenfalls viel zu sommerlich. Darunter zeichnete sich die g r o ß a r t i g e Rundung ihrer Brüste so deutlich ab, als hätte sie keinen Büstenhalter an. Als er sich zum Fenster h i n ü b e r b e u g t e , um den Hebel h e r u n t e r z u d r ü c k e n , war sein Blick darauf gefallen. U n d jetzt, da sie neben i h m saß und i h m der Geruch ihrer Lederjacke und ihrer K ö r p e r l o t i o n in die Nase stieg, konnte er trotz seiner l ä h m e n d e n Angst nicht widerstehen, aus dem Augenwinkel ihre s ü ß e n , festen Brüste anzuschauen. Im Grunde fand er den Gedanken nicht übel, dass sein Gehirn nur auf diese Weise imstande war, seine aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot zu bringen, nachdem seine Freundin u n d Kollegin ins Auto gesprungen war, sich geduckt u n d i h m verzweifelt Anweisungen zugerufen hatte. In bestimmten Lebenslagen braucht ein Mann eben Halt, um nicht die Fassung zu verlieren, und er hatte sich an Elisas Brüsten festgehalten. Besser: Ich fixiere mich darauf, um mich zu beruhigen. » I s t . . . ist jemand hinter uns her?«, stammelte er, als sie nach Campo de las Naciones kamen. Sie drehte den O b e r k ö r p e r , um nach hinten zu schauen, und reckte i h m dabei ihren Busen entgegen. »Keine Ahnung.« »Wo soll ich jetzt hinfahren?« »Auf die Autobahn nach Burgos.« Sie sackte plötzlich in sich zusammen, und ihre Schultern zuckten in einem Weinkrampf. Es war ein schier untröstliches Schluchzen. Bei diesem Anblick verflüchtigte sich in Victors H i r n sogar das Bild ihrer Brüste. Niemals hatte er einen Erwachsenen so bitterlich weinen sehen. Er v e r g a ß alles, sogar die eigene Furcht, u n d sprach m i t einer Überzeugungskraft, die ihn selbst überraschte. »Elisa, bitte beruhige dich . . . H ö r mal: Du hast doch mich, immer schon. Ich werde dir helfen . . . ganz egal, was mit dir los ist, ich helfe dir. G r o ß e s Ehrenwort.«
Und m i t einem Mal hatte sie sich wieder in der Gewalt, nur schien i h m das wenig m i t seinem Treueschwur zu t u n zu haben. »Es tut m i r Leid, dass ich dich angelogen habe, Victor, ich konnte nicht anders. Ich habe so entsetzliche Angst, und die Angst macht mich rücksichtslos. Macht mich zu einem Arschloch.« »Sag das nicht, Elisa, ich ...« »Aber«, schnitt sie i h m das Wort ab und warf ihr langes Haar zurück, »ich w i l l keine Zeit m i t Entschuldigungen vergeuden.« Erst da bemerkte er das flache, lange Ding, das sie, eingewickelt in eine Plastiktüte, bei sich trug. Zwar konnte es alles M ö g liche sein, aber ihre A r t , es zu halten, beunruhigte i h n : M i t der rechten Hand umklammerte sie das eine Ende, w ä h r e n d die linke das andere kaum b e r ü h r t e .
Die beiden M ä n n e r , die gerade auf dem Flughafen Barajas gelandet waren, mussten durch keine Kontrolle und brauchten nirgends ihre Pässe vorzuzeigen. Sie benutzten eine separate Gangway. Unten wurden sie von einem Kleinbus erwartet. Der junge Mann am Steuer war höflich, gut erzogen und sympathisch. Er nutzte die Gelegenheit, um sein Abendschul-Englisch ein wenig zu üben. »In M a d r i d ist nicht so viel kalt, nicht wahr? Ich meine diese Jahreszeit.« »Ihr W o r t in Gottes O h r ! « , erwiderte gut gelaunt der Ältere der beiden, ein großer, schlanker Mann, der das schneeweiße, auf dem Kopf schüttere Haar länger trug. »Ich liebe M a d r i d . Ich komme, so oft ich kann.« »Sieht aus, als ob es in Mailand aber kalt ist«, sagte der Fahrer, der wusste, woher das Flugzeug gekommen war. »Stimmt. Vor allem regnet es viel«, erwiderte der ältere Herr und radebrechte dann in Spanisch: »Ist angenehm, schönes spanisch Wetter wieder zu haben.« Sie lachten beide. Der andere Mann, der Bullige, stimmte nicht ein. U n d nach dessen Aussehen und Gesichtsausdruck beim
Einsteigen zu urteilen beschloss er, dass i h m das auch fast lieber war. Die Frage war, ob der Kerl ü b e r h a u p t je lachte. Geschäftsleute, vermutete der Fahrer. Oder ein Geschäftsmann und sein Bodyguard. Der Bus hatte das Terminal umfahren. A u f der anderen Seite stand ein weiterer M a n n im dunklen Anzug. Er öffnete den Wagenschlag u n d trat zur Seite, um den beiden Platz zu machen. Der Kleinbus kehrte u m , u n d sein Fahrer sollte die beiden M ä n ner nie wiedersehen. Der Mercedes hatte getönte Scheiben. Als sie sich auf den breiten Ledersitzen niederließen, erhielt der ältere Herr einen A n r u f auf seinem Handy, das er kurz zuvor angeschaltet hatte. »Harrison«, sagte er. »Ja, ja. Warten Sie . . . Ich benötige noch weitere Daten. Wann ist es passiert? Wer ist das?« Er holte einen ausrollbaren Monitor aus der Manteltasche, d ü n n e r als der Stoff seines Trenchcoats, breitete ihn wie eine Serviette ü b e r die Knie und betätigte den Touchscreen, w ä h r e n d er weitersprach: »Ja. Ah so. Nein, nichts Neues, genau wie vorher. In O r d n u n g . « Aber als das Telefonat beendet war, schien gar nichts mehr in Ordnung zu sein. Er zog eine Grimasse u n d fixierte den flachen, leuchtenden M o n i t o r auf seinem S c h o ß . Der bullige M a n n drehte den Kopf vom Fenster weg und starrte ebenfalls auf den Bildschirm: Eine A r t Landkarte in Blau war darauf zu sehen m i t roten und g r ü n e n Punkten, die sich bewegten. »Wir haben ein P r o b l e m « , sagte der Weißhaarige.
»Ich weiß nicht, ob sie uns verfolgen«, bemerkte sie, »aber bieg lieber hier ein und fahr durch die Gassen von San Lorenzo. Die sind so verwinkelt, dass w i r sie vielleicht a b h ä n g e n k ö n n e n . « Victor tat wortlos, wie i h m geheißen. Er verließ die Autobahn und fuhr ü b e r die Parallelstraße zu dem labyrinthartigen Stadtviertel. Victors Auto war ein alter Renault Scenic ohne Bordcomputer u n d GPS, weshalb er bald die Orientierung verlor. Wie in
Trance las er die Straßenschilder: Dominicos, Franciscanos . . . die i h m in seinem überreizten Zustand vorkamen wie eine geheime göttliche Botschaft. U n d dann tauchte in seiner bangen Seele plötzlich eine Erinnerung auf: an die Zeit, als er Elisa in seinem alten Auto - dem ersten, das er sich nach seinem D i p l o m an der Alighieri gekauft hatte - m i t nach Hause nahm, weil sie zusammen einen Sommerkurs bei David Blanes belegt hatten. Das waren glückliche Zeiten gewesen. Inzwischen hatten die Dinge eine andere Wendung genommen: Sein Auto war noch älter, er unterrichtete an der Universität. Elisa war offensichtlich durchgedreht, mit einem Messer bewaffnet, und sie flohen gemeinsam vor einer unbekannten Gefahr. Genau das ist Leben, überlegte er. Die Dinge ändern sich. Dann vernahm er das Rascheln der Plastiktüte und sah, dass sie das Messer zur Hälfte aus der Verpackung gezogen hatte. Funkelnd spiegelten sich die S t r a ß e n l a t e r n e n in der Klinge aus rostfreiem Stahl. Er s p ü r t e , wie i h m das Herz stehen blieb. Schlimmer, wie es zerrann und sich in die Länge zog wie ein durchgekauter Kaug u m m i , Vorhof und Hauptkammern verklumpten zu einer einzigen Masse. Sie ist wahnsinnig geworden, brüllte ihn sein gesunder Menschenverstand an. Und du hast dich darauf eingelassen, sie in deinem Auto mitzunehmen, wohin sie will. Morgen früh w ü r d e sein Wagen irgendwo im S t r a ß e n g r a b e n aufgefunden werden - m i t i h m . Was sie i h m wohl antun würde? I h n köpfen, wenn er die G r ö ß e der Waffe bedachte. Sie w ü r d e i h m den Hals abschneiden und ihn, wenn er Glück hatte, vorher küssen. >Ich habe dich immer geliebt, Victor, und es dir nie gesagt.< Dann, rrrzzzhhh, w ü r d e er das G e r ä u s c h des Messers an seiner Halsschlagader h ö r e n , noch bevor er den Schmerz s p ü r t e , u n d die scharfe Klinge w ü r d e seine Kehle perfekt m i t einem glatten Schnitt durchtrennen. Egal. Sie ist krank, und ich muss versuchen, ihr zu helfen. Er bog in eine andere S t r a ß e ein, wieder die Dominicos. Sie fuhren im Kreis herum wie die Gedanken in seinem Kopf.
»Und jetzt?« »Ich glaube, w i r k ö n n e n z u r ü c k auf die A u t o b a h n « , sagte sie. » R i c h t u n g Burgos. Wenn sie immer noch hinter uns her sind, kann ich es auch nicht mehr ä n d e r n . Ich brauche nur etwas Zeit.« Wozu?, fragte er sich. Um mich umzubringen? Aber dann sagte sie es von sich aus: »Um dir alles zu erzählen.« Sie machte eine Pause und fügte dann hinzu. »Victor, glaubst du an das Böse?« »An das Böse?« »Ja, du bist doch Theologe, glaubst du an das Böse?« »Ich b i n kein Theologe«, flüsterte Victor ein wenig gekränkt. »Ich lese nur einiges.« Es stimmte, dass er ursprünglich vorgehabt hatte, sich offiziell für Theologie einzuschreiben, dann die Idee aber wieder aufgegeben u n d beschlossen hatte, seine Studien auf eigene Faust d u r c h z u f ü h r e n . Er las Barth, Bonhoeffer und Küng. Das hatte er Elisa erzählt, und unter anderen U m s t ä n d e n h ä t t e es i h m geschmeichelt, dass sie ihn darauf ansprach. Aber in diesem M o ment sah er darin nur eine Bestätigung für seine Hypothese über ihren Geisteszustand. »Wie auch i m m e r « , beharrte sie. »Glaubst du, dass das Böse a u ß e r h a l b der Reichweite unserer wissenschaftlichen Erkenntnis existiert?« Victor wog seine Worte sorgfältig ab. »Es gibt ü b e r h a u p t nichts a u ß e r h a l b unserer wissenschaftlichen Erkenntnis, bis auf den Glauben. Meinst du den Teufel?« Sie antwortete nicht. Victor hielt an einer Kreuzung und steuerte dann wieder auf die Autobahn, wo er im Geiste sehr viel mehr beschleunigte, als sein Gaspedal hergab. »Ich b i n katholisch, Elisa. Ich glaube, dass . . . es eine übernatürliche Macht des Bösen gibt, die von der Wissenschaft nicht erklärt werden kann.« Nach diesem Geständnis rechnete er m i t allem und fragte sich schon, ob er ihr in die Falle gegangen war. Wie sollte er ahnen,
was jemand wissen wollte, der den Verstand verloren hatte? Ihre Antwort verwirrte ihn. »Ich freue mich, dass du das sagst, weil du dann eher glauben wirst, was ich dir gleich erzählen w i l l . Ich weiß nicht, ob es etwas mit dem Teufel zu tun hat, aber es geht um das Böse. Ein furchterregendes, unfassbares Böses, das von der Wissenschaft nicht erklärt werden kann ...« Einen Augenblick lang schien es, als w ü r d e sie erneut in T r ä n e n ausbrechen. »Du hast ja keine A h nung! Du weißt nicht, wie furchtbar böse es ist, Victor! Ich habe noch m i t niemandem d a r ü b e r geredet, das hatte ich geschworen. Aber jetzt halte ich es nicht mehr aus. Ich brauche Unterstützung und habe dich g e w ä h l t . . . « Am liebsten hätte er ihr wie der Held in einem Film geantwortet: »Das hast du richtig gemacht!« Er mochte keine Spielfilme, aber in diesem Moment hatte er den Eindruck, einen Horrorfilm mitzuerleben. Allerdings brachte er kein Wort heraus. Er zitterte. Und zwar richtig. Das war kein inneres Erschauern, kein K r i b beln, sondern ein deutliches Zittern. Die H ä n d e hielten das Steuer umklammert und die Arme bebten, als befände er sich unbekleidet mitten in der Antarktis. M i t einem Mal meldeten sich Zweifel an Elisas Wahnsinn. Ihre Worte machten, dass er sich allein beim Zuhören fürchtete. Und ihm wurde klar, dass das viel schlimmer war, als wenn sie den Verstand verloren hätte. Die Vorstellung, Elisa k ö n n t e wahnsinnig sein, war zwar beängstigend, das schon, aber ihre Besonnenheit war etwas, wovon Victor noch nicht wusste, ob er es ertragen k ö n n t e . »Ich bitte dich nur darum, m i r zuzuhören«, fuhr sie fort. »Es ist fast elf U h r abends. W i r haben genau eine Stunde Zeit. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du m i r danach ein Taxi rufen w ü r dest, ich meine, falls du beschließt, mich ... nicht zu begleiten.« Er sah sie an. »Ich muss heute Nacht um halb eins zu einer sehr wichtigen Versammlung. Ich darf da nicht fehlen. Du kannst selbst entscheiden.« »Ich komme mit.« »Nein ... warte, bis du mich a n g e h ö r t hast.« Sie seufzte tief.
»Danach kannst du mich m i t einem F u ß t r i t t aus deinem Auto befördern, Victor. Und das Ganze wieder vergessen. Ich schwöre dir, dass ich es dir nicht übel nehmen werde.« »Das . . . « , flüsterte Victor und hüstelte. »Das werde ich auf keinen Fall tun. Na los, erzähl es mir. Alles.« »Es begann vor zehn Jahren«, sagte sie. Da traf Victor die blitzartige Erkenntnis: Sie erzählt mir die Wahrheit. Sie ist nicht wahnsinnig. Was sie mir erzählt, ist die reine Wahrheit. »Es war auf der Fete, damals im Sommer 2005, als wir beide uns kennen gelernt haben, weißt du noch?« »Die Semestereröffnungsfete an der U n i Alighieri?« Wo sie mich und Ric kennen gelernt hat, dachte er. »Ich kann mich gut daran erinnern, aber ... auf der Fete war doch nichts ...« Elisa starrte i h n aus weit geöffneten Augen an. Ihre Stimme bebte: »Victor, auf dem Fest hat alles angefangen.«
II. DER ANFANG
W i r sind alle sehr unwissend, aber bei jedem ist es etwas anderes, was er nicht weiß. Albert Einstein
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Madrid 21. Juni 2005 18.35 Uhr Es war ein verunglückter Nachmittag. Elisa hätte fast den letzten Bus nach Soto del Real verpasst, weil ihre Mutter sie mal wieder in eins dieser absurden Gespräche ü b e r ihr unordentliches Z i m mer verwickelt hatte. Als sie die Haltestelle erreichte, fuhr der Bus gerade los, und sie begann zu laufen. Dabei verlor sie einen ihrer ausgetretenen Turnschuhe, so dass sie dem Busfahrer ein Zeichen machen musste, auf sie zu warten. Prompt musterten er und die anderen Fahrgäste sie beim Einsteigen m i t vorwurfsvollen Blicken. Allerdings konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es weniger wegen der von ihr um Sekunden verzögerten Abfahrt geschah. Die auf sie gerichteten Augenpaare galten vielmehr ihrem Aufzug. Sie trug ein T r ä g e r h e m d m i t Schmutzr ä n d e r n und eine zerrissene, an mehreren Stellen durchgewetzte Jeans. A u ß e r d e m war ihr Haar sichtlich ungepflegt - ein E i n druck, der durch die Länge noch verstärkt wurde - und hing ihr in Zotteln bis zur Taille. Damit zog sie die Blicke auf sich, was den Leuten nicht zu verdenken war. Doch ihr nachlässiges Ä u ßeres war keineswegs Programm. Sie war einfach in den letzten Monaten einem ungeheuren Druck ausgesetzt gewesen, wie ihn nur Studenten kurz vor den Abschlussexamina kennen, und hatte kaum Zeit zum Essen oder Schlafen gefunden, geschweige denn, um auf ein passables Aussehen zu achten. Zudem hatte sie ihrem eigenen Erscheinungsbild oder dem anderer noch nie son-
derlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es kam ihr vollkommen idiotisch vor, dem ä u ß e r e n Anschein irgendeine Bedeutung beizumessen. Der Bus hielt vierzig Kilometer von M a d r i d entfernt, an einer w u n d e r s c h ö n e n Stelle in der N ä h e des Gebirges La Pedriza, und Elisa ging den geteerten, von Hecken und M a n d e l b ä u m e n ges ä u m t e n Fußweg zur Sommeruni der Alighieri hinauf, ohne zu ahnen, dass dieselbe Einrichtung sie zwei Jahre später als Dozent i n einstellen w ü r d e . Das Schild am Eingang wurde von einem groben Profil des Poeten Dante und einem seiner Verse geziert: L'acquea ch'ioprendogiä mai non si corse. Im Vorlesungsverzeichnis hatte Elisa die Ü b e r s e t z u n g nachgelesen, denn ihr Fremdsprachenrepertoire b e s c h r ä n k t e sich aufs Englische, das sie allerdings perfekt beherrschte. »Das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren.« Es war das Motto der Universität, und sie fand es für sich besonders passend, denn der Kurs, an dem sie teilnehmen w ü r d e , war weltweit einzigartig. Sie ü b e r q u e r t e den Parkplatz und gelangte auf den H o f z w i schen den S e m i n a r g e b ä u d e n . D o r t hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die einem Redner auf einem Podest lauschte. So gut es ging, bahnte Elisa sich ihren Weg durch die Reihen bis ganz nach vorn, ohne ein bekanntes Gesicht zu entdecken. »... alle Studenten willkommen heißen und auch . . . « , sagte in jenem Moment der kahlköpfige Herr im Leinenanzug und blauen Hemd ins Mikrofon - sicher der Kursleiter, weil er mit der t y p i schen Haltung dessen dastand, der von seiner Wichtigkeit ü b e r zeugt ist und weiß, dass man i h m z u h ö r e n muss. Plötzlich flüsterte jemand neben ihr: »Verzeihung . . . bist du zufällig Elisa Robledo?« Sie sah sich um und entdeckte John Lennon. Das heißt, einen der u n z ä h l i g e n Lennons, welche die Universitäten dieser Welt bevölkern. Der Klon vor ihr trug die unerlässliche Nickelbrille und das Haar lang. Er sah Elisa fest an und war so knallrot geworden, als w ü r d e sich eine E n t z ü n d u n g ü b e r Hals und Gesicht ausbreiten. Als sie nickte, entspannte sich der junge Mann sicht-
lich und wagte mit seinen schmalen Lippen ein schüchternes Lächeln. »Du stehst ganz oben auf der Liste derjenigen, die zu Blanes' Kurs zugelassen sind ... Glückwunsch.« Elisa dankte i h m , obwohl sie das natürlich schon wusste. »Ich habe als Fünfter die Zusage bekommen. Ich heiße ü b r i gens Victor Lopera und komme von der U n i Complutense. Du bist auf der Autonomen, oder?« »Ja.« Dass jemand sie kannte, war ihr nicht neu, schließlich tauchten ihr Name und ihr Bild m i t einiger Regelmäßigkeit in den Publikationen der Universität auf. Ihr >Ruhm< als Beste war ihr gleichgültig, er s t ö r t e sie sogar, obwohl er das Einzige zu sein schien, was ihre Mutter an ihr schätzte. »Ist Blanes schon da?«, fragte sie ihrerseits. »Offenbar ist er verhindert.« Elisa verzog fragend das Gesicht. Er sei zu irgendeiner b l ö d s i n n i g e n Veranstaltung gegangen, und zwar ausschließlich, um dem theoretischen Physiker, den er neben Stephen Hawking am meisten bewunderte, einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Der Kursbeginn bei besagtem Blanes werde also auf den nächsten Tag verschoben. Elisa überlegte gerade, ob sie gleich gehen oder noch bleiben sollte, als Lennon-Lopera wieder das Wort ergriff: »Ich freue mich, dass w i r zusammen in dem Kurs sind.« Dann hüllte er sich erneut in Schweigen. Er schien jedes Mal lange nachzudenken, ehe er etwas von sich gab. Elisa nahm an, dass er schüchtern war oder Schlimmeres. Sie wusste nur zu gut, dass die meisten herausragenden Physikstudenten ein wenig wunderlich waren, sie selbst eingeschlossen. Elisa erwiderte höflich, die Freude sei ganz auf ihrer Seite, und wartete. Nach einer weiteren Pause sagte Lopera: »Siehst du den da, mit dem violetten Hemd? Er heißt Ricardo Valente, aber alle nennen ihn Ric. Er ist als Zweiter zum Kurs zugelassen worden. Er war ... W i r sind befreundet.«
Aha. Elisa konnte sich an den Namen gut erinnern, weil sie ihn auf der Liste m i t den P r ü f u n g s e r g e b n i s s e n direkt unter ihrem gelesen hatte und weil er ungewöhnlich war: >Valente Sharpe, Ricardo: 9,85<. Sie hatte 9,89 von 10 Punkten erreicht, so dass sie nur vier Hundertstel auseinander lagen. Auch das war ihr aufgefallen. Aha, das ist also dieser Valente Sharpe. Er war ein schlaksiger junger M a n n m i t strohblondem Haar u n d Adlerprofil. Wie alle andern schien er aufmerksam den Worten des Redners zu lauschen, aber Elisa entging nicht, dass er sich aus der Masse der Studenten hervorhob. Zu dem violetten H e m d trug er schwarze Hosen u n d ein Sakko, was in einer von T-Shirts und verwaschenen Jeans dominierten Welt die Ausnahme war. Zweifellos hielt er sich für etwas besonderes^ Willkommen im Club, Valente Sharpe, dachte sie provozierend. Im selben Moment wandte der junge M a n n den Kopf und sah sie an. Er hatte a u ß e r g e w ö h n l i c h e b l a u g r ü n e Augen, aber sein Blick war eher kalt und unangenehm. Wenn er auf Elisa aufmerksam geworden war, so ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. »Bleibst du zum Fest?«, fragte Lopera, als Elisa Anstalten machte zu gehen. »Ich weiß nicht.« »Okay ... bis später vielleicht.« Eigentlich wollte sie so schnell wie möglich weg, aber eine gewisse Trägheit ließ sie noch verweilen, w ä h r e n d ein kurzer A p plaus von der Rede zur Musik überleitete u n d die Studenten zum G e t r ä n k e s t a n d auf dem Gelände unterhalb des Vorplatzes s t r ö m t e n . Da sie schon die lange Busfahrt auf sich genommen hatte, um herzukommen, sagte sie sich, sollte sie wenigstens noch eine Weile dableiben, obwohl sie befürchtete, dass die Veranstaltung sich zu einer dieser üblichen langweiligen Feten entwickeln k ö n n t e . Sie ahnte noch nichts von dem Grauen, das an jenem Nachmittag seinen Anfang nehmen sollte. An der Theke klebten die typischen witzigen Plakate der Stu-
denten aus den verschiedenen Fachbereichen der Naturwissenschaften. Das der Physiker war nicht bebildert und zeigte nur ein paar Sätze in G r o ß b u c h s t a b e n : THEORIE HEISST ZU WISSEN, W A R U M DIE D I N G E F U N K T I O N I E R E N , O B W O H L SIE N I C H T FUNKTIONIEREN. I M FACHBEREICH PHYSIK A N DIESER U N I GEHEN THEORIE U N D PRAXIS H A N D I N H A N D , W E I L NICHTS F U N K T I O N I E R T U N D N I E M A N D WEISS W A R U M . Elisa a m ü s i e r t e sich ü b e r diese intellektuelle Pirouette. Sie hatte sich eine Cola light besorgt und hielt den Becher m i t einer Serviette in der Hand, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen, wo sie sich niederlassen konnte. Anschließend wollte sie gehen. Von weitem sah sie Victor Lopera m i t seinem Freund, dem u n säglichen Valente Sharpe, und anderen Studenten ins Gespräch vertieft. Sie v e r s p ü r t e keinen Drang, sich dem erlauchten Kreis a n z u s c h l i e ß e n , später wäre noch genug Gelegenheit. Sie stieg v o m Wall und wählte auf dem Rasen eine Kiefer, unter die sie sich setzte. Von dort beobachtete sie, wie sich der H i m m e l rötete und die runde Scheibe des Mondes am Horizont aufstieg. Sie betrachtete ihn, w ä h r e n d sie in kleinen Schlucken trank. Der Trabant hatte seit ihrer Kindheit eine solche Anziehungskraft auf sie, dass sie Astronomin hatte werden wollen, bis sie herausfand, dass reine Mathematik unendlich viel reizvoller war. Die Mathematik war etwas Fassbares, etwas Konkretes, der M o n d jedoch nicht. Den M o n d konnte sie nur bewundern. »Die Urvölker hielten ihn für eine Göttin. Die heutige Wissenschaft findet nicht mehr so s c h ö n e Worte.« Als die Stimme an ihr Ohr drang, wurde ihr ü b e r r a s c h e n d bewusst, dass sie nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend von einem Unbekannten angesprochen wurde. W ä h r e n d sie sich umdrehte, um den Sprecher anzusehen, gab ihr Gehirn blitz-
schnell eine Vermutung ü b e r die wahrscheinlichste - die am meisten erhoffte? - Möglichkeit ab. Aber es irrte. Es war nicht >Vier-Hundertstel-Weniger-Valente-Sharpe< - wieso auch? -, sondern ein anderer junger Mann, g r o ß und gut aussehend, m i t dunkelblondem Haar und hellen Augen. Er trug ein T-Shirt ü b e r khakifarbenen Bermudas. »Ich meine den M o n d . Du hast ihn eben seltsam intensiv angeschaut.« Er hatte einen Rucksack dabei, den er neben ihr abstellte. Dann streckte er ihr die Hand h i n : »Javier Maldonado. Wenn dies der M o n d ist, musst du Elisa Robledo sein. Dein Foto ist m i r in der F a k u l t ä t s z e i t u n g aufgefallen, und jetzt treffe ich dich hier. Na, das nenne ich einen glücklichen Zufall. Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?« Ja, es machte ihr etwas aus, denn der Typ hatte sich bereits neben ihr niedergelassen und war ihr so dicht auf die Pelle gerückt, dass sie ein Stück zur Seite weichen musste, damit seine Trekkingsandalen sie nicht b e r ü h r t e n . Trotzdem erwiderte sie im gleichen Moment: »Nein«, und ärgerte sich ü b e r sich selbst. Der junge M a n n holte ein paar Unterlagen aus dem Rucksack. Die Methode, m i t ihr a n z u b ä n d e l n , war neu. »Ich habe mich durch die H i n t e r t ü r hier reingeschlichen«, gestand Maldonado m i t einem verschmitzten Lächeln. »Eigentlich g e h ö r e ich gar nicht zu den Naturwissenschaften. Ich studiere Publizistik an der A l i g h i e r i , und w i r m ü s s e n als Semesterabschlussarbeit eine Reportage schreiben. Genauer gesagt, soll ich Studenten im letzten Physiksemester interviewen: Du weißt schon, Fragen stellen ü b e r ihr Leben, ihr Studium, ihre Freizeitaktivitäten, ihr Sexualleben ...« I h m schien Elisas ironischer Blick nicht entgangen zu sein, denn er stockte. »Entschuldige, ich b i n ein Idiot. Es ist eine ernsthafte Befragung, ehrlich.« Er hielt ihr die Unterlagen hin. »Ich habe m i r euch nur ausgesucht, weil ihr ber ü h m t seid.« »Uns?« »Die Studenten vom Blanes-Kurs. H ö r mal, es heißt von euch, ihr wärt die Creme de la Creme in der Physik. W ü r d e es dir was
ausmachen, m i r angehendem Journalisten ein paar Fragen zu beantworten?« »Eigentlich wollte ich gerade los.« Unverzüglich warf sich Maldonado m i t s p a ß i g e m Pathos auf die Knie. »Ich flehe dich an . . . Bisher konnte ich noch niemanden dazu ü b e r r e d e n mitzumachen. Aber ich brauche die U m frage für meine Reportage, sonst w i r d mich nicht einmal ein Verlag für Groschenromane als Redakteur nehmen. U n d später werde ich dann zum Abgeordnetenhaus geschickt u n d soll Politiker interviewen. Hab Mitleid m i t mir. Ich schwöre dir, dass es nicht viel Zeit in Anspruch nehmen wird.« Elisa sah m i t einem Lächeln auf die U h r u n d erhob sich. »Tut m i r Leid, aber der letzte Bus nach M a d r i d fährt in zehn M i n u ten, und den darf ich nicht verpassen.« Maldonado stand ebenfalls auf u n d blickte sie betont hinterlistig an. Elisas fand i h n keineswegs unattraktiv, u n d sein Gesichtsausdruck amüsierte sie. Bestimmt hält er sich für unwiderstehlich. »Na, was meinst du? Lass uns doch eine Abmachung treffen: Du beantwortest m i r meine Fragen, u n d ich nehme dich dafür im Auto mit. Ich bringe dich bis vor die Haustür, Ehrenwort.« »Danke,aber...« »Du willst nicht, war ja klar. Verstehe schon. Schließlich haben w i r uns gerade erst kennen gelernt. Also gut, mal sehen, ob du den Vorschlag besser findest: Heute stelle ich dir nur ein paar Fragen, und du entscheidest, ob w i r ein andermal weitermachen, einverstanden? Ich brauche nicht länger als fünf Minuten. Dann schaffst du's noch rechtzeitig zum Bus.« Elisa lächelte h i n - u n d hergerissen. Sie wollte gerade zustimmen, da kam ihr Maldonado wieder zuvor. »Gut, du bist einverstanden, nicht wahr? Los.« Er deutete auf dieselbe Stelle, wo sie eben noch gesessen hatten. Ich kann mir ruhig fünf Minuten Zeit nehmen und mir seine Fragen anhören, sagte sie sich. Tatsächlich h ö r t e sie i h m sehr viel länger zu und redete selber
noch mehr. Was sie allerdings nicht Maldonado zum V o r w u r f machen konnte, da er sich als nett und aufmerksam erwies und sie keineswegs zum Narren hielt. Er machte sie sogar zu gegebener Zeit darauf aufmerksam, dass die fünf Minuten um seien. »Wollen wir aufhören?«, fragte er. Elisa zögerte. Die Vorstellung, dieses paradiesische Fleckchen hier d r a u ß e n auf dem Land zu verlassen und sich in dem grässlichen Autobus wieder z u r ü c k in die Stadt zu begeben, behagte ihr gar nicht. Hinzu kam, dass sie in den vergangenen Monaten nur mit sich beschäftigt gewesen war. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihr der Austausch mit anderen Menschen j u n g e n M ä n nern zumal, gefehlt hatte. Noch dazu schien er nicht nur die hervorragende Studentin oder das attraktive M ä d c h e n in ihr zu sehen, sondern sie als Person wahrzunehmen. »Ich habe noch ein wenig Zeit«, antwortete sie deshalb. Kurz darauf unterbrach Maldonado seine Befragung noch einmal und erinnerte sie an ihren Bus. Ihr gefiel diese Umsicht, doch sie bat ihn, ruhig weiter zu fragen. Dabei ließ er es bewenden. Elisa fühlte sich sehr wohl bei dem G e s p r ä c h . Sie stand i h m Rede und Antwort, ü b e r G r ü n d e für ihre Berufswahl als Physikerin, ü b e r die Stimmung an der Fakultät, über ihren unstillbaren Wissensdurst, wenn es um die Natur der Dinge ging . . . Maldonado ließ ihr g e n ü g e n d Raum zum Antworten, w ä h rend er sich Notizen machte. An einer Stelle bemerkte er: »Du passt so gar nicht in das Bild, das ich von Naturwissenschaftlern habe. Ü b e r h a u p t nicht.« »Und welches Bild hast du von Naturwissenschaftlern?« Maldonado dachte nach. »Alles unattraktive Typen.« » D a n n lass dir gesagt sein, dass auch ganz ansehnliche Exemplare darunter sind, und sogar F r a u e n « , lächelte sie. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern fuhr fort: »Noch etwas irritiert mich an dir. Du hast die beste Abschlussarbeit geschrieben, dir wurde ein Doktoratsstipendium an der besten U n i der Welt garantiert, du hast eine strahlende berufliche Zukunft
vor dir ... u n d nicht zu vergessen: Du hast dein Studium beendet. Du k ö n n t e s t also ... keine A h n u n g , zwanzig Stunden am Stück schlafen, die Alpen zu F u ß ü b e r q u e r e n oder sonst etwas . . . Aber trotzdem hattest du nichts Besseres zu tun, als dich für eine b l ö d e A u f n a h m e p r ü f u n g anzumelden, um als einer von zwanzig Teilnehmern bei David Blanes in diesen zweiwöchigen Kurs zu kommen. Ich will damit sagen, dass dieser Blanes was Besonderes zu sein scheint.« »Und wie.« Elisas Augen leuchteten auf. »Er ist ein Genie.« Maldonado machte sich eine Notiz. »Kennst du i h n p e r s ö n lich?« »Nein, aber ich bewundere seine Arbeit.« »Er hat sich's m i t den meisten staatlichen Unis in unserem Land verscherzt, wusstest du das? I m m e r h i n musste er seinen Kurs an einer Privatuni anbieten.« »Neider findest du überall«, gab Elisa zu. »In der wissenschaftlichen Welt ist das besonders schlimm. Andererseits muss Blanes als Mensch schon speziell sein.« »Würdest du gerne deine Doktorarbeit bei i h m schreiben?« »Glaube schon.« »Und weiter?«, fragte Maldonado. »Wie?« »Ich habe dich gefragt, ob du gerne deine Doktorarbeit bei i h m schreiben würdest, u n d du hast geantwortet: Glaube schon. Mehr hast du nicht dazu zu sagen?« »Was soll ich dazu sagen? Du hast m i r eine Frage gestellt, u n d ich habe sie beantwortet.« »Das ist genau das Problem m i t euch Physikern«, beschwerte sich der junge M a n n und notierte etwas. »Ihr nehmt jede Frage wörtlich. Was ich wissen will, ist, was Blanes denn zu bieten hat, dass alle so hinter i h m her sind. Also . . . Ich w e i ß , i h m eilt der Ruf voraus, verflucht schlau zu sein, ein Kandidat für den Nobelpreis, und wenn er den b e k ä m e , dann wäre er der erste spanische Nobelpreisträger in Physik, seit es diesen Scheißpreis gibt. Das alles w e i ß ich. Aber w o r u m geht es i h m , verstehst du? Sein Kurs
schimpft sich . . . « E r warf einen Blick in seine Unterlagen u n d las stockend: »>Topologie der Zeit-Strings in der sichtbaren elektromagnetischen Strahlung< . . . Offen gestanden, sagt m i r das nicht viel.« »Soll ich dir in ein paar Sätzen die ganze theoretische Physik erklären?«, lachte Elisa. Maldonado schien das Angebot ernst zu nehmen. »Ich b i n ganz O h r « , sagte er. »Also, g u t . . . Ich will versuchen, mich kurz zu fassen.« Elisa war immer mehr in ihrem Element. Sie konnte sich ebenso für die Vermittlung von Wissen begeistern wie für das eigene Verstehen. »Kennst du die Relativitätstheorie?« »Ja, von Einstein. >Alles ist relativ<, oder?« »Das hat nicht Einstein gesagt, aber ist ja egal«, lachte Elisa. »Die Relativitätstheorie ist ein wenig komplizierter. Aber worauf ich hinauswill, ist, dass sie auf fast alle Situationen zutrifft, nur nicht auf die Welt der Atome. A u f die trifft eine andere Theorie zu, die Quantentheorie. Das sind die vollkommensten geistigen Schöpfungen, die der Mensch je hervorgebracht hat: M i t diesen beiden Theorien lässt sich fast die ganze Wirklichkeit erklären. Das Problem ist nur, dass w i r dafür beide benötigen. Was auf der Ebene der einen gilt, stimmt nämlich nicht auf der Ebene der anderen und umgekehrt. Das ist ein Riesenproblem. Seit vielen Jahren versucht die Physik die beiden Theorien in eine einzige zusammenzufassen. Kannst du m i r folgen?« »Ja, das ist so ähnlich wie bei unseren beiden großen Volksparteien, oder?«, wagte Maldonado eine eigene These. »Jede hat ihre Schwächen, aber einig werden sie sich nie.« »So ungefähr. Nun, eine der Theorien m i t den besten Voraussetzungen, die beiden unter einen Hut zu bringen, ist jedenfalls die String-Theorie.« »Sieh mal an. Davon habe ich ja noch nie was g e h ö r t . Wie nennst du das? String?« »Ja, sie h e i ß e n auch Superstrings. Es ist eine hochkomplexe mathematische Theorie, aber sie besagt etwas sehr Simples ...«
Elisa schaute sich suchend u m , dann nahm sie die Papierserviette von ihrem Becher. Sie faltete sie in der M i t t e , w ä h r e n d sie weitersprach, und strich mit ihren langen schlanken Fingern den Falz glatt. Maldonado beobachtete sie aufmerksam. »Die StringTheorie besagt, dass die Elementarteilchen, aus denen das Universum besteht, du weißt doch, Elektronen, Protonen . . . dass alle diese Elementarteilchen und auch die kleineren Teilchen, aus denen sie bestehen, keine Kügelchen sind, wie w i r in der Schule gelernt haben, sondern lang wie Schnüre, Strings eben.« »Wie S c h n ü r e . . . « , nahm Maldonado den Gedanken auf. »Ja, ganz feine Schnüre, denn sie haben nur eine Dimension: die Länge. M i t einer Besonderheit allerdings.« Elisa hielt die Serviette m i t der gefalteten Kante Maldonado vor die Nase. »Sag mir, was du siehst?« »Eine Serviette.« »Das ist das Problem mit euch Journalisten: Ihr verlasst euch zu sehr auf den Schein.« Elisa grinste spöttisch. »Vergiss, was du dir darunter vorstellst und sag m i r stattdessen, was du siehst.« Maldonado k n i f f die Augen zusammen und musterte die schmale Kante, die Elisa i h m hinhielt. »Ein . . . eine Linie . . . eine Gerade ...« »Sehr gut. Aus deinem Blickwinkel k ö n n t e es eine Schnur sein, stimmt's? Ein Faden. N u n , die Theorie besagt, dass die Schnüre, die Strings also, aus denen die Materie besteht, nur wie S c h n ü r e aussehen, wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Aber von einem anderen Punkt aus ...« Elisa drehte die Serviette vor Maldonados Augen und kehrte i h m die rechteckige Vorderseite zu. » . . . verbergen sich dahinter andere Dimensionen, und wenn w i r sie auswickeln oder >öffnen< k ö n n t e n ...« Sie faltete die Serviette auseinander, so dass sie ein Quadrat bildete, » . . . dann k ö n n t e n w i r noch weitaus mehr Dimensionen sehen.« »Das ist ja 'n Ding!« Maldonado schien beeindruckt oder konnte das jedenfalls gut spielen. » U n d sind die Dimensionen schon entdeckt worden?« »Wo denkst du hin?« Elisa zerknüllte die Serviette und steckte
sie in den Becher. » U m einen subatomaren String zu öffnen, brauchte man Apparate, die es noch gar nicht gibt: Teilchenbeschleuniger m i t einer ungeheuren Leistung. Genau hier setzt Blanes m i t seiner Theorie an. Er behauptet n ä m l i c h , dass sich bestimmte Schnüre m i t wesentlich geringerem Energieaufwand öffnen lassen: zum Beispiel die der Zeit. Blanes hat mathematisch nachgewiesen, dass die Zeit aus Strings besteht wie die ü b rige materielle Welt auch. Und die Zeit-Strings lassen sich durchaus m i t den vorhandenen Beschleunigern öffnen. Die Sache ist nur, dass das Experiment ä u ß e r s t schwierig d u r c h z u f ü h r e n ist.« » U n d was h i e ß e das auf der praktischen Ebene ...?« Maldonado schrieb angestrengt mit. »Das w ü r d e doch bedeuten . . . in der Zeit zu reisen? In die Vergangenheit?« »Nein, Zeitreisen in die Vergangenheit sind reine Science-Fict i o n . Sie sind nach den Gesetzen der Physik u n m ö g l i c h . Tut m i r Leid, aber es gibt kein Z u r ü ck . Die Zeit kann sich nur vorwärts bewegen, der Zukunft entgegen. Aber wenn Blanes m i t seiner Theorie richtig liegt, dann gäbe es noch eine andere Möglichkeit. Dann k ö n n t e n w i r nämlich die Zeit-Strings öffnen u n d die Vergangenheit sehen.« »Die Vergangenheit sehen? Du m e i n s t . . . Napoleon u n d Julius Cäsar? Das klingt nun wirklich nach Science-Fiction, werte Kommilitonin.« »Da täuschst du dich. Es ist durchaus möglich.« Sie warf i h m einen belustigten Blick zu. »Nicht nur möglich, es ist sogar normal. Jeden Tag schauen w i r ganz selbstverständlich in die weit zurückliegende Vergangenheit.« »Du meinst in alten Spielfilmen und auf Fotos ...« »Nein, wir, genau in diesem M o m e n t . « Sein Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen. »Im Ernst. Wollen w i r wetten?« »Ich weiß, w i r haben ein paar ältere Professoren, aber ...« Elisa lachte u n d schüttelte den Kopf. »Ist das wirklich dein Ernst?« »Mein bitterer Ernst.« Sie schaute nach oben, und Maldonado tat es ihr nach. Es war Nacht geworden. Ein funkelnder Sternen-
teppich leuchtete am dunklen H i m m e l . »Das Licht dieser Sterne braucht Millionen von Jahren, bis es die Erde erreicht«, erklärte sie. »Vielleicht existieren sie schon längst nicht mehr, obwohl w i r sie noch eine halbe Ewigkeit sehen. W i r k ö n n e n also in der Zeit reisen, wenn w i r nur aus dem Fenster schauen.« Einen Moment lang sprach keiner ein Wort. Der Lärm und die Lichter des Festes hatten für Elisa aufgehört zu existieren, so vertieft war sie in den Anblick der stillen Himmelskuppel, die sich wie eine Kathedrale ü b e r ihnen wölbte. Als sie die Augen wieder senkte und Maldonado ansah, schien es ihr, als ob er dasselbe empfunden hätte. »Physik ist was Schönes«, sagte sie leise. »Unter a n d e r e m « , erwiderte Maldonado und ließ den Blick auf ihr ruhen. Sie setzten das Interview fort, allerdings in einem verlangsamten Tempo. Dann schlug er ihr vor, eine Pause zu machen, damit er etwas zu essen holen konnte. Sie hatte nichts dagegen. Es war inzwischen spät geworden, und sie hatte Hunger. M i t einem Satz war Maldonado auf den Füßen und schlug den Weg zur Theke ein. W ä h r e n d sie auf ihn wartete, ließ Elisa den Blick schweifen. In der milden Sommernacht ging das Fest seinem Ende entgegen. Gerade erklang ein altes Lied von Umberto Tozzi, und hier und da stand ein lebhaft debattierendes Studenten- oder Professor e n g r ü p p c h e n im Kegel einer brennenden Straßenlaterne. Da bemerkte sie, dass sie von einem M a n n beobachtet wurde. Ein ganz durchschnittlicher Typ. Er stand auf der Plattform unterhalb des Walls. In dem kurzärmeligen Karohemd und den sorgfältig gebügelten Hosen wirkte er ganz unscheinbar. Ä u ß e r lich fiel er nur durch das graumelierte Haar auf und, mehr noch, durch einen sehr ü p p i g e n grauen Schnauzbart. Er hielt einen Plastikbecher in der Hand u n d trank h i n u n d wieder daraus. Elisa nahm an, dass es sich um einen Dozenten handelte, obwohl er nicht bei den Kollegen stand und offenbar auch sonst nichts zu t u n hatte. A u ß e r sie ansehen.
Sie fühlte sich von seinen starrenden Blicken belästigt und fragte sich, ob sie i h n irgendwoher kannte. Sie kam zu dem Schluss, dass wohl eher er es sein musste, der sie kannte: Wahrscheinlich hatte er irgendwo ihr Bild gesehen. Dann wandte der M a n n rasch, fast ruckartig, das Gesicht ab und schien sich einer Professorenrunde anschließen zu wollen. Dieser plötzliche Rückzug beunruhigte sie mehr als seine vorherige Glotzerei. Es kam ihr vor, als hätte er bemerkt, dass Elisa ihn entdeckt hatte. Du hast mich erwischt. Zum Teufel mit dir. Aber als Maldonado m i t zwei belegten B r ö t c h e n u n d einer zweiten Cola light für sie z u r ü c k k a m , vergaß Elisa den Vorfall. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ein reiferes Semester sie m i t Blicken verschlang.
W ä h r e n d der Rückfahrt nach M a d r i d sprachen sie nur wenig, trotzdem empfand Elisa die Intimität im Auto des ihr eigentlich unbekannten jungen Mannes nicht als unangenehm. Sie begann allmählich, sich an seine Gesellschaft zu g e w ö h n e n . Maldonado brachte sie mit seinen ironischen Bemerkungen mehrmals zum Lachen, aber die Fragerei hatte er beendet, wofür Elisa i h m insgeheim dankbar war. N u n war es an ihr, etwas ü b e r i h n in Erfahrung zu bringen. Sein Leben war überschaubar: Gemeinsam m i t seiner Schwester wohnte er noch bei den Eltern, und er mochte Reisen und Sport, zwei Interessen, die sie m i t i h m teilte. Es war kurz vor Mitternacht, als Maldonados Peugeot vor ihrer Haust ü r in der Claudio Coello hielt. »Was für ein hübsches Gebäude!«, staunte er. »Sag mal, haben Physiker eigentlich alle viel Knete?« » W e n n s nach meiner Mutter geht, schon.« » D u hast m i r noch gar nichts ü b e r deine Familie e r z ä h l t . . . Was macht deine Mutter eigentlich? Ist sie Mathematikerin? Chemikerin? Gentechnikerin? Die Erfinderin des Z a u b e r w ü r fels?« »Sie betreibt zwei Straßenblocks von hier einen Schönheitssa-
Ion«, grinste Elisa. »Mein Vater war Physiker, aber er ist vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben g e k o m m e n . « »Oh, das tut m i r aber Leid.« »Schon gut, ich habe ihn kaum gekannt«, erwiderte Elisa ohne Bitterkeit. »Er war praktisch nie zu Hause.« Sie stieg aus und gab der T ü r einen Schubs. Dann beugte sie sich noch einmal h i n u n ter und sah Maldonado an: »Danke fürs M i t n e h m e n . « »Ich habe dir zu danken, fürs Mitmachen. Sag mal, wenn ich . . . ich meine, wenn ich noch . . . Fragen hätte, k ö n n t e n w i r dann? K ö n n t e n w i r uns noch mal treffen?« »Meinetwegen.« »Deine Nummer habe ich ja. Ich rufe dich dann an. Viel S p a ß im Blanes-Kurs morgen.« Maldonado wartete gut erzogen, bis sie die H a u s t ü r erreicht hatte. Z u m Abschied drehte sich Elisa noch einmal nach i h m um. Sie erstarrte. Vom Gehweg gegenüber fixierte sie ein Mann. Erst erkannte sie i h n nicht. Dann fielen ihr das graumelierte Haar und der imposante gräuliche Schnauzbart auf. Ein Schauer überlief sie, als wäre sie löchrig wie ein Käse, u n d der W i n d k ö n n t e durch sie hindurchpusten. Maldonado entfernte sich in seinem Wagen. Ein anderes Auto fuhr vorbei, dann noch eins. Als die Straße wieder frei war, stand der M a n n immer noch da. Ich muss ihn verwechselt haben. Er ist nicht derselbe, er hat auch nicht dasselbe an. Unversehens machte der M a n n kehrt und verschwand hinter der Straßenecke. Elisa starrte unverwandt die Stelle an, wo er noch wenige Sekunden zuvor gestanden hatte. Das war jemand anderes, die beiden sehen sich eben ähnlich. Aber einer Sache war sie sich gewiss: Auch dieser M a n n hatte sie beobachtet.
5
»Das hier w i r d kein s c h ö n e r Kurs«, sagte David Blanes. »Wir werden nicht ü b e r wunderbare oder a u ß e r g e w ö h n l i c h e Dinge sprechen. W i r werden auch keine A n t w o r t e n geben. Wer A n t worten sucht, der soll in die Kirche gehen oder in die Schule.« Mehrere Studenten kicherten. » W o r u m es sich hier drehen soll, das ist die Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die keine Antworten kennt und nicht wunderbar ist.« Am anderen Ende des Saals angelangt, blieb er abrupt stehen. Er hat wahrscheinlich gemerkt, dass er nicht durch die Wand kann, dachte Elisa. Als er kehrtmachte, wandte sie das Gesicht ab, ohne sich indes ein einziges Wort von i h m entgehen zu lassen. »Bevor ich beginne, m ö c h t e ich eines klarstellen.« M i t zwei langen Schritten war Blanes beim Diaprojektor angelangt und schaltete ihn ein. A u f der Leinwand erschienen drei Buchstaben u n d eine Ziffer. »Da habt ihr E = mc , die wohl b e r ü h m t e s t e Gleichung aller 2
Zeiten, die Umschreibung der Ruheenergie einer Masse.« Er zeigte das nächste Bild. Es war das Schwarzweißfoto eines asiatischen Jungen, dem auf der linken Körperhälfte von Kopf bis F u ß die Haut fehlte. Durch die zerstörte Wange konnte man die Z ä h n e erkennen. Ein leises Raunen ging durch die Reihen. Jemand flüsterte: »Mein Gott!« Elisa konnte sich nicht r ü h r e n , zitternd starrte sie auf das grausame Bild.
»Das hier«, sagte Blanes ruhig, »ist auch E = mc , wie jede ja2
panische Universität Ihnen bestätigen wird.« Er machte den Projektor aus u n d stellte sich vor die Gruppe. »Ich h ä t t e Ihnen genauso gut eine der Maxwell-Gleichungen und das elektrische Licht in einem OP-Saal zeigen k ö n n e n . Oder die S c h r ö d i n g e r - G l e i c h u n g und ein Mobiltelefon, m i t dessen Hilfe ein Arzt herbeigerufen w i r d , um das Leben eines Kindes in Todesgefahr zu retten. Aber ich habe bewusst das Beispiel von Hiroshima gewählt, weil es keine positiven Erwartungen weckt.« Als das Gemurmel verstummte, führ Blanes fort: »Ich weiß, was viele Physiker ü b e r unseren Beruf denken, nicht nur zeitgenössische u n d nicht nur schlechte. Schrödinger, Jeans, Eddington, Bohr haben alle dasselbe gedacht. Sie dachten, dass w i r uns nur m i t Symbolen befassen, m i t >Schatten<, wie Schrödinger es nannte. Sie dachten, die Differentialgleichungen wären nicht die Wirklichkeit. Wenn man manche Kollegen so reden h ö r t , dann k ö n n t e man meinen, die theoretische Physik b e s t ü n d e darin, aus Plastikbausteinen H ä u s c h e n zu bauen. Diese absurde Anschauung hat Schule gemacht, u n d heute ist man allgemein der M e i nung, ein theoretischer Physiker w ä r e so eine A r t T r ä u m e r im Elfenbeinturm. Man glaubt, unsere Spiele, unsere H ä u s c h e n hätten nichts m i t den Alltagsproblemen der Menschen zu tun, m i t unseren Vorlieben u n d N ö t e n oder mit dem Wohlergehen unserer Lieben. Aber ich w i l l Ihnen eines sagen, u n d das sollen Sie als Grundregel dieses Kurses behalten. In ein paar Minuten werde ich anfangen, die Tafel m i t Gleichungen v o l l zu schreiben. Ich werde oben links in der Ecke anfangen u n d erst aufhören, wenn ich rechts unten angekommen b i n . U n d ich kann Ihnen versichern, dass ich den Platz gut nutzen werde, denn ich habe eine sehr kleine Schrift.« Hier und da lachte jemand auf, aber Blanes fuhr mit ernster Miene fort. »Und wenn ich fertig bin, werde ich Sie zu der folgenden Ü b u n g auffordern: Sie müssen sich die Ziffern, alle Ziffern u n d alle griechischen Buchstaben, die an der Tafel stehen, anschauen und sich e i n h ä m m e r n : Das ist die W i r k lichkeit, das ist die W i r k l i c h k e i t . . . « Elisa schluckte. Blanes fügte
hinzu: »Die physikalischen Gleichungen sind der Schlüssel zu unserem Glück, unserem Unglück, unserem Leben u n d zu unserem Tod. Vergessen Sie das nicht. Niemals.« M i t einem Satz stand er auf dem Podest, rollte die Leinwand ein, nahm ein Stück Kreide u n d begann, wie a n g e k ü n d i g t , Zahlen an die Tafel zu schreiben. Bis zum Ende der Vorlesung sprach er ü b e r nichts anderes mehr als ü b e r komplexe Abstraktionen der nicht kommutativen Algebra und h ö h e r e Topologie.
David Blanes war dreiundvierzig Jahre alt, g r o ß und offenbar gut in Form. Das graue Haar zeigte zwar schon lichte Stellen, doch wirkte er m i t den Geheimratsecken eher interessant. Elisa nahm noch weitere Details an i h m wahr, die auf den vielen Fotos, die sie von i h m gesehen hatte, nicht erkennbar waren, zum Beispiel seine Art, die Augen zusammenzukneifen, wenn er etwas fixierte; die Narben einer Jugendakne auf den Wangen; seine wulstige Nase, die im Profil fast komisch wirkte. A u f seine Weise war Blanes attraktiv, aber auch nur auf seine Weise, wie alle, die nicht ihres Ä u ß e r e n wegen B e r ü h m t h e i t erlangen. Er trug die alberne Kleidung eines Forschers, Tarnjacke, weite Hosen u n d Stiefel. Seine Stimme war heiser und sanft zugleich u n d passte nicht zu seiner Statur, aber es lag Autorität darin und der Wunsch aufzurütteln. Vielleicht, so überlegte sie, war sie seine beste Waffe. Was sie Maldonado am vorherigen Abend erzählt hatte, traf hundertprozentig zu. Elisa fand es jetzt bestätigt: Blanes war speziell, u n d das mehr als andere namhafte G r ö ß e n seines Metiers. Aber sicher war auch, dass er auf größere Ungerechtigkeiten und mehr U n v e r s t ä n d n i s gestoßen war als viele andere. Erstens weil er Spanier war, ein Umstand, der, wie Elisa und ihre K o m m i l i t o nen wussten, für einen ambitionierten Physiker nicht nur ungew ö h n l i c h , sondern auch ein gravierender Nachteil war. Er war nicht etwa wegen seiner Nationalität diskriminiert worden, nein, es ging allein darum, dass in diesem Land die Bedingungen für diese Wissenschaft erbärmlich waren. Hispanische Physiker hat-
ten ihre seltenen Erfolge bisher stets a u ß e r h a l b Spaniens vollbracht. Andererseits hatte Blanes Triumphe gefeiert. U n d das verzieh man i h m noch weniger als seine Nationalität. Sein Erfolg beruhte auf bestimmten Gleichungen, die eng geschrieben auf einem einzigen Bogen Papier Platz hatten: Die Naturwissenschaft besteht aus solchen Eingebungen - kurz u n d von Dauer. 1987 hatte er sie niedergeschrieben, als er zusammen m i t dem Kollegen Sergio M a r i n i bei seinem Lehrer Albert Grossmann in Zürich weilte. Besagte Gleichungen wurden 1988 in den b e r ü h m t e n Annalen der Physik veröffentlicht - der Zeitschrift, die ü b e r achtzig Jahre zuvor Albert Einsteins Artikel zur Relativitätstheorie abgedruckt hatte -, woraufhin der Autor über Nacht fast schon absurde B e r ü h m t h e i t erlangt hatte und ein sonderbares Ansehen, was für einen Naturwissenschaftler die große Ausnahme darstellt. Denn erstens war der Artikel, in dem Blanes die Existenz der Zeit-Strings nachwies, wie nicht anders zu erwarten, derart komplex, dass selbst von den Naturwissenschaftlern nur wenige etwas damit anfangen konnten. U n d zweitens w ü r d e es vermutlich Jahrzehnte dauern, bis die Theorie im Experiment bewiesen war, ein aus mathematischer Sicht unentschuldbares Vergehen. Wie auch immer, jedenfalls feierten die e u r o p ä i s c h e n und nordamerikanischen Physiker staunend Blanes' Entdeckung, und dieses Staunen drang bis in die Medien vor. Z u n ä c h s t war das Echo der spanischen Zeitungen eher verhalten. >Spanischer Physiker entdeckt, warum die Zeit sich nur in eine Richtung bewegt<, oder >Erkenntnis eines spanischen Physikers: Die Zeit ist wie ein Mammutbaum<, lautete der Tenor ihrer Schlagzeilen. U n d so war Blanes' P o p u l a r i t ä t in Spanien eher auf die Aufbereitung der Nachricht in den weniger seriösen Medien z u r ü c k zuführen. Sie titelten ohne Umschweife: >Spanien setzt sich m i t der Theorie von David Blanes an die Spitze der Physik des 21. Jahrhunderts<, >Professor Blanes erklärt Zeitreisen für machbar<, >Spanien, das erste Land der Welt, das eine Zeitmaschine baut?<
Davon stimmte zwar nichts, aber die Sensationsmeldung erh ö h t e die Auflagen. A u f den Titelblättern von Illustrierten und Zeitschriften tauchte Blanes' Name im Zusammenhang m i t den Geheimnissen der Zeit auf, daneben nackte Frauen. Ein esoterisches Magazin verkaufte mehrere hunderttausend Exemplare seines Weihnachtshefts: >Ist Jesus in der Zeit gereist? Die Theorie von David Blanes bringt den Vatikan ins Schwitzens Blanes hielt sich damals nicht in Europa auf, um sich d a r ü b e r zu freuen oder zu ärgern. Er war nicht in der Zeit, sondern in die Vereinigten Staaten gereist und hielt Vorträge, forschte am California Institute for Technology und folgte am Institute for A d vanced Study in Princeton Einsteins Spuren. D o r t konnten gelehrte Geister wie er nach Herzenslust in stillen Parks spazieren, hatten reichlich Zeit zum Denken sowie Material, alles zu Papier zu bringen. Aber als 1993 der nordamerikanische Kongress gegen den Bau des Superconducting Super Collider in Waxahachie, Texas, votierte, den weltweit g r ö ß t e n und stärksten Teilchenbeschleuniger, endeten auf Blanes' Wunsch seine Flitterwochen in den Vereinigten Staaten. Der nordamerikanischen Presse eröffnete er zurück in Europa u n v e r b l ü m t die G r ü n d e dafür: >Die Regierung Ihres Landes gibt ihr Geld lieber für Waffen aus als für die wissenschaftliche Forschung. Die Vereinigten Staaten sind in dieser Beziehung keinen Deut besser als Spanien: Sie werden von äußerst fähigen Leuten bewohnt, aber von u n m ö g l i c h e n Politikern regiert. Sie sind nicht nur unfähige betonte er, >sondern unmögliche Da er m i t seiner K r i t i k die Regierungen beider Länder ü b e r einen K a m m scherte, war niemand glücklich ü b e r diese Ä u ß e r u n g e n , u n d sie blieben weitgehend unbeachtet. Nachdem sein USA-Trip ein solches Ende genommen hatte, kehrte Blanes nach Z ü r i c h zurück, wo es still wurde um ihn. Als Freunde standen i h m dort nur Grossmann und M a r i n i zur Seite, dazu seine Mutter u n d seine Schwester - ein m ö n c h i s c h e s Leben, das Elisa bewunderte. Unterdessen traf seine Theorie langfristig auf unterschiedlichste Reaktionen. Kurioserweise war es die spanische Wissenschaftsgemeinde,
die sie am entschiedensten ablehnte. Gelehrte Stimmen wurden an den Universitäten laut: Die >Mammutbaum-Theorie< - wie sie schon damals genannt wurde, weil die Zeit-Strings um die Elementarteilchen des Lichts angeordnet sind wie die Jahresringe eines Baumes um die Mitte des Stammes - sei hübsch, aber unproduktiv. Vielleicht hielten sich die Kritiker aus M a d r i d zunächst zurück, weil es Blanes' Geburtsstadt war, aber als sie dann m i t ihren E i n w ä n d e n an die Öffentlichkeit gingen, ü b t e n sie m ö g l i c h e r w e i s e aus demselben G r u n d schärfer K r i t i k als ihre Kollegen anderswo. Ein b e r ü h m t e r Professor von der Universität Complutense wertete die Theorie als fantastischen H ö h e n flug ohne jede Grundlagen Im Ausland war der Beifall für seine Theorie auch nicht größer, obwohl Leute vom Fach, wie Edward Witten aus Princeton und C u m r u n Vafa aus Harvard, wiederholt feststellten, es k ö n n e sich dabei um eine revolutionäre Idee gleich der Entdeckung der String-Theorie selbst handeln. Stephen Hawking ä u ß e r t e sich von seinem Rollstuhl aus als Einziger zu Blanes' Gunsten und u n t e r s t ü t z t e die Verbreitung der Ideen. Z u m Thema befragt, pflegte der b e r ü h m t e Physiker wie gewohnt im monotonen, blechernen Ton seines Sprachcomputers zu antworten: » O b w o h l viele i h n fällen wollen, spendet uns der Mammutbaum von Professor Blanes immer noch Schatten.« N u r von Blanes selbst war nichts mehr zu h ö r e n , und sein rätselhaftes Schweigen w ä h r t e fast zehn Jahre, in denen er auf dem Posten seines pensionierten Freundes und Mentors Albert Grossmann das Z ü r i c h e r Labor leitete. Aufgrund ihrer ü b e r r a g e n d e n mathematischen Schönheit und ihrer fantastischen Möglichkeiten beschäftigte die >Mammutbaum-Theorie< die Naturwissenschaftler jedoch weiter, ohne je bewiesen zu werden. Sie trat also in die Phase des Abwartens ein, in der die Wissenschaft bestimmte Ideen auf Eis legt. Blanes lehnte jede öffentliche Stellungnahme zu seiner Theorie ab, was viele zu der M u t m a ß u n g verleitete, er w ü r d e sich seines Irrtums s c h ä m e n . Dann wurde im Jahr 2004 endlich der Kurs zum Thema angek ü n d i g t , der erste, den Blanes weltweit ü b e r seinen >Mammut-
baum< halten wollte. Er hatte m i t Bedacht Spanien dafür ausgewählt und ebenso bewusst Madrid. Die private Alighieri-Universität finanzierte den Kurs und akzeptierte auch die seltsamen Bedingungen des Naturwissenschaftlers: Die Veranstaltung musste im Juli 2005 stattfinden, auf Spanisch gehalten werden, u n d es sollten nur die besten zwanzig Studenten und Studentinnen teilnehmen dürfen, die zuvor in einer internationalen Aufnahmep r ü f u n g ü b e r die String-Theorie, die nichtkommutative Geometrie u n d die Topologie geprüft worden waren. Im Prinzip wurden nur Postdoktoranden zugelassen, aber Studienabsolventen des laufenden Jahres konnten sich m i t einer schriftlichen Empfehlung ihres Professors für theoretische Physik ebenfalls bewerben. A u f diese Weise waren Teilnehmer wie Elisa in den Kurs gekommen. W a r u m hatte Blanes so lange m i t dem ersten Seminar ü b e r seine Theorie gewartet? Und w a r u m wollte er es genau zu diesem Zeitpunkt halten? Elisa hatte keine A n t w o r t darauf, fand es im Grunde auch nicht so wichtig. Tatsache war, dass sie sich an jenem ersten Tag in dem einmaligen, lang ersehnten Kurs fühlte, als hätte sie das große Los gezogen. Doch schon am Ende der ersten Vorlesung hatte sie diese M e i nung gründlich revidiert.
Sie brach als eine der Ersten auf. Geräuschvoll klappte sie die Bücher und den Hefter zusammen und verließ fluchtartig den H ö r saal, noch bevor sie die Aufzeichnungen in ihrem Rucksack verstaut hatte. Als sie die abschüssige Straße zur Bushaltestelle hinunterging, h ö r t e sie jemanden sagen: »Verzeihung ... kann ich dich mitnehmen?« Sie war so m i t sich beschäftigt, dass sie nicht bemerkt hatte, dass ein Auto neben ihr hielt. Wie eine seltsame Wasserschildkröte hockte Victor >Lennon< Lopera darin. »Danke, nein. Ich muss weiter«, antwortete Elisa lustlos.
»Wohin?« »Claudio Coello.« »Okay . . . Ich nehme dich m i t , wenn du willst. Ich fahre in die Innenstadt.« I h r war zwar nicht danach, m i t dem Typen zu reden, aber dann dachte sie, es k ö n n t e sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Sie stieg in sein schmutziges, nach alten Polstern miefendes u n d von Papieren u n d B ü c h e r n übersätes Auto. Am Steuer verhielt sich Lopera genauso langsam u n d umsichtig wie beim Reden. Allerdings schien er hocherfreut, dass er Elisa hatte ü b e r zeugen k ö n n e n , i h n zu begleiten, u n d ging nach u n d nach mehr aus sich heraus. U n d wie viele schüchterne Menschen ließ er sich kaum bremsen, als er einmal richtig in Fahrt war. »Wie fandest du das, was er am Anfang über die Wirklichkeit gesagt hat? Dass die Gleichungen die Wirklichkeit sind ... Na ja, wenn er das m e i n t . . . Ich w e i ß ja nicht, ich halte das für einen ü b e r t r i e b e n positivistischen Reduktionismus. Die Möglichkeit einer erwiesenen oder intuitiven Wahrheit zieht er w o h l gar nicht in Betracht. Aber auf denen beruhen zum Beispiel religiöse Ü b e r z e u g u n g e n oder der gesunde Menschenverstand . . . Ich finde, er macht da einen Fehler. Also, ich glaube, dass er das zu sehr v o n seiner Warte als Atheist aus sieht. Denn, jetzt mal im Ernst, ich kann m i r nicht vorstellen, dass der religiöse Glaube nicht m i t den wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar sein sollte. Sie sind eben auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, wie Einstein schon sagte. M a n kann n i c h t . . . « Er hielt an einer Kreuzung u n d wartete, bis die Straße frei war, um die Fahrt u n d seinen Monolog fortzusetzen. »Man kann doch die eigenen metaphysischen Erfahrungen nicht auf chemische Reaktionen reduzieren. Das wäre absurd. Heisenberg hat g e s a g t . . . « Elisa h ö r t e i h m nicht mehr zu, sondern blickte auf die Straße u n d gab von Zeit zu Zeit ein zustimmendes Knurren von sich. Dann senkte Lopera die Stimme und sagte zu ihr: »Ich habe es auch gemerkt. Wie er dich behandelt, meine ich.«
Ihr glühten die Wangen und bei der Erinnerung stiegen ihr die Tränen hoch. Blanes hatte der Gruppe n ä m l i c h eine Frage gestellt u n d jemanden drangenommen, der zwei Plätze rechts von ihr saß u n d die Hand genau im gleichen Augenblick hob wie sie. Valente Sharpe. Dann hatte Blanes wieder etwas gefragt, worauf sie als Einzige die Hand hob. Doch ohne ihr die geringste Beachtung zu schenken, hatte der Wissenschaftler die Studenten weiter aufgefordert, sich zu melden: »Na los, was ist denn m i t Ihnen, meine Damen u n d Herren? Haben Sie Angst, dass Sie Ihr D i p l o m zurückgeben m ü s s e n , wenn Sie eine falsche A n t w o r t geben?« Es vergingen mehrere angespannte Sekunden, bis Blanes erneut denselben Studenten drannahm. Elisa h ö r t e dessen klare, ruhige, beinahe vergnügte Stimme m i t dem kaum h ö r b a r e n ausländischen A k zent: »Auf dieser Ebene gibt es keine gültige Geometrie wegen der Heisenbergschen Unschärferelation.« »Sehr gut, Herr Valente.« Valente Sharpe. Weil sie fünf Jahre hintereinander die Beste ihres Jahrgangs gewesen war, hatte Elisas Ehrgeiz inzwischen fast aggressive Züge angenommen. In der wissenschaftlichen Welt brauchte man eine gehörige Portion Ellenbogeneinsatz, den w ü t e n d e n Drang, Rivalen systematisch aus dem Feld schlagen zu wollen, um die N u m m e r eins zu bleiben. Deshalb war ihr diese völlig unverständliche Z u r ü c k s e t z u n g durch Blanes schier u n e r t r ä g l i c h . Gern hätte sie ihren verletzten Stolz vor dem Kommilitonen verborgen, aber dazu war die K r ä n k u n g noch zu frisch. »Ich habe das Gefühl, er sieht mich gar nicht«, brachte sie, um Fassung ringend, vor. »Wenn du mich fragst... ist eher das Gegenteil der Fall«, widersprach Lopera. Sie drehte sich zu i h m u m . »Also . . . « , versuchte er zu e r l ä u t e r n . »Ich glaube, er hat bei deinem Anblick gedacht: >So ein M ä d c h e n , nein, die kann nicht
gleichzeitig .. .< Ich will damit sagen, dass es wahrscheinlich seine Vorurteile als Macho sind. Vielleicht weiß er gar nicht, dass du ganz oben auf der Teilnehmerliste stehst. Oder wie du heißt. Er denkt, dass Elisa Robledo . . . na ja, dass sie eben nicht so jemand sein kann, wie du es bist.« »Und wie soll das sein?« Sie ärgerte sich selbst, dass ihr diese Frage herausgerutscht war. Wie p l u m p von ihr. »Ich glaube, dass Schönheit und Intelligenz . . . « , sagte Lopera halblaut, als w ü r d e er zu sich selbst sprechen, »... durchaus vereinbar sind. Auch wenn das genetisch eher selten der Fall ist. Ich meine . . . beides zusammen k o m m t fast nie vor. Okay, es gibt Ausnahmen. Richard Feynman war doch recht attraktiv, nicht wahr? Jedenfalls w i r d das von i h m behauptet. U n d Ric ist, finde i c h , . . . auch nicht gerade hässlich, oder?« »Ric?« »Ric Valente, mein Freund. Ich nenne i h n immer Ric. W e i ß t du nicht mehr? Ich habe ihn dir gestern auf dem Fest gezeigt? Ric Valente ...« Allein die E r w ä h n u n g des Namens genügte, und Elisa musste die Z ä h n e z u s a m m e n b e i ß e n . Valente Sharpe, Valente Sharpe ... Die beiden Nachnamen hallten in ihren Ohren nach, wie das mechanische Drehen einer Kreissäge, die ihren Stolz z e r s t ü ckelte. Valente Sharpe. Valente Sharpe ... »Er ist auch in etwa so wie du, also beides: gut aussehend und nicht auf den Kopf gefallen«, Lopera redete weiter, ohne Elisas Schweigen zu bemerken. »Aber er hat es auch raus, wie man Leute umgarnt. Hast du's gemerkt? Er verhext Professoren wie ein Schlangenbeschwörer . . . oder besser gesagt: jeden.« Ein gurgelndes Lachen folgte. In den kommenden Jahren w ü r d e Elisa dieses Lachen noch oft aus Victors Kehle vernehmen u n d i h m schließlich von Herzen dankbar dafür sein, aber in diesem Moment fand sie es u n e r t r ä g lich. »Auch die Frauen. Ja, ja, die auch. O h , u n d wie!« »Du redest ü b e r i h n , als wäre er nicht dein Freund.«
»Als wäre er nicht ...?« Sie konnte Loperas Festplatte buchstäblich rattern h ö r e n , als er ihren E i n w u r f zu verarbeiten suchte. »Natürlich bin ich . . . oder besser gesagt, waren w i r . . . W i r kennen uns seit der Schulzeit. Danach haben w i r das Gleiche studiert. N u r hat Ric eines dieser Hochbegabtenstipendien bekommen und ist nach Oxford gegangen, in den Fachbereich von Roger Penrose. Damals haben sich unsere Wege getrennt. Wenn er bei Blanes fertig ist, will er nach England zurück . . . vorausgesetzt n a t ü r l i c h , dass Blanes i h n nicht nach Z ü r i c h m i t nimmt.« Elisa missfiel, wie Loperas fleischige Lippen sich bei diesen Worten zu einem Grinsen verzogen. Da waren sie wieder, ihre finstersten B e f ü r c h t u n g e n , und sie fühlte sich besiegt, wie tot. Natürlich wird Blanes sich für diesen Valente Sharpe entscheiden. »Wir haben uns vier Jahre nicht mehr gesehen«, fuhr Lopera fort. »Ich weiß nicht, er hat sich irgendwie v e r ä n d e r t ... Er w i r k t . . . selbstsicherer. Kein Zweifel, dass er ein Genie ist, ein Genie hoch drei, Sohn und Enkel von zwei Genies: Sein Vater ist K r y p . . . Kryptograph und arbeitet in Washington, in was weiß ich für einem Center zum Schutz der nationalen Sicherheit. Seine Mutter ist Nordamerikanerin und unterrichtet Mathematik in Baltimore. Sie ist letztes Jahr für die Fields-Medaille vorgeschlagen worden.« Ohne es zu wollen, war Elisa beeindruckt. Die Fields-Medaille war eine A r t Nobelpreis für Mathematik. Damit wurden jedes Jahr in den USA die Weltbesten dieser Disziplin ausgezeichnet. Sie fragte sich, wie man sich w o h l fühlte, wenn die eigene M u t ter für die Fields-Medaille vorgeschlagen wurde. Aber im M o ment verspürte sie nichts als blanke Wut. »Sie sind geschieden. Und sein O n k e l . . . « »Ist Nobelpreisträger in Chemie?«, unterbrach ihn Elisa und kam sich schäbig vor. »Oder hieß er vielleicht Niels Bohr?« Lopera gab wieder jene seltsamen Laute von sich, die sie als Lache deutete. »Nein, er ist Programmierer bei Microsoft in Ka-
lifornien. Was ich sagen wollte, ist, dass Ric natürlich von ihnen allen etwas gelernt hat. Er ist wie ein Schwamm, weißt du? Man denkt, er w ü r d e einem gar nicht z u h ö r e n , dabei analysiert er alles, was man sagt oder tut. Er ist wie eine Maschine. Wo soll ich dich in Claudio Coello rauslassen?« Elisa sagte, er brauche sie nicht bis vor die H a u s t ü r zu b r i n gen, aber Lopera bestand darauf. Als sie dann in der Madrider Innenstadt im m i t t ä g l i c h e n Stau standen, beendeten sie ihren kleinen Schlagabtausch und nutzten die verbliebene Zeit für ein ausgiebiges Schweigen. A u f der Ablage vor der Windschutzscheibe entdeckte Elisa unter einem Stapel Schnellhefter ein paar Bücher. Sie las einen Titel: Mathematische Spiele und Rätsel. Ein dickerer Band hieß: Die Physik des Glaubens. Die Wahrheit der Wissenschaft und die der Religion. Als sie in die Claudio Coello abbogen, unterbrach Lopera die Stille und sagte: »Ric muss ganz schön sauer gewesen sein, als er gesehen hat, dass du ihn bei der A u f n a h m e p r ü f u n g für unseren Kurs ü b e r r u n d e t hast«, und wieder stieß er anstelle eines Lachens dieses seltsame Gurgeln aus. »Ehrlich?« »Ich glaube schon, er ist kein guter Verlierer. Ganz und gar nicht.« U n d m i t einem M a l ä n d e r t e sich Loperas Gesichtsausdruck, als sei i h m plötzlich etwas eingefallen, etwas, auf das er bisher nicht gekommen war. » N i m m dich in Acht«, setzte er hinzu. »Wovor?« »Vor Ric, meine ich. N i m m dich b l o ß vor i h m in Acht.« »Wieso? Kann er die Jury davon abhalten, mir die Fields-Medaille zu verleihen?« Lopera ignorierte den Scherz. »Nein, aber er steht nicht gerne als Verlierer da.« Das Auto hielt. »Bin ich hier richtig? Wohnst du hier?« »Ja, danke. H ö r mal, wieso meinst du, ich soll mich vor i h m in Acht nehmen? Was k ö n n t e er m i r schon anhaben?« Er hatte das Gesicht abgewendet und sah nach vorn, als w ü r d e
er immer noch fahren. »Nichts. Ich wollte es nur gesagt haben . . . Er hat nicht damit gerechnet, dass du die Beste wirst.« »Weil ich eine Frau bin?«, fragte sie eisig. »Deshalb?« Victor schwieg betreten. Dann sagte er: »Schon möglich. Er ist es nicht gewohnt... Zweiter zu sein, meine ich.« Elisa biss sich auf die Zunge, um nicht zu entgegnen: >Ich auch nicht.< Und als wollte er sie trösten oder das Thema wechseln, schob Victor nach: »Mach dir keine Sorgen. Ich b i n sicher, dass Blanes dich richtig einschätzen kann. Er ist einfach selbst zu gut, um die Guten nicht zu erkennen.« Dieser Satz stimmte sie ein wenig versöhnlicher. Als sie das Haus betrat, fragte sie sich, ob sie nicht zu schroff zu Lopera gewesen war, und drehte sich zum Abschied noch einmal nach i h m u m . Aber Lopera war schon weg. Sie verharrte einen M o m e n t reglos auf der Schwelle, in sich gekehrt. Die Szene erinnerte sie an den Vorfall am Vorabend, als Javier Maldonado sie zu Hause abgesetzt hatte. U n d unwillkürlich wanderte ihr Blick zur anderen Straßenseite, aber da war niemand, der ihr nachspionierte. Auch konnte sie weit und breit keinen Mann mit grauem Haar und Schnurrbart entdecken. Albert Einstein, na klar. Albert Einstein ist bestimmt Valentes Großvater und hat mir gestern Abend nachgestellt. Lächelnd ging sie zum Aufzug. Sie kam zu dem Schluss, dass es ein Zufall gewesen sein musste. Der Zufall war eine erwiesene Tatsache, und in der Mathematik wurden i h m sogar Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Zwei M ä n n e r , die sich äußerlich ähnlich sahen, hatten sie an ein und demselben Abend beobachtet. War u m nicht? Paranoid, länger d a r ü b e r n a c h z u g r ü b e l n . W ä h r e n d sie in den Aufzug stieg, kam ihr die m e r k w ü r d i g e Warnung von Victor Lopera wieder in den Sinn. Nimm dich in Acht vor Ric. Absurd. Valente beachtete sie doch gar nicht. An jenem ersten Vorlesungstag hatte er sie nicht eines einzigen Blickes gewürdigt.
6
Sie hatten sich für Samstagnachmittag verabredet, in einem Cafe in der N ä h e der Calle Atocha, das Elisa nicht kannte. »Es w i r d dir gefallen«, hatte Maldonado ihr versichert. U n d er hatte Recht. Es war ein ruhiges Plätzchen m i t dunklen W ä n d e n u n d der A t m o s p h ä r e eines Theaters, unter anderem hervorgerufen durch den roten Samtvorhang, der neben der Theke hing. Elisa war hingerissen. Maldonado erwartete sie an einem der wenigen besetzten T i sche. Elisa konnte nicht leugnen, dass sie sich freute, i h n nach der unangenehmen letzten Woche wiederzusehen. »Ich habe dich gestern mehrmals zu Hause angerufen. Jedes Mal wurde abgehoben, und dann war die Verbindung unterbrochen«, sagte Maldonado. »Mit der Leitung war etwas nicht in Ordnung. Die S t ö r u n g ist inzwischen behoben.« Die Telefongesellschaft hatte ihnen mitgeteilt, es sei eine Störung im System, aber Elisa fand, wenn einer eine Störung im System hatte, dann ihre Mutter, wie sie sich ereifert u n d ihrem Gegenüber in einer h ö h e r e n Stimmlage als üblich gedroht hatte, die Gesellschaft auf Schadensersatz zu verklagen. >Ich habe sehr bedeutende Kunden, die mich zu Hause erreichen m ü s s e n . Sie haben ja keine Vorstellung .. .< Schließlich versprach man ihr, dass noch am selben Samstagmorgen mehrere Techniker geschickt
w ü r d e n , die Leitungen zu ü b e r p r ü f e n und die S t ö r u n g zu beheben, und genau das hatten sie getan. Erst dann hatte sich Marta Morande wieder beruhigt. Elisa bestellte eine Cola light und sah amüsiert zu, wie Maldonado seine Unterlagen aus dem Rucksack holte. »Noch mehr Fragen?«, schmunzelte sie. »Ja. Magst du nicht?« »Doch, doch«, beeilte sie sich zu beteuern, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich weiß, es ist nervig«, entschuldigte er sich, »aber es ist mein Job, was soll ich tun? Ich b i n dir unendlich dankbar, dass du m i r aus der Klemme h i l f s t . . . Guter Journalismus besteht nun mal aus sorgfältig zusammengetragenen Einzelinformationen«, fügte er in einem gekränkten Ton hinzu, der sie überraschte. »Na klar, entschuldige«, sagte sie fast r e u m ü t i g . Aber Maldonado hatte m i t einem verlegenen Lächeln ihr schlechtes Gewissen rasch wieder beruhigt. »Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich b i n einfach etwas n e r v ö s , weil das Semester bald zu Ende ist und ich die Reportage abgeben muss.« »Na, dann schieß los«, ermunterte sie ihn. »Lass uns nicht noch mehr Zeit verlieren. Du kannst mich fragen, was du willst. Meinetwegen k ö n n e n w i r heute fertig werden.« Trotzdem war die Stimmung zwischen ihnen angespannt. Mechanisch stellte er seine Fragen nach ihrer Freizeit, und sie antwortete steif, als handele es sich um ein m ü n d l i c h e s Examen. Elisa begriff, dass sie beide bedauerten, ihr Gespräch diesmal so anders begonnen zu haben als auf dem Fest. Erst als Maldonado sich erkundigte, welche Sportarten sie praktizierte, ließ Elisas Anspannung nach. Sie erzählte ihm, dass sie so viel Sport treibe, wie sie k ö n n e , und regelmäßig schwimme, Krafttraining und Aerobic mache . . . Maldonado musterte sie beeindruckt. » D a h e r deine Figur«, sagte er. »Was ist denn m i t meiner Figur?«, lächelte sie. »Die perfekte Physis für eine Physikerin.«
»Ein Schlauer ü b t den Kalauer.« »Na, du hast ihn m i r doch auf dem Silbertablett serviert.« Dann sprachen sie ü b e r Elisas Kindheit. Sie erzählte i h m , dass sie ein einsames K i n d gewesen sei, das nur seinen Verstand hatte, um sich abzulenken und zu spielen. Ihr sei nichts anderes übrig geblieben, denn ihre Eltern wollten nicht mehr Kinder haben und verfolgten eher ihre eigenen Interessen, als sich um sie zu k ü m m e r n . Ihr Vater - >er heißt wie du, Javier< - sei unter noch schlechteren Bedingungen als heute Physiker gewesen. Elisa erinnerte sich nur noch an einen liebenswerten M a n n mit dichtem schwarzem Bart. Er habe sein Leben teils in England, teils in den USA verbracht, wo er die schwache Wechselwirkung< erforschte, das Modethema der theoretischen Physik in den siebziger Jahren: die Kraft, die den Zerfall gewisser Atome hervorruft. »Er hat lange Zeit bekannte Dinge untersucht, wie die Verletzung der CP-Symmetrie beim Kaon ... Mach nicht so ein Gesicht!« Elisa musste lachen. »Nein, nein«, sagte Maldonado, »ich h ö r e dir nur zu und notiere m i r was.« »Kaon, mit K«, Elisa wies auf den Zettel m i t Maldonados Aufzeichnungen. Sie amüsierte sich immer mehr. Doch leider wollte er auch etwas ü b e r ihre Mutter wissen. Marta Morande war in den besten Jahren, attraktiv, hatte Ausstrahlung und war beides, die Inhaberin und die Chefin des Salon Piccarda. Entdecke deine Schönheit im Salon Piccarda. Es fiel ihr schwer, in gelöster Stimmung ü b e r ihre Mutter zu sprechen. »Sie stammt aus einer Familie, in der Geld und Reisen eine g r o ß e Rolle gespielt haben. Ich schwöre dir, dass ich mich noch immer frage, was mein Vater ü b e r h a u p t von einer solchen Person gewollt hat. Ich bin n ä m l i c h davon überzeugt, dass er . . . Dass mein Vater mich nicht im Stich gelassen hätte, wenn meine Mutter anders gewesen wäre. Sie hat immer gesagt, sie wolle das Leben g e n i e ß e n und nicht zu Hause eingesperrt dasitzen, nur weil sie ein Genie geheiratet habe. So nannte sie ihn. Manchmal
auch vor mir. >Heute k o m m t das Genie wieder.<« Maldonado hatte zu schreiben a u f g e h ö r t u n d lauschte m i t ernster Miene. »Ich glaube, mein Vater wollte sich das Leben m i t einer Scheidung nicht zusätzlich erschweren. Zumal seine Familie sehr katholisch ist. Deshalb ist er einfach seiner Wege gegangen und hat meine Mutter ihr >Leben genießen< lassen.« Elisa senkte den Blick und lächelte. »Ich gebe zu, dass ich mich für das Physikstud i u m entschieden habe, um meine Mutter zu ärgern. Sie wollte, dass ich BWL studiere und in ihr b e r ü h m t e s Schönheitsinstitut einsteige. Du glaubst ja nicht, wie sie sich geärgert hat! Sie war so sauer, dass sie nicht mehr m i t m i r geredet hat. Als mein Vater dann mal wieder verreist war, hat sie die Gelegenheit genutzt und ist in ihr Sommerhaus nach Valencia gezogen. Sie hat mich allein in Madrid zurückgelassen, bei meinen Großeltern väterlicherseits. Als mein Vater davon erfuhr, ist er gekommen und hat mir versprochen, mich nie mehr im Stich zu lassen. Ich habe i h m nicht geglaubt. Eine Woche später ist er zu meiner Mutter nach Valencia gefahren, um sie zur Räson zu bringen. A u f der Rückfahrt ist i h m ein betrunkener Tourist frontal ins Auto gefahren. Da war alles vorbei.« Sie fröstelte und rieb sich die nackten Arme. Bestimmt war es die Kälte, nicht die A n k ü n d i g u n g einer Krankheit. Sie fand, es tat ihr gut, ü b e r damals zu reden. Wem hatte sie je die Geschichte erzählt? »Jetzt wohne ich wieder mit meiner Mutter z u s a m m e n « , setzte sie hinzu. »Aber jede hat ihren eigenen Bereich in der Wohnung, u n d w i r versuchen, die Grenzen des anderen zu respektieren.« Maldonado malte versonnen Kreise aufs Papier. Elisa merkte, dass die anfängliche Anspannung wieder zurückzukehren drohte. Sie beschloss, einen anderen Ton anzuschlagen. »Aber weißt du, die Zeit, die ich allein in Madrid verbracht habe, ist m i r gut bekommen. Ich hatte Gelegenheit, meinen Großvater besser kennen zu lernen. Er ist der liebste Mensch auf der Welt. Er war früher Lehrer und hat viele illustrierte Bücher mit mir a n g e s c h a u t . . . «
A u f dieses Thema schien Maldonado anzusprechen, denn er nahm seine Notizen wieder auf. »Interessierst du dich für Geschichte?«, fragte er. » D a n k meines G r o ß v a t e r s , sehr. O b w o h l ich nicht gut Bescheid weiß.« »Welches ist deine Lieblingsepoche in der Geschichte?« »Ich weiß n i c h t . . . « Elisa dachte nach. »Die Völker der Antike faszinieren mich: Ägypter, Griechen, R ö m e r ... Meinem G r o ß vater gefiel am besten das Römische Reich. Wenn man bedenkt, was uns seine Einwohner alles hinterlassen haben, und trotzdem ist es für immer untergegangen ...« »Na und?« »Ich weiß nicht, es fesselt mich.« »Fesselt dich die Vergangenheit?« »Dich etwa nicht? Sie i s t . . . eine für immer versunkene Welt, nicht wahr?« »Richtig«, bestätigte Maldonado förmlich, als handele es sich um eine Angabe, die er vergessen hatte zu erfragen. »Wir haben gar nicht ü b e r deine religiösen Ü b e r z e u g u n g e n gesprochen. Glaubst du an Gott, Elisa?« »Nein. Ich habe dir ja schon erzählt, dass die Familie meines Vaters extrem katholisch ist. Aber mein Großvater war intelligent genug, mich nicht zu drängen. Er hat mir einfach Werte mitgegeben. Ich habe nie an Gott geglaubt, nicht einmal als K i n d . U n d j e t z t . . . Vielleicht findest du es komisch, aber ich denke an mich mehr als Christin denn als Gläubige. Ich glaube daran, dass man den anderen helfen soll, Opfer bringen muss, an die Freiheit, an fast alles, was Christus uns gelehrt hat, aber nicht an Gott.« »Wieso sollte ich das komisch finden?« »Es klingt doch komisch, oder?« »Du glaubst also nicht, dass Jesus Christus Gottes Sohn war?« »Genau. Weil ich nicht an Gott glaube. Was ich glaube, ist, dass Jesus ein sehr gütiger, sehr tapferer Mensch war, der uns Werte vermitteln konnte ...« »Wie dein Großvater.«
»Ja. Nur hatte er nicht so viel Glück wie mein G r o ß v a t e r und musste für seine Vorstellungen sterben. Daran glaube ich schon, dass man für seine Vorstellungen manchmal sterben muss.« Maldonado schrieb. U n d auf einmal kam ihr der Gedanke, dass er diese Fragen aus p e r s ö n l i c h e m Interesse gestellt haben musste. Sie konnten doch nichts m i t dem Interview zu t u n haben. Elisa wollte i h n gerade darauf ansprechen, als sie ihn den Kugelschreiber wegstecken sah. »Fertig«, sagte Maldonado. »Was hältst du von einem Spaziergang?« Sie schlenderten bis zur Puerta del Sol. Es war der erste Samstag im Juli, ein warmer Abend, und eine Menschenmenge bevölkerte den g r o ß e n Platz vor den Kaufhäusern, die bald schließen w ü r d e n . Sie hatten eine Weile geschwiegen, weil Elisa sich weniger auf Maldonado konzentrierte und mehr darauf, den Leuten und dem Denkmal Karls I I I . auszuweichen, da h ö r t e sie ihn sagen: »Und, wie kommst du m i t Blanes aus?« Vor dieser Frage hatte sie sich gefürchtet. Um aufrichtig zu sein, h ä t t e sie i h m antworten m ü s s e n , dass ihr Stolz nicht nur verletzt war, sondern in den Untiefen ihrer Persönlichkeit auf der Intensivstation im Koma vor sich hin vegetierte. Sie hatte es i n zwischen aufgegeben, Blanes auf sich aufmerksam zu machen, und hob nicht einmal mehr die Hand, ganz gleich bei welcher Frage. Sie b e s c h r ä n k t e sich darauf, z u z u h ö r e n und so viel wie möglich von i h m zu lernen. Valente Sharpe hingegen, m i t dem sie bisher keinen einzigen Blick gewechselt hatte, produzierte sich immer mehr. Die anderen Kursteilnehmer hatten angefangen, sich mit ihren Fragen an ihn zu wenden, als wäre er Blanes persönlich oder dessen rechte Hand. Das war er zwar noch nicht, aber auf dem besten Weg, es zu werden, denn Blanes forderte ihn bisweilen ausdrücklich zu einem Beitrag auf: >Haben Sie nichts dazu zu sagen, Valente?< Und Valente Sharpe traf mit seiner A n t wort jedes Mal den Nagel auf den Kopf. Manchmal dachte sie, dass sie nur neidisch war. Stimmt nicht:
Was ich empfinde, ist Leere. Als hätte man aus mir die Luft rausgelassen. Als hätte ich für einen superharten Marathon trainiert und dürfte nicht antreten. Da Blanes offenbar schon beschlossen hatte, wer ihn nach Z ü r i c h begleiten sollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als von dem Kurs zu profitieren, so gut sie konnte, und sich für ihre berufliche Zukunft neu zu orientieren. Sie fragte sich, ob sie Maldonado in ihre Gefühle einweihen sollte, und beschloss dann, dass sie an diesem Abend schon genug ü b e r sich ausgeplaudert hatte. »Nun«, erwiderte sie, »er ist ein hervorragender Professor.« »Willst du immer noch bei i h m deinen Doktor machen?« Sie zögerte m i t der A n t w o r t . Ein begeistertes »Ja« w ä r e eine Lüge gewesen, wogegen ein kategorisches »Nein« auch nicht zutraf. Emotionen, dachte Elisa, haben doch einiges gemein m i t der Unscharfe in der Quantentheorie. Sie antwortete mit einem neutralen »Schon« und ließ ihn über ihre wahren W ü n s c h e im Unklaren. Sie hatten den Platz ü b e r q u e r t und befanden sich in der N ä h e der Statue des Bären, als Maldonado sie bat, einen Abstecher zum Eissalon zu machen, wo er sich eine seiner wenigen Schwachem - wie er es nannte - genehmigen wolle: Praline-Krokant. Sie musste im Stillen lachen, als er wie ein kleines Kind nach seinem Eis verlangte, aber noch mehr, als sie sah, mit welchem Genuss er sich d a r ü b e r hermachte. Maldonado war mitten auf dem Platz stehen geblieben, um es bis zuletzt auszukosten. Er schlug ihr vor, vielleicht zum Abendessen zu einem Chinesen zu gehen. Elisa war sofort einverstanden und freute sich, dass er den gemeinsamen Abend noch nicht beenden wollte. In diesem Moment entdeckte sie rein zufällig den Mann. Er stand am Eingang der Eisdiele. Er hatte graues Haar und einen ebensolchen Schnurrbart. Er hatte eine Eiswaffel in der Hand und biss h i n u n d wieder hinein. Er hatte weniger Ähnlichkeit mit dem Zweiten als mit dem Ersten. Eigentlich sah er aus wie ein Bruder des Mannes auf dem Fest. Oder er war es selbst, nur anders angezogen - ausschließen konnte sie das nicht.
Aber nein, sie t ä u s c h t e sich. Denn bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass er eher krauses Haar hatte u n d insgesamt schlanker war. Es war eindeutig ein anderer. Einen Augenblick lang sagte sie sich: Schon gut, reg dich ab. Das ist einfach jemand, der den anderen ähnlich sieht und dich ebenfalls anstarrt. Aber dann schien ihr plötzlich der Verstand stehen zu bleiben und lauter irrationale Gedanken s t ü r m t e n auf sie ein, l ä r m t e n und schlugen alles kurz und klein wie eine Horde zugekokster Irrer. Drei verschiedene Männer, die einander ähneln. Drei Männer, die mich beobachten. »Was hast du?«, fragte Maldonado. Sie konnte es nicht für sich behalten, musste etwas sagen. »Der Mann da.« »Welcher Mann?« Als Maldonado sich nach i h m umdrehte, wischte sich der Kerl gerade die H ä n d e an einer Serviette ab und hatte aufgehört, Elisa anzustarren. »Der da, neben der Eisdiele, in dem marineblauen Polohemd. Er hat mich die ganze Zeit so komisch a n g e g u c k t . . . « Es war ihr unangenehm, dass Maldonado denken musste, sie sähe Gespenster, aber jetzt gab es kein Z u r ü c k mehr. »Der sieht genauso aus wie einer, der m i r auf dem Uni-Fest aufgefallen ist. Der hat mich auch beobachtet. Vielleicht ist es derselbe.« »Ernsthaft?«, fragte Maldonado. In diesem Moment drehte sich der Mann auf dem Absatz um und ging in Richtung Calle de Alcalá davon. »Ich w e i ß nicht, es kam m i r vor, als w ü r d e er mich beschatten ...« Sie versuchte, ü b e r ihre eigenen Worte zu lachen, merkte aber, dass ihr das nicht gelang. Maldonado schien auch nicht zum Lachen zumute. »Vielleicht habe ich sie verwechselt.« Er fand, sie sollten in eine ruhige Bar gehen und d a r ü b e r reden. Aber weit und breit war keine ruhige Bar zu entdecken, und Elisa war zu aufgeregt, um noch länger herumzuirren. Deshalb beschlossen sie, in das chinesische Lokal zu gehen, wo sie ohneh i n zu Abend essen wollten. D o r t war es noch leer.
»Jetzt erzähl m i r mal haarklein, was auf dem Fest passiert ist«, forderte Maldonado sie auf, als sie an einem ruhig gelegenen Tisch im Restaurant s a ß e n . Er h ö r t e ihr aufmerksam zu, dann bat er sie um eine möglichst genaue Schilderung des Mannes an der U n i . Doch bevor sie fertig war, unterbrach er sie: »Warte mal, der k o m m t m i r bekannt vor. Angegrautes Haar, Schnurrbart... Er heißt Espalza und ist Professor für Statistik an der Alighieri. Ich habe bei i h m ein paar Statistikseminare für Soziologen belegt, aber ich kenne i h n vor allem als Sprecher des Unikollegiums, als ich noch Studentenvertreter war.« Er machte eine Pause und verzog spitzbübisch das Gesicht, was ihr an i h m gefiel. »Er ist geschieden, und man sagt i h m nach, dass er hinter allen h ü b schen Studentinnen her ist. Als er dich gesehen hat, ist i h m bestimmt die Spucke weggeblieben ...« Plötzlich hatte sie Lust, laut loszuprusten. »Weißt du, was an dem Abend noch war? Als du mich zu Hause abgesetzt hast, da habe ich noch einen M a n n m i t Schnauzbart entdeckt, der mich so angestarrt hat.« Maldonado riss die Augen auf wie ein Komiker. » U n d der von heute hatte auch einen Schnauzbart!« »Eine ... Verschwörung von Schnauzbärtigen!«, murmelte er alarmiert. »Verstehe!« Elisa brach in schallendes Gelächter aus. Wie hatte sie auf diese aberwitzige Idee kommen k ö n n e n ? Dafür gab es nur eine triftige E r k l ä r u n g : Sie war nach den P r ü f u n g e n und durch die ungewohnte Behandlung im Blanes-Kurs m i t den Nerven am Ende. Sie lachte weiter, bis ihr die Tränen die Wangen herabliefen. Da bemerkte sie, dass Maldonados Gesicht erstarrte und auf eine Stelle hinter ihrem Rücken blickte. »Mein Gott!«, sagte er in verängstigtem Ton. »Der Kellner!« Elisa drehte sich u m , trocknete sich die T r ä n e n . Der Kellner war Asiat und hatte - untypischerweise, wie Elisa fand - im Gesicht einen dichten schwarzen Schnurrbart. Maldonado d r ü c k t e ihren A r m : »Noch ein Schnauzbärtiger! Schlimmer: ein schnauzbärtiger Chinese!«
»Bitte!«, prustete sie wieder los. »Genug!« »Los, w i r gehen, schnell!«, flüsterte Maldonado. »Wir sind umzingelt!« Elisa musste sich hinter der Serviette verstecken, als der Kellner an ihren Tisch kam. Noch zu Hause im Bett kicherte sie vor sich h i n . Javier Maldonado war genial. Genial g r o ß geschrieben. Den ganzen Abend hatte sie sich ausgeschüttet vor Lachen bei seinen Anekdoten über Mitstudenten und Professoren, bei denen Espalza nicht zu kurz kam und dessen Neigung, m i t allem a n z u b ä n d e l n , was j u n g war und einen Rock trug. Seinen Witzen zu lauschen vermittelte Elisa das Gefühl, sich die Lungen m i t Frischluft zu füllen, nachdem sie viel zu lange in einem T ü m p e l aus Büchern und Gleichungen untergetaucht war. U n d zum k r ö n e n d e n Abschluss hatte er, als sie allmählich nach Hause wollte, ihr den Wunsch von den Augen abgelesen und umgehend erfüllt. Er war zwar ohne Auto da gewesen, hatte sie aber in der Metro bis zum Retiro begleitet. Seine s p i t z b ü b i s c h e Miene hatte sie noch vor Augen, als sie aus der Bahn stieg und auf dem Weg zu F u ß nach Hause. Genau genommen war sie Maldonado nicht viel n ä h e r gekommen, aber ein erster Schritt war getan. Schließlich hatte sie so ihre Erfahrungen und war nicht vollkommen unbedarft. Ein Vorteil ihres Alleinlebens war, dass sie immer für sich selbst hatte sorgen m ü s s e n . So war sie auch des Öfteren m i t Jungen ausgegangen, vor allem zu Beginn ihres Studiums, und glaubte zu wissen, wer ihr gefiel und wer nicht. M i t Maldonado verbanden sie freundschaftliche Gefühle, aber die machten Fortschritte. Ihre Wohnung lag dunkel und still da. Als sie das Licht in der Diele anschaltete, sah sie einen Zettel am T ü r r a h m e n kleben: >Ich komme heute Nacht nicht nach Hause. Das M ä d c h e n hat dir das Abendessen in den Kühlschrank gestellte Das M ä d c h e n war eine stämmige Russin von immerhin fünfundvierzig Jahren, aber ihre Mutter hatte von jeher alle Hausangestellten so genannt. W ä h r e n d Elisa im Wohnzimmer Licht machte und es in
der Diele ausschaltete, fragte sie sich, weshalb ihre Mutter sie ständig über das Offensichtliche in Kenntnis setzen musste. Marta Morande verbrachte ihre Wochenenden nämlich nie zu Hause, das pfiffen schon die Spatzen von den D ä c h e r n , und manchmal kam sie sogar erst am Montag wieder. Sie hatte eine Reihe von Verehrern, die sie einluden, die Samstage in l u x u r i ö s e n Villen m i t ihnen zu verbringen. So quittierte Elisa die Nachricht mit einem Schulterzucken: Es war ihr einerlei, was ihre Mutter tat. Elisa löschte das Licht im Wohnzimmer und machte das im langen Flur an. Sie wusste, dass niemand da war. >Das Mädchen< hatte sonntags frei und nutzte wie üblich die Gelegenheit, um Samstagabends etwas m i t ihrer Schwester zu unternehmen, die etwas a u ß e r h a l b der Stadt in einer Mietwohnung lebte. Das waren Elisas liebste Abende: Ohne die nervige Gesellschaft ihrer Mutter oder die f o r t w ä h r e n d um sie herumwirtschaftende Hausangestellte hatte sie die ganze Wohnung für sich allein. Sie folgte der Biegung des Flurs und steuerte auf ihr Zimmer zu. Die >Verschwörung der S c h n a u z b ä r t i g e m kam ihr in den Sinn, und sie kicherte vor sich h i n . Sicher steht jetzt einer in meinem Zimmer und wartet auf mich, und ein anderer lauert mir unter dem Bett auf. Sie öffnete die Tür, kein Schnauzbart in Sicht. Elisa zog die T ü r hinter sich ins Schloss, und nach kurzer Ü b e r l e g u n g drehte sie den Schlüssel im Schloss u m . Ihr Zimmer war ihr Bollwerk, ihre Festung, der Ort, an dem sie studierte und lebte. Sie hatte etliche Auseinandersetzungen m i t ihrer Mutter geführt, um ihr begreiflich zu machen, dass sie ihre Nase nicht dort hineinzustecken hatte. Seit langem putzte sie ihr Zimmer selber, machte das Bett und bezog es mit frischen Laken. Sie wollte nicht, dass jemand anders in ihrem Reich herumstöberte. Elisa zog die Jeans aus und warf sie auf den Boden, die Socken hinterher, dann schaltete sie den Computer an. Eine gute Gelegenheit, ihre E-Mails zu lesen, die sie wegen der S t ö r u n g in der Telefonleitung seit dem Vortag nicht mehr hatte lesen k ö n n e n .
W ä h r e n d sie ihr Mailprogramm aufrief, überlegte sie, was sie an diesem Abend noch t u n wollte. Lernen auf keinen Fall, dafür war sie viel zu m ü d e , aber ins Bett gehen wollte sie auch noch nicht. Vielleicht sah sie sich eine Erotikdatei an, loggte sich in einen entsprechenden Chatroom oder ging auf eine Erotikseite. Cyber-Sex war w ä h r e n d der langen Studienphase im Winter die schnellste u n d sauberste L ö s u n g für sie gewesen. An jenem Abend hatte sie aber keine rechte Lust dazu. In ihrer Post waren zwei ungelesene Mails. Die erste stammte von der Redaktion eines Internetmagazins für Mathematiker. Bei der zweiten war die Betreffzeile leer, aber offenbar eine Datei angehängt. Den Absender konnte sie nicht identifizieren. mercurioOO
[email protected] Das roch zehn Meilen gegen den W i n d nach einem Virus. Elisa beschloss, die Datei nicht zu öffnen, markierte sie und d r ü c k t e die Delete-Taste. Plötzlich war der Bildschirm schwarz. Sie dachte schon, der Strom sei ausgefallen, doch ihre Schreibtischlampe brannte. Sie wollte sich gerade b ü c k e n , um die Kabelverbindungen zu ü b e r p r ü f e n , da flackerte der M o n i t o r wieder auf, und ein großformatiges Foto erschien. Sekunden später wechselte es. Weitere Bilder folgten. Elisa saß m i t offenem M u n d davor. Es waren Schwarzweißzeichnungen in einer alten Technik wie von einem K ü n s t l e r Anfang des Jahrhunderts. Das M o t i v war immer das gleiche: eine Serie von Akten, M ä n n e r und Frauen, die den jeweils anderen auf den Schultern huckepack trugen. Unter jedem Bild erschien dieselbe Frage in roten Kapitälchen: »GEFÄLLT ES DIR?« Notgedrungen sah sie sich die Bilderschau an, denn die Tasten ihres Rechners reagierten nicht auf ihre Befehle: Ihr Computer hatte sich selbstständig gemacht. Diese Hurensöhne! Sie war sicher, dass ihr jemand einen Virus ins System geschleust hatte, obwohl sie alles unternommen hatte, um sich dagegen zu schützen. M i t einem M a l erblasste sie.
Die Bilderschau war zu Ende, und der M o n i t o r wurde wieder schwarz, zeigte nur eine Zeile in g r o ß e n roten Buchstaben, die aussahen wie blutige Schrammen. Elisa konnte den Satz deutlich lesen, bevor der Bildschirm sie m i t dem nächsten Lidschlag aus dieser elektronischen Vorhölle erlöste und wieder das gewohnte Mailprogramm anzeigte. Die ungelesene Nachricht befand sich nicht mehr in der Posteingangsliste. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Sie erinnerte sich an die letzten Worte und schüttelte den Kopf. Das kann sich nicht auf mich beziehen. Das ist bloß Werbung. Da hatte gestanden: DU WIRST BESCHATTET.
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In der folgenden Woche erhielt sie am Dienstag wieder eine Nachricht von »mercuryfriend«. Da half auch nichts, das M a i l programm neu zu konfigurieren, um den Absender herauszufiltern. Es funktionierte nicht. Sie schaltete den Rechner aus, aber beim Neustart öffnete sich die M a i l wie beim ersten M a l von selbst und zeigte ihr ähnliche Bilder mit gleich lautenden Untertiteln. Diesmal waren es allerdings keine Zeichnungen vom Beginn des Jahrhunderts, sondern moderne Grafiken: m i t A i r brush gemalte Körper und dreidimensionale Reproduktionen in digitaler Form. Stets waren es M ä n n e r und Frauen, die in voller Montur und Stiefeln schnell oder langsam zu F u ß unterwegs waren und auf dem Rücken eine weitere Person mitschleppten. Elisa wandte den Blick ab. Dann kam ihr eine Idee. Sie suchte im Netz nach der Seite » m e r c u r y f r i e n d . n e t « , um leicht verwundert festzustellen, dass sie ohne Passwort zugänglich war und sofort geladen wurde. Vor einem gespenstischen H i n t e r g r u n d in grellem Lila leuchteten elektronische Anzeigen von Bars und Clubs mit den abenteuerlichsten Namen - »Abbadon«, »Galimatias«, »Euklid«, »Mister X«, »Scorpio« - und boten nächtliche Unterhaltung der extravaganten Art, Animation von Frauen und M ä n n e r n oder Partnertausch inbegriffen. Aha, das also steckte hinter den unbekannten Mails. Werbung,
wie vermutet. Sie musste diesen Schweinen wohl aus Versehen ihre Mailadresse zu erkennen gegeben haben u n d wurde jetzt m i t diesem Mist bombardiert. Sie musste herausfinden, wie sie das wieder abstellen konnte. Vielleicht, indem sie sich eine neue Adresse zulegte. Und m i t Erleichterung registrierte sie, dass die Mails keine persönliche Botschaft an sie darstellten. Auch mit dem Clan der Schnauzbärtigen hatte sie Frieden geschlossen. Seit dem G e s p r ä c h m i t Maldonado war sie beruhigt und verschwendete keinen Gedanken mehr an sie. Oder fast keinen. N u r ab und zu, wenn sie auf der S t r a ß e einen Grauhaarigen m i t Schnurrbart sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Manchmal entdeckte sie diese M ä n n e r aus g r o ß e r Entfernung, woraus sie schloss, dass ihr Gehirn unbewusst nach diesem Typus Ausschau hielt. Aber nie wieder ertappte sie einen dabei, wie er sie beobachtete oder ihr nachstellte, u n d am Ende der Woche hatte sie die Geschichte so gut wie vergessen oder m a ß ihr jedenfalls keine große Bedeutung mehr bei. Sie hatte andere Sorgen.
Am Freitag beschloss sie n ä m l i c h , ihre Strategie im Blanes-Kurs zu ä n d e r n . »Was glauben Sie, wie die Lösung hierfür lautet?« Blanes deutete auf eine Gleichung, die in seiner engen, m i t Kürzeln durchsetzten Schrift an der Tafel stand. Elisa und die anderen Teilnehmer hatten jedoch keine Schwierigkeiten, das Gekritzel zu entziffern, und lasen es so flüssig wie einen spanischen Prosatext. Sie erkannten darin die Kernfrage der Blanes-Theorie: Wie lassen sich endliche Zeit-Strings von einem einzigen Ende aus identifizieren und isolieren? Das Thema war hochspannend. Mathematisch ließ sich n ä m lich nachweisen, dass bei den Zeit-Strings das eine Ende fehlte. Um das P h ä n o m e n m i t einem Beispiel zu veranschaulichen, zog Blanes an der Tafel eine Gerade und bat die Studenten, sich diese als einen losen Faden auf einem Tisch vorzustellen: Das eine
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Ende wäre die >Zukunft< und das andere die >Vergangenheit<. Der Faden würde sich in Richtung >Zukunft< bewegen, was er mittels eines Pfeils verdeutlichte. Anders ließ sich das nicht darstellen, denn den Ergebnissen der Gleichungen zufolge war das entgegengesetzte Ende, das andere Ende des Fadens, die >Vergangenheit< also, gar nicht vorhanden. Damit hatte Blanes seine berühmte Erklärung geliefert, warum sich die Zeit nur in eine Richtung bewegt. Blanes setzte für dieses Phänomen an das andere Ende der Geraden ein Fragezeichen: Es gab kein loses Ende, das sich als >Vergangenheit< identifizieren ließ.
Das Unglaublichste war jedoch, dass, obwohl eines der beiden Enden fehlte, der Zeit-String nicht unendlich war. Jeder Versuch, das logisch zu begründen, war zum Scheitern verurteilt. Die >Vergangenheit< war demnach endlich, aber dieses Ende war nicht ihr äußerster Punkt. Dieses Paradox verursachte Elisa einen angenehmen Schauer, ein Gefühl, das sich immer einstellte, wenn in ihr eine Ahnung von der Unfassbarkeit der Welt aufstieg. Konnte es denn möglich sein, dass die Wirklichkeit in ihrem tiefsten Kern aus etwas so Verrücktem bestand wie aus String-Teilchen m i t Enden, die keine Enden waren? Wie dem auch sei, sie glaubte jedenfalls die A n t w o r t auf Blanes' Frage zu kennen. Sie brauchte die Formel noch nicht einmal in ihrem Heft zu notieren, weil sie die Gleichung bereits zu Hause entwickelt u n d das Ergebnis noch frisch im Gedächtnis hatte. Sie schluckte u n d fasste sich dann selbstbewusst ein Herz. Zwanzig Augenpaare fixierten die Tafel, aber nur eine Hand schnellte in die Höhe. Die von Valente Sharpe.
»Bitte, Valente«, lächelte Blanes. »Angenommen, in den Mittelsegmenten jedes Strings wären Schleifen, dann könnten w i r sie m i t einem geringeren Energieaufwand identifizieren. Wenn die Energiezufuhr groß genug wäre, könnten wir sie sogar isolieren und die Schleifen lösen. Das bedeutet ...« Es folgte ein mathematischer Redeschwall ohne Punkt u n d Komma. Nach dieser ausführlichen Erläuterung wurde es ganz still im Raum. Die ganze Gruppe einschließlich Blanes staunte nicht schlecht. Denn wer geantwortet hatte, war gar nicht Valente gewesen. Wie die Puppe eines Bauchredners hatte der junge M a n n den M u n d geöffnet, um sogleich von einer anderen Stimme unterbrochen zu werden, zwei Plätze links von i h m , die das Wort an sich riss. Alle starrten Elisa an. Und sie schaute unverwandt auf Blanes. Sie hörte ihr Herz pochen und spürte ihr erhitztes Gesicht, als hätte sie i h m anstelle von Gleichungen ihre Liebe erklärt. Sie wartete m i t einer Ruhe auf seine Reaktion, die sie selbst verwunderte, ohne seinen bohrenden Blicken hinter den halb geschlossenen Lidern auszuweichen - Blanes' typische A r t zu schauen erinnerte sie wie so oft an den alten Hollywood-Schauspieler Robert M i t c h u m . Und ihr leidenschaftliches Wesen, das sich in anderen Situationen als Fehler erwies, kam ihr diesmal zugute: Sie fühlte sich im Recht und war zum Kampfbereit, ganz gleich, gegen wen sie antreten musste. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihre Wortmeldung gesehen zu haben, Frau ...« Blanes' Stimme war so tonlos wie seine Miene starr, doch schwang eine gewisse Schärfe m i t . Die Stille wurde noch undurchdringlicher. »Robledo«, erwiderte Elisa. »Sie haben meine Wortmeldung nicht gesehen, weil ich mich gar nicht gemeldet habe. Ich habe mich eine geschlagene Woche zu Wort gemeldet, und Sie scheinen durch mich hindurchzusehen, deshalb habe ich heute einfach losgeredet.«
Gespannte Hälse reckten sich abwechselnd nach Blanes u n d Elisa, als ginge es um die letzten Sekunden eines großen Tennisfinales. Dann wandte Blanes sich ab, sah Valente an. Er lächelte. »Bitte, Valente, Ihre Antwort«, bat er ihn noch einmal. M i t seiner auffälligen Magerkeit u n d dem weißen, kantigen Gesicht saß dieser wie eine Eisstatue an seinem Pult. Unverzüglich legte er m i t lauter, klarer Stimme den erbetenen Sachverhalt dar. Doch während ihr Blick auf seinem markanten Profil ruhte, machte Elisa eine kleine, aufschlussreiche Entdeckung: Valentes Darstellung war inhaltlich identisch mit der ihren, auch wenn er es auf seine Weise und mit anderen Worten tat, vielmehr vermittelte er den Eindruck - ohne im Geringsten auf ihre Ausführungen einzugehen, als hätte er von vornherein genau das sagen wollen. Allerdings unterlief i h m an einer Stelle ein winziger Fehler. Blanes sprang jedoch ein u n d korrigierte die Variable rasch. Er kämpft genauso um sein Terrain wie ich um meins, dachte Elisa zufrieden. Gleichstand, Valente Sharpe. Als Valente geendet hatte, beschied i h m Blanes ein »Sehr gut, danke«. Dann senkte er den Blick u n d betrachtete den Boden zwischen seinen Füßen. »Dies ist ein Kurs für Studienabsolventen in theoretischer Physik«, setzte er mit seiner heiseren Stimme betont sanft hinzu. »Also für Erwachsene. Sollte das noch einmal vorkommen, dass einer von Ihnen eine infantile Reaktion nicht unterdrücken kann, möchte ich sie oder ihn bitten, dies außerhalb unseres Kurses zu t u n . Merken Sie sich das.« Er hob den Kopf, fixierte weder Valente noch Elisa, sondern wandte sich der ganzen Gruppe zu, und schob im selben Ton nach: »Abgesehen davon ist die von Frau Robledo gelieferte Lösung richtig u n d brillant.« Elisa bekam eine Gänsehaut. Er hat nur mich genannt, weil ich die Lösung als Erste gewusst habe. I h r kam der Ratschlag eines Optikprofessors in den Sinn: >In der Wissenschaft kann man sich erlauben, ein Arschloch zu sein, nur muss man den anderen zu-
vorkommend Dennoch empfand sie weder Genugtuung noch echte Freude über ihren T r i u m p h . Im Gegenteil, Schamesröte stieg ihr ins Gesicht. Sie beobachtete aus dem Augenwinkel das unbewegte Profil von Valente Sharpe, der sie noch nie direkt angeblickt hatte, u n d fühlte sich elend. Gratuliere, Elisa, heute warst du das Arschloch und bist Valente zuvorgekommen. Sie senkte den Kopf u n d verbarg die Tränen, indem sie eine Hand vor die Stirn legte, als würde sie geblendet.
Der Vorfall beschäftigte sie so sehr, dass sie zu Hause kaum beachtete, als wieder eine M a i l von »mercuryfriend« angezeigt wurde. Da sie inzwischen wusste, dass sich die Datei ohnehin von allein öffnete, ob sie sie aufrief oder nicht, klickte sie die geschlossene M a i l diesmal gleich an. Wieder erschien auf dem Bildschirm eine Bilderserie. Sie wollte gerade wegschauen, da bemerkte sie den Unterschied. Zwischen den Akten waren auch andere Bilder: Ein Mann trug in gebückter Haltung einen Felsbrocken auf dem Rücken; auf einem gesattelten Soldaten in der Uniform des Ersten Weltkriegs hockte ein Mädchen; ein Tänzer balancierte auf den Schultern eines Akrobaten ... Am Ende erschien in roten Lettern auf schwarzem G r u n d dieser neue, rätselhafte Satz: »WENN DU BIST, WER D U GLAUBST Z U SEIN, K O M M S T D U S C H O N N O C H DRAUF.« Von wem die Anzeige wohl stammen mochte? Elisa zuckte verständnislos die Achseln und schaltete den Rechner aus, blieb dann jedoch reglos davor sitzen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass etwas dahintersteckte. Es musste etwas Unwichtiges, etwas längst Vergessenes sein, sie kam einfach nicht drauf. Später würde es ihr bestimmt wieder einfallen. Sie zog sich aus und blieb lange unter der warmen, entspan-
nenden Dusche. Als sie das Badezimmer verließ, hatte sie die M a i l vergessen und dachte nur noch an den Zwischenfall in der heutigen Vorlesung. Wenn sie ehrlich war, spornte Blanes' Missachtung sie erst richtig an. Sie hatte Blut geleckt. Ohne sich anzuziehen, breitete sie das Handtuch ü b e r ihr Bett und legte sich m i t Aufzeichnungen und B ü c h e r n darauf und rechnete einige Gleichungen durch, die ihr für ihre Hausarbeit in den Sinn gekommen waren. Es blieben nur noch fünf Kurstage. An den letzten Vorlesungstag sollte ein zweitägiges internationales Symposium im Kongresszentrum anschließen, zu dem einige der bekanntesten theoretischen Physiker erwartet wurden, zum Beispiel Stephen Hawking und Blanes selbst. Bis dahin sollte jeder Student eine Hausarbeit abliefern und darin mögliche Lösungen aufzeigen, die sich aus der Aufgabenstellung der » M a m m u t b a u m - T h e o r i e « ableiten ließen. Elisa versuchte einen neuen Ansatz. Die Ergebnisse stellten sie noch nicht zufrieden, aber die Tatsache, dass sie einen Rechenweg hatte, beruhigte sie. Diese Ruhe war leider von kurzer Dauer. Als sie zum Essen ihr Z i m m e r verließ, begegnete sie ihrer Mutter, und diese hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als sich ihrer heiligsten Pflicht zu widmen und der Tochter das Leben schwer zu machen. »Also so was. Ich dachte, du wärst noch gar nicht da. Wieso verdrückst du dich sofort in dein Zimmer, ohne ü b e r h a u p t Guten Tag zu sagen?« »Bitte schön: Ich bin da.« Sie waren sich im Flur begegnet. Ihre Mutter war perfekt gekleidet und geschminkt und roch nach einem dieser Parfüms, für die in den Modezeitschriften mit ganzseitigen Anzeigen nackter Frauen geworben wurde. Elisa dagegen trug einen alten Kittel und wusste, dass sie aussah wie immer: wie eine Vogelscheuche. Sie ahnte, dass der Kommentar ihrer Mutter nicht lange auf sich warten lassen w ü r d e , und hatte sich nicht getäuscht.
»Du k ö n n t e s t wenigstens deinen Jogginganzug anziehen und dir die Haare k ä m m e n . Hast du schon gegessen?« »Nein.« Elisa ging b a r f u ß bis in die K ü c h e u n d überlegte kurz, den Kittel zuzuknöpfen, bevor ihr >das Mädchen< über den Weg lief. Das Essen war wie immer appetitlich angerichtet und sorgfältig m i t Frischhaltefolie abgedeckt. So wollte es Marta Morande, Baronin von Piccarda. Elisa hatte es inzwischen aufgegeben, nach Schnellgerichten zu verlangen, die sie sich ohne viel Zeitaufwand zwischendurch m i t den Fingern in den M u n d stecken konnte. Der m ü t t e r l i c h e Wunsch war stärker, und dagegen anzugehen, hieß mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Es gab ein Risotto. Elisa a ß , bis das lästige Hungergefühl in ihrem Magen nachließ. Gedankenverloren saß sie am Küchentisch, die langen Beine von sich gestreckt, spielte m i t der Gabel, trank einen Schluck Wasser und plötzlich hatte sie einen Einfall. Ihr Gehirn nahm von verschiedenen Seiten die schier uneinnehmbaren Gleichungen wieder in Angriff. Dass ihre Mutter die Küche betreten hatte, bemerkte sie erst, als ihre Stimme sie aus den Gedanken riss. » . . . eine sehr sympathische Dame. Sie sagt, der Sohn ihrer Freundin sei m i t dir an der U n i gewesen. W i r haben eine ganze Weile über dich geredet.« M i t leerem Blick starrte sie ihre Mutter an. »Was?« »Der Name w i r d dir nichts sagen. Eine neue Kundin m i t sehr, sehr guten Beziehungen ...« Marta Morande unterbrach sich, um die Schlankheitspillen zu schlucken, die sie jeden Mittag mit einem Glas Mineralwasser herunterspülte. »Sie hat mich gefragt: >Ach, sind Sie die Mutter von dem M ä d c h e n ? Wussten Sie, dass Ihre Tochter geradezu als Genie gilt?< Ob es dir passt oder nicht, sei dir hiermit gesagt, dass ich mit dir angegeben habe und mächtig stolz auf dich war. Allerdings ist m i r das nicht weiter schwer gefallen, die Frau hat begeistert von dir gesprochen. Sie wollte wissen, wie es ist, m i t einem Mathegenie zusammenzuwohnen ...«
»Aha.« Jetzt war ihr klar, warum die Mutter so gut aufgelegt war. Offenbar hatte sie in ihrem Schönheitssalon m i t Elisas Erfolgen bei einer >neuen Kundin m i t sehr, sehr guten Beziehung e n m ä c h t i g gepunktet. »>Außerdem sieht sie hervorragend aus, wie ich g e h ö r t habe<, hat sie dann gesagt. Und ich habe geantwortet: >Tja, eine perfekte junge Frau.<« »Deine Ironie kannst du dir sparen.« Marta Morande drehte sich, den Kopf schon im Kühlschrank, um und sah sie an. »Also h ö r mal, ich meine das durchaus ernst.« »Oh nein, alles, nur nicht das.« »Darf man hier nicht mal mehr seine Meinung sagen?« Elisa gab ihr keine A n t w o r t . Die Mutter richtete sich auf und sah ihr direkt ins Gesicht. »Wenn ich die Leute so ü b e r dich reden h ö r e wie heute, b i n ich richtig stolz auf dich, das kannst du m i r r u hig glauben. Trotzdem darf ich doch w o h l meinen, dass es s c h ö n wäre, wenn du nicht nur perfekt wärst, sondern dir auch die M ü h e machen w ü r d e s t , dich entsprechend zurecht zu machen ...« »Wieso, das ist doch dein Part«, versetzte Elisa. »Du b i s t . . . wie heißt dieses fromme Psychobuch noch, das du gerade liest? >Die inkarnierte Tugend<, genau! U n d ich habe nicht die Absicht, dir auf diesem Terrain Konkurrenz zu machen.« Marta Morande sprach weiter, als h ä t t e sie nichts g e h ö r t . » W ä h r e n d m i r meine K u n d i n diese Wunderdinge von d i r erzählt hat, habe ich gedacht: Was sie wohl sagen w ü r d e , wenn sie wüsste, wie wenig meine Tochter ihre Vorzüge zu nutzen w e i ß . . . Sie hat sogar vermutet, dass dir die Stellenangebote säckeweise ins Haus flattern, jetzt, wo du m i t dem Studium fertig bist.« Elisa ging in Habachtstellung. Hier begann der Sumpf, u n d wenn sie weitersprachen, w ü r d e n sie unaufhaltsam im Morast einer wenig erbaulichen Diskussion versinken. Sie wusste, wie sehr sich ihre Mutter w ü n s c h t e , dass sie >etwas aus ihrem Stu-
d i u m machten Am liebsten sähe sie die Tochter auf einem Posten in der Industrie. Dass es auch die theoretische Forschung gab, kam Marta Morande gar nicht in den Sinn. »Wo gehst du hin?« Elisa war aufgestanden u n d trat den R ü c k z u g an. Ü b e r die Schulter warf sie z u r ü c k : »Ich habe zu t u n . « Sie versetze der Schwingtür einen Stoß und verließ die Küche. »Ich habe auch zu t u n , und trotzdem verschwende ich ab und zu meine Zeit m i t dir«, t ö n t e es ihr hinterher. »Dein P r o b l e m . « Elisa durchquerte fast im Laufschritt das Wohnzimmer und stieß beinah m i t dem >Mädchen< zusammen. Erst da bemerkte sie, dass ihr Kittel i m m e r noch offen stand. Egal. Hinter sich h ö r t e sie das Klackern hochhackiger Schuhe und beschloss, der Mutter im Flur noch einmal die Stirn zu bieten: »Lass m i r meine Ruhe! Kapiert?« »Natürlich«, gab ihre Mutter eisig z u r ü c k . »Nichts lieber als das, glaub mir. Aber du solltest besser mal d a r ü b e r nachdenken, m i r auch meine Ruhe zu lassen ...« »Ich schwöre dir, dass ich es versuche.« « . . . solange w i r uns nicht gegenseitig in Ruhe lassen k ö n n e n , mache ich dich darauf aufmerksam, dass du hier immer noch in meiner Wohnung wohnst und bitte s c h ö n meine Regeln zu befolgen hast.« »Klar, alles, was du sagst.« Es war sinnlos: Sie hatte weder die Kraft noch die Lust auf diese Auseinandersetzung. Elisa wandte sich wieder zum Gehen, doch die Stimme ihrer Mutter ließ sie innehalten. »Wenn sie wüssten, wie du tatsächlich bist, h ä t t e n die Leute weiß Gott eine andere Meinung von dir.« »Und, wie b i n ich?«, forderte sie ihre Mutter heraus. » D u bist ein Kindskopf«, sagte diese u n g e r ü h r t . Elisa wusste von sich, dass sie Talent für mathematische Berechnungen hatte, aber so berechnend wie Marta Morande w ü r d e sie nie werden. »Mit deinen dreiundzwanzig Jahren bist du immer noch ein Kindskopf, der weder einen Gedanken an
sein Aussehen verschwendet noch daran, eine feste Stelle zu finden oder eine Beziehung aufzubauen ...« Ein Kindskopf. Die Worte trafen sie wie ein Fausthieb. Von einem Kindskopf ist nichts anderes zu erwarten, als dass er im Unterricht infantile Reaktionen zeigt. »Soll ich dir Miete bezahlen?«, presste sie hervor. Ihre Mutter blieb einen M o m e n t still. Dann entgegnete sie vollkommen ruhig: » D u weißt, dass es nicht das ist, Elisa. Du weißt, dass ich nur m ö c h t e , dass du lernst, dich im Leben zu bew ä h r e n . F r ü h e r oder später wirst du begreifen, dass das Leben nicht darin bestehen kann, in dem Schweinestall da zu hausen und Mathe zu pauken, und auch nicht darin, beim Essen nackt in der Gegend herumzulaufen ...« Elisa beendete die altbekannte Litanei, indem sie in ihr Z i m mer schlüpfte und die T ü r zuschlug. Sie lehnte sich eine Weile von innen gegen das T ü r b l a t t , als k ö n n t e die Mutter jeden Moment an der Klinke rütteln oder die T ü r aufstoßen. Doch sie h ö r t e nur Schritte in Luxusstilettos, die sich allmählich entfernten, in der Unendlichkeit verloren. Elisas Augen wanderten zum Bett, den verstreuten Papieren und Büchern, und sie wurde ruhiger. Allein der Anblick ließ sie aufatmen. U n d es dauerte nicht lange, da war sie schon wieder ganz in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft. Sie glaubte zu verstehen, was die E-Mails zu bedeuten hatten.
Elisa setzte sich an den Schreibtisch, nahm Papier, Lineal und Bleistift zur Hand. Figuren, die andere auf dem Rücken tragen. Der Soldat und das Mädchen. Sie fertigte eine Skizze nach diesem Muster an: ein Strichm ä n n c h e n , das ein anderes auf dem Rücken trug. Dann zeichnete sie mit einem feineren Bleistift drei Quadrate um die M ä n n chen herum, so dass in deren Mitte ein gleichschenkliges Dreieck stehen blieb. Nachdenklich sah sie sich das Ergebnis an.
M i t einem neuen Radiergummi entfernte sie vorsichtig die M ä n n c h e n aus den rechteckigen Rahmen und zog zuletzt die L i nien nach, die sie aus Versehen m i t ausradiert hatte.
Jeder Mathematikstudent kannte dieses Diagramm. Es war das b e r ü h m t e 47. Postulat aus dem ersten Buch der Elemente von Euklid. Der geniale griechische Mathematiker lieferte damit einen eleganten Beweis für den Satz des Pythagoras, und der besagte: Die Flächen der oberen Quadrate stimmen in ihrer Summe m i t der Fläche des unteren Quadrats überein. Im Laufe der Jahrhunderte hatte Euklids Beweis unter Mathematikern in Form von symbolischen Zeichnungen kursiert, darunter der eines Soldaten, der seine Braut m i t einem Sattel auf dem Rücken trägt: jene Zeichnung, »Brautsattel« genannt, war
für sie der Schlüssel. letzt wusste sie, dass die anderen Bilder aus einem Kunstbuch zur Mathematik stammen mussten und nicht etwa aus einer erotischen Publikation. Sie konnte sich sogar entsinnen, bei irgendeiner Gelegenheit ein solches Buch einmal in der Hand gehabt zu haben. »Wenn du bist, wer du glaubst zu sein, kommst du schon noch drauf.« Sie erschauerte. Konnte das w i r k l i c h wahr sein? Nur jemand, der sich in Mathematik gut auskannte, w ü r d e die Bilder so deuten. Wollte ihr der anonyme Absender damit vielleicht zu verstehen geben, dass nur jemand wie sie die Botschaft entschlüsseln konnte? Diese Schlussfolgerung ergab i m m e r h i n einen Sinn. Die Nachricht war für mich. Aber was will man m i r damit sagen? Euklid. Ihr kam eine Idee, u n d als sie diese weiterverfolgte, wurde ihr schwindelig. Sie schaltete den Rechner an, öffnete den Navigator und ging ins Netz. Sie lud die Seite von »mercuryfriend.net« und betrachtete eingehend die Anzeigen der Bars u n d Nachtclubs. Ihr blieb die Spucke weg. Die Anzeige vom Club »Euklid« sah zunächst genauso aus wie alle anderen. In g r o ß e n roten Buchstaben war der Name des Lokals zu lesen und darunter der Zusatz: »Der passende Ort für ein Tete-ä-Tete.« Aber es stand noch etwas da: Freitag, 8. Juli, 23.15 Uhr, Sonderempfang: K o m m , w i r wollen reden. Es w i r d dich interessieren. Ihr stockte der Atem. Freitag, der 8. Juli, das war heute.
8
»Ich wusste nicht, dass du heute Abend ausgehst«, sagte ihre Mutter, die vor dem Fernseher saß und in einer Zeitschrift blätterte. Dann unterzog sie die Tochter ü b e r den Rand ihrer Lesebrille hinweg einer eingehenden Untersuchung. »Ich bin mit einem Freund verabredet«, log Elisa, wenn es eine Lüge war. Sie wusste ja nicht, was sie erwartete. »Mit dem Publizistikstudenten?« »Ja.« »Schön. Es w i r d Zeit, dass du unter Leute kommst.« Elisa wunderte sich. Etwa eine Woche zuvor hatte sie nebenbei eine Bemerkung über Javier Maldonado gemacht, die kaum ins Gewicht fallen durfte bei den ausgedehnten Schweigephasen zwischen ihrer Mutter u n d ihr. Sie hatte angenommen, ihre Mutter hätte das gar nicht gehört, um jetzt festzustellen, dass sie sich getäuscht hatte. Die m ü t t e r l i c h e Anteilnahme machte sie stutzig: Bis jetzt hatten sie sich nicht viel um das Tun und Lassen der anderen geschert u n d genauso wenig um deren Umgang. Egal, ist sowieso wieder gelogen. U n d als sie schon in der W o h n u n g s t ü r stand, h ö r t e sie die Mutter noch höflich »Viel Spaß« rufen. Sie schmunzelte unwillkürlich, wusste sie doch nicht, ob sie an diesem Abend ü b e r h a u p t S p a ß haben w ü r d e . Sie wusste noch nicht einmal, wo genau sie hinmusste. Denn es gab gar keinen Club m i t Namen »Euklid«.
Die Anschrift gab es zwar, ein kleines N e b e n s t r ä ß c h e n in Chueca, aber eine Bar oder einen Club »Euklid« hatte sie weder dort noch woanders in M a d r i d gefunden, obwohl sie diverse Stadtführer konsultiert hatte. Doch diese Feststellung hatte sie paradoxerweise nur in der Ü b e r z e u g u n g b e s t ä r k t , dass es sich tatsächlich um die Einladung zu einer Verabredung handelte. Wenn es das Lokal n ä m l i c h gegeben hätte, wäre ihr die Sache allzu schlüssig vorgekommen - die Mails, die Webseite, die versteckte Botschaft des Euklid, die Existenz des Clubs. Erst die Entdeckung, dass Letzterer in den einschlägigen Verzeichnissen nicht zu finden war, hatte ihre Neugierde geweckt. Umso mehr, als sie feststellen musste, dass es die anderen Kneipen sehr wohl gab. Hatte sie sich das Ganze nur eingebildet oder war es ein Hinweis darauf, dass der anonyme Mailverfasser unter Verwendung von Euklids Namen einen geschickten Plan ersonnen hatte, um sie zu einer bestimmten Uhrzeit an einen bestimmten O r t zu locken? Aber wozu? Wer konnte das sein, und was wollte er von ihr? Als sie aus der Metrostation Chueca in die Hitze hinaufstieg und sich auf der S t r a ß e ins l ä r m e n d e Gewimmel junger Leute unterschiedlicher Herkunft mischte, war ihr doch unwillkürlich ein wenig m u l m i g zumute. Dabei verband sie m i t dem Treffen keine besonderen Erwartungen, aber auch keine Ängste. Trotzdem bildete sich unter T-Shirt u n d Kurzjacke eine G ä n s e h a u t auf ihrem Rücken. Sie war erleichtert, dass sie m i t diesem Aufzug, den eine kaputte Jeans vervollständigte, in diesem Stadtviertel nicht die Blicke auf sich zog. Sie fand die Hausnummer eingekeilt zwischen zwei g r o ß e n Portalen am Ende einer der Gassen, die von einem Platz ausgingen. Dahinter mochte sich eine Bar, ein Club oder beides verbergen, doch Euklid hieß er nicht. A u f dem Neonschild fehlten mehrere Buchstaben, aber Elisa achtete nicht weiter darauf, denn die Fassade m i t den zwei Schwingtüren aus schwarzem Glas zog sie magisch an. Nichts deutete daraufhin, dass es sich um einen geheimen Versammlungsort handelte oder eine verbotene Spiel-
halle, zu der junge S t u d i e n a b g ä n g e r i n n e n der Physik aus reiner Schikane unter einem mathematischen Vorwand gelockt wurden. Die Gäste kamen und gingen, im Hintergrund h ä m m e r t e ein Stück der Chemical Brothers, und Türsteher zur Gesichtskontrolle gab es auch keine. A u f ihrer Armbanduhr war es zehn nach elf. Sie beschloss hineinzugehen. Vor Elisas Augen machte die Treppe eine Kehre. U n d als sie um die Ecke bog, bot sich ihr ein beruhigender Anblick: ein weitläufiger Saal, überfüllt, so dass er sehr viel kleiner wirkte. Das einzige Licht stammte von einer Theke an der rückwärtigen Wand. Es war rot, weshalb man in den entlegensten Winkeln nur halbe Haarschöpfe erkennen konnte, mal einen A r m oder den rot übergossenen Streifen eines Oberschenkels oder Rückens. Die Musik war so laut, dass Elisa überzeugt war, ihr w ü r d e n noch stundenlang die Ohren d r ö h n e n . Wenigstens gab die Klimaanlage offenbar ihr Bestes. Was nun, Herr Euklid? Sie mischte sich unter die Schatten, um festzustellen, dass es nicht einfach war, sich einen Weg zu bahnen, ohne b e r ü h r t zu werden oder jemanden zu b e r ü h r e n . Vielleicht werde ich ja an der Theke erwartet. Sie drängelte sich durch die Menge, teilte sie m i t den H ä n d e n . Doch plötzlich waren da noch zwei H ä n d e . U n d ein eiserner Griff u m ihren A r m . »Komm!«, vernahm sie eine Stimme. »Schnell!« Perplex vor Verwunderung, gehorchte sie.
r
un wechselte die Szenerie, w ä h r e n d sie ans Ende des Lokals ge-
führt wurde, wo sich die Toiletten befanden. M i t ihrem Begleiter stieg sie eine weitere, engere Treppe hoch, die in einen kurzen Gang m ü n d e t e m i t einer T ü r am Ende. An dieser befand sich ein Bügel zum Öffnen und ein pneumatischer Verschluss. Ein Leuchtschild darüber wies sie als >Exit< aus. Ihr Begleiter drückte den Bügel hinunter und öffnete die T ü r wenige Millimeter. Er spähte h i naus, dann schloss er die T ü r wieder und drehte sich zu ihr u m .
Elisa, die i h m wie ein H u n d an der Leine gefolgt war, fragte sich, was nun geschehen w ü r d e . Unter diesen U m s t ä n d e n musste sie m i t allem rechnen. Aber die Frage, die dann kam, überraschte sie doch. Sie glaubte, sich v e r h ö r t zu haben. »Mein Mobiltelefon?« »Ja. Hast du es dabei?« »Natürlich ...« »Gib her.« M i t offenem M u n d schob sie die Hand in die Hosentasche. Kaum hatte sie das kleine Gerät hervorgeholt, da griff er schon danach. »Bleib hier stehen u n d schau genau zu.« Sie hielt die geöffnete T ü r fest, als er hinausging. Gerade rechtzeitig hob sie den Blick, um i h n die enge Straße ü b e r q u e r e n zu sehen, wo er ihr Handy zu ihrem g r ö ß t e n Erstaunen in den A b falleimer warf, der dort an einem Pfosten hing. Dann kam er zurück und schlüpfte wieder zu ihr hinter die Tür. »Hast du gesehen, wo ich es hingetan habe?« »Ja,aber,was ...?« Er legte den Zeigefinger an die Lippen. »Schhhhh. Sie werden nicht lange auf sich warten lassen.« In der folgenden Pause starrte sie ihn an, und er starrte hinaus auf die Straße. »Da sind sie«, sagte er plötzlich. Er senkte die Stimme und flüsterte: » K o m m vorsichtig näher.« Wieder gehorchte sie automatisch, obwohl es ihr gar nicht passte, i h m so nahe zu kommen. »Pass auf.« Durch den T ü r s p a l t sah sie nichts anderes als einen Wagen, der m i t stotterndem Motor auf der Straße vorüberfuhr, und dann auf dem Gehweg gegenüber einen Mann, der in den Abfalleimer langte. Ein weiteres Auto fuhr vorbei, dann noch eines. Als das Blickfeld wieder frei war, konnte sie beobachten, dass der M a n n einen Gegenstand aus dem Müll geholt hatte u n d i h n offenbar verärgert abschüttelte, um ihn zu reinigen. Sie brauchte sich nicht
anzustrengen, um zu wissen, dass es sich um ihr Mobiltelefon handelte; der Mann hatte es angeschaltet, und das gewohnte blaue Licht des Displays leuchtete auf. Der M a n n war ein Unbekannter, kahlköpfig, in einem kurzärmeligen Hemd und - was sie beinahe ü b e r r a s c h t e - bartlos. Dann drehte sich der M a n n plötzlich zu ihnen u m , u n d auf einmal begriff sie gar nichts mehr. »Wir wollen nicht, dass sie uns sehen, nicht wahr?«, raunte ihr Begleiter ihr ins Ohr, nachdem er die T ü r zugezogen hatte. »Wir würden ihren hübschen Plan verderben ...« Als er das sagte, grinste er auf eine Weise, die Elisa ganz und gar nicht behagte. »Ich muss wissen, ob du noch weitere Mikrochips bei dir hast... irgendwo in der Kleidung oder in einer Hautfalte ... Aber w i r haben im Laufe des Abends noch reichlich Zeit, dich genau zu d u r c h s u c h e n . « Sie antwortete nicht darauf und fragte sich, was sie beunruhigender fand: den Kerl, der gerade ihr Handy aus dem M ü l l gefischt hatte, oder ihn hier m i t seinen kalten, u n g e w ö h n l i c h blaug r ü n e n Augen und der Stimme m i t dem spöttischen Unterton. Aber dann gehorchte sie wieder ohne den geringsten Widerstand, als der nächste Befehl kam. »Gehen wir«, sagte Valente Sharpe.
»Wie soll m i r denn jemand einen . . . Sender ins Handy eingebaut haben?« »Bist du sicher, dass du es nicht mal irgendwo liegen lassen hast? Oder jemandem geliehen, u n d sei es nur für einen Augenblick?« »Todsicher.« »War kürzlich was bei dir kaputt? Der Toaster? Der Fernseher? Irgendetwas, wofür ein Techniker ins Haus kommen musste?« »Nein, ich ...« Dann entsann sie sich: das Telefon. Letzte Woche war jemand da gewesen, um es zu reparieren. »Und du warst zu Hause, oder? Und das Handy lag in deinem Zimmer.«
»Aber sie haben nicht lange gebraucht. Sie ...« »Aha«, lächelte Ric Valente. »Für die war das Zeit genug. Die h ä t t e n dir sogar noch ein paar Wanzen in den Klodeckel eingebaut, das kann ich dir versichern. Sie m ö g e n sich manchmal ein wenig ungeschickt anstellen, aber da sie immer dasselbe machen, haben sie inzwischen eine gewisse Routine.« Sie hatten die Plaza de España erreicht, und Valente bog in die Calle de Ferraz ein. Er fuhr langsam und behielt auch die Geduld, wenn der Freitagnachtverkehr hin und wieder ins Stocken geriet. Er hatte Elisa mitgeteilt, dass der Wagen, in dem sie u n terwegs waren, >sicher< sei. Eine Freundin habe i h m das Auto für den Abend geliehen. Aber eine Polizei- u n d F ü h r e r s c h e i n k o n trolle k ö n n e er jetzt am wenigsten gebrauchen, fügte er hinzu. Elisa fand zwar, dass nach allem, was sie an diesem Abend erlebt hatte, ein Bußgeld das geringste Problem war. Die Fragen w i r belten nur so in ihrem Kopf herum. Sie konnte beim Anblick von Valentes Raubvogelprofil nicht u m h i n , sich zu fragen, ob er vielleicht verrückt war, was i h m nicht entging. »Ich verstehe, dass es dir schwer fällt, m i r zu glauben, meine Liebe. Mal sehen, vielleicht kann ich dir weitere Beweise liefern: Ist dir in letzter Zeit aufgefallen, dass du verfolgt wirst von Leuten, die einander ähnelten? Z u m Beispiel Rothaarige, Polizisten, Straßenkehrer ...« Es verschlug ihr die Sprache. Es kam ihr vor, als w ä r e sie gerade aus einem Albtraum erwacht, und jetzt erzählte ihr jemand, er sei doch wahr gewesen. Als sie i h m von den g r a u b ä r t i g e n M ä n n e r n berichtet hatte, lachte Valente schallend u n d brachte den Wagen vor einer Ampel zum Stehen. »Bei m i r waren es Bettler. Im Jargon werden sie >Lockvögel< genannt. Sie sollen verunsichern, dabei beschatten sie dich in Wirklichkeit gar nicht. Ihre Aufgabe ist das genaue Gegenteil: Du sollst sie bemerken. Du kennst doch aus Krimis diese Szenen, in denen dem Protagonisten auffällt, dass er von einem M a n n m i t Zeitung oder einem Fahrgast an der Bushaltestelle bespitzelt w i r d , aber im wahren Leben sieht man immer nur diese >Lock-
vögel. Ich weiß, wovon ich rede.« Er wandte ihr das bleiche Gesicht zu. »Mein Vater ist Fachmann in Sachen Sicherheit. Er behauptet, der Einsatz von Lockvögeln sei pure Psychologie. Denn wenn du glaubst, von M ä n n e r n mit grauem Schnäuzer beobachtet zu werden, sucht dein Gehirn unbewusst nach genau diesem Typ u n d sortiert jeden aus, der nicht diese Merkmale aufweist. Bis du dir irgendwann klar machst, dass das Ganze reine Einbildung sein muss. Du lässt in deiner Wachsamkeit nach und siehst prompt ü b e r andere Ungereimtheiten hinweg. Dann haben die echten Spitzel ein leichtes Spiel m i t dir. Aber heute haben w i r i h nen ein Schnippchen geschlagen.« Elisa war tief beeindruckt. Was Valente da erzählte, war genau das, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Sie wollte gerade weiterfragen, da s p ü r t e sie, dass sie angehalten hatten. Valente hatte das Auto neben einem Container geparkt. Von dort liefen sie die S t r a ß e in Richtung Paseo del Pintor Rosales hinunter. Ganz in Gedanken versunken, passte Elisa sich seinem Schritt an, ohne zu wissen, wo es hinging. Sie hatte ihn zwar danach gefragt, aber keine A n t w o r t erhalten. U n d jetzt war sie zu sehr damit beschäftigt, im Gehen die Teile dieses aberwitzigen Puzzles zu einem vollständigen Bild zusammenzusetzen. »Du sagst, sie w ü r d e n uns beschatten. Aber wer? Und warum?« »Ich weiß es nicht genau.« Valente hatte die H ä n d e in den Taschen vergraben und wirkte vollkommen ruhig, dennoch schien er es sehr eilig zu haben, als sei sein gemessener Schritt nur eine andere A r t , Tempo vorzulegen. »Hast du schon mal was von ECHELON gehört?« »Ja, ich habe vor einiger Zeit mal was d a r ü b e r gelesen. Es ist eine A r t . . . internationales Überwachungssystem, oder?« »Es ist das Überwachungssystem der Welt, meine Liebe. M e i n Vater hat für die gearbeitet, deshalb kenne ich m i c h da aus. Wusstest du, dass deine s ä m t l i c h e n Telefongespräche, Karteneinkäufe und Internetsurfereien von G r o ß r e c h n e r n registriert, durchgesehen und gefiltert werden? Jeder von uns, jeder Bürger in jedem Land, w i r d von ECHELON auf seine vermeintliche Ge-
fährlichkeit hin durchleuchtet - die einen mehr, die anderen weniger. Wenn die Rechner beschließen, dass du für sie ein interessantes Objekt bist, dann markieren sie dich rot und fangen an, dich ganz intensiv auszuhorchen: Lockvögel, Wanzen . . . das ganze Paket. Das ist ECHELON, Big Brother weltweit. Bewacht euren eigenen Arsch, damit ihr euch nicht in die Nesseln setzt, so das M o t t o . Seit dem 11.09. und dem 11.03. sind w i r wieder angekommen bei den Zeiten von Adam und Eva im Paradies: nackt und ü b e r w a c h t . ECHELON ist natürlich angelsächsisch, genauer gesagt US-amerikanisch. Aber vor gar nicht langer Zeit hat m i r mein Vater erzählt, dass etwas Ähnliches in Europa entstanden ist, ein Überwachungssystem, das mit den gleichen Taktiken arbeitet wie ECHELON. Vielleicht ist es ein und dasselbe.« »Wenn ich dich so reden h ö r e , dann ... entschuldige, aber ... dann frage ich mich, warum sie ausgerechnet uns ü b e r w a c h e n sollten, m i t ihrem ECHELON oder was auch immer, ich meine, warum dich und mich?« »Keine Ahnung. Genau das will ich ja m i t deiner Hilfe herausfinden. Ich habe schon einen Verdacht.« »Und der wäre?« »Dass sie uns bespitzeln, weil w i r die Besten im Blanes-Kurs sind.« Elisa konnte ein Lachen nicht u n t e r d r ü c k e n . Es stimmte wohl, dass begabte Physikstudenten ihre Spleens hatten, aber bei Valente schien das auszuarten. »Willst du mich auf den A r m nehmen?«, fragte sie. Valente blieb unversehens mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah sie direkt an. Wie meistens war er auffällig gekleidet. Er trug eine weiße Jeans und einen melierten Pullover m i t einem so g r o ß e n Ausschnitt, dass darin seine b l o ß e n Schultern hervorlugten. Das strohblonde Haar fiel i h m tief in die Stirn. Ihre Frage schien i h n zu verunsichern. » H ö r mal, M ä d c h e n . Ich habe dieses Treffen unter größter Geheimhaltung arrangiert. Eine Woche lang habe ich dir Bildchen geschickt und darauf gebaut, dass du helle genug bist, die Bot-
schaft zu kapieren, klar? Wenn du m i r nicht glauben willst, dann lass es. Ich muss meine Zeit nicht m i t dir verschwenden.« Er drehte sich abrupt u m , hob die Faust und schlug an die nächstbeste Tür. Elisa dachte, dass ein Leben m i t Valente Sharpe alles andere als langweilig sein musste. Die T ü r tat sich auf und offenbarte einen d ä m m r i g e n Flur sowie die dunkle Silhouette eines Mannes. Valente trat ü b e r die Schwelle und wandte sich zu ihr u m . »Wenn du rein willst, dann jetzt. Wenn nicht, verpiss dich.« »Rein?« Elisa spähte in die Dunkelheit. »Wohin?« Der M a n n m i t dem olivfarbenen Teint beobachtete sie m i t einem seltsamen Glanz in den Augen. »Zu m i r « , lächelte Valente. »Tut m i r Leid, dass ich dich durch den Dienstboteneingang führen muss. Du willst d r a u ß e n bleiben? Bitte schön.« U n d an den M a n n gewandt: »Mach ihr die T ü r vor der Nase zu, Faouzi.« Krachend fiel das schwere Holz vor ihr ins Schloss. Sogleich öffnete sich die T ü r wieder und ein sichtlich a m ü s i e r t e r Valente erschien im T ü r r a h m e n . »Apropos, hast du den Fragebogen ausgefüllt? Wie haben sie dich dazu gebracht? War es der junge Mann, der auf dem Unifest m i t dir geredet hat? Als wer hat er sich denn bei dir ausgegeben? Als Journalist? Als Student? Als Verehrer?« U n d diesmal, ja diesmal hatte er ihr eindeutig das fehlende Puzzlestück geliefert, das Stück, das sie unbewusst von Anfang an gesucht hatte. Ganz ohne Zweifel war jetzt das Bild vollständig. Ein unmissverständlich klares, ein erschreckendes Bild. Valente schüttete sich schier aus vor Lachen. Sogar sein Lächeln war geräuschvoller als dieses Lachen, für das er nur den M u n d aufriss und den Rachen bis zum Zäpfchen entblößte, während seine Augen ganz klein wurden. »Bei dem Gesicht, das du machst, k ö n n t e man meinen . . . ! Sag b l o ß , der Kleine hat dir gefallen!« Elisa stand reglos da, ohne zu zwinkern oder auch nur zu atmen, was Valente noch zu ermutigen schien, als ergötzte er sich an ihrer verdutzten Miene. »Un-
glaublich, du bist d ü m m e r , als ich dachte ... Du magst ja eine gute Mathematikerin sein, aber in sozialen Dingen stellst du dich blöder an als eine Kuh, stimmt es, meine Liebe? Was für eine Enttäuschung, nicht wahr? Für uns beide.« Er machte Anstalten, die T ü r wieder zu schließen. » K o m m s t du nun rein oder nicht?« Elisa blieb stehen und r ü h r t e sich nicht.
9
Das Haus war verwirrend und unsympathisch wie seine Bewohner. Elisas erster Eindruck erwies sich als richtig, denn offenbar war es kein Einfamilienhaus, sondern ein mehrstöckiges Wohnhaus. Diese Vermutung bestätigte Valente, w ä h r e n d sie gemeinsam eine Steintreppe hinaufstiegen, die noch aus der G r ü n dungszeit des Stadtviertels zu stammen schien. »Mein Onkel hat s ä m t l i c h e Wohnungen aufgekauft. Einige haben seinem Vater gehört und andere seiner Schwester und seinem Cousin. Er hat alles renovieren lassen. Jetzt hat er mehr Platz, als er je b e n ö t i g e n wird.« Dann fügte er hinzu: »Ich hingegen k ö n n t e durchaus mehr b r a u c h e n . « Elisa fragte sich, wie viel Raum Valente w o h l für sich beanspruchen mochte. Sie schätzte, dass drei komplette Wohnungen von der G r ö ß e der ihrigen in dieser feuchten, düsteren Wabe im Herzen Madrids bequem Platz hatten. W ä h r e n d sie der Treppe weiter nach oben folgten, war ihr eines jedoch klar: Ihr selbst konnte es dort zwischen all den Schatten nie und nimmer gefallen, bei diesem Geruch nach frischen Maurerarbeiten und M o der. V o m ersten Treppenabsatz her vernahm sie eine b r ü c h i g e , wimmernde Stimme. Sie brachte nur einzelne Worte hervor, jedes M a l ein anderes. Elisa verstand »Astarte«, »Venus«, »Aphrodite«. Weder Valente noch der Faouzi genannte Hausangestellte
schenkten ihr Beachtung. Als sie jedoch im ersten Stock angelangt waren, blieb Faouzi, der vorausgegangen war, stehen und öffnete eine Tür. Elisa konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick durch jene T ü r zu werfen. Sie konnte einen Teil eines weitläufigen Zimmers sehen, in dem ein M a n n im Schlafanzug neben einer Lampe saß. Der Bedienstete ging auf ihn zu und redete m i t ausgeprägt marokkanischem Akzent auf ihn ein: »Was ist heute m i t Ihnen los? Warum dieses Gejammer?« »Kali.« »Ja, ist ja gut, ist gut.« »Das ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters«, erklärte Ric Valente, zwei Stufen auf einmal nehmend. »Früher war er Philologe, jetzt ist er dement und sagt ständig die Namen von G ö t tinnen auf. Ich w ü r d e mich freuen, wenn er bald stirbt. Das Haus ist seins, ich besitze nur die eine Etage. Aber sobald mein Onkel unter der Erde ist, g e h ö r t es m i r allein, das ist beschlossene Sache. Er erkennt sowieso keinen und weiß nicht, wer ich bin. I h m ist alles egal. Sein Tod wäre das Beste für alle.« Das sagte er, ohne stehen zu bleiben, und in einem unbeteiligten Ton, der Elisa erschauern ließ. Sie war entsetzt ü b e r Valentes grausame Worte und seine Gefühlskälte. U n d Victor kam ihr wieder in den Sinn: Nimm dich in Acht vor Ric. Doch bereits als Valente sie an der H a u s t ü r beschimpfte, hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Sie w ü r d e keinen Rückzieher machen. Sie wollte wissen, was Valente ihr zu sagen hatte. Allein die G r ö ß e des Hauses verschlug ihr die Sprache. Der Treppenabsatz, auf dem sie sich jetzt befanden, war offenbar der letzte. Vor ihr lag der Eingangsbereich mit zwei nebeneinander liegenden T ü r e n auf der einen Seite und geradeaus einem Flur mit weiteren T ü r e n . A u f dieser Etage roch es anders, nach Holz und Büchern. Das Licht stammte von gedimmten Wandleuchten, und das Apartment war offensichtlich erst vor kurzem renoviert worden. »Ist dies deine Etage?«, fragte sie. »Ja, die ganze.«
Gerne wäre sie von Ricardo Valente durch alle R ä u m e dieses extravaganten Museums geführt worden, aber Valente schien das Wort Höflichkeit fremd zu sein. Er ging ihr durch den labyrinthartigen Flur voraus und blieb am Ende m i t der Hand auf einer Klinke stehen. Dann schien er es sich anders zu überlegen und öffnete eine D o p p e l t ü r auf der gegenüberliegenden Seite, tastete m i t dem A r m hinein und machte Licht. »Mein Hauptquartier. Es verfügt ü b e r Tisch und Bett, aber es ist weder mein Schlafzimmer noch mein Wohnzimmer, eher der Ort, wo ich meine Freizeit verbringe.« Elisa stellte fest, dass allein dieser Raum das g r ö ß t e SingleApartment war, das sie je gesehen hatte. Durch ihre Mutter war sie zwar einen gewissen häuslichen Luxus g e w ö h n t , aber in der Gesellschaftsschicht, zu der Valente und seine Familie g e h ö r t e n , schienen ganz andere M a ß s t ä b e zu gelten. Vor ihr erstreckte sich eine g r o ß z ü g i g e Maisonette-Wohnung, w e i ß g e t ü n c h t , ohne Trennwände, nur untergliedert durch eine Säule und eine Treppe, die zur Empore mit dem Schlafbereich führte. Unten fiel ihr Blick auf Bücher, Zeitschriften, mehrere Lautsprecher, eine Kameraa u s r ü s t u n g und sonderbarerweise zwei B ü h n e n , die eine m i t roten Vorhängen und die andere m i t einer weißen Leinwand, davor jeweils eine Batterie Scheinwerfer wie in einem Fotostudio. »Fantastisch«, entfuhr es ihr, aber Valente war schon nicht mehr da. A u f Zehenspitzen verließ auch sie das Heiligtum, als fürchtete sie, zu viel L ä r m zu machen, und begab sich in den Raum, vor dem er anfangs gestanden hatte. »Setz dich«, befahl er und deutete auf eine blaue Sitzgruppe. Es war ein Zimmer von normalen A u s m a ß e n m i t einem f l i m mernden Laptop auf einem kleinen Schreibtisch. An den W ä n d e n hingen Bilderrahmen, meist mit Schwarzweißfotos. Sie erkannte einige b e r ü h m t e Köpfe: Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Stephen Hawking und einen sehr jungen Richard Feynman. Das größte und auffälligste Bild hing direkt vor ihr über dem Computer. Es unterschied sich insofern von den
anderen, als es eine Farbzeichnung war von einem M a n n in Schlips und Kragen, der eine vollkommen nackte Frau liebkoste. Nach dem Gesichtsausdruck der Frau zu schließen, fühlte sie sich keineswegs wohl dabei, doch sie konnte sich der Situation nicht entziehen, weil ihre H ä n d e auf dem Rücken gefesselt waren. Falls Valente ihre Reaktionen mitbekommen hatte, seit sie das Haus betreten hatten, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, dachte Elisa. Er saß vor dem Computer u n d schwang dann m i t dem Stuhl herum, um sie anzublicken. »Dieses Z i m m e r ist sicher«, sagte er. »Womit ich sagen w i l l , dass sie hier keine Wanzen installiert haben. Ich habe im ganzen Haus kein Abhörgerät gefunden. Sie haben m i r offenbar nur einen Sender ins Mobiltelefon eingebaut u n d meine G e s p r ä c h e belauscht. Trotzdem ziehe ich es vor, hier m i t dir zu reden. Bei m i r haben sie sich nämlich unter dem Vorwand eines Stromausfalls eingeschlichen. Vor ihrem Eintreffen habe ich das Zimmer verschlossen und Faouzi angewiesen, ihnen zu sagen, es sei eine Abstellkammer ohne Stromanschluss. Und ich habe eine Ü b e r raschung: Siehst du das Gerät in dem Eckschrank dort, das aussieht wie ein Radio? Es ist ein Wanzendetektor. Es zeigt Frequenzen ab fünfzig Mega- und bis zu drei Gigahertz an. Heutzutage w i r d so was im Internet verkauft. Wenn das g r ü n e Licht brennt, k ö n n e n w i r in Ruhe reden.« Er stützte das eckige K i n n auf die gefalteten H ä n d e und lächelte. »Und nun sollten w i r uns was einfallen lassen, meine Liebe.« »Ich habe erst noch ein paar Fragen.« Sie war gleichzeitig neugierig u n d verärgert, zum einen wegen allem, was er ihr erzählt hatte, u n d wegen des Verlusts ihres Handys, das sie allmählich vermisste, über das er aber kein Wort verloren hatte. »Wie hast du es angestellt, mit m i r Kontakt aufzunehmen, und warum hast du ausgerechnet mich ausgesucht?« »Mal sehen. Ich werde dir erst einmal was ü b e r meine eigenen Erfahrungen erzählen. M i c h haben sie den Fragebogen in Oxford ausfüllen lassen. Da bin ich zum ersten Mal stutzig gewor-
den. Sie haben m i r gesagt, die Befragung s t ü n d e im Zusammenhang mit der Teilnahme am Blanes-Kurs und sei u n u m g ä n g l i c h . U n d kaum war ich in M a d r i d , habe ich angefangen, Bettler zu sehen, die mich zu bespitzeln schienen, und dann dieser Stromausfall ... Aber da war noch etwas: Einige Wochen zuvor haben verschiedene US-amerikanische Universitäten bei meinen Eltern angerufen, um sie unter dem Vorwand auszuhorchen, sie interessierten sich für mich. War das bei dir auch so? Hat jemand einen F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n nach dir ausgefragt, deinem Lebenswandel, nach deinem Charakter?« »Eine K u n d i n meiner M u t t e r « , erinnerte sich Elisa u n d erblasste. »Mit sehr, sehr guten Beziehungen. Das hat sie m i r gerade erst erzählt.« Valente nickte befriedigt, als h ä t t e sie ihre Schulaufgaben gemacht. »Mein Vater hatte m i r schon von solchen Sachen berichtet. Das sind altbekannte Tricks, obwohl ich niemals geglaubt hätte, dass ich eines Tages das Opfer sein würde. Ich habe daraus jedenfalls den Schluss gezogen, dass alles angefangen hat, als ich mich für den Blanes-Kurs eingeschrieben habe. Deshalb muss diese Ü b e r w a c h u n g irgendwas m i t dem Kurs zu tun haben. Aber als ich Vicky . . . Entschuldige«, er verzog das Gesicht wie ein reum ü t i g e s K i n d und verbesserte sich: »... als ich meinen Freund Victor Lopera darauf angesprochen habe ... Ich glaube, du kennst ihn auch. W i r sind von klein auf befreundet, und ich habe Vertrauen zu ihm. Aber bitte hüte dich, jemals Vicky zu ihm zu sagen, dann w i r d er nämlich stinksauer. Jedenfalls, als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er m i r gesagt, er sei keiner Befragung unterzogen worden. Da wollte ich wissen, ob ich der Einzige bin, der auf diese Weise überwacht w i r d , und der nächste logische Schritt war, an dich zu denken, weil wir ... tja, bei der Aufnahmeprüfung fast gleich gut abgeschnitten haben.« Elisa dachte unwillkürlich, dass Valente Sharpe die vier H u n dertstel offenbar zu schaffen machten, sagte aber nichts. »Ich habe auf dem Fest an der Alighieri beobachtet, wie du mit
diesem Typen geredet hast. Da war m i r auf Anhieb alles klar. Trotzdem konnte ich nicht einfach zu dir gehen und sagen: H ö r mal, wirst du auch beschattet? Ich musste es dir erst beweisen k ö n n e n . Ich war n ä m l i c h sicher, dass du Unschuldslamm m i r nicht glauben würdest. Deshalb habe ich jeden normalen Kontakt mit dir gemieden.« Er hielt inne, stand auf und ging in eine Zimmerecke. Dort befand sich ein winziges Waschbecken m i t einem Wasserhahn und einem Glas. Er drehte den Hahn auf und stellte das Glas darunter. »Ich kann dir nur Wasser a n b i e t e n « , sagte er, » u n d auch das nur aus meinem Glas. Ich bin ein miserabler Gastgeber. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dir m i t m i r ein Glas zu teilen.« »Danke, ich m ö c h t e nichts«, erwiderte Elisa. Sie kam allmählich ins Schwitzen und zog die kurze Jacke aus, so dass sie nun im T r ä g e r h e m d d a s a ß . Sie bemerkte, dass er sie beim Trinken flüchtig musterte. Dann kehrte er zu seinem Platz z u r ü c k und fuhr fort. »Da ist m i r ein Trick eingefallen, den ich von meinem Vater gelernt habe: Wenn du eine verschlüsselte Botschaft verschicken willst, mach es m i t Pornographie, hat er zu m i r gesagt. Nur Laien versuchen, eine geheime Botschaft in einem unauffälligen Brief unterzubringen. In der Welt, in der er sich bewegt, ist das Unauffällige das Auffälligste überhaupt. Pornowerbung hingegen scheint niemand so genau unter die Lupe zu nehmen. Also habe ich seinen Rat befolgt. U n d ich bin davon ausgegangen, dass bestimmte Bilder, die auf dem Satz des Euklid beruhen, für Leute, die nichts von Mathematik verstehen, wie Pornographie aussehen. Was nun die Anzeige und die Webseite >mercuryfriend< angeht, das waren einfach nur Spielereien. Auch das Einloggen in deinen Rechner.« »Das Einloggen in meinen Rechner?« »Das Einfachste von der Welt.« Valente kratzte sich unterm A r m . »Deine Firewall stammt noch aus der Zeit, als Computer mit der Handkurbel angetrieben wurden, meine Liebe. Abgese-
hen davon halte ich m i c h für einen nicht unbegabten Hacker u n d habe bereits erste Schritte beim Generieren von Viren gemacht.« Trotz Elisas wachsender Bewunderung für sein raffiniertes Vorgehen fühlte sie sich nicht wohl bei der Sache: So, so, es bereitet ihm also keine Probleme, einfach in meinen Angelegenheiten herumzuschnüffeln, und genau das will er mir beweisen. »Und war u m diese Warnung? Was k ü m m e r t es dich, ob ich beschattet werde u n d ob ich es weiß oder nicht?« »Oh, ich wollte dich kennen lernen.« Valente machte ein ernstes Gesicht. »Ich finde dich sehr interessant, wie übrigens alle ...« Und nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Ich bin sicher, dass sich Blanes ebenfalls für dich interessiert, obwohl er immer nur mich drannimmt. In der h ö h e r e n Physik gibt es eben fast keine Frauen, in Oxford noch weniger als in M a d r i d , glaub mir, u n d schon gar nicht solche wie dich. Ich w i l l damit sagen, ich b i n noch nie einer Frau m i t deinem Grips begegnet, die einen M u n d hat wie eine Hure u n d dazu solche Titten u n d so einen Arsch.« Obwohl Elisas Ohren die letzten Worte durchaus vernommen hatten, brauchte ihr Gehirn einen Augenblick, um die Informat i o n zu verarbeiten: Valente hatte sie in gleich bleibendem, fast hypnotisierendem Ton vorgebracht, wie alles andere auch, u n d Elisas Trance wurde noch verstärkt durch diese w a s s e r g r ü n e n , vorstehenden Augen, die sie aus dem schrecklich mageren, markanten Gesicht fixierten. Als der Groschen fiel, wusste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Im ersten Augenblick fühlte sie sich wie gelähmt, wie die gefesselte Frau auf der Zeichnung. U n d sie wurde sich bewusst, dass manche Menschen wie Schlangen diese Macht ü b e r andere besitzen. Andererseits war ihr bewusst, dass er sie kränken wollte. Wenn sie auf diese Unflätigkeiten einging, w ü r d e er das als Sieg verstehen. Besser sie wartete auf die passende Gelegenheit für einen Gegenschlag. »Ich meine es ernst«, fuhr er fort. »Du bist verteufelt attraktiv. Aber auch sonderbar, stimmt's? Wie ich. Ich habe eine Theorie.
Ich glaube, dass es eine organische Ursache hat. Gib es zu: Geniale Physiker waren immer krank. Das Gehirn eines H o m o sapiens kann im Zeitalter der Quantentheorie nicht an die Grenzen der Welt oder der Relativität s t o ß e n , ohne ernsthafte V e r ä n d e r u n gen zu erleiden.« Er erhob sich noch einmal u n d wies nacheinander auf die einzelnen Porträts. »Schrödinger war von Sex besessen, u n d er hat die Wellengleichung entdeckt, w ä h r e n d er m i t einer Geliebten fickte. Einstein war ein Psychopath, er hat Frau und Kinder verlassen, um eine andere zu heiraten, und als die gestorben ist, hat er gesagt, es ginge i h m jetzt besser, weil er endlich in Ruhe arbeiten k ö n n e . Heisenberg war ein Nazi und hat aktiv an der Herstellung einer Wasserstoffbombe für seinen F ü h r e r gearbeitet. Bohr war krankhaft neurotisch und auf Einstein fixiert. Newton war reines M i t t e l m a ß u n d n i e d e r t r ä c h t i g genug, um zum Urkundenfälscher zu werden, nur weil er seinen Kritikern eins auswischen wollte. Blanes ist ein gestörter Frauenhasser. Hast du gemerkt, wie er dich behandelt? Ich schätze, i h m geht einer ab, wenn er an seine Mutter und seine Schwester d e n k t . . . Solche Beispiele k ö n n t e ich dir stundenlang weiter aufzählen. Ich habe sämtliche Biographien studiert, meine eigene eingeschlossen.« Er lächelte. »Ja, ich führe seit dem fünften Lebensjahr Tagebuch und schreibe alles haarklein auf. Ich denke gerne ü b e r mein Leben nach. Und ich schwöre dir, w i r sind alle gleich: W i r kommen aus gutem Elternhaus - einige, wie de Broglie, sind sogar Aristokraten -, haben die angeborene Fähigkeit, die Natur auf die reine Mathemat i k zu reduzieren, und w i r sind Sonderlinge, nicht nur mental, sondern auch äußerlich. N i m m mich, ich bin dolichozephal, genau wie du. Ich meine, dass w i r einen überlangen Kopf haben, wie S c h r ö d i n g e r und Einstein ü b r i g e n s auch. Obwohl ich von der Figur her eher Heisenberg gleiche. Ich mache keine Witze, ich glaube, es ist was Genetisches. U n d du . . . Na ja, ich weiß nicht, wem du mit deiner Figur ähneln könntest, ehrlich. Ich würde dich ja gerne mal unbekleidet sehen. Deine Brüste, die sind irgendwie sonderbar. Auch länglich, spitz zulaufend. Dolichomamas
k ö n n t e man sie nennen. Ich w ü r d e gerne mal deine Brustwarzen sehen. Warum ziehst du dich nicht aus?« Ü b e r r a s c h t stellte Elisa fest, dass sie ernsthaft d a r ü b e r nachdachte, darauf einzugehen. Valentes A r t zu reden war wie eine R ö n t g e n a u f n a h m e : Ohne etwas zu merken, litt man schon an den Folgen. »Nein danke«, sagte sie. »Und was kennzeichnet uns noch als Sonderlinge?« »Vielleicht unsere Familien.« Valente setzte sich wieder. »Meine Eltern sind geschieden. Meine M u t t e r wollte mich sogar u m bringen. Abtreiben, meine ich. Bis Papa sie davon überzeugt hat, mich zu bekommen. Aufgewachsen b i n ich bei meinem Onkel u n d meiner Tante. Lange bevor ich nach Oxford gegangen b i n , habe ich in M a d r i d in diesem Haus gewohnt. O b w o h l , ganz stimmt das auch nicht. Phasenweise habe ich auch bei einem Elternteil gelebt.« Sein breites Grinsen e n t b l ö ß t e die E c k z ä h n e . » K a u m hatten mich meine Eltern weggegeben u n d damit das Problem gelöst, haben sie n ä m l i c h festgestellt, dass sie mich lieb haben. Sagen w i r mal so, ich bin m i t den beiden gut befreundet. U n d du? Wie war dein Leben so?« »Wieso fragst du noch, du weißt es doch ohnehin schon?«, versetzte sie. Valente ließ ein heiseres Gelächter h ö r e n . »Ich weiß das eine oder andere«, r ä u m t e er ein. »Dass du die Tochter von Javier Robledo bist und dein Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Ich weiß, was über dich geschrieben wird.« Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Du hast vorhin davon gesprochen, dass w i r etwas unternehmen sollten. Warum gehen w i r nicht zur Polizei? W i r k ö n n e n versuchen zu beweisen, dass w i r beschattet werden.« »Du kapierst auch gar nichts, oder, meine Liebe? Es ist doch die Polizei, die uns ü b e r w a c h t . Nicht der Polizist an der Ecke, nicht mal die >Geheimpolizei<, sondern der Staat. Das h e i ß t irgendeine A r t staatlicher Behörde. Sagen wir, die h ö h e r e n Chargen.« »Aber warum? Was haben w i r denn verbrochen?«
Valente ließ wieder jenes Gelächter h ö r e n , das sie so verunsicherte. »Mein Vater w ü r d e dir schon beibringen, dass man nichts Böses zu t u n braucht, um von der Polizei bespitzelt zu werden. Im Gegenteil. Die meisten Leute werden ü b e r w a c h t , weil sie zu viel Gutes tun.« »Aber wieso ausgerechnet wir? Studenten, die gerade erst i h ren Abschluss gemacht haben ...« »Es geht um Blanes, so viel steht fest.« Valente rollte m i t dem Drehstuhl zum Computer und tippte etwas ein. A u f dem B i l d schirm erschienen die Gleichungen der Mammutbaum-Theorie. »Irgendwas, das m i t i h m oder seinem Kurs zu tun hat, aber ich habe keinen blassen Schimmer, w o r u m es wirklich geht. Vielleicht irgendein Auftrag, bei dem er mitmischt. Anfangs dachte ich, seine Theorie wäre die Ursache oder irgendeine praktische Anwendung, ein Experiment. Aber inzwischen ist m i r klar, dass es das nicht ist.« Er ließ die Gleichungen auf dem Monitor weiterlaufen, indem er immer wieder dieselbe Taste m i t dem Zeigefinger antippte. »Seine Theorie ist w u n d e r s c h ö n , aber zu nichts zu g e b r a u c h e n . « Er drehte sich zu Elisa u m . » G e n a u s o wie gewisse junge Frauen.« Sie widerstand erneut der Versuchung, sich gekränkt zu fühlen. »Meinst du das Problem bei der Lösung der Gleichungen?«, hakte sie nach. »Natürlich. Das ist total verfahren. Die Summe der Tensoren am Extrempunkt >Vergangenheit< ist unendlich. Ich habe das schon ausgerechnet. Hier. Und daher gibt es, trotz deines Geniestreichs heute Morgen, auf den ich allerdings auch gekommen war, keine Möglichkeit, die Schleifen der Strings als einzelne Teilchen zu isolieren . . . Es ist, als w ü r d e man sich die Frage stellen, ob das Meer ein einziger Tropfen ist oder Trillionen von Tropfen. Die A n t w o r t der Physik lautet immer: Es h ä n g t davon ab, was w i r als Tropfen definieren. Ohne konkrete Definition ist es, als w ü r d e n die Strings nicht existieren.« »Ich sehe das a n d e r s « , Elisa beugte sich vor und deutete auf eine der Gleichungen auf dem Bildschirm: »Wenn w i r anneh-
men, dass die Zeitvariable unendlich ist, dann sind die Ergebnisse falsch. Aber wenn w i r ein begrenztes >Delta t< einsetzen, ganz egal wie g r o ß , zum Beispiel die seit dem Urknall vergangene Zeit, dann kommen bei der L ö s u n g bestimmte G r ö ß e n heraus.« »Das ist eine von vornherein unzulässige A n n a h m e « , konterte Valente sofort. »Du schaffst damit selbst eine künstliche Grenze. Das ist so, als w ü r d e s t du bei einer Summe eine Ziffer austauschen, damit genau das herauskommt, was du willst. Absurd. Wieso wählst du den Zeitraum seit der Entstehung des Universums und nicht einen anderen? Das klingt lächerlich!« Seine Haltung hatte sich v e r ä n d e r t . Das war für Elisa offensichtlich. Die vorherige Kühle war verschwunden und auch das spöttische Grinsen, jetzt war er beim Reden sehr emotional. Habe ich dich endlich. »Du kapierst auch gar nichts, mein Lieber«, entgegnete sie vollkommen ruhig. »Wenn w i r uns die Zeitvariable aussuchen k ö n n e n , dann erhalten w i r konkrete Lösungen. Dieses Verfahren gehört zur Renormalisierung.« Sie registrierte, dass Valente das Gesicht verzog, und fuhr lebhaft fort: »Ich rede nicht davon, die universelle Zeitvariable einzusetzen, sondern wähle eine bestimmte Variable als Bezugsgröße, um die Gleichungen zu renormalisieren. Z u m Beispiel die Zeit seit der Entstehung der Erde vor ungefähr vier Milliarden Jahren. Man k ö n n t e das entfernte Ende auf den Zeitstrings definieren als den Moment der Erdentstehung. Das sind ü b e r s c h a u b a r e , berechenbare G r ö ß e n . Und in knapp zehn Minuten hast du die Lösung, wenn du die Transformationen von Blanes-Grossmann-Marini darauf anwendest. Ich habe es ausprobiert.« »Und was nützt dir das?« In Valentes Stimme schwangen jetzt unterschwellig Aggressionen mit. Seine sonst blutleeren Wangen waren gerötet. » U n d was n ü t z t dir deine idiotische, lokale Lösung? Das wäre doch, als w ü r d e man sagen: Ich kann zwar von meinem Gehalt nicht leben, aber sieh mal, ich habe heute M o r gen ein paar Cents gefunden. Was zum Teufel nützt dir eine Teill ö s u n g , die auf die Erde begrenzt ist? Das ist völlig hirnrissig!«
»Sag mir eins, Valente«, erwiderte Elisa ganz ruhig und lächelte. »Wieso fängst du eigentlich an, mich zu beschimpfen, sobald du etwas nicht beweisen kannst?« Es entstand eine Pause. Elisa weidete sich an Valentes Gesichtsausdruck. Im Umgang m i t Menschen mochte er gerissen sein wie eine Schlange, aber wenn es um Physik ging, war sie in ihrem Element wie ein Hai, und das wollte sie ihn s p ü r e n lassen. Sie wusste, dass ihre Kenntnisse mitnichten lückenlos waren, schließlich war sie noch Lehrling in der Materie. Aber sie wusste ebenso gut, dass sie sich durch Beschimpfungen nicht von ihrem Terrain vertreiben lassen würde. »Na klar, ich kann es beweisen«, b r u m m t e Valente. »Besser noch: W i r werden den Beweis bald haben. Noch eine Woche, dann ist der Kurs zu Ende. Am Samstag findet das internationale Symposium statt. Da werden Hawking, Witten und Silberg kommen . . . Blanes ist natürlich auch da. Wenn man den G e r ü c h t e n glauben will, werden w i r ein mea culpa hören, ein Eingeständnis, dass u n d wo die >Mammutbaum-Theorie< gescheitert ist. U n d vorher m ü s s e n w i r unsere Hausarbeit abliefern. Dann werden w i r ja sehen, wer von uns beiden Recht hat.« »Und ob«, stimmte sie zu. »Lass uns eine Wette abschließen.« Bei diesen Worten erschien auf seinem Gesicht wieder das gewohnte Grinsen. »Wenn deine Teillösung richtig ist, kannst du von m i r verlangen, was du willst. Z u m Beispiel, dass ich darauf verzichte, Blanes nach Z ü r i c h zu begleiten, wie ich es vorhabe, und dass ich die Stelle an dich abtreten muss - vorausgesetzt, Blanes entscheidet sich für mich. Du kannst m i r auch etwas anderes befehlen. Irgendwas, ganz egal, ich verspreche dir, ich werde es tun. Aber wenn ich Recht habe, das h e i ß t , wenn deine L ö s u n g m i t der Variablen nur ein verfluchter Scheiß ist, dann darf ich dir Befehle erteilen. U n d du musst sie ausführen. Alle.« »Auf so eine Wette lasse ich mich nicht ein«, sagte Elisa. »Warum nicht?« »Ich habe keine Lust, dir was zu befehlen.«
»Da täusch dich mal nicht.« Valente d r ü c k t e ein paar Tasten, und anstelle der Gleichungen erschienen Bilder auf dem M o n i tor. Nach der n ü c h t e r n e n Seite mit den Gleichungen schockierten diese Elisa mindestens ebenso wie der Kontrast zwischen den Porträts b e r ü h m t e r Physiker und der gefesselten Nackten an der Wand. Die Bilder wechselten einander ohne Valentes Zutun ab, w ä h r e n d sich dieser zu ihr umdrehte und lächelnd ihre Miene studierte. »Sehr interessant, was für Fotos du in deinen privaten Dateien sammelst und was für Chatrooms du b e s u c h s t . . . « Elisa s c h n ü r t e es die Kehle zu. Die Verletzung ihrer Privatsphäre war einfach ungeheuerlich, aber dass er ihr das auch noch vorführte, empfand sie als die größere D e m ü t i g u n g . Nimm dich bloß vor ihm in Acht. »Versteh mich nicht falsch«, sagte Valente, w ä h r e n d auf dem Bildschirm ein Jahr ihres Intimlebens ausgebreitet wurde wie ein Bündel schmutziger Dessous, »wie du dich entspannst, wenn du die Bücher mal aus der Hand legst, kann m i r egal sein. Im Klartext: Deine einsamen Orgasmen interessieren mich einen Scheißdreck. Ich sammle auch solche Fotos. Ich mache sie sogar manchmal selbst. Und Filme auch. Du hast doch das Studio d r ü ben in dem Zimmer gesehen? Ich habe Freundinnen, M ä d c h e n , die machen alles mit. Aber bisher ist m i r noch niemand begegnet, der beim Sex . . . O h , sieh mal, das hier ist wirklich sehr gelungen«, er zeigte auf ein Bild. Elisa wandte den Blick ab. Nimm dich in Acht. » . . . bis zum Ä u ß e r s t e n m i t m i r gehen w ü r d e , wollte ich sagen.« Valente ließ die Fotos mit einem weiteren Tastendruck verschwinden. Jetzt waren wieder die Gleichungen zu sehen. »Anscheinend habe ich in dir eine Seelenverwandte gefunden, und das freut mich ungemein. Ich begann n ä m l i c h allen Ernstes zu glauben, du hättest nichts anderes im Sinn, als dich bei Blanes wie ein dummes M ä d c h e n zu produzieren, erinnere dich nur an
heute Morgen. H i e r m i t sei dir gesagt, dass du dich täuschst. Du hast m i r ganz bestimmt etwas zu befehlen. Z u m Beispiel, dass ich aufhöre, in deinem Leben h e r u m z u s c h n ü f f e l n . U n d auch niemandem verrate, wie einfach das geht.« Was war das nur für ein Mensch, fragte sie sich. Sie betrachtete sein kantiges Gesicht, die leichenhafte Blässe, die feminine Nase u n d die weichen Lippen, dazu die zwei riesigen, w a l d g r ü nen Weltkugeln gleichenden Augen, eingerahmt v o m d ü n n e n , strohgelben Haar. Sie empfand nur Abscheu vor i h m . U n d sie entdeckte, dass es ihr zumindest gelungen war, eine seiner magischen Fähigkeiten auszuschalten, denn diesmal war sie immerh i n in der Lage zu reagieren. »Einverstanden?«, fragte er. »Dein Gehorsam gegen meinen?« »Einverstanden.« Ihr entging nicht, dass Valente m i t dieser A n t w o r t nicht gerechnet hatte. »Ich meine es ernst, ich warne dich.« »Das habe ich bemerkt. Ich auch.« Da schien er ins Wanken zu geraten. »Du glaubst wohl w i r k lich, dass deine Teillösung richtig ist?« »Sie ist richtig.« Elisa spannte die Lippen zu einem Lächeln. »Und ich wüsste auch schon ein paar Sachen, die ich dir befehlen könnte.« »Dürfte ich erfahren, welche?« Elisa schüttelte den Kopf. Plötzlich glaubte sie, etwas zu verstehen. Sie erhob sich langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Dass w i r ü b e r w a c h t werden, hast du m i r nicht gesagt, um m i r zu helfen«, sagte sie, » s o n d e r n , um m i r zu schaden. Auch wenn ich noch nicht verstehe, wie ...« Ric Valente tat es ihr nach u n d stand unverzüglich auf. Elisa stellte fest, dass sie etwa die gleiche Statur b e s a ß e n . Ihre Blicke kreuzten sich. »Da du es ansprichst«, erwiderte er: »Ich gebe zu, dass ich dich angelogen habe. Genau genommen handelt es sich nämlich nicht um Überwachung im eigentlichen Sinne. Das Interview, das Aus-
horchen unserer A n g e h ö r i g e n . . . Dabei geht es ihnen weniger darum, uns auszuspionieren, als darum, uns kennen zu lernen. Sie führen derzeit ein geheimes Auswahlverfahren durch u n d wollen einen von uns beiden als Teilnehmer für irgendetwas festlegen . . . Ich weiß nicht, wofür, aber wenn man bedenkt, was sie für einen Aufwand betreiben, muss es sich wohl um etwas sehr Wichtiges und reichlich Unkonventionelles handeln. In dem Fall braucht man ihnen nur zu verstehen zu geben, dass man die Überwachung bemerkt hat, dann fliegt man automatisch aus dem Auswahlverfahren hinaus.« »Ach, und deshalb hast du mein Handy in den Abfalleimer geworfen«, murmelte sie verstehend. »Ich glaube zwar nicht, dass das der entscheidende Punkt sein wird, aber es wäre i m m e r h i n möglich, dass sie jetzt weniger gut auf dich zu sprechen sind. Vielleicht denken sie, du hast was zu verbergen, und lassen dich deshalb ausscheiden ...« Elisa war beinahe beruhigt. Jetzt weiß ich wenigstens, was du tatsächlich im Schilde führst. Aber sie täuschte sich. Offenbar wollte er sie nicht nur aus dem Rennen um die Stelle bei Blanes werfen, wie sie feststellen musste, als er die Hand hob und ohne Vorwarnung seine schlanken Finger ihrer Brust n ä h e r t e . Jede Faser ihres K ö r p e r s schrie ihr zu, zurückzuweichen, aber sie blieb stehen. U n d Valente b e r ü h r t e sie nicht. Seine Hand glitt einige Millimeter vor ihrem Hemd durch die Luft und wanderte so bis zu ihrer Hüfte hinunter, als w ü r d e er die Konturen ihres Körpers nachzeichnen. Elisa hielt die Luft an. »Meine Befehle sind nicht einfach zu erfüllen«, sagte er, »aber dafür umso vergnüglicher.« »Ich kann es kaum erwarten.« Sie nahm ihre Jacke. »Kann ich jetzt endlich gehen?« »Ich begleite dich zur Tür.« »Danke, ich finde allein hinaus.« A u f dem ganzen Weg durch das dunkle Treppenhaus hielt ihre Anspannung an, im Hintergrund begleitet vom Krächzen des A l -
ten, der ununterbrochen etwas wie >Istar< jammerte. Und kaum hatte sie die Straße erreicht, blieb Elisa stehen und sog in vollen Zügen gierig die frische Luft ein. Sie betrachtete ihre Umgebung, als sei es das erste Mal, als hätte sie genau in diesem Moment, inmitten der Schatten der Stadt, das Licht der Welt erblickt.
10
»Mit der Zeit ist es etwas Merkwürdiges. In erster Linie, weil sie uns so vertraut ist. Es vergeht kein Tag, an dem w i r sie nicht beachten. W i r messen sie, aber w i r k ö n n e n sie nicht sehen. Sie ist so ungreifbar wie die Seele u n d ist gleichzeitig nachweislich ein universelles physikalisches P h ä n o m e n . Ein Widerspruch, den der heilige Augustinus bekanntlich in der Formel zusammenfasste: Si non rogas, intelligo - wenn m i c h niemand danach fragt, weiß ich's. Unzählige Wissenschaftler und Philosophen haben das Thema diskutiert, ohne sich je einigen zu k ö n n e n . Das liegt vor allem daran, dass die Zeit wandelbar ist, je nachdem wie w i r sie untersuchen oder auch wie w i r sie erfahren. F ü r den Physiker ist eine Sekunde genau definiert als die Zeitspanne zwischen 9 192 631,770 Schwingungen eines Z ä s i u m a t o m s . Für den Astronomen hingegen ist eine Sekunde definiert als 1 : 31 556925,97474, n ä m l i c h exakt die Zeit, welche die Erde im Jahr 1950 benötigte, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen, entsprechend einem tropischen Jahr. Aber jeder von uns, der schon mal auf die Ankunft des Arztes gewartet hat, um von i h m zu erfahren, ob die lebensrettende Operation an einem geliebten Menschen gelungen ist, w e i ß , dass eine Z ä s i u m s e k u n d e oder eine astronomische Sekunde nicht immer gleich lang ist. Für unser Gefühl k ö n n e n Sekunden geradezu schleichen.
Die Vorstellung einer subjektiven Zeit ist der Wissenschaft und Philosophie der Antike nicht fremd. Die Denker hatten keinen Einwand gegen die Annahme, dass die psychologische Zeit je nach Subjekt variieren kann, und waren trotzdem davon ü b e r zeugt, dass die physikalische Zeit für alle Beobachter u n v e r ä n derlich ist. Aber sie haben sich geirrt. 1905 hat Albert Einstein m i t seiner Relativitätstheorie diesem Glauben den Todesstoß versetzt. Es gibt keine absolute Zeit, sondern so viele, wie es Orte gibt, sie zu beobachten; a u ß e r d e m ist die Zeit untrennbar m i t dem Raum verbunden. Daher ist sie weder eine Illusion noch eine subjektive Wahrnehmung, sondern ein unabdingbarer Bestandteil der Materie. Doch diese Entdeckung e r k l ä r t unseren schwer greifbaren Freund bei weitem nicht zur Gänze. Denken w i r beispielsweise an die Bewegung der Zeiger auf einem Zifferblatt, dann wissen w i r intuitiv, dass die Zeit vorrückt. W i r beklagen vielleicht, wie schnell sie vergeht. Aber macht solch eine Aussage ü b e r h a u p t einen Sinn? Wenn etwas v o r r ü c k t , dann stets m i t einer bestimmten Geschwindigkeit. In welchem Tempo r ü c k t die Zeit also vor? In der A b i t u r p r ü f u n g gehen die Schüler bisweilen dieser einfachen Frage auf den Leim und antworten: >Sekunde für Sekunden Aber das ergibt keinen Sinn. Denn eine Geschwindigkeit setzt immer eine Entfernung m i t einer Zeit in Beziehung, so dass die Frage nicht zu beantworten ist. Obwohl sich der rätselhafte Herr Zeit bewegt, werden w i r nicht einig ü b e r seine Geschwindigkeit. Wenn die Zeit dagegen tatsächlich eine weitere Dimension ist, wie die Relativitätstheorie postuliert, dann unterscheidet sie sich jedenfalls erheblich von den anderen drei Dimensionen. Denn im Raum k ö n n e n wir uns nach oben und unten, nach links und rechts, vor und zurück bewegen, w ä h r e n d w i r uns in der Zeit i m mer nur vorwärts bewegen. Warum? Was hindert uns daran, bereits Erlebtes noch einmal zu erleben oder wenigstens zu sehen? 1988 versuchte David Blanes m i t seiner » M a m m u t b a u m - T h e o -
rie« einige dieser Fragen zu beantworten, aber er hat nur an der Oberfläche gekratzt. Was diesen unabdingbaren Teil unserer Wirklichkeit betrifft, der sich m i t unbekannter Geschwindigkeit in nur eine Richtung bewegt und den w i r nur verstehen, wenn man uns nicht danach fragt, sind w i r n ä m l i c h nach wie vor völlig unwissend. Merkwürdig.« M i t diesen Worten eröffnete Professor Reinhard Silberg von der Fakultät für Wissenschaffsphilosophie der Technischen U n i versität Berlin seinen E i n f ü h r u n g s v o r t r a g im Saal UNESCO des Kongresszentrums von M a d r i d , wo das internationale Symposium >Die Natur von Zeit und Raum in den modernen Theorien< stattfand. Der mittelgroße Saal war bis zum letzten Platz m i t Teilnehmern und Journalisten gefüllt, die voller Spannung Silbergs, Wittens, Craigs und Marinis A u s f ü h r u n g e n lauschten. Sie alle warteten auf die beiden Stars der Veranstaltung: Stephen Hawking und David Blanes. Elisa Robledo saß ebenfalls im Publikum, allerdings aus einem noch ganz anderen Grund. Sie wollte erfahren, ob ihre Theorie der lokalen Variablen bestehen konnte, und sie wollte ihren Sieg g e b ü h r e n d feiern, falls Ric Valente sich täuschte. I n t u i t i v ahnte sie allerdings zweierlei: Sie w ü r d e nicht gewinnen, und sie w ü r d e jeden Befehl von i h m verweigern.
Paradoxerweise war für sie die vergangene Woche ein Wettlauf m i t der Zeit gewesen, schließlich hatte Elisa sie vor allem der i n tensiven Erforschung der Zeit gewidmet. Bei Elisa gingen Leidenschaft und Intelligenz stets Hand in Hand. U n d in Anbetracht der heftigen Gefühle, welche die Begegnung m i t Valente bei ihr ausgelöst hatte, schaltete sie bewusst ihren Verstand ein u n d fasste k ü h l einen ganz einfachen Entschluss: Ob sie >erforscht< wurde oder nicht, ob m i t oder ohne Wette, sie w ü r d e einfach tun, was zu tun war. Sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, im K a m p f um Blanes' Gunst den Sieg zu
erringen, trotzdem w ü r d e sie weder in den letzten Kurstagen noch bei der Hausarbeit in ihren B e m ü h u n g e n nachlassen. Entschlossen widmete sie sich ihren Aufgaben und schlief in den Nächten nur wenige Stunden am Stück. Sie wusste, dass sie ihre Hypothese ü b e r die Variable der lokalen Zeit nicht wirklich beweisen konnte, u n d neigte inzwischen dazu, Valente Recht zu geben, der ihre Lösung als Zirkelschluss beanstandet hatte, doch das machte ihr nichts aus. Sie sagte sich, dass sie als Wissenschaftlerin fähig sein musste, für ihre Ideen zu k ä m p f e n , selbst wenn diese von niemandem akzeptiert wurden. Anfangs verlor sie auch keinen Gedanken an die Wette. Zwar war sie beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie am Montag Valente von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand - sie sahen sich weder an noch g r ü ß t e n sie sich, ganz so, als sei nichts geschehen. U n d auch an den folgenden Tagen war sie sich stets seiner Gegenwart bewusst, wie eines intensiven Geruchs. Doch es lag ihr fern, sich dadurch auch nur für einen Moment aus der Ruhe bringen zu lassen, was auch immer geschehen mochte oder was sie t u n w ü r d e , wenn sie die Wette verlor. Sie kannte keinen, der so eingebildet und so kindisch war wie Ricardo Valente Sharpe, und wollte sich daher von seinem p u b e r t ä r e n Versuch, sie m i t ihren Bettgeheimnissen zu erpressen, nicht beeindrucken lassen. Oder wenigstens redete sie sich das um jeden Preis ein. Sie war sich noch nicht einmal mehr sicher, dass sie wirklich ü b e r w a c h t wurde, wie Valente behauptete. Am Dienstagnachmittag hatte sie zwar einen A n r u f von der Polizei erhalten, der ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Doch letzten Endes hatte man sie nur d a r ü b e r informieren wollen, dass ihr M o biltelefon gefunden worden war. Ein ehrlicher Finder hatte es am Freitagabend entdeckt, als er eine Eistüte in einen Abfalleimer an der Calle de Chueca werfen wollte, und es bei der Polizeidienststelle in der Innenstadt abgegeben. Da ein herrenloses Handy verdächtig war, ja sogar gefährlich sein konnte, wie ihr der Polizist zu verstehen gab, habe man schließlich ermittelt, wem es gehörte.
Gleich nachdem sie das Mobiltelefon beim Kommissariat abgeholt hatte, öffnete sie es zu Hause m i t einem kleinen Schraubenzieher. Ohne genaue Kenntnisse, wie das Innenleben solch eines Geräts auszusehen hatte, vermeinte sie dennoch festzustellen, dass sich offenbar kein Fremdkörper darin befand. Der Mann, der es gefunden hatte, konnte daher gut derjenige sein, den sie v o m Notausgang des Lokals aus an dem M ü l l e i m e r beobachtet hatte. Vielleicht hatte Valente sie lediglich m i t diesem zufälligen Ereignis hinters Licht geführt. Zuzutrauen war es i h m . Am M i t t w o c h wandte sie sich wegen ihrer Teilnahmebescheinigung am Blanes-Kurs an das Sekretariat der Alighieri und nutzte die Gelegenheit, um ein paar Fragen zu stellen. U n d die junge Frau im B ü r o bestätigte ihr: Javier Maldonado war eigentlich Student im Fachbereich Informatik, und einen Soziologieprofessor namens Espalza gab es auch. K ö n n t e es sich um eine von diesen beiden angezettelte Verschwörung handeln? Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass der eigentliche Verantwortliche niemand anderer war als Valente selbst. Fest stand n ä m l i c h , dass er eine >besondere< Beziehung zu ihr aufbauen wollte, weil er sie - wie hatte er sich noch ausgedrückt? sehr interessant fand. Er war ein a u ß e r o r d e n t l i c h gewitzter Bursche. Wahrscheinlich hatte er, vom Zufall begünstigt, die ganze Geschichte m i t der Ü b e r w a c h u n g nur erfunden, um sie einzus c h ü c h t e r n . U n d komischerweise hatte Elisa ü b e r h a u p t keine Angst. Am Freitag lieferte sie ihre Hausarbeit ab. Blanes nahm sie wortlos entgegen. Dann verabschiedete er sich von seinen Studenten, indem er sie für den nächsten Tag zum Symposium einlud, wo, wie er ankündigte, »ein paar knifflige Aspekte der Theorie, zum Beispiel das Paradox des Endpunkts der Vergangenheit«, e r ö r t e r t werden w ü r d e n . M i t keinem Wort e r w ä h n t e er, ob sich dieses Paradox auflösen ließe. Elisa drehte sich um und sah i h ren Rivalen an. Der lächelte b l o ß , ohne ihren Blick zu erwidern. Zum Teufel mit Valente Sharpe. U n d aus diesem G r u n d saß sie hier im Symposium, um die
Positionen der Weisen kennen zu lernen und um zu wissen, wie ihre exotische Wette ausgehen w ü r d e . Aber die Dinge sollten eine ganz u n d gar unerwartete Wendung nehmen. Schon seit Stunden verfolgte sie das Hokuspokus der Physik des ausgehenden 20. Jahrhunderts, und alles kam ihr bekannt vor: D-Branes, Paralleluniversen, verschmelzende schwarze Löcher, Calabi-Yau-Räume, die Auswüchse der W i r k l i c h k e i t . . . Bis auf wenige e r w ä h n t e n alle Referenten in ihren Redebeiträgen den >Mammutbaum<, aber keiner ließ etwas d a r ü b e r verlauten, ob isolierte Zeit-Strings identifiziert werden k ö n n t e n , indem man das Paradox des Endpunkts der Vergangenheit m i t Hilfe von lokalen Variablen löste. Der Experimentalphysiker Sergio M a r i n i - ein Mitarbeiter von Blanes in Z ü r i c h , dessen Vortrag Elisa m i t Spannung erwartet hatte - schlussfolgerte, dass es notwendig sei, m i t den W i d e r s p r ü c h e n der Theorie zu leben, und nannte als B e g r ü n d u n g die unendlichen Ergebnisse der relativistischen Quantentheorie. Kurz darauf breitete sich eine tiefe Stille im Publikum aus, und alle starrten erwartungsvoll u n d m i t g r o ß e r Hochachtung auf Stephen Hawking, der in seinem elektrischen Rollstuhl durch den Saal zum Rednerpult glitt. Der b e r ü h m t e Physiker aus Cambridge und Inhaber des Lehrstuhls, den Jahrhunderte vor i h m Newton geleitet hatte, kauerte so unscheinbar in seinem Gefährt, dass er kaum mehr zu sein schien als ein kranker Körper. Doch Elisa wusste, dass diese Hülle eine ü b e r r a g e n d e Intelligenz und eine einnehmende Persönlichkeit barg, die i h m , verborgen hinter den dicken Brillengläsern, regelrecht aus den Augen zu s p r ü h e n schien, verbunden m i t einem eisernen Willen, der i h m dazu verholfen hatte, trotz seiner Behinderung zu einem der bedeutendsten Wissenschaftler der Welt aufzurücken. Elisa fand, dass man ihn gar nicht genug bewundern konnte: Hawking war ihr persönliches Vorbild dafür, nie im Leben etwas aufzugeben. Mithilfe der Fernbedienung seines Synthesizers verwandelte
Hawking die vorab verfasste Rede in ein verständliches Klangbild. Und Hawkings scharfsinnige Kommentare, die er in einem mechanischen, tadellosen Englisch wiedergab, provozierten mehrfach laute Lacher. Zu Elisas E n t t ä u s c h u n g konzentrierte er sich jedoch darauf, Möglichkeiten zu diskutieren, eine von einem schwarzen Loch verschluckte Information z u r ü c k z u g e w i n n e n , und erwähnte lediglich zum Schluss u n d eher beiläufig Blanes' Theorie: »Die Zweige von Professor Blanes' M a m m u t b a u m ragen in den H i m mel der Zukunft, und seine Wurzeln graben sich tief in die Erde der Vergangenheit, in die wir nicht hinabsteigen k ö n n e n ...« Die elektronische Stimme machte eine Pause. »Aber dass w i r an einem der Zweige h ä n g e n , hindert uns nicht daran, nach unten zu schauen und diese Wurzeln einmal genauer zu untersuchen.« Dieser Satz brachte Elisa ins Grübeln. Worauf spielte Hawking an? War das nur eine >poetische< Verzierung gewesen oder hatte er seine Z u h ö r e r darauf hinweisen wollen, dass sich isolierte Strings möglicherweise identifizieren u n d öffnen ließen? Wie dem auch sein mochte, eines war jedenfalls klar: Die » M a m m u t b a u m - T h e o r i e « hatte offenbar unter den g r o ß e n Physikern an Boden verloren. Jetzt wartete alles auf den Beitrag von Blanes selbst, und Elisa hatte nicht den Eindruck, dass das in wohlwollender Stimmung geschah. Doch z u n ä c h s t einmal war es Zeit für die Mittagspause. Das Publikum erhob sich wie ein Mann, und alle s t r ö m t e n den Ausgängen zu. Elisa reihte sich ein in die Menge vor dem Hauptausgang. Da drang ihr eine Stimme ans Ohr. »Bist du bereit zu verlieren?« Da sie etwas in der A r t erwartet hatte, drehte sie sich rasch um und gab zurück: »Und du?« Aber Ric hatte sich in Luft aufgelöst, war schon im G e d r ä n g e untergetaucht. Elisa zuckte die Schultern und grübelte ü b e r die mögliche A n t w o r t . War sie bereit? Eher nicht. Noch hatte sie nicht verloren. Victor Lopera machte ihr den Vorschlag, in der Pause gemein-
sam etwas zu essen. Sie willigte gern ein, denn sie mochte seine Gesellschaft. Abgesehen von seiner Vorliebe für das schwammige Thema der Religion in der Physik, in das er sich regelrecht h i n einsteigern konnte, war Lopera ein angenehmer G e s p r ä c h s p a r t ner u n d ein herzensguter, u m g ä n g l i c h e r Mensch. M i t i h m im Auto nach Hause zu fahren war inzwischen eine beiden lieb gewordene Gewohnheit. An der Selbstbedienungstheke der Cafeteria holten sie sich vegetarische Sandwichs. Das von Victor triefte nur so vor Mayonnaise, und Elisa hoffte, diese k ö n n t e ihn von Teilhard de Chardin ablenken u n d der Geschichte, wie Abt Lemaitre entdeckt hatte, dass sich das Universum ausdehnt, und wie Einstein i h m das nicht glauben wollte. Tatsächlich widmete Victor Lopera seine volle Aufmerksamkeit dem belegten Brötchen und verzehrte es ohne Rücksicht auf verschmierte Lippen. Vielmehr streckte er a n s c h l i e ß e n d genüsslich die lange Zunge heraus u n d leckte sie wie eine Katze. Da sie keinen freien Tisch gefunden hatten, a ß e n sie im Stehen, tauschten sich dabei ü b e r die Vorträge aus - ihn hatte Reinhard Silberg am meisten beeindruckt - und g r ü ß t e n die vorübergehenden Professoren und Studenten. Sie standen so ungünstig, dass Elisa das Gefühl hatte, alle fünf Sekunden jemandem zuzulächeln. Plötzlich, und vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, entfuhr es dem tief e r r ö t e n d e n Lopera: »Du siehst heute sehr gut aus.« Elisa bedankte sich, allerdings eher halbherzig. Sie hatte sich nach einer Woche körperlicher Vernachlässigung endlich einmal wieder die Haare gewaschen u n d sogar dezent geschminkt. Sie trug eine himmelblaue Hemdbluse und dazu eine marineblaue Baumwollhose anstelle der b e w ä h r t e n abgewetzten Jeans, die, wie ihre Mutter sich a u s d r ü c k t e , vor Dreck allein stehen w ü r d e . Auch war es ihr unangenehm, dass Victor sie offensichtlich bewunderte. Ihr war nicht entgangen, dass er auf dem Symposium ein besonderes Interesse für sie hegte. Auch hatte er sie wiederholt m i t verstohlenen Blicken gemustert. Victor Lopera hatte in ihren A u -
gen als Verbrecher keine Chance: Er war der durchschaubarste Mensch, den sie kannte. Nachdem er den letzten Bissen seines belegten Brötchens verschlungen und die Mayonnaisereste abgeleckt hatte, sagte Victor betont beiläufig: »Ich habe mich neulich m i t Ric u n t e r h a l t e n . « Elisa sah den Adamsapfel auf und nieder hüpfen. » S c h e i n t . . . ihr seid Freunde geworden.« »Nein, das stimmt nicht«, versetzte Elisa. »Hat er das gesagt?« Victors Lächeln wirkte wie eine Entschuldigung, doch er sagte gelassen: »Nein, das ist meine eigene Schlussfolgerung. Er hat m i r erzählt, dass er dich mag u n d dass . . . er eine Wette m i t dir abgeschlossen hätte.« Elisa sah i h n fest an. »Ich habe meine eigene M e i n u n g ü b e r Blanes' Theorie«, sagte sie schließlich. »Und er seine. W i r haben gewettet, wer von uns beiden Recht hat.« Victor machte eine wegwerfende Bewegung, als interessiere ihn das Thema nicht weiter. »Glaub nicht, dass ich neugierig bin u n d wissen w i l l , was ihr beiden miteinander vereinbart habt«, sagte er und setzte so leise hinzu, dass Elisa sich in der l ä r m e n den Cafeteria unwillkürlich zu i h m herüberbeugte: »Ich wollte dich nur warnen, dass ... du es nicht t u n sollst.« »Was nicht tun?« »Was er von dir verlangt. F ü r i h n ist es kein Spiel. Ich kenne i h n ganz genau. W i r waren dick befreundet... Er war immer . . . Er ist ziemlich pervers.« »Was meinst du damit?« »Das lässt sich nicht m i t drei Worten erklären.« Er musterte sie aus dem Augenwinkel u n d schlug einen anderen Ton an. »Na ja, ich w i l l auch nicht übertreiben. Ich meine ja nicht, dass er . . . v e r r ü c k t w ä r e oder so . . . Ich wollte damit nur sagen, dass er Frauen nicht gerade . . . achtet. Auch wenn das einigen an i h m gerade zu gefallen scheint.« Sein Gesicht war rot angelaufen. »Na ja, es ist m i r unangenehm, d a r ü b e r zu reden. Also, ich schätze dich u n d wollte ... Du kannst n a t ü r l i c h tun u n d lassen, was du w i l l s t . . . Ich dachte, ich sollte dich warnen.«
Sie hatte nicht schlecht Lust, i h m eine pampige Antwort zu geben: Ich b i n dreiundzwanzig, Victor. Ich kann auf mich selber aufpassen, danke. Doch sie begriff, dass Victor sie, im Unterschied zu ihrer Mutter, nicht belehren wollte, es war w i r k l i c h aufrichtig gemeint. Er war davon überzeugt, ihr mit diesem Ges p r ä c h zu helfen. Sie wollte auch gar nicht wissen, was Valente noch alles ausgeplaudert hatte. Im Grunde war es ihr egal, was M r . Ein-Vierhundertstel-Weniger tat oder sagte. »Valente und ich sind gewiss keine Freunde, Victor«, sagte sie ernst u n d m i t Nachdruck. »Und was mich betrifft, so habe ich nicht vor, i r gendetwas zu tun, was ich nicht will.« Victor wirkte unglücklich, als sei i h m bewusst geworden, dass das Gespräch schlecht gelaufen war. Er öffnete den M u n d , dann schloss er ihn wieder und schüttelte den Kopf. »Klar«, nickte er. »Wie d u m m von mir ...« »Nein, ich danke dir für den Rat. Wirklich.« Sie wurden von der Durchsage unterbrochen, dass das Symposium nun fortgesetzt werde. Die nächsten Stunden verbrachte Elisa wie in Trance und grübelte über Victors p u b e r t ä r scheinende Warnung nach, w ä h r e n d sie den Vortragenden z u h ö r t e . Doch mit einem Mal war alles wie weggeblasen, Valente eingeschlossen, u n d sie richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf. David Blanes stieg auf das Podium. U n d das Schweigen, m i t dem er empfangen wurde, h ä t t e in einem Gerichtssaal wohl bedeutet, dass es sich um den Angeklagten handelte. Blanes knüpfte an Hawkings Baummetapher an. »Der M a m mutbaum ist dicht belaubt«, begann er, »trägt aber keine Früchte.« U n d keine zehn Minuten später wusste Elisa, dass sie verloren hatte. Blanes sprach noch eine weitere halbe Stunde, ließ sich jedoch nur d a r ü b e r aus, dass neue Physikergenerationen hoffentlich »ungeahnte« Wege finden w ü r d e n , um das Problem des Endpunkts »Vergangenheit« der Strings zu lösen. Er nannte einige Möglichkeiten, darunter die der lokalen Variablen und eine wei-
tere m i t i m a g i n ä r e n Zahlen, die Elisa ebenfalls eingefallen war, tat sie aber als »elegant u n d nutzlos« ab, »wie ein Frack in der Wüste«. Er wirkte deprimiert, m ü d e , vielleicht war er es leid, sich gegen die Angriffe seiner Gegner zu verteidigen. U n d trotz des Beifalls war Elisa sicher, dass sein Vortrag wenig Zuspruch gefunden hatte. Auch sie empfand Verachtung für das einst so bewunderte Idol. Du bist nicht bereit, für deine Ideen zu kämpfen. Ich schon. Blanes war der letzte Referent auf der Rednerliste. Erst nach einer Pause w ü r d e noch eine Podiumsdiskussion stattfinden. Elisa stand auf und begab sich zum Ausgang, um den Saal zu verlassen. Da hörte sie wieder diese Stimme hinter sich, genauso wie in der Mittagspause. »Geh zur Herrentoilette und warte dort.« »Noch habe ich nicht verloren«, zischte sie und drehte sich blitzschnell u m . Er versuchte zu entwischen, doch Elisa streckte die Hand aus und hielt ihn am Hemd fest. Diesmal entkommst du mir nicht. »Ich habe nicht verloren«, betonte sie. Valente machte sich los, konnte aber nicht fort. So gingen sie gemeinsam hinaus, bis sie einander im Vorraum gegenüberstanden. Allein sein Aufzug erweckte bei Elisa immer wieder den Eindruck, er t r ü g e ein Neonschild m i t der Aufschrift »Hier ist Valente Sharpe«: feuerrotes, langärmeliges, hochgeschlossenes Jeanshemd und Gürtel zur weinroten Hose, dazu Stiefel aus rötlichem Leder und eine goldene Kette m i t passenden Ohrringen. Der Ausweis des Symposiums, den Elisa in ihrer Handtasche verstaut hatte, hing bei i h m gut sichtbar auf der H ö h e der linken Brustwarze und schrie zwischen Reflexen seinen Namen heraus. Den blonden, von Gel triefenden Pony hatte er sorgfältig ü b e r das rechte Auge g e k ä m m t . Als er jetzt das Wort ergriff, schwang Missfallen mit. »Ich habe dir den ersten Befehl erteilt: Geh zum Herrenklo.« »Ich denke nicht daran.« In seinen Augen funkelte es, als w ü r d e er sich insgeheim ü b e r
sie lustig machen, doch seine Z ü g e blieben starr. »Es ist feige, dass du einen Rückzieher machst, Frau Robledo.« »Ich mache keinen Rückzieher, Herr Valente. Ich bin ein guter Verlierer.« »Es ist doch offensichtlich, dass du verloren hast. Blanes hat gesagt, dass deine lokalen Zeitvariablen so viel wert sind wie Hundekacke an einer Schuhsohle.« »Das ist seine Ansicht«, wandte sie ein. »Damit ist jedoch noch nichts bewiesen, sondern er hat lediglich seine Meinung geäußert. In der Physik geht es aber nicht um Meinungen.« »Also, h ö r m a l . . . « »Der Einsatz ist hoch. Ich w i l l mich erst vergewissern, ob du Recht hast oder nicht. Vielleicht hast ja du Angst zu verlieren?« Valente sah sie an, ohne zu zwinkern. Sie gab den Blick zurück. Nach einer Weile holte er tief Luft. »Was schlägst du vor?« »Ich werde mich jedenfalls nicht w ä h r e n d der Publikumsdiskussion mit Blanes anlegen. Lass uns Folgendes vereinbaren. Alle wissen, dass Blanes aufgrund unserer Hausarbeiten entscheiden w i r d , wen er nach Zürich m i t n i m m t . Ich bin überzeugt, dass er mich berufen w i r d , wenn i h m meine Idee wert erscheint, weiterverfolgt zu werden. Hält er sie für falsch, w i r d er mich ohnehin ablehnen. Ich schlage vor, dass w i r das abwarten.« »Er n i m m t mich mit«, sagte Valente sanft. »Stell dich schon mal darauf ein, meine Liebe.« »Schön für dich. Aber das braucht er noch nicht einmal zu tun. Es genügt, dass er mich ablehnt, dann zahle ich.« »Was meinst du mit zahlen?« Elisa seufzte. »Dann gehe ich, wohin du willst, und tue, was du willst.« »Das glaube ich dir nicht. Du wirst wieder eine Ausrede finden.« »Ich schwöre es«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Wort. Ich tue, was du willst, wenn er mich ablehnt.« »Du lügst.« Sie blitzte ihn m i t den Augen an. »Ich nehme das hier sehr viel ernster, als du denkst.«
»Was heißt das hier? Meine Wette?« »Meine Ideen. Deine Wette ist in meinen Augen dummes Zeug, wie alles, was du m i r bei dir zu Hause erzählt hast. Niemand forscht uns aus, niemand ü b e r w a c h t uns. Das m i t dem Handy war Zufall: Ich habe es neulich z u r ü c k b e k o m m e n . Ich glaube, du willst dich nur aufspielen. Weißt du was? Ich w i l l dir mal was sagen.« Breit grinsend entblößte Elisa die weißen Zähne. » N i m m dich in Acht, Herr Valente, du hast n ä m l i c h mein Interesse geweckt.« Valente betrachtete sie m i t einem seltsamen Ausdruck. »Du bist wirklich ein besonderes M ä d c h e n « , sagte er leise, wie zu sich selbst. »Du dagegen kommst m i r m i t deinen Herrenklovorschlägen immer mehr vor wie ein Loser.« »Wer gewinnt, entscheidet, wie gezahlt wird.« »Einverstanden.« M i t einem M a l brach er in schallendes Gelächter aus, als hätte er es die ganze Zeit ü b e r u n t e r d r ü c k t . »Du bist der H a m m e r ! « Eine ganze Weile wiederholte er nur diesen einen Satz und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du bist der Hammer! Da w i l l ich dich auf die Probe stellen, um zu sehen, wie du reagierst. Und ich schwöre, ich hätte mich kaputtgelacht, wenn du wirklich aufs Herrenklo gegangen w ä r s t . . . « Dann sah er sie mit gespielter Gelassenheit an. »Gut, ich gehe auf deinen Vorschlag ein. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er sich schon für mich entschieden hat, meine Liebe. U n d wenn es so weit ist, rufe ich dich auf dem Handy an. N u r einmal. U n d dann sage ich dir, wo du h i n gehen sollst, wie du da hingehen sollst, was du anhaben und was du nicht anhaben sollst, und du wirst parieren wie ein abgerichtetes H ü n d c h e n . . . Aber das ist nur der Anfang. Ich werde S p a ß haben wie noch nie, das schwöre ich dir. Habe ich es nicht gesagt: Du bist echt interessant, und jetzt, wo du deinen wahren Charakter zeigst, sogar noch mehr. Ich b i n w i r k l i c h gespannt, wie weit du gehen wirst - falls sich nicht mein Verdacht bestätigt, dass du eine feige Lügnerin b i s t . . . «
Elisa ließ die folgende Schimpftirade ü b e r sich ergehen und sah ihn weiter ruhig an, doch ihr schlug das Herz bis zum Hals, und ihr M u n d fühlte sich ganz trocken an. »Machst du einen Rückzieher?« Ruhig starrte er sie aus dem linken Auge an, ü b e r dem rechten hin ja die Tolle. »Es ist deine letzte Chance.« »Meine Wette gilt schon lange.« Elisa zwang sich zu einem Lächeln. »Aber wenn du auf einmal kneifen w i l l s t . . . « Valente schien begeistert wie ein K i n d angesichts eines neuen Spielzeugs. »Genial«, sagte er. »Mit dir werde ich viel S p a ß haben.« »Abwarten. U n d jetzt entschuldige mich bitte.« » M o m e n t . « Valente sah sich nach allen Seiten u m . »Wie du weißt, bin ich sicher, dass ich gewinnen werde. Trotzdem will ich ehrlich zu dir sein und dir was verraten. Einiges bei diesem Kongress deutet darauf hin, dass uns hier was anderes verkauft w i r d , als man vorgibt. Blanes und M a r i n i scheinen offenbar versessen darauf, so zu tun, als sei aus ihrem Mammutbaum ein Bonsai geworden. Doch ich habe eine spannende Entdeckung gemacht.« Er gab ihr ein Zeichen, i h m zu folgen, und ging los. »Wenn ich es dir zeigen soll, dann k o m m mit.« Sie durchquerten die Vorhalle und hielten sich parallel zur Empfangstheke, wo die Teilnehmer registriert wurden, und mussten den unterschiedlichsten Menschen ausweichen: Ausl ä n d e r n und Einheimischen, Professoren und Studenten, Leuten in Anzug und Krawatte oder in H e m d s ä r m e l n und Jeans. Einige versuchten unverhohlen ihre Vorbilder nachzuahmen Physiker m i t Einsteinfrisur brachten Elisa stets zum Lachen -, andere versuchten alles, um zu ihrem Idol K ö r p e r k o n t a k t aufzunehmen, so war Hawkings Rollstuhl von einer Traube seiner A n h ä n g e r umlagert. M i t einem M a l blieb Valente unvermittelt stehen. »Da sind sie. Stecken die Köpfe zusammen wie eine Familie.« Elisa folgte seinem Blick. Tatsächlich stand da ein G r ü p p c h e n , das sich bewusst von den anderen fern zu halten schien. Sie er-
kannte David Blanes, Sergio M a r i n i , Reinhard Silberg sowie den jungen Experimentalphysiker Colin Craig aus Oxford, der nach Silberg das W o r t ergriffen hatte. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. »Craig war mein Mentor in der Teilchenphysik«, erklärte Valente. »Er hat mich dazu ermuntert, die A u f n a h m e p r ü f u n g für den Blanes-Kurs zu machen . . . Silberg ist Professor für Wissenschaftsphilosophie u n d D o k t o r der Geschichte. U n d siehst du die g r o ß e Frau mit dem braunen Kleid neben Craig?« Sie war ja wohl kaum zu übersehen, dachte Elisa, denn es handelte sich um eine atemberaubende Schönheit. Das lange braune Haar fiel ihr spitz zulaufend bis zum Steißbein, und die schlichte, elegante Kleidung umschmeichelte eine perfekte Silhouette. Die Frau wurde von einem jungen M ä d c h e n begleitet m i t der auffallend w e i ß e n H a a r m ä h n e eines Albinos. Elisa kannte keine der beiden. Valente lieferte ihr die Details: »Das ist Jacqueline Clissot aus Montpellier, eine weltbekannte Paläontologin und Anthropologin. Die m i t den w e i ß e n Haaren muss eine ihrer Studentinnen sein.« »Was wollen die denn hier? Sie stehen doch gar nicht auf der Rednerliste.« » G e n a u das habe ich mich auch gefragt. Ich glaube, sie sind wegen Blanes hier. Das Symposium scheint eine A r t Familientreffen zu sein. U n d nebenbei geben Papa Blanes und Mama Mar i n i der Wissenschaftsgemeinde zu verstehen, dass der M a m m u t baum dieses Jahr noch keine Blüten trägt. M a n k ö n n t e meinen, Blanes' eigentliches Ziel b e s t ü n d e darin, die Karten offen auf den Tisch zu legen u n d zu betonen, dass er nicht blufft. Komisch, nicht wahr? Aber damit nicht genug.« Valente schlenderte weiter, die H ä n d e in den Hosentaschen, u n d Elisa folgte i h m unwillkürlich m i t einiger Neugier. Sie gingen in der Vorhalle auf und ab. Durch die hohen Fenster drang das Licht eines Sommertages, der sich noch nicht geschlagen gegeben hatte.
»Das Merkwürdigste ist«, dozierte Valente, »dass ich vor ein paar Monaten Silberg und Clissot in Oxford gesehen habe. Ich hatte etwas m i t Craig zu besprechen und bin zu seinem Büro gegangen. Er hat mich hereingebeten, hatte aber zu tun. Silberg habe ich sofort erkannt und hätte liebend gern gewusst, wer seine h i n reißende Begleiterin war, aber Craig hat uns nicht vorgestellt. Ich schien ungelegen zu kommen . . . Na ja, es ist immer klug, sich mit den Sekretärinnen gut zu stellen. Die von Craig hat mir n ä m lich erzählt, was ich wissen wollte. Anscheinend haben sich Clissot u n d Silberg seit einem Jahr regelmäßig geschrieben, bis sie sich schließlich in Oxford getroffen haben.« »Wahrscheinlich planen sie ein gemeinsames Projekt«, sagte Elisa. Valente schüttelte den Kopf. »Ich habe zu Craig ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und weiß ü b e r alle seine Projekte Bescheid. A u ß e r d e m , kannst du m i r mal verraten, was für ein Projekt jemanden wie Craig, der an Teilchenbeschleunigern herumbastelt, m i t einem Historiker wie Silberg und Clissot, einer Spezialistin für tote Affen, planen sollte? Und wenn man noch Blanes und M a r i n i h i n z u n i m m t . . . was k o m m t dann heraus?« »Ein heilloses Durcheinander.« »Genau, oder eine Sekte von Teufelsanbetern.« Valente senkte die Stimme. »Oder . . . etwas noch Abgefahreneres.« Elisa sah ihn an. »Und das wäre?« Valente beließ es bei einem viel sagenden Lächeln. Aus den Lautsprechern drang eine Melodie, und wie magnetisch angezogen setzte sich das Publikum Richtung Saal in Bewegung. Valente deutete m i t dem Kopf h i n ü b e r : »Da gehen sie, wie die Küken hinter der Glucke her: Craig, Silberg, Clissot, M a r i n i . . . eingeladen von Blanes, aber bezahlen tut er trotzdem nicht.« Er drehte sich zu ihr u m . »Jetzt verstehst du vielleicht, w a r u m ich so sicher bin, dass sie uns >ausgeforscht< haben . . . Sieh mal hier.« Er hatte vor einem der Plakate Halt gemacht, das auf einer Staffelei aufgestellt war. A u f Spanisch und Englisch stand darauf zu lesen: >Erstes Internationales Symposium. Die Natur von Raum
u n d Zeit in den modernen Theorien. 16. - 17. Juli 2005. Kongresszentrum Madrids Aber Valente machte Elisa auf das Kleingedruckte aufmerksam. »Sponsor . . . « , las er. »Eagle G r o u p « , entzifferte Elisa das kunstvolle Logo. Das >G< des Wortes >Eagle< war zugleich der Anfangsbuchstabe von >Group<.
raup »Weißt du, wer das ist?«, fragte Valente. »Natürlich. Die Gruppe hat sich erst vor kurzem gebildet, aber es wurde eine Menge W i r b e l darum gemacht: ein Unternehmenskonsortium der Europäischen Union, das sich für die wissenschaftliche Entwicklung ...« Er lächelte nur kopfschüttelnd. »Mein Vater hat es m i r verraten: ECHELON heißt in Europa Eagle Group.«
11
Am Sonntagmorgen kam Victor nach dem letzten Vortrag wieder auf Elisa zu, weil er mit ihr die Mittagspause verbringen wollte. Elisa war gerne einverstanden, denn sie hatte ohnehin m i t i h m sprechen wollen. Etwas war n ä m l i c h sonderbar. Ric Valente war an jenem Morgen nicht auf dem Kongress erschienen. Und Blanes genauso wenig. Diese zweifache Abwesenheit bereitete ihr Kopfzerbrechen. Der Sonntag war zwar der Experimentalphysik gewidmet und b e r ü h r t e nur indirekt Blanes' Forschungsbereich, aber Elisa konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass das Fehlen des Schöpfers der » M a m m u t b a u m Theorie« m i t dem von Valente Sharpe zusammenhing. Was das bedeutete, wollte sie lieber nicht wissen. In einem Winkel der überfüllten Cafeteria fanden sie einen freien Tisch und a ß e n schweigend. Elisa überlegte gerade, wie sie das Thema anschneiden k ö n n t e , als Victor sich die Mayonnaise vom Kinn wischte: »Blanes hat Ric heute Morgen angerufen und ihn gebeten, m i t i h m nach Zürich zu gehen.« Elisa stellte fest, dass sie den Bissen in ihrem M u n d nicht herunterbrachte. » M m h « , knurrte sie. »Ric hat mich angerufen, damit ich es dir ausrichte . . . Er meinte, er k ä m e heute nicht zum Kongress, weil er eine Besprechung mit Blanes hat.« Elisa nickte dämlich und brachte, von der Brotkugel geknebelt,
die sie nicht hinunterzuschlucken vermochte, keinen Ton heraus. Wortlos entschuldigte sie sich bei Victor, stand auf und ging auf die Toilette, wo sie sich ü b e r der Kloschüssel des Korkens entledigte. Dann machte sie sich am Waschbecken frisch, w ä h r e n d ihr die Gedanken unaufhörlich im Kopf herumgingen. Na bitte, hast du etwas anderes erwartet? Dann stell dich nicht so an. In vielen schlaflosen Nächten hatte sie sich bereits klar gemacht, dass dies letztendlich das Wahrscheinlichste war, was passieren w ü r d e . Schließlich war Ric Valente von Anfang an Blanes' Lieblingsschüler gewesen. Elisa trocknete sich m i t einem Papierhandtuch Gesicht und H ä n d e ab und kehrte zu Victor an den Tisch zurück. »Ich freue mich für ihn«, sagte sie. U n d glaubte es selbst. Sie h ä t t e sich ü b e r jedes Ergebnis gefreut, Hauptsache, dieser absurde Wettkampf war endlich vorbei. Die » M a m m u t b a u m - T h e o r i e « verlockte sie zwar immer noch mit ihrer großartigen mathematischen Schönheit, aber die Erinnerung daran w ü r d e bald verblassen, und Elisa w ü r d e ihren Frieden wiederfinden. Andere Optionen schienen am Horizont ihrer Karriere auf, zum Beispiel ein Stipendium für das Massachusetts Institute of Technology oder eines von der Berkeley U n i versity. Bei beiden hatte sie sich beworben, für den Fall, dass aus Zürich nichts wurde. Sie war davon überzeugt, dass sie letztendlich bei einem der weitbesten Physiker promovieren w ü r d e . Sie hatte Ehrgeiz und wusste, dass sie ihn befriedigen musste. Blanes war einzigartig, aber nicht der Einzige. »Ich freue mich auch«, murmelte Victor. »Das heißt, nicht nur. Für ihn schon, aber nicht für dich. Ich meine ...« »Es ist mir egal, wirklich. Blanes und sein M a m m u t b a u m . . . Das ist nicht der Weltuntergang.« Nachdem sie die bittere Pille geschluckt hatte, fühlte sie sich wohler. Sie war es gewohnt sich anzupassen, u n d dies w ü r d e nicht das letzte Mal sein. Da nun echte Freiheit vor ihr zu liegen schien, fasste sie den Entschluss, ihren Alltag neu zu strukturieren. Vielleicht w ü r d e sie sogar m i t ihrem persönlichen >Spion<, Javier Maldonado, Kontakt aufnehmen u n d eine Gegeneinla-
dung zum Essen vorschlagen. Sie w ü r d e die Gelegenheit nutzen, um ihn nach allerlei Dingen zu fragen, die seit ihrem Gespräch mit Valente unklar waren. Hast du mich ausgehorcht? Arbeitest du für die Eagle Group? Sie stellte sich Maldonados Gesicht vor. Dann fiel ihr die Wette ein. Eigentlich ging sie davon aus, dass Valente sie vergessen w ü r d e . Als Blanes zu ihm gesagt hat: >Komm miu, hat er bestimmt nicht mehr an die Wette gedacht, sondern ist ihm wie hypnotisiert gefolgt. Und wenn nicht? U n d wenn er das Spiel ausreizen wollte, was dann? Eine gewisse Nervosität regte sich. Trotzdem w ü r d e sie Wort halten und tun, was er ihr befahl. Aber sie glaubte - besser gesagt, sie hoffte -, dass er nicht zu weit gehen w ü r d e . Sie nahm sich vor, einfach auf seine W ü n s c h e einzugehen, in der Hoffnung, dass er dann Ruhe gab. Im Grunde war sie sicher, dass Valente sie nur d e m ü t i g e n wollte. Ließe sie sich also ganz selbstverständlich auf seine Forderungen ein, w ü r d e das Spiel für ihn bald an Reiz verlieren. Ich rufe dich auf dem Handy an. Nur einmal. Und dann sage ich dir, wo du hingehen sollst, wie du da hingehen sollst, was du anhaben sollst und was du nicht anhaben ... M i t einem Mal störte sie das Telefon in ihrer Hosentasche. Es fühlte sich an, als legte Valente die Hand auf ihren Oberschenkel. Elisa zog es heraus u n d warf einen Blick auf das Display: keine Anrufe. Nichts. Dann legte sie es m i t der G e b ä r d e eines Spielers auf den Tisch, der alles auf eine Karte setzt. Als sie den Blick hob, bemerkte sie den Aufruhr in Victor, der jeden einzelnen ihrer Gedanken gelesen zu haben schien. »Ich glaube, ich bin gestern zu weit gegangen«, begann er. »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen. Bestimmt hast du mich missverstanden. Ich ... wollte dir keine Angst einjagen.« »Du hast m i r keine Angst eingejagt«, erwiderte sie lächelnd. »Also, es freut mich, dass du das sagst.« Seine niedergeschlagene Miene schien das Gegenteil a u s z u d r ü c k e n . »Ich habe m i r den ganzen Tag Vorwürfe gemacht, weil ich vielleicht ü b e r t r i e ben habe. Schließlich ist Ric kein Teufel...«
»Mir wäre so ein Vergleich auch gar nicht in den Sinn gekommen. Aber gut, dass du's klarstellst, sonst k ö n n t e Satan sich noch beleidigt fühlen.« Victor amüsierte sich über ihre Antwort und musste u n w i l l kürlich mitlachen. Dann fiel ihr Blick auf das fast u n b e r ü h r t e Brötchen auf ihrem Teller und das Mobiltelefon daneben, das sie beinahe erwartungsvoll anschaute. U n d sie setzte hinzu: »Was ich nicht verstehe, ist, wie ihr beiden euch angefreundet habt. Ihr seid doch so verschieden ...« »Wir waren damals Kinder. Als K i n d macht man vieles, was man später anders beurteilt.« »Wahrscheinlich hast du Recht.« Und dann sprudelte es nur so aus Victor heraus, ein Monolog wie ein Gewitter: Die Sätze polterten wie der Donner, der sich auf seinen Lippen sammelte, w ä h r e n d die vorauseilenden Gedanken in seinem Inneren gewaltigen elektrischen Entladungen glichen. Elisa lauschte aufmerksam, zumal Victor, zum ersten M a l , seit sie ihn kannte, weder ü b e r Theologie noch ü b e r Physik sprach. Einen Punkt in der Luft fixierend, blätterte er vor ihr eine alte Geschichte auf. Wie immer verbreitete er sich ü b e r etwas Vergangenes. Über das, was geschehen ist und noch immer geschieht, wie Elisas G r o ß v a t e r ihr einmal erläutert hatte. Ü b e r Dinge, die gewesen sind und deshalb weiter existieren. Victor sprach über das Einzige, w o r ü b e r wir sprechen k ö n n e n , wenn w i r es wahrhaft tun. Wenn wir ausführlich werden, sprechen wir nämlich immer ü b e r Vergangenes. Und w ä h r e n d sie i h m z u h ö r t e , versanken für Elisa die Cafeteria, der Kongress und ihre beruflichen Sorgen, und es gab nichts als Victors Stimme und die Geschichte, die er ihr erzählte. Erst Jahre später wusste sie, dass ihr G r o ß v a t e r Recht gehabt hatte, als er behauptete: Die Vergangenheit der anderen kann unsere Gegenwart sein.
Die Zeit ist wirklich seltsam. Sie entführt die Dinge an einen entlegenen O r t , zu dem w i r keinen Zugang haben, doch von dort wirken deren magische Kräfte weiter auf uns ein. Victor war wieder ein K i n d , u n d Elisa konnte die beiden buchstäblich vor sich sehen, zwei einsame Jungen, ä h n l i c h intelligent u n d vielleicht m i t ä h n l i c h e n Vorlieben, besessen von Neugier u n d Wissbegier, aber ebenso von bestimmten Neigungen, die andere Knaben i h res Alters sich gar nicht einzugestehen wagten. Die beiden jedoch schon, und das unterschied sie von den Ü b r i g e n . Ric war der Chef, er hatte das Sagen, und Victor - V i c k y - fügte sich stillschweigend, aus Angst vor den Folgen einer Verweigerung oder weil er von dem Wunsch beseelt war, zu sein wie der andere. Das Anziehendste an Ric, so erklärte Victor ihr, war zugleich sein größtes Defizit: die unendliche Einsamkeit, in der er lebte. Von seinen Eltern verlassen u n d großgezogen von einem Onkel, der i h m immer fremder wurde, hatte es Ric an Grenzen gefehlt, an Regeln, und so fiel es i h m schwer, an etwas anderes zu denken als an sich selbst. Die ganze Welt kreiste um i h n , als sei sie eine T h e a t e r b ü h n e u n d einzig u n d allein dazu bestimmt, i h m zu Gefallen zu sein. Victor wurde zu einem regelmäßigen Zuschauer in diesem Theater, aber m i t den Jahren mochte er die fantastischen Vorstellungen des Freundes nicht mehr m i t ansehen. »Ric war anders als normale Menschen: Er hatte eine Menge Fantasie, stand aber gleichzeitig m i t beiden Beinen fest auf dem Boden. Er machte sich keine Illusionen. Wenn er etwas wollte, dann scheute er vor nichts zurück, um es zu bekommen. Jedes M i t t e l war i h m recht . . . Am Anfang mochte ich seine A r t . Ich glaube, dass es allen Kindern so gehen w ü r d e , wenn sie jemanden wie ihn kennen lernen. Damals war Ries Welt der Sex. U n d sein Blick auf diese Welt war immer zynisch. Die M ä d c h e n , alle M ä d c h e n waren für ihn minderwertig. Als K i n d vertrieb er sich die Zeit damit, in den Pornomagazinen, die er stapelweise sammelte, die Gesichter der Models m i t Fotos seiner Klassenkameradinnen zu überkleben. Eine Zeit lang mochte das spaßig sein, aber auf Dauer hatte ich es satt. Was ich am wenigsten mochte,
war Vics A r t , m i t M ä d c h e n umzugehen . . . Für ihn waren sie Objekte, nur für seinen Lustgewinn da. Ich habe nie erlebt, dass er eine echte Freundin gehabt h ä t t e , er hat die M ä d c h e n nur benutzt. Er hat sie nackt fotografiert oder im Badezimmer gefilmt. Manchen hat er Geld gegeben, andere hat er m i t versteckten Kameras aufgenommen, ohne dass sie etwas merkten.« Er hielt inne und sah Elisa fragend an, ob er seinen Bericht abbrechen sollte. Doch sie bedeutete i h m m i t einer Geste fortzufahren. »Als wenn das selbstverständlich wäre, hatte er immer Geld und auch Gelegenheit dazu. Die Sommerferien verbrachten w i r in einem Landhaus, das Ries Familie in einem andalusischen D o r f namens Ollero b e s a ß . . . Manchmal haben w i r auch ein paar M ä d e l s mitgenommen. W i r waren allein und fühlten uns wie die Könige des Universums. Ric hat dort gewöhnlich pikante Fotos von seinen Freundinnen gemacht. Aber dann ist eines Tages etwas passiert.« Victor lächelte verlegen und schob sich die Brille hoch. »Eines der M ä d c h e n gefiel mir, und ich bildete m i r ein, dass sie mich auch mochte. Sie hieß Kelly und war Engländerin. Sie ging auf unsere Schule . . . Kelly Graham ...« Er stockte einen Augenblick, als ließe er sich in der Erinnerung den Namen auf der Zunge zergehen. »Ric hat sie in sein Haus auf dem Land eingeladen, und mich k ü m m e r t e das nicht. Ich dachte, i h m sei klar, dass bei Kelly nichts d r i n war m i t seinen Spielchen. Doch dann habe ich sie eines Morgens erwischt... Ric und sie ...« Er sah Elisa unverwandt an und nickte eifrig. »Ich b i n vielleicht einer von denen, die nur alle zehn Jahre mal w ü t e n d werden, aber ... a b e r . . . « »Aber wenn, dann richtig«, half Elisa i h m auf die Sprünge. »Genau . . . Ich habe ihnen Bescheid gestoßen. Na ja, aus heutiger Sicht war das Kinderkram. Schließlich waren w i r erst zehn oder elf Jahre alt; doch zu sehen, wie sie sich küssten und b e r ü h r ten, das hat mich ... ziemlich schockiert. W i r hatten daraufhin einen Streit, haben uns angeschrieen, und Ric hat mich geschubst, d r a u ß e n auf den Felsen am Bach. Ich bin hingefallen und habe
m i r den Kopf gestoßen ... Z u m Glück war da ein M a n n beim Angeln. Der hat mich aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht. Es war nichts Schlimmes, eine Platzwunde, nur ein paar Stiche, ich glaube, die Narbe habe ich noch . . . Aber ich wollte dir etwas anderes erzählen. Ich war mehrere Stunden bewusstlos, und als ich nachts aufgewacht bin, da saß Ric an meinem Bett und hat mich um Verzeihung gebeten. Meine Eltern haben m i r erzählt, dass er sich die ganze Zeit ü b e r nicht von der Stelle g e r ü h r t hat. Die ganze Zeit«, wiederholte er mit feuchten Augen. »Als ich aufgewacht bin, hat er angefangen zu weinen und mich um Verzeihung gebeten. Ich glaube, ein Kind braucht Freunde, um zu wissen, was Freundschaft wirklich bedeutet. An jenem Tag habe ich mich i h m näher gefühlt als je zuvor. Kannst du das verstehen? Du hast mich gefragt, was uns verbindet. Ich glaube, es sind Erlebnisse wie dieses.« Sie schwiegen. Victor seufzte tief. »Natürlich habe ich i h m verziehen. Ich dachte, unsere Freundschaft w ü r d e ewig bestehen. Aber irgendwann war sie vorbei. W i r sind erwachsen geworden und unterschiedliche Wege gegangen. Obwohl w i r immer in Verbindung geblieben sind, waren da Schranken zwischen uns, und das war eigentlich noch schlimmer. Er hat stets versucht, mich in seine Welt hineinzuziehen, hat m i r erzählt, dass er immer noch M ä d chen nach Ollero einlud. Er hat sie heimlich gefilmt, manchmal w ä h r e n d er mit ihnen schlief. Danach hat er ihnen die Filme gezeigt und . . . sie damit erpresst. >Willst du, dass deine Eltern oder deine Freunde das hier zu sehen kriegen?<, hat er gedroht. Damit sie noch mal für ihn Modell stehen ...« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Oh, er hat nie mit der Polizei zu tun gehabt, wie sollte er auch. Er hat gut aufgepasst, und am Ende haben die meisten M ä d c h e n doch den M u n d gehalten.« »Warst du mal dabei?«, fragte Elisa. »Ich meine, als er sie erpresst hat.« »Nein, aber er hat es mir erzählt.« Victor schien enttäuscht von ihrer Reaktion, gerade wo er gehofft hatte, sie w ü r d e i h m ver-
trauen. »Anscheinend weißt du nicht, wovon ich rede . . . Du hast ja keine Ahnung, wie er die M ä d c h e n behandelt h a t . . . « »Victor, Ric Valente mag vielleicht pervers sein, aber mehr auch nicht. Er ist nichts weiter als ein blöder Idiot. Das ist meine Meinung.« »Glaubst du denn, du würdest es schaffen, i h m nicht zu gehorchen?«, fragte er plötzlich m i t unerwarteter Strenge. Die übliche Langsamkeit war wie weggeblasen. »Glaubst du, wenn du dich auf sein Spiel einlässt, könntest du ablehnen?« »Was ich glaube, ist, dass du ihn trotz allem immer noch bewunderst«, sagte Elisa verärgert. »Valente ist ein B l ö d m a n n , der nie im Leben eine Ohrfeige von seinen Eltern bekommen hat, und du machst aus i h m einen skrupellosen Sadisten, fähig zu irgendwelchen Abartigkeiten. Ich weiß ja nicht, vielleicht weidest du dich ja an dieser Vorstellung ...« Augenblicklich wusste sie, dass sie zu weit gegangen war. Doch Victor sah sie u n g e r ü h r t an. »Nein«, sagte er ernst. »Da täuschst du dich. M i r gefällt das keineswegs.« »Ich wollte damit nur sagen ...« Eine elektronische Melodie erklang. Fast erschrocken nahm Elisa das Telefon v o m Tisch und betrachtete das Display: Die Nummer des Anrufers war u n t e r d r ü c k t . Ric Valente kam ihr in den Sinn, wie er am Vortag m i t ihr geredet u n d sie dabei aus seinen wässrigen Augen unter dem Pony von Kopf bis F u ß gemustert hatte. Ich sage dir, wo du hingehen sollst, wie du da hingehen sollst, was du anhaben und was du nicht anhaben sollst, und du wirst parieren ... Aber das ist nur der Anfang. Ich werde Spaß haben wie noch nie zuvor, das schwöre ich dir... Unwillkürlich scheute sie davor zurück, den A n r u f entgegenzunehmen. Es war, als l ü d e sie das Handy mit seinem d r ä n genden Klingelton ein in eine unbekannte Welt, eine Welt, in der das gestrige Gespräch mit Ric und die Geschichte, die ihr Victor gerade erzählt hatte, nur das Vorgeplänkel waren. Vielleicht, grübelte sie, wäre es besser, als Feigling oder Lügnerin dazustehen, als jene finstere Einladung anzunehmen.
Z ö g e r n d blickte sie auf und sah Victor an, der sie aus weit aufgerissenen Augen wie ein umzingelter S t r a ß e n h u n d anzuflehen schien: Geh nicht dran! Genau diese Schwäche, die tiefe Angst, die sie bei i h m s p ü r t e , gab den Ausschlag. Sie w ü r d e Ric Valente Sharpe und Victor Lopera beweisen, dass sie aus einem anderen Holz geschnitzt war. Nichts und niemand konnte sie schrecken. Wenigstens glaubte sie das noch in jener glücklichen Zeit. »Ja«, antwortete sie m i t fester Stimme, zu allem bereit. Aber was sie vernahm, l ä h m t e sie buchstäblich. Sie legte auf und starrte Victor verstört an.
Ihre Mutter tat etwas nie Dagewesenes und sagte an jenem Dienstagmorgen sämtliche Termine im Piccarda ab, um sie nach Barajas zum Flughafen zu bringen. Sie war auffallend zuvorkommend und brachte ihre Freude ü b e r die Wendung der Dinge vorbehaltlos zum Ausdruck. Vielleicht, dachte Elisa, frohlockte sie vor allem, weil das Vögelchen endlich flügge wurde und das kostspielige Nest verließ. Aber ich will nichts Schlechtes denken, schon gar nicht heute. Die größte Freude war für sie, dass auch Victor da war. Als einziger ihrer Freunde war er zum Flughafen gekommen, um sie zu verabschieden. Anstatt sie zu küssen, tätschelte er ihr die Schulter. »Gratuliere«, sagte er, »obwohl ich nicht ganz verstehe, wie du das geschafft hast.« »Ich auch nicht«, gestand sie. »Andererseits ist es irgendwie logisch - euch beide zu nehmen, meine ich. Ihr wart die Besten im Kurs.« Es s c h n ü r t e ihr die Kehle zu, aber ihre Freude war u n g e t r ü b t . Bis jetzt verschwendete sie keinen Gedanken an Valente, obwohl feststand, dass sie i h m in Zürich begegnen w ü r d e . Letzten Endes hatte also keiner von ihnen die Wette gewonnen. Unentschieden, wie immer.
Bis zum Abflug war noch ü b e r eine halbe Stunde Zeit, aber Elisa wollte lieber am Gate warten. Vor dem Sichtgerät für das H a n d g e p ä c k wechselten Mutter und Tochter einen schweigenden Blick, als warteten sie darauf, dass der jeweils andere den n ä c h s t e n Schritt tat. Elisa streckte spontan die Arme aus und umschlang die vornehme, nach P a r f ü m duftende Gestalt. Sie wollte nicht weinen, doch kaum war dieser Gedanke aufgekommen, da schössen ihr auch schon die T r ä n e n in die Augen u n d liefen ihr ü b e r die Wangen. Überrascht küsste Marta Morande sie auf die Stirn, eine flüchtige, k ü h l e , diskrete B e r ü h r u n g . »Ich hoffe, du wirst sehr glücklich und alles, alles klappt, mein Kind.« Elisa legte ihre Tasche auf das Fließband. »Ruf an und schreib mir, vergiss das nicht«, mahnte die M u t ter. »Viel, viel Glück«, wiederholte Victor immer wieder, auch noch, als sie i h n nicht mehr h ö r e n konnte. Jedenfalls schloss Elisa das aus den sich wiederholenden Lippenbewegungen. Das Gesicht ihrer Mutter und von Victor blieben zurück. Als sie durch das Flugzeugfenster Madrid von oben sah, war sie überzeugt, dass für sie ein neues Kapitel begann. Er hat mich angerufen. Er will, dass ich nach Zürich komme, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Unglaublich. Plötzlich hatte sich das Blatt gewendet: Sie ließ die Studentin >Robledo Morande, Elisa< hinter sich und war auf dem Weg in eine neue Welt, die tatsächlich vollkommen anders zu sein schien als befürchtet. Eine Welt, die hoch oben in den Wolken auf sie wartete, wo die glitzernde Sonne ihr zuzuzwinkern schien. Jetzt hielt sie selbst die Zügel in der Hand und flog gleichsam im geflügelten Wagen auf diese Sonne zu. M i t einem Lächeln schloss sie die Augen u n d kostete diese Empfindung aus. Jahre später dachte sie oft, dass sie nie und nimmer das Flugzeug bestiegen und am Sonntag zuvor nicht das Telefonat angenommen hätte, wenn sie geahnt hätte, was sie erwartete. Sie wäre schnurstracks nach Hause zurückgekehrt, hätte Fens-
ter und T ü r e n zugenagelt, sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich für immer dort versteckt. Aber in jenem Moment war sie vollkommen ahnungslos.
III. DIE INSEL
Die Insel ist voller Lärm. W i l l i a m Shakespeare
12
Die Augen beobachteten sie unverwandt, w ä h r e n d sie sich nackt in ihrem Zimmer bewegte. U n d sie hatte erstmals dieses Gefühl, die dumpfe Ahnung dessen, was sich später ereignen w ü r d e , ohne recht zu wissen, wor u m es eigentlich ging. Erst später erkannte sie, dass jene Augen nur das Vorspiel waren. Denn sie waren nicht die Finsternis, sondern das Tor zur Finsternis.
Erst als sie zu dem Haus gebracht wurde, begann sie misstrauisch zu werden. Vorher war alles normal verlaufen, sogar angenehm und entspannt. Dass sie von einem gut gekleideten M a n n m i t einem Schild, auf dem ihr Name stand, am Z ü r i c h e r Flughafen erwartet wurde, nahm sie als Beweis der Schweizer Gründlichkeit. Den festen Schritten des Mannes folgend, unterdrückte sie ein Lachen, weil sie i h n zuerst für einen Kollegen gehalten hatte und schon im Begriff war, die Grundprobleme der Physik m i t i h m zu erörtern. Dabei war er nur der Chauffeur. Sie genoss die Fahrt im dunklen Volkswagen durch eine Landschaft m i t ganz anderen Farben als dem bekannten Goldgelb des Madrider Umlands. Sie hatte den Eindruck, tausende nie gese-
hener G r ü n t ö n e zu entdecken, wie damals die Buntstifte, mit denen sie als Kind ihre Malhefte voll gekritzelt hatte. Waren es nicht sogar Schweizer Stifte gewesen? Da sie w ä h r e n d ihres Studiums mehrere Wochen im CERN verbracht hatte, dem Europäischen Kernforschungszentrum in der N ä h e von Genf, war ihr die Schweiz nicht fremd. Sie wusste, sie wollten zum Technologischen Labor für physikalische Forschung in Z ü r i c h , in dessen Gästehaus ein Zimmer für sie reserviert war. In diesem b e r ü h m t e n Labor, wo die Theorie des M a m mutbaums ihren Ursprung genommen hatte, war sie noch nie gewesen, aber sie kannte es von zahllosen Fotos. Deshalb runzelte sie die Stirn, als sie merkte, dass der Wagen einen anderen Weg nahm. Sie mussten sich mehrere Kilometer nördlich von Z ü r i c h befinden. D ü b e n d o r f , las sie auf einem Ortsschild, offenbar ein Landsitz. Jedenfalls standen h ü b s c h e B ä u m e davor, es gab einen gepflegten Rasen und eine Reihe luxuriöser Autos vor dem Eingang. Wie das Haus eines Produzenten. Als wollten sie einen Film drehen. Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag und holte dann ihr Gepäck heraus. Werde ich hier untergebracht? Aber sie hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ein Kerl, der offenbar beim gleichen Schneider gewesen war wie der Chauffeur, bat sie, die Lederjacke abzulegen, und kitzelte sie m i t einem Detektor unter den Achseln und an den Innen- u n d A u ß e n s e i t e n der Schenkel. Er fand ihren Hausschlüssel, ihr Mobiltelefon und ihr Geld. A n schließend h ä n d i g t e er ihr alles vollständig wieder aus und begleitete sie in das ruhig daliegende Haus, auf dessen Parkett sich das Licht spiegelte wie auf einem ruhigen See. D o r t ü b e r g a b er sie an einen anderen Mann, der sich als Cassimir vorstellte. Wenn i h n nicht sein Name und sein schlechtes Spanisch verraten hätten, dann w ä r e n g e n ü g e n d andere Eigenschaften da gewesen, um klarzustellen, dass er alles war, nur kein Spanier: Die Statur eines lebenden Einbauschranks, das strohgelbe Haar, die weiße Haut eines Angelsachsen, die m i t dem schwarzen Rollkragenpullover und der grauen Hose kontrastierte. Eines musste
man i h m lassen: Seine Rolle als F u ß a b t r e t e r m i t dem Aufdruck >Willkommen< beherrschte er perfekt. Ob sie eine gute Reise gehabt habe? Ob sie schon einmal in der Schweiz gewesen sei? W ä h rend er sie diese und andere Höflichkeitsfloskeln fragte, führte er sie in einen hellen Raum und bat sie, i h m gegenüber vor einem Schreibtisch aus Kirschholz Platz zu nehmen. Hinter Cassimir strahlte ein sonniger Schweizer Tag durchs Fenster, und links von Elisa, also rechts von Cassimir, wiederholte sich das Zimmer in einem langen Spiegel m i t einer zweiten, schwarz gelockten Elisa in rosa Trägerhemd und gebräunter Haut unter den weißen B H Trägern - ihre Mutter hasste es, sie so vulgär hervorlugen zu sehen -, in engen Jeans und Sportschuhen, sowie dem zweiten Riesen namens Cassimir im Profil, der seine enormen Arme auf dem Tisch verschränkt hatte. Elisa u n t e r d r ü c k t e ein Lachen, erinnerte sie sich doch an ein Erotikvideo, das sie einmal aus dem Internet heruntergeladen hatte. Darin wurde ein M ä d c h e n aufgefordert, sich im Büro eines Pornofilmproduzenten nackt auszuziehen, w ä h r e n d sie von der anderen Seite des Spiegels dabei beobachtet wurde. Hinter dem Spiegel ist jemand, der mich beobachtet, ganz bestimmt. Das hier ist eine Fleischbeschau: Sie schätzen die Ware, bevor sie den Zuschlag geben. »Professor Blanes ist nicht hier.« Cassimir hatte zwei Sorten Unterlagen hervorgeholt, ein Stapel war blau, der andere weiß. » D o c h sobald Sie das hier gelesen und unterschrieben haben, w i r d er zu uns stoßen. Hier sind die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Lesen Sie alles sorgfältig durch, denn es gibt einige Dinge, die w i r nicht im Vorhinein m i t Ihnen klären konnten. U n d fragen Sie bitte, falls etwas unklar ist. M ö c h t e n Sie einen Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk?« »Nein, danke.« »Wie sagt man das auf Spanisch, Erfrischungsgetränk oder Erfrischungstrank?«, wollte Cassimir dann gut gelaunt wissen. Und als Elisa den Unterschied erklärte, setzte er verschmitzt hinzu: » M a n c h m a l komme ich durcheinander.« Die Unterlagen waren in einem perfekten Spanisch verfasst.
Die weißen trugen die Überschrift >Arbeitsbedingungen<, die blauen lediglich das Kürzel A6, das Cassimir ihr erläuterte. »Dieblauen Unterlagen beinhalten die Vertraulichkeitsregeln. Warum lesen Sie sie nicht zuerst?« Sie entdeckte ihren Namen in Großbuchstaben, umgeben von einem Buchstabendickicht, und empfand noch einmal wie einen Stich diese Unruhe. Sie hatte nicht erwartet, ihren Namen in der gleichen Schrift gedruckt zu sehen wie den übrigen Text, sondern eine Eintragung m i t Kugelschreiber auf einer gepunkteten Linie. ELISA ROBLEDO M O R A N D E neben den anderen Worten gedruckt zu sehen ließ sie zusammenfahren. Es war, als wäre sie allein der G r u n d für all diese Worte, als würde man nur für sie solche Umstände machen. »Verstehen Sie alles?«, forschte Cassimir beflissen. »Hier steht, dass ich nichts darüber veröffentlichen d a r f . . . « »Eine Zeit lang, in der Tat, aber nur im Zusammenhang m i t Professor Blanes' Forschungsprojekt. Lesen Sie weiter unten A b satz 5C. Das Verbot bezieht sich nur auf das benannte Forschungsprojekt und einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren. Doch es h i n dert Sie nicht daran, m i t Professor Blanes gemeinsam etwas zu publizieren oder mit irgendeinem anderen Professor zu anderen Themen. Und sehen Sie mal da, den nächsten Absatz. Da w i r d Ihnen das Angebot gemacht, Ihre Doktorarbeit bei Professor Blanes zu schreiben, sofern es ein Thema außerhalb der Materie betrifft, mit der Sie sich in diesem zweijährigen Zeitraum befassen. Lesen Sie in den weißen Unterlagen den Absatz >Höhe des Stipendiums<. Sie sehen, dass der Betrag nicht unerheblich ist. Und die Unterbringung ist kostenlos, nur die Ausgaben für Verpflegung und Ihre persönlichen Bedürfnisse haben Sie selbst zu tragen. Das Stipendium w i r d Ihnen monatlich ausgezahlt wie ein Gehalt, bis einschließlich Dezember des folgenden Jahres.« Ein anderer, sehr viel kühlerer Ton sprach aus den blauen U n terlagen m i t den kaum verständlichen Überschriften >Regeln für die wissenschaftliche Forschung und die Sicherheit der Staaten der Europäischen Union<, >Regeln für die nach-vertragliche Ver-
traulichkeit<, >Strafbarkeit der Offenlegung von Staatsgeheimnissen und klassifiziertem Material<. Aber die Terminologie beunruhigte sie weit weniger als Cassimirs liebenswürdige Beharrlichkeit und seine Mühe, sie davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung sei: sein Anliegen, das Ganze in lauter mundgerechte Häppchen zu zerlegen, damit sie widerstandslos den Teller leer aß. »Wenn Sie wollen, lasse ich Sie allein, damit Sie alles in Ruhe durchlesen können.« Sie hob den Blick und blinzelte, vom durch das Fenster hereinfallenden Licht geblendet. Da gewahrte sie eine Kleinigkeit, die ihr unbegreiflicherweise bis dahin entgangen war: Cassimir trug eine Brille. Wann hatte er die aufgesetzt? Hatte er sie schon von Anfang an getragen? Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um diese u n d andere Fragen, u n d Verwirrung machte sich in ihr breit. »Worin genau besteht meine Arbeit?« »Darin, Professor Blanes zu helfen.« »Aber wobei?« »Bei seinem Forschungsprojekt.« Sie verkniff sich ein hämisches Lachen. Aus dem Spiegel wurde sie von der zweiten Elisa böse beobachtet. »Was ich wissen möchte, ist, was für ein Forschungsprojekt m i t Professor Blanes ich durchführen soll.« »Oh, davon habe ich keine Ahnung.« Cassimir lächelte. »Ich bin kein Physiker.« »Nun, ich möchte aber wissen, was ich hier t u n soll, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Sie werden es sofort erfahren. Sobald Sie die Bedingungen akzeptiert haben, werden wir das jetzt gleiche in Erfahrung b r i n gen ... Gleiche?«, schwankte er und korrigierte sich verschmitzt: »Jetzt gleich.« Elisa reagierte auf seine Verschmitztheit diesmal kühl. »Was für Bedingungen?« »Oh, sobald Sie unterschrieben haben, meine ich.«
Das hier ist ein Dialog unter Taubstummen. Wenn ihre Mutter sie in jenem Moment gesehen hätte, so dachte sie, hätte sie das Miesepeter-Grinsen N u m m e r eins auf Elisas Gesicht erkannt. Aber Herr Cassimir war nicht ihre Mutter und grinste m i t . »Sehen Sie, ich werde nicht unterschreiben, bevor ich nicht weiß, was ich hier t u n soll«, sagte Elisa. Wie ein folgsamer Spiegel oder ein Echo ihres Verhaltens mimte Cassimir Verärgerung. »Wie ich bereits gesagt habe, sollen Sie Professor Blanes bei seinem Forschungsprojekt unterstützen.« »Was ist EG-Security?«, änderte sie ihre Taktik und zeigte auf eine Zeile des weißen Schriftbogens. »Das steht hier überall. Was bedeutet das?« »Oh, das ist das Unternehmen, welches das Projekt hauptsächlich finanziert, ein Zusammenschluss verschiedener Forschungsunternehmen.« »EG, bedeutet das Eagle Group?« »Oh, das sind die Initialen, aber ich arbeite nicht für die u n d weiß n i c h t . . . « Oh, wie schlau von Ihnen, Herr Oh. Elisa beschloss, ihre Höflichkeit zu vergessen u n d zum Frontalangriff auf H e r r n Oh überzugehen. »Sind Sie das, die mich in den letzten Wochen überwacht haben? Die m i r einen Sender ins Handy eingebaut haben u n d mich m i t einem Fünfzig-Fragen-Katalog gelöchert haben?« Sie sah m i t Genugtuung, wie die Gelassenheit u n d das G r i n sen aus dem Gesicht ihres Gegenübers verschwanden u n d einem Ausdruck der Verunsicherung wichen. Offenbar waren Cassimirs Anweisungen auf fügsamere Klienten zugeschnitten, oder aber er hatte sie unterschätzt und gedacht, die junge Frau sei leichter manipulierbar. »Verzeihung, aber ...« »Nein, diesmal bin ich an der Reihe. Ich glaube, dass Sie bereits zur Genüge über meine bescheidene Person i n f o r m i e r t sind. Jetzt b i n ich mit dem Fragen dran.« »Aber Frau ...«
»Ich möchte m i t Herrn Professor Blanes sprechen. Letzten Endes soll ich ja m i t i h m zusammenarbeiten.« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, er ist nicht hier.« »Dann möchte ich, dass m i r jemand sagt, w o r i n meine Arbeit bestehen soll.« »Das dürfen Sie noch nicht erfahren«, sagte eine andere Stimme in perfektem Englisch. Der M a n n war hinter Elisas Rücken aus einer Tür neben dem Spiegel getreten. Er war groß und schlank und trug einen tadellos geschnittenen Anzug. Sein blondes Haar war an den Schläfen ergraut, u n d der Schnurrbart war sorgfältig gestutzt. Ein untersetzter M a n n stand neben i h m . Sieht so aus, als hätten sie mich tatsächlich beobachtet. Ihr Herz machte vor Schreck einen Satz. »Sie verstehen doch Englisch, nicht wahr?«, fuhr der große Mann m i t der Bassstimme fort und kam näher. Im Gegensatz zu Cassimir reichte er ihr weder die Hand noch heuchelte er Herzlichkeit. Am beeindruckendsten fand Elisa seine Augen: Sie waren blau u n d kalt wie Diamantbohrer. »Ich heiße Harrison, u n d das hier ist Herr Carter. W i r sind die Sicherheitsbeauftragten. Ich wiederhole: Sie dürfen noch nichts darüber erfahren. W i r wissen nämlich selbst nichts Genaueres. Ihre Arbeit hängt eng m i t den Forschungen des Professors zusammen und ist eingestuft als >klassifiziertes M a t e r i a l . Der Professor hat mehrere junge Wissenschaftler als Mitarbeiter ausgewählt, darunter Sie.« Der Mann geriet ins Stocken und hielt inne. Er stand unmittelbar vor ihr, u n d der Blick aus seinen blauen Augen traf sie wie Nadelstiche. Nach einer Pause setzte er hinzu: »Wenn Sie annehmen, unterschreiben Sie. Wenn nicht, dann fliegen Sie nach Spanien zurück, und der Fall ist erledigt. Noch Fragen?« »Ja, einige. Haben Sie mich überwacht?« »Haben wir«, erwiderte der M a n n teilnahmslos, als wäre dies so offensichtlich wie selbstverständlich. »Wir haben Sie überwacht, Ihre Bewegungen kontrolliert, w i r haben Sie einer Befra-
gung unterzogen u n d I h r Privatleben durchleuchtet ... Dieses Verfahren wurde auch bei anderen Kandidaten angewendet. Es ist vollkommen legal, auch nach internationalen Konventionen. Das ist der übliche Weg. Wenn Sie sich irgendwo bewerben, geben Sie ja auch ihre Unterlagen ab u n d beantworten in einem Gespräch alle möglichen Fragen. Das finden Sie wahrscheinlich völlig normal, stimmt's? N u n , bei Bewerbungen auf eine der Stellen, bei denen es um >klassifiziertes M a t e r i a l geht, ist unser Prozedere genauso üblich. Noch Fragen?« Elisa dachte einen Moment nach. In ihrer inneren Wahrnehm u n g blitzten das Gesicht Javier Maldonados u n d der Klang seiner Stimme auf. Guter Journalismus besteht nun mal aus lauter sorgfältig zusammengetragenen
Einzelinformationen.
Dieses
Schwein'. Aber dann beruhigte sie sich wieder. Er hat nur seine Arbeit getan. Und jetzt muss ich meine tun. »Können Sie m i r wenigstens sagen, ob ich in Zürich bleiben werde?« »Nein, Sie werden nicht hier bleiben. Sobald Sie unterschrieben haben, werden Sie an einen anderen Ort gebracht. Haben Sie nicht die Einleitung des Schriftsatzes Isolation u n d Geheimhaltung< gelesen?« »Die zweite blaue Seite«, half ihr Cassimir auf die Sprünge u n d beteiligte sich erstmals wieder an dem Gespräch. »Die Isolation w i r d vollständig sein«, sagte Harrison. »Sämtliche Telefonate und sämtliche Außenkontakte, ganz gleich, über welches Kommunikationsmedium, werden gefiltert. Für die A u ßenwelt, auch für Angehörige u n d Freunde, sind Sie weiterhin in Zürich. Und um alles, was sich an unvorhersehbaren Ereignissen aus dieser Situation ergibt, kümmern w i r uns. Das heißt, Sie brauchen sich keine Sorgen darüber zu machen, ob Ihnen beispielsweise Ihre Angehörigen oder Freunde einen Überraschungsbesuch abstatten und dann feststellen, dass Sie gar nicht hier sind. D a r u m kümmern w i r uns.« »Wen meinen Sie m i t >wir« Der M a n n lächelte zum ersten M a l . »Herrn Carter u n d mich.
W i r haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Sie an nichts anderes denken als an Gleichungen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Die Zeit zum Fragen ist zu Ende. Wollen Sie nun unterschreiben oder hier auf das nächste Flugzeug nach M a d r i d warten?« Elisas Blicke wanderten über die Unterlagen auf dem Tisch. Sie hatte Angst. Eine Angst, die sie in ihrer Lage für normal hielt, bis sie merkte, dass sich dahinter noch etwas regte - die Stimme der Vernunft in ihrem Innern, die ihr zurief: Tu es nicht! Unterschreib nicht! Sieh es dir erst genau an. »Kann ich das Ganze noch mal in Ruhe durchlesen u n d dazu ein Glas Wasser haben?«, fragte sie schließlich.
Mysteriöse Erfahrungen können unauslöschlich sein, aber gleichzeitig u n d paradoxerweise sind die Einzelheiten, an die w i r uns erinnern, oft unbedeutend, unzusammenhängend u n d sogar lächerlich. In der Hitze des Gefechts brennen sich uns bestimmte Wahrnehmungen ins Gedächtnis ein und verstellen uns gleichzeitig den Blick für das Wesentliche, so dass w i r im Nachhinein das Geschehen nicht objektiv zu beurteilen vermögen. Von jener ersten Reise blieben der überreizten Elisa nur die banalsten Szenen in Erinnerung: ein Wortwechsel zwischen dem bulligen Mann namens Carter, der sie begleitete - Harrison sollte sie erst sehr viel später wiedersehen -, u n d einem seiner Untergebenen, als sie in das kleine Flugzeug für zehn Passagiere stiegen, das noch am Mittag desselben Tages am Züricher Flughafen auf sie wartete. Ein Wortwechsel, der sich an der offenbar wichtigen Frage entzündete, ob >Abdul schon weg war< oder ob >Abdul gegangen war<, wobei sie nie erfuhr, wer dieser A b d u l eigentlich war. Oder Carters große, behaarte Hände mit den dicken Venen, wie er im Flugzeug auf der anderen Seite des Ganges ein Dossier aus dem Aktenkoffer nahm. Oder der beinahe unmöglich erscheinende M i x aus Blumenduft u n d Kerosingestank, der ihr nach der Landung auf einem Flughafen in die Nase stieg - ein Flughafen, der im Jemen lag, wie man ihr mitteilte. Oder der k o m i -
sehe Moment, als Carter vor dem Einstieg in einen großen H u b schrauber, der auf einer abgelegenen Piste stand, zeigen musste, wie man die Schwimmweste anlegt u n d wie der Helm aufzusetzen ist. »Keine Angst, das sind allgemeine Sicherheitsvorkehrungen für Langstreckenflüge im Militärhubschrauber.« Oder Carters Bürstenschnitt u n d sein spärlicher, von weißen Härchen durchsetzter Bart. Oder der bisweilen raue Umgangston, vor allem, wenn Carter am Telefon Befehle erteilte. Oder die Hitze u n ter ihrem Helm. Aus diesen unbedeutenden Wahrnehmungen setzte sich später das Bild zusammen, das sie vom kürzesten Tag ihres Lebens im Kopf behielt u n d von der längsten Nacht - sie flogen ostwärts. Diese Bruchstücke würden für Jahre genügen müssen, um die über fünfstündige Reise m i t Flugzeug u n d Helikopter zu rekonstruieren. Doch von all den Erinnerungen, an denen der Zahn der Zeit nagte, blieb ihr eine bis zuletzt unvergesslich u n d klar im Gedächtnis, u n d sie fand sie jedes Mal unverändert vor, wenn sie im Geiste das Abenteuer Wiederaufleben ließ. Sie betraf die Aufschrift auf dem Deckel der Akte, die Carter aus dem Koffer genommen hatte. Mehr als alles andere symbolisierte dieses kuriose W o r t diesen Tag. U n d was noch kam, sollte dafür sorgen, dass sie es nie mehr vergaß. »Zickzack.«
13
»Stelle es sich vor, wer verstehen w i l l , was ich sah«, dieser sonderbare Satz stand auf Englisch unter der Zeichnung von einem M a n n , der Lichtkreise am H i m m e l betrachtete. Elisa suchte gerade ihre Kleider zusammen, als ihr Blick auf das Bild fiel. Es zierte einen Aufkleber über dem Kopfende ihres Bettes, den sie bis dahin offenbar übersehen hatte. Da geschah es. Es war kein rationaler Gedanke, eher eine A r t körperlicher Erfahrung, eine Hitze in der Brust. Sie war nackt, und das verstärkte ihre Wachsamkeit noch. Sie wandte den Kopf zur Tür. Da entdeckte sie die Augen.
Nicht, dass sie nicht damit gerechnet hätte. Man hatte sie ja auf diese Möglichkeit vorbereitet: In New Nelson würde sie auf ihre geliebte Privatsphäre verzichten müssen. Daraufhatte Frau Ross sie am Vorabend hingewiesen oder genauer: in der Nacht - allmählich kam sie m i t den Zeiten durcheinander. Jedenfalls als sie m i t dem Helikopter auf sandigem Untergrund gelandet waren und sie von Frau Ross in Empfang genommen worden war. Frau Ross war w i r k l i c h sehr freundlich gewesen, sogar herzlich. Ihr Lächeln, als sie am Helikopter auf sie gewartet hatte, war so breit gewesen, dass es beinah links und rechts an die goldenen Klee-
blätter in ihren Ohrläppchen gestoßen hätte. Dann hatte sie ihr beide Hände entgegengestreckt. »Welcome to New Nelson!«, hatte sie ausgerufen, sobald sie den ohrenbetäubenden Lärm des Rotors hinter sich gelassen hatten, als handelte es sich um ein großes Fest, und sie hätte den Auftrag, die Gäste zu begrüßen und die Spiele zu organisieren. Aber es war kein Fest. Es war ein heißer dunkler Ort - ganz außerordentlich dunkel und heiß -, und die Dunkelheit wurde nur hier u n d da von Flutlichtern unterbrochen, in deren Licht die Stacheldrahtzäune wie Skelette aus der Finsternis ragten. Eine Meeresbrise, wie sie sie an keinem Strand je erlebt hatte, zauste ihr das Haar, u n d sie nahm trotz der Ohrenschützer seltsame Geräusche wahr. »Wir befinden uns mitten im Indischen Ozean, hundertfünfzig Kilometer nördlich der Chagos-Inseln u n d etwa dreihundert Kilometer südlich der Malediven«, fuhr Frau Ross auf Englisch fort und hüpfte über die Sandpiste. »Die Insel wurde von einem Portugiesen entdeckt und La Gloria genannt. Erst als sie an die britische Krone fiel, hat man sie in New Nelson umgetauft. Bis 1992 gehörte sie zum British Indian Ocean Territory, und heute ist sie Teil eines Gebietes, das ein Unternehmenskonsortium der Europäischen U n i o n aufgekauft hat. Sie ist ein wahres Paradies, du wirst schon sehen. U n d , kaum zu glauben, sie ist völlig überschaubar, gerade mal elf Quadratkilometer groß.« Den Maschendrahtzaun passierten sie durch ein Tor, das ihnen nicht etwa ein Polizist, sondern ein bis zu den Zähnen bewaffneter Soldat aufhielt - nie zuvor war Elisa in dieser Entfernung an jemandem vorbeigegangen, der so von Waffen starrte. Elisa drehte sich u m , weil sie feststellen wollte, ob Herr Carter ihnen folgte, doch sie sah bloß ein Grüppchen Soldaten neben ihrem Helikopter stehen. »Du kannst die Insel morgen erkunden. Ich nehme an, du bist müde.« »Geht so.« In Wirklichkeit kam es ihr vor, als hätte sie vergessen, wie Müdesein sich überhaupt anfühlte. »Hast du keinen schweren Kopf?« »Zu Hause . . . « , Elisa unterbrach sich, als sie merkte, dass sie
Spanisch gesprochen hatte, und übersetzte rasch: »Zu Hause gehe ich in der Regel erst spät ins Bett.« »Verstehe. Aber es ist halb fünf U h r morgens.« »Wie bitte?« Frau Ross hatte ein sympathisches Lachen, u n d Elisa stimmte ein, als sie ihren I r r t u m bemerkte. A u f ihrer U h r war es noch nicht einmal elf U h r abends. Sie scherzte ein wenig über das Thema, damit Frau Ross sie nicht für eine völlig unerfahrene Reisende hielt, was sie ja schließlich nicht war. Es waren nur ihre Nerven, die ihr einen Streich gespielt hatten. Sie steuerten auf die letzte von drei nebeneinander liegenden Baracken zu. Frau Ross öffnete eine Tür, u n d sie betraten einen nur von einer schwachen Notbeleuchtung erhellten Flur. Elisa kam sich vor wie im Kino, wenn die Lichter ausgehen. Zusätzlich nahm sie deutlich den Wechsel von Temperatur u n d Luftfeuchtigkeit wahr, denn in den geschlossenen Räumen jener temporären Unterkünfte war die Luft nicht so stickig u n d klebrig wie draußen. Zu beiden Seiten des Flurs befanden sich Türen m i t auffälligen Sichtfenstern. Am Ende des Ganges öffnete Frau Ross wieder eine Tür u n d blieb vor dem ersten Zimmer links stehen, drehte einfach am Türknauf u n d knipste in dem angrenzenden Raum das Licht an. »Das hier ist dein Zimmer. Leider sieht man nicht viel davon, weil nachts nur die Badezimmerbeleuchtung an bleibt, aber ...« »Es ist herrlich.« Elisa war inzwischen auf alles gefasst gewesen. Doch das Z i m mer war geräumig - wie sie feststellte, maß es gute fünf Meter in der Breite und drei Meter in der Länge - und mit einem Schrank, einem kleinen Schreibtisch u n d einem Bett nebst Nachttisch in der Mitte war es gut ausgestattet. An der Wand neben dem Bett befand sich ein weiterer Raum, dessen Tür Frau Ross eilfertig öffnete: »Das Badezimmer.« Elisa nickte bloß u n d wollte gerade die Vorzüge des Quartiers loben, als Frau Ross m i t einer Befragung >von Frau zu Frau< begann: Wie viele Garnituren Wäsche sie dabeihabe, ob sie ein Spe-
zialshampoo benutze, was sie für Damenbinden nehme, ob sie einen Pyjama trage oder nackt schlafe, ob sie einen Badeanzug dabeihabe usw. Anschließend zeigte sie auf die Zimmertür, wo Elisa ebenfalls eines dieser rechteckigen Sichtfenster aus Glas entdeckte, wie man sie aus zahlreichen Filmen an den Zellen gefährlicher Irrenhausinsassen kennt. Auch die Badezimmertür verfügte weder über Schloss noch Riegel, dafür jedoch auch über ein solches Sichtfenster. »Das entspricht den Sicherheitsvorschriften«, erklärte Frau Ross. »Unsere Räume sind genau gesagt >Kabinen m i t eingeschränkter Privatsphäre Stufe zwei<. Was bedeutet, dass uns jeder Spanner beobachten kann. Z u m Glück sind w i r hier v o n ernsthaften, anständigen Männern umgeben.« Elisa erlag von neuem der Versuchung zu lächeln, obwohl die Verletzung ihrer Privatsphäre sie merkwürdig berührte und sie diese als unangenehm empfand. Doch an der Seite von Frau Ross hatte sie irgendwie das Gefühl, dass ihr nichts Böses zustoßen konnte. Insgeheim unterzog Elisa die Empfangsdame im Schein des Badezimmerlichts einer genauen Untersuchung: dicklich, reifes Alter, vielleicht Anfang fünfzig, in silbern schillerndem Jogginganzug u n d Turnschuhen, dazu goldene Ohrringe, Armbänder u n d Ringe an den Fingern. Am Jogginganzug baumelte ein Ausweis m i t Foto u n d Namen sowie der Angabe ihrer Funktion: »Cheryl Ross. Wartungsdienst.« »Es tut m i r Leid, dass Sie meinetwegen so früh aufstehen mussten«, sagte Elisa entschuldigend. »Dazu b i n ich doch da. Jetzt musst du dich aber ausruhen. Morgen, um halb zehn, also in ungefähr vier Stunden, findet im großen Saal eine Versammlung statt. Vorher kannst du in der Küche frühstücken. Und wenn du irgendetwas brauchst, wende dich bitte an den Wartungsdienst.« Elisa hatte den Eindruck, dass Frau Ross nach diesem letzten Hinweis eine Frage erwartete, u n d tat ihr den Gefallen: »Wo ist der Wartungsdienst?«
»Der Wartungsdienst steht vor dir«, erwiderte Frau Ross m i t sichtlicher Befriedigung.
»Stelle es sich vor, wer verstehen w i l l , was ich sah«, lautete der Satz auf dem Aufkleber. Elisa stand vornübergebeugt da, um ihn zu lesen, als ihr bewusst wurde, sie war nicht allein. Die Augen fixierten sie starr wie die eines Reptils. U n d obwohl sie erkannte, dass die Blicke nicht w i r k l i c h eine Bedrohung darstellten, zuckte sie unwillkürlich zusammen und wich zurück. Eine Hand legte sie sich über die Brust, m i t der anderen bedeckte sie ihre Blöße. Gleichzeitig fragte sie sich, wo zum Teufel sie ihr Handtuch gelassen hatte. Ein weniger strenger Teil ihres Bewusstseins hatte Verständnis für sie. Nach den stressigen Ereignissen hatte sie kein Auge zugetan - mein Gott, gestern war ich noch in Madrid und habe mich von meiner Mutter und Victor verabschiedet, und heute Morgen stehe ich irgendwo im Indischen Ozean nackt auf einer Insel. Die Müdigkeit hatte sie eingeholt und ihre Toleranzschwelle herabgesetzt. Doch ihr Enthusiasmus war nach wie vor ungetrübt. Elisa war weit früher als nötig aufgestanden, gleich als sie an der hinteren Wand ihres Zimmers ein Rechteck aus Licht bemerkt hatte, das durchs Fenster hereinfiel, und war mit offenem M u n d vor diesem stehen geblieben. Zu wissen, dass man sich auf einer Insel befindet, ist das eine, etwas ganz anderes ist es, den dunklen, von Wellen geschaukelten Horizont quasi eine Armlänge entfernt hinter einem Maschendrahtzaun, einem Strand u n d einer Reihe Palmen zu erblicken. Sofort hatte sie beschlossen, erst einmal zu d u schen. Sie zog Nachthemd u n d Slip aus, ohne einen Gedanken an das Sichtfenster oder ihre Überwachung zu verschwenden. Das Bad war so eng, dass ihre Knie, wenn sie auf der Toilette saß, beinahe die Wand gegenüber berührten. Das hinderte sie jedoch nicht im Geringsten zu genießen, wie ihr das Wasser genau mit der richtigen Temperatur über die Haut rieselte, während sie in der metallenen Duschkabine ohne Vorhang stand. Sie fand ein
Handtuch und rubbelte sich ab. Dann verließ sie das Bad, trocknete sich weiter ab u n d untersuchte m i t gerunzelter Stirn das Sichtfenster: Es war dunkel. Auch wenn es nicht ihre A r t war, sich zur Schau zu stellen, würde sie deswegen nicht ihre Gewohnheiten ändern. Sie pfefferte das Handtuch in irgendeine Ecke (wohin zum Teufel?), öffnete den Verschluss ihres Koffers u n d holte Kleidung heraus. Dann betrachtete sie die Verzierungen am Kopfende des Bettes: Aufkleber und Postkarten, die offenbar in der Absicht dort angebracht worden waren, dem mit A l u m i n i u m ausgekleideten Kubus, in dem sie untergebracht war, Behaglichkeit zu verleihen. Sie war näher getreten, um sich ein Bild genauer anzusehen, das ihr gefiel, und m i t einem M a l hatte sie gespürt, dass sie nicht allein war, und hatte die Augen im Sichtfenster der Tür entdeckt. U n d da geschah es. Als sie auffuhr u n d sich wie eine verklemmte Jungfrau bedeckte. Genau da flackerte in ihr zum ersten Mal eine Vorahnung auf, eine Ahnung der Finsternis.
»Willkommen in New Nelson! Obwohl ich davon ausgehe, dass man dich schon gebührend begrüßt hat.« Sie wusste, dass er es war, noch bevor er über die Türschwelle getreten war. Diese grünlichblauen Augen hätte sie an jedem Ort der Erde wiedererkannt, am Indischen Ozean genauso wie im Pazifik oder am Nordpol. Und dazu diese Stimme. Ric Valente betrat das Zimmer, zwei dampfende Kannen in der Hand, und schloss die Tür hinter sich. Er trug ein T-Shirt und dazu passende grüne Bermudas, ein Aufzug, der nicht im Entferntesten seinem spanischen Selbst glich, als wäre auch er u n vorbereitet auf diese Insel verschleppt worden. Sein kantiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich habe ein Zimmer m i t Doppelbett verlangt, aber das gab es nicht. Also werde ich mich w o h l damit zufrieden geben müssen, dich jeden
Morgen so zu betrachten. Übrigens, wenn du dein Handtuch suchst, es liegt hier auf dem Boden.« Er deutete auf die gegenüberliegende Seite des Betts, machte jedoch keine Anstalten, sich zu bücken. »Tut m i r Leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber du weißt ja, so was wie Privatsphäre gibt es hier nicht. Verstößt gegen die Regeln, wie in einer Sexkommune, wo sich jeder am anderen erfreut. Das Klima tut dazu das Seine, nachts w i r d nämlich die Klimaanlage ausgeschaltet.« Er stellte die beiden Kannen auf den Schreibtisch u n d zog zwei Pappbecher u n d dazu vier dreieckige, in Zellophan verpackte Sandwichs aus den ausgebeulten Hosentaschen. Elisa, die neben dem Fenster stand und versuchte, sich mit den Händen zu bedecken, fühlte sich mutlos. Valente war der Haken an der Sache. Natürlich musste er sich wieder aufführen wie der Valente, den sie kannte. Er hatte nichts anderes im Sinn, als sie zu demütigen. Obendrein schien er auch noch in seinem Element zu sein, vielleicht, weil es i h m so leicht gelungen war, sie zum Erröten zu bringen. Wie auch immer, sie hatte ja damit gerechnet, i h m früher oder später zu begegnen - freilich nicht u n bedingt in diesem Zustand -, doch im Grunde hatte sie andere Sorgen, als sich darüber aufzuregen, dass er sie nackt sah. Sie seufzte, ließ die Arme sinken und ging betont ungezwungen zu ihrem Handtuch. Valente beobachtete sie m i t Genugtuung, sein Blick glitt abschätzend an ihr hinunter. »Nicht schlecht, aber du bekommst trotzdem keine Eins, nicht einmal vier Hundertstel weniger, allerhöchstens eine Drei. Dein Körper i s t . . . wie soll ich sagen? Zu überladen, zu üppig ... zu viele Drüsen, zu viele Muskeln ... An deiner Stelle würde ich m i r mal die Bikinizone rasieren.« »Schön, dich zu sehen, Valente«, erwiderte sie trocken u n d drehte i h m den v o m Handtuch umwickelten Rücken zu. Sie kramte weiter in ihrem Gepäck. »Wir haben doch um halb zehn eine Sitzung, oder?« »Ich begleite dich herzlich gerne, nur dachte ich, dass dir viel-
leicht nicht danach zumute ist, dein Frühstück m i t lauter Unbekannten einzunehmen. Deshalb habe ich beschlossen, dass w i r beide heute zu zweit auf deinem Zimmer frühstücken. Schinken und Käse oder Huhn?« M i t dem Frühstück zu zweit lag er vollkommen richtig. Sie hatte Hunger u n d keine Lust, die anderen alle zu begrüßen, ehe sie etwas im Magen hatte. »Wann bist du angekommen?«, fragte sie u n d nahm sich das Sandwich m i t H u h n . »Am Montag«, Valente zeigte auf die Kannen, die zur Hälfte m i t Kaffee gefüllt waren. »Mit oder ohne Zucker?« »Ohne.« »Wie ich. W i r sind eben beide nicht so süße Typen.« Elisa holte ein Trägerhemd u n d eine kurze Hose aus dem Koffer und war froh, diese für ihre freien Tage in der Schweiz eingepackt zu haben. »Was w i r d hier veranstaltet? Hast du eine A h nung?« »Das habe ich dir doch gesagt: ein sexuelles Experiment. Die Versuchskarnickel sind wir.« »Ich meine es ernst.« »Ich auch. W i r haben keine Privatsphäre u n d sind dazu gezwungen, uns auf einer Insel im Indischen Ozean bei tropischen Temperaturen in Metallkäfigen gegenseitig auf den Arsch zu gucken. Abgesehen davon, weiß ich auch nicht mehr als d u . Ich dachte, Blanes wäre in Zürich, und habe nicht schlecht gestaunt, als man mich hierher verfrachtet hat. Und wie überrascht ich erst war zu hören, dass du auch kommst. Aber inzwischen rechne ich mit allem. Das gehört anscheinend zum Inselleben dazu.« Er hob seinen Becher. »Auf unsere Wette.« »Es gibt keine Wette mehr«, sagte Elisa. Sie nahm einen Schluck Kaffee u n d fand ihn vorzüglich. »Unentschieden.« »Kein Gedanke! Ich habe gewonnen. Erst gestern noch hat Blanes m i r gesagt, dass deine Idee mit den lokalen Zeitvariablen einfach lächerlich ist. Er fand dich aber trotzdem zu gut, um auf dich zu verzichten, wogegen ich nichts einwenden konnte. Und jetzt, da ich im Bilde bin, muss ich sagen, er hatte keineswegs Unrecht.«
Elisa biss in ihr Sandwich. »Hättest du die Güte, m i r ohne Umschweife zu sagen, worüber du im Bilde bist?« »Ich weiß nur, dass ich nichts weiß. Oder kaum etwas.« Valente verschlang sein Brot in zwei Happen. »Ich wusste gleich, das hier ist ein dickes D i n g , was auch immer es ist. Ein so dickes Ding, dass sie es m i t niemandem teilen wollen. Deshalb haben sie auch unbedarfte Studenten wie uns dafür ausgesucht, verstehst d u , meine Liebe? Unbekannte Nobodys, die ihren Ruf nicht beschmutzen können. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass sie auf der Sitzung um halb zehn unsere Wissenslücken schließen werden. Aber ich frage dich, wie Gott einst Salomon fragte: >Bitte, was ich dir geben soll. U n d ich höre mich sagen: Antworten!^ »Weißt d u , wo die schmutzige Wäsche hinkommt?« »Das kann ich dir i m m e r h i n sagen. Die waschen wir. Eigenhändig. In der Küche steht eine Waschmaschine. U n d ein Trockner u n d ein Bügelbrett. W i r müssen auch unsere Betten machen und unser Zimmer putzen, abwaschen und uns mit dem Kochen abwechseln. Und um dich schon mal seelisch und moralisch darauf vorzubereiten: Die Mädchen schieben abends eine Extraschicht, weil ihr für das Wohlergehen der Männer zu sorgen habt. Also i m Ernst: Blanes will m i t seinem Experiment feststellen, ob die Leute das Eheleben aushalten, ohne durchzudrehen. Du ziehst einen BH an? Also ehrlich. Das tut hier kein Mädchen. W i r sind doch auf einer Insel, Liebling.« Ohne ihn zu beachten, ging Elisa ins Badezimmer und begann sich anzukleiden. »Sag m i r eins«, bat sie und zog den Reißverschluss an ihren Shorts hoch. »Werde ich dich die ganze Zeit auf dieser Insel ertragen müssen?« »Sie hat nur elf Quadratkilometer, die Lagune eingeschlossen. Aber keine Sorge, es ist Platz genug, dass wir uns nichts abgucken.« Elisa kam wieder ins Schlafzimmer. Ric schlürfte genüsslich seinen Kaffee und betrachtete sie vom Bett aus. »Jetzt, wo ich m i r den Traum erfüllt habe, dich nackt zu sehen, ist es vielleicht an der Zeit, dir reinen Wein einzuschen-
ken«, begann er. »Es war gar nicht Blanes, der mich am Sonntag angerufen hat, sondern Colin Craig, mein Kumpel aus Oxford. Ich b i n sein Kandidat. Er hatte sich vor längerem für mich entschieden, auch ohne dass ich es wusste, deshalb hat man m i r auf den Zahn gefühlt. Dich haben sie als potentielle Kandidatin ebenfalls überwacht, als Kandidatin von Blanes allerdings, obwohl er sich noch nicht endgültig für dich entschieden hatte. Aber nachdem er deine Hausarbeit kannte, gab es für ihn keine Zweifel.« Er lächelte, als er ihr überraschtes Gesicht sah. »Du bist Blanes' Braut.« »Wie bitte?« Über Elisas Miene amüsiert, setzte Valente hinzu: »Du hattest Recht, meine Liebe: Die lokale Zeitvariable ist der Schlüssel, u n d keiner außer dir ist darauf gekommen.« Wolken prall wie volle Getreidesäcke lagerten vor der Sonne und bedeckten beinahe vollständig den H i m m e l . Trotzdem war es nicht kalt, die Luft war eher schwül und stickig. Eine faszinierende Landschaft breitete sich vor Elisas Augen aus: feiner Sand, ausladende Palmen, am Horizont hinter dem kleinen Hubschrauberlandeplatz der Wald u n d rundherum das graue Meer. Während sie zur zweiten Baracke gingen, erklärte ihr Valente, dass New Nelson die Form eines Vorhängeschlosses besaß m i t einer Öffnung nach Süden, wo die Korallenriffs lagen und in der Mitte m i t einer fünf Quadratkilometer großen Lagune, so dass die Insel m i t Fug und Recht als A t o l l bezeichnet werden konnte. Die Forschungsstation befand sich auf dem Festlandgürtel im Norden. Zwischen dieser u n d der Lagune erstreckte sich die L i nie des Waldes, den Elisa nachdenklich betrachtete. »Wir können ja mal einen Ausflug machen«, schlug Valente vor. »Es gibt Bambus, Palmen und sogar Lianen. Auch die Schmetterlinge sind sehenswert.« Ein nie da gewesenes Glücksgefühl überwältigte Elisa, als sie den kurzen Weg durch den Sand stapften. Und das trotz der Stacheldrahtzäune und der anderen vor der grandiosen N a t u r k u lisse wie Fremdkörper anmutenden Zweckbauten: Parabolan-
tennen, Funktürme, Kasematten, verschiebbaren Wänden und Hubschrauber. Auch die beiden Soldaten, die am Tor im Zaun Wache hielten, vermochten ihre Freude in jenem Moment nicht zu trüben, ja nicht einmal Valentes lästige Gegenwart - unwesentlich, aber störend, wie ein Leberfleck. Sie vermutete, dass das Glück tief in ihr entsprang, vielleicht im Unbewussten. Der Traum vom Garten Eden schien wahr geworden. Ich bin im Paradies, sagte sie sich. Diese Empfindung hielt exakt zwanzig Sekunden an, die Zeit, die sie im Freien verbrachten. Kaum waren sie durch die Tür in die zweite Baracke gelangt, die sehr viel großzügiger ausgestattet war als die Wohnbaracke, und fanden sich im künstlichen Licht zwischen Metallwänden und eisengefassten Glastüren wieder - ein funktionaler Speisesaal, wie sich herausstellte -, da löste sich das Paradies in ihrem Kopf in Luft auf. I h r blieb nur der berufliche Stolz bei der Erinnerung an Valentes Worte. Meine Lösung war die richtige. »Die Forschungsstation hat auch die Form eines Schlosses oder besser die einer Gabel«, erläuterte Ric u n d zeichnete die Form in die Luft. »Die erste Baracke, vom Landeplatz aus betrachtet, beherbergt die Labors; die zweite auf der mittleren Zinke ist der Haupttrakt und umfasst den Vorführsaal, den Speisesaal und die Küche mit der Bodenluke zum Vorratskeller; die dritte ist die Schlafbaracke. Der Quertrakt ist eine A r t Kontrollzentrum, oder jedenfalls w i r d er so genannt. Ich war erst einmal dort, aber ich kann dir sagen, da gibt es die allerneusten Computer und einen verteufelt guten Teilchenbeschleuniger, eine A r t neuen Synchrot r o n . W i r gehen hier entlang zum Vorführsaal...« Er wies auf eine offene Tür auf der linken Seite, aus der englische Wortfetzen drangen. Elisa war bis dahin noch niemandem begegnet und wiegte sich in dem Glauben, dass das Team nicht allzu groß sein dürfte. Da erschien Cheryl Ross in der Tür. Sie trug ein T-Shirt und Jeans, hatte aber dieselbe Frisur und lächelte auf die gleiche Weise wie in der Nacht davor. Als sie >ihre< Empfangsdame erblickte, verabschiedete Elisa sich von ihrer Muttersprache.
»Guten Morgen«, sagte Frau Ross melodisch. »Gerade wollte ich euch holen gehen! Der Chef w i l l erst anfangen, wenn alle da sind, ihr kennt ihn ja. Wie war deine erste Nacht auf New Nelson?« »Ich habe geschlafen wie ein Stein«, log Elisa. »Das freut mich.« Der Raum glich einem für etwa zehn Zuschauer eingerichteten Heimkino. Die Stühle standen in Dreierreihen nebeneinander. An der hinteren Wand war eine Konsole mit einer C o m p u tertastatur aufgebaut, und über die Stirnseite erstreckte sich eine etwa drei Meter breite Leinwand. Aber in diesem Moment interessierten Elisa die Menschen: Als sie sich erhoben, verursachten die Stühle ein lautes Gescharr. Dann wurden Hände geschüttelt und rechts u n d links Küsschen verteilt, während Valente sie als »die, die noch fehlte« vorstellte. Da sie notgedrungen auf Englisch denken musste, überließ Elisa i h m die Führung. Colin Craig war ihr schon vom Sehen her vertraut. Er war ein junger, attraktiver M a n n m i t kurz geschnittenem Haar, runder Brille und einem dünnen Bärtchen um den M u n d . In der Schönheit mit den langen braunen Haaren erkannte sie Jacqueline Clissot, die jedoch Abstand wahrte u n d ihr nur die Hand entgegenstreckte. Nicht auf Distanz bedacht war dagegen Nadja Petrova, die Kleine mit der Albinomähne, die sie herzlich auf die Wangen küsste u n d die Lacher auf ihrer Seite hatte, als sie auf Spanisch radebrechte: »Auch ich bin Paläontologin.« Und als weiteren Z u n genbrecher schob sie »Ich freue m i c h , dich kennen zu lernen« hinterher. Elisa war ihr dankbar, dass sie sich die Mühe machte, sie auf Spanisch anzusprechen. Valente setzte sich in altbekannter Manier in Szene, um ihr die nächste Frau vorzustellen: eine schlanke Dame mittleren Alters m i t spitzen Gesichtszügen, zahlreichen Falten und einer i m p o santen, von Sommersprossen gesprenkelten Nase. Er legte ihr den A r m um die Schultern, worauf ein verlegenes Lächeln auf i h rer Miene erschien. »Darf ich vorstellen, Rosalyn Reiter aus Ber-
l i n , Reinhard Silbergs geliebte Schülerin, sie hat ihren Abschluss in Geschichte u n d Wissenschaftsphilosophie gemacht u n d w i d met sich derzeit einem ganz besonderen Gebiet.« »Und welchem?«, fragte Elisa. »Der Geschichte des Christentums«, erwiderte Rosalyn Reiter. Elisa plauderte höflich weiter, doch in Gedanken war sie ganz woanders. Sie betrachtete nachdenklich die Gesichter derjenigen, m i t denen sie arbeiten würde. Zwei Paläontologinnen und eine Expertin für die Geschichte des Christentums. Was hat das zu bedeuten? In diesem Moment rief Craig in die Menge: »Da ist ja der Rat der Weisen.« David Blanes, Reinhard Silberg u n d Sergio M a r i n i betraten den Raum, und Letzterer schloss die Tür hinter sich. Elisa schoss es unwillkürlich durch den Kopf, dass hier die Auserwählten waren, die im Paradies lebten, getrennt von den Ausgestoßenen; die einen durften sich im ewigen Glanz sonnen, und die anderen mussten auf der Erde bleiben. Sie zählte. M i t ihr waren sie zehn. Zehn Wissenschaftler. Zehn Auserwählte. In dem nun folgenden Schweigen suchte sich jeder einen Sitzplatz. N u r Blanes blieb m i t dem Rücken zur Leinwand vor den anderen stehen. Als sie entdeckte, dass sich die Unterlagen in seiner Hand bewegten, glaubte Elisa zu träumen. Blanes zitterte. »Freunde, w i r haben gewartet, bis alle Teilnehmer des Einstein-Projekts eingetroffen sind, um Ihnen n u n die nötigen Erklärungen zu liefern, auf die Sie sicher schon sehr gespannt sind. Eines möchte ich aber vorab betonen: W i r alle, die w i r uns heute in diesem Raum befinden, können uns sehr, sehr glücklich schätzen. W i r werden etwas sehen, was noch nie ein menschliches Wesen zu Gesicht bekommen hat. Ich übertreibe nicht. W i r werden Dinge sehen, die noch kein Geschöpf, ob lebend oder tot, seit Anbeginn dieser Welt je geschaut hat.«
Eisige Kälteschauer liefen Elisa über den Körper, sie erstarrte. Das Wasser, das mich trägt, ward nie befahren. Sie richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf und machte sich bereit, gemeinsam m i t ihren neun staunenden Kollegen in jene unbekannten Gewässer vorzudringen.
IV. DAS EINSTEIN-PROJEKT
Alles, was ist, ist Vergangenheit. Anatole France
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Bald wird er kommen. Jene Augen waren das Vorspiel. Dann würde der Schatten kommen. Sie wusste es noch nicht, aber die tiefste Dunkelheit ihres Lebens dräute bereits am Horizont. U n d lauerte auf sie. Sergio M a r i n i war, was Blanes nicht war, elegant u n d verführerisch. Von schlanker Statur, m i t dunklem, welligem Haar, braun gebrannt, u n d er verstand sich darauf, sein charmantes Lächeln u n d die Bassstimme einzusetzen, damit seine mailändischen Studenten aufmerksam lauschten. Er war gebürtiger Römer, hatte die hoch angesehene Scuola Normale Superiore in Pisa abgeschlossen, aus der Genies vom Format eines Enrico Fermi hervorgegangen waren, u n d in Sapienza promoviert. Nach einem obligatorischen USA-Aufenthalt war er einem Ruf von Grossmann nach Zürich gefolgt, wo er Blanes kennen lernte u n d gemeinsam m i t i h m die »Mammutbaum-Theorie« entwickelte. >Gemeinsam m i t ihm< lautete die Floskel, m i t der M a r i n i jedes M a l die gemeinsamen Arbeitsjahre in Zürich beschrieb. Was nichts anderes bedeutete als: »Ich hab i h n in Ruhe rechnen lassen u n d bin zu i h m gestürzt, wann immer er mich rief, um m i r die Ergebnisse mitzuteilen.« Er verfügte über eine weitere Eigenschaft, die Blanes vermissen ließ, nämlich Sinn für H u m o r . »Im Jahr 2001 haben w i r eines Nachts ein Glas zur Hälfte m i t Wasser gefüllt und dann dreißig Stunden lang auf dem Tisch im Labor stehen lassen. Danach hat David es auf den Boden geworfen: Das ist sein einziger experimenteller Beitrag zur Theorie gewesen.« Er sah zu Blanes hinüber, der in das allgemeine Lachen
einstimmte. »Ärgere dich nicht, David, du bist, wie du weißt, der Theoretiker u n d ich der m i t Hammer und Meißel. Unsere Idee war nämlich Folgende. Oh nein, erkläre du es lieber. Du bekommst das besser hin.« »Nein, nein, mach du weiter.« »Bitte, du bist der Vater.« »Und du die Mutter.« Sie improvisierten ein Stück m i t verteilten Rollen, was ihnen gar nicht schlecht gelang. Zeitweise kamen sie Elisa vor wie zwei Komiker aus einer Schmierenkomödie: der Trottel und der Schlaumeier, der Hübsche und der Hässliche. Während sie ihnen zusah, konnte sie sich lebhaft die Jahre einsamer, ergebnisloser A r beit vorstellen u n d genauso die überschwängliche Freude über den ersten Erfolg. »Na gut, offenbar bleibt es wieder an m i r hängen«, sagte Blanes schließlich. »Also, wie Sie bereits wissen, liegen der M a m mutbaum-Theorie zufolge im Inneren jedes Lichtteilchens die Zeit-Strings, die man sich vorstellen kann wie die Jahresringe eines Mammutbaums, die sich im Lauf der Zeit um den M i t t e l punkt des Stammes herum anordnen. Die Anzahl der Strings ist nicht unendlich, aber doch riesig groß, geradezu unvorstellbar groß: Es ist die Anzahl der Planck-Zeiten, die seit der Entstehung des Lichts vergangen sind.« Erstes Gemurmel kam auf, aber M a r i n i wedelte ärgerlich m i t der Hand. »Die Frau Professor Clissot möchte wissen, was eine PlanckZeit ist, David. Vergiss nicht, dass hier Nicht-Physiker anwesend sind, sie haben es verdient!« »Eine Planck-Zeit ist das kleinstmögliche Zeitintervall«, erläuterte Blanes. »Also ist die Zeitspanne, die das Licht benötigt, um die Strecke einer Planck-Länge zurückzulegen, also die kleinste physisch messbare Länge. Damit ihr euch eine Vorstellung machen könnt: Wenn ein einziges A t o m so groß wäre wie das U n i versum, dann hätte eine Planck-Länge die Größe eines Baumes. Die Zeit, die das Licht benötigt, um diese winzige Strecke zu-
rückzulegen, nennt man Planck-Zeit. Sie entspricht etwa einer siebtelmillionstel Sekunde. Kein Vorgang im ganzen Universum ist kürzer.« »Du hast Colin noch nicht gesehen, wenn er Brot m i t Leberpastete verschlingt«, scherzte Sergio M a r i n i . Colin Craig hob zustimmend die Hand, u n d Elisa sah Blanes zum ersten M a l loslachen. Doch schon im nächsten M o m e n t war der spanische Physiker wieder verstummt u n d fuhr m i t ernster Miene fort: »Ein Zeit-String entspricht also einer spezifischen Planck-Zeit und erfasst alles, was in diesem winzigen Intervall vom Licht reflektiert w i r d . Die Theorie besagt n u n , dass es bei entsprechender Änderung der mathematischen Gleichungen, zum Beispiel bei Verwendung der Variablen Lokalzeit, möglich ist, Strings chronologisch zu isolieren, zu identifizieren u n d sogar zu öffnen. Dafür braucht man nicht viel Energie, allerdings eine sehr exakte Menge davon. >Supraconducting< hat Sergio sie genannt. Wenn man die entsprechende Supraconducting-Energie aufwendet, ließen sich die Strings einer bestimmten Periode öffnen u n d könnten uns Bilder dieser Periode zeigen. Also gut, bisher handelte es sich lediglich um eine mathematische Theorie. Mehr als zehn Jahre lang war es nur das. Aber jetzt hat ein von Professor Craig geleitetes Team endlich den neuen Synchrotron entworfen, der uns in die Lage versetzt, diese A r t von SupraconductingEnergie freizusetzen. Aber bis zu jenem Abend, an dem das Glas kaputtging, hatten w i r keine Ergebnisse. Jetzt bist du dran, Sergio. Jetzt k o m m t dein Lieblingsteil.« »Wir haben ein Bild des kaputten Glases auf Video aufgenommen u n d durch den Teilchenbeschleuniger gejagt«, fuhr M a r i n i fort. »Ihr wisst doch, dass ein Videobild nichts anderes ist als ein Bündel Elektronen. Diese Elektronen haben w i r bis zu einer bestimmten Energie beschleunigt, die w i r m i t einer Abweichung von wenigen Dezimalen stabil gehalten haben. Dann haben w i r ein Bündel Positronen darauf abgeschossen. Die Teilchen, die daraus entstanden, mussten die offenen Strings enthalten, und zwar jene aus dem Zeitraum von zwei Stunden vor dem Zerbre-
chen des Glases. Diese Teilchen haben w i r in ein Elektronenbündel zurückverwandelt u n d auf einen Bildschirm abgeschossen. Dann haben w i r m i t einer bestimmten Software das darin enthaltene Bild sichtbar gemacht, und als w i r den Bildschirm eingeschaltet haben, was haben w i r da gesehen?« »Das zerbrochene Glas auf dem Boden«, sagte Blanes, so dass der ganze Saal wieder lachte. »Genau das war natürlich der Fall bei den ersten hundert t o l l kühnen Versuchen«, sagte M a r i n i . »Aber an jenem Abend im Jahr 2001 war es anders: W i r hatten plötzlich das Bild des intakten Glases vor uns, wie es auf dem Tisch stand. Aber dieses Bild haben w i r nie aufgenommen, verstehen Sie? Es stammte aus der Vergangenheit, genauer gesagt, von zwei Stunden vor Beginn der Filmarbeiten. Da war was los! W i r sind abends in die Stadt gefahren u n d haben uns betrunken. Ich kann mich erinnern, dass ich sternhagelvoll m i t David in Zürich in einem Pub saß. Ein Schweizer sprach mich an, nicht nüchterner als w i r : >Verdammt gut drauf, mein Freund, was?< - >Ja, weil das Glas heil geblieben ist<, habe ich i h m geantwortet. >Ihr Glückspilze<, sagte er da, >ich habe heute Abend schon drei kaputtgemachte« »Das ist kein Witz, genauso war es!«, beteuerte Blanes, während sich die Zuhörer in dem kleinen Saal vor Lachen bogen. Sogar Valente, der, wie Elisa i h m unterstellte, stets so tat, als wäre er über >primitive< Scherze erhaben, schien sich köstlich zu amüsieren. »Als w i r den Leuten, die uns die Knete rüberschieben sollten, das Bild gezeigt haben«, fuhr M a r i n i fort, »haben w i r sofort eine kräftige Finanzspritze erhalten, wie ihr euch vorstellen könnt. Die Eagle Group hat sich der Sache angenommen u n d begonnen, auf New Nelson dieses wissenschaftliche Forschungszent r u m zu bauen. Wie es dann weiterging, erzählt euch Colin.« Colin Craig stand auf, u n d M a r i n i setzte sich auf dessen Platz. Die allgemeine Heiterkeit u n d die lauten Rufe quer durch den Raum hielten noch einen Moment an. Nadja war vor Lachen ganz rot im Gesicht. Frau Ross, die bei der Anekdote m i t dem Betrun-
kenen unvermutet losgeprustet hatte, wischte sich die Tränen ab. Die Stimmung war mehr als ausgelassen. Trotzdem entging es Elisa nicht. Eine kleine Unstimmigkeit, ein nicht passendes Detail. Sie meinte es in den zwischen M a r i n i , Blanes u n d Craig gewechselten Blicken zu lesen: »Lass sie wenigstens über den ersten Teil lachen«. Vielleicht ist der Rest nur noch halb so lustig, dachte sie.
»Meine Aufgabe war es, die einzelnen Teile des Einstein-Projekts zu koordinieren«, sagte Craig. »Im Jahr 2004 wurden heimlich etwa zehn Satelliten m i t geostationärer Umlaufbahn ins A l l geschickt, das heißt, sie waren so programmiert, dass sie m i t der Erdumlaufbahn synchron liefen. Ihre Kameras haben eine Auflösung von einem halben Meter m i t einer multispektralen Farbskala und erfassen jeweils ein Gebiet von etwa zwölf Quadratkilometern. Sie sind in der Lage, von jedem O r t der Erde telemetrische Sequenzen den Koordinaten entsprechend aufzunehmen, die aus New Nelson angefordert werden. Die Aufnahmen werden in Realzeit an unsere Station zurückgeschickt - deshalb haben w i r das Einstein-Projekt intern >Zickzack-Projekt< genannt. Es heißt so wegen des Bumerangeffekts: Ein Signal w i r d von der Erde zum Satelliten u n d von dort wieder zur Erde zurückgeschickt, wo ein Computer das exakte geographische Gebiet, das er untersuchen w i l l , isoliert und m i t zweiundzwanzig Bit verarbeitet. Das reicht zwar nicht, um die Haare auf Sergios Kopf zu zählen ...« »Aber die auf Davids, der hat nicht mehr so viele«, warf M a r i n i ein. »Genau. M i t einem W o r t : W i r können beobachten, was w i r wollen u n d wann w i r es wollen, genau wie die Spionagesatelliten des Militärs. Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen.« Während Craig zur Computerkonsole ging, rückte er m i t einer fast anmutigen Geste seine Drahtbrille zurecht. Elisa fand, dass er ein M a n n
von natürlicher Eleganz war u n d m i t den Jeans und dem Polohemd, die er gerade trug, hätte er genauso gut an einem Empfang im Buckingham-Palast teilnehmen können, ohne Aufsehen zu erregen. Nach einigen Befehlen über die Tastatur erschien eine grobe Strichzeichnung von den ägyptischen Pyramiden. In einer Ecke sah man zwei aufrecht stehende M u m i e n , deren Gesichter m i t ausgeschnittenen Fotos von M a r i n i u n d Blanes überklebt waren. Es gab Gelächter. »Angenommen, w i r ordern bei den Satelliten eine Bildsequenz des Nildeltas. Die Satelliten nehmen sie auf und schicken sie uns, der Rechner verarbeitet sie und erhält zusätzlich einen Satz Pläne der Pyramiden. Wenn w i r nun den Elektronenstrahl durch unseren Synchrotron schicken, entstehen die neuen Teilchen, ein anderer Rechner berechnet das neue Bild und gibt es wieder. War die Energiemenge korrekt, dann sehen w i r dasselbe Gebiet, die ägyptischen Pyramiden, nur, nehmen w i r mal an, dreitausend Jahre früher. M i t ein wenig Glück könnten w i r so ein paar Sekunden vom Bau einer Pyramide oder von der Begräbniszeremonie eines Pharaos sehen.« »Unglaublich«, hörte Elisa zwei Plätze weiter links Nadja murmeln. Da sprang plötzlich M a r i n i auf und griff ein. »Hör mal, Colin, lass uns das Publikum überzeugen, dass w i r keine Märchen erzählen.« Craig tippte etwas in die Tastatur. Auf dem Bildschirm erschien ein verschwommenes, aber erkennbares Bild, in dem schwachen altrosa, beinahe sepiafarbenen Ton eines alten Fotos. M i t einem Mal waren alle still. Elisa hatte widerstreitende Gefühle, als wollte sie lachen und weinen zugleich. Valente, neben ihr, beugte sich mit offenem M u n d nach vorn, wie ein Kind vor einem heiß ersehnten Geschenk, das es sich niemals hatte träumen lassen. A l l diese Bewunderung schien das Foto gar nicht wert, denn es zeigte lediglich ein halb volles Glas Wasser auf einem Tisch. »Das Unglaubliche an diesem Bild«, sagte M a r i n i r u h i g und mit Betonung, »ist, dass es nie fotografiert worden ist. W i r haben
es aus der Zwanzig-Sekunden-Aufnahme des Tischs extrahiert, u n d zwar zwei Stunden danach, als das zerbrochene Glas schon auf dem Boden lag. Sie betrachten also gerade das erste reale Bild der Vergangenheit in der Geschichte der Menschheit.« Elisa liefen die Tränen über die Wangen. Genau das ist Wissenschaft, dachte sie, wahre Wissenschaft, die imstande ist, den Lauf der Dinge unvermutet und endgültig zu ändern. Wenn man weint, weil man einen Apfel v o m Baum fallen sieht. Oder ein heiles Glas, das auf einem Tisch steht.
Jetzt war Reinhard Silberg an der Reihe. Wie er da neben der Leinwand aufragte, vermittelte er Elisa den Eindruck, ein Riese zu sein. Er trug ein kurzärmeliges H e m d u n d eine Baumwollhose mit Ledergürtel - u n d als Einziger eine Krawatte, wenn auch locker gebunden. Seine ganze Erscheinung war imposant, ein Umstand, den er, wahrscheinlich unbewusst, durch ein gelegentliches Lächeln abzuschwächen suchte, das in seinem glatt rasierten, fleischigen Gesicht m i t der Goldrandbrille verblüffend k i n d lich wirkte. In diesem Moment lächelte er jedoch nicht. U n d Elisa ahnte, weshalb. Vielleicht ist es seine Aufgabe, uns jetzt über den unangenehmen Teil aufzuklären. U n d die ersten Worte des deutschen Historikers u n d Wissenschaftlers bewiesen, dass sie sich nicht getäuscht hatte. »Ich heiße Reinhard Silberg, u n d mein Fachgebiet ist die Wissenschaftsphilosophie. Ich b i n für das Einstein-Projekt ausgewählt worden, um Ihnen dort hilfreich zur Seite zu stehen, wo es sich nicht um physikalische, aber dennoch bedeutende Phänomene dreht.« Er unterbrach sich und bewegte einen Fuß, als wollte er etwas auf den Metallboden zeichnen. »Dieses Projekt ist, wie Sie bereits wissen, als vertraulich zu behandelnde Geheimsache eingestuft worden. Niemand weiß, dass w i r hier sind, weder u n sere Kollegen noch unsere Freunde oder Familien, u n d auch die
meisten leitenden Angestellten der Eagle Group nicht. Natürlich konnten w i r die Wissenschaftsgemeinde nicht einfach im D u n keln tappen lassen, deshalb haben wir ihr auf Kongressen und in Veröffentlichungen ein paar Brocken hingeworfen. Es ist also bekannt, dass man m i t dem >Mammutbaum< Holz machen kann, wenn man es so ausdrücken will, aber nicht, wie. Unser Projekt ist weltweit einzigartig, zumindest bisher. Erst nach eingehender Prüfung Ihrer Lebensführung, Vergangenheit, Freundschaften, Neigungen u n d Sorgen sind Sie als Teilnehmer und Teilnehmerinnen auserwählt worden. W i r werden hier gemeinsam zu etwas beitragen, womit bisher niemand Erfahrungen gemacht hat. W i r sind sozusagen die Pioniere u n d b e n ö t i g e n besondere Sicherheitsvorkehrungen aus ... verschiedenen G r ü n d e n . « Er unterbrach sich wieder u n d konzentrierte sich auf die Bewegungen seines Fußes. »Zunächst einmal m ö c h t e ich Sie davor warnen, auch nur einen Augenblick lang zu glauben, dass Sie auf dieser Leinwand Filme im klassischen Sinne sehen werden. Wenn w i r uns im Kino beispielsweise die Szene von Casars Tod anschauen, dann w i r k t sie wie die Aufzeichnung eines Hobbyfilmers aus der Römerzeit. Aber die Bilder der geöffneten Zeit-Strings sind keine Filme, auch keine Dokumentationen: Sie sind die Vergangenheit. U n d das, obwohl wir sie wie Filme auf einer Leinwand betrachten und auf D V D brennen k ö n n e n . Vergessen Sie also nie, dass das hier gezeigte Material aus den geöffneten Zeit-Strings stammt. Der Cäsarenmord, um bei unserem Beispiel zu bleiben, so wie er für immer in den Lichtpartikeln gespeichert ist, die die wirkliche Szene reflektiert haben, ist echt, ist also die Wirklichkeit der Vergangenheit. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Doch wir k ö n nen nicht ermessen, was passiert, wenn w i r auf Personen oder Ereignisse treffen, die zu unserem Kulturgut g e h ö r e n oder u n ser Weltbild geprägt haben. Hierzu sind geheime Forschungen im Gange, bisher allerdings ohne Ergebnisse. Nehmen w i r einmal an, Jesus, M o h a m m e d oder Buddha w ü r d e n erscheinen ... W i r w ü r d e n sie sehen u n d genau wissen, dass es sich tatsächlich
um niemand anders als sie handelt. Nicht auszudenken, was es für Folgen hätte, wenn w i r im Leben dieser Religionsbegründer Aspekte entdecken w ü r d e n , die dem widersprechen, was die Kirchen den Menschen seit Jahrhunderten predigen und was sicherlich auch viele von uns glauben. Allein das reicht aus, um das Einstein-Projekt geheim zu halten. Aber es gibt einen weiteren G r u n d « , er legte erneut eine Pause ein u n d blinzelte, »den ich I h nen anhand eines weiteren Bildes demonstrieren m ö c h t e . Es ist das Einzige, das wir, abgesehen von unserem >Ganzen Glas<, bisher erhalten konnten. Die meisten von Ihnen kennen es noch nicht. Jacqueline, du wirst staunen. Colin, w ü r d e s t du bitte ...« »Klar.« Craig tippte wieder etwas in die Tastatur. Diesmal erloschen die Lampen im Saal, u n d jemand sagte: »Bitte keine Werbung vorher, Reinhard.« Elisa erkannte Marinis Stimme. Aber niemand lachte. Erneut ergriff Silberg das Wort, dessen Umrisse a l l m ä h lich neben der leuchtenden Computerkonsole sichtbar wurden. »Das folgende Bild haben w i r auf die gerade von C o l i n beschriebene Weise erhalten: Ein Satellit hat uns die Bilder geliefert, w i r haben die erforderliche Energiemenge berechnet, um die Zeit-Strings zu öffnen, und es entsprechend b e a r b e i t e t . . . « A u f der Leinwand erschienen verschwommene Formen in Rot. »Die Farbe erklärt sich daraus, dass sich das eine Ende des Strings, das >Vergangenheits<-Ende, an einem dreidimensionalen Ort befindet, der, räumlich ausgedrückt, beinahe eine M i l l i o n Lichtjahre von uns entfernt ist u n d sich immer weiter entfernt«, erläuterte Silberg, »deshalb unterliegt er der Rotverschiebung, genau wie andere H i m m e l s k ö r p e r . Aber in Wirklichkeit gehört er zu unserer Erde.« Es handelte sich um eine Landschaft. Die Kamera überflog einen Gebirgszug. Die Berge schienen zugänglich, fast niedrig, und dazwischen lagen runde Täler und Felsen. Es sah aus, als hätte ein Konditor dem Ganzen eine Haube Schlagsahne aufgesetzt. »Mein Gott!«, hörte man die sich überschlagende Stimme von Jacqueline Clissot.
Elisa stellte die Beine nebeneinander und beugte sich vor. Sie hatte eine seltsame Empfindung, deren Ursache sie nicht genau eingrenzen konnte, obwohl sie wusste, dass diese durch das Bild ausgelöst wurde. Sie s p ü r t e eine seltsame Unruhe. Eine unbestimmte Bedrohung. Aber was war bedrohlich? »Riesige Berggletscher«, murmelte Clissot benommen. »Glazialerosionen . . . Da, diese R u n d h ö c k e r und Nunatakr. Siehst du, Nadja? An was erinnern sie dich? Du bist die Fachfrau für Paläogeographie ...« »Die Ablagerungen sind D r u m l i n s « , hauchte Nadja. »Aber von ungeheurer G r ö ß e . U n d die S e i t e n m o r ä n e n . . . Als w ä r e n riesige Massen von Gesteinsschutt von weit her dorthin verschoben worden.« Was ist los mit mir? In Elisa stieg ein nervöses Kichern hoch. Er war absurd, aber der Gedanke war trotzdem da: An diesen rot gefärbten Eisbergen war etwas ungeheuer Verwirrendes. Sie hatte den Eindruck, den Verstand zu verlieren. Da bemerkte sie, dass Nadja zitterte und fragte sich, ob es lediglich die Aufregung angesichts der Entdeckung war oder ob es ihr ä h n l i c h erging. Valente schien ebenfalls betroffen. Jemand rang nach Luft. Es ist lächerlich. Nein, das war es nicht. An dieser Landschaft war etwas merkwürdig. »In den Gletscherspalten gibt es Hinweise auf Schmelzwasser«, murmelte Nadja erregt. » U m Gottes w i l l e n , ein Gletscher, der gerade abtaut!«, rief Clissot. Die Stimme von Silberg, der sich wie ein Schatten neben der Leinwand abzeichnete, war zu vernehmen, klar und fest, jedoch nicht weniger furchtsam: »Es sind die Britischen Inseln. Vor achthunderttausend Jahren.« »Ein Gletscher aus der G ü n z - E i s z e i t . . . « , sagte Clissot.
»Genau. Paläolithikum. Quartär.« » O h Gott!«, wimmerte Clissot. »Oh Gott, mein Gott, Gott im Himmel!« Schwindel. Es ist Schwindel erregend. Aber was? Erst als die Lichter angingen, registrierte Elisa, dass sie die Arme um den O b e r k ö r p e r geschlungen hatte, als hätte jemand sie genötigt, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen.
»Das ist der zweite Grund, weshalb das Einstein-Projekt geheim gehalten werden muss. W i r wissen nicht, wodurch dieser Effekt, den w i r >Impact< genannt haben, ausgelöst wird.« Silberg schrieb das englische W o r t auf eine kleine weiße Tafel, die neben der Leinwand hing. »Impact m i t g r o ß e m I. Mehr oder weniger sind w i r alle davon betroffen, allerdings ist er bei manchen stärker als bei anderen. Es handelt sich um eine spezifische Reaktion auf die Bilder der Vergangenheit. Ich m ö c h t e eine Theorie wagen, um sie zu erklären: W o m ö g l i c h hatte C. G. Jung Recht, als er davon sprach, dass w i r ein kollektives Unbewusstes voller Archetypen besitzen, so etwas wie ein genetisches G e d ä c h t n i s unserer Spezies. Möglicherweise beeinträchtigen es die Bilder der geöffneten Zeit-Strings, schließlich dürfen w i r nicht vergessen, dass sie Bereiche unseres Unbewussten b e r ü h r e n , die über Generationen unangetastet waren, und plötzlich w i r d zum ersten M a l die T ü r aufgestoßen, und es fällt Licht ins Dunkel.« »Warum haben w i r nichts gespürt, als w i r das Glas angeschaut haben?«, fragte Valente. »Wir haben es auch gespürt«, erwiderte Silberg. »Nur weniger intensiv. Offenbar ist der Impact umso stärker, je weiter w i r in der Vergangenheit zurückgehen. Zu den Symptomen, die bisher aufgetreten sind, g e h ö r e n Angst, Entpersonalisierung, ein U n wirklichkeitsgefühl, als wären w i r oder die uns umgebende Welt nicht real, Schlaflosigkeit und zuweilen auch Halluzinationen. Deshalb habe ich Sie eingangs so n a c h d r ü c k l i c h darauf hinge-
wiesen, dass es sich nicht um Filme handelt. Das Öffnen der ZeitStrings ist ein äußerst komplexer Vorgang.« Elisa bemerkte, dass Nadja sich die Augen rieb. Jacqueline Clissot war an sie h e r a n g e r ü c k t und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Wir wissen nicht, ob es noch stärkere Symptome gibt«, fuhr Silberg fort. » O b der Impact noch schwerwiegendere Folgen haben kann. Aus diesem G r u n d haben w i r eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen aufgestellt und bitten Sie, sich strikt daran zu halten. Wichtig ist, dass w i r jedes Bild beim ersten M a l gemeinsam anschauen, also in der Gruppe, so wie heute. A u f diese Weise haben wir sämtliche Reaktionen der Teilnehmer im Auge. Dann werden w i r uns auch a u ß e r h a l b dieses Raumes u n d sogar bei unseren privaten Verrichtungen gegenseitig beobachten, dafür sind an allen Türen Sichtfenster angebracht, und es gibt nirgends Schlösser. Es geht nicht darum, den anderen zu bespitzeln, sondern darum, niemanden im Stich zu lassen. Wenn der Impact bei einem von Ihnen eine besondere Reaktion hervorruft, dann sollten die anderen so bald wie möglich zur Stelle sein k ö n n e n . Es gibt eben ein gewisses Restrisiko. W i r stehen vor etwas Neuem und k ö n n e n die Auswirkungen nicht wirklich überblicken.« Bei Silbergs Worten herrschte zunächst noch ein angespanntes Schweigen. Doch wenig später schlug die Stimmung u m : Die erste Arbeitsprobe hatte alle tief beeindruckt. Elisas Augen waren feucht und ihre Kehle wie zugeschnürt. Eine Landschaft aus dem Quartär. Mein Gott, ich bin hier, ich bin es, ich träume nicht. Ich habe die Erde gesehen, den Planeten, auf dem ich lebe, vor fast einer Million Jahren. Sergio M a r i n i verschaffte sich trotz des allgemeinen Tumults G e h ö r : »Also, jetzt kennen w i r auch die Nachteile dieses Jobs. Worauf warten w i r noch? An die Arbeit!« Elisa machte Anstalten, sich zu erheben, als Valente ihr ins Ohr flüsterte: »Sie verheimlichen uns etwas, meine Liebe. Ich b i n davon überzeugt, dass das nur die halbe Wahrheit ist.«
15
Montagnacht, am fünfundzwanzigsten Juli, sah Elisa den Schatten zum ersten M a l . Später ging ihr auf, dass dies ein weiterer Hinweis war: Der Mann m i t den weißen Augen war gekommen. Hier bin ich, Elisa. Ich bin da. Und werde nicht mehr von deiner Seite weichen.
Leicht u n d leise wie eine Seele auf einer dieser Reisen, welche die Esoterik astral nennt und die ihre Mutter für bare M ü n z e nahm, schwebte er am Sichtfenster ihrer T ü r vorbei. Elisa lächelte. Noch jemand, der nicht schlafen kann. Das war nichts A u ß e r g e w ö h n l i c h e s . Schließlich waren die Zimmer bequem, wenn auch nicht wirklich gemütlich. Und zwischen den Metallwänden brütete die Hitze, weil nachts die K l i maanlage ausgestellt wurde, wie Valente ihr a n g e k ü n d i g t hatte. Das Fenster ließ sich nur kippen u n d nicht vollständig öffnen. Daher lag Elisa in ihrem knappen Slip schwitzend im Halbdunkel auf ihrer Bettdecke: rechts von ihr der Widerschein der Scheinwerfer v o m Stacheldrahtzaun, links das schwach beleuchtete Sichtfenster. Und dann plötzlich dieser Schatten. Sie beobachtete, wie er Richtung Zwischentür verschwand, wo die beiden Barackenflügel aufeinander stießen, und war sicher,
dass es sich um einen Kollegen handelte, Nadja, Ric oder Rosalyn. Die anderen schliefen auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges. Wo er wohl hinwill? Sie spitzte die Ohren. Die T ü r e n machten zwar keinen Lärm, doch sie waren aus Metall, weshalb sie in den nächsten Sekunden ein Geräusch erwartete. Es war kein Laut zu h ö r e n . Diese Stille war vollkommen. Es musste noch etwas anderes dahinter stecken als reine R ü c k s i c h t n a h m e auf die Schläfer. Fast schien es, als wäre der angebliche Schlafwandler bewusst vorsichtig. Sie stieg aus dem Bett und trat an das Sichtfenster. Ihr Blick fiel auf die schwache Notbeleuchtung im Gang. Er schien menschenleer, dabei war sie sicher, dass sie dort gerade noch eine Gestalt gesehen hatte. Sie streifte das Nachthemd über und ging hinaus. Die T ü r zwischen den beiden Barackenflügeln war geschlossen. Dennoch musste jemand sie vor wenigen Augenblicken geöffnet haben, ein Gespenst war a u ß e r h a l b ihrer Vorstellungskraft. Sie zögerte einen Moment. Sollte sie zuerst nachschauen, ob alle Kollegen in den Federn waren? Nein, aber sie w ü r d e der Sache nachgehen und nicht einfach in ihr Bett z u r ü c k k e h r e n . Sie öffnete die T ü r zum angrenzenden Flügel. Vor ihr lag ein düsterer, von matten G l ü h b i r n e n erhellter Flur. Rechts waren die Z i m m e r t ü r e n und links der Durchgang zur zweiten Baracke. Plötzlich erfasste sie eine vage Unruhe. Trotzdem war ihr zum Lachen zumute. Sie haben uns befohlen, uns gegenseitig zu bespitzeln, und genau das tue ich. In Nachthemd und Slip auf b l o ß e n F ü ß e n im Gang musste sie aussehen wie... Ein Geräusch. Diesmal also doch, wenn auch entfernt. Vielleicht kam es aus der Baracke nebenan. Sie folgte dem Gang bis zur Abzweigung zur zweiten Baracke. Die Unruhe blieb, wie ein aufdringlicher Freund, der sich nicht
abschütteln ließ. Dennoch war ihr äußerlich nichts anzumerken, auch fürchtete sie sich nicht vor der Dunkelheit, denn als Einzelk i n d hatte sie beizeiten gelernt, in der Nacht allein zurechtzukommen. Nicht mehr lange und sie sollte diese Fähigkeit für immer verlieren. Sie erreichte den Gang u n d warf einen Blick hinein. Wenige Meter vor ihr bewegte sich eine seltsame Gestalt, die Arme gekreuzt, u n d starrte sie aus g l ä n z e n d e n , gierigen Augen an. Aber das Schrecklichste - später w ü r d e sie darin eine weitere Warnung erkennen - war, dass sie kein Gesicht hatte, besser gesagt, dass die einzelnen Z ü g e in der Finsternis verschwammen. »Nicht schreien«, sagte ein plötzlich aufstrahlendes Licht m i t rauer Stimme auf Englisch zu ihr und blendete sie. Da erst gewahrte sie, dass sie geschrieen hatte. »Ich habe Sie erschreckt, Verzeihung.« Sie wusste nicht, dass die Soldaten nachts in den Baracken patrouillierten. Die Taschenlampe, die der Wachhabende angeknipst hatte, erhellte alles: Die gekreuzten Arme waren das Gewehr, der glänzende Blick ein Infrarotsichtgerät, die fehlenden Gesichtszüge waren auf eine A r t Funkgerät z u r ü c k z u f ü h r e n , das er vor dem M u n d trug. A u f der Brusttasche seiner Uniform stand >Stevenson<. Elisa kannte ihn. Es war einer der fünf Soldaten auf der Insel, genauer der jüngste u n d attraktivste. Bis dahin hatte sie noch m i t keinem gesprochen. Wenn sie ihnen begegnete, ließ sie es bei einem knappen G r u ß bewenden, als wollte sie keine Missverständnisse darüber aufkommen lassen, wer hier wem untergeordnet war. Doch in diesem Moment schämte sie sich deswegen. Stevenson senkte die Taschenlampe u n d schob das Infrarotsichtgerät nach oben. Er lächelte. »Was laufen Sie hier nachts auf dem Flur h e r u m ? « »Ich dachte, ich hätte jemanden vor meinem Zimmer gesehen, und wollte wissen, wer das war.« »Ich b i n seit einer Stunde hier u n d habe niemanden bemerkt.« In Stevensons Stimme schwang Verärgerung mit.
»Vielleicht habe ich mich ja getäuscht. Entschuldigung.« Sie h ö r t e T ü r e n klappern, als die von ihrem idiotischen Schrei aufgeschreckten Kollegen durch den Gang liefen. Wer alles, das wollte sie lieber nicht wissen. Eine Entschuldigung murmelnd, kehrte sie in ihr Z i m m e r z u r ü c k , u n d m i t dem Gedanken, bestimmt nicht mehr einschlafen zu k ö n n e n , schlummerte sie bald tief und fest.
Der folgende Tag, Dienstag, der 26. Juli, 18.44 Uhr. Elisa gähnte, stand von ihrem Stuhl auf und schaltete den Computer auf > Winterschlafs Sie hatte ihn so programmiert, dass er die komplizierte Rechnung allein ausführte. Der Zwischenfall m i t dem nächtlichen Schatten ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie beschloss, Nadja am Strand davon zu erzählen, dann w ü r d e n sie wenigstens d a r ü b e r lachen k ö n n e n . Aber vorher wollte sie sich noch eine Weile hinlegen. Sie war erst seit sechs Tagen auf New Nelson, und die kamen ihr vor wie Monate. Sie fragte sich, ob sie der extremen Anstrengung gewachsen war oder vielleicht krank w ü r d e . Aber das ist kein Problem. Das Krankenhaus liegt direkt neben meinem Schreibtisch. Sie betrachtete das menschenleere Labor der Paläontologie, das gleichzeitig als kleine Krankenstation diente und sogar über eine Untersuchungsliege verfügte. Wenn sie sich weiter so fühlte, w ü r d e sie Jacqueline um irgendeine >Energiepille< bitten. »Die Berechnung der Energie raubt mir Energie«, w ü r d e sie zu ihr sagen. Sie verließ das Labor, holte aus ihrem Zimmer Bikini und Handtuch und trat aus der Baracke hinaus in das Nachmittagslicht. Es war einer der wenigen regenfreien Tage w ä h r e n d der Monsunmonate, das musste sie ausnutzen. Als sie den wachhabenden Soldaten am Zaun erblickte, erinnerte sie sich wieder an den nächtlichen Zwischenfall, doch es war nicht Stevenson, sondern Bergetti, der kräftige Italiener, m i t dem M a r i n i manchmal Karten spielte. Sie g r ü ß t e i h n im Vorbeigehen, wie immer e i n g e s c h ü c h t e r t
von diesem waffenstarrenden menschlichen Igel. Dann schlüpfte sie durch die Öffnung im Zaun und stieg den sanften Hügel h i n unter bis zu dem unglaublichsten Strand, den sie je gesehen hatte. Zwei Kilometer gemahlenes Gold erstreckten sich vor ihren Augen u n d ein Meer, das an seinen besten Tagen die verschiedensten B l a u t ö n e annahm u n d vor dessen Gischt Nadjas Haut manchmal genauso dunkel wirkte wie Elisas. Auch das W ü t e n der gewaltigen Wellen war nicht zu vergleichen mit den seichten Wogen an den zivilisierten Stränden. Doch die höchsten Wellen brachen weitab vom Ufer, als wollte der liebe Gott jenes Paradies nicht stören, so dass sich ihr eine breite Fläche seichten Wassers zum gefahrlosen Schwimmen bot und ein sahnefarbener Strand zum Laufen. Nadja Petrova winkte ihr von dem gewohnten Platz aus zu. Elisa hatte m i t der jungen russischen Paläontologin rasch eine jener offenherzigen Freundschaften geschlossen, wie sie nur entstehen, wenn Menschen an entlegenen Orten aufeinander angewiesen sind. Abgesehen v o m Alter hatten sie noch einiges gemeinsam, darunter die Willensstärke, die scharfe Intelligenz und eine ähnliche A r t , die steile Erfolgsleiter Sprosse für Sprosse h i n aufzuklettern. A u f dieser hatte Nadja ihr allerdings etwas voraus. In Petersburg geboren und in ihrer Jugend nach Frankreich ausgewandert, hatte sie sich aus eigener Kraft den Weg zum begehrten Doktorandenstipendium bei Jacqueline Clissot in Montpellier geebnet, zu deren Lieblingsschülerin sie schließlich geworden war - das Ganze ohne eine finanzkräftige Mutter im Hintergrund, die sogar für die Zeit aufkam, die Elisa und sie mit Streiten verbrachten. Doch wenn sie sich m i t Nadja unterhielt, war von deren eisernem W i l l e n kaum etwas zu s p ü r e n . Vielmehr gewann sie den oberflächlichen Eindruck, ein nettes, humorvolles M ä d chen mit hellblondem Haar und schneeweißer Haut vor sich zu haben, eine richtige Frohnatur. Elisa war der Meinung, dass sie keine bessere Kameradin hätte finden k ö n n e n . » M m h , das Meer ist heute ungemein verlockend.« Elisa warf
Handtuch u n d B i k i n i in den Sand und begann sich umzukleiden. »Ich glaube, ich wag m i c h mal rein. Hoffentlich gehe ich nicht gleich unter.« »Offenbar hast du es auch heute nicht geschafft.« Nadja lächelte hinter ihren dunklen Brillengläsern, die das bleiche Gesicht zur Hälfte verdeckten. » I m m e r h i n hat es mich geschafft. Ich b i n total fertig.« »Sprich m i r nach: >Morgen werde ich es schaffen, morgen ist mein Tag.«< »Morgen werde ich es schaffen, morgen ist mein Tag«, leierte Elisa artig. »Darf ich das Mantra ein wenig abändern?« »Und zwar?« » Z u m Beispiel i n : >Bald werde ich es schaffen^« Elisa r ü c k t e den Slip auf ihren H ü f t e n zurecht u n d griff nach dem B i k i n i oberteil. » D a n n habe ich noch Hoffnung, u n d der Spruch ist nicht so langweilig.« »Das Geheimnis eines Mantras ist gewissermaßen dessen Langeweile«, klärte Nadja sie lachend auf. Nachdem sie den Bikini angezogen hatte, raffte Elisa ihre Kleider zu einem Haufen zusammen und beschwerte die Sachen m i t einer der zahllosen Flaschen m i t Sonnenmilch, die ihre Kollegin stets z u m Strand mitbrachte. Dann breitete sie das Handtuch ü b e r den Sand und fixierte es m i t weiteren Flaschen. Der W i n d blies zwar nicht so stark wie an anderen Tagen, aber sie wollte ihre Pause nicht darauf verwenden, einem Handtuch oder einem Slip ü b e r den Strand hinterherzulaufen. Nadja lag bäuchlings in der Sonne. Elisa betrachtete den zierlichen K ö r p e r m i t dem rosa B i k i n i unter der Haube aus w e i ß e m Haar. Am ersten Tag hatten sie herzlich gelacht, als sie die von Frau Ross beschaffte Badebekleidung anprobierten; sie beide waren nicht auf die Idee gekommen, einen B i k i n i nach Zürich m i t zunehmen. Elisa hatte den rosafarbenen in die Hand g e d r ü c k t bekommen und Nadja den weißen. Da ihr Busen aber voller war als Nadjas u n d der weiße Bikini g r ö ß e r ausfiel u n d ihr besser stand, hatten sie unverzüglich getauscht.
»Steckst du immer noch an der gleichen Stelle fest?«, fragte Nadja. »Keineswegs. Ich mache jeden Tag ein paar Schritte z u r ü c k . Ich habe den Eindruck, bald wieder von vorne anfangen zu m ü s sen.« Elisa stützte die Ellbogen auf den Sand und betrachtete den Ozean. Dann drehte sie sich zu Nadja u m , die ihr lächelnd eine ihrer Cremetuben hinhielt. »Oh ja, 'tschuldigung, das hätte ich fast vergessen.« »Aha«, erwiderte die Freundin und öffnete den Haken ihres Bikinioberteils. »Du meinst wohl, es sei unter deiner W ü r d e , m i r den Rücken einzureiben.« » I m m e r h i n gelingt es m i r besser als meine Berechnungen, das musst du zugeben.« Elisa träufelte sich die Creme in die Hand und begann, sie auf Nadjas Rücken zu verteilen. Nadjas Haut glänzte unter einer mehrfachen Schicht Hautschutzcreme, obwohl sie sowieso nur am S p ä t n a c h m i t t a g zum Strand ging. Auch im Beruf bereitete ihr die Tatsache, ein FastA l b i n o zu sein, g r o ß e Schwierigkeiten, was Elisa traurig fand. >Ich bin kein Albinos hatte Nadja ihr erklärt, >ich b i n ein FastAlbino, aber zu starke Sonnenbestrahlung kann bei m i r zu erheblichen H a u t s c h ä d e n führen, sogar zu Krebs. Dabei hält sich ein Paläontologe zum Großteil im Freien auf, meist sogar in tropischen Gefilden oder unter der Wüstensonne.< Aber, typisch Nadja, machte sie Witze darüber. >Dann bin ich eben nachts unterwegs, um Merocanites und Gastrioceras zu suchen. Ich bin so etwas wie ein Vampir der Paläontologien N u n sagte sie schläfrig zu Elisa: »Bei deinem Freund Ric ist der Groschen auch noch nicht gefallen, genau wie bei dir. Nur macht er sich nicht so viel draus. Er sagt, er w ü r d e dich schon noch übertrumpfen.« »Erstens ist er nicht mein Freund. U n d zweitens will er mich immer ü b e r t r u m p f e n . « Sie hatten sich die Arbeit geteilt: Valente war in Silbergs Gruppe gegangen und sie in die von Clissot. Elisas Aufgabe bestand darin, die bis auf sechs Stellen hinter dem Komma exakte
Energiemenge zu berechnen, die nötig war, um einen Zeit-String von vor hundertfünfzig Millionen Jahren vor unserer Zeit zu öffnen, aus einer Zeit viertausendsiebenhundert Billionen Sekunden, bevor Nadja u n d sie ihre h ü b s c h e n Pobacken auf diesen Strand am Indischen Ozean lagerten. >Ein Sonnentag mitten im Urwald des Jura<, hatte Clissot gesagt. Wenn ihnen das gelänge, dann wäre das Ergebnis sensationell, unfassbar: Vielleicht h ä t ten sie sogar das Glück, als Erste einen lebenden ... Nein, keiner wagte, den Gedanken laut zu ä u ß e r n , aus reinem Aberglauben. Doch Nadja und auch Elisa t r ä u m t e n davon. Elisa hatte als K i n d begeistert Dinosaurierfilme geguckt und fand, dass dieses Ziel jede M ü h e wert war. Wenn ihre Arbeit dazu beitrug, das Bild eines großen prähistorischen Reptils, ganz gleich bei welcher noch so banalen Verrichtung, zu erhalten, dann wäre sie für den Rest ihres Lebens wunschlos glücklich. Jurassic Parc und Steven Spielberg sind nichts dagegen! Dann wäre sie bereit zu sterben. Doch die Aufgabenstellung war ebenso komplex wie langweilig. Hinzu kam, dass Blanes und sie tatsächlich ein Team bildeten. W ä h r e n d er die für das Öffnen des Zeit-Strings notwendige Energie berechnete, sollte sie die Energiemenge herausfinden, die benötigt wurde, um i h n wieder zu schließen. Dann sollten beide Werte miteinander verglichen werden, um auf diese Weise die exakte Energiemenge festzustellen. U n d obwohl sie sich nun seit Tagen unablässig durch den Zahlendschungel schlug, fürchtete sie, Blanes k ö n n t e es bereuen, dass er sie ausgewählt hatte. » D u hast die Aufgaben bestimmt bald gelöst«, ermutigte die Freundin sie. »Ich hoffe es.« Elisa wischte sich den Cremerest am Oberschenkel ab. »Gibt es Neuigkeiten aus dem ewigen Eis?«, fragte sie nun ihrerseits. »Ist das ein Witz? Ich w ü s s t e nicht, wo ich anfangen sollte. Jacqueline behauptet, dass sie jedes Mal, wenn sie das Bild sieht, zwanzig p a l ä o n t o l o g i s c h e Theorien ü b e r den Haufen werfen muss. Es ist unglaublich. Die paar Sekunden ersetzen eine v o l l -
ständige Abhandlung ü b e r das Quartär.« Immer noch auf dem Bauch liegend, zog Nadja die Beine an und streckte die Zehen in die Luft. Sie hatte h ü b s c h e , zierliche F ü ß e . »Mein halbes Leben habe ich m i t der Erforschung der Eiszeit verbracht. Habe Beweise in den tiefen Erdschichten G r ö n l a n d s gefunden, habe davon get r ä u m t . . . U n d dann sehe ich auf einmal England unter Tonnen von Eis begraben und muss m i r eingestehen, dass die ganze M ü h e und das Wissen aller Professoren der ganzen Welt hinfällig geworden sind.« »Klingt so, als hätte dich der Impact erwischt und total durcheinander gebracht«, scherzte Elisa und musste feststellen, dass die Freundin ihre Bemerkung durchaus ernst nahm. »Das glaube ich nicht. Obwohl ich seit Tagen nicht richtig schlafen kann.« »Hast du es Jacqueline erzählt?« »Sie kann auch nicht gut schlafen.« Elisa wollte gerade antworten, als sie aus dem Augenwinkel neben ihrem linken Bein einen dieser Krebse m i t den ungleichen Zangen entdeckte: Die rechte Zange war riesig, w ä h r e n d die andere v e r k ü m m e r t wirkte. Nadja hatte die Krebse >Geiger< getauft und ihr erzählt, dass sich im Urwald an der Lagune weitere endemische Arten >von g r o ß e r paläontologischer Bedeutung< angesiedelt hatten. »Eine Frage«, sagte Elisa, »dieses Vieh, das mich gleich in die Wade kneifen wird, hat es große paläontologische Bedeutung oder darf ich es mit einem Hieb unschädlich machen?« »Der Arme!«, rief Nadja aus und lachte. »Tu es nicht, es ist doch nur ein >Geiger<.« »Meinetwegen, aber er soll seine Musik woanders m a c h e n . « Sie warf eine Hand voll Sand auf den Krebs, der daraufhin die Richtung änderte. »Los, verschwinde.« Als die >Gefahr< gebannt war, drehte Elisa sich um und lag nun m i t der Brust auf dem Handtuch. Nadja rückte ein Stück näher, so dass ihre Gesichter dicht beieinander waren. Nadja schaute sie an, w ä h r e n d Elisa ihr Spiegelbild in Nadjas Brillengläsern be-
trachtete. Wie unterschiedlich ihre K ö r p e r waren: milchkaffeebraun und s a h n e e i s w e i ß . Die Brise, der Wellengang und die Abendstimmung w i r k t e n so entspannend auf Elisa, dass sie glaubte, jeden Moment einzuschlafen. »Wusstest du, dass Professor Silberg eine ganze Menge unterschiedlicher Bilder hat?« Nadja nickte nachdrücklich, als sie Elisas verblüfftes Gesicht sah. »Ja, sie haben schon vorher herumexperimentiert. U n d mehr gefunden als das Ganze Glas und das Ewige Eis. Aber mach dir keine Hoffnungen, auf den anderen kann man nichts sehen, die Energie war falsch berechnet. Das nennen sie >Streuungen<.« »Woher weißt du das? Warum haben sie uns das nicht gesagt?« Elisa fielen Valentes Worte ein. Konnte es sein, dass ihnen etwas verheimlicht wurde? »Ich weiß es von Jacqueline. Silberg behauptet, es wäre nichts darauf zu erkennen. Nadja ahmte Silbergs Stimme nach: »Ich glaube, da ist was im Busch. Aber jetzt mal im Ernst: Hast du dich noch nie gefragt, warum gerade diese Insel?« »Das Projekt steht unter strenger Geheimhaltung, du hast doch gehört, was Silberg gesagt hat.« » T r o t z d e m gibt es eigentlich keinen Grund, w a r u m w i r auf einer abgelegenen Insel arbeiten. W i r k ö n n t e n die Sache in Zürich weiterverfolgen und w ü r d e n obendrein weniger Aufsehen erregen.« »Und was glaubst du?« »Keine Ahnung, vielleicht wollen sie uns isolieren«, wagte Nadja eine Vermutung. »Als w ü r d e n . . . als w ü r d e n sie befürchten, dass w i r ihnen gefährlich werden k ö n n t e n . Hast du nicht die ganzen Soldaten gesehen?« »Es sind fünf, sechs m i t Carter.« »Ich finde, es sind zu viele.« »Du bist ja paranoid.« »Ich mag keine Soldaten.« Nadja sah sie über ihre Brillengläser hinweg an. »In meinem Land gab es davon einfach zu viele, Elisa. Ich frage mich, ob sie wirklich dazu da sind, um uns zu schützen,
oder dazu, den Rest der Welt vor dem abzuschirmen, was hier m i t uns geschieht.« Der W i n d blies ihr von hinten die M ä h n e ins Gesicht. Elisa setzte gerade zu einer A n t w o r t an, da vernahmen sie einen Schrei. Eine Gestalt in kurzärmeligem Hemd und Shorts lief dreißig Meter entfernt von ihnen ü b e r den Sand. Eine andere in roten Bermudas verfolgte sie mit g r o ß e n Sprüngen. Anscheinend hatte der Flüchtige nicht w i r k l i c h die Absicht zu entkommen, denn kurz darauf wurde er oder sie eingeholt. F ü r einige Sekunden standen die beiden ganz dicht beieinander, angestrahlt von der tief stehenden Sonne im Osten, ehe sie unter lautem Gelächter ü b e r den Sand rollten. »Neue Arbeit, neue Freunde«, bemerkte Nadja und zwinkerte Elisa zu. Sie war nicht ü b e r r a s c h t , denn sie hatte das P ä r c h e n schon mehrmals in Silbergs Labor angetroffen, jedes Mal in ein intimes Gespräch vertieft. Er fixierte sie m i t seinen wässrigen Reptilaugen, indes Rosalyn Reiter i h m die säuerliche Miene zeigte, m i t der sie die Welt stets konfrontierte, als w ü r d e man ihre Fachkompetenzen verkennen. Arme Rosalyn Reiter. Es gefiel Elisa ganz u n d gar nicht, m i t anzusehen, wie Valente diese reife, unattraktive, s p r ö d e Frau im Handumdrehen erobert hatte, und sie verspürte nicht übel Lust, der deutschen Historikerin ein paar Takte über ihren wundervollen Latin Lover zu erzählen. »Sie scheinen die Suche nach der Energie wörtlich zu nehm e n « , sagte sie ironisch. »Ganz schön energetisch, die zwei«, Nadja lächelte. Valente u n d Reiter arbeiteten in Silbergs Team daran, ZeitStrings aus einer etwa sechzigtausend M i l l i o n e n Sekunden zurückliegenden Epoche zu öffnen, u n d hofften auf Bilder aus der Stadt Jerusalem. Wenn es gelang, dann w ü r d e die >JerusalemEnergie< gewiss weiter reichende Folgen haben als die Energie des >Jura<. Sehr viel weiter reichende sogar, die nicht nur sie betreffen w ü r d e n , sondern die ganze Menschheit.
Sie w ü r d e n Jerusalem sehen zu Jesu Lebzeiten. Genauer gesagt, in den letzten Lebensjahren Jesu. Vielleicht w ü r d e n sie ein historisches, ja ein biblisches Ereignis miterleben. Vielleicht sogar ein ganz besonderes Ereignis. Vielleicht k ö n n t e n sie Ihn sehen, obwohl diese Wahrscheinlichkeit so g r o ß war, als wollte man auf eine Entfernung von tausend Kilometern m i t einem Schuss ins millimetergroße Schwarze treffen. Tyrannosaurier, Napoleon, Cäsar und Spielberg sind nichts dagegen. Elisa hatte Maldonado nicht angelogen, doch sie verstand erst jetzt, weshalb er ihr all die Fragen zu ihrem Glauben gestellt hatte. Sie war Atheistin. Aber welcher Atheist konnte von sich behaupten, dass i h n die Möglichkeit, allein die Möglichkeit, gleichgültig ließe, Ihn auch nur für einen Augenblick zu sehen. Wer das von sich denkt, der werfe den ersten Stein. U n d einer von denen, die dazu beitragen konnten, dass das Wunder geschah, reckte gerade sein in rote Bermudas gehülltes Gesäß in die Luft, w ä h r e n d seine Zunge aller Wahrscheinlichkeit nach die M u n d h ö h l e einer frustrierten Historikerin mittleren Alters erforschte. Nadja schien sich königlich zu amüsieren. M i t hochrotem Kopf warf sie Elisa einen Blick zu: »Neulich haben sie in einem Bett geschlafen.« »Ehrlich?« Diese Auskunft rief die unterschiedlichsten Gefühle in Elisa wach. Turbulente Blitzlichter von ihrem Besuch in Valentes Haus und den m i t der Wette verbundenen Drohungen. Sie stellte sich vor, wie Valente sich einen S p a ß daraus machte, Rosalyn Reiter zu d e m ü t i g e n . »Kein Kommentar, bitte!«, lachte Nadja. »Ich s c h ä m e mich, d a r ü b e r zu reden. Es geht mich ja eigentlich nichts an.« »Mich auch nicht«, sagte Elisa rasch. »Es war Sonntagabend. Ich habe G e r ä u s c h e g e h ö r t und b i n aufgestanden. Dann habe ich bei Ric durch das Sichtfenster ge-
schaut, aber er war nicht da! Also habe ich bei Rosalyn nachgesehen. Da waren sie beide in trauter Eintracht.« Nadja lachte verstohlen u n d e n t b l ö ß t e dabei die weit auseinander stehenden Z ä h n e . »Sind alle spanischen M ä n n e r so?« »Was fällt dir ein!«, schnaubte Elisa und zog eine so e m p ö r t e Miene, dass Nadja in Gelächter ausbrach. Dann fuhr Elisa fort: »Ich habe heute Nacht auch etwas gesehen, das ich dir erzählen wollte. Jemand ist durch die G ä n g e geschlichen. Am Ende hat sich herausgestellt, dass es einer von den Soldaten war. Ich habe einen Mordsschrecken bekommen, dieser Blödmann!« »Sag an! Treibt man es hier etwa auch mit den Soldaten!« Das nur Zentimeter entfernte Gesicht der jungen Paläontologin war so rot, dass Elisa dachte, sie w ü r d e jeden M o m e n t platzen. Sie warf ihr ein wenig Sand auf die Schulter. »Halt den M u n d , perverse Russin. Ich w i l l mal einen Sprung ins Wasser wagen. Bei Vorführungen wie der da d r ü b e n w i r d m i r ganz heiß.« A u f dem Weg zum Wasser würdigte sie das dreißig Meter von ihr entfernt auf dem Sand liegende Pärchen keines Blickes.
In dieser Nacht h ö r t e sie Geräusche. Schritte auf dem Flur. M i t einem Satz war sie aus dem Bett und schaute durch das Sichtfenster. Niemand da. Die Schritte verstummten. Sie nahm ihre Armbanduhr vom Nachttisch und ließ das Zifferblatt aufleuchten: 1.12 Uhr. Es war noch früh in der Nacht, aber zu spät für Kommen u n d Gehen in den Schlaftrakten der Wissenschaftler von New Nelson. Um sieben Uhr gab es Abendessen, und um halb zehn lagen alle in ihren Betten, weil um zehn die Lichter ausgingen. Elisa konnte nicht wieder einschlafen, und ihre Gedanken kreisten um Soldaten auf lautlosen Sohlen, um Schattensoldaten ohne Gesichter, die an ihrem Sichtfenster vorbei durch die d ü s t e r e n G ä n g e huschten. U n d auch um Valente und Reiter, obwohl sie nicht wusste, weshalb. Schritte. Diesmal sehr viel deutlicher. A u f dem Flur.
Elisa öffnete die T ü r einen Spalt weit und lugte in beide Richtungen. Keiner da. Der Flur war leer und die Z w i s c h e n t ü r zum zweiten Flügel geschlossen. Wieder hielten die Schritte inne. Da hatte sie eine Idee: Sie kommen aus seinem Zimmer. Oder aus ihrem. Einem momentanen Impuls nachgebend (Was bist du doch für ein Kind, hätte ihre Mutter gesagt.), trat sie unbekleidet auf den Gang hinaus. Sie blieb zuerst vor der N a c h b a r t ü r stehen, vor Nadjas, und warf einen Blick durch das Fensterchen. Nadja lag im Bett, wo ihr weißes Haar in dem von d r a u ß e n hereinfallenden Scheinwerferlicht wie ein Autobahnschild leuchtete. Ihre Körperhaltung m i t der um die Beine geschlungenen Decke zeigte, dass sie schon seit geraumer Zeit schlafen musste: Sie lag m i t angezogenen Knien da wie ein Fötus in der G e b ä r m u t t e r . Elisa lächelte. Sie musste an ein Gespräch denken, das sie am Wochenende m i t ihr am Strand geführt hatte. »Ich wäre gerne Mutter«, hatte Nadja ü b e r r a s c h e n d ernst erklärt. »Was ist das für eine Anwandlung?« »Eine, unter der w i r P a l ä o n t o l o g i n n e n manchmal leiden. Es geht darum, nach der Befruchtung durch ein M ä n n c h e n im Bauch einen Embryo großzuziehen.« »Ich habe beschlossen, eine Drohne zu w e r d e n « , entgegnete Elisa schläfrig von ihrem Handtuch aus. »Du willst wirklich keine Kinder haben, Elisa?« Sie hatte m i t der Frage nichts anfangen k ö n n e n . U n d nichts damit anfangen k ö n n e n , dass sie nichts m i t der Frage anfangen konnte. »Ich habe mich noch nicht damit befasst«, erwiderte sie. Nadja dachte, sie machte Witze. »Also h ö r mal, das ist keine Rechenaufgabe. Entweder du willst oder du willst nicht.« Elisa hatte sich auf die Unterlippe gebissen, wie sie es zu t u n pflegte, wenn sie rechnete. »Nein, ich will nicht«, hatte sie schließlich nach langem Stillschweigen geantwortet. Nadja hatte den Kopf geschüttelt, ihren zierlichen K o p f m i t dem Engelshaar. »Tu mir einen Gefallen«, hatte sie gesagt. »Spende
deinen Schädel der Universität von Montpellier, bevor du stirbst. Jacqueline u n d ich w ü r d e n i h n liebend gern erforschen, das schwöre ich. Exemplare des weiblichen physicus extravagantissimus sind nämlich äußerst rar.« Sie kehrte in die Wirklichkeit zurück: Sie stand im Flur, m i t ten in der Nacht, nur m i t einem Slip bekleidet, und spionierte ihren Kollegen nach. Stell dir vor, sie stehen auf und entdecken den weiblichen physicus extravagantissimus, der sie in Unterhosen durch das Sichtfenster beobachtet. Die Schritte waren verstummt. Immer noch lächelnd, ging sie auf Zehenspitzen weiter zu Ric Valentes Zimmer. Der Metallboden k ü h l t e ihr nach der Hitze angenehm die F ü ß e . Elisa blieb vor dem Sichtfenster stehen. Ihre vorgefassten Erwartungen lösten sich in Luft auf. In dem Licht, das durch das Fenster hereinfiel, erkannte sie genau Valente Sharpes hagere Gestalt, die ausgestreckt auf dem Bett lag, den knochigen Rücken ebenso wie die weiße Unterhose darunter. Eine Weile stand sie da und betrachtete ihn gedankenverloren. Dann ging sie weiter zum letzten Zimmer. Jener Hügel unter der Bettdecke musste Rosalyn sein, a u ß e r d e m glaubte sie, ein paar S t r ä h n e n ihres dunkelblonden Haares zu entdecken. K o p f s c h ü t t e l n d kehrte sie in ihr Z i m m e r z u r ü c k u n d fragte sich, was sie vorzufinden geglaubt hatte. Voyeur. Sie begriff, dass die extreme Anstrengung, die ihr die Arbeit auf der Insel abverlangte, ihren Preis forderte. Im normalen Leben wusste sie eine Erschöpfung wie diese auszugleichen. Da ging sie spazieren, trieb Sport oder gab sich, wenn sie noch mehr Abstand brauchte, i h ren erotischen Fantasien h i n . Aber in der Welt von New Nelson, wo es keinerlei I n t i m s p h ä r e gab, fühlte sie sich desorientiert. Elisa streckte sich auf dem Rücken aus und atmete tief durch. D r a u ß e n waren keine Schritte mehr zu vernehmen. Keinerlei Geräusche. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie das Meer rauschen hören, aber sie wollte nicht. Nach kurzem Zögern schlüpfte sie unter die Bettdecke, obwohl ihr schrecklich h e i ß war. Es ging nicht darum, sich a u f z u w ä r m e n . Sie holte noch einmal tief Luft,
schloss die Augen und ließ sich dann von ihrer Fantasie antreiben. Sie ahnte schon, wo diese sie hinführen w ü r d e . Immer wieder tauchte Valente vor ihrem inneren Auge auf, Valente Sharpe: ein blöder, oberflächlicher Kerl; ein brillantes Gehirn im unterentwickelten Körper eines kranken Kindes; ein P a p a s ö h n c h e n . Dennoch zog ihre Fantasie sie unausweichlich und vielleicht ebenso krankhaft - an den Haaren zu i h m . Z u m ersten Mal. Sie war überrascht. Physicus calentissimus. Sie stellte sich vor, wie er in diesem Moment ihr Zimmer betrat. Sie sah ihn deutlich vor sich, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Sie schob die H ä n d e unter die Decke und zog ihr H ö s chen herunter. Aber diese Unterwerfungsgeste schien i h m nicht zu g e n ü g e n . Sie war einverstanden, den Slip ganz auszuziehen, machte daraus ein Knäuel und warf es auf den Boden. Sie stellte sich vor, der Valente Sharpe in ihrer Fantasie wäre auch damit nicht zufrieden. Aber du irrst dich, ich werde die Decke nicht zurückschlagen. Sie führte eine Hand nach unten und legte sie m i t ten auf jene h e i ß e , fordernde Stelle, begann sie zu streicheln, s t ö h n t e . Sie stellte sich vor, was er täte: Er w ü r d e sie voller Verachtung ansehen u n d dann sagen . . . In diesem Moment vernahm sie die Schritte unmittelbar neben ihrem Bett. In ihrem Kopf zersplitterte die aufkeimende Lust wie hauchd ü n n e s Glas unter dem Tritt eines ausgewachsenen Elefanten. Keuchend öffnete sie die Augen. Es war niemand da. Sie war derart abrupt aus ihrer sexuellen Erregung gerissen worden, dass sie beinahe froh war, noch am Leben zu sein: Sie fühlte sich wie nach einem Schock, der sie wie ein Malariaanfall getroffen und dann starr und fröstelnd zurückgelassen hatte. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, man k ö n n e vor Schreck einen Herzinfarkt erleiden und sterben, unabhängig davon, wie alt man sei u n d wie stabil der Kreislauf.
Sie setzte sich im Bett auf und hielt die Luft an. Ihre Zimmert ü r war geschlossen, und sie hatte nicht wahrgenommen, dass sie geöffnet worden wäre. Aber die Schritte - da war sie ganz sicher - hatte sie im Zimmer gehört. Dennoch war niemand da. »Hallo ...?«, fragte sie in die Totenstille. Die Toten antworteten. M i t weiteren Schritten. Im Badezimmer. Elisa war überzeugt, ihr Angstpotential ausgeschöpft zu haben und sich niemals mehr fürchten zu k ö n n e n als in diesem Augenblick. Später sollte sie feststellen, dass sie sich nie so sehr geirrt hatte. Aber das war später. »Ja?« Keine Antwort. Die Schritte kamen und gingen. Täuschte sie sich? Nein: Das G e r ä u s c h kam aus dem Badezimmer. Sie hatte keine Nachttischlampe, nachts wurden die Lichter in den Z i m mern gelöscht und funktionierten nur noch im Badezimmer. Sie w ü r d e im Dunkeln aufstehen und dorthin tappen m ü s s e n , um die Lampe anzuschalten. Jetzt war da nichts mehr. Wieder hatten die Schritte innegehalten. Was sie doch für eine I d i o t i n war. Wie um alles in der Welt sollte denn jemand in ihr Badezimmer gelangt sein? U n d wer sollte dort im Dunkeln auf sie warten, h i n u n d her laufen, mucksmäuschenstill? Jetzt war sie sicher, dass die Schritte aus einem anderen Raum in der Baracke stammten und nur von den W ä n d e n widerhallten. Trotz dieser >beruhigenden< E r k l ä r u n g bedeutete es für sie eine g r o ß e Anstrengung, das Laken z u r ü c k z u s c h l a g e n , aufzustehen (auf keinen Fall würde sie Zeit damit verschwenden, ihren Slip wieder anzuziehen. Es kam nicht darauf an, ob sie nackt war, es handelte sich ja um einen Geist) u n d zum Bad zu gehen. Eine g r o ß e Anstrengung wie ein Flug zum M o n d . Als sie aufstand, entdeckte sie, dass die B a d e z i m m e r t ü r , die man v o m Bett aus nicht sah, geschlossen und das Sichtfenster pechschwarz war.
Sie w ü r d e sie aufmachen u n d d r i n n e n das Licht anschalten müssen. Sie d r ü c k t e die Klinke herunter. W ä h r e n d sie die T ü r m i t entsetzlicher Langsamkeit öffnete und ihr aus dem Inneren die Schwärze in wachsenden Portionen entgegentrat, h ö r t e sie ihr Keuchen. Sie keuchte, als läge sie i m mer noch m i t ihrer intimen Fantasie im B e t t . . . Nein, sehr viel mehr: Sie keuchte wie eine Dampflok. I h r S t ö h n e n vorhin beim Masturbieren, das ihr dazu diente, sich auszuklinken - wie sie es oft tat - war nichts dagegen. Nichts dagegen, physicus extravagantissimus... Sie öffnete die T ü r vollständig. Bevor sie das Licht anmachte, wusste sie es. Das Bad war leer, natürlich. Erleichtert atmete sie auf, ohne genau sagen zu k ö n n e n , was sie erwartet hatte. Dann h ö r t e sie die Schritte noch einmal, aber diesmal eindeutig weiter entfernt, vielleicht im Schlaftrakt der Professoren. Eine Weile verharrte sie nackt und reglos auf der Schwelle des beleuchteten Badezimmers und fragte sich, wie es m ö g l i c h war, dass sie das Geräusch noch kurz zuvor direkt neben ihrem Bett vernommen hatte. Sie wusste, dass ihre Wahrnehmung sie nicht trog und dass sie nicht w ü r d e schlafen k ö n n e n , ehe sie eine schlüssige Erklärung für das Rätsel gefunden hatte, und sei es auch nur aus dem Bedürfnis heraus, nicht als I d i o t i n dazustehen. Schließlich blieb eine Möglichkeit: Sie kniete sich hin und legte das Ohr auf den M e t a l l f u ß b o d e n . D o r t meinte sie, die Schritte lauter wahrzunehmen, und folgerte daraus, dass ihre Vermutung richtig war. Es gab nur einen Raum in der Station, den sie noch nie aufgesucht hatte: den Vorratskeller. Er lag unter der Erde. Die Belegschaft von New Nelson war dazu angehalten, Energie und Platz zu sparen. Das unterirdische Lebensmittellager erfüllte beide Anforderungen. Durch die niedrige Temperatur unter der Erde benötigten die Kühlschränke sehr viel weniger Strom, a u ß e r d e m
blieben viele Vorräte dort auch u n g e k ü h l t frisch. Cheryl Ross stieg bisweilen durch eine Bodenluke in der Küche hinunter, um eine Einkaufsliste von dem zu erstellen, was zur Neige ging. Dieser Kühl- und Vorratsraum lag in der N ä h e von Elisas Zimmer, und wenn jemand dort war, musste aufgrund der Metallverkleidung der W ä n d e jeder Tritt oben vernehmbar sein. Obwohl sie gedacht hatte, die Schritte in ihrem Zimmer zu h ö r e n , kamen sie in Wirklichkeit wohl von dort unten. Das war es: Frau Ross war im Vorratskeller. Als sie e i n i g e r m a ß e n beruhigt war, löschte sie das Badezimmerlicht, schloss die T ü r und kehrte in ihr Bett zurück. Vorher suchte sie noch den Slip und zog i h n an. Sie war t o d m ü d e . Endlich schien nach dem Schrecken die lang ersehnte Schläfrigkeit ü b e r sie zu kommen. W ä h r e n d ihre Wachsamkeit dahinschmolz wie das Wachs einer Kerze und Sekunden, bevor der Strudel sie endgültig in die Finsternis entführte, glaubte sie etwas zu erkennen. Einen Schatten, der am Sichtfenster ihrer T ü r vorüberglitt.
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Von:
[email protected] Für:
[email protected] Gesendet: Freitag, 16. September 2005 Betreff: Hallo Hallo Mama, hier nur ein paar Zeilen, damit du weißt, dass es m i r gut geht. Es tut m i r Leid, dass ich nicht öfter schreiben (oder anrufen) kann, aber hier in Z ü r i c h habe ich sehr viel zu tun. Was m i r ja gefällt (du kennst mich), deshalb will ich mich auch gar nicht darüber beklagen. Meine Tätigkeit und alles Neue hier ist herrlich. Professor Blanes ist g r o ß a r t i g und meine Kollegen auch. Dieser Tage stehen w i r kurz vor einem Durchbruch, weshalb ich dich bitte, dir keine Sorgen zu machen, wenn es eine Weile dauert, bis ich mich wieder melde. Pass gut auf dich auf. Ein Kuss. G r ü ß mir Victor, wenn er anruft. Eli.
Jahre später dachte sie manchmal, dass sie in gewisser Weise für das Grauen selbst verantwortlich war. Wir neigen dazu, uns für Katastrophen, die wir erlitten haben, selbst die Schuld zu geben. Angesichts der Tragödie wenden wir den Blick zurück und suchen in unserem Leben nach einem Fehler, der
alles erklärt. Obwohl diese Reaktion zugegebenermaßen oft unangemessen ist, fand Elisa, dass sie in ihrem Fall durchaus angebracht war. Ihre Tragödie lastete auf ihr und ebenso der möglicherweise begangene Fehler. Wann hatte sie die Weichen falsch gestellt, in welchem Moment war das genau gewesen? Wenn sie in der Einsamkeit ihres Bettes gegenüber dem Spiegel die beklemmenden Sekunden zählte, bis der Albtraum zurückkehrte, kam sie manchmal zu dem Schluss, dass ihr größter Fehler zugleich ihr größter Erfolg gewesen war. Donnerstag, der fünfzehnte September 2005, der Tag ihres Durchbruchs. Der Tag ihrer Verdammnis. Mathematische Probleme sind wie andere Probleme auch: Wochenlang stolpert man endlos steinige Pfade entlang, und eines Morgens steht man auf, t r i n k t seinen Kaffee, schaut dem Sonnenaufgang zu, und plötzlich ist sie da, strahlend hell, die gesuchte Lösung. Am Donnerstagmorgen, dem fünfzehnten September, hielt Elisa, den Bleistift im M u n d , m i t einem Mal inne und starrte auf den M o n i t o r . Sie druckte das Ergebnis aus und ging m i t dem Blatt in der Hand zu Blanes. Blanes hatte in seinem Zimmer ein elektronisches Klavier stehen und spielte Bach, viel Bach, immer nur Bach. Sein Zimmer lag neben Clissots Labor, u n d manchmal, wenn Elisa einsame Nachmittage lang durcharbeitete, drangen das kristallene Perlen einer Fuge oder eine Melodie der Goldberg-Variationen wie Gespenster durch die W ä n d e bis zu ihr. Was sie nicht störte, im Gegenteil. Sie h ö r t e es gerne. Musikbanausin, die sie war, hielt sie Blanes für einen passablen Pianisten. An jenem Morgen brachte sie i h m jedoch eine andere Variation dar, in der Annahme, dass er sicherlich nichts dagegen haben w ü r d e , vorausgesetzt, es handelte sich um die richtige Melodie.
Ohne die H ä n d e von den Tasten zu lösen, b e g n ü g t e sich Blanes m i t einem kurzen Blick auf das bebende Blatt. »Perfekt«, sagte er dann knapp. »Das ist es.« Inzwischen hielt sie Blanes nicht mehr für so >großartig<, wie sie ihrer Mutter geschrieben hatte, aber auch nicht für g e w ö h n lich, und erst recht nicht für einen Idioten. Wenn Elisa m i t ihren dreiundzwanzig Jahren etwas begriffen hatte, dann das: Jemanden einzuschätzen war nie einfach. Ein jeder stellt etwas dar, aber genauso etwas anderes, manchmal sogar das Gegenteil. Eine Person ist genauso wenig zu greifen wie eine Elektronenwolke. Blanes bildete da keine Ausnahme. Als sie ihn an der Alighieri kennen gelernt hatte, dachte sie, er sei ein bornierter Sexist oder einfach nur verklemmt. W ä h r e n d der ersten Zeit ihres Zusammenlebens auf New Nelson kam sie jedoch zu dem Schluss, dass er sie lediglich links liegen ließ. A n s c h l i e ß e n d kam sie darauf, dass etwas an ihr der G r u n d sein musste: ihre tief verwurzelte Ü b e r z e u g u n g , dass alle m ä n n l i c h e n Dozenten sie als etwas Besonderes ansehen m ü s s t e n - nicht nur weil sie aufgeweckt war, und zwar sehr aufgeweckt, sondern weil sie gut war, u n d zwar sehr gut. Sie wusste, was sie vorzuweisen hatte, u n d war es gew ö h n t , dies zu ihrem Vorteil einzusetzen. Aber bei Blanes war sie offenbar auf taube Ohren gestoßen. Er schien ihr zu entgegnen: >Deine Eingebungen in Sachen Geometrie und deine innovativen Vorschläge zur Berechnung des Integrals sind m i r genauso schnuppe wie deine Beine, deine Shorts und die Tatsache, dass du an manchen Tagen einen BH trägst und an anderen nicht.< Wenig später musste Elisa erneut ihre Meinung ü b e r den Professor revidieren, als sie erkannte, dass er sie sehr wohl beachtete. Dass er, wenn er sie m i t dem Schlafzimmerblick eines Robert M i t c h u m anschaute - die Lider halb geschlossen, als w ü r d e er jeden Moment einnicken -, in Wirklichkeit hellwach war. Dass er sie, wenn sie halb nackt v o m Strand z u r ü c k k a m und i h m in einem der G ä n g e der Baracke begegnete, durchaus m i t den Blicken eines Mannes musterte, und zwar feuriger als der nicht zu unterschätzende M a r i n i und weitaus intensiver als Craig, bei dem
sich gar nichts r ü h r t e . Dennoch vermutete sie, dass Blanes, wie sie selbst, in seinen geistigen H ö h e n f l ü g e n zu Hause war u n d dasselbe von ihr dachte. Vielleicht w ü r d e der Bann zwischen i h nen erst gebrochen, so überlegte sie manchmal, wenn sie zusammen ins Bett gingen. Sie stellte sich das so vor: Sie w ü r d e n sich nackt gegenüberstehen und sich ansehen, sonst nichts. Es w ü r d e n Minuten vergehen, bevor er m i t erstaunter Stimme sagen würde: >Aber, macht es dir wirklich nichts aus, von m i r b e r ü h r t zu werden?< Und sie w ü r d e nicht minder erstaunt zurückfragen: >Aber, willst du mich denn wirklich berühren?< »Lass uns warten, bis Sergio fertig ist«, sagte er und spielte weiter Bach. Blanes plante, beide Lichtproben - die aus dem >Jura< und die von >Jerusalem< - am gleichen Tag zu nehmen, da sie geographisch nicht weit auseinander lagen. Aber wie beim ersten Mal kamen M a r i n i und Valente m i t ihren Ergebnissen nicht zurande, so dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als zu warten. Elisa nahm sich ein paar weniger dringliche Aufgaben vor, wie das Schreiben einer E-Mail, die sie am nächsten Tag an ihre M u t ter abschicken wollte (natürlich nachdem sie wie vorgeschrieben zensiert worden war). Und ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit vor eineinhalb Monaten, als sie an einem Morgen A n fang August Blanes schon einmal beim Klavierspiel unterbrochen hatte, um i h m das erste Ergebnis vorzulegen - und an die folgenden Turbulenzen, aus denen Nadja sie gerettet hatte. In jenen Tagen hatte sie nämlich ihre bis dahin unangenehmste Begegnung mit Valente Sharpe gehabt und meinte zu verstehen, wie viel es i h m ausmachte, dass er i n dem vermeintlichen Wettstreit, den sie - auf seinen ausschließlichen Wunsch - miteinander austrugen, stets als Zweiter ans Ziel kam. Witzigerweise waren sowohl Valentes als auch ihr eigenes Ergebnis damals falsch gewesen. Diesmal war das anders. Sie war überzeugt, beim zweiten A n lauf den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. U n d in diesen Dingen irrte sie sich nie.
Allerdings dachte sie auch, dass sie der glücklichste Mensch unter der Sonne wäre, wenn ihre Berechnungen richtig waren. Aber darin täuschte sie sich sehr wohl. Und zwar zu hundert Prozent.
Der vergangene Monat war für Valente Sharpe verständlicherweise nicht der leichteste gewesen. Elisa sah ihn kaum in der Stat i o n , nicht einmal in Silbergs Labor, wo eigentlich sein Arbeitsplatz war. Arbeiten tat er indes durchaus, wie sie feststellen konnte. Gelegentlich musste sie ihn n ä m l i c h aufsuchen. Dann fand sie ihn jedes Mal in seinem Zimmer, wo er, den Laptop auf den Knien, auf der Bettkante s a ß , in die Tasten h ä m m e r t e u n d so in seine Aufgabe vertieft war, dass sie sich fast davon überzeugen ließ, ihn als (wie hatte ersieh noch damals ausgedrückt?) Seelenverwandtem anzuerkennen. Er hatte sogar die Affäre m i t Reiter aufgegeben, was nach Elisas Beobachtung Rosalyn wesentlich mehr zu schaffen machte als Valente. Jetzt suchte er verstärkt die Gesellschaft von Craig und M a r i n i , und nicht selten sah man die drei bei Sonnenuntergang von ausgedehnten Spaziergängen am Strand oder an der Lagune zurückkehren. Es schien ihr augenfällig, dass Ric sich in dieser neuen Phase um jeden Preis hervortun wollte. Offenbar genügte es i h m nicht, einer der Auserwählten zu sein, er wollte der Einzige sein u n d nicht nur sie ü b e r h o l e n , sondern auch alle anderen in den Schatten stellen. Bisweilen machte ihr das mehr Angst als die perversen Schaue r m ä r c h e n , die Victor ü b e r sich erzählt hatte. Nach der ersten Zeit ihres unfreiwilligen Zusammenlebens auf der Insel begann sie zu ahnen, dass der Wunsch, der Beste und der Erste zu sein, in seinem Innern schlummerte wie ein Vulkan. Mit allem, was er sagt oder macht, verfolgt er nur dieses eine Ziel. Sie gewahrte, dass sein Geltungsdrang ihn regelrecht auffraß, nicht nur innerlich: Heftige Tics krampften seine Lippen zusammen oder ließen das rechte Bein zucken, wenn er am Rechner saß; er war bleicher denn je, geradezu a n ä m i s c h , u n d ü b e r T r ä n e n s ä c k e n lauer-
ten seine Augen wie zwei böse Tiere. Was ist nur mit ihm? Was hat er? Er tat ihr Leid, als sie ihn m i t solcher Verbissenheit kämpfen sah. Ihr war klar, wer für Ric Valente Sharpe M i t l e i d empfand, tat des Guten zu viel. Aber sie kannte ihn inzwischen so weit, dass sie sich ihr Mitgefühl gestattete. Zumindest bis zu jenem Zusammentreffen am Strand. Am Mittwochnachmittag, dem zehnten August, einen Tag, nachdem sie ihre ersten Ergebnisse abgeliefert hatte, ging Elisa zum Strand hinunter. Nadja war noch nicht da. An ihrem Stammplatz stand eine weiße Statue, mit im W i n d flatternden Lumpen behängt. Als sie erkannte, wer es war, blieb sie mit offenem M u n d stehen. Valente r ü h r t e sich nicht. Besser gesagt: Er war wie versteinert. U n d starrte etwas an. Dieses Etwas musste w o h l das Meer sein, denn sie schaute in dieselbe Richtung und sah nichts weiter als einen atemberaubenden Horizont aus g r ü n e n Wellen und blauen Wolken. Er registrierte noch nicht einmal ihr Kommen. »Hallo«, g r ü ß t e sie zögernd. »Was hast du?« Der junge M a n n schien aus tiefer Versenkung aufzutauchen und wandte sich zu ihr u m . Elisa schauderte: Seine Miene erinnerte sie an einen Kommilitonen, der schizophren war und für immer das Studium hatte aufgeben m ü s s e n . Sie war sich nicht einmal sicher, ob Valente sie erkannte. Aber binnen Zehntelsekunden blickte sie der Sharpe, den sie kannte, an. »Sieh mal einer an«, murmelte er m i t belegter Stimme. »Wen haben wir denn da? Elisa. Wie geht's, wie steht's, du geile Fotze?« » H ö r zu«, erwiderte sie, und ihre Stimmung schlug rasend schnell um von Schrecken in Wut. »Ich w e i ß , welchem Druck w i r beide hier ausgesetzt sind, aber trotzdem verbitte ich mir, dass du mich weiter beleidigst, und das meine ich ernst. W i r sind Arbeitskollegen, ob es uns passt oder nicht. Wenn du m i r noch einmal mit Schimpfworten kommst, beschwere ich mich schriftlich bei Blanes und M a r i n i . Sie werden dich rausschmeißen.«
»Dich beschimpfen?« Die untergehende Sonne warf ihr Licht auf seine sauertöpfische Miene. »Was denn für Schimpfworte, meine Liebe? Dein geiler Körper unter dem T-Shirt und in den Shorts macht mich h e i ß . Anders a u s g e d r ü c k t , er lässt meine K ö r p e r t e m p e r a t u r ansteigen und bewirkt spontan eine Versteifung meines m ä n n l i c h e n Geschlechtsteils, dafür kann ich nichts. Das ist so, als wollte man m i r die Aussage vorwerfen, dass der erste Hauptsatz der Thermodynamik der Satz der Energieerhaltung in geschlossenen Systemen ist. Das kann ich d i r gern schriftlich geben. Halt, wo willst du hin?« Valente baute sich vor ihr auf. »Lass mich bitte in Ruhe.« Elisa wich i h m aus. »Ich weiß, wo du hinwillst: an den Strand, dich ausziehen und einen weiteren Temperaturanstieg in den verbundenen Gefäßen provozieren. Wenn du keine h e i ß e Fotze wärst, würdest du den B i k i n i auf dem Zimmer anziehen, genauso wie deine wohlerzogene Freundin. Da du eine geile Fotze bist, ziehst du dich am Strand u m , so dass dich jeder sehen kann, und machst mich heiß!« Elisa machte noch einen Versuch, an i h m vorbeizukommen. Sie bereute längst, sich je nach seinem Wohlbefinden erkundigt zu haben. Wer hätte auch gedacht, dass sich so etwas daraus ergeben w ü r d e . Er stellte sich ihr erneut in den Weg. »Willst du mich etwa verpfeifen, weil ich dir m i t wissenschaftlich haltbaren Worten beschreibe, was du für mich bist?« In diesem Moment d ä m m e r t e ihr, dass dies keiner seiner ü b lichen Scherze war. Valente s c h ä u m t e vor Wut, mehr noch als sie selbst. » . . . das wäre, als wenn ... ich weiß n i c h t . . . als wenn ich dich anschwärzen wollte, weil du dir nachts einen runterholst und dabei an mich denkst. Genauso abartig, ü b e r t r i e b e n und unwahrscheinlich ...« Sie starrte ihn an wie gelähmt. M i t einem Mal war ihr das Meer verleidet und Nadjas Gesellschaft und die ganze Welt. Sie fühlte
weder Scham noch Erniedrigung: Sie fühlte sich bis ins Mark getroffen. » . . . oder so, als wolltest du mich der Sodomie anklagen, nur weil m i r deine Brüste gefallen«, fuhr er in demselben Tonfall fort, als sei das Ganze nur ein Witz. »Ich weiß nicht. Du bist hier diejenige, die übertreibt. Wenn d u nicht willst, dass ich dir die Wahrheit ins Gesicht sage, dann gib mir keinen Anlass dazu.« Er hat mich gesehen. Er muss mich gesehen haben. Nein, das kann nicht sein. Er sagt das nur so dahin. Sie versuchte, hinter das h ö h n i s c h e Funkeln in seinen Augen zu schauen und zur Wahrheit vorzudringen, aber es gelang ihr nicht. Jene Nacht, als sie sich in ihrem Bett b e r ü h r t hatte, war zwei Wochen her, und sie war so sicher gewesen, dass niemand sie dabei beobachtet hatte. Wie denn auch? »Und jetzt beruhigen wir uns mal wieder«, sagte Valente. »Du glaubst, dass du dein Rechenproblem gelöst hast, nicht wahr, meine Liebe? Dann lass uns Minderbemittelte unsere Arbeit tun, und h ö r auf, mich a n z u m a c h e n . « Er drehte sich auf dem Absatz u m , ließ sie einfach stehen und ging von dannen. Als Nadja einige Minuten später eintraf, war Elisa längst nicht mehr dort. Es sollten einige Tage verstreichen, bevor sie wieder Lust v e r s p ü r t e , an den Strand zu gehen. Von da an zog sie sich stets in ihrem Zimmer u m , verheimlichte der Freundin aber den wahren G r u n d für diese neue Angewohnheit. Später, als sie die Dinge aus der Distanz betrachtete, wurde ihr klar, dass ihre Reaktion ü b e r t r i e b e n gewesen war, u n d dass sie Valentes Angriffe besser unter dem Gesichtspunkt des Wettstreits verbuchte: Ganz offensichtlich konnte er nicht damit umgehen, dass sie jedes Mal als Erste am Ziel war. Andererseits duckte sie sich viel zu oft vor i h m . Valente mochte sich noch so wie ein unbegreifliches, unsägliches Wesen fühlen, letzten Endes war er doch nur ein kleines, halbwegs intelligentes Arschloch, das keine Gelegenheit ausließ, sie an ihren Schwachpunkten zu treffen. Und das war nicht so sehr sein Verdienst als vielmehr ihr Manko. Natürlich hielt sie sein Gerede für pure Aufschneiderei. Nie-
mand hatte sie gesehen, nicht einmal durch das Sichtfenster, und was die Schritte anging, so wusste sie ja, wo diese hergekommen waren: Frau Ross war in jener Nacht im Vorratsraum gewesen, das hatte sie Elisa am nächsten Tag bestätigt. Damit war die Sache für sie geklärt. Valente fischte im T r ü b e n , um sie irgendwo anzugreifen. Er wird sich schon wieder einkriegen. Vielleicht kapiert er ja irgendwann, dass ersieh besser um seine Arbeit kümmern sollte, als seinen Kolleginnen nachzustellen. Sie dachte nicht weiter ü b e r i h n nach und hatte auch sonst keine Sorgen. Seit sie ihren Auftrag erfüllt hatte, schlief sie wie ein Stein und sah nachts weder Schatten, noch h ö r t e sie irgendwelche Geräusche. Am Donnerstag, den achtzehnten August, lag ein säuberliches Blatt Papier m i t der Überschrift >Energie Jerusalem< auf Blanes' Schreibtisch. Das Experiment wurde für den nächsten Tag angesetzt. Nachdem Craig und M a r i n i die Lichtproben empfangen u n d m i t der errechneten Energie beschossen hatten, s a ß das Team da. Alles wartete angespannt und kaute gleichsam an den Fingernägeln. Elisa war für das Putzen eingeteilt, das seit mehreren Tagen vernachlässigt worden war, und nahm diese Aufgabe m i t Eifer in Angriff. In der K ü c h e t r a f sie auf Blanes. Niemals - schon gar nicht an der A l i g h i e r i in seinem Kurs - h ä t t e sie sich t r ä u m e n lassen, den Professor einmal beim Geschirrabtrocknen zu sehen: Dieses Schauspiel konnte ihr nur das Zusammenleben auf der Insel bieten. M i t einem Mal war es verdächtig still. In der offenen Küchent ü r erschienen mehrere lange Gesichter. Colin Craig war es, der schließlich zu einer Erklärung ansetzte: »Die beiden Lichtproben sind b u c h s t ä b l i c h zerschossen worden.« »Kein G r u n d zum Weinen«, scherzte M a r i n i , » d a n n m ü s s e n w i r eben m i t den Berechnungen wieder von vorne anfangen.« In jenem Moment weinte niemand. Aber später, als alle allein waren, wahrscheinlich schon. Elisa war sogar sicher, dass die anderen genauso e n t t ä u s c h t reagierten wie sie selbst, denn am
nächsten Morgen hatten alle gerötete Augen und vor Müdigkeit zerfurchte Gesichter, niemand war besonders gesprächig. Selbst die Natur schien ihre Trübsal aufzugreifen und bescherte ihnen in den letzten Augusttagen dicke Wolken und einen warmen, dicht fallenden Regen. Dies sei nun einmal die Monsunzeit, bemerkte Nadja, die den Planeten in weiten Teilen kannte. »In den Sommermonaten herrscht der S ü d w e s t m o n s u n vor, der so genannte Hulhangu, m i t häufigen Regenfällen, wie auf den Malediven.« Elisa hatte so einen Regen noch nie erlebt, der nicht Tropfen für Tropfen, sondern in Bindfäden niederging. M i l l i o n e n dieser Bindfäden schlugen, wie von verrückten Puppenspielern gezogen, auf Dächer, Fenster u n d W ä n d e und verursachten dabei nicht etwa das erwartete Rauschen, sondern ein anhaltendes, dumpfes Schnarchgeräusch. Wie ein Zombie hob Elisa mitunter den Kopf und warf einen Blick hinaus auf die entfesselten Elemente, nur um darin ein A b b i l d ihrer eigenen Verfassung zu erkennen. Am ersten Montag im September, nach einer besonders unangenehmen Unterredung m i t Blanes, der ihr vorwarf, zu langsam mit der Arbeit voranzukommen, fühlte sie sich abscheulich. Sie brach aber weder in Tränen aus noch zeigte sie sonst eine Reaktion, a u ß e r dass sie sich wieder stocksteif an ihren Computer in Clissots Labor setzte, in dem Glauben, sich nie wieder von dort zu erheben. Sie ließ einfach die Zeit verstreichen. Vielleicht Stunden, sie wusste es nicht. Dann drang ein Duft an ihre Nase, und sie spürte auf ihrer nackten Schulter eine Hand, so sanft wie ein Blatt, das vom Baum fällt. » K o m m « , sagte Nadja. H ä t t e Nadja sie in diesem Moment anders angesprochen, sie zum Beispiel m i t S c h m ä h u n g e n überhäuft wie ihre Mutter oder m i t Argumenten traktiert wie ihr Vater, dann hätte Elisa ihr nicht gehorcht. Doch die Zärtlichkeit in dieser Geste u n d die sanfte W ä r m e von Nadjas Stimme wirkten auf sie wie ein Zauber. Elisa erhob sich und folgte ihr wie eine Ratte der hypnotisierenden Melodie eines Flötenspielers.
Nadja trug eine Drillichhose u n d zu g r o ß e Stiefel. »Ich will nicht an den Strand«, sagte Elisa. »Wir gehen auch nicht an den Strand.« Nadja führte sie in i h r Z i m m e r u n d deutete auf ein dickes K l e i d e r b ü n d e l u n d ein weiteres Paar Stiefel. Elisa konnte sogar wieder lachen, als sie feststellte, dass ihr die M o n t u r gar nicht schlecht stand. »Du hast die Figur eines Soldaten«, witzelte Nadja. »Frau Ross hat m i r erzählt, dass diese Hosen u n d Stiefel u r s p r ü n g l i c h für Carters Soldaten geordert w u r d e n . « In diesem Aufzug u n d nachdem sie sich das Gesicht m i t einer seltsam riechenden Creme eingerieben hatten, die Nadja als >Mückenabwehr< bezeichnete - die ihr aber ganz allgemein abs t o ß e n d erschien -, gingen sie ins Freie und marschierten bis zum Hubschrauberlandeplatz. Es fiel kein Regen, aber der n ä c h s t e Guss schien schon in der Luft zu liegen, ü b e r ihnen zu lauern. Elisa atmete tief durch. Der N o r d w i n d trieb die Wolken so rasch ü b e r den H i m m e l , dass die Sonne von einer Sekunde zur n ä c h s ten aufschien oder verhangen war, u n d das Licht flackerte wie die Bildfetzen eines gerissenen Films. Sie ließen das Gelände des Hubschrauberlandeplatzes hinter sich. Gegenüber der Kasematte der Soldaten entdeckten sie Carter, im G e s p r ä c h m i t dem T h a i l ä n d e r Lee u n d dem Kolumbianer M é n d e z , w ä h r e n d Letzterer am Ausgang in Richtung Wald Wache stand. Lee war der Sympathischste von ihnen, denn jedes Mal, wenn er Elisa erblickte, lächelte er breit. Doch am häufigsten unterhielt sie sich m i t M é n d e z , der ihr jetzt das dunkle Gesicht m i t den strahlend w e i ß e n Z ä h n e n zuwandte. Inzwischen ließ sie sich von der M o n t u r der Soldaten nicht mehr so eins c h ü c h t e r n wie zu Beginn, denn sie hatte herausgefunden, dass in den harten Panzern aus Leder u n d Metall auch nur Menschen steckten, u n d schenkte diesen mehr Beachtung als ihrer Verkleidung. Sie gingen am Lagerhaus vorüber, wo M u n i t i o n , Waffen, technisches Gerät und die Anlage zur Trinkwasseraufbereitung unter-
gebracht waren, dann schlug Nadja einen parallel verlaufenden Pfad in den Dschungel ein. Der b e r ü h m t e Wald, der Elisa aus der Ferne nur wie ein schmaler Baumstreifen vorgekommen war, umfing sie m i t seiner M a gie, als sie in i h n eindrang. Wie ein K i n d sprang sie ü b e r riesige moosbewachsene B a u m s t ä m m e , begeisterte sich für G r ö ß e und Form der unterschiedlichen Blumen und lauschte der unendlichen Vielfalt der L e b e n s ä u ß e r u n g e n . Ein schwarz marmoriertes Modellflugzeug flog surrend an ihren Augen vorüber. »Eine Riesenlibelle«, erklärte Nadja. »Oder Helikopter-Libelle. Die schwarzen Flecken auf den Flügeln sind pterostigmas. In bestimmten Kulturen Südostasiens hält man sie für die Seelen der Toten.« »Das kann ich verstehen«, gestand Elisa. Plötzlich b ü c k t e sich Nadja. Als sie wieder hochkam, lag auf ihrer Handfläche ein Fläschchen, rot, schwarz und g r ü n bemalt, als enthielte es das Elixier einer Hexe, und m i t sechs schimmernden tiefschwarzen Henkelchen an den Seiten. »Eine Cetonia, ein Rosenkäfer. Oder vielleicht eine Chrysomelida, ich b i n nicht ganz sicher. S k a r a b ä u s nennen i h n die Laien.« Elisa staunte. Noch nie hatte sie einen Käfer m i t einer derart fantastischen F ä r b u n g gesehen. »Ich habe einen französischen Freund, einen Fachmann für Koleopteren, der wäre entzückt, wenn er hier wäre«, fügte Nadja hinzu u n d setzte den Skarabäus wieder ab. Elisa freute sich ü b e r die Begeisterung ihrer Freundin. Dann wies Nadja sie auf eine Familie von Stabinsekten h i n und auf eine Gottesanbeterin in den herrlichsten Rosatönen. Bis auf eine Echse m i t leuchtender F ä r b u n g sahen sie keine g r ö ß e ren Tiere als Insekten, was typisch sei für den Urwald, wie Nadja ihr erklärte. Denn die Dschungelbewohner versteckten sich voreinander, tarnten sich, schlüpften unter, um das eigene Leben zu retten oder den anderen das ihre zu e n t r e i ß e n . Der Urwald sei eine B ü h n e m i t den unglaublichsten Verkleidungen.
»Wenn w i r nachts m i t Infrarotlampen hierher k ä m e n , k ö n n ten w i r vielleicht ein paar Loris aufstöbern. Das sind Lemuren. Hast du noch nie ein Foto von ihnen gesehen? Das sind so kleine Kuscheltiere mit erschrockenen Augen. Und hörst du die Schreie da ...« Nadja stand reglos wie eine Zuckerfigur unter der g r ü n e n Kathedrale. »Wahrscheinlich Gibbons.« Die Lagune m i t dem weitläufigen, dicht m i t Mangroven bewachsenen Sumpfland im Norden erstreckte sich ü b e r eine enorme Fläche. Nadja zeigte Elisa das Kleingetier im Dickicht: Krebse, Frösche und Schlangen. Dann wanderten sie um die Lagune herum, die im Licht der A b e n d d ä m m e r u n g d u n k e l g r ü n schimmerte, bis sie zu den Korallenriffs kamen, wo sich das Wasser vor dem Ozean staute, der wie ein riesiger polierter Smaragd vor ihnen lag. Nachdem sie den Platz sorgfältig untersucht hatten, legte Nadja ihre Kleider ab und bedeutete Elisa, es ihr nachzutun. Es gibt Augenblicke, in denen w i r glauben, unser bisheriges Leben sei falsch gewesen, nichtig. Beim Anblick der Bilder des Ganzen Glases und des Ewigen Eises hatte Elisa dieses Gefühl gehabt, aber als sie nun, nackt und b l o ß wie die Wolken neben einer anderen ebenso nackten Person in dem reinen, lauwarmen Nass planschte, hatte sie erneut diese Empfindung, nur noch i n tensiver. Ihr Leben innerhalb der vier m i t Gleichungen voll geschriebenen W ä n d e kam ihr genauso falsch vor wie ihr von der Wasseroberfläche weichgezeichnetes Spiegelbild. Jede Faser i h res Körpers, jede einzelne Pore ihrer in dieser Frische badenden Haut schien ihr zuzurufen, dass sie alles zu t u n vermochte, dass es keine Hindernisse gab und dass die Welt ihr gehörte. Sie sah zu Nadja h i n ü b e r und wusste, dass diese das gleiche empfand. U n d das, obwohl sie nichts U n g e w ö h n l i c h e s taten. Doch allein der Gedanke machte Elisa glücklich, und sie meinte zu verstehen, dass der kleine, der subtile Unterschied zwischen H i m m e l und Hölle genau darin lag, dass man im H i m m e l t u n konnte, wonach einem der Sinn stand. Es wurde ein unvergesslicher Nachmittag. Gewiss kein Erleb-
nis, das sich dazu eignet, später den Enkeln erzählt zu werden, aber eines, das w i r tief in unserem Innern als essenziell notwendig erkennen k ö n n e n . Eine halbe Stunde später zogen sie sich an, ohne sich die Zeit zum Abtrocknen zu nehmen, und kehrten zurück. Sie sprachen wenig und schwiegen fast den gesamten Weg über. Elisa ahnte, dass ihre Freundschaft eine andere Stufe erreicht hatte, tiefer geworden war, und sie nicht mehr den Kitt der Worte b e n ö t i g t e n , um zu halten. Von diesem Punkt an liefen die Dinge besser für sie. Elisa arbeitete wieder im Labor an ihren Berechnungen. Die Tage vergingen, ohne dass sie es recht merkte, bis sie an jenem fünfzehnten September, einem Déjà-vu gleich, Blanes von neuem beim Musizieren unterbrach, ihr Resultat in der Hand. Bis auf die letzten Dezimale war dieselbe Zahl herausgekommen wie vorher.
Die neue >Jerusalem-Energie< lag zwei Tage später vor. Nun mussten sie nur noch warten, bis Craig und M a r i n i den Teilchenbeschleuniger justiert hatten. Am Donnerstag, den vierundzwanzigsten September, fand sich schließlich das komplette Team im Kontrollzentrum ein - dem so genannten Thronsaal, wie M a r i n i i h n nannte -, einem weitläufigen Zimmer von fast dreißig Metern Breite und vierzig Länge, das Herzstück der Prêt-à-porterArchitektur von New Nelson. Im Gegensatz zu den Baracken bestand der Raum aus Backstein und Zement und war m i t nicht leitendem Isoliermaterial ummantelt. D a r i n standen die vier leistungsfähigsten Rechner und der Supraconducting Supercollider, der Beschleuniger SUSAN also, das Lieblingskind von Col i n Craig, ein s t ä h l e r n e r D o n u t m i t einem Durchmesser von fünfzehn Metern, der Ring eineinhalb Meter dick und umgeben von den Magneten, die das Feld zur Beschleunigung der geladenen Teilchen erzeugten. SUSAN war das technologische Meisterwerk des Zickzack-Projekts: Im Unterschied zu den meisten G e r ä t e n seiner A r t g e n ü g t e n n ä m l i c h ein bis zwei Personen, um
SUSAN zu bedienen u n d die schier endlosen Einstellungen daran vorzunehmen. Zwar war die damit erzielte Energiemenge nicht g r o ß , doch ausgesprochen exakt. Zu SUSANs Seiten führten zwei T ü r e n m i t Totenkopfschildern zu den Generatorenkammern der Station. Mittels einer Treppe, die durch die linke Kammer zu erreichen war, konnte man ü b e r den D o n u t h i n ü ber in dessen Mitte steigen, u m , wie M a r i n i es m i t dem Charme des mediterranen Frauenhelden a u s z u d r ü c k e n pflegte, >in die Intimzone unseres M ä d c h e n s vorzudringen^ Craig saß vor den Bildschirmen für die Messdaten und machte sich eifrig an das Eingeben der Koordinaten für zwei Gruppen von Satelliten, welche die Bilder des Nahen Ostens aufnehmen u n d in Echtzeit nach New Nelson z u r ü c k s c h i c k e n sollten (die Strings ließen sich nur in Echtzeit öffnen - m i t >frischem Lichts wie der einfallsreiche M a r i n i es nannte, jede Lagerung vernichtete die Ergebnisse). Das ausgewählte Gebiet umfasste etwa vierzig Quadratkilometer und war für beide Experimente mehr oder weniger dasselbe. So ließen sich Bilder von Jerusalem anfertigen und von der Region des damaligen Gondwana, des Megakontinents von vor hundertfünfzig Millionen Jahren, gebildet aus dem heutigen Südamerika, Afrika, der indischen Halbinsel, Australien und der Antarktis. Nachdem die Bilder eingetroffen waren, wurden sie von den Computern identifiziert u n d eine Auswahl daraus getroffen, worauf Craig und M a r i n i SUSAN in Gang brachten, also die betreffenden E l e k t r o n e n b ü n d e l beschleunigten und m i t der vorgesehenen Energie abschössen. W ä h r e n d dieses Vorgangs beobachtete Elisa die Mienen ihrer Kollegen. Allen gleich waren Anspannung u n d Neugier, doch wies jede Eigenarten auf: Bei Craig war es wie immer Z u r ü c k h a l tung, bei M a r i n i Frohlocken, bei Clissot Reserviertheit, bei Cher y l Ross mischten sich Undurchdringlichkeit u n d Sinn für das Praktische, bei Silberg war es Besorgnis u n d bei Blanes Erwartung. Valente sah aus, als ginge ihn das alles nichts an, Nadja freute sich, und Rosalyn schaute Valente an. »Fertig«, sagte C o l i n Craig u n d erhob sich von seinem Platz
vor der Tastatur. »ln vier Stunden wissen wir, ob es etwas zu sehen gibt.« »Wer an etwas glaubt, sollte beten«, ergänzte M a r i n i . Sie beteten nicht. Vielmehr stürzten sie sich ausgehungert auf das Mittagessen, das kurz u n d einfach ausfiel. W ä h r e n d sie auf die Auswertung der Bilder harrten, musste Elisa an den glückseligen Nachmittag zwei Wochen zuvor denken und lächelte insgeheim bei der Vorstellung, dass ihre Freundin ihr privater >Beschleuniger< gewesen war: Nadja hatte ihr die Kraft gegeben, sich zu öffnen und zu entdecken, dass sich ihr A r beitseifer noch um einiges steigern ließ. Sie freute sich bei der Aussicht, andere Nachmittage wie diesen zu erleben, solange sie sich auf der Insel aufhielt. Erst später sollte ihr klar werden, dass jener Ausflug das letzte glückliche Erlebnis sein sollte, bevor die Finsternis alles ü b e r schattete.
»Es gibt Bilder.« »Aus beiden Versuchsanordnungen?« »Ja.« Blanes brachte jeden weiteren Kommentar m i t einer Handbewegung zum Schweigen. »Das erste entspricht drei, vier isolierten Strings von einer Stelle des Festlands zu einer ungefähr viertausendsiebenhundert Billionen Sekunden zurückliegenden Zeit der Vergangenheit. Also vor hundertfünfzig M i l l i o n e n Jahren.« »Jura«, murmelte Jacqueline Clissot wie in Trance. »Genau. Aber die beste Nachricht k o m m t noch. Sag du es i h nen, Colin.« C o l i n Craig, der auch in diesen aufreibenden Stunden m i t Hemd und Jeans ganz Dandy blieb, rückte seine Brille zurecht und sah Jacqueline Clissot an, als wollte er sie zum Essen einladen. »Der statistischen Auswertung zufolge gibt es mächtige Lebewesen.« Die Software zur Digitalisierung der Bilder war so program-
miert, dass sie von sämtlichen Objekten Formen u n d Bewegungen errechnete, um so das Vorhandensein von Lebewesen anzeigen zu k ö n n e n . Für einen Augenblick verschlug es allen die Sprache. Dann geschah etwas für Elisa Unvergessliches. Clissot, eine atemberaubende, eine umwerfende Frau - >perfekt< lautete Nadjas Definit i o n -, deren Aufmachung den seltsamen Eindruck h i n t e r l i e ß , dass sie mehr Metall am K ö r p e r trug als Textilien (allerdings nicht nach A r t von Ross, sondern aus Stahl: Halskette, Uhr, A r m b ä n d e r und Ringe), schnappte nach Luft, bevor sie buchstäblich aufheulte: »Dinos ...« Nadja u n d Clissot fielen einander inmitten des erneuten Beifalls in die Arme. Da hob Blanes die Hand, um das Jubelgeschrei zu beenden. »Das andere Bild zeigt Jerusalem vor etwas mehr als zweiundsechzigtausend Millionen Sekunden. Unser Rechner datiert es auf A n fang April des Jahres dreiunddreißig unserer Zeitrechnung ...« »Der hebräische Monat Nisan.« M a r i n i zwinkerte Reinhard Silberg zu, und aller Augen richteten sich auf den deutschen Professor. »Es w i r d ebenfalls Leben gemeldet«, sagte Blanes. »Erheblich kleinere Lebensformen. Der Rechner hat ermittelt, dass es sich m i t einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Komma fünf Prozent um Menschen handelt.« Diesmal gab es keinen Applaus. Die Erregung, die Elisa erfasste, war fast ausschließlich körperlich: ein Beben, das aus dem Mark ihrer Knochen zu stammen schien. »Ein oder mehrere Personen gehen durch Jerusalem, Reinhard«, präzisierte Craig. »Ein oder mehrere abgerichtete Affen, wenn es sich um die verbliebenen null Komma fünf Prozent handelt«, grinste M a r i n i , und Craig machte vorwurfsvoll: »Pst!« Silberg, der die Brille abgesetzt hatte, musterte schweigend einen nach dem anderen, als wollte er sie davor warnen, mehr Freude zu empfinden als er selbst.
Nach einem kurzen, enthusiastischen U m t r u n k m i t echtem Champagner (den Frau Ross aus dem Vorratskeller gezaubert hatte) versammelten sich alle im Vorführsaal. » N e h m e n Sie Ihre Plätze ein, meine Damen und Herren!«, rief M a r i n i . »Vorwärts, ein wenig Beeilung! Le vite son cortel, wie schon Dante sagte! Le vite son cortel« »Alle auf ihre Plätze!« Frau Ross klatschte in die H ä n d e . »Die Sicherheitsgurte anlegen!« Ein fast feierliches Stühlerücken folgte, ein >Kann ich mich zu dir setzen?< und das Herbeirufen desjenigen, den man in dem Augenblick am liebsten nahe bei sich wissen wollte, in dem die Lichter gelöscht wurden. Als wären wir im Begriff, einen Horrorfilm anzuschauen, dachte Elisa. Cheryl Ross sorgte für Ordnung, forderte jeden, der noch ein Sektglas in der Hand hatte, auf, dies zu leeren und in die Küche zu bringen, was natürlich Anlass zu erneuten Witzeleien gab - »zu Befehl, Frau Ross«, sagte M a r i n i , und: »Sie flößen m i r mehr Respekt ein als Herr Carter, Frau Ross« - und zu einer nochmaligen Verzögerung. Elisa setzte sich neben Nadja in die zweite Reihe. Blanes hatte bereits zu sprechen b e g o n n e n . » . . . ich weiß nicht, was uns auf dieser Leinwand erwartet, Freunde. Ich habe keine Ahnung, was wir zu Gesicht bekommen werden, und auch nicht, ob es uns gefallen wird. Genauso wenig weiß ich, ob uns die Bilder etwas Neues enthüllen oder bereits Bekanntes zeigen. Nur eines kann ich euch versichern: Dies ist der g r ö ß t e Augenblick meines Lebens. Und dafür m ö c h t e ich euch Dank sagen.« »Reinhard, bitte, ich w e i ß , dass du gerne eine Rede halten möchtest, aber heb dir das bitte für nachher auf«, bat M a r i n i , als der g e r ü h r t e Applaus verstummte. »Colin?« Craig, der im Hintergrund die Tastatur des Rechners bediente, hob den Daumen. »Alles bereit, Chef«, sagte er scherzhaft. »Kann ich die Lichter löschen?« Das letzte Bild, das Elisa sah, bevor sich die Dunkelheit wie m i t eisernen Lidern ü b e r ihre Augen senkte, war Reinhard Silberg, der sich bekreuzigte.
U n d plötzlich, ohne recht zu wissen, w a r u m , w ü n s c h t e sie sich, niemals nach New Nelson gekommen zu sein, nie die Einstellungspapiere unterschrieben u n d nie m i t ihren Berechnungen ins Schwarze getroffen zu haben.
17
»Warum?« »Weil Geschichte keine Vergangenheit ist. Geschichte ist bereits geschehen, aber Vergangenheit geschieht in diesem Moment. Wenn dieser Tisch nicht irgendwann von einem Schreiner gezimmert worden wäre, dann wäre er hier und jetzt nicht vorhanden. Wenn Griechen oder Römer nicht gelebt hätten, dann gäbe es weder dich noch mich, jedenfalls nicht so, wie wir sind. Und wenn ich vor siebenundsechzig Jahren nicht geboren worden wäre, dann säße jetzt nicht das hübsche, fünfzehnjährige Mädchen vor mir, das du bist. Vergiss das niemals: Du bist, weil andere vor dir waren.« »Aber du bist doch nicht Vergangenheit, Großvater.« »Natürlich b i n ich das, genauso wie deine Eltern . . . und sogar du bist deine eigene Vergangenheit, Elisa. Was ich damit sagen will ist, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart erschafft. Sie ist nicht einfach >Geschichte<, sondern etwas, was passiert, und zwar genau in diesem Augenblick. W i r k ö n n e n es weder sehen noch fühlen noch verändern, aber es begleitet uns immerfort wie ein Geist. U n d es befindet ü b e r unser Leben und vielleicht auch ü b e r unseren Tod. Weißt du, was ich manchmal denke? Es mag ein seltsamer Gedanke sein, aber du bist intelligent und begreifst diese ganze kniffelige Mathematik, du wirst mich verstehen. Manchmal h ö r t man die Leute fast ängstlich sagen: >Die Vergangenheit ist nicht tot.< Aber weißt du, was mir am meisten Angst
macht, Eli? Nicht die Tatsache, dass die Vergangenheit nicht tot ist, sondern dass sie in der Lage ist, uns zu töten ...«
Die Schwärze wurde zu Blut. Eine dickflüssige, beinahe zähe Farbe, die die Augen blendete. »Es ist kein Bild da«, sagte Blanes. »Aber der Rechner zeigt nicht an, dass es zerschossen worden wäre«, meldete sich Craig aus dem Hintergrund. Ein Aufschrei ließ alle zusammenfahren. Die herausgepressten Worte hallten im Raum wider: »Mein Gott, doch, da ist ein Bild! Seht ihr es denn nicht?« Jacqueline Clissot saß in der ersten Reihe, es hielt sie nur noch auf der vordersten Stuhlkante. Sie beugte sich vor, als wollte sie in die Leinwand kriechen. Elisa stellte fest, dass Jacqueline Clissot Recht hatte: Das rote Licht im Z e n t r u m blieb zwar undurchdringlich, aber rundher u m lag so etwas wie ein Halo. Was es war, wurde erst sichtbar, als sich der Blickpunkt der Kamera einige Sekunden später verschob. »Die Sonne! Es ist die Sonne! Sie spiegelt sich im Wasser!«, rief Clissot. Der Fokus wanderte weiter, und nach dem Wechsel der Einstellung war die Helligkeit weniger s t ö r e n d , so dass man im u n teren Teil die dunkle Linie eines geschwungenen Ufers erahnte. Die Farbe bestand aus lauter Rotabstufungen, aber es war etwas Längliches, G e k r ü m m t e s dort zu erkennen. Elisa hielt die Luft an. Wenn sie Recht hatte, dann handelte es sich um die merkwürdigsten Geschöpfe, die sie je erblickt hatte. Sie kamen ihr vor wie Riesenschlangen. Clissot v e r k ü n d e t e jedoch, es handle sich um B ä u m e . »Ein Wald im Jura. Das m ü s s t e Schachtelhalm sein. Oder Baumfarn. Mein Gott, das sieht ja alles aus, als wäre es kilometerhoch! U n d die Pflanzen, die da auf dem Teich, oder was auch immer, schwimmen ... Riesen-Amphibien-Bärlapp?« »Die Palmen sind Cycadaceae, also aus der Familie der Palm-
farne«, mischte sich nun Nadja ein. »Aber sie sind scheinbar viel niedriger, als w i r vermutet hätten.« »Araukarien-Ginkgos . . . « , zählte Jacqueline Clissot weiter auf. »Das G r o ß e da hinten sind M a m m u t b ä u m e ... David, das Symbol für deine Theorie.« Die Aufnahme machte einen kleinen Satz zum n ä c h s t e n Zeit-String und zeigte den weiteren Verlauf des Ufers. »Warte, warte! Vielleicht ist einer der Äste da . . . Kann sein, dass ...« Die P a l ä o n t o l o g i n fuchtelte w ü t e n d m i t den A r m e n . »Colin, warum hältst du den verdammten Film nicht an?« »In dieser Phase ist es u n g ü n s t i g , die einzelnen Bilder anzuhalten«, erklärte Craig. Noch ein Schnitt. Da waren sie. Als sie auftauchten, fuhren Blanes, Nadja und Jacqueline Clissot von ihren Stühlen hoch und nötigten die anderen dadurch, es ihnen nachzutun, als handelte es sich um das ergreifendste Filmdokument aller Zeiten, das einem begeisterten Publikum vorgeführt wurde. »Die Haut!«, h ö r t e Elisa in der Reihe hinter sich keuchen. Valente war die Bemerkung auf Spanisch herausgerutscht. »Ist das seine Haut?«, schrie Sergio M a r i n i im gleichen M o ment. Es bot sich ihnen in der Tat ein sonderbares Schauspiel: Die Nacken- und Rückenmuskeln glichen Schmucksteinen, riesigen Faberge-Eiern, und waren wie Übergossen von Edelsteinen, die in der Sonne glitzerten. Sie funkelten so stark, dass es M ü h e kostete, sie anzuschauen. Eine solche Schönheit hatte sich Elisa nie und nimmer e r t r ä u m t , auch hatte keiner sie auf diesen Anblick vorbereitet. Und sie glaubte zu begreifen, dass diese Urtiere ausgestorben waren, weil etwas so Prächtiges neben den Menschen nicht bestehen konnte. Es waren zwei, sie standen reglos da, w ä h r e n d die Kamera von oben auf sie gerichtet war. W ä h r e n d Elisa die massiven Schädel und die langen Leiber betrachtete, ging ihr ein sonderbarer Gedanke durch den Sinn: Sie hatten etwas m i t ihr zu t u n und wa-
ren gar keine Tiere, sondern T r ä u m e , die sie irgendwann einmal geträumt hatte (Traumteufel, dachte sie, wegen der H ö r n e r ) ; ihre Kollegen waren also gerade in den Anblick ihrer eigenen innersten Gedanken vertieft. Die Aufnahme wechselte wieder zu einer anderen Szene: Der eine hatte sich zum Ufer bewegt, und man konnte seinen Schwanz sehen, der in einer beachtlichen Spitze auslief und rot gesprenkelt war. Jacqueline Clissot gestikulierte w i l d und schrie etwas auf Französisch. Sie führte sich auf wie eine Präsidentschaftskandidatin beim letzten Wahlkampfauftritt. »Antennen! Wie hätten wir das ahnen können? Nein, warte! Einziehbare H ö r n e r . . . ?«
»Wie viele Zehen hatten sie? Hat jemand sie gezählt? Vielleicht waren es Megalosaurier . . . Nein, das kann nicht sein, wegen der Höcker ... Waren es Allosaurier? Ich bin so gut wie sicher. Sie haben Aas gefressen . . . Nadja, w i r m ü s s t e n nachschauen, was sie gefressen haben! Aber diese Antennen! Meine Güte!« Jacqueline Clissot stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und sprudelte wie ein Wasserfall. Seit sie die Bilder gesehen hatten, redete sie ohne Punkt und Komma. »Federn auf dem Schwanz und Antennen auf dem Kopf! Die Schädel der Allosaurier weisen kreisförmige Spalten auf, die der Wissenschaft seit jeher Rätsel aufgeben ... Ein Geschlechtsmerkmal, hat man angenommen. Niemand wäre darauf gekommen . . . Niemand hätte je geahnt, dass es eine A r t einziehbarer H ö r n e r waren, wie bei den Schnecken! Was sie wohl für eine Funktion hatten? Vielleicht ein Geruchsorgan oder Fühler, um sich im Urwald zurechtzufinden . . . Und die Federn sind der Beweis, dass sie ein sehr viel komplizierteres Balzverhalten kannten, als wir je vermutet hätten. Wie sollten w i r auch? Ich bin so aufgeregt. Ich brauche sofort ein Glas Wasser ...« Schon kam Frau Ross damit herbeigeeilt, bahnte sich einen Weg zwischen Silberg u n d Valente. Das Licht brannte wieder, und Elisa fand es unfassbar, dass die soeben betrachteten Bilder
in diesem schäbigen Saal an die Wand projiziert worden waren, in diesem Heimkino aus Fertigbauteilen und m i t Plastikstühlen möbliert. »Wie k o m m t diese schimmernde Haut nur zustande?«, fragte Marini. »Wie schade, dass man die Originalfarben nicht sehen k a n n « , beklagte Cheryl Ross. »Die R o t f ä r b u n g war so stark«, erläuterte Blanes, »weil die r ä u m l i c h e Entfernung dieser Zeit-Strings hundertfünfzig M i l lionen Lichtjahren e n t s p r i c h t . . . « »Es gibt so viel, was w i r nicht wussten.« Die Paläontologin hatte das Glas in einem Zug geleert u n d wischte sich m i t dem H a n d r ü c k e n den M u n d ab. »So v i e l . . . Die Fossilien geben hauptsächlich Aufschluss ü b e r den Knochenbau. W i r wussten zwar, dass es auch gefiederte Flugdinosaurier gab . . . von ihnen stammen schließlich die Vögel ab. Aber niemand hätte gedacht, dass auch so g r o ß e Exemplare Federn hatten ...« »Fleisch fressende Riesenhühner«, bemerkte M a r i n i und lachte nervös. »Mein Gott, David, David!« Clissot umarmte Blanes so stürmisch, dass dieser verdutzt dreinschaute. »Wir sind alle ü b e r g l ü c k l i c h « , fasste Frau Ross ihre Gefühle zusammen. Nicht alle. Elisa konnte nicht genau definieren, was sie empfand. Sie nahm eine A r t Sog wahr, einen Druck, der den Mittelpunkt i h rer Schwerkraft verschob, so dass sie nahe daran war, zu Boden zu gehen. Es war ein Schwindelgefühl, aber nicht nur k ö r p e r l i cher A r t , auch ihr emotionales u n d sogar ihr moralisches Gleichgewicht schienen b e e i n t r ä c h t i g t . Sie wollte Jacqueline Clissots A u s f ü h r u n g e n weiter folgen, fühlte sich aber dazu nicht i m stande. Sie lehnte sich an eine Wand. Irgendetwas sagte ihr, dass sie sich von dieser Kraft nicht besiegen lassen dürfe, sonst w ü r d e sie in einen A b g r u n d stürzen; nur wenn sie sich aufrecht hielt, w ü r d e sie sich retten k ö n n e n .
Wir sind nicht alle überglücklich. Sie hatte es gespürt, als sie Nadja umarmte. Und ebenso, als sie auf Rosalyn und Craig zugegangen war. Jacqueline Clissot schien m e r k w ü r d i g e r w e i s e bei aller Aufregung relativ ausgeglichen, und um Valente stand es ähnlich. Der Impact. Diesmal hat er uns erwischt. W ä h r e n d das übrige Team feierte, versuchte Silberg schwitzend (aber scheinbar unfähig, seine Krawatte abzulegen), sich m i t seiner kräftigen Stimme G e h ö r zu verschaffen. »Alle mal herh ö r e n ... W i r haben ganz den Impact und seine Folgen vergessen. Sagt mir doch bitte, wie es euch gerade geht.« Liebend gerne wäre Elisa dieser Aufforderung nachgekommen, aber sie war nicht dazu in der Lage. Als sie Blanes' forschende Blicke bemerkte, verließ sie fluchtartig den Vorführsaal durch den Seitenausgang. In ihrem Zimmer angelangt, schloss sie sich im Badezimmer ein. Sie verspürte den Drang, sich zu übergeben, brachte aber nur ein trockenes W ü r g e n zustande. Das Bad schien zu schwanken. Elisa hielt sich an den W ä n d e n fest, wie auf einem unbemannten Schiff den Wellen preisgegeben. Sie wusste, sie w ü r d e sich nicht auf den F ü ß e n halten k ö n n e n , deshalb ging sie hinunter auf die Knie und suchte am Boden Halt. Als sie auf der Metallplatte aufkam, fuhr ihr ein stechender Schmerz durch die Knie. M i t h ä n g e n d e m Kopf blieb sie eine Weile auf allen vieren, als wartete sie, dass jemand k ä m e und sich ihrer a n n ä h m e . Nein, nein, es soll niemand kommen, sie sollen mich nicht so sehen! Dann war plötzlich alles vorbei. Genauso schnell, wie sich ihr Zustand verschlechtert hatte, war der ganze Spuk vorbei. Sie stand auf und wusch sich das Gesicht. Jetzt erkannte sie sich im Spiegel wieder. Das war sie, nichts war passiert. Was für seltsame Gedanken sich wie Spinnen in i h rem H i r n eingenistet hatten. Sie verstand gar nichts mehr. Nur dies: Um nichts in der Welt wollte sie die nächste Vorführung verpassen.
Es handelte sich um eine Stadt, an der an sich nichts U n g e w ö h n liches war: groß, aus Steinen gebaut, schlicht. Dennoch war Elisa, ebenso wie bei den Dinosauriern, geradezu verzaubert von i h rer Schönheit. Die Formen schienen eine A r t Sehnsucht auszud r ü c k e n , die s c h ü t z e n d e Stadtmauer rundherum, die anmutig geschwungenen Straßen und Dächer, die Gestalt der T ü r m e , alles sprang ihr ins Auge, als wäre es von u n s c h ä t z b a r e m Wert. Eine wahr gewordene, urwüchsige Schönheit, fern der Welt, in der sie lebte. War denn früher alles so schön gewesen - Gegenstände, Städte u n d Tiere? Oder war inzwischen alles so hässlich geworden? Sie nahm an, dass dieser Eindruck nicht unschuldig war am A u s m a ß des Impact: die Sehnsucht nach der verlorenen Schönheit. »Der Tempel... die Säulenhalle des Salomon ist nicht zu sehen ...« Silberg spielte in der Finsternis den F r e m d e n f ü h r e r . »Die Burg Antonia am Tempelplatz ... Das da d r ü b e n muss das P r ä t o r i u m sein, Rosalyn. Es ist verwirrend, nicht wahr? Alles ist so ... neu. Ich sage ganz bewusst: neu. Das halbkreisförmige Geb ä u d e ist jedenfalls ein Theater . . . Was h ä n g t denn dort in den Fenstern?« »Römische Fahnen«, sagte Rosalyn verdrießlich. Elisa hielt die Luft an. Sie wusste, dass sie Ihn nicht sehen w ü r den. So viel Glück würden sie nicht haben. Es wäre, wie eine Stecknadel in einer M i l l i o n leerer Heuschober zu finden. Silberg sagte, dass es wahrscheinlicher sei, Ihn am Kreuz zu sehen als auf dem Weg durch die Straßen. I m m e r h i n hatten Reiter u n d er m i t dem Computer ermittelt, dass sein bei den Synoptikern e r w ä h n t e r Todestag dem 15. Tag Nisan entsprach, dem 14. im Johannes-Evangelium. Silberg p l ä d i e r t e , sich nach der A n gabe bei Johannes zu richten, für einen Freitag i m April. Pontius Pilatus habe nach unserer Zeitrechnung zwischen dem Jahr 26 u n d dem Jahr 36 regiert, weshalb als mögliche Daten der 7. A p r i l 30 oder der 21. A p r i l 33 i n Frage k ä m e n . Aber es gebe noch einen anderen Anhaltspunkt: Sejan, Befehlshaber der P r ä t o r i a n e r in Rom und Verfechter einer harten Hand im Umgang m i t den
Juden, sei im Jahr 31 verstorben. Da Kaiser Tiberius diese Polit i k nicht u n t e r s t ü t z t habe, k ö n n e dies erklären, weshalb Pilatus schwieg, als es darum ging, den hebräischen Schreiner zu verurteilen, falls Jesus nach Sejans Tod gekreuzigt worden sei. Damit sei das Jahr 33 am wahrscheinlichsten. Silberg und Reiter hatten den Zeitpunkt eng eingegrenzt; sie w ü r d e n darauf >wetten<, hatte Silberg gesagt: auf alle Apriltage vor dem 21. des Jahres 33. »Er war zwar nur ein Einzelner in einer Stadt m i t siebzigtausend Einwohnern, aber er verursachte einigen Aufruhr. V i e l leicht . . . lässt sich indirekt etwas erkennen ... an den Bewegungen der Leute oder so ...« Aber es war nirgends jemand zu sehen. Die Stadt schien menschenleer. »Wo sind die denn alle?«, wollte M a r i n i wissen. »Der Rechner gibt an, dass jemand da sein muss ...« »Wir haben noch weitere Zeit-Strings geöffnet, Sergio«, bemerkte Craig. »Und w i r wissen nicht, zu welchem Zeitpunkt dieser hier genau gehört. Vielleicht sind die Leute ...« Beim Ü b e r g a n g zur nächsten Aufnahme hielt Craig inne. Die Kamera folgte einer abschüssigen S t r a ß e , dann wechselte das B i l d zu einem anderen Zeit-String. Plötzlich war es grabesstill im Saal. Den linken Bildrand nahm eine unbewegte Silhouette ein. Sie war in schwarzes Tuch gehüllt u n d trug eine A r t Schleier ü b e r dem Kopf, in der Hand hielt sie etwas Weißes, vielleicht einen Korb. Selbst mithilfe des Zooms konnte man sie nicht genau erkennen, weil die Auflösung teilweise zu grob war. Inmitten der sie umgebenden Helligkeit wirkte sie irgendwie b e ä n g s t i g e n d : ein diffuser, schwarzer Schatten. Dennoch ließ das Aussehen der Gestalt keinen Zweifel zu. »Eine Frau«, sagte Silberg. Elisa u n t e r d r ü c k t e ein Frösteln. Sie dachte, dass sie in diesem Moment nicht einmal die Augen hätte abwenden k ö n n e n , wenn ihr jemand gedroht hätte, m i t g l ü h e n d e n Brenneisen die A u g ä p -
fel auszubrennen; und erst recht konnte sie die Aussicht auf die Auswirkungen eines neuerlichen Impact nicht abschrecken. Sie nahm das Bild ganz tief in sich auf, verschlang es gierig, m i t tränenfeuchten Augen. Der erste leibhaftige Mensch aus der Vergangenheit. Da stand sie ganz still auf der Leinwand vor ihnen. Eine echte Frau, die tatsächlich vor zweitausend Jahren gelebt hatte. Wo mag sie hingehen? Z u m Markt? Was hat sie in ihrem Korb? Ob sie wohl Jesus bei einer Predigt erlebt hat? Ob sie gesehen hat, wie er auf dem Rücken eines Esels in die Stadt einzog, einen Palmwedel in der Hand? Die Aufnahme wechselte m i t einem Satz zu einem anderen String, wobei die Gestalt gleichfalls mehrere Meter zu springen schien. Jetzt befand sie sich in der Mitte der Leinwand, verharrte reglos in dunkle T ü c h e r gehüllt, aber ihre Haltung verriet, dass sie von oben >fotografiert< worden war, w ä h r e n d sie der steilen Straße von links nach rechts gefolgt war. Noch einmal ein Sprung. Diesmal v e r ä n d e r t e die Figur ihre Position nicht. Hatte sie innegehalten? Der Rechner nahm einen automatischen Z o o m vor, fokussierte die obere Bildhälfte. Silberg, der zu erneuten E r k l ä r u n g e n angesetzt hatte, unterbrach sich jäh. Dann geschah etwas, was Elisa den Atem verschlug. Nach einem weiteren Schnitt hatte die Figur eine Vierteldrehung gemacht und schien m i t aufwärts gewandtem Gesicht d i rekt in die Kamera zu schauen. Als wollte sie das Team ansehen. Aber das war nicht der Grund, weshalb der ganze Saal aufzuschreien schien, weshalb im Dunkeln Stühle gerückt wurden und ein plötzlicher Aufruhr herrschte. Der Grund waren ihre Gesichtszüge.
Blanes bewahrte als Einziger die Ruhe und blieb auf der Tischkante hocken. I h m g e g e n ü b e r stand M a r i n i u n d spielte m i t einem Filzstift wie ein Z a u b e r k ü n s t l e r , der gerade seinen Lieblingstrick vorführt. Jacqueline Clissot trommelte auf den Tisch.
Valente war ans Fenster getreten und hatte den Vorhang beiseite gezogen. N u n schien er in die Betrachtung der Insel vertieft, aber seine Nervosität ließ sich nicht verbergen: Er trat ständig von einem F u ß auf den anderen. Craig u n d Ross nutzten jeden Vorwand - Gläser einsammeln oder herbeibringen -, um zwischen K ü c h e u n d Speisesaal h i n - und herzulaufen. Silberg gebärdete sich auch ohne Vorwand wie ein Stier in einem zu kleinen Pferch. Elisa saß vor M a r i n i und musterte sie alle der Reihe nach, achtete auf jedes Detail, registrierte jede einzelne Geste. Das half ihr beim Denken. »Es muss eine Krankheit sein«, sagte Silberg. »Vielleicht Lepra. Die Seuche war damals weit verbreitet u n d hatte verheerende Folgen. Jacqueline, was meinen Sie?« »Ich müsste m i r das Bild noch einmal genauer ansehen. M ö g licherweise handelt es sich um Lepra, aber . . . M e r k w ü r d i g ...« »Was?« »Dass die Augen u n d g r o ß e Teile des Gesichts gefehlt haben, sie sich aber trotzdem so fortzubewegen schien, als k ö n n t e sie alles sehen.« »Jacqueline, verzeihen Sie, w i r wissen nicht, wie sie sich fortbewegt hat.« Craig baute sich vor ihr auf. »Die Bilder sind gehüpft. Dazwischen kann jeweils eine Spanne von zwei bis fünfzehn Sekunden liegen. W i r wissen nicht, ob u n d wie sie gehen konnte.« »Verstehe«, nickte Jacqueline, »aber das A u s m a ß der Zerstörung kam m i r für die üblichen Lepraformen zu großflächig vor. Obwohl, na ja, damals ...« »Du hast von sehen geredet«, unterbrach M a r i n i sie. »Da fällt m i r ein, dass es doch gar nicht möglich war, dass sie uns . . . ansieht? Trotzdem kam es m i r so vor. Hattet ihr auch den Eindruck?« »Sie hatte keine Augen«, stellte Valente fest und s c h ü r z t e die Lippen. »Ich meine ja auch nur, dass es m i r vorkam, als w ü r d e sie uns voraussehen ...«
»Dieses >voraus< umfasst i m m e r h i n zweitausend Jahre. Ein ziemlich langes >voraus<, finden Sie nicht?« »Sie hat uns nicht vorausgesehen, Sergio«, mischte sich n u n Silberg ein. »Das ist uns nur so vorgekommen. Es ist v o l l k o m men unmöglich.« »Das weiß ich ja, ich meine nur ...« »Die Sache ist die«, schnitt i h m Silberg das Wort ab, »dass w i r sehen, was w i r sehen wollen. W i r dürfen den Impact nicht vergessen. Der macht uns für E i n d r ü c k e empfänglicher.« Ein Schatten rückte in Elisas Blickfeld: Rosalyn. Arme Rosalyn. Wie geht es dir? Sowohl Nadja als auch Rosalyn hatten sich z u r ü c k g e z o g e n , um sich auszuruhen, nachdem die Jerusalemszene nervöse Reaktionen bei ihnen hervorgerufen hatte. Nadja war in einen hysterischen Weinkrampf ausgebrochen, w ä h r e n d die Historikerin geradezu versteinert gewesen war. Niemals w ü r d e Elisa Rosalyn Reiters Anblick vergessen, als das Licht anging. Stocksteif stand sie da, die Arme eng an den Körper gepresst, wie eine atmende Statue. Der Unterschied war der: Nadja sah verängstigt aus, Rosalyn beängstigend. Diese Aura war immer noch um sie, als sie jetzt den Speisesaal betrat u n d dann abrupt stehen blieb, wie ein D i e n s t m ä d c h e n , das auf Anweisungen wartet. »Rosalyn, wie geht es dir?«, fragte Silberg. »Besser«, lächelte sie. »Besser, wirklich.« Sie drehte den Kopf nach Valente u m , der ihr als Einziger keinen Blick g ö n n t e . Dann ging sie weiter in die Küche. Durch die offene T ü r konnte Elisa beobachten, wie sie sich die kurzen H o sen glatt strich und dann m i t der Hand ü b e r Gesicht u n d Haare fuhr, als überlegte sie, was sie als Nächstes t u n wollte. »Wir brauchen eine Methode, um die Folgen des Impact zu messen«, regte Blanes an. »Ich b i n gerade dabei, einen psychologischen Test auszuarbeiten«, sagte Silberg. »Aber sicherlich w i r d es nicht m i t einem Fragebogen getan sein. Vielleicht k ö n n e n w i r sämtliche Folgen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehen. Die W i r k u n g kann
auch verzögert eintreten wie bei Schleichwerbung: Es bleibt etwas hängen, das uns erst im Nachhinein beeinträchtigt. W i r wissen nicht genug darüber, und w i r k ö n n e n auch noch nicht alles wissen.« M i t einem Mal schien Leben in Frau Ross zu kommen. Sie ging zur Tür. »Ich will mal nach Nadja sehen«, sagte sie. Elisa nahm sich vor, ihnen bald zu folgen. Die Abwesenheit von Frau Ross hinterließ eine Lücke, wie ein Ventil, durch das die Anspannung aller kanalisiert wurde. Drauß e n vor dem Fenster, vor dem Valente stand, begann es wieder stark zu regnen. »Bitte lacht mich nicht aus, ich weiß, dass es absurd ist«, begann Jacqueline Clissot, »aber ich frage mich auch, wie Sergio gerade eben angedeutet hat, ob es nicht g e w i s s e r m a ß e n eine K o m m u n i k a t i o n zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart geben k ö n n t e ? Ich meine ... Warum sollte die Frau uns nicht irgendwie wahrnehmen können?« Elisa graute es allein bei der Vorstellung. »Ich weiß, ihr habt es m i r schon oft erklärt, aber ich begreife den physikalischen Vorgang der Öffnung der ZeitStrings immer noch nicht ganz genau. Wenn es so ist, dass w i r ein Loch bohren und dort hindurch in die Vergangenheit schauen, dann m ü s s t e n die Menschen von früher doch durch dasselbe Loch in die andere Richtung sehen k ö n n e n , oder?« Alle schwiegen. Blanes und M a r i n i wechselten einen raschen Blick, als wollten sie sich absprechen, wer antworten wollte. Oder wie die Antwort lauten sollte. »Es ist alles m ö g l i c h , Jacqueline«, sagte Blanes schließlich. »Den genauen physikalischen Vorgang, um deinen Ausdruck zu verwenden, kennt keiner von uns. W i r bewegen uns in einem so kleinteiligen Bereich, dass uns dessen Gesetze zum g r ö ß t en Teil noch verschlossen sind. Aus der Quantenphysik wissen wir, dass es das P h ä n o m e n der Wechselwirkung gibt, das heißt, dass Partikel Millionen von Kilometern voneinander entfernt sein k ö n nen und dennoch auf mysteriöse Weise in Bezug zueinander stehen. Wenn mit einem Teilchen etwas geschieht, dann sind die
anderen im selben Moment ebenfalls davon betroffen. Im Falle der Zeit-Strings glauben wir, dass die zeitliche Distanz ein entscheidender Faktor ist, der eine Wechselwirkung verhindert. Das ist auch der Grund, weshalb w i r keine Experimente mit der j ü n geren Vergangenheit durchführen.« »Ich fürchte, ich habe nicht z u g e h ö r t , als das im Physikunterricht durchgenommen w u r d e « , schmunzelte Jacqueline Clissot. Blanes wollte sich gerade erheben, als i h m M a r i n i zuvorkam. »Ich habe die Kreide, Herr Lehrer.« Er trat vor die weiße Tafel, die an der Stirnseite des Saals hing, u n d zeichnete m i t dem Filzschreiber in der Linken eine horizontale Linie. M a r i n i pflegte seine Linkshändigkeit m i t einer gewissen Eleganz hervorzuheben. »Stell dir vor, das hier wäre die Zeit, Jacqueline. Hier, an diesem Ende, w ä r e der gegenwärtige Augenblick u n d an dem hier ein, sagen wir, tausend Jahre zurückliegendes Ereignis. Wenn wir den betreffenden Zeit-String öffnen, bilden w i r eine A r t Tunnel, auch W u r m l o c h genannt, eine Brücke aus Teilchen, die mindestens w ä h r e n d der Öffnung die Vergangenheit m i t der Gegenwart verbindet. Dasselbe passiert, wenn w i r die Strings von vor fünfhundert Jahren öffnen, nur w ä r e die Brücke zur Gegenwart in diesem Falle sehr viel kürzer, siehst du?«
Clissot nickte. Elisa fand das Beispiel sehr anschaulich. »Aber was passiert, wenn w i r Strings von vor siebzig Jahren öffnen? Nach unserer Zeichnung wäre die >Brücke< dann kürzer. U n d wenn w i r es m i t einer noch k ü r z e r z u r ü c k l i e g e n d e n Zeit versuchen w ü r d e n , beispielsweise einem Zeitpunkt von vor zehn oder fünf Jahren oder ... vor einem Jahr . . . « , Marini ergänzte die
Grafik. Die letzte Möglichkeit stellte er mit einer dicken vertikalen Linie dar. Die Zeichnung ließ keinen Zweifel offen.
»Verstehe«, sagte Clissot, »zum Schluss verschwindet die >Brücke<, und beide Ereignisse w ü r d e n eins.« »Genau: Das ist die Folge der Wechselwirkung.« Marini wies auf den dicken senkrechten Strich h i n . »Je k ü r z e r der zeitliche Abstand, desto wahrscheinlicher k o m m t es zu einer Interaktion m i t der Gegenwart. Es ist ein ganz grobes Schema, denn die Erklärung ist eigentlich eine mathematische Formel, aber ich glaube, es kann dir helfen, das Ganze besser zu verstehen.« »Ja, perfekt.« Ric Valente verließ seinen Platz am Fenster und ging in die Küche. Kurz darauf begannen Rosalyn und er, miteinander zu reden. Elisa konnte nichts verstehen. »Deshalb fühlen w i r uns sicher, wenn es um Ereignisse von vor fünfhundert oder tausend Jahren geht«, sagte Blanes, »aber eine Erfahrung wie die m i t dem Ganzen Glas wollen w i r nicht noch einmal machen ...« Es entstand eine kurze Pause. »Wieso? Ist beim Experiment mit dem Ganzen Glas etwas passiert, von dem w i r nichts wissen?«, fragte Jacqueline Clissot. »Nein, nein«, wehrte Blanes rasch ab. »Ich wollte nur damit sagen, dass wir dieses Risiko noch nicht einmal eingehen wollen.« Aus der Küche war ein Wortwechsel zu hören. Als sie sich u m sahen, lächelte Valente ihnen von der Türöffnung aus entgegen, w ä h r e n d Rosalyn puterrot angelaufen war und missmutig dreinschaute.
»Ein Disput unter F r e u n d e n « , sagte Valente und breitete hilflos die Arme aus. Dann tat sich die T ü r zum Speisesaal auf. Elisa rechnete m i t Nadja, oder vielleicht auch m i t Cheryl Ross, aber es war keine von beiden. Eine seit mehreren Tagen nicht mehr vernommene Stimme hallte im Saal wider. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«, fragte Carter.
»Wie geht es dir?« »Besser. Ich bin ruhiger.« In Nadja Petrovas Zimmer war es düster, denn nur eine kleine, batteriebetriebene Nachttischlampe spendete ein schwaches Licht. Elisa nahm an, dass Frau Ross, die sich gerade im Badezimmer zu schaffen machte, diese für Nadja besorgt hatte. Elisa war froh, die Freundin in einem sichtlich besseren Zustand anzutreffen u n d zu bemerken, welche Freude sie ihr mit dem Besuch bereitete. (Nadja gehörte nicht zu den Leuten, die mit Gefühlen hinterm Berg hielten.) Elisa setzte sich zu ihr aufs Bett. »Wenn nur die Lampen hier auch besser wären.« Die stets heitere Frau Ross kam m i t einer Trittleiter aus der Toilette. »Nicht nur die Birnen sind durchgebrannt, auch die Fassungen sind verschmort. Wann hast du gesagt, ist das passiert, Nadja? Letzte Nacht? Wie seltsam, in Rosalyns Zimmer war neulich dasselbe. Es m ü s s e n die Anschlüsse sein. Ich kann das jetzt nicht reparieren, tut m i r Leid.« »Kein Problem, ich werde m i r nachts m i t dem L ä m p c h e n hier behelfen. Danke.« »Keine Ursache, Kleines. Ich werde m i t H e r r n Carter sprechen. Ich glaube, von Elektrizität versteht er was.« Als Frau Ross die T ü r hinter sich geschlossen hatte, wandte Nadja sich Elisa zu u n d streichelte ihr zärtlich ü b e r den A r m . »Danke, dass du gekommen bist.« »Ich wollte vor dem Zubettgehen noch mal vorbeischauen u n d dir die neuesten Nachrichten bringen.«
Nadja runzelte ihre weiß schimmernden Brauen, als sie h ö r t e , was die Freundin ihr zu berichten hatte. »Carter hat uns gerade mitgeteilt, er habe über Satellit die Nachricht bekommen, dass ein Unwetter auf New Nelson zusteuert, ein Taifun, der M i t t e n ä c h s t e r Woche eintreffen soll, aber m i t dem Schlimmsten m ü s s e n w i r wohl Samstag und Sonntag rechnen. Der Regen jetzt ist erst der Anfang. Die gute Nachricht ist, dass w i r Zwangsurlaub bekommen. W i r dürfen weder SUSAN benutzen noch neue computergenerierte Bilder empfangen. Und sollte Ende der Woche der Hauptgenerator ausfallen und der Notgenerator in Betrieb genommen werden m ü s s e n , k ö n n e n w i r auch die Rechner nicht mehr hochfahren. Keine Sorge, D u m m chen«, beeilte sie sich hinterherzuschieben, als sie sah, was die Freundin für ein Gesicht zog. »Carter hat uns versichert, dass der Strom nicht a u s f ä l l t . . . « Aber ihr Lächeln verging, als Nadja anfing zu sprechen. Ihre Stimme klang, als w ü r d e ihr jedes einzelne Wort abgezwungen. »Die . . . Frau da . . . hat uns angeschaut, Elisa.« »Nein, Liebes, wie sollte sie?« »Und ihr Gesicht... als hätte man ihr die Züge m i t dem Messer abgeschabt, heruntergerissen ...« »Genug, Nadja ...« In einer Anwandlung von Mitgefühl schloss Elisa sie in die Arme. Eine Zeit lang verweilten die beiden in dieser Stellung und boten sich gegenseitig im halbdunklen Zimmer Schutz vor etwas, was sie nicht verstehen konnten. Dann löste Nadja sich aus der Umarmung. Das Rot ihrer A u gen hob sich noch deutlicher als sonst in dem bleichen Gesicht ab. »Ich bin Christin, Elisa, und habe in den Einstellungsunterlagen für diese Stelle angegeben, dass ich alles dafür t u n w ü r d e , Ihn ... einmal sehen zu k ö n n e n . Aber inzwischen b i n ich m i r nicht mehr sicher. Ich w e i ß nicht mehr, ob ich Ihn w i r k l i c h sehen will!« »Nadja«, Elisa legte ihr den A r m um die Schultern und strich ihr eine H a a r s t r ä h n e aus dem Gesicht. »Was du empfindest, ist zum g r ö ß t e n Teil auf den Impact z u r ü c k z u f ü h r e n . Dieses W ü r -
gen, dass du keine Luft bekommen hast, die Panik, die Vorstellung, dass das Ganze irgendetwas m i t dir zu tun h a t . . . M i r ist es beim Anblick der >Dinos< genauso gegangen. Es hat mich g r o ß e M ü h e gekostet, den Anfall zu ü b e r w i n d e n . Silberg hat gesagt, er wolle den Impact genauer erforschen, um herauszufinden, war u m der eine auf dieses und der andere auf jenes Bild reagiert. Aber wie auch immer, es ist ein psychologischer Effekt. Denk b l o ß nicht, dass du ...« Nadja weinte an ihrer Schulter, bis das Schluchzen wieder abebbte und nur noch das Surren der Klimaanlage und das Rauschen des Regens zu h ö r e n waren. O b w o h l sie die Freundin zu t r ö s t e n versuchte, konnte Elisa Nadjas Entsetzen sehr gut nachvollziehen: M i t oder ohne I m pact, das Bild der gesichtslosen Frau war verstörend gewesen. Als sie daran z u r ü c k d a c h t e , fröstelte sie unwillkürlich, und das Dunkle im Raum kam ihr plötzlich viel undurchdringlicher vor. »Aber dir haben die >Dinos< doch bestimmt gefallen, oder?«, wollte sie die Freundin in munterem Ton ablenken. » D o c h . . . das h e i ß t , auch nicht ganz. Dieser Glanz auf der H a u t . . . was habt ihr daran so schön gefunden? Er war eklig.« »Tja. D i r gefallen eben die Knochen besser als die Hülle.« »Schließlich bin ich Palä...«, Nadja kämpfte mit der spanischen Aussprache. »Paläontologin.« Sie lächelten. Elisa gab ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr ü b e r das w e i ß e Haar. Sie fand Nadjas weiches Puppenhaar sehr anziehend. »Jetzt versuch erst mal, dich auszuruhen«, schlug sie vor. »Ich glaube kaum, dass m i r das gelingen wird.« Die Angst stand Nadja ins Gesicht geschrieben. Ihre Züge waren nicht unbedingt als s c h ö n zu bezeichnen, aber so verzerrt erinnerten sie Elisa an das Antlitz einer Jungfer auf einem G e m ä l d e aus alter Zeit, die ihren Ritter um Beistand anfleht. » B e s t i m m t kommen heute Nacht wieder diese Geräusche . . . Hast du sie nie mehr gehört? Die Schritte ...« »Ich habe dir doch gesagt, es ist Frau Ross.«
»Nein, nicht immer.« »Wie kommst du darauf?« Nadja blieb ihr die A n t w o r t schuldig. Es schien, als wäre sie m i t ihren Gedanken woanders. »Heute Nacht habe ich sie wieder gehört«, sagte sie. »Ich b i n aus dem Zimmer gegangen u n d habe bei Rosalyn u n d Ric hineingeschaut, aber die hatten sich nicht aus ihren Betten g e r ü h r t . Hast du nichts bemerkt?« »Ich habe den Schlaf der Gerechten geschlafen. Das waren wahrscheinlich Carters Leute. Oder Frau Ross im Vorratskeller. Sie kontrolliert einmal die Woche die Vorräte. Ich habe sie gefragt.« Aber Nadja schüttelte den Kopf. »Sie war es nicht, und auch keiner der Soldaten.« »Wieso bist du da so sicher?« »Weil ich ihn gesehen habe.« »Wen?« Nadjas Gesicht glich einer Maske aus Elfenbein. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich aufgestanden u n d hinausgegangen b i n , als ich die Schritte gehört habe. Ich habe in Rosalyns und Ries Z i m mer nachgeschaut und konnte nichts U n g e w ö h n l i c h e s feststellen. Dann habe ich mich umgedreht, um bei dir vorbeizugehen . . . da habe ich einen M a n n gesehen.« Sie d r ü c k t e Elisa ganz fest den Oberarm. »Er hat m i t dem Rücken neben deiner T ü r gestanden, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Zuerst dachte ich, es sei Ric, u n d habe i h n gerufen, aber dann habe ich gemerkt, dass er es gar nicht war . . . Es war ein Fremder.« »Woher weißt du das?«, flüsterte Elisa zu Tode erschrocken. »Der Flur ist kaum beleuchtet, a u ß e r d e m sagst du, er h ä t t e dir den Rücken z u g e w a n d t . . . « »Na ja ...« Nadjas Lippen bebten, ihre Stimme wurde zu einem ängstlichen W i m m e r n . » . . . ich b i n n ä h e r herangegangen, da habe ich registriert, dass er nicht m i t dem R ü c k e n zu m i r stand ...« »Was?« »Ich habe seine Augen gesehen: Die waren weiß . . . Aber sein
Gesicht war leer. Er hatte keine Gesichtszüge, Elisa. Ich schwöre es dir! Bitte glaube mir!« »Nadja, du stehst noch unter dem Eindruck von der Frau in Jerusalem.« »Nein, die habe ich ja erst heute gesehen. Aber das, was ich dir eben erzählt habe, das war gestern Nacht.« »Hast du m i t jemand anders d a r ü b e r gesprochen?« Nadja schüttelte den Kopf. » U n d w a r u m nicht?« Als sie feststellte, dass die Freundin ihr nicht antworten würde, fügte Elisa hinzu: »Ich w i l l dir sagen, war u m . Weil du i m Grunde weißt, dass es nur ein Traum war. Nur k o m m t dir das jetzt nicht mehr so vor, wegen des Impacts ...« Diese Erklärung schien der jungen Paläontologin einzuleuchten. Sie tauschten einen stummen Blick. »Vielleicht hast du Recht... Aber es war ein Albtraum.« »Kannst du dich an noch etwas erinnern?« »Nein. Er ist auf mich zugekommen und . . . Ich glaube, ich bin bei seinem A n b l i c k o h n m ä c h t i g geworden ... Dann b i n ich in meinem Bett aufgewacht.« »Siehst du?«, sagte Elisa. Nadja presste noch einmal ganz fest ihren Oberarm. »Aber k ö n n t e es denn nicht sein, dass a u ß e r den Soldaten, Carter und uns noch jemand da ist?« »Wie meinst du das?« »Irgendjemand ... auf der Insel.« »Schon möglich.« Elisa schüttelte sich. » U n d wenn noch jemand da ist, Elisa?«, steigerte sich Nadjas Stimme weiter, w ä h r e n d sie Elisas A r m so fest d r ü c k t e , dass es ihr wehtat. »Und was, wenn noch jemand auf der Insel ist, von dem w i r nichts wissen?«
18
Sergio M a r i n i führte Zaubertricks vor: Er konnte einen Geldschein hinter seinem Ohr hervorholen, ihn in der Mitte durchreißen und m i t der rechten Hand wieder zusammensetzen, als hätte die linke wichtigere Aufgaben. Colin Craig hatte die letzten großen Spiele von Manchester auf seinem Laptop und schaute sich m i t M a r i n i die Ü b e r t r a g u n g e n internationaler Begegnungen an. Jacqueline Clissot zeigte allen Fotos von ihrem fünfjährigen Sohn Michel, dem sie drollige E-Mails schickte, und nahm sich in regelmäßigen A b s t ä n d e n Craig vor, der im nächsten Jahr erstmals Vater werden sollte, um i h m kluge Ratschläge zu erteilen. Cheryl Ross war seit zwei Jahren Oma, widmete sich aber weder dem Strümpfestricken noch dem Kuchenbacken, sondern diskutierte gern ü b e r Politik und ließ kein gutes Haar an diesem Riesenidioten von Tony Blair. Reinhard Silberg hatte kürzlich seinen krebskranken Bruder verloren u n d sammelte Pfeifen, ohne sie w i r k l i c h zu benutzen. Rosalyn Reiter las Romane von Le Carre und Ludlum, aber seit Anfang August konzentrierte sie sich mit Leidenschaft auf Ric Valente. U n d Ric Valente arbeitete und arbeitete, wo er ging und stand. Er war nicht mehr m i t Rosalyn zusammen und hatte sogar die Spaziergänge m i t M a r i n i und Craig eingestellt, um noch mehr Zeit fürs Arbeiten zu gewinnen. Nadja Petrova plauderte und lächelte: Ihr Hauptanliegen war es, nicht allein zu sein. David Blanes hingegen suchte die
Einsamkeit der Bach'schen Labyrinthe auf dem Klavier. Paul Carter trainierte neben der Kasematte am Reck und machte Kniebeugen. Darin hatte er etwas mit ihr gemeinsam, allerdings machte Elisa mehr Dauerlauf am Strand und ging schwimmen, sofern Regen und W i n d dies zuließen. Bergetti spielte m i t M a r i n i Karten. Stevenson und sein ebenfalls britischer Kollege York schauten gemeinsam m i t Craig die F u ß b a l l ü b e r t r a g u n g e n an. Mendez war sehr witzig und brachte Elisa m i t Geschichten zum Lachen, die ihr aus dem Munde eines anderen einfach nur b l ö d vorgekommen wären. Der Thailänder Lee liebte New-Age-Musik und Elektronik. Das waren ihre Kollegen. Das waren die sechzehn einzigen Bewohner von New Nelson von Juli bis Oktober 2005. Niemals w ü r d e sie die banalen Beschäftigungen vergessen, m i t denen sie ihre Freizeit verbrachten und die ihnen eine Geschichte u n d eine Identität gaben. Niemals w ürde Elisa sie vergessen. U n d das aus mehreren r
Gründen.
Am Dienstagmorgen, dem siebenundzwanzigsten September, erhielt Elisa eine Nachricht, ü b e r die sie sich riesig freute. Frau Ross ( M a r i n i nannte sie eine »Nachrichtenbörse«, weil sie »alles ü b e r jeden« wusste) ü b e r b r a c h t e sie ihr beim Mittagessen. U n d w ä h r e n d der restlichen Mahlzeit dachte Elisa d a r ü b e r nach, ob sie es t u n sollte oder nicht, und stellte sich vor, wie es ausgehen könnte. Schließlich beschloss sie, eine lange Hose anzuziehen. Es war vielleicht t ö r i c h t (kindisch h ä t t e ihre Mutter es genannt), aber sie fand es unpassend, in Shorts bei i h m zu erscheinen. Als sie am Nachmittag auf sein Zimmer zusteuerte, h ö r t e sie seine Finger wie pickende Vögel ü b e r die Tasten h ü p f e n . Sie r ä u s p e r t e sich, dann klopfte sie an. Als sie vorsichtig die T ü r öffnete, schwor sie sich, niemals das Bild des Wissenschaftlers zu vergessen, wie er vor dem elektrischen Klavier saß. A u f seinem
Gesicht spiegelte sich ein privates Glück, bei dem die Physik nichts verloren hatte. Elisa blieb auf der Schwelle stehen u n d lauschte, bis er sein Tastenspiel unterbrach. »Na los, k o m m schon rein und erzähl mir was.« Obwohl sie schon öfter in jenem Zimmer gewesen war, fühlte sie sich dort immer etwas befangen. Sie empfand jedes M a l eine gewisse Scheu, bei i h m einzudringen. Schuld daran war auch die Enge der m i t einer Vielzahl von Dingen voll gestopften Behausung: eine Plastiktafel voller Gleichungen, der Tisch samt Computer, die Klaviatur und das Bücherregal. »Ich wollte Ihnen gratulieren«, murmelte sie und blieb wie angewurzelt an der T ü r stehen. »Ich habe mich sehr ü b e r die Nachricht gefreut.« Er k n i f f die Augen zusammen u n d runzelte die Stirn, als durchsuchte er die Luft nach dem k ö r p e r l o s e n Wesen, das da zu i h m sprach. »Herr Carter hat es Frau Ross e r z ä h l t . . . « Plötzlich, w ä h r e n d sie sich m i t der Zunge die Lippen befeuchtete, kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht noch nichts davon wusste. Ich werde es sein, die i h m die Nachricht überbringt. »Von inoffizieller Seite h i e ß es heute Morgen, dass die Schwedische Akademie...« Blanes wandte sich von ihr ab u n d schien jegliches Interesse an dem Gespräch verloren zu haben. »Ich bin nur ein . . . Wie nennen sie das?... Ein >ständiger Kandidat. Und zwar seit Jahren.« Er setzte als Schlusspunkt einen Akkord unter den Satz, als wollte er ihr damit zu verstehen geben, dass er lieber weiterspielen wollte, als sich ü b e r diesen Unsinn zu unterhalten. »Sie werden ihn bekommen. Wenn nicht in diesem Jahr, dann i m nächsten.« »Klar doch. Ich werde i h n b e k o m m e n . « Elisa fiel nichts mehr ein. »Und Sie haben i h n verdient«, sagte sie dann. »Die >Mammutbaum<-Theorie ist . . . eindeutig ein Durchbruch.« »Ein Durchbruch, von dem niemand etwas weiß«, präzisierte er u n d starrte die Wand an. »Ein typisches M e r k m a l unserer Epoche ist, dass die kleinen D u r c h b r ü c h e vielen bekannt sind,
die g r o ß e n wenigen, u n d von den immensen w e i ß keiner etwas.« »Dieser w i r d bekannt werden«, erwiderte sie m i t aufrichtiger Begeisterung. »Es werden Methoden gefunden werden, um den Impact zu verringern oder zu kontrollieren. Ich b i n davon überzeugt, dass alle Welt irgendwann erfahren w i r d , was Sie erreicht haben ...« »Genug m i t der Siezerei. Ich b i n David und du Elisa.« »Einverstanden.« Elisa lächelte, obwohl ihr die Wendung, die das Gespräch nahm, nicht behagte. Sie war eigentlich nur in der Absicht gekommen, i h m zu gratulieren und sofort wieder zu gehen, noch ehe er ein D a n k e s c h ö n formulieren konnte. Schließlich schien es ihr offensichtlich, dass Blanes sich nicht die Spur für sie interessierte. »Setz dich, wenn du ein Plätzchen findest.« »Ich b i n nur gekommen, um Ihnen das... N u n , um dir das zu sagen.« »Setz dich, zum Teufel, na mach schon!« Elisa fand auf dem Tisch neben dem Computer ein freies Eckchen. Es war so schmal, dass sich ihr die Tischkante ins G e s ä ß bohrte. Glücklicherweise trug sie die lange Hose. Blanes hielt i m mer noch den Blick starr auf die Wand gerichtet. Sie rechnete dam i t , dass er sich als Nächstes d a r ü b e r auslassen w ü r d e , wie ungerecht die Gesellschaft m i t einem armen spanischen Genie wie i h m umging, deshalb zog sich ihr Magen zusammen, als sie i h n sagen h ö r t e : »Weißt du eigentlich, weshalb ich dich im Kurs nie drangenommen habe? Weil ich wusste, dass d u die A n t w o r t kanntest. Aber wenn ich unterrichte, m ö c h t e ich keine Antworten h ö r e n , ich m ö c h t e unterrichten. U n d bei Valente war ich m i r nicht so sicher.« »Verstehe«, sagte sie und schluckte heftig. »Als du dann angefangen hast zu reden, ohne dass ich dich drangenommen hatte, und zwar auf diese saublöde A r t , habe ich meine Meinung ü b e r dich geändert.« »Aha.«
»Nein, nicht so, wie du jetzt denkst. Ich w i l l dir mal was sagen.« Blanes rieb sich die Augen und streckte sich. »Nimm es m i r nicht übel, aber du hast einen der größten Fehler, den man in dieser Scheißwelt überhaupt haben kann: Es w i r k t , als hättest du keine Fehler. Das hat m i r von Anfang an nicht an dir gefallen. Es ist nämlich besser, und zwar wesentlich besser, sich zum Gespött zu machen, als Neider zu haben, vergiss das niemals. U n d als dann dieser ganze verletzte Stolz aus dir sprach, da habe ich m i r gesagt: >Ah, sehr gut. Sie ist schön, intelligent u n d fleißig, aber wenigstens ist sie ein arrogantes Arschloch. Besser als gar nichts.«< Sie wechselten einen ernsten Blick, dann mussten sie beide u n willkürlich lächeln. Eine Freundschaft ist kein Glück, das man sich mühsam erkämpfen muss, wie manche meinen. W i r neigen zu dem Irrglauben, die wirklich wichtigen Dinge im Leben brauchten Zeit u n d erforderten großen Einsatz, aber eine Freundschaft kann wie die Liebe manchmal so unverhofft auftauchen wie die Sonne hinter den Wolken: In einer Sekunde ist noch alles grau, u n d in der nächsten strahlt blendendes Licht. In dieser kurzen Sekunde wurden Elisa u n d David Blanes Freunde. »Ich w i l l dir noch etwas sagen, damit d u diesen Fehler auch ja nicht ablegst«, fügte er grinsend hinzu. »Abgesehen davon, dass du ein arrogantes Arschloch bist, bist du auch eine hervorragende Mitarbeiterin, die beste, die ich je hatte, um ehrlich zu sein. Deshalb will ich dir auch verzeihen, dass du m i r gratuliert hast.« »Danke, aber ... hätte ich dir nicht gratulieren sollen?«, fragte sie verunsichert. Blanes spielte den Ball zurück. »Weißt du, was der Nobelpreis in meinem Fall ist? Ein Zuckerbrot. Die >Mammutbaum<-Theorie ist noch nicht offiziell bewiesen, u n d für die Veröffentlichung unserer Experimente auf New Nelson sind m i r Hände u n d Füße gebunden, weil sie >klassifiziertes Material< enthalten würde. Man w i l l m i r also nur auf die Schulter klopfen und m i r zu verstehen geben: Blanes, die Wissenschaft bewundert Sie. Arbeiten Sie nur
schön weiter für die Regierung.« Er machte eine Pause. »Wie findest du das?« Sie überlegte eine Weile. »Ich finde, dass das die Meinung eines arroganten Arschlochs ist«, sagte sie u n d verzog das Gesicht auf ihre typisch >grausame< Art. Diesmal brachen sie beide in Gelächter aus. »Nun mal langsam«, sagte Blanes u n d wurde rot. »Ich w i l l dir erklären, w a r u m ich glaube, damit Recht zu haben.« Als er sich m i t der Hand das Gesicht rieb, wusste Elisa, dass er ernsthaft mit ihr sprechen wollte. Das Zimmer hatte keine Fenster, und für einige Augenblicke waren durch die metallverkleideten Wände nur das Rauschen des Regens und das Summen der Klimaanlage zu hören. »Bist du jemals Albert Grossmann begegnet?« »Nein, nie.« »Alles, was ich weiß, habe ich von i h m gelernt. Ich liebe i h n wie einen Vater. Ich war schon immer der Ansicht, dass die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer in unserem Fach sehr viel enger ist als in anderen Disziplinen.« Wahrhaftig, dachte Elisa. »Wir erheben unsere Vorbilder auf ein Podest, haben aber gleichzeitig das dringende Bedürfnis, sie zu übertreffen. Ich glaube, das hängt m i t der Einsamkeit unserer Arbeit zusammen. W i r theoretischen Physiker sind Ungeheuer, eingesperrt in u n seren kleinen Schlupfwinkel, aber auf dem Papier verändern w i r das Aussehen der Erde, überleg doch nur ... W i r sind w i r k l i c h gefährlich ... Aber ich schweife vom Thema ab. Grossmann ist ein kräftiger M a n n , ein wahrer Teutone, und voller Energie. I n zwischen ist er pensioniert. Kürzlich wurde bei i h m Krebs diagnostiziert ... Bisher weiß noch niemand davon, also bitte behalte es für dich. Ich erzähle es dir nur, damit du verstehst, was er für ein Mensch ist. Er misst seiner Krankheit überhaupt keine Bedeutung bei und, ich schwöre es dir, er sieht besser aus als ich. Er sagt, er hätte noch viele Jahre zu leben, u n d ich glaube es i h m . 2001 war er schon im Ruhestand, aber als w i r das Bild vom Gan-
zen Glas in Händen hielten, b i n ich mitten in der Nacht zu i h m gegangen und habe i h m davon erzählt. Ich dachte, er würde sich freuen u n d m i r gratulieren. Stattdessen hat er m i c h nur sehr ernst angesehen u n d >Nein, David< geflüstert. U n d dann noch einmal: >Nein, David, tu es nicht. Die Vergangenheit ist verbotenes Terrain. Wage nicht, ein Verbot zu übertreten.< Ich glaube, dass ich in diesem Moment begriffen habe, warum er in den Ruhestand gegangen ist. Ein theoretischer Physiker setzt sich zur Ruhe, wenn er anfängt zu denken, Entdeckungen seien verboten.« Blanes betrachtete angestrengt die schwarzen u n d weißen Tasten vor sich. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wie auch i m mer, vielleicht hat Grossmann ja Recht gehabt. Damals wussten w i r noch nichts vom Impact. Aber ich meine nicht nur das. Ich spreche auch von dem Unternehmen, das Zickzack finanziert.« »Die Eagle Group«, sagte Elisa. »Eben diese. Aber sie ist nur die Spitze des Eisbergs. U n d was befindet sich darunter? Hast du dir je diese Frage gestellt? Ich will es dir verraten: die Regierungen. Und unter denen? Die Industrie. Der Impact ist nur ein Vorwand. Was die Eagle Group um jeden Preis verbergen w i l l , ist ihr militärisches Interesse an dem Projekt.« »Wie bitte?« »Überleg doch mal. Glaubst du w i r k l i c h , die ganze Knete für das Zickzack-Projekt fließt nur, weil sich jemand für Troja, das alte Ägypten oder Jesu Leben begeistert? Sei nicht naiv. Als Sergio u n d ich ihnen das Ganze Glas vorgeführt haben, stand den Militärs u n d Finanzbossen geradezu in Leuchtbuchstaben die Frage auf die Stirn geschrieben: >Wie können w i r das gegen den Feind verwenden?< Als Zweites folgte die Überlegung: >Und wie können wir verhindern, dass der Feind es gegen uns verwendet?< Christus, die Pharaonen oder Kaiser mögen ja ganz interessante Nebenprodukte sein, aber für ihr eigentliches Kalkül spielen sie keine Rolle.« Elisa zwinkerte. Darauf wäre sie niemals gekommen. Ja, sie konnte sich noch nicht einmal vorstellen, welches Interesse das
Militär an der Nutzung der Bilder aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit haben könnte. Doch schon hob Blanes die rechte Hand, um ihr die Frage zu beantworten, als hätte er sie ihr v o m Gesicht abgelesen: »Spionage. Der Empfang von Bildern aus dem Raum, auf denen nicht nur zu sehen ist, was im Moment passiert, sondern auch, was vor zehn Monaten oder zehn Jahren los war, als der Feind noch gar nicht damit rechnen konnte, auf diese Weise beschnüffelt zu werden. Das kann nützlich sein, um sich über Ausbildungslager von Terroristen zu informieren, die sich ja bekanntermaßen dem Nomadentum verschrieben haben u n d heute hier sind, morgen aber dort, ohne Spuren zu hinterlassen ... Oder im Fall von A t tentaten, egal, ob die Bombe schon explodiert ist: Man filmt das Gebiet u n d erforscht, was in den Tagen zuvor dort passiert ist, bis man die Verantwortlichen hat u n d dazu haargenau die von ihnen verwendete Methode.« »Mein G o t t . . . « »Ganz richtig: M e i n Gott.« Blanes verzog das Gesicht. »Das allwissende Auge Gottes. Der Big Brother der Zeit. Hinzu k o m m t Spionageaufklärung für die Politik. Man kann nach Beweisen suchen für Skandale, damit man diesen oder jenen unliebsamen Präsidenten loswird ... Momentan findet ein Wettlauf gegen die Zeit statt zwischen Europa, das unser Projekt finanziert, und den Vereinigten Staaten, die ganz bestimmt ihr eigenes Zickzack auf irgendeiner Insel im Pazifik eingerichtet haben, da kannst du sicher sein. W i r haben bewiesen, dass man m i t einer einfachen Videokamera alles sehen kann, was zu irgendeinem Zeitpunkt, an irgendeinem O r t der Welt passiert ist ... Zickzack hat die Menschheit nackt ausgezogen, u n d die Militärs wollen die ersten Spanner sein. Nur eines steht ihnen dabei im Weg, klein, aber unbeugsam.« Er wies m i t der Hand auf seine Brust: »Ich.« Diesmal hatte Elisa nicht den Eindruck, dass er angeben wollte. Vielmehr schien er sich in dieser Rolle unwohl zu fühlen. Die f o l genden Worte bestätigten es ihr. »Ich b i n für sie ... Wie heißt es noch in dem Bolero?« U n d er
sang: »>Ich bin wie ein Stachel, der dir das Herz durchbohrte Ich schwöre dir, dass es m i r keineswegs passt, ein Ärgernis zu sein. Aber ich habe die Vereinigten Staaten verlassen, weil sie ihr Geld in Waffen investieren u n d nicht in Teilchenbeschleuniger. U n d ich würde Europa jederzeit verlassen, wenn Zickzack für militärische Zwecke genutzt würde. Trotzdem b i n ich m i r natürlich darüber i m Klaren, dass ich nur hier bin, weil sie zahlen. Ich will ihnen ja auch gerne geben, was sie haben wollen, das versichere ich dir, aber ich weigere mich, m i t der jüngeren Vergangenheit zu experimentieren.« Plötzlich schwang in seinem Tonfall Sorge m i t . »Ich habe euch gesagt, dass ihr Risiken eingeht, u n d das ist tatsächlich der Fall, Elisa ... Große Risiken sogar, glaub mir. Dennoch geht es auch um die persönliche Situation jedes Einzelnen: Sergio wollte sich beispielsweise darauf einlassen. Doch er hat m i r am Ende Recht gegeben. Und das ist der Grund, weshalb es ihnen am liebsten ist, wenn w i r m i t unseren Spielchen weitermachen. Sie wollen feststellen, ob w i r auf irgendetwas stoßen, was m i t weniger Gefahren verbunden ist und was sie verwenden können.« »Warum habt ihr davon bei der Einstellung nichts gesagt?«, wunderte sich Elisa. »Glaubst du denn, man hätte m i r alles gesagt? Seit dem denkwürdigen elften September teilt sich die Welt nicht mehr in Lüge und Wahrheit. Es gibt nur noch Lügen, und alles andere erfahren w i r einfach nicht mehr.« Beide schwiegen. Blanes fixierte einen Punkt auf dem Metallboden. In weiter Ferne hörte man den Regen trommeln. »Und das Schlimmste, weißt d u , was das ist?«, fragte er dann unvermittelt. »Wenn ich mich geweigert hätte, wenn ich auf Grossmann gehört u n d alles aufgegeben hätte, dann hätten w i r niemals einen Urwald im Jura gesehen oder die Antennen eines Dinosauriers oder eine Frau, die zu Lebzeiten Christi durch Jerusalem geht ... Das ist natürlich keine Entschuldigung, aber i m m e r h i n eine Erklärung. Es k o m m t m i r vor, als wäre m i r ein riesiges Geschenk in den Schoß gefallen u n d ich könnte die
Freude m i t niemandem teilen ... Also, wenn ich den Nobelpreis kriege, dann schenke ich i h n an dich weiter. Willst du i h n haben?« Er deutete m i t dem Finger auf sie. »Glaube kaum.« Elisa stieg vom Tisch herunter u n d zog sich den Saum ihres kurzen T-Shirts über den Bauch. Dabei lächelte sie: »Den kannst du behalten.« »Hör mal, als meine Schülerin hast du aber die Pflicht, dich der Dinge anzunehmen, die ich ablehne. Was sollen w i r denn sonst damit anfangen? Den Nobelpreis in den Müll werfen?« »Schenk ihn Ric Valente. Der w i r d i h n bestimmt m i t Begeisterung nehmen.« Wieder mussten sie beide grinsen. »Ric Valente . . . « , grübelte Blanes. »Ein komischer Kauz. Ein hervorragender Schüler, aber einfach zu ehrgeizig. A n der A l i ghieri habe ich versucht, i h n näher kennen zu lernen, u n d festgestellt, dass ich ihn nicht leiden kann. Wenn es nach m i r gegangen wäre, hätten w i r ihn nicht mitgenommen, aber Sergio und Colin sind regelrecht vernarrt in ihn.« Eine Weile stand Elisa da u n d sah ihn an. Dann, bevor sie ging, sagte sie: »Danke.« Blanes hob den Blick. »Wofür?« »Dass du das Geschenk m i t m i r geteilt hast.« Sie kehrte, in Gedanken noch bei dem Gespräch, durch den Gang zurück. Das Unwetter hatte an Heftigkeit zugenommen. Zweifellos war dies der Vorbote eines Taifuns. Aber das bevorstehende Unwetter brachte sie nicht aus der Ruhe: Carter hatte versichert, dass ihnen keine Gefahr drohe u n d dass die n o t w e n d i gen Maßnahmen< bereits getroffen worden seien. U n d sie sollte Recht behalten. Der Taifun war am Ende das geringste Problem.
Die niedergehenden Wassermassen verhinderten jegliche A k t i vität im Freien u n d zwangen die Wissenschaftler, sich in der grauen, ermüdenden Atmosphäre der Gebäude aufzuhalten. Elisa
und ihre Physikerkollegen litten am meisten unter der Lethargie, denn jetzt waren Jacqueline Clissot, Silberg, Nadja und Rosalyn mit der Arbeit an der Reihe, während sich die Physiker eine Verschnaufpause gönnen konnten. In der Regel fand Elisa sich nach dem Frühstück bei Jacqueline Clissot u n d Nadja im Labor ein u n d vertrieb sich die Zeit damit, ihnen zuzusehen, wie sie Millimeter für Millimeter das Bild des Sonnensees studierten, denn so hatten sie es getauft, nachdem andere Vorschläge wie Marinis > Fleisch fressende Hühner< verworfen worden waren. Doch der anfängliche Eifer war schnell verflogen, u n d schon bald begann die minuziöse Kleinarbeit der Paläontologinnen sie zu langweilen. >Schau dir mal da vorne die Extremität von A an, Nadja, und vergleiche sie m i t der homolateralen von B. A hat nur einen Zehenknochen, aber B zwei.< Elisa gähnte. Wenn mir jemand vor ein paar Tagen prophezeit hätte, dass ich dieser Tätigkeit überdrüssig werden würde, hätte ich ihn nicht für voll genommen. Aber alles wird irgendwann zur Gewohnheit. Nadja ging es inzwischen wesentlich besser. Sie konnte nachts wieder schlafen u n d l i t t nicht mehr in dem Maße unter Angstattacken. Silberg wollte zwar in der folgenden Woche ein paar psychologische Tests m i t ihr machen, aber im M o m e n t schien nichts darauf hinzudeuten, dass sie ihrer Arbeit vor dem Computer nicht gewachsen war. Doch der Anblick ihrer Freundin rief in Elisa jedes Mal das am Nachmittag nach den Projektionen Gesagte in Erinnerung. Elisa kam das Ganze absurd vor, sicherlich war es eine Folge von Nadjas nervlichem Zustand. Trotzdem regten sich Zweifel in ihr. Bestand nicht doch die Möglichkeit, dass jemand auf der Insel lebte, von dessen Existenz sie nichts wussten? Warum eigentlich nicht? Inzwischen war sie seit zweieinhalb Monaten dort u n d glaubte zwar sämtliche Bewohner zu kennen, einschließlich der Soldaten, aber täglich starteten u n d landeten Hubschrauber m i t den Lebensmittelvorräten. Es hätte also ohne Weiteres ein Militär als Ablösung m i t k o m m e n können, der jetzt bei den anderen in der Kasematte lebte. Doch wenn das der Fall war, w a r u m stellte er
sich nicht vor? U n d was hatte er nachts ohne U n i f o r m in den Baracken zu suchen? Es war absurd. Nadja musste einen besonders furchtbaren A l b t r a u m gehabt haben u n d erinnerte sich infolge des Impact, geradezu plastisch daran. Aber die schreckliche Vorstellung von einem M a n n m i t weißen Augen, der sie aus der Finsternis anschaute, wollte Elisa einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Am Samstagabend, dem ersten Oktober, zog sie sich in i h r Zimmer zurück, nachdem sie im Anschluss an das Abendessen m i t Craig, M a r i n i u n d Blanes mehrere Runden Poker gespielt (und verloren) hatte. Um neun lag sie bereits im Bett, u n d um Punkt zehn erloschen die Lichter. Der Taifun schien an Kraft weiter zugenommen zu haben. Es klang, als wollte er den Tag des Jüngsten Gerichts einläuten. In Elisas Vorstellung zog er wie eine von Dante heraufbeschworene Erscheinung in Form eines riesigen Adlers oder Kreuzes über den H i m m e l . Doch innerhalb der Isolierverschalung der Fertigwände fühlte sie sich so sicher aufgehoben wie in einer Metallkugel. Nichts rührte sich, alles war still u n d r u h i g . Dennoch konnte Elisa keinen Schlaf finden. Sie schlug das Laken zurück und stand auf. Sie woüte eine kleine Runde machen, vielleicht in die Küche gehen u n d sich einen Tee bereiten. Doch dann fiel ihr ein, dass Carter ihnen den Gebrauch sämtlicher Elektrogeräte untersagt hatte. U n d das offenbar m i t gutem G r u n d , denn inzwischen hatte es zu blitzen begonnen. Ein lautloses Flackern nach dem anderen zuckte über den H i m mel u n d erhellte Teile des Zimmers. Dennoch fand sie die Idee verlockend, sich die Beine zu vertreten. Sie würde dafür kein zusätzliches Licht benötigen, die Notbeleuchtung war hell genug. Abgesehen davon hätte sie die Baracke mittlerweile m i t geschlossenen Augen von einem Ende zum anderen durchqueren können. Da fiel ihr etwas auf. Als sie zum Fenster blickte, glaubte sie zu träumen. Da war ein Loch. Links oben in der Ecke des Zimmers, die ans
Badezimmer grenzte. Ein elliptisches Loch und so groß, dass sie sich m i t ein wenig Mühe hätte hindurchzwängen können. Das >lautlose Flackern< kam gar nicht vom Fenster, sondern von jener Öffnung ins Freie. Sie war so damit beschäftigt, sich zu fragen, wie etwas Derartiges passieren konnte, dass ihr das zweite Merkwürdige nicht sofort auffiel. Ein lautloses Flackern. Stumm. Sie war eingehüllt in Stille. Eine undurchdringliche Stille. Woh i n hatte sich das Gewitter verzogen? Nein, die Stille war doch nicht vollkommen: Jenseits davon war etwas zu vernehmen. Diesmal war es nicht das Geräusch von Schritten, das durch die Wände an ihr Ohr drang, vielmehr gewahrte sie eine unmittelbare, ganz konkrete Präsenz. Sie hörte eine Schuhsohle auf dem Boden, Atemzüge. Da war jemand in ihrem Zimmer, hier drin, bei ihr. Plötzlich fühlte sie sich fremd in ihrer Haut: Ihre Poren schienen, winzigen Eisenspänen gleich, auf einen starken Elektromagneten zu reagieren, so dass ihr die Haare zu Berge standen. Sie hatte den Eindruck, dass eine Ewigkeit verging, bis sie sich umgedreht und nach hinten geschaut hatte. Als es ihr endlich gelungen war, sah sie die Gestalt. Vollkommen reglos stand sie neben der Tür, etwas weiter von ihr entfernt, als die Atemzüge es hatten vermuten lassen. Im W i derschein der Blitze war sie teilweise zu erkennen: Sportschuhe, Bermudas, ein T-Shirt. Nur das Gesicht blieb ein undurchdringlicher Schatten. Ein M a n n . Einen Augenblick lang dachte sie, ihr würde vor Schreck das Herz in der Brust zerspringen. Dann erkannte sie i h n u n d hätte beinahe losgelacht. »Ric ... Was tust du hier? W a r u m jagst du m i r so einen Schrecken ein?« Die Gestalt antwortete nicht. Stattdessen kam sie ganz lang-
sam näher, m i t der Leichtigkeit einer Wolke, die sich vor den M o n d schiebt. Elisa hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um Valente handelte: die Figur, die Kleidung ... Es war so gut wie sicher. Aber was wollte er von ihr? Warum sagte er kein Wort? »Ric?« Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass dieses kurze Wort so mühsam auszusprechen war. Der Hals tat ihr regelrecht weh. »Ric, du bist es, nicht wahr?« Sie w i c h einen Schritt zurück, dann noch einen. Der M a n n ging um das Bett herum u n d kam unaufhaltsam, vollkommen stumm auf sie zu. Er ließ sich Zeit. Das Flackern beleuchtete die Bermudas und das dunkle T-Shirt, aber das Gesicht blieb finster wie ein Schatten. Das ist nicht Ric. Es gibt doch jemanden auf der Insel, von dem w i r nichts gewusst haben. Schon stand sie da, Rücken u n d Po an die Metallwand gepresst, spürte deren eisige Kälte auf der Haut. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie kein einziges Kleidungsstück am Leibe trug. Weil sie sich nicht entsinnen konnte, sich nackt ausgezogen zu haben, kam ihr der Verdacht, dass dies alles nicht wirklich stattfand. Sie träumte, ja, das war es.
Aber ob Traum oder nicht: Zuzusehen, wie die Silhouette in aller Stille immer näher kam, wurde ihr schier unerträglich. Elisa schrie. Wenn sie als K i n d Albträume gehabt hatte, war sie stets schreiend aufgewacht. Schreien - so hatte sie immer gedacht vertrieb den A l b t r a u m u n d machte dem Schrecken ein Ende. Diesmal half es nichts. Sie öffnete die Augen, u n d der M a n n war immer noch da, dicht vor ihr, noch dichter. Sie hätte ihn m i t ausgestrecktem A r m berühren können. Das Gesicht war wie ein unbewohntes Haus. Nur die Ruinen der Wangen ragten hervor, dahinter lagen im Dunkel die Wirbel wie Ziegel übereinander. Alles andere war ein fleisch- und blutloses Etwas, ein lautes N E I N an die Wirklichkeit, ein eingerahmtes, pechschwarzes Loch ...
Sein Kopf ist ein Rattennest. Die Ratte hat i h m das Gesicht weggenagt und nistet jetzt in seinem Gehirn. Also gibt es noch jemanden auf der Insel, von dem wir nichts wussten. ... pechschwarz, bis auf die Augen. Er heißt Der mit den weißen Augen und ist gekommen, dich zu besuchen, Elisa. Um euch alle zu besuchen, er ist Wirklichkeit. Ein kurzer, aber entscheidender Besuch. Leere Augen wie Abszesse. Es war kein A l b t r a u m . Er hatte sie an die Wand gedrängt, so dass sie sich nicht mehr rühren konnte, und war dabei, sie ... Augen wie riesige Monde, in deren Leuchten sie förmlich h i n einstürzte, deren unbewohntes Weiß sie blendete. Hilfe! ...Ist denn da niemand? Hilfe! Das hier passiert wirklich ...Hilfe! In diesem Augenblick wurde es stockfinster.
U n d die Finsternis hatte eine lächerliche Stimme. Natürlich! Sie klang wie die eines Kindes, dem die Großen in der Schule das Eis gestohlen und es dann verhauen hatten. Ein anhaltendes, schrilles >Aua<. Es war Ric Valente, den Elisa in diese empfindliche Stelle jedes auch noch so unempfindlichen Mannes gebissen hatte. U n d sein Geschrei war so durchdringend, dass sie nicht schlecht Lust hatte, i h m unter der Drohung, noch einmal zuzubeißen, den M u n d zu verbieten oder i h m die Federn abzusengen. Denn beim näheren Hinsehen stellte sie fest, dass Valente Federn auf dem Hinterteil hatte u n d Antennen auf dem Kopf u n d sich m i t allem D r u m u n d Dran auf ihr hoch und nieder bewegte. Ein Fleisch fressendes H u h n , bedeutend für die Paläontologie, das mit aufgerissenem Schnabel dieses Gezeter von sich gab. Aber ich darf weder lachen noch erregt sein, weil es nur ein Albtraum ist. Oder doch nicht? M i t siebzehn hatte sie zum ersten u n d letzten M a l in ihrem Leben m i t einem Jungen namens Bernardo Sex gehabt - eine so traumatische Erfahrung, dass sie nicht darauf aus war, sie zu
wiederholen. Bernardo war freundlich, lieb, sanft u n d romantisch gewesen, aber kaum war er in sie eingedrungen, da hatte er sich wie ein zügelloser Hengst gebärdet, sie am Po gepackt u n d grunzend u n d schäumend zugestoßen. Sie war m i t einem menschlichen Wesen ins Kino gegangen u n d hatte sich im Bett eines wütenden Ungeheuers wiedergefunden, das ein ums andere M a l versuchte, ihr etwas zwischen die Beine zu schieben, u n d dabei > M m m m f f f ... Bafffff< schnaubte. Es hatte ihr wahrhaftig nicht gefallen. Die Vagina war trocken geblieben und hatte ihr wehgetan. Danach hatte er sie zu einer gemeinsamen Zigarette eingeladen u n d gesagt: >Einmalig.< Da bekam sie einen Hustenanfall. Wenige Monate später war auf der Rückfahrt von Valencia ein Betrunkener ins Auto ihres Vaters gerast u n d hatte i h n getötet. Nicht, dass das eine mit dem anderen etwas zu tun gehabt hätte. Es würde nicht jedes M a l ein Unglück geschehen, sobald sie m i t jemandem Sex hatte. Jedenfalls hatte sie wenig Lust verspürt, es darauf ankommen zu lassen. Also ... w a r u m befand sie sich dann jetzt m i t diesem I n d i v i d u u m im Bett? Das obendrein noch viel schlimmer war als Bernardo, wilder u n d weniger einfühlsam? Einmal hatte sie einen F i l m gesehen ( u n d den Titel gleich wieder vergessen), dessen Hauptdarstellerin von einem wahren Teufel aufs Kreuz gelegt wurde, einem Schwefeldämpfe ausstoßenden Wesen m i t weißen Augen und (so war zu vermuten) einem außergewöhnlichen Penis. Was für eine absurde Idee, aber ich will es wissen, jetzt auf der Stelle, mit diesem Ding daaufmir...
das Augen hat wie Lampen,
während jemand, der nicht ich bin (obwohl ich es doch sein sollte), ein ohrenbetäubendes Gekreisch von
sich gibt...
Sie erwachte in tiefster Finsternis. Kein Vergewaltiger weit und breit. Weder auf noch unter ihr. Auch lag sie nicht nackt da, sondern trug Nachthemd und Slip, genauso wie sie zu Bett gegangen war. Von einem Loch in der Decke (was für eine Vorstellung!) war auch keine Spur. Dennoch tat es in ihr weh, genauso, wie es ihr beim ersten M a l wehgetan hatte. Sie achtete nicht weiter da-
rauf, denn um sie herum ging etwas weitaus Beunruhigenderes vor sich. Es fehlte das vertraute Halbdunkel. Kein Funken Licht auf der Station, auch keine Station und vielleicht noch nicht einmal eine Insel oder ein Meer. Sie nahm nur dieses entsetzlich laute Schrillen wahr, ein wahnwitziges Geheul, das ihr fast das Trommelfell zerfetzte. Eine Alarmglocke. Die Furcht verdrängend richtete sie sich auf. Da hörte sie Stimmen über das dezibelstarke Gellen hinweg. Und mit den Stimmen kam die Angst, wie der Aasgeruch mit dem W i n d : Schreie in einem Englisch, das sie nicht zu übersetzen brauchte, um zu wissen, dass etwas Schlimmes passiert war. In einem Notfall begreift man augenblicklich alles, was man hört, ohne es deshalb wörtlich verstehen zu müssen. Katastrophen sind polyglott. Elisa stürzte zur Tür hinaus, weil sie an ein Feuer dachte, und wäre beinahe mit einem knochenbleichen Gespenst zusammengestoßen. »Die sind alle aus ...! Die Lichter! Alle, selbst meine Taschenlampe funktioniert nicht!« Es stimmte: Nicht einmal die Notbeleuchtung brannte. U n durchdringliche Finsternis umgab sie. Beruhigend legte sie Nadja den A r m um die bebenden Schultern, dann lief sie m i t ihr aufs Geratewohl den Gang hinunter. Ein Hindernis versperrte ihnen den Weg. Es verfügte über die Stimme von Reinhard Silberg, dessen Silhouette im Widerschein einer Taschenlampe auftauchte. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, weil sie wissen wollte, was hinter Silberg los war, erblickte Elisa Jacqueline Clissot, von unten angestrahlt, und Blanes, der an der Abzweigung zur zweiten Baracke gegen den Kerl m i t der Taschenlampe anrannte (ein Soldat, vielleicht Stevenson). »Ich will da vorbei! Das können Sie nicht! Ich habe ein Recht dazu! Ich sagte doch, dass ...! Ich b i n hier der wissenschaftliche Leiter!« Dann gewahrte sie, dass Nadja ihr immer wieder dasselbe zurief:
»Ric u n d Rosalyn sind nicht in ihren Z i m m e r n ! Hast du sie gesehen?« Elisa suchte mühsam nach Worten, um mehr zustande zu b r i n gen als ein »Nein«, da verstummte endlich der A l a r m . U n d aus der Stille drang Marinis erleichterte Stimme zu ihnen aus der zweiten Baracke: »Ah, endlich, verdammt!« Der A l a r m hallte so laut in Elisas Ohren nach, dass sie nicht bemerkte, wie hinter Stevenson noch jemand den Flur entlangkam. Eine riesige Hand löste sich aus dem Dunkel, dann sah sich Blanes einem versteinerten Gesicht gegenüber. »Nur die Ruhe, Professor«, sagte Carter monoton. »Ruhe bewahren. Das gilt für alle. Im Hauptgenerator hat es einen Kurzschluss gegeben und das Licht ist ausgefallen. Der A l a r m wurde automatisch ausgelöst.« »Warum haben Sie nicht den Hilfsgenerator in Betrieb genommen?«, fragte Silberg. »Das ging nicht.« »Ist m i t den Apparaten alles in Ordnung?«, forschte Blanes. Niemals würde Elisa die Antwort vergessen, die A r t , wie Carter den Blick abwandte, die Unbewegtheit seiner Miene, die Blässe seiner Wangen, den Ton seiner Stimme, als er plötzlich flüsterte: »Mit den Apparaten schon.«
19
»Verzeihung, möchte noch jemand Kaffee oder Tee? Ich räume sonst die Tassen ab.« Elisa war jedenfalls überrascht, Frau Ross' Stimme zu hören, die sich nur selten zu W o r t meldete. U n d erstaunt stellte Elisa fest, dass Frau Ross auch die Einzige war, die etwas aß, wenn auch nur einen Joghurt, ganz langsam, Löffel für Löffel, dafür aber stetig. Sie saß am Tisch u n d sah wesentlich besser aus, als Elisa erwartet hätte, nicht nur wegen der jüngsten Ereignisse, sondern vor allem, weil sie noch keine Zeit gehabt haben konnte, sich zurechtzumachen u n d m i t dem üblichen Schmuck zu behängen. Gerade erst hatte sie Tee u n d Kaffee gekocht und Kekse verteilt m i t der Umsicht einer Mutter, die ein minimales Frühstück für unerlässlich hält, bevor sie gewillt ist, über den Tod zu reden. Da niemand mehr etwas trinken wollte, strich sich Frau Ross das Haar ein wenig in Form u n d aß seelenruhig ihren Joghurt weiter. Gleich mehrere Mitarbeiter des Teams hatten sich m i t blassen Gesichtern und Ringen unter den Augen im Speisesaal eingefunden. Es fehlten M a r i n i und Craig, die nachschauten, ob m i t dem Teilchenbeschleuniger alles in O r d n u n g war, sowie Jacqueline Clissot, deren Spezialkenntnisse in einer Weise gefragt waren, m i t der vor dem Unglück niemand gerechnet hätte. »Meiner Ansicht nach«, begann Carter, »muss Frau Reiter am
frühen Morgen aus irgendeinem Grund aufgestanden und in die Generatorenkammer gegangen sein. D o r t scheint sie irgendwo drangekommen zu sein, wo sie nicht hätte drankommen dürfen, und hat einen Kurzschluss verursacht... Alles andere ist Ihnen ja bekannt. Sobald Jacqueline Clissot ihre medizinische Untersuchung beendet hat, werden w i r mehr wissen. Sie hat zwar nicht die Geräte, um eine Autopsie vornehmen zu können, aber sie hat m i r versprochen, uns Bericht zu erstatten.« »Und wo steckt Ric Valente?«, fragte Blanes. »Nun, dazu später mehr, da ich schlicht keine Ahnung habe, Professor.« Silberg saß im Pyjama am Tisch m i t diesem seltsamen, allen Brillenträgern eigenen Ausdruck, wenn sie einmal ohne Brille auftauchen. Er hatte seine im Z i m m e r liegen lassen u n d noch keine Gelegenheit gefunden, sie zu holen. Das Gesicht tränenüberströmt, rang er hilflos die großen Hände u n d fragte leise: »Die Tür zur Generatorenkammer ... war die denn nicht abgeschlossen?« »Doch.« »Wie ist Rosalyn dann hineingekommen?« »Zweifellos m i t einem Zweitschlüssel.« »Aber wozu hätte Rosalyn einen Zweitschlüssel für die Kammer gebraucht?«, wunderte sich auch Elisa laut. »Moment«, mischte sich Blanes ein. »Colin hat m i r erzählt, dass er auf Sie warten musste, Carter, damit Sie die Alarmanlage in der Generatorenkammer ausschalten konnten, zu der nur Sie einen Schlüssel besitzen, stimmt das?« »Ja.« »Die Tür war also von außen abgeschlossen. Das heißt, dass Rosalyn dort eingesperrt war. Wie hätte sie das alleine fertig bringen sollen?« »Ich habe nicht gesagt, dass sie es allein war«, stellte Carter fest u n d kratzte sich die Stoppeln seines angegrauten Kinnbarts. »Es muss sie jemand dort eingesperrt haben.« Dieser Satz warf ein ganz neues Licht auf die Angelegenheit.
Blanes und Silberg tauschten einen Blick. Es entstand ein betretenes Schweigen, das Carter schließlich brach. »Trotzdem ist ein Unfall kein abwegiger Gedanke. Als sie im Dunkeln eingeschlossen war, ist Frau Reiter vielleicht gestolpert und hat aus Versehen die Kabel berührt...« »Gab es denn kein Licht in der Generatorenkammer?«, fragte Silberg. »Rosalyn hat doch den Kurzschluss verursacht, nicht wahr? Dann muss Licht angewesen sein, bevor sie die Kabel berührt h a t . . . Warum hätte sie es nicht anmachen sollen?« »Bestimmt hat sie das ja auch.« »Hat sie oder hat sie nicht?«, übernahm jetzt Blanes die Befragung. »In welcher Stellung war der Lichtschalter?« »Auf dieses Detail habe ich offen gestanden nicht geachtet, Professor«, antwortete Carter, und Elisa nahm zum ersten M a l eine gewisse Verunsicherung bei i h m wahr. »Aber wenn jemand sie im Dunkeln eingeschlossen hat, dann war sie ja vielleicht nervös u n d hat den Lichtschalter nicht gefunden.« »Aber w a r u m in aller Welt sollte sie überhaupt jemand einschließen?«, fragte Silberg sichtlich verwirrt. »Vor allem, wenn ihr jemand schaden wollte ... Warum ausgerechnet auf diese Weise? Ich kann m i r da keinen Reim drauf machen ...« Carter lachte leise. »Bei einem Unglück kann man sich oft keinen Reim machen, das können Sie m i r glauben. Der Unfall lässt sich wahrscheinlich ganz einfach erklären. Im wirklichen Leben«, fügte er hinzu u n d betonte dabei das >wirklich<, »gibt es für alles fast immer eine einfache Erklärung.« »Im wirklichen Leben, das Sie kennen, vielleicht, aber nicht in dem, das ich kenne«, widersprach Blanes. »Dann wäre da noch das Verschwinden von Ric zu klären. Nadja, bitte erzähl uns doch noch einmal, was du in seinem Bett vorgefunden hast.« Nadja nickte. Elisa, die neben ihr auf dem Tisch saß, wusste auch ohne Körperkontakt, dass sie zitterte, und streckte schützend den A r m nach ihr aus. »Als ich den A l a r m gehört habe, bin ich aufgestanden und auf den Gang gelaufen. Ich war allein, es war noch keiner von den
Kollegen aufgestanden und ... Na ja, ich wollte nach den anderen sehen. Da habe ich festgestellt, dass Rosalyns Bett leer war, u n d in Rics lag ... eine Puppe wäre zu viel gesagt, irgendetwas Unförmiges, zusammengehäuft aus seiner Decke und zwei kleineren Rucksäcken. Das Laken lag auf der Erde«, setzte sie hinzu. »Wieso sollte Ric eine Attrappe hinterlassen?«, fragte Blanes. In Carters Kopf schien ein Gedanke aufzublitzen. »Ich hätte nie gedacht, dass Sie so gute Detektive sind. Ich dachte, ich hätte es m i t Physikern zu tun.« »Die Physik basiert darauf, Hypothesen aufzustellen, Spuren zu verfolgen und Beweise zu suchen, Herr Carter. U n d genau das tun w i r gerade.« Blanes musterte Carter m i t jenem Schlafzimmerblick, den Elisa so gut an i h m kannte. »Glauben Sie, dass Ric sich in der Station versteckt haben könnte?« »Dann müsste er unsichtbar sein. W i r haben von oben bis u n ten alles durchsucht. Hier gibt es nicht viele Stellen, an denen man sich verborgen halten könnte, auf der Insel allerdings schon.« Die Tür ging auf, und der Reihe nach traten M a r i n i , Craig und der Thailänder Lee ein. Sowohl Lee als auch Carter trieften vor Nässe, als hätten sie gerade unter dem Hochdruckreiniger geduscht. Stevenson, der Soldat, der ihnen in den frühen Morgenstunden den Durchgang verwehrt hatte und jetzt im Speisesaal Wache stand, war ebenfalls pitschnass. »Alles in Ordnung«, sagte M a r i n i , aber sein angespanntes Gesicht schien das Gegenteil auszudrücken. Er wischte sich beim Eintreten die Hände an einem Lappen ab. »Die Rechner funktionieren ordnungsgemäß, und die Bildschirme empfangen i m mer noch Signale von den Satelliten.« »SUSAN scheint auch vollkommen normal«, ergänzte jetzt Craig. »Niemand hat irgendetwas angefasst.« Wer hätte denn auch etwas berühren sollen?, dachte Elisa gedankenverloren. »Lee?«, forderte Carter den Thailänder auf. »Alles okay m i t dem Hilfsgenerator.« Lee wischte sich mit dem Handrücken Schweiß und Regen von der Stirn. Er trug die U n i -
formjacke offen, so dass sein Unterhemd über der weißen, nicht gerade als muskulös zu bezeichnenden Brust hervorschaute. »Strom ist mehr als genug vorhanden. Aber beim Hauptgenerator ist nichts mehr zu machen. Komplett durchgebrannt... U n möglich zu reparieren.« »Warum ist der Hilfsgenerator nicht automatisch angesprungen, als der Hauptgenerator ausfiel?«, wollte Blanes wissen, und Carter gab die Frage m i t einem Blick an Lee weiter. »Die Verbindungskabel waren durchgebrannt. Der Hilfsgenerator konnte nur den A l a r m auslösen. Ich habe die Kabel i n z w i schen ausgewechselt.« »Wie kann es denn sein, dass die Verbindungskabel zum Hilfsgenerator bei einem Kurzschluss im Hauptgenerator durchbrennen?«, forschte Blanes weiter. Ein elektronisches Gezwitscher unterbrach sie. Carter nahm das Funkgerät vom Gürtel, aus dem neben dem Grundrauschen auch ein paar konfuse Wortfetzen drangen. »York sagt, sie wären bis zur Lagune vorgedrungen, aber von Señor Valente keine Spur«, erläuterte er, nachdem die Verbindung abgebrochen war. »Sie werden die Insel weiter absuchen.« »Und was w i r d jetzt m i t uns?« Carter legte die Hand in den breiten Stiernacken u n d ließ sich m i t der A n t w o r t Zeit, obwohl i h m Blanes' Frage keine großen Probleme bereiten durfte. Offenbar wollte er sie nur auf die Folter spannen, als sei es an der Zeit, den weisen Herrschaften zu zeigen, was das wirkliche Leben ist. U n d tatsächlich waren alle Augen auf i h n gerichtet. >Verlasst euch auf mich< schien seine Haltung ausdrücken zu wollen. U n d in gewisser Weise war Elisa dankbar, dass einer wie er unter ihnen weilte: Niemals würde sie mit Carter tanzen gehen, französisch essen oder auch nur im Park einen Spaziergang machen, aber in dieser Situation war sie froh, ihn dabeizuwissen. Menschen wie er wurden erst im Unglück erträglicher. »Es steht alles in den von Ihnen unterschriebenen Arbeitsverträgen. Bis zu einem anders lautenden Befehl liegt das K o m -
mando bei mir. Sämtliche wissenschaftlichen Aktivitäten sind ab sofort untersagt. Das Projekt pausiert. W i r packen die Koffer. Um die Mittagszeit soll der Regen nachlassen, vielleicht kann New Nelson dann von den Hubschraubern eines nahe gelegenen Stützpunkts angeflogen werden. Morgen darf außer dem Sucht r u p p niemand mehr auf der Insel sein.« Sie hatten diese Nachricht erwartet u n d in gewisser Weise sogar erhofft, nahmen sie jedoch ernst u n d schweigend auf. »Das Projekt einfach unterbrechen . . . « , sagte Blanes traurig. Trotz des Unglücks in den frühen Morgenstunden verstand Elisa seine Gefühle, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten. »Absatz fünf im Anhang zu den Vertraulichkeitsregeln.« Carter zitierte: »>In einer Situation, die für das beteiligte Personal u n bekannte Gefahren birgt, können die Sicherheitskräfte die U n terbrechung des Projekts auf unbestimmte Zeit anordnen.< Ich glaube, dass der Tod einer Kollegin u n d das Verschwinden eines Ihrer Kollegen in die Kategorie >unbekannte Gefahren< fallen. Bisher sprechen w i r von einer Unterbrechung, u n d ich glaube nicht, dass sie ewig dauern w i r d . Worauf es m i r jetzt ankommt, ist, Valente zu finden. Wenn ich Sie bitten darf, keine Zeit zu verlieren u n d Ihre Sachen zu packen.«
Elisa musste nicht viel packen. Was im Zimmer war, hatte sie rasch zusammengesucht, u n d als sie ins Bad kam, um dort alles Übrige einzusammeln, stellte sie fest, dass das Licht nicht f u n k t i o nierte, sicherlich infolge des Kurzschlusses. Die Fassung u n d die Glühbirne waren verkohlt, als hätten sie gebrannt. Sie beschloss, Frau Ross zu suchen und um eine Taschenlampe zu bitten. Während sie den Gang hinunterging, wirbelten tausend Fragen in ihrem Kopf herum. Warum ist er geflohen? Warum hat er sich versteckt? Hat er etwas mit Rosalyns Tod zu tun? Sie dachte nicht gern an Valente, weil unweigerlich Bilder aus ihrem seltsamen Traum hochkamen. U n d bei der Erinnerung daran fühlte sie sich wie gelähmt, und ihr stockte der Atem.
Ihr ganzes Leben hatte sie noch nie etwas so Schreckliches, A b stoßendes und zugleich Reales geträumt. Sie hatte sich sogar eingehend untersucht, um Spuren der vermeintlichen Vergewaltigung zu entdecken. Aber nur das leichte Ziehen im Unterleib, eine bereits schwächer werdende Überempfindlichkeit, hielt noch an. Sie versuchte sich einzureden, dass das Schrillen der A l a r m glocke verbunden m i t der Geschichte, die ihr Nadja vor einer Woche erzählt hatte, den A l b t r a u m bei ihr ausgelöst hatte. A n ders konnte sie sich das einfach nicht erklären. Sie fand Frau Ross in der Küche bei der Bestandsaufnahme der Vorräte. »Merkwürdig«, sagte diese, nachdem Elisa ihr Anliegen vorgebracht hatte. »Dir ist dasselbe passiert wie vor einer Woche Nadja ... Aber ich glaube nicht, dass es etwas mit dem Kurzschluss zu tun hat, bei m i r im Badezimmer geht das Licht nämlich noch. Es müssen die Leitungen sein. U n d mit der Taschenlampe, mal sehen ... Die Nachfrage nach Taschenlampen hat in den letzten Tagen überhand genommen«, erklärte sie, und ihr sanftes, kristallenes Lachen erinnerte Elisa an ihre A n k u n f t auf der Insel. Doch im nächsten M o m e n t wurde Frau Ross wieder ernst, als hätte sie eingesehen, dass an diesem Morgen jegliche Fröhlichkeit fehl am Platz war. »Ich würde dir meine borgen, aber ich muss noch mal ins Lager hinunter, u n d wenn dann wieder das Licht ausfällt, stoße ich m i r an den Kühlschränken das Schienbein ... Das hätte m i r gerade noch gefehlt. Kannst du nicht mal Nadja fragen? Ach, nein ... sie hat ja heute Morgen erzählt, dass ihre kaputt ist.« »Na gut, egal«, sagte Elisa. »Danke, Liebes. Aber da du schon mal hier bist ... Sag m i r doch bitte, was noch da oben im Schrank liegt. Du bist größer als ich und brauchst nicht erst auf einen Stuhl zu klettern.« Elisa ging auf die Zehenspitzen und zählte die Vorräte auf. Als sie Luft holte, gebot ihr Frau Ross Einhalt, um alles notieren zu können. Dann sagte Elisa in das Schweigen hinein: »Arme Rosalyn,
nicht wahr? Nicht nur wegen ... wie konnte sie ... wegen des Unfalls, meine ich, sondern wegen allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hat.« Frau Ross ließ sich nicht lange bitten, ihre Theorie zum Besten zu geben. Es gehörte schließlich zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, über Menschen und Ereignisse Theorien aufzustellen, da das wohl Teil ihrer Aufgabenstellung war. (»Ich war Assessorin«, hatte sie Elisa mal erzählt, ohne näher auszuführen, für wen und für was.) Frau Ross mutmaßte jedenfalls, dass sich Valente irgendwo auf der Insel versteckt hielt u n d just in dem Moment auftauchen würde, wenn sie aufbrachen. Aber warum versteckte er sich? Auch dazu hatte sie einiges zu sagen. »Herr Valente ist ein ziemlich ungewöhnlicher junger Mann«, begann sie vorsichtig. »Das Zeug, um einen Wettbewerb für wunderliche Wissenschaftler zu gewinnen, hätte er zumindest. Vielleicht hat er auch die Fähigkeit, die Herzen mancher Damen schneller zu erobern als andere, aber seine Anziehungskraft beruht hauptsächlich auf seiner Wunderlichkeit. Das ist es auch, was Rosalyn an i h m gefiel. Er hat sie dominiert, und ihr gefiel es ... Kommst du da h i n ten an die Tüten? Holst du sie bitte mal raus?« Ross kam ihr, den Notizzettel zwischen die Lippen geklemmt, zu Hilfe. Dann sagte sie: »Hat es dich nicht gewundert, dass Nadja in Valentes Z i m mer das Laken auf dem Boden gefunden hat? Wenn er den A n schein erwecken wollte, er wäre in seinem Bett, w a r u m hat er dann das Laken auf dem Boden liegen lassen? Irgendjemand muss vor Nadja im Zimmer gewesen sein und den Trick entdeckt haben, meinst du nicht auch?« Elisa begriff, dass Frau Ross ein sehr viel hellerer Kopf war, als man ihr zutraute. »Ich w i l l dir sagen, was ich glaube«, fuhr Cheryl Ross fort: »Rosalyn war verzweifelt, weil er sie links liegen ließ. Heute Nacht ist sie aufgestanden u n d in sein Z i m m e r gegangen, um m i t i h m zu reden. U n d als sie das Laken wegzog, hat sie gesehen, dass er nicht da war. Daraufhin hat sie i h n in der Station gesucht und im Kontrollzentrum angetroffen. Dass sie dort waren, ist si-
eher, denn die Tür stand sperrangelweit offen, als ich kam, u n d ich bin die Erste gewesen, noch vor den Soldaten. Ich habe einen sehr leichten Schlaf u n d war schon beim ersten Schrillen der Alarmglocke auf den Beinen. Aber weiter im T e x t . . . Vielleicht haben sie sich gestritten, wie letzte Woche in der Küche. Weißt du noch? Vielleicht haben sie sich so laut angeschrien, dass sie in die Generatorenkammer geflüchtet sind, damit niemand sie hört. Dort hat Rosalyn irgendwie einen Stromschlag bekommen, u n d er ist vor Schreck abgehauen, aber vorher hat er noch die Tür abgeschlossen. Bestimmt hatte er einen Zweitschlüssel. So sind die Männer, Kleines, das wirst du im Lauf des Lebens schon noch merken. Dabei braucht es nicht erst eine Ladung von fünfhundert Volt, damit sie uns irgendwo in der Ecke liegen lassen u n d das Weite suchen.« »Aber w a r u m sollte Ric seine Decke so drapieren? Was hatte er vor?« Frau Ross k n i f f ein Auge zusammen. »Das wiederum kann ich dir nicht sagen. Aber es wäre sicher interessant, es herauszubekommen, das w i l l ich meinen.« In diesem Moment wurden sie von Stevenson unterbrochen m i t der Nachricht, die Hubschrauber würden schneller zur Stelle sein als erwartet. Frau Ross ging zur Bodenluke des Vorratskellers. »Danke für deine H i l f e . Ich bringe dir gleich meine Taschenlampe, wenn ich fertig bin.« Elisa kehrte zu ihrem Zimmer zurück u n d packte weiter. Ihr brummte der Schädel von all den Fragen: Warum musste er den Anschein erwecken, er liege im Bett? Und wo steckt er jetzt? Deshalb hörte sie nicht, als hinter ihr die Tür aufging. »Elisa.« Es war Nadja. Bei deren Gesichtsausdruck - und Elisa glaubte sie gut zu kennen - vergaß sie Valente u n d machte sich gefasst auf eine neue grauenhafte Überraschung.
»Sieh nur diesen Rand ... Fällt dir etwas auf? U n d da ...« Nadjas Finger flogen über die Tastatur. Seit fünfzehn M i n u t e n
hockten sie in Silbergs Labor. Sie waren d o r t h i n ausgewichen, weil Jacqueline Clissot im Labor nebenan immer noch Rosalyn Reiters Leichnam untersuchte u n d die beiden sie dabei nicht stören u n d - was Elisa betraf - ihr gewiss auch nicht helfen wollten. Nadja hatte verschiedene Einstellungen v o m Gesicht der Frau in Jerusalem durchprobiert, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Sie hatte Elisa ihre These nicht unterbreiten wollen, m i t Recht, wie sie behauptete. »Ich habe seit gestern darüber nachgedacht. U n d wollte erst m a l sicher sein, bevor ich dir davon erzähle, aber als es heute Morgen hieß, dass w i r abreisen u n d die Bilder hier bleiben, da wollte ich nicht warten ...« Trotz Silbergs u n d Blanes' Protest war Carter fest geblieben: Bis auf das Ganze Glas galten sämtliche während der Versuche gewonnenen Bilder - das Ewige Eis, der Sonnensee u n d die Frau in Jerusalem - als »klassifiziertes Material« u n d würden die I n sel nicht verlassen. Zudem hatte die Eagle Group aus Sicherheitsgründen angeordnet, dass die Bilder vorläufig nur Projektteilnehmern vor die Augen kommen durften. Man wollte nicht das Risiko eingehen, andere durch den Impact zu gefährden, weil dessen Symptomatik noch zu wenig bekannt war. Elisa fand das alles durchaus nachvollziehbar, andererseits kam es ihr schrecklich vor, dass derart einzigartige Bilder, ohne Kopie, einfach dableiben sollten. »Beeil dich, was auch immer du vorhast«, drängte sie. »Warte mal kurz ... Oh, Scheiße«, rief Nadja auf Spanisch, »schon wieder weg ... Worüber lachst du?« »Oh, Scheiße«, sagte Elisa. »Sagt man das nicht so auf Spanisch?« Nadja ballte unversehens die Fäuste. »Ah, da ist es. Schau m a l . . . « Elisa beugte sich vor u n d betrachtete den zweigeteilten Bildschirm: links im Vordergrund ein ganz scharfes Bild der grässlichen Gesichtszüge der Frau in Jerusalem, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Schädel klaffte bis aufs Gehirn wie ein einziger blutverschmierter Krater. Auf der rechten Seite waren zwei gebo-
gene Stäbe oder eine Astgabel zu sehen, die Elisa nur erkannte, weil sie mit einem einzigartigen Schimmer übergössen zu sein schienen. Doch sie wusste nicht, was ihr die Freundin zeigen wollte. »Und?« »Vergleich die beiden Bilder.« »Nadja, w i r haben jetzt keine Zeit für ...« »Bitte.« M i t einem M a l glaubte Elisa zu verstehen. »Die Beine der D i nos, die sind ... verletzt?« Nadjas A l b i n o k o p f nickte zustimmend. Die beiden wechselten im dämmrigen Labor einen Blick. »Es fehlen ganze Stücke, Elisa. Jacqueline n i m m t an, andere Raubtiere hätten ihnen diese Wunden zugefügt oder es seien Krankheitsfolgen. Aber ich hatte da eine Idee. Zuerst kam sie m i r zwar abwegig vor, doch dann habe ich beschlossen, ihr nachzugehen ... Siehst du diese Schnittlinien, hier u n d hier? Das sind keine Reißspuren. U n d die sind den anderen da sehr ähnlich ...« Sie wies auf das Gesicht der Frau. »Das muss Zufall sein, Nadja. Eine Ähnlichkeit, einfach so. Das eine Bild stammt aus dem Jahr dreiunddreißig nach christlicher Zeitrechnung und das andere von vor hundertfünfzig M i l l i o n e n Jahren...« »Das weiß ich. Ich rede nur von dem, was ich sehen kann! U n d von dem, was auch du siehst!« »Ich sehe nur ein zerstörtes Gesicht.« »Und die zerstörten Beine der Reptilien ...« »Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu t u n , Nadja!« »Ich weiß, Elisa!« Einen Augenblick lang starrten sie sich an, die Gesichter dicht voreinander. Elisa lächelte. »Ich glaube, bei dem ganzen Spuk hier verlieren w i r allmählich den Verstand. Im Grunde b i n ich froh, dass w i r heute abreisen.« »Ich auch, aber findest du nicht, dass es ein ziemlich merkwürdiger Zufall ist?«
»Es ist jedenfalls...« »Ich w i l l dir noch was verraten.« Nadja senkte die Stimme, bis nur noch ein Flüstern zu hören war, doch ihre klaren, weit aufgerissenen Augen schienen zu schreien: »Wusstest du, dass Rosalyn den M a n n auch gesehen hat?« Elisa brauchte nicht nachzufragen, wer gemeint war, u n d beschränkte sich darauf, Nadja schaudernd zuzuhören. »Vor ein paar Tagen saß sie nachmittags allein in ihrem Z i m mer, u n d ich b i n hingegangen, um mich ein bisschen m i t ihr zu unterhalten. Ich weiß nicht mehr, wie w i r darauf gekommen sind, ich glaube, es ging darum, dass w i r so schlecht schlafen. Da habe ich ihr von meinem Albtraum erzählt... Vielmehr von dem, was du für einen A l b t r a u m hältst. Sie hat mich angeschaut u n d m i r gestanden, dass sie wenige Tage zuvor einen ganz ähnlichen ... Traum hatte. Er hat sie zu Tode erschreckt. Sie hat von einem M a n n ohne Gesicht geträumt, Elisa, dessen Augen ...« »Sei ruhig, bitte!« »Was hast du denn?« Elisa fing plötzlich an zu lachen. »Ich habe heute Nacht auch so etwas geträumt. Mein G o t t . . . « Das Gelächter brach nur so aus ihr heraus u n d schlug dann um in ein verzweifeltes Schluchzen. Nadja legte einen A r m um sie. Keuchend blieben die beiden jungen Frauen nebeneinander sitzen, die Umrisse ihrer Körper zeichneten sich vor dem leuchtenden M o n i t o r ab. Elisa verspürte Angst, nicht das vage Unbehagen, das sie den ganzen Tag begleitet hatte, sondern eine k o n krete, ganz reale Angst. Ich habe auch von diesem Mann geträumt. Was hat das zu bedeuten? Sie blickte in die Runde, zu den Schatten, die sich um sie her verdichteten. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Nadja. »Bestimmt hast du Recht, u n d es sind Albträume. W i r haben uns gegenseitig damit angesteckt.« Jetzt waren vom Barackenflur her Stimmen zu hören: Blanes, M a r i n i . . . Offenbar war der Auszug aus dem Paradies schon im Gang.
In diesem Augenblick tat sich ohne Vorwarnung die Tür z w i schen den beiden Labors auf, so dass sie zusammenzuckten. A u f der Schwelle erschien Jacqueline Clissot, ging ein paar Schritte in den Raum hinein, als wollte sie i h n durchqueren, u n d blieb dann stehen. Elisa wunderte sich über ihr Aussehen. Jacqueline Clissot wirkte, als wäre sie kopfüber, in voller M o n t u r in ein Schwimmbecken gesprungen. Aber auf den zweiten Blick erkannte Elisa, dass die Feuchtigkeit kein Wasser sein konnte, die ihr die Haare an die Schläfen klebte, auf ihrem Gesicht glänzte u n d ihr die eng anliegende Bluse durchtränkte, dass zwischen Brüsten u n d Achseln ein kreisrunder Fleck entstand. Die Paläontologin war schweißgebadet. »Bist du schon fertig, Jacqueline?« Nadja erhob sich. »Wie ist ...?« »Habt ihr Carter gesehen?«, schnitt ihr Clissot m i t einer Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, das Wort ab. »Ich habe i h n schon zweimal angefunkt, aber er antwortet nicht.« Die jungen Mädchen schüttelten die Köpfe. Elisa hätte sehr gern Jacqueline Clissots Meinung über den Zustand des Leichnams gehört, fand aber keine Gelegenheit nachzufragen, denn im gleichen Moment wurde die Tür zum Flur aufgerissen. Mendez streckte den Kopf herein u n d sagte in einem Englisch m i t spanischem Akzent: »Tut m i r Leid, Sie müssen alle zum Vorführsaal kommen. Die Hubschrauber sind bereits im Anflug.« »Ich muss H e r r n Carter sprechen«, trug Clissot i h m auf. Sie öffnete einen Treteimer u n d warf ihren Mundschutz hinein. »Es ist dringend.« Aber wo Mendez gestanden hatte, war unversehens Colin Craig aufgetaucht. »Entschuldigung, hat von euch jemand Frau Ross gesehen?« »Sie ist wahrscheinlich im Vorratskeller«, sagte Elisa. »Danke!« Craig deutete ein höfliches Lächeln an u n d verschwand. »Ich muss vor unserem Aufbruch unbedingt m i t Carter sprechen. Wenn ihr ihn seht, dann richtet i h m das bitte aus. Ich gehe
zum Hubschrauberlandeplatz, nachschauen, ob er d o r t ist.« Jacqueline Clissot folgte Craig auf den Gang u n d war ebenfalls weg. »Scheint ziemlich nervös zu sein«, murmelte Nadja. »Das sind w i r alle.« »Aber sie war es nicht, bevor ...« Elisa wusste, was Nadja sagen wollte: Bevor sie Rosalyn untersucht hat. »Du m i t deinen Gespenstern«, sagte sie zu Nadja, fragte sich aber gleichzeitig, was Jacqueline Clissot an Rosalyns Leichnam entdeckt haben mochte, dass sie es so dringend melden musste. »Komm, w i r hinterlassen alles, wie w i r es vorgefunden haben.« Während sie gemeinsam m i t Nadja die Dateien schloss u n d den Rechner herunterfuhr, wollte sie nur weg von dort. Die I n sel war ihr plötzlich unerträglich, all das Kommen u n d Gehen, das fortwährende Starten u n d Landen der Hubschrauber m i t i r gendwelchen Leuten an Bord, das undurchschaubare Aufgebot des Militärs. Sie hatte Sehnsucht nach der Einsamkeit ihrer eigenen vier Wände oder irgendeiner Wohnung. »Ich komme gleich hinterher«, sagte Nadja. »Ich muss nur noch ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen.« Sie trennten sich auf dem Flur, und Elisa ging in Richtung Ausgang. Offenbar hatte es draußen zu regnen aufgehört, doch der H i m m e l war noch wolkenverhangen. Dennoch verspürte sie den Drang, so schnell wie möglich ins Freie zu kommen. Sie kam gerade am Speisesaal vorüber u n d hatte den Ausgang fast erreicht, da hörte sie die Schreie.
Irgendwo unter ihren Füßen war ihr Ursprung, und Elisa konnte ihre Schuhsohlen buchstäblich vibrieren spüren, als kündigte sich ein Erdbeben an. Sie stutzte kurz, aber dann dämmerte es ihr: das Vorratslager. Sie rannte zum Speisesaal u n d fand ihn leer. Oder nicht ganz: Silberg war als Erster zur Stelle (vielleicht war er sowieso im Speisesaal gewesen) u n d rannte in die Küche.
Ihr war, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Dem deutschen Professor dicht auf den Fersen, folgte sie i h m zur offenen Kellerluke. Silberg verschwand halb in dem Loch. Neben Elisa fiel ein Schatten auf den Boden. »Was ist passiert?«, fragte Nadja außer Atem. »Wer schreit da so?« Silberg hielt inne und betrachtete etwas zu seinen Füßen. Jetzt wurden die Schreie heller, und es mischte sich ein Husten u n d Keuchen hinein. Zunächst hatte Elisa an Frau Ross gedacht, aber es war eine Männerstimme. Dann tat Silberg in ihren Augen etwas Schreckliches: Er kletterte schwerfällig wieder die drei Treppenstufen hoch, die er h i nuntergestiegen war. Dann verließ er rückwärts die Bodenluke, schüttelte dabei den Kopf u n d fuchtelte m i t den großen Händen herum: »Nein ... nein ... nein . . . « , wimmerte er. Diesen stattlichen M a n n wie ein verzweifeltes K i n d heulen zu sehen, das Gesicht eine wächserne Maske, machte Elisa mehr zu schaffen als das Geschrei aus dem Keller. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Ein Paar Hände tauchte auf, behandschuhte Hände. Ein Soldat. Er trug weder H e l m noch Maschinengewehr, aber Elisa erkannte ihn sofort. Der junge Stevenson schien auf der Flucht: Er rannte zur Wand, auf Silberg zu, zur gegenüberliegenden Seite, taumelte wie ein angeschlagener Boxer. Dann sank er auf die Knie u n d übergab sich. Die Luke stand offen, ein klaffendes, schwarzes Loch, das zu fragen schien: »Wer ist der Nächste?« Ein zahnloses, hungriges Maul. Elisa machte einen Schritt darauf zu u n d wurde abrupt zur Seite gestoßen. »Sie können da nicht hinein!«, tobte Carter. Er hatte eine Pistole im Anschlag. »Stillgestanden! Alle, stillgestanden!« In der anderen Hand hielt er eine brennende Taschenlampe, ohne Zweifel ebenso nützlich oder sogar noch nützlicher als die Pistole, denn am Fuß der Kellertreppe verschlang i h n die Finsternis m i t Haut u n d Haar.
Inzwischen waren weitere Leute herbeigelaufen. Ein Soldat, es war York, in Stiefeln u n d schlammbespritzter Hose, versuchte vergeblich, Stevenson zu beruhigen; Blanes u n d M a r i n i diskutierten m i t Bergetti... U n d von unten war ebenfalls ein Tumult zu hören. Elisa erkannte genau Colin Craigs Stimme: »An der Wand! Sehen Sie es denn nicht? An der Wand!« U n d m i t einem M a l begriff Elisa, dass es die ganze Zeit über Craig gewesen war, der geschrien hatte. Entschlossen machte sie sich v o n Nadja los u n d begann h i nabzusteigen in die Tiefe, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen, während vor ihrem inneren Auge noch einmal Szene für Szene die Ereignisse des frühen Morgens abliefen, die gleichen Entsetzensschreie, die Dunkelheit, die Verwirrung, die Schatten. M i t einem Unterschied: Diesmal hinderte sie kein Mensch daran, weiterzugehen, sondern das, was sie sah. Sie sollte es niemals vergessen. Nach Jahren noch sollte sie sich daran erinnern, als hätte die Zeit stillgestanden oder wäre bloß eine Farce, die gut getarnte immerwährende, ewig verharrende Gegenwart. Carter befand sich unten im Raum m i t den Kühlschränken. Elisa erkannte i h n an seinen Umrissen im Lichtkegel der Taschenlampe. Alles andere, alles, außer Carters schwarzer Gestalt, war von oben bis unten m i t einer dichten, zähen Farbe bedeckt, die Wände, der Boden und die Decke der angrenzenden Kammer. Alles war blutrot. Als wäre Carter von einer riesigen Bestie verschlungen w o r den u n d befände sich jetzt im Magen des Ungeheuers, wo er jeden M o m e n t verdaut werden würde. Sie war nicht imstande, weiter hinunterzusteigen. Der Anblick lähmte sie, u n d sie stockte auf halber Treppe, genau wie vor ihr Silberg. Dann bemerkte sie, dass jemand sie am A r m zog - offenbar ein Soldat, denn da waren Handschuhe. U n d ein Schwall wütender Befehle quoll aus den Tiefen des Kellers zu ihr herauf: »Niemand soll näher k o m m e n ! Raus m i t den Zivilisten! Raus m i t den Scheißzivilisten!«
Die Hände zerrten weiter an ihr, fassten sie dann unter den Achseln und hoben sie hinauf ans Licht. Da dröhnte der Donnerschlag, anschließend wurde es gleißend hell.
»Damals sind w i r alle gestorben«, sagte Elisa zehn Jahre später zu Victor.
V. DIE VERSAMMLUNG
Die Zukunft beunruhigt und die Vergangenheit hält uns fest. Gustave Flaubert
20
Madrid 11. März 2015 23.51 Uhr »Ich verlor das Bewusstsein. Ich kann mich an einen Hubschrauberflug erinnern. Ein A l b t r a u m . Ich wachte auf u n d wurde sof o r t wieder bewusstlos ... M a n gab m i r ein Sedativ. Später haben sie m i r erzählt, dass das Brennstofflager neben der Kasematte explodiert sei, als einer der Hubschrauber beim Landeanflug die Kontrolle verlor u n d hineinstürzte. Bei der Explosion seien neben der Hubschrauberbesatzung die Soldaten Méndez u n d Lee ums Leben gekommen, die sich gerade im Freien aufhielten. Die ganze Militäranlage sei zerstört worden, das Kontrollzentrum stark beschädigt, und die Labors seien samt u n d sonders eingestürzt. W i r dagegen ... hätten Glück gehabt, so drückten sie es aus.« Sie lachte leise. »In der Küche waren w i r einigermaßen in Sicherheit, u n d das war unser vermeintliches Glück ... Dabei kam es darauf nicht mehr an, denn w i r waren schon tot, aber w i r wussten es noch nicht.« Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Natürlich haben sie uns n u r die halbe Wahrheit erzählt.« Victor zuckte zusammen, als sie die linke Hand hob. Er überwachte jede von Elisas Bewegungen, seit sie i h n gebeten hatte, in eine Lieferanteneinfahrt zu biegen u n d dort zu halten. Nicht, dass er ihr nicht vertraut hätte, aber die Geschichte, die sie i h m da erzählte, das nächtliche Dunkel u n d die Tatsache, dass sie i m mer noch das Schlachtermesser fest umklammerte, trugen nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Doch Elisa warf lediglich einen Blick auf ihre Digitaluhr. »Es ist spät geworden, fast zwölf U h r nachts. Ich kann m i r vorstellen, dass du ein paar Fragen hast, aber vorher musst du m i r noch eines sagen. Kommst du m i t zu der Versammlung?« Die geheimnisvolle Versammlung um halb eins. Victor war so in diese ungeheuerliche Geschichte eingetaucht, dass er sie völlig vergessen hatte. Er nickte. »Wenn du allerdings . . . « , begann er. Da wurden plötzlich ihre Schatten lebendig, von hinten durch die Heckscheibe angestrahlt, wuchsen sie gleichsam an den Seiten u n d an der Decke empor. Im selben Moment hörten sie auf dem Schotter hinter sich das Knirschen von Autoreifen. »Mein Gott, fahr los!«, schrie Elisa. »Schnell, weg hier!« Im ersten Augenblick zweifelte Victor, ob seine Fahrkünste für eine Verfolgungsjagd ausreichten, doch die Wirklichkeit belehrte ihn eines Besseren. Er drehte den Zündschlüssel u n d gab fast im gleichen Moment Gas. Die Reifen klebten quietschend am Asphalt, kamen los. Unwillkürlich sah er sie vor seinem inneren Auge Funken sprühen. M i t einem geschickten Manöver bekam er den Wagen unter Kontrolle. Als sie auf der Autobahn in Richtung Burgos weiterfuhren, traf er zwei Feststellungen: Die befriedigendere war, dass der Lieferwagen, oder was für ein Auto auch immer auf dem Parkplatz so dicht aufgerückt war, sie nicht mehr verfolgte (vielleicht war es falscher A l a r m gewesen?); die andere, dass er zwar eine unbändige Angst ausstand u n d schlotterte wie ein rappelnder alter Wecker auf dem Nachttisch, aber langsam kapierte, dass er m i t t e n im größten Abenteuer seines Lebens steckte u n d das m i t niemand Geringerem als Elisa Robledo an seiner Seite. Das Abenteuer seines Lebens. Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, und er gestattete sich sogar - was er sonst nie tat -, die Geschwindigkeitsbegrenzung zu überschreiten. Vorschriften zu missachten lag i h m fern, er wollte nur in dieser einen Nacht ein M a l eine Aus-
nähme machen. I h m war, als würde er eine Schwangere m i t Wehen ins Krankenhaus bringen. Dieses eine M a l wollte er sich das erlauben. Elisa, die m i t verdrehtem Oberkörper nach hinten schaute, lehnte sich wieder keuchend im Sitz zurück. »Sie verfolgen uns nicht. Noch nicht. Vielleicht könnten w i r . . . Hast du keinen Bordcomputer?« »Nein, noch nicht einmal GPS oder Galileo. Ich wollte so was nie haben. Ich habe eine Straßenkarte, ganz klassisch, im H a n d schuhfach ... Meine Güte, war das ein Schreck! Ich wusste gar nicht, dass ich so fahren kann ..., loszischen wie ein geölter Blitz ...« Er drosselte das Tempo u n d kaute auf der Unterlippe. »Luis >Lo-opera< hätte m i c h mal sehen sollen.« Dann schob er an sie gewandt nach: »Ich rede von meinem Bruder.« Elisa hörte i h m nicht zu. Sie entfaltete Rechtecke aus Papier u n d hantierte im Licht der gelben Innenraumbeleuchtung her u m . Ihr kohlschwarzes Haar hing so weit nach vorn, dass er auf den Anblick ihres hübschen Gesichts verzichten musste. »Fahr weiter bis San Agustín de Guadalix u n d dort auf die Umgehungsstraße nach Colmenar.« »Ist gut.« »Victor...« »Ja?« »Danke.« »Sag doch so was nicht.« Er spürte, wie ihre Finger seinen A r m zart streiften, und erinnerte sich daran, wie er einmal die Weihnachtsferien m i t der Familie seines Bruders verbracht hatte u n d unbemerkt so dicht ans Lagerfeuer geraten war, dass i h n ein ähnlicher Schauer überlaufen hatte wie soeben. »Jetzt wäre der richtige M o m e n t für Fragen u n d Ideen«, sagte sie, die Landkarte zusammenfaltend. »Du hast m i r noch nicht erzählt, was tatsächlich im Vorratskeller passiert ist. Du behauptest ja, man habe euch nur die halbe Wahrheit gesagt.«
»Gleich, zuerst w i l l ich wissen, ob Fragen zu dem bisherigen Bericht bei dir aufgetaucht sind.« »Fragen, die bei m i r aufgetaucht sind? Ehrlich gesagt, hätte ich schon Schwierigkeiten, dir zu antworten, wenn du mich in diesem Augenblick fragen würdest, wer ich b i n . Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Das Ganze ist so ... ich weiß auch n i c h t . . . « »Seltsam, stimmt's? Das Seltsamste, was du je gehört hast. U n d aus genau diesem G r u n d müssen w i r uns so verhalten, wie w i r uns noch nie verhalten haben. Wenn w i r es verstehen wollen, müssen w i r selber auch seltsam sein, Victor.« Der Vorschlag gefiel i h m . Vor allem weil er von einer Frau kam wie ihr: weit ausgeschnittenes T-Shirt, Lederjacke m i t Reißverschluss, Jeans und obendrein ein langes Messer auf den Knien, während sie mit zweihundert Stundenkilometern durch die Nacht brausten. Gleich darauf schoss i h m der Gedanke durch den Kopf, dass auf der Versammlung, zu der sie unterwegs waren, auch andere Leute sein würden u n d er nicht mehr m i t ihr allein wäre. Ein ernüchternder Gedanke. Er entschied sich für eine unverfängliche Frage. »Hast du eigentlich Beweise für ... das Ganze? Ich meine ... hast du eine Kopie aufgehoben von den Aufnahmen der Dinosaurier u n d dieser Frau in Jerusalem?« »Ich habe dir doch gesagt, dass sie uns nicht erlaubt haben, i r gendetwas mitzunehmen. Eagle behauptet sogar, die einzigen Abzüge wären bei der Explosion vernichtet worden. Vielleicht ist das nur eine von ihren Lügen, aber das soll m i r jetzt auch egal sein.« »Und wie k o m m t es, dass die Wissenschaftsgemeinde nicht darüber informiert ist? Das ist i m m e r h i n zweitausendfünf passiert, vor zehn Jahren also ... Über große technologische Fortschritte w i r d normalerweise nicht so lange geschwiegen.« Elisa dachte über die A n t w o r t nach. »Die Wissenschaftsgemeinde besteht aus uns Wissenschaftlern, Victor. Viele unserer Kollegen haben in den vierziger Jahren die Möglichkeit erwogen, Nuklearbomben zu bauen, und waren dann genauso überrascht
wie alle anderen auch, als plötzlich Tausende von Japanern in die Luft flogen. Etwas für möglich zu halten ist das eine, aber dabei zuzusehen, wie es geschieht, steht auf einem ganz anderen Blatt.« »Selbst dann ...« »Armer Victor«, sagte sie, worauf er ihr flüchtig einen Blick zuwarf. »Du hast m i r kein einziges Wort geglaubt, stimmt's?« »Natürlich habe ich dir geglaubt. Die Insel, die Experimente, die Aufnahmen ... Es ist nur ... ganz schön viel für eine einzige Nacht.« »Du glaubst doch, ich rede irres Zeug.« »Nein, bestimmt nicht!« »Glaubst du w i r k l i c h , dass es so etwas wie das Zickzack-Projekt gegeben hat?« Die Frage zwang i h n z u m Nachdenken. Glaubte er ihr? Sie hatte i h m ganz detailliert davon erzählt, aber vielleicht hatte er selbst sich das Ganze ja auch nur vorgestellt. Wie war es ihr gelungen, seine Datenautobahnen im Gehirn für diese wahre Flut von unfassbaren Informationen freizuschaufeln? U n d die f o l genschwerste Frage: Hatte er w i r k l i c h begriffen, was es bedeutete, wenn sie i h m die Wahrheit gesagt hatte? Die Vergangenheit sehen ... Die >Mammutbaum<-Theorie gestattet uns, Zeit-Strings des sichtbaren Spektrums zu öffnen und das aktuelle Bild in ein Bild der Vergangenheit zu verwandeln. Es schien i h m ... möglich. Unwahrscheinlich. Fantastisch. Nachvollziehbar. Absurd. Wenn es zutraf, dann war das eine entscheidende Wende in der Geschichte der Menschheit. Aber wie sollte er ihr glauben? Bis jetzt wusste er bloß, was alle Physiker wussten: dass Blanes' Theorie mathematisch reizvoll war, aber kaum beweisbar. U n d was alle anderen sonderbaren Ereignisse betraf - geheimnisvolle Schatten, unerklärliche Todesfälle, nächtliche Erscheinungen m i t weißen Augen -, wenn er sich nur darauf stützen konnte, auf derart irreale Dinge, wie sollte er da daran glauben? Er beschloss, aufrichtig zu sein. »Nein, ich glaube nicht daran ... Das heißt, es erscheint m i r der reine Wahnsinn, hier, in meinem Auto auf dem Weg nach Burgos, vor kaum einer halben
Stunde vom größten Durchbruch seit der Entdeckung der Relativität erfahren zu haben. Es tut m i r Leid, aber ich kann n i c h t . . . Ich kann es einfach nicht fassen. Dennoch kann ich dir m i t der gleichen Bestimmtheit versichern, dass ich dir wiederum glaube. Trotz deines merkwürdigen ... Verhaltens, Elisa.« Er schluckte, dann rückte er heraus m i t der Sprache. »Ich w i l l ehrlich zu dir sein: Heute Nacht ist m i r einiges durch den Kopf gegangen ... Ich weiß zum Beispiel immer noch nicht, vor wem w i r eigentlich fliehen; und ich kenne auch nicht den Grund, weshalb du ein ... ein Messer dabeihast ... da in deiner Hand ... Das hat m i c h alles ziemlich verunsichert u n d mich an dir u n d auch an m i r selbst zweifeln lassen. Was du m i r erzählt hast, ist m i r genauso rätselhaft wie dein ganzes Verhalten. Das k o m m t m i r vor wie ein Bilderrätsel, das kniffeligste in meinem Leben. Immerhin habe ich mich zu einer Lösung durchgerungen. Meine Lösung lautet: Dir glaube ich, aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch nicht an das glauben, woran du glaubst. Kannst du m i r so weit folgen?« »Durchaus. U n d ich danke dir für deine Aufrichtigkeit.« Sie atmete tief durch. »Mit dem Messer hier habe ich gar nichts vor, bestimmt nicht, aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch nicht darauf verzichten, genauso wenig, wie ich auf dich verzichten möchte. Später wirst du es verstehen. Wenn alles läuft wie geplant, wirst du das Ganze in wenigen Stunden verstehen und m i r glauben können.« Die Sicherheit in Elisas Ton jagte Victor einen Schauer über den Rücken. Ein einsames Straßenschild kündigte die Umgehungsstraße nach Colmenar an. Er verließ die Autobahn und bog auf eine schmale zweispurige Landstraße, so düster u n d gefährlich wie seine eigenen Gedanken. Er glaubte zu träumen, als er ihre Stimme wieder vernahm. »Ich will dir noch den Rest erzählen, so wie man es m i r erzählt hat. Nach dem Flug im Hubschrauber bin ich auf einer anderen Insel aufgewacht. Sie lag in der Ägäis, ihren Namen solltest du lieber nicht erfahren. Anfangs habe ich keine Menschenseele gesehen, nur ein paar Männer in weißen Kitteln. Sie haben m i r berich-
tet, Cheryl Ross sei unter dem Einfluss des Impacts durchgedreht u n d habe sich das Leben genommen, im Vorratsraum von New Nelson. M i r kam das absurd vor. Ich hatte doch kurz zuvor noch mit ihr gesprochen ... Ich habe ihnen nicht geglaubt.« Victor unterbrach sie, um ihr die Frage zu stellen, die ihn w i r k lich beschäftigte. »Und Ric?« »Zu i h m wollten sie sich nicht äußern. Während der ersten Woche haben sie eine Unmenge Untersuchungen m i t m i r angestellt, Blut, U r i n , Röntgenbilder, Ultraschall, alles Mögliche. U n d nach wie vor bekam ich keinen von den anderen zu Gesicht. A l l mählich begann ich, die Geduld zu verlieren. Die meiste Zeit war ich in einem Zimmer eingesperrt. Sie hatten m i r die Kleider weggenommen u n d beobachteten mich m i t ihren Überwachungskameras: alles, was ich tat, jede Bewegung, als wäre ich ... ein Tier.« Elisas Stimme bebte u n d klang erstickt, als sei ihr übel. »Ich durfte m i c h nicht anziehen und konnte mich nirgendwo verstecken. Die Erklärung, die sie m i r dazu stets über Lautsprecher u n d nie ins Gesicht sagten, lautete, sie müssten feststellen, ob mein Zustand stabil sei. Eine A r t Quarantäne, so nannten sie es. Es gelang mir, eine Weile durchzuhalten, aber nach der zweiten Woche war ich m i t den Nerven am Ende. Ich habe Krach geschlagen, geschrieen, um mich getreten, bis sie endlich kamen, m i r einen Bademantel zugestanden u n d Harrison herbeiholten. Den Typ, der bei Carter war, als ich in Zürich den Vertrag unterschrieben habe, weißt du? Allein sein Anblick war m i r z u w i der: sachlich, bleich, die Augen kälter, als man es sich vorstellen kann ... I m m e r h i n hat er m i r die so genannte >Wahrheit< gesagt.« Sie machte eine Pause. »Was ich dir jetzt anvertraue, ist nicht besonders angenehm. Es tut m i r Leid.« »Keine Sorge.« Er k n i f f die Augen zu Schlitzen zusammen, als wären sie es und nicht die Ohren, welche die unangenehme Nachricht empfangen sollten. »Harrison hat erzählt, dass es Ric Valente war. Er soll Rosalyn Reiter u n d Cheryl Ross umgebracht haben.«
Victor murmelte undeutlich ein Gebet, ein paar stille Worte. Ric war schließlich in der Kindheit sein bester Freund gewesen. Der arme Ric. »Der Impact habe ihn mehr als jeden anderen von uns verändert. Sie vermuteten, daß er an jenem denkwürdigen Samstag im Oktober mitten in der Nacht das Zimmer verlassen hat, nachdem er seine Decke zu einer Puppe zusammengerollt hatte, um so zu t u n , als ob er weiter dort liege u n d schlafe. Dann soll er Rosalyn unter irgendeinem Vorwand zum Kontrollzentrum gelockt haben. Dort hat er sie geschlagen und gegen den Generator geschleudert ... Anschließend muss er etwas getan haben, auf das niemand gekommen wäre: Er hat sich in einem der Kühlschränke im Vorratskeller versteckt, die offenbar infolge des Kurzschlusses nicht mehr funktionierten, u n d dort blieb er hocken, während die Soldaten alles abgesucht haben. Deshalb konnte i h n keiner finden. Als dann Cheryl Ross aufgetaucht ist, hat er sie niedergeschlagen. Er hatte sich ein Messer oder ein Beil besorgt. Daher all das Blut an den Wänden, das ich gesehen habe. Nachdem er sie getötet hatte, nahm er sich selbst das Leben. Colin Craig hat die beiden Leichen entdeckt, als er in den Vorratskeller kam, u n d angefangen zu schreien. Minuten später hat sich durch einen u n glücklichen Zufall der Unfall m i t dem Hubschrauber ereignet. Das ist alles.« Victor nahm die Nachricht von Ries Tod gelassen auf, hatte er davon doch schon gewusst. Seit zehn Jahren hatte er davon gewusst, allerdings bis dato nur die bekannte Version, also die offizielle, die er sich unzählige Male versucht hatte, bildlich vorzustellen: Sein Freund aus Kindertagen sei bei einer Explosion des Laboratoriums in Zürich ums Leben gekommen. »Diese Erklärung mag in deinen Ohren vielleicht konstruiert klingen«, fuhr Elisa fort, »aber wenigstens war es eine Erklärung, u n d genau die habe ich dringend gebraucht. Außerdem ist Ric tatsächlich gestorben: Man hat seinen Leichnam im Vorratskeller gefunden, es gab eine Beerdigung, die Eltern wurden benachrichtigt. Diese neuen Auskünfte waren jedoch vertraulich. Fami-
lie, Freunde und der Rest der Welt wussten nur, dass es in Blanes' Züricher Labor eine Explosion gegeben hatte und dass die einzigen Opfer Rosalyn Reiter, Cheryl Ross und Ric Valente seien. Dieses Märchen wurde sehr geschickt in die Welt gesetzt. Es hat in Zürich sogar eine echte Explosion gegeben, allerdings ohne Opfer, nur um die Nachricht glaubwürdig zu machen. Uns wurde unter Eid verboten, die andere Version weiterzuerzählen. W i r durften auch nicht miteinander darüber sprechen oder Kontakt zueinander halten. Eine Zeit lang, während w i r wieder ins normale Leben zurückkehrten, wurden w i r streng überwacht. Harrison behauptete, das sei >zu unserem eigenen Bestens Denn der Impact könnte noch andere, unbekannte Folgen haben, so dass w i r vorsichtshalber noch eine Weile beobachtet werden sollten. W i r sollten Tabula rasa machen und von vorn beginnen. Jedem von uns beschafften sie eine Stelle und ermöglichten uns so einen Neuanfang ... Ich b i n nach M a d r i d zurückgekehrt, habe bei N o riega meine Doktorarbeit geschrieben und dann als Hochschullehrerin an der Alighieri begonnen.« Sie verstummte, und Victor dachte schon, sie sei fertig. Er hob gerade an, etwas zu sagen, als sie hinzufügte: »Auf diese Weise sind alle meine Illusionen zunichte gemacht worden, ich hatte keine Lust mehr an der Forschung, ja nicht einmal mehr Interesse für die Arbeit an der Uni.« »Und du bist nie wieder nach New Nelson zurückgekehrt?« »Nein.« »Das ist w i r k l i c h zu bedauern. Ein Projekt wie das aufgeben zu müssen, nachdem ihr solche Ergebnisse vorzuweisen hatt e t . . . Ich verstehe dich. Das muss verdammt schwer für dich gewesen sein.« Elisa sah ihn nicht an. Sie hielt den Blick starr auf die dunkle Landstraße geheftet. Dann sagte sie schroff: »Nie in meinem ganzen Leben habe ich mich über etwas so sehr gefreut.«
Sie fixierten das Bild auf dem zusammenfaltbaren Monitor, der wie eine Serviette auf dem Schoß des weißhaarigen Mannes aus-
gebreitet lag, während der gepanzerte Mercedes fast lautlos über die Autobahn Richtung Burgos glitt. Auf dem Bildschirm blinkte ein roter Punkt inmitten eines Labyrinths aus grünen Lichtern. »Nimmt sie i h n m i t zur Versammlung?«, fragte der bullige Mann und sagte seit Stunden das erste Wort. Der breiige, dumpfe Klang seiner Stimme passte zu i h m . »Ich nehme an.« »Warum hat man ihn nicht abgefangen?« »Es gab keinen Hinweis darauf, dass jemand eingeweiht wurde. U n d zwar deshalb nicht, wie ich vermute, weil sie den M a n n erst heute Nacht engagiert hat.« Der Weißhaarige faltete den M o n i tor zusammen, das grüne Schimmern erlosch mitsamt dem roten Punkt. Im Schutz der Dunkelheit verzog er den M u n d zu einem Lächeln. »Äußerst findig. Sie hat sich etwas ausgedacht, um die Abhöranlage m i t einer A r t Rebus auszutricksen, dessen A n t w o r t nur der Typ da kannte. Seit dem letzten M a l haben sie einiges dazugelernt, Paul.« »Da t u n sie auch gut dran.« Bei dieser A n t w o r t blickte Harrison forschend in Carters Gesicht, aber dieser hatte sich wieder dem Fenster zugewandt. »Jedenfalls w i r d die Einmischung eines ... unbekannten Elements nichts an unseren Plänen ändern«, fügte Harrison hinzu. »Sie u n d ihr Freund sind bald bei uns. Beim Schachspiel heute Nacht beunruhigt mich nur der nächste Zug der deutschen Figur.« »Ist der Kerl bereits unterwegs?« »Er bricht gerade auf. W i r werden ihn abfangen. I h n u n d jeden, den er mitbringt.« Plötzlich war die Krise da, unangekündigt, unerwartet. Harrison merkte nichts, weil sie i h n selbst betraf, Carter hingegen schon, obwohl er es anfangs kaum wahrnahm: Er sah nur, dass Harrison den faltbaren Computer noch einmal aufschlug, m i t einer Behutsamkeit, als wollte er die Blütenblätter einer Rose öffnen, um darin eine Biene zu fangen. Dann berührte Harrison den Bildschirm u n d wählte im Menü eine Option: Ein schönes,
von schwarzem Haar umrahmtes Gesicht füllte das ganze Rechteck aus. Der M o n i t o r war so flach, dass er wie hingegossen dalag, als Harrison ihn auf die Oberschenkel presste: konkav, k o n vex u n d noch einmal konkav. Es war das Gesicht der Dozentin Elisa Robledo. Harrison hielt es fest m i t beiden Händen gepackt, u n d da wusste Carter, was los war. Eine Krise. Aus Harrisons Gesicht war jede Gefühlsäußerung gewichen. Nicht nur die Liebenswürdigkeit von v o r h i n , als er nach ihrer Landung am Flughafen Barajas m i t dem jungen Fahrer geplaudert hatte, oder die Kälte bei dem anschließenden Gespräch am Mobiltelefon, jeglicher Ausdruck, jede Emotion, jede Regung, alles war wie weggeblasen. Sein Gesicht war starr, jeden Lebens beraubt. Glücklicherweise, so dachte Carter, konnte der Chauffeur des Mercedes sie im Dämmerlicht des Wagenfonds nicht erkennen. Falls er jedoch unerwartet einen Blick in den Rückspiegel geworfen u n d Harrison bei Licht gesehen hätte, besser gesagt dessen Miene, dann hätte er zweifellos einen Unfall verursacht. Carter hatte bereits mehrere solcher Krisen bei Harrison m i t erlebt, der sie selbst als >Nervenzusammenbrüche< einordnete und sie damit zu rechtfertigen suchte, dass er bereits zu viele Jahre im Dienst dieser Sache stand u n d endlich in den Ruhestand gehen wolle. Aber Carter wusste mehr. Die Anfälle nahmen nämlich an Heftigkeit zu, jedes M a l , wenn Harrison gewisse Dinge erlebt hatte. Mailand. Und was wir in Mailand gesehen haben. Carter fragte sich, warum sich sein eigener Zustand nicht ebenfalls verschlechtert hatte, u n d kam zu dem Schluss, dass er vielleicht nicht mehr schlimmer werden konnte. »Es gibt Dinge, die dürfte niemand ... je sehen«, sagte H a r r i son, der langsam die Fassung zurückerlangte. Er faltete den Bildschirm zusammen u n d steckte i h n in die Manteltasche. Du sagst es! Carter sparte sich die A n t w o r t und starrte unver-
wandt aus dem Wagenfenster. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, dass das Gesehene i h m mindestens ebenso zu schaffen machte. Fest stand jedenfalls: Paul Carter hatte Angst.
»Warte! Ich glaube, jetzt verstehe ich alles!« »Nein, das ist unmöglich.« »Doch, warte! Sergio Marinis Tod ... Die Nachricht kam heute, ich habe dich doch selbst angerufen, damit du den Fernseher anschaltest ...« Victor sperrte den M u n d auf und richtete sich h i n ter dem Lenkrad beinahe auf. »Elisa, du hast das eine m i t dem anderen in Verbindung gebracht! Jetzt verstehe ich! Du hast etwas Abscheuliches erlebt, das gebe ich zu. Drei deiner Teamkollegen sind gestorben, weil einer von ihnen durchgedreht ist ... Aber das ist zehn Jahre her!« Er hatte den Eindruck, dass sie seinen Worten aufmerksam lauschte. Jetzt war i h m alles klar: Mehr als seine F a h r k ü n s t e benötigte Elisa sein gutes Zureden. Sie wurde von ihren Erinnerungen verfolgt, das war alles. Sie hatte entsetzliche Angst vor Dingen, die längst vorbei u n d gestorben waren. Gab es nicht sogar eine medizinische Bezeichnung dafür? Posttraumatisches Stresssyndrom? Die brutale Ermordung von Sergio M a r i n i hatte einen Anfall bei ihr ausgelöst. U n d was konnte er jetzt tun? Das Naheliegende: ihr helfen, die Dinge so zu sehen wie er. »Überleg d o c h « , bat er. »Ric Valente hatte mehr als genug G r ü n d e , um psychisch aus dem Gleichgewicht zu geraten, u n d glaube mir, es ü b e r r a s c h t mich nicht, dass der Impact gerade bei i h m übelste Instinkte hervorgelockt hat. Aber er ist längst tot, Elisa. Du brauchst n i c h t . . . « Da fiel i h m etwas ein. » M o m e n t . . . W i r fahren doch zu einem Treffen m i t den anderen, oder?« Ihr Schweigen gab i h m zu verstehen, dass er richtig lag. Er beschloss, sich weiter vorzuwagen. »Mit dem übrigen Team von Zickzack, stimmt's? Ihr wollt euch heute Nacht versammeln? Marinis Tod hat euch bewusst gemacht, dass ... dass noch einer von euch den
Verstand verloren hat, so wie Ric ... Aber wenn das so ist, dann müsstet ihr euch Hilfe holen.« » N i e m a n d w i r d uns helfen, Victor«, sagte sie e n t r ü c k t und so mutlos, wie er es von ihr nicht kannte. »Niemand.« »Die Regierung . . . der Staat... Eagle Group.« »Genau die sind doch hinter uns her. Ihnen versuchen w i r ja zu e n t k o m m e n . « »Aber warum nur?« »Weil sie nur so tun, als ob sie uns helfen.« Es schien i h m , als geriete Elisa m i t jeder A n t w o r t noch tiefer in den Strudel ihres eigenen Teufelskreises. »Sobald w i r bei der Versammlung sind, wirst du alles verstehen. Gleich sind w i r da. D o r t ü b e r die Umgehung geht es weiter . . . « Einen M o m e n t lang konzentrierte er sich auf die Doppelkurve. Die Namen der Ortschaften, durch die sie kamen, reihten sich in seinem Geist aneinander: Cerceda, Manzanares el Real, Soto del Real ... Hier u n d da funkelten blasse Lichter, in der dunklen Landschaft verstreut, und bildeten nur dann und wann kleine Haufen, wenn ein D o r f auftauchte. Die Landschaft war bei Tageslicht ausgesprochen reizvoll, aber um diese Uhrzeit herrschte um sie herum eine Ruhe wie in der Ruine einer riesigen verwunschenen Kathedrale. Die Angstschwelle eines Menschen war m i n i m a l . Ein erschreckender Gedanke war das, ü b e r legte Victor: Erst drei Stunden zuvor hatte er sich noch in seinem komfortablen Apartment in der Ciudad de los Periodistas der Pflege seiner Hydrokultur gewidmet, und jetzt bewegte er sich durch die Dunkelheit in Begleitung einer Frau, die w o m ö g l i c h den Verstand verloren hatte. »Hast du dich deshalb bewaffnet?« Er versuchte einen Gedankensprung: »Eagle Group ist also unser Feind?« »Nein, unser Feind ist viel, viel schlimmer . . . Er i s t . . . unberechenbar.« Victor durchfuhr die n ä c h s t e Kurve, u n d die Scheinwerfer streiften die B ä u m e am S t r a ß e n r a n d .
»Was willst du damit sagen? War es denn nicht Ric, der ...?« »Das mit Ric ist eine Lüge. Ein M ä r c h e n . Sie haben uns angelogen.« » A b e r d a n n ...« »Victor«, sagte sie scharf und starrte ihn an: »Seit zehn Jahren trachtet irgendjemand allen nach dem Leben, die auf der verdammten Insel dabei waren.« Victor öffnete den M u n d zu einer Antwort, da traf das Licht ihrer Scheinwerfer in der nächsten Kurve auf eine Karosserie, die ihnen den Weg versperrte.
21
Sein Körper bestand nur noch aus dem rechten F u ß . Sein Verstand hingegen funktionierte einwandfrei: Er hatte gen ü g e n d Zeit, sich zu wundern, Elisas Schrei zu h ö r e n , den lieben Gott und seine Eltern anzurufen und zu der entsetzlichen Gewissheit zu gelangen: Das überleben wir nicht. Die quer auf der Fahrbahn abgestellte Metallbarriere kam ihrer Windschutzscheibe so unausweichlich näher, als wäre sie es, die sich bewegte. Victor-Rechter-Fuß hatte den Eindruck, vollständig im M o t o r zu versinken, als er das Bremspedal bis zum Anschlag durchtrat. In seinen Ohren verschmolzen Elisas Schrei u n d das Quietschen der Räder auf dem Asphalt zu einem einzigen Schrillen - dem erschrockenen Abgesang eines durchgedrehten Damenchors. Sie hatten Glück: Die Kurve war nicht eng, und das Hindernis ein gutes Stück von der Leitplanke entfernt. Dennoch, und obwohl Victor das Steuer nach links herumriss, prallten sie m i t der rechten Seite gegen die F a h r e r t ü r des stehenden Fahrzeugs. Für den Bruchteil einer Sekunde frohlockte Victor beinahe. Wer auch immer dieser Trottel sein mag, er hat jedenfalls ordentlich was abbekommen. Von dort wurden sie auf den Seitenstreifen geschleudert, und alle Freude war dahin: Jenseits davon standen nur noch wenige Bäume, dann kam der Abhang. Ja, Victor, der Abhang, und da geht es gnadenlos abwärts. Doch nach einer lärmenden Schlitterpartie kamen sie abrupt an der Leitplanke zum
Stehen. Es war noch nicht einmal ein echter Z u s a m m e n s t o ß , und der Airbag fühlte sich nicht b e m ü ß i g t , sich zur vollen G r ö ß e zu entfalten; das Newtonsche Trägheitsprinzip rüttelte sie einmal gründlich durch, dann herrschte Ruhe. »Großer Gott!«, brüllte Victor, als wäre >großer Gott< ein so grober Fluch, dass er einem Hafenarbeiter die Röte ins Gesicht treiben k ö n n t e . Er musterte Elisa. »Alles in Ordnung m i t dir?« » G l a u b e s c h o n ...« Victor zitterten die Knie. Sein rechtes Bein fühlte sich so weich an wie Pudding, nachdem es seine Aufgabe erfüllt hatte, deshalb ü b e r n a h m e n jetzt seine H ä n d e das Kommando und lösten den Sicherheitsgurt. Victor murmelte: »Dieser verfluchte B l ö d m a n n ! Ich werde i h n anzeigen . . . Knallkopf!« Er war im Begriff, den Wagenschlag zu öffnen, als ihn etwas zurückhielt. Das blendende Licht in seinem Außenspiegel interpretierte er als Scheinwerfer eines herannahenden Autos, bis i h m aufging, dass es sich durch die Luft bewegte. Da war keine Karosserie. »Das sind sie«, flüsterte Elisa. »Sie?« »Unsere Verfolger.« Eine schwarze Lederfaust schlug an die Scheibe. » R a u s k o m m e n « , sagte die Faust. »Hören Sie mal, was ...« Wenn Victor je starke Emotionen verspürte, dann machten sie sich stets in Ärger Luft. Doch in diesem M o m e n t empfand er Angst. Er war nicht gewillt, die schützende Klause des Fahrgastraumes zu verlassen; doch sich dem Befehl der schwarzen Faust widersetzen wollte er auch nicht. >Mach nicht auf!<, riet i h m seine Angst und flüsterte im nächsten Moment: >Gehorche!< Dunkle A n z u g s c h ö ß e flatterten im W i n d und wanderten im Lichtkegel der Scheinwerfer auf die andere Seite des Fahrzeugs. »Steig nicht aus«, sagte Elisa. »Ich werde m i t ihnen reden.« Sie kurbelte das Fenster herunter. Ein unbekanntes Gesicht beugte sich zu ihr herab, ein Lichtfetzen drang herein. Elisa und das Gesicht begannen, auf Englisch zu sprechen.
»Victor Lopera hat damit nichts zu t u n . . . Lassen Sie ihn gehen.« »Er muss m i t k o m m e n . « »Ich sage doch, er ...« »Machen Sie die Situation nicht komplizierter, als sie ohnehin schon ist.« In Gedanken bei dem Wortwechsel, schien m i t einem M a l die Nacht nach i h m zu greifen. A u f irgendeine Weise war es ihnen gelungen, die F a h r e r t ü r zu öffnen, obwohl Victor sich nicht entsinnen konnte, sie entriegelt zu haben. Jetzt war da nichts Trennendes mehr zwischen der schwarzen Faust und i h m . »Steigen Sie aus, Herr Lopera.« Eine Hand ergriff seinen Oberarm. Jeglicher Protest blieb i h m im Halse stecken: Noch nie war jemand so grob m i t i h m umgesprungen. Die Beziehungen zu seinen Mitmenschen waren stets gekennzeichnet von höflicher Distanz. Doch die Hand zog an i h m , zerrte ihn aus dem Wagen. Zu seiner Angst gesellte sich nun die E m p ö r u n g des unbescholtenen, von O r d n u n g s h ü t e r n drangsalierten Bürgers. »Hören Sie mal! M i t welchem R e c h t . . . ? « » K o m m e n Sie.« Es waren zwei M ä n n e r , der eine kahl u n d der andere blond. Der m i t der Glatze war der Wortführer. Victor wusste intuitiv, dass der Blonde nicht einmal Spanisch sprach. Das war offenbar auch nicht nötig. Der Blonde hatte eine Pistole.
Das nur Kilometer von Soto del Real entfernte Haus war genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht mit dem Unterschied, dass es innen verwohnter wirkte, u n d Elisa meinte, auf dem N a c h b a r g e l ä n d e Neubauten entdeckt zu haben. Aber das Satteldach, die w e i ß e n W ä n d e , der Laubengang u n d das alte Schwimmbecken waren dieselben. Es war Nacht. Damals war sie ebenfalls bei Nacht hierher gekommen.
Alles schien gleich, u n d doch hatte sich alles v e r ä n d e r t . Bei i h rem ersten Besuch war sie voller Hoffnung gewesen. Diesmal fühlte sie sich niedergeschlagen und wehrlos. Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, war ein kleines Schlafzimmer und erweckte den Anschein, seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein. Es war schmucklos, ausgestattet m i t einem Bett ohne Decken u n d Kissen, daneben stand ein Nachttisch m i t einer schirmlosen Lampe als einziger Lichtquelle. A u ß e r d e m gab es zwei Schränke: einen aus Holz m i t einem altersschwachen rechten Türflügel - und einen weiteren aus Fleisch und Blut, im dunklen Anzug, m i t Funkgerät u n d vor der Brust v e r s c h r ä n k t e n A r m e n auf seinem Posten neben der T ü r . Elisa hatte bereits versucht, m i t Letzterem in Kontakt zu treten, aber nicht mehr Erfolg gehabt, als h ä t t e sie es beim Ersten versucht. W ä h r e n d sie unter den Augen ihres Aufsehers in dem trostlosen Zimmer auf und ab ging, beschäftigte sie nur ein Gedanke. Es tut mir Leid, Victor. Ehrlich, es tut mir so Leid. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie ihn gebracht hatten. Wahrscheinlich in dasselbe Haus, dachte sie, aber die M ä n n e r , die i h nen den Hinterhalt gelegt hatten, bestanden darauf, sie zu trennen, u n d Victor hatte in ein anderes Auto steigen m ü s s e n . Elisa war in Victors Wagen w e i t e r b e f ö r d e r t worden, n a t ü r l i c h erst, nachdem man ihr dieses unsinnige Messer abgenommen hatte. Eigentlich war sie fast sicher, dass sie sich beide am selben O r t befanden, nur dass Victor vor ihr eingetroffen sein musste. Sicherlich waren sie gerade in einem anderen Z i m m e r dabei, ihn einem Verhör zu unterziehen. Der arme Victor. Elisa hatte den festen Vorsatz gefasst, dafür zu sorgen, dass er aus diesem Loch entkam, selbst wenn es das Letzte sein sollte, was sie in ihrem Leben tat. Sie machte sich schwere Vorwürfe, weil sie ihn aus lauter Schwäche in die Sache hineingezogen hatte. Aber vorher musste sie noch ein paar q u ä l e n d e Fragen klären. Z u m Beispiel diese: Warum hatte sie den A n r u f erhalten, wenn der Ort nicht sicher war? U n d wie hatten sie von dem Treffen erfahren? Oder war das Ganze von vornherein eine Falle gewesen?
Zwanzig bis dreißig Minuten später wurde die Z i m m e r t ü r mit solcher Gewalt aufgerissen, dass sie den W ä c h t e r in den Rücken schlug. Ein I n d i v i d u u m in H e m d s ä r m e l n erschien - und nicht der Wichtigste-von-allen, noch nicht, aber Elisa war überzeugt, dass dieser in Kürze die B ü h n e betreten w ü r d e . Die M ä n n e r tauschten auf Englisch Entschuldigungen aus. Keiner richtete das Wort an sie. Der Mann, der sie bewacht hatte, bedeutete ihr m i t einer Bewegung seines m ä c h t i g e n Schädels mitzukommen. Sie durchquerten den Salon in Richtung des Treppenhauses. Es roch nach frisch g e b r ü h t e m Kaffee, und M ä n n e r in H e m d oder Jackett wanderten mit Tassen und Gläsern zwischen Küche und Salon h i n und her. Sie haben das alles von langer Hand vorbereitet. Im ersten Stock wurde sie noch einmal durchsucht. Diesmal nicht mit einem Metalldetektor, sondern m i t den bloß e n H ä n d e n . M a n befahl ihr, die Lederjacke auszuziehen, die Arme ü b e r den Kopf zu heben und die Beine zu spreizen. Nicht die v o r s c h r i f t s m ä ß i g e Polizistin, die andere Frauen b e r ü h r e n darf, tastete sie ab, sondern ein Mann; ihr war das inzwischen einerlei. Nach Jahren der Ü b e r w a c h u n g u n d wiederholten Vernehmung hatte sie jede Selbstachtung verloren. Hier w ü r d e ihr ohnehin keine Achtung entgegengebracht, da war sie sicher. Wonach suchten sie eigentlich? Wovor fürchteten sie sich? Sie haben Angst vor uns, und zwar viel mehr als w i r vor ihnen. Nach eingehender Durchsuchung nickte der M a n n , gab ihr die Lederjacke z u r ü c k und öffnete die T ü r zum angrenzenden Zimmer, einer A r t Bibliothek. U n d wer war darin? Oh ja, M r . Wichtig, der Hurensohn. »Dr. Robledo, es ist m i r stets ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.« Sie hatte geglaubt, für eine erneute Begegnung m i t i h m gewappnet zu sein. Aber sie hatte sich getäuscht. Sie hielt m ü h s a m ihre Wut in Zaum und steuerte wortlos auf den Sessel vor dem kleinen Schreibtisch zu.
Einer der M ä n n e r verließ den Raum und schloss die T ü r h i n ter sich, der andere blieb in ihrem Rücken stehen, um sofort einzugreifen, falls sie - man konnte nie wissen - sich etwa auf den Opa m i t den w e i ß e n Haaren stürzte, um i h m die Augen auszukratzen. Was gar nicht so weit hergeholt war. »Ich kenne den Grund, weshalb Sie heute Nacht hierher u n terwegs waren«, begann der Weißhaarige in seinem korrekten Englisch und nahm hinter dem Schreibtisch Platz, kaum dass sie sich gesetzt hatte. Offenbar war er erst kurz zuvor eingetroffen, denn sein Mantel hing über einem Stuhl, glänzend vom nächtlichen Tau. »Ich versichere Ihnen, dass ich Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen werde. Bloß ein kleiner Plausch unter alten Bekannten. Danach k ö n n e n Sie Ihre Freunde in die Arme schließen.« Eine Lampe m i t ausladendem Schirm stand so auf dem Tisch, dass sein Gesicht zur Hälfte verdeckt war; der M a n n schob sie beiseite, und Elisa sah ihn lächeln. Gern hätte sie auf seinen Anblick verzichten k ö n n e n , dennoch richtete sie die Augen auf ihn. Harrison war in den letzten Jahren sichtlich gealtert, aber die tief liegenden Augen unter dem Vorsprung nicht vorhandener Brauen und dies Lächeln in dem glatt rasierten Gesicht (der Schnurrbart, den er bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, war längst ab) d r ü c k t e n die bekannte Mischung aus Kälte, Höflichkeit, Drohung und Vertrautheit aus wie immer. »Wo ist mein Freund?« Sie v e r s p ü r t e keine Lust, nach weiteren V e r ä n d e r u n g e n in seinem Gesicht zu forschen. »Welcher von den vielen? Hier sind sogar einige sehr gute.« »Doktor Victor Lopera.« »Ach der. Er beantwortet uns nur ein paar Fragen. Sobald w i r fertig sind, k ö n n e n Sie ...« »Lassen Sie i h n in Frieden. Ich b i n es, auf die es Ihnen ankommt, Harrison. Lassen Sie i h n laufen.« »Frau Doktor, Frau D o k t o r ... Ihre Ungeduld ist so . . . Alles zu seiner Zeit. M ö c h t e n Sie vielleicht ein Tässchen Kaffee? Etwas anderes biete ich Ihnen gar nicht erst an. Ich gehe davon aus, dass Sie sowieso bereits zu Abend gegessen haben. Halb eins, das
ist sogar für euch Spanier spät, oder?« Er wandte sich an das Gespenst, das hinter ihr lauerte. »Sag d r a u ß e n Bescheid, sie sollen einen Kaffee bringen.« Elisa hatte durchaus Appetit auf Kaffee. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ums Leben nichts von diesem Typen annehmen w ü r d e . Kaum war der Mann aus der Tür, beschloss sie, versuchsweise die Geduld zu verlieren. » H ö r e n Sie, Harrison. Ich schwöre Ihnen, wenn Sie Lopera nicht augenblicklich nach Hause lassen, werde ich . . . ein Heidenspektakel veranstalten, verlassen Sie sich darauf! Journalisten, Gerichte, ich schalte alle Instanzen ein. Ich b i n nicht mehr der verschüchterte G r ü n s c h n a b e l von damals.« »Sie sind nie ein verschüchterter G r ü n s c h n a b e l gewesen.« »Schluss m i t dem Gewäsch. Es ist m i r ernst.« »Ach so?« Im Handumdrehen war Harrisons Freundlichkeit verflogen. Er richtete sich in seinem Sessel auf u n d spießte sie gleichsam m i t seinem langen Zeigefinger auf. » D a n n w i l l ich I h nen mal verraten, was w i r veranstalten k ö n n e n . W i r bringen Sie vor Gericht, Sie und Ihren Freund Lopera. Sie werden angeklagt, >klassifiziertes Material< preisgegeben zu haben, und Lopera wegen Verschleierung und Komplizenschaft. Sie haben sämtliche Vorschriften ü b e r t r e t e n , deren Beachtung Sie uns schriftlich zugesichert haben. Also, genug gedroht... Darf man vielleicht erfahren, was so witzig ist?« Lachend strich Elisa sich die Haare aus der Stirn. »Das ist also die Stimme des Gesetzes! Sie sind in unsere Wohnungen eingedrungen u n d in unser Leben, Sie belauern u n d bespitzeln uns seit Jahren, Sie e n t f ü h r e n uns, wann es Ihnen in den K r a m passt... Genau in diesem Moment befinden Sie sich widerrechtlich auf privatem Grund. In Ihrem Land nennt man das wie in meinem Hausfriedensbruch. U n d Sie erlauben sich, von Gesetzen zu reden!« Die T ü r ging auf, und Elisa hielt inne. Harrisons Geste war zu entnehmen, dass er seine Meinung ü b e r den Kaffee g e ä n d e r t hatte, was sie sich auf die Fahnen schrieb. Gut gemacht! Zeig m i r die Z ä h n e , und spar dir dein Grinsen.
»Das ist also Ihre Meinung ü b e r unsere S c h u t z m a ß n a h m e n ? « , versetzte Harrison. »Sie meinen, Sie wollen mich schützen, wie Sie Sergio M a r i n i geschützt haben?« Harrison legte den Kopf auf die Seite, als hätte er nicht richtig gehört. Elisa erinnerte sich an die Geste: Aus dem Repertoire ihres Peinigers war dies eine der dreistesten. Sie machte sich nicht die M ü h e , ihre Frage zu wiederholen. »Ich bin gerade erst aus Mailand eingetroffen, Doktor Robledo. U n d kann Ihnen versichern, dass es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass das, was Professor M a r i n i zugestoßen ist, in irgendeinem Zusammenhang m i t dem Einstein-Projekt steht.« »Sie lügen.« »Was für ein Temperament!« Harrison lachte auf. »Spanisches B l u t . . . So kenne ich Sie. Stark, leidenschaftlich ... und misstrauisch.« »Das Misstrauen haben Sie m i r beigebracht.« »Ich bitte Sie ...« Etwas war sonderbar an Harrison: Hinter jenem Lächeln und den höflichen Worten schien ein verängstigtes, ein gefährliches Tier auf der Lauer zu liegen, das nur auf den passenden Moment wartete, ihr an die Gurgel zu gehen und ihr die von Speichel triefenden Z ä h n e in den Hals zu schlagen. Nie zuvor war ihr der Gedanke gekommen, Harrison k ö n n t e in einer noch ü b l e r e n Verfassung sein als sie selbst. Ihre Panik wuchs. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie ihn in der Rolle des Täters bevorzugte. Er sagt, er sei gerade erst aus Mailand eingetroffen. Dann hat er M a r i n i also gesehen . . . »Wie ist M a r i n i gestorben?«, fragte sie und verfolgte aufmerksam jede seiner Regungen. Da war sie wieder, diese a b s t o ß e n d e Geste, die vorgebliche Schwerhörigkeit. U n d diesmal wiederholte sie: »Ich frage Sie, wie ist Sergio M a r i n i gestorben?« »Er ... er wurde zusammengeschlagen. Wahrscheinlich ein Überfall, aber w i r warten noch auf den A u t o p s i e b e r i c h t . . . «
» H a b e n Sie seinen Leichnam gesehen?« »Ja, natürlich. Aber ich sage Ihnen doch, er ist zusammengeschlagen worden.« »Beschreiben Sie ihn mir.« Als sie merkte, wie viel Kraft es Harrisons kostete, ihrem Blick auszuweichen, begann sie unwillkürlich zu zittern. » D o k t o r Robledo, w i r kommen v o m Thema ...« »Beschreiben Sie den Zustand von Sergio Marinis Leiche ...« »Lassen Sie m i c h a u s r e d e n « , presste Harrison zwischen den Z ä h n e n hervor. »Sie lügen«, zischte Elisa i h n an u n d flehte insgeheim, H a r r i son m ö g e ihr widersprechen. Doch stattdessen wetterte er los, zeterte aus Leibeskräften - es war h ö c h s t befremdlich anzusehen. G r ö ß t e Gelassenheit wechselte binnen Zehntelsekunden übergangslos m i t diesem Geheul ab. »Halten Sie den M u n d ! « Augenblicklich gewann er seine Fassung wieder u n d lächelte. »Sie sind . . . gestatten Sie mir, Ihnen das zu sagen . . . u n g e b ü h r l i c h halsstarrig...« Sie zweifelte nicht länger: Es war wieder geschehen. Von Harrison ging keine Bedrohung mehr aus, ganz im Gegenteil, sein Verstand war längst zerrüttet. Genauso wie ihr eigener, der von ihnen allen. Sie fühlte sich o h n m ä c h t i g , wie gelähmt, geradezu leblos. Manchmal gelangen w i r an Grenzen, erreichen w i r Tiefpunkte, gibt es Schicksalsschläge, die unsere Seele erschüttern, Elisas Bewusstsein verabschiedete sich in diesem Moment, sie stürzte in einen Abgrund, eine bodenlose Tiefe. Harrison war ihr gleichgültig, Victor war ihr gleichgültig, ihr Leben war ihr gleichgültig. N u r noch ihr vegetatives Nervensystem funktionierte, u n d Harrisons Worte hatten nicht mehr Bedeutung für sie als das Geplapper einer langweiligen Fernsehsendung. » W a r u m wollen Sie nicht verstehen, dass w i r im gleichen Boot sitzen? Ihr Untergang ist unser aller Untergang. Warum nur sind Sie so starrsinnig! Ich bewundere Sie u n d finde Sie anziehend,
das gebe ich zu, Ihr ganzes Wesen . . . nein, Sie brauchen keinen Übergriff zu b e f ü r c h t e n : M i r ist durchaus bewusst, wie alt ich bin und dass Sie eine junge Frau sind. Aber ich fühle mich eben von Ihnen angezogen, das sage ich frei heraus. Ich w ü r d e Ihnen gerne helfen. Aber zuvor m ö c h t e ich noch wissen, wie genau nennen w i r sie Gefahr -, wie genau also die Gefahr beschaffen ist. Falls es eine solche Gefahr ü b e r h a u p t gibt.« Dann war plötzlich alles vorbei. Ihr war das Einzige eingefallen, was er als lohnenswertes Pfand akzeptieren w ü r d e . »Lassen Sie Victor frei, und ich werde m i t allem einverstanden sein, was Sie von m i r wollen.« »Ihn freilassen? M e i n Gott, Doktor Robledo, Sie sind es doch gewesen, die ihn m i t in diese Sache hineingezogen haben!« In dem Punkt hatte das Schwein leider Recht, das musste sie zugeben. »Wie lange wollen Sie ihn noch festhalten?« »So lange wie n ö t i g . W i r m ü s s e n herausfinden, wie viel er weiß.« »Das kann ich Ihnen genauso gut sagen. Dafür brauchen Sie ihn nicht splitternackt einsperren und m i t versteckten Kameras beobachten, i h m Drogen spritzen und ihn alle Einzelheiten seines Intimlebens ausplaudern lassen . . . Oder haben sie dieses Programm den Mädels vorbehalten?« Harrison blieb ihr die A n t w o r t schuldig. Er hatte die Lippen gespitzt, dass sie einem Punkt glichen. »Ich habe i h m das von der Insel erzählt«, schloss sie. »Nur das von der Insel.« »Wie ... leichtsinnig, Sie Unvorsichtige!« Er fixierte sie, als suchte er nach einem gröberen Schimpfwort, um dann zu wiederholen: »Sie Unvorsichtige!« »Ich habe Hilfe gebraucht!« »Hilfe bekommen Sie von uns ...« » G e n a u deshalb habe ich ja Hilfe gebraucht!« »Schreien Sie nicht so.« Harrison schien dem schiefen Lampenschirm mehr Aufmerksamkeit zu widmen als ihr, doch u n versehens ließ er davon ab, stand auf, ging um den Tisch herum
und n ä h e r t e sein Gesicht bis auf wenige Millimeter dem ihren. »Schreien Sie nicht so«, wiederholte er und bohrte drohend einen Zeigefinger in ihre Lederjacke. »Nicht m i t mir!« »Und Sie«, gab Elisa z u r ü c k und schüttelte vehement H a r r i sons Hand ab, »fassen mich nicht noch einmal an.« Eine erneute Unterbrechung, diesmal durch die gegenüberliegende Tür, ließ sie erleichtert aufatmen. Harrison und sein Zeigefinger scherten sie zwar einen Scheißdreck, doch allmählich ging ihr auf, dass der Kerl, der sich da über sie beugte, mit Harrison nichts mehr gemein hatte. Oder aber, er war es pur, ohne Farbstoffe und Konservierungsmittel. Den Mann, der in der T ü r ö f f n u n g erschien, erkannte sie auf Anhieb. Die verstrichenen Jahre schienen spurlos an i h m v o r ü bergegangen zu sein, an dem Antlitz wie aus Granit, an dem m i t M ü h e in den schicken Anzug g e z w ä n g t e n Körper. Elisa stellte fast beruhigt fest, dass wenigstens Carter der Alte geblieben war. »Wie b i n ich b l o ß darauf gekommen, dass Sie auch nicht weit weg sein würden?«, b e g r ü ß t e sie ihn voller Verachtung. »Sie wollen sie sehen«, sagte Carter zu Harrison. Er schien Elisa zu ignorieren. Harrison lächelte u n d schlug sofort wieder den bekannten höflichen Ton an. »Natürlich. Gehen Sie mit Herrn Carter, Frau Doktor Robledo. Ihre Freunde sind auch dort in dem Zimmer. Jedenfalls alle, die bisher eingetroffen sind ... Ich bin sicher, dass sie sich ü b e r ein Wiedersehen freuen werden.« Und als Elisa sich erhob, setzte er hinzu: »Übrigens, falls es Sie interessiert, w i r haben durch einen von Ihnen von diesem Treffen erfahren ...« Sie starrte i h n u n g l ä u b i g an. »Das ü b e r r a s c h t Sie? Scheinbar sind nicht alle Ihre Freunde derselben Meinung.«
Im angrenzenden Zimmer, einer Art kleinem, L-förmigem Wohnzimmer, war es dunkel. D o r t standen ein paar staubige Regale, ein altmodisches Fernsehgerät u n d ein kleiner Tisch m i t einer dieser biegbaren Schreibtischlampen, einem Roboter gleich, der
einen einzelnen Holzspan untersuchen will, die ihr Licht auf die Tischplatte warf. Elisa befürchtete, das Halbdunkel w ü r d e die Stimmung d ä m p f e n , doch ihre Wiedersehensfreude wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Einen K l o ß im Hals, sah sie die beiden an. Der M a n n und die Frau, die am Tisch gesessen hatten, erhoben sich, als Elisa zur T ü r hereinkam. Rasch b e g r ü ß t e n sie sich, tauschten flüchtige Küsse auf die Wangen. Elisa konnte die Tränen nicht z u r ü c k h a l t e n . Endlich, dachte sie, endlich war sie m i t den Menschen vereint, die ihre tiefsten N ö t e verstanden. Endlich war sie m i t den anderen Verdammten zusammen. »Und Reinhard?«, fragte sie zitternd. »Er m ü s s t e etwa um diese Zeit in Berlin s t a r t e n « , sagte der M a n n . »Sie werden i h n sicher am Flughafen erwarten und i h n hierher bringen.« Wieder einmal hatten sie also alle abgefangen. Aber wer hat uns nur verraten? Sie sah noch einmal vom einen zur anderen. Wer von uns? Sie hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Doch Elisa war ü b e r die erneute V e r ä n d e r u n g der beiden nicht weniger ü b e r rascht als beim vorangegangenen Mal. Die Frau hatte nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt, im Gegenteil, dachte Elisa, obwohl sie inzwischen schon ü b e r vierzig sein musste und dazu auffallend schmal geworden war. U n d trotzdem war ihr Anblick ein Schock für Elisa. Das lange Haar trug sie dunkelrot gefärbt und in einer dichten M ä h n e nach hinten g e k ä m m t . Ihr Gesicht war gepudert, die Augenbrauen vollständig ausgezupft, die Lippen leuchteten rot. Ihre Kleidung war dazu angetan, die Blicke auf sich zu ziehen: ein vorn geknöpftes T r ä g e r t o p , eine enge Hose und hochhackige Schuhe, alles schwarz; d a r ü b e r eine schlichte Kurzjacke, vielleicht - nahm Elisa an -, um unbewusst ihr dunkles, provokantes Erscheinungsbild abzumildern. Der M a n n war inzwischen vollkommen kahl, hatte einiges an Gewicht zugelegt und trug den Bart gestutzt, der genauso grau war wie seine Lederjacke und die Cordhose darunter. Die Jahre standen i h m deut-
licher ins Gesicht geschrieben als ihr, doch sie schien innerlich zerrütteter zu sein. Er lächelte, sie nicht. Das waren die offensichtlichsten Unterschiede. A u f einer anderen Ebene wiesen ihre Blicke sie als zu derselben Kategorie gehörig aus wie Elisa. Sie waren Seelenverwandte, dachte Elisa. Die Familie der Verdammten. »Wieder einmal beis a m m e n « , sagte sie. Da Elisa m i t dem Rücken zur T ü r stand, nahm sie als Erste die Schritte, dann das Scharren wahr, als diese sich auftat. Victor lugte wie ein scheues Kaninchen durch seine Drahtbrille. Er schien gesund und munter, wie Elisa m i t einem Seufzer der Erleichterung feststellte, obwohl sie eigentlich überzeugt gewesen war, dass sie i h m nichts antun w ü r d e n . »Elisa, geht es dir gut?« »Ja, und dir?« »Auch. Ich habe ihnen nur ein paar Fragen beantwortet ...« In diesem M o m e n t bemerkte Victor den M a n n , und seine A u gen leuchteten auf: »Professor Blanes?« »Das ist Victor Lopera, erinnerst du dich an ihn?«, fragte Elisa den Professor. »Aus dem Kurs an der Alighieri. Er ist ein guter Freund von mir. Ich habe i h m heute Nacht eine Menge erzählt.« Die Frau stieß vernehmbar die Luft aus, w ä h r e n d Victor und Blanes sich die H ä n d e schüttelten. Anschließend sagte Elisa m i t Blick auf die Frau: »Darf ich dir Jacqueline Clissot vorstellen. Ich habe dir schon von ihr erzählt.« »Sehr erfreut.« Sein Adamsapfel schien Victors Gefühle zu teilen. Jacqueline Clissot gönnte i h m nur einen kurzen Blick und deutete ein Nicken an. Victors E r r ö t e n und seine steife Unbeholfenheit, als er unfreiwillig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, hätten komisch wirken k ö n n e n , aber niemand verzog eine Miene. Da erscholl von der T ü r her Carters beinharte Stimme. » W ü n schen Sie etwas zu essen?« »Wir wollen allein gelassen werden, wenn das möglich ist«, erwiderte Elisa und verbarg i h m gegenüber nicht ihren Unwillen.
»Sie wollen doch auf Professor Silberg warten, bevor Sie beschließen, was m i t uns geschehen soll, nicht wahr? Abgesehen davon, k ö n n e n Sie ü b e r einen der u n z ä h l i g e n Lautsprecher in diesem Zimmer sowieso alles belauschen, was hier gesprochen wird. Ich schlage also vor, dass Sie verschwinden, ein für alle Mal. U n d schließen Sie die verdammte T ü r hinter sich!« »Lassen Sie uns, Carter«, bat Blanes. »Sie hat Recht.« Carter starrte die kleine Gruppe an, als wären sie alle Tausende von Kilometern entfernt u n d die Worte brauchten eine Weile, um i h n zu erreichen. Dann wandte er sich zu seinen M ä n n e r n um. Nachdem die T ü r hinter i h m ins Schloss gefallen war, setzten sich die vier. Elisa fiel eine Redewendung ein. Jetzt werden wir die Karten auf den Tisch legen. Jacqueline eröffnete die erste Runde. »Das war ein großer Fehler, Elisa.« Sie b e ä u g t e Victor von der Seite, der seinerseits von ihr fasziniert schien. In der Tat wirkte Jacqueline Clissot äußerst verführerisch, doch wenn Elisa sie n ä h e r betrachtete, ging ihr der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass die Ärmste Höllenqualen leiden musste. Vielleicht noch schlimmere als ich. » D u hättest niemanden . . . in unsere Sache . . . hineinziehen dürfen.« Elisa steckte den Schlag ein. Auch sie hatte vor, noch auszuteilen, aber zuerst wollte sie sich erklären. »Victor hat noch die Wahl. Er weiß nur, was auf New Nelson vorgefallen ist. Wenn er verspricht, es für sich zu behalten, werden sie ihn in Frieden lassen.« »Einverstanden«, r ä u m t e Blanes ein. »Was Harrison am wenigsten w i l l , ist die Dinge verkomplizieren.« »Und du?«, warf Elisa m i t ungeahnter Grausamkeit Jacqueline die Frage ins Gesicht. »Hast du noch nie versucht, dir irgendwo Hilfe zu holen, Jacqueline?« Kaum hatte sie das ausgesprochen, machte sie sich Vorwürfe. Jacqueline Clissots Blick schweifte ab, u n d Elisa erkannte, dass dieses Verhalten bei Jacqueline zur Gewohnheit geworden war: wegschauen.
»Ich stehe mein Leben schon lange alleine d u r c h « , e r k l ä r t e Frau Clissot. Elisa sagte nichts. Sie wollte nicht streiten, schon gar nicht m i t Jacqueline. Trotzdem passte ihr die Rolle der ostentativ Leidenden nicht, die sich die Französin zugelegt hatte. »Wie auch i m m e r « , sagte Blanes, »Elisa hat Victor n u n mal mitgebracht, u n d w i r m ü s s e n i h n akzeptieren. Ich zumindest akzeptiere ihn.« »Er muss uns akzeptieren, David«, entgegnete Jacqueline. »Wir sollten i h m den Rest auch noch erzählen, u n d dann soll er sich entscheiden, ob er dabeibleiben w i l l oder nicht.« »Ist gut. D a m i t b i n ich einverstanden.« Blanes rieb sich die Schläfen, als wollte er seinen Gedanken ein Schlupfloch verschaffen. Elisa nahm auch an i h m eine V e r ä n d e r u n g wahr, nur war sie schwerer zu greifen. Hatte er an V e r t r a u e n s w ü r d i g k e i t gewonnen? An Kraft? Oder wollte sie i h n so sehen? »Was meinst du, Elisa?« »Wir e r z ä h l e n i h m den Rest, u n d er soll sich dann entscheiden.« Elisa drehte sich zu Victor um u n d reichte i h m behutsam die Hand, hielt sie fest, sehr fest. »Ich w e i ß , dass ich dich nicht hätte m i t hineinziehen dürfen, aber ich habe dich gebraucht. Ich wollte, dass du mitkommst. Ich wollte, dass jemand von a u ß e n beurteilt, was m i t uns geschieht.« »Nein,ich ...« » H ö r zu«, Elisa d r ü c k t e i h m beide H ä n d e . »Das ist keine Entschuldigung. Aber ich dachte, alles w ü r d e anders laufen, das m i t der Versammlung w ür d e anders laufen . . . Ich will mich gar nicht dafür e n t s c h u l d i g e n « , wiederholte sie eindringlich. »Ich habe dich gebraucht, u n d deshalb habe ich dich dazugeholt. Unter denselben U m s t ä n d e n w ü r d e ich dasselbe wieder tun. Ich habe entsetzliche Angst, Victor. W i r alle haben entsetzliche Angst. Du kannst das jetzt noch nicht verstehen. Aber eins w e i ß ich ganz gewiss: W i r brauchen jede nur mögliche Hilfe ... U n d momentan bist du jede nur m ö g l i c h e Hilfe ...« In Gedanken fügte sie
hinzu: Selbst wenn einer von euch das nicht sehen will. Sie schaute die beiden aufmerksam an und fragte sich, wer sie verraten hatte. Oder war es nur einer von Harrisons Tricks, um sie auseinander zu bringen? Dann kam in die Figur m i t den Locken u n d der Nickelbrille die nicht mehr John Lennons war, sondern die eines z u r ü c k h a l tenden Physikdozenten - plötzlich Leben. »Wartet. Ich bin aus freien Stücken hier und nicht, weil du es gewollt hast, Elisa. Ich b i n hier, weil ich es wollte. Wartet. Wartet ...« Er fuchtelte herum, es sah aus, als versuchte er, eine u n sichtbare Schachtel in eine nur wenige M i l l i m e t e r g r ö ß e r e zu zwängen, wie bei einer A r t Geschicklichkeitstraining. Elisa war von der unerwarteten Festigkeit seiner Stimme ü b e r r a s c h t . »Alle . . . alle, die mich kennen, sagen das: Ich habe dich zu diesem oder jenem gezwungen, Victor, tut m i r Leid, Victor. Aber das stimmt nicht. Ich b i n es, der entscheidet. Mag sein, dass ich schüchtern bin, dennoch trifft niemand anders für mich die Entscheidungen, als nur ich selbst. Und heute Nacht wollte ich m i t hierher kommen u n d dir helfen, euch helfen, so gut ich kann. Das ist meine ureigene Entscheidung. Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann oder nicht, aber immerhin bin ich eine zusätzliche Stimme. Die drohende Gefahr macht m i r schon Angst. Eure Angst macht m i r Angst. Doch ich will mit euch zusammen sein und . . . alles erfahren.« »Danke«, flüsterte Elisa. »Wir sollten trotzdem warten, bis Reinhard da ist«, verlangte Jacqueline Clissot. » D a m i t wir wissen, wie er d a r ü b e r denkt.« Blanes schüttelte den Kopf. »Victor ist jetzt da, und wir sollten i h m jetzt den Rest erzählen.« Er sah Elisa an. » Ü b e r n i m m s t du das?« Eine schwierige Aufgabe, das war ihr bewusst. Danach w ü r d e sie sich der keineswegs einfacheren Aufgabe stellen m ü s s e n , herauszufinden, wer von ihnen sie verraten hatte. Trotzdem kam ihr die simple Aufforderung zu erzählen - das Allerschrecklichste zu erzählen, alles, was sie in den letzten Jahre niemandem gegen-
ü b e r e r w ä h n t hatte - vor wie eine Zumutung. Gleichzeitig wusste sie, dass sie dazu prädestiniert war. Sie schaute Victor nicht an, sie schaute auch keinen von den anderen an. Sie senkte den Blick, fixierte den Lichtkreis, den die biegsame Schreibtischlampe auf den Tisch projizierte. »Wie gesagt, Victor, w i r haben die E r k l ä r u n g e n geschluckt, die man uns für die Ereignisse in New Nelson präsentiert hat, und versucht, wieder in unser altes Leben z u r ü c k z u f i n d e n , nachdem w i r geschworen hatten, die Regeln einzuhalten und uns weder miteinander in Verbindung zu setzen noch m i t irgendjemand anders ü b e r das Geschehene zu sprechen. Das vermeintliche U n g l ü c k im Z ü r i c h e r Labor hatte für ein wenig Wirbel gesorgt. Danach gingen alle wieder zur Tagesordnung ü b e r . . . nach a u ß e n h i n jedenfalls.« Sie hielt inne und holte Luft. »Aber dann, vor vier Jahren, Weihnachten 2011 ...« - ein Schauer überlief sie, als sie sich selbst >Weihnachten 2011< sagen h ö r t e , dann sprach sie langsam und ruhig weiter, als wollte sie ein K i n d einlullen. Da ging ihr auf, dass sie genau das tat: die eigene Angst einschläfern.
VI. DER SCHRECKEN
Nicht die Wissenschaftler sind der Wahrheit auf der Spur: Die Wahrheit ist es, die ihnen auf der Spur ist. Karl Schlechta
22
Madrid 21. Dezember 2011 20.32 Uhr Es war ein sehr kalter Abend, aber der Thermostat in ihrer Wohnung zeigte u n v e r ä n d e r t fünfundzwanzig Grad. Sie stand in der Küche und bereitete sich das Abendessen zu. Barfuß, geschminkt, die gepflegten F u ß - und Fingernägel leuchteten rot, das schwarze Haar schimmerte, als k ä m e sie just aus dem Friseursalon, war sie in einen purpurnen, bis zu den Knöcheln reichenden Morgenmantel gehüllt, unter dem eine aufreizende schwarze Spitzenkombination ohne Strümpfe zum Vorschein kam. Aus den Lautsprechern e r t ö n t e eine Stimme, sie hatte ihr Mobiltelefon an die elektronische Konsole angeschlossen. Es war ihre Mutter: In diesem Jahr wollte sie Weihnachten in Valencia verbringen m i t Eduardo, ihrem neuen Geliebten, und fragte, ob Elisa an Heiligabend zu ihnen s t o ß e n wolle. »Ich w i l l dich nicht d r ä n g e n , Eli, glaub m i r . . . Tu, wonach dir der Sinn steht. Obwohl du das ja eigentlich immer nur gemacht hast. Ich weiß ja, dir bedeuten die Feiertage nicht so viel.« »Ich w ü r d e gerne kommen, Mama, ehrlich. Aber ich kann es dir jetzt noch nicht versprechen.« » U n d wann weißt du es genauer?« »Ich rufe dich am Freitag an.« Elisa war dabei, sich Escalivada zuzubereiten, katalanisches Schmorgemüse, und schaltete die Abzugshaube ein, bevor sie den Inhalt eines M ö r s e r s in die erhitzte Pfanne gab. Ein w ü t e n d e s
Spritzen ließ sie z u r ü c k w e i c h e n . Sie musste die Lautsprecher aufdrehen. »Ich w i l l dir bei deinen Plänen nicht in die Quere kommen, Eli, aber ich finde, wenn du nichts anderes vorhast ... Na ja, dann solltest du dich eigentlich zu uns gesellen. U n d glaub mir, ich sage das nicht um meinetwillen. Ganz bestimmt nicht.« Die Stimme klang unsicher. »Du musst unter Leute, M ä d c h e n . Du bist zwar immer schon eine Einzelgängerin gewesen, aber in letzter Zeit verhältst du dich irgendwie anders. Als Mutter merkt man so was.« Elisa nahm die Pfanne vom Herd, holte eine Auflaufform aus dem Ofen und gab den Pfanneninhalt auf das G e m ü s e . »Seit Monaten, besser gesagt seit Jahren, lebst du wie eine Einsiedlerin vor dich h i n . Wenn man mit dir redet, wirkst du abwesend, als wärst du in Gedanken ganz woanders. Das letzte M a l , am Sonntag, als w i r zusammen zu M i t t a g gegessen haben, ich schwöre dir, da kam m i r sogar der Gedanke ... dass du nicht mehr dieselbe bist.« »Dieselbe wie wer, Mama?« Elisa nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, holte ein Glas heraus und ging dann über den weichen Teppich ins Wohnzimmer. Von dort konnte sie das Telefonat gut weiterverfolgen. »Dieselbe wie damals, als du noch bei m i r gewohnt hast, Eli.« Sie brauchte kein Licht zu machen, denn in ihrer Wohnung brannten längst sämtliche Lichter, auch in R ä u m e n , in denen sie sich gerade nicht aufhielt, wie im Bad u n d im Schlafzimmer. Sobald es d ä m m e r t e , schaltete sie alle Lampen ein. Das kostete sie ein Vermögen, vor allem im Winter, aber sie konnte die Dunkelheit partout nicht ertragen. Auch wenn sie schlief, blieben die R ä u m e stets hell erleuchtet. »Na schön, mach dir nichts draus«, sagte ihre Mutter, »schließlich habe ich nicht angerufen, um dich zu kritisieren ...« Hört, hört, dachte Elisa. »Ich will auch nicht, dass du dich wegen Heiligabend genötigt fühlst. Falls du m i t jemandem verabredet sein solltest. M i t dem
Typ, von dem du m i r erzählt hast, zum Beispiel, Rentero, oder? ... sag es einfach. Ich b i n dir nicht böse, ganz im Gegenteil.« Wie raffiniert von dir, Mama. Elisa stellte die Flasche und das Glas auf den Tisch vor dem Fernseher m i t dem Flachbildschirm, dessen Ton sie abgestellt hatte. Dann kehrte sie in die Küche zurück. M a r t í n Rentero war bis vor kurzem an der Alighieri Dozent für Informatik gewesen, dann hatte er ein Angebot von der U n i versidad de Barcelona bekommen u n d war weggezogen. Aber vor einer Woche hatte er sich plötzlich aus M a d r i d gemeldet, wo er an einem Kongress teilnahm. Bei dieser Gelegenheit hatte Elisa ihn wiedergesehen. Er war ein sehr m ä n n l i c h e r Typ m i t dichtem Haar u n d schwarzem Schnurrbart u n d sehr von seinem guten Aussehen überzeugt. W ä h r e n d seiner Jahre an der Alighieri hatte er Elisa mehrmals zum Essen ausgeführt u n d ihr Komplimente gemacht - n a t ü r l i c h war er nicht der Erste, der ihr seine Zuneigung gestand. Als erneut ein Treffen in Aussicht war, zweifelte Elisa keine Sekunde daran, dass er wieder n ä h e r e n Kontakt m i t ihr suchen w ü r d e . Und tatsächlich hatte er sich sofort m i t ihr für das Wochenende verabreden wollen, was sie dankend ablehnte, weil da die Weihnachtsfeier m i t ihren Kollegen von der Alighieri stattfand. Daraufhin hatte Rentero sich weiter vorgewagt: Er wolle in den Pyrenäen ein Ferienhaus mieten, dort k ö n n t e n sie die Feiertage gemeinsam verbringen. Was sie davon hielte? Dieses Angebot sei ihr zu verbindlich, sie wolle es sich ü b e r l e gen. M a r t i n gefiel ihr, und sie wusste, dass sie dringend Gesellschaft brauchte. Andererseits war da ihre Angst. Nicht vor M a r t i n , sondern um Martin: Sie fürchtete sich davor, dass er ihre andere Seite kennen lernen k ö n n t e , wenn einer ihrer >Zustände< sie überwältigte, sie die Selbstkontrolle verlor, ihre tausend Ängste sie verrieten. Ich werde ihm absagen und Mama auch. Ich will keine Verpflichtungen. Sie stellte den Ofen ab u n d nahm die Auflaufform m i t der Escalivada heraus.
»Wenn du schon etwas vorhast, k ö n n t e s t du es m i r ruhig sagen.« »Nein, Mama, ich habe nichts vor.« In diesem Moment klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Elisa fragte sich, wer das wohl sein k ö n n t e . An diesem Abend erwartete sie keinen weiteren A n r u f und wollte auch keinen, dam i t ihr noch ein paar Stunden zum >Spielen< blieben, bevor sie ins Bett ging. Doch ein Blick auf die K ü c h e n u h r v e r s ö h n t e sie: Es war noch früh. »Entschuldige, ich rufe dich gleich zurück, Mama. Der andere Apparat klingelt.« »Aber vergiss es nicht, Eli.« Sie unterbrach das Gespräch auf dem Handy und ging in der Erwartung, dass es besagter Rentero war, ins Wohnzimmer. Kurz bevor der Anrufbeantworter ansprang, nahm sie den H ö r e r ab. Am anderen Ende war es tot. N u r ein leises Summen war zu hören. »Elisa ...?«, eine junge Frau m i t a u s l ä n d i s c h e m Akzent meldete sich. »Elisa Robledo?« Die Stimme klang unsicher, als k ä m e sie von einem sehr viel kälteren O r t in ihre Wohnung. »Ich b i n es, Nadja Petrova.« U n d sonderbarerweise ü b e r t r u g sich die Kälte, war trotz der vielen Kilometer Telefonleitung ansteckend u n d verursachte gleichsam einen ganzen Ozean aus Schallwellen auf Elisas d ü n n bekleidetem Körper.
» Wie geht es Ihnen diesen Monat?« »So wie letzten.« »Heißt das gut?« »Das heißt normal.« Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht eine einzige Sekunde das Geschehene vergessen. Es war allein die seither verstrichene Zeit, die wie eine wollene Schicht ihr nacktes, erstarrtes Inneres schützend einhüllte. Dass die Zeit alle Wunden heilt, diese Vorstellung
hatte sie abgelegt. Elisas Erfahrung war eher: Die Zeit deckt sie nur zu. Die Erinnerungen lebten unbehelligt in ihrem Inneren fort, hatten an Intensität weder zu- noch abgenommen. Sie wurden nur verdeckt von der Zeit, wie ein Grab von Herbstlaub zugedeckt w i r d oder eine reich bepflanzte Grabstätte das Gewimmel der W ü r m e r zu b e m ä n t e l n sucht. Dennoch m a ß sie dem Ganzen keine g r o ß e Bedeutung mehr bei. Inzwischen waren sechs Jahre vergangen, sie war neunundzwanzig geworden, hatte eine Anstellung als Hochschullehrerin u n d sorgte durch das Unterrichten selbst für ihren Lebensunterhalt, was ihr gefiel. Sie lebte allein, das schon, dafür war sie niemandem Rechenschaff schuldig u n d konnte in ihrer Wohnung tun u n d lassen, was sie wollte. Sie verdiente genug Geld, um nicht auf die kleinen Extras verzichten zu müssen, die einem das Leben v e r s ü ß e n . Wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte, wäre genug da gewesen für Auslandsreisen (die sie nicht machen wollte) oder für mehr Freunde (die sie auch nicht vermisste). Alles Weitere . . . Worauf reduzierte sich alles Weitere? A u f ihre Nächte. »Haben Sie immer noch Albträume?« »Ja.« »Jede Nacht?« »Nein. Ein- bis zweimal in der Woche.« »Können Sie uns einen erzählen?« » ...« »Elisa? Können Sie uns einen Albtraum erzählen?« »Ich erinnere mich nicht so deutlich.« »Erzählen Sie uns irgendwas daraus, etwas, an das Sie sich erinnern.« »...« »Elisa?« »Dunkel. Es ist immer dunkel« Na und? Sie musste zwar m i t eingeschaltetem Licht leben, aber andere Menschen konnten keinen Fahrstuhl betreten oder keinen Platz m i t einer g r o ß e n Menschenansammlung ü b e r q u e r e n .
Sie hatte sich P a n z e r t ü r e n , einbruchsichere Rollläden, elektronische Schlösser und zentral gesteuerte Alarmanlagen einbauen lassen, um jeden Eindringling abzuwehren. Es waren schließlich gefährliche Zeiten. Wer wollte ihr das vorwerfen? » Und die Aussetzer? Erinnern Sie sich an den Begriff? Die Momente, wenn Sie mit offenen Augen zu träumen anfangen ...« »Ja, die gibt es schon noch, aber viel seltener als früher.« »Das letzte Mal wann?« »Vor einer Woche, beim Fernsehen.« Einmal im Monat kamen mehrere Spezialisten der Eagle Group nach M a d r i d , um sie einem geheimen Gesundheits-Check zu unterziehen, samt Blut- und Urinuntersuchungen, Röntgenaufnahmen, psychologischen Tests u n d einem a u s f ü h r l i c h e n Gespräch. Elisa beugte sich dieser Routine. Der Ort, wohin sie dafür einbestellt wurde, war keine K l i n i k , sondern eine Wohnung in der Principe de Vergara mit einer nichtssagenden Einrichtung. Die Labortests und R ö n t g e n a u f n a h m e n wurden eine Woche vorher in der Praxis eines niedergelassenen Arztes durchgeführt, so dass die Ergebnisse den Spezialisten bereits vorlagen, wenn Elisa sich ihnen vorstellte. Diese Termine waren für sie sehr e r m ü d e n d , denn sie zogen sich über den ganzen Tag hin, mit psychologischen Tests am Vormittag und dem Gespräch am Nachmittag. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Vorlesungen ausfallen zu lassen. Nach einer Weile hatte sie sich jedoch daran gewöhnt und sehnte diese Tage sogar herbei, weil sie m i t den Leuten wenigstens offen reden konnte. Die Spezialisten führten ihre A l b t r ä u m e auf die W i r k u n g des Impacts zurück. Sie erzählten ihr, dass es anderen Mitarbeitern aus ihrem einstigen Team genauso erginge, eine E r k l ä r u n g , die sie erstaunlicherweise beruhigte. Zu keinem ihrer ehemaligen Kollegen hatte sie je wieder Kontakt aufgenommen, nicht nur, weil sie unter Eid geschworen hatte, es zu unterlassen, sondern auch, weil sie irgendwann kein Interesse mehr gehabt hatte, deren Werdegang zu verfolgen. Allerdings war im Lauf der Jahre hier u n d da eine Nachricht zu ihr
durchgedrungen. So wusste sie beispielsweise, dass Blanes zurückgezogen in Zürich lebte: Es ging das Gerücht, dass die Krebserkrankung seines längst pensionierten Mentors Albert Grossmann i h n mitgenommen habe. M a r i n i und Craig waren wie vom Erdboden verschluckt; sie hatte nur einmal verlauten h ö r e n , dass M a r i n i keine Vorlesungen mehr hielt. Ihren letzten Informationen zufolge hatten sich Jacqueline Clissot und Reinhard Silberg ebenfalls aus der akademischen Welt verabschiedet; Clissot, weil sie >erkrankt< sei (woran? Das schien niemand zu wissen . . . ) . Was Nadja betraf, so hatte sie diese völlig aus den Augen verloren. Und sie selbst... »Es geht Ihnen immer besser, Elisa. Wir haben eine gute Nachrichtfür Sie: Vom nächsten fahr an brauchen Sie nur alle zwei Monate zur Kontrolle zu kommen. Freuen Sie sich?« »Ja.« »Fröhliche Weihnachen, Elisa, und alles Gute für das Jahr 2012.« Da stand sie also, an diesem Dezemberabend, in Morgenrock und Spitzendessous von Victoria's Secret, wollte erst zum Abendessen ihre Escalivada verzehren, bevor sie sich dem >Spiel< m i t dem Mann mit den weißen Augen hingab, als plötzlich die Stimme der Vergangenheit aus dem Telefon drang.
Es gab ein Foto. Von einem jungen, doch schon vom Leben gezeichneten M a n n m i t d ü n n e m grauem Bart und einer Drahtbrille, neben einer, bis auf ihr etwas rund geratenes Gesicht, h ü b schen Frau, die ein etwa fünfjähriges Kind mit zerzausten blonden Haaren auf dem A r m trug. Das K i n d hatte bedauerlicherweise das Mondgesicht der Mutter geerbt. Mutter und Kind lächelten breit (dem Kind fehlten vorn ein paar Z ä h n e ) , während der Mann ernst blieb, als hätte er sich um des lieben Friedens willen zu der Aufnahme bereit erklärt. Das Bild war in einem Garten aufgenommen, im Hintergrund stand ein Haus. Beim Anblick dieses Fotos lief vor ihrem inneren Auge unwillkürlich ein Film ab. Ihr war klar, dass die Nachricht keine derar-
tigen Details umfasste, und dass die Fantasie mit ihr d u r c h g i n g genauso, wie sie selbst die perversen Worte des Mannes m i t den weißen Augen erfand. Dennoch spielten sich in ihrem Bewusstsein diese Szenen ab, schlaglichtartig beleuchtet. Sie haben ihm die Augen ausgestochen. Die Genitalien abgeschnitten. Sie haben ihm Arme und Beine amputiert. Das Kind hat zugesehen. Sie haben es gezwungen hinzuschauen. »Sieh mal, was wir mit Papa machen. Erkennst du deinen Papa noch?« M i t angezogenen, halb v o m Morgenrock bedeckten Knien hockte Elisa auf dem Teppich vor dem Fernseher, als wollte sie jeden Moment den Lotussitz einnehmen. Dabei sah sie gar nicht fern, sondern surfte ü b e r die Tastatur des Receivers im Internet. Die Seite gehörte zu einem britischen Kanal. Nur dort sei in den Spätnachrichten die Meldung gekommen, sagte Nadja, w o m ö g lich, weil der Vorfall noch zu kurz zurücklag. »Wie schrecklich, der arme Colin! Aber ...« Elisa hielt inne, wollte unwillkürlich hinzufügen: >Aber ich verstehe nicht, weshalb du mich drei Tage vor Weihnachten anrufst, um m i r das zu erzählen. < »Einiges w i r d in der Meldung nicht erwähnt. Jacqueline hat es m i r v e r r a t e n « , sagte Nadja. »Colins Frau wurde in den frühen Morgenstunden entdeckt, wie sie schreiend die Straße entlanglief. Dadurch ist es erst herausgekommen. Das K i n d hat man im Garten hinter dem Haus gefunden: Es hat die ganze Nacht im Freien verbracht und schwere Erfrierungen erlitten. Ich verstehe das nicht, Elisa. Wieso hat sie ihr kleines K i n d dagelassen und nicht gleich die Polizei oder sonst jemanden alarmiert? Was . . . ist wirklich passiert?« »Hier heißt es, M ä n n e r w ä r e n eingedrungen und h ä t t e n sie bedroht. Gefährliche Verbrecher m i t Vorstrafen . . . Sie waren auf Drogen und wollten Geld . . . Vielleicht konnte sie nur knapp entkommen.« »Und lässt ihr K i n d da?« »Die M ä n n e r , die auf Colin losgegangen sind, haben ihr womöglich keine andere Wahl gelassen. Oder sie hat Panik bekom-
men. Ist durchgedreht. Bestimmte Erfahrungen k ö n n e n . . . k ö n nen ...« Blut überall: an der Decke, an den Wänden, auf dem Boden. Das Kind im Garten, mutterseelenallein. Die Mutter rennt auf dem Randstreifen die Landstraße entlang. Hilfe, bitte . Helfen Sie mir! 1
Ein Schatten ist in mein Haus eingedrungen! Ein Schatten, der uns verschlingen will! Da ist kein Gesicht, nur ein Maul! Und das ist RIIIIEEEESIIIIG!« »Jacqueline hat gehört, dass das Haus von Soldaten umstellt ist.« »Was?« »Von Soldaten«, wiederholte Nadja. » N i e m a n d weiß, was sie da suchen. Es sind gewöhnliche Polizisten dabei, aber auch Soldaten, Sanitäter, M ä n n e r m i t Gasmasken. M a n hat die Fenster verrammelt und im Umkreis von einem Kilometer alles abgesperrt. Ein Stromausfall hat die Lage noch verschlimmert. Heute Nacht gab es nämlich in den Außenbezirken von Oxford eine U n terbrechung der Stromversorgung. Die noch immer nicht behoben ist. Sie sagen, ein Kurzschluss im Umspannwerk der Stadt sei die Ursache. K o m m t dir das nicht bekannt vor, Elisa?« Als das Dunkel eintrat, erloschen die Lichter am Tannenbaum. Die Lämpchen am Strumpf des Kindes, wo der Weihnachtsmann in der Heiligen Nachtseine Gaben hineinlegen sollte, gingen aus. Familie Craig war zu Hause versammelt, als die Dunkelheit bei ihr eindrang wie ein Zyklon. Bei lebendigem Leib ist ihm das Gesicht weggerissen worden. Das Kind hat zugeschaut. »Bei Rosalyn sind die Lichter in der Station ausgegangen und bei Cheryl Ross die im Keller. Und noch etwas, Elisa, auf das wir gar nicht gekommen sind: Das Badezimmerlicht von Rosalyn, deins und meins... Weißt du noch? W i r hatten alle drei diesen Traum ... und alle drei hatten wir im Badezimmer einen Kurzschluss.« Zufälle. Ich will dir von einem weiteren Zufall erzählen. »Das besagt noch gar nichts, Nadja. Die Physik kennt gar keinen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Träumen.«
»Das weiß ich! Aber Angst hat nichts m i t Logik zu tun. Du benutzt deinen Verstand, um mich mit deiner Logik zu beruhigen, aber als mich Jacqueline angerufen hat, um m i r das von ... Col i n zu erzählen, da habe ich ... Ich habe gedacht, dass . . . das m i t der Insel noch immer nicht vorbei i s t . . . « Man h ö r t e sie schluchzen. »Nadja ...« »Diesmal hat es Colin erwischt... und vorher Rosalyn, Cher y l Ross und Ric. Aber es ist alles dasselbe, das weißt du ganz genau.« »Nadja, H i m m e l ! Hast du es vergessen? Ric Valente hat all das verbrochen. U n d der ist jetzt mausetot.« An beiden Enden der Leitung wurde es still. Dann wimmerte Nadja leise. »Glaubst d u wirklich, dass er es war, der sie getötet hat, Elisa? Glaubst du das wirklich?« Nein, ich glaube es nicht. Sie beschloss, die Antwort für sich zu behalten. Die blinkenden Ziffern auf dem Fernsehbildschirm zeigten an, dass ihr nur noch eine Stunde blieb, bis er k ä m e . Ihr >Spiel< war unaufschiebbar, eine feste Angewohnheit wie das N ä gelkauen. Sie brauchte nur den Morgenmantel auszuziehen und zu warten. Ich muss Schluss machen. »Jacqueline und ich haben ü b e r noch etwas gesprochen.« Der v e r ä n d e r t e Tonfall ihrer einstigen Freundin alarmierte sie. »Sag m i r eins. Sag m i r bitte ganz ehrlich, Hand aufs Herz . . . ob es stimmt, dass du . . . dass du ihn erwartest.« Elisa saß auf dem Teppich und lauschte m i t angehaltenem Atem. »Elisa, bitte sag es mir, um unserer früheren Freundschaft willen. Schämst du dich deswegen? Ich auch, sehr sogar . . . Aber weißt du was? Ich habe Angst, Elisa! Und diese unbändige Angst ist stärker als die Scham!« Unfähig, sich zu r ü h r e n oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, lauschte Elisa gebannt. »Spezielle Dessous... Ich meine, aufreizende, und immer schwarz . . . Vielleicht hast du ja so was schon früher angezogen, aber mittlerweile ziehst du es oft an, stimmt's? U n d manchmal hast du gar nichts an. Sag mir, ob ich Recht habe, dass du manchmal ohne Unterwäsche auf die Straße
gehst, obwohl das früher nie deine A r t war. Und nachts ... t r ä u m s t du da nicht von ...?« Nein, was Nadja ihr da unterstellte, stimmte nicht. Ihre >Spiele< entsprangen ihrer ureigenen Vorstellungskraft. Mochte sein, dass sie von gewissen unangenehmen Erfahrungen beeinflusst wurden, die sie vor sechs Jahren gemacht hatten, aber letzten Endes waren sie nur Einbildung. U n d die Tatsache, dass Nadja ähnliche Dinge >spielte< oder dass Craig in der vorigen Nacht ermordet worden war, hatte nichts m i t ihr zu tun. Ganz u n d gar nichts. »Weißt du . . . weißt du, was Jacqueline inzwischen für ein Leben führt?«, fuhr Nadja fort. »Weißt du, dass sie vor vier Jahren sogar ihre Familie verlassen hat, Elisa? Ihren M a n n u n d ihren Sohn . . . Dass sie ihren Beruf aufgegeben hat? Willst du wissen, was seit damals aus ihr geworden ist? U n d aus mir?« Nadja brach am anderen Ende der Leitung in ein hemmungsloses Schluchzen aus. »Soll ich dir erzählen, was ich tue? Interessiert es dich, wie ich lebe und w o m i t ich m i r die Zeit vertreibe?« »Wir dürfen nicht miteinander reden, Nadja«, unterbrach Elisa sie. »Wir haben jeden Monat ein Gespräch. Da kannst du d o c h . . . « »Sie belügen uns, Elisa! Weißt du, dass sie uns seit Jahren h i n ters Licht führen?« Wenn er kommt und du ihn nicht erwartest... Wenn du ihn nicht erwartest, wie es sich gehört... Elisa starrte auf einen Punkt ihres Bildschirmschoners m i t der Abbildung der Mondphasen; ein weißer, fast voller M o n d war jetzt darauf zu sehen. Weiß, wie ein bestimmtes Augenpaar. Ein Schauer überlief sie und ließ sie unter dem Morgenrock, der teuren Frisur und der Schminke frösteln. Das ist absurd. Es handelt sich nur um ein Spiel. Ich kann machen, was ich will. »Elisa, ich habe schreckliche Angst.« In diesem Augenblick reifte ein Entschluss in ihr. »Nadja, du hast doch gesagt, dass du dich in M a d r i d befindest, nicht wahr?« »Ja. Eine spanische Freundin hat m i r ü b e r die Feiertage ihre Wohnung überlassen. Aber am Freitag reise ich wieder ab, weil ich Heiligabend bei meinen Eltern in Petersburg sein möchte.«
»Umso besser. Ich komme heute Abend zu dir, dann gehen w i r in ein hübsches Restaurant essen. Was hältst du davon? Ich lade dich ein.« Sie vernahm ein Lachen. Nadja lachte immer noch wie damals, als sie sich kennen gelernt hatten, kristallklar. »Einverstanden.« »Aber unter einer Bedingung. Du musst m i r versprechen, dass w i r ü b e r nichts Unangenehmes reden.« »Abgemacht. Ich bin ja so gespannt, dich wiederzusehen, Elisa!« »Und ich erst! Sag m i r noch, wo du bist.« Sie öffnete auf ihrem Rechner die S t r a ß e n k a r t e . Die Wohnung lag im Stadtteil M o n cloa, in einer halben Stunde k ö n n t e sie dort sein. Als sie aufgelegt hatte, schaltete sie das Fernsehgerät aus, stellte das u n b e r ü h r t e Gemüsegericht in den Kühlschrank und ging ins Schlafzimmer. W ä h r e n d sie sich der Dessous für das >Spiel< entledigte und sie im Schrank verstaute, schwankte sie ein wenig, da sie noch nie ihre Pläne g e ä n d e r t hatte, wenn das Verlangen, ihn zu empfangen, schon in ihr hochstieg. (Wenn er kommt und du nicht bereit bist... Wenn du ihn nicht erwartest, wie es sich gehört ...) Aber dieser A n r u f und die grausamen Nachrichten ü b e r C o l i n hatten g ä r e n d e Fragen in ihr hinterlassen, die nach A n t worten verlangten. Sie w ä h l t e einen BH u n d den dazu passenden Slip in Beige, Pullover und Jeans. Sie w ü r d e zu Nadja gehen. Sie hatte eine Menge m i t ihr zu bereden.
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Das Licht flammte flackernd auf. Es e n t s t r ö m t e einer dicken L e u c h t r ö h r e ü b e r dem Badezimmerspiegel u n d brachte jede Kante und jede Ritze auf der Wand m i t den orangefarbenen Kacheln ans Tageslicht. Aber Nadja Petrova schaltete trotzdem eine weitere batteriebetriebene Lampe m i t einer Fünf-Watt-Birne an und stellte sie auf einen Hocker neben die Dusche. Sie verreiste nie mehr ohne u n d hatte dazu noch drei Taschenlampen m i t neuen Batterien in ihrem Koffer bereitliegen. Sie war froh, Elisa schließlich angerufen zu haben. Es hatte sie einige Ü b e r w i n d u n g gekostet. O b w o h l sie das Angebot ihrer Freundin Eva, ihr die Wohnung zu überlassen, eigentlich nur angenommen hatte, um Elisa wiederzutreffen, hatte sie bereits eine Woche in M a d r i d verbracht, ohne sich bei ihr zu melden. Offenbar hatte sie die Nachricht von Colin Craigs Tod gebraucht, um sich dazu durchzuringen. U n d selbst jetzt plagten sie Zweifel. Das hätte ich nicht tun dürfen. Wir haben unterschrieben, dass wir keinen Kontakt zueinander aufnehmen. I m m e r h i n entlastete die Dringlichkeit der Lage ihr schlechtes Gewissen. V o r d e r g r ü n d i g schien es zwar, als wollte sie die Freundschaft mit Elisa auffrischen, tatsächlich b e n ö t i g t e sie deren N ä h e und Rat. Nadja sehnte sich nach der beruhigenden A r t ihrer damaligen Kollegin und war gespannt, was sie zu dem zu sagen hatte, was sie ihr e r z ä h l e n musste.
Sie brauchte eine logische Erklärung, ja genau. Etwas Eindeutiges, um zu verstehen, was m i t ihr geschah. Nadja ging ins Schlafzimmer, das wie die übrige Wohnung hell erleuchtet war. Eva w ü r d e sich am Ende des Monats ü b e r die Stromrechnung beschweren, so viel stand fest, aber Nadja hatte vor, ihr einen Teil der Kosten zu erstatten. Vor zwei Jahren war es in dem Pariser Hochhaus, in dem sie wohnte, zu einem Stromausfall gekommen, u n d das hatte sie zu Tode erschreckt. F ü n f Minuten lang - dann erst war die Panne behoben - hatte sie zusammengekauert auf dem Boden gehockt, ohne sich zu r ü h r e n . Sie war noch nicht einmal in der Lage gewesen zu schreien. Seitdem sorgte sie dafür, dass sie stets mehrere Steh- und Taschenlampen m i t vollen Batterien oder Akkus in greifbarer N ä h e hatte. Sie hasste die Dunkelheit. Nadja zog sich aus. Als sie den Schrank öffnete, betrachtete sie sich im Spiegel. Spiegel beunruhigten sie, seit sie ein kleines M ä d c h e n war. Wenn sie hineinschaute, rechnete sie immer damit, jemanden hinter ihrem Rücken auftauchen zu sehen, eine unerwartete Erscheinung, die ihr ü b e r die Schulter blickte, ein Wesen, das nur dort, im Quecksilber, zu entdecken war. Sie wusste natürlich, wie u n b e g r ü n d e t ihre Furcht war. Auch diesmal sah sie nichts anderes als sich selbst, die milchweiße Haut, die kleinen Brüste, die blassrosa Brustspitzen . . . Das übliche Bild. N u n , nicht ganz das übliche, jedoch m i t bekannten Veränderungen. Veränderungen, die sie, wie sie inzwischen wusste, m i t Jacqueline teilte u n d vielleicht auch m i t Elisa. Sie wählte ihre Kleidung aus und warf einen Blick auf die Uhr. Ihr blieben noch zwanzig Minuten, um zu duschen u n d sich zurechtzumachen. Sie ging nackt ins Badezimmer, w ä h r e n d sie überlegte, was ihre Freundin w o h l von ihrem gewandelten Erscheinungsbild halten w ü r d e . Was w ü r d e sie beispielsweise zu den langen, schwarz gefärbten Haaren sagen?
Elisa beschloss, den Umweg ü b e r die M 30 zu nehmen, weil sie dachte, dass sie um diese Uhrzeit, vier Tage vor Weihnachten, auf der Strecke durch die Innenstadt unweigerlich in einen Stau geraten w ü r d e . Als sie jedoch die Avenida de la Ilustración erreichte, musste sie bremsen, vor sich eine lange Schlange funkelnder Rücklichter. Sämtliche roten Lichterketten der Weihnachtsbeleuchtung schienen auf dem Asphalt gelandet zu sein. Z ä h n e knirschend fluchte sie. Da klingelte ihr Handy. Sie dachte: Das ist Nadja. U n d direkt danach: Nein. Ich habe ihr die Nummer doch gar nicht gegeben. U n d w ä h r e n d sie millimeterweise m i t der Autokolonne vorrückte, zog sie den Apparat aus der Tasche u n d meldete sich. »Hallo, Elisa.« In unserem Inneren reisen die Gefühle m i t rasender Schnelligkeit. Aber nicht nur sie: Millionen von Daten s t r ö m e n jede Sekunde durch unsere Gehirnbahnen, ohne dass es je zu einem Stau k o m m t , wie i h n Elisa in diesem Moment ü b e r sich ergehen lassen musste. Und in ein, zwei Wimpernschlägen bewältigten ihre Gefühle einen beachtlichen Parcours: von der Gleichgültigkeit bis zu Ü b e r r a s c h u n g zu einem spontanen Jubel, dann wechselte Jubel m i t Besorgnis. »Ich b i n in Madrid«, erklärte Blanes. »Meine Schwester wohnt in El Escorial, u n d ich m ö c h t e die Feiertage m i t ihr verbringen. Ich wollte dir alles Gute zu Weihnachten w ü n s c h e n , w i r haben uns ja seit Jahren nicht mehr gesprochen.« U n d er setzte in u n beschwertem Ton hinzu: »Ich habe dich zu Hause angerufen, aber da war nur der Anrufbeantworter. Dann fiel m i r wieder ein, dass du an der Alighieri arbeitest. Ich habe Noriega angerufen, u n d der hat m i r deine Handynummer gegeben.« »Ich freue mich riesig, deine Stimme zu h ö r e n , David«, sagte sie aufrichtig. »Ich genauso. Nach all den Jahren ...« »Wir geht es dir? Ist bei dir alles in O r d n u n g ? « »Ich kann mich nicht beklagen. In Z ü r i c h habe ich eine Wandtafel u n d ein paar Bücher. Ich b i n zufrieden.« Er zögerte, u n d
noch ehe er es aussprach, wusste sie schon, was er sagen w ü r d e . »Hast du von der Sache m i t dem armen Colin gehört?« Sie sprachen oberflächlich über das Unglück und hatten Craig nach zehn Sekunden m i t ein paar höflichen Sätzen unter die Erde gebracht. Elisas Wagen bewegte sich nur wenige Meter von der Stelle. »Reinhard Silberg hat mich aus Berlin angerufen, um es m i r zu erzählen«, bemerkte Blanes. »Mir hat Nadja Bescheid gesagt. Du erinnerst dich doch an Nadja, nicht wahr? Sie ist übrigens auch in M a d r i d auf Urlaub, in der Wohnung von einer Freundin.« »Ah, gut. Wie geht es denn unserer lieben Paläontologin?« »Sie ist schon vor Jahren aus dem Beruf ausgestiegen ...« Elisa räusperte sich. »Sie sagt, er hätte sie zu sehr angestrengt.« Genau wie Jacqueline und Craig. Bei dieser Ü b e r l e g u n g stockte sie. Blanes berichtete ihr, dass Craig an der Universität ein Sabbatjahr genommen hatte. »Nadja hat jetzt eine Honorarstelle im Fachbereich Slawistik an der Sorbonne oder so etwas Ähnliches. Sie sagt, es sei ihr Glück gewesen, dass sie Russisch k o n n t e « , fuhr Elisa fort. »Verstehe.« »Wir haben uns für heute Abend verabredet. Sie hat gesagt, dass sie ... Angst hat.« »Ach.« In Elisas Ohren klang dieses >Ach<, als wunderte sich Blanes keineswegs ü b e r Nadjas Zustand, als hätte er sowas erwartet. »Einiges von dem, was sie über die Sache m i t Colin erfahren hat, hat bei ihr Erinnerungen wachgerüttelt«, fügte sie hinzu. »Ja, so was Ähnliches hat Reinhard auch gesagt.« »Dabei kann es sich nur um einen unglücklichen Zufall handeln, meinst du nicht auch?« »Zweifellos.« »Je länger ich d a r ü b e r nachdenke ... Ich kann m i r beim besten Willen nicht vorstellen, dass da ein ... Zusammenhang mit dem bestehen s o l l . . . was w i r erlebt haben. D u , David?«
»Vollkommen ausgeschlossen, Elisa.« Colin Craigs Ehefrau ist außer sich, rennt auf dem Randstreifen die Landstraße entlang, vielleicht im Morgenmantel oder im Nachthemd. Sie musste zusehen, wie ihr Mann angegriffen und übel zugerichtet und ihr Sohn entführt wurde. Nur ihr ist es gelungen, die eigene Haut zu retten. Sie schreit um Hilfe. Das ist vollkommen ausgeschlossen, Elisa. »Ich frage mich«, Blanes schlug einen anderen Ton an, gleichsam eine neue Melodie als Einleitung für ein neues Thema, »ob du Lust hättest, uns in diesen Tagen mal zu treffen. Ich weiß, man hetzt an den Feiertagen immer hin und her, na ja, aber . . . vielleicht einfach mal auf einen Kaffee?« Er stimmte ein Lachen an. Oder besser gesagt, gab er Laute von sich, die ihr vermittelten: Ich lache. »Wenn du magst, kann Nadja m i t k o m m e n . « Da glaubte Elisa plötzlich zu wissen, was Blanes m i t dem A n rufbezweckte und was er ihr zwischen den Zeilen mitzuteilen versuchte. »Ehrlich gesagt, finde ich den Plan verlockend.« Der Ausdruck >Plan< traf im doppelten Sinne zu, fand sie. »Wie wäre es morgen, am Donnerstag?« »Abgemacht. Meine Schwester hat m i r das Auto dagelassen, ich k ö n n t e also gegen halb sechs bei dir sein und dich abholen, wenn es dir passt. Danach überlegen wir, wo w i r hingehen.« F ü r einen A u ß e n s t e h e n d e n war der Dialog unverdächtig. Sie waren einfach Freunde, die sich für einen beliebigen Nachmittag verabredeten, nachdem sie sich jahrelang nicht gesehen hatten. Aber Elisa verstand die versteckte Botschaft. Uhrzeit: halb sechs. Ort: Den nennen wir nicht am Telefon. Grund: Das ist vollkommen ausgeschlossen. »Sag mir, wie ich dich erreichen kann«, bat sie. »Ich frage Nadja, ob sie m i t w i l l , und rufe dich nachher zurück.« Beispiel für einen Grund: Ein Kind im Garten hinter seinem Elternhaus halb erfroren, Augen und Mund bedeckt von Schnee, wartet vergeblich auf seine Eltern, weil Mama losgerannt ist, um Hilfe zu holen, und Papa im Moment drinnen aufgehalten wird.
Noch ein Beispiel: Soldaten und Stromausfälle. Wir haben jede Menge Gründe. »Ist gut, Elisa. Ihr k ö n n t jederzeit anrufen. Ich gehe ohnehin spät zu Bett.« A u f der Calle del Prado wurde der Verkehr wieder flüssiger. Elisa beendete das Gespräch m i t Blanes, packte das Mobiltelefon weg und legte einen h ö h e r e n Gang ein. Plötzlich hatte sie es schrecklich eilig, zu Nadja zu kommen.
Unter der Dusche dachte sie immer, sie m ü s s e sterben. In den letzten Jahren hatte sich ihre Angst zu einer regelrechten Phobie gesteigert, u n d die schlichte Tatsache, nackt unter der lauwarmen Dauerberieselung zu stehen, hatte für sie inzwischen mehr von einer Mutprobe als einer hygienischen Notwendigkeit. Nicht, dass sie es nicht gewohnt gewesen wäre, allein zu sein schließlich lebte sie in Paris auch für sich -, eher im Gegenteil: Sie glaubte oder vermutete oder ahnte, dass sie nie wirklich allein war. Auch nicht, wenn kein Mensch zugegen war. Sei nicht blöd. Elisa hat es dir doch bestätigt: Das mit Colin Craig ist furchtbar, aber es hat nichts mit New Nelson zu tun. Denk nicht daran. Schalte ab und denk an was anderes. Sie rieb sich die Arme. Dann seifte sie sich den Bauch ein und den enthaarten Venushügel. Schon vor Jahren hatte sie sich die Achseln und den gesamten Schambereich dauerhaft depilieren lassen. Anfangs hatte sie es für eine nichtige Belanglosigkeit gehalten und war sogar a m ü siert gewesen, endgültig so unbehaart zu sein, obwohl niemand sie dazu aufgefordert hatte und keine ihrer Schwestern je diesen Schritt gewagt hätte. Später hatte sie nicht mehr gewusst, was sie davon halten sollte. Als sie sich die vielen Garnituren schwarzer Reizwäsche gekauft hatte (die sie nie gemocht hatte, weil sie vor der albinoartigen Blässe ihres K ö r p e r s einen zu heftigen K o n trast bildeten) und beschlossen hatte, sich die Haare zu färben, schrieb sie das ebenfalls ihren intimen Fantasien zu, die sie stets
als Folge schlechter Erfahrungen akzeptiert u n d als ihr ureigenes Privatleben betrachtet hatte. So hatte sie jedenfalls gedacht, bis zu ihrem G e s p r ä c h m i t Jacqueline an diesem Nachmittag. In den ersten Monaten nach ihrer Rückkehr aus New Nelson hatte sie vergeblich versucht, m i t ihrer ehemaligen Professorin in Kontakt zu treten. Sie hatte an der Universität angerufen, im Labor und sogar bei ihr zu Hause. Zuerst hatte es geheißen, Jacqueline sei bei der Explosion auf der Insel >verletzt< worden. Dann erfuhr Nadja, dass sie sich für unbestimmte Zeit von der Universität hatte beurlauben lassen. Den Technikern der Eagle Group waren diese Anrufe nicht entgangen, und man erinnerte sie daran, dass es aus S i c h e r h e i t s g r ü n d e n verboten war, sich m i t den anderen Projektteilnehmern in Verbindung zu setzen. Das verwirrte sie nur noch mehr u n d ihr Zustand verschlechterte sich weiter. Daraufhin hatten die Eagle-Leute ihre Taktik g e ä n d e r t und Nadja fast monatlich über Jacqueline auf dem Laufenden gehalten. Frau Professor Clissot gehe es gut, obwohl sie ihren Beruf aufgegeben habe. Später kam ihr zu Ohren, dass Jacqueline Clissot geschieden sei. Sie schreibe Bücher, sei u n a b h ä n g i g und habe beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Schließlich hatte Nadja sich eingestanden, dass sie Jacqueline Clissot nie wiedersehen w ü r d e . Letzten Endes hatte sie selbst i h rem Leben ja auch eine neue Richtung gegeben. Bis zu diesem Nachmittag, als vor wenigen Stunden ihr M o biltelefon geklingelt hatte und sie feststellte, dass ihre >Richtung< u n d Jacquelines ( u n d vielleicht auch Elisas) sich in erstaunlichem M a ß e ähnelten: Einsamkeit, Angstzustände, zwanghafte Gepflegtheit des Ä u ß e r e n und gewisse Fantasien im Zusammenhang m i t . . . Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wer von ihnen beiden das Thema angeschnitten hatte u n d ü b e r die Dinge zu sprechen begann, die er von ihnen verlangte. Als oberste Regel ihrer Fantasien galt n ä m l i c h das Gebot, m i t niemandem d a r ü b e r zu reden. Doch gerade Jacquelines Zaudern, ihre Beklemmung, wie spä-
ter bei Elisa, hatten ihr M u t gemacht, u n d sie hatte sich offenbart. Vielleicht hing es aber auch m i t der Nachricht von C o l i n Craigs Tod zusammen, dass sie unvermutet die Mauer des Schweigens eingerissen hatte. Und m i t jedem Wort, das aus ihr hervorbrach, war ihnen klarer geworden, dass ihr Albtraum sie miteinander verband. Oder gibt es vielleicht doch eine psychologische Erklärung? Ein Trauma, das wir auf der Insel erlebt haben? Es ist nichts, beruhige dich. In der Mitte der Wand der Duschkabine m i t den orangefarbenen Kacheln verlief ein Relief mit bunten Vögeln. Nadja betrachtete sie, um sich abzulenken, und hielt sich mit der linken Hand am Wasserhahn hinter sich fest. Beruhige dich. Du musst... Die Lichter erloschen so sachte und unvermutet, dass jene Vögel vor ihrem inneren Auge förmlich weiterflogen, als sie schon die Schatten der Finsternis eingehüllt hatten.
Endlich erreichte sie Moncloa. Ihre Anspannung hatte deutlich zugenommen. Am liebsten hätte sie auf die Hupe gedrückt, sich d u r c h g e d r ä n g t , Gas gegeben. M i t einem Mal ü b e r k a m sie eine bodenlose Angst. Vielleicht war es absurd, aber sie war felsenfest überzeugt, dass es eine Frage von Leben und Tod war, dass sie sich beeilte. Sie atmete erleichtert auf, als sie das Haus vollkommen ruhig daliegen sah. Dennoch misstraute sie diesem Eindruck von Normalität. Sie fand eine Parklücke, betrat das Haus und stolperte die Treppe hinauf, in der Gewissheit, dass etwas Schlimmes passiert war. Oben angelangt, öffnete ihr Nadja persönlich die T ü r und lächelte. Die eisige Sorge, die sie w ä h r e n d der Fahrt in Bann gehalten hatte, schmolz unter der W ä r m e der Begrüßung förmlich dahin. W ä h r e n d die Freundin sie fest umarmt hielt, konnte sie nicht anders, als vor Freude zu weinen.
Dann löste Elisa sich von ihr und musterte Nadja eingehend. »Du hast dir S t r ä h n c h e n ins Haar machen lassen!« »Ich habe es gefärbt.« Nadja war stark geschminkt, sah auffallend h ü b s c h aus und elegant. Sie duftete nach P a r f ü m . Dann bat sie Elisa in ein gemütliches, helles Wohnzimmer m i t einem elektrisch beleuchteten Tannenbaum in einer Ecke und schlug vor, etwas zu trinken, bevor sie essen gingen. Elisa wollte ein Bier. Nadja trug ein Tablett mit zwei ü b e r s c h ä u m e n d e n Gläsern herein, stellte es in der Mitte auf den Tisch, setzte sich Elisa gegenü b e r und sagte: »Offen gestanden bereue ich es, dich gestört zu haben. Es war d u m m von mir, Elisa. Ich hätte dich nicht anrufen dürfen.« »Du hast mich doch gar nicht gestört, im Gegenteil. Ich wollte dich gerne sehen.« »Na, das kannst du ja jetzt«, Nadja schlug die Beine übereinander, so dass der Seitenschlitz ihres Minirocks aufsprang und darunter das schwarze Strumpfband sichtbar wurde. Sie wirkte ausgesprochen sexy. Elisa stellte fest, dass Nadja fehlerfrei Spanisch sprach, sogar ohne Akzent. Gerade wollte sie eine Bemerkung dazu machen, als Nadja fortfuhr: »Ehrlich, ich habe schon gedacht, ich hätte mich dir zu sehr aufgedrängt.« »Wie kommst du denn darauf?« »Na ja, schließlich hast du seit sechs Jahren keinen einzigen Versuch unternommen, dich m i t m i r in Verbindung zu setzen. Es wäre ja immerhin möglich gewesen. Schließlich wusstest du, dass ich in Paris lebe . . . Aber vielleicht war ich dir nicht so wichtig.« » D u hast mich auch nicht angerufen«, verteidigte sich Elisa. »Stimmt, vergiss es. Die Sache ist, dass ich die ganze Zeit ü b e r einsam war.« Plötzlich sagte sie in einem harten Ton: »Sehr, sehr einsam. Und stets darauf bedacht, ihm zu gefallen. Stets damit beschäftigt,/«r ihn gepflegt zu sein. Du weißt doch, wie sehr er uns begehrt...« »Ja, ich weiß.« Bei diesen Worten stürzte sie innerlich regel-
recht in ein Loch. Sie kam gar nicht dazu, sich ü b e r die unverb l ü m t e n Vorwürfe ihrer Freundin zu ärgern. Sie hat Recht: Ich bin von zu Hause weggegangen und habe nicht auf ihn gewartet, obwohl ich das hätte tun sollen. Voller Sorge stand sie auf und lief beim Reden im Zimmer auf u n d ab. »Es tut m i r Leid, Nadja, ehrlich. Ich h ä t t e den Kontakt zu dir gern aufrechterhalten, das schwöre ich dir, aber ich hatte Angst... Ich weiß ganz genau, dass er will, dass ich Angst habe, es gefällt i h m . Wenn ich Angst habe, dann b i n ich, wie er mich haben w i l l . Ich glaube nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe: Ich habe immer noch meine Arbeit, ich unterrichte, ich versuche alles zu vergessen und bereite mich darauf vor, ihn zu empfangen. Ich kann dir versichern, dass ich versuche, alles so gut zu machen wie nur möglich. Nur habe ich dabei ständig das Gefühl, ich w ü r d e irgendwo festgehalten und auf etwas warten. Worauf? Das weiß ich nicht. Es ist dieses Warten, das ich nicht ertrage. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.« Sie wandte sich nach Nadja u m . »Geht es dir n i c h t . . . ? « Nadja saß nicht mehr auf dem Sofa. U n d war auch sonst n i r gends im Wohnzimmer zu sehen. In diesem Moment erloschen alle Lichter, einschließlich die am Weihnachtsbaum. Sie versuchte, sich davon nicht beunruhigen zu lassen: Sicherlich ein Kurzschluss. Allmählich g e w ö h n t e n sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie tastete sich quer durch das Zimmer. Da war ein Flur am anderen Ende. Sie rief nach Nadja. Das Echo ihrer Stimme beunruhigte sie. Elisa ging ein paar Schritte v o r w ä r t s . Plötzlich knirschte etwas unter ihren F ü ß e n . Glas. Eine zerschlagene Glaskugel? Die K u gel eines Wahrsagers mitsamt ihrer Zukunft? Sie sah nach oben u n d entdeckte anstelle der Deckenlampe einen baumelnden schwarzen Haken. Das also war die E r k l ä r u n g für den Kurzschluss. E i n i g e r m a ß e n beruhigt, tappte sie weiter den dunklen Flur entlang, bis sie zu einer A r t Gabelung kam: eine offene T ü r auf der Linken u n d eine geschlossene zur Rechten, Letztere m i t ei-
ner matten Glasscheibe verglast. Vielleicht die K ü c h e n t ü r . Sie wandte sich nach links und erstarrte. Die T ü r stand gar nicht offen, sie war herausgerissen. Die m i t Staub und Öl verschmierten Scharniere ragten wie krumme N ä gel aus dem Rahmen. Dahinter herrschte vollkommene Finsternis. Sie trat ein. »Nadja?« A u ß e r den eigenen Schritten war nichts zu h ö r e n . Dann stieß sie m i t dem Bauch an eine stumpfe Kante. Ein Waschbecken. Sie war im Badezimmer. Sie ging weiter. Ein riesengroßes Bad. Plötzlich begriff sie, dass sie weder in einem Badezimmer war noch in einem Haus. Der Boden fühlte sich an wie eine dicke Schicht aus Schlamm. Sie streckte einen A r m aus und b e r ü h r t e eine Wand, die von Moder bedeckt zu sein schien. Dann stolperte sie ü b e r etwas, h ö r t e ein P l ä t s c h e r n , b ü c k t e sich. Etwas Helles schimmerte auf, vielleicht ein kaputtes Sofa. Jetzt nahm sie um sich herum die Überreste weiterer z e r t r ü m m e r t e r M ö b e l wahr. Es herrschte eisige Kälte, und ihre Nase nahm kaum etwas wahr. N u r einen feinen, intensiven Geruch nach Gewölbe und Körper, eine Mischung aus Fleisch und H ö h l e . Das hier war der Ort. Hier war es. Sie war angekommen. Sie arbeitete sich durch die verwüstete Einsamkeit weiter voran u n d stieß wieder an die Ruine eines Möbels. Dann erst merkte sie es. Dass es gar keine M ö b e l waren. Unwillkürlich rann ihr ein warmer Strahl ü b e r die Schenkel und sammelte sich zu ihren F ü ß e n in einer Lache. Sie hätte sich am liebsten ü b e r g e b e n , aber sie v e r s p ü r t e einen dicken Kloß im Hals, der sie daran hinderte, ein Wort oder sonst etwas herauszubringen. Ein Schwindelgefühl ü b e r k a m sie. Als sie m i t der Hand an der Wand Halt suchte, wurde sie gewahr, dass das, was sie zunächst für Moder gehalten hatte, in Wirklichkeit dieselbe schleimige Substanz war wie auf dem Boden. Der Schleim war in jeder Ritze, an jeder Stelle, sie meinte sogar zu erkennen, dass Teile dieses Stoffes wie Spinnweben von der Decke hingen.
Dann tauchte quer vor ihr eine weitere Wand auf, u n d sie stellte staunend fest, dass sie d a r ü b e r hinwegsteigen konnte. Eigentlich war es jedoch der F u ß b o d e n , obwohl sie sich nicht entsinnen konnte, hingefallen zu sein. Sie richtete sich wieder auf, rutschte auf den Knien. Fröstelnd rieb sie sich die Arme. Sie waren nackt. Sie musste sich unterwegs ausgezogen haben, allerdings war ihr nicht klar, warum sie das getan haben sollte. Vielleicht aus Ekel, sich zu beschmutzen. Da hob sie den Kopf und sah sie. Sie konnte sie unschwer in der Dunkelheit erkennen: Die weiß e n Locken leuchteten hell - obwohl sie sich zu erinnern meinte, dass Nadja sich die Haare schwarz gefärbt hatte -, und sie identifizierte Nadja an ihrer Silhouette. Zugleich bemerkte sie, dass m i t Nadja etwas Seltsames geschah. Ohne sich aus ihrer knienden Stellung zu erheben - sie wollte nicht aufstehen, weil sie wusste, dass er sie beobachtete - streckte sie die H ä n d e aus: Die Marmorbeine waren vollkommen reglos, schienen aber andererseits auch nicht gelähmt zu sein. Die Haut war noch warm. Als enthielte Nadjas Hülle nichts, was eine Bewegung ausführen konnte. Da landete plötzlich eine Hand voll Sand in ihrem Gesicht. Sie duckte sich und wischte sich die Augen. Irgendetwas streifte ihr Haar. Sie hob noch einmal den Kopf, da prallte ein Klumpen auf ihren M u n d und löste einen Hustenreiz aus. Sie war sich der schrecklichen Wahrheit bewusst, dass Nadjas K ö r p e r dahinschmolz wie Kristallzucker, dass sie selbst die Lawine ins Rollen gebracht hatte, indem sie Nadja b e r ü h r t e . Wangen, Augen, Haar, Brust, alles löste sich mit dem Säuseln auf, m i t dem der W i n d ü b e r den Schnee fegt. Sie wollte sich vor Nadjas ü b e r sie rieselnden K ö r p e r retten, stellte indes verwundert fest, dass es nicht ging. Die Lawine h i n derte sie daran, sie war riesig und w ü r d e sie begraben, ersticken . . . Doch als sie sich von der einsackenden Gestalt befreite, erschien er.
» H ö r e n Sie mal, hallo!« »Sieht aus, als hätte sie Drogen genommen ...« » W a r u m ruft keiner die Polizei?« »Hallo! Geht es Ihnen gut?« » K ö n n e n Sie bitte I h r Auto zur Seite fahren? Sie blockieren hier den Verkehr!« Weitere Gesichter kamen dazu und sagten andere Dinge, aber Elisa behielt vor allem den M a n n im Auge, der zwei Drittel des Seitenfensters ausfüllte, u n d die junge Frau hinter der restlichen Scheibe. Sonst war da nur die nächtliche Windschutzscheibe, benetzt von den kleinen Tropfen des einsetzenden Regens. Sie kam vollends zu Bewusstsein und begriff, dass sie vor einer roten Ampel stand. Gott allein wusste, wie oft diese auf G r ü n und Gelb umgesprungen war, bevor sie aufwachte. Elisa vermutete, dass sie im Auto eingeschlafen war und alles, was dann kam, nur geträumt hatte, einschließlich - zum Glück war es ein Traum - der grauenhaften Entdeckung des Körpers. Aber nein, sie hatte doch nicht geschlafen: Das wurde ihr klar, als sie die Feuchtigkeit ihrer Hosenbeine wahrnahm und den Geruch nach U r i n . Sie hatte einen >Aussetzer< erlebt, einen >Wachtraum<. Das war ihr schon öfter passiert, doch heute zum ersten M a l a u ß e r h a l b der eigenen vier W ä n d e und m i t Verlust der Körperkontrolle. »Tut m i r Leid«, stammelte sie verblüfft. »Tut mit Leid, Verzeihung!« Sie machte eine entschuldigende Handbewegung, der M a n n und die Frau gaben sich damit zufrieden u n d zogen von dannen. In der Heckscheibe erblickte Elisa eine lange Autoschlange m i t w ü t e n d e n Fahrern, die das Hindernis zu ü b e r h o l e n versuchten, das sie darstellte. Rasch legte sie den ersten Gang ein u n d gab Gas. Gerade noch rechtzeitig, dachte sie, als sie im Außenspiegel eine Leuchtweste unter einem schwarzen Helm entdeckte: Eine Vernehmung durch die Polizei war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie befand sich bereits in Moncloa, aber der dichte Verkehr an jenem Abend infolge des vorweihnachtlichen Rummels schien
sich mit dem Drang, rasch anzukommen, zu einem unheilvollen Pakt zu verbinden. Nieselregen verschlimmerte die Situation noch. Da beschloss sie, inmitten des l ä r m e n d e n Hupkonzerts, in das sich eine herannahende Sirene mischte, einfach am Rand der vierspurigen Straße zu halten. Sie scherte in Richtung Bordsteinkante aus der Fahrzeugkolonne aus. Da keine Parklücke zu sehen war, stellte sie den Wagen in der zweiten Reihe ab, stieg aus und rannte einfach los, die Handtasche am Riemen haltend wie einen kleinen H u n d an der Leine. Ihre Beklemmung war so g r o ß , dass sie das fast am meisten ängstigte, was wiederum ihre Beklemmung verstärkte - ein heilloser Teufelskreis. Sie rannte m i t offenem M u n d , der ganz trocken war, nur v o m Regen erfrischt. Ihr ist nichts zugestoßen. Das war nur einer von deinen Aussetzern. Ihr ist ganz bestimmt nichts zugestoßen. Mehrfach musste sie anhalten, um auf den Steintafeln nachgeahmten Schildern die S t r a ß e n n a m e n zu lesen. Sie hatte sich verlaufen und fragte einen älteren Herrn mit gelblicher Gesichtshaut, der sie neugierig aus einem Hauseingang b e ä u g t e , nach dem Weg. Er wusste nicht, welche Straße sie meinte, und sprach daraufhin eine Frau an, die gerade das Haus verließ. Da h ö r t e sie die Sirene. Sie ließ den Alten und die Frau stehen und rannte weiter. Sie wusste nicht, weshalb sie rannte. Sie wusste weder, w o h i n sie lief, noch w a r u m sie so rasch dort ankommen musste. Sie lief den Bürgersteig entlang, in M ä n t e l gehüllten Schatten und schwarzen Regenschirmen ausweichend, die sich wie Schutzschilde vor ihr aufbauten. Ihre Geschwindigkeit war so g r o ß , dass ihr die ausgeatmete Luft als D a m p f ins Gesicht schlug. Das Geheul stammte von einem Geländewagen m i t Blaulicht. M i t einem H ö l l e n l ä r m bahnte er sich seinen Weg durch den fast zum Erliegen gekommenen Verkehr. Nur deshalb verlor Elisa ihn nicht aus den Augen. Dann schien plötzlich alles um sie herum loszulaufen, und
sämtliche Fahrzeuge hatten Blaulichter auf den D ä c h e r n , u n d alle Sirenen und M a r t i n s h ö r n e r heulten im Chor. Sie fand die gesuchte Straße, doch sie war von dunklen Lieferwagen versperrt. Vor Nadjas Hauseingang standen weitere Kleinbusse, Krankenwagen des Madrider Notfalldienstes und Polizeifahrzeuge. Offenbar eine ganze Kompanie behelmter O r d n u n g s h ü t e r forderte die Schaulustigen auf zurückzuweichen. Nackte Angst regte sich tief in ihr. Sie d r ä n g t e sich bis in die erste Reihe vor und durchbrach die Sperre, da wurde sie von einem Handschuh am Oberarm gepackt. Ein M a n n richtete das Wort an sie, der als solcher kaum erkenntlich war: N u r die A u gen unter dem Helm und der Gasmaske waren lebendig, tief u n ter den vielen Schichten von Recht und Ordnung. »Senora, Sie k ö n n e n hier nicht durch.« »Da . . . ist eine Freundin von m i r d r i n . . . « , wimmerte sie keuchend. »Bitte zurücktreten!« »Aber was ist denn passiert?«, fragte eine Frau neben ihr. »Terroristen«, antwortete der Polizist. Elisa versuchte wieder zu Atem zu kommen. »Eine Freundin ... ich w i l l sie sehen!« »Elisa Robledo?«, h ö r t e sie plötzlich. »Sind Sie das?« Noch ein Mann, aber diesmal greifbarer: gut gekleidet, in A n zug u n d Krawatte, das schwarze Haar zurückgegelt. Ein U n bekannter, dennoch schnappte Elisa nach seinem Lächeln und seiner Freundlichkeit wie nach einem rettenden Ast ü b e r dem Abgrund. »Ich habe Sie e r k a n n t « , sagte der M a n n u n d lächelte weiter. »Die Dame darf durch die A b s p e r r u n g « , wandte er sich an den Maskierten. » K o m m e n Sie bitte mit, Doktor Robledo.« »Was ist passiert?«, fragte sie, immer noch a u ß e r Atem, und folgte den eiligen Schritten ihres Führers durch das o h r e n b e t ä u bende Durcheinander aus Lichtern und l ä r m e n d e n F u n k g e r ä ten. »Eigentlich gar nichts.« Der Mann kam zur Haustür, trat je-
doch nicht ein, sondern folgte weiter schnellen Schrittes dem Gehweg. »Wir sind nur ...« »Was sagen Sie?«, Elisa hatte die letzten Worte nicht verstanden. » . . . zum Schutz hier«, wiederholte der M a n n , lauter nun. »Wir sind als Schutztruppe angefordert worden.« »Nadja ist also ...« »Sie ist wohlauf, steht allerdings leicht unter Schock. Nach dem, was m i t Professor Craig passiert ist, haben wir uns gedacht, dass es wohl das Beste ist, sie irgendwo in Sicherheit zu bringen.« Diese Auskunft beruhigte sie. Jetzt waren sie am Ende der Straße angelangt, immer noch ging der M a n n vorneweg. An der Bordsteinkante parkte ein Lieferwagen m i t angelehnten Heckt ü r e n . Der M a n n öffnete sie, und Elisa sah i h n für Augenblicke zwischen den Türflügeln verschwinden. Sie h ö r t e seine Stimme. »Frau Petrova, Ihre Freundin ist da.« Der Mann kam wieder zum Vorschein und trat zurück, damit Elisa n ä h e r herankommen konnte. Ängstlich lächelnd spähte sie hinein. Im Innenraum des Lieferwagens befand sich ein weiterer Mann. Im weißen Anzug saß er neben einer Trage. Die Trage war leer. Dann bedeckte eine Hand ihre Nase und die noch lächelnden Lippen.
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»Und dann?« »Dann habe ich das Auto irgendwo abgestellt und bin losgerannt.« »Verzeihung, war nicht vorher noch etwas? Hatten Sie nicht während der Fahrt einen ^Aussetzen?« »Doch, ich glaube schon.« »Und was haben Sie da gesehen? Na, kommen Sie, beruhigen Sie sich doch. Heute haben wir so schön angefangen. Wieso sind Sie gerade in diesem Moment...?«
Es war der ideale Tag zum Spazierengehen. Bedauerlicherweise war ihre Terrasse sehr klein, aber immer noch besser als das Z i m mer. Durch die Rhomben des Maschendrahtzauns sah sie weitere M a s c h e n d r a h t z ä u n e und in der Ferne den Strand und das endlose Meer. Eine Seebrise zupfte unten in ihrem Morgenmantel. Sie trug einen Morgenmantel aus Papier (mein Gott, ein Morgenmantel aus Papier, was für ein Geiz!), war aber froh, dass sie etwas hatte, um sich zu bedecken und ebenso, dass der W i n d nicht so kalt war, wie sie befürchtet hatte. Du wirst dich daran gewöhnen. Man hatte ihr erzählt, am Westhang wüchsen Olivenhaine und Feigenbäume, die sie von ihrem Standort aus nicht sehen k ö n n e .
Doch sie hatte mit dem Anblick der Landschaft mehr als genug, so viel stand fest: Ihr schmerzte die Netzhaut bei deren Betrachtung - glücklicherweise eine v o r ü b e r g e h e n d e Unannehmlichkeit. Sie schaffte ein paar Schritte, ohne dass ihr schwindelig wurde, musste aber schließlich am Drahtgitter Halt suchen. H i n ter dem zweiten Drahtzaun bewegte sich eine Figur. Ein Soldat, der aus der Entfernung und mit dem Stechschritt einen perfekten D u m m i e für Spezialeffekte im Film hätte abgeben k ö n n e n . Er trug eine schwere Waffe ü b e r der Schulter und marschierte in einer Weise, als wollte er keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er deren Gewicht problemlos zu schultern vermochte. M i t einem M a l verdunkelte sich die Szenerie, sodass sie im ersten Moment glaubte, die betrachtete Landschaft hätte sich ebenfalls v e r ä n d e r t . Dabei hatte sich nur eine Wolke vor die Sonne geschoben.
»Kehren wir noch einmal zu dem Moment zurück, als Sie die Vision von Nadjas zerfallendem Körper hatten. Können Sie sich erinnern?« »Ja.« »Haben Sie noch jemand anders wahrgenommen? Vielleicht das Subjekt, das Sie >er< nennen? Den >er< aus Ihren erotischen Fantasien?« »...«
»Warum weinen Sie?« »...« »Elisa, hier kann Ihnen nichts passieren. Beruhigen Sie sich ...«
Sie kam sich vor, als wäre sie aus einer Zwischenwelt aufgetaucht, aus einer H ö h l e . Sie erinnerte sich nur schemenhaft an die zurückliegenden Tage. Ihr schmerzten die Gelenke, und die Unterarme waren übersät von Einstichspuren, winzigen Piercings. Die G r ü n d e für die Injektionen waren ihr selbstverständlich genannt
worden. In dem Zustand, in dem sie sich befunden habe, als man sie zum S t ü t z p u n k t brachte, sei es die oberste Priorität gewesen, sie ruhig zu stellen. Daher habe man ihr hoch dosierte Beruhigungsmittel verabreicht. 7. Januar 2012. Sie hatte den jungen Mann, der in ihr Zimmer kam, um sie abzuholen, nach dem Datum gefragt. Er trug einen gestreiften Anzug u n d wirkte sehr sympathisch. Sie sei schon ü b e r zwei Wochen da, hatte er ihr mitgeteilt. U n d sie dann ins Wohnzimmer begleitet. »Wussten Sie eigentlich, was Dodekanes wörtlich bedeutet? Dass es theoretisch nur zwölf Inseln geben dürfte«, sagte der junge M a n n im Tonfall eines F r e m d e n f ü h r e r s , w ä h r e n d sie die Flure entlanggingen, die jedes Mal an einer Sperre endeten, wo ihre Kennkarten kontrolliert wurden. »Dabei sind es in Wirklichkeit mehr als fünfzig. Diese hier heißt Imnia, ich glaube, Sie sind bereis hier gewesen. Dieser S t ü t z p u n k t ist komplett ausgerüstet mit Labor und Hubschrauberlandeplatz. Der Aufbau ist so ä h n lich wie bei den Stützpunkten der DARPA im Pazifik, der nordamerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency. W i r arbeiten auch mit dem Verteidigungsministerium der E u r o p ä i schen Union z u s a m m e n . « Er blieb immer wieder stehen und sah sich mit großer Zuvorkommenheit nach ihr u m . »Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen schwindlig? Haben Sie Hunger? Sie werden gleich etwas bekommen, Sie k ö n n e n m i t den anderen zu Abend essen. Vorsicht, hier ist eine Stufe. Ihren Kollegen geht es übrigens ausgezeichnet, machen Sie sich keine Sorgen. Ist Ihnen kalt?« Elisa lächelte. In ihrer Wolljacke, die sie über dem schwarzen T r ä g e r h e m d zur langen schwarzen Jeans trug, konnte sie kaum frieren. »Nein, es ist nur . . . Ich habe gerade erst gemerkt, dass ich meine eigenen Kleider trage.« »Ja, die haben w i r aus Ihrer Wohnung hierher bringen lassen.« Beim Lächeln e n t b l ö ß t e der junge M a n n ein derart makelloses Gebiss, dass sie es im ersten Moment fast a b s t o ß e n d fand. »Kaum zu glauben! Danke schön.« Aus einer geöffneten Z i m m e r t ü r ergoss sich eine labyrinthar-
tige Barockmelodie, eindeutig auf dem Klavier gespielt. Elisa erschauerte. »Den Herrn Professor haben w i r m i t seiner Lieblingsbeschäftigung belohnt. Sie kennen sich ja alle, so dass w i r uns nicht lange m i t Vorstellen aufhalten müssen.« Elisa fand, dass das nur bis zu einem gewissen Grad zutraf. Es fiel ihr gar nicht so leicht, in den erschöpften Gestalten m i t den dunklen Ringen unter den Augen, die sie im Morgenmantel, im Schlafanzug oder in Straßenkleidung antraf, Blanes, M a r i n i , Silberg und Jacqueline Clissot wiederzuerkennen - den anderen erging es vermutlich nicht anders. Tatsächlich fielen die B e g r ü ß u n gen ziemlich knapp aus. N u r Blanes (der sich tatsächlich einen Bart hatte stehen lassen) unterbrach seinen Vortrag und schenkte ihr ein mattes Lächeln. Sie nahm an einem langen Tisch in der Mitte Platz. Zwei weitere Personen betraten den Raum. Den einen erkannte sie nicht sofort, denn er hatte den Schnurrbart abgenommen und inzwischen schlohweißes Haupthaar. An den anderen erinnerte sie sich nur zu gut: Immer noch derselbe Bürstenschnitt, das graue Bärtchen, die unförmige, so gar nicht zu den eleganten Anzügen passende Figur und dieser hochkonzentrierte Blick, wie wenn i h n nur wenige Dinge im Leben interessierten, denen er sich jedoch m i t besonderer Leidenschaft widmete. »Die Herren Harrison u n d Carter, unsere Sicherheitsbeauftragten, sind Ihnen ja b e k a n n t « , sagte der junge Mann. Die A n k ö m m l i n g e g r ü ß t e n m i t einem Kopfnicken. Als alle sich gesetzt hatten, vollführte der junge M a n n eine A r t Verbeugung: »Von meiner Seite ist nichts weiter h i n z u z u f ü g e n , a u ß e r dass es m i r ein Vergnügen war, Sie hier zu Gast zu haben. Scheuen Sie sich bitte nicht, mich rufen zu lassen, falls Sie vor Ihrer Abreise noch irgendetwas benötigen sollten.« Die Anwesenden tauschten Blicke und Lächeln. Schließlich richtete der Weißhaarige das Wort an Elisa. »Frau Doktor Robledo, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Sie erinnern sich doch gewiss an mich, nicht wahr?«
Da wusste sie wieder, wen sie vor sich hatte: Der Kerl war ihr noch nie sympathisch gewesen, sie konnte i h n einfach nicht riechen. Sie erwiderte sein Lächeln, knöpfte sich die Wolljacke ü b e r dem leichten H e m d zu und schlug die Beine übereinander. » K o m m e n w i r zur Sache, Paul. Magst du?« Carter s c h ä u m t e förmlich über. »Heute werden Sie an Ihre Wohnorte z u r ü c k k e h r e n . Im Zuge der so genannten Reintegrationsphase. Sie werden alles vorfinden, als wenn Sie nie weg gewesen wären: Ihre Rechnungen sind bezahlt, Ihre Sitzungen verschoben, sofort zu erledigende Angelegenheiten ausgesetzt, ohne dass Ihnen ein Nachteil entstanden wäre, u n d Ihre F a m i l i e n a n g e h ö r i g e n und Freunde wurden beruhigt. Wegen des besonderen Datums dieser Operation sahen wir uns gezwungen, bei jedem von Ihnen einen anderen Grund für die Abwesenheit anzugeben.« Er verteilte ein Heftchen. »Hier, zu Ihrer Information.« Elisa wusste bereits, dass ihre Mutter vor zwei Wochen auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht erhalten hatte, in der sie beziehungsweise >ihre eigene Stimme< sich entschuldigte, weil sie Heiligabend nicht nach Valencia kommen w ü r d e . Was ihre A r beit anging, so brauchte sie sich nicht erst beurlauben zu lassen, sie hatte ohnehin Weihnachtsferien. »Wir von der Eagle Group m ö c h t e n uns bei Ihnen entschuldigen, dass w i r Sie ü b e r die Feiertage hier behalten h a b e n . « Harrison grinste wie ein Verkäufer, der sich für eine schadhafte Ware entschuldigt. »Wir hoffen, dass Sie die G r ü n d e für diesen Umstand nachvollziehen k ö n n e n . Obwohl Sie in den vergangenen Tagen bereits einige Auskünfte erhalten haben, w i r d Ihnen Herr Carter jetzt das Ergebnis unserer Ermittlungen mitteilen. Paul?« »Wir konnten keinerlei Hinweis dafür finden, dass der Tod von Professor Craig m i t den Ereignissen auf New Nelson oder m i t Ihnen in irgendeinem Zusammenhang steht«, sagte Carter und holte weitere Unterlagen aus seinem Aktenkoffer. »Der Selbstm o r d von Nadja Petrova jedoch hat - davon m ü s s e n w i r bedau-
erlicherweise ausgehen - unmittelbar etwas m i t der Nachricht von Craigs Tod zu tun.« Elisa schloss die Augen. Sie hatte die Nachricht von jenem entsetzlichen Unglück bereits verdaut, war jedoch bei dem Gedanken daran immer noch sehr betroffen. Warum hat sie das getan? Warum hat sie mich angerufen und es dann getan? Sie konnte sich nicht mehr an die Einzelheiten jenes Telefonats erinnern, wohl aber an Nadjas Angst und daran, wie eindringlich sie ein Treffen gefordert hatte. »Das ist genau der Grund, weshalb wir Ihnen verboten haben, sich miteinander in Verbindung zu setzen«, warf Harrison ein und bedachte Jacqueline m i t einem mahnenden Blick. »Frau Professor Clissot, bitte glauben Sie nicht, dass w i r Sie für irgendetwas verantwortlich machen wollen. Sie haben getan, was Sie für richtig hielten: Sie haben Frau Petrova angerufen, weil Sie selbst einen A n r u f erhalten hatten und sich bei jemandem aussprechen wollten. Bedauerlicherweise haben Sie sich dafür die falsche Person ausgesucht.« Jacqueline Clissot saß am Kopfende des Tisches. Sie trug einen himmelblauen Schlafanzug und einen Frisierumhang darüber. Trotz und ungeachtet der inzwischen vergangenen Jahre war sie noch immer ungeheuer attraktiv. Ein Detail allerdings stach Elisa ins Auge: Sie hatte sich die Haare schwarz gefärbt. »Es tut mir Leid«, murmelte Jacqueline Clissot und senkte den Blick. »Es tut m i r unendlich Leid.« »Oh, bitte machen Sie sich keine Vorwürfe«, wiederholte Harrison. »Sie konnten nicht wissen, dass Frau Petrova auf diese Weise reagieren w ü r d e . Das hätte jedem passieren k ö n n e n . N u r merken Sie es sich bitte für das nächste Mal.« Jacqueline Clissot s a ß m i t h ä n g e n d e m Kopf da, die wohlgeformten Lippen zitterten, als k ö n n t e nichts, was Harrison sagte, ihr die Schuldgefühle nehmen. Auch Elisa fühlte sich beklommen, schließlich hatte sie ebenfalls m i t Nadja telefoniert. »Wir haben den Vorfall r e k o n s t r u i e r t . « Carter teilte weitere Blätter aus - Fotokopien internationaler Presseberichte. »Nadja
Petrova hat um sieben Uhr abends m i t Frau Professor Clissot telefoniert. Anschließend hat sie Frau Doktor Robledo angerufen, das war gegen zehn Uhr abends. Um halb elf hatte sie sich bereits die Pulsadern an beiden A r m e n aufgeschnitten. Sie ist im Badezimmer verblutet.« » N a c h d e m Sie ihr den Vorschlag gemacht hatten, gemeinsam essen zu g e h e n « , sagte Harrison an Elisa gewandt, welche nur m i t M ü h e die Tränen zurückhalten konnte. »Die Presseberichte k ö n n e n Sie hier nachlesen«, schloss Carter und erteilte wieder Harrison das Wort - wie zwei Schauspieler bei der gemeinsamen Probe. »Natürlich steht da nicht alles d r i n . U n d es stimmt auch, dass w i r eingegriffen haben. Ich w i l l Ihnen sagen, warum. Als Professor Craig ermordet wurde, haben w i r uns große Sorgen gemacht. W i r haben Spezialeinheiten zu Craigs Haus geschickt u n d Sie alle wieder eng überwacht. In diesem Zusammenhang haben w i r auch Ihre Telefongespräche abgehört. Frau Petrova war sehr nervös, aus diesem Grund haben w i r einen unserer Agenten zu ihr geschickt. Er sollte nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Aber als er bei i h r eintraf, konnte er nur noch ihren Tod feststellen. Daraufhin haben w i r den ganzen Block abgesperrt und beschlossen, Sie alle hierher zu bringen, um ein weiteres Unglück zu verhüten.« »Die Methode ist z u g e g e b e n e r m a ß e n wenig orthodox, aber es war ein Notfall«, warf Carter ein. Harrison g r i f f den Gedanken auf. »Die Methode war wenig orthodox, aber Sie sollen wissen: W i r w ü r d e n dasselbe wieder tun. M i t einem von Ihnen oder m i t allen, wenn die Situation dies erfordert.« Er sah sie der Reihe nach an. Bei Elisa hielt er inne, doch sie wich dem Blick aus, Jacqueline Clissot ebenfalls. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Frau Professor?« Jacqueline Clissot beeilte sich zu antworten: »Vollkommen.« »Zu Ihrer eigenen Sicherheit m ü s s e n w i r Sie eine Zeit lang voneinander isolieren. W i r haben es Ihnen bereits mehrfach erklärt, weshalb: Sie leiden unter den Folgen des Impacts. Bis w i r
genau verstehen, was m i t Menschen beim Anblick von Bildern der Vergangenheit geschieht, sind w i r leider zu solch drastischen M a ß n a h m e n gezwungen. Ich denke, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.« Er fixierte noch einmal Elisa, die erneut nickte. Harrisons blaue Augen durchbohrten sie wie ein Messer. Es lief ihr kalt über den Rücken. »Sie sind gebildete Menschen, intelligent, die Elite, daher bin ich sicher, dass Sie genau verstehen, was ich meine.« Alle nickten. »Aber ... Sie schließen doch nicht aus, dass C o l i n von einer organisierten Bande ermordet wurde!«, platzte m i t einem M a l M a r i n i heraus. Sein Ton weckte Elisas Aufmerksamkeit, denn es klang, als erschiene i h m diese O p t i o n w ü n s c h e n s w e r t . M a r i n i hatte gerötete Augen, und sein linkes L i d zuckte. »Es gibt keinerlei Hinweise auf ein organisiertes Verbrechen«, sagte Carter. »Professor Craig ist zufällig das Opfer einiger gefährlicher K r i mineller aus dem Osten geworden, die ü b r i g e n s auf der Fahndungsliste von Scotland Yard stehen«, ergänzte Harrison. »Die Täter legen es darauf an, in H ä u s e r einzubrechen, ü b e r die Bewohner herzufallen, sie zu quälen und zu töten und alle Wertgeg e n s t ä n d e mitzunehmen. M a n hat sie übrigens inzwischen gefasst. Tragisch, gewiss. Aber m i t einer Tragödie wäre es genug gewesen. Sie h ä t t e n nicht noch anfangen m ü s s e n , sich voller Panik gegenseitig die Nachricht zu ü b e r b r i n g e n ... Frau Petrova ist m i t ihrer Angst einfach nicht fertig geworden.« » D o c h seien Sie versichert, w i r werden Sie nicht unbewacht lassen«, sagte Carter. »Wenigstens ein paar Monate bleiben w i r zu Ihrer Sicherheit in Ihrer N ä h e . U n d auch die Gespräche m i t den Spezialisten werden fortgesetzt.« »Und was ist, wenn w i r nicht nach Hause wollen?«, ereiferte sich M a r i n i . »Wir haben ja w o h l das Recht auf ein Leben in sicherer Umgebung!« »Ganz wie Sie wollen, Herr Marini.« Harrison öffnete die H ä n d e . »Wir k ö n n e n Sie natürlich so lange hier behalten, wie es
Ihnen beliebt, sozusagen unter der Käseglocke, wenn Sie das w ü n s c h e n . Dafür gibt es allerdings keinen objektiven G r u n d . W i r empfehlen Ihnen vielmehr, sich wieder in Ihren normalen Alltag einzugewöhnen.« Bei dieser Empfehlung biss Elisa die Z ä h n e zusammen. Die Bedeutung des Ausdrucks » n o r m a l e r Alltag« war ihr längst abhanden gekommen, und sie vermutete, dass niemand - schon gar nicht Carter und der geleckte Harrison - ihn ihr wiederbringen konnten. Alle waren so m ü d e , dass sie nach dem Mittagessen wieder auf ihren Z i m m e r n verschwanden. Am Nachmittag, bevor sie zum Flughafen begleitet wurde, bekam Elisa ihre persönlichen Dinge a u s g e h ä n d i g t . Sie warf einen Blick auf das D a t u m ihrer A r m banduhr: Samstag, 7. Januar 2012.
Acht Monate später, an einem Dienstagmorgen, dem elften September, blinkte auf dem Display ihrer Digitaluhr eine Werbemail. Eine S t r a ß e n k a r t e der Madrider Innenstadt und in der rechten oberen Ecke die Abbildung einer Uhr - das beworbene Produkt: ein ultimativ neues Modell m i t integriertem E m p f ä n ger für das europäische Galileo Satellitennavigationssystem zur Bestimmung der eigenen Position. Bewegte man den Cursor ü b e r den Stadtplan, erhielt man für bestimmte Orte, die m i t einem roten Ring gekennzeichnet waren, die jeweiligen Positionsdaten. Der Werbeslogan der Begleitmusik lautete: »Für dich.« Elisa wollte gerade die Anzeige löschen, da fiel ihr etwas auf. An den markierten Stellen erklang immer dieselbe Melodie. N u r an einer variierte sie. U n d Elisa erkannte sie sofort: das Klavierstück, das er immerzu gespielt hatte. Nie w ü r d e sie das vergessen. Ihre Neugier war geweckt. Sie steuerte den Cursor an die Stelle, wo die bekannte Melodie nicht e r t ö n t e , sondern ein anderes Stück, ebenfalls für Klavier, ein richtiger O h r w u r m , den sie auch kannte.
Ein Schauer überlief sie. Für dich. Sie stellte fest, dass die Uhrzeit auf der beworbenen U h r von 17 U h r 30 auf 22 U h r 30 umsprang, wenn sie m i t dem Cursor diese Stelle ansteuerte. Erschrocken löschte sie die Nachricht. In letzter Zeit erschrak sie bei jeder Kleinigkeit. Tatsache war nämlich, dass sie sich den ganzen Sommer beim geringsten A n lass wie ein Wackelpudding gefühlt hatte. Sonst hatte sie sich in den vergangenen Monaten nur um ein immer provokanteres Äußeres g e k ü m m e r t , sich Kleidungsstücke angeschafft, die sie früher nie in Betracht gezogen hätte, und den M ä n n e r n Absagen erteilt, die m i t ihr ausgehen wollten u n d durchaus verlockende Einladungen aussprachen. Sie hatte sich zu Hause hinter Schloss, Riegel und Alarmanlagen verschanzt und versucht, ein ruhiges Leben zu fuhren. Ihre Sommerferien waren zwar nicht die erholsamsten gewesen, aber i m m e r h i n begann sie nach den grauenhaften Erlebnissen an Weihnachten, langsam wieder zu sich zu kommen, und wollte keinen Rückfall erleiden. Am Nachmittag erhielt sie noch einmal dieselbe M a i l . Sie löschte sie wieder. Daraufhin erschien sie ein drittes M a l . Als sie zu Hause angekommen war, befand sie sich in heller Aufregung. Diese winzige, perfekt durchdachte Botschaft (falls es das war, und davon war sie überzeugt) rief die schlimmsten Erinnerungen in ihr wach. Einen Anruf, von wem auch immer, h ä t t e sie einfach nicht entgegengenommen. Aber diese M a i l lockte sie und machte ihr zugleich Angst, denn sie schien einen Kreis in ihrem Leben zu schließen. Alles hatte mit einer verschlüsselten Nachricht begonnen, und jetzt w ü r d e vielleicht alles auf diese Weise enden. Sie fasste einen Entschluss. Die angegebene Uhrzeit war 22.30 Uhr. Bis dahin waren es noch zwei Stunden, Zeit genug also, sich d o r t h i n zu begeben. Ohne viel Federlesen zog sie sich mechanisch an. Sie entschied sich für ein hautenges marmoriertes Kleid, das Hals und Arme frei ließ, verzichtete auf den Büstenhalter, dazu stieg sie in weiße
Schaftstiefel und wählte einen silbernen Armreif. Ü b e r h a u p t trug sie in letzter Zeit häufig A r m b ä n d e r und Armreifen. Dann holte sie eine kleine Handtasche aus dem Schrank, steckte einen erst kürzlich erstandenen Parfümflacon hinein, einen Lippenstift und weitere Schminkutensilien. Sie hatte sich das frisch gewaschene Haar absichtlich zerzaust. Es fiel ihr n a t ü r l i c h pechschwarz - ganz wie er es mochte - in Locken ü b e r die Schultern. Kurz bevor sie losging, rief sie noch einmal die M a i l auf und klickte den Kringel an. Das b e r ü h m t e Lied erklang. Sie überprüfte die Anschrift und verließ das Haus. W ä h r e n d der ganzen Fahrt ging ihr weder Melodie noch der Betreff der M a i l aus dem Sinn: »Für dich.« Das hatte ihr den entscheidenden Hinweis geliefert. Es war Für Elise, von Beethoven.
Ohne ersichtlichen Grund beschloss sie, die Metro zu nehmen. Sie war in einer so angespannten Stimmung, dass sie die Blicke der Fahrgäste um sie herum gar nicht wahrnahm. Als sie in Atocha ausstieg, wurde sie von einer lauen Nacht empfangen, die schon ein Vorgefühl auf den nahenden Herbst mitbrachte. U n terwegs zu dem vom Stadtplan ausgewiesenen O r t erinnerte sie sich an die Nacht vor sechs Jahren, als Valente sie m i t ähnlicher Raffinesse zu sich zitiert hatte, um ihr klar zu machen, dass es ein Szenario ohne greifbare W ä n d e gäbe und dass sie eine der Hauptfiguren in jener Farce war. Inzwischen hatte sich einiges geändert. Vor allem sie selbst. Für gewöhnlich ü b e r h ö r t e sie Anzüglichkeiten von M ä n n e r n auf der Straße, aber die Grobheiten, die ihr eine Gruppe Jugendlicher beim Vorbeigehen h i n t e r h e r b r ü l l t e , stimmten sie nachdenklich. Aus dem Augenwinkel betrachtete sie ihr Erscheinungsbild im Schaufenster: g r o ß , durchgestylt, marmorierte Kleidung, einheitliche Silhouette und Stiefel m i t hohen Absätzen. Verwundert blieb sie vor einem Ladenlokal stehen. Das enge Kleid ließ sie beinahe nackter erscheinen, als wenn sie nichts angehabt hätte,
und in Schaftstiefeln mit dem breiten Reif am Oberarm erweckte sie ungewollt einen falschen Verdacht. Sie hatte sich diametral verändert. Wie war das nur möglich gewesen? Die Erinnerung an den Abend, an dem sie Valente kennen gelernt hatte, brachte sie darauf, dass sich ihre Persönlichkeit seit damals w i r k l i c h grundlegend gewandelt hatte: Aus der Studentin Elisa, die sich so wenig aus ihrem Aussehen und ihrer Kleidung machte, war die Dozentin Robledo geworden, eine lächerliche Anwärterin auf den Laufsteg oder das Kabarett. Sogar ihre Mutter, die hochelegante Marta Morande, erklärte ihr i m mer wieder, sie sei nicht mehr dieselbe. Sie sei eine andere geworden. Sie fühlte ihr Herz schneller schlagen, als sie sich in der Glasscheibe betrachtete. Für wen machte sie sich eigentlich so zurecht? Wer hatte sie so beeinflusst? Da kam ihr ein sonderbarer Gedanke: Valente hätte das gefallen. Ein befremdlicher Gedanke. Befremdlich u n d rätselhaft, als entziehe sich ein Teil ihres Willens der eigenen Kontrolle. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass sie selbst es war, die begehrt werden wollte. Schon möglich, dass sie selbst das rätselhaft, ja anstößig fand, aber es geschah zweifellos aus eigenem Antrieb, u n d die Elisa von damals hatte nicht das Recht, ihr Vorhaltungen zu machen. Die Absätze ihrer weißen Stiefel klapperten auf dem Gehweg, als sie sich dem verabredeten O r t näherte. Sie hatte Angst und wünschte sich dringlich, dass die Verabredung nicht nur ein Auswuchs ihrer Fantasie war. In den letzten Monaten hatten sich Angst u n d Wunschdenken zu oft bei ihr vermischt. Die angegebene Adresse war eine simple Straßenecke. Niemand war zu sehen. Elisa blickte sich u m . Da traf sie das aufgeblendete Scheinwerferlicht eines parkenden Wagens in einer Querstraße. Ihr Herz raste. Langsam ging sie heran. Der Mann hinter dem Steuer öffnete ihr die Beifahrertür. Das Auto fuhr u n verzüglich los u n d fädelte sich bald in den Verkehr auf dem Paseo del Prado ein.
Der Fahrer sagte: »Mein Gott, ich hätte dich nie und nimmer wiedererkannt. Du siehst... so anders aus ...« Sie wandte sich ab, hochrot. »Bitte lass mich gehen«, bat sie. »Halt an u n d lass mich aussteigen.« »Elisa, w i r werden seit zwei Wochen nicht mehr überwacht. Mach dir das klar.« »Das ist m i r egal. Lass mich aussteigen. W i r dürfen nicht m i t einander reden.« »Gib m i r eine Chance. W i r müssen zusammenkommen, ohne dass die es merken. W i r haben nur eine einzige Chance.« Elisa drehte sich zu i h m u m . Blanes sah viel besser aus als an Weihnachten auf dem Eagle-Stützpunkt. Er trug ein weites Hemd u n d Jeans u n d immer noch Bart, u n d auf dem Kopf waren nur so viele Haare geblieben wie ausgefallen waren. Aber trotzdem war er eindeutig ein anderer. Wie auch sie eine andere war. Sie fühlte sich in ihrer Aufmachung fehl am Platz. Ihre ganze brüchige Existenz schien mit einem Schlag in Scherben zu zerfallen. Vielleicht hatte er Recht, dachte Elisa: Sie mussten reden. »Um ehrlich zu sein, ich freue mich, dich zu sehen«, fügte er lächelnd hinzu. »Ich war m i r nicht hundertprozentig sicher, ob das m i t der musikalischen Mail klappen würde ... Wie ich schon sagte, seit kurzem werden w i r nicht mehr auf Schritt u n d Tritt überwacht, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Außerdem habe ich befürchtet, dass du auf eine herkömmliche Einladung gar nicht reagieren würdest. Für Jacqueline mussten w i r auch einen Köder auslegen.« Der Plural >mussten wir< entging ihr nicht. A u f wen bezog er sich? I m m e r h i n wirkte Blanes' Anwesenheit und Nähe ausgleichend u n d beruhigend auf sie. Während die Lichterparade des nächtlichen M a d r i d an ihr vorüberzog, fragte sie nach den anderen. »Es geht ihnen gut: Reinhard war zehn Stunden im Zug u n terwegs m i t einem Ticket, das i h m einer seiner Schüler besorgt hat, u n d Jacqueline ist geflogen. Sergio M a r i n i ist verhindert.« Und als er Elisas fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er
hinzu: »Mach dir keine Gedanken, i h m ist nichts passiert, er ist einfach nur verhindert.« Die restliche Strecke über gelb beleuchtete Autobahnen u n d dunkle Landstraßen legten sie schweigend zurück. Das Haus befand sich mitten auf dem Land, in der Nähe von Soto del Real, und kam ihr in der Dunkelheit ziemlich groß vor. Blanes erklärte ihr, es sei ein alter Familienbesitz, der jetzt seiner Schwester u n d seinem Schwager gehörte, u n d die hätten vor, einen Landgasthof daraus zu machen. Die Eagle Group, so fügte er hinzu, wisse nichts von seiner Existenz. Das Wohnzimmer, in das er sie führte, verfügte eben über ausreichend Möbel, dass sich die Gäste nicht auf den Boden setzen mussten. Silberg erhob sich zur Begrüßung, Jacqueline nicht. Angesichts von Jacquelines Aufmachung gingen ihr die Augen über, doch Elisa wandte den Blick ab, als sie bemerkte, dass ihre Musterung bei der Ex-Professorin dasselbe bewirkte wie kurz vorher Blanes' Reaktion auf ihr eigenes Aussehen. Auch Jacqueline schien in ihr einen Spiegel vorgehalten bekommen zu haben. Was hatte das alles zu bedeuten? Was war nur m i t ihnen los? »Ich freue mich sehr, dass ihr hier seid«, sagte Blanes, zog einen schmiedeeisernen Sessel heran und nahm Platz. »Wir w o l len gleich zur Sache kommen. Vorab will ich euch sagen, dass ich euer Erstaunen u n d euer Misstrauen gegenüber dem, was w i r euch jetzt erzählen werden, sehr gut verstehen kann. Ich werde es euch nicht übel nehmen. Das Einzige, w o r u m ich euch bitte, ist ein wenig Geduld.« Alle schwiegen. U n d Blanes begann, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände gefaltet, ohne weitere Umschweife zu reden: »Die Eagle Group betrügt uns. Sie betrügen uns seit Jahren. Reinhard u n d ich haben Beweise dafür gefunden.« Er streckte die Hand aus u n d holte aus einer K o m modenschublade neben sich ein paar Unterlagen. »Wenn ihr uns vertraut, werden sich die Erinnerungen von selbst einstellen, das versichere ich euch. So ist es uns jedenfalls ergangen.« »Die Erinnerungen?«, fragte Jacqueline.
»Wir haben einiges vergessen, Jacqueline. Sie haben uns D r o gen gespritzt.« »Auf dem Stützpunkt in der Ägäis«, warf Silberg ein. »Und jedes M a l , wenn die so genannten Spezialisten ihre Gespräche m i t uns führen, geben sie uns Drogen.« Elisa beugte sich ungläubig vor. »Wieso denn das?« »Gute Frage«, sagte Blanes. »Zunächst einmal versuchen sie zu vertuschen, dass der Tod von Craig u n d Nadja etwas m i t dem von Cheryl, Rosalyn u n d Ric zu t u n hat. Eagle unternimmt erstaunliche Anstrengungen, um bestimmte Dinge zu verheimlichen. Sie geben Millionen aus, um den Fall zu verschleiern, obwohl er ihnen allmählich entgleitet: Es gibt immer mehr Zeugen, immer mehr Menschen, die sie ruhig stellen u n d >behandeln< müssen, darunter auch Journalisten, die sie von der Fährte abbringen müssen. Als das m i t Nadja passiert ist, haben die Behörden in M a d r i d das ganze Viertel unter dem Vorwand einer Bombendrohung abgeriegelt u n d dann die Nachricht verbreitet, einer Russin wären die Sicherungen durchgebrannt, und sie hätte sich das Leben genommen, nachdem sie gedroht hätte, das Haus in die Luft zu sprengen.« »Sie mussten sich eine glaubhafte Geschichte ausdenken, David«, sagte Elisa. »Klar, aber schaut euch das hier mal an.« Er schob ihr eins von den Blättern h i n : »Nadjas Freundin, die Wohnungsinhaberin, die gerade in Ägypten Urlaub machte, wollte sofort heimkehren, nachdem sie davon gehört hatte. Sie kam zu spät: Zwei Tage nach dem Unglück verursachten einige Jungen aus dem gleichen Block beim Spielen m i t Feuerwerkskörpern einen Hausbrand. Die Nachbarn wurden evakuiert, niemand kam zu Schaden, aber das Haus ist bis auf die Grundmauern heruntergebrannt.« »Ja, darüber ist viel spekuliert worden.« Elisa las die Schlagzeilen der Zeitungen. »Aber es war ein unglücklicher Zufall, dass ...« »Unbestritten. Hör zu, ich w i l l dir von einem weiteren Zufall erzählen.« Sie musterte Blanes beunruhigt.
»Für die Sache m i t Colin Craig gibt es auch keine Zeugen mehr, u n d v o m Tatort ist nichts übrig geblieben«, fuhr Blanes fort. »Seine Frau hat sich zwei Tage danach im Krankenhaus das Leben genommen, u n d das K i n d ist wenige Stunden, nachdem es aufgefunden wurde, seinen Erfrierungen erlegen. Weder Colins Familie noch die seiner Frau wollten das Haus behalten, also haben sie es kurz darauf über einen Makler zum Kauf angeboten. Der junge Manager eines Softwareunternehmens namens Techtem hat es gekauft.« »Das ist ein Deckname der Eagle Group«, erläuterte Silberg. »Das Haus wurde abgerissen, dem Erdboden gleichgemacht.« Blanes schloss: »In beiden Fällen dasselbe: kein Zeuge, kein Tatort.« »Wie seid ihr an diese Informationen gelangt?«, wollte Elisa wissen u n d blätterte in den Unterlagen. »Reinhard u n d ich haben ein paar Nachforschungen angestellt.« »Aber die beweisen noch nicht, dass die Todesfälle von Colin u n d Nadja m i t den Ereignissen in New Nelson zusammenhängen, David.« »Ich weiß, aber sieh es mal so. Wenn die Sache m i t Colin u n d Nadja überhaupt nichts m i t New Nelson zu t u n hätte, w a r u m dann dieser ganze Zirkus? W a r u m die Schauplätze der Verbrechen zerstören? Und warum uns entführen u n d m i t Drogen voll pumpen?« Jacqueline Clissot schlug die langen Beine übereinander, die bis zum Schenkel unter einem unglaublichen Dreiteiler hervorlugten, der aus Halsband, Top u n d Rock bestand. Die Hautpartien dazwischen waren jeweils unbedeckt. A u f Elisa wirkte sie sinnlich, wenn auch ein wenig zu stark geschminkt. Das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gebunden. »Hast du Beweise dafür, dass sie uns angeblich unter Drogen gesetzt haben?«, fragte sie jetzt ungehalten. Blanes erwiderte seelenruhig: »Jacqueline, du warst es doch, die Rosalyn Reiters Leichnam untersucht hat. U n d nach der Ex-
plosion bist du in den Keller hinuntergegangen, als Carter dich gerufen hat, um dir etwas zu zeigen. Kannst du dich daran erinnern?« Für einen Moment schien Jacqueline wie verwandelt: Sämtliche Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen, u n d sie saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Ihr sinnliches Äußeres stand in einem solchen Widerspruch zu dieser Reaktion, die an eine zerstörte Marionette denken ließ, dass Elisa erschauerte. Aus der Verwirrung der Ex-Professorin sprach die Antwort, noch bevor Jacqueline Clissot das Wort ergriff. »Ich ... glaube, dass ... ein wenig ...« »Drogen«, sagte Silberg. »Sie haben unsere Erinnerungen m i t Drogen ausgelöscht. Heutzutage kann man das ja, wie du weißt. Es gibt Derivate von LSD, die sogar falsche Erinnerungen im Gedächtnis speichern können.« Elisa ahnte, dass Silberg Recht hatte. Nebelhafte Bilder stiegen in ihr auf von Spritzen, die sie auf dem Stützpunkt in der Ägäis bekommen hatte. »Aber weshalb nur?«, fragte sie nun eindringlicher. »Angenommen, Colins u n d Nadjas Tod stehen im Z u sammenhang m i t Rosalyns, Ries u n d Cheryls Tod. Was wollen sie dann von uns? Warum haben sie uns verschleppt, uns Drogen gegeben und uns dann wieder entlassen? Was für Informationen könnten w i r ihnen denn geben? Oder welche Erinnerung w o l len sie in uns auslöschen?« »Das ist genau die Kernfrage«, stellte Silberg m i t Nachdruck fest. »Sie haben uns allen Drogen verabreicht, nicht nur Jacqueline, obwohl wir nie eine Leiche autopsiert haben und auch nie die Zeugen irgendeines Verbrechens geworden sind ...« »Und nichts wissen«, ergänzte Elisa. Blanes hob die Hand. »Was bedeutet, dass wir sehr wohl etwas wissen. W i r verfügen über etwas, was für sie wertvoll ist. U n d als Allererstes müssen wir herausfinden, was das ist.« Er sah sie einen nach dem anderen an. »Wir müssen herausbekommen, was w i r übereinstimmend miteinander teilen, was w i r gemeinsam haben, vielleicht ohne es zu wissen.«
»Wir waren in New Nelson u n d haben die Vergangenheit geschaut«, begann Jacqueline Clissot. »Aber um welches Wissen geht es ihnen? U n d welche unserer Erinnerungen wollen sie löschen? W i r erinnern uns doch alle noch an das Zickzack-Projekt u n d an die Bilder des Sonnensees und an die Frau in Jerusalem.« »Die werde ich niemals vergessen«, flüsterte Silberg u n d schien auf einmal regelrecht gealtert. »Was ist es dann, was w i r miteinander teilen? Was ist es, was wir all diese Jahre seit New Nelson gemein haben, von dem sie wissen und das sie in uns auslöschen wollen?« Elisa, die Jacqueline angestarrt hatte, spürte m i t einem M a l , wie sie zitterte. »Ihn ...«, raunte sie. Im ersten Augenblick dachte sie, die anderen hätten sie nicht verstanden, aber als sie die Veränderung auf ihren Gesichtern sah, fasste sie sich ein Herz u n d sprach weiter: »Einer, von dem wir träumen ... Ich nenne ihn >den M a n n m i t den weißen Augen<.« Blanes u n d Silberg saßen m i t offenem M u n d da. Jacqueline starrte sie an u n d nickte. »Ja«, sagte sie. »Genauso sehen sie aus, seine Augen.« Das Gefühl, krank zu sein, von einer Plage heimgesucht zu werden, hatte Jacqueline es genannt. D i r geht es auch so, nicht wahr, Elisa? A u f diese Frage hatte sie m i t einem Kopfnicken geantwortet. >Plage< war das passende Wort, fand sie. Es war das Gefühl, besudelt zu sein, wie wenn ihr Körper in einem riesigen Schlammloch durch den Morast gezogen würde. Aber es war mehr als eine körperliche Empfindung, es war eine Vorstellung. Jacqueline hatte das richtige Wort getroffen, u n d Elisa bekam eine A h n u n g davon, wie sehr die Paläontologin gelitten haben musste - womöglich viel mehr als sie selbst. »Es ist, als würde etwas Entsetzliches auf mich warten, als wartete ich darauf... Ich b i n ein Teil davon, kann ihm nicht entrinnen. Ich b i n allein. Er ruft mich. Nadja ging es auch so, jetzt fällt es m i r wieder ein ...«
Elisa stockte der Atem. Er ruft mich, und ich habe den Drang zu gehorchen. Sie hätte gern etwas gesagt, doch kam es ihr derart abstoßend vor, dass sie sich nicht dazu überwinden konnte, i h m ihre Stimme zu leihen. Eine Präsenz. Etwas, was nach mir verlangt. Und nach Jacqueline. Vielleicht nach uns allen, aber vor allem nach uns beiden. Es entstand eine lange Pause, dann hob Blanes den Blick. Noch nie hatte Elisa ihn so bleich, so aufgewühlt gesehen. »Ihr braucht nichts zu sagen ... wenn ihr nicht wollt«, m u r melte er. »Ich werde von meiner eigenen Erfahrung reden, u n d ihr sagt m i r dann, ob es bei euch so ähnlich ist oder nicht.« Er wandte sich vor allem an die beiden Frauen, und Elisa fragte sich, ob er sich Silberg schon anvertraut hatte. »Ich sehe ihn in meinen Albträumen, während meiner >Aussetzen. U n d wenn er auftaucht ... dann sehe ich mich selbst abscheuliche Dinge tun.« Er senkte die Stimme, eine tiefe Röte überzog seine Wangen. »Ich muss es t u n , als würde er mich dazu zwingen ... m i t meiner Schwester oder ... m i t meiner Mutter. Es ist keine Lust im Spiel, naja, manchmal schon.« Die Stille war undurchdringlich, u n d Elisa begriff, wie viel Mühe es Blanes kostete, das auszusprechen. »Aber jedes Mal sind ... Verstümmelungen dabei.« »Meine Ehefrau«, hob n u n Silberg an, »ist das Opfer meiner Träume. Obwohl, der Begriff >Opfer< greift zu kurz.« U n d der stattliche Mann verzog das Gesicht, stand auf u n d kehrte ihnen den Rücken zu. Er wurde von einem Schluchzen geschüttelt, und niemand war imstande, ihn zu trösten. Eine weitere Erinnerung verursachte Elisa eine Gänsehaut: Damals vor der Klappe des Vorratskellers, da hatte sie i h n genauso weinen sehen. Als er sich ihnen wieder zuwandte, hatte Silberg die Brille abgenommen, sein Gesicht glänzte. »Ich habe mich von ihr getrennt. W i r sind nicht geschieden, wir lieben uns immer noch. Im Grunde liebe ich sie mehr denn je, aber ich kann nicht mehr m i t ihr zusammenleben. Ich habe solche Angst, ihr etwas anzutun ... dass er mich zwingt, ihr etwas zu t u n ...«
Jacqueline Clissot hatte sich ebenfalls erhoben u n d war ans Fenster getreten. Im Zimmer war es dunkel, Schweigen breitete sich aus. »Ihr könnt noch von Glück sagen«, begann sie, ohne sich umzudrehen, und blickte durch die schmutzigen Scheiben in die Nacht hinaus. Zu Elisas Erschütterung blieb Jacquelines Stimme völlig emotionslos. Sie brach weder in Tränen aus noch klagte sie an. Wenn Silberg wie ein Todeskandidat gesprochen hatte, klang Jacqueline Clissot wie eine Hingerichtete. »Außer bei den Ärzten von Eagle habe ich es noch nie irgendjemandem gegenüber erwähnt, aber ich sehe auch keinen Grund, es weiter für mich zu behalten. Schon seit Jahren glaube ich, dass ich krank b i n . Ich habe es bereits geglaubt, als ich mich ein Jahr nach meiner Rückkehr aus New Nelson von meinem Mann und meinem Sohn getrennt habe. Ich habe mich damals entschieden, auch das Unterrichten und später den Beruf aufzugeben. Jetzt lebe ich allein, ich wohne in Paris in einer Studiowohnung, die sie m i r bezahlen. Das Einzige, was sie im Gegenzug dafür verlangen, ist, dass ich ihnen meine Träume erzähle ... u n d was tue.« Während sie sprach, verharrte sie völlig reglos, ihr wohlgeformter Körper in dem kurzen, extravaganten Kleid blieb starr. Elisa war überzeugt, dass sie nur dieses eine Kleidungsstück auf der Haut trug. »Aber es stimmt nicht, dass ich allein lebe. Ich lebe m i t ihm, falls ihr versteht, was ich meine. Er sagt mir, was ich t u n soll. Er bedroht m i c h . Er gibt m i r Wünsche ein u n d bestraft mich durch m i c h selbst, m i t meinen eigenen Händen. Ich war sicher, dass ich den Verstand verloren habe, aber sie haben mich beruhigt u n d mich davon überzeugt, dass es die Auswirkungen des Impacts sind ... Wie sagen sie noch dazu? Posttraumatische Belastungsstörung? Aber ich nenne es nicht so. Wenn ich den M u t habe, ihm einen Namen zu geben, dann nenne ich es den >Teufel<«, flüsterte sie. »Ich b i n vor Angst halb wahnsinnig.« Als sie schwieg, wandten sich alle Blicke Elisa zu. Trotz des Geständnisses von Jacqueline kostete es sie erhebliche Mühe, sich zu offenbaren. »Ich habe immer gedacht, es wären meine Fantasien«, sagte sie
m i t trockenem M u n d . »Ich stelle m i r fast jede Nacht vor, dass er m i c h zu einer bestimmten Uhrzeit besucht. Ich muss auf i h n warten ... u n d habe kaum etwas an. Dann k o m m t er u n d sagt Dinge zu mir. Schreckliche Dinge. Dinge, die er m i r antun w i r d oder die er den Menschen antun w i r d , die ich liebe, wenn ich i h m nicht gehorche ... Er macht auch m i r entsetzliche Angst, aber ich dachte, dass ... dass es eine ganz persönliche Fantasie wäre ...« »Und das ist das Tückische«, nickte Jacqueline: »Dass wir denken sollten, es käme aus uns selbst, obwohl w i r wussten, dass das nicht stimmt.« »Es muss eine Erklärung dafür geben.« Blanes rieb sich die Schläfen. »Damit meine ich keine rationale Erklärung. W i r sind fast alle Physiker u n d wissen, dass die Wirklichkeit nicht immer m i t dem Verstand zu erfassen ist. Dennoch muss es dafür eine Erklärung geben, eine, die sich beweisen lässt. Eine Theorie. W i r müssen eine Theorie aufstellen, um zu verstehen, was da m i t uns passiert.« »Es gibt verschiedene Möglichkeiten.« Silbergs Stimme schien nicht von i h m selbst zu k o m m e n , vielmehr schwang in ihr die Stille des ganzen Hauses u n d der nächtlichen Felder m i t . »Wir wollen sie nacheinander durchgehen. Erstens: Die Eagle Group allein ist dafür verantwortlich. Sie haben uns Drogen gegeben u n d zu dem gemacht, was w i r jetzt sind.« »Nein«, erhob Blanes kopfschüttelnd Einspruch. »Es stimmt, dass sie uns einige Informationen vorenthalten, aber sie scheinen genauso ratlos zu sein wie wir.« Und voller Angst, dachte Elisa. »Die zweite Möglichkeit ist der Impact. Ich glaube schon, dass der Sonnensee und die Frau in Jerusalem etwas mit uns gemacht haben. U n d an diesem Punkt gebe ich Eagle Recht, niemand weiß bisher etwas über die eventuellen Auswirkungen. Vielleicht hat es der Impact bewirkt, dass w i r von ... von diesem Wesen ... besessen sind. Oder diese Besessenheit wurde durch eine Veränderung unseres Unbewussten hervorgerufen ... Angenommen,
Valente ist durchgedreht u n d hat tatsächlich Rosalyn u n d Ross getötet. U n d m i r geht es nicht darum, wie er es getan hat, sondern nur um die Tatsache an sich. Nehmen w i r an, dasselbe könnte m i t einem von uns passieren. Einem jedem von uns, die w i r uns hier in diesem Z i m m e r befinden. Oder auch m i t Sergio ... Nehmen w i r mal an, so abwegig das vielleicht scheinen mag, einer von uns wäre verantwortlich ... für Colins u n d Nadjas Tod.« Silbergs Worte lösten Unruhe aus. »Der Impact«, befand Blanes, »könnte also durchaus die Ähnlichkeit unserer Zwangsvorstellungen u n d die Veränderungen erklären, die in unseren Leben stattgefunden haben ... U n d was für Möglichkeiten gibt es noch?« »Die Ultimative.« Silberg nickte. »Ein Wunder, wie der Glaube. Das Unfassbare. Die Unbekannte in der Gleichung.« »In der Mathematik werden die Unbekannten bestimmt«, sagte Blanes. »Eins steht fest, wir müssen dieser auf den Grund gehen, wenn wir überleben wollen.« Jacquelines Stimme zog noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich. »Eins kann ich euch versichern: Was es auch ist, ich bin davon überzeugt, dass dieses Übel w i r k l i c h existiert. U n d dass es ein Bewusstsein hat. U n d zwar ein perverses. U n d dass es uns belauert.«
VII. DIE FLUCHT Manchmal braucht man sehr viel M u t , um zu fliehen. Mary Edgeworth
25
Madrid 12. März 2015 1.30 Uhr »Das war alles«, sagte Elisa. »So ist unsere Versammlung zu Ende gegangen. W i r haben noch beschlossen, dass David oder Reinhard beim nächsten Vorfall alle anrufen u n d uns verschlüsselt, aber eindeutig auffordern soll, uns erneut hier einzufinden. Als Losungswort haben wir >Zickzack< gewählt, unseren Namen für das Projekt. Das Treffen wurde für die Nacht nach dem A n r u f angesetzt, u n d zwar für halb zwölf. Bis dahin wollten David u n d Reinhard weitere Informationen beschaffen, während Jacqueline u n d ich abwarten sollten. U n d die Hoffnung nicht aufgeben. Soweit es mich betrifft, habe ich genau das getan: Ich habe weitergehofft.« Sie strich sich m i t der Hand über die schwarzen Locken u n d seufzte tief. Sie hatte Victor das Schlimmste erzählt. Jetzt fühlte sie sich seltsam beruhigt. »Selbstverständlich war das kein einfaches Leben. Unser Vertrauen in die Gespräche m i t den Ärzten von Eagle war dahin. Z u m Glück wurden die Abstände ohnehin immer größer. Sie ließen uns in Ruhe, als hätten sie das Interesse an uns verloren. Von Zeit zu Zeit erhielt ich Post von David, immer waren es Bücher, in deren Einband er Nachrichten für mich versteckte. Folgerung e n nannte er sie. Es waren knappe Berichte über den Fortgang seiner Forschung. Allerdings habe ich nie erfahren, welche A r t von Forschung er eigentlich betrieb. Ich gehe davon aus, dass er uns jetzt darüber aufklären wird.« Sie warf Blanes einen Blick zu,
u n d dieser nickte. »Die Monate vergingen, u n d ich versuchte weiterzuleben. Die Träume, die Albträume waren weiterhin da, aber David hatte darauf bestanden, dass wir uns so benahmen, als ob wir nichts wüssten. Ich glaube, mich hat in den letzten Jahren nur die Hoffnung am Leben erhalten, dass das Ganze bald ein Ende hat. Ich habe m i r ein Fleischermesser gekauft, allerdings nicht, um anzugreifen, und auch nicht, um m i c h zu verteidigen, das ist m i r inzwischen klar, sondern damit ich nicht so lange leiden muss, wenn ich an der Reihe b i n . Aber je mehr Zeit verging, desto mehr habe ich m i c h in Sicherheit gewogen u n d geglaubt, das Schlimmste liege hinter uns ...« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Und heute Morgen fiel mein Blick während der Vorlesung auf die Notiz über M a r i n i . Ich habe den ganzen Tag auf den A n r u f gewartet. Dann endlich hat das Telefon geklingelt, u n d ich habe David >Zickzack< sagen hören. Da wusste ich, dass es wieder von vorn losgeht. Das ist alles, Victor. Zumindest alles, was ich weiß.« Nach diesem Monolog schwieg sie, aber es war, als würde sie weitersprechen. Niemand rührte sich oder sagte ein Wort. Alle vier saßen reglos um den Tisch im Licht der biegbaren Schreibtischlampe. Elisa sah Blanes ins Gesicht, dann Jacqueline Clissot. Diesmal schlug sie einen anderen Ton an: »Und jetzt möchte ich von euch wissen, wer uns verraten hat.« Blanes u n d Jacqueline tauschten einen Blick. »Niemand hat irgendjemanden verraten, Elisa«, sagte Blanes. »Eagle hat von unserer Versammlung W i n d bekommen, das ist alles.« »Harrison behauptet etwas anderes.« »Dann lügt er.« Oder du lügst. Ohne den Blick von ihrem einstigen Professor abzuwenden, schob sich Elisa die Haare aus dem Gesicht und wischte die Tränen ab, die ihr unwillkürlich übers Gesicht gelaufen waren, als sie ihre Erinnerungen erneut durchlebt hatte. Schließlich entschied sie sich, Blanes zu vertrauen. So d u m m konnte er doch nicht gewesen sein. Jetzt ist es ohnehin zu spät.
Hastig ergriff Blanes das Wort. »Jetzt k o m m t es vor allem darauf an, dass ihr von uns auf den neuesten Stand gebracht werdet. Reinhard u n d ich haben Verschiedenes in Erfahrung gebracht, aus vertraulichen Quellen, die durchgesickert sind. Es sind geheime Daten, aber nachprüfbar.« »Sie belauschen uns, David«, warnte Elisa. »Ich weiß. Das macht nichts: Ihnen gilt nicht meine größte Sorge. Zunächst w i l l ich euch erzählen, was ihr noch nicht wisst. Schließlich wollten w i r erst wieder darüber sprechen, wenn w i r genügend Beweise zusammengetragen haben. Bisher sind es nicht gerade viele, aber Sergios Tod hat das Ganze beschleunigt. W i r haben darüber nur unzusammenhängende Informationen, allerdings glaube ich nicht, dass sein Todesfall sich von den anderen sehr unterscheidet. Fangen w i r m i t dir an, Jacqueline.« Er wandte sich an die Paläontologin. »Jacqueline bekam ihre erste Gehirnwäsche nach unserer Abreise aus New Nelson verpasst. Sie war einen Monat lang auf dem Eagle-Stützpunkt in der Ägäis. D o r t hat man m i t Hilfe von Drogen und Hypnose versucht, ihre Erinnerung zu löschen. Aber nach ihrer zweiten - wie nennen sie das noch? Ach ja, Reintegration. Nach ihrer zweiten Reintegration, also vor drei Jahren, 2012, hat sie angefangen, sich zu erinnern.« »Zu meinem Pech«, versetzte Clissot. »Nein, nicht zu deinem Pech«, korrigierte Blanes. »Die Lüge hätte dir auf Dauer mehr geschadet.« U n d an die anderen gerichtet, fuhr er fort: »Anfangs sind in Jacquelines Gedächtnis nur vereinzelte Bilder u n d Facetten wieder aufgetaucht. Doch als wir ihr dann die ersten Autopsieberichte zugeschickt haben, konnte sie sich konkreter erinnern. Z u m Beispiel an das, was sie an Rosalyn Reiters Leichnam entdeckte. Jacqueline, warum erzählst du uns das nicht selbst?« Jacqueline Clissot stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte die Fingerkuppen aneinander und betrachtete ihre Hände im Licht der Schreibtischlampe, als handele es sich um zwei filigrane Kunstwerke. Dann tat sie etwas, was Elisa einen Schauer über
den Rücken jagte: Sie lächelte. U n d während der gesamten Rede blieb ihr Gesicht zu einem angespannten, unangenehmen G r i n sen verzogen. »Na schön, ich hatte auf der Insel nicht die geeigneten Geräte, um eine Autopsie durchzuführen, aber dennoch habe ich ... tatsächlich einige ... Dinge entdeckt. Zunächst das Naheliegende: große Schürfwunden und Verbrennungen, dem Jouleschen Gesetz zuzuschreiben, ihr wisst ja, starke Erwärmung infolge Stromdurchgangs. In ihrer rechten H a n d war der Abdruck von zwei Stromkabeln, und auf der Haut habe ich Metallspuren und Präzipitate gesehen ... Was nach einem Stromstoß von fünfhundert Volt nicht anders zu erwarten ist. Aber dann habe ich unter den Verbrennungen Verletzungen gefunden, die m i t dem Stromschlag nichts zu tun hatten: Verstümmelungen, abgetrennte oder abgerissene Gliedmaßen ... Ich bin sofort losgerannt, um Carter davon zu berichten. Da hat sich die Explosion ereignet. Ich befand mich gerade auf dem Rückweg zu den Baracken, als sie mich überraschte, deshalb habe ich auch keine Verletzungen davongetragen u n d konnte bei der Evakuierung der übrigen Belegschaft helfen.« »Erzähl weiter«, forderte Blanes sie auf. »Vor unserem Abflug bat m i c h Carter dann, einen Blick auf das zu werfen ... was unten im Vorratskeller war. Ich bin forensische Anthropologin, aber bei dem A n b l i c k . . . habe ich den Kontakt zur Realität verloren. Es war, als würde sich ein Schleier über mich legen. In diesem Zustand habe ich ausgeharrt, bis die Erinnerung durch Davids Berichte langsam zurückkehrte.« Jacqueline malte m i t dem Zeigefinger Kreise auf den Tisch und lächelte dabei, als amüsiere sie das alles. »Zum Beispiel diese: Ich sah ein halbes Gesicht auf dem Boden liegen, ich glaube, es war das von Cheryl, aber es war in lauter Einzelteile zerlegt, besser gesagt, Schicht für Schicht abgelöst, als hätte ... als hätte man sie wie die Seiten eines Buches aufgeblättert. Etwas Derartiges hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen, u n d ich weiß auch heute nicht, wer oder was so etwas bewirken kann. Ein Messer jeden-
falls nicht und ein Beil auch nicht. Ric Valente? Nein ... Ich habe keine Ahnung, wer sie so zugerichtet hat, und ebenso wenig, wer ihr die Gedärme aus dem Bauch gerissen u n d alle vier Wände, den Boden und die Decke m i t Blut beschmiert hat, von oben bis unten, es sah aus wie eine Dekoration ... Keine Ahnung, wer das getan hat oder wie ... aber natürlich war es nicht irgendjemand ...« Sie brach ab. »Danach habe ich dir die Berichte über Craig u n d Nadja geschickt«, ermunterte Blanes sie weiterzusprechen. »Ja, da gab es noch mehr. Beispielsweise war Colins Gehirn amputiert und in einzelne Schichten zerlegt worden. Er war vollkommen ausgeweidet, und in seiner leeren Bauchhöhle lagen die amputierten Gliedmaßen, als hätte ... sich jemand einen Scherz erlaubt ... U n d das ganze Wohnzimmer war blutverspritzt und außerdem kurz u n d klein geschlagen. U n d bei Nadja war der Kopf wie mit einem Meißel bearbeitet. Die Ränder ihres Schädels waren bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen oder abgehobelt. Kein Werkzeug dieser Welt kann so etwas in der kurzen Zeit h i n bekommen. Es sah aus wie der Effekt von Wasser, das einen Fels aushöhlt. Dazu braucht es Jahre. Solche seltsamen Dinge ...« »Die Laborproben waren nicht weniger überraschend, nicht wahr?«, bemerkte Blanes, als Jacqueline wieder in Schweigen versank. Die Paläontologin nickte. »Keine Spur von Glykogen in den Leberproben, eine Bauchspeicheldrüse ohne Autolyse ... U n d die fehlenden Lipoide in der Nebennierenrinde deuten auf einen sehr langen Todeskampf h i n . Der Kortikoidspiegel in den Blutproben besagt dasselbe. Ich hoffe, das ist für dich nicht zu medizinisch, Victor. Aber wenn ein Mensch gefoltert w i r d , dann produziert der Organismus eine Menge Stresshormone, und bestimmte Drüsen oberhalb unserer Nieren, genauer gesagt die Nebennieren, sondern Substanzen ab, die man Kortikoide nennt und die zu unserem Schutz eine Tachykardie bewirken, den A n stieg des arteriellen Blutdrucks u n d andere physische Veränderungen. Die Menge dieser H o r m o n e im Blut gibt in gewisser
Weise Aufschluss darüber, wie groß die erlittenen Schmerzen waren u n d wie lange sie angehalten haben. Die Untersuchungen an den Überresten von Colin u n d Nadja haben unglaubliche Ergebnisse gezeigt, nur vergleichbar mit denen einzelner Kriegsgefangener, die sehr langwierigen Folterungen ausgesetzt waren. Das Drüsengewebe der Nebenniere war hypertrophiert u n d scheint chronisch bis zur Belastbarkeitsgrenze gearbeitet zu haben, was auf ein Leiden von ... vielleicht Wochen oder Monaten hindeutet.« Victor schluckte. »Das verstehe ich jetzt nicht mehr.« Er sah verwirrt in die Runde. »Das widerspricht in der Tat dem raschen Eintritt ihres Todes.« Blanes schien sein Erstaunen zu teilen. »Cheryl Ross beispielsweise war kaum zwei Stunden im Vorratskeller. Stevenson, der Soldat, der gemeinsam mit Craig die Überreste entdeckte, hat sich die ganze Zeit über nicht von der Klappe fortbewegt. Er hat nichts Ungewöhnliches beobachtet oder gehört. Elisa dagegen hat erzählt, dass Schritte zu hören waren von jemandem, der mitten in der Nacht im Vorratskeller auf und ab gegangen ist. Wie hätte Valente dort hineinkommen sollen, ohne dass ihn jemand sah, und wie hätte er Cheryl Ross all das i n kürzester Zeit und vollkommen lautlos antun können? Und von den angeblichen Gewalttätern hat man ebenfalls nirgends Spuren gefunden, geschweige denn irgendwelche Waffen. Außerdem gibt es keine Zeugen für die Morde, nicht einen einzigen, u n d damit meine ich nicht nur Augenzeugen: Niemand hat Schreie oder Geräusche gehört, nicht einmal in Nadjas Fall, die schließlich in einer hellhörigen Etagenwohnung auf so blutrünstige Weise ums Leben gekommen ist.« Elisa lauschte gespannt. Vieles von Blanes' Ausführungen war auch ihr neu. »Trotzdem«, Blanes beugte sich über den Tisch vor, ohne Victor aus den Augen zu lassen, u n d das Licht hob seine Gesichtszüge hervor, »jeder, der auch nur einen dieser Tatorte gesehen hat u n d zwar ohne Ausnahme jeder, einschließlich der Ordnungs-
kräfte und der Spezialisten -, hat eine A r t Schock erlitten. So lautet jedenfalls die offizielle Bezeichnung, obwohl man eigentlich nicht genau weiß, was es ist: Die Symptome reichen von einer vorübergehenden Entfremdung wie bei Stevenson oder Craig im Vorratskeller, über einen plötzlichen Angstzustand, wie bei Reinhard an der Bodenluke, bis zur Psychose, die auf keine der üblichen Therapien anspricht.« »Aber es waren entsetzliche Verbrechen«, wandte Victor ein. »Da scheint es m i r nur normal, dass ...« »Nein.« Alle Blicken richteten sich auf Jacqueline Clissot. »Ich bin Gerichtsmedizinerin, Victor, aber als ich den Vorratskeller betrat und Cheryls Überreste gesehen habe, bin ich völlig durchgedreht.« »Ich möchte damit nur sagen, dass dieser >Schock< offenbar nicht hundertprozentig dem Grauen entspricht, das der jeweilige m i t angesehen hat«, fasste Blanes zusammen. »Es sind v o l l k o m m e n ungewöhnliche Reaktionen, selbst für traumatische Situationen wie diese. Denk bloß an die Soldaten. Das sind doch in solchen Dingen erfahrene Leute.« »Verstehe«, räumte Victor ein. »Das Ganze ist seltsam, aber nicht unmöglich.« »Ich weiß, dass es nicht unmöglich ist«, stimmte Blanes zu und betrachtete Victor unter halb geschlossenen Lidern hervor. »Das eigentlich Unmögliche habe ich dir noch gar nicht erzählt. Hör zu.«
Harrison wusste, dass nur Perfektion ausreichenden Schutz bot. U n d wer meinte, dass es sich in seinem Fall um eine berufsbedingte Manie handelte, dessen Überzeugung geriet, sobald er ihn besser kannte (so weit jedenfalls, wie Harrison dies zuließ), u n weigerlich ins Wanken. Wer war zuerst da: das H u h n oder das Ei? Formte der Beruf den Charakter? Oder hatte der Charakter dem Beruf seinen Stempel aufgedrückt? Auch Harrison selbst hätte diese Frage nicht zu beantworten
gewusst. Die Bereiche Arbeit und Gefühlsleben überlappten sich bei i h m . Er hatte geheiratet u n d sich scheiden lassen, war seit zwanzig Jahren Sicherheitsbeauftragter verschiedener wissenschaftlicher Projekte, hatte eine Tochter, die inzwischen weit weg lebte und die er nie sah - all dies hatte i h m deutlich gemacht, was er für seinen Beruf opferte. Dieses Sendungsbewusstsein war es auch, das ihn zu dem idealen M a n n auf seinem Posten machte. Harrison wusste nämlich, dass er >Gutes< tat: Seine Aufgabe bestand darin, andere zu beschützen. Wenn die Arbeit ihn um den Schlaf brachte, wenn er nichts zu essen bekam, wenn er auf einen Schlag fünfzehn Jahre alterte oder keine Freizeit hatte, dann tröstete er sich m i t dem Gedanken, dass dies notwendig war, um andere zu >schützen<. Im großen Theater dieser Welt lehnen die meisten Menschen diese Rolle ab; Harrison hatte beschlossen, sie zu spielen. »Ohne Fehl und Tadel.« So definierten ihn seine Vorgesetzten: Ein M a n n ohne Fehl u n d Tadel. Unabhängig davon, was dieser Satz für andere beinhaltete, für Harrison war er ein Synonym für den Begriff des lebenden Schutzschildes. Jeder H u n d gleicht am Ende seinem Herrchen u n d jeder Mann passt sich seiner Arbeit an. Als leitender Sicherheitsbeauftragter der Eagle Group wusste Harrison um seinen Auftrag: Er musste ein lebendes Schutzschild sein. Ein Schild, durch das nichts eindrang, aber auch nichts austrat. Alles war gut gegangen, bis vor zehn Jahren Einzelheiten des Einstein-Projekts durch eine undichte Stelle nach außen durchgesickert waren. In Gedanken war er bei dieser undichten Stelle, als er in den frühen Morgenstunden in Begleitung dreier Männer das Haus in Soto del Real verließ. Die Märznacht im Madrider U m l a n d war kühler als in der Stadt, dennoch fand Harrison sie angenehmer als gewöhnlich, ein Gefühl, das sich in dem Auto verstärkte, welches er soeben bestieg. Es war ein Mercedes Benz der S-Klasse W Spezial mit einer Karosserie, so schwarz und glänzend wie der Stöckelschuh eines Transvestiten: kugelsicheres Panzerglas und
doppelt m i t Kevlar verstärkt. Ein neuneinhalb Millimetergeschoss, m i t einer Geschwindigkeit von neunhundert Metern pro Sekunde auf den Kopf eines der Insassen abgefeuert, würde nicht mehr Schaden anrichten als eine Kamikaze-Wespe, die sich gegen die Scheibe warf. Eine Granate, eine M i n e oder ein Mörser konnten sie zwar zersplittern, doch im Innenraum würde dabei niemand ernsthaft verletzt. In diesem Bunker auf Rädern fühlte Harrison sich einigermaßen w o h l . Nicht vollkommen sicher, aber Sicherheit war ja auch gerade dadurch gekennzeichnet, dass man sich nie vollends in Sicherheit wähnen durfte, wie er seinen Auszubildenden immer wieder zu predigen pflegte. Sich einigermaßen w o h l fühlen - mehr konnte er als rational denkender Mensch nicht verlangen. Der Fahrer ließ unverzüglich den M o t o r an, manövrierte den Wagen geschickt zwischen den anderen beiden Autos und dem Lieferwagen hindurch, die vor dem Landsitz geparkt standen, und glitt lautlos wie ein Raumschiff durch die Nacht. Es war Viertel vor zwei, die Sterne funkelten am H i m m e l , die Straßen waren leer, und nach den pessimistischsten Berechnungen würden sie in einer halben Stunde am Flughafen sein, früh genug also, um den Neuankömmling in Empfang zu nehmen. So dachte Harrison. Nachdem er die ersten M i n u t e n starr wie eine Statue dagesessen hatte, zog er die Hand aus der bequemen Manteltasche. »Gib m i r den Monitor.« Der Mann zu seiner Linken reichte i h m einen Gegenstand, der einer belgischen Schokoladentafel glich. Es war ein PDA mit einem fünf Zoll großen Flachbildschirm, dessen Auflösung so hoch war, dass er den Eindruck einer M i n i l e i n w a n d erweckte. Das Menü bot vier Optionen: Computer, Fernsehen, GPS oder Bildtelefon. Harrison entschied sich für Letzteres u n d wählte die Funktion integrierte Systemen Man hörte einen Piepton, u n d kurz darauf erschien das kleine L-förmige Zimmer, in dem die vier Wissenschaftler um den Tisch h e r u m saßen und redeten. Trotz der schummrigen Beleuchtung war das Bild so gestochen
scharf, dass die Farben von Kleidung und Haar jedes Einzelnen deuüich zu erkennen waren. Auch die Tonqualität war beeindruckend. Harrison konnte zwischen zwei Perspektiven wechseln, die zwei in dem Zimmer versteckte Kameras lieferten. Aber keine von beiden gestattete einen frontalen Blick auf Elisa Robledos Gesicht, so dass er sich m i t ihrem Profil zufrieden geben musste. Gerade sprach die Professorin Clissot. Von ihrer Unterhaltung war leider nicht so viel zu verstehen, wie Harrison es von dem Überwachungsprogramm erwartet hätte, aber das kümmerte ihn nicht. Es war offensichtlich, dass sie sich gegenseitig ihr Leid klagten und Victor über die Geschehnisse ins Bild setzten. Harrison knetete sich das K i n n . Wie nur hatten die Wissenschaftler so viel herausbekommen können? Diese Frage ließ i h m keine Ruhe, obwohl Carter unzweifelhaft belegt hatte, dass M a r i n i ihnen vor seinem Tod Informationen zugespielt hatte. G i n gen die Kopien der Autopsieberichte auch auf Marinis Konto? Schließlich hatte M a r i n i selbst doch so gut wie nichts gewusst. Wer aber war sein Informant gewesen? Wer hatte die Daten durchsickern lassen? Das bereitete Harrison einiges Kopfzerbrechen. Ein Leck. Eine undichte Stelle. Durch die Informationen h i n ausgelangen konnten. Eine schadhafte Stelle im Schutzschild. N u n sprach Blanes. Wie sehr er doch dessen Überheblichkeit u n d Besserwisserei hasste! Harrison musterte Elisa Robledo unverwandt m i t gespannter Aufmerksamkeit. In letzter Zeit betrachtete er einige Dinge auf diese Weise, ohne zu zwinkern oder auch nur Atem zu holen. Da er den anatomischen Aufbau des Auges in groben Zügen kannte, wusste er, dass die Pupille kein Fleck ist, sondern ein winziges Loch. Eigentlich ein Leck. Durchgesickert. Durch dieses Loch konnten unerbetene Bilder eindringen, wie jene, die er vier Jahre zuvor im Haus von Colin Craig gesehen hatte u n d in der Wohnung von Nadja Petrova oder erst am Vortag auf einem Seziertisch in Mailand. Widerliche, abstoßende Bil-
der wie der offene Mund eines Sterbenden. Sie bevölkerten seine Träume jede Nacht - wenn er sie überhaupt schlafend zubrachte. Er war bereits entschlossen und wusste, was er tun würde. Den Segen seiner Vorgesetzten hatte er dafür: entseuchen, den Infektionsherd herausschneiden. Er würde sich die gut bewachten Wissenschaftler vorknöpfen und alles kranke, infizierte Gewebe beseitigen. Ganz besonders u n d aus persönlichen Gründen das für die undichte Stelle verantwortliche Gewebe. Zuallererst würde er sich Elisa Robledo vorknöpfen. Er hatte noch niemanden in diesen Plan eingeweiht, ja ihn nicht einmal sich selbst w i r k l i c h eingestanden. Aber er wusste, dass er es tun würde. Plötzlich war der Bildschirm mit Sägezähnen bedeckt. Im ersten Augenblick durchzuckte Harrison der Gedanke, dass der A l l mächtige ihn für seine bösen Gedanken bestrafen wollte. »Störungen bei der Übertragung«, sagte der M a n n links neben i h m und hantierte m i t der Schokoladentafel. »Vielleicht ein Funkloch.« Harrison legte keinen gesteigerten Wert darauf, sie zu hören oder zu sehen. Die Wissenschaftler, mitsamt Elisa, waren nur noch ein paar schwache Funzeln an seinem privaten H i m m e l . Er hatte einen Plan, u n d er würde ihn zum geeigneten Zeitpunkt durchführen. Doch zunächst wollte er die in dieser Nacht anstehende Aufgabe erledigen.
Blanes hob gerade zu reden an, da wurde er unterbrochen. »Das Flugzeug von Professor Silberg landet in zehn Minuten«, verkündete Carter. Er betrat den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Dass er einfach so hereinplatzte, empörte Elisa, und sie sprang vom Stuhl auf. »Raus m i t Ihnen! Kapiert?«, fauchte sie. »Reicht es nicht, dass Sie uns über die Lautsprecher bespitzeln? W i r w o l len unter uns bleiben! Verschwinden Sie auf der Stelle!« Hinter ihr scharrten Stühle, und Victor und Blanes forderten
sie auf, sich zu beruhigen. Aber ihre W u t kannte kein Halten. Carters starrer Blick u n d seine wie ein Granitblock vor ihr aufgebaute Statur symbolisierten für sie die eigene Ohnmacht. Elisa stellte sich wenige Zentimeter vor i h n h i n . U n d obwohl sie größer war als er, wirkte es, als wollte sie eine Mauer verrücken, als sie i h m einen Stoß versetzte. »Können Sie nicht hören? Verstehen Sie kein Englisch mehr? Scheren Sie sich zum Teufel, Sie und ihr C h e f . . . A u f der Stelle!« Ohne Elisa die geringste Beachtung zu schenken, richtete Carter den Blick auf Blanes u n d nickte. »Ich habe die Frequenz blockiert. Harrison ist zum Flughafen aufgebrochen u n d kann uns im Moment weder sehen noch hören.« »Bestens«, erwiderte Blanes. Elisa verstand gar nichts mehr. Verwirrt schaute sie von einem zum anderen. Bis Blanes sagte: »Elisa, Carter ist es, der uns seit Jahren insgeheim geholfen hat. Er ist unser Informant bei Eagle. Er hat uns die Autopsieberichte kopiert u n d sämtliche Beweise zugespielt, die w i r in Händen halten. Er u n d ich haben dieses Treffen organisiert.«
26
»Er hat meine Männer umgebracht. Alle, die in New Nelson dabei waren. Es waren fünf, wissen Sie noch? U n d ihr Tod ließ einem das Blut in den Adern gefrieren, ganz ähnlich wie bei Ihren Freunden, allerdings m i t weniger Publicity, oder, D o k t o r Robledo? Es waren eben keine >brillanten Wissenschaftlern« Carter machte eine Pause. Für einen Augenblick schienen seine hellen Augen sie durch einen Schleier anzublicken, aber dann zeigte er wieder seine geradezu eiserne Beherrschung, eine stählerne, undurchsichtige Maske. In neutralem Ton fuhr er fort: »Mendez u n d Lee sind bei der Explosion des Lagers draufgegangen. Die Autopsie hat jedoch ergeben, dass sich vorher jemand ein wenig m i t Méndez amüsiert h a t . . . York ist vor drei Jahren ermordet worden, am gleichen Tag wie Professor Craig, auf einem Militärstützpunkt in Kroatien. Bergetti u n d Stevenson sind an diesem Montag zu Hackfleisch gemacht worden, wenige Stunden vor Marinis Tod. Bergetti war wegen einer Gemütserkrankung beurlaubt u n d ist bei sich zu Hause ermordet worden; seine Frau hat sich beim Anblick der Leiche aus dem Fenster gestürzt. Zehn Minuten später wurde Stevenson in den Tod geschickt, u n d zwar auf einem Leichter, der im Roten Meer auf einer Routinemission unterwegs war. Niemand hat gesehen, wie es passiert ist. Im Handumdrehen waren sie mausetot. Als York starb, kam der erste Verdacht
in m i r auf. Die von Eagle haben mich nicht einmal darüber i n formiert, ich habe es auf eigene Faust herausbekommen. Damals habe ich beschlossen, m i t Professor Blanes gemeinsame Sache zu machen.« »Jetzt wirst du auch verstehen, Elisa, dass kein Verrat vorliegt«, stellte Blanes klar. »Wir haben alles ganz bewusst so eingefädelt. Wenn Carter nicht die von Eagle vorab über unser Treffen informiert hätte, säßen w i r längst alle wieder in Imnia, bis zum Hals mit Drogen voll gepumpt. Aber er konnte sie davon überzeugen, dass es praktischer ist, sich erst mal anzuhören, was w i r zu sagen haben. Tatsächlich hat er uns seit Jahren geholfen. Er hat nicht nur diese Zusammenkunft organisiert, sondern auch die vorherige. Erinnerst du dich an die musikalische Mail?« Elisa nickte: Endlich begriff sie, wo diese in Anbetracht von Blanes' Fähigkeiten in Sachen Computer so untypische Nachricht hergekommen war. »Eins will ich Ihnen gestehen«, sagte Carter. »Sie sind m i r genauso sympathisch wie ich Ihnen, also nicht die Spur. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen Ihnen u n d der Eagle Group, dann ziehe ich allemal Sie vor. U n d wenn ich zwischen ihm und Ihnen wählen muss, dann ziehe ich auch Sie vor.« U n d er fügte hinzu: »Ich weiß nicht, wer oder was zum Teufel er ist, aber er hat alle meine Männer vernichtet, u n d als Nächstes k o m m t er vermutlich mich holen.« »Er vernichtet alle, die vor zehn Jahren auf der Insel gewesen sind«, flüsterte Jacqueline Clissot. »Alle.« »Sehen Sie ihn denn auch?« Elisa war es, die diese Frage unsicher an Carter richtete. »Natürlich sehe ich ihn. In meinen Träumen, genau wie Sie.« Er schwieg u n d fügte dann m i t einem leichten Beben in der Stimme hinzu: »Das heißt, ich sehe ihn nicht. Ich mache immer die Augen zu, wenn er auffaucht.« Er wandte sich von Elisa ab und löste beim Sprechen den Krawattenknoten. »Eagle belügt Sie: Ihnen soll gar nicht geholfen werden. In Wirklichkeit warten die schon auf den nächsten To-
ten. Ich glaube, für die sind w i r nichts als Versuchskaninchen. Die wollen sehen, was passiert, wenn er sich den nächsten Kandidaten v o r n i m m t . Ich b i n wie Sie auf I m n i a einer Reihe v o n Untersuchungen unterzogen worden. Aber noch haben die Vertrauen zu mir, was natürlich von Vorteil ist. Deshalb sind w i r m i t Silberg nicht vier, sondern fünf. Ob Ihnen das passt oder nicht, Sie müssen mich in Ihre Pläne einbeziehen.« »Sechs.« Alle Blicke richteten sich auf Victor, der über den eigenen Einw u r f ebenso, ja fast noch überraschter zu sein schien als die anderen. »Ich . . . « , begann er zögerlich, schluckte, holte tief Luft u n d schaffte es unerwartet, seinen Worten Gewicht zu verleihen. »Sie werden mich auch m i t einbeziehen müssen.« »Haben Sie i h m alles erzählt?«, fragte Carter, als könnte er diesen Neuzugang nicht recht einschätzen. »Fast alles«, antwortete Blanes. Carter gestattete sich ein Grinsen. »Tja, Herr Professor, dann nehmen Sie sich die Zeit. W i r müssen ohnehin auf Silberg warten.« »Ich hoffe sehr, dass er bald da sein wird«, bekannte Blanes. »Die Unterlagen, die er m i t b r i n g t , sind schließlich der Schlüssel.« »Wie meinst du das?«, wollte Elisa wissen. »Sie enthalten die Erklärung für das, was m i t uns passiert.« Jacqueline Clissot wagte sich vor, auch wenn ihrer Stimme die Angst anzumerken war. »David, sag m i r nur eins: Gibt es ihn? Ist er real oder handelt es sich um eine kollektive ... Halluzination?« »Wir wissen noch nicht genau, Jacqueline, was es ist. Aber eins ist sicher: Er ist real. Die von Eagle wissen es. Er ist ein vollkommen reales Wesen.« Er blickte in die Runde, als stünde er vor den letzten Überlebenden einer Katastrophe. Auch in seinen Augen flackerte Angst, meinte Elisa zu beobachten. »Die von Eagle nennen i h n Zickzack, w i r das Projekt.«
Beinahe zum ersten M a l in seinem Leben dachte Reinhard Silberg an sich selbst. Wer ihn kannte, wusste, dass er einen Hang zum Altruismus hatte und das geborene Opfer war. Als Otto, sein fünf Jahre älterer Bruder und Direktor einer Firma für optische Geräte in Berl i n , i h n eines Tages anrief, um i h m mitzuteilen, dass bei i h m Krebs diagnostiziert worden sei, sprach Silberg m i t Bertha, seiner Frau, ließ sich von seinen universitären Pflichten beurlauben u n d siedelte um zu Otto. Bis zu seinem Tod im darauf f o l genden Jahr pflegte er i h n u n d stand i h m bei. Zwei Monate später hatte er wieder die Koffer gepackt und war aufgebrochen nach New Nelson - in diesem schwierigen M o m e n t , als der W i n d i h m ins Gesicht blies, nicht nur dem Gefühl nach. Damals hatte er in dem Zickzack-Projekt eine glückliche Fügung gesehen, die Gott i h m in seiner unermesslichen Güte gesandt hatte, um ihn für die Tragödie m i t seinem Bruder zu entschädigen. Inzwischen war er eines Besseren belehrt worden. Bevor die Dinge endgültig eine unerwartete Wendung nahmen, hatte Silberg niemals ernsthaft befürchtet, i h m könne etwas zustoßen. Nicht, weil er ungewöhnlich mutig gewesen wäre, sondern aufgrund einer Veranlagung, die seine Frau Bertha als hormonelle Disposition bezeichnete: Das Leid der anderen beeinträchtigte i h n weitaus mehr als eigene Not. So war er n u n mal. »Wenn einer von uns krank w i r d , dann lieber gleich Reinhard«, pflegte seine Frau zu sagen. »Denn wenn es mich t r i f f t , liegen w i r beide auf der Nase, und i h m geht es noch schlechter als mir.« Ich Hebe dich so sehr, Bertha. Beim Gedanken an seine Frau erschien ihr Bild vor seinem geistigen Auge. Ein Fremder hätte in ihr nicht die adrette Kleine wiedererkannt, die Silberg vor bald einem halben Jahrhundert an der Universität kennen gelernt hatte, doch für ihn blieb sie die begehrenswerteste Frau der Welt. Obwohl ihnen keine Kinder beschert worden waren, hatten ihn dreißig innige Ehejahre davon überzeugt, dass das einzige Paradies auf Erden - w i r k l i c h das einzige, das diesen Namen ver-
diente - das Zusammenleben m i t einem geliebten Menschen war. Dennoch hatte es eine Zeit gegeben, in der diese Harmonie zu zerbrechen drohte. Als i h n seine Träume vor Jahren allzu sehr peinigten, hatte Silberg einen ähnlichen Entschluss gefasst wie damals den, zu seinem Bruder zu ziehen: Auch diesmal wollte er gehen, um einem anderen Menschen zu helfen. Er hatte seine Sachen gepackt u n d war in die kleine Einzimmerwohnung gezogen, die er u n d seine Frau in der Nähe der Universität besaßen und gewöhnlich an Studenten vermieteten. Er konnte die ständige Angst nicht mehr ertragen, eines Nachts vielleicht aufzuwachen u n d festzustellen, dass er all die Verbrechen an ihr verübt hatte, die er in jenen grotesken Traumbildern sah. Er hatte Bertha verschiedene Erklärungen genannt, angefangen m i t dem Bedürfnis, ein wenig Distanz zu den Dingen zu gewinnen, bis h i n zu dem Geständnis, dass seine Nerven nicht in Ordnung seien. Aber sie hatte die Trennung nicht gut verkraftet u n d alles in Bewegung gesetzt, damit Silberg zu ihr zurückkam. Schließlich hatte er nachgegeben u n d war zu ihr zurückgekehrt, obwohl das seine Ängste eher noch verstärkt hatte. An diesem Nachmittag hatte er von Bertha Abschied genommen. Er hatte den festen Vorsatz gefasst, dass von dem, was i h m ab jetzt zustoßen könnte, nichts in ihrer Nähe geschehen sollte. Er hatte sie nicht an sich gedrückt, sondern nur sanft ihren Körper umarmt, ihr den oft schmerzenden Rücken gestreichelt u n d ihr mitgeteilt, es gebe >ein neues Projekts das seine Mitarbeit fordere. Dazu werde er ein paar Tage fortbleiben müssen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er in M a d r i d m i t David Blanes zusammentreffen würde, weil er wusste, Eagle war ohnehin auf dem Laufenden, u n d seine Frau anzulügen hätte bedeutet, dass Eagle es für nötig befinden könnte, Nachforschungen anzustellen. Selbstverständlich hatte er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt, schließlich hatten Blanes, das übrige Team u n d er selbst in M a d r i d einige folgenschwere Entscheidungen zu treffen. Er wusste jedenfalls, dass es lange dauern würde, bis er seine Frau wieder-
sah - wenn er sie überhaupt je wiedersah -, deshalb hatte er viel Wert auf einen kurzen Abschied gelegt. Dabei ging es i h m in diesem Moment nicht einmal in erster Linie um Bertha. Er fürchtete um sein eigenes Leben, seine Z u kunft. Seine Angst war so groß wie die eines kleinen Kindes am G r u n d eines tiefen Brunnenschachts. In seinem Aktenkoffer, im Gepäckfach über i h m , lag der Ursprung dieser Angst. Er war in einem Northwind-Privatjet m i t einer Geschwindigkeit von fünfhundertzwanzig Kilometern pro Stunde unterwegs in einer zwölf Meter langen Kabine m i t sechs nach nagelneuem Leder und Metall riechenden Sitzplätzen. Die einzigen weiteren Fluggäste hatten i h m gegenüber Platz genommen: die beiden von Eagle geschickten Männer, die ihn in seinem kleinen Büro an der Technischen Universität in Berlin Charlottenburg abgeholt hatten. Denn Silberg bekleidete seit vielen Jahren einen Lehrstuhl in einer Abteilung, deren Name die Grafiker seiner Visitenkarten nötigten, auf dem verfügbaren Platz m i t Buchstaben zu jonglieren: Philosophie, Wissenschaftstheorie, Geschichte der Wissenschaften und der Technik. Die Abteilung war der Philosophischen Fakultät angegliedert, obwohl sie der Erforschung der Wissenschaftsphilosophie galt. Da er nicht nur Philosoph und Historiker war, hatte er in seiner Eigenschaft als theoretischer Physiker auch ein Büro an der Fakultät für Physik. Dort hatte er erst am Vortag die Lektüre jener Unterlagen beendet und bis zum Nachmittag seine Schlussfolgerungen ausgearbeitet, die er jetzt in jenem Aktenkoffer m i t Codeverschluss bei sich trug. Obwohl Silberg das Eintreffen der Männer von Eagle bereits erwartet hatte, heuchelte er Überraschung, als sie kamen. Sie verkündeten, sie hätten den Auftrag, i h m sicheres Geleit nach Mad r i d zu geben. Das bereits erworbene Flugticket brauchte er nicht, er werde in einem Privatjet befördert. Der G r u n d für diesen goldenen Käfig war i h m natürlich bekannt. Carter hatte ihn gewarnt, dass Harrison ihn am Flughafen abfangen u n d versuchen würde, ihm den Aktenkoffer abzunehmen. Silberg war zwar
zuversichtlich, dass Carter diesen anschließend an sich bringen würde, doch auch, wenn dies scheiterte, hatte Silberg Vorkehrungen getroffen, damit seine Schlussfolgerungen in die richtigen Hände gelangten. »Wir beginnen jetzt mit der Landung«, informierte sie der Pilot über Lautsprecher. Silberg kontrollierte den Sicherheitsgurt, tief in Gedanken versunken. Z u m wiederholten M a l sann er darüber nach, w a r u m sie solch eine grausame Strafe erleiden mussten. War es, weil sie das strengste Verbot übertreten hatten, das Gott den Menschen auferlegt hatte? Als Adam aus dem Paradies vertrieben wurde, hatte Gott einen Engel m i t Feuerschwert gesandt, um den Eingang zu bewachen. Ihr könnt nicht hierher zurück: Das Paradies ist für euch verschlossen. U n d doch hatten sie in gewisser Weise versucht, d o r t h i n zurückzukehren, vielmehr einen Blick zurückzuwerfen. War das ihr Vergehen? Die Bilder des Sonnensees u n d von der Frau in Jerusalem (von der er seit zehn Jahren Nacht für Nacht träumte), waren sie die greifbaren Beweise für ihre schwärzeste Sünde? Wurden sie, die >Verdammten<, die Schaulustigen der Geschichte, nun bestraft, ein Exempel an ihnen statuiert? Vielleicht. Dennoch schien i h m die Strafe zu hoch: Er empfand sie als schrecklich ungerecht. Zickzack. Der Engel mit dem Feuerschwert. Wie war das vereinbar, eine Welt vom gütigen Gott geschaffen u n d dieser in i h m lauernde Verdacht? Silberg hatte keine A n t w o r t darauf. Sollte er jedoch Recht behalten und Zickzack war das, was er glaubte, dann war alles noch viel schlimmer, als sie je geahnt hatten. Wenn die Schlussfolgerungen zutrafen, die er in aller Eile nach Durchsicht der Unterlagen getroffen hatte, dann gab es keine Rettung für sie, ganz gleich, was sie unternahmen. Er u n d die anderen >Verdammten< steuerten unweigerlich auf ihr Verderben zu. Und während die N o r t h w i n d im Anflug auf M a d r i d wie ein riesiger weißer Vogel über der Stadt schwebte, flehte Reinhard Silberg zu seinem Gott, dass er sich irren möge.
Das Glück hatte i h m stets gelacht. Victor Lopera hatte die glücklichste Vergangenheit, die man sich wünschen konnte, zwei Geschwister, die er liebte, u n d u n terstützende, zugewandte Eltern. U n d sein ganzes Leben war im Lot: Seine Biografie war weder durch großes Leid noch durch große Freude geprägt, sein Gefühlsleben war nicht exzessiv, aber auch nicht karg; er pflegte nicht allzu viel zu reden, hatte jedoch auch nicht das Bedürfnis danach. O b w o h l von Natur aus kein Rebell, ordnete er sich nicht gern aus freien Stücken unter. Selbst unter einem Tyrannen wäre er vermutlich genau der M a n n geworden, der er war. Er verfügte nämlich über eine enorme A n passungsfähigkeit, genau wie seine hydroponischen Pflanzen. Das einzig Exzentrische in seinem Leben war Ric Valente gewesen. Allerdings hatte es sich um eine für die eigene Charakterbildung notwendige Erfahrung gehandelt - so jedenfalls wollte er seine Bekanntschaft m i t Ric heute sehen. Inzwischen hatte er begriffen, was Elisa i h m einmal nahe gelegt hatte, nämlich dass Ric gar nicht so >diabolisch< war, wie er stets dachte, sondern ein von den Eltern verlassenes u n d von seinem Onkel vernachlässigtes K i n d voller Wissbegier u n d Ehrgeiz, m i t einem enormen Bedürfnis nach Freundschaft u n d Liebe. Immer wenn er über Ric nachdachte, stießen i h m dessen Widersprüche auf: Ric Valente war ein egozentrischer Mensch, doch imstande, Zuneigung zu bezeugen, wie damals nach dem denkwürdigen Streit um Kelly Graham am Ufer des Flusses; stets auf der Jagd nach Lustgewinn, bei näherem Hinsehen nur an einsamer Selbstbefriedigung mithilfe von Zeitschriften, Fotos u n d Filmen interessiert. Ric Valente war in der Erwachsenenwelt eine unbedeutende Randfigur, stellte für ein K i n d dennoch eine große Verlockung dar, eine durchaus lehrreiche Verlockung. Victor war nämlich zu dem Ergebnis gelangt, dass er aus der Freundschaft m i t Valente mehr über das Leben gelernt hatte als aus unzähligen Physikbüchern, ganz zu schweigen von den vielen Lehrern. Für einen wie i h n , der sich vorgenommen hatte zu lernen, wie man der Versuchung widersteht,
war diese Freundschaft m i t dem Möchtegern-Teufel durchaus hilfreich gewesen. Als gelungensten Beweis führte Victor Lopera für sich an, dass er nicht gezögert hatte, aus dem Dunstkreis jenes einsamen, empfindsamen u n d genialen Knaben auszubrechen, sobald er die nötige Reife dafür erlangt hatte. Rückblickend waren die durchlebten gemeinsamen Streifzüge nichts weiter als notwendige Stufen seiner inneren Entwicklung. In der Stunde der Wahrheit hatte er einen eigenen Weg eingeschlagen, während Valente unverhohlen seine Perversionen weitergelebt hatte. Fest stand jedenfalls, dass die A r i t h m e t i k seiner Existenz i m mer zu einem positiven Ergebnis geführt hatte - sogar unter Berücksichtigung der Variablen Ric Valente. Bis zu dieser Nacht. Wenn er sich der Reihe nach alles ins Gedächtnis rief, was er in dieser ungewöhnlichen Nacht erlebt hatte, überkam i h n eine unbändige Lust, laut loszulachen: Die Frau, die er am meisten bewunderte - u n d liebte -, hatte i h m eine unglaubliche Geschichte erzählt; dann hatten i h n Unbekannte m i t Gewalt aus dem Auto gezerrt, in ein Haus auf dem Land gebracht, einer Befragung unterzogen u n d m i t einschüchternden Blicken durchbohrt; u n d jetzt wollte i h m ein hohläugiger, bärtiger u n d verm u t l i c h wahnsinnig gewordener David Blanes Unmögliches weismachen. Das war für seine geistige Arithmetik ein paar N u m mern zu groß. Das Einzige, was er m i t Gewissheit sagen konnte, war, dass er ihnen helfen wollte, insbesondere Elisa, u n d das wollte er so gut wie irgend möglich versuchen. Trotz seiner wachsenden Angst. »Sie haben behauptet, es gäbe noch unmöglichere Dinge«, sagte er. Blanes nickte. »Die Mumifizierungen. Kannst du es bitte erklären, Jacqueline?« »Ein Leichnam kann auf natürliche oder auf künstliche Weise mumifiziert werden«, begann Jacqueline. »Die künstlichen Me-
thoden sind uns allen in erster Linie von den Ägyptern bekannt. Aber die Natur kann genauso mumifizieren. So bewirkt zum Beispiel ein extrem trockenes Klima, etwa in der Wüste, bei guter Luftzirkulation, die rasche Verdunstung der Körperflüssigkeit, so dass die bakterielle Zersetzung der Leiche behindert w i r d . Aber die Mumifizierung der Überreste von Cheryl, Colin und Nadja hatte keine Ähnlichkeit m i t bekannten Vorgängen. Es gab keine Austrocknung, dafür lagen nicht die typischen Umweltbedingungen vor, abgesehen davon, dass nicht genug Zeit vergangen war, damit überhaupt eine Mumifizierung einsetzen konnte. H i n z u k o m m e n weitere Widersprüche: So lässt sich nachweisen, dass die chemische Autolyse eingetreten ist, wie sie durch das Absterben der körpereigenen Zellen bedingt w i r d , nicht dagegen die normalerweise folgende Arbeit von Bakterien. Das völlige Fehlen bakterieller Zersetzung ist ungewöhnlich. Als hätten die Leichen sehr lange Zeit in einem Vakuum gelegen. Was auch die Bestimmung der Post-mortem-Zeit erschwert. >Aseptische idiopathische Mumifizierung< haben sie es genannt.« »Ich weiß, dass sie das so genannt haben«, mischte sich Carter ein. Er lehnte m i t verschränkten A r m e n lauernd an der Wand, als rechnete er jeden M o m e n t damit, zum Kampf herausgefordert zu werden. »Hat jemand eine verdammte Ahnung, was das heißt? Dann heraus damit.« »Idiopathisch bedeutet genau das«, sagte Jacqueline. »Und was?«, fragte Victor. Jetzt ergriff Blanes das Wort. »Es besagt vor allem, dass der angenommene Zeitpunkt der Verbrechen nicht in Einklang zu b r i n gen ist m i t dem Zeitraum, der seit dem Tod vergangen zu sein scheint. Craig u n d Nadja sind innerhalb einer Stunde ermordet worden, aber den Untersuchungen zufolge müssten sie bereits seit Monaten tot gewesen sein. Wohlgemerkt: sie selbst. Weder die herumliegenden Kleidungsfetzen noch die Dinge in ihrer Umgebung wiesen die gleichen Zerfallserscheinungen auf. Noch nicht einmal die Bakterien auf ihrer Haut. Daher konnte es auch nicht zur Zersetzung kommen, wie Jacqueline vorhin erwähnt hat.«
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Dann drehten sich alle Köpfe zu Victor u m , als dieser m i t gerunzelter Stirn sagte: »Das ist unmöglich.« »Das wissen w i r auch, aber es gibt da noch etwas«, erwiderte Blanes. »Eine weitere Gemeinsamkeit sind Stromausfälle. Das heißt, nicht nur von Strom, sondern von Energie im Allgemeinen. Batteriebetriebene Lampen erlöschen, Motoren k o m m e n zum Erliegen ... Der Hilfsgenerator der Station z u m Beispiel konnte genau aus diesem G r a n d nicht in Betrieb genommen werden. U n d dass der Hubschrauber mitten im Anflug auf das Lager abgestürzt und explodiert ist, hatte genau denselben Grund. Der M o t o r ist plötzlich ausgegangen, u n d zwar genau zu demselben Zeitpunkt, als in der Baracke das Licht erlosch. Das war zeitgleich m i t Méndez' Tod. U n d im Vorratskeller, als Ross starb, u n d auch bei Craig u n d Nadja ist der Strom ausgefallen. Manchmal betrifft die Panne ein größeres Gebiet, aber jedes M a l liegt der Tatort im Epizentrum.« »Es könnte an enormen Überspannungen liegen.« Victor Loperas Gehirn hatte zu arbeiten begonnen. Über Leichen wollte er nichts mehr wissen, aber was Stromkreise anging, war er gewissermaßen in seinem Element. »Überspannungen können die gesamte Energie eines Systems absorbieren.« »Auch aus den Batterien von Taschenlampen, die gar nicht an das Stromnetz angeschlossen sind?« »Ich gebe zu, dass das seltsam ist.« »Das ist es in der Tat.« Blanes nickte. »Trotzdem h i l f t es uns, eine Frage zu formulieren. Zickzack u n d die Stromausfälle stehen in irgendeinem Zusammenhang. Es scheint so, als würde Zickzack die Stromausfälle benötigen, um in A k t i o n treten zu können.« »Eher die Dunkelheit«, sagte Jacqueline. »Er erscheint immer i m Dunkeln.« Dieser Satz ließ sie alle aufschrecken. Elisa beobachtete, wie sich sämtliche Blicke am Lichtkegel der Schreibtischlampe festhielten.
Sie war die Erste, die das bange Schweigen brach. »Also gut, Zickzack bewirkt also Stromausfälle, aber das erklärt noch nicht, was für ein Ding . . . « , m i t einer lebhaften Geste strich sie sich das Haar glatt, »... uns seit Jahren quält u n d einen nach dem anderen t ö t e t . . . « »Wie bereits gesagt, w i r d Reinhard uns die Erklärung dafür mitbringen. Eines kann ich euch aber schon verraten: Zickzack ist nichts Übernatürliches, kein Teufel, sondern ein physikalisches Phänomen. Es handelt sich tatsächlich um ein wissenschaftlich nachweisbares Phänomen, das Ric Valente in New Nelson auf irgendeine Weise eigenhändig erzeugt hat.« Alle starrten i h n nach dieser Eröffnung verblüfft an. Doch Blanes fügte etwas noch Seltsameres hinzu: »Möglicherweise ist Valente sogar selber Zickzack.« »Wie bitte?« Erbleichend sah Victor von einem zum anderen. »Aber ... aber Ric ist doch längst t o t . . . « Jetzt baute sich Carter m i t verschränkten Armen vor ihnen auf. »Das ist auch eine Lüge der Eagle Group gewesen. U n d zwar die banalste. Es wurde nie irgendein Beweis dafür gefunden, dass Valente schuldig ist, und erst recht nicht, dass er tot ist. Trotzdem haben sie beschlossen, i h m die Morde auf der Insel in die Schuhe zu schieben, damit niemand auf die Idee k o m m t , unbequeme Fragen zu stellen. Seine Eltern haben einen leeren Sarg begraben.« Elisa war wie vor den Kopf gestoßen. Sie starrte Carter an. »Valentes Aufenthaltsort ist immer noch unbekannt«, fügte dieser hinzu.
Er hörte ein Surren, spürte ein Rumoren im Magen u n d ein sachtes, durch den Sinkflug hervorgerufenes Schwindelgefühl. Der Druckabfall hatte seine Gehörgänge jenseits des Trommelfells verschlossen. Die für die Landung gedämpfte Kabinenbeleuchtung schuf eine goldene, warme Atmosphäre. A l l dies entsprach den nur zu bekannten Wahrnehmungen eines erfahrenen Flugreisenden kurz vor der Landung der Maschine.
Aus dem Lautsprecher ertönte die Ansage: »Wir landen in zehn Minuten.« Sein Gegenüber unterbrach das Gespräch m i t dem Nachbarn u n d schaute aus dem Fenster. Silberg tat dasselbe. Unter i h m lag eine von Lichtern übersäte Finsternis. Er was bereits öfter in Mad r i d gewesen u n d hatte einiges übrig für die kleine Großstadt. M i t der Hand schob er den Ärmel seines Jacketts zurück u n d sah auf die Uhr: Es war Donnerstag, der zwölfte März, halb drei U h r morgens. Er stellte sich vor, was in Kürze geschehen würde: Sobald das Flugzeug zum Stillstand gebracht war, würden die Männer v o n Eagle i h n zum Haus begleiten. Von d o r t würde er gemeinsam mit den Kollegen zum Stützpunkt in die Ägäis gebracht werden oder an sonst einen entlegenen O r t . Sie mussten m i t Carter einen Fluchtplan schmieden. N u r wenn es ihnen gelang, sich dem Griff von Eagle zu entwinden, würden sie eine Methode entwickeln können, um der wahren Bedrohung zu begegnen. Was für eine Methode das sein könnte? Silberg hatte keine A h nung. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter den Füßen rüttelte das Landungsmanöver am Flugzeug. Einer der Männer beugte sich zu i h m hinüber. »Professor, wissen Sie,welche ...?« Das war das Letzte, was er vernahm. M i t t e n in der Frage erloschen die Lichter. »Hören Sie?«, sagte Silberg u n d vernahm seine eigene Stimme. Er bekam keine A n t w o r t . Auch das Brummen der starken Motoren der N o r t h w i n d war für i h n nicht mehr zu hören. U n d das typische Schwindelgefühl einer Landung war nicht mehr zu spüren. Er glaubte einen M o m e n t , er sei gestorben. Oder er habe einen Schlaganfall erlitten u n d i h m bliebe nur noch ein Rest seines Bewusstseins, der sich allmählich in Dunkelheit auflöste. Aber eben hatte er doch noch die eigene Stimme gehört. Außerdem - so stellte er fest - war er imstande, die Armlehnen seines Sitzes zu ertasten, auch den Sicherheitsgurt, der ihn festhielt, und er vermochte in der Dunkelheit undeutlich die Umrisse der Ka-
bine auszumachen. Dennoch war alles um ihn herum verstummt u n d erstarrt. Wie war das möglich? Die Männer von Eagle befanden sich doch kaum drei Schritte von i h m entfernt. Er erinnerte sich an Einzelheiten: Der Rechte war größer, m i t markanteren Gesichtszügen u n d m i t Koteletten bis auf die halbe Wangenhöhe; der Linke war b l o n d , stämmig, blauäugig, m i t einer auffälligen Oberlippenspalte. In diesem M o m e n t hätte Silberg alles darum gegeben, sie wiederzusehen oder wenigstens hören zu können. Aber die schwarze Masse vor i h m war einfach zu dicht. Oder auch nicht. Er schaute sich u m . Einige Meter rechts von i h m , von dort, wo die Kabinenwand sein musste, kam ein schwaches Licht. Er hatte es zuvor nicht wahrgenommen und betrachtete es eingehend. Er fragte sich, was das w o h l sein mochte. Ein Loch im Rumpf? Eine stumme, diffuse Helligkeit. Gottes Geist, der über den Wassern schwebt. Das Nichts. Philosophen und Theologen hatten im Laufe der Jahrhunderte um ein Verständnis dessen gerungen, was seine Augen in diesem Moment auf einen Blick erfassten. Gebannt den biblischen Geschichten lauschend, hatte er als K i n d gerätselt, wie es w o h l sein mochte, ein Wunder zu erleben: Das Meer teilt sich, die Sonne erstarrt, die Mauern stürzen beim Klang der Trompeten ein, der Tote steht auf, u n d der See glättet sich mitten im Sturm wie ein Laken unter sachkundigen Händen. Was mochten jene empfunden haben, die Zeugen wurden? Du weißt, wie es sich anfühlt. Nur kommt das Wunder diesmal nicht von Gott. M i t einem Mal wusste er, was die Helligkeit zu bedeuten hatte, genauso wie alles andere, was ihn umgab. Zickzack. Der Engel mit dem Feuerschwert. Er hatte es von Anfang an gewusst, aber er hatte sich m i t aller Macht gegen diese Erkenntnis gesträubt. Sie war einfach zu grauenhaft. Aber es war eine Tatsache. Sogar im Flugzeug. Er tastete m i t der Linken über seine Hüfte u n d die Schnalle
des Sicherheitsgurts, vermochte i h n jedoch nicht zu öffnen. Die beiden Teile schienen gleichsam miteinander verschmolzen. Verzweifelt warf er sich nach v o r n , so dass i h m bei dem Ruck der Riemen ins offenbar nackte Fleisch schnitt u n d er vor Schmerz aufheulte. Der Verschluss ließ sich partout nicht öffnen. Er war also an seinen Sitz gefesselt. Doch das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war das Gefühl, dass er nicht allein war. In der ewigen Stille dieser Nacht überraschte i h n dieser Eindruck. U n d es war mehr als eine Empfindung, es war die Gewissheit, dass jemand oder etwas im Hintergrund der Kabine lauerte, hinter i h m , dort, wo sich die letzte Sitzreihe befand u n d die Toilette. Er versuchte, über die Schulter zu blicken, konnte aber den Kopf nicht weit genug drehen. Lehne und Dunkelheit hinderten i h n daran, etwas zu sehen. Gleichzeitig wusste er nur zu gut, dass diese Präsenz durchaus real war. U n d näher kam. Über den Mittelgang auf ihn zukam. Zickzack.
Der Engel mit...
Plötzlich verlor er die bis zu diesem Zeitpunkt standhaft aufrechterhaltene Beherrschung. Panik erfasste i h n . Nichts, weder die Erinnerung an Bertha noch sein umfassendes Bücherwissen, seine fundierte Bildung oder sein mäßiger M u t halfen i h m , diesen Augenblick abgrundtiefen Entsetzens zu überstehen. Er begann, am ganzen Leib zu zittern. Er brach in Tränen aus, w i m merte. Er wand sich wie ein Besessener unter dem Sicherheitsgurt. Er glaubte den Verstand zu verlieren, aber das geschah nicht. Da meinte er zu verstehen, dass das Gehirn dem Wahnsinn nicht so rasch erliegt wie der Furcht. Es war einfacher, eine Gliedmaße abzuschneiden, die Eingeweide zu verstümmeln, das pochende Fleisch zu zerteilen, als einem gesunden Geist den Verstand zu rauben. Diese Erkenntnis brachte ihn zu dem Schluss und zu der Vorahnung, dass er verdammt war, bis zum Ende bei Sinnen zu bleiben. Aber das war ein I r r t u m .
Er wusste es im nächsten Augenblick. Denn es gab durchaus Dinge, die einem gesunden Geist den Verstand rauben können.
Die Nacht w i r k t e durchlässig. Wie hauchfeine schwarze, m i t winzigen Lichtern gesprenkelte Gaze. Die spitze Schnauze der N o r t h w i n d zerschnitt sie wie ein Messer aus Eis. Das Hauptgewicht lastete auf den hydraulischen Stoßdämpfern, während die Bremsen die immense Schubkraft m i t ohrenbetäubendem Lärm drosselten. Harrison wartete nicht, bis die Motoren stillstanden. Er ließ den Flughafenangestellten stehen u n d deutete m i t dem Kopf auf den Kleinbus am Ausgang des Terminals N u m m e r drei. Wortlos stiegen seine einsatzbereiten Männer ein, der letzte schob die Tür zu, u n d der Wagen glitt ohne Hast über das Rollfeld dem Flugzeug entgegen. Um diese frühe Morgenstunde gab es fast keinen Flugbetrieb, so dass er nicht m i t unvermuteten Störungen rechnen musste. Harrison hatte gerade die Nachricht des Piloten erhalten: Der Flug war ohne Zwischenfälle verlaufen. Der erste Teil seines Auftrags, die Wissenschaftler zu versammeln, war erledigt, so dachte er. Er wandte sich an den Vertrauensmann neben sich. »Ich w i l l weder Waffen noch Gewalt. Wenn er den Aktenkoffer nicht sofort rausrückt, dann lassen w i r ihn i h m . W i r haben noch im Haus Gelegenheit dazu. Das Wichtigste ist, jetzt sein Vertrauen zu gewinnen.« Der Kleinbus hielt, die Männer stiegen aus. Der W i n d drückte den Rasen in der Umgebung der Piste nieder und zerwühlte Harrisons Haare. Die Gangway stand schon bereit, aber die Kabinentür wollte sich nicht öffnen. Worauf warten sie noch? »Die Fenster ...« Sein Vertrauensmann deutete darauf. Einen Augenblick lang verstand Harrison nicht, was er damit sagen wollte. Dann betrachtete er das Flugzeug u n d sah es. Bis auf die Scheibe des Cockpits wirkten alle fünf Fenster an
der Flanke der luxuriösen N o r t h w i n d wie abgedunkelt. Er hatte nicht gewusst, dass das Modell über getönte Scheiben verfügte. Was taten die Passagiere hinter den schwarzen Scheiben? Dann leuchteten die Fenster m i t einem M a l so sanft auf wie Straßenlaternen in der Dämmerung. Das Licht setzte sich von einem Bullauge zum nächsten fort: Zweifellos ging jemand m i t einer Taschenlampe durch die Kabine. Doch das Auffälligste war die Farbe des Lichts. Rot. Eine schmutzige, ungleichmäßige Tönung. Oder eher fleckig, wie von einer Schicht, die die Scheiben von innen überzog. Tief in seinen Eingeweiden begann es zu rumoren. Harrison blieb wie angewurzelt an seinem Platz. Für einen Moment war i h m , als stünde die Zeit still. » D r i n g t . . . in dieses Flugzeug ein«, sagte er dann, aber niemand schien i h n zu hören. Er holte tief Luft u n d wappnete sich, wie ein General, der vor der unausweichlichen Niederlage das W o r t an seine geschundene Truppe richtet: »Dringt in das verdammte Flugzeug ein!« Sein Gebrüll traf auf eine Welt, die vollkommen gelähmt zu sein schien.
27
»Sergio Marini steckte dahinter. Er kannte die Risiken genauso gut wie ich, aber er war...«, Blanes suchte nach dem passenden Wort. »... vielleicht einfach neugieriger. Ich glaube, Elisa, ich habe dir einmal erzählt, dass die Eagle Group uns dazu bringen wollte, Experimente m i t der nahe zurückliegenden Vergangenheit zu machen. Ich habe das abgelehnt. Sergio war in diesem Punkt stets anderer Meinung, und als er merkte, dass er mich nicht überreden konnte, hat er so getan, als würde er es aufgeben. Da das ganze Projekt ohne mich vermutlich nicht zustande gekommen wäre, musste er m i r etwas vormachen. Hinter meinem Rücken hat er sich m i t dem jungen, genialen Physiker Colin kurzgeschlossen. Der hatte bereits SUSAN konzipiert u n d wollte hoch hinaus. >Das ist unsere Chance, Colin<, w i r d M a r i n i zu i h m gesagt haben. U n d so begannen sie, sich Gedanken zu machen, wie sie es anstellen könnten, dass ich nichts merke. Sie hatten einen grandiosen Einfall: Warum nicht einen der Studenten benutzen? Sie entschieden sich für Ric Valente. Colin kannte ihn aus Oxford. Er war ein brillanter Student und ehrgeizig, daher bot er sich dafür regelrecht an. Zunächst haben sie nicht allzu viel von i h m verlangt: nur dass er sich m i t der Handhabung des Beschleunigers und der Computer vertraut machte. Später gaben sie i h m genauere Anweisungen. Er hat fast jede Nacht geübt. Carter u n d seine Männer wussten Bescheid und haben alles gedeckt.«
»Die Geräusche auf dem Gang . . . « , flüsterte Elisa. »Und der Schatten ...« »Das war Ric. U n d er tat sogar noch etwas, m i t dem M a r i n i u n d Colin gar nicht gerechnet hatten: Er bandelte m i t Rosalyn Reiter an, damit w i r alle denken sollten, er wäre zu seinem oder ihrem Zimmer unterwegs, wenn w i r i h n nachts in den Gängen der Baracken erwischten.« In Gedanken war Elisa wieder in ihrem Zimmer auf New Nelson: Sie hörte die Schritte u n d sah den Schatten am Sichtfenster der Tür vorbeihuschen. Auch Ric Valente war wieder da samt dem verächtlichen Grinsen, m i t dem er sie stets gemustert hatte. Was ihnen Blanes da beschrieb, passte perfekt zu Ric, wie sie i h n kannte, zu seinem Ehrgeiz u n d seinem Bestreben, sich hervorzutun, auch über Blanes Kopf hinweg. Wie typisch für i h n , auch dass er Rosalyns Gefühle ausgenutzt hatte. Aber was genau hatte er während seiner nächtlichen Versuche angestellt? Wie waren diese Träume u n d Visionen zustande gekommen? A u f welche Weise hatte Ric ihrer aller Leben durcheinander gebracht? Jacqueline schien ihre Gedanken zu erraten. Sie hob den Kopf u n d fragte: »Aber was hat Ric denn gemacht, dass so etwas passieren konnte?« »Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Blanes. »Wir können das noch nicht m i t letzter Gewissheit sagen, doch ich kann euch i m merhin erzählen, was nach Reinhards und meiner Vorstellung in der Nacht auf Samstag, den ersten Oktober 2005, passiert ist. In jener Nacht, als Rosalyn starb u n d Ric verschwand.« Wieder saßen sie alle um den Tisch herum, auf den die biegbare Schreibtischlampe eine Insel aus Licht warf. Sie waren t o d müde und hungrig, denn in den letzten Stunden hatten sie nichts als Wasser zu sich genommen. Elisa verschwendete jedoch keinen Gedanken daran, zu begierig war sie zu hören, was Blanes ihnen mitzuteilen hatte. Ihrer aller Adrenalinspiegel musste i n zwischen erheblich gestiegen sein, auch der des armen Victor. Die ganze Zeit über kam u n d ging Carter, nahm Anrufe entgegen und verschickte Nachrichten. Er hatte Victor um seinen Per-
sonalausweis gebeten u n d i h m erklärt, er würde einen gefälschten Pass benötigen, wenn er m i t k o m m e n wolle. Gerade sprach er draußen m i t jemandem. Elisa konnte nichts verstehen. »Ihr werdet euch vermutlich erinnern«, begann Blanes, »dass w i r an besagtem Abend wegen des Gewitters keine Elektrogeräte benutzen durften. Niemand sollte den K o n t r o l l r a u m betreten oder die Computer einschalten. Ich kann m i r gut vorstellen, dass Ric dachte, dies sei die beste Gelegenheit, um ungestört auf eigene Faust herumzuexperimentieren. Nicht einmal M a r i n i und Craig waren eingeweiht. Er ist aufgestanden u n d hat m i t seiner Decke und dem Rucksack das Bett so zurechtgemacht, als würde er noch darin liegen. Nur eins hat er nicht bedacht, besser gesagt zweierlei. Erstens glauben w i r - es gibt dafür allerdings keine konkreten Beweise -, dass Rosalyn mitten in der Nacht in sein Zimmer gekommen ist, um m i t i h m zu reden: Der geheuchelten Liebelei überdrüssig, hatte er sie seit einigen Tagen links liegen lassen, und das brachte sie schier zur Verzweiflung. Als sie versuchte, ihn zu wecken, entdeckte sie die Maskerade, wurde stutzig u n d hat die ganze Station nach i h m abgesucht. Möglicherweise sind sie sich im Kontrollzentrum begegnet, oder sie kam erst d o r t h i n , als er bereits verschwunden war. Wie auch immer, jedenfalls passierte dort die zweite Sache - die w i r ebenfalls noch überprüfen müssen -, nämlich das, was Ric bewusst getan hat: der Fehler ... Vielleicht war es auch Rosalyn, aber das bezweifle ich, schließlich war sie die Leidtragende. Was danach kam, entzieht sich unserer Kenntnis, w i r können nur mutmaßen, dass Zickzack erschienen ist und Rosalyn umgebracht hat, und Ric ist verschwunden.« Blanes fuhr erst nach einer kurzen Pause fort: »Anschließend haben M a r i n i u n d Craig alle Spuren verwischt, die auf eine Benutzung des Beschleunigers hindeuteten, damit niemand Verdacht schöpfte, oder aber jeder Beweis ging durch den Stromausfall verloren, das wissen w i r nicht genau. Tatsache ist, dass M a r i n i geheime Kopien von Ries Experimenten hatte, die dieser in seinem Auftrag durchführte. Nicht einmal die von Eagle wussten von deren Existenz. Die Spezialisten haben uns
unter Drogen befragt, aber Carter hat m i r bestätigt, dass Drogen einen nur dazu bringen, etwas auszuplaudern, was man direkt gefragt w i r d . Die Existenz dieser Dateien war ihnen jedoch schlichtweg entgangen. Sergio hat sie vermutlich aufbewahrt, weil i h m langsam dämmerte, dass die Ereignisse etwas m i t Ries Experimenten zu t u n haben könnten, obwohl er sich bis zu Colins Tod nicht sicher gewesen sein durfte. Jedenfalls ist er als Erster darauf gekommen, was beweist, dass er die Sache intensiv verfolgt hat. U n d wisst ihr noch, wie nervös er auf dem Stützpunkt war u n d von den Eagle-Leuten gefordert hat, dass w i r geschützt werden müssten?« »Dieser Hurensohn«, sagte Jacqueline. Sie atmete heftig, w o durch unter dem Top ihre Brüste u n d der nackte Bauch in Wallung gerieten. Sie keuchte vor Wut: »Dieser ...« »Ich will ihn nicht in Schutz nehmen«, murmelte Blanes i n das angespannte Schweigen, »aber vermutlich hat Sergio mehr gelitten als viele von uns, weil er zu wissen glaubte, wie alles angefangen hat.« »Untersteh dich, ihn zu bemitleiden«, sagte Jacqueline eisig m i t gebrochener Stimme. »Wage es nicht, David!« Der Physiker bedachte Jacqueline m i t seinem typischen Schlafzimmerblick. »Wenn das Erscheinen von Zickzack Folge eines menschlichen Irrtums ist, Jacqueline«, begann er langsam, »dann verdienen w i r alle M i t l e i d . Jedenfalls hatte Sergio die Dateien auf einem USB-Datenträger in seinem Haus in Mailand versteckt. Die letzten drei Jahre hat Carter vermutet, dass diese Daten vorhanden sein müssten, u n d hat mehrmals Leute zu Mar i n i geschickt, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Aber sie haben nie etwas gefunden. Carter hatte nicht den M u t , es noch einmal zu versuchen, weil das Risiko bestand, dass Eagle i h m hinter sein Doppelspiel kam. Als gestern Marinis Ermordung bekannt wurde, nutzte er jedoch die Gunst der Stunde und stellte m i t einem Team eigener Leute Nachforschungen an. Er hat den Datenträger im doppelten Boden eines dieser magischen Zauberkästen gefunden, die M a r i n i so liebte, und die Dateien an
Reinhard geschickt. Da ich nach M a d r i d fahren u n d diese Versammlung vorbereiten musste wie vereinbart, hat Silberg als Einziger die Daten studiert, u n d zwar die ganze letzte Nacht u n d den heutigen Tag über. Er ist m i t den Ergebnissen auf dem Weg zu uns. Deshalb ist es so wichtig, dass w i r auf sie zugreifen können.« »Aber Harrison weiß doch längst Bescheid«, wandte Elisa ein. »Er musste eingeweiht werden, damit er keinen Verdacht schöpft. Carter selbst hat es i h m gesagt, allerdings hat er M a r i n i vorgeschoben u n d behauptet, dieser hätte uns die Dokumente in seiner Angst zukommen lassen. Er weiß, dass Harrison die Dateien beschlagnahmen w i r d , aber er w i r d sie später an sich zu bringen suchen.« »Und dann?« »Dann hauen w i r ab. Carter hat einen Fluchtplan entworfen: Zuerst werden w i r nach Zürich fahren, u n d w o h i n es von dort aus geht, das weiß nur er. W i r werden so lange untergetaucht bleiben, bis w i r einen Weg gefunden haben ... um das Problem m i t Zickzack zu lösen.« Bei diesen Worten presste Elisa die Lippen aufeinander. Problem, allerdings, und was für eins! Sieh uns doch nur an. Schau, wie wir aussehen, schau, wozu wir geworden sind, Jacqueline und ich: Zu feigen Ratten, die sich zitternd herausputzen in der Hoffnung, dass das Problem sie auch in dieser Nacht mit dem Leben davonkommen lässt. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Blanes, Silberg u n d Carter in Angst und Schrecken leben mochten, aber keine Ahnung davon hatten, welchen Demütigungen die beiden Frauen tagtäglich ausgesetzt waren. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf u n d sprach so vehement wie immer, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte. »Nein, Dav i d . W i r können nicht fliehen, das weißt d u . W i r müssen zurück, u n d zwar dorthin.« Es war, als hätte sie m i t Marionetten am Tisch gesessen, in die jetzt wieder Leben kam: Köpfe, Arme, Körper rührten sich wie an Schnüren gezogen. Sie fügte hinzu: »Zurück nach New Nelson. Das ist unsere einzige Chance. Wenn Ric
das Ganze dort auf den Plan gerufen hat, dann können w i r nur da ... Wie hast du es genannt? Das Problem lösen.« »Auf die Insel zurück?«, Blanes runzelte die Stirn. »Nein!« Jacqueline Clissot sagte nur dieses eine Wort, immer wieder u n d immer lauter, bis sie es schrie. Dann sprang sie auf. Ihre Größe war beachtlich, u n d die schwarzen Stöckelschuhe taten das ihre dazu. Die geschminkten Augen funkelten vor Schmerz im Dämmerlicht des Zimmers. »Niemals wieder setze ich einen Fuß auf die Insel! Nie! Was fällt dir ein!« »Und was schlägst du sonst vor?«, fragte Elisa beinahe flehend. »Wir tauchen unter! W i r hauen ab u n d tauchen irgendwo u n ter!« »Und warten, bis Zickzack sich den Nächsten herausgreift?« »Nichts und niemand bringt mich zurück auf diese Insel, Elisa!« Jacquelines weiß gepudertes Gesicht unter der zurückgekämmten zinnoberroten Mähne u n d ihr Tonfall w i r k t e n bedrohlich. »Dort bin ich zu dem geworden, was ich jetzt bin! Dort!«, knurrte sie. »Dort ist das in mein Leben getreten! Ich gehe nicht d o r t h i n zurück! Ich gehe nicht zurück ... auch nicht, wenn er es verlangt ...« Sie hielt jäh inne, als sei ihr plötzlich bewusst geworden, was sie sagte. »Jacqueline . . . « , flüsterte Blanes. »Ich b i n kein Mensch mehr!« M i t einer schrecklichen G r i masse riss sich die Paläontologin an den eigenen Haaren. »Ich lebe ja nicht mehr! Ich b i n krank! Verseucht! Dort habe ich mich angesteckt! Nichts kann mich bewegen, dahin zurückzugehen! Nichts!« Sie krümmte die Finger wie Klauen, als müsste sie sich gegen einen A n g r i f f zur Wehr setzen. Ihre tief sitzende Hose spannte um die Hüften. Der Anblick war aufreizend u n d deprimierend zugleich. Bei Jacquelines Geschrei kochte etwas in Elisa hoch, ein lange unterdrücktes Gefühl. Sie erhob sich u n d baute sich vor Jacqueline auf. »Weißt du was, Jacqueline? Ich habe es satt, dich reden zu hören, als wärst du das einzige Opfer! Die Jahre waren schwer für
dich? W i l l k o m m e n im Club, kann ich da nur sagen! Du hattest einen Beruf, M a n n u n d Kind? Dann hör mal, was ich hatte: meine Jugend, meine Träume als Studentin, meine Z u k u n f t , mein ganzes Leben ... Du hast deine Selbstachtung verloren? Ich habe meine geistige Gesundheit verloren, meinen klaren M e n schenverstand. Ich lebe immer noch auf der Insel, jede Nacht.« Ihre Augen füllten sich m i t Tränen. »Sogar jetzt, sogar heute Nacht, stehe ich trotz allem, was ich inzwischen weiß, unter dem Druck, mich wie eine Hure angezogen in mein Schlafzimmer zu setzen, um seine ekelerregenden Wünsche zu erfüllen und krank vor Entsetzen zu spüren, wie er sich nähert. M i c h dafür zu verachten, dass ich unfähig b i n , mich zu widersetzen. Ich schwöre dir, dass ich die Insel nur zu gern ein für alle M a l hinter m i r lassen würde, Jacqueline. Aber wenn w i r nicht d o r t h i n zurückkehren, werden w i r nie von ihr loskommen. Verstehst du das?«, fragte sie schon milder, schrie dann aber unvermutet heftig: »Verflucht, verstehst du endlich, was ich meine, Jacqueline?« »Jacqueline, Elisa . . . « , mahnte Blanes. »Wir sollten n i c h t . . . « Sein Beschwichtigungsversuch wurde unterbrochen, als jemand die Tür aufriss. »Er hat Silberg erbeutet.« Als Elisa wieder klar denken konnte, kam ihr in den Sinn, dass Carter keine bessere Formulierung hätte finden können. Zickzack erbeutet uns, in der Tat. Wir sind seine Beute. »Es ist während des Fluges passiert. Einer meiner Männer hat gerade angerufen. Es muss eine Sache von Sekunden gewesen sein, kurz vor der Landung. Die Piloten hatten noch m i t den Leibwächtern gesprochen, alles sei in Ordnung. Nach der Landung haben sie dann festgestellt, dass die Lichter in der Fahrgastkabine nicht funktionierten, u n d sind mit Taschenlampen nachsehen gegangen. Die Leibwächter lagen wie von Sinnen in einer riesigen Blutlache auf dem Boden, u n d Fetzen von Silberg waren über alle Sitze verteilt. Mein Kontaktmann war nicht selbst dort, aber er hat die anderen sagen hören, es sei das reinste Schlachtfeld.«
»Mein Gott, Reinhard.« Blanes, den die Nachricht hatte aufspringen lassen, sank bleischwer in seinen Sessel. Jacquelines Schluchzen durchbrach das Schweigen, sie w i m merte schwach, fast wie ein K i n d . Elisa schloss sie fest in die Arme u n d flüsterte ihr die wenigen Trostworte zu, die ihr noch einfielen. Sie selbst spürte Victors beruhigende H a n d auf ihrer Lederjacke. Ihr war, als hätte sie sich nie jemandem enger verbunden gefühlt als in diesem Augenblick. Wer nie solche Angst ausgestanden hat, weiß nicht, was eine Umarmung bedeutet, auch nicht eine aus Liebe. »Die gute Nachricht ist, dass Silberg die Dokumente an die sichere E-Mail-Adresse geschickt hat, die ich i h m für Notfälle angegeben hatte.« Carter blieb unablässig in Bewegung und nahm hier u n d dort etwas aus den Regalen. Seit er in das Zimmer gekommen war, hatten seine Hände keine Sekunde geruht. »Bevor w i r gehen, kopiere ich sie auf einen Datenträger, so dass w i r stets Z u g r i f f darauf haben.« Er hielt inne u n d sah sie an. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich für meinen Teil würde hier lieber früher als später abhauen. Danach ist noch genug Zeit, um Rotz u n d Wasser zu heulen.« »Wie sieht der Plan aus?«, fragte Blanes tonlos. »Es ist fast drei U h r morgens. W i r müssen warten, bis H a r r i son den Flughafen verlässt. Mein Kontaktmann gibt m i r Bescheid. Das w i r d in etwa zwei bis drei Stunden sein. Er muss das Flugzeug versiegeln, in einem Hangar parken und es unter den Befehl des Militärs stellen, dann erst kann er gehen. Schließlich hat er kein Interesse daran, auf einem öffentlichen Flughafen Aufsehen zu erregen.« »Wieso müssen w i r warten, bis er dort loskommt?« »Weil w i r auch zum Flughafen fahren wollen, Professor«, entgegnete Carter grinsend. »Wir nehmen einen Linienflug, und ich w i l l vermeiden, dass der Alte uns an Bord gehen sieht, okay? A u ßerdem würde ich gerne noch einmal die versteckten Kameras anschalten, während Sie hier am Tisch sitzen, damit er nicht Lunte riecht. Sobald er losfährt, brechen w i r auf. Ein paar Männer hier
sind nicht auf unserer Seite, aber es dürfte nicht weiter schwierig sein, sie in ein Zimmer zu sperren u n d ihnen die Handys abzuknöpfen. D a m i t gewinnen w i r ein wenig Zeit. W i r nehmen den Lufthansa-Flug nach Zürich morgen früh um sieben Uhr. In Zürich habe ich Freunde, die uns an einen sicheren O r t bringen u n d verstecken können. D o r t sehen w i r dann weiter.« Elisa hielt noch immer Jacqueline umschlungen. Plötzlich begann sie leise, aber bestimmt auf sie einzureden. »Wir werden ihm das Handwerk legen, Jacqueline. W i r werden diesen ... diesen Hurensohn fertig machen, wer auch immer er sein mag ... Ein für alle M a l . Aber w i r können es nur dort tun ... einverstanden?« Jacqueline Clissot sah sie an u n d nickte. Elisa wiederum gab den Blick weiter an Blanes. Der schien erst zu zögern, dann fragte er: »Carter, in was für einem Zustand ist New Nelson?« »Die Station? In einem sehr viel besseren Zustand, als Eagle Ihnen weismachen w i l l . Durch die Explosion sind keine großen Schäden an den Apparaten entstanden, außerdem haben ein paar Techniker vor ein paar Jahren den Beschleuniger wieder in Stand gesetzt und die Maschinen gewartet.« »Glauben Sie, dass w i r dort untertauchen könnten?« Carter musterte i h n fragend. »Ich dachte, Sie wollten so weit wie möglich von dem O r t des Schreckens weg, Professor. Ist I h nen inzwischen etwas eingefallen, wie man dem bösen Zauber ein Ende machen kann?« »Möglich«, sagte Blanes. »Ich sehe da kein Problem. W i r können zuerst nach Zürich u n d von dort auf die Insel.« »Wird sie bewacht?« »Das w i l l ich meinen: Von vier bis an die Zähne bewaffneten Küstenpatrouillen u n d einem A t o m - U - B o o t , alles unter dem Befehl eines Hauptmanns.« »Und wer ist dieser Hauptmann?« Dieses eine M a l gestattete sich Carter ein breites Grinsen.
Ein Unglück k o m m t selten allein - diese unfehlbare Wahrheit lehrt uns das Leben. M a n muss kein Nobelpreisträger sein, um das zu wissen. Es geht dir gut, bis dich deine Gesundheit eines Tages im Stich lässt, egal, wie gut du etwas planst, alle Eventualitäten wirst du nie berücksichtigen können; du überlegst im Voraus, wie die nächsten vier Stunden ablaufen werden, u n d kaum fünf Minuten später musst du alles über den Haufen werfen. Ein Unglück k o m m t eben selten allein. Trotz der dreißig Jahre Erfahrung war Harrison nicht vor Überraschungen gefeit. Er konnte sogar noch staunen, genauer gesagt: sich grausen. O b w o h l er im Leben schon so einiges zu Gesicht bekommen hatte, wusste er, dass bestimmte Ereignisse grenzwertig waren. Es gab ein Davor und ein Danach. > Als würde man sehen, wie der Schnee nach oben fällt<, pflegte sein Vater so etwas zu nennen. Das war sein ureigener Ausdruck für solche Situationen. >Sehen, wie der Schnee nach oben fällt< hieß: etwas sehen, was dich für immer verändert. Das Innere der Northwind zum Beispiel. Harrison ging der Ausspruch seines Vaters durch den Kopf, als er, in seinen schützenden Mantel gehüllt, umgeben von der gepanzerten Karosserie seines Mercedes, m i t Vollgas zu Blanes u n d dem Haus unterwegs war. Der Anblick einiger Dinge war mehr als grenzwertig. »Er antwortet nicht, Chef.« Sein Vertrauensmann saß neben i h m . Harrison musterte i h n aus dem Augenwinkel: ein junger Kerl, gepflegtes schwarzes L i p penbärtchen und blaue Augen, Familienvater, pflichtbewusst, ein waschechter Angelsachse. Die Sorte Mann, dem man sagen oder befehlen konnte, wozu man Lust hatte, ohne dass er je etwas angezweifelt oder unbequeme Fragen gestellt hätte. U n d genau aus diesem G r u n d musste Harrison ihn schonen, i h m sozusagen seine jungfräuliche Unwissenheit erhalten. Ja, vielleicht war jungfräulich w i r k l i c h das richtige Wort. Er musste i h n von den gefährlichen Dingen fern halten. Denn Harrison war intelligent genug, um eines zu wissen: Du kannst dir erlauben, verrückt zu
werden, aber erlaube niemals, dass deine rechte Hand verrückt wird. »Soll ich es noch einmal versuchen, Chef?« »Wie oft hast du angerufen?« »Dreimal. Das ist sehr ungewöhnlich, Chef. U n d der M o n i t o r zeigt immer noch die Störungsmeldung.« Deshalb hatte er i h m nicht gestattet, das Flugzeug zu betreten. Und das war richtig gewesen. Möge für alle Zeiten ein rotes Tuch derlei Dinge vor deinen Augen verbergen, mein Junge. Mögest du nie den Schnee nach oben fallen sehen. Von den drei Geheimagenten, die m i t i h m in die N o r t h w i n d eingedrungen waren, hatte man anschließend zwei ins Krankenhaus einliefern müssen, samt dem Piloten u n d den Leibwächtern. Der dritte befand sich in relativ gutem Zustand, musste allerdings sediert werden. Und was ihn anging, so hatte er es weggesteckt wie den Anblick von Marinis Überresten in Mailand. Eine Routineangelegenheit: Er war regelmäßig in der Vorhölle zu Gast. »Ruf Max an.« »Das habe ich schon getan, Chef, der n i m m t auch nicht ab.« Die Morgendämmerung vergoldete die baumbestandenen Hänge. Im Madrider Umland kündigte sich ein schöner Tag an, aber Harrison war das egal. Nach den langen Stunden der A n spannung am Flughafen fühlte er sich wie erschlagen. Dennoch würde er sich keine Ruhepause gönnen. Nicht ehe er für sich beschlossen hatte, was mit den übrigen Wissenschaftlern geschehen sollte, m i t diesen Schreckensgestalten - u n d dazu zählte ohne Zweifel Elisa Robledo -, die für Dinge verantwortlich waren, wie er sie gerade in der N o r t h w i n d zu Gesicht bekommen hatte. Er schaute aus dem Seitenfenster und sah in entgegengesetzter Richtung einen Kleinbus vorüberrauschen, so dunkel und rasend wie seine Gedanken. »Wir haben Empfang, Chef, und ich probiere es auf sämtlichen Kanälen, a b e r . . . « Harrison zwinkerte. Zu dieser Stunde waren i h m fast alle Ideen
ausgegangen, doch die wenigen, die i h m verblieben waren, halfen i h m zu einer A r t Schlussfolgerung. Carter antwortet nicht und Max auch nicht. Ein Unglück kommt selten allein. Die Wissenschaftler wussten Sachen, die sie gar nicht wissen durften. So hatten sie zum Beispiel in Erfahrung gebracht, dass M a r i n i , Craig u n d Valente zusammen an Experimenten für die Eagle Group gearbeitet hatten. Carter hatte i h m erzählt, M a r i n i habe nach den entsetzlichen Mordfällen Angst bekommen u n d Blanes in einem Gespräch unter vier Augen in Zürich alles gestanden. Harrison lagen Beweise für diese Unterredung vor. Die hatte i h m Carter beschafft. Paul Carter. Ein tadelloser Typ. Der geborene Krieger, ein Bollwerk aus Muskeln u n d H i r n , ein zum Söldner umgeschulter ExMilitär: die beste Maschine, die es gab. Harrison kannte i h n seit über zehn Jahren u n d glaubte, alles über ihn zu wissen, was ein Mann über einen anderen wissen muss, um i h m neunundneunzigprozentig zu vertrauen. Carter war kampferprobt, hatte im Sudan, in Afghanistan und in Haiti selbst Kämpfer trainiert und trat dort in den Dienst, wo das Geld stimmte. A u f seine, H a r r i sons Empfehlung h i n hatte Eagle i h n für ein horrendes Gehalt als militärischen Koordinator des Einstein-Projekts eingestellt. Soweit Harrison wusste, gab es für Carter nur eine Regel, einen einzigen ethischen Kodex: seine eigene Sicherheit u n d die seiner Männer. Das machte ihn gewissermaßen berechenbar ... Seine eigene Sicherheit und die seiner Männer. Harrison wand sich unbehaglich auf dem komfortablen Lederpolster. »Ich verstehe das nicht, Chef. Max hat doch gesagt, er würde m i t Carter im Haus bleiben u n d ...« Da ging Harrison plötzlich ein Licht auf. Der Kleinbus. »Dave«, sagte er, ohne die Stimme zu heben, in die Gegensprechanlage zum Fahrer. »Dave, dreh um.« »Wie bitte, Chef?« »Umdrehen. Zurück zum Flughafen.«
Intelligenzflucht. Bezeichnete man so nicht die bedauerliche Situation der Wissenschaft in Ländern wie dem seinen? Victor versuchte, sich mit solch einfachen Wortspielen die Zeit zu vertreiben. Wie Steuerflucht. Drei spanische Wissenschaftler flüchteten aus dem Land wie das Schwarzgeld in die Schweiz, um sich vor den Behörden zu verstecken und das eigene Leben zu retten. Da saß er also im Terminal eins des Flughafens Barajas und wartete wie die anderen darauf, dass Carter m i t den gefälschten Pässen am Lufthansa-Schalter die Bordkarten abholte. Noch nicht einmal von seiner Familie hatte er sich verabschiedet. Immerhin hatte er Teresa angerufen, die Sekretärin seines Fachbereichs, er habe den gleichen Virus wie Elisa und wolle sie beide für die nächsten Tage krankmelden. Die Lüge hatte i h m Spaß gemacht. Es war beinahe halb sieben, aber von diesem Teil des Gebäudes aus konnten sie den Sonnenaufgang nicht sehen. In der Halle waren nur die unermüdlichsten Frühaufsteher unterwegs, Geschäftsleute beiderlei Geschlechts, die mit ledernen Aktentaschen kamen u n d gingen oder sich an den Schaltern in die Schlange einreihten. Das Einzige, was Victor m i t ihnen gemeinsam hatte, war die Erschöpfung: Er hatte in der letzten Nacht kein Auge zugetan u n d stattdessen furchteinflößenden Schilderungen über einen unsichtbaren, sadistischen Mörder gelauscht, vor dem er jetzt m i t den anderen fliehen wollte. Seine Angst hielt der Übermüdung die Waage. Doch im Flugzeug, so hoffte er, würde die Schläfrigkeit über die Beklemmung siegen u n d i h m ein wenig Ruhe schenken. Im M o m e n t fühlte er sich allerdings, als hätte man i h m Koffein gespritzt. »Jetzt ist Harrison sicher schon dahintergekommen, dass w i r weg sind«, sagte Elisa. Victor sah sie an u n d staunte, dass nicht einmal die durchwachte Nacht ihre Attraktivität schmälern konnte. Was für eine atemberaubende Schönheit. Das Auffälligste an ihr war das lange, pechschwarze Haar, nach dem er ganz verrückt war und das sich ihr anmutig um das entzückende Gesicht legte. Er schätzte sich glücklich, an ihrer Seite zu sein, und fühlte sich dadurch mehr als entschädigt. Im Flughafen ging ein küh-
ler Luftzug, aber vielleicht war das auch nur ein willkommener Vorwand, ihr den A r m um die Schultern zu legen. >Im Unglück vereint< fiel i h m als weiteres Schlagwort ein. Doch Worte hin oder her, Elisa schien zufrieden, seinen A r m auf der Schulter zu spüren, u n d das war das Wichtigste. »Kann sein«, räumte Blanes ein, »aber unser Flug geht in weniger als einer Stunde, u n d Carter hat versichert, dass Harrison nicht weiß, wo w i r hinfliegen.« »Können w i r uns denn auf i h n verlassen?« Elisa betrachtete nachdenklich Carters breiten Rücken. »Er hat dasselbe Interesse zu entkommen wie wir, Elisa.« Jetzt kam Carter mit den Bordkarten wedelnd wie ein Falschspieler m i t den gezinkten Trümpfen auf sie zu. Victor hatte bereits seine Führungsqualitäten schätzen gelernt: Ohne ein Wort setzte er die Gruppe in Bewegung, die hinter i h m herlief wie eine kleine Schafherde - Jacqueline stöckelte vielmehr auf hohen A b sätzen hinterher. »Glauben Sie, dass Harrison es schon weiß?« Blanes blickte sich nach allen Seiten u m . »Möglich.« Carter zuckte m i t den Schultern. »Aber ich kenne ihn ganz gut, u n d habe seine Reaktionen bei der Planung berücksichtigt. Um diese Uhrzeit ist er noch im Haus, erteilt Befehle u n d rätselt bestimmt, was eigentlich passiert ist. Ich habe ein paar falsche Fährten gelegt. Damit er uns erst auf die Spur k o m m t , wenn das Flugzeug längst in der Luft ist.«
Harrison betrat die Halle von Terminal eins, das Handy am Ohr. Er hatte schnell gehandelt, sehr viel schneller - so dachte er -, als Carter vermuten konnte. Schließlich war er nicht ohne G r u n d von Eagle zum Sicherheitschef der Abteilung wissenschaftliche Forschung ernannt worden. »Sie hatten Recht«, sagte die Stimme im Hörer. »Gerade erst hat er fünf Tickets für den Sieben-Uhr-Flug nach Zürich gelöst u n d gefälschte Ausweise vorgelegt. Er ist am Schalter erkannt
worden. Es war eine gute Idee, uns gleich sein Foto mitzuschicken. Er müsste unterwegs zum Ausgang sein.« Harrison nickte u n d unterbrach wortlos die Verbindung. Er kannte Paul Carter. Selbst wenn er inzwischen zum Verräter geworden sein sollte, war u n d blieb er ein Söldner u n d g r i f f auf dieselben Tricks u n d Methoden zurück wie eh u n d je. Na warte, Paul, du wirst überrascht sein. Harrison warf einen Blick auf die Uhr, während er in Begleitung seines Vertrauensmannes eiligen Schrittes die Abflughalle des Terminals durchquerte: Viertel vor sieben. »Hast du m i t Bläzquez gesprochen?«, fragte er. »Sie wollen den Abflug hinauszögern, Chef. Die spanische Polizei ist auch benachrichtigt. W i r werden sie bei den Sicherheitskontrollen festnehmen.« Harrison empfand - nicht zum ersten M a l - heimliche Genugtuung über die seit mehr als zehn Jahren überall herrschende Panik. Die Angst vor Terroranschlägen hatte bewirkt, dass Befehle wie der, den Abflug eines Flugzeugs zu verzögern oder fünf verdächtige Personen im Ausland festzunehmen, ohne den geringsten Widerspruch ausgeführt wurden. Angst war ein probates M i t t e l , auch in Europa. Eine Farbige kam ihnen m i t ihrem Gepäckwagen voller Koffer in die Quere. Harrison stieß beinahe m i t ihr zusammen, zischte einen Fluch. Sein Vertrauensmann schubste die Frau einfach beiseite, ohne das Tempo zu verringern. Im selben Moment vernahm Harrison die Lautsprecherdurchsage, erst auf Spanisch, dann auf Englisch: »Lufthansa informiert Sie, dass sich der A b flug Ihres Flugs nach Zürich aus technischen Gründen verzögern wird.« Sie gehörten i h m .
»Wir wiederholen: Lufthansa i n f o r m i e r t Sie, dass sich der A b flug ...« Kreidebleich hastete Blanes zu der Schlange vor dem Gate.
»Der Abflug verzögert sich, Carter, haben Sie gehört?« Sechs Fluggäste standen in der Schlange u n d legten nacheinander ihr Gepäck auf das Fließband vor dem Sichtgerät. Auf der anderen Seite schien eine beachtliche Gruppe Uniformierter ein Konklave abzuhalten. Kein Passagier wurde ohne strengste Kontrollen durchgelassen. »Ein Flug kann sich immer mal verzögern, Professor, keine Sorge«, erwiderte Carter. Er ging an der ersten Schlange vorbei zur nächsten, drehte den Kopf auf seinem breiten Hals nach allen Seiten, als würde er etwas suchen. Blanes und Elisa wechselten ängstliche Blicke. »Haben Sie die Polizisten gesehen, Carter?«, bohrte Blanes weiter. Anstelle einer A n t w o r t ging Carter weiter. Er passierte ungerührt den letzten Fluggast in der äußersten Schlange, schlug einen Haken u n d wandte sich dem Ausgang des Flughafengebäudes zu. Die Wissenschaftler trabten konsterniert hinter i h m her. »Wo gehen w i r hin?«, fragte Blanes. Eine dunkle Großraumlimousine stand vor dem angesteuerten Ausgang. Der Fahrer ließ Carter hinter das Steuer. Der startete den Motor. »Los, einsteigen!«, trieb er die Wissenschaftler zur Eile. Erst als alle ihre Plätze im Auto eingenommen hatten, fuhr Carter los. »Sie haben doch w o h l nicht im Ernst geglaubt, dass w i r in einem öffentlichen Verkehrsmittel m i t Tickets, die w i r am Flughafen gelöst haben, nach Zürich reisen würden, oder?« Er legte den Rückwärtsgang ein u n d gab Gas. »Ich sagte doch, ich kenne Harrison gut u n d habe versucht, m i c h in i h n hineinzuversetzen. Ich musste damit rechnen, dass er der Polizei ein Foto von m i r schicken würde. Allerdings hat er sich schneller gerührt, als ich erwartet hatte. Jetzt können w i r nur hoffen, dass er den Köder schluckt u n d möglichst lange an das Märchen m i t den Tickets nach Zürich glaubt.« Elisa wandte sich auf der Rückbank zu Victor u n d Jacqueline u m , die genauso verstört dreinschauten wie sie selbst. Sie dachte,
dass sie keinen besseren Verbündeten haben könnten als Carter falls er sie nicht betrog. »Dann fahren w i r also gar nicht nach Zürich?«, fragte Blanes. »Natürlich nicht. Das hatte ich nie vor.« »Und w a r u m haben Sie uns das nicht gesagt?« Carter überhörte die Frage und antwortete erst, nachdem er sich geschickt durch den Verkehr geschlängelt und die Autobahn erreicht hatte: »Da Sie von n u n an auf m i c h angewiesen sind, Professor, sollten Sie sich eines gleich merken: Die Wahrheit sagt man nicht, man tut sie. Was man lernen muss, ist lügen.« Elisa fragte sich, ob Carter in diesem Augenblick die Wahrheit sagte.
»Sie sind weg.« Das war die einzige Reaktion, der einzige Gedanke. Sein M i t arbeiter hatte alles gut geplant. Vielleicht hatte er noch nicht einmal vorgehabt, sich in die Schweiz abzusetzen. Womöglich hatte er sogar an einem anderen Flughafen ein privates Beförderungsmittel bereitstehen. Für einen Augenblick stockte i h m der Atem. Es schnürte i h m so die Kehle zu, dass er schweigend aufstehen u n d das Büro verlassen musste, in dem der Flughafendirektor von Barajas i h m soeben die neuesten Informationen gegeben hatte. Harrison trat auf den Gang hinaus. Sein Vertrauensmann folgte i h m . »Sie sind weg«, wiederholte Harrison, als er wieder zu Atem gekommen war. »Carter hilft ihnen.« Er verstand auch w a r u m . Carter ist auf und davon, um seine Haut zu retten. Er weiß, dass sein Leben mehr in Gefahr ist als je zuvor, und will, dass die Weisen ihm dabei helfen zu überleben. Er atmete tief durch. Die Aussichten waren plötzlich gar nicht mehr rosig. Zickzack konnte m i t Fug u n d Recht als Erzfeind angesehen werden, als der Feind schlechthin, als der furchterregendste. Aber er wusste, dass jetzt auch Carter sein Feind war. Und obwohl sich
die beiden gewiss nicht vergleichen ließen, war sein einstiger Mitarbeiter als Gegner keineswegs zu verachten. Von diesem M o m e n t an würde er also auch vor Paul Carter auf der H u t sein müssen.
VIII. DIE RÜCKKEHR Ich weiß genau, wovor ich fliehe, aber ich habe keine Ahnung, was ich suche. Michel de Montaigne
28
Die Insel tauchte auf wie ein Riss in wellig blauem Stoff, angestrahlt von einer Sonne zwischen rasch dahinziehenden Wolken. Der Hubschrauber flog zweimal darüber hinweg, bevor er zur Landung ansetzte. Bis zu diesem Augenblick war Victor das Stück Urwald i n m i t ten des tropischen Meers mehr wie Propaganda eines Reiseunternehmens vorgekommen als wie ein realer O r t : In seiner Vorstellung existierte er im Nirgendwo, ein Kunstprodukt der Werbeindustrie - ein Lockmittel. Doch sobald er den ersten Blick auf New Nelson im Indischen Ozean warf - eingeschlossen von Wasser in verschiedenen Grünschattierungen, u n d bedeckt m i t Palmen, die von oben wie Blumen anmuteten, von vanillefarbenem Sand u n d Korallen wie riesigen im Meer versenkten Halsketten -, musste er zugeben, dass er sich getäuscht hatte: Es gab so etwas tatsächlich. Wenn es aber die Insel tatsächlich gab, überlegte er voll Schrecken, stieg auch die Wahrscheinlichkeit, dass alles andere, was i h m bisher zu Ohren gekommen war, ebenfalls der Realität entsprach. »Sieht aus wie das Paradies«, murmelte er. Elisa, die den Platz vor dem kleinen Hubschrauberfenster m i t i h m teilte, starrte hinunter. »Es ist die Hölle.« Victor bezweifelte dies. Trotz allem, was er inzwischen wusste,
konnte er sich nicht vorstellen, dass es da unten schlimmer sein sollte als auf dem Flughafen von Sana'a im Jemen, wo sie achtzehn Stunden darauf gewartet hatten, dass Carter die letzten Vorbereitungen für ihre Überführung auf die Insel traf. Es hatte dort weder Duschen gegeben noch konnten sie die Kleider wechseln. Außerdem taten i h m alle Knochen weh, weil er auf den u n bequemen Sitzbänken in der Abflughalle geschlafen u n d bis auf Kartoffelchips, Schokoriegel u n d Mineralwasser nichts zu essen oder zu trinken bekommen hatte. Und das nach dem halsbrecherischen Flug in einem Sportflugzeug aus Torrejön u n d unter Carters unausgesetzten Vorhaltungen. »Als Wissenschaftler kennen Sie ja wohl den Ausdruck >theoretisch<, oder? Theoretisch kehren Sie heute an denselben O r t zurück, den Sie vor zehn Jahren verlassen haben. Aber eben nur theoretisch, also seien Sie bitte nicht enttäuscht.« »Wir haben ihn nie verlassen«, ließ sich darauf die wortkarge Jacqueline Clissot vernehmen. Im Gegensatz zu Elisa hatte Jacqueline Ersatzkleidung dabei u n d sich in Sana'a frisch gemacht. Jetzt trug sie eine Sportkappe auf dem glatten zinnoberroten Haar, eine weiße Sommerbluse u n d einen M i n i r o c k aus Jeansstoff. Sie saß neben Blanes ihnen gegenüber u n d schaute ebenfalls aus dem Fenster. Sobald jedoch die Insel in ihr Blickfeld gekommen war, hatte sie den Kopf abgewandt. Victor war das Gerede einerlei: Egal, was ihn dort erwartete, wenigstens war er am Ziel dieser wahnwitzigen Reise angelangt. Endlich würde er sich waschen und vielleicht sogar rasieren können. Ob er hier frische Kleidung fand, bezweifelte er allerdings noch. Der Hubschrauber führte ein weiteres Manöver durch. Nach einem jähen Schwenker, von dem der Pilot, ein Araber, behauptete, der W i n d sei schuld - Victor war vielmehr überzeugt, dass es nichts als Ungeschicklichkeit war -, fand er das Gleichgewicht wieder u n d sank auf einen Flecken Sand nieder. Rechts davon stand etwas abseits eine rußgeschwärzte Ruine m i t verbogenen Stahlträgern.
»Mehr ist von der Kasematte u n d dem Lager nicht übrig geblieben«, erklärte Elisa. Victor bemerkte, wie sie zitterte, und legte ihr den A r m um die Schultern. Aus der Höhe betrachtet, erinnerte ihn die Station an eine Gabel m i t abgebrochenem Griff. Die drei grauen Baracken m i t dem Satteldach, die am Nordende miteinander verbunden waren, b i l deten die Zinken, während der daran anschließende Trakt aussah wie ein kurzer, runder Griff: Er vermutete, dass sich dort SUSAN befand, der Elektronenbeschleuniger. Oben heraus ragten lange Antennen wie Speere, u n d weitere runde Antennen reckten ihre Bäuche in den H i m m e l . Ein Maschendrahtzaun umschloss das Gelände in einem weiten Rechteck. Victor stieg als einer der Letzten aus. Gebückt folgte er Elisa durch den niedrigen Helikopter bis zur Leiter u n d küsste ihr dabei fast das Gesäß, dann sprang er ganz benommen von der Reise, der Staubwolke u n d dem Lärm der Rotoren auf die Erde. Hustend tat er ein paar Schritte, u n d als er wieder zu Atem kam, füllten sich seine Lungen m i t Inselluft, die weniger feucht war als erwartet. »Im Süden, über den Chango-Inseln, gewittert es«, rief Carter hinter i h m aus dem Hubschrauber; seine Stimme war mühelos über die lauten Rotoren vernehmbar. »Ist das schlecht?«, tönte Victor zurück. Carter musterte Victor, als sei er ein W u r m . »Das ist gut. Trockene Witterung würde mich mehr beunruhigen, u n d die ist in dieser Jahreszeit wesentlich häufiger. Solange sich Unwetter zusammenbrauen, taucht hier niemand auf. Da.« M i t einer Hand reichte er Victor ein Paket, für das dieser beide Hände benötigte, u n d selbst so fiel es i h m zu Boden. Victor kam sich vor wie ein Soldat, der Vorräte schleppen muss. U n d tatsächlich handelte es sich um einen Teil des Proviants, den Carter in Sana'a beschafft hatte: Konservendosen und Pakete m i t italienischen Nudeln; Batterien in unterschiedlichen Größen für Taschenlampen u n d Radios; M u n i t i o n u n d Wasserflaschen. Letz-
tere waren besonders wichtig, da der Wassertank zusammen mit dem Lager zerstört worden war u n d Carter nicht wusste, ob es inzwischen einen neuen gab. Elisa, Blanes und Jacqueline kamen herbei u n d teilten die übrigen Kartons u n d Gepäckstücke unter sich auf. Victor taumelte wie ein Betrunkener auf die Baracke zu. Das Paket war verdammt schwer. Elisa u n d Jacqueline überholten i h n , Elisa sogar m i t zwei Kisten, die bestimmt leichter waren als seine, aber immerhin m i t zweien. Das entmutigte ihn weiter, und er kam sich unnütz vor. Er musste daran denken, welche A n strengung i h n früher in der Schule das Turnen gekostet hatte und wie gedemütigt er sich immer gefühlt hatte, wenn i h m ein Mädchen an Muskelkraft überlegen war. Irgendwie war die Vorstellung, dass eine Frau schwächer zu sein hätte, zumal wenn sie so hübsch war wie Elisa oder Jacqueline, tief in i h m verwurzelt. Eine lächerliche Vorstellung, zugegeben, aber offenbar nicht ganz so leicht loszuwerden. Während er m i t verzerrtem Gesicht aufzuholen versuchte, hörte er hinter sich Carter, der sich lauthals vom Piloten verabschiedete. Als der zuständige Sicherheitskoordinator für New Nelson war es Carter nicht schwer gefallen, die Küstenwache davon zu überzeugen, dass sie wegsah. Auch stand - im Moment zumindest - nicht zu befürchten, dass die Eagle Group von i h rem Aufenthalt auf der Insel erfuhr, denn sämtliche Wachleute waren Carters Vertrauensmänner. Dennoch hatte er angeordnet, dass sich der Hubschrauber unverzüglich wieder verzog: Carter wollte nicht riskieren, dass er von einem Militärflugzeug auf Routineerkundung entdeckt wurde. Sie sollten allein auf der Insel zurückbleiben. Wenn er einen Beweis dafür haben wollte, musste Victor nur hinhören, wie sich die Rotorblätter immer schneller drehten. Gerade rechtzeitig hob er den Kopf, um den Helikopter in der Luft abschwenken u n d angestrahlt von der untergehenden Sonne aufblitzen zu sehen, bevor er sich entfernte. Allein im Paradies, dachte er. Die Vorstellung schien i h m Kraft zu rauben, denn die Kiste
entglitt i h m u n d er konnte sie gerade noch m i t dem rechten Fuß abfangen, ehe sie auf dem Boden auftraf. Der durchdringende Schmerz vertrieb jeden Gedanken ans Paradies. Glücklicherweise blieb seine Ungeschicklichkeit weitgehend unbemerkt. Die anderen standen bereits vor der Tür der dritten Baracke u n d warteten augenscheinlich, dass Carter ihnen aufschloss. »Soll ich helfen?«, fragte Carter beim Überholen. »Nein, danke ... Geht schon.« Rot wie eine Tomate setzte Victor humpelnd u n d breitbeinig den Weg über den Sand fort. Carter war inzwischen bei den anderen angekommen, in der einen H a n d einen Seitenschneider von der Länge seines Armes. Das Geräusch, m i t dem die Sicherheitskette nachgab, klang wie ein Schuss. »Das Haus stand leer, u n d keiner ist gekommen, darin zu kehren«, sagte Carter, als wäre es der Refrain eines Lieds. M i t dem Stiefel räumte er ein paar Trümmer zur Seite. Es war 18.50 U h r Ortszeit, am Freitag, dem dreizehnten März 2015. Freitag der dreizehnte. Victor rätselte, ob es ihnen wohl U n glück bringen würde.
»Jetzt k o m m t es m i r hier winzig vor.« Elisa stand auf der Schwelle ihres ehemaligen Zimmers u n d leuchtete m i t der Taschenlampe in alle Ecken. Allmählich fand auch Victor, dass dies eine Hölle war. Noch nie hatte er einen so deprimierenden O r t zu Gesicht bekommen. Die aus Metallblech bestehenden Wände u n d Böden hatten so viel Hitze gespeichert wie ein auf zweihundert Grad vorgeheizter Ofen. Alles wirkte düster, es gab keine Lüftung, u n d über allem hing der Brandgeruch. Außerdem waren die Baracken sehr viel kleiner, als er sie sich aufgrund von Elisas Erzählungen vorgestellt hatte: ein armseliger Speiseraum, eine armselige Küche, nackte Schlafzimmer, von den Betten war nur das Gestell geblieben, u n d das Bad war noch nicht einmal m i t dem
Nötigsten ausgestattet, ganz zu schweigen von der alles bedeckenden Staubschicht. Auch Elisa konnte nichts von der traumhaften Insel wiederfinden, auf der sie Cheryl Ross vor zehn Jahren w i l l k o m m e n geheißen hatte. Elisa stiegen die Tränen in die Augen, doch sie rang sich ein Lächeln ab: Nur nicht sentimental werden. Vielleicht war es die Erschöpfung von der Reise. Der Vorführraum beeindruckte Victor zunächst noch am meisten, obwohl es d o r t genauso eng war wie in den anderen Räumen u n d brütend heiß. Beim Anblick der dunklen Leinwand konnte er einen Schauder nicht unterdrücken. War es möglich, dass die anderen darauf w i r k l i c h die Stadt Jerusalem zu Christi Lebzeiten gesehen hatten? Aber das Kontrollzentrum bestaunte er m i t offenem M u n d . Bei einer Grundfläche von dreißig mal vierzig Metern und den Betonwänden war es der größte u n d kühlste Raum von allen. Noch brannte dort kein Licht. Carter war losgezogen, die Generatoren zu überprüfen, so dass Victor nur in dem schwachen, durch die Fenster hereinfallenden Dämmerlicht SUSANs schimmernde Rückseite anstarrte. Er war Physiker, u n d nichts, was er bis dahin gesehen hatte, konnte sich damit messen. Seine Reaktion war die eines Jägers, der die sagenhaften Beschreibungen der Beutestücke kannte u n d der endlich die fantastische Waffe zu Gesicht bekam, m i t der diese erlegt worden waren, u n d m i t einem Mal schien jeder Zweifel an der Glaubwürdigkeit alles Übrigen v o m Tisch gewischt. Ein Knistern ließ i h n auffahren. Die Leuchtstoffröhren an der Decke flammten auf, u n d alle mussten blinzeln. Victor betrachtete seine Kameraden, als sähe er sie zum ersten M a l , u n d begriff gleichzeitig, dass er m i t ihnen hier auf engstem Raum zusammenleben würde. Er fand das gar nicht so übel, zumindest was Elisa u n d Jacqueline betraf. Auch Blanes war nicht gerade eine unangenehme Gesellschaft. N u r Carter, der in einer kleinen Tür rechts neben dem Elektronenbeschleuniger auftauchte, passte nicht in sein Weltbild.
»Na bitte, Sie haben Strom, um m i t Ihren Computern zu spielen u n d Essen zu kochen.« Carter hatte die Lederjacke ausgezogen, u n d die ergraute Brustbehaarung kräuselte sich aus dem Halsausschnitt seines Shirts, dessen Ärmel stramm über den Bizeps saßen. »Die schlechte Nachricht ist, dass w i r kein Wasser haben. U n d wenn alles andere funktionieren soll, dürfen w i r die Klimaanlage nicht einschalten. Ich habe kein rechtes Vertrauen z u m Hilfsgenerator, u n d der andere ist kaputt. Also heißt es schwitzen«, grinste er. Doch auf seiner Stirn zeigte sich kein einziger Schweißtropfen, während alle anderen von Kopf bis Fuß schweißnass waren. Wenn Victor i h n reden hörte, konnte er nie m i t Gewissheit sagen, ob Carter sie auf den A r m nehmen oder ihnen w i r k l i c h helfen wollte. Vielleicht beides, beschloss er. »Wir müssen noch aus einem weiteren Grund Strom sparen«, sagte jetzt Blanes. »Bisher haben w i r zwar im Gegenteil das D u n kel möglichst gemieden, aber Zickzack bezieht eindeutig aus der vorhandenen Energie seine Kraft, aus Lampen und anderen eingeschalteten Elektrogeräten.« »Sie schlagen also vor, i h n auszuhungern«, sagte Carter. »Ich weiß natürlich nicht, ob es w i r k l i c h hilft. Sein Energiebedarf ist unterschiedlich groß. In Silbergs Flugzeug hat i h m anscheinend die Kabinenbeleuchtung genügt, schließlich ist das Flugzeug sicher gelandet. Aber w i r sollten nichts unversucht lassen.« »Machbar ist es. W i r drehen den Hauptschalter ab und schließen nur die Computer und die Mikrowelle an, um Essen zu wärmen. Taschenlampen haben w i r mehr als genug.« »Dann lasst uns keine Zeit verlieren«, sagte Blanes, an alle gewandt. »Am liebsten wäre mir, wenn w i r alle zusammenbleiben würden. W i r können in diesem Saal arbeiten. Hier stehen mehrere Tische, u n d es ist genug Platz vorhanden. W i r sollten die Aufgaben unter uns aufteilen. Elisa u n d Victor: Kann man feststellen, in welchem Rhythmus die Attacken auftreten? W a r u m ist Zickzack mehrere Tage hintereinander aktiv u n d r u h t anschließend jahrelang? Hat das etwas m i t dem Energieverbrauch
zu tun? Folgt er einem konkreten Muster? Carter gibt euch detaillierte Berichte über die Todesfälle. Ich werde m i r Reinhards Folgerungen u n d Marinis Dateien vornehmen. Jacqueline, du könntest m i r helfen, die Dateien zu klassifizieren.« Alle nickten, als es geschah. Sie waren so müde, oder vielleicht vollzog es sich auch nur so rasch, dass niemand reagieren konnte. In einer Sekunde stand Carter noch rechts neben Blanes u n d rieb sich die Hände, u n d im nächsten Augenblick war er schon beim Stuhl vor dem Hauptrechner und trat auf etwas unter dem Tisch. Dann warf er sich in die Brust und blickte in die Runde wie der Heizer einer Dampflokomotive, der in der ersten Klasse die Unterhaltung der Passagiere unterbricht. »Sie haben die schlechten Schüler vergessen, Herr Professor, die Schulschwänzer. Aber w i r sind i m m e r h i n dazu zu gebrauchen, das Klassenzimmer zu reinigen.« Er bückte sich theatralisch u n d hob eine kleine Schlange auf, die er platt getreten hatte. »Ich könnte m i r vorstellen, dass ihre Familie nicht weit weg ist. Auch wenn man nicht allzu viel davon merkt, sind w i r doch mitten im Urwald, u n d wilde Tiere haben nun mal die Angewohnheit, in unbewohnten Häusern auf Nahrungssuche zu gehen.« »Die ist nicht giftig«, sagte Jacqueline beiläufig und ließ sich die Schlange geben. »Sieht aus wie eine grüne Mangrovennatter.« »Kann sein, aber einige werden sich davor ekeln.« Carter schnappte ihr das Reptil weg, ging auf einen metallenen Papierkorb zu und ließ die kleine grüne Girlande m i t dem aufgeplatzten Leib hineinplumpsen. »Wir können anscheinend nicht nur m i t dem Kopf arbeiten: Einige werden ihre Füße benutzen müssen. Das erinnert mich daran, dass ich einen Helfer brauche. Jemanden, der m i r beim Auf- u n d Zuschließen hilft, beim Sortieren der Vorräte, beim Kochen, beim Wachehalten u n d ein wenig beim Saubermachen. Sie wissen schon, bei all den täglich anfallenden Pflichten.« »Ich mache das«, sagte Victor wie aus der Pistole geschossen
und schaute Elisa an. »Du kannst die Berechnungen doch sicher allein anstellen.« Carter lächelte, als amüsiere er sich über Victors Diensteifer. »Gut«, schloss Blanes. »Lasst uns anfangen. Was glauben Sie, Carter, wie viel Zeit w i r zur Verfügung haben?« »Sie meinen, bevor Eagle uns die Kavallerie auf den Hals hetzt? Ein paar Tage vielleicht, maximal drei, vorausgesetzt, sie schlucken die Köder, die ich im Jemen ausgelegt habe.« »Das ist nicht gerade viel.« »Wahrscheinlich sogar weniger, Professor«, sagte Carter. »Harrison ist ein schlauer Fuchs, u n d ich b i n nicht sicher, ob er sie überhaupt schluckt.«
Wer Tag für Tag ein K i n d von Traurigkeit ist, der lässt sich in den wahrhaft bedrückenden Momenten seines Lebens nicht so leicht aus der Bahn werfen. Als redete er sich gut zu: >Worüber hast du dich eigentlich immer beklagt? Jetzt kann es doch nur besser werden. < Genau das war bei Victor der Fall. Nicht, dass er auf einmal glücklich war, aber eine ungeahnte Lebensfreude u n d Begeisterung brachen plötzlich in i h m auf. Vorbei waren die Tage, die er seinen hydroponischen Pflanzen und der philosophischen Lektüre gewidmet hatte. Die Wildnis, in der er jetzt lebte, verlangte i h m jede Minute andere Fertigkeiten ab. Außerdem hatte er sich schon immer gern nützlich gemacht. Für ihn zählte nur, was er für andere tat - eine Maxime, nach der er n u n leben konnte. Den ganzen Nachmittag hatte er unter Carters Befehl Kisten geöffnet, gekehrt u n d geputzt. Er war todmüde, doch er hatte entdeckt, dass Müdigkeit eine Droge war. Dann fragte Carter i h n , ob er wisse, wie man in der M i k r o welle Essen kocht. »Ich kann Schmorfleisch zubereiten«, antwortete Victor. Carter glotzte i h n an. »Tun Sie das.« Der Ex-Militär schien ihn eindeutig auszunutzen, u n d dennoch gehorchte Victor, ohne m i t der Wimper zu zucken. Er hatte
es nie w i r k l i c h befriedigend gefunden, zu Hause für sich allein zu wirtschaften. Dies war die Gelegenheit, einmal etwas für andere zu t u n . Er öffnete Konservendosen, entkorkte Öl- u n d Essigflaschen, stellte Teller bereit und nutzte das letzte Tageslicht, um eine Mahlzeit zuzubereiten u n d keinen Fraß. Er hatte Pullover u n d Hemd ausgezogen und arbeitete mit nacktem Oberkörper. Triefend vor Schweiß glaubte er bisweilen, in der tropischen Hitze ersticken zu müssen, aber all das verlieh seiner Aufgabe nur noch mehr Wichtigkeit: Er war der Bergarbeiter, der seinen erschöpften K u m pels das Abendessen zubereitete. Der Schiffsjunge, der das Deck schrubbte. Noch dazu ergaben sich die merkwürdigsten Situationen: Einmal betrat Elisa die Küche, ihre Jeanshose in der Hand! Sie trug nur ein Trägerhemd und einen knappen Slip und hatte das w u n derschöne, üppige schwarze Haar m i t einem G u m m i b a n d im Nacken zusammengebunden. »Victor, ist hier irgendein Werkzeug, m i t dem ich diese Jeans abschneiden kann? Eine große Schere zum Beispiel? Ich schwitze mich tot.« »Ich glaube, ich habe, was du suchst.« Carter hatte eine riesige Kiste m i t Werkzeug mitgebracht, die geöffnet im Nachbarraum stand. Victor nahm eine Metallschere heraus. Ein ganz unvermuteter, ein herrlicher Moment. Wie hätte er sich jemals eine solche Situation erträumen können, ausgerechnet m i t Elisa? Sie schenkte i h m sogar ein Lächeln, u n d er scherzte m i t ihr. »Höher, mehr. Schneide sie hier in dieser Höhe ab«, wies sie ihn an. »Dann sieht es aus wie H o t Pants. Sogar als Shorts ist sie dann zu knapp.« »Schneide sie einfach ab. Jacqueline hat nämlich keine für mich übrig.« Sein früheres Leben kam i h m in den Sinn, als er sich noch glücklich geschätzt hatte, wenn er m i t i h r in der keimfreien
Kantine der A l i g h i e r i einen Kaffee t r i n k e n durfte. U n d jetzt standen sie beide halb nackt in dieser Küche, er von der Taille aufwärts, sie nur im Slip. Er hatte i m m e r noch Angst u n d sie auch, das war offensichtlich, aber diese Angst hatte auch etwas Verführerisches. Ein »geschehe, was wolle«, egal was. Die Angst machte i h n frei. Als das Abendessen fertig war, hatte die Nacht bereits Einzug gehalten u n d die Hitze nachgelassen. Durch das kleine Fenster des Speisesaals strich eine Brise, fast ein W i n d , und jenseits der Maschendrahtzäune erblickte Victor die dunkle Masse des Meers. Er legte eine Tischdecke aus Papier auf, verteilte die Teller darauf und stellte eine der tragbaren Lampen als Leuchter in die Mitte. Er versuchte sogar, das Essen m i t einer gewissen Professionalität aufzutragen, aber das half auch nichts. Das Abendessen verlief hastig u n d schweigend, niemand sprach ein Wort, u n d Elisa, Jacqueline u n d Blanes standen anschließend sofort auf u n d kehrten an ihre Arbeit im Kontrollzentrum zurück. Victor räumte den Tisch ab und schaltete das Funkgerät in seiner Hosentasche ein. Unter den verschiedenen Geräuschen meinte er Elisas Atemzüge auszumachen. Er stellte sich vor, dass der Atem eine A r t Fingerabdruck wäre, und da war ihrer, das unverkennbare Schnaufen ihrer Altstimme und das Kratzen ihres Bleistifts auf Papier. Das m i t den Funkgeräten war Blanes' Idee gewesen, Carter hatte das steinerne Gesicht nur zu einer Grimasse verzogen, als wollte er sagen: >Professor, die praktischen Dinge überlassen Sie lieber mir.< Doch am Ende hatte er trotzdem die Transistorradios zu Funkgeräten umgebaut, nicht ohne einzuwenden: »Das w i r d Ihnen im Ernstfall kaum helfen, mein schlauer Professor. Silberg ist direkt vor der Nase seiner Leibwächter im Flugzeug zermalmt worden. Können Sie sich erinnern? Und Stevenson hat er in einem Leichter erwischt, kleiner als dieses Zimmer. Fünf Kameraden waren dabei und mussten zusehen, ohne etwas tun zu können.« »Das weiß ich«, gab Blanes zu. »Trotzdem bin ich der M e i -
nung, w i r sollten die ganze Zeit über miteinander in Verbindung bleiben. M i c h beruhigt der Gedanke.« Aus diesem Grund knarrte und hüstelte es an Victors Hosenlatz, wo die Stimmen von Jacqueline, Elisa und Blanes zu hören waren. U n d Victor ging davon aus, dass es sich m i t den von i h m verursachten Geräuschen genauso verhielt, deshalb war er bemüht, beim Abräumen möglichst wenig mit den Tellern zu klappern. Anschließend wollte er das Geschirr im Meerwasser aus den Kanistern spülen, die Carter i h m vom Strand heraufgeschleppt hatte. Doch da rief Carter i h m etwas zu. »Nehmen Sie eine Taschenlampe, klettern Sie runter in den Vorratskeller und sehen Sie nach, ob in den Regalen noch etwas Brauchbares steht. W i r haben keine Leiter, u n d Sie sind größer als ich.« Victor musste ihn erst bitten, den Befehl zu wiederholen, so sehr hatte Carter genuschelt. Trotz Victors guten Englischkenntnissen empfand er die Äußerungen des Mannes bisweilen als das reinste Kauderwelsch. Als er endlich verstanden hatte, gehorchte er widerspruchslos. Er nahm eine Taschenlampe und ging in den Nebenraum, wo im Fußboden eine offene Luke klaffte. Offen und schwarz. Victor leuchtete m i t der Taschenlampe in das Loch. Stufen führten in die Tiefe. Er erinnerte sich. Hier hat er die ältere Frau umgebracht. Wie hieß sie noch? Cheryl Ross. Er hob den Kopf. Carter war in der Küche geblieben und werkelte herum. Victor sah wieder in die Öffnung. Was ist? Taugst du nur zum Schmorfleisch anbraten? Er holte noch einmal tief Luft, dann wagte er sich hinunter. Das Funkgerät in seiner H o sentasche sandte i h m zwischen Störungen Elisas Räuspern. Hatte sie Carters Befehl gehört? Ob sie wohl wusste, was er in diesem Moment tat? Als er in der Vorratskammer angekommen war, hob er die Taschenlampe. Sein Blick fiel auf voll gepackte Metallregale. Der Boden war aus gestampfter Erde, allerdings konnte er nirgends die erwarteten, besser gesagt: die befürchteten Spuren entde-
cken, so gut er auch alles im Strahl seiner Lampe absuchte. Es war kühl dort unten, im Vergleich zur stickigen Luft in der Küche sogar ein wenig kalt. Plötzlich sah er im Hintergrund eine graue Metalltür, vor die Holzlatten genagelt waren. Da fiel i h m wieder ein, dass Elisa i h m erzählt hatte, alles habe sich in der hinteren Kammer abgespielt. Hinter dieser Tür. I h n schauderte, u n d er beschloss, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er begann beim Regal auf der rechten Seite. A u f Zehenspitzen richtete er den Lichtstrahl nach oben. Er erspähte zwei Dosen, die aussahen, als enthielten sie Kekse, u n d weitere große Blechbüchsen m i t undefinierbarem Inhalt, der jedoch nicht essbar zu sein schien. Aus dem Funkgerät drang eine gedämpfte, von Geräuschen überlagerte Unterhaltung. Blanes und Elisa sprachen im Zusammenhang m i t dem Computer gerade über die Universalzeit u n d die Energieausfälle. Das Vibrato in Elisas Stimme erregte i h n . »Pah, machen Sie doch dies Scheißgerät aus.« Carters Stiefel dröhnten auf der Treppe. »Das nützt Ihnen gar nichts, ganz egal, was unser neunmalkluger Professor sagt.« Victor reagierte nicht. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten, sondern suchte m i t der Taschenlampe die oberen Reihen weiter nach Vorräten ab. A u f einmal spürte er eine H a n d zwischen den Beinen. Eine riesige Hand. Er sprang zur Seite, doch Carters dicke Finger zwängten sich bereits in die enge Hosentasche seiner Jeans u n d schalteten das Funkgerät aus. »Was ... t u n Sie da?«, kreischte Victor. »Keine Sorge, Herr Pfarrer, Sie sind nicht mein Typ.« Carter entblößte grinsend sein Gebiss in der Finsternis. »Ich habe I h nen doch schon mal gesagt, das m i t den Funkgeräten ist die letzte Scheiße, und ich mag es nicht, wenn man mich ignoriert.« Victor schluckte seinen Ärger hinunter u n d fuhr m i t seiner
Tätigkeit fort. »Nennen Sie mich nicht Herr Pfarrer«, sagte er. »Ich b i n Dozent für Physik.« »Ich dachte, Sie würden Religion unterrichten, oder Theologie oder so was.« »Wieso?«, wunderte sich Victor. »Gestern Nacht auf dem Flughafen im Jemen habe ich gehört, wie Sie der französischen Professorin davon erzählt haben. U n d ich habe Sie auch schon beten sehen.« Victor nahm überrascht zur Kenntnis, wie aufmerksam Carter sein konnte. Es stimmte allerdings, dass er m i t Jacqueline über seine Lektüre gesprochen u n d auf der Reise mehrmals gebetet hatte - er fühlte mehr denn je den Drang. Doch hatte er es stets diskret getan, kaum ein Vaterunser gemurmelt. Niemals hätte er damit gerechnet, dass jemand es bemerkte. »Ich bin Katholik«, sagte er jetzt. Dann reckte er sich und holte eine der Kisten herunter, um deren Inhalt zu begutachten. Noch mehr Dosen. Er zog eine heraus. Bohnen. »Praktizierender Katholik«, fugte er hinzu. »Für m i c h ist das dasselbe, Wissenschaftler oder Priester.« Carter hatte angefangen, das linke untere Regal leer zu räumen. »In unserer Gesellschaft gibt es keine schlimmeren Klassen. Die einen erfinden die Waffen, u n d die anderen segnen sie.« »Und die Soldaten feuern sie ab«, entgegnete Victor bestimmt. Er hatte keine Lust, sich auf die Diskussion einzulassen. Das Verfallsdatum auf der Bohnenkonserve war seit vier Jahren abgelaufen. Er stellte die Dose in die Kiste zurück und leuchtete m i t der Taschenlampe in den nächsten Karton. Pappverpackungen. Er g r i f f hinein u n d versuchte, eine herauszunehmen. »Verraten Sie m i r eins«, bat ihn Carter in seinem Rücken. »Was verstehen Sie unter Gott?« »Gott?« »Ja, was verstehen Sie darunter?« »Hoffnung«, sagte Victor nach einer Pause. »Und Sie?« »Je nach Tagesform.« Die Pappschachtel war eingeklemmt. Victor rüttelte m i t Ge-
walt an der Kiste. Plötzlich löste sich fünf Zentimeter vor seiner H a n d ein schwarzer Schatten u n d huschte f l i n k die Wand hoch. »Mein G o t t . . . « , schrie Victor auf Spanisch u n d wich angewidert zurück. »Nein, das ist n u n w i r k l i c h nicht Gott.« Carter wiederholte das Wort auf Spanisch und leuchtete die Decke an. »Das war eine Kakerlake. Ziemlich groß, aber w i r wollen auch nicht übertreiben ...« »Riesig...« Victor wurde übel. In seinen Gedärmen rumorte es. »Eine tropische Kakerlake eben, ohne Farb- u n d Konservierungsstoffe. Ich war schon an Orten, wo einem das Wasser im M u n d zusammenläuft, wenn man so eine sieht. Wenn die aufgetaucht sind, war es für uns, als wäre es ein Hirsch.« »Ich weiß nicht, ob ich m i c h an solchen Orten w o h l fühlen könnte.« Das Lachen des Ex-Militärs fiel kurz u n d rau aus. »Da sind Sie längst, Herr Pfarrer. Wenn Sie wollen, kann ich die Latten von der Tür da hinten abmachen u n d es Ihnen zeigen.« Victor drehte sich zur Tür u m . Carter tat es i h m nach. Im Licht der Taschenlampe hatten Carters Augen u n d die Tür dieselbe Farbe. »Ich kann nicht behaupten, dass es das Schlimmste war, was ich je im Leben gesehen hätte, denn danach kamen noch Craig, Petrova u n d M a r i n i . Aber was ich hinter der Tür da erlebt habe, war bis dahin das Allerschlimmste. U n d ich schwöre Ihnen, ich hatte schon eine Menge gesehen.« Das Licht der Taschenlampe spiegelte sich in seinen Pupillen. Es war, als brannte er von innen heraus. »Gute Soldaten wie Stevenson u n d Bergetti, Leute, die m i t beiden Beinen fest auf der Erde standen, haben einen Dachschaden davongetragen, als sie in diesen Vorratskeller hinuntergekommen sind. Sogar Harrison hat seit damals einen Schlag weg. Er hat mehr Opfer von Zickzack gesehen als jeder andere u n d macht sich vor Angst in die Hosen. Er hat Panikattacken, Nervenkrisen, solche Sachen. U n d er ist nicht gerade jemand, den ich als sensibel bezeichnen würde.«
Der Adamsapfel in Victors Kehle hob u n d senkte sich, vergeblich versuchte er zu schlucken. Carter sprach in den Raum, leicht abgewandt, als meinte er gar nicht ihn, sondern die Schatten r u n d u m . »Ich w i l l Ihnen mal was erzählen. Tausend Kilometer von hier, in einem Haus in Kapstadt, wohnen meine Frau und meine Tochter. Sie sind schwarz. Ich habe ein sehr, sehr schönes schwarzes Mädchen von zehn Jahren, m i t prächtigem Kraushaar und riesigen Augen. Ihr Lächeln ist so süß, dass ich sie von morgens bis abends anstarren könnte. Meine Frau heißt Kamaria, was auf Suaheli >Wie der Mond< bedeutet. Sie ist groß u n d so schön, ein echtes Rasseweib, m i t einem Körper wie Ebenholz. Ich bin ganz vernarrt in die beiden. Aber seit mehreren Jahren vergeht keine Nacht, in der ich nicht träume, sie in diesen Keller einzusperren u n d in Stücke zu hacken. Ich mache m i t i h nen dasselbe, was m i t Cheryl Ross passiert ist. Ich b i n rnachtlos dagegen: Er taucht auf, befiehlt es mir, u n d ich gehorche. Ich kratze meiner Tochter die Augen aus u n d verschlinge/sie.« Er verstummte für eine Weile u n d atmete schwer. Anschließend drehte er sich m i t gelassener Miene gleichmütig zu Victor u m . »Ich habe Angst, Herr Pfarrer. Mehr Angst als ein K i n d in einem dunklen Zimmer. Seit die ganze Sache angefangen hat, schreie ich wie am Spieß, wenn m i r ein Freund einen Schrecken einjagen w i l l , u n d wenn ich nachts allein b i n , mache ich m i r i n die Hosen. Ich habe im Leben noch nicht solche Angst gehabt. Eins weiß ich: Sollte es einen Gott geben, wie den, an den Sie glauben, dann ist er oder es der A n t i - G o t t . Die A n t i - H o f f n u n g . Der Antichrist, sagt man nicht so?« »Doch«, murmelte Victor. Carter ließ für einen Moment seinen Blick auf i h m ruhen. »Aber keine Sorge: Sie w i r d es nicht treffen, nur uns. Wenn Ihre Kollegen nicht bald eine Lösung finden, dann bringt er uns alle u m , bis auf Sie ... Sie werden nur verrückt werden.« In seiner Stimme lag ein Hauch Verachtung. »Also machen Sie nicht so ein Theater um diese Scheißschaben u n d öffnen Sie weiter die Kartons.« Damit drehte er sich um und verließ den Keller.
Victor schrak jäh aus dem Schlaf hoch. Er befand sich zu Hause. Ric Valente und er rissen den Mädchen die Hosen in Stücke. A l les andere - die Insel, die grausamen Morde - war nur ein böser Traum gewesen, Gott sei Dank. Die Wege des Unbewussten sind unergründlich, dachte er. »Sieh mal«, sagte Ric und zeigte i h m seine neueste Erfindung, einen ultraschnellen Apparat, um Hosen zu zerfetzen. Dann stellte Victor fest, dass er in Wirklichkeit auf dem Boden lag, m i t dem nackten Rücken an der kalten Metallwand. Er erkannte die enge Küche der Forschungsstation. Die Morgendämmerung drang durch das Fenster herein, aber es war nicht das Tageslicht gewesen, das i h n geweckt hatte. »Victor ...?«, flüsterte das Funkgerät auf dem Sims. »Victor, bist du da? Kannst du Carter Bescheid sagen und dann m i t i h m in den Vorführraum kommen?« »Habt ihr was?« Victor richtete sich mühsam auf. »Kommt, so schnell ihr könnt«, sagte Blanes anstelle einer A n t wort. Seinem Tonfall nach zu schließen, war er zu Tode erschrocken.
29
»Das Bild links stammt von einer Videoaufhahme, das rechts aus einem kurz zurückliegenden Zeit-String, etwa zwanzig M i n u t e n davor ... Der String wurde m i t Hilfe dieser Aufnahme geöffnet. Achtet mal auf den Schatten hinten am Rücken ...« Blanes trat an die Leinwand heran u n d fuhr m i t dem Zeigefinger über die Silhouette auf dem rechten Bild. Die Fotos ähnelten sich sehr: Sie zeigten eine Laborratte m i t ihrem graubraunen Fell, den feinen Schnauzhaaren u n d den rosa Füßchen. N u r wies die auf der rechten Seite der Leinwand eine leichte Sepiafärbung auf u n d war von einem dunklen H o f umgeben, als wäre das Bild mehrmals übereinander gedruckt worden. Aber es gab noch weitere Unterschiede. »Die Augen . . . « , murmelte Elisa. »Kommentieren können w i r das später«, schnitt ihr Blanes das W o r t ab. »Jetzt schauen w i r sie uns erst mal an.« Er ging quer durch den Raum nach hinten u n d warf das nächste Bild auf die Leinwand. »Das hier ist eine Kopie vom Ganzen Glas. Fällt euch was auf?« Alle Hälse reckten sich. Sogar Carter, der an der Tür stand, ließ Neugierde erkennen. »Ein ... Schatten, um das Glas h e r u m , wie bei der Ratte?«, sagte Jacqueline.
»Genau. Ursprünglich dachten wir, es wäre eine Unscharfe, aber es ist eine Vervielfältigung.« »Was genau ist diese Vervielfältigung?« »Sergio M a r i n i beschreibt sie in seinen Dateien. Er hat sie entdeckt, ich habe gar nichts davon gewusst...« Blanes wirkte nervös, fast beklommen. Elisa hatte ihn noch nie so gesehen. Während er sprach, wechselte er m i t zügigen Bewegungen auf der Tastatur des Computers die Bilder an der Wand. »Offenbar ist etwas Seltsames m i t i h m passiert, nachdem w i r das Bild vom Ganzen Glas erhalten hatten. Er hat nämlich dasselbe Glas noch einmal zwanzig M i n u t e n später gesehen, dann drei Stunden später u n d dann neunzehn Stunden, nachdem w i r das Experiment durchgeführt hatten. Es tauchte irgendwo vor i h m auf: im Bus, im Bett, auf der Straße. Er hat es als Einziger gesehen. Wenn er danach greifen wollte, war es verschwunden. Er dachte, er hätte Halluzinationen, deshalb hat er m i r nichts davon erzählt. Aber dann hat er m i t seinen Experimenten im A l leingang angefangen und bald festgestellt, dass Bilder von Gegenständen aus kurz zurückliegenden Zeit-Strings genau diesen Effekt bewirken. Sergio hat seine Versuche m i t Lebewesen fortgesetzt, zunächst m i t Ratten. Er hat sie gefilmt u n d dann Strings aus der kurz zurückliegenden Vergangenheit geöffnet. Von diesem M o m e n t an ist i h m dieselbe Ratte in bestimmten Zeitabständen immer wieder erschienen, genauso wie zuvor das Glas: in seinem Haus, im Auto, ganz gleich, wo er war. Immer nur i h m . Sie machte nichts Besonderes, sondern ließ sich nur anschauen. Allerdings sind im Radius von vierzig Zentimetern um sie her u m die Lichter ausgegangen. Sergio fand es einleuchtend, dass sie diese Energie brauchte, um zu erscheinen. Dieses Phänomen nannte er >Vervielfältigung<. Er hielt es für eine direkte Folge der Wechselwirkung zwischen Vergangenheit u n d Gegenwart.« Die Ratten auf der Leinwand wurden zu Hunden und Katzen. Blanes fuhr fort: »Er hat Versuche m i t größeren Tieren gemacht u n d fand weitere Eigenheiten heraus. Von einem Bild m i t mehreren Tieren hat sich nur jeweils eins vervielfältigt, und nicht
immer dasselbe. Das hielt er für Zufall. Allerdings konnte er an den schattigen Konturen auf dem Bild des offenen Strings erkennen, welches Tier sich vervielfältigen würde: Es war, als fände die Vervielfältigung in demselben Augenblick statt... Er stellte auch fest, dass keine Vervielfältigung erzeugt wurde, wenn das Tier starb. Was bedeutet, dass ein totes Tier u n d dasselbe lebende Tier nicht koexistieren können, nicht einmal in unterschiedlichen Zeit-Strings. Als er alle diese Daten beisammen hatte, zog er Craig hinzu. Sie führten weitere Versuche durch und stellten fest, dass die Vervielfältigungen real waren, allerdings erschienen sie nur denjenigen, die den Versuch durchgeführt hatten.« »Wie ist das möglich?«, fragte Victor. »Ich meine, wie kann ein Objekt oder Lebewesen gleichzeitig an zwei Orten auftauchen?« »Du darfst nicht vergessen, dass jeder Zeit-String einzigartig ist, Victor, u n d sämtliche Dinge u n d Lebewesen, die sich darin befinden, ebenfalls. Reinhard erklärt das auf ganz interessante Weise. Er sagt, w i r wären in jedem Bruchteil einer Sekunde jemand anderer. Der- oder dieselbe zu bleiben ist eine Illusion, die vom Gehirn erzeugt w i r d , damit wir nicht verrückt werden. Vielleicht kann ein Schizophrener all die unterschiedlichen Wesen erfassen, aus denen sich unser Ich im Lauf der Zeit zusammensetzt. Aber wenn man einen Zeit-String aus der kurz zurückliegenden Vergangenheit isoliert, werden die Dinge u n d Lebewesen genau dieser Zeit ebenfalls vom Fluss der Zeit getrennt und ... leben während ganz bestimmter Perioden aus sich selbst heraus weiter.« Carter schnaufte hörbar und wechselte die Stellung, indem er sich m i t einer Hand im Türrahmen abstützte. »Wenn Sie etwas nicht verstehen, dann fragen Sie r u h i g , Carter«, sagte Blanes. »Dann frage ich Sie am besten gleich nach meinem Namen«, murrte Carter. »Seit Sie angefangen haben zu reden, verstehe ich eh kein Wort.« »Warte mal«, mischte sich Elisa ein. A u f ihren nackten Beinen
spielte das bunte Licht der Fotos. Sie hielt m i t ihnen die Lehne des Stuhls vor ihr umfasst. »Leg noch mal das vorherige Bild ein. Nein, nicht das. Das davor, die Vergrößerung von der verletzten Ratte. Das.« Das sepiafarbige Foto nahm die ganze Leinwand ein. Eine Ratte m i t einer tiefen Spalte in der Schnauze u n d einem Riss auf dem Rücken war darauf zu sehen. Doch die Schnitte waren sauber u n d bluteten nicht. »Erinnern dich diese Verletzungen nicht an etwas, Jacqueline?« Elisa wusste, dass es der Paläontologin ebenfalls nicht entgangen war. »Die Frau in Jerusalem.« »Und die Füße der Dinos. Nadja hat mich darauf aufmerksam gemacht.« »Habt ihr auch gesehen, dass bei mehreren Hunden u n d Ratten die Pupillen fehlten?«, ergänzte Blanes. »Das wolltest du doch v o r h i n sagen, Elisa, oder?« Die weißen Augen. Elisa stockte der Atem. »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Victor. »Marini u n d Craig haben die Antwort gefunden. In W i r k l i c h keit passiert das nicht nur m i t den Gliedmaßen u n d dem Gesicht. Wartet.« Er kehrte noch einmal zum Bild des ganzen Glases zurück und vergrößerte es. »Schaut euch mal rechts den Rand an. Da fehlen ein paar Stücke v o m Glas. Außerdem seht mal hier in der Mitte diese Löcher. Das sind keine Luftblasen, sondern Löcher, fehlende Materie. Unser Gehirn hat nur die ... sagen wir mal, anthropomorphen Defekte wahrgenommen an Gesicht u n d Händen ... Aber alle Objekte aus der Vergangenheit, auch Erde u n d Wolken, alle weisen Löcher auf, Verstümmelungen. Die Erklärung dafür ist überraschend u n d ganz einfach.« »Die Planck-Zeit«, flüsterte Elisa. »Haargenau. W i r haben immer gedacht, diese Bilder wären Fotos oder Filme. W i r wussten zwar, dass sie es nicht sind, aber unbewusst haben w i r sie doch dafür gehalten. Dabei handelt es sich um offene Zeit-Strings. Jeder String entspricht einer Planck-
Zeit, dem kürzestmöglichen Zeitintervall überhaupt, einem so winzigen Moment, dass das Licht währenddessen kaum diesen Raum hier durchqueren kann. Materie besteht aus Atomen: Kerne aus Protonen u n d Neutronen m i t Elektronen, die darum kreisen, aber in einem so kurzen Intervall haben die Elektronen keine Zeit-, das ganze Objekt auszufüllen, so massiv es auch ist: Es bleiben Löcher, Leerräume ... Unser Gesicht, unser Körper, ein Tisch oder ein Berg erwecken dann den Anschein, unvollendet zu sein, verstümmelt. W i r haben das nicht bemerkt, bis w i r das Gesicht von der Frau in Jerusalem gesehen haben.« »Heißt das, da ist gar kein Gesicht?«, fragte Carter. »Ja u n d nein. Am wahrscheinlichsten ist, dass w i r eins haben, allerdings unvollständig. Stellen Sie sich eine Pfanne vor m i t ein paar Tropfen Öl: Wenn Sie sie schwenken, dann bedeckt das Öl den ganzen Boden, aber das braucht eine gewisse Zeit. In einer Planck-Zeit ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass Löcher bleiben, die die Elektronen nicht ausfüllen konnten: Unsere Augen, ein Teil des Gesichts oder des Kopfes, unsere Organe oder Gliedmaßen ... W i r verändern uns fortwährend innerhalb dieses minimalen Maßstabs von Zeit u n d Raum, nicht nur äußerlich. Nicht einmal ein Gedanke ist in der Lage, in einer Planck-Zeit von einem Neuron z u m nächsten zu wechseln. Dieses Z e i t i n tervall ist schlichtweg zu kurz. Ich wiederhole: In jedem ZeitString sind w i r ein anderes Wesen. U n d in uns leben so viele Wesen, wie Zeit-Strings seit unserer Geburt vergangen sind.« »Das ist ja unglaublich«, murmelte Jacqueline. »Wissen Sie was, Professor?« Carter kratzte sich feixend den Kopf. »Ich war nicht gerade ein Musterschüler. Ihre Dokumentation ist hervorragend, aber was ich gerne wüsste ist, wer uns seit zehn Jahren tranchiert, wer diese Albträume in uns auslöst u n d wie w i r denjenigen beseitigen können.« »Dazu k o m m e n w i r gleich«, vertröstete Blanes i h n u n d öffnete eine neue Datei. »Nachdem Sergio M a r i n i u n d Colin Craig m i t Tieren und Gegenständen geforscht hatten, fehlte ihnen nur noch ein Mensch. Es war ein hochgefährliches Experiment. Wer
würde sich als Freiwilliger für eine Vervielfältigung zur Verfügung stellen? Sie kamen auf Ric Valente.« Als unangekündigt das nächste Bild auf der Leinwand erschien, krampfte sich Elisas Magen zusammen. In einem Rahmen, u m geben von Ziffern, tauchte Ric Valente auf, wie er vor dem Computer saß. Den Ort erkannte Elisa auf Anhieb. »Ric hat angefangen, sich nachts im Kontrollzentrum selbst aufzunehmen, u n d hat diese Bilder benutzt, um seine eigenen Vervielfältigungen zu erforschen. Er hat festgestellt, dass die Vervielfältigungen eines Menschen nach ganz bestimmten Perioden wieder erscheinen. Der Radius des Stromausfalls hat vier oder fünf Meter im Durchmesser betragen. Ric hat M a r i n i gegenüber zugegeben, dass diese Erscheinungen einen außerordentlich großen Eindruck auf i h n machten.« Elisa fühlte sich an jenen Nachmittag erinnert, als sie Ric geistesabwesend am Strand angetroffen hatte. War er damals in die Betrachtung einer seiner Vervielfältigungen vertieft? U n d hatte er den Streit m i t Elisa nur v o m Zaun gebrochen, um sie glauben zu machen, seine Geistesabwesenheit sei nur darauf zurückzuführen, dass er seine Ergebnisse noch nicht abgeliefert hatte? »Eines Nachts, im September, geschah noch etwas. Ric war vollk o m m e n erschöpft u n d ist eingeschlafen, während die Kamera i h n weiterfilmte. Als er wieder aufwachte, setzte er die Experimente fort u n d öffnete einen Zeit-String von vor zehn Minuten, also aus der Phase, in der er geschlafen hatte. Dabei entstand eine andere A r t von Vervielfältigung.« Die Angst in Blanes' Stimme war jetzt unüberhörbar. Er ließ mehrere m i t Gleichungen voll geschriebene Bilder über die Leinwand ziehen. »Der erste Unterschied zu den vorherigen war, dass die erste Vervielfältigung schon kurz nach der Durchführung des Experiments auftrat, binnen eines Zeitraums also, den Ric nicht erwartet hatte. Außerdem war ihr Radius wesentlich größer u n d führte sogar zu einem kurzen Stromausfall im gesamten Kontrollzentrum. Aber das ist noch nicht alles: Die Vervielfältigung hat Ric in ihren Zeit-String hineingezogen. Während dieses Intervalls hat sich für i h n der
Raum verfinstert u n d wies sonderbare Löcher in Wänden u n d Boden a u f . . . « »Löcher?«, fragte Jacqueline. »Verursacht durch die Bewegung der Elektronen«, mischte sich Elisa ein, »genauso wie die vermeintlichen Verletzungen in dem Gesicht der Frau in Jerusalem.« Die Angst schnürte ihr die Kehle zu: Jetzt war ihr der H i n t e r g r u n d jenes Lochs in der Decke klar, damals, während ihres sonderbaren >Traumes<. »Löcher in der Materie hat Sergio sie genannt«, sagte Blanes. »Ein Beobachter im Inneren eines Zeit-Strings erlebt seine U m gebung als unvollständig: m i t >Mängeln<, die sich nach und nach im Zuge der vergehenden Zeit schließen, wenn nämlich die betreffenden Stellen m i t Partikeln gefüllt werden, allerdings entstehen gleichzeitig neue Löcher ...« »Hat Ric solche Löcher auch in seinem eigenen Körper gesehen?«, fragte Victor. »Nein, sich selbst hat er nie so gesehen. N u r seine Vervielfältigung, aber nicht sich selbst. Aus seiner Perspektive war er nackt in einer Welt ohne Bewegung.« Wie ich in dem Traum, dachte Elisa. »Nackt?«, staunte Jacqueline. »Er nahm weder seine Kleider wahr noch irgendetwas anderes, was er am Körper t r u g . N u r den nackten Körper. Alles andere war außerhalb des Zeit-Strings geblieben. Die Vervielfältigung hat bloß ihn m i t hineingezogen.« Elisa drehte sich zu Blanes u m . »Diese Erfahrung hat nicht nur Ric gemacht.« Sie spürte, wie alle Köpfe sich nach ihr umwandten. Dann fügte sie befangen hinzu, ihre Wangen glühten in dem abgedunkelten Raum: »Nadja u n d ich auch. U n d Rosalyn.« »Von Rosalyn wusste ich es«, bestätigte Blanes. »Sie hat es Valente erzählt. Die Vervielfältigung ist ihr in derselben Nacht erschienen wie i h m , u n d sie ist ebenfalls in den Zeit-String h i n eingezogen worden. Rosalyn hat natürlich angenommen, sie habe äußerst lebhaft geträumt, aber als es Ric bewusst wurde, dass in
Rosalyns Bad tatsächlich die Lampen durchgebrannt waren, beg r i f f er, was passiert war.« Elisa starrte blicklos die Leinwand m i t den mathematischen Formeln an. Das geheimnisvolle Rätsel, m i t dem sie all die Jahre gelebt hatte, begann endlich konkrete Formen anzunehmen. Der gesichtslose Mann mit den weißen Augen. Sie konnte sich erinnern, dass sowohl Nadja als auch sie ihn für Ric gehalten hatten. U n d was war noch passiert? Wie real war die Aggression, die sie zu erleben gemeint hatte? Sie beschloss, über diesen Punkt Stillschweigen zu bewahren, denn sie fühlte sich nicht in der Lage, davon zu erzählen. Aber dann sagte Blanes: »Rosalyn hat Ric gestanden, dass sein Doppel sie im Traum angegriffen hatte. Er war zwar nicht sicher, ob sie i h m das nur erzählte, um ihn für sein abflauendes Interesse zu bestrafen, aber aus seinen Unterlagen geht hervor, dass i h m diese Äußerungen einiges Kopfzerbrechen bereitet hat. Wie ließ sich dieser Unterschied erklären? Bisher hatten sich die Vervielfältigungen nicht anders verhalten als Gespenster. Ric hat also Sergio M a r i n i davon erzählt. Zusammen haben sie das Thema heimlich diskutiert. Das war damals, als sie lange Spaziergänge zum See unternommen.« »Manchmal waren sie auch in der Kasematte«, warf Carter ein. »Sie wussten, dass sie dort niemand hören würde.« »Schließlich glaubte Sergio, eine Erklärung gefunden zu haben: Die Vervielfältigung stammte in diesem Fall von einer der m u l t i p l e n >Personen<, die Ric im Schlaf war. Im Klartext heißt das: Es war eine Vervielfältigung von Rics Unterbewusstsein. Das Träumen ist eine sehr viel gewalttätigere Angelegenheit, als allgemein vermutet w i r d . Reinhard Silberg behauptet, die Vorstellung, w i r würden uns beim Schlafen erholen, sei nur eine I l l u sion, um das Vergehen der Zeit zu erklären. Spaltet man diese nämlich in isolierte Intervalle auf, dann sieht man, dass unser Körper im Traum viel aktiver ist als im Wachzustand: W i r machen rasche Augenbewegungen, haben Halluzinationen, empfinden sexuelle Erregung ... U n d Sergio hat daraus gefolgert,
dass Träume oder das Unterbewusstsein entsprechende Vervielfältigungen der intimsten u n d ungezähmtesten Seiten des M e n schen hervorbringen können.« »Dann ... ist das also Zickzack«, flüsterte Jacqueline. »Die Vervielfältigung von Ries Unterbewusstsein ...« Blanes schüttelte den Kopf. »Nein: Zickzack ist erst später aufgetaucht, in der Nacht auf den ersten Oktober. Er ist auch eine Vervielfältigung, allerdings eine viel machtvollere. Es kann allein deshalb nicht dieselbe sein, die Rosalyn, Elisa und Nadja gesehen haben, weil die nur jeweils eine kleine Energiemenge benötigt hat, während bei Zickzacks Auftauchen die Generatoren durchgeschmort sind. Außerdem taucht er schon seit über zehn Jahren in wechselnden Perioden in unserer Gegenwart auf, was in keinem anderen Fall so gewesen ist. W i r wissen nicht einmal, ob ihn w i r k l i c h Ric hervorgerufen hat, obwohl alles dafür spricht. Ric Valente hat konsequent Tagebuch geführt. Z u m Glück hat Sergio es mitgenommen. Dort hat Ric notiert, dass er entschlossen sei, seine Versuche auf eigene Faust an schlafenden Personen fortzusetzen, obwohl M a r i n i i h m wegen der möglichen Risiken dringend davon abgeraten habe. Ric klingt in seinen Aufzeichnungen euphorisch. Er wollte mehr herausbekommen über die aggressive Variante der Vervielfältigungen, da sie seine ureigene Entdeckung waren. Er schreibt, dass er damit erstmals die enge Beziehung zwischen der Teilchenphysik und der freudschen Psychologie bewiesen hätte. Offen gestanden fällt es m i r schwer, ihn dafür zu verurteilen. Seine letzte Notiz stammt vom neunundzwanzigsten September, darin erklärt er, dass er vorhabe, die Nacht auf Samstag, den ersten Oktober, zu nutzen, in der das Unwetter seinen Höhepunkt erreichen sollte, um m i t einem neuen Bild weitere Vervielfältigungen zu erzeugen.« Jacqueline sprach die Frage aus, die allen auf der Zunge lag. »Mit welchem Bild?« Blanes schloss die Datei u n d öffnete eine andere. »In seinem letzten Eintrag steht, dass er vorhatte, diese Aufnahmen hier zu verwenden ...«
A u f der Leinwand erschienen unscharfe Vergrößerungen. Elisa u n d Jacqueline sprangen fast gleichzeitig von ihren Stühlen auf. »Scheiße . . . « , entfuhr es Carter. Die Bilder ähnelten sich: A u f allen war ein Zimmer zu sehen m i t einem Bett u n d einer schlafenden Gestalt darin. Nadja u n d sich erkannte Elisa sofort. Die Fotos waren vor zehn Jahren von oben aufgenommen u n d zeigten sie schlafend in ihren Betten auf New Nelson. »In die Deckenbeleuchtung unserer Zimmer waren InfrarotKameras integriert«, erklärte Blanes. »Ric hatte jede Nacht in Echtzeit Bildmaterial von uns allen zur Verfügung. Auch von I h nen, Carter.« »Die von Eagle wollten uns im Auge behalten.« Carter nickte. »Sie hatten Paranoia wegen des Impacts.« Jetzt ging Elisa ein Licht auf: Ric hatte sie damals bei ihrem Streitgespräch m i t seinen Bemerkungen über ihre einsamen Freuden nicht provozieren wollen, er hatte sie w i r k l i c h gesehen. Er hatte sie allesamt ständig sehen können. »Und welches von diesen verfluchten Bildern hat er n u n benutzt?«, platzte es schrill aus Jacqueline heraus. Ihre Frage schien weniger an Blanes gerichtet als an die Leinwand. »Das wissen w i r nicht, Jacqueline. Ric hat eigenmächtig herumexperimentiert, ohne Sergio M a r i n i ins Vertrauen zu ziehen.« »Aber es muss doch irgendeine Aufzeichnung geben ... eine Datei, irgendwas Gespeichertes . . . « , Carter wirkte plötzlich sehr nervös. »Im Kontrollzentrum waren doch auch versteckte Kameras«, setzte er hinzu. Doch Blanes schüttelte nur den Kopf. »Sämtliche Aufzeichnungen u n d alle gespeicherten Dateien dieser Nacht sind bei dem Stromausfall infolge von Zickzack gelöscht worden: Er hat die ganze Energie aus der Umgebung absorbiert u n d dabei die Daten in den Zwischenablagen gelöscht. Es kann sogar sein, dass Ric wieder mal ein Bild von sich selbst benutzt hat, obwohl ich das bezweifle. Ich glaube, dass er für den Versuch ein anderes ge-
wählt hat. Eins von diesen, aber welches?« Er ließ sämtliche Aufnahmen noch einmal rückwärts durchlaufen. »Nein, nicht irgendeins ...« Das Sprechen fiel Elisa merklich schwer. »Die von Nadja, M a r i n i , Craig, Ross, Silberg u n d den Soldaten können es jedenfalls nicht sein.« »Du hast Recht. Die sind ja tot, und eine Vervielfältigung existiert nie gleichzeitig m i t seinem toten Original. Dann bleiben also nur noch w i r übrig ...« Blanes' Blick wanderte im Dämmerlicht von einem zum anderen, während er ihre Namen aufsagte: »Elisa, Jacqueline, Carter u n d ich. U n d Ric, der verschwunden ist.« »Aber ... das bedeutet...«, Jacqueline war totenbleich. Blanes nickte ernst. »Zickzack ist einer von uns.«
Die Soldatin hieß Previn, so stand es jedenfalls auf ihrer U n i formbluse. Sie war blond u n d blauäugig, eher vollschlank, aber durchaus attraktiv. Das Beste an ihr war jedoch, dass sie den M u n d hielt. Leutnant Borsello dagegen, seines Zeichens Oberst der Strategischen Abteilung auf dem Stützpunkt Imnia im Ägäischen Meer, hatte sich hinter dem Schreibtisch in seinem Büro verschanzt u n d redete ohne Punkt und Komma. Dennoch hatten sie eines gemeinsam: Beide taten so, als wäre Jürgens Luft. Die Soldatin vermied jeden Blickkontakt, während der Leutnant immerhin ab und zu Jürgens flüchtig m i t den Augen streifte, um sich dann schleunigst wieder Harrison zuzuwenden, als wollte er i h m beweisen, dass es nicht viel gab, was er noch nicht gesehen hatte. Harrison verstand die Botschaft: Borsello wollte w i r k e n , als ließe ihn Jürgens' Anwesenheit kalt. »Ich freue mich, Sie hier willkommen heißen zu können«, sagte Borsello, »und stehe Ihnen zu Diensten, allerdings weiß ich nicht, ob ich Ihre Bitte richtig verstanden habe.« »Meine Bitte . . . « , Harrison brachte das Wort nur unter Qualen über die Lippen. »Meine Bitte ist nicht weiter kompliziert,
Leutnant Borsello: Vier >Erzengel<, sechzehn Männer in Schutzanzügen, die komplette Ausrüstung.« »Wann soll es losgehen?« »Noch heute Abend. In acht Stunden.« Borsello runzelte die Stirn. Seine ganze Haltung schien auszudrücken: >Schaut her, wie nett ich zu den Zivilen bin.< Doch Harrison entnahm der gerunzelten Stirn die glatte Absage. »Ich fürchte, dass das nicht möglich sein w i r d . Im Norden der Chango-Inseln wütet ein Taifun, der sich auf New Nelson zubewegt. Die >Erzengel< sind kleine Hubschrauber. Die würden m i t einer Wahrscheinlichkeit von über fünfzig Prozent...« »Dann eben Wasserflugzeuge.« Borsello lächelte nachsichtig. »Die können nicht wassern. In wenigen Stunden werden dort die Wellen hoch an die Küste branden. Hier in Imnia haben w i r nur beschränkte Kapazitäten. W i r sind nicht mehr als dreißig M a n n . Sie werden den morgigen Tag abwarten müssen.« Aus irgendeinem G r u n d hörte Harrison nicht auf, die Soldat i n Previn anzustarren. Während er Borsellos Lächeln u n d dessen Höflichkeiten erwiderte, ließ er den Blick unentwegt auf der Untergebenen ruhen. Er hatte nicht vor, dieses Hindernis m i t dem von Aknekratern übersäten Mondgesicht namens Borsello noch länger zu ertragen - das konnte niemand von i h m verlangen. »Die Truppe steht morgen früh für Sie bereit. Vielleicht bei Sonnenaufgang, wenn ...« »Können w i r uns mal unter vier Augen unterhalten?«, schnitt i h m Harrison das Wort ab. Er zog die Brauen hoch, gab sich deutlich Mühe, seine Verblüffung zu verbergen, höflich zu bleiben und unter keinen U m ständen zu Jürgens hinüberzusehen - schließlich entließ Borsello m i t einer Handbewegung die Soldatin u n d sagte, kaum dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatte: »Was wollen Sie wirklich, Mr Harrison?« Jetzt, da die Walküre den Raum verlassen hatte, fühlte sich
Harrison wohler. Er schloss die Augen u n d ließ sich mögliche Antworten durch den Kopf gehen. Ich will mir einen Stachel aus dem Gehirn ziehen. Das könnte ich zu ihm sagen. Als er sie wieder öffnete, war Borsello immer noch da u n d Jürgens ebenfalls zum Glück. Harrison deutete ein höfliches Lächeln an. »Ich möchte noch heute Abend auf die Insel, Leutnant. U n d ein paar von Ihren Männern mitnehmen. Ich schwöre Ihnen, ich werde Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, wenn Sie mich gewähren lassen.« »Verstehe. Ich weiß, dass ich Ihre Order befolgen muss. So lautet mein Befehl: Ihre Order zu befolgen. Ich fürchte nur, dass es eine Riesendummheit ist. Ich kann keine >Erzengel< mitten ins Taifun-Gebiet schicken. Außerdem ... wenn ich offen zu Ihnen sein d a r f . . . « - Harrison machte eine ermutigende Geste - »... befinden sich die von Ihnen gesuchten Individuen nach unseren Informationen auf dem Weg nach Brasilien. Die dortigen Behörden sind bereits benachrichtigt. Deshalb verstehe ich Ihre D r i n g lichkeit nicht w i r k l i c h , nach New Nelson zu kommen.« Harrison nickte wortlos, als hätte Borsello i h m gerade eine unleugbare Tatsache unterbreitet. Schließlich deutete alles dar a u f h i n , dass Carter u n d die Wissenschaftler nach Ägypten aufgebrochen waren, nachdem sie in Sana'a Zwischenstation gemacht hatten. Seine Geheimagenten hatten in Kairo einen Dokumentenfälscher befragt, der ihnen bestätigte, dass Carter mehrere Visa für die Einreise nach Brasilien bei i h m in Auftrag gegeben hatte. Das war ihre einzige gesicherte Fährte. U n d genau aus diesem G r u n d wollte Harrison ihr nicht f o l gen. Er kannte Paul Carter gut genug, um zu wissen, dass es ein Fehler war, den Weg einzuschlagen, wo der andere seine D u f t marke hinterlassen hatte. Doch er verfügte noch über eine andere, sehr viel unscheinbarere Information: Militärsatelliten hatten am gestrigen Nachmittag einen nicht identifizierten Hubschrauber über dem I n dischen Ozean geortet. Das allein besagte nicht viel, denn der Hubschrauber hatte New Nelson nicht direkt angesteuert, aber
Harrison war schlagartig klar geworden, dass die Leute, die i h n darüber aufklären sollten, wer New Nelson anflog u n d wer nicht, Carters Männer waren. Also war dies sein Ziel. A u f dem Flug nach Imnia am Morgen hatte er genau das zu Jürgens gesagt: »Sie sind auf der Insel. Sie sind wieder da.« U n d er glaubte sogar zu wissen, w a r u m . Sie haben einen Weg entdeckt, Zickzack ein Ende zu machen. Jetzt galt es, m i t der gleichen teuflischen Geschicklichkeit vorzugehen wie sein ehemaliger Mitarbeiter. Sollte er beschließen, erst bei Tageslicht auf New Nelson aufzutauchen, wäre Carter längst von der Küstenwache gewarnt, u n d ebenso, wenn er befahl, diese ganz abzuziehen oder auch nur zu befragen. Er musste unbemerkt über die Insel herfallen u n d die Tatsache ausnutzen, dass die Wachsamkeit wegen des Sturms in der Nacht leiden würde: N u r so konnte er ihrer habhaft werden. Allein bei der Vorstellung geriet sein Blut in Wallung. Aber was nützte es, das alles diesem Idioten vor seiner Nase zu erklären? I m m e r h i n stand i h m eine unersetzliche Hilfe zur Seite: Er hatte Jürgens herbeigerufen. »Es führt eine Spur nach Brasilien«, räumte er ein. »Eine nicht zu unterschätzende Spur, Leutnant. Aber bevor ich ihr folge, w i l l ich ausschließen können, dass sie auf New Nelson sind.« »Nun, ich für meinen Teil, würde Ihnen den Gefallen gerne t u n , aber ...« »Sie haben direkten Befehl der Strategischen Abteilung ...« »Deshalb wiederhole ich ja, ich habe den Befehl, Ihre Order zu befolgen, aber wie u n d wann ich das Leben meiner Männer aufs Spiel setze, entscheide immer noch ich. W i r sind ein Unternehmen, nicht das Militär.« »Ihre Männer sind m i r unterstellt worden, Leutnant, u n d haben den direkten Befehl dazu erhalten.« »Solange ich hier sitze, sind meine Männer m i r unterstellt und sonst niemandem.« Harrison sah zur Seite, als hätte er jedes Interesse an dem Gespräch verloren. Er vertiefte sich in den Anblick der lieblichen
Mittagssonne über dem Meer, in das Gelb u n d das Blau auf der anderen Seite des hermetisch verschlossenen Bürofensters. U n d beinahe kamen i h m die Tränen bei dem Gedanken, dass früher, viel früher, lange bevor i h m das Einstein-Projekt übertragen worden war und seine Augen u n d sein Geist noch v o m Grauen unberührt waren, Landschaften wie diese ihn zu rühren vermocht hatten. »Leutnant«, sagte er nach einer langen Pause u n d blickte weiter aus dem Fenster. »Kennen Sie die Hierarchie der Engel?« Ohne eine A n t w o r t abzuwarten, zählte er auf: »Seraphim, Cherubim, Throne, Gewalten ... Den Befehl übernehme ich. In der Hierarchie stehe ich über Ihnen, weit über Ihnen. Ich habe mehr Schrecken m i t angesehen als Sie u n d verdiene Respekt.« »Was meinen Sie m i t >den Befehl übernehmend« Borsello runzelte die Stirn. Harrisons Blick schweifte von der Landschaft zu Jürgens. Daraufhin tat Borsello etwas Unerwartetes: Er nahm auf seinem Stuhl Haltung an u n d rührte sich nicht mehr, als wäre gerade ein ranghoher Militär zur Tür hereingekommen. Aus dem Loch zwischen Borseilos Brauen löste sich ein dunkelroter Tropfen u n d rann ungehindert über das Nasenbein nach unten. Die Pistole m i t dem Schalldämpfer war genauso blitzschnell wieder in Jürgens' Jackett verschwunden, wie sie daraus aufgetaucht war. »Das meine ich, Leutnant«, sagte Harrison.
30
Sie waren ins Esszimmer umgezogen. Im Grau des aufziehenden Morgens waren Dinge u n d Menschen nur schemenhaft zu erkennen u n d einander zum Verwechseln ähnlich. Carter nahm einen Schluck Kaffee. »Könnte es nicht eine einfachere Erklärung geben? Ein Verrückter, ein Sadist, ein Killer, eine terroristische Vereinigung? Eine ... ich weiß auch n i c h t . . . eine Erklärung, die irgendwie wahrscheinlicher ist, verdammt!« Er musste die Blicke der anderen bemerkt haben, denn er hob entschuldigend die H a n d u n d setzte hinzu: »War ja nur eine Frage.« »Das hier ist die wahrscheinlichste Erklärung, Carter«, erwiderte Blanes. »Die Realität, das ist Physik. U n d Sie wissen genauso gut wie ich, dass es keine andere Erklärung gibt.« Bei den folgenden Worten streckte er einen Finger nach dem anderen hoch: »Erstens die Schnelligkeit u n d die Lautlosigkeit: Um Ross umzubringen, hat er nicht einmal zwei Stunden benötigt, Nadja hat er in M i n u t e n zerhackt, u n d bei Reinhard haben i h m Sekunden genügt. Dann die unterschiedlichen Tatorte: ein Vorratskeller, eine Barkasse, eine Wohnung, ein Flugzeug in der L u f t . . . Halten w i r also fest: Es stellt für i h n kein Problem dar, einen Raum zu durchqueren, weil er sich nämlich gar nicht durch den Raum bewegt. Drittens die Mumifizierung der sterblichen Überreste, die daraufhindeutet, dass die verstrichene Zeit für die Opfer länger ist als für ihre Umgebung. U n d viertens der Schock,
den jeder erlitten hat, der Zeuge einer Tat geworden ist, sogar Leute, die den Anblick v o n Leichen gewohnt sind. Wissen Sie warum? Durch den Impact. Der Impact ist bei jeder Tat von Zickzack genauso stark wie beim Betrachten eines Bildes der Vergangenheit. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Sergio Marina u n d Ric Valente den Impact erlitten, als ihnen die Vervielfältigungen erschienen sind.« Blanes hielt i h m vier Finger vor die Nase, als wollte er bei einer Versteigerung mitbieten. »Sie wissen genauso gut wie alle anderen: Der Täter ist eine Vervielfältigung. U n d es weist alles darauf hin, dass sie von einem von uns stammt. Der arme Reinhard ist zu genau dieser Erkenntnis gekommen.« »Aber kann es denn einer von uns sein, die w i r hier sitzen? Ohne dass er oder sie es weiß?« »Elisa, Jacqueline, Sie oder ich«, bejahte Blanes. »Oder Ric. Jedenfalls jemand, der vor zehn Jahren auf der Insel war. Einer von uns Überlebenden. Außer es ist Reinhard gewesen, in diesem Fall wäre er schon tot. Aber das bezweifle ich.« Jacqueline saß vornübergebeugt da, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, den Blick in weite Ferne gerichtet, als wäre sie gar nicht bei der Sache, aber plötzlich blinzelte sie u n d sagte: »Die Vervielfältigung von Ric ist nicht so gewalttätig gewesen, nicht wahr? W a r u m ist Zickzack dann ... so?« Blanes sah sie ernst an. »Das ist die Kernfrage. Die einzige einigermaßen schlüssige A n t w o r t darauf stammt auch von Reinhard: Einer von uns ist nicht das, was er oder sie zu sein scheint.« »Wie bitte?« »All unsere Träume . . . « , Blanes unterstrich seine Worte m i t lebhaften Gesten. »Begierden, die uns selbst fremd scheinen, I m pulse, von denen w i r beherrscht werden ... Zickzack beeinflusst uns fortwährend, selbst wenn w i r i h n nicht sehen. Er dringt in unser Unterbewusstsein ein u n d zwingt uns, bestimmte Dinge zu denken, zu träumen oder zu t u n . Das war bisher bei keiner Vervielfältigung so. Reinhard fand den Gedanken erschreckend, dass Zickzack einem kranken, anormalen Gehirn entstammte. Bei der Vervielfältigung im Schlaf hat das ... oder er eine enorme
Kraft entfaltet. Du hast gestern das Wort verseucht verwendet, Jacqueline. Kannst du dich erinnern? Das trifft es. W i r alle sind v o m Unterbewusstsein jenes Subjekts verseucht worden.« »Willst du damit sagen«, fragte Jacqueline ungläubig, »dass einer von uns den anderen etwas vormacht?« »Ich w i l l damit sagen, dass es sich wahrscheinlich u m jemanden handelt, der irgendwie gestört ist.« Tiefes Schweigen. Aller Blicke wanderten jetzt zu Carter, obw o h l Elisa nicht ganz verstand, w a r u m . »Wenn hier jemand gestört ist, dann doch wohl ein Physikdozent«, sagte Carter. »Oder ein ehemaliger Soldat«, konterte Blanes u n d fixierte i h n . »Ein Typ, der so zahlreiche Traumata erlitten hat, dass sein Unterbewusstsein ein einziger A l b träum ist.« Carter zuckte m i t den Schultern, als müsse er darüber lachen, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Er drehte sich u m , ging in die Küche u n d schenkte sich von dem aufgewärmten Kaffee nach. »Und was hat es zu bedeuten, dass er jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt u n d dann plötzlich zuschlägt?«, wollte Jacqueline wissen. »Der Ausdruck >jahrelang< macht aus der Sicht von Zickzack keinen Sinn«, erläuterte Blanes. »Für Zickzack passiert alles während eines Lidschlags, u n d die Perioden sind nichts anderes als die Intervalle, die er benötigt, um sich durch die Zeit zu bewegen wie jede andere Vervielfältigung auch. Für i h n befinden w i r uns immer noch auf der Forschungsstation in jener Nacht u n d laufen zum Kontrollzentrum, während die Sirenen ertönen. In seinem Zeit-String, in seiner Welt, existieren w i r stets in eben jenem Moment. Das ist der Grund, weshalb wir unter seinem Einfluss stehen, auch wenn w i r i h n nicht sehen. Ich b i n übrigens sicher, dass er eine bestimmte Reihenfolge einhält, wenn er angreift. Wisst ihr noch, wer nach Ric damals als Erster im Kontrollzent r u m war? Rosalyn. Sie war das erste Opfer. U n d dann? Wer ist als Nächster gekommen?«
den jeder erlitten hat, der Zeuge einer Tat geworden ist, sogar Leute, die den Anblick von Leichen gewohnt sind. Wissen Sie warum? D u r c h den Impact. Der Impact ist bei jeder Tat v o n Zickzack genauso stark wie beim Betrachten eines Bildes der Vergangenheit. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Sergio Mar i n i und Ric Valente den Impact erlitten, als ihnen die Vervielfältigungen erschienen sind.« Blanes hielt i h m vier Finger vor die Nase, als wollte er bei einer Versteigerung mitbieten. »Sie wissen genauso gut wie alle anderen: Der Täter ist eine Vervielfältigung. U n d es weist alles daraufhin, dass sie von einem von uns stammt. Der arme Reinhard ist zu genau dieser Erkenntnis gekommen.« »Aber kann es denn einer von uns sein, die w i r hier sitzen? Ohne dass er oder sie es weiß?« »Elisa, Jacqueline, Sie oder ich«, bejahte Blanes. »Oder Ric. Jedenfalls jemand, der vor zehn Jahren auf der Insel war. Einer von uns Überlebenden. Außer es ist Reinhard gewesen, in diesem Fall wäre er schon tot. Aber das bezweifle ich.« Jacqueline saß vornübergebeugt da, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, den Blick in weite Ferne gerichtet, als wäre sie gar nicht bei der Sache, aber plötzlich blinzelte sie und sagte: »Die Vervielfältigung von Ric ist nicht so gewalttätig gewesen, nicht wahr? Warum ist Zickzack dann ... so?« Blanes sah sie ernst an. »Das ist die Kernfrage. Die einzige einigermaßen schlüssige A n t w o r t darauf stammt auch von Reinhard: Einer von uns ist nicht das, was er oder sie zu sein scheint.« »Wie bitte?« »All unsere Träume . . . « , Blanes unterstrich seine Worte m i t lebhaften Gesten. »Begierden, die uns selbst fremd scheinen, I m pulse, von denen w i r beherrscht werden ... Zickzack beeinflusst uns fortwährend, selbst wenn w i r i h n nicht sehen. Er dringt in unser Unterbewusstsein ein u n d zwingt uns, bestimmte Dinge zu denken, zu träumen oder zu t u n . Das war bisher bei keiner Vervielfältigung so. Reinhard fand den Gedanken erschreckend, dass Zickzack einem kranken, anormalen Gehirn entstammte. Bei der Vervielfältigung im Schlaf hat das ... oder er eine enorme
Kraft entfaltet. Du hast gestern das W o r t verseucht verwendet, Jacqueline. Kannst du dich erinnern? Das t r i f f t es. W i r alle sind v o m Unterbewusstsein jenes Subjekts verseucht worden.« »Willst du damit sagen«, fragte Jacqueline ungläubig, »dass einer von uns den anderen etwas vormacht?« »Ich w i l l damit sagen, dass es sich wahrscheinlich u m jemanden handelt, der irgendwie gestört ist.« Tiefes Schweigen. Aller Blicke wanderten jetzt zu Carter, obwohl Elisa nicht ganz verstand, w a r u m . »Wenn hier jemand gestört ist, dann doch wohl ein Physikdozent«, sagte Carter. »Oder ein ehemaliger Soldat«, konterte Blanes u n d fixierte i h n . »Ein Typ, der so zahlreiche Traumata erlitten hat, dass sein Unterbewusstsein ein einziger A l b t r a u m ist.« Carter zuckte m i t den Schultern, als müsse er darüber lachen, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Er drehte sich u m , ging in die Küche u n d schenkte sich von dem aufgewärmten Kaffee nach. »Und was hat es zu bedeuten, dass er jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt u n d dann plötzlich zuschlägt?«, wollte Jacqueline wissen. »Der Ausdruck >jahrelang< macht aus der Sicht von Zickzack keinen Sinn«, erläuterte Blanes. »Für Zickzack passiert alles während eines Lidschlags, u n d die Perioden sind nichts anderes als die Intervalle, die er benötigt, um sich durch die Zeit zu bewegen wie jede andere Vervielfältigung auch. Für i h n befinden w i r uns immer noch auf der Forschungsstation in jener Nacht u n d laufen zum Kontrollzentrum, während die Sirenen ertönen. In seinem Zeit-String, in seiner Welt, existieren w i r stets in eben jenem Moment. Das ist der Grund, weshalb w i r unter seinem Einfluss stehen, auch wenn w i r i h n nicht sehen. Ich b i n übrigens sicher, dass er eine bestimmte Reihenfolge einhält, wenn er angreift. Wisst ihr noch, wer nach Ric damals als Erster im Kontrollzent r u m war? Rosalyn. Sie war das erste Opfer. U n d dann? Wer ist als Nächster gekommen?«
»Cheryl Ross«, murmelte Elisa. »Sie hat es m i r selbst gesagt.« »Sie war das zweite Opfer.« »Mendez wer der Erste von meinen Männern«, sagte Carter. »Er hatte Wache u n d ... M o m e n t m a l . . . er war das dritte O p fer ... Verflucht!« Sie sahen einander an. Jacqueline wurde immer nervöser. »Ich bin nach Reinhard gekommen«, seufzte sie. Dann drehte sie sich zu Elisa u m . »Und du?« »Wartet, das ist nicht ganz schlüssig«, sagte Elisa. »Ich bin nämlich zusammen m i t Nadja angelangt. Reinhard war schon da, u n d Nadja ist gestorben, bevor ...« Dann stockte sie plötzlich. Oder nicht? Nadja hat zu mir gesagt, sie wäre schon vorher aufgestanden. Sie war es sogar, die entdeckte, dass Ric nicht in seinem Bett lag. Elisa korrigierte sich: »Nein, stimmt nicht. Er tötet uns in der Reihenfolge, in der w i r aufgewacht u n d auf den Flur h i nausgegangen sind.« Einen Augenblick lang sah keiner den anderen an, u n d jeder schien in seine eigenen Gedanken versunken. Elisa fühlte sich schäbig, weil sie insgeheim bei dem Gedanken aufatmete, dass Jacqueline u n d Blanes bereits aufgewesen waren, als sie dazustieß. »Alle mal herhören«, Carter hob die Hand. Er war kreidebleich. M i t neu gewonnener Autorität fragte er. »Falls Ihre Theorie zutrifft, Professor, was wäre dann, wenn es ... sich selbst beseitigt?« »Wenn es sein Alter Ego umbringt, dann sterben alle beide«, antwortete Blanes. »Und wenn sein Alter Ego anders ums Leben k o m m t . . . « »Dann stirbt Zickzack mit.« Carter nickte, als hätte er alle Fakten beisammen. »Demnach müssen w i r uns nur noch über die Identität des Täters klar werden, dann müssen w i r i h n beseitigen - wer es auch sein mag -, bevor dieser Scheiß-Zickzack den Nächsten von uns zerstückelt. W i r können schließlich davon ausgehen, dass er
sich nicht selbst beseitigen w i r d : Da er es bis jetzt nicht getan hat, w i r d er sich das wahrscheinlich bis zum Schluss aufheben - ob bewusst oder zufällig. Also werden w i r es t u n müssen.« Carter blickte herausfordernd in die Runde. Dann wiederholte er: »Wer es auch sein mag. Habe ich Recht?« War das die Lösung? Elisa fand den Gedanken entsetzlich, aber gleichzeitig bestechend einfach u n d irgendwie angemessen. Neue Unruhe breitete sich im Raum aus. Sogar Victor, der sich bisher herausgehalten hatte, nahm jetzt intensiv am Gespräch teil. »Zickzack ist ein Mann.« Jacquelines Stimme hallte durch den Raum wie ein Stein, der auf dem Boden aufprallt. »Ich weiß es m i t Sicherheit: Zickzack ist ein Mann.« Sie hob die dunklen A u gen zu Carter, danach zu Blanes. »Glauben Sie denn, es gibt keine perversen Frauen, Frau Professor?«, fragte Carter. »Ich weiß es einfach, dass es ein M a n n ist! U n d Elisa weiß es auch!« Jacqueline drehte sich zu ihr u m . »Den Eindruck hast du doch auch! Na los, sag es schon!« Bevor Elisa antworten konnte, w a r f Carter ein: »Angenommen, sie hat Recht u n d es ist ein M a n n . Was sollen w i r dann I h rer Meinung nach tun? W i r wären dann immer noch zwei. Sollen w i r auszählen, der Professor u n d ich? Oder sollen w i r uns gegenseitig die Gurgel durchschneiden, damit Sie in Frieden weiterleben können?« »Drei.« Victors Stimme klang sanft, rief aber erneut Schweigen hervor. »Dann wären es immer noch drei: Ric muss mitgezählt werden.« Elisa ließ seinen Einwand gelten. Sie durften Ric Valente nicht außer Acht lassen, bis sie die Gewissheit hatten, dass er tot war. Nach der >Verseuchung< zu urteilen, unter der Jacqueline u n d sie zu leiden hatten, kam er jedenfalls noch am ehesten als Kandidat in Frage. »Wenn w i r doch nur feststellen könnten, welches Bild er damals verwendet h a t . . . « , sagte Blanes.
Bei der Erinnerung an Ric Valente verlor Elisa für einen A u genblick den Bezug zur Gegenwart. Es kam ihr vor, als hätte es die vergangenen zehn Jahre gar nicht gegeben: Sie sah sein Gesicht mit dem typischen Grinsen vor sich, hörte seine spöttischen, demütigenden Bemerkungen. Machte er sich vielleicht jetzt gerade über ihre Versammlung lustig? A u f einen Schlag wusste sie, was sie zu tun hatte. »Es gibt einen Weg. Ja, einen einzigen.« »Nein!« Der Aufschrei sagte ihr, dass Blanes wusste, was sie meinte. »Es ist unsere einzige Chance, David! Carter hat Recht! W i r müssen herausfinden, wer von uns Zickzack ist, bevor er wieder zuschlägt!« »Elisa, das kannst du nicht von m i r verlangen.« »Ich verlange gar nichts von dir!«, schnauzte Elisa i h n an und stellte fest, dass auch sie heftiger reagierte als sonst. »Ich mache einen Vorschlag! Du bist nicht der Einzige, der hier was zu sagen hat, David!« Blanes' Augen funkelten furchterregend. Schließlich war es Carter, der in gewohnt zynischem, abgebrühtem Tonfall das entstandene Schweigen brach: »Willst du Gewalt sehen, dann sperr zwei Wissenschaftler in denselben Käfig.« Er trat zwischen die Streithähne, dann nahm er ein paar tiefe Züge von seiner Zigarette, als hätte er ein größeres Bedürfnis, Rauch zu inhalieren, als Worte auszustoßen. »Würde es euch zwei brillanten Physikerhirnen etwas ausmachen, uns zu erzählen, über was ihr da eigentlich redet?« »Aber das Risiko: ein zweiter Zickzack!«, warf Blanes Elisa vor, ohne Carter weiter zu beachten. »Und der Nutzen: gleich null!« »Selbst wenn, ich wüsste nicht, was uns anderes übrig bleibt!« Und an Carter gewandt, fuhr sie in ruhigerem Ton fort: »Wir wissen, dass Ric in jener Nacht im Kontrollzentrum den Beschleuniger und die Rechner benutzt hat. Ich schlage vor, das Zentrum ein paar Sekunden auf Video aufzunehmen und dann Zeit-Strings davon zu öffnen, damit w i r sehen können, was Ric Valente gemacht hat und was anschließend bis zu Rosalyns Tod passiert ist.
Die genaue Uhrzeit haben w i r ja: Es ist die des Stromausfalls. W i r könnten zwei oder drei Zeit-Strings davor öffnen, und vielleicht erfahren, was Ric getan hat oder welches Bild er verwendet hat, um Zickzack ...« »Auf diese Weise wüssten wir, wer es ist.« Carter kratzte sich am K i n n und warf Blanes einen Blick zu. »Das ist keine schlechte Idee.« »Ihr habt bloß eine Kleinigkeit vergessen!« Blanes war immer noch aufgebracht. »Zickzack ist genau deshalb aufgetaucht, weil Ric einen Zeit-String der kurz zurückliegenden Vergangenheit geöffnet hat! Wollt ihr, dass das Gleiche noch mal passiert? Wollt ihr zwei Zickzacks?« »Du hast es doch selbst gesagt«, widersprach Elisa: »Das Subjekt muss in unbewusstem Zustand sein, damit die Vervielfältigung gefährlich w i r d . Ich glaube kaum, dass Ric schlief, als er in jener Nacht m i t dem Beschleuniger gespielt hat, oder?« Sie durchbohrte Blanes förmlich m i t Blicken. »Sieh es einmal so: Was haben w i r für eine Wahl? W i r können uns nicht wehren. Zickzack w i r d uns weiter brutal ermorden, bis er sich selbst aus dem Weg geschafft hat, falls er das überhaupt t u t . . . « »Wir könnten versuchen herauszufinden, wie man i h m die Energie entzieht.« »Für wie lange, David? Selbst wenn w i r i h n jetzt aufhalten können, wie lange dauert es, bis er wiederkommt?« Dann sagte sie, an alle gewandt: »Ich habe die Intervalle zwischen den einzelnen Attacken berechnet u n d auch die dafür benötigte u n d verbrauchte Energie. Die Angriffsperiode hat sich jeweils halbiert. Der erste A n g r i f f fand hundertneunzig M i l l i o n e n Sekunden nach Mendez' Tod statt und der zweite vierundneunzig M i l lionen fünfhunderttausend Sekunden nach Nadjas Tod, fast die Hälfte also. Diesmal ist Zickzack noch achtundvierzig Stunden aktiv, bevor er wieder in einen Winterschlaf von weniger als einem Jahr fällt. In achtundvierzig Stunden hat er vier Menschen getötet. Er könnte mühelos in dieser Periode noch zwei oder drei mehr umbringen, heute oder morgen, u n d sich in knapp sechs
Monaten den Rest vornehmen.« Sie sah Blanes an. »Wir sind i h m ausgeliefert, David. Ganz egal, was w i r t u n . Ich w i l l einfach nur meine Todesart selber wählen.« »Ich bin m i t Elisas Vorschlag einverstanden«, sagte Carter. Elisa suchte Jacqueline m i t den Augen: Sie stand neben ihr, schien aber in Gedanken weit weg zu sein. Etwas in ihrer H a l tung oder in ihrem Gesichtsausdruck ließ sie jünger wirken. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte Jacqueline. »Ich w i l l endlich meine Ruhe haben vor diesem ... M o n s t r u m . Ich stimme Elisa zu.« »Ich enthalte mich«, beeilte sich Victor klarzustellen, als Elisa sich zu i h m umdrehte. »Das müsst ihr entscheiden. Ich w i l l euch nur eine Frage stellen. Seid ihr w i r k l i c h sicher, dass ihr denjenigen, von dem die Vervielfältigung stammt, kaltblütig ermorden könnt, sobald ihr wisst, wer es ist?« »Mit meinen eigenen Händen«, stieß Jacqueline hervor. »Und wenn ich es selbst b i n , umso besser.« »Keine Bange, Herr Pfarrer.« Carter tätschelte Victor die Schulter. »Das können Sie dann getrost m i r überlassen. Ich habe schon Leute umgebracht, weil sie im falschen M o m e n t gehustet haben.« »Aber derjenige, von dem die Vervielfältigung stammt, kann nichts dafür«, sagte Victor unnachgiebig. Er hielt Carters Blick fest. »Der Fehler liegt bei Ric. Er hat das Experiment unerlaubt durchgeführt, aber selbst wenn er Zickzack wäre, hätte er dafür nicht den Tod verdient. U n d jeder andere hat noch nicht einmal gehustet.« Sein einziges Vergehen besteht darin, geschlafen zu haben. Elisa musste Victor Recht geben, aber sie wollte die Frage im Augenblick nicht weiter vertiefen. »Wie dem auch sei, w i r müssen erfahren, wer es ist.« Sie drehte sich zu Blanes u m : »David, jetzt bleibst nur noch d u . Bist du einverstanden?« »Nein!«, brach es aus i h m hervor. Er stürmte aus dem Zimmer und rief dabei verängstigt: »Ich bin nicht einverstanden!« Im ersten Moment reagierte keiner.
Dann hörte man Carters Stimme langsam und mit Betonung sagen: »Blanes wehrt sich aber auffallend dagegen, den Versuch zu machen, finden Sie nicht auch?«
Sie beschloss, i h m zu folgen, und kam gerade rechtzeitig auf den Gang hinaus, um ihn in den Verbindungsgang zur ersten Baracke einbiegen zu sehen. Plötzlich glaubte sie zu wissen, wohin er wollte. Er machte eine Linkswendung, ging an den Labors vorbei und öffnete dann die Tür zu seinem ehemaligen Büro. Dort hatte die Explosion die größten Zerstörungen angerichtet, und der Raum war nicht viel mehr als ein düsteres, leeres Grab. Durch die Ritzen zwischen den Stahlträgern p f i f f der W i n d . Nur ein kleiner Tisch war von der Einrichtung übrig geblieben. Blanes stemmte die Fäuste darauf. U n d m i t einem M a l fühlte sie sich zurückversetzt in die Zeit, als sie seine Bachvorträge unterbrechen musste, um i h m die Ergebnisse ihrer Berechnungen vorzulegen. Wenn er darin einen Fehler fand, hatte er jedes M a l zu ihr gesagt: Lauf und verbessere rasch diesen dummen Fehler. »David . . . « , flüsterte sie. Blanes blieb ihr die A n t w o r t schuldig. Er stand reglos u n d m i t hängendem Kopf da im Dunkeln. Elisa hatte sich besser unter Kontrolle, obwohl ihr das bei der unerträglichen Hitze u n d Anspannung nicht gerade leicht fiel. Sie trug zwar nur ein Trägerhemdehen u n d die gekürzte Hose, trotzdem spürte sie klebrigen Schweiß auf dem Rücken, unter den Achseln und auf der Stirn. Außerdem musste sie dringend schlafen. N u r ein paar M i n u t e n , aber wenigstens schlafen! I h r war jedoch klar, dass sie nur überleben würde, wenn sie wach blieb (ihr erster Vorsatz), und vor allem, wenn sie Ruhe bewahrte (ihr zweiter Vorsatz). Deshalb wollte sie möglichst unaufgeregt m i t i h m sprechen.«Du hast uns belogen, David.« Er drehte den Kopf und starrte sie an.
»Du hast uns erzählt, dass die Vervielfältigungen nur von dem gesehen werden, der die Versuche durchführt. Bei M a r i n i waren es Bilder von Ratten und Hunden, aber das erste, das vom Ganzen Glas, das habt ihr beide gesehen. Du hast jede Vervielfältigung des Glases auch gesehen, stimmt's? Ist das der Grund, weshalb du dich gegen den Versuch wehrst?« Blanes betrachtete sie schweigend im Dunkeln. Sie stellte sich vor, was er sah: ihre weibliche Silhouette im Gegenlicht auf der Türschwelle, das in einem langen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengebundene schwarze Haar, das bauchfreie T-Shirt und die ausgefranste, in der Leiste spannende Jeans. »Elisa Robledo«, flüsterte er. »Die intelligenteste u n d attraktivste Studentin ... ist ein arrogantes Arschloch.« »Und nichts von alledem hat dich je einen feuchten Kehricht gekümmert.« Von neuem maßen sie sich m i t Blicken. Dann mussten beide lächeln. Im gleichen Augenblick ließ er eine haarsträubende Bemerkung fallen: »Es gibt noch ein Opfer von Zickzack, von dem du nichts weißt. Es geht auf mein Konto.« Er hatte immer noch die Fäuste auf die Tischplatte gestützt. U n d m i t äußerster Konzentration hielt er den Blick auf etwas zwischen seinen Händen fixiert, was nur er selbst sehen konnte. »Wusstest d u , dass ich m i t acht Jahren Zeuge war, wie mein kleiner Bruder an einem Stromschlag gestorben ist? W i r waren im Wohnzimmer, meine M u t ter, mein Bruder u n d ich. Dann - ich kann mich sehr gut erinnern - ist meine Mutter einen Augenblick hinausgegangen, u n d mein Bruder, der erst noch m i t einem Ball beschäftigt war, hat angefangen, m i t dem Kabel v o m Fernseher zu spielen, ohne dass ich es bemerkte. Ich war in ein Buch vertieft ... Ich erinnere mich sogar noch an den Titel: Wunder der Wissenschaft. Irgendwann habe ich mich umgedreht und meinen Bruder wie ein Stachelschwein m i t aufgestellten Haaren stocksteif dastehen sehen. Er hat nur ein heiseres Krächzen von sich gegeben. Die untere Körperhälfte kam m i r vor wie ein wassergefüllter Ballon, der zu
platzen drohte, dabei hat er sich in Wirklichkeit in die Hose gemacht. Halb wahnsinnig vor Schreck habe ich mich auf ihn gestürzt. Irgendwo hatte ich zwar gelesen, dass es gefährlich ist, jemanden zu berühren, der unter Strom steht, aber m i r war alles egal. Ich b i n hingelaufen u n d habe i h n geschubst wie im Streit. Allein der Umstand, dass im selben M o m e n t die Sicherungen herausgeflogen sind, hat mich gerettet. Doch in der Erinnerung k o m m t es m i r so vor, als wäre ich flüchtig m i t der Elektrizität in Berührung gekommen. Eine merkwürdige Erinnerung ist das, und ich weiß, dass sie falsch ist, aber ich werde sie einfach nicht los: Ich bin mit der Elektrizität in Berührung gekommen und m i t dem Tod. Damals wurde m i r bewusst, dass der Tod keineswegs auf leisen Sohlen kommen muss. Es war nicht so, dass der Tod eintrat u n d dann alles vorbei war, nein, mein Bruder hat wie angewurzelt dagestanden u n d gesummt wie eine riesige Maschine. Der Tod, das war ein M o n s t r u m aus verbranntem Metall. Als ich die Augen öffnete, hielt m i c h meine Mutter im A r m . Was m i t meinem Bruder war, daran kann ich mich nicht erinnern. Den Anblick seiner Leiche habe ich aus dem Gedächtnis gelöscht. In diesem Moment, genau in diesem entsetzlichen Moment, habe ich beschlossen, Physiker zu werden: vermutlich, weil ich meinen Widersacher richtig kennen lernen wollte.« Er hielt inne u n d sah sie an. Dann fuhr er m i t gebrochener Stimme fort: »Vor ein paar Tagen hatte ich noch ein schreckliches Erlebnis, das schrecklichste seit dem Tod meines Bruders. M i t dem Unterschied, dass ich diesmal bereut habe, Physiker geworden zu sein. Es war am Dienstag. Reinhard hat mich mittags angerufen, nachdem er einen Blick auf Sergios Dokumente geworfen hatte, u n d m i r genau erzählt, was Sache war. Ich musste nach M a d r i d u n d unser Treffen vorbereiten, aber vorher ... da wollte ich noch mal Albert Grossmann, meinen Mentor, sprechen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu sehen. Ich glaube, ich habe dir mal erzählt, dass er von vornherein gegen das Zickzack-Projekt war. Er hat m i r geholfen, die Gleichungen für die >Mammutbaum-Theorie< zu finden, aber als er sah, welche Folgen die Wech-
selwirkung haben könnte, hat er sich aus der Forschung verabschiedet u n d Sergio u n d mich damit allein gelassen. Er hat erklärt, er wolle sich nicht versündigen. Vielleicht sagte er das, weil er alt war. Ich war damals j u n g , u n d m i r gefiel, dass er m i r das sagte. Das ist der Unterschied, der große Unterschied zwischen Jugend und Alter: Die Alten fürchten sich vor der Sünde, die Jungen reizt sie. Aber als ich am Dienstag von Reinhard erfahren habe, was M a r i n i alles gemacht hat, da b i n ich auf einen Schlag um Jahre gealtert. U n d ich b i n losgegangen, um Grossmann davon zu erzählen ... u n d vielleicht, weil ich seine Absolution wollte.« Er stockte. Den Kopf an den Türrahmen gelehnt, hörte Elisa i h m zu. »Er lag in einer Privatklinik in Zürich. Grossmann wusste, dass er sterben würde, u n d hatte sich schon damit abgefunden. Er hatte Krebs im Endstadium, Metastasen in der Lunge u n d in den Knochen. Er war stationär zur Behandlung in der K l i n i k . Ich konnte durchsetzen, i h n außerhalb der Besuchszeiten zu sehen. Er lag im Sterben, als er m i r von seinem Krankenhausbett aus zuhörte. Ich habe in seinen Augen den Tod k o m men sehen, so wie man die Nacht am Horizont aufziehen sieht. Sein Entsetzen wuchs, als ich von den Todesfällen und von Zickzacks Existenz berichtete. Er ließ mich nicht zu Ende kommen. Er riss sich die Atemmaske vom Gesicht und fing an, mich zu beschimpfen. >Du Wahnsinnigere hat er getobt. >Du wolltest sehen, was uns verschlossen ist, was Gott uns zu sehen verboten hat! Das alles ist deine Schuld! U n d die Strafe dafür ist Zickzacke Immer wieder hat er das hustend auf seinem Sterbebett gebrüllt: >Und die Strafe dafür ist Zickzack! < Eigentlich war er da schon tot, nur wusste er es noch nicht.« Blanes keuchte, als hätte er einen anstrengenden Lauf hinter sich. Die Finger auf der staubigen Tischplatte begannen sich zu bewegen wie auf einer Klaviatur. »Dann ist eine Krankenschwester hereingekommen, u n d ich musste gehen. Als ich am nächsten Tag in Madrid eintraf, war die Nachricht schon da, dass Grossmann in der Nacht gestorben war: Zickzack hat ihn umgebracht, u n d ich b i n schuld.«
»Nein, nicht du ...« »Und du hast Recht«, unterbrach er sie zögernd. »Ich habe die Vervielfältigungen des Glases w i r k l i c h gesehen. Sergio u n d ich haben sie gemeinsam erforscht, und uns ist bald klar geworden, welche Gefahr die Wechselwirkung darstellt. Ich habe mich geweigert, damit fortzufahren, und m i r eingebildet, ich hätte auch Sergio überzeugt. W i r haben geschworen, niemandem ein Sterbenswort davon zu sagen. Aber dann hat er die Versuche heimlich fortgesetzt. U n d ich habe erst Jahre später Verdacht geschöpft. Trotzdem habe ich m i t niemandem darüber geredet, auch nicht m i t Grossmann. Um mich herum sind alle gestorben, und ich ... ich habe den M u n d gehalten!« Blanes brach plötzlich in Tränen aus. Es war ein unbeholfenes, krampfhaftes Schluchzen, als ob das Weinen erst gelernt werden wollte. Elisa ging auf ihn zu u n d umarmte i h n . Sie musste an Blanes' Mutter denken, die den Körper ihres Ältesten an sich gepresst hatte, i h n fest in die Arme geschlossen hatte, um sich davon zu überzeugen, dass er, wenigstens er, noch am Leben war; dass er, wenigstens er, nicht von dem Stromschlag erfasst w o r den war. »Du hast nicht gewusst, was los war«, sagte sie sanft und streichelte i h m den verschwitzten Nacken. »Du konntest es nicht wissen, David. Du bist nicht schuld, an gar nichts ...« »Elisa, mein Gott. Was habe ich nur angerichtet? Was haben w i r nur angerichtet? Was haben wir Wissenschaftler nur angerichtet? Wir alle!« »Richtig oder falsch: Eine andere Wahl haben w i r nicht.« Sie sprach leise, i h n weiter im A r m haltend. »Wir werden noch einen Versuch starten, David. U n d diesmal versuchen wir, es richtig zu machen. Bitte ... lass es mich versuchen.« Blanes schien sich ein wenig beruhigt zu haben. Aber als er sich von ihr losmachte u n d ihr in die Augen sah, nahm sie das Ausmaß seiner Furcht wahr. »In diesem Fall habe ich vor dem Gelingen genauso viel Angst wie davor, es falsch zu machen«, sagte er.
»Da ist er ja«, v e r k ü n d e t e Jacqueline Clissot und zog sich einen Stuhl heran. »Wenn Frau Doktor m e i n e n « , Carter starrte auf den B i l d schirm des Computers, vor dem Elisa ebenfalls Platz nahm. Elisa drehte sich zur Miniaturkamera u m , die am K o n t r o l l rechner lehnte. Sie war hinter ihrem R ü c k e n auf einem Stativ aufgebaut, die Linse auf die Tastatur gerichtet. Elisa überprüfte ihre genaue Position. Sollte Ric in jener Nacht den Beschleuniger manipuliert haben, dann, so vermutete sie, hatte genau hier alles angefangen. Die Kamera erfasste a u ß e r d e m die T ü r der Generatorenkammer, wo Rosalyn umgekommen war. Elisa hatte den ganzen Nachmittag m i t Vorbereitungen verbracht. Zuerst hatte sie Blanes klar gemacht, dass sie es allein tun wollte, und auch Victor musste davon überzeugt werden. Das sei für die Gruppe nicht so riskant, hatte sie argumentiert. Denn wenn es zu Vervielfältigungen k ä m e , dann w ü r d e nur sie diese sehen. Sie wollte sich von niemandem helfen lassen, nicht einmal bei den Berechnungen; sie behauptete, das koste nur u n n ö t i g Zeit. A l lerdings musste sie mit der Handhabung der Geräte vertraut gemacht werden. Blanes hatte zwar auch keine umfassenden Kenntnisse von SUSAN, wusste aber genug, um ihr zu zeigen, wie sie den Ein- und Austritt der Partikelstrahlung steuern konnte. Victor unterstützte sie, indem er die Computer ü b e r w a c h t e . Er fand fast alle Funktionen jener Programme seltsam, doch da die Software relativ veraltet war, kam er zurecht. Die Grafikfilter waren am komplexesten, aber die w ü r d e sie nur im Bedarfsfall nutzen: Sie hatte vor, sich die Bilder so anzuschauen, wie sie waren. Kurz nach sechs Uhr abends kam ein heftiger Sturm auf. Das Heulen war sogar im Kontrollzentrum zu h ö r e n . »Hoffentlich funkt dir nicht das Gewitter dazwischen.« Blanes plagten noch immer Zweifel. »Das bereitet m i r noch die geringsten Sorgen.« Ein Gewitter am Anfang und eins am Ende. Elisa konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass dieser Zufall ihrem Unternehmen w o m ö g lich Glück verhieß.
Jacqueline kam zu ihr h e r ü b e r , das dichte Haar m i t einem G u m m i oben auf dem Kopf zusammengefasst, dass die Spitzen herabhingen wie die Blätter einer durstigen Pflanze. »Und wenn du die Bilder hast... was dann? W i r alle wollen sie doch sehen.« Die Betonung des Wortes >alle< entging Elisa nicht. D a m i t hatte Jacqueline Recht. Wenn ich Zickzack sehe, dann müssen sie ihn auch sehen, sonst glauben sie mir nicht. »Ich werde sie speichern u n d Kopien davon anfertigen. Ich brauche einen Datenträger.« » D u m m e r w e i s e habe ich im Supermarkt im Jemen die CDs vergessen«, bedauerte Carter spöttisch. »Es muss doch irgendwo noch CDs geben«, sagte Elisa. Carter z ü n d e t e sich eine Zigarette an, dann v e r k ü n d e t e er im geschwollenen Ton eines Radioansagers: »Sie hatten alles sorgfältig geplant, a u ß e r das m i t den CDs«, u n d brach in raues Gelächter aus. »Vielleicht ist ja in Silbergs Labor noch eine liegen geblieben«, sagte Blanes. »Ich gehe nachsehen«, erbot sich Victor. Den Kabeln ausweichend, die wie tote Schlangen kreuz und quer ü b e r den Boden verteilt lagen, verließ er den Raum. »Alles w i r d gut werden«, sagte Elisa. Die anderen wussten, dass das gelogen war; vielleicht, so überlegte sie, w ü r d e es sich wenigstens zum Teil bewahrheiten.
Von Carters Hand ins Schloss gezogen, fiel die Metalltür zu. Wie eine Steinplatte, vom Leichnam aus betrachtet. Elisa blieb allein z u r ü c k . Bis auf das Pfeifen des Windes war kein Laut zu h ö r e n . Sie kam sich vor wie in einer hermetisch verriegelten Taucherglocke, mehrere Faden tief im Wasser. Die m a ß lose Angst, die ü b e r sie hereinbrach, war fast zu greifen. Sie beobachtete die Kontrollanzeigen und die blinkenden Computer. Dann versuchte sie, sich auf die Berechnungen zu konzentrieren.
Sie wusste genau, um welche Uhrzeit es ging. Die Uhren der Rechner waren in der Nacht auf den ersten Oktober 2005 exakt um vier Uhr, zehn M i n u t e n u n d zwölf Sekunden stehen geblieben. Genauer gesagt, vor mehr als dreihundert M i l l i o n e n Sekunden. Daraus ließ sich leicht die exakte Energiemenge ermitteln, um zwei, drei Strings zu öffnen, die Sekunden vor dieser Uhrzeit Licht eingefangen hatten. Sie w ü r d e die Aufnahmen der in ihrem R ü cken aufgebauten Kamera im Teilchenbeschleuniger m i t der berechneten Energie beschießen. U n d sich das Bündel geöffneter Strings auf den Computer laden, um es anzuschauen. Und dann werden wir es ja sehen. Wir werden es sehen. Wiederholt prüfte sie die Gleichungen, ließ sie die Augen über endlose Spalten m i t Ziffern u n d griechischen Buchstaben gleiten, u m sicherzugehen, dass ihr auch wirklich kein Fehler unterlief. Lauf und verbessere rasch diesen dummen Fehler. Wie hatte Blanes damals in seinem Kurs noch gesagt? Die physikalischen Gleichungen sind der Schlüssel zu unserem Glück, zu unserem Unglück, zu unserem Leben und zu unserem Tod. Ich vertraue darauf, dass ich die korrekte Lösung gefunden habe. Die gelben Balken, die über den Status des Beschleunigers Aufschluss gaben, waren am Ende angelangt. In der zunehmenden Dunkelheit schien der Widerschein der leuchtenden Linien Elisas schweißglänzendes Gesicht u n d das unter der Brust verknotete T-Shirt gleichsam zu zerteilen. Die Schwüle schien schwerer auf ihr zu lasten. Infolge des Gewitters sinkt der Luftdruck, hatte Carter behauptet. Der W i n d , der an den Palmen zerrte, verursachte ein Geräusch wie von einem Heuschreckenschwarm. Noch war kein Tropfen gefallen, aber das Brausen des aufgepeitschten Meeres war bis ins Kontrollzentrum zu h ö r e n . Kein Zweifel: Die Zahl wurde vollständig angezeigt. Jetzt drang ihr ein vertrautes Surren ans Ohr. Der Initialvorgang war abgeschlossen. Der Apparat war bereit, ein Bild zu empfangen und es in seinem Innern m i t a n n ä h e r n d e r Lichtgeschwindigkeit rotieren zu lassen.
Fieberhaft begann sie, die Daten der errechneten Energiemenge einzugeben. Vielleicht schaffe ich es. Vielleicht kann ich Zickzack identifizieren. U n d was w ü r d e sie dann tun? Was w ü r d e sie t u n , wenn sie feststellte, dass es eine Vervielfältigung von David, Carter, Jacqueline . . . oder von ihr selbst war? Vielleicht hatte Blanes ja doch Unrecht, und es w ü r d e sich diesmal nicht als falsch erweisen, alles richtig zu machen. Doch was dann? Sie schob den Gedanken beiseite u n d wandte sich m i t ungeteilter Aufmerksamkeit dem Bildschirm zu.
31
Blanes nahm die Batterien aus seinem Funkgerät. »Entfernt die Batterien aus allem, was ihr dabeihabt: Mobiltelefon, Palm ... Carter, haben Sie sich um die Taschenlampen u n d um die A n schlüsse in der Küche gekümmert?« »Ich habe alle Stecker herausgezogen. U n d in keiner Taschenlampe sind mehr Batterien, a u ß e r in der hier.« Die Taschenlampe in der Rechten u n d die Linke ausgestreckt wie ein Bettler, machte Carter die Runde. A u f seiner Handfläche lagen lauter kleine, silberne Taler. Als er zu Victor kam, hielt der lächelnd den A r m empor: »Meine ist zum Aufziehen.« »Das gibt's doch nicht!« Carter musterte Victor im Strahl der Taschenlampe von oben bis unten. »Wir sind im Jahr 2015, und Sie haben keine Digitaluhr?« »Doch, aber ich benutze sie nicht. Die hier geht prima. Das ist eine klassische Omega. Von meinem Opa. Ich mag mechanische Uhren.« »Was sind Sie doch für eine W u n d e r t ü t e , Herr Pfarrer.« »Victor, warst du schon in den Labors?«, fragte Blanes. »In dem von Silberg habe ich zwei Notebooks gefunden. Sie m ü s s e n dem Wartungspersonal gehören. Bei beiden habe ich die Akkus entfernt.« »In Ordnung. Ich habe Elisa gesagt, sie soll den Teilchenbe-
schleuniger vom Netz nehmen u n d auch die Rechner, die sie nicht benutzt.« Blanes formte m i t den H ä n d e n eine Schale u n d nahm die Batterien in Empfang, die Jacqueline bei i h m ablieferte. »Wir m ü s s e n die alle irgendwo deponieren ...« »Auf der Konsole.« Carter ging ans andere Ende des Raumes. Als er sich von ihnen entfernte, hüllte sie Dunkelheit ein. »David«, wisperte Jacqueline m i t zittriger Stimme. Sie hatte auf dem F u ß b o d e n Platz genommen. »Glaubst du, dass er bald . . . zuschlagen wird?« »Nachts ist die Gefahr am g r ö ß t e n , weil er da das brennende Licht benutzen kann. Aber wann es geschieht, das kann dir keiner sagen, Jacqueline.« Carter kehrte zurück und machte es sich ebenfalls auf dem Boden bequem. Immerhin war der Vorführsaal der einzige Platz in der Forschungsstation, wo sie alle vier die Beine ausstrecken konnten. Zusammen benötigten sie nicht einmal den halben Vorführsaal: Sie hockten so dicht neben der Leinwand, als hätten sie nur ein Zwei-Mann-Zelt zur Verfügung. Blanes lehnte mit dem Stuhl an der Wand, Carter u n d Jacqueline saßen auf dem F u ß b o d e n , und Victor hatte sich einen Stuhl an die gegenüberliegende Wand gerückt. Es war stockfinster, bis auf den gelben Strahl aus Carters Taschenlampe, und so heiß wie in einer Sauna. Nach einer Weile legte Carter die Taschenlampe beiseite u n d holte ein zweiteiliges D i n g aus seiner Hosentasche. Victor kam es vor wie ein demontierter schwarzer Wasserhahn. »Ich nehme mal an, Sie haben nichts dagegen.« »Die w i r d Ihnen kaum weiterhelfen«, stellte Blanes fest. »Aber da sie keine Batterien braucht, meinetwegen.« Carter legte die Pistole in seinen Schoß. Victor bemerkte, dass er sie m i t mehr Gefühl ansah als je einen seiner Mitmenschen. Dann hob der Ex-Militär die Taschenlampe vom Boden auf u n d warf sie unerwartet zu Victor h i n ü b e r , der sich, anstatt sie aufzufangen, in Deckung brachte, so dass sie i h n am A r m streifte. Als er sich b ü c k t e , um sie aufzuheben, h ö r t e er Carters Gelächter. Idiot, dachte Victor.
»Sie sind dran, Herr Pfarrer. Wegen Ihrer mechanischen U h r werden Sie als Erster Wache schieben m ü s s e n . Wecken Sie mich um drei, falls ich einschlafen sollte. Dann ü b e r n e h m e ich den Rest der Nacht.« »Elisa w i r d uns bestimmt vorher rufen«, warf Blanes ein. Sie schwiegen. Ihre vom Taschenlampenlicht an die Wand geworfenen Schatten sahen aus wie Tunneleingänge. Victor war sicher, dass das H i n t e r g r u n d g e r ä u s c h vom Regen stammte. Es war ein lautes Rauschen, wie die S t ö r u n g eines schlecht eingestellten Fernsehapparats. D a r ü b e r t ö n t e das Heulen des Windes. Da vernahm er ganz in der N ä h e ein W i m m e r n u n d S t ö h n e n . Ein Schluchzen. Victor bemerkte, dass Jacqueline das Gesicht in den H ä n d e n vergrub. »Er kann jetzt nicht angreifen, Jacqueline«, suchte Blanes sie zu beruhigen. »Wir befinden uns auf einer Insel, u n d auf endlose Kilometer im Umkreis stehen i h m nur die Batterien dieser Taschenlampe und der Strom von Elisas Rechner zur Verfügung. Heute Nacht w i r d er bestimmt nicht angreifen.« Die Paläontologin hob den Kopf. Victor konnte in ihr nicht mehr die attraktive Frau erkennen: Sie war nur noch ein tief verwundetes, bebendes Geschöpf. »Ich b i n die Nächste«, wisperte sie ganz leise, Victor konnte es gerade noch verstehen. »Ganz b e s t i m m t . . . « Niemand unternahm den Versuch, sie zu trösten. Blanes seufzte tief und lehnte wieder den Kopf an die Leinwand. »Wie macht er das bloß?« Carter streckte sich der Länge nach aus. Er verschränkte die H ä n d e im Nacken und lehnte sich an die Wand. Das Brusthaar quoll in dichten Büscheln aus seinem Unterhemd. »Wie bringt er uns um?« »Sobald w i r in seinem Zeit-String sind, g e h ö r e n w i r i h m « , sagte Blanes. »Ich habe Ihnen ja erklärt, dass w i r in der kurzen Spanne eines Strings nicht g e n ü g e n d Zeit haben, >fest< zu werden, deshalb bleiben unsere K ö r p e r instabil. In dem String sind w i r wie ein Puzzle aus einzelnen Atomen: Zickzack braucht uns nur Stück für Stück zu zerlegen oder unsere Einzelteile auszu-
wechseln oder zu zerstören. Ganz nach Belieben, genauso wie er die Energie der Lampen manipuliert. Unsere Kleidung und alles, was nicht in den String hineingerät, ist nicht dieser Vergänglichkeit unterworfen und hat damit nichts mehr zu tun. W i r sind völlig ungeschützt und k ö n n e n keine Waffen einsetzen. Im ZeitString sind w i r nackt und wehrlos wie ein Baby.« Carter saß vollkommen reglos da, als atme er nicht einmal mehr. »Und wie lange dauert es?« Er holte eine Zigarette aus der Hosentasche. »Ich meine die Schmerzen. Was glauben Sie, wie lange man das aushält?« »Bisher ist noch keiner z u r ü c k g e k o m m e n , um es m i r zu erzählen.« Blanes zuckte die Schultern. »Wir kennen nur die Version von Ric: I h m ist es vorgekommen, als hätte er mehrere Stunden im String zugebracht, wobei seine Vervielfältigung bei weitem nicht die Potenz von Zickzack hatte.« »Bei Craig u n d Nadja hat es Monate g e d a u e r t « , murmelte Jacqueline und umschlang halb erstarrt ihre angewinkelten Beine. »Das geht aus den Autopsien hervor. Schmerzen ü b e r Monate oder gar Jahre.« »Aber w i r wissen nicht, was m i t ihrem Bewusstsein war, Jacqueline«, beeilte sich Blanes einzuwenden. »Vielleicht haben sie ja die Zeit anders wahrgenommen. Subjektive Zeit, objektive Zeit: Es gibt da Unterschiede, wie du weißt. Möglicherweise hat es ihr Bewusstsein so erlebt, als ginge alles ganz schnell.« »Nein.« Jacqueline schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« Carter kramte in seinen Taschen, vielleicht suchte er nach einem Feuerzeug oder nach Z ü n d h ö l z e r n , denn die zerdrückte Z i garette steckte immer noch u n a n g e z ü n d e t zwischen seinen L i p pen. Dann gab er es auf, nahm die Zigarette aus dem M u n d und drehte sie beim Sprechen zwischen den Fingern. »Ich habe oft zugesehen, wie jemand gefoltert wurde, und es auch selbst durchgemacht. 1993 habe ich in Ruanda mehrere Ausbildungsgänge lang die Paramilitärs der Hutus im Gebiet um Murche trainiert. Als die Revolte losbrach, haben sie m i r Verrat vorgeworfen und beschlossen, m i c h zu foltern. Einer ihrer A n f ü h r e r hat m i r zu
verstehen gegeben, dass sie die Sache ganz in Ruhe angehen wollten: Zuerst k ä m e n die F ü ß e dran, von da w ü r d e n sie sich langsam bis zum Kopf vorarbeiten. Am Anfang haben sie m i r mit angespitzten Stöcken die Fußnägel ausgerissen.« Er grinste. »Nie in meinem verdammten Leben habe ich solche Schmerzen gehabt. Ich habe geheult u n d m i r vor Schmerzen in die Hose gepisst. Aber das Schlimmste war, dass ich dachte, sie h ä t t e n erst angefangen: Es waren nur die Fußnägel, diese vertrocknete Scheiße, die uns da unten am anderen Ende aus dem Körper rauswächst. Ich dachte, ich w ü r d e es nicht aushalten, ich w ü r d e den Verstand verlieren, bevor sie beim Bauchnabel angekommen sind. Doch zwei Tage später ist eine andere Gruppe, die ich trainiert hatte, ins D o r f gekommen. Die haben die Typen abgeknallt u n d mich befreit. Damals ist m i r klar geworden, dass jeder nur ein bestimmtes M a ß an Leid ertragen kann. In der M i l i t ä r a k a d e m i e während der Ausbildung gab es eine Redensart: Wenn der Schmerz lange dauert, dann kannst du ihn aushalten. Wenn du i h n nicht aushältst, dann dauert es nicht lang, denn dann bringt er dich um.« Er stieß ein rohes Gelächter aus. »Die haben gedacht, das k ö n n t e uns in schwierigen Situationen weiterhelfen. Aber ...« » W a n n halten Sie endlich die Klappe?« Jacqueline ließ verzweifelt den Kopf sinken und hielt sich die Ohren zu. Carter warf ihr einen kurzen Blick zu, dann fuhr er m i t leiser, rauer Stimme fort, wobei er mit der u n a n g e z ü n d e t e n Zigarette auf sie zeigte. »Ich w e i ß genau, was ich t u n werde, wenn Ihre Kollegin mit dem Bild da herauskommt. Ich werde diesen Bastard beseitigen, ganz egal, wer von uns es ist. A u f der Stelle. Ich werde ihn töten, wie man einen kranken H u n d tötet. U n d wenn ich es b i n ...« Er hielt inne, als zöge er diese unerwartete M ö g lichkeit erstmals in Betracht. »Wenn ich es bin, werden Sie das Vergnügen haben, dabei zuzuschauen, wie ich m i r das H i r n aus dem Kopf puste.«
Die Kabine des kleinen UHIZ-Bell-Helikopters begann zu schaukeln wie ein altersschwacher Autobus auf ungepflasterter Piste. In seinem modernen ergonomischen Sitz v o m 5-Punkt-Gurt eingefangen, konnte Harrison nur den Kopf bewegen und machte davon so viel Gebrauch, wie seine Halswirbel dies zuließen. I h m saß die Soldatin Previn gegenüber, und zwar so dicht, dass sich mitunter ihre Knie b e r ü h r t e n . Sie starrte unverwandt zur Decke. Harrison gewahrte, dass sich ihre s c h ö n e n blauen Augen unter der Helmkante geweitet hatten. Ihren Kameraden gelang es nicht viel besser, sich zu verstellen. Nur Jürgens, auf seinem Platz im hinteren Teil, blieb völlig u n g e r ü h r t . Aber Jürgens war die andere Seite des Todes und taugte nicht als Vorbild. In der Ferne war schier die Hölle los. Oder zeigte der H i m m e l sein wahres Gesicht? Wer wusste das schon? Die vier >Erzengel< kämpften fieberhaft gegen den fast horizontal heranpeitschenden Regen an, der die Frontscheibe wie ein Maschinengewehr beschoss. Kaum fünfzig Meter unter ihnen erhob sich ein Ungeheuer m i t der Gewalt von tausend Tonnen aufgewühlten Wassers. Glücklicherweise hinderte die Nacht sie daran, den Meeresstrudel zu erblicken. Doch der Blick aus dem Seitenfenster zeigte Harrison eine Legion Schaumkronen auf den kilometerlangen K ä m m e n eines geradezu samtenen Faltenwurfs, der aussah wie die eigenwillige Dekoration für die Karnevalsorgien in einem antiken r ö m i s c h e n Palast. Er fragte sich, ob die Soldatin Previn i h m insgeheim grollte. Dass sie i h m den Tod dieses Idioten Borsello vorhielt, konnte er sich freilich nicht vorstellen. Bei Eagle hatte man i h m dafür sogar applaudiert. Der Befehl hatte sie um zwölf U h r mittags erreicht, fünf M i nuten, nachdem Borsello von einem Schuss zwischen die Brauen niedergestreckt worden war. Er kam von irgendwo aus dem Norden. Es war immer dasselbe, irgendeine Stelle im Norden gab die Befehle, u n d die Leute im S ü d e n mussten sie a u s f ü h r e n . Wie Kopf u n d K ö r p e r - immer von oben nach unten, dachte H a r r i son. Das Gehirn befiehlt, die Hand führt aus.
Der >Kopf< hatte i h m beschieden, die Beseitigung von Leutnant Borsello sei zulässig gewesen, Harrison habe sich korrekt verhalten: Borsello war unfähig, und die Lage war brenzlig; jetzt w ü r d e Unteroffizier Mercier i h n ersetzen. Mercier saß Harrison ebenfalls gegenüber, neben Previn. Er war noch sehr j u n g und hatte Angst. Seine Angst ä u ß e r t e sich in Form des auf und nieder h ü p f e n d e n Adamsapfels. Dennoch waren sie gute Soldaten, trainiert auf das Überleben, Fliehen, Standhalten und Untertauchen. Sie beherrschten ihre Waffen und die ü b r i g e A u s r ü s t u n g perfekt und hatten a u ß e r d e m gelernt, ein Gebiet zu verteidigen und zu isolieren. Doch sie konnten sich nicht nur verteidigen: Sie hatten Sturmgewehre X M 3 9 m i t Explosivgeschossen dabei und Maschinenpistolen v o m Typ MP15. Sie strotzten durch die Bank vor Kraft, dazu der glasklare Blick, die glänzende Haut. Sie sahen nicht aus wie Menschen, sondern wie Maschinen. Obwohl Previn die einzige Frau unter ihnen war, hob sie sich nicht aus der Truppe hervor. Harrison war ä u ß e r s t zufrieden, dass i h m diese Leute zur Seite standen, und wollte nicht, dass sie schlecht ü b e r ihn dachten. M i t ihnen und Jürgens hatte er nichts mehr zu befürchten. Bis auf das Gewitter. Nach dem nächsten Schaukeln beschloss er zu reagieren. Er w a r f einen Blick auf die Piloten im Cockpit, die m i t den schwarzen, eiförmigen Helmen im Licht der Instrumententafel aussahen wie Riesenameisen. Kein Gedanke, den Sicherheitsgurt abzulegen u n d sich ihnen zu n ä h e r n . Er rückte den A r m des im Helm integrierten Headsets zurecht und betätigte eine Taste. »Ist das ein Gewitter?«, fragte er. » N u r der Anfang, Chef«, erwiderte einer der Piloten. »Die W i n d s t ä r k e beträgt erst hundert Kilometer pro Stunde.« »Also kein W i r b e l s t u r m « , sagte der andere Pilot in sein rechtes Ohr. »Wenn doch, hat er jedenfalls noch keinen N a m e n . « »Aber w i r d der Hubschrauber i h m standhalten?« »Vermutlich schon«, antwortete sein linkes Ohr m i t unerwarteter Gelassenheit.
Harrison wusste, dass der >Erzengel< ein hoch entwickelter m i litärischer Helikopter für jede Wetterlage war. Sogar die Rotoren ließen sich nach der W i n d s t ä r k e regulieren: Gerade eben bildeten ihre Blätter nicht das klassische X, sondern zwei Rhomben. Dennoch machte i h m die Vorstellung zu schaffen, dass er verunglücken k ö n n t e . Nicht der Tod schreckte ihn, sondern die Vorstellung, seinen Auftrag nicht ausführen zu k ö n n e n . »Was glauben Sie, wann w i r da sind?« Er war schweißgebadet, im Nacken, unter dem Helm und unter der Schwimmweste. » W e n n alles gut geht, m ü s s t e n w i r die Insel in einer Stunde unter uns liegen sehen.« Er ließ den Funkkanal offen. Die Stimmen kitzelten i h n im Ohr wie die Halluzinationen eines Verrückten. Erzengel Eins an Erzengel
Zwei...
Sie waren eingeschlafen, so jedenfalls sah es aus. Er wagte nicht, die Taschenlampe auf sie zu richten, weil er befürchtete, sie k ö n n t e n aufwachen, obwohl er das eher für u n wahrscheinlich hielt: Sie waren völlig erschöpft. Nachdem er sie einzeln betrachtet hatte, zweifelte er nicht mehr. Sie schliefen tatsächlich. Jacquelines Schlaf war unruhig und geräuschvoll, und sie stieß dabei einen gutturalen Klagelaut aus, w ä h r e n d die Brüste unter dem T-Shirt auf- und abwogten. Carter schien wach zu sein, doch seine Lippen formten eine kleine schwarze Öffnung, wie von einem Pistolenlauf. Blanes schnarchte. Es war zehn M i n u t e n vor Mitternacht, u n d Elisa war noch nicht aufgetaucht. Dies war der richtige Moment. Das Herz schlug i h m bis zum Hals. Er fürchtete schon, die anderen k ö n n t e n es schlagen h ö r e n und davon aufwachen - aber das Pochen seines Herzens entzog sich seiner Kontrolle. Wie in Zeitlupe legte er Carters Taschenlampe auf den F u ß boden, holte die kleine Lampe hervor u n d knipste sie an. Jetzt kam die Mutprobe, einen besseren Ausdruck gab es dafür nicht.
Er löschte die g r o ß e Taschenlampe. Wartete. Nichts geschah. Sie schliefen weiter. Das Licht der kleinen Taschenlampe war so spärlich, dass es ihn an die glimmende Asche eines Lagerfeuers erinnerte. Doch es w ü r d e genügen, damit sie keinen Schreck bekamen, wenn sie unerwartet aus dem Schlaf erwachten. Er legte die kleine Taschenlampe neben die andere auf den Boden und zog die Schuhe aus. Vor aüem Carter ließ er nicht aus den Augen. Der Mann flößte i h m Angst ein. M i t seiner gewaltbereiten Art war er von der Welt seiner hydroponischen Pflanzen, der Mathematik und Theologie so weit entfernt wie ein Rindvieh von der Teilnahme an einer Vorlesung in Princeton. Er wusste, dass Carter keine großen U m s t ä n d e machen würde, wenn es darum ginge, einem von ihnen etwas anzutun, um die eigene Haut zu retten. Allerdings w ü r d e n weder Carter noch der Leibhaftige i h n daran hindern k ö n n e n zu tun, was er vorhatte. Victor stand auf und schlich auf Zehenspitzen zur Tür, die er vorsorglich einen Spaltbreit offen gelassen hatte. Er trat auf den finsteren Flur hinaus und zog die Streichholzschachtel aus der Hosentasche. Stunden zuvor, als Carter sie suchte, um sich eine Zigarette a n z u z ü n d e n , hatte er Blut und Wasser geschwitzt, dass sein Diebstahl entdeckt werden k ö n n t e . Doch z u m G l ü c k war das nicht passiert. Das flackernde Licht vor sich hingestreckt, wandte er sich nach rechts und erreichte den Verbindungsgang zur ersten Baracke. Hier trommelte der Regen noch lauter, und der W i n d fegte durch die Ritzen. Victor legte schützend die Hand um die Flamme, in der Furcht, sie k ö n n t e erlöschen. Die Finsternis setzte i h m zu, u n d er hatte u n b ä n d i g e Angst. Anfangs hatte er Zickzack - falls es dieses Monstrum ü b e r h a u p t gab, was er noch bezweifelte - nicht als unmittelbare Bedrohung empfunden, aber inzwischen hatte sich das Grauen der anderen auf i h n ü b e r t r a g e n . Die Kakophonie des Regensturms, das fehlende Licht und die W ä n d e aus eisigem Metall r u n d u m trugen nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
Das Streichholz versengte i h m die Finger. Er blies es aus und ließ es fallen. Er war für Augenblicke b l i n d , bis er das nächste herausgeholt hatte. Angst ist h a u p t s ä c h l i c h ein Ergebnis unserer Vorstellungskraft: Victor hatte das unendlich oft gelesen. Wer der Fantasie keinen freien Lauf ließ, ü b e r den hatten Dunkelheit und nächtliche Geräusche keine Macht. Das Streichholz rutschte i h m aus den Fingern. Kein Gedanke, sich zu b ü c k e n und es zu suchen. Er nahm das nächste heraus. I m m e r h i n war er seinem Ziel schon ganz nahe. Als das angerissene Holz aufflammte, erkannte er wenige Meter zu seiner Rechten die Tür.
»Wo ist Victor?« »Keine A h n u n g « , erwiderte Jacqueline. » U n d es ist m i r auch egal.« Sie drehte sich u m , weil sie weiterschlafen wollte. Wenn sie sich in den Schlaf flüchtete, musste sie wenigstens keine Angst mehr ausstehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. »Die Last zu tragen ist für uns allein zu schwer, Jacqueline«, bemerkte Blanes. »Victor ist uns eine g r o ß e Hilfe. Wenn er geht, dann ist es, als w ä r e n W i n d und Meer fort, und uns bliebe nur das alte Schiff.« Jacqueline hatte zwar die Augen geschlossen, doch m i t einem M a l richtete sie sich auf und sah Blanes ins Gesicht, der immer noch auf dem Stuhl saß. Er hatte den Kopf an die Leinwand gelehnt - das g r ü n e , v o m Schweiß fleckige Hemd klebte an i h m und die ü b e r k r e u z t e n Beine in den ausgebeulten Jeans vor sich ausgestreckt. Das g u t m ü t i g e Gesicht m i t den grauen Bartstoppeln, den Aknenarben auf den Wangen u n d der g r o ß e n Nase hielt er ihr freundlich zugewandt. »Was sagst du da?«, fragte sie. »Dass w i r nicht zulassen d ü r f e n , dass Victor geht. Er ist der einzige Helfer, den w i r haben.«
»Nein, nein. Ich meine, was du ü b e r das Meer gesagt hast und den W i n d und ein altes Schiff.« Blanes runzelte neugierig die Stirn. »Eine Floskel. Wieso?« »Mir ist gerade ein Gedicht in den Sinn gekommen. Michel hat es m i t zwölf geschrieben und m i r am Telefon vorgelesen. Ich war begeistert. Ich habe i h n ermutigt, weiterzuschreiben. O h , wie ich i h n vermisse!« Jacqueline u n t e r d r ü c k t e die unversehens aufsteigenden Tränen. »Wind und Meer sind fort. Uns bleibt nur das alte Schiff. Jetzt ist er fünfzehn und schreibt immer noch Gedichte ...« Sie rieb sich die Arme, dann drehte sie sich plötzlich voller Unruhe u m . »Hast du auch etwas gehört?« »Nein«, flüsterte Blanes. Die Finsternis im Saal war undurchdringlich. Jacqueline hatte den Eindruck, als reiche sie bis ü b e r den Raum hinaus. »Ich bin als Nächste dran.« Sie presste das schluchzend hervor wie ein gekränktes Kind. »Ich weiß, was er mir alles antun w i r d . Nacht für Nacht hat er es mir erzählt. Ich war oft kurz davor, mir das Leben zu nehmen, und ich hätte es bestimmt getan, wenn er es m i r erlaubt hätte. Aber er ließ es nicht zu. Er genießt es, dass ich tagein, tagaus auf i h n warte. Zur Entschädigung bietet er m i r Lust und Angst. Lust und Angst wirft er m i r vor, wie man einem H u n d Knochen hinschmeißt, und ich stürze mich gierig darauf. Weißt du, was ich zu meinem M a n n gesagt habe, als ich zu Hause ausgezogen bin? >Ich bin noch jung. Ich will mein Leben leben und mein Verlangen ernst nehmen.<« Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Das waren nicht meine Worte ... Er hat sie durch mich gesprochen.« Blanes nickte wie zur Bestätigung. »Ich habe meinen M a n n und meinen Sohn verlassen. Ich habe Michel verlassen. Ich musste es t u n , denn er wollte mich nur allein. Er besucht mich nachts und zwingt mich, vor i h m auf allen vieren zu kriechen und mich i h m zu F ü ß e n zu werfen. Ich muss m i c h schminken, musste m i r die Haare schwarz färben, mich anziehen wie ... Weißt du, warum ich diese Haarfarbe habe?« Sie schüttelte mit trockenem Lachen ihre rötliche M ä h n e . »Mir ist
es nur selten gelungen, mich durchzusetzen. Es fällt m i r enorm schwer, aber in diesem Punkt ist es m i r gelungen. Ich habe genug für ihn getan, findest du nicht auch? Ich habe mein früheres Leben ganz aufgegeben: meinen Beruf, meinen M a n n u n d sogar Michel. Du hast ja keine Ahnung, wie g r o ß sein Hass ist, was er m i r für Abscheulichkeiten ü b e r meinen Sohn sagt. Jetzt, wo ich allein lebe, kann ich ... kann ich diesen ganzen Hass wenigstens m i t meinem Körper abfangen.« »Verstehe«, erwiderte Blanes. »Aber zum Teil gefällt es dir auch, Jacqueline ...« Er hob die Hand, um ihren Einspruch zu verhindern. » Z u m Teil, sagte ich. Das ist etwas Unbewusstes. Er fordert dein Unterbewusstsein heraus. Du musst es dir vorstellen wie einen Brunnen. M a n lässt einen Eimer hinunter, u n d wenn man ihn wieder hochzieht, fördert man alles Mögliche zutage: Wasser, aber auch eine Menge totes Viehzeug. Alles, was in dir drin ist und was immer da war, was er entdeckt u n d ans Licht gebracht hat. In der Tiefe ist auch L u s t . . . « Sie bemerkte, wie sich Blanes' Gesicht beim Reden veränderte. Seine Augen hatten keine Pupillen mehr und saßen in ihren H ö h len wie eitrige Abszesse. In diesem Augenblick erwachte sie. Sie musste eingeschlafen sein, oder hatte sie vielleicht einen >Aussetzer< gehabt? Sie erinnerte sich genau daran, es war entsetzlich gewesen: Blanes'Antlitz hatte sich verwandelt in ... Glücklicherweise war es nur ein Traum gewesen. Dann betrachtete sie ihre Umgebung u n d begriff, dass da etwas nicht stimmte.
Das Bild war vollständig. Victor schloss es und l u d das nächste. Plötzlich war er unsicher, ob er I h n wirklich sehen wollte. Eigentlich nicht. A u ß e r d e m war er nicht sicher, ob Er es war oder nicht - wer wusste schon, wie viele arme Teufel sie damals gekreuzigt hatten? Nein, er wollte es lieber nicht, jedenfalls nicht in der grauenhaften Kürze der Planck-Zeit u n d unter dem D i k -
tat der fehlenden Atome. Er wollte sich den schaurigen Anblick eines u n v o l l s t ä n d i g e n Bildes vom Sohn ersparen, in einem so kleinen Zeitintervall, in das nicht einmal der Vater hineinpasste. Die Ewigkeit, die Endlosigkeit, die s c h ö n e mystische Rose, das war die Zeit Gottes. Wie aber verhielt es sich dann m i t der endlosen Kürze? Wie sollte man die ü b e r h a u p t nennen? Die Augenblicklichkeit? Dieser minimale Moment, in dem die Rose kaum ein Stiel war, gehörte zweifellos zu den Erfindungen des Teufels. Ein Blitz, die Ahnung eines Lidschlags, ja der bloße Wunsch zu blinzeln w ä h r ten unendlich viel länger. Victor kam ein schrecklicher Gedanke: In jenem Kosmos aus Millionstel Sekunden gab es das Gute gar nicht, weil es ganz einfach mehr Zeit brauchte als das Böse. Er hatte sie zufällig an jenem Nachmittag in einer Box in Silbergs Labor gefunden, als er die leeren CDs gesucht hatte: mehrere Compact-Discs m i t dem Aufkleber >Dispers< auf der Hülle. Sofort war i h m Elisas Bericht wieder eingefallen. Das mussten die >Dispersionen< sein, von denen Nadja ihr erzählt hatte, dass Silberg sie aufhob - die aufgrund der falschen Energiemenge fehlgeschlagenen u n d daher unscharfen Aufnahmen offener ZeitStrings. Wie kam es, dass sie noch da waren? Dachten die von Eagle etwa, dies sei der sicherste Platz, um sie aufzubewahren? Oder war es lauter unbrauchbares Material? Obwohl Victor beinahe sicher war, dass er nicht allzu viel w ü r d e sehen k ö n n e n , fand er, als er eine der CDs in den Rechner schob, den Namen der entdeckten Dateien einfach zu verlockend, zu verdächtig, um sich diese einzigartige Gelegenheit entgehen zu lassen: >Crucif<, gefolgt von einer Zahl. In Silbergs Labor gab es mehrere Notebooks mit aufgeladenen Akkus. Victor vermutete, dass sie von den Technikern benutzt wurden, wenn diese auf die Insel kamen. Entgegen Blanes' A n ordnung, aus allen Geräten die Batterien herauszunehmen, hatte Victor dafür gesorgt, dass wenigstens ein Laptop betriebsbereit blieb. Um die Pläne seiner Kameraden nicht zu durchkreuzen, hatte er rasch dessen Energiebedarf ü b e r s c h l a g e n u n d war zu
dem Schluss gekommen, dass die anstelle der g r o ß e n hinterlassene kleine Taschenlampe zusammen m i t dem Computer ungefähr genauso viel Strom verbrauchte wie Carters große Taschenlampe. U n d sollte er dennoch einen Fehler gemacht haben, dann w ü r d e er eben die Verantwortung dafür ü b e r n e h m e n . Schließlich wollte er nur ein paar Bilder anschauen. N u r ein paar, bitte. Nichts auf der Welt konnte i h n jetzt noch daran hindern. M i t zittrigen Fingern öffnete er die erste Datei und erblickte ein rosafarbenes Universum, ein surrealistisches D e l i r i u m . Die neun folgenden Dateien glichen den Animationen eines PopArt-Künstlers unter LSD-Einfluss. Bei der elften stockte i h m der Atem. Eine Landschaft, ein Hügel, ein Kreuz. M i t einem Mal verwandelte sich das Kreuz und wurde ein Pfahl ohne Horizontbalken. Er schluckte: Diese Veränderungen waren Folge der v o r r ü c k e n d e n Planck-Zeiten. In diesen winzigen Zeiteinheiten war das Kreuz kein Kreuz. U n d eine menschliche Gestalt konnte er nicht entdecken. Das Bild blieb nur für fünf Sekunden bestehen. Victor speicherte es wieder, dann öffnete er das nächste. Es war sehr verschwommen. Ein Berg, der in Flammen zu stehen schien. Er schloss es und versuchte erneut sein Glück. Dieses Bild zeigte die Szene m i t dem Kreuz i m Aufriss. Oder war es vielleicht eine andere? Denn jetzt sah er ein zweites Kreuz auf dem Gipfel stehen und am rechten Bildrand ahnte er ein drittes. Drei. U n d Gestalten darum. Haufen, kopflose Schatten. Kalter Schweiß brach i h m aus. Das Bild war sehr verschwommen, aber dennoch erkannte er an den Kreuzen Umrisse. Er nahm die Brille ab und ging m i t dem Gesicht immer n ä h e r an den Bildschirm, bis seine kurzsichtigen Augen sämtliche Einzelheiten erkannten. Die Aufnahme wechselte wieder. Eins der Kreuze war fast vollständig verschwunden. Es hatte nur einen in der Luft schwebenden Fleck hinterlassen, ein längliches D i n g , das am Holz hing wie ein Wespennest an einem Balken.
Bist du das, Herr? Bist du das? Seine Augen wurden feucht. Er streckte die Finger zum Monitor, als wollte er die diffuse Silhouette b e r ü h r e n . Er war so vertieft, dass er nicht merkte, wie sich hinter i h m die T ü r zum Labor öffnete. Das leise Quietschen der T ü r a n g e l n wurde von dem Sturm ü b e r t ö n t , der d r a u ß e n tobte.
Im ersten Moment glaubte sie, noch zu t r ä u m e n . Die Leinwand im Vorführsaal, an der Blanes lehnte, wies ein Loch auf. Die Öffnung war etwa so groß wie das vorgeschriebene M a ß eines Fußballs, nur oval u n d m i t sauberen Kanten. Das Leuchten dahinter war zweifellos der Widerschein des Lichts im angrenzenden Kontrollzentrum. Aber am schrecklichsten war, was m i t Blanes geschah. In seinem Gesicht klaffte ein tiefes, elliptisches Loch. Die rechte Gesichtshälfte war davon betroffen, von der Augenbraue ü b e r den Augapfel und den ganzen Wangenknochen. Eine dichte, rötliche Masse war dort zu erkennen, die im Licht, das aus dem Loch in der Leinwand drang, deutlich sichtbar wurde. Jacqueline meinte Einzelheiten identifizieren zu k ö n n e n : den frontalen Gehirnlappen, die d ü n n e Nasenscheidewand, die Stränge der Gesichtsnerven und den Trigeminus, das Relief der Gehirnrinde ... Das Ganze wirkte wie eine anatomische Holographie. Wind und Meer sind fort. Um sie herum hatte sich tiefe Stille ausgebreitet. Auch die Finsternis hatte sich v e r ä n d e r t und schien irgendwie kompakter. Es brannte weder eine Taschenlampe noch gab es sonst ein Licht, a u ß e r der durch das Loch in der Leinwand e i n s t r ö m e n den Helligkeit. Sie sind fort: Es bleibt nur das alte Schiff. Da sie aufstehen konnte, kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht träumte. Dafür war die Szene zu real. Sie war sie selbst, und ihre nackten Füße berührten den Fußboden, obwohl sie die Kalte des... Eine seltsame Empfindung ließ sie den Kopf senken: Sie sah
die W ö l b u n g ihrer Brüste samt der Spitzen. Sofort tastete sie sich mit den H ä n d e n ab. Sie trug nichts mehr am Körper, keine Kleidung, nichts. Sie war vollkommen nackt. Wind und Meer sind fort. Fort. Fort. Sie drehte sich nach Carter u m , konnte ihn aber nicht entdecken. Victor war ebenfalls verschwunden. N u r Blanes war noch da, erstarrt und v e r s t ü m m e l t . Und sie selbst. N u r sie beide und die Finsternis.
Wehrlos wie eine Puppe schlug Victor dort auf, wo die Hand ihn hinschleuderte. Dabei stieß er sich an dem geöffneten Kasten mit den Dispersionen und v e r s p ü r t e einen stechenden Schmerz in den Kniekehlen. Sein Sturz wirbelte eine Staubwolke auf, und er musste husten. Da packte ihn die Hand am Schopf, und er fühlte sich emporgezogen in den Haufen funkelnder Sternchen, so rein wie fallender Schnee. Ein Schlag t r a f i h n im Gesicht, und sein linkes Ohr begann zu brummen wie ein ersterbender Motor. In dem vergeblichen Versuch, irgendwo Halt zu finden, schabten seine Fingernägel ü b e r die Metallwand in seinem Rücken. Seine Brille war verschwunden. A u f der H ö h e seiner Pupillen erblickte er ein Auge ohne Iris, so schwarz, dass es blind zu sein schien. So schwarz, dass es sich m ü h e l o s von dem Halbdunkel der Umgebung abhob. Er h ö r t e das Knacken eines Mechanismus. »Hören Sie, Sie blöder Pfaffe«, Carters säuselnde Stimme schien direkt aus jenem Auge zu kommen. »Ich habe eine 98 S auf Sie gerichtet. Die ist aus Carbonfaser. Im Magazin sind dreißig Schuss. Fünfeinhalb Millimeter. Ein Treffer aus dieser Entfernung, und von Ihnen bleibt weniger übrig als die Erinnerung an Ihren ersten Furz. Kapiert?« Victor gab b l i n d ein paar winselnde Laute von sich. »Ich w i l l Ihnen mal was sagen: M i t m i r stimmt was nicht. Ich weiß das selbst. Ist m i r nicht entgangen. Ich b i n nicht mehr ich selbst. Das schwöre ich Ihnen. Seit ich z u r ü c k auf dieser verfluchten Insel bin, hat etwas von m i r Besitz ergriffen, mich bösartiger gemacht, als ich es je war. Ich b i n imstande, Ihnen auf
der Stelle eine Kugel durch den Kopf zu jagen, m i r Ihr verspritztes Gehirn mit dem Taschentuch abzuwischen und anschließend frühstücken zu gehen.« Dann tu es doch, dachte Victor, bekam aber keinen Ton heraus. Carter schien auch keine Antwort zu erwarten. »Wenn Sie noch einmal abhauen, ohne Bescheid zu sagen, wenn Sie auch nur einen Schritt tun, obwohl Sie Wache haben, oder ohne Erlaubnis irgendein verdammtes Gerät anschalten, dann bring ich Sie u m , das schwöre ich Ihnen! U n d das ist keine Warnung: Ich meine es ernst! Vielleicht bringe ich Sie auch u m , wenn Sie sich benehmen, ich kann für nichts garantieren, aber ich w ü r d e es nicht darauf ankommen lassen. Geben Sie m i r keinen Anlass, Herr Pfarrer. Kapiert?« Victor nickte. Carter reichte i h m seine Brille u n d schob ihn zur Tür. Da geschah es.
Mehr als ihn zu fühlen, ahnte sie ihn. Kein Bild, kein Geräusch, kein Geruch war da. Nichts Greifbares, nichts, was sie m i t den Sinnen hätte erfassen k ö n n e n . Sie wusste einfach, dass Zickzack da war, am anderen Ende des Raums, genauso, wie sie i h n aus jeder Menschenmenge herausgespürt hätte, ihn, der nur sie begehrte. Sie sind fort, Wind und Meer. Es bleibt der Abgrund. »Mein G o t t . . . M e i n Gott, bitte nicht! Hilfe!! Carter! David! So helfe mir doch jemand!!« Das Grauen kennt einen Punkt ohne Wiederkehr. Jacqueline überschritt ihn in diesem Augenblick. Sie kauerte sich an die Leinwand, neben Blanes' versteinerten K ö r p e r , bedeckte die Brüste m i t den H ä n d e n u n d schrie aus Leibeskräften, so wie sie noch nie im Leben geschrieen hatte, r ü c k h a l t l o s , ohne an etwas anderes zu denken, als zu schreien wie verrückt. Sie heulte und blökte wie ein Tier im Todeskampf, bis i h r die Stimme versagte, i h r Herz schier in der Brust zersprang u n d die Lunge sich m i t Blut füllte, bis sie wusste, dass sie
den Verstand verloren hatte, tot oder zumindest wie b e t ä u b t war. Vom anderen Ende des Raumes her bewegte sich etwas auf sie zu. Ein Schatten. Im N ä h e r k o m m e n schien er einen Teil der Finsternis mitzuschleppen. Jacqueline hob den Kopf, ihr Blick traf ihn. Als sie seine Augen sah, h ö r t e sie auf zu schreien. U n d es gelang ihr, ihrem K ö r p e r einen einzigen, letzten Befehl zu geben. Sie stand auf und rannte zur Tür, wie jemand ü b e r das Deck eines sinkenden Schiffs z u m rettenden Boot läuft. Sie sind fort. Sie sind fort. Sie sind fort. Sie sind fort. Sie sind fort. Ich schaffe es nicht, sagte sie sich. Ich werde nicht entkommen. Er w ü r d e schneller sein. Er kam sehr schnell näher, zu schnell. Aber m i t dem letzten Funken Verstandes begriff sie, dass sie dennoch das Richtige tat. N ä m l i c h das, was jedes Lebewesen an ihrer Stelle getan hätte, nach einem Blick in jene Augen.
Die Bildbearbeitung war abgeschlossen. Der Computer fragte sie, ob sie das Bild jetzt laden wollte. Ihre Beklemmung wuchs, dennoch d r ü c k t e Elisa auf die Enter-Taste. Nach kurzem Z ö g e r n flackerte der Bildschirm blassrosa auf u n d zeigte ein verschwommenes Foto, offenbar vom K o n t r o l l zentrum: Sie konnte im Hintergrund den glänzenden Teilchenbeschleuniger erkennen u n d ebenso die beiden Computer davor. Dennoch war etwas anders. Die große Undeutlichkeit hinderte sie jedoch daran, es sogleich zu bemerken: Es gab eine weitere Lichtquelle, eine brennende Taschenlampe neben dem rechten Computer. In deren Strahl konnte sie das Versuchsbild genau dort sehen, wo sie jetzt saß. Es s c h n ü r t e ihr die Kehle zu. Eine T ü r in ihrem G e d ä c h t n i s sprang auf und überflutete sie m i t Erinnerungen. Zehn Jahre danach sah sie i h n n u n wieder. Der schlechte Zustand des Bildes ließ ihr reichlich Spielraum, es zu vervollständigen: den knochi-
gen Rücken, den g r o ß e n kantigen Kopf ... alles zerlegt von der Planck-Zeit - sie brauchte keine genauere Aufnahme, um zu wissen, wer das war. Ric Valente starrte auf den M o n i t o r des Computers, nicht ahnend, dass Elisa i h n zehn Jahre später auf genau demselben M o nitor anschauen w ü r d e . Er war allein u n d glaubte, es durch die Jahrhunderte zu bleiben, aber Blanes' Theorie hatte i h n aus der versteinerten Zeit herausgelöst wie der Bergmann einen Kohleflöz. Nachdem sie den ersten Schreck ü b e r w u n d e n hatte, saß Elisa fast in der gleichen g e k r ü m m t e n Haltung da wie Ric Valente: Wie zwei neugierige Bedienstete ü b e r das Schlüsselloch, beugten sie sich ü b e r den Bildschirm u n d schauten in die Vergangenheit. Sie versuchten zu erforschen, was geschah oder geschehen war. Was betrachtet er? Was tut er? Das Flackern der brennenden Kontrollleuchten vor Ric sagte ihr, dass auch er soeben verschiedene Zeit-Strings geöffnet hatte und die Ergebnisse betrachtete. Die Position der Kamera gestattete ihr zwar, den M o n i t o r vor Ric zu erkennen, nicht aber das von i h m angesehene Bild; seine Silhouette war i m Weg. Ich würde ohnehin nichts sehen, selbst wenn er wegginge. Ich muss erst die Filter darüberlaufen lassen. Ein Detail auf dem Bild machte sie jedoch stutzig. Was war das? Woher kam auf einmal diese Unruhe? Je länger sie hinschaute, desto sicherer war sie, dass es nicht d o r t h i n g e h ö r t e . Ewas Verstecktes oder allzu Offensichtliches, wie bei dem Rätsel m i t den zwei Bildern, an denen nur ein aufmerksames Auge die Unterschiede wahrzunehmen vermag. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Als beim j ä h e n Sprung in einen anderen Zeit-String die Aufnahme wechselte, zuckte sie leicht zusammen. Jetzt war Ric auf der linken Seite, aber um i h m herum war alles so verschwommen, dass sie sich wie befürchtet keine Vorstellung von der Szene machen konnte, die er betrachtete u n d die gemeinsam m i t Ries
Bildschirm wie ein schwarzer Tintenklecks direkt vor ihr erschien. Das muss Zickzack sein! Ich muss die Grafikfilter darüberlaufen lassen und es mit dem Zoom naher heranholen. Neben Ric stand jetzt jemand. Allerdings fehlten der Gestalt das halbe Gesicht u n d ein Teil des O b e r k ö r p e r s . Dennoch erkannte sie Rosalyn Reiter. Zweifellos hatte die arme Rosalyn i h n gerade ü b e r r a s c h t . Wahrscheinlich versuchte er in diesem Moment seinen nächtlichen Besuch im Kontrollzentrum zu rechtfertigen. Der String g e h ö r t e zu einem winzigen zeitlichen Bruchteil vor 4:10:10 Uhr, das war zwei Sekunden vor dem Stromausfall und vor dem ersten Erscheinen von Zickzack. Rosalyn stand weit weg v o m Generator. Wie war sie zwei Sekunden später in die Generatorenkammer gelangt und an einem Stromschlag gestorben? Elisa war sich sicher, dass es w ä h r e n d des Angriffs passiert war: Sie ahnte sogar, welche E r k l ä r u n g es dafür geben konnte . . . Aber immer noch war da jenes undefinierbare Detail, das sie so beunruhigte. Was war es? Sie hatte keine weiteren Strings geöffnet. Zügig tippte sie einen Befehl ein, um das Filterprogramm aufzurufen und zu starten. Sie programmierte den Rechner so, dass sie die Anwendung dabei weiterlaufen lassen konnte. Dann entdeckte sie noch etwas: Weder Ries noch Rosalyns Silhouette waren von einem Schatten umgeben. Sie wusste, dass Rosalyn tot war u n d demnach keine Vervielfältigung verursachen konnte, aber Ric? Bedeutete das etwa, dass auch er tot war? Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da erfasste sie abermals nagende Unruhe. Elisa wandte den K o p f u n d schaute sich in der g e r ä u m i g e n Kammer u m . Weite Teile des Kontrollzentrums lagen im Dunkeln. Das einzige Licht stammte von dem phosphoreszierenden rosa B i l d schirm, und das reichte kaum zwei Meter weit. Blanes' Anweisungen befolgend, hatte sie den Beschleuniger schon vor einer Stunde ausgeschaltet und die übrigen Computer und Geräte vom Netz genommen. Die Batterie ihrer A r m b a n d u h r lag auf dem
Tisch. Doch auf dem Bildschirm war eine Zeitangabe zu sehen: Es war kurz vor Mitternacht. D r a u ß e n w ü t e t e immer noch das Chaos, u n d die Heftigkeit der entfesselten Naturgewalten war durch die W ä n d e hindurch zu spüren. Jenseits der Fenster schien sich eine endlose Welle zu brechen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Dennoch wuchs ihr Unbehagen. Die Empfindung war ihr seit zehn Jahren vertraut, sie war von ihr geprägt worden wie von einem kleinen, rot g l ü h e n d e n Eisen, das ihr jede Nacht ins Fleisch gebrannt worden war. Sie war sicher: Er war da. Sie nahm seine Präsenz so deutlich, so dicht an ihrem K ö r p e r wahr, dass sie sich u n w i l l k ü r l i c h schuldig fühlte: Sie war nicht bereit, i h n zu empfangen. Die Angst verdichtete sich und lastete ihr schwer auf der Brust. Taumelnd erhob sie sich. Die Haare standen ihr zu Berge. Dann war schlagartig alles wieder vorbei. Sie h ö r t e Schreie, Carters Stimme u n d eilige Schritte in den Baracken, aber das Kontrollzentrum betrat niemand. Als sie den Kopf wieder nach vorn drehte, entdeckte Elisa sie. Sie stand vor ihr, hinter dem Computer, vom Bildschirm beleuchtet. Ihre Nacktheit wirkte verschwommen, als w ü r d e ihre Gestalt zerfließen wie ein beliebiger, lebloser Wachsklumpen. Der einzig erkennbare Gesichtszug war der M u n d , er wirkte ausgerenkt, klaffte schwarz u n d riesig: Eine offene Hand hätte v o l l ständig in diesem Schlund Platz gehabt. Elisa wusste nicht, w o ran sie sie eigentlich erkannt hatte. Dann begann Jacqueline Clissot vor ihren Augen zu zerfallen.
32
W i m m e r n d vor Schmerzen schlug sie die Augen auf: Sie fand sich b ä u c h l i n g s auf einem Sprungrahmen ohne Auflagen wieder, dessen harte D r ä h t e A b d r ü c k e in ihren Wangen hinterlassen hatten. Sie wusste weder, wo sie war, noch was sie dort tat, und der Anblick der beiden Maskierten m i t den glänzenden A u gen gab ihr auch keinen Aufschluss darüber. Fremde H ä n d e halfen ihr r u p p i g beim Aufstehen. Sie bat, zur Toilette gehen zu dürfen, doch erst als sie den Satz auf Englisch wiederholte, ließ das Gezerre nach, um in entgegengesetzter Richtung erneut zu beginnen. Nach einem kurzen, unerfreulichen Besuch auf dem K l o , wo es weder fließendes Wasser noch H a n d t ü c h e r gab, fühlte sie sich so weit erleichtert, dass sie ohne fremde Hilfe gehen konnte. Dennoch packten die H ä n d e - es waren die von Soldaten m i t Gasmasken, wie sie jetzt sah - sie wieder an den A r men.
Harrison mochte keine Inseln. A u f diesen Flecken Erde, diesen Abweichungen in der Meeresgeologie waren im Namen der Menschen einfach zu viele Fehler begangen worden. Ihre einsamen, vor den Augen der Götter verborgenen G ä r t e n boten sich geradezu für G e s e t z e s ü b e r t r e t u n gen und Verletzungen der Schöpfung an. Eva war die Erste. U n d
noch immer bezahlte sie jene alte Schuld: Eva oder Jacqueline Clissot, das lief auf dasselbe hinaus. Die Schlange hatte sich i n einen Drachen verwandelt. Um kurz vor neun U h r an diesem Sonntagmorgen, dem fünfzehnten M ä r z , hing immer noch ein dichter Regenvorhang ü b e r der verfluchten Insel. Die Palmen, die den Strand s ä u m ten, g e b ä r d e t e n sich wie ein Staubwedel in der Hand eines nerv ö s e n Hausangestellten. Hitze u n d Feuchtigkeit verschlugen Harrison regelrecht den Atem, weshalb einer seiner ersten Befehle lautete, die Klimaanlage in Betrieb zu nehmen. Er w ü r d e sich zwar gewiss erkälten - seine Kleider waren d u r c h n ä s s t von dem Regenguss, der sie acht Stunden zuvor bei ihrer Landung auf der Insel empfangen hatte -, aber das war jetzt seine geringste Sorge. Die H ä n d e in den Hosentaschen, ließ Harrison den Blick über die Landschaft schweifen, in Gedanken bei Inseln, S ü n d e n u n d toten Evas u n d sagte: »Die beiden Soldaten, die den Vorführsaal betreten haben, mussten ruhig gestellt werden. Das sind hartgesottene Kerle, die haben schon einiges mit ansehen m ü s s e n . Wie lässt sich das erklären, Professor?« Er wandte sich zu Blanes u m , der an einem staubbedeckten Tisch saß; er ließ immer noch den Kopf h ä n g e n u n d hatte das von Harrison hingestellte Glas Wasser nicht a n g e r ü h r t . »Hier haben w i r es m i t mehr als nur v e r s t ü m m e l t e n K ö r p e r n zu tun, oder? M i t mehr als getrocknetem Blut an W ä n d e n u n d Decke, nicht wahr?« »Das ist der Impact.« Blanes antwortete so geistesabwesend u n d tonlos, wie er schon auf die vorangegangenen Fragen reagiert hatte. »Die Verbrechen von Zickzack sind wie Bilder aus der Vergangenheit. Sie erzeugen den I m p a c t . . . « Für diesen Moment b e g n ü g t e sich Harrison m i t einem Kopfnicken. »Verstehe.« Er trat v o m Fenster z u r ü c k u n d nahm seine Wanderungen durch den Speisesaal wieder auf, h i n u n d her. »Und das hat zur Folge,... dass w i r uns verändern?« »Wie meinen Sie das?«
Beim Reden setzte Harrison nur die unvermeidlichsten Muskeln ein. Sein Gesicht war so unbewegt wie eine gepuderte Maske. »Dass ... w i r m e r k w ü r d i g e Dinge tun oder denken ...« » A n z u n e h m e n . Das Bewusstsein von Zickzack verseucht uns alle auf die eine oder andere Weise, weil es m i t der Gegenwart i n teragiert.« Es verseucht uns. Harrison vermied es, zu Elisa h i n ü b e r z u schauen. Sie saß da u n d schnaubte wie ein wildes Tier, nur spärlich von dem an ihr klebenden Hemdchen und den in den Leisten einschneidenden Jeans bedeckt, die Haut g l ä n z e n d vor Schweiß, das kohlschwarze Haar zerwühlt. Er vermied sie anzusehen, weil er nicht die Beherrschung verlieren wollte. Die Sache war ganz einfach: Wenn er sie lange ansah oder lange genug, wäre er zu allem imstande. Aber noch wollte er nichts t u n . Er musste vorsichtig sein. Solange der Professor noch etwas zu sagen hatte oder zu t u n fand, w ü r d e er die Ruhe bewahren. »Lassen Sie uns das Wesentliche zusammenfassen, Professor.« Er rieb sich die Augen. »Fangen w i r noch einmal von vorne an. Sie waren im V o r f ü h r s a a l . . . « »Ich war eingeschlafen u n d bin aufgewacht, als ich ein Knistern wie von Funken g e h ö r t habe. Sie s p r ü h t e n aus allen Elektroanschlüssen: der Konsole, den Lichtschaltern. Dasselbe ist in den Labors passiert.« »Und in der Küche. Haben Sie das gesehen?« Harrison warf einen Blick durch die T ü r und verzog das Gesicht: Es roch verbrannt. »Die Isolierung der Stecker ist durchgeschmort, u n d die Kabel liegen blank. Wie konnte das passieren?« »Das war Zickzack. Es ist etwas Neues. Er hat gelernt, aus den abgeschalteten Apparaten Energie zu ziehen.« Harrison rieb sich das K i n n u n d musterte nachdenklich den Wissenschaftler. Er musste sich rasieren, ein s c h ö n e s Bad nehmen, damit er sich wieder wie ein Mensch fühlte, und eine Runde in einem anständigen Bett schlafen. Aber noch war nicht die Zeit dazu. »Fahren Sie fort, Professor.«
Die Wespe. Du musst vor allem diese schwarze Wespe totschlagen, die dir ins Hirn sticht. »Im Widerschein der Funken habe ich gesehen . . . Ich w e i ß auch nicht, woran ich erkannt habe, dass das Jacqueline war . . . Ich habe mich übergeben, habe angefangen zu schreien.« Sie wurden unterbrochen. Die T ü r zum Speisesaal öffnete sich und Victor trat ein, in Begleitung eines Soldaten. Er war genauso wenig p r ä s e n t a b e l wie die anderen: nackter O b e r k ö r p e r , das Hemd um die Hüften geschlungen und das Gesicht verquollen vom fehlenden Schlaf und den zwei, drei Ohrfeigen, die Carter i h m verpasst hatte. Harrison fand seinen Anblick widerlich: diese krankhafte Blässe, das fehlende Brusthaar, die altmodische Brille . . . Alles an diesem Typen erinnerte i h n an eine unreife Made, eine schlaksige Kaulquappe. Obendrein hatte dieser Victor Lopera sich beim Betreten des Vorführsaals in die Hose gemacht, so dass der feuchte Fleck von den Innenseiten seiner Hosenbeine bis zum Boden reichte. Harrison b e g r ü ß t e i h n m i t einem Lächeln und beschloss, auch H e r r n Kaulquappe noch etwas zappeln zu lassen. »Haben Sie sich ausgeruht?« Lopera nickte und setzte sich auf einen Stuhl. Harrison bemerkte, wie mitfühlend die Frau ihn ansah. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet sie sich diesen k o m i schen Kauz als Freund ausgesucht hatte? Vielleicht sollte ich ihn vor ihren Augen abschlachten. Ja, vielleicht wäre es gar nicht falsch, wenn das Flittchen ihn mit eigenen Augen krepieren sieht. Er behielt die Idee für sich, um sie später m i t Jürgens durchzusprechen. Vorerst galt sein Hauptaugenmerk Blanes. »Wo waren w i r stehen geblieben? Sie haben also die Überreste von Frau Professor Clissot gesehen und . . . was war dann?« » D a n n war alles wieder dunkel. Und ich wusste, dass er wieder zugeschlagen hatte.« Er hielt inne. Als er weitersprach, betonte er jedes einzelne Wort. » D a n n habe ich ihn gesehen.« »Wen?« »Ric Valente.« N u r das monotone Geprassel des Regens war noch zu h ö r e n .
»Wie haben Sie i h n im Dunkeln erkennen können?« »Ich habe ihn gesehen«, wiederholte Blanes. »Es war, als leuchtete er von innen. Er stand mitten im Vorführsaal, von oben bis unten m i t Blut beschmiert. Dann ist er durch die T ü r entwischt, bevor Carter und Victor Lopera z u r ü c k waren.« »Haben Sie i h n auch gesehen?«, wandte Harrison sich nun an Victor. »Nein.« Victor schien völlig fertig zu sein. »In dieser Situation war ich kaum in der Lage, irgendetwas zu bemerken ...« » U n d Sie, Frau D o k t o r ? « , fragte Harrison, ohne Elisa anzuschauen. »Ich glaube, Sie waren da gerade im Kontrollzentrum? O h n m ä c h t i g ? Haben Sie Valente gesehen?« Elisa hob nicht einmal den Blick. Harrison verspürte Angst: Nicht, dass sie i h m etwas tun konnte, sondern vielmehr wegen all der Dinge, die er ihr am liebsten ant u n wollte. Wegen all der Dinge, die er ihr zu gegebener Zeit ant u n w ü r d e . I h n befiel Panik, wenn er ihren K ö r p e r betrachtete und sich ausmalte, wie er m i t ihr spielen w ü r d e . Er holte tief Luft und stieß sie mit den Worten wieder aus: »Sie weiß es nicht, sie antwortet nicht. Na s c h ö n , wie auch immer . . . Meine M ä n n e r werden i h n schon finden. Er kann ja nicht weit sein. Von der I n sel k o m m t er nicht weg, wo auch immer er steckt.« Dann richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf seinen speziellen Freund Blanes. »Glauben Sie, dass Valente Zickzack ist?« »Ich habe keinen Zweifel daran.« »Und wo hat er sich all die Jahre rumgetrieben?« »Keine Ahnung. Das müsste ich untersuchen.« »Ich wüsste das gerne, Professor. Ich wüsste gerne, wie er oder sein Doppel, seine Vervielfältigung oder wie das heißt, das angestellt h a t . . . Wie er es fertig gebracht hat, so viele von Ihnen zu beseitigen. Den Trick wüsste ich gerne, verstehen Sie? M i r hat mal ein Lehrer gesagt: >Frag nicht nach G r ü n d e n , sondern schau auf das Ergebnis.< In unserem Fall liegt das >Ergebnis< im Raum nebenan und kann keine Fragen mehr b e a n t w o r t e n . « Harrison verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Grinsen. »Ein >Er-
gebnis<, dass man eine G ä n s e h a u t bekommt. Da fragt man sich schon, was sich Herr Valente w o h l dabei gedacht hat, einen menschlichen Körper so zuzurichten. Das wüsste ich schon gerne. Wenn Sie m i r hierzu einen Bericht machen. Letzten Endes ist dies genauso unser Projekt wie Ihres.« »Ich brauche Zeit und Ruhe, um m i r erst einmal d a r ü b e r klar zu werden, was hier eigentlich passiert ist«, erwiderte Blanes. »Die sollen Sie haben.« Elisa sah Blanes entgeistert an und machte zum ersten M a l seit Beginn der Befragung den M u n d auf. »Bist du verrückt geworden?«, sagte sie auf Spanisch. »Willst du etwa gemeinsame Sache m i t denen machen?« Harrison kam Blanes'Antwort zuvor. »Estas loco«, radebrechte er ironisch auf Spanisch. »Wir sind hier alle verrückt, Frau Doktor. Wer ist es nicht?« Er beugte sich zu ihr h i n ü b e r , g ö n n t e sich endlich einen genaueren Blick auf sie, nahm ihr Bild in sich auf: Obwohl sie verschwitzt war und vor Dreck starrte, fand er ihr derangiertes Ä u ßeres durchaus attraktiv u n d sexy, ein Bild, das i h n erschauern ließ, und erging sich in einer Stegreifrede, um die M i n u t e n ihrer Betrachtung g r ü n d l i c h auszukosten; dabei schlug er den mahnenden Ton eines Vaters g e g e n ü b e r seiner ungezogenen, doch geliebten Tochter an: »Nur besteht die Verrücktheit von einigen darin, dafür zu sorgen, dass andere ruhig schlafen k ö n n e n . W i r leben in einer gefährlichen Welt, einer Welt, in der w i r zum Spielball von Terroristen werden, die uns wie Zickzack angreifen, ohne sich zu erkennen zu geben. Deshalb m ü s s e n w i r unter allen U m s t ä n d e n verhindern, dass das Geschehen heute Nacht von den falschen Leuten missbraucht wird.« » U n d Sie sind einer von den richtigen?«, fragte Elisa d u m p f u n d sah i h m fest in die Augen. Harrison blieb der M u n d offen stehen. U n d verblüffend sanft sagte er: »Kann sein, dass ich es nicht bin, aber es gibt Schlimmere, merken Sie sich das.« »Möglich, aber die stehen unter Ihrem K o m m a n d o . «
»Elisa«, rief Blanes sie zur Ordnung. »Oh, lassen Sie nur, kein Problem«, winkte Harrison großzügig ab, als k ö n n t e n ihn derartige Kindereien nicht treffen. »Frau D o zentin Robledo und mich verbindet eine ... besondere Beziehung, seit vielen Jahren. W i r kennen uns gut genug.« Er kehrte sich von ihr ab u n d schloss die Augen. Jeder Regentropfen ließ i h n an all das vergossene Blut denken u n d er breitete die Arme aus. »Ich nehme an, Sie sind hungrig und m ü d e . Sie k ö n n e n jetzt etwas essen und dann schlafen gehen, wenn Sie m ö c h t e n . Meine M ä n n e r d u r c h k ä m m e n die Insel Millimeter für Millimeter. W i r werden Valente finden, wo auch immer er sich aufhält, wenn er sich überhaupt irgendwo aufhält.« Er lachte kurz auf. Dann musterte er Blanes wie ein Verkäufer seinen besten Kunden. »Wenn Sie uns einen vollständigen Bericht über den Vorfall liefern, Professor, dann werden w i r über Ihre Vergehen hinwegsehen. Ich weiß, warum Sie hierher zurückgekehrt sind. U n d auch, warum Sie geflohen sind. Ich verstehe das. Die Eagle Group w i r d kein Verfahren gegen Sie anstrengen. U n d übrigens: Sie sind nicht unsere Gefangenen. Versuchen Sie, sich zu entspannen, gehen Sie spazieren ... falls Ihnen das bei dem Wetter zusagt. Für morgen erwarten w i r die Ankunft einer wissenschaftlichen Delegation. Wenn Sie ihr die Ergebnisse vorlegen, k ö n n e n w i r alle nach Hause fliegen.« »Und was passiert m i t Carter?«, fragte Blanes, bevor Harrison den Raum verließ. »Ich fürchte, m i t i h m werden w i r nicht so zartfühlend umgehen.« An Harrisons feuchtem, leinenfarbenem Jackett schimmerte ein Ausweis m i t dem Logo der Eagle Group. »Allerdings liegt sein Schicksal nicht in meinen H ä n d e n . Schließlich w i r d Herr Carter unter anderem beschuldigt, sein Gehalt für eine A r beit kassiert zu haben, die er gar nicht getan hat.« »Er hat nur versucht, sich in Sicherheit zu bringen, so wie w i r auch.« »Wenn es zur Verhandlung kommt, will ich versuchen, ein gutes W o r t für i h n einzulegen, Herr Professor, mehr kann ich I h nen nicht versprechen.«
A u f ein Zeichen von Harrison folgten i h m die beiden Soldaten aus dem Zimmer. Als hinter i h m die T ü r zufiel, strich sich Elisa das Haar aus dem Gesicht und sah Blanes an. »Was für einen Bericht willst du denn schreiben?«, platzte sie heraus. »Verstehst du denn nicht, worauf das hinausläuft? Die wollen aus Zickzack die Waffe des 21. Jahrhunderts machen! Soldaten, die den Feind durch einen Blick in die Zeit t ö t e n , irgend so etwas!« Sie stand auf und schlug m i t der Faust auf den Tisch. » U n d Jacquelines Tod soll dir helfen, so einen Scheißbericht abzuliefern?« »Elisa, beruhige dich doch!« Blanes schien von ihrem Wutausbruch beeindruckt. »Hast du nicht gesehen, wie dem alten Hurensohn die Augen übergegangen sind bei der Vorstellung, der Delegation morgen früh so einen Leckerbissen aufzutischen? Dieses widerliche, schleimige Arschloch! Dieser ekelhafte, alte Hurenbock! Dem willst du helfen?« Schluchzend ließ sie sich auf den Stuhl fallen und schlug die H ä n d e vors Gesicht. »Elisa, nun ü b e r t r e i b mal nicht.« Blanes erhob sich und ging in die Küche. »Sie wollen anscheinend das Verfahren kennen lernen, das ist doch ihr gutes R e c h t . . . « Elisa h ö r t e auf zu weinen. Plötzlich fehlte ihr selbst dazu die Kraft. »Wenn man dich reden h ö r t , k ö n n t e man meinen, Eagle wäre eine Gruppe bezahlter Killer«, redete Blanes in der K ü c h e einfach weiter. »Wir wollen die Kirche doch im D o r f lassen.« Nach einer Pause fügte er in einem anderen Ton hinzu: » H a r r i s o n hat Recht, die Stecker sind verkohlt, und die Kabel liegen blank. Das ist unglaublich! Dann k ö n n e n w i r also noch nicht einmal Kaffee kochen. W i l l jemand Mineralwasser und Kekse?« Er kam m i t einer Plastikflasche und einer Packung Kekse auf einer Papierserviette zurück. Kauend stand er am Fenster und sah hinaus. »Ich habe nicht die Absicht, m i t diesem Pack gemeinsame Sache zu machen, David«, erklärte Elisa rundheraus. » D u kannst t u n und lassen, was du willst, aber von m i r werden die kein Sterbenswort erfahren.« Sie nahm einen Keks und stopfte i h n m i t
zwei Bissen in den M u n d . Mein Gott, wie ausgehungert sie war. Dann nahm sie den nächsten u n d noch einen. Sie verschlang sie alle, fast ohne zu kauen. Anschließend fiel ihr Blick auf die Serviette, die Blanes soeben auf dem Tisch ausgebreitet hatte. In g r o ß e n , hastigen Buchstaben stand darauf etwas geschrieben: V I E L L E I C H T W A N Z E N . G E H E N W I R E I N Z E L N RAUS. TREFFEN I N R U I N E N DER KASEMATTE. Der Regen hatte zwar nicht aufgehört, aber i m m e r h i n nachgelassen. Doch drinnen war es so stickig gewesen, dass ihre Haut vor Schweiß klebte u n d ihr die saubere Dusche im Freien hochw i l l k o m m e n war. Elisa zog Schuhe u n d S t r ü m p f e aus u n d lief durch den Sand, wie jemand, der beschlossen hat, einen einsamen Spaziergang zu unternehmen. Sie schaute sich u m , aber von Harrison und seinen Soldaten war keine Spur zu entdecken. Doch dann hielt sie inne. Wenige Meter vor ihr stand auf dem Sand der Stuhl. Sie erkannte i h n auf Anhieb: schwarzer Ledersitz, Metallfuß auf Rollen, rechts in der Lehne fast bis zur M i t t e eine längliche, elliptische Kerbe mit sauberen Kanten. Zwei der vier Fußstreben fehlten, u n d eine von den Armlehnen wies eine Serie sauberer Löcher auf, in denen es silbrig schimmerte wie von Edelsteinen. Ein gewöhnlicher Stuhl wäre derart kaputt nicht aufrecht stehen geblieben. Aber es war kein g e w ö h n l i c h e r Stuhl. Der Regen h i n t e r l i e ß keine Spur, ja er benetzte ihn nicht einmal. Vielmehr prallten die Tropfen von seiner Oberfläche ab. Sie fielen nicht durch ihn hindurch wie durch eine Holographie, sondern s t ü r z t e n aus dem H i m m e l wie herabgeworfene Silbernadeln, bohrten sich in die Sitzfläche, blieben für Augenblicke unsichtbar und tauchten wieder darunter auf, bis sie im Sand versickerten. Elisa betrachtete ihn fasziniert. Sie hatte den Stuhl zum ersten M a l w ä h r e n d der Vernehmung gesehen, um Harrisons Beine geschlungen wie eine schlafende Katze. Als Harrison aufstand, war er einfach durch ihn hindurchgegangen wie jetzt der Regen. Elisa
hatte bemerkt, wie einer der Soldaten in diesem M o m e n t auf seine Digitaluhr geschaut u n d daran herumgestellt hatte, wahrscheinlich, weil ihr Energie entzogen worden war. Elisa zählte bis fünf, dann war der Stuhl wieder fort. Wie gern h ä t t e sie mehr Zeit gehabt, um die Vervielfältigungen genauer zu studieren. Sie gehörten zu den erstaunlichsten Entdeckungen der Wissenschaft, und Elisa war fast geneigt, Verständnis für M a r i n i , Craig und Ric aufzubringen, aber um ihnen zu vergeben, war es zu spät. Als der Stuhl verschwunden war, wanderte sie weiter ü b e r das Gelände der Forschungsstation. Ein Schauer überlief sie bei der Vorstellung, dass Zickzack im Grunde nichts anderes war als jener Stuhl: eine periodisch wiederkehrende Erscheinung, das Resultat der errechenbaren Summe aus zwei verschiedenen Zeiten. Nur besaß Zickzack einen Willen. Er wollte sie und ihre Kollegen foltern und töten. Drei Opfer Ric eingeschlossen sogar vier - waren noch am Leben, u n d er w ü r d e seinen Plan ausführen, es sei denn, sie unternahmen etwas. Sie mussten etwas tun. Sofort. Von der Militärkasematte und dem Lager waren nur zwei halb verfallene schwarze Mauern ü b r i g . Die anderen schienen erst kürzlich endgültig eingebrochen zu sein - vielleicht infolge der Monsunwinde. Schutt u n d T r ü m m e r waren durch die Wucht Richtung Norden gefegt worden, so dass im Zentrum ein leerer Platz aus festgebackener Erde - vielleicht durch die Hitze der Explosion - entstanden war, wo an verschiedenen Stellen schon das Dickicht wucherte. Elisa beschloss, bei den Mauerresten zu warten. Sie stellte die Schuhe auf den Boden, öffnete das unter der Brust zusammengeknotete H e m d u n d strich sich ü b e r das Haar. Nach dem Regenguss war es weniger gewaschen denn verfilzt. Sie legte den Kopf in den Nacken und hielt das Gesicht in den Regen, der allm ä h l i c h in ein Nieseln überging. Die Sonne begann sich vereinzelt zu zeigen. Kurz nach ihr traf Blanes ein. Sie wechselten nur wenige Worte,
als h ä t t e n sie sich zufällig getroffen. Nach weiteren fünf M i n u ten erschien Victor. Es gab Elisa einen Stich zu sehen, in was für einem Zustand er war: bleich und ungepflegt, m i t einem Dreitagebart und dicken Zotteln statt des Lockenkopfs. Doch bei i h rem Anblick ging ein Lächeln ü b e r Victors Gesicht. Blanes schaute sich suchend u m , und sie tat es i h m nach: Im Norden ragten hinter der Forschungsstation die Palmen auf, dahinter erstreckten sich der einsame Sandstrand und das graue Meer; im Süden standen vier Militärhubschrauber auf dem Landeplatz vor dem fernen Saum des Waldes. Offenbar war niemand in der N ä h e , obwohl von weiter weg die Stimmen von Soldaten das Gezwitscher der Vögel ü b e r t ö n t e . »Hier sind wir sicher«, sagte Blanes. Als sich ihre Blicke trafen, konnte sich Elisa nicht länger beherrschen: Sie warf sich in seine Arme, presste sich an seinen starken K ö r p e r und s p ü r t e Blanes' feste H ä n d e auf ihrem Rücken. Sie weinten beide, aber anders als zuvor, lautlos und ohne Tränen. Trotzdem klammerte sich Elisa bei dem Gedanken an ihre Kollegin verbissen an eine Hoffnung: Jacqueline, du Ärmste, es ist schnell gegangen, nicht wahr? Bestimmt, er hatte nämlich nicht genug Energie, um ... Gleichzeitig wusste sie, dass sie beide auch um ihrer selbst willen trauerten. Wegen ihrer Hilflosigkeit am Boden zerstört waren, aus Angst vor der unausweichlichen Verdammnis. Als sie Victor von Schmerz überwältigt n ä h e r kommen sah, nahm sie ihn mit hinein in die Umarmung und ließ ihr K i n n an seiner knochigen, vom Regen feuchten Schulter ruhen. »Es tut m i r so Leid . . . « , winselte Victor. »Verzeiht m i r ... ich bin s c h u l d . . . « »Nein, Victor.« Blanes tätschelte i h m die Wange. »Du hast nichts Böses getan. Der Laptop, den du benutzt hast, war nicht die Ursache. Er hat die potenzielle Energie aus den Elektrogeräten gezogen. So ist er beim ersten M a l auch vorgegangen. W i r konnten uns nicht dagegen schützen.« Als Elisa spürte, dass sich Victor allmählich beruhigte, löste sie
sich von den beiden u n d gab Victor einen Kuss auf die Stirn. Sie hatte das Bedürfnis zu küssen, zu umarmen und zu lieben. Sie hatte das Bedürfnis, geliebt u n d getröstet zu werden. Doch sie schob es beiseite und vertagte es auf später, weil die bevorstehende Aufgabe ihre volle Konzentration verlangte. Nach dem, was m i t Jacqueline passiert war, hatte sie sich erst recht geschworen, Zickzack das Handwerk zu legen, auch wenn es sie das Leben kostete. I h n auszulöschen. Abzuschalten. Zu t ö t e n . Zu vernichten. Von der Bildfläche zu tilgen. Fertig zu machen. Sie wusste nicht, welcher Begriff eher zutraf - wahrscheinlich alle. »Was ist eigentlich im Kontrollzentrum passiert, Elisa?«, fragte Blanes besorgt. Sie berichtete alles, was Harrison ihr nicht hatte entlocken k ö n nen, sogar von ihrem > Aussetzen und wie sie Jacquelines K ö r p e r hatte zerfallen sehen. »Ich habe das Filterprogramm ü b e r das Bild laufen lassen«, sagte sie dann. »Wenn die nichts angefasst haben, m ü s s t e es i n zwischen abgespeichert sein.« »Hast du Vervielfältigungen gesehen?« »Ja, den Stuhl vom Rechner. Der ist zweimal aufgetaucht. U n d Rosalyn u n d Ric hatten keinen Schatten, also gibt es keine Vervielfältigungen von ihnen.« »Merkwürdig ...« Blanes zupfte sich am Bart. Dann fing er an zu sprechen und klang ganz anders als bei der Vernehmung: abgehackt, hastig, fast atemlos. »Gut, ich w i l l euch erzählen, was ich glaube. Erstens hat Elisa n a t ü r l i c h Recht. Wenn w i r diesen Bericht ausgearbeitet haben, dann haben w i r für Eagle sozusagen ausgedient. Dann sind wir nur noch gefährliche Zeugen, weil w i r wissen, wie Zickzack entsteht. Deshalb b i n ich felsenfest davon überzeugt, dass sie uns aus dem Weg schaffen wollen. Doch selbst wenn nicht, habe ich nicht die Absicht, ihnen Zickzack auf dem Silbertablett zu präsentieren, damit sie i h n zum Hiroshima des einundzwanzigsten Jahrhunderts machen. Ich glaube, darin sind w i r uns einig.« Elisa u n d Victor nickten. »Wir dürfen nicht m i t offenen Karten spielen, auf gar keinen Fall. W i r sollten lie-
ber ein paar in der Hinterhand behalten. Deshalb m ü s s e n w i r als Erstes genau verstehen, was eigentlich passiert ist, u n d herausbekommen, wer Zickzack i s t . . . « »Das wissen w i r doch. Es ist Ric Valente«, begann Victor. Aber Blanes brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich habe sie angelogen. Ich wollte sie auf die falsche Fährte locken, damit sie eine Suchaktion auf der Insel starten u n d beschäftigt sind. Es stimmt nicht, dass ich Valente im Vorführsaal gesehen habe, ich habe ü b e r h a u p t niemanden gesehen.« Obwohl Elisa das schon vermutet hatte, machte sich u n w i l l kürlich E n t t ä u s c h u n g in ihr breit. » D a n n sind w i r also genauso klug wie vorher«, seufzte sie. »Ich glaube, ein bisschen klüger.« Blanes lächelte sie an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Zickzack uns u m b r i n g t . « »Wie bitte?« »Wir haben uns von Anfang an geirrt.«
Blanes' Augen s p r ü h t e n förmlich Funken. Dieser Gesichtsausdruck war Elisa wohl bekannt: Es war der eines Wissenschaftlers, der für einen zittrigen Moment die Wahrheit b e r ü h r t . »Es wurde m i r klar, kurz nachdem w i r die Ü b e r r e s t e von Jacqueline angeschaut haben. Als mich die Soldaten zum Speisesaal geführt haben u n d ich mich so weit gefasst hatte, dass ich wieder denken konnte, habe ich das Gesehene noch einmal Revue passieren lassen. Alles, was Zickzack m i t der armen Jacqueline gemacht hat. Wieso diese maßlose Brutalität? Es genügt i h m nicht, uns umzubringen, er t u t es m i t einer Bestialität, die alle Grenzen der Vernunft ü b e r s t e i g t . . . W a r u m nur? Bisher haben w i r vermutet, es m ü s s e sich um einen psychisch gestörten Menschen handeln, dass Zickzack der heimliche Psychopath unter uns ist, ein Teufel, wie es Jacqueline genannt hat. N u n , ich habe mich gefragt, ob es für diese m a ß l o s e Schlächterei, diese ü b e r menschliche Mordlust eine wissenschaftliche E r k l ä r u n g geben k ö n n t e . Ich habe diese Frage h i n - u n d hergewälzt u n d b i n auf
Folgendes gekommen. Es mag m e r k w ü r d i g klingen, ist aber das Wahrscheinlichste.« Er kniete sich auf den Boden und benutzte den feuchten Sand als Tafel. Elisa und Victor hockten sich neben ihn. » N e h m e n wir mal an, die vervielfältigte Person hatte in dem Moment, in dem die Vervielfältigung erzeugt wurde, einen Wutanfall. Stellt euch vor, dass sie z u m Beispiel gerade jemanden schlug. Obwohl das vermutlich nicht einmal nötig ist. Es reicht schon ein intensives, vielleicht gegen eine Frau gerichtetes Gefühl der Aggression. Wenn es so war, konnte derjenige sein Gefühl in der Vervielfältigung nicht mehr ä n d e r n und auch nicht drosseln. Dazu fehlte die Zeit. Eine Planck-Zeit ist schließlich zu kurz, um eine Information von einem Neuron zum nächsten weiterzugeben. Alles bleibt gleich, u n v e r ä n d e r t ! Wenn die vervielfältigte Person also gerade einen gewalttätigen Impuls hatte oder den Wunsch, jemanden zu missbrauchen oder zu d e m ü t i g e n , dann ist seine Vervielfältigung genau darauf festgelegt.« »Selbst d a n n « , wandte Victor ein, »muss es sich um einen Geistesgestörten handeln ...« »Nicht unbedingt, Victor. Genau in dem Punkt haben w i r uns geirrt. Stell dir doch mal folgende Frage: Worin besteht eigentlich unsere Vorstellung von Güte? Warum bezeichnen w i r eine Person als >gut Jeder, auch du und ich, w ü n s c h t sich in bestimmten Momenten schreckliche Dinge, im nächsten Augenblick bereuen w i r sie wieder. N u r braucht es dazu Zeit, und seien es auch nur Sekundenbruchteile. Aber die hat Zickzack nicht. Es gibt ihn nur in einem String, in einer winzigen isolierten Zeiteinheit, einem Bruchteil des Gesamtablaufs. Wenn die Vervielfältigung in der nächsten Sekunde erzeugt worden wäre, dann wäre Zickzack womöglich ein Engel geworden und kein D ä m o n . « »Zickzack ist ein Monstrum, David«, flüsterte Victor. »Ja, ein Monstrum, das schlimmste von allen: ein ganz gewöhnlicher Mensch in einem beliebigen Augenblick.« »Das ist absurd!« Victor lachte nervös. »Verzeihung, aber da liegst du wirklich falsch. Und zwar völlig!«
»Mir fällt es auch nicht leicht, das zu glauben«, gab Elisa, von Blanes' Idee beeindruckt, zu. »Ich verstehe zwar, wie du das meinst, kann es aber nicht glauben. Die Folter u n d die Schmerzen, die er seinen Opfern z u f ü g t . . . diese o b s z ö n e >Verseuchung< durch seine Präsenz . . . diese widerlichen Alb t r ä u m e ...« Blanes sah ihr fest in die Augen. »Die W ü n s c h e jedes x-beliebigen Menschen in einem isolierten Zeitintervall, Elisa.« Sie ließ die Worte einen Moment wirken. Eine solche Vorstellung v o n Zickzack war ihr fremd. I h r ganzer K ö r p e r begehrte gegen die Idee auf, dass ihr Folterknecht, ihr erbarmungsloser Peiniger, die Kreatur, die ihr seit Jahren im Traum erschien u n d die sie kaum anzusehen wagte, etwas anderes war als das personifizierte Böse. Andererseits leuchtete ihr Blanes' Überlegung, rein wissenschaftlich betrachtet, völlig ein. »Nein, nein und nochmals nein!« Victor schüttelte den Kopf. Der feine Sprühregen überzog seine Brillengläser mit kleinen Kristallpunkten. »Wenn das, was du da sagst, zutrifft, was haben dann ethische Entscheidungen noch für ein Gewicht? Was ist dann Gut und Böse? Ist es dann nur noch eine Frage der manifest gewordenen Bewusstseinsäußerung? Hat es nichts mehr m i t dem innersten Kern unseres Wesens zu tun?« Victor ereiferte sich regelrecht. Weil sie fürchtete, die Soldaten k ö n n t e n sie hören, richtete Elisa sich auf, doch weit u n d breit war niemand zu sehen. » D e i n e m absurden Einfall nach k ö n n t e jeder Mensch, sogar der beste, der je gelebt hat, sogar ... sogar . . . Jesus in einem isolierten Zeitintervall zum M o n s t r u m werden! Ist dir eigentlich klar, was du da sagst? Dass jeder Mensch das hätte anrichten k ö n nen . . . das, was ich im Vorführsaal gesehen habe! Was ich m i t eigenen Augen sehen musste, David! Was du u n d ich sehen mussten, das, was er dieser armen Frau angetan h a t . . . « Er verzerrte sein Gesicht vor Widerwillen zu einer ängstlichen Grimasse. Er nahm die Brille ab und fuhr sich m i t der Hand über das Gesicht. »Ich gebe zu, dass du ein Genie bist«, setzte er danach etwas r u higer hinzu, »aber dein Fach ist die Physik. Gut und Böse haben m i t dem Ablauf der Zeit nichts zu tun, David. Sie wohnen in un-
seren Herzen, in unserer Seele. Jeder von uns kennt Impulse, W ü n s c h e , Versuchungen . . . die einen haben sie im Griff, die anderen lassen sich davon m i t r e i ß e n : Das ist doch der Kern jeden religiösen Glaubens.« »Victor«, unterbrach i h n Blanes: »Das Einzige, was ich damit sagen w i l l , ist, dass es jeder sein k ö n n t e . Auch ich. Offen gestanden habe ich m i r das so vorher nie überlegt. Im tiefsten Inneren habe ich immer gedacht, bei Zickzack k ö n n t e das Los nicht auf mich fallen. Inzwischen glaube ich, dass niemand ausgenommen ist. Die gesamte Menschheit nicht.« »Trotzdem«, mischte sich jetzt Elisa ein, »müssen w i r herausfinden, wer es ist. Denn sollte es Jacqueline nicht gewesen sein, dann bleiben nur noch vierundzwanzig Stunden, ehe er wieder aktiv wird.« »Richtig, w i r m ü s s e n jetzt alles daransetzen, Zickzack aufzuhalten«, pflichtete Blanes ihr bei. »Wir m ü s s e n uns das bearbeitete Bild ansehen.« »Ich kann es ja mal versuchen«, schlug sie vor. »Ich weiß nicht, ob der Moment günstig ist.« »Doch«, meinte Victor. »Als sie mich vorhin durch die Baracke geführt haben, ist m i r aufgefallen, dass nur drei Soldaten in der Forschungsstation geblieben sind, zwei schlafen in Silbergs Labor, und der dritte hält Wache in dem Zimmer, wo sie Carter eingesperrt haben.« Er drehte sich zu Elisa u m . »Wenn du durch die erste Baracke gehst, kannst du bis zum Kontrollzentrum k o m men, ohne entdeckt zu werden.« »Ich w i l l es versuchen«, sagte Elisa. »Das Bild muss einfach klar erkennbar sein.« »Ich gehe mit«, erbot sich Victor. Sie warfen Blanes einen fragenden Blick zu, aber der nickte. »Gut, dann gehe ich in die Küche und passe auf, ob Harrison und seine M ä n n e r z u r ü c k k o m m e n . W i r m ü s s e n m i t äußerster Schnelligkeit vorgehen. Sobald w i r wissen, wer Zickzack ist, m ü s sen sämtliche Daten vernichtet werden, so dass Eagle niemals herausbekommen kann, wie das Ganze passiert ist.«
Sie nickte, u n d ihr war bewusst, was er damit noch sagen wollte. Wir vernichten alles, auch denjenigen von uns, der Zickzack ist. Bevor sie auseinander gingen, hatte Blanes den Impuls, Elisa in die Arme zu schließen. Dann hielt er sie ein Stück von sich weg, sah ihr in die Augen und sagte: »Zickzack ist einfach nur ein Fehler, Elisa, da b i n ich sicher. Ein Rechenfehler, kein Bösewicht.« Dann lächelte er, und sein Tonfall erinnerte sie an ihren viel bewunderten Professor: »Lauf u n d verbessere rasch diesen dummen Fehler.«
>Wir m ü s s e n jetzt alles daransetzen, Zickzack aufzuhalten^ Harrisons Zustimmung hätte nicht g r ö ß e r sein k ö n n e n . Allerdings irrte sich Blanes gewaltig, wenn er behauptete, dass es sich nicht um einen Bösewicht handelte. Selbstverständlich handelte es sich um einen Bösewicht. Das stand für Harrison fest: das g r ö ß t e Übel, das je auf Erden gewandelt war. Der wahre und einzige Teufel. Er erhob sich beschwerlich - die Jahre begannen, sich bemerkbar zu machen -, steckte den Kopfhörer in die Jacke und sagte zu J ü r g e n s , er k ö n n e die kleine Antenne des Richtmikrofons wieder zusammenschieben, m i t dem er die Unterhaltung aus hundert Metern Entfernung aus dem Schatten der Palmen belauscht hatte. Sein Einfall, die Soldaten die Insel absuchen zu lassen u n d sich selbst m i t dem Empfänger in der N ä h e der Forschungsstation auf die Lauer zu legen, hatte sich gelohnt. »Unser Nachteil ist, dass sie hier die Schlaumeier sind«, bemerkte er, ohne den Fleck aus den Augen zu lassen, der Elisa aus der Distanz für ihn war: Sie hatte so wenig an, dass sie i h m beinahe nackt vorkam. »Unser Vorteil ist auch nicht zu verachten. Sie sind so klug wie ahnungslos. Ich war m i r sicher, dass Blanes uns angelogen hat, um m i t seinen Kollegen allein sein zu k ö n nen. Aber seine kleine Lüge k o m m t uns zupass. M i r ist es lieber, wenn die Armee wegschaut. W i r wollen doch keine Zeugen, nicht
wahr? M a n hat uns zwar nicht befohlen, sie sofort zu beseitigen, doch genau das werden w i r jetzt tun. U n d es soll unser Geheimnis bleiben, Jürgens. Unreines wegschneiden, ausmerzen . . . einverstanden?« Jürgens war einverstanden. Harrison drehte sich um und sah ihn an. Als sie auf New Nelson gelandet waren, hatte er i h m befohlen, sich unten am Strand zu verstecken und auf den rechten M o m e n t zu warten - den Moment, in dem er seine a u ß e r g e w ö h n l i c h e n Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Jetzt war der Moment gekommen. »Du gehst in die Baracken, und zwar a u ß e n herum, damit Blanes dich nicht sieht, u n d bringst Blanes und Carter jetzt sofort u m . Dann warten wir, bis die anderen beiden gefunden haben, was sie suchen, und dann t ö t e n w i r Lopera vor den Augen der Dozentin. Ich will, dass sie zuschaut. Anschließend sperrst du sie in eins der Zimmer, damit w i r sie vernehmen k ö n n e n . W i r brauchen den Bericht. W i r haben einen Tag Zeit, du und ich, bevor die Delegation eintrifft, um sie zum Reden zu bringen. Das w i r d gewiss nicht langweilig. Morgen in aller Herrgottsfrühe darf kein Wissenschaftler mehr am Leben sein.« W ä h r e n d sich Jürgens langsam entfernte, um die Anweisungen auszuführen, seufzte Harrison tief und schaute hinaus auf das Meer, die sich a u f l ö s e n d e n Wolken und die Sonne, deren Strahlen sich zaghaft ihren Weg bahnten. Z u m ersten M a l seit sehr langer Zeit war er glücklich. In Gesellschaft von Jürgens fürchtete er sich vor nichts, noch nicht einmal vor Zickzack.
IX. ZICKZACK
M e i n Gott, was haben w i r getan? Robert A. Lewis, Copilot der Enola Gay, des Flugzeugs, aus dem die Bombe auf Hiroshima fiel
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160 Sekunden. Er saß m i t dem Rücken zur Wand. Bisweilen öffnete er die A u gen u n d beobachtete, wie das Licht vor der schmutzigen Fensterluke zunahm, w ä h r e n d der Regen immer sanfter rauschte. Er rechnete sich aus, dass es etwa zehn Uhr morgens war, konnte es aber nicht nachprüfen, weil die Batterie in seiner Quarzuhr fehlte: Er hatte sie am Abend herausgenommen, weil er die Beteuerung des Wissenschaftlers geglaubt hatte, dass sie auf diese Weise einen erneuten Angriff verhindern w ü r d e n . Der arme Trottel. Sie hatten ihn in ein Zimmer der dritten Baracke gesperrt und einen Wachsoldaten davor postiert; durch das Sichtfenster in der T ü r konnte er dessen Helm sehen. Nach den >Komplimenten<, die er bei seiner Festnahme hatte einstecken m ü s s e n - er blutete aus M u n d und Nase -, ging es i h m den U m s t ä n d e n entsprechend. Zwei junge Soldaten, noch verblüffter als er selbst, hatten ihn im Vorführsaal verhaftet, trotz der lautstarken Proteste der Wissenschaftler. Natürlich hatte er sich auf der Stelle ergeben. Ü b e r die Zukunft machte sich Paul Carter keine falschen Hoffnungen. Er wusste, dass ihn Harrison früher oder später töten w ü r d e . Wenn er Glück hatte, wohlgemerkt. Wenn nicht, dann w ü r d e Zickzack ihn t ö t e n . Die Frage war nicht ob, sondern wie und wann. Er musste sich einen Plan zurechtlegen. Er wusste zwar, dass
er jede von Harrison für i h n ersonnene Todesart bereit war h i n zunehmen, doch m i t Zickzack war das anders. Er hatte im Lauf seines Lebens alles gesehen, was ein Mensch einem anderen antun kann - es gab mehr Möglichkeiten als böse Gedanken. Zickzack jedoch ü b e r t r a f alles, auch die Grenzen des menschlichen Verstands. Er hatte Harrison nicht angelogen, als dieser i h n danach gefragt hatte: Er wusste nicht viel ü b e r Zickzack. So aufmerksam er auch Blanes' E r l ä u t e r u n g e n verfolgt hatte, Worte wie Vervielfältigung und Energie blieben für i h n ein unverständliches Kauderwelsch. N u r die Wissenschaftler wussten, was sie erschaffen hatten. Er hatte nicht gelogen, er hatte Eagle w i r k l i c h aus Angst verraten: Wer glaubte, Typen wie er w ü r d e n keine Furcht kennen, der irrte, der irrte sogar sehr. Und seit er im Vorführsaal - kaum fünf Minuten, nachdem er ihn auf der Suche nach diesem idiotischen Pfaffen verlassen hatte - erneut m i t ansehen musste, was Zickzack angerichtet hatte, war seine Furcht zu einer unkontrollierbaren Panik angewachsen. Gib ihm einen Namen: Nenn es Panik, Impact oder Schiss. Im Licht der Streichhölzer, die der Pfarrer i h m stibitzt hatte, war alles deutlich zu sehen gewesen: Leinwand u n d Stühle waren zerstört, W ä n d e und F u ß b o d e n mit Blut beschmiert wie nach einer Explosion; das Gesicht der Frau oder der halbe Schädel oder was es auch war lag wie eine Maske am Boden u n d ihr zerstückelter Körper war ringsum verteilt. Er wusste, das war weder das Werk eines Verrückten noch ein gewöhnliches Verbrechen, sondern das wohl überlegte, methodische Vorgehen irgendeiner Kreatur, deren Bosheit alle menschliche Vernunft überstieg. Die Versuchung war g r o ß , dabei an den Teufel zu denken. U n d die Wissenschaftler m i t ihren komplizierten Theorien behaupteten obendrein, dieser Teufel k ö n n t e aus i h m selbst stammen. Die Vorstellung ließ i h n nicht nur um sein Leben bangen, sondern auch um das von Kamaria u n d Saida, seiner Frau u n d seiner Tochter. Wer weiß, was ihnen z u s t o ß e n k ö n n t e , wenn er am Leben blieb?
Es w ä r e also das Beste, den raschen Tod zu suchen. Oder sein Heil in der Flucht. Um Zickzack und Harrison zu entkommen. Wenn es m ö g l i c h war, allen beiden zu entkommen, falls - der Gedanke ließ i h m das Blut in den Adern stocken - es sich dabei ü b e r h a u p t um zwei verschiedene Bedrohungen handelte. Er tendierte immer mehr zu der Ü b e r z e u g u n g , dass Harrison den Verstand verloren hatte. U n d es war eindeutig Zickzack gewesen, der i h m den Verstand geraubt hatte.
104 Sekunden. Er war unruhig, ohne zu wissen, warum. Es hatte aufgehört zu regnen, u n d das Sonnenlicht malte den Tag an die Wolkenschichten ü b e r dem Meer. Das Licht mochte das Meer. Blanes mochte beides. Dies prächtige Schauspiel, diese Welt aus Wellen u n d Elementarteilchen, aus denen Laute u n d Farben, Lebewesen u n d Dinge entstanden, lag ausgebreitet vor seinen m ü d e n Augen, als riefen sie i h m zu: >Schau m i c h an, Dav i d Blanes. Schau h i n u n d erkenne, wie einfach mein Geheimnis ist.< Nein, so einfach war es nicht, das wusste er. Im Gegenteil, das tiefgründige, komplexe Rätsel überstieg womöglich jedes menschliche Begriffsvermögen. Das Geheimnis schloss alles ein, das G r ö ß t e wie das Geringste oder Subtilste: von O r i o n , schwarzen Löchern u n d Quasaren bis zum Innersten der Atome, den Strings u n d - w a r u m auch nicht - bis h i n zu dem Grund, weshalb sein kleiner Bruder, sein Mentor Albert Grossmann und seine Freunde Silberg, Craig, Jacqueline, Sergio u n d all die anderen gestorben waren. Nichts war davon ausgeschlossen: U n d wenn die Physik dazu bestimmt war, die W i r k l i c h k e i t zu erfassen - u n d davon war er überzeugt -, dann mussten auch die letzten M i n u t e n von Grossmann, Reinhard oder Jacqueline in die Frage m i t einbezogen werden, in das g r o ß e Rätsel, das der Mensch seit Demokrit oder Einstein zu lösen versuchte.
Der weise Alte grübelt am Fenster: Das Illusorische dieses Idylls entlockte i h m ein bitteres Lächeln. Er dachte daran zurück, wie oft er in der Einsamkeit seines Z ü r i c h e r Hauses am geschlossenen Fenster meditiert hatte. M a r i n i hatte einmal zu i h m gesagt, er täte das, weil er zu sehr im Geist lebte. Auch wenn ein Funke Wahrheit daran war, hatte es diesmal doch einen anderen Grund. Diesmal bestand seine Aufgabe darin, das Tor jenseits der Fensterscheibe im Auge zu behalten, damit gewährleistet war, dass Elisa und Victor beim Betrachten des Bildes auf dem Monitor nicht gestört wurden. Im M o m e n t ging alles gut, aber seine Unruhe wollte nicht nachlassen. Es war eine Beklemmung, die sich mit keinem je erlebten Gefühl vergleichen ließ. War es die Angst, dass Elisa zur ü c k k o m m e n u n d i h m eröffnen w ü r d e , dass er Zickzack war? Nein, sein Entschluss stand fest, sich in diesem Fall unverzüglich selbst zu töten. Er ahnte, dass sein Unbehagen auf etwas weniger Schwerwiegendes zurückzuführen war, darauf, dass er bei seinen Überlegungen etwas a u ß e r Acht gelassen hatte, eine winzige, unberücksichtigte Variable. Winzig, aber aus irgendeinem Grund entscheidend. Er m ü h t e sich, sie zu finden. Grossmann hatte das Ziel einer Suche stets >das Stück Käse< genannt. Das G e d ä c h t n i s , so versicherte er, arbeite wie die in einem Labyrinth eingesperrte Laborratte, u n d deshalb sei Vergessenes mitunter nur durch eine Eigenschaft a u f z u s p ü r e n , die m i t Kategorien wie Intelligenz und Wissen nichts zu t u n hatte. >Mit dem G e s p ü r eben, wie bei der Ratte im Labyrinth.< Das Gespür. Die Küche war ein kleiner Raum, aus dem der penetrante Geruch nach verbrannten Kabeln noch nicht verschwunden war. Bei Zickzacks A n g r i f f auf die arme Jacqueline waren die A n schlüsse der Haushaltsgeräte durchgeschmort, wovon er sich vergewissert hatte, als er die Nachricht für Elisa und Victor auf die Serviette geschrieben hatte. Er kehrte den Blick v o m Fenster ab und richtete ihn auf besagte Kabel.
Ja, das war es. Zickzack hatte seine Energie aus Geräten bezogen, die zum einen nicht in Betrieb waren u n d d a r ü b e r hinaus nicht einmal ans Netz angeschlossen waren. Carter und er hatten in diesem G e b ä u deteil den Strom abgeschaltet, aber Zickzack hatte seinen Energiebedarfdaraus gedeckt, vergleichbar einem Vakuum in einem Kolben, das Gas aus einem benachbarten Behälter zieht. Zickzack hatte das nach Blanes' Wissen zum ersten Mal getan. Er hatte gleichsam aus einer Taschenlampe ohne Batterien die Energie abgezapft. Wie ein kundiger Skifahrer glitt Blanes' Geist ü b e r einen A b hang aus Berechnungen. Wenn sich Zickzack die Fähigkeit angeeignet hatte, die potenzielle Energie aus nicht angeschlossenen Maschinen zu nutzen, dann . . . Vier Hubschrauber. Zwei Generatoren. Gewehre, Pistolen. Funkgeräte, Radios, Telefone, Computer. Die ganze Militärausrüstung. Mein Gott. Innerhalb von Sekunden war er schweißgebadet. Wenn er sich nicht täuschte, befanden sie sich in einer tödlichen Falle. Die I n sel war eine einzige Falle. Zickzack schien in der Lage, aus fast allem Energie zu beziehen - was konnte ihn dann noch aufhalten? Er w ü r d e in immer k ü r z e r e n A b s t ä n d e n erscheinen, und dabei w ü r d e sein Radius jedes M a l g r ö ß e r werden, vielleicht kilometerweit reichen, was wiederum einen g r ö ß e r e n Energiebedarf zur Folge hätte . . . Woraus w ü r d e er den beziehen? Die Körper. Die Lebewesen. Jedes Lebewesen ist eine Batterie. Wir erzeugen Energie. Zickzack wird auf sie zurückgreifen, wenn sich sein Radius ausdehnt und sein Energiebedarf steigt. Das bedeutet ... Es bedeutete, dass sich der nächste Angriff in wenigen M i n u ten ereignen konnte. Er w ü r d e Elisa, Carter oder ihn treffen, aber alle anderen Lebewesen auf der Insel w ü r d e n ebenfalls u m k o m men. Diese mathematische Wahrscheinlichkeit kam i h m durchaus realistisch vor. Wenn er Recht hatte, dann waren nicht allein sie in Gefahr, sondern jeder, der sich in diesem Moment auf New
Nelson aufhielt. Er musste Elisa Bescheid sagen, aber genauso dringend musste er m i t Harrison reden. Er musste . . . » H e r r Professor«, vernahm er da eine unbekannte Stimme. Dunkel wie ein Grab. Er drehte sich um und starrte in das Gesicht eines Mannes, der eine Pistole m i t Schalldämpfer auf i h n richtete, den Tod. Nein, noch nicht. Vorher müssen Sie unbedingt wissen ... » H ö r e n Sie!«, rief er und riss die H ä n d e hoch. » H ö r e n Sie, Sie müssen...« Blanes war froh, dass ihn die Kugel in die Brust traf. Das ließ i h m noch etwas Zeit zum Nachdenken. Er vergaß den Schmerz und die Angst, schloss die Augen und sah am Ende der Dunkelheit seinen kleinen Bruder auf ihn warten. Eilig bewegte er sich auf ihn zu, wohl wissend, dass dessen Lippen die Antwort auf die g r o ß e Lebensfrage bereithielten.
100 Sekunden. »Die Auflösung ist schon ganz gut«, sagte Elisa und l u d das erste Bild. Victor stand hinter ihr und schaute ü b e r ihre Schulter auf den Bildschirm. Beide h ö r t e n das Atmen des anderen, das Duett i h rer Lungen. A u f dem Bildschirm erschien einigermaßen deutlich Ries Silhouette vor dem Computer, allerdings entstellt von der Planck-Zeit. »Mein Gott«, sagte Victor hinter ihr. Auch alles andere war erkennbar. U n d das eine Detail - die Sache, auf die sie vorher nicht gekommen war und die sie so verw i r r t hatte - stach ihr regelrecht ins Auge. M i t einem M a l glaubte sie zu wissen, was es war. »Die Kontrollleuchten ...« Sie zeigte auf den Monitor. »Sieh mal da, die Reihe von Lichtern. Bei unserer Konsole sind sie aus, schau.« Sie wies auf kleine nebeneinander liegende Rechtecke auf der Tastatur. »Das sind die Signale für den Empfang telemetrischer Bilder. Das war es, was mir vorhin aufgefallen ist. Ric hat
etwas anderes gemacht als sonst: Er hat als Vorlage ein Satellitenbild verwendet.« »Von New Nelson? Wieso denn das?« »Keine A hnu n g.« Das war absurd, dachte Elisa. Warum machte er sich die Sache u n n ö t i g kompliziert, indem er ein Satellitenbild von der Insel verwendete, um Strings der kurzfristigen Vergangenheit zu öffnen, wo er doch Dutzende von Videos für Live-Aufnahmen zur Verfügung hatte? Dafür gab es nur eine Erklärung. Das Bild, das ihn interessiert, zeigt nicht New Nelson. Aber was dann? Einige Augenblicke lang war sie vor Panik wie g e l ä h m t . Die Möglichkeiten, die sich da eröffneten, waren für die kurz zurückliegenden Vergangenheit örtlich und zeitlich fast unbegrenzt, und das h i e ß , dass die Person, auf die Zickzack zurückzuführen war, überall auf dem Planeten sein konnte. Das Bild machte einen Satz zum nächsten offenen String: Links standen Ric u n d Rosalyn. U n d was Ric betrachtet hatte, kam jetzt unverstellt u n d in aller Deutlichkeit zum Vorschein. Elisa ging m i t dem Z o o m auf Ries Monitor. W ä h r e n d sich allmählich die Umrisse formten, hielt sie die Luft an. In einem eigenen Rahmen erschien auf dem Schirm das neue Bild. Das hatte sie am allerwenigsten erwartet.
94 Sekunden. Bei dem Geräusch schlug er die Augen auf. Der Helm des wachhabenden Soldaten war vor seinem Sichtfenster verschwunden. Als er sich aufrichtete, wurde seine Z i m m e r t ü r geöffnet, ein rauchender Pistolenlauf m i t Schalldämpfer kam darin zum Vorschein u n d zielte auf seinen Kopf. Sein Blick fiel auf die Stiefel des im Flur liegenden Soldaten, und er hob die H ä n d e , ohne den M a n n m i t der Pistole aus den Augen zu lassen. »Weißt du, wer ich bin? Schau mich an, Carter ...« Die verzerrte, hohle Stimme beeindruckte i h n weitaus mehr
als die auf ihn gerichtete Waffe. Und zu seinem eigenen Erstaunen hatte Paul Carter diesmal keine Antwort parat. »Erkennst du mich nicht?«, fragte die Stimme. »Ich b i n Jürgens.« Er schluckte. Jürgens? In rasender Geschwindigkeit stellte er mentale V e r k n ü p f u n g e n her und glaubte zu verstehen, was los war. Die Tatsache, dass er es verstanden hatte, nahm i h m zwar nicht die Angst, i m m e r h i n fühlte er sich aber in der Lage zu reagieren. Er riss sich zusammen, um ganz ruhig zu sprechen. Du darfst ihn auf keinen Fall nervös machen. » H ö r e n Sie, schauen Sie . . . Nehmen Sie die Pistole herunter und lassen Sie mich etwas sagen ...« »Ich bin dein Tod, Carter.« » H ö r e n Sie . . . >Jürgens< ist ein Code ...« Carter b e m ü h t e sich, mit aller Macht, langsam zu sprechen und so klar und ruhig wie er nur konnte. »Heiliger H i m m e l , erinnern Sie sich denn nicht? >Jürgens< ist ein Codewort, das w i r bei Eagle verwenden, wenn uns für die Lösung bestimmter Fälle jedes M i t t e l recht war . . . Es ist keine Person, Harrison, es ist ein Codewort!« Aber angesichts der schaurigen Grimasse, in die er statt in Harrisons Gesicht schaute, wurde i h m bewusst, dass sein Gegenü b e r ihn gar nicht h ö r t e . Das ist nicht mehr Harrison. Es ist das, was Zickzack aus ihm gemacht hat. »Siehst du mich denn nicht?«, knurrte Harrison m i t dieser fremden Stimme. »Sieh m i r in die Augen, Carter ... Sieh m i r in die Augen!« Und er drückte ab.
54 Sekunden. Victors Worte ü b e r s c h l u g e n sich förmlich hinter ihrem Rücken. »Das muss ein Bild von früher sein. Das . . . sind die Zeichen für die Öffnung eines Zeit-Strings, nicht wahr?« Es handelte sich um eine l ä n d l i c h e Idylle, aber New Nelson war es offensichtlich nicht. Am rechten Bildrand plätscherte ein
kleiner Bachlauf. In der oberen Hälfte waren auf ein paar Steinen im Schatten eines Baumes drei kleine helle Silhouetten zu sehen u n d auf der unteren Bildhälfte eine g r o ß e dunklere Gestalt. Trotz der von der Planck-Zeit erzeugten Unscharfe erkannte Elisa in der g r o ß e n Gestalt einen kräftigen Mann am Bachufer. Er hielt etwas in der Hand, was sie nicht genau einordnen konnte - einen Hut oder eine M ü t z e , u n d die lange Rute sowie eine A r t Korb, die neben i h m im Gras lagen, erinnerten sie an die Utensilien eines Anglers. Die anderen drei Figuren waren von unterschiedlicher G r ö ß e und Statur. Elisa richtete den Z o o m darauf und vergrößerte sie um weitere dreißig Prozent. Nach dem Haar der einen zu urteilen, lang u n d schwarz, handelte es sich vermutlich um ein M ä d c h e n . Das M ä d c h e n und einer von den Jungen waren beide eher sepiafarben, was darauf schließen ließ, dass sie womöglich nackt waren. Der andere Junge war angezogen, wenn auch nur spärlich, vielleicht m i t T-Shirt und kurzer Hose. Da war sich Elisa nicht sicher. Doch nicht seine Kleidung lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich, sondern seine Haltung: Er schien auf den Felsen gefallen zu sein. Die F ü ß e lagen aber h ö h e r als der Kopf, als wäre das Bild im Augenblick seines Sturzes aufgenommen worden. U n d die Armbewegung seines Kameraden wies darauf h i n . . . Jetzt d ä m m e r t e es Elisa. »Einer der Jungen scheint den anderen geschubst zu haben. Das muss eine Erinnerung von Ric sein.« Ihre Gedanken wirbelten i h r förmlich durch den Kopf. A l l m ä h l i c h ließen sich die Ereignisse besser m i t Ric Valentes Persönlichkeit, wie sie sie kennen gelernt hatte, in Einklang bringen. Marini hat sich getäuscht. Er dachte, Ric wäre ein Risiko eingegangen, aber das stimmt nicht. Ric war ehrgeizig, doch er war auch feige. Wegen der drohenden Vervielfältigungen hatte er Angst, die Videos von Schlafenden zu verwenden. Deshalb hat er sich für eine andere Szene entschieden, für ein Ereignis aus seiner Vergangenheit, das er als harmlos, als banal eingeschätzt haben muss... Aber welches?
Er hat seit seiner Kindheit minuziös Tagebuch geführt, das hat er mir erzählt. Daraus ließen sich die Orts- und Zeitangaben entnehmen. »Eine Erinnerung an ...?«, flüsterte Victor neben ihrem Ohr. Die Veränderung in seiner Stimme bewirkte, dass sich Elisa einen Moment v o m Bildschirm abwandte, um festzustellen, was m i t i h m los war. Victor war kreidebleich bis zu den Haarwurzeln. In seinen schmutzigen Brillengläsern spiegelte sich der M o nitor, so dass Elisa seine Augen nicht erkennen konnte. Da kam ihr die vage Erinnerung an ein lange zurückliegendes G e s p r ä c h m i t i h m . Hat mir Victor nicht vor Jahren etwas Ähnliches erzählt? Der Streit um das englische Mädchen, in das er sich verliebt hatte. Ric hat ihn geschubst und... Sie schaute wieder auf den Bildschirm und bemerkte noch etwas: Der auf die Felsen gestürzte Junge war weniger deutlich erkennbar als die anderen. Es war von Schatten umgeben. Schatten. Ihr M u n d war staubtrocken und ihre Schläfen pochten fieberhaft. Ihre Augen weiteten sich. Ganz langsam drehte sie sich u m , aber Victor stand nicht mehr hinter ihr. Er war zitternd bis zur Wand z u r ü c k g e w i c h e n m i t dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich völlig d a r ü b e r im Klaren war, dass er zum Sterben verurteilt war. »Töte mich, Elisa«, winselte er. »Ich flehe dich an . . . Ich ... bringe es nicht fertig. T ö t e du mich, bitte ...« »Nein ...« Victor h ö r t e auf zu flehen, um einen einzigen entschlossenen Entsetzensschrei a u s z u s t o ß e n : »Elisa! Tu du es, bevor es noch einmal passiert!« Sie schüttelte wieder den Kopf, ohne ein Wort zu sagen. In diesem Moment ging die T ü r auf. Elisa erkannte Harrison nicht sofort: H ä n d e u n d Kleidung waren blutverschmiert, das Gesicht knallrot u n d entstellt, die Augen traten i h m förmlich aus den H ö h l e n . »Schau i h n an.« Er zielte m i t der Pistole auf Victor, aber die
Worte galten ihr. In seinen Mundwinkeln sammelte sich Schaum. »Sieh zu, wie er stirbt, Nutte!« »Nein!«, kreischte Elisa, w ä h r e n d in ihr eine Stimme verzweifelt rief: Töte ihn! Töte ihn! Ihr Gellen ging unter, als plötzlich alle Geräte um sie her surrend zum Leben erwachten. Der Boden schien zu vibrieren wie kurz vor einem Erdbeben. Aus den Computer-Bildschirmen s p r ü h t e n Funken, und die Luft war erfüllt von einem ätzenden Geruch. Harrisons Staunen w ä h r t e nur Sekunden, dann schoss er. U n d alles war vorbei.
? Sekunden. Es fühlte sich an, als wäre sie taub. Doch als sie einen Ton von sich gab, h ö r t e sie die vertraute Stimme. Sie spürte auch den Stuhl unter ihrem Gesäß und ertastete Tisch und Tastatur vor sich. Victor und Harrison standen in u n v e r ä n d e r t e r Haltung da, der Erste in Erwartung der Kugel, und der Zweite mit der Pistole im Anschlag, nur hatten sich ihre Gestalten verändert: In Wang e n h ö h e zog sich ein Schnitt quer durch Victors Gesicht, und sein Bauch war eine einzige rötliche H ö h l e , in deren Hintergrund die Wirbelsäule sichtbar wurde. Harrison hatte einen Teil seines A r mes eingebüßt und die Gesichtszüge. U n d zwischen den beiden hing fast mittig ein erstarrtes Insekt. Elisa betrachtete es voller Entsetzen. Die Kugel. Sie hat ihn nicht getroffen. Mein Gott! Sie w i c h z u r ü c k u n d stieß dabei an den Stuhl, ohne dass er sich bewegte. Sie ließ die Finger ü b e r die Tasten des Computers fliegen, doch sie konnte keine einzige r u n t e r d r ü c k e n , als wären es lauter symmetrisch in Stein g e m e i ß e l t e Einbuchtungen. An ihr selbst hatte sich auch etwas verändert: Sie war splitternackt. Ihr Gesicht war schweißnass. Sie wusste, wo sie war. Sie wusste, in wessen H ä n d e n sie sich befand.
Sie war nach wie vor im Kontrollzentrum, nur sah es jetzt ganz anders aus: wie ein Zimmer, dekoriert von einem surrealistischen Künstler. In der Wand rechts von ihr g ä h n t e n sonderbare, ellipsenförmige Spalten, durch die der Maschendrahtzaun und der Strand zum Vorschein kamen. Von dort fiel Licht herein. Der übrige Raum lag im Dunkeln. Und da war das Gefühl. Sie hätte nicht sagen k ö n n e n , wie, weil sie es nicht sehen konnte, aber sie nahm ihn wahr, so viel stand fest. Zickzack. Der Häscher. Ihr von Panik vernebelter Geist spaltete sich auf: Ein Teil ihres Verstandes tauchte ab und beobachtete nur noch; der Rest versank in den Abgrund ihres wehrlosen Inneren, überwältigt von den Erinnerungen an all die Ängste und Fantasien der letzten Jahre. Sie n ä h e r t e sich der Wand, b e t ä u b t vor Staunen und Grauen. Ich kann denken, fühlen, mich bewegen. Ich bin es, aber ich befinde mich woanders. Sie dachte daran, wie sie vor wenigen Tagen - es h ä t t e auch ein Jahrtausend her sein k ö n n e n - ihren Studenten an der Alighieri von der Möglichkeit erzählt hatte, dass verschiedene Dimensionen miteinander in Kontakt treten. Ich habe eine Münze auf den Overhead-Projektor gelegt. Und n u n stand sie selbst inmitten des unglaublichsten praktischen Beispiels, das sie sich je hätte ausmalen k ö n n e n . Sie b e r ü h r t e die Wand: Die war massiv. Es gab keinen Ausgang. Aber eines der Löcher war sehr g r o ß und reichte fast bis zum Boden. Sie streckte die Hand aus, da war nichts. Sie zögerte einen Augenblick. Der Gedanke, durch eines jener Löcher zu entkommen, schreckte sie, ein Gefühl, als w ü r d e sie lebendig begraben. Dann sah sie die Öffnung zur Generatorenkammer: ein riesiges, elliptisches Loch mitten in der Tür. Und mit einem Mal verstand sie, dass Rosalyn auf ihrer Flucht dort hindurch in die Kammer gelangt sein musste. Dann hatte sie w o h l den Generator b e r ü h r t und einen Stromschlag erlitten, als Zickzack auf sie los-
gegangen war. Wenn Rosalyn durch so ein Loch auf die andere Seite gekommen war, dann konnte sie das auch. Sie w ü r d e jedenfalls nicht einfach in dem Raum bleiben und warten, bis er beschloss, ü b e r sie herzufallen. Sie hob ein Bein, dann das andere, b e m ü h t , die Ränder der Öffnung nicht zu b e r ü h r e n , obwohl sie ganz glatt waren. Sie trat ins Freie. Sie h ö r t e weder das Meer noch den W i n d , nicht einmal die eigenen Schritte. Auch die W ä r m e der Sonne auf der Haut konnte sie nicht s p ü r e n , auch wenn sie nackt war. Eva im Paradies. Sie kam sich vor, als w ü r d e sie durch eine Kulisse laufen, eine v i r t u elle Landschaft. Nur das Sonnenlicht traf normal auf ihre Netzhaut. Sie wusste, dass die Erklärung dafür in der Relativitätstheorie zu finden war: Die Geschwindigkeit des Lichts war eine absolute Konstante im physischen Universum. Sogar im Zeit-String bewegte sich das Licht u n v e r ä n d e r t auf charakteristische A r t . Ein Materieloch klaffte vor ihr im Boden, riesig g r o ß , eine Grube m i t facettenreichen, dabei glatten W ä n d e n , in denen die einzelnen Erdschichten sauber ü b e r e i n a n d e r angeordnet waren. Sie umrundete sie und warf einen Blick hinein. U n d hielt inne. In der Tiefe, etwa zehn Meter unter der Oberfläche, lag eine Gestalt. Sie erkannte ihn auf Anhieb und hockte sich an den Rand, dabei vergaß sie alles, sogar ihre eigene Angst. Da war sein Kopf, das kantige, mit Erde bedeckte Gesicht, wie versteinert, p o r ö s , als handele es sich um Baumwurzeln. Eine weißliche Knolle, eingesperrt in die Finsternis eines ewigen Kerkers. Er war die ganze Zeit auf der Insel. Er ist in ein Materieloch gefallen, als er in jener Nacht versucht hat, vor Zickzack zu fliehen. Aber er war tot, oder jedenfalls schien er das. Das w ü n s c h t e sie i h m zu seinem eigenen Besten. Er war nicht schuld. Ric Valentes leere A u g e n h ö h l e n starrten aus dem Abgrund zu ihr hinauf.
Das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung ließ sie spontan den Kopf wenden. Zickzack war hinter ihr. Allein bei seinem Anblick verlor sie beinahe den Verstand. Die Jahre des Schreckens, die A l b t r ä u m e , die abscheuliche Schlangengrube, die in ihrem Unterbewusstsein gewachsen war, all das brach in ihr auf, und der wimmelnde Inhalt ergoss sich ü b e r sie und brachte sie fast u m . Nur eines hinderte sie daran durchzudrehen: Ein jäher Schmerz im linken Oberschenkel warf sie zu Boden, u n d sie wand sich schreiend wie ein Kind, als sie fünf symmetrische, parallele Einschnitte in der Mitte ihres Oberschenkels erblickte. Sie bluteten nicht. Das Blut hatte noch keine Zeit gehabt, aus den Wunden zu treten, aber die Verletzungen schienen tief zu sein. Um sie ihr zuzufügen, hatte Zickzack sie nicht einmal b e r ü h ren müssen. Und ihr ging auf, wie perfekt er die Lage beherrschte. Was auch immer ihn umgab, stellte nicht das geringste Hindernis für ihn dar. Er war imstande, sie auf jede beliebige A r t zu vernichten. Dieser b e ä n g s t i g e n d e n Erkenntnis folgte der Gedanke, wie es sein musste, diesem Geschöpf zum Opfer zu fallen. Sie stand auf u n d stolperte wieder, fiel der Länge nach h i n , rappelte sich hoch und richtete sich erneut auf. Humpelnd lief sie weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie ahnte, dass genau das seine Absicht war. Er will, dass ich weiterlaufe. Die Vorstellung, dass Zickzack sie noch gar nicht einholen wollte, ließ sie erschauern. Sie ü b e r w a n d den Maschendrahtzaun u n d setzte ihren Weg zum Strand fort, ohne dass ihre nackten F ü ß e Spuren im Sand hinterlassen hätten. Es fiel ihr nicht allzu schwer, den Materielöchern im Boden auszuweichen. Die Vorstellung, in eines hineinzufallen (Wohin? Wie viele Kilometer tief, bevor die Atome die Leere wieder ausfüllten?) und darin festzusitzen, verursachte ihr Panik. Als sie den Strand erreichte, riss sie vor Staunen M u n d u n d Augen auf.
Sie hatte den Eindruck, Gott zu schauen. Das Meer lag reglos da. Es war genau in dem Augenblick zum Halten gekommen, als eine Welle am Ufer brach. Die Welle formte eine längliche Furche wie aus g r ü n e m Stein, gekrönt von einem Stacheldraht aus Schaum und durchlöchert von unzähligen Grotten. Eine weitere Welle war in dem Augenblick ihres Rückzugs erstarrt. Wo sollte sie jetzt hin? Elisa blieb stehen und fasste sich ein Herz, dann blickte sie zurück. Keine Spur von Zickzack. Sie ging trotzdem weiter: Sie trat auf die Welle, ohne einen bemerkenswerten Unterschied zum Sand festzustellen. Sie setzte ihren Weg fort, umrundete ein Materieloch und gelangte bis zur gewölbten Wand der sich a u f b ä u m e n d e n Welle. Sie berührte mit der Hand den Schaum, der ihr bis zur Brust reichte, zuckte aber vor Schmerz zurück. Sie s p ü r t e ein Stechen in der Handfläche. Auch ihre Fußsohlen schmerzten. Die Atome verliehen in dieser reduzierten Form dem Wasser die Textur von gesplittertem Glas. In Zickzacks Welt k ö n n t e sie im Meer verbluten. Die Welle war nicht g r o ß , doch daran hochzuklettern wäre, als würde sie nackt in ein D o r n e n g e s t r ü p p eindringen. Und wo sollte sie das hinführen? Am Horizont nahm sie Gräben von enormem Durchmesser wahr, in denen die schwarzen Leiber riesiger Geschöpfe (Delfine? Haie?) wie ausgestopft verharrten. Um sie her u m war weit und breit nichts anderes zu sehen als der raue, wellige Untergrund des erstarrten Ozeans m i t W e l l e n k ä m m e n , die ihr wie Rasierklingen ins Fleisch dringen w ü r d e n . Keuchend wich sie ans Ufer zurück, um festzustellen, dass der Sand ihr nicht mehr Sicherheit bot. Er gab nicht wie gewohnt unter ihren F ü ß e n nach, es war vielmehr, als w ü r d e sie sich auf einem zerknautschten Blech v o r w ä r t s bewegen. Die scharfkantigen D ü n e n verletzten sie regelrecht. Die Wolken am H i m m e l waren Bögen aus w e i ß e m Dunst oder verstreute Punkte, und die smaragdfarbene Linie des Urwalds glich einem s t ü m p e r h a f t e n Scherenschnitt. Sie begriff, was da geschah. Der Radius des Zeit-
Strings hat sich ausgedehnt. Aber dafür wird sehr viel Energie benötigt. Vielleicht ist sie ja bald erschöpft. Elisa wusste nicht, w o h i n , u n d auch nicht, ob es ü b e r h a u p t Sinn machte weiterzugehen. Sie sank auf dem stählernen Untergrund des Sandes auf die Knie, winselte vor Schmerzen im Oberschenkel und beschloss abzuwarten. Sollte sie dort warten, bis er käme? Oder gab es eine Möglichkeit, sich vor i h m zu retten oder das eigene Ende zu beschleunigen? Sie wusste, was ihre allerletzte Chance war, scheute sich aber, sie herbeizusehnen. W ä h r e n d sie auf dem Sand kauerte, dachte sie fieberhaft nach. Der Radius hat sich so weit ausgedehnt, dass enorm viel Energie benötigt wird, um ihn aufrechtzuerhalten ... Vielleicht bezieht er sie als Nächstes aus den Lebewesen. Eine leise Hoffnung flammte in ihr auf: Wenn er die ganze Energie in seiner Umgebung aufgebraucht hat, muss er innehalten, und sei es nur für einen Augenblick, und dann kann die Kugel... Aber durfte sie in Anbetracht der Opfer die eigene Rettung herbeisehnen? Allein der Gedanke beinhaltete bereits den Wunsch. Sie hob den Blick u n d wusste, dass es zu spät war: Jetzt war sie an der Reihe. Zickzack bewegte sich m ü h e l o s auf sie zu. Er schien weniger zu laufen, als von einem nicht wahrnehmbaren W i n d geschoben zu werden. Elisa starrte ihn mit der perplexen Faszination desjenigen an, der dem sicheren Tod ins Auge schaut. Sie fragte sich, ob er ein Bewusstsein hatte, ob er etwas fühlte, ob er irgendein Gefühl empfand, ja ü b e r h a u p t in der Lage war, intelligent zu handeln. Unverzüglich begriff sie, dass das nicht der Fall war. Sie sprach i h m sogar die Fähigkeit ab, Befriedigung ü b e r die eigene Zerstörungskraft zu empfinden, Wut oder etwas m i t einer solchen Emotion Vergleichbares. Bei seinem Anblick wusste Elisa mit Gewissheit, dass Zickzack sich jenseits der Grenze befand, die das Belebte vom Unbelebten trennt. Er war weder ein Objekt noch ein Geschöpf. Ja, jede seiner Bewegungen wirkten wie eine Illusion auf sie. Sie beschloss, dass der Eindruck, er w ü r d e
sich ihr in irgendeiner Weise n ä h e r n , falsch war. Es musste eine optische T ä u s c h u n g sein, in Wirklichkeit r ü h r t e sich Zickzack nicht von der Stelle: Er war bereits da, bei ihr, vor ihr, sie beide allein u n d reglos inmitten dieses Zeit-Strings. U n d sein Wille war nur vergleichbar m i t der Anziehungskraft, die ein Magnet auf eine Stahlplatte ausübt. Es war kein freier Wille, sondern war ein physikalisches P h ä n o m e n . Der Rest war Wut. Reine Wut, ohne Vorher oder Danach, ohne Entfaltung oder Entwicklung, von einer Intensität, wie kein Mensch sie kannte noch je kennen lernen w ü r d e . Es war eine Wut ohne Intelligenz u n d ohne eigenen Willen: Zickzack war diese Wut. Schein u n d Sein waren bei i h m eins. Elisa hatte nie etwas Derartiges gesehen oder sich vorgestellt, a u ß e r vielleicht in ihren A l b t r ä u m e n , in denen das Böse und die Angst geradezu leibhaftig vor ihr standen u n d Gestalt angenommen hatten. Der Mann mit den weißen Augen. Elisa wunderte sich nicht, dass Jacqueline ihn >Teufel< genannt hatte. Sie war unfähig, die Aura abstrakter Perversion, den Hass und den Wahnsinn, die von jedem Zentimeter seiner Erscheinung ausgingen, jene in seinem Wesen destillierte ü b e r m e n s c h l i c h e Grausamkeit zu definieren oder zu verstehen - u n d erst recht, sie auszuhalten. David hatte Recht: Er ist Gefühl in Reinform. Er ist ETWAS, das zerstört. Er tut nur das. Er kann nichts anderes. H i n z u kam das Grauen erregende Ä u ß e r e . Doch hier wusste Elisa, dass es auf dieselbe Ursache z u r ü c k z u f ü h r e n war wie die H ö h l e n im Meer und die »Lepra« der Frau in Jerusalem. Die Verschiebungen der Materie v e r s t ü m m e l t e n i h n fast bis zur U n kenntlichkeit, raubten i h m das halbe Gesicht, löschten die Pupillen in den weißen Augäpfeln und amputierten einen Unterarm und einen Teil des Rumpfes - als wäre er von einem Raubtier angebissen u n d wieder ausgespuckt worden. Seine Haltung m i t abgespreizten, leicht angewinkelten A r m e n u n d Beinen entsprach ohne Zweifel der seines Sturzes auf die Felsen, nachdem Ric ihn geschubst hatte.
U n d bei diesem Anblick verstand sie noch etwas, obwohl sie meinte, v e r r ü c k t zu werden, wenn sie nicht umgehend die A u gen von i h m abwendete. Denn sie dachte an Victor und seinen ü b e r g r o ß e n Kummer. Was musste er alles, als er seine Kindheitsliebe in den A r m e n seines besten Freundes wieder fand, in Bruchteilen von Sekunden in seiner Knabenseele empfunden haben, bevor der Kopf erschüttert vom Aufprall abschaltete: Wut, Begehren, Rache, Sadismus, Ohnmacht. Seine Welt war zum ersten Mal eingestürzt. Ric wollte auf eine >unschuldige< Erinnerung zurückgreifen, und was hat er gefunden? Sie wusste, Zickzack w ü r d e bar der Schrecken seines Ä u ß e r e n auf das reduziert, was er in Wirklichkeit war. Was er vorher war und geblieben wäre, wenn er nicht in einem schrecklichen M o ment aus der Zeit isoliert worden wäre. Jetzt, da sie i h n aus der N ä h e betrachtete, ahnte sie hinter den dicken Schichten erstarrter Wut seine wahre Natur. Zickzack war ein elfjähriger Junge.
0,0005 Sekunden. An jenem Sommermorgen in Ollero folgte Victor dem Bachlauf. Ric und Kelly waren verschwunden, aber er ahnte, wo er sie finden konnte: auf dem Steinhügel, an dem Platz, den Ric und er ihr Refugium nannten. Sie hatten sich sogar vorgenommen, dort eine H ü t t e zu bauen. Er blieb abrupt stehen. Wo lief er nur so aufgebracht hin? Was hatte er unmittelbar davor getan? Er erinnerte sich nur vage daran, dass er sich m i t Elisa etwas angeschaut hatte. U n d an Kelly Grahams schwarzes Haar. Daran, wie sehr Elisa und Kelly sich ähnelten. U n d an den Augenblick, als er Ric und Kelly nackt unter der Pinie vorgefunden hatte, genau dort, wo ihre H ü t t e hinsollte. Er erinnerte sich an seine Gefühle, als er sie sah. Sie kniete vor Ric und b e r ü h r t e ihn da unten (er wusste, was das bedeutete, aus den Magazinen, die
Ric sammelte). U n d dann hatte Ric zu i h m gesagt: Machst du mit, Vicky Lopera? Willst du, dass sie es dir auch besorgt, Vicky? Er erinnerte sich an Ries Blick, aber vor allem an Kellys. An den Blick aus Kelly Grahams katzenhaften Augen. Diesen Blick beherrschen alle Mädchen, absolut alle, ohne Ausnahme. Dieselben Lippen, die i h n so oft angelächelt hatten, küssten jetzt Ries nacktes Geschlecht: Jedes Schimpfwort, das er ihr an den Kopf warf, war gerechtfertigt. Schimpfen konnte süchtig machen, stellte er fest: Du schreist, bis dir die Stimme versagt, zeterst, willst die ganze Welt in Stücke reißen, was dich nur dazu treibt, noch ausfälliger zu werden, noch boshafter, noch kränkender. Ach, w ä r e die Welt doch der K ö r p e r eines M ä d c h e n s oder Ries Unterleib! Ach, w ü r d e deine Wut nur ewig währen! Du hast das Bedürfnis, so lange zu b r ü l l e n , bis deine Schreie dieses Lächeln und diese Blicke ausgelöscht haben, du willst weiterschreien, bis zu deinem letzten Atemzug, den M u n d weit aufgerissen, die Z ä h n e gebleckt... Aber er war nicht in Ollero u n d rannte auch nirgendwo h i n . Er war in einem g r o ß e n , stickigen Raum. Wo war er nur? In der Hölle? Und warum befand ausgerechnet er sich an diesem schaurigen Ort? Das ist ungerecht. Die W u t machte i h n b l i n d . Er wollte dem, der i h m das angetan hatte, erklären, wie ungerecht es war. Gewiss, er war zu weit gegangen. F ü r den Bruchteil einer Sekunde oder auch ein wenig länger (nicht, dass das etwas g e ä n d e r t hätte) hatte er seine ganze Kraft darauf gerichtet, die beiden bei lebendigem Leibe zu vernichten, zu zerstören, ihnen die Köpfe abzuhacken u n d sie ins Loch zu ficken, wie Ric das nannte, vor allem sie, ja, sie mehr als ihn, weil sie i h n hintergangen hatte, weil sie sich wegwarf, weil sie so s c h ö n war u n d aussah wie eins dieser epilierten M ä d c h e n mit den schwarzen Dessous aus Ries Zeitschriften, die wie kleine Hunde vor den Kerlen hockten. Aber seien w i r mal ehrlich, das Ganze hatte sich vor zwanzig Jahren zugetragen, u n d a u ß e r einer G e h i r n e r s c h ü t t e r u n g , ein
paar Stunden Ohnmacht im Krankenhaus, einer Narbe auf dem Schädel, der Besorgnis seiner A n g e h ö r i g e n und einem glücklichen Ende war nichts davon z u r ü c k g e b l i e b e n . Ric hatte sich w ä h r e n d seines Krankenhausaufenthalts nicht von seiner Seite g e r ü h r t und hatte ihn beim Aufwachen unter Tränen um Verzeihung gebeten. U n d Kelly? Er hatte sie seit langem vergessen. Es war eine Auseinandersetzung unter Kindern. Wie alt war er damals gewesen? Vielleicht elf oder knapp zwölf Jahre . . . Das ist ungerecht. Das Leben war nicht in Ordnung, wenn sich Ereignisse wie dieses durch das Vergehen der Zeit (war dies der richtige Begriff?) in solch finstere H ö h l e n verwandeln konnten. Wo blieb da die Gerechtigkeit, wenn die Natur nicht vergab? Er für seinen Teil hatte Kelly längst vergeben und auch all den anderen M ä d c h e n dieser Welt. Er hatte allen Frauen vergeben. Was blieb, h i e ß >Trauma<, aber er hatte schon vor Jahren damit zu leben gelernt: Er war allein stehend. U n d so sehr er Elisa auch mochte und begehrte - den M u t , sich einer Frau zu offenbaren, fand er einfach nicht. Ric und er waren verschiedene Wege gegangen. Was sollte er noch tun, um seine Schuld zu sühnen? War es denn möglich, dass Gott jedem Wort und jedem Gefühl, auch wenn es nur wenige, wilde Sekunden angedauert hatte, solches Gewicht verlieh? U n d m i t einem M a l war i h m klar, dass es in der Tat so war. Wie der Stein, der ins Wasser fällt und immer g r ö ß e r e Kreise zieht. War das nicht die Wurzel der E r b s ü n d e , das erste Vergehen, das einzige Vergehen? Ein vor Urzeiten begangener Fehler, zunächst b l o ß ein Fleck, der das Wasser im Paradies t r ü b t e , und dann so viele Unschuldige m i t sich riss. Er vermutete, dass nur wenige zu dieser Erkenntnis gelangt waren. Er war ein Privilegierter: Gott zeigte i h m , wie die immer g r ö ß e r werdenden Ringe unserer Fehler das Gesicht der Welt v e r ä n d e r t e n . In Wirklichkeit war er von der Hölle weit entfernt und befand sich im Paradies! Davon trennten i h n nur noch das Fegefeuer und ein Schuss in die Stirn, aber die waren nicht weit: Er sah die Kugel auf sich zukommen. Victor begriff, dass nur sein Tod dem
Ganzen ein Ende bereiten konnte. N u n musste es i h m nur noch gelingen, vor Blanes, Elisa u n d Carter zu sterben. Einfach sterben. Eine jähe Glückseligkeit d u r c h s t r ö m t e ihn. Ein insgeheim gehegter Wunsch, sein tiefster Wunsch w ü r d e in Erfüllung gehen: sein Leben zu geben, um Elisas zu retten. Genau das. Welches Paradies h ä t t e er sonst begehren k ö n n e n ? Er lächelte, w ä h r e n d i h m sein Freund Ric einen Stoß versetzte. Er stürzte auf die Felsen, s p ü r t e den Aufprall, dann breitete sich Frieden aus.
0 Sekunden. Schlagartig blendete sie Licht. Blinzelnd drehte sie den K o p f von der Sonne weg. Ich lebe. Sie sah den H i m m e l , die Wolken wie Rauch von fernen Feuern, das tosende Meer, sie s p ü r t e den Sand unter ihrem Rücken, das T-Shirt auf der Haut. Der stechende Schmerz im Oberschenkel wurde stärker, u n d sie bemerkte, wie eine warme Flüssigkeit aus der Wunde trat. Sie verblutete. Bald w ü r d e sie sterben. Aber diese Empfindungen bewiesen mehr als genug, dass sie noch am Leben war. Ich lebe. Sie h i e ß das Blut willkommen.
EPILOG
Es herrschten weder Nebel noch Dunkelheit. Doch bis in ihr H i r n war diese Erkenntnis noch nicht vorgedrungen. Die Z e r s t ö r u n g um sie her war verheerend. Das Innere der Baracken war ein einziges Chaos aus Metall, Glas, Holz und Plastik, auch SUSAN war davon nicht verschont geblieben. Ihr Metallrücken war so verbeult, als wäre der Teilchenbeschleuniger einem gelangweilten Riesenbaby in die Finger geraten und zerquetscht worden wie ein Spielzeug. Die Hubschrauber auf dem Landeplatz waren zerschellt, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Obwohl nichts in Rauch aufgegangen zu sein schien, verströmte alles einen stechenden Brandgeruch, war so verheert wie nach dem Durchmarsch eines Z e r s t ö r u n g s t r u p p s . Glücklicherweise war von den Vorräten der Soldaten noch einiges übrig. Hauptsächlich Konserven. Sie hatten zwar keinen Dosenöffner, aber er brachte es fertig, Löcher hineinzubohren und den Inhalt h ä p p chenweise herauszufischen. Das Wasser stellte sie vor ein unerwartetes Problem: Sie verfügten ü b e r ganze zwei Flaschen Trinkwasser. Glücklicherweise ergossen am Nachmittag dicke Wolken ihren Inhalt über sie, so dass sie mehrere Eimer Regenwasser sammeln konnten. Sie wuschen sich und beschlossen, sich zum Ausruhen nicht z u r ü c k z u z i e h e n . Obwohl keiner von beiden es aussprach, war ihnen klar, dass sie sich nicht trennen wollten.
Bei Einbruch der Dunkelheit vermochte Elisa sich kaum noch zu r ü h r e n . Sie hatten weder Strom noch brauchbare Batterien u n d wollten w ä h r e n d der ersten Stunden der Nacht kein Feuer a n z ü n d e n . Daher hockten sie sich im Freien an die Mauer der dritten Baracke und versuchten sich auszuruhen, so gut sie konnten. Sobald die grundlegendsten Bedürfnisse gestillt waren, fragte sie ihn nach den Leichen. Innerhalb und a u ß e r h a l b der Forschungsstation hatten sie mehrere liegen sehen. Die Soldaten und Harrison waren nur noch an der Kleidung zu erkennen; viel mehr war von ihnen nicht ü b r i g als die Umrisse der flach auf dem Boden ausgebreiteten Fetzen. Aber sie wollte auch wissen, was m i t den Leichen von Victor, Blanes und dem Soldaten auf dem Gang geschehen sollte und m i t Jacquelines sterblichen Überresten. Sie waren sich d a r ü b e r einig, dass sie alle bestatten w ü r d e n , nur variierten ihre Ansichten ü b e r den besten Zeitpunkt. Er führte ihre Erschöpfung als Argument an, sie erst am n ä c h s t e n Morgen zu bergen. Elisa drang hingegen darauf, es sofort zu tun. Sie hatten ihre erste Auseinandersetzung. Keine besonders heftige zwar, aber danach verfielen sie beide in ein ausgedehntes Schweigen. Dann h ö r t e sie i h n , vielleicht als Friedensangebot, fragen: »Was macht Ihre Verletzung?« Sie starrte den improvisierten Verband an, den er ihr vor einigen Stunden um den Oberschenkel gelegt hatte. Die Schmerzen waren e r b ä r m l i c h , aber sie wollte nicht klagen. Sie war sicher, dass sie für immer Narben zurückbehalten würde, wie lange dieses » i m m e r « auch w ä h r e n mochte. Dennoch sagte sie: »Gut«, und veränderte die Stellung. »Und Ihre?« »Pah, das war doch nur eine S c h r a m m e . « Er betastete die Binde um seine Schläfen. Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Ihre Blicke verloren sich über dem Meer und in der Nacht. Der Regen hatte aufgehört, und es war klar und angenehm warm.
»Ich verstehe immer noch nicht, wieso ... wieso Zickzack uns beide verschont hat«, begann Carter wieder leise. Elisa w a r f i h m einen Blick zu. Carter sah noch genauso aus wie am Morgen, als er, das Gewehr in der Hand, m i t ängstlicher Miene vor ihr aufgetaucht war. Inzwischen musste sie beinahe grinsen bei der Erinnerung an sein bleiches, nur spärlich von der gerade aufgegangenen Sonne beleuchtetes Gesicht. Er hatte dagestanden, ein Auge zusammengekniffen, das andere am Visier des Gewehrs, u n d sie aus vollem Halse angeschrieen, was zum Teufel passiert sei. Gute Frage. In dem Moment war sie nicht imstande gewesen, es i h m zu sagen, denn sie hatte geblutet u n d sich elend gefühlt u n d daher b l o ß erwidert, dass sie glaubte, jetzt wäre alles vorbei. Carter erzählte ihr, dass Harrison auf i h n geschossen, i h n jedoch verfehlt habe, ohne es zu bemerken. Da sei er einfach still liegen geblieben und habe erst versucht aufzustehen, als H a r r i son sich entfernt hatte. »In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, dass alles z u s a m m e n s t ü r z t . Es hat nach Feuer gerochen. Da bin ich ins Kontrollzentrum gelaufen und habe Ihren Freund erschossen daliegen sehen und Harrison wie einen ... Haufen Asche auf dem Boden. D r a u ß e n lagen weitere Leichen von Soldaten in dem gleichen Zustand... Also bin ich runter zum Strand u n d plötzlich habe ich Sie gesehen.« Inzwischen fühlte sich Elisa imstande, i h m die gewünschte Erk l ä r u n g zu geben. »Er h ä t t e uns umbringen k ö n n e n « , sagte sie. »Er war drauf u n d dran. Er hat die Energie aus den Maschinen gezogen u n d mich angegriffen. Ich war sein nächstes Opfer. Eigentlich David, aber David war schon tot, da ist er auf mich losgegangen. In einer kurzen Unterbrechung musste er Energie aus den Lebewesen beziehen. Er hat Sie nicht a n g e r ü h r t , weil Sie in seinem ZeitString erst später an der Reihe gewesen wären. Das Merkwürdige ist, dass er Victor nicht ausgespart hat. Vielleicht war ja unsere Annahme richtig, dass sich die Vervielfältigung selbst zerstören
w ü r d e . Wie auch immer, jedenfalls hat er den A n g r i f f unterbrochen, u n d in genau dem Sekundenbruchteil wurde Victor von der Kugel getroffen und ist gestorben.« »Und das Ding m i t i h m « , nickte Carter. »Verstehe.« Elisa blickte hinauf zum d ü s t e r e n H i m m e l , ein großes Gewicht lastete ihr auf der Brust. Sie wusste, dass diese Last niemals von ihr genommen w ü r d e , zumindest nicht vollständig. Trotzdem wollte sie es versuchen. » H ö r e n Sie«, begann sie. »Sie haben Recht damit, dass ich erschöpft b i n . Aber ich w i l l sie sofort bestatten, so gut es eben geht. Sie brauchen m i r nicht dabei zu helfen.« »Ich helfe Ihnen auch nicht«, entgegnete Carter, doch er stand m i t ihr auf. Aber da stellte sie fest, wie schwach sie auf den Beinen war. Ihre Wunde war einfach zu schmerzhaft. Sie erklärte sich damit einverstanden, die Beerdigungen auf den n ä c h s t e n Tag zu verschieben, und beide setzten sich wieder in den Sand. Sie mussten warten, bis der neue Morgen anbrach. U n d bis dahin w ü r d e sie beten, dass sie Unrecht hatte. Denn je weiter die Nacht vorrückte, desto sicherer war sie, dass es keine Rettung für sie geben konnte.
»Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?« »Nein. Ich habe keine Batterie in meiner Uhr, und alle anderen sind um 10.31 U h r stehen geblieben, das sagte ich Ihnen doch bereits. Es w i r d so gegen vier Uhr morgens sein. K ö n n e n Sie nicht schlafen?« Elisa blieb i h m die A n t w o r t schuldig. Nach einer Pause setzte er hinzu: »Als ich j u n g war, da habe ich gelernt, die Uhrzeit am Stand von Sonne und M o n d abzulesen, ohne Uhr, aber dafür braucht man einen klaren Himmel.« Er hob den A r m zur matt schimmernden Wolkendecke ü b e r ihnen. »So geht es nicht.« Sie sah ihn aus dem Augenwinkel an. Wie er da eingehüllt ins Dunkel der Nacht im Sand saß, den Rücken an die Baracken-
wand gelehnt, kam ihr Carter fast u n w i r k l i c h vor, obwohl ihre Erinnerung daran, wie er die Konserven verschlungen hatte, mit Fiktion nichts zu t u n hatte. »Was b e d r ü c k t Sie?«, fragte er überraschend. »Wieso?« »Glauben Sie mir, ein Mensch ist oft leichter zu durchschauen als der H i m m e l . Sie wirken beunruhigt. Da ist noch mehr als der Schmerz ü b e r den Verlust Ihrer Freunde. Sie denken über irgendetwas nach. Was ist es?« Elisa wog die A n t w o r t sorgfältig ab. »Ich habe d a r ü b e r nachgedacht, wie w i r hier wegkommen. W i r haben kein funktionstüchtiges Gerät, weder Radio noch Funk . . . Unsere Vorräte sind knapp. Das beschäftigt mich. Wieso lachen Sie?« »Wir sind keine Schiffbrüchigen auf einer verlassenen Insel.« Carter schüttelte den Kopf und ließ noch einmal sein tiefes, schallendes Gelächter vernehmen. »Ich habe es Ihnen doch bereits erklärt: Harrison hat für morgen früh die Ankunft einer Delegation von Wissenschaftlern erwartet. Abgesehen davon fragen sich die v o m S t ü t z p u n k t wahrscheinlich längst, weshalb Harrison und seine Leute auf keinen Ruf antworten. Vertrauen Sie meinen Worten: Spätestens morgen bei Sonnenaufgang kommen sie uns holen. Falls sie nicht schon vorher auftauchen.« Morgen. Vorher. Elisa winkelte das Bein an, das sie ohne Schmerzen bewegen konnte. Die vom Meer herüberwehende Brise wurde allmählich kühler, aber nichts in der Welt h ä t t e sie dazu bewegen k ö n n e n , in die Baracken zu gehen, um dort auf den Tagesanbruch zu warten. Vielleicht sollte sie sich etwas zum Überziehen suchen oder Carter bitten, ihnen ein Lagerfeuer zu machen. Nur war es eigentlich nicht die Kälte, die ihr zusetzte. »Ich w e i ß schon, dass Sie m i r nicht v e r t r a u e n « , sagte Carter nach einem missmutigen Schweigen, » u n d das kann ich Ihnen nicht einmal verdenken. Falls Ihnen das etwas hilft: Ich traue I h nen auch nicht ü b e r den Weg. Für Sie b i n ich nur ein hirnloser Killer, aber ihr Schlaumeier seid für mich ein riesiger Haufen ... Scheiße. Verzeihen Sie meine Offenheit. U n d das ist gar kein
Ausdruck, wenn man bedenkt, was hier passiert ist. Deshalb sollten wir uns unsere kleinen Geheimnisse lieber gegenseitig anvertrauen, meinen Sie nicht? Unsere Vermutungen. Denn offensichtlich vermuten Sie etwas.« Als sie Carter ins Gesicht schaute, sah sie seine Augen in der Dunkelheit funkeln. Sie h ö r t e Atemzüge, doch es waren ihre eigenen, als w ü r d e Carter die Luft anhalten, bis sie zu reden begann. » H a n d aufs Herz«, d r ä n g t e er sie. »Sie glauben, dass das . . . D i n g ... nicht gestorben ist?« »Doch, das ist gestorben.« Elisas Blick schweifte ab zu den Wolken und der dunklen Wand des Meeres. »Zickzack war eine Vervielfältigung von Victor, und Victor ist tot. Daran gibt es keinen Zweifel.« »Und was dann?« Sie holte tief Luft u n d schloss die Augen. Letzten Endes wird es dir gut tun, wenn du es aussprichst. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, begann sie gequält. »Passiert? Womit?« »Mit allem.« Sie nahm sich zusammen, um nicht in T r ä n e n auszubrechen. »Verstehe ich nicht.« »Zickzack hat den Radius seines Zeit-Strings auf eine nicht a b s c h ä t z b a r e Entfernung ausgedehnt: die Insel, das Meer, den H i m m e l . . . Ich weiß nicht, ob durch die Wechselwirkung die Gegenwart irgendwie beeinflusst worden ist. Keine U h r geht mehr, w i r sind von der Außenwelt abgeschnitten. W i r wissen nicht, ob sich dadurch irgendetwas v e r ä n d e r t hat, verstehen Sie?« » M o m e n t mal ...« Jetzt kam Leben in Carter, er r ü c k t e ein Stück näher. »Wollen Sie damit sagen, dass w i r in einer . . . anderen Welt oder Zeit sind oder irgend so was?« Elisa schwieg dazu. Sie hielt immer noch die Augen geschlossen. »Benutzen Sie doch mal Ihren gesunden Menschenverstand, M ä d c h e n ! Sehen Sie mich an. Bin ich etwa ein anderer? Ich b i n weder älter noch jünger. G e n ü g t Ihnen das nicht?«
F ü r Augenblicke war das Schweigen zwischen ihnen fast zu greifen: Es füllte alles aus, jede Leere und jede Form, staute sich förmlich vor ihnen. »Ich b i n Physikerin«, sagte Elisa endlich. »Ich kenne nichts anderes als die Gesetze der Physik. Sie sind es, die das Universum regieren, und nicht unsere I n t u i t i o n oder unser gesunder Menschenverstand. M e i n gesunder Menschenverstand u n d meine I n t u i t i o n sagen mir, dass ich auf New Nelson bin, im Jahr 2015, gemeinsam m i t Ihnen, und dass der Angriff von Zickzack kaum dreizehn oder vierzehn Stunden her ist. Das Problem ist nur ...« Sie hielt inne u n d seufzte tief. »Wenn sich die Dinge verändert haben, dann k ö n n e n das auch die Gesetze der Physik. Aber momentan weiß ich nicht, was sie besagen. U n d ich muss es wissen, weil sie die einzige Wahrheit sind.« Nach einer weiteren langen Pause h ö r t e sie Carters Stimme wie aus weiter Ferne: »Glauben Sie vielleicht, dass unsere U m gebung nicht real wäre? Glauben Sie, dass auch ich nicht real bin, dass ich von einer Sekunde zur nächsten verschwinden k ö n n t e , oder dass Sie mich nur t r ä u m e n ? « Elisa gab i h m keine Antwort. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Da stand der Ex-Militär plötzlich auf und verschwand hinter der Ecke der Baracke. Kurz daraufkehrte er auf leisen Sohlen zur ü c k u n d warf einen Gegenstand in den Sand. Sie schaute h i n : eine mechanische Uhr. »Sie ist stehen geblieben«, sagte Carter. »Die U h r von Ihrem Freund. M i r war eingefallen, dass er gesagt hatte, sie wäre zum Aufziehen. Aber sie ist auch um zehn U h r e i n u n d d r e i ß i g stehen geblieben. Vielleicht ist er draufgefallen. Scheiße!« Er ging ganz dicht an Elisa heran und raunte ihr m i t erregter Stimme ins Ohr: »Wie soll ich es Ihnen beweisen? Wie soll ich Ihnen meine Existenz beweisen, Frau Doktor? Ich wüsste da schon ein paar Möglichkeiten, die vielleicht Ihre Zweifel ausr ä u m e n k ö n n t e n ... Na?« Dann nahm sie einen Laut wahr, der ihr das Blut in den Adern stocken ließ.
Ein Schluchzen. Sie r ü h r t e sich nicht, w ä h r e n d Carter weinte. Es war erschütternd, i h n weinen zu h ö r e n . Sie dachte, dass es auch für ihn ers c h ü t t e r n d sein musste. Er gab sich seinem Kummer h i n wie einem Trank, einer Flasche, die er bis zum letzten Tropfen leeren musste. Dann sah sie i h n aufstehen: eine s t ä m m i g e Gestalt, vom M o n d m i t schwachen weißen Pinselstrichen bemalt. »Ich hasse Sie . . . « , murmelte Carter zwischen zwei Schluchzern. Dann brach es aus i h m heraus: »Ich hasse euch alle, euch Scheiß-Wissenschaftler! Ich w i l l leben! Lasst mich doch i n Frieden leben!« Als Carter fortging, schloss Elisa endlich die Augen u n d sank in einen tiefen, fast bewusstlosen Schlaf.
Ein G e r ä u s c h weckte sie. Es kam v o m Tor im Maschendrahtzaun: Carter schlug, schwer bepackt, den Weg zum Strand ein. Obwohl es schon tagte, war die Temperatur leicht gesunken, über ihr lag eine Armeedecke. Carter hatte ihr offenbar seine Freundschaft beweisen wollen, und Elisa empfand ein unbestimmtes Gefühl der Reue, als sie an sein nächtliches Weinen z u r ü c k d a c h t e . Sie schlug die Decke z u r ü c k u n d stand auf, doch auch der Schmerz im Oberschenkel war erwacht. Elisa schrie auf u n d wappnete sich innerlich. Sie wusste nicht, wie die Wunde i n z w i schen aussah, sicher hatte sie sich e n t z ü n d e t . Im Grunde wollte sie es auch gar nicht wissen. Ein plötzlicher Schwindelanfall zwang sie, an der Wand Halt zu suchen. Als N ä c h s t e s meldete sich ein heftiges, u n b ä n d i g e s Hungergefühl. Vom ersten Morgenlicht geleitet, strebte sie den Baracken entgegen. Die Sonne war ein einzelner Punkt am Horizont, nachdem die dicksten Wolken nach S ü d e n gezogen waren u n d einen immer blauer werdenden H i m m e l zurückließen. Es war offenbar noch recht früh. In der Baracke fand sie einige Rucksäcke offen. Daraus schloss sie, dass auch Carter Hunger gehabt hatte. Sie bediente sich an
Keksen u n d Schokoriegeln und verschlang alles gierig. In einer Feldflasche war sogar etwas Wasser. Nachdem Durst u n d H u n ger gestillt waren, machte sie sich hinkend zum Strand auf. Das Meer lag ruhig und wolkenlos da. Das Licht spielte darauf u n d hinterließ leuchtende Bahnen in verschiedenen B l a u t ö n e n . Vor dieser Kulisse endloser Weite rackerte Carter wie eine Ameise. Er hatte zwei Lagerfeuer e n t z ü n d e t und war dabei, ein drittes anzufachen. Alle drei lagen in einer Linie am Ufer. Elisa n ä h e r t e sich und sah i h m bei der Arbeit zu. »Tut m i r Leid wegen heute Nacht«, brachte er schließlich hervor, ohne sie anzusehen, ganz auf seine Aufgabe konzentriert. »Schon vergessen«, sagte Elisa. »Danke für die Decke. Was tun Sie da?« »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich nehme an, dass die wissen, wo w i r zu finden sind, aber eine zusätzliche Hilfe kann niemals schaden, glauben Sie nicht auch? W ü r d e es Ihnen etwas ausmachen, sich vor mich zu stellen? Bei dem W i n d kriegt man kaum ein Streichholz an.« » U m diese Uhrzeit m ü s s t e n die doch längst hier sein«, sagte sie u n d erforschte das nur von ihrem Blick begrenzte Blau. » K o m m t drauf an. Ich b i n jedenfalls sicher, dass sie auftauchen werden.« Die Zweige begannen zu brennen. Carter betrachtete die Flammen eine Weile, dann stand er auf und kam zu Elisa ans Ufer. Elisa schaute wie hypnotisiert auf das Meer hinaus: der unaufhörliche Mechanismus der Welle, die anschwillt und sich m i t einem s c h ä u m e n d e n Saum bricht, dann von der n ä c h s t e n Welle überrollt w i r d . Sie erinnerte sich an das wie von Stacheldraht beschneite, in der Zeit gefrorene Meer aus Glassplittern und schüttelte sich vor Grauen und Ekel. Sie fragte sich, wie es Carter wohl gehen w ü r d e , wenn er so etwas gesehen hätte. »Glauben Sie immer noch, dass Sie das alles nur t r ä u m e n , Frau Doktor?«, fragte Carter. Er hatte einen Schokoriegel ausgewickelt und biss ein großes Stück davon ab. Schokoladenkrümel hingen i h m im Bart. »Pah, glauben Sie, was Sie wollen. Ich bin kein Wis-
senschaftler, aber ich weiß, dass w i r 2015 haben u n d dass heute Montag, der siebzehnte M ä r z , ist und dass sie uns holen k o m men. Sie k ö n n e n in Ihrem schlauen K ö p f c h e n meinetwegen denken, was Sie wollen. Ich sage Ihnen nur, was ich weiß.« Elisa starrte weiter hinaus zum leeren Horizont. I h r fielen die Worte eines Physikprofessors an der Universität ein: » N u r die Wissenschaft kann etwas m i t Sicherheit wissen, nur die Wissenschaft kann sich ein Urteil erlauben. Ohne sie w ü r d e n w i r weiterhin glauben, dass die Sonne um die Erde kreist u n d die Erde stillsteht .« »Wollen Sie m i t m i r eine Wette abschließen?«, fuhr Carter fort. »Ich b i n sicher, dass ich gewinnen werde. Aus Ihnen spricht der Kopf, bei m i r das Herz. Bis jetzt haben w i r Ihnen vertraut, und sehen Sie nur, wo uns das h i n g e f ü h r t hat.« Er deutete m i t dem Kopf auf die Baracken. »Sie haben bewiesen, wozu Ihr sagenhafter Verstand fähig ist. Glauben Sie nicht auch, dass es an der Zeit wäre, mal aufs Herz zu h ö r e n , Frau Doktor?« Elisa antwortete nicht. Nur die Wissenschaft kann etwas wissen. Sie h ö r t e Carter leise lachen, sah sich aber nicht nach i h m u m . Sie suchte weiter den H i m m e l ab, der so reglos und leer dalag, als w ü r d e die Zeit stillstehen.
N A C H W O R T DES AUTORS
Gleich mehrere Fachleute haben m i r dabei geholfen, das k o m plexe, beeindruckende G e b ä u d e der modernen Physik n ä h e r kennen zu lernen. So hat die Hochschuldozentin Beatriz Gato Rivera v o m Instituto de Matemáticas y Física Fundamental der CSIC alle meine Fragen m i t g r o ß e r Freundlichkeit und Geduld beantwortet, von Einzelheiten zum Studium bis hin zu den verworrensten Fragen im Zusammenhang m i t der theoretischen Physik, u n d ich b i n i h r unendlich dankbar dafür. Ich m ö c h t e dem Hochschullehrer Jaime Julve desselben Instituts ebenfalls danken für jenen heißen Nachmittag, an dem w i r ü b e r das Göttliche und das Menschliche sprachen, und dem Dozenten Miguel Ángel Rodríguez vom Fachbereich für Theoretische Physik der Universidad Complutense, der sich am Ende des Semesters trotz eines überfüllten Terminplans für m i c h Zeit genommen hat. Weitere Dozenten u n d Professoren anderer spanischer Universitäten m ö c h t e n lieber ungenannt bleiben, haben m i c h jedoch m i t der gleichen Offenheit u n d Geduld u n t e r s t ü t z t u n d sogar mein Manuskript durchgesehen und wichtige Korrekturen angebracht. Ihnen allen gilt mein tief empfundener Dank. Es versteht sich von selbst, dass Fehler und Auswüchse der Fantasie sowie abfällige Meinungen meiner Romanfiguren über Physik und Physiker keinesfalls von meinen hervorragenden Informanten stammen. Zu meiner Entlastung m ö c h t e ich jedoch betonen,
dass es nie meine Absicht war, ein wissenschaftliches Werk ü b e r Zeit-Strings zu verfassen, noch meine Ansichten d a r ü b e r darzulegen, sondern ich wollte einen fiktiven Roman schreiben. Interessierte Leser, die ihr Wissen ü b e r die von der zeitgenössischen Physik enträtselten Geheimnisse der Wirklichkeit erweitern m ö c h t e n , weise ich auf meine wichtigste Lektüre hin, die fast ausnahmslos - bis auf die Ausnahmen, die auf diese Weise festgestellt werden - in spanischer Sprache von der Editorial Crítica, Collección Drakontos veröffentlicht wurde: Das elegante Universum von Brian Greene im Berliner Taschenbuch Verlag (eine hervorragende Einführung in die String-Theorie); die g r o ß a r t i g e n allgemeinverständlichen Texte Eine kurze Geschichte der Zeit und Das Universum in der Nussschale von Stephen Hawking; Die kürzeste Geschichte der Zeit von Paul Davies u n d Elementarteilchen von Gerardt Hooft. Hinzufügen m ö c h t e ich Teledetección ambiental von Chuvieco Salinero (ed. Ariel), durch das ich eine Vorstellung von der B i l d ü b e r t r a g u n g ü b e r Satelliten bekommen habe; die beiden Bände von Physik. Für Wissenschaftler und Ingeneure von Tipler (Verlag Spektrum), die m i r geholfen haben, meine Kenntnisse aus den ersten Semestern meines Medizinstudiums aufzufrischen - in denen es auch um Physik geht - u n d Eine kurze Geschichte des Kosmos, herausgegeben von Ken Wilber (Fischer Verlag), eine interessante Textauswahl von namhaften Physikern, nicht nur über die Physik (einige sogar >mystisch<). Zu guter Letzt sei ein herrliches Buch erwähnt: Das schöpferische Teilchen von Leon Lederman in Zusammenarbeit m i t Dick Teresi (Goldmann Verlag). Ich habe daraus nicht nur einiges ü b e r die Arbeit des Experimentalphysikers gelernt und über die Monster namens Teilchenbeschleuniger, ich habe mich damit auch w u n derbar unterhalten - bei der Lektüre einiger Passagen kann man sich n ä m l i c h schier a u s s c h ü t t e n vor Lachen, ganz wie bei einer gelungenen humoristischen Erzählung. Dieses Buch hat mich gelehrt, dass man ü b e r jedes Thema reden oder schreiben kann, so sperrig es auch sein mag, wenn man nur den richtigen Ton trifft. Mein Glückwunsch, Herr Professor Lederman, und mein Dank!
M e i n Dank gilt auch den hervorragenden Mitarbeiterinnen der Literarischen Agentur Carmen Balcells (ohne sie wäre dieses Buch niemals erschienen), den Verlegern von Random House Mondadori in Spanien, und euch, den treuen Lesern, die ihr bei jedem U m b l ä t t e r n dabei seid. Schließlich wäre m i r nichts m ö g lich, ohne die Freude und die Begeisterung, die m i r jeden Tag durch meine Frau u n d meine Kinder zuteil w i r d , ohne meine Freunde u n d ohne meinen Vater, diesen fast manischen Leser guter Bücher. Danke euch allen. J. C. S. M a d r i d , im August 2005