Das Gift des Bösen von Adrian Doyle
Vergiftet vom Bösen, ist Lilith Eden endlich das geworden, was sie nie sein wollte...
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Das Gift des Bösen von Adrian Doyle
Vergiftet vom Bösen, ist Lilith Eden endlich das geworden, was sie nie sein wollte: eine grausame Vampirin ohne Skrupel und Menschlichkeit. Das Gute in ihr wurde hinweggefegt, so wie die Erinnerung an ihr früheres Leben. Auch Nona wurde mit dem Bösen konfrontiert – eine Begegnung, die sie fast vernichtet hätte. Doch zwischen Leben und Tod entdeckt sie, was sie so lange suchte: eine Spur zum Ursprung der Werwölfe! Ein absonderliches Schicksal führt diese beiden so ungleichen Frauen zusammen. Nur eines verbindet sie: der Plan eines Kindes, das der leibhaftige Satan ist …
Was bisher geschah … Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle – eine Dimension, die einst durch den Fall des Engels Luzifer entstand – werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihrem ärgsten Feind Landru gelöscht; sie wissen nicht einmal mehr, daß sie Vampire sind! Doch Gabriel, eine Inkarnation Satans, schließt mit Landru einen Pakt und gibt ihm die Erinnerung zurück. Landru redet Lilith nun ein, sich auch an ihre Identität zu erinnern: In Mayab, einer von Kelchmagie abgeschirmten Stadt in Mittelamerika lägen ihre gemeinsamen Wurzeln. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die dort von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut der hiesigen Vampirherrscher … und die Sympathien der Maya zu. Als Landru erfährt, daß im Dunklen Dom ein neuer Kelchhüter erwacht sein soll, bricht er zum Ararat auf. Schließlich war er einst selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire verbreiteten. Doch der Hüter, Anum, hat den Dom bereits verlassen. Aus der EWIGEN CHRONIK, der Geschichtsschreibung des Bösen, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Um die CHRONIK zu schützen, füllte Anum den Dom mit Säure und ließ einen Wächter zurück. Landru tappt in die Falle, erringt letztendlich aber das Buch. Er selbst kann darin nicht lesen, weiß aber, daß Lilith diese Fähigkeit besitzt. In Mayab spitzt sich die Situation zu. Liliths Einsatz für die Bevölkerung ermutigt die Widerstandsbewegung, einen Schlag gegen die Tyrannen zu führen. Landrus Rückkehr beendet die Rebellion. Dann zwingt er Lilith, ihm aus der EWIGEN CHRONIK vorzulesen. Doch seine Frage nach dem Wirken des Satans endet im Fiasko: Plötzlich beginnt Lilith, von einer fremden Macht beseelt, das Buch zu zerstören! Und das ist nicht alles! Die magische Barriere um Mayab zieht sich zusammen!
Landru und Nona fliehen; Lilith bleibt mit der CHRONIK zurück. Nun kann sie zwar darin lesen und ihre Herkunft erfahren, doch was nutzt es ihr im Angesicht des sicheren Todes? Da taucht Gabriel bei ihr auf – und bietet auch Lilith einen Pakt an. Sie hat keine Wahl, will sie überleben. So sichert sich die Inkarnation Satans auch ihre Loyalität … Und Gabriel weiß, wie er Lilith vollends auf die Seite des Bösen ziehen kann: Er bringt sie mit Hidden Moon zusammen! Mit dem Arapaho-Indianer, der dank seines Seelentieres das Böse überwand, verbindet Lilith ein seltsames Schicksal: Seit sie seinen Adler tötete, absorbiert nun sie das Böse aus Hidden Moon. Doch die lange Trennung der beiden ließ die dunkle Macht in dem Indianer wuchern – und nun erhält Lilith eine Überdosis! Gabriel weiß nicht, daß sein Plan verfolgt wird. In einer unwirklichen Dimension haben sich drei Männer gefunden: der WerwolfGuru Chiyoda, Makootemane, der tote Arapaho-Häuptling, und Esben Storm, der ebenfalls verstorbene australische Aborigine und Wanderer auf Traumzeitpfaden. Noch beobachten sie nur …
Vergangenheit Raoul Steen konnte nicht einschlafen. Es war drückend schwül, und von draußen wehten – obwohl schon spät in der Nacht – immer noch vereinzelte Stimmen zu ihm herein. Offenbar fanden andere ebenso wenig Ruhe wie der Uhrmacher. Die Wohnung mit der Werkstatt lag ebenerdig, und normalerweise hielt Raoul Steen nach Einbruch der Dunkelheit sämtliche Türen und Fenster gut verschlossen. Heute nicht. Heute standen die beiden Fensterflügel seiner Schlafstube sperrangelweit offen, weil es sonst in der Kammer nicht zu ertragen gewesen wäre. Hin und her wälzte sich der hagere Mann in seinem Bett. Das rechte Bein folgte der Bewegung schleppender als das linke. Seit dem Unfall war keine Kraft mehr darin, und auch aus den Lenden schien sie gewichen zu sein. Taub, dachte Steen. Alles an mir ist taub geworden. Marie hatte ihn deswegen verlassen. Er haßte Marie. Wieder lief draußen eine Horde Mannsvolk vorbei, das im nahen Wirtshaus gezecht und nun in gehobener Stimmung den Heimweg angetreten hatte. Hinter geschlossenen Augen erinnerte sich Steen, daß er vor seinem Mißgeschick selbst gern und ausgiebig einen über den Durst getrunken hatte. Damit war es vorbei. Nicht weil seine früheren Kumpane sich von ihm abgewandt hätten – nein, er hatte sich von ihnen zurückgezogen. Es lag schon drei Jahre zurück, daß ihn ein Pferdefuhrwerk überrollt hatte, aber der Unfall hatte Steens Wesen nachhaltig und von Grund auf umgekrempelt. Den geselligen, fröhlichen Possenreißer gab es nicht mehr. Steen war ein todernster Eigenbrötler geworden,
oftmals in einer Weise abweisend gegen seine Mitmenschen, daß längst auch das Geschäft darunter litt. Mit Müh und Not reichte das, was durch sein Handwerk und den Mieterlös aus der über dem Geschäft liegenden Wohnung in die Kasse kam, zum Überleben. Dabei konnte Steen noch von Glück sagen, daß ihn keine Schulden drückten. Das Haus in der Rue Mucio hatte er vom toten Vater – einem flandrischen Kaufmann – geerbt, und Marie, mit der er ohne den Segen der Kirche zusammengelebt hatte, war davongelaufen, ohne sich ums Geld zu scheren. Steen wußte, daß sie sich zuletzt vor ihm geekelt hatte und ihn nicht mehr hatte anfassen wollen. Ihre Zärtlichkeiten hätten ihm gewiß über manches hinweggeholfen, aber sie hatte sich rigoros geweigert, dergleichen zu tun, und ihn auch noch wüst beschimpft: »Dein Bein – es ist so häßlich … Und dein Schwanz … Genausogut könnte ich eine Schnecke beackern, sie würde auch nicht hart werden!« Nein, es war gut, daß sie fort war. Sie sollte nur ja auch fort bleiben. Steen öffnete die Augen. Der Mondenschein flutete hell zum Fenster herein. Der Uhrmacher stützte sich auf seine Ellbogen und überlegte, was er tun konnte, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu finden. Er war durchaus müde, erschöpft vom Tagwerk, zugleich aber auch von der Schwüle so aufgewühlt und nervös, daß die Aussichten, ein Auge zuzutun, mehr und mehr schrumpften. In Reichweite seiner Arme stand an Bettgestell und Wand gelehnt die Krücke. Krüppelstelze nannte Steen das Ding, das ihm half, durch die Straßen der Stadt zu humpeln. Die Betrunkenen entfernten sich. Ihr Gegröle wurde leiser, bis es nicht mehr zu hören war. Steen sank zurück. Aber als er erneut in sich lauschte, wurde ihm klar, daß seine Unruhe nur zu vertreiben war, wenn er sich bewegte, statt hier still weiter in Schweiß gebadet zu liegen und auf das Ende der Nacht zu warten. Er schwang sich aus dem Bett und kleidete sich mühsam an. Als Steen kurze Zeit später ins Freie trat, hatte er noch kein beson-
deres Ziel vor Augen. Er wollte einfach den erstickend eng gewordenen vier Wänden entfliehen. Leise klackte das stumpfe Ende der Krücke über das holprige Pflaster der Straße. Steen war bemüht, keinen Lärm zu machen, kein Aufsehen zu erregen. Es schien ihm zu gelingen. Oder die Menschen in den Häusern, an denen er vorbeiging, stellten sich einfach nur taub. Taub wie seine Lenden …
* Zwei bewaffnete Engel aus Stein thronten auf den Pfosten, die das Tor zum Friedhof säumten. Raoul Steen fand, daß die Sterne des Firmaments und das Dunkel der Mitternacht die schattenhafte Illusion echter Wachsamkeit in die starren Züge der Cherubime woben. Eine Weile hielt er vor dem schmiedeeisernen Tor inne und ließ seinen Blick abwechselnd von einer Figur zur anderen schweifen. Er glaubte an Engel. Genau wie er an die Existenz des Teufels glaubte. Nur die Angst vor beidem hatte er verloren, seit Marie weg war. Und seit der Klöppel zwischen seinen Beinen ihm nicht mehr gehorchte. Darauf war Steen fixiert. Es machte ihm zu schaffen, nicht mehr ausleben zu können, was in seinem Kopf immer noch rumorte, von Tag zu Tag lauter sogar. Das Tor des Gottesackers blieb über Nacht unverschlossen. Vermutlich weil es ohnehin niemand wagte, die Ruhe der Toten zu deren Stunde zu stören. Steen hatte seine ehemalige Furcht vor denen, die hier lagen, abgestreift. Inzwischen – denn es war nicht sein erster Besuch zu nächtlicher Zeit – empfand er den Aufenthalt zwischen den Gräbern und den Frieden, den diese ausstrahlten, als überaus erquickend. Manchmal verdächtigte er sich sogar, daß ihm die Toten näher standen als
die Lebenden. Ja, die Toten, Marie. Ein lautlos den Horizont erhellender Blitz riß Steen aus den Gedanken. »Es wettert«, murmelte er. Die Angewohnheit, in Selbstgespräche zu verfallen, hatte er sich nach Maries Verschwinden angeeignet. Und während er auf den Donnerhall des Blitzes wartete, öffnete er das Friedhofstor und betrat den dahinter beginnenden Pfad. Steen war schweißgebadet. Der vollgesogene Stoff des Hemdes drückte schwammig und fast ebenso fest auf seine Brust wie der Krückenschaft in seine Achselhöhle. Sein Herz schlug, als wäre es die Trommel eines Kriegshetzers. Ungelenk bewegte sich der Uhrmacher über die mondhellen Pfade zu einer Ruhebank unter der ausladenden Krone einer Linde. Nachdem er ächzend darauf niedergesunken war und mit dem Rücken gegen den rauhen Stamm des Baumes lehnte, konnte er den Kirchhof und einen Teil der Stadt überblicken – auch die Zitadelle mit der Burg, in der einst die Könige von Mallorca residiert hatten, zeichnete sich als schwarzer Schattenriß gegen das funkelnde Diadem der Sterne ab. Es war lange vorbei, jenes Königreich … Inzwischen hatte sich vieles verändert. Auch die eroberungslustigen Franzosen waren wieder aus Perpignan und dem ganzen Roussillon vertrieben worden. Seither bestimmte Madrid die Geschicke der Region – selten genug allerdings zur Freude der hier ansässig gewordenen Katalanen. Sie würden sich – das wurde von Tag zu Tag deutlicher – nicht mehr lange friedlich mit der gestrengen Reglementierung der spanischen Krone abfinden. Und in einer Zeit, da es in Europa an allen Ecken und Enden zündelte oder brannte, schien sich schleichend auch über Perpignan Unheil zusammenzubrauen … Jener Mensch, der Raoul Steen vor seinem Unfall gewesen war, hatte die Freundlichkeit und Toleranz seiner katalanischen Mitbür-
ger geschätzt. Seit er jedoch mit sich und der ganzen Welt gebrochen hatte, wollte er von den drohenden Nöten nichts mehr wissen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich den triefenden Schweiß vom Gesicht. Irgendwo raschelten ein paar Mäuse, sonst blieb es still genug, um den Gedanken an das unwiederbringlich Vergangene weiter nachhängen zu können. An Marie zum Beispiel. Die er haßte. Und ebenso vermißte … Ein Geräusch ließ Steen innehalten. Es unterschied sich von den üblichen Nachtlauten. Kein Tier verursachte es. Es waren Schritte. Schritte, die aus einer anderen Richtung kamen als die, aus welcher der Uhrmacher hierher gefunden hatte! Steen verzog das Gesicht. Die Nacht legte sich wie dunkle Schminke über die Grimasse, die er schnitt. Er duckte sich. Hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken. Er wollte nicht gesehen werden, mit niemandem zusammentreffen. Lautlos glitt er von der Bank und kroch hinter den Stamm. Die Krücke zog er ebenso hinter sich her wie das lahme rechte Bein. Modriger Geruch stieg in seine Nase. Steen unterdrückte das Bedürfnis zu niesen. Er schmiegte sich an die Linde und spähte dorthin, woher die Schritte erklangen. Es war die erste Störung überhaupt, seit er den Friedhof als Oase der Ruhe für sich entdeckt hatte. Nach langem Suchen fand er eine Bewegung im düsteren Abglanz des Himmels. Eine Gestalt näherte sich von einem der Nebenpfade. Ein – Kind …? Steens Zunge leckte verunsichert über seine rauhen Lippen. Dabei streifte er die behaarte Warze unter dem linken Nasenloch und schüttelte den Kopf. Irritiert versuchte er Einzelheiten des nächtlichen Kirchhofbesuchers zu erkennen. Die kleinwüchsige Gestalt war trotz der schweißtreibenden Schwüle in einen fast bis zum Boden reichenden Umhang gehüllt, der Kopf unter einer Kapuze verborgen. Es war nicht einmal ersichtlich, ob der Besucher männlich oder weiblich war. Er trug etwas bei sich, das er eng an den Körper preßte.
Was es war, konnte Steen auf die Entfernung nicht erkennen. Der Größe nach schätzte er die Gestalt auf höchstens zehn Jahre; die Bewegungen hingegen deuteten auf einen Erwachsenen hin. Sie waren sehr sicher, keineswegs ängstlich in Anbetracht der Umgebung. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte der Uhrmacher wieder eine Regung, die in klarer, kreatürlicher Angst wurzelte. Ein Schauder rann über seine verschwitzte Haut, und er entschied sich, davonzulaufen, sobald die unheimliche Gestalt nur weit genug entfernt war, um ihn nicht zu bemerken. Daß wirklich ein Kind unter dem Umhang steckte, mochte er keinen Moment länger glauben. Steen fluchte, ohne daß ein Ton über seine Lippen kam. Die Gestalt entfernte sich, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Eine Weile hörte Steen nur das Geräusch des eigenen Atmens und seiner Herzschläge. Er pflanzte seine Krücke auf den Boden und richtete sich vorsichtig daran auf. Als er stand, kam es ihm vor, als sähe er den Friedhof zum ersten Mal. Als wäre ein Schleier gefallen. Hinter jedem Grabstein, hinter jedem hölzernen Kreuz schien plötzlich etwas zu lauern, das Steen beäugte und ihm Böses wollte. Er hatte noch keinen Schritt in Richtung Ausgang getan, als neue Geräusche ihn zusammenzucken ließen. Sie kamen aus der Richtung, in der die fremde Gestalt verschwunden war, und sie hörten sich an, als ob dort im Erdreich gewühlt … nach etwas gegraben würde … Heilige Madonna, dachte Steen. Er war nicht in der Lage, seine ursprüngliche Absicht in die Tat umzusetzen und den Friedhof auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Er war überhaupt nicht fähig, irgend etwas zu tun. Eine ganze Weile stand er unter der Linde und lauschte den Geräuschen – bis sie aufhörten. Bis … die kleinwüchsige Gestalt zurückkehrte!
Sie hatte etwas geschultert, das beinahe so groß war wie sie selbst. Steen, der sofort an das Grabgeräusch erinnert wurde, sank haltlos zu Boden und preßte sein Gesicht ins welke Laub. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Aberwitzige, monströse Gedanken, die ihm noch mehr Schweiß als ohnehin schon aus den Poren trieben. Nein, dachte er. Niemand tut so etwas! Aber hatte er nicht selbst …? Die Erinnerung an das, was er getan hatte, legte erneut einen Schleier über seine Wahrnehmung. Aber auch über seine kurz aufgebrochenen Ängste. Suchend glitt sein Blick durch die mondhelle Nacht. Der Unbekannte hatte mit seiner Last den Weg zum Hinterausgang des Kirchhofs angetreten. Obwohl ein Brise aufgekommen war, in der das salzige Aroma des nahen Meeres mitschwang, bewegte sich der Stoff der Vermummung nicht im mindesten. Steif und reglos, als bestünden Umhang und Kapuze aus Holz, verhüllten sie die davoneilende Gestalt. Steen kam auf die Knie. Worauf wartest du? Verständige den Pfaffen – oder sag den Bütteln, was du grad’ gesehen hast! Er wußte, warum er zögerte. Aber er wußte nicht, warum er schließlich – statt nach Hause zurückzuhinken und einfach so zu tun, als hätte er in dieser schwülwarmen, gewitterträchtigen Nacht seine Wohnung und Werkstatt niemals verlassen – den gleichen Weg einschlug wie das Unheimliche …
* Das Haus stand geduckt und windschief am Ende der Straße, und Raoul Steens erster, natürlich unsinniger Eindruck war, daß die Nacht es über die Jahre hinweg unter ihrem unsichtbaren Gewicht
zerquetscht hatte, die Nacht und die erdrückende Nähe der mächtigen Zitadelle … Alle Gebäude in der Hauptstadt des Roussilons, die zugleich auch Bischofssitz war, wurden von der gewaltigen Festungsanlage überragt – und fast alle von diesem Monument zur Nichtigkeit degradiert. Die umgebende Landschaft, in der Wein- und Gemüseanbau betrieben wurde, verdankte ihre Fruchtbarkeit dem gemäßigten Klima und einem sich sanft hindurch windenden Flüßchen namens Têt, an dessen Ufer Perpignan sich zum bedeutenden Handelszentrum entwickelt hatte. Hier jedoch, in dieser Gasse, war von all dem nichts zu spüren. Die Dunkelheit hatte eine beklemmende Qualität angenommen. Sie schien greifbarer als an irgendeinem anderen Ort, den der Uhrmacher je betreten hatte. Steen glaubte nicht, daß es einfach nur daran lag, daß der helle Mond inzwischen von Wolken verhüllt wurde. Der salzige Wind war aufgefrischt und hatte das Gewitter näher heran getrieben. Steen zog den Kopf zwischen die mageren Schultern. Auf den Krückstock gestützt, stand er unter einem überhängenden Strauch gegenüber dem Haus, in dem der unheimliche Kerl verschwunden war. Daß es ein Kerl war, war für Steen mittlerweile unzweifelhaft. Denn er kannte diese Adresse! Obwohl – kennen vielleicht übertrieben war. Er war, wie fast jeder Bürger der Stadt, den die Neugierde dazu verleitet hatte, schon einmal hier vorbeigehumpelt, seit aberwitzige Gerüchte über den neuen Besitzer kursierten, der sich offenbar nie in der Öffentlichkeit zeigte. Die eine Fraktion der Wichtigtuer meinte, er sei ein Mystiker und religiöser Schwärmer, der in der Abgeschiedenheit an einem ketzerischen Schriftsatz gegen die Kirche arbeite. Die Mehrheit aber hielt ihn für einen Alchimisten, der versuchte, den alten Traum zu realisieren und das edelste aller Metalle – Gold! – aus unedlen Stof-
fen zu gewinnen. Diejenigen, die solches verbreiteten, verfügten angeblich auch über Beweise für ihre Behauptungen. Ein Krämer beispielsweise schwor Stein und Bein, daß sich unter den wöchentlichen Lebensmittellieferungen, die der Hauseigentümer von einem Boten in seinem Laden abholen ließ, auch so auffällige Ingredienzen wie Merkur, Sulphur oder Sal* befanden … Der Uhrmacher löste sich von seinem Beobachtungsplatz. Das Haus am Ende der Straße war das einzige, hinter dessen Fenstern um diese Stunde noch Licht brannte. Aber ein Licht mit der absurden Eigenschaft, hinter den Scheiben zu bleiben. Kein noch so vager Schimmer fiel ins Freie. Die Fenster sahen aus wie die gelben Augen eines Tieres, das seinerseits das Treiben draußen beobachtete und alles entdecken mußte, was immer sich dort auch bewegte. Mich, dachte Steen fröstelnd. Er wußte weniger denn je, warum er immer noch hier war. Warum er nicht Gott und die Welt alarmierte, um dem Scheusal, dem er gefolgt war, das Handwerk zu legen. Anfangs hatte Steen sich noch selbst eingeredet, er würde sich nur an die Fersen des Unheimlichen heften, um dessen Adresse in Erfahrung zu bringen. Nun aber wußte er, daß dies nicht seine Motivation gewesen war – ohne aber erkennen zu können, welche Beweggründe ihn tatsächlich trieben. Was für ein Mensch mußte das sein, der des Nachts auf einen Friedhof schlich und dort ein Grab schändete? Die Last auf den Schultern der Gestalt, die Steen verfolgt hatte, war in Tuch eingeschlagen worden und entsprechend unkenntlich gewesen – dennoch hegte der Uhrmacher kaum Zweifel, daß es sich dabei um einen Leichnam gehandelt hatte, einen auffallend kleinen Toten, den der ebenfalls kleinwüchsige Fledderer aus dem Schoß *früher gebräuchliche Bezeichnungen für Quecksilber, Schwefel und Salz
der Erde herausgeholt hatte! Der Tod war nicht nur für Raoul Steen ein unlösbares Mysterium. Auch frommere und klügere Leute als er scheiterten, wenn es darum ging, das Wesen des Todes erklären zu wollen. Die Kirche versprach den Gläubigen zwar die Wiedergeburt nach dem Jüngsten Gericht – aber dem Tod als solchen vermochten auch die Pfaffen nicht die Maske vom Gesicht zu reißen, um zu verstehen, was sich dahinter verbarg … Trotz des anstrengenden Wegs, der hinter ihm lag, schwitzte Steen inzwischen kaum noch. Schon das allein war angesichts der immer unerträglicher werdenden Schwüle erstaunlich, drang aber kaum in sein Bewußtsein. Er war völlig auf das Haus fixiert. Seine Gedanken kreisten um den Mann, der darin verschwunden war, und dessen Tat. Als besäße das Gebäude nicht nur »Augen«, sondern auch »Ohren«, versuchte Steen jedes vermeidbare Geräusch bei der Annäherung zu unterbinden. Um dies zu erreichen, hatte er einen Stofflappen, den er sonst zum Putzen der Nase benutzte, um das Ende des Krückstocks gewickelt. Über einen schmalen Pfad gelangte er zur Tür des zurückversetzt zur Straße stehenden Hauses. Das Grundstück war verwildert; schon seit einer Ewigkeit schien sich niemand mehr um den Bewuchs gekümmert zu haben. Steen bog vor Erreichen der Haustür rechts ab und hinkte zu einem der in Kopfhöhe liegenden, erhellten Fenster. Während er sich in der Dunkelheit die kühle Fassade entlang tastete, gestand er sich unvermittelt ein, was ihn eigentlich davon abhielt, die anderen Leute aus ihrem Schlaf zu schreien. Es war die Faszination, an die er kurz zuvor gedacht hatte. Dieselbe Kraft, die auch ihn spät nachts noch auf den Kirchhof geführt hatte: Der Tod. Oder das Geheimnis, das der Tod behütete und das die Menschen immer beschäftigen würde, falls es nicht irgendwann jemand lüftete,
indem er … Ja, indem er was tat? Die Toten befragte? Aber wie hätte er das anstellen sollen …? Während er die Nase an der Fensterscheibe platt drückte, um Einblick ins Innere des Hauses zu erhaschen, erinnerte sich Steen an die Marotten Adliger, die ihm zu Ohren gekommen waren. Angeblich veranstalteten sie regelmäßige Zusammenkünfte, in deren Verlauf sie – so machten sie jedenfalls die Welt glauben – mit den Geistern Verstorbener in Kontakt traten und ihnen Fragen nach deren Erfahrungen im Jenseits stellten. Steen hielt solche Veranstaltungen für blanken Betrug und Gotteslästerei, obwohl sein Glaube an den Herrgott im Himmel fadenscheinig, wenn nicht gar löchrig geworden war. O Marie, daran bist du schuld – du allein! Vergeblich versuchte Steen, etwas in dem Raum hinter dem Fenster zu erkennen. Er hatte den Eindruck, in gelbgefärbtes Wasser zu blicken. In einen Behälter, in dem nichts anderes als diese Flüssigkeit existierte und in dem kein Mensch hätte leben können … Er ertrug den Anblick nicht länger, sank nach unten und kniete sich auf das gesunde Bein, während er das lahme weit abspreizte. Dumpfer Schmerz zog durch seine lädierte Hüfte, und schweratmend suchte er nach einer Erklärung für das Phänomen, mit dem er gerade konfrontiert worden war. Als ihm auch bei angestrengtestem Überlegen nichts dazu einfiel, richtete er sich wieder auf und humpelte zu einem der anderen Fenster, hinter dessen Scheibe ebenfalls das Licht stockte, als wäre es schier geronnen. Steens Augen versagten erneut. Aber das Gefühl, unmittelbar davorzustehen, eine schauerliche Sensation aufzudecken, ließ ihn weiter ausharren und nach Wegen suchen, herauszufinden, was genau hinter diesen Mauern geschah. Er hätte nicht artikulieren können, was genau er erwartete. Viel-
leicht war es zu schrecklich, zu monströs, um es überhaupt in Gedanken zu fassen – auf jeden Fall konnte er sich der dunklen Faszination, die in ihm zu wuchern begonnen hatte, nicht mehr entziehen. Warum hatte der Menschenscheue, der hier hauste, einen Leichnam gestohlen? Was hatte er damit vor? Wollte er ihn etwa aufschneiden, um die Innenansichten der entseelten Hülle zu studieren? Auch davon hatte Steen gehört. In größeren Städten wurde es Universitäten ermöglicht, unter bestimmten Voraussetzungen Leichen zu erwerben, zum Beispiel wenn es sich dabei um überführte und hingerichtete Mörder handelte. Oder wenn die Verstorbenen keine Angehörigen besaßen und selbst zu wenig hinterließen, um für ein ordentliches Begräbnis aufzukommen. Immer wieder kam es auch vor, daß Gräber geplündert wurden, weil die Räuber hofften, sich in den Besitz von Schmuck bringen zu können, der den Toten mit in den Sarg gegeben worden war. Ringe, Ketten und dergleichen … Aber es hatte ausgesehen, als hätte der Unheimliche sich mit solchem nicht begnügt. Das, was er davongeschleppt hatte, mochte gut und gern ein menschlicher Körper gewesen sein. Der Tod … Der Tod hielt Steen seit langem in Atem. Bis zu dem Moment, da er die Klinke berührte, war ihm überhaupt nicht bewußt geworden, daß er sich der Haustür zugewandt hatte. Erschrocken hielt er inne, unfähig jedoch, die Hand zurückzuziehen. Sie schien buchstäblich am Messing des Griffes zu haften. Ein letztes Mal fragte sich Steen, ob er den Dämonen in sich weiter folgen oder nicht doch besser Reißaus nehmen sollte. Möglicherweise war dies seine allerletzte Chance, auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich war, daß die Tür unverschlossen war … Sie war offen. Und sie gab so leicht unter Steens Druck nach, daß er von der
wegspringenden Tür förmlich in den darunterliegenden Flur gesogen wurde! Von einer Dunkelheit in die andere! Aber die Nacht jenseits der Schwelle war anders, wirkte lebendiger als die Finsternis draußen. Endlich! schien sie zu wispern. Endlich hast du dich entschlossen … Steen rang nach Luft. Als er sich umblickte, war die Tür wieder zu, ohne daß er sich erinnerte, sie geschlossen zu haben. Steen balancierte auf dem gesunden Bein und stocherte mit der Krücke in der Dunkelheit, als müßte er sich eines Angreifers erwehren. Daß tatsächlich jemand ganz nah bei ihm in der Schwärze stand, bestätigte die vorwurfsvolle Stimme, die unvermittelt ertönte: »Du verfolgst mich seit dem Friedhof – warum? Was glaubst du gesehen zu haben? Wer bist du? Und wieso hast du keine Angst wie die anderen …?« »Die – anderen?« »Die das Haus nur von fern begaffen. Und die mir auch schon Scherereien genug eingebracht haben, weil sie mir ein paarmal die Obrigkeit auf den Hals hetzten! Aber gewagt, bei mir einzubrechen, das hat vor dir noch niemand …« Steen begriff, wovon der Mann im Dunkel sprach. »Wer – seid Ihr?« Ein zynisches Lachen schrillte in Steens Ohren. Als es abbrach, erkundigte sich der Unsichtbare: »Findest du diese Frage nicht überaus anmaßend, solange du mir nicht einmal –« »Ich heiße Steen. Raoul Steen. Ich bin Euch gefolgt, ja. Aber ich hätte auch die ›Obrigkeit‹, wie ihr es nennt, alarmieren können!« »So?« »Was habt Ihr auf dem Kirchhof getan?« fragte Steen, der sich in der Rolle des Anklägers zunehmend wohler fühlte als in der des An-
geklagten, gleichwohl sein Herz immer schneller galoppierte. »Ich gehe oft spazieren, wenn andere schlafen.« »Ihr wart nicht einfach spazieren. Ihr habt –« »Ja?« Steen witterte plötzlich die Gefahr, die ein falsches Wort zur Unzeit provozieren würde. »Was ist? Hat es dir plötzlich die Sprache verschlagen? Eben warst du noch erstaunlich tolldreist, und nun …?« Steen schluckte. Dann sagte er: »Ihr habt ein Grab geschändet – ich habe es gesehen!« »Gesehen? Das weiß ich besser. Du warst weit weg.« Als Steen den Sinn hinter den Worten begriff, wurde ihm schwindelig. Hieß das etwa, daß ihn sein Gegenüber von Anfang an bemerkt und seine Schandtat dennoch vollendet hatte …? Und dieser Mann nannte ihn tolldreist? Der Uhrmacher erzitterte. Im nächsten Augenblick flammte Licht auf. Ein Schwefelholz fauchte und waberte wenige Schritte von Steen entfernt im Dunkel, und als sein Schein sich beruhigt hatte, wurde die Gestalt sichtbar, die es entzündet hatte. Der Mann reichte Steen – der selbst nicht sonderlich groß war – nur bis zum Bauchnabel. Er trug nicht mehr Umhang und Kapuze wie draußen in der Nacht, sondern – als wollte er damit die drückende Schwüle verhöhnen – einen kostbaren, pelzbesetzten Brokatmantel und eine Mütze aus demselben samtenen Stoff, die gleichfalls mit Pelz umrandet war. Schwarzes Haar wölkte wie Drahtwolle unter der Mütze hervor. Das knochige Gesicht verbarg sich teilweise unter einem gepflegten Bart, der wie mit Silber durchwoben war. Ein Zwerg, dachte Steen beklommen und scheiterte bei dem Versuch, das Alter des Gnomen zu schätzen, der in diesem Moment sagte: »Ich rieche deine Angst. Sie ist berechtigt. Ich kann dich nicht wieder gehen lassen – es sei denn, wir würden uns einig werden …«
»Einig werden?« Steen wurde stocksteif. Er glaubte zu wissen, was der Zwerg von ihm erwartete: daß er ihm schwor, nichts von dem, was er beobachtet hatte, an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Aber wie konnte er glauben, der Uhrmacher würde sich auf solch ein Ansinnen einlassen? Steen überwand seine Starre und straffte sich, als könnte es schon genügen, gerade dazustehen, um dem Kleinwüchsigen klarzumachen, wie lächerlich seine Drohung war. Auf der anderen Seite … empfand Steen selbst sie keineswegs als so lächerlich. Zumal er in diesem Moment entdeckte, daß er sich geirrt hätte: Es gab kein Schwefelholz, von dem die Helligkeit ausging. Die linke Hand des Zwergs war es, die von einem Flammenkranz umgeben war. »Ich habe dieses Haus ausgewählt«, sagte sein Gegenüber, »um eine Saat zu legen, die meine spätere Herrschaft stützen wird.« Steen blinzelte. Herrschaft? In diesem Augenblick war er überzeugt, die einzige »normale« Erklärung, die es für das obskure Geschehen gab, in das er verstrickt worden war, gefunden zu haben: Er hatte einen Verrückten vor sich – einen völlig Übergeschnappten! Er faßte neuen Mut, machte sogar einen Schritt auf den fahlhäutigen Mann zu, obwohl dieser seine unterschwellige Bedrohlichkeit keineswegs verloren hatte. »Wovon redest du? Stimmt es nicht, was sich die Leute erzählen? Daß du ein Alchimist und Goldmacher bist, einer, der –« Der Zwerg sagte: »Ich braue Wertvolleres als Gold.« »Wertvolleres als Gold?« »Willst du es sehen?« Steen zögerte. Dann zeigte er auf die brennende Hand des Mannes. »Wie machst du das? Was für ein Gauklerkunststück ist das?« Der Zwerg lachte. Die Hand erlosch. Dafür züngelten Flammen aus seinem Mund, ohne daß sie den Bart versengten. Aus dem seltsamen Feuer dröhnte erneut die Frage: »Willst du es sehen?« »Nein!«
Steen spürte Kälte wie Eiswasser durch die reißenden Ströme seines Körpers rauschen. Er wollte sich abwenden und zur Tür fliehen, als auch sein Krückstock Feuer fing und er ihn in seiner Panik losließ. Als er zu Boden fiel, löste sich der Stock in weiße Asche auf. Aus Steens Kehle löste sich ein röchelnder Laut. »Beruhige dich«, sagte der Zwerg verblüffend sanft und doch eindringlich. Der fliegende Puls des Uhrmachers beruhigte sich übergangslos. Ein betäubendes Wohlgefühl stülpte sich über die aufkeimende Panik und Hysterie. Steen wußte nicht, wie ihm geschah. Erst recht nicht, als der jetzt von Kopf bis Fuß in Flammen stehende Mann sagte: »Solange du hier bist, brauchst du keine Krücke mehr. – Komm jetzt!« Für einen Moment hatte Steen noch das Gefühl, die Schwäche würde ihm das lahme Bein wegziehen und ihn zu Boden zerren. Dann merkte er, daß das Bein nicht länger lahm war. Daß es … Mund und Augen sprangen in qualvoller Gebärde auf. Er wollte etwas rufen, aber die Stimme versagte ihm, und die Tränen, die seine Augen füllten, raubten ihm die klare Sicht auf seine Umgebung. Er hörte, wie der Zwerg sich entfernte. Und dann setzten sich seine beiden gesunden Beine in Bewegung, ohne daß er selbst es ihnen befohlen hätte. Sie gehorchten einem anderen. Einem, der nicht verrückt, nicht wahnsinnig, sondern etwas viel Schlimmeres war. Warum fürchte ich mich dann nicht länger vor ihm? dachte Steen. Wo ist meine Angst geblieben? Er lauschte in sich, ohne in seinem Schritt innezuhalten. Gleichzeitig merkte er, wie sich zwischen seinen Beinen etwas regte. Sein Glied war so lange schlaff gewesen, daß er es ihm jetzt, da es hart und groß wurde, beinahe wie ein Fremdkörper vorkam. »Du wirst dich wieder daran gewöhnen«, hörte er die Stimme des
Vorauseilenden. »Falls wir uns einig werden.« Ein brennendes Gefühl züngelte über Steens Rückgrat. Im Laufen beugte er sich weit vor und riß den Kopf in den Nacken. Als er nach vorn blickte, sah er, daß er in dieser Haltung sogar kleiner war als der Zwerg. Er wollte sich wieder aufrichten, aber es ging nicht. »Es ist ungehörig«, sagte der Zwerg, »wenn der Diener auf seinen Herrn hinabblickt – siehst du das ein?« Steen war nicht in der Lage, die Wut, die irgendwo im Kern seiner Seele aufkam, nach außen dringen zu lassen. »Ja«, sagte sein Mund. Über eine Treppe folgte er dem Zwerg in das Kellergewölbe des Hauses, wo er sich den Rest der gewittrigen Nacht aufhielt. Als der Morgen graute, mußte er sich entscheiden. Tod oder Leben. Diener oder Opfer. Raoul Steen machte sich die Wahl nicht leicht. Er überlegte ernsthaft. Dennoch, am Ende kam der Kontrakt zustande. Und noch bevor die Sonne wie eine rote Münze über dem Horizont aufstieg, verließ Steen auf einer neuen Krücke, die wie die alte aussah, das Haus am Ende der Gasse – das Haus im Schatten der Zitadelle. Genauso, wie er sich in der Nacht dorthin begeben hatte, ein Bein lahm, das andere stark und gesund, hinkte er über das regennasse Pflaster durch die erwachende Stadt zurück zu seinem Haus. Äußerlich war er immer noch Raoul Steen, der Uhrmacher. Aber innerlich war er völlig verwandelt …
* Die Werkstatt blieb an diesem Tag geschlossen. Steen hatte auch nicht vor, sie in den kommenden Tagen zu öffnen. Als er heimkam, schob er einfach den Riegel vor, ohne sich die Mühe zu machen, ein paar erklärende Worte auf ein Schild zu kritzeln. Allzu viele Kun-
den würden sich ohnehin nicht zu ihm verirren. Sein erster Weg führte ihn in den muffigen feuchten Keller seines Hauses. Dort bewahrte er allerhand Gerümpel auf, das er ebensogut mit der Axt hätte kleinmachen und im Ofen verbrennen können, denn hier unten faulte es nur vor sich hin. In einer Ecke stand eine eisenbeschlagene Truhe, der sich Steen im Schein einer mitgebrachten Kerze näherte. Der Schlüssel, der in das rostige Schloß paßte, hing an einer Kette um seinen Hals. Der Zwerg, erinnerte sich der Uhrmacher, hatte ihn nach dem Sinn des Schlüssels befragt, und natürlich hatte er ihm die Wahrheit gesagt. Auch im nachhinein wunderte sich Steen nicht, wie leicht ihm dies gefallen war. Alles Schwere im Haus des Gnomen schien von einer Gegenkraft aufgehoben zu sein. Lächelnd schob Steen den Schlüssel ins Schloß. Die Verriegelung löste sich knarrend, und der Uhrmacher hob den Deckel der bis zum Rand mit Salz gefüllten Truhe. Eine Weile zögerte er, dann tauchte er mit beiden Händen in die körnige Schicht und tastete nach dem, was sich darunter befand. Das Salz überdeckte den lästigen Geruch. Vorsichtig legte Steen die Stelle frei, unter der er das Gesicht verborgen wußte. Es war längst nicht mehr schön, aber im Tode dennoch leichter zu ertragen als im Leben. »Marie«, flüsterte Steen, mit einem Krampf in der Kehle, der sich nur langsam löste. Und tränenerstickt fügte er hinzu: »Wir werden bald wieder tanzen, Marie. Er hat es mir versprochen. Er hat mir so viel versprochen …!«
* 363 Jahre später, im Dschungel Yucatáns Gegenwart
Der Indianer kauerte im Schatten eines Urwaldriesen, den Rücken gegen die narbige Rinde des Stammes gelehnt, das Gesicht in den eigenen narbenübersäten Händen vergraben, und nahm ein Bad in seinen widerstreitenden Gefühlen. Das Chaos tobte in ihm. Aber über all dem schwelenden Zorn, über aller Verzweiflung lag dumpfe Apathie, schwebte der Wunsch, sich nie mehr von dieser Stelle zu rühren, sich nie mehr zu erheben, und statt dessen hier sein Leben zu beschließen. Seine Umgebung füllte sich allmählich wieder mit Geräuschen; mit den Stimmen, den Schritten, dem Flügelschlag derer, die zuvor – als Zeugen des Aufeinanderpralls zweier furchtbarer Gegner – geflohen waren. Das Getier kehrte zurück. Bald würden Raubkatzen die Witterung des Mannes am Fuß der Ceiba aufnehmen – und sich auch nicht von dem gar absonderlichen Geruch verjagen lassen, den dieser Mensch ausströmte und der ihn von all denen unterschied, welchen sie vielleicht schon begegnet waren. Weil er kein Mensch war. Nicht mehr. Oder doch … wieder …? Hidden Moon lauschte in sich. Die Rippen, im kurzen, aber ungemein heftigen Kampf gegen Lilith gebrochen, schmerzten zwar noch, waren aber inzwischen wieder zusammengewachsen, und auch die oberflächlichen Wunden bluteten längst nicht mehr. Die Selbstheilungskräfte des Arapaho-Vampirs hatten dies bewirkt. Nein, um das Wohl des Körpers brauchte er sich nicht zu sorgen. Es war seine Psyche, die am abrupten Wechselbad der Gefühle zu zerbrechen drohte! Seit Hidden Moon Lilith Eden vor Monaten aus den Augen verloren hatte, war das mit ihm geschehen, was schon vor langer Zeit nicht nur mit ihm, sondern mit allen kelchgetauften Mitgliedern des
Arapaho-Stammes hätte geschehen sollen – wenn es nach dem Wunsch des Täufers gegangen wäre, der sie im Sommer 1688 heimgesucht hatte: Sie hatten sich den finsteren Kräften, den Mächten der Gewalt und des Bösen anschließen sollen! Doch im Zusammenspiel mit den Totemtieren der Arapaho, den Adlern, war es den indianischen Vampiren gelungen, ihre dunkle Seite auf die »Seelenvögel« des Stammes abzuwälzen! Die reinen Tierseelen hatten das Böse absorbiert, und jahrhundertelang hatte jeder unsterbliche Indianer die Beziehung zu seinen wechselnden Seelentieren gehegt und gepflegt – solange, bis eines Tages der Tod in Gestalt einer vernichtenden Seuche bei ihnen aufgetaucht war. Und Makootemane, ihrem Oberhaupt, war es nur um den Preis des eigenen Lebens schließlich gelungen, seine Sippe vor der vernichtenden Kraft dieser Seuche, die alle Vampire rund um den Erdball verfolgte, zu schützen. Hidden Moon war einer der wenigen Überlebenden aus jener Zeit, in der er auch Lilith Eden begegnet war und sich in sie verliebt hatte. Als sein Seelenvogel starb, hatte sie auf wundersame Weise dessen Rolle übernommen und das Böse in dem Arapaho absorbiert. Doch diese Rolle konnte sie nur erfüllen, wenn sie einander nahe waren. Und dieses Band der Nähe war vor Monaten brutal und nachhaltig zerschnitten worden. Lilith Eden war buchstäblich vom Erdboden verschluckt worden, hinter einem Tor verschwunden, das eine Dimension, die von den Menschen »Hölle« genannt wurde, vom Diesseits abschirmte.* Hidden Moon hatte keine Möglichkeit gehabt, Lilith dorthin zu folgen. Und dann war er diesem … Knaben begegnet, der von jenseits der Schwelle stammte, der das personifizierte Böse war, eine Inkarnation von Satan selbst … … und damit war auch Hidden Moons weitere Entwicklung festgelegt gewesen. *siehe Höllenzyklus VAMPIRA T16-25
Er hatte nichts, gar nichts dagegen tun können, daß die Saat des Bösen von Tag zu Tag, von Woche zu Woche ungehemmt in ihm gediehen und gewachsen war. Ganz das, was der Kelch einst aus ihm hatte formen wollen, war er geworden, und noch nie hatte er so sehr unter denen gewütet, deren Blut er zum Leben – zum Überleben – brauchte. Wenn er daran zurückdachte, wurde es für ihn noch notwendiger, sich nie mehr von diesem Boden zu erheben. Er hatte sich in einer Weise vergessen, die ihn im nachhinein nur noch mit Grauen erfüllte – wenngleich er tief in sich die neue böse Saat bereits wieder keimen fühlte. Sie war nicht verschwunden. Sie war nur reif, überreif gewesen und abgeerntet worden. Von Lilith, auf die jene finstere, dämonische Energie übergeflossen war, kaum daß sie sich nach all der Zeit wieder gegenübergestanden hatten! All das, was Hidden Moon in seinem momentanen Zustand an Lilith liebte und bewunderte, war von der aus ihm selbst hervorbrechenden Woge niedergeschmettert und fortgespült worden. Aber sie hat mich schon vorher nicht erkannt, dachte er. Sie wußte nicht mehr, wer ich bin – was wir gemeinsam erlebt haben und was uns einmal verbunden hat. Sie war zwar von »drüben« zurückgekehrt – aber nicht unversehrt. Zumindest ihre Erinnerung schien komplett hinter dem Tor zur Hölle zurückgeblieben zu sein. Hidden Moon erzitterte. Er konnte sich nur dunkel daran erinnern, wie er in diesen Urwald katapultiert worden war. Von dem Knaben, der keiner war. Das Böse, das sich nicht in die Karten schauen ließ … Irgendwo ganz nah wurde ein kleineres Tier von einem größeren geschlagen. Der Schwache unterlag dem Starken. Das Gebrüll, mit dem das Gesetz des Dschungels sein Recht einforderte, drang unter die Schale, die Hidden Moon um sich herum errichtet hatte. Der Tod selbst eines Tieres berührte ihn doch noch.
Nein, dachte er voller Grausen, ich bin noch nicht bereit zum Sterben …! Er hob den Kopf. In der Düsternis des umgebenden Gestrüpps und des Blätterdaches, das sich über ihm spannte, konnte überall ein hungriges Maul lauern. Und sie. Sie, die er erneut verloren hatte. Und die selbst verloren war, denn sie hatte gewiß noch nicht begriffen, daß all dies nach dem Willen eines Knaben geschah, der uralt und schon zahllose Male geboren worden war. Der das Urböse symbolisierte, vielleicht sogar war! Hidden Moon zweifelte keine Sekunde, daß Gabriel die einstigen Liebenden in exakt dem Moment wieder zusammengeführt hatte, der ihm in den Plan paßte. Mochte sich Lilith nach dem, was auf sie abgeladen worden war, noch nie freier und unabhängiger gefühlt haben, so war sie doch auf dem besten Weg, ihm zu verfallen … Der Arapaho atmete schneller. Der Dämmerschein hier im Unterholz des Dschungels ähnelte einem greifbaren, mit einer unglaublichen Bandbreite von Gerüchen behafteten Gewebe, das ganz allmählich seine letzten Farben einbüßte. Die Nacht brach herein, und mit ihr unbekannte Gefahren. Hidden Moon erhob sich zeitlupenhaft vom Boden. Er fühlte sich mehr denn je wie ein unerwünschter Fremdkörper. Niemand hatte ihn gefragt, ob er hierher kommen wollte. Er hatte die Last, die sich auf seiner Seele angesammelt hatte, in einem einzigen Moment unkontrollierbarer Befreiung auf Lilith abgewälzt! Wie lange würde sie brauchen, um diese »Überdosis« Böses zu verarbeiten und ihrerseits wieder loszuwerden? Würde sie sich überhaupt je wieder davon lossagen können? Solche und andere unheilschwangere Gedanken beschäftigten den Arapaho-Vampir, als er sich schließlich in Bewegung setzte. Obwohl
Lilith mehrere Stunden Vorsprung hatte, war er zuversichtlich, ihre Fährte und endlich auch sie selbst zu finden. Problematisch würde es erst werden, wenn er ihr erneut gegenüberstand. Dann nämlich würde sich zeigen, ob er imstande war, nicht nur verlorene Erinnerungen, sondern auch Gefühle in ihr neu zu entfachen. Wenn dies nicht gelang, würde einer von ihnen auf der Strecke bleiben. Hidden Moon hatte eine starke Vorahnung, daß er das sein würde. Aber nicht einmal das konnte ihn aufhalten …
* Zur gleichen Zeit haderte Lilith nicht annähernd so stark mit ihrem Schicksal wie Hidden Moon. Sie akzeptierte das, was über sie gekommen war, ohne Wenn und Aber. Dieser neue »Anzug« saß aus ihrer Warte so paßgenau, als wäre es ein zweiter, nur unsichtbarer Symbiont, der sich nicht nur damit begnügte, ihren Körper von außen zu umschmiegen wie das Mimikrykleid, sondern der sie innerlich in Schutz nahm vor allem, was sie hätte verletzen können. Daraus resultierte Härte und Kompromißlosigkeit, vor allem gegen sich selbst. Sie hatte gelesen, wer sie war – wirklich war. Die CHRONIK, die mit der Hermetischen Stadt Mayab untergegangen war, hatte ihr zwar nicht ihr Gedächtnis und ihre frühere Persönlichkeit zurückgegeben, dafür aber ihre Identität. Das Wissen um ihre wahre Herkunft und die Bestimmung, die sie einmal gehabt hatte, genügte ihr. Sein wollte sie diese Frau, die nichts als Wachs in den Händen einer höheren Macht gewesen war, nicht mehr. Nie mehr. Sie war sich noch uneins, was genau sie tun wollte – und wo beginnen. Aber mit jedem Schritt, den sie sich von dem Ort entfernte,
an dem Landru vor Jahrhunderten seine unerlaubten Kelchtaufen durchgeführt hatte, wurde sie sich ihrer Sache sicherer …
* Wenig später, nicht weit entfernt Nagendes Hungergefühl war Yag vertraut, seit er denken konnte, aber meistens gelang es ihm, es zu ignorieren. Nicht umsonst war Yag ein stolzer Krieger der Enu, die am Großen Fluß lebten und sich von dem ernährten, was der Wald ihnen schenkte. Der endlose Wald. Yag spuckte aus. Ihre Vorfahren hatten noch geglaubt, daß der Wald die ganze Welt umfaßte. Inzwischen wußten sie es besser. Glücklicher hatte sie dieses Wissen aber nicht gemacht. Vom Kauen der Andras-Wurzel, die den Hunger zu unterdrücken half, war Yags Speichel rot gefärbt und dickflüssig. Er blieb an einem Farnhalm hängen und rann zäh zu Boden. Nachdenklich ließ Yag den Blick zu dem Köder schweifen, der im Abendschatten auf der kleinen Lichtung angepflockt stand: ein zäher alter Ziegenbock, dessen nervöses Gemecker weit im Umkreis zu hören sein mußte. Die Enu züchteten Ziegen, seit Vater Enrico vor vielen Monden ein trächtiges Muttertier mitgebracht hatte. Dessen Wurf hatte den Grundstock für eine Herde gelegt, die es inzwischen auf eine erkleckliche Zahl gebracht hatte. Aber kein Enu hätte sich damit zufrieden gegeben, immer nur Ziegenfleisch zu essen oder Milch zu trinken. Sie waren Jäger aus Tradition, und so manche Trophäe zierte Yags Hütte. Sie hatten ihm Ansehen innerhalb des Stammes gebracht. Und nun war er auf eine ganz besondere Trophäe aus, denn er hatte sich in den Kopf gesetzt, Nada, die Tochter des Häuptlings, zur Frau zu nehmen.
Daß Nada ihn auch wollte, bezweifelte Yag nicht. Immerhin hatte sie sich schon einmal bei Bad im Fluß seinen harten Pfahl von hinten zwischen die Schenkel geklemmt und solange heftig hin und her bewegt, bis sein Samen von der Strömung fortgetragen worden war. In ihren Schoß hatte sie ihn noch nicht eingelassen. Das würde sie erst, wenn Yag auch ihren Vater überzeugt hatte, daß er es wert war, sich zu dessen einziger Tochter zu legen … Ein Geräusch ließ Yag in seinen Gedanken innehalten. Im nahen Unterholz brachen Zweige. Ein vergleichsweise schwerer Körper schob sich durch niedrig wachsendes Buschwerk. Der Enu umklammerte den Schaft seines Speeres fester. Unter der olivfarbenen Haut traten die Knöchel fast weiß hervor. Auch der Ziegenbock schien zu spüren, daß etwas auf ihn zukam. Er riß und zerrte noch unruhiger an dem Seil, mit dem er festgebunden war, stellte die Hinterbeine hoch und keilte in die Luft wie gegen einen unsichtbaren Angreifer aus. Yag hoffte, daß der Wind nicht überraschend drehte, sonst würde er selbst in die Witterung der großen Katze geraten, die sich von Westen her näherte. Bislang waren die Geister der Lüfte ihm wohlgesonnen … Über Yags Züge huschte ein Grinsen. Vater Enrico hatte ihnen verboten, Geister ins alltägliche Leben einzubeziehen. Er nannte das Aberglaube. Er war gut zu den Enu und machte keinen Unterschied zwischen alt und jung, krank oder gesund, Mann oder Frau, deshalb stritt auch niemand ernsthaft mit ihm. Selbst der Häuptling ließ den »Mann der Ziegen«, wie sein Stammesname lautete, gewähren. Der eine Gott, den er mitgebracht hatte, war nicht schlechter als die vielen Götter, denen die Enu seit Urzeiten huldigten … Yag merkte, wie seine Gedanken erneut abzuschweifen drohten, und zügelte sie. Wenig später brach der Jaguar mit einem gewaltigen Satz in die
Lichtung ein. Einen Moment stand der Ziegenbock wie erstarrt – dann verfiel er in ein verzweifelt schrilles Geschrei, mit dem er den Jagdinstinkt des Raubtiers aber nur noch mehr anstachelte. Der Jaguar fackelte nicht lange, obwohl er dem Bild des angepflockten Köders zunächst mit erkennbarem Mißtrauen begegnet war. Die Gier erwies sich als stärker. Yag wartete, bis die Schreie des Ziegenbocks unter den Prankenschlägen und Bissen der geschmeidigen Großkatze verstummten. Dann erhob er sich in deren Rücken soweit, daß er mit dem Speer ausreichend ausholen konnte … … und schleuderte die Waffe gegen den König des Waldes! Yag wußte, daß er nur einen Wurf hatte. Normalerweise gingen die Enu in Gruppen zur Jagd, noch dazu wenn das zu erlegende Wild so gefährlich wie ein ausgewachsener Jaguar war. Aber Yag wollte keine x-beliebige Trophäe, und er wollte sie allein gewinnen, um Nadas Vater zu imponieren – und letztlich auch Nada selbst. Der ganze Stamm sollte sagen: Yag ist ein großer Krieger! Er hat es verdient, die Häuptlingstochter zur Frau zu bekommen und mit ihr viele starke Krieger zu zeugen …! Daran dachte Yag während des Flugs seines Speers. Und während er es dachte, wurde ihm klar, daß ein guter Krieger in einem solchen Moment gar nichts dachte – ein guter Krieger war der Speer! Dann zerschnitt auch schon wütendes Knurren die Luft – kein Todesröcheln. Die lange Speerklinge hatte den vom Köder abgelenkten Jaguar nur in den Hinterlauf getroffen, und das nicht einmal tief. Schon mit dem ersten reflexartigen Aufbäumen schüttelte er die Waffe ab, drehte sich ein paarmal scharf fauchend im Kreis und kam schließlich mit dem Gesicht in Yags Richtung zum Stehen. Die Augen des Jaguars schienen den Enu-Krieger bereits verschlungen zu haben. Yags Oberkörper zitterte. Schweiß perlte auf
Stirn und Oberlippe. Er hatte das Gefühl, unter dem starren Blick seines Todfeindes zu schrumpfen. Doch übergangslos schwand die Angst und machte einer unnatürlichen Ruhe Platz. Yag wußte selbst nicht, wie ihm geschah. Plötzlich hielt er sein Jagdmesser in der Hand. Im selben Moment schnellte der Jaguar aus dem Stand heraus auf ihn zu, ohne daß ihn die erlittene Verletzung spürbar behinderte. Der vierbeinige Jäger schien aus purem Muskelfleisch und Sehnen zu bestehen. Und aus einem fürchterlichen Gebiß, dessen Kiefer im Sprung weit auseinanderklafften. Yag entwickelte eine Kaltblütigkeit, die ihn selbst verblüffte, und ein Geschick, das ihm nicht nur das Leben, sondern auch die ersehnte Trophäe rettete. Ob Erfahrung oder Zufall letztlich ausschlaggebend waren, hätte er später selbst nicht zu sagen gewußt. Jedenfalls wich er im genau richtigen Moment einen Schritt zur Seite, ließ die Faust, die das Messer hielt, aber quasi »stehen« und sah regelrecht zu, wie die Klinge erst unterhalb der Kehle in den Unterleib der Raubkatze eindrang und ihn dann über die gesamte Länge aufschlitzte. Das Gebrüll des Jaguars ließ das Blätterdach des Dschungels erbeben. Gedärm und sonstige Innereien platzten förmlich aus ihm heraus … und dann lag er zuckend neben Yag am Boden, der sein nun naßglänzendes Messer immer noch in der Faust umklammert hielt und nicht fassen konnte, was ihm gelungen war. Kurz darauf war der vierbeinige König der Wildnis tot. Yag kniete neben ihm und dankte den Göttern, die ihm Beistand geleistet hatten. Ja, auch deinem Gott, Vater Enrico, auch ihm … Der Einbruch der Nacht störte ihn nicht. Yag ließ sich viel Zeit, um seine Trophäe von dem imposanten Körper zu schälen. Er machte ein regelrechtes Ritual daraus, entfachte ein Feuer, um das Nachtgetier fernzuhalten, das vom Aasgeruch angelockt wurde, und been-
dete sein Werk erst im Morgengrauen. Zwischendurch verzehrte er Herz und Leber seiner Beute – beides roh. Es zu braten kam ihm nicht in den Sinn, und wenn doch, wäre es ihm wie ein Frevel erschienen. Als er das wundervolle Fell schließlich zum grauen Himmel emporhob, fühlte er noch keinerlei Müdigkeit in sich. Im Gegenteil, er war hellwach und in einer Hochstimmung wie kaum jemals zuvor!
* Mit den ersten Sonnenstrahlen kehrte Yag zum Flußlauf zurück, an dem sein Dorf lag. Schon von weitem sah er das einzige Haus aus Stein, das auf Vater Enricos Betreiben hin auf einer kleinen Anhöhe errichtet worden war. Auf dem dazugehörigen Turm war eine bronzene Glocke befestigt, die der Missionar jeden Morgen und jeden Abend zur selben Stunde läuten ließ. Yag wunderte sich, daß er sie überhört hatte. Normalerweise hätte sie ihn um diese Zeit schon von weitem begrüßen müssen. Aber der leisen Sorge, die sich in seine Gedanken mischte, gelang es nicht, das Hochgefühl zu ersticken, das sich seiner bemächtigt hatte. Noch nicht. Aber dann machte er auf dem Pfad, den er mit seiner geschulterten Trophäe daherkam, einen grausigen Fund. »Xao? – Xao …?« Das Fell, an dem noch der Kopf des Jaguars baumelte, glitt von seinen Schultern und fiel achtlos in den Staub. Yag hatte keinen Gedanken mehr dafür übrig, daß es so nah vor dem Ziel, so kurz bevor er es dem Häuptling zu Füßen legen konnte, noch schmutzig wurde. Mit ein paar hastigen Schritten überwand er die Distanz zu seinem gleichaltrigen Freund, den er erkannte, obwohl dieser mit Bauch und Gesicht auf dem Boden lag. Xaos Anblick zerstörte schon von weitem jede Hoffnung, es könn-
te noch Leben in ihm sein. Sein Rücken war eine einzige Landschaft aus zerklüftetem Fleisch. Ein Schwarm häßlich schillernder Fliegen löste sich summend davon, als Yag niederkniete und den Toten sanft – sanfter, als es dessen Zustand eigentlich erforderte – wendete. Auch die Brust des Jugendfreundes war von schrecklichen Klauen zerfetzt, und in seinem Gesicht unterstrich ein Käfer, der gerade aus den blutverkrusteten, halboffen stehenden Lippen krabbelte, den Ausdruck ungläubigen Entsetzens, der sich schier unauslöschlich hineingeprägt hatte … »Xao …« Tränenerstickt hob Yag den Kopf und blickte zurück zu seiner Trophäe. »Einer deiner Vettern war hier …«, flüsterte er, kaum verständlich, »… und hat dich gerächt.« Dann schüttelte er den Kopf, weil ihm dämmerte, daß sein vermeintliches Jagdglück vielleicht nichts anderes als ein zynischer Schachzug der Waldgötter gewesen war, damit ihn der Verlust des Freundes nur um so härter treffen würde. Hatte er sich die Götter zum Feind gemacht? Wodurch? Durch sein zauderndes Zugeständnis etwa, auch Vater Enricos Gott einen Platz in seinem Denken einzuräumen …? Die verrücktesten Einfälle geisterten durch Yags Hirn. Schließlich richtete er sich wieder auf und hob statt dem mitgebrachten Brautvatergeschenk die Überreste seines toten Freundes auf die Arme. Wie leicht er war! Yag versuchte, nicht an das viele Blut zu denken, das im Boden versickert war – und mit ihm Xaos Leben. Mit wackligen Schritten trug er den verstümmelten Leichnam bis zum Ende des Pfades, wo die ersten Hütten des Dorfes standen und wo auch das leise Gurgeln des Flusses zu hören war. Dort glitt Xaos Körper aus Yags kraftlos werdenden Armen und schlug hart zu Boden, während Yag selbst mit irrem Blick über die
anderen Leichen, die zwischen den Hütten lagen, hinwegstieg und wie von einem Magneten angezogen auf die Hütte des Häuptlings zuwankte – die Hütte, in der auch Nada lebte. Gelebt hatte. Um Yag drehte sich alles. Sein Blut rauschte wie ein Sturm in den Ohren. Überall sah er vertraute, zu Grimassen erstarrte Gesichter, die ihm Herz und Verstand eng und enger schnürten. Vor dem Eingang zur Häuptlingshütte stieß er schließlich auf Vater Enrico, der nicht lag, sondern dahockte, den Rücken gegen einen Pfosten gelehnt, aber ebenfalls tot war. Er sah aus, als hätte er versucht, jemandem den Eintritt in die Hütte zu verwehren. Benommen und kaum noch einer klaren Überlegung fähig, fragte sich Yag, wie viele Jaguare den Stamm überrascht haben mußten, damit ihnen ein solches Massaker gelingen konnte. Nirgends lag eine einzige tote Raubkatze. Yag taumelte an dem toten Missionar vorbei ins Innere der Unterkunft. Den Häuptling sah er nicht – vielleicht war er rechtzeitig geflohen oder an einer anderen Stelle des Dorfes gestorben –, aber Nada war da. Sie war in die Feuerstelle in der Mitte der Hütte gestürzt und hatte die Glut darin mit ihrem Leib erstickt. Ihre Kehle war zerfetzt, das Gesicht auf den Rücken gedreht, und ihre Augen waren zu keinem Erkennen mehr fähig, als Yag sich ihnen näherte. Auch Nada war tot. Alle waren tot … Er wollte gerade neben ihr zusammenbrechen, als er Geräusche hörte. Draußen vor der Hütte. Waren die Bestien noch da? Hatten sie gewittert, daß neue Nahrung eingetroffen war …? Yag spürte keinerlei Angst. Sie war mit Nada, mit Xao, mit allen anderen Mitgliedern des Stammes gestorben! Er drehte sich um und trat aus dem Halbdunkel der Hütte ins Sonnenlicht zurück.
Neben Vater Enrico erhob sich eine Frauengestalt, als hätte sie den Missionar vor Yags Auftauchen gerade auf einen vielleicht doch noch vorhandenen Lebensfunken hin untersucht. Sie sprach Yag in der Ursprache der Enu an, aber das wurde ihm kaum bewußt: »Hast du gesehen, wer das getan hat?« Schweigend starrte er sie an. Er bezweifelte, daß sie war, was sie schien. Er bezweifelte, daß irgend etwas von dem, was seine Augen ihm zeigten, noch die Wirklichkeit wiedergab. Und diese Frau … war zu schön, zu zerbrechlich und stand zu unbeteiligt inmitten all der Greuel, als daß sein Verstand sie hätte akzeptieren können. »Rede!« Verblüfft spürte Yag den unwiderstehlichen Wunsch, sie nicht länger auf seine Antwort warten zu lassen. »Nein. Ich kam auch gerade erst zurück.« »Zurück?« »Von der Jagd.« Sie schien zu verstehen. Einen Moment schwieg sie, dann legte sie den Kopf ein wenig schief und fragte: »Riechst du das auch?« Er wußte nicht, wovon sie sprach. »Den Gestank!« erklärte sie. »Der Toten?« fragte er. Sie verneinte. »Es ist etwas anderes … Schärferes … Ich bin ihm schon hierher gefolgt. Er erinnert mich an …« Sie verstummte. Dann kam sie auf Yag zu. Sie war etwas größer als er. Schwarzes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und ausgeprägten Lippen. Die Augen schimmerten grün. Sie sahen aus wie Perlen, die unter einer dünnen Schicht Wasser hervorschimmerten. Der Ausdruck darin ließ Yag schaudern. Er wollte zurückweichen, aber der grüne, saugende Blick hielt ihn fest. »Du bist der einzige Überlebende«, sagte sie mit rauchiger Stim-
me. »Und vor mir liegt noch ein weiter Weg. Es wäre unklug, eine Stärkung auszuschlagen.« Yag hatte nicht das Gefühl, daß sie wirklich mit ihm redete. Es erinnerte an ein Selbstgespräch, und er begriff auch nicht, worauf sie hinauswollte – wie sie überhaupt an Essen denken konnte angesichts all des Elends … Noch näher trat sie. Yag spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. »Wie heißt du?« »Yag.« »Ich heiße Lilith.« Yag spürte ähnliche Bestürzung wie bei Xaos oder Nadas Anblick, als die fremde Frau in der sonderbaren Kleidung mit der Hand in sein krauses Haar griff und seinen Kopf in den Nacken bog. Er unternahm nichts dagegen. Er konnte es nicht. Sein Hals straffte sich. Die Muskulatur trat hervor – aber die Muskulatur interessierte die Frau nicht. Yag stöhnte, als sie ihn küßte. Und noch einmal, als er begriff, daß es viel mehr war als ein Kuß. Sie ließ nicht zu, daß er schrie. Sie ließ nicht zu, daß er sich von ihr verabschiedete, bevor sie mit ihm fertig war. Erst als sie gesättigt wirkte, durfte er die Augen schließen. Und Nada folgen …
* Lilith ließ den Indio nach dem Bluttrunk fallen, als wäre er ein geleertes Gefäß. Sie schenkte ihm keinen Blick mehr, drehte sich aber noch einmal langsam um die eigene Achse, als wollte sie sich überzeugen, daß sich sonst nichts mehr rührte im Dorf. Tatsächlich fand sie nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregt hätte, außer … diesem Gestank! Er hatte sie im Fledermausflug erreicht und veranlaßt, zu Boden
zu gehen und in ihre wahre Gestalt zurückzutransformieren. Sie wußte, daß es absurd war, aber der penetrante Geruch erinnerte sie an den Jüngling, der ihr in der untergehenden Hermetischen Stadt erschienen war und sich ihr als »Retter in höchster Not« angepriesen hatte! Jener Knabe hatte ihr ein Entkommen aus Mayab versprochen, falls … ja, falls Lilith einwilligte, ihm als Gegenleistung irgendwann in naher oder ferner Zukunft auf sein Verlangen hin ebenfalls eine Gefälligkeit zu erweisen …* Dem Tode nahe, hatte sich Lilith auf diesen abstrusen Pakt eingelassen, und das, obwohl sie nicht einmal eine leise Andeutung erhalten hatte, woraus die sogenannte »Gefälligkeit« denn bestehen würde. Wie auch immer: Der seltsame Knabe hatte Wort gehalten. Lilith hatte das Verlöschen des Weltenpfeilers überlebt und machte sich bezüglich des Schicksals der Bewohner Mayabs im nachhinein keine Gedanken mehr. Nicht mehr, seit sie dem anderen Fremden begegnet war, diesem Indianer, der so getan hatte, als würde er sie kennen und aus dem eine Art dunkler Blitz in sie eingefahren war. Lilith hatte ihm mindestens ebenso mißtraut wie dem Knaben vorher, und er hatte auch eine ähnliche Ausstrahlung besessen – bevor der Blitz aus ihm entwichen war … Danach nicht mehr. Danach hatte sie sich auch auf keine Diskussion mehr mit ihm eingelassen, sondern nur noch gespürt, daß ein ganz neuer Abschnitt in ihrem Leben begonnen hatte und sie sich nicht mehr als Werkzeug benutzen lassen wollte. Von niemandem. Sie hatte das Potential in sich entdeckt, selbst über andere zu gebieten. Und es hatte ihr gefallen. Es würde ihr noch besser gefallen, wenn sie endlich wieder die Zivilisation erreicht hatte. Primitive Zustände, wie sie hier im Urwald herrschten, sagten ihr *siehe VAMPIRA T36: »Der Pakt«
auf Dauer nicht zu. Sie wußte, wie es in den Zentren der menschlichen Kultur aussah. Und dorthin wollte sie wieder zurück. Dorthin, von wo sie gekommen war, bevor Landru sie zu betrügen versuchte … Landru. Den Betrüger als Feind zu betrachten, nach allem, was er ihr angetan hatte, wäre ein leichtes gewesen. Die größere Herausforderung sah Lilith allerdings darin, ihn als möglichen – – – Ihr Gedankenflug stockte. Sie glaubte plötzlich zu spüren, aus welcher Richtung der Gestank kam. Seine Quelle schien nicht weit von hier zu liegen. Nicht weit von dem Dorf am Fluß, in dem der Tod so reiche Ernte gehalten hatte … Lilith verzichtete auf ihre geflügelte zweite Natur. Zu Fuß setzte sie sich in Bewegung. Das Schlachtfeld blieb hinter ihr zurück. Zeig dich! dachte sie. Wenn du es wirklich bist, der diesen Gestank verbreitet, zeig dich! Laß uns hier und jetzt klären, was du von mir willst und erwartest! Sie war jetzt überzeugt, ihn wiederzutreffen, den seltsam erwachsen wirkenden Knaben. Um so verblüffter war sie, als sie die Wahrheit erkannte. Verblüfft und zunächst überaus – ratlos … Der Baum, aus dem der Gestank strömte, schien älter zu sein als alle anderen in seiner Umgebung, die er auch um Längen überragte. Lilith erinnerte sich, daß er ihr schon aufgefallen war, als sie auf das Dorf zusteuerte – aber dann hatten die Unmengen vergossenen Blutes sie abgelenkt. Zu Füßen des Urwaldriesen gähnte in seinem mächtigen Stamm eine Öffnung, die den Eindruck erweckte, als hätte sie einen natürlichen Ursprung. Als hätte sich der Stamm irgendwann an dieser Stelle aufgespalten und eine Höhlung geformt, die im Laufe der Zeit immer größer geworden war. Lilith hätte keine Mühe gehabt, aufrecht gehend hineinzutreten.
Aber sie zögerte. Nicht, weil das Dunkel sie schreckte – und nicht einmal, weil das Dunkel ihren Augen trotzte. Augen, die sonst imstande waren, in stockfinsterer Nacht wie an einem verhangenen Tag zu sehen und jedes Quentchen Restlicht zu verwerten … Nein, sie zögerte, weil sie plötzlich doch wieder zweifelte, ihn hier zu treffen. Ihr Retter in einer Baumhöhle? Der Gedanke erschien ihr allzu abwegig. Aber letztlich hielt er sie nicht auf. Auch deshalb nicht, weil sie sich keineswegs mehr schwach und ausgeliefert fühlte wie noch in Mayab. Das Blut des Indios hatte ihr wohlgetan. Sie sehnte eine Konfrontation – mit wem auch immer – förmlich herbei. Und so betrat sie den Baum. Und fand, was der Knabe hier hinterlassen hatte, noch verpestet von seinem Gestank des Bösen. DU hast das Dorf also ausgelöscht …, dachte Lilith, während langsam in ihren Verstand sickerte, was ihre Augen im Innern der Höhle fanden. Die undurchdringliche Dunkelheit war nur ein Vorhang gewesen. Im Baum vermochte Lilith gewohnt mühelos jedes Detail zu erkennen. DU warst es – kein Jaguar … Warum bin ich nicht eher darauf gekommen …? Vor ihr, zusammengekauert wie ein Embryo, lag, nein, hing Nona. Nona! Landrus Gefährtin und Komplizin!
* Sie hatte mitgeholfen bei dem Betrug, der Farce, mit der Lilith glauben gemacht werden sollte, die Mutter vampirischer Tyrannen zu sein! Nicht, daß der Gedanke in ihrem jetzigen Zustand sie wirklich gequält hätte, aber sie war sich unsicher, was außer dem Wunsch nach Rache der Anblick der hilflos vor ihr schwebenden Werwölfin noch
in ihr weckte. Hilflos wirkte sie tatsächlich. Ausgeliefert. Magische Kräfte hatten den nackten Körper aus Fleisch und Blut mit der Baumsubstanz vermählt! Was wie Fäden aussah, an denen Nona aufgehängt war, erwies sich bei näherem Hinsehen als Pflanzenfasern, die in die Haut der Werwölfin mündeten und sich vielleicht um deren Knochen gewickelt hatten, um genügenden Halt zu finden. Erkennbar war dies nicht. Nona blutete nicht einmal. Sie präsentierte sich in der verletzlichen Embryohaltung, als würde sie tief und fest schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und die Pupillen darunter schienen sich flimmernd zu bewegen. Sie träumt, dachte Lilith einigermaßen fassungslos. Sie hängt da und … träumt! Sie widerstand der Versuchung, hinzugehen und Nona kurzerhand zu töten. Ihr Hiersein mußte einen Sinn haben! Ob das Massaker, das sie im Dorf angerichtet hatte, auch einen hatte, darauf wollte sich Lilith nicht festlegen. Aber dieser Gestank, diese Spur, die sie hierher gelockt hatte … Sie entschied, es zu wagen. So schnell, als hätte sie die Befürchtung, vielleicht doch davor zurückzuschrecken, wenn sie zu lange zögerte, trat sie ganz auf Nona zu, wechselte in die Metamorphose, die ihre Hände zu Klauen und ihr Gebiß zu einer furchtbaren Waffe formte … … und zerfetzte kurzerhand die Fäden, die ihre Feindin hielten. Der bittere Seufzer, der daraufhin durch die Höhlung des Baumes wehte, konnte ebensogut von Nona, wie auch von dem Urwaldriesen stammen. Mit einem dumpfen Geräusch stürzte die Werwölfin zu Boden. Und erwachte aus einem Traum, der Lohn und nicht etwa Strafe war …
* »Lilith Eden …« »Wen hast du erwartet?« Nona konnte nicht verbergen, wieviel Kopfzerbrechen ihr Liliths Frage bereitete. »Deinen Stecher?« für die Halbvampirin höhnisch fort. »Rede nicht so von ihm!« Nonas Augen sprühten Funken. Doch das Gewitter darin zog rasch ab. Mit Abscheu betrachtete Nona die Reste der Fäden, die aus ihrem Körper ragten und sich wie Würmer wanden. Anfangs troff noch ein dunkler Saft aus den zerrissenen Enden, der jedoch bald versiegte. »Hat er dir das angetan?« fragte Lilith. Es fiel Nona schwer, den Blick von den Strängen zu lösen, die vor ihren Augen abstarben, zu rußigem Staub zerfielen und sich einfach abschütteln ließen. »Er?« »Das Wesen, das als Jüngling auftritt, ohne einer zu sein.« »Du meinst Gabriel. Bist du ihm begegnet?« »Sonst wäre ich nicht hier.« Lilith lächelte bitter. »Ihr hättet mich in Mayab krepieren lassen – du und Landru!« Nona kniff die Lippen zusammen. »Du – wirkst verändert. Du hättest mich töten können. Warum hast du es nicht getan?« »Das werde ich noch. Ich bin nicht in Eile.« Lilith drehte sich um und durchschritt den Vorhang aus Finsternis, durch den sie den Baum betreten hatte. Das Sonnenlicht ließ sie kaum merklich zusammenzucken. Als sie hinter sich blickte, sah sie, wie auch Nona aus der magischen Schwärze trat. Sie setzten sich beide auf einen von einem Sturm entwurzelten, kleineren Baumstamm, und Nona fragte, die Augen mit der Hand
gegen die grelle Helligkeit beschattet: »Du erwartest eine Erklärung? Für Mayab?« Lilith schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht für Mayab. Es wäre doch nur eine weitere Lüge …« Nona legte den Kopf schief. »Du hast dich wirklich sehr verändert. Aber ich wage nicht zu glauben, daß es stimmt, was Gabriel mir sagte.« »Was hat er gesagt?« »Daß du, wenn du mich aufweckst, die … Seiten gewechselt hättest.« »Er wußte, daß ich dich wecke?« »Er weiß alles.« »Niemand weiß alles.« »Gabriel schon.« »Ich dachte, du schwärmst nur für Landru …« »Ich schwärme nicht für dieses Wesen. Aber ich weiß jetzt mehr von ihm, und dieses Wissen, diese wiedergefundene Erinnerung bestätigt seine Schläue – und seine Möglichkeiten.« »Wiedergefundene Erinnerung?« Nona nickte bedächtig. »Ich bin Gabriel vor langer Zeit schon einmal begegnet. Vor mehr als dreihundert Jahren. Damals trug er einen anderen Namen – und er besaß einen anderen Körper. Ich habe ihn dennoch wiedererkannt.« »Ein Allwissender und eine Gedächtniskünstlerin …«, raunte Lilith verächtlich. »Spotte nur. Aber er hat mir eine Erinnerung wiedergegeben, während ich hier in dem Baum auf dich wartete. Sie umfaßt einen Monat in meinem Leben, der mir immer fehlte. Trotzdem hätte ich nicht im Traum daran gedacht, daß es an ihm liegen könnte.« »Du klingst wie jemand, der den Verstand verloren hat.« Nona zuckte die Achseln, um zu demonstrieren, wie wenig sie der Eindruck scherte, den sie vermittelte. »Hör zu und urteile danach«,
sagte sie. »Zuhören – wobei?« »Ich werde dir erzählen, was mir träumte.« Lilith zögerte, machte dann aber eine einwilligende Geste. »Dir ist nicht zu helfen. Du glaubst, wir stünden auf derselben Seite – du glaubst es, weil er es dir gesagt hat … Nein, dir ist wirklich nicht zu helfen.« »Vielleicht. Aber hör mir zu.« »Ist es eine lange Geschichte?« »Sagtest du nicht, du seist nicht in Eile?« »Das bezog sich auf das Töten meiner Feindin.« Nona runzelte kurz die Stirn. Offenbar kamen ihr nun doch Zweifel an Liliths Veränderung. Bevor sie sich aber in ihr festsetzen konnten, begann sie, ihren Traum zu schildern. Den Traum, den sie für bare Münze nahm. Kleine Närrin, dachte Lilith. Aber sie hörte zu. Sie hörte sich die Geschichte von Anfang bis zum Ende an, ohne Nona ein einziges Mal zu unterbrechen …
* Vergangenheit, 1635 Erinnerungen einer Wolfsfrau Einer der letzten September-Tage. Der Abend ist mild, als wir das Lager bei einer verfallenen Ruine zwischen Ruscino und Perpignan aufschlagen. Meine Geburtsstadt liegt nur noch einen Katzensprung entfernt. »Du willst wirklich noch einmal Rast einlegen – so nah vor dem Ziel?« fragt mein Begleiter, dem allein ich es verdanke, noch zu leben, nicht längst als bleiches Gerippe in einem dunklen Grab zu mo-
dern – eineinviertel Jahrhunderte nachdem ich das Licht der Welt erblickte. Dort drüben hinter den Hügeln, in der alten Pyrenäenstadt, die einmal das Herz des mallorquinischen Königreichs war, viele Menschenleben zuvor. »In drei Nächten strahlt der Mond im vollen Rund«, entgegne ich. »Erst dann entfalte ich Kräfte, mit denen ich dir beistehen kann. Wir haben es also nicht so eilig, oder? Ein Tag mehr oder weniger, was zählt das schon? Der Unhold, heißt es, treibt seit etlichen Wochen sein Unwesen, und er ahnt nichts von unserem Kommen …« Philippe, der Kutscher, tritt zu uns. In seinen Augen spiegelt sich die untergehende Sonne – und die Ahnung, daß auch er untergehen wird, sobald sein Herr und Meister keine Verwendung mehr für ihn hat. Landru hat ihn rekrutiert und in hypnotischen Bann geschlagen, gleich nachdem wir Madrid verließen. Seither geht er uns zur Hand. Er ist ein ausnehmend hübscher Junge, sehr geschickt überdies, und gewiß konnte er sich, ehe er uns begegnete, seiner Verehrerinnen kaum erwehren. »Ich habe die Pferde ausgeschirrt.« Philippes Augen achten mich nicht. Sein Blick saugt mit derselben rauschhaften Begierde an Landru wie ein Vampir an der offenen Ader seines Opfers. Dieser junge Mann ist unser ergebener Diener. Ja, auch mir ist er zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet – weil Landru es ihm aufgetragen hat. »Soll ich jetzt das Feuer machen?« »Ja.« Der Tonfall meines unsterblichen Geliebten verrät, daß ihm die Weisungen, die er Philippe erteilen muß, weil dieser nichts mehr allein zu entscheiden vermag, lästig sind. »Und danach siehst du dich in der Nähe um, ob du ein Stück Wild, meinetwegen einen Hasen oder ein Täubchen, erlegen kannst. Das Trockenfleisch hängt Nona bestimmt langsam zum Halse heraus. Ein knuspriger Braten würde ihre Laune heben.« »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Herr!« Philippe entfernt sich
in unterwürfiger Haltung. Ich warte, bis er uns nicht mehr hören kann, dann sage ich: »Ich bin nicht schlecht gelaunt. Und diesen einen Tag werde ich auch noch ohne Gaumenfreuden auskommen. Spätestens morgen sitze ich an einem gedeckten Tisch in der besten Herberge der Stadt – so werden wir es doch halten, oder? Es wäre also nicht nötig gewesen, Philippe durch die Dämmerung zu hetzen.« Landru lächelt maskenhaft, und ich sehne mich nach dem Gesicht unter dieser Maske. Seine wahren Züge üben noch soviel Faszination auf mich aus wie am ersten Tag unserer Begegnung. Das war in Rom gewesen, und obwohl blutjung, hatte ich damals schon mehr hinter mir als die meisten Menschen im hohen Alter … »Ich weiß«, sagt der Hüter des magischen Kelchs, mit dem es möglich ist, Vampire aus Menschenkindern erstehen zu lassen. Dieser finstere Gral befindet sich seit Jahrhunderten in Landrus Obhut. Es ist der mächtigste Gegenstand, den ich je erblickte, und jede Taufzeremonie, der ich bislang beiwohnte, hat mich bis in meinen innersten Kern aufgewühlt. Ein jedes Mal ahne ich, was die sterbenden und als Untote wieder auferstehenden Kinder durchmachen. Denn ich selbst habe aus dem Lilienkelch getrunken, dem Unheiligtum der Alten Rasse. Landru hat mich seinerzeit in Rom daraus trinken lassen, und bis heute weiß ich nicht, wie es zugeht, daß mein Körper nicht mehr welkt wie der anderer Menschen, denn zum Vampir wurde ich damals nicht. Wann immer ich Landru seither befragte, warum er meine Taufe so anders gestaltete als die sonst üblichen, erhalte ich nur ausweichende Antworten. Aber ich bilde mir ein, er tat es, um mich nicht zu verlieren – um nicht zu riskieren, daß der kurze Tod mein Wesen veränderte – das Wesen, dem er ebenso verfallen ist, wie ich dem seinen … Er tritt auf mich zu. Das dunkle, fast schwarze Haar würde bis auf
seine Schultern reichen, hätte er es nicht mit einem kunstvollen Band hinter dem Kopf zusammengebunden. Die Züge, die mir entgegenblicken, können barmherzig lächeln, können jede Regung glaubhaft vortäuschen – Landrus wahres Gesicht, das kaum ein Mensch oder Vampir je gesehen hat, vermag dies nicht. Eine Härte wohnt darin, die sich nicht wegwischen läßt, niemals, nicht einmal, wenn wir beieinander liegen und unseren Trieben huldigen. Aber ich will ihn nicht anders. Die Gefühle, die er mir ohne falsche Versprechungen, ohne übertriebene Sanftmut entgegenbringt, sind grundehrlich. Und das ist das Wichtigste. Was uns sonst noch verbindet, würde kein Mensch mit dem Wort Liebe beschreiben. Ich auch nicht. Es ist viel mehr – viel stärker als solch sentimentaler Unsinn … »Ich wollte allein mit dir sein«, sagt er und packt mich verlangend an den Schultern. »Er hätte uns nicht gestört …« »Er hätte mich gestört«, erwidert er, als gäbe es nicht mehr dazu zu sagen. Ich schaue an ihm vorbei und sehe, wie Philippe bereits dabei ist, aufgeschichtete dürre Äste zu entzünden. Landru folgt meinem Blick. »Er gefällt dir?« »Natürlich. Er wirkt noch so … unschuldig.« »Diesen Anschein erweckst du auch – für die Unwissenden.« Ich nicke gedankenverloren. »Dem Aussehen nach könntest du seine Schwester sein«, fährt Landru fort. »Aber die Spiegel, in die ich blicke, lügen. Wir beide wissen das.« »Die Spiegel, in die ich blicke, lügen noch ärger, oder nicht?« »Sie verleugnen dich.« »Eben.« »Aber gemessen an deinem wahren Alter hast du dich auch ganz gut gehalten.«
»Wie freundlich.« Philippe legt ein paar dickere Äste nach, hebt den Blick noch einmal in unsere Richtung und wendet sich dann ab. Unter dem Bock der Kutsche holt er eine Armbrust und Pfeile hervor. Damit entfernt er sich vom Lager. Seine Bewegungen verraten nur dem Eingeweihten, daß er unter fremdem Willen handelt. Sie sind nicht hölzern, sondern immer noch geschmeidig. Ich traue ihm zu, daß er tatsächlich Beute macht. Ich hätte nichts dagegen. Landru löst eine Hand und zieht mich mit der anderen vom Feuer fort in die Überbleibsel eines Gebäudes, das noch aus römischer Zeit stammen muß. Inzwischen ist es längst verfallen. Ein Dach existiert nicht mehr. Heidekraut wuchert in jedem Raum und bildet ein weiches Polster, auf das wir uns herabsinken lassen. Landru beugt sich über mich. Als er die Knöpfe meiner Bluse öffnen und die Hand hineinschieben will, gebiete ich ihm Einhalt. Er versteht, als ich mit Daumen und Zeigefinger an der Maske zupfe, die mich stört. Sitzend richtet Landru den Oberkörper kerzengerade auf und legt beide Handflächen gegen die Wangen. Kleine magische Entladungen umzüngeln seine Finger. Wie ein Egel löst sich die lebendige Maske aus Fleisch und Blut mit einem saugenden Geräusch von seinen wahrhaftigen Zügen. Achtlos legt Landru die Maske, die er – wie den Lilienkelch – einst im Dom der Hüter fand, neben sich ins Kraut. Andere Lippen als eben noch suchen meinen Mund. Die Zunge ist die gleiche – wie sonderbar. Doch dann vergesse ich solche Nebensächlichkeiten. Kräftige Hände fahren über meinen Bauch hoch zu den Brüsten. Ich atme schneller. Ich höre auf, an gestern-heute-morgen zu denken. Allein das Jetzt zählt. Und nicht einmal das wirklich. Die Zeit scheint stillzustehen, und als ich wieder zu mir komme, wieder die braunen Steine sehe, aus denen diese Villa einst erbaut wurde, könnte ich nicht sagen, wie lange es gedauert hat, bis Landru
sich in mich verströmt hat. Ich liege über ihm. Sein Glied ist noch hart und in mir. Ganz ruhig liegen wir da, über uns die ersten Sterne, die in der Dämmerung sichtbar werden. Ich spüre Kratzspuren auf meinem ganzen Körper verteilt. Ähnliche Male habe ich selbst auf Landrus Haut hinterlassen. Sie werden heilen. Ich kann zusehen, wie sie verschwinden. Draußen klingen Schritte auf. Zweige brechen. Philippe ist zurückgekehrt und legt Holz nach, um das Feuer in Gang zu halten. Das Feuer in mir schwillt allmählich ab. Eine Weile verharren wir noch, hängt jeder von uns beiden seinen Gedanken nach. Dann steige ich von Landru ab, stehe auf und schlüpfe in die abgelegten Kleider. Landru macht keine Anstalten, es mir gleichzutun. »Willst du nicht aufstehen?« Er verneint. »Geh ruhig schon voraus. Hier ist ein guter Platz, um sich treiben zu lassen. Ich komme nach, wenn es mir zu einsam wird.« Das kann lange dauern. »Du bist besorgt.« Ich zögere, ihn hier sich selbst zu überlassen. »Unsinn.« »Du kannst mir nichts vormachen. Ich kenne dich. Ist es wegen der gestohlenen Kindsleichen?« Landru verzieht keine Miene. Selbst die Maske neben ihm wirkt in diesem Moment ehrlicher. »Sind wir noch aus einem anderen Grund hierher gekommen?« »Ich ja.« Er nickt. »Ich weiß. Du hast oft davon gesprochen, eines Tages nachsehen zu wollen, ob noch Leute in Perpignan leben, die mit dir verwandt sind – und sei es noch so weitläufig. Aber dafür hast du dir ein wenig zu lange Zeit gelassen, fürchte ich.« »Das wird sich zeigen. – Also: Was ist? Bereust du, mit mir gekommen zu sein? Hältst du es für Zeitvergeudung?«
Er schüttelt kaum merklich den Kopf. »Im Gegenteil. In Ruscino sprachen sie davon, daß das neunte Kind in Folge aus seinem frischen Grab gestohlen wurde – und das, obwohl die Friedhöfe Tag und Nacht bewacht werden. Anfangs mochte man noch an ein einmaliges Vergehen eines Verrückten glauben. Aber es blieb ja nicht bei dem einen Mal …« »Es kann immer noch ein Verrückter dahinterstecken.« »Dann müßte es schon ein Verrückter mit Macht und Fähigkeiten sein, die sonst höchstens deines- und meinesgleichen auszeichnen!« Er hat recht, räume ich zögernd ein, spreche es aber nicht aus, deshalb sind wir hergekommen: Er, weil ein abartiger Vampir hinter den Grabschändungen und Leichendiebstählen stecken könnte, und ich – weil es ebensogut ein Abartiger mit dem Wolfsfluch im Blut sein kann. Letzteres liegt angesichts meiner ganz persönlichen Verbindungen zu Perpignan sogar näher, denn Landrus Bekunden zufolge existiert in dieser Stadt noch keine Sippe, was aber nicht ausschließt, daß es einen schwarzblütiger Einzelgänger hierher verschlagen hat. Auch wenn die Alte Rasse normalerweise Orte mit den Insignien des christlichen Glaubens wie die Pest meidet. Nein, im Grunde besitzen wir überhaupt keinen Anhaltspunkt – so wenig wie die ermittelnden Behörden –, wer hinter den Leichenverschleppungen steckt. Für mich sind diese Vorkommnisse, die auch außerhalb Perpignans hohe Wellen der Empörung schlagen lassen, der lang gesuchte Anlaß gewesen, mich endlich dazu aufzuraffen, der Stadt meiner Geburt einen Besuch abzustatten. Der Stadt, die meinen Vater einst so schlecht behandelt hat …* Schulterzuckend verlasse ich die Ruine. Landru bleibt zurück. Als ich auf das Feuer zugehe, sehe ich, wie Philippe dabei ist, mit Hanf geeignete Äste zusammenzubinden und die Halterung für einen Spieß zu bauen. Auf einem Stein liegt ein fetter Fasan, in dem noch der Armbrustpfeil steckt. *siehe VAMPIRA T04: »Der Pfad der Wölfin«
Anerkennend klopfe ich unserem Kutscher auf die Schulter, ehe ich mich neben ihn ins Gras setze. »Gut gemacht.« Stumm setzt er seine Beschäftigung fort. Als er mit dem Rupfen des Vogels fertig ist, hat sich die Dunkelheit über unser Nachtlager gesenkt, aber die Luft ist noch voller Töne. Vögel und Insekten tummeln sich um uns herum. Ihr Zirpen und Gezwitscher schafft eine Atmosphäre, in der es mir leichtfällt, die Freuden, die ich in Landrus starken Armen erlebt habe, noch ein wenig nachwirken zu lassen. Bald darauf steigt Bratenduft in meine Nase. Mein Geliebter ist immer noch in der Ruine. Ihn können solche Düfte nicht locken. Wenn es ihn dürstet, wird er sich nachher an Philippe bedienen. Aber er hat erst in Ruscino getrunken, so daß dies eher unwahrscheinlich ist. Ich versuche, Philippe aus seiner Schweigsamkeit zu locken. Ich gebiete ihm, mir ausführlich über seine Liebeleien zu berichten. Solche Geschichten mag ich zum puren Zeitvertreib. Philippe gehorcht. Aber seine Stimme ist fast ohne Emotion, als er mir offenlegt, was er alles mit den Mädchen getrieben hat, die auf seine blauen Augen hereingefallen sind. Schon bald beginnt er mich zu langweilen. Ich suche Trost im Essen, denn der Fasan ist inzwischen gegart. Auch Philippe bekommt etwas ab. Wie sollte er sonst bei Kräften bleiben? Immer wieder schweifen meine Blicke zur Ruine, die sich wie eine bizarr geformte Schattenwand in der Dunkelheit erhebt. Ich bin entschlossen, nach dem Essen zu Landru zu gehen und seine gegen die Gesellschaft Philippes einzutauschen. Doch vorher bleibt mir der Bissen im Halse stecken. Das Blut droht mir in den Adern zu gerinnen, als ich ihn schreien höre: Landru! Schreien wie noch nie zuvor, seit wir uns kennen!
Und fast ebenso abrupt, wie es begonnen hat, bricht sein schauriges Gebrüll wieder ab. Für einen Moment senkt sich die Stille des Todes über das Lager – selbst die Natur scheint den Atem anzuhalten. Ich reiße einen brennenden Ast aus dem Feuer und renne, stolpere auf die Ruine zu, wo mich ein fürchterliches Grauen erwartet …
* »Nein! Komm mir … nicht … zu nahe!« Im Schein der Fackel sehe ich, wie Landru abwehrend den Arm hebt. Es bereitet ihm die gleiche unendliche Mühe wie das Sprechen. Ich lasse mich nicht aufhalten, eile zu ihm und gehe neben ihm auf die Knie. Den brennenden Ast ramme ich senkrecht in den Boden. Mit einer Hand stütze ich Landrus immer noch erhobenen, zitternden Arm, die andere lege ich auf sein Gesicht. Er glüht! Im – Fieber? Ich habe nicht einmal gewußt, daß Vampire von Fieber befallen werden können. Dann fällt mein Blick wie zufällig auf die Maske, die Landru in Reichweite abgelegt hat. Sie hat sich verwandelt, ist zum zuckenden, in blutrotem Licht pulsierenden Bündel Fleisch geworden! Lautlos ist ihre Qual. Landru aber artikuliert den Schmerz, der in ihm tobt: »Ich … brenne!« »Was ist passiert?« Mein Ruf scheint ihn gar nicht zu erreichen. Wie erstarrt liegt er da, kaum imstande, ein Fingerglied zu rühren. Ich bette seinen Arm auf den Boden und umfasse sein Gesicht mit beiden Händen. »Was ist passiert?« Noch nie habe ich eindringlicher auf ihn eingeredet. Seine Lider flattern. Eine Weile sieht es aus, als könnte er sie nicht mehr offenhalten, als reiße ihn die Schwäche wie ein unwiderstehlicher Strudel
in die Ohnmacht … (In den Tod?) Er ist unsterblich! versuche ich mich zu beruhigen, aber ich weiß, daß das nicht wahr ist. Niemand ist unter allen Umständen unsterblich, und so gibt es auch Gewalten, die Landru gefährden können – bislang war er nur immer weise und vorausschauend genug, ihnen aus dem Weg zu gehen. Landru scheint sich zu fangen, scheint den Kampf aufgenommen zu haben! Den Kampf wogegen? Unsere Blicke kreuzen sich. »Hilf … mir.« »Wie?« »Hol … den … Kelch.« Ich weiß nicht, warum ich nicht selbst darauf gekommen bin. Ein letzter Blickkontakt, dann haste ich nach draußen. Philippe sitzt immer noch am Feuer. Landrus Qual läßt ihn kalt. Wäre er eine Dienerkreatur und nicht nur hypnotisiert – wie hätte er sich dann verhalten? Hätte er mit seinem Herrn gelitten? Zwischen Vampiren und den untoten Trägern ihres Keims bestehen ganz besondere Bande … Ich erreiche die Kutsche, finde den Beutel aus Schweinsleder, in dem der Lilienkelch steckt, und renne damit zu Landru zurück. Im Laufen schäle ich das uralte Artefakt aus der Umhüllung. Es ist weder leicht noch schwer. Sein Gewicht läßt sich nicht in gebräuchlichen Maßeinheiten ausdrücken. Es ist Macht – pure Macht, und wenn ich versuchte, das, was in ihm schlummert, für eigensüchtige Ziele zu erwecken und einzusetzen, so würde es mich erbarmungslos töten! Als ich wieder neben Landru knie, scheint sich sein Zustand verschlimmert zu haben. Er ist noch immer nackt, die Kleidung liegt abseits, und obwohl die Fackel erloschen ist, sehe ich, daß sein Körper aufgedunsen ist und noch mehr Hitze ausstrahlt. Ich sehe es in dem zuckenden Schein, den die Maske ausströmt; ein widernatürli-
ches, magisches Licht. »Landru …« Ich öffne seine Hand und drücke den Stil des Lilienkelchs hinein. Die Augen des Hüters sehen mich an. Scham flackert darin. Daß ich ihn so hilflos sehe, scheint ihn beinahe mehr zu quälen als die Schmerzen, die in ihm toben. Ich versuche ihm – auch nur mit Blicken – zu verstehen zu geben, daß er sich darum nicht scheren soll. Daß er weiterkämpfen und siegen muß! Er karges, flüchtiges Lächeln schimmert durch seine verzerrten Züge. Oder bilde ich mir das nur ein? Als der Lilienkelch in seiner Hand purpurrot aufleuchtet, weiche ich zurück. Ich habe keinen Zweifel, daß die Kräfte des Kelchs Landru in Schutz nehmen werden – wovor auch immer. Die Zuckungen der Maske erlahmen. Auch das ist für mich ein Zeichen, daß der Kelch dabei ist, die Bedrohung zu bannen, die Besitz von Leib und Seele des Hüters ergriffen hat. Die Purpuraura hüllt Landru von Kopf bis Fuß ein. Aber das, was seine Züge entstellt, geht nicht zurück. Der Körper bleibt aufgedunsen, und als das Purpurfeuer schließlich erlischt … … kippt der Kelch aus Landrus immer noch entkräfteten Fingern! Mein Herz überspringt einen Takt. Aus Landrus Mund löst sich ein Flüstern. »Er kann … mir nicht … helfen …« Ich bin wie zur Salzsäule erstarrt. Dann überwinde ich meine Sprachlosigkeit, eile zu ihm zurück, bin ganz nah bei ihm. Sein Körper scheint mehr Hitze auszustrahlen als das Feuer, das Philippe draußen in Gang hält. Die Maske rührt sich nicht, glimmt auch in keinem Licht mehr, gerade so, als sei sie abgestorben. Landru lebt noch. Noch. »Nicht helfen?« schreie ich ihn an, als könnte ich ihn zwingen, sei-
ne Lebensgeister wachzuhalten. »Der Kelch kann Tote erwecken! Er vermag Armeen niederzumähen und jede Festungsmauer einzureißen … Wie kann er hier versagen? Vielleicht dauert es ein wenig, bis seine Hilfe wirksam wird, aber du stirbst doch nicht! Der Kelch läßt seinen Hüter doch nicht im Stich …!« Aus mir sprudelt, was mir gerade in den Sinn kommt. Wäre ich bei klarem Verstand, wüßte ich, wie wenig ich über den Kelch weiß. Aber ich bin völlig außer mir. »Der Kelch hat … versucht, mir zu … helfen. Er läßt mich nicht … im Stich. Er ist … nur machtlos.« »Machtlos?« »Er weiß nicht, was … in mich gefahren … ist.« Das will ich nicht akzeptieren. »Versuch es noch mal!« Ich greife nach dem Kelch. »Sinnlos …«, weht es aus Landrus Mund. Und nach eine kurzen Pause fügt er in einem fast zusammenhängenden Satz hinzu: »Aber ich glaube nicht, daß ich … sterbe …« Sollte mich das erleichtern? Sein Anblick birgt kein Fünkchen Hoffnung. Wenn selbst der Kelch es nicht schafft, das Krankheitsbild zu erkennen und zu beseitigen – wer dann? Schon das Wort »Krankheit« ist in Verbindung mit Landru paradox … »Hol Philippe! Ihr beide … müßt mich … in die Kutsche tragen.« »Und dann?« »Nach Perpignan.« Ich mißverstehe ihn. »Sollen wir einen Arzt suchen, der –« »Kein Arzt könnte mir helfen«, unterbricht er mich. »Nein, im Moment kann … ich selbst nur … abwarten. Vielleicht verschwindet es wieder, wie es … gekommen ist …« »Was ist es? Wie fühlt es sich an?« »Vielleicht werde ich es … dir später einmal … sagen.«
Wenn ich es überlebe. Das sagt er nicht, aber er meint es. Ich weiß nicht, was ich tun soll. »Hol … Philippe …« Ich zögere immer noch. Weil ich Angst habe, daß er, wenn ich zurückkomme, nicht mehr am Leben ist. »Geh!« Endlich überwinde ich mich. Landrus Befinden ist unverändert, als ich mit Philippe zusammen die Ruine betrete. In dieser Situation schöpfe ich daraus sogar Kraft. Ich kleide Landru notdürftig an, und zu zweit verfrachten wir ihn in den Verschlag der Kutsche, wo wir ihn auf eine der Sitzbänke legen. Er ist bei Bewußtsein und bittet mich, nicht nur den Kelch, sondern auch sein falsches Gesicht aus der Ruine zu holen. Auf beides will er nicht verzichten. Die Maske anzufassen kostet mich Überwindung. Und dem Kelch bringe ich fast Haßgefühle entgegen, weil er versagt hat. Beide zeigen keine Rührung. Das Feuer brennt noch, als wir unser Lager wenig später mit dem Zweispänner verlassen. Noch vor Morgengrauen erreichen wir die Stadtmauer. Landru muß seine letzten Reserven mobilisieren, um die Wachen zu »überreden«, uns Einlaß zu gewähren. Aber er schafft es. Und so fahren wir unter gänzlich anderen Umständen, als ich erwartet hatte, in die Stadt ein, die ich als kleines Mädchen in Begleitung meines Vaters unter ähnlich schlechten Vorzeichen und zu ähnlich dunkler Stunde einst verlassen habe …
* Am nächsten Vormittag hat sich Landrus Zustand nicht gebessert – aber auch nicht weiter verschlechtert. Ich rede mir ein, daß dies ein gutes Omen sei. Doch in mir herrscht große Skepsis. Wir haben nicht – wie sonst auf unseren Reisen – die beste Herber-
ge vor Ort bezogen. Landru hielt es für unklug. Er weiß nicht, ob Reisende wie wir dort nicht für unbotmäßiges Aufsehen sorgen würden, zumal er nicht garantieren kann, auch in Zukunft den Willen anderer Menschen brechen zu können. Deshalb steht unsere Kutsche nun im Hof eines eher bescheidenen, etwas heruntergewirtschafteten Gasthofs, und wir haben uns vorerst auf die Überzeugungskraft klingender Münze verlassen. Philippe ist in unserem Auftrag unterwegs, während ich nicht mehr von Landrus Seite weiche, seit wir unsere spartanische Unterkunft unter dem Dach des Hauses bezogen haben. Hie und da liegt der Kot von Mäusen oder Ratten auf den abgewetzten Dielen. Aber ich habe schon in ärgeren Verhältnissen genächtigt. Der aufgedunsene Körper, der auf der schlichten Bettstatt ruht, vor der ich auf einem wackeligen Holzstuhl sitze, wirkt wie eine boshaft ersonnene Karikatur meines Geliebten. Landrus Züge, sein ganzer Leib sind immer noch aufgedunsen, wie unter einer wassertreibenden Krankheit. Er ist unentwegt wach; ich glaube, er hat seit dem Beginn des Prozesses draußen vor der Stadt noch kein Auge zugetan. Wie zwei dunkle Seen ruhen die Pupillen in der bleichen Fläche aus aufgeschwemmtem Gewebe, das noch immer Hitze ausstrahlt. Es ist, als stünde er in einem Fegefeuer, hat Landru es mir zu beschreiben versucht – aber der Vergleich ist zu abstrakt, als daß ich mir etwas darunter vorstellen könnte. Offenbar fühlt er sich, als würde er von innen heraus austrocknen. Die Ursache dafür ist weiter unbekannt. In gewissen Abständen versuche ich es mit altbewährten Hausmitteln, die fiebernden Menschen Linderung bringen: lauwarme Wickel, behutsame Massagen, um das vermeintliche Wasser aus seinen Gliedern zu treiben, und dergleichen mehr. Beides schlägt bis zur Stunde nicht an, und ich habe kaum noch Hoffnung, daß sich daran etwas ändert. Das einzige, was mich überhaupt hoffen läßt, ist, daß sich Landrus
Zustand auch nicht weiter verschlechtert hat. Der Grund dafür könnte jedoch auch sein, daß es keine Steigerung mehr gibt – und daß das nächste Stadium der plötzliche und unwiderrufliche Tod sein wird … Ich sperre mich gegen diese Möglichkeit. Sie ist so … absurd. Und immer wieder nehme ich den Lilienkelch zur Hand, der aussieht wie immer und sich doch ohnmächtig gibt, als hätte er sich mit dem Schicksal seines Hüters abgefunden. »Hilf ihm!« rinnt es auch jetzt flüsternd-flehend über meine Lippen, als ich auf den Grund des Gefäßes blicke und mich zu meiner Verwunderung darin sehe, als wäre es ein Spiegel. Aber dieses Spiegelbild zeigt meine verborgene Natur, zeigt, was Menschen, sähen sie mich jetzt, nicht erkennen könnten. Verblüfft schaue ich zu Landru, um von ihm eine Erklärung zu erbitten. Doch sein Blick ist so gläsern, daß ich entsetzliche Momente lang fürchte, er könne leise und unbemerkt sein Leben ausgehaucht haben. Aber müßte er dann nicht zu Staub zerfallen, zu kalter Asche, wie jeder Vampir …? Es klopft an die Tür, und ich bin kurz davor, in Panik zu verfallen. Doch es ist lediglich Philippes Stimme, die um Einlaß bittet. Ich schnarre die Erlaubnis, während ich den Kelch neben Landru auf die Bettstatt sinken lasse, mich über ihn beuge und mein Ohr auf seine heiße Brust lege. Sein Herz schlägt noch; er lebt. Ich fange an zu zittern. Die Anspannung löst sich wie ein Krampf. Hinter mir tritt Philippe in die Stube und sagt: »Es ist wieder passiert. Heute Nacht. Nun sind es zehn Kinder, alle unter acht Jahren, die aus ihren Gräbern gestohlen wurden – und ein jedes gleich in der ersten Nacht nach seiner Beerdigung. Trotzdem gibt es noch immer keine Spur vom Täter. Die Beamten des Stadtvogts und des Bischofs tappen im dunkeln. Jedem Fremden wird Mißtrauen entge-
gengebracht. Auch wir müssen mit einer Überprüfung rechnen.« »Wir sind doch erst angekommen«, werfe ich ein, immer noch in die Grübelei versunken, was ich getan hätte, hätte ich das Herz unter dem Kissen nicht mehr schlagen hören. Philippe schweigt. Er hat mir die nackten Fakten berichtet, mehr kann ich von ihm in seinem Zustand nicht erwarten. In diesem Moment bricht ein Röcheln aus Landrus Kehle. Ich fahre hoch. Seine Augen fangen meine Bewegung ein, sind nicht mehr fiebrig starr und ins Nirgendwo gerichtet. »Geh …«, tropft ein Wort in die Stille. Ich balle die Hände zu Fäusten. Will er mich wegschicken? In dieser Lage? Kopfschüttelnd erhebe ich mich neben ihm. »Ich bleibe, egal, was geschieht! Wir werden einen Weg finden, dir zu helfen.« »Du … verstehst … nicht«, ringt er sich neue Worte ab. »Philippe wird sich … um mich … kümmern, während du … Nachforschungen … anstellst.« Ich kann nicht glauben, was ich höre. »Ich lasse dich nicht allein …« Mein Blick irrt zu dem Kutscher, der in seiner Heimatstadt alles aufgegeben hat, alles aufgeben mußte, weil wir es so wollten. »Er ist kein Ersatz. Ich hätte keine ruhige Minute …« »Du mußt.« Landrus Lippen zucken. Auch ich bebe. »Das kannst du nicht verlangen! Die Leichendiebstähle sind nebensächlich – hier geht es um dich! Wir werden uns gemeinsam darum kümmern, wie wir es auch ursprünglich vorhatten, sobald du wieder auf den Beinen bist!« »Du verstehst … immer noch nicht …« Ich presse die Lippen aufeinander, warte, daß er fortfährt mit seinem vorwurfsvollen Reden. Als dies nicht sogleich geschieht, verliere ich die Geduld und dränge, heftiger als gewollt und wohl auch harscher als angemessen: »Was verstehe ich nicht?« In seinen Augen glimmt ein abseitiges Licht auf. Die Finger von Landrus linker Hand tasteten so zeitlupenhaft zum Kelch, als lähm-
te sie das jähe Bewußtsein ihres wahren Alters. In dem Moment, als sich die Hand um den glatten Stil des Kelchs schließt, ohne daß die Magie darin zu erkennen gibt, ob sie es bemerkt, höre ich Landru auf meine Frage antworten. »Daß es …«, seufzt er heiser, »… einen Zusammenhang geben könnte … zwischen dem, was mir … und dem, was all den Toten … widerfährt …«
* Bevor ich nachfragen kann, wie er auf diese Idee kommt (die mir aus der Luft gegriffen scheint und jeder Wahrscheinlichkeit entbehrt), klopft es erneut und keinesfalls höflich gegen die Tür der Dachstube. Eine befehlsgewohnte Stimme plärrt: »Macht auf und weist Euch aus! Wir kommen im Auftrag des Vogts!« Ich zerre ein Laken vom Bettende und bedecke damit Landrus Blöße. Ich will nicht, daß andere ihn so zu Gesicht bekommen. Beim Philippe ist es etwas anderes, er macht sich keine Gedanken über das, was er sieht und hört. »Heda! Aufmachen! Der Wirt sagte, daß ihr die Herberge nicht verlassen habt …« Die Tür ist nicht verschlossen. Jederzeit kann die Klinke niedergedrückt werden, und dann … Ich komme ihnen zuvor. Mit wenigen Schritten bin ich an der Tür und öffne sie einen Spalt weit. Draußen im dämmrigen Treppenaufgang drängen sich eine Handvoll Gestalten, alle uniformiert. Als der Anführer mich erblickt, hellt sich seine finstere Miene ein wenig auf. Vielleicht gefalle ich ihm. Er wirft sich in die Brust und sagt: »Wir überprüfen jeden Ankömmling. Laßt uns ein!« Ich mime das Unschuldslamm, schüttele den Kopf und gurre: »Das … geht nicht, edle Herren.«
»Was heißt, es geht nicht?« Die Miene des Hauptmanns wird verdrossen. »Ihr –« »Mein Vater ist krank. Er braucht Ruhe. Lärm und Aufregung könnten sein Tod sein …« »Eine Krankheit?« Die Augen des schmalgesichtigen Mannes mit der Hakennase weiten sich. »Was für eine Krankheit ist das? Die Torwachen haben Befehl, niemanden mit einer ansteckenden –« »Es ist nichts Ansteckendes«, beeile ich mich zu versichern. Ich habe einen Fehler gemacht. »Das laßt uns beurteilen …« Er blickt hinter sich und brüllt einen seiner Begleiter an: »Ruf den Doktor – du weißt schon, wen ich meine! Er soll kommen, und zwar so schnell ihn seine Füße tragen! Wir bleiben solange hier und passen auf, daß niemand einen krummen Trick versucht …« Während der Soldat sich davonmacht, wendet er sich wieder mir zu und fragt: »Wie heißt du, schönes Kind?« Er schürzt die Lippen. In seinem Ton schwingt die Ungewißheit, ob nicht auch ich die Krankheit meines »Vaters« in mir haben könnte. Er ist Soldat und weiß, daß der Tod nicht immer nur häßliche Gesichter hat. Gern verstellt er sich auch. Und nicht selten lauert er in etwas so Wohlgefälligem wie dem warmen, engen Schoß einer Dirne. Obwohl ich meine Gunst nicht verschachere, macht es mir nichts aus, daß er mich betrachtet. »Ihr irrt euch.« Ich trete durch den Spalt hinaus und presse mich gegen den Hauptmann, der nicht zurückweicht, sondern den Druck noch erwidert. Daß uns andere zusehen, scheint ihn nicht weiter zu kümmern. »Mein Vater«, versichere ich erneut, »hat starkes Rheuma, mehr nicht. Aber er leidet furchtbar. Quält ihn nicht unnütz, ich bitte Euch!« Ich wünschte, ich besäße nur ein wenig von Landrus Fähigkeiten, den Willen anderer zu beugen – und frage mich zugleich, warum er nicht endlich einschreitet; warum er den Boten, der nach dem Dok-
tor geschickt wurde, überhaupt hat fortgehen lassen. Es wird uns Scherereien einhandeln. Was wir unter allen Umständen vermeiden wollten, ist bereits geschehen: Wir sind auffällig geworden. Unter anderen, »normalen« Umständen hätte uns das nicht zu beunruhigen brauchen. Aber diese Situation steht außerhalb jeder Normalität. »Ich habe dich nach deinem Namen gefragt«, erinnert mich der Hauptmann. »Nona.« »Und dein Nachname?« »Aurel«, lüge ich in Erinnerung an eine Jugendliebe – an eine Zeit, als ich noch nicht wußte, daß der Mond auch über mich Macht besitzt. »Und dein Vater?« »Landru.« »Landru Aurel? Kein geläufiger Name. Woher kommt ihr? Und es muß noch jemand bei euch sein. Der Wirt …« Ich nicke. »Unser Diener. Philippe.« »Ihr habt einen Diener und steigt in einer solchen Kaschemme ab?« »Er hat lange keinen Lohn mehr erhalten, aber als wir noch wohlhabend waren, hat mein Vater ihn aus der Gosse geholt. Deshalb ist er noch bei uns. Ich wüßte auch nicht, wie wir es ohne ihn schaffen sollten. Vater ist bettlägerig. Momentan kann er keinen Schritt mehr tun.« »Seit wann geht das so?« Ich zucke die Achseln. »Es sind Schübe. Sie können morgen vorbei sein – oder erst in einer Woche. Man kann keine Prognosen stellen.« Offenbar bin ich überzeugend. Seine Mimik verrät, daß seine Vorsicht nachläßt. Aber als er mich grob beiseite schiebt, frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, seine Furcht zu schüren, anstatt sie zu zer-
streuen. Mit der Stiefelspitze stößt er die Tür nach innen auf. Die Szene dahinter ist so, wie ich sie verlassen habe: Landru liegt regungslos im Bett, Philippe steht ausdruckslos in der Nähe. Der Hauptmann bleibt im Türrahmen stehen. Ganz geheuer ist ihm der Anblick nicht. Besonders die stier geöffneten Augen im bleichen, aufgeblähten Gesicht des Kelchhüters scheinen ihn zu beunruhigen. Nach einer Weile, die er nur darauf gestarrt hat, ohne daß Landru auch nur einmal blinzelte, kommt die unausweichliche Frage: »Du bist sicher, daß er noch lebt?« Ich will bejahen, als sein Blick den Kelch in Landrus Hand entdeckt und der Hauptmann schlagartig das Interesse an meiner Antwort verliert. Seine erwachende Habgier ist fast zu riechen. Er winkt mich mit sich, befiehlt aber seinen Männern, draußen zu warten, und schließt von innen die Tür. »Was ist das?« fragt er und zeigt auf den Kelch. »Gehört das euch?« »Meinem Vater.« »Er sieht … wertvoll aus. Woraus ist er gemacht?« »Ich weiß es nicht. Mein Vater brachte ihn von einer seiner fernen Reisen mit. – Warum interessiert Ihr Euch dafür?« Er nimmt mich verschwörerisch beiseite und sagt in gesenktem Tonfall: »Ich will ehrlich zu dir sein: Du gefällst mir. Ich habe ein weiches Herz, und es tut mir weh, daß dein Vater so leidet. Jetzt, da ich ihn gesehen habe, glaube ich nicht mehr, daß sein Leiden ansteckend ist …« Er lächelt. »Und wenn es Rheuma ist – nun, ich kenne einen guten Doktor, der schon viele Rheuma- und Gichtkranke behandelt hat. Er ist nicht billig, aber wenn ich ein gutes Wort für euch einlege, gibt er sich vielleicht mit diesem Trinkkelch dort zufrieden.« Unternimm etwas! Mein Blick schweift hilfesuchend zu Landru. Tu
etwas! Doch er reagiert nicht. Die Situation entgleitet mir zusehends. »Ich – weiß nicht …« »Du mußt dich entscheiden. Schnell, bevor der alte Quacksalber kommt, nach dem ich geschickt habe. Er hat keine Ahnung von Beschwerden, wie sie deinen Vater plagen. Aber das wird er nicht zugeben. Wir müssen ihm etwas zustecken, damit er keine falschen Gerüchte verbreitet, die euch und mich Kopf und Kragen kosten können … Was ist? Habt ihr kein Geld?« Ich schüttele den Kopf. »Wenig.« Er verzieht das Gesicht, bietet mir aber unvermittelt an: »Ich werde es vorstrecken. Laß mich die Sache in die Hand nehmen. Ich kann nicht mitansehen, wenn Menschen schuldlos leiden. Gib mir das Kleinod, und ich werde es schätzen lassen. Vielleicht hat es genug Wert, um die Behandlung deines Vaters zu bezahlen. Dinge sind verzichtbar, die Gesundheit nicht … Aber wem sage ich das? Also?« Ich sitze in der Klemme. Nein, nicht nur ich, auch Landru! Der Hauptmann blickt an mir vorbei zu Philippe. Erkennt er, was mit ihm nicht stimmt? Ich bilde mir ein, daß man es merken muß, aber immerhin habe ich, was das angeht, einen Wissensvorsprung. Landru hat immer noch nicht eingegriffen. Etwa, weil seine Kräfte nun vollends versiegt sind? Aber warum setzt er dann nicht wenigstens den Kelch und dessen Magie ein? Brenzliger kann die Situation kaum noch werden … »Wenn Ihr so freundlich wärt …«, höre ich mich schließlich sagen. Draußen wird es laut. Offenbar kehrt der Soldat in Begleitung des Doktors zurück. Der Hauptmann eilt mit ausgreifenden Schritten auf das Bett zu und greift nach dem Kelch. Er will ihn verschwinden lassen, bevor ein anderer ihn überhaupt sieht. Bis zuletzt hoffe ich, daß etwas geschieht. Daß weder Landru noch der Lilienkelch sich gefallen lassen, was der Hauptmann vorhat. Sei-
ne Absichten sind nur allzu leicht durchschaubar. Seine »Nächstenliebe« ist so schlecht gemimt, daß er nicht einmal eine Rolle in einem drittklassigen Wandertheater bekäme. Aber ich weiß nicht, wie ich seinem Begehren Einhalt gebieten soll. Der Kelch verschwindet ohne Gegenwehr in einem Beutel, den der Soldat aus seiner Rocktasche zieht, und im nächsten Moment geht die Tür auf. Ein zivil gekleideter Mann mit alkoholumnebeltem Blick schwankt herein. Er duckt sich, als der Hauptmann ihm an den Kopf wirft, daß sich die Angelegenheit bereits aufgeklärt habe, sein Einsatz nicht mehr erforderlich sei und er flugs wieder heimgehen könne. Blinder Gehorsam legt sich über das gerötete Gesicht dieses »Arztes«, der den hippokratischen Eid gründlich mißverstanden zu haben scheint und vermutlich mehr Patienten umgebracht denn geheilt hat. Ich suche immer noch nach einer Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern. Der Lilienkelch darf nicht in falsche Hände fallen … Aber die meisten Tage eines Monats bin ich die zierliche Person, die ich auch nach außen scheine – und nur in zwei, drei raren Nächten vermag ich hervorzukehren, was tief unter dieser Fassade lauert und was auch dem raffgierigen Kerl das Blut in den Adern zum Gerinnen brächte. Aber es ist zu früh. Der volle Mond wird erst – »Ich werde den Spezialisten zu euch schicken«, verspricht der Hauptmann, ohne noch einen Blick auf Landru oder Philippe zu werfen. Nur mich mustert er vor dem Weggehen noch einmal messerscharf, und mir wird klar, daß ihm das »Kleinod« in der Tasche nicht genügt. Er will mehr. Nicht hier und jetzt, aber ich werde ihn wiedersehen, daran gibt es keinen Zweifel. Ich muß ihn wiedersehen. »Wo … finde ich Euch?« frage ich in dem naiven Tonfall, der mich noch begehrenswerter für ihn macht. »Ich meine … falls wir noch einmal gestört werden sollten …«
Er setzt ein grimmiges Gesicht auf, verwechselt aber auch jetzt Selbstgefälligkeit mit glaubwürdiger Autorität. »Das wird nicht geschehen! Ihr habt keine Belästigung mehr zu fürchten. Nur der Doktor wird euch aufsuchen – verlaßt euch auf sein Urteil und befolgt seine Ratschläge, dann wird dein Vater bald wieder auf den Beinen sein.« Mit diesen Worten verläßt er die Dachstube. Der angetrunkene Arzt ist ihm schon vorausgeeilt. Das Geräusch der Stiefel entfernt sich. Wir sind wieder unter uns. Unter uns … So eindringlich ich auch auf Landru einrede, er reagiert nicht. Obwohl seine Augen offen sind, scheint er ohne Bewußtsein – oder ohne Kraft, auch nur die Lippen zu bewegen. Sein Herz schlägt unverändert. Aber ich bin ratloser als zuvor. Der Lilienkelch … Ich habe zugelassen, daß uns der Lilienkelch gestohlen wurde! Wie wird Landru reagieren, wenn er dies begreift? Plötzlich ertrage ich Philippes Anwesenheit nicht mehr. »Verschwinde!« fahre ich ihn an. »Setz dich in die Kutsche! Ich rufe, wenn ich dich wieder brauche!« Er trollt sich. Meine Verachtung begleitet ihn, bis er hinter der Tür verschwunden ist …
* Landrus schlimme Krise hält auch tags darauf noch unverändert an, und so bleibt es nicht aus, daß ich mich in gedrückter Stimmung mit seiner kühnen und nicht näher erklärten These auseinandersetze. Kann es wirklich Zusammenhänge geben zwischen dem, was ihn ans Bett fesselt wie einen gelähmten Greis, und dem, was auf den Friedhöfen der Stadt vorgeht? Ich wünschte, ich sähe eine Verbindung, aber das tue ich nicht. Und Landru ist gegenwärtig nicht in der Lage, mir seinen Verdacht zu erläutern. Vielleicht hat er etwas erkannt, was mir noch verbor-
gen ist. Aber wie soll ich ihn zum Sprechen bringen? Wie soll ich ihm sein Wissen – so er es hat – entlocken? Gestern hat sich kein Arzt mehr blicken lassen. Wahrscheinlich wird auch keiner kommen. Dem Hauptmann ging es nur darum, sich persönlich zu bereichern, dieser Lump. Ich habe Philippe wieder zu uns geholt. So wenig ich ihn gestern zu ertragen glaubte, so unerträglich war mir die Nacht nur in Gesellschaft meines kaum wiederzuerkennenden Geliebten. Wieder geht es auf Mittag zu, als es von draußen an die Zimmertür klopft. Ich habe keine Schritte nahen hören, und als Philippe auf meinen Wink hin aufmacht, steht draußen ein verschlagen grinsender Kerl, der einen Federhut vom Haupte reißt und sich fast bis zum schmutzigen Boden hin verbeugt. »Hauptmann Pairal schickt mich«, sagt er. Seine Stimme ist temperamentvoll, aber keinesfalls sympathisch. Noch weniger sind es die schmalen, schlitzförmigen Augen. Pairal … So erfahre ich endlich den Namen des Betrügers. »Seid Ihr der Arzt, den er empfahl?« Er nickt eifrig und tritt ein. Philippe schließt die Tür. »Wie ist Euer Name?« Er mustert mich noch unverfrorener, als der Hauptmann es tat, antwortet aber nicht. »Wo ist der Patient?« Was für eine lächerliche Frage. Die Stube ist so klein, daß das Bett und Landru nicht zu übersehen sind. Dennoch weise ich mit ausgestrecktem Arm die Richtung. Ich merke, wie der Besucher beim Anblick meines Geliebten erschrickt. Doch er gibt sich keine Blöße und tritt neben den Reglosen. Seine linke Hand bildet ein V, das er um Landrus Kehle legt. Mit Daumen und Mittelfinger sucht er nach dem Puls. Offenbar erwartet er keinen und ist verblüfft, als er das Herz doch schlagen fühlt. Nach ein paar oberflächlichen Untersuchungen wendet er sich mir
zu und sagt: »Ein schwerer Fall. Ich kann nichts versprechen …« Ob er den zynischen Zug um meinen Mund versteht? »Der Hauptmann nahm unseren wertvollsten Besitz, um Euch zu bezahlen. Er hat uns Mut gemacht, daß Ihr uns helfen könnt, große Hoffnung …« Als ich von »wertvollstem Besitz« spreche, leuchten seine Augen auf, und ich finde meinen Verdacht bestätigt, daß Pairal ihm weder den Kelch gezeigt, noch davon erzählt hat. Wahrscheinlich speist er diesen Quacksalber mit einem Trinkgeld ab, damit er uns das Blaue vom Himmel herunter lügt. »Ich sagte nicht«, ringt er sich nach meinem Einwand ab, »daß keine Hoffnung besteht. Aber Ihr solltet auf das Schlimmste gefaßt sein.« »Das – Schlimmste …?« Er nickt stumm, greift in seinen Wams und zieht ein Fläschchen heraus, auf dem ein hölzerner Korken steckt. »Was ist das?« »Eine wunderbare Medizin«, versichert er. »Ein Apotheker braut sie nach meinen Angaben, und wenn das nicht hilft …« Er verschweigt die Konsequenz, zuckt nur die Schultern, den Blick einen Moment lang entsagungsvoll zur Decke gerichtet, als lege er Landrus Schicksal in die Hand des Himmels. Ausgerechnet. Wieder glitzern seine Augen. Der Korken löst sich mit einem trockenen Plopp. Der Doktor kehrt mir den Rücken zu und beugt sich über Landru. Das Fläschchen nähert sich seinem halboffenen Mund – und in diesem Augenblick überkommt mich eine Vermutung von solcher Stärke, daß ich schreie: »Nein! Philippe …!« Unser Kutscher und Diener reagiert sofort auf meine Geste. Er fällt dem Arzt in den Arm und hindert ihn daran, die farblose, zähe Flüssigkeit in Landrus Mund rinnen zu lassen. Der Gesandte des Hauptmanns protestiert lautstark, aber sein Pro-
test wird bald von einem schmerzvollen Stöhnen erstickt. Philippe hat ihm den Arm ausgekugelt – ich vermag nicht zu entscheiden, ob versehentlich. »Ruft diesen Verrückten zurück!« jammert der Arzt. Ich trete hinzu und winde ihm das Fläschchen aus der Hand, das er krampfhaft festzuhalten versucht. Als ich es habe, halte ich es unter die Nase und schnuppere daran. Ich bemerke nichts Auffälliges und frage: »Wieviel davon soll mein Vater einnehmen?« Offenbar glaubt er, ich wollte es einflößen. »Alles«, sagt er, immer noch im unerbittlichen Griff Philippes, der ihm an Kraft weiter überlegen ist. »Der Trunk schadet nicht, er kann nur Besserung herbeiführen, Ihr könnt unbesorgt sein …« Ich nicke. »Dann könnt auch Ihr unbesorgt sein.« Ich befehle Philippe, ihm den Kopf weit in den Nacken zu biegen, so daß es ihm nichts nützt, daß er den Mund geschlossen halten möchte – es gelingt ihm nicht. Er zappelt, bäumt sich auf, tritt nach mir, aber es hilft ihm nichts. Der Inhalt des Fläschchens landet in seiner Kehle, und ein Faustschlag in seinen Magen löst den Reflex aus, der ihn alles auf einmal herunterschlucken läßt, schneller, als er es wieder auszuspucken vermag. Hustend, Tränen in den Augen, brüllt der Arzt: »Seid Ihr von Sinnen? Warum tut Ihr das? Ich werde –« »– sterben?« Finsternis brodelt hinter Augen, die noch schmaler geworden sind. »Laßt mich jetzt gehen – laßt mich! Wenn das Euer Dank für meine Hilfe ist …« Der Ausdruck auf meinem Gesicht bringt ihn zum Schweigen. »Stopf ihm einen Knebel ins Maul«, wende ich mich an Philippe, »und binde ihn dort auf den Stuhl! Ich möchte, daß er noch ein wenig bei uns bleibt …« In diesem Moment stürzt die mühsam aufrechterhaltene Fassade
seiner Selbstbeherrschung restlos in sich zusammen. »Wagt Euch nicht …! Ihr landet alle am Galgen, wenn ihr –« Ein Hieb gegen seine Schläfe erstickt alles Jammern und Lamentieren, bevor es laut genug anschwillt, um außerhalb dieser Wände auf Gehör zu stoßen. Der Quacksalber sackt zusammen. Philippe fängt ihn auf, schleift ihn über die Dielen und pflanzt ihn auf den Stuhl. Mit einer Wäscheleine schnürt er ihn zu einem bewegungslosen Bündel, das bald darauf aus seiner Ohnmacht erwacht. Ich sitze ihm auf einem zweiten Stuhl gegenüber, als er die Augen aufschlägt. Panik lodert in seinem Blick. Er zerrt an seiner Fessel, rutscht hin und her … aber er hat keine Chance. Philippe steht hinter ihm und hält ihn an den Schultern fest, sonst würde er samt Stuhl umkippen. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich den Beweis für meinen Verdacht erhalte. Bis dem Quacksalber der Schweiß in dicken Perlen auf dem Gesicht steht und er mit den Augen zu rollen beginnt. Er würgt, als zöge sich eine Schlinge um seinen Hals zu, und dann geht alles ganz schnell. Der Kopf sinkt zur Seite. Der Gesandte des Hauptmanns wird ganz still … Tot. Er ist tot. Auf mein Zeichen bindet Philippe ihn los und verstaut den Leichnam in einem leeren Schrank. Ich trete zu Landru. In seinen Augen ist weder Dankbarkeit noch sonst ein lesbarer Ausdruck. Ich weiß nicht einmal, ob ihm der Quacksalber etwas hätte anhaben können. Im allgemeinen ist er immun gegen jedes tierische und pflanzliche Gift. Aber in seinem jetzigen Zustand … Verbittert balle ich die Fäuste. Offenbar wollte Pairal ausschließen, daß mein »Vater« ihm den Kelch noch einmal streitig machen kann. Sicher hätte derselbe Quacksalber, der ihm das Gift verabreichte, auch den »natürlichen« Tod als Folge seiner Krankheit bescheinigt.
Von mir oder Philippe scheint der Hauptmann keinen ernsthaften Widerstand zu fürchten. »Sag etwas – irgend etwas!« rede ich Landru zu. Die Hitze, die er ausstrahlt, ist ungebrochen. Nur ein dünnes Laken bedeckt ihn. »Bitte!« Mein Flehen findet kein Gehör. Ich blicke zum Schrank, hinter dessen Türen ich den Elenden weiß, der an seiner eigenen Hinterlist krepiert ist. Wird sein Anstifter ihn vermissen, gar nach ihm fahnden lassen? Ich hoffe, nicht. Mit Ungeduld sehne ich den Einbruch der Dunkelheit herbei – die Nacht vor Vollmond. Philippe hat zwei Aufträge von mir erhalten. Er soll den Toten unbemerkt aus dem Zimmer schaffen. Und das andere ist eine letzte, verzweifelte Idee, wie ich Landru vielleicht doch noch helfen kann. Sollte aber auch dieser Versuch fehlschlagen, weiß ich mir keinen Rat mehr. Dann mag es sein, daß unser beider Weg hier endet, wo ich einst geboren wurde.
* Mitternacht. Philippe ist unterwegs, und als ich Schritte auf der Treppe höre, denke ich zunächst, er sei es, der zurückkehrt. Ich habe den Riegel in die Nabe geschoben und mit dem Diener einen bestimmten Rhythmus verabredet, wie er mit dem Knöchel gegen das Türblatt klopfen soll. Nichts dergleichen geschieht. Die Klinke wird einfach niedergedrückt. Stirnrunzelnd erhebe ich mich von meinem einsamen Platz im Bett neben Landru. Er war mir nie ferner trotz vermeintlicher Nähe … Eine gut zur Hälfte abgebrannte Kerze streut Licht. Hinter den kleinen Fenstern der Stube gemahnt mich die fast runde Scheibe des Mondes der kommenden Nacht, und wenn ich in mich lausche,
glaube ich bereits die ersten Anzeichen der Spannung zu spüren; der ganz besonderen Spannung, die keine andere Leidenschaft zu ersetzen vermag – und doch gibt es Zeiten, da ich den Fluch in mir verabscheue. In denen ich nach Wegen sinne, ihm zu entkommen. Ich glaube nicht, daß ich dies je vermag. Es ist wie eine Droge, deren Schädlichkeit man kennt – aber auch ihre beglückenden Facetten. Das macht es so schwer, so unendlich schwer, dem Drang, der in mir wühlt, zu entsagen … »Wer ist da?« rufe ich halblaut in Richtung der Tür. Niemand antwortet. Erneut wird versucht, die Klinke niederzudrücken und auf diese Weise Einlaß zu finden. Aber der Riegel ist stabil … Der Riegel bricht! Der dumpfe Knall hallt noch in meinen Ohren, als die Tür bereits aufschwingt und ich restlos die Fassung verliere. Noch bevor ich Pairal erkenne, sehe ich, was er mit seinen beiden Händen vor die Brust gepreßt hält – und was in geradezu abseitigem Glanz erstrahlt. Der Lilienkelch! Torkelnd passiert er die Türschwelle. Die Ärmel seiner Uniformjacke flattern als Fetzen im Luftzug. Der Stoff ist dunkel gefärbt, und die Arme des Eintretenden ebenso wie Mund und Kinn und Hals … blutverschmiert! Ich stelle mich ihm in den Weg, als er auf das Bett und Landru zu wankt, doch eine seiner Hände läßt den Kelch los, und der Hauptmann wischt mich mit einem brutalen Stoß beiseite. Ich werde bis zur Wand der Stube getrieben, und als ich endlich herumwirbele, hat Pairal das Bett bereits erreicht. Gerade als ich mich auf ihn werfen will, bemerke ich, wie er sacht, beinahe zärtlich, den Kelch zurück in die Hand dessen legt, den er bestohlen hat. Er bezähme meinen Beschützerinstinkt.
Pairal richtet sich steif wieder zur vollen Größe auf und sagt: »Ich habe mein Leben und meine Seele verwirkt. Ich werde gehen und mich in der Têt ersäufen …« Mit diesen Worten wendet er sich der Tür zu, die er mit übermenschlicher Kraft aufgebrochen hat. Bevor er in das gähnende Dunkel des Stiegenhauses verschwindet, sehe ich, daß seine beiden Unterarme entlang der Pulsadern aufgeschnitten sind, aber ich begreife immer noch nicht, was geschehen ist. Ich eile ihm nach und erreiche ihn, als er den Fuß auf die erste Treppenstufe setzt. »Was ist passiert? Warum bringst du den Kelch zurück?« Zuerst sieht es nicht aus, als wollte er sich aufhalten lassen. Doch dann geht ein Ruck durch ihn hindurch, als hätte jemand an einem unsichtbaren Zügel gezogen. Er erstarrt und leiert: »Es wurde mir befohlen.« »Von wem?« »Ich … weiß nicht.« »Was ist mit dir passiert? Wer hat dir die Arme zerschnitten?« »Ich selbst.« »Du selbst? Und warum?« »Es wurde mir befohlen.« Ich ahne die Wahrheit. »Durch … den Kelch? Hat er es dir befohlen?« Pairal zögert. Dann nickt er hölzern. »Und dann?« »Ich mußte mein Rasiermesser nehmen und meine Adern öffnen und mein Blut im Kelch auffangen. Dann trank ich es. Aber …« »Aber?« »Mir wurde schwarz vor Augen. Und als ich wieder sehen konnte, hatte mein Herz aufgehört zu schlagen. Der Kelch lag neben mir am Boden, sein Inhalt war verschüttet. Ich hob ihn auf und kam hierher.
– Darf ich jetzt gehen?« Obwohl ich selbst mehr als ein Leben ausgelöscht habe, macht mich die beiläufige Art, wie er über den Hergang seines Todes spricht, schaudern. »Du kannst dich nicht ersäufen, du bist schon tot!« sage ich. »Dem Fluß ist es egal, und bis die Leut’ mich finden …« Aus den Höhlen seiner Augen starrt mich das pure Weiß an. Eine Pupille ist nicht mehr erkennbar. Die Augäpfel sind völlig verdreht. Ich lasse ihn ziehen und bin froh, als er fort ist. Die schief in den Angeln hängende Tür und der Kelch in Landrus starrer Hand sind der einzige Beweis, daß ich nicht nur geträumt habe. Der Morgen graut schon, als Philippe zurückkehrt. Das Mädchen, das er bei sich hat, heißt Clio. Sie wirkt verwirrt, als sie den Raum betritt und mich sieht. Philippe hat ihr gewiß nicht den wahren Grund genannt, warum er sie herführte. Sie sieht aus wie die Flittchen, die zuhauf an den Hafenkais herumlungern. Ihre Oberweite ist gewaltig, die Bluse bis zum Nabel aufgeknöpft. »Merde!« flucht sie jetzt und fährt die Krallen aus. »Ich mach’s nicht mit Weibsbildern – und zusehen laß ich mir auch nicht dabei!« »Das verlangt auch niemand«, ergreife ich das Wort. »Nein?« Unsicher lugt sie zu mir herüber. »Aber warum hat er mich dann hierher abgeschleppt?« »Damit du helfen kannst.« »Helfen? Wem? Und wobei?« Ich zeige auf Landru, der daliegt wie aufgebahrt. Anfangs hatte sie nur Augen für mich, aber das ändert sich nun. »Der Alte? Seid ihr … pervers?« »So solltest du nicht reden. Er könnte es hören.« »Scheiße, na und?« Sie schlägt nach Philippe und will sich von ihm abwenden, aber seine Hand schnellt vor und schließt sich wie eine stählerne Klammer um ihren Arm.
Sie ist nicht hübsch. Die Schminke kaschiert so manchen Makel. Aber darauf kommt es nicht an. »Bring sie her!« Sie droht: »Ich schreie das Haus zusammen, wenn ihr mich nicht auf der Stelle gehen laßt!« Ich nicke Philippe zu. Er läßt sie los … … um sofort neu zuzupacken. Der Klang, der durch das Zimmer peitscht, erinnert an das Brechen eines morschen Astes. Philippe fängt sein Mitbringsel auf. Clios Kopf baumelt haltlos hin und her. Gemeinsam heben wir sie zu Landru aufs Bett. Bald rinnt ihr Blut warm in jenen Mundspalt, in den schon der heimtückische Quacksalber sein Gift hineinbugsieren wollte …
* »Unternimm etwas!« Der Bluttrunk löst Landrus Zunge. Seine Augen lodern in jenseitigem Feuer. Auf mein Geheiß hin entfernt Philippe die tote Hafendirne. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert sein soll. Ich sehne mich nach der Berührung der Hände, die immer noch reglos neben den Hüften meines Geliebten liegen. Eine umschmiegt den Lilienkelch, aber sie hält ihn nicht, und der Kelch selbst gibt sich damit zufrieden, in die Hand zurückgekehrt zu sein. Er unternimmt nichts, um Landrus Heimsuchung zu beenden – zumindest nichts Erkennbares. Ist er wirklich so machtlos? Ich küsse Landru auf den Mund, der von Clios Blut benetzt ist. Haut und Haar meines Geliebten sind ebenfalls damit verschmiert, ganz zu schweigen von der Bettstatt. »Was soll ich unternehmen?« frage ich. »Was geht mit dir vor? Warum hast du nicht verhindert, daß der Hauptmann den –« »Ich konnte nicht«, gurgelt es aus seiner Kehle, und es hört sich an, als befände sich immer noch Blut in seinem Hals, das nicht weichen
will. »Ich sehe und höre, aber mir ist, als stecke ich … in einem unbeweglichen Panzer! Und diese … Hitze! Dieses Fieber!« »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.« »Du hast … mir geholfen. Das Blut hat ein paar der … Brände gelöscht. Wie lange, weiß ich nicht.« »Aber du kannst immer noch nicht aufstehen?« »Aufstehen?« Sein Lachen hört sich an wie heiseres, kraftloses Husten. »Nein …« »Was kann ich für dich tun?« Sein Gesicht ist nicht einfach nur bleich, nein, kalkweiß ist es, trotz der Hitze, die ihn quält und martert und die ihm doch etwas Rot auf die Wangen treiben müßte … »Du mußt … suchen!« »Suchen wonach?« Landru schweigt. Seine Lippen sind zwei dünne Striche, kaum dunkler als der Rest seiner Physiognomie. Ich höre, wie Philippe hinter mir rumort. Er verfrachtet Clio dorthin, wo schon ein anderer liegt: Pairal. Dann kehrt er mit schlurfendem Gang zurück, stellt sich ans Fußende des Bettes und wartet auf neue Befehle. Ich beachte ihn kaum. »Wenn das, was dir so ungeheuerlich zusetzt«, sage ich, »seine Ursache hier in Perpignan hat, wird Philippe hinuntergehen und die Pferde anschirren – dann werden wir unverzüglich der Stadt den Rücken kehren! Aber …« Ich zögere. Doch Landrus Feuerblick drängt mich, auszusprechen, was mich quält. »Aber das alles kommt so unerwartet … Ich weiß, es hört sich schwärmerisch an, aber ich habe immer geglaubt, du seist …« »Unbesiegbar?« Ich nicke. Er lächelt. »Seltsam, das habe ich auch geglaubt. Jedenfalls gehofft. Daß mich etwas … in diesem Maß schwächen könnte … nein, das hätte ich nicht im Traum ins Kalkül gezogen … Am meisten erschüt-
tert mich aber, daß … auch der Kelch kein Mittel dagegen weiß …« »Du bist sicher, daß du ihm vertrauen kannst?« »Warum sollte er … mich belügen?« Ich weiß es nicht. Ich weiß, was das angeht, gewiß weniger als du! Aber im Gegensatz zu dir halte ich den Kelch nicht für über jeden Zweifel erhaben. Er ist mehr als ein Ding. In ihm steckt eine Seele. Ein Verstand, so bizarr und fremdartig, daß mich friert, wenn ich nur daran denke, daß er auch auf meinen Seelengrund geblickt hat – damals, als ich das Geschenk des Lebens aus ihm trank … »Es nützt nichts, dieser Stadt … den Rücken zu kehren«, sagt Landru, und sein Atem in den Sprechpausen ist jetzt schon lauter als seine Stimme. »Es wird uns … begleiten. Wir können nicht fliehen, aber vielleicht können wir … es finden und unschädlich machen … Du könntest es … vielleicht …« Ich bin hin und her gerissen. Er redet, als wüßte er, was ihn ans Bett fesselt – und doch leugnet er, die Gründe zu kennen. Verschweigt er mir etwas? Aber warum sollte er? Über all dem habe ich beinahe vergessen, was wir zum Anlaß nahmen, Perpignan einen Besuch abzustatten. Die in Mode gekommenen »Neuen Zeitungen« hatten uns Kunde von den Vorgängen in Perpignan gebracht. In den illustrierten Berichten wurden die abstrusesten Theorien über die Hintergründe der Kindsleichendiebstähle verbreitet. Manche Verfasser glaubten, daß damit Schwarze Messen abgehalten würden. Andere vertraten die Auffassung, daß aus den toten Kindern jener Sud gekocht würde, aus dem Hexen ihre Salben herstellten, mit denen sie sich nach landläufiger Meinung einreiben mußten, bevor sie auf ihren Hexenbesen durch die Lüfte reiten konnten – und dergleichen Unsinn mehr … Landru und ich vermuteten andere Verursacher. Während unserer Herreise hatte mein Geliebter nicht ausgeschlossen, daß ein Ghul, der unter dem Friedhof hauste, die Leichen gestohlen hatte. Warum
sich ein solcher Aasfresser aber auf Kindsleichen beschränken und ihnen noch dazu von oben zu Leibe rücken sollte, statt unterirdisch, wie bei diesen Fledderern üblich, hatte auch Landru nicht zu erklären gewußt. Wir waren entschlossen gewesen, die Hintergründe während unseres Aufenthalts aufzuklären. Aber der eigentliche Sinn und Zweck für unseren Abstecher nach Perpignan war dies nicht. Die wahren Gründe waren viel persönlicherer Natur. Und sie betreffen vorrangig mich, nicht Landru. Daß nun aber er in solchem Umfang unter meiner ganz privaten Neugier leiden soll, macht mir immens zu schaffen. Ich schulde ihm, daß ich den Verursacher finde, und wenn er in dieser Stadt ist, dann wird mich nichts und niemand daran hindern, ihn zur Verantwortung zu ziehen! Das Problem ist nur, daß ich mir nichts vorzustellen vermag, was einen Kelchhüter in derartige Bedrängnis bringen könnte … Dennoch verspreche ich meinem Geliebten, die Tage hier auszuharren, in denen mich der Mondenschein zu einer Fürstin der Nacht krönt – und in denen ich mir Kräfte, Sinne und Instinkte dienstbar machen kann wie sonst nie im Laufe eines Monats! »Ich tue mein Bestes«, verabschiede ich mich am späten Abend aus der Dachkammer der Herberge – zum ersten Mal, seit wir in Perpignan angekommen sind. »Aber erwarte nicht zuviel … Und du, Diener, pflege ihn gut, deinen Herrn – sonst werde ich dich eigenhändig dort in den Schrank verfrachten!« Philippe nickt ehrerbietig, und ich begreife, daß er selbst den Tod pflichtschuldigst, ohne einen Hauch von Aufbegehren akzeptieren würde. Ein wenig hasse ich ihn für den Vorzug, daß nichts ihn wirklich mehr anfechten kann. Doch diese Anwandlung verraucht drei Schritte tief in der Nacht, in die ich aus der Herberge hinaus trete. Eine Nacht, von der ich noch nicht ahne, daß es meine letzte wäre, wenn es ihm gefiele.
Ihm – dem ich erst noch begegnen werde.
* Was für ein sonderbares Gefühl, Landru in der Pflegschaft Philippes zu wissen und hier allein durch die Straßen einer Stadt zu streifen, an die ich kaum mehr eine Erinnerung besitze. Ich war ein Kleinkind, als mein Vater mich bei der Hand nahm und mit mir fortging. Marseille war damals unsere erste und einzige längere Station. Lange wußte ich nicht, daß mein Vater ein Werwolf war, der gegen den Fluch in seinem Blut ankämpfte. Aber als ich es endlich wußte, fürchtete ich stets, daß es auch für mich kein Entrinnen vor dem silbrigen Gift des Mondes geben würde. In Marseille lernte ich eine andere Sorte Bestie kennen, die ihre dunklen Begierden an ihren Mitmenschen stillt … Obwohl: Vampire sind keine Menschen – nicht mehr. Sie haben ihre Menschlichkeit beim Ritual der Taufe abgestreift. Seele und Gewissen sind im Bodensatz des Lilienkelchs verschollen gegangen. Unwiederbringlich. Vampire mögen eine noch vagere Erinnerung an ihr Kind- und Menschsein vor der Taufzeremonie haben als Werwölfe. Wenn überhaupt. Nicht einmal Landru scheint zu wissen, wieviel vom Menschen übrigbleibt, wenn er die »Gnade des ersten Todes« empfangen hat – so bezeichnen die Vampire der Alten Rasse diesen Akt. Es interessiert ihn, glaube ich, auch nicht. Die Nacht ist fast zu warm für diese Jahreszeit. Wir schreiben den 1. Oktober, und in weiten Teilen der Alten Welt herrscht die Not, herrscht das Sterben. Aber Geschützdonner und Kampfgeschrei sind noch nicht bis in diese Region vorgedrungen. Ich frage mich, wie lange der Friede noch anhalten, wann die Kriegsfurie auch die Pyrenäenstädte und ihre Bewohner überrollen wird … Philippe hat mir den Weg zum Friedhof, von dem das vorerst letz-
te Kind geholt wurde, genau beschrieben. Mich friert trotz der lauen Nacht und obwohl ich jede Facette des Bösen längst zu kennen glaube. Ich selbst habe mein Leben in den Nischen eingerichtet, die zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Schlecht existieren. In den Augen von Menschen, die um meine Taten wüßten, wäre ich ein Monstrum. Aber diese Menschen haben nicht gesehen, was ich sah – und nicht durchmachen müssen, was mich über die Jahrzehnte prägte. Ich betrachte mich keineswegs als Ungeheuer – auch Landru entspricht nicht dem, was landläufige Meinung ein Monstrum schimpft. Wir beide – ein jeder auf seine Art – sind einfach anders, und ich halte es nicht für legitim, die Moralmaßstäbe gewöhnlicher Sterblicher auf uns anzuwenden. Auf den Kelchhüter noch weniger als auf mich. Wir stehen beide außerhalb der Gesellschaft, aber nicht einmal Landru verachtet, was Menschenverstand ersonnen und geleistet hat. Er hat manches Genie kommen und gehen sehen, und anfangs, wenn er bei den Erzählungen über sie ins Schwärmen geriet und ihr allzu frühes Ableben bedauerte, habe ich nicht begreifen können, warum er ihnen nicht eine ähnliche Gnade gewährte wie mir. Auch sie hätten doch durch die Magie des Kelchs länger leben können, als die Natur es ihnen zugestehen wollte, und dann hätten sie das Gesicht der Welt noch stärker formen, den Fortschritt noch vehementer antreiben können. Dazu ist es nie gekommen. Inzwischen ahne ich jedoch, warum – und auch warum Landru mir die Erklärung vorenthält: Vermutlich will er mich nicht verletzen, indem er mir entgegenhielte, daß die Unsterblichkeit von Genies sehr viel problematischer wäre als die eines eher schlichten Geistes, zu denen ich mich fraglos zählen muß! Ob dies jedoch der wahrhaftige Beweggrund ist, weiß ich bis heute nicht, und vielleicht werde ich noch bis ans Ende meiner Tage darüber rätseln, warum nur ich – als einziges von allen Kelchkindern – nicht erst den Preis des Sterbens entrichten mußte, um das ewige Le-
ben zu erlangen … Ich drücke mich in einen Hauseingang, als ein Trupp Soldaten in einiger Entfernung aus einer Querstraße marschiert und in die nächste einbiegt. Die Wachsamkeit und die Kontrollen wurden in der ganzen Stadt verschärft. Nicht nur des Nachts, auch bei Tag patrouillieren die gestiefelten Landsknechte durch die herausgeputzte Handelsstadt. Ich warte, bis die Entdeckungsgefahr vorüber ist. Dann trete ich aus der Nische hervor und hebe den Kopf. Der Mond hängt schwer wie ein Gebirge über den Dächern. Unentwegt treiben dünne Wolkenschleier daran vorbei, als würden sie ihn polieren. Ich spüre, wie er mich ruft. Wie er mich findet. Keine noch so dicke Mauer, keine denkbare Barriere könnte verhindern, daß er mich aufspürt und weckt, was in mir schlummert. Aber diese Nacht unterscheidet sich von den hellen Mondnächten, in denen ich mich sonst auf die Jagd begebe. Diese Jagd ist meinem Geliebten gewidmet. Ich will versuchen, die in mir erwachenden Kräfte zu nutzen, um dem üblen Einfluß auf die Schliche zu kommen, der ihm auf nie erlebte Weise zusetzt! An einer schwer einsehbaren Stelle, inmitten eines kleinen Kräutergartens, knie ich auf dem Boden nieder und reiße die Arme zum Himmel. Meine Augen sind weit offen, und fahles Licht sickert wie eine Droge in mich ein. Auch mein Mund klafft weit auseinander. Ich trinke das Licht, das mein Schicksal war und ist und ewig sein wird. Es dauert nicht lange, bis mein Haar sprießt. Bis ich mir wie im Rausch jeden Fetzen Kleidung vom Leib schäle und meine gespreizten Finger durch das dichte Fell kämmen, das über meine Haut wuchert. Mein Sehen wandelt sich. Die Nacht explodiert. Ich sehe … Farben. Und in den Farben … Formen! Speichel rinnt von meinen Lefzen. Zehen und Finger biegen sich
zu Klauen, die es ratsam machen, sich auf allen Vieren zu bewegen. Hinter den Knochen meines Schädels ist ein kleiner, silbrig strahlender Mond aufgegangen – eine Miniatur des gewaltigen Versuchers, der in dieser Nacht nicht nur mich aus seinem Menschsein rüttelt. Ich bin nicht die einzige, die ihm hörig ist und Gehorsam schuldet. Meinesgleichen gibt es an vielen Orten. Auch hier? Auch in Perpignan? Und wenn ja, werde ich ihnen begegnen? Werde ich ihnen dort begegnen, wohin es mich – in Landrus Namen – zieht, obwohl der Boden dort für meinesgleichen verboten und tabu sein sollte? Jetzt, da ich selbst dazu geworden bin, glaube ich weniger denn je, daß ein Werwolf Kinder stiehlt. Tote Kinder. Vorsichtig witternd verlasse ich den Garten. Der Wind trägt mir Düfte zu, die sich zu Bildern möglicher Beute zusammenfügen. Ich denke und fühle völlig verändert in diesem Kleid aus Haaren. Und dennoch versuche ich die Erinnerung wachzuhalten, warum ich ausgerechnet diesen Weg einschlage. Zum nahen Friedhof. Zu einem Feld von Gräbern. Aas hat mich nie interessiert. Der Weg zählt, nicht das Ziel. Die Jagd ist mehr als Fressen. Ich zehre von der Angst des Wildes. Vom Entsetzen meiner Opfer, wenn sie meinen Atem in ihren Nacken spüren … Und dennoch wende ich mich dorthin, wo das letzte Kindergrab geschändet wurde. Daß es, kriechen Landrus Worte wie eine mit Blut geschriebene Mahnung durch mein Hirn, einen Zusammenhang geben könnte zwischen dem, was mir und dem, was all den Toten widerfährt …! Ihm zuliebe hoffte ich, er hätte recht. Ihm zuliebe will ich zwischen Kreuzen wandeln …
*
Das Tor zum Friedhof ist bewacht. Ein ganzer Trupp Soldaten steht davor. Ich höre ihre Reden bis in mein Versteck. Und ihre Flüche. Sie überbieten sich gegenseitig in Drohungen, was sie dem, der die Totenruhe stört, alles antun wollen, wenn sie ihn auf frischer Tat ertappen … Außer der Gruppe am Tor bewegen sich noch andere Gestalten entlang der hohen Friedhofsmauer. Sie sind bewaffnet mit Säbeln, Handfeuerwaffen und Flinten. Unterschätzen darf ich sie nicht. Ich entferne mich vom Toreingang. In mir brennt die Begierde, die erst Ruhe geben wird, wenn meine Pranken im sich windenden und wehrenden Fleisch eines Opfers wüten. Ich muß verrückt sein, mich dagegen aufzulehnen, mich so zu kasteien … Als sich die Patrouillengänger weit genug entfernt haben, hetze ich auf die Mauer zu und überwinde sie mit einem gewaltigen Satz. Auf der anderen Seite will ich federnd auf allen Vieren landen, doch ich pralle gegen einen Grabstein und bleibe für Augenblicke benommen auf dem Rücken liegen. Die Augen der Wölfin sehen eine in Stein gemeißelte Inschrift, doch erst mein Verstand entziffert die Glyphen: Es weht der Wind ein Blatt vom Baum, von vielen Blättern eines. Das eine Blatt, man merkt es kaum, denn eines ist ja keines. Doch dieses eine Blatt allein war Teil in unsrem Leben. Drum wird das eine Blatt allein uns immer wieder fehlen. Ein böses Glitzern füllt meine Augen. Ich verzichte darauf, Namen und Sterbedaten des hier Begrabenen zu lesen. Sentimentalität hat im Herzen des hungrigen Jägers keinen Platz, und so will ich mich just in dem Moment vom Boden erheben, als sich Stimmen nähern. Ich wälze mich auf den Bauch und halte inne. Vor mir kommt Bewegung in die Muster der Nacht. Ich schnappe Wortfetzen auf.
»… genau gehört … wirst schon sehen …« »… hörst und siehst Gespenster … war nichts …« Es sind drei – drei Männer, die sich ziemlich schnurgerade auf mich zu bewegen. Der Dritte beteiligt sich nicht am Gerede der beiden anderen. Er trägt eine Laterne und leuchtet der Gruppe den Weg. Verdammt. Ich finde Gefallen an ihnen, aber eigentlich wollte ich erst … Zu spät. Lichtschein fällt auf mein Fell. »Da!« schreit der Kerl mit der Lampe. »Da ist –« Weiter kommt er nicht. Die Lampe fällt und erlischt, als das Glas beim Aufprall auf den Boden splittert. Ich beiße zu. Sein Fleisch ist nachgiebig wie weicher Gummi. Blut füllt meine Kehle. Ich speie es aus. Keine Zeit. Noch keine Zeit, um einem Mahl zu frönen … Neben mir ist großes Geschrei. Eine Flinte entlädt sich mit Getöse. Blei hackt in meinen Rücken und verfehlt nur knapp das Rückgrat. Dieser Narr hätte um ein Haar einen verheerenden Zufallstreffer gelandet! Ich gebe ihm keine zweite Chance. Wütend peitscht meine Klaue durch die Dunkelheit. Die gebogenen Nägel streifen den Hals des Soldaten nur. Trotzdem sinkt er sofort röchelnd auf die Knie und läßt das Gewehr fallen. Nur noch einer steht auf seinen Beinen. Zuerst glaube ich, er will sich abwenden, aber dann wirbelt er urplötzlich wieder herum, und ich sehe den Schaft seiner Flinte auf mich zukommen, deren Lauf er fest umklammert hält. Die Luft faucht, doch ich kann ausweichen, so daß das Hartholz nicht meinen Schädelknochen spaltet, sondern lediglich meine linke Schulter rammt. Blitzschnell schnappt meine Rechte zu und entreißt ihm die Flinte. Er mag mich nur als Schemen sehen. Dennoch graut ihm so, daß er schreiend um sich schlägt und den Säbel aus der Gürtelscheide zu
reißen versucht. Es gelingt ihm nicht, weil ich schneller bin. Und weil meine Waffen fest mit mir verwachsen sind. Ich stoße ihm den Nagel meines Zeigefingers wie einen Dorn ins Herz. Sein Brustkorb bläht sich auf und sinkt dann mit einem letzten, ersterbenden Ton wie ein Blasebalg in sich zusammen. Blut schießt aus dem Mund des Soldaten, der tot ist, bevor er neben seinen Kameraden zum Liegen kommt. Reflexartig reiße ich sein Uniformhemd auf und zerre einen Fetzen Fleisch von seinen Rippen – aber mir bleibt keine Zeit, es zu vertilgen. Der Schuß hat andere mobilisiert. Die Nacht ist voller Feinde, und ich wundere mich nur, wie wenig Beschwerden mir die geweihte Erde bereitet. Ich kenne andere Orte, an denen ich mich fühlte, als würde siedendes Wasser meine Adern durchströmen – als hörte ich sengende Stimmen in meinen Ohren und als würde der Boden unter meinen Füßen versuchen, mich wie Treibsand zu verschlingen! Hier ist von alledem nichts zu spüren, und das ist mehr als sonderbar, mehr als … beunruhigend. So als wäre der Boden dieses Gottesackers durch die ruchlose Tat des Leichendiebes schon vor meinem Eintreffen entweiht worden, ohne den Verdacht der Gemeinde und des zuständigen Pfaffen zu wecken … Unsinn, denke ich. Wer hätte die Macht, dies unbemerkt zu schaffen? Die entweihten Stätten, die es natürlich gibt und die ich auch bisweilen besuche, sind auf den ersten Blick als solche kenntlich gemacht. Um die verderbliche Kraft aus ihnen zu vertreiben, müssen Kruzifixe mit der Spitze nach unten in den Boden gerammt, Grabsteine untergepflügt oder zerbrochen, Särge geöffnet und die Knochen der Gerippe darin mit den Knochen anderer Toter vertauscht werden. Dadurch entstehen Gegenkräfte. Die Weihe wird aufgehoben, und ehemalige Friedhöfe werden zum idealen Unterschlupf für Kreaturen der Finsternis …
Eine Geschoßsalve klingt auf. Ich werfe mich zu Boden und denke an Flucht. Habe ich den Bogen überspannt? Ich hätte geschickter, diskreter vorgehen müssen, wenn ich Landrus Verdacht wirklich auf den Grund hätte gehen wollen. Nun bleibt mir dafür kaum noch Zeit. Eine kleine, bis an die Zähne bewaffnete Armee rückt an. Zähne … Landru … Macht und Ohnmacht … Die Assoziationen zucken wie Blitze durch mein Hirn. Mein bleicher Geliebter … Mir darf nichts geschehen, sonst ist niemand mehr da, der ihm Trost spendet! Philippe ist dazu nicht fähig. Philippe ist nicht besser als eine aufgezogene mechanische Puppe. Er kann dem Bettlägerigen nicht geben, was er braucht. Eine neue Salve und vereinzelte Nachzüglerschüsse stoßen Feuerlanzen in die Nacht. Heulend prallen Querschläger von den Grabmälern ab. Nur noch einen Steinwurf sind meine Häscher entfernt. Wie leichtfertig gehe ich mit Chancen um? Chancen? Ich begreife endgültig, daß ich Landrus Glauben nicht teile. Der Diebstahl der Kindsleichen hat nicht das geringste mit seinem Zusammenbruch zu tun, mit der abnormen Schwäche, die ihn heimgesucht hat! Ich bin sicher. Wäre ich es nicht, hätte ich mich gewiß weniger tölpelhaft angestellt! So aber muß ich sehen, daß ich mit möglichst wenig Blei im Leib davonkomme … Ich wende mich wieder der Stelle zu, an der ich auf diese Seite übersetzte, und versuche sie zu erreichen. Aber in dem Augenblick, in dem ich meine Muskeln und Sehnen spanne, um mich mit einem erneuten mächtigen Sprung in Sicherheit zu bringen, tauchen auch dort oben auf dem Mauerkamm Gestalten auf. Sie müssen Leitern angestellt haben. Die Mündungen häßlicher Waffen drohen in meine Richtung, während mich ein Schuß in den Rücken vorwärts taumeln läßt. Der Schmerz ist erträglich, aber als ich den Kopf wende und über die Schulter blicke, sehe ich sie nebeneinander kommen. Ihre
Gesichter sind verschwitzt, haß- und grauenerfüllt. Der Schein ihrer Lampen und das Licht des Mondes offenbaren ihnen ein Wesen wie aus Alpträumen geboren. Wieder krachen Schüsse. Wieder werde ich getroffen, von zwei, drei Kugeln dicht hintereinander. Ich falle auf die Knie. Hinter mir erklingen triumphale Schreie. Sie wissen nicht, was sie tun. Sie wissen nicht, wer ich bin. Aber genau das macht sie gefährlich … »Gleich haben wir es!« »Wir müssen ihm den Kopf abschlagen!« »Dieses Monstrum hat die Kinder gestohlen! Dafür wird es büßen! Der Scheiterhaufen wird es fressen!« »Das Fell … Laßt mir das Fell …!« Ich wünschte, ich könnte ihm die Zunge herausreißen, diesem elenden Schacherer! Aber vorher werden sie mir noch Ärgeres zufügen! Mein Blick trübt sich. Ich blute aus vielen Wunden. Mein Lebenssaft rinnt auf das Grab, auf dem ich niedergesunken bin. Für Landru und seinesgleichen wäre es reiner Nektar – das Elixier des gespenstisch-zeitlosen Daseins, das sie führen … Ich krümme mich zusammen, mache mich so klein, wie ich kann. Es wird nichts nützen. Sie sind unbarmherzig, und sie tun gut daran, denn ich werde die geringste Schwäche nutzen und so viele von ihnen mit ins Jenseits nehmen, wie ich kann! Noch näher kommen sie, schießen, was das Zeug hält, und mein Körper fängt die Kugeln auf. Dazwischen höre ich Säbelgerassel. Doch all dies – verstummt ganz plötzlich, und alles, was bleibt, ist Stille von ohrenbetäubender Dimension. Bin ich tot? Hat mir einer der Gesellen in den Kopf geschossen und mein Hirn über die Gräber zerstreut? Ich hebe den Kopf und sehe, was geschehen ist. Sehe, aber begreife es nicht.
Die Szene wirkt wie erstarrt, und die Soldaten, als wären sie von Eis umgeben und darin erfroren! Kein Ton spaltet die Stille. Selbst der Wind hat aufgehört zu wehen und die Blätter im Gesträuch zu bewegen. Alles und jedes hält den Atem an, aber auf eine so beklemmende Weise, daß ich mich vor dem Zusammenbruch dieses irrealen, schon viel zu lange andauernden Moments fürchte, wie ich mich vor noch nichts anderem gefürchtet habe … Ich richte mich auf und sehe staunend, daß meine Wunden aufgehört haben zu bluten. Sie haben sogar aufgehört zu schmerzen! Und überhaupt … Wieso kann ich mich als einzige weiterhin bewegen, als wäre nichts geschehen …? Zwei Gedanken später regt sich doch etwas am Rande meines Blickfelds. Ich sehe genauer hin und erkenne eine Gestalt in einem Umhang, dessen Kapuze über den Kopf gezogen ist und ihn verdeckt. Der Saum des Stoffes reicht bis auf den Boden. Die Gestalt ist auffallend klein, als verberge sich unter dem Umhang ein Kind. Zunächst kehrt mir die unheimliche Erscheinung den Rücken, doch als sie auf einen der Nebenpfade des Friedhofs wechselt, sehe ich sie im Profil und erkenne, daß sie etwas auf ihren Armen trägt. Ich weiß nicht, warum es mir die Kehle zuschnürt; warum mich der Anblick des kleinen Kindes in seinem weißen Totenhemd so sehr erschrickt, daß ich mich vor Zittern kaum noch auf den Beinen halten kann. Oder fordern die Schußverletzungen nun doch ihren Tribut? Ich wanke ein paar Schritte nach vorn, stolpere über einen der Toten, die auf mein Konto gehen, und falle. Als ich mich wieder aufrichte, ist der kleinwüchsige Leichendieb wie vom Erdboden verschluckt. Und immer noch stockt der Zeit der Atem! Ich frage mich, ob dieses zweifellos magische Phänomen auf den Friedhof begrenzt ist, oder ob es die ganze Stadt umschlingt und fes-
selt. Der Mond beantwortet mir meine Frage. Er glotzt fahl auf mich herab, und sein rundes Auge ist von Wolkenschlieren getrübt, die an ihm kleben, nicht mehr daran vorbeiziehen wie vorhin noch! Wie selbstverständlich suche ich die Stelle auf, an der ich die Gestalt in Umhang und Kapuze zum letzten Mal bemerkte. Die Fährte, die sie hinterlassen hat, ist von solcher Wucht (ja, Wucht), daß es mich erneut überkommt, als würde mir der Boden unter den Füßen entzogen. Mir schwindelt, doch mit Mühe halte ich dem Ansturm stand und nehme die Witterung auf. Ungehindert verlasse ich den Friedhof durch seinen hinteren Ausgang. Unterwegs begegne ich denen, die das zweite Tor bewacht haben, dann aber von den Schüssen weggelockt wurden. Auch sie sind mitten im Lauf erstarrt, und selbst ihrer Starre wohnt noch eine solche Dynamik inne, daß ich bis zuletzt damit rechne, sie könnten wieder daraus erwachen, noch während ich sie passiere. Dann bin ich draußen vor der Friedhofsmauer, und auch hier schwebt die Spur, der ich folge, weiter untrüglich in der zähen Luft. Durch eine Stadt, die nicht einfach schläft, sondern deren Schlaf wie der Herzschlag der Schläfer angehalten ist, gelange ich zu einem windschiefen Haus am Ende einer Sackgasse. Dort endet die Spur. Dort hinein ist das Gespenst, das tote Kinder stiehlt, verschwunden … In dem Moment, da ich über den Pfad des verwilderten Vorgärtchens auf das Haus zu laufe, endet der Stillstand der Zeit so plötzlich, wie er begonnen hat, und für mich fühlt es sich an, als reiße tief in mir selbst eine allzu straff gespannte Saite. Aus der Ferne bellen Schüsse, und ich habe den Eindruck, daß die Soldaten auf dem Friedhof nahtlos weitermachen, wobei sie – ohne es zu merken – unterbrochen wurden. Das Krachen der Flinten hört jedoch sehr rasch wieder auf, weil das aufs Korn genommene Ziel verschwunden ist.
Ich. Nur wenig später merke ich, daß ich wieder aus den Wunden blute, die mir zugefügt wurden; und auch der Schmerz kehrt zurück. Erst spüre ich ihn nur vage, dann verschlingt er mich wie eine schwarze Woge. Ich merke schon nicht mehr, wie ich auf den Pfad aufschlage.
* Als ich aufwache, liege ich in einem Bett. Ein buckliger Mann ist bei mir. Er sagt: »Danke dem Herrn – du wirst nicht sterben!« Ich blicke an mir herab und bemerke, daß ich wieder ich bin – die uralte und doch junge Frau in glatter Haut. Was ist geschehen? War ich so lange ohne Bewußtsein, daß der abnehmende Mond mir seine Gunst entzogen hat? »Wo bin ich?« Meine Stimme ist belegt. Den Buckligen stört es nicht. Und seinen Herrgott, der mich noch nie beachtet hat, sicher auch nicht. Der Größe nach könnte er der Vermummte sein, den ich auf dem Friedhof sah. Doch ich glaube nicht, daß mir seine Verwachsungen entgangen wären. Nicht einmal der Umhang hätte sie verbergen können. »Im Haus des Herrn.« »Eine – Kirche?« Ich sehe mich um. Der Bucklige blinzelt verwirrt. »Der Herr wird sich bald um dich kümmern. Er ist noch … beschäftigt.« Da erst dämmert mir, daß von Anfang an nicht von dem Gott, an den so viele glauben und an dem sich so viele festhalten, die Rede war. Ich blicke an mir herab. Ich bin nackt. Nicht einmal zugedeckt. Meine Kleider liegen noch in dem Kräutergarten, in dem ich sie abstreifte. Vergeblich suche ich nach den Schußwunden; vergeblich
lausche ich auch in mich auf der Suche nach den draußen noch verspürten Schmerzen. Ich glaube Narben zu entdecken, die kaum mehr als Schatten auf meiner sonst makellosen Haut sind. Nirgends ist mehr Blut. Überhaupt fühle ich mich unglaublich sauber. Wie sonderbar. Ich bin jetzt sicher, daß ich mich in dem Haus befinde, vor dem ich zusammenbrach. Hat der Bucklige mich aufgehoben und hineingetragen? Hat er mich gewaschen? Ich weiß, daß der Keim aus dem Lilienkelch, den Landru mir einst zum Geschenk machte, Krankheiten von mir fernhält und auch Wunden schneller heilen läßt. Aber ich war vollgepumpt mit Blei, habe Unmengen Blut verloren, und daß mein Körper sich nun präsentiert, als wäre ihm all dies nie zugestoßen, weckt ganz zwangsläufig mein Mißtrauen. In diesem Augenblick geht die Tür auf. Ich richte mich auf, stütze mich auf die Ellbogen, weil ich erwarte, den Herrn des Buckligen kennenzulernen und vielleicht Antworten auf die Fragen zu erhalten, die mir auf der Zunge brennen. Aber es ist eine Frau, die eintritt. Ein zerfressenes Gesicht grinst mich an und keift: »Bilde dir nur nichts ein – ich war auch mal schön! Er kann’s bezeugen!« Der Verwachsene nickt eifrig. Die Frau, an der jeder sichtbare Zoll Haut wie mit Säure übergossen aussieht, stellt einen Krug mit Wasser auf den Tisch neben dem Bett, in dem ich liege, und wendet sich mit einem grotesk affektierten Hüftschwung wieder der Tür zu. Selbst ihre Augen sind zerfressen, und es ist mir unerklärlich, wie man damit noch sehen kann. »Warte!« rufe ich. Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »Was ist mit dir passiert?« »Dasselbe, was jedem einmal blühen kann«, gibt sie in gehässigem Ton zurück. »Ich lag lange im Salz …« Sie zeigt auf den Buckligen.
»Das war seine Idee.« »Im Salz?« Achselzuckend verläßt sie den Raum. »Sie meint es nicht so«, erklärt der Bucklige, als wäre er ihr Fürsprecher. »Der Herr hat es gut mit mir gemeint und sie mir zurückgegeben. Er hat sämtliche Spiegel aus dem Haus verbannt, aber natürlich sieht sie, was aus ihrem Körper geschehen ist …« »Sie … sieht?« Ich muß wieder an die Augen denken, die keine mehr sind. Der Bucklige geht nicht darauf ein. »Ruh dich aus. Der Herr wird bald kommen.« Mit diesen Worten verläßt auch er das Zimmer, und ich bin nicht fähig, ihn aufzuhalten. Dabei will ich nicht allein sein. Ich will auch nicht hier sein. Ich schwinge mich aus dem Bett. Habe ich mich je besser gefühlt? Ich gehe zu einem der Fenster und versuche herauszufinden, wohin es führt, ob es zur Straße liegt oder zur rückwärtigen Seite des Hauses … Aber ich sehe nichts. Das Glas ist wie blind. Es kommt mir nicht einmal wie Glas vor. Aber was ist es dann? Ich klopfe mit einem Fingerknöchel dagegen. Kein Laut. Gar nichts. Vergeblich suche ich auch nach einem Mechanismus, um das Fenster zu öffnen. Schritte lenken mich ab. Schritte von jenseits der Tür. Kehrt der Bucklige zurück – oder seine Frau? Ein saugendes Geräusch … … ein Geräusch, das mir die Luft inmitten eines Atemzugs zu durchtrennen scheint … ZZZUUUWWW! … und dann steht er im Zimmer! Er ist einfach durch die geschlossene Tür hindurch geschritten, und für einen Moment hat es den Anschein, als füge er sich aus Myriaden flirrender Staubteilchen zusammen.
Und er fragt: »Du willst mich schon verlassen?«
* Unter einem Druck, dem ich nicht widerstehen kann, gehe ich in die Knie. Der Mann im Mantel lacht. »Wer blickt schon gern zu jemandem auf, den er mit einem Fingerschnippen auslöschen könnte?« Unsere Augen sind jetzt auf gleicher Höhe, zuvor reichte er mir nur bis zur Brust. »Wer bist du?« »Der, der dich rettete.« »Wann?« »Das fragst du nicht ernsthaft … Draußen auf dem Friedhof hätten sie dir das Herz aus dem Leib geschossen, wenn ich nicht eingeschritten wäre.« Ich weiß, worauf er anspielt, aber mir wird heiß und kalt, weil ich nicht glauben will, daß einer wie er existiert. »Wer bist du?« wiederhole ich. Er trägt sonderbare Kleidung, die vielleicht ebenso Illusion ist wie er selbst. Einen dicken Mantel und eine Kopfbedeckung, nicht unähnlich einem Turban. Ein Bart ziert sein Gesicht, das wie aus Stahl gegossen wirkt, unbewegt, unnahbar, auch wenn wieder ein Lachen aus dem Mund schallt. »Und du? Wer bist du?« Seine Stimme klingt unvermittelt wie fernes Donnergrollen, und ich weiß sicher, daß er mehr hören will als meinen Namen. Sehr viel mehr. Seine Frage berührt etwas, das (ich erzittere) mit meinem elementarsten Ursprung zu tun hat. Nicht nur mit mir als Mensch, sondern auch mit der Wölfin unter der Fassade. »Ich …« Die Art, wie er mir ins Wort fällt, ist fast väterlich. »Du weißt es nicht«, sagt er. »Natürlich weißt du es nicht. Aber du hast das Potential, es eines Tages, wenn die Zeit reif ist, zu
erfahren.« Was meint er damit? »Er hat das Uhrwerk in dir angehalten, wie erstaunlich«, fährt er bereits fort, als wüßte er von Landru, fände es aber nicht erforderlich, ihn beim Namen zu nennen. »Hast du …«, ich blicke an mir herab und weiß nicht, warum mich meine Blöße in seiner Gesellschaft weniger stört als in der des Buckligen, »… meine Wunden geheilt?« »Nein.« »Nein?« »Sie haben keine Bedeutung. Nicht in meinem Haus«, erhalte ich eine Antwort, die keine ist. »Komm jetzt.« »Wohin soll ich gehen?« Er kehrt mir bereits den Rücken zu, sicher, daß ich folge. Tatsächlich erhebe ich mich, als würde ich auf die Füße gestellt. Und als ich stehe, ist der Zwerg kein Zwerg mehr, sondern so groß wie ich, ohne daß sich seine Proportionen und Züge verändert zu haben scheinen. Diesmal geht er nicht durch die geschlossene Tür. Sie schwingt vor ihm zurück, so daß sie auch für mich kein Hindernis ist. Ich suche immer noch nach einer Möglichkeit, diesem Ort zu entfliehen. Aber mein Körper denkt nicht daran, den Mann ohne Namen zu betrügen. Mein Körper trottet hinter ihm her wie eine gehorsame Marionette. Wir gehen durch Gänge, die unwirklich sind wie das Fenster, durch das ich zu schauen versuchte. Die Wege, die wir gehen, erscheinen mir länger als das Haus überhaupt sein kann. Schließlich steigen wir eine Treppe hinab in ein Gewölbe, das groß ist wie ein Kirchenschiff. Nirgends brennt ein Licht, und dennoch ist es nicht dunkel. Von der Decke hängen straffe Fäden herab, zu viele, als daß ich Lust verspürte, sie zu zählen. Und an einem jeden Faden hängt etwas, das
aussieht wie die Beute, die eine Spinne in ihrem Netz eingesponnen hat, um den Inhalt des Kokons später aufzufressen. Nur daß diese Gespinste … groß sind. Und genügend transparent, daß man in ihr Inneres blicken kann. »Warum zeigst du mir das …?« Meine Stimme versagt. Der Anblick der eingesponnenen Kindsleichen greift selbst mir ans Herz. Ich räuspere mich und überwinde die Schwäche, die mich mundtot machen wollte. »Was hast du mit ihnen getan – und warum?« »Du willst es wissen?« Er steht am Ende der Treppe, drei Stufen unter mir, und trotzdem überrage ich ihn nicht. Er scheint es tatsächlich nicht zu ertragen und nicht zulassen zu wollen, daß ihn irgend jemand an Größe übertrifft. Er hat, so scheint’s, bei aller Macht, die in ihm pocht, ein höchst kleinliches Gemüt. »Würde ich sonst fragen?« Der Stahl seiner Mimik gerät in Bewegung. Was ich ihm eben noch absprach, geschieht: Er lächelt fast warm, fast – menschlich. »Ich habe sie geholt, weil ich Mitleid mit ihnen hatte«, sagte er. Und nach einer kurzen Pause: »Glaubst du das?« »Nein.« Er nickt. »Du hast recht. Mitleid ist mir fremd. Nur sterbliches Gewürm kann glauben, es sei eine Tugend, mit anderen leiden zu können … Du bist nicht sterblich – nicht mehr. Du müßtest wissen, wovon ich rede.« »Bist du wirklich so verächtlich, wie du dich gibst?« »Natürlich.« »Aber du willst mir nicht sagen, wer du bist?« »Eines Tages wirst du es erfahren. Du und ich, wir waren schon miteinander verbunden lange vor dem Tag, da du den Weg zu mir fandest.« »Das glaube ich nicht. Oder bist du am Ende … mit meinem Vater verwandt?« »Pierre?«
Er kennt seinen Namen! »Verwandt …?« fährt er fort. »Was für ein köstlicher Gedanke!« »Sag es!« Zorn erwacht und wühlt in mir, und ich habe nicht einmal einen Gedanken übrig, um mich zu wundern, daß mein unterwürfiger Körper an diesem Punkt mir wieder Untertan ist und die Fäuste ballt. »Nein, wir sind nicht verwandt, was bildest du dir ein!« »Aber du kanntest ihn! Hatte er Brüder? Leben noch Angehörige?« »Nach all der Zeit?« Der Herr des Hauses schüttelt den Kopf. »Vielleicht hättest du früher kommen sollen … Aber dann wäre ich nicht da gewesen.« Was weiß er noch von mir? Mich schaudert. »Mein Vater war ein Werwolf …« »Ich weiß.« »Er gab den Fluch an mich weiter.« Er verblüfft mich, indem er abermals verneint und behauptet: »Nicht er gab ihn weiter.« Verständnislos starre ich ihn an und vergesse fast, welches makabre Bild mich umgibt. »Nicht er …? Wer dann?« »Du hast viele Fragen«, unterbricht er mich. »Dabei wollte ich dir nur das hier zeigen.« »Tote Kinder …« Ich versuche ihm zu zeigen, wie verwerflich selbst ein Geschöpf wie ich es findet, Kindsleichen auszugraben und sie zu verschleppen. »Was tot ist, muß nicht tot bleiben«, hält er mir entgegen. »Du willst sagen …?« »Es ist nicht leicht, den Funken, der noch in ihnen brennt, zu finden und zu schüren«, räumt er ein. »Aber das Leichte ist selten von Wert. Sie …«, er umschließt alle hier aufbewahrten Kinder mit seiner Geste, »… werden wieder leben! Hättest du sie sterben lassen, sie, die noch nichts vom Leben hatten?«
»Nein …« »Siehst du! Aber Er … Er hat es zugelassen. Seine Abwesenheit entschuldigt nicht, daß es in Seinem Plan geschehen kann, daß unschuldige Kinder sterben, oder?« Den Buckligen verstand ich falsch, aber von wem sein Herr hier spricht, ist kaum zu mißdeuten. »Wer so redet wie du, der glaubt normalerweise nicht an die Existenz eines Gottes …« »Ich entspreche in vielem nicht der Norm.« »Das ist mir auch schon klargeworden.« »Gut. Dann geh jetzt wieder.« »Ich kann – gehen?« Mein Blick wandert von einem Kokon zum anderen, als wollte auch er nicht glauben, daß dies alles ist, was ich über die Bedeutung dieses Ortes erfahren soll. »In das Zimmer«, dämpft er meine Erwartung, »das ich dir zugewiesen habe.« »Du willst mich hierbehalten?« »Nicht auf Dauer.« Das ist ein dehnbarer Begriff, aber sein Ton verrät, daß Konkreteres nicht von ihm zu erwarten ist. »Halt – warte! Was wird aus ihnen, wenn der Funke wieder aufglimmt? Was wirst du mit ihnen tun, wenn ihre Herzen wieder schlagen sollten?« Das warme Lächeln weicht etwas Kaltem und Zynischem. »Dann werden sie meine Kinder sein.« Ich weiß nicht, warum, aber aus seinem Mund klingt das wie eine Kriegserklärung. Krieg gegen wen? »Laß uns noch über mich und meinesgleichen reden.« Ich lecke mit meiner Zunge über Lippen, die rauh und spröde sind. »Du hast vorhin geredet, als wüßtest du, wer die wölfische Natur in mich und meinesgleichen pflanzte … Wer war es? Sag mir, wer uns seit Jahrhunderten zu Verfluchten stempelt! Wie lange gibt es uns schon? Wo liegen unsere Wurzeln?«
Wider Erwarten erhalte ich eine vage Antwort. »Du müßtest in der Zeit zurückgehen können, um den Ursprung zu finden. Aber das kannst du nicht – das vermag nicht einmal …« Er verstummt, und zum erstenmal spüre ich, daß ihm fast etwas herausgerutscht wäre, was nicht für mein Ohr bestimmt ist. »Du kennst die Wurzeln?« »Ich kenne sie.« »Warum verrätst du sie mir dann nicht? Was würde es ändern, wenn ich es wüßte?« »Du würdest mit dem Wissen nicht mehr weiterleben wollen – keine Minute.« Betroffen starre ich ihn an. Was kann so schrecklich sein, daß eine Frau wie ich, eine Frau mit dem Herz einer Wölfin, es nicht ertragen hätte? Ich glaube ihm nicht. »Wie weit müßte ich in der Zeit zurückgehen?« »Von heute an gerechnet fast eine Million Tage.« »Wie viele genau?« Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: »Neunhundertzweiundachtzigtausendvierhundertundacht Tage.« Keine leichte Zahl zum Merken, und ich weiß nicht einmal, warum ich sie mir merken sollte, denn natürlich hat er recht: Ich vermag nicht in der Zeit zurückzugehen. Niemand vermag das. Nach dieser Auskunft macht mein Körper kehrt und steigt die Stufen hinauf, die er zuvor gekommen ist. Der Mann ohne Namen folgt mir nicht. Er ist sich seiner Sache sicher; er weiß, daß ich aus seinem Haus nicht fliehen kann. Mir graut. Liebster, rinnt es dunkel durch meine Gedanken, als ich die Tür meiner Zelle hinter mir schließe und mich auf das Bett lege, in dem ich aufgewacht bin. Wie geht es dir, Liebster? Liegst du immer noch da und kannst dich nicht rühren? Was wirst du glauben, wenn ich nicht zu
dir zurückkehre? Daß ich dich im Stich gelassen habe in deinen schwersten Stunden …? Daß er mich hier finden und befreien könnte, glaube ich nicht. Er braucht selbst Hilfe, ist selbst ein Gefangener – in seinem eigenen Körper …
* Die Tage vergehen. Wie viele mögen es wohl sein? In dieses Haus dringt weder Licht noch Dunkel. Die Zustände hier sind immer gleich. Der Bucklige, dessen Name Raoul lautet, und seine Frau Marie versorgen mich mit Essen und Trinken. Ich habe gefragt, woher sie es nehmen, und Raoul antwortete, daß er ein und aus gehen darf, seine Frau aber als Pfand zurücklassen muß. »Du liebst sie?« habe ich ihn aus Neugier gefragt. »Auch.« »Auch?« »Ich glaube, ich bin verdammt, sie nie aus meinem Herzen verbannen zu können, obwohl ich sie hasse.« »Du haßt sie?« »Ich habe sie umgebracht, weil sie mich immer wieder demütigte. Eines Tages habe ich es nicht mehr ertragen, sie totgeschlagen und ins Salz gelegt. Ich wollte sie nicht ganz verlieren, aber wieder frei sein. Du verstehst das sicher nicht … Ich war danach auch nicht frei. Sie war immer noch bei mir. Immer wenn ich die Augen schloß. Heute denke ich, sie wollte mich nicht loslassen – und ich sie nicht …« »Hat er sie dir zurückgegeben?« »Ja.« »Und deshalb dienst du ihm?« Raoul bestätigte es mir – verstanden habe ich es nicht, wie er es
vermutete.
* Irgendwann – Tage, Wochen, Monate später? – schrecke ich aus meinem hier stets bleiernen und traumlosen Schlaf und habe das zwingende Gefühl, daß etwas vorgefallen ist. Etwas überaus Bedeutsames. Ich stehe auf. Raoul hat mir ein altes Kleid von Marie gebracht, das ich trage, um wenigstens ein wenig Schutz um mich herum aufzubauen. Als Marie es bemerkte, wollte sie es mir vom Leib reißen, aber ihr Mann ging dazwischen und beruhigte sie mit der ziemlich törichten Behauptung, daß er, wenn ich es trage, erst merkt, um wieviel besser es ihr zu Gesicht gestanden hat. »Vor oder nach dem Salz?« habe ich in ihrem Beisein fragen wollen, es mir aber dann doch verkniffen. Ich gehe zur Tür. Sie ist unverschlossen, aber die Schwelle vermag ich nicht zu übertreten. Ich habe es mehr als einmal versucht und bin mehr als einmal gescheitert. Auf dem Gang läuft gerade Raouls Frau vorbei. Sie wirkt völlig aufgelöst. Tränen rinnen über ihr Gesicht. Können Tote weinen? »Was ist?« rufe ich ihr zu. »Warum bist du so aufgeregt?« Sie bleibt stehen. Unruhig scharrt sie mit den Schuhen auf dem blanken Boden. »Er … ist fort!« sagt sie erstickt. »Wer? Dein Mann?« »Unser … aller … Mann!« gibt sie zurück, und so verrückt ihre Worte klingen mögen, ich weiß sofort, daß sie Ihn meint – den Namenlosen. Den Herrn des Hauses, der in seinem Keller Tote züchtet wie andere Leute Champignons. »Fort? Wohin?«
»Ich weiß es nicht, aber vielleicht weiß es –« Sie unterbricht sich, als Raoul am Ende des Ganges auftaucht. Sie stürmt auf ihn zu, aber ihren folgenden Wortwechsel verstehe ich nicht. Unbewußt mache ich einen Schritt … … und finde mich auf dem Korridor wieder. Die Schwelle ist keine unüberwindliche Grenze mehr. Aber statt zur Haustür zu fliehen, renne ich zu dem sonderbaren Paar und dränge den hageren Raoul, der nicht länger buckelig, sondern aufrecht und gerade vor mir steht: »Hat er dir gesagt, wohin er wollte – und wann er zurückkehrt?« Raoul sieht mich an. Die Ruhe, die in ihm schwingt, ist mir unheimlich. »Er kehrt nicht zurück«, sagt er, und ich spüre, es ist seine feste Überzeugung. »Nie mehr.« »Nie mehr? Aber … wo ist er hin, und warum so überstürzt?« »Er sprach von Paris. Er sprach von einer Zusammenkunft, bei der noch andere, die sind wie er, erwartet werden.« Marie brüllt vor Enttäuschung auf. Zitternd krallen sich ihre Hände in Raouls Arm. »Nie … mehr …?« ächzt sie, als hinge ihr zweites Leben davon ab. Raoul versucht sie zu beruhigen. »Es wird sich nichts ändern – eine ganze Weile nicht«, sagt er. »Wir werden gebraucht. Beide. Wir sorgen dafür, daß die Mitglieder der Loge so ungestört gedeihen, wie der Herr es wollte. Und wenn sie erwachen, werden wir sie empfangen und in die Welt entlassen …!« Fast schwärmerisch ist am Ende sein Ton. Mich hält es nicht länger. Ich lasse die beiden stehen, und erst als ich die Haustür aufreiße, die mir nicht widersteht, und ins Freie hinaus taumele – in einen grauen, aber hellen Tag, mag ich glauben, daß Raoul und seine tote Frau mich nicht aufzuhalten versuchen. Aber kaum habe ich auch den Vorgarten hinter mich gebracht und
die Straße erreicht, durchbohren mich Schmerzen, die ich schon vergessen hatte. Ich trage Maries Kleid, und dessen Stoff färbt sich dunkel vom Blut, das aus meinen vielen Wunden tritt! Wankend komme ich zum Stehen. Mein Blick schweift zurück, und ich sehe das Haus, in dem ich war, zum ersten Mal bei Sonnenlicht. Ganz harmlos, nur ein wenig verschroben sieht es aus. Die Tür ist zu. Hat Raoul sie hinter mir geschlossen? Die Schwäche droht mich zu Boden zu ziehen. Kann es sein, daß mein Körper dort weitermacht, wo er aufhörte, ehe er in das Haus getragen wurde? Ist gar nicht soviel Zeit verstrichen, wie ich in der Abgeschiedenheit meines Zimmers meinte? Die Umgebung verschwimmt vor meinen Augen. Ich will es nicht zulassen, daß die Schwäche mich besiegt. Und wie durch ein Wunder schaffe ich den ganzen Weg zurück zu der Herberge, in der ich Landru zurückließ. Im Innenhof steht noch Philippes Kutsche … Aber ist sie es wirklich, oder spielt mir mein Verstand einen Streich? Ein paar Schritte noch, dann breche mich mitten auf dem Pflaster zusammen. Ich fühle noch, wie sich mir jemand nähert. Dann legt sich das Vergessen wie ein linderndes Tuch über meine Qual. Ich bin sicher, nie mehr aufzuwachen. Nie mehr zu erfahren, ob Landru mir nicht schon längst vorausgeeilt ist in das Land ohne Sonne, das Land ohne Wiederkehr …
* Als ich die Augen aufschlage, bin ich sicher, zu halluzinieren. Mein Geliebter – nicht das aufgedunsene Wrack, das ich zuletzt hier sah – streicht mir über das Gesicht. Das Licht, das uns umgibt, ist unnatürlich – purpur – und bestärkt mich in dem Glauben, daß ich das nur träume, vielleicht schon tot bin und gefangen in einer
ewigen Schleife aus Erinnerungen. Guten wie schlechten … »Ich bin froh, daß er dir helfen konnte.« Er? »Der Kelch.« Landru scheint meine Gedanken zu lesen. In diesem Moment weicht das Irreale, und ich begreife, daß dies alles wirklich ist. Daß ich auf dem Bett liege, auf dem Landru lag, als ich in der Vollmondnacht aus der Herberge ging. »Sag mir, was passiert ist – warum du so lange weg warst!« fordert er mich auf. Hinter ihm sehe ich Philippe. Er scheint die einzige Konstante. Nichts an ihm wirkt verändert. »Lange … weg …?« echoe ich. »Fast einen vollen Monat.« Das mag ich nicht glauben. Ich erinnere mich an die Schüsse der Soldaten. An meinen verzweifelten Versuch, ihren Kugeln zu entkommen … »Welches Datum haben wir?« »Den achtundzwanzigsten Oktober.« Neunhundertzweiundachtzigtausendvierhundertundacht, wispert es in mir. Was ist das? Verliere ich meinen Verstand? Wo war ich einen ganzen Monat lang? »Philippe hat nach dir gesucht – jeden Tag. Aber immer kehrte er ergebnislos zurück.« »Hat er sich … gut um dich gekümmert?« Landru bejaht. Ich bemerke, wie entsetzlich es in dem Zimmer stinkt, und rümpfe die Nase. Er deutet es richtig und zeigt auf den Schrank. »Clio blieb nicht die einzige, die er mir brachte …« Ich verstehe. Mein Blick findet den Lilienkelch. Sein Purpur wärmt und tröstet mich. »Hat er dir also doch geholfen«, sage ich. Landru schüttelt den Kopf. »Es wich von allein aus mir – ich weiß noch immer nicht, was es war. Aber plötzlich konnte ich wieder frei atmen, mich frei bewegen.«
»Wann war das?« »Erst heute.« Er sieht mich an. »Hast du etwas herausgefunden, was damit zusammenhing? Warst du deshalb so lange fort?« Ein Stöhnen rinnt über meine Lippen. »Nein. Nein, ich glaube nicht …« Vorsichtig fahre ich über eine kaum verheilte, stark gerötete Wunde. Es ist nicht die einzige. Mir ist, als müßten mir diese Wunden etwas sagen – aber auch sie wecken keine verschüttete Erinnerung. »Vielleicht weiß ich in ein paar Tagen wieder, wo ich war.« Ich hebe die Hand und berühre Landrus Wange. »Hauptsache, wir haben es überstanden – beide. Was immer es war.« »Was immer es war«, nickt er. Aber ich erkenne, daß er nicht damit zufrieden ist, im Ungewissen zu bleiben. »Philippe sagt«, kehrt er noch einmal zum Thema zurück, »im Fieber hätte ich immer wieder einen Namen genannt – vielleicht sagt er dir etwas, mir ist er völlig fremd.« »Wie lautet er?« Landru gibt Philippe einen Wink, und dieser sagt: »Racoon. Mein kranker Herr flüsterte immer wieder ›Racoon‹ …« Ich schüttele den Kopf. »Das sagt mir nichts.« Tage später verlassen wir Perpignan. Die Herberge, in der wir Unterkunft bezogen hatten, brennt bis auf die Grundmauern ab. Wir sind es gewohnt, keine Spuren zu hinterlassen. Nur manchmal Tote. In Perpignan erinnert sich niemand an Pierre, den Idioten, der mein Vater war. Ich hätte mir die Reise sparen können. Die Diebstähle der Kinderleichen haben aufgehört. Der Täter wurde nie gefunden; auch unsere halbherzige Suche verlief im Sand. Ich habe die Stadt meiner Geburt danach nie mehr besucht. Nie mehr … Woran erinnert mich das bloß?
* Gegenwart, Yucatán »So hat es sich zugetragen«, schloß Nona. »Eine hübsche Geschichte – aber daß er sie dir einimpfte, verrät schon, was davon zu halten ist.« »Er impfte sie mir nicht ein. Er hob einfach nur den Schleier.« »Du meinst, er sei identisch mit jenem … Zwerg?« »Ich weiß, daß es so ist.« Lilith hielt ihr verächtliches Lachen gerade noch zurück. »Du hast mir noch nicht alles gesagt?« »Nein. Aber willst du es überhaupt hören?« Lilith nickte. »Bevor Landru dich hierher in den Urwald lockte«, sagte Nona, »erzählte er mir von seinem Aufenthalt hinter dem Tor im Monte Cargano – und davon, wie er für einige Zeit, einen knappen Monat, in die Vergangenheit versetzt wurde.« Bevor Lilith einen Einwand bringen konnte, fügte Nona in bedeutungsschwangerem Ton hinzu: »Ins Jahr 1635.« »Selbst wenn das stimmte, wäre es vermutlich Zufall …« »Nein, kein Zufall«, bestritt die Werwölfin energisch. »Nicht nur das Jahr paßt – auch der Monat, die Tage … Landru gab es von Ende September bis Ende Oktober 1635 doppelt auf der Welt … Und das war der Grund, weshalb er in Perpignan hilflos vor sich hin vegetierte, wie ich ihn nie zuvor und nie danach erlebte!« »Verrückt.« »Für dich mag es sich verrückt anhören, aber für mich ist es der Beweis!« Lilith überlegte. »Und warum hat dieser Knabe – Gabriel – mich vor dem Untergang gerettet und dir eine Erinnerung geschenkt, die er dir in anderer Gestalt vor Jahrhunderten nahm? Was ist sein
Plan?« »Ich wünschte, ich wüßte es. Was mich betrifft, so nannte er es einen ›Lohn für künftige Dienste‹.« Lilith seufzte unbehaglich. »Offenbar versucht er jeden, der ihm wichtig scheint, anzuheuern … Sagte er, was für eine Art Dienst er von dir erwartet?« »Nein.« »Ob Landru auch … ein Angebot von ihm erhalten hat?« Nona zögerte, dann bejahte sie. »Er erhielt seine hinter dem Tor verbliebenen Erinnerungen zurück, als er sich darauf einließ.« Lilith ballte die Fäuste. »So war das also!« »Er hat dich gerettet«, sagte Nona. »Hat er auch dir die Erinnerung wiedergegeben?« Lilith schüttelte den Kopf. »Was ich weiß, erfuhr ich aus der Chronik, die mit Mayab vernichtet wurde. Aber sie war unvollendet. Zwar kenne ich jetzt meine ursprüngliche Bestimmung und einiges mehr, aber ich weiß immer noch nicht, was in Uruk geschah! Wie es weiterging, als ich dorthin mit dem Schlüssel aus dem Dunklen Dom aufbrach … Es wird Zeit, daß ich es herausfinde! – Warum hast du eigentlich das ganze Indio-Dorf niedergemetzelt? Ich wußte nicht, daß du so über die Stränge schlagen kannst – außerdem ist kein Vollmond.« Nona erzitterte kurz. Das Thema schien ihr nicht zu schmecken. »Ich weiß. Es kam einfach über mich. Vielleicht, weil ich in Mayab so lange abgeschnitten war vom Licht des Mondes …« »Oder er hat daran gedreht!« Nona atmete tief ein und aus. »Ich weiß es nicht. Es war wie ein Rausch. Ich konnte nicht aufhören, bis der letzte Bewohner tot war …« »Ich glaube, Gabriel liebt solche dramatischen Einlagen – genau wie er dich in den Baum gesteckt hat …« Lilith unterbrach sich. Denn in diesem Moment trat hinter dem Stamm des Urwaldriesen eine Gestalt hervor.
Jemand, den auch Nona kannte. Und es waren nicht die besten Erinnerungen, die sie mit ihm verknüpfte: Hidden Moon!
* »Bleib stehen!« »Lilith, laß uns reden! Laß dich von ihr …«, der indianische Vampir zeigte auf die nackte Werwölfin, »… nicht ins Bockshorn jagen! Sie will sich nur einschmeicheln! Erinnere dich: Sie ist deine Feindin!« Lilith erhob sich von dem Baumstumpf, ließ Nona hinter sich zurück und ging auf die Gestalt zu, mit der sie sich schon einen Kampf auf Leben und Tod geliefert hatte. Sanft sagte sie: »Du willst es nicht anders. Du zwingst mich förmlich dazu, dir den Hals zu brechen …« »Lilith! Komm zu dir! Du wurdest vom Bösen vergiftet, das sich in mir angestaut hatte. Wie du jetzt denkst und handelst – das bist nicht du selbst!« Unbeirrbar ging Lilith auf den gutaussehenden Mann zu. Auch seine Attraktivität würde ihn nicht retten. Und ebenso wenig die Tatsache, daß er sie aus ihrem verlorenen früheren Leben zu kennen schien. Die Fragen, die sie ans Damals hatte, würde ich auch Nona beantworten … Die letzten Schritte stürmte Lilith auf den Lebensmüden zu. Doch als sie ihn schon mit ihren entarteten Klauen zu berühren meinte … … taumelte sie ins Leere! Hatte ein Trugbild sie genarrt? Sie fing sich ab und wirbelte herum. Verwirrt sah sie, daß auch Nona verschwunden war. Die Stelle, wo sie gesessen hatte, war leer.
Unbändiger Zorn wucherte über Liliths vampirische Züge, denen alle Anmut abhanden gekommen war. Drohend hob sie die geballte Faust zur Sonne und schwor: »Ich finde euch! Ich finde euch alle – ob ihr noch in der Nähe seid oder weit weg! Niemand treibt mehr ungestraft seine Spielchen mit mir … Niemand!« Und mit diesem Schwur schwang sie sich in die Lüfte. Es sah aus, als jagte sie in die Sonne hinein. Aber ihr Ziel war ein anderes. Uruk. Dort warteten die Antworten, die sie so dringend suchte … Vielleicht … Epilog Nacheinander tauchten Hidden Moon und Nona in dem Dreieck auf, das drei so unterschiedliche – und auf geheimer Ebene doch so ähnliche – Gestalten sitzend gebildet hatten. Hidden Moon stand immer noch in Abwehrhaltung. Nur langsam begriff er, daß er … sich nicht mehr im yukatekischen Urwald befand, sondern … ja, wo? »Wyando, mein Sohn …«, sagte der alte Indianer zu seiner Rechten. »Makootemane!« entfuhr es Hidden Moon verblüfft. Der alte Arapaho stand auf und öffnete seine Arme zum Willkommen. Neben ihm tat Chiyoda dasselbe mit Nona. Nur der dunkelhäutige Aborigine – ein Ureinwohner Australiens – blieb sitzen. Es gab niemanden, den er hätte begrüßen können. Aber das war immer so gewesen. Er war niemandes Freund … ENDE
Blutrausch Leserstory von Britta Trachternach Inspektor Snipes erwachte mit brummendem Schädel. Irgendwo in seinem Kopf schien sich ein Bienenschwarm eingenistet zu haben. Ärgerlich nahm er den Telefonhörer von der Gabel. »Ja?« brummte er unwirsch hinein. »Hallo Chef, entschuldigen Sie die Störung«, klang es aus der Muschel. »Ich hätte Sie nicht angerufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.« Das übliche Geschwätz, dachte sich Snipes und sah auf die Uhr: halb fünf Uhr morgens. Er gähnte herzhaft. »… wieder zugeschlagen«, bekam er gerade noch mit. »Ah, was sagten Sie?« hakte er nach. »Ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich sagte, der Psychopath hat wieder zugeschlagen … oder sollte ich besser sagen: zugebissen? Es ist eine junge Frau. War ziemlich hübsch; ihr Gesicht ist noch zu erkennen. Der Hals ist jedoch … na ja, wie bei den anderen Opfern. Die Personalien haben wir bereits ermittelt. Ich habe schon jemanden losgeschickt, um die Angehörigen zu informieren.« »Gut gemacht, Jones«, brummte Snipes. »Ich bin schon unterwegs.«
* Eine halbe Stunde später traf der Inspektor am Tatort ein. Und schrak zurück, als er die Leiche sah. »Oh, Mann, ich habe ja wirklich schon viel gesehen, aber das hier
…« Er mußte sich zusammennehmen, um seinen Mageninhalt nicht auf dem Asphalt zu verteilen. »Nichts für schwache Nerven.« »Ich bete darum, daß wir diesen Mistkerl bald schnappen«, quetschte Jones zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auch er trug eine ungesunde Gesichtsfarbe zur Schau. »Das ist nun schon der fünfte Mord, und wir haben noch immer keinen Anhaltspunkt. Kein Motiv, keine Übereinstimmung bei den Opfern, und er gehört auch leider nicht zu denen, die nur bei Vollmond durchdrehen.« »Die einzige Gemeinsamkeit ist seine Methode«, ergänzte Snipes. »Er zerbeißt die Kehlen der Opfer.« Jones sah seinen Vorgesetzten verunsichert an. »Chef? Ich hätte da eine Vermutung. Sie klingt allerdings ein bißchen weit hergeholt.« »Egal, raus damit«, forderte der Inspektor. »Ist immer noch besser als gar keine Idee. Erzählen Sie sie mir unterwegs. Ich brauch’ jetzt erst mal einen Kaffee.« Die beiden stiegen ins Auto. »Also«, begann Jones, »wie Sie schon sagten: Die einzige Gemeinsamkeit sind die zerbissenen Kehlen der Opfer. Der Kerl muß eine Wahnsinnskraft im Kiefer haben.« »Und gesunde Zähne«, fügte Snipes sarkastisch hinzu. »Außerdem haben wir festgestellt, daß die Opfer viel zu wenig Blut im Körper hatten. Trotzdem haben wir am Tatort nie soviel Blut gefunden, wie es hätte sein müssen.« »Bislang erzählen Sie mir nichts Neues«, raunzte Inspektor Snipes unwirsch. »Jetzt spannen Sie mich nicht länger auf die Folter!« Jones räusperte sich, druckste jedoch nicht länger herum. »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es sich … um einen Vampir handeln könnte«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Dem Inspektor fiel die Kinnlade nach unten. Er sah Jones ungläubig an. »Das ist doch wohl nicht ihr Ernst? Nur weil ein Psycho frei herumläuft, müssen sie nicht auch gleich durchdrehen. Lesen sie zu
viele Horror-Romane?« Jones schwieg. Er hatte diese Reaktion wohl schon vorausgesehen. Sie kamen an der Wache an. Bevor sie jedoch ausstiegen, überraschte Snipes seinen Assistenten. »Wissen sie, ich habe nachgedacht über das, was sie sagten«, meinte er. »Vielleicht liegen sie gar nicht so falsch. Vielleicht hält der Typ sich für einen Vampir. Wir sollten diese Möglichkeit zumindest miteinbeziehen.«
* Den ganzen folgenden Tag kamen sie zu keinem neuen Ergebnis. Es gab keine verwertbaren Spuren. Es war einfach wie verhext. Wenn sie nicht bald das große Glück hatten, den irren Mörder auf frischer Tat zu erwischen, würden sie wahrscheinlich noch lange im dunkeln tappen. Am späten Nachmittag packte Inspektor Snipes seine Sachen und verließ die Wache. »Bis morgen, Jungs. Nach der letzten Nacht kann ich eine gute Portion Schlaf gebrauchen. Vielleicht haben wir ja Glück, und es findet sich noch eine Spur.« Er verließ das Revier, während Jones die Stellung hielt.
* Es ist dunkel. Ich liebe die Dunkelheit. Sie ist mein Freund. Früher dachte ich anders. Mein Vater sperrte mich immer in den Keller, wenn ich unartig war. In seinen Augen war ich das oft. Mein Vater war ein seltsamer Mensch. Viele meinten, er wäre krank, die meisten aber hielten ihn einfach nur für verschroben. Es war nicht irgendein Keller, o nein. Es gab Fledermäuse dort! Zuerst hatte ich panische Angst vor ihren flatternden Geräuschen
und vor ihren Bissen, meist in meine Fersen und in den Hals. Doch irgendwann begann ich sie zu lieben. Sie waren mir immer so nahe; näher als meine Familie es war. Und eigentlich tat es auch nicht sonderlich weh, wenn sie gebissen haben. Es dauerte nicht lange, und ich stellte absichtlich alles Mögliche an, nur um in den Keller gesperrt zu werden, froh darüber, daß mein Vater mich auf diese Art »bestrafte«. So blieb es bis zu seinem Tod. Er war immer ein starker Raucher gewesen und starb früh an Lungenkrebs. Sein Begräbnis fiel mager aus. Er hatte nie viele Freunde besessen. Sein Tod war der Anfang meiner endgültigen Befreiung. Bis heute habe ich mit vier weiteren Menschen mein Glück geteilt. Ich fühle mich großartig. Nun ist es an der Zeit, wieder jemanden auszuwählen, der würdig ist, meine Freude zu teilen. Da! Schritte! Hastig ziehe ich mich in eine Gasse zurück. Der Auserwählte geht an mir vorbei. Hinter ihm schnelle ich auf den Gehweg zurück. »Freue dich mit mir, denn ich bin frei!« »Sie?« kommt eine Frage zurück. »Was machen Sie denn hier? Und wovon reden Sie? Haben Sie etwas vergessen?« Ich bin irritiert. Wieso stellt der Mann so seltsame Fragen? Woher kennt er mich? Und vor allem: Warum hat er keine Angst? Alle anderen, die mich sahen, wollten Reißaus nehmen – was ich natürlich nicht zuließ, schließlich wollte ich nicht allein meine Befreiung feiern. Egal. Ich gehe lächelnd auf den Fremden zu. Er bleibt stehen und sieht mich seltsam an. Dann bin ich bei ihm und reiße meinen Rachen auf. Ich kann förmlich fühlen, wie meine Eckzähne immer länger und spitzer werden. Allmählich scheint es dem anderen zu dämmern. »Nein, das … das darf nicht wahr sein!« stammelt er. »Sie sind der
Mörder! O mein Gott!« Erschrocken versucht er zurückzuweichen, doch es ist zu spät. Ich bin bereits bei ihm und schlage meine Zähne in seinen Hals. Das heißt, ich will es tun, werde jedoch abgelenkt. Eine Stimme in meinem Rücken! »Hey, Jones, warte auf mich! Kannst du mich …« Die Stimme bricht abrupt ab – und fährt dann in schriller Tonlage fort: »Herr im Himmel! Inspektor Snipes! Jones! Was … geht hier vor?« Der Mann zieht seine Pistole und richtet sie auf uns. »Keine Bewegung! Beide!« Ich bin ertappt! Und reagiere gedankenschnell, mit den Instinkten einer Fledermaus. Ich reiße Jones – so hat der Mann mein Opfer genannt – herum und stoße ihn von mir, direkt auf den Uniformierten zu. Für ihn muß es wie ein Angriff aussehen. Er feuert instinktiv. Jones’ Schrei geht in ein Gurgeln über, das nach kurzer Zeit erstirbt. Er stürzt schwer zu Boden. Seine Brust färbt sich schnell rot. Herzschuß. Ich trete keuchend näher. Immer noch ungläubig starren mich seine toten Augen an. Der andere hält noch immer die Pistole in den Händen, aber er hat sie nach unten gerichtet. In seinem Gesicht spiegelt sich Fassungslosigkeit wider. Jetzt fällt mir der Name ein, mit dem der Beamte mich vorhin gerufen hat. Inspektor Snipes … Ein Blitz durchzuckt mein Gehirn. Meine Gedanken überschlagen sich. Dann steht auf einmal alles glasklar vor meinen Augen. Der Schütze ist ein Kollege aus dem Revier. Meinem Revier! Ich gehe langsam auf den Mann zu, der wie angewurzelt dasteht und ungläubig auf den Toten starrt. »Das … das wollte ich nicht« stammelt er. Er sieht mich flehentlich an.
Inzwischen habe auch ich meine Dienstwaffe gezogen. Ich weiß nun, was ich tun muß. Ich werde ihn von seinen Vorwürfen und seiner Schuld erlösen. Ich jage ihm aus nächster Nähe eine Kugel in den Bauch. Noch immer jenen ungläubigen Blick in den Augen, sackt er zu Boden. Ich nehme seinen toten Kopf in meine Hände und schließe seine Zähne um meine Kehle. Dann drücke ich zu. Höllische Schmerzen durchtoben meinen Hals, und ein Schrei löst sich aus meiner Kehle. Als ich ihn wieder loslasse, läuft mein Blut an seinen Mundwinkeln herab. Gerade rechtzeitig beende ich mein Werk. Die ersten Beamten stürmen, durch die Schüsse alarmiert, aus der Wache. Fassungslos starren sie auf das Blutbad. Für mich wird ein Krankenwagen gerufen. Später im Hospital gebe ich meine Aussage zu Protokoll. Meine Kollegen gratulieren mir, daß ich den Killer erwischt habe. Jones wird posthum eine Ehrung erhalten. Er hat noch versucht, mich vor dem Irren zu retten, und sich dabei dessen Kugel eingefangen. Mit der Wahrheit muß ich allein fertigwerden. Aber ich weiß, daß sie mich nicht lange quälen wird. Schon beginnt wieder mein Unterbewußtsein die Oberhand zu gewinnen. Die Erinnerungen aus meiner Kindheit sind mächtig … ENDE © Britta Trachtemach, Alte Grenzstr. 158, 45663 Recklinghausen
Die Reise nach Uruk von Adrian Doyle Uruk – hier lag einst die Wiege der Menschheit, und hier entschied sich auch ihr Schicksal, als Lilith Eden durch den Zeitkorridor zurück zum Garten Eden reiste. Nun ist Uruk erneut das Ziel der Halbvampirin. Sie hofft herauszufinden, was damals wirklich geschah und welche Rolle sie dabei spielte. Doch nicht sie allein hat sich auf den Weg gemacht. Auch Anum, neuer Herrscher und Rachegott der Vampire, ist unterwegs zu diesem Kreuzweg der Zeiten. Und aus der Vergangenheit nähert sich eine weitere Reisende: Beth MacKinsey, die unsterbliche »Diebin der Zeit«. Was wird geschehen, wenn sich die Wege der drei Mächtigen treffen?