Das neue Abenteuer 431
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Stanislaw Rodionow
Das Haus am Steilhang
Verlag Neues Leben Berlin
Titel des russischen Originals: OrnycK Ins Deutsche übersetzt von Ruprecht Willnow Illustrationen von Karl Fischer
© Verlag Neues Leben, Berlin 1982 Lizenz Nr. 303 (305/83/82) LSV7703 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 9p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 409 0 DDR 0,25 M
Der Leiter der Kriminalmiliz drehte ein Finnmesser mit kunstvoll geschnitztem Griff aus Wacholderholz zwischen den Fingern. „Müde?“ „Und wie!“ bekräftigte Petelnikow mit Nachdruck, dam it kein Zweifel blieb: Er w ar hundemüde. „Du siehst aber frisch aus, glattrasiert und rosig wie ein Pfirsich.“ „Ich bin innerlich m üde“, präzisierte der Inspektor. „Das Herz?“ „Tiefer.“ „Etwa die Nieren?“ „Die Seele, Genosse Major.“ „Ach so. Wenn die Seele müde wird, nimmt m an keinen Urlaub, sondern läßt sich aus der Kriminalmiliz entlassen.“ „Binnen einer Woche hat sie sich erholt.“ „Wie lange hast du schon keinen Urlaub gehabt?“ erkundigte sich der Major, obwohl er dies ebensogut wußte wie sein Untergebener. „Faktisch zwei Jahre.“ „Nur?“ Der Major verzog das Gesicht ob dieser kümmerlichen Zeitspanne. Zwei Jah re sind nicht zwanzig. „Das steht im W iderspruch zur Verfassung“, sagte Petelnikow seufzend. Der Major beugte sich zur Seite und angelte aus der unteren Schreibtischschublade ein zweites Messer mit selbstgebasteltem Plastgriff. Mit solchen Messern konnte er einen ganzen Tisch füllen. Sie lagen zusammen mit Schlagringen, Brecheisen, angespitzten Feilen und Bleihandschuhen im Safe. Viele Jahre schon sammelten sie solche Exponate fü r ihr Kreismilizmuseum, von dem sie ebenso lange träum ten und das vorerst noch leer stand. „Natürlich kann der Mensch müde werden, zugegeben“, sagte der Major. „Aber Petelnikow ist nicht nur ein Mensch, er ist Oberin spektor der Kriminalmiliz. Wie kann da von Müdigkeit die Rede sein!“ „Nur eine Woche, fürs vergangene J a h r“, sagte Petelnikow mit monotoner Stimme. „Und wie steht die Sache mit dem Überfall auf den Bürger Sowkow?“ fragte der Major barsch. „Ist aufgeklärt.“ „Die mißbräuchliche Benutzung des Motorrades vom Bürger Koltschizki?“ „Er hat es selbst im Wald stehenlassen, als er betrunken w ar.“ „Der tollwütige Hund auf der Sportiw najastraße?“ „Eingefangen und unschädlich gemacht.“ Da beugte sich der Major abermals zur Seite und legte das näch ste Messer auf den Tisch. „Wer mag wohl der Besitzer dieser Waffe sein?“ Petelnikow rutschte im Sessel hin und her. Der Besitzer dieser Waffe spazierte nämlich noch in Freiheit umher. „Vorläufig wird sich Ledenzew damit befassen.“ Der Major zupfte an seinem weißblonden, schon grau getönten 3
Schnurrbart. Dann fegte er die Messer in den Tischkasten und er kundigte sich in verändertem, gleichgültigem Ton: „Und wohin soll’s gehen?“ „Nach dem Süden.“ „Dort sind fünfundvierzig Grad im Schatten!“ „Ich steig ins Wasser.“ „Dort gibt’s Medusen, Riesenapparate von Quallen.“ „Ich leg mich an den Strand.“ „Dort sind Frauen in Bikinis.“ „Oder ich bummle ein bißchen durch die Stadt.“ „Wo an jeder Ecke aus Tankwagen billiger Wein angeboten wird.“ Der Inspektor erhob sich. „Boris Michalytsch, nur eine Woche.“ „Scher dich zum Teufel!“ sagte der Major. Petelnikow bekam sechs volle Tage Urlaub, An- und Abreise nicht mitgerechnet. Der Leiter der Kriminalmiliz hatte ihm noch ver sichert, länger könne man es im Süden sowieso nicht aushalten, man werde ganz dämlich von der Sonne und dem Wasser. Genau das wollte Petelnikow aber, nämlich: sich von der Sonne dun kelbraun braten lassen und sich im Wasser tummeln, bis er fast zum Salzhering wurde. Er stieg nachts aus der Linienmaschine, und morgens um acht U hr kletterte er bereits die Felsen zum schmalen, mit kleinen Stei nen übersäten Strand hinunter. Hier waren weniger Leute. Er ent deckte ein freies Eckchen südländischen Territoriums und belegte mit seiner dicken Aktentasche einen Platz neben zwei Mädchen, die sich schon im Nirwana befanden. Er kleidete sich aus, setzte sich auf den heißen Boden und verfiel gleichfalls dem Nirwana. Anfangs bedeckte er den Rücken noch mit dem Hemd, aber dann lag er völlig ungeschützt auf den Steinen. Er wußte, daß er sich einen Sonnenbrand holen würde. Aber er w ar im Süden, am Meer, und ihm standen genau sechs Tage zur Verfügung, von denen einer schon angebrochen war. Die Steine, die Luft und sein Körper heizten sich auf. Er hatte ständig den salzig-bitteren Geschmack des Meeres im Mund, spürte den lehmigen Geruch der rundgeschliffenen Steine und lauschte dem ununterbrochenen und friedlichen Plätschern der Wellen. Er richtete sich auf und betrachtete seine Nachbarinnen. Die eine w ar etwas mollig, trug einen dunkelblauen Badeanzug und hatte das schwarze Haar gelöst, die zweite hingegen w ar schmäch tig und schlank und hatte einen hellgrünen Anzug an. Nach einer Stunde mußte er vor der Sonne flüchten. Er tauchte sein Hemd ins Wasser und streifte es über den rosa Rücken, um den Kopf wickelte er das nasse Handtuch. Sofort überkam ihn an genehme Mattigkeit. Kurz darauf w ar er fest eingeschlafen. Unterirdisches Rütteln weckte ihn. Es waren rhythmische Stöße, als arbeite unter den dicken Gesteinsmassen ein gigantisches Me tronom. Er hob den Kopf von der Aktentasche, erkannte, daß sein 4
Herz so hämmerte, und spürte ein Stechen in den Schläfen. Es w ar nicht mehr so heiß. Der Strand hatte sich bereits etwas geleert. Petelnikow erhob sich und lief zum Wasser. Er schwamm ein ganzes Stück hinaus. Der Haut tat es gut, mit allen Zellen die Kühle aufzunehmen, wie sie morgens die Sonnenwärme aufgenom men hatte. Auch der bittere, frische Geschmack des Salzwassers w ar angenehm. Nach etwa einer halben Stunde kehrte er an seinen Platz zurück. Die Mädchen plätscherten noch im seichten Wasser. Hier am Strand hatte es die tiefblaue Färbung verloren und sah weißlich aus. Petelnikow tupfte behutsam den heißen Rücken mit dem Handtuch ab; bestimmt würde er sich schälen. Die Mädchen kam en auch aus dem Wasser. Die Schwarze trug eine Flasche. Wahrscheinlich hatten sie sie im Meer gekühlt. „Wir kriegen sie nicht auf“, verkündete eine Frauenstimme schein bar in den leeren Raum. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte Petelnikow galant. Er nahm die Flasche. Sie w ar leer bis auf ein Stück weißes Pa pier, das durchs dunkle Glas schimmerte. „Einleuchtend. Das Meer, die Wellen, dazu eine Flaschenpost. Soll ich den Zettel herausangeln?“ „Selbstverständlich“, erklärte die Schwarze. „Dann steht womöglich drauf: Wer das liest, ist dumm.“
„Aber wenn es ein Gedicht ist?“ sagte die Kleine in schwärmeri schem Ton. „Bei der Hitze?“ Die Flasche w ar fest mit grünlichem Lehm zugestopft. Durch einen kräftigen Schlag mit dem Handballen stieß Petelnikow den Pfropfen ins Flascheninnere und angelte den Papierfetzen mit einem Stück Holz heraus. Die Kleine nahm ihn, las, blinzelte verständnislos und gab ihn ihrer Freundin. Diese kicherte. „Was soll der Unfug?“ „Meinen Sie mich?“ fragte Petelnikow erstaunt. „Ja“, bekräftige die Kleine. Er nahm den Fetzen, der offensichtlich von einer herausgerisse nen Heftseite stammte, jedoch arg verschmutzt, zerknittert und feucht war. Die dünn mit Bleistift gekritzelten Buchstaben schie nen übereinanderzukriechen. „Wer immer diese Flasche findet: Helft m ir um Christi willen! Wer weiß, was sie m ir sonst antun. Ich bin im Haus am Steilhang eingekerkert. Helft mir!“ „Na und?“ fragte Petelnikow. „Genau: na und?“ sagte die Schwarze und lächelte spöttisch. „Urlauber machen eben ihre Späße“, erläuterte er. „Geht das nicht auf Ihr Konto?“ fragte die Kleine rundheraus. Petelnikow w ar sprachlos: Sie glaubten, daß er sich mittels dieser Flasche an sie heranm achen wollte. „Mädchen, ich kenne eine Unmenge Tricks, mit dem schönen Ge schlecht in Kontakt zu kommen, aber doch nicht auf so mittelalter liche Weise.“ „Sondern?“ erkundigte sich die Schwarze. „Zum Beispiel könnte ich fragen, ob Sie vielleicht Hautkrem haben.“ „Bitte.“ Die Kleine reichte ihm eine Tube. „Danke. Ich geb sie Ihnen morgen hier an dieser Stelle zurück. Und wenn Sie wollen, daß ich am Leben bleibe, vertreiben Sie mich lieber vom Strand, meine Schönen.“ Petelnikow w ar in einem winzigen weißen Haus auf der Winogradskajastraße untergebracht. Bestimmt w ar es früher einmal ein kleiner Schuppen gewesen, der im Garten hinter dem Wohn haus stand. Vor der Tür wuchs ein alter Apfelbaum mit riesigen, prallen Früchten. Hinter dem Häuschen lag ein großes Holzfaß. Gleich Diogenes wohnte der kastanienbraune Hund Buket darin, der alle Kurgäste haßte. Petelnikow kam mit ihm zurecht, nachdem sie gemeinsam ein Kilo Kochsalami verzehrt hatten. „Wollen Sie Tee trinken?“ fragte die Wirtin. Petelnikow gefiel ihr, weil er gleich, als er das Häuschen gemietet hatte, fest versprochen hatte, weder zu kochen noch zu waschen oder sonst um etwas zu bitten. Höchstens um Tee. „Ich hatte mal eine Urlauberin, die jauchzte: ,Die Sonne! Die Sonne!1, ließ alles stehen und liegen und stürm te zum Strand“, 6
erzählte die Frau. „Abends hat m an sie dann ins Krankenhaus gebracht, über und über mit Blasen bedeckt.“ Die Vermieterin hatte wohl die Gewohnheit, Gedanken miteinan der zu verbinden, die in keinem Zusammenhang standen. Aber als Petelnikow sein feuerrotes Spiegelbild sah, w urde ihm sofort alles klar. Nachdem er an der nächsten Tasse Tee, der dritten, genippt hatte, stellte er eine Frage, die ebenfalls in keinem Zusammenhang stand. „Gibt es hier irgendwo ein Haus am Steilhang?“ „Gießt wohl öfters m ar einen hinter die Binde?“ erkundigte sich die Wirtin lebhaft und nippte am Tee. „Das kommt schon vor“, gestand er fü r alle Fälle, ohne recht zu wissen, worauf sie hinauswollte. „Die Leute nennen es verschieden: Zum Stillen Zecher, Schnaps destille, Saigon, die amtliche Bezeichnung lautet: Schaschlykdiele.“ Petelnikow lächelte - wie doch alles zusammenpaßte: Da saß so ein Kerl im Stillen Zecher, trank seinen Wein, kritzelte was auf einen Zettel, steckte ihn in die Flasche und w arf diese ins Meer. Folgeerscheinung des billigen Apfelweins. „Danke.“ Er erhob sich und wollte zu seinem weißen Häuschen gehen. „Dann steht da noch ein kleines Haus am Steilhang. Das Wasser hat immerzu am Ufer geleckt und sich rangeschlichen. Die Besitzer kriegten ihre Versicherung ausgezahlt, und ab ging’s ins weite Rußland, auf und davon.“ „Wo steht dieses Haus?“ fragte Petelnikow und blieb stehen. „Etwa zwei Kilometer das U fer entlang Richtung Leuchtturm. Es steht auf Lehmboden.“ „Auf grünem Lehm ?“ „Ja.“ Er ging in sein Zimmer und setzte sich aufs Bett. Mit offenem Mund starrte er auf den Fußboden, vermied es, auf das weiße Laken, die weißen Wände und sogar ein weißes Blatt Papier zu blicken. Ihm war, als brenne noch im mer die unerbittliche Sonne über seinem Kopf und fülle das Zimmer mit gleißendem Feuerschein. Seine Haut brannte, er kam sich vor wie ausgetrock net. Kein Lüftchen regte sich - die B lätter des Weines hingen reglos. Schlafen konnte er auch nicht. Kam es von der Hitze, oder ließ ihn sein an Ermittlungen ge wöhntes Hirn nicht ruhen, jedenfalls ging ihm immer wieder die Flaschenpost durch den Kopf. Erste Variante: Jem and hatte sie in der Schaschlykdiele ge schrieben, die auf dem Felsvorsprung stand. Schwerlich. Ein Be trunkener hätte sich gepfefferter ausgedrückt, außerdem hatte er dort keinen Lehm zur Hand. Zweite Variante: U rlauber hatten sie geschrieben. Sie hätten dem Ganzen jedoch mehr Kolorit gegeben und gutes Papier und einen Kugelschreiber benutzt. Kinder? Der Text sprach dagegen. Ein Scherz? Dann hätte es witziger geklun gen, außerdem hätte der Betreffende sauberer geschrieben, so aber 7
zerflossen die Buchstaben wie Wellen. Und die Sprache? „Ein gekerkert“, „um Christi willen“. Vor allem aber die Angst, die un verfälschte Angst, die aus diesen altmodischen Worten sprach. Doch das w ar ja Unsinn: Wen würde man in unserer Zeit einker kern und wofür? Von Schlaf konnte keine Rede sein. Also w ar es besser, am Strand spazierenzugehen, als im schwülwarmen Zimmer zu hokken. Petelnikow schlenderte in Richtung Leuchtturm, mied den be schwerlichen Weg über die Steine und ging oben entlang über die Hügel. Hier ließ sich gut laufen. Die Schwüle w ar verschwunden, schien im Ort zurückgeblieben zu sein. Unten blinkte schwach das Meer, von dort wehte es kühl herauf. Dutzende kleine Pfade durch das dürre, stachlige Gras hatten sich zu einem festen Weg vereinigt. Manchmal löste sich ein Stein unter seinen Füßen und rollte zum Meer, dann blieb der Inspektor stehen und wartete, bis er unter dem Steilhang zur Ruhe gekommen war. Nach einer guten halben Stunde tauchte in einiger Entfernung etwas Helles aus dem Dunkel. Er ging darauf zu. Das verlassene Haus. Seine Mauern leuchteten nicht so wie die der Häuser im Ort. Vielleicht weil kein Leben dahinter war. Die Fenster w aren mit Brettern vernagelt, vom Schieferdach w ar kaum etwas übrig. Der Garten war dicht von niedrigem Gebüsch überwuchert. An den Zaun erinnerten nur die Betonpfeiler. Vorsichtig näherte er sich der Mauer. Dornengestrüpp, ein Stück Draht, Ziegelbrocken und Konservenbüchsen hängten sich im Dunkeln an ihn, als wären sie lebendig. Am Haus angelangt, be rührte er die verwitterte, erstaunlich warme Wand, als sei er des halb gekommen. Dann rüttelte er an dem B rett vorm Fenster - es saß fest. Die Tür war ebenfalls vernagelt. Alles war, wie es sein mußte bei einem aufgegebenen Haus. Es würde noch gut zwanzig Jahre stehen, weil auf solidem Bruchsteinfundament errichtet. Plötzlich vernahm er so etwas wie ein Stöhnen, es schien nicht aus dem Haus zu kommen, sondern von den Hügeln, aus einem Wäldchen. Alles w ar still. Nur das Meer patschte am Fuß der Steilküste. Gewiß eine Sinnestäuschung. Nachts, wenn keine Menschenseele in der Nähe ist, bildet m an sich sonstwas ein. Auf einmal hatte er nur den Wunsch, sich davonzumachen. Er tat noch einen Schritt und begriff, daß er nicht weitergehen, die Füße nicht bewegen konnte wegen der Angst, die ihn von hinten überfiel und im Genick packte. Er wandte sich schroff um. Durch einen Spalt zwischen den Brettern am Fenster blickte ihn plötzlich ein überdimensionales Auge über einer plattgedrückten Nase an. Nach sekundenlanger Erstarrung trat der Inspektor, über einen Balken, bereit, jederzeit loszustürzen, davonzulaufen und dabei weder auf den Weg noch die Richtung zu achten. Aber das Auge w ar verschwunden und mit ihm auch jene entsetzliche Angst. Er hockte sich hin und tastete im Halbkreis den Boden ab. Ein 8
etwa einen halben Meter langes M etallrohr geriet ihm unter die Finger. Er packte es und sprang zum Eingang. Die Bretter, voh dem als Hebel verwendeten Rohr angehoben, flogen davon wie Späne. E r trat gegen die Tür und schmiegte sich in Erwartung eines Schus ses oder Steinwurfs an die Mauer. Alles blieb still. Nur die rostigen Angeln knarrten. Jetzt mußte er eintreten, jedoch hatte er weder eine Taschenlampe noch Streichhölzer bei sich. Einen Augenblick lugte er um die Ecke und versuchte, wenigstens etwas zu erkennen. Imm erhin wußte er jetzt, daß niemand an der Tür stand und man im Haus etwas sehen konnte - Mondlicht fiel durch die schmalen Lücken zwischen den Brettern an den Fenstern. Er w arf sich hin, legte sich hinter die Schwelle wie hinter eine Grabenwehr und hielt Ausschau. Das Haus hatte keine Räume. Aus den Zwischenwänden war offenbar Brennholz gemacht worden. Nirgends w ar jemand zu entdecken. Petelnikow erhob sich und tra t lautlos ein. Keine Men schenseele, nur schmutziges Papier, Späne und dürres, stachliges Gras raschelten unter seinen Füßen. E r durchquerte das Haus noch einmal und trat hinaus ins Mondlicht. „Ich hab entschieden zu lange in der Sonne gelegen“, sagte er laut, w arf das Rohr ins Gebüsch und ging zurück in den Ort. Er schlief bis Mittag. Als er erwachte, war es schwül im Zimmer. An ein Sonnenbad w ar heute nicht zu denken. Er stand auf, putzte 9
die Zähne, rasierte sich, nahm sein Handtuch und ging zum Strand. Petelnikow nickte den Mädchen zu, die an der alten Stelle lagen, als wären sie nie weggegangen. Er zog sich aus. Im Nu schlug ihm die Sonne glühendheiß auf den Rücken. Er stürzte zum Wasser dort lag die Rettung - und schwamm hinaus. Das Wasser kühlte den Sonnenbrand. Die Muskeln begannen sofort, sich wieder auf ihre K raft und Energie zu besinnen. Diese teilte sich dem Kopf mit, der plötzlich frisch und m unter arbeitete. Angenommen, das Auge w ar eine Sinnestäuschung, verursacht durch übermäßigen Sonnenbrand. Kam so etwas bei ihm vor? Wohl hatte er schon unter Schlägen das Bewußtsein verloren, sich jedoch stets an die Gesichter der Banditen erinnert. Demnach w ar das Auge dagewesen. Vielleicht ein Urlauber, der im Ort kein Quartier gefunden hatte? Warum war das Haus dann mit Brettern ver nagelt? Und w arum schlief er nachts nicht? Falls es der Absender der Flaschenpost, der „Eingekerkerte“, war, w arum hatte er dann nicht gerufen? Petelnikow stieg aus dem Wasser und ließ sich neben den Mädchen nieder. „Haben Sie keine Angst vor der Sonne?“ „Wir sind von hier.“ „Was heißt das?“ „Wir arbeiten in dem Sanatorium dort.“ Die Schwarze wies mit einer Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. Oben auf dem Berg schimmerte weiß ein Sanatorium. „Sie liegen doch schon den ganzen Tag in der Sonne.“ „Wir haben Nachtschicht.“ „Wie ist dort das Essen?“ fragte Petelnikow, denn ihm w ar ein gefallen, daß er noch nichts gegessen hatte. Die Schwarze antwortete lebhaft: „Sehr kalorienbewußt.“ „Was soll das heißen?“ „Viel Vitamine, Eiweiß, Geschmacksstoffe.“ „Verstehe. Gibt’s auch Pelmeni?“ erkundigte er sich. Es w ar sein Lieblingsgericht. „Bei Gedeck Nummer drei.“ Petelnikow sah, wie sich neben seinem Handtuch zielstrebig ein junger Mann niederließ - immer m ehr U rlauber kamen in der Hoffnung, daß es am Nachmittag kühler sein werde. Der Bursche war ziemlich klein, hager, aber kräftig. Kurze, sportliche Frisur. Die rötliche Haut w ar kaum gebräunt, offenbar w ar er noch nicht lange hier. Sein Alter: etwa zwanzig. Sollte er nicht diesen Jungen zur Besichtigung des verlassenen Hauses mitnehmen? Natürlich sofern er einverstanden war. Und sofern er ein Mann war. Das w ar unschwer herauszukriegen. „Sollten wir unser Trio nicht in ein Quartett umgestalten?“ schlug er den Mädchen vor. „Durch den da?“ Die Schwarze wies auf den neu Hinzugekomme nen. Der Bursche hatte jedoch bereits Taucherbrille und Schnorchel angelegt, ging zum Ufer, tauchte noch im Seichten und verschwand im Wasser. 10
Petelnikow setzte sich aufs Handtuch und m usterte die Sachen des Jungen. Kleidungsstücke, Sandalen, eine Tasche, zwei Bücher. Was w aren das wohl für welche? „Der Sucher“ und „Der gelbe Hund“ von Simenon. Klar, dieser Junge dürstete nach Abenteuern. Als er aus dem Wasser kam, fragte Petelnikow träge: „Wie ist die Tem peratur da unten?“ „Normal.“ „Hast du die Bücher hier bekommen oder mitgebracht?“ „Die kriegt m an hier.“ Sie unterhielten sich - U rlauber kommen schnell ins Gespräch. Nach zwanzig Minuten wußte Petelnikow bereits, daß Oleg aus Sibirien gekommen w ar, dort in einem Forstbetrieb arbeitete und gern die Bekanntschaft d er Mädchen gemacht hätte. „Das Wetter hier taugt fü r die Liebe“, erklärte er lachend und zeigte kräftige weiße Zähne, die wohl einen D raht durchbeißen konnten. „Hast wohl was übrig für Krimis?“ fragte Petelnikow. „Und ob.“ „Möchtest du selbst gern mal einen Fall klären?“ „Es gibt vieles, was ich möchte. Zum Beispiel mal den Direktor spielen. Statt dessen muß ich Bäume fällen.“ „Dann hör zu.“ Oleg saß scheinbar ruhig, doch die Augen unter der weißblonden Stirnlocke blitzten neugierig, und die H aut über den Backenkno chen zuckte leicht. Die Mädchen hatte er bereits vergessen. „Das ist ein Ding!“ erklärte er neiderfüllt. „Wollen wir zusammen hingehen?“ „Jetzt gleich?“ fragte er aufgeregt. „Wenn die Hitze nachgelassen hat. Gegen Abend.“ Sie vereinbarten, sich an der Gaststätte unter den Zypressen zu treffen. — Petelnikow mußte sich überzeugen, daß der Begriff „Abend“ im Süden nicht so klar zu definieren war. E r kam zur vereinbarten Stunde und war verw undert über die jäh hereinbrechende Dunkel heit. Oleg verspätete sich. Der Inspektor kaufte für alle Fälle eine Schachtel Streichhölzer, stand eine Weile herum, wanderte umher und ließ sich schließlich auf einem großen Stein nieder. Bald war es richtig dunkel, w ar die Nacht hereingebrochen. Der Mond goß sein orangenes Licht über den Ort. Oleg kam eine volle Stunde zu spät. Er bog um die Ecke der Gaststätte und ging lautlos über den feinen Staub. Seine Augen blitzten gelb im Mondlicht. Auch die Stirnlocke sah gelb aus. „Warum kommst du so spät?“ fragte der Inspektor mürrisch, als befände er sich auf einem dienstlichen Einsatz. „Ich wollte erst mal was futtern.“ Petelnikow zog die Luft ein. „Hast du getrunken?“ „Ein Glas sauren Apfelwein. Dazu hab ich Sonnenblumenkerne geknabbert.“ II
Nein, das sah nicht nach einem dienstlichen Einsatz aus. Eher nach einem Spaziergang, einem Abendspaziergang den Strand entlang. Vielleicht hatte sein neuer Freund auch nur Angst - er sollte mit einem Unbekannten zu einem unbekannten Haus gehen, noch dazu im Dunkeln. Oleg schüttelte die Hände. Aus einem Ärmel glitt eine Taschen lampe, aus dem anderen eine kurze Stahlrute. Na klar, er hatte Angst. „Dann mal los“, sagte Petelnikow und trat unter dem Baum her vor. „Was machst du abends so?“ fragte der Inspektor. „Ach, das übliche. Wein, Kino und Domino. Was stellst du eigent lich so dar?“ „Ich bin Kfz-Schlosser“, log Petelnikow, um unnützen Fragen aus dem Weg zu gehen. Außerdem hatte er nach der Schulzeit tatsäch lich in einer Garage gearbeitet. Außerhalb des Ortes redeten sie nicht m ehr miteinander. Ringsum herrschte Stille, war alles menschenleer. Nur die Zikaden sangen ihr ewiges Lied, und wenn sie eines der zum Meer führen den kleinen Täler durchquerten, hörten sie das Rauschen der an laufenden Wellen. Sie stiegen aus der Schlucht, wobei sie sich an den lederartigen Blättern der kleinen Eichen festhielten, gingen an zwei kleinen Hügeln vorbei und sahen vor sich das weiße Haus schimmern wie ausgeblichene Knochen. „Da ist es“, sagte Petelnikow halblaut. .. Oleg antwortete nicht, sondern ließ nur die Stahlrute aus dem Ärmel gleiten. „Wenn es nun mehrere sind?“ fragte Petelnikow, um ihn zu prüfen. „Die dreschen wir zusammen“, knurrte Oleg dumpf. Nein, er w ar kein Feigling. Vorsichtig näherten sie sich der Tür. Oleg bewegte sich gewandt und lautlos, teilte das grüne Gestrüpp mit seiner Schulter; es schloß sich hinter Petelnikow wie Wasser hinter einem Schwimmer. An der Tür blickte der Inspektor kurz durch das Fenster - zwischen den Brettern gähnte schwarze Finsternis. Er mochte sich selbst nicht eingestehen, daß jenes Auge ihm nicht bedrohlicher, eher widerlicher als eine ganze Bande von Kriminellen erschienen war. Die Tür w ar verschlossen. Oleg stieß sie mit einem Tritt auf, sie verschwand knarrend in der Dunkelheit. „Leuchte mal“, flüsterte Petelnikow. Ein heller Lichtstrahl streifte die trockene Erde und verschwand im Haus wie von der Finsternis verschluckt. Sie traten ein. Im Haus w ar alles unverändert. Schmutziges Papier, Späne, Büschel von Heu, Milchtüten. In einer Ecke des Raumes glänzte dunkel verschüttetes Pech. Überall roch es nach trockenem Papier und Schmutz. Stille herrschte. Nicht einmal Mäuse raschelten. Nein, etwas im Haus hatte sich doch verändert: An der Wand lag ein von der Sonnenglut und Zeit gedunkelter Balken. 12
„Der w ar noch nicht da“, sagte Petelnikow. „Bestimmt haben Touristen ihn hergeschleppt.“ Vielleicht hatte Petelnikow ihn aber auch nur beim Mondlicht übersehen. Oleg ließ den Lichtkegel über Wände und Fußboden gleiten. „Wo soll sich hier einer verstecken?“ fragte er. Offensichtlich zweifelte er Petelnikows Bericht über das mysteriöse Auge an. „Weiß der Teufel!“ entgegnete Petelnikow nachdenklich, hob einen Krümel vom Boden und zerrieb ihn: Lehm, grüner Lehm. Genau solcher wie der, mit dem die Flaschenpost versiegelt war. „Und was ist das?“ fragte Oleg plötzlich und wies auf eine Stelle zu seinen Füßen. Auf dem Fußboden hob sich deutlich ein Viereck ab. Ein Keller, das Haus hatte einen Keller. Oleg hob die Falltür mit seiner Stahl rute. Sie ließ sich leicht öffnen. Petelnikow packte sie, stellte sie senkrecht und blickte, dem Lichtkegel folgend, hinunter - dort war nichts, keine Menschenseele. Plötzlich erlosch die Lampe. Im selben Moment schnitt sich die Stahlrute mit ungeheurer Wucht in sein Genick. Er stürzte in den Keller und verlor das Bewußtsein. Der Schmerz im Nacken ließ ihn jedoch bald zu sich kommen. Er betastete die Stelle und drehte den Kopf hin und her - der Schlag lag knapp unter dem Halsansatz und hatte die Wirbelsäule nicht beschädigt. Die Stirn schmerzte, geronnenes Blut w ar daran fest gebacken. Außerdem war ihm leicht übel. Offenbar hatte er das Bewußtsein verloren, als er mit dem Kopf gegen die Kellerwand prallte. Petelnikow richtete sich auf. Man konnte die Luke an der Decke nicht mit den Händen erreichen - sie griffen ins Leere. Petelnikow überw and seinen Abscheu, suchte Späne und Holzstücke und er richtete ein kleines Häufchen. In der Ecke fand er einen zerbeulten Blechkanister. Ein halber Ziegel tauchte aus dem Schutt. Der In spektor riß einige Latten von den Wänden - wahrscheinlich die Reste von Verschlägen - und baute aus allem eine A rt Pyramide. Die unsichere Konstruktion trug ihn mit Ach und Krach und schwankte unter seinem Gewicht. Er konnte die Luke erreichen und drückte dagegen, doch im selben Augenblick wurde ihm klar, daß sie durch eine Last niedergehalten wurde, die ein Mensch von unten nicht anheben konnte. Der Balken! Der eigens dazu herbeigeschleppte, etwa vier Meter lange Balken. Er wäre auch von einer soliden Leiter aus nicht anzuheben. Dennoch versuchte Pe telnikow es noch einmal mit letztem Krafteinsatz, bis seine Py ram ide auseinanderfiel und er wieder auf dem Boden stand. Von der Anspannung wurde ihm übel. Blut pulsierte in seinem Hinterkopf und Nacken, als schlage dieser Oleg weiterhin gleichmäßig mit seiner Stahlrute auf ihn ein. Die Beine zitterten. Er verschnaufte. Einen Gang mußte er graben, das war der Aus weg. Bis zum Meer konnte es nicht weit sein, das Haus stand direkt an der Steilküste. Er brauchte eine Konservenbüchse oder einen 13
Metallgegenstand. Da fielen ihm die Streichhölzer ein, die er in der Gaststätte gekauft hatte. Er zündete eines an und schloß die Augen - die kleine gelbe Flamme strahlte wie eine Atomexplosion. Beim zweiten Streichholz hatten sich seine Augen daran gewöhnt. Er blickte um sich. Schutt und Staub. Die Bretterverschläge überall abgerissen. Kein Stück Metall außer dem zerbeulten Kanister. Aber selbst mit einem eisernen Werkzeug ließe sich wenig ausrichten - der Keller w ar in den graugrünen Lehm gegraben, der Boden hart wie Asphalt. Allenfalls eine Brechstange hätte hier helfen können, außerdem wußte Petelnikow nicht mehr, in welcher Richtung das Meer lag. Am besten alles anzünden, den Müll, die Holzstücke und die Dielenbretter über seinem Kopf - das Haus sollte richtig auflodern. Die Bretter w ürden verbrennen und er hinausgelangen. Irrtum - er würde als erster verbrennen. Oder vielmehr am Rauch ersticken. Vielleicht sollte er gegen die Decke hämmern, bis man ihn hörte? Er griff eine Latte und stieß sie gegen die Luke über seinem Kopf, doch das morsche Holz zerbrach in m ehrere Stücke. Er packte die nächste Latte - sie zerfiel buchstäblich in seinen Händen. Blieb nur noch Schreien. Er zögerte, da er nicht wußte, was er rufen sollte. Zu Hilfe, helft m ir doch? Er, Oberinspektor der Kri minalmiliz, sollte so etwas rufen? Er brüllte: „Haa-a-ll-o!“ und ver- $ suchte, die dicken Mauern mit seiner Stim mkraft zu durchdringen. Er rief lange und ausgedehnt. Nichts rührte sich. Wer sollte ihn auch hören? Ohne recht zu wissen, warum, entzündete er ein Streichholz und untersuchte nochmals den Boden. Müll, Dunkelheit und stumme Wände. Viele Papierschnipsei, gelb und halb verm odert wie P a pyrusfetzen. Einer sah seltsam neu aus. Er zündete ein weiteres Streichholz an und entzifferte: „Awa, mein Töchterchen...“ Der Eingekerkerte! Dieselbe Schrift, derselbe Bleistift wie in der Fla schenpost. So also standen die Dinge! In diesem Haus hatte ein Mensch ge sessen, der jenen Zettel geschrieben, in eine Flasche gesteckt, diese m it Lehm verschlossen und offenbar unbem erkt den Steilhang hinuntergeworfen hatte. Danach hatte man ihn in diesen Keller gesteckt, wo er gleichfalls versucht hatte, etwas zu schreiben, es jedoch wahrscheinlich nicht m ehr geschafft hatte. Durchaus möglich, daß er, Petelnikow, ihn daran gehindert hatte, als er sich nachts dem Haus genähert hatte.
nächteten hier, die kein Q uartier gefunden hatten. Er m ußte w ar ten, demzufolge mit seinen Kräften haushalten. E r beugte sich vor und legte das Ohr lauschend auf die Erde. D urst quälte ihn, Kopf und Hals schmerzten. Er wußte nicht, ob es noch Nacht w ar oder schon Morgen oder ob bereits ein weiterer Tag vergangen w ar - seine U hr w ar stehengeblieben. Vor Erschöp fung schlief er ein. Oder phantasierte er? E r schlug die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. „Rotschopf, reiß die hier ab “, sagte oben dumpf eine Frauen stimme, wenigstens klang es so. Petelnikow sprang auf und schrie mit entstellter, heiserer Stimme: „Hallo, ist da wer?“ Sofort w ar oben alles still. „Macht auf, m acht auf!“ Er hörte patschende - vielleicht barfüßige? - Schritte schnell von einer Ecke des Hauses zur anderen laufen. Sie entfernten sich. O ffenbar w aren es Kinder gewesen, die er durch sein unterirdisches Rufen erschreckt hatte. Er packte eine Latte und klopfte wieder - Kinder sind neugierig, bestimmt kommen sie zurück. Die Latte zerbrach jedoch sofort. Da w arf er die Bruckstücke immer wieder gegen die Falltür in der Decke. Seine Beine zitterten, Sand rieselte von oben, in seinen Ohren w ar ein Sausen, er rang nach Luft, fuhr jedoch verbissen mit seinen Signalen fort. „Wer klopft da?“ fragte jem and mit heller Stimme. „Kinder, m acht auf! Macht schnell auf!“ „Hier liegt ein Balken.“ „Dann holt Erwachsene! Nur lauft nicht weg.“ „Wir versuchen es mit einem Hebel.“ Ächzend und schimpfend werkten sie oben herum. Offenbar hatten sie keinen passenden Hebel finden können. Dann rollte etwas und fiel um. Plötzlich trat Stille ein. Petelnikow lauschte gespannt und reckte unwillkürlich die Hände zur Decke. Dann erblickte er über sich ein helles Rechteck und zwei Köpfe. „Kinder, Kinder“, murmelte er, schnellte nach oben, konnte die Öffnung jedoch nicht erreichen, sackte zurück und fiel auf die Knie. Die Kinder ließen ein breites Brett herab, auf dem er sich wie eine Raupe hinaufarbeiten konnte. Die heiße Sonne schlug ihm durch die geöffnete Tür ins Gesicht. „Wie spät ist es?“ fragte er heiser. „Gegen drei“, antwortete der eine Junge, ein großgewachsener, braungebrannter Bursche. Demnach hatte er die ganze Nacht und einen halben Tag hier verbracht. „Wieso sind Sie denn dort hineingekrochen?“ erkundigte sich der andere Junge mit Namen Rotschopf. 15
„Man hat mich eingesperrt.“ „Wer?“ „Ach, so ein Spaßvogel!“ antwortete Petelnikow betont heiter. „Das w ar kein Spaßvogel“, sagte der größere Junge zweifelnd. Da entdeckte der Inspektor eine Blechdose Wasser auf dem Fuß boden. „Wollen Sie trinken?“ fragte Rotschopf. Der Inspektor leerte die Büchse in einem Zug, holte tief Luft und sagte leise: „Habt vielen Dank, Kinder. Ihr habt mir das Leben gerettet.“ Sie blickten sich skeptisch an. Da kam aus diesem Kellerloch ein schmutziger, blutbefleckter Mann gekrochen, redete irgendwelches Zeug von einem Spaßvogel und bedankte sich dann für seine Le bensrettung. „Ich würde gern ausführlicher mit euch reden, aber ich muß die sen Spaßvogel finden.“ „Werden Sie ihn verprügeln?“ erkundigte sich Rotschopf. „Nein, das nicht.“ „Sie haben wohl Angst?“ „Nein, ich bin gegen Selbstjustiz“, antwortete Petelnikow. „Ich liefere ihn bei der Miliz ab. Nochmals vielen Dank!“ Er stieg zum Meer hinunter, reinigte seine Kleidung und wusch sich das Blut ab. Das Salzwasser brannte in der aufgeplatzten Haut. 16
Dann winkte er den beiden Jungen am Steilhang zu und ging in den Ort. „Mein Gott“, sagte seine Wirtin und ließ sich auf die Bank vor dem Haus fallen. „Ich wollte schon die Miliz verständigen.“ „Ich hab einen Freund getroffen“, murmelte der Inspektor, der vergessen hatte, sich unterwegs eine einleuchtendere Version aus zudenken. Die Wirtin schaltete jedoch augenblicklich. Sein Äußeres ließ offensichtlich keinen Zweifel aufkommen. „Bist bestimmt in die Ausnüchterungszelle geraten.“ „Ja“, gestand er erfreut. „Und gleich dünner geworden. Komm, iß was.“ Die Ausnüchterungszelle weckte offenbar ihr Mitgefühl. Sie füllte einen Teller mit heißer Suppe und setzte ihm ausgesuchte Tomaten eigener Ernte vor. Als Petelnikow die Suppe gegessen hatte, spürte er unüberwind liche Müdigkeit. Er ging zu seinem Häuschen. Auf dem Stuhl lagen ein Buch und sein Füllhalter. Auf dem Tisch stand die rote Ther mosflasche mit Tee, die er gestern gefüllt hatte. Das Handtuch hing an seinem Platz, längst getrocknet. Er zog die schmutzigen Sachen aus, fiel aufs Bett und schlief sofort ein. Tellerklappern weckte ihn. „Möchtest du Tee trinken?“ fragte die Wirtin. „Ich hab sogar schon davon geträumt.“ Sein Kopf schmerzte nicht mehr. Die Muskeln hatten die sport liche Energie wiedererlangt. Er w ar gierig auf Tee und hatte einen Bärenhunger, als hätte er einen Tag lang schwer gearbeitet. Des halb förderte er die Büchse Kondensmilch und den Ring an geräucherter Wurst aus seinen Vorräten, und die Wirtin setzte ihm eine große Schüssel prallroter Tomaten vor. „Mit wem hast du denn einen drauf gemacht?“ Die Frage kam ihm höchst gelegen. „Mit einem von hier. Oleg heißt er.“ „Ich kenne keinen Oleg.“ „Klein, hager, mit Stirnlocke.“ „Vielleicht Fjodors Junge? Aber der ist doch bei der Armee.“ Demnach w ar dieser Oleg nicht von hier. „Wohnen Sie schon lange hier?“ „Ach, mein Lieber, so an die fünfundzwanzig Jahre.“ „Sind Sie Ukrainerin?“ „Wie kommst du darauf?“ fragte sie erstaunt. „Ich stamme aus Nowgorod.“ „Leben auch Tataren hier?“ „Drei Familien.“ „Dann hab ich heute am Strand einen Tatarennam en gehört. Ein Mädchen wurde Awa gerufen.“ „Das ist kein Tatarennam e“, sagte die Wirtin amüsiert. „Grigori Fomitsch hat seine Tochter so taufen lassen.“ 17
„Seltsamer Name“, sagte Petelnikow. „Eigentlich heißt sie Awgusta. Aber Fomitsch nennt sie Awa. Als wäre sie ein Hund, Herrgott noch mal.“ „Sind sie von hier, dieser Fomitsch und Awgusta?“ „Ja, sie wohnen in der W inogradnajastraße, das letzte Haus vor dem Tabakfeld.“ Er hatte auf einmal keinen Appetit mehr. Seine langen Beine zappelten förmlich unter dem Tisch. Er verließ das Haus und schlenderte durch die engen Straßen. Der Abend w ar bereits angebrochen. Die von der See und der Sonne erm atteten U rlauber promenierten unter den Zypressen. Mädchen in weißen Shorts spielten auf der jetzt bereits unbelebten Fahrbahn Federball. Die kleinen Jungen rasten auf Fahrrädern umher. An den Gartentüren standen Waagen und Eimer mit To maten. Die Hausbewohner verzehrten ihr Abendbrot im Freien, von hochaufgeschossenen Malwen vor den Blicken der Vorüber gehenden geschützt. Petelnikow stieg auf einen Hügel, blickte zum Sanatorium, spa zierte gemächlich zurück in den Ort und suchte die Winograd najastraße auf. Am Ende der Straße fand er auch das weiße Haus; dahinter lag ein Tabakfeld. Am Drahtzaun stand eine Frau, und Petelnikow w ar sicher, daß er Awgusta vor sich hatte. „Guten Tag“, sagte er, noch ohne einen bestimmten Plan. „Guten Tag“, antwortete sie leise. Sie w ar etwa dreißig. Ein sympathisches Gesicht mit tief eingedrungener Sonnenbräune. Hellblaue Augen, keine Südländerin. Die H aare von der Sonne gebleicht. Große Hände mit grober Haut, offenbar gegerbt von der Arbeit in den Weinbergen und Tabak plantagen. Sie blickte den Fremden fragend an. „Yermieten Sie an Sommergäste?“ „Überhaupt nicht.“ „Das Haus ist so groß, und dennoch vermieten Sie nicht?“ fragte er erstaunt. „Es hat nur ein großes Zimmer und die Küche. Wie da an jem an den vermieten?“ Sie redete ruhig und lächelte dabei unbestimmt. „Vielleicht haben Sie einen Anbau? Ich hab nun schon die zweite Nacht am Strand geschlafen.“ Sie schien ihm zu glauben, lächelte, sagte jedoch nichts. „Oder sollte ich einmal mit Ihrer Mutter reden?“ fragte der In spektor hartnäckig. „Ich hab keine mehr.“ „Dann mit Ihrem Vater?“ „Der ist weggefahren.“ Sie versuchte wieder zu lächeln, aber es gelang nicht recht. Ihr Vater war also weggefahren. Stimmte genau. Er nahm neuen Anlauf: „Haben Sie doch Mitleid mit mir!“ Wie sollte er jetzt locker lassen angesichts der Erklärung, ihr Vater sei 18
weggefahren? „Sie haben doch bestimmt eine Laube, einen Schup pen, eine Kammer oder einen Dachboden? Ich koche nicht, wasche nicht, trinke und rauche auch nicht.“ „Da wäre eine kleine Laube“, sagte sie zögernd, wobei ihr Blick über die Schramme auf seiner Stirn glitt. „Großartig! Ich zahle wie für ein richtiges Zimmer.“ Sie lachte kurz. „Sie können gern einziehen. Nur hat die Laube kein Dach.“ „Wozu auch, hier im Süden? Vielen Dank, ich lauf nur schnell zur Anlegestelle und hole meine Sachen.“ Vielleicht w ar er wieder in eine Falle gestolpert. Jetzt aber herrschte offener Kampf, und er w ar darauf gefaßt, auch einen Schlag aus dem Hinterhalt abzufangen. Er empfand ein gewisses Unbehagen seiner Wirtin gegenüber. Sie hatten so manche Schüssel Tomaten gemeinsam verspeist. Sie ver kniff den Mund und ließ sich neben der G artentür nieder, um an zudeuten, er könne gehen, wohin er wolle. Sie stellte nicht einmal Fragen und lehnte stolz das Geld für die nächsten drei Tage ab, das er ihr als Ersatz für den Verlust zustecken wollte - schließlich räum te er das Quartier vorfristig. Aber er konnte ihr keine Erklärungen geben. Es w ar kaum anzunehmen, daß dieser Oleg wieder am Strand auftauchen würde. Und dennoch. Petelnikow erinnerte sich an einen Fall, wo ein Krimineller im ganzen Land gesucht wurde, dabei seelenruhig am Tatort übernachtete. Petelnikow stieg zum Wasser hinunter und überblickte dabei den schon geleerten Strand. Von Oleg w ar natürlich keine Spur. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Aber die beiden Mädchen, die Kleine und die Schwarze, saßen dicht beieinander auf den Steinen. „Schön, daß Sie nicht verbrannt oder ertrunken sind und sich auch nicht an Barschen übergessen haben“, begrüßte er die zwei und hockte sich auf seine dicke Aktentasche. „Sie fahren wohl schon ab?” erkundigte sich die Schwarze und wies auf seine Kleidung und die Aktentasche. „Nein, das tut er nicht“, w arf die Kleine ein und blickte weiter aufs Meer, als habe sie seit ihrer gestrigen Begegnung nichts anderes getan. „Und wieso nicht?“ fragte Petelnikow erstaunt. „Ganoven fahren nicht ab, sie verduften“, erläuterte sie. „Meinen Sie mich?“ fragte der Inspektor nicht sonderlich ver blüfft. „Sehe ich vielleicht so aus?“ Die Kleine wandte den Kopf und sah ihn mit ihren großen Augen eindringlich an. Sie w ar wirklich ein schönes Mädchen, und einen Moment lang bedauerte Petelnikow, daß sein Urlaub so kurz war. „Nun, Sie vielleicht nicht, aber Ihr Freund“, sagte die Schwarze. „Er w ar ziemlich unverschämt, und dann die Tätowierung.“ „Wo ist er denn jetzt?“ „Er ist doch gestern zu Ihnen gegangen“, sagte die Kleine. „Wahr scheinlich sind Sie der Boß.“ 19
„Nein, ich bin kein Krimineller“, antwortete er ernst. „Aber auch kein U rlauber“, entgegnete die Kleine. „Irgendwann einmal werde ich Ihnen alles erklären“, versprach er und blickte auf die Uhr. Awa w artete auf ihn - sofern sie wartete. Zum Bau der Laube hatte man lediglich vier leichte Pfosten und einige Latten verwendet. Das Dach und drei Wände bestanden aus üppig wucherndem Grün, deshalb sah die Laube wie eine Höhle aus. Eigentlich w ar es keine Laube, sondern ein Stück abgegrenzter Raum in einem Weingarten, durch dichtes Blattwerk jedem Blick verborgen. Regen brauchte er hier nicht zu fürchten. Direkt auf der blanken Erde stand eine schmale Holzliege. Ein Holzklotz diente als Stuhl. Alles w ar einfach und der Umgebung angemessen. Und ro mantisch dazu. Nur ein kleiner, offensichtlich im Umbau begriffe ner Schuppen störte das Bild. Die neue Wirtin brachte Bettzeug und w arf es auf die Liege. „Wie heißen Sie?“ fragte er. „Awgusta.“ Sie ging, ohne sich zu erkundigen, ob er noch etwas brauche oder ob es ihm so zusage. Sie lächelte nicht einmal. Vielleicht weil ihre Beziehung jetzt offiziellen C harakter angenommen hatte; er war kein zufälliger Passant mehr, sondern ihr Mieter. Dann kehrte sie jedoch zurück und fragte grob: „Haben Sie eigentlich einen Ausweis?“ „Sie haben wohl Angst, einen Spion zu beherbergen?“ erwiderte er scherzend und hielt ihr den Personalausweis hin. Sie nahm ihn, las den Familiennamen, gab ihn zurück und lä chelte nun doch. Der Inspektor faßte dies als Signal zu einem Ge spräch auf, doch sie w ar bereits zwischen den Weinstöcken ver schwunden. Wieso kam sie auf den Gedanken, den Ausweis zu kontrollieren? Man w ar hier allenthalben auf U rlauber eingestellt und verlangte die Ausweise nur zur Registrierung. Warum war sie so mißtrauisch? Wo war ihr Vater? Und warum ließ sie nun doch einen Sommergast hier wohnen? Warum brauchte er ihr gar nicht so lange zuzureden? Sie hatte nicht einmal gefragt, für wie lange. War dies wieder eine Falle? Aber schließlich hatte er sich hier ein genistet, um die Antworten auf all diese Fragen zu finden. In einer neuen Unterkunft ist es immer ungemütlich. Der In spektor saß auf dem Holzklotz. Seine Reisetasche stand vor ihm auf der Erde. Er konnte sie nicht einmal auspacken - wohin mit den Sachen? Fliegen summten. Über ihm hingen Weinranken wie kleine Fühler und zielten nach seinem Kopf. Im Grunde saß er an der Straße in dichtem Gebüsch. Schnell senkte sich der südliche Abend auf den Ort. In der Laube wurde es schon dunkel. In dieser neuen Behausung konnte er ab solut nichts tun. Es gab weder Licht noch einen Tisch. Er wollte die Stille nicht mit seinem Transistorgerät stören, außerdem hatte er sich nicht zu diesem Zweck hier einquartiert. So erhob er sich von seinem harten Sitz und trat auf die Straße. 20
Awgusta stand wieder am Zaun, als w arte sie auf jemanden. Er blieb auch stehen und hätte sich beinahe nach klassischer Detektiv manier gebückt, um seinen Schuh zuzubinden. Er blickte in die Richtung, in die auch sie sah —zum Himmel. Die Sonne hatte sich auf dem mächtigsten Berggipfel niedergelassen und sandte von dort einen Fächer orangeroter, funkelnder Strahlen. „Herrlich“, sagte der Inspektor. Sie schwieg. Ihr weißblondes H aar sah jetzt rosa aus, ein Strahl schien sich von der untergehenden Sonne gelöst und daran geheftet zu haben. „Die Luft ist hier so würzig und warm.“ „Dann atmen Sie sie nur kräftig ein.“ Er erw artete keine Offenheit, hoffte vielmehr nur auf ein höfli ches Gespräch, doch sie w ar abweisend, eher schon grob. Man konnte ihn wohl kränken, nicht jedoch bei dienstlichen Erm ittlun gen, da war er unempfindlich. „Der Wein steht hier sehr dicht.“ „Erholen Sie sich, erholen Sie sich“, sagte sie schroff und ging ins Haus. Vielleicht wollte sie auch nur in Ruhe gelassen werden. Die Sommergäste gingen manchem hier bestimmt auf die Nerven mit ihrem Geschwätz, ihrem Nichtstun und Lärmen. Aber Petelnikow konnte sie nicht in Ruhe lassen, weil sie die Tochter jenes Menschen 21
war, um dessentwillen noch nichts aus seiner Erholung geworden war. Der Inspektor beschloß, nochmals durch die Siedlung zu spa zieren, er hatte keine große Lust, im Weingarten zu hocken. Es wurde schnell dunkel. Die U rlauber hatten ihre Shorts gegen lange Hosen und Röcke getauscht und eilten zum Pier, um dort zu promenieren. Der Lautsprecher lud zu Fahrten aufs offene Meer ein. Manchmal hallten wilde Schreie oder Lachsalven durch den Ort - im Freilichtkino lief ein Film. Vom Meer, das er noch gar nicht richtig genossen hatte, wehte ein erstaunlich kühler Wind, und es roch leicht nach frischen Gurken. Nachdem er etwas umhergeschlendert war, kehrte er in seine Laube zurück und legte sich auf die schmale Liege. Er fand keinen Schlaf. Und er fand auch keine Beschäftigung. Er konnte weder lesen noch die neuesten Nachrichten hören. Ein Ge fühl der Verlassenheit und Isoliertheit von der Außenwelt befiel ihn, und das im Süden, wo man vor lauter Urlaubern kaum treten konnte. Er lag inmitten dichten Grüns auf der Liege und blickte auf das ovale Loch, das die Blätter in der lebenden Decke gelassen hatten. Er lag und lauschte auf den schlafenden Kurort. Dem An schein nach wachte nur er in diesem Ort. Er beschloß, sich das Haus anzusehen, in das er morgen ein zudringen gedachte, bog die Zweige auseinander, blickte in den von Mondlicht überfluteten G arten und duckte sich unwillkürlich. Dicht bei der Laube stand Awgusta mit schußbereitem Gewehr. Sie sah aus wie ein Gespenst. Eine Ewigkeit schien er wie gelähmt durch die weiße Erschei nung. Dann stieß er sich kräftig ab und rollte unter die Liege. Ihre dicken Bretter schützten ihn vielleicht vor der Kugel. Aber kein Schuß krachte. Er wartete eine Weile, schob einen Zweig beiseite und lugte in den G arten - dort w ar niemand. Als sei alles Täuschung gewesen. Stille herrschte. Er kroch unter der Liege vor, unterdrückte ein Zittern in den Beinen, setzte sich auf den Klotz und w artete auf die Morgendäm merung. Also gehörte Awgusta gleichfalls zur Bande, saß er wieder in der Falle. Lebte ihr Vater noch? War jener alte Mann noch am Leben, der „eingekerkert“ und „um Christi willen“ geschrieben hatte? Unwillig kehrte der Tag zurück. Zuerst verblaßte der Mond und rollte irgendwo zur Seite. Dann wurde es kühl - Petelnikow mußte sich sogar eine Decke um die Schultern legen. Auf einmal lärmten Spatzen wie von Sinnen. Ein Mann ging die Straße entlang. Und plötzlich w ar der Morgen da: Die Berggipfel leuchteten rosa, ein frischer Wind wehte vom Meer, die pyramidenartigen Pappeln at meten laut mit ihren silbrigen Blättern, Wagen w urden angelassen, Türen knarrten. Auch in Awgustas Haus regte sich etwas. Petelnikow stand auf und ging zum Gartenschlauch. Er ließ das frische Gebirgswasser über Brust und Rücken laufen und ver scheuchte so die Müdigkeit nach der durchwachten Nacht. Er klei dete sich an und ging entschlossen zur Tür. Wozu länger zögern? Er 22
mußte das Gewehr an sich nehmen und diese Awgusta zur Miliz bringen. Falls etwas sie diese Nacht gehindert hatte, ihn zu erledi gen, gelang es ihr vielleicht ein anderes Mal. Aller Wahrscheinlich keit nach w ar sie allein im Haus, sonst wäre ein Mann zur Laube gekommen. Und nicht mit einem Gewehr, sondern mit einem Mes ser oder Brecheisen. Offenbar hatten sie nicht erwartet, daß er in ihrer Höhle übernachten werde, und sich nicht vorbereitet. Der Inspektor blickte dennoch kurz durchs Fenster, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Awgusta saß in der Küche und weinte. Er klopfte an die Scheibe und trat dann ein. Sie hob den Kopf, wischte sich die Augen und blickte ihn fragend an. Sie w ar nicht verwirrt, obwohl sie eben noch geweint und nachts einem Men schen nach dem Leben getrachtet hatte. „Irgend etwas Unangenehmes?“ fragte er. „Was wünschen Sie?“ „Vielleicht brauchen Sie Hilfe?“ „Ach, lassen Sie mich in Ruhe!“ Sie redete wieder sehr grob, aber ihr Ton und die Worte standen in schroffem Gegensatz zu ihrer bedrückten Miene. „Awgusta, vertrauen Sie sich m ir an.“ Sie winkte ab und schluchzte laut auf. Mitleid packte den Inspektor und däm pfte seinen Tatendrang. Offenbar w ar dieses Mitleid intuitiv, denn er begriff augenblick lich, daß Awgusta keine Kriminelle war, es auch nie gewesen w ar - und hätte sie auch aus ihrer doppelläufigen Flinte auf ihn ge schossen. „Beruhigen Sie sich“, sagte er. „Gehen Sie fort!“ Sie sprang auf und blickte ihn wütend an mit Augen, in denen noch die Tränen glitzerten. „Räumen Sie die Laube und scheren Sie sich fort!“ Von Mitgefühl überwältigt, tat er einen Schritt zurück und sagte leise: „Awa!“ Sie blickte erschrocken um sich auf der Suche nach dem, der sie so nennen konnte. Aber der Betreffende w ar nicht in der Küche. Da stand sie plötzlich reglos, starrte dem Inspektor ins Gesicht und fragte fast lautlos: „Wer sind Sie?“ „Ihr Freund.“ Sie schwieg und m usterte ihn weiterhin mißtrauisch. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Ihnen helfen will!“ Awgusta schwieg. Da vertraute Petelnikow seiner Intuition und entschloß sich zu der Erklärung: „Ich bin Angehöriger der Kriminalmiliz.“ Sie sagte noch immer kein Wort. Er holte seinen Dienstausweis aus der Geheimtasche und wies sich aus. „Das hätten Sie gleich tun sollen“, sagte sie m att und lächelte ein klein wenig erleichtert. 23
„Erzählen Sie alles ausführlich und der Reihe nach“, forderte Petelnikow sie sachlich auf, als habe der vorgewiesene Ausweis ihm seine Handlungsfähigkeit zurückgegeben. Sie setzte sich nachdenklich auf einen Stuhl. Hoffentlich fragte sie nicht, was er über diese seltsame Sache wußte. Nein, sie stellte eine andere, schwierigere Frage: „Ist meinem Vater etwas zugestoßen?“ Zugestoßen... Man bediente sieh dieses Ausdrucks, wenn man die Frage scheute, ob ein Mensch noch am Leben w ar oder nicht. „Er ist völlig in Ordnung“, antwortete der Inspektor fest, stets bereit zu einer Notlüge, zümal wenn er selbst noch nichts Genaues wußte. „Mein Vater hat den Schuppen dort umgebaut, den Fußboden erneuert und Löcher für die Pfosten gegraben. Er ist Rentner. Vergangene Woche kam ich von der Arbeit heim, da war er nicht da. Dann tauchte ein junger Mann auf und erklärte, V ater hätte ein Telegramm von seiner Schwester in Woronesh erhalten und wäre zu ihr gefahren. Es mußte alles ganz schnell gehen, dam it er den Zug noch erreichte.“ „Wollte er wirklich dorthin fahren?“ „Ja, aber erst im Herbst. Jetzt ist er plötzlich weg. Und hat nicht mal eine Zeile hinterlassen.“ „Haben Sie sich nicht mit Woronesh in Verbindung gesetzt?“ „Ich habe sofort dort angerufen, aber niemand hat abgehoben. Da hab ich ein Telegramm geschickt. Vielleicht liegt meine Tante im Krankenhaus.“ „Haben Sie den jungen Mann vorher schon einmal gesehen?“ „Er ist nicht von hier. Er behauptete, meinen V ater an der An legestelle getroffen zu haben. Nicht allzu groß, semm elblond...“ „Mit Stirnlocke?“ „Sie kennen ihn wohl?“ Und ob - noch immer schmerzce dem Inspektor der Nacken. „Warum wollten Sie auf mich schießen?“ stellte er die Gegenfrage und legte seine Hand auf ihre heiße Hand. „Ich habe gar keine Patronen“, erklärte sie und lächelte flüchtig, setzte jedoch sofort wieder die starre, bekümmerte Miene auf. „Während ich auf Arbeit bin, ist jemand im Haus. Und nachts schleicht er im Hof herum.“ „Wer denn?“ „Ich weiß nicht. Vorgestern sind sie in den Keller gestiegen und haben den Ofen auseinandergenommen. Gestern schlich jemand im Weingarten umher. Ich hab Sie zu meinem Schutz auf genom men. Dann überlegte ich mir: Vielleicht gehört er auch zu denen, die im Haus herumstöbern? Nach einem U rlauber sehen Sie ja nicht gerade aus.“ Das hatte die Kleine vom Strand auch schon behauptet. Wonach sah er dann aus? Etwa nach einem Kriminalinspektor? „Da wollte ich Ihnen einfach einen Schreck einjagen“, fuhr sie fort und lächelte schwach. 24
„Warum sind Sie nicht zur Miliz gegangen?“ „Heute wollte ich gehen.“ „Awgusta, vielleicht besitzt Ihr Vater irgendwelche Wertsachen oder Geld?“ „Woher? Wir vermieten ja nicht einmal.“ „Irgendein wichtiges Schriftstück?“ forschte der Inspektor weiter. Sie zuckte die Schultern. „Hat Ihr Vater in seinem Leben vielleicht einm al... Aber lassen wir das. Sie haben doch niemandem erzählt, daß ich hier eingezo gen bin?“ „Niemandem.“ „Dann bleib ich den ganzen Tag und noch eine Nacht hier in der Laube und lasse mich nicht blicken. Das Haus ist von hier aus gut zu beobachten. Zwei Fenster sind allerdings nicht einzusehen, aber die gehen zur Straße, von dort wird schwerlich jemand einsteigen.“ „Außerdem sind Läden davor.“ „Machen Sie sich keine Sorgen mehr“ , sagte der Inspektor und lächelte aufmunternd. Sie antwortete mit einem Lächeln. „Ich bringe Ihnen etwas zu essen.“ Der Inspektor saß den ganzen Tag in der Laube, bemüht, sich nicht zu bewegen und nicht zu husten. So schlecht hatte er es gar nicht. Die Weinblätter schützten ihn nicht nur vor Blicken, sondern auch vor der Hitze. Es roch nach kalter Erde und Tomaten. Er ließ das Haus, dessen weiße Wände Ruhe ausstrahlten, nicht aus den Augen. A ußer einer Katze näherte sich niemand der Tür. Offenbar hatte die Bande es nicht eilig. Aber sie stand unter Zeitdruck, das Ver schwinden des Alten konnte ruchbar werden. Etwa gegen fünf Uhr kehrte Awgusta zurück und brachte ihm zu essen. Sie schien sich jetzt völlig beruhigt zu haben. Er trank Milch, sie stand am Eingang - wenn m an jenes Loch so nennen konnte, die Sonne strahlte sie von hinten an und schien sie zu durchleuchten. Sie wirkte auch gleich jünger. Der Inspektor nahm ein Blatt Papier und schrieb: „Wie alt sind Sie?“ Sie lachte kurz und kritzelte darunter: „Danach fragt man keine Frau!“ „Bei der Miliz wohl.“ „Ist schließlich meine Sache. Wie lange gedenken Sie noch hier zu sitzen?“ „Bis zum siegreichen Ende.“ „Haben Sie eine Waffe?“ „In meiner Aktentasche sind ein paar Handgranaten.“ „Fliegen Sie dam it nur nicht selbst in die Luft.“ „Kommen Sie nicht vor dem Morgen zu mir!“ Sie lächelte und winkte ab. Der Inspektor hatte eine Waffe. Unter der Liege lag ein guß eiserner Stößel, den er in dem umgebauten Schuppen gefunden hatte. Solche Stößel gehören meist zu Mörsern. Geologen zermah25
len damit Gesteinsproben. Eine Waffe hatte er - nur fehlten dieje nigen, fü r die er sie bereitgelegt hatte. Von dem guten Essen und der schlaflosen Nacht nickte der In spektor plötzlich ein. Als er die Augen wieder auf schlug, dämmerte es. Schon fürchtete er, alles mögliche verpaßt zu haben. Aber dann sah er Awgusta die Blumen gießen und beruhigte sich. Demnach war in der Zwischenzeit nichts geschehen. Der Schlaf kam ihm zustatten - so würde er nachts besser aufpassen können. Er hatte gelernt, das Leben des Kurorts nach den Geräuschen zu bestimmen. Jetzt strömten die Menschen vom Strand zurück, teilten sich in Grüppchen und strebten den jeweiligen Unterkünften zu. Der Film w ar zu Ende. Auch die Kartenspieler auf der benachbarten Ve randa w aren verstummt. Awgusta hatte längst das Licht gelöscht. Es w ar ganz dunkel. Der Inspektor bemühte sich, Gegenstände zu unterscheiden, konnte jedoch außer den hell schimmernden Hauswänden nichts erkennen. Alles w ar in Finsternis gehüllt. Die gezackte Linie der Berge w ar verschwunden, mit dem violetten Himmel verschmolzen. Blieb nur, auf den Mond zu warten. Sein kaltes Licht blinkte bereits über dem Meer. Die Nacht verstrich. Petelnikow achtete auf jeden Laut und strengte die Augen an, bis sie tränten. Er unterschied das Wasser 26
faß, die Bank an der Vortreppe und die Tomaten neben der Laube. Er blickte in die andere Richtung - am leeren, sternenlosen Himmel blinkte die silberne Mondscheibe. Irgendwo fiel ein Apfel und schien ein Stück zu rollen. Noch ein Aufprall, dann ein zweiter, dritter. Oder waren es Schritte? Alles w ar wieder still. Der Inspektor lauschte angespannt. Die Nacht hatte viele Ge räusche. Bestimmt w ar dies eine Sinnestäuschung gewesen. Das Geräusch wiederholte sich jedoch. Jetzt erfaßte er deutlich rhythmische Schritte. Sie kamen von der Straße her. Vielleicht ein Betrunkener? Aber w arum stahl er sich dann heran? Petelnikow blickte zum Haus und auf den Zaun. Dort w ar niemand. Wieder w ar alles still. Nach etwa zehn Minuten raschelte etwas hinter ihm. E r legte sich sofort auf die Liege und blickte um sich. Das Rascheln kam von der Umzäunung, die das G rundstück vom Tabakfeld trennte. Die Ein zäunung bestand aus Dornengestrüpp und war zuverlässiger als Maschendraht. Etwas raschelte leise und. beharrlich darin, hinzu kam leichtes Prasseln, das von trocknen Ästen herrührte. Er hätte dem keine Bedeutung beigemessen und die Katze für die Urheberin gehalten, w ären nicht zuvor die gedäm pften Schritte auf der Straße gewesen. So wartete er, womit dieses seltsame Rascheln enden werde. Es klang, als nage jemand einen Stacheldraht durch. Zuerst zeigte sich ein Kopf, dann der ganze Mensch. Der mit der platten Nase! Er rückte die Mütze zurecht, schulterte die Schaufel und wandte sich dem Domengestrüpp zu. Dort tauchte eine kleine hagere Gestalt auf, die der Inspektor auch ohne Mondlicht erkannt hätte. Sie hielt ein Brecheisen in den Händen. Der mit der Mütze flüsterte ihr etwas zu, dann kamen beide geradewegs auf die Laube zu. Petelnikow duckte sich und tastete nach dem Stößel. Sein Rücken schwitzte unter dem Hemd. Immerhin, zwei gegen einen. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit der Laube. Petelnikow hielt den Atem an. Schließlich brauchte nur einer der beiden genauer herzusehen, und er würde das hell schimmernde Gesicht auf der Liege erkennen. Und käme mit dem Brecheisen oder der Schaufel angestürzt. Aber sie gingen vorbei zum Schuppen. Oleg legte das Brecheisen auf die Erde, nahm die Schaufel und begann zu graben. Er arbeitete schnell, der Stahl blinkte. Offenbar w ar der Boden hier mürbe. Der mit der platten Nase kehrte der Laube den Rücken zu. Der Mond umriß seine Gestalt. Der In spektor rührte sich nicht, aus Angst, ein B rett könnte knarren. Die Schaufel stieß gegen etwas Hartes. Oleg kniete sich hin, steckte die Hand in das Loch, zog ein Paket heraus und legte es behutsam auf die Erde. Der mit der platten Nase bückte sich gierig danach. Jetzt! Der eine kniete, der andere bückte sich. Am besten mit dem Stößel. Aber den mußte er liegenlassen. Die da, die konnten Brech eisen, Messer und Schlagringe benutzen. Jetzt —er hatte eine halbe Sekunde. 27
Der Inspektor schnellte von der Liege hoch und schoß wie ein Vogel die fünf Meter zum Schuppen. Oleg konnte nur noch den Kopf heben, der mit der platten Nase sich gerade umwenden. Aus dem Anlauf hieb Petelnikow mit voller Wucht in die breitgedrückte Visage; der Mann stolperte über einen daliegenden Balken, fiel zu Boden und lag still. Mit dem nächsten Angriff packte Petelnikow Olegs Arm, noch ehe dieser aufstehen konnte, und drehte ihn auf den Rücken. „Man sollte dir das Brecheisen ins Genick schmettern“, sagte der Inspektor und senkte Olegs Hand leicht. Hunde bellten, sie witterten Unheil. Vom Haus kam eine Katze gehuscht. Im Nachbargehöft knarrte eine Tür. Petelnikow bückte sich, hob mit der freien Hand einen flachen Stein auf und schleuderte ihn nach dem Haus. Er schlug gegen die Mauer, prallte ab und traf ein eisernes Faß, das einen hohlen Laut ausstieß. Sofort wurde das Fenster hell. Nach einer halben Minute trat eine weiße Gestalt vorsichtig auf die Treppe und verharrte dort. Awgusta hatte Angst, in den Garten zu gehen. Ohne Gewehr, dabei wäre es jetzt am Platz gewesen. „Awgusta, bringen Sie mir einen Strick“, rief der Inspektor. Sie verschwand im Haus. Dann tauchte sie wieder auf und kam furcht sam näher, gleichsam den Boden mit den Füßen abtastend. Bei Olegs Anblick drückte sie ängstlich die Hand gegen die Brust und blieb so stehen, bis der Inspektor ihn gefesselt hatte. Als habe er nur gewartet, auch an der Reihe zu sein, bewegte sich der mit dem flachen Gesicht jetzt. Der Inspektor setzte ihn. auf den Balken. Awgusta erkannte ihn im Mondlicht und schrie auf. „Was ist?“ fragte Petelnikow. „Botschkucha.“ „Wieso Botschkucha?“ „Das ist sein Name. Er wohnt zwei Häuser weiter.“ „Wo ist ihr Vater?“ brüllte der Inspektor. „Er schläft in meiner Vorratskamm er“, stieß Botschkucha hervor und rieb sich Kinn und Wange. „Wie habt ihr ihn denn durch den Ort zum Steilhang gebracht?“ fragte Petelnikow erstaunt und fesselte auch dem Plattgesicht die Hände auf dem Rücken. „Er hat einen Moskwitsch“, sagte Awgusta. Sie entfernte sich schon ungeduldig in Richtung auf Botschkuchas Haus. „Awgusta!“ rief der Inspektor ihr nach. „Gehen Sie erst zur Post und rufen Sie die Miliz an.“ Sie stürzte wortlos auf die Straße. Petelnikow setzte Oleg neben Botschkucha. Mit gefesselten Händen kamen sie nicht weit, außerdem - wohin sollten sie flüch ten? Zwei Häuser weiter? Jetzt konnte er sich auch das Paket ansehen, um das es dem Duo offenbar gegangen war. Er legte es auf die Bretter und spürte gleichzeitig sein immenses 28
Gewicht. Unter der Sackleinwand war irgendwelcher Mulm, wie von M äusefraß zerkleinertes Papier oder verm oderter Stoff. Darin lagen seltsame gelbe Blöcke ähnlich steinhartem Käse. Oder wie Butter, denn sie glänzten. Er betastete einen Block und spürte kaltes Metall. Gold! Die südliche Nacht wirkte mit einemmal irreal. Der Duft des Tabakfeldes, der Tomaten und trockenen Staubs schien die Luft verdrängt zu haben. Hinter Petelnikow ragte der schwarze Dschungel des Weingartens. Auf dem Balken saßen die zwei Gefesselten. Buttergelb glänzten die Goldbarren. Und gold gelb schien der Mond. Plötzlich tönte es heiser: „Wir würden gern rauchen.“ Botschkucha bewegte die Schultern und wollte sich eine Ziga rette anstecken. „Wirst’s schon aushalten“, brum m te der Inspektor. „Ich möchte mal was fragen.“ „Nämlich?“ „Warum strengst du dich so an, Junge?“ fragte Botschkucha mit dumpfer, jedoch kräftiger Stimme. „Geht’s um eine Präm ie in Höhe des Gehalts? Oder sechs Tage Sonderurlaub? Oder möchtest du dir einen Farbfernseher ergattern?“ „Warum nicht?“ fragte der Inspektor zurück. „Mach dir keine Hoffnung“, w arf Botschkuchas Kumpan beinahe fröhlich ein. Petelnikow schnupperte. Oleg w ar wieder von einer säuerlichen Dunstwolke umgeben, offensichtlich w ar er in seinem Leben nur einmal nüchtern gewesen - damals am Strand. „Solltet ihr wirklich keinen Farbfernseher w ert sein?“ sagte Pe telnikow und ging auf den fröhlichen Ton ein. „Was grinst du so blöd, wozu Zeit verlieren!“ erklärte Botschkucha hastig. „Dort liegt dein Glück, in diesen Klötzchen. Niemand außer uns und dem dußligen Alten weiß davon. Laß uns laufen, sag, wir sind geflohen. Und die Klötzchen hast du ganz einfach nicht ge sehen. Sei kein Trottel, Junge, so einen Massel hast du nicht noch m al.“ „Und wieviel gebt ihr m ir?“ fragte der Inspektor. Hoffnung ließ Botschkucha auffahren wie einen flügge geworde nen Vogel. „Reicht einer?“ Petelnikow wog den Barren in der Hand. Etwa zwei Kilo. Ins gesamt w aren es sechs solcher Riegel. Zwölf Kilo Gold! „Vielleicht zwei? Jeder zwei?“ schlug Botschkucha bekümmert vor. Der Inspektor hätte sie gern mitgenommen - um sie seinen Kol legen zu zeigen. Sie w ürden ihm die Geschichte bestimmt nicht glauben. Er stellte sich vor: Er tritt ein, zieht die B arren aus der Tasche und legt sie dem Leiter der Kriminalmiliz auf den Tisch. Was ist das? Gold, vier Kilo. Woher? Hab ich aus dem Süden mit 29
gebracht. Wie das? Durch ehrliche Detektivarbeit verdient. Bist wohl nicht zufällig der G raf von Monte Christo? „Nun?“ fragte Botschkucha wütend. „Wie alt bist du?“ erkundigte sich Petelnikow unvermittelt. „Vierundfünfzig.“ „Oho, da kann man ja schon Opa zu dir sagen.“ „Was meinst du dam it?“ „Daß du vierundfünfzig Jahre ganz umsonst gelebt hast.“ „Wieso umsonst?“ fragte das Plattgesicht verständnislos. „Hast du in diesen vierundfünfzig Jahren wirklich nicht gelernt, daß es kostbarere Dinge gibt als Gold, Onkelchen?“ „Eben nicht!“ entgegnete Botschkucha schroff. „Du bist ja ein Trottel, das Glück spielt dir in die Hände, und du gibst ihm einen Tritt. Mit Gold stehst du ganz groß da. Kannst Weiber anmachen, so viele du willst, kriegst auch sonst alles.“ „Und was noch?“ „Wieso was noch?“ „Außer Weibern und allem möglichen K ram kennst du nichts weiter?“ Botschkucha gab nicht auf. „Junge, faß das Gold doch mal an, los, faß es an!“ Der Inspektor tat es. Die B arren waren, kalt. Seltsam,1dieses Edelmetall, um dessentwillen Verbrechen begangen wurden, war kalt wie ein Toter. „Er m acht nicht mit, der Idiot“, sagte Botschkucha seufzend. „Wer rosaroten Portwein trinkt, gar bald schon in die Grube sinkt“, orgelte plötzlich der Kumpan des Plattgesichts. Awgusta kam nicht zurück. Offenbar War sie nach dem Anruf bei der Miliz zu Botschkuchas Haus gegangen, um ihren Vater zu su chen. Die Nacht ging zur Neige. Der Mond verblaßte und rückte zum Horizont. Der Weingarten w ar nicht m ehr schwarz, sondern grau. Des Mondlichts beraubt, hatte auch das Gold seinen Glanz ver loren. Ein leichter Wind kam auf. Sofort legte sich das nasse Hemd des Inspektors an seinen Rücken wie ein dünner Film. „Es ist kalt“, sagte Botschkucha und fröstelte. „Macht nichts, im Krematorium kannst du dich aufwärmen“, munterte der Junge ihn auf. Der Wagen erschien fast lautlos, tauchte irgendwo aus den Ta bakpflanzen. Er bremste scharf beim Haus. Drei Gestalten querten die Lichtkegel und traten in den Hof. An der Treppe blieben sie stehen und blickten auf die dunklen Fenster. „Hierher!“ rief Petelnikow. Im Nu w aren die drei beim Schuppen. Ein großer, hagerer junger Mann mit Brille überblickte die Situation schnell und forderte streng: „Ihre Papiere, Bürger.“ Der Inspektor zog seinen Dienstausweis. Der junge Mann w arf einen Blick darauf, streckte ihm die Hand hin und sagte lächelnd: 30
„Leiter der Kriminalmiliz, Kulikow.“ Dann folgte das Übliche wie immer an einem Tatort: Indizien feststellung, Verhör, Protokollaufnahme. Petelnikow kam sich etwas seltsam vor in seiner Rolle als Zeuge. Er saß in Awgustas großem, sauberem Zimmer und schrieb seine Aussagen nieder. Als er der gesetzlich festgelegten Formulierung „Eigenhändig ge schrieben“ seine Unterschrift hinzugefügt hatte, fühlte er sich müde wie nie zuvor. Nachdem alle Verantwortung jetzt von ande ren übernomm en worden war, fiel er förmlich zusammen, überkam ihn eine große Gleichgültigkeit. Seine Lider w aren bleischwer. Als er die Augen öffnete, erblickte er Kulikow vor sich, der leise fragte: „Müde?“ „Ein bißchen. Sind Sie fertig?“ „Ja. Diesen Botschkucha haben wir schon lange im Auge. Er ist geldgierig, vermietet sogar seinen Schuppen und die Waschküche an U rlauber und hat auch nichts gegen Schiebereien. Der zweite ist sein Neffe. War zu Besuch hier. Übrigens vorbestraft.“ „Woher stam mt das Gold?“ „Grigori Fomitsch fand den Schatz beim Umbau seines Schup pens, als er eine Grube aushob. Es stam mt noch aus der Zeit vor der Revolution. Der Alte versteckte ihn wieder in dem Loch und lief in seiner Freude zu Botschkucha: Sag mal, wo muß m an so was ab liefern, und wie läuft das alles? Da schnappten sie ihn sich, packten ihn in den Moskwitsch und verfrachteten ihn in das Haus am Steil hang. Irgendwie zwangen sie ihn zu sagen, wo das Gold lag. Das andere weißt du.“ Der Inspektor nickte. Die Tür wurde geöffnet, Awgusta trat ein, gefolgt von einem grauköpfigen hageren alten Mann mit weißlichen Bartstoppeln. „Das hier ist Ihr Retter“, sagte Kulikow zu ihm. Der alte Mann trippelte zu dem Inspektor. „Vielen Dank, mein Junge! Ich weiß schon lange von dir. Durch diese Banditen. Du bist nachts hingekommen, da haben sie dich entdeckt und kriegten es mit der Angst. Der Neffe ging los, um auf dich Jagd zu machen. Doch meine Flasche haben sie übersehen. Ich hatte schon alle Hoffnung auf gegeben. Verspottet haben sie mich, diese verfluchten Kerle, aber nicht geschlagen.“ Petelnikow wurde verlegen, als er die Tränen in den durchsichtig-hellblauen Augen des Alten sah, es w aren die gleichen, wie Awgusta sie hatte. Und er wurde sogar rot, als Grigori Fomitsch ihn um arm te und seine weißen Bartstoppeln an seine Wange drückte. D raußen herrschte schon heller Tag. Die Hitze drang durch die Fensterscheiben wie heißer Sirup. Violette Dunstschleier wogten um die Berge. Der Inspektor rieb sich die Stirn. „Jetzt muß ich mich erst mal richtig ausschlafen. Dann brauche ich eine Flugkarte für die morgige Maschine. Mein Urlaub ist zu Ende. „Also fahren wir ins Hotel“, schlug Kulikow vor. 31
„Wieso Hotel?“ protestierte Grigori Fomitsch mit hoher Stimme. „Mein Haus ist besser als jedes Hotel. Zuerst essen wir zu Mittag, dann wird geschlafen.“ „Aber nur in der Laube“, erklärte Petelnikow. Er sank bleischwer in den Sessel. Auf dem Tisch surrte behaglich der Ventilator und schwenkte seinen runden Kopf hin und her. Daneben standen bald ein elektrischer Samowar und Teller mit Wurst, Tomaten und dem hiesigen großporigen Brot. Awgusta stand regungslos vor dem Inspektor, ein weißes Hand tuch in der Hand. „Sie haben m ir noch keinen Kuß gegeben“, teilte er ihr verschlafen mit. Sie trat dicht heran, umgeben vom Duft des herben Weins, der überall auf ihrem Grundstück reifte. Dann beugte sie sich vor, und ihre Lippen berührten kühl die Wange des Inspektors an genau derselben Stelle, wo Grigori Fo mitsch ihn mit den Bartstoppeln gekratzt hatte. Petelnikow kam überhaupt nicht dazu, vom Meer Abschied zu nehmen.
432 Tschingis Aitmatow:
Das Kamelauge Anarchai, die prachtvolle Wermutsteppe - sie w ar es in der Tat. Man könnte hier stundenlang um herstrom ern und sich an ihrer Schönheit ergötzen, aber ich hatte keine Zeit. Alles wäre zu ertragen gewesen, nur eins begriff ich nicht: Warum gefiel ich dem Abakir nicht, w arum haßte er mich so? Hätte ich geahnt, was mich hier erw artete... Ich hatte mich sozusagen auf alle elementaren Schwierigkeiten gefaßt gemacht. War ja nicht zu Besuch hierhergekommen. Doch an die Menschen, mit denen ich zusammen leben und arbeiten würde, hatte ich aus unerfindlichen Gründen überhaupt nicht gedacht...
Erscheinen Pflicht Sechs Erzählungen von
Gerhard Holtz-Baumert Der Autor des bekannten Jugendbuches „Alfons Zitter backe" hat in allen seinen nachfolgenden Büchern ein besonderes Gespür für die W elt der Heranwachsenden gezeigt... Ein unverwechselbarer Holtz-Baumertscher Humor ist dabei entstanden, der auch wieder in den Geschichten dieses Bandes spürbar wird. Dieser Hu mor ... setzt ein Ausrufezeichen neben die Schwierig keiten, die junge Leute... haben, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden... Schwierig wird es für sie immer dort —das zeigen die Geschichten —, wo Er wachsene so in eigene Probleme und Gewohnheiten verstrickt sind, daß da nicht mehr genügend Aufmerk samkeit für berechtigte Fragen und Ansprüche d er... Jugendlichen b leib t... Gerhard Holtz-Baumert... re gistriert derart genau die Verhaltensweisen seiner jugendlichen Figuren, daß am Ende der Leser über diese liebenswerten Gestalten immer schon ein biß chen mehr weiß, als diese selbst wissen können. Darin liegt eine besondere Wirkung seiner Poesie. National-Zeitung, Berlin Illustriert von Johannes K. G. Niedlich 200 Seiten ■ Ganzleinen 8,20 M
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Unaufhaltsam reitet er durch die Jahre, dieser Ulli Wuttke, von dem
Benito Wogatzki in seinem großartigen Roman
Das Narrenfell erzählt.
Schlimme Namen gibt man diesem Wuttke, dreiste Geschichten hängt man ihm an. Und Mädchen hat er: Rosita, Lena, Judith - oder sind es mehr? Aber wenn die nicht da wären, er würde nicht halb soviel von dem verstehen, was das freche Leben für ihn bereithält, von dem, was er sieht und fühlt. Ihm wird es nicht leicht gemacht, dem Ulli „vonne Landesregierung". Er ist überall dabei, man kann ihm gar nicht genug aufhalsen, und er erlebt mehr, als er ausrichten kann. Aber ohne ihn würden w ir nicht so viel erfahren über unser aben teuerliches Land. Da muß erst ein Wuttke kommen und sein Fell hinhalten. Nun lachen w ir und wissen. 304 Seiten - Ganzleinen 9,— M
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