Lawrence Durrell
Das Lächeln des Tao scanned by macska
ö 2000
Aus dem Englischen von Wieland Grommes
dianus
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Lawrence Durrell
Das Lächeln des Tao scanned by macska
ö 2000
Aus dem Englischen von Wieland Grommes
dianus
trikont
Auflage 88 87 86 85 7 6 5 43 2
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© 1980 by Lawrence Durrell Titel der englischen Originalausgabe: A Smile in the Mind's Eye Übersetzung aus dem Englischen von Wieland Grommes Lektorat: Béatrice Bludau 1. Auflage 1985 © Dianus-Trikont Buchverlag GmbH, Türkenstr. 55, 8000 München 40 Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-88167-120-X
Satz: Ulrike Bauer Buchgestaltung: Eckart Menzler Titelgestaltung: Elisabeth Petersen Living Tao calligraphy by Chungliang AI Huang, founder-president of Living Tao Foundation and director of Lan Ting Institute. Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
Für Chantal de Légume — wer und wo immer sie auch sein mag.
I Eigentlich wollte ich ja nur einen kurzen Bericht schreiben vom meiner ausgedehnten Begegnung mit Jolan Chang, einem chinesischen Gelehrten und — wie er selbst sich gerne sehen würde — Gerontologen, obwohl es dann gar nicht so einfach war, all die Eindrükke zu ordnen, die er nach seinem ersten Besuch in meinem Haus in der Provence hinterließ. Das Wort Tao zum Beispiel hatte mich schon immer auf dramatische Art und Weise fasziniert, obwohl ich, abgesehen von der damit verbundenen großartigen Dichtung — seiner Bibel sozusagen —, von den Taoisten und ihren verschiedenen Anschauungen wenig kannte. Aber seitdem ich zum ersten Mal auf das Tao Te King stieß, jenes an Schönheit und Präzision so reiche Werk, das eine verschlüsselte Beschreibung des großen 'Motors' (im etymologischen Sinn!) des Universums und seiner Funktionsweise ist, hatte ich irgendwie das Gefühl, daß es genau das sein mußte, woran ich selbst glaubte, — oder glauben würde, wenn ich eines Tages auf die Idee kommen sollte, daß Glaube etwas absolut Notwendiges für mich wäre. Aber hier sollte ich einen Augenblick innehalten, — denn was meine ich eigentlich mit 'Glauben'? Dieses Wort darf man nicht einfach in kavalierhafter Manier vom Tisch wischen, ohne zumindest ein paarmal zu versuchen, es intellektuell in den Griff zu bekommen. Was meine Person angeht, so finde ich, daß bei jeder Art von Glauben eine gewisse Vorsicht am Platze ist, denn sonst verhärtet er sich zum Dogma,
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wenn er absolut statt provisorisch gebraucht wird. Das Wort Tao legt mir dagegen ganz andere Haltungen nahe (alle Wahrheit ist ja relativ), — einen Zustand totaler disponibilité, totaler Vorhandenheit, Zugänglichkeit, eine totale und allumfassende Bewußtheit aus vollem Herzen jenem Moment gegenüber, wo die Gewißheit wie ein Fisch an der Angel die Oberfläche durchbricht. Genau an diesem Punkt liegt der Geist in gleicher Schwingung mit der großen Metapher der Welt als TAO. Dann erst ist die Wirklichkeit wirklich Wirklichkeit und frei von allem fesselnden, konzeptionellen Apparat des bewußten Denkens. Dann ist die Wirklichkeit das Blitzlichtmoment, wo der Geist sich in die Natur aller lebenden und unbelebten Schöpfung fügt. Und diese Poesie ist Tao. Wann steuerte ich zum ersten Male solche Ideen an? Das liegt bereits lange zurück, es muß zu einer Zeit gewesen sein, als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, möglicherweise auf der Insel Korfu. An die genauen Umstände kann ich mich nicht mehr deutlich erinnern. Damals fühlte ich, daß ich in diesem Buch plötzlich auf einen chinesischen Heraklit gestoßen war und daß trotz der Rätsel, mit denen das Buch zu spielen scheint, das Ganze für mich sofort einen Sinn ergab — eine Art transzendentalen Sinn genau gesagt, aber doch einen absoluten. Ich empfand es als eine Schöpfung in der gleichen Tonart wie die der frühen griechischen Philosophen, die ich damals gerade entdeckte. Und so sagte ich mir, als wir nach Kirschen tauchten, die wir bei dem kleinen Heiligtum zu Ehren des Hl. Arsenius auf den sandigen Meeresboden warfen, Passagen aus den beiden Texten vor, als stammten sie von ein und demselben Mann. Heute sehe ich
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tatsächlich, daß das auch der Fall war — obwohl Heraklits Text fragmenthafter ist als der des chinesischen Weisen ... Aber abgesehen von alledem war ich nie in meinem Leben einem wirklichen Chinesen persönlich begegnet, um mich mit ihm zu unterhalten — und erst recht nicht einem Gelehrten, der auch noch sofort versprechen konnte, mir den Taoismus als lebendigen, gelebten Glauben zu erläutern, — was Chang bereits tat, als er mich zum ersten Mal in seinem hervorragenden, gleichsam schrift-korrekten Englisch anrief. Da steckt nichts Besonderes dahinter, fügte er boshaft-schadenfroh hinzu, — als wahrhaft taoistischen Scherz! Das kam so: 1976 hatte ich ein paar Wochen lang von diesem mir unbekannten chinesischen Wissenschaftler in sehr gutem Englisch Briefe aus Stockholm erhalten, wo er offensichtlich wohnte. Die Verbindung Taoist — Gerontologe wurde mir allmählich klar, als ich mich daran erinnerte, daß die Taoisten geradezu besessen waren vom Problem der Unsterblichkeit in diesem Leben, — und nicht erst in der Welt danach; und ihr gesamtes Handeln stand im Dienste des Versuchs, jenen ersehnten Zustand in diesem Leben zu erreichen, bevor sie sich dann dem Nirvana der orthodoxen Buddhisten zuwenden würden — obwohl der Taoismus natürlich einen Teil des Mahayana-Buddhismus bildet. Doch zunächst war mein Gelehrter für mich eher ein Buch mit sieben Siegeln. Er schrieb in kleiner, fein-säuberlicher Handschrift auf Papier mit den verschiedensten Briefköpfen; er hatte es offensichtlich aus Yachtclubs und Hotels mitgehen lassen. Auch ich teile selbst diese Elster-Gewohnheit und konnte das daher voll und ganz verstehen. Er aber
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bedeckte von Rand zu Rand das ganze Papier mit seiner feinen Schrift. Er schrieb mir, er würde mich gerne für ein wissenschaftliches Werk zu Rate ziehen, das er vollendet hatte und das bereits zur Veröffentlichung bestimmt wäre, — und als Begründung gab er an, daß er irgendwo ein Interview gefunden hätte, in dem ich von meiner Sympathie für den Taoismus sprach. Natürlich war ich geschmeichelt und verblüfft zugleich, und so beeilte ich mich, den Anspruch auf irgendwelche besonderen Kenntnisse in diesem Gebiet zu leugnen. Nichts zu machen —: Er blieb hartnäkkig und fragte weiter, ob er mich in der Provence aufsuchen könnte. Und kaum hatte ich zugesagt, als ich ihn bereits wieder aus Stockholm am anderen Ende der Leitung hatte und er mir vorschlug, mich am folgenden Tag frühmorgens an der kleinen Bahnstation Lunel zu treffen. Ein rasches Denken in der Tat! — Die Schnelligkeit seiner Entscheidung und Fachkenntnis in Fahrplänen stellte mich zunächst vor ein Rätsel — aber schon bald konnte ich feststellen, daß Jolan Chang tatsächlich ein wandelnder Abacus war und daß seine Art zu reisen peinlich genau den Prinzipien von Chuang Tse folgte (in dessen Texten der Reisende sich stets unsichtbar bewegt und bei seiner lautlosen Art der Fortbewegung keinen Staub aufwirbelt). Diese Lehre hatte ich nie sonderlich wörtlich genommen, bis ich Chang begegnete und mir klar wurde, daß man, wenn man nicht auf jedem Gebiet äußerste Sparsamkeit walten läßt, tatsächlich seiner Unsterblichkeit buchstäblich entgegenwirkt. Zunächst hatte ich den Eindruck, er sei einfach ein wenig knauserig, bis ich das Unsterblichkeitsprinzip schließlich begriff, das
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sich hinter seiner horrenden Sparsamkeit verbarg! Nach dem Prinzip des Taoismus soll nichts übrigbleiben, wenn man stirbt und 'in die nächste Runde eingeht', — nicht der mindeste Krümel, nicht der geringste noch zu erledigende Atemzug. Der Taoismus macht reinen Tisch. Alles muß umgewandelt werden in die selige Stille und Ruhe des Tao! Frühes Aufstehen war für mich nie ein Problem; um halb sechs Uhr beleuchtete ich den dunklen Garten und ließ den Motor des Wagens warmlaufen. Die Eulen, die im alten Turm am Schwimmbecken hausen, kamen pfeifend und keifend und doch freundlich wie Jagdhunde in die beleuchteten Blätter herabgestürzt. Immer wieder schießen natürlich die jüngeren über das Ziel hinaus und schlagen gegen die bunten Scheiben der hell erleuchteten 'Veranda', wie die Kinder den Raum früher immer nannten. Die Dämmerung war nicht mehr fern, im Osten zeichnete sich hinter den dürren garrigues bereits eine leise Ahnung der schwindenden Dunkelheit ab. Meine kleine Bahnstation liegt ganz in der Nähe, — nur etwa ein halbdutzend Kilometer entfernt. Diese einsame Fahrt, um den Frühzug zu erreichen, über Landstraßen, die bis auf einen vereinzelten Lastwagen fast menschenleer waren, war für mich immer ein Hochgenuß. Die triste kleine Station würde noch im Schlummer liegen, wenn ich ankam, — der Bahnwärter und der Fahrkartenkontrolleur tauchen immer wie Schachtelteufel jä h aus dem Nichts auf, stets gerade noch ein paar Minuten, bevor die Glocke schellt, um die Ankunft des Schnellzugs aus Paris anzukündigen. Ich war neugierig auf Chang, — welche Art Mensch würde ich hier abho-
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len? Ich malte mir eine äußerst fragile, ehrwürdige Person und greise Gestalt aus ... Der 'Rapide' aus Paris war pünktlich wie immer; er glitt mit seinem langen Schweif neumodisch schwarzer Wagons in die Station. Und plötzlich stand ein junger Chinese in der offenen Tür eines Abteils und wartete, bis der Zug zum Stillstand kam. Als er so über das Trittbrett herabstieg, hielt ich ihn für achtzehnjährig, so behend und leicht waren seine Bewegungen. Er lächelte, winkte mir zu — ich war der einzige Mensch auf dem Bahnsteig — und sprang dann leichtfüßig wie eine Katze auf den quai. Ja, das war wirklich Chang! Es dauerte noch geraume Zeit, bis ich erfuhr, daß dieser schlanke, junge Chinese an die sechzig Jahre alt war! Wie sich herausstellte, bestand sein einziges Gepäck in einem Paar Reißverschlußtaschen der Air-France, wie es sie auf den Flughäfen zu kaufen gibt. Er trug einen leichten Mantel, einen schweren Pullover und eine Skimütze. Die ganze Nacht hindurch hatte er gesessen — beziehungsweise im Sitzen geschlafen —, um Unkosten zu sparen und um ein wenig zu arbeiten. Der Text, den er mitgebracht hatte, sah dementsprechend ramponiert aus. Er selbst aber wirkte so frisch wie eine Gänseblume am Morgen und schien das ständig sich wandelnde Bild der Landschaft zu genießen, die wir bald durchführen und die sich unter der aufgehenden Sonne erwärmte. Es war eine Morgendämmerung wie sie im Buche steht, nach einem leichten Tau wirkte das Land frisch, und die Aussicht auf einen warmen Tag versetzte uns beide in gute Laune. Für Chang war es der erste Besuch in der Provence und sein lebhaft stechender Blick huschte herum wie
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eine Libelle, alles nahm sein Auge mit einem so mühelosen Eifer auf, daß ich das Gefühl hatte, er malte es emsig in Wasserfarben nach, — um es in seinem geistigen Auge in eine chinesische Version der Provence zu verwandeln. Das Leben erwachte gerade in den Straßen, als wir das Dorf erreichten, und mein Gast ließ seiner Bewunderung darüber freien Lauf. Wahrscheinlich ist es das hübscheste im ganzen Languedoc, mit seinem mittelalterlichen Mauerring, seinen Erkern und Scharten und seiner tumben Römerbrücke über die grüne Vidourle, — ein Fluß, der häufig über die Ufer tritt und das Städtchen ein bis zwei Stunden lang überflutet, bevor er dann wieder in Richtung Lunel zurückweicht und dem Meer zustrebt. Mein vernachlässigt-verlassener Garten mit seinen hohen Bäumen und seinem versteckten Teich fand ebenfalls seine Zustimmung. Chang schien alles wie eine Gottesanbeterin mit einer Art Panoramablick zu erfassen. Er äußerte sich mit raschem, flüchtigem Nicken des Kopfes, so als würde er sein Wiedererkennen kundtun. Er sprach kein Wort Französisch. Meine rüstige und zeitweise ziemlich barsche Gelegenheitszugehfrau erschrak — sie war bereits mit dem Geschirrspülen beschäftigt —, als ich mit einem Chinesen die Küche betrat. Er begrüßte sie in Englisch, setzte sich dann still an den Küchentisch und wartete auf das Frühstück; hier folgte eine kurze Überprüfung, denn er hatte sein eigenes mitgebracht und schien geradezu Angst davor zu haben, er müsse sich einer schwereren Kost als Obst unterziehen. Er redete mit einer gewissen Schüchternheit, und doch umgab ihn eine Aura großer Würde. Tatsächlich wirkte er wie ein
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kleiner Kaiser, wie er da am Küchentisch saß in einer Art königlichen Passivität, ja fast Hilflosigkeit jener hieratischen Persönlichkeiten von Rang, deren Gesten alle genau überlegt sind. Das war natürlich nur Einbildung. Er war von stark kurzknochiger Statur und schlank-feinen Proportionen, — er hatte sich, wie ich bald herausfand, durch die Diät, die er sich auferlegte, systematisch kleingestutzt. Seine Aura höflicher Autorität kam vielleicht daher, daß er nicht unruhig herumzappelte, sondern einfach selig und zufrieden dasaß, wie es gelegentlich ein Kind tut. Wir boten ihm verschiedene Möglichkeiten des Frühstücks an, doch er fand diese Vorschläge gänzlich überflüssig. Er förderte aus seiner kleinen Reißverschlußtasche eine Orange und ein kleines silbernes Taschenmesser zutage. Mit der behenden Grazie eines Gepards ging er zum Spülstein und wusch sorgfältig die Frucht, bevor er sie in Viertel schnitt, die er anschließend mitsamt der Schale und allem anderen bedächtig und vorsichtig verspeiste. Inzwischen war ich wieder zu mir gekommen und richtete Honig, Milch und Brot her, dazu anderes Obst, — eine Art Yogi-Frühstück, an dem er nichts auszusetzen hatte. Er sollte ein ausgedehntes Wochenende lang hier bei mir bleiben, so hatten wir es vereinbart; ich hoffte, daß ich dadurch nicht nur genügend Zeit hätte, um mit ihm an seinem Text zu arbeiten, sondern auch, um ihm ein wenig das Languedoc zeigen zu können. Eine Weile saßen wir in ruhiger Wortlosigkeit da und sahen der Hausgehilfin bei ihrer Routine zu, — sie hilft mir nur eine Stunde pro Tag einzusparen, gerade so viel, um in dem fledermausgeplagten alten Provence-Haus, das ich öfter allein als in Gesellschaft bewohne, die Dinge im Lot zu halten.
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Bald entfernte sie sich und es begann ein herrlich langes Wochenende, — ein bedeutendes für mich, denn es verbanden sich damit alle möglichen erstklassigen Informationen, ein faszinierender Text, chinesisches Kochen und Essen und — was mich einigermaßen überraschte — herzlich viel taoistisches Lachen. Mein Freund nahm sein Leben stark von der lockeren Seite. Noch dazu war es herrlich — alle Männer empfinden das —, einige Zeit eingesperrt zu sein mit einem Individuum gleichen Geschlechts; etwa in den Alpen, womöglich eingeschneit, oder auf einer griechischen Insel im Wind. Hier in Sommieres konnten wir uns Feuer machen, beim Kochen experimentieren, streiten, Karten spielen, lesen oder uns über Frauen unterhalten; ich glaube auch nicht einmal, daß diese Vorliebe nur Sache der Männer ist, — auch Frauen genießen es, einmal frei zu sein von der Parteilichkeit des anderen Geschlechts. Meine Frau pflegte zwei Wochen im Jahr in den Alpen in einem Chalet mit drei Freundinnen zu verbringen, befreit von der Langeweile nur störender männlicher Begleitung, — frei zum Skilaufen, Streiten, Kochen, Lesen, Kartenspielen und ... um sich über Männer zu unterhalten. Das ist völlig logisch. Als die Hausgehilfin dann ging — und an den Wochenenden kommt sie nicht —, war ich daher überglücklich, mit einem neuen Freund eingesperrt zu sein, der sich schon bald, wie ich hoffte, als ein Warenhaus exotischen Wissens und als ein Mann herausstellen würde, der mir Klarheit schaffen könnte in so manchem, was ich einst bei der Lektüre der chinesischen Klassiker, obwohl leider stets in Übersetzung, intuitiv erfaßt hatte.
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Während die Hausgehilfin noch die letzten Handgriffe erledigte, entschied sich Chang, ein heißes Bad zu nehmen und sich nach der Erschöpfung durch die lange Reise frisch zu machen; ich hatte auch den Eindruck, daß er sich nun, nachdem er anfänglich sorgfältig und vorsichtig wie ein Tier seine neue Umgebung beschnuppert hatte, auf einmal entspannte, und sich hier bereits zu Hause fühlte. „Wenn Sie, wie versprochen, für mich kochen wollen", sagte ich, „dann muß das heute abend geschehen, da die Hausgehilfin, ohne auf besondere Anweisungen zu warten, uns ein Lunch vorbereitet hat, — escalope und ein Glas Wein und etwas Reis." Bei der Erwähnung von Fleisch reagierte er ziemlich abgeneigt, setzte aber sofort hinzu: „Ich bin kein Fanatiker, you know. Nur um es zu beweisen, werde ich ein kleines Stück davon probieren, und sogar einen Schluck Wein". Das war ein Musterbeispiel guten Benehmens, und während er sich noch lustig machte über Cholesterin und Fett, begriff ich, daß er es ernst meinte. Wie er aber all das, was er mitgebracht hatte, in den beiden Taschen verstauen konnte, war ein Rätsel, da er außer seiner Verpflegung (drei Äpfel, eine Tüte Milch, etwas Honig, Nüsse und mehrere Packungen verschiedener Vitamine) noch ein Paar Hosen zum Wechseln und einen zweiten Pullover, sowie einen Bademantel und andere kleine Habseligkeiten dabei hatte. Allmählich sah ich in ihm einen möglichen chinesischen Verschwörer, der einfach irgendwelche Dinge in seinen kleinen Taschen verschwinden läßt. Er verbrachte lange Zeit damit, das Wasser zu genießen und seine Kleider zu reinigen, die er peinlich genau bürstete und mit einem feuchten Tuch von Flecken befrei-
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te. Obwohl er anschließend erklärte, er fühle sich durch das Bad sehr erfrischt, konnte ich kaum die Spur einer Veränderung an ihm feststellen, — davor hatte er auch keinerlei Müdigkeit gezeigt. „Die Sonne scheint", meinte er, „wie war's mit einem Spaziergang?" Das war eine gute Idee. Er wollte die kleine mittelalterliche Stadt sehen und einen Eindruck von ihrer Lage und Umgebung gewinnen, — es war für ihn ein erregendes Gefühl, für einige Zeit in der Provence zu sein. Er könne die Lebhaftigkeit der französischen Luft förmlich riechen, sagte er, und blickte dabei in die Runde wie ein kostbares Insekt. Was noch mehr reizte, war, daß auf der arkadenumsäumten Place du Marche strahlend wie ein Bett aus Blumen die samstags hier üblichen Marktauslagen ausgebreitet waren. Das war ein Stück Lokalkolorit, das meine Freunde stets in Verzückung versetzte, — tatsächlich bietet der Anblick der buntfarbigen Überdachungen der forains und der Stände voll herrlicher Gemüse und der mit Obst beladenen Steigen in seiner sonnigen Vielfalt auch einen Hochgenuß. Und was für Gemüse! Chang hüpfte fast vor Freude, als wir über die große Steintreppe zu dem kleinen Platz herabschlenderten und dabei so langsam gingen, daß wir die Schönheit der Szene auf uns wirken lassen konnten. Er wollte gerne im Hinblick auf den Abend an der einen oder anderen Stelle haltmachen, und seinem Wort getreu begann er auch schon eine mikroskopisch genaue Inspektion der Gemüse in der Auslage. Dies tat er mit der Zielstrebigkeit eines Raubvogels auf Beutesuche, — und mit diesem leidenschaftlichen Käuferverhalten gewann er sofort die Bewunderung aller Händler vom Dorfe, für
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die ich seine Fragen übersetzte. Hinzu kam, daß seine Käufe, sofern er welche machte, höchst bescheidenen Umfang hatten, — mir wollte nicht einleuchten, wie zwei voll erwachsene Männer von einer so mageren Handvoll Zeug satt werden sollten, das er sorgfältig und liebevoll in einen Drahtkorb legte. Ich äußerte Bedenken, doch er lächelte nur; und doch mußte ich bald zu meinem Erstaunen feststellen, daß es, wenn man so lebte wie er, anscheinend immer mehr als genug zu essen gab bei dieser herrlich leichten Kost. Als er dann aber die gesamte Küche selbst übernahm und mir lediglich die Rolle des Klein-Schneiders zuwies, aßen wir etwa fünf Mal am Tag, — wir aßen, wenn wir Lust dazu verspürten. Jedes Gericht war anders, jede Mahlzeit eine Art heißer Imbiß.
Nun kehrten wir siegreich nach Hause, um unser französisches Mittagessen zu erledigen und die Vorbereitungen für unser Abendessen zu treffen. Chang prüfte mein Sortiment an Messern und fand es dürftig. Tatsächlich schnitten manche überhaupt nicht, und er fragte besorgt, wo es denn ein brauchbares Schneidebrett gäbe. Schließlich fand ich für ihn ein Brettchen aus Olivenholz, das er für brauchbar hielt, und das leidlichste der vorhandenen Messer; sofort machte er sich ans Werk und wusch und putzte das Gemüse, wobei er die größte Sparsamkeit walten ließ und auch noch für jede Faser von Blatt oder Schale Verwendungfand. Nun begriff ich, daß man, wie er sagte, alles und jedes essen kann, wenn man es nur genügend klein geschnitten hat. Er schob mir einen Teil seiner
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Ladung zu und zeigte mir, was ich damit tun mußte; dabei redete er in ziemlich ernstem Ton darüber, in wiefern die chinesische Küche doch die einfachste Sache der Welt sei. Sogar die Zähne bleiben von harter Beanspruchung verschont, weil die Nahrung ganz fein geschnitten wird, da der Chinese im Gegensatz zu all unserem westlichen Küchenwerkzeug — Messer, Gabeln und so weiter — lediglich zwei Wegwerfstäbchen und eine kleine Schale als Eßgerät hat. Ein scharfes Messer und ein Schneidebrett ist alles, was wirklich notwendig ist. Schuldbewußt schwor ich, bei allernächster Gelegenheit alle meine Messer neu schärfen zu lassen. Die Präsenz des geschickten und jugendhaften Chinesen brachte einen Hauch Exotik in die Küche, und so versprach ich mir ein paar Tage voll Diskussion und Bildung für mich, — ganz wie die Taoisten es schätzen! Aber nun wieder zurück zum eigentlichen Thema. Chang breitete sein dickes, getipptes Manuskript auf dem Tisch aus, damit ich es in aller Ruhe lesen konnte. Aber zuallererst schlug er vor, mir den Hintergrund zu der von ihm geborenen Textsammlung zu liefern. Ich sollte an dieser Stelle vielleicht anmerken, daß ich nun herausgefunden hatte, daß Chang trotz seiner kanadischen Staatsbürgerschaft und seinem perfekten Englisch nicht (wie ich befürchtet hatte, als ich ihn am Telefon hörte) ein außer Landes geborener Chinese war; tatsächlich war er ein im Lande geborenes Exemplar aus dem heutigen China und hatte sogar gegen die Japaner gekämpft. Er war in China aufgewachsen und zur Schule gegangen. Somit war er durch und durch repräsentativ für die chinesische Kultur von heute, aber wie alle Gebildeten gleichzeitig
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tief durchdrungen von Dichtung und Geschichte aus Chinas umfangreicher und wechselvoller klassischer Vergangenheit. Er schien besonderen Wert darauf zu legen, den Umstand zu betonen, daß er, wenn er Vegetarier und ausschließlich Teetrinker war, dies aus freier persönlicher Entscheidung und nicht aus Gehorsam gegenüber irgendeiner abstrusen Weltanschauung oder Überzeugung war; während er emsig sein Quantum Gemüse würfelte, erklärte er, daß es so etwas wie eine allgemeingültige Diätkost, die jedem gleichermaßen nützte, in Wirklichkeit nicht gäbe. Diät sei eine individuellpersönliche Angelegenheit und als seriöser Mensch — der sich ernsthaft um seinen Geist und Körper und um die Rolle von beidem als Teil im allgemeinen Grundplan des Universums als Ganzem bemühe — habe man die ehrenhafte Verpflichtung, eine zur eigenen Person passende Diätkost auszuprobieren und aufzustellen. Er selbst habe dies erst vor relativ kurzer Zeit begriffen; aus China kommend war er nach seiner Ankunft in Kanada mit den Eßgewohnheiten seiner Wahlheimat konfrontiert worden, was katastrophale Folgen hatte. Seine Kondition sei ihm so stark abhanden gekommen, daß er kaum noch in der Lage war, Treppen zu steigen. Da war ihm klar geworden, daß er wieder zu der bodenständigen Frugalität seiner Heimat zurückkehren mußte, wenn er wieder zu Kräften und Verstand gelangen wollte; und dies tat er dann auch, indem er eine genaue Untersuchung seiner Bedürfnisse in der Art der Ernährung anstellte. Das Ergebnis war eine in der Hauptsache vegetarische Kost, obwohl er von Zeit zu Zeit sich als Akt der Höflichkeit ein Glas Wein gönnte; das Maß der Kohle-
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hydrate reduzierte er auf ein Minimum und vermied Fleisch, wenn auch nicht Fisch. Aber dies war ausschließlich ein Gesundheitsfahrplan und hatte nichts zu tun mit irgendeiner religiösen Tendenz; — oder zumindest nur insofern, als der taoistische Begriff der Unsterblichkeit dabei langfristig eine Rolle spielte. Das machte mich neugierig, mehr zu erfahren, und ich war glücklich, einen Menschen gefunden zu haben, der all diese Philosophien im Original gelesen hatte und mein Denken darüber ordnen konnte. Das führte natürlich direkt zu der Genese und Struktur seines Buches, das hier auf meinem Arbeitstisch auf uns wartete. Aber als wir aßen, gab er mir sozusagen eine Hintergrundskizze von der jüngsten Geschichte der Ideen, die es enthielt (1). Er begann mit der Invasion und Eroberung von China durch die Mandschus: Diese feinen Gentlemen mit ihrem spartanischen Philistertum hatten dort ganze achtundachtzig Jahre geherrscht, und während ihrer Herrschaft war es ihnen mit durchschlagendem Erfolg gelungen, jedwede nach außen sich zeigende Form des Taoismus zu knebeln, ja praktisch mit der Wurzel auszureißen, und sie hatten bis auf das Tao Te King — wahrscheinlich weil es zu tiefgründig war, als daß die Barbaren seine Bedeutung hätten ermessen können — alle taoistischen Bücher verbrannt. Zum großen Glück für die Taoisten hatten sie aber an gewissen Gegebenheiten — wie Tempeln, Ritualen und Uniformen etc. — kein Interesse, weshalb auf diesem Gebiet nichts zum Ziel ihrer Verfolgung werden konnte. „Die wahren Taoisten ... hatten kein unterscheidbares Merkmal aufzuweisen, außer, wenn Sie so wollen, einen gewissen Blick im Auge, — einen taoistischen
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Blick! Einen Blick im inneren Auge des Geistes sozusagen! Und einen Blick allein konnte man ja schwerlich verfolgen!" Unter diesen Worten warf mir Chang als Beispiel einen taoistischen Blick zu, und sofort sah ich, was er meinte. Es war ein großartiger kleiner Blick voller irritierender Schamlosigkeit, Ironie und voll Gelächter. Es war ein Blick sardonischer Komplizenschaft, — er zeugte von einem vergnügten und verschmitzten Bewußtsein darüber, wie kostbar das Unausgesprochene ist. Es war wie das erste Band zwischen Menschen, die damit ihre Partnerschaft innerhalb des Gesamtprozesses zum Ausdruck bringen. Diablel Es war der gottverdamm teste Blick, den ich jemals mit einem menschlichen Wesen gewechselt hatte, — abgesehen von zwei Frauen, die die Götter von Natur aus zeitlebens mit einem solchen Blick begnadet hatten. Mir wurde klar, daß ich dabei in die Augen von Chuang Tse, meinem Lieblingsphilosophen — dem Groucho Marx der taoistischen Philosophie — blickte. Es war gewissermaßen das Auge des Großen Paradoxons. Nichts läßt sich darüber aussagen, — es ist Taoismus, und sobald man versucht, eine explizite Aussage darüber zu machen, zerstört man es, so als würde man mit ungeschickten Fingern versuchen, einen seltenen Schmetterling anzufassen. Hier befinden wir uns auf dem Gebiet des indischen Nicht-dies-nichtdas. Was wir gemeinsam komponierten, während wir uns unterhielten war ein herrliches Essen, — der amüsierte, durchdringende, verschwörerische Blick schien bis in die Speisen eingedrungen zu sein, und inzwischen waren wir bereits an einem Punkt angelangt, wo wir uns gegenseitig frotzelten, was das beste Zeichen von Freundschaft ist.
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Der Taoismus ist eine so außergewöhnliche Marke östlicher Philosophie, daß man ihn zu Recht eher eine ästhetische als eine institutionalisierte Sicht des Universums nennen kann. Ein Taoist ist der Joker im Spiel, der Poet am Herd. Sein Neigungswinkel rührt von einer simplen Behauptung her, nämlich, daß die Erde ein Paradies sei, und man daher gezwungen ist, dies so vollständig wie möglich wahrzunehmen und zu verwirklichen, bevor man gezwungen wird, sie zu verlassen. Der allgewaltige Imperativ dabei ist, daß im Verlauf dieses großen Festes unschuldigen Atems nichts, auch nicht der geringste Tropfen verschwendet werden darf. Über irgendeinen verschlungenen Pfad hatte sich in der Folgezeit die Idee des unsterblichen bonheur des Menschen in den Geist des Taoismus eingeschlichen. Die Taoisten entschieden sich dafür, die große Frage nach dem höchsten Glück, nach der vollkommenen Seligkeit den höheren Rängen der religiösen Hierarchie zu überlassen und sich mehr mit der Welt als Ist abzugeben, — oder zumindest schienen sie das sagen zu wollen. Wie ließ sich aber dieser ersehnte Zustand der Unsterblichkeit in diesem Leben erreichen? Man konnte ja die Welt nicht einfach verprassen und versaufen, denn das würde rasch zu geistigen Magenbeschwerden führen. Daher hatte die größte Sorgfalt des Abwägens, die größte Lauterkeit in den Absichten an die Stelle jenes ungehobelten Automatismus' zu treten, von dem wir uns, wie Urtiere im Morast der Un-Bewußtheit watend, meist noch leiten lassen. Der Prozeß der Bewußtwerdung tritt an einem Punkt ein, wo der Taoist in seinem Inneren einen neuen Zustand reiner Wachheit erfährt, — die Idee, daß die
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gesamte Ewigkeit durch ein einziges unüberlegtes Wort, durch eine einfache Unachtsamkeit, ja bereits durch ein zur Unzeit zitterndes Blatt in Frage gestellt werden kann! Wir sprechen von Menschen, die sich „selber verwirklicht" haben, da wir wissen, daß wirkliche Dinge nur wirklichen Menschen passieren, so traurig das auch klingen mag. Als Ort der vollkommenen Ekstase erwählte sich der Taoismus dieser Couleur das Gedicht (das Ideogramm des vollendeten Verstehens). Daher kam Changs leicht gereizte Kritik an dem schwerfälligen Ideen-Ballast, der lähmenden Weitschweifigkeit des indischen Denkens mit seinem endlosen Wuchern im Detail und seiner erschlagenden Dichte. Ein solches System züchtete häufig akademische Gelehrte, aber nicht Weise, züchtete Pedanten, aber nicht Dichter heran. Was der chinesische Geist diesem überzüchteten Wunder als Zutat brachte, war genau dieser sprunghafte, quicklebendige Humor, der ihm fehlte. Der Unterschied lag nicht im Zweck, sondern im Mittel. Ich erkannte, daß Changs Taoismus aus dem Lächeln das Kasyapa geboren war, — jenes nicht einmal sonderlich gewissenhaften Schülers, den Buddha in den höchsten Rang erhob, als er, der Meister — noch mitten im intensivsten Lehrdiskurs — zufällig den Blick dieses jungen Mannes erhaschte und überrascht in seinem Gesicht das Lächeln des Tao entdeckte! Da bedurfte es keiner weiteren Worte mehr, denn dieser eine lächelnde Blick machte ihm klar, daß Kasyapa die ganze Sache voll begriffen hatte. Buddha reichte ihm die Blume, die er in der Hand hielt, und befahl ihm, schleunigst den Unterricht zu verlassen. Da er die Inder so schrecklich langweilig und humorlos fand, machte sich Kasyapa also auf nach China,
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— das taoistische Lächeln war sein ganzes Gepäck. Und aus diesem Austausch zweier Blicke erwuchs die fernöstliche Buntheit der buddhistischen Welt, — und später dann die beachtliche Abkürzung des ZenSprungs, der den Dschungel der indischen Metaphysik vollkommen links liegen ließ und doch die wahre Essenz der Lehre umschloß. Irgendwo im Kern der Sache gab es ein Prinzip des wahren Verstehens, das der Entdeckung harrte. War diese Entdeckung einmal gemacht, so konnte man mit jedem Atemzug das gesamte Universum atmen. Sollte man die Erde also als Parfüm betrachten? Nun, der Duft versucht, nicht willentlich geschätzt zu werden, obwohl er in seinem innersten Wesen 'weiß', daß er genau zu diesem Zweck geboren wurde. Kongruenz, Zweckmäßigkeit, — an uns lag es nun, das Ganze in den Griff zu bekommen, als es sozusagen mit der seligen Seite nach oben lag. All dies las ich in Changs Text hinein. Schließlich und endlich mit der Ganzheit der Natur vertraut zu werden! Aber diese und andere Probleme vermischten sich zusehends mit dem Problem der Kochkunst, — denn Chang hatte nun allmählich in meiner hübschen Küche mit ihrem roten Ziegelfußboden Fuß gefaßt. An mich delegierte er die Aufgabe, die sorgfältig gewaschenen Gemüse kleinzuschneiden; nicht zuletzt zur Verteidigung meiner galanten Inder, unter denen ich immerhin die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, mengte ich einige Prisen Indien — Curry und Ingwer — in die Sauce, was Anerkennung fand. Mein Freund wollte einige französische Käsesorten ausprobieren, und dabei hatten wir auf dem Markt auch Nüsse und Trauben gefunden. Es war eine ange-
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nehme und erfolgreiche Arbeit, all diese köstlich dampfenden und doch noch knackigen Gemüse anschließend zu servieren. Außerdem war es ein symbolischer Ort der Begegnung zwischen den zwei großen Küchen der Welt, — der französischen und der chinesischen.
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II
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ei der Fülle der gebotenen Themen kam es natürlich von Zeit zu Zeit vor, daß wir den Faden verloren und uns zu Abschweifungen verleiten ließen, — wobei Chang meine eifrigen Fragen mit nicht weniger Eifer beantwortete; er schien froh darüber, mit jemandem zusammen zu sein, mit dem er diese Fragen, wenn auch nur in Englisch, diskutieren konnte. Meine Kenntnisse waren, obwohl höchst oberflächlich und skizzenhaft, doch recht hilfreich zum Verständnis seines Textes, der ein Abriß einer Art von Liebes-Therapie war, — jedoch nicht so streng schematisch und versteinert wie das Kama-Sutra, obwohl er in etwa in die gleiche Richtung tendierte. Ich fragte ihn zum Thema Yoga aus und sagte ihm, daß ich ein wenig in der indischen Methode „dilettierte". „Ich praktiziere chinesisches Yoga", sagte er, „das ist ein wenig anders, — fließender, weniger statisch." Mit einem Holzlöffel gestikulierend machte er einige schwungvolle Figuren vor, die stark an Gesellschaftstänze erinnerten, und schwebte dabei wie ein Eiskunstläufer auf die alte Glas-Veranda hinaus. Ich versuchte, ihn nachzumachen, um zu sehen, welches Gefühl das vermittelte. In diesem Augenblick nahte der griesgrämig-existentialistische Gärtner, der gelegentlich für mich arbeitet, auf dem Zufahrtsweg und sah, als er durch die Fenster spähte, wie ich offenbar mit einem Chinesen Walzer tanzte. Wir selbst hatten ihn nicht bemerkt. Sein Nerv war hart getroffen durch diesen Anblick, und so zog er sich in das Dorf-Bistrot zurück. Ohne uns davon aus
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der Ruhe bringen zu lassen, tanzten wir, Chang und ich, weiter, bis uns ein brodelndes Geräusch zurück zu den Kochtöpfen rief.
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as Problem der Unsterblichkeit tauchte ebenfalls bald schon in unseren Gesprächen auf und ich mußte feststellen, daß mein Gast absolut davon überzeugt war, daß sie nicht nur eine rhetorische Angelegenheit sei, sondern gewissermaßen zum Tages-Menü gehörte, obwohl sie tatsächlich nur von den größten Weisen erreicht werden konnte. Es gab aber Berichte darüber, welcher Weg zu ihr führte. Was er in seinem Text lediglich beleuchten wollte, war die Tatsache, daß ein Mensch, der sich die taoistische Sicht ernsthaft aneignete, mühelos die Hundertergrenze überschreiten und sogar ohne besondere Begabung erwarten könnte, bis zu 150 Jahre alt zu werden. In einem solchen Leben läge kein Grund vor, weshalb man nicht darauf hoffen solle, bis in die Neunziger hinein munter und guter Dinge seligen Beischlaf pflegen zu können und alle, oder fast alle, seine Zähne zu behalten. Alles hing von der Ernährung ab, sowohl von der spirituellen, als auch von der physischen. „Ich selbst habe mir vorgenommen, mindestens 120 Jahre lang zu leben. Hätte ich diese Technik wesentlich früher begonnen, dann könnte ich volle 150 durchhalten. Aber die Frage von Ernährung und Sexualleben spielt dabei die entscheidende Rolle, und hier kann uns das Buch etwas lehren. Sie werden verstehen, daß ich all diese Texte zunächst zu meinem persönlichen Vergnügen gesammelt und übersetzt habe, und erst in zweiter Linie als ein Werk der Aufmunterung für eine Welt, die stillschweigend akzeptiert, schon um die
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Fünfzig herum zum alten Eisen geworfen zu werden; eine Welt, die in vielen Fällen schon bald nach Vierzig ihre sexuellen Fähigkeiten einbüßt, — und die den Orgasmus als eine Art Meßlatte für das leibliche Wohlbefinden gebraucht, während er nach Vierzig doch eingeschränkt und zum einsichtigen Gebrauch umerzogen werden kann, anstatt zum reinen Vergnügen zu degenerieren." Somit handelte es sich um eine Art Traktat über den coitus reservatus und über die Transformation der physischen Liebe zu einer Lust, die aus körperlicher Berührung hervorgeht, also über den Wandel vom Gewaltakt zum Lustakt. Dabei wurde mir auch klar, daß er davon ausging, im Westen würde der Orgasmus als eine Art Waffe gebraucht, um dem Ego des Individuums zu beweisen, daß es Herr über seinen Partner sei, und daß Sex als Mittel der Unterdrückung oder der Selbstbestätigung verwendet werden konnte. In diesen alten Texten wurde immer wieder betont, daß das männliche Sperma (nur um abendländische Gemüter zu verwirren, steht im Chinesischen für Sperma und Essenz ein und dasselbe Zeichen!) äußerst kostbar ist; dementsprechend solle es auch behandelt werden und nach Überschreiten der Grenze von 40 Jahren so sparsam wie möglich verwendet werden, wenn man vor hat, den weiten Weg bis zur Unsterblichkeit zu schaffen. Chang hatte sich die alte Technik zu eigen gemacht. Er beschränkte sich ungefähr auf einen Orgasmus pro hundert Liebesbegegnungen und brachte es dabei noch fertig, mehrere Frauen nacheinander an ein und demselben Tag zu lieben. Das klang für meine westlichen Ohren absolut exotisch; — und doch stand hier im Text die Anleitung der alten Liebes-Meister,
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die zu dieser Methode rieten, um sich Gesundheit und ein langes Leben zu sichern. Die Frau dagegen ist so anders veranlagt, daß sie der Orgasmus eher stärkt als erschöpft, weshalb sie in dem Buch eine weniger zentrale Rolle spielt, außer als zärtlich fühlende und voll auf den Mann eingehende Partnerin. Natürlich war es klar, daß auch sie nicht schlecht von diesem System profitieren würde! Chang hatte das Gefühl dafür, daß angesichts der bedeutenden Veränderungen des Sexualverhaltens, deren Ursache die Erfindung der Pille ist, die Zeit reif sei für ein wissenschaftlich fundiertes Werk aus China über diese traditonellen Pfade. Wie läßt sich aber seine Bedeutung vermitteln, ohne daß der Eindruck der Schlüpfrigkeit oder Geschmacklosigkeit entsteht? Für chinesische Begriffe ist die Sexualität die kostbarste Blüte des spirituellen gai savoir, — und verglichen mit der widerlichen Geilheit und Brutalität des abendländischen Verhaltens ist es schwierig, sie klar zu definieren als das, was sie ist — nämlich die Ebene, auf der sich zwei Vollkommenheiten begegnen. Aus diesem Grund enthielt der Text keinerlei langatmige Betrachtungen wie etwa über männliche oder weibliche Homosexualität, jene heute so beliebten Abweichungen. Im Kontext des Tao (und für den Zusammenhang seines Textes) existierten sie im Grunde nicht. Oder wenn sie doch existierten, so berührten sie sein Thema nicht, — denn die im Text beschriebenen Liebespartner genossen die funktionale Polarität zwischen Männlichem und Weiblichem im Einklang mit dem Tao. Die Sexualität war ein Liebesakt, der sie in die Gesamtheit des kosmischen Prozesses verwob, — und nicht eine Kissenschlacht zwischen zwei Egos, die entschlossen sind, über den jeweils anderen
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zu dominieren. Das gesamte gymkhana* des Westens — das ewige Herumreiten auf dem Ego — erfüllte Chang mit Traurigkeit, und ich konnte gut verstehen, weshalb. Als Bild verwendete er die einfache Analogie, die in gewissem Sinn das Schlangenpaar spiegelte, das sich um den Schaft des Rückgrats (wie um den ÄskulapStab) emporwindet, nämlich die ganz gewöhnliche Glühbirne mit ihren beiden gewundenen Drähten, die miteinander zur Schädeldecke (beziehungsweise Kuppel), emporstreben und Licht geben. Wozu sollte er auch einen Traktat verfassen, der alles und jedes enthält, was außerhalb dieser Phase liegt, — all die androgynen Formen, die nur Finsternis verbreiten, wohin die Natur auch immer gedrungen war? Dieser Traktat handelte von der vollkommenen Liebe, — und nicht von einer Liebe in den Ruinen unserer Sexual-Kultur. Es ist bedauerlich, aber seine Analyse unseres traurigen Zustandes scheint vollkommen zutreffend, wenn er die Schuld daran dem Christentum anlastet aufgrund des Kultes, den es mit dem Ego, der Erbsünde, dem zürnenden Gott und desgleichen mehr treibt. Wie rein und heiter wirkten dagegen jene einfachen chinesischen Riten, wenn man sie mit unserem westlichen Pflichtprinzip verglich. Es war für mich höchst lehrreich, uns einmal durch Changs chinesische Augen zu betrachten. Der Ästhet in Chang ekelte und entsetzte sich, wenn er nur an die Atmosphäre von Grausamkeit und Häßlichkeit auf dem Gebiet des Sexuellen
* gymkha na : Eine anglo-indische Wortschöpfung zur Bezeichnung von Geschicklichkeitswettbewerben (oft scher zhaften Cha r a kters) in Wasser-. Winter- und M otorsport. (Urspr ung!, alte indische Reiterspiele). Anm. d. Übers.
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dachte, die er hier allein schon in der Kunst vorfand; nicht weniger schockiert war er aber auch, wenn er an die aus allen Nähten platzenden Mülltonnen von Los Angeles und London dachte, an jene fahrlässige Kurzsichtigkeit, die uns dazu führt, aus einem perversen, geradezu freiwilligem Streben nach Leid, das uns von der Natur vermachte Erbe auf Erden zu vergiften und zu zerstören. Das Thema abweichenden Sexualverhaltens führte ihn seinerseits dazu, mir zu diesem Thema Fragen zu stellen. Ist die Homosexualität in Tibet stark verbreitet? Nein, dagegen sehr auf dem Berg Athos und im Vatikan! Könnte es nicht sein, daß das narzißtische Element, das ihr nach der Freudschen Analyse zugrunde liegt, entschieden verstärkt wird durch den christlichen Code, den Kult des luziferischen Willens zur Macht? Er lachte und gab zu, daß das durchaus zutreffen könnte. „Die Leute wollen vom Sex nichts mehr wissen, da er ihnen nichts als Schande und Enttäuschung eingebracht hat; und durch seinen Mißbrauch sind sie früzeitig gealtert. Ihnen selbst fehlt es an Gelüsten, und aufgrund der gräßlichen Dinge, die sie essen, stinken sie so entsetzlich, daß niemand große Lust verspürt, sie zu umarmen. Das Alter ist im Westen eine schreckliche Angelegenheit. Kein Wunder, daß es gefürchtet wird, kein Wunder, daß die Alten in abgelegene Häuserblöcke oder Altersheime abgeschoben und dem Sterben überlassen werden. Sie haben keine Funktion mehr und sie haben die Freude, die sie eigentlich haben sollten, verscherzt." (Ich stellte mir im Stillen die Frage: Weshalb hat der Dalai Lama keinen Ödipuskomplex? Antwort: Weil er weder Vater noch Mutter hat. Daran führt kein Weg vorbei!) Wie steht es aber
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nun mit den Liebenden, — den taoistischen Liebenden in ihrer immerwährenden Umarmung, eingereiht in die Spiralbewegung des All-Einen, in den Rhythmus des Kosmos, der auf seiner Bahn gemächlich zwischen Yang und Yin dahinwogt, hin und her, vor und zurück, als Pendel von Mutter Natur? Wie steht es also mit dem Thema 'Hans liebt Grete'? Chang wurde verlegen. „Die Liebenden in den Büchern stehen ganz einfach stellvertretend für einen natürlichen Prozeß. Natürlich kann der Hans die Grete lieben und Liebesgedichte an sie verfassen, oder gar das ein oder andere Akrostichon mit mehr oder weniger zweifelhaften Bedeutungen vortragen, um sie zum Lachen zu bringen. Diese Seite der Sache betrifft aber nur jeweils ihre Person, sie gehört in die Welt des Romans. Meine Abhandlung dagegen definiert sie als angenommenes vollkommenes Paar, als vollkommen durchdrungen vom Wissen um das Yoga der Liebe: das Tao. Es lebt jenseits des Herr-frißt-Hund-Stadiums des MenschlichAllzumenschlichen. Meine Liebenden sind die Nonpareils, die unvergleichlichen Liebenden des taoistischen Schemas. Wir sollten daher keine albernen Fragen über sie stellen. Ihre Conditio ist eine, die wir anstreben sollten, auch wenn wir sie nie erreichen können." Die Sache ist so einfach wie der Saft, der durch die Adern eines Baumes fließt. Sadismus, Masochismus ... weshalb sich dabei aufhalten, außer um mit Bedauern feststellen zu müssen, daß damit die Natur den wahren Weg verließ und daß wir daran schuld waren? Du wirst zu dem, was du glaubst. Die taostischen Liebenden waren also ego-los; sie waren menschliche Verkörperungen des kosmischen Prozesses; lächerlich ist allein schon bereits der Versuch, sie Hans und Gre-
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te zu nennen, da sie doch in Wirklichkeit schlafwandelnde Yangs und Yins sind ... In diesem Augenblick fiel der Strom aus und ich dachte daran, wie vergnügt und verblüfft Chang jedesmal sein mußte, wenn er elektrisches Licht einschaltete mit seinen 'Drähten befriedigter, wenn auch körperloser Lust'. Die Befriedigung der Liebenden entstand auf einer anderen Ebene. Durch Kontrolle über den Orgasmus konnte man die Liebe in einen höheren Frequenzzustand versetzen. Man verlängert das Leben, das unsterbliche Leben, dessen Verwirklichung man auf Erden zu versuchen und zu erstreben hatte ... Wie schwierig war es doch, dies alles in einer Form auszudrücken, die auch der verstehen konnte, der im Westen erzogen worden war nach dem Kanon einer Kultur, deren Sprache auf der Dichotomie beruhte. Noch entscheidender war vielleicht, daß die alte taoistische Auffassung von der Sexualität nahelegte, sie als jenen Grundmechanismus zu betrachten, von dem das Glück und die Gesundheit des ganzen Menschen abhingen. Daher die Rolle der Liebes-Meister, deren Untersuchungsfeld der gesamte psycho-physische Bereich war. „Letztendlich ist das gar nicht so weit entfernt von dem psycho-somatischen Ansatz der modernen Medizin, — nur daß diese keine Lehre über den Kosmos enthält, die die Dornen des Ego auszureißen imstande wäre." Plaudernd, diskutiertend und in kleinen Bissen essend gingen wir Schritt für Schritt den Text durch — er enthielt eine Fülle von Details in der Sprache des Originals und der Haltung seiner alten Therapeuten, die mir erläutert werden mußten. Hinter diesem ganzen Wissen verbarg sich eine Theorie von entscheidenden Momenten und Erkenntnissen. Das machte das
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Abenteuer des Buddhismus — und selbst des indischen — zu einem der außergewöhnlichsten Vorstöße des Geistes in das Unbekannte. In der Welt der Lebewesen, die dem Prinzip des Fressens und Gefressenwerdens frönen — und die von wilden, aus der Angst geborenen Verteidigungsmechanismen strotzt, setzte es sich der Buddhist zum Ziel, sich dem Fatum gegenüber immer schutzloser zu geben, um so die Triebfedern des Karma zu lösen und die „will power of desirelessness" ('die Willenskraft der Wunschlosigkeit') freizusetzen, um mit E. Graham Howe zu sprechen, was aufgrund seiner Hin-Gabe tatsächlich sein Aktionsfeld veränderte. Um auf diese Weise den Mond seines Nicht-Seins zu erreichen und sich sozusagen mit der Stoßrichtung des Boxhiebes bewegen zu können, fand er einen inneren Mechanismus, der garantierte, daß er kraft des Gesetzes der Gegensätze schließlich immer wieder auf den rechten Weg zurückkam. All dies schien aber gegen die Gesetze von Evolution und Kausalität zu verstoßen, die sichtlich auf der Theorie vom Überleben des Stärksten beruhten. Sollten wir nun an das Gesetz des Dschungels glauben? Es sah so aus, als wollte der Yogi einen früheren Zustand des Geistes wieder-einführen, eine pflanzenhafte Genügsamkeit, die den Menschen der Frühzeit vielleicht beherrscht hatte, — bevor die aristotelische Gabe des Bewußtseins ihn mit ihrer cogito-ergo-Impuls-Inhibition-Maschine verrückt machte. Ich fragte mich, ob der alte Empedocles von Sizilien nicht genau das gemeint hatte, als er behauptete, die ersten Menschen wären Bäume gewesen, — vielleicht meinte er Pflanzen? Schließlich kommt der Mensch ja ursprünglich aus dem Wasser. Das Juwel der Intuition, ausgebrütet aus jenem Lotos,
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der im Schlamm des Ur-Bewußtseins fest verankert wurzelte? Klack! — da gingen die Lichter wieder an. Im gleichen Augenblick brachte Chang seinen Berg sanft sirrender Gemüse an den Tisch, und wir fielen sofort darüber her, wobei er mir erzählte, wie seltsam ihm die Neue Welt anfangs vorgekommen war, wie komplizierte ihre Sprache, — nicht grammatikalisch, sondern begrifflich. Und wie komisch dazu! Oh, die begnadete Ironie des chinesischen Geistes! Mir wurde nun klar, wie sehr er sich doch unterschied, vom Geist der o-beinigen und banausischen Japsen auf der einen Seite und von dem der quakenden und klimpernden indischen Sophisten auf der anderen Seite. Ein Mensch, der die Welt noch mit so viel staunender Ironie betrachten kann, dürfte sich gut als Führer eignen, als einer, auf den man sich wirklich verlassen kann! „Erzählen Sie mir doch etwas über das Christentum", bat er mit vollem Mund. „Nun, um mit dem Abendmahl zu beginnen, — dabei handelte es sich nicht um ein vegetarisches Essen, wie Sie wohl bemerkt haben werden." Ich entkorkte eine wohlbekömmliche Flasche St. Saturnin und schenkte mir das Glas voll. Chang schüttelte den Kopf und sagte: „Sie trinken etwas zu viel. Wir müssen mit Ihnen etwas ausprobieren." Ich wußte nicht, was er damit meinte und hoffte, es würde sich um chinesische Hypnose handeln, die auf mein unterbewußtes Selbst drosselnd wirken würde. Aber all diese Ideen hatten mich in maßlose Erregung versetzt, und ich brauchte den Wein, um das architektonische Design jenes einfachen und doch köstlichen Essens in seiner fast ausgewogenen Kombination aus China, Frankreich und Indien zu
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ermessen. „Erzählen Sie mir von Ihrer Erziehung", bat ich, und er mußte lachen. Der Lärm der Schulen war bereits in voller Lautstärke an sein Ohr gedrungen. In Kalifornien hatte er Professoren zugehört, wie sie Shakespeare „erklärten"; er hatte kettenrauchende amerikanische Yogis im Lotos-Sitz vor dem Fernseher gesehen ... Ohne jede Böswilligkeit fand er das umwerfend komisch. Und nun förderte er zu meinem nicht geringen Erstaunen aus seiner kleinen Fluggesellschafts-Tasche eine wunderliche Sammlung verschiedener Röhrchen mit Vitaminen zutage, und begann, sie sich dosiert zu verabreichen. „Sieh mal einer an, wer hätte das gedacht?" rief ich schockiert, — und er grinste. Er meinte: „Es gibt viele gute Sachen hier im Westen, und da sehe ich nicht ein, weshalb ich davon nicht Gebrauch machen sollte. Eure Wissenschaft hat hervorragende Arbeit geleistet auf dem Gebiet der Ernährung, der Rolle des Cholesterins, der Kohlehydrate etc. Ich habe nicht vor, mich wie ein bigotter Fanatiker zu verhalten. Das Zeug ist tatsächlich äußerst hilfreich, wenn man so schlank bleiben will wie ich, — abkürzende Verfahren, wenn Sie so wollen, aber nützlich." Er hatte bereits einige Jahre Krieg gegen die Japaner hinter sich, als seine Familie beschloß, ihn auf den amerikanischen Kontinent zu schicken; er war ein tapferer und höchst strebsamer Junge, und so lernte er schon bald Englisch und wurde kanadischer Staatsbürger. Er machte dabei auch seine katastrophalen Exkursionen in das Ernährungssystem der Angelsachsen, was zu den bereits erwähnten Ergebnissen führte. Es lag auf der Hand, daß dieser Lapsus sich ein wenig verzögernd auf seine Unsterblichkeit auswirken mußte!
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Im einzelnen diente dies alles einem bestimmten Zweck, denn während er dabei war, sich selbst um seine Heilung zu kümmern, begann er, sich für alte chinesische Schriften zu interessieren, die er in den Buchhandlungen der Neuen Welt und in England fand, wohin er häufig reiste. Er machte die Entdeckung, daß hinter dem Taoismus mehr steckte als lediglich eine Religion oder Philosophie. Er enthielt zusätzlich auch ein Grundprinzip der Heilkunde, sowie einen Index aller frugalen Freuden des irdischen Lebens. Die Texte waren weit verstreut, und es war keine leichte Sache, sie zu etwas zu ordnen, das, wie er hoffte, ein kohärentes Ganzes ergäbe, — eine Theorie über die Gesundheit innerhalb der Ideenwelt des universalen Tao. Dies war nun das Zentralthema unserer langen und weitreichenden Diskussionen. Die wenigen Tage, die er mit mir verbrachte, schienen kein Ende zu nehmen, sie flössen in trügerisch langsamem Tempo dahin, — Zeit in ihrer größten Ausdehnung sozusagen. Wenn ich von „langen Diskussionen" rede, dann meine ich wirklich 'lang': wir unterbrachen die Arbeit nur, wenn es darum ging, Feuer zu machen und zu kochen, — wir aßen etwa fünf Mal am Tag. Vermutlich schliefen wir nur wenige Stunden. Er fand es im Gästezimmer kalt und fragte mich, ob er sich eine Wärmflasche machen könnte. Das sei ein Zeichen von Degeneriertheit, ließ ich ihn wissen, — sein Yoga müßte ihn doch warmhalten, oder nicht? Das schon, aber leider hatte er einen kleinen Schluck Wein genommen, und der Alkohol wirkte sich schädlich auf das Gleichgewicht des Organismus aus. Mein Angebot einer wuchtigen Gummi-Wärmflasche verschmähte er jedoch zugunsten seiner winzigen eigenen. Ich entdeckte, daß er
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einen kleinen Vorrat an Milch in einem jener Behälter mit sich führte, wie man sie beim Camping zur Eiskühlung der Lebensmittel verwendet, — „thermic sacks" werden sie, glaube ich, genannt. Mit Hingabe trank er zuerst seine Milch aus und füllte dann den Behälter mit kochendem Wasser. Ich hatte den Eindruck, als wären Tag und Nacht eins geworden, — nach einem kurzen Schläfchen würde man aufstehen und den Text noch einmal durchsprechen. Einmal machten wir sogar einen Spaziergang. (Um auf die kleine Heißwasser-Flasche zurückzukommen: sie bedeckte kaum die Fläche seiner Fußsohlen!) Wie eingehend wir auch über den Text diskutierten, stets würgte er meine rhapsodischen Phantasien ab und holte mich mit seinem typisch chinesischen Sinn für Prioritäten immer wieder auf die Erde herab. „Zum Teufel mit Nirvana, entscheidenden Momenten und solchem Mist", pflegte er in solchen Momenten zu sagen. „Das versteht sich doch alles von selbst! Was wir nur nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, daß das Buch davon handelt, wie wir das Leben auf Erden bis zur Neige auskosten können, sodaß wir nichts zurücklassen, nicht einmal den kleinsten Seufzer. Die gewöhnliche Lebensdauer ist zu kurz bemessen, um diese Welt voll auskosten zu können; wir könnten und sollten es daher unermeßlich weit ausdehnen, um Zeit zu gewinnen. Das ist alles ganz erdverbunden und äußerst praktisch." Er hatte das Glück gehabt, im Lauf seiner diesbezüglichen Forschungen die Bekanntschaft von Joseph Needham, unserem größten Sinologen, zu machen, dessen mehrbändige Studie über die chinesische Wissenschaft nun fast abgeschlossen und gewiß eines der ganz großartigen Werke unserer Zeit ist. (2) Need-
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ham hatte ihm ein Vor- und Nachwort zu seinem eigenen Buch zugesagt, sofern es ihm gelänge, es in wissenschaftlichem Stil und in verständlicher Terminologie zu verfassen. Das war natürlich ein großes Kompliment, was er auch voll als solches zu schätzen wußte. Aber natürlich hatte die Sache den Haken, daß ein Teil des Themas höchst abstrakt und der andere fast elementar gehalten war. Das Grundthema im praktischen Teil war die Kultur des Orgasmus, — eine Kultur, die durch eine verfrühte Ver-Äußerung auf der männlichen und einer entsprechenden Frustration auf der weiblichen Seite gekennzeichnet wurde. Dies konnte und sollte kontrolliert werden, und die alten Texte der Liebes-Lehrer boten präzise Hinweise und Regeln dazu, wobei richtige Ernährung und religiöse Wachsamkeit den gesamten Bereich der Liebestechnik als Teil eines kosmischen Wissens umrahmte und illustrierte. Aus der sogenannten cartesischen Sicht betrachtet (die bei den Franzosen so hoch bewertet wird), sah das alles zwar höchst abartig aus, aber ich fühlte, daß es für mich Hand und Fuß hatte. Aus eigener Erfahrung konnte ich bestätigen, daß — wie auch Chang meint — ein großer Unterschied besteht zwischen einer Ejakulation und einem Orgasmus. In einem Liebesakt nach taoistischen Regeln konnte es durchaus zu einem Orgasmus ohne Verlust der taoistischen Lebensessenz kommen. Das war eine Frage nicht nur des bewußten Verhaltens, sondern auch der Art der Beziehung, des Verbundenheitsgefühls, — der ganze so kostbare Austausch wurde auf eine neue, höhere Ebene der Intensität transportiert, die — wenn es sein mußte — ohne Unterbrechung stundenlang andauern konnte, da die beiden Seelen dabei ineinander
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verwoben blieben. In zwei Fällen hatte ich selbst diese Erfahrung gemacht, — was eine so intensive, derart tiefe Verbundenheit voraussetzt, daß ihr Gegenteil, der Rückschlag, die Enttäuschung im Fall, daß das Gefühl unbeantwortet bleibt, sogar den Verstand in ernste Gefahr bringen kann. Das war, so schien mir, die Folge des richtigen Maßes an Pietät gegenüber der Liebe, — einer Pietät, die nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hat. Ich hatte dies mit einer Person erlebt, wie ein Banner trug sie zeitlebens ihren tantrischen Blick, — bis in den Tod. Eine ganze Nacht lang blickten mich ihre blauen Augen noch weiter mit ihrer verschmitzten Heiterkeit an, — der saphirblaue Blick mit seinem Lächeln der Erwähltheit. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß es im Bereich dieses feinfühligen Austausches keinen Platz gab für Selbstbefriedigung, Selbstsucht, und Egozentrik. Ich stand Auge in Auge der Blauen Blume des vollkommenen Wissens gegenüber. Erst als der Morgen dämmerte, wurde der Blick zunächst meergrün und dann leicht milchig; er verlor allmählich seinen Blutenstaub und umwölkte sich. Aus diesen Stunden festgehefteter Aufmerksamkeit erwachte ich mit einem Gefühl, tief eingeweiht zu sein durch jenen heiteren tantrischen Blick aus der Welt jenseits des Todes. Geliebt worden zu sein, — mit einem Mal verstand ich, welch gewaltiges Kompliment das ist! Und doch hatten wir oft und oft — was uns köstlich amüsierte — nicht einmal bemerkt, ob wir tatsächlich Liebe gemacht hatten oder nicht, — so heftig war die Ein-Sicht gewesen, so intensiv der Austausch von Präsenz und Berührung. Ja, ich wußte, welchen Punkt Changs Text berührte, obwohl ich mich
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fragte, ob solche Vorstellungen überhaupt noch eine Zukunft hatten in einer Zeit wie der unseren, wo ein solcher Zustand auf spirituell-geistiger Ebene ebenso selten geworden ist wie auf physischer Ebene — der Orgasmus ohne Ejakulation! Wie war so etwas überhaupt den monotheistischen Christen nahezubringen, die durch Scheinheiligkeit zur arthritischen Form von Kruzifixen verrenkt wurden? Dieser Blick war mit dem letzten Katharer gestorben! Witz und Wesen des Taoismus beruhen auf seiner spöttischen Pose. Sein kleiner Gott heißt Coitus Absconditus mit Namen! Mein Freund saß so vollkommen still da, während er beobachtete, wie ich auf und ab ging, daß ich glaubte, er wäre womöglich eingeschlafen. „Sie sind ziemlich streng gegen das Christentum", sagte er schließlich, und ich wußte, daß er durchaus recht hatte. Aber das hing mit dem geistigen Schock zusammen, den ich im Alter von sieben oder acht Jahren in Darjiling versetzt bekam, wo man mich für einige Jahre in eine Jesuiten-Schule gesteckt hatte. Es war eine ziemlich gute Schule und die guten Fratres waren feine Menschen, — sie betrieben keine Propaganda. Sie predigten lediglich durch das Beispiel, und das Beispiel, das sie gaben, war ziemlich hochgegriffen. Nein, sie waren es gewiß nicht, die mir den Schlag versetzten. Wir Protestanten-Kinder waren etwa vierzig an der Zahl und mußten in der Stadt in der Kirche der Anglikanischen Hofkirche beten. Als ich eines Tages aber einmal an der Kirche der Jesuitenschule vorbeikam und sah, daß die Tür offen stand, schlüpfte ich auf Zehenspitzen — neugierig, wie man als Kind eben ist — hinein. In dem tiefen Dämmer stieß ich plötzlich auf eine lebensgroße Figur des ge-
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kreuzigten Christus, die, ausgiebig mit Blut bespritzt, von oben bis unten ausgepeitscht und mit Dornen gekrönt, über dem Altar hing. Da kam ein unsagbar mächtiges Gefühl des Abscheus und der Angst in mir auf. Das war es also, was diese streng gekleideten und bärtigen Priester in jenem undurchdringlichen Dämmer zwischen Blumen und Kerzen anbeteten! Es war kaum ein logischer Ablauf von Gefühlen und Eindrükken — es war eine ganz spontane und unstrukturierte Reaktion. Doch dieser Horror ließ mich seitdem nicht mehr los; und später, als mein Vater entschieden hatte, daß ich zum Wohle meiner Erziehung nach England gehen sollte, hatte ich das Gefühl, er wolle mich in die Hände dieser Sadisten und Kannibalen ausliefern, in die Hände von Menschen, die imstande waren, dieses brutale und barbarische Effigium an dem christlichen Kreuz anzubeten. Natürlich konnte ich jahrelang all dies nicht in Worte fassen, aber genau in diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß ich mich in Zukunft nie mehr dazu bewegen könnte, einem Menschen über den Weg zu trauen, der sich als Christ bezeichnete und dadurch in mir dieses leidbeladene Symbol des Unglücks wachrief! Und wie Recht hatte ich! Bis heute ist mir nie etwas unter die Augen gekommen, was mich davon überzeugen könnte, diese so gut wie endgültige, wenn auch sicher absurde Ansicht zu ändern. (3) Die Hauptstraße in Darjiling, an der die Schule lag, führte an den Spielplätzen vorbei; die tibetischen Lamas, die zu ihren langen Pilgerfahrten in die fernen Ebenen Indiens auszogen, waren ein vertrauter Anblick für mich. Mit einem Lächeln, das den Eindruck erweckte, sie würden durch die Buchseiten von Kiplings Kim tänzeln, schwangen sie ihre
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Gebetsmühlen. Seit dieser Zeit sehe ich sie stets im Geiste vor mir und kann noch heute das Rasseln der kleinen Messingrädchen hören, während sie ihre Gebete absangen. Aber ich mußte erst noch einen gewaltigen Umweg machen, bevor ich sie wieder entdeckte, die Lamas! Ich, ein Löwe, wurde zunächst den Christen vorgeworfen!
So entfaltete sich der Text Seite für Seite unter unserem Studieneifer, während die Argumente und Erläuterungen nach der Seite auswichen wie Krabben. Chang war hocherfreut zu hören, daß auch Rabelais sich über die Unsterblichkeit Gedanken gemacht hatte und sich fragte, weshalb man nicht „versuchen sollte, herauszufinden, welches Alter ein Mann von Verstand und gefälligen Sitten wohl erreiche, sofern er sich gut pflege". Wahrscheinlich ließe sich die gleiche Formel anwenden auf Atemtechnik, Ernährung und sparsamen Umgang mit der Sexualität. Changs Antworten dürften auf den ersten Blick ziemlich extravagant gewirkt haben; jedoch hier in seinem Buch gab es Texte und Äußerungen der alten Meister in dieser Liebeskunst, die ganz den gegenteiligen Eindruck erweckten. Als diese Fragen untersucht wurden, war ich gerade dabei, Lauch zu schneiden, und warf große Segmente der äußeren Blätter fort, während ich sie putzte. Entsetzt ließ Chang eine Art feines Piepsen hören — einen chinesischen Seufzer — und tauchte sofort in den Mülleimer, um sie zu retten: „Schon wieder diese Verschwendung; und Sie wissen doch, wie streng meine taoistischen Prinzipien sind!", rief er zornig. Es
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lag etwas herzzerreißendes in seiner Stimme, und so fühlte ich mich gezüchtigt und zerknirscht. Er las die weggeworfenen Schalenblätter auf und strich sie sorgfältig mit den Fingern glatt, als wäre eine wertvolle Botschaft auf ihrer Oberfläche eingraviert. Dann wusch er sie. „Die sind doch zu zäh und alt, Jolan", gab ich zu bedenken, doch er schüttelte den Kopf und verzog die Lippen. Er rollte die geretteten Blätter, wie man es mit einem dicken Tabak tun würde, nahm das schärfste der Messer und schnitt sie so fein wie es nur irgend ging. Dabei wiederholte er wohl zum hundertsten Male: „Alles kann man essen, wenn man es nur genügend klein schneidet!" Auf eines war ich jedoch stolz: nämlich, daß es mir gelungen war, ihn wieder mit dem Ingwer anzufreunden, denn lange Zeit über hatte er in seiner Küche davon keinen Gebrauch gemacht; das gleiche galt für den Curry. Ich hatte etwas frischen Curry direkt aus Madras, — frisch aus Krishnas Achselhöhlen sozusagen. Weniger gnädig verhielt er sich gegenüber den Weinen im Haus und wollte auch den Kaffee nicht anrühren. Nachsichtig sah er mir aber zu, wie ich ihn trank, und während ich ihm zuprostete, sagte ich: „Ich leide eben an einem Fall von Verdrängung der Langlebigkeit". Aber dafür hatte er nur ein Lächeln übrig, schüttelte traurig den Kopf und meinte: „Sie trinken zu viel; das verfälscht Ihr Urteilsvermögen und bringt ihr Yogagleichgewicht aus dem Lot, — ganz zu schweigen davon, daß Sie davon fett werden ..." Er hatte natürlich Recht, aber dann hat uns der Liebe Gott eben den Verstand gegeben, damit wir uns zu Idioten machen, und dabei wollte ich nicht übergangen werden. Auf eine bestimmte unterirdische Art und Weise brachte dieses Ge-
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sprach über das Tao — über jenes declic vor dem Fall, mit dessen Hilfe wir die Tür zur Unsterblichkeit öffnen könnten — in meinem Kopf verschiedene alte Ideen zum Klingen, die ich früher über die Natur des poetischen Akts vertreten hatte. Ich hatte das Gefühl, man würde den Orgasmus mit jedem Gedicht immer bewußter werden lassen und damit sozusagen den einfachen Gedächtnisschwund, der durch die Ejakulation per se bewirkt wird, aufheben. Vielleicht war ich, ohne daß ich es wußte, dem Herzen des Tao des Sexus schon sehr nahe gekommen, wie es von meinem Freund hier gelehrt wurde, der jetzt an meinem Küchentisch saß und mich ziemlich verwundert ansah. Er trug einen Blick devoter Konzentration zur Schau. Dann entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ein Glas Wein vor ihm stand. „Ich will mit Ihnen trinken, sagte er, „nur um festzustellen, was Sie — wenn überhaupt — daran finden." Da ich seine Prinzipien und seinen hochgezüchteten und delikaten Gesundheitszustand kannte, dessen er sich aufgrund der Anwendung solch radikaler Vorsichtsmaßnamen gegen die Völlerei erfreute, wollte ich ihm zuerst nicht glauben. Ich trank einen Schluck ab. Sofort tat er ein gleiches. Ich trank noch einen. Er ebenfalls. Er zog ein schreckliches Gesicht dabei, schien aber fest entschlossen, sich auf solch ekelerregende Art und Weise umzubringen. Tat er das, um einen Vorwurf einzustecken, oder als Warnung? Ich sagte nichts, sondern redete weiter über die prä-adamische Struktur der Psyche und andere Themen dieser Art, wobei ich das Trinken nicht unterließ. Er tat ein gleiches. Füllte ich mein Glas, so reichte mir auch er seines um Nachfüllung her. „Nun hören Sie schon auf", sagte ich, „ich weiß doch, daß
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das nicht gut für Sie ist. Sie versuchen doch nur, mich zu beschämen, nicht wahr?" Er schüttelte den Kopf und antwortete: „Nein, ich mache nur einen Versuch mit Ihnen." Ich nahm einen Schluck. Er nahm einen Schluck. So beendeten wir unser Abendessen, wärend wir ein Glas nach dem anderen leerten. Natürlich war das ein ungleicher Kampf, denn ich war gut trainiert, während er, der arme Taoist ... langsam unruhig und kicherselig wurde; er fand meine Witze über die Maßen komisch. Ich fragte mich allmählich, ob ich ihn nicht nach oben ins Bett bringen müßte. Ich fühlte, es war nun an der Zeit, daß auch der Westen die taoistische Szene mit einem kulturellen Beitrag bereichern mußte, und so ließ ich ein dröhnendes Vampir-Lachen erschallen, — eine Lautäußerung, mit der ich jede überraschende Widrigkeit des Lebens zu begrüßen pflege. „Welch außergewöhnlicher Laut!", staunte er, „und was bezweckt er?" Ich antwortete: „Er sorgt für klare Luft und einen klaren Kopf; ich habe ihn aus griechischen und tibetischen Quellen übernommen. Wer das Große Dröhnende Lachen lernt, ist gerettet. Versuchen Sie es mal." Er balancierte herum, als würde er gleich in einen Abgrund stürzen und produzierte eine recht erträgliche Imitation meines Lachens. Wir übten es dann eine Weile, gelassen gemeinsam weitertrinkend, bis der Putz von der Decke fiel. Zum Glück hatte sich der griesgrämigexistentialistische Gärnter nicht diesen Augenblick dazu auserkoren, um über die Veranda hereinzulugen ... Es war ein rundherum herrlicher Abend, reich an Abwechslung, — und doch getragen von jener gelenkten Konzentration, mit der sich mein Freund meine
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Psyche einzuprägen suchte. Ich konnte spüren, wie ihre Wirkung sich auch auf den Wein übertrug, — aber doch nicht so schnell, daß sie mich davon abgehalten hätte, die zum Gelingen eines großartigen Abends so gut wie vorgeschriebene Menge zu trinken. Später erklärte er mir die Wirkung jenes geringen Aktes, der im Chinesischen schlicht 'Sitzen' heißt. Er ist Teil eines therapeutischen Mechanismus', den jeder von uns in Gang setzen kann. Sein Ziel ist es, das Verhalten in fruchtbarer Art und Weise zu verändern, — falls man einen Freund hat, der sich durch eine bestimmte Art seines Verhaltens selbst schädigt. Wenn man ganz einfach in seiner Nähe sitzt und sich auf das betreffende Verhalten konzentriert, kann man ihn sozusagen in eine anderen Tonlage, in ein anderes Gleis hineinmediren. Wie beim Stellen einer Weiche. Das hat nichts mit einer Behandlung im Sinne der Schulmedizin zu tun, wo der Arzt dem Kranken seinen Willen und seine Behandlung aufdrängt, oder mit der Übertragung der eigenen Willenskraft auf den Patienten. Wie er erklärte, ginge es bei der Technik des Sitzens lediglich darum, daß jemand geistig in den Charakter des Freundes eintritt, so wie man in ein Boot steigt und versucht, es zu steuern. Gewiß, Wind und Strömung spielen dabei natürlich auch eine Rolle. Aber durch einen Akt freundlicher Passivität könne man den Betreffenden dazu bringen, sinnloses Verhalten zu ändern und sich neu zu orientieren ... Ich weite diesen Punkt deswegen so aus, weil ich ganze eineinhalb Monate lang, nachdem Jolan wieder gegangen war, meinen Rotweinkonsum auf vier bis fünf Glas — im Vergleich zu meinen sonst gewohnten vier bis fünf Halblitern — ohne Mühe und gleichmäßig reduzieren konn-
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te. Nach einiger Zeit ließ der Einfluß nach. Und doch lag hier so etwas wie eine posthypnotische Suggestion vor. Später habe ich das selbst einmal bei jemandem ausprobiert — einfach meditierend und ohne ein Wort zu sagen dazusitzen —, was zu deutlichen Ergebnissen in ähnlicher Richtung führte. Ich muß aber auch dazu sagen, daß der Wein dem Text und seinen Ideen von Harmonie und Güte einen rosigen Glanz verlieh; er machte Männer und Frauen zu natürlichen Verbündeten, zu Partnern der sexuellen Liebe nach einer kosmischen Technik. Tatsächlich waren, wie ich sah, manche der großen Liebesmeister der Kaiser Frauen, deren Unterweisung stark gefragt war. Sie waren große Ratgeber der Liebe, ihre Namen wurden überliefert durch diese Texte voll jenes Duftes, jenes inbrünstigen Feuers einer Sprache, der in Liebesdingen Prüderie ebenso unbekannt war wie Geilheit. Auch auf den Atem- und Yoga-Aspekt des Themas kamen wir zu spechen (und genau hierin geriet ich durch den Wein außer Kontrolle). Aber ich hatte zumindest, so weit ich das beurteilen konnte, den Kern der Sache innerhalb des chinesischen Kontextes begriffen. Ich fragte mich, was eigentlich das Verhalten des Akrobaten von dem des Yogi unterschied. Der Akrobat kann Bravourakte körperlicher Geschicklichkeit aufführen, die selbst die kompliziertesten Yogi-Stellungen an Schwierigkeit weit übertreffen, und doch hat der Akrobat nichts davon, da seine Geschicklichkeit keine Wirkung hat, in der ein kosmisches Prinzip eine Rolle spielt. Er ist sich des poetischen Leitsterns nicht bewußt, der den Yogi fesselt, — nämlich das Magnetfeld, das er betritt. Jolan Chang ließ ein Lachen wiehern. Es ist traurig,
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aber auf eine seltsame Art auch wieder tröstend, daß eine ganze historische Epoche lang selbst in China der Begriff Tao in Vergessenheit geriet und die Brücke zwischen Mann und Frau zerbrochen war. Die Frauen wurden zu Vampiren, die Männer haltlos, verweichlicht; das gesamte kulturelle und politische System war aus dem Lot geraten. Die Staaten versanken in Anarchie und Auflösung. Der Keim im Korn war schlecht geworden. Eine dunkle Zeit herrschte über das Land. Nach Ansicht meines Freundes kann die chinesische Geschichte mehr als ein Beispiel geben von dieser Art Zusammenbruch des historischen Bewußtseins, auf das dann, mit dem Gegenschwung des Pendels, eine Phase der Erholung und Wiedererstarkung folgte, denn nichts ist ja von ewiger Dauer. Ich fragte mich, ob auch wir es noch erleben würden, daß unsere eigene, heutige Zeit wieder zu Verstand kommt. Alles in der Natur hängt an einem Haar ... „Begebe dich in das Tao und du wirst keinen Augenblick Ruhe finden, denn es erfordert ununterbrochenes Streben und Verstehen und Balancieren." (So sagt Lao Tse.) Du bist wie ein Seiltänzer hoch über der Stadt; und doch wirst du nach einiger Übung eines Tages blind auf dem Seil gehen können, ohne schwindlig zu werden. Wider alle Vernunft hatte ich dies immer geglaubt. Es war ermutigend zu wissen, daß auch Chang diese Deutung des Gedichtes teilte. Bevor wir uns an diesem Tag dem gewohnten, verkürzten Schlaf widmeten, wurde ich noch Zeuge eines amüsanten Ausbruchs chinesischen Humors, der meinen Freund beim Anblick eines Aschenbechers wie eine Flutwelle überkam. Irgendein wunderlicher Zufall wollte es, daß die Zigeuner und fahrenden Händler al-
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len möglichen esoterischen Nippes zum Samstag-Markt in das Dorf brachten. Esoterisch insofern, als es sich um gläserne Blumenvasen Marke 'Birmingham', wundervoll echt wirkende indische Rosen aus Seide und ähnliche Objekte handelte. Unter all diesem Zeug war ich zufällig auf einen Satz Aschenbecher aus Bambus gestoßen, gefällig in der Form und mit einem Aquarell auf jedem, das einen Busch, einen Fluß und eine Mädchengestalt mit einer Angelrute in der Hand zeigte. Der Malstil war ziemlich minderwertig und verfälscht, doch das Idiom dabei immer noch unverkennbar chinesisch. Auf der Suche nach Zündhölzern stieß Chang neben dem Spülbecken in der Küche auf eines dieser Kitschstücke. Ihm entfuhr ein Ausruf des Staunens, und er nahm den Aschenbecher zur näheren Untersuchung in die Hand. Er drehte ihn um. Auf der Unterseite stand die englische Aufschrift 'Made in Taiwan'. Irgendetwas mußte ihn ihn gefahren sein, als er diese Worte las, denn er drehte sich hilflos vor Lachen nach mir um und deutete mit dem Finger auf diesen Satz. Er war sprachlos vor Heiterkeit. Irgendwie konnte ich doch die Art dieses kosmischen Witzes erfassen, — wenn man an die gewaltige Größe, die komplexe Natur und das hohe Alter Chinas dachte und damit die Trivialität der gegenwärtigen Machtpolitik in den Händen amerikanischer Cowboys oder evangelistenhafter Industriebosse mit Las Vegas-Seelen verglich ... Ja, das war in der Tat zum Lachen. Das Lachen war so ansteckend, daß ich einfach darin einstimmen mußte, und gemeinsam verdoppelten wir noch unsere Lachsalve, bis uns die Seiten schmerzten und ich ihn anflehte, aufzuhören.
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„Taiwan", japste er hilflos. „Taiwan", echote ich genauso hilflos. Es bedurfte keinerlei weiteren Kommentars mehr zu diesem Thema, obwohl ich keine Ahnung hatte, was der Gärtner zu unserem Verhalten gesagt hätte. Eine Weile gab Jolan noch später ein unfreiwilliges Kichern von sich, sobald er diese kleine Schale mit ihrem minderwertigen und traditionsarmen Gekritzel erblickte. Er hatte noch eine beträchtliche Menge an zusätzlichen Dokumenten nach Kinsey-Art mitgebracht, und obwohl ich nichts gegen den statistischen Ansatz habe, weiß ich doch, wie unzuverlässig er ist, wenn er als Grundlage einer Analyse verwendet wird, und wie wenige Fragebogen wirklich so ausgefüllt werden, daß man ihren Ergebnissen trauen darf. Chang war anderer Ansicht. Auf quantitativer Ebene hätte er einige gute Ergebnisse gesehen. Gut, aber sollten wir nun einen Schritt zurück zu einer verlorenen Unschuld machen, oder einen Schritt vorwärts auf einen prinzipiellen Wandel im Westen zu, der die inneren Dispositionen der Psyche verändern könnte, statt sie lediglich zu leiten, — angesichts der neuen (sogenannten) permissiven Veränderungen des Sexualverhaltens? Chang sagtte: „Sehen Sie, ich will doch niemandem etwas verkaufen. Ich biete Ihnen lediglich ein Bündel Texte an, die sich zu einem ziemlich kohärenten System fügen, das der Gesundheit und der Ausgeglichenheit der Psyche gewidmet ist." Wir plauderten, so erinnere ich mich, auch lange über Henry Miller und seine Sorgen und Nöte, die Chang besonders interessierten, da er dessen Werk bewunderte und seinen tiefen Sinn , den so viele Leute noch nicht gefunden hatten, begriff. Miller selbst hat-
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te es in einem Interwiev einmal so ausgedrückt: „In meinen Büchern geht es nicht um Sex, sondern um Befreiung des Selbst". Chang war hocherfreut, als er hörte, daß er schon die Achtziger erreicht hatte und überzeugt war, mit ein wenig Umsicht auch noch die Hundert-Grenze zu überschreiten, — danach würden offensichtlich die Dinge wesentlich leichter vonstatten gehen. Chang sagte, er als Gerontologe würde ihm gerne einige kostenlose Ratschläge geben. Also kramte ich eine Schreibmaschine hervor und nahm sein Diktat auf, das sich zu einem langen und detaillierten Brief entwickelte über die Methode, wie er seine Energien und Fähigkeiten konservieren könne. Unter anderem erwähnte er einige chinesische Krauter wie die Ginseng-Wurzel, — aber Henry Miller wandte sie bereits an. Das Erstaunliche war der heitere Optimismus des bereits betagten Schriftstellers, obwohl er ein kaputtes Bein mit einer Plastikarterie hatte, die nicht so funktionierte, wie die echte, die sie ihm entfernt hatten; dazu machte ihm auch noch ein Auge Schwierigkeiten. Chang versicherte mir, daß sich das alles heilen ließe, wenn seine Anweisungen befolgt würden. Also schickten wir in aller Eile einen langen Brief an Henry Miller ab. Danach machten wir uns wieder an das Kochen, wobei mein Kompagnon meinte: „Wenn wir gegessen haben, werde ich Ihnen eine ganz besondere Freude machen. Ich hatte nämlich das Glück, in einem Antiquitätenladen in London für nur ein paar Pence ein Stück von echter Sung-Keramik zu ergattern, — dem Händler war es nämlich nicht aufgefallen." Wie versprochen stöberte er, nachdem wir unser Mahl beendet hatten, in seinen kleinen Luftfahrtstaschen her-
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um, nahm dabei einen fanatischen Schluck Milch aus seiner Flasche und förderte schließlich eine kleine, schwarzbraune Vase zutage. Sie hatte keinerlei Gravur oder sonstige Verzierung, und tatsächlich schien ziemlich wenig an ihr zu sein — man kennt ja jene gedrechselten, preziös geformten Objekte, die eine gewisse schmucke Effizienz in der Form haben, aber ansonsten ästhetisch nicht gerade in Verzückung versetzen. Ich gab dies zu bedenken, doch er lächelte nur. „Aber Sie sehen ja gar nicht hin. Betrachten Sie sie ganz einfach wie eine Form, wie einen Schatten oder eine Wolke." Er nahm sie zwischen drei Finger und hielt sie mit einer Drehung aus dem Handgelenk an das sonnenbeschienene Fenster. „Woher wissen Sie, daß es sich um ein Sung-Stück handelt?" Wieder mußte er lächeln. „Die Proportionen — es gibt kein anderes Unterscheidungsmerkmal. Das ist der Grund, weshalb es der Antiquitätenhändler nicht erkannte. Er ist wie ein Blinder, der von dem vertrauten 'Gefühl' der Dinge auszugehen hat. Wenn man das hier nur anfassen würde, könnte man nicht sagen, was es ist. Versuchen Sie aber einmal in die Vase zu sehen, und fühlen Sie die Proportionen, fühlen Sie, wie sie nach Art eines Vogeleis getöpfert worden ist." Nach einer Weile begann ich allmählich vage zu sehen was er sah; es war eher eine Art geometrisches Theorem. Dann begriff ich, daß das, was er bewunderte, die Art war, wie das kleine Objekt sich selbst mit leerem Raum erfüllte — ihn faszinierte nicht der geschickte Umgang mit dem Material, sondern nur die funktionelle Schönheit. So konnte man, von unserem Standpunkt aus betrachtet, das kleine Souvenir für ein Ding ohne größere Bedeutung halten, während es, aus seiner Sicht
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betrachtet, eine exquisite Auffangvorrichtung zur Verzierung des umgebenen Raumes ohne sie und um sie war. Die chinesische Ästhetik — man kann geradezu von einer Art 'negative capability'* sprechen. Das Gegengewicht zur Materie ist Raum, der Gegenpart zur Musik das Schweigen. Die Ästhetik beruhte auf der Würdigung des magischen Moments. Noch dazu hatte die Vase gleichzeitig ein ästhetisches Gewicht und eine praktische Funktion! Ja, allmählich sah auch ich in Umrissen, was für Jolan Chang ein ästhetisches Erlebnis war. China war mir um dieses Stück näher gekommen. Besonders verblüfft war er darüber, daß ich in der dämmrigen Eingangshalle meines baufälligen alten Hauses vier wunderschöne chinesische Holztafeln hängen hatte, die ich im öffentlichen Auktionshaus von Nimes ersteigert hatte. Sie hatten so gut wie nichts gekostet. Jede war mannshoch und das Material stellte sich als ein Gefüge aus harten, schönen Teakholzbrettern heraus. Sofort erkannte er, daß sie aus Peking kamen, obwohl der französische Arzt, der sie in Nimes zum Verkauf anbot, sie aus Saigon mitgebracht hatte. Es waren farbig bemalte Schilder, die — so wurde mir damals gesagt — im Fernen Osten vor irgendeiner Apotheke gehangen hätten, — Reklame also, die natürlich die Kundschaft anlocken sollte. Zwei waren rot, zwei schwarz lackiert, — Yang und Yin, die beiden Prinzipien der Natur. Auf den roten standen an-
* ein Begriff von Keats; gemeint ist die Fähigkeit zur absichtslosen Beeinflussung. Howe nennt das 'the will-power of desirelessness'; vgl. S. 36.
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geblich Gedichte, auf den schwarzen medizinische Lehrsätze. Wie die Texte aber wirklich lauteten, wußte kein Mensch, und so hatte ich eben gewartet, bis einmal ein Chinese kommen und sie mir übersetzen würde. Sechs Jahre hatte ich gewartet, aber wenn man weiß, daß man ewig lebt-, kann man es sich leisten, in seliger Resignation zu warten. Jetzt hatte Chang die Tafeln minutiös und begeistert untersucht und schlug vor, sie mir in gutes, geschliffenes Englisch zu übersetzen. Sie hingen tatsächlich, so meinte er, vor Apotheken des Ostens. Auf den roten Tafeln standen heilungsversprechende Gedichte, während auf den schwarzen so etwas wie ratgebende Leitsätze standden, die den Namen eines großen Meisters der Heilkunst aus alter Zeit erwähnten. Das war so, als fände man auf einer ähnlichen Tafel in Europa die Aufschrift: MEDIZINISCHE PRINZIPIEN NACH DER LEHRE DES PARACELSUS. Auch war ich nicht fehlgegangen in der Annahme, daß die beiden Farben für die zwei kosmischen Prinzipien standen. Das war wieder der alte Schaukelstuhl des Tao. Nun hatte ich begriffen, daß alle Chinesen in ihrem philosophischen und ästhetischen Bereich ohne Ausnahme Taoisten, und Konfuzianer in ihrem dogmatischen und theologischen Bereich waren. Die große Tiefe und Ausgewogenheit des intellektuellen und ästhetischen Lebens Chinas drehte sich um diese fruchtbare Ehe. Auf ganz ähnlichem Wege haben es die Franzosen fertiggebracht, zwischen Rabelais und Pascal, Montaigne und Descartes in ihren Grundnaturen eine fruchtbare und harmonische Ehe zu schließen. Meine Schrifttafeln stellten sich als etwas ganz besonders Schönes heraus, und ich war glücklich darüber, daß sie — selbst in einer in-
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adäquaten Übersetzung in eine fremde Sprache — von nun an mir schließlich doch noch etwas sagen konnten. INSCHRIFT DER ROTEN TAFELN: Vier Quellen, voll Wolken und Rauch, — die Gräser benetzend. Ein voller Hof — und Blumen, gezeugt von Wind und Tau. INSCHRIFT DER SCHWARZEN TAFELN: Die Kunst der Medizin wird Nutzen haben, wenn sie das Geschick des Wah To im öffnen und Reinigen der Mägen berücksichtigt. Die Kunst der Chirurgie wird Nutzen haben, wenn sie sich der Techniken des Pian Cha beim Öffnen des Brustkorbes und Verpflanzen von Herzen erinnert. Chang hatte nicht die entsprechenden Bücher zur Hand, um biographische Details über die beiden Ärzte liefern zu können, aber er versprach, das Versäumte nachzuholen, sobald er in Cambridge wäre, wo er zehn Tage verweilen wollte, um sich nach dem AvantPropos, das ihm zu seinem Buch angeboten wurde, und nach verschiedenen anderen Dingen zu erkundigen. Anscheinend gab es in Cambridge eine ziemlich erlesene, wenn auch kleine chinesische Referenz-Bibliothek, was ich bislang nicht wußte. Und wirklich rief er mich, wie versprochen, eine Woche nach seinem Abschied an und teilte mir mit, er hätte die beiden Ärzte nachgeschlagen. Die Pian Cha gewidmete
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Tafel fand er wegen ihres sensationellen Hinweises auf Herztransplantationen besonders aufregend. Auf keiner der vielen Tafeln dieser Art, die er kannte, hatte er bisher einen solchen Hinweis gefunden. Pian Cha war tatsächlich ein berühmter Chirurg gewesen, und der Grund seines Untergangs war eine Palastintrige, vermutlich von eifersüchtigen Konkurrenten. Für ihn war diese Tafel die interessanteste. Ich freute mich, daß er auch den Namen Wah To ausfindig machen konnte. Er war ein berühmter taoistischer Arzt gewesen, der im zweiten oder dritten Jahrhundert gewirkt hatte. Nun waren die Tafeln, meine heilwirkenden Fetische, endlich entschlüsselt; daß die purpurroten Tafeln mit den poetischen Texten ein wenig von Ezra Pound beeinflußt waren, war auch nicht zu verleugnen! Inzwischen ging der Tag in die Nacht über und ich schaltete auf der Veranda mit ihrer verrückten „Retro"-Farbverglasung die Lichter ein-, und immer, wenn wir wieder Vampir-Lachen oder einen randmongolischen Geisterschrei übten, kamen die Eulen kichernd aus dem Turm herabgesegelt, während die kleinen Steinkäuze (die Eulen der Athene!), verzaubert von dem Licht durch das bunte Glas, ihre Klagelaute hören ließen. Wie Bären trollten wir argumentierend und diskutierend auf und ab. „Jungfrau zu bleiben, ist nicht die Lösung; der Punkt ist, daß man aus chinesischer Sicht die natürliche Mäßigung, die dem Mann ebenso gut bekommt wie der Frau, niemals zu Prüderie oder Geilheit degenerieren lassen darf, denn beides ist nach taoistischen Begriffen ein krankhafter Zustand. Unsere hübschen 'Kopfkissen-Bücher' sind die Antwort darauf, und junge Liebende verwenden sie in diesem Sinn, um sich von jedem morbiden Exzeß an
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Schuld und Furcht zu befreien." Nun war mir der Unterschied wirklich klar — irgendwie verlor der Taoist nie — weder beim Atmen noch beim Lieben — das Gefühl, Teil des gesamten menschlichen und kosmischen Prozesses zu sein. Da hatten wir wieder die 'Fähigkeit des Nicht-Könnens'; er war frei vom Komplex des ergo sum. Und doch wollte man nach der Lektüre seiner Texte noch vieles mehr wissen, — in meinem Fall noch sehr viel mehr. So wäre es nicht uninteressant, einmal über die Art der Typologie zu diskutieren, die die chinesische Astrologie dem Liebespaar vorschlagen würde, eine Wissenschaft, die schließlich einmal für so etwas Durchsichtiges wie unsere sogenannte Psychologie stand; wenn man aber dagegen an die Armut unserer modernen psychologischen Typologie denkt, die allmählich zu insgesamt drei physischen und psychischen Menschentypen zusammengeschrumpft ist ... Auch wenn die Astrologie als exakte Wissenschaft höchst anfechtbar ist, so versucht sie doch zumindest, die gewaltige Variationsbreite der menschlichen Veranlagungen, sowie die Zufälle, die sich zu einer Zeit und an einem Ort auf Erden um sie gruppieren, zu beschreiben. Aber dieser Bereich blieb natürlich aus dem Text meines Freundes ausgeklammert. Auch wollte er nicht den Eindruck erwecken, als wolle er die geradlinige und faire Wissenschaftlichkeit seines Buches durch irgendwelche Behauptungen und Thesen schmälern, — abgesehen davon, hatte er die darin enthaltenen Rezepte alle ausprobiert und herausgefunden, daß sie mehr als sinnvoll waren. Als ein weiteres Zeichen der zunehmenden Vertrautheit zwischen uns, die aus dem seinem Text entströmendem Geist erwuchs, erzählte er mir plötzlich,
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weshalb er überhaupt in Schweden war. Die Frau, die er liebte und von der er ein Kind hatte, war aus Stockholm gebürtig und hatte beschlossen, aus den Vereinigten Staaten wieder dorthin zurückzukehren. Obwohl Chang sich in Kanada als ein auf Kinderportraits spezialisierter Fotograf inzwischen einen Namen gemacht hatte, empfand er das Leben in der Neuen Welt immer inhaltsloser und hatte daher beschlossen, ihr zu folgen. Er zeigte mir einige wundervolle Aufnahmen des kleinen Mädchens — es war so hübsch wie ein Kirschbaum in Blüte. Da ich selbst Töchter habe, konnte ich seine Entscheidung gut verstehen. Wir unterhielten uns auch über Mandalas und die Skala ihrer Symbole, die in dieser Art Blaupause ebenso enthalten ist, wie in der reinen und nicht-retortenhaften Dichtung jeder klassischen Form. Moderne Dichtung und Logik erschien uns suspekt, obwohl ich ihn davon zu überzeugen versuchte, daß in offensichtlich 'negativen' Werken oder Ideen auch ein kreativer Ekel als Resultat der Nicht-Partizipation enthalten wäre, so etwa in den Stücken von lonesco oder Beckett. Oder war ihre Nicht-Partizipation, ihre Weigerung, das Spiel mitzuspielen, ihr modischer Skeptizismus ein Zeichen jener Feigheit unter den Intellektuellen, die für unsere Zeit so charakteristisch ist? In jedem Fall sah ich mit Genugtuung, das Changs kleine chinesische Damen irgendwo ernst genommen wurden, eine Seele hatten, und nicht zum Status eines reinen point-event degradiert waren. Außerdem war ich so froh, wie nur ein alter Mann es sein kann, daß ich eine Zeit erlebt hatte, in der die Frau nicht nur purer Zu-Fall, sondern das alles überragende Ereignis überhaupt war. Wenn sie den Raum betrat, sprangen
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wir Männer geschlossen auf, um ihr einen Stuhl anzubieten; dann setzten wir uns und warteten, bis sie das Wort ergriff. Und wenn sie aufbrach, stürmten wir los, um ihr die Tür zu öffnen. Und wenn diese sich dann wieder hinter ihr schloß, stießen wir im Chor einen Seufzer aus, starrten einander an und riefen hingerissen: „Donnerwetter, alle Achtung!" und zwirbelten an unseren Kinnbärten oder Schnauzern. Sie galt für uns wesentlich mehr als nur soviel wie eine machine ä plaisir im landläufig klischeehaften Urlaubspostkartensinn. Auch war sie nicht einfach eine Mama-Erde, — denn damals gab es noch Väter, die ihre Pflichten und eine genau umrissene Rolle hatten, die sie spielen mußten. Sie waren keine 'ausgebrannten Fälle' und 'kaputten Typen', wie man sie heute antrifft, Typen, die nicht in der Lage sind, den sexuellen Magnetismus zu erzeugen, der ihre soziale Rolle rechtfertigen könnte, oder für ein fruchtbares Feld zu sorgen, auf dem eine Frau die großen Kräfte ihrer Wärme, ihrer Fürsorge und jene tiefe Intuition zur Entfaltung bringen konnte, die sie zu einer so unvergleichlichen Schützerin und sicheren Führerin des Mannes macht. Wenn dieses Ziel verfehlt wird, dann müssen die Kinder dafür den Preis psychischer Mangelerscheinungen zahlen, auch diesen Bereich behandelt das Tao, denn das Paar und seine Beziehung stellte den biologischen Grundbaustein dar, auf dem die Gesellschaft aufbaut. Aber wenn dem Stein der Mörtel fehlt ... dann gerät die gesamte Sexual-Methodik des Kosmos aus den Fugen. Wenn es mit dem Paar nicht funktionierte, dann funktionierte überhaupt nichts. Während wir durch die sonnigen Weinfelder wanderten, unterhielten wir uns auch über die Bildge-
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schichte vom Ochsen und seinem Hirten und ihre Symbolik der Seele, wie sie die wahrgenommenen Reize verdichtet, das innere Kino im Kopf ausschaltet und die Herde einfängt. Persönlich zog ich jedoch die Bildwelt aus einem anderen — ich glaube arabischen — Kontext vor, wo der religiöse Instinkt mit einem im Käfig gehaltenen Vogel verglichen wird, der eines Tages in das Zimmer entkommt. Von diesem Moment an entsteht das Problem, wie er wieder in den Käfig zurückgebracht werden kann. Dem Vogel steigt natürlich seine neugefundene Freiheit zu Kopf, auch wenn er keine Ahnung davon hat, daß außerhalb des Zimmers, außerhalb des Hauses, außerhalb des Sonnensystems noch mehr leerer Raum liegt. Er hat keinen Begriff von reinem, absolutem Raum, sondern nur von einem bedingten, relativen, und dazu eine gewisse Sehnsucht nach der Sicherheit und Gewißheit des Käfigs, aus dem er entflohen war. Die meisten dieser Exkursionen in die fernen Randgebiete der Philosophie erbrachten keinen Nutzen im Zusammenhang mit dem vorliegenden Manuskript, das er lieber so einfach wie möglich halten wollte und als eine Monographie ohne didaktische oder ethische Obertöne betrachtete. Was das Tao und das chinesiche Denken insgesamt anbetraf, so war ich derjenige, der davon profitierte, wenn ich ihn in den Momenten, wo wir die Arbeit zum Essen, Schlafen, Diskutieren, Spazierengehen unterbrachen, vom eigentlichen Thema weit weg führte. Mich über diese alten, lebensformenden Leidenschaften ä la Lao Tse und Chuang Tse mit jemandem zu unterhalten, der die Originalfassung gründlich studiert und verstanden hatte, war für mich ein großer Gewinn. Ganz allgemein hatte ich ihm mei-
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ne Schuld gegenüber auch wieder abgegolten, denn dadurch, daß wir im Gespräch die gesamte Thematik — wie geschehen — wieder und wieder umkreisten, hatte ich ihm viele Bereiche unseres abendländischen Denkens beleuchten können, die von ihm beachtet werden mußten, wenn er sein Kernthema dem westlichen Leser verständlich machen wollte. Ich prüfte den Text, der in manchen Punkten recht skizzenhaft war, auf jede Art von Anfechtbarkeit, und er freute sich, als ich nichts daran auszusetzen hatte. Außerdem eilte die Zeit uns davon und er wurde in Cambridge erwartet, wo ihn ein Freund unter ziemlich spartanischen Verhältnissen beherbergen würde, die gelegentlich so weit gingen, daß er auf dem Boden schlafen mußte! Aber er kümmerte sich um seine Kleidung und seine tenue ganz allgemein so pünktlich wie eine Katze. Trotz allen Angeboten der Zugehfrau, seine Kleidungsstücke zu waschen oder sie zu bügeln, zog er es vor, sie selbst zu plätten, indem er mit einem feuchten Tuch oder einem warmen Bügeleisen darüberstrich. Wenn ich mir überlegte, wie unkompliziert er reiste, daß er in der Bahn im Sitzen schlief und so fort, verblüffte es mich dennoch, wie er es fertig brachte, sich selbst so geschniegelt rein und sauber zu halten. Natürlich bedauerte ich, daß er mich nun bald verlassen würde. Sein Buch hatte eine Art Brücke zwischen mir und meinen eigenen Jugendinteressen geschlagen, die alle um die Idee des Tao kreisten. Schnurgerade führte es mich wieder zurück zu jenem, eine Ewigkeit zurückliegenden und weit entfernten Tag am blauen Jonischen Meer, als ich mir erstaunt eingestand: „Gott im Himmel, ich bin ja ein Taoistl" Es erklärt auch das lästernde Gefühl meiner Un-Verbundenheit dem We-
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sten gegenüber, das Gefühl, ein Wilder zu sein; und dazu auch das Schuldgefühl, daß ich mich auch noch entsprechend verhielt und meinen Verpflichtungen als gläubiger Christ nicht nachkam, obwohl ich mich doch danach sehnte, sie zu erfüllen, denn ich liebte meinen Vater und meine Mutter. Und doch vollzog sich meine Erweckung, pour ainsi dire, nicht allein auf einer poetischen Ebene, — obwohl ich es mehr im anthropologischen als im konfessionellen Sinne meine, wenn ich sie als 'religiös' bezeichne. Seit in mir der Dichter erwacht war, hatte ich das Gefühl, daß ich von Stund an nichts völlig Geistloses mehr tun könnte, und daß alles einen Sinn hätte; sogar wenn ich etwas Böses tun sollte, würde es immer noch etwas Sinnvolles sein ... Bald tauchte ein anderer — ebenso unbegründeter — Gedanke aus dem Nichts auf. „Der Poet ist ein Mensch, den der Tod nicht überraschen kann, denn er hat sich durch seine Dichtung in dessen Gefilden einen imaginativen Raum geschaffen ." Aber da war ich noch ein Kind und „doch schon voll in die Milch gefallen".
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er sprunghafte Herbst zog ins Land, —die französische Wirtschaft geriet aufgrund der hohen Erdölpreise in Schwierigkeiten, was zu Gewerkschaftsunruhen führte. Die Araber hatten die Obstkarre unserer Wirtschaft umgeworfen, und zu meinen Lebzeiten würde wohl kein Weg mehr zurückführen zu Vollbeschäftigung und florierender Wirtschaft. Meinetwegen, denn was macht das schon, wen man einmal über Sechzig ist? Als ich in Paris an den quais entlangbummelte, stieß ich auf eine Gesamtausgabe von Oscar Wilde und fand darin zu meiner Überraschung eine Abhandlung über das Tao Te King aus seiner Feder; es war ziemlich paradox, daß er sie für ein Damenmodemagazin geschrieben hatte, dessen Herausgeber er einmal war. Es handelte sich, wenn ich mich recht entsinne, um eine Rezension der ersten Londoner Übersetzung von Giles. Und Wildes sympathische kleine Notiz ließ ahnen, daß er die Lehren des alten Weisen durch und durch verstanden hatte. Der Artikel mußte aus einer Zeit größerer Geldknappheit stammen, als er gezwungen war, sich mit dem Journal zu befassen, um sich über Wasser zu halten. (Darin war er nicht der einzige. Mallarme, als einer von vielen anderen großen Dichtern, sah sich auch einmal aus den gleichen Gründen gezwungen, ein Modejournal herauszugeben). Ich kehrte wieder in den Süden zurück. Es kam die Ernte, der Stierkampf, der Wein, gefolgt von der düsteren Periode der Stürme und Nebel, die einen frühen Winter ankündigten. Den Wettervorhersagen zu-
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folge sollte es ein strenger Winter werden. Als solcher stellte er sich dann auch heraus. Wieder einmal verbrachte ich ihn allein mit meinen Eulen, — doch die hatten sich nicht zu beklagen. Es mußte eine Menge Mäuse und Fledermäuse in dem alten Park mit seinen hohen Bäumen gegeben haben, die nun auf dem Trokkenen saßen. Ich versuchte, zwei Bücher gleichzeitig zu schreiben, und das war etwas, was man gerade nicht versuchen sollte. Dann kam eine Einladung von den Tibetern, an ihren Neujahrsfeierlichkeiten Anfang Februar teilzunehmen. Mit Interesse hatte ich die Entwicklung des kleinen Klosters verfolgt, das seine Existenz (die heute finanziell stark gefährdet ist) der nach dem Fall von Tibet plötzlich einsetzenden Zuzugswelle von Flüchtlingen verdankte (4). Es war mit Sicherheit das interessanteste und kraftvollste buddhistische Zentrum in Frankreich, und das alte Schloß, das dem Orden vermacht worden war, hatte eine ideale Lage (aufgrund seiner Abgeschiedenheit inmitten stark melancholisch anmutender Wälder, nicht weit von Autun) für Studien in innerer Versenkung, für Rückzugsmöglichkeiten und Einführungen, die die tibetischen Lamas einem uneingeweihten Publikum von Lernwilligen versprachen. Bis jetzt war ich nie dazu gekommen, den Ort einmal zu besuchen, — immer hatten mich Reisen aus Frankreich fortgezogen, wenn in dem Kloster die größte Aktivität herrschte. Aber die Bindung zu ihm war stark — schließlich ging der Stamm der Kagu Ling direkt — nach mündlicher Überlieferung, von Atemzug zu Atemzug, durch bouche d la bauche und durch Initiation — auf Mila Repa, den Nationaldichter Tibets zurück, dessen Gedichte und Lehren ich seit meinem sechzehnten Le-
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bensjahr kannte, und die mir sofort wieder jenes ungewöhnliche Leben in das Gedächtnis zurückriefen, das ich in Darjiling mit seinen Schreibklassen und seinen Sonntagsschulausflügen auf den (heute tigerlosen!) Tiger Hill verbracht hatte. Damals war auch mein Vater noch neugierig und abenteuerlustig, und in der Zeit, als ihm die Überwachung der kleinen Bahnstrecke Siliguri-Darjiling oblag, nahm er uns zu vielen Ausflügen zu Pferd und zu Fuß in das weite Teesta-Tal mit. Einmal kam er sogar bis nach Kalimpong, und oft waren wir in budhhistischen Klöstern zu Gast, wenn sie gerade en fete waren. Seit dieser frühen Zeit hatte ich keine weitere Berührung mehr mit tibetischen Dingen. Das kleine Flugblatt kam gerade zu einer Zeit, wo ich es dringend brauchte, — denn in meinem Privatleben herrschte Unordnung, und es nagten an mir ein Dutzend verschiedener, quälender Ungewißheiten. Trotz des ungünstigen Wetters — ganz Frankreich lag unter dem Schnee begraben und eine endlose Liste von Schneeschäden und Flutkatastrophen füllte die Nachrichten von vorn bis hinten — beschloß ich, mit meinem kleinen Campingwagen doch hinzufahren. Ich hoffte, daß bei vorsichtiger Fahrweise nichts passieren würde und ich wohlbehalten meinen Bestimmungsort erreichen könnte. Wie üblich, sah in Wirklichkeit alles wesentlich weniger dramatisch aus, als die Presse es darstellte, obwohl die autoroute tatsächlich von Wind und dichtem Regen wie mit Disteln gepeitscht wurde, unterbrochen von Phasen vorübergehender Klarsicht und akzentuiert von weißen Blackouts zähesten Nebels. Man hatte das seltsame Gefühl, als würden ganze Landschaftsstücke von unsichtbaren Bühnenarbei-
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tern bald vor, bald zurückgeschoben. In Lyon setzte dann, wie sommers und winters üblich, eine smogverdreckte Dunkelheit ein. Wie häßlich, dieses 'urbane Wachstum'! Noch schlimmer, daß dieses Schicksal nun auch das Mekka der Gastronomie von Frankreich überrollt hatte! Jedem graut es heute vor Lyon, wenn er in die große, flache Mulde taucht, in der die Stadt liegt, — und noch dazu an diesem malerischen Flußarm! Lyon ist nicht mehr die capitale einer Provinz, sondern die letzte Vorstadt aller Vorstädte. Taucht man am anderen Ende wieder auf, seufzt man erleichtert — wie ein Patient, der aus einer Narkose ererwacht. Aber ihr Geist kriecht südwärts, und sogar mein eigenes kleines Dorf schickt seine Seelen auf der Suche nach Arbeit in den Norden, — dem Smog und Qualm als Geiseln. In fünf Jahren wird selbst Sommieres nur noch ein Schlafsaal für blasse, aspirin-fressende Stadt-Arbeiter sein, die sich wundern, weshalb sie nicht schlafen können ... Nördlich hinter Lyon verfinsterte sich der Himmel, und dichte Nebelbänke zwangen mich, über lange Strecken mit Licht zu fahren. Ich hatte mir ausgerechnet, gegen fünf Uhr abends Land in Sicht zu bekommen, und stellte fest, daß ich mich, trotz dieser Zufälle, die mich zu vorsichtigem und schleichendem Vortasten nötigten, nicht sonderlich verspäten würde. Das gesamte Maconnais stand anscheinend unter Wasser, — die Überschwemmung der Seen im Landesinneren hatten das typische Landschaftsbild in dramatischer Weise verändert. Gerade noch die Wipfel der hohen Pappeln ragten aus dem Wasser, das ihnen bis zum Hals stand. Nur sie deuteten noch die Richtung der größeren Überlandstraßen an, die nun ver-
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schwunden waren. Masten waren wie Kegel umgeworfen, überall hingen Stromdrähte herab. Pompiers und Soldaten waren tatkräftig unterwegs, — dieser Ausnahmezustand hatte sie zu Seeleuten verwandelt, und sie retteten in den Fluten treibendes Vieh und hilflos auf ihren eigenen Dachfirsten gestrandete Menschen. Zum Glück führten die mächtigen Aufschüttungen der autoroute noch über diese, vom Wasser heimgesuchten Täler hin, und als ich sie verließ, befand ich mich in eieiner wesentlich höhergelegenen und trockeneren Gegend, die dafür aber unter tiefem Schnee lag. Die Hügel, die ich auf dem Weg nach Autun passieren mußte, waren nicht gerade hoch, aber doch hoch genug für Schnee. Zum Glück waren die Schneepflüge bereits unterwegs gewesen, und zu ihrer Unterstützung hatte auch noch leichtes Tauwetter eingesetzt. Die Straßen hatten Löcher, die der frühlingsbedingt tauende Schnee beim Abfließen in die Täler in die Teerdecke gesaugt hatte. Auf einmal war es bitter kalt geworden. Ich war in ein melancholisches Land gelangt, dessen gewundene Straßen durch dichte Wälder voll unverbranntem Laub und verwitterndem Lehm schnürten. Tief versteckt gelegentlich ein Gehöft, weit und breit kein Verkehr, die Tankstellen weit voneinander entfernt. In weiser Voraussicht tankte ich voll und senkte den Reifendruck meines kleinen Kampfgefährts. Wenn sie nicht voll beladen ist, neigt die Karre dazu, bereits beim geringsten Anlaß abzuheben, — besonders dann, wenn auf den Autobahnen steifer Wind bläst. Nun kam Autun mit seiner altertümlich feierlichen Architektur und seiner blassen Einwohnerschaft, die sich gegen den schneidenden Wind, der aus der Richtung von Dijon auf sie herabfegte, tief in Mäntel
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vermummt hatte. Autun ist ein einigermaßen bedeutender Marktflecken, und auch in seiner kalten Art recht hübsch. Der Akzent ist etwas hart und steinig — er riecht bereits nach Dauphine und Grenoble. Die Leute sind frisch und flink, Besuchern gegenüber ungerührt, vielleicht, weil sie davon träumen, eines Tages ihren Laden dicht zu machen und nach Süden zu ziehen, wo die Sonne scheint. Ich hatte die alte Stadt hinter mich gebracht und kam nun in Talsenken, die, wie auf einem grünen Billardtisch, eine Art Mulde bildeten und durch eine Hügelkette von dem Hauptteil Frankreichs getrennt waren. Auf dem Grund einer solchen Mulde lag das abgelegene Chäteau de Plaige, inmitten seines alten Baumbestandes. Ich kundschaftete ein wenig die Gegend aus. Auch hier gab es Bäche und Flüsse, die über die Ufer getreten waren, abgeschnittene Straßen, umgestürzte Bäume und zerrissene Stromleitungen, — meine Straße aber war problemlos passierbar, obwohl sich allmählich durch schwindendes Licht die Nacht ankündigte und ziemlich dichter Schnee fiel. Doch er paßte gut ins Bild, der Schnee; hätte ich die Atmosphäre meiner Kindheit durch irgendein anderes Element wiederentdekken sollen, so würde mir etwas gefehlt haben. Nachdem ich mich ein wenig in weißen Gefilden herumgetrieben und den einsamen Sterblichen, dem ich in all dieser Weiße begegnete, nach dem Weg gefragt hatte und schließlich die hohen Gebetsmasten des Schloßes, mit ihren vor Nässe schlaff herunterhängenden Fahnen erblickte, da erkannte ich nämlich in einem freudigen Geistesblitz, daß der Ort, den die Mönche als Schenkung erhalten hatten, selbst ein Stück des alten Nepal, des alten Bhutan war. Es war genau jene Art
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Landhaus-Schloß, in dem auch heute noch ein BergRadscha wohnen könnte. Wir hatten einige von ihnen kennengelernt, die in genau solchen Schlössern in der Gegend von Kuyseong und auf den Hügeln um Darjiling residierten. Und trotz dieses Anklanges orientalischer Stilechtheit ließ das alte Gemäuer durch seine ausgedehnten Stallungen, Scheunen und greniers deutlich sehen, daß es in Wirklichkeit ein überdimensionaler Bauernhof im typischen Stil des normannischen Nordens war. Auf einem höllischen Privatweg, den der, für die Gegend typische Bauernhofdreck in Schlamm verwandelt hatte, arbeitete ich mich auf das Schloß zu. Nachdem ich den mit der Buchung betrauten Mönch aufgestöbert hatte, trug ich mich im Gästebuch ein und machte mich für die Dauer des Wochenendes als Besucher bekannt. In dem gutgeheizten Schloß war es zwar gemütlich und gebrach auch nicht an Annehmlichkeiten, aber ich zog es doch vor, in meinem kleinen Auto zu nächtigen. Ich war es so gewohnt und schätzte das Gefühl der Unabhängigkeit, das es mir in der Nacht vermittelte. Daher erlaubte man mir, innerhalb der Mauern der großen Scheune zu parken. Das war ein strategisch idealer Ort, nämlich genau vor der Küche und dem Refektorium. Ich fühlte mich fast wieder in die Schule zurückversetzt; zu Dutzenden kamen mit allen möglichen Transportmitteln immer neue Leute an, und nur wenige schienen sich bereits zu kennen. Es war wirklich fast wie am ersten Schultag in einer 'public school'. Die Leute streunten umher, jagten durch ihre Unterkünfte, untersuchten die Örtlichkeiten oder sie entdeckten Freunde, die sie zuletzt in Indien oder Katmandu gesehen hatten. Der Ort war
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herrlich warm und hatte einen herrlichen Schreinraum. Die Hinweistafeln in der Eingangshalle waren bunt übersät mit Ankündigungen der einzelnen Programme und noch eindringlicheren, wenn auch weltlicheren Weisungen, mit schmutzigen Straßenschuhen die oberen Stockwerke nicht zu betreten. Es herrschte eine Atmosphäre friedlicher Erregung, jener besonderen Freude, die aufzukommen pflegt, wenn Wesen von der Dharma-Zunft einander begegnen. Es gab auch ein paar Leute, die noch nicht die Ketten des Tabaks gesprengt hatten, und die versteckten sich hinter den verschneiten Bäumen des Parks um noch rasch einen letzten Zug an einer Gauloise bleue zu tun. Ich war dem Yoga unendlich dankbar, daß es mich, — früher war ich ein starker Raucher — von dieser grausamen Sucht nun schon seit etwa acht Jahren ohne Rückfall befreit hatte. Das Abendessen verlief in freundlicher Lebhaftigkeit, und ich konnte verschiedene Bekanntschaften machen, etwa die eines ziemlich grimmig dreinschauenden Herrn mit einer langen Nase, der aussah, als wäre er ein ganz besonders radikaler Skeptiker. Tatsächlich redete er kein Wort, doch allein die Art, wie er die Wandzettel musterte und in die Runde der mit ihm Speisenden blickte, ließ darauf schließen, daß er sich in Gedanken sagte: 'Das ist doch alles kalter Kaffee!'. Selbstverständlich war das Essen gut; die Franzosen unter den Lamas mußten es zubereitet haben, denn manche der Gänge — darunter eine Maronen-Creme — waren geradezu vorzüglich. Nach meiner langen Fahrt war ich müde und daher froh, daß ich mich für die Privatsphäre meines Wagens entschieden hatte, wo ich mir mein Bett ausrollen, zum Vergnügen eine Kerze anzünden und noch ein
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paar Zeilen John Donne oder Mila Repa lesen konnte, bevor ich dann in einen entspannenden Schlaf verfiel, obwohl ich noch vage wahrnahm, daß um mich herum im Dunkel ständige Bewegung herrschte, denn die Schlafräume in den Scheunen füllten sich langsam mit Schlafsacknovizen, die erst nach Einbruch der Nacht angekommen waren. Der Schnee dämpfte und verschluckte jedes scharfe Geräusch. Aber der Frost war doch ziemlich schneidend, und als ich gegen drei Uhr erwachte und ins Freie kroch, um mich in den Schnee zu erleichtern, da erstrahlte der Himmel von Sternen — Einstichpunkten eisigen Lichts —, und ein beißend prasselnder Wind wirbelte aus dem Norden herab und brachte weiteren Schnee. Unzusammenhängende, unstrukturierte Erinnerungen und Eindrükke aus der Vergangenheit erfüllten meinen Kopf. Ich erfreute mich daran, daß es schneite, denn in meinen Erinnerungen schneite es ständig, und die weißen Fänge des Himalaya-Gebirges jenseits des Tales behielten das ganze Jahr über den blauen Glasglast des Eises. Plaige war wie eine kleine und doch naturgetreue Miniaturausgabe dieser grandiosen Landschaften aus meiner frühesten Jugend, — es war sozusagen die Bühnenfassung einer epischen Szenerie. Am Abend war kurz vor dem Essen angenehmes Trommeln und Schellen zu vernehmen, und ich erfuhr, daß die hier lebenden Lamas, — die höheren Würdenträger, die die bedeutenden Zeremonien leiteten, waren noch nicht eingetroffen —, abends ein wenig für das Morgenritual zu üben pflegten. Es war ein unvergleichlicher Klang, dieses Gemisch aus Tuten und Wummen von Mäusen und Elefanten. Unzählige, längst vergessene Eindrücke aus der Vergangenheit
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rief es in mir wach, — denn es war das gewohnte musikalische Schema, wie man ihm in Nepal, Bhutan und allen Punkten nördlich davon begegnete. Ihm allein gelingt es, die Klänge eines Konzerts von Alban Berg mit dem Plärren eines kastrierten Kobolds in Harmonie zu setzen. Aber die Klänge waren nicht von Dauer, — sie verebbten, als der Mahlzeit-Gong erdröhnte. Offensichtlich hatten die ständig hier residierenden Lamas das Privileg, im dritten Stockwerk untergebracht zu sein. Ihre Musik und ihre Betgesänge sollten uns unausweichlich in jenes galoppierende Kontinuum — die natürliche Kraft des Kosmos, nämlich das Tao — einbeziehen! Fast alle waren vor Anbrach der Dämmerung bereits auf den Beinen; ich sah, daß in der Küche bereits das Licht brannte, und vernahm das Bullern der Gasherde, auf denen kräftiger Tee für die Besucher gkocht wurde. Das war mir höchst willkommen, denn es war bitter kalt draußen, und der schwere Rauhreif hatte sich auf meiner Windschutzscheibe zu einer Frostschicht ausgewachsen, die ich nun abkratzen durfte. Ich versuchte, mit heißen Wasser nachzuhelfen, doch es fror genauso schnell fest, wie es die Scheibe befreit hatte. Das Eröffnungsritual fand ebenfalls schon früh statt, und die Rechtschaffenen waren bereits zur Stelle, alle noch zerknittert, gelb und gähnend nach einem eisigen Schlaf in den Seitengebäuden. Ich wollte das Morgenritual auf keinen Fall versäumen, — ich wußte ja, daß es reich an erinnerungsweckenden Tönen und Formen sein würde. Unerklärbar und überraschend vernahm ich die Stimme von F., der sagte: „Unsere Kosmologie hat nach deren Begriffen ein Skandha zu wenig." Im Treppenhaus
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herrschte der Geruch von Weihrauch, morastigen Gummistiefeln und Milch. Das Haus war bereits schön warm, der Thronsaal noch fast leer. Es ist angenehm, etwas vor der Zeit anzukommen und sich durch eine stille Atem- und Konzentrationsübung auf das Kommende vorzubereiten. (Daran ist nichts speziell tibetisches: das gilt auch für religiöse Rituale an sakralen Orten wie Kathedralen oder anderen christlichen Heiligtümern, die dieser Art psychischer Aktivität geweiht sind. Es bedarf schließlich einer gewissen Anstrengung, wenn man bis in das Herz einer Sache vordringen will!). Allmählich füllte sich die kleine Kapelle, die Türen wurden geöffnet, die Versammelten nahmen ihre Plätze auf dem Boden ein, viele im Lotossitz. Und dann betrat die heitere Gruppe der Lamas den Raum, auf ihren rechteckigen, verschmitzten Gesichtern schwebte ein Lächeln, ihre zähen, rechteckigen, kleinen Körper tänzelten vorwärts mit unwiderstehlichem Schwung, — eben mit jener Energie der Bergvölker, die keine Probleme mit Wind und Wetter haben und sich einer zähen, bäuerlichen Gesundheit erfreuen. Der Hohe Lama strahlte vor lauter Frohsinn und Licht, und er ging seiner Routine mit Kompetenz und entspannter Gelassenheit nach. Der jüngste Lama war noch ein Kind, das etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Das erinnerte mich in gewisser Weise an einen griechisch-orthodoxen Gottesdienst, wo es passieren konnte, daß man auf ein paar würdige, wenn auch wie Piraten aussehende alte Priester traf, denen von einem zerfahrenen Meßdiener und einem verkommen aussehenden Knaben assistiert wurde, der von Zeit zu Zeit eine Triangel schlug und dabei mit idiotischem Grin-
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sen und Erstaunen um sich blickt. Hier war es jedoch nicht ganz so, denn dieser kleine Tibeter hatte Trommeln zu bedienen, die einem Jazz-Drummer das Herz hätten im Leibe springen lassen. Der Oberlama brachte den Göttinnen und Göttern der verschiedenen Schreine die einleitenden Huldigungen dar. Dann schritt er um den Altar, wenn man ihn so nennen kann, und neigte sich in einem krächzenden, kaum hörbaren Gebet zu den Gottheiten, was in einer so tiefen, rauhen Stimmlage geschah, daß man sich an einen Baumfrosch zur Balzzeit erinnert fühlte. Es lag auch etwas Drohendes über dieser ernsthaften Handlung, — er erinnerte nämlich stark an eine Bulldogge, die überprüfte, ob auch alles in Ordnung war. Man konnte seine gewissenhafte Konzentration und Wachheit förmlich fühlen. Dann ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen, nahm Platz, und das Ritual begann. Es läßt sich kaum beschreiben, wie viel Freude und Stärkung mir dieses kleine, ganz gewöhnliche Ritual brachte. Die Bongotrommeln und trunkenen Pfeifen brachten mir alles wieder zu Bewußtsein. Es erinnerte an die stürzenden Hufe von Packeseln, wenn sie auf einem der schmalen Saumpfade strauchelten, um dann in die darunter gähnenden Schluchten zu stürzen. Im Nu traten die felsigen Landschaften wieder vor mein inneres Auge. Alles drehte sich immer um die Höhe. Die Abgründe waren buchstäblich unermeßlich, denn sowohl über als auch unter diesen Bergpfaden wallten Schichten dikken Nebels. Oft warf jemand einen Kiesel hinab und blickte ihm dann wartend nach, ob er jemals den Boden erreichen würde. Die wasserarmen Berge von Nepal mit ihrer so sauerstoffreichen Luft und den ewig
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schneebedeckten Formen, in deren Schutz versteckte Klöster lagen, — all das konnte ich durch diese wilde und klirrende Musik wieder sehen. Das Schlagen von Hufen auf Gestein! Auf diesen schwindelerregenden Pfaden gingen natürlich häufig Mulis über Bord — sie sind eben derart tölpelhafte, störrische Kreaturen. Es gab nicht genügend Raum, um auszuweichen, daher wurde häufig berichtet, wie sie unter einem Hagel von Steinen diese Steilhänge hinabstürzten. So viele Einzelheiten waren mir entfallen! Ich hatte vergessen, wie dreckig man am ganzen Körper mangels Wasser werden konnte, wenn man in einer 'Lamaserei' in dreieinhalbtausend Meter Höhe lebte. Diese sanft verführerischen, nebelumwobenen Klöster, die auf Fotos so malerisch wirken, waren häufig gottverdammte, öde Winkel, die zu nichts anderem taugten als zu Kontemplation und Entdeckung des Selbst durch Verlagerung der geistigen Achse und durch die Kunst des richtigen Atmens. Da rastete in der muffigen intellektuellen Dachstube des Alltagsgeistes an einem bestimmten Punkt ein Schlüssel ein, oder eine Fensterscheibe wurde zertrümmert, und die frische Luft strömte ein um den Geist des Meditierenden mit Sauerstoff zu versorgen. Wasser war dort so kostbar wie auf den wasserarmen Inseln der Ägäis, und was die Winterstürme übrig gelassen hatten, wurde für den Tee aufgespart. Krankheiten sind dort oben in jenen widerstandsfähigen Welten vielleicht deshalb eine vergleichsweise seltene Erscheinung, weil der Lama, so anstrengend sein spiritueller Weg auch ist, ein Leben führt, das fest in einer Auffassung vom Leben ohne Spannung, ohne Streß wurzelt, — und die Hauptursache der Disharmonie, die nach taoistischem Denken zur
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Krankheit führt, ist ja gerade der Streß. All das kam mir wieder ins Gedächtnis zurück, während das Ritual unter Singen und Trommeln seinen Lauf nahm; ab und zu klang eine Passage plötzlich so, als käme sie aus Indien, ja sogar aus dem Westen. Anmutig schwerelose Melodien, die an indische Bauernlieder oder gar an schottische Balladen erinnerten; sie schwebten nur einen Augenblick lang im Raum und fielen dann wieder zurück in die dominierende Ungeschliffenheit des Zweiton-Schemas der Melodie, die von den jaulenden Stößen der Sackpfeifen vorangetrieben wurde, — würde man eine Gans oder ein drei Monate altes Baby langsam erwürgen, so entstände ein Geräusch, das wie dieses höllische Jaulen klingt. Dann fielen klirr-bongbumm die Triangeln und die große Pauke ein, und die Mönche begannen ihre Niederwerfungen. Manche unter ihnen waren junge Franzosen, und man konnte nur hoffen, daß es nicht nur eine romantische Modetorheit war, was sie Tibetisch lernen und zu Buddhisten werden ließ, oder ein verzweifelter Rückzug von der geistigen Selbstsucht von Paris mit seinen widerlichen Mystagogen, die pausenlos die klarsten Dinge der Welt verkomplizieren, indem sie ihnen verrückte Namen geben ... Von der Hysterie zum Bernard-Henri Le'vi, vom Leid zum Freud und zurück. Wenn das der wahre Beweggrund war, dann entschuldigte das natürlich alles. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich, wenn ich dazu verurteilt wäre, mich als französischer Intellektueller unserer Tage zu gebärden, sicher sofort auf das nächstbeste Maultier schwingen und mich nach Lhasa absetzen würde. Langsam, wie bei einer elektrischen Eisenbahn, nahm die Fahrt des Rituals ab und kam auf einer sanft ge-
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neigten Fläche herabgleitend, im Pulsschlag der Bongotrommel zum Stehen, während jeder sich entspannte und seinem Nachbarn oder seiner Nachbarin gratulierend ins Gesicht lächelte, — als wäre das Ganze ein großer Erfolg und das Ergebnis der ausnahmslosen Kooperation uns allen zuzuschreiben gewesen, was vielleicht auch wirklich zutraf. Jetzt war Frühstückszeit und jeder vollkommen wach und bei guter Laune. Man sah die Leute nun mit wirklich klaren Augen, sah ihre Naturen und die Rollen, die sie mit ihrer Teilnahme an dem tibetischen Neujahrsfest spielten. Es gab auch ein oder zwei besonders gutaussehende alte Damen, und manche hübschen Mädchen aus Paris. Auch einige sechzehnjährige Schickimickis waren dabei, deren Kommentare stets mit vachement chouette* begannen und endeten, und die durch das Ritual in eine Art Erregung versetzt wurden, wie es sonst etwa bei einer großartigen Aufführung einer Schauspielgruppe geschehen könnte. Besonders angetan hatte es ihnen der Teil des Rituals, wo der Priester in eine Art Marionettentanz der Arme und Beine verfiel. Dann war da noch ein Australier, der sich offensichtlich vom Drehen der Gebetsmühle beim Essen eine besondere Wirkung versprach, — denn er machte dabei ein Gesicht wie ein leicht schwachsinniger Schankkellner. „Heute können sie bereits elektrische Gebetsmühlen kaufen", sagte ich ihm, „die werden mit einer Taschenlampenbatterie betrieben". Da bickte er mich mit unverstelltem Ekel an. Ich konnte fast hören, wie er zu sich sagte: 'Automatisierter Buddhismus! Und
* etwa: total super, saumäßig Spitze, der totale Hit etc. (Pariser SzeneJargon).
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was kommt dann?' Später begegnete ich ihm wieder in der Bibliothek, tief versunken in die Lektüre der Übersetzung des Mahamudra, wobei er immer noch geistesabwesend sein Rad des Gebetsopfers drehte. Möge ein tibetischer Dämon kommen und mit ihm wegfliegen! Es herrschte eisiger Frost und das milchige Licht hatte nichts, was Sonne versprach. Außerdem warteten Unannehmlichkeiten auf mich — und zwar Schwierigkeiten mit dem Motor. Als ich in meinem kleinen Auto Ordnung machte, das Eis abkratzte und die Heizung überprüfte, entdeckte ich, daß sich ein lebenswichtiges Teil losgearbeitet hatte und ausgetauscht werden mußte, damit sich das Gewinde nicht überdrehte. Ließ ich den Wagen hier aber in Grund und Boden frieren, dann hätte ich leicht bis zum Frühling warten müssen, bis ich ihn wieder in Gang bekäme! Und das alte Schloß lag meilenweit entfernt von Autun, dem nächsten Ort, wo ich mit soviel technischer Versiertheit rechnen konnte, daß man imstande wäre, mir das fehlende Ersatzteil zu beschaffen. Dann dachte ich, ich könnte mich abends auf der Straße nach Autun zurücktasten und hoffen, die Panne unterwegs irgendwo zu beheben. Ich gab mir noch einen Tag, um Kontakte zu knüpfen und den Fall zu untersuchen, und ich füllte ihn auch voll damit aus. Die Bibliothek war gut und stark besucht. Es gab eine Reihe guter Vorträge und fast ununterbrochen Unterricht in Tibetisch mit Lehrern, an deren Tüchtigkeit nicht zu zweifeln war. Das Ganze war ohne Mühe und gut organisiert, und es war klar, daß hinter dem Unternehmen irgendein Meisterhirn steckte. Gegen Ende des Nachmittags hielt ich es dann doch für klüger, die Hel-
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ligkeit zu nutzen und in aller Vorsicht nach Autun zurückzufahren. Dies tat ich denn auch, jedoch mit dem Ergebnis, daß ich angesichts des nahenden Wochenendes überall vor verschlossenen Türen stand und daß die einzig seriöse Werkstätte im Ort keine Ersatzteile hatte. Die hätten erst von Paris aus geschickt werden müssen, was die ganze Nacht über gedauert hätte; außerdem war noch der Eisenbahnstreik zu befürchten ... So verlief mein tibetisches Neujahr. Eine zugige Nacht in einem kalten Hotel in Autun trug auch nicht gerade dazu bei, meinen Ärger zu besänftigen. Andererseits hatte ich doch das Gefühl, daß ich gesehen hatte, was ich sehen wollte, — nämlich den Betrieb in der Abtei und das allgemeine Niveau der in ihr vorherrschenden Lehre. Die Sache war seriös. Tibet lebte hier sozusagen weiter. Ich fragte mich, ob ich, anstatt wie eigentlich geplant, wieder nach Kagu-Ling zurück, nicht weit weg nach Süden fahren sollte; die Wetterberichte waren so hoffnungslos düster, daß meine Überlegung entschuldbar war. Schnee, Eis, Überschwemmung ... Das Ersatzteil kam erst spät am Montag an, und das Auto war erst am Dienstag morgens fertig, — die tibetischen Würdenträger dürften sich inzwischen bereits wie Schwäne in die Lüfte erhoben haben und zurück nach Indien fliegen, wo die Gründungsseminare stattfanden. Ja, ich würde doch lieber heimwärts schleichen. Die autoroute wurde gepeitscht von Wind und Regen, und der Verkehr auf ihr — viele schwere Laster, wenig Privatwagen — schleuderte Fontänen von Gischt empor, als wären es schwere Motorboote in stampfender See. Eine ordentliche Dusche von ihren Hinterreifen, — und schon mußte man abbremsen und
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die Scheibenwischer auf Schnellstufe schalten. Und der Wind schaukelte mich wie ein Pendel von einer Seite zur anderen. Das war wirklich eine anstrengende und unangenehme Fahrerei, und so fühlte ich mich halbtot vor Erschöpfung. Ich spielte schon mit dem Gedanken, von der Autobahn runter und durch ein Seitental zu fahren, aber dann hatte ich auch wieder keine Lust, in einem Überschwemmungsgebiet zu landen; also wartete ich, bis ich schließlich die Anzeige für die Ausfahrt nach Orange erblickte. In diesem Teil des Landes kannte ich mich gut aus, und er wird nur ganz selten überflutet. So stellte es sich auch heraus, und ich fand, daß ich es mir leisten konnte, meinen müden Gliedern in Avignon eine Nacht lang Ruhe zu gönnen, bevor ich dann durch die garrigues nach Hause fahren würde. Ich wußte, daß die Rhone gefährlich angeschwollen, aber bisher noch nicht über ihre Ufer getreten war, und als ich sie überquerte, hatte sie trotz des peitschenden Windes und Regens (ganz zu schweigen von den unsichtbaren Bergschneemassen, die in ihre Quellen und Zuflüsse hineinschmolzen) immer noch nicht ihre Inseln verschluckt, und die neue Brücke führte sicher und unbehelligt in die Stadt. Aber die ganze Stadt war durchweicht wie eine nasse Matratze, gespenstisch und winterlich verschlossen. Ich weiß nicht, weshalb ich mich plötzlich an die Vaucluse-Quelle erinnerte, — oder doch, ich weiß schon. Ich sah eine Reklame für irgendeinen Haushaltsartikel mit dem Namen Vega — und meine Gedanken wanderten zu einem Mächen, das ich unter diesem sternigen Namen gekannt hatte. Der Stern auf der Reklame erinnerte mich an das intensiv leuchtende Blau — fast saphir-blau — ihrer Augen. Vega, der
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Polarstern der Antike, war immer mein liebster Fixstern gewesen. Wie oft hatte ich in der Ägäis auf dem Deck einer Caique oder eines Dampfers gelegen und ihn betrachtet, diesen herrlichen, nichtflimmendern, reglosen, alles überblickenden, edelsteingleichen Stern. Das Mädchen hatte etwas davon in ihrem gradlinigen Blick, — das makellose Strahlen der Augen einer Katze, einer Perserkatze etwa. Wenn sie sich für irgendetwas oder irgendjemand interessierte, dann saß sie so still da, daß sie nicht einmal zu atmen schien, sie hätte tot sein können und dir dabei immer noch mit diesen 'blauen Lichtern des Himmels' starr ins Auge blikken können, — schwelgen wir ein wenig in der Erinnerung an sie mit einem Concetto aus dem siebzehnten Jahrhundert in Darleys Manier. Hier in Avignon dachte ich an diesem verregneten Nachmittag plötzlich an sie und fragte mich, ob ich diese Nacht nicht in dem kleinen Hotel absteigen sollte, das wir einmal an den Wassern von Petrarcas Vaucluse entdeckt hatten. Auch sie war eine Taoistin gewesen mit dem dazugehörigen Blick steinerweichender Schalkhaftigkeit nach Changs Rezept. In Genf hatte ich zum ersten Mal mit diesem beunruhigenden Blick Bekanntschaft gemacht. Eine kleine Clique von Psychiatern — alles Jungianer — hatte angefragt, ob sie sich mit mir treffen und mir ein paar Fragen stellen könnte. Ich vermute, sie waren lediglich scharf darauf, mich zu begutachten und festzustellen, ob ich ganz richtig im Kopf wäre. Es war ja nicht das erste Mal, daß so etwas vorkam. Sie waren Freunde von anderen Freunden, ich sagte also zu, und wir trafen uns in der recht gemütlichen brasserie, die Bovard hieß, ein kleines Restaurant, das als 'classe" hätte gelten können und
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heute abgerissen und zu einer Bank geworden ist. Wie dem auch sei, darin saß, tief im Hintergrund, Vega und starrte mich an — blickte geradewegs durch mich hindurch, als könnte sie bis auf den letzten Sou das Kleingeld in meiner Tasche zählen. Die Unterhaltung war lebhaft und von Niveau. Ich fand heraus, daß sie die Frau oder Geliebte eines der anwesenden Doktoren war, obwohl ich nicht feststellen konnte, von welchem. Irgendwann nahm der Abend dann ein Ende und wir gingen nach Hause. Vierzehn Tage später lief ich ihr in Bounyon wieder über den Weg, als ich versuchte, einen Käse der Marke Vacherin aufzutreiben. Ich hatte sie tatsächlich bereits vergessen, und so mußte sie erst durch verschiedene Anspielungen auf diesen amüsanten, aber nicht weiter erinnerungswürdigen Abend mein Gedächtnis wachrütteln. Wir gingen zusammen einen Kaffee trinken, und erst hier, in einem lauschigen Cafe, begann ich, mit Vega nähere Bekanntschaft zu machen. Langer Rede kurzer Sinn: unter tausend Nebensächlichkeiten sagte sie mir, sie wäre eine richtig altmodische Leserin. Jedes Jahr nähme sie sich einen bestimmten Autor vor und läse ihn von A bis Z. Sie fügte hinzu, daß dieses Jahr Nietzsche der Glückliche wäre und daß sie sich schon zur Hälfte durch ihn durchgearbeitet hätte. Weshalb hatte diese Bemerkung sofort einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht? Weil ich selbst mehr oder weniger der gleichen Sache nachging, — sozusagen ihr Echo war. Ich hatte über Lou Andree Salome alle möglichen Informationen gesammelt und gesichtet, denn ich hatte die vage Absicht, einen Essay über diese bemerkenswerte und begabte Magierin zu schreiben, die als junges Mädchen Nietzsche verhext, dann von Rilke
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ein Kind hatte und schließlich in fortgeschrittenem Alter Freuds zutiefst geschätzte Schülerin und Freundin wurde. Ein Jammer, daß es keines ihrer zahlreichen Bücher, auch nicht ihre höchst bedeutsamen Essays über Nietzsche und Rilke, auf Englisch gab! In Wirklichkeit war mein Vorhaben, das war mir klar, aufgrund meiner fehlenden Deutschkenntnisse aussichtslos. Trotzdem gab dieses ungewöhnliche Charakter-Fresko der beiden meinem Denken Nahrung; ich hatte vor, die Geschichte ihrer beider Leben bis zum Lago d'Orta zu verfolgen, den ich damals auch besuchen wollte. Hier nämlich hatte der dreißig Jahre alte Philsoph der Achtzehnjährigen seinen Antrag gemacht, und hier hatte er das gesamte Szenarium des Zarathustra entworfen! Wenn man einmal die Notizbücher gelesen hat, worin sie ihre Frage und Antwort-Spiele und Rätsel über philosophische Fragen spielte, dann erscheint es durchaus im Bereich des Möglichen, daß einzelne Passagen des großartigen klassischen Werkes aus ihrer Feder stammten. So weit hergeholt er auch sein mochte, — dieser Gedanke verfolgte mich. Und mit diesen Ziel im Kopf erhielt ich den Auftrag einer amerikanischen Zeitung, eine Vignette über die borromeischen Inseln zu schreiben, die ganz in der Nähe des Lago Maggiore, dem größeren der Seen, lagen. „Zu komisch!" sagte ich. „Wieso komisch?" gab sie als Echo zurück. Ich erzählte, daß ich mich mit der gleichen Sache befaßte, und fügte hinzu: „Nächsten Sonntag werde ich eine Woche nach Orta fahren. Ich möchte den kleinen See sehen, wo sie in ihrer Jugend so glücklich waren. Ich habe den Verdacht, daß sie einiges zum Zarathustra beigetragen hat, — was ich aber nie nachkontrollieren
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kann, da ich kein Deutsch verstehe." „Orta?" Sie sah mich in der Tat mehr als seltsam an; dann mußte sie lachen. „Sehen Sie", meinte sie, „gerade komme ich vom Bahnhof." Sie fischte eine Zugreservierung aus ihrer Tasche und legte sie vor mich auf den Tisch. Ich sah, daß es eine Rückfahrkarte nach Stresa war, was sozusagen der Kopfbahnhof vor dem Orta-See war. Und als Datum stand auch noch das kommende Wochenende drauf! Das war ein unglaublicher Zufall, und wir mußten beide lachen. „Ich will den kleinen heiligen Hügel mit den vielen Kapellen besuchen und herausfinden, welches diejenige war, in der er ihr den Antrag machte, um dann — zu Recht — einen Korb zu bekommen; er war nicht reif für eine Ehe mit einer Frau, und auch sie hätte eine ziemlich miserable Ehegattin abgegeben, da sie ständig auf Achse war, ständig verschwand." „Den Monte Sacro?" „Ja. Ich war noch nie dort." „Ich auch nicht." Ich holte einen Reiseprospekt mit verschiedenen Abbildungen des Sees hervor, und sie förderte den gleichen zutage. „Aber Ihr Ticket ist eine Einzelfahrkarte, — sind Sie allein?" „Ja." „Dann könne wir uns ja treffen? Sollen wir?" „Natürlich. Ich nehme die Bücher mit, die ich habe." „Ja, ich auch." Es war eine jener seltsamen Begegnungen, die im Leben allzu selten sind und ihm ein Echo verleihen. Als wir uns verabschiedeten, gaben wir uns ziemlich
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schüchtern die Hand; ihr blauer Blick legte in mir die Erinnerung an ein halbvergessenes Gedicht frei, das 'vernal twinkling of butterflies' von Coleridge erwähnte — vergeblich versuchte ich das Zitat zu lokalisieren; wer das Gedicht geschrieben hatte, fiel mir auch nicht mehr ein. Das Einzige, was ich von diesem blonden Mädchen im Gedächtnis behalten hatte, war der blaue Blick eines Fixsterns, der von der Himmelshöhe auf den reglosen glatten See herab leuchtete. In meiner geistesabwesenden Art hatte ich sogar vergessen, mir für den Fall, daß sich eine Änderung des Plans ergeben sollte, ihren Namen und ihre Telefonnummer aufzuschreiben. Vielleicht war es besser so. Es gab ihr so etwas wie Anonymität. Während der Nacht fuhr ich zurück in die Provence, um meine Siebensachen zusammenzusuchen und Vorbereitungen für Italien zu treffen. Ich hatte nicht vor, mich abzuhetzen, und mit meinem kleinen Campingwagen konnte ich die Strecke bis Novarra bequem an einem Tag schaffen; ich dachte mir aus, ich könnte um den Maggiore ein wenig herumtrödeln und dann noch leicht vor dem Samstag im Hotel 'The Dragon' in Orta sein. Dann würde ich ihren Zug in Stresa treffen, — obwohl sie davon noch nichts wußte!
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o kam es dann. An einem Spätnachmittag durchfuhr ich die weite Ebene von Novarra; beiderseits der Straße war das ganze Getreide in Brand geraten, und ein einziges Flammenmeer schien sich rechts und links von mir bis zum Horizont zu erstrecken. Ein dramatisches Bild der Zerstörung! Aber die Hitze war so stark, daß ich mich nicht lange aufhielt, sondern durchraste, denn ich hatte Angst vor einem explodierenden Benzintank oder ähnlich unangenehmen Überraschungen. Schon nach wenigen Kilometern tauchten vor mir Almwiesen und Ausläufer der Alpen auf, und plötzlich stand es dann vor mir, — ein sanftgrünes Hinweisschild, das mich zu dem kleinen, nierenförmigen See wies, auf dessen Fährte ich war: Nietzsches Orta. („Unser Orta" hatte er in einem Liebesbrief an Lou geschrieben.) Die Zufahren wurden schmäler, kurvenreicher und zusehends dicht bewaldet — Nachtigallen sangen überall, ganz so wie in der Provence. Dann kam der See in Sicht, wie präsentiert auf der Innenfläche der Hand eines unsichtbaren Verschwörers, und auf seiner Mitte die heilige Insel mit ihrem Kloster und den hohen Bäumen, — das Ganze so spielzeughaft, so ruhig, so klein und anheimelnd in der Proportion. Der Farbton des grünen Sees war irischgrün. Balzac beschrieb Orta einmal mit einem Simile, das mir — weil insgesamt zu plump — suspekt vorkam, als „eine Perle in einer grünen Juwelenschatulle " ... Ganz im Gegenteil. Mitnichten. Er war beeindruckt von der ungewöhnlich schillernden Art des Lichts und
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den glasklaren Farbveränderungen auf den Bergen, die die Insel einwiegend umrahmten. Dieses diesig-dunstige Gefühl gibt und nimmt gleichzeitig allem die Schärfe und verleiht der gesamten Wasserfläche eine Nuance des Unwirklichen, des Flimmernden. Außerdem erscheint alles doppelt, denn wenn das Wasser unbewegt ist, dann wiederholen sich die Berge darin und man weiß nicht mehr, wo oben und unten ist; manchmal hat man das Gefühl, auf den Wolken zu gehen. Nein, Balzacs Bild ist völlig zutreffend und kann nicht übertroffen werden! Ich rollte diese schattigen Hänge hinab und gelangte schließlich auf den kleinen Platz mit seinen beiden Gasthäusern, seinen hübschen Arkaden und kleinen Cafes. 'The Dragon' war eine nicht weniger hübsche kleine auberge mit Zimmern, die auf den See hinausblickten. Vega würde im 'Castello' gegenüber logieren, — keine zwanzig Meter entfernt. Wir würden uns von unserem jeweiligen Balkon aus über das Wasser hiweg zuwinken können! Am liebsten hätte ich ihr Blumen in ihr Zimmer schicken lassen, aber blöde wie ich war, wußte ich ja ihren Namen nicht. Ich ging aber dann doch hinüber und sah mir das Gästebuch an — ein reichlich unklares Dokument, das von einem FastAnalphabeten mit Bleistift geführt wurde — und hoffte, den Namen zu entdecken, denn sie hatte ja gesagt, daß sie hier gebucht hatte. Ich nahm an, daß sie durch Heirat Deutsche war, obwohl ich wußte, daß sie gebürtige Französin war. Welcher Name war es also? Für den nächsten Abend wurde nur eine einzige Person erwartet und die hieß Chantal de Le'gume. Mir sank das Herz in die Kniekehlen. Allein der Gedanke, daß sie Chantal de Le'gume heißen könnte, ließ mich
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vor Schreck in Schweiß ausbrechen. Das würde alles zerstören, — so ein Name kompromittierte einfach alles! Das hat mit Vernunft nichts zu tun, ich weiß, aber ich hoffte inständig, daß sie nicht Chantal de Legume hieß. (Sie heißt natürlich auch nicht Chantal de Legume!) Ich verzichtete auf die Blumen und nahm ein Boot, um noch vor der Abendessenszeit eine Stunde lang über das stille Wasser zu gleiten, und dachte müßig über den längst-entschwundenen Philosophen nach, dessen Name in Orta heute wohl niemand mehr kennen dürfte, — außer vielleicht der eure (und auch dann nur als einen Anti-Christ). Der Alte, der mich ruderte, war ruhig und höflich, aber nicht gesprächig. Sein Vater könnte das richtige Alter gehabt haben, um Nietzsche und Lou auf den Wassern von Orta auszurudern, sie auf die Insel San Giulio überzusetzen; — oder vielleicht sein Großvater? Doch nein, Lou lebte ja noch bis in die Anfänge der Nazizeit in Deutschland. Ich könnte ihr tatsächlich begegnet sein. Das Wasser war so warm, daß ich wußte, es würde mich reizen, später darin ein paar nächtlich-stille Schwimmzüge zu tun. Ich hatte mein eigenes kleines Zodiac-Dinghi mit seinem Außenbordmotor dabei, aber der Lago d'Orta ist ein zu kleiner See, so daß man ihn mit einem Outborder verpesten würde. Er ist geschaffen für den ruhigen Zug der Riemen, das ruhige Knarren von Holz, das auch nach der Überflutung während des Winters noch nicht vollends aufgeweicht ist. Die kleinen Segel und buntfarbigen Zierleisten des Bootes waren ziemlich klamm und staubig. Der Sommer war hier noch nicht eingekehrt. Als ich so in den Planen des Bootes lag, erhob sich hoch über mir der Monte Sacro, ich konnte
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den Heiligen Franziskus sehen, der an einem hölzernen Balkon hing und mir zuwinkte. Ich winkte zurück, doch ich wollte ihn mir aufheben, bis Vega kam. Die zwanzig kleinen Kapellen — jede so groß wie ein Schweizer Chalet —beherbergen zwanzig tableaux mit Szenen aus dem Leben des Hl. Franziskus, dargestellt in lebensgroßen Statuen aus gutta percha, jede stilecht und jeweils anders bekleidet und bemalt, alle in herrlicher Ausführung. Vega war sicher, daß Nietzsche auch als Mann bei einer dieser Andachtsstätten Hilfe gesucht hatte, alserLou seinen Antrag machte! (Für einen großartigen Mann war er außergewöhnlich schüchtern!) Die Frage war nur, bei welcher. Um das herauszufinden, war sie gekommen. Mir jedoch stand der Sinn nach anderem, — denn ich hatte bei meiner Nietzsche-Lektüre entdeckt, was hier in Orta wirklich in ihm umging, nämlich die Reifung seiner kritischen Werke, in denen er im Namen von Heraklit und den alten Griechen dem Christentum den Krieg erklärte. Seine Zielscheibe war kein Geringerer als der christliche Gott, Gott der Herr und Vater. Die Nacht sank herein, die Nebelschwaden zogen sich zusammen und sickerten mit langen Tentakeln gespenstisch durch die moosige Vegetation; der See begann förmlich zu kriechen, denn diesen Eindruck erzeugten die wandernden Nebel und Wasser, die ständig die Bilder von Himmel und Gebirge auslöschten und korrigierten. Der sternübersäte Himmel flammte furios im Wasser, das unterbrochen wurde durch Türme und Kuppeln und langsame Planetenschleppen, die die Boote (nun erleuchtet wie Glühwürmchen) ritzten, während sie über den See krochen. Nie habe ich, in einem engen Balkon zwischen Himmel,
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Berg und Wasser hängend, ein solches Gefühl des Friedens erlebt, das Gefühl, als wäre ich selbst zu einer Rauchfahne geworden, die auf das Kommando einer Strömung von Wind und Wasser gemach dahintreibt. Der Himmel drehte sich langsam durch sein Gewölbe, als würde er durch ein Bühnendiorama daraufprojiziert. Die Zeit füllte das Herz wie ein Stundenglas. Ich aß früh zu abend und zog mich zurück, obwohl ich noch eine geraume Weile vor dem Einschlafen dem Verwandlungsschauspiel, das das polierte Wasser bot, vor dem Balkonfenster zusah. Ich fragte mich, ob Vega wohl finden würde, was sie suchte — die Kapelle, in der der ängstliche aber brillante (obwohl bei all seinen Migränen neurotische!) Professor all seinen Mut zusammennahm, um den Antrag zu stellen, nicht auf Ehe ... sondern auf Konkubinat mit der schlanken und grazilen Slawin, deren Brillanz er so sehr bewunderte. Und dann das tragische Rätsel, das sein Kollabieren in die Manie aufgab; sicher wird Lou im Alter das logische Grundmuster dieses Phänomens durch die Lupe von Freuds Theorie erkannt haben, — und die ist ja nach wie vor unerschüttert. Der alte, weise Freud schätzte sie als eine seiner brillantesten Schülerinnen. In einem Brief redete er sie einmal als „Meine unzähmbare Freundin" an. Auch er war kein Zarathustra, obgleich er sich seine inquisitorische Gesundheit bis zuletzt bewahrte. In Nietzsches Fall handelte es sich um einen Krieg bis aufs Blut gegen drei Väter, — oder eher gegen Gott, den Vater (den der Christen), gegen Gott, den Sohn (seinen eigenen Vater und alles, was ihn in der Ideenwelt repräsentierte), — denn nie hatte er vergessen können, wie seine Mutter ihn anfauchte: „Du bist eine Schande auf dei-
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nes Vaters Grab"; diese Worte hatten sich tief in sein Gefühlszentrum eingefressen, — und schließlich gegen Gott, den Heiligen Geist: es war natürlich Wagner, den er ebenfalls verleugnen und vernichten mußte. War es nicht der Schock durch dieses schreckliche Ringen, was ihm den Verstand raubte? Gelegentlich redete er im Wahn von Cosima Wagner: „Meine gnädige Frau Cosima schickt mich her ..." Natürlich muß in der Turbulenz seines gebrochenen Geistes die Frau des Heiligen Geistes eine höchst begehrbare Muse im ödipalen Kontext gewesen sein! Und da obsiegte natürlich die Mutter, seine eigene leiblich-irdische Mutter; triumphierend nahm sie all dies menschliche Wrackwerk in ihre Arme, während die Schwester ihn in aller Ruhe betrog, indem sie den Wortlaut seines Werkes durch antijüdische Interpolationen verfälschte. Welch Schicksal, welch ein Ort, was für ein Mensch! ... In Gedanken an die kleinen Kapellen auf dem bewaldeten Hügel über mir schlief ich ein. Der nächste Tag war klar, aber gegen Abend kam wieder ein dikker Nebel auf, und diesmal endgültig: man konnte die eigene Hand nicht vor den Augen sehen. Das Herz sank mir in die Kniekehlen. Stresa lag nur fünfzehn Autominuten weit entfernt, — ich kannte den Weg auswendig. Aber ich hatte noch nie einen so dichten Nebel gesehen. Der Hoteleigentümer meinte trocken, daß er sich bis zum Morgen nicht auflösen würde; ich hätte keine Chance, aus der Waschküche, auf deren Grund Orta lag, herauszukommen, also wäre es besser für mich, wenn ich mir die Absicht, zur Bahnstation zu fahren, aus dem Kopf schlüge und hier bliebe. Am Abendtisch schloß ich die Augen und rief mir jeden Zentimeter der Straße um den See noch einmal
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ins Gedächtnis; jetzt war ich sie ja mehrere Male gefahren. Es grenzte an Schwachsinn, das war mir klar, aber ich dachte, ich wollte zumindest versuchen, es in Blindfahrt bis zur Hauptstraße zu schaffen. Alle folgten mir mit mitleidvollen Blicken. Sie sagten, daß ich schon nach hundert Metern das Auto verlassen und zu Fuß zum Hotel zurückkehren müßte. Trotzdem brach ich auf. Es war die Hölle, ich konnte nicht einmal meine eigenen Scheinwerfer sehen; ich fuhr rein nach dem Gedächtnis, wie in einem Traum. Ich ließ mich von einem Pflastersteinstreifen am Straßenrand leiten, von den Vibrationen, die er an meinen Reifen verursachte. Aber die Götter erhörten meine Gebete. Plötzlich, als würde ein Schleier fortgerissen, war der ganze Nebel aufgelöst und enthüllte einen strahlend reinen Himmel mit glühenden Sternen und der Vega hoch über mir, die mir ihren — diesmal fast türkisfarbenen — Fixsternblick sandte. Ich jubelte vor Freude und gab Gas, so daß ich in Stresa noch mit einer Stunde Vorsprung ankam, die ich mir glücklich und lesend in einem menschenleeren Büffet vertrieb. Wie gespenstisch ihre Ankunft war! Ein leichter und völlig überraschender Schneesturm aus leichten Flokken hatte eingesetzt. Der Schnee schmolz, sobald er den Boden berührte. Ausweiter Ferne irgendwo in der Dunkelheit konnte ich den Zug hören, das Knirschen der Räder und sein apologetisches Nebelhorn. Irgendwo in der Station gab eine Glocke ihr Echo ab und begann antwortend zu schlagen. Dann, in der tieferen Dunkelheit des Hinterlandes, sah ich auf der leicht violetten Leinwand der Nacht wie als Antwort plötzlich eine Linie gelber Lichter auftauchen und sich langsam über den Horizont schieben. Leise klingelnd
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senkte sich die ganze Perlenschnur langsam und gewunden bis auf die Höhe der Ebene herab. Nun drehte die kleine Stationsglocke durch. Sie hämmerte und schellte, als hätte sie hohes Fieber. Ich wartete auf dem unbeleuchteten Bahnsteig, während der sacht fallende Schnee — kaum ein sprayartiger Puderstaub — mir um den Hals spielte. Der Zug fuhr mit Getöse ein, ein letzter Schwung, ein Ruck, und er kam in der Bahnstation zu stehen; offensichtlich war er leer. Nicht einmal ein Schaffner war an Bord. In meiner Enttäuschung war ich bereits nahe daran, umzukehren und mich wieder nach Orta auf den Weg zu machen, als ganz hinten am Ende sich eine Abteiltür öffnete, ein Spalt Licht auf den schneebedeckten Bahnsteig fiel und Vega ausstieg. Da stand sie, lächelnd, mit Schnee auf ihren Pelzen, auf ihrem Blondkopf, ein wenig zögernd und stirnrunzelnd, aber doch mit dem entschlossenen blauen Blick der Freude. Enfin! Ich rannte auf sie zu, griff nach ihrer Tasche und führte sie zum Wagen zurück. Sie hatte nicht erwartet, daß sie abgeholt würde, und war daher erfreut und ein wenig verwirrt zugleich. Die Erinnerung an diese wenigen Tage — der glatte, nächtliche See, die polierten Berge und frühlingshaften Hügel, wo Tag und Nacht die Nachtigallen sangen — ist zu einem Kontinuum geronnen, wo alle Einzelheiten zu einem überwältigenden Eindruck von göttlicher Geneigtheit und Freundschaft verschmolzen waren. Die kleinen Kapellen, die wir erforschten, waren so außergewöhnlich und verschiedenartig, die Hügel so grün, der Wein so gut, unsere Hauswirte so sanftmütig und gastfreundlich. Da war nichts, was die Seligkeit dieses intellektuellen Abenteuers getrübt hätte
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— nicht ein falscher Ton, nicht ein falsches Gefühl, das jene Ruhe, jenen Frieden gestört oder geschmälert hätte, jenes Sein wie von Bruder und Schwester, die sich am See des Zarathustra trafen. Wir erkannten einander durch Nietzsche und Lou, teilten wie sie eine Verbundenheit, die so glühend wie keusch war. Als die Stunde der Trennung kam, fragte sie mit leicht boshaftem Unterton: „Soll ich alle meine Briefe mit Chantal de Legume unterzeichnen, damit du mich identifizieren kannst?" Aber innerlich hatte ich ihr bereits den Namen meines schützenden Sterns gegeben, denn ihre Augen hatten die gleiche reine Farbe. Vega sollte es sein! All das kam mir jetzt plötzlich wieder in den Sinn, als ich durch die grünen Felder und aufgeweichten Wiesen von Montfavet und Isle-surSorgue steuerte. Mit Freude und Zurückhaltung sammelte ich diese alten Erinnerungen, mir fielen auch wieder die langen Momente gemeinsamen Schweigens ein, unser nächtliches Schwimmen im See ... Einmal unternahm sie einen langen Spaziergang allein. Unsere Dokumente lagen in ihrem Zimmer über den ganzen Boden verstreut. Ich hatte Fotokopien der donnernden Handschrift von Nietzsches Brief an Strindberg , den wahn-sinnigen Äußerungen über seine Göttlichkeit, mitgenommen. Nachts, spät nachts schwebte der Rauch der Kerzen, die längst verloschen waren, noch über unseren Argumenten und erfüllte den Raum mit seiner hohen, von Nymphen und Voluten aus Gips verzierten Decke. Beim Schlafen ruhte ihr Kopf in ihrem Arm, und ich beobachtete ihren so zufriedenen, so tiefen Schlaf. Die Kapelle, nach der sie suchte, hatte sie gefunden, — doch wer würde je in der Lage sein, ihre Behauptung zu beweisen, daß hier die Num-
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mer 14 der Ort war, wo Nietzsche Lous Hand in die seine genommen und sie gefragt hatte, ob sie mit ihm leben wolle? Vermutlich werden wir die Wahrheit nie erfahren, denn sie hatte es nicht für nötig empfunden, es uns zu sagen. Aber sie war eine feurige Slawin und er letztlich ein schüchterner deutscher Professor, den sein Gesundheitszustand zu frühzeitigem Rückzug in den Ruhestand verurteilte. Und es gebrach ihm an Humor. Was er für sich selbst suchte — er hatte klar erkannt, daß Heraklit und die alten Griechen den Schlüssel in der Hand hatten zu dem, was er so besessen suchte — war einfach der Blick, der ausgeglichene Blick des Tao, der in seinen Tiefen die Würze von Humor, Durchtriebenheit und Ironie birgt. „Kein Mensch hat mehr Vertrauen in die Kunst", sagte Vega traurig. Es kam also die Stunde des Abschieds, und so machte ich mich langsam auf die Heimfahrt durch die schlanke Taille Italiens, unterwegs kampierte ich noch eine Nacht lang, um die Seligkeit und Unkompliziertheit dieses einzigartigen Ereignisses voll auf mich wirken zu lassen. Doch es sollte nicht das letzte sein; jedesmal, wenn ich ein mit Vega unterzeichnetes Telegramm erhielt, kam mit ihm der Vorschlag zu einem Wiedersehen irgendwo in Europa, das mit ihrer stetigen Suche nach der Essenz von Nietzsches Denken in Zusammenhang stand. Allmählich wurde es mir zur Gewohnheit, auf diese Art in Europa hin und herzufahren, kreuz und quer über die Landkarte zu gleiten mit dem genußvollen Gefühl, daß ich sie, wenn auch nur für einige wenige Stunden oder Tage, wiedersehen würde. In der Zwischenzeit tauschten wir über unsere beiden Themen — Wagner und Cosima — Bücher, Do-
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kumente und Fotos aus. Und sie machte mich vertraut mit der wundervoll einfühlsamen Trilogie musikalischer Studien von Guy de Pourtales. Ich wundere mich wirklich, weshalb es sein Werk Nietzsche en Italie immer noch nicht als Taschenbuch gibt. Eine Schande ist das! Und so gelangten wir schließlich an das Ende unserer Suche, und, um uns Lebewohl zu sagen, trafen wir uns hier an der Fontaine de Vaucluse. Die Jahre vergingen. Weiterhin begegneten wir uns in jener ungewöhnlichen, ungebrochenen Intimität an weit entfernten Orten wie Salzburg, Sils Maria, Eze. Aber Orta hatte uns beide geprägt, und es wird noch geraume Zeit dauern, bis wir Nietzsche aus unser beider geistigem Leben entfernen würden. Vega besuchte Rußland, dann Griechenland, und obwohl ich selbst nicht dabei war, um ihr das Land zu zeigen, war Freund Nietzsche mit ihr, und der erwies ihr diese Ehre. Dieser Besuch öffnete einen weiteren magischen Schrein der Vorsokratiker, besonders über die Welt von Heraklit und Empedokles, über den er ein Buch geplant hatte. Aber ach! Nur die Notizen, die er sich dazu machte, sind uns geblieben, mit einem typischen Donnerblitz des Denkens hie und da, der uns andeutet, welchen Verlauf es genommen haben könnte. Über Empedokles sagt er: „Er suchte die Kunst und fand nur Wissenschaft. Wissenschaft schafft Fäustel" Meine Interpretation von Zarathustras Ringen sowie den Jammer seines Scheiterns bei dem Versuch, das Wesen des Heraklit zu fassen, hatte sie nun voll verstanden und stimmte ihr zu. Er sah es, streckte seine Hand aus, um es zu fassen, aber ... was blieb, war seine Kunst. Doch Kunst bleibt etwas Zweitbestes, wie großartig sie auch sein mag, und jetzt, wo es zu spät
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war, hatte er es begriffen! Zusammen mit ihm stürzt sich eine ganze Epoche kopfüber in den bodenlosen Abgrund des Materiellen und ist verloren. In Orta gelang es Nietzsche trotz Lous freundlicher und sanfter Ablehnung, seine Demütigung zu schlucken und damit fortzufahren, ihr die Kontur seines künftigen Werkes zu umreißen — inklusive der Theorie von der 'Ewigen Wiederkunft des Gleichen', von der er behauptete, er hätte sie auf einer altgriechischen Grundlage entwickelt. Was er jedoch suchte, war viel eher eine Art ewige Simultanität, — die kontinuierliche, ewige und simultane Präsenz aller Dinge, sei es in sterblicher, materieller oder geistiger Art, gehüllt in eine Verpackung, die alle Zeit enthält, und das Ganze präsent in jedem Gedanken, in jedem Atemzug, — ein strahlendes Jetzt. Zu unserem Ausflug in das Land Petrarcas kam es eher zufällig, obwohl Vega immerhin ein Mädchen aus Avignon war. Sie hatte Verwandte und Bekannte in der Stadt, die sie besuchen wollte, bevor sie eine längere Reise antrat, die sie für mehrere Jahr weit von Frankreich entfernen sollte. Glücklicherweise wohnte ich so nahe davon, daß ich die Gelegenheit des Abstechers nach Vaucluse nutzen konnte, und wir verbrachten einige Zeit damit, gemeinsam durch die kleineren Dörfer, die ansprechenderen Winkel der Provence zu reisen. Ich persönlich hätte mich nie in ein solches Touristenzentrum wie die Quelle der Vaucluse gewagt, doch sie bestand darauf, und wie sich herausstellte, war es dann doch eine herrliche Fahrt. Es war mitten im Winter. Nicht einer Menschenseele begegneten wir, — nicht einmal Lauras Geist entstieg dem Schaum. War es Vegas Lokalpatriotismus, was sie zu
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einem solchen plaidoyer für Petrarca bewegte? Ich hatte eher dazu tendiert, in ihm eine der Heulsusen der Liebes-Lyrik zu sehen. Aber ihr ist es zu danken, wenn ich nun durch die Trugbilder der Liebesromanze hindurchblicken konnte und ihn als den großen Humanisten von tiefer Verantwortung erkannte, der sich dessen voll bewußt war, daß er eine ganze Kultur bis hinab zu den Wurzeln erschütterte und tiefere Saiten zum Klingen brachte als jeder Dichter vor ihm. In großer Ausführlichkeit entwarf sie mir sein Portrait — als Höfling, als Diplomat, als verzweifelter Liebhaber der Frau eines anderen. Dann all die jäh unternommenen Abstecher in die benachbarten Länder, stets gefolgt von einem Rückzug in jene sonnenlose Schlucht, wo er am Rauschen der Wasser seine feinen Verse schmieden konnte. Das große Gedicht auf Afrika, und den Essay über die Einsamkeit, seine Passion für den Heiligen Augustinus ... Ich hatte keine Ahnung davon, daß er ein Künstler von solchem Gewicht war, — und dieses Wissen verdanke ich Vega. Ferner gab sie den Anstoß dazu, daß ich die Texte seiner kleinen, autobiographischen Dialoge mit dem Titel SecretumMeum und die bewegenden und poetischen Standortbestimmungen in De Vita Solitaria durchstöberte, worin er sich mit der heraldischen Zurückgezogenheit des Künstlers befaßt. Letzteres Dokument erhielt ich einige Monate später per Post als Weihnachtsgeschenk. Es war wundervoll in scharlachrotem Kalbsleder gebunden, — ein passender Rahmen für die Confessio eines großen Dichters. All das war nun Vergangenheit, doch meine Erinnerungen an diese Episoden waren noch wach, und die Tageszeit, die ich für meinen Abstieg zu der heiligen
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Quelle wählte, paßte zu dem Thema meiner Gedanken. Noch dazu schneite es, und zwar ziemlich stark. Eis knirschte unter meinen Reifen. Die Einwohner schmiegten und kauerten sich so eng zusammen, daß nur Daunen des Rauches über den Schornsteinen verrieten, daß hier Menschen wohnten. Ich konnte das Rauschen der fernen Quelle hören, deren Wasser aus der Felsstirn in das große runde Bassin stürzte, wo es mörderisch brodelte und schäumte, als wäre es siedend heiß. Bis auf einen gelegentlichen Lichtschein lag die Stadt im Dunkel; ein Lichtpunkt schien von dem kleinen Hotel her, in dem wir einst übernachtet hatten. Ich parkte den Wagen oben im verschneiten Park, und die Nase tief in den Schal gewickelt rannte ich an dem reißenden Fluß entlang hinunter bis zu dem Platz und der gläsernen Tür, an der ich ein oder zwei Mal ziemlich energisch klopfte, damit man mich bei den tobenden Wassern auch hörte. Die Dame des Etablissements, die irgendwo in der Tiefe des Hauses beschäftigt war, kam kurzsichtig mit einer Kerze in der Hand auf mich zugeschlurft. Wer mochte das wohl sein zu dieser Zeit, in einer solchen Nacht? Erst erkannte sie mich überhaupt nicht, aber als gutgläubige Seele kam sie doch auf mich zu und redete durch die Glastür mit mir. Es dauerte nicht lange, ihr ins Gedächtnis zurückzurufen, wer ich war, und sie ließ mich in die Bar, wo ich einen heißen Willkommensgrog schlürfte, während sie bei mir saß und mir Gesellschaft leistete. Das Hotel war noch nicht für die Touristensaison geöffnet, aber sie war das Wochenende über hergekommen, um Heizung und Wasserleitung zu testen; hier war es auch tatsächlich geheizt und rundum gemütlich. Sie bot mir an, mich die Nacht über zu be-
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herbergen, aber ich zog es vor, hoch oben an der Quelle in meinem Campingwagen zu schlafen; gegen ein Sandwich hatte ich allerdings nichts einzuwenden. „Ein Sandwich?!" rief sie entrüstet. „In meinem Hotel werden Sie dinieren, wie es sich gehört!" Es dauerte nicht lange, bis das Diner bereitet war; sie servierte mir eine Forelle mit Mandeln — Forellen gedeihen hier ä domicile —, danach folgte ein gutes Stück Käse mit einer Flasche Cote de Ventoux. Und während ich speiste, gesellte sie sich auf ein Schwätzchen in ihrer freundlichen und weitschweifigen Art zu mir. Wo denn die blonde Dame wäre, wollte sie wissen. In Afrika war sie. „Nach Ihrem Besuch kam sie noch einmal allein hierher zurück." Das wußte ich, denn Vega hatte mir von hier geschrieben, auch war es die gleiche Jahreszeit, denn sie beschrieb den heftigen Schneefall und wie die Flocken im reißenden Wasser fortgewischt wurden, — und dann noch etwas ganz Ungewöhnliches, was ich gerade selbst entdeckt hatte, nämlich daß die schweren Forellen nach den Schneeflocken sprangen und nach ihnen schnappten, als wäre es Köderfutter! „Ein seltsamer Ort zur Pflege einer unverheilten Liebesaffäre." So hatte sie es einmal gesagt und bezog sich dabei auf Petrarca. Nach dem Abendessen pflügte ich mich, soweit die Asphaltdecke reichte, in die Schlucht hinab und bog dann die Nase dem Fels zuwendend ab, um mich aufs Ohr zu legen. Das intensive weiße Leuchten des Schnees warf so viel Licht, daß man den Eindruck hatte, es herrsche noch dämmerndes Zwielicht. Das Grollen des Wassers war ohrenbetäubend; ich fühlte mich wie im Maschinenraum eines großen Schiffes, so als würde ich zwischen den stampfenden, schwitzenden Turbinen schlafen,
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während sie den Schläfer in voller Fahrt durch die See pflügten. Welch gewaltiges Edelsteinschleifrad, an dem da die ersten elegischen Gedichte einer ganzen Epoche geschliffen wurden! Das ganze Bewußtsein wurde nahezu verschluckt in diesem ununterbrochenem Trommeln, — das wie auf einem schweren Trommelfell aus Kalbsleder dröhnte. Der Schnee fiel in großen Flocken, Girlanden und Perlschnüren, und das Wasser wirbelte und schliff an den schwarzen Felsen, während es dahinschoß in Richtung Meer. An dieser Stelle ist der Fluß zu reißend für Fische, aber ein wenig weiter unten ist er dagegen schwarz und reich an Forellen. Ich richtete mein Bett her und heizte ein. Bevor ich einschlief, schaltete ich die Standheizung vorsorglich wieder aus. Wunderbar heilend war das Dröhnen des Flusses, der dichte Geräuschkokon umsponn jeden Nerv einzeln. Gespräche aus der Vergangenheit kamen mir wieder in den Sinn, träge und ohne Hast, als würden sie auf die Finsternis projiziert, und rangen mit der Sehnsucht nach Schlaf. „Und Laura, war sie wirklich?" „Spielt das eine Rolle?" ,Ja und nein." „Falls sie eine Erfindung war, so war sie doch nicht weniger wirklich als irgendeiner seiner Leser, — wie du und ich." „Und falls sie wirklich war, dann war sie auch nur der Geist eines Echos einer Stimmung. Im Buch stirbt sie, erinnerst du dich?" „Afrika! Hier in dieser dröhnenden Nautilus des Lärms saß er, träumte von Afrika und las den Heiligen Augustinus."
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„Es gab also viele Kandidaten für die Rolle der Laura." „Welche Namen! Welche Schönheiten!" „Laura di Audiberto [die Gemahlin von Hugo de Sade], Laura di Sabran, Laura di Chiabu, Laura Colonna ..." „Eine Star-Parade." „Alles Frauen mit Sternenschicksal." „Eher die 'Happy Few'." Oder sind Menschen lediglich Aufzeichnungen von irgendeiner schrecklichen Stimme aus einem Anderswo? In meinem Halbschlaf wurde ich an eine Geschichte von Queba Libanensis erinnert, worin es einem berühmten Dichter gelingt, seine Heldin so effektvoll darzustellen, daß das Publikum glaubt, sie habe ihr Vorbild in einer bestimmten Frau, die es wirklich gibt. Duftessenzen werden nach ihr benannt, Straßen, neugeborene Kinder. Aber der Autor selbst wurde nie in Begleitung einer Frau in der Öffentlichkeit gesehen. Immer allein. In Journalistenmanier wittert eine Verlegerin dahinter eine Story und läßt ihre Zeitung eine Umfrage ankündigen: die Leser sollen entscheiden, ob es sich bei der berühmten Heldin um ein wirklich existierendes oder nur eingebildetes Original handelt. Mit überwältigender Mehrheit votierten sie zugunsten einer imaginierten Heldin. Der Autor ist außer sich vor Angst und Traurigkeit. „Dann ist sie nicht wirklich genug und wird also niemals erscheinen." Unter diesen Gedanken kehrt er verzweifelt zu sich nach Hause und nimmt sich das Leben, da er nun der Wahrheit auf die Spur gekommen war. Von seiner letzten Geschichte ist nichts überliefert, außer dem rätselhaften
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Titel, den sie erhalten sollte: Der Tod hat blaue Augen. An seinem eigenen Echo reibend und schleifend trommelte das Wasser weiter gegen die Dunkelheit, gegen die leicht gepolsterten Wände, die die Windungen einer wunderlichen Meeres-Muschel bildeten. Den Faden, den ich in meinen Fingern hielt, hatte ich erstmals — als Fingerzeig, als Wink — von der mächtigen Gorgo aus Stein auf Korfu aufgegriffen, — ihrer Karikatur fröhlicher Verrücktheit, Ekstase, Überdrehtheit, oder wie immer man es bezeichnen mag. Die Hinweise führten stetig weiter, und von ihnen ausgehend hatte ich all diese, miteinander zusammenhängenden und zusammenpassenden Erfahrungen zum Faden eines dichterischen und praktischen Lebens gesponnen. Wohin würde er mich als nächstes führen? Ich wußte es nicht und es war mir auch egal. Irgendwo aus Afrika würde Vega einen Brief an mich schreiben, worin sie mir wahrscheinlich wegen einer gewissen unrömischen Schwäche Vorhaltungen machen würde, denn sie war eine Frau, die auch ihre Freunde nicht schonte. In einem Brief hatte ich ihr gestanden: „Allmählich komme ich mir vor wie ein uralter Pinguin, dem bereits die Federn ausgehen und den man auf einer kleinen und rasch dahinschmelzenden Eisscholle — um die europäische Kultur einmal so zu nennen — vergessen hat. Gott im Himmel, schicke uns die Bombe, rufe ich gelegentlich! Dann aber denke ich an Vega und eine Handbewegung genügt, und die Phase ist vorüber! Noch nicht jetzt, wo doch Vega noch lebt!" In ihrem letzen Brief, — den ich vor so vielen Monaten erhielt —, sandte sie den französischen Text eines chinesischen Gedichtes mit dem Titel
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'Frau', das ich auf folgende Art für einen Freund übersetzte. Sie erwähnte nicht, woher sie es hatte, und ich habe jede in Frage kommende Stelle durchgeforstet und auch meine Freunde in Paris gebeten, zu suchen. Ich bitte hiermit um Verzeihung, wenn ich irgendwo ein Copyright verletzt habe. FRAU Wie traurig ist es doch, eine Frau zu sein! Nichts auf Erden gilt als so wenig wert; Wenn Knaben am Fensterbrett lehnen ... Wie Götter, herabgepurzelt aus dem Himmel. Ihre Herzen umfassen die vier Meere, Den Staub und den Wind von tausend, tausend Meilen. Doch niemand ist froh, wenn ein Mädchen geboren wird — Es bringt der Familie nichts ein. Wenn sie heranwächst, sperrt sie sich in ihrem Zimmer ein Aus Furcht, sie müsse einem Mann in die Augen sehen. Niemand weint, wenn sie ihr Haus verläßt, nur sie allein. So plötzlich, wie Wolken, wenn der Regen unterbricht, Senkt sie ihren Kopf, nimmt ihr Gesicht zusammen, ihre Zähne Sind fest auf ihre roten Lippen gepreßt, sie bückt sich und kniet Oh! unzählige Male. Im Staube muß sie kriechen Selbst vor Dienern. Seine Liebe ist wie ein Stern so fern,
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Und doch wendet die Sonnenblume sich stets der Sonne zu. Ihr Herz ist mehr entzweit als Wasser und Feuer, Hundert Leiden sind ihr aufgebürdet; ihr Antlitz Wird dem Wandel der Jahre folgen, wird ihr Alter tragen. Ihr Herr wird neue Schätze finden. Sie, die einst wie Substanz und Schatten waren, Sind nun so weit entfernt wie Hu von Ch'ing [zwei Orte] Oder wie Ts'an von Ch'en [zwei Sterne]. China, 3. Jhdt.
Wie eigenartig, daß diese beiden, offensichtlich nicht miteinander zusammenhängenden Begebenheiten, in meinem Kopf durch eine lockere Kette von Echos zusammengehalten wurden durch eine Neigung, die auf die Zeit, als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, zurückgeht, zurück auf die (damals) weitab gelegene Insel Korfu, wo ich mich niedergelassen hatte in der Absicht, mich als Dichter zu versuchen, — oder zumindest irgendwie als Schriftsteller. Wenn ich heute zurückdachte an jene prähistorische Zeit, schien es mir einleuchtend, daß die Haupthemmung gegen die Idee, Changs Buch eine Würdigung im landläufigen Sinn zu widmen (wie ich es versprochen hatte), durch Echos hervorgerufen wurde, die es in meinem Gedächtnis ausgelöst hatte. Ich konnte einfach keinen gelassen kritischen Geist auf diesen Text ansetzen. Dieses Gefühl der Unentschlossenheit wurde noch dadurch ver-
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stärkt, daß ich auch versuchte, ein paar autobiographische Skizzen für einen amerikanischen Freund zusammenzutragen, der eifrig an der, wie er es nannte, 'inneren Autobiographie' meines dichterischen Werkes arbeitete. Während ich seine Briefe beantwortete, dämmerte es in mir, daß die zentrale Beschäftigung des damals noch nicht flüggen jungen Poeten von Korfu stets in der ein oder anderen Weise mit Kindheitsträumen von Tibet verbunden war, die sich schließlich um das Tao herum konkretisierten — um die großartige Dichtung von Lao Tse. Im Black Book, etwa 1936 entstanden, stoße ich auf ein tibetisches Motto. Der Roman wurde 1938, also ein Jahr vor Kriegsausbruch, veröffentlicht; meine Gedichte waren auch schon zu einem Bündel gesammelt, um sie jenem amor fati aus Lhasa zu zeigen, der tantrischen Dakini zu präsentieren, die mich geleitet und inspiriert hatte. Es handelte sich um ein Motto fürs Leben und es half mir, bei aller Verzweiflung der Jahre des Krieges mit seinem brutalen Mord an Zeit, Talent und Wahrheit einen kühlen Kopf zu bewahren. Als der Krieg ausbrach, war ich gerade siebenundzwanzig Jahre alt geworden. Unter meinen Papieren fand ich lange nach seinem Ende einen vergessenen Artikel mit dem Titel 'Tao und seine Kommentare', den ich einmal als Beitrag für den Aryan Path verfaßt hatte. Der alte Aryan Path, der in Bombay, Mahatma Gandhi Road Nr. 51, gedruckt wurde, war sogar damals noch die seriöseste Theosophie-Zeitschrift der Zeit, und mein amateurhafter Artikel wurde als eine Art kleines Vorwort zur Dezember-Ausgabe von 1939 veröffentlicht, um die Zeit, als mein Inselleben endete und ich mich
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auf mein Schicksal, auf die Achse wartend, in Athen herumtrieb. Der alten Zeit zuliebe und auch als Beweis meiner ständigen Bindung an das in der Dichtung ausgedrückte Prinzip der Nicht-Bindung sei er hier noch einmal abgedruckt! Es war nicht die schlechteste Art, einen Weltkrieg zu grüßen. Man achte dabei auf den Gebrauch des Adjektivs 'heraldisch', das den Kritikern oft zu Fragen Anlaß gab, die ich dann wiederum zu beantworten hatte. Gemeint ist einfach das 'Mandala' des Dichters oder des Gedichts. Es ist das alchemistische Siegel oder die alchemistische Signatur des Individuums; das, was nach Abzug des Ego übrig bleibt. Es ist die reine Nicht-Entität der Entität, deren Ideogramm das Gedicht ist! So ausgedrückt klingt das eher rätselhaft, obwohl es sich in Wirklichkeit ganz einfach auf das kreuzkritische Lächeln reduzieren läßt, das ich mit Chang in der Küche über den Spülstein hinweg austauschte und das keines weiteren Kommentars bedarf. Wenn die Sprache mit einer Wirklichkeit dieser Art konfrontiert wird, reagiert sie mit Verzweiflung, die sich dann aber rasch in Humor und gegenüber von ernsten oder tierisch ernsten Fragern in Slapstick verwandelt. Eine andere Art, das Problem zu beleuchten, wäre es, einmal das sächsische Wort 'ullage' in einem englischen Wörterbuch nachzuschlagen: Seine Definition — 'what a cask wants of being füll'* — kann unseren Verstand bis zum Überschnappen trainieren, besonders dann, wenn sich in unserem
* Etwa: 'Was einem Faß (oder anderem Behälter) bis zum Vollsein fehlt'. (Mittelengl: 'ulage'; a ltfr z.: eullage', aus alfrz. 'ouil' = Auge). Anm. d. Obers.
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cask (Faß) Wein befindet! Das ist eine besondere Art des Koan, oder kann als solches benützt werden! Der Krieg war eine Zeit zögernder Bestandsaufnahme für uns alle, und mein kurzer Artikel mit all seiner ernsten Förmlichkeit und jugendbedingt mangelnder Erfahrung — ganz zu schweigen von seinen Ungenauigkeiten — war ein bescheidener Versuch, ihm durch eine affirmative Geste zu begegnen. Heute mag es vielleicht anöden, ihn zu lesen, für den betreffenden jungen Mann jedoch war er ein ganz entscheidenes Dokument. DAS TAO UND SEINE KOMMENTARE (Lawrence Durrell stellt in dem folgenden Artikel eine Methode zur Diskussion, mit deren Hilfe das wahre Tao unterschieden werden kann von dem, was nicht das wahre Tao ist. Er versteht das Tao im höchsten Maß als Philosophie, aber noch weit mehr als das. Tatsächlich ist es 'die ungeschöpfte, ungeborene und ewige Energie der Natur, die sich periodisch manifestiert. Wie der Mensch kommt die Natur, wenn sie die Reinheit erreicht hat, zur Ruhe, und dann werden beide eins mit dem Tao, das die Quelle aller Glückseligkeit ist. Wie in der hinduistischen oder buddhistischen Philosophie kann diese Reinheit, Seligkeit und Unsterblichkeit nur durch Übung in Disziplin und vollkommener Ausgeglichenheit unseres weltlichen Ansinnens erreicht werden-, der Geist muß das turbulente Treiben der physischen Natur des Menschen kontrollieren, schließlich unterwerfen oder gar zerstören; und je eher er den dazu erforderlichen Grad moralischer Reinheit erreicht, desto zufriedener wird er sich fühlen'. — EDS)
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Es ist zum Gemeinplatz in der Literaturkritik geworden, einerseits auf die Unvereinbarkeiten hinzuweisen, die zwischen gewissen Teilen von Lao Tses Buch vom rechten Weg bestehen, andererseits aber diese Unklarheiten (das Wort wird immer wieder gebraucht), wovon der Text so voll zu sein scheint, mit der augenscheinlichen Resignation des Wissenschaftlers einfach zu akzeptieren. Bis jetzt, so scheint es, hat noch nie jemand versucht, die kontroversen Fasern von Lehre und Auslegung zu entwirren. Natürlich besteht die Aufgabe nun nicht darin, den tüchtigsten Textwissenschaftler herbeizuholen, denn genau genommen gibt es überhaupt keinen Text, der dem Leser zugleich irgendeinen Kanon an die Hand geben könnte, wonach sich ein analytisches oder kritisches Schema erstellen ließe. Und doch scheint mir, daß eine Methode gefunden werden könnte, — vielleicht keine, die stichhaltig und vollständig genug wäre, um auch den Pedanten zu befriedigen, aber eine, die aufregend genug ist, um das Interesse dessen zu erregen, der das Tao studiert, eine Methode, durch die man zumindest bruchstückhafte Einblicke in das ursprüngliche Werk inmitten all der Kommentare und sinnändernden Korrekturen durch spätere Schreiber gewinnen könnte. Der Hinweis liegt wie ein Diamant eingeschlossen im Korpus des Textes selbst; ein Hinweis von so entscheidender Bedeutung, daß er eine solide Ausgangslage bietet. Nun ist das Tao als eine Philosophie definiert worden, die stets zu dem konfuzianischen (allgemeiner ausgedrückt: dem 'sokratischen') Dialekt der Ethik in scharfem Widerspruch steht; aber es ist mehr als das. (Das Wort 'Philosophie' ist immer noch mit dem Makel der Methode behaftet, den ihm die Griechen ga-
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ben und von dem es nie befreit werden konnte). Es ist der Versuch, eine Erfahrung zu lokaliseren, die für sich genommen zu umfassend ist, als daß sie sich innerhalb der reinen Grenzen der Sprache erfassen ließe. Durch das ganze Buch hindurch kann man fühlen, wie die Sprache forscht und tastet und wie ein riesenhafter Zirkel einen Bereich zu umschreiben versucht, für den wir zwischen der Ausdrucksweise eines Idioten und dem A-Moll Quartett nichts haben, womit er sich ausdrücken ließe. Das Suchlicht des VernunftPrinzips ist zu schwach für diese Gefilde: die Worte selbst werden ja wie eine Art Skulptur gebraucht, um zu symbolisieren, was nicht auf direktem Wege ausgedrückt werden kann: die Heraldik der Sprache wird dabei ins Spiel gebracht, um die Rinde des rein kognitiven Impulses zu akzentuieren, zu attestieren, zu durchleuchten, und all das Mysteriöse daran, den Ruheplatz des Tao, ein für allemal zu umreißen. „Das Tao, das sich aussprechen läßt, ist nicht das wahre Tao." Bereits in der allerersten, einleitenden Behauptung wird man mit einer Haltung konfrontiert, die — im weiteren Verlauf des Textes präziser ausgedrückt — in eine kategorische und definitive Ablehnung von Prinzipien mündet, in eine Ablehnung der Polarität, des Schismas. Die Affirmation ist die einer allumfassenden Persönlichkeit mit Betonung des AllUmfassenden. In dem Symbol des rechten, wahren, einfachen Weges, das hier endgültig zum Ausdruck kommt, findet man keine Spur jener Trennung des Individuums von seinem Kosmos, wie sie das europäische Denken nach der Zeit der Vor-Sokratiker ununterbrochen in Angst und Schrecken versetzte. Es gibt genau genommen die Entität Mensch nicht; sie
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ist Teil des All-Einen. Hier gibt es nicht die Spur eines Bruches zwischen dem Individuum und seiner es umgebenden Szene. Mit dem All-Einen verschmolzen bleibt einzig die gigantische Landschaft des Geistes, in der so etwas wie unser Arier-Problem („To be, or not to be") einfach geschluckt, erledigt, aufgesaugt wird durch den ewigen Faktor, das Tao. Das Haus läßt seinen Bewohner ein: der Bewohner wird wie ein Stück Tuch direkt von den Wänden seines spirituellen Hauses absorbiert. Die Welt der Definition ist explodiert. All dies wird in dem Buch so ausführlich dargestellt, daß es zunächst ein wenig schwierig erscheint, überhaupt jene Bereiche zu orten, in die die widersprüchlichen Ideen hereinspielen. Aber mit Hilfe dieses zentralen Hinweises (der Ablehnung, der Loslösung von Prinzipien) dürfte es möglich werden, die einzelnen Schritte nachzuvollziehen und vor dem Hintergrund dieser Regel die verschiedenen Phasen des Textes zu überprüfen. Eines wird dabei klar: wenn die Ablehnung des dogmatischen Prinzips den Schlüssel des Dokuments bildet, dann bewegen sich die darin enthaltenen Unklarheiten stets im Bereich des Ethischen. Nur hier wird die Stimme gedämpft, nur hier wird die Auslegung, die sonst so klar in ihrem sprachlichen Ausweichen vor der Regel ist, unsauber und doppeldeutig. Der Kampf richtet sich immer gegen das konfuzianische Schema, gegen die vorschnellen Aussagen des Menschen über die Menschen, über Gott, über die Landschaft des Spirituellen und zu unserem Glück ist der Beitrag des Konfuzius uns dabei sogar erstaunlich hilfreich, jene scharf umrissenen Abteilungen des
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Denkens zu erhellen, die bis dahin noch obskur geblieben sein könnten. Hat jemand vor, die Welt zu verbessern und führt dieses Vorhaben aus, wie leicht ist dann zu sehen, daß dies mißlingen muß. Denn Geistgefäße werden nicht auf Erden geschaffen. Wer schafft, zerstört; wer zupackt, verliert. * Und weiter: Der Weise ist aufrecht und gerade, doch darum schnitzt und meißelt er nicht Andere gerade; (...) Er ist aufrecht und doch unterläßt er es, auch Andere aufzurichten. In diesen beiden Auszügen aus Lao Tses Dichtung erscheint seine Haltung klar genug definiert. Durch seine scharfen Schwarz- und Weißtöne weist er das Dogma von sich. Innerhalb der Erfahrung, von der er redet, ist genügend Raum für unendliche Verbesserung, unendliche Bewegung. Das Aufzwingen des eisernen Schemas ist ein Akt der Gewalt, von dem er sich entschieden distanziert; seine Methode ist ein flügelloses Fliegen — ein Akt, der sich auf einer Ebene bewegt, wo das rein mechanische des Aktes aufgehoben, bedeutungslos geworden ist. Seine Weigerung, die Flora * Bei den Zitaten aus dem Tao Te King folgt die Über setzung - unter Ber ücksichtigung der ver schiedenen, star k voneinenander abweichenden deutschen Fassungen - dem Wor tlaut der englischen Ver sion, die Lawr ence Dur r ell währ end der Nieder schr ift seines J ugendbeitr ags benutzte.
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und Fauna seiner Welt zu transformieren, ist eine direkte Herausforderung gegen die Welt der dogmatischen Relationen, wo Gut gegen Böse, schwarz gegen weiß, Sein gegen Nicht-Sein abgewogen wird; gegen die Welt der Gegensätze, aus der allein die Ethik, der Kanon, das Prinzip sprießen. In seiner Weigerung, die begrenzten Konzepte der Sprache zu akzeptieren, zeigt er seine wachsame Skepsis gegenüber der zerstörenden, begrenzenden Wirkung der De-Finition. Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt ... Darum der Weise: er verweilt im tatenlosen Tun Und übt das wortlose Lehren. Er wird sich nicht der Gnade und Ungnade des dogmatischen Prinzips aussetzen, das, wie er erkennt, in sich verborgen das Gift der gespaltenen Persönlichkeit enthalten kann, womit das leichtflüchtige Prinzip des Seins im Kampf steht. Folglich erkennt er, daß das Vernunftprinzip als solches verschwinden muß; und am Schluß dieses Dokuments klingt genau dieser Gedanke noch einmal in aller Ausführlichkeit an, — als letzter Versuch, in zusammenhängender, dichter Form mitten aus dem Herzen des Tao zu sprechen. Wenn wir das als endgültige Aussage dessen akzeptieren, woraus das Tao lebt, dann wird mit einem Mal offenbar, daß wir einen Schlüssel in der Hand haben, der den direkten Zugang zum eigentlichen Text eröffnet. Denn genau dort, wo plötzlich Äußerungen dog-
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matischer Art auftreten, entstehen die gleichen 'Unklarheiten', von denen unsere Wissenschaftler so viel Aufhebens gemacht haben. Aber halten wir einen Augenblick inne und wenden wir uns jenen zu, denen wir die Unklarheiten und Konfusionen im Text verdanken. Worum es diesen Denkern ging, war nie das Tao selbst (nie das unausdrückbare ES), — sondern lediglich ein Mittel, wie es zu realisieren ist, brauchbare und verfügbare Mittel für den Friedert; ihnen ging es darum, es in ein durch religiöse Praxis bequem erreichbares Ideal zu verwandeln. Die Geschichte dieses Buches: Die nachträgliche Errichtung einer hohen und korrupten dogmatischen Theologie um den Text, — diese beweist ohne alle Zweifel unsere These. Was die späteren Nachfolger interessierte, war ein Praktizieren des Tao — etwas, das es niemals in einem Bereich geben konnte, dessen Thema lediglich die Lokalisierung von Erfahrung ist, was durch die Sprache selbst im günstigsten Fall nur ungenau erfaßt werden kann. Worum es ihnen ging, war das Credo; ein Credo, das den stählernen Imperativ mit sich führte. Wenn wir dieses Faktum im Auge behalten und dann zum Text zurückgehen, stoßen wir sofort auf Passagen, in die seltsame theologische Imperative eingebettet sind. Stolz auf Reichtum und Ruhm ist begleitet von Kummer. Daher ziehe man sich zurück, sobald ein edles Werk vollendet ist und Lob und Ehre nahen. Das Imperativ strotzt hier geradezu von Implikation,
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der theologische Oberton ist ein wenig zu augenfällig. Verbannt man den Makel aus dem Sinn, so wird es möglich, makellos zu bleiben und weiterhin im Schatten zu wandeln ... Dies ausführlich zu zitieren, würde ermüden. Das Ziel dieser Notiz, — sie ist ihrerseits anmaßend genug —, ist es nicht, dem streitsüchtigen Wissenschaftler neue Jagdgründe zu liefern, sondern ich wollte damit eher ein erregendes Spiel vorschlagen, das all jene interessieren könnte, denen Das Buch vom rechten Wege noch unklar, noch ein wenig obskur anmutet. Sobald man die Ehtik berührt, wo immer sie im Text auftaucht, entdeckt man plötzlich, daß sich alle Unklarheiten auf natürliche Weise klären. Dann ist das Buch ohne totes Holz, dann ragt der Baum selbst frei und strahlend hervor; wie er ursprünglich ausgesehen haben muß. Man befreie das Dokument von all diesen befremdenden jähen Kehrtwendungen und der Kreis ist wieder harmonisch geschlossen. Dann gelangen wir wieder in sein Zentrum, und die Unklarheiten sind aus der Welt geschafft.
Sind wirklich alle 'Unklarheiten' aus der Welt geschafft? Welch anmaßender Schlußsatz, — denn da ich weiterschreibe, darf man von ihrem fortgesetzten Weiterbestehen ausgehen. Ein weiter Weg seit dem rätselhaften Lächeln des Kasyapa! Immer noch beschäftige ich mich damit, meinen Standort zu peilen und
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das Logbuch meines bescheidenen Bootes auf dem Laufenden zu halten. Die Dichtung schafft diese klaren Imperative: nicht zu laut zu denken und mit den Herzschlägen die in den Vokalen verborgenen Codes zu knacken. Und dann wurden im täglichen Leben aus den Spannungen der Ereignisse wieder andere geboren; um der Realität des Alltags gewachsen zu sein, mußt du lernen, sie ohne Risiko zu ignorieren! Also muß die Suche weitergehen, Gedicht auf Gedicht, solange, bis man auf die naheliegende Strategie der Loslösung stößt, um schließlich einzugehen in den Strom der heraklitischen Zeitdimension. Große Wahrheiten, so entdeckt man, sind nicht unbedingt Tatsachen. — Tatsachen sind Träume.
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Jolan CHANG: The Tao of Love and Sex. Wildwood House, London 1977 (Dt.: Das Tao der Liebe. Unterweisungen in altchinesischer Liebeskunst. Rowohlt, Hamburg 1978). Joseph NEEDHAM: Science a nd Civilization in China . Cambridge University Press o. J. 6 Bde. (Dt.: Wissenschaft und Zivilisation in China. Suhrkamp, Frankfurt 1984 (stark gekürzt).) Ja, in der Tat absurd, denn wenn ich in einen tantrischen Tempel geraten wäre und dort die Wandbilder mit Darstellungen von vergnügten Akten des Kannibalismus entdeckt hätte, von Geistern, die Blut aus Schädeln schlürfen und Menschenleibern der Reihe nach die Gliedmaßen ausreißen, um sie zu fressen, dann hätte ich genauso leicht einen Schock im entgegengesetzten Sinn erleiden können. Die vollständige Adresse des Chateau de Plaige: Kagu Ling, College Monastique, F-71320 Chateau de Plaige, Frankreich. Hier Durrells englische Nachdichtung der französischen Version, die er erhielt: WOMAN How sad it is to be a woman! Nothing on earth is held so cheap; When boys stand leaning at the sill, Like Gods tumbled out of Heaven. Their Hearts compass the Four Oceans, The dust and t he wind of a thousand thousand miles. But no one is glad when a girl is born — By her the family sets not störe. When she grows up she hides in her room Scared to look a man in the face. Nobody cries when she leaves her home, save she. As suddenly äs clouds when the^ajn pauses, She bows her head, composes her face, her teeth Are pressed into her red lips, she bows and kneels O! countless times. She must humble herseif even to servants. His love is äs distant äs a star, Yet always the sunflower turns towards the sun. Her heart is more sundered than water from fir e, A hundred ills are heaped on her; her face will follow The changes of the years, wi ll wear its age. Her Lord wi ll find new treasures. They that were once like substance and shadow Are now as distant as Hu from ch'in [two places] Or as Ts'an is from Ch'en [two stars].
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An dieser Stelle sei dem Autor Lawrence Durrell herzlich gedankt für seine rasche, ausführliche und verschmitzte Beantwortung verschiedener Fragen — auch über weit zurückliegende biographische Details —, was für die Übersetzung von großem Nutzen war. W. G.
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