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Das Leben des Lazarillo vom Tormes SEIN GLÜCK UND UNGLÜCK Sammlung Dieterich Band 87S
Deutsch von Margar...
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n- ANONYMO -
Das Leben des Lazarillo vom Tormes SEIN GLÜCK UND UNGLÜCK Sammlung Dieterich Band 87S
Deutsch von Margarete Meier-Marx, Nachwort von Prof. Rudolf Großmann
Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 155 Rudolf Marx der SMAD. 4197/48 -3049/48 - Copyright 1949 by Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig - Alle Rechte, einschl. der des Nach- drucks, der Rundfunksendung und Mikro -Photographie, vorbehalten - Satz und Druck: Stadtdruckerei Königsbrück. K(A-8/9) - Einbandentwurf: E. Pruggmayer, Leipzig
INHALT
Prolog .... 7 I. Lazarus erzählt von seinem Leben und wessen Sohn er ist …. 11 II. Wie Lazarus sich in den Dienst eines Geistlichen begab und von den Erlebnissen, die er mit ihm hatte .... 37 III. Wie Lazarus sich in den Dienst eines Junkers begab und was er bei ihm erlebte .... 6o IV. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Mönches begab und was er bei ihm erlebte .... 97 V. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Ab laßkrämers begab und von den Erlebnissen, die er bei ihm hatte .... 98 VI. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Kaplans begab und was er dort erlebte .... 110 VII. Wie Lazarus in den Dienst eines Gendarmen trat und was er bei ihm erlebte .... 112 Nachwort .... 121
PROLOG
ICH HALTE DAFÜR, DASS SO BESONDERE
und vielleicht noch nie gehörte und gesehene Dinge vielen zu Ohren kommen und nicht im Grab des Vergessens beerdigt werden; denn es könnte ja sein, jemand, der sie liest, findet darin etwas, das ihm gefällt, und erfreut dadurch diejenigen, die sich nicht weiter damit befassen. Sagt doch Plinius irgendwo, es gibt kein Buch, so schlecht es auch sei, das nicht irgendein Gutes enthält. Wo doch der Geschmack eines jeden verschieden ist; was der eine nicht ißt, danach verzehrt sich der andre. Und so sehen wir, daß von manchen gering geachtet wird, was andre schätzen. Daran muß man denken, bevor man den Stab über etwas bricht oder etwas verwirft, es sei denn gar zu verabscheuungswürdig; vielmehr sollte man es jedermann mitteilen, vor allem, da es doch nicht schädlich ist und man irgendeinen Nutzen daraus ziehn kann.
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wenn dem nicht so wäre, so würde es nur sehr wenige Schriftsteller geben, die für einen allein schrieben; denn das geschieht ja nicht ohne Mühe, und wenn man die auf sich nimmt, will man auch belohnt sein, nicht mit Dukaten, sondern so, daß die Werke gesehen und gelesen und, wenn Grund vorhanden, gelobt werden. Dazu sagt Cicero einmal: Die Ehre nährt die Künste. Wer glaubt denn, der Soldat, der in vorderster Linie steht, hasse das Leben mehr als die andern? Das tut er wahrlich nicht; sondern das Verlangen nach Ehre läßt ihn sich der Gefahr aussetzen, und so ist es auch in den Künsten und Wissenschaften. Der junge Geistliche predigt sicher sehr gut und ist ein Mensch, von Herzen um das Heil der Seelen besorgt; aber fragt nur seine Gnaden, ob es ihm weh tut, wenn man ihm erklärt: »Oh, wie wunderbar haben Hochwürden das gesagt!« Der Ritter X zerbrach seine Lanzen recht kläglich, und doch schenkte er seinen Waffenrock dem Narren, weil der ihn lobte, er habe seine Waffen so glänzend geführt. Was tat er wohl, hätte er sie wirklich so glänzend geführt? Und so geht es mit allem: Wenn ich auch zugebe, daß ich nicht heiliger bin als meine Nachbarn, so ist es mir doch nicht unangenehm,
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wenn man an diesem kleinen Werkchen, das ich in so grobem Stil schreibe, Anteil nimmt, und wenn sich die daran erfreuen, die ein Vergnügen darin finden und sehen, wie viele Schicksale, Gefahren und Ungemach ein Mensch erlebt. Ich bitte Euer Gnaden, diese unbedeutende kleine Gabe aus der Hand dessen zu nehmen, der sie bedeutender machen würde, wenn sein Können mit seinem Wollen übereinstimmte. Und da Euer Gnaden schreiben, man solle ihr den Fall ausführlich beschreiben und erzählen, so scheint es mir richtig, nicht in der Mitte, sondern am Anfang anzufangen, damit man eine genaue Kenntnis meiner Person bekommt. Und auch damit die bedenken, die Adelsrang und Güter erbten, wie wenig sie das durch eigenes Verdienst erwarben denn ihnen war das Glück günstig; und wieviel mehr die vollbrachten, denen es nicht lachte und die durch eigene Kraft und Geschicklichkeit ihr Lebensschiff doch sicher in den Hafen ruderten.
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I.
Lazarus erzählt von seinem Leben und wessen Sohn er ist
ALSO, ZUERST MÜSSEN EUER GNADEN einmal wissen, daß ich Lazarus vom Tormes heiße, Sohn des Thomas Gonzales und der Antonia Perez, die beide aus Tejares stammen, einem Dorf in Salamanca. Meine Geburt vollzog sich auf dem Tormes-Fluß, weswegen man mir auch diesen Beinamen gab, und es geschah auf folgende Weise. Mein Vater - Gott hab' ihn selig - war damit beauftragt, eine Mühle auf einem Landgut zu verwalten, die auf diesem Fluß liegt und in der er mehr als fünfzehn Jahre Müller war. Und als meine Mutter, die schwanger ging, sich eines Nachts auf dem Gut aufhielt, überfielen sie die Wehen, und sie gebar mich dort. So kann ich in Wahrheit von mir sagen, daß ich auf dem Fluß geboren bin. Als ich ein Knabe von acht Jahren war, warf man meinem Vater vor, er habe einige üble Aderlässe an Getreidesäcken der Leute vor-
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genommen, die zum Kornmahlen dorthin kamen; deswegen wurde er festgenommen; und er gestand und leugnete nicht und erduldete Verfolgung um der Gerechtigkeit willen. Ich hoffe auf Gott, daß er im Himmel ist; denn das Evangelium zählt solche zu den Seligen. Zu der Zeit machte man einen jener Feldzüge gegen die Mauren, an denen mein Vater, wegen oben gesagten Unglücks damals verbannt, als Lasttierwärter eines Ritters teilnahm. Und hierbei kam er mit seinem Herrn als treuer Diener ums Leben. Meine verwitwete Mutter beschloß nun, da sie sich ohne Gatten und Schutz sah, sich an die Guten zu halten, um so wie sie zu werden, und sie zog in die Stadt, um dort zu leben, mietete ein Häuschen und machte sich daran, einpaar Studenten Essen zu kochen, und ein paar Stalljungen des MagdalenenOrdens wusch sie ihre Wäsche, so daß sie in den Ställen ein- und ausging. Sie und ein Mann von brauner Haut, einer von denen, die auf die Tiere zu achten hatten, lernten sich kennen. Der kam nun manchmal in unser Haus und ging erst am nächsten Morgen wieder. Manchmal kam er auch tagsüber an die Tür unter dem Vorwand, Eier zu kaufen, und trat dann ein. Ich mochte ihn anfangs gar nicht leiden und hatte Angst vor ihm, als ich seine
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Farbe und sein häßliches Äußere sah; doch als ich merkte, daß das Essen besser wurde, seit er kam, hatte ich ihn bald gern, denn immer brachte er Brot, Fleisch und im Winter Holz mit, wodurch wir es warm hatten. Während so die nächtlichen Besuche und der Umgang mit ihm weitergingen, schenkte mir meine Mutter eines Tages ein süßes kleines Negerchen, das ich schaukelte und auf das ich aufpaßte, daß es schön warm lag. Und ich entsinne mich: das kleine Kind, als mein Negerstiefvater einmal mit ihm spielte, entdeckte plötzlich, daß meine Mutter und ich weiß aussahen, er selber aber nicht; da floh es voller Angst vor ihm zu meiner Mutter hin und zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte: »Mutter, der schwarze Mann!« Der antwortete lachend: »Ei du Teufelskerlchen!« Obwohl ich noch ein Knabe war, merkte ich mir diese Worte meines kleinen Bruders und sagte zu mir: »Wie viele gibt es wohl in der Welt, die vor andern fliehen, weil sie sich selbst nicht sehn.« Unser Schicksal wollte es, daß die Besuche des Zayde - so hieß er - dem Haushofmeister zu Ohren kamen. Man stellte Nachforschungen an und fand heraus, daß er von der Gerste, die man ihm für die Tiere gab, immer die Hälfte
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stahl und daß er stets vorgab, Kleie, Holz, Striegel, Stallschürzen und die Pferdedecken der Ritter verloren zu haben. Und daß er, wenn er nichts anderes hatte, den Tieren die Hufeisen abnahm; und mit all dem hatte er meiner Mutter geholfen, mein Brüderchen aufzuziehen. Wundern wir uns nicht über einen Welt- oder Ordensgeistlichen, denn der eine bestiehlt die Armen, der andere das Kloster, um ihre frommen Damen und weiß Gott was alles zu unterstützen, wenn schon einen armen Sklaven die Liebe zu alledem verführte! Und man wies ihm all das nach, was ich eben sagte, und noch mehr. Denn mich verhörte man unter Drohungen, und da ich noch Kind war, antwortete und enthüllte ich voller Angst, was ich wußte, auch das mit ein paar Hufeisen, die ich auf Veranlassung meiner Mutter an einen Schmied verkauft hatte. Meinen unglücklichen Stiefvater peitschte man aus, und auch meine Mutter wurde um der Gerechtigkeit willen mit den üblichen hundert Peitschenhieben bedacht. Auch wurde ihr verboten, das Haus der obenerwähnten Komtur zu betreten sowie den beklagenswerten Zayde bei sich aufzunehmen. Um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, nahm sich die Arme ein Herz und unterwarf
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sich dem Urteil. Und um weitere Gefahr zu vermeiden und sich der üblen Klatscherei zu entziehn, ging sie in den Gasthof Solana und bediente die Leute, die damals dort wohnten. Und während sie da tausend Belästigungen ausgesetzt war, gelang es ihr, mein Brüderchen so weit zu bringen, daß es laufen konnte, und mich zu einem tüchtigen Kerlchen zu machen, das den Gästen Wein, Kerzen und alles übrige holte, was sie von mir verlangten. Zu dieser Zeit kehrte ein Blinder in dem Gasthof ein; dem schien, daß ich der Rechte sei, um ihn zu führen; er erbat mich von meiner Mutter, und sie empfahl mich ihm und sagte, ich wäre der Sohn eines braven Mannes, der im Kampf um den Glauben in der Schlacht mit den Guelfen umgekommen sei, und sie hoffe auf Gott, ich werde kein schlechterer Mann werden als mein Vater, und bitte ihn, mich gut zu behandeln und auf mich zu achten, denn ich sei eine Waise. Er antwortete, er wolle das tun und nähme mich nicht als Burschen, sondern als Sohn an; und so begann ich, meinem neuen, schon alten Herrn zu dienen und ihn zu führen. Als wir in Salamanca einige Tage verbracht hatten, fand mein Herr, daß sein Gewinn nicht zu seiner Zufriedenheit war, und beschloß,
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weiterzuziehn; und als es Zeit war zum Aufbruch, ging ich zu meiner Mutter, um sie noch einmal zu sehen, und wir weinten beide, als sie mir ihren Segen gab mit den Worten: »Mein Sohn, ich weiß, daß ich dich nicht wiedersehe. Bemüh dich, ein guter Mensch zu werden, dann wird Gott dich geleiten. Ich habe dich auf gezogen und dir einen guten Herrn verschafft; nun hilf dir selber!« Und dann machte ich mich auf den Weg zu meinem neuen Herrn, der mich schon erwartete. Wir zogen aus Salamanca fort. Wenn man dort an die Brücke kommt, steht an dem einen Ende ein Tier aus Stein, das ungefähr die Gestalt eines Stieres hat. Und der Blinde befahl mir, an das Tier heranzutreten. Und als ich dort stand, sagte er zu mir: »Lazarus, halt dein Ohr an diesen Stier, dann wirst du in lautes Geräusch darin hören.« Einfältig wie ich war, trat ich heran; denn ich glaubte, es sei so. Als er fühlte, daß ich meinen Kopf neben dem Stein hatte, holte er jedoch mit aller Wucht aus und gab mir eine derartige Ohrfeige, daß mein Kopf von dem Prall gegen den verfluchten Stier mehr als drei Tage lang schmerzte, und er sagte zu mir: »Dummkopf! Merk dir, der Bursche des Blinden muß ein bißchen mehr wissen als der Teufel.«
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Und er lachte laut über seinen Scherz. Mir war, als ob ich in dem Augenblick aus der Unschuld erwachte, in der ich bis dahin als Kind geschlummert hatte. Ich sagte zu mir: »Recht hat er; es ist Zeit, daß ich die Augen offen halte und wach bin; denn ich stehe allein und muß daran denken, wie ich weiterkomme.« Wir begannen nun unseren Marsch, und in ein paar Tagen lehrte er mich alle seine Tricks und die ganze Diebessprache. Und da er sah, daß ich recht helle war, verweilte er lange dabei und sagte: »Ich kann dir weder Gold noch Silber geben; aber Lebensweisheiten kann ich dich eine Menge lehren. « Und so geschah es auch; denn nach Gott war er es, der mir das Leben gab, mich, blind wie er war, erleuchtete und mir den Lebensweg wies. Ich erzähle Euer Gnaden diese Kindereien so ausführlich, um zu zeigen, wie groß die Kraft und Tugend der Menschen sein müssen, denen es gelingt, aus der Tiefe aufzusteigen, und wie groß deren Schwächen und Laster, um von ihrer Höhe herabzusinken. Um aber wieder auf meinen guten alten Blinden zurückzukommen und seine Sachen zu erzählen, müssen Euer Gnaden erst einmal wissen, daß Gott, seit er die Welt erschuf, keinen schlaueren
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und durchtriebeneren Menschen geschaffen hatte als ihn. Er war ein Meister in seinem Beruf. Hundert und mehr Gebete wußte er auswendig. Eine tiefe Stimme, ruhig und voll, von der die Kirche widerhallte, in der er betete; ein demütiges, frommes Gesicht, das er bei grader Körperhaltung aufsetzte, wenn er betete, ohne Gesten zu machen oder Fratzen zu schneiden mit Mund und Augen, wie es andere zu tun pflegen. Außer dieser hatte er noch tausend andere Art und Weisen, Geld herauszuschlagen. So sagte er, er wisse Gebete für viele und die verschiedensten Zwecke: für Frauen, die keine Kinder kriegten, für solche, die vor der Niederkunft standen, für andere, die unglücklich verheiratet waren, damit ihre Männer sie wieder liebten. Den Schwangeren sagte er voraus, ob es ein Junge oder ein Mädchen würde. In der Medizin, erklärte er, wüßte Galen nicht die Hälfte von dem, was er über Backzähne, Mutterleiden und Ohnmachten wisse. Kurz, es gab keinen, der sagte, er litte an irgendeinem Übel, ohne daß er ihm nicht sofort antwortete: »Ihr müßt das tun und dann das, pflückt das Kraut, nehmt diese Wurzel.« Dadurch hatte er die ganze Welt hinter sich, vor allem die Frauen, die alles glaubten, was er
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ihnen sagte. Aus ihnen zog er große Vorteile mit den eben erwähnten Künsten und verdiente mehr in einem Monat als hundert Blinde in einem Jahr. Aber ich möchte auch Euer Gnaden zu wissen tun, daß bei allem, was er erwarb und hatte, ich doch niemals einen so geizigen und knickerigen Menschen gesehen habe; so geizig, daß er mich vor Hunger fast umkommen ließ; denn er bedachte mich nicht halb mit dem Notwendigsten. Es ist wirklich wahr: wenn ich es nicht mit meinem Scharfsinn und meinen Tricks verstanden hätte, mich schadlos zu halten, so wäre ich manchmal Hungers gestorben; bei all seinem Wissen und seiner Schlauheit übertölpelte ich ihn doch so, daß mir immer oder fast immer das meiste und beste zufiel. Deswegen schlug ich ihm verteufelte Schnippchen, von denen ich einige erzählen will, wenn auch nicht alle zu meinem Heil ausliefen. Das Brot und alle andern Sachen trug er in einem leinenen Sack, der oben mit einem Eisenring mit Schloß und Schlüssel verschlossen wurde, und beim Hineinstecken und Herausholen all der Sachen war der Blinde so wachsam und genau, daß kein Mensch auf der ganzen Welt imstande gewesen wäre, ihm auch nur ein Krümchen davon wegzunehmen. Und das
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Wenige, mit dem er mich dabei bedachte, war mit zwei Bissen verschlungen. Wenn er den Sack abgeschlossen hatte und ihn sorglos stehen ließ, da er dachte, ich sei mit anderen Dingen beschäftigt, so ließ ich an einem kleinen Stück der Sacknaht, die ich oft auf trennte und wieder zusammennähte, den geizigen Sack zur Ader, und zog nicht etwa abgezirkelte, sondern große Stücke Brot heraus, Scheiben gerösteten Specks und Schlackwurst; und so suchte ich stets den passenden Augenblick, nicht etwa um mich an dem bösen Blinden für den Schaden zu rächen, sondern um den verfluchten Schaden wettzumachen, den er mir zufügte. Alles, was ich beiseite schaffen und stehlen konnte, nahm ich in halben Münzen, und wenn die Leute ihn um ein Gebet baten und ihm ganze Münzen gaben, so hatte der, der ihm die Münze gab, sich kaum von ihr getrennt, da ließ ich sie schon in meinem Mund verschwinden und hielt ihm, der ja nicht sehen konnte, eine halbe Münze hin und brachte damit die Münze, so schnell der Blinde auch die Hand danach ausstreckte, durch meinen Wechsel um die Hälfte ihres wirklichen Werts. Der böse Blinde beklagte sich dann bei mir, denn am Abtasten erkannte und fühlte er, daß es keine ganze
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Münze war, und sagte: »Wie zum Teufel geht das zu; seitdem du bei mir bist, bekomme ich immer nur halbe Münzen, und früher gaben sie mir doch oft eine ganze Münze und einen Maravedi? Das Unglück muß an dir liegen!« Er kürzte ja aber das Beten auch ab und kam oft nicht einmal bis zur Hälfte; denn er hatte mich geheißen, ihn am Mantel zu ziehen, wenn der, der das Gebet gewünscht hatte, fortginge. Das tat ci h dann. Darauf erhob er von neuem seine Stimme und sagte: »Gebete gefällig?« Wie man so sagt. Er hatte die Gewohnheit, neben sich einen kleinen Krug Wein zu stellen, wenn wir aßen; den ergriff ich dann ganz schnell und gab ihm ein paar verschwiegene Küsse und stellte ihn zurück an seinen Platz. Aber das Vergnügen dauert nicht lange. Denn an den Zügen erkannte er, was fehlte, und um seinen Wein nun ganz für sich zu behalten, ließ er den Krug nie mehr aus der Hand, sondern hielt ihn immer am Henkel fest. Aber es gibt keinen Magneten, der so das Eisen an sich zieht, wie ich es mittels eines langen Strohhalms mit dem Wein tat, den ich mir für diesen Zweck zurechtgemacht hatte und den ich in die Tülle des Kruges steckte, um dann vom Wein zu saugen,
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bis er auf Nimmerwiedersehn verschwand. Aber da der Schuft so schlau war, so denke ich, roch er ihn an mir; er änderte von da ab sein Verhalten und stellte den Krug zwischen seine Beine, hielt ihn mit der Hand zu und war nun seines Getränks sicher. Ich, der ich an den Wein gewöhnt war, verschmachtete nach ihm, und als ich sah, daß das Mittel mit dem Strohhalm mir nichts mehr einbrachte oder nützte, kam ich auf die Idee, in den Boden des Kruges eine kleine Quelle in Form eines feinen Loches zu machen und es ganz vorsichtig mit einem dünnen Wachsplättchen zu verstopfen; zur Essenszeit tat ich nun so, als ob ich fröre, und stellte mich zwischen die Beine des traurigen Blinden, um mich an dem armseligen Holzfeuer, das wir hatten, zu erwärmen, in dessen Wärme dann das Wachs schmolz, da es sehr wenig war, und dann floß die kleine Quelle zu mir in den Mund, den ich an den Krug hielt, und hol der Teufel den Tropfen, der dabei verlorenging! Wenn dann der Ärmste trinken wollte, fand er nichts mehr vor. Er entsetzte sich, verfluchte sich, schickte Krug und Wein zum Teufel, da er nicht wußte, woran es lag. »Nun sagt aber nicht, Onkel, ich hätte ihn Euch
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ausgetrunken, Ihr ließet ihn ja nicht aus der Hand.« Er drehte den Krug mehrmals in seinen Händen herum und betastete ihn immer wieder, bis er zuletzt die Quelle fand und das Schnippchen erkannte; doch er tat, als habe er nichts gemerkt. Und am folgenden Tag, als ich meinen Krug wie üblich langsam leerte und nicht daran dachte, daß er Arges im Sinne führen, auch nicht, daß mich der böse Blinde überhaupt ertappt haben könnte, wie ich nun wie immer so dasaß und die süßen Schlucke in mich aufnahm, mein Gesicht zum Himmel gerichtet, die Augen etwas geschlossen, um besser die würzige Flüssigkeit zu genießen, da fand der verzweifelte Blinde, daß jetzt der Augenblick für ihn gekommen sei, um Rache an mir zu nehmen. Er hob mit beiden Händen diesen süßen, bitteren Krug hoch und ließ ihn dann mit voller Wucht auf meinen Mund herunterfallen, wobei er sich, wie gesagt, seiner ganzen Kraft bediente, so daß mir armem Lazarus, der ich so etwas überhaupt nicht ahnte, sondern wie schon so manches Mal sorglos und guter Dinge war, wirklich schien, als stürze der Himmel auf mich herab mit allem, was in ihm ist. So furchtbar war der Schlag, daß er mich aus
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der Fassung brachte und ich die Besinnung verlor, und so groß die Wucht des Kruges, daß die Scherben in mein Gesicht drangen, es überall verletzten und mir die Zähne ausbrachen, die mir bis auf den heutigen Tag fehlen. Seit dieser Stunde haßte ich den bösen Blinden, und obwohl er darauf gütig zu mir war, mich beschenkte und heilte, so sah ich wohl, daß er seine Freude an der grausamen Bestrafung hatte. Er wusch mir die Wunde mit Wein aus, die er mir mit den Scherben des Kruges beigebracht hatte, und sagte lächelnd: »Was meinst du wohl, Lazarus? Was dir Wunden schlug, heilt dich auch und gibt dir wieder Kraft.« Und andere Späße, die nicht nach meinem Sinn waren. Als ich halb wieder genesen war von meiner schrecklichen Strafe und den blauen Flecken und mir klar wurde, daß mich der grausame Blinde mit ein paar solchen Schlägen schachmatt setzen könne, wollte lieber ich ihn schachmatt setzen; doch tat ich es nicht sofort, um es mehr zu meinem Heil und Vorteil ausführen zu können; ich wollte mich zwar zunächst beruhigen und ihm den Schlag mit dem Kruge verzeihen, doch ließ es die schlechte Behandlung nicht zu, die mir 'der böse Blinde von da ab angedeihen ließ; denn er tat mir ganz sinnund grundlos weh, gab mir Ohrfeigen und riß
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mich an den Haaren. Und wenn ihn einer fragte, warum er mich so schlecht behandele, dann erzählte er die Geschichte vom Krug und sagte: »Glaubt ihr etwa, dieser Bursche ist ein Unschuldslamm? Hört nur, oh der Teufel selber imstande ist, sich eine solche Gemeinheit auszudenken! Dann bekreuzigten sich die, die es hörten, und sagten: »Nun sehe nur einer an, wer hätte so einem kleinen Kerl solche Schlechtigkeit zugetraut!« Und sie lachten laut über die Schlauheit und sagten zu ihm: »Haut ihn nur, haut ihn nur, Gott wird es Euch lohnen!« Und dabei tat er überhaupt nichts anderes. Von da ab führte ich ihn immer die schlechtesten Wege, und zwar absichtlich, um ihm Böses anzutun: wo Steine waren, über sie hinweg; wo Schlamm, durch den dicksten hindurch. Und wenn ich selbst dabei auch nicht die trockensten Stellen passierte, so machte es mir nichts aus, mir ein Auge auszuschlagen, wenn ich ihm, der keins hatte, alle beide ausschlagen konnte. Dabei betastete er immer mit erhobenem Stock meinen Hinterkopf, den ich dauernd voller Beulen und - durch seine Hände voller kahler Stellen hatte. Und wenn ich auch schwor, daß ich ihn nicht aus Bosheit da hindurch führe, sondern daß es
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keinen bessern Weg gäbe, es nützte mir nichts, und er glaubte mir nicht mehr: so fein war sein Gefühl und so außerordentlich der Verstand dieses Schurken. Und damit Euer Gnaden erkennen mögen, wie weit die Schlauheit dieses durchtriebenen Blinden reichte, will ich eins der vielen Erlebnisse erzählen, die ich mit ihm hatte, bei dem er - wie mir scheint seinen großen Scharfsinn klar zeigte. Als wir Salamanca verließen, war sein Plan, in das Gebiet von Toledo zu ziehn; denn er sagte, die Leute dort seien reicher, wenn auch nicht sehr freigebig. Er hielt sich an den Spruch: Der Herzlose gibt mehr als der Arme. Auf diesem Wege nun kamen wir an den besten Ortschaften vorbei. Wo er gute Aufnahme und guten Gewinn fand, blieben wir eine Zeitlang; wo nicht, machten wir uns am dritten Tag davon. Es geschah nun, als wir an einen Ort kamen, der Almorax heißt - es war gerade zur Weinlese, daß ein Winzer ihm eine Traube als Almosen gab. Und da die Körbe immer so herumgestoßen werden und der Wein zu dieser Zeit sehr reif ist, so fielen ihm die Beeren von der Traube ab. Die Rebe nun in den Sack zu stecken, hätte sie zu Most oder ähnlichem gemacht.
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geben, einmal weil er den Wein nicht aufheben konnte, andrerseits um mich wieder zu versöhnen: denn an diesem Tag hatte er mir viele Fußtritte und Schläge verabfolgt. Wir setzten uns ah einen geschützten Platz, und er sagte: »Jetzt will ich mich freigebig zeigen gegen dich, und zwar wollen wir beide diese Traube essen, und du sollst ebensoviel davon haben wie ich. Wir wollen sie nun folgendermaßen teilen: einmal pflückst du davon und einmal ich, unter der Bedingung, daß du mir versprichst, jedesmal nur eine Beere zu nehmen. Ich tue dasselbe, bis wir damit zu Ende sind. So ist kein Betrug möglich.« Als wir so übereingekommen waren, fingen wir an; jedoch schon beim zweitenmal änderte der Schuft sein Verfahren und fing an, immer zwei auf einmal zu nehmen in dem Glauben, ich täte sicher dasselbe. Da ich sah, daß er gegen die Abmachung verstieß, gab ich mich nicht mit dem gleichen zufrieden, sondern ging darin weiter: erst aß ich zwei und zwei, dann jedesmal drei und soviel ich auf einmal fassen konnte. Als die Rebe leer war, hielt er einen Augenblick den Stiel in der Hand, wiegte seinen Kopf hin und her und sagte: »Lazarus, du hast mich betrogen. Ich schwöre bei Gott,
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daß du immer drei Beeren auf einmal gegessen hast.« »Das hab' ich nicht«, sagte ich, »wie kommt ihr nur auf den Verdacht?« Da antwortete der überaus kluge Blinde: »Weißt du, woran ich erkenne, daß du drei auf einmal gegessen hast? Als ich immer zwei nahm, hast du kein Wort dazu gesagt.« Ich mußte in mich hineinlachen, und obwohl ich noch ein Knabe war, erkannte ich doch klar die scharfsinnige Überlegung des Blinden. Doch um nicht weitschweifig zu werden, unterlasse ich es, viele Ereignisse zu erzählen, die ich mit diesem meinem ersten Herrn erlebte und die ebenso reizvoll wie bemerkenswert sind, und will hur noch den Abschied beschreiben und wie ich mit ihm Schluß machte. Wir waren in Escalona, einer herzoglichen Stadt, in einem Gasthof, und er gab mir ein Stück Schlackwurst, um es zu rösten. Als das Fett aus der Schlackwurst herausgebraten war und er die in das Fett getauchten Brotschnitten gegessen hatte, zog er einen Maravedi aus der Börse und hieß mich Wein für ihn aus der Schenke holen. Da führte mir der Teufel plötzlich die Gelegenheit vor Augen, die, wie man so sagt, Diebe macht, und das kam, weil neben dem Feuer eine kleine, längliche und angegangene Rübe lag, die
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so schlecht war, daß man sie dorthin geworfen hatte, weil sie nicht mehr zum Kochen taugte. Und da ich im Augenblick dort mit ihm allein war und plötzlich eine Gier bekam, denn der würzige Geruch der Wurst, von der ich nur wußte, daß sie gut schmecken müsse, stach mir in die Nase, da ich nicht bedachte, was mir geschehen könnte, und meine Gier nach Befriedigung die Furcht verdrängte, zog ich in dem Moment, in dem der Blinde das Geld aus der Börse nahm, die Wurst heraus und steckte ganz schnell die obenerwähnte Rübe an den Bratspieß. Den begann nun mein Herr, als er mir das Geld für den Wein gegeben hatte, über dem Feuer umzudrehn, wobei er das braten wollte, was als untauglich dem Kochen entgangen war. Ich holte den Wein und zögerte nicht, die Wurst hinunterzuschlingen, und als ich zurückkam, fand ich den gemeinen Blinden, wie er zwischen zwei Brotschnitten die Rübe hielt, die er noch nicht erkannt, da er sie noch nicht mit der Hand berührt hatte. Als er nun die Brotschnitten nahm und hineinbiß, im Glauben, ein Stück Wurst mitzubekommen, stieß er hart auf hart mit der harten Rübe zusammen. Er fuhr auf und sagte: »Was ist denn das, Lazarillo?«
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»Ach, ich Elender«, sagte ich. »Wollt Ihr mir etwa wieder etwas vorwerfen? Habe ich nicht gerade eben den Wein geholt? Es wird jemand hier gewesen sein und hat sich einen Scherz erlaubt.« »Nein, nein«, sagte er, »ich hab den Bratspieß nicht aus der Hand gelassen, das ist unmöglich.« Ich schwor und schwor ihm immer wieder, ich hätte nichts mit diesem Tausch und Betrug zu tun; doch das nützte wenig, denn dem Scharfsinn des verfluchten Blinden blieb nichts verborgen. Er stand auf, packte mich am Kopf und kam nahe an mich heran, um mich zu beriechen. Und da er nach Art eines guten Dachshundes den Atem spüren mußte und sich nun genau von der Wahrheit überzeugen wollte, packte er mich voller Wut, riß mir mit beiden Händen den Mund auf, mehr als recht und billig, und steckte, ohne zu überlegen, seine Nase hinein. Die war lang, spitz und vor Ärger noch länger geworden; mit ihrer Spitze kam er mir ans Zäpfchen. Und alles dies: die Angst, die ich hatte, die Kürze der Zeit, in der die schwarze Schlackwurst noch nicht ruhig im Magen angelangt war, und vor allem die Berührung der vollendetsten aller Nasen, die mich fast erstickte, alles dies wirkte zusammen und war die Ursache dafür, daß die Wahrheit und die Nasch-
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haftigkeit ans Licht kamen und dem Herrn das Seine zurückgegeben wurde. Und zwar derart, daß, bevor der böse Blinde seinen Rüssel aus meinem Munde nahm, mein Magen eine so starke Erregung empfand, daß Rüssel und Raub zusammentrafen und seine Nase mit dem schwarzen Wurstbrei zu gleicher Zeit aus meinem Munde kamen. Oh, du mein Gott! Wäre man in dieser Stunde doch begraben gewesen! Denn tot war ich schon! Der Zorn des gemeinen Blinden war so groß, daß ich glaube, er hätte mich nicht am Leben gelassen, wenn bei dem Lärm nicht Leute herbeigeeilt wären. Sie rissen mich aus seinen Händen, die beide voll waren von dem wenigen Haar, das ich noch besaß; mein Gesicht war ganz zerkratzt und Hals und Kehle zerschunden. Und das hatte ich wohl verdient, denn durch meine Bosheit kamen mir so viele Verfolgungen. Der böse Blinde erzählte nun allen, die herbeikamen, meine Missetaten und berichtete ihnen ein ums andere Mal die Geschichte mit dem Krug wie die mit der Traube und jetzt diese letzte. Das Gelächter der Leute war so laut, daß alle, die durch die Straße gingen, hereinkamen, um das Pest mit anzusehn; der Blinde erzählte meine Missetaten aber auch mit so viel
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Anmut und Witz, daß es mir, obwohl ich so schlecht von ihm behandelt worden war und weinte, dennoch schien, ich täte ihm unrecht, nicht mitzulachen. Und bei diesen Erzählungen kam mir plötzlich meine Feigheit und Schwäche in den Sinn, die ich gezeigt hatte und wegen derer ich mach verfluchte, und zwar, daß ich ihn nicht ohne Nase herausgelassen hatte; denn dazu hätte ich die beste Gelegenheit gehabt, wo doch schon die Hälfte des Weges zurückgelegt war. Denn hätte ich nur die Zähne zusammengebissen, so wäre die Nase auch bei mir geblieben, und da sie von diesem Bösewicht war, so hätte mein Magen sie vielleicht besser bei sich behalten als er die Wurst behielt, und wenn beides nicht ans Tageslicht gekommen wäre, so hätte ich die Anklage abweisen können. Wollte Gott, ich hätte es getan, was auch die Folge gewesen wäre! Die Wirtsfrau und die Herumstehenden stifteten Frieden, und mit dem Wein, den ich ihm zum Trinken gebracht hatte, wuschen sie mir Gesicht und Hals. Darüber fing der böse Blinde nun wieder an, seine Witze zu machen, indem er sagte: »In der Tat, dieser Bursche kostet mich an Wein für Waschungen in einem Jahr mehr als
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ich in zweien trinke. Zumindest, Lazarus, schuldest du dem Wein mehr als deinem Vater, denn der zeugte dich einmal, der Wein aber hat dir tausendmal das Leben gegeben.« Und dann erzählte er, wie oft er mir mein Gesicht verbeult und zerkratzt und dann mit Wein wieder geheilt hatte. »Ich sage dir«, erklärte er, »wenn irgend einer auf der Welt sein Glück mit Wein machen wird, bist du es.« Und alle lachten laut, die mich damit wuschen, wenn ich auch fluchte. Doch die Prophezeiung des Blinden sollte sich nicht als Lüge erweisen, und oft muß ich seitdem an diesen Mann denken, der zweifellos Wahrsagertalent hatte, und mich reuen die Streiche, die ich ihm spielte, obwohl ich es ihm gut heimzahlte, wenn ich bedenke, daß das, was er mir an diesem Tag damals sagte, so wahr werden sollte, wie Euer Gnaden noch hören werden. Hierauf und nach den üblen Späßen, die der Blinde mit mir trieb, beschloß ich, ein für allemal mit ihm Schluß zu machen; denn da ich mich lange schon mit dem Gedanken trug und es allmählich mein Wille geworden war, gab mir dieser letzte Streich, den er mir spielte, endlich den Rest. Und das geschah so: damals, es war ein paar Tage später, gingen wir durch
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die Stadt, um Almosen zu erbitten, und es hatte die Nacht vorher stark geregnet. Da es tagsüber auch regnete, trat er in dieser Stadt unter einen Säulengang, wo wir nicht naß wurden, und bettelte dort; doch als es Abend wurde und der Regen nicht aufhörte, sagte der Blinde zu mir: »Lazarus, dieser Regen ist sehr anhaltend, und je mehr die Dunkelheit hereinbricht, desto stärker wird er werden. Wir wollen lieber rechtzeitig im Wirtshaus Schutz suchen.« Um dorthin zu kommen, mußten wir einen Bach überqueren, der von dem vielen Wasser angeschwollen war. Ich sagte zu ihm: »Onkel, der Bach ist sehr breit geworden. Aber da hinten sehe ich eine günstigere Stelle; wenn Ihr wollt, können wir da hinüberkommen, ohne daß wir naß werden; denn da wird er ganz schmal, und wenn wir einen Sprung hinüber tun, behalten wir trockne Füße.« Dies schien ihm ein guter Rat, und er sagte: »Gescheit bist du, deshalb mag ich dich auch leiden; führe mich an die Stelle, wo der Bach schmal wird, denn es ist jetzt Winter und Wasser nicht angenehm und nasse Füße noch weniger.« Ich, der ich die meinem Wunsche entsprechende Gelegenheit erkannte, zog ihn au dem Säulen
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gang heraus und führte ihn direkt vor einen Pfeiler oder Steinpfosten, der auf dem Platze stand und auf den sich die Vorbauten der Häuser stützten; und da sagte ich zu ihm: »Onkel, hier ist die schmalste Stelle, die der Bach hat.« Da es heftig regnete, der Unglückliche naß wurde und wir große Eile hatten, aus dem Wasser herauszukommen, das auf uns heruntergoß, vor allem aber, da Gott ihn zu jener Stunde mit Blindheit schlug, damit ich mich an ihm rächen konnte, glaubte er mir und sagte: »Stell mich richtig hin und spring du dann über den Bach.« Ich stellte ihn genau dem Pfosten gegenüber, machte einen Sprung und stellte mich hinter den Pfosten wie jemand, der den Ansprung eines Stieres erwartet, und sagte zu ihm: »Los! Springt so weit Ihr könnt, dann kommt Ihr gut übers Wasser.« Kaum hatte ich das gesagt, als sich der arme Blinde schon wie ein Bock aufrichtet und mit aller Kraft angreift, wobei er erst einen Schritt zurücktritt, um einen besseren Anlauf und mehr Schwung zu haben, und dann mit dem Kopf gegen den Pfosten haut, daß es einen so lauten Bums gab, als ob ein großer Kürbis dagegenschlug, und dann fiel er hintenüber, halbtot und mit aufgeschlagenem Kopf.
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»Nanu? Ihr habt doch die Schlackwurst gerochen, warum denn nicht den Pfosten? Bravo, bravo!« sagte ich zu ihm. Und damit ließ ich ihn in den Händen all der Leute, die herbeigelaufen kamen, um ihm zu helfen, und nahm meine Beine unter die Arme, bis ich aus dem Tor der Stadt heraus war, und bevor die Nacht hereinbrach, befand ich mich in Torrijos, Ich erfuhr nicht mehr, was Gott aus ihm gemacht hat, noch kümmerte ich mich darum, es zu wissen.
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II. Wie Lazarus sich in den Dienst eines Geistlichen begab und von den Erlebnissen, die er mit ihm hatte
AM NÄCHSTEN TAGE GING ICH, DA ICH hier nicht sicher zu sein glaubte, nach einem Dorf, das Maqueda heißt. Hier ließen mich meine Sünden auf einen Geistlichen stoßen, den ich um ein Almosen bat und der mich fragte, ob ich bei Messen zu helfen verstünde. Ich sagte ja, wie es der Wahrheit entsprach. Denn, wenn ich auch schlecht behandelt worden war, so hatte der verflixte Blinde mich doch tausend nützliche Dinge gelehrt und unter anderen auch dieses. Der Geistliche nahm mich also in seinen Dienst. Vom Regen kam ich nun in die Traufe; denn mit diesem verglichen, war der Blinde an Freigebigkeit ein Alexander der Große, obwohl er wirklich genau so geizig war, wie ich früher erzählt habe. Ich sage nichts weiter, als daß mein Geistlicher die Schäbigkeit in Person darstellte. Dabei weiß ich nicht, ob sie ihm an-
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geboren war oder ob er sie erst mit dem geistlichen Rock angelegt hatte. Er besaß einen alten Kasten, der wurde abgeschlossen mit einem Schlüssel, den er an einer Schnur an seinem Rock trug. Wenn nun das Opferbrot aus der Kirche kam, warf er es mit eigener Hand dahinein und schloß den Kasten sofort wieder zu. Und im ganzen Haus gab es nicht ein Stück zu essen, wie es doch in anderen immer ist: zum Beispiel ein Stück Speck, der im Rauchfang hängt, irgendeinen Käse, der auf einem Tisch oder im Schrank liegt, irgendeinen kleinen Korb mit ein paar Stücken Brot, die beim Essen übrig geblieben sind. Denn mir will scheinen, daß mich der bloße Anblick schon getröstet hätte, wenn ich mir davon auch nichts zu Gemüte hätte führen können. Nur einen Zwiebelzopf gab es, und auch den hinter Schloß und Riegel einer Kammer oben im Haus. Davon bekam ich als Ration eine Zwiebel aller vier Tage, und wenn ich um den Schlüssel bat, um sie zu holen, griff er - wenn jemand dabei war umständlich in die Tasche und band mit gewichtiger Miene den Schlüssel los und gab ihn mir mit den Worten: »Da, und gib ihn mir gleich wieder, denn du tust ja doch nichts andres als naschen.« Als ob alle Leckerbissen von Valencia dort ver-
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schlossen wären, wo doch - verflucht nochmal - in besagter Kammer nichts anderes als diese an einem Nagel hängenden Zwiebeln waren. Und selbst die hatte er gezählt, und es wäre mir teuer zu stehen gekommen, wenn mich der schwere Sünder in mir dazu verführt hätte, mir über meine Ration hinaus Übergriffe zu erlauben. Schließlich war ich vor Hunger mit meinen Kräften am Ende. Und wenn er auch wenig Mitleid hatte mit mir, so hatte er mit sich selbst doch genug. Fünf Groschen für Fletsch waren seine übliche Ausgabe für Mittag- und Abendessen. Allerdings bekam ich von der Brühe etwas ab. Vom Fleisch aber: keine Idee; nur ein bißchen Brot, und hätte Gott nur gewollt, daß ich wenigstens davon halb satt geworden wäre! Am Sonnabend ißt man dortzulande immer Kalbskopf, und er schickte mich stets nach einem, der drei Maravedis kostete. Den kochte ich ihm, und er aß dann Augen, Zunge, Hinterkopf, Brägen und das Fleisch, das in den Kinnbacken sitzt, und mir gab er alle die abgenagten Knochen. Und er legte sie auf meinen Teller mit den Worten: »Nimm, iß und jauchze, denn dein ist die Welt. Du führst ein besseres Leben als der Papst.«
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»Möge Gott dir solch Leben schenken«, sagte ich leise zu mir. Nach drei Wochen, die ich mit ihm zusammen lebte, war ich von einer solchen Schwäche befallen, daß ich mich vor Hunger einfach nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich sah mich sicher unter die Erde kommen, wenn Gott und mein Wissen mir nicht beistünden. Meine Künste anzuwenden, hatte ich keine Gelegenheit, da es ja nichts gab, was ich hätte stehlen können. Und selbst wenn etwas dagewesen wäre, so konnte ich ihn ja nicht hinters Licht führen, wie ich es mit dem Blinden gemacht hatte, Gott hab' ihn selig, falls er an dem Kopfstoß gestorben ist. Denn, so schlau er auch war, dadurch, daß ihm jener kostbare Sinn fehlte, merkte er mich ja nicht; dieser hier aber - es gibt keinen, der ein so scharfes Auge hatte wie er! Wenn wir am Opfertisch standen, fiel kein Geldstück in die Schale, das er sich nicht merkte. Ein Auge hatte er auf die Leute gerichtet, das andere auf meine Hände. Seine Augen tanzten in den Höhlen hin und her, als wären sie aus Quecksilber. Er hatte genau im Kopf, wieviel Geldstücke man ihm gab. Und wenn das Opfern zu Ende war, nahm er mir die Schale gleich aus der Hand und stellte sie auf den Altar. Ich konnte ihm kein einziges Geldstück wäh-
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rend der ganzen Zeit wegnehmen, in der ich mit ihm lebte oder, besser gesagt, krepierte. Nie holte ich ihm Wein aus der Schenke; und das Wenige, was er von der Opfergabe in seinen Kasten steckte, zirkelte er so genau ab, daß er die ganze Woche damit auskam. Und um seine große Knickerigkeit zu verbergen, sagte er zu mir: »Sieh, Bursche, die Priester müssen im Essen und Trinken sehr mäßig sein, und deswegen lasse ich mich nicht so gehen wie die andern.« Aber der Schurke log elend, denn bei den Liebesmahlen der Brüderschaften und bei den Begräbnissen, wo wir beteten, aß er auf Kosten Fremder wie ein Wolf und trank mehr als ein Soldat. Und da ich gerade von Begräbnissen spreche - Gott verzeih mir -, nie bin ich ein Feind der Menschheit gewesen, abgesehen von damals. Und das kam daher, weil wir dann gut aßen und man mich reichlich bedachte. Ich wünschte und bat sogar Gott darum, er möge jeden Tag jemanden sterben lassen. Und wenn wir den Kranken das heilige Abendmahl gaben, vor allem die letzte Ölung, wobei der Geistliche die Anwesenden zu beten auffordert, so war ich sicher nicht der Letzte bei dem Gebet, und mit meinem ganzen Herzen und mit voller Seele bat ich den Herrn, nicht etwa, daß er es
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nach seinem Willen mit dem Sterbenden geschehen lasse - wie man so sagt -, sondern daß er ihn aus dieser Welt zu sich nähme. Und wenn einer dem entkam, Gott verzeih mir: dann wünschte ich ihn tausendmal zum Teufel. Wenn aber einer starb, so nahm er ebenso viele Segenswünsche von mir mit sich. Und in der ganzen Zeit, in der ich dort war und das waren fast sechs Monate -, verschieden nur zwanzig Personen, und diese, glaube ich sicher, habe ich getötet, oder besser gesagt, sie starben auf meine heißen Bitten hin. Denn ich denke, der Herr, der mein verzweifeltes und dauerndes Sterben sah, hatte seine Freude daran, ihnen das Leben zu nehmen, um es mir zu geben. Aber gegen das, was ich damals auszuhalten hatte, fand ich kein Mittel. Denn wenn ich auch an dem Tag auflebte, an dem wir jemanden beerdigten, so fühlte ich an den anderen Tagen, an denen es keinen Toten gab und ich zu meinem täglichen Hunger zurückkehrte, diesen um so mehr, da ich mich gerade gut an das gute Leben gewöhnt hatte. So glaubte ich in nichts anderem Erlösung zu finden als im Tod, den ich den anderen und auch mir selbst manches Mal wünschte; und wenn ich ihn auch nicht sah, so war er doch immer in mir.
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Ich dachte oft daran, diesem geizigen Herrn davonzulaufen, doch unterließ ich es aus zwei Gründen: einmal wagte ich mich nicht auf meinen Beinen fort aus Furcht vor der Schwäche, die mich aus reinem Hunger befallen hatte; und andererseits weil ich es bedachte und mir sagte: »Zwei Herren habe ich gehabt: der erste brachte mich vor Hunger dem Tode nahe, und als ich ihn verließ, stieß ich auf diesen, der mich vor Hunger nun schon ans Grab gebracht hat; wenn ich nun von diesem lasse und zu einem noch gemeineren komme, was gibt es da anderes als wirklich zu sterben?« So wagte ich mich nicht zu verändern. Denn ich war überzeugt, daß ich es jedesmal elender antreffen würde, und wenn ich noch einen Punkt weiter abgesunken wäre, so wäre der Name Lazarillo nicht laut geworden, noch hätte ihn die Welt gehört. Und als ich noch in solcher Niedergeschlagenheit lebte, aus der Gott der Herr jeden treuen Christen erretten möge, und ich mir nicht zu helfen wußte und sah, wie es mit mir immer schlimmer wurde, da kam zufällig eines Tages, als der kleinliche, elende Knauser von Herrn gerade fortgegangen war, ein Kesselschmied an meine Tür, der mir von Gott selbst wie ein Engel in diesem Gewand geschickt zu sein
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schien. Er fragte mich, ob ich etwas auszubessern hätte. »An mir hättest du viel zu tun, und du tätest kein Geringes, wenn du mich ausbessertest«, sagte ich leise, daß er mich nicht hörte. Aber da die Zeit nicht mit geistreichen Einfällen zu vergeuden war, sagte ich, erleuchtet vom Heiligen Geist, zu ihm: »Guter Mann, ich habe den Schlüssel zu diesem Kasten verloren und fürchte, mein Herr wird mich dafür peitschen. Bei Eurem Leben, seht nach, ob unter denen, die Ihr hei Euch tragt, nicht einer ist, der paßt; ich werde es Euch lohnen.« Der engelgleiche Kesselschmied begann, einen Schlüssel nach dem andern von einer großen Schnur, an der er sie trug, auszuprobieren, und ich half ihm dabei mit meinen schwachen Gebeten. Und ehe ich es vermute, sehe ich mit einemmal in Form von Broten - wie man sagt das Antlitz Gottes in dem Kasten. Und als er ganz geöffnet ist, sagte ich zu ihm: »Geld habe ich nicht, das ich Euch für den Schlüssel geben kann; doch nehmt Euren Lohn da heraus!« Er nahm eins der Opferbrote, das ihm am besten schien, gab mir den Schlüssel und zog sehr zufrieden ab, indem er mich noch zufriedener zurückließ.
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Doch ich rührte jetzt noch nichts davon an, damit das Loch nicht bemerkt würde, und es schien mir auch, daß der Hunger mich nicht mehr zu befallen wagte, da ich mich nun als Herr so vieler Reichtümer sah. Der Schuft von meinem Herrn kam, und Gott wollte, daß er nicht nach dem Opferbrot sah, das der Engel mitgenommen hatte. Und am nächsten Tag, als er aus dem Hause gegangen war, öffne ich mein Brotparadies und nehme zwischen Hände und Zähne ein Opferbrot, und in einem Nu mache ich es unsichtbar, wobei ich nicht den geöffneten Kasten vergaß. Und dann beginne ich in bester Laune das Haus zu fegen; denn mir schien, ich könne mit dieser Hilfe dem elenden Leben von nun an abhelfen. Und bei dem Gedanken war ich diesen Tag und den nächsten froh. Aber mein Schicksal wollte es nicht, daß diese Freude länger dauern sollte; denn am dritten Tage kam der Rückschlag. Und ich sehe plötzlich den, der mich verhungern ließ, über unsern Kasten gebeugt, wie er die Brote umpackt, hin und her packt, zählt und wieder zählt. Ich tat so, als wäre nichts las, und im geheimen betete und flehte ich mit den Worten: »O Heiliger Johann, schlag ihn mit Blindheit!« Als er eine lange Weile dagestanden und nach-
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gerechnet hatte, wobei er die Brote nach Tagen und an den Fingern abzählte, sagte er: «Wenn ich diesen Kasten nicht so wohl verwahrt hätte, würde ich sagen, mir hat jemand Brote herausgenommen; doch von heute ab, nur um dem Verdacht den Riegel vorzuschieben, will ich mir ihre Zahl immer genau merken. Neun sind darin und ein Stück.« »Neunmal Unglück möge dir Gott bescheren«, sagte ich zu mir. Es kam mir vor, als würde bei seinen Worten mein Herz von einem Pfeil durchbohrt, und mein Magen fing sogleich an, vor Hunger zu kneifen, als er sich wieder auf die frühere Diät gesetzt sah. Er ging fort; um mich zu trösten, öffnete ich den Kasten, und als ich das Brot sah, begann ich es anzubeten, da ich nicht wagte, davon zu nehmen. Ich zählte nach, ob der Schurke sich vielleicht geirrt hätte, fand jedoch, daß seine Rechnung richtiger war als ich wünschte. Alles, was ich tun konnte, war, ihnen tausend Küsse zu geben und so vorsichtig wie möglich von dem abgeschnittenen Stück längs der Schnittfläche etwas abzuschneiden; und damit verbrachte ich den Tag, nicht so froh wie den vorigen! Aber da der Hunger zunahm, vor allem auch weil der Magen sich in diesen zwei oder drei
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geschilderten Tagen an mehr Brot gewöhnt hatte, fühlte ich mich sterbenselend, so daß ich, wenn ich allein war, nichts anderes tat, als den Kasten aufund zuzuschließen, um so das Antlitz Gottes - wie die Kinder es nennen - anzusehn. Und derselbe Gott, der den Beladenen hilft, zeigte, als er mich in solcher Klemme sah, meinem Geist einen kleinen Ausweg. Und so sagte ich nach einigem Überlegen zu mir: »Dieser Riesenkasten ist alt und groß und an einigen Stellen beschädigt, wenn auch nur kleine Löcher darin sind. Man könnte sich denken, daß Mäuse hineinkommen und das Brot benagen. Es ganz herauszunehmen, ist unzweckmäßig; denn dann wird er, der mich so knapp hält, merken, daß ich ihm das abgeknappt habe. Dies aber kann wohl ab.« Und nun beginne ich, von dem Brot abzubröckeln, wobei ich es über einige nicht sehr kostbare Tücher halte, die darin waren, und nehme das eine heraus und lasse das andere liegen, so daß ich schließlich von drei oder vier Broten ein bißchen abbröckele. Wie einer, der das feinste Zuckerwerk zu sich nimmt, aß ich es dann und tröstete mich etwas damit. Als er zum Essen kam und den Kasten öffnete, sah er das Trauerspiel, und zweifellos dachte er, es seien Mäuse gewesen, die den Schaden verur-
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sacht hätten; denn es war recht überzeugend nachgeahmt, ganz so, wie sie es machen. Er betrachtete den Kasten von allen Seiten und entdeckte einige Löcher darin, durch die sie - wie er vermutete - hineingekommen wären. Er rief mich und sagte: »Lazarus, sieh nur, sich nur, welcher Verfolgung unser Brot diese Nacht ausgesetzt war!« Ich tat sehr erstaunt und fragte ihn, was denn das nur sei. »Was wird es schon sein!« sagte er, »Mäuse, die nichts in Ruhe lassen!« Wir setzten uns zum Essen, und Gott wollte, daß es auch mir dabei gut erging. Mir wurde nämlich mehr Brot zuteil als die Hungerration, die er mir sonst immer gab; denn er kratzte mit einem Messer alles weg, was ihm von den Mäusen angenagt zu sein schien, und sagte: »Iß nur auf; denn die Maus ist etwas Sauberes!« Und so beendeten wir an diesem Tag unser Essen im Anschluß an die Ration, die ich mir mit meinen Händen, oder, besser gesagt, mit langen Fingern erarbeitet, wenn ich auch eigentlich noch gar nicht mit Essen angefangen hatte. Und dann überfiel mich ein weiterer Schrecken.; denn ich sah ihn darangehn, eifrig Nägel aus den Wänden zu ziehn und kleine Holzbrett-
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chen zu suchen, die er auf die alte Kiste nagelte, womit er alle Löcher verschloß. »Oh, mein Gott!« sagte ich da, »welchem Elend, welchem Schicksal und Unglück sind wir Lebenden ausgesetzt, und wie kurz sind die Freuden unseres mühevollen Daseins. Hier steh' ich nun, der ich dachte, mit diesem armseligen, traurigen Hilfsmittel meinem Elend abzuhelfen und darüber hinwegzukommen, und schon war ich etwas glücklich darüber und hoffnungsfreudig. Doch mein Unglück wollte es nicht, es machte diesen Schuft von Herrn wach und gab ihm mehr Scharfsinn ein als er von Natur aus hat (denn die im Elend leben, haben davon selten zu wenig); und jetzt schließt' er die Löcher des Kastens, womit er meinem Trost das Tor schließt und es meinem Elend öffnet.« Derart jammerte ich, indessen mein eifriger Zimmermann mit vielen Nägeln und Brettchen sein Werk mit den Worten beendete: »Jetzt, meine Herrn Mäuseschurken, wird es tunlich sein, euren Plan zu ändern; denn in diesem Haus dürfte für euch kein Gedeihen mehr sein!« Sobald er das Haus verlassen hatte, geh' ich ans Werk, um es mir anzusehn, und fand, daß er in der armseligen alten Kiste auch nicht das
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kleinste Loch gelassen hatte, nicht einmal für eine Mücke. Ich öffne mit meinem überflüssigen Schlüssel ohne Hoffnung, einen Vorteil daraus ziehn zu können, und sah vor mir die zwei oder drei angeschnittenen Brote, die mein Herr für angenagt hielt, und von ihnen nehme ich dennoch einen Elendsteil, indem ich nach Art eines geschickten Fechters sie nur ganz leicht streife. Da die Not eine so große Lehrmeisterin ist und ich mich ihr immer so nahe gegenüber sah, dachte ich Tag und Nacht darüber nach, wie ich vorgehen müßte, um mich am Leben zu erhalten. Und um diese dunkeln Wege herauszufinden, wurde mir, denke ich, der Hunger zum Licht; denn man sagt, der Verstand wird durch ihn geschärft, durch Übersättigung aber geschieht das Gegenteil, und so war es sicherlich auch mit mir. Als ich nun eines Nachts mit diesen Gedanken schlaflos dalag und immer überlegte, wie ich mich des Kastens bedienen und Nutzen daraus ziehen könnte, merkte ich, daß mein Herr schlief; denn das zeigte er am Schnarchen und lauten Pusten, das er von sich gab, wenn er fest schlief. Ich stand ganz leise auf, und da ich tagsüber bedacht hatte, was ich tun wollte, und ein altes Messer, das dort herumlag, an einen Platz gelegt hatte, wo ich es leicht wieder
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finden konnte, gehe ich an den traurigen Kasten und greife ihn mit dem Messer, das ich wie einen Bohrer gebrauchte, an der Stelle an, wo ich die geringste Widerstandskraft entdeckt hatte. Und da ich diesen uralten Kasten, der schon so viele Jahre hinter sich hatte, ohne Kraft und Zähigkeit fand, schwach und wurmstichig, so ergab er sich mir bald und ließ sich zu meinem Heil ein schönes Loch in die Seite bohren. Das getan, öffnete ich ganz leise den verwundeten Kasten, und als ich das Brot fühlte, das ich angeschnitten fand, machte ich mit ihm, wie ich es oben schon beschrieben hatte, und damit etwas getröstet, kehrte ich, nachdem ich ihn wieder abgeschlossen hatte, in mein Stroh zurück, legte mich hin und schlief ein wenig. Und das tat ich schlecht und führe das auf meinen Hunger zurück, und so wird es auch sein; denn sicherlich werden mir nicht die Sorgen des Königs von Frankreich damals meinen Schlaf geraubt haben. Am nächsten Tag wurde der Schaden von meinem Herrn und Meister entdeckt, das angenagte Brot und das Loch, und er begann die Mäuse zum Teufel zu wünschen und sagte: »Was soll man bloß dazu sagen, nie habe ich bis jetzt Mäuse in diesem Haus bemerkt!«
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Und zweifellos sagte er hiermit die Wahrheit. Denn wenn es im ganzen Reich überhaupt ein Haus gab, das von ihnen verschont wurde, so war es dieses, und das mit gutem Grund; denn wo es nichts zu beißen gibt, pflegen sie auch nicht zu leben. Wieder machte er sich daran, im Haus und an den Wänden nach Nägeln und Holzbrettchen zu suchen, um die Löcher damit zu stopfen. Wenn dann die Nacht und die Ruhe gekommen waren, war ich mit meinem Handwerkszeug auf den Beinen, und was er tagsüber zudeckte, deckte ich nachts wieder auf. So ging es, und solche Mühe gaben wir uns dabei, daß man zweifellos sagen mußte: Wo eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andre. Kurz, wir schienen das Gewand der Penelope gemeinsam zu bearbeiten, denn was er tagsüber webte, machte ich nachts wieder auf. Und in wenig Tagen und Nächten hatten wir die arme Vorratskiste so zugerichtet, daß, wollte einer sie genau beschreiben, er eher von einem alten Küraß aus vergangenen Zeiten als von einem Kasten reden könnte, nach all den Beschlägen und Nägeln, die darauf waren. Als er merkte, daß alle seine Mühe vergeblich war, sagte er: »Dieser Kasten ist so übel zugerichtet und aus so altem und weichem Holz,
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daß es keine Maus gibt, der er Widerstand leisten kann. Und er wird uns eines Tages, wenn wir ihn noch länger gebrauchen, gar kein Schutz mehr sein, und das Schlimme ist, daß, wenn auch nur wenig Schutz nötig ist, uns selbst dieser wenige fehlt, wenn uns die Truhe fehlt, und wird mich in Unkosten von drei oder vier Dukaten stürzen. Das beste Mittel, das ich sehe, da alles andere ja nichts nützt, ist, jetzt drin eine Waffe gegen diese verfluchten Mäuse aufzustellen.« Dann ging er los und suchte sich eine Mausefalle zu leihen, und mit Käserinden, die er von Nachbarn erbettelte, war die Falle innerhalb der Kiste dauernd gewappnet, was für mich von besonderem Nutzen war. Denn in Anbetracht dessen, daß ich für meinen Appetit nicht viele Würzen nötig habe, erfreute ich mich noch an den Käserinden, die ich aus der Falle zog, ohne die er das Benagen des Opferbrotes nicht hätte durchgehen lassen. Als er das Brot angenagt und den Käse verzehrt sah und die Maus nicht in der Falle, die das alles fraß, wünschte er sie zum Teufel und fragte die Nachbarn: was das nur sein könne, den Käse fressen und ihn aus der Falle ziehn und keine Maus eingesperrt oder drin und die Fallentür heruntergefallen.
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Da meinten die Nachbarn, das könne keine Maus sein, die diesen Schaden anrichte, denn wenigstens einmal hätte sie doch geschnappt werden müssen; und ein Nachbar sagte zu ihm: »Da fällt mir ein, in Eurem Haus kroch immer eine Natter herum; die wird es zweifellos sein. Und das paßt ja auch, denn, da sie lang ist, kann sie den Köder nehmen, und wenn sie auch die Tür oben berührt, kann sie doch wieder heraus, da sie ja nicht ganz hineinschlüpft.« Allen schien daß richtig, was jener sagte, und meinen Herrn erregte es sehr. Von da ab schlief er nicht mehr wie ein Toter. Denn den kleinsten Holzwurm, der nachts klopfte, hielt er für die Natter, die ihm den Kasten annagte. Sogleich war er auf den Beinen, und mit einem Knüppel, der von dem Augenblick an, in dem man ihm das von der Natter gesagt hatte, am Kopfende seines Bettes lag, schlug er mit aller. Kraft auf diesen unglücklichen Kasten ein im Glauben, damit die Natter zu erschrecken. Er weckte die Nachbarn mit dem Lärm, den er schlug, und mich ließ er nicht schlafen. Er kam an mein Stroh und durchwühlte es und mich mit ihm; denn er dachte, daß sie zu mir ging und sich in meinem Stroh versteckt hielt oder in meinem Überrock. Denn man hatte ihm gesagt, daß es diesen Tieren nachts einfiele, die
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Wärme aufzusuchen und an die Wiegen zu gehen, in denen kleine Kinder liegen, und sie sogar zu beißen und in Gefahr zu bringen. Ich tat meistens so, als ob ich schlief, und am nächsten Morgen sagte er dann zu mir: »Junge, hast du denn diese Nacht gar nichts gemerkt? Ich bin doch hinter der Natter her gewesen, und ich glaub' sogar, sie muß zu dir ins Bett gekrochen sein, denn es friert sie leicht, und sie suchen Wärme.« »Um Gottes Willen, daß sie mich ja nicht beißt«, sagte ich, »denn ich habe gewaltige Angst vor ihr.« So ging er herum, ganz besessen davon, und fuhr nachts immer wieder aus dem Schlafe auf und war auf den Beinen, so daß, meiner Treu, Frau oder besser gesagt Herr Natter es nicht wagte, nachts zu nagen oder sich dem Kasten zu nähern; tagsüber aber, während er in der Kirche oder sonstwo war, machte ich meine Überfälle, woraufhin er, wenn er den Schaden und die geringe Abhilfe, die er dem entgegensetzen konnte, sah, nachts - wie ich schon sagte - wie ein Geist herumpolterte. Ich hatte Angst, daß er bei all diesem Eifer auf meinen Schlüssel stoßen könnte, den ich unterm Stroh hatte, deshalb schien es mir sicherer, ihn nachts in den Mund zu nehmen; denn seitdem
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ich mit dem Blinden zusammengelebt hatte, konnte ich meinen Mund so sehr als Börse benutzen, daß ich es fertigbrachte, zwölf bis fünfzehn Maravedis drinzuhaben, alle in halber Münze, ohne daß sie mich beim Essen gestört hätten. Anders wäre ich nie Herr auch nur eines Geldstückes geworden, das der verfluchte Blinde nicht entdeckt hätte; denn es war weder Naht noch Flicken an mir, die er nicht häufig durchsuchte. Nun gut, wie ich also sagte, steckte ich jeden Abend den Schlüssel in den Mund und schlief ohne Besorgnis darüber ein, daß der Hexenmeister von meinem Herrn ihn finden könne. Doch wenn das Unglück kommen soll, ist alle Vorsicht vergeblich. Mein Verhängnis oder, besser gesagt: meine Sünden wollten es, daß eines Nachts, als ich schlief, der Schlüssel mir derart und in solcher Lage im Mund steckte, den ich offen gehabt haben muß, daß die Luft und der Atem, den ich im Schlaf ausstieß, durch das Loch des hohlen Schlüssels mit pfeifendem Ton herausfuhr und, wie mein Unstern es wollte, mit sehr lautem, so daß mein erschreckter Herr es hörte und zweifellos glaubte, das sei das Pfeifen der Natter, und sicher mußte es sich auch so anhören. Er stand ganz leise auf mit seinem Knüppel in
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der Hand und näherte sich mir beim pfeifenden Geräusch der Natter mit größter Vorsicht, um nicht von der Natter bemerkt zu werden. Und als er sich nahe genug glaubte, meinte er, daß sie dort im Stroh, in dem ich ausgestreckt lag, meine Wärme gesucht habe. Und mit dem Stock weit ausholend - denn er glaubte sie vor sich zu haben und wollte ihr einen solchen Schlag versetzen, daß sie daran krepierte -, versetzte er mir mit all seiner Kraft einen derartigen Hieb auf den Kopf, daß ich besinnungslos und sehr übel zugerichtet wurde. Als er merkte, daß er mich getroffen hatte - denn bei dem furchtbaren Schlag muß ich in lautes Stöhnen ausgebrochen sein -, wußte er, was mir geschehen war, begann mich mit lauter Stimme zu rufen und versuchte, mich wieder zu mir zu bringen. Doch als er mich anfaßte, fühlte er, wie sehr ich blutete und wie schlimm m er mich zerschunden hatte. Schnell ging er fort und suchte ein Licht, und als er damit ankam, fand er mich herumwimmern, immer noch den Schlüssel im Mund, den ich dabei nicht verloren hatte und der noch halb herausguckte, ebenso wie vorher, als ich mit ihm pfiff. Erstaunt, was das für ein Schlüssel sein könne,
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betrachtete ihn der Natterntöter, indem er ihn ganz aus meinem Mund nahm, und erkannte, was es für einer war; denn der Bart unterschied sich in nichts von dem seines eigenen Schlüssels. Er ging hin, um sich davon zu überzeugen, und überzeugte sich damit von meiner Missetat. Darauf mag wohl der grausame Jäger gesagt haben: »Maus und Natter, die mich bekämpften und mir mein Gut wegfraßen, die hab' ich nun gefunden.« An das, was in den folgenden drei Tagen geschah, kann ich mich nicht erinnern; denn ich verbrachte sie im Bauch des Walfisches; aber wie sich das ereignet hat, was ich erzählt habe, hörte ich, als ich wieder bei Bewußtsein war, meinen Herrn berichten, der es allen, die zu ihm kamen, ausführlich erzählte. Nach drei Tagen war ich wieder bei Bewußtsein; da fand ich mich auf meinem Stroh liegen, den Kopf voller Pflaster, Ölverbände und Salben, und entsetzt sagte ich: »Was ist das?« Da antwortete mir der grausame Priester: »Wahrlich, Mäuse und Nattern, die mich vernichteten, die hab' ich erjagt.« Ich betrachtete mich und fand mich so übel zugerichtet, daß ich mein Elend ahnte. In diesem Augenblick trat eine Alte ein, die Kranke besprach, und mit ihr die Nachbarn;
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und sie begannen, mir die Lappen vom Kopf zu nehmen und die Knüppelwunden zu behandeln. Und als sie mich bei Bewußtsein fanden, freuten sie sich sehr und sagten: »Er ist wieder bei Besinnung, Gott wollte, daß es nichts Ernstes ist.« Und sie begannen von neuem, sich meine Leiden zu erzählen und darüber zu lachen, und ich armer Sünder mußte darüber weinen. Dabei gaben sie mir zu essen; denn ich war vor Hunger völlig erschöpft, und kaum konnten sie dem abhelfen. Und so, nach und nach, konnte ich nach vierzehn Tagen wieder aufstehn und war ohne Gefahr, doch nicht ohne Hunger, und halb wieder genesen. Am nächsten Tag dann, als ich aufgestanden war, nahm mich mein Herr und Meister bei der Hand, setzte mich vor die Tür und sagte zu mir, als ich auf der Straße stand: »Lazarus, von heut ab bist du dein Herr und nicht ich, such dir einen neuen und zieh mit Gott. Denn ich wünsche in meiner Gesellschaft keinen so tüchtigen Diener. Nur der Bursche eines Blinden kann so tüchtig sein.« Und während er sich vor mir bekreuzigte, als ob ich vom Teufel besessen sei, ging er ins Haus zurück und schloß die Tür hinter sich.
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III. Wie Lazarus sich in den Dienst eines Junkers begab und was er bei ihm erlebte
SO SAH ICH MICH DENN GEZWUNGEN, aus der Schwäche Kräfte zu ziehn, und nach und nach, mit dem Beistand guter Menschen, kam ich in die berühmte Stadt Toledo, wo sich mir mit Gottes Hilfe nach vierzehn Tagen die Wunde schloß. Und solange ich krank war, gab man mir immer irgendein Almosen; als ich aber wieder gesund war, sagten alle zu mir: »Du, du bist ein Gauner und Tagedieb. Los, such dir einen guten Herrn, dem du dienen Bannst.«»Und wo soll man den finden« sagte ich zu mir -, »wenn Gott ihn jetzt nicht neu erschafft, wie er die Welt erschuf!« Als ich so von Tür zu Tür ging, mit recht wenig Erfolg - denn die Barmherzigkeit ist schon aufgefahren gen Himmel -, ließ mich Gott auf einen Junker treffen, der in noblem Anzug, sorgfältig frisiert und in gemessener
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Haltung durch die Straße schritt. Er betrachtete mich und ich ihn, und er redete mich an: »Bursche, suchst du einen Herrn?« »Ja, Herr«, sagte ich zu ihm. »Gut, dann folge mir« - antwortete er -, »denn Gott hat dir Gnade widerfahren lassen, daß du mich getroffen hast. Gewiß sprachest du heute ein gutes Gebet.« Und ich folgte ihm, indem ich Gott dankte für das, was ich ihn sagen hörte, und auch weil er mir nach Benehmen und Haltung ganz der zu sein schien, den ich brauchte. Es war am Morgen, als ich diesem, meinem dritten Herrn, begegnete. Und er führte mich durch einen großen Teil der Stadt hinter sich her. Wir kamen an den Märkten vorbei, auf denen Brot und andere Nahrungsmittel verkauft wurden. Ich dachte und wünschte, er würde mir von dem, was man dort feilhält, zu tragen geben; denn es war gerade die Stunde, in der man gewöhnlich seine Einkäufe macht; doch mit langen Schritten ging er an diesen Dingen vorüber. »Vielleicht sieht er hier nichts nach seinem Gefallen« - sagte ich mir - »und möchte an einer andern Stelle seine Einkäufe machen.« So gingen wir weiter, bis es elf Uhr schlug. Da trat er in die Hauptkirche ein und ich nach
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ihm, und ich sah ihn ganz ergeben die Messe hören und die andern gottesdienstlichen Verrichtungen ausüben, bis alles zu Ende und die Leute fortgegangen waren. Dann traten wir aus der Kirche. Mit gemessenem langem Schritt machten wir uns auf den Weg und gingen eine Straße hinunter. Ich hinter ihm her, der Glücklichste der Welt, als ich sah, daß wir uns nicht damit abgemüht hatten, etwas zu essen zu holen. Nur zu gut erkannte ich, daß mein neuer Herr ein Mann sein müsse, der sich mit allem auf einmal versorgt, und daß das Essen schon fertig sein würde, so wie ich es wünschte und auch brauchte. Da schlug die Uhr eins nach Mittag, und wir kamen an ein Haus; vor dem blieb mein Herr stehen und ich mit ihm, und indem er den einen Zipfel seines Mantels über die linke Schulter warf, zog er einen Schlüssel aus dem Ärmel und öffnete seine Tür, und wir traten in das Haus. Der Eingang war unheimlich, stockfinster und sah so aus, daß der Eintretende Angst bekam; wenn auch drinnen ein kleiner Hof war und richtige Zimmer. Sobald wir eingetreten waren, legte er seinen Mantel ab und, als er mich gefragt hatte, ob ich auch saubere Hände hätte, schüttelten wir hi n aus und falteten ihn zusammen; dann legte
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er ihn auf eine Steinbank, die dort stand und die er vorher fein säuberlich abgeblasen hatte. Und als er damit fertig war, setzte er sich daneben und begann, mich sehr ausführlich zu fragen, woher ich stamme und wie ich in diese Stadt gekommen sei. Und ich gab ihm einen längeren Bericht darüber als ich gewollt hätte, denn es schien mir die Stunde passender zu sein, den Tisch zu decken und die Suppe zu servieren, als mich nach all dem zu fragen. Indessen stellte ich ihn in bezug auf meine Person zufrieden, so gut ich eben zu lügen verstand, wobei ich ihm meine Vorzüge darlegte und das übrige verschwieg, denn mir schien das nicht am Platze zu sein. Als ich damit fertig war, blieb er eine Weile so sitzen; dies hielt ich für ein übles Zeichen, denn es war schon fast zwei Uhr, und ich sah, daß er nicht mehr Appetit hatte als ein Toter. Nach all dem begann ich Betrachtungen darüber anzustellen daß er die Tür mit einem Schlüssel abgeschlossen hatte und man weder oben noch unten im Haus Schritte einer lebenden Seele vernahm. Alles, was ich bisher gesehen hatte, waren Wände, innerhalb derer ich weder Stuhl noch Holzklotz noch Bank noch Tisch entdecken konnte, nicht einmal solch eine Kiste
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wie die von damals. Kurzum, das Haus schien verzaubert zu sein. Während ich so dasaß, sprach er zu mir: »Du, Bursche, hast du eigentlich gegessen?« »Nein, Herr«, sagte ich, »denn es war noch nicht acht Uhr, als ich Euer Gnaden heut traf.« »Nun, wenn es auch früh am Morgen war, so hatte ich doch schon gefrühstückt, und wenn ich somit etwas esse, mußt du wissen, daß ich bis zum Abend auskomme. Deshalb richte dich ein, wie du kannst; nachher werden wir dann zu Abend essen.« Euer Gnaden können sich denken, daß ich - als ich solches von ihm vernahm - fast ohnmächtig geworden wär, nicht so sehr vor Hunger als vor der Erkenntnis, daß das Schicksal mir in allem und jedem feindlich war. Da stellten sich mir von neuem meine Leiden dar, und ich begann über meine Plackereien zu weinen. Da kam mir die Betrachtung in den Sinn, die ich angestellt hatte, als ich von dem Geistlichen fortlaufen wollte, mir aber sagte, ich könne, wenn der auch gemein und geizig wäre, vielleicht auf einen noch Schlimmeren stoßen. Kurz, ich beweinte mein mühseliges vergangenes Leben und meinen nahe bevorstehenden Tod.
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Und dabei sagte ich und verstellte mich, so gut ich nur konnte: »Herr, ich bin ein Bursche, der sich Gott sei Dank fürs Essen kein Bein ausreißt. Ich kann mich überall unter meinesgleichen rühmen, den kleinsten Magen zu haben, und darum wurde ich auch bis auf den heutigen Tag von den Herren, dich ich gehabt habe, stets gelobt.« »Das ist eine Tugend«, sagte er, »und deswegen werde ich dich nur um so lieber haben. Denn Sattsein ist Sache der Schweine und Maßhalten im Essen Sache der Männer von Anstand.« »Dich hab ich wohl erkannt!« sagte ich zu mir. »Verflucht die ganze Heilkraft und das Glück, das diese meine Herren, die ich finde, im Hungern finden!« Ich stellte mich an die eine Seite des Eingangs und zog aus der Brusttasche einige Stücke Brot, die mir von meinen Almosengängen übriggeblieben waren. Als er das sah, sagte er zu mir: »Komm mal her, Bursche, was ißt du da?« Ich ging zu ihm hin und zeigte ihm das Brot. Er nahm das eine von den drei Stücken, die ich hatte, das beste und größte, und sagte zu mir: »Bei meinem Leben! Das scheint mir gutes Brot!« »Wie, Herr«, sagte ich, »das schmeckt nach gut?«
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»ja, meiner Treu«, sagte er, »woher hast du das? Ob es auch von reinen Händen geknetet ist?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich zu ihm, »mir flößt sein Geschmack jedenfalls keinen Ekel ein.« »Das walte Gott«, sagte mein armer Herr. Und indem er es zum Munde führte, begann er es mit Riesenhappen zu verschlingen wie ich das andere. »Ein besonders köstliches Brot ist das«, sagte er, »bei Gott!« Und als ich merkte, wo ihn der Schuh drückte, hielt ich mich dazu, denn ich sah ihn in der Verfassung, daß er, wenn er eher fertig wäre als ich, sich herablassen würde, mir bei dem zu helfen, was mir noch blieb. Und so waren wir denn fast gleichzeitig fertig. Und dann begann mein Herr, mit den Händen die paar Krümchen abzuschütteln, die ihm vorn auf der Brust hängengeblieben waren. Darauf trat er in eine Kammer ein und holte einen Krug heraus, dessen Schnabel abgebrochen und der nicht gerade neu war, trank daraus und bot ihn dann mir dar. Um den Eindruck eines Enthaltsamen zu machen, sagte ich: »Herr, ich trinke keinen Wein.«
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»Du kannst ruhig trinken«, antwortete er mir, »es ist Wasser.« Da nahm ich den Krug und trank; nicht viel, denn mein Kummer kam nicht vom Durst. So blieben wir bis zum Abend und sprachen über Dinge, die er mich fragte und auf die ich antwortete, so gut ich konnte. Dann führte er mich in das Zimmer, aus dem der Krug war, woraus wir getrunken hatten, und sagte zu mir: »Bursche, stell dich dorthin und paß auf, wie dies Bett gemacht werden muß, damit du es von nun ab allein machen kannst.« Ich stellte mich an das eine Ende und er sich ans andere, und wir machten das kohlrabenschwarze Bett, wobei allerdings nicht viel zu machen war; denn über ein paar Bänken war ein Rohrgeflecht und darüber ein Unterbett ausgebreitet, welches nicht mehr wie ein Unterbett aussah, weil es nicht oft gewaschen wurde, obwohl es als solches diente und worin viel weniger Wolle war als nötig. Das schüttelten wir nun aus und taten so, als machten wir es weich, was unmöglich war; denn aus Hartem kann man kaum Weiches machen. Der Teufel hole die Füllung, die das verfluchte Ding in sich hatte! Denn als es dann auf dem Rohrgeflecht lag, zeichneten sich die einzelnen Rohr stöcke so deutlich ab wie die Rippen eines ver-
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hungerten Schweines. Und auf das schwind süchtige Unterbett kam eine ebensolche Decke, deren Farbe festzustellen ich außerstande war. Als das Bett gemacht und die Nacht hereingebrochen war, sagte er zu mir: »Lazarus, es ist schon spät, und von hier bis zum Markt ist es eine gute Strecke. Auch gehen in dieser Stadt viele Spitzbuben herum, die Überfälle machen, wenn es dunkel ist. Wir wollen uns einrichten, so gut wir können, und morgen, wenn es Tag geworden ist, wird Gott weiterhelfen. Denn da ich bisher allein war, bin ich mit nichts versehen; zumal ich diese Tage außerhalb gegessen habe. Aber von jetzt ab müssen wir es anders machen.« »Herr«, sagte ich, »meinetwegen sollen sich Euer Gnaden doch keine Umstände machen, denn ich kann gut eine Nacht und, wenn es sein muß, auch mehr ohne Essen auskommen.« »Da wirst du länger und gesünder leben«, antwortete er mir, »denn wie wir heut schon sagten: um lange zu leben., gibt es nichts Besseres auf der Welt, als wenig zu essen.« »Wenn das der Weg ist«, sagte ich mir, »werde ich nie sterben, denn diese Regel mußte ich notgedrungen immer befolgen, und ich fürchte
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zu meinem Unglück, daß ich mich mein ganzes Leben lang danach richten muß.« Und er ging zu Bett, wobei er Strumpfhose und Wams zu seinem Kopfkissen machte. Und er forderte mich auf, mich zu seinen Füßen auszustrecken, was ich auch tat. Doch: verflucht der Schlaf, den ich dort schlief! Denn die ganze Nacht über schlugen sich meine hervorstehenden Knochen unablässig mit den Rohrstöcken herum und rieben sich daran wund. Denn bei meinen Anstrengungen und Leiden und dem Hungern hatte ich - glaube ich - kein Pfund Fleisch mehr am Leibe, und da ich außerdem an diesem Tage fast nichts gegessen hatte, tobte mein Magen vor Hunger, und das vertrug sich gar nicht mit dem Schlaf. Den übrigen Teil der Nacht - Gott verzeih mir's - verfluchte ich mich und mein elendes Schicksal dort wohl tausendmal, und was noch schlimmer ist, ich bat Gott viele Male um den Tod, da ich mich nicht zu rühren wagte, um ihn nicht zu wecken. Als es Tag wird, stehen wir auf, und er beginnt, seine Strumpfhose, dann das Wams, dann den Kittel, dann den Mantel zu säubern und auszuschütteln. Und dabei ich sein Diener! Und voll Hingabe kleidete er sich an, ganz langsam. Ich goß ihm Waschwasser ein, er
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kämmte sich und hing seinen Degen in den Gurt, und während er ihn einhängte, sagte er zu mir: »Oh, Bursche, wenn du wüßtest, was das für ein Stück ist! Für kein Gold der Welt würde ich ihn hergeben; denn bei keinem von all denen, die Antonius verfertigte, ist es ihm gelungen, den Stahl so scharf zu bekommen wie bei diesem.« Und er zog ihn aus der Scheide und prüfte ihn mit den Fingern, indem er sagte: »Hier, siehst du ihn? Ich mache mich anheischig, eine Wollflocke damit zu durchschneiden.« »Und ich mit meinen Zähnen ein Vierpfundbrot, wenn sie auch nicht von Stahl sind«, sagte ich zu mir. Er steckte den Degen ein und hing ihn, zusammen mit einem Rosenkranz von großen Perlen, an den Gurt. Und mit ruhigem Schritt und in aufrechter Haltung, wobei er mit dem Körper und dem Haupt artige Bewegungen machte und den Zipfel des Mantels bald über die Schulter, bald unter den Arm warf und die rechte Hand in die Seite stemmte, schritt er durch die Tür mit den Worten: »Lazarus, achte aufs Haus, während ich fort bin und die Messe höre; mach das Bett und geh mit dem Wasserkrug an den Fluß, der hier unten ist, und schließe die Tür mit dem Schlüssel ab, damit man uns nichts
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stiehlt, und versteck ihn hier an der Angel, damit ich hereinkommen kann, wenn ich inzwischen zurück sein sollte.« Und dann ging er die Straße hinauf mit so artiger Miene und Haltung, daß jeder, der ihn nicht näher kannte, ihn für einen nahen Verwandten des Grafen Alarcos halten mußte oder wenigstens für seinen Kammerdiener, der ihm die Kleider reichte. Und ich blieb in Gedanken versunken und sagte: »Gebenedeit seist Du, Herr, der Du die Krankheit gibst und das Heilmittel dazu; wer würde nicht denken, wenn er diesen meinen Herrn trifft, nach dem Selbstbewußtsein, das er zur Schau trägt, zu urteilen, daß er am Abend vorher gut gespeist und in gutem Bett geschlafen habe? Und wird man nicht glauben, daß er jetzt, obwohl es noch früh am Morgen ist, schon sehr gut gefrühstückt habe? Geheimnisvoll, Herr, sind Deine Wege und den Menschen verborgen! Wen würde die gute Erscheinung, der noble Mantel und Anzug nicht täuschen? Und wer würde annehmen, dieser schmucke Mann habe gestern den ganzen Tag ohne Essen zugebracht, nur mit dem Stück trocknen Brot im Magen, das sein Diener Lazarus einen Tag und eine Nacht lang an seinem Busen getragen hat, wo ihm nicht viel
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Reinlichkeit anhaften konnte, und habe sich heute beim Gesicht- und Händewaschen aus Mangel an einem Handtuch den Saum seines Wamses reichen lassen? Niemand, sicherlich, würde das vermuten! Oh, Herr, wie viele hast Du wohl von diesen an allen Orten der Welt, die um des äußeren Scheines willen, die sie Ehre nennen, erleiden, was sie für Dich nie erdulden würden!« So stand ich an der Tür und überlegte und bedachte diese Dinge und viele andere, bis mein Herr Gebieter die lange und enge Straße hinuntergegangen war. Und als ich ihn verschwinden sah, drehte ich mich um und ging ins Haus, und im Nu hatte ich es durchstöbert, von oben bis unten, ohne einen Fund zu machen oder einen Ort für solchen zu entdecken. Ich machte das schwarze, harte Bett, na hm den Krug und trug ihn an den Fluß, wo ich in einem Park meinen Herrn entdeckte, wie er zwei verschleierten Damen den Hof machte, anscheinend solchen, die an dieser Stätte niemals fehlten. Viele hatten es sich nämlich zum Lebensstil gemacht, in den frühen Sommermorgenstunden an die kühlen Ufer zu gehn, um frische Luft zu schöpfen und dort zu frühstücken, ohne etwas mitzunehmen, im Vertrauen darauf, daß der nicht ausbleiben würde, der ihnen etwas
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gäbe; denn so hatten es ihnen die adeligen Herren dieser Stadt angewöhnt. Und wie ich schon sagte, er war unter ihnen, ganz wie ein Don Juan, und sagte ihnen süßere Worte, als Ovid sie je geschrieben hat. Und da sie merkten, daß er ganz entflammt war, schämten sie sich nicht, ihn um ein Frühstück zu bitten gegen die übliche Bezahlung. Ihn, dessen Börse ebenso erschöpft wie sein Leib ausgehungert war, überkam eine solche Ohnmacht, daß die Farbe aus seinem Antlitz wich, und er begann, sich in seiner Unterhaltung immer mehr zu verwickeln und nicht gerade stichhaltige Entschuldigungen hervorzubringen. Sie jedoch, die anscheinend recht erfahren waren, nahmen ihn, als sie seine Krankheit erkannten, für das, was er war. Und ich, der ich indessen einige Kohlstrünke aß, die mir als Frühstück dienten, kehrte mit großem Eifer - wie jeder neue Bursche - ins Haus zurück, ohne von meinem Herrn gesehen zu werden. Dort dachte ich einen Teil des Hauses auszufegen, denn das war recht notwendig; doch ich wußte nicht, womit. Da begann ich zu überlegen, was ich tun könnte, und es schien mir das beste, bis Mittag auf meinen Herrn zu warten und zu sehen, ob er
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wohl käme und vielleicht etwas zu essen mitbrächte; doch mein Warten war vergeblich. Als ich sah, daß es zwei Uhr war, er nicht kam und mich der Hunger quälte, schließe ich meine Tür, lege den Schlüssel an den mir befohlenen Ort und gehe wieder meiner früheren Tätig keit nach. Mit leiser, kranker Stimme, über der Brust gefalteten Händen, Gott vor Augen und die Zunge in seinem Dienst, beginne ich, um Brot an den, wie mir schien, schönsten Toren und Häusern zu betteln. Und da ich dieses Betteln mit der Muttermilch eingesogen, will sagen, bei dem großen Meister, dem Blinden, gelernt hatte, war ich ein so fähiger Schüler darin geworden, daß es mir - obwohl es in diesem Ort keine Barmherzigkeit gab und das Jahr nicht sehr ertragreich war - leicht gelang, bevor die Uhr vier schlug, ebensoviel Pfund Brot im Leibe und mehr als zwei weitere in Ärmeln und Busen zu vergraben. Ich kehrte in meine Herberge zurück, und während ich über den Kuttelmarkt ging, bettelte ich dort ein Marktweib an, und sie gab mir ein Stück Ochsenklaue mit ein paar gekochten Kaldaunen. Als ich im Haus ankam, war mein guter Herr schon da, hatte seinen Mantel zusammengefaltet und auf die Steinbank gelegt und ging im Hof
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auf und ab. Bei meinem Eintreten kam er auf mich zu. Ich dachte, er würde mich wegen der Verspätung ausschelten; doch Gott wollte es besser. Er fragte mich, woher ich käme. Ich sagte ihm: »Herr, bis zwei Uhr bin ich biergeblieben, dann, als ich sah, daß Euer Gnaden nicht kamen, machte ich mich auf und ging durch die Stadt, um mich guten Leuten zu empfehlen, und sie gaben mir dies hier.« Ich zeigte ihm das Brot und die Kaldaunen, die ich in einem Rockzipfel trug, und bei deren Anblick sich sein Gesicht aufhellte, und er sagte: »Nun, ich habe dich zum Essen erwartet, doch, als ich sah, daß du nicht kamst, habe ich bereits gegessen, indessen du handeltest wie ein Mensch von Anstand. Denn es ist besser, etwas um Gottes Willen zu erbitten, als es zu stehlen; und so ist es recht; so wahr mir Gott helfe. Nur lege ich dir nahe, niemanden wissen zu lassen, daß du mit mir zusammen lebst; denn das trifft meine Ehre; wenn ich auch glaube, daß es geheim bleiben wird, so wenig wie ich in diesem Ort bekannt bin. Wäre ich nur nie hierher gekommen!« »Deswegen, Herr, seid unbesorgt« - sagte ich zu ihm - »denn niemand hat hierin von mir Rechenschaft zu fordern, noch brauche ich sie zu geben.«
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»Nun gut, dann iß jetzt, armer Teufel! Und so Gott will, werden wir bald aus der Not sein. Allerdings muß ich dir sagen, daß es mir nie gut gegangen ist, seitdem ich dieses Haus betrat. Sein Boden muß mir Unheil bringen. Denn es gibt Häuser des Unglücks und mit bösem Omen, die denen, die in ihnen leben, Unglück bringen. Dies hier muß zweifellos eins davon sein; doch ich schwöre dir, nach Ablauf dieses Monats bleibe ich nicht länger hier, und wenn man es mir schenkt.« Ich setzte mich in die Ecke der Steinbank und, um nicht für gefräßig von ihm gehalten zu werden, verschwieg ich das schon verzehrte Vesperbrot. Dann beginne ich, zu Abend zu essen und in meine Kaldaunen und das Brot zu beißen, und dabei betrachtete ich verstohlen diesen meinen unglücklichen Herrn, dessen Augen an meinem Schoß hingen, der dabei als Teller diente. Möge Gott so viel Mitleid mit mir haben wie ich mit ihm hatte; denn ich konnte ihm nachfühlen, was er fühlte und was ich so oft ertragen hatte und täglich ertrug. Ich dachte, ob es wohl richtig sei, Anstalten zu treffen, um ihn einzuladen; aber da er mir gesagt hatte, er habe schon gegessen, so fürchtete ich, er würde die Einladung nicht annehmen. Schließlich wünschte ich doch, daß dieser arme
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Teufel seinem Leiden durch meine Arbeit abhelfen und einen Imbiß nehmen möchte, wie er es tags zuvor getan hatte, denn der Moment war günstiger, da das Gericht besser und mein Hunger kleiner waren. Da wollte Gott meinen - und, wie ich annehme, auch seinen Wunsch erfüllen. Denn als ich zu essen begann, während er auf und ab ging, kam er zu mir und sagte: »Lazarus, ich muß dir sagen, daß du beim Essen die größte Anmut hast, die ich je in meinem Leben bei einem Menschen sah, und daß dir keiner dabei zusehen kann, ohne daß du ihm Appetit machst, auch wenn er gar keinen hat.« »Dein übergroßer«, dachte ich bei mir, »läßt meinen dir so schön erscheinen.« Bei all dem schien es mir jetzt angebracht, ihm zu helfen, da er sich selber half und mir den Weg geebnet hatte, und ich sagte zu ihm: »Vornehmes Essen, Herr, macht vornehm. Dieses Brot ist so köstlich und diese Ochsenklaue so wunderbar gekocht und gewürzt, daß kein Mensch ihrem Geschmack widerstehen kann.« »Ochsenklaue ist es?« »Ja, Herr.« »Ich sage dir, es gibt keinen besseren Bissen in der Welt als das, und nicht einmal Fasan schmeckt mir so gut.«
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»So kostet doch, Herr, und Ihr werdet sehen, wie sie ist.« Ich legte ihm ein Stück Ochsenklaue hin und drei oder vier Stück vom weißesten Brot. Und er setzte sich an meine Seite und begann zu essen wie jemand, der Appetit hat, wobei er jeden noch so kleinen Knochen besser abnagte, als es sein eigener Windhund getan hätte. »Mit Knoblauchsoße ist es ein einzigartiges Gericht«, sagte er. »Mit noch besserer Soße ißt du es«, antwortete ich leise. »Bei Gott, das hat mir geschmeckt, als ob ich heut noch keinen Bissen gegessen hätte.« »So gewiß mögen mir gute Jahre kommen, wie dies gewiß ist«, dachte ich bei mir. Er bat mich um den Wasserkrug; und ich gab ihm den, so wie ich ihn geholt hatte. Dies war ein Zeichen, daß mein Herr vorher nichts gegessen hatte, da er jetzt erst um Wasser bat. Wir tranken, und sehr zufrieden legten wir uns schlafen, wie am Abend vorher. Doch um nicht weitschweifig zu werden: auf diese Weise nun verbrachten wir acht bis zehn Tage, in denen der arme Teufel jeden Morgen in Selbstbewußtsein und gemessenem Schritt fortging, um in den Straßen frische Luft zu schöpfen, während er in dem armen
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Lazarus einen Strohmann besaß, der für ihn bettelte. Oft bedachte ich mein trauriges Schicksal, wie ich den knickerigen Herren, die ich vorher gehabt, entkommen und auf der Suche nach etwas Besserem auf diesen gestoßen war, der mich nicht nur nicht unterhielt, sondern den ich noch zu unterhalten hatte. Bei alledem hatte ich ihn gern, denn ich sah wohl, daß er nicht mehr hatte und nicht anders konnte. Und ich empfand ihm gegenüber eher Mitleid als Feind schaft. Und um etwas nach Haus zu bringen, um ihn durchzuschleppen, schleppte ich mich oft selbst schlecht genug durch. Und eines frühen Morgens, als der Ärmste aufstand und im Hemd nach oben ging, um ein Bedürfnis zu verrichten, machte ich mich daran, sein Wams und seine Strumpfhose auseinanderzuwickeln, die er am Kopfende liegengelassen hatte, um mich endlich von meinem Verdacht zu befreien, und fand eine Börse darin aus blankgescheuertem Samt, hundertfach zusammengefaltet, in der - verflucht auch nicht der kleinste Heller war noch eine Spur davon, daß sie seit langer Zeit einen enthalten hätte. »Der ist arm«, sagte ich mir, »und niemand gibt, was er nicht hat; der geizige Blinde und
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der elend knickrige Geistliche, denen beiden es Gott gab, dem einen mit dem Handkuß, dem andern mit der gewandten Zunge, ließen mich fast Hungers sterben; sie zu hassen ist gerecht, mit dem hier aber soll man Mitleid haben.« Gott ist mein Zeuge: noch heute, wenn ich so einen mit diesem Gang und in der Aufmachung treffe, bedaure ich ihn, wenn ich daran denke, daß er vielleicht auch das zu leiden hat, woran ich den hier leiden sah. Bei all seiner Armut hätte ich ihm doch lieber gedient als den andern, aus eben dem Grunde, den ich schon sagte. Nur in einem war ich unzufrieden mit ihm; denn ich hätte gewünscht, daß er nicht so eingebildet gewesen wäre und daß bei zunehmender Not sein Dünkel abgenommen hätte. Doch, wie mir scheint, ist das bei ihnen schon eine allgemein beachtete Regel geworden. Hat man auch keinen Heller in der Tasche, so geht man doch mit dem Barett in seinem Dorf umher. Da mag der Herrgott helfen, sonst müssen sie eben mit dieser Krankheit begraben werden. So stand es um mich, und so war mein Leben, wie ich eben erzählte. Doch mein Unglück, dem meinte Verfolgung noch nicht genügte, wollte nicht, daß ich bei dieser mühseligen und beschämenden Lebensart bleiben sollte. Und das kam so: Da das Jahr in dieser Gegend
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knapp an Korn war, beschloß die Ratsversammlung, alle ortsfremden Armen sollten die Stadt verlassen, und es wurde öffentlich ausgerufen, daß jeder, der von nun ab angetroffen würde, mit Peitschenhieben bestraft werden sollte. Und so sah ich denn schon vier Tage nach der Verkündung des Ausrufs, wie eine Prozession solcher Unglücklichen gemäß der Anordnung mit Peitschen in alle vier Richtungen getrieben wurde. Das versetzte mich in so großen Schrecken, daß ich nicht wieder wagte, mich zum Betteln aufzumachen. Und nun sehet her, wer sehen kann: das Fasten in meinem Haus und die Trauer und Stille seiner Bewohner, es ging so weit, daß zwei oder drei Tage verstrichen, ohne daß wir einen einzigen Bissen aßen oder ein einziges Wort sprachen. Mich hielten einige gute Baumwollspinnerinnen am Leben, die Mützen machten und neben uns wohnten, zu denen ich ein nachbarlich gutes Verhältnis unterhielt. Von dem wenigen, was ihnen die Mützen einbrachten, gaben sie mir ein In wenig ab, wovon ich mich, schon ganz ausgehungert, durchhungerte. Ich selber tat mir nicht so leid wie mein leidender Herr; den Bissen möchte ich sehn, den er während dieser acht Tage aß! Im Haus wenigstens verbrachten wir die Zeit wirklich
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ohne zu essen. Ich weiß auch nicht, wie er durchkam und wohin er ging und was er aß. Und dabei mußte man ihn mittags die Straße herunterkommen sehn, in stolzer Haltung und von schlankerem Wuchs als ein Windhund guter Rasse! Um des äußeren Scheins willen, den sie Ehre nennen, nahm er einen Strohhalm, die es nicht einmal genug im Hause gab, als Zahnstocher zwischen die Zähne, die nichts zwischen sich hatten, und biß darauf herum, wenn er aus der Tür ging, wobei er sich dann über die üble Behausung beklagte. »Es ist doch schrecklich, zu sehen, was das Unglück dieser Wohnung anrichtet. Wie du siehst, ist sie dunkel, traurig und düster. Solange wir hier sind, haben wir zu leiden. Ich wünschte nur, daß dieser Monat erst zu Ende ist, damit wir hier herauskommen.« Als wir nun so von Trübsal und Hunger verfolgt wurden, gelangte eines Tages, ich weiß nicht durch welchen Zufall oder welches Glück, ein Heller in den kärglichen Besitz meines Herrn. Damit kam er so stolz nach Haus, als ob er den Schatz von Venedig besäße, und mit strahlender, lächelnder Miene gab er ihn mir mit den Worten: »Nimm, Lazarus, denn jetzt ist es endlich soweit., daß Gott seine Hand öffnet. Geh auf den Markt und kaufe Brot und
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Wein und Fleisch. Den Teufel wollen wir hängen! Und mehr noch will ich dich wissen lassen, damit du deine Freude hast: ich habe ein anderes Haus gemietet; in diesem unseligen hier brauchen wir nicht länger zu bleiben als nur diesen Monat noch. Verflucht sei es, und verflucht derjenige, der den Grundstein dazu legte; denn als ich hier einzog, zog das Unglück mit mir ein. Bei Gott, seitdem ich hier lebe, habe ich weder einen Tropfen Wein noch einen Bissen Fleisch noch überhaupt einen guten Tag gehabt; aber was für ein Aussehn hat es auch und welche Dunkelheit und Trauer! Geh und komm schnell zurück; heute wollen wir wie Fürsten speisen!« Ich nahm meinen Heller und Krug, beschleunigte meine Schritte und begann äußerst zufrieden und froh meine Straße hinaufzugehn und die Richtung nach dem Markt einzuschlagen. Doch was nützte es mir, wenn es in meinem traurigen Schicksal bestimmt war, daß mir keine Freude ungetrübt zuteil werden sollte? Und so war es auch diesmal; denn als ich die Straße hinaufgehe und ausrechne, wie ich meinen Heller anlegen und am besten und nützlichsten ausgeben könnte, wobei ich Gott unendlich oft dankte, daß er meinen Herrn mit Geld bedacht hatte, kam mir im unpassendsten
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Moment eine Leiche entgegen, die viele Priester und Volk auf einer Bahre die Straße hinuntertrugen. Ich lehnte mich an die Mauer, um ihnen Platz zu machen; der Leichenzug kam vorbei, und neben dem Sarg her ging eine Frau, die die Gattin des Verstorbenen sein mußte, ganz in Schwarz, und mit ihr viele andere Frauen; sie weinte laut und sagte: »Mein lieber Mann und Gebieter, wohin tragen sie dich? In das traurige, unheilvolle Haus, in das düstere, finstere Haus, in das Haus, wo man nicht ißt und trinkt!« Über mir stürzte der Himmel ein, als ich das hörte, und ich sagte mir: »Oh, ich Unglücklicher! In mein Haus tragen sie jetzt diesen Toten!« Da lasse ich meinen Weg Weg sein, drängte mich mitten durch die Menge und lief, so schnell ich konnte, die Straße wieder hinunter zurück in unser Haus. Sobald ich drin war, schloß ich es schnell ab, wobei ich meinen Herrn um Hilfe und Beistand anrief und mich flehentlich an ihn hing, daß er mir helfen möchte, den Eingang zu verteidigen. Er war darüber etwas bestürzt, da er dachte, es habe einen anderen Grund, und sagte zu mir: »Was ist denn los, Bursche? Was schreist du so? Was hast du? Warum wirfst du die Tür so zu?«
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»Oh, Herr«, antwortete ich, »kommt her, denn man bringt uns einen Toten herein!« »Was heißt das?« sagte er. »Draußen habe ich ihn getroffen, und seine Frau ging neben ihm her und rief: „Mein lieber Mann und Gebieter, wohin tragen sie dich? In das düstere, finstere Haus, in das traurige, unheilvolle Haus, in das Haus, wo man nicht ißt und trinkt!“ Hierher, Herr, bringen sie ihn uns!« Als mein Herr das hörte, begann er natürlich, obwohl er keinen Grund zum Lustigsein hatte, so sehr zu lachen, daß er lange Zeit außerstande war, ein Wort hervorzubringen. Inzwischen hatte ich den Riegel vor die Tür gelegt und stemmte mich zur besseren Verteidigung mit der Schulter gegen sie. Die Leute zogen mit ihrem Toten vorüber, und immer noch fürchtete ich, daß sie ihn uns ins Haus legen würden. Und als mein guter Herr vom Lachen satt war, mehr als vom Essen, sagte er zu mir. »Wirklich, Lazarus, so wie die Witwe das sagt, hattest du Grund zu denken, was du dachtest; doch nun, wo Gott es besser gelenkt hat und sie vorübergehen, öffne, öffne und hole zu essen!« »Laßt sie doch, oh Herr, laßt sie doch erst durch die Straße sein!« erwiderte ich. Schließlich trat mein Herr an die Haustür und
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öffnete sie, während er mir Mut zusprach, und das war auch nötig bei meiner Furcht und Erregung; ich machte mich nun wieder auf den Weg. Doch, wenn wir auch an diesem Tag gut aßen - für mich war der Appetit zum Teufel. Selbst in den nächsten drei Tagen hatte ich noch nicht meine Farbe wieder. Mein Herr aber war um so besserer Laune, immer, wenn er an meine Aufregung dachte. So lebte ich nun mit meinem dritten, armen Herrn, mit diesem Junker, ein paar weitere Tage zusammen, während derer ich zu wissen wünschte, warum er wohl in diese Gegend gekommen sei und sich hier aufhielt. Denn gleich vom ersten Tage, an dem ich in seinen Dienst getreten war, hatte ich an seiner geringen Kenntnis der Einwohner und seinem mangelnden Umgang mit ihnen gemerkt, daß er ein Fremder war. Schließlich erfüllte sich mein Wunsch, und ich erfuhr, was ich wünschte; denn eines Tages, als wir vernünftig gegessen hatten und er ganz zufrieden war, erzählte er mir seine Geschichte und sagte, daß er aus Altkastilien stamme und seine Heimat verlassen habe einzig und allein, um nicht vor seinem Nachbarn, einem Adligen, den Hut ziehn zu müssen. »Herr«, sagte ich, »wenn er das war, was Ihr
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sagt, und mehr besaß als Ihr: irrtet Ihr da nicht, wenn Ihr ihn nicht vor ihm zuerst zoget? Denn Ihr sagt doch, daß er ihn auch vor Euch zog. »Doch, das war er, und er hatte auch mehr als ich, und er zog auch vor mir den Hut; aber in den vielen Fällen, wo ich ihn zuerst zog, wäre es nicht schlimm gewesen, wenn er sich einmal herabgelassen hätte, mir zuvorzukommen.« »Ich glaube, Herr«, sagte ich zu ihm, »ich würde mich darum nicht kümmern, zumal nicht bei denen, die mehr sind und mehr haben als ich.« »Du bist ein junger Bursch«, antwortete er mir, »und verstehst nichts von Sachen der Ehre, worin heutzutage der ganze Wert der Männer von Anstand besteht. Nun, ich will dich wissen lassen, daß ich, wie du siehst, ein Junker bin; doch ich schwöre dir bei Gott: wenn ich einen Grafen auf der Straße träfe und er den Hut nicht tief vor mir wieder zöge, so wüßte ich es das nächstemal, wenn er käme, so einzurichten, daß ich in ein Haus ginge, als hätte ich darin etwas zu erledigen, oder würde lieber eine andre Straße gehn, wenn es die gäbe, als daß er mit mir zusammenträfe, nur um nicht vor ihm den Hut wieder ziehen zu müssen. Denn ein Adliger schuldet niemandem etwas außer
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Gott und dem König, und es ist auch nicht recht, daß er als Mann von Anstand nur einen Augenblick übersieht, was er seiner Person schuldig ist. Ich entsinne mich, daß ich eines Tages in meiner Heimat einen Beamten beschimpfte und Hand an ihn legen wollte; denn jedesmal, wenn ich ihn traf, sagte er zu mir: „Gott behüt Euer Gnaden!“ „Ihr elender Herr Bürgerlich“, entgegnete ich ihm, „warum grüßt Ihr nicht, wie es sich gehört? Wie könnt Ihr mich mit „Gott behüt Euch!“ anreden, als wäre ich irgendwer?“ Von da ab, von dem Moment an zog er vor mir den Hut und begrüßte mich, wie es sich für ihn gehörte.« »Ja, ist denn das«, fragte ich, »keine gute Art, wenn einer den andern grüßt, indem er ihm wünscht, Gott möge ihn behüten?« »Na höre, ganz unpassend ist das!« sagte er, »zu den einfachen Leuten sagt man so; aber die Höherstehenden wie mich kann man nicht unter: „Küß die Hände, Euer Gnaden“ anreden, oder zum mindesten mit: „Küß Euch die Hände, Herr“, wenn nämlich der, der grüßt, ein Adliger ist. So wollt' ich das auch nicht länger dulden von dem aus meiner Heimat, der mich mit dem „Gott behüt!“ abspeisen wollte, und würde es bei keinem Menschen auf der Welt, vom König abwärts, dulden,
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werde es überhaupt nie dulden, daß man mich mit: „Gott behüt Euch!“ begrüßt.« »Ach, du armer Teufel«, sagte ich bei mir, »deswegen hält es Gott auch nicht der Mühe für wert, dich zu behüten, da du nicht duldest, daß ihn jemand darum bittet.« »Vor allem«, sagte er, »da ich doch gar nicht so arm bin; denn ich habe ja in meiner Heimat sechzehn Meilen von meinem Geburtsort entfernt am Bergabhang bei Valladolid ein Grundstück für Häuser, die, wenn sie errichtet und gut gebaut wären, mehr als zweihunderttausend Maravedis wert wären, wenn man sie entsprechend groß und schön aufführte. Und ich habe einen Taubenschlag, der, wenn er nicht eingestürzt wäre, wie er's ist, jährlich mehr als zweihundert junge Tauben bringen würde. Und noch andere Dinge, die ich weiter nicht erwähne, und die ich alle verließ, allein um meiner Ehre willen. Da ging ich in diese Stadt, weil ich glaubte, ich würde hier gut weiterkommen; aber es ist mir nicht so ergangen, wie ich dachte. Domherren und Kirchenmänner sehe ich hier viele; aber es sind so beschränkte Leute, daß nichts auf der Welt sie aus ihrem Trott bringen kann. Adlige mittleren Ranges bitten mich wohl, aber bei ihnen zu dienen ist ein Kreuz. Denn vom
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Herrn habt ihr euch in seinen Knecht zu verwandeln, und tut ihr das nicht, „geht mit Gott“, sagen sie euch dann. Und meist ist ihre Bezahlung auf weite Sicht, und die sicherste von allen ist: freie Kost für den Dienst. Wollen sie schon einmal ihr Gewissen beruhigen und euren Schweiß euch lohnen, so werdet ihr mit einem verschwitzten Wams oder abgetragenen Mantel aus der Kleiderkammer bezahlt. Begibt sich jemand aber in den Dienst eines hohen Herrn, dann allerdings läßt er sein Elend hinter sich. Habe ich etwa nicht das Zeug dazu, ihnen zu dienen und sie zufriedenzustellen? Bei Gott, wenn ich mit so einem zusammenträfe, ich glaube, ich würde sein besonderer Günstling werden und ihm tausend Dienste leisten; denn ich würde ihm ebensogut etwas vorzulügen verstehen wie jeder andere und ihm alle seine Wünsche von den Lippen ablesen. Ich würde seine Eigenheiten und Späße witzig finden, wenn sie auch nicht die besten von der Welt wären; würde ihm nie etwas sagen, was er nicht hören möchte, auch wenn es ihm sehr not täte; ich würde sehr akkurat in allem sein, was seine Person angeht, im Reden wie im Tun, mich aber nicht umbringen, um etwas gut zu machen, das er doch nicht sieht; und
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würde mit den Bedienten zu schelten anfangen, wenn er es hören kann, denn es macht den Eindruck, als ob man sich sehr um das sorge, was ihn angeht. Wenn er auf einen Diener zankt, würde ich ein paar scharfe Spitzen dazugeben, um seinen Zorn anzufachen, wenn sie auch scheinbar zugunsten des Schuldigen sprächen; ihm selbst würde ich Angenehmes sagen über das, was ihm angenehm ist, und, im Gegensatz dazu, boshaft und spöttisch gegen die im Haus und die von außerhalb sein und über sie herziehen und über das Leben anderer Nachforschungen anstellen und etwas über sie herausbekommen, um ihm das alles und noch andere Ruhmestaten der Art zu erzählen, die heutzutage in den Schlössern im Umlauf sind und ihren Herren gefallen. Denn sie wollen in ihren Häusern auch keine tugendhaften Männer sehn; vielmehr verabscheuen sie sie und achten sie gering und nennen sie Dummköpfe und Leute, die nichts von ihrem Geschäft verstehen und vor denen der Herr sich nicht gehen lassen kann. Und so nutzen die Schlauen sie heutzutage aus, so wie ich sie ausnutzen würde, wie ich schon sagte; doch mein Schicksal will nicht, daß ich solch einen Herrn finde.« In dieser Weise klagte mein Herr über sein
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Unglück und gab mir dabei einen Bericht von dem Wert seiner Person. Während wir noch so sprechen, traten ein Mann und eine Alte in die Tür. Der Mann bat ihn um die Miete für das Haus und die Alte um die für das Bett. Sie machten die Rechnung und kamen dabei für zwei Monate auf eine Summe, auf die er in einem ganzen Jahr nicht gekommen wäre. Ich glaube, es waren zwölf oder dreizehn Groschen. Und er gab ihnen eine sehr gute Antwort: er wolle auf den Markt gehen und eine Münze wechseln, und sie möchten doch am Nachmittag wiederkommen; sein Ausgang jedoch war ohne Rückkehr. Die beiden kamen nun am Nachmittag wieder; und es war schon spät. Ich sagte ihnen, daß er noch nicht zurückgekehrt sei. Als die Nacht kam, aber mein Herr nicht, überfiel mich Angst, allein im Haus zu bleiben, und ich ging zu den Nachbarinnen und erzählte ihnen den Vorfall und schlief dort. Als es Morgen war, kamen die Gläubiger wieder und fragten an der Nachbarstür nach ihm. Die Frauen antworteten ihnen: »Hier seht ihr seinen Burschen und den Haustürschlüssel.« Sie fragten mich nach ihm, und ich sagte ihnen, ich wisse nicht, wo er sei, er wäre von seinem
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Geldwechseln noch nicht zurückgekehrt, und ich glaube, er habe sich mit diesem Vorwand von mir und von ihnen auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Als sie solches von mir vernahmen, suchten sie einen Gendarm und einen Gerichtsschreiber; und da waren sie dann wieder, kamen mit diesen zurück, nahmen den Schlüssel, riefen mich und riefen Zeugen herbei, öffneten die Tür und traten ein, um die Habe meines Herrn soweit in Beschlag zu nehmen, bis seine Schulden damit bei ihnen bezahlt wären. Sie durchstöberten das ganze Haus und fanden es leer, wie ich ja schon erzählt habe. Da sagten sie zu mir: »Was ist mit dem Hab und Gut deines Herrn, seinen Geldschränken, Wandbehängen und en Kostbarkeiten im Haus?« »Davon weiß ich nichts«, antwortete ich ihnen. »Sicherlich werden sie es gestern abend noch genommen und anderswohin gebracht haben«, sagten sie. »Herr Gendarm, nehmt diesen Burschen fest, denn er weiß, wo es ist.« Daraufhin kam der Gendarm und packte mich am Kragen mit den Worten: »Bursche, du wirst festgenommen, wenn du nicht aufdeckst, wo das Hab und Gut deines Herrn ist.« Ich, der ich mich in solcher Lage noch nicht gesehen hatte - zwar am Kragen gepackt
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worden war ich viele, unendlich viele Male, doch da war ich stets in sanften Fesseln gewesen, um dem den Weg zu zeigen., der nicht sehen konnte -, ich bekam jetzt große Angst und versprach ihm unter Tränen, zu sagen, was man von mir wissen wollte. »Es ist gut«, sprachen sie, »dann sag also alles aus, was du weißt, und sei ohne Furcht.« Da setzte sich der Schreiber auf eine Steinbank, um schriftlich die Bestandsaufnahme zu machen, und fragte mich, was er besäße. »Meine Herren«, sagte ich, »was mein Herr besitzt, wie er mir sagte, ist ein sehr gutes Grundstück für Häuser und ein verfallener Taubenschlag.« »Das ist gut«, sagten sie, »so wenig das auch wert ist, so ist es doch hinreichend, um damit die Schulden zu bezahlen. Und in welchem Teil dieser Stadt hat er das?« fragten sie mich. »In seiner Heimat«, antwortete ich ihnen. »Bei Gott, der Handel ist gut«, sagten sie, »und wo ist seine Heimat?« »Er sagte mir, daß er aus Altkastilien stamme«, antwortete ich ihnen. Da lachten der Gendarm und der Schreiber laut und sagten: »Der Bericht reicht wahrlich aus, um eure Schulden einzuziehen, selbst wenn sie noch höher wären!«
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Die Nachbarinnen, die anwesend waren, erklärten nun: »Meine Herren, das ist ein unschuldiger Knabe; er ist erst seit einigen Tagen bei diesem Junker und weiß von ihm nicht mehr als Euer Gnaden selber; denn der arme Teufel hier kommt oft in unser Haus, und aus Liebe zu Gott geben wir ihm, was wir können, zu essen, und abends ist er immer zum Schlafen hinübergegangen.« Als sie meine Unschuld einsahen, ließen sie mich los und gaben mich frei. Und dann forderten der Gendarm und der Schreiber ihre Gebühren von dem Mann und der Frau. Darüber erhob sich ein großer Streit und Lärm unter ihnen; denn sie erklärten, zum Zahlen nicht verpflichtet zu sein, da ja nichts da wäre und keine Beschlagnahme hätte stattfinden können. Die andern erklärten dagegen, daß sie eine andere Amtshandlung deswegen hätten fahren lassen, die ihnen wichtiger gewesen wäre als hier zu dieser zu kommen. Zu guter Letzt, nach vielem Geschrei, belädt sich schließlich ein Polizeidiener mit der alten Bettdecke der Alten, wenn er auch nicht gerade sehr beladen fortging. Und davon machen sich alle fünf mit Geschrei. Ich weiß nicht, was daraus wurde. Ich glaube, die armselige Bettdecke mußte für alle herhalten, und das geschah ihr
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recht; denn in einem Stadium, in der sie sich von der getanen Arbeit hätte erholen und ausruhen sollen, hatte sie sich noch vermieten lassen. Und so, wie ich erzählt habe, verließ mich also mein armer dritter Herr, bei dem mir nun der letzte Zweifel über mein elendes Schicksal genommen wurde, welches alles, was es nur konnte, gegen mich wendete und meine Angelegenheiten so auf den Kopf stellte, daß es mir anders erging als den anderen, wo die Diener ihre Herren verlassen, indem mein Herr mich verließ und mir entfloh.
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IV. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Mönches begab und was er bei ihm erlebte
ICH MUSSTE MIR NUN DEN VIERTEN Herrn suchen. Das war ein Mönch, dem mich die guten Frauen, von denen ich schon gesprochen habe, empfohlen hatten. Sie nannten ihn ihren Verwandten. Und er, ein großer Feind davon, im Chor zu singen und im Kloster zu essen, hatte für nichts anderes Sinn, als draußen herumzuschweifen und sich gänzlich weltlichen Geschäften und Besuchen hinzugeben. Er trieb das so leidenschaftlich, daß er, glaube ich, mehr Schuhzeug zerriß als das ganze Kloster zusammen. Er gab mir die ersten Schuhe, die ich in meinem Leben auftrug; doch waren sie in kaum acht Tagen verbraucht, und ebenso verbraucht war ich selbst nach dieser Zeit bei seinem Hin- und Herrennen. Und deswegen und noch anderer hübscher Dinge wegen, die ich lieber nicht erzähle, ging ich von ihm fort.
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V. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Ablaßkrämers begab und von den Erlebnissen, die er bei ihm hatte
ALS FÜNFTEN HERRN LIESS MICH DAS Schicksal an einen kommen, der Ablaßkrämer war, der frechste, schamloseste und gerissenste, den ich je gesehen habe und wie ich hoffentlich keinen wieder sehe; ich glaube auch nicht, daß überhaupt jemand solch einen sah; denn bei seinem Vorgehn scheute er keine Mittel und Wege und verfiel auf die ausgeklügeltsten Kniffe. Wenn er in die Orte kam, in denen die Ablaßzettel verkauft werden sollten, so schenkte er erst einmal den Geistlichen und Pfarrern irgendeine Kleinigkeit, durchaus nicht etwa eine von besonderem Wert oder Gewicht: einen Kopf Murcianer Salat, wenn es die Jahreszeit dafür war, ein paar Zitronen oder Apfelsinen, einen Pfirsich, ein paar Herzpfirsiche oder für jeden etwa ein paar Frühbirnen; so suchte er sie für sich zu gewinnen, damit sie seinem Geschäft entgegenkämen und ihre
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Pfarrkinder zum Bezug von Ablaßzetteln ermahnten. Bedankten sie sich dann bei ihm, so erforschte er, wes Geistes Kind sie waren; sagten sie, daß sie alles verstünden, so sprach er nicht ein Wort Latein, um sich keine Blöße zu geben, sondern bediente sich eines geschmeidigen, reinen Kastilisch und der freiesten Umgangssprache. Und wenn er erfuhr, daß besagte Priester zu den Geistlichen gehörten, die mehr durch Geld als durch Wissen zu Amt und Würden gekommen waren, so trat er wie ein heiliger Thomas unter ihnen auf und sprach zwei Stunden lang Latein; wenigstens hörte es sich so an, wenn es auch keins war. Wenn die Leute die Zettel nicht gutwillig nahmen, so suchte er nach einem Mittel, wie sie sie wohl oder übel nehmen mußten, und belästigte das Volk in verschiedener Weise und manchmal mit geschickten Tricks. Da es jedoch. zu lang werden würde, alle zu erzählen, die ich ihn anwenden sah, so will ich wenigstens einen sehr scharfsinnigen und witzigen berichten, der von seiner Fähigkeit einen guten Begriff geben kann. In einem Dorf im Sprengel von Toledo hatte er zwei oder drei Tage gepredigt, wobei er mit seinem üblichen Eifer vorging, und keiner
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hatte ihm einen Zettel abgenommen, auch schien keiner die Absicht zu haben, ihm einen abzunehmen. Daher wünschte er alles zum Teufel, und als er darüber nachdachte, wie er es zuwege bringen könne, kam er auf die Idee, um seine Zettel loszuwerden, das Volk am nächsten Morgen anzulocken. Am Abend vorher setzte er sich mit dem Gendarm nach dem Essen zusammen, um die Zeche auszuknobeln. Dabei gerieten sie in Streit, und es fielen böse Worte; er nannte den Gendarm einen Schuft, und der ihn einen Betrüger. Darauf nahm mein Herr, der Herr Kommissar, eine Lanze, die in dem Säulengang stand, in dem sie saßen; und der Gendarm zog sein Schwert, das er im Gurt trug. Bei dem Lärm und Geschrei, das wir alle machten, laufen die Wirtsleute und Nachbarn herbei und werfen sich zwischen sie; die beiden versuchen voller Zorn, die Dazwischentretenden wegzudrängen, um einander umzubringen. Da aber bei dem großen Lärm immer mehr Leute herbeikamen und das Haus voll wurde von ihnen, und sie sahen, daß sie sich nicht mit den Waffen gegenübertreten konnten, so riefen sie sich Schimpfworte zu. Dabei rief der Gendarm meinem Herrn zu, er sei ein Betrüger, und die Ablaßzettel, die er anpries seien falsch.
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Als die Leute aus dem Dorf sahen, daß sie keinen Frieden zwischen ihnen stiften konnten, beschlossen sie zuletzt, den Gendarmen aus dem Wirtshaus anderswohin zu bringen; so blieb mein Herr voller Zorn zurück. Und als die Wirtsleute und Nachbarn ihr. baten, doch von seinem Zorn abzulassen und zu Bett zu gehn, ging er denn auch, und so legten wir uns alle schlafen. Als dann der Morgen gekommen war, ging mein Herr in die Kirche und ließ zur Messe und Predigt läuten, um die Ablaßzettel zu verkaufen. Und das ganze Dorf versammelte sich dort. Die Bauern murrten alle über die Zettel und erklärten, sie seien falsch, der Gendarm selber habe es bei seinem Streit aufgedeckt; und wenn sie vorher schon wenig Lust gehabt hatten, sie zu nehmen, so hatten sie nun vollends genug davon. Da stieg der Herr Kommissar auf die Kanzel und beginnt seine Predigt zu halten und den Leuten gut zuzureden, doch ja nicht an einem so großen Gut und der Freiheit, die ein Ab laßzettel mit sich bringt, vorüberzugehen. Als er mitten im schönsten Predigen ist, tritt der Gendarm durch die Kirchenpforte, und als er gebetet hatte, stand er auf und begann mit lauter, ruhiger Stimme folgendermaßen vernünftig zu reden:
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»Ihr guten Leute, hört ein Wort von mir an, danach könnt ihr hören, auf wen ihr wollt. Ich kam hierher mit diesem Schwindler, der euch predigt; er beschwatzte mich und sagte, ich möchte ihm bei seinem Geschäft helfen, danach würden wir uns den Gewinn teilen; jetzt aber, wo ich eingesehen habe, welchen Schaden ich meinem Gewissen und eurem Hab und Gut damit zufügen würde, und das Vergangene bereue, erkläre ich euch hiermit in aller Deutlichkeit: die Ablaßzettel, die er euch anpreist, sind falsch, ihr dürft ihm nicht glauben und sie nicht nehmen, ich bin weder direkt noch indirekt daran beteiligt und lege sonst heute noch meinen Stab nieder und zerbreche ihn; wenn der dort dann später wegen Betrugs bestraft wird, so möget ihr meine Zeugen sein, daß ich nichts mit ihm gemein habe und ihm keinerlei Hilfe dabei leistete, sondern euch im Gegenteil die Augen öffne und euch seine Bosheit zeige.« Damit schloß er seine Rede. Einige ehrenwerte Männer wollten aufstehn und den Gendarm aus der Kirche werfen, um einen Skandal zu vermeiden; doch mein Herr trat dazwischen und befahl allen bei Strafe des Kirchenbanns, ihn nicht zu stören, sondern ihn sagen zu lassen, was er wollte; dann schwieg auch er,
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während der Gendarm sagte, was ich eben berichtet habe. Und als er geendet hatte, fragte ihn mein Herr, ob er noch mehr zu sagen habe, dann möge er es doch tun. Der Gendarm antwortete darauf: »Allerhand ist noch zu sagen über Euch und Euren Betrug, aber für jetzt mag es genug sein.« Da kniete der Herr Kommissar auf der Kanzel nieder, und mit gefalteten Händen und zum Himmel gerichteten Blicken sprach er folgendermaßen: »Herr Gott im Himmel, Du, dem nichts verborgen ist, sondern alles offenbar; dem nichts unmöglich ist, sondern alles möglich; Du, Herr, kennst die Wahrheit und weißt, wie ungerecht ich beleidigt worden bin. Was mich betrifft, verzeihe ich, damit auch Du, Herr, mir verzeihest. Beachte ihn nicht, denn er weiß nicht, was er tut noch was er sagt; doch bei der Beleidigung, die er Dir angetan, und um der Gerechtigkeit willen flehe ich Dich an und bitte Dich, übersieh es nicht! Denn es könnte einer der Anwesenden, der vielleicht den heiligen Ablaßzettel zu nehmen gedachte, es jetzt unterlassen, da er den falschen Worten jenes Mannes Glauben schenkt. Und da dies meinem Nächsten zum Schaden gereicht, flehe ich Dich an, Herr: Übersieh es nicht, sondern
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offenbare hier ein Wunder und lasse es so geschehen: Wenn es wahr ist, was jener sagt, und ich Böses und Falsches bringe, laß diese Kanzel mit mir in den Abgrund sinken, laß uns sieben Meter unter die Erde verschwinden, aus der wir nie wieder hervorkommen mögen; ist es aber wahr, was ich sage, und der da, im Dienst des Teufels, belöge uns, um die Anwesenden eines so großen Glückes zu berauben und es ihnen wegzunehmen, so laß ihn bestraft und seine Bosheit allen offenbar werden!« Kaum hatte mein frommer Herr sein Gebet beendet, als der teuflische Gendarm ohnmächtig wurde und mit so lautem Krach zu Boden fiel, daß die ganze Kirche davon widerhallte; und er begann zu brüllen, Schaum trat ihm vor den verzerrten Mund, er schnitt Gesichter, schlug mit Händen und Füßen um sich und wälzte sich auf dem Boden. Der Lärm und das Geschrei der Leute waren so groß, daß man kein Wort verstehen konnte. Manche waren entsetzt und furchtergriffen. Einige sagten: »Möge der Herr ihm doch helfen und ihn wieder gesund machen!« Andere: »Das geschieht ihm recht, denn er legte falsch Zeugnis ab.« Zuletzt traten einige, die dort standen, an ihn heran, mit ziemlicher Angst, wie mir schien,
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und packten ihn bei den Armen, womit er den Nächststehenden heftige Faustschläge versetzte. Andere zogen ihn an den Beinen und hielten ihn mit aller Gewalt fest, denn kein tückischer Maulesel auf der ganzen Welt hat je so ausgeschlagen, wie er um sich schlug; so hielten sie ihn eine lange Weile. Und mehr als fünfzehn Männer waren über ihm; allen machte er zu schaffen, und wenn sie nicht aufpaßten, hatten sie ihren Hieb weg. Indem lag mein Herr und Gebieter vor der Kanzel auf den Knien, Hände und Blicke zum Himmel gerichtet und so in Gott versunken, daß alles Jammern, Lärmen und Kreischen, das in der Kirche zu hören war, ihn nicht aus seiner frommen Versenkung aufstören konnte. Einige mitleidige Männer nun gingen zu ihm hin, schrien ihn an, um ihn zu erwecken, und flehten ihn an, er möchte doch dem Armen dort helfen, der im Sterben läge, und das Vergangene und dessen böse Reden vergessen, denn dafür wäre er ja nun schon genügend bestraft; könnte er aber etwas tun, um ihn aus der Gefahr und dem Anfall, dem er erlegen wäre, zu befreien, so möchte er es doch tun aus Liebe zu Gott, denn sie hätten nun klar die Schuld des Schuldigen erkannt, ebenso aber auch seine Wahrheit und Rechtschaffenheit, denn auf sein
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Flehen hin und zu seiner Rechtfertigung hätte der Herr nicht mit der Strafe gezögert. Der Herr Kommissar sah sie an wie einer, der aus süßem Traum erwacht, sah den Missetäter und alle an, die um ihn herumstanden, und sagte dann ganz ruhig und langsam zu ihnen: »Meine guten Leute, ihr solltet nicht für einen Menschen bitten, in dem Gott sich so augenscheinlich offenbart hat. Da Er uns aber befiehlt, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, sondern Beleidigungen zu verzeihen, so können wir Ihn voll Vertrauen anflehn, daß Er erfüllen möge, was Er uns befiehlt, und daß seine Herrlichkeit jenem verzeihen möge, der Ihn beleidigte, indem er dem heiligen Glauben an Ihn entgegenwirkte. Darum wollen wir Ihn jetzt alle anflehen!« Und mit diesen Worten stieg er von der Kanzel herab und forderte alle auf, voll Ergebung unsern Herrn darum zu bitten, es für recht zu erachten, jenem Sünder zu verzeihen, ihn an Leib und Seele wieder gesund zu machen und aus ihm den Teufel auszutreiben, von dem er seiner großen Sünde wegen besessen war, da seine Herrlichkeit es so zuließ. Alle knieten nieder und begannen mit dem Geistlichen vor dem Altar leise eine Litanei zu singen. Und dann kam mein Herr und Ge-
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bieter mit dem Kreuz und Weihwasser, als er vor dem Altar gesungen hatte, und sprach mit zum Himmel erhobenen Händen und Augen, von denen man fast nur etwas Weißes sah, ein Gebet, das ebenso lang wie fromm war; damit brachte er alle Leute zum Weinen, wie es Prediger und fromme Gemeinde bei den Passionspredigten tun; und so flehte er unsern Herrn an, nicht den Tod des Sünders, sondern dessen Leben und Reue zu wollen und ihm, der in des Teufels Hände geraten, dem Tode und der Sünde verfallen sei, zu vergeben und ihm Leben und Genesung zu schenken, auf daß er seine Sünden bereuen und beichten könne. Dies getan, ließ er den Ablaßzettel bringen und legte ihn dem Gendarmen aufs Haupt. Da begann der Sünder nach und nach ruhiger zu werden und wieder zu sich zu kommen. Und als er ganz bei Bewußtsein war, warf er sich dem Herrn Kommissar zu Füßen, bat ihn um Verzeihung und gestand, daß der Teufel aus ihm gesprochen und ihn dies alles geheißen habe, einmal um ihm Schaden anzutun und die Beleidigung zu rächen, zum andern aber, und das vor allem, weil der Teufel durch die guten Taten, die im Kauf der Ablaßzettel bestünden, viel Pein erlitte. Mein Herr und Gebieter vergab ihm, und die
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beiden schlossen Frieden miteinander. Dann stürzte sich alles so sehr auf die Ablaßzettel, daß in der ganzen Ortschaft fast keine lebende Seele ohne einen blieb, weder Mann noch Frau, weder Söhne noch Töchter, weder Knechte noch Mägde. Die Nachricht von diesem Ereignis drang schnell in die umliegenden Ortschaften, und als wir dorthin kamen, war keine Predigt und kein Kirchgang mehr nötig, denn alle kamen in unsern Gasthof, um die Zettel zu nehmen, als wären es Birnen, die man gratis verteilte. So konnte mein Herr und Gebieter in den zehn oder zwölf Dörfern unserer Umgebung, wohin wir gingen, weitere Tausende von Ablaßzetteln verkaufen, ohne auch nur eine Predigt zu halten. Als jenes Wunder geschah, da war auch ich, ich muß diese Sünde gestehen, davon erschüttert und glaubte wie viele andere, das sei wahr haftig so; als ich aber nachher das Gelächter und die Witze hörte, die mein Herr und der Gendarm darüber und über ihr Geschäft machten, wurde mir klar, daß ich von meinem listigen, erfindungsreichen Herrn überlistet war. Wenn ich auch noch ein Junge war, so gefiel es mir sehr, und ich sagte mir: »Wie viele dieser
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Tricks wenden die Ablaßverkäufer bei dem leichtgläubigen Volk wohl an!« Nun gut; mit diesem meinem fünften Herrn war ich dann ungefähr vier Monate zusammen, in denen ich ebenfalls manche Leiden zu erdulden hatte.
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VI. Wie sich Lazarus in den Dienst eines Kaplans begab und was er dort erlebte
DANACH BEGAB ICH MICH IN DEN Dienst eines Malers, der Tamburins verzierte, am ihm Farben zu reiben, und auch dort ertrug ich tausend Übel. Indessen war ich zu einem schmucken Burschen herangewachsen, und eines Tages, als ich in die Hauptkirche trat, nahm mich ein Kaplan in seinen Dienst. Er gab mir einen schönen Esel, vier Krüge und eine Peitsche, und ich begann, in der Stadt Wasser zu verkaufen. Dies war die erste Stufe, die ich erstieg, um zu einem guten Leben zu kommen, denn mein Magen wurde befriedigt. Jeden Tag gab ich meinem Herrn den Verdienst von dreißig Maravedis, und sonnabends war der Verdienst mein, und außerdem in der Woche alles, was ich über die dreißig Maravedis hinaus einnahm. Es erging mir in dem Beruf so gut, daß ich nach
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vier Jahren, die ich ihn ausübte und von dessen Gewinn ich immer etwas auf die Seite legte, so viel erspart hatte, daß ich mich mit altem Zeug sehr anständig kleiden konnte. So kaufte ich mir ein altes Barchent-Wams und einen abgetragenen Überrock mit aufgesetzten Ärmeln und Taschen, einen blankgescheuerten Mantel und einen Degen von den alten Klingen von Cuellar. Als ich mich nun in dem Gewand eines Mannes von Anstand sah, erklärte ich meinem Herrn, er möchte seinen Esel wiedernehmen, denn ich hätte keine Lust mehr, diesen Beruf länger auszuüben.
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VII. Wie Lazarus in den Dienst eines Gendarmen trat und was er bei ihm erlebte
ALS ICH MICH VON DEM KAPLAN verabschiedet hatte, begab ich mich als Diener der Gerechtigkeit in den Dienst eines Gendarmen. Doch lebte ich bei ihm nur sehr kurze Zeit; denn es schien mir ein gefährlicher Beruf; besonders seit uns einige Strolche eines Nachts mit Steinwürfen und Stockschlägen Beine gemacht hatten. Meinen Herrn richteten sie dabei übel zu, wie ich hoffe; doch mich erwischten sie nicht, und so wurde ich ihm gegenüber vertragsbrüchig. Und als ich noch darüber nachdachte, wie ich mir mein Leben einrichten müßte, um Ruhe zu haben und etwas fürs Alter sparen zu können, war es Gottes Wille, mich zu erleuchten und mir den rechten Weg und eine vorteilhafte Art zu zeigen. Und durch die Gunst, die Freunde und Herren mir dabei erwiesen, wurden alle meine bisher ertragenen
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Mühen und Leiden belohnt, indem ich das erwarb, wonach ich strebte. Das war eine Beamtenstellung; denn ich wußte wohl, daß es nur denen gut geht, die eine solche haben. Ich habe sie bis heute inne und lebe hier im Dienste Gottes und Euer Gnaden, und zwar ist mein Amt, den Wein, der in dieser Stadt verkauft wird, verlorene Sachen und bei Auktionen auszurufen sowie die Leute durch die Straßen zu geleiten, die von Rechts wegen Verfolgung erleiden, und ihre Verbrechen laut zu verkünden; Ausrufer also, um es kurz und bündig zu sagen. Dabei habe ich so viel Erfolg gehabt, und es ist mir so leichtgefallen, fast alle dies Amt betreffenden Angelegenheiten durch meine Hände gehn zu lassen, daß jeder, der in der ganzen Stadt Wein oder etwas andres zu verkaufen hat, Gefahr läuft, ohne Gewinn abzuschließen, wenn nicht Lazarus vom Tormes die Sache in die Hand nimmt. Zu der Zeit nun wünschte der Herr Erzpriester von St. Salvador, mein Herr und Euer Gnaden Diener und Freund, der meine Geschicklichkeit und mein ordentliches Leben sah und über meine Person Bescheid wußte - denn ich rief seine Weine aus -, mich mit einer seiner Dienerinnen zu verheiraten. Und da ich wohl
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wußte, daß mir von solch einer Persönlichkeit nur Ehre und Gutes kommen könne, willigte ich ein. So heiratete ich sie, und bis auf den heutigen Tag habe ich es noch nicht bereut. Denn abgesehen davon, daß sie ein braves Mädchen und fleißig und gefällig ist, habe ich von meinem Herrn Erzpriester jegliche Vergünstigung und Hilfe. Stets gibt er ihr mehr mals im Jahr rund einen Scheffel Weizen, zu den Festen Fleisch, manchmal auch ein paar Opferbrote dazu und seine alten Strumpfhosen, die er nicht mehr trägt. Und er ließ uns ein Häuschen mieten neben seinem. An Sann- und Feiertagen essen wir fast stets bei ihm. Doch böse Zungen, die es immer gab und geben wird, lassen uns nicht in Ruhe und reden, ich weiß nicht was alles, und wenn ich's wüßte, daß sie meine Frau zu ihm gehen sähen, um ihm sein Bett zu machen und das Essen zu bereiten. Doch Gott möge ihnen besser helfen als sie die Wahrheit sagen. Denn abgesehen davon, daß sie nicht die Frau ist, auf deren Kosten man solche Späße machen kann, hat mir mein Herr versprochen, was er, wie ich glaube, halten wird. Denn er sprach eines Tages sehr ausführlich mit mir in ihrem Beisein und sagte zu mir: »Lazarus vom Tormes, wer auf das Gerede böser Zungen hören
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will, wird niemals weiterkommen. Ich sage dir das, denn ich würde mich nicht wundern, wenn jemand über uns redete, da man deine Frau in meinem Hause ein- und ausgehen sieht. Sie tut es zu deiner und ihrer Ehre, und das verspreche ich dir hiermit. Daher achte also nicht auf das, was die Leute reden, sondern auf das, was dich angeht, ich meine: auf deinen Vorteil.« »Herr«, sagte ich zu ihm, »ich habe beschlossen, mich an die Guten zu halten. Um die Wahr heit zu sagen, so haben einige meiner Freunde mir so etwas gesagt und mir sogar mehr als dreimal versichert, sie habe, bevor sie sich mit mir verheiratete, schon dreimal geboren, mit Verlaub von Euer Gnaden, denn sie steht vor Euch.« Da begann meine Frau, sich derartig zu verfluchen, daß ich dachte, das Haus würde mit uns in den Erdboden sinken. Danach brach sie in Tränen aus und verwünschte tausendmal den, der sie mit mir verheiratet hatte, daß ich lieber tot sein möchte, als diese Worte über meine Lippen zu bringen. Indessen redete ich ihr von der einen Seite und mein Herr von der anderen mit aller Kraft gut zu, und wir willig ten in alles ein; sie hörte dann schließlich mit ihren Klagen auf, als ich ihr schwor, nie wieder in meinem Leben etwas von dieser Angelegen-
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heit zu erwähnen, und daß ich es gern sähe und auch für recht hielte, wenn sie dort ein- und ausginge, bei Tag und Nacht, denn ich sei ihrer Ehrbarkeit gänzlich sicher. Und so verblieben wir drei in bester Übereinstimmung. Und bis auf den heutigen Tag hörte uns keiner mehr über diese Angelegenheit sprechen; merke ich jedoch, daß mir jemand über sie etwas sagen will, so falle ich ihm ins Wort und erkläre ihm: »Hör mal, wenn du mein Freund bist, so sage mir nichts, was mir Kummer macht; denn der ist mein Freund nicht, der mir unangenehme Dinge sagt; vor allem aber nicht, wenn er zwischen mir und meiner Frau Unfrieden stiften will. Denn sie bedeutet für mich in der Welt das, woran ich am meisten hänge und was ich mehr liebe als mich selbst. Gott schenkte mir mit ihr tausendmal seine Gnade und mehr als ich verdiene; und ich schwöre bei der heiligen Hostie, daß sie die beste Frau ist, die in den Toren Toledos lebt; und wer mir etwas anderes sagt, dem springe ich an die Gurgel.« So sagen sie mir nichts:, mehr, und ich habe zu Haus meinen Frieden. Das geschah in demselben Jahr, in dem unser siegreicher Kaiser seinen Einzug in diese berühmte Stadt Toledo hielt und in ihr seine
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Cortes zusammenrief, und es wurden große Volksbelustigungen und Feste veranstaltet, wie Euer Gnaden sicherlich gehört haben. In diese Zeit fielen meine besten Jahre, und ich stand auf dem Gipfel meines Glückes.
Ende.
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NACHWORT
DAS DREIVIERTEL -JAHRTAUSEND NACH DER
arabischen Invasion von 711 hatte Spanien ein gewaltiges politisches Aktivum und eine erhebliche Hypothek eingebracht. Das Aktivum bestand darin, daß, je weiter das christliche Kastilien und Aragonien dem Islam den eroberten Boden wieder abtrotzten (»Reconquista«), Glaubensziel und Staatsziel eins wurden: so eins, daß beide noch in den heimlichen Träumen des Volkes identisch waren, als das übrige Europa längst im Mittagsglanz der Aufklärung stand. Die Hypothek: ein Heer von Unberufenen und Sinekurenjägern, die sich mit dem wachsenden Ruhm der mittelalterlichen Kirche in deren Reihen gedrängt hatten, so daß Verflachung und Verwilderung vor allem des niederen Klerus die beinahe unvermeidliche Folge waren. Sie trat zur selben Zeit in die Erscheinung, als der niederen Ritterschaft der Hidalgos - die Kern und Substanz der Reconquista-Heere gebildet hatte - mit der Liquidation des siebenhundertjährigen Unternehmens im Entdeckungsjahr Amerikas die Grundlage ihrer Existenz entzogen war und ihr als letztes Refugium der Exodus in ein bettelstolzes Hungerleiderdasein oder das saure Brot einer kleinen Beamtenstelle blieb. Gewerbliche oder gar Handarbeit zu leisten, hätte sie deklassiert; denn das war ja gerade das, was den Kriegsgefangenen vom Herrn, den Glaubensfeind
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weit entehrender gewesen als Almosen entgegenzunehmen, worauf jeder Christenmensch sozusagen ein vor Gottes Thron verbrieftes demokratisches Recht hatte, das besonders von den unteren Schichten fröhlich ausgenutzt wurde. Aus dieser Situation heraus erschien im Jahr 1554 als erstes Literaturwerk der Spanier, das die stillschweigende soziale Bilanz der Reconquista zieht, der » Lazarillo de Torm es«. Eine erkleckliche Zahl von Geistlichen; von denen kaum einer über den bescheid en Rang eines Klerikers, Mönchs, Kaplans oder Ablaßkrämers hinausragt, sind seine handelnden Personen, dazu ein heruntergekommener Schildknappe, ein Polizeidiener, ein Anstreicher, ein Bettler, eine Magd. Und als Held ein Blindenführer, der es - man denke! - bis zum königlichen Ausrufer in Toledo bringt und sich dabei wie der König selber vorkommt. Es muß ein merkwürdiges Empfinden für den spanischen Leser gewesen sein, der seit fünfzig Jahren in der ritterlich -minniglichen Phantastik der Amadisse und Orianen schwelgte und dem die Verlagerung der gleichen phantastisch -verliebten Scheinwelt in das schäferliche Milieu der »Diana« des Jorge de Montemayor unmittelbar bevorstand (1558), als er mit dies en plebejischen Herrschaften bekannt wurde. Dort eine Geographie aus Nirgendheim, in der London, Wales, Schottland oder Konstantinopel zufällige, jedes Anflugs von Lokalkolorit entbehrend - Namen sind oder die Ideallandschaft eines antikisierenden Arkadien ein ewig ersehntes, nie verwirklichtes Wunschbild der Menschheit verkörpert - hier eine natürlich gewachsene, genau bestimmbare Landschaft zu einer festliegenden histori-
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schen Stunde: Alt- und Neu -Kastilien in den ersten Dezennien des 16. Jahrhunderts, noch präziser: Toledo zur Zeit, als Karl V. dort Reichstag hielt. Literarhistoriker pflegen, wenn ein überraschendes Novum auf den Plan tritt, in sämtlichen Winkeln des Schrifttums nachzuspüren, wo dergleichen schon einmal aufgetreten sein möchte. So hat man auch für den »Lazarillo« geltend gemacht, daß der schlaue Sklave und der Parasit der Plautus Komödie dem mutterwitzigen und von den Brosamen seines Herrn lebenden Diener nicht ganz unähnlich seien. Oder auch, daß von Lukians berühmten »Totengesprächen« (die Herr de Fontenelle später so geistreich in das Frankreich des 17. Jahrhunderts trans -ponierte*) eine direkte Linie zu der satirisch -kollektiven Reihen vorführung der Personen unserer spanischen Schelmenerzählung hinleitet. (Mit dem gleichen Recht sind übrigens auch die mittelalterlichen Totentänze als Vorbild angesprochen worden.) Französische Fabliaux und italienische Renaissancenovelle, Rabelais und die Farcen haben in gleicher Weise herhalten müssen, um den Stammbaum einzelner anekdotischer Streiche und Listen zu beurkunden und zu beweisen, daß der pikareske Roman der Spanier im Grunde aus einer geschickten Aneinanderreihung von Abenteuern der Weltliteratur besteht. Eine Betrachtung, der es mehr auf das Homogene der Atmosphäre als auf zufällige Motivübereinstim mungen ankommt, wird schon eher dem Hinweis auf den köstlichen Erzpriester von Hita Beachtung schenken, der mitten im 14. Jahrhundert sich als erster der autobiographischen Form bedient, um aus *) »Fontenelle, Gespräche im Elysium«, vgl. Sammlung Dieterich Bd. 41. -123-
der Perspektive des Schelmen heraus (»Schelm« hier noch nicht literarisch, sondern allgemein mensch lich gemeint) die offenherzigste Schilderung der Leute aus dem Volk zu geben, deren das spanische Mittelalter fähig gewesen ist. Auch an die unheim liche »Celestina« wäre zu denken, die 1499 die Schattenbezirke des menschlichen Daseins zum ersten mal mit genialer Bildhaftigkeit in das Bewußtsein der Nation stellte, ebenso an den gänzlich unheroischen Materialismus einzelner Figuren des Vaters des spanischen Renaissancedramas, Juan del Encina. »Lazarillo«-Stimmung lag also in der Luft. Es brauchte nur einer zu kommen und sie zu verdich ten, ihrem Kernbegriff endgültige Prägung und bleibenden Namen zu geben. Das ist zwar im »Lazarillo« noch nicht restlos geschehen: er enthält weder das Stichwort »picaro« gleich »Schelm«, noch formt er bereits den Typus des Schelmen in allen Zügen so, wie er nachmals in die Literatur eingegangen ist. Wohl aber fängt er das Wesentliche der pikaresken Aura ein, und das hat genügt, ihn mit Fug und Recht an das Eingangstor der Zeit- und Volkstumsgrenzen sprengenden Schelmenliteratur des »Siglo de Oro«, des Goldenen Zeitalters, zu stellen. Dieses Wesentliche besteht in der Art, wie das Verhältnis des Plebejers zum Ritter und zum Bürger vor das Forum der Literatur getragen wird. Damit ist das große Thema der realistischen Prosa für das Publikum der nächsten 50 Jahre gefunden. Ein verkrachter Mediziner aus Sevilla, Mateo Alemán, weitete es 1599 im »Guzmán de Alfarache« zum Roman in aller Form aus. Der toledaner Arzt
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Francisco López de Úbeda stellte ihm, mit Druck privileg vom Jahr 1604, in der »Picara Justina« ein weibliches Widerspiel gegenüber. Ein relegierter Student von Salamanca, Vicente Espinel, aus dessen späterem Leben wir erfahren, daß er »ein schlechter Mensch und ein noch schlechterer Priester«, aber ein guter Musiker war, bog es ein Jahr später mit seinem »Marcos de Obregón« in die Sphäre der Abenteurer- und EuropabummlerLiteratur ab. Vier Jahre darauf, 1608, hat sich der große Quevedo der Materie bemächtigt und ihr mit seiner »Vida del Buscón Don Pablos« (»Leben des Meisterdiebs Don Pablos«, auch »EI gran tacano«, »Der Erzschelm und Betrüger« genannt) eine so neue und unnachahmliche Wen dung gegeben, daß es den Schelmenromanverfassern eine Weile lang den Atem verschlagen zu haben scheint. Nach mehr als dreißigjähriger Pause rollt endlich Luis Vélez de Guevara mit dem »Diablo cojuelo« (dem »Hinkenden Teufel«) die Angelegen heit noch einmal, ähnlich wie Quevedo, aber ein klein wenig versöhnlicher, von der satirischen Seite auf, und ein Anonymus macht sich das chaotische europäische Bild der Epoche des Dreißigjährigen Krieges zunutze, um seinen Helden als Barbiergesellen, Koch, Bader, Wasserträger, Marketender und Kurier bis nach Portugal, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Polen und England herumzuschicken. Dieser Held hört auf den Namen Estebanillo González. Es ist die Zeit, aus der heraus Grimmelshausen die Gattung in seiner »Landstörzerin Courasche« (unter Angleichung an die »Picara Justina«), vor allem aber im »Simplizissimus« zu einem genialen deutschen Sittengemälde ausgestaltet hat, als Mittelstück
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ihrer abendländischen Geltung sozusagen, 47 Jahre nachdem in Frankreich Charles Sorel aus einer ganz anderen Situation heraus Entsprechendes in seiner »Histoire comique de Francion« versucht hatte und wiederum 47 Jahre ehe im gleichen Land Le Sage dieser gallischen Spielart ein solches literarisches Gewicht zu verleihen wußte, daß sie sogar auf Spanien zurückstrahlt. Das Wesentliche aller Schelmenromane ist, daß darin eine bisher unbeachtete soziale Schicht, eine Schicht am Rande von Blut-, Geld - und Geistesvorrechten, und darum teils in Bindung, teils in Opposition zu ihnen, zu Wort kommt. Die frühe Neuzeit kennt in Kastilien noch keinen Mittelstand; praktisch gibt es nur Privilegierte und Dienende. Der Picaro, der zwar dient, aber doch im Dunstkreis der Privilegierten, von ihrer Gnade, lebt und zu ihrer Sphäre avancieren möchte, bildet eine eigentümliche Zwischenwelt. Für ihn ist sein Herr, auch wenn er arm ist wie eine Kirchenmaus, immer der »Herr«, von dem ihn die ewige Distanz Don Quijote - Sancho Panza trennt (obgleich auch Sancho, wenigstens in Gedanken, Gouverneur einer Insel wird und eines Herrn würdige Ratschläge zu erteilen weiß). Die Distanz liegt sehr viel weniger im Materiellen als in der Haltung: der Schelm ist und bleibt antiheroisch und antiaristokratisch und somit das Wid erspiel des Ritters, selbst wenn dieser bis in jene Sphäre absinken sollte, die das h9. Jahrhundert als »Proletariat« bezeichnen würde. Für das 16. Jahrhundert wäre dieser Ausdruck verfehlt. Denn es weiß, wenigstens in Spanien, noch nichts vom Klassenkampf und bewußtem Antagonismus gegen den »Herrn«. Es nimmt diese Institution als
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gottgewollt hin und denkt noch nicht daran, ihr einen kompakten Gegenbegriff wie etwa den des »Arbeiters« entgegenzustellen. Darum ist auch der Picaro nicht ein soziales Phänomen »sui generis«. Er kann ebensogut der Hefe der Gesellschaft entstammen wie einer gewissen bürgerlichen Solidität (bei einigen Nachfahren des »Lazarillo« wird dies durchaus betont). Er kann es vorübergehend zu Glück und Wohlstand bringen (auch dieses Moment, am Schluß des »Lazarillo« leise angedeutet, wird später zuweilen beachtlich ausgearbeitet). Er ist kein einheitlicher Typ, der ein Leben für sich lebt. Seine Rolle beschränkt sich darauf, Linse oder Hohlspiegel zu sein für die Brechung der soziologischen Erscheinungen seiner Zeit. Darum ist der Schelm schließlich ebenso antibürgerlich, wie er antichevaleresk ist. Behaglicher, durch Fleiß und Ordnung im Obrigkeitsstaat erworbener Wohlstand liegt ihm fern, ja er wünscht nicht einmal ernstlich, ein seßhaftes Leben zu führen, und steht damit letzten Endes der Welt des fahrenden Ritters näher als der des groschensparenden Rentners. Diese letztere hat im Kreise der Romanen vor allem unter den Franzosen ihren Widerhall gefunden; jenseits der Pyren äen lobt man sich die des Abenteurers und Vaganten, des Streuners und Zigeuners, der alles Notwendige aus der Situation heraus improvisiert und ein Meister in der Erfassung des Augenblicks ist. Es leuchtet ein, daß bei einer solchen Geisteshaltung eine eig entliche »bürgerliche« Literatur nicht aufkommen konnte. Sie hätte selbstbewußte Zünfte vorausgesetzt, wie der Meistergesang in Deutschland, dichtende Bürgervereine, wie die Puys in Süd - und Nordfrankreich, lebensfrohe
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Bruderschatten von Schus tern, Maurern und Zimmerleuten, wie sie in Paris dramatische Formen wie Mysterium, Moralität, Sotie und Farce aus der Taufe hoben. In Spanien dagegen war - zur gleichen Zeit, wo seine abenteuernden Konquistadoren den halben Erdball eroberten - der Bürgerstand ruiniert, die Macht der mittelalterlichen Städte durch die Monarchie gebrochen, der Handel überfremdet, der Kunstfleiß des Handwerks ebenso weitgehend in ausländischer Hand. Sollte ein neuer volksnaher Energiequell dem fragwürdig gewordenen Ideal der Ritter und Schäfer gegenübergestellt werden, so konnte er nur in der Schelmenliteratur gefunden werden. Daß sich diese übrigens nicht auf die erzählende Prosa zu beschränken brauchte, beweist die weitgehende Wesensverwandtschaft der Picaros vom Lazarillooder Guzmán -d e-Alfarache-Typ mit dem berühmten »Gracioso«, der komischen Figur der Lopeschen und Calderónschen Barock -Comedia. Auch in ihr pflegt ein mutterwitziger Naturbursche Diener (und Spieß geselle) eines ritterlichen Herren zu sein, ihm so verbunden, daß er zuweilen nur als sein zweites Ich, das erdgebundene, plattere erscheint. Das menschlich -psychologische Bild des Picaro steht, wie bereits angedeutet, mit dem »Lazarillo« noch keineswegs fertig da. Der Schelm des 16. J a h rhunderts ist zunächst ein Mensch, der subalterne Dienstleistungen verrichtet und dadurch einer gewissen sozialen Minderbewertung anheimfällt. Sein Hauptmerkmal ist der häufige Wechsel des Arbeitsplatzes. Acht Herren dient Lazarillo im Lauf eines kurzen Geschehens, einer von ihnen ist selber ein herumziehender Ablaßkrämer, der andere ein Schild-
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knappe, der dritte ein Blinder Vagabund. Motiv des Wechsels ist der Hunger, der unstillbare, gren zenlose Hunger des armen Teufels, der entweder über die Verhältnisse seines Brotherren geht oder ihn selber die Grenze zwischen Mein und Dein nicht immer genau erkennen läßt. Denn der Eigentumsbegriff des Picaro ist durchaus der des Deklassierten. Hat man schon das Pech, vom Schicksal stiefmütterlich behandelt zu sein, so muß man wenigstens versuchen, es zu korrigieren, nicht etwa indem man es revolutioniert (das wäre erst der Weg nach 1789), sondern indem man durch einen kleinen verschmitzten Betrug an dem von Fortuna Bevorzugten den sozialen Lastenausgleich eigenhändig herbeiführt. Was natürlich die fristlose Entlassung zur Folge hat, sich als juristischer Tatbestand aber weitgehend im Rahmen des »Mundraubs« hält. Lazarillo ist noch kein Verbrecher; Gelegenheit macht ihn zum Dieb, nicht brutaler Instinkt, und schlim mere Verfehlungen gegen das Moralgesetz kennt er nicht. Kriminell wird der Schelm erst bei Quevedo, Gauner und Schurke schlechthin. Seltsam im spanischen Wesen verankert ist der Ehrbegriff des Picaro. Wenn ihn auch seine natürliche Feigheit (die sich in Lazarillo nur vorsichtig andeutet, bei Guzmän de Alfarache um 1599 weitergebildet wird und ihren Höhepunkt in Estebanillo González während der Schlacht bei Nördlingen im Dreißigjährigen Krieg erreicht) abgrundtief vom Ehrenkodex des spanischen Caballero scheidet, so ist er doch einer gewissen inneren Ehre nicht bar. Lazarillo zeigt, wie schon Vossler* hervorgehoben
*) Einführung in die spanische Dichtung des Goldenen Zeitalters, Ibero-Amerikanische Studien XII, Hamburg 1931 S.67. -129-
hat, einen sehr ansprechenden Drang, sich dem Leben zu stellen, ohne daß dieser Drang in Prahlerei und Wichtigtun ausartet. Erst die Schelme des 17. Jahrhunderts brüsteten sich mit Heldentaten, die sie nie begangen hatten. Gleichzeitig akzeptierten sie den Ehrenkodex des Adels, aber auf ihre Art, grotesk verzerrt und barock übersteigert, und machten dann allerdings Ernst mit der »Heldentat«. »Quien se preciare de ladrón, procure serlo con honra, no bajamanero, hurtando en la tienda una cebolla y trompos a los muchachos«. »Wer sich etwas darauf einbildet, ein Dieb zu sein«, sagt als erster Guzmán de Alfarache, »möge es mit Ehren sein, nicht als armseliger Beutelschneider und Zwiebeln im Laden oder den Jungens den Brummkreisel stehlen«. Lazarillo hätte sich noch mit Zwiebeln und Brummkreisel begnügt, vielleicht auch nur mit der Zwiebel. Erster Beweggrund aller höfischen Literatur vom Minnelied und Ritterroman bis zur Pastoralpoesie war, noch mehr als die Ehre, die Liebe gewesen. Es zeugt von der völligen Polarität der Schelmenwelt zu der der Oberen Zehntausend, daß das Verhältnis zur Frau für sie keine Rolle spielt. Wenigstens nicht im primitiven Vorstellungskreis des Lazarillo. Er heiratet - ahnend oder nichtsahnend - die Haushälterin und Freundin eines priesterlichen Gönners, liebt sie ehrlich, verteidigt ihren Ruf, wenn die bösen Zungen sich regen, kennt aber weder Eifersucht noch Liebesqual. Die bleibt für alle Zeiten der Schelmerei ein Reservat der vornehmen Leute. Nur in einem begegnen sich Schelm, Ritter, Geistlicher un d Bürger, Edelmann und Prolet: in ihrem Verhältnis zur Religion. Gott und das Dogma
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stehen jenseits aller Diskussion. Ein Erzpriester der Kirche ist bereits kraft seiner Weihe Autorität und Vorbild für Lazarillo. Niemand empfindet deutlicher als er die Wahrheit des »allzumal Sünder«. Und diese Eigenschaft ist geblieben, ja sie verstärkt sich, je tiefer die nächste Generation den Schelm in die Niederungen des Lebens absinken läßt. Askese und tätige Reue als Instrument des Glau bens sind dem Picaro dieser Generation ebensowenig fremd, wie sie es fünfzig Jahre vorher einem Ignaz von Loyola waren. Hier öffnet sich vielleicht die stärkste Kluft zwischen dem Proletarier des 16. und dem des 19. Jahrhunderts. Aus dem bisher Gesagten ist ersichtlich gewo rden, daß der Picaro kein von vornherein feststehender Begriff ist. Sein Gesicht um 1550 schaut anders aus als um 16oo, um 16oo anders als 1650. Schon das hat ihn literarisch erheblich über den fahrenden Ritter oder den bukolischen Schäfer hinausgehoben, von denen man alle kennt, wenn man einen von ihnen aus der Nähe betrachtet. Lazarillo ist das Kind unter den Schelmen; Guzmán de Alfarache der Philosoph; Quevedos Buscón der Verbrecher aus Zynismus; Estebanillo González der unbeschwerte Europabummler. Mit der Picara Justina wird der Spieß umgedreht: hier meldet das schwache Geschlecht seine Ansprüche an; in Marcos de Obregón dagegen feiert das um siebzig Jährchen älter gewordene Kind Lazarillo eine letzte fröhliche Urständ, hat aber mittlerweile aus modis chen Abenteurerromanen allerlei von Schiffbrüchen und Korsarenüberfällen zu hören bekommen und den Um gang mit Riesen und Schwarzkünstlern kennengelernt. Und damit in dieser bunten Gesellschaft
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auch der Akademiker zu seinem Rechte komme (der zwar anderwärts nicht fehlt, aber Episode bleibt), stellt Vélez de Guevara im »Diablo Cojuelo« den Schelm (oder wenigstens einen nahen Verwandten von ihm) als Studenten, Satiriker und Kommentator der Zeit vor. Den einen - Guevara, Quevedo, Alemán - ist der Schelmenroman somit Anstoß geworden, dem Saeculum seinen Spiegel vorzuhalten und je nach Veranlagung seine Krankheit zu diagnostizieren, es zu warnen oder ihren tödlichen Witz an ihm auszulassen. Die andern der Verfasser der »Picara Justinac und des »Estebanillo González« - nehmen den Schelm als unvermeidlichen Zeitgenossen hin. Da er einmal da ist und so ist, wie er ist, muß man sich mit ihm abfinden und ihn von der optimistischen Seite des Lebens zu betrachten suchen. Eine dritte Gruppe endlich, als deren Wortführer Vicente Espinel im »Marcos de Obregón« erscheint, will aus dem Schelmenroman das machen, was ehemals die Ritterromane für das breite Leserpublikum gewesen waren: reine Unterhaltung, nun zeitgemäß gewürzt mit einem gehörigen Schuß Konzeptismus und Präzeptismus - Gedankenspiel und Lehrtendenz - die dem Pikarismus den für das 17. Jahrhundert nötigen Hautgout vermitteln sollen. Man hat lange daran herumgedoktert, wer wohl das Genie gewesen sein konnte, das alle diese Entwicklungen möglich gemacht hat, als es Mitte des 16. Jahrhunderts im »Lazarillo de Tormesc zum erstenmal das Problem des Schelmen beherzt beim Schopfe packte. Fünfzig Jahre lang war dessen Verfasser in völlige Anonymität gehüllt. Erst 1607, als der Schelmenroman mit »Guzmán de Alfarache«, »Marcos
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de Obregón«, der »Picara Justina« und dem im Manuskript fertiggestellten »Buscón« des großen Quevedo seinem Zenit entgegenstrebte, taucht in diesem Zu sammenhang der Name des Renaissancestaatsmanns, Dichters, Humanisten und Grandseigneurs Diego Hurtado de Mendoza auf*. Er ist - neben anderen, belangloseren - bis nahe an die Gegenwart nicht aus der gelehrten Erörterung verschwunden, und wenn auch die Einwände, die gegen seine Autorschaft im einzelnen erhoben sind, ziemlich stichhaltig zu sein scheinen, so betreffen sie doch nicht den Kernpunkt der Situation: daß der »Lazarillo« kaum von einem naiven Volksliteraten verfaßt sein kann (etwa als dämmergrauer historischer Vorläufer der modernen Arbeiterdichtung), sondern vielmehr das Produkt einer Kreuzung zwischen gelehrter Bildung und natürlichem Empfinden für die Wirklichkeit ist. Das ergibt sich mit ziemlicher Sicherheit aus seiner Sprache und seinem Stil. Das ganze Werk ist auf Antithese eingestellt. Im Inhaltlichen: Antithese zwischen Dienerstandpunkt und Brotherrnstandpunkt, übertragen auf das Formale: Kontrast zwischen volkstümlicher und humanistischer Ausdrucksweise. Auch der Humor drückt eine Antithetik aus: sie besteht in der Naivität, mit der der Schelm höchst autoritätsgläubig die von Adel und Geistlichkeit gesetzte Ordnung als sakro sankt hinnimmt, obwohl sie innerlich bereits recht brüchig geworden ist. Wer, wie Lazarillo, bei der Erinnerung an seinen wegen Mehlschwunds aus seiner Mühle gerichtlich verfolgten Vater an das Bibelwort von den um der Gerechtigkeit willen Ver*) Vgl. über ihn »Gedichte der Spanier«, Sammlung Dieterich Bd. 110 , S. 211.
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folgten denkt, ist ein reiner Tor. Wer die Übernahme einer von einem verschmitzten Kirchenmann abgeschobenen »Haushälterin« als höchstes Glück seines Lebens empfindet, erst recht. Die volkstümlichen Ausdrucksmittel des »Lazarillo« treten schon dadurch zu jeder klassischen Ordnung und Regel in Opposition, daß sie aus den verschiedensten Ecken des ungeschminkten Erlebens hergeholt sind. Im ganzen erstreben sie individuelle Bildhaftigkeit, Auflockerung der Rede, familiäre Atmosphäre, Wirklichkeitsnähe. Frage und Antwort folgen knapp und lebhaft aufeinander, Schlag auf Schlag, aber nicht zum Kunstwerk der antiken Stichomythie gesteigert, die nicht lange hernach Lope de Vega und vor allem Calderón in ihren Dramen neu aufnehmen und zur Meisterschaft entfalten sollten. Unvermittelter Übergang vom Präteritum zum Präsens und wieder zurück zum Präteritum gibt an einem Dutzend Stellen der Rede eine unnachahmliche Unbekümmertheit, die durch kurze abgebrochene Sätze ohne Verb, nicht für zimperliche Ohren bestimmte Kraftausdrücke und emphatische Zwischenrufe eine drastische Farbensattheit bekommt, um die ein Naturalist von 1900 unseren Verfasser beneidet haben würde. Es liegt eine geistige Wendigkeit in diesem Stil, deren Grundlage zwar durchaus das natürliche Ingenium des unverbildeten Spaniers ist, die aber einer kurz darauf groß werdenden Generation, der das Spiel mit Worten und Redeteilen Selbstzweck wurde, herrliche Möglichkeiten zur weiteren Ausbeutung abgeben mußte. So finden wir, daß das, was im »Lazarillo« noch behutsam und, man möchte annehmen, unbewußt gehandhabt wird, sich unter
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den Händen der Barockkünstler zum Bravourstück des Virtuosen auswächst. Etwa das »Zeugma«. Sein Trick besteht darin, daß ein Nomen oder Verb grammatisch nur zu dem einen Satzglied paßt, bei dem andern aber ein abgewandelter oder verwandter Begriff zu ergänzen ist. In Lazarillos Sprechweise ergibt es sich sozusagen von selbst, kaum daß man es bemerkt: »Púseme de un cabo y él del otro«; »Ich stellte mich ans eine und er [stellte sich] ans andere Ende«. Die späteren Wortakrobaten, Quevedo nicht ausgenommen, haben das Zeugma technisiert, outriert und schließlich zu Tode gehetzt. Ahnlich unvermitteltem Hervordrängen der Assoziationen verdankt das Wortspiel seine Beliebtheit bei unseren Autoren. Dem Schelm vom Tormes sprudelt es aus seinem natürlichen Mutterwitz, der Umstand etwa, daß seine Mutter ihn auf dem Wasserrad einer Mühle im Tormes zur Welt gebracht hat, ermutigt ihn zu der Behauptung, er sei »innerhalb« des Flusses geboren. Das ist noch kaum ein Wortspiel. Es ist einfach die Freude des naiven Menschen, der Plastik einer Situation nachzuspüren. Mateo Alemán und Quevedo hätten ein Brillantfeuerwerk daraus gemacht. Der Verfasser des »Lazarillo« sieht das ursprünglich Konkrete, wo in der Sprache des Gebildeten eine Redensart oder Metapher längst zur Schablone geword en ist. Lazarillo hat Brot mit den Fingernägeln zerkrümelt. »So lebe ich«, denkt er buch stäblich, »von meiner Hände Arbeit«; im selben Moment jedoch, wo ihm dieser Gedanke kommt, merkt er, daß die Redensart keineswegs bildhaft genug ist, und rasch ergänzt er: »oder von meiner Nägel
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Arbeit (»del mabajo de mis manos, o de mis unas«). Fälle ähnlicher Art könnte man ihm dutzendweise nachrechnen. Nicht das letzte und unwichtigste unter den zahl losen Registern seines volksnahen Sprechstils sind d ie Sprichwörter und sprichwörtlichen Wendungen abgewandelt vom klassischen »aus der Scylla in die Charybdis geraten« (in Lazarillos Mund lautet das »escapar del trueno y dar en el relámpago«, »dem Donner entgehen und in den Blitz hineinrennen«) bis zum urspanischen »echar la sog« tras el caldero«: »das Tau hinter einem Schöpfeimer herwerfen« (wenn. er nämlich in den Brunnen gefallen ist). Natürlicher Witz und freundliche Altväterw eisheit paaren sich in diesem dem spanischen Volk besonders teuren Gut, das wie kein anderes dazu angetan ist, das Lebenselement der Schelme zu charakterisieren. Nicht selten freilich arten die Sprichwörter hier in Präzepte, Maximen und moralische Sentenzen aus. Dann nehmen sie schon ein Stück Barock vorweg und könnten in Baltasar Graciáns »Handorakel« stehen, wenn sie nicht so ungeheuer plebejische Dinge beträfen und in so vulgäre und allgemeinverständliche Worte gefaßt wären wie dies: »El hartar es de los puercos, y el comer regalamente es de los hombre de bien«, oder, ebenfalls aufs Essen, die Haupttätigkeit des Schel men, bezogen: »No hay tal cosa en el mundo para vivir mucho que comer poco« - »Sieh vollstopfen ist Sache der Sehweine, ein vernünftiger Mensch ißt mit Maß« und »Wer wenig ißt, lebt länger«. Bis hierher betrachtet, scheint im Stil des »Lazarillo« kaum viel Humanismus enthalten zu sein. Wer solchen nur in majestätischen Satzperioden mit klar
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aufgegliederten Bedingungs-, Einräume- und Folgesätzen, Schachtelungen und Unterschachtelungen sucht, wird mit Recht enttäuscht sein. Trotzdem sind Anzeichen in Hülle und Fülle vorhanden, daß der Verfasser den Stil des Juan de Valdés und des Antonio de Guevara sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat. Zu ihnen gehört die Häufung des Substantivs, Adjektivs oder Verbs, d. h. 'die Variierung des Gedankens durch Aneinanderreihung mehr oder weniger äquivalenter Ausdrücke zur Verstär kung der Wirkung: trueco y cambio (Wechsel und Tausch), cobardia y flojedad (Niedertracht und moralisches Manko), elevado y levantado (aufgerichtet und aufgestanden), jurar y perjurar (schwören und beteuern), valerse y aprovechar (Vorteil und Nutzen ziehn) und die sehr beliebte preziöser Spielerei bedenklich nahekommende Wiederholung des gleichen Wortstamms bei verschiedenen Wort klassen: »Finalmente yo me finaba de hambre« (»Am Ende verendete ich fast vor Hunger«) oder: »del partido parti un poco« - unübersetzbar, weil hier eine ganze Reihe von Assoziationen gleichzeitig in Frage kommt. Auf ähnlicher, gelehrter Linie liegt der berühmte «Parallelismus der Glieder«, der die architektonische Symmetrie der Satzteile, lieber noch ihre ausgesprochene Gegensätzlichkeit zum Grundschema erhebt: Wendungen wie die von der »Kälte der Börse und Wärme des Magens« (bei der zur Antithese der Begriffe noch der reizvolle Wechsel zwischen ab straktem und konkretem Bild hinzukommt) oder so vorzüglich gegeneinander abgesetzte Wendungen wie »una trabajosa vida pasada y mi cercana muerte venidera« (»ein mühevolles vergangenes Leben und
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wagten »Synästhesien« des späteren Barock (Be griffskoppelungen, die die lyrischen Snobs des 20. Jahrhunderts in Begeisterung versetzten und von ihnen bis zum Überdruß nachgetönt worden sind: »blaue Stunde«, »klingender Palast«, »weißes Schweigen« u. a.) darf man unseren biederen Lazarillo in letzter Linie verantwortlich machen, wenn er von den »negros remedios« und »luz del hambre«, »schwarzen Auskunftsmitteln« und »Licht des Hungers« spricht. Wer danach noch an der Bildungsstufe unseres anonymen Autors zweifelt, mag die Antike befragen. Zahllose dem lateinischen »accusativus cum infi- , nitivo« nachgebildete Sätze, auf die jeder Gyrn nasialschüler stolz wäre, absolute Partizipialkonstruktionen reinsten Wassers (»esto hecho«, »hecha la cama y la noche venida«) und schließlich die Verwendung echter, dem Volksspanischen abhanden gekommener klassischer Superlative wie »amicisimo«, werden ihm die Antwort geben. Ganz abgesehen von unmittelbaren Anspielungen auf die griechisch römische Kultur, Alexander den Großen, , Ovids »Ars amatoria«, das Gewand der Penelope. Was also ist der »Lazarillo«? Ein Naturprodukt? Ein überlegtes Kunstwerk? Einschaltung in Überkommenes oder Versuch, es neu zu beleben? Autoritätswerk oder Individualschöpfung? Theozentrik oder Anthropozentrik? Klassik oder Romantik? Die Antwort liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Vielleicht mag man sie finden, wenn man die Einführung des Picaro in die Literatur als einen der frühesten Versuche hinnimmt, sich dem Schematis mus der abendländischen Kultur zu entziehen.
Er mutet an wie eine Flucht in das Ich, das für den frommen Fray Luis de León gleichbedeutend war mit der Seelenruhe des Philosophen, für den im Ämterwettbewerb gescheitertern Höfling mit provinzieller Zurückgezogenheit, für den verarmten Hidalgo mit Einkapselung in seinen heruntergewirt schafteten Herrensitz, für unseren Schelmen mit der souveränen Freiheit, zu tun und zu lassen, was er will, so teuer er diesen Preis auch mit Hunger und Kujonierung aller Art bezahlen muß. Im Grunde ein stoischer Zug, Erbteil der Spanier seit ihrem Landsmann Seneca und von ihrem »Goldenen Zeitalter« recht eigentlich wiederentdeckt ... Rudolf Großmann.