Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 3 Das Mädchen
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einhe...
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Waldtraut Lewin Miriam Margraf
Wolfsbande 3 Das Mädchen
Ravensburger Buchverlag
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. © 2001 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. Umschlagillustration: Ferenc B. Regös Umschlagkonzeption: Gabor Racsmany Redaktion: Doreen Eggert Printed in Germany ISBN 3-473-34963-1
Heinrich, Lorenz und die Hündin Lythande (vgl. Band 2) verdienen mit Gaukeleien und Liedern ihren Lebensunterhalt und warten weiter auf Aufträge Walthers von der Vogelweide. Da taucht Lucia auf, ein kleines italienisches Mädchen, das wie viele andere Kinder hilflos durch Deutschland streunt: Überlebende eines Kinderkreuzzuges, von denen keiner etwas wissen will. Das Mädchen bleibt bei der Wolfsbande. Doch es hat Angst: Oger, der Kinderfresser, ist hinter den heimatlosen und vogelfreien Kindern her. Lucias Angst ist begründet: Zwar frisst der Stadthauptmann von Meißen keine Kinder, doch er verkauft sie. Zu welchen Zwecken auch immer. Durch eine geschickte Inszenierung kann die Wolfsbande den Täter auf dem Marktplatz überfuhren. Plötzlich ist auch Walther wieder da und nimmt die drei offiziell in seine Dienste, denn eine umherziehende Gauklertruppe ist eine gute Tarnung, um geheime Botschaften zu überbringen.
Leere Töpfe, leere Fallen
Aber wieso? Wieso haben wir kein Geld mehr? Deine Aufträge haben wir doch bestens ausgeführt. Post hin und her geschleppt, bis uns die Zunge aus dem Hals hing! Lieder gesungen, Neuigkeiten verbreitet. Und nun? Warum lässt er sich nicht blicken, dein großer Meister, der berühmte Herr Walther von der Vogelweide, der uns losgeschickt hat? Hast du nicht gesagt, er zahlt? Und nun? Unsre Taschen sind leer! Sogar unsre Reittiere haben wir verkaufen müssen! – Und renne gefälligst nicht so, wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht mithalten kann!« Lorenz stapft wütend neben Heinrich her. Es stimmt, er muss immer zwei Schritte machen, wo Heinrich mit seinen langen Beinen nur einen Schritt nötig hat. Der große Junge mit dem von Blatternarben entstellten Gesicht drosselt schuldbewusst das Tempo. Lorenz hat Recht mit seinen Vorwürfen. Aber das wird er natürlich nicht zugeben. Er lässt nichts auf seinen Walther von der Vogelweide, seinen verehrten Meister, den großen bekannten Sänger und gleichzeitigen Geheimagenten des Königs, kommen. »Bestimmt ist ihm was dazwischen geraten«, murmelt er. »Mag ja sein, aber ich hab keine Lust mehr, den ganzen Kram auf dem Buckel mit mir herumzuschleppen!« Der Mantelsack fliegt scheppernd und klirrend ins Gras, und wie auf Kommando lässt sich Lythande, Lorenz’ schöne und kluge Hündin, daneben fallen und schnauft tief. »Lorenz! Da sind unsre Instrumente drin!« »Ja doch. Du siehst: Meine Lythande kann auch nicht mehr.« Lorenz plumpst ebenfalls ins Gras.
Heinrich steht vor den beiden, die Arme verschränkt, und sieht finster auf sie herab. »Pass auf: Walther soll hier in der Gegend sein, du hast gehört, was sie in den Wirtshäusern erzählen. Er ist uns höchstens eine Tagesreise voraus. Spätestens in Bernau wird er sich länger aufhalten, denn die Stadt ist groß, da hat er mehr als nur einmal Gelegenheit, als Sänger aufzutreten und sein Brot zu verdienen. Andere Boten des Königs, Leute wie er, werden bestimmt auch dorthin kommen – die Handelsstraßen kreuzen sich da und es gibt eine Furt zwischen den Seen. Je schneller wir Walther finden, desto eher gibt es neue Aufträge und Botenlohn.« »Und noch mehr Blasen an den Füßen?«, fragt Lorenz aufsässig. Heinrich überhört das. »Und bis dahin müssen wir eben wieder auftreten.« Er zeigt mit dem Kinn nach vorn. »Der nächste Ort ist keine halbe Tagesreise entfernt.« Lorenz stöhnt. »Na herrlich! Ich weiß schon, was kommt. Proben. Unsre Gauklerspiele auffrischen. Und du schießt mit der Armbrust auf mich, dass ich mir vor Angst fast in die Hosen mache…« »Hast du eine bessere Idee?« Lorenz richtet sich auf. Die großen Pläne sind nicht seine Sache. Er denkt immer erst mal ans Nächstliegende. »Der nächste Ort ist eine halbe Tagesreise weit, sagst du? Dann müssten hier in der Nähe die ersten Bauernhöfe sein. Soll ich mich mal umsehen, ob ich was Essbares finde?« Heinrich schweigt – was der Junge offenbar für eine Zustimmung nimmt. »Komm, Lythande! Futter suchen!« Die beiden sind weg wie nichts. Nun legt sich auch Heinrich hin, verschränkt die Arme hinterm Kopf, sieht ins Geäst der Bäume hoch. Seufzt. Er fühlt sich verantwortlich für Lorenz, den Jungen, der vor ein paar
Wochen seinem Burgherrn entlaufen ist. Lorenz, der Page, der Diener, dessen schöne Herrin auf rätselhafte Weise verschwunden war, Lorenz, der Hundejunge, der, um Lythande, die Hündin der Herrin, vor dem Tode zu retten, mit dem Tier floh. Er, Heinrich, gab ihm Schutz und Hilfe, und als sie entdeckten, dass die Herrin des Jungen einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, gelang es ihnen, den Mörder zu entlarven. Seitdem sind Junge und Hündin »Mitspieler« vor den zahlenden (oder nicht zahlenden) Zuschauern, vor denen sie ihre Kunststücke vortragen. Solche Kunststücke wie Armbrustschießen oder Jonglieren – und außerdem die Lieder Walthers von der Vogelweide singen, dessen Botschaften im Auftrag des Königs Friedrich sie in Burgen oder Städten übermitteln – für einen mehr oder minder guten Lohn. Sind ihre Nachrichten willkommen, gibt es ein Essen, ein paar Münzen, sind sie es nicht, gibt es auch schon mal einen Tritt in den Hintern. Nicht allen hier im Land ist die Botschaft des neuen Königs, dass er für Recht und Ordnung sorgen wird, willkommen. Einige bringen gerade bei Unordnung und Unrecht ihre Schäfchen ins Trockene. Wie dem auch sei, Heinrich fühlt sich tief in der Schuld dieses Sängers und Geheimagenten des Königs. Als er, Heinrich von Wenningen, aus dem Kloster floh, weil ihm klar wurde, dass man ihn um sein Erbe betrügen wollte, als der habgierige Stiefvater ihn vor die Tür setzte ohne einen Groschen in der Tasche, da nahm sich der Sänger seiner an. Lehrte ihn seine Lieder, schenkte ihm die Wolfsmaske, hinter der er sein Gesicht verstecken kann, half ihm, auf der Straße zurechtzukommen. Er, Heinrich, einst ein Adliger. Und nun: ein Fahrender. Ein Rechtloser. Ob wohl einmal bessere Zeiten kommen? Das hier, so viel steht fest, ist keine gute Zeit. Aber wenigstens kann man jetzt im Freien schlafen. Es ist Sommer.
Der Platz hier ist gar nicht schlecht. Wasser ist auch in der Nähe. Natürlich weiß er, was Lorenz damit meint, wenn er sich nach was Essbarem »umsehen« will. Da werden irgendwo ein paar Eier abgestaubt. Oder vielleicht ein Huhn. Er seufzt noch mal. Stehlen ist Sünde. Aber Hunger tut weh. Frühsommer ist die schlimmste Zeit für Sänger und anderes fahrendes Volk. Überall im Land sind die Vorräte aufgezehrt, Mehl und Salzfleisch sind am Ende, wie sollen die Leute da was abgeben? »Ist die Kirsche rot, ist die Zeit der größten Not«, heißt es im Sprichwort. Ihm knurrt der Magen genauso wie seinem Freund Lorenz. Halbreife Kirschen mit Wasser sind ziemlich unverträglich. Und Suppe aus Löwenzahn und Schafgarbe erst recht. Als Junge und Hündin dann tatsächlich mit einem Huhn und einem halben Brotlaib zurückkehren, stellt Heinrich keine Fragen. Irgendwann müssen sie einmal wieder ihre Sünden beichten… »Aber morgen machen wir trotzdem einen Auftritt in dem Ort!«, ordnet er an. »Und sieh zu, dass wir von diesem Huhn noch etwas aufheben. Wer weiß, ob wir morgen tatsächlich was verdienen können.« –
Der Empfang am Tor des Ortes ist mehr als frostig. Die Torwächter mustern sie misstrauisch: den hübschen braunlockigen Pagen mit der silberweißen Hündin und den großen jungen Mann, der sein Gesicht hinter einem Tuch verbirgt, wie es die Heiden tun im Heiligen Land. »Wir haben keinen Bedarf an streunenden Kinderbanden!« Von den Kinderbanden haben sie gehört – verdreckte, verkommene, halb verhungerte kleine Heimkehrer eines Kreuzzugs aus dem Morgenland, die jetzt die Landstriche
unsicher machen. Aber dass die in dieser Gegend sein sollen…? »Verzeiht, Herr!«, sagt Heinrich und gibt sich Mühe, höflich und unterwürfig zu bleiben. »Aber können denn zwei wie wir eine Bande bilden? Wir sind ein Gauklerpaar mit einer klugen Hündin, wir können tanzen, singen, mit Bällen jonglieren und Spiele aufführen zum Vergnügen der Leute. Ich bin Wolf, der Fahrende, zu Diensten. Vielleicht hab Ihr schon von uns gehört?« Lorenz fällt ihm schnell ins Wort. Er singt: »Ihr sollt: ›Seid willkommen!‹ sagen./Gute Kunde bringen wir./Geben Antwort euch auf Fragen/ Für ein Gläschen kühles Bier!« Seine Stimme überschlägt sich, und die Männer am Tor lachen. Offenbar ist für Spaß gesorgt. »Rein mit euch! Aber seid vorsichtig. Die Leute sind nicht gut zu sprechen auf streunende Kinder.« »Bist du verrückt?«, zischt Heinrich durch die Zähne. Obwohl er sich selbst ein Lachen verkneifen muss. »Das ist eins von Herrn Walthers ganz großen Liedern – und du machst einen Witz draus, von wegen ›Gläschen kühles Bier‹! Du weißt, dass es anders heißt!« Lorenz zuckt die Achseln. »Na und? Du mit deinem hochmütigen Tonfall, du hättest nie geschafft, dass wir reinkommen. Redest mit den Leuten immer wie – wie ein Reiter mit Fußgängern.« Heinrich beißt sich auf die Lippen. Der Marktplatz ist merkwürdig leer. Nichts regt sich hinter den niedrigen Mauern. Auch die Türen der Kellergewölbe, in denen die Kaufleute ihre Waren anbieten, sind geschlossen, und keine einzige Auslage lockt die Käufer. »Na, sie werden schon kommen«, murmelt Lorenz, während er seine Hündin als Dame verkleidet und Heinrich die ersten Takte auf seiner Fiedel streicht. Lythande auf zwei Beinen mit
Schleier und Rock sieht lustig aus und ein paar Kinder kommen jetzt näher und lachen. »Darf ich den Hund mal streicheln?«, fragt ein kleines Mädchen in zerrissenem Hemd scheu. Lorenz macht große Augen. »Du siehst doch, das ist gar kein Hund, sondern eine vornehme Dame!«, erwidert er. »Ich werde sie fragen.« Er wendet sich an das Tier. »Gnädige Frau, seid Ihr einverstanden, wenn dieses Mädchen Eure Pfote schüttelt – vielmehr eure edle Hand?« Lythande kennt diese Worte als Kommando. Sie setzt sich hin, nickt mit dem Kopf und reicht eine Pfote. Die Kinder jubeln. Nun wollen alle der »Dame« die Hand geben. Gut so. Wenn Kinder da sind, dann kommen die Eltern bald nach. Und dann passiert es. Heinrich greift in seinen Mantelsack, holt die Wolfsmaske heraus und vertauscht sie gegen das Tuch, das er vor seinem Gesicht trägt. Die Maske sieht sehr echt aus. Ein Kind quietscht gellend. Erwachsene eilen auf den Platz. »Verdammt! Der Oger! Der Kinderfresser!« Ein paar Steine fliegen. Lythande wird am Bein getroffen und jault auf, flüchtet in Lorenz’ Arme. »Was macht ihr, gute Leute? Wir sind fahrendes Volk, wollen zu eurem Vergnügen spielen!« Heinrich reißt die Wolfsmaske herunter, zeigt sein blatternarbiges Gesicht – aber das bewirkt das Gegenteil. Seine zernarbten Züge mit der scharfen Nase und den schrägen Augenbrauen ähneln allzu sehr einem gruseligen Wasserspeier überm Kirchentor, als dass sie Vertrauen einflößen könnten. Die Leute schmeißen zwar keine Steine mehr, aber schreien und toben. »Teufelsgesicht! Schert euch fort, Gesindel! Brandstifter! Räuber! Wenn ihr schon nicht der Oger seid – dann soll euch der Oger holen!« Heinrich einzuschüchtern, ist nicht einfach. Wenn er sich hoch aufrichtet und so wie jetzt seine Armbrust in Anschlag
bringt, weichen einfache Leute meist beeindruckt zurück. So auch hier. »Hinter mir her, Lorenz!«, befiehlt er mit zusammengebissenen Zähnen. Lorenz, seine Hündin im Arm, hält sich eng an ihn. So verlassen sie den Marktplatz. Fliehen. Ein unrühmlicher Abgang. – »Mist, was haben die bloß?« »Und wer zum Teufel soll dieser Oger sein?« Für den Abend hat es ihnen sogar den Appetit verdorben. –
»Wer hat über Nacht die Reste von dem Huhn aufgegessen?«, fragt Heinrich ärgerlich und starrt in den leeren Topf. »Du und Lythande? Lythande und du? Sogar das Brot ist weg. Fein, wie ihr an mich denkt.« »Weder ich noch Lythande!«, wehrt sich Lorenz. »Keiner von uns war das!« »Dann hat Lythande das Huhn gestohlen. Erzieh sie besser, das geht nicht.« »Lythande stiehlt nichts. Und außerdem frisst sie überhaupt kein Brot!« »Und du keine Knochen! Also wart ihr es doch zusammen!« Heinrich geht zu dem Vorratskorb mit den gelben Rüben. »Rüben zum Frühstück kauen!«, knurrt er. »So was gab es nicht, als ich noch allein unterwegs war…« Er versetzt dem Korb einen leichten Tritt. »Aber wir sind es wirklich nicht gewesen!« Lorenz’ Stimme überschlägt sich mal wieder. Heinrich schnauft. »Und das soll ich glauben? Geh und hol Wasser!«, kommandiert er. »Dann kochen wir in Gottes Namen diese Rüben. Ich hab Rüben schon immer gehasst und – das gibt’s doch nicht!« Er starrt auf den Vorratskorb. Die Seile, mit denen der Deckel befestigt war, sind gelöst. Da drin
ist nichts mehr. Gar nichts. Keine Rüben. Und die Zwiebeln und die Knoblauchzehe sind auch fort. »Da siehst du’s! Weder ich noch Lythande essen so etwas roh!« »Kräh nicht rum, schone deine Stimme!«, rät Heinrich wütend. »Sag mir lieber, wie so etwas geht!« »Vielleicht war es ein Tier? Eine Bisamratte oder so?« »Dann wär ein Loch in den Korb genagt, Schlauberger. Hier, das ist säuberlich aufgeknotet. Wir sind bestohlen worden.« »Bloß, wie kann das sein? Lythande würde jeden Fremden melden. Nicht wahr, Lythande?« Die schöne silberfarbene Hündin wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Man redet über sie und sie versteht nichts. Was wollen die beiden? »Vielleicht hat sie mal geschlafen, das treue Tier!« »Überhaupt nicht! Sie ruht nur, sie schläft nie!«, sagt Lorenz eifrig und krault seine Hündin hinter den Ohren. »Wolf – es kann nur passiert sein, bevor wir gestern Abend zurück waren. Es war schon dunkel und wir hatten keine Lust mehr auf Essen. Keiner von uns hat in den Topf geguckt, oder hast du?« »Natürlich nicht.« Heinrich schüttelt den Kopf. »Wer macht sich denn wohl die Mühe, uns auszuspionieren und bis hierher nachzusteigen?« »Jemand, der sehr hungrig ist«, erwidert Lorenz, und da hat er nun mal Recht. Die umherstreunenden Kinderbanden fallen Heinrich ein. Aber wenn eine Kinderbande kommt, das merkt man. Und das bisschen Huhn und die paar Rüben und Zwiebeln, die machen kein Dutzend Mäuler satt. Die suchen sich was anderes. Trotzdem. Irgendjemand muss sie ja bestohlen haben. »Wir packen, auf, Lorenz!«, befiehlt er. »Das hier ist nicht mehr sicher. Und bis Bernau ist es weit. Wir müssen versuchen, wenigstens in den Dörfern der Umgebung zu
singen und zu spielen. Vielleicht sind die Leute ja nicht überall so feindselig und wir haben woanders mehr Glück.« Der Junge verzieht das Gesicht. »Müssen wir uns denn wirklich schon wieder mit dem ganzen Kram über die Straßen quälen?!« Heinrich schnauft ungeduldig. »Wenn du und dein Hund von Wasser und Luft und den Gräsern der Wiese leben könnt – wunderbar. Ich kann das nicht.« »Ich werd schon was auftreiben. Wilden Honig. Ich geh den Bienen nach. Wir könnten Vogelnester ausheben – « »Lorenz! Überleg, was du sagst! Es ist Juni. Kein Vogelei, das nicht bebrütet ist. Ich ess keine faulen Eier. Und außerdem – von Eiern und Honig wird keiner satt.« »Aber ich…« »Wirst du jetzt machen, was ich sage?« Das ist der Ton, bei dem Lorenz den Kopf senkt und ohne Widerrede tut, was man ihm aufträgt. Heinrichs Zornausbrüche lassen ihn verstummen. Und schließlich ist er dazu erzogen worden, zu gehorchen. – Am nächsten Abend haben sie nicht mehr als ein paar Dörrpflaumen und ein Stück Brot »erarbeitet«, und Lorenz hat auf jene Weise, von der Heinrich lieber nichts wissen will, ihren Lederbeutel mit Ziegenmilch gefüllt. Für Lythande fielen wenigstens ein paar Knochen vom Abfallhaufen des Wirtshauses ab, wo sie aufgetreten waren, und das ist schon viel in dieser Zeit. Abends geht die Hündin jagen – eine Maus, wenn sie Glück hat, ein Eichhörnchen – aber das würde sie sogar den beiden Jungen bringen. Und für ein Quartier hat’s wieder nicht gereicht. Sie schlafen unter freiem Himmel. Ein Wiesengrund an einem Flusslauf, Weidenbäume, quakende Frösche. Der Mond steht hoch, Nebel kommt auf. Sie verzichten aufs Feuer. Die Nacht ist lau – und außerdem – was gibt es zu kochen?
»Wir hängen den Beutel mit der restlichen Ziegenmilch ins Wasser, damit sie frisch bleibt bis morgen früh. Und den Rest Brot wickeln wir in diese Blätter, dann trocknet es nicht aus.« Die Ideen hat immer Heinrich und die Arbeit macht Lorenz. Lythande ist noch auf der Pirsch. Vielleicht fängt sie ja doch noch was, das sich zum Frühstück eignet. Als sie schon im Halbschlaf sind, plätschert es im Wasser. Lorenz richtet sich noch einmal hoch. »Springen die Fische?« »Hört sich an wie was Größeres. Vielleicht ein Otter. Wir können morgen eine Falle stellen.« Es plätschert noch einmal. Und dann schlafen sie ein, und am nächsten Morgen ist das Brot fort und die Milch ausgetrunken.
Mit leerem Magen ist man schlecht gelaunt. Heinrich schreit Lorenz an, Lorenz schreit diesmal zurück und bekommt einen Heulanfall, und sogar Lythande muss leiden: Sie erwischt von Lorenz einen (gelinden) Fußtritt. Im nächsten Dorf spielen sie schlecht und verdienen nichts. Verdrossen stapfen sie abends zu ihrem Lagerplatz zurück. »Wir werden fischen«, sagt Heinrich. »Und dem Otter eine Falle legen.« »Fischen ist…« »… verboten und Recht der Herren«, ergänzt Heinrich ungeduldig. »Ja, ich weiß. Aber den Bauern Milch stehlen oder ein Huhn, das ist erlaubt, ja? Komm mir nicht so. Willst du die Falle bauen oder angeln?« Lorenz baut lieber die Falle für den Otter, und Heinrich angelt geschickt, mit Hilfe von Lythande, die jeden Fisch anbringt, der am Haken zappelt. So haben sie denn doch noch Grund, diesen Abend ein kleines Feuer anzuzünden – es wird wieder neblig, und man wird den Rauch nicht bemerken, und sie haben genug Fisch zu braten, dass sie satt werden. Auf
einmal hält Heinrich mitten im Essen inne, den Fisch zwischen beiden Händen vorm Mund, und sagt: »Wir müssen eine andere Falle stellen. Eine für den Dieb, der hinter uns her ist. Zweimal hat er uns übertölpelt. Beim dritten Mal werden wir ihn fangen.« »Vollmond ist heute. Vollmond ist gut, um Fallen zu stellen und zu sehen wer hineintappt. Was sollen wir bauen?« »Wird nicht nötig sein, etwas zu bauen. Mit Speck fängt man Mäuse und mit Essen Diebe. Wir lassen einfach diesen letzten Fisch hier übrig und legen uns etwas weiter weg zur Ruhe. Und Lythande bleibt von Anfang an bei uns.« »Sie hat gefressen. Sie bleibt schon.« Sie grinsen sich beide an, verschwörerisch. Lorenz deckt das Feuer mit Asche zu. Und sie nehmen sich vor, abwechselnd zu wachen… Jedenfalls, sie werden munter von Lythandes Knurren, und es wird schon dämmrig. Lorenz hält der Hündin die Schnauze zu und bedeutet ihr mit Handzeichen, liegen zu bleiben. Vorsichtig verlassen sie ihr Versteck zwischen den Weidenbäumen. Der Dieb ist da. Bevor sie ihn sehen, hören sie ihn schmatzen. Ein schlauer Dieb, wartet bis zur Morgendämmerung, wo der Schlaf am tiefsten ist. Er hockt da, ein dunkler Klumpen, und ist so ins Essen vertieft, dass er alle Vorsicht vergessen hat. »Was ist das?«, flüstert Lorenz. »Ein Tier?« Denn das Wesen scheint in der Tat einen Pelz zu haben, einen zottigen, räudigen Pelz. Von seinem Kopf ist nichts zu sehen, der ist tief über das Essen gebeugt. »Du kommst leise von hier und ich schlage einen Bogen und schneide ihm den Weg ab«, kommandiert Heinrich. Offenbar einen Atemhauch zu laut. Das Wesen hebt den struppigen Kopf, scheint zu wittern, und ohne sich überhaupt erst nach
ihnen umzudrehen, hetzt es in großen Sprüngen zum Fluss. Sie sind zu weit weg. »Lythande! Fass!«, schreit Lorenz, und die silbergraue Hündin schießt vor aus ihrem Versteck wie ein Pfeil, der von der Sehne geschnellt wird. Trotzdem zu spät. Das Wesen ist schon im Wasser, schwimmt prustend und mit großen Kraulzügen zur anderen Seite. Die Hündin ist zwar keine schlechte Schwimmerin, aber viel zu langsam. Genauso wenig könnte sie eine Ente fangen wie das da. »Pfeif sie zurück, das bringt nichts«, sagt Heinrich. Lythande schüttelt sich, steht in einem Regen von Tropfen, wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. »Wir müssen es anders anstellen. Kannst du mit einer Schlinge umgehen, Lorenz?« »So was lernt man, wenn man mit der Hundemeute zu tun hat, wie ich es auf der Burg Rothenfels getan habe.« »Gut. Wenn es morgen wiederkommt, dies räuberische Ding, fangen wir es mit dem Seil.« »Du kannst ja auch mit der Armbrust nach ihm schießen.« »Wir sollten es nicht gleich töten, bloß weil es auch Hunger hat.« »Vielleicht kommt es ja auch nicht wieder«, mutmaßt Lorenz. »Vielleicht haben wir es verscheucht.« »Das wäre sehr gut.« »Das wäre überhaupt das Beste. Denn was sollen wir anfangen, wenn wir es haben?« »Ihm eine ordentliche Lehre verpassen.« »Schon. Bloß – was ist es überhaupt?« »Ich hab keine Ahnung. Eigentlich zu klein für einen Menschen. Und zu behaart.« »Und zu schnell. Irgendwie unheimlich.« »Und unseren Fisch – den hat es aufgefressen. Und den Rest mitgenommen.«
Sie gehen mit gesenkten Köpfen zu ihrem Lager zurück. »Wenn wir nicht versucht hätten, es zu fangen – « » – dann hätten wir unseren Fisch noch. Das willst du doch sagen, Lorenz Schlauberger? Ja, dann hatten wir unseren Fisch noch. Aber wenn wir es los sind, dann ist das den verlorenen Fisch wert.« »Ziehen wir weiter?« »Was dachtest du? Die Dörfer hier sind abgegrast. Hier gibt es nichts mehr zu holen. Abgesehen davon, dass sie uns alle schief angucken und fragen, wo ›die anderen Kinder‹ versteckt sind. Die von unserer Bande, wovon sie alle faseln.« »Ich will wieder in eine Stadt! Ich mag Städte! Das Bunte, das Laute, das Schöne…« »Ich will auch nach Bernau. Schon, damit wir eine Gelegenheit haben, den Meister zu treffen. Der hält sich mit Sicherheit nicht lange in diesen Kuhdörfern auf.«
Sie fangen sich was ein
Als sie am Abend, hungrig und schlecht gelaunt, ihr Lager am Berghang aufschlagen, haben sie nicht mal etwas, was sie als Köder auslegen könnten, falls der Dieb doch wieder kommt. Bei beginnender Dunkelheit versucht Heinrich sein Glück mit der Armbrust und verfehlt die Wildkatze, die Lythande aufgestöbert hat – »echtes« Wild zu jagen, ein Reh oder einen Hasen, wagen sie ohnehin nicht, Wilddieben wird die Hand abgehackt. Und während die Jungen ohne Abendessen bleiben, macht sich die Hündin auf und hat für ihren Teil wenigstens Erfolg. Als sie wieder kommt, leckt sie sich die Schnauze. Vielleicht ein Nest mit Jungmäusen, vielleicht ein neugeborener Hase, wer weiß? »Sie hat’s gut, sie hat gegessen!«, seufzt Lorenz und befühlt den deutlich gerundeten Bauch des Tiers. Lythande lässt sich zunächst mit Wohlbehagen kraulen, geht dann beiseite, um zu schlafen, alle viere zur Seite gestreckt. Sie schnarcht bald, satt und ermüdet. »Zumindest wird uns heute Nacht kein Dieb belästigen. Hier ist keine einzige Brotkrume zu holen«, sagt Heinrich. Er streckt sich aus, zieht den Mantel bis zur Nasenspitze. »Ich weiß gar nicht, ob ich einschlafen kann, so laut knurrt mein Magen!«, murmelt Lorenz. »Das Jammern nützt auch nichts. Im Schlaf merkst du den Hunger nicht. Komm, wir haben eine ruhige Nacht vor uns.« Es kommt aber anders. Lorenz ist als Erster wach. Das ist seine Hündin, das erstickte Knurren und Fiepen, das wilde Scharren der Läufe. Nur – er
sieht sie nicht. Stattdessen, da im Schatten der Tannen, ein wild bewegtes dunkles Knäuel, ein Kampf. Er schreit auf: »Lythande!«, stürzt vorwärts, greift zu, fasst etwas Weiches, Haare, und zerrt das weg. Aus dem Fell, das über sie geworfen wurde, befreit sich japsend und knurrend die Hündin, umkreist nun Lorenz und das andere da mit wütendem Gebell. Nun ist auch Heinrich zur Stelle und packt mit zu. Das Geschöpf wehrt sich mit aller Kraft, kratzt, beißt, tritt und versucht sich zu befreien. »Was ist passiert?« »Es hat versucht, Lythande zu stehlen! Vielleicht auch umzubringen!« Sie haben beide ihr Tun mit dem Etwas da, halten schließlich seine Krallenhände fest, zerren es ins Mondlicht. »Es ist ein Kind!«, sagt Heinrich, keuchend vor Anstrengung. In dem Augenblick gerät sein dunkles, pockennarbiges Wolfsgesicht in die Helligkeit. Der Widerstand des Wesens lässt nach, es sackt zusammen wie ein Mehlsack, hebt, da es losgelassen wird, die Hände vors Gesicht, wimmert: »Oger! Oger! Non mi mangia! Nicht mich fressen!« »Was redet es da?« Heinrich zieht finster die Brauen zusammen. »Haben die auf dem Marktplätzen nicht auch das Wort benutzt? Was dahergeredet von einem ›Oger‹?« »Und diese Sprache?« »Hört sich ein bisschen an wie Latein.« Lorenz schäumt vor Wut. »Von mir aus, was auch immer! Es hat versucht, meiner Lythande was anzutun!« Er beruhigt die Hündin, die noch immer angstvoll bellt und zittert. Heinrich betrachtet das zusammengesackte Wesen. Es ist unglaublich schmutzig. Jedes freie Stück Haut, Füße und Hände, Hals und Gesicht sind mit der gleichen Dreckkruste
bedeckt, die krallenförmigen Fingernägel schwarz, das Haar ein Gestrüpp, so wüst wie ein Vogelnest von außen, die Kleider Lumpen. Es stinkt nach Schweiß und Urin und ungewaschener Wolle. Was da hinten liegt, dieser Mantel oder Umhang aus Pelz, war das zottlige Fell, das sie im Morgengrauen gesehen hatten. Ein Zittern geht durch das Wesen. Es murmelt wieder sein: »Oger, nicht mich fressen!« »Wovon redest du eigentlich?«, fragt Heinrich mit gerunzelter Stirn. Die Krallenfinger sinken ein Stück und lassen ein paar riesige helle Augen frei, deren Farbe man im Mondlicht nicht erkennen kann. Ein Blick fällt auf Heinrich, auf sein von Narben entstelltes Wolfsgesicht, und wieder sinkt das Wesen in sich zusammen. »Oger!« Heinrich sieht Hilfe suchend zu Lorenz hinüber. »Kannst du mal kommen? Es hält mich für diesen Oger, so wie ich aussehe.« »Ich hab keine Lust!«, sagt Lorenz grimmig. »Lass es bloß bei dem Glauben! Dann sind wir es los. Und zieh ihm vorher noch ein paar Tüchtige über, damit es ja das Wiederkommen vergisst!« »Ich bin nicht dein Oger, und ich fress keine Kinder, besonders nicht, wenn sie so dreckig sind!«, sagt Heinrich unwirsch. »Mach, dass du wegkommst, und lass dich nicht mehr bei uns blicken, sonst ergeht es dir schlecht. Na los, verschwinde.« Hinter den Dreckpfoten tauchen wieder die Augen auf, weit aufgerissen, voller Angst. Und lauernd. »Nicht Oger? Non mi mangia?« »Nein, ich fress dich nicht, wenn du das damit meinst.« Er will sich abwenden, aber mit einer schnellen Bewegung hat sich das Geschöpf nach vorn geworfen, umklammert seine
Beine, sodass er beinah zu Fall kommt, und jammert: »Guter Herr, helft! Hunger! Solchen Hunger! Farne!« Heinrich reißt sich los. Das Kind liegt auf der Erde, schnieft, richtet sich auf: »Hunger!« »Was denn? Jetzt bettelt es uns an?«, sagt Lorenz. »Es hat Hunger.« »Na, so schlimm kann es ja nicht sein. Schließlich hat es heute Morgen unseren Fisch gefressen. Und vorher unsere Milch getrunken. Und die Rüben und die Zwiebel und die Reste vom Huhn – « Das Kind sieht von einem zum anderen, seine ausgestreckte Hand zeigt mal auf Heinrich, mal auf Lorenz. Lorenz fährt sich mit den Händen durchs Haar. Er seufzt tief. »Du hast es versaut!«, sagt er verzweifelt. »Wirklich, du hast keine Ahnung, wie man mit Bettlern umgehen muss, damit man sie loswird. Abschrecken muss man sie! Abschrecken! Warum hast du es nicht dabei gelassen, dass du dieser Oger bist? Dann wären wir es los! Aber jetzt rennt es uns bestimmt weiter nach und versucht, Lythande zu erwischen.« »Weshalb eigentlich? Weshalb Lythande?« »Herrgott, bist du noch von dieser Welt?! Das kriegst du bestimmt noch raus! Und zwar in der nächsten halben Stunde! Frag das doch selbst!« Lorenz ist grantig, aufmüpfig wie noch nie. Er wendet sich wieder Lythande zu. Heinrich holt tief Luft. Er hat genauso wenig Lust, sich mit diesem Wesen abzugeben, aber es ist nun mal da, und man muss irgendwie damit fertig werden. »Wir haben heute kein Essen!«, sagt er. Er spricht langsam und eindringlich, damit er verstanden wird. »Haben selbst Hunger. Verstehst du. Nichts ist da.« Die Augen des Geschöpfs gehen hin und her, riesig und hell in dem verdreckten Gesicht. »Ihr habt Hunger?« Plötzlich lacht
es schrill auf, und seine dreckige Hand fährt herum und zeigt auf Lythande, die sich gerade von Lorenz kraulen lässt. »Ma perche? Warum? Buona mangiata! Gutes Essen! Hier! Hier!«, flüstert es und zwinkert Heinrich zu. Nicht so leise, dass Lorenz es nicht gehört hätte. »So, hast du’s nun verstanden, was es mit Lythande vorhat?« »Es sagt, dass Lythande ein gutes Essen ist«, sagt Heinrich beklommen. Traut sich’s kaum auszusprechen. Er kennt ja die Empfindlichkeit von Lorenz, wenn es um seine Hündin geht. Aber zu Heinrichs Überraschung bleibt der Junge ganz ruhig. Er zuckt mit den Schultern. »Na, eben. Darum geht’s. Und das Schlimme ist: Da hat es natürlich Recht.« Er seufzt tief. »Weißt du was? Das Ding, das hängt jetzt an uns dran wie ein Blutegel. Das werden wir nicht mehr los.« »Lorenz, wie kommst du darauf?« »Das ist doch so klar wie das Licht der Sonne. Wir haben hier ein Tier. Ein essbares Tier. Und wir wollen nicht, dass es gegessen wird. Also müssen wir verhindern, dass das andere Tier« (er zeigt mit der Hand auf das Kind) »es irgendwann erwischt und isst. Und wie machen wir das? Indem das andere Tier bei uns bleibt und von uns versorgt wird. So einfach ist das. So was nennt man ›einen Fresser mehr am Hals haben‹. Na, gute Nacht auch, Herr Oger.« Er nimmt seine Hündin auf den Arm und rollt sich mit ihr zum Schlafen ein. Heinrich schweigt, beißt sich auf die Lippen. Was Lorenz da sagt, hört sich sehr überzeugend an. »Sollten wir nicht lieber Wache halten?«, fragt er dann. »Warum?«, kommt es unter der Decke hervor. »Auf Lythande pass ich ja jetzt auf. Oder denkst du, es kommen noch mehr von der Sorte?« »Keine Ahnung. Immerhin war in dem Ort von Kinderhänden die Rede.«
»Na, das hier scheint ja einzeln zu jagen.« Das sind Lorenz’ letzte Worte, dann kommt nichts mehr. Und das Kind hat sich nun ebenfalls unter seinem Zottelpelz zusammengekrümmt und scheint eingeschlafen zu sein. Heinrich sitzt, die hochgezogenen Knie mit den Armen umschlungen, und hält seine Armbrust in Reichweite. Zwar bleibt alles friedlich, aber er kann nicht schlafen. In ihm ist eine ungeheure Wut und ein Zorn auf diese Welt, in der Kinder wie kleine verhungerte Tiere umherirren. Als der Morgen dämmert, geht er zum Fluss und legt Angeln aus und so haben sie denn ein gutes Frühstück.
Anhängsel
»Wundervoll!«, sagt Lorenz, geweckt vom Knistern des Feuers und dem Duft des bratenden Fischs und reibt sich die Augen. »Wieso bist du schon auf, Wolf?« »Ich hab kein Auge mehr zugekriegt«, sagt der, und Lorenz kommentiert frech: »Das könntest du ruhig öfter tun, wenn dabei solch ein Frühstück herauskommt!« Natürlich ist das Wesen auch wach, kommt dazu und greift nach einem Fisch, dem größten. »He, der ist noch nicht gar!« Lorenz will ihm seine Beute wieder entreißen, aber es knurrt wie ein Tier und rennt ein paar Schritte weg. »Lass es!«, sagt Heinrich. »Mein Gott, sieh doch nur!« Das Kind zerreißt den halb rohen Fisch mit den Zähnen, schluckt und würgt, spuckt die Gräten aus, aber als sich Lythande vorsichtig nähert, um ihren Anteil an den Abfällen zu holen, brüllt es rau und jagt sie weg. Sogar den Fischkopf zerkaut es und schlingt ihn hinunter. »Wenn ich nicht selbst solchen Hunger hätte«, sagt Lorenz, »dann wär mir jetzt der Appetit vergangen.« Sie essen schweigend. Als das Kind aber auch noch Köpfe und Schwänze ihrer Fische greifen will, macht Lorenz eine verscheuchende Handbewegung. »Weg da, du! Das ist für meinen Hund, klar?« Ein schräger hasserfüllter Blick aus den hellen Augen trifft ihn. Dann trollt sich das Wesen in Richtung Wald. »Vielleicht sind wir es los?«, mutmaßt Heinrich, während sie sich aufmachen, im nächsten Ort zu spielen. Lorenz seufzt. »Ich fürchte, nicht. Dem kann doch gar nichts Besseres passieren, als an uns dranzubleiben.« –
Er behält Recht. Als sie abends ihren mühsam erworbenen Hirsebrei mit Salz und einem Stückchen Butter würzen, knurrt Lythande. Es klingt mehr ängstlich als drohend. Lorenz guckt sich gar nicht um. »Unser Anhängsel, wollen wir wetten?« Das »Anhängsel« kommt ohne Gruß und Frage, hockt sich neben sie zum Feuer und langt mit der schwarzen Krallenhand in den Topf. »Hast du keinen Löffel?«, fragt Lorenz angeekelt, und es schüttelt den Zottelkopf. »Wir müssen ihm einen schnitzen«, sagt Heinrich. Lorenz lässt seinen eigenen Löffel sinken und starrt Heinrich an. »Wolf, bist du noch bei Trost?! Das heißt, wir sagen ihm sozusagen wortlos: Du bist willkommen!« Heinrich hebt die Schultern. »Du warst das doch, der mir gesagt hat, das wir es sowieso nicht loswerden! Ist dir lieber, wenn es seine Dreckfinger in den Topf steckt? Na, also.« Als der Topf leer ist, will es den Kopf hineinstecken und ihn auslecken. »Nichts ist!« Lorenz packt mit beiden Händen zu. »Das ist für Lythande! Der Rest war schon immer für Lythande! Verstehst du? Wir sind nicht drei, wir sind vier!« Er zeigt mit dem Finger. »Der da. Und ich. Und Lythande. Und nun auch noch du. Verstanden?« Es guckt ihn gar nicht an. Verfolgt nur, wie die Hündin den Topf mit der Zunge poliert. Dann legt es sich auf der andere Seite des Feuers hin, faltet die Hände überm Bauch und schläft ein. Die Jungen sehen sich an. »Bevor es uns kahl frisst, muss es mitverdienen.« »Hach!« Lorenz kreischt fast. »Eine tolle Idee! Vielleicht stellen wir es so auf die Bühne und lassen es ›Hunger,
Hunger‹, oder ›Oger, nicht mich fressen!‹ rufen? Oder wir bitten die Leute, seine Läuse zu zählen, und wer gewinnt – « »Läuse?«, unterbricht Heinrich alarmiert. »Welche Läuse?« »Guck mal da!« Er deutet auf den Kopf des Kindes. Eine Laus verlässt gerade in aller Gemütsruhe den Zottelpelz des Haars, kriecht über die Stirn und verschwindet auf der anderen Seite. Im Schlaf macht das Kind eine Handbewegung, als wollte es sich den Schweiß abwischen. Wacht nicht auf. »Früher oder später kommen diese Tierchen auch zu uns.« »Vielleicht sollten wir es ja erst mal waschen«, schlägt Heinrich vor. »Sein Geruch ist wirklich schwer zu ertragen. Dann würden wir auch herauskriegen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« »Als wenn mich das interessieren würde. Es ist ein Anhängsel und bleibt ein Anhängsel, so oder so. Außerdem: Soll ich das wieder mal machen? Kaltes Wasser allein hilft da nicht, man muss es schrubben. Und es wird Krach schlagen.« Er bricht ab. »Du liebe Zeit, ich muss verrückt sein. Ich selbst hab vorhin gesagt, wir sind jetzt vier. Was laden wir uns da eigentlich auf?« Heinrich ist aufgestanden. Er geht hin und her, ein großer dunkler Schatten vor dem flackernden Feuer. Lorenz kann sein Gesicht nicht erkennen. »Vielleicht hat Gott uns dies Wesen geschickt, um unsere Herzen zu prüfen. Lorenz, wir machen gerade etwas falsch. Wir reden von ihm, als wenn es ein Ding wäre, mit dem wir irgendwie umspringen können. Anhängsel, sagst du. Aber es ist doch ein Mensch wie du und ich, mit Vater und Mutter und hatte mal irgendwo ein Zuhause. Wir müssen mit ihm reden.« Er geht um den Holzstoß herum, beugt sich zu dem schlafenden Kind und berührt seine Schulter. Es fährt sofort hoch, mit einem unterdrückten Schrei, die Krallen zur Abwehr gespreizt. Erkennt Heinrich, und offenbar erweckt das
narbenzerfurchte, scharf geschnittene Gesicht wieder die alten Ängste in ihm. Es hebt die Hände vor die Augen. »Kannst du verstehen, was ich sage?« Das Kind nimmt die Hände herunter, nickt. »Sie nennen mich den Wolf oder das Wolfsgesicht. Das da drüben ist Lorenz. Und sogar der Hund hat einen Namen. Er heißt Lythande. Komm zu uns auf die andere Seite des Feuers und versuch mit uns zu reden. Sag uns, wie du heißt und wo du herkommst.« In die Augen des Kindes tritt ein seltsamer Ausdruck. Es ist, als ob jemand einem Lied lauschte, das ganz weit weg gesungen wird. – »Komm!«, wiederholt Heinrich. Es rafft seinen Pelz um sich, steht auf und geht mit ihm ums Feuer. Lorenz rutscht ein paar Schritte weiter weg.
Der Zug der Unschuldigen
Das erste Mal redet das Kind mit einer normalen Stimme. Sonst hat es nur geschrien, gewimmert, geflüstert. Jetzt sagt es mit einem weichen Akzent, der darauf hindeutet, dass es nicht seine Muttersprache spricht: »Ich komme von Bergen.« »Du kommst aus einem Gebirge. Weißt du, wie es heißt? Wie die Berge heißen?« Kopfschütteln. »Nein.« »Dort, wo du herkommst – spricht man da unsere Sprache?« Es nickt. »Ja, und andere.« »Zwei Sprachen«, überlegt Heinrich. Und zu Lorenz: »Wahrscheinlich stammt es aus einer Alpenregion, wo man Italienisch und Deutsch spricht.« Lorenz zuckt die Achseln, und Heinrich erinnert sich daran, dass er Mailand für eine Stadt nah bei Jerusalem hielt und er möglicherweise genauso wenig oder so viel von den Alpen weiß wie Lythande. »Hast du einen Namen? Wie hat dich die Mutter zu Haus gerufen?« Das Kind schluckt, muss zweimal ansetzen. »Luci.« Von Lorenz kommt ein Schnaufen. »Was soll das für ein Name sein?« Aber Heinrich gebietet ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Red jetzt nicht rein. Bring es nicht durcheinander.« Lorenz verzieht schmollend den Mund. »Luci«, wiederholt Heinrich. »Wofür steht das? Lucio oder Lucia. Was bist du, Junge oder Mädchen?« Das Kind presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf.
»Aber eins von beidem musst du doch sein.« Das Kopfschütteln wird wilder. Es endet damit, dass Luci sein Gesicht wieder in den Händen verbirgt. »Er oder sie – wird Gründe haben, das nicht zu verraten.« »Na, spätestens wenn wir’s waschen, wissen wir’s«, wirft Lorenz trocken ein und fängt sich einen wütenden Blick des Kindes ein, zwischen gespreizten Fingern hindurch. Heinrich berührt es noch einmal sanft an der Schulter, es zuckt zusammen, aber blickt wieder auf. »Warum bist du fort von zu Haus?« »Alle. Tutti quanti. Alle sind fort. Alle Kinder. Mann sagt, Jesus ruft. Wir fahren mit Schiffen über großes Wasser.« »Schiffe?«, fragt Heinrich. Es nickt. »Dann sind Schiffe zerbrochen. Viele tot. Viele weg. Wir gehen zurück. Viele. Viel Hunger. Viel Krankheit. Noch mehr tot.« Lorenz starrt abwechselnd Heinrich und das Kind an. »Weißt du, wovon es redet?« Heinrich nickt. »Ich fürchte, ja. Du musst noch ziemlich klein gewesen sein – erinnerst du dich daran, dass Prediger durchs Land zogen und Kinder angeworben haben, das Heilige Grab Jesu Christi von den Ungläubigen zu befreien? Viele sind losgezogen – man hörte nie wieder etwas von ihnen…« Lorenz bekreuzigt sich. »Du meinst: Es war tatsächlich auf diesem Kinderkreuzzug!? Alle haben davon gewusst, und viele haben geglaubt, dass es ein gottgefälliges Werk ist«, flüstert er. »Gütiger Gott! Aber warum ist es allein? Warum nicht mit vielen anderen?« »Wir werden das noch erfahren«, sagt Heinrich. Wendet sich dem Kind zu. »Und warum bist du nicht wieder nach Haus gegangen?« Luci starrt ins Feuer. »Ich habe nicht mehr gewusst. La via. Die Straße.«
»Den Weg, meinst du. Weißt du, wie lange ihr unterwegs wart? Sommer, Winter? Wie oft wurde es heiß und dann wieder kalt?« Es zählt an den Krallenfingern, drei, vier, zuckt hilflos die Schultern. »Meint es wirklich, drei oder vier Jahre?«, fragt Lorenz halblaut. »Ich glaube schon. Als ich das erste Mal von diesem Kreuzzug hörte, war ich noch ein Kind. Ich saß auf meiner Schulbank und glaubte fest daran, dass diese Kinder das Heilige Grab retten und die Ungläubigen vertreiben würden kraft ihrer reinen Seelen. Ich hab für sie gebetet damals.« »Du siehst ja, was es geholfen hat!« Lorenz empört sich. »Das waren doch einfach nur Betrüger, die die armen Würmer verführt haben, wie der Pfeifer von Hameln, der die Ratten aus der Stadt lockt.« »Das weiß ich jetzt auch.« Das Kind hat von einem zum anderen gesehen und versucht, dem Gespräch zu folgen. Aber es gelingt ihm wohl nicht. Nun sitzt es da, in sich zusammengesunken unter seinem Fell, der verdreckte Haarwust um die Schultern wie eine Mähne. Wieder einem Zotteltier ähnlich. Guckt ins Feuer. »He!« Lorenz redet es jetzt direkt an. »Sag mal, warst du allein weg von deiner Familie?« Es sieht auf, die Stirn gerunzelt, bemüht zu verstehen, schüttelt dann den Kopf. »No. Ein Bruder und zwei Schwestern, mit mir, kleine, ja.« »Und wo sind die jetzt?« »Morti. Tutti morti. Alle tot«, sagt es sanft, als erzähle es eine alltägliche Begebenheit. »Sie sind alle tot. Hörst du das? Drei kleine Geschwister sind ihr weggestorben unterwegs. Die Unschuldigen, die das Heilige Grab befreien sollten! Das ist das Werk des Teufels!«
Lorenz ist aufgestanden, geht weg in den Schatten. Lythande hebt den Kopf, folgt ihm ins Dunkel. Das Kind sieht ihnen hinterher. Wachsam, wie ein Tier, das Gefahr wittert. »Erzähl uns alles, Luci«, sagt Heinrich sanft. »Hab keine Angst. Lorenz und sein Hund sind Freunde. Freunde, verstehst du?« Es nickt langsam. »Warum sind deine Geschwister gestorben?« »Krank. Bauch«, sagt es lakonisch. »Anch’io. Ich auch krank. Aber ich wieder gut. Alle krank am Meer. Zuerst – oh, wir alle singen. Leute geben uns Essen. Milch, Brot. Geben uns Segen. Priester sagen: Ihr geht über Wasser wie der Heiland selbst. Trockenen Fußes nach Jerusalem. Ohne Waffen befreien Jerusalem. Dann am Meer. Keiner kann gehen über Wasser.« Es schließt die Augen. Sein verdrecktes Gesicht sieht plötzlich aus, als wäre es um Jahre gealtert. »Kein Essen. Keine Schiffe. Wir warten und warten. Alle krank. Viele tot.« »Weißt du, wie die Stadt hieß, Luci?« Das Kind wiegt sich weiter hin und her, summt leise, scheint ganz weit weg zu sein. »Luci, weißt du’s?« »Genua«, sagt es plötzlich. »La citta di Genua.« Es öffnet die Augen wieder, ballt die Fäuste. »Böse Leute dort in Genua. Sehr böse Leute!« Es stößt einen rauen Schrei aus. »Capitani von Schiffe nehmen Kinder, sie verkaufen an Heiden.« »Sie haben die Kinder auf ihre Schiffe gelockt, gesagt, sie bringen sie nach Jerusalem – und haben sie dann in die Sklaverei verkauft?« Heinrich stockt fast der Atem. »Si, veramente«. Das Kind nickt heftig. »Wir Angst, alle Angst. Nie Heiliges Grab sehen. Wollen nach Hause.« »Ihr seid umgekehrt, ja?« Das Wesen lacht bitter auf. »Oh ja. Aber nun: Alles anders. Wir nicht singen. Keiner gibt uns Milch oder Brot. Wir betteln. Wir stehlen. Leute viel Wut auf uns. Wir zu viele. Uns trennen,
besser. Dann die große Berge. Meine Berge.« Es schluckt. Plötzlich bricht ein gurgelndes Geräusch aus seiner Kehle. Es hebt die Krallenfinger vors Gesicht. Das Wesen weint. Es schreit, es flüstert. »No abbiamo trovati! Wir haben nicht gefunden nach Haus. Bis zu Schneeberge wir gehen. Nichts. Nie wieder gefunden.« Heinrich wartet, bis es sich wieder gefasst hat. Das Herz tut ihm weh, und gleichzeitig ist er voller Zorn. Das Kind hat sich gefasst. »Wir alle gehen nach Germania«, sagt es, nun wieder im trockenen Erzählton. »Alle sagen: gutes Essen, gute Menschen.« Es lacht auf. »Menzogna! Alles Lüge. Kein Essen. Keine gute Menschen.«
Geschichten vom Oger
»Warum bist du allein jetzt, Luci?«, fragt Heinrich behutsam. »Warum hast du keine Gefährten?« Es sieht ihn fragend an, versteht schließlich. Zeigt auf sich. »Warum allein?« Heinrich nickt. Die hellen Mondaugen des Kindes mustern ihn, tasten ihn ab. »Oger«, sagt es. »Sono mangiati. Er hat sie gefressen. Alle.« »Die Kinder sind aufgegessen?«, rät Heinrich ungläubig. »Was meinst du?!« Es bewegt heftig seine Mähne. »Der Oger hat sie gefressen.« »Wer ist dieser verdammte Oger, der angeblich aussieht wie ich?« »Malocchio. Böser Blick. Er kommt nachts und holt die Kinder. Große, kleine. Le piu belle. Schöne Kinder.« Es lehnt sich zurück, und auf seinem verdreckten Gesicht erscheint jetzt beinahe ein Grinsen. Heinrich schließt für einen Moment die Augen. Dies Kind ist entweder irrsinnig, oder – »Lorenz, komm wieder her. Du musst mir helfen. Es gibt da eine Geschichte, die wir verstehen müssen.« Lorenz nähert sich widerwillig, Lythande hinter sich. Die Hündin hält ängstlich Abstand zu Luci. »Hast du schon mal von diesem Oger gehört, bevor wir hier in die Gegend kamen?« »Kein Sterbenswörtchen. Erst hier. Und immer, wenn es um diese Kinderbanden ging. Muss ein besonderes Monster für solche Kinder sein.« »Genau das denke ich auch. Ein besonderes Monster für solche Kinder. Für kleine Kreuzfahrer. Wir sollten versuchen,
dahinter zu kommen.« Der ernste Tonfall lässt Lorenz aufhorchen. »Was meinst du?« »Langsam bekommen wir Übung im Aufstöbern von Leichen im Wald und im Finden der Mörder, denkst du nicht? Denk dran, wie wir das Verbrechen an deiner geliebten Herrin aufgedeckt haben. Wir entwickeln Nasen, die so etwas wittern.« Heinrich lacht. »Du meinst – ein Verbrechen?« Heinrich nickt. Lorenz scharrt mit der Fußspitze in der Asche des heruntergebrannten Feuers. »Frag es weiter«, sagt er leise. »Ich – ich kann nicht dabei sein. Ich kann solche Geschichten nicht ertragen. Ich kann’s einfach nicht. Sei nicht böse.« »Schon gut.« Heinrich legt seinem Gefährten kurz die Hand auf die Schulter. »Es ist nichts dran auszusetzen, dass du ein weiches Herz hast. Aber wir müssen es schließlich herauskriegen. Lass mich nur machen.« Dankbar trollt sich Lorenz mit seiner Hündin, legt sich mit ihr im Arm nieder an der Grenze zwischen Feuerschein und nächtlicher Dunkelheit. Heinrich wendet sich dem Kind wieder zu. –
Der Mond ist schon hinter den Tannen verschwunden. Das Kind schläft, tödlich erschöpft nach seiner Erzählung, tief verkrochen in seinem Pelz, und murmelt in seinen Träumen. Lorenz und Heinrich haben das Feuer noch einmal aufgeschürt und trockene Zweige nachgelegt. Nun sitzen sie nebeneinander und sehen sich nicht an. Heinrich stochert mit einem Ast in der Glut, während er Lorenz berichtet, was für Dinge ihm das Kind erzählt hat. Auch die Geschichten vom Oger.
Manchmal bot ein Kloster den umherirrenden Kindern Unterkunft, erfährt Lorenz. Da hörten sie zum ersten Mal vom Oger, der Kinder frisst. Besonders die schönen und kräftigen. Am liebsten Mädchen. Gegen den Oger hilft kein Türschloss und kein Weihwasser. Wenn Vollmond ist, dringt er sogar in Klostermauern und holt sich seine Opfer. Und wirklich. Wenn sie so ein Kloster verließen, fehlten meistens ein, zwei. Erst machten sie sich keine Gedanken. Bis sie auf einmal merkten, dass ihre Gruppe nun schon auf die Hälfte zusammengeschmolzen war. Von da an gerieten sie bei jedem Vollmond in Panik, versuchten sich zu verstecken. Es half alles nichts. Sie wurden weniger und immer weniger. Sie liefen auseinander, hierhin und dorthin, und Luci wusste nicht, ob sich die anderen wieder zu einer Gruppe zusammengefunden hatten. Jedenfalls streunte das Kind seither als Einzelgänger durch die Gegend. Bettelnd, stehlend. Und auf der Flucht vorm Oger. »Dieser Oger«, sagt Heinrich und starrt mit gerunzelten Brauen in die verlöschende Glut des Feuers. Lorenz zuckt die Achseln. Versucht, leichthin zu klingen. »Vielleicht hat es sich das doch bloß ausgedacht?« »Das glaub ich nicht. Denk dran, dass die Leute im Dorf davon gesprochen haben. Und ist es dir nicht aufgefallen? Er schlägt gern in Klöstern zu. Irgendjemand stiehlt diese Kinder. Nicht um sie zu fressen, natürlich. Aber sie sind durch die verbreiteten Märchen so in Angst und Schrecken, dass sie alles mit sich geschehen lassen. Wir müssen uns umhören.« Lorenz nickt. »Das Kind wird also bei uns bleiben.« Er stöhnt. »Ich leg mich jetzt aufs Ohr. Nach solchen Gruselgeschichten braucht man ein bisschen Schlaf.« Heinrich sitzt noch lange, starrt vor sich hin. Immer, wenn er an den Moment denkt, als das Wesen zu weinen anfing, krampft sich ihm das Herz zusammen. Man muss helfen. Aber
wie? Im Namen der Christenheit ist an all diesen Kindern ein furchtbares Verbrechen verübt worden und keiner will dafür gerade stehen. Um die Stimme des Gewissens nicht zu hören, verschließt man die Augen vor der Not der kleinen Kreuzfahrer und jagt sie von Ort zu Ort. Und wenn so ein Oger ihre Zahl verringert, ist es ja vielleicht sogar einigen ganz recht… Auf alle Fälle muss es bei uns bleiben. Aber wie machen wir wieder einen Menschen aus ihm? –
Regenwetter
Es regnet, und sie haben Bauchschmerzen von den Kirschen, die Lorenz im Dämmerlicht holt – es sind die halbreifen, denn die Bäume mit den reifen werden von den Gärtnern bewacht. Nur Lythande weiß für sich zu sorgen. Einmal bringt sie ein Eichhörnchen, das sie braten. Aber was ist schon ein Eichhörnchen für drei hungrige Mägen. Nach dem Abend, an dem das Kind Heinrich sein Schicksal erzählt hat, scheint es nun wieder ganz und gar verstummt zu sein. Außer Knurren und Brummen gibt es keinen Ton von sich. Wenn Lorenz oder Heinrich es allerdings um irgendeine Hilfe bitten, sei es nun, Wasser zu holen oder Holz zu zerkleinern, schüttelt es nur wortlos den Zottelkopf. Das Wasser der Seen und Bäche ist noch kalt. Trotzdem baden die Jungen jeden Morgen und waschen sich mit einer Paste aus Ton und Asche, die Lorenz zubereiten kann. Wenn sie als Gaukler auftreten, dürfen sie nicht verdreckt daherkommen. Danach toben sie nackt mit Lythande herum, um wieder warm zu werden. Es ist beinah die einzige Zeit des Tages, wo sie sich fröhlich und unbeschwert fühlen. Das Kind scheint auch davon nicht das Geringste zu halten. Immer, wenn die beiden sich früh aus ihren Mänteln und Decken schälen und Wams, Hemd und Hosen ablegen, verzieht es sich so weit wie möglich, sieht nur aus der Ferne zu. »Wie sollen wir das jemals waschen?«, fragt Lorenz. »Es scheint durch und durch wasserscheu zu sein.« »Aber es kann schwimmen«, erinnert Heinrich. »Es ist doch Lythande im Fluss davongekrault wie nichts.«
»Irgendwann packen wir es einfach und tauchen es ein«, meint Lorenz. Aber beide sind nicht allzu erpicht darauf, dergleichen zu machen. Sie können sich lebhaft vorstellen, was das für ein Gekreisch und Gestrampel wird. So bleibt das »Anhängsel« weiter in seinem Zustand. Manchmal nennt Heinrich es »Rautierchen« und bekommt dafür einen schrägen Blick aus seinen Mondaugen. Der Regen hört nicht auf, ihre Sachen sind durchweicht, und fast überall, wo sie darum bitten, auftreten zu können, verschließt man achselzuckend die Türen vor ihnen. Die Vorräte sind aufgebraucht, bis zur nächsten Ernte ist es noch länger hin, und immer wieder faseln die Leute etwas von Kinderbanden. Die Stimmung der Leute ist auf dem Tiefpunkt. »Warum machen sie so ein Gewese wegen ein paar herumziehender Kinder?«, fragt Lorenz mutlos, als sie wieder einmal mit leeren Taschen und leeren Magen ihr abendliches Lager aufschlagen. Ein paar große Tannen bieten notdürftigen Schutz vor der Nässe. Feuer zu machen ist unmöglich, das Holz ist durchweicht und qualmt nur – aber es gibt ohnehin nichts zu kochen. Nur ein letzter harter Brotkanten ist noch da. Heinrich teilt ihn schweigend in drei Stücke. Nachdem das Kind gegessen hat, geht es hinaus auf die Wiese, in den Regen, bückt sich, sammelt etwas. »Was treibt es da, unser Anhängsel? Sucht es nach Pilzen? Die gibt’s jetzt noch nicht«, bemerkt Lorenz. Das Geschöpf kommt zurück, beide schwarzfingrigen Hände voll Grünzeug. Breitet es vor ihnen aus, sieht sie auffordernd an. »Was ist das, Lud?«, fragt Heinrich. Endlich macht es mal wieder den Mund auf. »Buona mangiata!«
»Es meint, man kann das essen!«, sagt Heinrich zweifelnd. »Hm, na ja.« Lorenz beguckt sich die Kräuter. »Also das ist Sauerampfer. Und hier – die Blätter der Kuhblume. Schafgarbe – ich weiß ja nicht…« Das Kind nimmt selbst von dem, was es mitgebracht hat, kaut, schluckt, macht eine auffordernde Geste. Zögernd greifen die Jungen zu. »Gar nicht so schlecht!« Sie sehen sich verwundert an. Der Sauerampfer schmeckt angenehm bitter-säuerlich, die frischen Kuh-Blätter sind scharf, die Schafgarbe scheint die Geschmacksnerven fast zu betäuben. Aber danach haben sie nicht mehr das bohrende Hungergefühl wie vorher. »Man kann das Zeug wirklich essen! Unglaublich! Warum wussten wir das nicht?«, fragt Heinrich. »Gut, also ich kenne nur Heilkräuter aus dem Klostergarten.« »Und ich?« Lorenz verzieht den Mund. »Meinst du, als Page einer adligen Dame musste ich mich ernähren wie eine Ziege am Strick? Aber es ist wirklich essbar!« »Es kennt sich eben wirklich aus. Danke, Luci!«, sagt Heinrich freundlich. Das Kind verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. Geht abseits, um sich zum Schlaf einzurollen. »Das ist das erste Mal, dass es etwas für uns getan hat!«, sagt Lorenz. »Meinst du nicht auch, Wolf, dass es noch vor ein paar Tagen sein Grünfutter allein gefressen hätte?« »Kann schon sein«, erwidert Heinrich. »Und du solltest vielleicht aufhören, von ihm so zu reden, als wenn es ein Stück Vieh wäre.« Sie ziehen am nächsten Tag weiter im Nassen und gelangen schließlich an ein abgelegenes Gehöft, und die zwei zottigen Hunde, die kläffend auf sie losgehen, umschwänzeln sogleich die schöne Lythande.
Auf dem Hof neben den Stallungen und der Tenne entdecken sie einen großen, unförmigen Ofen, viel größer als die Backöfen, die sonst auf Bauerngehöften zu finden sind, und einen Vorrat trockenes Holz. Die windschiefe Tür des Hauses geht auf, und im Rahmen steht eine blonde, fröhlich aussehende Frau mit einem Schürhaken in der Hand. Als sie die Truppe erblickt, stellt sie ihre, »Waffe« beiseite und sagt furchtlos: »Was seid ihr denn für bunte Vögel?« »Durchreisende Gaukler«, sagt Lorenz mit seiner elegantesten Verbeugung, »die um Quartier für eine Nacht bitten und wenn möglich, ein Mahl, und die das Neuste von der Welt in euer Haus bringen.« »Das Neuste von der Welt, das will ich gar nicht wissen!«, sagt die Frau und lacht. »Was soll schon sein außer Mord und Totschlag, Not und Tod und Unfriede. Aber wenn ihr mich mit einem Spiel oder Lied unterhalten könnt oder mit Kunststücken, dann sollt ihr mir willkommen sein. Ich bin Berchta, des Töpfers Weib, und mein Mann ist unterwegs, seine Ware auf den Markt zu bringen, und ich bin allein und langweile mich.« Sie mustert die Truppe, ihre von Regennässe glänzenden Umhänge und das feuchte Gepäck. »Mach mal das Tuch ab«, fordert sie Heinrich auf. »Ich will niemanden erschrecken.« »Schreckhaft bin ich nicht«, erwidert sie mit einem Lächeln. Heinrich enthüllt sein Gesicht. Die Frau betrachtet ihn ruhig. Dann sagt sie: »Ja, so was kommt vor. Aber du trägst es mit Würde, wie ich sehe.« Sie besieht sich den Rest der Truppe. »Spielt der schöne Hund auch mit?« »Zu Diensten!« Lorenz macht erneut seine Verbeugung und fordert Lythande auf, es ihm gleich zu tun. »Fein! Das kann gut werden.« Sie lässt ihren Blick über Luci hingleiten, ohne etwas anzumerken. »Dann kommt zunächst
auf die Tenne, trocknet euch und wartet, dass ich euch ein Essen bringe. Danach sollt ihr mich unterhalten.« »Den Heiligen sei Dank!«, sagt Lorenz aus tiefstem Herzen. »Unsere Pechsträhne scheint vorüber.« Sie trauen ihren Augen nicht, als Berchta ihnen auftischt: geschmälztes Sauerkraut mit Speckschwarten, Dickmilch, Schwarzbrot – als hätte sie auf Gäste gewartet. Lythande frisst bei den Hunden mit. So gut und reichlich sind sie schon lange nicht mehr versorgt worden. Die Frau setzt sich daneben und guckt zu, wie’s ihnen schmeckt. Dann stimmt Heinrich die Fiedel. Sie spielen ein Tanzlied zuerst, dann lässt Lorenz seine Hündin, verkleidet mit Schleier und Rock, auf den Hinterfüßen gehen und zum Takt der Schellentrommel tanzen. Die Frau lacht Tränen. Schließlich jongliert Heinrich mit den Wollbällen und danach mit seinen Armbrustbolzen. »Bitte nicht die Nummer mit dem Schießen!«, sagt Lorenz leise und flehentlich. »Heute mal nicht!« Bevor Heinrich etwas erwidern kann, ist die Frau aufgestanden und zu ihnen getreten, als habe sie die Worte verstanden. »Das habt ihr wirklich gut gemacht!«, sagt sie lobend. »Aber warum hockt das Mädchen in der Ecke und macht nicht mit?« »Das Mädchen?«, fragt Heinrich gedehnt. Die Jungen sehen sich an. »Aber wir – also es wollte uns nicht sagen, ob es – was es ist – wir dachten – «, stammelt Lorenz. Er ist errötet. Die Töpferin tut so, als würde sie ihre Verlegenheit gar nicht bemerken. »Warum lasst ihr sie so verwahrlost herumlaufen? Ist sie etwa kein Christenmensch?« Sie geht zu Luci, kniet sich hin vor ihr und betrachtet das verdreckte Wesen. Das Kind sitzt ganz ruhig da, zeigt keinerlei Furcht oder Abwehr.
Die Frau nickt ihm ermutigend zu. Dann steht sie auf und sagt: »Also das werden wir schon hinkriegen.« »Was habt Ihr denn vor mit ihr?«, fragt Heinrich besorgt. Sie lacht ihn an. »Ganz einfach. Ich will sie baden. Und danach ziehen wir ihr vernünftige Sachen an.« »Aber es – aber sie lässt keinen an sich heran!«, murmelt Heinrich. »Na, das kann ich ihr auch nicht verdenken«, sagt Berchta kopfschüttelnd. »Was soll das denn? Warum sollte sie sich von zwei großen Bengeln wie euch baden lassen?« Jetzt errötet nicht nur Lorenz.
Holunderblüten
Der Regen hat aufgehört. Es tropft noch vom Dach, und der große Holunderstrauch, der den Hof vom Garten abgrenzt, leuchtet frisch und feucht und strömt seinen Duft aus. Die Sonne kommt durch, das erste Mal seit Tagen. »Ich kann das Bad draußen vorbereiten«, sagt die Töpferin mit einem Blick zum aufklarenden Himmel. »Los, helft mir!« Sie beginnt die beiden Jungen herumzukommandieren. »Trockenes Holz ist da hinterm Brennofen. Nehmt Glut aus dem Ofenloch und macht ein Feuer im Hof. Der Kessel ist in der Küche. Wer bringt mir den Holzzuber von der Tenne hierher? Gut so. Und nun brauch ich noch Wasser vom Brunnen. Mehr. Den Kessel voll, und dann noch kaltes daneben.« »So. Jetzt könnt ihr das heiße eingießen und mit dem kalten mischen!« Während Heinrich und Lorenz im Schweiß ihres Angesichts ihren Anweisungen folgen, geht sie mit einer Schere zu dem blühenden Holunderstrauch und kommt zurück, die Schürze gefüllt mit Blüten, die sie lachend ins Badewasser wirft. Es riecht betäubend. »So, das war’s.« Sie mustert die beiden Jungen abschätzend. »Da fällt mir ein, ich könnte noch eine Tracht Späne gebrauchen für den Brennofen. Nehmt Axt und Messer mit, wenn ihr zum Wald aufbrecht. Und lasst euch Zeit.« Währenddessen hockt das Kind weiter in der Tenne, so unbeteiligt, als hätte es nichts von dem verstanden, was da vorgeht. –
Sie gehen nebeneinander her, jeder für sich, keiner sieht den anderen an. Im Wald beginnt Heinrich auf das grüne Holz einzuschlagen, als wenn er ein ganzes Ritterheer in die Flucht treiben will. Lorenz bündelt die Späne und starrt vor sich hin. Auf dem Rückweg tut er endlich den Mund auf. »Wieso haben wir das nicht gemerkt?« Heinrich atmet tief durch. »Du – du hast es doch gar nicht richtig angeguckt, so sehr hast du dich geekelt vor dem Dreck und den Läusen. Und du warst sauer, weil es – weil sie Lythande wegfangen wollte zu Anfang. Und ich – ja. Für mich war sie ein Geschöpf Gottes, aber nicht – aber nicht…« »Außerdem kommst du aus dem Kloster, was weißt du schon von Frauen«, sagt Lorenz nicht ohne Überheblichkeit und wundert sich dann auch nicht, als er Heinrichs »Halt den Mund!« als Antwort kriegt. »Wenn ich denke, dass wir uns morgens immer ausgezogen haben und über die Wiesen gerannt sind, so wie Gott uns geschaffen hat – puh! Ich werd noch im Nachhinein rot!« »Hör auf damit!« »Ist ja schon gut. Übrigens, wir brauchen nichts von der Töpferin. Sie kann meine Mädchenkleider kriegen, in denen ich aufgetreten bin. Luci kann…« »Lucia. Sie heißt Lucia. Daran sollten wir uns gewöhnen. Nicht Luci. Und schon gar nicht Rautierchen oder Anhängsel.« Lorenz nickt. Als sie in die Nähe des Hofes kommen, jeder ein Bündel auf der Schulter, hören sie das Gekreisch schon von weitem. Sie zögern und trödeln absichtlich herum, bis es endlich ruhig ist da vorn. Endlich wagen sie sich durch den Flechtzaun des Hofes. Die Frau steckt gerade Lucias Lumpen mitsamt dem Zottelfell ins Feuerloch des Brennofens. »So«, sagt sie, richtet sich auf, lacht und stemmt die Hände in die Hüften, »das wäre erledigt.«
Die Jungen sehen sie an. Vergessen ihre Holzbündel abzulegen. Berchta ist von Kopf bis Fuß nass. Der Kittel klebt an ihrem Körper wie eine Haut. Man sieht ihre Brüste, den gewölbten Bauch, die Schenkel. Sie wirkt wie nackt. Sie bemerkt ihre Blicke. »Ich musste zu ihr in den Zuber steigen«, sagt sie lächelnd, »sonst hätte ich sie nicht bändigen können.« »Wo ist sie jetzt?«, fragt Heinrich. Er muss zweimal ansetzen, bevor er einen Ton rausbekommt. Noch nie hat er eine Frau so gesehen. »Da drin«, sagt sie und macht eine Kopfbewegung zur Tenne. »Sie soll heute in meinem Bett schlafen bei mir. Damit sie wieder lernt, wie es bei Menschen zugehen kann. Himmel, hat sie sich gesträubt! Nun ist es vorbei. Setzt endlich euer Holz ab. Kommt, tragt eure Gefährtin zu mir herein, ich hab mich genug abgemüht.« »Eure Gefährtin« – das ist ein neues Wort. Unsre Gefährtin. Lucia. Heinrich runzelt die Stirn. Wie wird das weitergehen? Er kann sich nicht vorstellen, zusammen mit einem Mädchen zu reisen. Vorerst nicht. Hinter der Wand aus Flechtwerk steht der Badetrog, das Wasser ist grau und schaumig. Daneben liegt, eingewickelt in ein großes Tuch, ein fremdes Wesen. Schlafend? Ohnmächtig? Lythande nähert sich vorsichtig, als wäre das Geschöpf da ein unbekanntes Tier, schnüffelt und winselt. »Was habt Ihr – was habt Ihr mit ihren Haaren gemacht?«, fragt Heinrich halblaut. Die Töpferin zeigt mit dem Daumen auf ihre Schafschere, die daneben liegt. »Das meiste musste runter«, sagt sie sachlich. »Keine Sorge, es wächst nach. Kann ja ein Kopftuch tragen.« Lucias Kopf ist rund und klein. Dicht bewachsen mit einem Stoppelpelz in der Farbe reifer rötlicher Kastanien. Das zottlige Haar, dreckstarrend, hatte grau ausgesehen. Endlich
sieht man auch ihr Gesicht, ein sommersprossiges, zartes Dreieck mit hohen Wangenknochen und einem Mund, gewölbt wie ein Jagdbogen. Über der runden gewölbten Stirn ist die Haut so durchsichtig, dass man die bläulichen Adern sieht. Ihre Brauen sind wie feine Striche über den schön geschwungenen Lidern. Lorenz nähert sich ihr nicht, bleibt scheu auf Entfernung. Heinrich hebt sie auf, nimmt sie auf den Arm. Sorgsam bedacht, dass sich das Laken nicht öffnet. Er kann nicht sehen, wo er hintritt, stolpert hinter der Töpferin her in das Haus eine Stiege hoch. »Hier leg sie hin.« Ein Bett, gerade schmal genug für einen Menschen. Wie will die Frau da die Nacht neben dem Kind verbringen? Sie zieht die Daunendecke hoch bis zu Lucias Hals. Der Kopf, der da aus den weißen Laken guckt, kommt ihm ungeheuer fremd vor. Das rötliche Fell, der Strich der Augenbrauen über den geschlossenen Lidern, als wenn die Haut über den Augen dünner wäre. Berchta steht neben ihm. »Pass auf das Kind auf, Narbengesicht, bis ihm eine neue Haut gewachsen ist, nachdem wir ihr die alte genommen haben«, sagt sie leise. »Was meint Ihr?« »Sie hat ihre Gründe gehabt, so verdreckt herumzulaufen. Es war ein Schutz. Sie hat furchtbare Angst vor etwas. Vor einem Wesen, dass die schönen Kinder haben will. Darum hat sie sich hässlich gemacht und verborgen, dass sie ein Mädchen ist.« »Der Oger!«, murmelt Heinrich. »Der Oger?« Die Töpferin sieht ihn an. »Ja, davon hab ich gehört.« »Was habt Ihr gehört?« »Dass er die Kinder holt, die im Land herumstreunen. Zur Strafe ihrer Sünden.«
»Worin sollen die Sünden dieser Kinder bestehen? Sie sind unschuldig. Kleine Kreuzfahrer, heimatlos, elternlos.« Die Frau seufzt. »Für die Leute bestehen diese Sünden einfach darin, dass sie zu essen und zu trinken wollen. Sie müssten ja teilen mit denen. Da kommt einem ein Oger manchmal ganz recht.« Leise verlassen sie den Raum mit dem schlafenden Kind. – Später arbeiten sie in der Töpferei. »Mein Mann kommt viel herum im Lande. Er hat mir davon erzählt. Die Kinder sind verhasst, überall. Manche machen richtig Jagd auf sie.« »Weil sie Hunger haben und manchmal stehlen?« Berchta seufzt. »Natürlich, weil sie stehlen. Aber es gibt eben die Geschichte, dass sie verflucht sind.« »Ich verstehe nicht. Das sind unschuldige Kinder…« »Du und ich, wir wissen das. Aber die Leute sagen, dass Gott ihr Opfer nicht angenommen hat. Wenn sie wirklich unschuldig gewesen wären, dann hätten sie das Heilige Grab befreien können. Der Teufel ist in sie gefahren, wird erzählt, als sie am Ufer des Meeres waren, bei der Stadt Genua. Er hat sie so lange geplagt, bis sie umgekehrt sind, statt übers Meer zu fahren.« Heinrich hat den letzten Krug so unsanft auf das Brett gestellt, dass der feuchte Lehm zusammenrutscht. »Was für ein empörender Unsinn!«, sagt er und fühlt den Zorn wie eine große Woge über sich zusammenschlagen. »Die Kinder haben eine Krankheit gehabt, eine furchtbare Seuche. Die meisten sind gestorben, andere wurden an die Ungläubigen verkauft und…« »Mir musst du das nicht erzählen«, sagt die Töpferin. »Ich sag dir das bloß, damit du Bescheid weißt, falls ihr mit ihr über Land zieht. Sagt lieber nicht, dass sie zu denen gehört hat.
Abgesehen davon, dass du mir deswegen noch lange nicht meine Formen kaputtmachen musst.« Sie arbeiten schweigend weiter.
Lucia kann lächeln
Als sie am nächsten Morgen aufwachen und aus der Tennentür schauen, regnet es schon wieder. Die Wiesen dampfen, der Wald ist unsichtbar im Nebel. »Siebenschläfer ist heute! Es heißt, dann regnet’s sieben Wochen!«, ruft die Töpferin vom Haus her. »Kommt frühstücken!« »Das mit dem Siebenschläfer hat man bei mir zu Haus auch immer gesagt«, knurrt Heinrich missgelaunt. »Gestimmt hat’s nie.« Sie öffnen die Tür zur Küche – und stehen wie angewurzelt. Am Tisch sitzt ein fremdes Wesen. Eingehüllt in einen der weiten, viel zu großen Kittel Berchtas, der mit einer Schnur gegürtet ist, den Kopf bedeckt mit einem Tuch, unter dem der Ansatz des rötlich braunen Haars hervorschimmert, sieht es ihnen mit riesigen Augen entgegen und verzieht die Lippen zu einem Lächeln. Lucia! »Na, was habt ihr denn, setzt euch doch!« Berchta hantiert am Herd, nimmt den Topf mit der kochenden Milch vom Feuer und übergießt damit das altbackene Brot in der Schüssel auf dem Tisch. »Es fehlt noch ein Löffel! Lucia, holst du den mal?« Das Mädchen hört angestrengt zu, denn Berchta macht sich nicht die Mühe, besonders auf sie einzugehen, wie Heinrich das meist machte, indem er langsam und sehr deutlich sprach. Die Töpferin redet mit ihr genauso wie mit jedem anderen. Lucia sieht sie fragend an, und als nichts weiter kommt, steht sie auf, geht zum Bord am Fenster und holt einen der
hölzernen Löffel. Ihre Bewegungen sind hastig. Die Jungen sehen, dass sie unter dem viel zu weiten Kittel erbarmungswürdig dünn ist. Mit ihrem Löffel in der Hand steht sie vor ihnen, und plötzlich lächelt sie wieder: »Für Wolf!« Berchta lacht aus dem Bauch heraus. »Na, da sieht man doch mal, wie die Zuneigungen verteilt sind!« Keiner gibt darauf eine Antwort. Alle sind sehr beschäftigt, beugen sich über die Schüssel mit dem eingebrockten Brot und löffeln. –
Später unterm Tennendach beginnt Heinrich mit seinen Jonglierübungen und Lorenz arbeitet mit der Hündin. Lucia sitzt auf einem Fass mit Töpferton, ihre nackten Füße schauen unter dem großen Kittel Berchtas hervor. Sie verfolgt aufmerksam, was die Jungen machen, aber reagiert auf nichts, und ihre Hände liegen so unbeweglich in ihrem Schoß, als würden sie gar nicht zu ihr gehören. Als die Jungen später ihre Lieder probieren, kommt die Töpferin manchmal kurz aus ihrer Werkstatt, die Arme bis zu den Ellenbogen mit Ton beschmiert, lehnt am Türpfosten und summt mit tiefer Stimme mit. Als Lorenz in ihrem Mantelsack kramt, um die Schellen zu suchen, stößt er auf seine Mädchenverkleidung, Hemd und Rock, Mieder und Kopftuch. »Hier, für dich!« Er wirft Lucia die Sachen zu, aber die sitzt weiter unbeweglich, als sei gar nichts geschehen, und alles fällt zu Boden. Nicht einmal geblinzelt hat sie. »Sture Göre!«, knurrt Lorenz. »Lass ihr Zeit!«, mahnt Heinrich. Lorenz schnauft unwillig durch die Nase. Zu Mittag gibt es Dünnbier und Brot.
»Die schlechte Zeit ist bald vorbei«, sagt die Frau. »Wenn der Kuckuck ruft, schneide ich meine letzte Speckseite an. Bald geben die Kühe wieder Milch, und die ersten Lämmer kommen. Wenn ihr wollt, könnt ihr noch bleiben, solange es regnet. Helft mir beim Brennofen und in der Wirtschaft. Geld hab ich keins, aber ihr sollt satt werden.« »Was meinst du, Wolf?« Lorenz macht sehnsüchtige Augen. Heinrich schüttelt den Kopf. »Du weißt ganz genau, dass ich auf Nachrichten warte. Wie soll uns jemand finden, wenn wir nicht auftreten in der Gegend?« »Es wär gut für sie – jedenfalls fürs Erste«, sagt Lorenz leise mit einer Kopfbewegung zu dem Mädchen. Heinrich sieht vor sich hin. Dann hebt er den Kopf. »Frau Berchta, ich mach Euch einen Vorschlag. Ich hab die Gaukelkünste früher ja auch allein getrieben. Ich zieh fürs Erste los, sehe mich um, ob ich meinen – meinen Gewährsmann finde. Danach komme ich wieder und wir sehen weiter.« Die Töpferin zuckt mit den runden Schultern. »Wie du willst, Großer. Ich pass auf, dass denen nichts zustößt.« – Als er am späten Nachmittag aufbricht, lässt sich Lucia nicht sehen. »Grüß sie von mir!«, trägt er Lorenz auf. Der kickt ein Steinchen weg. »Meinst du, da liegt der was dran?«, fragt er aufsässig. Aber als Heinrich um die Weiden biegt, die das Gehöft der Töpferin vor der Straße abschirmen, sitzt das Mädchen auf dem Flechtzaun. Sie trägt jetzt nicht mehr den unförmigen Kittel Berchtas, sondern die Kleider, die Lorenz ihr gegeben hat. Ihre Taille in dem Mieder ist so schmal, dass Heinrich glaubt, sie mit zwei Händen umfassen zu können, ihre halb nackten Arme sind zerbrechlich dünn. Er bleibt stehen. »Leb wohl, Lucia. Ich komme bald wieder. Versprochen.«
»Bald?«, sagt sie mit ihrer heiseren Kinderstimme. Er nickt. Ihre Mondaugen blinzeln nicht. »Addio, Wolf.« Als der Weg in den Wald einmündet, sieht er sich noch einmal um. Sie sitzt dort immer noch. –
Ein Warmbier am Kamin
Heinrich tritt in jedem Dorf auf, das am Weg liegt, aber die Zuschauer sind spärlich gesät. Und als er dann das erste Mal die Maske aufsetzt, fliegen Steine. »Oger, Oger!« Da ist es wieder, das Wort. Er kann es schon nicht mehr hören. Wünscht sich, endlich hinter das Geheimnis dieses Kinderfressers zu kommen, und, wenn’s geht, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die Leute hier sind arm und sie sind misstrauisch. Schon fast eine Woche sucht er in der Gegend um Bernau, doch nirgendwo ein anderer Fahrender oder Bote. Er hat sich umgehört. Er war sogar in Bernau selbst. Nichts. Da entdeckt er am Rand eines kleinen Dorfs eine windschiefe Schänke mit löcherigem Strohdach, gekennzeichnet durch ein Schild mit einem gemalten Arm, der einen Bierkrug hält. Wunder Gottes, dass es hier in dieser Gegend überhaupt mal so etwas wie ein Wirtshaus gibt. Vielleicht kann man ja mit dem Wirt verhandeln. Wenn abends Gäste kommen, ein Auftritt im Tausch gegen ein Nachtessen und ein Bett im Heuschober. Mehr ist hier sowieso nicht drin. Heinrich reckt sich entschlossen, zieht sich das Tuch vor das blatternarbige Gesicht und öffnet die quietschende Tür, die zur Gaststube führt. Der Raum ist leer bis auf einen einzigen Gast, einen großen Kerl mit dreckbespritzten Stiefeln, der vorm Feuer sitzt und Heinrich ausgiebig mustert. Neben ihm steht ein Humpen mit Warmbier. So gut möchte man’s auch mal haben. Der kahlköpfige Wirt schlurft herbei und wischt sich die Finger an der Schürze ab.
»Was?«, er hält die Hand ans Ohr, als Heinrich seine Bitte vorträgt. »Gaukelkünste? Lieder? Brauchen wir nicht.« »Herr Wirt, hört doch wenigstens meine Bedingungen an! Ich will nichts weiter als – « »Raus hier!« Heinrich strafft sich. Er fühlt, wie die Wut in ihm hochsteigt. »Eine gewisse Höflichkeit wäre vielleicht auch gegenüber fahrendem Volk angebracht«, sagt er, und es klingt so gefährlich, dass der Wirt sich hinter seinen Schanktisch bückt. Als er sich wieder aufrichtet, hält er einen Knüppel in der Hand. »Verpfeif dich, du Gauner!« Heinrichs Hand fährt zum Dolchmesser. Es ist der größte Unsinn, sich so zu verhalten, das weiß er ganz genau. Er ist ein Rechtloser, wenn er eine Waffe gegen einen freien Mann zückt, kann er ohne Gerichtsverhandlung erschlagen werden. Aber es war alles zu viel an Demütigungen und Missgeschick in diesen Tagen. Die Wut vernebelt ihm einfach den Kopf. »Desiste, vir!« – »Hör auf, Mann!« Die lateinischen Worte treffen ihn wie ein Gruß aus einer vergangenen Welt. Die Klosterschule, die Abtei zum Guten Hirten, aus der entflohen ist… Haben die ihn aufgestöbert? Er wird sich nicht so ohne Weiteres einfangen lassen… Er wirbelt herum, die Hand immer noch am Messergriff. Der Mann am Feuer sitzt ganz ruhig da, macht keine Anstalten, etwas gegen ihn zu unternehmen, schüttelt nur den Kopf und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Bist du durchgedreht? Wie kannst du nur so kopflos reagieren?« Auch das auf Latein. Dann wendet er sich – auf Deutsch – an den Wirt, der immer noch mit seinem Knüppel in der Hand hinterm Tresen steht. »Guter Mann, das alles ist ein Missverständnis. Wir sind hier verabredet. Also steck deinen Stock weg und gib diesem wackeren Gaukler auch einen Krug Warmbier. Die Rechnung
geht auf mich.« Er wechselt wieder die Sprache. »Falls du denn Wolf sein solltest.« Heinrich nickt beschämt und wird von dem anderen Reisenden mit einer Handbewegung aufgefordert, sich neben ihm am Feuer niederzulassen. »Wo steckst du, Bruder? Ich suche dich seit Wochen. Dabei, wenn du dich als Bote so unvorsichtig aufführst, müsste ich doch schon längst von dir gehört haben.« Er mustert Heinrich nicht gerade freundlich. »Außerdem bin ich die ganze Zeit hinter jemandem her, der angeblich in einer Wolfsmaske auftritt. Warum arbeitest du ohne die Maske? Sie ist dein Erkennungszeichen. Wie kannst du erwarten, dass man dich findet, wenn du dein Aussehen veränderst?« »Mit der Maske geht im Augenblick gar nichts«, sagt Heinrich missmutig. »Die Leute halten einen damit für einen gewissen Kinderfresser.« »Den Oger, ja«, erwidert der andere gelassen. »Von diesem Blödsinn hab ich auch schon gehört.« Der Wirt kommt mit dem Warmbier, knallt den Humpen auf den Kaminsims, guckt schief. Zwei Reisende, die sich in einer Fremdsprache unterhalten, und einer davon hat schnell die Hand am Messer – da muss doch was faul sein. Der Bote beruhigt ihn mit einer größeren Münze, hebt seinen Bierkrug und schiebt seine Beine in den verdreckten Stiefeln näher ans Feuer. Er ist ein älterer Mann, graubärtig, drahtig, mit scharf blickenden Augen. »Die ganze Gegend hier ist offenbar verhext«, bemerkt er mit spöttischer Miene. Sie reden weiter Latein. »Hier ist wirklich nichts zu holen. Außerdem habe ich ja nun einen Marschbefehl für dich. Du sollst nach Meißen.« »Meißen?« Heinrich blinzelt. »Soll da nicht demnächst ein großer Markt sein?«
»Zu Maria Himmelfahrt«, bestätigt der Bote. »Da will man dich treffen und dir neue Aufgaben erteilen. Aber sei pünktlich. Soviel ich weiß, wartet dein Meister nicht gern.« »Aber ich dachte, in Bernau…« »Bernau ist nun nicht mehr angesagt. Meißen ist der neue Treffpunkt.« Heinrich schweigt, nimmt einen tiefen Zug von dem Warmbier. Das Zeug tut gut an so einem Tag. »Ja, alsdann – gute Verrichtung.« Der Mann trinkt seinen Krug leer, steht auf und will mit einem knappen Kopfnicken gehen. »He, warte!« Heinrich steht ebenfalls auf, alarmiert. »Was ist mit meinem Lohn? Ich hab erwartet, dass ich jetzt…« Der andere grinst. »Tut mir Leid, ich bin nicht der Geldbote. Mein Tipp: Immer im Voraus kassieren.« »Ich hab zwei hungrige Mäuler zu stopfen.« »Ach, hast du dir Familie zugelegt? Sehr gewagt bei deinem Beruf.« Heinrichs Wut von vorhin ist noch nicht verraucht. Aber jetzt hat er sich im Griff. Mit zwei schnellen Schritten ist er an der Tür, stellt sich auf. »Keine Reise mehr umsonst. Du kannst zurückgehen und das dem – dem Auftraggeber berichten!« »Suchst du Streit?« »Ohne einen Pfennig komme ich nicht bis Meißen. Selbst wenn ich wollte – ich bin abgebrannt.« Er breitet die Arme aus – und versperrt damit gleichzeitig die Tür. Der Wirt hat sich hinter seinem Schanktisch verkrochen. Er versteht zwar nicht, wovon die beiden reden, aber der Tonfall und die Gesten deuten darauf hin, dass es Ärger geben wird. Aber zu seiner Verwunderung lacht der ältere Gast jetzt. »Ich hab wirklich nichts für dich – aber ich kann dir ein Geschäft vorschlagen. Ich geb dir einen Auftrag ab, für den ich meinen Lohn schon bekommen habe. Komm mal her.« Er zieht eine
versiegelte Schriftrolle unter seinem Wams hervor. Das Siegel, bemerkt Heinrich, zeigt das Meißner Stadtwappen. »Ich hab hier so viel Zeit vertrödelt mit der Warterei auf dich, dass mir dieser Umweg einfach zu viel wird. Mein Vorschlag: Die Hälfte meines Botenlohns für dich, wenn du dies hier zum Kloster Lehnin bringst.« »Was für ein Kloster ist das?«, fragt Heinrich schnell. »Ein Zisterzienserkloster, glaube ich«, sagt der andere. »Gut.« Heinrich atmet auf. In ein Benediktinerkloster würde er sich nicht wagen – schließlich ist er von den Benediktinern geflohen. Der Bote fährt fort: »Das Schreiben geht an einen gewissen Herrn de Dordogne. Der soll sich da als Gast aufhalten.« »Warum kommst du mir so entgegen?«, fragt Heinrich misstrauisch. »Ist etwas faul an dem Auftrag?« Der Mann zuckt die Achseln. »Für den Boten nicht«, meint er. »Was das sonst für dunkle Geschäfte sind, geht mich nichts an. Ich bin ein Kurier, und die Nachrichten, die ich überbringe, interessieren mich nicht. Dieser Dordogne ist, unter uns gesprochen, ein unangenehmer Mann. Tempelritter. Es heißt, er stinkt vor Geld, obwohl er keinen Acker Land hat. Wahrscheinlich hat er die Heiden im Heiligen Land ausgeplündert.« Er lacht kurz auf. »Sollte ein Witz sein.« Dann kramt er in seiner Tasche und fördert eine Münze zu Tage. »Ist das so in Ordnung?« Heinrich beißt darauf, um die Echtheit zu prüfen, und lässt das Geldstück wortlos verschwinden. Wenn sie sparsam sind, kann er seine Truppe davon zwei Wochen ernähren. Der Fremde steht auf, grinst. »So. Ich habe keine Stunde zu verlieren. Muss nach Rostock. Da wäre Kloster Lehnin wirklich ein großer Umweg. Ich mag kein Pferd zu Tode hetzen.«
Der hat ein Pferd!, denkt Heinrich neidvoll. »Ich bin nur auf Schusters Rappen unterwegs«, sagt er. »Schaff ich das trotzdem in der Zeit?« »Das ist überhaupt kein Problem!«, versichert der Kurier. »Das schaffst du selbst mit zwei Kindern im Tross!« Und ahnt nicht, wie nahe er damit der Wahrheit kommt. –
Nur ein kleiner Umweg
Kaum sieht Heinrich die Weiden am Weg zum Gehöft der Töpferin, kommt ihm als Erstes Lythande mit fröhlichem Gebell entgegen, dann Lorenz, die Arme lehmverschmiert. »Wo ist Lucia?« Er findet das Mädchen drinnen in der Küche. Sie sitzt am Fenster, Kopf schief, Zunge zwischen den Zähnen, und müht sich mit zwei großen hölzernen Nadeln und einem Knäuel Wolle ab. Als sie Heinrich sieht, rutschen ihr die Maschen herunter, und das ganze Gestrick fällt zu Boden. Ihre Lippen zittern, und sie holt tief und stockend Luft. Dann sagt sie mit ganz hoher, ganz fremder Stimme: »Wolf. Bienvenuto Wolf.« Steht auf und geht an ihm vorbei nach draußen. »Puh.« Berchta hebt Wolle und Nadeln auf. »So viel also zum Stricken lernen. Schön, dass du da bist. Ich dachte schon, du willst mir die beiden für immer hier lassen.« »Was ist mit ihr?«, fragt Heinrich, während die Töpferin ihn in die Arme schließt und er verwirrt ihren warmen Körper an dem seinen spürt. Die Frau lacht. »Sie hat wahrscheinlich gedacht, du kommst nicht zurück. Sie hängt sehr an dir, weißt du. Hier, trink einen Schluck. Du siehst erhitzt aus.« Er versenkt sein wie Feuer glühendes Gesicht in der Schale mit klarem Brunnenwasser, die sie ihm reicht. »Ich wollte Euch etwas fragen«, sagt er dann. Sie sieht ihn auffordernd an, die Arme verschränkt. »Ich hab einen neuen Auftrag, muss wieder los. Wollt Ihr nicht – ich meine, ist es nicht wirklich besser, wenn Lucia bei Euch bleibt? Falls es Euch nichts ausmacht«, fügt er hastig hinzu.
Berchta zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Ich würde sie schon nehmen. Hier könnte sie Ruhe finden nach all dem, was sie erlebt haben muss. Aber ich glaube, dass du sie selbst dazu fragen solltest. Sie. Und die Meinung deines Lorenz sollte auch gefragt sein, findest du nicht?« Heinrich nickt. Daran hat er noch gar nicht gedacht… So sitzen sie denn zusammen auf der Tenne, und Heinrich erzählt von den Wegen, die ihnen bevorstehen. Erst hoch nach Lehnin, dann nach Meißen zum Markt. »Zum Markt!« Lorenz klatscht vor Vergnügen in die Hände. »In die große Stadt! Wolf, das ist wunderbar!« Heinrich zuckt die Achseln. »Vor allem wird es anstrengend. Es ist ein weiter Weg. Wir müssen uns unser Essen verdienen unterwegs.« (Das Geldstück des Boten unterschlägt er vorerst. Notgroschen ist immer besser.) »Und Lucia – Lucia sollte sich vielleicht lieber ausruhen. Es hat doch wenig Sinn, wenn sie mit uns durch die Gegend zieht. Ich habe mit Berchta gesprochen. Sie wäre bereit, dich hier zu behalten, Lucia. Also überleg’s dir.« Aber die schüttelt energisch den Kopf. »Basta, ragazzo! Halt den Mund. Lucia geht mit Wolf.« Dann steht sie auf und läuft an den beiden vorbei nach draußen. Die Jungen sehen sich an. »Na, das war ja wohl deutlich«, bemerkt Lorenz schließlich. »Bleibt uns also erhalten, das Anhängsel. Und ich dachte schon, es könnte wieder so schön werden wie früher, als wir allein waren. Wenn sie doch bloß was könnte! Aber sie ist so zu gar nichts nütze. Ach, was soll’s. Komm, Lythande. Mit dir kann man sich wenigstens vernünftig unterhalten.« Er wirft ein Stöckchen nach draußen, dem die Hündin bellend nachhetzt. Lorenz folgt ihr. Heinrich bleibt allein zurück. Einfach wird das nicht mit den beiden. Und dass Lucia in Gefahr sein könnte oder sie alle in Gefahr bringen, als eins der »Teufelskinder«, darüber mag er
jetzt gar nicht nachdenken. Im Gegenteil. Ihm ist, als fiele ihm ein Stein vom Herzen, dass die Entscheidung so gefallen ist. –
Die Töpferin hat sie herzlich verabschiedet und ihnen noch altbackenes Brot und eine Hand voll Hutzelbirnen in die Mantelsäcke gestopft. »Seid vorsichtig!«, sagt sie zum Abschied. Lucia bekommt von ihr als Geschenk eine große, bunt bestickte Schürze, deren Bänder sie sich zweimal um den Leib wickeln kann und die ihr fast bis zu den Zehenspitzen reicht. – Nun also sind sie wieder unterwegs. Dem scharfen Tempo, dass sich nach Heinrichs langen Beinen richtet und dem Lorenz in seinem Hundeführer-Trott zu folgen vermag, schließt sich Lucia an mit einem komischen Hüpfen, bei dem sie mal mit dem rechten, mal mit dem linken Bein voraus ist, fast wie Lythande, wenn sie galoppiert. Manchmal unterwegs fängt sie plötzlich an, mit hoher dünner Stimme zu singen. Nur Töne meistens, ein Gespinst, das davonfliegt wie die Samen des Löwenzahn. Hin und wieder sind ein paar Zeilen aus den Liedern dabei, die die Jungen in ihrem Beisein geübt haben. Dann wieder sind es Worte in ihrem Alpen-Italienisch. Weder Lorenz noch Heinrich sprechen sie an, wenn sie singt. Lassen sie einfach gewähren. Aber wenn Heinrich sie auffordert, mitzumachen bei einer ihrer Proben, an einer bestimmten Stelle rhythmisch in die Hände zu klatschen, schüttelt sie den Kopf und sagt. »Ich will nicht.« »Die will nicht, weil sie nicht kann!«, sagt Lorenz gehässig. »Lythande lernt da schneller als die!« »Du musst Geduld haben!« »Wenn du mit mir bloß auch manchmal Geduld hättest«, grummelt Lorenz.
Sie haben Station gemacht in einem verlassenen Gehöft. Hier gibt es eine Menge solche »Wüstungen«. Man weiß nicht, warum die Gegend so ausgestorben liegt. Hat es eine Seuche gegeben, eine Hungersnot? Jedenfalls, man reist hier ziemlich sicher. Wo nichts ist, stellt sich auch kein Raubgesindel ein. »Wir müssen die Sache mit der Armbrust üben!«, sagt Heinrich streng. »Die ganze Zeit bei der Töpferin hast du dich darum gedrückt. Mit dem bisschen Singen und Jonglieren gibt uns in dieser armen Ecke kein Mensch was. Also los, Lorenz.« Der Junge stöhnt auf. »Machst du das jetzt, um mich zu bestrafen, weil ich was gegen die gesagt habe? Wir müssen die Sache mit der Armbrust nicht üben! Wenn du schießen willst, kannst du das auch tun, ohne mich zur Zielscheibe zu nehmen, und das Stillstehen, das kriege ich schon hin!« »Eben nicht! Ich finde es albern, wenn du mit verbundenen Augen trotzdem bei jedem Bolzen zusammenzuckst!« »Na, ich höre doch den Rückschlag der Sehne! Soll ich erst zusammenzucken, wenn es neben mir einschlägt?« »Da zuckst du sowieso ein zweites Mal. Also kannst du auch gleich hingucken. Komm, hier die Scheunenwand ist günstig. Stell dich hin.« »Wolf, bitte! Ich mache die Augen ja trotzdem zu!« »Komm schon. Du schaffst das!« Lorenz stellt sich resigniert vor der Wand auf, spreizt Arme und Beine und kneift die Augen so fest zu, als wollte er sie überhaupt nicht wieder aufmachen. Die ersten drei Schüsse, die über seinem Kopf und über den Schultern, erträgt er noch gerade so. »Und nun mach die Augen auf. Das Schlimmste ist vorbei.« »Nicht ums Verrecken!« »Lorenz!« Ein lautes Gelächter unterbricht ihren Streit. Lucia sitzt da, die Beine angezogen, die Arme um die Knie gelegt, und lacht
schallend. »Hai paura?«, sagt sie mit spöttisch hochgezogenen Brauen. »Angst hast du, ja?« »Stell du dich doch dahin, wenn du meinst, das ist einfach, du dumme Gans!« Lorenz ist blass vor Wut. Lucia zuckt die Achseln, steht auf. Sieht Heinrich an. »Soll ich?« Sie wartet die Antwort nicht ab. Mit ruhigen Schritten geht sie zu der Holzwand, schiebt Lorenz mit dem Ellenbogen beiseite und stellt sich hin, Arme und Beine gespreizt. »Los, Wolf!« »Lucia, bist du ganz sicher, dass du…« Sie nickt ruhig. »Fang an.« Heinrich zögert. »Ich denke, du hast immer eine sichere Hand?«, stichelt Lorenz. »Hab ich auch.« Die Bolzen knallen einer nach dem anderen dumpf ins Holz, umrahmen die Gestalt des Mädchens. Lucia zuckt nicht einmal mit der Wimper. Sie lächelt, ihre großen hellen Augen sind fest auf Heinrich gerichtet. Heinrich lässt die Armbrust sinken. Lorenz steht neben ihm, die beiden sagen zunächst einmal kein Wort. Dann bemerkt Heinrich mit belegter Stimme: »Nun musst du nach vorn kommen und dich verbeugen vor den Leuten. Kannst du das? Sehr gut. Das nächste Mal spielst du mit an Lorenz’ Stelle. Der ist nicht böse, wenn ihm das abgenommen wird.« »Nein, bestimmt nicht.« Lorenz blickt zu Boden, zeichnet mit der Fußspitze Kreise in den Sand. Sagt halblaut: »Wieso hat sie keine Angst, Wolf?« »Vielleicht, weil sie Schlimmeres gesehen hat«, sagt Heinrich. Aber er weiß, das ist es nicht. Zumindest nicht allein.
Bald darauf wird die Gegend angenehmer. Ein großer Eichenwald nimmt sie auf und in einer Lichtung haben sie bereits Durchblick auf das große Kloster. Was Lucia dazu bringt, wie angewurzelt stehen zu bleiben. »Monasterio no!«, verkündet sie entschieden. »Kein Kloster. Oger.« Ihre Augenlider flattern. »Jetzt geht das wieder los!« Lorenz guckt hilfeflehend zum Himmel auf. »Gute Güte, ein Kloster und so ein fettes Kloster! Weißt du, was es da für gutes Essen gibt? Und nun sollen wir wegen diesem Oger draußen bleiben? Und – Lythande?« Die Hündin schmiegt sich dicht an Lorenz’ Bein und winselt leise. Schwarze Gestalten tauchen im Gebüsch auf, durchwühlen das Unterholz, kommen näher… »Eine Schweineherde!« Heinrich lacht. »Siehst du, manche haben vorm Oger Angst, manche vor ein paar Schweinen!« »Lythande hat keine Angst vor Schweinen, sie hat sich nur erschreckt!«, bemerkt Lorenz gekränkt. Lucia grinst. Inzwischen ist der Hirt an sie herangetreten, ein hagerer Kerl in schlampiger Mönchskutte, den Hirtenstab in der Hand. Für Heinrichs klösterlichen Gruß »Dominus vobiscum« hat er nur ein müdes Wedeln mit der Hand übrig. »Tut mir Leid, wir Arbeitsmönche sprechen kein Latein. Wir haben nichts mit den höheren Dingen zu tun. Das erledigen die Betmönche da drinnen. Wir dürfen nur schuften.« Er streicht sich über sein stoppelbärtiges Kinn und mustert die Ankömmlinge, während er mit seinem Stab die Schweine von ihnen wegschiebt. Die grunzende Herde entfernt sich, wühlt weiter nach vorjährigen Eicheln. »Komische Einrichtung, das mit den zwei Sorten Mönche!«, bemerkt Lorenz. »Ich hatte davon gehört, dass das bei den Zisterziensern so ist«, erwidert Heinrich, »aber ich hatte es vergessen.« Er wendet sich an den Hirten. »Ich habe eine Botschaft an einen
Herrn de Dordogne, der hier im Kloster Quartier haben soll. Kannst du mir sagen, Bruder, wo er sich aufhält?« »Die Betmönche haben jede Menge vornehmes Pack zu Gast«, sagt der Hirt verächtlich. »Während unsereins werkeln darf wie die Ackerknechte, machen die sich ein feines Leben.« »Es ist wichtig«, beharrt Heinrich. »Denkt bloß nicht, dass ihr da reinkommt!«, sagt der Mönch und grinst schadenfroh. »Für Gaukler haben die nichts übrig. Und Weibervolk darf sowieso nicht in den inneren Klosterbereich.« »Ist mir nichts Neues«, sagt Heinrich. »Aber ich werd ja wohl eine Botschaft loswerden. Bruder, ich mach dir einen Vorschlag. Ich gehe zur alten Abtei. Und vielleicht bist du so gut, gegen ein bescheidenes Entgelt uns für die kommende Nacht einen Schlafplatz einzuräumen.« »Was, bei den Schweinen?« Lorenz quiekt beinah so wie die Tiere. »Wenn sie nicht ins Kloster geht, dann müssen wir das hinnehmen. Es ist warm, die Schweine werden sicher im Stall übernachten, und der Bruder hat bestimmt einen Wetterschutz daneben, nicht wahr?« Der Mönch nickt eifrig. Das Wort »bescheidenes Entgelt« hat sogar ein Lächeln auf sein mürrisches Gesicht getrieben. »Also ich geh zur Abtei. Lorenz, pass auf das Mädchen auf!« Lorenz murmelt etwas von »Amme spielen« und beugt sich dabei zu Lythande herunter. Heinrich wirft ihm einen strafenden Blick zu und wendet sich dann an das Kind. »Lucia, ich muss dorthin und etwas abgeben. Nur rein und wieder raus, ja? Du wartest mit Lorenz auf mich. Verstanden?« Das Mädchen nickt. Heinrich zieht sich das Tuch bis zu den Augen, schultert seine Tasche und stiefelt los.
Es ist ihm, als würde er noch lange die Blicke Lucias auf seinem Rücken spüren. Er hat ein merkwürdiges Gefühl, so als müsse er sich beeilen. –
Süße junge Kätzchen
Die Abtei ist aus Backstein errichtet, sie schimmert rötlich aus dem jungen Grün der Eichenwälder. Ein Gebäude fast wie eine Festung, stellt Heinrich fest, als er näher kommt. Das Tor wirkt auch nicht so, als würde es sich jedem Fremden freiwillig auf tun, vor allem, wenn der in abgeschabter Kleidung und mit einem dunklen Tuch vorm Gesicht daherkommt. Der Bruder Pförtner öffnet dann auch nur ein winziges Fensterchen, aus dem heraus er misstrauisch den Ankömmling mustert und nach seinem Begehr fragt. »Ich habe Botschaft für einen Herrn de Dordogne«, sagt Heinrich knapp. »Für den Templer aus dem Frankenland?« »Soviel ich gehört habe, soll er ein Templer sein«, gibt Heinrich zurück. »Dieser Brief hier kommt vom Stadtrat von Meißen und scheint wichtig zu sein.« »Na dann her damit!« Der Pförtner zwängt seinen Arm mühselig aus der Fensterklappe. »Der Herr ist im Augenblick gerade auf einem kleinen Ausritt in der Gegend.« Aber Heinrich tritt einen Schritt zurück. »Verzeih schon, Bruder, aber das ist nicht Botenart. Man übergibt die Dinge persönlich«, sagt er und verflucht im Stillen sich selbst und seine Gewissenhaftigkeit. Kein Huhn und kein Hahn würde danach krähen, wenn er diesen Brief durchs Fenster reingereicht hätte, und bestimmt würde dieser Tempelritter schon bekommen, was ihm zusteht, denn mit denen ist nicht gut Kirschen Essen. Aber der Bruder da drin hat den Fensterladen schon wieder zugeschlagen und öffnet auch auf wiederholtes Klopfen nicht mehr. Wirklich sehr gastfreundlich.
Wütend auf sich selbst, stapft Heinrich vor dem geschlossenen Tor auf und ab. Was der Mönch da drin wohl unter einem »kleinen Ausritt« versteht? Stunden oder was? Und wie lange ist dieser Herr schon weg? Tempelritter! Diese hochmütigen Herren aus dem Mönchsorden, der das Grab Jesu aus den Händen der Ungläubigen befreien will. Sie gelten als überheblich und anmaßend, und eigentlich sollte man froh sein, wenn man ihnen nicht begegnet. Warum lass ich mich auf so ein Treffen ein? Zumal diese innere Unruhe da ist – wegen Lucia, oder wegen Lorenz – er weiß es nicht. Zumindest, was die Zeit angeht, scheint er jedoch Glück zu haben. Denn grell beleuchtet von den Strahlen der schon tiefer stehenden Sonne kommt es weiß und glitzernd aus dem Wald herangeflogen: ein schönes Pferd, mit viel Metall aufgezäumt, und auf ihm der Reiter im weißen Mantel mit schwarzem Kreuz. Heinrich tritt ihm entgegen, und der Gaul scheut und steigt empor vor der dunkel gekleideten, verhüllten Gestalt. »Bei allen Heiligen, was trittst du mir in den Weg, Bursche, und machst mein Pferd scheu!« Eine Reitpeitsche wird geschwungen. Heinrich weicht ihr im letzten Moment aus. »Almosen für Bettler mit Aussatz gibt es am Sonntag vor der Kirchenpforte, nicht hier! Lästiges Gesindel!« Bettler mit Aussatz? Heinrich erinnert sich: Das ist eine furchtbare Krankheit in Palästina, die den Menschen das Fleisch von den Knochen frisst. Wegen seines Tuchs hält dieser Herr ihn also für einen Aussätzigen. Hm. Wenn er meint… »Ich habe einen Brief für Euch, Herr Ritter!« Er streckt ihm die versiegelte Rolle entgegen. »Einen Brief aus Meißen!« »Ha!« Der Templer lässt sein Pferd tänzeln. »Was für Narren die Menschen hier in Germanien doch sind! Haben keine Ahnung davon, dass es ausreicht, bereits die Luft mit so einem
Kranken zu atmen, um sich selbst anzustecken! Die Pest über den Stadtvogt! So werde ich seine Nachricht nie erhalten!« »Warum, oh Herr?« Dordogne lacht hässlich. »Für wie blöd hältst du mich? Ich war im Heiligen Land! Ich weiß Bescheid über deine Krankheit! Denkst du im Ernst, ich würde etwas anfassen, was du in deiner Hand gehabt hast?« Seine stechenden Augen, Augen, die schielen, wenn sie sich auf einen Gegenstand richten, sind voller Verachtung. Heinrich überlegt blitzschnell. Bringt es etwas, den Mann über seinen Irrtum aufzuklären? Wozu eigentlich? Soll er doch denken, er hat einen Kranken vor sich. So wird er wenigstens nicht verlangen, dass er vielleicht noch eine Botschaft mit zurücknimmt. Das würde wieder Warten bedeuten. Und außerdem hat er keine Lust, dem zu Diensten zu sein. »Ihr habt Recht, Herr!«, sagt er, so unterwürfig, wie er es nur fertig bringt. »So werde ich das Schreiben also wieder mitnehmen.« Dordogne knurrt. »Verdammt! Und wie erfahre ich seinen Inhalt? Du kannst ja bestimmt nicht lesen, oder?« »Doch, Herr. Zufällig, Herr.« »Na, sieh mal an! Da hab ich ja Glück. Aus was für einem Stall stammst du denn? Hast wohl früher mal ein Kloster von innen gesehen?« Er reitet im Kreis vor Heinrichs Nase. »Na los, worauf wartest du? Lies schon!« »Wie Ihr wünscht!« Heinrich erbricht das Siegel und beginnt: »Dem hochedlen Ritter Jean de Dordogne von seinem niederen Diener, dem Hauptmann der Stadt Meißen – « »Hör mit den Vorsprüchen auf! Komm zur Sache!«, kommandiert der Mann auf dem Pferd. »Ja, Herr. Herr, es ist nur eine kurze Mitteilung. ›Süße junge Kätzchen habe ich für Euch eingefangen. Wenn die gleichen Preise noch gelten, kommt am Tage zu Maria Himmelfahrt und
holt sie Euch. Euer Auftraggeber wird zufrieden sein. Ergebenst Euer – ‹« »Ja, doch, ja. Schluss. Das ist alles? Na gut.« Das hagere Gesicht des Templers trägt eine Miene des Triumphs zur Schau. »Ich habe Eile.« Eine merkwürdige Mitteilung, aus einer Amtsstube der Stadt, mit einem großen, wichtig aussehenden Siegel! Das liest sich eher wie ein ganz privater Brief. »Herr, ich kann dies Schreiben nicht verstehen.« Dordogne lacht auf. »Das fehlte auch noch, dass du es verstehst. Scher dich zum Teufel, Aussätziger! Ach ja, und zerreiß das Ding, hier vor meinen Augen. Damit kein Unheil damit geschieht.« Heinrich tut, wie ihm befohlen wurde. Eine Münze landet neben ihm im Dreck. Ein Schwertschlag ans Klostertor, das aufgeht wie von Geisterhand bewegt, und weg ist Herr de Dordogne, und Heinrich steht da mit den vier Teilen eines Briefs des Stadthauptmanns von Meißen und einer ziemlich unbedeutenden Münze. Trotzdem verstaut er alles in seiner Tasche. Das gute Pergament kann man ja noch einmal gebrauchen, auch in Stücken, wenn man die Schrift mit Bimsstein abschabt, so, wie sie im Kloster die Fälschungen der Urkunden hergestellt haben, die er damals gefunden hat und mit denen er entflohen ist. Süße junge Kätzchen? Was soll der Unsinn?
Ein böser Irrtum?
Die untergehende Sonne taucht den Eichenwald in grüngoldenes Glänzen. Lythande fegt ihm aus dem Dickicht entgegen, und gleich hinter ihr kommt Lorenz, keuchend, außer Atem. »Wolf, Gott sei Dank! Komm bloß schnell! Ich fürchte mich!« »Wo ist Lucia?« »Sie ist da, heil und gesund – nur – sie ist so seltsam.« Heinrich verfällt in Laufschritt, und Lorenz keucht neben ihm her. »Es war nur – sie war eingeschlafen. Ganz fest und tief hat sie geschlafen. Da bin ich mit Lythande ein bisschen weiter weggegangen, um mit ihr zu spielen…« Der Junge kriegt keine Luft mehr. »Bitte – nicht so schnell!« Er hält sich die Seiten. »Weiter!« »Und auf einmal hab ich sie schreien hören. Du weißt doch, wie die kreischen kann. Damals bei Berchta, beim Baden – und nun – ich kam hin – sie war ganz allein – keine Menschenseele – und nun…« Sie erreichen den noch leeren Schweinestall. »So. Da siehst du’s.« Das Mädchen sitzt da, in sich verkrümmt, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf darauf gepresst, und wiegt sich hin und her. Es wimmert, und von Zeit zu Zeit überläuft ein Zittern ihren Rücken. Heinrich bleibt stehen, nähert sich ihr nicht weiter. Sagt leise: »Lucia. Ich bin’s, Wolf.«
Sie hebt den Kopf, sieht ihn an, und diese Augen scheinen wieder die gleichen öden Monde zu sein wie damals, als sie das »Rautierchen« einfingen. Und genau wie damals wiederholt sie auch in eintönigem Singsang: »Oger. Non mi mangia. Non mi mangia. Nicht mich fressen.« Die Jungen sehen sich an. Lorenz hebt hilflos die Achseln. »Wolf, ich schwöre dir: Sie hat geschlafen. Tief und fest geschlafen. Ich war doch nur kurz weg.« Heinrich nähert sich ihr, hockt sich vor sie hin. Berührt sie nicht. »Lucia. Ganz ruhig. Hier ist kein Oger. Hier sind wir, deine Gefährten. Lorenz und ich. Du hast geschlafen. Kann es sein, dass du einen Traum hattest?« Langsam scheint sie zurückzukehren. Blinzelt, atmet tief. »Traum?«, wiederholt sie, scheint nach dem Wort zu suchen. »Sogno? Ja, zuerst Traum. Aber dann kein Traum.« Jetzt greift Heinrich vorsichtig nach ihren Händen, und sie überlässt sie ihm. »Willst du’s uns erzählen?« Schweigen. Dann nickt sie. Auf der Oberlippe stehen ihr feine Schweißperlen. »Sogno. Ein Traum. Geht so: Ich schlafe. Schlafe in mein Bett. Große Berge. Zu Haus. Alles ist gut. Aber dann kommt Oger. Malocchio. Böser Blick. Sieht mich an, mich!« Ihre Stimme ist ein unterdrücktes Schreien. »Sucht mich aus. Will mich haben. Mich! Ich schreie. Aiutatemi! Helft mir! Ich wache auf. Er ist da. In Wirklichkeit da. Er sieht mich an. Malocchio. Ich schreie und schreie. Er geht. Aber wird wiederkommen. Ja, gewiss.« »Lucia, das ist ein ganz schrecklicher Traum. Aber es ist nur ein Traum!« Heinrich redet beruhigend auf sie ein. »Du hast geträumt, dass du aufgewacht bist. So etwas gibt es.« Sie schüttelt heftig den Kopf. »No, no. Aufgewacht. Er war da in realita, wirklich. Mi credi! Du mir glauben, Wolf.«
Heinrich sieht zu Lorenz auf, der dasteht und von einem Fuß auf den anderen tritt. »Hast du irgendjemanden gesehen? War irgendwer hier?« »Wer denn schon? Der Schweinehirt ist da drüben auf der anderen Seite des Hangs. Und dieser Reiter – der hat doch den Weg da hinten benutzt.« »Welcher Reiter?« »Na, der, den ich nachher gesehen habe, der in Richtung Kloster. Dem musst du doch begegnet sein. Der mit dem weißen Mantel.« »Weißer Mantel? Mantello bianco, si!« Lucia wirft den Kopf hin und her, als erwarte sie, den Oger jeden Moment zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen. »Oger hat weißen Mantel«, sagt sie dann ruhig und fest. »Mantel mit Kreuz.« Heinrich spürt, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichten. Ein kalter Schauer überläuft ihn. »Ein Mantel mit einem Kreuz darauf? Aber Lucia – so etwas tragen die Templer und alle die Ritter, die das Grab Christi in Jerusalem befreien wollten, so wie ihr Kinder es wolltet. Das ist kein böses Zeichen, sondern ein gutes, ein heiliges.« Sie schüttelt erneut den Kopf. »Nein. Schlechtes Zeichen. Malocchio. Böser Blick. Er war hier! Er hat mich angesehen!« Sie beginnt wieder zu zittern und macht mit zwei Fingern ein Abwehrzeichen. »Hast du Wasser hier? Gib ihr zu trinken«, sagt Heinrich halblaut zu Lorenz, und der holt schnell ihren Wasserschlauch aus Ziegenleder. Das Kind schluckt gierig. Heinrich nimmt Lorenz am Arm, geht mit ihm beiseite. »Dieser Reiter im weißen Mantel – war er vielleicht doch hier?« »Gott, Wolf, woher soll ich das wissen? Ich sah ihn nur da vorn aus dem Wald kommen und zum Kloster runtertraben, und dann hörte ich sie schreien. Ist denn da irgendwas dran,
was sie erzählt? Der Ritter da – was soll das alles? Wenn das der Oger war – warum hat er sie nicht gleich eingesackt?« Heinrich seufzt. »Vielleicht, weil sie so geschrien hat. Vielleicht hat sie das gerettet. Er dachte, sie ist nicht allein – und sie war ja auch nicht allein. Du solltest auf sie aufpassen, Lorenz!« »Willst du mir jetzt Vorwürfe machen, wenn die schlecht träumt?« »Gewiss nicht. Aber wir sollten wirklich gut aufpassen auf sie. Wir beide.« »Wolf, glaubst du wirklich, dass an der Sache was dran ist?« »Lass mal jetzt. Ich will nicht darüber reden. Ich denke, wir verzichten darauf, hier zu übernachten.« »Aber – « »Ohne aber. Aufbruch und Schluss.« – Böser Blick? Wie sieht der eigentlich aus? Natürlich. Dieser Herr de Dordogne schielt.
Flammen in der Nacht
Lucia nickt heftig, als Heinrich ihr erklärt, dass sie sofort aufbrechen werden. Offenbar ist ihr nichts lieber, als so schnell wie möglich fortzukommen von dem Ort, wo sie dieser Traum oder Nicht-Traum heimgesucht hat. Sie wandern schweigend. Ein schöner Wind vertreibt die Hitze des Tages. Es ist noch lange hell, das Land ist eben, man muss nicht befürchten, in irgendeine Schlucht zu stolpern, und man hat eine gute Sicht. Wegelagerer oder ähnliches Gesindel würde man schon eine Meile im Voraus sehen können. Lucia erholt sich erstaunlich schnell von dem Entsetzen, das sie befallen hatte. Sie hält sich eng an Heinrich, sieht manchmal zu ihm auf, lächelt sogar. Aber der ist tief in Gedanken. Ihn beschäftigt noch immer dieser Templer und der merkwürdige Brief aus Meißen, den er nun in seiner Tasche trägt. Junge Katzen? Was soll das? Lucia zupft ihn am Ärmel, reißt ihn aus seinen Grübeleien. »Eccolo! Fuoco! Ein Feuer!« Ihre ausgestreckte Hand weist nach rechts, seitlich von ihnen. Am Horizont flackert in der Tat ein fahler Schein. Lorenz hat es gleichzeitig mit ihr bemerkt. »Sieh mal, Wolf, da brennt es!« Sie stehen und sehen in die Richtung des Feuerscheins. »Unser Weg gabelt sich da vorn, wir werden noch näher herangehen müssen«, sagt Heinrich. »Puh! Lieber nicht! Um so etwas sollte man einen großen Bogen machen! Das gibt nur Ärger!« »Si, e vero!« Lorenz und Lucia sind diesmal zufällig der gleichen Meinung.
Heinrich zuckt die Achseln. »Was soll das? Vielleicht kann man helfen. Kommt!« »Wolf, glaub mir! Wenn da was abgebrannt ist und drei Fahrende sind in der Nähe, dann kannst du sicher sein, dass man die beschuldigen wird, es angesteckt zu haben! Einen besseren Sündenbock als ein paar Leute, die außerhalb der Gesetze stehen, kannst du gar nicht finden!« »Ausnahmsweise könntest du mal Recht haben!«, sagt Heinrich nachdenklich. »Also gut. Wir gehen nicht direkt hin. Aber näher heran müssen wir auf alle Fälle. Unser Weg führt nun mal da entlang.« »Nicht Feuer gehen!« Lucia steht wie angewurzelt. »Du brauchst keine Angst zu haben!« Heinrich legt ihr sanft den Arm um die Schultern. »Wir gehen nur daran vorbei, in Entfernung, nicht ganz dicht. Es geschieht dir nichts. Vertrau mir. Wir beschützen dich, das weißt du doch.« Das Kind schmiegt sich für einen kurzen Moment bei Heinrich an; dergleichen hat es noch nie gemacht. Er spürt, dass es wieder zittert. »Keine Angst!«, wiederholt er beruhigend. Sie gehen weiter in die Nacht hinein, auf den Feuerschein zu. Bald können sie sehen, dass es ein einzeln stehendes Gebäude ist, eine Scheune vermutlich, die da brennt. Vor den Flammen bewegen sich die dunklen Schattenrisse von Menschen. Auf die Entfernung hört man nichts, weder das Rufen und Schreien noch die Geräusche des Feuers. Es ist unheimlich. Lucia kann die Blicke nicht abwenden, in ihren riesigen hellen Augen scheint sich der Brand zu spiegeln. Aber dann lassen sie das Feuer hinter sich, nähern sich einem Dorf. Lucia stolpert vor Müdigkeit. Hinter einer Heumiete ordnet Heinrich die Rast an. »Wir müssen morgen ausgeschlafen sein, wenn wir hier auftreten. Lucia, wie geht es dir? Fühlst du dich im Stande,
morgen mit mir zusammen das Kunststück mit der Armbrust zu machen?« Sie nickt ernsthaft. Lorenz lässt sich mit einem tiefen Seufzer ins Heu fallen. »Bin ich froh, dass ich damit nichts mehr zu tun habe!« – Es ist gegen Morgen, der Tau fällt schon. Heinrich erwacht mit einem Gefühl der Beklemmung. Irgendetwas stimmt nicht. Wieder fällt ihm der Tempelritter ein, der Brief, junge Katzen – was steckt nur dahinter? Aber dann vergisst er dieses Schreiben völlig. Denn Lucia ist nicht da. »Lorenz!« Er rüttelt den Gefährten am Arm. Der blinzelt schlaftrunken. »Wo ist das Mädchen?« Lorenz gähnt. »Da, wo ich eben war, bestimmt nicht«, erwidert er. »Ich hab nämlich geträumt, ich bin zu Haus bei meiner Familie und esse gerade einen großen Napf Hirsebrei leer.« »Lass den Unsinn! Komm, werd endlich munter! Du musst Lythande auf ihre Spur setzen und – « »Was willst du denn? Da kommt sie doch!« Tatsächlich. Das Kind kommt quer übers Feld gelaufen. Ihr Kopftuch ist verrutscht, und der Saum ihres Rocks ist nass vor Tau. Röte überzieht ihre sonst so blassen Wangen. Heinrich stürzt ihr entgegen. »Lucia! Wo kommst du her?« Sie schluckt. Legt den Finger auf den Mund. Macht eine beschwichtigende Geste. »Willst du uns nicht verraten, wo du warst?« Lucia hat die Augen niedergeschlagen. Sie schüttelt stumm den Kopf. »Aber du solltest nirgendwo allein hingehen! Wir machen uns Sorgen um dich! Versprich uns, dass das nicht noch einmal vorkommt!« Wieder das Kopfschütteln.
»Was heißt das, Lucia?« Sie sieht keinen an. »Kann nicht versprechen.« »Aber das ist verrückt!«, sagt Lorenz aufgebracht. »Ich kriege Ärger, wenn ich dich mal eine Viertelstunde allein lasse, und du selbst ziehst einfach bei Nacht und Nebel los um wer weiß was anzustellen…« Er bricht ab. Das Mädchen hat sich an der Stelle ins Heu eingekuschelt, an der eben noch Heinrich gelegen hat, es zieht dessen Mantel bis ans Kinn. »Noch bisschen schlafen. Sono stanca. Sehr müde.« Die beiden Jungen sehen sich an. »Wo mag sie gewesen sein?«, fragt Lorenz halblaut. Heinrich zuckt die Achseln. »Ich gehe jede Wette ein, dass es wieder was mit diesen Oger-Spinnereien zu tun hat.« »Ich fürchte, dass es leider keine Spinnereien sind«, erwidert Heinrich. Sie sehen auf das Kind herunter, das offenbar sofort in tiefen Schlaf gefallen ist. »Keine Spinnereien? Wolf, dass einer rumrennt und Kinder frisst, das ist doch…« »Er frisst sie nicht, das sicher nicht. Da hast du Recht. Das ist nur eine Angst-Geschichte.« »Aber was stellt er mit ihnen an?«. »Darüber zerbreche ich mir auch den Kopf. Hat sie nicht gesagt, er holt vor allem die schönen Kinder? Le piu belle. Und lieber Mädchen als Jungen, nicht wahr?« Er senkt die Stimme noch mehr. »Ich denke, dass er sie verkauft.« »Wer kauft denn Kinder?« »Im Morgenland, bei den Ungläubigen, hält man sich Sklaven. Lucia hat doch auch erzählt, dass die Kapitäne der Schiffe, die den Kindern eine Überfahrt versprochen hatten, sie stattdessen in die Sklaverei verkauften, erinnerst du dich?«
Lorenz nickt. Das Mädchen regt sich im Schlaf, zieht den Mantel noch höher. »Wir sollten jetzt vielleicht nicht weiter davon sprechen. Es scheint sie sonst bis in den Traum zu verfolgen«, sagt Heinrich. »Komm, such einen flachen Stein. Wir haben Mehl und Eier, vielleicht kriegen wir darauf einen Pfannkuchen zurecht.« »Du meinst, vielleicht kriege ich darauf einen Pfannkuchen zurecht«, bemerkt Lorenz spöttisch, und, da er Heinrichs schrägen Blick registriert. »Ja, ist ja schon gut.« –
Diebereien
Die Vorstellung im Dorf lässt sich gut an. Es ist ein schöner warmer Tag, und es ist Sonntag. Nach der Kirche und dem Essen sind die Leute bereit für eine Vergnügung. Als Lorenz mit der Hündin das Volk anlockt, kommen nicht nur die Kinder, sondern auch Erwachsene. Lucia lässt sich mit einer so ruhigen Sicherheit von Heinrich mit der Armbrust beschießen, als hätte sie das schon ihr Leben lang gemacht. Nach der Vorführung wird zum Tanz aufgespielt, und das junge Volk vergnügt sich unter der Dorflinde. Lucia sitzt und schaut den Tanzenden zu. Es wird schon dämmrig, als sie ihre Instrumente einpacken. Die letzten eng umschlungenen Paare verschwinden zwischen den Häusern. Lorenz begutachtet die Einnahmen an Bargeld und Lebensmitteln. »Da haben wir Lucia ja mal was zu verdanken!«, sagt er. »He, Lucia – wo ist sie denn nun schon wieder?« Dann hören sie sie kreischen. Sie hängt zwischen zwei Bauern, ein zappelndes, mit den Füßen um sich stoßendes Bündel, wird ihnen zugeworfen, bleibt liegen, regt sich nicht. Lythande knurrt, Lorenz hält ihr schnell die Schnauze zu. Heinrich strafft sich, tritt auf die Männer zu. »Was wollt ihr von dem Kind? Was hat sie getan, ihr guten Leute?« »Was sie getan hat? Während ihr hier Musik macht, um abzulenken, schleicht die bei einem ins Haus und lässt mitgehen, was nicht niet- und nagelfest ist! Stehler und Hehler!« Der eine hält Lucias große Schürze, die sie von der Töpferin bekommen hat, verknotet in der Hand, öffnet sie jetzt: Eine
Wurst, zwei Brotstücke, ein paar Löffel… »Ihr seid Diebe, alle zusammen!« »Und die Göre, wie die aussieht – gehört vielleicht auch zu den Teufelskindern!« »Was denn für Teufelskinder?«, fragt Heinrich mit erstickter Stimme. Er spürt, wie das Entsetzen in ihm aufsteigt. »Tut nicht so, als wenn ihr nichts davon wisst! Die Verfluchten, die Gott der Herr in alle Winde verstreut hat zur Strafe ihrer Sünden! Sie sind hier! In der Nacht haben sie einem Bauern im Nachbarort die Scheune angezündet! Der Oger soll sie holen!« Lucia liegt so, wie man sie da hingeworfen hat, sie rührt sich nicht, wie ein Tierchen, das sich tot stellt. »Wie könnt ihr wissen, dass es diese armen Kinder waren?« Der Mann verzieht das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. »Die meisten von diesen ›armen Kindern‹ haben sich wieder verkrochen. Aber eins haben wir erwischt. Das zündet keine Scheunen mehr an. Ein für alle Mal.« Schweigen, eisiges Schweigen. Heinrich spürt, wie sich die Haare auf seinen Armen aufrichten. Die haben eines der Kinder umgebracht. In der Stille hört man Lucia leise wimmern wie ein kleines Tier. Die Bauern blicken wütend auf sie, langsam schließt sich der Kreis um die drei. Heinrich bekreuzigt sich. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagt er. Versucht ruhig zu bleiben, sie zu überzeugen. »Wir kennen keine solchen Kinder. Unser Mädchen hier ist schon bei uns, solange wir zusammen auftreten. Meinst du, sie würde sich sonst so ohne Angst vor meine Armbrust stellen? Was heute in sie gefahren ist, weiß ich nicht. Ich werde sie bestrafen.« Er sieht ringsum unbewegte Gesichter. »Verzeiht uns«, sagt er drängend. »Nehmt euer Hab und Gut wieder und nehmt das dazu, was wir heute als Lohn bekommen haben.
Und dann lasst uns in Gottes Namen ziehen.« Seine schiefen Wolfsaugen lassen die Männer nicht los. Der eine ruckt unbehaglich mit den Schultern. »Man sollte sie den Bütteln übergeben, damit sie euch mit Ruten aus dem Ort jagen!«, grummelt er. »Oder noch besser, wir machen euch gleich hier den Garaus.« Heinrich streckt die Hand zu Lorenz aus, ohne sich umzudrehen, und der schüttelt den Erlös ihres Spiels mit auf die große Schürze. Auch er sagt kein Wort. In der Stille nestelt Heinrich eine weitere Münze aus dem Beutel, den er im Gürtel trägt. Legt sie dazu. »Ist es gut so?«, fragt er leise. »Dann lasst uns jetzt in Frieden ziehen.« Die Männer sehen sich an, nicken. Der eine packt die Schürze mit allem, was darauf liegt, und macht ein Bündel daraus. »Nehmt die Beine in die Hand!«, sagt der eine, »und dankt euren Schutzheiligen, dass heute Sonntag ist und wir uns nicht an euch versündigen wollen.« Sie ziehen ab. Immer noch schweigend, laden die Jungen ihre Mantelsäcke auf. Heinrich geht zu dem Mädchen, hebt sie auf. »Nun komm schon!« »Ich darf noch mit?« Es ist nur ein Flüstern. »Komm!« Sie laufen mehr, als sie gehen, durch die stillen Straßen des Ortes, vorbei an den letzten Häusern. Dann sagt Lorenz laut. »Was hast du dumme Trine dir dabei gedacht, lange Finger zu machen? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Die hätten uns am liebsten umgebracht!« Das Mädchen antwortet nicht. »Lucia!« Heinrich ist stehen geblieben, er hockt sich vor sie hin, nimmt ihre Hände, wie er es tut, wenn er will, dass sie ihm wirklich zuhört. »Warum hast du gestohlen? Sag es mir.« Sie sieht an ihm vorbei. Antwortet nicht. Heinrich stöhnt.
»Lass uns sehen, dass wir noch ein Stück weiterkommen, ehe die sich’s anders überlegen in dem Dorf und uns noch mit Dreschflegeln und Mistforken hinterherkommen!« »Feine Aussichten!«, sagt Lorenz bitter. »Sollen wir sie bei unseren nächsten Auftritten vielleicht anketten, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichtet? Andere binden ihre Hunde an – aber Lythande hat mehr gutes Benehmen als die!« »Lorenz!«, mahnt Heinrich. »Wolf, es ist doch wahr! Da hatten wir mal einen guten Tag – und dann so etwas! Und diese Kinder, die Scheunen abfackeln, also da müssen sie sich nicht wundern, wenn sie die Bauern gegen sich aufbringen. Und wir – wir werden dann noch mit denen verwechselt!« Lucias Stimme klingt hoch und schrill. »Non e vero! No! Kinder nicht Scheune Feuer! Lüge!« Sie atmet krampfhaft. »He, woher weißt du das? Die Leute hier im Dorf haben gesagt, sie hätten einen dabei erwischt.« Das Mädchen fuchtelt mit den Händen. »Nicht sie. Nicht Kinder. Wind hat gemacht. Kinder machen Feuer, wo Tiere wohnen. Hamster, Ratte. Auch Volpe – Fuchs.« »Du meinst also, sie haben einen Bau ausgeräuchert?«, fragt Heinrich stirnrunzelnd. Lucia nickt. »Ja. Volpe, Ratte – gutes Essen.« Heinrich versucht zu verstehn. »Und der Wind hat das Feuer auf die Scheune getrieben?« »Ja. Kinder wollten löschen. Bauern sind gekommen. Einer gefangen.« Sie verbirgt das Gesicht in den Händen. »Ist gestorben«, flüstert sie. Die Jungen sehen sich an. Bekreuzigen sich. Lorenz ist kreideweiß im Gesicht. »Du meinst…?«
»Ja«, sagt Heinrich. »Ja. Gott wird die bestrafen, die auf Erden keinen Richter für ihre Taten finden.« Lorenz starrt ihn entsetzt an. »Die bringen Kinder um?« Dann zu dem Mädchen: »Aber – woher weißt du das alles?« Keine Antwort. »Lucia! Rede mit uns! Wir sind deine Freunde!« »Nicht mich wegschicken? Nein?« Lorenz schreit fast. »Warum sollten wir dich denn wegschicken? Weil du ein paar Löffel geklaut hast? Also was ich schon alles – na ja, hm. Man darf sich nicht erwischen lassen.« Er versucht zu grinsen, aber es misslingt ihm kläglich in diesem Augenblick. Plötzlich sagt Heinrich: »Du warst in der Nacht bei ihnen.« Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja«, sagt Lucia einfach. Sie haben ein kleines Wäldchen zwischen sich und das Dorf gebracht. Da ist ein Weiher, sodass sie Wasser haben. »Bis hierher wird uns keiner folgen«, bemerkt Heinrich. »Lass uns hier unser Nachtlager aufschlagen. Wir machen kein Feuer. Haben ohnehin nichts, was wir kochen könnten.« Sie lassen ihr Gepäck ins hohe Gras fallen. Ringsum zirpen die Grillen, die nächtliche Welt wirkt so friedlich. Die letzten Vögel fliegen zu ihren Nestern. »Geh jagen, aber bloß nicht Richtung Dorf«, sagt Lorenz halblaut zu Lythande. Die Hündin sieht ihn aufmerksam an, wedelt, schnürt dann davon in die Dunkelheit hinein. Sie kennt sich aus. »So«, sagt Heinrich. »Und nun rede, Lucia. Woher hast du gewusst, dass die Kinder da sind?« Sie wiegt sich leicht hin und her. Dann reißt sie einen Schafgarbenstängel aus und beginnt, ihn in kleine Stücke zu zerbrechen. Auf einmal lacht sie schrill auf, aber es klingt alles andere als fröhlich. »Wo Oger ist, sind auch Kinder«, sagt sie. »Ganz einfach. Ich habe Oger gesehen.«
»Du hattest einen Traum.« »Ich habe gesehen«, beharrt sie. »Wolf weiß. Nicht wahr, Wolf weiß.« »Ich fürchte, du hast Recht«, sagt Heinrich leise. »Wenn denn ›Malocchio‹ bedeutet, dass einer schielt…« »Was ist das: schielt?« »Zeig’s ihr mal, Lorenz.« »Ich bin der Possenreißer vom Dienst, was? So geht schielen!« Er bringt sein Gesicht dicht vor das des Kindes und verdreht die Augen. Es ist noch hell genug, um das Mienenspiel zu erkennen. Lucia nickt sachlich. »Ja. Malocchio. Oger ist da. Sucht Kinder. Dann war das Feuer. Ich habe gedacht: Kinder. Manchmal, wenn fangen Ratte, Fuchs – ein Missgeschick.« »Es ist euch schon öfter etwas abgebrannt.« »Ja. Aber nie so schlimm. Wir immer Feuer ausmachen.« »Ihr habt gelöscht. Ja, gut. Nur diesmal ging es entsetzlich schief.« Heinrich stöhnt. »Und dann? Du bist in der Nacht losgegangen und hast sie gesucht?« Wieder das stumme Nicken. Der nächste Schafgarbenstängel wird zerknickt. »Aber ich versteh nicht. Was hast du von ihnen gewollt?«, fragt Lorenz. »Hat’s dir bei uns nicht mehr gepasst, oder was?« »Stolto!«, erwidert sie, und es klingt wütend. »Dumm, ganz dummer Bengel Lorenz. Lucia und Wolf und du – ich will bei euch sein, capisce? Capisce!« Auf einmal hat Lorenz die Hand voll Schafgarbenstücke im Gesicht. Er blinzelt, und das Kind flüstert: »E come familia.« »Sie sagt, wir sind für sie – « »Hab schon verstanden.« Lorenz winkt ab und setzt sich ein bisschen abseits. Er senkt den Kopf und muss sich räuspern. Das lange lockige Haar fällt ihm über die Augen, sodass niemand seine Miene sehen kann.
»Bitte sag uns, was du bei den Kindern wolltest.« Heinrichs Stimme klingt begütigend. Er greift behutsam ihre Hand, hindert sie daran, die nächste Schafgarbe auszureißen. Ihre Finger sind kalt und feucht. Trotz der abendlich milden Luft scheint sie zu beben, als würde sie frieren. »Ich ihnen sagen: Vorsicht! Oger ganz nah. Und ich ihnen sagen: Großer Markt in Meißen. Viel gutes Essen.« »Du hast ihnen geraten, von hier wegzugehen und nach Meißen zu ziehen?« »Ja, ich sagen. Alle haben viel, viel Angst. Böse Leute. Einer gefangen. Lebt nicht mehr.« »Möge Gott die Mörder verderben«, murmelt Heinrich. Er wendet sich an das Kind. »Warum hast du uns nicht Bescheid gesagt? Wir hätten doch mit dir gehen können und zu deinen Freunden sprechen.« Lucia schlägt die Augen groß auf zu ihm. »Kinder so Angst«, sagt sie. »Wenn viele kommen, und kommen mit Hund, sie laufen weg oder gehen in Versteck. Ich allein.« »Und nun? Meinst du, sie werden nach Meißen gehen?« »Si. Sicher. Ich heute Nacht wollte wieder hingehen. Essen bringen. Sachen bringen.« Lorenz stöhnt auf, schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Jetzt wird mir das klar! Deshalb ist sie im Dorf rumgelaufen und hat was mitgehen lassen! Du wolltest es den Kindern bringen, ja?« »Ja«, sagt sie und sieht vor sich hin. »Aber alles weg.« »Lucia!« Heinrich nimmt jetzt auch noch ihre andere Hand. »Wir verstehen. Aber das darfst du nicht machen. Du darfst nichts stehlen. Du hast gesehen, in was für Gefahr uns das bringt. Nie wieder, hörst du?« »Ja«, sagt sie trostlos. »Aber nun nichts für Kinder.« Plötzlich steht sie auf. »Ich muss gehn.«
»Aber wieso? Du hast jetzt doch gar nichts, was du ihnen bringen könntest. Und wir – uns hat man auch alles abgenommen. Meine letzten paar Münzen brauchen wir für uns, es geht nicht anders.« Lucia schüttelt den Kopf. »Ich ihnen sagen, was du heute früh geredet hast mit Lorenz. Ich nicht geschlafen.« »Was meinst du?« »Oger frisst nicht Kinder. Verkauft sie.« »Meinst du, das macht irgendetwas anders? Ist das nicht auch schrecklich?« »Ja. Auch. Aber anders. Andere Angst.« »Ich versteh dich. Aber du wirst nirgendwo allein hingehen. Ich komme mit«, sagt Heinrich. »Du bist auch in Gefahr.« Sie steht da, blass und zerbrechlich in ihrem Leinenhemd und ihrem groben Rock. »Ich weiß«, sagt sie still. »Er hat mich angesehen.« –
Spurensuche
Sie einigen sich, dass Lorenz beim Gepäck zurückbleibt und auf Lythandes Rückkehr von der Jagd wartet. »Ist nicht weit«, sagt Lucia eifrig. »Da hinten bei Quelle. Viel Nessel. Keiner findet.« Sie geht voraus, schnell und sicher, wie beflügelt, die Dunkelheit scheint ihren Augen nichts auszumachen. Heinrich folgt stolpernd. Wo sie mit ihren nackten Füßen sicher auftritt, rutscht er mit seinen Stiefeln auf Steinen und Maulwurfshügeln aus. Als sie an einem Stück verwahrlosten Brachlands ankommen, pfeift Lucia leise durch die Zähne und wartet dann. »Wie viele?«, fragt Heinrich leise. Das Mädchen hebt die beiden Hände. »Vielleicht?« Es zuckt die Schultern. Also zehn etwa, weniger eins seit gestern… Alles bleibt still. Lucia pfeift noch einmal, dann, ehe Heinrich sie daran hindern kann, bahnt sie sich mit rudernden Armen einen Weg durch die mannshohen Brennnesseln. Er wartet. Ein heiserer Schrei. Das Kind taucht wieder auf, hält in der Hand zwei Teile eines zerrissenen Gürtels. »Wolf, sie sind weg! Tutti, tutti! O Dio mio! Oger, Oger!« Sie schlägt die Hände vors Gesicht, krümmt sich zur Erde, stöhnt. Heinrich kann nicht zusehen. »Lud, bitte, hör auf! Hör auf! Das ist doch Unsinn!« Er packt sie an den Schultern, rüttelt sie. »Selbst der teuflischste Oger der Welt kann nicht zehn Kinder auf einmal wegfangen! Dazu brauchte er Diener und Knechte und einen Wagen. Wir haben nichts gehört und nichts gesehen auf unserem Weg, und die Bauern im Ort, wo wir waren, wussten auch nur, dass die
Kinder sich wieder verkrochen haben! Vielleicht konnten oder wollten sie einfach nicht warten und sind schon auf dem Weg nach Meißen. Komm, beruhige dich! Glaub mir!« Das Kind sieht ihn an mit seinen riesigen Augen voller Trostlosigkeit – ja, warum sollte es ihm glauben? Immer ist nur das Schlimmste eingetroffen in seinem Leben bisher. Auf das Schlimmste ist es vorbereitet… Wenn es doch endlich Ruhe fände, Ruhe und Trost! »Ich habe einen Einfall«, fährt Heinrich fort. »Du hast doch da etwas von ihnen, dies Stück Gürtel. Lorenz soll Lythande auf die Spur setzen. Vielleicht macht sie etwas ausfindig.« »Wie denn?«, fragt Lucia tonlos. »Lythande nimmt den Geruch auf. Sie hat so eine feine Spürnase, dass sie dann eine Fährte verfolgen kann. Wollen wir’s so machen?« Sie nickt. Aber in diesen Augen ist keine Hoffnung. –
»Lythande hatte die Spur!«, berichtet Lorenz, als er mit der Hündin wiederkommt. »Aber dann haben uns die Bauern gesehen und was von Teufelskindern und Brandstiftern gebrüllt und sind mit Knüppeln auf uns losgegangen. Es tut mir Leid, ihr beiden. Wir mussten die Beine in die Hand nehmen. Wir wissen ja, dass mit denen nicht zu spaßen ist.« Es wird schon Morgen. Heinrich weiß nicht, ob Lucia geschlafen hat. Jedes Mal, wenn er aus unruhigem Halbschlaf auffuhr, fand er sie genau so: sitzend, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf darauf gelegt. Lorenz ist grauweiß im Gesicht vor Müdigkeit, und seine Lythande lässt sich einfach mit einem tiefen Hundeseufzer ins Gras fallen und streckt alle vier Pfoten von sich. Heinrich geht zu ihnen. »In welcher Richtung hat sie gesucht?«
Lorenz zeigt mit der Hand. »Dort rüber und später dann den Saumpfad zwischen den Ulmen entlang. Dann war da ein kleiner Bauerngarten und – « »Auf alle Fälle ist das die Richtung, die wir auch nehmen müssen«, sagt Heinrich. »Das heißt also, dass sie offenbar nach Meißen aufgebrochen sind. Ich denke, Lucia, du musst dir nicht so viel Sorgen machen. Vielleicht war es ihnen hier nur zu unsicher, nachdem, was vorher passiert war und was du ihnen erzählt hattest. Vielleicht holen wir sie ja auch ein.« »Wir können nicht«, sagt das Mädchen. »Kinder gehen anders als wir. Vorsichtig. Keine richtigen Wege. Keine Orte, wo wir spielen. Und wenn doch Oger?« »Ich glaube es nicht!«, sagt Heinrich bestimmt und gibt sich Mühe überzeugend zu klingen. »Solche Nebenpfade, wie sie Lorenz eben beschrieben hat – auf denen reist doch kein Tempelritter mit zehn eingefangenen Kindern! Der braucht doch wahrscheinlich einen Wagen, um nach Meißen – « Er bricht ab. »Natürlich. Ich hab’s euch nicht gesagt. Er muss auch nach Meißen«, sagt er. »Ich hab’s in einem Brief gelesen. Und er wirkte so, als wenn es wichtig für ihn war – und falls er denn der Oger sein soll…« »Sicuro«, sagt Lucia bestimmt. Heinrich geht in Gedanken hin und her. »Der Brief war so läppisch«, murmelt er. »Es ging um irgendwelche Tiere… Ich hab ihn noch bei mir.« »Nicht wichtig«, sagt das Mädchen. »Er geht Meißen, Kinder gehn Meißen. Wir gehn Meißen. Alle dort. Wir müssen schnell sein. Oger fangen.« Lorenz zieht die Brauen hoch. »Den Oger fangen? Wie stellst du dir das vor? Sollten wir nicht lieber zusehen, dass wir einen großen Bogen um ihn machen? Abgesehen davon – wie finden wir ihn? Den weißen Mantel tragen die Templer und alle anderen Ritter, die Jerusalem befreien wollen, so wie ihr
Kinder das wolltet. Davon laufen bestimmt Dutzende in der Gegend rum.« »Nur einer! Malocchio! Böser Blick!« Sie macht das Abwehrzeichen mit zwei Fingern ihrer rechten Hand. »Ich habe diesen Mann gesehen, wenn er es denn ist. Ich würde ihn wieder erkennen, und ich weiß sogar, wie er heißt. Es ist vielleicht sogar möglich, dass wir ihn finden. Ich kann auch den Stadthauptmann dazu befragen. Aber dass wir ihn dingfest machen können, das – das kann ich mir nicht vorstellen. Die Mächtigen der Welt sind schwer zu fassen.« »Amen«, schließt Lorenz das Thema ab. Er greift unter sein Wams. »In dem Bauerngarten lag übrigens unser Frühstück rum. Besser als nichts, denke ich.« Ein paar Rettiche, junge Zwiebeln und eine Hand voll zarter Zuckerschoten kommen zum Vorschein. »Bist du verrückt geworden? Nach dem, was uns gerade mit Lucia zugestoßen ist?« »Ich hab ja keine Löffel mitgehn lassen«, sagt der Junge. »Das ist ja wohl ein Unterschied.« Heinrich schüttelt den Kopf. Lucia hat keinen Blick für das mitgebrachte Essen. »Wolf!« Ihre Stimme klingt fordernd. »Du findest Oger, ja? Du hilfst Kindern?« »Wenn ich es kann – ja.« »Ich weiß – du kannst«, sagt sie ernst und freundlich zugleich. Legt sich zur Seite, schläft ein, die Hände vorm Mund geballt wie ein Säugling. Zufrieden. Lorenz reibt die Erde von den Rettichen. »Na, deren Glauben möcht ich haben. Wolf – du willst doch nicht wirklich…?« »Was ich will oder nicht will, das entscheiden wir, wenn wir in dieser Stadt sind bei den Kindern, und wenn wir den Meister gefunden haben. Allmählich sollten wir uns beeilen. Bis Maria
Himmelfahrt ist es nicht mehr so lange hin.« Er wirft einen Blick auf die Schlafende. »Sie vertraut mir«, sagt er halblaut. Lorenz stöhnt. »Ich wär so froh über eine schöne Reise zu einem großen Markt, ohne irgendwelche Gefahren. Einfach so.« »Ja«, erwidert Heinrich. »Ich auch, das kannst du mir glauben. Übrigens, wir sollten gut auf Lucia aufpassen, ob mit oder ohne Oger.« »Die hütet sich schwerer als ein Sack Flöhe, fürchte ich!«, bemerkt Lorenz sorgenvoll.
Krebse im Fluss
Eine Tagesreise weiter erfahren sie dann von Feldarbeitern, dass die tatsächlich die »Teufelskinder« gesehen haben, aber die hätten einen großen Bogen um sie gemacht. »Verständlich, bei dem, was dort bei der Scheune geschehen ist«, bemerkt Heinrich düster. Aber Lucia strahlt. »Nicht gefangen! Gut, gut. Und wo ist Oger?« Heinrich hebt die Schultern, breitet die Arme aus. »Vermutlich ist er schon in Meißen. So einer reist mit guten Pferden und ist allemal schneller als wir.« »Wir finden, ja? Wir finden Oger?« Sie glüht vor Eifer. »Immerhin«, sagt Heinrich zu Lorenz, »kann es nicht schaden, wenn wir hier und da nach Durchreisenden mit Kreuzfahrerumhängen fragen. Wenn wir wüssten, dass der Mann nicht mehr in der Gegend ist, könnten wir ruhiger sein.« Aber das bringt wenig. »Länger nicht gesehen in der Umgebung« heißt es, oder »Davon ziehen jeden Tag ein paar vorbei.« Offenbar schenkt niemand solchen Leuten Beachtung. Sie erreichen den großen Strom, von dem man ihnen sagt, dass sie an seinem Ufer entlang nur flussaufwärts ziehen müssen, um zu dem Markt nach Meißen zu gelangen. Die Tage sind heiß, und der Fluss bietet willkommene Abkühlung für alle bis auf Lorenz, der sich fürchtet vor dem Wasser, denn er kann nicht schwimmen. Als er damals mit Lythande vor den Verfolgern flüchtete, wäre er ihnen um ein Haar ins Garn gegangen, weil er sich nicht durch einen Wasserlauf traute. Heinrichs Hilfe rettete ihn und die Hündin.
Es geht ihnen ganz gut. Sie versuchen, Fische zu fangen, wo’s keiner merkt, und wenn Heinrich nicht hinsieht, plündern Lucia und Lorenz wohl auch mal eine der Reusen, in denen die Stromfischer ihr Fanggut lebendig aufbewahren. Lucia hält sich immer weniger daran, dicht bei den anderen zu bleiben, und wie das so ist – wenn alles gut geht, vergisst man seine Wachsamkeit. Bald wagt sie sich auch allein zu einem Bauernhaus, um ein paar Eier zu erbetteln, oder zu einer Fischerkate, um der Frau ein paar kleine Weißbarsche abzuluchsen. Die Jungen haben festgestellt, dass das Mädchen viel erfolgreicher beim Schnorren ist als sie; nicht einmal Lythandes Kunststücke vermögen das Herz einer Hausfrau so zu erweichen wie Lucias große helle Augen unter den dunklen Wimpern, ihre weiche Aussprache, der fremdartige Akzent ihrer hell-heiseren Stimme und ihre zum Betteln ausgestreckte Hand. Manchmal gabelt sich der Fluss, verzweigt sich in vielen Armen, dann verlassen sie die Hauptstraße und suchen sich einen Weg im Auenland und an sumpfigen Stellen vorbei. Da gibt es mehr Essen aus dem Wasser zu holen. Eines Abends kommt Lucia mit leuchtenden Augen: »Gamben!« Die Jungen verstehen sie erst, als sie mit dem Finger ein paar riesige Scheren und drei Beinpaare in den Sand malt. »Krebse?« Sie zerbricht sich fast die Zunge an dem Wort. »Ja, hier und hier!« Heinrich begutachtet das zerklüftete schlammige Flussufer. »Du hast Recht, Lucia! Sehr gut. Hier gibt es Krebse, und wie es aussieht, niemanden, der sie haben will. Versucht, Netze aufzutreiben. Wir werden Krebse fangen, wenn es dunkel wird.« »Geht auch ohne Netz«, sagt das Mädchen und lacht. »So!« Sie macht eine zupackende schnelle Bewegung.
»Was denn?« Lorenz reißt die Augen auf. »Will sie diese Biester etwa mit bloßen Händen fangen?« Sie nickt gelassen. »Puh! Und wer soll so was essen?« »Krebse sind ein Leckerbissen!«, belehrt ihn Heinrich. »Ich kenne sie aus dem Kloster.« »Muss ein herrliches Leben gewesen sein in deinem Kloster!«, knurrt Lorenz. »Keine Ahnung, warum du da abgehauen bist!« »Wegen des Essens war es nicht!«, gibt Heinrich gallig zurück. Er hat keine Lust, mehr von seiner Vergangenheit zu erzählen, als Lorenz schon kennt: Eben, dass er ein durchgebrannter Klosterschüler ist. Dass seine dreihundert Hufen Land, die er dem Kloster eingebracht hätte, ihm einen guten Platz an der Tafel des Abts gesichert hatten, muss ebenso wenig jemand wissen, wie, dass er gefälschte Dokumente fand, Betrügereien im großen Stil, und mit diesen Papieren geflohen ist… Am Abend bringt Lorenz dann doch ein paar Reusen an, »ausgeborgt« von den Fischern der Umgebung. Wenn man diese korbähnlichen Netze vor den Krebshöhlen auslegt, unterm Wasserspiegel, müssten die Tiere in die Falle gehen, erklärt ihm Heinrich. Die hereinbrechende Nacht färbt den trüben Fluss fast schwarz. Lorenz kann seine Furcht vor strömendem Wasser nun mal nicht überwinden. Misstrauisch beobachtet er, wie Lucia und Heinrich barfuß in den Fluss hineinwaten. »Wenn du dich schon nicht traust, dann hol Zweige aus dem Gehölz da und mach ein Feuer!«, kommandiert Heinrich. »Das lockt die Krebse heraus.« Lorenz pfeift Lythande und schlendert davon. Nicht, dass er den dunkeln Wald anheimelnder fände – aber in ihm kann man wenigstens nicht ertrinken. Während er totes Geäst einer
verlassenen Biberburg auseinander bricht und aufsammelt, bemerkt er die gespannte Aufmerksamkeit der Hündin, die mit gesträubtem Nackenfell und eingezogenem Schwanz ins Dunkel knurrt. »Aus, Blanchefleur!« Lythande kommt zu ihm, schmiegt sich eng an sein Bein. Lorenz lauscht ins Dickicht. Irgendetwas knackt im Gehölz, Äste brechen. Also, ein Waldtier ist leiser. »Ist da wer?«, fragt er mit erstickter Stimme. Die Hündin knurrt dumpf aus der Kehle. Etwas Helles schimmert zwischen den Stämmen. Lorenz rafft seinen Arm voll Brennholz zusammen und nimmt die Beine in die Hand, gefolgt von Lythande. Als er im Freien ist, atmet er tief durch. Vielleicht war es ja doch nur ein Luchs oder eine Wildkatze, und für den Rest hat ihm seine Angst nur etwas vorgegaukelt. Lieber nichts davon erzählen. Sonst lachen die beiden ihn vollends aus. Das Feuer brennt bald. Lucia und Heinrich kommen zurück mit den ersten Netzen voller Krebse, die von Lythande wütend verbellt werden. Das Mädchen zieht ein brennendes Scheit aus dem Holzstoß und nimmt den ledernen Beutel, in dem sie sonst ihre Vorräte mit sich führen. Sie lächelt, ihre weißen Zähne schimmern im Licht. »Ich fange allein!«, erklärt sie. »Fange mit Fackel. Geht noch schneller. Alle Krebse kriechen raus und ich – so!« Wieder macht sie die zupackende Bewegung mit einer Hand. »Ich komme mit!« »Nein, nein! Wolf ist so laut!« Sie stampft mit ihren nackten Füßen auf. »Alle Krebse weg. Lucia geht so!« Sie macht ein paar Schritte auf Zehen. »Also ich weiß nicht«, sagt Lorenz unbehaglich. »Ich hab da was gehört im Wald…«
»Ach ja?« Lucia lacht. »Du wieder Angst, ragazzo? Angst vor Wasser – hu, nass! Angst vor Wald – hu, dunkel!« Sie schwenkt ihre Fackel hin und her. »Na bitte, geh nur!«, sagt Lorenz beleidigt. »Also ich hätte schwören können, dass ich im Wald was Weißes gesehen habe. Aber wenn ich sowieso bloß ein Angsthase bin…« »He!« Das Mädchen macht eine abwehrende Handbewegung. »Oger kriecht durch Wald und wartet auf mich, ja? Ach, ich muss lachen!« Sie ist übermütig und fröhlich. »Geht ganz schnell. Ich auch etwas machen, ja? Capisce?« Heinrich sieht der Davongehenden nach. »Lass sie«, sagt er. »Es ist gut, dass sie etwas tut, was sie kann. Dass sie sich etwas vornimmt. Es hilft ihr. Sie gehört jetzt richtig dazu.« Sie sehen der Fackel nach, die sich am Flussufer hin und her bewegt, hinter ein paar Erlenbüschen verschwindet, wieder auftaucht, flackert, dann an der Uferbiegung unsichtbar wird. »Sie sollte nicht so weit gehen«, sagt Lorenz unruhig. »Vielleicht ist es ja albern, aber immer denke ich, ihr passiert was. Lythande war auch aufgeregt da im Wald.« »Keine Sorge. Ich gehe ihr gleich nach«, sagt Heinrich. »Ich freu mich über sie, Lorenz, wirklich. Wenn wir erst in Meißen sind, wenn wir auf dem Marktplatz spielen, kann sie vielleicht auch schon bei unseren Liedern mitmachen.« »Und ich freu mich auf den Markt«, sagt Lorenz und stochert im Feuer. »Warst du schon mal in so einer großen Stadt, Wolf?« »Genauso wenig wie du. Wir treffen auf den Meister und – « Ein markerschütternder Schrei zerreißt die Stille der Nacht. Die beiden fahren auf, und Lythande beginnt wieder zu knurren, wie sie es im Wald getan hat, tief und drohend. »Was war das?« Ein zweiter Schrei.
»Das ist ihre Stimme!« »Lucia! Wir kommen!« Die Jungen stürmen los in der Richtung, aus der die Schreie kamen. Lorenz stolpert, stürzt, rappelt sich auf. Lythande fegt bellend zwischen ihm und Heinrich hin und her, der rennt wie um sein Leben. »Da, hör mal!« Pferdehufe, gedämpft auf dem weichen Wiesengrund, sich entfernend. Dann Stille. An der Uferböschung liegt das Holzscheit, noch glimmend und qualmend. Daneben das Säckchen, aus dem die eingefangenen Krebse eilig zum Fluss und in die Freiheit zurückkriechen. Lorenz schlägt die Hände vors Gesicht. »Oh Gott! Ich hab wirklich was gehört da im Wald – ich dachte, es ist ein Tier – ich hab was Helles gesehen – « »Der Oger. Vielmehr: Herr de Dordogne.« – Sie hocken an ihrem Feuer wie vor den Kopf geschlagen. »Warum waren wir bloß so leichtsinnig?«, stöhnt Lorenz. »Ich hab’s doch gehört! Und ich hatte ja nicht bloß meine eigenen Augen und Ohren. Ich hatte ja auch Lythande. Die hat deutlich angezeigt, dass da was nicht geheuer ist.« Heinrich schüttelt den Kopf. »Ich war so felsenfest davon überzeugt, dass dieser Mann nach Meißen gezogen ist. Stattdessen muss er uns irgendwie belauert haben. Vorwürfe nützen jetzt nichts. Wir müssen überlegen, was wir machen. Wie wir sie zurückholen.« Der Junge stützt den Kopf in die Hände. »Wolf, sei mir nicht böse. Aber ich versteh das immer noch nicht. Was will dieser Kerl denn mit Lucia? Du sagst, er verkauft Kinder in die Sklaverei. Aber die – die ist doch zu gar nichts nütze.« Er hebt hilflos die Achseln. »Ich mein das nicht böse. Aber die kann ja nicht mal richtig sprechen.« »Ums Sprechen geht’s da wohl weniger«, sagt Heinrich bitter. »Ich denke, die Ungläubigen brauchen verschiedene
Arten von Sklaven. Manche für Haus und Hof. Manche lassen sie arbeiten, bis sie tot umfallen. In den Silberbergwerken, hab ich gehört. Und dann wieder andere – « Er beißt sich auf die Lippen. »Erinnerst du dich, dass sie gesagt hat, er holt die Schönsten? Le piu belle?« »Die Schönsten? Ja, aber Lucia…« Er bricht ab. Die Jungen sehen sich an. Das zarte ovale Gesicht des Mädchens, ihre großen hellen Augen unter dichten Wimpern, der feine Schwung ihrer Lippen, das rötliche Haar. »Wo hatte ich meine Augen?«, knurrt Lorenz. »Für mich war sie irgendwo immer noch das Rautierchen«. »Für ein schönes Mädchen wird er einen guten Preis erzielen.« Heinrich ballt die Fäuste. »Für einen Harem. Oder für ein Bordell.« »Aber, Wolf! Sie ist ein Kind!« »Eben. Es gibt auf Gottes Erde Dinge, die so schlimm sind, dass man sie sich kaum ausmalen kann.« »Wir müssen sie finden«, sagt Lorenz tonlos. »Ja. Und wir müssen auch nach Meißen.« Heinrich stöhnt. »Was ist, wenn er genau dahin mit ihr unterwegs ist?« »Schon. Aber davon können wir nicht ausgehen! Wir müssen erst einmal hier im Umkreis Leute befragen. Vielleicht hat er sie hier irgendwo versteckt. Es dürfte ja nicht einfach sein, mit einer Gefangenen zu reisen. Er muss bestimmt einen Wagen mieten, denke ich.« »Wir fangen gleich morgen früh an.« »Ja. Wenn ich zu spät komme in Meißen, wenn ich den Meister verpasse – nun, wir werden sehen. Erst mal ist das unwichtig. Und ganz allein meine Sache.« Er schweigt, legt ein paar Scheite nach. »Als sie deine Aufgabe übernommen hat bei der Armbrust-Nummer, erinnerst du dich? Da hast du gefragt, wieso sie keine Angst hat.«
»Ja, und du hast gesagt, sie hat Schlimmeres erlebt.« Heinrich nickt. »Aber jetzt glaube ich, dass es noch einen anderen Grund dafür gegeben hat. Sie hat einfach Vertrauen zu uns.« »Zu dir«, sagt Lorenz leise. »Aber das macht nichts. Wir suchen sie beide.«
Zur großen Stadt
Sie fangen am frühen Morgen mit ihrer Suche an, fragen in den Schänken am Weg und den Gehöften, die zur Einkehr locken, nach einem Templer oder Kreuzritter, zu Pferd oder noch eher mit einem geschlossenen Wagen. Ein Kreuzritter, der schielt. Letzteres ruft meistens Heiterkeit hervor. Einige erklären auch, dass sie sich hüten würden, einem dieser Herren so nahe zu kommen, dass man ihm in die Augen schauen kann, denn meist seien sie rüpelhaft und überheblich, und man sollte ihnen besser aus dem Weg gehen. Außerdem sind alle Straßen wegen des bevorstehenden Markts in Meißen voller Reisender, Kreuzritter sind auch dabei. Man kann sich nicht jeden Einzelnen merken. Sie klappern die Gegend einen ganzen Tag lang nach allen Richtungen ab. Erfolglos. Schließlich bleibt ihnen im näheren Umkreis nur noch eine Benediktinerabtei, das einzige Kloster weit und breit. »Bei den Zisterziensern ist er ja auch gewesen«, erinnert Lorenz. »Liegt doch auch nahe, dass diese ›heiligen Ritter‹ mit den Klöstern gemeinsame Sache machen, oder? Wir müssen da auf alle Fälle nachfragen.« Heinrich beißt sich auf die Lippe. »Das ist dann deine Aufgabe, Lorenz«, sagt er düster. »Wieso?« »Ich fürchte, die Benediktiner suchen mich.« Der Junge kichert. »Meinst du, in jedem Kloster hängt ein Bild von dir: Der wird gesucht? Na ja, vielleicht reicht ja auch eine Beschreibung…«
»Natürlich nicht in jedem Kloster!«, erwidert Heinrich unwillig. »Aber das sind zufällig Benediktiner, und ich bin aus einem Benediktinerkloster ausgerissen. Also in dem Fall denke ich schon, dass man von der Sache weiß.« »Du musst ja wirklich schlimme Dinge ausgefressen haben, wenn sie dich so wild suchen!« Ein eisgrauer Wolfsblick macht Lorenz verstummen. Gestohlene Dokumente, die ein reiches Kloster bloßstellen, sind keine Kleinigkeit. Aber das muss der Gefährte ja nicht wissen. Lorenz zuckt die Achseln. »Gut, geh ich eben allein«, sagt er forsch. »Behalt Lythande bei dir, ja?« Heinrich versucht den Tag über unter der Wolfsmaske aufzutreten und hier und da ein paar Lieder zu singen, ein bisschen zu jonglieren und die Hündin zur Fiedel tanzen zu lassen, aber Lythande gehorcht ihm nur widerstrebend, und er irrt sich in den Kommandos. Als er die Armbrustbolzen im Bogen um seinen Kopf schwirren lässt und sie auffängt, fällt ihm plötzlich ein, wie ruhig und sicher Lucia mit ausgebreiteten Armen vor der hölzernen Wand stand und sich beschießen ließ, die großen Augen ohne zu blinzeln auf ihn gerichtet – und er verletzt sich mit der eisernen Bolzenspitze an den Fingern. Es ist nicht weiter schlimm, aber es blutet, und die Leute pfeifen ihn aus. Wenn man nicht bei der Sache ist, bleibt die Ausbeute mager. Voller Ungeduld wartet er auf Lorenz’ Rückkehr, aber der lässt sich Zeit. Schließlich, es ist schon gegen Abend, meldet Lythande endlich bellend und schweifwedelnd, dass ihr Lieblingsmensch zurückkommt. »Wo hast du so lange gesteckt?«, fährt ihn Heinrich an. »Nicht so hastig!« Lorenz liebkost die Hündin, die an ihm hochspringt. »Erstens ist es ja ein ganzes Stück Weg, und zweitens kann man ja nicht einfach da reinplatzen und
losfragen. Man muss ja erst mal ein bisschen vertrauter werden, sich Freunde machen…« »Und? Hat es was genützt?« »Stell dir vor: Ja!«, sagt der Junge triumphierend. »Der Bruder Türhüter war ein ganz Netter. Wir haben uns gleich gut verstanden. Du, der hat auch so eine Vorliebe für Hunde wie ich – « »Lorenz! Berichte gefälligst!« »Ja doch. Es ist ganz einfach. Also der hat mir gesagt, Kreuzritter waren die ganze Zeit Gäste im Kloster. Aber nun: Alle auf dem Weg nach Meißen! Was die da alle suchen, hat er mir nicht verraten. Hat mich auch nicht interessiert. Und nun kommt’s. Einer davon hat auch einen Wagen gemietet, um bequemer zu reisen. Ob der allerdings geschielt hat, das konnte er nicht sagen. So dicht ist er wohl auch nicht rangegangen.« Er lässt sich mit einem befriedigten Schnaufer ins Gras sinken. Heinrich nickt finster. »Es ist zum Auswachsen! Wir haben fast zwei Tage hier in der Gegend vertrödelt. Ich hätte mir sagen müssen, dass er auf alle Fälle nach Meißen geht. Und bestimmt schleppt er Lucia mit. Vielleicht trifft er da auch seinen Auftraggeber. Den Kinderkäufer, verstehst du? Wenn so viele Menschen zusammenkommen, fällt der Einzelne weniger auf. Da kann man leicht krumme Geschäfte machen. Außerdem – dieser Brief!« Er sieht mit großen Augen vor sich hin, schlägt sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn. »Lorenz, ich bin ein ausgemachter Trottel!« »Wenn du meinst!«, sagt Lorenz und grinst. »Diese jungen Katzen, die der Stadtkommandant dem Herrn Dordogne anbietet – natürlich sind das Kinder! Andere Kinder, wer weiß woher! Das sind alte Geschäftsfreunde! Das sind – das sind zwei Verbrecher. Kinderhändler.« »Na, wenn die sozusagen Meister ihres Fachs sind – da wird es ja wohl nicht ganz einfach werden, unsere Kleine da
rauszuholen!«, bemerkt Lorenz. »Wie ich dich kenne, wirst du bestimmt heute noch aufbrechen wollen, oder?« Er verzieht das Gesicht. »Dabei tun mir die Füße weh.« Heinrich geht gar nicht darauf ein, packt nur ihre Sachen zusammen. –
Schon am nächsten Tag sind sie nicht mehr allein auf der Straße. Je näher sie der Stadt kommen, umso mehr Leute sind unterwegs. Es ist wie ein Sog. Händler mit großen, doppelt bespannten Planwagen, Bauern mit Ochsenkarren, und jede Menge fahrendes Volk, zu Fuß, beritten und auf Fuhrwerken. Feuerschlucker, Jongleure und Musikanten, Steinschneider und Seiltänzer, Kräuterweiblein und leichte Mädchen, Wahrsager und Leute mit Monstern wie dreiköpfigen Kälbern oder Kindern mit sechs Fingern an jeder Hand. Alle wollen hier Geld verdienen. Schließlich dauert der Markt eine ganze Woche. Eine halbe Tagereise vor dem Ziel sind die Straßen dann hoffnungslos verstopft. Große Wagen, bespannt mit vier oder sechs schweren Pferden, quälen sich durch die tief ausgefahrenen Radspuren, bis zum Zusammenbrechen beladen mit Steinquadern und meterlangen Kanthölzern. Die Fuhrleute fluchen über das Lumpengesindel auf der Straße und schlagen auf Mensch und Tier ein. In der Stadt und vor allem am Bischofssitz wird gebaut. Feste Häuser für Bürgersleute, eine Stadtkirche und eine riesige Basilika auf dem Burgberg. Und wenn sie geglaubt haben, irgendwann Burg und Kirche auf ihrem Felsen über dem Strom erblicken zu können – da haben sie sich geirrt. Sie sehen nichts als eine riesige graue Staubwolke am Horizont. Das erste Mal seit langem sind sie froh, weder Fuhrwerk noch Lasttier zu haben. Die würden das Fortkommen hier nur
erschweren. Lorenz fragt die Bauern nach Seitenpfaden aus, und die Leute beschreiben dem hübschen Jungen bereitwillig, wie man über Stiegen und Pfade, quer durch Weinberge und an Feldrainen entlang auch zur Stadt gelangt. An der großen Holzbrücke, die über den Strom zur Stadt führt, sind sie dadurch eher als die anderen – ein zerbrochener Wagen mit einer Ladung Steinen hat den Verkehr vollends zum Erliegen gebracht. Der Tag ist heiß und staubig. Sie atmen auf, als sie das schattige Tor erreichen. Die Stadtbüttel, die Pike in der Hand, gucken sich gelangweilt an, was da hereinströmt. Die schwarzgelben Wappen mit dem grünen Blätterkranz auf ihren Überwürfen erinnern Heinrich an das Schreiben des Meißner Stadthauptmanns an Dordogne. Das trug auch dieses Siegel. »Süße junge Katzen«. Heinrich schüttelt es. Durchs Tor führt eine enge, düstere Gasse geradenwegs auf den Markt zu. Es stinkt nach Abfällen und Urin, der Boden ist so schlammig wie ein Schweinekoben nach dem Regen. »So sieht eine Stadt aus?« Lorenz ist entgeistert. »Es wird ja vielleicht noch besser«, tröstet ihn Heinrich. Tatsächlich weitet sich die Gasse, gibt den Blick frei auf den Marktplatz mit stattlichen, bunt bemalten Fachwerkhäusern und gleich zwei Kirchen, ein paar Linden stehn da auch und ein Brunnen rauscht. Der Brunnen zieht sie magisch an. Sie stillen ihren Durst und waschen sich Gesicht und Arme. Überall hämmert und klopft es. Händler bauen ihre Gerüste auf, der Zahnbrecher schlägt bereits die Trommel und verkündet lauthals, dass er Zähne nahezu schmerzlos zieht, und ein paar Bäuerinnen streiten sich um den Platz direkt neben der Kirche – jede will zuerst da gewesen sein. Alles ist voller Staub und Krach. »Und nun?«
»Es gibt zwei Dinge zugleich zu tun«, sagt Heinrich bestimmt. »Erstens: Dordogne finden und damit Lucia.« »Lass mich raten: Zweitens, deinen Meister finden.« »Wir finden ihn nicht. Er findet uns«, erwidert Heinrich. »Wie das?« »Indem wir hier auf dem Marktplatz eine Plattform aufschlagen und unsre Künste vorzeigen, und zwar so gut, dass wir Stadtgespräch werden.« »Du wirst wieder auf mich schießen?« »Ich seh niemand anderen, der zur Verfügung steht«, sagt Heinrich grimmig. »Zweitens ist: Wir müssen aufs Rathaus und vom Stadtvogt die Genehmigung erbitten, zu spielen. Das kostet. Und dann brauchen wir Fässer, Pfosten und Bohlen und –« »Wer soll das bezahlen?« »Das hab ich schon«, erklärt Heinrich. »Das wurde aufgespart.« Lorenz zieht eine Grimasse. »Respekt! Du mit deinem Weitblick. Und dafür mussten wir Sauerampfer fressen und – « »Halt den Mund.« Den Ton kennt der Junge. Kann sich nicht verkneifen, noch »Basta, ragazzo« zu murmeln und dafür einen eisigen Blick zu kassieren. »Und wenn wir im Stadthaus sind, können wir gleich – « » – die Ohren und Augen aufmachen, ob wir was über diesen ›Katzenverkäufer‹ rauskriegen! Einverstanden! Wolf, weißt du was? Wir gewinnen Zeit, wenn wir uns trennen! Überlass das im Stadthaus mir! Lass mich mit den Leuten verhandeln. Ich tu das gern. Geh du und sieh dich ein bisschen um, ja?« Tatsache ist: Lorenz sieht, wie der große Bursche mit dem verhüllten Gesicht von den Leuten angestarrt wird, als wäre er nicht geheuer. Und die Kunst des Bittens hat der auch nicht gelernt.
»Ein guter Einfall!« Heinrich nickt. »Wie du willst. Ich werd mich inzwischen nach Dordogne umsehen.« Wortlos streckt Lorenz die Hand aus, und Heinrich gibt ihm den Geldbeutel. Der Junge stößt einen anerkennenden Pfiff aus. »Meine Güte, waren wir sparsam!« Er fährt sich mit der Hand durch die Locken, zieht sein Wams straff und macht sich auf zum Rathaus. – Die ganze Stadt und die Burg da oben sind eine einzige Baustelle. Überall stinkt es nach dem Ochsenblut, das mit Quark zu Mörtel vermischt wird, überall steigt einem Steinstaub in die Nase, wird das Ohr betäubt vom Geschrei der Bauleute, dem Rumpeln der Flaschenzüge, dem Donnern der abladenden Karren. Das ist keiner von ihnen gewöhnt. Schließlich hat sie ihre Wanderschaft meist über die kleinen Dörfer geführt. Heinrich sucht Ruhe. Die Kirche Unsrer Lieben Frauen ist gleich am Markt. Er stößt eine Seitentür auf. Da drin ist es kühl und still. Kaum Betende zu dieser Tageszeit. Nur irgendwo ein einförmiges Murmeln. Er beugt das Knie vorm Altar. Spricht ein kurzes Gebet. Gott, lass uns das Kind wiederfinden. – Gleich neben der Liebfrauenkirche liegt das Hospital von Sankt Laurentius. Heinrich betritt den Innenhof – und glaubt seinen Augen nicht zu trauen: Es wimmelt von Männern in Kettenhemden, gegürtet mit großen Schwertern, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz über der Schulter. Einige der Herren sitzen bei Wein und Würfeln, ihre prahlerischen Umhänge haben sie abgeworfen mitsamt ihren Waffen und bei der Hitze ist ihnen der Wein wohl schon ziemlich zu Kopf gestiegen, denn sie lärmen und randalieren. Fast hätte Heinrich einen Fluch ausgestoßen. Wie sollen sie unter denen allen ihren »Oger« finden? Soll er seinen Namen ausrufen lassen oder alle bitten, die vielleicht immer noch den Helm mit dem Nasenschutz
tragen, ihn abzunehmen, damit er überprüfen kann, ob einer von ihnen schielt? Und selbst wenn er einen Verdächtigen entdecken sollte – wie kann er ihn überführen bei dieser Übermacht von hochmütigen Rittern? Und wie Lucia finden? Er wendet sich an ein kräftiges Schankmädchen, das schwitzend vier große Weinkrüge vor der Brust stemmt. »Was machen alle diese Herren hier?« »Frag ich mich auch«, erwidert die. »Eigentlich sollten sie oben sein.« Was auch immer »oben« sein mag – Heinrich fragt erst einmal: »Warum?« »Ich glaube, Generalversammlung der Templer in Germanien nennt sich das!«, stöhnt das Mädchen unter ihrer Last. »Hau ab, stör mich nicht. Ich muss bedienen. Die haben keine besonders guten Umgangsformen, diese Ritter!« Entmutigt begibt er sich zurück auf den Marktplatz.
Lorenz ist bereits eifrig beschäftigt mit der Errichtung ihrer Spielstätte; er hat ein paar Zimmerleute verpflichtet, denen er Anweisungen gibt. Er hat einen Draht zu den Leuten. Als er Heinrich sieht, springt er hastig von dem Podest herunter und eilt ihm entgegen. Dabei wischt er sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Es ist glühend heiß. »Neuigkeiten, Wolf! Du wirst es kaum glauben.« Er zieht ihn in den Schatten der Linden, die den Marktplatz umstehen. »Die Kinder sind da! Ich habe sie selbst gesehen. Sie müssen uns überholt haben, während der zwei Tage, die wir damit vertrödelt haben, die Umgebung nach diesem Weißmantel abzusuchen. Sie sind – « »Wo sind sie?« »Das ist es ja. Sie sind im Stadthaus, im Kerker. Und – sie sollen verkauft werden.«
Wir haben ihn!
»Erzähl der Reihe nach«, sagt Heinrich. Seine Stimme klingt heiser vor Aufregung. Lorenz nickt und schluckt. »Also ich war beim Stadtschreiber wegen der Genehmigung für unser Gaukelspiel. Das ging ganz schnell – wenn man nicht knauserig ist.« Er grinst flüchtig und macht die Bewegung des Geldzählens zwischen Daumen und Zeigefinger. »Und als ich gerade die Treppe wieder herunterging, hörte ich ein Gejammer aus einem Seitengang – Stimmen von Kindern. Zwei Stadtbüttel trieben sie nach unten ins Gewölbe. Es sind vielleicht acht oder neun, Wolf. Sie sahen schrecklich aus. Dreckig und – und sie weinten.« »Weiter. Red weiter.« »Erst hab ich einen anderen von der Stadtwache gefragt, was das auf sich hat. Der sagt: Die Kinder hätten gestohlen auf dem Markt, und so hat man sie eingefangen und eigentlich sollten sie ausgepeitscht und dann aus den Stadttoren gejagt werden. Aber der Herr Stadthauptmann selber in seiner großen Güte hat es anders bestimmt. Nämlich, es hat sich jemand gefunden, der macht aus dem Unglück ein Glück für die Stadt. Dieser Jemand wird Mitleid üben und diese Kinder in ein Kloster bringen, wo sie wieder zu Gott hingeführt werden, fort von den bösen Taten, die sie jetzt tun. Und er gibt ihnen für jedes Kind, das die Stadt ihm liefert – liefern, hat der gesagt, Wolf – ein gutes Stück Geld für die Stadtkasse. Und die Stadtväter sind froh, denn so tun sie ein gutes Werk und kassieren außerdem noch.« »Und dann?« »Was dann?«
»Du hast gesagt. ›Erst‹. Was war dann?« »Dann kam der Schreiber die Treppe herunter. Aber der erkannte mich nicht wieder. Da kommen bestimmt Dutzende solche Bittsteller den Tag über, da guckt der gar nicht richtig hin. Und die Tür ging auf und ein Mann mit grauem Bart und einem ziemlichen Bauch kam heraus, und alles verbeugte sich.« »Der Stadthauptmann?«, fragt Heinrich. »Da kannst du sicher sein. Ich stand direkt daneben, Wolf, aber für die war ich Luft. Ist manchmal auch ganz schön, ein Niemand zu sein. Jedenfalls sagte der Hauptmann oder was er ist, leise zu dem Schreiber: ›Hast du sie sicher, diese Ungewaschenen?‹ und der: ›Hab sie zu den anderen ins Stadtgefängnis getan. Sie werden es ja wohl aushalten miteinander, bis es so weit ist.‹ Und der wieder: ›Na, so viel besser haben unsere es ja bisher auch nicht gehabt im Waisenhaus.‹ Und dann zogen sie gemeinsam ab.« »Gott hat dich zur rechten Stunde in dies Stadthaus geführt«, sagt Heinrich und legt Lorenz den Arm um die Schultern. »Dieser Schurke von Stadthauptmann verkauft nicht nur die Kinder vom Kreuzzug, er legt gleich noch was drauf und liefert dazu seine eigenen Stadtkinder aus! Dein Mann von der Wache – hat er den Namen von dem Käufer genannt, der dies Angebot gemacht hat?« Lorenz schüttelt den Kopf. »Den hat er nicht gewusst. Aber ein Kreuzritter soll er sein. Bloß, der wohnt nicht in der Stadt. Der ist ein hohes Tier. Hat zu tun mit dieser Versammlung der Templer, die beim Bischof stattfindet.« »Ich weiß«, sagt Heinrich knapp. »Einen Konvent nennt man so etwas.« »Von mir aus! Und er wohnt in einer ›Freiheit‹. Ich weiß nicht, was das ist.«
Heinrich reckt sich. »Also das werd ich binnen der nächsten Viertelstunde rauskriegen«, verkündet er. »Ich geh noch mal zum Hof des Laurentius-Hospitals. Da sitzen genug von den Herren rum. Einer wird mir Auskunft geben. Kümmere du dich weiter um das Spielgerüst.« Er kommt schon nach ein paar Augenblicken zurück. Nimmt sich im Schatten der Bäume kurz das Kopftuch ab und wischt sich damit das Gesicht trocken. »Was für ein Tag!« Lorenz sieht ihn fragend an. Heinrich nickt. »Die Freiheit von St. Afra ist ein Chorherrenstift oben auf dem Berg, beim Bischofssitz. Sie nennen es ›Freiheit‹, weil es nicht der Gerichtsbarkeit der Stadt untersteht. Bürger dürfen da nicht siedeln. Ach, und Gaukler nicht auftreten«, fügt er grimmig hinzu. Wirft den Kopf in den Nacken. »Da, die Stiegen hoch – da ist diese ›Freiheit‹. Da müssen wir hin.« »Aber du sagst doch, dass Gaukler…« »Lorenz! Es geht nicht anders.« Beide sehen sie hoch zum Bischofssitz. Blauschwarze Gewitterwolken ballen sich hinter den Türmen des Doms. Die Schwüle ist inzwischen unerträglich. Der Marktplatz hat sich geleert in Erwartung des Gewitters, die Händler haben Planen über ihre Stände gezogen, und die Handwerker, die an dem Spielgerüst gearbeitet haben, ziehen sich in den Schatten zurück und machen ihre Mittagspause mit Bier und Brot. Heinrich und Lorenz scheinen auf einmal allein zu sein in der brütenden Sonnenglut. »Wir haben ihn«, sagt Heinrich leise und leidenschaftlich. »Und wenn wir ihn haben, finden wir auch unser Mädchen. Herr de Dordogne, wir kommen!« »Was wird mit unserer Bühne?« »Die rennt uns nicht weg.« »Aber was hast du vor? Wie willst du es anstellen?«
»Wenn kein Bürger und kein rechtloser Gaukler in dies Stift kann – dann muss eben ein Ritter hineingehen.« »Ich versteh dich nicht.« »Im Hospital von St. Laurentius wimmelt es nur so von Kreuzfahrern, und die meisten haben weder ihre Mäntel noch ihre Schwerter bei der Hand, sondern saufen, was das Zeug hält und achten auf gar nichts. Ich geh noch einmal rein.« »Wolf, das kann nicht dein Ernst sein. Du meinst, du willst so eine Montur – stehlen?« »Richtig, eigentlich sollte ich dich schicken. Aufs Stehlen verstehst du dich ja besser als ich«, sagt Heinrich. Seine Augen glitzern vor Ungeduld und Zorn. »Was bist du nur für ein Mensch«, murmelt der Junge. Heinrich bekreuzigt sich und schlüpft durch das Tor des Laurentius-Hospitals. Ein jäher Donnerschlag scheint die Grundfesten der Erde zu erschüttern, und ein wilder Windstoß fegt über den Platz. Er treibt die letzten Marktbesucher in den Schutz der Schänken und Wirtshäuser. Die ersten Regentropfen fallen, schwer und zögernd. Lorenz verkriecht sich mit Lythande unter den Schutz ihres Spielgerüsts, und seine Hündin schmiegt sich an ihn. Lythande hat Angst vorm Gewitter. Lorenz streichelt ihre bebenden Flanken und murmelt: »Alles wird gut!« Ob er dem Tier Mut zuspricht oder sich, weiß er selbst nicht. »He, wo seid ihr?!« Heinrich muss schreien, um das Toben der Elemente zu übertönen. Lorenz verlässt den Schutz der kleinen Bühne. Vor ihm steht eine Gestalt im weiten weißen Mantel. »Gütiger Himmel – Wolf!« »Es war ganz einfach. Das nahende Gewitter hat da im Hof alles durcheinander gewirbelt, die haben ihre Tische nach drinnen getragen und ihre Weinkrüge in Sicherheit gebracht.
Ein Schwert hab ich nicht erwischt. Aber den Gurt. Mein Dolchmesser tut es auch.« Lorenz sieht zu, wie der andere den Schwertgurt umschnallt. »Hast du nie Angst, sag mal?«, fragt er leise. »Doch. Aber meine Wut ist allemal größer.« Er reißt sich das Tuch vom Kopf, sein wild gelocktes schwarzes Haar weht im Wind. Ein Blitz zerteilt den Himmel, der Donner folgt augenblicklich. Und nun öffnet der Himmel seine Schleusen. Der Regen stürzt auf die geduckt daliegende Stadt herunter wie das Wasser der Sintflut. Es ist fast finster, man sieht kaum die Hand vor Augen. »Komm! Besseres Wetter können wir gar nicht erwischen!« Er schiebt ihre Mantelsäcke tiefer unter ihr Spielgerüst. »Soll Lythande mit?« »Natürlich. Sie wird uns behilflich sein.« Lorenz lockt die Hündin unter den schützenden Brettern vor. Lythande kommt mit eingeklemmtem Schweif angekrochen. Durch den strömenden Regen laufen sie auf die Stufen zu, die zur »Freiheit von St. Afra« führen. »Was soll nun werden, wie willst du es machen?«, überschreit Lorenz das Toben der Elemente. »Wir gehn einfach da hoch und klopfen an!«, brüllt Heinrich zurück. Sie erreichen die Treppe. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, stürmt vorwärts. »Wolf! Aber Wolf… So warte doch!« Heinrich bleibt ungeduldig an einer Treppenkehre stehen, wartet auf ihn. »Wir sagen, dass uns dies Gewitter überrascht hat«, erklärt er schwer atmend. »Unsere Pferde sind uns durchgegangen. Wir haben unsere Truppe, mit der wir unterwegs sind, verloren und bitten nunmehr um Quartier in der Freiheit zu St. Afra. Ich bin Junker Heinrich von Wenningen. Du mein Schildknappe Lorenz.«
Lorenz sieht ihn mit offenem Mund an. »So, wie wir aussehen?« »Das schieben wir aufs Gewitter.« »Und wenn dieser Kerl, dieser Dordogne da ist – und wenn der dich erkennt…« »Darum hab ich das Tuch abgemacht. Der kennt nur einen verhüllten Jungen, den er für einen Aussätzigen hält. Ich hingegen bin ein Ritter. Und nun genug geschwatzt. Vorwärts!«
In besserer Gesellschaft
Lorenz zuckt zusammen. Das schwere Tor schnappt hinter ihnen zu wie eine Falle. »Na, Glückwunsch!«, murmelt er leise und betrachtet – mehr als beeindruckt – die mehrstöckige Galerie, die sich um das Viereck eines großen verregneten Innenhofs zieht. Durchnässte Figuren, wohin man blickt. Über dem Geländer der Galerien hängen zahlreiche weiße Mäntel, vor den Türen der Zimmer, die überall von der Galerie abgehen, liegen Kettenpanzer, Schuhe, Schwertgurte und Schwerter. Im Hintergrund befindet sich ein erleuchteter Saal mit langen Tischen und Bänken. Das Stimmgewirr von dort übertönt sogar das Rauschen des Regens. Die Herren scheinen gerade zu tafeln – vielleicht tafeln sie ja auch ständig. »Komm, Lorenz! Träum nicht, du Lümmel!« Die herrische Stimme gehört Wolf – oder besser – wie war das doch? – Heinrich von Wenningen. Lorenz zuckt zusammen. Offenbar hat er was verpasst. Der hakennasige Vogt, der hier den Hausherrn spielt und mit dem Wolf sich unterhalten hatte, geht diensteifrig voraus. Er weist den neuen Gästen persönlich eine Kammer zu. Wie’s aussieht, klappt es mit der Rittermasche. Das Quartier ist eng und nicht sehr bequem, aber neben dem Wasserkrug liegen frische Handtücher. Sie trocknen sich notdürftig. »Wolf, das ist ja riesig hier! Wie sollen wir hier wen finden?« Lorenz rubbelt seiner Hündin das Fell trocken. »Wir müssen uns getrennt auf die Suche machen«, erklärt Heinrich hastig. »Du guckst dich im Haus um. Dieser Vogt
sagt, es gibt eine Tafel für die Gäste. Da werd ich hingehen. Aber erst besorg mir noch ein paar Sporen.« Lorenz starrt ihn an. »Sporen? Wozu denn Sporen?« »Hast du nicht gehört, was ich dem Vogt vorhin erzählt habe? Uns sind doch im Gewitter die Pferde durchgegangen. Meinst du, unsereins reitet ohne Sporen?« Der Junge zuckt die Achseln. »Es liegen ja genug rum da draußen. Ein Schwert kann ich dir auch mitbringen, wenn du möchtest. Kein Problem. Aber eins versteh ich nicht – « Heinrich verdreht ungeduldig die Augen. »Was denn nun schon wieder?« »Wieso glauben die dir einfach so, dass du von Adel bist? Ich meine, wir sehen aus wie die Wanderheuschrecken.« »Es kommt einzig darauf an, wie man auftritt«, sagt Heinrich hochmütig. »Hm. Und wonach suchen wir genau?« »Stell dich nicht so an. Nach Lucia natürlich. Aber ich denke, die kriegen wir, wenn wir Dordogne haben.« –
Es hat keinen Zweck, sich reinzustehlen in den Festsaal. Lieber gleich Aufsehen erregen. Dann hat man’s hinter sich. Blicke, Getuschel, Aufmerksamkeit ist Heinrich gewohnt. Sie gelten dem vernarbten Gesicht des Neuankömmlings, der da sporenrasselnd und in selbstbewusster Haltung den Speisesaal betritt. Seine Hässlichkeit, seine Größe, sein hochmütiger Gesichtsausdruck lenken davon ab, dass er wenig standesgemäß gekleidet ist. Aber Schwert und Sporen und Mantel machen nun mal den Ritter aus. Einer der Saaldiener weist Heinrich einen Platz zu. Sein Gegenüber, ein rundlicher Mann mit einer Nase, die verrät, dass er gern und viel Wein trinkt, grüßt freundlich und empfiehlt, den Rehbraten zu bestellen.
»Seid Ihr ein Stammgast?«, fragt Heinrich, während er der Empfehlung folgt. Der Herr bestätigt mit einem gewissen Stolz, ja, er sei hier Stammgast und kenne sich bestens aus. Heinrich lässt die Blicke schweifen. Der schielende Templer, nach dem er sucht, ist zumindest nicht in Sichtweite. Seine Aufmerksamkeit erregt ein dunkelbrauner, fremdartig aussehender Mann aus dem Morgenland, ein Sarazene mit großen Goldohrringen und einem Kopftuch ähnlich dem, das sich Heinrich gern umbindet. Er sitzt an einem Nebentisch etwas abseits und isst Extrakost. Der Vogt gibt zwei Mägden Anweisung, mit großen Servierbrettern voller Speisen und Getränke die Stiege hinauf zu den Schlafräumen zu gehen. Es gibt also noch mehr Gäste im Haus. Gäste, die es vorziehen, nicht an der Tafel teilzunehmen. »Man kann sich doch sicher auch das Essen aufs Quartier bringen lassen?«, fragt Heinrich seinen Tischgenossen. »Natürlich kann man. Es gibt Gäste hier, die tun das immer.« »Entschuldigt meine Neugier!«, sagt Heinrich. »Aber der Herr dort drüben – was ist das für ein Mann?« »Ein christlicher Sarazene!«, betont der »Stammgast«. »Ein von seinem Unglauben bekehrter Heide. Ein sehr edler Mann. Vermittler zwischen den Welten sozusagen, zwischen Morgenland und Abendland.« Der Schankbursche kommt mit dem Rehbraten, mit Brotfladen, Brett, Messer und einem Krug warmem Most. Heinrich nimmt zerstreut ein paar Bissen. Eigentlich müsste er sich heißhungrig auf die Speisen stürzen, sie haben ja seit ihrem Einzug in die Stadt nichts gegessen – stattdessen legt er langsam das Messer auf das Brett zurück. Vermittler zwischen den Welten? So kann man es auch nennen. Der »Abnehmer« der »Ware« von Dordogne – dem Sklavenhändler!
Das Blut schießt Heinrich zu Kopfe. Langsam! Besonnen! Jetzt bloß nichts Falsches machen!, befiehlt er sich selbst. Es ist wie bei der Jagd. Wenn die Beute merkt, dass man ihr auf der Spur ist, macht sie sich aus dem Staub. Wobei ja noch gar nicht heraus ist, wer hier Jäger und wer Gejagter ist in diesem Spiel… Ich jongliere mit heißem Eisen. Heinrich schiebt seinen Stuhl zurück, steht auf. »Entschuldigt mich. Ich muss nachsehen, wo mein Page bleibt. Ein unzuverlässiger Schlingel. Macht bestimmt mal wieder irgendeinem Küchenmädchen schöne Augen…« Er verbeugt sich knapp und geht. Der Regen strömt noch immer vom Himmel. Heinrich hastet die Treppe zur Galerie hoch. Wo ist Lorenz? Er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift – den so genannten Geierpfiff, mit dem der Ruf des Lämmergeiers nachgemacht wird. Sie haben Lythande so erzogen, das sie bei diesem Pfiff unter keinen Umständen bellt – im Gegensatz zu allen anderen Pfiffen. Es ist ein Bestandteil der Spielkünste, die Lorenz mit der Hündin vorführt. Und auch dieses Mal funktioniert es. Die Hündin verrät sich nicht. Dafür schießt Lorenz um die Ecke, als hätte er nur drauf gewartet. »Hast du irgendetwas herausgekriegt?«, fragt Heinrich ihn hastig. »Das Haus ist der reinste Irrgarten, Wolf. Überall Stiegen und Treppchen, Durchgänge und Anbauten.« »Und?« »Erst war ich ein bisschen mit Lythande in den Gängen, aber sie hat keine Witterung von Lucia aufgenommen, jedenfalls in diesem Teil des Hauses scheint nichts zu sein. Ein paar Türen sind mit großen Vorhängeschlössern gesichert, die kriegt man nicht mal mit ‘ner Brechstange auf. Ich hab gehorcht, aber es ist alles ganz still. Ich hab auch schon gepfiffen. Den
Geierpfiff, wie du. Ich meine, den kennt Lucia doch. Da würde sie doch bestimmt antworten. Und wie die kreischen kann – die würde man ja bis hier auf den Hof raus hören!« »Vielleicht haben sie ihr einen Knebel in den Mund gesteckt«, sagt Heinrich düster. »Einen Knebel?« Lorenz reißt die Augen weit auf. »Aber das ist ja… Wolf, ich hab mir bisher nicht ausgemalt, wie der die Kleine gefangen hält…« »Ich schon. Such auf alle Fälle weiter. Dordogne ist nicht im Speisesaal. Der lässt sich das Essen aufs Zimmer servieren. Mach ruhig ein bisschen Krach. Ich geh zurück in den Speisesaal. Da gibt es einen Sarazenen.« »Einen was?« »Ein Maure, ein Araber. Ein getaufter Heide. Dunkle Haut. Goldne Ohrringe. Lorenz, das muss er sein. Der Sklavenhändler, an den der ›Oger‹ seine Ware verkauft.« Lorenz zieht die Luft mit einem Zischen ein. »Verdammt, Wolf, wir sind dicht dran. Für meinen Geschmack ein bisschen zu dicht… Was hast du vor?« »Ich will mit dem reden. Wenn diese Schurken begreifen, dass wir etwas über sie wissen, können wir sie vielleicht zwingen, uns Lucia rauszurücken.« »Die gehn doch bestimmt über Leichen! Meine Güte, Wolf, sei bloß vorsichtig!« »Und du gib mir keine Ratschläge.« »Irgendwie hab ich das Gefühl, deine Ritterrolle steigt dir zu Kopf.« »Halt den Mund. Such weiter.« Lorenz zuckt die Achseln. »Na, den Ton kenn ich ja.« – Der »Stammgast« von vorhin hat sich verzogen, aber der Sarazene sitzt noch an seinem Tisch. Heinrich tritt an den Fremden heran. »Verzeiht, Herr, sprecht Ihr unsere Sprache?«
Die großen dunklen Augen sind undurchdringlich. Sie mustern ihn von oben bis unten. Dann eine Handbewegung. Die wortlose Aufforderung, Platz zu nehmen. »Entschuldigt meine Neugier«, redet Heinrich weiter, »aber seid Ihr hier, den Markt zu besuchen?« Der Sarazene nickt. Sagt immer noch kein Wort. »Bestimmt seid Ihr auf der Suche nach ganz besonderen Kostbarkeiten, die Ihr mit in Eure Heimat nehmen wollt. Dinge, die es nur hier im Norden gibt.« Endlich tut der fremdländische Herr den Mund auf. »Es gibt sie überall«, sagt er. Seine Stimme ist weich und melodisch, und er spricht ohne jeden Akzent. »Aber ein wahrer Kaufmann muss darauf achten, wo er sie gut und preiswert bekommt.« »Ihr seid ein Kaufmann, Herr? In St. Afra…« »… sind nur Adlige willkommen. Aber in meiner Heimat kann man auch ein ritterlicher Kaufmann sein. So wie ich ein Christ bin wie Ihr und trotzdem für mich speise, weil ich eure Küche nicht mag. Vieles geht zusammen.« Der Mann ist glatt wie das Öl, das er gerade über sein Brot gießt. Wie ihn herauslocken? Heinrich beschließt, sich vorzuwagen. »Nach welcher Ware sucht Ihr, Herr? Als Einheimischer kann ich vielleicht behilflich sein?« »Ich habe meine Handelspartner, danke.« Heinrich kommt seine eigene Stimme fremd vor. »Falls es um junge Katzen geht – ich könnte vielleicht bessere Preise machen als Herr de Dordogne.« Ganz, ganz langsam legt der Sarazene sein Brotstück aus der Hand. Ganz langsam hebt er die Lider. Verzieht sein Gesicht zu einem Lächeln. »Ich komme mit Herrn de Dordogne bestens aus«, sagt er. »Euer Angebot ist für mich unwichtig. Außer Ihr seid bereit, Euch selbst als Draufgabe zu verkaufen. Monster stehn in meiner Heimat sehr hoch im Kurs, Ihr versteht?«
Das eben noch samtweiche Lächeln ist jetzt eine höhnische Grimasse. Heinrich rauscht das Blut in den Ohren. Er hält seine Hände unterm Tisch, um zu verbergen, dass er sie nicht unter Kontrolle hat. Diesem Schuft an den Kragen gehn! Ihn schütteln, dass ihm die Knochen knacken! Ja und ja, eigentlich hat er ja nun alles zugegeben. Er kennt Dordogne, er macht diese Geschäfte mit ihm – aber was hilft es ihnen weiter? Dies höhnische Grinsen. Der ist seiner Sache so sicher… »Hütet Euch«, sagt Heinrich mit erstickter Stimme. »Es gibt eine göttliche Gerechtigkeit.« Nun ist das Lächeln wieder samtweich. »Zweifellos gibt es die. Aber was hat die mit mir zu tun?« Heinrich weiß nicht, wie er aus dem Saal gekommen ist. Der Regen hat aufgehört, und die Luft riecht würzig nach nasser Erde. So werden sie Lucia bestimmt nicht frei bekommen. Wo bleibt Lorenz? Er drückt sich in den Schatten und wartet.
Friedlich wie die Tauben
Die Gänge und Galerien liegen wie ausgestorben. Die adligen Gäste sind offenbar alle noch beim Speisen oder haben sich zurückgezogen. Lorenz pfeift noch zwei-, dreimal den Geierpfiff. Nichts. Das Klappern von Holzschuhen. Lorenz sucht Deckung. Eine junge Magd mit hoch aufgeschürzten Röcken kommt die Stiege runter. Sie schleppt einen schweren Korb mit Bierkrügen und Broten. Vorsichtig watet sie durch den aufgeweichten Innenhof, geht durch einen Torweg. Irgendwohin muss sie’s ja schleppen. Irgendwem bringt sie zu essen. Also hinterher. Lorenz huscht wie ein Schatten über den Hof. Der Regen lässt etwas nach. Aber der Tag bleibt weiter trübe und grau. Nicht mehr lange und es ist sowieso dunkel. Wie es dann mit der Suche weitergehn soll, weiß der Himmel. Das also ist der zweite Innenhof mit den Ställen und den Quartieren der Reitknechte. Das Mädchen wird da drinnen mit Gejohl empfangen. Das ist wohl wieder nichts. Die freuen sich über ihr Abendessen und ihr Bier und über das Mädchen, na ja. Aber ein bisschen Zuhören kann nichts schaden. Lorenz schlüpft durch die offen stehende Stalltür. Nur eine dünne Lehmwand trennt ihn von dem Raum, wo die Stallburschen sind. Er versteht jedes Wort von da drüben. »Morgen sind wir unterwegs«, hört er. Eine helle, aufdringliche Stimme. »Was, morgen schon? Der Markt fängt doch gerade erst an? Warum hat’s dein Herr denn so eilig?« Eine tiefere Stimme.
»Wir haben’s immer eilig.« Die helle Stimme. »Dordogne erledigt seine Geschäfte – und weg ist er.« Dordogne! Lorenz beißt sich auf die Fingerknöchel, um nicht aufzuschreien. Da ist er ja an die Richtigen gekommen! »Möcht wissen, was für Geschäfte das sind!« Gelächter. Und die helle Stimme: »Wer nicht zu viel weiß, lebt länger.« Lorenz bekreuzigt sich. Ihm ist ungemütlich. Da hinter der Wand schlürfen sie ihr Bier und schmatzen und kauen. Dann sagt das Mädchen: »Vergesst nicht: Ihr sollt der da oben zu trinken bringen!« Jemand stöhnt. Dann die helle Stimme: »Das ist vielleicht ‘ne Aufgabe! Wisst ihr, wie die kratzt?« Die anderen lachen. Dann hört Lorenz, wie da drüben ein Krug abgesetzt wird. Ein Stuhl schurrt, und die helle Stimme sagt. »Na los, bringen wir’s hinter uns. Hilfst du mir, Götz?« »Wenn’s denn sein muss!« Von seinem Platz im Pferdestall sieht Heinrich, dass zwei junge Männer in der Kleidung der Pferdeknechte den Hof überqueren. Dann kommen sie mit einer Leiter zurück. Verschwinden in einer Nebentür. Heinrich hört sie gleich neben dem Pferdestall Treppen steigen. Vorsichtig schleicht er sich an die Tür. Das Mädchen mit dem Korb steht so dicht neben ihm, dass er es anfassen könnte. Es bemerkt ihn nicht, guckt den beiden hinterher. Der Taubenschlag direkt über dem Stall! Dass sie da nicht eher drauf gekommen sind! Warum soll der Herr Oger seine Beute bei sich in seinem Zimmer aufbewahren? Die versteckt er bei den Knechten. Dann hört er einen unterdrückten Fluch und dann ein Kreischen, das ihm sehr bekannt vorkommt… »Verdammt auch!«
Der Wasserschlauch fliegt irgendwo von oben herunter. Die Magd kichert. Nach einer Weile hört er die beiden wieder herunterpoltern, und sie tauchen auf mit ihrer Leiter. »Diese verdammte kleine Wildkatze! Schon wieder hat sie mich erwischt! Und außerdem: Sowie man ihr den Mund freimacht – na, ihr habt ja gehört! Soll sie doch heute Nacht dursten! Morgen geht’s sowieso weiter…« Er betrachtet missmutig seinen Arm mit den frischen Kratzspuren. Die Magd lacht. »Schade, dass du morgen abreist, Fabian. War immer ein Spaß mit der da oben.« »Schließt die Leiter gut weg! Da sparen wir die Wache!« »Hat sie wieder den Knebel im Mund?« »Da kannst du aber Gift drauf nehmen…« Die Stimmen entfernen sich. Vorsichtig guckt sich Lorenz um. Die Luft ist rein. In langen Sprüngen rennt er zurück zum Haupthaus. Heinrich tritt ihm in den Weg. »Neuigkeiten! Ich weiß, wo Lucia ist!« Lorenz berichtet atemlos, was er gesehen und gehört hat. Heinrich atmet tief durch. »Sehr gut. Ich war nämlich gerade – ziemlich am Ende. Also los. Holen wir sie raus.« »Das wird nicht so einfach sein. Sie haben die Leiter mitgenommen und gut verwahrt. Das sind mindestens zehn Ellen bis da oben. Wie sollen wir da rankommen?« »Das sehen wir, wenn wir da sind. Komm. Und nimm eine Lampe, es wird dunkel.« »In Ordnung. Und du schnall diese blöden Sporen ab. Du machst einen Krach wie eine ganze Eisenkrämerei.« – Sie eilen durch die stillen Gänge wie zwei Schatten, vorsichtig, von Ecke zu Ecke. Alles scheint ruhig zu sein. Nur im Speisesaal sind die Herren Kreuzritter weiter am Trinken. Die Lampe, die Lorenz trägt, wirft unruhige Schatten auf die
Wände. Ein-, zweimal irrt er sich im Weg und erntet von Heinrich einen ungeduldigen Knuff in den Rücken. Im Gang über den Ställen, die sie schließlich entdecken, knarren die Dielen zum Erbarmen, mögen sie noch so vorsichtig auftreten. Die Stimmen der Stallknechte von unten: »He, da geht wer! Hört ihr das auch?« (Sie sind stehen geblieben.) »Ach was. Ist bestimmt der Marder, der immer hinter den Tauben her ist.« »Ein Marder? Ein Marder in Stiefeln, oder was? Also ich würd mal nachgucken, Götz.« »Warum gerade ich? Ist das meine Arbeit da oben mit der? Außerdem – soll da doch langkriechen, wer will. Was da zu holen wäre, das ist gut verwahrt.« »Stimmt.« Und Gelächter. Die Jungen schleichen weiter. Turnen die wacklige Stiege hoch zum Taubenturm. Gelangen auf die letzte Plattform. Hier enden die Treppen. Zwischen dem Einstieg in den Taubenschlag und ihnen gähnt Leere. Da oben im Dunkeln, nur wenig über ihnen, hören sie das Gurren der Tiere, das Flügelschlagen. Heinrich hebt die Finger zum Mund, pfeift gedämpft den Geierruf. Nichts regt sich außer den Vögeln. »Sie ist da, so wahr ich lebe!«, flüstert Lorenz. »Leuchte mal!« Mit erhobener Lampe suchen sie den Raum ab, der voll gestellt ist mit altem Stallgerät und ausrangiertem Hausrat. »Hier! Das dürfte uns retten!« In einer Ecke liegen, aufgewickelt zu einer Rolle, derbe lange Hanfseile, wie sie die Maurer benutzen, um ihre Gerüste zu verbinden oder Eimer und Werkmaterial aufzuziehen. »Sehr schön. Nur, wie willst du sie nach da oben kriegen? Meinst du, sie fliegen hoch und knoten sich von allein fest?« »Lampe!« Sehr wortreich ist Heinrich nicht. Er beugt sich aus der Luke, leuchtet an dem regenfeuchten Gemäuer hoch. In
gewissen Abständen ragen aus dem Steingefüge die Enden der Kanthölzer heraus, mit denen die Bauleute das Mauerwerk befestigt haben. Oben sind die Anflugluken für die Tauben, gerade groß genug für einen Menschen, und das Startbrett. Heinrich stellt die Lampe auf den Fußboden, wirft Mantel und Schwertgurt ab und beginnt, sich die Seile um den Leib zu schlingen. »Wolf! Du musst verrückt geworden sein! Willst du außen hoch?! Das ist nass und glitschig und außerdem schon zu dunkel und überhaupt – weißt du, wie tief das ist? Um Gottes willen, das kannst du nicht machen!« »Doch. Kann ich. Statt hier zu lamentieren, red lieber leise auf Lucia ein, sie kann uns hören. Sag ihr, dass ich komme. Damit sie sicher weiß, dass wir es sind.« Er bekreuzigt sich, murmelt ein kurzes Gebet und schwingt sich durch die Luke nach außen, auf das knapp vorstehende Balkenende. Lorenz steht wie gelähmt. Er schluckt. »Also Lucia«, plappert er vor sich hin, »wenn es denn gut geht, also er kommt jetzt durch die Taubenklappe herein, Wolf kommt, meine ich, und du darfst keine Angst haben, er ist es, wir sind es bloß und – « Ein dumpfer Plumps. Das Geflatter der aufgescheuchten Tiere. Dann Heinrichs Stimme oben aus der Öffnung. »So, das wäre geschafft. Ich lass jetzt das Seil herunter. Bind mir die Lampe dran. Hier sieht man nicht die Hand vor Augen.« Erleichtert tut Lorenz, was man ihm sagt. – Heinrich sieht sich um. Das Licht beleuchtet jede Menge Taubenmist, aufgeregt hin und her flatternde Vögel und in dem ganzen Durcheinander eine zwar geknebelte und an Händen und Füßen gefesselte, aber sonst quicklebendige Lucia, die ihrem Befreier mit großen glänzenden Augen entgegensieht. »Dem Himmel sei Dank, dir ist nichts zugestoßen!« Heinrich durchschneidet die Fesseln, zieht ihr den Knebel aus dem
Mund. Das Mädchen verzerrt das Gesicht gegen den Krampf in Kinnladen und Wangen. »Oger! Ha!«, erklärt sie triumphierend. »Non ho piu paura! Keine Angst mehr! Ich hab ihn gekratzt! Gebissen! Ich so und so!« Sie zeigt, wie sie mit den Krallen auf den Mann losgegangen ist, ihn gebissen hat. Sie sprüht vor Kampfgeist. Dass die Jungen sie gefunden haben, dass Heinrich die verrückteste Kletterpartie zu ihrer Befreiung unternommen hat, scheint ihr nicht weiter verwunderlich zu sein. Heinrich befestigt das Seil an einem Stützbalken. »Ich werd jetzt mit dir zusammen absteigen. Du kommst am besten auf meinen Rücken und hältst dich gut fest und – « »Nein! Ich allein! Ich machen das selber!« Sie umschlingt das Seil mit den Beinen und rutscht herunter so flink und gewandt wie eine Wildkatze. Heinrich schickt erst die Lampe herunter, bevor er selbst folgt. Lorenz und das Mädchen reden im Flüsterton auf einander ein, gestikulieren wild mit den Händen, aufgeregt. »Schluss jetzt!«, befiehlt er. »Keinen Mucks auf dem Rückweg! Niemand darf uns entdecken! Lucias Leben hängt davon ab!« Sie raffen Mantel und Waffe auf und laufen los. Die Gänge liegen wie ausgestorben. Ein einziges Mal sehen sie in einer der Galerien einen flackernden Lichtschein, der sich nähert. Sie machen sich klein hinter einem dicken Balken. Wie ein Schiff auf hoher See vorbeizieht, so schreitet, begleitet von drei Dienern mit Fackeln, der goldbehangene Sarazene vorüber, mit dem Heinrich unten im Speisesaal gesprochen hat. Wie ein Geist aus einer anderen Welt. Lucia holt tief Luft, aber Heinrich legt ihr schnell die Hand über den Mund.
Raus aus der Falle und weg!
Sie erreichen ihr Quartier ohne weitere Zwischenfälle, stürmisch begrüßt von Lythande. »Um Gottes willen, bring sie zum Schweigen!«, mahnt Heinrich Lorenz. Und zu dem Mädchen: »Der Mann eben – kanntest du den?« Lucia nickt. »Hat der mit deinem ›Oger‹ gesprochen?« »Si. Ich habe alles gehört! Alles! Unterwegs, wie sie geredet haben! Bevor sie mich taten in Columbario, zu die Tauben, alles!« Lucia gestikuliert wild durch die Gegend. »Oger verkauft sie! Alle, alle gehn in servitii, in Sklaverei zu die Mohren, zu andere. Er mich verkaufen, verkauft alle anderen Kinder! Scelerato! Wir können Oger erkennen. Ich ihn habe gekratzt! Gebissen!« »Hat er dich gesehen, dieser Sarazene da eben? Würde er dich erkennen?« »Ich glaube nicht. Ich war mit Mund zugebunden. Tuch. Kein Gesicht zu sehen. Wir jetzt gehen und zeigen mit Finger auf Oger?« »Langsam, Lucia, langsam! Erst einmal müssen wir selbst hier raus und wieder zurück in die Stadt. Also los.« Heinrich hängt den weißen Kreuzfahrermantel wieder um seine Schultern und bindet sich das Schwert um. Strafft sich, hebt das Kinn, lässt einen Blick von oben herab über die beiden gleiten. Lucia schnappt nach Luft. »Wolf – willst du Oger spielen?« Lorenz gluckst. »Nein, nur einen Ritter. Aber das macht er wirklich gut, nicht?« –
Heinrich von Wenningen, sein Page und sein Hund erscheinen am Tor in Begleitung eines dünnen Mädchens mit kurz geschnittenem rötlichen Haar, bis zur Nase eingehüllt in einen Mantel. Der Torwärter macht zunächst keine Anstalten, zu öffnen. »Was denn, Junker von Wenningen, Ihr wollt schon wieder aufbrechen?« »Mir ist zu Ohren gekommen, wo meine Truppe sich befindet«, sagt Heinrich so lässig wie möglich. »Ich habe keine Zeit zu verlieren.« »Und das da?« Der Mann zeigt auf die Gestalt im Halbmantel. »Mein Page hat sich mit diesem dünnen Ding angefreundet. Wir nehmen sie für heute Abend mit. Warum soll er nicht seinen Spaß haben?« »Wenn das eine der Mägde von den Höfen hier ist, Herr, so muss der Vogt seine Erlaubnis geben. Die können hier nicht so einfach rein und raus spazieren. Die müssen – « Er schnappt nach Luft. Die Spitze von Heinrichs Dolchmesser zielt direkt auf den Punkt oberhalb seiner Gürtelschnalle. »Das Tor auf! Ich habe keine Lust zu längeren Verhandlungen.« Der Mann ist graubleich. »Aber Herr von Wenningen!« »Das Tor auf.« Lythande knurrt. Der Wächter öffnet mit zitternden Händen den einen Torflügel. Sie sind draußen. »Puh!« Lucias Augen leuchten. »Fantastico! Du warst wie Held, Wolf!« Heinrich zuckt die Achseln. »Ich hätte vielleicht lieber mit ihm verhandeln sollen. Aber die Zeit sitzt uns im Nacken. Wenn dieser Sarazene auf dem Weg zum ›Oger‹ war da oben, wenn er dich vielleicht holen wollte und sie entdecken, dass du
nicht mehr in dem Taubenturm bist, dann…« Er bringt den Satz nicht zu Ende. Sie hasten die Stiege zur Stadt hinunter. Nach dem Regen ist es überall schlammig und rutschig. Lucia fällt hin, hat überhaupt Mühe, mitzuhalten. Die Gefangenschaft steckt ihr in den Knochen. Heinrich schlingt den Arm um sie und stützt sie, halb muss er sie tragen. Irgendwann an einer Treppenkehre löst er die Spange seines weißen Mantels und knüllt ihn zusammen. Schwert und Gurt fliegen achtlos in die Büsche. Die Stufen hören endlich auf. Die enge Stiege weitet sich zur Straße. Sie erreichen den Marktplatz, wo ihr Spielgerüst zwischen den anderen Ständen auf sie und ihren Auftritt zu warten scheint. Ihre Mantelsäcke liegen noch da, wo sie sie abgelegt hatten. Niemand beachtet sie. Menschen kommen und gehen, Reiter und Fuhrwerke ziehen vorüber; es scheint, als ob das Stadttor trotz der vorgerückten Stunde noch offen ist. Das Gewitter hat den Marktbeginn verhindert und auf den anderen Tag verschoben. Noch immer treffen Reisende ein, die vom schlechten Wetter aufgehalten wurden. »Was nun, Wolf?« »Wenn wir klug sind«, sagt Heinrich düster, »nehmen wir die Beine in die Hand und sehen zu, dass wir zum Tor rauskommen, so lange es noch offen ist.« »Selten hab ich was von dir gehört, dass mich so überzeugt hat!« Lorenz scheint erleichtert. »Na ja – schade um den schönen Aufbau hier. Und wie wird das mit deinem Meister?« »Ich geh dann allein noch mal rein«, knurrt Heinrich. »Du bringst sie in Sicherheit.« Lucias Augen sind riesig. »Und die Kinder? Wo sind die Kinder?« Heinrich sieht keinen an. Er legt den Arm um Lucia. »Wir haben mächtigere Feinde, als du denkst, fürchte ich. Dieser Stadthauptmann arbeitet schon länger mit Dordogne
zusammen. Er verkauft ihm nicht nur deine Kinder, Lucia. Er besorgt ihm auch noch andere, hier aus der Stadt. Waisenkinder, Kinder von Leuten, die arm sind und denen er erklärt, er würde für sie einen guten Platz finden. Lorenz hat es gehört. Ich weiß nicht, wie wir es anstellen sollen…« »Wolf! Du mich retten. Du retten andere Kinder. Alle. « Lorenz hat beide Mantelsäcke geschultert. »Können wir vielleicht außerhalb der Stadt weiterreden?« »Für was hältst du mich, Mädchen?«, sagt Heinrich unglücklich. »Ich kann gar nichts tun.« »Nicht weggehen, Wolf!« »Aus dem Weg, ihr da!« Ein Stadtbüttel stößt Lorenz das stumpfe Ende seiner Pike in die Rippen. Ein paar Ratsherren, goldene Ehrenketten um den Hals, stapfen mit Holzpantinen, die sie über ihre Schuhe gezogen haben, durch den Schlamm des Unwetters. »Wir stehen hier nicht gerade günstig!« Lorenz verzieht das Gesicht und reibt sich die Seite. »Lasst uns wenigstens in eine Seitengasse gehen.« Er will Lucias Hand fassen und sie mitziehen, das Mädchen sträubt sich. »Lass mich los, ja?« »He, wartet mal!« Vor einer Herberge werden gerade’ Gastpferde abgeschirrt und versorgt. Heinrich hat einen Braunen mit weißem Hinterfuß entdeckt, der ihm bekannt vorkommt. Und in den Ledersäcken, die da abgeladen wird, klirrt und scheppert es, da drin klingt es wie Musik; ein Tamburin, die Saiten einer Fiedel… Mit langen Schritten stürmt er auf die Knechte zu, die sich nicht gerade sanft mit dem Gepäck abgeben, reißt ihnen die Stücke aus der Hand. »Vorsichtig, nicht so grob! Da sind Instrumente drin! Lasst mich das machen!« Der Wirt kommt dazu, beäugt ihn misstrauisch. »Was willst du, Bursche? Wer bist du?«
Heinrich verbeugt sich. »Ich bin…« Er winkt hastig die anderen herbei. »Vielmehr wir sind Jongleure, Musiker und Tänzer, Herr Wirt. Wir gehören zum Gefolge des Herrn Walther von der Vogelweide, der eben hier abgestiegen ist. Würdet ihr uns sein Quartier zeigen? Komm, Lorenz, pack mit zu!« »Was machen wir da gerade, Wolf?«, murmelt Lorenz, während er sich mit dem Ledersack abmüht. »Wir haben gerade meinen Meister gefunden. Und wenn einer uns helfen kann in unserer Lage, dann er. Gott hat meine Gebete erhört.« »Ach was, wir haben einfach Glück!« protestiert Lorenz, dem es mal wieder zu fromm zugeht. Die Gefährten folgen Heinrich, leicht verwirrt, ins Haus. –
Ein Spiel kann helfen
»Wieso musst du eigentlich irgendwelche Kinder mit dir rumschleppen? Wie willst du die durchbringen? Hältst du dich für die Gans mit den goldenen Federn? Obwohl du ja eher aussiehst wie ein gerupfter Geier.« Walther versprüht wie üblich erst einmal seine Bosheiten; offenbar macht ihm die Begegnung Spaß. Seit Heinrich ihn das letzte Mal gesehen hat, hat er sich sehr verändert. Sein scharf geschnittenes Gesicht ist nicht mehr ganz so blass und abgezehrt, und seine glänzenden durchdringenden Augen liegen nicht mehr so tief in den Höhlen. Er sitzt der Truppe gegenüber, hat ein Bein übers andere geschlagen und präsentiert neue Schuhe ohne Löcher darin und eine feine Strumpfhose aus gemusterter Seide. Sogar gekämmt ist er heute Abend. Die Truppe isst. Notdürftig vom Schlamm gesäubert und umgezogen sitzen sie am Tisch. Heinrich gräbt seine Zähne schweigend in ein dickes Schwarzbrot mit Käse, Lorenz füttert seine Hündin und wirft verstohlene Blicke auf Wolfs großen Meister, dem er nun endlich einmal begegnet. Die dritte im Bunde, Lucia, zapplig, fahrig, aufgedreht, fuchtelt mit einem Hühnerbein herum und redet in deutsch-italienischem Kauderwelsch auf den stummen Heinrich ein. »Könnte deine – hm – Schutzbefohlene vielleicht etwas sparsamer gestikulieren?«, fragt Walther und rutscht ein Stückchen weg. »Ich hasse Fettflecke.« »Iss und halt den Mund«, sagt Heinrich liebevoll zu dem Mädchen. »Geredet wird später.«
»Beeindruckend!« Walther verschränkt die Arme. »Wozu du alles das Zeug hast! Zum Tierbändiger, zum Kindermädchen – « Heinrich guckt finster. »Ich hab keine Lust auf Witze!«, sagt er ungeduldig. »Entschuldige schon. Ich kann nun mal nicht aus meiner Haut.« Walther grinst amüsiert. »Ich muss mit Euch reden. Allein und gleich«, sagt Heinrich ernst. »Was ist gleich? Willst du nicht wenigstens den Bissen aufkauen? Ja, gut. Ich erwarte dich. Dann, wenn du deine Meute hier schlafen gelegt hast. Ein schöner Hund ist das. Ich wäre bereit, einiges Silber für ihn zu geben.« »Nie im Leben trenn ich mich von Lythande!«, sagt Lorenz heftig. Der Sänger zuckt die Achseln. »Reg dich ab, Junge! Das sind ja vielleicht merkwürdige Gestalten, diese beiden!« Er steht auf. »Na komm schon!« In diesem Moment scheint Lucia ihn überhaupt erst richtig wahrzunehmen. Sie guckt ihn von oben bis unten an und sagt dann zu Heinrich: »E un uomo mal educato.« Walther bleibt stehen, dreht sich um. »Was hat die da gesagt? Weißt du, was sie gesagt hat, Wolf?« Und, da der sich in Schweigen hüllt: »Sie hat gesagt, ich wäre ein schlecht erzogenes Mannsbild! Gib ihr ein paar hinter die Ohren!« Er bricht in Gelächter aus, schlendert nach draußen. Heinrich folgt ihm in den kleineren Nebenraum, wo ein Kaminfeuer flackert. Walther wohnt ziemlich vornehm, es geht ihm offenbar gut. »Also, leg los!«, sagt er ernst. Das spöttische Gehabe ist verschwunden. »Du hast ja, wie’s scheint, ganze Gebirge von Sorgen auf dem Herzen, Heinrich – ich meine, Wolf!« Heinrich nickt düster und beginnt. –
»Das ist eine sehr ernste Geschichte!« Der Sänger hat eine steile Falte auf der Stirn, nachdem Heinrich geendet hat. »So etwas sollte jeden Christenmenschen auf den Plan rufen. Nur, dass nicht jeder, der sich so nennt, im Herzen einer ist.« Er seufzt. »Du hast also auf St. Afra deinen wirklichen Namen benutzt? Also bitte, einmal und nicht wieder! Du weißt doch, dass es auch mich in Schwierigkeiten bringen kann. Es ist für einen Königsboten wie mich mehr als unangebracht, mit dem gesuchten Verbrecher Heinrich von Wenningen zusammen gesehen zu werden.« »Mir blieb keine andere Wahl, um dort hineinzukommen!« »Schon gut.« »Meister, können wir irgendetwas tun? Dieser Dordogne kann sich jeden Moment aus dem Staub machen.« »Ja, wenn er seine Ware hätte! Das Mädchen ist weg. Und die anderen muss er ja auch noch der Stadt abkaufen. Dieser Stadthauptmann ist eine harte Nuss. Der kann euch einfach vom Platz jagen, wenn ihr… Hm.« »Wenn wir was?!« »Geduld war nie deine starke Seite, ich weiß. Entschuldige, gerade bin ich dabei, nachzudenken.« Er geht im Raum auf und ab, das Feuer wirft unruhige Schatten auf seinen glänzenden Mantel. »Ihr macht Gaukelspiele, hab ich gehört? Wo ist übrigens deine herrliche Wolfsmaske, die du von mir hast? Ein wirklich kostbares Stück!« »Im Gepäck!«, sagt Heinrich kurz angebunden. Er kann kaum mehr an sich halten. »Was ist jetzt an der Maske so wichtig?« »Du hast sie also noch nicht benutzt in Meißen. Und auch in St. Afra nicht. Gut. Vielleicht klappt es ja.« »Was denn?« »Schritt für Schritt, mein Junge! Eure verdreckten Teufelskinder – mit denen lockt man keinen Hund hinterm
Ofen vor. Niemand kümmert so etwas. Aber der Brief, den dieser Trottel von Dordogne dir hingeschmissen hat, der beweist, dass auch Stadtkinder verkauft werden – das ist schon besser.« »Ich würde einfach nur gern wissen…« »Ruhe, verdammt!« Vogelweide lächelt. »Herrgott, da sitzt er wie auf glühenden Kohlen! Hübsch, wie schnell man dich in Rage bringen kann, Herr Junker. Hat dir wohl Spaß gemacht, da oben mal wieder den jungen Herrn von Adel raushängen zu lassen?« »Meister, ich flehe Euch an! Es geht um das Schicksal dieser Kinder!« »Und darum, ein paar Schurken das Handwerk zu legen!« Vogelweide ist nun ernst. »Manchmal kann man mit einem Lied oder einem Spiel die Herzen der Menschen rühren. Dazu hast du morgen die Gelegenheit mit deiner Truppe. Ich bin bereit, diese Nacht mit euch zu arbeiten – aber behaupte nachher nicht, dass ich mit der Sache was zu tun hätte. Weder bei Erfolg noch bei Misserfolg. Klar?« »Ihr wollt – ein Spiel mit uns einüben? Ein Spiel, das Ihr Euch ausdenkt? Das ist – « »Ja, ja, das ist außerordentlich gütig von mir. Noch dazu, wo ich es ohne Geld mache. Wenn man bedenkt, was ich mit so einer Arbeit verdienen könnte!« Er sieht Heinrich spöttisch an. »An die Arbeit! Das wird eine lange Nacht. Schick mir das Mädchen. Sie ist der härteste Brocken, so schlecht, wie sie spricht. Und frech ist sie außerdem.« »Sie wird müde sein nach all der Aufregung…« »Müde? Die hat nicht ausgesehen wie jemand, der müde ist! Die ist so beweglich wie flüssiges Silber! Ich muss vor allem mit ihr arbeiten. Davon hängt sehr viel ab.« »Und meine Aufgabe?«
»Solange die Handwerker ihre Buden noch nicht geschlossen haben, gib für morgen Stelzen in Arbeit bei einem Stellmacher. Und treib einen Alchimisten auf. Versuch, ein bisschen Naphtha zu bekommen.« »Naphtha?« »Ja, Erdpech.« »Ich weiß, was das ist. Das hab ich im Kloster gelernt. Aber ist das nicht sehr leicht brennbar?« »Eben. Darum ja. Mir schwebt da was vor.« –
Der Morgen beginnt mit einem strahlenden Sonnenaufgang. Die drei Gefährten aber gucken aus müden Augen in den schönen Tag. Sie haben viele Stunden der Nacht mit dem Sänger gearbeitet. Herr Walther selbst dagegen wirkt munter wie ein Fisch im Wasser. Die Aussicht auf das Spiel belebt ihn offenbar. Heinrich hat angesengte Augenbrauen: Er hat während dieser Nacht unter anderem gelernt, Feuer zu spucken. Nun ist er aufgeregt. Ob alles klappen wird? Er kommt sich vor wie vor einem Wettkampf mit scharfen Waffen, wie er sie in seinem »ersten Leben« als Junge von Adel mit seinem Waffenlehrer ausgefochten hat. Fröstelnd vor Übermüdung, hilft er bei den letzten Vorbereitungen – sie befestigen die Vorhänge an ihrem Spielgerüst, stellen eine Wand aus Brettern für das Armbrustschießen auf. Langsam erwacht der Platz zum Leben. Fluchend und lachend schütten die Händler das Wasser des gestrigen Regengusses von den Planen ihrer Stände, breiten ihre Waren aus. Die ersten Marktschreier erheben die Stimmen und preisen an, was sie verkaufen wollen. »Lorenz, los!«, drängt Heinrich. »Kündige uns an, lock Leute vors Gerüst!«
Lorenz, bereits in bunten Gauklergewändern, das Gesicht mit Mehl gepudert, die Augen mit Kohle umrandet, den Mund mit verdicktem Kirschsaft geschminkt, bekreuzigt sich. »Wenn das bloß gut geht! Wolf, ich hab die Hosen voll.« »Stell dich nicht so an!«, knurrt Heinrich mürrisch. Dabei klopft ihm selbst das Herz bis zum Hals. »Komm, Lythande!« Lorenz springt vom Gerüst, schüttelt die Rassel und lädt mit gellender Stimme zum Spiel ein. Die ersten Kinder kommen neugierig heran. Lythande geht auf zwei Beinen, und Lorenz schlägt Rad. Plötzlich ist Walther da. »Der Junge macht seine Sache gut. Keine unbegabte Truppe, deine Wolfsbande«, sagt er mit dem üblichen Spott zu Heinrich. »Wolfsbande?« »Ja. Wollt ihr euch nicht so nennen, falls ihr denn zusammenbleibt?« »Warum sollten wir nicht zusammenbleiben?« Walther zuckt die Achseln. »Bis jetzt habt ihr noch nicht gewonnen in diesem echten Spiel. Aber viel Glück. Später sehe ich dich noch, um dir deine nächsten Aufgaben mitzuteilen. Du wirst ja wohl so oder so davonkommen.« Er dreht sich auf dem Absatz um, ist in der wachsenden Menge verschwunden. Sehr ermutigend. Inzwischen ist der Marktplatz schwarz vor Menschen, und Lorenz zieht geschickt wie ein Rattenfänger zunächst die Kinder vor ihre kleine Bühne. Die Eltern folgen. Bald stehen sie dicht gedrängt und erwartungsvoll. Der Zahnbrecher, der neben ihnen aufgebaut hat, klappt nun verärgert seinen Werkzeugkasten zu. Keiner interessiert sich im Augenblick für seine Künste. Sogar zwei der Stadtbüttel, die für den Marktfrieden zu sorgen haben, sind neugierig näher gekommen, stehen da, auf ihre Piken gelehnt.
Lorenz verneigt sich nun tief, beginnt: »Heute, liebe Leute, zeigen wir euch das Spiel von den unschuldigen Kindern. Also hört zu und leiht euch unser Ohr, denn alles, was wir hier erzählen, ist wirklich wahr.« Das ist eine Ankündigung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Ein Murmeln in der Menge. Der Andrang um das Spielgerüst wird noch stärker. Heinrich steht, die Maske noch auf die Stirn hochgeschoben, und linst durch den Spalt im Vorhang. Wo bleibt Lucia? Sie muss anfangen. Und nun teilt das Leinen sich in der Mitte, und Lucia erscheint. Sie trägt ein weißes Kleid, ihr Haar unter einem Tuch, und beginnt, wie bettelnd mit ausgestreckter Hand die Bühne zu umrunden. Und dann ihre hohe, helle Stimme, die Verse, die Walther ihr diese Nacht beigebracht hat, ihr fremdländischer Akzent: »Seit sich das Glückstor vor mir schloss/steh ich davor, allein und bloß…« Nach und nach tritt Stille ein. Die letzten Plappernden werden niedergezischt. Nur von den weiter entfernten Ständen hört man noch, wie ein paar Kunden um den Preis feilschen. Lorenz begleitet sanft auf der Fiedel, Lythande umkreist das Mädchen, als wolle sie ihr beim Bitten helfen. Das Lied, das ihr der Sänger da heute Nacht beigebracht hat, berichtet vom Schicksal der unglücklichen KreuzfahrerKinder, die in die Heimat zurückkamen und von niemandem mehr aufgenommen wurden, die als verachtete Bettler durch die Länder ziehen müssen. Kinder, die keinerlei Schuld auf sich geladen haben und nirgendwo eine Heimat finden… Lucia breitet die Arme aus: »Ich selbst war auch ein solches Kind/zog durch die Welt bei Sturm und Wind/ich klopfte an die Türen/kein Mitleid könnt ich spüren…« Ein paar Frauen wischen sich bereits Tränen aus den Augen. Ganz hinten zwischen den Zuschauern sieht Heinrich den glänzenden
Umhang Herrn Walthers. Er hat also ein Auge auf sie. Immerhin. Heinrich steigt auf seine Stelzen, reißt den hinteren Vorhang auf und tritt in einem weißen Umhang vor. Riesig erscheint er den Zuschauern, und sie schreien auf, als ein Feuerstoß aus seinem Mund über die Bühne züngelt – zum Glück ist es windstill und Heinrich muss sich beim Naphtha-Spucken nicht wieder Haar oder Brauen ansengen. Auch Lorenz und Lucia verbergen das Gesicht in den Händen. Heinrich benutzt den Moment des Erschreckens, um sich die Maske vors Gesicht zu ziehen, und seine Stimme dröhnt unter der Verkleidung hervor: »Ein edler Ritter ist meine Gestalt/doch hab ich vom Teufel die Seele./Ich übe die Künste der Hölle/und tue der Unschuld Gewalt.« Lorenz greift einen wilden Klang auf dem Instrument, und Lythande treibt, wie verabredet, Lucia mit Geknurr und Gebell vor die Bretterwand. Da steht sie nun voller gespielter Angst. Als Heinrich von den Stelzen abspringt und die Armbrust zückt, geht ein Stöhnen durch die Menge. »Verschon das Kind!«, ruft jemand, und andere fallen ein. »Verschon das Kind!« »Nein!«, tönt es aus der Maske. Lucia breitet die Arme vor der Wand, als wäre sie am Kreuz. Heinrich verschießt seine Armbrustbolzen auf sie, und bei jedem Schuss zucken die da unten zusammen. Als sie schließlich wie angenagelt dasteht, dreht er sich wieder zum Publikum. Eigentlich soll nun der zweite Teil gespielt werden. Der Teil, in dem er sich direkt an die da unten wendet, von den umherstreunenden Kindern in ihrem Stadtkerker erzählt und von den Kindern der Stadt Meißen, die in die Fremde verkauft werden sollen – aber dazu kommt es nicht mehr. Etwas Unerwartetes geschieht: Die Glocke der Liebfrauenkirche beginnt plötzlich tief und volltönend zu läuten. Offenbar wird
der Markttag mit einem Gottesdienst eröffnet. Die Aufmerksamkeit des Publikums lässt nach. Geht man zum Gottesdienst, schaut man weiter den Gauklern zu? Ein paar Kinder weinen, weil sie nicht vom Fleck wollen, werden aber von ihren Müttern an der Hand fortgezerrt – der ganze Erfolg des Spiels ist in Gefahr. Heinrich beißt sich auf die Lippen. Soll denn alles umsonst gewesen sein? »Ihr lieben Leute, lasst euch sagen – «, beginnt er, stockt. Die Tür des Stadthauses hat sich geöffnet. Ein schwarz gekleideter junger Mensch mit blassem Gesicht, die Schreibfeder hinterm Ohr – anscheinend der Stadtschreiber –, späht vorsichtig nach draußen. Dann tritt hinter ihm, angetan mit goldener Ehrenkette und trotz der Sommerhitze in pelzbesetztem Mantel, ein dicker graubärtiger Mann in das Portal, mit vier Bütteln als Ehrengarde. »Der Stadthauptmann!«, zischt Lorenz, ohne den Mund zu bewegen, Heinrich zu. »Sollen wir weiterspielen?« Heinrich reckt den Hals. Hinten auf dem Platz, an den Stufen zur Freiheit von St. Afra, entsteht Bewegung. Etwas Weißes blitzt auf – In dem Moment gellt hinter ihm Lucias Stimme, schrill und hoch über dem Glockenläuten: »Er ist da! Er ist gekommen!« Sie steht mit ausgestreckter Hand, weist über die Köpfe der Leute hin. Ein Mann im weißen Mantel, mit Helm und Handschuhen, bewegt sich geradewegs auf das Stadthaus zu. Der Kommandant sieht ihm erwartungsvoll entgegen. »Lucia, geh auf deinen Platz im Spiel zurück!«, beschwört Heinrich sie mit gedämpfter Stimme. Er hält Ausschau nach Walther von der Vogelweide. Aber der scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Das Mädchen hört nicht zu. Sie steht jetzt direkt neben Heinrich an der Rampe, den Finger ausgestreckt. Die Glocken
sind verstummt. In die Stille hinein schreit sie: »Er da! Eccolo! Er ist es! Er, den wir den Oger nennen!« Ihre weit geöffneten hellen Augen blinzeln nicht. Bis ganz hinten kann man sehen, wie sich Furcht, Hass und Triumph in ihrem Gesicht spiegeln. »Gott schickt ihn hierher – um ihn zu bestrafen!« Das Geraune und Gemurmel auf dem Platz nimmt zu. Um den Mann im weißen Mantel entsteht Getümmel. Mehr Leute drängen sich heran, recken die Hälse, um zu sehen, wer gemeint ist. »Platz da, ihr Pack!« Ein Aufschrei. Mit giftigem Zischen ist das Schwert des Ritters aus der Scheide gefahren. Jemand ruft mit durchdringender Stimme: »Er hat gewagt, den Marktfrieden zu brechen! Wachen! Zu Hilfe!« Eine Frau kreischt. Und über allem die gellende Stimme Lucias: »Er ist es! Er ist der Kinderräuber! Ich war gefangen bei ihm! Ich selbst!« »Er hat die Waffe gezogen!« Ein paar Männer in der Tracht der Handwerker, Schürzen vorm Bauch, drängen sich zum Stadthauptmann durch. »Er hat den Marktfrieden verletzt!« »Nur um das Pack hier abzuwehren!« Der Ritter bahnt sich ebenfalls einen Weg zur Treppe des Rathauses. Noch immer hat er die blanke Waffe in der Hand. »Herr Stadthauptmann, hat dies Gauklermädchen den Verstand verloren? Befehlt, dass sie aufhört, herumzuschreien!« Der Stadthauptmann tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Herr de Dordogne, ich bitte Euch – mit dem blanken Schwert in der Hand verstoßt Ihr gegen die Gesetze der Stadt. Lasst uns hineingehen und alles besprechen und achtet nicht auf diese Unverschämten. Die Büttel werden sie mit Ruten vom Platz jagen.« »Warum hört ihr dies unschuldige Kind nicht an?«, ruft eine Frau, die selbst ein kleines Mädchen an der Hand hält. »Es
wirkt nicht wie eine Lügnerin!« Zustimmendes Gemurmel ringsum. Der Stadthauptmann hat keine Ohren für die Leute. Schon nähern sich die beiden Büttel, die eben noch selbst mit aufgerissenen Mäulern dem Spiel gefolgt sind, ihrer kleinen Bühne, bereit, die Gauklertruppe zu verhaften. Es geht um Kopf und Kragen. Man muss alles auf eine Karte setzen. Heinrich springt von seinen Stelzen, reißt sich den Mantel ab und tritt an den Rand der Bühne. Seine Stimme dröhnt aus der Maske: »Wir sind nur Gaukler, das ist wahr, Herr Stadthauptmann und ihr, liebe Leute, aber dies Kind sagt bei Gott die Wahrheit. Erst gestern Abend haben wir es aus der Gefangenschaft dieses Mannes befreit. Er hatte vor, es in die Sklaverei zu verkaufen. Zu den Ungläubigen, die Christenkinder wie Tiere halten!« Ein Raunen geht über den Marktplatz. »Lasst die Gaukler reden!« Jemand stellt einem der Büttel ein Bein. Die beiden Bewaffneten zögern, bleiben vor der Bühne stehen. »Lügen! Nichts als Lügen!«, ruft Dordogne. »No, verita!« Lucia reißt die Hände hoch. »Ich habe ihn gehört, er hat geredet mit dem Heiden, der die Kinder will! Ich schwöre!« »Schwüre von rechtlosen Gauklern! Und was soll das für ein Heide sein?« Lorenz ist jetzt ebenfalls nach vorn gekommen, er flüstert mit Heinrich, und der hebt die Hand. Sofort wird es still da unten. »Mein Gefährte hier hat etwas Wichtiges zu sagen! Hört ihm zu!« »Keinen Ton mehr von da oben!«, brüllt der Kreuzritter. Die Menge murrt, rückt näher an das Stadthaus vor. Die Büttel um den Hauptmann senken ihre Piken, als gälte es bereits einen Angriff abzuwehren. Ein Stein fliegt von irgendwo her. Der Stadthauptmann duckt sich unwillkürlich,
sieht sich gehetzt um, tuschelt mit seinem Schreiber. Hebt dann die Hände und sagt in beschwichtigendem Ton: »Nun, Herr de Dordogne, lassen wir sie doch spielen, diese Gaukler. Folgt mir inzwischen nach drinnen…« »Ich meine, die Herren sollten sich anhören, was wir sagen möchten!« Allgemeine Zustimmung. Lorenz verneigt sich. »Das Mädchen hier hat uns gesagt, nachdem wir es befreit hatten, es hätte seinen Entführer gekratzt und gebissen. Da müsste er doch Spuren davongetragen haben, nicht wahr?« »Sehr gut, Lorenz!«, sagt Heinrich leise. »Si, veramente!« Lucia hebt die Hände, die Finger als Krallen. »Gekratzt, ins Gesicht, so! Und gebissen. In die Hand!« »Das ist lächerlich!« »Der soll seinen Helm und seine Handschuh ablegen!«, brüllt ein rothaariger Kerl mit der Schürze der Flickschuster. Der Stadthauptmann murmelt: »Tut ihnen immerhin den Gefallen, Herr de Dordogne.« »Das ist eine Unverschämtheit! Glaubt Ihr dem verkommenen Kind mehr als einem Edelmann?« »Wenn das Kind lügt, habt Ihr ja nichts zu befürchten.« Das ist eine alte Frau mit einem Obstkorb, die ganz vorn an den Stufen steht. »Bürgerpack! Was nehmt Ihr Euch heraus!« Der Stadthauptmann gibt den Bewaffneten einen Wink. Langsam rücken sie gegen die Leute vor. »Ich halte sie Euch vom Leib. Aber bitte, tut ihnen den Gefallen. Wir brauchen keinen Ärger. Bedenkt das, Herr Ritter.« Die beiden sehen sich an. »Schon gut.« Der Helm wird beiseite geworfen. Dordogne enthüllt sein von dunkel verfärbten Kratzern entstelltes, schielendes Gesicht.
»Und Eure Handschuhe, bitte!« Ein Aufschrei der Menge. Der rechte Handschuh fliegt in hohem Bogen durch die Luft und enthüllt einen blutgetränkten Verband. »Das ist unerhört! Ich werde Zeugen beibringen, dass ich diese Verletzungen… Mein Jagdhund hat mich gekratzt und gebissen!« Wieder flüstert Lorenz mit Heinrich, und der nickt. »Ich habe hier einen klugen Ratgeber!«, sagt er mit einem Anflug von Heiterkeit in der Stimme. »Es ist einfach, festzustellen, ob die Bissspuren an der Hand des hochgeborenen Herrn von diesem Kind stammen oder von einem Hund. Wenn jemand von euch guten Leuten uns einen Apfel geben könnte. Das Mädchen wird seine Zähne hineinschlagen, und dann kann der ehrenwerte Stadthauptmann vergleichen, ob die Abdrücke die gleichen sind wie die auf der Hand oder ob sie von einem Hund stammen.« Lucia springt vom Spielpodest, wird aufgefangen von vielen Armen. Der Apfel ist zur Stelle. »Er ist geliefert!«, sagt Heinrich leise zu Lorenz. »Das war sehr klug von dir.« Unten herrscht inzwischen ein unbeschreiblicher Tumult. Die Stadtwachen haben ihre Piken quer genommen und bilden einen Kreis um Dordogne, um ihn vor der aufgebrachten Menge zu schützen, nach dem Vergleich der Bissspuren an Hand und Apfel. Die Leute toben. Dordogne zuckt mit den Achseln. »Und? Was soll das alles? Herr Stadthauptmann, lasst uns endlich hineingehen und unsere Geschäfte abschließen.« Jetzt oder nie! Heinrich erhebt wieder die Stimme, tastet nach dem Papier unter seiner Kleidung.
»Herr Stadthauptmann, stimmt es, dass dieser Herr von Euch eingeladen wurde, weil Ihr ihm etwas verkaufen wollt? Was versteht Ihr unter den ›süßen jungen Katzen‹, von denen dieser Brief handelt? Ja, er ist zerrissen, aber alle Bürger der Stadt werden das Siegel kennen, und der Herr Stadtschreiber wird ihn mühelos entziffern können!« Heinrich springt vom Podest. Die Büttel nehmen ihn in die Mitte, aber das ist ihm egal. Er geht, die Fetzen des Briefs hoch erhoben, durch die raunende Menge zum Stadthaus. Übergibt den Brief an den Schreiber. Auf dem Platz ist es totenstill. Der Stadthauptmann windet sich. »Ja, liebe Leute! Es ist wahr, dieser Mann hat der Stadt angeboten, sie gegen Geld von der Plage der ›Teufelskinder‹ zu befreien! Wir meinten, an den Kindern ein gutes Werk zu tun, weil er behauptet hat, sie in Klöstern und andernorts gut unterzubringen… Was war daran falsch?« Noch immer steht er auf den Stufen des Rathauses, sucht verzweifelt nach Worten. »Ich wusste nicht – « Er verstummt. »Aber den Brief habt ihr zu einer Zeit geschrieben, als diese so genannten Teufelskinder noch gar nicht in Meißen waren! Der Herr Stadtschreiber da kann es sicher bezeugen. Er sieht ja das Datum. Wahrscheinlich hat er den Text sogar selbst verfasst?« Heinrichs Stimme ist ganz sanft. Der Schreiber blickt auf von den Teilen des Briefes. Er ist totenbleich, und seine Hände zittern. »Es ist wahr«, sagt er leise. »Es ging um andere Kinder. Die drei Waisen des Tuchmachers Bertold und das Kind der Witwe Löstin.« Ein Aufschrei aus der Menge. Eine verhärmte Frau in abgeschabten Kleidern drängt sich vor, die Fäuste erhoben. »Mein Junge! Mein kleiner Tobias! Dieser Schurke hat versprochen, ihn in eine Klosterschule zu schicken, wo er es gut hat!« Sie beginnt hemmungslos zu schluchzen.
»Wo sind unsere Kinder? Wo sind die Kinder der Stadt?« Die Menge auf dem Platz ist jetzt wie ein See im Sturm, dessen Wellen hoch ans Ufer schlagen. Vergebens versuchen die Stadtwachen, die Leute zurückzudrängen, die auf den Hauptmann einstürmen. Der hebt die Hände. »Ihr sollt sie wiederhaben! Alle! Sie sind – sie sind im Stadtgefängnis mit den anderen! Es geht ihnen gut, bestimmt! Ich schicke sofort…« »Arrestate! Haltet ihn auf!« Lucias gellender Schrei ist über allem. »Er flieht!« In dem allgemeinen Durcheinander und der Empörung der Bürger hat niemand mehr auf Dordogne geachtet. Er hat sich, geschützt von den Stadtbütteln, langsam bis zur Stiege nach St. Afra durchgearbeitet. Beginnt sie jetzt hinaufzuspringen. Die Menschen stürzen ihm hinterher, aber die Wache hindert mit quer gefällter Pike die Verfolgung. Unter einem Hagel von Steinen flüchtet er die Treppen hoch. Stolpert, rutscht aus. Hält sich am Geländer fest, kann aber nicht verhindern, dass er mehrere Stufen wieder hinunterrutscht. Mühsam rafft er sich auf. »Wachen! So helft mir doch, ihr Tölpel!« Er streckt gebieterisch den Arm aus. In diesem Augenblick trifft ihn ein gut gezielter Steinwurf an der Schläfe. Dordogne taumelt. Das Blut strömt ihm über die Augen. »Das sollt ihr mir büßen!« Weiter kommt er nicht. Ein Hagel von Steinen trifft ihn wie Geschosse, lässt ihn verstummen. Mit einem gurgelnden Schrei bricht er zusammen. Die Menge schreit auf, ein einziger wilder Schrei des Zorns und des Triumphes, und darüber erhebt sich Lucias schrille Kinderstimme: »Giustizia, si! Gerechtigkeit!«
Noch mehr Stadtbüttel strömen auf die Treppe zu, drängen die Menschen zurück. Einige heben den leblosen Körper auf und schleifen ihn mehr die Stufen hoch, als sie ihn tragen. »Freunde!« Der Stadtkommandant breitet die Arme aus. »Ich wusste nicht, dass dieser adlige Herr ein solcher Lügner ist! Er hat mich schändlich betrogen, glaubt mir! Aber er steht nun vor Gottes Gericht. Da keiner weiß, wessen Hand den tödlichen Stein geworfen hat, wollen wir von einer Strafe absehen.« »Strafe? Das fehlte noch!«, schreit eine junge Frau und schüttelt die Fäuste. Die Leute johlen und brüllen und rücken nun auch bedrohlich gegen den Stadthauptmann vor. Wieder flüstert ihm der Stadtschreiber etwas ins Ohr. Der Hauptmann wendet sich ans Volk, ein falsches Lächeln auf den Lippen. »Kommt, wir wollen uns um die armen Kinder kümmern. Alles andere ist unwichtig. Freibier für alle, und ein Ochse am Spieß heut Abend! Danken wir Gott, dass er uns vor Unheil bewahrt hat«, übertönt er die Schreie da unten. Die meisten murren noch, aber die Ersten gehen schon vom Platz. Er zieht sich aus der Schlinge! Fassungslos vor Empörung sieht Heinrich diesen aalglatten, dicken Schurken an. Hebt dann die Hand. »Halt, ihr guten Leute. Erlaubt mir noch ein Wort! Ihr habt die Kinder der Stadt Meißen gerettet. Was aber geschieht mit den anderen? Den unschuldigen kleinen Kreuzfahrern? Sie sitzen noch im Kerker der Stadt!« Die Menge murmelt, unentschlossen. Schließlich tritt die Frau mit dem kleinen Mädchen an der Hand, die vorhin schon das Wort ergriffen hatte, vor. Sie macht eine kleine Verbeugung vor dem Stadtkommandanten. »Wenn Gott der Herr uns diese Kinder geschickt hat, um unsere Barmherzigkeit auf die Probe zu stellen – warum sollten wir sie nicht aufnehmen, als wären es unsere eigenen Kinder? Ich und mein Mann, wir wären bereit, eines dieser Armen zu uns
zu nehmen. Und ich denke, andere Bürger der Stadt Meißen sollten meinem Beispiel folgen…« Etwas zupft Heinrich am Wams. Lorenz steht neben ihm. »Mach schnell. Komm mit. Wir holen Lucia ab und verschwinden von hier. Unsere Arbeit ist getan.« »Aber…« »Wir haben uns schon genug eingemischt. Vielleicht fällt diesem Stadthauptmann doch noch ein, uns einen kleinen Denkzettel zu verpassen, weil wir ihm das Geschäft verdorben haben.« –
Ein neuer Auftrag
»Aber – non e giustizia! Er soll auch bestraft werden!« Lucia, aufgeregt, zerzaust, mit glühenden Wangen vor Empörung, redet wild gestikulierend auf Walther von der Vogelweide ein. Sie sitzen draußen bei einer kleinen Weinbergschänke vor den Toren der Stadt, der frühe Abend ist mild und warm, der Tisch gedeckt mit jungem Wein, Trauben, Brot und Fleisch. Der Sänger hatte sie am Stadttor abgefangen und war mit ihnen hierher geeilt. Er sieht von einem zum anderen, Spott in den Augen. Heinrich zerkrümelt lustlos sein Brotstück und hat den Kopf gesenkt. Lorenz spielt angelegentlich mit Lythande. Vogelweide holt tief Luft. »Stimmt«, sagt er sachlich. »Das ist keine Gerechtigkeit. Der Stadthauptmann ist genauso schuldig wie Dordogne und sein – sein Handelspartner, dieser Sarazene. Immerhin. Euer ›Oger‹ ist tot.« Lucias Augen flammen in Erinnerung an den Steinhagel, der den fliehenden Ritter zur Strecke brachte. »Gott erbarme sich seiner Seele!«, murmelt Heinrich. Aber er ist nicht in der Lage, das Mädchen wegen ihres Triumphs zu rügen. Walther mustert sie mit Belustigung. »Ein paar Steine, von denen zufällig einer trifft – gut und schön, aber leider nicht die Regel. Und der andere Schurke kauft sich mit einem Fass Bier und einem Ochsenbraten frei. Das ist der Lauf der Welt, und der ist sehr, sehr schlecht. Einer der Gründe, warum wir einen gerechten König brauchen.« Er macht eine Pause, sieht die drei
an. »Reden wir von etwas anderem. Wo sind eigentlich eure Habseligkeiten geblieben?« Da meldet sich Lorenz zu Wort. »Wir haben alles stehen und liegen lassen, unsere ganze Ausrüstung. Nur die Maske hat Wolf bei sich gehabt.« Der Sänger nickt. »Ich veranlasse, dass die Sachen per Boten zum nächsten Wirtshaus gebracht werden, auf der Strecke, die vor euch liegt«, und jetzt grinst er, »die Strecke, die ihr sofort nehmen sollt, Wolfsbande.« »Wolfsbande?« Lucia sieht Walther fragend an. »Ja. Ich verpflichte euch alle drei als meine Wolfsbande und nehme euch in meinen Dienst. Nämlich, eine Gauklertruppe, die umherzieht, ist noch eine weit bessere Tarnung für wichtige Botschaften als ein einzelner Wolf. Die Aufträge allerdings erfährt nur der hier mit der Maske. Das wird mir sonst zu unübersichtlich.« »Kriegen wir auch Lohn?«, fragt Lorenz sachlich. Heinrich tritt ihm gegen das Schienbein. Walther pfeift durch die Zähne. »Sinn fürs Wirkliche, gut.« Er seufzt. »Ihr kriegt Maultiere.« Und, da keiner reagiert: »Und Silber. Botenlohn.« »Und wir sollen – « Walther erhebt sich. »Tut mir die Liebe und esst. Wenn ich schon was bezahle, möchte ich auch sehen, dass es gewürdigt wird. Ich geh mit Wolf mal ein paar Schritte.« Sie marschieren eine Weile schweigend zwischen den Rebstöcken entlang. Die Hitze staut sich auf dem Hang. Walther wedelt sich mit einem Weinblatt, das er abgerissen hat, Luft zu. »Die Lage ist günstig«, sagt er schließlich. »König Friedrich hat viele neue Anhänger gewonnen. In weiten Teilen des Landes werden die Fürsten ihn wählen, das steht fest.« Heinrich reagiert nicht. Der Sänger legt ihm die
Hand auf die Schulter. Redet ihn vertraulich mit seinem eigentlichen Namen an: »Jetzt hör mal, Wenningen. Es heißt, in Sizilien, wo Friedrich herkommt, hat er seinem Adel mächtig die Daumenschrauben der Justiz angelegt. Solche wie euer Oger wären da vor einen Gerichtshof gekommen, glaub mir.« »Immerhin eine Hoffnung.« »Ja, auf die arbeiten wir zu.« Walther wird wieder sachlich. »Ich bring dir ein paar Verse bei. Verschlüsselte. Sie werden sich harmlos anhören und einen Geheimcode enthalten. Da oben im Harz, wo die reichen Silbergruben sind, wirst du sie dem vortragen, für den sie bestimmt sind. Die betreffende Person weiß damit umzugehen und kann die Botschaft entschlüsseln. – Aber«, er sieht Heinrich ernst an, »da gibt es noch viele Gegner Friedrichs, und bestimmte Nachrichten sind nicht für ihre Ohren bestimmt. Ach ja, und wenn sie dich erwischen – nicht mal unter der Folter könntest du aussagen, was du eigentlich mitgeteilt hast. Sehr klug, wie?« Er lacht mal wieder sein spöttisches Lachen. »Und natürlich keine Silbe zu dieser deiner bunten Begleitung. Wolfsbande. Netter Name von mir, nicht? – « Sie haben natürlich nur zwei Maultiere. Lorenz ist bereits aufgesessen und trabt voraus, die Hündin an der Seite. Heinrich hebt Lucia zu sich aufs Tier. Sie sitzt hinter ihm, schlingt die Arme um seine Taille, um sich festzuhalten. Er spürt ihren mageren Hüftknochen. »Dio mio! Ich wollte, ich hätte ihn noch mehr gebissen! Den Oger!«, seufzt sie neben seinem Ohr. »Hätte ihm die Augen ausgekratzt. Und diesem Commandante der Stadt gleich auch noch!« Sie drückt sich fester an ihn. »Wenigstens hab ich keine Angst mehr. Nie mehr.« Heinrich schweigt. Ganz ohne Angst, ganz ohne Zorn auf die Ungerechtigkeit, ganz ohne Traurigkeit – das wäre schön.
»Halt dich fest, Lucia. Wir galoppieren!«, befiehlt er. Schnell haben sie Lorenz und Lythande eingeholt. Die Hündin springt ausgelassen vor den Maultieren her. »Also los. Zu neuen Katastrophen«, murmelt Lorenz mit einem schrägen Blick auf Lucia. »Übrigens dein Meister, Wolf, also alle Tage möchte ich nicht mit dem zu tun haben. Sehr anstrengend, der Herr Walther.« »Ich hab dich nicht nach deiner Meinung gefragt!«, knurrt Heinrich mit der üblichen Schroffheit und Lucia kichert. Der Strom glänzt wie ein silbernes Band unten zwischen den Weinbergen. Jetzt wirkt alles noch, als würde der Sommer ewig dauern. Bald kommt der Herbst.