Atlan - Die Abenteuer des SOL Nr. 608 Anti-ES - Xiinx-Markant
Das Mental-Relais von Kurt Mahr Barleona - das Geheimnis...
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Atlan - Die Abenteuer des SOL Nr. 608 Anti-ES - Xiinx-Markant
Das Mental-Relais von Kurt Mahr Barleona - das Geheimnis von XiinxMarkant Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Generationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besorgen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in neue, erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wird der Wissenschaftler Hage Nockemann mit seinen exotischen Gefährten von der SOL getrennt und zu einer abenteuerlichen Flucht veranlaßt, bei der es ums nackte Überleben geht. Schließlich trifft Hage auf DAS MENTAL-RELAIS …
Die Hauptpersonen des Romans: Hage Nockemann - Der Allround-Wissenschaftler auf der Flucht im Weltraum. Blödel, Argan U, Glogg und Wuschel - Nockemanns exotische Begleiter. Dengt - Anführer der Flotte der Barleoner. Barleona - Ein seltsames »Totem«. Ordeal - Ein Bewußtsein, das seine Herkunft vergessen hat. Atlan - Der Arkonide verliebt sich.
1. »Sie verlegen uns den Weg«, sagte Glogg. Auf der Bildfläche des Orters war eine Schnur von Reflexen zu sehen, die sich quer über den Kurs der ZACK zog. Die fremden Fahrzeuge waren erst vor wenigen Minuten aufgetaucht. An der Art, wie sie sich formierten, ließ sich ihre Absicht ohne Mühe erkennen. »Dann weich ihnen aus«, brummte Hage Nockemann. Dem kleinen Mann mit dem langen, grauen Haar, dem Schnauzbart und der faltigen Gesichtshaut, die ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war, sah keiner an, daß er der Mentor der erst jüngst wieder zum Leben erweckten solanischen Wissenschaft war. Er legte auf sein Äußeres wenig Wert, trug abgewetzte Kleidung und erweckte bei Uneingeweihten den Eindruck, das letzte Bad sei schon vor drei Tagen fällig gewesen. Das Geschöpf, mit dem er sich unterhielt, war ein am ganzen Körper behaarter Zwerg, einem irdischen Schimpansen nicht unähnlich. Glogg gehörte dem Volk der Haawer an, die von den Solanern ihrer wirksamsten Waffe wegen auch »Vereiser« genannt wurden. Sein simianisches Äußeres täuschte. Glogg war in Wirklichkeit ein Wesen von wacher, reger Intelligenz. Er war vor kurzem mit Hilfe einer Injektion eines geringen Quantums der geheimnisvollen Substanz »Neutralpolator« von dem unsinnigen Drang des Kämpfens befreit worden, der aus unerfindlichen
Gründen alle Intelligenzen zumindest des äußeren Ringsektors der Galaxis Xiinx-Markant beherrschte, und fungierte seitdem als Freund und Bundesgenosse des Solaners und seiner Begleiter. »Das wird uns nicht viel helfen«, bemerkte er auf Hage Nockemanns Vorschlag hin. »Du kennst die Völker dieser Galaxis. Sie sind auf Kampf aus. Wenn wir ihnen ausweichen, werden sie uns folgen. Die ZACK ist nur ein Beiboot. Ihre Beschleunigung reicht nicht aus, einem Verband regulärer Raumschiffe zu entkommen.« »Ich nehme an, du weißt genau, welches Beschleunigungsvermögen diese Fahrzeuge dort haben«, sagte Nockemann sarkastisch. Glogg wies auf ein Bild, das er mit Hilfe einer Computersimulation erzeugt hatte. Es stellte eines der fremden Schiffe dar. Das Fahrzeug hatte die Form zweier mit den Rändern aufeinandergedrückter Teller, mit einem voluminösen Innenraum und einem breiten, flachen Flansch, der ringsherum lief. »Barleoner«, sagte er. »Wir hatten schon viel mit ihnen zu tun. Ihre Fahrzeuge stehen denen der Haawer in keiner Weise nach.« Glogg beherrschte seit kurzem Interkosmo, die Sprache der Solaner. Es war Hage Nockemann gelungen, aus den Gerätschaften, die sich an Bord des Beiboots fanden, eine Art Hypnoschuler zusammenzubauen. Mit diesem hatte man dem Haawer eine eingehende Kenntnis der fremden Sprache vermittelt. Es war drei Tage her, seit die ZACK – nach dem ereignisreichen Aufenthalt auf dem Löcherplanetoiden der Staubflieger – die Dunkelzone im Innern der Galaxis Xiinx-Markant verlassen hatte und in den von Sternen erfüllten Ringsektor vorgestoßen war. Hage Nockemanns einzige Sorge war weiterhin die Auffindung der SOL, die irgendwo in diesem Gebiet operierte. Aber durch den Aufenthalt in der Dunkelzone war die Orientierung verlorengegangen. Bis jetzt hatte noch nicht einmal festgestellt werden können, wie weit die ZACK vom ursprünglichen Operationsgebiet des Großraumschiffs entfernt war. Hilferufe
blieben unbeantwortet. Obendrein war das Rufen so eine Sache. Es wimmelte in den Randgebieten der fremden Galaxis von Fahrzeugen eingeborener Raumfahrer, die allesamt nur ein einziges Ziel kannten: sich im Kampf zu bewähren und durch Kriegstaten Ruhm zu erwerben. Ein unseliger Mentaleinfluß, dessen Ursprung niemand kannte, machte aus den Intelligenzen dieser Galaxis blindwütige Krieger, die nur einen einzigen Lebenszweck kannten: das Kämpfen. Hage Nockemann studierte die Umgebung anhand einer dreidimensionalen Darstellung, die es ihm ermöglichte, die benachbarten Sternkonstellationen nach Richtung und Entfernung einzustufen. Die ZACK verfügte über eine begrenzte HyperflugFähigkeit. Es war ihm klar, daß er nur dann eine Chance hatte, den Barleonern zu entkommen, wenn es ihm gelang, mit einem raschen Manöver in den Hyperraum vorzustoßen. Auch das allerdings brachte ihm keine Sicherheit auf Dauer. Sobald das Boot wieder auftauchte, mußte mit Verfolgung gerechnet werden. Es gab nur einen Ausweg: Es mußte ein Versteck gefunden werden, in dem die ZACK vor Ortung sicher war. Sein Zeigefinger stach in Richtung eines gelben Sterns vom G-Typ. Am Koordinatengitter der Darstellung ließ sich ablesen, daß er zwölf Lichtjahre vom gegenwärtigen Standort der Zack entfernt war. »Nimm Kurs dorthin«, trug er dem Haawer auf. »G-Sterne sind üblicherweise mit Planeten ausgestattet. Wenn wir Glück haben, finden wir einen Platz, an dem wir uns verkriechen können.« Er war bitter. Nichts war ihm mehr zuwider, als sich mit Wesen herumschlagen zu müssen, die als Motiv für ihre Feindseligkeit nichts weiter anführen konnten als einen angeblich angeborenen Drang zu kämpfen. Inzwischen nahm Glogg die entsprechenden Schaltungen vor. Er war ein erfahrener Pilot. Er wußte, welche Manöver der Gegner von einem kleinen Raumboot erwartete und wie er irrezuleiten war. Die
ZACK verhielt sich so, als habe sie die wartenden Barleoner erst im letzten Augenblick erkannt. Sie nahm einen verzweifelten Kurswechsel vor, der sie hoch über die Kette der kampfbereiten Raumschiffe hinwegtreiben sollte. Gleichzeitig aktivierte Glogg die Vollbremsung, als habe er die Absicht, vor dem übermächtigen Gegner auszureißen. Aber die Aggregate der ZACK waren nicht besonders leistungsfähig – oder so zumindest nahm sich das Manöver aus. Trotz bremsenden Feldtriebwerks geriet sie immer näher an die Barleoner heran. Deren Fahrzeuge hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und formten eine weite Zange. Die ersten Geschütze wurden abgefeuert. Die Schutzschirme der ZACK glühten hell auf. In diesem Augenblick löste Glogg den Hypersprung aus, und von einem Augenblick zum andern war das Boot verschwunden. Die Barleoner verlegten sich aufs Warten. Irgendwo würde das kleine Fahrzeug wieder auftauchen. Sobald der Orterreflex registriert wurde, würde man sich an die Verfolgung machen.
* »Wie konnte das geschehen?« fragte der Hohe Totem-Bewahrer entrüstet? »Das Manöver ließ sich nicht vorhersehen«, antwortete Lungt, der Zweite Sekundärstratege. »Wer hätte erwartet, daß ein Gegner feige die Flucht sucht, anstatt sich dem Kampf zu stellen?« »Man hat mir mitgeteilt, daß es sich um ein Boot der Haawer handele«, sagte Dengt, der Totem-Bewahrer. »Das ist richtig«, bestätigte Lungt. »Dann verstehe ich es um so weniger«, beschwerte sich Dengt. »Die Haawer sind zwar nichtsnutzige Herumstreicher; aber daß sie feige wären, davon habe ich noch nie gehört.« »Wir werden das Fahrzeug stellen«, gelobte der Zweite
Sekundärstratege. »Es entkommt uns nicht.« »Das walte die mächtige Barleona«, seufzte Dengt, und machte ehrfurchtsvoll das Zeichen des Ringes. Er stand auf und ging zu einem Display, auf dem die Totem-Daten dargestellt wurden. Es war, wie üblich, alles in Ordnung. Wehe den Barleonern, wenn der Tag kam, da die Daten anzeigten, daß das Totem Schaden erlitten hatte! Dengt schauderte unwillkürlich. Er hatte keine klare Vorstellung, was dann geschehen würde; aber es mußte fürchterlich sein. Die Totem-Diener wußten wahrscheinlich Bescheid. Aber die Kerle hatten Schlösser vor den Mäulern, wenn es um Dinge ging, die mit dem Totem zu tun hatten. Während Dengt vor dem Display stand, sah man, daß er von beeindruckender Größe war. Der Totem-Bewahrer stand zweieinhalb Meter hoch. Dabei war er, zumindest für menschliche Begriffe, so rappeldürr, daß man befürchtete, er müsse bei der nächsten hastigen Bewegung in der Mitte auseinanderbrechen. Die großen Schlappohren hingen traurig zu beiden Seiten des langgezogenen, spitzen Schädels herab. Zwei weit auseinanderstehende, kleine Augen blickten mißtrauisch in die Runde; der rudimentäre Überrest eines dritten lugte aus den Falten der Stirnhaut. Auf der Schädelkuppe trug Dengt schütteren bläulichen Haarwuchs. Dafür war seine Knollennase von wahrhaft königlichem Umfang und leuchtete in sattem Blaurot. Der breite, schmallippige Mund verlieh dem ansonsten durchaus humanoiden Gesicht etwas Mürrisches. Die beiden langen Arme baumelten scheinbar halt- und kraftlos von den schmalen Schultern des Hohen Totem-Bewahrers. Dengt war in ein langes, straff herabhängendes Gewand gekleidet, dessen vielfarbige Verzierungen seinen hohen Rang deutlich auswiesen. Das Amt des Hohen Totem-Bewahrers, in Personalunion mit dem des Größten Feldherrn, war das Höchste, das die barleonische Gesellschaft zu vergeben hatte. Wenn der alte Totem-Bewahrer das Zeitliche segnete, was gewöhnlich während eines Kampfes geschah,
dann wurde ein neuer bestimmt. Und zwar wählten die Barleoner denjenigen unter sich, der die größte Körperlänge besaß. Im großen und ganzen fuhren die Barleoner mit dieser eigenwilligen Methode der Oberhaupt-Findung nicht schlechter als andere Völker, die sich komplexerer Prozeduren bedienten – und gewiß waren sie besser dran als jene, die die Auswahl der biologischen Erbfolge überließen. Dengt hatte das Amt des Hohen Totem-Bewahrers seit zwei Standard-Jahren inne. Das war erstaunlich, wenn man bedachte, daß seine Vorgänger sich im Schnitt nicht mehr als vier Monate gehalten hatten. Er verdankte seine Langlebigkeit der Tendenz, den Kampf nicht ausschließlich um des Kampfes, sonder hauptsächlich um des Sieges willen zu suchen. Denn um Situationen, die ihm nicht von vornherein die absolute Überlegenheit zusicherten, machte der gegenwärtige Größte Feldherr einen großen Bogen. Da er dabei schlau zu Werke ging und sich niemals dem üblen Verdacht aussetzte, er laufe vor der Schlacht davon, war seine Herrschaft bisher unangefochten gewesen. Aber Dengt wußte, daß er vorsichtig zu sein hatte. Es gab einige, die seine Behutsamkeit als der Feigheit eng benachbart ansahen. Daher durfte er sich keine Gelegenheit, einen aussichtsreichen Kampf zu führen, entgehen lassen. Mit anderen Worten: das Beiboot der Haawer mußte unbedingt wiedergefunden werden. Und so kehrte er zu seinem Kommandositz zurück und wartete auf den Augenblick, da die Überwachungsgeräte den ersten Reflex des rematerialisierten Haawers registrierten.
* Inzwischen hatte Xingt, einer der vier Totem-Diener, gänzlich andere Sorgen. Xingt war zu seinem Amt erst vor kurzem berufen worden. Er genoß die Ehrerbietung, mit der man ihm begegnete. Aber er fühlte sich in der Ausübung seines Berufs gehindert. Er
wußte nämlich so gut wie nichts über das mächtige Totem – während der weitaus größte Teil der Ehrfurcht, die die Öffentlichkeit ihm entgegenbrachte, auf der Meinung fußte, er sei mit dem Heiligtum bestens vertraut. Xingt wußte auch nicht, auf welche Weise ihm die Ehre zugekommen war, einer der TotemDiener zu sein. Es ging das Gerücht, die mächtige Barleona selbst suche sich ihre Diener aus. Aber Genaues wußte niemand. Xingt hatte geglaubt, daß seine drei älteren Amtskollegen ihm behilflich sein würden, die Ignoranz abzuschütteln. Aber Pangt, Bungt und Songt taten nichts dergleichen. Schließlich sah Xingt sich gezwungen, die unerfreuliche Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er begab sich in die Halle des Heiligtums. Diese befand sich im Zentrum des Flaggschiffs TOTMAN-BRA. Sie war riesig, und in ihrer Mitte erhob sich ein metallenes Gebilde, einem mächtigen Treibstoffbehälter nicht unähnlich, in dem das Totem seinen Sitz hatte. Xingt war schon mehrmals in der Halle gewesen, hatte sich jedoch nicht weit über die Schwelle des Schottes hinausgewagt. Die Halle war bevölkert mit Robotern, die nach dem Vorbild ihrer Erbauer konstruiert waren und sich mit Aufgaben beschäftigten, von denen Xingt nicht wußte, welchem Zweck sie dienten. Diesmal trat er mutig vom Schott weg und marschierte auf den großen Tank zu. Er kam zwanzig Meter weit, dann stellte sich ihm ein Roboter in den Weg. »Was willst du hier?« fragte er mit schlecht modulierter Stimme. »Ich bin einer der vier Diener des mächtigen Totems«, antwortete Xingt. »Ich bin hier, um mehr über die große Barleona zu lernen.« »Soll ich dir die Augenbraue polieren?« erkundigte sich der Robot. »Was für eine Redeweise ist das?« entrüstete sich Xingt. »Geh mir aus dem Weg, du Blechgestell!« Er wußte später nicht mehr, wie es geschehen war. Aber plötzlich vernahm er inmitten seines Schädels ein scharfes, hartes Geräusch und im nächsten Augenblick saß er auf dem Boden, peinigenden
Schmerz im Gehirn und Funken vor den Augen. »Auch du, als Organiker, hast den Handreichern des Totems den nötigen Respekt zu erweisen«, erläuterte der Roboter. Der Zorn erwachte in dem jungen Totem-Diener, und die Aussicht auf einen Kampf verdunkelte für den Bruchteil einer Sekunde seinen Verstand. Er wollte aufspringen und sich auf die unverschämte Maschine stürzen. Aber kaum hatte er den ersten Muskel bewegt, da fuhr ihm der Schmerz wie mit feurigen Pfeilen durch den Schädel, daß ihm um ein Haar übel geworden wäre. Er sackte ächzend wieder zu Boden und sah zu dem Robot auf. »Warum hältst du mich auf?« fragte er mit zitternder Stimme. »Nur die Handreicher des Totems haben sich das Recht erworben, in seiner Nähe zu sein«, antwortete die metallische Stimme. »Aber ich bin ein Totem-Diener!« protestierte Xingt. »Mein Ansehen hängt davon ab, daß ich so viel wie möglich über das Totem weiß.« »Alles, was du zu wissen brauchst, weißt du schon«, erklärte der Robot. »Ich weiß nichts«, jammerte Xingt. »Wenn das mächtige Totem dich dennoch zu seinem Diener gemacht hat, dann brauchst du nichts zu fürchten«, sagte der Robot unbewegt. Xingt stemmte sich in die Höhe – diesmal vorsichtiger. »Wie soll ich mein Amt versehen können, wenn ich von nichts eine Ahnung habe?« beschwerte er sich. »Das ist eine Frage«, antwortete der Robot steif, »die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt.«
* Und noch einer verdient, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden: Ordeal, das Gewissen des Kriegers. Er saß in seinem
Behältnis, dem Zweifach-Rad, und nahm alles wahr, was um ihn herum vorging. Also sah er auch das kleine Raumfahrzeug, das plötzlich aus dem Nichts auftauchte und geradewegs auf ihn zuhielt. Und er gewahrte die Flotte von Raumschiffen in zwölf Lichtjahren Entfernung, die in Bewegung geriet, kaum daß das Boot materialisiert war. Und er wußte, daß sich binnen kurzem in seiner unmittelbaren Umgebung das abspielen würde, wozu er seit undenkbar langer Zeit mit aller Kraft seines Geistes anstachelte: ein Kampf. Ordeal, der sich selbst »das Gewissen des Kriegers«, nannte, war ein losgelöstes, körperloses Bewußtsein, das im Innern des Zweifach-Rades in Symbiose mit einem Computer lebte. So lange befand sich Ordeal schon in diesem Zustand, daß er längst vergessen hatte, wer er einst gewesen war. Es war natürlich auch möglich, daß man seine Erinnerung manipuliert hatte. Wer immer es war, dem er dieses sein Dasein verdankte, mußte darauf bedacht gewesen sein, daß er seine Aufgabe mit der nötigen Konzentration erfüllte. Wenn man genau darüber nachdachte, dann erschien eine Bewußtseinsmanipulation sogar als unerläßlich. Wie anders hätte er sich auf seine Aufgabe konzentrieren sollen, wenn nicht zuvor alle Gedanken entfernt worden wären, die ihn hätten ablenken können? Es war schwer zu sagen, ob Ordeal sein Leben gefiel. Er hatte sich mit seiner Existenz abgefunden. Er versorgte den Computer mit kriegerischen Signalen, die dieser verstärkte und über einen kräftigen Sender in der Hellzone von Xiinx-Markant verbreitete. Es ging alles nach Plan. Überall tobte der Kampf. Die Völker von XiinxMarkant setzten alles daran, sich in der Schlacht zu bewähren. Ordeal verstand den Sinn des Ganzen nicht – aber warum sollte ihn das kümmern? Nach diesen Gedanken richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot, das sich ihm näherte. Die ferne Flotte war inzwischen im Hyperraum verschwunden. Ordeal rechnete in jeder Sekunde damit, daß sie in unmittelbarer Nähe rematerialisierte. Was ihn
störte, war das Verhalten des Bootes. Er hatte erwartet, daß es in Richtung der Sonne weiterfliegen würde, um sich in der Korona vor dem weit überlegenen Gegner zu verstecken. Statt dessen hielt es geradewegs auf das Zweifach-Rad zu. Ordeal begann, sich in Gedanken darauf einzurichten, daß der erwartete Kampf wohl eine andere Form annehmen würde, als er es sich anfangs vorgestellt hatte.
2. »Astrograph, was sagen deine Geräte?« Die Frage galt Argan U, dem Puschyden. Der kleine, putzige Bär mit dem orangefarbenen Schuppenfell hatte an Bord der SOL das Handwerkszeug eines Beobachters der Sterne erlernt. Er stellte sich dabei äußerst geschickt an, und es war ihm ein leichtes gewesen, sich auch in die Bedienung der entsprechenden Geräte an Bord der ZACK zu finden, obwohl diese einer fremden Technologie angehörten. »Alle Anzeigen negativ«, antwortete er mit heller Stimme auf Nockemanns Frage. »Die Sonne ist ein 12 Stern vom Typ GI, aber sie besitzt offenbar keine Planeten.« »Verdammter Mist!« schimpfte der Allround-Wissenschaftler. Im Hintergrund des kleinen Kommandoraums tat es einen mächtigen Krach. Glogg fuhr auf und sah sich um. Splitter flogen durch die Luft und prallten klirrend gegen die Wände. »Oh«, sagte Blödel, der ofenrohr-förmige Roboter, der sich bis vor kurzem an einem Gerät zu schaffen gemacht hatte, von dem jetzt nur noch die glimmende Basisplatte übrig war. »Wer hätte das gedacht?« Er war glimpflich davongekommen. Über seinem großen Auge klebte ein Stück geschmolzenes Glassit, dessen rote Glut allmählich erstarb. Mehrere Stellen seines metallenen Körpers waren mit
Brandspuren versehen. Aber keine der lebenswichtigen Funktionen schien unter der Explosion gelitten zu haben. »Ich wollte gerade eine wichtige Beobachtung mitteilen«, erklärte Blödel, um den Anschuldigungen, die jetzt sicher an der Tagesordnung waren, zuvorzukommen. »Welche?« knurrte Hage Nockemann. »Das ist es eben«, klagte Blödel. »Ich weiß nicht, welchem Zweck dieses Gerät dient … ich meine, diente. Es hatte offenbar etwas ziemlich Aufregendes festgestellt, denn es blinkte und leuchtete an allen Kanten. Ich dachte, es müßte mir möglich sein, die Funktion des Instruments durch eine Inspektion seines Innern zu ermitteln. Und da …« »Und da flog es dir um die Ohren!« schrie Nockemann erbost. »Ich habe keine Ohren«, verteidigte sich der Roboter. »Oh, du Ausgeburt einer Blödsinnsmaschine!« jammerte Nockemann. »Glogg, was war das für ein Gerät?« »Ein Indikator für psionische Strahlung«, antwortete der Haawer. »Noch im Experimentierstadium. Ich weiß nicht, warum man es ausgerechnet an Bord der ZACK installiert hat. Aber es wundert mich nicht, daß es explodiert ist.« »Da siehst du …« begann Blödel. »Ich sehe nichts!« kreischte Hage Nockemann in höchstem Zorn. »Laß deine Finger von Dingen, die du nicht verstehst. Woher kam die Psi-Strahlung?« Blödels einziges Auge richtete sich mit vorwurfsvollem Blick auf seinen Erbauer. »Woher soll ich das wissen?« »Ortung«, sagte Glogg. »Es gibt hier womöglich keine Planeten, aber jemand hat hier etwas hinterlassen …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Seine flinken Finger waren mit den Tasten der Konsole beschäftigt. Ein Bild entstand auf einem der Videogeräte – das Bild einer exotischen Struktur, die aus zwei senkrecht aufeinanderstehenden Rädern zu bestehen schien. Das
Gebilde war symmetrisch. Sein Mittelpunkt stellte gleichzeitig die Nabe der beiden Räder dar. In diesem Mittelpunkt befand sich, an einer speichenähnlichen Konstruktion aufgehängt, ein Ding, das einer riesigen, konischen Tonne ähnelte. Die Radwülste waren nicht glatt, sondern mit zahlreichen, unregelmäßig geformten Auswüchsen durchsetzt, von denen einige die Form von Schüsselantennen aufwiesen. Es gab auch Gebilde, die stab- oder spindelartig weit in den Raum hinausragten, und an einer Stelle schwebte schräg über dem Doppelrad ein geheimnisvoll leuchtendes, kreisförmiges Feld, das offenbar aus Energie bestand. Glogg hatte inzwischen der Abbildung einen Maßstab zugeschaltet. Daran las Hage Nockemann ab, daß der Durchmesser der beiden Räder jeweils sechshundert Meter betrug. Der Abstand der merkwürdigen Struktur von der Oberfläche der gelben Sonne belief sich auf 72 Lichtsekunden. »Deutliche energetische Tätigkeit«, meldete der Haawer. »Offenbar wird hyperenergetische Leistung von der Sonne abgezogen.« Nockemann zögerte. Sein Blick fiel auf das Orterbild, das die Reflexkette der barleonischen Raumflotte darstellte. Die Reflexe waren in Bewegung geraten. Einer nach dem andern verschwand. Das Wiederauftauchen der ZACK war registriert worden. Der Gegner nahm die Verfolgung auf. Immerhin blieben noch ein paar Minuten. Das Doppelrad befand sich in unmittelbarer Nähe der Sonne. Es lag sozusagen am Weg. »Los, wir sehen uns das Ding aus der Nähe an«, entschied der Wissenschaftler.
* Das Schicksal machte es dem Größten Feldherrn nicht leicht. An und für sich hatte er vorgehabt, aus dem Hyperraum aufzutauchen, das
Beiboot der Haawer zu stellen, es zu vernichten und wieder zu verschwinden. Aber kaum brach die TOTMAN-BRA aus dem fünfdimensionalen Raum hervor, da schrillten die Ortersirenen, wie sie es wegen eines einzelnen lausigen Raumboots niemals hätten tun dürfen. »Mittelstarker Fremdverband Steuerbord«, meldete Fingt, der Erste Sekundärstratege. »Mittelstarker Fremdverband Backbord«, krähte Lungt, der Zweite Sekundärstratege. »Fremde Einzelfahrzeuge vorab«, schrie Fingt. »Fremde Einzelfahrzeuge achtern«, brüllte Lungt. »Und ich nehme an, über und unter uns werdet ihr auch noch was finden«, rief Dingt zornig. »Verdammt, wo bleibt die Strategie?« »Sofort die Einzelfahrzeuge achtern angreifen«, schlug Lungt eifrig vor. »Verzögerungstaktik, bis der Rest der Flotte materialisiert ist«, lautete Fingts Vorschlag. Er war eindeutig der bessere. Gegenwärtig befanden sich erst achtzehn barleonische Einheiten im Kampfgebiet. Der Gegner war überlegen. Im Lauf der nächsten zwei Minuten würden aber weitere vierhundert Schiffe rematerialisieren. Dann sah die Sache anders aus. Dengt verfluchte das Schicksal, daß ihm den unerwarteten Gegner ausgerechnet jetzt über den Weg führte. Dreißig Lichtminuten entfernt flammte die gelbe Sonne, auf die das Beiboot der Haawer zuhielt. Das wäre ein netter Bissen gewesen. Aber jetzt das! Was hatten die Kerle hier verloren? Wer waren sie überhaupt? Der Computer hatte inzwischen ermittelt, daß es sich um 150 feindliche Einheiten handelte, die sich in aller Eile zum Kampf formierten, da sie bemerkt hatten, daß der Gegner immer zahlreicher wurde. »Tengdschi!« rief Lungt voller Begeisterung. »Mit den feigen Hunden werden wir keine Schwierigkeiten haben.« Dengt atmete auf. Die Tengdschi waren in der Tat nicht für ihre
kriegerische Standhaftigkeit bekannt. Oh mächtiges Totem! dachte der Größte Feldherr flehentlich. Gib mir noch anderthalb Minuten, und ich will sie die Kriegskunst lehren, daß ihnen die Fetzen um die Ohren fliegen! Die TOTMAN-BRA kurvte, als ginge es um ihr Leben – eine Vorstellung, die keineswegs an den Haaren herbeigezogen war; denn der Gegner hatte inzwischen das Feuer eröffnet und schoß, was die Abstrahlfelder hergaben. Die Schutzschirme des Flaggschiffs flammten. Aber Dengt gab den Feuerbefehl erst, als seine Fahrzeuge gegenüber denen der Tengdschi deutlich in der Überzahl waren. Dann allerdings wurde es eine kurze Schlacht. Die Tengdschi waren – was allerdings kein Barleoner jemals zugegeben hätte – nicht so sehr Feiglinge wie vielmehr rückständig in ihrer Technik. Ihre Feldschirme brachen schon bei geringfügigen Belastungen zusammen, die Wirkung ihrer Waffen pflanzte sich mit einer Geschwindigkeit weit unter der des Lichts fort. Der Feldherr der Tengdschi erkannte rasch, daß es bei dieser Schlacht nichts für ihn zu holen gab. Nachdem er vier Einheiten verloren hatte, gab er den Befehl, das Feld zu räumen. Die Tengdschi stoben davon und verschwanden kurze Zeit später im Hyperraum. An Bord der barleonischen Fahrzeuge stimmte man die Ruhmeshymne an. Die unüberwindlichen Kinder des mächtigen Totems hatten eine weitere Schlacht gewonnen und allen Völkern der Galaxis Xiinx-Markant von neuem gezeigt, daß ihnen und keinem andern zustand, die führende Rolle zu spielen. Dengt, der Hohe Totem-Bewahrer, stimmte freudig in den Gesang mit ein, würde doch der jüngste Sieg seine Neider wieder eine Zeitlang zur Ruhe bringen. Noch während der Hymne allerdings begann er, nach dem Beiboot der Haawer Ausschau zu halten, das er während des Kampfes aus den Augen verloren hatte.
* »Zum Donnerwetter«, keuchte Hage Nockemann. »Das ging schneller, als ich dachte!« Fassungslos starrte er auf Dutzende von Orterreflexen, die innerhalb weniger Sekunden aus dem Nichts materialisiert waren. Glogg machte eine abwehrende Geste. »Das sind nicht die Barleoner«, erklärte er. Die Tastung erfaßte den Umriß eines der fremden Raumschiffe und bildete ihn auf der Videofläche ab. Zum Vorschein kam ein Fahrzeug, das die Form eines plumpen Tropfens hatte. Ein Kranz klobiger Triebwerkseinheiten säumte das sich rasch verjüngende Heck. Man gewann unwillkürlich den Eindruck, daß hier eine Technik am Werk war, die auf Eleganz keinen Wert legte. Glogg strahlte über sein ganzes dichtbehaartes Gesicht. »Das könnte die Rettung sein«, sagte er. »Tengdschi. Der Zufall führt sie in diese Gegend. Wenn die Barleoner sie sehen, werden sie sich auf sie stürzen.« Inzwischen trieb die ZACK mit langsam schwindender Fahrt auf das eigenartige Doppelrad zu. Die Entfernung betrug immer noch etliche Lichtminuten; aber den Tastern gelang es, immer mehr Einzelheiten des exotischen Gebildes zu erfassen und darzustellen. Allmählich nahm die Komplexität der Struktur atemberaubende Ausmaße an. Blödel musterte das Bild geraume Zeit – ein Zeichen, daß er sich höchst intensiv mit ihm beschäftigte. »Die Technik wirkt überaus kompliziert«, sagte er schließlich. »Ich kann die Funktionsweise des Gebildes nicht erkennen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Technologie, die der unseren weit überlegen ist.« »Das muß ich sehen«, knurrte es irgendwo im Leib des Roboters. Mit hellem Knall öffnete sich eine der zahlreichen Klappen in Blödels metallener Körperhülle. Eine Lade fuhr heraus, und ein Geschöpf kam zum Vorschein, das auf den ersten Blick wie ein
Miniaturigel wirkte. Wuschel, der Bakwer, besaß einen kugelförmigen Körper von acht Zentimetern Durchmesser, und die Haare seines blauschwarzen Fells sträubten sich nach allen Seiten wie ein Stachelpanzer. Wuschels schrille Stimme drang unter der Körperrundung hervor. Dort befanden sich außer seinem Mund alle wichtigen äußeren Organe, auch die winzigen Extremitäten, deren er sich zur Fortbewegung bediente. »Wo ist es? Rasch, ich will es sehen!« zeterte er ungeduldig. Blödel wies auf das Bild. Der Bakwer hatte sich ein wenig seitwärts gerollt, so daß er es sehen konnte. »Sehr kompliziert, in der Tat«, sagte er in der Sprache der Solaner. »Einwandfrei überlegene Technik.« »Ich bin überzeugt, du hast in der Zwischenzeit die Qualifikationen eines Xenotechnologen erworben«, spottete Nockemann. »Ach, laß mich mit deinen schweren Wörtern in Ruhe«, schalt ihn Wuschel. »Sieht doch ein jeder, daß hier Konstrukteure am Werk waren, die uns um Tausende von Jahren voraus sind.« »Wenn ich daran denke«, grinste Hage Nockemann, »daß du vor ein paar Monaten noch nicht einmal wußtest, was ein Jahr war.« Um Wuschels nächster Bemerkung zuvorzukommen, fuhr er hastig fort: »Glogg, was weißt du davon?« Der Haawer schüttelte den Kopf. Das hatte er von dem Solaner gelernt. »Nichts«, sagte er. »Ich habe so ein Ding noch nie gesehen.« »Auch nichts davon gehört?« hakte Nockemann nach. »Ich meine, wer ein solches Gebilde zu Gesicht bekommt, der erzählt anderen davon. Er spricht womöglich von einem Doppelrad oder einem Zweifach-Rad … was weiß ich. Ein solcher Begriff ist dir nie in die Quere gekommen?« »Nie«, versicherte der Haawer. »Wenn du so verdammt gescheit bist«, begann Wuschel von neuem, »wofür hältst du das Ding dann?«
Blödel schob die Lade in ihre Ruhestellung zurück und schloß die Klappe. Der Bakwer stieß einen protestierenden Schrei aus, aber sein Herr und Meister erklärte unnachgiebig: »Du hältst jetzt den Mund. Hier geht es um eine Diskussion zwischen zwei AllroundWissenschaftlern, zwei Scientologen.« Er horchte eine Sekunde, und als Wuschel sich nicht mehr meldete, wandte er sich an Nockemann: »Also, wofür hältst du es?« »Ich bin meiner Sache nicht ganz sicher«, antwortete der Wissenschaftler ausweichend. »Aber es könnte ein Kunstwerk sein. Ein Denkmal meinetwegen, oder eine Skulptur mit religiöser Bedeutung.« »So einen Blödsinn habe ich mein Lebtag …«, begann der Roboter respektlos, wurde jedoch von Gloggs aufgeregter Meldung unterbrochen: »Die Barleoner materialisieren! Jetzt geht's los!«
* Die Schlacht, von der sich die Besatzung der ZACK eine Befreiung aus der verfahrenen Lage erhofft hatte, wurde zur Enttäuschung. Die Barleoner waren den Tengdschi nicht nur an Zahl, sondern auch an technischen Mitteln überlegen. Die Tengdschi flohen, nachdem sie mehrere Einheiten verloren hatten; und wenige Minuten später war die ursprüngliche Konstellation wiederhergestellt: die kleine ZACK gegen die barleonische Flotte. Das Boot war mittlerweile nur noch achtzig Lichtsekunden vom Doppelrad entfernt. Hage Nockemann hielt an seinem ursprünglichen Vorhaben fest. Er rechnete damit, daß die Barleoner mehrere Minuten brauchen würden, um sich zu sammeln und die Verfolgung wieder aufzunehmen. Er bestand darauf, als erstes so nahe wie möglich an das fremde Gebilde heranzufliegen und den Rest der verbleibenden Zeit zur Auffindung eines Verstecks in den
Tiefen der Sonnenkorona zu verwenden. Aber dann kam alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Die Barleoner sammelten sich nicht. Die größte ihrer Einheiten, ohne Zweifel das Flaggschiff, nahm in Begleitung von nur drei weiteren Schiffen die Verfolgung auf eigene Faust auf. Hage Nockemann, der Nicht-Stratege, hatte die Möglichkeit einer solchen Entwicklung nicht in Rechnung gestellt. Plötzlich brannte ihm die Zeit auf den Nägeln. Aber der Weg zur Sonne hin war versperrt. Zwei Barleonen-Schiffe rasten seitwärts an der Doppelrad-Station vorbei sonnenwärts und machten diese Fluchtmöglichkeit zunichte. Der ZACK blieb nur die einzige Möglichkeit, im Schatten des Zweifach-Rads Schutz zu suchen. Wenn sich Nockemanns Hypothese bewahrheitete und die seltsame Struktur in der Tat eine Art Heiligtum darstellte, dann gab es noch eine Hoffnung auf Rettung. Aber es wurde knapp. Zwei Barleoner eröffneten das Feuer. Glogg und der Autopilot steuerten das Boot durch eine Serie, wilder Ausweichmanöver, die die Aggregate der ZACK bis zum äußersten belasteten. Die barleonischen Schiffe schlossen auf. Hinter den beiden vordersten Angreifern rückte jetzt die gesamte Flotte heran. Die Fahrzeuge hatten sich zu einer breiten, dreifach gestaffelten Front formiert. Die ZACK erhielt den ersten, streifenden Treffer. Ein scharfer Ruck fuhr durch das Boot. Die Feldschirme zuckten und waberten. Auf dem Tasterbild erschien das doppelte Rad in allen Einzelheiten, riesengroß, zum Greifen nah. Aber die Standardoptik zeigte es noch immer als winzigen Lichtpunkt, mehr als drei Lichtsekunden entfernt. Hage Nockemann sah einen Treffer auf der Außenhülle eines der beiden Räder aufleuchten – einen Schuß, der das Boot verfehlt hatte – und schrie vor Enttäuschung auf. Die Barleoner kümmerten sich nicht darum, ob die Station durch ihr Feuer Schaden erlitt. Wessen Heiligtum sie auch immer sein mochte – ihres war sie offenbar nicht. Nockemann hielt seinen letzten Augenblick für gekommen. Ein
kräftiger Stoß ließ das Boot sich aufbäumen. Der Wissenschaftler wurde in den Gurten nach vorne gerissen. Auf dem Bildschirm sah er das Sterngewimmel der fremden Galaxis einen wilden Tanz vollführen. Der Helm seiner Raumschutzmontur schloß sich automatisch. Jeden Augenblick erwartete Nockemann, das kreischende, schrillende Pfeifen entweichender Luft zu hören. Statt dessen gellte Gloggs Stimme plötzlich aus dem Empfänger. »Starke energetische Einwirkung! Das Doppelrad hat sich in ein Schirmfeld gehüllt.« Schlingernd und stampfend bewegte sich die ZACK durch die Energiefronten, die sie abzudrängen versuchten. Der Autopilot brachte das Boot unter Kontrolle. Die ZACK flog eine scharfe Ausweichkurve, die sie hoch über die angreifende Front der Barleoner hinaustrug. Dabei gewann sie ein paar tausend zusätzliche Kilometer Abstand von dem doppelten Rad. Das genügte offenbar, der Einwirkung des Schirmfelds zu entkommen. Die Bewegung des Bootes beruhigte sich. Staunend sah Hage Nockemann sich nach den Barleonern um. Ihre Formation war in Verwirrung geraten. Die Schiffe strebten nach allen Richtungen auseinander. Sein Blick glitt über den Orterschirm. Es fiel kein einziger Schuß mehr. Neben ihm sagte Glogg: »Ich glaube, es ist ein Wunder geschehen.«
* Dengt, der Hohe Totem-Bewahrer, hatte den Geschmack des Sieges schon auf der Zunge. Er selbst leitete das Feuer. Der Haawer war ein überaus geschickter Pilot, er machte es den Verfolgern nicht leicht. Die Manövrierfähigkeit seines kleinen Bootes übertraf die der barleonischen Schiffe. Er floh, gewiß – aber wer hätte das an seiner Stelle nicht getan? »Ein Feigling, wer vor uns davonläuft«, schrie Lungt wütend.
»Halt den Mund«, fuhr Dengt ihn an, ohne den Blick von den Feuerkontrollen zu wenden. »Wir brauchten ein paar Piloten wie ihn in unseren Reihen.« Wie üblich, ließ Fingt, der Erste Sekundärstratege, sich vom Eifer des Kampfes weniger hinreißen. Er hatte sogar noch Zeit, Beobachtungen an der Peripherie des Schlachtfelds zu machen. »Wir nähern uns einem Gebilde von seltsamer Form«, meldete er. »Es steht einskommazwei Lichtminuten vor der Sonne und hat die Form eines doppelten Rades …« »Kümmert euch nicht darum!« lautete Dengts Befehl. Er löste eine Salve aus, sah auf dem Orterschirm, wie das Boot des Haawers zu schlingern und zu tanzen begann, und stieß einen bösen Fluch aus. Sämtliche Schüsse hatten ihr Ziel verfehlt. »Energetische Tätigkeit in der Umgebung des doppelrädrigen Gebildes«, meldete Fingt sachlich. »Ein Schutzschirm wird ausgefahren.« Dengt sah das nebelartige Wabern, das über den Schutzschirm huschte. Er wollte ihm keine Beachtung schenken. Noch war das Ziel klar und deutlich zu erkennen. Die Hand senkte sich über die Auslösetaste. Das Auge wartete auf die Zwanzigstelsekunde, da die Automatik die Optimierung aller Feuerwerte anzeigte … Das Signal kam. Aber die Hand drückte nicht zu. Dengt hob den Kopf. Er sah seine Kämpfer, eben noch voller verbissenem Eifer über ihre Anzeigegeräte gebeugt, sich aufrichten. Sie wandten sich um. Ihre Blicke suchten den Größten Feldherrn. Ratlosigkeit stand ihnen in den Gesichtern geschrieben. Mächtiges Totem, was ist geschehen? fuhr es Dengt durch den Sinn. Er horchte in sich hinein. Das Boot des Haawers! Warum interessiert es ihn? Warum jagte er hinter ihm her? Er ist der Feind. Du mußt mit ihm kämpfen! Unsinn, dachte Dengt. Ich habe mein ganzes Leben lang noch nie mit einem Haawer persönlich zu tun gehabt. Warum sollte einer von ihnen mein Feind sein?
Die mahnende Stimme verstummte. Der Hohe Totem-Bewahrer wußte nicht, wie ihm geschah. Es war ihm im Lauf der vergangenen Sekunden etwas abhanden gekommen; aber er wußte nicht, was es war. Fingt trat auf ihn zu. Er wirkte gar nicht wie ein Kämpfer. »Wie lauten deine Befehle, Hoher Totem-Bewahrer?« fragte er so interesselos wie einer, der im vorhinein wußte, daß die Antwort, wie auch immer sie ausfiel, gänzlich ohne Bedeutung sein würde. Da ging es Dengt plötzlich auf. Heilige Sterne, wir sind keine Kämpfer mehr. Er wurde noch verwirrter, als er erkannte, daß er in Gedanken die Sterne angerufen hatte und nicht das Totem, wie es seine Pflicht war. »Wir erwarten deine Befehle«, mahnte Fingt. »Sammeln«, antwortete der Größte Feldherr. »Zum ursprünglichen Kurs zurückkehren.« »Und das Boot des Haawers?« wollte Fingt wissen. »Interessiert uns nicht.«
3. »Also doch«, sagte Hage Nockemann nachdenklich. »Also doch was?« erkundigte sich Blödel. »Sie haben das Heiligtum im letzten Augenblick erkannt«, erklärte der Wissenschaftler. »Vor der Tabu-Zone machten sie kehrt. Wir befinden uns im sakrosankten Bereich.« »Wenn wir uns in der Tabuzone ihres Heiligtums aufhalten – wäre das nicht um so mehr ein Grund, uns anzugreifen und zu verjagen?« fragte der Robot. »Geh, was verstehst du schon von sakrosankten Bereichen?« wies ihn Nockemann ungeduldig ab. »Ich nehme an, du möchtest weiterhin an deiner Hypothese mit dem Produkt einer weit fortgeschrittenen Technik festhalten?« »Allerdings«, bestätigte Blödel.
»Wie erklärst du dann das Verhalten der Barleoner?« »Zuerst stelle ich fest, daß sie nicht kehrtgemacht haben, sondern nach allen Seiten davongespritzt sind. Das war kein koordiniertes Wendemanöver, sondern eine Reaktion der Ratlosigkeit. Sieh dir das Orterbild an. Sie haben sich bis jetzt noch nicht wieder zurechtgefunden – eine halbe Stunde danach!« »Na und?« »Es geschah etwas mit ihren Bewußtseinen. In der einen Sekunde hatten sie noch ein festes Ziel, in der nächsten wußten sie nicht mehr, was sie wollten. Als sie die Verfolgung aufnahmen, wurden sie vom Kämpferimpuls geleitet. Jetzt ist der Impuls verschwunden.« »Aha«, machte Nockemann spöttisch. »Und das alles hat etwas damit zu tun, daß das doppelte Rad ein exquisites Erzeugnis fremder Technik ist.« »Selbstverständlich.« »Wie?« – »Seit wir Xiinx-Markant erreichten, haben wir uns den Kopf darüber zerbrochen, woher der unselige Drang zu kämpfen, der offenbar alle Völker dieser Galaxis beseelt …« »Nicht alle«, unterbrach ihn Nockemann. »Die Staubflieger sind nicht betroffen. Wir haben Grund zu der Annahme, daß in der Dunkelzone andere Verhältnisse herrschen.« »Fall mir nicht dauernd ins Wort«, brummte Blödel. »Also gut: Meinetwegen beseelt er nur die Völker des Ringsektors. Auf jeden Fall haben wir daran herumgerätselt, woher der Einfluß kommt. Ich behaupte, er geht von Dingen wie diesem aus.« Mit einem seiner beiden Tentakelarme machte er eine triumphierende Geste in Richtung des Tasterbildes, das die doppelrädrige Struktur zeigte. Auf dem Bild war seit kurzem ein mattes, nebliges Flimmern zu sehen. Man mußte annehmen, daß es von dem Energieschirm herrührte, in den das Doppelrad sich gehüllt hatte. »Von Dingen … wie diesem …«, ächzte Hage Nockemann. Dann
gab er sich einen Ruck. »Höre«, sagte er energisch. »Ich werde mich in deinem Logiksektor umsehen müssen. Da scheinen mir ein paar Blasenspeicher geplatzt zu sein.« »Ich nenne es ein Mental-Relais«, fuhr Blödel ungerührt fort. »Es versendet die Strahlung, die die Intelligenzen dieser Galaxis zum Kämpfen antreibt. Als es den Feldschirm anlegte, wurde die Strahlung blockiert. Die Barleoner wußten plötzlich nicht mehr, woran sie waren. Der Kämpferinstinkt war erloschen.« Nockemann wurde allen Ernstes ärgerlich. »Du mit deinem Technologie-Fimmel!« schrie er. »Ich werde dir beweisen, was von deiner Theorie zu halten ist! Glogg?« »Ja.« »Setz das Boot in Bewegung. Halte mit Höchstbeschleunigung vom Doppelrad fort.« Er wandte sich an Blödel und knurrte: »Und du läßt den Orterschirm nicht aus dem Auge. Beobachte, wie die Barleoner reagieren.« Die ZACK beschleunigte. Innerhalb kurzer Zeit erreichte sie eine Geschwindigkeit von 20% Licht und bewegte sich auf einem Kurs, der weit an dem zersprengten Haufen der barleonischen Raumschiffe vorbeiführte. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, da wurde eine Änderung im Verhalten der Barleoner bemerkbar. Ihre Bewegungen waren mit einemmal weniger ziellos. Die Fahrzeuge schlossen sich zu kleinen Gruppen zusammen, die Gruppen zu Verbänden, und aus den Verbänden entstand mit atemberaubender Schnelligkeit eine wohlorganisierte Flotte. »Du siehst, daß ich recht habe«, triumphierte Hage Nockemann. »Wir haben die Tabuzone verlassen. Jetzt werden sie versuchen, uns für unseren Frevel zu bestrafen.« »Und ich büße mit dem Kopf dafür, daß ihr zwei Hitzköpfe euch nicht einigen konntet«, beschwerte sich der Haawer. »Sie gleichen ihren Kurs dem unseren an. Sie schwenken ein. Sie halten auf uns zu. Jetzt, ihr beiden Allround-Wissenschaftler, laßt euch schnell einfallen, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.«
»Das ist einfach«, bemerkte Nockemann wegwerfend. »Wir kehren um und fliegen zur Tabuzone zurück.« Er wandte sich dem Roboter zu. »Das ist der Beweis, nicht wahr?« sagte er. »Du bekennst, daß meine Hypothese die richtige ist.« »Nein«, antwortete Blödel stur. »Nicht? Du verrückte Blechbüchse, du widerwärtiges Ofen …« Mit stummer Geste wies der Robot auf das Tasterbild. Das Doppelrad war noch sichtbar, wenn auch auf ein Viertel seiner früheren Größe geschrumpft. Noch etwas anderes hatte sich verändert. Der flimmernde Nebel war verschwunden. »Als die ZACK sich entfernte, wurde der Feldschirm aufgelöst«, erläuterte Blödel. »Die Blockierung der Mentalstrahlung entfiel. Die Barleoner empfanden plötzlich wieder den Drang zu kämpfen. Dein vermeintlicher Beweis bedeutet in Wirklichkeit überhaupt nichts.«
* Dank sei dir, mächtiges Totem! Da war sie wieder, die geistige Sicherheit, die innere Festigkeit. Kampf war der Sinn des Lebens, Krieg die Erfüllung des Daseins! Wie hatte er an dieser grundlegenden Wahrheit zweifeln können? Er konnte sich diesen zweiten Sinneswandel ebensowenig erklären wie den ersten. Aber er sah, daß auch seine Mitkämpfer ihm unterlagen. Sie sahen ihn an. Ihre Blicke waren hellwach und von Kampfgeist erfüllt. Er wußte, was er zu tun hatte. Seine Befehle kamen klar und knapp. Die Piloten reagierten. Die Flotte begann, sich zu sammeln. Dengts Blick haftete auf dem raschen Orterreflex des gegnerischen Beiboots. Nur für den Bruchteil einer Sekunde überkam ihn von neuem Verwirrung. Der Haawer war sicher gewesen, wo er sich bisher aufgehalten hatte. Warum blieb er nicht dort?
Er streifte den Gedanken von sich ab! Des Haawers Pech war sein Glück. Ein gegnerisches Raumboot vernichtet, einen weiteren Sieg an die Fahnen geheftet. Darauf kam es an: Kampf, Sieg, Ruhm. Der Haawer war ein Narr. Die Flotte brauchte, nachdem sie die Orientierung wiedergewonnen hatte, nur ein paar knappe Manöver auszuführen, und schon war sie ihm auf den Fersen. Einen Augenblick lang schwelgte der Hohe Totem-Bewahrer im Genuß des bevorstehenden Triumphs. Dann sah er, daß der Haawer seinen Fehler offenbar erkannt hatte. Die Bewegung des Reflexes wurde langsamer. Das Boot hatte eine verschärfte Bremsbeschleunigung vorgelegt. Innerhalb kurzer Zeit kam es zum Stillstand. Dann begann es, sich in der entgegengesetzten Richtung zu bewegen. »Der feige Barbar läuft schon wieder vor uns davon!« schrie Lungt empört. »Das Boot setzt sich in Richtung des sicheren Ortes ab«, meldete Fingt sachlich. Seine Worte gaben Dengt zu denken. Der Erste Sekundärstratege war also wie er der Ansicht, daß der Haawer besser daran getan hätte, dort zu bleiben, wo er zuvor gewesen war. Am »sicheren Ort«. In der Nähe des seltsamen Gebildes, das wie ein doppeltes Rad aussah. Der Größte Feldherr hatte keine Ahnung, was die fremde Struktur darstellen mochte. Aber darum konnte er sich im Augenblick nicht kümmern. Er mußte den Haawer einholen, bevor er die Sicherheit seines rätselhaften Asyls erreichte. »Wir schaffen es voraussichtlich nicht«, sagte Fingt. Das Dunkel soll deine Unerschütterlichkeit holen, dachte Dengt ergrimmt. Wo bleibt dein Feuer kämpferischer Begeisterung? »Halt!« schrie jemand. Es war unerhört. Der Hohe Totem-Bewahrer gab hier die Befehle, niemand sonst! Wer hatte »Halt« geschrien? Dengt kümmerte es nicht. Er war mit seinen Gedanken beschäftigt. Sein Verstand schien sich in zwei Teile gespalten zu haben, von denen der eine dem andern widersprach.
Das Feuer was für einer Begeisterung? Der kämpferischen. Wofür soll die gut sein? Für den Kampf natürlich. Das ist eine närrische Antwort. Die kämpferische Begeisterung ist für den Kampf gut, die erotische für die Liebe, die friedliche für den Frieden. Das versteht sich von selbst. Was meinst du wirklich? Ich … ich weiß es nicht. Nicht mehr. Ich hab's vergessen. Gut so. Überlaß es der Vergessenheit. Hol es nie wieder hervor, hörst du? Ja … Dengt barg den spitzen Kopf in den langen, schmalen Händen. Was ging hier vor? Er traute sich nicht, seine Mitkämpfer anzusehen. Was sollten sie von ihm denken? Der Hohe TotemBewahrer, der von Zweifeln geplagt wurde, wenn es zum Kampf ging? Vielleicht – konnte es sein? – hatten die, die er seine Neider nannte, doch recht? War er feige? »Das Haawer-Boot befindet sich wieder am sicheren Platz«, meldete Fingt mit müder Stimme. »Welches sind deine Befehle, Größter Feldherr?« Dengt hob den Blick. Es war so wie vor einer Stunde, als das Unerklärliche sie zum ersten Mal überkommen hatte. Blicklose Gesichter, teilnahmslose Mienen, Unverständnis ringsum. Nein, er war nicht der einzige, den der Wunsch zu kämpfen verlassen hatte. Sie alle hatten den Geist des Krieges verloren. Und warum? »Laß die Flotte sich sammeln«, antwortete er auf Fingst Frage. Er brauchte eine Erklärung. Es gab nur eine Quelle, aus der solche Weisheit sprießen konnte. »Und auf den früheren Kurs zurückgehen?« wollte Fingt sich vergewissern. »Nein. Wir sammeln uns hier und warten.« Diese Quelle war das mächtige Totem. Er mußte das Totem befragen. Es gab nur einen Weg zu der herrlichen Barleona – durch
ihre Totem-Diener. »Hast du noch andere Befehle?« erkundigte sich Fingt – mit einer Stimme so schlapp, als halte er es für sicher, daß er eine verneinende Antwort erhalten werde. »Ja«, wurde er enttäuscht. »Bring einen der Totem-Diener in mein Privatquartier.« »Welchen?« fragte Fingt mürrisch. »Irgendeinen. Welcher Name fällt dir als erster ein?« »Xingt«, antwortete Fingt. »Gut. Bring ihn. Er soll mir erklären, wie wir das Totem dazu bewegen können, daß es unsere seltsame Befangenheit aufhebt.«
* »Eine Korvaxe?« wiederholte Dengt ungläubig. »Oh, nicht irgendeine Korvaxe«, antwortete Xingt, der erkannte, daß der Größte Feldherr von seiner Darstellung nicht beeindruckt war. »Eine goldene Korvaxe!« »Wie faszinierend«, bemerkte der Hohe Totem-Bewahrer mit undurchdringlichem Lächeln. »Korvaxen sind normalerweise schwarz und unscheinbar.« »Es ist keine kleine, unscheinbare, schwarze Korvaxe«, beharrte Xingt, dem die Unterhaltung allmählich auf die Nerven ging, »sondern eine große, schwere, goldene, von unvergleichlicher Erhabenheit und betörendem Gesang.« »So?« machte Dengt zweifelnd. »Korvaxen singen normalerweise nicht. Sie krächzen, und wenn sich viele von ihnen zusammenfinden, machen sie einen Lärm, der in den Ohren schmerzt.« Xingt spürte, wie ihm der Schweiß auf die gefurchte Stirn trat. Er fühlte ein Brennen in der rudimentären Öffnung des dritten Auges. Glaubte ihm der Totem-Bewahrer etwa nicht? Gewiß, er hätte sich
etwas Gescheiteres ausdenken können, wenn ihm dazu Zeit geblieben wäre. Aber Dengts Frage »Wie ist das mächtige Totem beschaffen?« war völlig überraschend gekommen, und Xingt hatte voller Verzweiflung nach dem ersten Bild gegriffen, das ihm durch den Sinn schoß. Tiere spielten im Alltagsleben der Barleoner eine höchst untergeordnete Rolle. Sie begegneten ihnen nur, wenn sie auf einem Planeten landeten, um ihre Vorräte zu ergänzen. Bei einem »Landfall« der fernen Vergangenheit waren die barleonischen Lande- und Versorgungskommandos offenbar auf eine Spezies gefiederter, flugfähiger Tiere gestoßen, die sich als äußerst zutraulich erwiesen und die Fähigkeit besaßen, gewisse Laute und Worte der barleonischen Sprache nachzuahmen. Der Name »Korvaxe« war lautmalerischer Natur. So etwa klang das Geräusch, mit dem die Tiere sich untereinander verständigten. Ein paar Dutzend Korvaxen waren von den Kommandos mit zur Flotte gebracht worden. Sie bürgerten sich an Bord der Schiffe rasch ein und begannen, sich zu vermehren. So fleißig sogar, daß ein Teil der Brut getötet werden mußte und als zusätzliche Frischfleischration in den Schüsseln der Barleoner landete. Die Korvaxen waren Haustiere, Alltagsgenossen. Man durfte sich nicht darüber wundern, daß Xingt als erstes eine Korvaxe in den Sinn gekommen war, als man ihn aufforderte, die äußere Erscheinung des mächtigen Totems Barleona zu beschreiben. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er stak fest mit seiner Erfindung. »Es ist verständlich, daß die herrliche Barleona sich nach dem Vorbild einer Korvaxe gestaltet hat«, verteidigte er seine Darstellung. »Sind die Korvaxen nicht unsere Freizeitgenossen, unsere Freunde? Ebenso verständlich ist es, daß sie die Form einer nicht alltäglichen Korvaxe annahm.« »Ja, ja«, brummte Dengt. »Sie ist golden und singt.« Er wurde ungeduldig und machte eine wischende Handbewegung. »Was ich wissen will, ist, wie man das mächtige Totem besänftigen kann.« »Besänftigen?« fragte Xingt erschreckt. »Hat es sich zornig
gezeigt?« »Es läßt zu, daß uns dieser seltsame Sinneswandel befällt, nicht wahr? Ich weiß inzwischen nicht mehr, ob ich ein Kämpfer bin oder nicht – und allen anderen Barleonern geht es ebenso.« »Da hast du recht«, antwortete der Totem-Diener einfältig, während sein Verstand krampfhaft damit beschäftigt war, nach einer Antwort auf die ursprüngliche Frage zu suchen. »Ich denke, ein Opfer wird sie gnädiger stimmen.« »Ein Opfer?« fuhr der Größte Feldherr auf. »Was für ein Opfer?« »Da sie die Gestalt einer Korvaxe angenommen hat …«, begann Xingt. »Korvaxen fressen Mehlbrei und die kleinen Nagetiere, die wir eigens für sie züchten«, fiel ihm Dengt ins Wort. »Ein solches Opfer willst du dem mächtigen Totem bringen?« »Im großen und ganzen, ja«, antwortete Xingt, dem allmählich übel wurde. »Nur müßte es besonders hergerichtet sein.« »Singender Mehlbrei!« rief Dengt. Xingt starrte seinen Oberbefehlshaber mißtrauisch an. Wollte er sich einen Ulk aus ihm machen? Anscheinend nicht. Seine Miene wirkte ernsthaft. »In der Tat«, sagte Xingt, »wäre es keine schlechte Idee, die Schüssel, in der der Brei gereicht wird, mit einem musikalischen Mechanismus zu versehen. Es gibt solche Dinge. Ich kann …« »Ja, ja, ich weiß schon«, drängte der Größte Feldherr. »Und vergoldete Mäuse!« Xingt hatte Mühe, die Haltung zu wahren. Singender Mehlbrei und vergoldete Mäuse! Woher nahm das Schicksal die Unverfrorenheit, ausgerechnet ihn in eine solche Lage zu verstricken? Aber es blieb ihm keine Zeit zum Nachdenken, keine Gelegenheit zu jammern. Dengts plötzlich erwachter Tatendrang war nicht zu bremsen. »Du kennst Barleonas Gesang, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Xingt gequält.
»Gut. Du programmierst den Musikmechanismus, damit etwas herauskommt, was dem mächtigen Totem gefällt. Inzwischen sorge ich dafür, daß ein paar Nagetiere mit Goldlame präpariert werden. Wieviel meinst du. Sechs? Zwölf?« Xingt nickte mit der Apathie der Verzweiflung. »Es wird höchstens zwei Stunden dauern, bis wir alles zusammen haben«, fuhr Dengt begeistert fort. »Und dann …« »Und dann?« quiekte Xingt voller Entsetzen. »Und dann überbringst du das Opfer mitsamt unseren Bitten und Gebeten.«
* Hage Nockemann machte sich Vorwürfe. Die ZACK verhielt – reglos relativ zu ihrer Umgebung – drei Lichtsekunden vor dem Doppelrad. Der Feldschirm war wieder aktiviert worden, als sich das Boot dem seltsamen Gebilde bis auf einen gewissen Abstand genähert hatte. Die Barleoner waren anderen Sinnes geworden und hatten die Verfolgung aufgegeben. Ihre Flotte stand eine halbe Lichtstunde entfernt, auf dem Orterbild deutlich sichtbar, und rührte sich ebenfalls nicht vom Fleck. Er hatte die Diskussion mit Blödel nicht im wissenschaftlichen Geiste geführt. Er hatte sich von einer Ahnung hinreißen lassen und entgegen allen Gepflogenheiten der objektiven Wahrheitsfindung darauf verzichtet, die Argumente des Diskussionsgegners einer sachlichen Analyse zu unterziehen. Er hatte sich unwissenschaftlich verhalten, und einen schlimmeren Vorwurf hätte weder er selbst noch irgendein anderer gegen den Galakto-Genetiker Hage Nockemann erheben können. Er hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen. Blödel war verschnupft, womöglich sogar verärgert. Er selbst, Hage Nockemann, hatte die Fähigkeit, Pseudoreaktionen dieser Art zu
erzeugen, in die Basisprogrammierung des Roboters eingebaut. In Wirklichkeit war Blödel natürlich nichts weiter als ein Stück Maschinerie – hochkomplexer Maschinerie wohlgemerkt, die an Bord der SOL ihresgleichen nicht hatte (von SENECA natürlich abgesehen) –, aber Nockemann hatte sich an seinen früheren Laborgehilfen, die spätere Dienstleistungsperson und den jetzigen Co-Scientologen derart gewöhnt, daß er sich den Roboter als Mitmenschen dachte. Es war ihm unerträglich, sich vorstellen zu müssen, daß Blödel jetzt irgendwo in einer Ecke kauerte und sich schmollend darüber klarzuwerden versuchte, warum er so unwissenschaftlich behandelt worden war. Er wandte sich an Argan U. Der kleine puschydische Bär war noch immer mit den astrographischen Geräten beschäftigt, obwohl es in der näheren und weiteren Umgebung nichts Neues mehr zu messen gab. Er war überaus gewissenhaft und versuchte, jeden Tag von neuem unter Beweis zu stellen, daß man ihn nicht zu Unrecht zum Astrographen ernannt hatte. »U, wohin ist Blödel gegangen?« fragte der Wissenschaftler. Argan U hob nach menschlicher Art die Schultern. »Ich weiß es nicht. Er ging hinaus. Vor zehn Minuten etwa.« »Ich kann nachschauen«, erbot sich Glogg. »Von der Zentralkonsole aus habe ich Einblick in jeden Raum des Bootes. Es gibt ohnehin sonst nichts zu tun.« Nockemann wehrte kopfschüttelnd ab. »Nein, lieber nicht«, meinte er. »Ich gehe selber nachsehen. In einer solchen Lage ist die persönliche Begegnung noch das wirkungsvollste.« Als er gegangen war, drehte sich Glogg nach dem Puschyden um. »Er nimmt das sehr schwer, nicht wahr? Das Ding ist weiter nichts als ein Roboter, und er spricht von einer persönlichen Begegnung.« »Die Menschen sind nun mal so«, antwortete Argan U resigniert. »Sie gehen einander an den Kragen, aber für ihre materiellen Besitztümer haben sie höchsten Respekt.« Hage Nockemann kehrte nach einer halben Stunde zurück. Er
hatte sämtliche Räume des Bootes durchsucht; es gab ihrer nicht allzu viele. »Ich nehme an, hier ist er inzwischen nicht aufgetaucht«, fragte er niedergeschlagen. »Nein«, antwortete Glogg. Der Wissenschaftler schüttelte verständnislos den Kopf. »Keine Anzeige, daß ein äußeres Schott geöffnet wurde?« »Keine.« »Wäre ohnehin kein Hindernis für ihn«, sagte Nockemann im Ton eines Grabredners. »Er versteht genug von Positronik, daß er jede Alarmschaltung lahmlegen kann.« Er sah traurig vor sich hin und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich fürchte, ich habe einen guten Freund verloren.«
4. Blödel war die Entscheidung nicht leichtgefallen. Immerhin war sein »Bewußtsein« nichts weiter als eine Ansammlung von Programmen und Mikroprozessoren und letzten Endes auf Gehorsam gegenüber seinem Erschaffer getrimmt. Aber Hage Nockemann hatte es nicht fertiggebracht, den Finger vom Experimentierknopf zu lassen. Als er Blödel vom Laborgehilfen zur Dienstleistungsperson erhob, hatte er eine Reihe von Schaltungen entwickelt, die er »emotio-positronische Sonderkomplexe«, nannte und die dem Roboter eine pseudomenschliche Fähigkeit des Sich-Auflehnens vermittelten. Unter gewissen Umständen war Blödel in der Lage, die in seinem Basisprogramm verankerte Forderung nach Gehorsam zu umgehen. Ein solcher Umstand war jetzt eingetreten. Blödel hielt seine Hypothese, die das Doppelrad betraf, für richtig und war überzeugt, daß Hage Nockemann sich irrte. Er fühlte sich außerdem durch die Weigerung des Wissenschaftlers, eine sachliche Diskussion zu
führen, gekränkt – d. h. es hatte einer seiner »Ich – bin – ungerecht – behandelt – worden – also – muß ich – mich – beleidigt – zeigen« – Kreise angesprochen. Es gab nur eine Möglichkeit, die Richtigkeit seiner Theorie und damit Nockemanns Irrtum zu beweisen: Er mußte ins Innere des Doppelrads eindringen. Sich unbemerkt aus der ZACK zu entfernen, fiel ihm nicht schwer, wie Nockemann bereits vermutet hatte. Sämtliche Außenschotte des Beiboots waren mit einer Warnschaltung versehen, die auf der Zentralkonsole ein Signal aufleuchten ließ, sobald der Öffnungsmechanismus betätigt wurde. Blödel brauchte weniger als eine Minute, um den Warnmechanismus zu neutralisieren. Er schwang sich hinaus ins Vakuum des Alls, nachdem er sich zuvor vergewissert hatte, daß das Schott sich hinter ihm planmäßig wieder schließen würde. Die Luftleere machte ihm nichts aus. Als Roboter war er auf Atemluft nicht angewiesen, und die Bestandteile seiner positronischen Seele funktionierten im Vakuum ebenso einwandfrei wie in einer Giftgas-Umgebung oder einer atembaren SauerstoffAtmosphäre. Auch Wuschel, der Bakwer, kam ohne Luft aus. Seine Spezies war in der Lage, sich einem unglaublich breiten Spektrum von Umwelten anzupassen. Lediglich vor einem hatte Blödel sich in acht zu nehmen. Die fremde Sonne war wenig mehr als 20.000.000 km entfernt und brannte mit unbarmherziger Wucht. Er schloß das Auge, zog die Arme ein und versetzte den Körper in langsam rotierende Bewegung, um den Wärmeeinfall möglichst gleichmäßig über die gesamte Körperoberfläche zu verteilen. Er trieb mit mäßiger Geschwindigkeit dahin. Die Zeit, die dabei verstrich, war für seine Begriffe nahezu unendlich lang. Aber Ungeduld war eine der Regungen, die er nicht kannte. Außerdem war er sicher, daß er nichts versäumte. Die Barleoner lagen nach wie vor auf der Lauer, das wußte er. Und der ZACK blieb nichts anderes übrig, als in der Nähe des Doppelrads zu warten. Seine langsam drehende Fortbewegung wurde jäh unterbrochen.
Er verfing sich in etwas, das sich von der Konsistenz her anfühlte wie dichtes, aus Gummifäden gewobenes Netz. Er stieß sich ab und kam nach wenigen Sekunden zur Ruhe. Er hatte die elektrischen Entladungen gespürt, die die Berührung mit dem energetischen Schirmfeld auslösten. Sie waren schwach gewesen und hatten den vielfältig gesicherten positronischen Systemen seines Innenlebens nichts anzuhaben vermocht. Das Feld war unsichtbar. Er registrierte es – jetzt, da er wußte, in welcher Richtung er zu suchen hatte – mit Hilfe seiner Sensoren. Innerhalb einer Zehntelsekunde fertigte er eine komplette Analyse sämtlicher Feldkomponenten an und gelangte zu der wenig beruhigenden Erkenntnis, daß ihm mehrere davon völlig unbekannt waren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eine weiter- und tiefergehende Untersuchung anzustellen in der Hoffnung, daß sich die Energiestruktur der unbekannten Komponenten entschlüsseln lasse. Gelang ihm das nicht, dann hatte er seinen Ausflug umsonst unternommen. Er konnte kein Feld neutralisieren, dessen Zusammensetzung er nicht begriff. So weit war er in seinen Überlegungen gekommen, da gab es plötzlich einen Ruck, und eine der Laden an seinem röhrenförmigen Körper flog auf. Hervor kam Wuschel. Der Robot wollte nach ihm greifen und ihn wieder in sein Behältnis zurück befördern; aber der Bakwer war flink und wischte ihm zwischen den mit feinfühligen Greif- und Hantierwerkzeugen ausgestatteten Händen hindurch. Er bewegte sich in der Richtung, aus der Blödels Sensoren die Impulse des energetischen Schirmfelds empfingen. Es gab keine Verständigung zwischen dem Roboter und dem Bakwer. Auf eine solche Situation war Blödel nicht eingerichtet. Er hatte zunächst keine Ahnung, worauf Wuschel aus war. Er sah lediglich, daß der Bakwer unmittelbar vor dem Schirm anhielt und daß eine Zeitlang energetische Entladungen durch sein gesträubtes Fell spielten. Dann begannen die Sensoren zu reagieren. Sie zeigten an, daß das Feld sich eine Strecke weit entfernt habe.
Entfernt? Das war unmöglich. Blödel glitt auf den Bakwer zu. Wuschel drehte sich so, daß die Unterseite seines Körpers zu sehen war. Die winzigen Laufbeine machten winkende Bewegungen. Was wollte er? Als der Robot sich ihm näherte, machte er eine überraschende Feststellung: Der Feldschirm war über eine Strecke von mehreren Metern zusammengebrochen. Nein, nicht zusammengebrochen – Wuschel hatte ihn aufgefressen! Die Erkenntnis war so überraschend und gleichzeitig so eindeutig, daß selbst Blödels flinker Verstand ein paar Sekunden brauchte, um sie zu verdauen. Die Bakwer waren Allesfresser. Hidden-X hatte sie im Flekto-Yn als Reinigungstrupp eingesetzt: Sie fraßen alles, selbst den giftigsten Müll. Daß auch reine Energie der Gefräßigkeit eines Bakwers zum Opfer fallen könne, hatte der Robot bisher nicht gewußt. Aber hier hatte er den unwiderlegbaren Beweis. Wuschel glitt vor ihm her. Blödel schoß durch die Öffnung, die der Bakwer geschaffen hatte. Wuschel ließ es schließlich zu, daß der Robot ihn einholte und wieder in seiner Lade verstaute. Blödels Sensoren registrierten, daß die Wand des Feldschirms sich mittlerweile hinter ihm befand. Er nahm von neuem Fahrt auf und bewegte sich mit erhöhter Geschwindigkeit auf das abenteuerliche Gebilde zu, das vor ihm aufragte – das Doppelrad. Er war auf dem Weg, die Richtigkeit seiner Hypothese zu beweisen.
* Das Gewissen, des Kriegers war in hohem Maß verwirrt. Ordeal hatte mit Sorgfalt das seltsame Gebilde beobachtet, das sich aus dem kleinen Raumboot löste und auf den Energieschirm zugeglitten kam. Durch die engen Maschen des energetischen Gitters hatte er es sorgfältig untersucht und festgestellt, daß es sich um einen Roboter handelte.
Er erwartete nichts anderes, als daß der Fremde den Energieschirm untersuchen, ihn undurchdringlich finden und danach wieder umkehren würde. Aber es kam anders. Aus dem Leib des Roboters schoß plötzlich ein Ding, das sich so rasch bewegte und nur so kurze Zeit sichtbar war, daß Ordeal keine Gelegenheit fand, seine Beschaffenheit im einzelnen zu analysieren. Er hielt es für ein Werkzeug, das der Robot bei sich trug. Es besaß eine ganz außerordentliche Fähigkeit: Es absorbierte die Energie des Feldgitters und schuf eine Öffnung, die groß genug war, um den Roboter passieren zu lassen. Das geheimnisvolle Werkzeug verschwand, sobald es seine Arbeit verrichtet hatte, wieder im metallenen Leib des Fremden. Ordeal war so verblüfft, daß er mehrere Sekunden brauchte, bevor er die Wiederherstellung des Feldschirms anordnen konnte. Die Ausführung seines Befehls nahm nur einen winzigen Augenblick in Anspruch. Aber der Roboter war im Anflug auf seinen Stützpunkt. Die Schließung des Feldes hatte auf ihn keine Wirkung mehr. Ordeal hätte ihn mit wenig Mühe vernichten können; aber bevor er die entsprechenden Anweisungen erteilte, kam ihm eine andere Idee. Eine bessere, wie er glaubte. Konnte ihm der Fremde gefährlich werden? Wohl kaum. Das Gewissen des Kriegers besaß soviele Diener, daß ihm niemand etwas anhaben konnte. Außerdem – woher sollte der fremde Robot wissen, wo es sich aufhielt? Es war eine wichtige, ja sogar die bedeutendste Komponente dieser Station. Aber von Ausdehnung war es gering, das Zweifach-Rad dagegen riesengroß. Nein, es bestand keine Gefahr. Was aber würde er, Ordeal, von dem Fremden alles erfahren können? Er spürte plötzlich, daß er trotz aller Schulung, die er vor seiner Berufung zu diesem Amt über sich hatte ergehen lassen mögen, eine gewisse Neugierde empfand. Er war hier eingesperrt, nur damit beschäftigt, die Strahlung auszusenden, die alle Intelligenzen dieser Galaxis veranlaßte, sich dem Handwerk des
Krieges zu widmen. Warum sollte er nicht erfahren dürfen, wie es draußen in der Welt aussah? Gewiß, es würde anfängliche Verständigungsschwierigkeiten geben. Der Informationscode des fremden Roboters unterschied sich von dem seinen. Sie sprachen verschiedene Sprachen. Aber damit konnte man fertig werden. So beschloß Ordeal also, dem unbekannten Besucher keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Er würde ihn zu sich kommen lassen. Nicht, daß er etwa vorgehabt hätte, ihm unmittelbar zu begegnen. Dafür hatte er seine Diener, die ihm ständig Informationen lieferten, und das komplexe Überwachungssystem, mit dem er jeden Raum der Station kontrollieren konnte. Seit langer Zeit spürte er zum ersten Mal so etwas wie Aufregung. Es würde interessant werden!
* »Eine leuchtende Scheibe?« fragte Dengt, und man hörte seiner Stimme das Mißtrauen an, mit dem er der Äußerung des ältesten Totem-Dieners begegnete. »Eine leuchtende Scheibe, Hoher Totem-Bewahrer«, antwortete Pangt würdevoll. »Sie schillert in allen Farben des Spektrums und scheint sich in ständiger Rotation zu befinden.« »Wie teilt eine leuchtende Scheibe dir seinen Willen mit?« erkundigte sich der Größte Feldherr nach kurzem Nachdenken. Pangt hatte im Lauf seines langen Lebens vielen Totem-Bewahrern gedient. Er kannte alle ihre Fragen, und auch diese brachte ihn nicht in Verwirrung. »Sie spricht zu mir«, antwortete er unverfroren. »Sie hat keinen Mund, aber wenn sie sich mir mitteilen will, ertönt eine sonore, volltönende Stimme scheinbar aus dem Nichts.« »Sie singt nicht?« wollte Dengt wissen.
Der Totem-Diener machte die Geste des Verneinens. »Ich habe sie nie singen hören«, bekannte er. »Hat sie Federn?« »Federn? Nein.« »Flügel?« Zu diesem Zeitpunkt war Pangt nicht mehr sicher, ob er selbst es war, der auf den Arm genommen werden sollte, oder der Größte Feldherr, der den Verstand verloren hatte. Er beschloß, vorsichtig zu sein. Er war der älteste unter den Totem-Dienern. Wenn irgend jemand das Recht hatte, zu behaupten, er kenne sich mit der mächtigen Barleona aus, dann war er es. Aber man konnte nie wissen … »Deine Frage verwirrt mich«, sagte er. »Wie kann eine schillernde Scheibe, die offenbar aus reiner Energie besteht, Flügel besitzen?« Das wußte Dengt freilich auch nicht. Aber er erinnerte sich an die Schilderung, die er von Xingt erhalten hatte, und es fiel ihm schwer, die beiden so unterschiedlichen Darstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihm der Verdacht, die Totem-Diener wüßten womöglich selber nicht, wie die herrliche Barleona aussah. Aber das war eine absurde Idee. »Es ist alles möglich«, antwortete er ausweichend. »Mir scheint, das mächtige Totem besitzt die Fähigkeit, unterschiedliche Gestalten anzunehmen.« In Gedanken machte Pangt sich eine Notiz. Die Idee war nicht schlecht! Damit ließen sich alle Diskrepanzen erklären, die unter den Aussagen der Totem-Diener hin und wieder auftreten mochten. Er machte eine Handbewegung, die seine Ehrerbietung zum Ausdruck brachte, und sagte ehrfurchtsvoll: »Das ist sehr weise beobachtet. Die herrliche Barleona besitzt in der Tat eine solche Gabe.« »Was mich interessiert«, bemerkte Dengt, »ist, wie wir sie dazu veranlassen können, sich uns gegenüber gnädiger zu verhalten. Wir befinden uns seit kurzem in ärgster Verwirrung. Wir wissen nicht
mehr, ob wir Krieger sind oder nicht. Barleona müßte uns in dieser Hinsicht helfen können, meinst du nicht auch?« »Die Herrliche kann alles, was sie sich vornimmt«, antwortete Pangt würdevoll. »Wie, schlägst du vor, könnten wir sie überreden, daß sie uns in der Zeit der Unsicherheit beisteht? Glaubst du, ein Opfer wäre angebracht?« »Ein Opfer?« Pangt klang entrüstet. »Was willst du einem herrlichen, mächtigen Überwesen opfern, das es nicht entweder selbst schon hat oder sich mühelos beschaffen könnte?« Ein gutes Argument, erkannte der Totem-Bewahrer im Stillen an. Was hatte Xingt da gefaselt? Singender Mehlbrei und vergoldete Mäuse! Voller Entsetzen erinnerte sich Dengt daran, daß Xingt in dieser Minute damit beschäftigt war, das Opfer vorzubereiten. Er mußte ihn unbedingt daran hindern, es darzubringen. »Gebete und Hymnen sollten wir dem mächtigen Toten anbieten«, sagte Pangt. »Jaja – Gebete und Hymnen«, antwortete Dengt geistesabwesend. »Klingt gut. Bereite du das vor.« Er mußte den Totem-Diener unbedingt loswerden, sonst richtete Xingt ein Unglück an. »Wie meinst du das?« erkundigte Pangt sich hartnäckig. »Gebete und Hymnen sind vorzutragen. Wie soll man das vorbereiten? Du gehst einfach hin und …« »Ich?« rief der Größte Feldherr entsetzt. »Ja, du. Wer sonst? Du bist der Hohe Totem-Bewahrer, nicht wahr?« »Also gut, in Ordnung«, erklärte Dengt mit Entschlossenheit. Ich tue alles; nur hau gefälligst ab, daß ich mit Xingt reden kann! »Ich werde die entsprechenden Formulierungen ausarbeiten und die geeigneten Hymnen auswählen.« »Daran tust du gut«, antwortete Pangt, der allmählich den Eindruck gewann, daß die Audienz sich eilends dem Ende zuneigte.
Er erhob sich daher und sagte mit der geziemenden Ehrfurcht: »Der Kampfesgeist des mächtigen Totems geleite dich auf deinen Wegen.« »Und dich ebenfalls«, antwortete Dengt erleichtert. Als die Tür sich hinter dem Totem-Diener geschlossen hatte, nahm er sich Zeit, seine Lage zu überdenken. Es blieb ihm noch eine Dreiviertelstunde, um Xingt von seinem unheilvollen Vorhaben abzuhalten. Ein paarmal während der Unterhaltung mit Pangt war er in gefährliche Nähe des Punktes gelangt, an dem er hätte eingestehen müssen, daß er in Wirklichkeit absolut nichts über das mächtige Totem wußte. Freilich war jedermann bekannt, daß die Totem-Diener besser mit der herrlichen Barleona vertraut waren als der Hohe Totem-Bewahrer – aus dem einfachen Grund, weil sie sich ständig in ihrer Nähe aufhielten und es ihre Aufgabe war, dem Totem zu Diensten zu sein. Aber ein Totem-Bewahrer, der von überhaupt nichts eine Ahnung hatte? Das durfte es nicht geben. Er mußte dafür sorgen, daß seine Unwissenheit für immer geheim blieb. Und daß sie auf dem schnellsten Weg beseitigt wurde. Mit anderen Worten: Er hatte sich über Barleona zu informieren. Er bezweifelte, daß er in den Archiven etwas finden würde. Etliche, allerdings oberflächliche Versuche in dieser Richtung hatte er ohne den geringsten Erfolg in den vergangenen zwanzig Monaten bereits unternommen. Nein, es blieb ihm nur die direkte Methode. Er mußte die Halle des Heiligtums aufsuchen und mit der großen Barleona unmittelbar verhandeln.
* Ordeal, das Gewissen des Kriegers, beobachtete mit großem Interesse, wie geschickt der fremde Roboter zu Werke ging. Er hatte inzwischen die Oberfläche des Zweifach-Rades erreicht und
bewegte sich im Bereich etlicher Hyperantennen, offenbar auf der Suche nach einer Einstiegsmöglichkeit. Aus der Nähe erkannte Ordeal, daß der Robot sich keineswegs aus eigener Kraft bewegte. Er trug eine Art Raummontur, die ursprünglich für einen gänzlich anders gearteten Körper entworfen und notdürftig für die Zwecke des Maschinenwesens umkonstruiert worden war. (Tatsächlich hatte Blödel sich an Bord der ZACK heimlich einen Raumanzug der Haawer beschafft und ihn für den Eigengebrauch hergerichtet.) Die Montur war mit einem leistungsfähigen Antriebsaggregat und überdies, so vermutete Ordeal, mit Waffen ausgestattet. Diesen Fremden mußte man ernst nehmen. Er konnte, wenn man seinen Wirkungsbereich nicht nachhaltig eingrenzte, beträchtlichen Schaden anrichten. Mit körpereigenen Geräten suchte der Roboter die Oberfläche des Ringwulsts ab. Etliche Sensoren registrierten den Einfall ultraharter Hyperstrahlung. Das Material wurde durchleuchtet! Es dauerte nur ein paar Minuten, da hatte der Fremde eine der zahlreichen Schleusen gefunden, und nicht mehr als zwanzig weitere Sekunden, bis er den positronischen Code des Öffnungsmechanismus entschlüsselt hatte. Ordeal hatte rechtzeitig eine Schar seiner eigenen Roboter beordert, den Eindringling abzufangen. Inzwischen waren ihm Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung gekommen. Gewiß, der Fremde stak voller Informationen aus der Welt jenseits der Wände des Zweifach-Rades, und es wäre interessant, von ihm zu erfahren, wie es im Sternengewimmel von Xiinx-Markant zuging. Aber er war gleichzeitig gefährlich – ein äußerst hochentwickeltes Produkt der Robotik und Ordeals Robotdienern an intellektueller Kapazität um ein Dutzendfaches überlegen. Würden sie es fertigbringen, ihn wirksam zu überwachen? Oder bestand die Gefahr, daß er ihnen bei der ersten Gelegenheit ein Schnippchen schlug und sich der Kontrolle entzog? Das Gewissen des Kriegers nahm sich vor, wachsam zu sein.
Die erste Begegnung fand an einem Ort statt, an dem mehrere Gänge einander kreuzten. Korridore in großer Zahl, von unterschiedlicher Weite und Höhe, durchzogen das Innere beider Räder wie auch des konischen Zentralteils. Sie alle dienten dem Zweck, Zugang zu wartungsbedürftigen Anlagen und Einrichtungen zu schaffen. Ordeals Roboter glitten aus den Gangmündungen hervor, als der Fremde den Mittelpunkt der Kreuzung erreicht hatte, und kreisten ihn ein. Ordeal sah all dies mit Hilfe der Aufnahmegeräte, die zur Ausstattung der Maschinen gehörten. Sämtliche Eindrücke liefen über die Kommunikationskanäle des Zentralrechners, mit dem er gekoppelt war, und wurden von diesem für seine Verwendung besonders encodiert. Auf demselben Weg erfuhr Ordeal auch von den ersten Verständigungsversuchen, die seine Roboter anstellten, einem Hagel positronischer Impulse, der auf den Fremden einprasselte. Ordeal hatte von Anfang an nicht erwartet, daß die Verständigung große Schwierigkeiten machen werde; aber es überraschte ihn dennoch, mit welcher Leichtigkeit sie erzielt wurde. Es war dies allein das Verdienst des Eindringlings, und zwei Dinge im besonderen versetzten das Gewissen des Kriegers in Staunen: die Geschwindigkeit, mit der der Fremde den Informationscode seiner Gegenüber entschlüsselte, und seine Weigerung, Kommunikation im robotischen Sinn zu betreiben. Er bestand darauf, sich einer gesprochenen, akustischen Sprache zu bedienen. Zu Anfang begleitete er seine Worte mit den entsprechenden Impulsfolgen im Informationscode der Zweifach-Rad-Roboter. Dadurch wurde es möglich, den Sinn seiner Laute zu Verstehen. Ordeals Roboter waren vom Entwurf her nicht mit der Fähigkeit des Sprechens ausgestattet. Wohl aber besaßen sie Vorrichtungen zur Erzeugung akustischer Signale. Signale dieser Art wurden bei einer Reihe von Wartungs- und Prüfprozessen verwendet. Ordeal nahm einen Teil des Zentralrechners in Beschlag und lehrte die Maschinen, die Signalgeber zur Formulierung eines gesprochenen
Informationscodes zu benützen. Der gesamte Vorgang spielte sich innerhalb weniger Minuten ab. Er hätte sich wesentlich rascher vollziehen lassen, aber Ordeals organisches Bewußtsein spielte die Rolle des hemmenden Faktors: Es war nicht so schnell wie die Positroniken der Roboter, von den Prozessoren des Zentralrechners ganz zu schweigen. Nach Abschluß des Instruktionsprozesses beherrschten seine Maschinen die akustische Sprache des Fremden. Aus ihren Signalgebern klang sie schrill und schlecht moduliert. Aber der Eindringling verstand, was man ihm sagte, und es entspann sich zwischen ihm und Zingor-13, der den Einsatz der Zweifach-RadRoboter koordinierte, folgende Unterhaltung: Zingor-13: »Du bist ein unerwünschter Eindringling. Du befindest dich im Bereich des Gewissens der Kriegers. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?« Der Fremde: »Du bist ein Narr unter den Produkten der kybernetischen Intelligenz. Wie kann ich ein Eindringling sein, wo doch diese Station meinem Herrn gehört und er selbst mich hierher gesandt hat?« »Es gibt keinen Herrn außer dem Gewissen des Kriegers«, behauptete Zingor-13. »Bei dir müssen ein paar Blasen geplatzt sein«, erwiderte der Fremde auf durchaus unrobotische Art und Weise. »Sonst erinnertest du dich daran, daß das Gewissen nur ein Beauftragter ist.« Ordeal bemerkte, wie seine Roboter intellektuell ins Hintertreffen gerieten. Schon jetzt bestürmten sie den Zentralrechner mit Fragen, wie sie dem Eindringling antworten sollten, und es war in Wirklichkeit Ordeal selbst, der auf dem Weg über die Kommunikationskanäle die Antworten gab. Der Eindringling war nicht nur von äußerst beweglichem Geist; er legte darüber hinaus das Verhalten eines organischen Wesens eher als das eines Roboters an den Tag. Gleichzeitig aber war Ordeal fasziniert von dem, was er
soeben gehört hatte. Er verstand sich selbst natürlich als einen Beauftragten, wie der Fremde gesagt hätte. Und die Frage, von wem er seinen Auftrag erhalten haben möge, pochte seit langem im Hintergrund seines Bewußtseins. Wer war der »Herr«, von dem der fremde Robot sprach? Bot sich ihm hier die Möglichkeit, den Hintergrund seines jetzigen Daseins zu enträtseln? Die Unterhaltung, gesteuert vom Gewissen des Kriegers, entwickelte sich in der folgenden Weise weiter. »Es mag sein, daß das Gewissen des Kriegers als Beauftragter fungiert«, erklärte Zingor-13. »Aber an Bord dieser Station ist es der uneingeschränkte Befehlshaber. Wer ist der Herr, von dem du sprichst?« »Deine Frage zeigt dein Unwissen«, antwortete der Fremde. »Der Herr ist der Oberbefehlshaber im Innern der Dunkelzone, dem alle Mental-Relais gehören.« Als Ordeal dies hörte, war er überzeugt, daß er mit dem fremden Roboter einen erstklassigen Fang gemacht habe. Endlich würde er etwas über seinen Auftraggeber erfahren – und womöglich sogar über seine eigene Vergangenheit.
5. Hage Nockemann haderte mit seinem Schicksal. Er hatte Blödel verloren. Selbst mit den empfindlichsten Geräten der ZACK ließ sich keine Spur des Roboters mehr finden. Er hatte sich wahrscheinlich aufgemacht, das Doppelrad zu untersuchen, und die plausibelste Erklärung für sein Verschwinden war, daß er in den energetischen Fäden des Feldschirms sein Ende gefunden hatte. Es wäre zu erwarten gewesen, daß ein solcher Vorgang – explosionsartig, wie er sich abgespielt haben mußte – eine Spur auf den Rekordern der ZACK hinterlassen hätte. Solches war indes nicht der Fall, und so blieb Nockemann wenigstens die Spur einer
Hoffnung, daß sein positronisches Wunderwerk doch noch »am Leben« sei. Aber selbst wenn dem so war, hatte Blödel als verschollen zu gelten, und die Aussicht, daß man ihn je wiederfinden würde, war erbärmlich gering. Zweitens saß er hier, ein Gefangener seiner eigenen Strategie, und konnte sich nicht rühren. Sobald er sich vom Doppelrad entfernte, würden sich die Barleoner von neuem auf das Boot stürzen. Er mußte warten, bis sie abzogen; aber es gab bislang nicht den leisesten Hinweis, daß sie solches im Sinn hätten. Ihre Flotte hing unbeweglich im All, ein paar Dutzend Lichtsekunden entfernt. Das Schicksal der ZACK hing davon ab, was länger währte: Hage Nockemanns Geduld oder die Hartnäckigkeit der Belagerer. Es war dem Galakto-Genetiker nicht gut ergangen in diesen letzten Tagen. Er erinnerte sich kaum noch, wie lange es her war, seit die kampfeslüsternen Vereiser (sie selbst nannten sich Haawer) sein Schiff aufgebracht und ihn mitsamt seinen Begleitern zu Gefangenen gemacht hatten. Unter Aufbietung der letzten Reserven an Phantasie und Einfallsreichtum war es ihnen schließlich gelungen, einen ihrer Bewacher zu kidnappen und ihn mit einer Dosis Neutralpolator – einer Droge, die Blödel aufgrund einer Zerebralanalyse des Gefangenen sozusagen aus dem Handgelenk entwickelte – von seinem unseligen Kampfesdrang zu befreien. Sein Name war Glogg; er hatte sich seitdem als vertrauenswürdiger, zuverlässiger Gefährte gezeigt. Mit Gloggs Hilfe war ihnen die Flucht aus dem Flaggschiff der Haawer gelungen – an Bord des Beiboots ZACK, das auch heute noch ihr einziges Fortbewegungsmittel darstellte. Natürlich hatten die Haawer sofort zur Verfolgung angesetzt, waren jedoch abgedreht, als die ZACK in die Dunkelzone eindrang, die das Zentrum der Galaxis XiinxMarkant bildete. Lange Zeit hatten sie sich hilflos und ohne Orientierung durch die ungewöhnlich dichten kosmischen Staubmassen bewegt. Dann tauchten die Staubflieger auf, geheimnisvolle Intelligenzwesen, die
in zweifacher Hinsicht das Staunen des Wissenschaftlers erregten. Erstens betrachteten sie das Vakuum als ihren angestammten Lebensraum – falls man von dichtem kosmischem Staub erfüllten Weltraum korrekterweise als Vakuum bezeichnen konnte –, und zweitens waren sie offenbar frei von jenem fürchterlichen Zwang, der den Völkern der Ringzone befahl, sich ständig von neuem im Kampf zu bewähren. Den Staubfliegern folgend, gelangte die ZACK schließlich zu einem Planetoiden, in dessen Oberfläche die exotischen Wesen so viele Wohnhöhlen gegraben hatten, daß Hage Nockemann die luftleere Kleinwelt auf den Namen »Löcherplanet« taufte. Auf dem Löcherplaneten nun hatten sich eigenartige Dinge ereignet. Die Staubflieger, mit denen man sich sprachlich nicht verständigen konnte, da sie keine Sprache besaßen, führten ihre Gäste zu einem Ort, an dem sich fünf Skulpturen befanden. Die erste stellte eine runde, dicke und pechschwarze Scheibe dar. Die zweite war das Abbild eines Androidenkörpers. Die dritte zeigte eine menschliche Gestalt, die entfernt an Atlan erinnerte. Die vierte war das Standbild eines achtbeinigen Schwarzen Panthers, offenbar ein Abbild der Kreatur »Janvrin«, die nach Hage Nockemanns Ansicht die bösen Kräfte innerhalb Xiinx-Markant verkörperte und mit der die SOL es schon mehrmals auf höchst gefährliche Art und Weise zu tun gehabt hatte. Aufgrund gewisser Informationen, die Atlan von Wöbbeking erhalten hatte, nannte man Janvrin auch das »Manifest A« – eine Bezeichnung, die die ungute Ahnung hervorrief, daß es der bösartigen Geschöpfe noch mehr geben könne. Die fünfte Skulptur war nicht eigentlich eine solche, sondern ein Stück unbehauenes Material, das so aussah, als habe es der unbekannte Bildhauer dorthin platziert, damit er ihm als nächstem seine Aufmerksamkeit widmen könne. Hagemann und seine Begleiter wußten nicht, in welchem Sinn sie die Plastiken zu deuten hatten. Aber auf dem Rückweg zur ZACK
tauchte plötzlich der echte Janvrin auf. Es entspann sich ein Kampf, in dessen Verlauf Wuschel der unheimlichen Kreatur den Garaus machte. Die Staubflieger, die kurz vor Janvrins Auftauchen panikartig in ihren Höhlen verschwunden waren, führten Nockemann und Blödel zum Ort der Statuen zurück. Dort hatten sich inzwischen wunderbare Veränderungen vollzogen. Die dritte Statue stellte nunmehr ein exaktes Abbild Atlans dar, der Schwarze Panther war verschwunden und durch einen dicken, zehn Meter hohen Balken ersetzt, der intensiv leuchtete. Die formlose Masse aus Bildhauermaterial hatte die Gestalt eines Eis angenommen, das 34 Meter hoch aufragte und dessen Oberfläche mit sechseckigen Mustern verziert war. Das Ei erinnerte sowohl an Wöbbeking als auch an Chybrain. Was es genau darstellen sollte, blieb Nockemann unklar, da die Verständigung mit den Staubfliegern nach wie vor versagte. Er begriff, daß ihm hier eine Mitteilung gemacht werden sollte. Aber er verstand deren Bedeutung nicht. So zogen sie wieder ab. Die Staubflieger gaben ihnen ein Stück weit das Geleit. Der ZACK fehlte jede Orientierung. Nockemann konnte nur hoffen, daß das Geleit in Richtung des Ringsektors führe. Die Staubflieger drehten schließlich ab. Das kleine Beiboot der Haawer war sich selbst überlassen. Nach einer kurzen Linearetappe tauchte aus dem wirbelnden kosmischen Staub ein glühender Balken auf, ein vergrößertes Ebenbild der Skulptur Nr. 4 auf dem Löcherplaneten. Er näherte sich der ZACK in unverkennbar drohender Weise, aber das Boot rettete sich durch einen weiteren Linearsprung, der außerhalb der Dunkelzone im sternenerfüllten Ringsektor endete. Aber die Begegnung hatte Hage Nockemann zu denken gegeben. Auf dem Planeten der Staubflieger war die Statue des achtbeinigen Panthers durch den glühenden Balken ersetzt worden. Hieß das, daß der Balken das Manifest B darstellte? Er hatte keine Zeit, sich über die Frage den Kopf zu zerbrechen.
Die Suche nach der SOL nahm seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Erfolg war ihm nicht beschieden, aber deswegen gab er nicht auf. Seine einzige Hoffnung, jemals zu einem halbwegs geregelten Dasein zurückzukehren, lag darin, daß er die SOL wiederfand. Aber, wie gesagt: Es war ihm nicht gut ergangen in diesen letzten Tagen. Von der SOL keine Spur. Den wütend kämpfenden Raumflotten der Völker dieser Galaxis hatte er eine Zeitlang entgehen können, aber zu guter Letzt wäre die ZACK um ein Haar den Barleonern in die Arme gelaufen. So stand die Sache jetzt: Er steckte fest und hatte obendrein seinen besten Freund verloren – wobei es ihm keinerlei intellektuelle Beschwerde bereitete, einen Roboter als »Freund« zu bezeichnen. Das war die Lage. Sie erschien hoffnungslos. So dachte Hage Nockemann. Da wandte Argan U, der während Gloggs Abwesenheit das Funkgerät bediente, sich zu ihm um und sagte: »Ich empfange eine Reihe seltsamer Signale aus der Richtung des Doppelrads.«
* »Das mächtige Totem«, sagte Dengt. »Ich will das mächtige Totem sehen.« »Das Totem zeigt sich niemand außer seinen Handreichern«, antwortete der Roboter ernsthaft. »Ich nehme an, ein solcher Handreicher bist du«, sagte Dengt sarkastisch. »Deine Annahme ist richtig.« »Du kennst mich?« »Ich habe dein Bild gesehen. Du bist Dengt, der Hohe TotemBewahrer und Größte Feldherr.« »Ich appelliere an deine Logik«, sagte Dengt. »Wie kann ich ein
Totem-Bewahrer sein, wenn ich nicht einmal weiß, wie die große Barleona aussieht?« »Das ist dein Problem, nicht meines«, antwortete der Roboter abweisend. »Und auch nicht deines allein, wie mir scheint. Ich beginne mich zu fragen, wie diese Ansammlung von Raumschiffen regiert wird, wenn niemand von nichts eine Ahnung hat.« »Nicht meines allein. Wie meinst du das?« erkundigte sich Dengt verblüfft. »Vor nicht allzu langer Zeit war einer hier, der ebenfalls Barleona zu sehen verlangte.« »Wer war es? Wie hieß er?« »Er nannte seinen Namen nicht.« »Wie sah er aus?« Die Beschreibung, die der Hohe Totem-Bewahrer daraufhin erhielt, wies eindeutig auf Xingt hin. War es möglich, daß die Totem-Diener ebenfalls keine Ahnung hatten, wer Barleona war, wie das mächtige Totem aussah? Kaum zu glauben – und dennoch ließ sich der Verdacht kaum mehr von der Hand weisen. Er hatte mit Xingt gesprochen und danach mit Pangt. Der eine schilderte Barleona als goldene Korvaxe, der andere sah sie als leuchtende Scheibe. Der eine wollte ihr ein Opfer aus singendem Mehlbrei und vergoldeten Mäusen darbringen, der andere meinte, man sollte ihr Gebete und Gesänge anbieten. Der Teufel mochte das ganze Totem-Geschäft holen. Wer hatte das Totem überhaupt erfunden? Die Überlieferungen der Barleoner waren verwaschen; aber es gab Hinweise, daß das Totem nicht von alters her existiert hatte. Es war irgendwann im Verlauf der letzten Jahrhunderte in den Besitz des barleonischen Volkes geraten. Niemand wußte, woher es kam, welche Bedeutung es hatte und warum man ihm religiöse Verehrung schuldete. »Ich lasse es an Respekt gegenüber dem Hohen Totem-Bewahrer nicht mangeln«, sagte der Roboter. »Aber die Zahl meiner Aufgaben ist groß. Ich kann mich nicht unbegrenzt lange mit dir befassen.«
Dengt musterte ihn erstaunt. Es war das erste Mal, daß er von einem Roboter zurechtgewiesen wurde. »Kannst du die große Barleona wenigstens fragen, ob ich ihr meine Aufwartung machen darf?« erkundigte er sich. »Ich will es versuchen«, antwortete das Maschinenwesen. »Aber jetzt geh.« »Ich komme wieder«, murmelte der Größte Feldherr und wandte sich dem Ausgang zu. Ein Stück weiter den Korridor hinab begegnete er einer Gruppe von Arbeitern, die eine Schwebebahre begleiteten. Auf der Bahre befanden sich, von einem Tuch verdeckt, mehrere Gegenstände. Hinter der Bahre her schritt Xingt, den Blick hoch erhoben, seiner Würde und Bedeutung in ganzem Umfang bewußt. Der Narr war viel zu früh dran. »Laß mich raten«, sagte Dengt und wies auf die Bahre. »Singende Mäuse und vergoldeter Mehlbrei?« »Nein, nein – umgekehrt!« protestierte Xingt lauthals. »Jaja«, machte Dengt mit wegwerfender Geste. »Ich wünsche dir Glück.« Er blickte hinter dem seltsamen Zug drein, während dieser sich der Halle des Heiligtums näherte. Plötzlich erschien es ihm nicht mehr wichtig, Xingt von seinem närrischen Vorhaben abzuhalten. Die herrliche Barleona war keine Korvaxe, und außerdem würden die robotischen Handreicher den übereifrigen Totem-Diener mit Nachdruck daran hindern, sein lächerliches Opfer darzubringen.
* »Wenn der Herr im Innern der Dunkelzone dich schickt, dann muß er dir einen Auftrag gegeben haben«, sagte Zingor-13. »Das ist richtig«, antwortete Blödel. »Nenne ihn mir.«
»Dir habe ich nichts zu nennen. Ich verlange, mit dem Gewissen des Kriegers in Kontakt gebracht zu werden.« »Ich selbst stehe mit Ordeal in Verbindung«, erklärte Zingor-13. »Durch mich fordert er dich auf, jetzt, an dieser Stelle, über deinen Auftrag zu berichten.« Blödels positronischer Verstand nahm sorgfältig zur Kenntnis, daß die Zentraleinheit des Doppelrads sich zweier verschiedener Namen bediente: »Ordeal«, und »das Gewissen des Kriegers«. Mit Ordeal konnte er nichts anfangen, aber das »Gewissen« klang auf höchst verdächtige Art und Weise so, als sei hier eine organische Komponente mit im Spiel. Das war wichtig zu wissen. Blödel hatte großen Respekt vor Kybernetiken gemischt positronisch-organischer Zusammensetzung. Das hing damit zusammen, daß er sich SENECA unterlegen dünkte. Er durfte Zingor-13 und seinen Herrn nicht verärgern. Alles hing davon ab, daß er den Aufbau der Doppelrad-Station kennenlernte und über ihre Funktionsweise erfuhr. »Ich bin hier, um eine Schaltung vorzunehmen«, sagte er, »die den Abstrahlwinkel und die Intensität der Mentalleistung verändert.« Das war der kritische Augenblick! Wie gut kannte Ordeal, wie gut kannten die Roboter ihr eigenes System? Gab es diese Möglichkeit überhaupt, den Strahlwinkel und die Intensität zu verändern? Und was, wenn er sich vollends getäuscht hatte? Wenn es hier gar keine Mentalstrahlung gab? Zingor-13 antwortete nicht sofort. Offenbar mußte sein Herr und Meister sich die Sache ordentlich überlegen. Schließlich äußerte der Robot: »Wir wissen nicht, wie so etwas gemacht wird. Wir sind nicht sicher, ob ein entsprechender Schaltmechanismus existiert.« Blödel empfand positronischen Triumph. Eine Häufung positiver Signale in der überwachenden Peripherie seines Logiksektors teilte ihm mit, daß er sich in eine günstige Ausgangsposition manövriert habe.
»Das laßt getrost meine Sorge sein«, antwortete er von oben herab. »Kein Mentalrelais gleicht dem andern; sie sind alle verschieden. Aber es gibt eine Reihe von technischen Grundzügen, die sie alle gemeinsam haben. Es wird mir nicht schwerfallen, die Schaltung zu aktivieren. Ihr braucht mich nur zum Abstrahlmechanismus zu führen und mir die Struktur der Anlage oberflächlich zu erklären.« Wiederum wartete er länger als eine Sekunde. Ordeal ging mit sich zu Rate. »Die Genehmigung wird bedingt erteilt«, sagte Zingor-13. »Der Abgesandte des Herrn im Innern der Dunkelzone erkennt keine Bedingungen an«, erklärte Blödel. »Aber da ihr euch in einer besonderen Lage befindet und keine Erfahrung im Umgang mit Abgesandten habt, will ich von meinen üblichen Gewohnheiten abweichen. Welches sind die Bedingungen?« »Ordeal erwartet, daß du ihn über jede deiner technischen Handreichungen informierst. Er legt Wert darauf, im einzelnen zu wissen, wie die Schaltung bewerkstelligt wird.« »Einverstanden«, antwortete Blödel. »Was weiter?« »Ordeal wünscht, daß du vor ihm erscheinst, damit er dich aus der Nähe inspizieren kann.« Das mochte gefährlich werden. Welche Mittel standen dem Gewissen des Kriegers zur Verfügung? Würde es bei einer Inspektion aus der Nähe erkennen, daß es sich bei Blödel keineswegs um einen rein nach den Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit konstruierten Roboter, sondern um das groteskexotische Produkt eines exzentrischen Wissenschaftlers handelte? Und würde es daraus den Schluß ziehen, daß der Fremde nie und nimmer ein Abgesandter des Herrn im Innern der Dunkelwolke war? Man konnte es nicht wissen. »Wann soll das geschehen?« erkundigte sich Blödel. »Nachdem du die Abstrahlanlage in Augenschein genommen hast.«
Na also! Was konnte dann noch passieren? Er hatte nicht die Absicht, bei seinem Vorhaben Zeit zu verschwenden. Sobald er den Mentalsender inspiziert und seine Maßnahmen getroffen hatte, mochte Ordeal sich ihn getrost aus der Nähe betrachten. Am Ausgang des Unternehmens änderte sich dadurch nichts mehr. »Ich bin auch damit einverstanden«, sagte er. »Aber jetzt laß uns aufbrechen.«
6. Für Ordeal war der fremde Roboter ein Rätsel. Das lag keineswegs daran, daß es ihm an Wissen gemangelt hätte. Zwar besaß er keine Erinnerung an seine frühere Existenz mehr. Aber in diesem Sektor von Xiinx-Markant gab es über ein Dutzend raumfahrende Völker, die in ständigem Streit miteinander lebten und deren Hyperfunksender das Gewissen des Kriegers sorgfältig und mit Interesse abhörte. Viele der aufgefangenen Sendungen waren bildbegleitet. Nach der Entschlüsselung des Informationscodes und der Modulierungsmechanismen hatte Ordeal nicht nur die Sprache der fremden Völker erlernt, sondern er wußte in zahlreichen Fällen auch, wie die Fremdintelligenzen aussahen. Er hörte, was sie bewegte, er sah sie in den Kampf ziehen. Er sah sie sterben – und in solchen Augenblicken fragte er sich, welchem Ziel die Aufgabe diente, die er zu versehen hatte. Er rief sich zur Ordnung, als er bemerkte, wie seine Gedanken abschweiften. Der Eindringling jedenfalls gehörte keinem der Völker an, von denen Ordeal optische Kenntnis hatte. Auch seine Sprache zählte nicht zu denen, die das Gewissen des Kriegers kannte. Er kam also von weither, und es war nicht ganz und gar undenkbar, daß er tatsächlich die Funktion eines Abgesandten des Herrn im Innern der Dunkelzone versah. Von einem solchen Herrn hatte Ordeal noch nie gehört; aber er
konnte sich denken, daß es ihn geben mußte. Irgend jemand war für das jetzige Dasein Ordeals verantwortlich, und es mochte recht gut der Herr sein, von dem der fremde Roboter sprach. Das Gewissen des Kriegers hatte darüber hinaus sorgfältig zur Kenntnis genommen, daß es mehrere Stationen wie die seine gab – ein entsprechender Verdacht war ihm vor geraumer Zeit schon gekommen; jetzt hatte der Eindringling ihn bestätigt. Ein MentalRelais hatte er das Zweifach-Rad genannt. Die Bezeichnung war Ordeal neu; aber er verstand sie ohne Mühe. Sie bezeichnete knapp und präzise die Aufgabe der Station: die Weitergabe von suggestiven Befehlen, die zu ständigem Kampf aufforderten: Zingor-13 führte den Fremden – der sich übrigens »Blödel« nannte – in den großen Zentralkonus des Zweifach-Rads. Vereinbarungsgemäß brachte er ihn in die Halle, in der die großen Impulswandler für den Mentalsender untergebracht waren. Nur hier, so vermutete Ordeal, konnte die Schaltung, von der der Fremde gesprochen hatte, vorgenommen werden. Blödel verhielt sich während des langen Marsches überaus schweigsam. Ordeal schloß daraus, daß er seine Umgebung sorgfältig studierte. In der Halle hatte das Gewissen des Kriegers einen weiteren Trupp Roboter aufmarschieren lassen. Falls der fremde Roboter sich als Hochstapler und Saboteur erwies, wollte er kein unnötiges Risiko eingehen. Die Sendeanlage mußte unter allen Umständen geschützt werden. Blödel sah sich in der weiten Halle um. Mehrmals machte er eine nickende Bewegung mit dem eigenartig geformten Schädel, der wie ein Würfel mit rundgeschliffenen Kanten wirkte. Die Geste schien Zuversicht zum Ausdruck zu bringen. »Es ist alles klar«, sagte Blödel. »Die Schaltung muß dort drüben vorgenommen werden.« Ordeal war beeindruckt. »Dort drüben« stand der große Encoder – ein mächtiges Aggregat, das die Suggestivbefehle zu abstrahlbaren Signalen verschlüsselte. Es war in der Tat das Kernstück der Anlage.
Das Gewissen des Kriegers begann zu glauben, daß der Fremde in der Tat eine ganze Menge von der Technik des Mental-Relais verstand. Das war um so bemerkenswerter, als Ordeal selbst nur eine vage Vorstellung von den Dingen hatte, die ihn umgaben. Er diente als Unterstützung des großen Zentralrechners und nahm an, daß in diesem alles Wissen gespeichert war, dessen es zur Aufrechterhaltung der Station bedurfte. »Wie soll das vor sich gehen?« erkundigte sich Zingor-13. »Es handelt sich um eine einfache Rejustierung der TransmutatorParallaxe zur Änderung des Abstrahlwinkels und ein Tweaking der Megalolith-Komponente des G-String-Tensors zur Erhöhung der Intensität. Das letztere mag etwas umständlicher sein.« »Tweaking?« echote Zingor-13. »Ja. Auch Deglitching, Trimming oder De-Murphysizing genannt.« »Ich verstehe diese Worte nicht«, sagte Zingor-13. »Wir haben zwei Möglichkeiten«, erklärte der fremde Robot ernsthaft. »Entweder ich fange unverzüglich mit der Arbeit an, oder ich fülle zuerst deinen Speicher mit den Informationen, die du brauchst, um die Sprache der Technik zu verstehen. Besitzt du überhaupt genügend Speicherkapazität?« Ordeal verfolgte die Unterhaltung mit leisem Amüsement. Welch ein Roboter! Sein Sarkasmus war nahezu organisch. Er übermittelte an Zingor-13 den Befehl, den Fremden nicht länger bei der Arbeit zu stören. Er selbst hatte die Ausdrücke ebenfalls nicht verstanden. Aber sein Mißtrauen gegenüber Blödel war in den letzten Minuten fast völlig geschwunden. Daher sagte Zingor-13 zu dem Fremden: »In Ordnung. Du kannst anfangen.« Da geschah etwas, womit Ordeal nicht gerechnet hatte. Am Körper des Fremden fuhr eine Klappe auf. Hervor kam ein kugelförmiges Objekt mit einem dichten, pelzförmigen Besatz von
Sensorelementen. Ordeal erkannte das Gerät wieder, mit dem Blödel eine Öffnung im energetischen Netz des Schirmfelds geschaffen hatte. Das Gerät, das offenbar über einen autarken Antrieb verfügte, schoß mit hoher Geschwindigkeit davon und verschwand im Innern des Encoder-Aggregats. Da überkam Ordeal ein gewisses Unbehagen. Dem fremden Roboter war er bereit zu trauen – aber nicht dem Instrument, das Energie fraß und Löcher in Feldschirme brannte.
* Blödel nahm seine Umgebung sorgfältig in sich auf. Seine Wahrnehmungsorgane arbeiteten so schnell und so gründlich, daß er, als er mit seinen Begleitern die Sendehalle erreichte, ein bis in die letzte Kleinigkeit gehende Beschreibung hätte liefern können – nicht nur von den Dingen, die er auf optischem Weg erfaßte, sondern auch von einer Menge hinter den Wänden verborgener Einrichtungen, die er mit positronischen und hyperenergetischen Sensoren ertastete. Er selbst verhielt sich auf dem langen Weg schweigsam. Aber immer wieder brachte er Zingor-13 dazu, ihm die Funktion dieses Geräts oder die Aufgabe jenes Aggregats zu schildern. Zweierlei wurde ihm dabei klar. Die Technik, die man hier installiert hatte, war von solch umfangreicher Komplexität, daß selbst ein Roboter wie er mehrere Jahre gebraucht hätte, um sie zu ergründen. Aber das hatte ihn nicht zu stören. Seine Aufgabe war, Schaden anzurichten und Ausfälle zu erzeugen. Dazu bedurfte es keiner voluminösen Kenntnisse. Seine zweite Erkenntnis bezog sich darauf, daß Zingor-13 von der Technik des Doppelrads noch weniger eine Ahnung hatte. Für Blödel war das von ausschlaggebender Bedeutung. Es hieß, daß er kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, wenn er über die geplante Schaltung sprach. Freilich gab
es da außerdem noch das Gewissen des Kriegers, den geheimnisvollen Ordeal; aber Blödel war überzeugt, daß er sich auch vor diesem nicht in acht zu nehmen brauche. Wenn sein Robotdiener so uniformiert war, warum sollte man da annehmen, daß er besser Bescheid wußte? Für einen Menschen wäre das Innere des Doppelrads ein verwirrendes, unüberschaubares Durcheinander gewesen. Blödel dagegen erkannte eine gut durchdachte, alles durchdringende Organisation, die ein Maximum an Effizienz in der Raumausnützung und der Zuordnung der einzelnen Teile, Systeme und Subsysteme zueinander erzielte. Die Schwerkraft war überall gleich, die Atmosphäre im Innern der Station setzte sich aus Helium und Argon zusammen. Das Doppelrad war ein Wunderwerk der Ingenieurkunst. Um so mehr bedauerte Blödel den Zweck, für den sie verwendet wurde. In der großen Halle des Senders sah er sich angelegentlich um und machte dabei Kopfbewegungen, an denen man seine Befriedigung erkennen sollte. In Wirklichkeit verstand er nur wenig von den mächtigen Aggregatklötzen, die ihn umgaben, und seine Wahl fiel auf den Encoder nur, weil er nicht nur die größte und komplizierteste Maschine darstellte, sondern darüber hinaus den Mittelpunkt des weiten Raumes einnahm. Es folgte seine Unterhaltung mit Zingor-13, die von Ordeal mitgehört wurde. Danach ließ Blödel die Klappe auffahren, hinter der Wuschel sein Quartier hatte. Alles kam jetzt darauf an, daß der kleine Bakwer wußte, was er zu tun hatte. Es war keine Gelegenheit mehr gewesen, sich mit ihm abzusprechen. Aber noch an Bord der ZACK hatten sie darüber diskutiert, wie sie es anstellen würden, wenn sich erstens Blödels Verdacht bestätigte, daß es sich bei dem Doppelrad um ein Mental-Relais handelte, das kriegslüsterne PsiImpulse verstrahlte, und wenn es ihnen zweitens gelänge, den Punkt zu finden, von dem die Impulse ausgingen. Wuschel hatte gehört, was mit Zingor-13 gesprochen worden war. Er wußte, daß
sie jetzt vor dem Aggregat standen, das im Rahmen der Mentalsendeanlage eine wichtige Rolle spielte. Und schließlich hatte er an Blödels schwülstigem Techno-Jargon ohne Zweifel erkannt, daß der Roboter keine Ahnung hatte, wie das Ding funktionierte. Es blieb ihm also selbst überlassen, wie er sein Vorhaben durchführen wollte. Der Bakwer schoß davon. In Sekundenschnelle verschwand er im Innern des Aggregats. Zingor-13 hatte den Vorgang aufmerksam verfolgt. Er wußte schließlich nichts von der Beobachtung, die Ordeal gemacht hatte, als Blödel sich dem Energieschirm näherte und sein geheimnisvolles »Werkzeug« ein Loch hindurchfraß. »Was war das?« fragte er. »Mein symbiotisches Energon«, antwortete Blödel. »Was tut es?« »Es nimmt die Schaltung für mich vor.« »Wie?« »Wie willst du das begreifen, wenn du die Worte nicht verstehst, die man zur Beschreibung des Vorgangs braucht? Übrigens laß mich jetzt in Ruhe. Ich …« Plötzlich hatte sich etwas geändert. Er spürte es mit Hilfe seiner Sensoren. Die fremden Roboter erhielten neue Befehle – in einem neuen Code. Zingor-13 setzte sich in Bewegung und wich vor ihm zurück. Die gesamte Roboterschar machte sich auf den Rückzug und hielt erst inne, als der Kreis, den sie um Blödel und die große Maschine bildete, einen Durchmesser von mehr als fünfzig Metern hatte. Da war etwas schiefgegangen! »Wuschel, komm zurück!« gellte Blödels Stimme. Es war zu spät. Er spürte das Prickeln in den Schaltkreisen, die sich dicht unter seiner metallenen Haut befanden, als sich der energetische Schirm über ihn senkte. Er erkannte sofort, daß ein Fluchtversuch keinen Sinn mehr hatte. Sein unbekannter Gegner reagierte wie er mit positronischer Geschwindigkeit. Als er versuchte, sich zu bewegen, diente dies lediglich einem
experimentellen Zweck. Er wollte wissen, wieviel Spielraum ihm der Schirm ließ. Das Resultat war entmutigend. Er besaß keinerlei Bewegungsfreiheit mehr. »Und jetzt«, sagte hoch über ihm die Stimme eines Unsichtbaren in der Sprache der Solaner, »werden wir herausfinden, wer du wirklich bist.«
* Ordeal spürte es sofort: Der fremde Robot hatte ihn betrogen. Das Rückkopplungssignal brauchte ein paar Mikrosekunden, bis es den Zentralrechner erreichte, von diesem in verständliche Information umgesetzt und Ordeal zugeleitet wurde. Abstrahlleistung sinkt drastisch. Ordeal reagierte sofort. Er gab Zingor-13 und seinen Begleitern den Befehl, sich auf eine gewisse Distanz zurückzuziehen. Dann erstellte er über den Zentralrechner einen energetischen Schirm, der den Fremden an Ort und Stelle fesselte. Gleichzeitig suchte er nach dem Werkzeug, das Blödel ins Innere des Encoders entsandt hatte. Ein paar wertvolle Sekunden vergingen, und inzwischen sank die Leistung des Mentalsenders um weitere dreißig Prozent. Aber schließlich hatte die Suche Erfolg. Ordeal ließ einen zweiten Energieschirm erzeugen und machte auch das Werkzeug unbeweglich. Daß seine Handlungsweise richtig war, bewies der Umstand, daß die Sendeleistung nicht weiter absank. Also war es in der Tat das kleine, haarige Gebilde gewesen, das die Fehlfunktion des Encoders verursacht hatte. Er gab Zingor-13 und seinen Begleitern den Befehl, sofort nach dem Rechten zu sehen. Zingor und seinesgleichen waren vermutlich nicht mit dem nötigen Wissen ausgestattet, den Schaden zu beheben. Sie waren Wartungsroboter, keine Reparaturmaschinen. Im schlimmsten Fall würden sie sich direkt an den Zentralrechner wenden und diesen dazu bewegen,
das Nötige zu veranlassen. Der Zentralrechner wußte alles. Erst dann wandte Ordeal sich an seinen Gefangenen. »Und jetzt«, sagte er, »werden wir herausfinden, wer du wirklich bist.« Blödel vermochte nicht einmal, den Kopf zu bewegen. Aber seine pseudo-organische Unverfrorenheit schien ungebrochen. »Der Herr wird dich für deine Verhaltensweise zur Rechenschaft ziehen«, erklärte er. »Du hast meinen Sender beschädigt.« »Ich bin beauftragt, ihn abzuschalten.« Solche Offenheit verblüffte das Gewissen des Kriegers über alle Maßen. »Abschalten? Warum?« »Befehl des Herrn. Die Völker in diesem Sektor von Xiinx-Markant sind im Begriff, einander auszulöschen. Das darf nicht geschehen.« »Warum hast du mir deinen wahren Auftrag nicht genannt?« »Hättest du mir Freizügigkeit geboten, wenn dir bekannt gewesen wäre, zu welchem Zweck ich hier bin?« »Nein«, antwortete Ordeal. »Da hast du deine Antwort«, sagte der fremde Robot. »Es ist mir nicht erlaubt, an eine solche Möglichkeit überhaupt zu denken«, fuhr Ordeal fort. »Der einzige Zweck meines Daseins besteht darin, für die Aufrechterhaltung der Mentalstrahlung zu sorgen. Deswegen nenne ich mich das Gewissen des Kriegers. Ich weigere mich, zu glauben, daß es die Absicht irgendeines Herrn sein könnte, diese Station lahmzulegen.« »Und dennoch ist es so. Dem Herrn fällt die Verantwortung für die Völker dieser Galaxis zu. Er darf nicht zulassen, daß sie sich gegenseitig vernichten.« Ordeal wurde unsicher. Hatte er sich nicht die ganze Zeit über schon gefragt, wozu der endlose Drang zu kämpfen gut sein solle? Er hatte sich niemals geweigert, seine Aufgabe zu erfüllen. (Insgeheim vermutete er, daß eine solche Weigerung nicht einmal
im Bereich seiner Möglichkeiten liege.) Aber er hatte sich immer nach dem Sinn des Ganzen gefragt – und nie eine Antwort erhalten. »Warum hat er zugelassen, daß sie einander ständig bekriegen?« erkundigte er sich. »Was rede ich? Zugelassen? Er treibt sie förmlich zum Kampf an!« »Ich bin nicht befugt, mich über die Absichten des Herrn zu äußern«, antwortete Blödel. »Aber es sind welche in der Nähe, die dir vielleicht Auskunft geben können. Hör mir genau zu: Vielleicht, sage ich.« »Wo sind sie?« »Draußen in dem Boot, aus dem ich gekommen bin. Laß sie herein. Schalte den Feldschirm ab – nur für die Zeit, deren es bedarf, ein kleines Raumfahrzeug passieren zu lassen. Dann frage sie aus. Wenn du Glück hast, bekommst du Antworten auf deine Fragen.« Ordeal nahm sich Zeit zum Nachdenken. Er traute dem Fremden nicht. Wenn er die, die sich an Bord des Bootes befanden, zu sich hereinließ, setzte er sich womöglich einem noch größeren Risiko aus. Anscheinend standen sie dem Herrn näher und waren dem Roboter übergeordnet. Aber er war jetzt gewarnt. Sobald sie das Zweifach-Rad betraten, würde er sie festsetzen lassen. Und Blödel mitsamt seinem Werkzeug kam nicht eher frei, als bis er sich überzeugt hatte, daß seine Sicherheit – und die der Station – nicht gefährdet waren. »Wie setze ich mich mit dem Boot in Verbindung?« fragte er. »Du besitzt alle herkömmlichen Kommunikationsmittel. Du sprichst unsere Sprache. Es wird dir nicht schwerfallen, Kontakt aufzunehmen. Sprich zu dem Scientologen Hage Nockemann. Aber ich warne dich.« »Weswegen?« »Er ist ein Organiker. Er wird dir nicht trauen, wenn du ihm nicht zeigen kannst, daß ich unversehrt bin und mich nicht in Gefahr befinde.« »Ich werde es ihm zeigen«, versprach Ordeal. »Aber glaube nicht,
daß ich dich deswegen freilasse. Du bleibst, wo du bist. Ich mache dem Scientologen ein Angebot. Nimmt er es an, dann sind wir einen Schritt weiter. Wenn nicht, dann vernichte ich ihn mitsamt seinem Boot, dich und dein Werkzeug.« Bei der Erwähnung des Bakwers empfand Blödel, was Hage Nockemann als die Regung »warm ums Herz«, in den EmotioSektor seines positronischen Bewußtseins programmiert hatte. Er nahm an, daß Wuschel auf dieselbe Art eingesperrt war wie er selbst. Aber wußten die Bewohner der Station, daß sie ihn mit Energie allein nicht halten konnten? Und wenn sie es wußten – behielten sie ihn aufmerksam genug im Auge, so daß er auch keine einzige Sekunde lang Gelegenheit bekam, sich davonzustehlen? Wuschel – jetzt kommt's auf dich an!
* Fassungslos starrte Hage Nockemann auf die Videofläche, von der ihm eine in den Buchstaben des solanischen Alphabets abgefaßte Nachricht entgegenleuchtete. ORDEAL RUFT SCIENTOLOGEN HAGE NOCKEMANN. NOCKEMANN, MELDE DICH. Die Bildgeräte der ZACK waren ursprünglich nicht für die Darstellung solanischer Symbole eingerichtet. Man hatte sie in den vergangenen Tagen entsprechend getrimmt: erstens, weil die Solaner darauf Wert legten, daß der Bordcomputer auch ihnen zu Verfügung stand, und zweitens, weil der Hauptzweck des Unternehmens die Auffindung der SOL war und eine einwandfreie Kommunikation mit dem Fernraumschiff gewährleistet sein mußte. Aber wer, zum Teufel, war Ordeal? Nockemann zögerte eine Sekunde lang, dann aktivierte er den Vocoder. »Hier Nockemann«, sagte er auf Interkosmo. »Wer ist Ordeal, und
was will er von mir?« Der Text seiner Antwort erschien auf der Bildfläche. Sekunden später materialisierten weitere Buchstabenketten. ORDEAL IST DAS GEWISSEN DES KRIEGERS, DER HERR DES ZWEIFACH-RADS. DEIN BOOT ERHÄLT ERLAUBNIS, AUF DER PERIPHERIE DER STATION ANZUDOCKEN. ICH SUCHE EIN GESPRÄCH MIT DIR AUFGRUND DER ANGABEN, DIE MIR VON EINEM ROBOTER NAMENS BLÖDEL GEMACHT WURDEN. »Oh mein Gott!« ächzte Nockemann. Da der Vocoder aktiviert war, wurde auch diese Äußerung übertragen. Einen Atemzug später erschien auf der Videofläche die Reaktion des Unbekannten: WER IST DEIN GOTT? Nockemann ging nicht darauf ein. In seinem Verstand wirbelte es bunt durcheinander. Ordeal war offenbar die Kontrolleinheit des Doppelrads. Ordeal hatte mit Blödel gesprochen. Blödel befand sich an Bord der Station! Wie, zum Donnerwetter … »Ich will Blödel sehen«, sagte er. WARTE. Das Bild flackerte. Kurze Zeit später erschien die Darstellung eines hohen, weiten Raumes, der mit Maschinen einer fremden Technik gefüllt war. Exotische Roboter hatten einen Kreis um einen mächtigen Maschinenblock gebildet, und unmittelbar vor dem Block, von einer schimmernden Aura umgeben, stand Blödel. »Blödel, bist du in Ordnung?« rief Nockemann voller Aufregung. »Zu fünfundsiebzig Prozent«, antwortete die schrille Stimme des Roboters. »Es mangelt mir an Bewegungsfreiheit. Aber man hat mir versprochen, daß mir nichts geschehen wird.« Nockemanns Logik arbeitete auf Hochtouren. Blödel war festgesetzt worden. Wahrscheinlich hatte er etwas angestellt. Der Wissenschaftler glaubte längst nicht mehr, daß es sich bei dem Doppelrad um ein Heiligtum handele. Vermutlich war Blödels
Hypothese richtig: Das Doppelrad war eine der Stationen, von denen die zu stetem Kampf anregende Mentalstrahlung ausging. Der Robot hatte wahrscheinlich eine Möglichkeit entdeckt, die Strahlung unwirksam zu machen, und war bei der Ausführung eines entsprechenden Planes ertappt worden. Vorsicht war geboten! »Ich soll andocken, Blödel«, sagte Nockemann. »Ordeal hat mich dazu aufgefordert. Was rätst du mir?« »Komm«, lautete die Antwort. »Der Feldschirm wird für das Boot kurze Zeit geöffnet werden. Ordeal will von dir Auskünfte über den Herrn im Innern der Dunkelzone. Ich bin nicht befugt, seine Fragen zu beantworten.« Das Bild wurde abrupt ausgeblendet. Eine Schrift erschien. ICH ERWARTE DEINE REAKTION. Nockemann seufzte. Schon wieder ein Vorstoß ins Ungewisse! Aber blieb ihm eine Wahl? Er durfte Blödel und den Bakwer nicht im Stich lassen. Und wenn er nur ein wenig Glück hatte, bot sich ihm vielleicht eine Möglichkeit, den unglückseligen Zuständen in der Galaxis Xiinx-Markant abzuhelfen. »Ich komme«, sagte er. »Ich bin nicht allein. Ich habe zwei Begleiter.« ICH ERWARTE SIE EBENFALLS. FOLGE MEINEM PEILSIGNAL. Hage Nockemann wandte sich um und nickte Glogg zu. Der Haawer aktivierte das Triebwerk. Die ZACK setzte sich langsam in Bewegung. Ein paar Sekunden vergingen, dann registrierte der Empfänger ein kräftiges Signal, das sich in kurzen Abständen wiederholte und mühelos eingepeilt werden konnte. Glogg überließ die Steuerung des Bootes dem Autopiloten. Vor der ZACK wuchs die eigenartige Struktur des Doppelrads in die Höhe.
7. »Ich will euch was sagen«, begann der Hohe Totem-Bewahrer und musterte die beiden Totem-Diener mit kühlem Blick. »Ihr habt beide keine Ahnung, was Barleona darstellt, wie sie aussieht und wie man sie dazu bewegen kann, uns die seltsamen Ereignisse der jüngsten Zeit zu erklären.« Xingt senkte beschämt den Blick. Pangt dagegen plusterte sich auf. »Ich fühle mich in meiner Würde beschnitten«, protestierte er. »So etwas brauche ich mir selbst von dem Hohen Totem-Bewahrer nicht bieten zu lassen.« »Oh, laß die Luft wieder ab«, winkte Dengt mit verächtlicher Geste. »So schlimm, wie du denkst, ist es gar nicht. Ich weiß nämlich auch nicht, was es mit Barleona auf sich hat.« »Ich habe die leuchtende Scheibe mit …« Pangt war noch voller Eifer in seinem Protest begriffen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm zu Bewußtsein kam, was Dengt soeben gesagt hatte. Das Rudiment des dritten Auges auf der Stirn begann zu zucken, die Kolbennase geriet in schwingende Bewegung, und der dünnlippige Mund öffnete sich zu einer kreisförmigen Rundung. »Wie?« pfiff der ältere Totem-Diener total verblüfft. »Was hast du …« »Du hast die leuchtende Scheibe mit eigenen Augen gesehen«, spottete der Totem-Bewahrer. »War das nicht, was du sagen wolltest?« Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Schäm dich! Deinen Oberbefehlshaber so hemmungslos anzulügen. Mittlerweile bin ich nicht sicher, ob selbst die Handreicher Barleona jemals zu Gesicht bekommen haben.« »Aber, das ist doch …« Pangts gekünstelter Entrüstung ging der Dampf aus. Es fiel ihm nichts mehr ein, was er hätte vorbringen können. Glücklicherweise wurde der Größte Feldherr in diesem Augenblick abgelenkt. Über Bordruf meldete sich Lungt, der Zweite Sekundärstratege. »Das Boot der Haawer hat sich vor kurzem in Bewegung gesetzt«,
sagte er. »Es hält auf das fremdartige Gebilde in der Nähe der Sonne zu.« Er machte ein unglückliches Gesicht. Dengt wußte, warum. Lungt war schon immer ein Draufgänger gewesen, oft ein unbedachter. Es fehlte ihm die Initiative zu fragen: Befiehlst du die Verfolgung? Er selbst sah plötzlich keinen Sinn mehr darin, hinter dem HaawerBoot herzujagen. Das machte ihn unsicher. Deswegen war er unglücklich. »Wir können nichts daran ändern, Lungt«, sagte der Hohe TotemBewahrer. »Laß das Boot nicht aus den Augen und melde dich wieder, sobald du etwas Ungewöhnliches beobachtest.« Als er den Bordruf abschaltete, hatte Dengt für wenige Sekunden eine überraschende Vision. Sein Kampfbewußtsein war plötzlich zurückgekehrt. Er schalt sich einen Narren, weil er Lungt eine völlig närrische Antwort erteilt hatte. Die Hand schoß nach vorne, um die Bordrufverbindung wiederherzustellen. Im selben Augenblick war die Vision wieder verschwunden. Er fühlte sich so schlapp und ratlos wie zuvor. Mit Mühe erinnerte er sich, was zuletzt gesagt worden war, bevor Lungt die Unterhaltung unterbrochen hatte. »Pangt, du äußertest …« »Oh, nichts«, wehrte der ältere Totem-Diener halb ärgerlich, halb verlegen ab. »Was mich vielmehr interessiert, ist, worauf diese Diskussion hinaus will.« »Das will ich dir gerne sagen«, antwortete Dengt. »Der Hohe Totem-Bewahrer weiß nicht, was es mit dem Totem auf sich hat. Das gibt er offen zu. Die Totem-Diener wissen es ebensowenig. Mit den Handreichern kann man nicht reden. Sie haben nicht einmal zugelassen, daß Xingt der herrlichen Barleona ein Opfer darbringt …« »Singenden Mehlbrei und vergoldete Mäuse«, brummte Pangt abfällig. »Sei ruhig. Mit deinen Gebeten und Gesängen hätten wir genauso wenig Erfolg gehabt. Was ich sagen will, ist dieses: Wenn in dieser
ganzen Flotte niemand Verbindung mit Barleona hat, dann kann sie unser Dasein nicht beeinflussen. Auch wir üben keinen Einfluß auf sie aus. Wenn aber zwei Gebilde nebeneinander existieren, die einander nicht beeinflussen, dann könnten sie ebensogut Tausende von Lichtjahren voneinander entfernt sein.« Die beiden Totem-Diener sahen ihren Oberbefehlshaber erstaunt an. »Du willst sagen …«, begann Xingt zaghaft. »Daß wir Barleona nicht brauchen«, vollendete der Größte Feldherr den Satz mit Nachdruck. »Im Gegenteil. Indem wir sie für herrlich, für groß, für unfehlbar halten und sie wie eine Gottheit verehren, schaffen wir nur Unsicherheit in den eigenen Reihen. Bei der nächsten Gelegenheit schieben wir das Totem ab.« Das Staunen im Blick der beiden Totem-Diener wandelte sich zu Entsetzen. Pangt sprang auf. »Das ist Frevel!« schrie er. Dengt packte ihn an der Schulter und schob ihn in seinen Sitz zurück. »Ja. Weil du Amt und Würden verlierst und niemand mehr vormachen kannst, du seist ein bevorzugtes Mitglied unserer Gesellschaft.« »Aber wird Barleona …«, begann Xingt mit zitternder Stimme …, »wird sie sich nicht an uns rächen?« »Es gab bisher keine Wechselwirkung zwischen uns und dem Totem, also wird es erst recht keine geben, nachdem wir uns Barleona vom Hals geschafft haben«, antwortete der TotemBewahrer kalt. »Wir brauchen kein Totem, von dem keiner weiß, woher es kommt. Objekt unserer Verehrung werden von jetzt an wieder die Götter der Ahnen sein.« Niemand weiß, wie die Debatte geendet hätte. Es trat ein Ereignis ein, das sie abrupt unterbrach. Dengt hatte seine letzten Worte im Ton der Überzeugung und mit unüberhörbarer Verachtung gesprochen. Sein Ärger galt insbesondere Pangt, der kein logisches
Argument gelten lassen wollte, sondern lediglich um seine Pfründe bangte. Aber mit einemmal waren Ärger und Verachtung wie weggewischt, und ein neues Gefühl, ein neuer Drang ergriff von ihm Besitz. Seine Gedanken waren nicht mehr bei Xingt und Pangt, sondern bei dem Zweiten Sekundärstrategen, der ihn vor kurzem angerufen hatte. Welches waren seine Worte gewesen? Das HaawerBoot hatte seine bisherige Position aufgegeben und näherte sich dem Gebilde, das wie zwei senkrecht aufeinander gestellte Räder aussah. Beim mächtigen Totem – wie kamen sie dazu, hier nutzlos ihre Zeit zu verschwätzen, während draußen der Feind auf sie wartete? Warum rüsteten sie sich nicht zum Kampf? Er musterte Xingt und Pangt und erkannte mit Befriedigung, daß sie ebenso verwirrt waren wie er. In diesem Augenblick sprach der Bordruf an. Lungt meldete sich. Er war so voller Eifer, daß seine Stimme sich fast überschlug. »Spürst du es, Hoher Totem-Bewahrer?« kreischte er. »Spürst du es auch? Oh, sag mir, welchen Befehl willst du mir nun geben? Sollen wir das Boot verfolgen?« Der Größte Feldherr hob die Hand zum Zeichen der Bejahung. In seinen weit auseinanderstehenden Augen leuchtete der Kampfeswille. »Mein Befehl gilt der ganzen Flotte«, sagte er. »Wir setzen sofort zur Verfolgung an.«
* Ordeal erschrak. Noch nie zuvor war das Gewissen des Kriegers auf diese Weise angesprochen worden. Woher kamen die Signale? Sie gehörten seiner eigenen Sprache an, der Sprache eines Volkes, an das er sich nicht mehr erinnerte. Zuerst glaubte er, der fremde Roboter spiele ihm einen Streich. Aber Blödel stand nach wie vor reglos unter seinem Energieschirm, und die Signale kamen nicht auf
akustischem Weg, sondern durch einen der Kanäle, die Ordeal mit dem Zentralrechner verbanden. Das Gewissen des Kriegers begriff. Es war der Rechner selbst, der zu ihm sprach. »Du kennst deine Aufgabe?« lautete die Frage. »Ja«, antwortete Ordeal. »Die Umsetzung der Befehle in psionische Signale zu überwachen und zu steuern. Nur ein organisches Bewußtsein kann diese Funktion fehlerfrei versehen.« »Daher hältst du dich für unentbehrlich. Daher übernimmst du andere Aufgaben, die nicht in deinen Bereich fallen. Du hältst dich für den Befehlshaber dieser Station, und ich habe dich gewähren lassen. Denn ein organisches Bewußtsein muß man bei guter Laune halten. Bisher konntest du keinen Schaden anrichten. Aber in jüngster Zeit hast du Fehler gemacht.« »Ich habe nichts Unrechtes getan«, protestierte Ordeal. »Mich kümmert nicht Recht oder Unrecht. Für mich gilt allein der Auftrag dessen, dem wir dienen.« Ordeal vergaß für einen Augenblick, daß er zur Rechenschaft gezogen wurde. »Du kennst ihn?« fragte er begierig. »Er hat mich geschaffen. Ich kenne ihn.« »Wie sieht er aus? Wo ist er? Warum hat er mir die Erinnerung …« »Hör auf zu fragen. Durch dein Verhalten hast du den Auftrag in Gefahr gebracht. Es wäre dem Eindringling fast gelungen, den Encoder unbrauchbar zu machen.« »Ich faßte ihn noch rechtzeitig. Außerdem gibt er an, er habe seinen Befehl von dem Herrn im Innern der …« »Er lügt dich an. Du bist leicht zu täuschen.« Die Stimme, die unmittelbar zu Ordeals Bewußtsein sprach – unhörbar und doch in den semantischen Symbolen einer Sprache, die ihm vertraut war –, klang kalt und unerbittlich. »Was geschieht jetzt?« fragte das Gewissen des Kriegers kleinlaut. »Du hast weitere Fremde zu dir geladen. Sie sind ebenso
betrügerisch wie der Roboter, dem du im letzten Augenblick das Handwerk legtest. Du hast dafür zu sorgen, daß die Betrüger keinen Schaden anrichten und daß wir von ihnen alles erfahren, was sie an Informationen besitzen.« »Und dann.« »Wenn dir das gelingt, hast du die Bewährungsprobe bestanden und kannst weiterhin deine Funktion versehen.« Ordeal erschauderte. »Und wenn nicht?« fragte er. »Wirst du ausgelöscht und ersetzt. Du hast keinen Fehler mehr gut. Der geringste Schaden, den die Fremden anrichten, bewirkt deinen Tod.«
* Der Peilstrahl war zuverlässig. Die ZACK dockte an einem Dutzende von Metern weit in den Raum hinausragenden Vorsprung des »horizontalen« Rades. Hage Nockemann nannte es so, weil der Kursvektor des Bootes in der Radebene lag. Es blieb den Insassen der ZACK keine Zeit, die fremdartige Struktur länger zu betrachten. Derjenige, der sie zum Besuch geladen hatte, zeigte sich im höchsten Grad ungeduldig. Immer wieder erschien auf dem Videogerät die Aufforderung: BEEILT EUCH BEIM AUSSTEIGEN. EINTRITT DURCH DIE BELEUCHTETE SCHLEUSE. DIE ATMOSPHÄRE IM INNERN DER STATION IST FÜR EUCH NICHT ATEMBAR. Die ZACK war durch ein Feld unbekannter Struktur an der Außenhülle des Rades fest verankert. Hage Nockemann schauderte bei dem Gedanken, daß sie in eine Lage geraten könnten, die ein rasches Entkommen erforderlich machte. Am besten, man zerbrach sich nicht den Kopf darüber. Die beleuchtete Schleuse war vom Kommandostand des Bootes aus deutlich erkennbar; sie lag knapp
zweihundert Meter entfernt. Glogg, Nockemann und Argan U packten die Sachen zusammen, die sie mitzunehmen gedachten. Das Gepäck des Puschyden war wenig umfangreich. Es bestand lediglich aus seinem geliebten Zuckerwasser-Destilliergerät. Sie waren alle mit leichten, aber leistungsfähigen Raumanzügen ausgestattet. Die ZACK wurde versiegelt. Dann machten sie sich auf den Weg. Auf dem Weg zur Schleuse sah Nockemann sich noch einmal um. Das Boot schwebte, festgehalten vom Ankerfeld, zwischen den Auswüchsen, die aus der Oberfläche der Station hervordrangen. Das Sternenmeer der Galaxis Xiinx-Markant lag jenseits einer halbtransparenten Nebelschicht, die den Wissenschaftler zunächst verwirrte. Dann erkannte er, daß es sich um eine Innenansicht des energetischen Feldschirms handelte, den die ZACK vor kurzem durchstoßen hatte. Die Flotte der Barleoner war mit bloßem Auge nicht sichtbar; aber Nockemann zweifelte nicht daran, daß sie nach wie vor draußen im Dunkel des Weltalls auf der Lauer lag. Die Schleuse nahm sie auf. Durch das innere Schott gelangten sie in einen breiten, hell erleuchteten Gang. Hage Nockemann las die Anzeige des Mikroanalysators an seinem linken Unterarm ab. Helium und Argon machten das atmosphärische Gemisch aus – Inertgase, die das Problem der Wartung und Instandhaltung verringerten. Sie blieben stehen und warteten auf eine Anweisung Ordeals. Da tauchte vor ihnen ein Roboter auf, dessen Körper die Form eines vollkommenen Ellipsoids besaß. Er war weitaus größer als die Maschinenwesen, die Nockemann gesehen hatte, als er mit Blödel sprach. Die Gesetze der Schwerkraft schienen für ihn nicht zu gelten. Er bewegte sich schwebend und verfügte offenbar über ein hohes Maß an Manövrierfähigkeit. Vor den drei wartenden Gestalten hielt er an. Irgendwoher aus seinem Innern ertönte eine Stimme. Auf dem Umweg über die Außenmikrophone seines Helms hörte Nockemann: »Ordeal verlangt euch sofort zu sehen. Er hat Fragen an euch zu
richten. Eure Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, damit ihr keinen Schaden anrichten könnt.« »Donnerwetter!« staunte der Wissenschaftler. »Das Ding spricht Interkosmo.« Bevor er noch dazu kam, sich über diesen merkwürdigen Umstand Gedanken zu machen, tauchte ein silbrig schimmerndes Flimmern vor ihm auf, schmiegte sich an ihn und hüllte ihn ein wie einen Mantel. Er spürte, wie ihm die Arme gegen den Leib gepreßt wurden. Als er sich umsah, stellte er fest, daß es Glogg und Argan U nicht anders erging als ihm. Der fremde Roboter erklärte: »Falls ihr zur Zusammenarbeit bereit seid, wird euch nichts geschehen. Man bringt euch jetzt zu Ordeal.« Eine geheimnisvolle Kraft begann, auf die Fesselfelder der drei Gefangenen einzuwirken. Sie fühlten sich sanft in die Höhe gehoben und glitten alsbald mit beachtlicher Geschwindigkeit den Korridor entlang. Hage Nockemann ärgerte sich darüber, daß er sich auf so plumpe Weise hatte hereinlegen lassen; aber er empfand keine Furcht.
* Es war nicht die Halle mit den großen Aggregaten, die er auf dem Bildschirm an Bord der ZACK gesehen hatte. Es war ein kuppelförmiger Raum mit einem Durchmesser von zwanzig Metern. Boden und Wände bestanden aus einem exotischen Material, das einen leichten, rötlichen Schimmer ausstrahlte. Außer dem Schimmer gab es sanftes, augenfreundliches Licht, das diffus aus den Wänden hervorzuquellen schien. Der Raum war kahl bis auf eine Reihe riesiger Videoflächen, die das umgebende Weltall zeigten. Hage Nockemann sah die Fülle fremder Sterne hinter der nebligen Wand des Energieschirms. Und da stand Blödel. Man hatte ihn ebenfalls hierher transportiert.
Ein Fesselfeld in der Form einer mattleuchtenden Glocke hielt ihn gefangen. Die drei von der ZACK wurden in seiner Nähe abgesetzt. Sie konnten sich miteinander verständigen, aber Nockemann war sicher, daß jedes ihrer Worte abgehört wurde. Ein paar Minuten vergingen. Tiefes Schweigen herrschte ringsum. In diesen sorgfältig abgeschirmten Raum drang nicht einmal das ewige Summen der Maschinen, die zu Hunderttausenden das Innere des Doppelrads erfüllten. Dann erklang eine Stimme, eine mächtige, dröhnende Stimme, die aus dem Zenit der Kuppel herabbrandete und ein seltsam gefärbtes Interkosmo sprach. »Ich habe von deinem Roboter Blödel erfahren, Scientologe, daß er im Auftrag des Herrn im Innern der Dunkelzone steht. Ist das wahr?« Hage Nockemann wurde es heiß unter der Montur. Er haßte es, wenn er zum Lügen gezwungen wurde; aber die Lage, in die Blödel sich mit seiner Aufschneiderei hineinmanövriert hatte, ließ ihm keine andere Wahl. »Es ist wahr«, antwortete er. »Bist du bereit, mir nähere Angaben über den Herrn zu machen?« »Was willst du wissen?« wich Nockemann einer direkten Antwort aus. »Wo hat er seinen Sitz?« »Im Zentrum der Dunkelzone.« »Kennst du seinen Namen?« Ursprünglich hatte der Wissenschaftler geglaubt, er solle auf die Probe gestellt werden. Allmählich jedoch kam ihm der Verdacht, daß der Frager selbst unwissend war und seine Fragen aus reiner Wißbegierde stellte. Er wollte wissen, was es mit dem Herrn in der Dunkelzone auf sich hatte. Nockemann wurde ein wenig leichter ums Herz. Wenn Ordeal tatsächlich keine Kenntnis der wahren Zusammenhänge besaß, dann konnte er unbesorgt drauflos fabulieren. »Ja«, sagte er. »Nenne ihn mir.«
Aber es kam anders, als Nockemann es sich vorgestellt hatte. Plötzlich erschallte unter dem weiten Kuppeldach eine zweite Stimme. Auch sie sprach Interkosmo, jedoch auf so unmodulierte und mechanische Art und Weise, daß der Sprecher nur ein Roboter oder ein Computer sein konnte, der die Sprache in aller Eile erlernt hatte. »Ist der Name etwa Bonampor?« Nockemann war verwirrt. »Wer spricht dort?« rief er laut. »Die Zentraleinheit des Hauptrechners«, dröhnte es aus der Kuppel. »Antworte!« »Nein.« »Ist der Name Marigor … oder Nanntez … oder … Anti-Homunk … oder Kampfbewahrer … Sternenhüter … oder …« »Nein, nein!« schrie Nockemann unbeherrscht. »Es ist keiner von diesen.« »Damit hast du dein Urteil gesprochen«, donnerte die mechanische Stimme. »Du bist ein Betrüger. Unter den Namen, die ich nannte, war der richtige. Du hast ihn nicht erkannt.« Da ertönte ein gellender Schrei. Mit verzerrter Stimme rief Ordeal: »Du hast den Namen die ganze Zeit über gewußt? Du weißt, wer mich …« Ein gellendes Signal brachte den Boden zum Zittern. Hage Nockemann fuhr herum. Unwillkürlich fiel sein Blick auf einen der Bildschirme. Er erschrak. Der Nebelschleier war verschwunden, der Feldschirm zusammengebrochen. Er begriff instinktiv, was das zu bedeuten hatte. Die Barleoner würden angreifen!
* Schmerz drang in Ordeals Bewußtsein – und dazu die unerbittliche
Stimme des Zentralrechners. »Das ist dein Ende«, sagte sie. »Der Feldschirmgenerator ist zerstört. Das Zweifach-Rad kann sich gegen Angreifer nicht mehr schützen.« »Dafür trage ich nicht die Verantwortung«, protestierte das Gewissen des Kriegers. »Doch. Erinnerst du dich an das kleine Geschöpf, das der fremde Robot aus seinem Körper entließ? Jenes, das du für ein Werkzeug hieltest? Es hat sich aus seinem Gefängnis längst befreit. Du hättest das vorhersehen müssen, denn du wußtest, daß es Energie neutralisieren kann. Es ist im Innern der Station unterwegs und hat soeben die Zentralversorgung der Feldschirmprojektoren lahmgelegt.« Ein entsetzlicher Gedanke materialisierte in Ordeals Bewußtsein. »Du hast keinen Fehler mehr gut«, hatte der Zentralrechner gesagt. »Nein!« bat Ordeal, als er spürte, wie der Schmerz stärker wurde. »Du hast versagt«, antwortete die kalte Stimme. »Das ZweifachRad braucht ein neues Gewissen des Kriegers.« »Nein …«, schrie Ordeal. Das Universum war von einem Inferno kreischender und heulender Geräusche erfüllt. Das Gewissen des Kriegers wollte sich wehren; aber es hatte keine Kontrolle über seine Gedanken mehr. Es versank in einem kreiselnden Mahlstrom aus infernalischem Kreischen und zuckenden Blitzen. Und zwischen den Blitzen und dem Kreischen wurde sein Bewußtsein zu Atomen zerrieben.
8. Ein schwerer Schlag erschütterte das Doppelrad und ließ die Wände des Kuppelraums wie eine Glocke klingen. Hage Nockemann hatte die Verwirrung von sich abgeschüttelt. Es ging nicht mehr darum, wer mehr über den Herrn im Innern der Dunkelzone wußte – es
ging nur noch ums Überleben. »Ordeal, hörst du mich?« schrie er. »Ordeal ist tot«, antwortete die seelenlose, mechanische Stimme des Zentralrechners. »Dann hör du mir zu«, forderte Nockemann. »Das Schirmfeld existiert nicht mehr. Die volle Wirkung der Mentalstrahlung dringt in die Bewußtseine der Barleoner. Sie sind seit langem hinter unserem Boot her. Das Boot liegt verankert auf der Oberfläche der Station. Es macht den Barleonern nichts aus, das Doppelrad zu beschädigen oder auch zu vernichten, wenn nur unser Boot dabei ebenfalls zerstört wird. Wie hast du vor, dich dagegen zu schützen?« Noch während er sprach, hörte Nockemann die schrille Stimme des Roboters Blödel, die über die Außenmikrophone an sein Ohr drang: »Endlich gibt er zu, daß ich von allem Anfang an recht hatte.« Nockemann achtete nicht darauf, denn inzwischen hatte der Zentralrechner zu antworten begonnen. »Das Zweifach-Rad verfügt über einige Möglichkeiten der Abwehr …« »Das klingt nicht sehr optimistisch«, fiel Nockemann der Maschine ins Wort. »Mit ›einigen Möglichkeiten‹ kannst du dir keine Flotte kampfeswütiger Barleoner vom Leib halten.« Das rumpelnde Grollen einer fernen Explosion unterstützte das Argument des Wissenschaftlers. »Es hört sich an, als hättest du einen Vorschlag, wie das Unheil abzuwenden sei.« »Habe ich!« rief Nockemann begeistert, als er zu spüren glaubte, daß auf Seiten des Zentralrechners Bereitschaft vorhanden sei, auf seine Ideen einzugehen. »Du hast dich als Betrüger erwiesen«, erwiderte der Rechner kalt. »Warum sollte ich deinen Vorschlägen auch nur die geringste Bedeutung beimessen?«
»Niemand zwingt dich dazu«, antwortete Nockemann. »Du kannst dich natürlich auch von den Barleonern in Fetzen schießen lassen.« Auf den großen Bildschirmen blitzte es unaufhörlich. Das Rumpeln und Donnern der Treffer kam jetzt in immer rascherer Reihenfolge. Es ging Nockemann nicht nur um die eigene Sicherheit. Er wollte Zeit gewinnen. In einer scheinbar unschuldigen Geste hatte Blödel vor kurzem die Lade geöffnet, in der normalerweise Wuschel seine Heimstatt hatte. Die Lade war leer. Der Bakwer war unterwegs. Wahrscheinlich war er für den Zusammenbruch des Feldschirms verantwortlich. Bakwer waren gefräßige Geschöpfe. Sie fraßen alles, was ihnen in die Quere kam – gleichgültig ob Energie oder Materie, notfalls auch die Mechanismen eines FeldschirmProjektors. Wuschel mußte Gelegenheit gegeben werden, sein heilsames Zerstörungswerk fortzusetzen und zu vollenden. Schließlich ging es hier nicht nur um eine halbe Handvoll Solaner, sondern um Waffenstillstand und Frieden in diesem Sektor von Xiinx-Markant. »Ich höre dich«, sagte der Zentralrechner. »Du weißt, daß die Mentalstrahlung dieser Station für die Angriffslust der Barleoner verantwortlich ist«, rief Nockemann. »Schalte sie ab.« »Das ist unmöglich«, wies der Rechner den Vorschlag zurück. »Die Aufrechterhaltung der Mentalstrahlung ist meine einzige Aufgabe. Ich kann die Strahlung nicht unterbinden. Meine Basisprogrammierung läßt das nicht zu.« Hage Nockemann wollte niedergeschlagen die Schultern hängen lassen. In diesem Augenblick kam ihm Blödel zu Hilfe. »Es ist offenbar, daß deine Verteidigungsmöglichkeiten nicht ausreichen, die Barleoner abzuwehren«, sprach er in Richtung der Kuppeldecke. Noch während er sprach, lief eine Serie schwerer Erschütterungen durch den Boden des Raumes. »Wir haben Freunde, die mächtig genug sind, es mit einer doppelt so großen
Flotte aufzunehmen. Man müßte sie nur herbeirufen.« Nockemann horchte auf. Worauf wollte der Roboter hinaus? Dachte er etwa an die SOL? Warum sollte der Zentralrechner daran interessiert sein, die SOL herbeizurufen, wenn er damit rechnen mußte, daß sie ihm noch ärger zusetzen würde als die Flotte der Barleoner? Aber Blödels und des Rechners gedankliche Logik verlief in anderen Bahnen. »Wo sind diese Freunde?« erkundigte sich die mechanische Stimme. »Wir wissen es nicht«, antwortete Blödel wahrheitsgemäß. »Du bietest mir keine Unterstützung. Wenn ihr nicht wißt, wo sie sind, wie sollen sie dann herbeigerufen werden?« »Mit einem Hypersender ausreichender Leistung«, antwortete Blödel. »Wir hätten uns längst mit ihnen in Verbindung gesetzt. Aber unser Boot hat nur einen schwachen Sender an Bord. Ich nehme an, du verfügst über die entsprechenden Anlagen?« »Das ist richtig. Aber warum sollte ich eure Freunde herbeirufen? Sie würden die Anlage zerstören wollen – so wie ihr es vorhattet.« »Du siehst die Sache aus dem falschen Blickwinkel«, belehrte Blödel den mächtigen Zentralrechner. »Es sind die Barleoner, die die Anlage binnen kurzem zerstören werden, wenn wir nicht Abhilfe schaffen. Unsere Freunde haben nicht die Absicht, das Doppelrad zu beschädigen oder gar zu vernichten. Und selbst wenn du diese Darstellung nicht als richtig akzeptiertest, hättest du noch immer uns als Geiseln.« Der Entschluß schien dem Zentralrechner schwerzufallen. Etliche Sekunden vergingen in tiefem Schweigen, dann half eine Reihe schwerer Explosionen, den Entscheidungsprozeß zu beschleunigen. »Ich bin einverstanden«, erklärte der Rechner. »Ihr habt Genehmigung, eure Freunde zu rufen.«
* Es war längst nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. Der Zentralrechner befreite sie nur widerwillig aus ihren Fesselfeldern. Während sie um die Entfernung der Fesseln feilschten, erschütterten immer häufigere Explosionen die Struktur des Doppelrads. Es war klar, daß es dem Mental-Relais an den Kragen ging. Selbst wenn die SOL rechtzeitig eintraf, um die Besatzung der ZACK zu retten, würden wahrscheinlich Jahre verstreichen, bis das Relais den Betrieb wiederaufnehmen konnte. Das war ein Aspekt der Sache. Des weiteren fiel es Nockemann und Blödel reichlich schwer, sich mit der Hyperfunktechnik des Mental-Relais vertraut zu machen. Der Rechner hatte sie in ein unweit des Kuppelraums gelegenes Funklabor dirigiert, stand jedoch mit Hinweisen und Ratschlägen nur in höchst knapper Weise zur Verfügung, weil er sich um die Koordinierung der Abwehr und um die Wiederherstellung des Feldschirm-Generatorsystems zu kümmern hatte. Das Labor enthielt mehrere Bildempfänger, die die Umgebung der Station zeigten. Es stellte sich heraus, daß der Zentralrechner ungeachtet der Bescheidenheit seiner Verteidigungsmittel ein überaus geschickter Taktiker war. Die Doppelrad-Station war nicht darauf eingerichtet, Angreifer anders als mit Hilfe des Feldschirms abzuwehren. Eine geringe Anzahl aktiver Defensivwaffen war – offenbar nachträglich – eingebaut worden. Wahrscheinlich hatte man damit gerechnet, daß von einer großen Zahl Angreifer der eine oder andere schließlich den Feldschirm doch durchdringen würde und ausgeschaltet werden müsse. Mit Hilfe dieses vergleichsweise erbärmlichen Verteidigungspotentials gelang es dem Zentralrechner, dem Gegner etliche Verluste zu bereiten. Hin und wieder sah man auf den Bildflächen neben den grellweißen Abschüssen die gelbrote Feuerblume eines Treffers aufleuchten. Das Vordringen der Barleoner wurde dadurch verlangsamt. Sie hatten offenbar nicht mit
Widerstand gerechnet. Niemand wußte, was inzwischen aus der ZACK geworden war. Keiner der Bildschirme zeigte den Sektor des Doppelrads, vor dem das Boot verankert lag. Aber gerade dort würden die Angreifer ihr Feuer konzentrieren. Ihr eigentliches Ziel war es, die ZACK zu vernichten. Die Station war ihnen sozusagen als Zugabe geliefert worden. Blödel schaffte es schließlich, die Funkanlage zu aktivieren. Er schaltete den Sender auf Maximalleistung. Die verschiedenen Sendemodi konnten sie allerdings nicht enträtseln, was dazu führte, daß sie sich schließlich auf einen altmodischen 6-Bit-Code einigten, in dem Blödel die Meldung absetzte: NOCKEMANN RUFT SOL. Während er so tat, als hantierte er weiterhin an der Konsole, schilderte er dem Wissenschaftler mit unterdrückter Stimme seine Erlebnisse an Bord der Doppelrad-Station. Auf diese Weise erfuhr Hage Nockemann, daß seine Vermutung richtig gewesen war: Wuschel war frei. Man hatte ihn zwar zuerst unter eine Energieglocke gesetzt, aber da der Bakwer auch Energie zu fressen verstand, war seine Gefangenschaft nur von kurzer Dauer gewesen. Irgendwie, meinte Blödel, werde er versuchen, ein zweites Mal an das Zentralgerät der Mentalsendeanlage heranzukommen und es endgültig außer Betrieb zu setzen. Der Empfänger meldete sich mit schrillem Zirpen, und zur gleichen Zeit drang aus zwei Lautsprechern, untermalt vom Knistern und Prasseln hyperenergetischer Störungen, eine menschliche Stimme: »Nockemann! Wo steckst du?« Da riß es den Galakto-Genetiker in die Höhe. Er sprang zwei Fuß hoch, riß die Arme nach oben und schrie: »Das ist Breckcrown Hayes! Ich kenne seine Stimme selbst im schlimmsten Störgeräuschsalat! Antworte ihm!« »Was soll ich antworten?« fragte Blödel aufsässig.
»Herrgott, stell dich nicht an wie der letzte Dummkopf«, fuhr Nockemann ihn an. »Sag ihm, wir brauchen Hilfe. Er soll unsere Trägerwelle anpeilen und so schnell wie möglich hierherkommen. Beschreibe ihm die Situation und warne ihn vor den Barleonern. Das ist alles.« Blödel machte sich an die Arbeit. Schneller als ein organisches Wesen es vermocht hätte, tastete er die Nullen und Einsen des 6-BitCodes zusammen und jagte die Nachricht binnen weniger Minuten hinaus. Von der SOL kam die lakonische Antwort: »Verstanden. Wir kommen.« Hage Nockemann fühlte zum ersten Mal seit etlichen Tagen so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. Jetzt brauchten sie nur noch ein wenig Glück, daß das Doppelrad zusammenhielt, bis die SOL erschien – und die Lage war gerettet. So weit war er in seinen Überlegungen gekommen, als er hinter sich ein kratzendes, knisterndes Geräusch hörte. »Bei allen Geistern – es ist Wuschel!« piepste Argan U. In halber Höhe war in der Seitenwand des Labors ein Loch entstanden. Es vergrößerte sich zusehends unter dem Einfluß einer zunächst unsichtbaren Kraft. Dann kam das haarige Bündel des Bakwer-Körpers zum Vorschein, zwängte sich durch die Öffnung und plumpste herab. »Komm her, mein Kleiner!« rief Blödel unter Aufbietung aller pseudo-väterlichen Liebe, die sein positronisches Bewußtsein zu erzeugen vermochte. Er beugte sich nach vorne und streckte die langen Arme aus, um Wuschel aufzuheben. »Laß das Gewäsch«, knurrte Hage Nockemann. »Frag ihn, ob er den Mentalsender ausgeschaltet hat.« Die Frage war überflüssig. Das ständige Gewummer der Einschläge war in den letzten Minuten eher stärker denn schwächer geworden. »Dann schick ihn los«, befahl Nockemann. »Der Sender muß unbrauchbar gemacht werden, sonst schießen uns die Barleoner in
Stücke, bevor die SOL auftaucht.« Blödel wollte widersprechen. Aber der Bakwer krähte diensteifrig: »Wird gemacht, mein Freund.« Mit erstaunlicher Geschicklichkeit kletterte er an der Wand in die Höhe und verschwand durch das Loch.
* Sie verlangten, daß der Eingang des Funklabors geöffnet würde. Aber der Zentralrechner meldete sich nicht mehr. Ein bißchen Vandalismus würde ihn rasch genug auf die Beine bringen, dachte Hage Nockemann und machte sich daran, ein paar Sekundärgeräte zu zerteppern. Er wollte keinen ernsthaften Schaden anrichten, nur die Aufmerksamkeit des Rechners auf sich lenken. Aber die Zentraleinheit blieb stumm. Entweder war sie mit der Verteidigung der Station vollauf beschäftigt, oder sie hatte einen Treffer erlitten. »Wir müssen hier 'raus«, sagte Nockemann voller Unruhe. »Hier stecken wir …« Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Ein donnernder Krach ließ den Boden tanzen, die Wände zittern. Ein Aggregat löste sich aus der Verankerung und schlidderte ein paar Meter weit in Richtung des Ausgangs. Die Wand gegenüber wölbte sich nach innen. Ein dünner Riß entstand, und Rauch quoll herein. »Ich hätte da etwas«, sagte Argan U bescheiden, nachdem der erste Schreck überwunden war. Er griff in eines der Fächer seines Zuckerwasser-Destilliergeräts und brachte einen Miniatur-Blaster zum Vorschein. »Damit können wir dem Schott vielleicht zu Leibe rücken.« Der Himmel mochte wissen, woher er das Ding hatte. Eine Waffe dieser Art war Nockemann noch nie unter die Augen gekommen. Blödel nahm sie an sich. Mit Hilfe seiner Sensoren ermittelte er ohne Mühe, wo sich der verborgene Riegelmechanismus des Schottes
befand. Zwei Minuten später hatte er den Riegel-Servo säuberlich aus der Wand gelöst. Sie schoben das Schott auf. Ringsum dröhnten die donnernden Erschütterungen schwerer Explosionen. Es gab keinen Zweifel mehr: Die Verteidigung des Doppelrads war endgültig zusammengebrochen. Die Barleoner hatten begonnen, den Kern der Station unter Beschuß zu nehmen. »Wo geht's zur Peripherie?« fragte Nockemann und blickte unsicher den Korridor entlang. Die Beleuchtung fing an zu flackern. »Ich gehe keinen Schritt, ehe Wuschel nicht zurück ist«, erklärte Blödel. »Du verdammtes Ofenrohr – willst du deinem Herrn und Meister gehorchen?« schrie der Wissenschaftler voller Zorn. »Zeig uns den Weg zur Oberfläche des Rades, und zwar sofort!« Ohne eine Wort zu sagen, setzte der Roboter sich in Bewegung, Nockemann, Argan U und der Haawer hasteten hinter ihm drein. Der barleonische Beschuß war unterdes zum ununterbrochenen Trommelfeuer geworden. Stöße wie von einem gigantischen Erdbeben fuhren unaufhörlich durch die Nabe des Doppelrads, manchmal mit solcher Wucht, daß die Fliehenden das Gleichgewicht verloren und stürzten. Es war ein Weg durch die Hölle. Je näher sie der Peripherie des Rades kamen, desto größer war das Ausmaß der Zerstörungen. Wahre Trümmerberge türmten sich vor ihnen auf, über die sie mühsam hinwegklettern mußten. Dann kam der Augenblick, in dem es den Barleonern gelang, ein Leck in die doppelte Hülle der Station zu schießen. Hage Nockemann hörte das charakteristische Geräusch. Es klang, als ob jemand mit kräftigem Ruck ein dickes Stück Tuch entzweireiße. Eine unwiderstehliche Kraft riß ihn von den Beinen. Der Sog des ins Vakuum expandierenden Gasgemischs spülte ihn mit sich. Die Beleuchtung erlosch endgültig. Nockemann wirbelte durch die Finsternis und hatte nur noch einen Gedanken: Das war das Ende. Irgendwo voraus im Dunkel befand sich ein Hindernis, das seinem rasenden Flug ein Ende bereiten würde. Und ihm selbst. Er würde
den Aufprall nicht überleben. Er spürte einen Ruck. Scharfer Schmerz stach ihm durch die rechte Schulter. Etwas traf ihn mit mörderischer Wucht gegen den behelmten Schädel. Das war – zumindest vorerst – seine letzte Wahrnehmung.
* Er öffnete die Augen. Das erste, was ihm auffiel, war das spektakuläre Gewimmel der Sterne, die über ihm leuchteten. Dann sah er groteske Formationen aus zerrissenem Metall, die sich ringsum auftürmten. Und schließlich machte er noch eine Wahrnehmung, die ihn zutiefst befriedigte: Das ständige Rütteln und Schütteln der Explosionen war verschwunden. Es herrschte Ruhe ringsum. Die Barleoner hatten das Feuer eingestellt! Wuschel hatte das Unmögliche geschafft! Er stemmte sich in die Höhe und sank gleich darauf mit einem Schmerzenslaut zurück. Er hatte die angeschlagene Schulter vergessen. Wie kam's überhaupt, daß er noch am Leben war? »An deiner Stelle verhielte ich mich ruhig«, hörte er Blödel sagen. »Ein Wunder ist mein übliches Tagespensum. Mit zweien kann ich nur selten dienen.« »Was redest du da?« knurrte Nockemann. »Was für ein Wunder?« »Als der Sog dich mitriß, sah ich dich kommen. Ich legte mich in deine Flugbahn und beschleunigte. Es gelang mir, dich aufzufangen und die Wucht des Aufpralls um einen Faktor zehn zu verringern.« »So, einen Faktor fünfzig hättest du nicht schaffen können, wie?« nörgelte der Wissenschaftler. »War ein verdammt harter Zusammenstoß.« In Wirklichkeit empfand er tiefe Dankbarkeit. Aber er durfte sie sich nicht anmerken lassen, sonst schickten sie ihn bei nächster
Gelegenheit zum Psychophysiker – wegen Exhibition menschlicher Emotionen gegenüber einem Roboter. »Gut, beim nächsten mal lass' ich dich einfach sausen«, antwortete Blödel mit überzeugendem Gleichmut. »Wo sind wir überhaupt?« wollte Nockemann wissen. »In der Gegend, wo früher die ZACK vor Anker lag«, antwortete der Robot. »Viel ist nicht mehr da.« »Von der ZACK?« »Nein, von der Gegend. Die ZACK ist völlig verschwunden.« Nockemann unternahm einen zweiten Versuch, sich aufzurichten. Diesmal war er vorsichtiger. Ihr Aufenthaltsort war eine Metallplatte, die früher zur äußeren Hülle des Doppelrads gehört hatte. Jetzt war sie schräg in die Höhe gebogen schräg relativ zur Radebene. Die nahe Sonne schuf Licht und Schatten, und die surrealistische Landschaft des schwerbeschädigten Doppelrads bot sich Nockemanns Blicken als ein willkürlich zusammengewürfeltes Muster aus weißen und schwarzen Flächen. Er versuchte, das Ausmaß der Zerstörungen zu erkennen, und kam zu dem Schluß, daß dieses Mental-Relais für alle Zeiten aus dem Umlauf gezogen war. Argan U und Glogg hatten den Marsch durch die Hölle unbeschädigt überstanden. Der Haawer kauerte am Rand der Platte und starrte ins All hinaus. »Wo sind die Barleoner?« fragte Nockemann. »Dort draußen irgendwo«, sagte Blödel. »Manchmal kannst du eines ihrer Schiffe aufblitzen sehen, wenn es sich in den richtigen Winkel zum einfallenden Sonnenlicht dreht.« »Und Wuschel?« Eine Lade in Blödels Leib fuhr auf. Der Bakwer kam zum Vorschein. Er lehnte sich seitwärts. Man konnte sehen, wie sich seine Mundöffnung bewegte. Aber was er zu sagen hatte, ging im Vakuum verloren. Die Lade klappte wieder zu. »Und was, in Dreiteufelsnamen, ist aus der SOL geworden?«
knurrte Nockemann. »Ich habe mir euer seichtes Geschwätz lange genug angehört«, sagte eine Stimme, deren Klang Nockemann verblüfft nachlauschte. »Am besten ist, wir holen euch jetzt gleich ab.« »Das wollte ich dir noch sagen«, bemerkte Blödel: »Die SOL ist nur ein paar hundert Kilometer entfernt. Du kannst sie nicht sehen, weil die Kontur des Rades sie verdeckt.«
* »Die Verständigung mit den Barleonern bereitet keine Schwierigkeiten mehr«, meldete Breckcrown Hayes, der High Sideryt. »Wir haben ihre Sprache aufgezeichnet und einige Translatoren entsprechend programmiert.« Er reichte dem Arkoniden eins von zwanzig Geräten, die er auf einem Tablett neben sich liegen hatte. »Was soll ich damit?« fragte Atlan verwundert. »Die Barleoner haben darum gebeten, daß wir ihre Delegation empfangen. Ich habe der Bitte stattgegeben. Soweit ich es verstehe, wollen sie uns ein Geschenk überbringen. Sollen wir sie 'reinlassen?« »Warte noch. Will Nockemann nicht dabei sein, wenn wir die Barleoner empfangen?« »Nockemann und Konsorten«, grinste Breckcrown Hayes, »haben darum gebeten, sich zehn Stunden lang ausschlafen zu dürfen. Mit Ausnahme von Blödel natürlich.« »Also gut. Laß die Barleoner eintreten.« Fünf hochgewachsene, hagere Gestalten betraten den Empfangsraum. Sie waren humanoid, jedoch mit deutlichen Zügen der Eigenart. Die beiden Augen standen weit auseinander. Auf der von Wülsten durchsetzten Stirn befand sich eine von Lamellen bedeckte Öffnung, die womöglich den Überrest eines dritten Auges
darstellte. Die Knollennase war von beeindruckendem Umfang, der Mund klein und dünnlippig. Am auffallendsten aber waren die großflächigen Schlappohren, die im Normalzustand schlaff zu beiden Seiten des Schädels herabhingen, bei Bedarf aber aufgerichtet und auch bis zu einem gewissen Grad gedreht werden konnten. Die Kommunikation gestaltete sich mit Hilfe der frisch programmierten Translatoren mühelos. Atlan erfuhr, wer seine Besucher waren: Der Hohe Totem-Bewahrer und Größte Feldherr, Dengt, sodann die beiden Sekundärstrategen Fingt und Lungt, und schließlich zwei Totem-Diener namens Pangt und Xingt. »Ein böses Geschick hat unser Volk in jüngster Zeit befallen«, eröffnete Dengt seine Darlegung. »Wir glauben, zum Kämpfen geboren zu sein; aber mitunter verläßt uns der Kampfesmut.« »So wie in diesem Augenblick, nicht wahr?« lächelte Atlan. »Genauso. Es liegt uns daran, den Fluch zu beseitigen. Meine Totem-Diener haben die Sterne befragt und sind zu dem Schluß gekommen, daß das Schicksal uns erst dann wieder gnädig sein wird, wenn wir ein Opfer bringen. Ein schweres, ein fast unerträgliches Opfer.« »Halt ein«, bat Atlan. »Ich habe dir etwas zu erklären.« Er schilderte, was er von Hage Nockemann und Blödel erfahren hatte. Er versuchte, die Barleoner darüber aufzuklären, daß sie von Natur aus nicht kriegerisch seien, daß der beständige Drang zu kämpfen auf eine fremde Mentalbeeinflussung zurückzuführen sei, der sie gegen ihren Willen unterlagen. Aber er las an ihren Gesichtern ab, daß seine Schilderung nicht durchdrang. »Du magst dies für eine logische Erklärung halten«, sagte Dengt höflich, nachdem der Arkonide geendet hatte. »Wir dagegen sind der Ansicht, daß wir uns gegen die Mächte des Geschicks versündigt haben und uns von dem Fluch nur dadurch befreien können, daß wir ein entscheidendes Opfer bringen. Bist du bereit, unser Opfer anzunehmen?« »Was ist es?« fragte Atlan.
Dengt wandte sich um und machte eine theatralische Geste in Richtung des großen Eingangsschotts. Die beiden Flügel glitten auseinander. Eine Schwebeplattform glitt langsam durch die Öffnung. Auf ihr ruhte ein umfangreicher Behälter, der wie ein altmodischer Treibstofftank aussah. Die Plattform hielt an. »Das mächtige Totem selbst«, verkündete Dengt feierlich. Die Plattform wurde von zwei Techno-Robotern begleitet. Auf Atlans fragenden Blick hin erklärte einer der beiden: »Der Behälter ist ungefährlich. Wir haben ihn gründlich untersucht.« Er sprach Interkosmo. Die Barleoner verstanden ihn nicht. »Ich kann dieses Opfer nicht annehmen«, sagte der Arkonide. »Es ist zu groß. Nach allem, was ich von der Zivilisation eures Volkes verstehe, dürft ihr euch von dem Totem nicht trennen.« »Du betrübst mich«, antwortete Dengt. »Wir Barleoner wissen, daß es nur diese eine Möglichkeit gibt, den Fluch von uns zu nehmen. Du verweigerst uns die Hilfe?« Nach einigem Hin und Her blieb Atlan keine andere Möglichkeit, als das Opfer zu akzeptieren. Die Barleoner verabschiedeten sich. Auf die Frage, was sie nun zu unternehmen gedächten, antwortete Dengt: »Wir ziehen in den Raum hinaus. Irgendwo dort draußen werden wir unser Selbstverständnis wiederfinden.« Ja, sobald ihr in den Einflußbereich des nächsten Mental-Relais gelangt, dachte der Arkonide bitter.
* Ein Kommando technischer Spezialisten, darunter zahlreiche Spezialroboter, drang in die Doppelrad-Station ein und fand, was Hage Nockemann intuitiv schon seit geraumer Zeit wußte: Das Mental-Relais würde seine verderbliche Tätigkeit nie wieder
aufnehmen können. Somit war im Ringsektor der Galaxis XiinxMarkant eine kugelförmige Zone von zehn Lichtjahren Durchmesser geschaffen, innerhalb deren der teuflische Drang zu ständigem Kämpfen nicht mehr existierte. Nur deswegen hatte die SOL so schnell zur Stelle sein können, weil sie ohnehin auf dem Weg zum Zentrum der Kugelzone gewesen war, als Nockemanns Hilferuf sie erreichte. Das Spezialkommando drang bis zum Zentralrechner vor und ermittelte, daß dieser zwar noch generell funktionsfähig war, jedoch einen Großteil seines Speichervolumens durch die Einwirkung der barleonischen Bordgeschütze verloren hatte. Mit anderen Worten: Die Zentraleinheit existierte noch, aber es gab kaum mehr Daten, die sie verarbeiten konnte. Da die Speicher zum größten Teil zerstört waren, gelang es dem Kommando auch nicht, zusätzliche Informationen bezüglich der Herkunft des Mental-Relais zu gewinnen. Inzwischen setzten Atlan, Nockemann und Blödel ihren Erfahrungsaustausch fort. Währenddessen war Argan U darangegangen, sich wieder in seinen früheren Arbeitsbereich einzuleben, während Glogg, der Haawer, unter Anleitung eines Psychophysikers damit beschäftigt war, sich an die völlig fremdartige Umgebung zu gewöhnen. Es überraschte Nockemann sehr, daß Atlan von der Vernichtung des Manifests A, des achtbeinigen Panthers Janvrin, bereits wußte. Wöbbeking hatte es ihm mitgeteilt, jedoch keine Zusatzinformationen gegeben. Atlan hörte nun zum ersten Mal von den Staubfliegern und ihrem Löcherplaneten, auch von den fünf Skulpturen und der Begegnung der ZACK mit der Energiesäule. »Die Säule war das Manifest B namens Pervrin«, erläuterte er dem Galakto-Genetiker. »War?« fragte Nockemann. »Wir haben sie befriedet«, lächelte der Arkonide. »Dann haben wir also demnächst mit dem Manifest C zu
rechnen«, bemerkte Blödel. Nockemann sah seinen Ofenrohr-Roboter verdutzt an. »Guter Gott, bist du schlau«, spottete er. »Woher nimmst du nur die Weisheit?« »Aus den Programmierfähigkeiten meines Herrn und Meisters«, antwortete der Robot. »Wenn ich ihm nicht schlau genug bin, wer trägt daran die Schuld? Aber sei's ihm genehmigt, zu meckern und zu nörgeln. Tief im Innern seines Gehirns weiß er genau, daß es im ganzen Universum keine zwei besseren Scientologen oder AllroundWissenschaftler gibt als uns beide.« Atlans fragender Blick wurde nicht beantwortet. Auf Blödels Bemerkung hin verwickelten die beiden »Scientologen«, sich in ein Streitgespräch, das sich in die Länge zog, so daß der Arkonide schließlich aufstand und sich verabschiedete. Es war zwanzig Stunden her, seit die Barleoner das geheimnisvolle Opfer dargebracht hatten – zehn, seit die barleonische Flotte in Bewegung geraten und jenseits des Linearraum-Horizonts verschwunden war. Der große Behälter ruhte in einem ansonsten leeren Lagerraum in Sol-City. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, ihn zu öffnen. Atlan aber ertappte sich mehrmals bei dem Empfinden, er fühlte sich zu dem Lagerraum hingezogen. Jetzt wollte er wissen, was der Tank enthielt. Aus Gründen, die er selbst nicht verstand, legte er Wert darauf, bei der Öffnung des Behälters allein zu sein. Es gab zwei Zugänge, die jedoch positronisch verriegelt waren. Er zog zwei Spezialroboter hinzu, die die Verriegelung lösten. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die beiden Metalltüren sich nun tatsächlich öffnen ließen, schickte er die Roboter fort. Er trat an die Tür, die dem Eingang des Lagerraums zugewandt war, und öffnete sie vorsichtig. Sein Blick fiel in ein hell erleuchtetes, behaglich eingerichtetes Gemach. Das Mobiliar wirkte fremdartig und gleichzeitig vertraut. Während Atlan sich noch den Kopf
darüber zerbrach, woher die Einrichtung kommen könne, schwenkte plötzlich ein hochlehniger Sessel herum – so unerwartet, daß der Arkonide erschrak und unwillkürlich nach der Waffe griff. Er erstarrte mitten in der Bewegung. Zu phantastisch erschien ihm der Anblick, als daß der Verstand in dieser Sekunde in der Lage gewesen wäre, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu formulieren. Er ließ das Bild auf sich wirken. Das Bild einer jungen Frau – humanoid, nein, menschlich bis ins letzte Detail ihrer Erscheinung. Als sie sich langsam erhob, sah er, daß sie etwa 1,65 Meter groß war. Ihre großen Augen musterten ihn mit unverhohlener Neugier. Ihr voller Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln, das er erwiderte, ohne sich dessen bewußt zu werden. Sie mochte, nach solanischen Maßstäben gerechnet, zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt sein. Ihre Hautfarbe war ein helles Braun. Ihre Hüfte war schmal und ließ sie zierlich erschienen. Im übrigen waren ihr Körperformen jedoch voll ausgebildet. Dunkelbraunes, gepflegtes Haar fiel glatt bis auf die Schultern. Später gab der Arkonide zu, er habe sich in diesem Augenblick wie ein postpubertärer Heranwachsender gefühlt, der seiner ersten großen Liebe begegnet. Die Faszination, die die Fremde auf ihn ausübte, war unbeschreiblich – so intensiv in der Tat, daß sich der Extrasinn meldete. »Heh, paß auf! Dein Gehirn wird sonst zu Matsch.« Atlan achtete nicht darauf. »Barleona?« fragte er sanft. Ihr Lächeln wurde intensiver, aber sie antwortete nicht. Er sprach zwei- oder dreimal auf sie ein, und schließlich ging ihm auf, daß sie weder die seine noch irgendeine andere Sprache beherrschte. Aus den Schilderungen der Barleoner war hervorgegangen, daß sie keinerlei Kontakt mit organischen Lebewesen gehabt hatte. Sie verstand es auch nicht, sich durch Gesten zu verständigen. Dabei mangelte es ihr, davon war der Arkonide fest überzeugt,
keineswegs an Intelligenz. Allein der wache Blick der großen Augen verriet das. In den nächsten Stunden entwickelte Atlan eine hektische Aktivität. Ein Quartier in Sol-City wurde für Barleona bereitet, in unmittelbarer Nähe seiner eigenen Unterkunft. Sie ließ sich willig dorthin führen, und die neue Umgebung schien ihr zu gefallen. Zwei Xeno-Psychologen wurden eingespannt, um der geheimnisvollen Fremden den Übergang in eine neue Umgebung zu erleichtern, um ihr das Sprechen beizubringen, um ihr Wissen zu vermitteln. So eifrig und ausschließlich beschäftigte sich der Arkonide mit Barleona, daß der Extrasinn Anlaß fand, sich ein zweites Mal zu melden, »Hahn, hörst du mich?« »Wen nennst du Hahn?« »Dich. Oder gefiele dir Ziegenbock besser?« »Du verkennst meine Motive.« »Ganz gewiß nicht. Siehst du nicht, was hier gespielt wird?« »Nein, was?« »Nockemanns Robot ist schlauer als du. Was, meinst du, hat AntiHomunk als nächstes für dich auf Lager?« »Das Manifest C? Du meinst, Barleona sei das Manifest C?« »Ich höre deinen spöttischen Unglauben. Um deiner und meiner selbst willen – möchtest du die Möglichkeit nicht wenigstens in Betracht ziehen?« »Nein.« »Dann geh zum Teufel!« Von da an meldete sich der Extrasinn nicht mehr – wenigstens nicht mit Bemerkungen über Barleona. Die SOL lag noch immer in unmittelbarer Nähe des zerstörten Mental-Relais, und der, auf den es ankam, hatte nichts Besseres zu tun, als sich um Barleona zu kümmern – »um das fremde Weib herumzuscharwenzeln«, wie es Solania von Terra verächtlich ausdrückte. Er benahm sich so, als gäbe es für ihn in der endlosen Weite des Universums keine andere Aufgabe, als Barleona das Leben so angenehm wie möglich zu
machen. Kein Wunder, daß der Verdacht, den der Extrasinn geäußert hatte, allmählich auch in Sol-City und in den Quartieren der Schiffsleitung die Runde zu machen begann. Noch wagte niemand, den Arkoniden auf sein seltsames Verhalten anzusprechen. Aber die Furcht war in jedermanns Bewußtsein. Barleona – das Manifest C? Die Zukunft würde es weisen.
ENDE
Nach der Ausschaltung des Mental-Relais, dessen Ausstrahlungen offensichtlich für die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern von Xiinx-Markant verantwortlich waren, ist im Umfeld der SOL Ruhe eingetreten. Für den Arkoniden beginnt allerdings eine Periode großer Unruhe, sobald zwei Fremde an Bord der SOL gelangen. Mehr zu diesem Thema berichtet Hans Kneifel im Atlan-Band der nächsten Woche. Der Roman erscheint unter dem Titel: ATLAN UND BARLEONA