Terra Astra 623
H. K. Bulmer
Das Tor nach Venudine
Die Hauptpersonen des Romans: Fezius und Offa - Zwei unzertrennli...
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Terra Astra 623
H. K. Bulmer
Das Tor nach Venudine
Die Hauptpersonen des Romans: Fezius und Offa - Zwei unzertrennliche Freunde. Palans Red Rodro - Ein Mann jagt seine Braut. Nofret und Lai - Zwei Schwestern auf der Flucht. Sarah - Ein Mädchen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.
1.
Klar, um den Griff-Turm herum spukte es. Kein Wunder auch, denn er war sehr düster, sehr alt und sehr einsam gelegen. Fezius, der auf seinem Griff, dem Honorable Lord Sunrise, durch die Luft rauschte, sah das dunkle Band des Flusses unter ihm wie einen Bogen um den uralten Turm liegen. Eigentlich hatte er nicht die Absicht gehabt, den Turm unmittelbar zu überfliegen, aber er lag nun einmal auf seinem direkten Weg nach Parnasson, wo er in Turnieren anläßlich der Eheschließung von Red Rodro, dem Dreisten, kämpfen sollte. „Wenn die wilden Griffs dort unten uns riechen, dann würdest du dir wünschen, bis morgen früh gewartet zu haben", schrie Offa seinem Kameraden zu. „Wenn du deinen großen Mund hältst, Offa, du Narr, kann uns gar nichts passieren!" brüllte Fezius fröhlich zurück. „Der Wind, den du machst, bläst ja den Turm in den Fluß hinunter!" „Und du bist so gescheit, daß du den Turm noch als Boot benutzen würdest, du Angeber!" Fezius, einstens Fezanois genannt und von edler Abstammung, war jetzt nur noch ein
kurzbeiniger Gelegenheitsritter, der durch Mord und Betrug um sein Erbe gebracht worden war; Oag Offa, der Riese, der Kämpfer mit den kräftigen Muskeln, Offa von der Axt, Fezius und Offa, die beiden Kameraden, verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit Turnierkämpfen bei Festen, und sie nahmen jeden Auftrag an. Und jetzt lagen also die Hochzeitsfeierlichkeiten des berüchtigten Palans' Rodro vor ihnen. Während dieser ganzen Woche ausgelassener Fröhlichkeit müßten sie gut kämpfen, um ihren Anteil an Gold einzustreichen. In den Drei Freien Städten von Tarantanee gab es leider nicht viel zu holen, und das Jahr neigte sich allmählich dem Winter entgegen. Man flüsterte sich hinter der vorgehaltenen Hand zu, daß es bei der Heirat von Red Rodro nicht ganz mit rechten Dingen zuging. Flußauf flußab sagte man, daß keiner der großen Könige aus dem Osten, die Tausende und Abertausende von Vancas auf den Weiden stehen hatten, seine Tochter einem ganz gewöhnlichen Palans zur Frau gäbe, der nur eine einzige Burg und knappe fünfzig Meilen Flußufer besaß, und die waren, wie man munkelte, kein ganz einwandfrei erworbener Besitz. Egal, was daran stimmte und was nicht, Fezius, der die Nobilität und Ritterschaft mit der fröhlichen Leidenschaft einer blutigen Vergangenheit verabscheute, konnte bei der Hochzeit mehr verdienen als nur ein mageres Brotkrüstchen. Er als Kämpfer mochte mit Zauberei und dergleichen nichts zu tun haben. Metall und Leder, ein Schwert und eine Axt, ein Griff oder ein Vanca zum Reiten damit konnte ein Mann fertig werden. Über die Schwester der Prinzessin Nofret liefen Gerüchte um, mit denen er lieber nie etwas zu tun hatte. Sollte der Narr Rodro doch in eine Hexenfamilie heiraten, wenn er unbedingt wollte! Fezius hatte von der Schwester der Prinzessin Nofret gehört, daß sie ein apfelgrünes Kleid und eine glasharte Stimme habe. Das war fremdartig und daher interessant. Aber er wußte, daß ein einfacher Kämpfer, der mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen hatte im buchstäblichen und im übertragenen Sinn, von einer großartigen Hexenprinzessin kaum etwas erwarten dürfte. Sein häßliches Gesicht überzog ein zynisches Lächeln, und jetzt glich er vollends einem alten, durchtriebenen Teufel. Natürlich war er ein Edelmann, denn er war als solcher geboren, und beim Tod seines Vaters hätte er automatisch dessen hohen Rang und Titel erben müssen, aber leider herrschten damals Krieg, Plünderung, Zerstörung und Tod. Und jetzt war er also nicht Sir Fezius, Gavilan von Fezanois, Palans der Inneren und Äußeren Inseln und von Vectis, Herr und Beschützer der Gilde der Feinkauer, Günstling von Amra und den Großen Geistern, sondern nur noch ein kurzbeiniger, vierschrötiger, wandernder Turnierkämpfer und fahrender Ritter wenigstens für eine bestimmte Zeit. Auf jeden Fall machte er auch gar nicht soviel von sich her, wie es einem Gavilan zukam und wohl anstand. Ein Gavilan stand unmittelbar unter den Prinzen von Geblüt und dem König persönlich, und verglichen mit ihm war ein Palans nur ein kleiner Pinscher. „Da unten rührt sich was!" schmetterte Offa in den Nachtwind. Fezius folgte der angedeuteten Richtung. Erst war in dem orangegrauen Licht des
Mondes nichts zu erkennen als tiefe Schatten, doch dann fing sich ein Mondstrahl in glattem Stahl, und jetzt erst sah Fezius eine Anzahl Reiter, die sich auf den Treidelweg über dem Flußufer drängten. „Reisende wie wir, die spät unterwegs .sind", schrie er zurück. Wer immer die da unten waren, sie mußten die beiden Griffs schon lange gesehen haben, ehe die Griffreiter die dort unten wahrnahmen. Fezius beobachtete sie eine Weile und überlegte, warum die da unten wohl ausgerechnet nachts zum Griff-Turm unterwegs waren. Er legte sich nach vorn auf den gefiederten Hals seines Sunrise, tätschelte ihn und flüsterte ihm zärtliche und aufmunternde Worte in das tief in den Federn liegende Ohr. Plötzlich schlug ihm blaues Licht in die Augen. Er tat einen Schrei, weil er geblendet war, und setzte sich zurück. Als er endlich wieder ganz vage Umrisse ausmachen konnte, sah er Offas Griff, den Honorable Prince Spearpoint, Kreise nach abwärts ziehen. Seine Schwingen waren steif gespreizt, und der Fallwinkel wurde immer steiler. Und um Offa und sein Griff blitzten grelle blaue Funken, und sie knisterten wie ein brennender Reisighaufen. Fezius drückte Sunrise die Knie in die Flanken, und das Griff senkte seine Nase. Fezius fielen sämtliche alte Geschichten ein, die er je einmal über den Griff-Turm gehört hatte. Welch eine gespenstische Kraft war das doch, die einen Mann und sein Griff mit blauen Funken umgeben und ihn aus dem Himmel heraus nach unten ziehen konnte? Der Boden raste ihnen entgegen. Offas Griff schien gelähmt zu sein. Es hatte die Schwingen starr ausgebreitet, ohne mit ihnen zu schlagen. „Offa!" schrie Fezius. Die panische Angst drohte ihn allmählich zu überwältigen. Machte Offa so weiter, dann prallte er mit aller Wucht auf den Boden, und da spielte es dann keine große Rolle, ob dieser weich oder steinhart war. „Offa!" schrie er noch einmal. „Offa! Zieh doch endlich in die Höhe!" Aber Offa saß schweigend und unbeweglich auf seinem Griff. „Du Narr, so zieh doch endlich in die Höhe!" schrie Fezius noch einmal. Aber die blauvioletten Funken umzuckten Offa und sein Griff und schienen wie ein gespenstischer Mantel des Wahnsinns. Fezius grub seine Knie in die gefiederten Flanken seines Sunrise und schwebte nach unten, wenn auch eine Zunge blauen Feuers aus der Dunkelheit nach ihm leckte. Instinktiv duckte er sich. Sunrise kam aus dem Rhythmus seines Flügelschlages und begann aufgeregt zu flattern. Der große Vogel legte sich schräg, und Fezius fiel in die Riemen seines Sicherheitsgurtes. Verzweifelt zerrte er an dem Leder, um den Kopf mit den langen Zähnen wieder in die Höhe zu reißen. Aber Honorable Lord Sunrise zog es vor, weiter in Spiralen nach unten zu ziehen. Die eine Schwinge war steif ausgestreckt, die andere schlug so langsam, als könnte das Tier die Unmöglichkeit des eben Erlebten nicht begreifen. Fezius klammerte sich noch ein wenig fester an und fluchte. Er sah, wie Offa und Spearpoint in einem Durcheinander aus Federn, Krallen und Metall unten landeten. Im Moment vor dem Aufschlag waren die blauen Funken plötzlich verschwunden. Er selbst ka m zwischen dem Turm und einem dichten Gestrüpp, das am
Flußufer lag, auf, und damit hörten auch die blauen Funken an Sunrises Schwingen zu knistern auf. Als er auf dem Boden aufschlug, wurde er seitlich weggeschleudert, und als er wieder klar denken konnte, fand er sich mit dem Mund voll Erde und Schlamm auf dem nassen Gras. „Was, in Amras Namen, ist da passiert?" fragte Offa verdutzt. „Wie, bei allen Teufeln, sind wir hierhergekommen?" Fezius spuckte den Schlamm aus, um reden zu können. „Hexen und Zauberer!" murrte Offa und versuchte, sich von dem riesigen Griffmännchen zu befreien, das quer über seinen Beinen lag und noch ganz benommen war. Es gab ganz einfach kein weibliches Grifftier eine Marun , das den großen, schweren Oag Offa hätte tragen können. Fezius rappelte sich mühsam auf, ging zu Offa hinüber und half ihm, sich aus dem Griffknäuel zu lösen. „Keine Hexen!" knurrte Fezius. „Du hast einen Anfall von blauen Funken gehabt. Ich weiß nicht, was das ist, aber die Reiter dort haben das getan." Er schickte wütende Blicke den Treidelpfad entlang, der schwarz und orange im Mondlicht dalag. „Wir sind doch bloß da entlanggeflogen, haben uns um sonst nichts als um unsere eigene Angelegenheit gekümmert, und die dort haben uns 'runtergeholt?" Offa warf sich in seine Lederbrust. Er trug nämlich ebenso wie Fezius einen Lederharnisch, denn der war für die Reise bequemer. Die metallene Rüstung hatten sie beide in ölgetränkte Tücher eingewickelt und auf ihre Griffs geschnallt. „Denen würde ich ja jetzt am liebsten die Köpfe zusammenschlagen!" Fezius hatte manchmal trotz seiner sonstigen Vernunft Anfälle von teuflischer oder mutwilliger Bosheit; so auch jetzt. Er schüttelte seinen stämmigen Körper und sagte: „Auf die warten wir beim Griff-Turm, denn ich will wissen, was es mit denen auf sich hat." Er nickte dem Riesen Oag Offa lachend zu, und seine Zähne schimmerten im Mondlicht. „Nimm deine Axt, Offa. Niemand schießt mich ungestraft von und mit meinem Griff ab." Die beiden Flugtiere wurden schnell in einem Riedgrasdickicht am Flußufer untergebracht. „Aber die Flügel kettest du besser nicht an", meinte Fezius. Also blieben die vergoldeten Schwingenketten wie dicke Zöpfe auf den Tierleibern liegen, und die beiden tätschelten ihre Griffs, bis sie wieder zu gutmütiger Ruhe zurückgefunden hatten. „So nahe dem Griff-Turm wäre es nicht anständig oder weise. Wir könnten sie nämlich ganz blitzschnell brauchen." „Stimmt", pflichtete ihm Offa bei, holte seine Axt aus der Satteltasche und ließ seinen Schild drinnen. „Offa, was ist mit deinem Schild? Hast du ihn nur mitgenommen, damit du überflüssigen Ballast hast?" „Ich weiß, ich weiß", brummelte Oag Offa. Das war ein alter Streitpunkt zwischen ihnen, der Wert eines Schildes im Kampf.
Schwert und Axtmann klar, daß es da manchmal verschiedene Ansichten gab. Irgendwo in der Nähe kreischte eine Eule. Es war ein langgezogener klagender und drohender Ruf aus dem Dunkel. „Weiter, Offa !" „Hast du das gehört?" „Du wirst dich doch nicht vor einer Eule fürchten, oder?" „Das war keine..." „Na, dann wars's eben ein wildes Griff. Geh schon voran!" „Ein wildes Griff ..." Offa wog seine Axt in der Hand, und in dieser Bewegung drückten sich klar seine Gedanken aus. Die beiden Männer trugen ihre Schilde an den linken Armen. Fezius hatte sein Schwert aus der Scheide gezogen und Offa seine Axt gezückt, und so tappten sie vorsichtig zwischen wildem Dorngestrüpp und Binsendickicht über den sumpfigen Pfad. Über ihnen rauschten Griffschwingen, und die beiden Männer duckten sich und reckten ihre Hälse nach oben. Ein ganzer Schwärm wilder Griffs steuerte den Turm an. Sie waren die Könige des umliegenden Landes und hatten ihre Tagesarbeit getan. Ein Tier nach dem anderen ließ sich aus der Kette wie ein dicker Honigtropfen herausfallen und in seinen Horst auf den Turmzinnen treiben. „Wenn uns diese Griffs bemerken ...", sagte Offa unbehaglich. „Wenn du deinen großen Mund hältst, tun sie's nicht, du geschwätziger Dummkopf", schalt ihn Fezius. Offa war ziemlich stolz darauf, daß Fezius ihn dauernd beschimpfte. Er genoß jedes dieser Schimpfworte wie ein Kind ein gefülltes Fruchtbonbon. Ein wildes Griff konnte einen Menschen so schnell in seine Bestandteile zerlegen, daß er tot war, ehe es ihm noch zu Bewußtsein kam. Ein metallenes Klirren war die erste Warnung. Einen Moment später tappten Pferdehufe durch den Schlamm und bewiesen die weise Voraussicht ihrer Reiter. Vancas ließen sich von Griffs nur allzu leicht ablenken und erschrecken, während Pferde die Griffs für die Natur zuwiderlaufende Dinge hielten und sie daher kurzerhand ignorierten. Die langhalsigen, sechsbeinigen Vancas mochten die Griffs nicht. Pferde schienen allerdings auf Venudine immer eine Art Fremdkörper zu bleiben; sie stammten von den Randwelten, und Schiffe brachten sie dann über die unbekannten Meere. Über den Geräuschen von Hufschlägen, Harnischen und Lederzeug ließ sich das tiefe Murmeln von Männerstimmen vernehmen. Fezius legte Offa eine Hand auf den Arm und zog ihn aus der orangefleckigen Helligkeit in den Schatten zurück. Hinter ihnen lag das dunkle, ruhige Wasser des trägen Flusses. Die Stimmen wurden allmählich lauter. Wer immer diese Männer auch waren, sie schienen sich ziemlich stark und sicher zu fühlen. Von oben kam ein schriller, pfeifender Griffschrei. Eine harte, diamantklare Stimme sagte: „Zuviel Lärm! Wir wollen doch nicht, daß sie von den wilden Griffs gewarnt werden!" Offa schüttelte sich, und Fezius packte fester nach seinem Arm. „Ich weiß, ich weiß!" flüsterte er. „Das ist Palans Rodro. Seine Stimme würde ich überall
herauskennen." Offa beugte sich hinunter, so daß sein Kopf an dem von Fezius lag. „Was will denn der hier?" „Wenn du so neugierig bist, dann gehe doch und frage ihn!" „Komisch." In den Schatten geduckt, sahen sie der kleinen Kavalkade entgegen. Fezius konnte es durchaus miteinander vereinbaren, daß er in dem Mann, zu dessen Hochzeitsfeier er seine beruflichen Fähigkeiten aufbot, einen Feind sah; die Tatsache bewies ihm seinen Haß auf die gesamte Nobilität. Zu dieser Hochzeit kam er nur in seinem und seines Freundes Interesse. Das glaubte er jedenfalls. Was ihn besonders interessierte, war die Ursache des blauen Funkenfeuers, dieses Teufelszaubers. Ein dunkler Schatten glitt über den Fluß, und Fezius strengte seine Augen an, um in dem orangefarbenen Glitzern etwas zu erkennen. Offa spürte die Spannung seines Freundes und starrte ebenfalls in die Richtung. Und nun glitt wie ein Geisterschiff alter Mythen ein langes, flaches Boot durch den orangefarbenen Mondlichtstreifen, der quer über dem Wasser lag. „Es ist zum Turm unterwegs", wisperte Fezius. „Und Red Rodro wartet darauf." „Der Plan zeichnet sich allmählich ab", bemerkte Fezius mit einiger Befriedigung. „Geister.und Gespenster und sonstiges Zeug, das sich durch die Nacht schwindelt. Ha! Da sind wir also einer Sache auf der Spur!"
2.
Ockerfarbene und rötlichbraune Wolkenstreifen krochen langsam am Mond vorüber. Bald würde sich der Satellit hoch in den Himmel heben und sein rauchiges Orange über die Landschaft schütten. Fezius mußte jetzt seine Aufmerksamkeit zwischen der sich langsam nähernden Barke und der Rotte bewaffneter Männer teilen. Er war sich der sehr ereignisreichen Vergangenheit bewußt, die an dieser Stelle schon manche Tragödie hatte stattfinden lassen. Der Turm mußte einmal eine Furt oder eine Brücke bewacht haben, die vielleicht einst vom Fluß weggerissen worden und inzwischen in Vergessenheit geraten war. Da und dort waren im dichten Unterwuchs oder unter Algen noch Steine aus der wahrscheinlich frühesten Flußbefestigung zu erkennen, die noch heute einen rosafarbenen Schimmer aufwiesen. Fezius hatte immer ein Gefühl der Verehrung für diese Steine, wenn er daran dachte, daß sie vor mindestens dreitausend Jahren gelegt worden waren, denn damals waren die Rosenblütensteine noch von wundervoller Farbe und Härte. Jetzt waren sie leider tot. Auch der Turm bestand in den Fundamenten aus diesem Rosenblütenstein.
Fezius stand im schlammigen Wasser und wagte sich nicht zu bewegen, um Red Rodro und seine Waffenknechte nicht zu alarmieren. Er besah sich den Turm recht genau, nicht aber aus architektonischem Interesse, sondern in Erwartung der Reaktion von dessen luftigen Bewohnern. „Warum gehen sie denn nicht weiter?" fragte Offa. „Die Griffs sind unruhig geworden", flüsterte Fezius. In den Zinnen und obersten Dachgeschossen hatten nämlich die wilden Griffs Wohnung genommen, Ihre Horste klebten wie Säcke an den Mauern über und nebeneinander, und aus allen kam der pfeifende, schniefende, krächzende, schnatternde und klappernde Krach zahlreicher Jungen. Mit ihren langzähnigen Schnabelmäulern hingen sie halb über die Horstränder, und ihre noch federlosen, schwimmhäutigen Schwingen flatterten geräuschvoll, wenn sie sich umdrehten, um sich einen bequemeren Platz zu suchen. Die spatenförmigen Schwänze wippten dazu, und die scharfen Klauen zerrten das Stroh und Flechtwerk der Horste auseinander. „Na, was würdest du sagen, wenn du eines von denen da oben fliegen müßtest?" wisperte Fezius. Offa zuckte die Schultern. „Ich begreife heute noch nicht, wie man die Tiere überhaupt zähmen und abrichten konnte, daß sie sich reiten lassen. Alle Teufel und noch ein paar dazu, der Bursche, der damit angefangen hat, war ein ganzer Kerl!" Die Barke lief nun auf Grund. Die Ruder klatschten leise ins Wasser, und der Mahagonikiel kratzte am steinernen Pier, auf den nun ein junger Mann hinübersprang. Er war von Kopf bis Fuß dunkelblau gekleidet; sein Schwert schwang an einem Gehänge. Dem jungen Mann von .etwa zwanzig Jahren folgten zwei Frauengestalten in Mänteln, denen wiederum ein stämmiger Mann in Helm und langem, weitem Mantel folgte. Dieser stieß die Barke hinaus in das Wasser. Dazu benutzte er eine richtige Kampfhellebarde. Es war eine merkwürdige Gesellschaft. Die Gruppe eilte eng aneinander gedrängt dem Turm entgegen. Das Schweigen von Red Rodros Männern erschien viel bedrohlicher als vorher das leise, rumpelnde Flüstern. Die Leute von der Barke mußten unmittelbar an Fezius und Offa vorbeikommen. Die beiden Kameraden hatten also Palans Rodro an der einen und die unbekannten Leute an der anderen Seite. Allmählich war der orangefarbene Mondschimmer aus den Tümpeln und Pfützen der Marsch verschwunden. Offa hob seinen Schild zur Schulter an und schwang locker seine Axt. „Still, Offa , nicht anfangen, wenn's nicht unbedingt nötig ist", warnte ihn Fezius leise. „Wird aber notwendig", "wisperte der Riese zurück. „Jetzt wissen wir noch gar nichts. Aufpassen und warten!" „Du hast gesagt, da war was im Wind. Ich möchte nur wissen, was mich aus der Luft geholt und in diesen Höllenschlamm geworfen hat." „Du kennst doch Red Rodros Ruf. Der Mann ist ein Bösewicht. Wenn wir einen falschen Schritt tun, enden wir noch mit unseren Köpfen auf Zaunpfählen an seinem Vorgarten." „Beim Schwarzen Max, ich kenne sämt liche Geschichten, die man sich von Red Rodro dem Dre isten erzählt." .
Die beiden drückten sich noch ein wenig tiefer in die Schatten, als die vier Leute an ihnen vorbeikamen. Offas Fuß machte einen schmatzenden Laut im Morast. „Was war das, Haro?" fragte die größere der beiden Frauen, und ihre Stimme klang wie die einer Edlen. „Habe nichts gehört, Lady", rumpelte der Stämmige. „Dann weiter, Jeremy." Der Blaugekleidete mit seinem eleganten Schwert führte die kleine Gruppe weiter. „Wir dürfen jetzt nicht versagen." Die Dame sprach zwar sehr vornehm, aber ihre Stimme klang ziemlich gehetzt. Die kleinere, zarte Frau nahm plötzlich ihren Arm. „Sind wir erst im Turm, dann finde ich es auch. Ich weiß, daß es dort ist. Fasse Mut, liebe Schwester, und sei tapfer." Ihre Stimme war von erstaunlicher Intensität, klar und hart wie Kristall. „Es wird uns gelingen!" Seit dem Tag, da seine beiden Eltern ermordet worden waren und er allein dastand und überleben mußte, hatte er die zackige Höflichkeit mancher Leute als recht überflüssig betrachtet. Jeder Ehrgeiz, der über ein normales Maß hinausging, war für ihn Größenwahn und eine Paranoia, die vielleicht einem tragischen König wohl anstand. Aber die Realität des Moments enthob ihn aller Überlegungen in dieser Richtung, denn ein großes Hufgeklapper und Waffengerassel begleitete die stürmenden Männer, die nun den Pfad entlang rasten. Die Frauen schrien entsetzt. Jung Jeremy fluchte heftig und ließ sein Schwert sausen. Haros Hellebardenspitze senkte sich, und dann hatte er auch schon den ersten Reiter aus dem Sattel gehoben. In dem nun silberorangen Licht sah Fezius sehr genau, daß Rodro hintenan ritt und seine Männer mit gezogenem Schwert antrieb. Seine Rüstung ließ keinen Zweifel daran, wer er war, wenn auch das heruntergelassene Visier sein schweinsrüsseliges Gesicht verbarg. „Nehmt die Prinzessin Nofret lebend gefangen!" schrie er. „Sie gehört mir! Die anderen, ah, die sind Futter für eure Klingen." Jung Jeremy kroch auf Händen und Knien auf dem Boden, um sein Schwert zu finden, das ihm ein Hieb aus der Hand geschlagen hatte. Er fand es und holte auch sofort aus damit. Der Waffenknecht, dem der Angriff gegolten hatte, schrie gellend. „Beim Schwarzen Max, der alte Mann und der Junge legen aber einen tapferen Kampf hin", flüsterte Offa. „Wir wollen ..." „Mensch, Dummkopf, das ist doch Palans Rodro", flüsterte ihm Fezius zu, der aus alter Gewohnheit am liebsten mitgekämpft hätte. „Der alte Mann und der Junge werden verlieren, und wenn wir uns einmischen, dann tun wir es auch. Und wo bleibt dann unsere Zukunft? Du weißt doch, was Red Rodro der Dreiste mit seinen Gefangenen anstellt!" „Das passiert ihm bald selbst." „Muß aber nicht ausgerechnet heute sein. Damit habe ich ..." „Meine Axt will Blut sehen!" Fezius hatte keine Angst, daß Offa irr wie ein Berserker in den Kampf stürmen würde, aber seine Gefühle trug er deutlich zur Schau. Und er, Fezius, mußte leider zugeben, daß
der Riese recht hatte. Das Mädchen, das Rodro als Prinzessin Nofret identifiziert hatte, lief nun auf den Turm zu. Sie ließ den vorher eng um sich gezogenen Mantel los, der nun hinter ihr her wehte und ihren stolzen, schönen Körper sichtbar werden ließ. „Packt sie doch, ihr Dummköpfe!" brüllte Red Rodro. „Verrat!" rief die Prinzessin. „Oh, Amra, hilf uns jetzt!" Ihre Schwester, das Mädchen, das nur die legendäre Hexe sein konnte, stand noch immer da, wo sie gestanden hatte, als Rodros Männer angriffen. Ihr apfelgrünes Kleid war eine gespenstische Farbe in der spukhaften Beleuchtung. Ein Waffenknecht in Halbharnisch und mit offenem Visier sprengte mit eingelegter Lanze auf sie zu; sie hob eine Hand und deutete auf den angreifenden Reiter. Dann schwenkte sie ihr apfelgrünes Kleid, trat einen Schritt zur Seite, damit der tote Waffenknecht von seinem Pferd fallen konnte, und das nun reiterlose Tier raste weiter. Offa schluckte. „Das ist die Hexe", sagte er. „Ich habe keine blauen Blitze gesehen, aber den Waffenknecht fressen bald die Geier." Nun hatte die Prinzessin fast den Turm erreicht. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück, und nun sah Fezius ganz klar ihr Gesicht mit den riesigen Augen und dem offenen, keuchenden Mund; und jeder Atemzug kündete vom Triumph ihres Willens über ihren Körper. Zwei Waffenknechte verfolgten sie, umgingen aber die Hexe und sprangen von ihren Pferden, als sie in ihrer Nähe waren. Fezius hatte seinen Entschluß schon gefaßt. Beruflich haßte er es, aber als Mann konnte er nicht anders. Jeremy lag am Boden und rührte sich nicht. Haro rannte einem der Knechte entgegen, der die Prinzessin ergreifen wollte. Der andere schwang seinen Schild in die Höhe, um die Hellebarde abzuwehren. Langsam versuchte Haro seine Richtung zu ändern, doch da traf ihn das Schwert des anderen in die Seite. Haro stöhnte, fiel aber nicht. Das Schwert hob sich erneut. „Na, schön, Offa", sagte Fezius. „Ich kann's nicht mehr mit ansehen. Dann mal drauf!" „Wir haben sowieso schon zu lange gewartet", brummte Offa und warf sich in das Kampfgetümmel. Schreiende Frauen, Männer, die ihr Lebensblut aus dem Leib würgten, Waffengeklirr und Red Rodros wütendes Geschrei - im Schutz dieser Kakophonie sprang Fezius vorwärts, stieß seine Schwertspitze in den Leib eines Waffenknechts und griff nach der Prinzessin. „Schnell in den Turm, Prinzessin, und leise sein wie eine Maus!" drängte Fezius, warf ihr einen befehlenden Blick zu und schob sie kurzerhand hinein. Offa hatte inzwischen ein paar der Waffenknechte erledigt. „Rodro soll sich mit seinem Rest an uns vorbeikämpfen, wenn er die Mädchen erreichen will", sagte er. Jeremy lag dort, wo er gefallen war. Haro schwankte wie eine Föhre im Sturm, aber dann taumelte er dem Turm entgegen. Offa fing ihn auf und ließ ihn zu Boden gleiten. „Was ist mit ihr?" fragte er. Fezius folgte Offas Blick. Über das Mädchen im apfelgrünen Kleid unter dem dunklen Mantel dachte er nicht gern nach.
„Die kann, glaube ich, auf sich selbst aufpassen", meinte er. „Aber vielleicht rufen wir sie doch besser herein. Rodro ist sicher nicht weit weg." Und wirklich, dessen Schreien und Fluchen war deutlich zu hören. „Lauf" rief die Prinzessin. „Schnell, meine Schwester, komm zu uns herein!" Fröhlich und unbeschwert, als renne sie übermütig durch einen Wald, kam Lai herbeigelaufen. Fezius spürte, wie sein Mund trocken wurde. „Ich fürchte, wir sind verloren", sagte Lai. „Ich habe nämlich keine Ladungen mehr." Das begriff Fezius nicht. „Kannst du mich nicht jetzt gleich durchschicken, Lai? Oder ist die Lage zu verworren?" fragte die Prinzessin. Lai schüttelte den Kopf. Fezius hatte ihr Gesicht, das im Schatten der Mantelkapuze lag, noch immer nicht genau gesehen. „Ich kenne doch den genauen Fleck nicht, und mit dem bellenden Narren Rodro und seinen lärmenden Männern finde ich ihn auch nicht." Trotz ihrer harten Kristallstimme schien sie recht besorgt zu sein. „Dann sind wir allerdings wirklich verloren." Fezius mußte die Prinzessin bewundern; vor dem Mann, den zu heiraten sie gekommen war, lief sie davon, ließ sich von anderen Männern, die aus dem Boden gewachsen zu sein schienen, retten und plante dann auch noch weitere Taten. Eine wahre Prinzessin! Dem Hexenmädchen Lai traute Fezius jedoch nicht recht. Sie war, wenn auch nur unerheblich, größer als er und deshalb gefährlich. Aus der Dunkelheit hinter dem Turm kamen Waffenklirren und Hufestampfen. Im Turm selbst war es düster und staubig, hingen Spinnweben und Fledermäuse herum, und weiter oben nisteten die anderen, viel größeren und gefährlicheren Tiere. Dort duckten sie sich zusammen und warteten. Lai versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Fezius beobachtete sie, denn sie schnüffelte wie ein Hund herum. Und dann streckte sie die Arme aus und drehte sich um sich selbst. Fezius nahm an, sie habe sich in einen Trancezustand versetzt, aber nun kamen die trampelnden Füße von draußen näher. Offa hob seine Axt. Fezius wunderte sich darüber, daß und warum er hier war. Für einen Sekundenbruchteil war er Sir Fezius von Fezanois, und dann war er wieder nur Sir Fezius Ohne. Und warum das alles? Er lauschte. Dabei drückte er Haro, der sich stöhnend aufzurichten versuchte, mit einer Hand auf den Boden. „Mindestens sechs Leute, vielleicht sogar acht", sagte er. Offa nickte. „Dann sind wir verloren", flüsterte die Prinzessin, doch kein Selbstmitleid lag in ihrer Stimme. „Meine liebe Schwester, du tust mir leid." „Ich denke", warf Fezius vorsichtig und besorgt ein, „wir können mit acht Gegnern fertig werden, Offa und ich. Falls sie nicht allzu gerissen sind, natürlich. Wenn sie uns wenigstens eine winzige Chance geben. Wenn Amra unsere Arme stärkt." „Das wird Amra tun", antwortete die Prinzessin zuversichtlich. „Er weiß, was ich gelitten habe, welchen Würdelosigkeiten ich ausgesetzt gewesen war. Lai, hast du's
gefunden?" „Nein." Lais glasklare Stimme war ein Fremdkörper in der Dunkelheit des verfallenen Turmes. „Es ist so nah ... Wenn ich Hilfe hätte, könnte ich weiter ausgreifen, die unergründlichen Tiefen ausloten, denn der Ort muß hier sein. Er muß ganz nahe..." „Sie kommen", knurrte Offa und hob seine Axt. Fezius schwang seinen Schild nach oben und vorwärts. Er wußte genau, daß Palans Rodro diesmal alles daransetzen würde, um die Prinzessin zu ergreifen. Er bemerkte, daß Lai heftig atmete. Prinzessin Nofret führte ihre Schwester in einen Winkel und drückte sie fest an ihre Brust. „Komm, Fezius", sagte Offa. „Wir bauen unsere Pyramide." Offa hielt seinen Schild hoch und bot damit dem neben ihm stehenden Fezius zusätzlichen Schutz. Der Riese schwang seine Axt, Fezius hob Schild und Schwert. Keiner konnte auf die Art an Fezius vorbei, um Offa anzugreifen, oder Offa umgehen, um Fezius zu überrumpeln. Eine brennende Fackel flog durch die Dunkelheit. „Da sind sie!" rief eine Stimme. „Tötet sie und nehmt die Prinzessin!" rief eine andere. Harnischbedeckte und schildbeschützte Körper stürmten mit stoßbereiten Speeren heran. Aber ehe noch die Waffen klirrend aufeinanderschlugen, hörte Fezius Lais hohen, schrillen Schrei, dann den angst und schmerzvollen der Prinzessin Nofret. „Hilfe, ich brauche Hilfe!" rief Lai. „Es ist so nah... So unirdisch nah ... Oh, gebt mir die Kraft, die ich brauche!" Dann schlug Offas Axt durch einen Schild in eine Schulter, und Fezius zielte auf den Bauch seines Gegenübers und stieß durch den leichten Kettenpanzer tief hinein. Offa kämpfte mit der barbarischen Wildheit seiner Vorfahren. Und dann zuckten auf einmal aus seinen Lederhosen blaue Funken, und sein ganzer Umriß knisterte. Fezius, der seine Schwertspitze gerade wieder aus einem Visier zurückzog, wand sich hinter seinem Schild. Das Hexenmädchen Lai schrie. Er fiel, drehte sich aber im Fallen um und sah, daß Rodros Männer an Offa vorbeidrängten, um zu töten und die Prinzessin zu rauben. Ein gepanzerter Fuß trat ihm in den Leib, als ein Waffenknecht über ihn hinwegrannte. Und dann war plötzlich der Raum leer, und nur Fezius, Lai und zwei Knechte standen einander gegenüber. Die beiden hoben ihre Schwerter, um auf Lai einzudringen. Dann gab es einen Knall, als berste das Fell einer Trommel. Plötzlich stand ein Mann in der Mitte des Raumes. Er schien aus der Luft gekommen zu sein und hielt einen dicken Stock im Arm, und er drehte sein weißes Gesicht, als er sich wild umschaute. Dann sagte er etwas, das Fezius nur andeutungsweise verstand, aber nicht begriff. Und schließlich füllte ein unglaublicher Lärm den Raum, und eine Höllenflamme zuckte empor.
3.
Fezius war momentan geblendet von der entsetzlich grellen Flamme; als er wieder sehen konnte, lag der Waffenknecht, der auf ihn getreten war, zusammengekrümmt da, und sein Kamerad sah aus, als habe man ihn achtlos und aus großer Höhe auf den anderen geworfen. Fezius blinzelte, weil ihm dicke Tränen aus den Augen liefen, und in seinem Kopf schienen Sturmglocken zu dröhnen. Er sah den Mann an, der da so urplötzlich im Raum erschienen war. Jawohl, erschienen! Woher war er gekommen? Aus welcher Hölle war er heraufgestiegen und hatte Tod und Verderben gespien? Am Turmeingang röhrte etwas. Fezius sprang auf seine kurzen Beine und rannte an einem versteinerten Offa vorbei. Schlimm war es natürlich, daß Offa so unbeweglich war, doch ein Fezius gab niemals auf. Sein Schwert klirrte gegen die Schilde der Neuankömmlinge. Er ließ sich auf ein Knie nieder, stieß mit unwahrscheinlicher Genauigkeit nach oben, und der Mann vor ihm brüllte wie ein geschlagener Stier und fiel rücklings um. Einen zweiten bediente er ähnlich. Aber dann gab es hinter ihm wieder einmal Lärm. Rotoranges Feuer füllte den Raum und flammte dunkelrot vor geschlossenen Augenlidern. Ein weiterer Ritter taumelte, fiel auf Fezius, wurde von diesem zurückgestoßen, dann hörte er das Hexenmädchen etwas schreien, verstand es aber nicht. Er machte die Augen auf, um den Mann zu sehen, der mit dem dicken Stock gedeutet hatte, und das tat er auch jetzt noch. „Der Mann ist unser Freund und so wie wir", sagte Lai dann in der Sprache Venudines. „Er hat eine Waffe, um die Tiere da draußen zu verjagen." „Na, schön", meinte Fezius keuchend. „Dann soll er vortreten." Aber der Mann schüttelte den Kopf, als Lai es ihm sagte; er schien deutlich Angst zu haben. Und schließlich brach er auch noch seinen dicken Stock entzwei. „So, das ist also deine Antwort!" schrie Fezius erbost. Die Waffenknechte polterten an die Tür, und Offa konnte einfach nichts tun. Und dieser elende Schwächling mit einer Waffe, die Feuer spie, zerbrach diese auch noch! Der Fremde nahm einen grellroten Zylinder aus der Tasche und hielt ihn an die Bruchstelle des Stockes; der Zylinder verschwand, der Fremde ruckte mit der Schulter, und der Stock war wieder ganz. Der Mann hielt ihn in Richtung Tür, und jetzt konnte Fezius sehen, daß der Stock aus zwei langen Metallrohren bestand und am Ende einen hölzernen Haltegriff hatte. „Offa!" schrie Fezius und tat einen Satz, um Offa wegzustoßen, aber der Riese ließ sich nicht bewegen. Lai schrie etwas in einer ausländischen Sprache, und der Mann stellte sich widerstrebend neben Fezius. Und jetzt deutete er mit dem Stock in die Dunkelheit hinaus und bewegte einen Finger.
. Der Krach war schlimm genug; er blieb aber erträglich. Was Fezius staunen ließ, war die Tatsache, daß die blauen Funken von Offas Lederkleidung verschwanden, und jetzt führte der Riese auch seine angefangene Bewegung aus, und seine Axt zischte pfeifend durch die leere Luft. Dann gab es wieder einen donnernden Krach, und eine Flamme schoß aus dem Ende des Metallrohres. Das hatte Fezius diesmal genau beobachtet. Er hörte einen Waffenknecht fallen und brüllen. „Macht weiter, ihr Faulpelze!" „Das ist Rodro", sagte Fezius. Plötzlich war ihm ungeheuer wohl zumute. Er lachte den jungen Mann, der aus dem Nichts heraus erschienen war, strahlend an. Und wenn er die ganze Nacht suchen müßte, die Falltür würde er jetzt finden. Niemand kann einfach so durch blanke Mauern kommen. „Was zum Teufel, geht denn da vor?" schrie Offa. Der junge Mann lächelte nicht. Nervös brach er wieder seinen Stock auseinander, zog den roten Zylinder heraus und schob zwei aus seinen Taschen hinein. „Mich brauchst du nicht zu fragen", sagte Fezius zu Offa. „Aber jedenfalls haben wir Hilfe bekommen und eine sehr mächtige Waffe. Und du, Dummkopf, hattest schon wieder einen blauen Funkenanfall!" „Davon weiß ich nichts", brummte Offa unbehaglich. Hinter Fezius raschelte etwas, und er schwenkte herum. „Ich bin's nur", sagte Lai. „Du bist doch Fezius, nicht wahr? Und du heißt Offa? So nennt ihr einander wohl. Ich heiße Lai." „Das habe ich auch gehört", antwortete Fezius. „Die Hexe!" sagte Offa, aber das klang nicht so, als hätte er deshalb Angst. „Es geht hier etwas sehr Wichtiges vor", erklärte Lai. „Palans Rodro, der Böse, darf die Prinzessin Nofret, meine Schwester, nicht heiraten ..." „Da bin ich ganz deiner Meinung", bemerkte Fezius. Lai lächelte, und nun sah er zum erstenmal ihr Gesicht; er wußte und fluchte darüber in sich hinein, daß er, der Exritter, der kämpferische Herumtreiber, hoffnungslos an der Angel hing. Ihr Gesicht, das in dem gespenstischen Licht besorgt aussah, wurde plötzlich von einem rührenden, fast unsicheren Lächeln erhellt. Sie zog sich zurück, als habe Fezius' Miene mehr ausgedrückt, als er selbst gewollt hatte. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: „Am wichtigsten ist im Moment wohl, daß wir lebend hier herauskommen." Fezius hatte darüber allerdings seine ganz persönlichen Ansichten, und deshalb spähte er vorsichtig durch den Türspalt. An dem gelegentlichen Aufblitzen von Metall im orangesilbernen Mondlicht erkannte er, daß draußen Bewaffnete warteten. „Wenn Haro das Boot nicht hinausgestoßen hätte.'.." „Er hat es gegen die Strömung hinausgestoßen", erklärte Offa. „Viel Strömung ist da allerdings nicht. Ich denke, die Barke ist ganz in der Nähe, und wir können hin schwimmen." Fezius dachte nicht lange darüber nach, sondern erbot sich, zu gehen. „Lai, dieser Mann
da, dessen Sprache du verstehst, muß dich und die Prinzessin mit seiner komischen Waffe beschützen", sagte er zu dem Hexenmädchen. „Ich fürchte, Haro und Jeremy sind erledigt. Auf Offa kannst du dich verlassen, falls er nicht noch einmal einen blauen Funkenanfall bekommt." „Du paß auf, was du sagst!" murrte Offa gekränkt. „Ich schwimme jedenfalls zur Barke. Wenn ich fast dort bin, müßt ihr rennen, was ihr könnt! Offa, du ..." „Ich bilde die Nachhut", erklärte Offa. „Gut", sagte Lai und musterte Fezius. Sie hörten die murmelnden Stimmen der Waffenknechte und die ärgerliche Stimme Rodros. Er drohte, schmeichelte, versprach ihnen weiß Gott was alles, aber die Knechte hatten keine Lust, für ihn zu kämpfen, weil sie zehn oder mehr Mann für nichts und wieder nichts verloren hatten. Außerdem standen sie der Hexenfrau und ihrem feuerspeienden Stock gegenüber, und der noch gefährlichere Stock des Fremden konnte sogar den Brustpanzer eines Mannes durchschlagen. Auf die Art wurde das Leben recht kompliziert. Fezius mußte darüber lachen. „Amra lasse sie verrotten", murmelte er und rannte. Seine kurzen Füße stampften den Boden. Die Knechte sahen ihn, schrien und nahmen die Jagd auf. Aber der Fremde in ihrem Rücken hatte wieder gehandelt. Keuchend watete Fezius durch die ersten Tümpel. Endlich erreichte er das Ufer, und da warf er seinen Schild weg, um besser schwimmen zu können. Das Wasser war scheußlich kalt, und er spuckte ziemlich heftig, als er wieder auftauchte. Das Boot hatte sich etwa fünfzig Meter stromabwärts irgendwo unmittelbar am Ufer in Gestrüpp verhängt. Doch schließlich war er dann an Bord; das Wasser lief ihm in Strömen aus den Kleidern, und sein Teufelsgesicht war zu einer tathungrigen Grimasse verzerrt. Er löste eines der Ruder aus den Krampen und stakte das Boot flußaufwärts. Es war eine schwere Arbeit, aber er schaffte es. Lai organisierte den Rückzug. Der Fremde mit seiner bellenden Waffe erreichte hinter Lai die Barke. Sie schwankte bedenklich, als die Leute an Bord sprangen, aber Fezius ließ sich davon nicht stören und lenkte das Boot in die Strommitte. Red Rodro und seine Waffenknechte erreichten die kleine Mole in dem Augenblick, als die Barke das freie Wasser der Strommitte gewann. Der Fremde hob seinen Stock, aber die Prinzessin Nofret legte ihm die Hand auf die Schulter, lächelte und sagte: „Nein!" Lai redete etwas Rasches, Sprudelndes in einer unverständlichen Sprache. Der Fremde ließ seine Waffe sinken. Er antwortete etwas, und Lai nickte nachdenklich dazu. Ihre schönen, großen Augen waren überschattet. Fezius und Offa setzten sich auf die Ruderbänke und begannen zu rudern. Die Barke war ein langes, muschelförmiges Ding mit einem reich geschnitzten und vergoldeten Deckshäuschen, ein richtiges Luxusboot. „Sie werden das Ufer entlangrennen", sagte Fezius zwischen zwei Ruderschlägen. „Die Marschen halten sie schon auf, sind wir erst einmal an Mugu vorbei." Lai schien recht zuversichtlich zu sein.
Prinzessin Nofret dagegen schien sich in sich selbst zurückgezogen zu haben, seit der Fremde angekommen war. Ihr Gesicht sprach erst von Unglauben, dann von der zögernden und widerstrebenden Hinnahme einer Tatsache. Während er ruderte, dachte Fezius über den Grund dafür nach. Lai erzählte ihnen, der Name des Fremden sei Shim Gahnett. „Komischer ... Name ...", keuchte Fezius. „Später, sowie dafür Zeit ist, erkläre ich alles", versprach Lai. „Jetzt müssen wir erst einmal diesen Männern entkommen." „Die Marschen halten sie ganz bestimmt auf. Falls sie durch das Sumpfland gehen, sind sie eine Weile damit beschäftigt, und wir sind dann längst ein Stück weiter. An der nächsten Flußbiegung könnten sie uns zwar abfangen, oder sie könnten sich ein Boot organisieren und uns verfolgen. Wir haben aber ausreichenden Vorsprung und könnten uns irgendwo im Uferdickicht verstecken." Fezius nickte Offa zu, hörte zu rudern auf und ließ das silberne Wasser vom Ruderblatt tropfen. „Entkommen werden wir ihnen also. Aber wohin wollen wir überhaupt? Und was tun wir von jetzt an?" „Diesen ... diesen ... Kerl, den man Palans Rodro von Parnasson nennt, werde ich nie, nie, niemals heiraten!" rief die Prinzessin Nofret. „Das heißt also, daß wir nicht zurückgehen", meinte Offa dazu. „Wir fahren einfach weiter", schlug Lai vor. „Wo der Strom sich in die Unbekannte See stürzt, habe ich Freunde. Ich glaube es wenigstens, denn ganz bestimmt weiß ich es nicht. Parnasson müssen wir jedenfalls vergessen. Wir müssen zur Küste und zum Delta ..." Das klang ja alles ganz schön. „Und was ist mit Offa und mir?" erkundigte sich Fezius trocken. „Natürlich kommt ihr mit uns", antwortete die Prinzessin voll überzeugendem Charme. „Meine Schwester meint, Sir Fezius, daß ihr beide sehr willkommen seid, bei uns zu bleiben und uns euren Schutz zu leihen, falls dies Amras Wille ist", fügte Lai hinzu, und auch sie verstand es, ungeheuer charmant zu sein. „Das ist ja recht nett", bemerkte Offa. „Aber wir müssen schließlich unseren Lebensunterhalt verdienen", fiel ihm Fezius ins Wort. „Das Turnier zur Hochzeit der Prinzessin mit Red Rodro könnte ja imme r noch stattfinden. Ich weiß, wie solche Dinge manchmal ausgehen. Wir..." „Na, ich weiß nicht recht...", begann die Prinzessin. „Wenn dir dein Leben gar nichts wert ist, dann gehe zurück!" sagte Lai. „Ich muß ja gehen, aber aus einem anderen Grund. Meine Ladungen sind zu Ende. Wenn du uns aber jetzt verläßt, sehen wir uns nie wieder!" Und Fezius wollte ausnahmsweise gar nicht, daß er Lai niemals wiedersähe ... „Wir werden versuchen, euch an die Küste zu bringen", versprach er schließlich. „Und nachher nun ja, das weiß ich noch nicht." „Das reicht durchaus", erklärte Lai und .wandte sich nun an ihre Schwester. „Ich habe noch von einem anderen Ort gehört - es ist das Theater von Varahatara." Die Prinzessin Nofret nickte verständnisvoll.
Fezius hatte dazu ganz eigene Gedanken. Er ging an das Bootsgeländer und pfiff jenen hohen, schrillen Pfiff, der den Honorable Lord Sunrise rief. Offa pfiff seinen Honorable Prince Spearpoint herbei. Kein Krieger liebt es, allzu lange von seinem Reittier getrennt zu sein. Fezius sah Lai an. Sie hatte doch vorher etwas geschrien von einem Platz, der nicht nahe genug war, so daß sie Hilfe brauche; sogar von unirdischer Hilfe war die Rede gewesen. Wenn er und Offa diese Leute zur Küste brachten, dann war es ja schön und gut, und sie hatten ausgedient, waren vergessen, wurden weggeworfen wie irgendein Abfall. Lai sah süß aus im Mondlicht, und er sah ihr apfelgrünes Kleid, und als er ihr noch einmal ins Gesicht schaute, war er überzeugt, daß er dann doch nicht vergessen wäre ... „Sie kommen, sie kommen!" Mit diesem Schrei riß ihn Offa aus seinen Gedanken. Fezius klammerte sich an das Geländer und arbeitete sich am Deckshaus entlang, um nach rückwärts schauen zu können. Weit hinten, ein ganzes Stück flußaufwärts, blinkte ein Licht. Bald kam unter dem Licht der lange, schlanke Schatten eines schnellen Bootes in Sicht, das aussah wie ein Spieß, der sich einem schmerzhaft ins Fleisch bohrt.
4.
Fezius legte allergrößten Wert darauf, die Antworten auf einige Fragen zu bekommen. Im Moment war das Boot weiter oben im Fluß das größte Problem, das sofort gelöst werden mußte. „Die holen uns mit Leichtigkeit ein!" schrie Offa . „Sie sind unserer Spur viel zu schnell gefolgt", erklärte Lai heftig. „Wie sollen wir uns jetzt am Ufer ein Versteck suchen?" Fezius schaute noch einmal zurück, aber der lange, dunkle Schatten ließ sich leider nicht wegleugnen. Das Boot der Flüchtlinge war für gemächliche, romantische Sommernachtsausflüge gebaut; der Bug war zierlich geschwungen, und alle Schnitzereien waren zierlich und fein. Fezius stand breitbeinig am Heck und schaute nach den Verfolgern aus, und Offa legte sich mit Kraft ins Ruder. „Ho, Fezius! Komm endlich, wir müssen beide rudern!" Fezius schüttelte den Kopf. „Hat keinen Sinn, mein Riesenfreund. Die dort haben mindestens ein Dutzend Ruderer. Wir müssen denken." Shim Gahnett, der Fremde, sagte etwas zu Lai, die ihr brandrotes Haar zurückwarf und damit ganz und gar Hexe war. „Shim sagt, er bläst sie aus dem Wasser, wenn sie bei uns an Bord gehen wollen!" rief sie. „Die haben Bogenschützen dabei", sagte Fezius. Lai unterhielt sich leise mit Gahnett. Prinzessin Nofret war auf einen Berg seidener Kissen gesunken, und der drohende schwarze Schatten kam immer näher.
Fezius fühlte sich wie eine Ratte in der Falle. Denk! mahnte er sich selbst. An das Ufer schwimmen? Damit forderte man am ehesten einen Ruderschlag über den Schädel heraus. Sich dem Kampf stellen? Ein Regenschauer aus Pfeilen und dann ein Handgemenge gegen wie viele Feinde zehn, zwölf oder mehr? wä ren die Folge. Also: Verhandeln. Die einzige Möglichkeit. Und die anderen übertölpeln! Sir Fezius von Fezanois, enteigneter Gavilan, hatte für den König und dessen Männer, für den Palans Rodro von Parnasson, einem Anhänger des Königs, nichts übrig. Also: Betrug. Die anderen übers Ohr hauen. Er stieg die vergoldete Leiter zum Deck hinunter und ging zu Lai, um sich mit ihr zu beraten. „Lai, was weißt du über das blaue Feuer?" fragte er aber erst noch. „Die Funken, die Offa schon zweimal in eine Statue verwandelt haben?" Lai zog eine Schnute. „Das blaue Feuer ist nur eine einigermaßen passende Bezeichnung. Es ist ebenso wie meine kleine Waffe ein Gerät aus Slikitter." „Slikitter? Was ist denn das?" Lai lachte grimmig. „Nur ein Übername für einen kaum aussprechbaren richtigen Namen. Slikitter, ein anschaulicher Name für die schleimigen Teufel. Das blaue Feuer ist ein Lähmungsgerät." „So ungefähr wie eine Ohnmacht?" „Ungefähr. Die Wissenschaft in Venudine ist noch recht grob und zurückgeblieben. Ihr mit euren Schwertern und Rüstungen, mit Griffs und Vancas! Von der weiten Welt und ihren Möglichkeiten habt ihr keine Ahnung." Natürlich kannte Fezius die Welt, und er fand die Wissenschaft durchaus nicht so zurückgeblieben. Wenn man zum Beispiel eine Festung stürmen wollte, dann mußten die Sappeure eine ganze Menge Wissenschaft aufbieten, um ihre Gänge richtig zu graben, damit die Verteidiger nichts davon bemerkten. „Aber Wissenschaft als nichtmaterielle Angelegenheit, Lai?" meinte er. „Das verstehe ich nicht." . „Wenn wir die heutige Nacht überleben, dann erzähle ich dir einmal mehr darüber." Ihre violetten Augen stürzten ihn in unbekannte Gefühlsabgründe. „Wir werden überleben ... Aber kann dieses blaue wissenschaftliche Feuer auch von der Barke aus angewandt werden?" „Wenn es einen Projektor an Bord gibt." Die silbernen Fußstapfen des Mondes auf dem sich sanft rippelnden Wasser, der würzige Duft der Nacht und das ferne Röhren eines Tieres waren die romantische Kulisse für Fezius und Lai. „Wenn sie einen BlauenFeuerProjektor haben, dann mußt du Shim sagen, er muß das Ding zuerst erledigen. Ich will nicht noch einmal ohne Offa kämpfen müssen." Die große Axt schnitt seidig durch das Mondlicht. „Aber das ist Betrug!" rief die Prinzessin Nofret, als Fezius seine Instruktionen gegeben hatte. „Das weiß ich", erklärte Fezius ungerührt. „Gegenüber Nobilitäten und ihren Waffenknechten kenne ich keine Ehre. Meine Ehre ist mit dem Blut meiner Eltern in den
Abfluß geronnen, als sie von den noblen Mördern des Königs getötet wurden." Lai schüttelte sich, und Prinzessin Nofret zog sich zurück. „Du bist ein schrecklicher Mann", flüsterte sie vorher noch, worüber Offa laut lachte. Dann nahmen alle ihre Positionen ein, die Fezius mit größter Sorgfalt festlegte. Das große Warten begann. Lai hatte gesagt, Shim könnte es tun. Prinzessin Nofret hatte ihn allerdings davon abgehalten, die Waffenknechte einschließlich Rodro dem Dreisten in Amras dunkles Königreich zu schicken, aber ... Ja, ein sehr großes ABER! Diesmal würde Fezius den Befehl führen. Er grinste über sein ganzes Teufelsgesicht. Er wußte genau, was Menschen tun konnten, die unter einem festen Kommando ihre ganze Angst vergaßen. Das Wasser plätscherte sanft, und die Barke ließ sich im Strom treiben. Nun hörte man schon das klatschende Eintauchen der Ruder bei den Verfolgern. Nur eine einzige, winzige Chance brauchten sie... „He, ihr mit der Prinzessin Nofret!" brüllte ihnen eine Stimme vom anderen Boot aus zu. „Haltet an den Flußrand heraus! Wir wollen bei euch an Bord gehen!" Der Zeitpunkt für Teil eins war gekommen. Fezius nickte Lai zu. Sie erhob sich halb hinter dem Schanzkleid. „Die Prinzessin heißt euch willkommen! Warum zögert ihr noch? Beeilt euch doch!" Fezius lachte. „Das sollte sie zum Nachdenken anregen." Und dann streifte ein Boot das andere; Mahagoni kratzte über nasses Mahagoni. Sie hingen aneinander fest. Fezius hatte den Augenblick erstklassig gewählt. Er machte Lai ein Zeichen und hob hinter Shim Gahnetts Rücken die Hand. Der Fremde duckte sich neben ihm hinter das Schanzkleid. Sein Gesicht sah weiß und unglücklich aus. „Worauf wartet ihr noch?" schrie Lai hinüber. „Die Prinzessin mag keine Dienerschaft, die sich nicht bewegt!" „Wir wollen die Prinzessin retten", erwiderte eine energische Stimme von drüben. „Was ..." Feziys ließ ihm keine Zeit. Er klatschte Gahnett auf den Rücken zum Zeichen, daß er loslegen sollte, und im gleichen Moment donnerte der Feuerstock und durchbrach brüllend die Nachtstille. Die Flanke des Bootes hatte ein Loch in der Größe einer Melone, in das sofort das Wasser eindrang. Offa stand auf und stieß das andere Boot mit dem Ruder weg. Alle warfen sich auf den Bootsboden. Pfeile schossen über ihren Köpfen und an ihren Körpern vorbei. Ein Pfeil federte neben Fezius' Ohr in der Bootswand, aber der Kurzbeinige lachte nur. „Zu spät, ihr blinden, dummen Narren!" schrie er und feixte dazu, denn er sah, daß die Barke allmählich sank. „Alle schöpfen, ihr Dummköpfe! So schöpft doch!" schrie drüben jemand. „Der Palans Rodro..." begann Prinzessin Nofret aus dem Schutz ihres Deckshauses. „Der war ganz bestimmt nicht bei denen, darauf leiste ich einen Eid!" versicherte ihr Fezius.
„Du scheinst dich um Rodro sehr zu sorgen", stellte Offa fest. „Und dabei hast du dich doch geweigert, ihn zu heiraten." Offa schien von Prinzessinnen auch nicht mehr zu halten als Fezius. Aber die Antwort, die sie von dem großen, würdevollen Mädchen bekamen, das sich Prinzessin Nofret nannte, ließ sie aufhorchen. „Ich wünsche nicht, daß er von einer anderen Hand getötet wird." „Oh", meinte Fezius und lächelte schlau. „Oh, ich verstehe." „Und jetzt rudern wir", befahl Lai. Sie setzte sich auf die Ruderbank und griff nach einem Ruder. Ein Stück stromaufwärts hörte man Männer fluchen, im Wasser platschen und herumschwimmen. „Du kannst nicht rudern!" rief Fezius und nahm ihr das Ruder weg. „Natürlich kann ich! Wir müssen das Delta schnellstens erreichen!" Das gefiel Fezius. „Ihr müßt doch müde und hungrig sein. Ruhe dich im Deckshaus aus. Wir rufen dich schon, wenn wir uns beim Rudern ablösen lassen wollen." Lai wollte nicht streiten. Ihre schlanke Gestalt im apfelgrünen Gewand hielt sich nicht mehr so aufrecht wie vorher, als sie ging. Fezius hörte noch etwas ganz Entschiedenes über neue Ladungen, die sie unbedingt brauche. An Mugu war man endlich vorbei, und nun fuhren sie in einen der großen Flußbogen ein, der von den Bergen quer durch die Wüste führte, ehe er in Windungen dem vergessenen Ochsenbogensee entgegenfloß. Bis er zum Delta kam, ringelte er sich wie ein Wurm, floß vor und rückwärts, hatte unzählige Namen, trug auf seinen Wassern viele große und kleine Schiffe und wusch die Granitfelsen vieler stolzer Städte und Burgen. In dem wäßrigen Irrgarten waren sie vor Griffpatrouillen ziemlich sicher; die Gefahr für sie kam eher von Vanca oder Pferdekavallerie, die an den Ufern lauern konnte. Fezius und Offa legten sich tüchtig in die Riemen. Shim Gahnett hockte unnütz herum. Schließlich wurde es Fezius zu dumm, schickte Offa zu einer Ruhepause weg und holte Shim an das Ruder. Der Mann ruderte, als sei er benommen, aber er hatte Kraft. Nach einiger Zeit rumpelte Offa aus einem kurzen Schlaf und löste Fezius ab. Der wollte nicht recht. „Du ruhst jetzt aus, Kleiner", schnaubte Offa. Und da Offa sein bester, zuverlässigster und treuester Kamerad war, fügte sich Fezius. Kaum spürte er das Kissen unter seinem Kopf und die Decke auf seinem Leib, da wirbelten seine Gedanken im Takt der Rudergeräusche durch seinen Kopf, und er konnte gerade noch denken, woher wohl der Knabe Gahnett kam, wer die Slikitters waren, die Lai erwähnt hatte, und was das blaue Feuer wohl sein mochte... Offas große Pranke schüttelte ihn wach, und noch im Aufwachen griff er nach seinem Schwert. „Honorable Prinz Spearpoint!" heulte Offa. „Er war das feinste Griff in ganz Venudin! Diese Hexe werde ich noch erwürgen! Spearpoint ist weg!" „Ha?" fragte Fezius. „Weg ... Fort!" „So erstklassig trainierte Griffs wie Spearpoint fliegen nicht von allein davon", brummte Fezius. Er schluckte heftig und stand auf. Der Mond stand hoch hinter dünnen
Wolkenschleiern und schüttelte gespenstisches Licht über die Landschaft. „Das weiß ich doch selbst! Die Hexe hat das Tier mitgenommen!" „Lai?" Nun war Fezius plötzlich hellwach. Die Prinzessin Nofret kam herbei. Sie zog ihren Mantel enger um sich, und ihr Gesicht sah hohlwangig aus. „Lai ist eine diccköpfige Närrin!" stellte sie in edlem Zorn fest. „Immer war sie schon so. Keinerlei Überlegung! Weil sie neue Ladungen braucht, fliegt sie zurück nach Parnasson, um sie zu holen..." „Parnasson? Oh, nein!" Die Situation entwickelte sich von nächtlichen Ängsten zur Tragödie! Offa murrte weiter über Prinzessinnen, die keine Spur Dankbarkeit im Leib und kein Hirn im Kopf hätten; Fezius gab ihm recht, aber Prinzessin Nofret brachte sie dann beide schnell zum Schweigen. „Ihr versteht beide nicht, wie Prinzessinnen denken und erzogen wurden. Was kann uns daran hindern, einen Gedanken in die Tat umzusetzen? Will Lai nach Parnasson fliegen, dann fliegt sie eben." „Ja, damit sie dort umgebracht wird!" „Dann müßt eben ihr dafür sorgen, daß sie nicht umgebracht wird! Eure Pflicht ist es, sofort hinter ihr her zu fliegen und sie zu beschützen." „Waaas?" fragte Fezius entrüstet. „Ach, ihr habt so wenig Verständnis für Edelleute ..." Jetzt explodierte Fezius aber. „Hör mal, du verbiesterte, hochnäsige kleine Prinzessin, gib's eine Nummer kleiner! Mein Vater war ein Gavilan, und ich weiß nur allzu genau, wie Könige zu handeln belieben! Ich würde, ginge es nach mir, sämtliche Könige, Königinnen und die ganze Brut einfach köpfen! Mir darfst du nicht von Ehre reden, hörst du?" Sie zuckte zusammen, und sie war aschfahl und zitterte am ganzen Leib, als müsse sie alle Energie aufbieten, um ihren grenzenlosen Zorn zu unterdrücken. Fezius fühlte sich beschmutzt. Er pfiff nach Sunrise. Offa griff nach seinem Arm. „Du willst doch nicht gehen?" Fezius schüttelte ihn ab. „Ich weiß genau, was für eine Frau und noch dazu für eine Prinzessin Ritterlichkeit bedeutet. Sie verdient es, über's Knie gelegt und tüchtig verdroschen zu werden. Und dazu werde ich sie finden." Dann fauchte er Nofret an. „Wenn Rodro sie seinen Kriegern noch nicht zum Fraß vorgeworfen hat, finde ich sie und bringe sie zurück." Prinzessin Nofret überlief ein Schauer. „Es tut mir leid", flüsterte sie. Fezius zuckte die Schultern. „Offa, du suchst einen Unterschlupf im Uferdickicht. Wenn ich nicht in angemessener Zeit zurück bin, mußt du allein sehen, wie du zum Theater von Varahatara kommst. Die beiden Frauen müßten dort Freunde haben." Nofret war nach ihrem hochmütigen Ausbruch ganz klein geworden, aber Fezius wollte nichts von ihren Entschuldigungen hören, nichts aber auch von ihrem königlichen Gehabe sehen. Sein Leben war also schon wieder einmal drastisch verändert worden, diesmal von einer
rothaarigen Hexenprinzessin. Und doch - sein Zorn ihr gegenüber war nicht so groß, wie er selbst geglaubt hatte; er galt eher den blinden Mächten, die ihn in dieses Abenteuer geführt hatten. Offa hatte geraucht und gepoltert wie ein Vulkan, der von glühender Lava überfließt. Jetzt schüttelte er seinen massiven Kopf und knurrte tief in der Brust. „Fezius, bist du wirklich so verrückt, zurückzugehen? Was heißt heutzutage schon Ritterlichkeit!" „Die Ritterlichkeit ist mir egal! Um Lai mache ich mir Sorgen." „Aha!", sagte Offa. Aber er sah recht unglücklich drein. „Du gehst mir nicht allein!" fügte er hinzu. „Bitte, Offa! Dir bedeutet das Mädchen doch nichts. Und die Prinzessin braucht deinen Schutz." „Ah, die! Fezius, wenn das Mädchen dir etwas bedeutet, dann durch dich doch auch mir! Schön. Aber wenn du dann gekrochen kommst und die Gedärme hängen dir heraus, dann sage nur ja nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!" Er nahm ein Ruder und hängte es fest. „ ... Narr, dem der Kopf dann nur noch am Schlund hängt... Und ich soll dann die Brocken wieder zusammenfinden und zusammenflicken..." Gahnett tauchte sein Ruder ein, und die Barke glitt wieder stromabwärts, und Offa murmelte ununterbrochen die schrecklichsten Vermutungen vor sich hin. Was konnte Fezius nun anderes tun als seinen Honorable Lord Sunrise besteigen und in die Dunkelheit hineinfliegen? „Ich warne dich!" rief ihm Offa noch zu und schwang dazu drohend ein Ruder. „Du kommst besser in einem Stück zurück, oder Amra sei dir gnädig!" * Bald würde der Morgen rostrot und golden über die östlichen Wüsten steigen. Sunrise pflügte kraftvoll durch die unteren Luftschichten. Der Gedanke, er könne Lai auf der Burg von Parnasson finden, trieb Fezius an. Das war natürlich nur eine Vermutung, aber diese Ladungen kannte sie doch nur dort finden, wo sich Kriegsvolk versammelt hatte. Der Wind pfiff durch seine Haare und blies ihm die Lederkleidung fest an seinen stämmigen Körper, Der Himmel über ihm flammte in einem rötlichen Licht, und dann begann an den Rändern des roten Gleißens jener perlmuttfarbene Schimmer zu erscheinen, der allmählich in die Transparentfarben des Morgens überging, Eisengraue und septabraune Wolkenfetzen schoben sich auf weißgrauen Wattebetten zusammen, die unten wie mit dem Rasiermesser abgeschnitten zu sein schienen. Unter ihm erstreckte sich reiches, fettes Land, dessen staubige Straßen aus allen Richtungen her zur Burg Parnasson führten. Eine Karawane von Vancas zog unter ihnen dahin. Ihre langen, mageren Hälse streckten und verdrehten sich unablässig, und ihre sechs riesigen Pfoten patschten dumpf auf den Straßenboden. Ihre Rücken waren hoch mit Waren beladen, denn sie waren auf dem
Weg in die Stadt. Er schaute hinunter, weil er die Schwingen von Griffs schlagen hörte, und dann zerrte er gerade noch rechtzeitig an den im Fang verankerten Zügeln, um dem langen Speer auszuweichen. Drei berittene Griffs schwirrten um ihn herum, und ihre kurzen, scharfen Flügelschläge deuteten darauf hin, daß sie zum tödlichen Angriff übergingen. Die Krieger trugen leichte Harnische, wie sie bei Palans Rodros Waffenknechten üblich waren. Wieder schoß an Fezius' Kopf ein Speer vorbei, und nun schwang sich ein Krieger herunter, der mit ungeübten Händen ein plumpes Schwert hielt, Es war ein mächtiges Ding und eine gefährliche Waffe, wenn ein erfahrener Krieger es handhabte. Fezius ließ sein Schwert in der Scheide. Seine Beine drückten sich ein wenig fester an die schlanken vorderen Flanken seines keilförmigen Tieres, das die Beine mit den scharfen Krallen an den Leib gezogen hatte. Hinter Fezius' Fersen schlugen die Schwingen. Aus einer Satteltasche nahm Fezius ein Spreizholz und schüttelte drei Fuß lange Schnüre aus, an denen Bleikugeln befestigt waren. Schwang man sie, dann bildeten vier kugelbeschwerte Schnüre ein Kreuz. Er wirbelte das Spreizholz einmal um seinen Kopf und schleuderte es mit unfehlbarer Genauigkeit. Die Bleikugeln flogen auseinander und schlugen eine nach der anderen in den Leib des angreifenden Griffs. Und dann trafen sie dessen Schwingen. Das Tier stürzte pfeifend und vor Angst schnarrend rasch in die Tiefe. Der Krieger klammerte sich an das Zaumzeug, bis er mit dem Griff den Boden erreichte. Ein zweiter Krieger lenkte sein Griff um Fezius herum, um wieder einen Speer zu werfen. Fezius zog mit der Geschicklichkeit und Grazie des alten Kämpfers seinen Dolch und warf ihn, so daß er wie ein Blitz durch die Luft schnitt. Der Krieger sackte getroffen in seinem Zaumzeug zusammen. Der dritte Krieger schoß auf seinem flügelschlagenden Griff an Fezius vorbei Dieser legte Sunrise die Hand auf den Hals; das Tier reagierte sofort auf die Berührung und zog auf donnernden Schwingen steil in die Höhe. Dann hob Fezius eine Hand; der Krieger duckte sich, um dem Körper seines Tieres zwischen sich und Fezius zu bringen, doch dieser zog Sunrise weiter in die Höhe und flog laut lachend davon. Der vierte Krieger gab seinem Tier die Sporen und ergriff die Flucht, Wahrscheinlich dachte er jetzt schon darüber nach, was er seinem Kommandanten erzählen würde, um eine plausible Erklärung für die Verluste zu haben. Kämpfen und Töten nur um des Kämpfens und Tötens willen hatte Fezius von jeher verabscheut, aber er wußte zu kämpfen, wenn es nottat. Sein Sunrise hatte sich tapfer gehalten, und er tätschelte zufrieden Hals. Er näherte sich nun der Stadt und musterte aufmerksam den Himmel. Viele Griffs flogen in den verschiedensten Höhen dahin, und das war gut so. Mit einem schützenden Tuch halb über dem Gesicht konnte er unbemerkt in die Stadt gelangen. Die meisten Gebäude auf Venudine waren nicht zu dem Zweck errichtet worden, daß sie den Griffs als Horste dienen sollten. Man baute zwar Ställe für die Vancas, aber die meisten Griffs mußten sich ihre Unterkünfte selbst suchen. In Burgen und Palästen hatte
man natürlich von jeher damit gerechnet, daß sich die Riesenvögel in Kampftürmen und über Portalen einnisteten, wenn auch die sackähnlichen, recht schlampigen Horste nicht eben eine Zierde waren. Fezius bediente sich aber dieser Horste nicht, sondern flog weiter zu einem staubigen Platz hinter einem gewissen aufgeblähten Wirtshaus, das er von früheren Gelegenheiten her kannte. Die Leute aus der Stadt hielten nicht recht viel von denen aus der Burg. Und Fezius hatte gar oft mit seinem teuflischen Grinsen solche Mißverständnisse geschürt, Von den Verliesen von Parnassort hatte er schon gehört. In den allertiefsten Kerkern, die nur über eine steile Spiraltreppe zu erreichen waren und unter dem Wasserspiegel des Flusses lagen, gab es, wie es von einer Burg, die etwas auf sich hielt, nicht anders zu erwarten war, eine Folterkammer. Und wenn ein Mann mit Gefühl für Anstand und Würde von dieser Folterkammer hörte, dann wurde ihm unweigerlich übel. Ein Mann wie Fezius, der wohl Waffen liebte und sich ihrer zu bedienen wußte, gleichzeitig aber Gewalttaten aller Art verabscheute, hielt auch jede Folter für eine überflüssige und bittere Ironie. Es war schon schlimm genug, wenn man eines großen Zieles wegen leiden mußte, aber eine Folterkammer, die nicht nur den Leib, sondern auch den Geist quälte, war eine Erfindung des Teufels persönlich. Fezius wußte von der Existenz der Folterkammer in Palans Rodros Burg und von den darin vorgenommenen Experimenten. Natürlich verspürte er nicht den geringsten Wunsch, dort zu landen. Er landete statt dessen auf dem kleinen staubigen Platz, schüttelte über sich selbst den Kopf und nannte sich einen leichtgläubigen Dummkopf. Dann unterhielt er sich ein wenig mit dem Honorable Lord Sunrise, warf die Zügel über den Sattelbogen, knüpfte sie lose zusammen und flocht die vergoldeten Schwingenketten auf. „So, Sunrise, alter Knabe", flüsterte er ihm ins Ohr. „Wenn ich dich hole, dann wirst du mich freudig begrüßen und rasch in die Höhe tragen. Kommen andere, mein Freund, um dich mitzunehmen, dann schlage mit deinen Krallen und beiße ihn mit deinen Fängen ..." Das schmale, schnabelartige Maul mit den scharfen Reißzähnen und die runden, hellen, intelligenten Augen beruhigten Fezius, und er betrat sicheren, selbstbewußten Schrittes das Gasthaus. Mit einem Krug goldenen Bieres schwemmte er den Reisestaub hinunter. Er befand sich im unsichersten Viertel der Stadt. Sein Griff war so lange sicher, als es Krallen und Reißzähne benützen konnte, und alles, was nicht angewachsen oder wehrhaft war, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Unbemerkt erreichte Fezius den Burggraben; es war aber ausgeschlossen, da hinüberzuschwimmen. Aber zum Glück war für die Hochzeitsfeierlichkeiten eine leichte Brücke aus Weidenstämmen errichtet worden, die zwar bedenklich schwankte, aber von den Dienern und Hausmädchen ununterbrochen benutzt wurde. Sie führte zu einer Hintertür im Küchentrakt. Fezius wartete, bis eine Gruppe von Dienern pralle Weinschläuche hinübertrugen. Dann lud er sich selbst einen Mehlsack von einem Stapel auf die Schultern und folgte den anderen. So gelangte Fezius in das Reich des Kuchenbäckers. Dort war es kühl und dämmrig, und Mehlstaub hing in der Luft. Er warf seinen
Mehlsack ab, richtete sich auf und hörte den erregten Kuchenbäcker mit einer Serviermagd reden. „Dreist wie eine Schenkdirne aus einer Hafenkneipe! Als ob man sie hier gerne sähe!" sagte er. „Eingebildete Tute", sagte die Serviermagd und sah Fezius an, der sich neben den Mehlsäcken auf den Boden setzte. „Ja. Und eine schreckliche Hexe. Drum sind mir gestern ja auch keine Kuchen aufgegangen. Denke an das, was ich dir gesagt habe!" „Diese gemeine Hexe!" „Sie bekommt nur das, was sie verdient. Die Sorte nimmt immer ein schlechtes Ende, merke dir das. Die mit ihrem roten Haar und dem grünen Kleid!" Im halben Dämmerlicht der Kuchenbäckerküche lauschte Fezius entsetzt, verängstigt und fasziniert. Der Kuchenbäcker wußte viel und genoß jedes Wort, das er sagte. „Bin ich froh, daß man sie gefangen hat! Die arme Prinzessin!! Es ist eine Schande, aber der Palans wird's schon machen. Die Hexenfrau bezahlt ihm dafür, und wie! Denke daran, was ich sage: Sie wird brennen! Die Hexe muß brennen!"
5.
Diese Worte konnten alles und nichts bedeuten. Die Flammen, die wie wilde Tiere an Lais schlankem Körper leckten, ihr rotes Haar versengten und abfallen ließen, die großen, angsterfüllten Augen entsetzlich, sich das vorzustellen. Sie hätte nie davonrennen dürfen ... Törichtes Wesen, das sich fangen läßt... Hexenmädchen ha! Er trug jetzt eine gestohlene weiße Schürze und die flache Kappe eines Trägers. Fezius eilte auf dem groben Pflaster an der grauen Hausmauer entlang. Sein Schwert baumelte unter der Schürze an seiner Seite und schlug ihm bei jedem Schritt gegen seine kurzen Beine. Die Platte mit den frischgebackenen Hörnchen trug er auf einem hölzernen Tablett auf dem Kopf. Er hatte sein Gesicht dick mit Mehl bestäubt und mit einem Rußschmierer verziert und hoffte nun zuversichtlich, man möge ihn als einen kurz geratenen, dicklichen Bruder der Kuchenbäckerzunft akzeptieren. Ha! Er eilte durch den Innenhof, und nun sah er die Fenster der Wohnräume der kleinen Ritter und ihrer Damen vor sich, die Speisehallen und die Küche der Knechte, die Kapelle und die Waffenkammer, die Schatzkammer und alle jene Räumlichkeiten, die normalerweise eine Burg beherbergt, sogar den Eingang zu den berüchtigten Verliesen. Er hielt sich zwar vorzugsweise im Schatten, benahm sich sonst aber ganz wie einer, der dazugehört. Männer und Frauen, Ritter und Damen, Pagen und Lakaien alle liefen um
ihn herum und hatten anscheinend sehr viel zu tun. Aus dem Refektorium vernahm er heitere, aus der Kapelle getragene Musik. Vielleicht war Amra gerade damit beschäftigt, über ihm zu wachen, und da Fezius gewillt war, den Göttern einige Realität zuzubilligen, mußten sie ihm auch ihre Hilfe leihen. Eine Hand wäscht schließlich immer die andere. Die Tür zu den Verliesen war geschlossen, und das Alter hatte die dicken Bohlen ausgedörrt und mit tiefen Rissen durchzogen. Verschlossen war sie jedoch nicht, was Fezius einigermaßen erstaunte. Aber schließlich mußten ja auch Folterknechte gelegentlich einmal essen, um bei Kräften zu bleiben. Drinnen fie l durch ein Fenster hoch oben ein wenig Licht auf eine steinerne Spiraltreppe, die in engen Windungen senkrecht in die Tiefe führte. Die Stufen waren fächerförmig an einer Mittelsäule befestigt; die Innenseiten dieser Stufen liefen spitz zu, und die Außenseiten waren auch kaum breit genug für einen menschlichen Fuß. Eine wirklich teuflisch konstruierte Treppe! Fezius tastete sich eng an der Wand entlang, als er nach unten stieg. Mit der freien Hand hielt er das Tablett mit den warmen Hörnchen fest, und dauernd geriet ihm sein Schwert zwischen die Beine. Kein Wunder, wenn er sich zu Tode stürzte! Am ersten Treppenabsatz holte er Luft. Ein dick gepanzerter Wächter sprang von einem Dreibeinhocker auf. „He, Junge!" schrie er Fezius an. Das Wort „Junge" gab Fezius neue Hoffnung. Er zog schüchtern den Kopf ein und senkte das Tablett soweit, daß es das Schwert ein bißchen besser verbarg. Lachend griff der Wächter nach den Hörnchen. „Lieber nehme ich mir jetzt ein paar. Weiß Amra, wann ich wieder so was sehe. Gesegnet sei Palans Rodro, der weiß, was seine Männer mögen!" „Jawohl", zirpte Fezius wie ein Kastrat und eilte weiter. Sein Herz hämmerte. Es war ja auch wirklich ein verrücktes Abenteuer, auf das er sich eingelassen hatte. Am zweiten Treppenabsatz lehnte der gepanzerte Wächter an der Mauer. Fezius eilte an ihm vorüber. Schon jetzt stellte er sich vor, daß er ja irgendwie wieder zurücckehren mußte. Und dann stand er auch schon vor zwei schweren Eichentoren. „Hörnchen?" fragte der Wächter, der vor der einen Tür stand und ihn scharf musterte. „Ich weiß nix und soll sie nur 'runterbringen", erklärte Fezius. „Da kannst du nicht 'rein, Kleiner. Mich wundert schon, daß man dich so weit 'runtergelassen hat." „Ich muß aber 'rein!" „Geh wieder hinauf, Junge." Fezius seufzte. Der Wächter war stur, und diese Sturheit kostete ihn vielleicht das Leben. Fezius schleuderte dem geharnischten Wächter das Tablett mit den Hörnchen ins Gesicht, entriß ihm den Speer und stieß damit auf den Kriegersmann ein, bis dieser einen gehörigen Riß im Kopf hatte. Der Wächter fiel ohnmächtig um. Fezius öffnete die Tür und verstand jetzt überhaupt nichts mehr. Er hatte geglaubt, Rodros Folterkammer müsse dunkel und feucht sein und sehr übel
riechen. Das Gewölbe müsse mit dicken Spinnweben verziert sein, und an den Wänden müßten dicke Ketten und Halseisen hängen. Und die Folterknechte, stellte er sich vor, stünden mit hakenbewehrten Lederpeitschen neben dem armen Opfer, und die ganze Folterkammer sei mit greifbarem Entsetzen gefüllt. Statt dessen schlug Fezius strahlende Helligkeit entgegen, so daß seine Augen nach der Dunkelheit der Treppe zu tränen begannen. Er blinzelte und konnte sehen, nicht aber verstehen. Es war ein sehr großer, ziemlich hoher Raum. An den Wänden befanden sich große Scheiben, die von ganzen Knopfreihen umgeben waren, und winzige Hebelchen faßten Uhrenzifferblätter ein, die bei genauerem Hinsehen keine waren. Da und dort waren dicke, schlangengleiche, ungeflochtene Seile im Raum verteilt. Die Männer, die Fezius erstaunt entgegensahen, trugen Gewänder, die wie weiße Frauennachthemden aussahen. Sie bewegten sich rasch und, wie es Fezius schien, sinnvoll. Sie griffen jedoch nicht an, sondern liefen von ihm weg. Er holte sein Schwert unter seiner Bäckerschürze hervor, stemmte seine kurzen Beine gegen den Boden und ging in Kampfposition; dazu duckte er sich ein wenig, obwohl das bei seiner geringen Körpergröße durchaus nicht nötig gewesen wäre. Wirklich, er begriff gar nichts. Zögernd und unentschlossen schaute er sich zur immer noch offenen Tür um. Etliche Wächter liefen ihm nun entgegen, und ihre Waffen waren in der hellvioletten Beleuchtung blitzende Lichtstäbe. Er hob sein Schwert. Die Klingen klirrten gegeneinander, und das Werk des Meisterschmieds Edwin bewies wieder einmal seinen Wert. Fezius machte Ausfälle, parierte und hieb kräftig zu. Ein paar Manner fielen schreiend um. Er kämpfte tapfer, wenn auch vorwiegend aus Gewohnheit. Er kämpfte wie eine Marionette. Immer nur mußte er daran denken, daß Lai nicht in diesem Raum war, daß er seine Energie verschwendete. Diese Erkenntnis schwächte ihn. Er mußte Lai finden und nicht seine Zeit damit vergeuden, daß er Wächter kampfunfähig machte. Er stieg über einen am Boden liegenden Körper hinweg, schwang sein Schwert in einem so wilden Ausfall, daß er um ein Haar sein Gleichgewicht verloren hätte, fing sich wieder und warf einen Blick zur Tür. Dort bewegten sich gepanzerte Gestalten. Mit einer Soldateska aus Söldnern in Kettenhemden konnte sein Schwert Friedensreich recht gut aufräumen, aber gegen gepanzerte Ritter kam es nicht an. Ein großer Kriegshammer, ein Morgenstern oder Offas Beil wären da vorteilhafter gewesen. Ja, Offas Kampfaxt! Aber da war kein Offa, der ihm nun Rückendeckung gewähren konnte! Ziemlich verzweifelt sah sich Fezius um, erledigte aber nebenbei noch ein paar Waffenknechte. Trotzdem mußte er fürchten, daß man ihn ehrlos gefangennahm, und er hatte doch Lai noch immer nicht gefunden! Wenn er keinen Kriegshammer hatte, mußte er sich einen beschaffen; einer der frisch angreifenden Söldner besaß einen. Er ließ also sein Schwert Friedensreich tanzen, spreizte die Beine, um festen Halt auf dem Boden zu haben und durchbohrte den
Kettenpanzer seines Gegners mit solcher Wucht, daß ihm die Schwertspitze aus dem Rücken schaute. Dann zerrte Fezius es aus dem Leib seines toten Feindes, wischte das Blut an seiner Lederhose ab, schob die Waffe in die Scheide und griff nach dem Kriegshammer des Toten. Aber wie sollte er nun durch das ganze Kriegsvolk zur Treppe gelangen? Dort standen zu viele gepanzerte Krieger herum; also focht er sich einen Weg in der entgegengesetzten Richtung frei, um vielleicht einen anderen Ausgang zu finden. Das Licht war grell und heiß, und seine Augen brannten. Er sah zahlre iche weißbemäntelte Männer, die einander aus dem Weg schoben, um sich hinter Kästen, Tischen und sonstigem Mobiliar in Sicherheit zu bringen. Der Raum war unendlich groß. Allmählich kam er sich wie ein wildes Tier vor, das sich mit Klauen und Zähnen gegen eine Meute von Angreifern zur Wehr setzen mußte. Wie betrunken taumelte er von einer Seite zur anderen, aber immer wieder gelang es ihm, den einen Gegner oder einen anderen zu Boden zu schicken. „Verräter, ergib dich! Du hast keine Aussichten!" „Halt die Klappe", brummte Fezius und suchte weiter zwischen Kisten und Kartons und aufgestapeltem Kram nach dem zweiten Ausgang, den es ohne jeden Zweifel geben mußte. Das ganze herumstehende Gerumpel hätte man niemals über die steile, enge Treppe transportieren können. Manchmal, wenn er mit Offa focht, wurde der kleine Fezius zu einem quecksilbrigen Troll, der vor Energie nahezu barst und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit bewegte, so auch jetzt. Kam ihm einer in die Quere, der ihm den Weg zu jenem zweiten Ausgang versperren wollte, dann teilte er mit seinem Kriegshammer erstklassig gezielte Tempohiebe aus, und zugleich wich er den Gegenschlägen geschickt aus. Endlich erreichte er einen Torbogen, der mit dem größten Stück Glas abgeschlossen war, das er je gesehen hatte. In dem Augenblick, als er erkannte, daß dies ein Tor sein mußte, rannte er auch schon darauf zu. Er hatte ein bißchen zuviel Anlauf genommen; die Tür wich erstaunlich leicht zurück, und er flog stolpernd durch. Aber er fing sich schnell wieder. Auch hier herrschte grelles, weißes Licht, und der mosaikartig ausgelegte Fliesenboden warf das harte Gleißen zurück. Seine Schritte hallten über den Boden. Aber die Männer unterschieden sich auf ganz unmögliche Art von den weißgekleideten Leuten, die er vor sich hergetrieben Ratte. Fezius blieb stehen, staunte und holte keuchend Atem. Diese neuen Eindrücke überfielen ihn mit der Wucht von Keulenschlägen. Diese Wesen waren riesig groß, so wie Offa ungefähr. Und dünn! Und gelbgesichtig, blaßäugig, schnabelnäsig und rundmündig. Die Kleider bestanden aus einem grellroten, schuppigen Material, das in schimmernden Falten um die mageren eckigen Gestalten floß. Fezius stieß einen hohen, grellen Schrei aus und griff an.
Vor seinen Augen fiel ein blauer Vorhang herunter, und nun sah er alles wie durch tintengefärbtes Wasser. Trotzdem drang er weiter vor. Er spürte dünne, kalte Hände an Knöcheln und Hals, die ihn aufzuhalten versuchten, und dann fühlte er groben, kalten Stein an seinem Rücken. Er blinzelte, denn er sah sich plötzlich an eine Steinmauer gefesselt, und vor sich hatte er Palans Rodro und dessen Männer, die ihn, flankiert von diesen Teufelsungeheuern, anstarrten. „He, das kannst du wohl nicht glauben, du elender Amraspion!" Rodro stand breitbeinig vor ihm und hatte herausfordernd die Fäuste in die Seiten gestemmt. Wie seine Männer war er in eine Halbrüstung gekleidet, und so verspottete er Fezius, dem dünne Lederriemen in die Handgelenke schnitten. „Verschwindet", zischte Fezius, aber ebensogut hätte er auch schweigen können. Wie, bei Amra und allen blauen Blitzen, war er hierhergekommen? Er ahnte es: Der blaue Vorhang, der vor seinen Augen heruntergefallen war; das blaue Feuer, das Offa zur Unbeweglichkeit verdammt hatte; er hatte vermutlich einen BlauenFunken-Anfall erlitten, und als er wieder daraus aufwachte, war er sauber angekettet und mit Lederriemen gefesselt. Scheußlich. Er war also in eine Falle geraten und gefangen. Selbstverständlich hatte er die Risiken geahnt, aber seine Sorge um Lai hatte ihn wie einen Irren vorwärts getrieben. Und jetzt dieser Alptraum... Palans Rodro und seine Männer beachteten ihn kaum mehr. Sie lachten dröhnend und fluchten laut und fröhlich. Die Knechte freuten sich höllisch, daß sie den kleinen Teufel übertölpelt hatten. Rodro, dieser Schuft, musterte den armen, ratlosen Fezius mit sichtlichem Behagen. „So, dir gefallen also meine Slikitterfreunde nicht, was?" Er lachte schallend, und seine Männer lachten mit. „Die werden dich in Fetzchen zerpflücken und dich zum Frühstück verspeisen, du Amraspion!" Alle lachten, nur Fezius nicht. Er fand es auch gar nicht lustig. Die Drohung hatte natürlich keinerlei Wahrheitsgehalt. Aber diese Dinger, diese Slikitters, waren irgendwie unheimlich. Lai hatte ihn vor ihnen gewarnt. Er fühlte sich unbehaglich. Was würden sie ihm antun? Wenn Lai hierhergekommen war, um sich die Ladungen für ihren Lähmungsstock zu besorgen, dann hatte sie ihren Kopf in eine gefährliche Schlinge gelegt. Er hätte ja nur allzu gern nach ihr gefragt und ob sie noch am Leben sei, aber er wollte jetzt noch nicht durchblicken lassen, daß er mit ihr zu tun hatte. Das konnte sich vielleicht vorteilhaft auswirken. Außerdem wollte er Rodro nicht die Genugtuung dieses Wissens verschaffen, falls man ihn foltern sollte. Er hätte sich darüber aber keine Gedanken zu machen brauchen. Ein großer, schimmernder Metallrahmen wurde in den Raum gestoßen. Fezius schaute ihn an und schloß die Augen. „Ich schmeichle mir", sagte Palans Rodro voll jovialer Herzlichkeit, „daß ich mich nicht
an das langweilige Folterschema halte, das den altmodischen Troubadouren so viel Spaß macht. Du bist hier. Meine - möglicherweise - Schwägerin Lai ist hier. Beide seid ihr gefesselt. Du weißt, was ich wissen will. Ich glaube, daß du mir's auch erzählen wirst." Fezius öffnete während der kleinen Pause, die nun folgte, die Augen. Aber dann fuhr Rodro fort: „Sonst..." Sein Leben lang war Fezius darauf stolz gewesen, daß er das Leben so nahm, wie es kam, daß er die ganze Welt auslachte und in allem einen Witz fand. Er tauschte mit Offa Witze aus, wenn die Schwerter klirrten und die Äxte funkelten. Auch jetzt hätte Fezius am liebsten diesem Rodro, dem Dreisten, ins Gesicht gelacht, doch ein gesunder Instinkt warnte ihn davor; er hatte Angst um Lai. Lai! Sie war an den Metallrahmen gefesselt, und ihr apfelgrünes Kleid hing in Fetzen an ihr herunter. „Ha!" rief sie. „Mein galanter Ritter! Mein tapferer Retter! Hast du die Drachen nicht erschlagen? Dann haben sie also auch dich gekriegt, Kleiner." Das Wort „Kleiner" war kränkend. Keiner durfte es sich erlauben, ihn wegen eines körperlichen Makels zu verspotten, für den er nichts konnte. Sie schien ihn damit warnen zu wollen, daß sie bereit war, ihre eigene Haut zu retten und die seine zu opfern. Natürlich würde sie im ersten Augenblick der Folter schon das aus sich heraussprudeln, was Rodro wissen wollte. Er war ja schließlich kein Narr, wenn man ihn wohl auch fälschlich jetzt einen Feigling nennen mochte. „Hexe, verschwinde", rief er schwitzend. „Na, was ist denn?" erkundigte sich Rodro, kratzte erstaunt seinen Bart und sah bekümmert drein. „Laß dich von ihnen nicht beirren", sagte einer der Slikitters zu Rodro, und er sprach das Venudinische mit einem harten Akzent. „Mich beirren?" antwortete Rodro. „Fislik, das soll er mal erst versuchen!" Dieser als Fislik angesprochene Bursche gab einen komisch schnaubenden Ton durch die Nase von sich. „Das Mädchen nennt den Mann .Kleiner', und der Mann sagt, das Mädchen sei eine Hexe. Mich führen die nicht hinters Licht. Die schwitzen füreinander." Fislik schnaubte wieder. „Sie werden uns erzählen, was wir wissen wollen." Rodro näherte sich Lai und riß ihr noch ein Stück des apfelgrünen Kleides ab. Dann wandte er sich zu Fezius um. „Sag schon, Kleiner, wo die Prinzessin Nofret, meine Braut ist, die mir weggelaufen ist!" Und da schrie Lai, weil er zu fest zupackte. „Ich erzähle dir alles, was du wissen willst, aber erst mußt du das Hexenmädchen in Ruhe lassen", sagte Fezius ohne zu zögern. „Und du kannst damit anfangen, uns beide loszuschneiden." „Du hast Nerven!" rief Rodro und lachte schallend. „Na, vielen Dank", antwortete Fezius. „Für deine Frechheit gehört dir jetzt eine Tracht Prügel, Kleiner", bemerkte Red Rodro, der die arme Lai immer von neuem ins Fleisch kniff. „Da, sieh her! Damit bist du gestraft genug." Dann wisperte Fislik Rodro etwas ins Ohr, und dieser sah Fezius an und ließ Lai los.
„Na, und was noch, du Zwerg?" fragte er Fezius. So klein fühlte der kleine Mann sich jedoch nicht, doch er schluckte tapfer eine recht heftige Entgegnung hinunter. „Ich kann dir alles sagen, was du wissen willst", erklärte er. „Allerdings weiß ich nicht, wie der Ort heißt, an dem die Prinzessin ist. Ich kann dich jedoch hinbringen." „Fislik, glaubst du, das ist ein Trick?" fragte Rodro gleichmütig. „Das glaube ich nicht. Der Mann ist doch in die Hexe vernarrt." „Du Idiot!" fauchte ihn Lai an. Fezius schwitzte noch ein wenig mehr als vorher. Wenn er geglaubt hatte, Lai würde ihn zu beschwatzen versuchen, daß er den Mund hielt, so gab er diesen Gedanken auf. Sie wußte ja schließlich selbst, was der menschliche Körper ertragen konnte. „Wirst du mich jetzt losbinden oder nicht?" fragte Fezius. „So kann ich ja nun wirklich nicht laufen." Rodro winkte ein paar Männern zu, die eiligst herankamen, um Fezius und Lai loszubinden. Seine Füße gaben unter ihm nach, als er aufzustehen versuchte, und seine Hände waren völlig gefühllos. Lai streckte sich und brachte die Fragmente ihres apfelgrünen Kleides ein wenig in Ordnung. Ihr Gesicht war ruhig. „Gehen wir jetzt?" fragte Rodro lachend. „Wenn ihr fallt, können wir euch ja tragen - auf der Spitze einer Pike." Fezius beschloß, sich Zeit zu lassen, denn nur Narren beeilen sich, das zu tun, wozu sie gezwungen werden. „Wirst du wirklich dorthin gehen?" flüsterte ihm Lai zu, aber die eiserne Spitze eines Speeres schob sich zwischen sie und ihn, und eine barsche Stimme untersagte ihnen jede weitere Unterhaltung. „Wenn ich muß", meinte Fezius. „Nein!" rief Lai und wurde aschfahl. Der Wächter hob eine Hand, um Lai zu schlagen, aber Fezius versetzte dem groben Burschen einen Fußtritt in die Lenden. Er verstauchte sich zwar an dessen Rüstung die Zehen, aber der Mann krümmte sich zusammen. Auch Fezius duckte sich, so daß der Fußtritt des zweiten Wächters in die Leere ging. „Hört mit dem Unsinn auf, ihr Dummköpfe!" schimpfte Rodro. „Wenn der da nicht aufhört, bin ich ja tot!" jammerte der eine. Fezius richtete sich schweratmend auf. Die beiden Wächter sahen ihn an, als wollten sie ihm am liebsten ins Gesicht spucken. Rodro klammerte sich an das Fetzchen Autorität, das ihm Fislik und seine Slikitterfreunde noch gelassen hatten. „Schluß mit dem Unsinn, sonst lasse ich euch alle in Ketten legen!" Von nun an schwieg Fezius. Aber er hatte, als er sich zusammenduckte, eine schmale, kupferfarbene Tür zwischen all dem aufgestapelten Gerumpel entdeckt, und darüber hing eine kleine, düster glimmende Laterne. Diese Tür hatte, so schmal sie war, zwei Flügel mit je einem bronzenen Handgriff. Diese Tür zog Fezius magisch an. Er mußte nur den richtigen Moment abwarten... Rodro war eben doch ein Narr, aber er war grausam, und deshalb durfte Fezius nichts
verpatzen. Lai mußte mitmachen, ohne seine Pläne zu kennen. Er glaubte aber fest daran, daß es ihm gelingen könnte ... Die Slikitters nicht beachten, das Warum, Was und Wenn beiseite schieben, die Waffenknechte nicht sehen und ihre Harnische und Speere nicht zur Kenntnis nehmen, denn das war nötig. Und das ganze Bewußtsein auf zwei Dinge konzentrie ren Lai und die Tür. Springen durfte er erst dann, wenn sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Und dann sprang er. Red Rodro, der Dreiste, bekam einen Tritt in den Magen. Die Befriedigung darüber sparte sich Fezius für später auf. Er packte Lai, riß sie mit und hetzte mit ihr über den Mosaikboden zur Tür. Er zerrte am Griff, und die Tür schwang weich auf. Das smaragdfarbene düstere Licht wurde gelb und begann zu blinken. „Doch nicht diese Tür, du Narr!" schrie eine hohe, vor Angst schrille Stimme. Aber es war schon zu spät. Hinter der Tür lag gedämpftes Grau, das von einem sanften Grün durchwoben war. Es wirkte nach den grellen Lichtern draußen ungeheuer beruhigend. Fezius zerrte Lai mit durch die Tür, die sich schnell wieder zuschob. Ein Speer polterte heftig dagegen. Dann veränderte sich das Licht zu einem zornigen Rubinrot, das zu pulsieren begann und zu feuerroten Wabern wurde.
6.
Lai klammerte sich an Fezius, und ihr weicher Körper suchte Trost. Ihre Stimme klang ganz merkwürdig. „Fezius, das war ein Platz.'"flüsterte sie fast ehrfürchtig. „Wieso Platz?" „Ein solcher, wie ich ihn im Griff-Turm gesucht habe. Aber der hier ist anders... ganz anders ..." „Das mußt du mir später alles einmal genau erklären, nur nicht jetzt gleich. Wenn wir durch die Tür gekommen sind, können Rodro und seine Kumpane auch durchkommen. Jetzt nichts wie weg von hier!" „Fezius..." „Da muß es doch irgendwo eine Treppe geben, auf der wir nach oben gelangen. Und wir sind ein ganzes Stück außerhalb des Burggrabens, so daß wir also ungesehen Parnasson erreichen können. Bei einem Gasthaus wartet ein Griff auf mich, und damit können wir im Handumdrehen zurück beim Boot sein." „Fezius, du hast ja gar keine Ahnung ..." „Wovon?" Er schritt in das Halbdunkel hinein, und riesige, formlose Schatten erhoben sich links und rechts von ihnen. Der Boden unter seinen Füßen war weich, und Fezius ging wie auf einem Teppich aus hohem, dichtem Gras...
„Sie brauchen uns hier nicht zu jagen'."Tief sie und klammerte sich an seinen Arm. „Du verstehst ja nichts ... Wir kamen durch einen solchen Platz!" Fezius verstand wirklich nichts, das gab er freimütig zu. Er schaute nach oben. Das Dach hatte keine Öffnung, und kein Lichtschimmer wies ihnen den Weg nach außen und oben. Seine Vernunft sagte ihm jedoch, daß die Tür, durch die er gekommen war, irgendwohin führen müsse und daß er nur solange weiterzugehen brauchte, bis er eine weitere Tür fand, die nach draußen ging. Und diese Tür mußte es geben! Und dann vernahm er ein Geräusch, und er zog Lai an sich, um sich in den Schatten zu ducken. Ein halbes Dutzend Slikitters ging vorbei. Ihre riesigen, eckigen Körper sahen grotesk aus, wenn sie sich schnell bewegten. Diese merkwürdigen Wesen mit ihren rotschuppigen Gewändern verschwanden rasch in den tiefen Schatten. Sie waren schweigend vorübergezogen, aber in den Händen hatten sie Stöcke getragen, die Fezius augenblicklich erkannt hatte und auch fürchtete. „Wir müssen zurückkehren", wisperte Lai. „Wir sind durch ein Tor gekommen, Fezius", erklärte sie. „Und wir sind jetzt nicht mehr auf derselben Welt." „Selbe WWelt?" stotterte Fezius. „Ja, ja." Sie nickte heftig. „Wir kamen durch eines dieser seltsamen Tore, das ich manchmal fühlen kann, und jetzt sind wir nicht mehr in unserer eigenen Welt." „Es gibt doch nur eine Welt", antwortete Fezius gereizt. „Und woher kommen dann die Slikitters?" „Nun ja, aus Amras dunkelsten Tiefen wohl. Woher denn sonst?" „Sie sind nicht übernatürlich, Fezius, sondern sie sind genau wie wir auch aus Fleisch und Blut. Sie sind aber anders als wir. Sie gehören zu einer anderen Welt." „Und wo ist diese andere Welt?" fragte er. „Ich kann dir das nicht sagen", antwortete sie. Er legte ihr eine Hand auf den Arm, und diesmal gab ihm die Berührung ein Gefühl des Selbstbewußtseins und Vertrauens. „Kerrrummmpitty, Weib", fluchte er auf sehr gemäßigte Art, „fast glaube ich dir. Aber wir kommen jetzt gleich hier heraus, und dann fliegen wir mit meinem Griff zur Barke zurück. Außer... es wäre genau das, was Rodro von uns erwartet. Ja, das muß es wohl sein. Er will uns in dem Glauben lassen, daß wir ihm entkommen sind. Wenn wir jetzt mit unserem Griff zum Boot fliegen, hetzt er seine halbe Griffflotte hinter uns her!" „Ich glaube nicht, daß er das tut", wandte Lai ein. „Wir müssen aber davon ausgehen." Vorsichtig setzten sie ihren Weg fort. Lai hatte es aufgegeben, Fezius zur Umkehr zu überreden. Sie erreichten die jenseitige Wand des riesigen unterirdischen Raumes, die mit einem weichen, elastischen Material verkleidet war. Eine Tür von etwa zehnmal zehn Fuß stand offen. Sie traten hindurch und standen in einem dämmrigen Licht. Hinter ihnen schnappten Stahlgitter ein. „Wir sind in der Falle!" schrie Fezius, rannte zum Gitter und rüttelte daran. Und als sie so dastanden, überkam sie beide ein ganz merkwürdiges Gefühl. Fezius fühlte sich
plötzlich schwerer. Er taumelte. Sein Magen rebellierte. „Der Boden!" rief Lai. „Er bewegt sich!" „Er geht in die Höhe!" Fezius wurde übel, und er fühlte sich plötzlich ganz leicht. Dann machte es päng und klick, und dann war plötzlich alles wieder still. Klappernd öffnete sich das Stahlgitter. Eine Mahagonitür kam zum Vorschein. Wie versteinert standen Lai und Fezius davor; die Tür glitt zur Seite, und nun fiel strahlender, freundlicher Sonnenschein herein. „Komm, wir wollen aus dieser komischen Kammer heraus!" Was Fezius nun vor sich sah, war so seltsam, daß er es trotz seines ihm angeborenen Optimismus und seiner ausgeprägten Fähigkeit, auch das Unwahrscheinlichste wahrscheinlich zu finden, niemals zu glauben vermochte, daß dies zu seiner Welt Venudine gehörte. Die helle Sonne schien durch ein dichtes Gitterwerk. Als Fezius genauer hinschaute, sah er, daß diese Gitter Treppen, Plattformen und Luftgänge darstellten, über die sich riesige Menschenmengen bewegten. Nein, keine Menschen. Es waren Slikitters. Aus Rauch und Dampfwolken schwangen sich die Luftwege empor, verzweigten sich, waren mit Treppen verbunden und hatten senkrechte Stützen, in denen sich solche Käfige bewegten wie der, mit dem sie selbst aus dem unterirdischen Raum nach oben gekommen waren. Die schwarzen Gebäude stiegen bis in schwindelnde Höhen auf und verschwanden nach unten in Dampf und Rauchwolken. „Wir müssen auf einem dieser Gebäude stehen", flüsterte Lai. Sie tat einen Schritt vorwärts und lehnte sich an ein Gittergeländer. Von da aus schaute sie hinunter. Auch Fezius warf einen Blick nach unten, schreckte aber sofort entsetzt zurück. „Wo sind wir?" rief er. „Oh, Lai, was ist nur mit uns passiert!" Sie legte tröstend eine Hand auf seinen Arm. „Ich sagte es dir doch, Fezius. Wir sind eben durch ein Tor in eine andere Welt gekommen ... Ich war schon einmal durch, aber in der Slikitterwelt war ich vorher noch nie." Sie schluckte. „Mir gefällt es hier auch ganz und gar nicht, und ich habe Angst", erklärte sie wie ein verängstigtes kleines Mädchen. „Du warst schon einmal in einer anderen Welt?" „Ja. Der Platz heißt Sharnavoy. Dort habe ich Freunde." „Mir wäre lieber, wir wären dort." „Oh, Fezius, was sollen wir nur tun?" „Du hast recht gehabt", gab er zu. „Wir müssen zurück." Er drehte sich um. Die Aussicht war nach allen Seiten dieselbe. Die Luft roch frisch und nicht unangenehm; manchmal brachte ein Windstoß eine Spur rauchigen Nebels mit. Sie standen auf einem flachen Dach, und der Käfig war hinter einem Gitter aus Metall und Holz, das noch offen war, zu sehen. Fezius tat einen Schritt auf den Käfig zu. Da kam aus der Luft über ihm ein schwirrender, puffender Laut. Wie gelähmt starrte Fezius nach oben. Aus dem Gitterwerk ineinander verwobener Luftwege wirbelte ein Gegenstand, von einem Schimmer umgeben. Dieses Ding war gleichzeitig plump und zerbrechlich, röhrte
und warf einen Lichtkreis um sich. Das Ding senkte sich und blies dabei Wind von sich, wirbelte Papierfetzen, Staub und sonstigen Abfall herum und berührte schließlich mit seinen Beinen das Dach. Der kreisende Schimmer machte nun einen Lärm ganz anderer Art; er schwirrte langsamer, schnurrte und tuckerte und hörte schließlich hustend auf. Da stellte sich dann heraus, daß dieser Lärm von drei dünnen, schwertförmigen Blättern stammte. Die Sonne fing sich in den Fenstern des Dinges. Es sah aus wie ein kleines Haus, dessen Kanten abgerundet waren. Und nun öffnete sich sogar eine Tür. Fezius zerrte Lai mit sich in den Schutz eines Kamins. Aus dem fliegenden Haus stiegen etliche Slikitters, die aufpaßten, als Kisten und Verschläge ausgeladen wurden. Als Fezius die Dinger sah, welche die Kisten ausluden, glaubte er plötzlich alles, was Lai ihm von der anderen Welt gesagt hatte, denn es mußte wahr sein, und die Slikittars waren eine andere Lebensform. Die Dinger waren nur vier Fuß hoch, und neben ihnen sah Fezius direkt groß aus. Eines der Dinger schob einen Rollwagen vor sich her. Es hatte einen daumenförmigen Körper, aber der Kopf ging ohne Hals in den Leib über, während der Körper bis auf den Boden reichte und keine Beine hatte, sondern nur vier pfotenähnliche Ansätze. Diese Ansätze benützte das Ding zur Fortbewegung. Etwa einen Fuß vom Scheitelpunkt entfernt hatte es zwei menschenähnliche Augen mit dreieckigen Augenbrauen darüber. Arme und Hände waren so dünn und zweigähnlich wie die von den Slikitters. Es war ganz und gar mit einem senffarbenen Pelz bedeckt, und um die Mitte trug es einen Gürtel aus dem rotschuppigen Material, das die Slikitters für ihre Kleider benützten. Nase oder Mund schien es nicht zu haben. „Diese Daumendinger habe ich noch nie gesehen", flüsterte Lai. „Komische Biester", wisperte Fezius zurück. Als alle Kisten und Verschläge in den Käfig geschafft waren, verschwand er in die Tiefen des Gebäudes. Die plump en Däumlinge kamen wieder zum fliegenden Haus zurück, und die Slikitters folgten ihnen. Die langen, schlanken Blätter begannen sich wieder zu drehen. Und dann stieg das Ding in die Luft. „Jetzt verstehe ich ja ein bißchen mehr", erklärte Lai ziemlich erschüttert. „Daher kam nämlich meine Lähmungspistple. Ich nahm sie einem Krieger ab, der mich rauben wollte und nun tot ist. Das war dort, wo die Ladungen gemacht werden, wo auch die Fackeln herstammen, die unsere Edlen benützen. Und das blaue Feuer wird hier auch gemacht. Die Slikitters liefern es durch jenes Tor an Palans Rodros Burgverliese. Da nehmen sie die Waren an." Lai stand auf. „Wir befinden uns auf dem Dach eines Lagerhauses. Die Kontrollen für diese Tür müssen hier sein, und diesen Käfig werden wir auch von hier aus bewegen können. Von den mechanischen Dingen dieser Plätze verstehe ich nichts. Ich weiß auch kaum etwas davon, wie man durch diese Tore kommt. Ich benütze nur... Ach was", fügte sie hinzu und schüttelte den Kopf.
„Warum sind sie uns denn nicht gefolgt?" fragte Fezius. „Vielleicht deshalb, weil der Durchgang sie ebenso viel kostet wie mich. Man braucht dazu einige Energie, und die muß sich dann erst immer erneut ansammeln. Sobald das Tor wieder soweit ist, daß es sich öffnen kann, wissen die Slikitters das auch, und dann werden sie uns verfolgen." Fezius dachte scharf nach. „Dann kam also dieser Shim Gahnett auch von einer anderen Welt?" fragte er. „Ja." Lai sah zu Fezius hinunter. „Ich wollte meine Schwester nach Sharnavoy schicken, denn ich fühlte, daß im Griff-Turm ein solcher Platz sei. Aber Rodro, der Böse, ließ uns einfach nicht aus der Burg hinaus." „Keiner schien die Prinzessin gesehen zu haben, und von dir wurde nur als von dem Hexenmädchen gesprochen ..." „Geschichten, die Rodro erfunden hat, aber vermutlich..." „Nichts wird vermutet. Du bist doch eine Hexe, und das ist einwandfrei so", fiel ihr Fezius ins Wort. „Aber keine böse Hexe, Fezius. Wirklich nicht." „Warum hat sich die Prinzessin Nofret bereit erklärt, Rodro zu heiraten?" Lai seufzte. „Das verstehe ich eben auch nicht. Seit unser Vater tot ist, hat sich vieles geändert, und unsere Vancaherden wurden immer kleiner. Wir sind reiche und stolze Leute, leben frei und halten uns niemals lange in einer unserer Städte auf. Aber Rodro hat uns irgendwie in der Hand, und die Slikitters helfen ihm dabei." „Mit den Slikitters als Freunden kann man seinen Feinden ins Gesicht lachen. Unser Volk ist stark, aber Rodro kann mit Hilfe der Slikitterwaffen sämtliche Vancareiter ausrotten." „Ich glaube, er will uns alle unterjochen. Sein wahnsinniger Ehrgeiz ..." „Träume von Eroberungen sind meistens Wahnsinn." „Ach, und in Sharnavoy hatten wir eine so schöne Zeit", sagte sie verträumt. Fezius hatte gute Erfahrungen in Turnieren und Waffen, und deshalb blieben wohl seine Handelskenntnisse recht lückenhaft. Er bemerkte denn auch sehr vorsichtig: „Wenn es von hier nach Venudine Tore gibt, dann könnte es doch auch ein Tor nach Sharnavoy geben?" Die Idee gefiel ihm selbst, und so fuhr er eifrig fort: „Es muß doch noch andere Handelsplätze geben außer Rodros Burg. Dein Mann, dieser Shim Gahnett, kam doch durch den Griff-Turm. Es muß noch andere Tore geben." „Natürlich", antwortete sie. „Aber Fezius, dieser Mann Shim Gahnett kam ja gar nicht von Sharnavoy! Deshalb war ich ja so verzweifelt. Der Platz war verkehrt! Er führte nicht nach Sharnavoy, sondern in irgendeine andere Welt..." „Du hast aber doch mit ihm gesprochen." Sie lächelte und legte ihre Hände auf ihr langes Haar. Fezius sah ihr zu, wie sie ein schmales Band herauszog, das mit Klammern festgehalten war. Es glitzerte und funkelte im Sonnenlicht. „Das sind keine Juwelen, Fezius. Ich kenne den richtigen Namen dafür nicht. Ich nahm
dieses Ding jenem Ritter ab, der mich unbedingt rauben wollte, und er hat es in seinem Liebesrausch gar nicht bemerkt. Wenn du es trägst, dann kannst du das Band so einstellen ..." Sie zeigte ihm ein winziges Gerät, das in etwa einem Kompaß glich und im Band eingebettet war. „Acht Punkte und ein Zeiger. Jeder Punkt hat neben sich ein Symbol, und diese Symbole sind hier in dieser Reihe von acht Knöpfchen wiederholt. Ich weiß selbst nicht, was das alles zu bedeuten hat", erklärte sie ein bißchen verlegen. „Dies hier muß aber Sharnavoy sein, das ist Venudine, und jenes muß wohl Slikitter sein. Wenn du den Knopf für Venudine drückst und den Zeiger auf Sharnavoy stellst, dann kannst du mit einer Person von Sharnavoy reden und sie verstehen. Als Shim Gahnett ankam, drehte ich den Zeiger und fand dieses Symbol." Das zeigte sie ihm. „Ich weiß aber nicht, was es bedeutet." „Ich versteh's ja auch nicht", brummte Fezius. „Das ist also die Wissenschaft, von der du so geheimnisvoll gesprochen hast?" „Ja." „Gut. Dann stelle deinen Translator wieder ein, Lai, aber besser im Augenblick wohl auf Slikitter." „Das hast du gut gesagt, Fezius. Translator ist ein ausgezeichnetes Wort. Aber es ist auch noch ein bißchen mehr..." Ein Schatten fiel über sie, und beide schauten verstört auf. Schon wieder kam ein solches fliegendes Haus an. Wieder wurden Kisten und Verschlage entladen, und der Lastendäumling schleppte Ballen in den Käfig, die dann in Venudine verkauft werden sollten. Und nun kam Fezius zu einem Entschluß. „Wir müssen auf unsere eigene Welt zurücckehren, Lai. Wir müssen, und wir können es auch! Wir können aus dieser Welt Slikitter in der entgegengesetzten Richtung, wie wir gekommen sind, in unser eigenes Land zurückkehren. Wahrscheinlich kämen wir zum Griff-Turm, und da könntest du uns ja durch dieses Tor bringen." „Aber ich weiß doch nicht, ob es gelingt! Vielleicht bin ich jetzt nicht stark genug und..." „Wir können doch nicht einfach hierbleiben und uns fangen lassen, Lai. Wir können eine der Außentreppen benützen, aber wir müssen uns ein bißchen in Bewegung setzen. Denke doch an deine Schwester, Lai! Schau, ich denke ja auch an Oag Offa." Sie war blaß, aber sie nickte. „Du hast recht, Fezius. Wir dürfen nicht aufgeben. Zusammen muß es uns gelingen ..." „So ist's richtig. Zusammen schaffen wir alles..."
7.
Was immer sie auch in Zukunft Zusammen unternehmen würden und der Tag konnte recht bald kommen, viel zu bald vielleicht für Sir Fezius von Fezanois , diese Kletterei über die nackte, senkrechte Leiter bis hinunter in die schwarze Tiefe, in der sich irgendwo fester Boden befand, würden sie niemals vergessen. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, und beide hatten elende Angst um ihr Leben. Fezius klammerte sich mit einer Hand an das Geländer, mit der anderen an Lai und fluchte erbittert vor sich hin. Er wußte nicht genau, wie weit der Weg nach unten war. Endlich gelangten sie zu einem Luftweg, der an einer kleinen Plattform endete und sich wie ein Draht zum nächsten Turm spannte. Dieser Luftweg deutete in die richtige Richtung. Wenn sie über diese schwankende Brücke gelangen könnten, dann hätten sie viel Zeit gespart. Ängstlich war ihnen zwar schon zumute, wenn sie sich überlegten, daß sie hoch über den Hausdächern diesen schwankenden Luftsteg überqueren sollten, aber es mußte eben gehen. Er griff also um Lais Taille, und sie hie lt sich an der seinen fest. Sie zogen die Köpfe ein, klammerten sich mit der äußeren Hand ans feuchte, glatte Geländer und machten sich auf den Weg. Der Wind heulte und zerrte an ihnen, und der Luftsteg schwankte. Fezius zwang sich dazu, Fuß vor Fuß zu setzen und Schritt für Schritt weiterzugehen und Lai mit sich zu ziehen. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer wieder mußten sie ein wenig stehenbleiben, um wieder Atem zu holen, und dann spürte Fezius plötzlich, daß der Wind nicht mehr an ihnen zerrte, denn sie hatten das andere Gebäude erreicht und waren im Moment nun einigermaßen geschützt. Dieses Gebäude unterschied sich von dem anderen. Es war vor allem noch viel höher und stieg aus einer unergründlichen Tiefe in Stufen nach oben. Die parallelen Plattformen waren mit Bäumen bepflanzt; Wasserfälle sprühten feinen Gischt gegen das Sonnenlicht, und die bizarrsten, buntesten Vögel hüpften und schwirrten herum. Überall gab es gläserne Nischen und Alkoven, und das ganze Haus schien ein Paradies zu sein. Die beiden unglücklichen Wanderer waren froh, daß sie ausgerechnet dieses Gebäude gewählt hatten. Weit über ihnen spannte sich ein Spinnennetz aus Luftwegen, und unter ihnen tummelten sich auf den Terrassen die Däumlinge. „Dumm sehen sie schon aus, aber ich halte sie für gefährlich", bemerkte Fezius. Sie dankten den ewigen Nebeln, die über ihre Ankunft einen gnädigen Schleier gelegt hatten, und tanzten über die Gehölze aus gelbstämmigen Bäumen mit purpurnen Blüten, und dann ließen sie sich vom Wind der nächsten Brücke durchblasen.
„Noch eine Brücke oder eine zweite, dann kommen wir ganz schön weiter und landen sicher in der Nähe des Griff-Turmes", stellte Fezius im grimmigen Ton neuerworbenen Selbstvertrauens fest. Als Lai nichts sagte, drehte er sich ruckartig zu ihr um. „Lai, was ist?" fragte er. Sie starrte durch ihn hindurch, und ihre dunkelvioletten Augen waren riesig groß. „Ein Platz ist da", flüsterte sie so leise, daß er sich zu ihr hinunterbeugen mußte. „Ganz nahe. Ich weiß es. Das muß der richtige Weg sein." „So hoch in der Luft?" fragte Fezius zweifelnd. „Ich weiß nicht, woher ich diese Kraft habe", fuhr Lai leise fort. „Meine Großmutter besaß merkwürdige Fähigkeiten, aber ich habe nicht um diese Gabe gebeten. Ich wollte nicht verflucht sein." „Können wir den Platz erreichen?" „Ich glaube schon. Fezius, ich wollte wirklich niemals eine Hexe sein, glaube mir das. Man fürchtet und verabscheut mich. Meine Schwester, die Prinzessin Nofret, ist eine einfache, biedere Hausfrau und glücklicher dran als ich." Sie schloß die Augen, um sich wieder in die Hand zu bekommen. „Ich glaube, wir können den Platz finden, wenn du genau das tust, was ich dir sage." * Sie drangen zwischen seltsamen Bäumen und Büschen weiter vor. Sie rannten über sonnenhelle Lichtungen und durch schattiges Gehölz; sie waren Flüchtlinge. Eines dieser leisen fliegenden Häuser senkte sich auf eine vorstehende Plattform, die noch etwa hundert Meter entfernt war. Eine ganze Truppe Slikitters stieg aus. Sie trugen Waffen, und ein Heer von Däumlingen rannte ihnen entgegen. Und dann schwärmten die Däumlinge mit Waffen im ganzen Garten aus. Sie hatten solche Lähmungswaffen, wie Lai eine hatte, und lange, drohende Stöcke, deren Gewalt Fezius noch nicht kannte. „Die Jagd hat begonnen", stellte Fezius fest. „Sie kamen durch das Tor aus Rodros Burg, und jetzt suchen sie alle nach uns, um uns zu töten." Sie versteckten sich in einem dichten Gebüsch. „Das Tor ist ganz nahe", wisperte Lai. „Ich spüre es." Sie schlichen so leise durch das Gebüsch, daß sie kaum ein Blatt dabei bewegten. Vor ihnen lag die lange, niedrige Fassade eines säulengeschmückten Gebäudes, das terrassenförmig aufstieg. „Hier ist es", flüsterte Lai. „Wir müssen hinein ins Haus." Etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt endeten die Büsche, und dort begann ein marmorgepflasterter Platz ohne jede Deckung. Fezius schluckte heftig. Eine Gruppe Slikitters marschierte vorüber, und ihre Stimmen klangen hoch und schrill. Über ihren roten Schuppengewändern trugen sie eine Rüstung, und alle hatten Waffen bei sich. Däumlinge watschelten nun in großer Zahl über den Platz und bewegten sich auf die Büsche zu. Fezius sah sich verzweifelt um. Einer Gefangennahme schienen sie
kaum mehr entgehen zu können. „Können wir vielleicht auf einen Baum klettern?" fragte Lai. Das dichte, grüne Laub und die purpurnen Früchte hingen so dicht, daß sie Schutz gewähren konnten, aber die beiden Flüchtenden standen ein Stück von den Büschen entfernt und überragten sie natürlich. „Ein Risiko ist es schon", meinte Fezius. „Aber jetzt dürfen wir uns nicht fangen lassen, wo wir dem Tor so nahe sind." Sie kletterten geschickt den Baum hinauf, und kein Blatt rührte sich. Fezius spähte aufmerksam hinunter; das große Gebäude war so verführerisch nahe, aber nun stapfte ein Däumling unten durch die Büsche, ging um den Baum herum, auf dem sie saßen, und schaute hinauf. Was konnte Fezius anderes tun, als sich auf das senffarbig bepelzte Wesen herunterfallen zu lasäen? Das Ding krachte unter seinem Gewicht zusammen und lag mit geschlossenen Augen bewegungslos da. Lai schaute zwischen den Blättern nach unten, und Fezius winkte ihr, sie solle herunterkommen. „Sollten wir nicht besser wieder nach oben gehen?" flüsterte sie. „Nein. Hier haben sie schon gesucht, aber die Treiblinie ist nun durchbrochen. Ich glaube, wir könnten jetzt rennen." Sie nickte erregt. „Ja, natürlich..." Ihr kleines Gesicht wurde plötzlich hart und ihre violetten Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er wirbelte herum. Ein Mann hatte die Lichtung betreten. Richtig: ein Mann. Er hielt einen Stock in der Hand, von dem Fezius aber wußte, daß es keiner war. Den hob er nun an, um zu zielen. Fezius legte seine Hand auf den Knauf von Friedensreich, aber leider war da kein Schwert mehr. Das war eine entsetzliche Enttäuschung! So unmittelbar vor dem Ziel gefangen zu werden von einem Menschen! * Der Mann packte ihn an seinem Lederwams, und Fezius versuchte, den Fremden zu schlagen. Doch der Mann lachte nur und hob ihn vom Boden hoch, so daß Fezius hilflos mit den Beinen in der Luft strampelte. Der Mann sprach mit tiefer, melodiöser Stimme Worte, die Fezius nicht verstand. Aber dann antwortete Lai, und auch das verstand Fezius nicht. ».„Er sagt", erklärte ihm Lai, „er wird dich auf den Boden herunter lassen, wenn du ihn nicht beißen oder mit den Füßen stoßen wirst." Noch nie im Leben war Fezius so gedemütigt worden, aber was blieb ihm anderes übrig, als zu nicken? Er kochte vor Wut, als er wieder auf dem Boden stand, und er funkelte Lai und den Fremden wütend an. „Wer ist dieser Angeber?" fragte Fezius endlich. „Fezius! Das ist ein Freund und kein Angeber! Er heißt Sam Rowf." Der Fremde war ein großer Mann. Er trug enganliegende Hosen und schwere braune Schnürstiefel. Brust und Schultern waren mit einem dunkelgrünen Hemd bedeckt, und die rostbraune Jacke darüber hatte unendlich viele Taschen. An seinem Gürtel hing eine
ganze Anzahl von Säckchen. Auf dem Rücken trug er einen riesigen Packen, an dem kleinere Päckchen baumelten. Was er sonst noch an komischen Stöcken und Gegenständen an sich hängen hatte, hielt Fezius für Waffen, wenn er sie auch nicht kannte. Gut bestückt war der Mann jedenfalls. An der Seite hing ihm auch ein Schwert, doch das war unglaublich dünn und lang und wahrscheinlich gar nicht schwer. Gekrönt, buchstäblich gekrönt, wurde der Fremde von einem breitrandigen, weichen Filzhut, an dem ein buntes Federchen schimmerte. Und sein Gesicht... Ja, es war rötlich, freundlich, mit einer schmalen Hakennase, dem Kinn eines Boxers und glänzenden, braunen Vogelaugen. Lai, die sich mit dieser Vogelscheuche lange und angeregt unterhalten hatte, drehte sich nun wieder einmal zu Fezius um. „Stelle dir vor, er kam durch das Tor! Hier ist ein Tor, und Sam kam durch!" Fezius war deutlich eifersüchtig. „Und jetzt braucht das Tor wahrscheinlich Wochen und Monate, nachdem dieser hier durchkam", brummte er. „Jedenfalls habe ich keine Lust, mit diesem grinsenden Idioten hier in der Gegend herumzustehen. Komm, Lai." „Aber er sagt, der Platz ist in Auffuhr, und er fragt, ob er uns helfen körine." „Sage ihm, er soll verschwinden", antwortete Fezius und griff nach Lais Arm. Er schämte sich dabei aber ein bißchen, und außerdem sah er Lai an, daß hier ein Gewitter loszubrechen drohte. Sam Rowf hob mit einer raschen Bewegung die Waffe in seiner Hand, und Fezius fürchtete schon, er werde nun zusammen mit Lai erschossen. Dann drückte ein brauner Finger einen Hebel, und die Waffe hustete, aber das Husten klang recht unfreundlich. Fezius sah eine ganze Anzahl von Däumlingen durch die Büsche brechen und davonwatscheln. „Er sagt, wir sollen rennen, er gibt uns Feuerschutz!" schrie Lai und griff nach Fezius. . Und dieser setzte zum Rennen an, drehte sich aber noch einmal um und rief zurück: „Danke, Sam!" Das mußte Lai natürlich erst übersetzen; Rowf schrie etwas als Antwort, aber Lai verzichtete darauf, Fezius zu erklären, was das geheißen hatte. Einmal fiel Fezius über etwas Weiches, doch mit der Gelenkigkeit einer Katze sprang er wieder auf und wollte weiterrennen. Lai jedoch beugte sich über den leblos daliegenden Däumling und löste mit geschickten Fingern die Waffen ab, die das Ding bei sich trug. Dann rannten sie weiter. Mit zehn Sprüngen hatten sie die Büsche hinter sich; auf dem offenen Platz rannten Slikitters und watschelten Däumlinge auf das entgegengesetzte Gebüsch zu, und für einen kurzen Moment sah Fezius einen rennenden Sam Rowf. Vor ihnen lag die lange Säulenfassade. Ein einzelner Slikitter stand auf der Treppe. Fezius ließ ihm keine Chance. Mit seiner knochigen Schulter traf er den langen, dürren Lattenkerl dort, wo es am wehesten tat und am längsten vorhielt. Der häßliche Kerl kreischte, fiel zusammen, schlug mit dem Kopf gegen eine Stufe und ver.lor dabei ein Band, das im Sonnenschein funkelte.
Lai bückte sich, ohne im Lauf innezuhalten, und hob das Translatorband auf. Rennend nahmen sie die Stufen und erreichten das blaue Dämmerlichtunter den Säulen. Dort herrschte eisige Kühle. „Hierher!" keuchte Lai und rannte vor ihm her. Ihr apfelgrünes Kleid, das jetzt kaum mehr Brust und Hüften bedeckte, flatterte hinter ihr her. Fezius rann der Schweiß in Strömen über den Körper. Seine Tunika wies etliche Risse auf, und die Bäckerschürze, die er sich für seine Maskerade umgebunden hatte, war längst nicht mehr da. Die leere Scheide seines Schwertes schlug ihm dauernd gegen die Fersen. Die beiden sahen aus wie Landstreicher. „Wo?" schrie er. „Ich versuche, es zu finden ... Es ist nicht ganz einfach ... Zuviele Gegenströmungen ..." „Hat dir der Angeber nicht gesagt, wo es ist?" „Ja, aber..." Auf dem Marmorboden stampften stahlbeschlagene Stiefel näher. „Schnell! Da kommen Slikitters! Schnell, schnell!" „Ich kann es nicht finden ..." „Versuch's noch mal." „Das Tor..." Sie stöhnte und schien einer körperlichen und geistigen Erschöpfung nahe zu sein. „Es ist nicht da ... Ich kann es nicht finden..." Da blieb er stehen. Er schob sie in den engen Raum zwischen zwei Säulen und schüttelte sie heftig, bis ihr das rote Haar über das Gesicht fiel. „Denke nach, Lai! Denke ganz .scharf nach! Dieser Mann Rowf kam doch hier durch außer er hat gelogen. Er kam durch, und wir benutzen das Tor nun in der anderen Richtung!" „Ja, Fezius. Bitte, höre auf, mich zu schütteln." Das tat er. „Und jetzt strenge mal deinen Kopf an, verstanden? Laß deine Kraft oder was es ist aus dir herausströmen." Sie ließ den Kopf hängen, doch er hob ihr Kinn in die Höhe. Die Schritte der Slikitters kamen näher. Waffen klirrten, und die Henker suchten ihre Opfer. „Denke doch nach, Lai", redete er ihr zu. „Überlege doch, wo der Platz ist. Denke an alle, die du liebst, an deine Schwester Nofret. Denke an alles, was wir zu tun versuchen. Und denke auch ein wenig an mich, Lai", fügte er noch leiser hinzu. Lai versteifte sich. Ein fast tranceähnlicher Zustand verklärte ihr Gesicht, so daß Fezius für einen Augenblick glaubte, einen Engel festzuhalten. Er tat einen Schritt zurück und sah sie entsetzt, verängstigt und ehrfurchtsvoll an. „Ich kann fühlen ... Deinetwegen, Peredur..." Dazu drehte sie sich wie eine Kompaßnadel, ging langsam, steifbeinig, wie halb erstarrt von ihm weg, hob die Arme und deutete mit einer befehlenden Geste, die absoluten Gehorsam verlangte. Fezius folgte ihr. Sie ging weiter hinein zwischen die Säulen, immer tiefer hinein. Mitten im Säulenurwald blieb sie stehen und legte wie lauschend ihren Kopf schief. Fezius legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Jetzt", flüsterte sie. „Das ist ein Platz. Eines meiner Tore. Es ist kein mechanischkünstliches Tor, sondern ein natürliches und freies, und es wird uns aufnehmen, wenn ich es will." Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Fezius dunkle Umrisse, die sich zwischen den Säulen bewegten. Metall klirrte. Füße scharrten auf glattem Marmor. Slikitters und Däumlinge suchten zwischen den dichten Säulenreihen nach den Flüchtlingen. Lai seufzte. „Halte mich fest", sagte sie träumerisch. Fezius hielt sie fest. Er spürte ihre sanfte Weichheit, aber er konnte seinen Geist nicht vor den huschenden Schatten zwischen den Säulen verschließen. „Beeile dich doch!" drängte er. Er spürte die Spannung in ihr, einen Doppelstrom aus mystischen Träumen und magischer Aura, der getrennt voneinander floß und sich vereinte. Er hatte eine vage Ahnung davon, daß sie ihre Hexenkraft in einen praktischen Griff nach der Welt legte. Er spürte einen merkwürdigen Druck. Dann stöhnte Lai und tat einen hohen, schrillen, lauten Schrei. Alles wurde schwarz. Wo immer Fezius nun auch war er wußte, er befand sich nicht mehr in derselben Welt.
8.
„Wer, zum Teufel, ist Peredur?" fragte Fezius, ehe er blinzelnd die Augen in eine strahlende Welt öffnete. „Was?" sagte Lai. Sie schien erschüttert zu sein. Er machte die Augen auf, denn er wollte wissen, wo er war. Er stand in einem ziemlich großen Raum, dessen Einrichtung ihm völlig fremd war, ihm jedoch eindeutig luxuriös erschien. Er war angefüllt mit kostbaren Möbeln, Bildern und anderen Gegenständen, und die Böden waren mit dicken, edlen Teppichen belegt. Es gab nur ein einziges Fenster, aber das nahm eine ganze Raumseite ein. Fezius hatte noch nie vorher so große, klare Glasscheiben gesehen. Ein wenig widerstrebend ließ er Lai los. Sie ging sofort auf einen dickgepolsterten Armstuhl zu, ließ sich hineinfallen und legte ihre Hände an die Schläfen. Sie sah blaß und angestrengt aus. . Eine Männerstimme sprach etwas, das Fezius nicht verstand. Er sah den Mann an, der hinter einem Tisch aufstand, und auch sein Gesicht war blaß und wirkte erschüttert. Jetzt wußte Fezius auch, daß sie durch Lais Tor nicht nach Venudine zurückgekehrt waren. Er hatte so etwas schon geahnt, als Lai hoch oben jenes Tor gespürt hatte, und ziemlich sicher war er sich dessen gewesen, als sie den Mann Sam Rowf getroffen hatten. Langsam ging Fezius zum großen Fenster hinüber. Er schaute hinaus, schien aber auf das, was er dort zu sehen bekäme, nicht besonders neugierig zu sein. Er sah nur deshalb
hinaus, weil er wissen wollte, wo er sich befand. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Wahrheit endlich in ihn hineinsickerte. Irgendwie fühlte er sich an die Slikittertürme erinnert. Hier stiegen aber keine Rauchsäulen vom Boden in die Höhe, und er konnte bis nach unten sehen. Himmelhohe Türme mit glitzernden Fenstern streckten ihre Finger in den Himmel. Unten waren die engen Straßen mit herumwimmelnden Menschen vollgepfropft, und wie kleine, bunte Käfer huschten Wagen hin und her, die kein Pferd oder Vanca vorgespannt hatten. Es herrschte lebhaftestes Treiben. Über dieser Ansammlung von Türmen hing ein hoher Himmel mit duftigen Wölkchen. Die Fenster in den Türmen winkten ihm fröhlich zu. Ein fliegendes Haus, das ein wenig kleiner war als jene, die er auf Slikitter gesehen hatte, machte ein wenig Krach und setzte dann auf einem flachen Dach auf, wo sich in riesigen Hieroglyphen die Sonne fing. „Fezius, diese Leute hier sind Freunde", sagte Lai. „Lege dies hier an." Sie reichte ihm ein glitzerndes Band und befestigte es an seinem Kopf. „So, jetzt können wir reden", sagte sie. „Ich glaube, wir müssen schnellstens nach Venudine zurück", stellte Fezius fest. „Ich denke an Offa und deine Schwester, die Prinzessin Nofret." Der seltsam aussehende Mann, der über ihr Erscheinen so erstaunt gewesen war, schien nun vor Erregung ganz außer sich zu sein. Sein Haar war eine dichte, weiße Mähne; sein mageres Gesicht hatte rote Wangen und ein liebenswürdiges Lächeln, und Fezius war bereit, zu glauben, daß ihnen dieser Mann wohl wollte. Auch die Kleidung des Mannes war seltsam; er trug etwas aus schwarzem, weißen und gelbem Material. Der Mann bewegte sich rasch und bestimmt und hatte eine ganze Reihe von perfekt aufeinander abgestimmten Gewohnheiten, über die Fezius unter anderen Umständen vielleicht gelächelt hätte. „Nein, Fezius, auf Venudine sind wir nicht, auch nicht auf Sharnavoy", erklärte ihm Lai. „Nicht Sharnavoy? Und ich hatte gedacht..." antwortete Fezius enttäuscht. „Ich würde mich freuen, wenn ich eure Namen erfahren könnte", ließ sich der weißhaarige Mann vernehmen. „Aus welchen Dimensionen kommt ihr? Wir hatten eben dieses Portal benutzt und vielleicht hat euch das angezogen. Ja? Ich möchte euch gern erklären, daß wir eure Freunde sein möchten und euch auf der Erde willkommen heißen. Genau gesagt in New York City." Fezius empfand es fast wie eine Ironie, daß er das, was dieser Mann da sagte, so gut verstehen konnte, als hätten sie die gleichen Interessen. , „Mir ist es egal, wo wir sind", antwortete er mißmutig. „Ich will nur wissen, wie wir wieder nach Venudine zurücckommen." Erst jetzt bemerkte er, daß er mit Hilfe des Bandes, das er selbst Translator genannt hatte, den anderen Mann genau verstand und sogar dessen Sprache sprach. „Immer mit der Ruhe", erwiderte der Mann und lachte leise dazu. Er ging zu einem Schrank, der an der Wand stand, und goß etwas Flüssigkeit in zwei Gläser. „Da, trinkt das hier. Es wird euch guttun." Fezius trank schnell, ungeduldig und mußte husten. Das Zeug wärmte, schmeckte aber
irgendwie scheußlich. „Ich bin Dave Macklin und arbeite seit Jahren an Theorien über die Dimensionen. Ich habe einige Erfahrungen, aber es ist fast ungeheuerlich: Zwei Menschen aus einer anderen Dimension kommen hierher durch! Das muß ich Alec und Sarah erzählen. Sie werden sich sehr f reu\ en!" Fezius hatte Staunen, Ekel, Zorn oder Entsetzen erwartet, als er mit Lai in einer anderen Welt materialisierte. Aber dieser Mann nahm alles so überraschend ruhig hin, daß Fezius glaubte, er müsse eben Sam Rowf durchgeschickt haben. Dann war es vielleicht nicht ganz so bestürzend, wenn plötzlich zwei andere Leute dafür auftauchten. Lai gähnte. Sie hatte sich von der niederdrückenden Müdigkeit ein wenig erholt, und nun begann sie sich angeregt mit David Macklin zu unterhalten. Der alte Herr fühlte sich von ihrer lebensvollen Weiblichkeit sehr angezogen. Auch Fezius war wieder wohler zumute; er vermutete, daß das Getränk etwas Aufputschendes enthalten hatte. Nun sah er auch, daß die Stelle, an der sie durchgekommen waren, mit einem weißen Band markiert war, das einen Kreis auf dem Teppich bildete. Er ging zu einem Stuhl und setzte sich. Nun öffnete sich die Tür, und zwei Leute kamen herein ein großer, bärenhafter Mann und ein winziger Flederwisch von einem Mädchen, das kein Stückchen größer war als Fezius selbst. Die Kleine schien ein wenig schüchtern zu sein, und ihr Gesicht hatte jene unschuldige Glätte, die Fezius nach einem Leben des Herumgestoßenwerdens direkt rührend fand. Das Mädchen Sarah zog ihn sehr an. „Alec!" rie f Macklin gut gelaunt. „Darf ich vorstellen ..." „Ich bin die Prinzessin Lai von Farvanca und den Lächelnden Herden", sagte Lai und lächelte selbst. „Und das ist äh Sir Fezius Ohne." Das Wort „Sir" betonte sie ganz besonders. Sarah trat einen Schritt näher, und Lai sah auf sie hinunter. „Was mußt du von mir denken!" rief Lai. „Im Königreich meines Bruders kleiden wir uns im allgemeinen nicht so." „Prinzessin!" wiederholte Macklin und lachte Alec an. „Nun ..." „Das ist ein schwerer Schlag für die Contessa." „Hoffen wir's", antwortete Macklin grimmig. „Ein solches Vergnügen hatte sie bisher noch nicht." „Sie sehen beide sehr müde aus, und ich spüre auch, daß sie's sind", sagte nun Sarah mit einer reizenden, angenehmen Stimme. „Sie werden ein wenig Ruhe brauchen, ehe ..." Macklin nickte.' „Richtig wie immer, Sarah. Ich wüßte nicht, was wir ohne dich täten." Er wandte sich an Lai. „Nehme ich richtig an, daß du ein Porteur bist?" „Was ist denn das?" fragte Lai lächelnd. „Das ist die Kraft, die dich durch das Portal gebracht hat." „Ja, natürlich ... Und ich brauche Schlaf, denn seit zwei Tagen und Nächten sind wir ununterbrochen auf den Beinen." „Dann decken sich also Tag und Nacht in Venudine und hier. Und ich hatte erst gedacht, ihr seid aus Irunium." „Komm mit mir, Lai", bat Sarah lächelnd und streckte eine Hand aus. Und Lai
gehorchte. „Und du kommst mit mir, Fezius" sagte nun Alec. „Oder soll ich lieber sagen Sir Fezius Ohne?" „Fezius genügt." „Und was bist du, wenn ich fragen darf, Ohne?" „Ohne Rang, ohne Burgen, ohne meine Ländereien, Leute, Geld und jene Ehre, die man nicht kaufen kann", antwortete Fezius, der sich plötzlich wieder todmüde fühlte. „Ich war ein Favilan." Er glaubte dieses Wort ausgesprochen zu haben, doch was er tatsächlich sagte, war „Herzog". Komisch. „Und jetzt bin ich also nur noch ein Sir Fezius Ohne." „Also ein wirklich freier Mann", meinte Alec dazu. „Ich glaube, Todor Dalreay von Dargai würde dich sehr gerne kennenlernen, Sir Fezius." „Das wird er vielleicht auch", bemerkte Macklin säuerlich. „Die Contessa wird bald von diesem Nodalpunkt erfahren. Diese Mistbiene hat die Möglichkeit... Aber gehe jetzt mit Alec, Fezius. Wenn du ausgeruht bist, erzählen wir dir alles, was du .wissen mußt." Fezius wußte, daß Offa sehr in Sorge sein und vielleicht etwas Unüberlegtes tun würde, denn selbst das sicherste Versteck in der dichtenVegetation des Flußufers war wertlos, sobald die erste Fußpatrouille durchkam. Er hatte ja nicht geahnt, wie lange es dauern würde, bis er zurücckehren konnte. Da er aber so ungeheuer müde war und die Augen kaum mehr offenhalten konnte, folgte er Alec. Nun, er würde auf jeden Fall auf seine eigene Welt zurücc kehren, denn ein Leben ohne Offa war für ihn undenkbar. Er schlief in einem Riesenbett, das in einem unglaublich luxuriösen Schlafzimmer stand. Als er aufwachte, brachte ihm Alec ein Tablett mit fremdartiger, aber köstlich duftender Nahrung. Ach, könnte Offa das jetzt sehen! Er aß stellvertretend für seinen Freund mit und hatte im Handumdrehen mit allem aufgeräumt. Im großen Raum mit dem Riesenfenster saßen sie dann alle beisammen und diskutierten, was nun zu tun sei. Es war jetzt Nacht, und die hohen Türme, die Wolkenkratzer, glitzerten von unzähligen Lichtern. Diese Lichterflut erregte Fezius; er fühlte sich rastlos. Er starrte auf den weißen Bandkreis auf dem Teppich und wunderte sich. „Sam müßte jetzt gut vorankommen", sagte Macklin. „Falls er durchgekommen ist", bemerkte Alec. „Wir haben mit Sam gesprochen", erklärte Lai. „Auf der anderen Seite des Tores, das du Portal nennst." Macklin nickte. „Ich nahm an, daß er durchgekommen ist. Aber dann..." Sarah hob den Kopf, und alle sahen sie an. „Ich glaube, Perdita ist uns auf der Spur", sagte sie mit ihrer weichen Stimme. Macklin stand auf, Alec schob das Kinn vor. Lai, die jetzt ein Kleid von Sarah trug - es war ein Minikleid mit einem blauorangen Zickzackmuster , sagte: „Komisch, ich fühle etwas wie ein Spinnennetz, das streift an ... Ja, es streift..." Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Oh, es ist ekelhaft und schrecklich!" „Ich weiß", erwiderte Sarah leise. „Ich fühle es vielleicht noch stärker als du." „Was?" fuhr Lai auf.
„Was du spürst, ist der ungeschickte Versuch eines nicht besonders klugen Porteurs, diesen Nodalpunkt zu suchen." Sie deutete auf den weißen Kreis. Wenn sie von Porteuren und Nodalpunkten sprach, war ihre Schüchternheit wie weggeblasen. Lai zog die Schultern in die Höhe und sah erstaunt drein. Fezius lächelte. Lai, seine Lai, das Hexenmädchen, hatte hier eine Geschlechtsgenossin gefunden, die ihr gewachsen war. „Ich kann wie nennst du es? andere Leute ohne jede Schwierigkeit nach Sharnavoy portieren. Ich brachte Fezius und mich hierher. Ich möchte sagen, daß ich mich ziemlich geschickt gezeigt habe." Sarahs Gesicht drückte entschiedene Zustimmung aus. „Natürlich. Ich wollte ja nur ausdrücken, daß du von anderen Porteuren nichts weißt. Du mußt die ganze Zeit allein für dich selbst gearbeitet haben." Dazu nickte Lai nur. „Sind sie schon in der Nähe?" wollte Macklin wissen. Sarah hob den Kopf. Sie hatte nicht das tranceähnliche Gebaren wie Lai. „Sie sind noch irgendwo am Rand von Manhattan", erklärte sie. „Auf der Insel befinden sie sich noch nicht, das weiß ich bestimmt. Vielleicht benutzen sie einen Hubschrauber. Sie kommen langsam näher." „Dann finden sie diesen Platz ganz bestimmt", stellte Alec fest. „Dann läßt Perdita ihre Trugs los." „Diese Tiere gehorchen ihr auf schauerliche Weise ... Ich mag mit ihnen nichts zu tun haben", sagte Macklin. „Wißt ihr noch, was Bob Prestin uns von ihnen erzählt hat? Uuuhhhh!" Auch Fezius spürte nun die über dem Raum lastende Drohung. Er wußte, daß diese Leute sich vor der merkwürdigen Contessa Perdiat und ihren Trugs fürchteten, aber noch schrecklicher war für ihn der Umstand, daß er auf geheimnisvolle Art die Angst aller Leute im Raum spürte. Er war an Waffengeklirr und Kampf gewöhnt, und deshalb war ihm eine substanzlose Drohung noch viel grauenhafter, weil sie unverständlich war. Ihm hatte man ein dünnes, glattes Hemd und Hosen gegeben, die ihm viel zu groß waren. Er mußte sie also aufkrempeln und den Gürtel eng um seinen Leib zurren. Er hatte darauf bestanden, seine leere Schwertscheide umzuhängen, die ihm nun ständig an die Beine schlug. Ein Schwert mußte er sich bei allernächster Gelegenheit wieder besorgen. „Was tun wir jetzt?" fragte Sarah. „In spätestens vier Stunden erreichen sie den Block. Und dann wird alles sehr schnell gehen." „Wir müssen hier weg ... Gut, daß Sandy fort ist. Da gibt es keine Komplikationen. Vielleicht wissen sie nicht, daß wir hier sind. Und wenn, dann erfahren wir das noch frühzeitig genug. Wenn nicht, können wir später, wenn sie wieder fort sind, den Platz erneut benutzen." „Das müssen wir wohl auch, außer, Sam findet einen anderen Rückweg." Fezius räusperte sich. „Ich verstehe ja, daß ihr auch Probleme habt", sagte er und wußte sofort, daß seine Worte nicht aufrichtig klangen, „aber Lai und ich müssen so schnell wie möglich nach Venudine zurück." Er erklärte kurz die Lage dort, wenn er auch vermutete,
daß Lai die Situation schon so ges childert hatte, wie sie diese von ihrem Standpunkt aus sah. „Offa wird nicht ewig warten, und das will ich auch nicht, wo doch überall ganze Schwärme von Griffs herumschwirren." „Wir müssen jedenfalls hier weg", meinte Macklin dazu. „Ich werde eine Landkarte mitnehmen ... Hier ist eine Karte von New York." Er breitete sie auf dem Tisch aus. Fezius stand fassungslos vor dieser Unzahl von Straßen. Aber Fezius begriff natürlich sofort, daß die Penthousewohnung vom Boden aus gerechnet ungefähr auf der gleichen Höhe sein mußte wie jener Luftweg, wo Lai das Tor gespürt hatte. „Hier sind wir", erklärte Macklin und legte einen Finger auf ein Viereck; die ganze Insel war in solche Vierecke eingeteilt. „Und in welcher Richtung von hier aus gesehen ist euer GriffTurm?" „Ungefähr hier", begann Fezius und schwieg verblüfft. Lai hielt den Atem an. Klar. Sie waren durch zwei Dimensionen gekommen, nicht nur durch eine. Sie hatten den Griff-Turm zu erreichen versucht; wie weit waren sie gekommen? Wie oft hatten sie sich dabei um sich selbst gedreht? Als sie vor den Slikitters und ihren Däumlingen flohen, hatten sie einige Male die Richtung geändert. „Na, Fezius?" „Lai, wie weit sind wir gekommen?" Sie legte den Kopf schief. „Ich kann ja nur vermuten... Eines dieser schwarzen Gebäude müßte ungefähr so groß gewesen sein, wie ein Block hier. Aber diese Brücke ..." Fezius machte eine überschlägige Kopfrechnung; Rechnen war nicht seine stärkste Seite. „Ich glaube, wir hatten erst angefangen. Wir sind von einer Brücke zu einer anderen übergewechselt. Hier." Er legte den Finger auf einen Punkt. „Da ist der Griff-Turm." Die Karte enthielt eine Anzahl kleiner roter Kreuze; viele waren es nicht, nur vielleicht ein Dutzend. Als Macklin zu Fezius sagte, wo sie seien, hatte er auch den Finger auf ein rotes Kreuz gelegt, und jetzt hatte Fezius eine nicht angekreuzte Stelle bezeichnet. „Ein neuer!" rief Sarah. „Das ist ja interessant!" „Jedes rote Kreuz bezeichnet einen Nodalpunkt", erklärte Alec. „Ich weiß, Dave, was du denkst." Macklin schien nicht die richtigen Worte zu finden. „Es muß ein Hubschrauber sein", sagte Sarah scharf. „Sie kommen jetzt viel schneller näher." „Ein schreckliches Gefühl, das nach einem greift", murmelte Lai. Fezius musterte besorgt ihre müden, überanstrengten Augen und die pessimistische Linie um ihren Mund. Im Raum war es hell, warm und gemütlich, und Fezius erkannte den starken Kontrast zwischen diesem Luxus hier und der dunklen, formlosen Nacht da draußen, die für ihn einen noch unbekannten Schrecken in sich barg. Sonst hätte er sich wohl gefühlt. Er hatte sich mit einem blitzenden, silbrigen Messer mit Handgriff rasiert, war frisch gewaschen, hatte saubere Kleider an und den Magen mit guten Dingen gefüllt, aber all das wog nicht sehr viel gegen die Drohung, die aus der Dunkelheit draußen kam. Doch er schüttelte diese Gedanken schnell ab, denn solche Nachtmahre waren nicht für Männer bestimmt, die ein gutes Schwert zu schwingen
wußten. Ehe sie gingen, reichte Alec Fezius noch einen Mantel von Macklin. „Nimm das Ding da lieber ab", riet er und deutete auf die Schwertscheide. „Die Cops von New York sind in der Beziehung ein bißchen empfindlich." Lai prüfte das Translatorband in seinem Haar, das in der dichten Mähne völlig verschwand. Fezius nahm also sein Schwertgehänge ab, wenn auch nur zögernd. Sarah wic kelte es in eine Zeitung, und jetzt sah das Paket unverdächtig aus. Lai bekam von Sarah noch einen leichten Mantel, dann waren sie fertig. Sie hatte sich von Sarah auch noch eine Handtasche ausgeborgt, um ihre Lähmungspistole dort sicher unterbringen zu können. „Die könnten wir vielleicht brauchen", flüsterte sie Fezius zu. Er nickte. „Ich habe nur Angst, Offa könnte irgendeinen Unsinn machen." In einem Kasten, der nur etwas kleiner war als der auf Slikitter, wurden sie nach unten gebracht. Fezius wunderte sich noch immer darüber, wie ruhig David Macklin und seine Freunde die Geschichte aufgenommen hatten, die sie ihnen erzählten, und wie selbstverständlich hilfsbereit sie waren. „Das ist ein Lift", erklärte Alec, „oder bei uns sagt man eher Elevator. Lift ist englisch. Der alte Bob Prestin war ein netter Kerl, fast ein Playboy." „Sicher", antwortete Lai, und Fezius läehelte ein bißchen. „Sagtest du, er war ein netter Kerl?" fragte Sarah. „Nun ja.... Er wird ja sicher zurückkommen, aber..." „Alec! Die Kleider... Lais und ...", rief Macklin plötzlich. „Ich weiß, Dave. Beruhige dich nur wieder. Ich habe alles verbrannt. Die Asche in den Abfall geschüttet. Ist schon in Ordnung." „Was? Verbrannt?" fragte Fezius entsetzt. „Die Montevarchi wird in Kürze in der Wohnung herumschnüffeln. Alles muß ganz normal erscheinen. Den weißen Kreis haben wir auch entfernt, denn wir kennen ja die Dimensionen. Die Wohnung muß so aussehen, als sei niemand durch den Nodalpunüt gekommen. Unsere Contessa ist ein raffiniertes Biest, aber ich glaube nicht, daß sie annimmt, wir seien schon dagewesen." Die Türen des Elevators öffneten sich, und zu fünft gingen sie nebeneinander in die Nacht von New York hinaus. Der Gehsteig war unangenehm hart. Er mußte aber zugeben, daß hier allerhand Leben und Treiben herrschte. Er paßte genau auf, sah Läden an, die Reklamen, die Leute. Schließlich winkte Alec ein Taxi heran, und sie drängten siclrhinein. Fezius drehte es fast den Magen um. Er wußte, daß er blaß geworden war, und weil er nicht wollte, daß Lai oder Sarah es bemerkten, drückte er seine Nase am Wagenfenster platt. „Wie heißen eure Vögel? Griffs?" fragte Alec. „Sie sind keine Vögel", entgegnete Fezius kurz. Also nichts über Griffs. Alec erklärte ihm daher, daß die Maschine vorn Energie erzeugte, die das Gefährt in Bewegung setzte. Griffs dagegen benutzten ihre eigene Kraft, um ihre Schwingen zu bewegen. Griffs mußten auch richtige Nahrung zu sich nehmen, um Energie zu produzieren, während dieses Fahrzeug hier Benzin brauchte.
Der Taxifahrer war neugierig und lauschte immer mit einem Ohr den Gesprächen seiner Fahrgäste. Die schienen im Kopf nicht ganz richtig zu sein. Sarah lachte schallend, Alec und Macklin kicherten in sich hinein. Lai grinste, und Fezius hielt sich die Seiten und dachte an Offa. Das Leben bestand ja schließlich nicht nur aus Haß, Kampf und Krieg. Diese Erdenleute hatten ihn und Lai aufgenommen, ihnen Wohnung, Essen und Kleidung gegeben, und nun waren sie ihnen auch noch behilflich, wieder in ihre eigene Dimension zurückzukehren. Mit ihnen würde er gern den wilden Kragor jagen; und hier schieden sich die Männer und Freunde von den Angebern und Speichelleckern. Viele jagten den Kragor mit dem legendären Kragorspeer, der mit Widerhaken versehen war. Junge und tüchtige Männer, darunter auch Fezius, waren aber neuerdings dazu übergegangen, diesen außerordentlich gefährlichen Sport mit dem blanken Schwert zu betreiben. Man mußte selbst ein Kämpferherz besitzen und gute Freunde an seiner Seite wissen, um diesen Sport zu wagen. Wenn er sich so in dem komischen Fahrzeug umsah und Geschlecht und Alter nicht in Rechnung stellte, dann kam er zu dem Schluß, daß er mit allen, Lai eingeschlossen, auf Kragorjagd gehen könnte. „Ich würde ja sehr gern mit dir durchgehen, Fezius", hörte er Alec sagen. „Wäre fein, wenn sich mal wieder was rührte." Konnten diese Erdenmenschen vielleicht seine Gedanken lesen? Fezius wunderte sich ehrlich über so viel Hellsichtigkeit. „Du wirst hier gebraucht, Alec. Sam kümmert sich u m das Gröbere. Wenn die Montevarchi uns in die Nähe kommt..." „Ja, ich weiß schon", seufzte Alec. „Ich kümmere mich also wieder einmal um die Contessa. Aber ich hab's allmählich satt, immer nur von den wundervollen Abenteuern zu hören und selbst keines zu erleben." Sarah lächelte ihn verschmitzt an. „Alec, du Bär, benimm dich! Sonst portiere ich dich auf eine Welt voll verstaubter alter Männer in Liegestühlen, die eine verlassene Stadt an einem ausgetrockneten Meer bevölkern. Das wird dich dann kurieren." Alec tat entsetzt. „Würdest du das wirklich tun können, Sarah, mein Sexbömbchen?" Sie sah sich nach einem Gegenstand um, den sie ihm nachwerfen könnte, fand aber leider keinen, und außerdem hielt das Taxi an. Der Taxifahrer sah drein, als sei er eben einer Schlangengrube entkommen, die außerdem bis an den Rand mit kochendem Schwefel gefüllt war. „Die Montevarchi wird uns einholen", erklärte Macklin düster. Alec seufzte. „Man müßte sich in eine Stahlplattenrüstung kleiden und den Gegner mit einer gepanzerten Faust vermöbeln." Fezius lachte trocken. „Wir tragen auch keine Stahlplatten, sondern Harnische. Und die sind nicht aus Stahl, sondern aus reinem, harten Eisen. Freund Alec, du hast noch viel zu lernen." Das nahm der Bär freundlich auf. „Ich weiß, aber mir sagt eben die ganze Idee so sehr
zu. Ich muß mich leider an meine Waffen halten." Dazu tätschelte er eine etwas ausgebeulte Jackenstelle. „Was du mir von euren Waffen erzählt hast, läßt mich vermuten, daß jemand von unserer Welt nach Venudine durchkam, als wir diese Rüstungen und Turniere hatten", bemerkte Macklin. „Deshalb konnte bei euch auch das Rittertum weiterblühen ohne die Auswüchse dieser Kanonenmänner, die wir bei uns zu verzeichnen haben." „Ha! Hat sich was mit Rittertum!" höhnte Fezius. Er mochte diese neuen Freunde wirklich, weil sie ihre Überlegenheit nicht herauskehrten. „Die Hellebarden und Pikenmänner werden mit ihren Gegnern auch ganz schön fertig", meinte er. „Ihr habt also noch Kriegsbeile und Hämmer?" „Klar. Sie beschädigen nicht nur die Rüstung, sondern auch den Mann, der drinnen steckt." „Dann ist bei euch die Reiterei also auch schon überholt?" „Sicher", antwortete Macklin für Fezius. „Und euer Palans Rodro wir würden ihn Baron nennen tut sich also deshalb mit den Slikitters zusammen, um seine Welt beherrschen zu können." „Meinst du, daß die Contessa auch mit drinnen steckt?" fragte Sarah. „Und wenn", antwortete Macklin ernst, „dann gnade Gott den Venudinern!" „Du erzählst Fezius wohl ein bißchen mehr darüber", schlug Alec vor. „Ihr und ihrer ganzen Sippschaft müssen wir, koste es was es wolle, aus dem Weg gehen", erklärte Macklin, „Sie sind schrecklich. Der Wille eines Mannes kann nicht gegen ..." Sarah unterbrach ihn. „Ich glaube... Ich weiß es fast sicher, daß ... Lai, spürst du auch hier ein Portal, einen Nodalpunkt?" Lai schloß die Augen und streckte die Arme aus. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich kann hier keinen Platz spüren." „Es muß aber einer da sein", behauptete Fezius entschieden. „Denn .wir sind in der Nähe des Punktes, den ich auf der Karte sah." Helle Lichter schimmerten überall, Leute eilten geschäftig hin und her, Autos dröhnten an ihnen vorbei, und sämtliche anderen Geräusche einer nächtlichen Großstadt schlugen an ihre Ohren. „Das hier ist der Punkt", sagte Macklin. Warum konnten Lai und er diesen Punkt nicht spüren, der doch dem Griff-Turm so nahe war? Fezius fühlte sich wie in einem Strom aus Treibsand gefangen, „Der Griff-Turm muß hier irgendwo in der Nähe sein!" Alecs Gesicht furchte sich vor anges trengtem Nachdenken, und er sah den Gehsteig entlang. „Du sagst, der Bursche sei hier durchgekommen?" „Ja. Er sagte, sein Name sei Shim Gahnett." Lais Gesicht wirkte müde von der Anstrengung, der sie ausgesetzt war. „Ich glaube, es ist hier irgendwo ganz in der Nähe." Sarah nickte. „Ja. Irgendwo unter uns. Unter unseren Füßen." Sie schauten auf die Pflastersteine, die auf dem gewachsenen Basaltfelsen der Insel Manhattan lagen. „Aber das ist doch alles Felsen, und ihr habt es selbst gesagt!" Fezius schüttelte
verständnislos den Kopf. „Wie soll Gahnett da unten gewesen sein?" Doch Sarah und Lai blieben hartnäckig. Macklin ließ sich von Fezius genau erzählen, was im Griff-Turm vorgefallen war, während Lai so verzweifelt versuchte, ihre Schwester, die Prinzessin Nofret, nach Sharnavoy durchzuschicken. Sarah hörte aufmerksam zu. „Statt deine Schwester durchzuschicken, brachtest du diesen Mann Jim Garnett zurück?" fragte sie. Jim Garnett. Shim Gahnett. Andere Welten, andere Aussprache. „Ich versuchte, sie doch nach Sharnavoy zu schicken. Dort war ich schon oft. Nofret ist meine ältere Schwester und die Kronprinzessin. Nach dem Tod meines Vaters waren wir oft dort, weil unsere Welt immer härter für uns wurde. Aber diesmal war es zu schwierig. Ich fand zwar den Platz, konnte Nofret jedoch nicht bewegen. Und dann war es plötzlich so, als bekäme ich Hilfe. Eine mir unbekannte Kraft schob und drängte mich..," „Zog dich, wolltest du wohl sagen", bemerkte Sarah. „Ich war's jedenfalls nicht, die diesen Shim Gahnett durchbrachte! Er kam aber, und das hier ist der Platz!" Alec ging ein Stück zurück und kam lächelnd wieder. „Geheimnis entschleiert", verkündete er. „An dieses Sportgeschäft kann ich mich gut erinnern, denn da war ich vor Jahren einmal. Im Kellergeschoß haben sie eine Galerie, die unter der Kanalisation und allen übrigen Leitungen durchführen muß." Gemeinsam gingen sie weiter zum Schaufenster des Sportgeschäfts. „Seht mal!" rief Fezius und deutete erregt. „Diese Dinger hier mit den zwei Rohren und dem Holzgriff so etwas hat Gahnett auch." „Eine Zwillingsflinte. Kein Wunder, daß er geharnischte Waffenknechte ernstlich beschädigte", sagte Macklin. „Wir müssen etwas tun", drängte Sarah. „Die Contessa wird sehr bald hier sein. In den Laden können wir nicht einbrechen, aber wir müssen das Portal in der Schießgalerie benutzen." „Schachmatt", bemerkte Alec, sah Sarah an und hob die Brauen. Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Du kannst diese Büchse - ein schrecklicher Ausdruck, was? in fünf Minuten öffnen." „Ich hab' leider mein Werkzeug nicht bei mir, Sexbömbchen." „Oh!" rief sie und machte Fäustchen der Enttäuschung. Fezius glaubte für solche Charakterszenchen keine Zeit zu haben; außerdem begriff er Alecs Bezeichnung für Sarah sowieso nicht. Das Mädchen erschien ihm ungeheuer begehrenswert, und überdies wollte er unbedingt in den Laden gelangen. „Wir müssen in den Keller hinunter?" fragte Fezius. „Richtig, Fezius", bestätigte Macllin. „Und er ist während der Nacht abgesperrt." Ein Problem sah Fezius darin aber nicht. Ohne sich weiter um die Meinung der anderen zu kümmern, zog er den geliehenen Mantel aus, wickelte ihn um seine rechte Faust und zerschlug damit die Glasscheibe.
„Nicht mööööglich!" rief Alec in den Krach klirrenden Glases. Fezius schlug ein paar zackige Scherben am unteren Rand heraus und kletterte in das beleuchtete Schaufenster. Lai folgte ihm. Die drei Erdenleute starrten entgeistert hinter ihnen drein. Lai drehte sich um, warf dabei einen ganzen Flintenständer um und schaute die Erdenfreunde hilfesuchend an. „Sarah, es ist anscheinend viel schwerer, Leute von der Erde direkt nach Venudine zu schicken als von dort nach Sharnavoy oder Slikitter, und ich schaffe es einfach allein nicht. Hilfst du mir?" Nun war Sarah mit einem Satz neben Lai im Schaufenster. Fezius kroch inzwischen im Hintergrund des Ladens herum; Macklin und Alec warfen einander hilflose Blicke zu und sprangen dann hinter den drei anderen her. „Die Cops werden jeden Augenblick ankommen", warnte Sarah und lächelte Alec dabei süß an. „Ich hoffe, du kannst dir für sie inzwischen eine überzeugende Geschichte ausdenken." „Ich denke nicht daran, auf die Cops zu warten", sagte Alec. „Sobald du deine Dimensiontrotterarbeit getan hast, verschwinden wir presto!" „Jetzt fühle ich das Tor!" flüsterte Lai. „Fezius, hier ist es!" Fezius hatte inzwischen die nach unten führende Treppe gefunden, und nun rannten sie hinunter. Alec folgte und drückte dabei etliche Knöpfe an den Wänden. In einem geschlossenen Trupp kamen sie unten in der Schießgalerie an. „Wo ist jetzt dieses Tor?" rief Fezius. Sarah warf ihm einen amüsierten Blick zu. „So einfach ist es ja nun auch wieder nicht, Fezius", meinte Sie. „Ich weiß, nur, Offa könnte vielleicht ..." „Da ist schon die Polente", unterbrach ihn Alec. Ein komisches, ständig steigendes und fallendes Jaulen wurde von draußen hörbar. „Bißchen schnell, Mädchen!" drängte er. Sarah wandte sich wieder an Lai. „Hier?" fragte sie scharf. Lai nickte. „Du bist ein zäher Brocken", sagte Alec zu Fezius. „Ich hätte es nie geglaubt, daß du die Scheibe einschlägst! Und gedämpft auch noch! Wie ein geübter Gangster!" „Wenn du dein ganzes Leben lang darauf trainierst, daß du die Harnische und Brustpanzer deiner Gegner durchschlägst, dann kommst du automatisch auf gewisse Tricks", gab Fezius freimütig zu. „Und es war ja nur Glas." Und dann griff Lai nach Fezius. Von draußen fiel nun Licht in die Galerie, und Schatten bewegten sich. Schwere Füße trampelten die Treppe herunter. „Da kommt die Polente!" „Mädchen, beeilt euch doch!" „Fezius, halte dich fest! Ganz fest!" Fezius schlang seine Arme um Lais Taille, zog sie an sich und spürte ihre weiche Brust an der seinen. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Die Schritte kamen immer näher. Aus den Schatten traten große Männer in staubigen blauen Uniformen, die sich auf Alec
und Macklin warfen; diese leisteten keinen Widerstand, sondern verstanden es nur, sich zwischen die blauen Männer und das Paar zu schieben, das sich so innig umarmte. „Was ist hier los?" „Warum habt ihr das Schaufenster eingeschlagen, he?" „Schnell, ihr Mädchen!" rief Alec wieder und schlug geschickt und täppisch gegen die beiden Polizisten. Ein dritter Cop schob Macklin zur Seite. Sarah schrie: „Es öffnet sich!" Der Polizist griff nach Fezius' Schulter, doch der drehte sich halb herum, duckte sich, hielt Lai fest und drückte den Polizisten mit seinem harten Schädel weg. Und dann blitzte etwas vor seinen Augen und fiel herunter. Alec sprang herzu. Er packte den Polizisten am Kragen, zog ihn zurück, entnahm seiner Tasche mit der gleichen Bewegung ein metallenes Objekt und warf es Fezius zu. Der fing es auf, als ein seltsames Gefühl seinen Magen flattern ließ. Er zog den Kopf ein, und Lai tat dasselbe. Dann war ihm zumute, als sei er auf ein sich wirbelnd drehendes Rad gebunden. Nun war nur noch Schwärze um ihn, aus der blutrote Tropfen in seinen Schädel fielen. Von oben kam das pfeifende Kreischen von Griffs, das schauerlich durch die Steinkammer hallte. Fezius hielt Lai noch immer fest. Er fühlte ihren weichen Körper in seinen Armen und wußte, daß sie wieder auf Venudine waren, im alten Griff-Turm; seine Lungen füllten sich, als die gestauten Emotionen nachließen, mit heimischer Luft, und auf seiner Netzhaut hing noch Sarahs Bild. Sarah. Sie war nicht einen Fingerbreit größer als er. „Laß mich doch los, Fezius! Ich will wirklich nicht, daß man mich hier fängt." Er öffnete also seine Arme. Lai trat zurück und straffte ihre Schultern. Im dünnen Mondlicht, das durch die Löcher in der Tür fiel, ließen sich ihre Umrisse gerade noch erkennen. Als er zum letztenmal hier war, versuchte er gerade den Durchbruch zum Fluß, um schwimmend die Barke zurückzuholen. Damals hatte ihm Offas starke Axt Rückendeckung gegeben. Ohne Offa fühlte er sich nackt und sehr winzig. Vorsichtig spähte er durch die schadhafte Tür. Die Tümpel glänzten silbern, und der Pfad war ein dunkler Streifen zwischen dunklen Büschen und Binsenkissen und silbernen Pfützen. „Hier scheint es sauber zu sein", meinte Fezius und winkte Lai. Da er vor kurzem geschlafen, gut gegessen und ein besseres Ve rständnis für das gewonnen hatte, was vorging, fühlte er sich auch wesentlich sicherer als zu irgendeiner Zeit, seit diese Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Er hatte Lai, Sarah und deren Freunde kennengelernt, aber jetzt mußte er an seinen ältesten, besten Freund denken, an Offa... Er kam schnell zu einem Entschluß. „Lai, du wirst eine Weile hier im Turm warten müssen. Es dürfte jetzt sicher sein." Sie wollte protestieren, doch er schnitt ihr das Wort ab. „Höre mir zu. Wir müssen die Barke erreichen, die vielleicht noch dort ist, wo wir sie verlassen haben. Oder Offa und deine
Schwester können sich entschlossen haben, weiter stromabwärts nach Varahatara zu fahren. Wenn dies der Fall ist, dann stehen wir ziemlich blöd da in Anbetracht dessen, daß wir die Strecke zu Fuß laufen müssen." Lai hörte ihm nur mit einem halben Lächeln zu, das nicht ganz ausreichte, ihn wütend zu machen. „Wir brauchen also eine Transportmöglichkeit. Boote gibt es hier nicht. Ich muß also entweder in Parnasson mein eigenes Griff holen oder andere zu mieten versuchen. Aber..." „Erstens dauert es schrecklich lange, wenn du zu Fuß nach Parnasson willst, und zweitens kannst du schneller gefaßt werden, als du dir's vorstellst." „Weiß ich. Erstens gehe ich auch nicht zu Fuß, und zweitens fliege ich." Sie lachte. „Ich sehe keine Flügel an dir." Er wußte nur allzu genau, daß er vor dem, was er zu tun gedachte, scheußliche Angst hatte. Deshalb hatte er mit halbem Herzen gehofft, Lai würde ihm sein Vorhaben ausreden. Er war so ehrlich, es sogar zuzugeben. „Du wartest hier, Lai. Und laufe nicht herum, hörst du? Rodros Männer suchen wahrscheinlich noch, wenn nicht..." „Wenn sie die Prinzessin Nofret nicht schon gefunden haben, meinst du? Ja, ich weiß." Er suchte unter den Schilfrohren am Fluß einen Stamm, der ihm kräftig und dick genug erschien. Alec hatte ihm ein scharfes Messer gegeben, und damit spitzte er das Schilfrohr zu einer gefährlichen Spitze. Dann schnitt er eine ganze Reihe dünnerer und weicherer Rohre, klopfte sie mit einem Stein von der Straße weich und zerlegte sie in lan, ge Streifen. Lai zuckte die Schultern, setzte sich zu ihm und half ihm, die Streifen zu Zöpfen zu flechten. „Mache sie gut und stark", wies er sie an. „Fünffach, und die wieder fünffach. Reißen sie, dann breche ich mir das Genick." Es bedurfte keiner' großen Intelligenz, zu erraten, was er vorhatte, doch sie erwähnte es mit keinem Wort. „Das reicht jetzt", meinte Fezius schließlich und wand das geflochtene Seil um seinen Arm. „Du wirst aber meine Lähmungspistole brauchen", meinte Lai leise. „Tötet die denn nicht?" fragte er. „Nicht bei halber Kraft. Die Ladungen, die ich dem Däumling auf Slikitter abgenommen habe, ließen mich hier auf unserer Welt wieder meinen eigenen Wert erkennen." Sie stand auf und streifte die Reste des Schilfs ab. „Ich helfe dir", bot sie sich an. „Gut. Dann also diese Lähmungspistole. Den Rest übernehme ich. Oder ich versuche es wenigstens", fügte er hinzu. „Es ist aber sehr gefährlich", wandte sie ein. „Ginge es nicht um Nofret..." Fast hätte er ihr gesagt, daß es ihm gar nicht um die Prinzessin, sondern einzig und allein um Offa ging, aber er schluckte es noch rechtzeitig hinunter. Fezius legte den Kopf in den Nac ken und sah zum Turm hinauf. Dann klemmte er sich das zugespitzte Schilfrohr unter den Arm.
Inzwischen waren die Wolken dicker geworden, und nur dann und wann drang ein Mondstrahl durch die graue Decke. Der Wind hatte aufgefrischt und pfiff um den Turm. Die wilden Griffs oben in den Horsten pfiffen zurück, und sie klatschten aufgeregt mit ihren Flügeln, wenn sie sich ein bequemeres Plätzchen suchten. Fezius kletterte die alten, verwitterten Steine hinauf. Den spitzen Stock hatte er neben Lais Lähmungspistole im Gürtel stecken, und die beiden Dinger störten ihn beim Klettern erheblich. Aber der Aufstieg war nicht gefährlich, denn Griffe zum Festhalten gab es reichlich. Nur hinunterschauen durfte er nicht. Schwieriger war es, so schnell über die Zinnen zu kommen, daß er den Angriffen der wilden Vögel entkam. Die wilden Griffs hatten keine gestutzten Krallen wie die meisten gezähmten und waren daher sehr gefährlich. Bis jetzt hörte er aus den Horsten hauptsächlich gedämpftes Schnarchen und leises Pfeifen. Fezius hatte für seinen Aufstieg die Leeseite des Turmes gewählt. Er biß heftig die Zähne aufeinander und kletterte erst über die Rosenblütenquader, dann über den grauen Portballinstein und gelangte schließlich keuchend zu den ersten übelriechenden Horsten. Hätten ihn in diesem Moment Hunderte oder Tausende von Griffs auf einmal attackiert, er hätte sich nicht einmal wehren können, denn ihm stülpte sich fast der Magen um, so stanken die Horste. Aber dann schwang er sich in einer gewaltigen Anstrengung über den Wulst des sackähnlichen Horstes, an dem er sich festhalten konnte. Er hatte sich vorgestellt, daß er sorgfältig unter den Tieren wählen würde, aber jetzt muffte er mit dem nächstbesten Tier vorliebnehmen. Einen Griffsattel brauchte er auch. Der Horst beherbergte ein halbes Dutzend Griffs, vermutlich eine ganze Familie. Das wuchtige Griffmännchen hockte in der Mitte, drei Junge duckten sich unter ihre Mütter, die wiederum von den Vätern beschützt wurden. Aber das alte Griffmännchen war ja gar nicht da! Um so besser. Er konnte sich also leicht ein Weibchen greifen. Vorsichtig zog er ein Bein über den Horstrand und schob sich so weit hinein, daß er nach der Lähmungspistole in seinem Gürtel greifen konnte. Ein junges Griff pfiff leise und bewegte die Flügel. Fezius verhielt sich ruhig. Die Mutter des Jungen legte einen Flügel darüber und grunzte beruhigend. Fezius spürte, wie ihm dicke Schweißperlen auf der Stirn standen. Ihm war übel; er kniff die Augen zu und schluckte. Er mußte also ein anderes Weibchen greifen. Marune sind, wenn sie nicht gerade brüten, ziemlich friedlich. Das heißt, im Ve rgleich zu den Männchen. Freundlich waren auch sie nicht. Er richtete die Waffe auf ein Weibchen und drückte den Hebel, wie Lai es ihm gezeigt hatte. Dessen Männchen grunzte ein wenig, aber das Junge gab keinen Ton von sich. Diese Marun sah recht passabel aus, und er konnte ihr das geflochtene Seil ohne weiteres als Behelfszaum umlegen. Als Sattel diente ihm die Jacke, die er von David Macklin bekommen hatte, und er band sie mit einem Seilende sorgfältig fest. Dann machte er einen Schiebeknoten und zog ihn an. Es war natürlich außerordentlich wichtig, ihn so anzulegen, daß die Schwingen des Tieres frei beweglich blieben.
Sein Mund war trocken. Lai hatte gesagt, die Lähmung hielte etwa zehn Minuten an; darauf hatte sie die Pistole eingestellt. Ein wenig ungeschickt setzte er sich auf das gewählte Griff und paßte genau auf, daß er unmittelbar hinter dem Hals hockte, um nicht beim ersten Flügelschlag abgeworfen zu werden. Da fiel ihm eine Bemerkung Offas ein, die dieser einmal über ein frischgezähmtes Griff gemacht hatte: „Bei allen Teufeln aus Amras Hölle wer das Griff gezähmt hat, war ein ganzer Kerl!" Und er war nur ein wahnsinniger Narr... Noch immer konnte er absteigen und den Turm hinunterklettern. Noch immer war Zeit genug, sich ohne gebrochenen Hals aus der Geschichte zurückzuziehen. Nein, ich kann nicht! sagte er zu sich selbst. Ich steige,ab! Er nahm einen Fuß aus dem Behelfszaum, lockerte... Da schlug das Tier einmal schwach mit den Flügeln. Der zweite Schwingenschlag war schon ein Donnern. Das Männchen öffnete die Augen, zählte seine Familie ab und musterte Fezius. Wieder bewegte sich das Griff unter ihm, und dann war auch schon ein Junges auf die Mutter hinaufgeklettert. Eine Schwinge hob sich wieder, und Fezius klammerte sich an den langen Hals, zog die Zügel an, die durch das Maul des Tieres liefen, und drückte ihm den angespitzten Schilfstock in die Flanke. Das Griff pfiff, schlug ein paarmal heftig mit den Flügeln und hob ab. Fezius stach noch einmal zu. Irgendwie bekam er die Füße wieder in den Steigbügel. Er zog an den Zügeln, so daß das Griff den Kopf anheben mußte, und versetzte ihm noch einmal einen Rempler. Das Tier schnarrte, pfiff und kreischte, worauf auch alle anderen desselben Horstes pfiffen, schnarrten und kreischten. Man wachte auf. Der Wind blies Fezius ins Gesicht. Nun hatten sich die Schwingen richtig ausgebreitet, aber das Griff schien noch immer nicht recht begriffen zu haben, was mit ihm geschehen war. Die Marun flog wie betrunken dahin; das Gewicht auf ihrem Rücken, das harte, scharfe Ding, das sich immer wieder in ihre Flanken bohrte, die Seile, die an ihrem Kopf zerrten - scheußlich, einfach scheußlich. Fezius wußte, was ihn erwartete, hatte sie erst einmal verstanden, was ihr zugestoßen war. Er konnte danach auf jeder Flugakademie Venudines als Akrobat auftreten. Das heißt, falls er überlebte... Er schaute hinunter und sah, daß Lai zu ihm in die Höhe starrte. „Geh hinein, du Närrin!" brüllte er hinunter. „Kerrrrummmpitty, Weib, verschwinde, sonst wirst du zu Griffutter!" Sie winkte ihm zu und eilte zur halbverfallenen Tür. Jetzt wachte die Marun erst richtig auf. Der Himmel drehte sich, die Erde drehte sich, ein Dutzend Monde drehte sich, sogar der Fluß und die zahllosen Tümpel drehten sich wie irr. Der Wind peitschte ihm aus allen Richtungen gleichzeitig entgegen. Das Griff versuchte, seinen langen Hals nach hinten zu drehen und die unangenehme Last zu beißen. Fezius mußte seine ganze Kraft aufbieten, um das Behelfszaumzeug nicht loszulassen und die Zügel nicht zu verlieren. Sie schossen miteinander der Erde entgegen. Im letzten Moment schlug das verängstigte
Tier heftig mit den Schwingen, stieg steil in die Höhe und warf sich dann auf die Seite. So hing Fezius nun in den Seilen, und was blieb ihm anderes übrig, als wieder seinen Stock anzuwenden? Das Griff kreischte, und er stach erneut zu. Das gefiel ihm selbst auch nicht besser als dem Tier, aber es war nötig, der Marun zu zeigen, wer hier der Herr war. Sie erwies sich als ein recht ungebärdiges Ding, schlug um sich, keilte richtig aus und kreischte dazu. Ihm wurde schlecht, und er gab das, was von dem guten, irdischen Essen noch in seinem Magen war, wieder von sich. Endlich, fast wagte er es nicht zu glauben, hielten ihn gleichmäßige, kräftige Flügelschläge auf einer angenehmen Ebene. Aber in diesem Augenblick des Stolzes kam ihm eine schreckliche Erkenntnis: Das Männchen der Marun versuchte seine Gefährtin zu retten! Er duckte sich, als er den Luftzug der Schwingen und das Sausen der ausholenden Klauen fühlte. Verzweifelt drückte er dem Tier die Absätze in die Flanken, um dem Männchen auszuweichen, das ihn aus dem Behelfssattel zu stoßen versuchte. Das Weibchen hatte er bezwungen, aber ein junges, kräftiges Männchen war ein furchtbarer Kampfpartner. Der Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen, und er mußte sie für einen Moment schließen, denn sie brannten wie Feuer. Als er sie wieder aufmachte, sah er das Verhängnis quer vor dem Mond vorbeiziehen; das Männchen schien Fezius von vorn angreifen zu wollen. Oh, der Narr, der er doch war! Er riß die Lähmungspistole aus dem Gürtel, zielte notdürftig und drückte ab. Das Männchen faltete halb die Schwingen zusammen und segelte nach unten. Und nun stach Fezius dem Griff wieder den Stock in die Flanke, packte die Zügel fester und lehnte sich vor auf den Hals, als sei es der Honorable Lord Sunrise, mit dem er nun sprach und dem er sanfte Worte in die Ohren flüsterte. Er staunte über sich selbst, denn ein Gedanke an Lai und Sarah gab ihm zärtliche Worte ein. Die Marun zog über den Fluß und erreichte Mugu. Sie flog wundervoll gleichmäßig weiter, und er brauchte den Stock nicht mehr anzuwenden. Zum Andenken an die erste Begegnung hatte er die Marun Lady Midnight genannt, ein wirklich schöner, passender Name. Allmählich verstanden sie einander recht gut, wenn Fezius auch wußte, daß die Lady in dem Augenblick, wenn er sie frei ließe, zum GriffTurm zurücckehren würde. Trotzdem mochte er sie, und er beschloß, sie anzubinden, wenn er zu Fuß nach der Barke suchte. Es war nämlich nicht ratsam, bei Nacht mit einem wilden Griff in Parnasson zu landen, denn so viel Aufmerksamkeit und Aufsehen konnte er sich nicht leisten. Aber der Fluß unter ihm war leer. Endlich ging er hinunter, gab Lady Midnight keine Chance, ihm zu entkommen, und band sie an einem dichten, kräftigen Gebüsch fest. „So, du kleine Griffhexe! Du fange an, das Zaumzeug durchzubeißen! Ich hoffe nur, daß ich zurück bin, ehe du dich befreien kannst." Das ruhige Wasser war so grau wie Eisen. Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, daß er das Boot hier finden würde, traf ihn die Erkenntnis doch wie ein Schock. Er hatte so sehr gehofft, es möge dasein! Jetzt mußte er mit Lady Midnight nach Parnasson fliegen.
Zuvor mußte er aber Lai abholen, dann zum Theater von Varahatara weiterfliegen. Hoffentlich hatte Rodro, der Dreiste, nicht inzwischen die Insassen der Barke gefangengenommen ...
10.
Lady Midnight wurde ziemlich gefügig, nachdem sie begriffen hatte, daß ihr nichts anderes übrigblieb. Dafür benutzte er auch den zugespitzten Schilf stock kaum mehr. Das war erst wieder nötig, als sie in die Nähe des Griff-Turmes kamen, denn von dort hätte er die Dame sicher nicht mehr weggebracht. Sie strebte zum Griff-Turm, er wollte nach Parnasson. Die Dämmerung konnte nicht mehr fern sein. Seine Übelkeit war vergangen, und jetzt verspürte er einen gesegneten Hunger. Er erreichte Parnasson noch vor Einbruch der ersten Dämmerung und ließ Lady Midnight leicht gefesselt zurück, damit sie die Schilfseile nicht durchbeißen und davonfliegen konnte. Die Jacke zog er aber an und vergewisserte sich, daß seine Lähmungspistole sicher im Gürtel steckte. Dann machte er sich auf den Weg. „Amra sei Dank!" rief er, als er den Hof hinter dem Gasthaus betrat, denn ein Pfeifen, Schnarren und Kettengeklirr begrüßte ihn. Honorable Lord Sunrise hatte auf ihn gewartet. Den verschlafenen Wirt weckte er mit dem Messer an der Kehle auf. „Wo ist die Prinzessin Nofret? Schnell, sag es!" drängte er. „Ich wweiß wwirklich nichts", stotterte der Mann. „Hier war sie nicht, und man sagt, Soldaten suchten nach ihr. Aber ich weiß nichts, gar nichts!" Das reichte vorerst, und die Zeit, auf weitere Nachrichten zu warten, hatte er ja nicht. Auf Lord Sunrise, dessen gleichmäßiger Flügelschlag ungeheuer beruhigend war, flog er weiter, holte Lady Midnight ab und bestieg die Marun. Lord Sunrise begriff, daß sein Herr die Konkurrenz reiten wollte und stob ärgerlich pfeifend davon, doch Fezius beruhigte ihn schnell wieder, da es ja nur eine vorübergehende Maßnahme sei. Eine blasse, besorgte Lai erwartete ihn am Griff-Turm. Ihre Augen waren von tiefen, purpurnen Schatten umgeben, und sie tat ihm von ganzem Herzen leid. Von jetzt an würde alles sehr schnell weitergehen, und er brauchte als Begleiterin eine Person, die scharf reagierte und etwas ertragen konnte. Er erzählte Lai, daß er die Barke zwar nicht gefunden habe, daß aber die Zeit zu kurz gewesen sei, um das Theater von Varahatara zu erreichen; sie müßten also noch auf dem Fluß sein, meinte er. Die Sonne ging in strahlender Schönheit auf. „Sie werden noch auf dem Fluß sein, aber sie haben sich irgendwo am Ufer versteckt", meinte Fezius, war aber ein bißchen zornig, besorgt und enttäuscht.
Fezius rechnete sich genau aus, wie weit das Boot bis zum Einbruch der Nacht gekommen .sein konnte; Offa hatte sich dann ganz bestimmt am Ufer versteckt. Sie flogen auf den beiden Griffs die ganze Strecke ab, doch der Fluß war leer. Dann, auf einmal, deutete Lai nach unten. „Schau mal!" rief sie. Weiter flußabwärts sah Fezius ein flaches, breites Boot mit hochgeschwungenem Bug; es hatte weder Segel noch Ruder, und das Deck war mit Männern in glitzernden Uniformen besetzt. Das merkwürdige Boot bewegte sich rasch dem Ufer entgegen. Fezius blinzelte. „Woher kommen bloß diese aufgetakelten Laffen!" rief Fezius verblüfft. „Kerrrrummmpitty, der Fluß war doch leer!" Er lenkte Lady Midnight steil nach unten. Das seltsame Boot verschwand langsam im dichten Uferschilf. Die Griffs setzten auf dem Boden auf; Fezius sprang ab und rannte durch das dornige Buschwerk zum Ufer, und dabei schlitzte er sich die neue Hose ein ganzes Stück auf. Und da hörte er auch schon die vertraut rumpelnde Stimme: „Beim Schwarzen Max! Du bist sehr willkommen!" Mit einem Satz war Fezius in der Barke der Prinzessin. Das andere, fremde Boot lag längsseits. Das rote Gesicht Offas überzog ein strahlendes Grinsen. „Fezius, du alter Griffdieb! Bei allen Teufeln aus Amras Höllen, ich hätte dir schon einen Freiflug über die Silbernen Berge gegeben!" „Offa, du alter Angeber und Schurke, du!" Shim Gahnett, der Mann von der Erde, hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Er war der Inbegriff der wartenden Verzweiflung. Prinzessin Nofret sprach voll fieberhaften Eifers mit den Leuten im anderen Boot. Fezius sah siesich nun genauer an. Es waren stämmige Männer, die sich im anderen Boot zusammendrängten. Um das schwarze Haar hatten sie rote Tücher gebunden, und an ihren spitzen Ohren schwangen goldene Glöckchen. Augen und Zähne blitzten, und an den Gürteln trugen sie seltsame Waffen. Fezius hielt sie für überflüssig. Ihn interessierte die Frau am Bug, deren Bild er in vollendeter Klarheit in sich aufnahm. Ihr .blasses Gesicht lächelte sanft; von der Schulter hing ihr das weiße Schleiergewand, das sich ein wenig im Morgenwind blähte. In ihrem dunklen Haar funkelten zahlreiche kleine Juwelen. Ihr Mund hatte die Form und Farbe einer edlen Rosenknospe und war rot, weich und lockend. Und sie hielt ihm bewegt die Hand entgegen. „Noch mehr Freunde, meine liebe Nofret?" Die Prinzessin wandte sich um. „Nein... das heißt, ja... Wir sind in ihrer Hand... Ich weiß nicht recht..." „Bei mir bist du jetzt in Sicherheit, meine liebe Prinzessin." Fezius ließ sich von dem Lächeln nicht betören; ihn interessierte die Kette, die von einem Handgelenk der Frau hing, und das, was am anderen Ende der Kette war. Erst hielt er es für ein Schoßhündchen oder etwas Ähnliches, aber dann sah er, daß es ein kleiner Mann war, der wirklich noch ein ganzes Stück kleiner war als er selbst. Dieser Mann war in dunkelroten Samt gekleidet, stand gebückt da, hatte einen weißen
Spitzenkragen um den Hals und darüber einen Metallreifen. Leider zeigte der Spitzenkragen verdächtige rote Flecken. Der Kopf war im Vergleich zur Körpergröße viel zu wuchtig und vor allem völlig kahl. Darauf klebte eine lächerliche blaue Samtmütze mit einer glänzenden, bunten Feder, die an der Spitze abgebrochen war. Fezius war bei diesem Anblick entsetzt. „Wer sind denn diese Leute?" fragte Fezius die Prinzessin. Es klang etwas barscher, als er gewollt hatte, und die Prinzessin antwortete auch nicht. „Die sind eben angekommen", erklärte ihm Offa. „Die Dame behauptet, sie wolle uns helfen, Rodro zu entkommen. Sie mag ihn nämlich nicht." Etwas fiel prasselnd in die Büsche und fluchte laut und kräftig. Es war die landende Lai, die erhitzt und zerkratzt ankam. Mit einem Seufzer der Bewegung umarmte sie ihre Schwester. Fezius strich sich nachdenklich das Kinn. „Wir müssen auf die Flußmitte hinaus", sagte die Frau und nickte ihrer Mannschaft zu. Irgendwo begann irgend etwas zu brummen, dann zu spucken, und schließlich schäumte unter dem Bug weißes Wasser auf. Fezius tat einen Satz Vorwärts. „Wir können nicht auf den Fluß hinaus! Rodros Patrouillen sind überall! Sie würden uns ja sofort entdecken." Die Frau lachte. „Ich fürchte, du verstehst nicht ganz. Die Prinzessin hat versucht, nach Sharnavoy durchzukommen, und ich kann sie dorthin bringen." „Du kannst das?" rief Lai, und ihre Augen blitzten gefährlich. „Natürlich kann ich das. Die Prinzessin Nofret ist eine ungeheuer wichtige Persönlichkeit. Red Rodro ist nicht gut genug für sie. Was weißt du schon von ..." Und dann zog sie an der Kette, so daß der kleine Mann einen Satz tat und quäkte. „Ruhig, Soloman", herrschte sie ihn an. „Du bist in Gesellschaft eines anderen Porteurs, der Hexenprinzessin Lai." Boot und Barke hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und zogen stromaufwärts. Fezius sah keinen solchen Antrieb wie bei den irdischen pferdelosen Wagen oder den fliegenden Häusern der Slikitter. Er schaute nach oben. Eine Staffel Griffs zog drohend über ihnen weg. Die Morgenfrische war nun schon in die Hitze eines sonnigen Tages übergegangen. Die Boote zogen weiter auf den Fluß hinaus, und die Griffs oben flogen eine Schleife. „Du Närrin!" herrschte Fezius die Frau an. „Jetzt bekommt uns Rodro ganz bestimmt!" Sie lachte; es klang nicht musikalisch, sondern zynisch amüsiert. „Deine dummen Bemerkungen kannst du für dich behalten, Kleiner", antwortete sie und musterte Fezius und Lai. „Ah, ich sehe eure Kleider. Du und die Hexe, ihr seid ausgemachte Einfaltspinsel! Ich weiß, Wo ihr gewesen seid. Kommt mir nicht in den Weg, sonst würde es euch ewig leid tun!" Lai lachte nur. „Fezius, ich bin wirklich froh, daß du wieder da bist", sagte Offa. „Uns steht ein Kampf bevor. Wir würden, glaube ich, besser die Frauen in Deckung bringen." Fezius musterte seinen Riesenfreund voll herzlicher Zuneigung. „Ich glaube nicht, Offa, daß es zu einem Kampf kommt." Er deutete mit dem Daumen auf die Frau und redete so
laut, daß Lai und die Prinzessin es hören mußten. „Das ist keine gewöhnliche Frau, die ihr euch da aufgehalst habt, Offa. Das ist eine gefährliche Schlange, nämlich die Contessa Perdita Francesca Cammachia di Montevarchi selbst!" Lai nickte grimmig dazu. „Na, und?" fragte Offa erstaunt. Fezius lachte. Ihm taten die Seiten weh, so lachte er. Die Boote hatten nun die Flußmitte erreicht, und die Griffstaffel rauschte in Baumhöhe über ihnen hinweg. Fezius suchte sich den Führer aus, einen bulligen Kerl mit schwarzem Bart. Dann hörte er zu lachen auf. „Das ist ja Rodro höchst peräönlich!" rief er. Jetzt lachte wieder die Contessa. „Vor Rodro, dem Dreisten, brauchst du dich nicht zu fürchten, Kleiner. Im Vergleich zu meinen Kräften ist er nur ein elender Schwächling." Wieder zerrte sie an der Kette, so daß Soloman, der kleine Kerl, hüpfte und keckerte. „Das ist meine Macht", erklärte die Contessa. „Diese Lächerlichkeit von einem Halbmenschen. Ein Porteur, ein von Gott gegebenes Talent, das mir geschenkt wurde!" Sie berührte einen Knopf an dem Kettenarmband, und der kleine Soloman quiekte und wand sich wie ein an die Angel gegangener Fisch. „Nur damit du's nicht vergißt, Soloman, verstehst du?" Vor so viel Gemeinheit wurde Fezius fast übel. Neben sich hörte er Lai sagen: „Die müssen alles die Boote, die Mannschaft und die Contessa durch ein Tor gebracht haben, aber ich kann es nicht fühlen." Die Contessa schrie ihrer Mannschaft einen Befehl zu, und die Boote steuerten wieder dem Ufer entgegen. „Die Strömung ist hier stärker, als wir gedacht haben", erklärte Offa. „Sie ließen sich viel zu weit flußabwärts treiben!" rief Lai erregt. Sie war darüber sehr erleichtert, daß sie ihre Kraft noch hatte. Soloman quiekte wieder, weil die Contessa an ihm zerrte. Er deutete stromaufwärts, seine verrunzelte Hand zitterte. Langsam drehten sic h Boot und Barke und zogen stromaufwärts. Die Griffs waren jetzt so niedrig, daß gelegentlich ein Flügelschlag das Wasser aufsprühen ließ. Die Contessa runzelte die Stirn, und ein besorgter Zug huschte über ihr schönes Gesicht. „Beeilt euch doch, ihr Narren!" schrie sie. Fezius wußte nicht recht, was er nun tun sollte. Die Montevarchi schien nichts Gutes im Schilde zu führen; Rodros Rache war aber auch zu fürchten. Lai berührte leise seinen Arm. Sie sah fast verzweifelt drein. „Ich glaube nicht...", stammelte sie. „Ich weiß nicht... Ich spüre das Tor, ein massives Loch durch die Dimensionen, aber ich glaube nicht, daß es nach Sharnavoy führt!" Die Contessa lachte hinterhältig. Sie warf den Kopf zurück, und ihre Augen funkelten wie die eines bösartigen Tieres. „Sharnavoy! Ihr Narren, ihr Dummköpfe! Ich brauche diese Frau Nofret, und ich werde sie auch bekommen. Aber meine Macht gilt nichts in Sharnavoy ... Noch nicht!" Prinzessin Nofret sprang entsetzt auf. „Ihr alle wollt mich! Ihr wißt doch, ihr wißt doch!"
Sie klammerte sich verzweifelt an ihre Schwester Lai. „Lai, meine Schwester, nimm mich von hier weg, und bringe mich nach Sharnavoy!" flehte sie. Lai schüttelte wie benommen den Kopf. Unter ihren geschlossenen Lidern quollen zwei dicke Tränen hervor. Fezius ahnte, daß dieses Tor, so riesig es auch sein mochte, nur in eine Dimension ging, und es war nicht die von Sharnavoy. Soloman, der hündchenhafte Porteur, würde sie alle zusammen durchbringen und in die Höllenwelt der Contessa. Das hatte ihm David Macklin in Ne w York erzählt. Ein Pfeil bohrte sich in das Deck vor Solomans Füßen. Kreischend hüpfte er davon, soweit seine Kette reichte, und dabei stand Schaum vor seinem Mund. „Ruhig, Männchen, ruhig", mahnte ihn giftig die Contessa. Fezius war eigentlich recht erstaunt, daß sich die Montevarchi so gar nicht maskiert hatte. Sie hatte eine sexuell aufreizende Art, die er verachtete. Er hoffte, daß eine so unwichtige Kleinigkeit wie eine zu große Strömung im Fluß sie so aus der Fassung bringen möge, daß sie eine ernstliche Ungeschicklichkeit beging. Die Griffstaffel mit Rodro war inzwischen weitergeflogen. Besser ein schneller, heftiger Kampf mit Rodro, überlegte Fezius, denn da konnte er Lais Lähmungspistole benutzen, als die spukhafte Ungewißheit einer fremden Dimension. Fezius drückte Lai beruhigend die Hand und wisperte ihr zu: „Lai, benutze deine Lähmungspistole gegen Rodro. Offa und ich nehmen uns dessen Waffenknechte vor, aber es hängt alles von dir ab." Sie drückte ihm zustimmend die Hand, und darüber war er froh. Die Griffs kamen zurück, und sie pfiffen und schnaubten. Aber Rodro, der Dreiste, war nicht als erster auf Deck. Fezius mußte zugeben, daß sie sich recht gut hielten. Einer der Waffenknechte und kleinen Ritter nach dem anderen lenkte sein Griff herunter, stieg ab und schickte sein Tier nach oben, wo ein Aufpasser kreiste. Jede gute Technik, selbst bei Feinden, fand Fezius' ungeteilten Beifall. Er wünschte, Rodro wäre früher gekommen. Als er endlich landete, überraschte ihn der undurchschaubare Palans, denn Rodro stieg ab, trat vor die Contessa und machte vor ihr eine tiefe Verbeugung. Sie lächelte zuckersüß. „Mein lieber Palans Rodro, wie froh bin ich, daß du endlich angekommen bist! Ich bin zwar nur eine arme Frau, aber ich habe deine Prinzessin Nofret für dich gefangen. Du bist gerade rechtzeitig gekommen!" Dieses elende Luder; diese zuckersüße, falsche Schlange, dachte Fezius erbitterti „Perdita, du siehst so reizend aus wie eh und je! Ich sehe schon, du hast hier die Prinzessin, den verräterischen Ritter und die Hexe antreten lassen. Hahahah!" Rodro tätschelte sein Schwertgehänge. Fezius folgte der Bewegung und erkannte einen vertrauten Schwertgriff. Rodro lachte. „Renegat! Deine Klinge trägt meine Tugenden weiter!" sagte er. „Einmal wird es sich in deine Gedärme bohren", meinte Fezius beiläufig. „Lai, es geht los. Das hier dauert schon viel zu lange." Lai legte ihre Pistole an und drückte ab. Rodro warf einen Arm in die Höhe, und auf
seinem Gesicht zeichnete sich eine verständnislose Angst ab. Die Montevarchi lachte schallend. „Es geht nicht, Fezius!" rief Lai. „Natürlich geht's nicht, du Dummkopf", krächzte die Contessa. Es klang fast so, wie wenn sich eine Tür an rostigen Angeln dreht. „Habt ihr elenden Narren auch nur eine Sekunde daran gedacht, daß ihr mir überlegen seid? Meine Welt weiß, wie man sich schützen kann. Wir sind von einem elektromagnetischen Feld umgeben, das alle Slikitterwaffen ausschaltet." Fezius mußte ihr zugestehen, daß sie ihre Sache nicht ungeschickt machte. Da sie nicht mit der Prinzessin in ihre eigene Welt verschwinden konnte, hatte sie Rodro als alten Freund begrüßt. Die beiden schienen Hand in Hand zu arbeiten. Und jetzt gab die Montevarchi vor, sie habe die Prinzessin ihm zuliebe gekapert. Die Situation war eine einzige Ironie wenigstens für einen Mann wie Fezius. Doch sein ganzer Humor nützte im Moment nicht viel; er konnte es höchstens mit Humor aufnehmen, wenn man ihn jetzt sofort umlegte. Offa bewegte sich langsam auf ihn zu. Seine Axt hing bereit in seiner Hand. Mit Offa hinter und Lai neben sich fühlte Fezius sich schon wieder wohler. „Rodro und die Contessa werden sich wegen meiner Schwester streiten", sagte Lai. „Das nützt uns aber nichts", flüsterte er zurück. „Zuerst erledigen sie uns." Rodro und die Montevarchi hatten untereinander etliche Schmeicheleien ausgetauscht; sie schienen sich keine Gedanken darüber zu machen, wie sie den Sand aus ihrem Getriebe entfernen konnten, der im Moment ihre Pläne störte. Fezius, Offa und Lai konnten sie durch ihre Knechte umbringen lassen. Auch Gahnett mußte man töten. „Ich habe dich sehr vermißt, Perdita", flötete Rodro. „Ich war anderweitig beschäftigt", erwiderte die Montevarchi überheblich. „Du weißt ja, daß meine Geschäfte auch in andere Dimensionen reichen. Du wolltest meine Hilfe bei der Einrichtung deines eigenen Portals - künstlich oder organisch - und ich habe dir geholfen. Ich habe dir die Prinzessin Nofret gebracht und..." Rodros Gesicht lief rot an. „Jawohl, und genug davon!" rief er. „Nofret ist wohl kein Porteur, oder?" fragte Lai Fezius. Das hatte Nofret gehört, die ihre Schwester ansah und zu schluchzen begann. „Nun, wir wollen zurückkehren", sagte Rodro barsch und machte dem Anführer seiner Leibgarde ein Zeichen. „Die Leute da erledigt ihr..." „Der Mann Offa ist berüchtigt, Herr", antwortete dieser unbewegten Gesichts. „Er wird ..." „Ein paar Pfeile in ihn hinein, los, Narr!" schnappte Rodro. Er ging auf Nofret zu, lachte breit und voller Leidenschaft, und sein Bart sträubte sich. „Ah, meine süße Braut! Wie sehr habe ich mich nach dir gesehnt, und nun hat man dich endlich gefunden!" Die Prinzessin Nofret tat einen Schrei der Verzweiflung. Rodro lachte noch immer. „Helft ihr, ein Griff zu besteigen", fauchte er einen seiner Männer an. „Willst du dir, Palans Rodro, nicht die Hexe vom Hals schaffen?" säuselte die Contessa.
„Warum denn? Sie ist ein Porteur. Das entdeckte ich, als sie mit dem falschen Ritter nach Slikitter verschwand. Aber die wird nie für mich arbeiten, das weiß ich. Ich will und brauche sie auch nicht, solange ich Fislik und seine Maschinen habe." „Danke, Rodro." „Ich nehme deine Gabe mit größter Dankbarkeit an, Rodro." „Na, schön... Laßt also das Hexenweib gehen", befahl er seinen Leuten. Fezius sah im Geist Lai schon angekettet wie Soloman ... Lai tat einen Schrei, doch dann schwieg sie und kaute an ihrer Unterlippe. Fezius legte seinen Arm beruhigend um ihre Schultern. Sie zitterte wie ein junges Griff, das zu weit und mit zu schwerer Last geflogen war. Soloman hüpfte keckernd und schnatternd auf Deck heru m. „Gib doch endlich Ruhe, Männchen", fauchte die Contessa. „Wir haben jetzt fast das Tor erreicht", flüsterte Lai Fezius ins Ohr. „Es ist sehr groß." Sie richtete sich auf und schien ihre Kräfte zu sammeln, um sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. Fezius spürte die geballte Energie, mit der sie sich auflud. „Es ist ein sehr großes Tor, aber daneben ist noch eines, ein viel kleineres, nur ein Spalt neben dem großen Tor ..." Um sie herum war Wasser; sie glitten zwischen flachem Ufer und dichtem Buschwerk dahin. Boot und Barke stemmten sich gegen die Strömung. Die Piratenmannschaft auf dem Boot der Montevarchi und die Waffenknechte von Rodro, dem Dreisten, auf der Barke starrten ihre Führer an, die sich unterhielten. Die Gefangenen standen ein wenig abseits und warteten darauf, umgebracht zu werden. „Bringt das Mädchen!" rief die Contessa. Lai hielt sich an Fezius fest. Offa hob seine Axt. „Da braucht ihr eine ganze Menge Pfeile, ehe ihr mich kampfunfähig macht", schrie er. Und mitten in dieser Flußlandschaft, zwischen den Bpoten mit ihren mißtrauischen, haßerfüllten, ängstlichen und mutigen Leuten lag ungefühlt, unsichtbar, unhörbar ein Tor in eine andere Dimension. Und neben diesem großen Tor befand sich, wie Lai gesagt hatte, ein ganz kleines, das in eine weitere Dimension führte. „Schnell!" drängte die Montevarchi. Soloman rasselte mit seiner Kette. Zwei Waffenknechte traten vor, um Fezius Lai zu entreißen. „Sobald ich an Bord bin, wird Soloman mich und uns alle durch das Tor portieren, auch die Prinzessin, meine Schwester!" „Ich weiß. Was ist mit dem Tor, das du gefühlt hast?" „Es ist sehr klein. Eine Person könnte aber..." „ Wohin führt es?" „Ich weiß nicht genau. Wie soll ich das wissen? Slikitter? Erde? Irunium oder Sharnavoy? Oder in eine feindliche Dimension?" „Kannst du unsere ganze Gruppe hinüberschaffen?" Da sie nicht sofort antwortete, fürchtete Fezius schon, sie sei ohnmächtig geworden,
doch dann flüsterte sie: „Es ist Sharnavoy!" Die Freude in ihrer Stimme erleichterte auch ihm das Herz. Er fühlte, wie neue Kräfte in sie einströmten. „Die Kraft, die Shim Gahnett von der Erde geholt hat, ist kein Geheimnis mehr für mich!" Und jetzt passierte Verschiedenes gleichzeitig. Das Boot mit der Contessa und ihrer Mannschaft schwankte wie ein Schatten oder Spiegelbild in bewegtem Wasser; die Montevarchi kreischte einen üblen Fluch, zerrte an Solomans Kette, so daß dieser wimmerte; Rodro tat einen Satz, packte die Prinzessin Nofret und stand feixend der Contessa gegenüber; zwei Waffenknechte packten Lai, und Offa hob seine Axt. Gahnett verschwand. Jetzt herrschte ein entsetzliches Durcheinander. Zweimal schlug Offas Axt zu. „Duck dich!" schrie Fezius und rollte über den Boden. Pfeile schwirrten und blieben federnd im Deck stecken. Offa drang mit erhobener Axt auf die Reihe seiner Feinde ein. „Nein!" schrie Fezius, dem ein überwältigendes Gefühl die Kehle zuschnürte. Bogen senkten sich, Pfeile schwirrten dem Riesen entgegen. Offa verschwand ... Die Pfeile ließen nur ein wenig Flußwasser aufsprühen. „Die Hexe!" schrie Rodro und griff nach Nofret. Sein Gesicht war purpurrot angelaufen. Magische Dinge geschahen rund um Fezius, doch sie erstaunten ihn nicht, da er ja die Erklärung dafür kannte und sie begrüßte. Trotzdem fröstelte er ein wenig. Rodro zog sein Schwert Friedensreich und schwang es über seine Braut hinweg gegen Lai, um sie zu töten. „Ich kann sie nicht alle schicken", stöhnte Lai. „Es ist nicht... Und er hilft mir dabei nicht!" , Ein wenig schwerfällig zog sich Fezius in die Höhe. Wenn sein Schwert Friedensreich zuschlüge, wäre alles zu Ende. Aber er hatte ja noch etwas von Alec bekommen. Was hatte er ihm darüber gesagt? Sicherung zurücklegen, das wußte er noch. Gut. Er duckte sich, stieß Rodro die Mündung der Pistole in den Bauch und drückte dreimal ab. Die Prinzessin Nofret verschwand. Er streckte die linke Hand aus. Ein vertrauter Schwertknauf legte sich ganz von selbst in seine Hand. Palans Rodro, der Dreiste, von der Burg Parnasson blubberte und spuckte Blut. „Du wolltest zuviel, Rodro!" schrie Fezius und schickte sich an, erneut abzudrücken. Aber da schrie ihn Offa an, und er fiel fast auf eine hölzerne Plattform. „Nicht, Fezius! Leg dein Schwert weg!" Er stand an einem goldenen Strand, an dem sich Palmen in einem sanften Wind wiegten, und im Hintergrund schimmerten purpurfarbene Berge. Die Luft war wie prickelnder Wein. Braune Männer und Mädchen schossen wie Fische im Wasser hin und her. Da stand nun Fezius, und er roch nach Rodros Blut. Da spürte er sich von einem weichen Körper angestoßen, und er stürzte kopfüber ins Wasser. Spuckend tauchte er wieder auf, hielt Schwert und Revolver in die Höhe und sah Lai lachend auf die Plattform taumeln.
„Willst du noch weiter, wenn wir knapp durchgekommen sind, Fezius?" „Dann sind wir als o auf Sharnavoy?" Lachend und plaudernd kehrten sie in Kanus zum Strand zurück zu ihren neuen Freunden. „Sie rechneten damit, daß wir beim Griff-Turm durchkämen", erklärte Lai. „Der Prinz wird bald hier sein." Sie zitterte vor freudiger Erregung. * Fezius verstand die Leute nicht, und er fragte Lai, ob sie nicht einen anderen Translator habe. Den seinen hatte er im Wirbel unter dem Sportgeschäft auf der Erde verloren. Lai meinte, man werde bestimmt einen für ihn finden. Nofret war nur bis zum nächsten Sandfleck gegangen und hatte sich gesetzt. „Lai, geh nur", sagte sie. „Ich weiß, wie dir zumute ist." „Und ich weiß, Nofret, wie du fühlst!" erwiderte Lai ernsthaft und voll verständnisvoller Zuneigung. Alle setzten sich, aber sie wußten noch immer nicht recht, was geschehen war. Sie wußten nur, daß sie sich auf einer anderen Welt befanden. Eine Schar Griffs schwebte herunter; Männer stiegen ab und rannten über den Sand. Nofret stand auf. Er kam groß, blond, breitschultrig und stolz auf sie zu. Er war ein schöner Mann; seine Kleidung war weiß und rot, und ein Mantel lag um seine Schultern. An der Seite trug er ein Schwert, dessen Knauf reich mit Juwelen besetzt war. Der Prinz zog seine Prinzessin Nofret in die Arme. „HappyEnd", meinte Fezius und warf Lai einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sie hatte schon die Arme um eine etwas kleinere Ausgabe von Nofrets Prinzen gelegt und ging davon. Fezius sah ihr nach, und sein Magen krampfte sich doch ein wenig zusammen. Jetzt wußte er alles, und ein bißchen enttäuschend war es schon. „So, das ist also Peredur", sagte er. Offa kicherte. „Wenn die Contessa nach Sharnavoy zu kommen versucht", sagte Nofrets Prinz sehr prinzlich und bestimmt, „dann wird sie mit Feuer, Stahl und Vernichtung empfangen. Das weiß sie auch." »Das klingt ja wie eine Regierungserklärung", meinte Fezius ein wenig abfällig. Offa lachte dazu, wenn auch sehr rücksichtsvoll. Fezius fühlte sich als Ausgestoßener und nicht nur deshalb, weil die Mädchen um ihn herum alle Gefährten hatten. Er wurde in die allgemeine Festlichkeit nicht einbezogen. Er wollte nun wissen, was an Nofret gar so überwältigend sei. Lai lachte ein wenig amüsiert. „Ich erzählte dir doch von meiner Großmutter, und mich kennst du ja sowieso ..." „Ja, dich kenne ich." Sie wurde ein bißchen rot, und jetzt fühlte sich Fezius wieder wohler. Alle hörten nun zu, um das beizusteuern, was noch fehlte. Lai schien ein richtiger Kobold zu sein, doch Peredur mußte das mindestens schon
ahnen. Nun, bald würde er es bestimmt wissen. „Die Fähigkeit, Leute durch die Tore in andere Welten zu versetzen, also zwischen den Dimensionen zu transportieren, trat in unserer Familie sehr deutlich auf. Auch der Prinz hier stammt aus einer mit dieser Gabe gesegneten oder verfluchten Familie." „Lai, ich glaube, du hast eine Menge Glück", meinte Fezius ernst, und alle horchten auf, weil sie mehr hinter diesen Worten vermuteten. „Du bist ja auch ein feiner Kerl, Fezius", antwortete Lai. „Selbst wenn ... ah, das weißt du ja selbst. Die Kinder des Prinzen und Nofrets müßten also sehr tüchtig sein." „Kinder?" „Nun ja, natürlich. Woher, glaubst du, hatte ich diese Hilfe? Im Griff-Turm half das Kind. Es ist zwar noch ein bißchen jung ..." „Weib, das Kind ist noch im Mutterleib!" „Deshalb hat es ja auch gepfuscht. Diesmal hat es aber großartige Arbeit geleistet. Wir haben zusammen euch alle durch dieses kleine Tor gebracht und die Contessa und den armen alten Soloman bei ihrem großen Tor zurückgelassen. Ha!" „Deshalb wollte also Rodro unbedingt Nofret heiraten! Und die Contessa hatte von Anfang an ihre Finger im Spiel. Er wollte sich aus der Abhängigkeif der Slikitters lösen, und sie wollte ..." „Die Montevarchi will alles!" „Ja, natürlich", sagte Fezius und funkelte den Prinzen an. „Aber ich habe nicht bemerkt, daß du zur Hilfe herangeflogen kamst." Offa hob ein wenig die Axt. Lai hielt den Atem an. Peredur legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes. Nofret lächelte, um sie alle zu beruhigen. „Die Gabe bleibt in der Familie. Der Prinz ist, wie ich selbst, kein Porteur. Seine Mutter war es aber. Sie ist tot. Leider." Fezius kam sich wie ein Tölpel vor. „Nun ja, zum Teufel..." Aber eigentlich wußte er genauso wenig wie vorher. „Wo ist eigentlich Shim Gahnett?" fragte er unvermittelt. „Ich habe ja schließlich noch etwas zu tun." Er fand Lais Angebot reizend. „Gahnett kann ich auf die Erde zurückschicken, Fezius. Du mußt nicht gehen." „Stimmt. Aber Offa kann ein bißchen hierbleiben, bis es auf Venudine für ihn wieder sicher ist. Unser nächstes Turnier findet in den Drei Freien Städten von Tarantanee statt. Wenn Rodro dort ist, wird sich einiges ändern. Wir sind dann jedenfalls in Sicherheit." „Erstens brauche ich einen Translator, damit ich englisch verstehe", verkündete Fezius geschäftsmäßig. „Aber du kannst doch zur Hochzeit hierbleiben", sagte Lai verblüfft. „Du mußt doch gar nicht auf die Erde." „Das ist reizend von dir, Lai. Du brauchst aber nur das Portal zu finden, das sich durch die Dimension nach dem lieben, alten New York öffnet; dann kannst du mich mit Gahnett durchschicken." Er kicherte. „Und dir schicke ich dann ein Hochzeitsgeschenk." „Das ist süß von dir." Lai wußte noch immer nicht, was sie daraus machen sollte. Das machte Fezius Spaß, weil er eine ironische Herzlichkeit für sie fühlte.
„Glaubst du wirklich, daß du allein zurechtkommst, Fezius?" erkundigte sich Offa besorgt und wog seine Axt in der Hand. „Ich möchte wieder mal was zu tun haben." „Suche dir ein nettes SharnavoyMädchen und versuche mal zu leben, Oag Offa , du alter Angeber!" Offa lachte und ließ seine Axt kreisen. „Ich gebe nie an, Fezius!" widersprach er. „Aber...", wandte Lai ein. „Lai, suche mal das Tor zur Erde. Dann sagen wir einander Lebewohl. Oh, und vielleicht kannst du dir auch mal ein Hochzeitsgeschenk für mich überlegen." „Für dich?" „Hm. Für Sarah und mich."
ENDE