Mia Arrow
Das Tor zur Hölle Irrlicht Band 317
Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf: U...
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Mia Arrow
Das Tor zur Hölle Irrlicht Band 317
Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Um Mitternacht mußte er in Aikbury sein. Die beiden Scheibenwischer versagten gleichzeitig den Dienst. Von einer Sekunde auf die andere konnte Walter nur noch etwas erkennen, wenn ein Blitz aufzuckte. Zum Glück folgten sie hintereinander in raschen Abständen. Walter fuhr weiter. Um Mitternacht, hatte die Frau gesagt. Walter neigte sich über das Steuer. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Er würde nicht aufgeben. Er würde es schaffen. Bald würde er in Aikbury eintreffen. Länger als zwei Kilometer konnte es bis dort nicht mehr sein. Als der Wagen vornüber kippte, löste sich aus Walters Mund ein lauter Schrei. Um ihn herum wurde es dunkel. Er sah nicht mehr die Blitze, die in kurzen Abständen aufzuckten, und er hörte auch nicht mehr den dumpfen Donner. Die Dunkelheit war absolut…
Walter Smith war Professor an der Universität von London. Mit einunddreißig Jahren war er einer der jüngsten Hochschullehrer Großbritanniens. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn vom Aussehen her eher für einen Studenten. Er war groß, kräftig und sportlich. Zum Haareschneiden nahm er sich selten Zeit. Erst wenn ihm die braunen Locken über den Hemdkragen gewachsen waren, ging er zum Friseur. Außer bei offiziellen Anlässen, wo ein Anzug vorgeschrieben war, trug er immer nur Jeans. Walter lehrte Geschichte. Sein Spezialgebiet waren die Kelten. Jenes Volk, das über Jahrtausende hinweg einen großen Teil Englands und Europas beherrscht hatte. Sie hatten eine Schrift von seltsamen geometrischen Zeichen hinterlassen, die bisher kein Mensch hatte entziffern können. Ihre Sagen von Hexen und Zauberern, von Helden und Verrätern, von hehren Göttern und den dunklen Mächten der Unterwelt waren mündlich von einer Generation an die nächste weitergegeben worden. Walter hatte sie gesammelt und in Büchern veröffentlicht. Seit Jahren versuchte er nun schon, die alten Schriftzeichen zu entziffern. Er kam damit nicht weiter, weigerte sich aber, einfach aufzugeben. Es war ihm, als hinge sein Leben davon ab. Sogar in dem heißesten Sommer dieses Jahrhunderts, als alle Welt in die Ferien gefahren war, beschäftigte er sich damit. Es ließ ihn nicht los. An einem Samstagnachmittag erkannte er, daß die Zeichen ihm für immer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben würden. Er kam trotz aller Bemühungen nicht hinter ihr Geheimnis. Zornig warf er Bücher und Pergamente auf den Arbeitstisch. »Barbara«, rief er. Niemand antwortete.
Ihm fiel ein, daß Barbara zu ihrer Mutter gefahren war. Er verließ die Wohnung. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Walter ging an der Themse entlang. Der Fluß wälzte sich trübe durch die Millionenstadt. Die Hitze war wie ein Feind, der die Menschen umzingelte. Sie waren wie betäubt von der stickigen Glut. Nach ein paar Kilometern blieb Walter abrupt stehen. Er wurde Zeuge eines seltsamen Schauspieles. Ein Mensch stürzte sich kopfüber von einem riesigen Kran, der am Ufer der Themse aufgebaut war, in die Tiefe. Die Hände hatte er dabei im Nacken verschränkt. Im allerletzten Augenblick, nur wenige Zentimeter über dem Erdboden, riß ein Gummiseil das arme Wesen an den Füßen auf die Plattform zurück. Ungehindert von der unerträglichen Hitze rannte Walter, so schnell er konnte, zu dem Kran. Glaubte er doch an ein ungeheuerliches Verbrechen, das da vor den Augen der Öffentlichkeit und am hellichten Tag passierte. Im gleichen Augenblick, als Walter keuchend bei dem Kran anlangte, trat ein Jugendlicher aus einem Fahrstuhl, der an der Außenwand des Krans angebracht war. Der Junge strahlte. »Ich sage dir, so etwas hast du noch nicht erlebt«, rief er. »Das ist ein absolut wahnsinniger Kick. Als würde sich die Erde unter dir auftun. Ich habe geschrien, laut geschrien. Ein Wahnsinn, ein echter Wahnsinn ist das BungeeSpringen.« »Wieso Bungee-Springen?« fragte Walter. »So nennt man das. Bungee. Hast du es etwa noch nie versucht?« »Nein, noch nie. Bungee. Ich habe noch nicht einmal davon gehört. Gibt es so etwas schon lange?«
»In New York gab es Bungee schon vor fünf Jahren. Klar, daß Bungee aus New York stammt. Da springen sie vom vierzigsten Stock runter bis zur Fifth Avenue. Ein Wahnsinn. Du mußt das unbedingt probieren. Das gibt den Kick.« »Ich bin nicht mehr so wild auf Kicks.« »Wenn du das nicht machst, versäumst du das Tollste, was es auf der Welt überhaupt gibt. Beim Absturz begreifst du auf einmal alles. Das Geheimnis der Welt. Was die Welt zusammenhält. Wenn du weißt, was ich damit sagen will.« »So ungefähr.« »Du kapierst plötzlich, was gewesen ist und was noch kommt. Die ganze Weltgeschichte, Tausende und Tausende von Jahren, schnurrt auf eine einzige winzige Sekunde zusammen. Das ist so, als würde ein Knoten platzen. Du stirbst und wirst neu geboren. Alles in einer Sekunde. Peng, macht es, peng, und du bist ein neuer Mensch.« »Wenn der Knoten platzt«, spottete Walter. »Der Knoten in dir«, rief der Junge. »Der Knoten, der dich blockiert. Du wirst es schon merken, wenn du springst. Es ist einfach der Kick. Ein Wahnsinns-Kick. Wenn du springst, dann weißt du genau, wovon ich spreche. Mit Worten kann man so was nicht erklären. Ich muß jetzt gehen. Tschüß bis zum nächsten Mal.« Der Junge lief die Uferstraße hinunter. Der Fahrstuhl stand noch immer vor Walter. Die Tür war weit geöffnet. Der Knoten, dachte Walter. Es hörte sich ganz verrückt an. Aber der Junge hatte gar nicht so unrecht. Walter hatte in letzter Zeit tatsächlich oft das Gefühl, als habe er einen Knoten in sich. Vielleicht kam es daher, daß er seit Jahren fast nur noch über Büchern saß. Früher hatte er Tiefseetauchen gemacht und war sogar auf die höchsten Berge der Welt gestiegen. Aber jetzt hatte er einen
Knoten in sich. Der Knoten war der Grund, weshalb er nicht weiterkam. Er war festgefahren. Sowohl was seine Beziehung zu Barbara betraf und was seine Arbeit anging. Der Knoten blockierte ihn. Er hinderte ihn am wirklichen Leben. Und wenn er versuchte, ihn loszuwerden? Der Sprung in die Tiefe. In den Abgrund. In dunkle Welten. Und dann zurückgerissen werden ins Licht. Sterben und neu geboren werden. Walter bezahlte ein paar englische Pfund. Er stieg in den Fahrstuhl. Eine Minute später befand er sich auf der Plattform des Krans. In der Höhe war die Hitze genauso unerträglich wie am Boden. Es herrschte zwar ein heftiger Wind. Aber er erfrischte nicht, sondern blies Walter Glutwolken ins Gesicht. Ein älterer Mann, der einen Buckel hatte und eine übergroße schwarze Sonnenbrille trug, legte Walter wortlos ein Gummiseil um die Fußknöchel. Tief unter sich sah Walter die Themse fließen. Sie kam ihm vor wie eine träge riesenhafte Schlange, die sich durch die Millionenstadt wand. Ihre Ufer waren gesäumt von Fabriken, Werften und Mietshäusern. Ganz London schien ein einziger Glutofen zu sein. Walter mußte plötzlich daran denken, wie er als Zehnjähriger zum ersten Mal von einem Zehn-Meter-Brett ins Schwimmbecken gesprungen war. Es war eine Mutprobe gewesen. Seine Freunde hatten am Beckenrand gestanden und gewartet, ob er es wohl wagen würde oder nicht. Er hatte es gewagt. Aber jetzt hatte er Angst.
Trotz der Hitze kroch ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Walter trat an den Rand der Plattform. Noch konnte er zurücktreten. Es war ein Wahnsinn. Sein Herz klopfte, als wollte es ihm die Brust sprengen. Die Knie zitterten erbärmlich. Er spürte das Seil an seinen Fußgelenken. Er würde nicht springen. Er war kein Wahnsinniger. Walter verschränkte die Hände im Nacken, wie er es bei dem Jungen gesehen hatte. Sie waren so naß, als hätte er sie in eine glitschige Brühe getaucht. Es war äußerst unangenehm. Er breitete die Arme weit auseinander. Er sprang. Er riß die Augen auf. Kopfüber stürzte er sich ins Bodenlose, in den Abgrund. In den Glutofen. In seiner Brust schien etwas zu reißen. Walter schrie laut auf. Vor Schmerz und vor Glück. Noch nie hatte er etwas Ähnliches gefühlt. Weder beim Tauchen in der tiefen See noch auf den Gipfeln der Berge. Noch niemals war er so frei gewesen, so losgelöst von allem Irdischen. Er wurde Teil des Universums, er gehörte dem Himmel wie der Erde an. Der Fluß unter ihm begann plötzlich in allen Regenbogenfarben zu glitzern. Purpur, Blau, Gelb, Grün, Orange – noch nie hatte Walter derart intensive Farben gesehen. Sie bildeten einen breiten Bogen aus metallisch aufflammenden Strahlen, der sich von einer Seite der Themse zur anderen spannte. Aus diesem bunten Bogen ragte ein mächtiges schiefergraues Urgestein heraus, auf das mit weißer Farbe geometrische Zeichen gemalt waren. Keltische Schriftzeichen.
Tod und Geburt, las Walter. Geburt und Tod, hämmerte es in seinem Kopf. Was ihm in jahrelanger Arbeit nicht gelungen war, enthüllte sich ihm in diesem einen Augenblick – er konnte die Zeichen lesen, die keltische Schrift. Tod und Geburt. Nur diese beiden Wörter. Dann zog sich das Gummiseil fest um seine Füße. Es ließ ihn in die Höhe schnellen, gab ihn gleich darauf wieder frei, riß ihn wieder hoch. Fallen und Hochziehen. Wie ein Gummiball sprang er auf und nieder. Drei, vier, fünf, sechsmal nacheinander. Dann stand Walter wieder auf der Plattform des Krans. Der glitzernde Regenbogen war zerrissen, die Themse wieder ein träger breiter Fluß. Kein Stein ragte aus ihren grauen Fluten hervor. Nur zwei mit Kohle beladene Schiffe und ein Ruderboot waren zu sehen. Der bucklige Mann, der Walter vor dem Sprung das Seil um die Füße gelegt hatte, streifte es ihm auch wieder ab. Er grinste schief. »Na, wie war es?« fragte er. Walter schüttelte nur den Kopf. Er konnte nicht sprechen. Nicht jetzt. Tod und Geburt, dachte er. Ende und Anfang. Warum aber nicht Anfang und Ende? Das Leben begann doch mit der Geburt und endete mit dem Tod. Nicht andersherum. Wie im Trance fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Als er den Asphalt unter den Füßen spürte, drehten sich die Themse, die Häuser und Werften vor seinen Augen. Um nicht umzufallen, mußte er sich gegen einen der schweren Eisenstützen des Krans lehnen. Sein Herz schlug ihm wild in der Brust. Nicht im gewohnten Rhythmus, sondern immer wieder stockend, um dann mit verstärkter Kraft neu einzusetzen. Schweiß perlte ihm von der
Stirn. Er sickerte ihm in schmalen Rinnsalen durch den Kragen seines Polohemdes auf die Brust. Als Walter sich das dichte braune Haar zurückstrich, merkte er, daß es so naß war, als habe er den Kopf unter einen dichten Wasserstrahl gehalten. Er atmete tief durch. Langsam beruhigte sich sein Herz. Etwas war mit ihm geschehen. Nie wieder, das wußte er, würde er der Gleiche sein wie vor dem Sprung. Walter ging zur Tower-Bridge. Mitten auf der Brücke blieb er stehen. Er legte die Hände auf die eiserne Brüstung und sah auf das langsam dahinfließende Wasser der Themse. Sein Blick ging hinüber zum Kran. Gerade sprang wieder jemand von der Plattform. Tod und Geburt. In dieser Reihenfolge.
*
»Walter, bist du es?« rief Barbara mit heller, fröhlicher Stimme. Sie kam aus der Küche ins Wohnzimmer. Um das hellblonde Haar hatte sie ein buntes Seidentuch gebunden. Sie war Sekretärin in einem Anwaltsbüro. Dort waren für die weiblichen Angestellten strenge Schneiderkostüme vorgeschrieben, weiße Hemdblusen und Schuhe mit halbhohen Absätzen. Sobald sie nach Hause kam, zog Barbara bequeme Kleidung an. An diesem Samstagnachmittag trug sie einen JoggingAnzug aus grüner Baumwolle. »Hallo, Barbara«, sagte Walter.
Barbara lief zu ihm. Sie war klein und grazil. Als sie ihm gerade von ihrem Besuch bei ihrer Mutter erzählen wollte, fiel ihr sein verändertes Aussehen auf. »Walter, was ist denn passiert? Du bist ja leichenblaß. Wo kommst du her?« fragte sie erschrocken. »Ich war beim Bungee-Springen.« »Bungee-Springen? Was ist denn das? Davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Man fährt mit einem Fahrstuhl auf die Plattform eines Krans und stürzt sich in die Tiefe. Ein Seil reißt einen wieder nach oben.« Barbara starrte ihn entgeistert an. »Das darf doch wohl nicht wahr sein, Walter. Bei so etwas machst du mit?« »Barbara, ich habe die Zeichen gesehen.« »Welche Zeichen?« »Die keltischen Schriftzeichen. Sie waren in weißer Farbe auf einen riesigen Stein gemalt, der aus der Themse ragte. Es war der Stein, der bei der heidnischen Kultstätte der Kelten in Aikbury steht. Der größte, um den andere Steine einen Ringwall bilden.« »Und diesem Riesenstein sind also plötzlich Flügel gewachsen. Er hat sich in die Luft geschwungen und ist in die Mitte der Themse geflogen.« »Spotte nur.« Barbara schüttelte den Kopf und sah ihn mitleidig an. »Barbara, ich habe die Zeichen wirklich klar und deutlich vor Augen gehabt.« »Ja, ganz deutlich, Walter. Das glaube ich gern. Und ich kann dir auch zeigen, wo das war«, rief sie und lief in Walters Arbeitszimmer. Gleich darauf kam sie mit einer Fachzeitschrift zurück, die Walter seit Jahren abonniert hatte.
»Hier, Walter, da hast du deinen keltischen Stein und deine keltischen Zeichen«, triumphierte sie und reichte Walter die aufgeschlagene Zeitschrift. Zu sehen waren Fotos von einer dreitausend Jahre alten keltischen Kultstätte. Aufgerichtete Steine bildeten einen Kreis um einen Steinriesen, der mit weißen Schriftzeichen bemalt war. »Wer hat den heiligen Stein beschmiert?« las Walter mit halblauter Stimme aus dem Artikel vor. »Weit über 3000 Jahre hat eine der geheimnisvollsten heidnischen Kultstätten Englands die Zeiten unbeschadet überstanden. Bis im Juni dieses Jahres einer der heiligen Steinriesen von unbekannten Tätern mit weißer Farbe beschmiert wurde.« Walter starrte auf das Foto, das den Stein zeigte. Das erste Zeichen bedeutete Tod, das letzte Geburt. Die anderen Zeichen konnte Walter leider nicht entziffern. »Wann ist die Zeitschrift gekommen?« fragte er Barbara. »Sie lag heute in der Post. Ich habe sie, als ich vom Besuch meiner Mutter nach Hause kam, aus dem Briefkasten genommen und dir auf den Schreibtisch gelegt.« »Dann kann ich die Zeitschrift also noch gar nicht gelesen haben.« »Wahrscheinlich hast du von den Schmierereien aus der Zeitung erfahren. Oder es stand in einer anderen Zeitschrift.« »Nein, Barbara, nein. Ganz bestimmt nicht. Das wüßte ich doch. So etwas hätte ich nicht vergessen. Ich habe den Stein mit den Schriftzeichen in der Themse gesehen. Er stand mir genauso klar vor Augen wie du in diesem Moment.« Barbara gab es auf. Sie umarmte Walter. »Laß uns nicht mehr davon reden«, bat sie. »Du denkst also, daß ich spinne.« Sie strahlte ihn an. »Ja, aber das macht nichts. Dann liebe ich eben einen Spinner.«
Wie sie so vor ihm stand, fragte Walter sich zum ersten Mal, ob er sie eigentlich noch liebte. Aber war sie nicht ein Mädchen zum Liebhaben? Kein anderes, das er kannte, war so fein und so zart wie sie. Keine hatte so schöne blaue Augen und seidenweiches hellblondes Haar wie Barbara. Sie besaß die Anmut einer schönen Blume und die Heiterkeit eines Kindes. »Walter, komm zu dir«, sagte Barbara mit leiser Stimme. Nein, er liebte sie nicht mehr. Er erkannte es plötzlich mit aller Klarheit. Vielleicht hatte er sie niemals wirklich geliebt. Im Grunde seines Herzens hatte er immer nach einer Frau gesucht, die ganz anders war als Barbara. Nach einer, die nicht fein und zart war, sondern wild und leidenschaftlich. Keine anmutige Blume, unschuldig und rein, sondern eine Frau, die tief in die Geheimnisse des Lebens eingedrungen war. Vor Walters innerem Auge tauchten auf einmal wieder die beiden Zeichen auf, die er entziffert hatte. »Tod und Geburt«, flüsterte er. »Was sagst du?« fragte Barbara. »Nichts.« »Du hast Tod und Geburt gesagt.« Er konnte nicht mit ihr darüber sprechen, daß es die Zeichen für Tod und Geburt waren, die auf den Stein gemalt waren. »Ich weiß selbst nicht mehr, was ich so rede«, meinte er. Barbara legte ihre zarten Hände auf seine breiten Schultern. »Liebster, Walter-Schatz, dieses Bungee-Springen hat dich anscheinend völlig durcheinander gebracht. Deine Nackenmuskeln sind ganz verspannt. Du legst dich jetzt aufs Sofa, und ich reibe dich mit Massageöl ein.« Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen und etwas Zeit zum Nachdenken zu finden, legte Walter sich bäuchlings auf die Couch.
Barbara holte das Massageöl aus dem Badezimmer und strich mit kreisenden Bewegungen über seine verspannten Muskeln. »Merkst du, wie gut dir das tut?« fragte sie. »Ja, es ist wunderbar.« »Atme ganz ruhig, Liebster. Entspanne dich. Mach’ die Augen zu.« Walter schloß die Augen. »00.777.468.468«, murmelte er. »Was ist?« Walter sprang auf. »00.777.468.468«, wiederholte er. »Was ist mit dieser Zahl, Walter?« Er lief, ohne zu antworten, zum Telefon und wählte die Nummer. Kurz darauf meldete sich die tiefe dunkle Stimme einer Frau. »Betty Brown.« Walter preßte den Telefonhörer fest an sein Ohr. »Hallo, wer ist da bitte?« rief die Frau, die sich mit Betty Brown gemeldet hatte. »Mein Name ist Smith, Walter Smith.« »Mister Smith, Sie wollten mich sprechen?« »Ja.« »Ich verstehe. Sie möchten mitmachen bei dem Fest.« »Ja.« »Seien Sie kurz vor Mitternacht bei mir. Wir gehen zusammen nach Aikbury. Aber kommen Sie nicht zu spät. Wenn Sie nicht rechtzeitig da sind, muß ich leider ohne Sie gehen.« »Ich werde pünktlich sein.« »Gut, ich werde Sie erwarten, Mister Smith.« Walter wollte noch so viel fragen. Er hörte jedoch ein Knacken in der Leitung. Die Frau hatte aufgelegt. »Was ist denn jetzt schon wieder passiert?« wunderte sich Barbara. Er schüttelte nur den Kopf. »00.777.468.468«, wählte er mit zitternden Fingern.
»Walter, was soll das alles?« rief Barbara. »Bitte sei still, Barbara.« Am anderen Ende der Leitung nahm niemand den Hörer ab. Walter versuchte es noch einmal, aber es meldete sich niemand. »Das war eine Frau, mit der du gesprochen hast, Walter, nicht wahr?« fragte Barbara. »Ja, eine Frau.« »Was wolltest du von ihr? Warum hast du sie überhaupt angerufen?« »Ich mußte es eben tun.« »Walter, komm zu dir.« »Sie hat gesagt, daß ich morgen kurz vor Mitternacht bei ihr sein soll.« »Wer hat das gesagt?« »Sie heißt Betty Brown.« »Wer ist diese Betty Brown, Walter?« »Ich weiß es nicht.« »Mein armer Schatz. Es ist noch viel schlimmer, als ich befürchtet hatte. Ich koche dir jetzt erst einmal einen Tee, und dann schläfst du dich aus. Morgen wirst du wieder einen klaren Kopf haben.« »Nein, Barbara, nein. Keinen Tee. Ich muß zu ihr fahren.« »Walter, höre auf mit diesem Unfug. Setz dich auf den Sessel und sage am besten gar nichts mehr. In zwei Minuten ist der Tee fertig.« »Ich kann nicht warten, Barbara.« »Eine wildfremde Frau bestellt dich also einfach zu sich nach Hause. Kurz vor Mitternacht. Und du hast nichts Eiligeres zu tun, als zu ihr zu fahren.« »Sie ist keine wildfremde Frau, Barbara.« »Ich weiß. Sie heißt Betty Brown. Aber du kennst sie nicht.« »So ist es.« »Walter, wo wohnt diese Frau?« »In Aikbury.«
»In Aikbury liegt doch die keltische Kultstätte mit dem Steinriesen, den irgend jemand bemalt hat.« »Genau.« Walter lief plötzlich ins Schlafzimmer. Er nahm eine Reisetasche aus einem Schrank. Wahllos warf er Wäsche, ein Hemd und einen Pullover hinein. Zum Schluß zog er den Reißverschluß zu. Barbara war ihm gefolgt. Als Walter die Tasche hochheben wollte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Walter, fahr nicht zu dieser Frau. Ich bitte dich.« »Ich muß es tun, Barbara.« »Sie wird alles Schöne zwischen dir und mir zerstören. Ich fühle es.« Er schüttelte ihren Arm ab. »Es tut mir wirklich leid, Barbara. Aber ich muß mich jetzt beeilen.« Walter hängte sich die Reisetasche über die Schulter. Sein Gesicht drückte die Entschlossenheit aus, sich unter keinen Umständen von Barbara zurückhalten zu lassen. »Walter, wenn du schon fahren mußt, dann nimm mich mit«, rief Barbara. »Nein, das ist ganz unmöglich.« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Walter, du liebst diese Frau, nicht wahr?« »Ich kenne sie ja nicht einmal.« »Das glaube ich dir nicht, Walter. Du spielst mir etwas vor.« Barbara kämpfte mit den Tränen. »Du müßtest eigentlich wissen, daß ich kein guter Schauspieler bin, Barbara.« Sie schluchzte auf. »Ich wollte das nicht sagen. Aber ich bin so unglücklich, wenn du gehst.« Walter zwang sich zur Ruhe. Sie war ein wunderbares Mädchen, und es war gewiß nicht ihre Schuld, daß er sie nicht mehr liebte.
»Walter, sag’ mir die Wahrheit«, flehte sie. »Liebst du mich noch?« Er stöhnte innerlich auf. »Walter, ich kann eher mit der Wahrheit als mit einer Lüge leben«, flüsterte sie verzweifelt. »Barbara…« Ihre Augen waren jetzt voll von Tränen. Eine rollte die Wange hinunter. »Wenigstens die Wahrheit, Walter«, hauchte sie. Er schämte sich, weil er kein Mitleid für sie empfinden konnte. »Es gibt keine andere Wahrheit als die, die ich dir schon gesagt habe, Barbara.« Sie war sekundenlang wie erstarrt. Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und warf sich bäuchlings auf die gelbe Bettdecke. Walter sah auf ihren unter heftigem Schluchzen zuckenden Körper. Er kam sich vor wie ein Unmensch, weil er dieses zarte, liebevolle Wesen unglücklich machte. »Barbara, bitte wein nicht«, bat er. Sie schluchzte nur noch mehr. Er zögerte noch einen kurzen Augenblick. Dann ging er wie einem inneren Befehl gehorchend mit schnellem Schritt aus der Wohnung. Vorsichtig ließ er die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Um kurz vor Mitternacht sollte er bei ihr sein, hatte sie ihm gesagt. Um an dem Fest teilzunehmen.
*
Walter kannte den Weg zu den berühmten keltischen Steinriesen gut. Er war im Laufe des Jahres des öfteren dort
gewesen, um Fotos zu machen und wissenschaftliche Studien zu betreiben. Die Kultstätte lag etwa fünf Fahrtstunden von London entfernt in einer abgelegenen und rauhen Gegend von Wales. Der Name des nächsten Ortes war Aikbury. Ein Kilometer dahinter waren die Steilküste und das Meer. Walter fuhr schneller als sonst. Er wollte noch vor Anbruch der Dunkelheit in Aikbury ankommen. Die Wege dorthin waren nicht befestigt. Nachdem Walter die Autobahn verlassen hatte, wurde die Fahrt recht beschwerlich. Von Kilometer zu Kilometer wurden die Wege schmaler und steiniger. Obwohl Walter jetzt sehr vorsichtig fuhr, schlugen immer wieder Steine von unten her gegen die Karosserie des Wagens. Walter vertraute auf die Robustheit seines Autos. Es war zwar schon über zwanzig Jahre alt, aber ein äußerst solides Modell. Ein Onkel hatte es ihm vererbt. Bisher hatte es ihn noch nie im Stich gelassen. Als Walter nur noch wenige Kilometer von seinem Ziel entfernt war, begann der Motor zu stocken. Gleich darauf setzte er ganz aus. Walter stieg aus. Er war kein praktisch veranlagter Mensch. Mit Autos kannte er sich überhaupt nicht aus. Er wußte gerade noch, wo der Motor war. Es begann schon zu dämmern. Walter ging um den Wagen herum. Dabei stieß er mit der Schuhspitze gegen den grauen Leib einer Schlange, die in Windeseile davonhuschte und unter einem Stein verschwand. Rechts und links des Weges weideten auf dürrem Gras Schafe und einige Ziegen. Am niedrigen Himmel, hinter graugrünen Hügeln, schien sich ein heftiges Sommergewitter zusammenzubrauen. Der feuchtwarme Wind, der vom Meer
her kam und sich Walter wie eine Filmschicht auf das Gesicht legte, trieb blauschwarze Wolkenberge über das Land. Zwei Elstern, die größer waren als alle Elstern, die Walter jemals zuvor gesehen hatte, flogen mit wildem Gekreisch so niedrig über seinem Kopf hinweg, daß sie ihn fast streiften. Gleich darauf schwangen sie sich in die Luft. Schließlich stürzten sie wie todessüchtige Kamikaze-Flieger auf einen umgestürzten Baum zu. Dort setzten sie sich auf einen kahlen schwarzen Ast, der wie ein grausiges Mahnmal hoch in die Luft ragte. Von einer Menschenseele war weit und breit nichts zu sehen. Walter beschloß, den Wagen stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Es konnte nicht mehr allzuweit sein nach Aikbury. Wenn er Glück hatte, würde er vielleicht doch noch auf einen Menschen treffen, der ihn mitnahm. Er war kaum ein paar Schritte gegangen, da fielen auch schon die ersten Regentropfen. Sie waren schwer wie kleine Gewehrkugeln. Kurz darauf wurden sie zu einem wahren Trommelfeuer. Walter lief zum Wagen zurück. Hinter ihm kreischten die Elstern. Der Wind blies ihm die Haare ins Gesicht. Er warf sich in den Fahrersitz, schlug die Tür hinter sich zu. Der Regen trommelte auf das Dach und gegen die Scheiben. Es sah nicht so aus, als würde das Unwetter bald aufhören. Walter versuchte noch einmal zu starten. Zu seiner Überraschung sprang der Motor auf Anhieb an. »Na also. Warum nicht gleich so«, sagte er und gab Gas. Der Regen wurde jetzt so stark, daß der schmale Weg zwischen den Weiden zu einem Bach wurde. Die Erde verwandelte sich in Matsch, in den die Räder einsanken. Es gelang Walter, den Wagen auf die Weide an seiner linken Seite zu steuern. Hier war der Boden fester. Inzwischen war es
stockdunkel geworden, so daß er die Scheinwerfer anmachen mußte. Blitze zuckten auf. Der darauffolgende Donner hörte sich an, als würde die Erde förmlich auseinanderbrechen. Walter fuhr schneller. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Um Mitternacht mußte er in Aikbury sein. Die beiden Scheibenwischer versagten gleichzeitig den Dienst. Von einer Sekunde auf die andere konnte Walter nur noch etwas erkennen, wenn ein Blitz aufzuckte. Zum Glück folgten sie hintereinander in raschen Abständen. Walter fuhr weiter. Um Mitternacht, hatte die Frau gesagt. Walter neigte sich über das Steuer. Zwischen seinen Brauen stand eine steile Falte. Er würde nicht aufgeben. Er würde es schaffen. Bald würde er in Aikbury eintreffen. Länger als zwei Kilometer konnte es bis dort nicht mehr sein. Als der Wagen vornüber kippte, löste sich aus Walters Mund ein lauter Schrei. Um ihn herum wurde es dunkel. Er sah nicht mehr die Blitze, die in kurzen Abständen aufzuckten, und er hörte auch nicht mehr den dumpfen Donner. Die Dunkelheit war absolut. Aber sie hatte nichts Beängstigendes, sondern umfing ihn wie ein Brett aus weicher Watte. Er verspürte keinen Schmerz. Die Zeit schien aufgehoben zu sein. Nach einer Weile wurde es wieder hell. Walter sah sich in der Luft schweben. Sanft, wie von Engelsflügeln gehalten. Ein paar Meter unter ihm, in einem Flußbett, lag sein Wagen. Ein dunkles Wrack. Die vordere Windschutzscheibe war zerbrochen, der Kühler eingedrückt. Oberhalb des Flusses, auf dem Rasen, grasten die Schafe und Ziegen. Nur von den beiden Elstern war nichts mehr zu sehen.
Auf einem vorspringenden Felsbrocken sah Walter sich selbst liegen. Er hatte die Beine angewinkelt. Der Kopf war zur Seite geneigt, die Augen waren geschlossen. Es sah aus, als würde er friedlich schlafen. Wieder zuckte ein Blitz nach dem anderen auf. Donner grollte. Der Regen fiel in Strömen. Aber er machte Walter nichts aus. Er berührte ihn nicht. In der Welt, in der er war, gab es keine Nässe und keine Trockenheit. Auch keine Gefahren und deshalb keine Angst. Walter überkam eine große Heiterkeit. Er genoß die völlige Schwerelosigkeit. Wie merkwürdig das alles war. Bin ich der Mensch dort, fragte er sich. Bin ich denn tot? Ja, das muß wohl so sein. Das ist mein Körper. Meine grüne Hose. Meine Schuhe. Mein weißes Polohemd. Der Verlobungsring an der rechten Hand. Ein schlichter goldener Reif ohne jede Verzierung, wie Barbara es gewollt hatte. Aus weiter Ferne war der leise Klang eines hellen Glöckchens zu hören. Es folgte wunderschöne harmonische Musik, ähnlich dem Klang einer Windharfe. Plötzlich erinnerte Walter sich, daß er um Mitternacht erwartet wurde. Seien Sie pünktlich, hatte die Frau gesagt. Sonst würde sie ohne ihn zu dem Fest gehen. Er meinte ihre dunkle Stimme zu hören. Die Heiterkeit verließ ihn. Statt dessen überkam ihn jetzt ein Gefühl grenzenloser Angst. Er mußte unbedingt zu dieser Frau. Nach Aikbury. Zu dem Fest. Zu dem heidnischen Stein, auf dem die Worte Tod und Geburt standen. Er war tot. Aber er würde nicht wiedergeboren werden. Wer tot war, konnte schließlich nicht noch einmal geboren werden. Es hätte Geburt und Tod heißen müssen. Aber nicht Tod und Geburt.
Die Musik brach abrupt ab. Walter spürte, wie er in eine enge Röhre hineingezogen wurde. Es war schrecklich. Er sträubte sich mit aller Kraft gegen den Sog, der ihn in die Röhre zog. Aber es half ihm nichts, daß er sich wehrte. Um ihn herum wurde es wieder dunkel. Nach einer Weile bemerkte er am Ende der Röhre einen schwachen Lichtschein. Die Helligkeit zog ihn mit aller Macht an. Er mußte zu dem Licht gelangen. Es wurde heller und heller. Endlich nahm es die Farben eines Regenbogens an. Zentimeter um Zentimeter schob Walter sich vorwärts. Mit den Schultern und mit den Hüften. Wie ein Bogen, der sich über einen dunklen Fluß spannte, war das Licht. Walter war sicher, schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Er wußte aber nicht mehr, wo und wann das gewesen war. Noch nie hatte Walter sich so angestrengt. Zum Licht. Er reckte den Kopf, bis es ihn schmerzte. Gar zu gern hätte er die Hand nach dem Licht ausgestreckt. Aber seine Schultern saßen fest in der Röhre. Um Mitternacht, hatte die Frau ihm gesagt. Er solle pünktlich sein. Walter schob den Kopf aus der Röhre. In das Licht. Das Licht. Er schrie hellauf. Es war wie der Schrei eines Neugeborenen.
*
»Hast du es gehört, John?« »Was soll ich gehört haben?« »Den Schrei. Es war ein Kind, das geschrien hat.« »Was du auch immer meinst. Es war der Wind.«
»Nein, John, es war ein Kind.« »Du immer mit deinem Kind. Überall hörst du Kinder weinen und rufen.« »Diesmal ist es aber wirklich eines.« »Genauso wirklich wie die letzten Male. Kann ich vielleicht etwas dafür, daß du kein Kind hast?« »Das habe ich dir niemals vorgeworfen.« John rieb sich mit der Faust die kantige Stirn. »Konntest du auch nicht. Mit einer anderen Frau hätte ich zehn Kinder gehabt. Es ist deine Schuld, daß wir keine Kinder haben.« »Nein, es ist weder meine noch deine Schuld, John. Der Himmel hat uns eben keine Kinder geschenkt.« »Der Himmel.« »Die Götter.« John lachte grob. Ruth legte den rechten Finger über ihre Lippen. »Pst, ich höre es weinen.« Sie lief zur Tür. Schon war John bei ihr. »Wo willst du hin, Frau?« »Zu dem Kind.« »Das Kind gibt es aber nur in deinem Kopf.« »Es ruft nach mir.« John riß die Holztür auf. Sie knarrte in den eisernen Angeln. Obwohl es noch lange nicht Mitternacht war, herrschte draußen Finsternis. Der Regen rauschte in Bächen vom Himmel. Kein einziger Stern war zu sehen. Ruth lauschte mit halboffenem Mund. Plötzlich stürzte sie ins Freie. »Ruth!« rief John. Sie hörte ihn nicht. »Ruth!« John warf die Tür hinter sich ins Schloß und rannte hinter seiner Frau her. Bald waren sie beide bis auf die Haut durchnäßt.
»Da ist es, da!« rief sie und streckte triumphierend den rechten Arm aus, um ihm die Richtung zu zeigen. Als ihr einfiel, daß John es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, griff sie nach seiner Hand. Es war eine tellergroße Pranke. Er stieß die wildesten Flüche aus. Zum hundertsten Mal verfluchte John jenen Tag, an dem ihm eingefallen war, mit seiner Frau aufs Land zu ziehen, um in der Einöde von Wales Schafe und Ziegen zu züchten. In die reine unverfälschte Natur, hatte er gesagt. Ruth war lange Zeit dagegen gewesen. Halb widerstrebend war sie ihm schließlich gefolgt. Sie hatten einen alten Hof gekauft und sich dort häuslich mit ihrem Viehzeug eingerichtet. Es war während der ersten Monate so gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er und Ruth waren wie die ersten Menschen gewesen. Sie hatten von dem gelebt, was die Natur ihnen gab. Es war nicht viel, aber doch genug gewesen. Nichts und niemand hatte die Idylle gestört. Bis Ruth Frauen aus der Umgebung von Aikbury kennengelernt hatte, die sich Priesterinnen nannten und einem heidnischen Zirkel angehörten, der sich auf die alte Religion der Kelten berief. John hatte Ruth den Umgang mit diesen Frauen verbieten wollen. War doch bis zu dem Zeitpunkt immer er es gewesen, der über ihr gemeinsames Leben bestimmt hatte. Aber plötzlich war alles anders geworden. Ruth hörte nicht mehr auf ihn. Er besaß keine Gewalt mehr über sie. Ob er sie bat, anflehte, anschrie, ihr drohte – sie tat nur noch, was sie wollte. Sie begann sogar über ihn zu lachen, ihn lauthals zu verspotten. Und sie wollte ihn nicht dabei haben, wenn sie sich mit den anderen Frauen traf. Sie war nicht mehr die Ruth, die er gekannt hatte.
Stark war sie geworden. Eine Frau, die die Magie beherrschte. Die in der Lage war, kraft ihres Willens zu heilen. Die behauptete, mit ihrem inneren, ihrem geistigen Auge in die Vergangenheit schauen zu können. Eine Frau war sie geworden, vor der John sich immer mehr zu fürchten begann. Die sich weigerte, den Hof und die Tiere und alles aufzugeben, was sie sich erschaffen hatten. Zurückzukehren in die große Stadt, das war sein Wunsch. Wo es keine heiligen Kultstätten, keine keltischen Riten und keine heidnischen Zauber gab. Zu Menschen, die in Mietshäusern wohnten, die einen Beruf hatten und abends Skat spielten. Die in Supermärkten einkauften und die sich amüsierten, wenn sie das Wort Magie hörten. Solle er doch gehen, hatte Ruth ihm gesagt. Sie werde für immer an diesem Ort bleiben, wo die Kelten vor über dreitausend Jahren ihr Heiligtum errichtet hatten. Und John war geblieben. Denn seine Liebe zu Ruth war noch stärker als seine Furcht und auch als seine Wut. Er konnte nicht weggehen ohne sie. Je öfter sie ihn dazu aufforderte, desto stärker fühlte er sich an sie gebunden. Er war von ihr abhängig geworden. Manchmal hatte er den Verdacht, daß sie ihn verhext hatte. Daß sie keine keltische Priesterin war, wie sie es immer behauptete, sondern eine ganz gewöhnliche Hexe. Eine von den Frauen, die man in früheren Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte. John wünschte manchmal, daß es diesen Brauch noch immer gäbe. Statt dessen aber konnte er nur noch fluchen und höhnen. Obwohl er nur zu gut wußte, daß es nichts nutzte und er damit nur seine Hilflosigkeit ausdrückte. Er griff jetzt fester nach Ruths Hand. Sie war nur halb so groß wie die seine. Und doch kam es ihm vor, als sei sie viel kräftiger geworden.
»Laß uns umkehren, Ruth. Sei vernünftig. Es gibt hier kein Kind«, erklärte John. »Pst. Wir sind ganz nah.« Als sei es hellichter Tag, führte Ruth ihren Mann durch die Finsternis zu einem Taleinschnitt. Normalerweise floß dort nicht mehr als ein Rinnsal. Der starke Regen hatte daraus ein reißendes Gewässer gemacht. »Paß auf, Ruth, geh’ nicht zu nahe an den Rand. Das Wasser hat die Erde unterspült. Es wird uns mitreißen«, warnte John mit lauter Stimme. »Halte nur meine Hand fest«, versuchte sie ihn zu beruhigen. Gleich darauf blieb sie stehen. »Was ist denn nun mit dem Kind?« höhnte John. Sie lauschte auf eine Stimme, die nur sie hörte. »Dort liegt es. Auf der anderen Seite des Flußbettes.« »Auf der anderen Seite. Das ist so ähnlich, als würde es auf dem Mond liegen. Denn bei diesem fürchterlichen Regen führt kein Weg über den Fluß. Es sei denn, du willst dich ertränken.« Ruth ließ die Hand ihres Mannes los. Bevor er sie daran hindern konnte, sprang sie leicht und behende auf einen Stein, der aus dem strömenden Wasser hervorguckte. Von dort aus hüpfte sie zu einem nächsten und wieder zum nächsten. Bis sie auf der anderen Seite des Flusses angelangt war. »Du, mein Kind«, flüsterte sie, als ihre Hand Walters Körper berührte. »Ruth«, gellte Johns entsetzter Schrei. Ruth legte Walter eine Hand auf die Stirn. Sie war kalt und naß. »Ruth! Ruth!« Sie neigte sich zu Walter hinunter. Kein Atemhauch streifte ihr Gesicht. Behutsam, leicht wie eine Feder, berührte sie mit den Lippen seine geschlossenen Augenlider.
»Ruth!« Sie richtete sich auf. »Er ist hier. Auf der anderen Seite. Beeil dich, John Bendley.« Wieder war lautes Fluchen zu hören. Wenige Minuten später war John bei seiner Frau. Ein Blitz zuckte auf. »Von wegen ein Kind«, schrie John außer sich vor Wut. »Das ist ein ausgewachsener Mann. Und ein kräftiger noch dazu. Er hatte einen Unfall. Da unten im Fluß liegt das Autowrack. Was geht uns der Mann überhaupt an?« »Wir müssen ihn ins Haus bringen.« »Ins Haus? Zu uns? Jetzt?« John lachte haßerfüllt auf. Ruth faßte ihn scharf ins Auge. Er hörte sofort auf mit dem Lachen. »Es geht nicht. Das mußt du doch einsehen, Ruth. Wir können ihn nicht ins Haus tragen«, sagte er. »Du wirst es schaffen.« »Nein, Ruth, das schafft kein Mensch.« »Du wirst es schaffen, John.« Er fühlte sich wieder einmal von ihr bezwungen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen fremden Mann in sein Haus zu bringen. Aber er mußte es tun. Weil sie es so wollte. Ihr Wille war stärker als der seine. John preßte die Lippen aufeinander. Diese Frau war keine Priesterin und keine Hexe. Sie war des Teufels. John hob Walter hoch und warf ihn sich über die linke Schulter. »Nimm jetzt meine Hand, John. Halte sie gut fest. Ich führe dich.« … »Wie ein lichter Engel. Ich weiß«, höhnte er, während er ihre Hand umfaßte. Mit der anderen stützte er den Körper des Mannes auf seiner Schulter. Als sie über die Steine stiegen, rutschte Walters Körper weg. John fing ihn im letzten Moment auf und trug ihn auf den
Armen weiter. Wankend und unter seiner Last fluchend brachte er ihn nach Hause. »Hier hast du dein Kind«, höhnte er und ließ Walters Körper auf eine Strohmatratze fallen. Sie lag auf dem Boden einer Vorratskammer. An den gekalkten Wänden, auf soliden Brettern aus Eichenholz, standen Krüge und Schüsseln mit frischgemolkener Schafsund Ziegenmilch. Daneben lagerten kleine runde Käse. In die meterdicken Steinwände waren zwei schmale Löcher, nicht größer als Schießscharten, eingelassen. Sie waren nicht verglast, so daß der Wind ungehindert eintreten konnte. Der Boden bestand aus schweren Steinquadern. Möbel wie Stühle oder Tische waren nicht vorhanden. Ruth neigte sich über Walter. John stand hinter ihr. Er hatte eine Öllampe angezündet. Der schwache Lichtschein beleuchtete Walters Gesicht. Es war wachsbleich. Die Augen lagen tief in den Höhlen. »Was habe ich dir gesagt – es ist ein lebloser Mensch, den ich ins Haus geschleppt habe. Die Mühe hätte ich mir sparen können«, sagte John ergrimmt. »Schweig!« »Sobald der Regen aufhört, bringe ich ihn dorthin zurück, wo ich ihn hergeholt habe.« »Wirst du wohl schweigen!« »Er bringt uns doch nur Ärger. Später wird man noch behaupten, daß wir es waren, die ihn getötet haben.« Ruth kniete vor die Strohmatratze nieder. Sie hatte der Öllampe den Rücken gewandt. Wo der Schein des Lichts hinfiel, leuchtete ihr rotes wild gelocktes Haar, das ihr bis auf den Rücken fiel, wie Kupfer auf. Sie nahm eine dünne goldene Kette, an der ein steinernes Amulett hing, von ihrem Hals. Nachdem sie es geküßt hatte, legte sie es Walter auf die Brust.
Danach hockte sie sich auf die Fersen und richtete den Oberkörper auf. Mit langsamen Bewegungen malte sie Walter das gleich geometrische Zeichen auf die Stirn, das auf dem Amulett angebracht war. »Das Hexenzeichen wird einen Toten auch nicht zum Leben erwecken. Tot ist tot«, höhnte John. Ruth achtete überhaupt nicht auf seine Worte. Ihr Gesicht zeigte gesammelten Ernst. Sie begann, mit gemessenen Schritten um die Matratze zu gehen. Es waren drei Kreise, die sie zog, und einer war kleiner als der andere. »In diesen geheiligten Kreis, wo alles Liebe ist, rufe ich die Geister der Kelten. Kommt als unsere Beschützer«, murmelte sie. John stieß einen Laut aus, in dem seine ganze Verachtung lag, die er für derartige Beschwörungen empfand. »Die Geister der Kelten. Da könntest du ebensogut den Herrn der Unterwelt anrufen. Damit er etwas zu lachen hat.« Um zu zeigen, wie sich das anhören würde, brach John in dröhnendes Gelächter aus. Ruth blieb dicht vor John stehen. Sie war eine stattliche Frau. Das rote Haar umrahmte mit wilden Locken ein längliches Gesicht mit hoher Stirn. Das Auffallendste darin waren die großen grünen Augen. Sie funkelten John an. »Geh, John Bendley!« befahl sie ihm mit fester Stimme. Er bäumte sich innerlich auf. Was war aus ihm geworden? Was hatte sie aus ihm gemacht? Seinen Stolz hatte sie mit Füßen getreten. »Ich bin dein Mann und gehe, wann ich es will«, donnerte er aufgebracht. »Du kannst mir nichts befehlen. Ich war Schwergewichtskämpfer und Goldwäscher. Ich bin zur See gefahren und habe in Kohlengruben geschuftet. Soll ich mir jetzt vielleicht von einer Frau befehlen lassen, wann ich zu
gehen habe? Aus meinem eigenen Haus, das ich mit meiner Hände Arbeit gebaut habe? Ich bin noch immer dein Mann, und du bist meine Frau. Solltest du das vergessen haben?« Er wollte Ruth grob an sich ziehen. Sie trat einen Schritt zurück. »Du wirst es nicht wagen, mich zu berühren. Nie mehr wirst du mich umarmen, John Bendley. Du bist nicht mehr mein Mann.« Er starrte sie entgeistert an. Seine Nasenflügel weiteten sich. Sein Atem ging hörbar. Die langen kräftigen Arme hingen ihm an den Seiten herab. Er hatte die schweren Hände zu Fäusten geballt. »Ich bin nicht mehr dein Mann? Das hast du gesagt?« »Warum gehst du nicht endlich, John Bendley? Ich brauche dich nicht mehr.« »Du brauchst mich nicht mehr. Sehr schön. Du brauchst mich also nicht mehr. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen. Aber wenn ich wirklich gehe, bist du in dieser verdammten verlassenen Einöde verloren. Hier kann keine Frau allein überleben. Auch du nicht, Ruth.« Sie warf einen lächelnden Blick auf Walter. In ihre Augen, die gerade noch so zornig geblitzt hatten, trat ein Ausdruck von weicher Zärtlichkeit. »Du irrst, John. Ich bin nicht mehr allein«, flüsterte sie. Sein Grinsen wurde zu einer häßlichen Fratze. »Was willst du mit einem Toten?« In diesem Moment kam von Walters Lippen ein leises Stöhnen. Ruth kniete sofort wieder vor ihm nieder und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Mein Kind«, flüsterte sie. »Was hast du da gesagt? Was ist das für eine Sprache?« rief John. Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war wie verklärt. »Es ist keltisch«, antwortete sie auf Englisch.
John zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Ich dulde diese Hexensprache nicht in meinem Haus.« Sie sah ihn mitleidig an. »Ist es dein Haus?« »Es war nicht sehr viel mehr als ein Stall, als wir hier einzogen. Ich habe daraus mit meinen Händen ein Haus gebaut.« Er streckte ihr wie zum Beweis seine riesigen roten Hände entgegen. »Also gut, John. Wenn du nicht gehen willst – möchtest du, daß wir dein Haus verlassen?« »Wir? Wen meinst du mit >wir« Ruth legte die rechte Hand auf das Amulett. Walters Brust hob und senkte sich kaum merklich. »Er und ich.« »Du glaubst wohl, daß er dir gehört?« »Ja«, hauchte Ruth. »Er gehört mir.« John blickte haßerfüllt auf diesen Mann, den er in sein Haus getragen hatte. Er würde ihn töten. Noch nie in seinem Leben hatte er einen anderen Menschen getötet. Aber diesen würde er töten. Kein anderer Mann durfte ihm Ruth wegnehmen! Es würde aussehen wie ein Unfall. Ruth würde niemals erfahren, daß er es gewesen war, der diesen Mann getötet hatte. Er mußte nur klug genug vorgehen, um Ruth zu täuschen. »Willst du wirklich, daß wir dich verlassen, John?« fragte Ruth noch einmal. »Nein.« »Du wirst also alles tun, was ich dir auftrage? Ohne zu fluchen, ohne zu spotten? Ohne alles mit deinem zerstörerischen Hohn zu überziehen?« »Ja.« »Sag es, John. Wiederhole meine Worte. Sage, ich werde alles tun, was du mir aufträgst. Ohne zu fluchen, ohne zu spotten, ohne zu höhnen.«
»Ich werde alles tun, was du mir aufträgst. Ohne zu fluchen, ohne zu spotten.« »Ohne zu höhnen.« »Ohne zu höhnen.« Ruth streifte Walters Gesicht mit einem zärtlichen Lächeln. »Du wirst ihm auch niemals ein Leid zufügen?« John senkte den Kopf. Er war Ruths Gefangener. Sie zwang ihn, seinen Haß zu verbergen. Aber der Haß würde tief in ihm weiterschwelen. Er würde glimmen wie das Feuer unter der weißen Asche, und eines Tages würden die Flammen auflodern. Dann war der Zeitpunkt gekommen, an dem er diesen Mann auf der Matratze töten würde. »Du wirst ihm niemals ein Leid zufügen, John?« fragte Ruth. Er lächelte etwas schief. »Kein Leid werde ich ihm zufügen.« »Dann ist es gut. Solange er in diesem Haus ist, werde ich dich nicht verlassen, John Bendley. Halte ein Auge auf ihn, damit ihm nichts zustößt.« Er senkte den Kopf, so als strecke er endgültig vor ihr die Waffen. Als habe sie ihn für alle Zeiten bezwungen. Aber unter dem Zeichen der Demut hatte sich das Feuer bereits entzündet. »Ich werde ihn Lug nennen«, erklärte Ruth, während sie Walters Hand hielt. »Lug?« »Ja. Lug. Es ist der Name eines keltischen Gottes.«
*
Walter wirkte nach dem Unfall wie ein kleines Kind, das erst mühsam alles lernen muß. An sein Leben vor dem Unfall hatte
er keinerlei Erinnerung. Er wußte weder, wie er hieß, noch, wo er herkam. Er war gestorben, und er war wie durch ein Wunder neu geboren worden. Die Welt wurde für ihn neu geschaffen. Der Mittelpunkt dieser Welt war Ruth. Alles schien um sie zu kreisen. Der Mond, die Sterne, die Sonne. Selbst wenn sie nicht bei ihm in der Kammer war, schien sie ihren Schatten zu werfen. Ruth gab ihm zu essen und zu trinken. Sie strich Salben auf die Wunden seines geschundenen wehen Körpers. Sie umwickelte ihn mit Leinentüchern, die mit Essenzen aus Kräutern durchtränkt waren. Einige rochen bitter, andere kräftig-harzig, wieder andere verströmten einen süßlichen Duft. In den Bandagen aus frischem Seetang, die Ruth um seine offenen Wunden gewickelt hatte, war der Salzgeruch des Meeres enthalten. So unterschiedlich wie ihre Düfte waren auch die Farben der Heilmittel. Sie reichten von schimmerndem Goldbraun bis zu giftigem Grün, von Karmesinrot bis zu Kobaltblau. Einige waren dünnflüssig wie Wasser, andere tropften wie dicker Sirup vom Löffel. Die Salben und Essenzen linderten Walters Schmerzen. Sie heilten seine Wunden, brachten ihm erquickende Frische und wohltuenden Schlaf. Auf Ruths Anordnung hin hatte John ein Bett auf vier Beinen für Walter gezimmert. Wenn Walter erwachte, saß Ruth meistens neben ihm und hielt seine Hand. In ihren großen Augen, die wie Smaragde leuchteten, lag ein Ausdruck von Sorge und unendlicher Zärtlichkeit. Behutsam strich sie über sein Gesicht. Wenn er trotz der Salben und Essenzen Schmerzen litt, so genügte es, daß sie ihre Hände auf die schmerzende Stelle legte. Schon lösten sich die Schmerzen in Wohlgefallen auf.
Manchmal summte Ruth, während sie bei Walter saß, seltsame leise Melodien, die wie Balsam in seine Seele drangen. Er hatte auch die Sprache verloren. Im Herbst, als es ihm von Tag zu Tag besserging und er kaum noch Schmerzen verspürte, lernte er zum zweiten Mal in seinem Leben den Gebrauch der Wörter. Sie entstammten nicht der englischen Sprache, die seine Mutter ihn vor Jahren gelehrt und die er über dreißig Jahre lang gesprochen hatte. Es war keltisch, was er lernte. Ruth saß vor ihm. Er blickte auf ihren schönen Mund, während er ihr Silbe für Silbe nachsprach. Sie zeigte ihm auch, was die Wörter bedeuteten. Er mußte sich aufrichten, und während sie auf das weiße Gebilde zeigte, das am Himmel vorüberzog, sagte sie: »Wolke«. »Wolke«, sprach er ihr dann nach. Es gab helle und dunkle Wörter. »Geburt« war ein helles Wort. »Tod« ein dunkles. Wolke konnte dagegen, wie Walter im Laufe der Wochen feststellte, hell und zugleich dunkel sein. Je nachdem, welche Farbe sie hatte. Ruth brachte ihm Blumen und Kräuter mit und lehrte ihn, mit ihnen zu sprechen, so daß er fühlen konnte, wie es den Pflanzen ging. Am liebsten hatte Walter es, wenn Ruth ihm Geschichten von Göttern, Geistern und Naturkräften erzählte. Mit großen Augen und offenem Herzen hörte er von dem Kind, dessen Mutter sich während der Schwangerschaft oft stundenlang am Strand aufgehalten hatte und das deshalb mit Fischschuppen geboren wurde, die seinen Leib bedeckten. Statt Beine hatte es einen Fischschwanz.
Staunend vernahm er die Geschichte von einer jungen schönen Frau, die ein Netz ausgelegt und einen gefährlichen Zauberer gefangen hatte. Es war ein heller sonniger Herbsttag, als Walter das Haus zum ersten Mal nach Monaten verlassen durfte. Ruth stützte ihn während der ersten Schritte, ließ ihn dann aber allein gehen. Die Kleidung, die er bei dem Unfall getragen hatte, hatte Ruth verbrannt. Nicht nur, weil sie von Blut durchtränkt und zerrissen gewesen war. Nichts sollte ihn mehr an sein Leben vor dem Unfall erinnern. Walter trug eine von Johns Cordhosen, die Ruth enger genäht hatte, sowie einen roten Pullover aus Schafswolle. Die Wolle für den Pullover hatte sie selbst gesponnen. Wie betäubt von all dem ungewohnten Lichterglanz blieb Walter auf dem Platz vor dem langgestreckten Haus stehen. Um ihn war der Gesang der Vögel. Da das Meer nur zwei Kilometer von dem Anwesen entfernt lag, war in der Luft ein Geruch von Salz und Frische. Er mischte sich in den Duft von Erde, Blumen und Kräutern. Der Herbstwind strich zärtlich liebkosend über Walters Gesicht. »Wie schön«, sagte er mit leiser Stimme, während er den Herbstwind wie eine Liebkosung auf seinem schmal gewordenen Gesicht fühlte. Ruth streichelte unterdessen seinen Arm. »Wie wunderschön«, sagte Walter, und dann brach es wie ein Jubelruf aus ihm hervor: »Ich lebe, ich lebe.« In diesem Moment kam John in den Hof. Er hatte Holz gehackt und trug eine Axt auf der Schulter. Walter hatte keltisch gesprochen. Die Sprache, die Ruth ihn gelehrt hatte und die John nicht verstand. Jene Sprache, die John in tiefster Seele verhaßt war.
Er starrte auf diesen Fremden, den Ruth Lug nannte. Die gelbe Galle kam ihm hoch beim Anblick dieses Mannes, den er auf Ruths Geheiß dem sicheren Tod entrissen hatte. So sehr er Ruth liebte, haßte er diesen Fremden. Es war ein Haß, der John innerlich zu zerreißen drohte. Der ihn verbrannte, ihn aushöhlte. Ein Haß, der immer wieder mit aller Macht hervorbrechen wollte. Wie eine züngelnde Flamme aus einem weißglühenden Aschenhaufen. Den er verborgen halten mußte wie ein Mörder die tödliche Waffe. John konnte nicht verhindern, daß der Haß sich in seinen Augen spiegelte. Er konnte ihnen nicht befehlen, gleichmütig zu blicken. »Lug«, rief Ruth und faßte nach Walters Arm. Er hatte gerade eine Möwe bewundert, die sich auf einem Mauerrest niedergelassen hatte. »Dreh dich nicht um, Lug«, stieß Ruth hervor. Aber da wandte Walter schon den Kopf. »Lug«, schrie Ruth auf. Sie stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihm auf. Da sie jedoch kleiner war als Walter, konnte er ohne Schwierigkeiten über ihren Kopf hinwegschauen. Wenige Schritte von ihnen entfernt stand John. Walter wußte nicht, was der brennende Ausdruck in Johns Augen bedeutete. Er ging auf ihn zu. »Ich lebe«, sagte er auf keltisch. Johns Gesicht verzerrte sich. Der Haß raubte ihm fast den Atem. »Hätte ich dich doch nur im Fluß liegen lassen«, stieß er mit dumpfer Stimme hervor. Gleich darauf drehte er sich um und ging mit schweren Schritten auf die andere Seite des Hauses, um dort die Axt in das Holz zu schlagen. Walter wandte sich an Ruth: »Was hat er gesagt?« »Nichts, Lug.« »Will er nicht, daß ich lebe?« fragte Walter.
»Nein, er will es nicht.« »Hat er mich deshalb so angesehen?« »Das war der böse Blick, Lug.« »Kann der böse Blick machen, daß ich nicht mehr lebe?« »Ja, Lug. Der böse Blick kann Menschen krankmachen und sogar töten. Wenn er dich wieder so ansieht, mußt du das Amulett in die Hand nehmen. Dann verliert der böse Blick seine Macht über dich.« Walter schloß die Hand um das Amulett. »Dich guckt er nicht mit dem bösen Blick an, Ruth.« »Nein, mich nicht, Lug.« »Was habe ich ihm Böses getan?« »Nichts hast du ihm getan, nichts, Lug.« »Ist es, weil ich lebe?« Ruth griff nach seinen Händen und berührte damit ihre Wange. »Es ist, weil er ein böser Mensch ist.« »Wirst du mich den bösen Blick lehren, Ruth?« »Das kann ich nicht, Lug. Nur Menschen, die den Haß im Herzen tragen, haben den bösen Blick. Aber du wirst niemals hassen können. Deshalb kann ich dich auch nicht den bösen Blick lehren.« »Haß? Was ist das überhaupt?« »Es ist so dunkel wie der Tod, Lug.« »Haßt du John?« »Nein, Lug. Ich könnte ihn nur hassen, wenn er dir etwas zuleide täte.« »Dann hat er also Macht über mich?« »Nein, Lug, kein Mensch wird jemals Macht über dich haben. Denn ich beschütze dich. Eines Tages wirst du mächtiger sein als alle anderen Menschen auf der Welt.« »Was ist Macht, Ruth?«
Statt einer Antwort griff sie nach Walters Hand und führte ihn zu einem alten Ziehbrunnen, der bei der Mauer stand, auf der sich die Möwe niedergelassen hatte. »Hol mir ein Stück trockenes Holz, Lug«, forderte sie ihn auf. Er brachte ihr einen Ast, der von der Esche gefallen war, die mitten auf dem Hof wuchs. Ruth legte den Ast auf den Rand des Brunnens. »Was siehst du, Lug?« flüsterte sie. »Einen trockenen Ast, Ruth.« »Sieh ihn dir genau an, Lug.« Er blickte so scharf wie nur möglich hin. »Was siehst du, Lug?« fragte Ruth wieder. »Immer noch den gleichen Ast, Ruth.« »Richte jetzt deine ganze Kraft auf das Holz, Lug. Dringe mit der Seele, mit all deinem Fühlen in den Ast ein, Lug. Schließe jeden anderen Gedanken und jedes andere Gefühl aus. Vergiß, wo du bist. Es gibt nur noch den Ast.« Er versuchte, nichts anderes zu sehen als den Ast. Nicht den Brunnenrand, auf dem er lag. Nicht die Elster, die sich mit wildem Kreischen etwas abseits auf einem verrosteten Torpfosten niedergelassen hatte. Nicht den Himmel und nicht die Erde. Nur den Ast. »Sag ihm, daß er brennen soll«, hörte Walter Ruth neben sich mit rauher Stimme flüstern. »Brenne, Ast, brenne«, sagte Walter. ES war keine Flamme zu sehen. Walter warf einen fragenden Blick auf Ruth. Ihre grünen Augen schienen zu glühen. Das rote Haar schien ihr Gesicht wie ein wildes Flammenmeer zu umrahmen. »Bitte, laß es brennen«, flüsterte sie. Der Ast fing an zu glimmen.
Ruth hielt den Blick starr auf ihn gerichtet. Schon schossen die ersten Flammen aus dem Holz auf. Sekunden später brannte es lichterloh. Walter wagte nicht, sich zu bewegen. Er atmete fast gar nicht. Als von dem Holz nur noch ein kleiner weißer Aschenhaufen übrig geblieben war, schien Ruth aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Sie lächelte zufrieden. »Ruth, wie hast du das nur gemacht? Wie konnte aus dem trockenen Ast Feuer ausbrechen?« fragte Walter. »Es war mein Wille, der das Holz entflammt hat, Lug.« »Aber ich wollte auch, daß es brennt, Ruth. Mein Wille hat mir nicht gehorcht.« »Eines Tages wird er dir gehorchen, Lug. Du wirst lernen, daß der Wille alles vermag.« »Wird mein Wille mich auch gegen den bösen Blick schützen, Ruth?« »Dein Wille wird dich gegen alles Böse schützen, Lug. Er wird dich unverwundbar machen. Es ist dein Wille, der dich zum mächtigsten Mann der Welt machen wird, Lug. Du wirst den Zauber bei den Heiligen Steinen aussprechen.« »Was sind das für Heilige Steine, Ruth?« »Eines Tages wirst du sie sehen können.« »Wann, Ruth? Wann?« »In neun Monaten, Lug. Wenn neun Monde gekommen und gegangen sind. Du mußt warten bis zu dem Tag im nächsten Sommer, an dem die Sonne am höchsten steht. Dann werden wir uns an den Heiligen Steinen versammeln. Und du, Lug, wirst die heiligen Worte sprechen.« »Werden viele Menschen dort sein?« »Ach, Lug, du stellst so viele Fragen. Du mußt lernen, warten zu können. Geduld haben. Lernen, hören, schauen, riechen, erkennen. Es kommt alles zu seiner Zeit.«
Walter nahm die Asche vom Brunnenrand und blies sie weg. In diesem Moment flog die Elster kreischend auf.
*
Walter hatte Barbara mit einer anmutigen Blume oder einer schönen Fee verglichen. Das Sanfte, Liebliche, Anschmiegsame lag tatsächlich in ihrem Wesen. Sie war alles andere als eine Kämpfernatur. Nachdem Walter sie verlassen hatte, hatte sie sich wochenlang verzweifelt in die vier Wände der Wohnung zurückgezogen, die sie mit Walter gemietet hatte. Weil sie es dort schließlich nicht mehr aushielt, war sie zu ihrer Mutter gezogen, die in einem stillen Stadtviertel von London wohnte. Barbaras Vater war bereits vor ihrer Geburt bei einem Unfall ums Leben gekommen. Zwanzig Jahre lang hatte ihre Mutter sich keinem Mann mehr zugewandt. In jenem Sommer hatte sie sich jedoch in einen TouristikUnternehmer verliebt, den sie auf seinen Reisen um die Welt begleitete. Während ihrer kurzen Aufenthalte in London hatte sie kaum Zeit für ihre Tochter. Es kam zur Entfremdung zwischen Barbara und ihrer Mutter. Tief enttäuscht und noch einsamer als vorher kehrte Barbara nach vier Wochen in die Wohnung am Themse-Ufer zurück. Von Walter war in der Zwischenzeit kein Lebenszeichen eingetroffen. Die Volksweisheit, wonach die Zeit die Wunden heile, traf auf Barbara nicht zu. Ihre Sehnsucht nach Walter wurde von Tag zu Tag übermächtiger.
Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker zweifelte sie daran, daß er sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Im Rückblick erschien ihr sein Verhalten immer rätselhafter. Sie gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß er unter einem Zwang gehandelt hatte. Vier weitere Wochen vergingen. Walter rief weder an, noch schrieb er einen Brief. Die Sommerferien waren längst vorbei. An der Universität von London hatte Anfang Oktober das neue Semester angefangen. Da Walter für ein halbes Jahr wegen einer Forschungsaufgabe, die mit den Kelten zu tun hatte, beurlaubt worden war, fragte niemand nach ihm. Schließlich rief Barbara in ihrer Verzweiflung einen älteren Professor an, der eine Art väterlicher Freund von Walter war. Sie hoffte, daß Walter sich bei ihm gemeldet habe. Schon die ersten Worte des Professors bewiesen das Gegenteil. »Barbara, wie geht es denn eigentlich unserem lieben Walter?« fragte der alte Herr. »Das wollte ich gerade Sie fragen, Herr Professor.« »Wie soll ich das verstehen, Barbara?« »Ich weiß nicht, wo Walter ist. Er hat unsere gemeinsame. Wohnung vor etwa zehn Wochen von einer Minute auf die andere verlassen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.« »Das ist allerdings mehr als seltsam. Derart überstürzte Handlungen passen doch gar nicht zu Walter. Er überlegt doch immer sehr genau, was er tut. Gestatten Sie mir deshalb eine sehr persönliche Frage, Barbara – haben Sie sich vielleicht mit Walter gestritten?« »Zwischen Walter und mir ist nie ein böses Wort gefallen. Wir kannten keinen Streit. Ich bin mir nicht sicher, ob es da einen Zusammenhang gibt – aber an dem Tag, an dem Walter mich verließ, hat er Bungee-Springen gemacht.«
»Bungee-Springen. Ich habe nie davon gehört.« »Bungee ist dieses Sportart, bei der Leute sich aus großer Höhe in die Hefe stürzen. Ein Seil an ihren Füßen reißt sie wieder nach oben.« »Jetzt weiß ich, wovon Sie sprechen, Barbara. Ich habe vor einigen Tagen beobachtet, wie junge Leute sich von einem Kran aus in den Abgrund fallen ließen. Ich kann mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein Professor unserer Universität dieser sehr seltsamen Sportart frönt.« »Ich verstehe ja auch nicht, wie Walter dazu kam. Er hat mir erzählt, er habe bei dem Sprung einen keltischen Stein gesehen, der mit seltsamen Schriftzeichen versehen war. Der Stein ragte aus der Themse heraus, und er konnte sogar einige der Zeichen entziffern.« »Ein äußerst interessantes Phänomen.« »Herr Professor, ich mache mir große Sorgen um Walter.« »Das sollten Sie aber wirklich nicht tun, Barbara.« »Und was ist mit dem keltischen Stein, den Walter gesehen haben will?« »Das war selbstverständlich nur eine Halluzination. Die dadurch hervorgerufen wurde, daß Walter sich seit langer Zeit intensiv mit der keltischen Schrift auseinandersetzte.« »Das könnte sein, Herr Professor.« »Ich kenne das von mir und auch von Kollegen. Wenn man sich sehr mit einer Sache beschäftigt, dann sieht und hört man schließlich nichts anderes mehr. Da kann dann sogar passieren, daß plötzlich ein keltischer Kultstein mitten in der Themse auftaucht.« »In einer Fachzeitschrift, die Walter abonniert hat, ist solch ein Stein abgebildet, Herr Professor. Er gehört zu einer heidnischen Kultstätte. Irgendwelche Leute haben mit Farbe keltische Schriftzeichen darauf gemalt.«
»Na, sehen Sie. Dann liegt die Erklärung ja sozusagen auf der Hand. Walter wird die Zeitschrift gelesen haben.« »Das hatte ich auch geglaubt. Walter behauptete jedoch, er habe die Zeitschrift nie in Händen gehabt.« »Sie wissen doch, wie vergeßlich Professoren manchmal sind, liebe Barbara.« »Walter hat nie etwas vergessen, Herr Professor.« »Irgendwann trifft es jeden. Es tut mir leid, Barbara, aber ich kann Ihnen bei dieser Angelegenheit wirklich nicht helfen. Walter taucht bestimmt bald wieder auf. Da können Sie ganz beruhigt sein. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann machen Sie einen Spaziergang. Ein bißchen frische Luft wird Ihnen guttun.« Barbara verabschiedete sich und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Der Professor hielt sie anscheinend für hysterisch. Sie würde ihn nicht mehr belästigen. Ihr Leben lang hatte Barbara sich gefügt. Immer hatte sie getan, was andere von ihr erwartete hatten. Jetzt aber bäumte sie sich plötzlich mit aller Macht dagegen auf, einfach hinzunehmen, was mit ihr geschah. Sie hätte Walter festhalten müssen. Nie und nimmer hätte sie erlauben dürfen, daß er nach Aikbury fuhr. Sie hätte ihn zwingen müssen, bei ihr zu bleiben. Statt dessen hatte sie sich aufs Bett geworfen und geweint. Barbara war plötzlich fest entschlossen, um Walter zu kämpfen. Gegen die andere Frau, die ihn in ihre Netze gelockt hatte und die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach noch immer festhielt. Barbara riß das Fenster auf. Sie neigte sich hinaus. Der Herbstwind fuhr in ihre langen blonden Haare und wehte sie ihr ins Gesicht. Sie strich sie zurück. Flußabwärts ragte der Kran auf. Seine grellgelbe Farbe hob sich von den roten und grauen Mauern der Mietshäuser ab.
Während Barbara noch auf den hochaufgereckten Arm des stählernen Ungetüms sah, faßte sie den Entschluß, nach Walter zu suchen. Sie würde zu der heidnischen Kultstätte nach Aikbury fahren. Zu jenem Wall aus klobigen hohen Steinen, den die Kelten vor fast dreitausend Jahren in der Einöde von Wales erbaut hatten. Was ihr fehle, sei frische Luft, hatte Walters Kollege gesagt. Von ihrer Mutter hatte Barbara einen kleinen Wagen bekommen. Seit sie ständig auf Reisen sei, brauche sie das Auto nicht mehr, hatte ihre Mutter gesagt. Barbara parkte in aller Eile ein paar Sachen zusammen. Es gab niemanden, bei dem sie sich abmelden mußte. Die Anwaltsfirma, in der sie als Sekretärin gearbeitet hatte, war nach Schottland übergesiedelt. Seit einigen Wochen war Barbara arbeitslos. Zum ersten Mal erkannte sie darin einen Vorteil. Frische Luft. Der Rat des alten Professors war gar nicht so dumm, wie er sich im ersten Moment angehört hatte. Als Barbara an der Wohnungstür war, kehrte sie noch einmal um. Sie ging ins Schlafzimmer zurück. Aus einer Truhe, die zwischen zwei Fenstern stand, nahm sie Walters Trompete. Er hatte ihr oft darauf vorgespielt. Der melancholische Klang des Instruments hatte Barbara immer wehmütig gestimmt. Sie packte die Trompete in ihre Reisetasche. Dann verließ sie das Apartment. Ein Fahrstuhl brachte sie ins Erdgeschoß des Mietshauses. Als sie durch eine Drehtür ins Freie trat, sah sie, daß der Herbstwind, der von der Themse herüberzog, dunkle Wolken vor sich her trieb. Ruth hielt Walter das Trinkhorn hin. Es hatte vor zweitausend Jahren zu einem Ochsen gehört. Die Kelten hatten es teilweise mit Gold überzogen. »Trink, Lug.«
»Was ist in dem Horn, Ruth?« »Trink.« »Es riecht aber seltsam, Ruth.« »Du mußt dich langsam daran gewöhnen, Lug. Wenn du zuviel auf einmal davon nimmst, verwirrt es deinen Geist.« Walter hielt das Trinkhorn an die Lippen. Er zögerte, einen Schluck davon zu nehmen. »Trink, Lug, trink«, raunte Ruth. Er trank. »Es schmeckt wirklich nicht gut, Ruth.« »Weil du es nicht kennst. Es ist zerriebenes Wunderholz.« »Hat es einen Namen, Ruth?« »Es heißt Tabernanthe Iboga.« »Ein seltsamer Name.« »Wenn du öfter davon trinkst, wird es dir wie Milch und Honig vorkommen, Lug.« »Warum muß ich denn unbedingt davon trinken, Ruth?« »Du mußt lernen, in Kontakt mit der Geisterwelt Verstorbener zu treten, Walter.« Walter wußte aus Ruths Erzählungen, daß es noch eine andere Welt gab als die sichtbare. Die der Geister. Bisher hatte er keinen Zugang dazu gehabt. »Tabernanthe Iboga wird dich zu den Geistern führen, Lug«, versprach Ruth. Walter trank das Horn leer. Dabei hatte er das Gefühl, als würde sich in ihm ein Tor öffnen. Vor ihm lag eine unbekannte, wundervolle Welt. Alles war auf einmal belebt. Der lisch mit der Platte aus rohbehauenem Holz, der Stuhl, sogar die Steinmauer des Hauses wurden zu lebendigen Wesen. Jeder einzelne Gegenstand in der Kammer bekam seine ureigene Sprache. Sogar der Nachtwind, der am Fenster vorbeistrich.
Ihre Stimmen vereinigten sich in einem Chor lieblichster Melodien. Es war eine berauschende Welt voller Harmonie und Glück, in die Walter trat. Um Ruth erglühte ein Regenbogen. Sie stand in der Mitte und hatte einen Mund aus Feuer. »Gib mir doch mehr zu trinken, Ruth«, bat er und hielt Ruth das Trinkhorn hin. Das Feuer teilte sich in zwei Flammen. »Nein, Lug, für heute war es genug. Komm, ich werde dich hinführen.« »Zu dem heiligen Stein, Ruth?« »Nicht zu dem heiligen Stein, Lug.« »Du hast mir versprochen, daß du ihn mir zeigen wirst, Ruth. Ich habe jetzt schon so lange gewartet.« »Du mußt viel Geduld haben, Lug. Jetzt sind es noch acht Monde, bis wir uns beim heiligen Stein versammeln.« »Hat der heilige Stein auch einen Geist, Ruth?« »Der heilige Stein ist der Geist. In ihm ist alle Wahrheit der Welt enthalten.« »Werde ich mit ihm sprechen? Wird sein Geist sich mir zeigen, Ruth?« »Ja, Walter, er wird sich dir offenbaren. Und du wirst uns berichten, was er dir anvertraut hat.« Ruth faßte Walters Hand. Sie führte ihn aus dem Haus und auf den Hof. Hinter den windzerzausten Ästen der uralten Esche stand der volle gelbe Mond. Noch nie war er Walter so riesig erschienen, so zum Greifen nah. Auch der Mond hatte eine Stimme. Sie hörte sich an wie zarter Harfenklang. Walter streckte unwillkürlich die Arme nach ihm aus. Als der Mond sich nicht umfangen ließ, lief Walter auf ihn zu. Bei jedem Schritt, den er machte, wich der Mond ein Stück weiter zurück. Schließlich blieb Walter stehen. Ruth war Walter gefolgt. »Eines Tages wirst du auch den Mond umfangen können, Lug«, versprach sie.
»Wann wird das sein, Ruth?« »Wenn es soweit ist.« Sie führte ihn an einer niedrigen Mauer aus aufgeschichteten Feldsteinen entlang. An einer Stelle, wo einige Steine ausgebrochen waren, stiegen sie über die Mauer hinweg. Sie kamen auf eine große Wiese. Das Licht des Mondes fiel auf eine Ansammlung von Ruinen, die um eine Baumgruppe herum verstreut lagen. »Ruth, was ist das?« »Du wirst es sehen.« Die Wiese führte sehr sanft bergan. Ruth war barfuß. Sie trug ein Kleid aus Wolle, die sie selbst gesponnen und grün eingefärbt hatte. Der lange Rock reichte ihr bis zu den Fesseln. Ihr stark gelocktes rotes Haar fiel ihr über die Schultern und auf den Rücken. Sie schritt kräftig aus. Ihr Gang hatte etwas tierhaft Geschmeidiges an sich. Als sie auf der Kuppe des Hügels angelangt waren, warf Ruth sich vor einem seltsam geformten Kreuz zu Boden. Walter blieb vor ihr stehen. Nach einer Weile hob Ruth bedächtig den Kopf. »Lege deine Hände darauf, Lug. Es ist ein keltisches Kreuz«, raunte sie. Er ließ die Hände auf dem steinernen Halbbogen ruhen, der das Kreuz umspannte. Dabei hatte er das Gefühl, als werde die Zeit zurückgedreht. Auf dem Wiesenhang sah er ein wildes Schlachtengetümmel. Männer mit roten Haaren und Bärten kämpften wild gegeneinander. Sie hieben mit breiten verzierten Schwertern aufeinander ein und versuchten ihre Körper mit ovalen Schildern zu schützen. Dabei stießen sie dunkle tierhafte Laute aus. Schließlich ergriffen einige Kämpfer in wilder Panik die Flucht. Vier Männer wurden gefangengenommen. Ein Horn ertönte. Der Boden war getränkt von Blut.
Walter sah sich selbst, wie er am Kreuz ein Opfer darbrachte. Um ihn herum standen Männer und Frauen. Die Frauen trugen kostbaren Schmuck aus Gold. Einige hatten Ketten mit Amuletten umgelegt, die seltsame Tierköpfe darstellten. Andere Ohrringe in Form einer sich windenden Schlange. Manche auch kunstvolle Reifen um Arm- und Handgelenke. Die Männer hatten ihre blutbefleckten Schwerter aus der Scheide gezogen und vor sich in den Boden gestoßen. Ihre Gesichter waren mit weißer Farbe bemalt. Die Haare hingen ihnen wüst ins Gesicht. Er selbst hatte als einziger einen goldenen Helm auf. Ein junges Mädchen in silberfarbenem Gewand goß klares Wasser über seine Hände. Er stellte sich hinter dem Kreuz auf und breitete die Arme auseinander. Der Mond fiel direkt auf sein Gesicht. Er konnte nicht den Blick von dem Mond wenden. Erst als einer der Umstehenden mit aller Wucht eine Axt in den Boden hieb, drehte er sich wieder dem Kreuz zu. Als werde er von einer geheimen Macht geleitet, ging Walter zu der Esche, unter der weitere Kreuze standen. Die meisten von ihnen waren zerbrochen. Nur zwei waren über die Jahrtausende hinweg erhalten geblieben. Die mächtige Esche wuchs auf einer Erhebung aus Steinen, über die sich Erde und Moosgeflechte gebreitet hatten. Die starken Wurzeln des Baumes klammerten sich an den Steinen fest. Um eine Öffnung bildeten sie einen Ring. Walter trat durch dieses Loch in das Innere der Erhebung. Er betastete die Wände. Seine Finger berührten feuchte Steine, die teilweise mit Flechten und Moos bewachsen waren. Plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne. Er hatte etwas Poröses berührt. Als er vorsichtig darüberstreifte, merkte er,
daß es ein Schädel war. Er war von Steinen umgeben. Gleich darauf fühlte er einen zweiten und dann einen dritten Schädel. Walter blieb ganz ruhig stehen. Fast ohne zu atmen. Er konnte nichts sehen. Das Mondlicht drang nicht in dieses Totenreich. Hier war kein Laut zu hören. Raum und Zeit waren aufgehoben. Auf einmal wußte Walter, was Ewigkeit ist.
*
John hatte Walter und Ruth weggehen sehen. Von der kleinen Kammer aus, in die Ruth ihn nach Walters Errettung verbannt hatte, hatte er sie genau beobachtet. Die Fenster waren darin so schmal wie Schießscharten. Seine Sinne hatten sich in den letzten Monaten bis aufs Äußerste geschärft. Nichts entging ihm. Es war, als habe er einen siebten Sinn entwickelt. Selbst wenn er Ruth oder Walter nicht sehen konnte, wußte er, wo sie sich aufhielten. Ruth hatte ihm verboten, ihr und Walter zu folgen. Er tat es trotzdem, denn er konnte nicht anders. Er belauschte und bespitzelte sie ständig. Allerdings traf er Vorkehrungen, damit sie ihn nicht bemerkte. Immer wieder hatte John versucht, Ruth für sich zurückzugewinnen. Mal mit Bitten und Flehen. Dann wieder, indem er sich ihr ergeben zeigte. Er hatte sie mit Hohn und Vorwürfen und Spott bedacht und weder Heuchelei, Lügen noch Rührseligkeiten verschmäht. Seine Geduld und seine Widerstandskraft waren zu Ende. John war entschlossen, in dieser Nacht zu handeln. Es durfte diesen Walter nicht länger geben.
John hatte beobachtet, wie Walter in dem Grabhügel unter der Esche verschwunden war. Mit schnellem Schritt stieg John jetzt den Hügel hinauf. Ruth wartete vor dem keltischen Kreuz abseits der Esche. Der Mond stand hinter ihrem Rücken, so daß ihr Gesicht im Dunkeln blieb. John litt in letzter Zeit an Kurzatmigkeit. Er war aber noch immer kräftig. Um sich zu beweisen, daß er noch immer ganz der Alte war, streckte er die schweren Hände aus. Im Tageslicht waren sie rot und rissig. Jetzt jedoch, im Schein des Mondes, wirkten sie wie die schweren Krallen eines Raubtieres. Er beschleunigte seinen Schritt. »Da bist du ja, John Bendley«, erklärte Ruth, als er bei ihr angelangt war. »Ja, da bin ich«, antwortete er mit dunkler Stimme, wobei er sich Mühe gab, nicht zu keuchen. »Ich wußte, daß du uns beobachtest. Aber ich hatte nicht gedacht, daß du es tatsächlich tun würdest, uns hierher zu folgen, John Bendley.« Er zitterte am ganzen Leib. Die Art, wie sie mit ihm sprach, wie sie sich über ihn lächerlich machte und sich über ihn erhob, brachte ihn schier zur Raserei. Der Mond schien durch ihr Haar. Er dachte daran, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der er zärtlich mit dem Finger durch ihre dichten Locken gefahren war. Sie hatte sich an ihn geschmiegt, er hatte ihre Lippen auf seinen gefühlt. Er meinte die Liebesschwüre zu hören. John fühlte, wie es in seiner Kehle eng wurde. Ein schreckliches Zittern lief durch seinen Körper. Er fühlte, wie ihn wieder die alte Hilflosigkeit überkam. In seiner Verzweiflung stieß er einen lauten Schrei aus. Es war wie der Schrei eines zu Tode getroffenen Raubvogels.
John lief zum Grabhügel. »John!« rief Ruth. Er genoß es, die Angst in ihrer Stimme zu hören. Es brachte ein böses Lächeln auf sein Gesicht. Er lief weiter. Schon umfaßte er eine der dicken Baumwurzeln, die über die Steine wuchsen. »John!« Sie hielt seine Hand fest. Er versuchte sie abzuschütteln. »John, was hast du vor?« »Das wirst du sehen«, flüsterte er mit einer Stimme, als sei das Innere seiner Kehle aufgerauht. »John, du wirst ihm nichts tun? Erinnere dich – du hast es mir versprochen.« Er lachte kurz und abgehackt auf. »John. Ich habe es dir befohlen!« rief sie. Er schüttelte sie mit heftiger Bewegung ab und trug einen Stein herbei, den er vor den Eingang zur Grabstätte auf den Boden fallen ließ. »John, was soll das, John?« »Das siehst du doch, Ruth.« »Du willst ihn töten. Ihn lebendig einmauern.« »Das ist doch eine Grabstätte, oder?« »Oh, du Unmensch«, flüsterte Ruth. Sie bückte sich, um den Stein wegzurollen. Er war ihr zu schwer. Sie konnte ihn kaum ein paar Zentimeter auf die Seite rollen. Zu mehr fehlte ihr die Kraft. John lächelte auf jene grimmige, hinterhältige Weise, die er sich während der letzten Monate angewöhnt hatte. Er meinte aus dem Innern der Grabstätte ein Geräusch zu hören. Aus Angst, Walter könnte hervorkommen und seine Absicht vereiteln, beeilte er sich, zusätzlich einen zweiten Stein zu holen. »John!«
Er hielt den Stein im Arm. »John, bitte verzeih’ mir«, flehte Ruth. Ihre Stimme klang plötzlich auffallend verführerisch. Das milchig weiße Gesicht des Mondes schien auf ihr Gesicht. John spürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Wie gerne würde er sie hassen. Aber er konnte es nicht. Ob er es wollte oder nicht – er mußte sie lieben. Diese Liebe war schlimmer als ein Fluch. Sie berührte seinen Arm. Ganz leicht. Wie eine Feder legte sich ihre Hand auf ihn. Er ließ den schweren Stein fallen, so daß er ein Stück weit den Abhang hinunterrollte, bevor er in einer Mulde liegenblieb. »John, ich habe schlecht an dir gehandelt«, fuhr Ruth mit der gleichen leisen und zärtlichen Stimme wie vorher fort. »Du führst doch etwas im Schilde«, kam es dumpf aus seinem Mund zurück. »Oh, John, ich dachte, du würdest mich besser kennen.« »Ja, ich habe dich kennengelernt.« »Sei nicht bitter, John.« »Ich habe nichts mehr als Bitterkeit und Haß.« »John, sei wieder gut zu mir.« Er merkte, wie es in seinen Armen zuckte. Gar zu gerne wollte er sie an sich ziehen, um sie für immer festzuhalten. »John, lieber John, habe ich dich jemals hintergangen? Habe ich dir nicht immer die Wahrheit gesagt? Auch wenn sie bitter für dich war?« »Sie war immer bitter.« »Ich habe dich nie angelogen, John.« »Nein, die Mühe hast du dir gar nicht erst gemacht, Ruth. Du warst immer sehr geradeaus.« »Ich bin auch jetzt ehrlich zu dir. Komm, laß uns nach Hause gehen, John.«
»Du denkst also, du kannst mich davon abhalten zu tun, was ich mir vorgenommen habe?« Sie schlang die Arme um seinen Körper. »John, haben wir denn jetzt nichts Schöneres vor? Hast du vergessen, wie es damals war, als wir hierher kamen? Damals war auch Vollmond. Du hast mich auf deinen Armen ins Haus getragen. Hebe mich auf deine starken Arme, John.« »Nein.« »John, mein lieber John.« Er schlug die Hände vor das Gesicht, um sie nicht ansehen zu müssen. Ein Fluch war sie, diese Liebe. Wenn er könnte, würde er sie sich aus dem Herzen reißen. Und wenn er dabei zugrunde ginge. Zusammen mit ihr, die diese Liebe in sein Herz gesät hatte. Ruth zog sehr sanft die Hände von seinem Gesicht. »Heb’ mich auf deine Arme, John«, raunte sie ihm zu. Er sah sie an. Dann hob er sie hoch. Er trug sie den Abhang hinunter. So als sei sie wieder seine Braut und er ihr Bräutigam. In Johns Bitterkeit mischte sich verdächtige Zärtlichkeit. Ruth war schließlich seine Frau. Er würde ihr beweisen, daß er noch immer ihr Mann war. John trug sie in seine Kammer. Er wollte eine Kerze anzünden. Ruth verwehrte es ihm. »Der Mond scheint hell genug«, sagte sie mit leiser Stimme, die wieder so zärtlich klang wie in früheren Zeiten. John bettete sie auf seine Matratze. Sie streckte die Arme aus. »Ich werde uns etwas zu trinken holen«, sagte sie. »Beeil dich.« »Ich bin gleich zurück.« Sie lief aus der Kammer. John wurde ungeduldig. Als sie nach fünf Minuten noch immer nicht wieder bei ihm war, ging er in die Stube hinüber.
Ruth stand mitten im Raum und hielt das Trinkhorn in den Händen. »Ich habe ein köstliches Getränk für dich hergerichtet, John«, erklärte sie. »Ich trinke nicht daraus.« »Hast du etwa Angst, ich könnte dich vergiften, John?« »Es gefällt mir nicht, aus einem Horn zu trinken, das du in dieser Grabkammer gefunden hast.« Sie hielt das Horn an ihren Mund und trank. »Jetzt bist du an der Reihe, John.« Er sah sie an. Als sei sie mit der Erde verwachsen, stand sie da. Es ging etwas Bezwingendes von ihr aus, etwas Allmächtiges. John konnte nicht anders. Er nahm das Horn und setzte es an die Lippen. »Es schmeckt süß.« »Weil ich Honig daruntergemischt habe. Du magst doch Honig, John.« Er wollte das Horn absetzen. Aber er konnte es nicht. Irgend etwas zwang ihn, es bis zum letzten Tropfen zu leeren. Als er es schließlich auf die Tischplatte warf, ergriff ihn ein heftiges Schwindelgefühl. Ruth, die vor ihm stand, schien sich aufzulösen. Ihr Körper verlor seine Konturen, bis sie nur noch ein Wirbel aus Farben war. Der Wirbel kam auf ihn zu. Er hüllte ihn ein, bedrohte ihn. John wich davor zurück. Der Wirbel umtoste ihn. Es war die Hölle, ein Chaos aus Farben und Formen. John stolperte haltlos aus dem Zimmer. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Trotzdem sah und hörte er nichts anders als den Wirbel. Er stützte sich mit den Armen an den Türpfosten seiner Kammer ab. Der Wirbel wurde zum Orkan. John ließ den Pfosten los. Er warf sich nach vorne. Sein schwerer Körper fiel bäuchlings auf die Matratze. Er schloß die Augen. Der Wirbel
trug ihn durch die Lüfte. Er hörte grelle Musik. Sie wurde so laut, daß er sich die Ohren zuhalten wollte. Aber er konnte die Hände nicht bewegen. Wilde Trommeln mischten sich rhythmisch unter die Musik. Stimmen kreischten. Feuer brach unter lautem Getöse aus der Erde. Und plötzlich herrschte Stille. Tiefe Stille. Unheimliche Stille. Über die Nacht schien sich eine zweite Dunkelheit zu legen. Johns Körper entspannte sich. Von seinen Lippen kam ein dumpfer Laut. Er hatte endlich Frieden gefunden. Er war erlöst. Von seiner Liebe und von seinem Haß. Es war später Nachmittag, fast schon Abend, als Barbara bei der heidnischen Kultstätte von Aikbury eintraf. Sie hatte die keltischen Steinwälle bisher nur auf Abbildungen gesehen. In Wirklichkeit erschienen sie ihr nicht nur mächtiger, sondern auch bedrohlicher. Sieben Steine umringten einen Stein-Koloß wie Soldaten einen Feldherrn. Von den weißen Schriftzeichen, mit denen Unbekannte den Koloß zur Zeit der Sonnenwende beschmiert hatten, war nichts mehr zu sehen. Barbara lauschte in sich hinein. Walter hatte ihr berichtet, daß Menschen an den heidnischen Kultstätten der Kelten von einem Schauder erfaßt würden. Niemand könne sich dem auf Dauer entziehen. Barbara spürte jedoch weder etwas von einem Schauder noch war sie sonderlich beeindruckt. Was sie sah, waren riesenhafte klobige graue Steinbrocken auf einer Grasfläche in einer Talsenke. Nicht mehr und nicht weniger.
Wenn sie dennoch leicht erschauerte, dann nur, weil über die Hügel, in die die Kultstätte eingebettet war, dunkle Wolken trieben. Von der See her, die nicht zu sehen, aber zu hören war, kam ein kalter Wind. Barbara war keine Abenteurerin. Einsame Gegenden zogen sie nicht an. Sie war viel lieber unter Menschen. Hier war jedoch weit und breit kein Mensch und auch kein Haus zu sehen. In der verlassenen Talsenke wuchs keine Blume, nichts Farbiges. Wohin sie auch blickte, war nichts als graugrüne Trostlosigkeit, ein grauschwarzer niedriger Himmel und die schrecklichen Steine, die in ihren Augen von abstoßender Häßlichkeit waren. Zu Barbaras Unbehagen gesellte sich Enttäuschung. Sie hatte die vage Hoffnung gehegt, Walter bei der Kultstätte anzutreffen. Da das nicht der Fall war, beschloß sie, in den kleinen Ort Aikbury zu fahren. Wenn Walter sich tatsächlich in der Gegend aufhielt, so würden die Einwohner von Aikbury gewiß davon erfahren haben. Barbara fuhr mit ihrem kleinen Wagen über das feste Grasland auf eine schmale Landstraße, die nach Aikbury führte. Schon nach zwei Kilometern sah sie die ersten Häuser vor sich auftauchen. Sie waren niedrig und ebenerdig gebaut. So als duckten sie sich vor Wind und Wetter an den Boden. Ihre Dächer waren grau, die Mauern aus rohbehauenen Feldsteinen. Für die Fenster hatte man nur sehr kleine Öffnungen freigelassen. Barbara stieg vor einem Haus aus, das etwas größer war als die anderen. Es hatte einen Vorgarten, in dem Kohl und Malven wuchsen. Vor den kleinen Fenstern hingen weiße Gardinen, in die ein Vogelmuster eingewebt war. Es gab keine Klingel. Auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Dorfstraße war kein Mensch zu sehen. Wenn nicht aus einigen
Schornsteinen Rauch aufgestiegen wäre, hätte Barbara annehmen müssen, Aikbury sei ausgestorben. Als sie noch unschlüssig dastand, kam eine Frau aus dem Haus. Sie war um die fünfzig, ging aber bereits leicht vornüber geneigt. Ihr schütteres, im Nacken zu einem Knoten gebundenes Haar zeigte graue Strähnen. Die Augen waren ohne Glanz, das Gesicht wirkte äußerst mürrisch. »Suchen Sie jemanden?« fragte sie ohne den geringsten Anflug von Freundlichkeit. »Ja, meinen Freund. Er ist Geschichtswissenschaftler.« »So jemanden gibt es hier nicht.« Barbara ging ein paar Schritte auf die Frau zu. Bei einer Malve, deren gelbe Blätter schlaff am Stengel herunterhingen, blieb sie stehen. »Mein Freund wollte sich die keltischen Schriftzeichen ansehen«, fuhr Barbara irritiert fort. »Hat Ihr Freund etwas mit diesen Leuten zu tun?« »Mit welchen Leuten?« Die Frau vollführte mit ausgestrecktem Arm eine Bewegung, die die ganze Umgebung umriß. »Dieses Volk, das sich hier bei uns eingenistet hat«, antwortete sie dann. »Die neuen Hexen nennen sie sich. Sie versammeln sich bei dem keltischen Steinwall und tanzen auf schamlose Weise dort herum. Erde, Wasser, Luft und Feuer beten sie an. Das sind ihre Götter.« »Und diese Frauen nennen sich die neuen Hexen?« »Wenn Sie mich fragen, handelt es sich bei ihnen um verrückte Weibsbilder. Um Mitglieder einer Sekte. Sie müssen nur mal sehen, wie die rumlaufen. Im Sommer barfuß, im Winter mit Tierfellen. Aber das sind nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Sogar Kinder haben sie bei sich. Wo sind wir hier denn eigentlich?«
Die Frau war im Verlauf ihrer Rede mehr und mehr in Rage geraten. Ihre matten Augen hatten sich belebt. Farbe war in ihr Gesicht gestiegen. Schließlich hatte sie sogar die Hände zu Fäusten geballt. »Mein Freund ist wahrscheinlich in die Gewalt dieser Leute geraten«, meinte Barbara. »Sie sagten doch, er sei Wissenschaftler. Dann wird er doch wohl wissen, was er tut.« »Ja, aber es sind wirklich seltsame Dinge passiert.« »Seltsame Dinge passieren hier in der Gegend ständig. Alle paar Wochen versammeln sich diese Leute bei den Steinwällen und feiern ihre heidnischen Feste. Am allerschlimmsten ist es im Juni, zur Zeit der Sonnenwende. Dann kommen sie in Scharen aus allen Himmelsrichtungen.« Barbara wollte eine Frage stellen. Die Frau war jedoch so aufgebracht, daß sie gar nicht darauf achtete. »Wenn wir könnten wie wir wollten«, fuhr sie erregt fort, »würden wir diese Leute dorthin jagen, wo sie herkommen. Zum Teufel nämlich. Ja, in die Hölle. Weit weg von Aikbury. Aber die Journalisten stehen hinter ihnen. Für die Medien ist das doch eine ganz wunderbare Sache. Da haben sie endlich etwas, worüber sie berichten können.« »Mein Freund ist sehr groß und schlank. Einunddreißig Jahre ist er und hat braune gewellte Haare. Vielleicht sind Sie ihm ja einmal auf der Straße begegnet«, fiel Barbara der Frau aufgeregt ins Wort. Die schüttelte den Kopf. »Ich gucke mir fremde Leute nicht an, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ich bin froh, wenn ich sie nicht sehe. Ich will nur, daß dieses Volk wieder da hinzieht, wo es hergekommen ist.« »Dann können Sie mir also nicht helfen?«
»Nein. Die anderen Laute aus dem Dorf brauchen Sie gar nicht erst zu fragen. Die würden Ihnen nämlich keine Auskunft geben. Hier ist keiner gut auf Fremde zu sprechen.« »Ich danke Ihnen trotzdem. Auf Wiedersehen.« Barbara wandte sich ihrem Auto zu. »Warten Sie!« Barbara sah die Frau fragend an. »Vor ungefähr drei Monaten haben sie hier in der Nähe ein Auto gefunden. Es war einer von diesen kastenförmigen schwarzen Wagen, wie man sie in den fünfziger Jahren gefahren hat. Es lag in einem Flußbett.« »Das war Walters Auto«, rief Barbara. Sie war leichenblaß geworden. »Viel war davon nicht mehr übrig. Tut mir leid, das sagen zu müssen.« »Und Walter… meinen Freund… ihn hat man auch gefunden?« fragte Barbara mit kaum hörbarer Stimme. Die Frau schüttelte den Kopf. »Da war niemand bei dem Auto. Weder drinnen noch draußen. Nicht die kleinste Spur von einem Menschen.« »Und wo befindet sich das Auto jetzt?« »Das liegt noch da und rostet vor sich hin. Wissen Sie, hier bei uns in der Gegend kümmert man sich nur um seine eigenen Angelegenheiten. Alles andere bringt nur Ärger. Da hält man sich besser fern.« »Sie sagten, das Wrack liege beim Flußbett.« »Ganz richtig. Wenn Sie sich das ansehen wollen, müssen Sie nur immer in die Richtung fahren. Nach Osten. Nach ungefähr drei Kilometern werden Sie an den Fluß kommen.« »Vielen Dank für die Auskunft.« »Wollen Sie wirklich heute noch dorthin?« »Ja.«
»Das würde ich Ihnen aber nicht raten. Es kann nicht mehr lange dauern, dann gibt es einen Sturm. Und dunkel wird es auch bald.« »Ich versuche mich zu beeilen«, rief Barbara. Sie stieg in ihr kleines Auto und fuhr in östlicher Richtung davon. Die Frau sah ihr kopfschüttelnd nach. »Jetzt lassen sich auch noch Geschichtswissenschaftler von diesen Hexen einfangen. Was ist das nur für eine Welt?« sagte sie und ging in ihr Haus.
*
Walter verbrachte über zwei Stunden in der Höhle unter der Esche, in der ein keltischer Stamm vor über dreitausend Jahren die Schädel seiner Toten eingemauert hatte. Als er die Höhle verließ und ins Freie trat, war alles Zögernde, Unsichere von ihm abgefallen. Es war, als habe der Aufenthalt bei den Toten ihm ganz neue Kräfte verliehen. Mit weit ausholenden, entschlossenen Schritten eilte er den Abhang hinunter zu dem Gehöft, das seit einigen Monaten sein Zuhause war. Obwohl sich eine Wolke vor die runde Scheibe des Mondes geschoben hatte, konnte Walter so gut sehen, als sei es taghell. Auf dem großen Tisch im Wohnzimmer stand eine Öllampe. Sie beleuchteten das Trinkhorn, das John auf den Boden geworfen hatte. Walter hob es auf. Er stellte fest, daß es daraus unangenehm süßlich roch. »Ruth!« rief er irritiert. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr hilflos-zart, sondern sehr männlich-fest. Ruth kam ins Zimmer. Sie bemerkte augenblicklich die Veränderung, die mit Walter vor sich
gegangen war. Er war nicht mehr ihr Kind, das sie umhegen und versorgen mußte. Er war ein Mann geworden. Ihr Mann. »Ich werde John sagen, daß er nicht länger hier bei uns im Haus bleiben kann«, erklärte Walter. »John ist schon nicht mehr bei uns, Lug.« »Wo ist er?« »Weit weg, Lug. An einem Ort, von dem kein Lebender ihn zurückholen kann.« Walter starrte sie an. Er begriff. Ohne eine weitere Frage zu stellen, ging er an Ruth vorbei in Johns Kammer. Dort sah er den großen, leblosen Mann auf der niedrigen Bettstatt liegen. Die Hände ragten aus dem Hemdärmeln hervor wie die riesigen Krallen eines Skorpions. Walter drehte sich um. Hinter ihm stand Ruth. Das war nicht mehr die zärtliche, fürsorgliche Ruth, die ihm den Weg zurück ins Leben gewiesen hatte. Die ihm wie eine liebevolle Mutter gewesen war. Die neue Ruth hatte überhaupt nichts Mütterliches an sich. In ihrem Gesicht lag etwas Wildes, Entfesseltes. »Wir werden ihn wegbringen zu den anderen Toten«, sagte sie mit rauher Stimme. »Du nicht. Ich werde es allein tun«, bestimmte Walter. Er bückte sich und hob Johns Körper auf seine linke Schulter. John war schwer. Aber er, Walter, war stark. Der Sud aus dem »Wunderholz«, wie Ruth die Iboga-Pflanze nannte, hatte ihn noch stärker gemacht. Ruth trat beiseite. Walter schritt durch die niedrige Tür. Er mußte den Kopf einziehen. Nachdem er einen kleinen Vorraum durchquert hatte, verließ er das Haus. Ohne sich nach Ruth umzusehen, stieg er mit seiner Last die Wiese hinauf. Er ging an dem keltischen Kreuz vorbei und trat
zum zweiten Mal an diesem Tag in die heidnische Grabstätte unter dem Hügel, auf dem die Esche wuchs. Vorsichtig ließ er Johns Körper von der Schulter gleiten. Behutsam setzte er ihn auf die Erde unterhalb des von Steinen ummauerten Totenschädels. Die Hände legte er John gefaltet in den Schoß. Dann nahm er die Kette mit dem Amulett, das Ruth ihm gegen Johns bösen Blick gegeben hatte, von seinem Hals. Da es John nun nicht mehr gab, brauchte er es ja nicht mehr. Gleich darauf verließ er die Grabstätte. Er wußte, daß er niemals dorthin zurückkehren würde. Der Mond war hinter der Wolke hervorgekommen. Die Wiese sah aus wie ein riesiges weißes Leichentuch. Walter stieg den Abhang hinunter. Ruth erwartete ihn im Hof, vor dem Brunnen. Sie stellte ihm keine Frage, und er gab ihr keine Erklärung. In dieser Nacht ließen sie ihren Gefühlen, ihrer Liebe und ihrem Begehren freien Lauf. Am nächsten Morgen, als Ruth noch tief und fest schlief, machte sich Walter daran, Johns Kammer auszuräumen. John hatte nur wenige Dinge besessen, die unordentlich verstreut in dem kleinen Raum herumlagen. Dazu gehörten einige Kleidungsstücke, ein Paar Stiefel aus braunem Pferdeleder, ein Schemel aus rohbehauenem Holz, eine Taschenuhr, deren Zeiger abgebrochen waren sowie ein Päckchen mit Spielkarten. Walter trug alles in den Hof. Er wollte es später zusammen mit Johns Bett verbrennen. Das Bett stand auf niedrigen, stämmigen Vierkantpfosten aus Eichenholz. Zwischen die Matratze aus altem, muffig riechendem Stroh und eine Art Lattenrost hatte John mehrere Tierhäute gelegt.
Walter trug zuerst die Matratze in den Hof und warf sie dort zu den anderen Sachen. Danach schleppte er die Pfosten und den Lattenrost ins Freie. Als er die Tierhäute hochhob, stieg ihm ein fauliger Geruch in die Nase. Angeekelt drehte er das Gesicht zur Seite. Eines der Lederstücke fiel dadurch zu Boden. Er bückte sich, um es aufzuheben. Dabei bemerkte er ein in das Leder gegerbte Schriftzeichen. Reste von weißer Farbe waren auch noch sichtbar. Walter starrte sekundenlang auf das Zeichen. Er kannte es. Irgendwo hatte er es schon einmal gesehen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wann und wo das gewesen war. Das Zeichen übte eine magische Kraft auf ihn aus. Walter legte die Tierhäute, die er noch im Arm hielt, in eine Ecke der Kammer. Das Leder mit dem Zeichen war mehrfach zusammengefaltet. Behutsam versuchte Walter, es auseinanderzunehmen. Es war aber so alt, daß es trotz aller Vorsicht in kleine Stücke zerfiel. Auf jedes dieser Teile waren Zeichen gegerbt. Geometrische Figuren. Kleine und große Würfel, Dreiecke, Kegel, Kreise und keltische Kreuze. Einige waren kaum zu erkennen, andere dagegen klar und deutlich. An einigen hafteten noch Farbreste. Nicht nur Weiß, sondern auch dunkles Rot. Es wirkte so, als seien die Zeichen mit Blut eingefärbt worden. Von den meisten Zeichen war die Farbe jedoch abgegangen. Walter war so vertieft, daß er Ruth nicht kommen gehört hatte. Erst als sie den Namen rief, den sie ihm gegeben hätte, blickte er zu ihr auf. Seine braunen Augen spiegelten die innere Erregung wider, die er empfand. »Sieh doch nur, was ich gefunden habe, Ruth. Es lag unter Johns Matratze.«
Sie zuckte mit den Achseln und strich dabei ihr lockiges Haar zurück. »Was willst du damit? Es ist nichts. Nur ein paar alte Lederfetzen.« »Sieh doch nur die Zeichen. Das erste hier. Ich kenne es. Irgendwo habe ich es schon mal gesehen. Aber ich weiß nicht, was es bedeutet.« »Es bedeutet Tod, Lug.« Walter stand abrupt auf. »Tod? Du kannst die Zeichen also lesen, Ruth?« »Es ist keltisch, Lug.« »Die Zeichen für unsere Sprache. Die du mich gelehrt hast, Ruth.« Sie schmiegte sich an ihn. »Komm jetzt endlich, Lug. Es ist schon bald Mittag. Ich bin hungrig. Wir haben noch gar nichts gegessen.« »Ich bin nicht hungrig, Ruth.« »Hätte ich doch diese dummen Lederfetzen zusammen mit den anderen weggeworfen. Aber John wollte sie unbedingt behalten. Er konnte sich einfach von nichts trennen. Für alles hatte er eine Verwendung.« »Es hat also noch mehr Lederstücke mit den Zeichen gegeben?. Und du hast sie weggeworfen?« »Sie waren wirklich nichts wert, Lug.« »Ruth, sie bergen das Geheimnis der Menschheit. Alle Weisheit der Welt ist auf ihnen verzeichnet.« »Oh, Lug.« »Du sagst, dieses Zeichen bedeutet Tod. Gibt es auch ein Zeichen für Geburt, Ruth?« Während er sprach, breitete Walter die Lederfetzen auf dem Boden aus. Ruth sah ihn mit einem langen Blick an. Sie erkannte, daß er jetzt von einer wilden Leidenschaft ergriffen war, die nichts mit ihr zu tun hatte. »Ruth, welches ist das Zeichen für Geburt?« fragte er.
»Gibt es denn nichts Wichtigeres, Lug?« »Nein, Ruth.« »Bin ich nicht wichtiger als diese Zeichen auf stinkenden alten Tierhäuten?« »Du bist Ruth. Aber die Zeichen sind die Welt.« In ihren Augen blitzte es auf. Sie erkannte, daß es für ihn tatsächlich nichts Wichtigeres gab als diese Zeichen. Er war wie ein Besessener. Sie sah die wilde Entschlossenheit in seinen Augen. Ihr Stolz bäumte sich auf. Sie hatte ihn gerettet, ihm das Leben zurückgegeben. Ohne sie wäre er nach dem Unfall bei dem Autowrack elendiglich verkümmert. Ohne sich zu bedenken und ohne Gewissensbisse hatte sie John, den Gefährten vieler Jahre, ihrer Leidenschaft geopfert. Nichts und niemand sollte sich zwischen sie und Walter drängen. Kein Mensch und erst recht keine alten Lederfetzen. Walter gehörte ihr. Sie war für ihn der Mittelpunkt der Welt gewesen. Und daran sollte sich niemals etwas ändern. Ruth starrte auf die Tierhäute. Nichts anderes nahm sie wahr. All ihre Willenskraft richtete sie auf die abgeschabten dunklen Lederfetzen. Bitte, laß sie brennen, dachte sie. Dabei hielt sie die Arme kreuzweise über der Brust verschränkt. Das Leder schien sich zusammenzukrümmen. Zu Asche sollen sie verbrennen, dachte Ruth grimmig, ohne den Blick von den Tierhäuten zu wenden. Und schon loderten die Flammen auf. Walter schrie entsetzt auf. Er griff nach den Tierhäuten, auf denen die Weisheit von Jahrtausenden verzeichnet war. Das Feuer verbrannte ihm die Hände. Er spürte nicht den Schmerz. Es war zu spät. Er konnte die Schriften nicht aus den Flammen retten.
Schließlich hielt er nur noch heiße, glühende Asche in Händen. Langsam, mit leeren Augen, ließ er sie auf den Boden rieseln. Er starrte auf Ruth. »Du hast alles zerstört. Das Geheimnis der Welt.« Sie erkannte den Haß in seinen Augen. Es war ein mörderischer Haß. In der letzten Nacht waren sie noch leidenschaftlich Liebende gewesen. Und jetzt dieser Haß. Er riß Lug von ihr. Aber Lug würde ihr nicht entkommen. Denn sie kannte die Schrift. Nur sie. Kein anderer lebender Mensch außer ihr. Lug war ein Besessener. Er war beherrscht von einem einzigen Gedanken: Die Schriftzeichen zu entziffern. Sie würde ihm immer wieder Hoffnung machen, daß sie ihn diese Gabe lehren würde. Auf diese Weise würde sie ihn für immer an sich ketten. Er war hilflos gefangen. Es gab für ihn kein Entrinnen. Im Dämmerkreis der beginnenden Nacht tauchte vor Barbaras Augen das Wrack von Walters Auto auf. Sie stieg aus ihrem kleinen Wagen und ging hin. Die Seitentür war so zugeklemmt, daß es ihr völlig unmöglich war, sie zu öffnen. Die Karosserie war zum Teil verrostet. Barbara blickte durch die zerborstene Windschutzscheibe ins Innere des Wracks. Die Klappe des Handschuhfachs stand offen. Sie griff hinein und entnahm ihr Walters Notizbuch mit dem schwarzen Einband. Der Regen hatte es so sehr aufgeweicht, daß die Blätter nur noch eine pappige Masse waren. Aus dem Wind war inzwischen ein richtiger Sturm geworden. Er heulte über das öde Land. Eine Elster vertrieb eine Möwe vom Ast eines kahlen Baumes.
Barbara stieg die Böschung des Flußbettes hinauf. Als sie sich an einer vorstehenden Steinplatte festhielt, bemerkte sie etwas Glänzendes. Sie hob es auf und säuberte es mit einem Taschentuch. »Der Ring«, stieß sie verstört hervor. Es war ein schlichter schmaler Goldreif. Der gleiche Ring, wie sie ihn an der linken Hand trug. Nur größer. Walters Verlobungsring. Während Barbara noch dastand, fing es plötzlich heftig an zu regnen. Sie lief zu ihrem kleinen Wagen zurück und warf die Tür hinter sich zu. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß sie, um etwas sehen zu können, die kleine Lampe über der Sichtblende anschalten mußte. Sie hielt den Ring nahe an die Lampe. Barbara und Walter, las sie. Der Juwelier hatte die Vornamen auf ihren Wunsch hin auf die Innenseite graviert. Barbara berührte den Ring mit ihren Lippen. Es war ihr, als würde sie Walters Mund küssen. Sie meinte ihn vor sich zu sehen, wie er sie anlächelte. In diesem Moment wußte sie, daß sie nicht eher ruhen würde, bis sie ihn gefunden hatte. Und wenn sie bis ans Ende der Welt fahren müßte. Barbara sah zum Fenster hinaus. Noch nie hatte sie einen so heftigen Regen erlebt. Das war mehr als ein harmloser Wolkenbruch. Die Natur schien entfesselt zu sein. Sie fragte sich, wo sie die Nacht verbringen sollte. Bei dem Gedanken spürte sie Angst. Die Angst wollte sie überwältigen. Der Ring, den sie fest in der rechten Hand hielt, verlieh ihr jedoch auf seltsame Weise neue Kraft und neuen Mut. Sie zog die Beine an den Körper. Ihre Hände lagen auf den Knien. Auf diese eigentlich wenig bequeme Weise verbrachte sie die folgenden drei Stunden.
Schließlich hörte es auf zu regnen. Hinter einer Wolke kam der volle Mond hervor. Der Wind wurde schwächer. Barbara reckte und dehnte ihre erstarrten Glieder. Dann drehte sie den Autoschlüssel im Zündschloß herum. Langsam und äußerst vorsichtig fuhr sie rückwärts. Nach einigen Metern wendete sie und fuhr geradeaus weiter. Sie beschloß, nach Aikbury zurückzufahren. Dort, im Schutz der Häuser, wollte sie im Auto sitzend den Rest der Nacht verbringen. Am nächsten Morgen, nahm sie sich vor, würde sie ihre Suche nach Walter fortsetzen. Der starke Regen hatte den Boden des Wagens jedoch so sehr aufgeweicht, daß die Räder des Wagens steckenblieben. Wieder war Barbara kurz vor dem Verzweifeln. In diesem Moment fiel ihr Blick auf Walters Ring, den sie auf den Beifahrersitz gelegt hatte. Sie nahm ihn zur Hand. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit kehrten sofort zurück. Sie steckte den Ring in die Tasche ihres Wettermantels und stieg aus. Nachdem sie einen sanft ansteigenden Hügel hinaufgegangen war, bemerkte sie im Mondlicht ein heidnisches Kreuz. Ähnliche Kreuze hatte Walter früher in Wales, aber auch in Irland und Schottland und in der Normandie fotografiert. Sie standen dort, wo die Kelten ihren Göttern Menschenopfer darzubringen pflegten, hatte Walter Barbara berichtet. Barbara spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken ging. Sie stellte sich vor, daß an dieser Stelle Menschen auf grausame Weise zu Tode gekommen waren. Sie vermied es tunlichst, das Kreuz anzuschauen oder gar zu berühren. Statt dessen meinte sie am Fuße einer abschüssigen Wiese ein Licht zu sehen. Sie lief die Wiese hinunter und merkte, daß sie sich nicht getäuscht hatte.
Vor ihr lag ein langgestrecktes und ebenerdiges, aus Feldsteinen erbautes Haus. Aus einem der kleinen Fenster kam ein Lichtschein. Barbara blieb vor dem Haus bei dem Brunnen stehen. Sie lauschte angestrengt. Der Wind rauschte in den Zweigen der alten Esche, die hinter ihr wuchs. Ein Uhu schrie. Nur zögernd näherte Barbara sich dem Fenster, aus dem das Licht kam. Sie mußte sich auf Zehenspitzen stellen, um hineinschauen zu können. Sie sah eine Frau bei einer sehr seltsamen Tätigkeit. Auch die Frau selbst wirkte ziemlich ungewöhnlich. Üppig gelocktes kupferrotes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, umgab ein längliches Gesicht. Die weit aufgerissenen Augen wirkten übergroß. Sie leuchteten wie die Augen einer Katze in der Dunkelheit. Die Frau trug ein langes blutrotes, grob gewebtes Gewand, das ihr bis zu den Fesseln reichte. Um die Taille hatte sie einen breiten Metallgürtel gebunden, auf dem die Köpfe von Widdern dargestellt waren. Ihre Füße waren nackt. Sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Schlange. Wieder und wieder schlich sie um vier Schalen aus Ton herum, die auf dem Boden standen. Barbara konnte nicht erkennen, was sie enthielten. Neben einer Schale stand eine rote Kerze, ihr gegenüber verbrannte Weihrauch. Der benebelnde Duft drang durch die Fensterritzen ins Freie. Die Frau bewegte die Lippen. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, legte den Kopf in den Nacken und hob die Arme zur Decke. Dann riß sie den großen roten Mund auf und schloß die Augen. Barbara wagte kaum zu atmen. Für eine kurze Zeit vergaß sie sogar Walter.
Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Zwei Hände hatten sich auf ihre Schultern gelegt. Unwillkürlich löste sich von Barbaras Lippen ein Schrei des Entsetzens.
*
Walter war außer sich. Den ganzen Tag und die halbe Nacht hatte er damit verbracht, aus dem Gedächtnis die Zeichen aufzumalen, die er auf den Tierhäuten entdeckt hatte. Wenige waren ihm im Gedächtnis geblieben. Auch von ihnen wußte er nicht, was sie bedeuteten. Nur das Zeichen für Tod hatte Ruth ihm genannt. Er hatte sie verzweifelt angefleht und ihr gedroht, ihm auch die anderen Zeichen zu enthüllen. Jedes Jahr, hatte sie gesagt, werde sie ihm eines nennen. Aber es gab so viele. Zwanzig Jahre oder mehr würden vergehen, bis er alle Zeichen entziffern konnte. Er mußte Ruth zwingen, ihm ihr Wissen preiszugeben. Er haßte sie. Am meisten haßte er die Art, wie sie über ihn lachte. »Du bist wie John«, hatte sie verächtlich erklärt. »John glaubte auch, mich zwingen zu können.« Schließlich war Walter in die Nacht hinausgestürmt. Er hatte Angst vor sich und seinem Haß. Angst, daß er Ruth etwas antun könnte. Dann würde er niemals erfahren, was die Zeichen bedeuteten. Als er nach wildem Lauf durch die Nacht zu dem Anwesen zurückkehrte, sah er vor dem Fenster zu dem großen Zimmer ein fremdes Wesen stehen.
Walter kannte keine andere Frau als Ruth. Er hatte geglaubt, Ruth, John und er seien die einzigen Menschen auf der Welt. Da John nicht mehr lebte, waren nur noch Ruth und er übrig geblieben. Zwar gab es noch die Geister der Toten, aber die waren nicht sichtbar. Walter glaubte nicht daran, daß das Wesen vor Ruths Fenster aus Fleisch und Blut sei. Er hielt es für eine jener Nixen, von denen Ruth ihm erzählt hatte. In seinen Träumen hatte er sich diese Nixen immer wieder vorgestellt. Kein Traum reichte jedoch an die wirkliche Nixe heran. Walter sah, daß sie Haar aus Gold hatte. Ihr Gesicht, das er im Profil sah, war lieblicher und schöner als alles, was er jemals erblickt hatte. Als er beobachtete, daß sie einen Schritt zurücktrat, überkam ihn Angst, sie könnte fliehen. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. Erstaunt stellte er fest, daß sie kein Geist, sondern wirklich aus Fleisch und Blut war. Als er ihren Schrei hörte, wich er erschrocken zwei Schritte zurück. Sie sah ihn mit großen Augen an. Ihr Mund war noch immer geöffnet, aber es kam kein Schrei mehr, sondern nur ein Flüstern. Und dann passierte etwas Unglaubliches. Sie legte die Arme um seinen Hals. »Walter«, hauchte sie, und in ihrer Stimme schwang Jubel mit, »Walter, ich habe dich gefunden.« Er schob sie erschrocken von sich. »Walter, erkennst du mich denn nicht?« fragte sie ungläubig. »Walter?« erwiderte er mit leiser Stimme. »Du bist Walter.« »Walter?« Es klang wie eine Frage. Er hatte das Gefühl, als erreiche ihn das Wort aus weiter Ferne. Er kannte es. Aber es war keines der Wörter, die Ruth ihn gelehrt hatte.
Barbara wollte nach seiner Hand greifen. Er ließ es jedoch nicht zu. »Walter, was ist dir, Walter?« fragte sie. »Walter. Walter.« Ja, er hatte das Wort schon gehört. Barbara holte seinen Verlobungsring aus der Tasche ihres Wettermantels. »Hier, Walter. Ich habe ihn gefunden. Er gehört dir.« Er streckte die Hand nach dem Ring aus. Als Barbara ihm den Ring über den Finger streifen wollte, zog er die Hand aus Angst vor einer Berührung rasch wieder weg. In diesem Moment wurde die niedrige Haustür geöffnet. Ruth trat heraus. Als sie Barbara erblickte, hielt sie für eine Sekunde auf der Türschwelle inne. Dann fuhr sie auf die Rivalin los wie eine Rachegöttin. »Was wollen Sie hier mitten in der Nacht?« rief sie auf englisch. »Ich habe nach Walter gesucht. Walter und ich sind verlobt«, erwiderte Barbara ihrerseits aufgebracht. Walter wandte sich Ruth zu. »Was hat sie gesagt? Wer ist sie? Sie spricht die gleiche Sprache, die John gesprochen hat. Hat John sie geschickt?« Ruths Gesicht zuckte. Ihr Atem ging heftig. »Ja, Lug, es war John, der sie geschickt hat.« »Frag sie, was John ihr aufgetragen hat, Ruth. Bitte, frage sie.« Ruth wandte sich wieder Barbara zu. »Er hat gesagt, daß Sie weggehen und niemals wiederkommen sollen.« Barbara sah fassungslos von Ruth auf Walter. Sie verstand nicht, was da eigentlich vor sich ging. Aber sie begriff, daß Walter nicht mehr der Mensch war, den sie gekannt und geliebt hatte. Etwas ganz Schreckliches war mit ihm passiert. »Walter, ich bin doch deine Barbara«, flüsterte sie. »Gehen Sie endlich. Mein Mann und ich wollen Sie hier nicht haben«, herrschte Ruth Barbara an.
»Ihr Mann? Walter ist Ihr Mann?« stieß Barbara hervor. »Wir sind Mann und Frau.« Ruth sah Barbara fest in die Augen. Barbara spürte, wie dieser Blick sie niederzwingen wollte. Es gelang ihr jedoch, ihm standzuhalten. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« warf sie Ruth vor. Um Ruths Lippen bildete sich ein Lächeln. Die Zärtlichkeit war daraus geschwunden. Es hatte etwas Grausames und Kaltes. »Einen Menschen, das habe ich aus ihm gemacht.« Barbara fiel ein, daß die Frau aus Aikbury etwas von Hexen erzählt hatte, die sich in der Gegend niedergelassen hatten. Wenn es wirklich heidnische Hexen gab, dann war diese Frau eine von ihnen. »Walter«, rief Barbara, »Walter, ich bin es, Barbara. Deine Barbara.« »Gehen Sie endlich. Gehen Sie!« herrschte Ruth sie an. Barbara wartete darauf, daß Walter etwas sagte. Er schwieg. »Walter… Walter«, fuhr Barbara eindringlich fort. »Walter«, wiederholte er. Wie seltsam ihn doch dieses Wort berührte. »Lug«, betonte Ruth auf keltisch, »ich werde dich das Zeichen für Liebe lehren.« Er drehte sich zu ihr herum. Ihre Augen schienen zu glühen. »Du wirst es mich lehren?« »Ja, Lug.« Walter sah auf Barbara. Ihre Schönheit kam ihm vor wie etwas Überirdisches. Noch immer wollte er nicht glauben, daß sie ein Mensch aus Fleisch und Blut war. »Das Zeichen für Liebe, Lug«, raunte Ruth. »Walter«, rief Barbara, »Walter.« Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen den beiden Frauen.
Das Zeichen für Liebe… Er mußte es wissen. Ruth würde es ihn lehren. Tod und Geburt und Liebe. Dann kannte er schon zwei Zeichen. »Zeig es mir, Ruth«, sagte er. Ohne Barbara noch einmal anzusehen, drehte er sich um und ging ins Haus. Ruth warf einen triumphierenden Blick auf Barbara. »Kommen Sie niemals wieder. Niemals!« befahl sie ihr drohend. Ruth erwachte nach kurzem Schlaf. Es war noch nicht einmal ganz Tag, als sie aufstand. Sie kleidete sich eilig an und trat zu Walter in die Kammer. Er schlief tief und fest. Neben sich an die Wand hatte er mit weißer Farbe das Zeichen für Liebe gemalt. Ruth wußte, daß er während der nächsten Stunde nicht aufwachen würde. Das Kraut, das sie ihm spät in der Nacht in den Becher mit Ziegenmilch gemischt hatte, würde bestimmt dafür sorgen. Ruth war unruhig. Ein Gefühl sagte ihr, daß Barbara sich in der Nähe aufhielt. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie spürte Barbaras Gegenwart. Ruth machte sich auf die Suche nach der verhaßten Rivalin. Im Haus konnte sie keine Spur von Barbara entdecken. Auch nicht im Hof. Nachdem sie im Brunnen nachgesehen hatte, stieg Ruth über die Mauer, die das Anwesen umgrenzte. Sie lauschte und drehte sich langsam um die eigene Achse. Plötzlich hielt sie inne. Es war, als habe sich eine unsichtbare Hand auf ihren Körper gelegt. Ruth blickte gen Osten. Sie begann die abschüssige Wiese hinaufzusteigen. Neben dem keltischen Kreuz sah sie die Rivalin liegen. Barbaras Kopf ruhte auf dem linken Arm. Das goldfarbene Haar berührte den graugrünen Rasen. Die Augenlider waren so zart, daß das bläuliche Geäst der winzigen Äderchen in der aufgehenden Morgensonne durch die Haut schimmerte. Die
Wangen waren von rosigem Schein überzogen. Barbara atmete tief und gleichmäßig. Ruth kniete vor ihr nieder. Aus ihrer Rocktasche nahm sie ein Stück von dem Wunderholz Tabernanthe Iboga. Sie rieb es in ihrer Hand und hielt es Barbara unter die Nase. Danach machte sie ihr mit dem Wunderholz ein Zeichen auf die Stirn. Um Barbaras Lippen legte sich ein kleines Lächeln, als würde sie sich in schönen Träumen wiegen. »Schlafe bis in alle Ewigkeit«, murmelte Ruth. Sie hob Barbara hoch und warf einen Blick auf den Eingang zum Grabhügel. Ihr kam der Gedanke, Barbara neben John zu legen. Da sie aber nicht kräftig genug war, um den Zugang zur Totenstätte mit großen Steinen zu verschließen, gab sie die Absicht wieder auf. Statt dessen trug sie Barbara über die Wiese zu ihrem Haus. Die Tür knarrte in den eisernen Angeln. Ruth lauschte mit angehaltenem Atem. Sie fürchtete, daß Walter aufgewacht sein könnte. Als alles still blieb, trug sie Barbara durch die große Stube in eine angrenzende kleine Kammer. Dort drückte sie auf einen Stein. Er gab nach. Zum Vorschein kam eine schmale, sehr steile Treppe. Vorsichtig, um nicht mit ihrer Last auf den glitschigen Stufen auszurutschen, stieg Ruth die Treppe hinunter. Nach acht Stufen hatte sie den Boden erreicht. Sie kannte sich hier aus und brauchte kein Licht. Am Ende eines winkligen Ganges hatte sie ihr Ziel erreicht. Jahrtausende hatte dieser Ort im Dunkeln gelegen. Es war John gewesen, der das Kellergewölbe entdeckt und freigelegt hatte. Beim Ausbau des Gehöfts war er darauf gestoßen. Sie hatten wundervoll verzierte Schalen aus Gold, herrlichen Schmuck, Waffen, Schilde, Trinkhörner und Amulette geborgen.
Ruth hatte vorgehabt, Walter eines Tages in das Gewölbe zu führen und ihm die Schätze zu zeigen, die dort noch lagerten. Sie war froh, daß es nicht dazu gekommen war. Würde doch die Frau, die sie auf ihren Armen trug, ihre Rivalin, dort ihr Grab finden. Niemand würde die Verhaßte hören, wenn sie aufwachte und um Hilfe rief. Lug würde wieder ihr, Ruth, gehören. Ihr allein. Wenn er sie auch nicht mehr liebte. Wenn sich ihre Liebe auch in abgrundtiefen Haß verwandelt hatte. Sie waren für immer aneinander gebunden.
*
Walter richtete sich auf. Das Mädchen. Er hatte es im Traum ganz deutlich vor sich gesehen. Ihre klarblauen Augen, der schöngezeichnete Mund, das feine, von goldfarbenem Haar umrahmte Gesicht waren ihm so nah gewesen, als habe sie wirklich neben ihm gelegen. »Walter«, hatte sie gesagt. Er stand auf. »Walter, Walter, Walter«, murmelte er vor sich hin. »Walter, bist du schon da?« hörte er das Mädchen rufen. Ihre Stimme hatte einen hellen Klang. Er sah sie vor sich, wie sie auf ihn zukam. In einem grünen Anzug. Sie lachte und küßte ihn auf den Mund. Er formte neue unbekannte Worte. »Mein Liebster, Geliebter«, sagte der Mund. Walter riß die Tür auf. Vor ihm stand Ruth. »Wo ist sie?« stieß er hervor. »Wer?«
»Sie.« »Du hast geträumt.« »Ich habe sie gesehen. Mit meinen eigenen Augen. Und ich habe sie berührt. Wo ist sie?« »Es gibt nur dich und mich, Lug.« »Ich bin nicht Lug. Ich bin…« Er machte eine Pause. »Du bist Lug, Lug!« rief Ruth alarmiert. Er sah ihr in die Augen. »Ich bin Walter.« Ruth fing plötzlich an zu lachen. Es war ein grauenvolles, schauriges Lachen. »Hör auf! Ich befehle es dir, hör auf zu lachen, Ruth!« Ihr Lachen brach jäh ab. Ihr Blick war kalt wie Eis und hart wie Stein. »Du willst mir befehlen, Lug?« »Ich will wissen, wo die helle Frau ist.« »Ich bin die helle Frau.« »Nein, Ruth. Du bist das Dunkel. Das Verderben. Du bist die Zerstörung. Das Zeichen für Tod. Ich suche das Zeichen für Leben. Ich suche das Leben, das helle, goldfarbene, klarblaue Leben.« Ihr Mund verzog sich zu einer häßlichen Grimasse. »Du wirst es nirgendwo finden, Lug.« Während Walter Ruth ansah, erschien vor seinem inneren Auge ein anderes Bild. Er sah einen jungen Mann und eine lichte Gestalt über eine bunte Blumenwiese schlendern. Sie hielten einander an der Hand. »Walter, mein liebster Walter«, sagte die lichte Gestalt. Er spürte ein tiefes Weh, eine grenzenlose Verzweiflung. Neue Wörter drangen auf ihn ein. Immer neue Bilder tauchten vor ihm auf. Hohe Häuser. Ein Kran, an dem ein Mensch hing. Ein junger Mann, der sagte: »Das ist der tollste Kick, den ich jemals erlebt habe.«
»Lug, ich werde dir etwas zu trinken bringen«, erklärte Ruth. »Nein, das wirst du nicht.« »Du traust mir nicht?« »Ich traue dir nicht mehr, und du traust mir nicht, Ruth.« Er drehte sich um und durchquerte den kleinen Raum. »Wo willst du hin, Lug?« rief Ruth. »Ich muß allein sein.« »Bleib hier, Lug!« »Nein!« »Ich werde dich ein neues Zeichen lehren, Lug. Das Zeichen für Leben.« Er blieb stehen und blickte sie an. »Nein, Ruth, nein«, sagte er mit leiser Stimme. Ihre Augen weiteten sich. »Du willst die Zeichen nicht mehr lernen?« »Was nützt mir das Zeichen für Leben, wenn ich nicht weiß, was das Leben ist, Ruth. Die Zeichen sind nur tote Gebilde. Aber das Leben ist viel mehr.« Ohne weiter auf sie zu achten, verließ er das Haus. Er stieg den Abhang hinauf. Als er bei dem heidnischen Kreuz angelangt war, sah er etwas Helles im Gras aufblinken. Er hob es auf. Es war der Ring, den das Mädchen ihm in der Nacht an den Finger stecken wollte. Walter streifte ihn über seinen linken Ringfinger. Er paßte wie für ihn gemacht. Auf einmal wußte Walter, daß er diesen Ring früher einmal getragen hatte. Er sah sich gemeinsam mit dem jungen Mädchen. Die beiden standen in einer Wohnung mit hellen Möbeln und hielten sich an den Händen. Beide trugen sie den gleichen Ring. »Barbara«, sagte er fassungslos. Es war, als würde dieser Name in seinem Innern eine Tür öffnen. Was einmal gewesen war, kehrte als Erinnerung zurück. Sein ganzes früheres Leben.
Er sah sich als kleinen Jungen an der Hand seiner Eltern. Zusammen mit Freunden und Freundinnen. Und dann nur noch mit Barbara. Während einer Bootsfahrt auf der Themse. In einem sommerlichen Park. Im Schnee während eines Urlaubs in den Bergen. Zum Schloß sah er sich in einem kastenförmigen schwarzen Auto nach Wales fahren. Es regnete. Die schweren Tropfen trommelten auf den Wagen. Er stürzte vornüber. Im Sturz hörte er seinen eigenen Schrei. Was dann geschah, wußte er nicht mehr. Die Erinnerung wurde an dieser Stelle zu einer mächtigen Woge, die über ihn hinwegrollte. Seine Knie zitterten. Er mußte sich mit dem Rücken gegen das heidnische Kreuz stützen, um nicht umzusinken. Sein Blick fiel auf die keltische Grabstätte unter den alten Eschen. Er dachte an John. Entsetzen packte ihn, als er daran dachte, daß er John ins Totenreich befördert hatte. Nachdem er neue Kräfte gesammelt hatte, ging er zum Eingang. Seine rechte Hand umklammerte eine der starken Baumwurzeln. Aus der Grabstätte drang ein feuchter Geruch. Auf einmal meinte Walter einen menschlichen Laut zu hören. Es war wie ein Stöhnen. »John«, rief er. Wieder vernahm er das dunkle Stöhnen. Er trat ein. Die Kammer war so niedrig, daß er nur gebückt gehen konnte. Seine Hand glitt über einen Totenschädel. Er verspürte weder Angst noch Grausen. Walter erinnerte sich, daß die Kelten die Köpfe ihrer Feinde in steinernen Nischen zur Schau gestellt hatten. Er hatte sogar ein Buch über den Kultentod der Kelten geschrieben. Die Art, wie der Schädel ummauert war, weckte sein wissenschaftliches Interesse. Wieder war ein menschliches Stöhnen zu hören.
»John«, sagte Walter mit leiser Stimme und tastete sich tiefer in die Grabhöhle hinein. Das Stöhnen war jetzt direkt neben ihm. »John. Um Himmels willen, John.« Walter spürte eine Hand an seiner Fußfessel. »John.« Walter hob den völlig entkräfteten Mann, der nicht viel mehr war als ein Skelett und nur noch die Hälfte seines früheren Gewichts hatte, auf die Arme und trug ihn ins Freie. John blickte ihn mit matten Augen an. Er bewegte die Lippen, aber es kam kein Wort hervor. Walter brachte ihn ins Haus. Als er zur Tür hereintrat, stieß Ruth unwillkürlich einen lauten Schrei aus. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. »Was willst du denn mit einem Toten, Lug?« fragte sie entsetzt. »Er ist nicht tot«, antwortete Walter. Ruth hatte keltisch mit ihm gesprochen. Er antwortete jedoch auf englisch. John hielt die Augen geschlossen. Walter trug ihn zu seinem eigenen Bett und legte ihn fürsorglich auf die Matratze. Als er sich umdrehte, sah er, daß Ruth ihm gefolgt war. »Du hast mir mit Salben und Essenzen aus Pflanzen geholfen, als ich verletzt war, Ruth. Jetzt hilf John«, forderte er sie mit harter Stimme auf. Ruth erkannte an seinem Gesicht, daß er sie verabscheute. Sie hatte ihn für immer verloren. Er wollte nicht einmal mehr, daß sie ihn die Schriftzeichen lehrte. »Hätte ich dich doch sterben lassen«, schleuderte sie ihm entgegen. »Darum geht es jetzt nicht, Ruth. Wir müssen unbedingt John retten.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde keinen Menschen mehr retten. Nie wieder.«
Walter erhob sich. Er ging auf Ruth zu. Das war nicht mehr der hilflose Mann, für den sie der Mittelpunkt der Welt gewesen war. Der ihr gefolgt war wie ein kleines Kind. Der die Wörter von ihren Lippen abgelesen hatte. Dieser Mann war entschlossen zu handeln. Er war stark. Ruth wich bis über die Türschwelle zurück. Walter schloß dicht vor ihr wortlos die Tür. Er kehrte zu John zurück. Auf Johns Stirn stand kalter Schweiß. Walter wischte ihn mit einem Zipfel des weißen Leinentuchs ab, der die Matratze bedeckte. »Keine Angst, John, keine Angst, ich passe auf dich auf.« »Ruth…« »Sie wird dir nichts Übles mehr antun.« In diesem Moment war ein dumpfes Pochen zu hören. Walter lauschte mit angehaltenem Atem. Wieder erklang das Pochen. Es schien aus der Tiefe der Erde hervorzubrechen. »Was ist das?« flüsterte Walter. »Ein Mensch«, kam es fast unhörbar von Johns Lippen. Das Pochen erklang jetzt in drei rasch aufeinanderfolgenden Schlägen. Walter griff nach Johns Hand. Dessen Finger waren wie die abgezehrten Krallen eines riesigen Vogels. Sie verkrampften sich in Walters Handrücken. Jetzt erfolgte das Pochen in Abständen von wenigen Sekunden. Es wurde schnell und schneller. Wie ein wildes unterirdisches Hämmern. »Rette… den Menschen… das Leben…«, raunte John mit blutleeren Lippen. Das Leben. In diesem Augenblick wußte Walter, daß es Barbara war, die gegen die Zimmerdecke klopfte. Denn sie war das Leben. Das helle, schöne Leben.
Johns Finger lösten sich von Walters Handrücken. Sie glitten auf das Bettuch. Um seinen Mund zuckte es. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Zeichen für Liebe, das Walter auf die Wand gemalt hatte. Sein Kopf fiel zur Seite. Er konnte das Zeichen nicht mehr sehen. »John«, flehte Walter. Er legte eine Hand auf Johns Brust und stellte fest, daß Johns Herz aufgehört hatte zu schlagen. Behutsam schloß er ihm die Augen. Wieder war direkt unter seinen Füßen das dunkle Pochen zu vernehmen. Walter schloß daraus, daß der Raum, in dem Barbara sich befand, direkt unterhalb der Kammer sein mußte. Er riß die Tür auf und lief durch das Haus, um nach Barbara zu suchen. In dem großen Raum, dem sich die Küche anschloß, hielt Walter inne. Er zwang sich zur Ruhe und Besonnenheit. Wenn er Barbara retten wollte, durfte er nicht kopflos handeln. Walter zweifelte nicht daran, daß das Gehöft auf den Resten einer uralten keltischen Siedlung errichtet worden war. Unter dem Haus mußte also ein labyrinthisches Gewölbe aus keltischen Wohnanlagen liegen. Um sich zu orientieren, lief Walter in die Kammer zurück, in der John lag. Mit angehaltenem Atem lauschte er. Von dem Pochen war jetzt nichts mehr zu hören. Sein Blick fiel auf das Zeichen für Liebe. »Barbara«, hauchte er kaum vernehmlich. »Barbara.« Es mußte einen Weg geben, der ihn zu ihr führte. Walter riß alle Türen auf. Er sah in Schränken nach. Immer fieberhafter begann er zu suchen. Nirgendwo fand er ein Zeichen von Barbara.
Er konnte keinen kühlen Kopf mehr wahren, nicht länger ruhig und besonnen sein. Der Liebende in ihm war stärker als der Wissenschaftler. »Ruth!« gellte sein Schrei. »Ruth!« Sie kam. Haß stand in ihren Augen. Er stürzte auf sie zu. »Wo ist sie?« »Wer?« »Sie. Du hast sie unter die Erde gebracht. Ich weiß es genau, ich habe sie gehört.« Ruths Nasenflügel bebten. Sie warf den Kopf in den Nacken. »Gehört hast du sie?« »Du Hexe! Du böse, bösartige, zerstörerische, todbringende Hexe!« Sie lachte laut und abgehackt auf. Walter mußte dabei an das Kreischen von Elstern denken. Plötzlich hielt Ruth inne. Aus dem Augenwinkel sah sie auf die Längsseite des Zimmers. Walter war der tückische Blick nicht entgangen. Er sah keine Tür. Ihm fiel aber auf, daß einer der Steine, die die Mauer bildeten, ein wenig vorstand. Mit wenigen Schritten war er da. »Lug!« schrie Ruth auf. Sie wollte ihn zurückreißen. Er stemmte sich mit einer Hand gegen sie. Mit der anderen zog er an der Mauer. Dabei stellte er fest, daß es kein Stein war, der dort eingearbeitet war, sondern nur eine Attrappe aus Pappe, die er mühelos wegziehen konnte. »Lug, es ist der Weg in die Hölle!« »Die Hölle, das bist du selbst, Ruth!« Sie wurde auf einmal ganz still. Die Arme fielen ihr an den Seiten herab. Ihr Gesicht bekam einen leeren Ausdruck. Nur die grünen Augen schienen zu leben. Sie hielt sie auf den großen Tisch in der Mitte des Zimmers gerichtet, den John aus rohen Platten zusammengezimmert hatte.
Walter wagte nicht, sich zu bewegen. Er sah, wie sie die Lippen bewegte. »Du sollst brennen! Ich befehle dir zu brennen! Brenne, ich befehle es dir!« flüsterte Ruth. Schon färbte sich die schwere Tischplatte an einer Ecke rötlich. Sie begann zu glimmen. »Nein!« schrie Walter. »Nein!« Ruth sah ihn triumphierend an. »Ich hätte dich zu einem Gott gemacht, Lug. Aber du hast mich weggestoßen. Du wolltest sie, nicht mich. Aber du wirst sie nicht bekommen!« Ruth wandte sich dem Tisch zu. Aus der Mitte der schweren Platte schossen bereits die ersten Flammen hervor. Walter stürzte durch die Öffnung in der Wand in das Gewölbe. Ihn umfing tiefe Dunkelheit. Die Wände waren feucht und voller Schimmel. Er rutschte auf den Stufen aus, kam aber wieder auf die Füße, tastete sich an den glitschigen Wänden entlang. »Barbara, Barbara!« schrie er immer wieder. Der unterirdische Gang zweigte mehrmals nach verschiedenen Richtungen ab. »Barbara, ich bin es, Walter!« »Walter!« Sie warf sich ihm an die Brust. Er hielt sie fest, ganz fest, und er spürte, daß sie am ganzen Leib zitterte. Zarte Hände legten sich um sein Gesicht. »Walter, Walter!« Auch die Hände und ihre Stimme zitterten. »Es ist gut, Barbara, es ist alles gut. Ganz ruhig. Faß mich an. Ich halte dich fest. Dir wird kein Leid geschehen.« Sie griff nach seiner Hand. Gemeinsam tasteten sie sich zurück. Wenn Walter stehenblieb, um sich in dem Labyrinth der unterirdischen Gänge zu orientieren, preßte sie sich fest an ihn. Er spürte ihren Atem auf seinem Gesicht. »Da! Hast du gehört?« stieß sie hervor.
»Nein.« »Ein Prasseln.« »Das Feuer«, dachte er. »Es wird so heiß, Walter.« »Ja, meine Liebste.« Sie waren gefangen. Er hielt ihre Hand fester und zog sie in einen seitwärts gelegenen Gang. Hier war das Prasseln nicht mehr zu hören. Barbara schlang die Arme um Walters Hals. Er preßte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Vor seinem inneren Auge tauchte ein geometrisches Zeichen auf. Es war das Zeichen, das Geburt und Leben hieß. »Leben«, flüsterte Walter. Dabei spürte er, wie die Wand hinter ihm leicht nachgab. Er stemmte sich mit aller Macht dagegen. Schon war ein Lichtschein zu erkennen. »Licht, Walter, Licht.« »Leben, Barbara, das Leben.« Er hob sie auf seine Arme und lief mit ihr auf das Licht zu. Zum hellen goldfarbenen Licht. Zum Leben. Ein schmaler Gang führte sie über Steintreppen, an die sich uralte Baumwurzeln klammerten, ins Freie. Hinter einer dunklen Wolke kam die Sonne hervor. Sie hielten sich noch immer wie Kinder an den Händen. Die Gesichter hatten sie den wärmenden, heilenden Sonnenstrahlen zugewandt. »Mein Liebster, oh, du mein Liebster.« »Meine geliebte Barbara.« Er küßte sie unendlich zart auf die Stirn. Ein schrilles lautes Lachen riß sie aus ihrer Verzauberung. Walter und Barbara drehten sich um.
Auf dem Rand des Brunnens vor der Esche stand Ruth. Ihr Gesicht war schwarz von Ruß. Das rote Haar hing ihr wirr über das Gesicht. »Ich hätte einen Gott aus dir gemacht, Lug!« gellte Ruths wilder Schrei. Das Gehöft hinter ihr war ein einziger Ort der Verwüstung. Die Steinmauern standen noch. Alles andere, das Dach, die hölzernen Stützbalken, Türen und Tore sowie die gesamte Einrichtung waren in den Flammen vernichtet worden. »John«, sagte Walter mit leiser Stimme. Auch John war zu Asche geworden. »Einen Gott wollte ich aus dir machen, Lug«, kreischte Ruth schrill. Dabei bewegte sie den Kopf mit rhythmischen Bewegungen hin und her. Eine Krähe flog über sie hinweg und ließ sich auf der Esche nieder. »Laß uns gehen, Walter«, bat Barbara. »Ja, meine Liebste.« »Ein Gott solltest du sein, Lug!« gellte Ruths Schrei. Es folgte ein irres Gelächter, das Barbara und Walter einen Schauer über den Rücken jagte. Sie gingen schnell die Wiese hinauf. Auf der Kuppe der Anhöhe blieben sie stehen. Neben ihnen war das keltische Kreuz. Unter ihnen das verbrannte Gehöft. Auf dem Rand des Brunnens stand eine Frau in rotem Kleid und mit rotem Haar. Sie schrie etwas Unverständliches. »Komm, Liebes«, sagte Walter. Sie gingen auf einen Felsen zu, der sich in der Ebene erhob. Eine halbe Stunde später erreichten sie Barbaras Auto.
*
Vier Wochen später heirateten Barbara und Walter in der Londoner Kirche St. Anne. Sie zogen in ein kleines, hübsches Einfamilienhaus am Stadtrand. Walter arbeitete den ganzen Winter über an seinem Buch über keltische Schriftzeichen. Im Frühjahr wurden Teile daraus in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht. Der Erfolg war aufsehenerregend. Walter, einer der jüngsten Professoren Englands, hatte geschafft, was vor ihm keinem Menschen gelungen war: Er hatte einen großen Teil der keltischen Schriftzeichen entziffert. Damit nicht genug. Er verstand und sprach sogar die keltische Sprache. Es folgten Ehrungen auf Ehrungen. Walter hielt Vorträge an den bedeutendsten Universitäten der Welt. Er veröffentlichte die verloren geglaubten Märchen und Heldensagen der Kelten. Immer wieder wurde er gefragt, wie er dazu gekommen sei. Kein Mensch nahm seine Antwort ernst. Er wisse es nicht. Die Zeichen seien ihm im Traum erschienen, versicherte er. Außerdem würden Menschen, so führte er aus, die in der Nähe alter keltischer Siedlungen wohnten, noch immer einen alten Dialekt sprechen, in dem viele keltische Wörter vorkämen. Er habe nichts anderes getan, als die Wörter zu sammeln und sie zusammenzustellen. Zwei Jahre nach Walters und Barbaras überstürzter Flucht aus Aikbury erhielt Walter einen Anruf von einer Frau, die sich Betty Brown nannte. »Sie erinnern sich an mich?« fragte sie mit dunkler Stimme. »Ja, ich erinnere mich.« »Sie hatten mich vor zwei Jahren angerufen, um an unserem Treffen bei der Kultstätte von Aikbury teilzunehmen.« »Leider ist ja nichts daraus geworden.« »Das Fest fiel buchstäblich ins Wasser. Einen Wolkenbruch wie in jener Nacht habe ich niemals zuvor erlebt.«
»Ja, es war schrecklich.« »Vielleicht möchten Sie an der diesjährigen Sonnenwendfeier teilnehmen. Sie findet in der Nacht vom zwanzigsten auf den einundzwanzigsten Juni statt.« »Das ist morgen.« »Genau. Morgen. Wir treffen uns wie jedes Jahr bei dem keltischen Steinwall in Aikbury. Sie werden doch hoffentlich daran teilnehmen?« »Das kann ich noch nicht zusagen.« »Sie würden uns damit eine große Ehre erweisen, Professor Smith.« »Ich werde es mir überlegen«, versprach Walter. Als er mit Barbara darüber sprach, erschrak sie zutiefst. »Warum willst du an diesen schrecklichen Ort fahren, Walter? Du hast mir noch vor ein paar Tagen gesagt, daß du dich nur mit Grauen daran erinnerst.« »Das ist wahr, Barbara. Trotzdem kehren meine Gedanken immer wieder zu dem Gehöft zurück. Ich kann Traum und wirkliches Erleben oft gar nicht mehr unterscheiden.« »Es war kein Traum, sondern ein Alptraum, Walter. Du warst nach dem Unfall mit dem Auto verletzt, hattest eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Diese verrückten Leute haben dich aufgenommen und gesund gepflegt. Sie gehören, wie wir erfuhren, einer Sekte an.« »Ich weiß, Barbara, alles das ist mir bekannt.« »Die Frau hat dich über viele Wochen mit dem sogenannten >Wunderholz< traktiert. Mit Tabernanthe Iboga. Also einem starken psychischen Reizmittel, das Halluzinationen auslöst. Gewisse Leute nehmen es ein, um mit der Geisterwelt in Kontakt zu treten. In hohen Dosierungen kann es sogar bis zum Tod führen.« »Du hast recht, Barbara. Aber wie kommt es, daß ich auf einmal fähig war, die Schriftzeichen der Kelten zu entziffern?«
»Das ist nichts anderes als das Ergebnis deines Fleißes auf diesem Gebiet, Walter.« Er ging im Zimmer auf und ab. Vor dem Fenster stand der Stubenwagen, in dem sein kleiner Sohn lag, der ein paar Wochen vorher geboren worden war. »Walter«, sagte Barbara mit leiser Stimme. »Sei vernünftig. Bleib zu Hause. Bei mir und bei Walterchen.« Er umarmte sie. »Ich muß fahren, Barbara. Verstehst du denn nicht – ich muß wissen, was damals wirklich mit mir passiert ist.« Barbara seufzte tief auf. Sie sah ein, daß sie ihren Mann nicht halten konnte. Am nächsten Nachmittag machte sich Walter auf den Weg nach Aikbury. Er fuhr direkt zu der keltischen Kultstätte. Kaum war er dort angelangt, kam ihm eine Frau mit langem schwarzem Haar entgegen. »Sie müssen Professor Smith sein«, meinte sie und reichte Walter die Hand. »Der bin ich.« »Mein Name ist Betty Brown.« Sie stellte ihn ihren Freundinnen vor. Alle Frauen trugen Kleider bis zu den Füßen und lange offene Haare. Walter war der einzige Mann. »Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen«, erklärte Betty Brown und zog Walter beiseite. Er sah sie fragend an. »Erinnern Sie sich an den Aufruhr, als vor zwei Jahren der große Steinriese mit keltischen Schriftzeichen bemalt war?« »Daran erinnere ich mich noch sehr genau.« »Das waren wir.« »Sie und Ihre Freundinnen haben den Stein mit den Zeichen versehen?«
»Unsere Oberpriesterin hatte uns angeleitet. Sie lächeln darüber. Ja, wir nennen uns bei den Sonnenwendfeiern Priesterinnen.« »Wo ist die Oberpriesterin?« erkundigte sich Walter und sah gespannt in die Runde. »Niemand weiß es. Eines Tages ist Ruth nicht mehr zu unseren Festen erschienen. Sie scheint verschollen zu sein.« »Ihr Name war Ruth?« »Ruth Bendley. Entschuldigen Sie mich bitte, Mister Smith. Man ruft nach mir.« Betty Brown lief zu den anderen Frauen. Es hatte inzwischen zu dämmern begonnen. Die Frauen bespritzten sich mit Wasser und streiften sich mit Zweigen ab. Dabei sangen sie Lieder, die Walter irgendwie bekannt vorkamen. Als ein Feuer aufloderte, trat Betty Brown vor den großen Steinriesen inmitten des heidnischen Zirkels und rief die Namen von Göttern auf. Den Namen des Hauptgottes nannte sie dreimal nacheinander. »Lug, Lug, Lug«, rief sie. »Lug, Lug, Lug«, wiederholten die anderen Frauen, während sie rhythmisch in die Hände klatschten. Dabei wurde der Kreis, den sie gebildet hatten, nach allen vier Himmelsrichtungen geöffnet und dann wieder geschlossen. Das Schauspiel zog sich über Stunden hin. Walter machte sich Notizen. Es ist alles nur ein Schauspiel. Und ein schlecht inszeniertes noch dazu. Magie, Geister, Einsicht in fremde Welten – alles Theater, schrieb er. Im Morgengrauen, als die Frauen im Kreis um den Steinriesen herumsaßen und einander umarmt hielten, setzte Walter sich in sein Auto und machte sich auf den Weg nach Aikbury. »Wenn ich mich beeile«, dachte er, »kann ich gegen zehn Uhr zu Hause sein.«
Als er einen Pfad bemerkte, überkam ihn noch einmal die Neugier. Er bog ab. Kleine spitze Steine schlugen gegen die Karosserie seines neuen Autos. Er fuhr langsamer. Vor ihm lag eine endlose graugrüne Hügelkette, unterbrochen nur durch Buschwerk und einige Bäume. Plötzlich sah Walter auf einem Hügel ein keltisches Kreuz. Er stieg aus und eilte hin. Rechter Hand auf einem breiten Buckel aus Steinen und Erde wuchs eine uralte Esche. Davor lagen mehrere zerbrochene Kreuze. Auf einem war eine Muttergöttin dargestellt, der eine Schlange um den Hals hing. Walter wußte, daß es sich bei dem Erdhügel nur um eine Grabkammer handeln konnte. Getrieben von wissenschaftlichem Interesse ging er hinein und tastete mit Händen die Steinwände ab. Er fühlte keinen Totenschädel. Nachdem er die Grabkammer verlassen hatte, sah er im Tal bei einem, abgebrannten Gehöft einen Campingwagen stehen. Er ging zu ihm. Zwei junge Leute, ein kräftiger Mann und eine rothaarige Frau, holten in Kanistern Wasser aus einem Brunnen. Sie grüßten freundlich. Walter grüßte zurück. »Hier hat wohl ein Feuer gewütet«, meinte er. »Ja, aber das ist lange her. Fast zwei Jahre. Wir haben das Gehöft gekauft, wie es ist. Die Steinmauern stehen noch, und alles andere richten wir wieder her«, sagte der Mann. In diesem Augenblick kam eine alte Frau auf den Hof. Sie hatte tiefrotes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar. Ihr Gang war schleppend, der Rücken gebeugt. Sie hob den Kopf und heftete den Blick ihrer grünen Augen auf Walter. »Lug«, flüsterte sie mit rauher Stimme. »So bist du doch noch zurückgekommen, Lug.«
Walter starrte sie an. Er hatte das Gefühl, als schnüre ihm jemand die Brust ab. Ohne zu grüßen, lief er wie gehetzt den Abhang hinauf und warf sich in seinen Wagen. Endlich kam er zu Hause an. Barbara begrüßte ihn mit dem Baby auf dem Arm. »Bist du jetzt endlich kuriert, Walter?« fragte sie lächelnd. Er schloß sie und das Kind in die Arme. »Ich werde nie wieder an diesen Ort zurückkehren, Barbara. Nie wieder!«