Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.128 � .128
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Gespenster-
Krimi � Zur Spannung noch die Gänsehaut � Nr.128 � .128
Frederic Collins �
Der Kult der � singenden � Stimmen � 2 �
Der Empfang war klar und deutlich. Es gab keinerlei atmosphärische Störungen, und doch schüttelte der Besitzer der Amateurfunkstation, der fünfundzwanzigjährige Robert Wheeler, verständnislos den Kopf. Aus dem kleinen Lautsprecher seiner selbstgebauten Anlage klang immer wieder ein eintöniges singendes Geräusch, das sicherlich keine Verzerrung eines Funkspruchs war. Für ihn als Fachmann des Funkwesens stand fest: Hier sendete jemand einen Singsang, wie Robert Wheeler ihn noch nie gehört hatte. Auch die einzelnen Worte, die zwischendurch herausklangen, entstammten keiner ihm geläufigen Sprache. Als Wellenamateur hatte er eine reiche Erfahrung darin, die einzelnen Sprachen wenigstens dem Klang nach einzuordnen. Die Neugierde hatte Robert Wheeler gepackt – eine lebensgefährliche Neugierde, doch das konnte der junge Mann zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Mit einem geübten Griff schaltete er das mit der Funkanlage gekoppelte Tonbandgerät ein und stülpte sich die Kopfhörer über. *** Mehrmals strahlte er die Kennziffer seiner Station in den Äther und fügte die Aufforderung hinzu, jene andere Station mit den singenden Stimmen möge sich zu erkennen geben. Erfolglos! Also beschränkte sich der junge Funkamateur darauf, vielleicht doch noch etwas zu verstehen und wenigstens einen geringen Anhaltspunkt dafür zu finden, was er da eigentlich hörte. Der Singsang steigerte sich, kam eindeutig aus zahlreichen Männerkehlen. Frauenstimmen waren keine darunter oder hoben sich zumindest nicht heraus. Robert Wheeler zuckte zusammen, als habe er einen elektrischen Schlag
erhalten, als er ein Wort ganz deutlich verstand. Nein, es gab keinen Irrtum, er bildete es sich nicht ein. Mitten in den beschwörenden Chor hatte eine dröhnende, eine gewaltige Stimme ein Wort geschrien, das wohl fast jeder Mensch verstand. Satanas! * Das Gesicht schmerzlich verzerrt, riß ich Robert Wheeler die Kopfhörer von den Ohren und schleuderte sie auf das Pult seiner Funkanlage. Irgend etwas in der Stimme des Mannes hatte ihn tief getroffen, etwas Unerklärliches, Schreckliches. 3 �
Es war weniger der Name des Bösen gewesen, als der Tonfall, die Schwingungen der Stimme oder was immer es auch gewesen sein mochte. Robert Wheeler ertappte sich dabei, daß er am ganzen Körper zitterte. Schon zuckte sein Finger nach dem Schaltknopf, mit dem er die gesamte Anlage lahmlegen wollte, damit er die singenden Stimmen auch nicht mehr aus dem Lautsprecher hören mußte, als ihn etwas davon zurückhielt. Neugier? Wissensdurst? Angst? Er konnte sich keine Rechenschaft über sein Tun erklären. Er saß nur da, starrte auf den Lautsprecher und lauschte auf diese faszinierende Männerstimme, bei deren Einsetzen diesmal der Chor verstummte. In die Totenstille hinein sprach der Mann, der vorhin den Satan gerufen hatte. Er sprach englisch, ein klares, verständliches Englisch ohne Akzent, keinen Dialekt. Es war unmöglich festzustellen, woher dieser Mann stammte. Robert hätte es vielleicht vermocht, da er ein ausgezeichnetes Gehör für Stimmen hatte. »Brüder der Finsternis!« rief der Mann, und seine Worte wurden zurückgeworfen und hallten wider, als würde er in einem Steingewölbe stehen. »Wir sind zusammengekommen, um unserem Großen Meister zu huldigen, ihm, den wir verehren und dem wir dienen wollen!« »Den wir verehren und dem wir dienen wollen«, wiederholten die
singenden Stimmen. »Wir alle haben ihm den Eid ewiger Treue geschworen, Brüder der Finsternis«, fuhr die mächtige Stimme fort, »aber mir, eurem Meister, bleibt es vorbehalten, euch den Willen unseres Großen Meisters zu übermitteln.« »Sprich, Meister, wir hören dich«, rief eine andere Stimme gellend dazwischen. »Wir haben einen Auftrag erhalten, Brüder der Finsternis, einen großartigen Auftrag, den wir sehr bald schon in die Tat umsetzen müssen!« Die Stimme des Sprechers, des Meisters, wie er sich selbst bezeichnete, schwoll an, wurde bösartiger, gehässiger. »Wir sollen Tod und Verderben über unsere Mitmenschen bringen, und zwar zuerst in unserer nächsten Nähe! Ich werde jetzt eine Liste mit Name verlesen. Wen ich nenne, der muß innerhalb der nächsten Tage sterben, und zwar durch die Hand eines von uns! Ein jeder von euch bekommt sein Opfer zugewiesen. So ist es der Wille unseres Großen Meisters!« Papier knisterte, doch noch ehe der Meister den ersten Namen aussprechen konnte, fiel ein anderer Mann ein. »Halt! Kein Wort!« Aufgeregtes Gemurmel. »Was soll diese Störung?« zischte der Meister erbost. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen 4 �
oder…« »Keine Fragen!« rief der andere, ihn erneut unterbrechend. Er mußte etwas so wichtiges auf dem Herzen haben, daß er den Zorn des Meisters nicht fürchtete. »Wir dürfen kein Wort mehr sprechen, das mit unserer Aufgabe zusammenhängt!« Nun steigerte sich das Gemurmel der übrigen zu einem Brausen durcheinanderschwirrender Fragen, und erst als der Meister die Ruhe wiederhergestellt hatte, konnte der erste Sprecher erklären. »Ich fühle fremdartige Wellen, die diesen Raum durchdringen«, sagte er mit vor Anspannung bebender Stimme. »Ich weiß nicht, welcher Art die Wellen sind, doch ich spüre es. Ein Außenstehender hört alles mit!« Ein vielstimmiger Wutschrei brandete noch aus dem Lautsprecher, dann stürzte sich Robert Wheeler vorwärts. Seine Hand sauste auf den Hauptschalter, riß ihn herum und unterbrach die Stromzufuhr. Schlagartig wurde es still im Raum. Nur die Spulen des Tonbandgeräts drehten sich weiter. Robert riß seine Lederjacke an sich, warf sie über seine Schulter und hetzte nach draußen, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Der mitternächtliche Himmel war klar und sternenübersät, eine wundervolle Mondnacht an der englischen Südküste. Doch dafür hatte der junge
Mann keinen Sinn. Er achtete auch nicht weiter auf das Rauschen des Meeres am Fuß der Kreideklippen, an deren Kante der ehemalige Leuchtturm stand, in dem er seine Amateurfunkstation untergebracht hatte. Er fühlte auch nicht die laue Sommerbrise, die vom Wasser herüberwehte. Er fühlte nur grauenhafte Angst, die seinen Verstand aufzufressen drohte, und er wollte so schnell, wie möglich weg von hier. Beim ersten Versuch sprang sein Motorrad an. Ohne den Scheinwerfer einzuschalten, raste er die schmale Sackstraße, die beim Leuchtturm endete, zurück nach seiner Heimatstadt Lampton, wo er im Haus seiner Eltern ein Zimmer bewohnte. In dieser Nacht schlich er so leise hinauf in seinen Raum unter dem Dach, daß ihn seine Eltern nicht hörten. In völliger Dunkelheit legte er sich angekleidet auf das Bett, nachdem er die Tür verschlossen hatte. Bis zum Morgengrauen schlief er nicht eine einzige Sekunde lang aus Angst, von diesen Männern überrascht zu werden, deren offenbar geheime Versammlung er auf so ungewöhnliche Weise belauscht hatte. Erst als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont leuchteten, fielen ihm vor Müdigkeit die Augen zu. * 5 �
Seine Mutter mußte ihn wecken, sonst wäre er nicht rechtzeitig zu seiner Arbeit, gekommen. Martha Wheeler machte ein erstauntes Gesicht, als ihr Sohn Robert die Tür seines Zimmers öffnete und sie an seinen Kleidern und seinem Bett feststellte, daß er angezogen geschlafen hatte. »Vater ist schon aus dem Haus, Bob«, sagte sie nur und ging wieder hinunter, um den, Frühstückstisch zu decken. Robert kam zwei Minuten später. Er nahm sich nicht einmal die Zeit zur Morgentoilette. Vater ist schon aus dem Haus, das bedeutete, daß es für ihn höchste Zeit war. »Du hast doch etwas«, tastete sich Mrs. Wheeler nach einer Weile vorsichtig vor, während Robert seinen Tee schlürfte. »Was ist letzte Nacht passiert?« Er zuckte so heftig zusammen, daß er den restlichen Tee verschüttete und sich daran die Finger verbrühte. Seine Augen flackerten mit einem gehetzten Ausdruck zu seiner Mutter, dann sprang er auf. »Es ist spät, bis heute abend«, murmelte er und wollte aus dem Haus laufen. Martha Wheelers Gesicht war steinern geworden. Sie merkte nur zu deutlich, daß hier etwas nicht stimmte und daß ihr Sohn nicht darüber sprechen wollte. Doch so ein-
fach ließ sie ihn nicht gehen. »Bob!« Ihr Zuruf nagelte ihn an der Haustür fest. »Bob, vielleicht kann Mr. Buller dir helfen. Und jetzt geh!« Robert Wheeler drehte sich langsam um. Seine Mutter stand mitten im Wohnraum, klein, schmächtig, ein wenig verhärmt wie immer. Sie mühte sich ein Lächeln ab. »Mr. Buller«, wiederholte er, als erwachte er aus einem Traum. »Ich werde es mir überlegen.« Damit lief er aus dem Haus. Sekunden später sprang sein schweres Motorrad an. Das Geräusch entfernte sich rasch. Mrs. Wheeler trat ans Fenster und zog die Gardine zur Seite. Das Motorrad bog soeben um die nächste Ecke. Als sie die Gardine wieder zurückfallen ließ, ahnte sie nicht, daß sie ihren Sohn nicht mehr wiedersehen würde – zumindest nicht so, wie er das Haus verlassen hatte! * Nicht umsonst schätzte der Besitzer der Autowerkstatt Lamptons, Mr. Carlisle, Robert Wheeler als zuverlässigen Mechaniker, dem er die schwierigsten Aufgaben übertragen konnte. Er kannte auch die Geschichte der Familie Wheeler und wußte, daß Robert nur schweren Herzens auf ein Maschinenbaustu6 �
dium verzichtet hatte, weil das Geld nicht gelangt hatte und er dazuverdienen mußte. Um so härter kam es Mr. Carlisle an diesem Tag an, daß er Robert in sein Büro rufen mußte. »Setzen Sie sich, Bob«, begann er verlegen, und sobald sein Mechaniker saß, platzte er heraus: »Was ist los mit Ihnen? Zwei Kunden haben sich heute schon beschwert! Sie haben gearbeitet, als hätten Sie noch nie ein Auto unter die Finger bekommen! Sie…!« »Mr. Carlisle«, unterbrach ihn Robert, der im Gesicht weiß wie Schnee war. »Bitte… lassen Sie mich gehen… für ein paar Tage… ich komme wieder, aber ich… fühle mich nicht gut.« Der Werkstattbesitzer stutzte, dann machte er ein besorgtes Gesicht. »Brauchen Sie einen Arzt, Bob?« »Nein, nein«, wehrte Robert rasch ab. »Ich… etwas frische Luft, ein wenig ausspannen. Das genügt schon.« »Na gut, ich bin ja kein Unmensch«, stimmte Mr. Carlisle zu, der sich sagte, ein Mechaniker in Urlaub wäre besser als einer, der am laufenden Band Mist baute. »Kommen Sie erholt zurück, Bob!« Nur zwei Minuten später hatte Robert Wheeler seine Sachen gepackt, startete sein Motorrad und jagte gegen seine sonstige Gewohnheit blindlings aus dem Hof der
Werkstatt hinaus. Dabei hätte er fast einen untersetzten, grauhaarigen Mann umgefahren, der in diesem Moment die Einfahrt zu Fuß passieren wollte. Mr. Talbot, Besitzer eines Sportladens in Lampton, sprang erschrocken zurück und schimpfte hinter Robert her, der nichts von dem Zwischenfall bemerkt hat. Sobald das Motorrad verschwunden war, setzte Mr. Talbot seinen Weg fort. Einen tödlichen Weg… * Den weißhaarigen, zweiundachtzigjährigen Mann, der am späten Nachmittag dieses Tages langsam durch den Garten hinter seinem kleinen Haus am Rand von Lampton ging, kannten alle Einwohner der Stadt. Victor Buller hatte mehrere Jahrzehnte lang am College Lamptons unterrichtet, und es war kein Zufall, daß er immer bei Eltern und Schülern gleichermaßen beliebt war. Sein Ausscheiden aus dem Lehrberuf vor sieben Jahren war groß gefeiert worden, doch war das Fest fast zu einer Trauerfeier geworden, sosehr bedauerten es alle, ihren Mr. Buller nicht mehr in der Schule sehen zu können. Victor Buller zog die Strickjacke enger um seinen hageren Körper, während er von einem Rosenstock zum anderen trat und seine stum7 �
men Schützlinge prüfend betrachtete. Das war zwar eine traditionelle Pensionärsbeschäftigung, aber er züchtete Rosen, seit er in dieser Stadt und in diesem Haus lebte, also schon sein ganzes Leben. Mr. Buller lebte allein, doch er fühlte sich nicht einsam. Seine gesamte Familie hatte er im letzten Krieg begraben. Mittlerweile hatte er sich ans Alleinsein gewöhnt und empfand es nicht mehr als belastend. Erst als sich die Sonne dem Horizont über dem Meer näherte, schlurfte der alte Mann zurück zum Vordereingang. Er wollte eben das Haus betreten, als eine einfach gekleidete Frau an seinem Garten vorbeihastete. »Hallo, Mrs. Marshai!« rief Buller sie an. »Wie war es heute in der Schule?« Die Frau blieb stehen. Ihr mißmutiges Gesicht hellte sich auf, als sie den alten Buller erkannte. »Guten Abend, Mr. Buller«, grüßte sie freundlich. »Wie soll es schon sein! Volksschule! Da sind die Kinder zwar noch besonders niedlich anzusehen, aber ganz schön anstrengend!« »Kann mich noch gut erinnern«, nickte der Greis, und jede seiner unzähligen Falten im hageren Gesicht lachte mit. »Oh ja, sehr gut sogar. Einige Ihrer Schüler habe ich ja noch ins College übernommen.
Den da, zum Beispiel«, fügte er hinzu und deutete auf ein Motorrad, das sich seinem Haus näherte. »Den Bob Wheeler!« »Ich muß weiter, Mr. Buller.« Die Lehrerin nickte ihrem alten Kollegen zu. »Grüßen Sie den Bob von mir. Bis morgen, wir sehen uns ja, wenn ich wieder vorbeikomme.« »Ja, bis morgen«, grüßte Victor Buller zurück. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem näherkommenden Fahrzeug zu. Robert Wheeler besuchte ihn öfters, meistens, wenn er Probleme hatte, die er sonst niemandem anvertrauen wollte, auch nicht seinen Eltern. So war Victor Buller darauf vorbereitet, nicht gerade ein fröhliches Gesicht zu sehen, doch kaum hatte er einen Blick auf den vor ihm stehenden Robert geworfen, als sich seine wasserhellen Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzogen. »Dich hat es ganz schön erwischt«, knurrte der Alte zur Begrüßung und deutete auf sein Haus. »Komm erst mal rein, du brauchst einen Whisky!« Robert Wheeler folgte wortlos und verbissen seinem ehemaligen Lehrer. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um, sonst hätte er Mrs. Marshai beobachten können, die soeben ihr in der Nähe gelegenes Haus betrat. *
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Sobald Mary Marshai die Haustür hinter sich zufallen ließ, holte sie wie jeden Abend unter der Woche tief Luft, um den traditionellen Seufzer auszustoßen, mit dem sie sich die Sorgen des Tages von der Seele blies. Doch stattdessen blieb sie mit angehaltener Luft im winzigen Vorraum stehen und starrte mit wachsendem Unbehagen auf den hellen Streifen unterhalb der Tür zum Wohnzimmer. Sie hatte doch heute morgen nicht vergessen, das Licht auszuschalten? Oder doch? Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, als sie sich daran erinnerte, daß sie am Morgen das Licht überhaupt nicht eingeschaltet hatte, weil es bereits hell genug gewesen war. Das konnte nur eines bedeuten! Jemand war in ihr Haus eingedrungen – und vielleicht war dieser Jemand sogar noch hier? Die alleinstehende Frau zögerte, dann gab sie sich einen Ruck und ging auf die Wohnzimmertür zu. Seit Jahren war in der hübschen Kleinstadt Lampton nichts passiert. Wieso sollte ausgerechnet jetzt… Sie stieß die Tür auf und seufzte erleichtert auf, auch wenn sie die Stirn runzelte. »Mr. Talbot!« rief sie überrascht. »Was machen Sie hier? Wie kommen Sie hier herein?« Sie kannte den Besitzer des Ladens für Sportartikel, weil sie vor einigen Jahren seine inzwischen fast erwach-
sene Tochter unterrichtet hatte. In Lampton kannte überhaupt fast jeder jeden, doch das war noch lange kein Grund, ohne Einladung das Haus eines Mitbürgers zu betreten, noch dazu, wenn der Hausbesitzer abwesend war. »Es tut mir schrecklich leid, Mrs. Marshai!« Mr. Talbot sprang auf und deutete eine leichte Verbeugung an. »Aber ich mußte diesen ungewöhnlichen Weg wählen. Niemand hat mich kommen gesehen. Setzen Sie sich, bitte!« Die Lehrerin war so verblüfft, daß es ihr gar nicht zum Bewußtsein kam, daß sich die Rollen verdrehten, daß es wohl an ihr gelegen hätte, ihn zum Sitzen aufzufordern. Sobald sie sich ratlos in eine Sessel hatte sinken lassen, setzte er sich ihr gegenüber und starrte sie an. Irgendwie fröstelte sie unter diesem seelenlosen, eisigen Druck, der ihr sonst nicht an diesem Mann aufgefallen war. »Wollen Sie mir nicht endlich erklären…«, setzte sie an, wurde jedoch unterbrochen. »Genau das will ich!« Seine Stimme wurde schärfer. »Ich wollte Ihnen erzählen, Mrs. Marshai, daß ich einer Verbindung angehöre, einer Verbindung, von deren Existenz Sie wahrscheinlich bisher noch nie etwas hörten.« »Und um welche…«, wollte sie eine Frage aussprechen, aber wieder fiel er ihr ins Wort, diesmal scharf, 9 �
beißend, verletzend. »Ich spreche jetzt, Sie hören zu!« fauchte er sie an. Mrs. Marshai begann zu zittern. Von diesem Mann ging eine Drohung aus. Was hatte er vor? »Die Vereinigung, von der ich sprach«, fuhr Mr. Talbot fort, der sich von einem freundlichen Geschäftsmann in einen eiskalten unheimlichen Menschen verwandelt hatte, »stellt sich als Ziel die Erfüllung jedes Wunsches, den unser Großer Meister, der Herr der Finsternis, durch den Mund unseres Meisters ausdrückt. Der Wunsch des Großen Meisters war es, Mrs. Marshai, daß Sie sterben sollen – durch meine Hand!« Die Lehrerin saß wie betäubt und unfähig, etwas zu tun. Sie hatte kaum verstanden, wovon dieser Mann sprach, nicht begriffen, wen er mit Großer Meister und mit Meister meinte. Sie erkannte nur, daß Mr. Talbot mit dem Ziel in ihr Haus eingedrungen war, sie zu ermorden! Panik krampfte sich in ihr zusammen. Sie wurde sich der Hilflosigkeit bewußt, in der sie schwebte. Sie wohnte allein. Niemand war in ihrer Nähe. Sie erwartete keinen Besuch. Zum Telefon konnte sie nicht. Schreien nützte nichts weil die nächsten Häuser zu weit entfernt waren. Seine kalt glitzernden Augen kamen näher. »Es war dein Wunsch,
großer Meister!« zischte er. Mrs. Marshai wollte schreien, als sie das Messer sah. Doch ihr Mörder war schneller. * »Cheers!« Der alte Buller, wie die Leute von dem pensionierten Collegelehrer nur sprachen, prostete Robert Wheeler zu, der stumm in seinem Wohnzimmer saß, und trank einen kleinen Schluck. »Ein sehr alter Whisky«, erklärte er mit seiner etwas heiseren Stimme. »Vor ungefähr zwanzig Jahren bekam ich eine Kiste Whisky geschenkt, der damals schon ungefähr zwanzig Jahre alt war. Ich hebe mir die einzelnen Flaschen für besondere Gelegenheiten auf, und heute ist eine solche, wenn mich nicht alles täuscht.« »Mr. Buller«, brach Robert endlich sein Schweigen. »Sie haben doch Ihr Leben lang Geographie unterrichtet.« »Stell dir vor, Bob, das ist mir bekannt.« Der alte Herr lächelte leicht verwirrt. »Was soll die Einleitung?« »Dann kennen Sie sich in geographischen Dingen aus«, fuhr Robert Wheeler unbeirrt fort. Seine Augen hingen an seinem ehemaligen Lehrer, als erwarte er von ihm eine Antwort auf alle Fragen, die es überhaupt gab. »Ich kenne mich aus, aber ich weiß 10 �
längst nicht alles«, schränkte der alte Buller sofort ein. »Wieso? Ach! Du hast vielleicht mit deiner Station Kontakt zu einem Land gefunden, von dem du noch nie etwas gehört hast?« »Mr. Buller, denken Sie daran, daß Sie als einziger außer meinen Eltern etwas von meiner Funkstation im alten Leuchtturm wissen«, fuhr Robert heftig auf. »Ich habe mir eigens in London eine Lizenz besorgt und vor den Leuten die Station geheimgehalten, weil ich nicht dauernd von allen als verrückter Spinner angesehen werden möchte. Bitte, verraten Sie mich an niemanden!« Victor Buller stellte sein Whiskyglas mit einem harten Ruck auf den Tisch zurück, setzte seine strenge Lehrermiene auf und blitzte seinen ehemaligen Schüler und jetzigen Freund aus seinen wasserhellen Augen an. »Bob!« rief er streng, obwohl das Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. »Du weißt, daß ich dir Verschwiegenheit versprochen habe. Also, was soll das alles?« Robert Wheeler senkte den Kopf. »Tut mir leid«, murmelte er. »Es… Ich… habe Probleme.« »Endlich kommt er mit der Sprache heraus«, seufzte Victor Buller. »Wie kann man in einem Funkgerät ein Gespräch hören, auf das der Apparat gar nicht eingestellt ist?« fragte Robert hastig und blickte mit
fiebernden Augen hoch. »Hat das mit dem Wetter zu tun?« Der alte Lehrer mußte sich gewaltig beherrschen, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Du meinst Überlagerungen, wetterbedingte Störungen, Überreichweiten und…« »Nein, nein!« schüttelte der junge Mann heftig den Kopf. »Ich meine, wie kann ich in meinem Gerät ein Gespräch hören, wenn auf der anderen Seite gar kein Sender steht? Verstehen Sie! Die singenden Stimmen kamen einfach so… einfach aus dem Nichts heraus!« Sekundenlang blieb es still im Raum. Nur die museumsreife Wanduhr tickte hart und laut. »Ich habe wohl zuviel gesagt«, flüsterte Robert erbleichend, als er den prüfenden Blick des alten Lehrers auf sich ruhen fühlte. »Sie… Sie halten mich für… verrückt? Sie glauben, ich habe Halluzinationen? Ich…« »Nein, warte!« Victor Buller hob die welke Greisenhand. »Wie war das? Singende Stimmen? Konntest du etwas verstehen? Sagten sie etwas?« Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, daß er wirklich glaubte, sein Schützling wäre krank, nicht ganz richtig im Kopf. Robert war zuviel allein, schloß sich zuviel von allen übrigen Menschen ab. Er war ein Sonderling. Und jetzt das! Singende Stimmen! 11 �
Doch das durfte er sich nicht anmerken lassen! Wenn man Robert helfen wollte, mußte man sein Vertrauen behalten. »Ja, sie sagten etwas«, nickte der junge Mann eifrig. »Das heißt, genau genommen war es der Meister dieser Leute, der ankündigte, eine Reihe von…« Wie abgeschnitten hörte Robert mitten in der Rede auf. Victor Buller wußte nicht, ob vielleicht doch in seinem Gesicht ein Zweifel aufgetaucht war, ob seine Augen zu scharf geblickt hatten oder ob es einen anderen Grund gab. Jedenfalls sprach Robert nicht weiter. »Was wolltest du von mir wissen, Bob?« fragte der alte Lehrer nach einer qualvollen Minute des Schweigens. »Gibt es durch irgendeine natürliche Erscheinung eine Möglichkeit, menschliche Stimmen im Funkempfänger zu hören, die nicht über einen Sender ausgestrahlt wurden?« Unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft konnte Victor Buller ruhig antworten. »Meines Wissens nach – nein.« »Danke!« Robert Wheeler sprang auf und wollte überstürzt das Haus verlassen, doch ein Zuruf seines ehemaligen Lehrers stoppte ihn. »Vielleicht kann dir Mr. Penrith helfen, der Leiter der Wetterstation«, schlug Buller vor. »Dein Problem fällt in seine Zuständigkeit.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Roberts blasses Gesicht. »Danke Mr. Buller«, sagte er. »Vielen Dank!« Auch Victor Buller trat, wie am Morgen Roberts Mutter, ans Fenster und blickte dem Motorrad nach. Nur daß diesmal bereits das rote Schlußlicht an der Maschine brannte, weil sich die Dunkelheit über das Land senkte. »Singende Stimmen«, flüsterte der alte Lehrer. »Singende Stimmen! Armer Junge…« * Vielleicht hätte er seinem Mechaniker doch nicht so einfach Urlaub geben sollen, dachte Mr. Carlisle, während er unter dem Auto hervorkroch. Es dunkelte bereits, die übrigen Gehilfen waren schon längst nach Hause gegangen. Nur er, der Meister und Besitzer selbst, mußte sich noch mit so einer Karre abmühen, weil einer der Mechaniker blau machte. Seufzend wischte Mr. Carlisle seine öligen Hände an seinem Overall ab und zuckte die Schultern. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, als selbst Hand anzulegen, da er den Wagen Mr. Tomkins fest für diesen Abend versprochen hatte. Mr. Tomkins, Mitglied der Stadtverwaltung, wollte am nächsten Tag eine größere Fahrt entlang der Küste antreten 12 �
und hatte deshalb seinen Wagen zur Inspektion gebracht. Natürlich wieder einmal viel zu kurzfristig, aber das war ja immer der Ärger. Auf dem Weg zum Büro blieb Carlisle wie festgenagelt stehen. Er zerbiß einen Fluch und schlug sich gegen die Stirn. »Die Bremsen!« sagte er laut und deutlich. Wie hatte er die vergessen können! Also noch einmal zurück, noch einmal auf die Erde und unter den Wagen kriechen. Im Schein einer starken Handlampe überprüfte er die Bremsen und seufzte erleichtert auf. Wenigstens mußte er nichts reparieren, sie waren in Ordnung. Doch eben, als er sich wieder unter dem Wagen hervorschieben wollte, ging ein leichter Ruck durch seinen Körper. In seine Augen trat ein hartes Funkeln, und um seine Lippen spielte ein kaltes Lächeln. Er setzte einen Schraubenschlüssel an. Schweigend hantierte er an den bremsen, bis er fünf Minuten später neben dem Auto aufstand und kurz mit den Knöcheln auf das Blech der Karosserie klopfte. »Ich habe deinen Befehl ausgeführt, großer Meister«, murmelte Mr. Carlisle. Er lachte kurz und höhnisch auf, dann glättete sich sein Gesicht und bekam wieder seinen gewohnten Ausdruck. Rasch ging er zu seinem Büro. Als er die Tür öffnete, sah er sofort den Mann, der hier bereits auf ihn
wartete. »Guten Abend, Mr. Tomkins«, strahlte der Werkstattbesitzer. »Hoffentlich warten Sie noch nicht lange. Ihr Wagen ist fertig, er steht draußen auf dem Hof.« * Während der Fahrt wurde Robert Wheeler bewußt, wie verletzend er sich eigentlich seinem alten Lehrer gegenüber verhalten hatte. Seit mehr als zehn Jahren kannten sie sich schon, und ihr Verhältnis zueinander war nie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis gewesen. In dem alten Geographielehrer am College hatte Robert seinen einzigen Freund gefunden. Er wußte selbst, daß er ein Sonderling war, daß ihn die anderen dafür hielten. Aus Enttäuschung darüber, daß sein Leben bisher nicht so verlaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte, war er freiwillig in ein Schneckenhaus gekrochen, hatte er sich abgeschirmt gegen seine Umwelt. Nur Mr. Buller vertraute er sich an. Seine Eltern hatten zwangsläufig von seiner Funkstation im alten Leuchtturm erfahren müssen. Freiwillig hatte er es nur Mr. Buller erzählt. Sein Leuchtturm war seine Zufluchtsstätte vor der kleinbürgerlichen Welt, die ihn umgab, und sogar Mr. Buller hatte die Station bisher erst einmal betreten dürfen. Robert nahm sich vor, seinen alten 13 �
Lehrer nach Abschluß dieses ganzen Problems sozusagen als Entschädigung in den Leuchtturm einzuladen. Das brachte Robert gleichzeitig wieder auf sein Problem – die singenden Stimmen, die er im Äther gehört hatte, obwohl aus dem zuletzt erfolgten Zwischenruf eines Unbekannten hervorging, daß in dem Raum der Versammlung überhaupt kein Sender gestanden hatte. Die Wetterstation, an die ihn sein alter Lehrer verwiesen hatte, war allen in Lampton bestens bekannt, auch wenn sie noch keiner von innen gesehen hatte. Es handelte sich dabei um einen ehemaligen kleinen Herrensitz, der ebenso wie Roberts Leuchtturm ein Stück außerhalb der Stadt lag, ebenfalls an den Kreideklippen, wenn auch nach der anderen Richtung. Noch einen Unterschied gab es in der Lage. Die Straße, die zum ehemaligen Herrenhaus, der jetzigen Wetterwarte, führte, war nicht am Haus zu Ende, sondern führte an der ganzen Küste entlang. Kam praktisch nie jemand zu Roberts Leuchtturm, so fuhren zahlreiche Autos an der Wetterwarte vorbei. Robert zitterte innerlich vor Angst. Er fürchtete sich vor den Leuten, in deren Gesängen das Wort »Satanas« aufgetaucht war. Und er fürchtete sich ganz besonders vor ihrem Anführer, den sie Meister nannten und der eine Liste mit Namen von
Leuten hatte verlesen wollen, die sterben sollten. Er fürchtete sich davor, daß diese Menschen ausfindig machen könnten, wer ihre Gespräche unfreiwillig mitangehört hatte, und daß sie den unbequemen und gefährlichen Mitwisser mundtot machen würden. Er hatte auch keine Illusionen darüber, was mit ihm geschehen würde, falls sie wirklich eines Tages auf ihn stießen. Menschen, die aus irgendeinem kultischen Grund heraus zahlreiche andere Mitmenschen töten wollten, würden auch nicht vor einem weiteren Mord zurückscheuen, wenn sie damit ihre Sicherheit erkaufen konnten. Robert Wheeler hatte nicht die geringste Ahnung, woher er die singenden Stimmen gehört hatte, ob nun aus zehn oder tausend Meilen Entfernung. Da sie nicht auf gewöhnlichem Weg in seinen Empfänger geraten waren, ließ sich weder anhand der Stärke des Empfangs noch anhand irgendwelcher anderer Anzeichen auch nur ungefähr der Standort bestimmen. Dennoch zweifelte er nicht daran, daß er in Lebensgefahr schwebte. Wer über solch unglaubliche Fähigkeiten verfügte, daß er nur mittels Gefühlen feststellen konnte, daß jemand mithörte, der war auch in der Lage, diesen Zeugen ausfindig zu machen. Dem ihm dann drohenden Schicksal einer skrupellosen Ermordung 14 �
wollte Robert dadurch begegnen, daß er den Leuten zuvorkam und sie zuerst entlarvte. Er hatte schon an die Polizei gedacht, den Gedanken jedoch wieder fallengelassen. Was sollte er der Polizei erzählen? Daß er Stimmen gehört hatte, die er eigentlich gar nicht hätte hören können? Man würde ihn bestenfalls mit einem spöttischen Lächeln wegschicken, schlimmstenfalls in eine Nervenheilanstalt stecken. Helfen würde ihm niemand… Buller ausgenommen, doch den alten Lehrer wollte er nicht in die Sache hineinziehen. Er hatte es nicht verdient, daß seine Freundschaft damit vergolten wurde, daß er womöglich ebenfalls in Lebensgefahr geriet. Nein, es blieb dabei, Nachforschungen auf eigene Faust! Zu allererst mußte er feststellen, wo die Versammlung der Unheimlichen stattgefunden hatte. Danach erst war er in der Lage, weitere Schritte zu überlegen. Das Motorrad einhändig lenkend, hob er die Linke dicht an die Augen und las die Zeit von seiner Armbanduhr ab. Es ging auf neun Uhr abends zu, nicht zu spät für einen Besuch in der Wetterwarte, die sich in Privatbesitz von Mr. Penrith befand, der gleichzeitig als wissenschaftlicher Leiter fungierte. Wie viele Mitarbeiter er genau hatte, wußte niemand, doch
die Leute hatten berichtet, daß die ganze Nacht über Licht im Haus brannte. Robert fühlte Spannung in sich aufsteigen, als er vor sich auf einer vorspringenden Klippe das alte Herrenhaus erblickte. Hinter einigen Fenstern der Wetterstation schimmerte mattes Licht durch zugezogene Vorhänge. Einen Zaun gab es nicht, dafür aber in einem eigenen Gehege einige Wachhunde, die bei seiner Annäherung in infernalisches Bellen ausbrachen. Er stellte den Motor ab und bockte die Maschine auf. Sobald er sich dem Haus näherte, öffnete sich die Tür. Licht überströmte einen Mann, der nach dem Grund des Hundegebells Ausschau hielt. Es war ein unscheinbarer Mann in einem grauen Flanellanzug und mit einem Durchschnittsgesicht. »Entschuldigen Sie die Störung!« rief Robert zu dem Mann hinüber. Näher heranzugehen wagte er nicht, weil die Hunde gefährlich am Gitter ihres Geheges kratzten. »Kommen Sie, kommen Sie!« forderte ihn jedoch der Mann auf. »Ruhig! Sofort ruhig!« schrie er den Hunde zu, die augenblicklich verstummten. »Was wünschen Sie denn?« »Ja, ich habe eine Frage, eine wissenschaftliche«, druckste Robert herum, den der Mut verlassen hatte. Er kam sich lächerlich und aufdring15 �
lich vor. »Ich weiß nicht…« »Um welches Problem geht es denn?« erkundigte sich der Mann gleichgültig. »Ich werde sehen, ob wir Ihnen helfen können. Betreiben Sie Landwirtschaft?« »Nein, das nicht«, winkte Robert ab. »Aber… ich heiße Robert Wheeler, wissen Sie, und letzte Nacht, da hörte ich in meiner Amateurfunkstation Stimmen, singende Stimmen, aber…« »Warte Sie«, unterbrach ihn der Mann. »Ich frage den Chef, ob er Zeit für Sie hat.« Er schloß die Eingangstür. Robert warf einen scheuen Blick zu dem Hundezwinger hinüber, in dem die Tiere zwar nicht mehr bellten, doch durch leises Knurren zu verstehen gaben, daß sie auf dem Posten waren. Nach ungefähr fünf Minuten öffnete derselbe Mann die Haustür wieder, trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. »Kommen Sie, Mr. Wheeler«, forderte er den Besucher auf. »Mr. Penrith hat Zeit für Sie. Dort, durch die Tür.« »Danke«, nickte Robert lächelnd, durchquerte die Halle und öffnete die bezeichnete Tür. Er gelangte in ein holzgetäfeltes Arbeitszimmer, das ganz im Stil alter Herrenhäuser eingerichtet war. Auf halbem Weg zwischen der Tür und dem überdimensionalen
Schreibtisch blieb er stehen und schaute auf die Gestalt hinter dem Schreibtisch. Dieser Mann mußte Penrith, der Leiter der Wetterstation, sein. Viel mehr als seine Umrisse konnte man nicht sehen, da die Schreibtischlampe nur schwaches und nach unten gebündeltes Licht spendete. »Verzeihen Sie die Störung«, begann Robert. »Mein Name ist…« »Ist er das?« ertönte die Stimme des Mannes hinter dem Schreibtisch. Robert Wheeler zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Auf Anhieb erkannte er die Stimme wieder. Er hatte sie in der vergangenen Nacht aus dem Lautsprecher seiner Funkstation gehört, die Stimme des Meisters, der den anderen die Befehle des Großen Meisters übermittelte! »Er ist es«, sagte eine zweite Stimme. Sie gehörte einem Mann, auf den Robert erst jetzt aufmerksam wurde. Er stand seitlich von ihm an die Wand gelehnt, und der junge Mann wußte sofort, wen er vor sich hatte. Das war jener Zwischenrufer, der durch seine Warnung verhindert hatte, daß der Meister die Namen der auserkorenen Mordopfer verlas! Das war jener Mann, der allein durch sein Gefühl festgestellt hatte, daß jemand die Versammlung belauschte! Die Hand des Meisters hinter dem Schreibtisch zuckte über die Tisch16 �
platte auf einen Knopf zu. In voller Deutlichkeit begriff Robert, in welche Falle er geraten war! Auf seiner verzweifelten Suche nach jenen Männern, denen er zuvorkommen wollte, war er ihnen direkt in die Arme gelaufen! Hier hatte die Versammlung stattgefunden! Hier in dem ehemaligen Herrenhaus, in dem die ahnungslosen Menschen Lamptons eine harmlose Wetterstation vermutete! Robert Wheeler wirbelte herum und wollte sich zur Tür schnellen, doch der Boden unter seinen Füßen war verschwunden. Statt dessen gähnte ein rechteckiges, schwarzes Loch. Der Knopfdruck hatte eine Falltür geöffnet! Mit einem Aufschrei stürzte Robert Wheeler in die Tiefe. Die Falltür hatte sich geschlossen, bevor er auf dem Boden des Schachtes aufprallte. * »Man wird alt«, stellte Victor Buller seufzend fest, als er sich im Morgengrauen in seinem Bett aufrichtete und im Geist zusammenrechnete, wie viele Stunden er in dieser Nacht geschlafen hatte. Es waren zwei. »Mit zweiundachtzig ist man eben nicht mehr der Jüngste«, setzte er sein morgendliches Selbstgespräch fort und tappte ins Badezimmer hinüber.
Während er das Wasser für ein Bad einlaufen ließ, stellte er in der Küche den Teekessel an und verteilte Fleischstücke auf zwei Plastikschüsseln. Die Plastikschüsseln trug er hinaus in den Garten und stellte sie neben der Hintertür ab. Wie jeden Morgen kamen mehrere Katzen, die wild in der Gegend herumstreunten, miauend angejagt und balgten sich um das Futter, das sie von dem alten Mann bekamen. Zum Dank hielten sie ihm Haus und Garten frei von Mäusen und Ratten. Auch dieses System hatte sich seit Jahrzehnten bewährt. Sobald der Teekessel pfiff und Victor Buller den Tee aufgegossen hatte, stellte er im Bad das Wasser ab. Die Wanne war zur Hälfte gefüllt, auch das hatte sich eingespielt und änderte sich nie. Die erste Änderung, die eine Reihe weiterer schwerwiegender Folgen in seinem Leben bringen sollte, stellte sich mit dem Klingeln seines Telefons ein. Es war sechs Uhr morgens geworden, eine Zeit, zu der er sonst nie einen Anruf erhielt. Mit einem unangenehmen Gefühl hob Victor Buller ab und meldete sich. Eine innere Stimme sagte ihm, daß etwas in der Luft lag, etwas Drohendes, Gefährliches. »Mr. Buller, hier spricht Inspektor Pratt von…« »Ich weiß, wer Sie sind, Inspektor«, unterbrach der alte Bul17 �
ler den Anrufer. »Was ist denn los?« »Ja, also, es hat nicht direkt mit Ihnen zu tun, Mr. Buller«, meinte der Polizist etwas verlegen. »Aber wir brauchen Ihre Mithilfe, um etwas zu rekonstruieren.« »Und was ist dieses Etwas?« Victor Buller fühlte einen Knoten in seiner Kehle, er wollte sich räuspern, doch dann lauschte er mit angehaltenem Atem auf die Worte des Polizeibeamten. »Die letzten Stunden von Robert Wheeler. Er soll gestern abend noch bei Ihnen gewesen sein, und danach… Hallo, Mr. Buller! Sind Sie noch am Apparat? Antworten Sie, Mr. Buller!« Der alte Lehrer hatte den Hörer sinken lassen. Er wußte noch nicht, was vorgefallen war, doch die Nachricht besagte eindeutig, daß Bob tot war. Und Bob war der einzige Mensch gewesen, den er seit dem Tod seiner Familienmitglieder als Freund, als zu ihm gehörig, betrachtet hatte. Erst die quäkende Stimme aus dem Hörer erinnerte ihn wieder an den Inspektor. Als würde er eine Zentnerlast stemmen, hob er den Hörer ans Ohr. »Ja, was wollten Sie, Inspektor?« fragte er mit brüchiger Stimme. »Wie ist es denn geschehen?« »Na, Gott sei Dank, Mr. Buller! Ich dachte schon…« Inspektor Pratt behielt seine Befürchtungen für sich.
»Wir fanden bei Morgengrauen das zerschmetterte Motorrad Wheelers auf einem Vorsprung der Klippen. Er selbst lag in Höhe des Meeresspiegels auf einem anderen Felsvorsprung. Es war die Straße hinaus zur Wetterwarte. Offenbar ist er auf dem Rückweg in die Stadt von der Straße abgekommen, und wir wollten jetzt herausfinden, was er draußen bei der Wetterwarte zu suchen hatte. Er sprach nämlich nicht mit Mr. Penrith oder einem seiner Mitarbeiter, das haben wir bereits einwandfrei ermittelt.« »Ach so, ja«, murmelte Buller erstickt. »Ich riet Bob, er solle sich an Mr. Penrith wenden. Er hatte da einige Fragen wegen…« Er unterbrach sich für einen Moment. Zwar war es jetzt gleichgültig, ob jemand von der Funkanlage im alten Leuchtturm erfuhr, daß Bob tot war, doch noch immer wirkte sozusagen das Versprechen nach, das Victor Buller seinem Schützling gegeben hatte, unter keinen Umständen etwas von der Anlage zu verraten. »Er wollte etwas über ein meteorologisches Spezialproblem wissen, und da war ich überfragt.« »Aha, das wird wohl nicht so wichtig gewesen sein«, meinte der Inspektor. »Vielen Dank für die Auskunft.« »Warten Sie!« rief Buller hastig. »Ist… ist er… haben Sie ihn schon weggebracht?« 18 �
»Nein, Mr. Buller, er liegt noch draußen auf der Straße.« »Ich… möchte ihn sehen«, würgte der alte Mann hervor. Seine knochigen Finger fuhren an seinen dünnen Hals. »Warten Sie solange?« »Aber selbstverständlich«, stimmte Pratt sofort zu. »Soll ich Sie mit dem Wagen abholen?« »Nein, ich finde schon jemanden, der mich mitnimmt, danke!« Wie betäubt ließ der alte Lehrer den Hörer auf den Apparat sinken. Er dachte nicht mehr an den Tee oder an das eingelaufene Badewasser, sondern zog sich mit mechanischen Bewegungen an und trat vor sein Haus. Er wankte hinaus auf die Straße, und als er das Geräusch eines Automotors näherkommen hörte, noch dazu in der richtigen Richtung, hob er winkend die Hand. Sehen konnte er den Wagen nicht, da Schleier vor seinen Augen hinge. »Gute Morgen, Mr. Buller!« grüßte der Fahrer, sobald der Wagen hielt. »Wollen Sie mitfahren?« »Mr. Tomkins?« Buller wischte sich verstohlen über die Augen und erkannte nun auch den Fahrer. Wie eine Puppe ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen. »Fahren Sie an der Wetterstation vorbei?« »Ja, warum? Wollen Sie dahin?« Tomkins, Mitglied der Stadtverwaltung, legte den Gang ein und fuhr an. In knappen Worten berichtete Bul-
ler, was geschehen war. »Schrecklich«, meinte Mr. Tomkins betroffen. »Ich setze Sie ab. Zurückbringen kann ich Sie leider nicht, Dienstfahrt, müssen Sie wissen. Ließ gestern extra noch den Wagen überprüfen. Schrecklich, wenn ich mir vorstelle, daß vielleicht der arme Wheeler an meinem Wagen gearbeitet hat. Und heute ist er tot.« »Sie hatten den Wagen in Mr. Carlisles Werkstatt?« Buller interessierte sich nicht sonderlich dafür, doch er war dankbar, irgendwie abgelenkt zu werden. »Hat Bob, ich meine, hat Mr. Wheeler Ihnen das Fahrzeug wieder übergeben?« »Nein, das war erst spät am Abend, da war nur mehr Mr. Carlisle da.« Tomkins bremste, als sie vor ihnen am Straßenrand drei Wagen stehen sahen. Daneben lag ein total zertrümmertes Motorrad. Mr. Tomkins streifte die Zeltplane, unter der sich ein menschlicher Körper abzeichnete, nur mit einem flüchtigen Blick. Tomkins sagte noch etwas, doch der alte Lehrer hörte längst nicht mehr hin. Er öffnete die Tür und stieg aus. Hinter ihm fuhr der Wagen wieder an. * Keiner der herumstehenden Polizeibeamten und sonstigen an der Bergung des Opfers beteiligten Männer 19 �
sprach den alten Mann an, der ganz langsam auf die Zeltplane zutrat und sie an einer Seite hochhob. Eine volle Minute verbrachte Mr. Buller neben der Leiche seines jungen Freundes, steinern, unbeweglich. Vielleicht hätte er noch länger in dieser Stellung verharrt, hätte nicht ein leichter Wind durch die glasklare Luft eine Reihe von Geräuschen herangetragen, die alle hier Versammelten erschrocken hochfahren ließ. Auch Victor Buller richtete sich auf und starrte auf jene Stelle der Klippen, an der ein Wagen in die Tiefe stürzte. Es sah aus, als wäre es ein Spielzeugauto, das sich mehrfach überschlug und in einer weißen Fontäne im Meer verschwand. Einige Polizisten liefen zu zwei Wagen, die sich gleich darauf mit zuckenden Blaulichtern in Bewegung setzten und die kurvenreiche Küstenstraße in Richtung Wetterstation davonpreschten. Die Zurückgebliebenen verhielten sich still, bis das Funkgerät in dem parkenden Polizeiauto ansprach. Ein Polizist sprach eine Weile, dann kam er zu der Gruppe zurück. »Es gibt einen Augenzeugen aus Lampton«, berichtete er. »Der Verunglückte ist Mr. Tomkins.« Stöhnend griff sich Victor Buller ans Herz. Seine geweiteten Augen wanderten zwischen der Zeltplane zu seinen Füßen und der Klippe hin
und her, über die vor wenigen Minuten der Mann gestürzt war, der ihn hergebracht hatte. »Der Zeuge hat ausgesagt, Mr. Tomkins Wagen, der hinter ihm fuhr, wäre immer schneller geworden, hätte zu schleudern begonnen und wäre über die Klippen gestürzt.« »Wenn Tomkins hinter dem Zeugen fuhr«, wandte jemand ein, »dann mußte der Zeuge doch gerammt werden.« »Nein, Tomkins gab verzweifelte Hupsignale, bevor er überholte und ins Schleudern geriet.« Der Polizist machte ein ratloses Gesicht. »Unsere Kollegen am Unfallort meinen, wahrscheinlich wären die Bremsen defekt gewesen.« »Unmöglich«, entfuhr es Victor Buller. »Tomkins erzählte mir, der Wagen wäre gestern bei Mr. Carlisle gewesen.« Der Polizist ließ sich das Gespräch wiederholen, dann gab er es über Funk an Inspektor Pratt in Lampton durch. Ohne es zu ahnen, hatte Victor Buller einen Stein ins Rollen gebracht, der ihn mit sich reißen sollte. Als jemand zurück in die Stadt fuhr, ließ sich der alte Lehrer mitnehmen. Die Fahrt erschien ihm endlos. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich einsam. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen. 20 �
* � Die Kette der Hiobsbotschaften riß nicht ab. Für Victor Buller sollte es einer der schwersten Tage in seinem Leben werden. Nach Bob Wheeler, den er als Freund betrachtet hatte, erfuhr er von einem weiteren persönlichen Verlust. Seine langjährige gute Bekannte und Kollegin, die Volksschullehrerin Mary Marshai, war vor wenigen Minuten ermordet aufgefunden worden. Die Bewohner von Lampton drängten sich, sofern sie Zeit hatten, entweder vor der Polizeistation, wo sie auf neue Nachrichten hofften, oder vor Mrs. Marshals Haus, um mitzuerleben, wie die Leiche herausgetragen wurde. Victor Buller fühlte sich zu beidem zu schwach und angegriffen. Er zog sich in sein Haus zurück und wollte sich einigeln, wollte sich nur mehr mit seinem Garten, seinen Rosen und den Katzen beschäftigen, die ihn täglich besuchten. Doch sehr bald schon mußte er feststellen, daß ihm seine guten Vorsätze nichts nützten. Während er gegen Mittag verloren im Garten stand und nachdenklich an den Blättern eines Strauches zupfte, hörte er Fetzen eines Gesprächs zweier auf der Straße vorbeigehender Frauen. »… über die Klippen… Bremsen defekt…«
»… Werkstätten taugen nichts… ganz sicher, meint Mr. Carlisle. Wheeler hat den Wagen gemacht und die Bremsen sind seine Schuld, weil…« Der alte Lehrer hatte Mr. Tomkins flüchtig gekannt. Der Tod dieses Mannes war ihm nicht gleichgültig, doch richtig schmerzte ihn, daß Bob die Schuld daran haben sollte. »Gesindel!« stöhnte er in ohnmächtiger Wut. »Tratschen und hängen Toten etwas Schlechtes an!« Erst allmählich beruhigte er sich wieder und war soweit mit sich selbst ehrlich, daß er zugab, Bob könnte wirklich an Mr. Tomkins Wagen etwas falsch gemacht haben. Schließlich war er zerfahren, nervös gewesen. Und dann waren da noch diese singenden Stimmen gewesen… * »Ein alter Körper kommt mit weniger Schlaf und mit weniger Nahrung aus«, gab Victor Buller einen Spruch von sich, der nur für seine Ohren bestimmt war und den Entschluß ausdrückte, das Mittagessen ausfallen zu lassen. Statt dessen schloß er sein Haus ab und machte sich auf den für ihn sehr mühseligen Weg zu Mr. und Mrs. Wheeler, Bobs Eltern. Erstens wollte er versuchen, ob er diese beiden Menschen, die Bobs Verlust ja am meisten getroffen 21 �
haben mußte, trösten konnte. Und zweitens erhoffte er sich Aufschlüsse über Bobs seltsames Verhalten. Er hatte den Jungen ja nur recht selten zu Gesicht bekommen, seine Eltern dagegen täglich. Ein Gedanke formte sich in Bullers Kopf, der manchmal sehr hartnäckig sein konnte. Bob hatte von Stimmen in der letzten, nunmehr schon vorletzten Nacht gesprochen. Hatte er früher auch schon diese Halluzinationen gehabt? War er früher auch schon so verstört gewesen? Wenn nein, dann… Victor Buller blieb kurz stehen, als ihm unterwegs dieser Gedanke kam. Dann könnte nämlich doch etwas dran sein an diesen singenden Stimmen! * Das Milchgeschäft Mr. Jenners diente an diesem Tag als Informationszentrum. Mr. Jenner, Witwer, rundlich und freundlich, beteiligte sich wie immer rege am Austausch der Meldungen. »Erstochen, ja, es ist wirklich schrecklich«, bestätigte er soeben die Frage nach der Todesart Mrs. Marshals. »Die arme Lehrerin, sie war immer zu allen…« Mr. Jenner unterbrach sich, seine Hand zuckte nach einem der Regale, an dem er sich krampfhaft festhielt. Sein Gesicht wurde von einer unna-
türlichen Blässe überzogen. Die Frauen und die beiden Männer, die sich soeben in seinem Laden aufhielten, erschraken. Einige helfende Hände streckten sich nach ihm aus, doch noch ehe jemand zupacken konnte, richtete er sich bereits wieder auf. »Was war denn, Mr. Jenner?« fragte eine seiner Kundinnen besorgt. »Ist Ihnen nicht gut?« »Nur ein kleiner Schwindelanfall«, wehrte Jenner ab und bediente weiter, während er sich einem anderen Thema zuwandte, dem tödlichen Autounfall des Stadtverordneten Mr. Tomkins. Die Kundschaft kam und ging, so daß niemand in seinem Laden etwas von seinem ersten Schwindelanfall wußte, als er den zweiten erlitt. Diesmal dauerte der Zustand länger, und jetzt erschien Jenner ein seltsames Bild, während er sich krampfhaft festhielt, um nicht auf den Boden zu stürzen. Er sah vor sich ein Gesicht, ein entfernt menschliches Gesicht, das jedoch so viel Bösartigkeit, so viel Haß und Schlechtigkeit widerspiegelte, daß es ihn zutiefst abstieß. Er war sicher, keinen Menschen mit diesem Aussehen zu kennen, auch nie einen gesehen zu haben, weder in Wirklichkeit noch auf Fotos. Und doch kam ihm die Fratze bekannt vor, fühlte er ein Frösteln bei dem Gedanken, daß ihn eine tiefe Bin22 �
dung an diese Person ketten mußte. Irgendwann in seiner Vergangenheit hatte der Mann mit diesem häßlichen, abstoßenden Gesicht eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt, ohne daß er den leisesten Schimmer hatte, wer es war und was sich damals ereignet hatte. Sekunden später war der Anfall wieder vorbei, er konnte normal sehen und mußte seine Kunden beruhigen. Wie beim ersten Mal redete er sich auf einen harmlosen Schwindelanfall heraus. Den dritten Anfall erlitt er in der Mittagspause im Hinterzimmer seines Ladens, als er eben die Kisten mit der frischen Milch aufstapeln wollte. Diesmal erging es ihm schlimmer, und er konnte sich an nichts festhalten. Keuchend brach er auf dem Boden zusammen, wand sich in Krämpfen und versuchte, um Hilfe zu schreien, doch kein Ton kam aus seiner Kehle. Da war es wieder, dieses Gesicht! Diesmal bewegte es sich, die Lippen zuckten, und dann formten sie, lautlos aber deutlich zu verstehen, einige Worte. Töte! Morde! Führe meine Befehle aus! »Nein, nein, ich kann nicht!« krächzte Jenner. Er wollte mit geballten Fäusten nach der Erscheinung schlagen, wollte sie verjagen, doch die Fratze blieb, wiederholte immer wieder die gleichen Worte,
bis der verzweifelte Widerstand des Menschen erlosch. Einige Sekunden lag der Milchmann auf dem Boden, dann richtete er sich wie in Trance auf. Aus seinem Gesicht war jedes Leben geschwunden. Seine erloschenen Augen suchten die Regale ab, bis sie an einer Metallbüchse hängenblieben. Schwerfällig holte Mr. Jenner die Büchse mit dem Rattengift herunter, öffnete sie und gleich danach auch eine der Milchflaschen. Ein gehäufter Teelöffel Rattengift verschwand in der Flasche, die er danach wieder so verschloß, daß man kaum etwas merken konnte. Er murmelte noch eine Beschwörung über die Flasche und stellte sie an ihren Platz in der Kiste zurück, trug sie hinüber in den Laden und schloß die Tür wieder auf. Die Mittagspause war vorbei. Als der erste Kunde den Laden betrat, fühlte sich Mr. Jenner wieder wohl, zeigte sein übliches freundliches Lächeln und nickte dem Eintretenden zu. Der Kunde war der zwölfjährige Michael Cabiok. * Schnaufend und prustend kam Victor Buller bei dem kleinen Reihenhaus an, das die Familie Wheeler bewohnte. Er war das letzte Stück etwas zu rasch gegangen, weil ihn 23 �
ein Blick auf seine alte, unförmige Taschenuhr vorangetrieben hatte. Wenn er sich nicht beeilte, würde er die Wheelers beim Mittagessen stören, denn daß Mr. Wheeler heute arbeitete, konnte er sich nicht vorstellen. Daß ihn seine Vermutung nicht täuschte, davon konnte er sich überzeugen, sobald er an der Haustür geschellt hatte. Arnold Wheeler selbst öffnete ihm. Während der Begrüßung und des Ausdrucks seines Beileids stellte Buller erschüttert fest, wie sehr sich Arnold Wheeler verändert hatte. Die Nachricht vom Tod seines Sohnes ließ ihn um Jahre altern. Mrs. Wheeler hatte schon den Tisch gedeckt, doch sobald der ehemalige Lehrer ihres Sohnes den Wohnraum betrat, holte sie sofort ein drittes Gedeck. Sie lenkte sich offensichtlich durch Arbeit ab. Noch etwas stellte Victor Buller fest, führte es ebenfalls auf den Todesfall zurück und sprach nicht darüber. In der ganzen Wohnung herrschte ein fürchterliches Durcheinander, eine Unordnung, als hätten hier Barbaren gehaust und als hätte jemand den Schaden nur notdürftig beseitigt. Während des Essens schleppte sich das Gespräch schwerfällig dahin und drehte sich um die anderen Vorfälle in der Stadt, den Autounfall des Mr. Tomkins und den Mord an
Mrs. Marshai. »Der Unfall von Mr. Tomkins hat mich schwer getroffen«, behauptete plötzlich Mrs. Wheeler. »Sie machen sich keine Vorstellungen, Mr. Buller, wie schlecht Nachbarn sein können. Ich weiß ja, daß die ganze Stadt wegen des Unfalls über unseren Bob redet, aber es vor mir auszusprechen, das ist eine Gemeinheit.« »Wieso Bob?« horchte Arnold Wheeler auf. »Davon weiß ich nichts. Was verschweigst du mir da?« Victor Buller merkte, daß sich Martha Wheeler verplappert hatte, daß ihr Mann nichts von den Gerüchten wußte, doch sie entschloß sich zum Reden. »Einmal mußt du es ja erfahren«, meinte sie niedergeschlagen. »Mr. Tomkins’ Wagen war bei Mr. Carlisle in der Werkstatt zum Service. Das war gestern. Und heute morgen versagten die Bremsen, wie die Polizei festgestellt hat. Na, und jetzt sagen die Leute, und auch Mr. Carlisle hat es bestätigt, daß unser Bob den Wagen repariert hat und daß er etwas an den Bremsen falsch gemacht hat.« Mr. Wheelers Reaktion war erschreckend. Mit einem Faustschlag schleuderte er seinen Teller vom Tisch. »Das ist eine Lüge!« brüllte er. »Das stimmt nicht! Ich weiß das! Ich selbst habe Mr. Tomkins in die Werkstatt hineinfahren gesehen! 24 �
Und das war bereits ziemlich spät am Abend. Als er wieder herauskam, sprachen wir ein paar Worte, und er meinte, der Wagen würde nur mehr fertig werden, weil Mr. Carlisle persönlich den Service durchführt! Bob war nicht mehr im Betrieb!« Ein schwaches Lächeln der Erleichterung huschte über Mrs. Wheelers verhärmtes Gesicht, während ihr Mann Anstalten traf, sofort das Haus zu verlassen, um bei der Polizei eine entsprechende Aussage zu machen, die seinen Sohn nachträglich noch von dem häßlichen Verdacht reinwaschen würde. »Warten Sie, Mr. Wheeler«, hielt ihn die Stimme des alten Lehrers zurück. »Nichts überstürzen!« Überraschenderweise ließ Wheeler sich von dem alten Mann dazu überreden, vorläufig nichts zu unternehmen. Buller mußte dafür versprechen, die Angelegenheit persönlich zu bereinigen. »Ich werde mich noch heute darum kümmern und mit Inspektor Pratt sprechen«, gab Buller sein Wort. »Mir glaubt der Inspektor eher als Ihnen, weil er annehmen würde, der Vater möchte nur seinen Sohn decken.« »Wahrscheinlich haben Sie recht«, bestätigte Arnold Wheeler, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. »Der Inspektor hält mich ohnedies für nicht ganz richtig im Kopf.« Dabei tippte er sich an die Stirn.
»Haben Sie die Unordnung bemerkt, Mr. Buller?« »Habe ich«, nickte der alte Lehrer. »Aber…« »Aber Sie haben gedacht, wir wären das gewesen«, fuhr Arnold Wheeler fort. »So eine Art Kurzschlußhandlung im ersten Schmerz.« »Könnte ja sein«, erwiderte Buller bedächtig. »Eingebrochen haben sie bei uns«, flüsterte Mrs. Wheeler verängstigt. »Alles war durchgewühlt, als wir wieder nach Hause kamen! Überall haben diese Diebe nachgesehen.« »Wann wurde eingebrochen?« horchte der ehemalige Lehrer auf. Es erschien ihm seltsam, daß diese Familie gleich zweimal hintereinander von einem Unglück betroffen sein sollte. »Heute morgen mußten wir auf die Polizei, um unsere Aussage zu machen – wegen Bob«, erklärte Mr. Wheeler. »Und als wir nach drei Stunden wieder nach Hause kamen, sah es hier aus wie nach einer Bombenexplosion. Martha hat sofort den Inspektor gerufen, der ist auch gekommen, aber er hat uns nicht recht geglaubt, wie ich vorhin schon sagte.« »Wurde denn etwas gestohlen?« forschte Victor Buller. »Das ist es ja!« Arnold Wheeler schüttelte verständnislos den Kopf. »Wir haben ein wenig Bargeld im 25 �
Haus und den Familienschmuck meiner Frau.« »Nur ein paar Kleinigkeiten, aber immerhin – für Diebe interessant«, mischte sich Martha ein. »Das alles haben die Diebe hiergelassen«, fuhr Arnold Wheeler fort. »Aber meine Tonbandsammlung von alten walisischen Volksliedern, die haben die Diebe mitgenommen.« »Walisische Volkslieder?« wiederholte Victor Buller fassungslos. »Warum stiehlt man die? Vielleicht wegen der Tonbänder? Die kann man ja neu bespielen.« »Zehn Tonbänder nehmen die Diebe mit, das Bargeld und den Schmuck lassen sie liegen? Das glauben Sie doch selbst nicht, Mr. Buller.« Arnold Wheeler stand ruckartig auf und trat ans Fenster. Mit dem Rücken zum Raum gewandt, sagte er halblaut. »Irgend etwas geht hier vor, das merke ich deutlich. Ich weiß nur nicht, was es ist. Es hat mit uns zu tun und mit dieser Stadt.« »Mein Mann hat recht, Mr. Buller«, bestätigte Mrs. Wheeler. »Es stimmt nicht mehr in Lampton. Diese beiden Unfälle und der Mord an Mrs. Marshai, das ist kein Zufall!« Victor Buller war sehr nachdenklich geworden. Mit seinem Zeigefinger rieb er über den Rücken seiner Hakennase, eine Gewohnheit, über die während mehrerer Jahrzehnte seine Schüler gewitzelt hatten. »Eine Frage«, durchbrach er die
Stille. »War Bob in letzter Zeit deprimiert? Ich meine jetzt nicht den Abend vor…!« »Er war immer sehr still und zurückgezogen, aber nicht deprimiert, Mr. Buller«, antwortete Mr. Wheeler mit Überzeugung, und ihr Mann nickte bestätigend. Buller stand auf und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Sprach Ihr Sohn jemals von singenden Stimmen?« fragte er leise. Die verständnislosen Gesichter der Eheleute waren Antwort genug. Und dann tat Buller etwas, das er sich selbst nicht so recht erklären konnte. »Sprechen Sie mit keiner Menschenseele darüber, was ich eben sagte! Es könnte für Sie sehr gefährlich werden.« Damit verließ er das kleine Reihenhaus und trottete in seinem etwas schwerfälligen, unbeholfenen Greisengang davon. * Der Notruf erreichte das Krankenhaus um 14.02 Uhr. Eine vor Aufregung schluchzende und kaum zu verstehende Frauenstimme meldete die Adresse und den Namen Cabiok. Aus den wenigen Wortfetzen reimte sich die Krankenschwester am Telefon einiges zusammen, so daß sich der Notarzt unterwegs bereits auf einen schweren Vergiftungsfall vorbereitete. 26 �
Bei seinem Eintreffen in der Wohnung der Familie Cabiok fand er die ersten Vermutungen bestätigt. In einer Ecke der Küche hockte ein völlig verschreckter Junge, dem aber offensichtlich nichts fehlte. Mrs. Cabiok kniete neben ihrem Mann auf dem Boden. Der Mann wand sich in Krämpfen. Sein Gesicht war schweißüberströmt und verzerrt, und seine Augen richteten sich mit einem flehenden Ausdruck auf den Arzt, der in die Küche stürmte. Dr. Faxton arbeitete schnell und präzise, obwohl er nicht viel tun konnte. Die Träger mit der Bahre standen bereit, und sobald er Mr. Cabiok ein kreislaufstärkendes Mittel verabreicht hatte, gab er das Zeichen zum Abtransport. »Fahren Sie mit, Mrs. Cabiok«, riet der Arzt. »Den Jungen lassen Sie besser bei mir, ich bleibe noch in der Wohnung.« Die Frau war mit allem einverstanden. Sie hatte entsetzliche Angst um ihren Mann ausgestanden und war nun offenbar enttäuscht, daß der Arzt die Krämpfe nicht zum Verschwinden gebracht hatte. Dr. Faxton verschwieg ihr vorsorglich, daß es für ihren Mann nicht mehr viel Hoffnung gab. Für den Arzt gab es jetzt eine wichtige Aufgabe. Er ging ans Telefon und verlangte eine Verbindung mit Inspektor Pratt, die eine halbe
Minute später zustandekam. Als Pratt hörte, was vorgefallen war, versprach er, sofort zu kommen. Danach redete Dr. Faxton dem Jungen so lange zu, bis dieser sich einigermaßen beruhigt hatte und erzählte. Als Inspektor Pratt eintrat, faßte Dr. Faxton zusammen: »Ich stehe vor einem Rätsel, Inspektor. Die Familie wollte erst essen. Mr. Cabiok trank nur ein Glas Milch aus dieser Flasche auf dem Tisch. Ich bin beunruhigt, weil seine Frau und der Junge ebenfalls davon tranken, und zwar genauso viel. Sie zeigen jedoch keine Vergiftungserscheinungen.« »Aber, das ist doch gut«, meinte Pratt achselzuckend. »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen.« »Dann müßte sich das Gift nur in Mr. Cabioks Glas befunden haben«, murmelte der Arzt, damit Michael, der Sohn der Familie, es nicht hörte. »Meinen Sie, das habe ich nicht längst begriffen?« murmelte der Inspektor zurück und deutete mit dem Kopf auf den Jungen. Er hatte also auch nicht offen sprechen wollen. »Ich werde alles in dieser Küche von Spezialisten untersuchen lassen. Wir werden…« Er konnte nicht weitersprechen. Kaum hatte er das Wort »untersuchen« ausgesprochen, als mit einem brüllenden Fauchen eine Stichflamme gegen die Küchendecke raste und den Tisch mit allen darauf27 �
stehenden Gegenständen einhüllte. Innerhalb von Sekunden verwandelte er sich in einen Haufen Asche und Glas- und Porzellansplitter. Im nächsten Moment erlosch die Flamme wieder. »Das… das… gibt es nicht«, stammelte Inspektor Pratt, während Dr. Faxton den zitternden Michael an sich drückte. »Der Tisch stand ganz frei, kein Herd in der Nähe, nicht einmal eine Kochplatte, auch keine Gasleitung. Das gibt es doch gar nicht!« Ehe der Arzt etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon. Pratt ging wie ein Traumwandler geistesabwesend an den Apparat, meldete sich und hörte kurz zu. »Zu spät.« sagte er mit belegter Stimme, als er wieder die Küche betrat. »Auch im Krankenhaus konnten sie Mr. Cabiok nicht mehr helfen. Es… war zu spät.« Er brach hilflos ab. Gemeinsam brachten sie Michael Cabiok ins Krankenhaus zu seiner Mutter, nachdem die Wohnung von Pratts Leuten übernommen worden war. Die ersten Untersuchungsergebnisse des Krankenhauses lagen sehr bald vor. Danach war Mr. Cabiok an Rattengift gestorben, an einer sehr hohen Dosis. Die Befragungen von Mrs. Cabiok und Michael ergaben übereinstimmend und zweifelsfrei, daß Mr. Cabiok das Gift mit der Milch
zu sich genommen hatte. Da sich Michael die ganze Zeit in der Küche befunden hatte, schied seine Mutter als mögliche Mörderin aus. Als Inspektor Pratt Mr. Jenner, dem Milchmann, seinen Verdacht mitteilte, in einer von ihm verkauften Flasche könnte sich Rattengift befunden haben, verlor Jenner die Fassung. Erst als der Inspektor den rätselhaften Zimmerbrand erwähnte, reagierte Jenner anders, als der Polizist es von dem liebenswürdigen Geschäftsmann erwartet hätte. Mr. Jenner grinste einige Sekunden lang. In seinen Augen stand ein unerklärliches Funkeln. Genauso ratlos, wie er gekommen war, verließ Inspektor Pratt den Milchladen wieder. Er wußte nur, daß er sich einigen Dingen gegenübersah, die er nicht begreifen konnte. Allmählich wurde es ihm unheimlich. Diese Anhäufung von verschiedenen Todesfällen in Lampton innerhalb weniger Stunden, das… wie hatte er sich vorhin ausgedrückt? Das ging nicht mit rechten Dingen zu. * Erst als die letzten Häuser hinter ihm zurückblieben, wurde sich Victor Buller überhaupt bewußt, daß er die Stadt verließ. Er hatte seit dem 28 �
Verlassen des Hauses der Wheelers ohne es zu wollen, die Richtung zum alten Leuchtturm eingeschlagen. Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg fort. Warum sollte er nicht einen Spaziergang zum Leuchtturm unternehmen. Er hatte keine dringenden Arbeiten zu erledigen, war frei und ungebunden. Und die paar Meilen insgesamt hin und zurück, die würde er auch noch schaffen, ehe ihn die Dunkelheit überraschte. Victor Buller unternahm den Spaziergang nicht, um sich zu zerstreuen oder auf andere Gedanken zu bringen. Dazu kannte er sich selbst viel zu gut. Wenn er eine Idee hatte, ließ sie ihn nicht mehr los, bis er ihr auf den Grund gegangen war. Die Idee, die ihn diesmal gepackt hielt, hieß »Stimmen«, genauer »singende Stimmen«. Von solchen hatte Bob gesprochen, und sie waren offensichtlich der Grund gewesen, weshalb er so auf geregt und gleichzeitig deprimiert gewesen war. Der alte Lehrer konnte sich noch sehr genau an sein Gespräch mit seinem Schützling erinnern. Es war Bob um eine Möglichkeit gegangen, wie er Stimmen in seiner Funkanlage hören konnte, die nicht gesendet worden waren. Darauf wußte Victor Buller zwar auch keine Antwort, weshalb er Bob ja auf diese verhängnisvolle Fahrt zur Wetterstation geschickt hatte, doch er neigte immer mehr zu
der Ansicht, daß es diese Stimmen tatsächlich gegeben hatte. Sogar Mr. und Mrs. Wheeler hatten bereits das Gefühl, daß sich in Lampton Dinge ereigneten, die aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fielen. Buller blieb stehen, streckte seinen leicht schmerzenden Rücken und setzte sich wieder in Bewegung. Was ging vor in Lampton, dieser sonst so ruhigen Stadt? Die Spitze des Leuchtturms tauchte auf und lenkte seine Gedanken wieder auf die Funkstation, die Stimmen und… Mr. Wheelers Tonbänder. Tonbänder? Wie kam er jetzt darauf? »Alte walisische Volkslieder«, sagte er leise vor sich hin, während er kräftiger ausschritt. »Lieder werden gesungen – singen – singende Stimmen!« Hatte es etwas mit den Tonbändern von Bobs Vater zu tun? Mit den »singenden Stimmen« auf diesen Bändern? Die Erklärung gefiel dem alten Lehrer nicht. Schließlich kannte Bob das Hobby seines Vaters seit Jahren, also wäre es für ihn kein Grund zur Beunruhigung gewesen, ein walisisches Volkslied zu hören. Je näher Victor Buller dem Leuchtturm kam, desto schneller ging er. Er ahnte, daß er sein Ziel vor Augen hatte. Diese Funkstation mußte ihm Antwort auf alle seine Fragen geben können. Er wußte nur noch nicht, ob er 29 �
über das nötige Wissen verfügte, der Station ihr Geheimnis zu entreißen. * Die Polizei war bei Mr. Carlisle gewesen, dieser Inspektor Pratt hatte ihn über den Wagen von Mr. Tomkins befragt. Carlisle hatte, genau wie es seiner Erinnerung entsprach, Auskunft gegeben. »Robert Wheeler hat Mr. Tomkins Wagen inspiziert«, lautete die Aussage des Werkstattbesitzers. »Er sagte mir hinterher, es wäre etwas an den Bremsen gewesen, aber er habe es in Ordnung gebracht. Ich kannte Bob immer als einen sehr zuverlässigen Mechaniker, weshalb ich mich nicht weiter darum kümmerte. Ich wußte, daß ich mich auf ihn verlassen kann.« »Offenbar doch nicht«, war der einzige Kommentar Inspektor Pratts gewesen, für den die Angelegenheit damit erledigt zu sein schien, da er die Werkstatt daraufhin verließ. Die Ereignisse in Lampton schienen sich schädlich auf das Geschäft auszuwirken. Überhaupt waren weniger Leute auf den Straßen unterwegs, als hätte der Schock die Bevölkerung der Kleinstadt gelähmt. Und der tödliche Fehler, der in Carlisles Werkstatt begangen worden war, schädigte bestimmt seinen Ruf. Jedenfalls war bis mittag kein einziger Kunde aufgetaucht, weshalb
Carlisle seine drei übriggebliebenen Gehilfen nach Hause schickte und für diesen Tag schloß. Jetzt saß er grübelnd in seiner Wohnung, die sich gleich an die Werkstatt anschloß, und brütete finster vor sich hin. Man sagte zwar immer, einem Toten solle man nichts nachtragen, doch er war ehrlich wütend auf Robert Wheeler. Was hatte er bloß mit den Bremsen von Mr. Tomkins Wagen gemacht! Für einen erfahrenen Mechaniker war es fast ausgeschlossen, einen tödlichen Fehler einzubauen, ohne etwas davon zu merken! Oder sollte es Absicht gewesen sein? Ausgeschlossen, gab sich Mr. Carlisle gleich darauf selbst die Antwort. Die beiden hatten einander nicht gekannt und auch sonst war es ausgeschlossen, daß Robert Wheeler irgend jemanden hatte ermorden wollen. Nein, er würde wohl nie herausfinden, was wirklich geschehen war. Die Sonne stand noch weit über dem Horizont, als der Werkstattbesitzer beschloß, sich auf die Couch zu legen und zu schlafen. Er fühlte sich müde und zerschlagen, und Arbeit gab es keine für ihn. »Eine schöne Bescherung«, murmelte er noch, dann schlossen sich bereits seine Augen. Aber er schlief nicht. Zwar hatte er das Gefühl, zu träumen, doch gleichzeitig war er hellwach. Er glaubte, 30 �
sich in einem großen, dunklen Raum wiederzufinden, in dem nur zwei Lichtpunkte glühten, rote Lichtpunkte wie die Schlußlichter eines Autos auf einer nächtlichen Landstraße. Die Lichter kamen näher, und als Carlisle erkannte, daß es funkelnde Augen waren, wollte er entsetzt aufschreien. Doch wie in einem Alptraum bekam er nicht einmal ein heiseres Krächzen aus der Kehle, die wie zugeschnürt war, als würden ihn eisige Klauen würgen. Von den Augen strahlte eine hypnotische Kraft auf ihn aus, die ihn langsam seines eigenen Willens beraubte. Je weniger er Herr über sich selbst war, desto deutlicher schälte sich rings um die Augen ein Gesicht aus der Dunkelheit, das ihm in seiner abstoßenden Häßlichkeit und widerwärtigen Gemeinheit schrecklich vertraut war. »Satan«, flüsterte er, dann war auch seine Fähigkeit zu sprechen erloschen. Ganz im Bann des Bösen stehend, empfing er neue Befehle, die weit über seine ursprüngliche Aufgabe hinausgingen und die das Verderben eines weiteren Menschen besiegelten.
Victor Buller vorsichtig dem Gebäude auf der Klippe. Er vermied es, in die Tiefe zu schauen, da er nicht schwindelfrei war und das Meer sich tosend an den senkrechten Steinwänden brach. Er hielt den Blick starr auf die eiserne Eingangstür gerichtet, die sich unter dem Druck seiner Hand nicht öffnete. Natürlich, er hatte nicht annehmen können, daß Bob seine Anlage schutzlos zurückgelassen hatte. Wahrscheinlich lag der Schlüssel noch immer an derselben Stelle, an der Bob ihn versteckt hatte. Victor Buller suchte unter einem scheinbar zufällig zusammengerollten Steinhaufen und zog tatsächlich einen großen, angerosteten Schlüssel hervor, der ihm den Eingang zum Turm öffnete. Nach einem letzten Rundblick, ob er auch nicht beobachtet wurde, betrat er das Halbdämmern des Turms. Kaum schlug die Tür hinter ihm zu, fühlte er sich wie in einem Grab. Nur durch schmale, schießschartenartige Fenster fiel Licht herein. Jeder Schritt hallte von den Wänden wider. Mit Unbehagen betrachtete der alte Lehrer die eiserne Wendeltreppe, die ihm nicht erspart blieb, da Bob die Anlage in der Spitze des Turms untergebracht hatte. * »Ich bin doch kein Eichhörnchen«, Als wäre der stillgelegte Leuchtturm � seufzte Buller, ehe er sich an den eine feindliche Burg, näherte sich � Aufstieg wagte. 31 �
Stufe um Stufe zog er sich hinauf, legte zwei Pausen ein und stand endlich erschöpft in dem engen Raum, in dem früher das Leuchtfeuer gebrannt hatte. Jetzt bestand die Einrichtung aus einigen alten Schränken, hinter deren Türen sich die empfindlichen Geräte der Sendeund Empfangsstation verbargen. Zugleich mit dem ganzen Turm hatte Bob auch den Generator gepachtet, der den Strom lieferte. Der Schalthebel stand auf AUS, und somit war Bullers technisches Wissen erschöpft. Sein Interesse galt auch weniger den Geräten als einem Notizblock mit handschriftlichen Aufzeichnungen Bobs. »Ich darf nicht sentimental werden«, murmelte der alte Mann. Plötzlich beugte er sich vor und kniff die Augen zusammen, um besser die einzelnen Linien erkennen zu können. Wahrscheinlich hatte Bob eine Reihe Männchen gemalt, um sich die Zeit zu vertreiben, während er auf Kontakt aus dem Äther wartete. An einer Stelle bekam die Linie einen scharfen Knick und brach gleich danach ab, als wäre Robert heftig erschrocken. Diese Stimmen fielen Buller wieder ein, von denen Bob gesprochen hatte, und im Zusammenhang mit den Stimmen meldete sich in seiner Erinnerung etwas, nahm aber noch keine deutliche Gestalt an. Der alte Lehrer wollte schon wie-
der gehen. Er hätte überhaupt nicht herkommen sollen. Auf diese Weise dachte er nur noch intensiver an seinen bisher einzigen Besuch im Leuchtturm, und er sah förmlich das vor Stolz glühende Gesicht Bobs vor sich. Er glaubte sogar, die Stimme seines Schützlings zu hören, wie er ihm alles erklärte und er nichts verstand. … und hier zeichne ich alle Funksprüche auf, falls einmal ein besonders interessanter dabei sein sollte… Trotz seines Alters wirbelte Victor Buller herum. Das war es! Jetzt wußte er endlich wieder, woran ihn die ganze Zeit die Stimmen erinnerten, von denen Bob gesprochen hatte! An das Tonbandgerät, mit dem Bob alles aufnahm, an das Regal mit den bespielten Tonbändern – und an die gestohlenen Tonbänder Mr. Arnold Wheelers, auf denen walisische Volkslieder aufgezeichnet waren. Die Augen des alten Mannes glitten über die einzelnen Schränke, bis er die Hand nach einer Tür ausstreckte und sie aufzog. Er hatte sich nicht getäuscht, hier stand das Tonbandgerät! Daneben reihten sich die Kassetten mit den archivierten Bändern. Im College hatte er seinen Schülern gelegentlich Bänder mit Volksmusik aus aller Welt vorgespielt, weshalb er das Gerät bedienen konnte. Ein Band lag darauf, es war 32 �
bis zum Ende abgelaufen. Buller spulte es zurück, schaltete auf Wiedergabe und ließ sich auf den Drehstuhl sinken. Es berührte ihn merkwürdig, die Stimme seines früheren Schülers zu hören, der verschiedene Stationen rief, die über die ganze Welt verteilt waren, Antworten erhielt und erneut sein Rufzeichen durchgab. Fast eine volle Stunde war vergangen, als aus dem Lautsprecher ein erstaunter Ausruf erklang. Bob hatte ihn ausgestoßen, und unwillkürlich blickte Buller auf die unterbrochene Männchenreihe auf dem Notizblock. Und dann richtete er sich steil auf dem Drehstuhl auf. Sein Gesicht wurde weiß wie die Wand. Jetzt hörte auch er sie – die singenden Stimmen! Es gab sie also wirklich, Bob hatte sie sich nicht eingebildet! Der eintönige, beschwörende Gesang jagte Victor Buller eisige Schauer über den Rücken. Dennoch erhöhte er die Lautstärke, bis die singenden Stimmen durch den Leuchtturm hallten. * Einige Leute sahen Mr. Carlisle durch die Straßen von Lampton wandern, scheinbar nur Spazierengehen. Niemand kam auf den Gedanken, weshalb er wirklich unterwegs war. Einige böse Zungen
zischelten hinter ihm her und beklatschten ausführlich den tödlichen Unfall, den ein Mitarbeiter seiner Werkstatt verursacht haben sollte. Es wurden aber auch schon andere Stimmen laut, Stimmen, von denen Mr. Carlisle in diesem Moment noch keine Ahnung hatte. Diese Leute behaupteten, es wäre eine Lüge, daß Bob Wheeler den Fehler an den Bremsen übersehen oder verursacht hatte, der Mr. Tomkins zum tödlichen Verhängnis geworden war. Trotz der Abmachung mit dem alten Lehrer hatte Arnold Wheeler es nicht über sich gebracht, stillzuschweigen und die Leute reden zu lassen. Er hatte jedem, der es hören wollte, von seiner Beobachtung am Tag der unglücklichen Reparatur erzählt und somit den Verdacht von seinem toten Sohn abgewandt. Wie in jeder Kleinstadt, so machte auch in Lampton sehr rasch das Gerücht die Runde, Mr. Carlisle selbst wäre der Schuldige, und er würde die Verantwortung auf einen Toten abwälzen, um seine Kunden zu behalten. Davon wußte Carlisle nun nichts, obwohl sich die Lage für ihn gefährlich zuspitzte. Daß es nicht zu gefährlich wurde, dafür sorgte eine Macht, mit der er im Bunde stand und die ihm auch den Gang diktiert hatte, der ihn zu einem unscheinbaren Wohnhaus führte. Unsichtbare 33 �
Kräfte lenkten Carlisles Schritte so, daß er keinem der anderen Mieter begegnete und ihn auch sonst niemand beim Betreten des Hauses beobachtete. Er schellte an einer Tür im zweiten Stock, hörte Schritte in der Wohnung und stand gleich darauf einem jungen Mann gegenüber. »Mr. Carlisle?« staunte Jeff Weston. »Weshalb kommen Sie zu mir? Ist doch noch Arbeit angefallen?« Carlisle betrat, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, die Wohnung eines seiner Mechaniker, die er an diesem Tag aus Arbeitsmangel nach Hause geschickt hatte. »Es geht um den Unfall von Mr. Tomkins«, sagte er knapp. »Ich muß mit Ihnen reden, Jeff.« »Gehen Sie ins Wohnzimmer, Mr. Carlisle, meine Eltern sind nicht da.« Jeff Weston schloß die Tür und folgte seinem Chef. »Was ist mit dem Unfall?« »Holen Sie Papier und einen Stift, wir müssen das schriftlich machen«, verlangte der Werkstattbesitzer. Jeff konnte sich zwar nicht erklären, was das für einen Sinn haben sollte, doch er folgte der Aufforderung und setzte sich auf einen Wink Carlisles an den Tisch. Sein Arbeitgeber trat hinter ihn – und in der nächsten Sekunde sah Jeff ein scharfes Rasiermesser von seinen Augen aufblitzen. Gleich darauf senkte es sich mit sanftem Druck an seine
Kehle. »Hör mir gut zu, Jeff!« zischte Carlisle mit völlig veränderter Stimme. »Du tust jetzt genau, was ich dir sage! Wenn nicht…« Der Stahl an seiner Kehle ließ keinen Zweifel aufkommen, was passieren würde, wenn er sich weigerte. Jeff wagte nicht, zu nicken, aber er gab einen heiseren, krächzenden Laut von sich. Er begriff nur, daß sein Chef völlig den Verstand verloren haben mußte! »Du schreibst jetzt folgendes«, diktierte Carlisle. »Ich, Jeff Weston, bekenne mich schuldig, die Bremsen…« Ein leichter Druck mit dem flachen Rasiermesser genügte, um den Widerstrebenden zum Schreiben zu veranlassen. Zitternd kritzelte der Mechaniker das Geständnis, er habe den Wagen des Stadtverordneten fehlerhaft repariert und damit den tödlichen Unfall verschuldet und habe dann hinterher aus Angst vor den Folgen die Schuld auf seinen zufällig zur gleichen Zeit ums Leben gekommenen Arbeitskollegen Robert Wheeler abgewälzt. »Und jetzt noch die Unterschrift!« befahl Carlisle mit eisiger Stimme. Noch ein letztes Zögern. Jeff Weston meinte, sich damit der Polizei auszuliefern, wenn er das falsche Geständnis unterschrieb. Er glaubte, alles zu verstehen. Der Chef selbst hatte den tödlichen Fehler begangen, 34 �
man hatte ihm jedoch nachgewiesen, daß Bob es nicht gewesen sein konnte, Bob, den der Chef zum Sündenbock hatte machen wollen. Also mußte jetzt er, Jeff Weston, herhalten. Doch dann sagte er sich, daß es besser war, hinterher der Polizei die wahren Zusammenhänge erklären zu müssen, als jetzt Carlisle zu einer Verzweiflungstat zu treiben. Er setzte den Stift auf das Papier. Jeff Weston unterschrieb damit sein eigenes Todesurteil. »Es war dein Befehl, Großer Meister«, flüsterte Mr. Carlisle mit flammenden Augen. Dann zuckte das Rasiermesser durch die Luft. * … unserem Großen Meister zu huldigen, ihm, den wir verehren und dem wir dienen wollen! Wie Donnerschläge hallten die Worte aus dem Lautsprecher durch den einsamen Leuchtturm auf der Klippe hoch über dem Meer. Victor Buller verkrampfte seine Finger ineinander, daß die Gelenke knackten. Obwohl er schon viel in seinem Leben mitgemacht hatte und nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war, wirkte die Stimme furchtbar auf ihn. Sie drang in sein Gehirn, als wollte sie seine Gedanken heraussaugen. Buller konnte sich lebhaft
vorstellen, wie der sensible Bob darauf reagiert haben mochte. … Tod und Verderben über unsere Mitmenschen… nächsten Nahe… Liste mit Namen… innerhalb der nächsten Tage sterben… durch die Hand eines von uns… jeder von euch sein Opfer… Wille unseres Großen Meisters! Victor Bullers Finger drückte auf die Stop-Taste des Geräts. Stille fiel über ihm zusammen, Totenstille, in die hinein er das ferne Rauschen der Brandung vernahm. Schlagartig waren alle Zusammenhänge klar und verständlich geworden. Der Greis saß zitternd auf dem Stuhl, sich der ungeheuren Tragweite des eben Gehörten voll bewußt. Durch einen Zufall oder durch eine Fügung, durch eine Laune der Natur oder durch eine ihm unbekannte Kraft war es Bob möglich gewesen, eine Schwarze Messe mitanzuhören. Victor Buller schlug erschüttert die: Hände vor das Gesicht. Vielleicht hatte Bob nicht gewußt, was das gewesen war, wohingegen er in seiner jahrzehntelangen Erfahrung schon viel über Schwarze Messen gehört hatte. Doch eines hatte Bob ganz bestimmt verstanden, nämlich die fürchterliche Drohung eines Massenmordes, der in der Nähe der Beschwörungsstätte dieses Geheimbundes stattfinden sollte. 35 �
Bob hatte die Unglücks- und Verbrechensserie in seiner Heimatstadt Lampton nicht mehr erlebt, weil er eines der ersten, vielleicht sogar das erste Opfer überhaupt geworden war. Buller zweifelte nicht daran, daß dieser satanische Bund, dieser Bund der singenden Stimmen, seinen Sitz hier hatte, hier in der Kleinstadt Lampton! Alle anderen Möglichkeiten wären ein zu großer Zufall gewesen, und an Zufälle glaubte Buller nicht. Je länger er alles durchdachte, desto klarer wurden ihm die einzelnen Details. Bobs Aufregung, seine vermeintliche nervliche Krise, sie wurde durch diese Ankündigung hinreichend erklärt. Doch auch sein Tod und der Diebstahl der Tonbänder seines Vaters erschienen in einem neuen Licht. Wahrscheinlich hatte Bob sich verraten und durchblicken lassen, er habe über Funk etwas Ungeheuerliches gehört. Das war den richtigen Leuten zu Ohren gekommen – das heißt, den falschen! –, also jenen Männern, die den Geheimbund bildeten. Sie hatten nicht nur dafür gesorgt, daß der gefährliche Zeuge starb, sondern sie hatten auch die Unterlagen verschwinden lassen wollen. Bobs Tod stellte sich als Mord dar! Der alte Mann brach unter dieser Erkenntnis nicht zusammen, sondern fühlte sich im Gegenteil von einer neuen Kraft durchströmt. Er
wollte die Schuldigen für Bobs Ermordung zur Rechenschaft ziehen! Daß ihm die Polizei dabei nicht helfen konnte, war ihm klar. Wie sollte er dem Inspektor verständlich machen, daß es gewisse Dinge gab, die allen Naturgesetzen und allen Regeln der menschlichen Vernunft zuwiderliefen? Wie sollte er beweisen, daß ein offensichtlicher Unfall mit dem Motorrad ein Mord sein mußte, einfach deshalb sein mußte, weil es für die Satansbrüder keine andere Möglichkeit gegeben hatte, als Bob zu töten? Die gestohlenen Tonbänder von Bobs Vater waren der beste Beweis für die Mordtheorie, wenn auch ein Beweis, den die Polizei nicht anerkennen konnte. Die Mörder, also die Anhänger des Kults der singenden Stimmen, hatten erfahren, daß Bob eine Funkanlage besaß, über die er ihre Zusammenkunft abgehört hatte… wie, das war weiterhin ein Rätsel. Sie hatten die Anlage zuerst in Bobs Haus gesucht, sie nicht gefunden, aber alle Tonbänder im Haus mitgenommen, weil auch sie wahrscheinlich wußten, daß viele Amateurfunker während ihrer Reisen durch den Äther ein Tonband mitlaufen ließen. Irgendwann würden die Mörder ihren Fehler einsehen und das verräterische Band anderswo suchen, ebenso wie die Funkanlage selbst. Buller schrak zusammen. Solange er 36 �
sich hier im Leuchtturm aufhielt, schwebte er in höchster Lebensgefahr. Jeden Moment konnten die Satansanhänger hereinstürmen und ihn ebenfalls töten! Er warf einen gehetzten Blick über die Wendeltreppe hinunter. Nun fiel ihm auch auf, wie dunkel es in der Zwischenzeit geworden war. Der Abend mußte sich langsam über die Küste senken. Dennoch wagte er es nicht, Licht einzuschalten, aus Angst, damit die Feinde anzulocken. Obwohl er wie auf glühenden Kohlen saß, ließ er das Band noch weiterlaufen, um sich nichts entgehen zu lassen. Er hörte die Warnung eines Mitglieds des Kultbundes, hörte auch noch den überhasteten Aufbruch Bobs. Danach war Stille. Ohne wirklich überlegt zu handeln, ließ Victor Buller das Band zurücklaufen und nahm die Spule an sich. Erst danach begann er den Abstieg in praktisch völliger Finsternis. Er mußte sich von Stufe zu Stufe die Wendeltreppe hinuntertasten. Glücklich unten angekommen, nahm er sich noch die Zeit, die Eisentür zu versperren und den Schlüssel an die gewohnte Stelle zu legen. Dann entfernte er sich, so schnell ihn seine alten Beine trugen. Fünf Minuten war er die Straße entlanggehetzt und hatte sich kaum von dem Leuchtturm entfernt, als weit vor ihm Scheinwerfer aufblitz-
ten. Sofort erkannte Buller die Gefahr. Diese Straße führte zum Leuchtturm und sonst nirgendwohin. Die Leute aus Lampton benützten sie nicht für Ausflüge, und es war auch keine Zufluchtsstätte für motorisierte Liebespärchen. Es mußte jemand sein, der zum Leuchtturm wollte, also jemand, der hier die Funkstation Bobs vermutete… die Polizei oder die Mörder! Das Tonband in seiner Jackentasche hing wie ein Zentnergewicht an ihm. Buller mußte sich und das Band in Sicherheit bringen, weil sonst niemand erfahren würde, in welch grauenhafter Gefahr die Stadt schwebte! Verzweifelt schaute er sich nach einem Versteck um, doch es gab keines! In sanften Wellen erstreckte sich die Wiese bis direkt an den schroffen Abgrund, ohne Büsche, ohne Rinnen. Buller blieb nichts anderes übrig, als seitlich von der Straße in die Wiese zu laufen und sich ganz flach auf den Boden zu legen. Mit flackernden Augen starrte er dem Wagen entgegen. * Die Scheinwerfer fraßen sich durch die Dunkelheit, kamen unaufhaltsam näher. Plötzlich fuhr der alte Victor Buller heftig zusammen. Seine Haare! 37 �
Seine schneeweißen Haare! Wenn ihn die Scheinwerfer erfaßten, hatte er immer noch eine Chance, daß sich seine Kleider nicht von der dunklen Wiese abhoben. Seine Haare würden jedoch herausleuchten aus der Finsternis, und da hier keine hellen Steine herumlagen, mußte den Leuten im Wagen klar sein, daß sich hier jemand, vergeblich zu verstecken suchte. Gedankenschnell zerrte er seine Strickjacke über den Kopf, daß nur noch seine Augen frei blieben, dann war der Wagen heran. Das Licht stach ihm voll in die Augen, so daß er geblendet wurde und nichts mehr als glühende Scheiben sah, auch als das Auto längst weitergefahren war und ihn wieder Dunkelheit umgab. Die Chance, die Zulassungsnummer des Autos zu lesen, war vertan. Er konnte nur eben noch erkennen, daß es sich um kein Fahrzeug der Polizei handelte. »Ein Glück, daß man im Alter weitsichtig wird«, murmelte der ehemalige Lehrer, als er erkennen konnte, wie der Wagen vor dem Leuchtturm hielt und einige Personen sich an der Eingangstür zu schaffen machten. Er hatte jetzt die Wahl, weiter auf der Straße in Richtung Lampton zu gehen. Dann mußte er sich, wenn die Mörder zurückkamen, erneut verstecken, und es war fraglich, ob ihm das ein zweites Mal ebenfalls
gelingen würde. Oder er wagte den gefährlichen Marsch querfeldein, gefährlich wegen der Möglichkeit, daß er sich verirrte, zu nahe an die Klippen geriet und in der Dunkelheit in den Abgrund stürzte. Die von den Klippen drohende Gefahr erschien dem alten Mann letztlich verschwindend gering im Vergleich zu dem, was ihm von den Leuten aus dem Auto drohte. Also schlug er quer über die hügeligen Wiesen die Richtung nach Lampton ein. Eine Viertelstunde später dankte er seinem Einfall von ganzem Herzen. Der Mond ging auf, groß und voll und so hell, daß man eine Zeitung hätte lesen können. Jetzt hätte er jede Chance verspielt gehabt, sich seitlich der Straße zu verbergen, indem er sich im Gras ausstreckte. Die Mörder hätten ihn auch ohne die Scheinwerfer ihres Wagens sehen müssen. Weitere zehn Minuten später, nachdem Victor Buller soeben aus der tödlichen Nähe eines weit ins Landesinnere reichenden Küsteneinschnitts gewichen war, hätte er sich wahrscheinlich in den Händen seiner Feinde befunden, die in diesem Moment den Rückweg antraten. Automatisch tastete der alte Mann nach dem Tonband in seiner Tasche. Er würde es gut verwahren und dafür sorgen, daß jemand Kenntnis vom Inhalt des Bandes erhielt, falls 38 �
er selbst umkommen sollte bei dem, wozu er sich fest entschlossen hatte und was er bis zum letzten Atemzug durchführen würde. Bei der Zerschlagung des Bundes der singenden Stimmen! * Die Kleinstadt Lampton an der englischen Südküste, bis vor ganz kurzer Zeit noch ein gleichzeitig langweiliger, aber auch friedlicher Flecken Erde, hatte sich in einen Hexenkessel verwandelt. Eine Unglücksbotschaft jagte die andere, die Menschen kamen aus dem Schaudern nicht mehr heraus. Bei Einsetzen der Abenddämmerung waren die Eltern von Jeff Weston nach Hause gekommen. Sie hatten ihren Jungen, der als Mechaniker bei Mr. Carlisle arbeitete, tot aufgefunden. Er hatte sich mit einem Rasiermesser die Pulsadern aufgeschnitten und war nicht mehr zu retten gewesen. In seinem Abschiedsbrief hatte er den Grund für seinen Freitod genannt – seinen Fehler bei der Reparatur des Autos von Mr. Tomkins. Die bisherige Ruhe in der Stadt hatte zur Folge, daß es in ganz Lampton nur einen einzigen höheren Kriminalbeamten gab, und der war Inspektor Pratt. Pratt war ein Beamter mit durchschnittlichen Fähigkeiten, die immer ausgereicht
hatten, um einen kleinen Dieb, einen Randalierer oder jemanden zu finden, der einen parkenden Wagen beschädigt hatte, ohne sich zu melden. Jetzt fühlte sich Pratt plötzlich einem ungeheuren Druck ausgesetzt. Er sollte eine Serie von Todesfällen klären, die sich teils als Morde, teils als Unfälle und teils als Selbstmorde darstellten. Es überstieg einfach seine Möglichkeiten, und nicht nur ihm wäre es so ergangen, daß er sich überfordert fühlte. Er konnte es nicht mehr allein schaffen, aber er scheute davor zurück, Hilfe aus der nächsten Stadt anzufordern, weil er die Reaktion seiner Mitbürger auf diese Maßnahme sehr gut im vorhinein abschätzte. Sie würden sagen, daß er damit seine Unfähigkeit eingestehen würde. Er zögerte auch noch, als er die Wohnung der Familie Weston verließ. Seine Gedanken schwirrten wirr durcheinander, so daß er fast glücklich darüber war, ein bekanntes Gesicht zu sehen, das Gesicht eines Mannes, der ihm sicherlich nichts Schlechtes nachsagte. Inspektor Pratt überquerte mit raschen Schritten die Straße. »Guten Abend, Mr. Buller!« rief er. Victor Buller, der todmüde die Stadt erreicht hatte und dessen Herz vor Aufregung und Anstrengung bis zum Hals klopfte, zuckte heftig zusammen, als sein Name genannt wurde, und atmete erst wieder 39 �
erleichtert auf, als er den Inspektor erkannte. »Sie sehen aber erschöpft aus, Mr. Buller«, stellte Pratt besorgt fest. »Sie können sich auch kaum noch auf den Beinen halten!« »Ich war ein wenig unvorsichtig«, schwindelte der alte Mann. »Ich unternahm einen Spaziergang zu den Klippen, machte ein Nickerchen und verirrte mich dann in der Dunkelheit.« Er legte eine Hand auf die Tasche mit dem Tonband. »Ach, Inspektor, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich nach Hause zu fahren? Ich bin wirklich müde… und es ist ja fast eine dienstliche Fahrt, eine Nothilfe, sozusagen.« »Nichts lieber als das!« rief Pratt, und er sagte sogar die Wahrheit, denn ihm war eine Idee gekommen. Dieser Idee folgend, bat er den alten Lehrer, ob er nicht mit ihm ins Haus kommen dürfe, es gäbe Neuigkeiten, und er wolle sich mit jemandem besprechen, dem er vertrauen könne. Pratt ahnte nicht, daß er Buller damit in die Hände arbeitete. Der alte Lehrer hatte sich nämlich vorgenommen, möglichst viel von dem Inspektor zu erfahren. Sobald ein dampfender Teekessel vor ihnen stand und sich beide bei den ersten Schlucken des belebenden Nationalgetränks erholt hatten, berichtete Inspektor Pratt zuerst von dem Giftmord. »Verstehen Sie, der Tisch ging ein-
fach in Flammen auf! Von sich aus«, rief er zuletzt heftig. »Haben Sie dafür eine Erklärung?« »Schließen Sie eine natürliche Ursache aus?« fragte Buller. »Unbedingt!« entfuhr es dem Inspektor, doch korrigierte er sich gleich darauf. »Selbstverständlich muß es eine natürliche Ursache geben, aber ich weiß keine. Und dann ist da noch der Selbstmord von Jeff Weston.« »Schon wieder ein Mechaniker Carlisles?« Ein scharfer Blick aus den wasserhellen Augen des alten Mannes traf Pratt. »Da stimmt doch etwas nicht.« »Das können Sie ruhig zweimal sagen«, seufzte der Inspektor. »Auf den ersten Blick ist alles wunderschön und klar. Der junge Jeff Weston hat den tödlichen Fehler begangen, der Tomkins das Leben kostete. Als sein Arbeitskollege Bob Wheeler tödlich verunglückt, schiebt er die Schuld an den falsch reparierten Bremsen auf Wheeler. Hinterher drückt ihn das Gewissen, weshalb er ein Geständnis schreibt und sich umbringt.« »Hört sich logisch an«, warf Buller ein. »Scheinbar!« Inspektor Pratt hob den Zeigefinger, als wäre er der Lehrer und Buller der Schüler. »Ein Selbstmörder, der ein Geständnis schreibt, der schreibt auch mit hinein, daß er sich jetzt das Leben neh40 �
men will. Das macht zumindest fast jeder. Und noch etwas: Jeff Weston hat sich die Pulsadern aufgeschnitten – im Wohnzimmer!« Der Inspektor hatte offenbar eine Reaktion von Mr. Buller erwartet, denn er blickte den alten Mann gespannt an, doch dieser hob in einer hilflosen Geste die Schultern. »Selbstmörder, die sich die Pulsadern aufschneiden«, dozierte der Inspektor, »legen sich dazu in ihr Bett oder gehen ins Badezimmer. Daß sich einer auf diese Weise im Wohnzimmer tötet, habe ich noch nie gehört.« Der ehemalige Lehrer wurde hellhörig. »Denken Sie vielleicht an Mord?« Jedem anderen gegenüber hätte sich Inspektor Pratt jetzt wahrscheinlich auf seine Schweigepflicht und auf eine wichtige Untersuchung berufen, die noch im Gange war, aber dem alten Lehrer gegenüber verstellte er sich nicht. »Ich habe keine Ahnung«, bekannte er. »Ich weiß nur, daß sich in Lampton innerhalb weniger Stunden so viele schreckliche Ereignisse abspielten wie in zwanzig Jahren zusammengenommen nicht. Dafür muß es einen Grund geben.« »Den gibt es auch!« entfuhr es Victor Buller. Am liebsten hätte er sich selbst auf den Mund geschlagen. Es wäre falsch gewesen, zu diesem Zeitpunkt den Inspektor schon ein-
zuweihen. Dazu hatte er noch zu wenig in der Hand. Das Tonband war auch kein Beweis. »Sie kennen den Grund?« schnappte Inspektor Pratt sofort zu. »Aber nein, ich doch nicht!« wehrte Victor Buller mit einem erzwungenen Lachen ab. »Ich meine nur, daß es einen Grund geben muß, wieso sich das alles gerade jetzt ereignet. Aber Sie sind der richtige Mann, Inspektor, um die Zusammenhänge aufzudecken. Noch etwas – ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.« Mit dem nicht unerwünschten Lob hatte er den Inspektor von seiner Frage abgelenkt, und mit dem Gefallen wechselte er das Thema. »Ich wollte Sie bitten, etwas für mich aufzubewahren. Vielleicht könnten Sie es in Ihren Tresor legen?« »Was ist es denn?« erkundigte sich der Inspektor neugierig. »Warten Sie, ich bringe es Ihnen.« Ächzend erhob sich Victor Buller aus seinem Sessel. An diesem Abend spürte er, daß er zweiundachtzig war. Immerhin hatte er einen Gewaltmarsch hinter sich, noch dazu quer über die Dünen an den Klippen. »Ich habe es im Schlafzimmer.« Er schlurfte in sein Schlafzimmer hinüber, wo er in aller Eile Bobs Tonband in einen Umschlag schob, den er vorher mit Zeitungspapier ausstopfte, damit Pratt den Inhalt nicht ertasten konnte. 41 �
»Was ist denn das?« staunte der Inspektor, als ihm der ehemalige Lehrer das Päckchen in die Hände drückte. »Sagen wir, mein Testament«, erwiderte Buller geheimnisvoll. »Nach meinem Tode zu öffnen. Sehen Sie, ich bin sehr alt, ich muß jeden Tag mit dem Ende rechnen. Dann werden Sie schon wissen, wie Sie den Inhalt dieses Päckchens richtig anwenden. Übrigens, soviel verrate ich Ihnen. Es ist ein Souvenir aus dem alten, stillgelegten Leuchtturm. Merken Sie sich das!« Inspektor Pratt war vollständig verwirrt. Ehe er noch Fragen stellen konnte, komplimentierte ihn Victor Buller aus dem Haus, sprach ihm dabei noch einmal Mut zu für seine Untersuchung und schloß erschöpft die Haustür. »So geht das nicht weiter!« sagte der alte Lehrer, als er todmüde in sein Bett sank. »Ich brauche dringend ein Fahrzeug, sonst schaffe ich es nicht.« Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt jedoch nicht seinem Fahrzeug, sondern jenem Auto, dessen Insassen dem Leuchtturm einen Besuch abgestattet hatten. Wenn er doch gewußt hätte, wer diese Leute waren! Vielleicht wären dann seine Chancen, dem Kult der singenden Stimmen ein Ende zu bereiten, etwas größer gewesen. Im Moment waren sie gleich Null.
* � Allein schon wegen der großen Erschöpfung schlief Victor Buller in dieser Nacht tief und gut. Am nächsten Morgen fühlte er sich gekräftigt. Er verrichtete rasch die üblichen Handgriffe und trat, fertig angekleidet, hinaus in seinen Garten. Während er das Fleisch an seine treuen Katzen verteilte, prüfte er das Wetter und nickte zufrieden. Es würde wieder ein sonniger Tag werden. Durch ein Schwätzchen mit seiner Nachbarin erfuhr er, daß sich während der Nachtstunden nichts in Lampton ereignet hatte. Danach machte er sich an die Verwirklichung seines Plans, sich ein Fahrzeug zu beschaffen. Im Schuppen wühlte er sich durch einen Berg alter Kleider, Kisten und Gartengeräte, bis er endlich ein Fahrrad freigelegt hatte, das er seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr benützt hatte. Entsprechend dieser langen Zeit und der hohen Luftfeuchtigkeit hier an der Kreideküste hatte der Drahtesel eine dicke Rostschicht angesetzt, um die sich Buller jedoch nicht weiter kümmerte. »Damals hat man noch Qualität hergestellt«, nickte er anerkennend, als er das Fahrrad außen an die Schuppenwand lehnte und sich daranmachte, das Zweirad wieder in Gang zu bringen. »Ein bißchen Öl, 42 �
und schon läuft es wieder.« Mit ein bißchen Öl war es zwar nicht getan, doch nach einer guten Stunde lief das Rad wieder, ächzend, knarrend und quietschend. Mr. Buller hatte sich für einen zwar altmodischen, aber immer noch sportlichen Aufzug entschieden, kariertes Jackett, ebenfalls karierte Kniehose, derbe Wollstrümpfe und eine Mütze gegen die Sonnenstrahlen. So ausgerüstet würde es ihm leichtfallen, die Wetterwarte zu erreichen, zu der er zu Fuß wahrscheinlich Stunden benötigt hätte. Einige Kinder liefen ihm auf der Straße schreiend und lachend nach, durch das infernalische Quietschen des Rades schon vorgewarnt, doch er übersah sie mit stoischer Gelassenheit. Die Wetterwarte! Sie zog den alten Lehrer mit magischer Gewalt an, denn hier vermutete er einen möglichen Anhaltspunkt für seine Nachforschungen, die letztlich zu einer Klärung des Verbrechens an Bob und zu einer Zerschlagung des Satansbundes führen konnten. Er ging von der Überlegung aus, daß Bob seinem späteren Mörder verraten hatte, auf welche Weise er Kenntnis von der nächtlichen Zusammenkunft des Bundes der singenden Stimmen erhalten hatte. Nach seinem Tod hatten seine Mörder das Tonband gesucht, auf dem sich die Aufnahme der Beschwö-
rung befand. Als Täter kam praktisch jeder in Frage, mit dem Bob vor seinem Tod gesprochen hatte. Victor Buller nahm sich vor, nach und nach alle diese Leute zu ermitteln und mit ihnen zu reden, um vielleicht bei einem von ihnen einen Hinweis zu entdecken. Von einer Personengruppe wußte er nun bereits, daß sie Kontakt zu Bob hatte, und das waren die Leute auf der privaten Wetterstation, über die niemand in der Stadt genau Bescheid wußte. Pratt hatte zwar behauptet, in der Wetterwarte habe niemand Robert Wheeler gesehen, doch er war sich seiner Sache ziemlich sicher, daß Bob erst in der Station vorgesprochen hatte, ehe er sich auf den Rückweg gemacht hatte. Als er sein rasselndes und ächzendes Fahrrad endlich vor der Wetterstation bremste und die letzten Schritte schob, kniff er erstaunt die Augen zusammen. Als Geographielehrer verstand er einiges von den unerläßlichen Meßgeräten jeder meteorologischen Warte, so daß er auf den ersten Blick zwei Instrumente vermißte und den schlechten Zustand der anderen erkannte. An Geldmangel konnte es jedoch nicht liegen, daß sich die wissenschaftlichen Apparate in einem schlechten Zustand befanden, da das ehemals verwahrloste Herrenhaus einen blendenden Anblick bot, wie es breit 43 �
und behäbig auf der Klippe lag. Tiefes Knurren und gleich darauf einsetzendes lautes Bellen lenkte Bullers Aufmerksamkeit auf den Hundezwinger, der an die Eingangstür anschloß und erst später dazugebaut worden war. Die Leute hier mußten ja sehr auf ihre Sicherheit bedacht sein, dachte er und lehnte das Rad gegen die Mauer. Dem auf sein Schellen öffnenden jüngeren Mann erklärte er sein Anliegen, nämlich daß er Mr. Penrith, den Leiter der Station, sprechen wolle. Fünf Minuten später stand er dem Mann gegenüber, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte und den auch die meisten Leute in Lampton nicht kannten. Mr. Penrith hatte noch nie sein Haus verlassen, in dem er nur mit seinem kleinen Mitarbeiterstab lebte. Er war ein großer Mann um die fünfzig mit graumelierten Haaren und einem glatten, eher unscheinbaren Gesicht. Buller war etwas enttäuscht. Falls er sich hier im Herrenhaus auf der richtigen Spur befand, war doch anzunehmen, daß Mr. Penrith der Leiter des Satanszirkels war. Das Äußere dieses Mannes wirkte jedoch so wenig satanisch, so wenig verbrecherisch, daß Buller schon fast überzeugt war, die lange Fahrt umsonst angetreten zu haben. Vor allem die Augen des Wissenschaftlers paßten nicht zu dem Bild eines Satans Jüngers. Sie waren groß, dunkel und
sehr sanft. Freundlich lächelnd, erkundigte sich Mr. Penrith nach den Wünschen seines Besuchers. »Ich lebe nun schon so lange in Lampton«, begann Buller mit seiner kleinen Geschichte, »daß es eigentlich höchste Zeit für mich wurde, mir Ihre Station einmal aus der Nähe anzusehen. Ich unterrichtete früher Geographie am College. Seit ich im Ruhestand bin, habe ich nichts mehr zu tun, und da dachte ich…« »Da dachten Sie, Sie könnten sich unsere Einrichtungen ansehen, Mr. Buller, nicht wahr?« strahlte Mr. Penrith, der sich durch das gezeigte Interesse geschmeichelt fühlte. »Aber gerne, kommen Sie!« Während der nächsten Stunde kam Victor Buller zu einigen interessanten Schlüssen. Erstens befanden sich alle technischen Einrichtungen der meteorologischen Station in einem katastrophalen Zustand, was allerdings nur einem Fachmann wie ihm auffallen konnte. Ein Laie mochte meinen, das müsse alles so sein. Die technischen Geräte wirkten auf Buller wie eine Tarnung, die nie benützt wurde. Er war Fachmann, und daher mußte Mr. Penrith wissen daß ihm der mangelhafte Zustand der Station auffallen würde. Buller war schlau genug, sich nichts anmerken zu lassen. Erfolgreich spielte er einen geis44 �
tig nicht mehr sehr aufnahmefähigen Mann, der mit Technik nichts anzufangen wußte. Absichtlich stellte er immer wieder Fragen, die sich auf die einfachsten Grundbegriffe der Wetterkunde bezogen, damit Penrith meinen sollte, sein Besucher könne sich nur mehr an das geringste Schulwissen erinnern und wäre daher ebenso leicht zu übertölpeln wie andere Besucher. Weiter stellte Victor Buller fest, daß Mr. Penrith tatsächlich ein ausgebildeter Wissenschaftler der Meteorologie war, das hörte er aus den Antworten heraus, die er auf seine dümmlichen Fragen erhielt. Und sein Auftreten als leicht seniler Pensionär zeitigte noch ein überraschendes Ergebnis. Offenbar meinte Mr. Penrith, in der Nähe eines so geistesabwesenden Mannes nicht sonderlich vorsichtig sein zu müssen. Ein paarmal fing Buller einen Blick des Stationsleiters auf, der alles eher als freundlich und sanft war. Die Augen dieses Mr. Penrith veränderten sich dann ganz unglaublich, schienen zu sprühen und einen verhaltenen Haß auszustrahlen, der Buller zum Frösteln brachte. Stets gleichbleibend zu allem nickend und übertrieben grinsend, wackelte Victor Buller gespielt unsicher durch die Korridore der Station. Nach einer Stunde waren sie fast am Ende des Rundganges ange-
langt und passierten soeben eine Tür, als aus dem darunterliegenden Raum laute Musik erscholl, die gleich darauf wieder leiser gestellt wurde. »Da hat jemand am Radio herumgespielt«, bemerkte Buller und drehte sich zu Penrith um. Das Erschrecken über Mr. Penrith wütendes Gesicht verbarg er unter einem meckernden Lachen, als habe er soeben einen blendenden Witz gemacht. Penrith stimmte gezwungen mit ein. »Verstehen Sie etwas von Musik, Mr. Buller?« erkundigte sich der Wissenschaftler. Der alte Lehrer hob entsetzt die Hände. »Um Himmelswillen, nein!« rief er aus. »Von allen meinen Kollegen haben mich nur die Musiklehrer gehaßt wie die Pest. Und ich mochte sie nicht!« Lachend schlurfte er auf den Ausgang zu, verabschiedete sich wortreich von Mr. Penrith, bedankte sich überschwenglich und kletterte endlich auf sein Fahrrad. Betont unsicher rollte er zurück zur Straße und dann weiter in Richtung Stadt, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, obwohl er meinte, die brennenden Blicke von Mr. Penriths Augen im Rücken zu spüren, jenen Augen, die ihren Ausdruck so schnell ändern konnten. »Kaum zu glauben«, seufzte er endlich, als er außer Sichtweite war. 45 �
»Findet ein altes Huhn wie ich tatsächlich ein Korn.« Denn eines stand für Mr. Victor Buller nunmehr fest. Diese Wetterstation war in Wirklichkeit der Sitz jenes Satansbundes, der Bob Wheeler und einige andere Menschen aus Lampton auf dem Gewissen hatte. Wie sonst wäre zu erklären gewesen, daß die Musik, die er für Sekunden gehört hatte – ein altes walisisches Volkslied gewesen war? Einen so großen Zufall konnte es einfach nicht geben! Diese Erkenntnis barg aber einen bitteren Kern in sich. Er selbst hatte Bob Wheeler seinen Mördern in die Arme getrieben, hatte ihm geraten, sich an diesen Mr. Penrith zu wenden. »Ich kann meinen Fehler nicht rückgängig machen«, sagte Victor Buller leise, während er kräftiger in die Pedale trat, »aber ich werde diesen Leuten das Handwerk legen! Das werde ich!« Vor ihm tauchte Lampton auf, jene Stadt, in der sich eine Anzahl von Menschen zu einem Bund zusammengeschlossen hatte, dessen Ziel es war, Tod und Verderben zu säen! * Als Victor Buller die Station verlassen hatte, wußte er überhaupt nicht, was er jetzt tun sollte. Er war nur deshalb weggefahren, weil ihm Mr.
Penrith nachschaute und jedes Zögern Verdacht erregt hätte. Buller mußte aber die Rolle des senilen, harmlosen Mannes weiterspielen, wollte er Aussicht auf Erfolg haben. Für eine körperliche Auseinandersetzung war er zu alt, und von Waffen verstand er nichts. Die Polizei konnte er – zumindest zu diesem Zeitpunkt – auch noch nicht einschalten, da er Inspektor Pratt keine Beweise liefern konnte. Selbst wenn man die Tonbänder, die Mr. Wheeler gestohlen worden waren, in der Station fand, war das noch kein Beweis für alle jene Verbrechen, die Buller diesen Leuten zur Last legte. Während der Rückfahrt in die Stadt überlegte er, daß es für ihn zwei Möglichkeiten gab, wie er den Satansbund unschädlich machen konnte. Entweder forschte er in der Zentrale des Bundes nach, also in dem ehemaligen Herrenhaus. Das ging nicht, denn offen auftreten konnte er nicht mehr ohne triftigen Grund. Und eine heimliche Untersuchung kam nicht in Frage. Die ungeschützte Lage auf der kahlen Klippe und die scharfen Wachhunde verhinderten das. Blieb also vorläufig nur die zweite Möglichkeit, nämlich die einzelnen Mitglieder des Bundes in der Stadt aufzuspüren und über sie an den Meister der Vereinigung heranzukommen. Was für Menschen mußten das sein, dachte der alte Lehrer, 46 �
die sich zusammenschlossen und eine Serie von Morden ausführen wollten? Was dachten sie sich bei ihren Beschwörungen, und Schwarzen Messen? Sahen sie selbst nicht ein, daß diese Ritualhandlungen nur dazu dienten, um ihre verbrecherischen Handlungen zu motivieren, daß sie sich nur einredeten, im Dienst einer höllischen Macht zu stehen, um einen Grund zum Morden zu haben? Es war ihm unbegreiflich, aber daß er dieses Problem im Moment ohnedies nicht lösen konnte, wandte er sich praktischeren Dingen zu. So fühlte er mächtigen Hunger, den er wohl der ungewohnten Radtour zu verdanken hatte. Da er keine Zeit mit Kochen verlieren wollte, steuerte er das nächste Restaurant im Zentrum von Lampton an und betrat es, nachdem er sein Rad an einen Laternenpfahl gelehnt hatte. Vor einem Diebstahl brauchte er keine Angst zu haben, außer jemand sammelte Antikes. Während, Mr. Buller in einer Nische des Restaurants eine Kleinigkeit aß, langsam und bedächtig, wie das seine Art war, und sich mit einem Glas Schwarzbier stärkte, wurde er unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs in der nächsten Nische. Er hatte nicht gesehen, wer an diesem Tisch saß, doch die ihm unbekannte Frau, die jetzt das Restaurant betrat, blieb an diesem Tisch stehen.
»Ach, sieh da, Mr. Talbot, sieht man Sie auch wieder?« begrüßte die Frau den Gast. Buller kannte Mr. Talbot, den Besitzer eines Sportartikelgeschäfts, flüchtig. Er konnte Talbots Antwort nicht verstehen, dafür um so besser die Frau, die ziemlich laut sprach. Sie bestellte, danach unterhielten sich die beiden über das Wetter und andere Belanglosigkeiten. Buller horchte erst auf, als die Sprache auf die schrecklichen Vorfälle der letzten Tage kam. »Ich sagte noch zu meinem Mann«, rief die Unbekannte aus, »die arme Mrs. Marshai! So beliebt! Und dann ein so schreckliches Ende! Wird diese nette Person einfach erstochen! Oh, verzeihen Sie, Mr. Talbot, beim Essen! Ich sollte nicht darüber sprechen, ich weiß, aber ich sagte noch zu meinem Mann, Norman, sagte ich, die arme Mrs. Marshai lebte zwar allein, aber Mr. Talbot muß es besonders schwer, getroffen haben. Schließlich war er der Letzte, der sie lebend sah.« »Wieso ich?« fuhr Talbot lauter als zuvor auf. »Wie meinen Sie das?« »Nun, ich sah, daß Sie Mrs. Marshai besuchten, kurz vor dem Mord, Mr. Talbot.« Die Frau senkte ihre Stimme. »Ich will mich nicht in Ihre Privatangelegenheiten einmischen, aber ist es nicht ein fürchterliches Gefühl, mit einem Menschen zu sprechen, der wenige Stunden spä47 �
ter tot ist?« »Ja, ich ging sehr bald wieder, brachte Mrs. Marshai nur ein Päckchen«, erwiderte Talbot, für Buller unsichtbar. Seine Stimme klang nervös. »Sie hatte telefonisch Turnschuhe bei mir bestellt, und da sie keine Zeit hatte, brachte ich sie bei ihr vorbei.« Der Rest des Gesprächs war uninteressant und dauerte auch nicht mehr lange, weil es Mr. Talbot plötzlich eilig hatte. Als Buller gezahlt hatte, verließ Talbot das Restaurant. Der alte Lehrer folgte ihm in einigem Abstand. Er hatte zwar nichts in der Hand, weshalb er Mr. Talbot des Mordes an Mrs. Marshai verdächtigen konnte, doch er mußte der kleinsten Spur nachgehen. Vielleicht hatte Talbot jemanden auf das Haus des Mordopfers zukommen gesehen, als er gegangen war? Jedenfalls konnte eine Unterhaltung mit dem Geschäftsmann nicht schaden. Victor Buller wartete, bis Talbot in seinen Laden zurückgekehrt war. Durch das Schaufenster beobachtete er, wie der Geschäftsmann seinen Verkäufer in die hinteren Räume schickte und somit allein war. Das war der günstigste Augenblick. Er trat ein und schloß die Tür wieder hinter sich. Das Glockenspiel über der Tür rief Talbot zurück, der ebenfalls nach hinten hatte gehen wollen. »Guten Tag, Mr. Buller«, grüßte der untersetzte Mann. »Was kann
ich für Sie tun? Lange nicht mehr gesehen. Irgendein Trimmgerät?« »Sport in meinem Alter? Den habe ich etwas eingeschränkt«, lachte der ehemalige Lehrer. »Aber ich brauche Ventile für mein Fahrrad.« »Einen Moment!« Talbot suchte nach der richtigen Schublade. »Ich habe gehört, Sie waren zuletzt bei Mrs. Marshai?« ging Buller auf sein Ziel los. Talbots Kopf ruckte hoch. »Mein Gott, geht es schon los?« stöhnte er. »Ich brachte ihr ein Päckchen vorbei, das erzählte ich auch Inspektor Pratt. Er glaubt mir, daß ich nichts mit dem Mord zu tun habe. Aber ich fürchte das Gerede der Leute! Zuletzt bleibt an mir noch etwas hängen!« »Keine Sorge, Mr. Talbot, ich spreche mit niemandem darüber«, versicherte Buller. »Sie nicht, aber andere werden für Klatsch und Tratsch sorgen«, seufzte der Geschäftsmann und legte zwei Ventile auf den Ladentisch. »Darf es noch etwas sein?« Bisher hatte sich Mr. Talbot absolut nicht wie ein Mörder verhalten, der seine Tat zu verschleiern versuchte. Er wirkte auch nicht wie ein Verbrecher, weshalb sich Victor Buller entschloß, seine stärkste Karte auszuspielen. »Ich habe noch etwas gehört, Mr. Talbot«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Hier in der Stadt soll es 48 �
einen Geheimbund geben, einen Geheimbund mit einem ganz bestimmten Ziel.« Der Geschäftsmann zog die Augenbrauen hoch. »Woher wissen Sie denn, daß ich diesem Bund angehöre?« fragte er erstaunt. »Und vor allem – woher wissen Sie überhaupt etwas von unserem Bund?« * Mit allem hatte der alte Lehrer gerechnet, mit Erschrecken, mit Leugnen, mit Verständnislosigkeit – aber nicht mit dieser Offenheit. Talbot sprach über den Satansbund, als wäre es ein Teekränzchen ehrenwerter Damen! »Ich bin ein alter Mann«, erwiderte er auf Talbots Frage, nachdem er sich blitzschnell gefaßt hatte. »Meine einzige Verbindung zur Außenwelt sind die kleinen Unterhaltungen am Gartenzaun. Naja, und da hört man so eine ganze Menge. Nicht daß ich tratsche, aber die Leute erzählen mir, was sie erleben. Und da hörte ich auch von geheimen Versammlungen. Man hat Personen hier aus der Stadt gesehen, die sich abends…« »Also doch!« rief Talbot aus. »Ich dachte mir doch gleich, daß früher oder später diese Fahrten hinaus zur Wetterstation auffallen würden. Mußten sie auch! Was sollten wir da draußen auch zu suchen haben!«
Die Wetterstation! Mr. Penrith! Jetzt war es heraus! Buller triumphierte innerlich, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Es wurden einige Namen genannt, Mr. Talbot«, sprach er in leichtem Plauderton weiter. »Ihrer, der von Mr. Carlisle…« Die Häufung von Unglücksfällen in Mr. Carlisles Werkstatt oder im Zusammenhang mit seinem Betrieb legte den Verdacht nahe, daß auch er dem Satansbund angehörte. Die Bestätigung folgte sofort. »Carlisle, Jenner und…« Talbot brach ab, nachdem er auch noch den Milchmann genannt hatte. »Oh, jetzt habe ich gegen eine Regel unseres Bundes verstoßen. Wir dürfen an Außenstehende weder unseren Treffpunkt noch die Namen der Mitglieder verraten. Wie peinlich!« »Ich schweige, verlassen Sie sich darauf!« gelobte Buller feierlich. Innerlich bebte er vor Aufregung. »Es gibt für Sie noch eine Möglichkeit, um mich zum Schweigen zu bringen. Endgültig, meine ich! Nehmen Sie mich in Ihren Bund auf!« Buller kannte noch eine Möglichkeit, vor der er entsetzliche Angst empfand. Wenn Talbot merkte, daß er zuviel verraten hatte, wäre es für ihn das Einfachste gewesen, den Mitwisser ebenfalls zu töten. Denn daß Talbot Mrs. Marshais Mörder war, daran zweifelte Buller nicht mehr. 49 �
»Sie aufnehmen?« sagte der Geschäftsmann gedehnt. »Ich weiß nicht recht.« Er zögerte. »Sie stellen sich vielleicht etwas sehr Aufregendes vor, aber wir unterhalten uns einfach über alles, das sich gerade ergibt, über Politik und so. Eben weil es ziemlich langweilige Themen sind, verfielen wir doch auf den geheimnisvollen Rahmen. Sehen Sie, wenn man einen Club gründet, den jeder kennt, ist das langweilig. Wenn man aber geheime Zusammenkünfte abhält, ist es interessant, wie langweilig diese Zusammenkünfte auch sein mögen.« Buller lachte humorlos auf. »Das stört mich alles nicht, langweilig oder eintönig! Ich möchte wieder mehr unter Menschen kommen, das ist alles.« »Wenn das so ist!« Talbot zuckte die Schultern. »Ich kann nicht darüber entscheiden, ob Sie Mitglied werden, aber ich werde bei der nächsten Zusammenkunft mit dem Meister sprechen. Er hat das letzte Wort.« »Gut, tun Sie das«, nickte Victor Buller. Die letzte Bemerkung des Geschäftsmannes hatte ihn auf eine Idee gebracht. »Vielen Dank für alles.« Am Eingang des Ladens hielt ihn ein Zuruf Talbots zurück. »Die Ventile, Mr. Buller!« »Ach so, wie vergeßlich!« Verlegen lächelnd holte sich der alte Lehrer
die Ventile, die ihm nur als Vorwand für das aufschlußreiche Gespräch gedient hatten. Er legte das Geld auf den Tisch und ließ die Ventile achtlos in seine Tasche gleiten. »Wir sehen uns hoffentlich bald wieder, Mr. Talbot«, verabschiedete er sich. »Wahrscheinlich schon sehr, sehr bald, Mr. Buller«, antwortete Talbot. »Bis später!« * »Hier stimmt etwas nicht!« sagte Victor Buller laut und handelte sich damit einen verständnislosen Blick einer soeben vorübergehenden Frau ein. Tief in Gedanken versunken, ging er zu seinem Fahrrad zurück, das er an dem Laternenpfahl vor dem Restaurant stehengelassen hatte. Nein, irgend etwas war nicht in Ordnung. Mr. Talbot leugnete nicht, der letzte Besucher von Mrs. Marshai gewesen zu sein. Angeblich hatte er ihr Turnschuhe gebracht, keine Seltenheit bei einer Lehrerin, die mit ihren Kindern Sport treiben mußte. Wenn Inspektor Pratt auch keine Leuchte auf kriminalistischem Gebiet war, so vertraute ihm Buller doch soweit, daß er Mr. Talbot überprüft hatte. Insofern konnte er also sicher sein, daß es keine Beweise gegen den Geschäftsmann gab. Wieso aber gab er dann zu, dem 50 �
Geheimbund anzugehören? Das war eine Frage, auf die Victor Buller vorläufig keine Antwort wußte. Unter Umständen hätte er sogar die Erklärung Mr. Talbots akzeptiert, der Geheimbund wäre sozusagen eine verrückte Idee, mit der sich ein paar Männer die Gründung eines Clubs interessanter gestaltet hatten. Unter Umständen hätte er sogar geglaubt, daß nur über politische Themen diskutiert wurde und daß man sich ganz harmlos unterhielt. Unter Umständen… und wenn da nicht zwei Punkte gewesen wären, die ihn in seinem ursprünglichen Verdacht bestärkt hätten. Da war einmal der Versammlungsort, die Wetterwarte, die er bereits als den Sitz des Satansbundes identifiziert hatte. Und außerdem gehörten nach Talbots Aussage auch noch Mr. Carlisle und Mr. Jenner dem Bund an. Nach der Reparatur in Mr. Carlisles Werkstatt war der Wagen des Stadtverordneten Tomkins wegen defekter Bremsen über die Klippen gestürzt. Und aus Mr. Jenners Laden stammte die mit Rattengift vermischte Milch, an der ein Mensch gestorben war. Dieser Geheimbund konnte also nicht nur so harmlose Ziele haben wie eine gepflegte Unterhaltung am Kamin! Mit einem energischen Ruck schwang sich Victor Buller auf sein Fahrrad, das tatsächlich noch am
Laternenpfahl lehnte. Er kam seinem Ziel immer näher, doch ehe er die Mörder entlarvte, hatte er noch eine andere, eine weitaus wichtigere Aufgabe. Er mußte die Mitglieder des Bundes an weiteren Morden hindern. Wie er das anstellen sollte, wußte er zwar noch nicht, doch ihm würde schon rechtzeitig etwas einfallen. Hauptsache, er war erst einmal Mitglied des Bundes. Genau deshalb trat er wieder kräftig in die Pedale und lenkte sein quietschendes Rad zum zweiten Mal an diesem Tag zu der Küstenstraße, die zum ehemaligen Herrenhaus auf den Klippen führte. Mr. Talbot hatte ihm versprochen, mit dem »Meister« zu sprechen. Der Meister war vermutlich Mr. Penrith selbst, zumindest hatte Buller diesen Eindruck. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann wie Penrith in der Vereinigung eine untergeordnete Stellung bekleidete. Wenn nur der Meister über seine Aufnahme in die Reihen der Satansjünger entscheiden konnte, dann wollte er ihn aufsuchen, um diese Entscheidung zu beschleunigen. Erst wenn er sich eingeschleust hatte, konnte er wirksam weitere Greueltaten verhindern. Als er an einer der rotgestrichenen Telefonkabinen vorbeikam, die entlang der Hauptstraße aufgestellt waren, spielte er sekundenlang mit 51 �
dem Gedanken, Inspektor Pratt anzurufen, doch dann ließ er es sein. An Tatsachen hatte er dem Inspektor nur Dinge zu bieten, die dieser bereits wußte. Und seine übrigen Schlüsse stützten sich nur auf Vermutungen. »Lieber nicht«, sagte er zu sich selbst. »Ich spiele bei Mr. Penrith zwar den Senilen, aber lächerlich mache ich mich deshalb noch lange nicht.« * »Um ehrlich zu sein, Inspektor«, sagte Mr. Jenner zu dem an seiner Verkaufstheke lehnenden Kriminalisten, »ich sehe Sie lieber als Kunden hier bei mir.« Pratt machte ein hilfloses Gesicht. Er wirkte jetzt wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben erwischt worden war. »Tut mir wirklich leid, Mr. Jenner«, beteuerte er. »Mein Beruf! Sie verstehen das doch. Ich muß mich einfach um alles selbst kümmern, und dieser Mr. Cabiok ist nun mal an Rattengift in Milch gestorben, da führt kein Weg daran vorbei.« »Wie oft soll ich Ihnen noch erklären, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe«, stöhnte Mr. Jenner. »Sie sagen, daß das Gift in der Milch war, die der kleine Michael bei mir holte. Wer aber sagt Ihnen, wo das Gift in die Milch gekommen
ist? Vielleicht wollte jemand ganz gezielt Michaels Vater ermorden? Vielleicht war es ein Unfall! Rattengift wurde doch schon oft mit etwas anderem verwechselt.« »Ja, das stimmt«, nickte Pratt, als wäre er für jede mögliche Erklärung dankbar. »Na, sehen Sie«, strahlte der Milchmann. »Ich weiß wirklich nichts. Ich habe auch nichts gesehen.« »War ja auch nur eine Routinebefragung, sonst nichts.« Inspektor Pratt stieß sich von der Verkaufstheke ab und ging zur Tür. »Bei meinem nächsten Besuch in Ihrem Laden will ich sicher nur Milch kaufen, Mr. Jenner.« »Hoffen wir es«, seufzte Jenner. Kaum hatte sich die Tür hinter dem Inspektor geschlossen, als sich Jenners Gesichtsausdruck änderte. Das freundliche Lächeln, das er zuletzt gezeigt hatte, war wie weggewischt. Statt dessen erschien ein höhnisches, siegessicheres Grinsen. »Keine Macht kann dir widerstehen, Satanas«, flüsterte Jenner mit bebenden Lippen. »Alle müssen, wir dir gehorchen!« Er neigte den Kopf, als würde er auf eine Stimme lauschen, die nur für ihn zu vernehmen war. Sekunden später trat ein kaltes Funkeln in seine Augen, er richtete sich auf und verließ seinen Laden durch die Hintertür, nachdem er an die Glas52 �
scheibe das Schild KOMME GLEICH gehängt hatte. Sein Wagen parkte hinter dem Gebäude. Er startete und reihte sich in den fließenden Verkehr auf der Hauptstraße ein. Als er sich der Randzone der Stadt näherte, überholte er einen alten Mann auf einem Fahrrad, ohne sich näher um ihn zu kümmern. Von hinten erkannte er ihn auch nicht. Seine Fahrt ging noch ein Stück weiter bis zum letzten Haus in dieser Straße. Es war ein winziges Einfamilienhaus in einem ebenfalls sehr kleinen Garten, der durch keinen Zaun von der Straße getrennt war. Die Fenster des Hauses standen weit offen, damit die warme Sommerluft durch alle Räume wehen konnte. Mit einem harten Lächeln parkte Jenner den Wagen, stellte den Motor ab und stieg leise aus. Er vermied den Kiesweg, sondern ging daneben über das Gras, das seine Schritte dämpfte. Die Haustür war verschlossen, doch nachdem er das Gebäude umrundet hatte, fiel sein Blick auf die offenstehende Küchentür, die direkt in den Garten führte. Lautlos wie ein Schatten huschte Mr. Jenner auf die Tür zu, spähte vorsichtig um die Ecke und tauchte in das Innere des Hauses. Niemand hatte ihn dabei beobachtet, und auch im Haus wurde kein Mensch auf den Eindringling aufmerksam.
Jenner blieb horchend stehen. Im Badezimmer rauschte Wasser und erklang das Klirren von Flaschen. Ohne jemals hiergewesen zu sein, wußte der Sendbote der Hölle, daß hier eine alleinstehende Frau wohnte. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Bad, dessen Tür offenstand. Zoll für Zoll schob er sich um den Türpfosten, bis sein Blick auf eine junge, in ein Badetuch gewickelte Frau fiel, die ihm den Rücken zuwandte. Sie beugte sich über die Badewanne, die sie mit Wasser hatte vollaufen lassen. Jenners Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Der Anblick der gefüllten Badewanne gab ihm eine Idee ein, wie er seine Tat ausführen konnte. Mit einem Sprung schnellte er sich auf die Frau. * Zweimal kamen Victor Buller unterwegs Zweifel. Vielleicht hatte er sich doch zuviel zugemutet! Wenn er sich vorstellte, wogegen er ankämpfen wollte, wäre er am liebsten in die nächste Seitenstraße eingebogen und zurück zu seinem Haus gefahren. Rosenzüchten, Katzen, eine kurze Unterhaltung mit den Nachbarn, dieses Leben konnte er noch eine Weile führen, wenn er seine alten Finger von der Sache ließ. 53 �
Doch dann dachte er an Bob, den er seinen Mördern ins Haus geschickt hatte, und an die anderen Opfer dieser Satansjünger, und er trat fester in die Pedale. Die Häuser standen in immer größeren Abständen, je weiter er sich dem Stadtrand näherte. Das letzte Haus, in der Straße war sehr klein und etwas isoliert von den anderen. Ein Wagen parkte davor. Victor Buller achtete nicht darauf, er nahm das alles nur einfach wahr. Soeben rollte sein Rad an dem Haus vorbei, als er von drinnen einen dumpfen Schlag und einen grellen Aufschrei hörte. Eine Frau hatte geschrien! Es hatte sich angehört, als würde sie in höchster Lebensgefahr schweben. Mit einem Tritt rückwärts in die Pedale brachte Buller sein Rad hart zum Stehen. Er sprang herunter, ließ es achtlos umkippen und lief, so schnell er konnte, über den Kiesweg zur Haustür. Seine Faust prallte gegen das Holz, daß es dumpf durch das Gebäude hallte. »Hallo! Aufmachen! Hallo!« schrie er aus Leibeskräften. »Was ist denn passiert? Hallo!« Gleichzeitig legte er seinen Finger auf den Klingelknopf, doch nichts rührte sich auf das Schrillen. Die Hintertür! Jedes Haus hatte doch eine Hintertür, die von den meisten Leuten offengelassen wurde. Hastig eilte er nach links
und umkreiste das Gebäude. Ihm war, als hörte er von der anderen Seite her Schritte, die sich entfernten. Dann erblickte er die Hintertür und rannte in den Flur, der sich durch das Haus zog. In der Küche war niemand, so daß er in den vorderen Räumen nachschaute. Draußen auf der Straße heulte ein Automotor auf. Also hatte er sich nicht getäuscht. Jemand war hiergewesen, der mit dem Auto fliehen wollte. Er lief zum Fenster und erhaschte eben noch einen Blick auf den Fahrer des Wagens, der in einem engen Kreis wendete und zurück in die Stadt brauste. »Mr. Jenner«, flüsterte der alte Lehrer mit blutleeren Lippen. Daß dieser Mann hier im Haus gewesen war, traf ihn wie ein Keulenschlag und ließ die schlimmsten Befürchtungen in ihm aufsteigen. Jenner – das wußte er genau – gehörte mit zum Geheimbund. Bestimmt hatte er das Rattengift in die Milch getan, und daß er hier gewesen war und daß eine Frau geschrien hatte, konnte doch nur eines bedeuten… Mr. Buller machte sich darauf gefaßt, bei seinem weiteren Rundgang auf eine Leiche zu stoßen. Sein Fuß stockte, als er das Badezimmer entdeckte. Zögernd drückte er die angelehnte Tür auf. Mit einem erstickten Laut fuhr der 54 �
alte Mann einen Schritt zurück. Vor ihm auf dem gekachelten Boden lag die verkrümmte Gestalt einer jungen Frau. Sie war nur mit einem Badetuch bekleidet, das sie sich um den Körper geschlungen hatte. Ihr Gesicht konnte er nicht sehen, da es zu den Fliesen gekehrt war. »Warum konnte ich nicht früher kommen!« stöhnte er und ballte in ohnmächtiger Verzweiflung die Hände zu Fäusten. »Dieser verfluchte Geheimbund! Ich…« Er unterbrach sich. Hatte da nicht eben jemand gestöhnt? Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Stille. Ja, da war es wieder! Die Frau lebte noch. Etwas mühselig kniete Mr. Buller nieder und wälzte sie auf den Rücken. Ihre Augen waren fest geschlossen, an ihrem Hals zeichneten sich rote Spuren ab. Aber jetzt war es ganz deutlich zu vernehmen, ein leises Stöhnen. Ihre Lider flatterten. Sich am Rand der Badewanne abstützend, kam Mr. Buller wieder auf die Beine. Im Wohnzimmer hatte er ein Telefon gesehen. Eine Minute später hatte er nicht nur Alarm im Krankenhaus gegeben, sondern auch Inspektor Pratt verständigt, daß es wieder Arbeit für ihn gab. Als er ins Badezimmer zurückkam, versuchte sich die Frau soeben aufzurichten. Als sie ihn erblickte, schrie sie heiser auf und fiel wie tot
zurück auf die Steinfliesen. * Der starre, maskenhafte Gesichtsausdruck war nicht geschwunden, als Mr. Jenner fliehen mußte. Die donnernden Schläge an der Haustür hatten ihn unterbrochen, hatten ihn daran gehindert, sein Werk zu vollenden und den erhaltenen Befehl auszuführen. Er durfte sich keinesfalls erwischen lassen, sonst war alles verloren und er konnte dem Großen Meister überhaupt nicht mehr dienen. Also ließ er die Frau auf den Boden des Badezimmers gleiten und rannte hinaus in den Garten. Aus den sich nähernden Schritten konnte er erkennen, von welcher Seite der Mann kam. Auf der anderen Seite lief er nach vorne auf die Straße, sprang in seinen Wagen, wendete und wollte zurück in die Stadt rasen, als ihm einfiel, daß er dem Meister die Meldung vom Scheitern dieser Mission bringen mußte. Das Telefon wagte er nicht zu benutzen, um jedes Risiko auszuschalten. Da war es schon besser, er fuhr selbst hin. Erneut wendete Mr. Jenner den Wagen. Flüchtig dachte er daran, daß er zu einer Zeit nicht im Laden war, in der er eigentlich hätte offenhalten müssen. Wenn aber jemand wegen des zurückgelassenen Schildes KOMME GLEICH wartete und 55 �
es ihm zu lange dauerte, würde er weggehen und sich nichts weiter dabei denken. Wurde er später auf sein langes Fortbleiben angesprochen, konnte er immer etwas davon erzählen, ihm wäre schlecht geworden. Niemand würde Verdacht schöpfen. Die einzige Gefahr stellte eigentlich nur der Mann dar, der durch den Schrei des Opfers alarmiert worden war. Aber auch da machte sich Jenner nur wenig Sorgen. Er war überzeugt, von niemandem erkannt worden zu sein. Er fuhr rasch, sodaß bereits nach wenigen Minuten das ehemalige Herrenhaus auf der Klippe in Sicht kam. Ein neues Bedenken durchzuckte ihn. Er war das erste Mitglied des Bundes, das versagt hatte. Wie würde der Meister das aufnehmen? Und wie würde die Entscheidung des Großen Meisters, des Bösen, ausfallen? Umkehren konnte er nicht, es hätte auch nichts genützt. Sie hätten ihn überall gefunden, wo immer er sich auch verstecken würde. Die Hunde schlugen an, als er vor dem Haus hielt und auf die Tür zuging. Er brauchte nicht zu klingeln, bereits vorher wurde geöffnet. Mr. Penrith stand vor ihm. Schweigend gingen, die beiden Männer in das Arbeitszimmer des Wissenschaftlers, der sich hinter seinen Schreibtisch setzte, während
Jenner davor stehenblieb. »Es muß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein, Jenner, daß Sie um diese Zeit zu mir kommen«, stellte Penrith ruhig fest. »Ich konnte meinen Auftrag nicht zu Ende führen«, gestand Jenner. Er fröstelte, als er den scharfen Blitz aus den dunklen Augen des Meisters sah. »Ich wurde gestört. Ein Mann, der zufällig auf der Straße vorbeikam, hörte einen Schrei der Frau und kam ihr zu Hilfe. Ich wollte nicht riskieren, daß er mich sah, und ihn zu töten, hatte ich keinen Auftrag, also lief ich weg. Ich sah sein Fahrrad auf der Straße liegen.« »Warten Sie hier«, befahl der Meister mit leidenschaftsloser Stimme. Er erhob sich und verließ den Raum, ohne das Mitglied des Bundes auch nur eines Blickes zu würdigen. Mr. Penrith ging auf eine Treppe im Hintergrund der Halle zu, die in die Tiefe führte. Auf der untersten Stufe angekommen, zog er an einer Sprosse des hölzernen Geländers, worauf ein Teil der Wand zurückwich. Der Meister verschwand in dem dahinterliegenden Hohlraum. Auch hier brannten in größeren Abständen elektrische Lampen an den Wänden. Eine zweite Treppe führte noch tiefer hinein in den Kreidefelsen, auf dem das Herrenhaus vor Jahrhunderten errichtet worden war. 56 �
Unten angekommen, fand sich der Meister in einer Steinhalle wieder, deren Wände aus gewachsenem Fels bestanden. In der Mitte des Raums erhob sich ein einzelner Felsblock, der untrennbar mit dem Untergrund verbunden war. Die unbekannten Erbauer dieses Kellergewölbes hatten in der Mitte des Raumes diesen Block gleichsam als Tisch stehengelassen. Spuren auf der Oberfläche deuteten darauf hin, daß dieser Steinblock des öfteren benutzt wurde. Schwarze Wachsflecken, getrocknetes Blut, Rußspuren. Penrith neigte sich vor dem Block und blieb in dieser Haltung stehen. Seine Lippen bewegten sich zuerst lautlos, dann drang ein ähnlicher beschwörender Gesang aus seinem Mund, wie ihn Robert Wheeler aus dem Lautsprecher seiner Funkanlage gehört hatte. Der Gesang gipfelte in dem Aufschrei »Satanas!« danach trat Stille ein. Die Sekunden verstrichen, ohne daß etwas geschah, und schon öffnete Mr. Penrith den Mund, um seine Beschwörungen fortzusetzen, als mit einem dumpfen Dröhnen der einzelne Stein in der Halle von innen heraus zu glühen begann und ein rotes Feuer ausstrahlte. »Großer Meister«, flüsterte Penrith ehrfürchtig. »Was sollen wir tun, wir, deine Diener und Sklaven? Einer deiner Getreuen hat versagt
und seine Aufgabe nicht erfüllt.« Das Dröhnen in der unterirdischen Halle verstärkte sich, bis der Boden erzitterte. Aus dem Stein heraus erklang eine dumpfe Stimme. Die Feinde des Bösen sind wachsam! Sie wollen meine Getreuen vernichten! Deshalb verhaltet euch still und unternehmt nichts mehr, bis ich euch neue Befehle erteile! »Und was ist mit Jenner?« fragte Penrith, der es nicht wagte, sich aus seiner gebeugten Haltung aufzurichten. »Er hat einen Fehler begangen und dadurch uns alle in Gefahr gebracht. Soll er zur Strafe sterben?« Nein! Laß ihn gehen! Kein Verdacht darf auf dieses Haus fallen, damit uns diese Bastion erhalten bleibt! Sofort danach erlosch das Leuchten des Steins, Dunkelheit senkte sich wieder über den. Felsendom. Erst jetzt richtete Mr. Penrith sich wieder auf. An seinem Gesicht war nicht zu erkennen, was er in diesem Moment dachte. Er drehte sich um, stieg die Treppe hinauf, verließ den geheimen Sektor der unterirdischen Anlage und kehrte in die Halle zurück. Mr. Jenner wirbelte erschrocken herum, als sich hinter ihm die Tür des Arbeitszimmers öffnete. Ängstlich forschend hing sein Blick an dem eintretenden Meister. Penrith trat dicht an den Mann heran. Seine dunklen Augen schie57 �
nen ihn mit Blicken durchbohren zu wollen. »Sie verlassen dieses Haus, Mr. Jenner«, sagte der Meister mit kalter Stimme. »Sie fahren zurück in die Stadt und arbeiten in Ihrem Laden weiter, als wäre nichts geschehen. Unterwegs werden Sie zu Ihrem ursprünglichen Ich zurückfinden. Gehen Sie!« Wortlos drehte sich Mr. Jenner um, verließ das Haus und setzte sich in seinen Wagen. Sobald das Auto etwa eine halbe Meile gefahren war, entspannte sich sein Gesicht. Leben kam in seine Augen. »Eigentlich sollte ich doch im Laden stehen«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Wie bin ich denn auf die Idee gekommen, um diese Zeit an der Küste spazierenzufahren?« * »Ich konnte nichts für sie tun«, entschuldigte sich Victor Buller gleichsam bei dem Arzt, der sich um die Frau kümmerte. »Jemand versuchte, sie zu erwürgen. Ich kam dazu, der Attentäter floh. Zuerst dachte ich, sie wäre tot, aber dann kam sie zu sich. Als sie mich sah, brach sie wieder zusammen. Ist sie…?« Er ließ die Frage unausgesprochen in der Luft hängen. Der Arzt, der auf dem Boden des Badezimmers kniete, blickte kurz
hoch und schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nur ohnmächtig. Überfallen wurde sie, sagten Sie? Von wem denn?« »Das möchte ich auch gerne wissen«, ertönte in diesem Moment im Vorraum eine bekannte Stimme. Inspektor Pratt, der erst nach dem Arzt eintraf, hatte offenbar die letzten Sätze mitangehört. »Ach, Inspektor, gut daß Sie da sind.« Der Arzt stand auf. »Wir bringen die Frau jetzt ins Krankenhaus. Ich bin überzeugt, daß sie in ein oder zwei Tagen schon wieder auf den Beinen ist. Ein Mann versuchte, sie zu würgen, aber er hatte sie nicht ernstlich verletzt. Sie hatte Glück, daß Mr. Buller vorbeikam.« »Ich hörte einen Schrei und lief ins Haus«, schilderte der alte Lehrer den Hergang. »Der Täter floh inzwischen.« »Sie haben keine Ahnung, wer es war?« fragte Pratt und schaute sich im Bad genauer um. »Sie kommt zu sich«, unterbrach ihn der Arzt. Tatsächlich schlug die Frau die Augen wieder auf. Ihr Blick klärte sich, und als sie den Arzt mit seinem weißen Mantel sah, atmete sie erleichtert auf. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Miß Patrick!« sprach der Inspektor sie an. »Ich bin Inspektor Pratt, Polizei. Und das ist Mr. Buller, der sie vor dem Täter rettete.« 58 �
»Ach«, krächzte die Frau heiser. »Und ich dachte, er hätte mich überfallen.« Sie sprach nur leise und stockend, doch man konnte sie verstehen. »Ach«, machte nun auch der Inspektor. »Habe Sie denn nicht gesehen, wer Sie angriff, Miß Patrick?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte mir Wasser in die Wanne eingelassen und wollte soeben baden, als ich von zwei derben Händen gepackt wurde. Der Mann würgte mich und hielt mich so fest, daß ich mich nicht umdrehen konnte. Nur einen Schrei konnte ich noch ausstoßen, danach weiß ich nichts mehr. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich auf dem Boden des Badezimmers. Ich hatte entsetzliche Angst, der Täter wäre noch im Haus, und als dieser Mann hier das Bad betrat, dachte ich, er wäre es gewesen. Ich glaube, ich wurde wieder ohnmächtig.« »Schade«, meinte der Inspektor. »Ich hatte gehofft, Sie würden uns den Mann beschreiben können. Der Doktor bringt Sie jetzt ins Krankenhaus, dort werde ich Sie besuchen, und Sie erzählen mir noch einmal alles in Ruhe.« Sobald Miß Patrick abtransportiert war, ließ sich Inspektor Pratt von dem alten Lehrer mit allen Einzelheiten schildern, was er hier erlebt hatte. Buller behauptete, rein zufällig an dem Haus vorbeigekommen
zu sein, als er eine Spazierfahrt auf dem Fahrrad unternahm. »Leider konnte ich den Täter nicht sehen«, fügte er seinem Bericht eine einzige Lüge hinzu. Ansonsten hatte seine Beschreibung der Wahrheit entsprochen. Bewußt verschwieg er Jenners Namen. Seine Aussage hätte gegen die des Milchmannes gestanden, so daß es sehr fraglich gewesen wäre, ob die Polizei etwas gegen Jenner hätte unternehmen können. Wenn er aber jetzt gegen den Milchmann, ein Mitglied des Satansbundes, aussagte, war seine Aufnahme in den Bund unmöglich geworden. »Ich habe mich daran gewöhnt, daß ich bei dieser Kette von Vorfällen kein Glück habe«, seufzte Inspektor Pratt. »Lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen.« »Das wäre auch nur sehr schwer möglich«, lächelte der alte Lehrer und deutete auf seine schlohweißen Haare. »Brauchen Sie mich noch, Inspektor? Ich möchte meine Spazierfahrt fortsetzen.« »Sie haben Nerven«, meinte Pratt kopfschüttelnd. »Nach einem solchen Erlebnis haben Sie noch Lust zum Spazierenfahren?« »Jetzt noch mehr als vorher«, erwiderte Buller. In seinem Kopf formte sich bereits eine neue Idee. »Viel Glück, Inspektor!« *
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Was Victor Buller dem Inspektor nicht verraten hatte, war eine Veränderung in seinem Fahrtziel. Hatte er ursprünglich die Absicht gehabt, hinaus zur Wetterstation zu fahren und mit Mr. Penrith zu sprechen, den er für den Meister des Geheimbundes hielt, so kam es ihm nunmehr wichtiger vor, Mr. Jenner zu besuchen. Buller wußte nicht, ob Jenner ihn erkannt hatte oder nicht. Wenn ja, so mußte sein Auftauchen im Milchgeschäft von Jenner als Beweis dafür gewertet werden, daß auch der alte Lehrer ihn erkannt hatte. Es lag dann an Jenner, in irgendeiner Weise zu reagieren. Möglicherweise verriet er etwas Wichtiges. Hatte er nicht gesehen, wer ihn an der Ausführung seines Mordes gehindert hatte, so mußte sich Buller eben vortasten und versuchen, den verhinderten Mörder aus der Reserve zu locken. Den verhinderten Doppelmörder, hätte Buller genauer sagen sollen, denn einen Mord hatte Jenner ja schon mit der vergifteten Milch begangen. Sicherlich war es ein Risiko, sich allein in Jenners Laden zu begeben, doch Victor Buller konnte das nicht abschrecken. Er lief ständig Gefahr, als Feind des Kultes der singenden Stimmen, wie er den Satansbund nannte, eingestuft zu werden. Was ihm in diesem Fall bevorstand, brauchte er sich nicht erst mit viel
Phantasie auszumalen. Mehrere Tote in Lampton zeigten ihm sein Schicksal. Es kam selten vor, daß sich überhaupt niemand in Jenners Laden aufhielt. Üblicherweise blieben die Leute länger, als sie für ihre Einkäufe brauchten, um sich zu unterhalten und die neuesten Nachrichten auszutauschen. Das war der Grund, weshalb Victor Buller einen anderen Laden bevorzugte. Er mochte es nicht, wenn die privaten Angelegenheiten seiner Mitmenschen von neugierigen Personen durchgehechelt wurden. »Schönen guten Tag, Mr. Buller!« grüßte Jenner freundlich, sobald der alte Lehrer das Geschäft betrat. »Daß Sie sich auch wieder einmal bei mir zeigen! Noch immer solche Abneigung gegen Klatsch?« »Noch immer der alte Querkopf, Mr. Jenner«, lächelte Buller unbefangen zurück. Entweder war Jenner ahnungslos oder ein hervorragender Schauspieler, jedenfalls schien er in dem alten Mann keine Gefahr zu sehen. Da er etwas kaufen mußte, entschied er sich für eine Scheibe Käse. Das viele Radfahren machte Appetit. Sie plauderten eine Weile, während Victor Buller den Käse gleich an Ort und Stelle aß und noch eine zweite Scheibe kaufte, um seine Anwesenheit hinauszögern zu können. Er blieb auch noch, als eine 60 �
Kundin hereinkam, wartete, bis sie wieder gegangen war, und fragte dann: »Wieso waren Sie denn vor ungefähr einer Stunde nicht hier im Laden? Regulär hätte geöffnet sein müssen.« »Oh, ich hoffe, Sie haben sich nicht darüber geärgert.« Jenners Gesicht drückte echte Sorge aus. »Ich fühlte mich nicht gut, weshalb ich ein wenig mit dem Wagen spazierenfuhr. Habe ich manchmal! Dann muß ich einfach raus.« Buller streckte die Waffen. An diesen Mann kam er nicht heran, er war zu glatt und ließ sich nicht fassen. Auf eine dritte Portion verzichtete er, weshalb er nach kurzem Gruß den Laden verließ und sich wieder auf sein rostiges Fahrrad schwang. Er fühlte sich gekräftigt genug, um sein ursprüngliches Vorhaben auszuführen. * »Was sind das bloß für Menschen«, begann der ehemalige Lehrer ein Selbstgespräch, sobald er mit seinem Gefährt die Stadt verlassen hatte und an der Kreideküste entlangrollte. »Vor einer Stunde versucht er, eine Frau zu erwürgen, und dann spricht er über Käse! Zuerst ist er eine wilde Bestie, die nach einem Menschenleben lechzt, und dann wieder ein netter, bescheidener Mann.«
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß es sich bei dem Geheimbund doch nicht um eine Vereinigung von Mördern handelte, die nur in dem Satanskult einen Vorwand für ihre Verbrechen suchten. Ob Hypnose im Spiel war? Die stechenden Augen von Mr. Penrith wären ein Anhaltspunkt für diese Vermutung gewesen. Oder setzte der sogenannte Meister eine Droge ein, die bei den Mitgliedern alle Hemmungen beseitigte? Wieder mußte sich Victor Buller selbst vertrösten, bis er Mitglied des Bundes geworden war. Vorher ließ sich keine schlüssige Antwort geben. Es spielte sich alles ähnlich ab wie bei seinem ersten Besuch. Die Hunde meldeten sein Kommen durch lautes Bellen, ein Mitarbeiter der Wetterwarte brachte ihn zu Mr. Penrith, der ihn diesmal in seinem Arbeitszimmer empfing. Victor Buller druckste verlegen herum. Das gehörte zu der kleinen Szene, die er sich ausgedacht hatte. Dabei ließ er aus jeder seiner unzähligen Gesichtsfalten ein verschmitztes Lächeln schauen. »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Mr. Penrith«, sagte er endlich. »Wissen Sie, mein Besuch, mein erster Besuch, das war nur ein Vorwand. Ich habe Sie belogen, ich verstehe gar nicht so viel von Meteorologie. Es hat immer nur gereicht, um meine Schüler zu unterrichten, zu 61 �
mehr nicht.« »Sehr interessant«, erwiderte Penrith kühl und verzog keine Miene. »Was war dann der eigentliche Grund Ihres Besuches?« »Nun, ich hatte von dem Bund gehört, der seit einiger Zeit existiert«, rückte Buller mit der Wahrheit heraus, die er für seine Bedürfnisse umfrisierte. »Ich bin sehr einsam, und da dachte ich, ein solcher Club wäre das richtige für mich, um mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen. Mr. Talbot versprach mir, sich bei Ihnen um meine Aufnahme zu bemühen, aber das dauert mir zu lange. Ich möchte gerne so bald wie möglich an Ihren Versammlungen teilnehmen können, Mr. Penrith. Ja, und deshalb komme ich noch einmal zu Ihnen. Beim ersten Mal wagte ich es noch nicht.« Ob er den schüchternen alten Mann wohl überzeugend genug spielte? Vor diesem Penrith hatte er Angst. Diese dunklen, bohrenden Augen schienen auf den Grund seiner Seele blicken zu können, und Buller war, als könne er vor diesem Mann nichts geheimhalten. »Sie hätten sich den weiten Weg sparen können, Mr. Buller«, sagte Penrith nach einer vollen Minute des Schweigens. »Und gleich zweimal! Wirklich, zuviel Mühe.« »Soll das heißen, daß Sie mich nicht aufnehmen wollen?« Diesmal
brauchte Buller seine Enttäuschung gar nicht zu spielen, sie war echt. Sollte er sich durch seinen Übereifer die Chance verdorben haben? War Penrith nun doch mißtrauisch geworden? »Die Entscheidung liegt nicht bei mir, Mr. Buller«, fuhr der Leiter der Wetterstation fort. »Sehen Sie, ich bin nur, wie voll ich sagen, der Clubsekretär, wenn Sie so wollen. Ich nehme Ihren Antrag zur Kenntnis, entscheiden wird ein anderer. Sie erhalten dann von mir Bescheid. Auf Wiedersehen, Mr. Buller.« Deutlicher ging es wohl nicht. Die Frage brannte dem alten Lehrer auf der Zunge, wer dieser andere sei, der die Entscheidung fällte, doch er wagte nicht mehr, noch etwas zu sagen. Seiner Rolle getreu deutete er sogar eine Verbeugung an und zog sich zurück. Auch wenn dieser Besuch nicht ganz nach seinen Vorstellungen verlaufen war, so war es auch kein Mißerfolg geworden. Penrith hatte ihn nicht abgelehnt, und sofern es nicht eine bloße Ausrede war, wußte er nun wenigstens, daß auch Penrith noch nicht das letzte Wort in Angelegenheiten des Bundes hatte. Wer war dann der oberste Leiter? Diese Person hätte der alte Lehrer zu gerne kennengelernt. *
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Penrith stand am Fenster des ehemaligen Herrenhauses und schaute dem einsamen Radfahrer nach. Um seinen schmalen Mund spielte ein triumphierendes Lächeln. So waren sie alle gekommen, angelockt von der Idee, einem nicht alltäglichen Club anzugehören. Das Geheime reizte und lockte mehr als alle Versprechungen. »Kleinstadtspießer«, murmelte er verächtlich. Ja, er empfand für diese Menschen nur Verachtung, aber nicht nur für diese! Für alle anderen ebenso. Seine Stellung innerhalb des Bundes war genau das, was er sich immer gewünscht hatte – die Macht, seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen. Seine Gedanken kehrten zu dem alten Mann zurück, der soeben auf seinem Fahrrad hinter einer Hügelkuppe verschwand. Er zweifelte nicht daran, daß der Große Meister seiner Aufnahme zustimmen würde. Dann würde alles den gewohnten Gang gehen. Zuletzt zappelte das neue Mitglied ebenso im Netz des Bösen wie die anderen, die zuvor gekommen waren. Obwohl sich Penrith seiner Sache bereits sicher war, mußte er sich dennoch an die Befehle des Bösen halten. Zum zweiten Mal an diesem Tag trat er den Weg in den Keller an, öffnete die Geheimtür und stieg in das tief im Kreidefelsen liegende Gewölbe hinunter.
Kaum hatte er seinen Fuß in den Felsendom gesetzt, als er überrascht zurückfuhr. Der Altarstein in der Mitte des Raumes strahlte bereits in einem tiefen Rot, der Große Meister erwartete ihn bereits und zeigte es ihm durch das Glühen des Altars. Das war bisher noch nicht vorgekommen. Sekundenlang verharrte Penrith in seiner Überraschung, dann besann er sich erschrocken auf seine Pflichten und verneigte sich schnellstens. »Ich erwarte deine Befehle, Großer Meister«, sagte er hastig und näherte sich zwei Schritte. »Ist etwas vorgefallen? Droht uns vielleicht Gefahr?« Ein neues Mitglied hat sich beworben, erscholl die Stimme aus dem Stein. Es wird aufgenommen. Heute um Mitternacht veranstaltet ihr hier zu meinen Ehren eine Feier! Penrith wollte noch eine Frage stellen, doch seine Augen trafen nur mehr auf den dunklen Altar. Der Böse hatte sich aus dem Raum zurückgezogen. Völlig verwirrt stieg Penrith wieder hinauf ins Haus. Er verstand die Entwicklung nicht. Dieser Buller mußte eine überaus wichtige Person sein, daß der Böse so dringend für die Aufnahme war. Doch darüber hatte er sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Seine Aufgabe war es jetzt, Mr. Buller zu verständigen und allen Angehörigen den nächsten Termin durchzugeben. 63 �
Mitternacht! * Während der Rückfahrt in die Stadt holte Victor Buller seine unförmige, zwiebelartige Taschenuhr hervor, ließ den Deckel aufspringen und erschrak. Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zum Geschäftsschluß, und ihm war eine Idee gekommen. Zwar hatte er keine Ahnung, ob er das Gewünschte in Lampton finden würde, aber er wollte es wenigstens versuchen. Die größte Schwierigkeit bei seinem Kauf sah der alte Lehrer darin, daß die Mitglieder des Satansbundes und schon gar nicht Mr. Penrith davon erfahren durften, was er jetzt kaufen wollte. Als er fünf Minuten vor Ladenschluß sein Fahrrad vor dem Radiogeschäft Mrs. Wrights’ anhielt, hatte er sich entschlossen, das Risiko einzugehen. Es blieb ihm gar keine andere Wahl. Gehörte Mrs. Wrights, die den Laden ganz allein führte, ebenfalls zu der Satansgilde, war er verloren. Zu seiner größten Überraschung konnte ihn Mrs. Wrights mit dem Gewünschten versorgen, so daß er hochzufrieden mit einem kleinen Päckchen unter dem Arm wieder auf die Straße trat. Kaum hatte er gegen sieben Uhr abends sein Haus betreten, als das Telefon anschlug. Buller stürzte sich
förmlich auf den Apparat, und als er die Stimme von Mr. Penrith erkannte, hielt er den Atem an. »Heute um Mitternacht werden Sie aufgenommen«, sagte der angebliche Leiter der Wetterstation. »Seien Sie pünktlich!« Ehe Victor Buller etwas erwidern konnte, hatte Penrith schon aufgelegt. Für Sekunden tauchten Zweifel bei dem alten Lehrer auf, weil alles so glatt gegangen war, doch dann nannte er sich selbst einen Pessimisten. Er war ein sehr alter Mann, hatte sich ein wenig dumm gestellt und war vermutlich als harmlos befunden worden. Weshalb aber sollten ihn dann die Satansjünger in ihren Bund aufnehmen? Vielleicht erhofften sie sich leichtes Spiel mit ihm, wollten sie ihn zu ihrem willigen Werkzeug machen, das für sie die schmutzigen Dienste ausführen sollte. »Abwarten«, sagte Victor Buller halblaut, doch weil ihm gerade das trotz seiner Jahre am schwersten fiel, beschloß er, die Entwicklung der Dinge noch mehr zu beschleunigen. Keine zehn Minuten, nachdem er sein Haus betreten hatte, schwang er sich bereits wieder auf sein Fahrrad und fuhr zurück in die Stadt. Die Werkstatt von Mr. Carlisle war sein Ziel, die mit drei rätselhaften Todesfällen in Verbindung stand. Hier war der Wagen repariert worden, der einen Menschen über die 64 �
Klippen in den Tod gerissen hatte. Hier hatte Robert Wheeler gearbeitet, bevor er als unfreiwilliger Zeuge einer Satansbeschwörung getötet worden war. Und hier endlich war Jeff Weston beschäftigt gewesen, ehe er als Sündenbock für die Manipulation an den Bremsen hatte herhalten müssen. Der Besitzer der Werkstatt und somit jener Mann, der in unmittelbarem Zusammenhang mit allen Vorfällen stand, war Mitglied des Satansbundes – Mr. Carlisle. Ihm wollte Victor Buller eine Falle stellen. Wenn es ihm gelang, Mr. Carlisle ein Geständnis zu entlocken, konnte er vielleicht noch in dieser Nacht den Bund der singenden Stimmen, wie er die Satansbrüderschaft genannt hatte, zerschlagen. Scheiterte es, fand man ihn wahrscheinlich am nächsten Morgen am Fuß der Klippen im Meer treibend… * Seit dem Zwischenfall mit dem verunglückten Auto des Stadtverordneten war kein Kunde mehr in die Werkstatt Mr. Carlisles gekommen. Es wunderte Victor Buller daher nicht, am Einfahrtstor ein Schild mit der Aufschrift URLAUB zu finden. Bezeichnenderweise war nicht vermerkt, wie lange dieser Urlaub dauern sollte.
Zögernd blieb der alte Lehrer stehen. War es wirklich klug, wenn er jetzt eine Aussprache mit Mr. Carlisle herbeiführte? Spätestens um Mitternacht würde er ihn ja ohnedies sehen, da bei der Neuaufnahme eines Mitgliedes sicherlich alle Angehörigen des Bundes anwesend waren. Die Frage war nur, ob er in dem Haus auf der Klippe auch frei sprechen konnte. Im Wohnhaus brannte Licht. Carlisle war Junggeselle, weshalb Buller keine Bedenken hatte, zu stören. Die Klingel schrillte durch das ganze Haus. Eine halbe Minute später näherten sich müde Schritte der Tür. Carlisle öffnete, musterte verdutzt den späten Besucher und ließ ihn wortlos eintreten. »Wie geht es Ihnen, Mr. Carlisle?« erkundigte sich der alte Lehrer möglichst harmlos. »Sie sind der erste Mensch, der sich in mein Haus wagt, seit das passiert ist«, murmelte Carlisle düster. »Beantwortet das Ihre Frage ausreichend?« »Oh ja, tut mir leid.« Buller folgte der Aufforderung und nahm im Wohnzimmer Platz. »Meinen Sie, daß sich dieser Zustand einmal ändern wird?« »Sicher!« lachte Carlisle wütend auf. »Wenn die Leute auf mein Begräbnis kommen, weil ich verhungert bin. Dann werden sie mich nicht mehr schneiden.« 65 �
»Ich glaube, Sie sehen zu schwarz«, behauptete Victor Buller. »Vielleicht kann ich Ihnen sogar helfen. Ich kenne eine Menge Leute, und wenn ich lobe, wie zuverlässig Sie sind, wird das wahrscheinlich helfen. Ist ja schließlich Ehrensache, daß ich mich um Sie kümmere – wo wir doch jetzt Bundesbrüder werden.« Dem lauernden Blick Bullers entging nicht, daß der Werkstattbesitzer leicht zusammenzuckte. »Bund?« wiederholte Carlisle. »Von welchem Bund sprechen Sie denn?« »Wissen. Sie es noch nicht?« tat der alte Lehrer erstaunt. »Ich werde heute um Mitternacht aufgenommen. Sie verstehen schon, im Haus auf der Klippe.« »Ach so«, machte Carlisle nicht sonderlich begeistert. »Deshalb also die außerordentliche Versammlung. Ich dachte, es wäre etwas geschehen.« »Sehr erfreut scheinen Sie nicht zu sein, daß ich Mitglied werde«, bemerkte Victor Buller und spielte den Beleidigten. »Entschuldigen Sie, Mr. Buller, aber ich habe für harmlose Unterhaltungen und kindische Späße wie Geheimbund und so im Moment keinen Kopf!« rief Carlisle ungehalten aus. Spielte er nur eine Rolle, oder erinnerte er sich wirklich nicht, welchen Zweck dieser Bund erfüllte? Nahm vielleicht – auch das
war eine Möglichkeit – Penrith den einzelnen Mitgliedern die Erinnerung an ihre Verbrechen? Buller entschloß sich, einen Versuchsballon steigen zu lassen. »Sehen Sie, Mr. Carlisle«, sagte er beiläufig, »die Idee mit den Bremsen finde ich vorzüglich. Niemand kann etwas nachweisen, es ist nicht die geringste Gefahr dabei.« Einige Sekunden lang war der Werkstattbesitzer sprachlos, dann färbte sich sein Gesicht dunkelrot. Die Adern an seinen Schläfen schwollen dick an, als er verstand. »Das ist die größte Unverschämtheit, die man sich vorstellen kann!« brüllte er los. »Zuerst schleichen Sie sich bei mir unter einem Vorwand ein, und dann kommen Sie mit solchen Behauptungen daher! Was glauben Sie eigentlich, was Sie sich alles erlauben dürfen? Meinen Sie, Sie haben Narrenfreiheit? Ich dulde diese Anschuldigungen nicht! Raus! Auf der Stelle hinaus mit Ihnen, sonst…« Carlisle konnte nicht mehr weitersprechen, weil ihm vor Empörung die Luft wegblieb. Victor Buller verzichtete auf eine Widerrede. Er ging zur Tür und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nein, fand er, als er mit seinem Fahrrad losfuhr, das war nicht gespielt. Für einen solchen Wutanfall verfügte Mr. Carlisle einfach nicht über die nötigen schauspieleri66 �
schen Fähigkeiten. Also war, er echt wütend geworden bei der Andeutung, er habe die Bremsen mit Absicht defekt gemacht. Für Victor Buller stand außer Frage, daß Mr. Carlisle der Täter war, doch er neigte immer mehr zu der Ansicht, daß er und auch die anderen Mörder ihre Taten unter einem hypnotischen Zwang ausgeübt hatten. Der Meister des Bundes mußte über außerordentliche Fähigkeiten verfügen. Gegen diese Fähigkeiten hatte sich der alte Lehrer gewappnet. Zufrieden klopfte er gegen die Innentasche seines Jacketts, in der er sozusagen seine Lebensversicherung bei sich trug. Er konnte nur noch hoffen, daß sie auch funktionierte. * Die Fenster des ehemaligen Herrenhauses auf den Klippen strahlten eine nahezu festliche Helligkeit aus. Im Haus mußten alle Lichter brennen. Bei einer solchen Beleuchtung fiel die Vorstellung schwer, daß sich in diesem Gebäude verbrecherische Handlungen abspielten, daß Morde geplant und Satansmessen abgehalten wurden. In seinem langen Leben hatte Victor Buller aus bitteren Erfahrungen die einfache Lehre gezogen, nie auf den äußeren Schein zu vertrauen, weshalb er sich auch jetzt nicht von dem Glanz täuschen ließ. Er blieb
wachsam. Die Hunde empfingen ihn auch diesmal mit wütendem Gekläff, dem Mr. Penrith persönlich ein Ende bereitete, indem er seinem Besucher entgegenkam und den Hunden einen scharfen Befehl zurief. »Sie kommen sogar noch etwas zu früh, Mr. Buller«, empfing der Meister das neue Mitglied. »Wir beginnen erst pünktlich um Mitternacht mit Ihrer Aufnahme, so wollen es die Satzungen unseres Bundes. Aber das macht nichts, die meisten anderen sind ebenfalls schon hier. Sie werde eine Menge guter Bekannter finden.« Er führte den alten Mann in das Haus, in dem überall zusätzlich zur elektrischen Beleuchtung Kerzen aufgestellt waren. Es herrschte eine festliche Stimmung, zu der die Kleidung der Männer aus der Stadt allerdings nicht so recht paßte. Jeder war in ganz gewöhnlichen Sachen gekommen, damit die Nachbarn keinen Verdacht schöpften, wenn er im Abendanzug wegging und sie sich fragen mußten, welches Lokal er wohl aufsuchte. Verschwiegenheit war bei einem solchen Satansbund wohl die erste Pflicht, das sah Buller ein. »Hallo, alter Knabe!« wurde er von einem ehemaligen Kollegen auf dem College begrüßt, den er hier nicht vermutet hätte. »Ihr Fahrrad nimmt sich etwas komisch zwischen all den 67 �
Autos aus.« »Mein Rolls Royce wurde nicht rechtzeitig für den heutigen Abend geliefert«, erwiderte Buller mit einem verkrampften Lächeln, verkrampft, weil er in diesem Moment Mr. Carlisle hereinkommen sah. Der Werkstattbesitzer streifte ihn nur mit einem flüchtigen Blick und schien keine Lust zu haben, den Streit von vorhin fortzuführen. Er sprach auch nicht mit Mr. Penrith oder einem anderen Mitglied des Bundes, sondern nahm sich ein Glas Whisky und verzog sich in eine stille Ecke. Erleichtert musterte Buller die übrigen Anwesenden. Mr. Penrith hatte nicht zuviel versprochen, er kannte alle. Daß es sich bei den Versammelten nur um alleinstehende Männer handelte, überraschte ihn nicht weiter. Verheiratete hätten die Fragen der Ehefrau nicht beantworten können, wodurch dem Satansverein eine zusätzliche Gefahr erwachsen wäre. Die Gespräche plätscherten angeregt und seicht dahin. Nirgendwo wurde ein Wort gesagt, das auch nur im entferntesten ahnen ließ, daß hier Verbrechen geplant wurden. Buller kannte diese Männer auch gut genug, um sicher zu sein, daß sie von sich aus nicht morden würden. Sein Blick wanderte zu Mr. Penrith, der sich mit zweien seiner Mitarbeiter von der angeblichen Wetterstation an die Stirnseite des Raumes
begeben hatte und mit seinen stechenden Augen seine Getreuen musterte. Er war die Schlüsselfigur! Er hielt alle Fäden in der Hand und zwang auf irgendeine Weise diese anständigen Männer zum Morden! Drei Hammerschläge erklangen, worauf tiefe Stille eintrat. Nur von draußen hörte man das Rauschen der Brandung. Mr. Penrith hatte mit seinen Gehilfen Platz am Tisch genommen und führte sich auf, als würde er eine Gerichtsverhandlung leiten. »Liebe Brüder«, begann er in freundlichem Ton, »ein Neuer möchte in unseren Bund aufgenommen werden. Es ist der hier anwesende Mr. Victor Buller. Da wir einen Geheimbund gegründet haben, von dem die Außenwelt nichts erfahren darf, stehen wir vor der Wahl: Akzeptieren wir Mr. Buller in unserem Kreis, so ist er damit automatisch zum Stillschweigen verpflichtet. Lehnen wir ihn jedoch ab, müssen wir ihn über die Klippen werfen, damit unser Geheimnis gewahrt bleibt.« Das schallende Gelächter von allen Seiten, das seinen Worten folgte, bewies Buller, daß die letzte Bemerkung durchaus scherzhaft gemeint war und niemand im Traum daran dachte, ihn tatsächlich den Weg über die Klippen antreten zu lassen. Die ganze Aufnahmeverhandlung erschien ihm plötzlich kindisch, fast 68 �
lächerlich. »Wer ist gegen Mr. Buller?« rief Penrith, sobald wieder Ruhe eingetreten war. Niemand meldete sich. Der Hammer des Meisters schlug dreimal auf den Tisch. »Somit sind Sie, Victor Buller, als neues Mitglied in unserem Bund herzlich willkommen. Lassen Sie sich die Statuten von einem Ihrer neuen Brüder erklären. Wichtig ist eigentlich nur, daß Sie zu niemandem von unserer Vereinigung sprechen. Meinen herzlichen Glückwunsch.« »War das schon alles?« fragte Buller verwirrt, während er die Hand des Meisters schüttelte. »Er erwartet wahrscheinlich eine große Zeremonie!« lachte einer der Männer. »Mit Glockenklang und Hörnerschall«, schrie ein anderer vergnügt. Victor Buller wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Spielten sie ihm vielleicht nur eine harmlose Komödie vor, um ihn in Sicherheit zu wiegen? Hatten sie seine wahren Absichten längst durchschaut, scheuten aber vor einem Mord zurück, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen? »Achtung!« rief Mr. Penrith in das Stimmengewirr. Jetzt kommt es, dachte Buller. Seine Hand tauchte unter das Jackett und in die Innentasche zu seiner Lebensversicherung’!
»Ich habe Ihnen allen eine wichtige Mitteilung zu mache!« Gespannt hob Victor Buller den Kopf. Er sah, wie sich die Augen des Meisters auf ihn richteten. * Mr. Penrith blickte nicht nur das neue Mitglied des Bundes, Victor Buller, sondern der Reihe nach jeden der im Raum Versammelten an. Um seinen schmalen Mund spielte ein grausames, triumphierendes Lächeln. Sekunde um Sekunde verstrich, und nach einer vollen Minute hatte noch niemand eine Frage bezüglich der wichtigen Mitteilung gestellt, die er angeblich zu machen hatte. Befriedigt nickte Penrith, nachdem er auch seine beiden Helfer überprüft hatte. Sie standen ebenso wie die anderen stocksteif im Raum und blickten aus leeren Augen vor sich hin. »Folgt mir!« befahl er, drehte sich um und verließ den Raum. Ohne sich nach den anderen umzudrehen, stieg er hinunter in den Keller. Er war sich seiner Sache absolut sicher, und das Scharren von Füßen auf der Treppe gab ihm recht. Sie alle gingen hinter ihm her, willenlose Geschöpfe, die nur noch den Befehlen ihres Meisters gehorchten. Wie schon bei seinen vorangegangenen Besuchen, blieb Mr. Penrith auch diesmal auf der untersten Stufe 69 �
stehen, die Geheimtür schwang auf. Der Meister ließ die anderen an sich vorbeigehen und zählte sie, um nicht das geringste Risiko einzugehen. Bei der nun folgenden Zeremonie mußten alle dabeisein, sonst wäre das seinem Ende gleichgekommen. Als auch der letzte den geheimen Durchgang passiert hatte, betrat Penrith die zweite, tiefer in den Kreidefelsen führende Treppe. Seine Jünger hatten sich alle bereits rings um den Altar aus gewachsenem Fels aufgestellt. In dieser Nacht war der Altar nicht so kahl wie bei seinen vorangegangenen Besuchen. In aller Stille hatte. Penrith die Vorbereitungen für die nun folgende Zeremonie getroffen. In zwei Reihen zu je sechs und sieben Stück standen dreizehn schwarze Kerzen, die einen stickigen, dichten Rauch verbreiteten. Der Meister gab ein Zeichen, worauf einer seiner Helfer das elektrische Licht verlöschte. Nur mehr die flackernden Flammen erhellten den Raum. Penrith griff nach einem langen, scharf geschliffenen Messer, mit dem er drei Kreise über den Flammen beschrieb. »Ich habe euch hier zusammengerufen, Jünger Satans«, rief er mit gänzlich veränderter, schneidender Stimme, die in die Gehirne seiner willenlosen Geschöpfe wie Säure
sickerte, »weil wir heute ein neues Mitglied in unserem Bund empfangen. Victor Buller, tritt vor!« Der alte Lehrer machte drei Schritte vorwärts. Er setzte die Beine wie eine Puppe und blieb mit gesenktem Kopf vor dem Altar stehen. Unter normalen Umständen hätte ihn der stechende Geruch der Kerzen zum Husten gereizt, doch jetzt nahm er davon ebenso wenig etwas wahr wie von den Handbewegungen, die Penrith ausführte. »Victor Buller, von jetzt an gehörst du zu uns«, murmelte der Meister beschwörend. »Ich erteile dir das Satanszeichen, damit dich der Große Meister immer und überall als einen seiner Streiter erkennt.« Das blitzende Messer glitt in einer Entfernung von nur einer Fingerbreite über Bullers Stirn dreimal hin und her, dann rammte Penrith es mit einem harten Ruck auf die Altarplatte. Mit einem hellen Klingen zersprang das Messer. Aus dem Altartisch schoß eine Stichflamme, brachte die Metallstücke zum Schmelzen und verschwand genauso schnell. »Victor Buller«, erhob der Meister wieder seine Stimme. »Du wirst ebenso wie deine Bundesbrüder eine Aufgabe zu erfüllen haben. Wann du sie ausführst, wird dich der Große Meister persönlich wissen lassen. Nur sollst du heute schon erfah70 �
ren, worin deine Aufgabe besteht.« »Ich bin bereit, Meister«, murmelte Buller untertänig. »Du wirst einen Menschen töten, der unserem Bund gefährlich werden könnte«, zischte Penrith mit haßerfüllter Stimme. »Du wirst Inspektor Pratt ermorden! Sprich mir nach!« »Ich werde Inspektor Pratt ermorden«, wiederholte Victor Buller. »Sehr gut«, nickte Penrith zufrieden. »Geh jetzt mit den anderen wieder nach oben. Ihr alle werdet vergessen, was ihr hier erlebt habt, und erst, wenn der Große Meister euch ruft, verwandelt ihr euch wieder in seine Sklaven! Geht!« Der Gehilfe des Meisters schaltete wieder die elektrische Beleuchtung ein, im deren Schein sie alle wortlos die beiden Treppen nach oben stiegen. Penrith verlöschte die Kerzen, schloß hinter sich die Geheimtür und stieß zu seinen Anhängern, die sich an denselben Stellen des geräumigen Zimmers versammelt hatten, an denen sie vor der eigentlichen Aufnahme des neuen Mitgliedes gestanden hatten. »Achtung!« wiederholte Mr. Penrith im gleichen Tonfall, in dem er beim ersten Mal diese Worte gesprochen hatte. »Ich habe Ihnen allen eine wichtige Mitteilung zu machen!« *
Victor Buller fühlte die Augen von Mr. Penrith auf sich gerichtet, diese dunklen, bohrenden Augen. Er war sicher, daß jetzt endlich jene Eröffnung folgen würde, deretwegen er gekommen war. Jetzt mußte Penrith einfach die nächsten Verbrechen verkünden, die von Mitgliedern des Bundes begangen werden sollten. »Liebe Freunde«, fuhr Penrith fort. »Leider kann ich Ihnen noch keinen neuen Termin für ein Zusammentreffen nennen. Bitte warten Sie darauf, daß ich Sie anrufe. Sie wissen, die Arbeit in der Wetterstation verschlingt viel Zeit, und so gerne ich Ihnen meine Gastfreundschaft schenke, ich habe eben einen Beruf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, bis zum nächsten Mal!« Niemand erhob einen Einwand. Alle verabschiedeten sich freundlich von Mr. Penrith, und auch Buller kam, getreu seiner Rolle, auf den Meister des Bundes zu. »Ich freue mich ja so, wieder unter Menschen zu sein«, strahlte er diesen stechenden, dunklen Augen entgegen. »Haben Sie vielen Dank für alles, Mr. Penrith!« »Aber das ist doch gern geschehen«, erwiderte der Meister mit einem unangenehmen, zynischen Lächeln. Buller hatte das schreckliche Gefühl, daß dieser Mann mit ihm ein grausames Spiel trieb. Er ahnte nur noch nicht, worum es 71 �
dabei ging. Vor dem Haus verabschiedeten sich die einzelnen Bundesbrüder voneinander, bestiegen ihre Wagen und fuhren in Richtung Lampton davon. Victor Buller schwang sich auf sein Fahrrad, winkte dem in der Tür stehenden Penrith noch einmal zu und trat in die Pedale. Plötzlich hatte er den Wunsch, möglichst weit weg von diesem Haus zu sein. Nachdem er eine Viertelstunde gefahren war, hielt er das Rad mitten auf der Straße an. Vom Haus aus konnte man ihn nicht mehr sehen, und gefolgt war ihm auch niemand. Ausreichendes Licht hatte er, weil der Mond wie eine riesige, gelbe Scheibe am sommerlichen Nachthimmel stand und auf der Erde sogar Schatten erzeugte. Kopfschüttelnd griff Victor Buller unter sein Jackett und holte das Minitonbandgerät – die Lebensversicherung – hervor, dessen Band eine Laufzeit von einer vollen Stunde hatte. Das Mikrofon steckte als Zierknopf getarnt im Knopfloch seines Revers. Buller hatte das Gerät bei der Ankündigung Mr. Penriths eingeschaltet, er habe eine wichtige Nachricht für die Versammelten. Das war ungefähr vor einer halben Stunde gewesen. Die Augen des alten Lehrers weiteten sich zuerst erstaunt, dann nahmen sie einen erschrockenen Aus-
druck an. Seine Hände zitterten so heftig, daß ihm das Gerät beinahe entfallen wäre. Hier stimmte etwas nicht. Er rechnete noch einmal nach. Da ihm nur die begrenzte Laufzeit von einer Stunde zur Verfügung stand, hatte er mit dem Einschalten gewartet, bis es sich seiner Meinung nach lohnte. Dieser Zeitpunkt konnte noch nicht länger als eine halbe Stunde zurückliegen. Trotzdem war das Band bereits abgelaufen! * Der alte Lehrer fühlte sich, als habe ihm jemand einen Keulenschlag gegen den Hinterkopf versetzt. Es war der Fall eingetreten, mit dem er gerechnet, den er gefürchtet hatte. Da er an die Möglichkeit gedacht: hatte, Mr. Penrith könnte über hypnotische Kräfte verfügen, hatte er das Minitonbandgerät gekauft, um später kontrollieren zu können, was ihm Mr. Penrith während der Hypnose einflüsterte. Es gab nur eine einzige Gelegenheit, bei der das passiert sein konnte, und zwar war das während der Ankündigung. Die Bitte um allgemeine Aufmerksamkeit und die nachfolgende an sich völlig uninteressante Mitteilung hatten Buller zwar stutzig gemacht, doch wäre er von sich aus nie daraufgekommen, daß sich noch mehr 72 �
ereignet hatte. Am liebsten hätte er das Band sofort zurücklaufen lassen und abgespielt, aber einerseits fühlte er sich todmüde und zerschlagen, so daß er dringend nach Hause wollte, und andererseits hatte, er Angst, von Penrith oder einem seiner Mitarbeiter hier auf der Straße überrascht zu werden. Sorgfältig verstaute er das Tonbandgerät wieder, in der Sakkotasche und fuhr weiter. Die Strecke bis zu seinem kleinen Haus in Lampton erschien ihm unendlich weit. Ein paarmal glaubte er, es nicht mehr zu schaffen, aber der Wille trieb ihn voran, der Wille, diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Vor seinem Haus angekommen, lehnte er das Rad gegen die Wand, betrat den Wohnraum und ließ sich mit einem schmerzlichen Stöhnen auf das Sofa sinken. Minutenlang mußte er die Hand auf sein wild hämmerndes Herz pressen. So schlecht hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Es war nicht allein die körperliche Anstrengung, die ihn so mitgenommen hatte, sondern auch die innere Anspannung. Er war nicht mehr der Jüngste, das hatte er schon zu Anfang seines Abenteuers gewußt. Doch hatte er nicht geahnt, daß es so schlimm kommen würde. Nach einigen Minuten war es soweit, daß er in die Küche wanken konnte. Während das Teewasser zu
kochen begann, saß er schweratmend auf einem Stuhl und stierte auf einen Fleck an der Wand. Noch immer hatte er nicht die Kraft gefunden, sich das Tonband anzuhören. Wenn er ganz ehrlich mit sich selbst war, so fürchtete er sich auch davor, was er zu hören bekommen würde. Er dachte an die singenden Stimmen, die er bereits auf einem anderen Tonband vernommen hatte, das aus Bobs Funkstation stammte. Er fürchtete sich vor der ganzen Wahrheit, die er unterbewußt ja doch längst erkannt hatte. Buller brühte den Tee auf und trug mit zitternden Händen das Tablett hinüber ins Wohnzimmer. Erst nachdem er eine Tasse des besonders starken Getränks geschlürft hatte, brachte er den Mut auf, die Spulen rückwärts laufen zu lassen. Ein letztes Zögern, dann drückte er die Wiedergabetaste. … wichtige Mitteilung zu machen! So begann das Band, und es endete mit der Verabschiedung von Mr. Penrith, bei der er sich mit gespielter Herzlichkeit für alles bedankt hatte. Dann war das Band zu Ende, die Spulen drehten sich leer weiter. Was aber lag dazwischen! Vollständig niedergeschmettert lehnte der alte Lehrer auf dem Sofa. Er hatte sich keine Einzelheit entgehen lassen. In Gedanken hatte er jedes Geräusch in ein Bild umgesetzt, so daß er sich ziemlich genau vorstellen konnte, 73 �
was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte in diesem verfluchten Haus auf der Kreideklippe! Victor Buller hatte viel erwartet und war auf Schlimmes gefaßt gewesen, doch das übertraf alle seine Befürchtungen. Er sah nunmehr auch seine Vermutung bestätigt. Es handelte sich wirklich um einen Satansbund und nicht nur um einen Club, der sich mit gepflegter Konversation begnügte. Es stimmte auch, daß Mr. Penrith nicht der oberste Leiter dieses Bundes war – sondern der Böse selbst! In einem Punkt hatte Penrith bestimmt nicht gelogen. Er hatte nicht nur vorgetäuscht, im Auftrag einer höheren Macht zu handeln. Das fühlte Buller aus seinen Worten heraus, das wurde auch durch die Stichflamme bestätigt, die während der Zeremonie der eigentlichen Aufnahme deutlich zu hören gewesen war. Alle Jünger Satans hatten sich in Trance befunden. Penrith hätte es nicht nötig gehabt, ein Täuschungsmanöver mit einer von ihm künstlich erzeugten Flamme durchzuführen. Mit besonderem Schrecken erfüllte es Victor Buller, daß er gehorsam alles nachgesprochen hatte, was ihm der Meister vorgesagt hatte. Er zitterte bei dem Gedanken, daß er einen Menschen töten sollte, und es war für ihn besonders schmerzhaft, daß es Inspektor Pratt sein sollte.
Wenn es nach dem Willen des Bösen ging, so würde er ebenso wie die anderen zu gegebener Zeit eine Botschaft Satans empfangen, woraufhin er seinen Mord ausführen mußte. Carlisle, Talbot und Jenner hatten sich nicht gegen diesen Befehl zur Wehr setzen können. Wie würde es ihm ergehen? Eines unterschied ihn von den anderen, die bereits gemordet hatten. Er wußte, daß er sich in der Gewalt des Bösen befand und daß er von diesem einen Mordbefehl erhalten würde. Die anderen waren ahnungslos gewesen und waren es auch noch jetzt. Keiner dieser Männer wußte, daß er getötet hatte! Kam es auf diesen Unterschied an? Würde dieses Wissen um seine Hilflosigkeit ihm in der Stunde der Gefahr die nötige innere Kraft verleihen, um den Einflüsterungen des Bösen zu widerstehen? Victor Bullers Geist wollte nicht aufhören zu grübeln, doch sein überanstrengter Körper forderte sein Recht. Der alte Lehrer sackte vor Erschöpfung zur Seite und schlief auf dem Sofa seines Wohnzimmers ein. * Er schreckte hoch und blinzelte verstört in das grelle Sonnenlicht. Victor Buller strich sich mit bebenden Fingern über die schweißverklebten 74 �
weißen Haare. Er hatte einen gräßlichen Alptraum gehabt. Er war in einem unterirdischen Gewölbe gewesen, in dem zahlreiche Personen versammelt waren. Hinter einem Steintisch stand ein Mann, dessen Gesicht von flackernden Kerzen in schauriger Weise verzerrt wurde. Er sah ein Messer, Flammen, einen höhnisch lachenden Mund. Er hörte, daß er einen Menschen töten mußte, und er gelobte es. Dann stieg er eine lange Treppe wieder nach oben in einen hellerleuchteten Raum und… »Mein Gott, das war kein Traum!« stöhnte Victor Buller entsetzt. Er hatte das alles erlebt – in der vergangenen Nacht – in dem ehemaligen Herrenhaus auf der Kreideklippe! Sein Blick fiel auf das Tonbandgerät, und mit einem Schlag konnte er sich an alle Einzelheiten erinnern. Verzweifelt stützte er den Kopf in beide Hände, seine Gedanken verwirrten sich. Er sah keinen Ausweg mehr aus seiner Lage. Er hatte den Satansbund zerschlagen wollen, und nun war er seinen Feinden in die Falle gegangen. Der Böse selbst stand mit diesen Leuten im Bund. Nicht Penrith mit seinen hypnotischen Fähigkeiten war das Haupt! Mit ihm hätte sich Buller noch auf einen Kampf einlassen können. Aber mit den Mächten der Finsternis… Einen Menschen konnte er täu-
schen. Penrith hatte er die Rolle des senilen Mannes vorspielen können, der Kontakt zu anderen suchte. Nicht aber dem Bösen! Jetzt verstand Buller auch, wieso er trotz seiner Nachforschungen aufgenommen worden war. Es hatte zwei Möglichkeiten gegeben, um ihn daran zu hindern, den Satansbund platzen zu lassen. Entweder hätte man ihn ermorden können, doch das hätte noch mehr Staub aufgewirbelt, und der Bund schien im Moment jede Gewalthandlung zu vermeiden, um seine Feinde nicht aufzuschrecken. Oder man wählte die zweite Möglichkeit, nämlich ihn ebenfalls aufzunehmen und durch die Mächte der Finsternis zum Mittäter zu machen! Die perfekte Falle war zugeschnappt – mit einem einzigen Fehler. Niemand hatte mit dem Tonbandgerät in seiner Jackentasche gerechnet, so daß auch niemand ahnte, daß er Bescheid wußte. »Ich darf keinen Mord begehen«, flüsterte Victor Buller. »Das darf einfach nicht geschehen!« Lieber würde er sich umbringen! Ein Schritt über den Rand der Klippen hinaus, und keine Macht der Erde oder der Hölle konnte ihn mehr zwingen, Inspektor Pratt zu töten! Victor Buller schauderte! So weit durfte es ebenfalls nicht kommen. Es mußte noch einen anderen Ausweg 75 �
geben. Sein Blick fiel auf das Telefon, und plötzlich hatte er eine Idee. Mit fliegenden Fingern wählte er die Nummer der Polizeistation und ließ sich mit Pratt verbinden. »Hier Buller, hören Sie zu Inspektor«, sagte er hastig, als sich Pratt meldete. »Stellen Sie jetzt keine Fragen, es ist lebenswichtig! Für Sie, für mich, für die ganze Stadt!« Er hörte ein erstauntes Schnaufen, sprach jedoch schnell weiter. »Sie müsse unbedingt in Ihrem Büro bleiben. Ich bin in einer Stunde bei Ihnen. Sie haben doch eine Pistole. Sorgen Sie dafür, daß ich allein mit Ihnen sprechen kann und wir nicht gestört werden. Und jetzt passen Sie genau auf, Inspektor! Versprechen Sie mir, daß Sie mir eine Bitte erfüllen!« »Wenn ich kann, gerne«, versicherte Pratt. »Richten. Sie die ganze Zeit, die ich bei Ihnen bin, Ihre entsicherte Pistole auf mich!« stieß der alte Lehrer hervor. »Nein, ich bin nicht verrückt geworden«, kam er einem Einwand zuvor. »Ich weiß sehr gut, was ich sage. Und wenn ich versuche, mich Ihnen zu nähern, auch nur auf Sie zuzugehen, so schießen Sie mich nieder! Haben Sie mich verstanden?« »Verstanden schon, aber…«, setzte der Inspektor an. »Kein aber, Mr. Pratt!« fiel ihm
Buller ins Wort. Auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen. »Ich sagte schon, es ist lebenswichtig!« Er legte auf, ehe Pratt es sich anders überlegen konnte, zog sich hastig an und verließ das Haus… vielleicht für immer. * Nach den Anstrengungen des vergangenen Tages hätte Victor Buller damit gerechnet, sich vor Erschöpfung überhaupt nicht mehr bewegen zu können. Um so mehr staunte er darüber, daß er fast wie ein Junger mit seinem Fahrrad durch die Straßen der einstmals so friedlichen Stadt fuhr. Unterwegs kam ihm ein fürchterlicher Gedanke. Er hatte beschlossen sich dem Inspektor anzuvertrauen und ihm auch die Beweise vorzulegen, die er bisher gesammelt hatte. Viel war es nicht, doch er hoffte, Pratt damit überzeugen zu können. Wenn er jedoch begann, mit der Wahrheit auszupacken, lag es doch nahe, daß ihn der Böse daran hindern würde. Es stand in seiner Macht, den Menschen, der ihm Untertan geworden war, nach Belieben zu lenken und zu zwingen, entweder seine Eröffnungen abzubrechen oder irgendeinen anderen Befehl auszuführen. »Ich darf nicht so viel denken, sonst drehe ich noch durch«, sagte 76 �
Buller zu sich, als er vor der Polizeistation hielt und sein Fahrrad trotz eines Verbotsschildes neben dem Eingang gegen die Mauer lehnte. Eilig fragte er sich nach Inspektor Pratts Büro durch, klopfte an und öffnete die Tür einen Spalt, als der Inspektor ihn von innen zum Eintreten aufforderte. »Sie halten sich nicht an meine Bitte«, sagte Buller, als er den Inspektor mit leeren Händen hinter dem Schreibtisch sitzen sah. Pratt schüttelte den Kopf. »Wenn Sie unbedingt darauf bestehen«, seufzte er, griff in die Schublade seines Schreibtisches und holte eine Pistole hervor. »Zufrieden?« fragte er spöttisch. Wortlos trat Buller ein und setzte sich neben der Tür auf einen Stuhl »Sie schießen sofort, wenn ich Ihnen nahekomme!« erinnerte er den Inspektor noch einmal. Daß Pratt diesen Wunsch niemals erfüllen würde, daran dachte er in seiner Aufregung nicht. Und dann begann er zu erzählen. Er schilderte, wie Bob Wheeler zu ihm gekommen war, wie er von den singenden Stimmen erfahren hatte. »Hören Sie das Tonband ab, das ich Ihnen in einem Umschlag übergab«, verlangte Buller. »Sie können sich überzeugen, daß es stimmt, was ich sage. Von dieser Versammlung ging eine solche magische Kraft aus, daß sie gleichsam wie ein Sen-
der wirkte. Genauer kann ich nicht erklären, wieso Bob die Stimmen in seinem Funkgerät hören konnte.« Inspektor Pratt verfügte über ein Tonbandgerät in seinem Büro, auf dem er das Band spielte. Hatte sich bisher auf seinem Gesicht blanker Unglaube abgezeichnet, so verdüsterte es sich zusehends. Als das Band zu Ende war, hörte er sich weiterhin schweigend an, was ihm der alte Mann erzählte. »Für alle Anwesenden stellte es sich so dar, als wolle Penrith nur etwas verkünden«, kam Buller endlich auf den entscheidenden Punkt zu sprechen. »Was tatsächlich geschah, hören Sie auf diesem Gerät hier, das ich vorsichtshalber bei mir trug.« Damit holte er das Minitonbandgerät aus seiner Tasche und ließ das vorbereitete Band ablaufen. Inspektor Pratt ließ deutlich merken, daß er sich ebenfalls ein genaues Bild davon machen konnte, was sich in dem Haus auf der Klippe abgespielt hatte. Als Penrith seinen Namen nannte und erklärte, Buller müsse den Inspektor ermorden, flackerte Pratts Blick kurz zu seiner Pistole. Nun verstand er das Verlangen des alten Lehrers. »Begreifen Sie jetzt meine Lage, Inspektor?« fragte Victor Buller in flehendem Ton. »Und ob!« nickte Pratt grimmig. »Und ich begreife noch etwas! Näm77 �
lich, wieso Sie mir das alles soeben ungehindert erzählen konnten! Derartige Geheimnisse kann man nur einem Menschen anvertrauen, von dem man genau weiß, daß er nicht mehr lange zu leben hat.« »Sie meinen…«, keuchte Buller entgeistert. »Ja, ich meine, daß Sie in den nächsten Sekunden den Befehl erhalten werden, mich zu töten«, nickte der Inspektor. Seine Stimme schwankte. »Dann schießen Sie mich nieder!« schrie der alte Lehrer gequält auf. »Ich flehe Sie an, lassen Sie mich nicht zum Mörder werden!« Inspektor Pratt warf mit einem wütenden Auflachen die Pistole auf seinen Schreibtisch. »Ich könnte es gar nicht, selbst wenn ich es überhaupt wollte«, sagte er dumpf. »Ich habe die Pistole nicht geladen!« * Wohl selten hatte einen Menschen die Eröffnung, daß er nicht mit seinem sofortigen Tod rechnen konnte, so schwer getroffen wie Victor Buller. Noch während er auf die ungeladene Waffe stierte, fühlte er, wie eine Macht nach ihm griff, wie sich fremde Gedanken in seinen Kopf drängten. Töte! sagte eine innere Stimme. Töte den Inspektor! Der Moment ist
gekommen! Morde! Buller preßte die Hände auf die Ohren, als könne er sich dadurch gegen die Stimme des Bösen schützen. Es war vergebens. Aus weit aufgerissenen Augen sah er, wie der Inspektor besorgt auf ihn zutrat. Auch das noch! Pratt, der es eigentlich mittlerweile besser hätte wissen müssen, wollte ihm noch helfen! Buller wollte schreien, den Inspektor von sich stoßen, doch beides gelang ihm nicht. Wie eine Statue stand er am selben Fleck, bis der Inspektor dicht vor ihm stand. Dann schnellten seine Hände wie von alleine vor, zielten nach dem Hals des Inspektors. Pratt hätte nicht ausweichen können, da dieser Angriff trotz aller Warnungen viel zu plötzlich für ihn kam. Es war Buller selbst, der den Mordversuch unterbrach. Unter Aufbietung all seiner Willenskräfte gelang es ihm, dem inneren Zwang zu widerstehen. Die Stimme in ihm peitschte ihn vorwärts, die Tat auszuführen, aber da er bereits wußte, von wem diese Einflüsterungen kamen und was der Böse damit bezwecken wollte, konnte sich der alte Lehrer erfolgreich dagegen wehren. Langsam sanken seine Hände herunter, bis seine Arme schlaff an seinen Seiten baumelten. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen alten, ausgemergelten Körper. 78 �
»Der Bann ist gebrochen«, keuchte er. »Ich habe das Böse besiegt. Penriths Bann wirkt nicht mehr, ich bin frei.« Inspektor Pratt holte tief Luft. Freude begann sich in seinem Gesicht anzuzeichnen, und er streckte die Hand aus, als wollte er Buller zu seinem Erfolg gratulieren. Doch der alte Mann wich vor ihm zurück. »Verstehen Sie denn nicht, Pratt?« flüsterte er heiser. »Ich habe gesiegt, ich habe den Fluch überwunden, der auf mir lastete. Ich bin frei und muß den Befehlen des Bösen nicht mehr gehorchen.« »Natürlich habe ich das verstanden«, meinte der Inspektor kopfschüttelnd. »Das ist doch wunderbar! Es ist einfach herrlich! Gemeinsam werden wir auch die anderen befreien und…« »Sie verstehen nicht!« schrie Buller auf. »In diesem Moment wissen es alle Mitglieder des Bundes! Ich bin ihr Feind! Ich bin über alles informiert, ich kenne alle ihre Geheimnisse! Sie können, sie dürfen mich gar nicht am Leben lassen!« »Ach so, ja natürlich«, nickte der Inspektor. »Das ist mir selbstverständlich klar. Ich werde Sie beschützen lassen, rund um die Uhr. Meine Leute werden Sie…« »Ihre Leute können mir nicht helfen«, keuchte Buller. »Sie können mich nicht schützen! Vergessen Sie nicht, gegen wen ich kämpfen muß!
Nicht nur gegen Menschen, gegen die Ihre Leute etwas ausrichten können! Diese Menschen sind nur Werkzeuge! Und gegen den, der mein wirklicher Feind ist, gegen den kann mich kein Polizist abschirmen!« Inspektor Pratt machte eine hilflose Geste und wollte etwas Beruhigendes sagen, doch der alte Lehrer wirbelte mit erstaunlicher Schnelligkeit herum. Ehe ihn der Inspektor zurückhalten konnte, war er auf den Gang hinausgelaufen und hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Pratt konnte Buller innerhalb des Gebäudes auch nicht mehr einholen, und als er hinaus auf die Straße lief, bog der ehemalige Lehrer auf seinem Fahrrad bereits um die nächste Straßenecke. Wertvolle Zeit ging verloren, bis sich der Inspektor ein Fahrzeug verschafft hatte, und dann fand er Buller nicht mehr. Der alte Mann, der sein Leben in dieser Stadt verbracht hatte und jeden Weg kannte, hatte es geschafft, den Polizeiwagen abzuschütteln. Zwar erging sofort über Funk der Befehl an alle Polizeifahrzeuge, nach Mr. Buller und seinem Fahrrad Ausschau zu halten, doch die Suche blieb vergebens, auch in seinem Haus war er nicht. Victor Buller war wie vom Erdboden verschwunden. * 79 �
Victor Buller wußte selbst nicht, wieso er sich ausgerechnet den alten Leuchtturm als Versteck ausgesucht hatte. Hier hatte alles angefangen, als er das Tonband von Bob Wheelers Funkstation abgehört hatte. Hier war zum ersten Mal die schneidende Stimme des Meisters an sein Ohr gedrungen, hatte er einen eintönigen, beschwörenden Gesang aus dem Lautsprecher gehört. Hier würden ihn seine Feinde aber auch vermuten, wenn sie ihn in seinem Haus nicht antrafen. Victor Buller hatte sein Fahrrad mit in den Leuchtturm genommen und die Tür von innen verschlossen. Jetzt saß er vor den Funkgeräten seines toten jungen Freundes und starrte ins Leere. Im Grunde genommen war es gleichgültig, wo er sich versteckte. Die Mächte des Bösen würden ihn überall aufspüren. Und helfen konnte ihm niemand, kein Inspektor Pratt, kein anderer! Er war verloren! Tiefe Enttäuschung überkam den alten Lehrer. Er hatte so viel auf sich genommen, um Bobs Tod zu klären und zu rächen. Er war so weit gekommen, hatte praktisch alles herausgefunden. Es war ihm auch geglückt, die Schuldigen für die Todesserie in Lampton zu entlarven. Die Polizei wußte in der Person des Inspektors Bescheid, aber sie konnte nichts tun. Jenen Mitgliedern des
Satansbundes, die bereits gemordet hatten, war nichts nachzuweisen. Allein der Verdacht, den ein alter Mann ausgesprochen hatte, galt nichts vor Gericht. Und die anderen, deren Mordtaten noch bevorstanden, würde niemand an der Ausführung hindern können. Und er selbst, Victor Buller, der den Stein ins Rollen gebracht hatte, er saß hier im alten Leuchtturm und zitterte um sein armseliges Leben. Es war eine fürchterliche Situation, aus der Buller keinen Ausweg mehr wußte. Stunde um Stunde verrann. Der alte Mann rührte sich nicht vom Fleck, er saß in Bobs Drehstuhl und starrte auf die Anzeigetafeln der Geräte, als wäre sein Geist bereits erloschen. Er fühlte keinen Hunger, keinen Durst, keine Müdigkeit. Er merkte überhaupt nicht, wie die Zeit verging. Er begriff nicht, daß sich der Tag, an dessen Morgen er mit Inspektor Pratt gesprochen hatte, seinem Ende zuneigte. Die Schatten wurde länger, Dunkelheit nistete sich im Leuchtturm ein. Es würde nur mehr eine halbe Stunde dauern, bis man die Hand nicht mehr vor den Augen erkennen konnte. Da passierte es! Draußen vor dem Turm löste sich ein Stein, kollerte ein Stück und fiel dann in die Tiefe, wobei er mehr80 �
mals von Felsvorsprüngen abprallte. Dieser eine Laut gab Victor Buller augenblicklich seine frühere Spannkraft wieder. Er wußte, was dieses Geräusch bedeutete. Sein Mörder war gekommen! Angesichts der Gefahr, die so unmittelbar bevorstand, fiel die Apathie von ihm ab. Plötzlich erkannte er, wie sehr er an diesem Leben hing und daß er sich noch lange nicht geschlagen gab. Lautlos huschte er an eines der Fenster und spähte in die hereinbrechende Dämmerung. Soweit sein Gesichtskreis reichte, konnte er niemanden sehen – dafür aber hören. Jemand machte sich an der Eisentür zu schaffen. Buller hielt den Atem an. Er hatte nicht nur von innen zugesperrt, sondern auch noch zusätzlich einen Riegel vorgeschoben. Wenn der Mörder nicht über besonderes Werkzeug verfügte, kam er auf diese Weise nicht in den Turm. Fenster gab es ebenerdig keine, nur hier oben an der Spitze. Das Kratzen an der Tür verstummte nach einer Weile. Vermutlich hatte der Mörder festgestellt, daß er hier keine Chance hatte. Buller fühlte sich aber noch lange nicht sicher. Er glaubte nicht, daß seine Feinde so schnell aufgeben würden. Er sollte sich nicht getäuscht haben. Draußen war es heller als hier drinnen im Turm, weshalb er
den Mann sehen konnte, der Mann ihn jedoch nicht bemerkte. Es war Mr. Carlisle, der Besitzer der Werkstatt, der für diesen Mord ausersehen worden war. Für Sekundenbruchteile konnte Victor Buller ganz deutlich sein Gesicht sehen. Haßerfüllt starrte Carlisle herauf zu den Fenstern, dann näherte er sich dem Leuchtturm wieder so weit, daß er aus Bullers Gesichtswinkel verschwand. Geräuschlos drückte der alte Lehrer das Fenster einen Zoll breit auf. Deutlich hörte er ein Kratzen und Schaben an der Außenwand, das er sich anfangs nicht erklären konnte, dann aber um so deutlicher verstand. Der Leuchtturm besaß einen Blitzableiter, dessen starkes Kabel an der Außenwand hinunterlief und im Felsen verschwand. An diesem Kabel kletterte der Mörder hoch. Hastig suchte Buller nach einem Gegenstand, den er in einem Kampf als Waffe verwenden konnte. Endlich fand er in einem Schrank eine schweren Schraubenschlüssel, den er in der Hand wog. Er kehrte an das Fenster zurück. Keine Sekunde zu früh! Schon tauchte der Kopf Carlisles am unteren Rand des Fensters auf, erst nur die Haare. In das Innere des Leuchtturms konnte der Mörder noch nicht blicken. Buller hob die Hand, um dem 81 �
Schraubenschlüssel im Notfall Schwung verleihen zu können. Dann stutzte er. Carlisle kletterte nicht höher. Statt dessen ertönte ein Laut, eine Mischung aus Stöhnen und Keuchen. Noch ehe Buller begriff, daß dem Mörder die Kraft ausgegangen war und er sich nicht mehr an dem Stahlseil des Blitzableiters halten konnte, ertönte ein gräßlicher Schrei, ausgestoßen in höchster Todesangst. Der alte Lehrer sprang ans Fenster und riß es auf. Carlisles Körper prallte soeben auf die Klippe, wurde weggeschleudert und sauste in die Tiefe. Erst das Meer hielt seinen Fall auf. * Auch knapp vor Mitternacht hielt Inspektor Pratt seinen Befehl noch aufrecht, Ausschau nach Mr. Buller zu halten und ihn sofort auf die Polizeistation zu schaffen. Jeder Polizist in Lampton kannte den alten Lehrer persönlich, so daß es an ein Wunder grenzte, daß Victor Buller mit seinem Fahrrad, vom Leuchtturm kommend, die Stadt durchqueren konnte, ohne entdeckt zu werden. Buller, der keine Ahnung hatte, wie fieberhaft die Polizei nach ihm suchte, hatte sich dazu entschlossen, sein Versteck im Leuchtturm aufzugeben, nachdem er eine alte Radioröhre ausgebaut hatte. Es war kein
sicheres Versteck, weil die Mitglieder des Geheimbundes längst wußten, wo er sich aufhielt. Wenn Carlisle nicht bald von seinem Mordunternehmen zurückkehrte, würde Mr. Penrith einen anderen ausschicken. Kein Mitglied des Bundes der singenden Stimmen würde zögern, Buller zu ermorden, so daß die Chancen des alten Lehrer gleich null waren – mit einer Ausnahme. Er war sicher, daß die Macht Satans über die Angehörigen des Bundes erlosch, wenn Mr. Penrith ausgeschaltet und unschädlich gemacht worden war. Penrith, der Meister, diente als Vermittler zwischen dem Bösen und seinen Sklaven. Mr. Penrith war also der Grund, warum Victor Buller wieder einmal auf seinem Fahrrad die Küstenstraße zu dem ehemaligen Herrenhaus entlangrollte. Diesmal fuhr er nicht bis ganz an das Gebäude heran, sondern versteckte schon eine halbe Meile früher sein Rad hinter einem Felsblock. Das restliche Stück legte er zu Fuß zurück, wobei er genau darauf achtete, den Wind stets ins Gesicht zu bekommen, damit ihn die Hunde nicht wittern konnten. Tatschlich gelang es ihm, sich unbemerkt dem Haus zu nähern. Jetzt war sein Problem, wie er in das Gebäude hineingelangen konnte. Er war überzeugt, daß die Satansbeschwörungen in einem Kel82 �
ler stattfanden. Praktisch jeder Keller verfügte über eine Luke, durch die Kartoffeln oder Kohlen eingelagert werden konnten. Die Fenster und Türen schieden aus, blieb also nur diese Luke. Wenn Buller nur ein wenig Glück hatte, konnte er auf diese Weise eindringen. Er schien tatsächlich Glück zu haben, denn die Luke war vorhanden, und sie lag auf einer Seite des Hauses, die von den Hunden nicht bewacht wurde. Soeben bückte sich der alte Mann, um die Klapptür zu untersuchen, die den Einstieg verschloß, als er neben sich ein Geräusch hörte. Sein Kopf ruckte herum. Zuerst sah er nur Hosenbeine, doch als er den Kopf in den Nacken legte, blickte er in das höhnisch grinsende Gesicht von Mr. Penrith. »Sinnlos, Mr. Buller«, zischte der Meister triumphierend. »Sie hätten gleich aufgeben sollen. Dem Bösen entkommen Sie nicht.« * Auf einen scharfen Befehl Penrith stürzten sich von allen Seiten Gestalten auf den alten Lehrer, packten ihn und zerrten ihn hoch. Es waren die Mitglieder des. Satansbundes, die alle unter Trance standen. In diesem Zustand gehorchten sie nur den Befehlen des – Höllenfürsten, die ihnen dieser durch den Mund des
Meisters übermittelte. Sie wollten den wehrlosen Alten soeben ins Haus schleifen, als einige grelle Scheinwerfer aufflammten und das Gebäude taghell erleuchteten. »Ergeben Sie sich!« donnerte eine mächtige Stimme aus einem Lautsprecher herüber. »Hier spricht die Polizei! Das Haus ist umstellt! Widerstand ist zwecklos!« »Inspektor Pratt«, flüsterte Buller, neue Hoffnung schöpfend. Natürlich, er hatte dem Inspektor ja auch die Rolle dieses Hauses und Mr. Penriths erklärt. Es war nur selbstverständlich, daß der Inspektor das ehemalige Herrenhaus unter Bewachung hielt. »Weiter! Bringt ihn hinunter!« schrie Penrith mit sich überschlagender Stimme. Aus den Augenwinkeln heraus sah Buller heranstürmende Victor Gestalten, doch die Polizisten prallten gegen ein unsichtbares Hindernis. Sie konnten sich dem Haus nicht weiter als zehn Schritte nähern. »Satan«, flüsterte Buller mit blutleeren Lippen. Es war vorbei! Gegen diese Macht war die Polizei zu schwach, und auch er als einzelner konnte nichts ausrichten. Drinnen im Haus durchsuchten sie ihn nach Waffen, fanden jedoch keine. Die alte Radioröhre, die er aus Bobs Funkstation ausgebaut hatte, beachteten sie nicht. 83 �
»In den Keller!« lautete Penriths nächster Befehl. Von draußen drangen gedämpft die Rufe der Polizisten herein, die von der unsichtbaren Barriere aufgehalten wurden. Die Mitglieder des Satanskultes zerrten Buller unsanft die Treppe hinunter, durch die Geheimtür und in das Gewölbe. Der Altartisch strahlte ein unheimliches, rotes Glühen aus, das Gewölbe war von einem singenden Ton erfüllt. »Der Große Meister wird selbst erscheinen und das Urteil an diesem Verräter vollstrecken!« verkündete Penrith mit dröhnender Stimme. »Verneigt euch vor dem Großen Meister, der euch die Kraft verleiht, die Menschen zu beherrschen!« Alle senkten ihre Köpfe, während sich auf dem glühenden Altartisch schwarze Wolken bildeten, die sich verdichteten und einen Körper zu formen begannen. Mit maßlosem Grauen erkannte Victor Buller, daß der Leibhaftige sich seinen Anhängern zeigen wollte! Doch bei allem Entsetzen verlor der alte Lehrer nicht den Kopf. Seine Hand tauchte in die Tasche seines Sakkos. Sie hatten nicht erkannt, daß er doch eine Waffe mitgebracht hatte, eine Waffe, mit der er zwar niemanden verletzen oder gar töten konnte, mit der er jedoch den Bann zu brechen hoffte. Nur
durch Penriths hypnotische Fähigkeiten war es dem Bösen überhaupt erst möglich geworden, Besitz von den Männern in diesem Gewölbe zu ergreifen. Brach der hypnotische Bann, verlor auch der Böse seinen Einfluß. Buller riß die alte Radioröhre aus der Tasche. Mit einem harten Schwung schleuderte er sie zu Boden, wo sie unter einem schußähnlichen Knall explodierte, als die Luft in das in ihrem Inneren existierende Vakuum stürzte. Die Wände des Gewölbes warfen den Knall verstärkt zurück. Die Versammelten zuckten erschrocken zusammen, richteten sich aus ihrer demütigen Haltung auf und starrten fassungslos um sich. Wirre Fragen schwirrten durcheinander, einige schrieen um Hilfe, andere brüllten auf Penrith ein. Der Bann war gebrochen! Das Glühen des Altartisches erlosch schlagartig, die aus Rauch und Qualm geformte Gestalt löste sich in Nichts auf. Penrith, der Meister, wich mit schreckgeweiteten Augen zurück an die äußerste Wand. Er wußte bereits, was nun folgen mußte. Ein harter Stoß erschütterte den Boden. In den Wänden bildeten sich Risse, Steine brachen aus der Decke. »Die Höhle stürzt ein!« schrie Victor Buller. »Alle raus hier!« Er hätte diesen Befehl nicht erst zu 84 �
geben brauchen. Alle drängten zur Treppe, hasteten nach oben. Buller bildete den Abschluß. Doch als er noch einen Blick zurückwarf, erkannte er erschrocken, daß nicht nur Mr. Penrith zurückgeblieben war, sondern noch zwei Männer. Mr. Talbot und Mr. Jenner, die beiden Mitglieder des Bundes, die bereits im Auftrag des Bösen gemordet hatten, lagen regungslos zu Penriths Füßen. Todesangst stand in ihren Gesichtern, doch sie konnten sich nicht mehr befreien. Zu eng waren sie bereits mit dem Bösen verstrickt. Victor Buller wollte zurücklaufen, um die beiden vielleicht doch noch herausholen zu können, doch in dieser Sekunde stürzte die Decke des Gewölbes herunter. Er wurde von einer Staubwolke eingehüllt, rang hustend nach Luft, wurde von Händen gepackt, nach oben gezerrt. Die nächsten Minuten erlebte er wie im Traum. Die anderen schleppten ihn hinauf ins Haus und anschließend ins Freie. Die Polizisten hatten die unsichtbare Barriere in dem Moment überwinden können, in dem der alte Lehrer den Bann gebrochen hatte. Überall um sie herum krachte und donnerte es. Buller sah, wie Polizisten den Hundezwinger öffneten und die Tiere in panischer Angst ins Landesinnere flohen. Inspektor Pratt war plötzlich an seiner Seite, riß ihn
mit sich. Die überlebenden Mitglieder des Satansbundes, die für immer aus den Klauen des Bösen gerettet waren liefen um ihr Leben, ebenso die Polizisten. Erst als sie die ein großes Stück von der Klippe entfernt aufgestellten Scheinwerfer erreichten, blieben sie keuchend stehen. Von Inspektor Pratt gestützt, beobachtete Victor Buller fassungslos vor Entsetzen, wie das Herrenhaus wankte, wie der Boden nachgab. »Die ganze Klippe bricht ab!« stöhnte einer der Männer. So war es. Das Haus mit dem umliegenden Felsen verschwand schlagartig in der Tiefe, von einem leichten Erdbeben begleitet. In das Donnern der abstürzenden Felsen mischte sich das Tosen des Meeres. Eine weiße Staubwolke stieg in den nächtlichen Himmel. Dann war es wieder ruhig. Die Überlebenden schauten einander aus schreckensbleichen Gesichtern in die Augen. Ihre Blicke sagten mehr als Worte. Sie alle waren Sklaven des Bösen gewesen, hatten dem Kult der singenden Stimmen angehört. Doch sie alle waren durch einen Mann gerettet worden, der stumm jeden Dank ablehnte. Inspektor Pratt führte Victor Buller zu seinem Dienstwagen, lud das alte Fahrrad auf das Dach und brachte den ehemaligen Lehrer zu seinem 85 �
Haus. »Was werden Sie jetzt machen, Mr. Buller?« fragte der Inspektor. Der alte Lehrer drehte sich an der
Haustür noch einmal um. »Rosen züchten, Inspektor, wie es sich für einen alten Mann wie mich gehört«, sagte er und schloß die Haustür auf.
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