Atlan Das große SF-Abenteuer Nr. 763
Der letzte Ligride Ein Planet zeigt sein wahres Gesicht
von Hans Kneifel
Zur J...
7 downloads
317 Views
338KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan Das große SF-Abenteuer Nr. 763
Der letzte Ligride Ein Planet zeigt sein wahres Gesicht
von Hans Kneifel
Zur Jahreswende 3819/20 beginnt sich die Machtkonstellation in der Galaxis Manam-Turu drastisch zu verändern. Atlans Hauptgegner, der Erleuchtete, ist nicht mehr. Auch wenn Atlans größter Gegner nicht mehr existiert, die Lage in Manam-Turu ist deswegen noch lange nicht bereinigt. EVOLO ist im Frühjahr 3820 bereits stärker, als der Erleuchtete es jemals war. Und das mächtige Psi-Geschöpf macht alle Anstalten, in die Fußstapfen seines Schöpfers zu treten. Welche Gefahr für Manam-Turu EVOLO darstellt, hat sein Wirken auf der Welt der Kaytaber, die zu EVOLOS Stützpunkt geworden ist, deutlich bewiesen. Und auch die Rawanorer haben inzwischen mit EVOLOS Möglichkeiten und Machtmitteln unliebsame Erfahrungen gemacht. Wie aber verhält sich das sogenannte zweite Konzil nach dem Tod des Erleuchteten? Wir wissen bereits, daß die Partnerschaft zwischen Hyptons und Ligriden durch Mißtrauen getrübt ist, und daß die Ligriden ihre Partner verdächtigen, falsches Spiel mit ihnen zu treiben. Die Expedition zur Kleingalaxis Bennerton soll die Beweise für diesen Verdacht erbringen. Die Geschehnisse dort entscheiden das künftige Schicksal der Ligriden. Hoonrust berichtet über das Geschehen – er ist DER LETZTE LIGRIDE…
Die Hauptpersonen des Romans: Hoonrust – Kommandant einer Expedition der Ligriden. Baztak, Zione, Teshar und Nakida – Vier von 40 Teilnehmern der Ligriden-Expedition. Inua – Eine Schläferin wird geweckt. Fartuloon – Der Caluner auf Beobachtungsposten.
1. Falcamir, Diener des Gward, gab mir sein Vertrauen. Ich bin für die Expedition und ihr Gelingen verantwortlich. Für fünf wertvolle Fernraumschiffe und vierzig Ligriden. Ich, Hoonrust, Diener des Gward. Vor meinen Augen breitet sich die Galaxis ohne Namen aus. Eine seltsam leblose, unattraktive Ansammlung vieler Sonnen. Sie stehen mit auffallend großen Abständen voneinander in der Schwärze des intergalaktischen Raumes. Es ist einwandfrei unser Ziel. Alle spärlichen Informationen lassen, selbst nach mehrfacher, strenger Prüfung, keinen anderen Schluß zu. Auch diese Beobachtung ist Grund für meine Skepsis. Wir haben bis zum heutigen Tag neun Millionen Lichtjahre zurückgelegt. BASTION Zwei liegt fast jenseits der Erinnerung. Wir sind völlig auf uns gestellt. Das riesige Panorama, in dessen Mitte sich fünf Schiffe wie Pfeile hineinbohren, zeigt alle Charakteristika einer kleinen, spiralförmigen Galaxis. Baztak, Diener des Gward, hat vor wenigen Stunden den Großen Durchmesser ermittelt: fünfunddreißigtausend Lichtjahre. Dem Bild auf dem farbigen Bildschirm vor mir, bestechend plastisch und scharf, fehlen Schimmer und Leuchtkraft. Es liegt nicht an der ligridischen Technik – es ist diese Sternansammlung. Befremdlich und merkwürdig – und von keinerlei sachlichen Argumenten gestützt. Es ist nur unser Gefühl. Zwar fehlt ein deutlich ausgeprägter Zentrumskern, aber auch dieser Umstand sagt nichts über den vermuteten Charakter der Kleingalaxis aus. Ich sehe keine Dunkelwolken mit leuchtenden Rändern, keine Filamente, kein rätselhaftes Glühen, keine feststellbaren Ausblicke von der Art, wie sie jeden Raumfahrer faszinieren. In meinem ganzen Leben habe ich eine solche Menge Ereignislosigkeit auf einem Fleck noch nicht gesehen. Eine leblose, noch namenlose Galaxis, von Manam-Turu neun Komma sieben und von unserer Heimatgalaxis Enterny knapp neunzehn Millionen Lichtjahre entfernt. Mit der CANTRISS voran werden wir versuchen, unseren geheimen Auftrag zu erfüllen. Es ist kein einziger Diener des Gwyn unter uns. Auch unsere Partner, die Hyptons, wissen nichts von der Expedition. Sie dürfen nichts davon erfahren. * Hoonrust zog die Kapuze enger um den Kopf, stieß ein langes Gähnen aus und lehnte sich an den breiten Rahmen des Druckschotts. »Der dreiunddreißigste Tag!« sagte er in einem Tonfall, der erkennen ließ, daß er keinen Wert auf formale Umgangsformen legte. Er ließ den Blick seiner Augen über die Bildschirme und Instrumente der Zentrale gleiten. »Welche wichtigen Neuigkeiten gibt es?« Der Pulk der Raumschiffe raste auf das Zentrum der Galaxis zu. Noch immer fand sich nicht der geringste Hinweis darauf, daß sie bewohnt war, und daß Schiffe hin und her flogen oder Funksprüche gewechselt wurden. »Keine, Kommandant Hoonrust«, gab Baztak zurück. »Der Weltraum ist von einer bemerkenswerten Leere.«
Mit etwas weniger als Lichtgeschwindigkeit trieben die Raumschiffe in einer losen Gruppe scheinbar auf den Mittelpunkt der Galaxis zu. Zione lag, scheinbar entspannt, im Sessel des Stellvertretenden Kommandanten und sagte nichts. Aber sie hob die schlanken Finger und winkte Hoonrust zu. »Ich schlage vor«, brummte Hoonrust und gähnte ein zweites Mal, »daß wir eine ausgiebige Frühstückspause machen und dann einen Linearkurs programmieren…« »Der uns näher zwischen die langweiligen Sterne hineinbringt?« »Das ist meine Absicht.« Baztak, Navigator und Ortungsspezialist der CANTRISS, einer von nur acht Ligriden in diesem Schiff, tastete mit dem Zeigefinger leicht über die mit Schiffsnamen kodierten Schaltfelder. ECUYER, MARDOZA, GHAZI und KHALACK. Eine Sekunde später bauten sich Bilder auf vier Stereomonitoren auf. Die Wachhabenden in den Zentralen der Schiffe hörten zu, was der Chef zu sagen hatte. Obwohl die Zeit drängte, war es sinnlos und gefährlich, die Eile zu übertreiben. Der letzte Stützpunkt der Ligriden lag derart weit hinter ihnen, daß jeder in dieser Expeditionsmannschaft nur ein Ziel vor Augen hatte: den Auftrag erledigen und lebend dorthin zurückzukommen. »Verstanden. Wir erwarten dann die Überspielung der Koordinaten«, kam es von den anderen Schiffen zurück. »Macht ruhig Vorschläge«, ermunterte Baztak seine Kollegen. »Auch gut.« Von vergleichbar harmlosen Ausfällen abgesehen, hatte es bisher keine größeren Probleme gegeben. Mannschaft und Schiffe befanden sich in gleich gutem Zustand. Selbst wenn vier Schiffe verlorengingen, hatte sich Hoonrust schon bei der Planung überlegt, konnten die vierzig Frauen und Männer im fünften, letzten Schiff zurückgebracht werden. Aber an die Möglichkeit eines solchen Endes der Fernexpedition dachte Hoonrust nur in wenigen dunklen Minuten – etwa wenn er allein in der Zentrale saß und das Schiff kontrollierte. Von einem dritten Konzilsvolk waren bisher nicht einmal vage Spuren entdeckt worden. Nicht einmal ein Raumschiff, das die fast zehn Millionen Lichtjahre zwischen Manam-Turu und dieser Spirale aus namenlosen Lichtpünktchen zu überwinden wagte. * Vier Besatzungsmitglieder schliefen, vier gingen Wache. Bisher war keine andere Einteilung notwendig gewesen. Hoonrust traf sich mit Baztak, Zione und Cavitar in der kleinen Messe des Schiffes. Die Räume für die Besatzungsmitglieder waren, verglichen mit Antrieb und Technik, winzig klein. Die CANTRISS war einer der modernsten Fernraumkreuzer; schnell, wendig und nicht allzu stark bewaffnet. »Es ist undenkbar«, meinte Baztak halblaut und legte seine Finger, als fröstle es ihn, um die heiße Wandung des Bechers, »daß diese Galaxis unbewohnt sein könnte. Das widerspricht jeder Erfahrung.« Zione formte ihre schmalen Lippen zu einem Lächeln. »Sollten wir hier das gesuchte dritte Konzilsvolk finden, wird es nicht gerade durch Macht und Herrlichkeit glänzen. Jetzt hab’ ich es! Es ist eine schäbige Galaxis.« »Deine Bemerkung wird eine Kapitelüberschrift unseres Bordbuchs werden!« versprach Hoonrust.
Nachdem die Besatzungen und Kommandanten der Schiffe von dem Ziel verständigt worden waren, hatte Hoonrust sich zum zweitenmal über Tradition und religiöse Vorschriften hinweggesetzt. Er sagte sich, daß ein außergewöhnliches Vorhaben auch ungewöhnliche Maßnahmen rechtfertigte. In den Augen der Hyptons, der Partner der Eroberung, waren sie Verräter. Gegenüber sämtlichen Dienern des Gwyn hatten sich die Gward über alle Traditionen hinweggesetzt und konnten sich, sozusagen, als Ausgestoßene betrachten. Also brauchten sie, wenn sie nicht wollten, die Vorschriften des ligridischen Verhaltenskodex auch nicht mehr in jeder rituellen Einzelheit zu befolgen. An seiner Autorität, wußte Hoonrust, zweifelte keiner. Alle, Frauen wie Männer, waren die Besten aus einer sorgsam ausgesiebten Gruppe. »Früher oder später werden wir natürlich auf Leben stoßen«, meinte Cavitar nach einer Weile. Die Bordverpflegung war reichlich, wohlschmeckend und würde ohne Schwierigkeiten noch mehrere Monate nicht ersetzt oder ergänzt werden müssen. »Es ist ohnehin ein Kunststück«, erklärte Hoonrust, »daß die wenigen Hinweise, meist aus der gemeinsamen Vergangenheit zwischen Hyptons und uns, gereicht haben.« »Nun ist es ausnehmend schwierig«, brummte der Navigator, »im leeren Raum zwischen den Milchstraßen eine ganze Galaxis zu finden.« »Keinen Sarkasmus«, unterbrach Zione. »Auch andere Ziele wären denkbar gewesen.« »Vieles ist denkbar.« Die Spannung an Bord nahm unzweifelhaft zu. Nach dem langen, ereignislosen Flug gab es hier wenigstens die ersten Gedanken an Sonnen und Planeten, an fremdes oder, was unwahrscheinlich war, bekanntes Leben. In kurzer Zeit würden die Schiffe innerhalb der Spiralgalaxis eingetroffen sein, und dann konnten sie in verschiedenen Bezirken mit der wirklichen Suche anfangen. Hoonrust hatte aus den Speichern des Bordcomputers leise Musik in die Zentrale und die Messe geschaltet. Er zapfte sich einen weiteren Becher des aufmunternden Getränks und kehrte an den Tisch zurück. »Wir sollten uns bei den bevorstehenden Suchmanövern nicht allzusehr voneinander entfernen. Ich mißtraue diesen Sonnen.« Er deutete in Richtung auf die Zentrale. »Machen wir uns jetzt keine Sorgen«, schaltete sich Baztak beschwichtigend ein. »An Ort und Stelle können wir uns noch immer aufregen.« »Ich denke genauso darüber!« stimmte ihm der Chef zu. »In zehn Minuten machen wir weiter, Freunde!« Zione und Baztak würden sich ablösen lassen. Während der nächsten Flugphase überwachte also Hoonrust jede einzelne Aktivität. Er rechnete damit, daß viel Langeweile und schwierige Stunden des Suchens und Ortens vor ihnen lagen. Schnelle Erkenntnisse erwartete er keinesfalls. Die ligridischen Ortungsspezialisten hatten die riesige, offene Mehrfachspirale der Milchstraße kartographiert. Über die dreidimensionale Fläche aus Schwärze und Lichtpunkten war ein Gitternetz gelegt worden, das die Computer ebenfalls dreidimensional erweiterten. Die Milchstraße ohne Namen bestand zur Erleichterung jeder Astrogation und Ortsbestimmung aus einem riesigen System aneinandergereihter, übereinander geschachtelter Kuben. Die Kommandanten einigten sich darauf, in einer besonders sonnenreichen Region die Eckpunkte eines solchen Würfels von dreißig Lichtjahren Kantenlänge anzusteuern. Hintereinander verschwanden die Fernraumschiffe und führten eine Linearetappe durch.
2. Hoonrust stützte seinen Kopf schwer auf die Handflächen und sagte, halb zur Seite gewandt: »Abbremsen, Nakida.« »Verstanden. Bleibt das Ziel unverändert?« »Vorläufig keine anderen Befehle.« Schweigend studierte Hoonrust die Verteilung der Sonnen auf den normaloptischen Bildschirmen. Die CANTRISS raste auf einen gelblichweiß strahlenden Stern zu. Das dunkle Summen der Schiffsmaschinen und der Triebwerke veränderte sich. Leichte Vibrationen durchliefen den langgestreckten Schiffskörper. Die CANTRISS befand sich jetzt im äußersten Gebiet der Galaxis. Hinter dem Schiff war leerer Weltraum, durchsetzt von einer Handvoll einzelner Sonnen. Vor dem Schiff erstreckte sich der Mittelpunkt der Milchstraße ohne Namen. Nakida arbeitete an den Ortungsschirmen und führte ihre Vergrößerungsschaltungen durch. Unaufhörlich drehten sich die Empfangsantennen und bestrichen sämtliche Richtungen. Hoonrust wunderte sich noch immer über das Fehlen einer deutlich unterscheidbaren Kernstruktur und hörte mit halbem Ohr, wie sich die anderen Schiffe von ihren Zielorten meldeten. Die ECUYER schickte sich an, in den Orbit um eine rote Riesensonne einzuschwenken. Sie meldete sich als letztes Schiff. Einige Minuten später rief Nakida mit unterdrückter Stimme: »Ortungsechos, Kommandant! Ganz klar und deutlich.« Hoonrust wurde aus seiner Nachdenklichkeit gerissen, schaute auf und fragte: »Wo?« In derselben Sekunde meldete sich die Zentrale der GHAZI. Dort hatte man dieselbe Beobachtung gemacht. Auf den ersten Blick sah der Kommandant auf dem Monitor der Fernortung zwei winzige Echos. Sie kamen aus dem Innern der Sterneninsel, abseits des rechnerischen Mittelpunkts der Galaxis. »Zentrale der ECUYER!« rief er ins Mikrophon der Hyperfunkanlage. »Konzentriert euch auf die Echos! Versucht, Start und Ziel festzustellen. Sagt es den anderen.« »Verstanden, Diener des Gward.« »Ich habe den Bordcomputer dazugeschaltet«, sagte Nakida halblaut. »Wir werden es schon herausfinden.« Die Antennen richteten sich ein. Kurze Funksprüche gingen zwischen den Schiffszentralen hin und her. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, zeichneten sich auf den Ortungsanlagen die wandernden Echos ab. Zusammen mit den Eigenbewegungen der Ligridenschiffe und den festen Ortungspunkten der fremden Sonnen waren Teile der wirklichen Flugbahn zu berechnen. Dies geschah aus unterschiedlichen Winkeln und unterschiedlichen Entfernungen. Die Schiffssender tauschten Ströme von Daten miteinander aus, und schließlich gab es zwischen dem rechnerischen Modell der Sterne eine Gerade. Sie führte aus der Ebene der Milchstraße hinaus. Der Expeditionsleiter und die Ortungstechnikerin schauten sich aus weit offenen Augen an. »Versuchen wir, herauszufinden, wohin unsere unbekannten Freunde fliegen«, ordnete Hoonrust an. »Unbekanntes Ziel?«
»Ich bin ziemlich sicher«, erklärte Hoonrust, zog die Tastatur des Rechners zu sich heran und programmierte ein räumliches Bild der vier bekannten Punkte, deren Anordnung zueinander ebenfalls darstellbar war: Manam-Turu, Chmazy-Pzan, die Heimatgalaxis Enterny und die namenlose Sterneninsel. Er verlängerte die Gerade und sah, daß sie weder nach Manam-Turu noch Chmazy-Pzan deutete. »Aber auch nicht genau nach Enterny«, sagte Nakida nach einiger Zeit. »Immerhin stimmt die Richtung wenigstens grob.« Auf dem Bildschirm, in dreidimensionaler Wiedergabe und in verschiedenen Kennfarben, begann der Rechner die Symbole zu drehen und über zwei Achsen zu verkanten. Hoonrust tippte einige Kodebefehle, und aus der Geraden wurde ein Spitzkegel, in dessen Ausdehnungsbereich das Symbol von Enterny eingefangen wurde. »Noch ein Rätsel«, stellte Hoonrust fest. »Aber in diesem Fall eines, das wenig Fragen aufgibt. Wir nehmen an, daß zwischen einem Planeten hier und unserer Heimatgalaxis Schiffe verkehren.« »Eine logische Folgerung.« Die Echos der Schiffe blinkten zweimal und verschwanden. Die Objekte hatten den Linearsprung eingeleitet. Hoonrust zweifelte nicht daran, daß die Mannschaften seiner anderen Schiffe zu identischen Ergebnissen und Überlegungen kommen würden. Ohne große Erregung sagte er: »Immerhin kennen wir, kurz nach der Ankunft, bereis unser erstes Ziel. Ich werde anordnen, daß wir in das Gebiet fliegen, von dem aus die Schiffe gestartet sind. Vielleicht schicken jene Unbekannten noch ein paar Schiffe los.« »Oder wir erwischen eines, das gerade im Landeanflug ist oder in der Schlußphase des Fernflugs.« »Ja, du hast recht«, meinte Hoonrust nachdenklich. »Wir haben keine Beweise, aber es könnte sich bei den beiden Schiffen um Fernflug-Raumschiffe handeln. Die Route: zwischen Namenlos und unserer fernen Heimat.« »Ich denke es auch, aber es ist keine zwingende Folgerung.« Hoonrust nahm jedoch fest an, daß die Schiffe die Strecke zwischen Namenlos und Enterny in Angriff nahmen. Er schaltete sich in die Hyperfunkgespräche ein. Auf den anderen Ortungsschirmen und den Monitoren der Rechner standen mehr oder weniger dieselben Werte. »Anordnung des Kommandanten«, erklärte Hoonrust schließlich. »Unsere nächste Linearetappe führt uns genau dorthin, wo wir die Echos zuerst aufgefangen haben. Natürlich unterschiedliche Zielpunkte. Und dort fangen wir wieder von vorn mit der Suche an. Die Piloten stimmen die Ziele untereinander ab.« »Wir hätten wetten können, Hoonrust, daß du genau diesen Befehl geben würdest.« »Es war ja auch naheliegend«, sagte er. * Bisher hatte der Vertraute von EVOLO keinen Grund gehabt, über seinen Auftrag oder besser über seine Position an Bord nachzudenken. Der Ableger hatte einen klar definierten Auftrag. Nach dem Start waren das Bewußtsein seiner
Bedeutung und seine Identität aktiviert worden. EVOLO würde erfahren, nach der Rückkehr nach Manam-Turu, was sich während der Expedition abgespielt hatte. EVOLO würde alles erfahren. Natürlich wußte niemand vom Ableger EVOLOS, der völlig selbständig handeln konnte. Bis vor kurzer Zeit hatte er es selbst nicht geahnt. Eine zusätzliche Komponente war, daß dieses selbständige Bruchstück in der Lage war, verborgene Zusammenhänge auf psionischer Basis zu durchschauen und zu analysieren. Das bedeutete, daß grundsätzlich die Schlagkraft der Expedition wuchs. EVOLOS Interessen und die der Ligriden waren identisch. Hoonrust hatte das Ziel, eventuell das dritte Konzilsvolk zu entdecken – hier war es nicht anders. Aber die Informationen, die letzten Endes nur EVOLO erhalten würde, gab es noch nicht. Dennoch war dieser Ableger EVOLOS ein vollwertiges Mitglied der ligridischen Besatzung. Es gab noch einen zweiten, neu aktivierten Quasimutanten. * Hoonrust musterte sein Gegenüber auf dem Schirm, Kommandant Teshar von der KHALACK. Jeder von ihnen saß allein in der Zentrale, und nach dem Linearmanöver befanden sich die Schiffe in einer Entfernung, die unterlichtschnellen Sichtfunk gestattete. »Ich bin skeptisch«, meinte Teshar. »Natürlich werden wir hier interessante Beobachtungen machen. Aber das dritte Konzilsvolk…?« »Ich mache mir deswegen jetzt noch keine Sorgen«, erklärte Hoonrust. »Was wir finden, untersuchen wir. Das dritte Volk wird nicht gerade winken und uns die reine Wahrheit berichten. Falls wir Hyptons sehen, ändert sich der Umstand.« Für die Ligriden, besonders die Diener des Gward mit ihrer philosophisch und künstlerisch gefärbten, sozusagen sanften Sicht der gemeinsamen Religion, war der Verrat der Hyptons ein schwerer Schock. Bisher hatten nur die mental stabilsten Gward mehr als eine Ahnung dieser Tatsache. Partnerschaft und Freundschaft bedeuteten ihnen viel; mehr als den Dienern des Gwyn. Bei Verrat reagierten sie ebenso überempfindlich wie bei dem möglichen Gesichtsverlust durch die Zurschaustellung des nackten Schädels. »Ich glaube, ich werde deine Sicht der Probleme übernehmen, Hoonrust«, sagte Teshar nachdenklich. »Gehen wir pragmatisch und schrittweise vor. Wie ein Gwyn.« »Es erspart Aufregung und verhindert Enttäuschung. Ich fürchte, wir werden unsere Kräfte noch brauchen.« »Spätestens dann, wenn wir abermals fast zehn Millionen Lichtjahre zurückfliegen müssen.« »Allerdings. Bei dir alles ruhig?« »Die Ortungswache kommt zurück. Ausgerechnet jetzt, wenn wir auf etwas lauern, kommt kein Raumschiff vorbei.« Hoonrust lachte laut und sah, daß Nakida die Zentrale betrat, einen Becher in der Hand. Sie stellte ihn vor Hoonrust auf das Pult. »Ich melde mich wieder«, sagte der Chef. »Ortet fleißig weiter. Wir versuchen auch, irgendwelche Funkwellen abzufangen. Bisher negative Ergebnisse.« »Bei uns dasselbe.« Die kleine Expeditionsflotte trieb mit mäßiger Geschwindigkeit entlang einer Geraden zwischen zwei Sonnen. Hinter der CANTRISS schleuderte ein Weißer Zwerg seine stechenden Strahlen ins
All; voraus glühte eine bläuliche Riesensonne, in deren Gashülle drei stechend weiße Objekte rotierten. Ein dünner, fast unsichtbarer Gasstrom diffundierte zwischen den Sternen wie ein zuckender Faden. Im relativen Schutz dieser Energieemission versuchten die Ligriden, etwas weniger auffällig zu wirken, falls man sie zu orten versuchte. Und ganz unerwartet gaben die Schiffspositroniken Alarm. Eine Lichtstunde und ein paar Minuten voraus materialisierten zwei Raumschiffe. Auf den ersten Blick erkannte Hoonrust zwei unterschiedliche Masseechos: ein größeres und ein kleineres Schiff. »Achtung! Hier spricht der Kommandant!« rief er in die Mikrophone. »Wir versuchen, uns zu verständigen. Wenn nicht, nehmen wir das kleinere Schiff in die Zange.« Die anderen Kommandanten bestätigten sofort die Meldung. Hoonrust trank mit einem Schluck das heiße Zeug herunter, sprang quer durch die Zentrale und betätigte die ersten Schaltungen schon, ehe er im Pilotensitz saß. Durch sämtliche bewohnbaren Räume der CANTRISS röhrten die Alarmsummer. Das Schiff nahm Fahrt auf. »Funk!« rief Hoonrust unterdrückt und schob seine verrutschte Kapuze in die Stirn. »Versuche auf jeder denkbaren Frequenz einen Kontakt zu erreichen.« Zione und Baztak rannten herein und nahmen schnell ihre Plätze ein. Die sieben Objekte befanden sich auf gegensätzlichen Kursen. Die Entfernung verringerte sich drastisch schnell, aber die CANTRISS und, wie auf dem Schirm zu sehen war, auch die MARDOZA und die GHAZI schwangen in eine enger werdende Kurve ein und wurden dabei immer schneller. Die Frequenzen des Senderempfängers waren gespeichert. Die Positronik arbeitete schnell und mit großer Kapazität. Als Cavitar herbeirannte und den Alarm desaktivierte, rief ihr Hoonrust zu: »Geh an das Buggeschütz. Feuerbereit machen und auf das Ziel einrichten. Ich gebe den Schießbefehl, wenn nötig.« »Schutzschirme halbe Kapazität«, meldete Baztak ruhig. »Richtig so!« sagte Hoonrust. »Ich habe nicht die Absicht, sonderlich rücksichtsvoll zu sein.« Die beiden fremden Schiffe schienen die Linearetappe unterbrochen oder beendet zu haben, um eine Ortung durchzuführen. Jeden Augenblick konnten sie wieder verschwinden und sich einem Kontaktversuch oder einem Blockademanöver entziehen. Die fünf Schiffe der Ligriden rasten jetzt auf einen Punkt zu, an dem sich die Fremden in wenigen Minuten befinden würden. »Funkpult? Irgendwelche Reaktionen festzustellen?« fragte Hoonrust und schloß die breiten Gurte des massigen Sessels. »Nichts. Undenkbar, daß sie uns nicht hören. Wir senden mit Maximalenergie.« »Fesselfeldstrahlen klarmachen«, ordnete Hoonrust an. »Gilt für alle Einheiten. Die ECUYER versucht ein Annäherungsmanöver.« Langeweile und Ruhe waren vorbei. Der Erfolg der Mission rückte blitzschnell in den Bereich des Möglichen. Jeden der vierzig Diener des Gward packte die Spannung. Die ersten scharfen Vergrößerungen erschienen auf den Monitoren. Beide Raumschiffe entstammten derselben Bauweise, das war unverkennbar. Sie ähnelten grundsätzlich, fuhr es Hoonrust durch den Kopf, jenem neukonstruierten Experimentalraumschiff der BASTION Zwei. Dennoch gab es – begreiflich – starke Unterschiede. »Bei Gwards Geduld!« fluchte Hoonrust. Übergangslos war das größere Schiff verschwunden. Sofort reagierte er und drückte den Auslöser. Mit einem dicken Steuergriff hatte er, vom Rechner unterstützt, mit dem energiereichen Traktorstrahl nach dem kleineren Schiff gezielt.
»An alle!« rief er. »Fesselfelder auswerfen! Sonst entkommt uns der andere auch noch.« Die Entfernung für diese Passivwaffe war eindeutig zu groß. Aber vielleicht würden die Strahlen von insgesamt fünf Schiffen den entscheidenden Erfolg bringen. Die ECUYER befand sich in größter Nähe, und die Energie aus ihren Projektoren riß den Bug des anderen Schiffes herum. »Ausgezeichnet.« Von fünf verschiedenen Richtungen jagten jetzt die Ligridenraumer heran. Die Traktorstrahlen geisterten nicht mehr suchend durch das All, sondern hefteten sich, einer nach dem anderen, an den langgestreckten, unregelmäßig spindelförmigen Körper. »Hoonrust spricht«, kam es aus den Lautsprechern und den Kopfhörern. »Unsere zahllosen Funkanrufe… ist einer davon auf erkennbare Art beantwortet worden?« Fünf Funker, die unablässig die Geräte beobachtet und auf jeden Ton gelauscht hatten, bestätigten es: Das fremde Schiff hatte nicht einmal mit blinkenden Landescheinwerfern reagiert. »Ich sehe euch, ECUYER«, sagte Hoonrust. »Bildet ein Enterkommando. Ich schließe mich an.« Die Ligridenschiffe bremsten scharf ab. Sie bildeten ein unregelmäßiges Fünfeck um den Fremden. Die ECUYER, die erkennbar gegenüber der Schleuse schwebte, verringerte den Abstand. Scheinwerfer flammten auf und bildeten grelle Flächen auf dem Schiffskörper. In der Außenhülle herrschte Silber, Gelb und ein tiefes Rot vor, meist in streifenartigen Mustern sichtbar und materialbedingt, denn dieses Schiff hatte ebensowenig wie die Fernraumer der Ligriden irgendwelche Verzierungen oder, abgesehen von den Namenslettern und einigen Kennziffern, auch nur den geringsten Schmuck aufzuweisen. »Cavitar und Baztak«, sagte Hoonrust, nachdem er sämtliche sichtbaren Vorkehrungen kontrolliert hatte, »wir drei versuchen, in das Schiff hineinzukommen. Öffnen sie nicht freiwillig, sind wir gezwungen, energisch vorzugehen. Also entsprechende Ausrüstung.« »Sofort.« Sie verließen ihre Stationen und halfen sich gegenseitig in die Raumanzüge. Die ECUYER hatte sich dem Rumpf des anderen Schiffes bis auf etwa ein Dutzend Meter genähert. Jetzt öffneten sich an fünf Stellen entlang der Flanke kleine Klappen. Magnetische Trossen mit schweren Saugnäpfen schwebten heraus und hefteten sich an die Bordwand des Schiffes. Mit den Traktorstrahlen kontrollierten Yamons Leute den gleichbleibenden Abstand. Hoonrust löste die Gurte und deutete auf Deboni und Vacussa. »Ihr habt die Verantwortung für die CANTRISS. Zögert nicht, im entscheidenden Moment das Geschütz einzusetzen. Helmfunkverbindung, wie geübt. Es kann durchaus gefährlich werden.« Schweigend machten sie die Geste des absoluten Gehorsams. Kurze Zeit später steckte auch der Expeditionsleiter in dem teilweise gepanzerten, schweren Anzug mit dem Schwebeaggregat. Er trug unterschiedliche Bewaffnung, halbmagnetisch an grellfarbigen Feldern des Anzugs befestigt. Cavitar half Hoonrust, einen breiten Gürtel zu befestigen, der eine Unmenge von Aufzeichnungsgeräten, Kleinpositroniken, kastenförmigen Energiezellen und andere technische Einrichtungen trug. Hoonrust aktivierte Außenmikrophon und -lautsprecher. »Das Schiff wirkt auf mich, als entspräche es etwa unserem technischen Standard. Vielleicht kommen wir mit denen ins Gespräch.« »Viel Glück.« Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hatte sich das fremde Schiff gegen den Überfall nicht gewehrt. Weit davon entfernt, dies auch nur annähernd für richtig oder selbstverständlich zu halten, ermahnte
Hoonrust seine Kameraden zur äußersten Vorsicht. »Selbst wenn es Roboter sein sollten«, meinte Teshar, »werden sie sich von uns nichts befehlen lassen.« »Ich sehe es nicht anders.« Die große Materialschleusenluke der ECUYER glitt auf. Sechs Gestalten in Raumanzügen und zwei schwebende Energieprojektoren wurden sichtbar. Auch die Schleuse der CANTRISS öffnete sich. Außerhalb der Schutzschirme glitten die Raumfahrer von der ECUYER langsam auf den Fremden zu und versuchten, so nahe wie möglich an dessen Außenhülle auf den Schleusenbereich zuzuschweben. Über Funk waren nur kurze Kommandos, Zurufe und Bestätigungen zu hören. Sämtliche Ligriden standen oder saßen vor den Bildschirmen und den Geschützprojektoren. Ein Mann befand sich mittlerweile an der Schleuse des verdächtig ruhig scheinenden Schiffes und suchte, obwohl sich Scheinwerfer auf ihn richteten, mit seinem Anzugscheinwerfer nach einem Öffnungsmechanismus. »Alles spricht dafür«, meldete er knapp, »daß es ein Robotschiff ist.« »Schweißt die Schleuse auf. Oder schneidet die Angelpunkte auf«, ordnete Hoonrust an, der mit seinen Leuten inzwischen die Schleuse der ECUYER erreicht hatte und dort im Bereich künstlicher Schwerkraft stand. Die beiden Projektoren, mit dicken Kabeln an die Energieversorgung des Schiffes angeschlossen, sandten grünliche Strahlen aus. Sie zuckten auf die dünne Trennungslinie zwischen Schottplatte und Außenhülle zu und riefen einen lautlosen Regen riesiger, mehrfarbiger Funken hervor. An zwei Stellen kippte die Platte kurz nach draußen, dann schwenkte ein Traktorstrahl herum und heftete sich auf die Mitte der Schleuse. Sekunden später brach das Metall nach außen und wurde weggeschoben. In einer Kette schwebten die Ligriden in die hell erleuchtete große Kammer hinüber. Hoonrust war einer der ersten und sagte über Helmfunk: »Vorsicht. Ab hier wird’s gefährlich.« Boden, Decke und Seitenwände der geöffnet daliegenden Schleusenkammer enthielten linsenartige, unregelmäßige Vorsprünge. Hoonrust und ein anderer Ligride stabilisierten ihren Schwebezustand, zogen langsam die Waffen und feuerten jeweils auf eine dieser faustgroßen Vorsprünge. Sekundenbruchteile später war die Schleuse mit einem Gitter aus roten Strahlen erfüllt. Sie zuckten hin und her, prallten von reflektierenden Teilen ab und hinterließen tiefe Spuren in den Metallwänden. Hoonrust und seine Leute eröffneten mit ihren schweren Energiewaffen sofort das Feuer auf die einzelnen Elemente und löschten eines nach dem anderen aus. »Sie wehren sich. Kein schlechtes Zeichen«, sagte der Chef grimmig. »Wir werden also Intelligenzen finden. Vielleicht sogar solche, mit denen sich reden läßt.« Sie drangen durch die verwüstete Schleusenkammer ein und öffneten eine seitliche Schottür, die zwei von ihnen nebeneinander bequem durchließ. Mit größter Vorsicht schleusten sich die Ligriden nacheinander ins Schiffsinnere ein, ohne daß ernsthafter Druckverlust auftrat. Die Nebenschleuse mündete in einen breiten, dunklen Korridor, in dem nur tiefblaue Notlampen brannten. »Rechts und links sichern.« Helmscheinwerfer wurden aktiviert, und ihre Lichtbalken bewegten sich hin und her. Decke und Wände des Korridors waren voller Leitungen und röhrenförmigen Elemente, die sich vielfach verzweigten und durch Kennfarben unterschieden. »Als exotisch kann ich das, was wir sehen, nicht bezeichnen«, erklärte Hoonrust und schaltete die
automatischen Linsen des optischen Übertragungsgerätes ein. »Die Ruhe ist nach der Sperre in der Schleuse…«, begann einer der Ligriden, die sich nach beiden Seiten des Korridors verteilt hatten. Wieder überraschte sie das fremde Raumschiff. Scheinbar massive Teile des Korridors öffneten sich blitzschnell. Eine Lichtflut überschüttete die insgesamt elf Eindringlinge. Von beiden Seiten schwebten Roboter heran, und ebensolche Maschinen drangen auch durch die neuen Öffnungen auf die Ligriden ein. »Feuer! Deckung!« schrie Hoonrust. Seine Stimme klirrte aus den Helmlautsprechern. Aus den schweren Waffen feuerten die Ligriden auf die Roboter und sahen, daß die Maschinen eine mögliche Ähnlichkeit mit den Stahlmännern der Hyptons aufwiesen. Zufall oder nicht – zwischen den Ligriden und etwa der doppelten Anzahl der Maschinen entbrannte ein rücksichtsloses Feuergefecht. Hoonrust, der im Zwiespalt zwischen Schrecken, Überlebenstrieb und der Treue zu seinem Auftrag schwankte, wurde von sich selbst und seiner Reaktion fast überrascht. Er hielt plötzlich beide Waffen in den Raumanzugshandschuhen, warf sich in dem Chaos aus Feuerstrahlen und Rauchwolken hin und her und kannte nur ein einziges Ziel: so viele Maschinen wie möglich zu zerstören. Er sprang hin und her, duckte sich, warf sich zu Boden und rollte sich ab. Ununterbrochen warfen die Projektormündungen seiner Waffen lange Glutstrahlen aus. Das Dröhnen im Helmlautsprecher machte ihn halb verrückt, und er raste die Hälfte des Korridors entlang und schoß auf jedes Stück Metall, das er als Gefahr für seine Leute und sich erkennen konnte. Dann rannte er in die Dunkelheit hinein. Der Schwung trug ihn zehn Meter geradeaus weiter, dann stemmte er die Sohlen der Raumstiefel auf den Belag und kam schlitternd zum Stehen. Sofort wirbelte er herum und schaute aus dem Halbdunkel ins Helle hinein. Mächtige Entlüfter schienen angelaufen zu sein und saugten den Qualm ab. Rasend schnell klärte sich das Bild. Der Boden des Korridors war mit glühenden und funkensprühenden Trümmern übersät. Zwei Ligriden krümmten sich zwischen Boden und Wand. »Achtung!« rief er in den nachlassenden Lärm hinein. »Es scheint vorläufig vorbei zu sein.« Langsam ging er mit großen Schritten vorwärts und versuchte, jede weitere Falle zu erkennen, bevor sie zuschlug. Er trat nach den Teilen der zerfetzten Stahlmänner und sah jetzt, daß sie nicht zwangsläufig den Hypton-Modellreihen entstammen mußten. Das Schießen hatte aufgehört. Hoonrust kauerte sich neben den beiden Ligriden nieder, identifizierte sie und sagte kurz: »Clercom! Hierher. Bringe die beiden zurück. Sie sind verwundet.« »Ich komme, Hoonrust.« Eine Serie von Schüssen unterbrach die Kommunikation. Am äußersten Ende des Korridors, auf der rechten Seite, waren zwei Stahlmänner aufgetaucht und wurden von gezielten Schüssen zerstört, ehe sie in gefährliche Nähe gekommen waren. Als der Chef sah, daß der Abtransport der Verwundeten ohne Schwierigkeiten vonstatten ging, hob er den Arm. »Wir bilden zwei Gruppen. Wir suchen die Zentrale. Ich vermute, sie ist dort. Also in der Richtung, aus der die letzten Roboter gekommen waren.« Die Ligriden stellten keine sinnlosen Fragen. Sie stürmten zur Hälfte in die angegebene Richtung. Als Hoonrust die beiden Roboter genauer anschaute, mußte er zugeben, daß die Ähnlichkeit mit bekannten Formen und technischen Ausdrucksmöglichkeiten gering war; die Umrisse und wenige Einzelheiten entsprachen den Hypton-Robotern. Und auch darunter gab es sehr unterschiedliche Typen.
Das Schiff war nicht länger als hundertzehn Meter. Die Ligriden betätigten Öffnungsmechanismen, die seltsamerweise zweimal vorhanden waren, und zwar in »normaler« Höhe und etwa in der Höhe des Knies, und dahinter lagen kleine Kabinen, Räume voller Technik oder Magazine. Die erste Überprüfung war verständlicherweise schnell und flüchtig. Hoonrust hoffte, daß er und seine Leute das Schiff weitestgehend unter Kontrolle hatten – oder daß sich ihnen wenigstens kein Widerstand mehr entgegenstellte. Bisher hatten sie es mit robotischen Mechanismen und Robotern zu tun gehabt. Er fühlte deutliche Erleichterung bei dem Gedanken, daß keine lebenden Wesen zu Schaden gekommen waren. Er winkelte den linken Arm an und betätigte den Schalter, der den Luftindikator betätigte. Das Gerät war auf die Werte der normalen Atemluft der Ligriden eingestellt und fing zu arbeiten an. »Es scheint Ruhe zu herrschen«, sagte ein Raumfahrer. »Kein Angriff mehr zu befürchten, Chef.« »Ich bin nicht sicher«, gab Hoonrust zurück und drückte die großen Kontaktplatten des nächsten Schottes. Sie konnten nicht mehr weit vom Bugteil des Schiffes, entfernt sein. »Haltet die Waffen bereit.« »Das tun wir ohnehin.« Das doppelt breite Schott teilte sich in zwei unregelmäßige Hälften und gab den Blick frei in einen mit technischen Geräten und Bildschirmen angefüllten Raum. Sämtliche Instrumente, Skalen und Bildschirme waren aktiviert. Hoonrust öffnete den Schnellverschluß der Halsringe und schlug seinen Raumhelm zurück. Eine Metallspange hielt die Kapuze über dem Kopf fest. »Licht!« Das Armbandgerät hatte beruhigende Werte gezeigt. Zusammen mit der Tatsache, daß auch in der Zentrale des fremden Schiffes so gut wie keinerlei unbegreifliche Technik zu sehen war, schuf dies einerseits eine Beruhigung, andererseits wurde ein Teil des Rätsels größer. Die Menge der Fragen nahm zu. Aber jetzt wußten die Ligriden wenigstens, welche Fragen sie stellen mußten. Jemand entdeckte einen Lichtschalter, und Sektoren des Raumes erhellten sich. Hoonrust gönnte seinen Leuten eine kurze Pause, in der sie auf den Bildschirmen die eigenen Schiffe und die Fesselfelder im Raum sehen konnten, dann sagte er: »Schwärmt aus. Die Ladung des Schiffes ist sicherlich ebenso interessant wie die Technik der Steuerung. Sofort melden, wenn ihr etwas Besonderes findet.« Sie liefen auseinander. Hoonrust ließ seine Blicke über die Pulte und Anlagen gleiten. Ungewisse Spannung erfüllte ihn. Links von ihm befanden sich seltsam geformte Sitzanlagen vor einem weitaus niedrigeren, langgestreckten Schaltpult. Diese Beobachtung ließ erkennen, daß ein Volk, weitaus kleiner gebaut als die Ligriden, mit dem Schiff etwas zu tun hatte. Der Ligride identifizierte die Bordpositronik und war mit drei langen Schritten an der Tastatur. Den Zentralschalter für manuelle Bedienung fand er sofort, aber er fand auch eine zweite Tastatur auf diesem niedrigen Bedienungspult. Ein großer, eckiger Monitor schaltete sich ein. Hoonrust versprach sich nichts von seinem Versuch, aber er unternahm ihn trotzdem. Gleichzeitig sagte er ins Helmmikrophon: »CANTRISS? Nehmt ihr alles auf, was mein Gerät sendet?« »Bisher wurde alles lückenlos aufgezeichnet«, kam augenblicklich die Antwort. »Ist in Ordnung. Weiter so.« Seine Finger in den Handschuhen berührten die Tasten. Er schrieb einen Befehl an die Bordpositronik in seiner Sprache. Leuchtpunkte blinkten in den Bildschirmecken, dann begann das Gerät zu arbeiten.
Eindeutig: Ligridische Buchstaben und Ziffern erschienen auf dem Schirm! »Das ist also das Geheimnis dieser Galaxis«, stieß Hoonrust fast erschrocken hervor. Er stand starr da und konnte seine Augen nicht vom Schirm losreißen. Er verstand nicht viele Worte, aber die Zahlenreihen schienen Positionsangaben zu sein. Hatte er zufällig eine Befehlskombination getippt, die jene Informationen aus den Speichern und dem Rechner hervorholte? Er konnte nicht glauben, daß es ein solcher Zufall war – vermutlich erfolgten diese Schriftreihen automatisch, wenn sich das Gerät einschaltete. Er wartete, bis der Bildschirm voller rätselhafter Angaben war. Der Text verschwand, eine neue Serie von Buchstaben wurde abgebildet. Er beugte sich vor und schrieb: Name des Schiffes, Zweck des Fluges, Ziel und Startplanet? Zwischen unverständlichen Texten und Zahlenreihen wiederholten sich, für Hoonrust klar zu lesen, immer wieder zwei Begriffe. Bennerton und Fjukium. »Kann das ein Planetenname sein? Oder der Begriff für diese Galaxis?« rätselte der Ligride. Schweigend wartete er und kontrollierte den Text. »Bennerton«, murmelte Hoonrust und sagte sich, daß an Bord in Ruhe die Aufnahmen ausgewertet werden konnten, »und Fjukium. Gward mag wissen, was das bedeutet.« In den Lautsprechern hörte Hoonrust seine Leute, die das Schiff durchsuchten und sich verständigten. Er blieb in steigender Ungeduld vor dem Monitor stehen und wandte sich erst dann ab, als er merkte, daß sich der Text zu wiederholen begann. Aber ganz überzeugt war er davon nicht. Eine Stimme, die vor Erregung dunkel klang, rief ihn. »Hoonrust! Komm in den Laderaum! Schnell! Wir haben einen ungewöhnlichen Fund gemacht.« »Ich habe verstanden«, sagte er scharf, drehte sich herum und rannte aus der Zentrale hinaus in den Korridor. »Ich bin im Korridor. Wohin geht es jetzt?« Er wurde akustisch geradeaus, in einen Nebenraum und dort eine Rampe bis in den »Kielraum« des Schiffes geleitet. Hier drang er durch eine weit geöffnete Doppelschleuse ein und bemerkte die mehrfarbigen, aufgeregt blinkenden Warnlichter. Die Technik oder Automatik, des Schiffes schien langsam zu einer Art selbständigen Lebens zu erwachen. »Hier bin ich!« sagte er und befand sich gegenüber einem großen Laderaum. In dessen Mitte verlief, bündig mit Boden und Decke abschließend, eine Serie von bausteinartig aufgebauten Schränken. Die Ligriden schienen sich hier alle getroffen zu haben und befanden sich rechts und links dieses Raumteilers. An vielen Stellen leuchteten grelle, kalte Lampen. »Hierher, Chef!« Drei Ligriden standen vor einem Schrank in der Mitte der Anlage. Sie hatten eine Art Lade herausgezogen und starrten auf das, was darin lag. Alle hatten die Helme geöffnet und die Anzugsversorgung abgeschaltet. Hoonrust rannte auf die Gruppe zu, die ihm aufgeregt winkte, und blieb jäh stehen. Er blickte, starr vor Schrecken, auf den nackten Kopf, das ruhige Gesicht und die Schultern, Oberarme und Brust einer jungen Ligridin. Derselbe Schock traf alle Expeditionsteilnehmer, die in den Schiffen vor den Monitoren saßen. »Kein Zweifel«, ächzte Hoonrust. »Eine tiefschlafende Ligridin.« Er schätzte die Anzahl dieser containerartigen Laden auf mehr als zweihundert. Am Kopfende befand sich in den Fächern jeweils ein konvex gekrümmtes Fenster, darüber eine Art auswechselbares Schild. In ligridischen Buchstaben stand auf dem Fach, in dem die junge Ligridin in großer Kälte schlief, die Buchstabenfolge INUA.
»Versucht, sie aufzuwecken«, befahl Hoonrust und ahnte zum erstenmal seit Erreichen der Galaxis, daß sie tatsächlich einer Reihe ungeheuerlicher Dinge auf der Spur waren. Er zog den Handscheinwerfer vom Gürtelmagneten ab und ging langsam die lange, mehrfach übereinander gebaute Reihe der Schubfächer ab. Er leuchtete durch die transparenten Scheiben und entdeckte junge Ligriden, männlich und weiblich. Ligriden! Wurden Angehörige seines Volkes von dem Planeten nach Enterny transportiert? Undenkbar? Wozu, warum? Er versuchte sich zu fassen und spürte, tief in seinen innersten Überzeugungen, daß sein bisheriges Weltbild auf rutschendem Sand zu stehen schien. »Freunde«, sagte er mit unüberhörbarem Ernst, »wir müssen den Schock schnell überwinden. Überall liegen schlafende Ligriden. Das bedeutet mehr, als wir im Augenblick ahnen können. Dieses Schiff ist nur eines von vielen, und auch die anderen dürften voller Tiefschlafkammern sein. Wahrscheinlich erfahren wir mehr, wenn dieses Mädchen, nennen wir es Inua, erwacht ist und mit uns spricht.« »Was sollen wir tun, Chef?« »Bringt die aufgeweckte Inua in die CANTRISS. Und jeder, der nicht mit diesem Unternehmen beschäftigt ist, sucht weiter im Schiff. Bereiten wir uns darauf vor, das Schiff schnell zu verlassen.« Ein vielstimmiges Murmeln der Zustimmung kam aus den Lautsprechern. Die Stimmung schlug ins Gespenstische um. Hoonrust dachte intensiv nach und vergegenwärtigte sich den Plan der bekannten Gänge und Kammern. Er würde den Ausgang finden. Das aufgebrochene Schott war nicht mehr als zweihundertfünfzig Meter entfernt. Dieses Schiff war ein unheimlicher Mechanismus; das Licht, die Ruhe und Kälte, jene Funde und die aufgeregt blinkenden Lampen deuteten auf etwas Bestimmtes hin. Hoonrust drehte sich herum und sah kurz zu, wie die Schlafende aus dem Fach herausgehoben und in einige dünne Thermodecken eingewickelt wurde. »Schafft Inua raus!« drängte er. »Schnell!« Er wußte nicht, was ihn dazu trieb. Aber plötzlich glaubte er eine deutliche Gefährdung seiner Leute und Schiffe zu spüren. Unruhe hatte ihn überfallen. Er legte die Hand auf den Kolben der Waffe und zog sich aus dem Laderaum zurück. An einigen Stellen innerhalb des Schiffes, hinter Wänden und in metallenen Einbauten, klickte, knisterte und summte es. Hoonrust fing eine Durchsage aus der Schleusenvorkammer auf und erfuhr, daß Inua aufgewacht war, daß sie einen Raumanzug trug und, von einem Kommando begleitet, zur CANTRISS gebracht wurde. »Verlaßt das Schiff«, sagte Hoonrust. »Eine Wache soll in der Zentrale bleiben, eine zweite bei der Schleuse. Hier geht es seltsam zu. Ich erwarte eine weitere negative Überraschung.« »Eine zweite Welle von Robotern?« »Eher eine Vernichtungsschaltung, vielleicht eine Selbstzerstörungsanlage!« erklärte Hoonrust. Er ging zurück in die Zentrale. Baztak saß vor dem Pult des Bordcomputers und versuchte der Anlage Informationen zu entlocken. Hoonrust blieb neben ihm stehen, völlig unschlüssig und in steigender Nervosität. »Irgendwelche Vorgänge werden vorbereitet. Mehr verstehe ich auch nicht«, sagte Baztak und schüttelte den Kopf. »Verborgenes in unbekannten Hohlräumen des fremden Schiffes wird aktiviert.« Der Anführer wunderte sich über diese dunkle Vorausahnung.
»Weißt du das genau?« »Es ist damit zu rechnen. Ruhende Lebewesen fangen an, sich zu bewegen. Es scheint logisch zu sein, daß sie sich gegen die Eindringlinge wenden. In diesem Fall gegen uns.« »Also andere Tiefschläfer.« »Und etwas, das ich als ›Kontrollsystem‹ definiere.« Hoonrust machte sich im Augenblick noch keine Gedanken über dieses anscheinend halbwegs telepathische Verhalten seines Navigators. Er versuchte, die halb fremdartige und doch so vertraute Technik des Schiffes zu verstehen. * Turnbolc war aufgewacht und spürte, wie das aufmunternde Medikament durch seinen Kreislauf raste. Der Angehörige des Volkes der Techniker war Anführer und Verantwortlicher einer kleinen Gruppe von Ikusern und qualifizierten Robotern. Daß er und sein Team aufgeweckt worden waren, konnte nur eines bedeuten: »Das Kontrollsystem wurde alarmiert.« Es gab für diesen Umstand einen klaren Befehl. »Die Eindringlinge müssen aus dem Schiff entfernt, der Weiterflug muß sichergestellt werden.« Fünf Ikuser schnallten sich die breiten Bänder und Gurte um, in deren Fächern die Waffen, Sprengmittel und Energiezellen steckten. Die ersten Roboter bewegten sich summend an ihre Plätze. »Wieviel Mann sind noch im Schiff?« wollte Daalo wissen. Turnbolc klappte eine Metallklappe hoch und blickte auf die Bildschirme. Sie lieferten Ansichten aus sämtlichen Räumen des Schiffes, in denen die Beleuchtung aktiviert oder die Lichtquellen der Fremden zu sehen waren. »Sechs Fremde.« Die braunen Fellhaare der Ikuser sträubten sich. Turnbolc fuhr langsam seine beiden Augen aus und kontrollierte jede Einzelheit, die er auf den Spionmonitoren sah. »Die Roboter gehen an die Plätze Sieben, Neun…«, begann er und erteilte den Maschinen klare Befehle. Summend bewegten die Roboter ihre Waffensysteme. Die gepanzerten Stahlmänner aus der Produktion der Hypton-Hilfsvölker entstammten der letzten Baureihe. Bis eben hatten sie alle Ruhe gehabt. Jetzt mußten sie handeln. Niemand durfte etwas von der Mission des Schiffes erfahren, bevor die Fracht am Ziel war. Zur Fracht gehörte auch eine komplizierte Maschine von unendlich großem Wert. Von ihr wußten die Ikuser, daß sie der Fracht, also den jungen Ligriden, eine entsprechende Erinnerung übertragen würde. Dieser abgeschlossene Vorgang war ebenfalls identisch mit dem Ziel der Mission. Turnbolc überprüfte seine Waffe und wandte sich an seine Kameraden. »Fertig?« Sein haarloses Gesicht mit der vorspringenden Kieferpartie drückte Konzentration und Entschlossenheit aus. Die Augen zogen sich wieder in die Höhlen zurück. »Bereit. Während wir versuchen, die Fremden aus dem Schiff zu treiben, wirst du die VAR Siebeneins starten.«
»Wir versuchen es.« Die Ikuser, deren technisches Verständnis ungewöhnlich gut entwickelt war, galten keineswegs als große Kämpfer. Im Umgang mit Waffen waren sie zwar nicht hilflos, aber sie benutzten die schlanken Hände mit jeweils acht Fingern lieber dafür, um Probleme technischer Art zu lösen. Die Form, in der sie die Eindringlinge und Kaperer aus dem Schiff zu vertreiben hatten, entsprach auch mehr den ikusischen Fähigkeiten. »Jeder an seinen Platz. Ich gebe das Signal«, erklärte Turnbolc. Die kleinen Wesen ließen sich auf die Vordergliedmaßen nieder und rannten durch die Gänge mit dem geringeren Querschnitt nach allen Seiten auseinander. Noch einmal dachte der leitende Ikuser über die Bedeutung der kostbaren Ladung nach, vergegenwärtigte sich den Text und die Konsequenzen der Befehle und schwor sich, alles zu tun, um das Kontrollsystem zum Sieg zu bringen. Er schloß das Schott hinter sich und blieb vor den Schaltungen stehen. In schneller Folge tippten seine langen Finger auf verschiedene Tasten. Vor ihm erwachten reihenweise kleine Monitoren, und er heftete seine Augen darauf, indem er sie weit aus dem Kopf treten ließ. In allen Räumen und Korridoren der VAR 71 schalteten sich die panikerzeugenden Blinklichter ein. Aus den Düsen der Klimaanlagen strömten beißender Rauch und betäubende Gase. Im Schutz des künstlichen Nebels verließen die Stahlmänner ihre Verstecke. Sie näherten sich den Fremden, die jetzt wieder zu neuem Handeln gezwungen wurden. Sie schlossen ihre Raumanzüge und bewegten sich unruhig hin und her. Das Kontrollsystem arbeitete zuverlässig. Turnbolc wartete einige Sekunden lang, bis die ersten Störmanöver voll angelaufen waren. Der dichte Rauch erfüllte mittlerweile fast jeden Raum im Schiff. Der erste Roboter wurde von den Fremden entdeckt. Schutzschirme errichteten sich innerhalb der wogenden Rauchwolken, die von den Strahlen der Blinkanlagen durchzuckt wurden. Die Fremden feuerten wie die Rasenden auf die Maschine, deren Gegenwehr fast völlig wirkungslos in den Energieschirmen endete. Der Ikuser griff mit einer Hand nach dem Spezialhelm, mit der anderen drückte er den Signalschalter. Fast gleichzeitig drangen er und seine Kameraden aus den Verstecken vor. Gegen die Gase schützte der dicht sitzende Helm, und Spezialoptiken ermöglichten ein kaum gestörtes Sehen in den dichten Rauchschwaden. Wieder führte der Ikuser eine schnelle Schaltung aus. Schlagartig schaltete sich im gesamten Schiff die künstliche Schwerkraft aus. Die Ikuser besaßen in ihren Bauchgurten die Neutralisatoren. Turnbolc schwang sich durch das nächste Schott und zog seine Waffe. Er sah gerade noch, wie ein Fremder an ihm vorbeiwirbelte, mitten in einem Satz durch die schwerelose Zentrale. Der Ikuser schoß auf den riesengroßen Fremden. Dabei erkannte er, daß der Eindringling dieselbe Größe hatte und ebenso aussehen mußte wie die einzelnen Inhalte des Frachtraums. Ein Ligride? Der Eindringling prallte gegen eine Instrumentenwand, wirbelte im Flug halb herum und schien nicht sonderlich überrascht darüber zu sein, daß jemand ihn zu töten versuchte. Überall dort, wo sich Fremde befanden, dröhnten Schüsse durch das Raumschiff. Aber die Eindringlinge waren auf dem Weg zur Schleuse. Sie zogen sich also zurück. Ungeschickt handhabte der Ikuser seine Waffe und schickte dem Flüchtigen eine Serie von Schüssen hinterher. Die Waffe ruckte scharf in seiner Hand, und mitten in einer Drehung feuerte der Fremde zurück und traf mit einem gleißenden Energiestrahl die Hand des Ikusers. Turnbolc schrie vor Schmerzen auf und schleuderte den Strahlenprojektor von sich.
Die Kontrollschaltung aktivierte einige Minuten später wieder die künstliche Schwerkraft. Noch immer dröhnten unaufhörlich Schüsse. Turnbolc sank langsam zu Boden, schüttelte sich und rief ins Mikrophon: »Erfolg! Wir vertreiben sie!« Nur noch drei seiner Kameraden meldeten sich. Er hastete zu einer verborgenen Steuereinheit und mußte erkennen, daß die Funktionsanzeigen von zwei Dritteln der Stahlmänner ausgefallen waren. Der Ikuser hastete durch den Rauch dem flüchtenden Fremden hinterher und erkannte, daß dieser sich der Schleuse näherte. Eine heftige Detonation erschütterte den hinteren Teil des Raumschiffs. Boden und Wände vibrierten und schüttelten sich. Das Kontrollsystem wurde beansprucht. An aufflackernden Anzeigen sah der Schiffswächter, daß einige der Fremden das Schiff durch die Schleuse verlassen hatten. Andere wehrten sich, und er war erschrocken über die Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihre schweren Waffen handhabten. Der letzte Stahlmann detonierte. Turnbolc spürte die Druckwelle bis hierher in den Hauptkorridor. Unablässig kam Rauch aus den Öffnungen der Luftumwälzung. Geräusche und Licht, Rauch und Explosionen, Schüsse und entstehende Feuer und Glutnester, die durch automatische Löschanlagen erstickt wurden – wieder öffnete sich die innere Schleusentür und ließ die Silhouetten zweier Eindringlinge erkennen, die sich in Sicherheit brachten. Die Kontrollinstanz arbeitete daran, eine Entscheidung zu treffen. Welche Konsequenzen es für Schiff und Notmannschaft bedeutete, wußten die Ikuser nicht. Turnbolc rannte den Korridor entlang, um seine Leute zu finden. Wieder bebte und dröhnte das Schiff, obwohl es keine Schüsse mehr gab. Hoffentlich war nichts zerstört, das von den Ikusern mit Bordmitteln nicht wieder zu reparieren sein würde. Die Kontrollinstanz reagierte. Sie leitete die Selbstvernichtung des Schiffes ein. Die Summe der Informationen war so groß, daß keine andere Lösung für diese Mission mehr errechenbar war. An drei Stellen der VAR 71 zündeten gewaltige Sprengsätze. Die Energie der sonnenheißen Detonationen vernichtete jedes Leben innerhalb des Schiffes, riß den Schiffskörper auseinander, griff auf die ECUYER über und fraß sich durch die Bordwände ins Innere. Einige Sekunden, nachdem das gekaperte Raumschiff sich in Tausende weißglühender Fragmente aufgelöst hatte, explodierten auch die Energiespeicher des ligridischen Fernraumschiffs. An Bord der ECUYER hielten sich zu diesem Zeitpunkt Kommandant Yamon und drei weitere Ligriden auf. Auch sie starben. Die Optiken der anderen Schiffe, die sich in genügend großer Entfernung von der Explosion befanden, wurden für Sekundenbruchteile geblendet. Die Doppeldetonation erzeugte einen glühenden Gasball, der sich schnell ausdehnte und ebenso schnell wieder zusammenfiel. Die Nahortungsschirme zeigten die Bruchstücke, die nach allen Seiten davonschwirrten und sich nur teilweise in den Energieschirmen der vier Fernraumschiffe fingen. Nach einer langen, quälend stillen Zeitspanne kam aus den Lautsprechern Hoonrusts Stimme. »Die ECUYER ist verloren. Meine Freunde – stellt fest, wer zu den Opfern zählt. Die Überlebenden verteilen sich, bitte, auf die übrigen Schiffe. Die Wahrheit, die wir in der Galaxis finden, kehrt ihre bösen Seiten heraus.« Die Diener des Gward versuchten, jeder für sich allein und in der Stille, den Trost in den Lehrsätzen der Religion und Philosophie zu finden. Langsam nahm die CANTRISS Fahrt auf und näherte sich
dem nächsten Schiff. Niemand dachte daran, die Mission abzubrechen. Hoonrust hatte mit diesem Gedanken gespielt und ihn wieder weit von sich geschoben. Einen Grund von unendlicher Wichtigkeit gab es für ihn: Die Herkunft und Bedeutung der jungen Ligriden in dem anderen Schiff. Und… die Sinnlosigkeit ihres Sterbens.
3. Die Dinge haben eine schlimme Wendung genommen. Vier Tote, ein verlorenes Schiff, ein seltsamer, bedrohlicher Fund. Und Inua schweigt. Sie schweigt nicht, weil sie verstockt ist, sondern weil sie nichts weiß. Sie kennt nicht einmal ihren Namen. Sie akzeptiert, mit Inua angesprochen zu werden. Sie spricht unsere Sprache flüssig, beherrscht aber nur einen geringen aktiven und – anscheinend – gar keinen passiven Wortschatz. Obwohl sie jung ist und hübsch, eine gerade gereifte junge Frau, verhält sie sich naiv und unwissend wie ein Kind. Inua und ihre zahlreichen Gefährten, männlich wie weiblich, die jetzt alle tot sind, ohne je richtig gelebt zu haben, sind das eigentliche Rätsel dieses Zwischenfalls. Meine Mannschaft, auf vier Schiffe verteilt, hat denselben Erkenntnisstand wie ich. Sie haben gezeigt, daß ich mich auf sie bedingungslos verlassen kann, und wenn sie hinreichend informiert sind, dann entstehen keine sinnlosen und zeitraubenden Rückfragen. Wir sind noch immer dabei, die vielen Texte vom Bildschirm des fremden Schiffes zu entschlüsseln. Zwei Begriffe sind mit Sicherheit anwendbar. Bennerton: diese Galaxis! Fjukium: ein Planet, von dem aus das Raumschiff gestartet ist. Beide Namen sind unbekannt gewesen. Und daß die Hyptons (?) mit uns Ligriden ein seltsames Spiel spielen, steht für uns alle auch fest. Sonst müßten wir etwas davon wissen, daß schlafende, künstlich dumm gehaltene Ligriden in Fernraumschiffen von Galaxis zu Galaxis geflogen werden. Wir sind einem der größten vorstellbaren Verbrechen auf der Spur. Nun brauchen wir nur noch die Zielkoordinaten von Fjukium. Alle verfügbaren Kräfte und die Kapazität von vier Bordpositroniken, samt der Intuition Baztaks und Ziones arbeiten daran. Bald werden wir unser nächstes Ziel kennen. * Zione lehnte sich erschöpft im Sessel zurück und meinte: »Die Koordinaten von Fjukium sind ermittelt. Aber wie passen sie in das System unserer Bordpositroniken?« Hoonrust stand mitten in der Zentrale. Sämtliche Kommunikationssysteme waren eingeschaltet. Die Zentralen der vier Schiffe waren miteinander verbunden. »Ich gebe nicht auf«, sagte er. »Es geht um uns Ligriden. Vielleicht sind die Hyptons nicht einmal dafür verantwortlich zu machen. Wir haben immerhin eine grobe Richtungsangabe, Zione.« »Ich beschäftige mich gerade mit der Koordination«, versicherte Baztak, der bisher ständig gerechnet und mit geschlossenen Doppellidern seiner Augen tranceartig nachgedacht hatte. »Vielleicht sollten wir die Schiffe in diese Richtung fliegen lassen. Ein Fehler ist es nicht.« »Einverstanden«, erklärte Hoonrust. »Also los, Kommandanten. In gewohnter Verteilung und im Sicherheitsabstand, unterlichtschnell, in die angegebene Richtung.« Nacheinander wurden die Fernraumschiffe schneller und richteten ihren Kurs auf das unsichtbare
Sonnensystem aus, der irgendwo hinter der nächsten Gruppe weit auseinanderstehender Sterne liegen mußte. »Wie geht es Inua?« wollte Nakida wissen. »Ich habe sie hierher bestellt«, antwortete Hoonrust. »Es ist denkbar, daß wir trotz ihres seltsamen Verhaltens etwas von ihr erfahren.« Das Mädchen wurde von einem Besatzungsmitglied in die Zentrale geführt. Man hatte ihr Bordkleidung gegeben und sie in eine der leeren Kabinen einquartiert. Bisher saß sie einfach da und nahm ihre Blicke nicht von dem Interkom der Kabine. Sie schien jede neue Information aufzusaugen wie ein trockener Schwamm. »Kannst du uns etwas über Fjukium sagen?« wollte Zione wissen. Sie musterte Inua mit seltsam durchdringenden Blicken. Allen Ligriden, die sich in der Zentrale befanden, war es sichtlich peinlich: Inua trug weder einen Helm noch eine Kapuze. Ihr Schädel, rund und wohlgeformt, mit zierlichen Ohren, glänzte unanständig kahl im indirekten Licht. »Alles, was ich über Fjukium weiß, habe ich erst durch euch erfahren«, erklärte sie glaubhaft. »Ich habe mich, seit ich hier bin, immer wieder gefragt und geprüft. Ich habe keine Erinnerungen.« »Nimm Platz und fühle dich wohl«, sagte Hoonrust enttäuscht. »Und lasse dir eine Kapuze geben. Wir verhüllen unsere Köpfe, wir, die Diener des Gward.« »Woher soll ich das wissen?« fragte sie mit leerem Blick zurück. Nach einigen Minuten sagte Baztak plötzlich: »Ich hab’s! Unsere derzeitige Kursgerade ist identisch mit dieser – fremden – Koordinatenachse.« »Bist du sicher?« Zione rechnete bereits und beschäftigte Speicher und Rechner des Bordcomputers. Zahlen und vielfarbige grafische Darstellungen bauten sich auf, bewegten sich, änderten sich und ergaben schließlich eine Vergleichsformel zwischen der eigenen Einteilung und dem räumlichen System des detonierten Schiffes. »Wir brauchen die Daten für ein Linearmanöver«, sagte Hoonrust. »Übertragt alles in die anderen Schiffe.« »Übertragung läuft bereits.« Eine halbe Stunde später rasten die Fernraumschiffe in einer Linearetappe auf die Sonne des Planeten Fjukium zu. An vier verschiedenen Stellen des Sonnensystems glitten die Ligridenschiffe in den dreidimensionalen Weltraum zurück. Es gab nicht die geringste Schwierigkeit, den Planeten zu orten und anzufliegen. * In zwei unterschiedlichen Orbits umkreisten die GHAZI und die MARDOZA den Planeten. Ihre Fernerkundungsgeräte funkten einen Datenstrom zu den anderen Schiffen. Fjukium war eine krasse Enttäuschung. Als dritter Planet und einziger, der bewohnbar wäre, drehte er sich um eine gelbweiße Sonne. Es waren keine Raumschiffe, Raumstationen oder sonstige Aktivitäten zu erkennen. Auf keiner den Geräten zugänglichen Funkfrequenz war auf dem Planeten Funkverkehr festzustellen. Es existierten keine größeren Energieemissionen an der Oberfläche der Welt. Auf den dreidimensionalen Bildschirmen zeigten sich weiße Polkappen aus Eis und Schnee.
Eine Menge unterschiedlich großer Kontinente zeichnete sich in einem riesigen Meer ab. Große Teile waren von Savannen und dichten Wäldern bedeckt. Einige Vulkane entließen Rauchwolken in die dichte Atmosphäre. Nicht eine einzige Straße! Kein größeres Bauwerk! Kein Schiff mit Kielspur im flachen oder tiefen Wasser. »Du hast die Bilder gesehen«, wandte sich Hoonrust an die junge Ligridin. »Kannst du uns etwas darüber sagen?« Mittlerweile kannte der seltsame Gast den Unterschied zwischen Gwyn und Gward und trug eine einfache Kapuze. »Nein. Ich habe keine Erinnerungen. Dunkel kann ich mich entsinnen, den Namen Fjukium gehört zu haben. Ich weiß nicht, was er für mich bedeutet.« »Warum frage ich eigentlich noch?« murmelte Hoonrust. Er sagte sich, daß das Fehlen jeglicher Technik darauf hindeutete, daß die Raumschiffe unmöglich von dieser Welt gestartet sein konnten. »Weiter, GHAZI, MARDOZA«, sagte er. »Versucht, irgendwelche Beweise für intelligentes Leben zu finden.« »Verstanden. Bisher sieht es mager aus.« »Macht weiter.« Zione und Baztak saßen vor ihren Schirmen und studierten die Abbildungen. Die Bilder der Planetenoberfläche zogen langsam vorbei. Formen, Farben, Licht und Schatten boten absolut wahre, unverdächtige Eindrücke eines unbelebten Planeten, einer von vielen in einer beliebigen Sterneninsel. Baztak legte den Kopf schief, starrte mit milchig-meditativen Augen auf die Abbildungen und sagte so leise, daß es gerade noch Hoonrust hören konnte: »Es kann auch geschickte Tarnung sein.« »Schon oft sind wir getäuscht worden. Warum nicht auch hier?« fragte Zione in derselben Stimmlage. Hoonrust blickte überrascht schweigend zu ihnen hinunter, auf die Bildschirme, dann nickte er. »MARDOZA, GHAZI!« sagte er deutlich. »Es besteht die Möglichkeit, daß die Fjuker uns etwas vorspiegeln. Geht tiefer und untersucht schärfer.« »Du meinst, wir würden dabei so etwas wie einen Tarnschirm durchstoßen?« lauteten die überraschten Fragen. »Ich ziehe die Möglichkeit in Betracht«, sagte der Expeditionsleiter. Die CANTRISS und die KHALACK warteten in großer Entfernung von der Planetenoberfläche. Niemand schlief an Bord der Expeditionsschiffe. Es war nicht einer unter den Ligriden, der nicht mit gewaltiger Spannung darauf wartete, mehr über die Angehörigen des eigenen Volkes zu erfahren. Mißtrauen und phantastische Mutmaßungen wucherten in den Unterhaltungen. Dieser Planet bildete einen Brennpunkt der innerlichen Qualen; welches grausige Geheimnis umgab Inua und ihre tiefschlafenden Gefährten? Hoonrust konnte seine Unsicherheit und seine Unruhe noch am besten verbergen. Er zog sich auf die Grundlinien der Gward-Philosophie zurück und wartete. Womit betrügt man uns Ligriden? fragte er sich, innerlich zitternd und äußerlich scheinbar ungerührt. Wer betrügt uns? Und warum nur? Beide Schiffe glitten fast an antipodischen Stellen des Planeten tiefer in die Lufthülle. Die Schutzschirme schalteten sich ein. Ununterbrochen strömten neue Bilder herein. An einem bestimmten Punkt veränderten sich die Ansichten.
»Höhe sechstausend Meter«, meldete ein Navigator. Die Küstenlandschaft und, auf dem anderen Monitor, eine bergige Steppe mit Wald und Flüssen, zitterten und schaukelten und verschwammen. Es war derselbe Effekt, wie ihn heiße, verwirbelnde Luft hervorbrachte. »Ihr habt recht gehabt«, sagte Hoonrust zu Zione und Baztak. Beide führten die Geste der Unsicherheit aus. Die Bilder stabilisierten sich wieder. Die Art der Landschaft blieb gleich. Aber aus der unbelebten Natur wurde stellenweise eine Kulturlandschaft. Straßen tauchten auf und zeichneten sich scharf ab. Unterhalb des Tarnschirms stieß die GHAZI auf den Mittelpunkt des größten, annähernd runden Kontinents zu, der von den Meeren und einem Flußdelta an drei Seiten begrenzt wurde. »Jetzt sehen wir, wie es wirklich auf Fjukium aussieht«, knurrte Hoonrust zufrieden. Das Raumschiff ging in eine große Kurve, glitt tiefer und verringerte seine Geschwindigkeit. Eine große Stadt, die hauptsächlich aus modern wirkenden, flachen Bauten und breiten Straßenverbindungen bestand, war klar zu erkennen. Sternförmig führten Bahnen zu unterschiedlichen Anlagen, die man als Satellitenstädte bezeichnen konnte. Zwischen den flachen Bauwerken reckten sich zylinderförmige Hochhäuser aus dem Boden. Sie waren von fischaugenhaften Fenstern und Vorsprüngen übersät. Eine kalte, funktionelle Anlage breitete sich aus. Die Nebensiedlungen, die auf den ersten Blick ebenfalls wie Gettostädte aussahen, waren von ebensolcher Trostlosigkeit. »Ausgezeichnet, GHAZI!« lobte Hoonrust. »Ich habe noch keine Lebewesen erkennen können.« »Wir bemühen uns.« Die GHAZI schwebte über einem Planetengebiet, das im späten Morgenlicht lag. Unter dem tarnenden Schirm zeigten sich alle jene Merkmale, die Hoonrust und seine Leute mit einer bestimmten Art der planetaren Erschließung in Verbindung brachten. Rücksichtslos und ohne auf die Natur zu achten, war hier gebaut worden. Im Lauf der Zeit ließ die Natur zwar die schlimmsten Narben zuwuchern, aber der Eindruck der brutal-technischen Zweckmäßigkeit stieß jeden Ligriden ab. Neue Bilder, schärfere Vergrößerungen. Atemlos und voller Spannung betrachteten die Ligriden der beiden wartenden Schiffe die riesigen Monitoren. Inuas Blicke gingen hin und her, und sie war sichtlich bemüht, so viel wie möglich zu verstehen. Von den unzähligen Mauern und Hallen, von Plätzen, Produktionsanlagen und halb versteckten Einbauten, die sich wie Geschützstellungen ausnahmen, blieben den Gward-Anhängern einige Bilder besonders im Gedächtnis. Sie sahen eine Kolonne von schlanken, muskulösen Wesen, größer offensichtlich als die Ligriden, zweiarmig und zweibeinig, mit runden, echsenhaften Köpfen. Der Körper war höchstwahrscheinlich von silbern-grünlichen Schuppen bedeckt; Haarwuchs war ebenso wie bei den Ligriden nicht erkennbar. Die Wesen wirkten, obwohl sie vermutlich Gefangene waren, kraftvoll und kriegerisch. Die Kolonne wurde von Stahlmännern eskortiert und marschierte mit schleppenden Schritten von einem Gebäude zum anderen. Dann löschte ein gewaltiger, blendender Blitz sämtliche Bilder aus, die aus der GHAZI gesendet wurden. Ein Laut, den sie alle nie vergessen würden, schlug aus den Lautsprechern. Ein langanhaltender Schrei, vermischt mit dem Knirschen und Kreischen von Metall, das sich auflöste, und dazu kamen die Stimmen der sterbenden Ligriden.
Auf dem Bildschirm sahen Hoonrust und seine Leute noch einige Sekunden lang, wie der Boden, sich drehend und kreiselnd, auf die Linsen zuschoß, dann rissen die Bilder ab. »Diese Verbrecher«, stöhnte Hoonrust auf. »Sie haben die GHAZI abgeschossen.« »Sind sie alle tot?« fragte Inua in argloser Naivität. »Sie sind tot«, erwiderte Hoonrust dumpf. »Vermutlich ist die Abwehr des Planeten eingeschaltet worden, als wir den Schutzschirm durchstießen.« »Nicht nur vermutlich, sondern ganz sicher«, ließ sich Baztak vernehmen. »Wer einen Fremden abschießt, hat etwas zu verbergen«, stellte Hoonrust in steigendem Zorn fest. »Wer unsere Schiffe abschießt, verbirgt etwas vor den Ligriden. Also geht es uns an, was dort auf dem Planeten passiert.« »Stimmt!« rief Baztak mit Nachdruck. Hoonrust bedeutete dem Piloten, den Sessel zu verlassen. Er setzte sich selbst vor die Steuerung und schloß die Gurte. Er griff in die Hebel der Handsteuerung, drehte den Kopf zur Seite und sagte: »Ich versuche eine Landung. Ich verstecke das Schiff, ehe sie uns abschießen können. Die Trauer über unsere Kameraden leisten wir uns, wenn wir in Sicherheit sind. Verstanden, KHALACK und MARDOZA?« »Alles klar. Wir versuchen genau dasselbe.« »Gut. Viel Glück.« Hoonrust jagte die CANTRISS entsprechend der gespeicherten Oberflächenkarte des Planeten auf die falsch projizierte Landschaft zu. Der Einflugwinkel der CANTRISS war verwegen und steil, die Geschwindigkeit vermutlich allzu hoch. Hoonrust steuerte den Mittelpunkt des größten sichtbaren Ozeans an. »Was hast du vor? Selbstmord?« erkundigte sich Cavitar. Während der langen Reise war sie Hoonrusts Gefährtin geworden. »Nein. Setzt euch hin, und schnallt euch fest. Kümmert euch um Inua!« antwortete er hart. Im fremden Schiff war nach der Entdeckung der makabren Fracht der Zerstörungsmechanismus aktiviert worden. Hier traten die planetaren Abwehrmechanismen in Tätigkeit, wenn der Illusionsschirm durchflogen wurde. Aber sie waren alles andere als blitzschnell, denn sonst wäre das Schiff sehr viel früher abgeschossen worden. »Hier liegt ein Schlüssel«, sagte Hoonrust laut genug, um an jeder Stelle aller Schiffe gehört werden zu können, »der für alle Ligriden wichtig ist. Ich wiederhole: für uns alle. Für das ganze Volk. Für Gwards und Gwyns. Wir finden es heraus, Freunde.« Die CANTRISS durchstieß die dünne Energiefolie des Schirms, und auf den Vorausschirmen zeichnete sich unverändert die feine Struktur des bewegten Ozeans ab. Hoonrust jagte hinunter zur Oberfläche des riesigen Wassers und setzte sämtliche Bremstriebwerke ein, als er nahe genug an der Grenze zwischen Luft und Wasser war. Dann riß er die CANTRISS förmlich herum und raste auf eine leere, felsige Steilküste zu. In den nächsten Minuten flog das Schiff eine Handvoll Meter über den Wellen dahin, tauchte in den tiefschwarzen Schatten der Felswand ein und wurde noch langsamer. Auf den Schirmen der Nahortung zeichneten sich weder angreifende Projektile noch Kampfstrahlen ab. Hoonrust bremste das Schiff bis zum Stillstand ab. Dann desaktivierte er nicht nur die Antriebsdüsen, sondern auch die Antigraveinheiten. Die CANTRISS sank dem Wasser entgegen, berührte die Wellen und versank langsam im Wasser des fremden Ozeans.
»Hoffentlich geht das gut«, fragte sich Zione. Hoonrust deutete auf die Ortungsschirme und rief unterdrückt: »Ich habe nicht vor, lange auf Fjukium zu bleiben. Wie tief ist es hier?« Augenblicklich erwiderte Baztak: »Kein Risiko, Hoonrust. Nur knapp fünfzig Meter.« Drei Ligridenschiffe waren noch übrig. Hoonrust hoffte, daß seine beiden Kommandanten seine Warnungen und Befehle befolgten und sich ebenso versteckten wie er. Die CANTRISS setzte mit zwei leichten Stößen auf dem weichen Seegrund auf. Eine Wolke Sand und Sedimente hob sich und verdunkelte vorübergehend die Optiken der Bildschirme. Hoonrust ließ die Steuerung los und sagte voller Entschlossenheit: »Baztak und Zione, ihr scheint ausgesprochen gute Einfälle zu haben. Ihr und ich sowie noch ein paar Freiwillige, wir steigen in das Beiboot. Wir müssen die wahren Verhältnisse auf Fjukium erkunden, so schnell und gründlich wie möglich.« »Im Raumanzug? Die Luft ist atembar, Chef«, wandte Baztak ein. Hoonrust schüttelte den Kopf und bestimmte: »Kampfanzüge!« Sie einigten sich auf ein Team von fünf Ligriden. Ihre Ausrüstung würde aus Waffen, Nahrungsmitteln und hauptsächlich Aufzeichnungsgeräten aller Art bestehen. Hoonrust setzte eine Frist von etwa einem Tag. Dann wollten sie wieder starten und, wenn möglich, zur BASTION II zurückfliegen. »Ich brauche eine Karte, also einen scharfen Ausdruck der letzten Ortungsergebnisse«, sagte Hoonrust. »Start in einer Viertelstunde.« Von der Siedlung im Zentrum des Großkontinents waren sie etwa fünfhundert Kilometer entfernt. Für das Beiboot bedeutete diese Distanz kein Problem. Schwierig würde indessen jeder Versuch werden, die Geheimnisse aufzudecken; in jeder Sekunde konnten sie von den noch nicht bekannten Bewohnern entdeckt werden – das blitzschnelle, überraschende Zerstören des Raumschiffs war der schlimme Beweis für die sorgfältige Überwachung dieser Welt. Das Beiboot löste sich antriebslos vom Schiff, schwebte wie eine Qualle aufwärts und tauchte plätschernd auf. Die Linsen bewegten sich unhörbar, sämtliche Nahortungsgeräte und Detektoren wurden nacheinander eingeschaltet, als Hoonrust sich festschnallte und das Beiboot startete. Das kantig-tropfenförmige Objekt schwebte im Schutz der schroffen Felswand senkrecht aufwärts und huschte dann fast geräuschlos, zwischen hochragenden Felsnadeln davon. Die Landschaft, die sich anschloß, schien unbelebt zu sein. Hoonrust riskierte es nicht, schnell und hoch zu fliegen. Er nützte jede Deckung aus und richtete sich nach der mehrfarbigen Karte. Hoonrust ahnte, daß Hyptons für diese Schrecken verantwortlich waren. Er ahnte gleichzeitig auch, daß er sie kaum finden konnte, wenn sie sich nicht selbst zeigten. Und das hielt er für völlig aussichtslos. * EVOLO hatte sich zwei selbständige Agenten geschaffen; darauf lief der Umstand hinaus, daß diese Ableger von seinen Sporen getroffen, umgewandelt und zu Quasimutanten gemacht worden waren. Verborgene Tatsachen aufzudecken, nachdem die Struktur des Versteckten und Unerklärlichen durchschaut worden war, das schafften die beiden Ligriden. Sie wußten nicht, daß sie manipuliert
wurden. Sie handelten, wie sie auch ohne Zutun EVOLOS gehandelt hätten. Zwei psionische Mutanten – das bedeutete doppelte Sicherheit. Einer würde gewiß lebend zurückkehren und in Manam-Turu seinem »Herrscher« berichten, der sehr viel größeren Ansammlung von Impulsen. Bis zu einem Zeitpunkt, an dem sich andere Notwendigkeiten ergaben, fühlten und reagierten sie auf die Eindrücke mit hilfloser Wut und steigender Verzweiflung. Die Tradition der Gward-Philosophie war stark und prägend. Aber auch sie hatte ihre Wurzeln tief in der geschichtlichen Vergangenheit der Ligriden. In Enterny war dieses Sternenvolk entstanden, und dort lag ihre geistige Heimat. Der Anblick von Artgenossen, die nicht frei über ihren Willen und ihre Handlungen verfügen konnten, war schon schrecklich genug gewesen und weckte tiefe Zweifel. Der Umstand, daß es Ligriden waren – denn dieser Schluß blieb außerordentlich logisch –, die keine Erinnerung an Gwyn oder Gward oder die historischen Gründe und Vorgänge des langen Weges von Enterny bis zur Partnerschaft mit den Hyptons hatten, saß tief als Stachel in den Gedanken auch dieser beiden Raumfahrer.
4. Nach etwa dreißig Minuten Flug, mit der Sonne im Rücken, sagte Hoonrust plötzlich: »Ich werde Lorad und seinen Freunden vorschlagen, eine zweite Expedition hierherzuschicken. Allerdings mehr Schiffe, und eine schlagkräftige Bewaffnung.« »In ein paar Stunden sind wir klüger«, meinte Zione. »In dieser Kleingalaxis werden wir vermutlich noch einige böse Überraschungen erleben.« »Bisher war es verdächtig friedlich«, brummte der Navigator. »Aber es gibt Funkverkehr. Ich bin sicher, daß sich Roboter miteinander unterhalten.« »Unsere Schiffe?« fragte Hoonrust. »Nichts.« Durch die große, gekrümmte Frontscheibe blickten sie auf eine waldreiche Flußlandschaft weit im Innern des Kontinents. Es gab riesengroße Vögel mit weißen Schwingen und schwarze, büffelartige Tiere, die an den Ufern weideten. Leichter Nebel hing in einigen Quertälern. Dann tauchte an einer engen Stelle des Flußtals eine Brücke auf. Ein breites, helles Band über einer Gitterkonstruktion kam aus einem unübersichtlichen Teil der Waldzone und mündete nahe einer Lichtung. Das Beiboot beschrieb über dem Wasser eine enge Kurve und fegte auf das Ende der Piste zu. Im Schutz mächtiger Bäume und wuchernder Rankengewächse erstreckten sich dort flache Gebäude. Zwischen ihnen bewegten sich große, schlanke Gestalten. »Fjuker!« knurrte Nakida. »Wir sollten uns näher mit ihnen beschäftigen.« »Falls wir nahe genug herankommen«, erklärte Hoonrust, »werden wir es riskieren.« Wieder änderte das Beiboot den Kurs. Es wich nach links aus und flog von der Brücke und der Straßenschneise weg, raste über die Baumwipfel und umkreiste einen Felsen. Rücksichtslos schob Hoonrust die Maschine zwischen brechende Äste und suchte einen Landeplatz. Der Flugkörper sank durch krachendes Buschwerk und landete in einem Hagel abgerissener Blätter und Äste. Hoonrust sprang auf und winkte Baztak. »Ihr haltet die Maschine startbereit«, befahl er. »Wir machen uns bemerkbar, wenn wir Hilfe brauchen. Zione, du bleibt am Buggeschütz.« »Viel Glück, Chef.« »Werden wir brauchen«, gab er zurück und bewegte sich schnell, gefolgt von Baztak, zur kleinen Schleuse. Die innere Tür zischte auf, als Cavitar hastig und laut sagte: »Ich habe eine Meldung der KHALACK. Alles in Ordnung.« Hoonrust winkte zurück. Sie verließen das Beiboot, kletterten die Metallsprossen hinunter und versuchten, sich geradeaus durch Unterholz und Schlingpflanzen zu kämpfen. Die Luft war kühl, feucht und wohlriechend nach der langen Zeit im Schiff. Aber die Ligriden achteten nicht darauf. Sorgfältig kontrollierten sie ihre Funkgeräte und schafften es nach zweihundert Schritten, sich aus dem grünen Gewirr der dichten Pflanzen zu befreien. Vögel, kleine, unsichtbare Tiere, Insekten und die keuchenden Atemzüge der Ligriden, zusammen mit den Geräuschen der Tritte und brechenden Holzes ergaben einen höllischen Lärm. Die dicht stehenden Stämme lichteten sich, die Fronten der Gebäude tauchten auf. »Dort hinüber, Baztak«, drängte Hoonrust. »Ich sehe einige Fjuker.« Sie blieben hinter einem Wall aus Büschen stehen und konnten auf den Platz zwischen den Gebäuden hinausblicken.
»Sie sind größer als wir!« meinte Baztak nach kurzer Zeit. »Echsenartige Wesen.« »Aber sie sehen nicht so aus, als würden sie die beherrschende Lebensform auf Fjukium sein.« »Ganz und gar nicht.« Die beiden Ligriden warteten und rührten sich nicht. Ein Trupp Stahlmänner trieb eine zehnmal so zahlreiche Menge Fjuker von einem Gebäude zum anderen. Die echsenhaften Köpfe der silbergeschuppten Wesen waren gebeugt, die schnabelähnlichen Schnauzen wirkten, als ob sie in der Grimasse eines tiefen Kummers verzogen wären. »Hast du dieses kleine, bepelzte Wesen gesehen?« erkundigte sich Baztak und deutete auf eine Stahltür, die sich öffnete und einen Blick in ein Labor gestattete. Aus diesem weißen, hell beleuchteten Raum mit blitzenden Geräten kam eines jener Lebewesen, die Hoonrust kurz im fremden Schiff gesehen hatte. Vor der Selbstzerstörung hatten sie auf Ligriden geschossen. »Ja. Im Gegensatz zu den Fjukern ist auch dieser Kleine bewaffnet. Ich verstehe nichts mehr.« Was stand nach diesen wenigen Beobachtungen fest? »Man hält die Fjuker wie Gefangene. Dazu paßt ihr trauriges Gehabe«, murmelte der Expeditionsleiter. Lautlos machten die Geräte Aufnahmen von den Lebewesen und der Umgebung. Die Ligriden hörten einzelne Befehle aus den Lautsprechern der Roboter. Das Wort »Fjuker« wurde häufig gebraucht. Die erste Gruppe war längst in einem Gebäude verschwunden. Jetzt kam aus einer anderen Richtung ein Trupp Fjuker, der sich mehr als seltsam ausnahm. Jedes einzelne Wesen trug an einer anderen Stelle des Körpers einen dunklen Verband. Wieder schwebten Stahlmänner neben ihnen und trieben sie mit krachenden Schockentladungen aus den Waffenarmen weiter. Hellrote bis blaurote Augen blickten gehetzt und gequält aus den Schuppen der Köpfe. Sie schienen keine Lider zu haben. Hoonrusts Verwirrung wurde nicht geringer. »Wir sollten einen Fjuker gefangennehmen und befragen«, flüsterte er. »Er wird uns vermutlich sagen, daß er Patient in einer technischbiologischen Anlage ist. Vielleicht sogar ein Opfer.« »Sehen wir uns an anderer Stelle um«, schlug Baztak vor. Hoonrust nickte und schlich hinter Baztak an der Rückfront des Bauwerks entlang. Es gab eine Reihe von Öffnungen und Fenstern. Sie gestatteten, obwohl sie halb undurchsichtig vor Schmutz waren, den Blick ins Innere. Lethargisch lagen Fjuker auf schmalen, niedrigen Pritschen. Ihre Körper waren mit breiten Binden, langen Schläuchen, seltsamen Kappen oder ähnlichen Gerätschaften an blinkende und pulsierende Armaturen angeschlossen. »Man stellt irgendwelche biologische Experimente mit ihnen an.« Hoonrust und Baztak hasteten weiter. Überall, wo es die Chance gab, etwas zu sehen, hielten sie an und versuchten zu erkennen, was sie sahen. Das Aufzeichnungsgerät arbeitete ununterbrochen. Stahlmänner und diese kleinen Wesen mit den vielfarbigen Gurten und den langen Spinnenfingern waren zwischen den Fjukern und bedienten Geräte und Pulte voller Schalter. Durch gläserne Röhren kochten und sprudelten farbige Gase und Flüssigkeiten. »Wo Stahlmänner sind, gibt es auch Hyptons!« Die Ligriden schlichen über den freien Platz zwischen zwei Gebäuden und schlugen einen Umweg durch das Gebüsch ein. Dann tauchten sie wieder auf einer Rampe auf, die sich bis zur Mitte eines runden, dreistöckigen Gebäudes hinaufringelte. »Diese Vermutung ist naheliegend.« Vorsichtig schritten sie weiter. Ständig blickten sie sich um, aber sie waren offensichtlich noch nicht bemerkt worden. Aus größerer Höhe erkannten sie wieder eine Gruppe der niedergeschlagenen
Gefangenen, deren langgestreckte Gliedmaßen denen der Ligriden nicht unähnlich waren. Die Echsenwesen wurden in eine Anlage gebracht, die sich am anderen Ende der kleinen Siedlung befand. Als Hoonrust und Baztak an einer weit offenen Tür vorbeikamen, warfen sie lange Blicke hinein und zogen die schweren Schockstrahler. »Eine gute Chance«, flüsterte der Navigator. Hoonrust stimmte zu und sprang in den Raum hinein. Er war nicht groß, auf dem Boden lag ein Teppich aus groben, weichen Pflanzenfasern. Etwa ein Dutzend Fjuker hockte auf dem Boden, einige krochen umher, zwei standen an einem Fenster und starrten hinaus. Hoonrust deutete auf die Tür. Baztak sprang darauf zu, schloß sie und stellte sich als Wache daneben auf. Er öffnete sie einen schmalen Spalt und sagte scharf: »In Sicherheit.« Jetzt sahen sie es genau: die Fjuker waren zwischen zweieinhalb und drei Meter groß, also weitaus größer als der Durchschnitt der Ligriden. Hoonrust wandte sich an die beiden, die in seiner Nähe lethargisch aus dem Fenster blickten. »Ihr seid Fjuker?« fragte er. »Euch gehört dieser Planet?« Er stellte sich zu ihnen und konnte deshalb gleichzeitig auf den freien Platz und die Rampe hinuntersehen. »Wir erinnern uns nicht.« Baztak und Hoonrust starrten einander verblüfft an. Die Fjuker verhielten sich ebenso wie Inua. Die Anwesenheit von fremden Wesen, die mit Stahlmännern oder den anderen Pelzwesen nichts zu tun hatten, schielen sie nicht im mindesten aufzuregen. »Seid ihr Gefangene?« »Wir können nicht tun, was wir wollen. Wir sind müde.« »Warum ändert ihr diesen Zustand nicht?« »Die Stahlmänner. Die Ikuser. Wir werden furchtbar bestraft.« »Wem gehorchen die Ikuser?« »Den Hyptons.« »Und alle zusammen haben verhindert, daß ihr, die Fjuker, euch an die Vergangenheit erinnert und daran, woher ihr kommt?« fragte Hoonrust und sah ein, daß die Echsenwesen entweder unter Drogeneinfluß standen, oder daß sie sich fürchteten. Leise fragte er: »Beiboot? Hört ihr zu? Funktioniert die Datenübertragung?« »Ganz vorzüglich. Weitermachen, Chef.« »Wir haben nur die Erinnerung an Absommenperk, der kommen wird, um uns alle zu retten.« »Wer oder was ist Absommenperk?« Hoonrust und Baztak wurden unruhig. Sie befanden sich schon zu lange an einer Stelle. Jede Sekunde konnten die Stahlmänner auf sie aufmerksam werden. »Absommenperk ist der Sternenkämpfer. Er besiegt alles. Er wird uns in die Heimat zurückholen und uns alles geben: Häuser und Essen und Freiheit.« »Wo liegt eure Heimat?« »Wir wissen es nicht.«
»Aber nicht hier, auf Fjukium?« »Man nennt uns die Fjuker, das wissen wir. Unsere Erinnerung ist schwach, wir glauben, daß wir nur leben, weil uns die Hyptons brauchen.« »Wozu?« »Das weiß keiner von uns.« Baztak und Hoonrust versuchten, in den Echsengesichtern und den seltsam langgezogenen Augen eine Regung zu erkennen, einen Ausdruck dessen, was die »Fjuker« empfanden. Es blieb ein vergebliches Unterfangen. Mit jeder weiteren Antwort verdichtete sich ein ungeheuerlicher Verdacht – aber noch fehlten Beweise. Und die vielen Teile des Mosaiks paßten noch nicht zusammen. »Möge Absommenperk euch bald helfen«, sagte Hoonrust und machte die Geste der Verabschiedung. »Wir können es nicht.« Mit einigen langen Schritten war er wieder bei der Tür. Nicht einmal die Hälfte der Fjuker blickte ihnen nach, als sie vorsichtig hinausgingen und die Tür wieder schlossen. Leise sagte Baztak: »Was wir hier erleben, dürfte auch in den Gettostädten nicht anders zu sehen sein. Nur ungleich größer«, er zog Hoonrust mit sich und hastete die Rampe hinunter. »Ich ahne, daß biologische Eingriffe für diesen üblen Zustand verantwortlich sind.« Hoonrust stieß einen erbitterten Fluch aus. »Also wieder einmal: die Hyptons!« »Ich sehe es so, Chef. Die Fjuker werden sich nicht wehren. Es sei denn, dieser legendäre Absommenperk kommt.« Sie verschwanden im Gebüsch. Die Helligkeit und die Hitze hatten zugenommen. Als sie sich in Sicherheit vor den Stahlmännern und möglichen Überwachungseinrichtungen glaubten, blieb Hoonrust stehen und lehnte sich an einen Baumstamm. Unter anderen Voraussetzungen hätte er sich gefreut, nach so langer Zeit wieder unmittelbar in der Natur umherlaufen und frische Luft tief einatmen zu können. Hier und jetzt dachte er nur an das Ergebnis der Fernexpedition. Ein Schock plötzlichen Erkennens traf beide Ligriden nahezu gleichzeitig, als sie versuchten, ohne Lärm zum Beiboot zurückzukehren. »Wenn die Hyptons hier ein Sternenvolk, oder wenigstens viele Angehörige dieses Volkes versklaven und manipulieren…«, fing Hoonrust an und wurde sich bewußt, daß seine Kameraden mithörten. »… dann liegt doch der logische Schluß verdammt nahe, daß sie auch uns betrügen. Ganz bewußt und planmäßig. Mit einem Ziel, das wir noch nicht kennen.« »Du hast recht, Diener des Gward«, murmelte Hoonrust förmlich. »Was haben die erinnerungslosen Ligriden im Schiff mit den Fjukern zu tun?« »Vielleicht’ nichts, vielleicht sehr viel. Das wissen wir noch nicht, Hoonrust.« »Also haben unsere Kriegsherren recht mit dem Verdacht, daß unsere Partner uns betrügen.« »Aus dem Verdacht wird auf Fjukium eine Gewißheit. Soviel können wir schon jetzt feststellen.« Sie stolperten über Wurzeln und schoben sich durch ein Gewirr federnder Äste zurück auf den Pfad, den sie selbst getreten hatten. Minuten später standen sie vor der Luke des Beiboots. Ein Besatzungsmitglied stand mit schußbereiter Waffe neben der Bordwand und hob in knappem Gruß die Hand. »Was jetzt, Hoonrust? Fliegen wir mit dieser Erkenntnis zur BASTION zurück?«
»Auf keinen Fall«, antwortete Hoonrust, ohne nachzudenken. »Uns fehlen noch Beweise. Wir suchen weiter. Was gibt es Interessantes von der MARDOZA und der KHALACK?« »Ich bin nicht über die, letzten Ergebnisse orientiert«, lautete die Antwort. »Soll ich weiter Wache halten?« »Ja. Nicht mehr lange. Wir starten in Kürze.« Baztak und Hoonrust kletterten zur Schleuse, zwängten sich ins Innere und ließen sich in der Zentrale in die Sessel fallen. Mehrere Aggregate liefen fast unhörbar und verdichteten die Luft des Planeten und speicherten sie in den Vorratsbehältern. »Hat sich die KHALACK gemeldet?« fragte Hoonrust. »Ja. Hör zu, Hoonrust«, sagte Zione niedergeschlagen.
5. Kommandant Teshar sah, wie die Batterie zu feuern anfing. Rechts vor der KHALACK, weit voraus, hatten sich nahe einer Reihe von stabförmigen, von schalenförmigen Elementen unterbrochenen Projektoren die blitzenden Führungsrohre der Raketen aus einem Erdversteck hervorgeschoben. Sie waren Teil der planetaren Verteidigung, und sie versuchten jeden zu vernichten, der es geschafft hatte, den Illusionsschirm zu durchdringen. Sein Schiff gehörte zu den drei übriggebliebenen Einheiten, die bisher mindestens normaloptisch die Wirklichkeit des Planeten kannten. Die Schutzschirme waren intakt. Die Projektoren arbeiteten fast mit höchster Kapazität. »Feuer frei«, sagte Teshar hart. »Zeigt es ihnen!« Nacheinander lösten sich blitzende Raketen aus den Abschußrampen, rasten einige Sekunden lang senkrecht in die Luft und schlugen dann ihren rasend schnellen Weg in die Richtung des heranfegenden Schiffskörpers ein. Aus dem Projektor des Buggeschützes lösten sich lange, dröhnende Strahlen und schlugen in den breiten Spalt des Hügels ein. Teshar hielt den Kurs der KHALACK noch solange stabil, bis zu sehen war, daß sich Feuer, Glut und Rauch im Inneren der Anlage ausbreiteten. Dann sackte das Schiff schwer durch, raste zwischen der Mittelpunktstadt und dem Gettobezirk hindurch, verfolgt von einem Schwarm einzelner Raketen. Die Projektile zogen keinerlei Rauchfahnen hinter sich und waren sehr schnell. Das Heckgeschütz begann mit dumpfem Krachen einzelne Schüsse abzugeben. Nacheinander wurden drei Projektile getroffen und regneten als glühende Trümmer auf Teile der Außenbezirke herunter. Heulend und mit dem Donner des Unterschallknalls raste die KHALACK weiter. Zwei Abwehrprojektile detonierten in den Schutzschirmen und überfluteten die Bildschirme mit mehrfarbigem Feuer. »Was hast du vor, Teshar?« rief der Ligride an den Ortungsschirmen. »Irgendwo landen!« Ob die CANTRISS und die MARDOZA sich hatten retten können, war im Augenblick nicht wichtig. Die KHALACK verringerte ihre Geschwindigkeit und schlug einen Zickzackkurs ein. Bei der Landung und einer denkbaren Suche waren die Ligriden auf Zufälligkeiten angewiesen; wo, beispielsweise, sollte man die versteckten Hyptons suchen? Der letzte Verfolger explodierte dicht hinter dem Heck des Schiffes. In der Stoßwelle der aufgewirbelten Luft wurden die Wipfel der Bäume wild gepeitscht. Als das Schiff über eine Savanne hinwegfegte, erhob sich eine gewaltige Staubwolke rot und brodelnd in die Luft. Teshar zwang das Schiff in eine Kurve und entdeckte voraus auf den Ortungsschirmen einen riesigen, langgezogenen See. »Dorthin geht es, Freunde«, rief er. »Schießt auf alles, was sich in der Luft blicken läßt.« Die kleine Besatzung des Schiffes, ausgestattet mit einem hervorragenden System von Aufnahmegeräten und Aufzeichnungsmöglichkeiten, hatte eine große Menge an Informationen gesammelt. Die Landschaft, die Siedlungen und Bauwerke waren während des rasenden Fluges unterhalb des Illusionsschirms förmlich kartografiert worden. Aber was brachte es? Die wenigen Meldungen der anderen Schiffe besagten nicht viel. Die Buggeschütze feuerten und verwandelten das Wasser der Seeoberfläche in riesige Dampfwolken. Das Schiff stieß schräg nach unten und prallte hart auf dem Wasser auf. Dann sank es langsam ein, immer tiefer, bis die Wellen über der Metallmasse zusammenschlugen. Mit den Antigravprojektoren hielt Teshar das Schiff in der Schwebe, ließ es weiter absinken und
setzte es auf den Seeboden. »Wir werden versuchen, mit dem Beiboot irgendwo hinzufliegen und dort zu forschen«, ordnete Teshar an. »Nicht mehr als fünf Mann.« Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis am Ufer des namenlosen Gewässers das Beiboot auftauchte, in geringer Höhe über die Uferzone schwebte und auf die zuletzt überflogene Gettostadt zuschwebte. Teshar saß an der Steuerung und versuchte alles, um ungesehen das Ziel zu erreichen. Schon seit vielen Jahren hatte er keinen Einsatz auf einem derartigen Terrain geflogen. Er nutzte jede Deckung aus und näherte sich auf Umwegen den Außenbezirken der Stadt. Was aus der Luft während des rasend schnellen Überfliegens groß und auf seltsame Art prächtig ausgesehen hatte, entpuppte sich aus der Nähe als alt und stellenweise fast schäbig. Viele Wände und Mauern waren von Grün überwuchert, aber die Zeichen der abbröckelnden Mauern, blinden Fenster, löchrigen Straßenbeläge waren deutlich. Die Gettostadt zeigte erst jetzt ihre große Ausdehnung. Überall waren schon während des Anflugs große Mengen von Fjukern zu sehen, die von Stahlmännern eskortiert wurden. »Gefangene, die sich nicht wehren!« hörte Teshar. Er nickte und steuerte hinter einem Waldgürtel nach links und geriet mit dem Boot aus der Zone, die von den Gebäuden eingesehen werden konnte. Die Besatzungsmitglieder konzentrierten sich auf die nähere Umgebung und suchten sie mit ihren Geräten ab. Der Kommandant starrte durch die Frontscheibe und landete das Boot am Rand einer Fläche aus hellem Sand oder Erdreich, das fast von derselben Farbe wie der metallene Rumpf war. »Vielleicht haben wir jetzt mehr Glück als bisher«, sagte Teshar entschlossen. »Ich rechne allerdings nicht damit.« »Gward wird uns helfen«, murmelte jemand hinter ihm. Drei Mann, der Kommandant an der Spitze, verließen das Beiboot und rannten, nach allen Seiten sichernd, durch den Staub auf den Waldrand zu. Hinter dem grünen Wall sahen sie die Oberkante einiger Gebäude. Sie schlichen in aller Vorsicht auf ein kleineres Bauwerk zu, das im Gegensatz zu der allgemeinen Abgenütztheit sauber und neuartig wirkte, wenigstens technisch in weitaus besserem Zustand als die gesamte Umgebung. Teshar hielt seine Begleiter mit einer Handbewegung zurück. »Da sind diese kleinen Pelzwesen mit den seltsamen Augen. Wir kennen sie aus den Aufzeichnungen des vernichteten Raumschiffs. Viele von ihnen. Sie scheinen nicht zu den Gefangenen zu gehören.« Er sprach leise und machte gleichzeitig Aufzeichnungen. »Ihr Wohnhaus sieht aus, als würden sie hervorragende Handwerker sein«, war der nächste Kommentar. »Vielleicht sind sie die Baumeister der Hyptons.« Teshar ahnte, daß sie der Wahrheit mit jeder Stunde näher kamen. Es gelang dem Ligridenkommando, bis zur Rückseite des Gebäudes vorzudringen und dort ein Richtmikrophon in Stellung zu bringen. »…Traube der Denkenden Biologen«, war deutlich zu verstehen. »Der nächste Transport wird vorbereitet…« »…langweilige Technik der Umzuchtexperimente…« »… unqualifizierte Störungen durch irgendwelche Eindringlinge verhindern…«
Die Ligriden hörten zu, verstanden und waren ratloser denn je. Wer sollte hier umgezüchtet werden? Es konnte sich nur um die bedauernswerten Fjuker handeln. Die Pelzwesen mit dem haarlosen, großäugigen Gesicht halfen den Hyptons – das war eine Tatsache. »… wieder von diesem Absommenperk. Sie sprechen von nichts anderem. Erinnerungen an ihre Vergangenheit nicht völlig auszubrennen…« »… merkwürdige Sagen…« Teshar flüsterte seinem Nachbarn zu: »Das müssen wir sofort an Hoonrust weitergeben. Die Pelzwesen und die Hyptons verwandeln die Fjuker!« »Und schicken sie in eine andere Galaxis?« antwortete der Ligride. Im selben Augenblick hörten sie den Donner einer gewaltigen Explosion. * Das Raumschiff war beobachtet und das Versteck angemessen worden. Von einer anderen Abschußrampe startete ein Projektil. Beschrieb eine steile Parabel und traf die KHALACK nur einen Sekundenbruchteil nachdem die Spitze der Rakete das Wasser berührt hatte. Die KHALACK wurde zerfetzt. Die Energie des Sprengkopfs durchschlug mit ihrer gigantischen Kapazität die Schutzschirme des Fernraumschiffs. Die Hochenergiespeicher lösten sich mit einer derartigen Energieentfaltung auf, daß das Wasser des Sees verdampft und Teile des Bodens und Ufers verglast wurden. Eine riesige Dampfwolke verdunkelte das Licht der Mittagssonne. Der Boden bebte, in der Gettostadt wurde Alarm ausgelöst. Teshar und seine Leute begriffen, daß die Fernexpedition abermals Opfer gefordert hatte. Das Beiboot startete und hatte nach kurzer Zeit Funkkontakt mit dem Beiboot der CANTRISS. Teshar versuchte, sich und seine Kameraden zu retten – und das Wissen, das er mitbrachte. Es konnte nur einen neuen Schock für die Ligriden bedeuten. * Während des letzten Drittels des Fluges tauschten Teshar und Hoonrust ihre Informationen aus. Ihre Gesichter waren regungslos und angespannt. Sie sprachen im traditionellen Tonfall und unter Beachtung aller Formen und Vorschriften. »Diener des Gward. Ich berichte«, sagte Teshar. »Es gibt auf diesem Planeten eine Hyptontraube. Sie nennt sich die ›Denkenden Biologen‹, was viel aussagt über die Art ihrer Arbeit.« »Ich verstehe, Diener des Gward Teshar«, antwortete Hoonrust und spürte förmlich, wie der andere Ligride versuchte, sich zu beherrschen. »Auf Fjukium werden biologische Experimente in großem Rahmen durchgeführt.« »Das Basismaterial für dieses Geschehen sind die geschuppten Reptilienwesen.« »Die ihrer Erinnerung beraubt worden sind.« »Und die nicht wissen, wozu sie verwendet oder mißbraucht werden.« Hoonrust erhielt von Baztak ein Signal, wandte kurz den Kopf und schloß:
»Wir treffen uns an meinem Landeplatz. Es ist etwas Bedeutsames entdeckt worden. Wir werden viel Beherrschung zeigen müssen.« »Gward lehrte uns, das Leben in philosophischer Würde zu betrachten.« »Folge meiner Funkpeilung.« Hoonrusts Maschine glitt in einer flachen Geraden abwärts und steuerte auf ein winziges Tal zu. Hier gab es eine dünne graue Rauchsäule, die schräg nach Osten wehte. Als das Beiboot nahe genug heran war, entdeckten die Vergrößerungslinsen eine einfache Hütte, vor der unbeweglich eine Säule aus Holz und Stein lehnte, von mehreren Ästen in die Senkrechte gestützt. »Wir landen und umzingeln die Hütte. Einer bleibt an Bord. Zione?« »Ich gehe diesmal mit hinaus.« In Minutenabständen landeten der Flugkörper mit den Überlebenden der KHALACK und das andere Beiboot. Acht Ligriden sprangen aus den Schleusen, verteilten sich in einem Kreis und drangen dann mit schußbereiten Waffen gleichzeitig auf den Mittelpunkt vor. Die Hütte war bewohnt. Sie bestand aus dicken Ästen, die tief in den Boden gerammt und mit Flechtwerk verbunden waren. Trockener Lehm bildete vier Wände und ließ kleine Öffnungen frei. Das Dach bestand aus zusammengeschnürten Bündeln langer Gräser. Vor einer Plattform aus Rundholz brannte ein kleines Feuer, über dem ein rußiges, zerbeultes Gefäß an einem Dreifuß hing. Der Bewohner der Hütte legte, als die Ligriden heranstürmten, einen Metallfetzen – ein primitives Messer – und ein Stück Holz zur Seite. Fassungslos umstanden ihn die Ligriden. Der nächste Schock hielt sie fest umklammert. Entsetzen packte sie, als sie die Wahrheit erkannten. Eine jener Wahrheiten, die so furchtbar waren, daß sich der Verstand weigerte, die Tatsachen als gegeben zu verarbeiten. »Wer bist du? Oder – was bist du, Mann?« fragte Hoonrust. Ein männliches Wesen von schwer bestimmbarem Alter saß da, blickte zwischen der entfernt ligridenähnlichen Skulptur zu den Frauen und Männern in Raumanzug und Kapuze hin und her, dann senkte es die Arme und spreizte die Hände. Die echsenartigen Fjuker hatten acht Finger. Dieses Wesen hatte nur sechs Finger – wie die Ligriden! »Ich bin der Beschwörer!« murmelte er. An seiner Haut waren nur noch wenige Schuppen zu sehen. Sie zeigten sich an Händen und Füßen und dort, auf größeren Flächen als bei den Ligriden, an den Außenflächen der Gelenke. Die Haut war nicht mehr silberfarben, sondern dunkelolivbräunlich. »Was beschwörst du?« fragte Hoonrust keuchend. Er schloß die innere Haut vor den Augen und wirkte auf einmal uralt und todmüde. »Absommenperk. Sternenkämpfer. Dort steht er.« Mit einem langen, dünnen Arm deutete der Beschwörer auf die Skulptur, die in mühsamer Arbeit geschaffen worden war. Holz und Steine waren mit dünnen Bändern aus Pflanzenfasern aneinander befestigt. Die Gestalt zeigte in barbarischer Weise alle Merkmale von Fjukern und Ligriden, durch das Material verzerrt und schrecklich deutlich herausgearbeitet, symbolhaft und so nachdrücklich wie ein Keulenhieb. »Warum bist du nicht in der Gettostadt?« »Ich bin ihnen entkommen. Auf einzelne, die sterben oder verschwinden, passen sie nicht auf.«
»Auch nicht die Pelzwesen?« »Sie helfen den Hyptons. Es sind Ikuser. Ich bin der Flüchtling, der Absommenperk beschwört.« Hoonrust fühlte, wie der Wahnsinn der Erkenntnis nach ihm griff. Aber er schaffte es, alle Erschütterungen seines Egos zurückzudrängen und zu fragen: »Aus Fjukern werden hier Wesen… gemacht, die aussehen wie du? Also wie wir?« Der Mann, offensichtlich alles andere als jung, oder vom Schicksal und den Entbehrungen stark gezeichnet, erwiderte langsam und stockend, als krame er in seiner diffusen Erinnerung und würde einzelne Bruchstücke ungeschickt zusammensetzen: »Wie ich, ja. Ich weiß, daß es seit vielen, vielen Jahren geschieht. Es fehlen Zahlen, es gibt keine Erinnerung. Einst führte uns Absommenperk. Er wurde zur Legende. Wir werden biologisch verformt.« »Um ein Viertel kleiner gemacht. Eine andere Haut, weniger Finger und Zehen.« »Ich weiß es nicht. Ja, du hast recht. Es wurde so vieles vergessen. Der Kopf ist bei allen leer. Was ist Vergangenheit, was Zukunft – die Gegenwart ist übel genug.« Aus Ahnung wurde Gewißheit. Schock folgte auf Schock. Die Ligriden sahen, hörten und begriffen. Einer aus Teshars Mannschaft setzte den Projektor des Strahlers an seine Stirn und drückte ab. Sein Schädel zerbarst in einem dröhnenden Glutball. »Aufhören!« schrie Hoonrust und schüttelte den Wahnsinn ab. »Wir reden in Ruhe darüber. Die Folgerungen… wir können überleben.« Die Wahnsinnstat des Ligriden hatte einen winzigen positiven Effekt. Die Frauen und Männer waren entsetzt, aber diese Regung verdrängte für lange Augenblicke den ausbrechenden Wahnsinn. »Was tun die Hyptons und die Ikuser, wenn sie die Fjuker in Ligriden umgeformt und verwandelt haben?« fragte Hoonrust und würgte jedes Wort förmlich hervor. Er war der einzige Ligride, der noch zusammenhängend denken konnte in diesen Minuten. Dadurch, daß er seine Gedanken in Sprache umsetzte, bewahrte er sich vor der Geistesverwirrung. Das Echo seines wütenden, hilflosen Schreies hallte noch durch das Tal, als der Alte aufstand. Er glich jetzt noch mehr einem Ligriden. »Sie fahren zu den Sternen. Vielleicht kehren sie zu Absommenperk zurück, der furchtbare Kämpfer aus ihnen macht.« »Und… wissen sie das?« »Sie sind wie ich. Sie wissen nichts. Sie haben keine Vergangenheit, und die Zukunft werden sie lernen müssen.« Die Steigerung dieser Erkenntnisse war noch furchtbarer. Niemand wagte bewußt daran zu denken. Schweigend rückten die Ligriden näher zusammen, als böte die Gruppe mehr Schutz vor gemeinschaftlichem oder einzeln ausbrechendem Wahn. »Die veränderten Fjuker werden in Schiffen weggeschafft? Raumschiffe?« . »Viele gehen ins Schiff. Das Schiff startet. Viele Schiffe starten. Sie sind leer, wenn sie zurückkommen«, erklärte der Alte und blickte aus hellrotgelben Augen von einem Ligriden zum anderen. Baztak blickte zu Boden und murmelte, für jeden deutlich verstehbar: »Wir fanden Ligriden im Fjukium-Raumschiff. Es waren umgeformte Fjuker. Ich glaube nicht, daß sie etwas mit diesem Namen zu tun haben. Sie wurden auf den Planeten gebracht. Sie alle sind wie Inua – leer, ohne Erinnerung, ohne Ziel. Das Schiff wurde gesprengt, damit wir nicht erkennen, was die Ladung war – damit niemand es erkennt. Ich ahne, daß auf dem langen Flug in die Galaxis Enterny eine Maschinerie diesen Ligriden eine neue Identität überspielt. Ich bin nicht ganz sicher, daß es sich so verhält. Vielleicht werden sie nicht in unsere Heimatgalaxis geflogen – das ließ sich
aus dem Kurs nicht zweifelsfrei bestimmen. Hoonrust – ich gehe ins Beiboot. Ich muß mich zurückziehen, sonst vergesse ich die Regeln der Ahnen und die Tradition des Gward.« Fast dankbar nickte Hoonrust ihm zu und sagte: »Nimm unsere Kameraden mit. Ich komme nach.« Er machte drei Schritte und blieb vor dem Fjuker-Ligriden stehen. Forschend blickte er dem Alten tief in die Augen. Dabei sah er die Ränder der Augenlider, die sich von oben nach unten schlossen. Sie waren von den gleichen haarartigen Schüppchen besetzt wie seine eigenen, wie die Augen aller Ligriden. »Willst du mit uns kommen? Zu den anderen Ligriden?« Der Einsiedler machte eine Geste, die nur Ablehnung bedeuten konnte. »Nein. Ich bleibe hier und warte.« »Auf Krankheit und Tod?« Er legte seine Hand auf die hölzerne Hüfte seines Standbilds und sagte mit schicksalsergebener Einfachheit: »Auf Absommenperk. Er kommt und wird uns befreien.« »Dann wartest du lange«, sagte Hoonrust und wußte in diesen Sekunden eines mit absoluter Sicherheit: Er mußte lebend zurück zur BASTION und sein Wissen weitergeben. Alles andere war dieser Mission unterstellt. Er sagte zu Teshar: »Auf jeden Fall rettet sich die CANTRISS und ihre Mannschaft. Komm mit, fliege mit uns zurück. Wir verstecken uns im Osten im Meer. Dort sind wir sicher.« Der Kommandant des verlorenen Schiffes blickte ihn mit milchig verhüllten Augäpfeln an und brachte, seine Arme um die Schultern seiner Leute, einige Sätze hervor. »Ich weiß nicht. Ich glaube, ich werde verrückt. Man wird sehen, Diener des Gward.« »Die Entscheidung liegt bei euch, Teshar, Diener des Gward.« Hoonrust kletterte in das Beiboot, das von Baztak zurück zur Küste und in die Hangarschleuse der CANTRISS gesteuert wurde. Niemand von ihnen achtete auf den Funkverkehr. Sonst hätten sie mitgehört, wie die Kommandanten Teshar von der KHALACK und Kione von der MARDOZA lange miteinander sprachen. Aus Gründen, die verständlich waren, tauschten die Besatzungen ihre letzten Schlußfolgerungen aus. Dann packte der kollektive Wahnsinn die Teams. Sie dachten an die Vorschriften des Gward und suchten ein ehrenvolles Ende. Sie begannen den Kampf und stürzten sich auf jene Stellen, an denen sie die Traube der Denkenden Biologen vermuteten.
6. Die nächsten Stunden verbrachte Hoonrust wie in Trance. Das Beiboot schleuste ein, und wenige Minuten später raste die CANTRISS im Alarmstart aus dem See heraus. Auf den Bildschirmen, die zusammen mit den Lautsprechern die einzige Verbindung zum Geschehen auf Fjukium darstellten, war nicht viel zu sehen. Auf der Suche nach der Hypton-Traube kämpfte sich die MARDOZA, gefolgt vom Beiboot der KHALACK, durch die Mittelstadt. Sämtliche Geschütze feuerten ununterbrochen, und vom Boden schlug den Angreifern schweres Abwehrfeuer entgegen. Teshar und sein Beiboot vergingen im direkten Beschuß und zerstörten als weißglühender Trümmerhaufen eine biologische Umformstation. Möglicherweise trafen die Projektoren der MARDOZA zufällig auch den Aufenthaltsort der Hypton-Traube »Denkende Biologen«. Aber alle Ligriden waren von den schnell aufeinanderfolgenden Schocks der Erkenntnis tief getroffen. Diener des Gward oder nicht – sie reagierten nicht mehr mit der gewohnten Präzision. Sie wurden langsamer in ihren Reaktionen und versuchten, unbewußt, klare Überlegung durch blinden Zorn zu ersetzen. Mitten in der Stadt, nach dem fünften Vorbeiflug, der gräßliche Zerstörungen hinterlassen hatte, durchbrach die tödliche Energie der Bodengeschütze die Schutzschirme der MARDOZA. Nach einigen Schüssen war das Fernraumschiff nur noch ein glühendes Wrack, angefüllt mit toten Ligriden. Die langgestreckte Konstruktion drehte sich, trudelte und stürzte aus einigen tausend Metern Höhe ab. Die Stelle des Aufschlags verwandelte sich in ein flammendes Inferno. Die Überwachungseinrichtungen und viele der bodengebundenen Verteidigungseinrichtungen waren durch diesen Kampf abgelenkt. Die Crew der CANTRISS erlebte das Desaster auf den Schirmen mit, und obwohl alles sehr undeutlich blieb, begriffen sie, daß elf Ligriden und Inua im Innern der CANTRISS die Expedition überlebt hatten. Vierzig Mann und fünf Schiffe waren gestartet. Und noch lag der lange Flug zwischen den Galaxien vor ihnen. Als hinter Hoonrust ein schreiender, waffenschwingender Ligride jenseits des Zentrale-Schotts auftauchte, feuerte ihm der Expeditionsleiter eine volle Ladung aus dem Lähmstrahler in die Brust. Der letzte, furchtbare Schritt begann jetzt. Hinter der CANTRISS wurde der Glanz der Fjukium-Sonne kleiner und unbedeutender. Während Hoonrust, Zione und Baztak einigermaßen ruhig die langen Linearetappen vorbereiteten, befand sich Inua in ihrer Kabine und schlief – hoffentlich. Der Rest der Mannschaft war von Baztak entwaffnet worden. Lethargisch und in tiefer Melancholie hatten sie dabei zugesehen, wie er die Strahler aus den Spinden, Taschen und Anzügen nahm und irgendwo in der Zentrale wegschloß. Der Kosmos vor der CANTRISS zeigte nur Sonnen und kleine Echos von Planeten. »Fertig?« fragte Hoonrust. Alle Einzelheiten der Tradition, auch wenn sie absolut sinnlos geworden waren, konnten jetzt helfen, nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Die drei Ligriden in der Zentrale
waren vorschriftsmäßig gekleidet und bedienten sich der klassischen Sprache und der Gestik. »Fertig zum Linearmanöver, Diener des Gward«, erwiderte Baztak und senkte den Kopf. Die CANTRISS schüttelte sich ein wenig und glitt in den übergeordneten Raum hinein. Das erste Etappenziel lag fest. Der lange Rückflug hatte begonnen. Hoonrust entspannte sich ein wenig und fühlte, wie die Mutlosigkeit und der rasende Zorn auf die verbrecherischen Hyptons wieder zurückkamen. Die Arbeiten der letzten Stunde hatten diese Empfindungen erfolgreich zurückgedrängt. Er drehte den Sessel und wandte sich an Zione. »Zione, Dienerin des Gward«, sagte er langsam und nachdenklich, »uns ist wahrhaft übel mitgespielt worden. Deine Analyse?« Zione hatte sich verändert; ihr rundes Gesicht war von Falten durchzogen, und in ihren hellen Augen nistete etwas, das Hoonrust bisher nicht gekannt hatte. Aber er spürte es selbst in sich – wie lange konnten sie den Impulsen noch standhalten? »Wir Ligriden, auch wenn wir miteinander ligridische Kinder haben können, sind die Resultate einer gentechnischen, biologisch hochwertigen Manipulation. Mit Sicherheit sind dies alle Ligriden einer bestimmten Altersgruppe. Wir alle also!« Baztak hob die rechte Hand und ließ erkennen, daß er am Gespräch teilzunehmen wünschte. Hoonrust und Zione stimmten durch völliges Schließen ihrer Augen zu. »Wobei die Hyptons das Verfahren ersonnen haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind jene kleinen Ikuser ihre Helfer. Möglicherweise werden sie ebenfalls ausgenutzt, so wie wir, die stolzen Ligriden.« All diese Gedanken und Vermutungen kannte Hoonrust. Während der Kämpfe und der Vorstöße, die ungenügende Mengen an Erkenntnissen, oder besser Beweisen, gebracht hatten, fand er keine Muße, das analytische System des Gward anzuwenden. Jetzt hörte er zu und fand seine Befürchtungen bestätigt. Zione und Baztak verfügten, seltsamerweise, über ein hohes Maß intuitiver Erkenntnisfähigkeit. »Fjukium kann also als Brutplanet bezeichnet werden«, sagte der Expeditionsleiter. Er dachte daran, in den kommenden Tagen alle gespeicherten Informationen, auch die aus dem Bildfunkverkehr der Schiffe und Beiboote, zusammenzufügen und ein Informationsband für Lorad und dessen Freunde herzustellen. »Richtig. Wir drei, die wir diesen Sachumstand diskutieren«, meinte Baztak mit flacher Stimme, »haben indessen nicht einmal Erinnerungsspuren an Fjukium. Die Echsenwesen dort kennen zumindest Absommenperk, was immer das sein soll. Es erscheint mir schlüssig, anzunehmen, daß wir von einem oder mehreren anderen Brutplaneten kommen.« »Von diesen Welten nach Enterny, unserer Heimatgalaxis, gebracht worden sind… so wie Inua und ihre unglücklichen Mit-Tiefschläfer. Dort oder während des Fluges, dies bietet sich aus einer Vielzahl von Gründen an«, fuhr Zione fort, »erhielten wir eine künstliche Erinnerung. Darin ist alles enthalten, auch die Religion und die Richtungen des Gward und Gwyn.« »Wodurch«, schloß Hoonrust mit knarrender Stimme, »eine Wettbewerbssituation zwischen beiden Hälften der Bevölkerung entsteht. Sie kann nur den Hyptons helfen.« »Die Hyptons also sind die Initiatoren allen Übels!« stellte Zione fest. »Das Bild ist klar, wenn auch noch eine Anzahl Beweise fehlen«, erklärte und analysierte Baztak weiter. »Wir sind also keine Ligriden, sondern die biologischen Ergebnisse eines ganz anderen Volkes. Woher diese Unglücklichen kommen, wissen wir nicht.« »Gward und Gwyn, unsere Zivilisation und Kultur, unsere Kunst und Tradition und jede einzelne Tugend, auf die wir mit Recht stolz sind… alles wird nicht nur in Frage gestellt, sondern ist entwertet worden. Die Ligriden sind zu einem Volk von Manipulierten geworden, zu Werkzeugen
der Hyptons, zu Individuen, die nicht wert sind, zu leben.« Hoonrust sah noch eine größere Lawine von Erkenntnissen auf sich und den Rest der Ligriden zukommen – also auf etliche Milliarden Frauen und Männer. »Was wird daraus? Ein kollektiver Selbstmord?« fragte er. »Durchaus möglich«, meinte Zione. »Wir können jeden Vorgang während des Fluges an uns selber studieren. Eine Folgerung aus unseren Erfahrungen: wir sagen nichts. Oder wir erfinden eine Lügengeschichte. Oder wir sprengen die CANTRISS. Ich bin dagegen.« Das unvollständige Mosaik ergab dennoch ein schreckliches Bild. Die Konsequenzen waren noch längst nicht genau durchdacht. Erste Zwischenfälle ließen das Schlimmste befürchten: Selbstmord, Todessehnsucht, die sich in selbstmörderischen Angriffen und ebensolchen Aktionen äußerte, Wahnsinn und Verlust jeglicher Selbstkontrolle, und die Einsicht, daß die Philosophie des Gward ebensowenig taugte wie die des Gwyn, weil beide Unsinn waren und nichts anderes als eine besonders kluge Erfindung der Hyptons. »Wir müssen trotz allem weiterleben«, knurrte Hoonrust. »Allein schon, um die Hyptons bestrafen zu können.« »Niemand darf zulassen, daß sich einige Milliarden Ligriden umbringen. Es wird fast unmöglich sein, nach diesem Schock eine neue Identität zu finden. Sie muß entwickelt werden, und die Philosophen werden erkennen, daß auch ihr philosophisches Rüstzeug von den Hyptons erfunden worden ist.« Ein Dutzend Ligriden – galt dieser Gattungsbegriff eigentlich noch? – war übriggeblieben, um die erschreckende Botschaft zur BASTION Zwei zurückzubringen. Ihr Haß auf die Hyptons war kaum zu beschreiben. * Stunde um Stunde, Tag um Tag verging. In den Kabinen und Korridoren der CANTRISS herrschte meist eine geisterhafte Stille. Hoonrust war es gelungen, bis zum jetzigen Augenblick seinen klaren Verstand zu behalten, trotz der langen Perioden der tiefsten Niedergeschlagenheit, die ihn immer wieder überfielen. Er hatte sich nicht umgebracht wie die beiden Ligriden, die sie auf Fjukium übernommen hatten. Zwei regungslose Gestalten in desaktivierten Raumanzügen waren eben ohne jede Förmlichkeit dem Weltraum übergeben worden. Hoonrust, Zione und Baztak, Nakida und – Inua. Ihnen und fünf weiteren war es geglückt, zu überleben – bisher. Die CANTRISS wirkte trostlos; seit dem Notstart von Fjukium hatte es kein fröhliches Wort und erst recht kein Gelächter gegeben. Zuverlässig schleuderte der Antrieb das Schiff durch die Linearetappe, und man hörte nur das Klicken, Summen und Wispern der vielen Geräte und Instrumente. Hoonrust arbeitete in der Zentrale und stellte Bilder, Aussagen, Gespräche und eingespeicherte Texte zu einem Informationsband zusammen. Er hoffte, daß er selbst es übergeben konnte. Wenn nicht, würde man es an Bord des Schiffes finden. Fast lautlos näherte sich Inua und setzte sich an Ziones Platz. »Ich habe zugehört und alles begriffen«, sagte sie. »Ihr seid traurig, Hoonrust?« »Mehr als traurig«, knurrte er. »Zutiefst verzweifelt. Kommt deine Erinnerung zurück?«
»Wenn ich ›Absommenperk‹ höre, erinnere ich mich. Aber nicht an einen Sternenkämpfer, der zu uns kommen und zum Sieg führen wird.« Hoonrust bemerkte, daß auch sie groteskerweise die Kapuze trug, allerdings ohne Halteklammer. »Sondern? Welche Einzelheiten enthalten deine Erinnerungen?« In den Stunden der Einsamkeit stellten sich bei Hoonrust vage Erinnerungssplitter ein. An Bilder von Fjukium entsann er sich nicht; er schien tatsächlich von einem anderen Brutplaneten gekommen zu sein. Ob diese Welt hier in der Galaxis Bennerton lag – wer konnte es wissen? »Für mich ist Absommenperk eine Landschaft, vermutlich der Ausschnitt des Planeten, den wir verlassen haben. Aber die Bilder, die ich von Fjukium kenne, haben mit diesen Bildern nichts zu tun. Ich weiß es wirklich nicht.« »Also eine andere Variante von Absommenperk«, stellte Hoonrust fest. »Du bist nicht im Begriff, an totale Aufgabe zu denken? Oder an andere, wahnsinnige Dinge?« Ungeschickt führte sie die Geste der zurückhaltenden Erklärung aus. »Ich bin, sozusagen, eben erst geboren worden. Ich kann etwas, das ich nicht habe, nicht vermissen – Gward, Gwyn und alles andere. Ich weiß nur, daß ich lebe. Und ich fühle, daß ich kämpfen kann, wenn es nötig ist. Ich habe viel gelernt, seit ihr mich in die CANTRISS gebracht habt.« »Vielleicht wirst du mir helfen müssen«, sagte er. »Was kann ich tun?« »Ich rechne damit, daß einer nach dem anderen wahnsinnig wird oder unberechenbare Dinge tut. Jemand muß übrigbleiben, um die CANTRISS heimzubringen.« »Wie lange dauert der Flug noch? Vielleicht kann ich dir helfen.« »Etwa zweiundzwanzig Tage.« »Das ist eine sehr lange Zeit.« »Ich weiß.« Inua bewegte sich zwischen den Ligriden mit nachtwandlerischer Sicherheit und völlig unangetastet. Sie wurde weder von Zorn noch von Hoffnungslosigkeit heimgesucht. Aggression richtete sich nicht gegen sie; sie blieb tabu. Hoonrust fing an, sich um bestimmte Voraussetzungen des Heimflugs zu kümmern. Er versuchte, alle jene Bezirke des Schiffes zu versiegeln, die unersetzliche Einrichtungen enthielten. Das Dokumentationsband war fast fertig. Wieder unterbrach die CANTRISS die Linearetappe und raste durch den leeren Raum; Baztak machte seine Ortungen und nahm winzige Kurskorrekturen vor. Die Sterne der Galaxis ManamTuru wurden deutlicher, und längst war auf dem Vorausbildschirm die gesamte Galaxis nicht mehr zu überblicken. Während Baztak und Zione die Arbeit in der Zentrale und die Verantwortung fürs Schiff übernahmen, versuchte Hoonrust, endlich wieder einige Stunden tief zu schlafen. Alpträume quälten ihn; solche, an die er sich nicht erinnerte und andere, die ihn schweißgebadet auffahren ließen. Mit einem Stöhnen riß es ihn hoch. Verwirrt öffnete er die beiden Lider. Er merkte, daß seine Finger wie im Fieber zitterten. Nur wenige Sicherheitslichter brannten an verschiedenen Stellen der dunklen Kabine. Hoonrust atmete schwer. Er richtete sich auf und lehnte sich gegen die gepolsterte Rückenfläche seines Lagers. Er glaubte, durch die Metallwände Lärm und lautes Geschrei zu hören. »Gward!« stieß er hervor, sprang auf und schaltete den Interkom ein. Er tastete die Kennziffer der
Zentrale ein und sah mit dem ersten Blick Zione und Baztak und, nach einem Schwenk der Linsen, das geschlossene Schott. Er beruhigte sich ein wenig. Der Lärm blieb. Nacheinander drückte er andere Kennziffern. In rasend schneller Folge wechselten die Bilder. Er blickte in mehrere dunkle Kabinen hinein und zuckte zurück, als das Bild des Korridors auftauchte und, da sämtliche Beleuchtungskörper eingeschaltet waren, ihn fast blendete. Dort war ein wilder, mit besinnungsloser Wut geführter Kampf im Gang. Die Verrücktheit hatte die Hälfte seiner Besatzungsmitglieder überwältigt. Sie waren mit den Einsichten und Enttäuschungen nicht mehr fertig geworden, trotz der unendlich vielen und intensiven Gespräche, die Hoonrust mit jedem einzelnen von ihnen geführt hatte. Die Haßgefühle fanden kein Ziel, und die Aggressionen hatten sich bei einer unbedeutenden Kleinigkeit gegeneinander entladen. Der Kommandant reagierte schnell. Er fuhr in den Bordoverall, riß den Lähmstrahler aus dem Sicherheitsfach und ließ das Schott aufgleiten. Mit einem riesigen Satz war er mitten unter den Frauen und Männern, die aufeinander einschlugen, miteinander rangen und Schreie des Zorns und des Wahnsinns ausstießen. »Diener des Gward!« donnerte seine Stimme. »Hört auf! Ihr kämpft nicht gegen die Hyptons.« Im Winkel zwischen Wand und Boden lag zusammengekrümmt ein Ligride. Im Hintergrund des Mittelkorridors löschte ein Roboter einen Brand. Die Waffe in der Hand Hoonrusts dröhnte auf und schmetterte einen Kämpfer zu Boden. »Aufhören!« Sie gehorchten nicht. Ihre Gesichter waren verzerrt; keiner trug mehr eine Kapuze. Die Kleidung, zerfetzt und zerschnitten, trug die Spuren eines Kampfes, der so sinnlos wie unbeherrscht war. Keiner der Kämpfenden konnte mehr klar denken. Sie waren erschöpft und ausgelaugt, aber sie schlugen mit allem, was sie in die Hände bekommen hatten, aufeinander ein. Hoonrust wußte sich keinen anderen Rat mehr. Er wich zurück, bahnte sich einen Weg aus dem Wirrwarr hinaus und schoß gezielt auf die Kämpfenden. Sekunden später stand Hoonrust allein zwischen Toten und Bewußtlosen. »Es wird immer schlimmer«, sagte er leise und schob die Waffe in den Gürtel. »Und ich kann es verstehen.« Aufstöhnend machte sich der Kommandant an die Arbeit. Einige Minuten später kam Inua aus ihrer Kabine und half ihm. Eine Frau und ein Mann waren getötet worden. Die Besinnungslosen wurden in die Kabinen geschleppt und notdürftig versorgt. »Sie haben den Lebensmut verloren«, sagte die Ligridin und öffnete ein Fach. Mit überraschend sicheren Bewegungen schaltete sie zwei kleine Medorobots ein. »Ihre Kabinen! Niemand hält Ordnung. Sie verwahrlosen.« »Ich nicht«, murmelte Hoonrust. Mit einiger Mühe verschweißten sie die beiden Toten in beschichtete Planen und schafften sie in die Schleuse. Die Bündel trieben langsam hinaus in den fremden, kalten Weltraum und verloren sich zwischen den Galaxien. »Es gibt offensichtlich kein Mittel, um meine Leute davon abzuhalten, lebensgefährliche Dinge zu tun«, sagte sich Hoonrust. »Sie sind wahnsinnig geworden.« »Halte sie in künstlicher Bewußtlosigkeit. Oder in Tiefschlaf«, schlug Inua vor. Hoonrust überlegte und sah den Robotern zu.
»Ein guter Vorschlag. Aber er ändert nichts daran, daß sie hilflos und wehrlos sind, wenn sie, wann auch immer, aufwachen.« »Aber sie bringen sich dann nicht mehr aus wütender Verzweiflung gegenseitig um.« »Zutreffend.« Die nächsten Stunden würde es keine Zwischenfälle geben. Seine Waffe hatte die Ligriden gelähmt. Es hatte sich ein Kern abgezeichnet, dessen wenige Mitglieder bisher stabil geblieben waren: Hoonrust, Inua, Zione, Baztak und Nakida. Er, Hoonrust, trug allein die Verantwortung für alle und alles. Er ging zur Zentrale und wurde eingelassen, nachdem er mit erzwungener Ruhe seinen Namen genannt hatte. Baztak und Zione ließen erkennen, daß sie sich fürchteten – sie bestürmten Hoonrust mit Fragen. Er schilderte, was er vorhatte. »Die CANTRISS wird zu einem Totenschiff«, flüsterte Zione. »Schrittweise sind alle Empfindungen abgebaut und verändert worden. Die Hyptons: Sie werden untereinander natürlich sprechen und sich über unsere Entdeckungen verständigen.« »Das interessiert mich im Augenblick herzlich wenig«, gab der Chef zurück. »Und ihr? Wie fühlt ihr euch?« »Schlimm. Aber wir sind sicher, bis zur BASTION durchzuhalten.« »Und dann?« Gleichzeitig machten sie die Geste der Verzweiflung. »Ich gehe in meine Kabine und nütze die Zeit. Ich brauche Schlaf«, sagte der Chef. »Dann helft ihr mit, unsere Freunde zu versorgen. Vielleicht schaffen wir es, trotz allem.« Er verließ die Zentrale. Das Schott wurde hinter ihm nicht mehr verschlossen. Er erinnerte sich an Nakida und ging in ihre Kabine. Sie lag in unnatürlicher Haltung auf ihrer Liege und schlief wie bewußtlos. Ihr Körper war zusammengekrümmt. Sie hatte die Knie bis zum Kinn hochgezogen und die Fesseln ihrer langen Beine mit den Händen umklammert. Ihre Atemzüge waren flach und schnell. Ihre Haut war heiß und trocken. Hoonrust kannte Nakida ganz anders; er erinnerte sich in schwarzer Mutlosigkeit an ihre gemeinsamen Tage und Nächte. Vorbei! Er fand insgesamt fünf Stunden Schlaf und fühlte sich leidlich erholt, als er duschte, sich anzog und allein in der Messe ein reichhaltiges Frühstück einnahm. Frühstück? Nach der Zeiteinteilung an Bord war es eine Mitternachtsmahlzeit gewesen. Wieder war mehr als ein Tag vergangen. Abermals hatte sich die Entfernung zum rettenden Ziel des langen Fluges verringert. Hoonrust ging von Kabine zu Kabine. Er kontrollierte den Zustand eines jeden überlebenden Ligriden, und seine Verzweiflung nahm ständig zu. Die Besatzungsmitglieder waren, so seine Überzeugung, zu seelenlosen Körpern ohne Verstand geworden. Nur noch Erfahrungen und mechanische Erinnerungen bewirkten, daß die Körper weiterlebten. Sie waren wahnsinnig geworden. Und: sie blieben bis zum Ende ihres hoffnungslosen Daseins in jeder Hinsicht unberechenbar. Die CANTRISS war wirklich zu einem Schiff der Wahnsinnigen und Sterbenden geworden. Zu einem Stück Leben, das sich selbst aufgegeben hatte. Zuletzt ging er in Nakidas Kabine. Es herrschte eine geradezu sterile Ordnung. Sämtliche Fächer waren geleert und gereinigt. Nakidas Verstand hatte sich auf seltsame Weise verwirrt. Ihre sämtlichen Habseligkeiten waren in zwei Bordtaschen verpackt. Nakida hatte auf ihre Weise Schluß gemacht, hatte hinter ihr Leben einen letzten Punkt gesetzt.
Erschüttert stand Hoonrust da und blickte auf die regungslose Gestalt herunter. Sie lag ausgestreckt, im Bordoverall und im Raumanzug mit geöffnetem Helm, auf der breiten Liege. Sämtliche Einheiten der Kabinenbeleuchtung waren aktiviert. Aus den Lautsprechern ertönte leise Musik. Hoonrust sah, daß Nakida tot war; auf welche Weise sie sich umgebracht hatte, wollte er gar nicht mehr untersuchen. »Wer von uns wird übrigbleiben?« flüsterte er und zog die Kapuze vor sein Gesicht. Er kämpfte einen neuen Ansturm von Lebenselend und Selbstmordgedanken nieder und kümmerte sich um den Leichnam. Dann ging er zur Zentrale und löste Zione und Baztak ab. Zwei Stunden danach tauchte die CANTRISS aus dem Linearsprung auf, und Hoonrust machte eine der vielen Ortsbestimmungen. Das Schiff lag aufrichtigem Kurs. Er korrigierte einige wenige Werte und ging in die nächste Linearetappe. Wieder war er mit seinen Gedanken allein. Die Hyptontraube der Denkenden Biologen war nur ein Machtzentrum von vielen. Untereinander standen sie sicherlich in blitzschnell funktionierender Verbindung, so daß die Trauben in ManamTuru vermutlich schon wußten, daß Fjukium unwillkommene Besucher gehabt hatte. Hoonrust zog eine naheliegende Konsequenz und bereitete Text, Frequenzen und Kapazität eines Funkrufs vor. Er sagte sich, daß es sicherer war, wenn ein Druck auf einen verborgenen Knopf den Sender einschaltete, der ununterbrochen die Position des Schiffes durchgab und die Ligriden von BASTION II aufforderte, die CANTRISS zu entern und nach der lebenswichtigen Botschaft zu suchen. Entweder fanden sie ihn oder einen anderen Überlebenden, oder sie entdeckten das Band oder dessen Duplikat. Dann hatte er als überzeugter Diener des Gward seinen Auftrag erfüllt. Worauf er nicht mehr achten wollte, war die Wahrung des Geheimnisses gegenüber den Dienern des Gwyn. Es war überflüssig. Und die Gwyn würden mit der bitteren, vernichtenden Wahrheit ebenso fertig werden müssen wie er. Und… mit denselben Verlusten an gesundem Verstand und an Leben. * Die Detonation war scharf und hart. Das Schiff wurde erschüttert. Auf dem Pult flammten mehrere Warnlichter auf. Hoonrust wurde aus einem Halbschlaf hochgerissen und versuchte, in aller Hast richtig zu reagieren. An vielen Stellen des Schiffsinnern donnerten die Sicherheitsschotts in die raumdichten Lager. »Alarm im Sektor Vier.« Das war mittschiffs, zwischen den Kabinen und Wirtschaftsräumen und dem Abschnitt der Schiffsmaschinen und den Magazinen. Ein weiteres Leuchtfeld flackerte und flammte: Die Außenhülle war aufgerissen. Hoonrust langte quer über das Pult und drückte einen großen Schalter. Aus zahlreichen Düsen strömte in dem zerstörten Raum ein Sicherheitsschaum, der in der Kälte und im Vakuum schnell erstarrte. Gellend arbeiteten die akustischen Warnsignale, die einen rapiden Druckverlust anzeigten. Zuerst hatte sich das Druckschott der Zentrale geschlossen. Je mehr Schaum ausgesprüht wurde, desto leiser wurden die Warnsignale. Nach überraschend
kurzer Zeit war dieser Teil des Schiffes gegen das Vakuum abgedichtet. Die Signale wurden leiser und hörten schließlich auf. Ungeduldig wartete Hoonrust, bis sich das Trennschott zur Zentrale öffnen ließ, dann rannte er hinaus und stürmte den Korridor entlang. Neben ihm öffnete sich eine Kabinentür. Inua sprang heraus und schrie: »Was ist passiert…?« »Bleib in der Kabine«, rief Hoonrust zurück und fing sich vor dem letzten Schott ab. Er kontrollierte die Anzeigeskala, die rechts neben dem Rahmen angebracht war. Der Bereich hinter der Trennwand war wieder geflutet worden. Langsam schob sich das Schott auf. Scheinwerfer beleuchteten das Chaos im Hauptkorridor. Hoonrust nahm seine Finger von der Schaltung und ging langsam, in steigendem Entsetzen, in den Raum hinein. Mehrere Energieleitungen waren zerstört. Die Spuren von Überschlagblitzen glühten weiß und rot. Druckleitungen ließen erkennen, daß sie detoniert waren. Das Magazin, in dem Raumalarm ausgelöst worden war, lag am Ende des Ganges auf der rechten Seite. Hoonrust glaubte, das Ende der Belastungen und Qualen schon erreicht zu haben – aber augenscheinlich gab es Steigerungen. Er blieb stehen, als vor ihm eine verkrümmte, halb verkohlte Leiche lag. Die Wand des Magazins war aufgerissen, die Ränder ausgeglüht und geschwärzt. Hoonrust konnte nicht sagen, auf welche Weise hier eine Detonation von solcher Schwere ausgelöst worden war; vielleicht hatte ein Ligride manipuliert, ohne zu wissen, was er wirklich tat. Das Schott des Magazins war herausgerissen und hatte einen Körper auf der gegenüberliegenden Wand zerschmettert und zerquetscht. Jetzt erinnerte sich der Kommandant: An dieser Stelle hatte sich im Magazin die großdimensionierte Energiebank für die Ladegeräte befunden. Was hatten die Ligriden, die angeblich von den Medorobots im Dauerschlaf gehalten wurden, hier zu suchen? »Sie wissen nicht mehr«, murmelte er und schüttelte den Kopf, »was sie tun. Ich sehe keinen Ausweg.« Der Magazinraum hinter dem Rahmen des Schotts war vom Dichtungsschaum ausgefüllt. Nur mit Spezialwerkzeugen oder einer neutralisierenden Flüssigkeit war der erhärtete Schaum aufzulösen. Er verschloß die Öffnung in der Außenwand wie ein Korken; Hoonrust dachte nicht daran, hier etwas zu ändern. Das Schiff war schwer angeschlagen, aber der Weiterflug nicht in Frage gestellt. Der Kommandant merkte, wie er innerlich zu vereisen begann. Gnadenlos ergriffen ihn Kälte und Todesahnung. Durch einen Zufall, ein Versehen oder planvolle Sabotage hatten die angeblich schlafenden Besatzungsmitglieder ihre Kabinen verlassen und absolut unverständliche Dinge getrieben. Hoonrust sah, als er wieder in den unzerstörten Teil des Korridors zurückging, daß Baztak und Zione die einzelnen Kabinen untersuchten. Sie trafen sich vor der Zentrale. Baztak sagte mit Grabesstimme: »Diener des Gward. Es gibt nur noch vier Überlebende.« »Wahnsinn!« sagte Hoonrust. »Was haben sie…?« »Ich habe den Eindruck«, entgegnete Baztak und sah zu Boden, »daß sie die Roboter derart geschaltet haben, daß die Maschinen sie mit falschen Medikamenten versorgten.« Hoonrust zog schweigend die Schultern hoch und stapfte an ihnen vorüber zur Zentrale. Er wußte, daß er ebenso nahe daran war, mit seinem Leben Schluß zu machen wie jene Frauen und Männer, die auf dem langen Flug zu seinen Freunden oder wenigstens zu Gefährten geworden waren, mit denen man gern zusammen war, fern von jeder traditionellen Verpflichtung. Schwer ließ er sich in den Kommandantensessel fallen und sehnte den Schluß dieses Fluges der Qualen herbei. Gleichzeitig wußte er, daß er für sich selbst einen Ausweg gefunden hatte. Noch hatte er sich an diese Vorstellung nicht ganz gewöhnen können, aber es war besser, sich auf Krücken fortzubewegen, als gelähmt oder tot zu sein.
Er, Hoonrust, würde weiterhin Diener des Gward sein und bleiben. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, zu überleben. Wenigstens im Augenblick funktionierte dieser lächerliche Kunstgriff. Wie lange noch – niemand, am wenigsten er selbst, wußte es. Der Platz vor den Pulten war für Hoonrust eine Zone der Ruhe, gleichermaßen Ausdruck eines Platzes, von dem aus er die CANTRISS beherrschte, als auch einer sicheren, geschützten Zelle, die ihn umgab. Noch sechs Tage, sagte er sich mit einem winzigen Impuls der Hoffnung. Er wollte überleben, und er würde überleben. * Ohne daß EVOLO etwas vom Verhalten seiner selbständigen Zellen wußte, fingen sie nahezu gleichzeitig zu agieren an. Und zwar unabhängig voneinander. Die Bestimmung EVOLOS war klar, der Weg, diesen Befehl zu erfüllen, stand den beiden Instrumenten des seltsamen Wesens frei. Als sie erkannten, daß sie ihren Auftrag erledigen mußten und dabei freie Hand behalten würden, waren sie zunächst erschrocken über die endgültige Bedeutung des Gefühls oder der undeutlichen Überzeugung. Dann sahen sie ein, daß sich ein wichtiges Hindernis ihnen in den Weg gestellt hatte. Erst jetzt erkannten sie, daß sie direkt und unbewußt für diese Person gearbeitet hatten. Viele Erkenntnisse verdankte der Kommandant ihnen und niemandem sonst. Hoonrust stand zwischen ihnen und EVOLO. Der schwerste Gegner, den es gab. Inua zählte nicht. Der Kommandant würde jeden Versuch, das Schiff zu übernehmen, mit der rücksichtslosen Härte zu verhindern wissen, die ihn seit jeher auszeichnete. Inua, das Findelkind ohne Erinnerungen und mit lediglich der Fähigkeit zu überleben ausgestattet, bedeutete kein Hindernis. Inua war unwichtig. Inua würde sich den oder dem Überlebenden anschließen oder nicht. Entweder, sagte sich Baztak, überlebte er. Oder Zione überlebte. Auf keinen Fall durfte Hoonrust überleben und diese Geheimnisse an die Ligriden weitergeben, ehe EVOLO sie kannte. Baztak kontrollierte mit äußerster Sorgfalt die Angaben auf dem Monitor und bemühte sich, seine Erregung nicht zu zeigen. Die Aufregung über die neue, unglaublich wichtige Zielsetzung überdeckte die Lähmung, die nach der Desillusionierung ihren Verstand, ihr Bewußtsein und, weniger stark, auch ihren körperlichen Zustand beeinträchtigt hatte. »Was schlägst du vor?« »Wir warten, bis er tief schläft. Wir betäuben ihn. Alles weitere wird einfach sein.« »Er verläßt praktisch die Zentrale nicht mehr. Mitunter schläft er auch im Kommandantensessel. Unterschätze ihn nicht.« »Keineswegs. Wir haben Zeit. Bis zu dem Augenblick, wenn die CANTRISS bei BASTION erscheint und wild zu funken beginnt.« »Je früher wir losschlagen, desto sicherer ist es.« »Einverstanden.« Es war Zione und Baztak gelungen, zwei Waffen aus dem sichergestellten Vorrat zu erbeuten. Sie waren davon überzeugt, daß sie nicht mehr brauchten. Da sie dank ihrer EVOLO-Infizierung
gewohnt waren, jeden Zusammenhang eines jeden Problems schnell zu durchschauen, wußten sie natürlich, daß Hoonrust wachsam und mißtrauisch jedem anderen Wesen gegenüber war. Sogar sich selbst kontrollierte er ständig. Er würde also auch mit einem Angriff von ihnen rechnen müssen. Sie lauerten auf den richtigen Augenblick. * Je mehr sich die CANTRISS dem Ziel näherte, desto größer waren Unsicherheit und Unruhe in Hoonrusts verzweifelten Gedanken geworden. Immer häufiger und stärker wurden die Augenblicke der existentiellen Panik. Er fing an, der offensichtlichen Realität zu mißtrauen. Nur er garantierte die einwandfreie Ablieferung der Expeditionsergebnisse. Er mußte überleben. Er fing an, Teile des Schiffes mit Warneinrichtungen zu versehen. Stundenlang ersetzte er Schalter und Beleuchtungskörper durch Strahlenfallen, die beim Durchschreiten einen höllisch lauten Alarm auslösten. Die Arbeiten lenkten ihn ab. Wenn sie sicher waren, daß Hoonrust ihnen nicht zusah, entschärften Baztak und Zione diese Anlagen. Einmal sah ihnen Inua unbemerkt zu und berichtete in aller Unschuld und Naivität dem Kommandanten davon. Obwohl sie viel gelernt hatte und sich innerhalb des Schiffes souverän bewegte, besaß Inua die Lebenserfahrung eines großen Kindes – nicht um einen Deut mehr. Hoonrust zweifelte daran, daß die beiden letzten Gefährten ihn umbringen wollten. Er war indessen sicher, daß sich ihr Verstand ebenso wie seiner verwirrt hatte. Er zog auf aberwitzige, fast groteske Weise seine Konsequenzen daraus. An seinem Körper versteckte er verschiedene kleine Strahler und Stichwaffen. Er schaffte Getränke und Nahrungsmittel in die Zentrale. Er griff Zione und Baztak nicht an, aber er ließ sie nicht in seine Nähe kommen. Stündlich kontrollierte er jede Schaltung, jedes Instrument und jede Anzeige, die etwas über das Funktionieren der Lineartriebwerke aussagten. Hoonrust schlief nur noch selten und wenig. Eine Sekunde, nachdem die Sirene ihr gellendes Kreischen angefangen hatte, reagierte Hoonrust mit der automatischen Schnelligkeit eines erstklassig trainierten Kriegers. Die schwarzen Stunden und die Nächte ohne Schlaf hatten die Reaktionen eher noch geschärft. Er ließ sich seitlich aus dem ausgeklappten Sessel fallen, Angriff! Überfall! schrien seine Gedanken. Hoonrust hatte die entsicherte Waffe schon in der Hand, als er in den toten Winkel zwischen Schott und Pultwand hechtete. Als er die Hand nach dem Kontaktfeld des Schottes ausstreckte, erlosch sämtliches Licht in der Zentrale. Die Armaturenbeleuchtung, versorgt durch einen anderen Stromkreis, sicherte ein mattes Halbdunkel. Der Korridor war hell. Im spiegelnden Glanz mehrerer Bildschirme erkannte Hoonrust in dem breiter werdenden Spalt des Schottes die Gestalt Baztaks. In seiner Hand glänzte drohend das Metall einer Waffe. Auch das Glimmen des Projektorfeldes spiegelte sich in den Bildschirmen. Hoonrust duckte sich und zwang seine Atemzüge unter Kontrolle. Er hörte unverändert das Schrillen der Sirenen. Er duckte sich und näherte sich mit schußbereiter Waffe, dicht an die Wand gepreßt, der Kante des Schleusenrahmens. Baztak war stehengeblieben und suchte den Kommandanten. Er war verunsichert, aber seine Waffe schwenkte hin und her.
Hoonrust durfte keine Zerstörung des lebenswichtigen Steuerstands riskieren. Wieder machte er einen Schritt und hob langsam den rechten Arm mit der Waffe. Dann wirbelte er um die Ecke herum und schlug zu. Er traf Baztaks Handgelenk. Der Schuß löste sich mit ohrenbetäubendem Dröhnen und einem blendenden Blitzstrahl. Ein rasender Schmerz fuhr über den Oberschenkel des Kommandanten, und gleichzeitig roch er den Qualm des brennenden Belags. »Du wirst mich nicht umbringen!« knirschte Hoonrust und sah, wie die Waffe aus der Hand des Ligriden zu fallen drohte. »Nicht mich!« Schimpfen oder Fluchen war sinnlos; auch Baztak war für sein Vorgehen nicht mehr verantwortlich zu machen. Baztak überwand seinen Schrecken blitzschnell. Er bückte sich, fing die Waffe wieder auf und rannte davon. Nach einigen Schritten drehte er sich herum, zielte auf Hoonrust und feuerte. Der Kommandant hatte diese Reaktion halbwegs geahnt und sich geduckt. Der Schuß fuhr in die Rückwand des Sessels und ließ die beschichtete Metallstruktur aufglühen. Hoonrust feuerte fast im selben Augenblick und traf den Navigator zwischen die Schulterblätter. Dicht vor Inua, die verständnislos den Lärm hörte und den Schußwechsel beobachtete, überschlug sich der Körper. Baztaks ächzender Todesschrei ging im Sirenengeheul unter. Hoonrust hinkte zum Pult und desaktivierte den Alarm. Wie weit trieben die hinterlistigen Hyptons ihn und die anderen Ligriden noch? Die letzten Gefährten verfielen dem Wahnsinn. Mit der schußbereiten Waffe in der Hand ging er zu Ziones Kabine, ließ das Schott aufzischen und sagte voller Traurigkeit: »Ich habe Baztak getötet, Dienerin des Gward. Er hat mich in der Zentrale überfallen.« Sie saß, an die Wand gelehnt, auf ihrem Lager. Beide Arme hatte sie auf dem Rücken gekreuzt. »Ja«, sagte sie knapp und fast unhörbar. »Ich bin allein übrig.« Dann überfielen die Schmerzen den Kommandanten. Er wandte sich ab und hinkte stöhnend in die Zentrale zurück. Während der Medorobot heransummte, schnitt Hoonrust mit der vibrierenden Schneide des schweren Messers den verbrannten Stoff auseinander und riß ihn, knirschend vor Schmerz, in schmalen Streifen von der Haut… erst die schmerzstillende Injektion der kleinen Maschine entspannte ihn. Aber der entsicherte Strahler lag in Griffweite. Die Maschine trug eine dicke Schicht Sprühsalbe auf, bedeckte die große und lange Wunde mit einem schnell erhärtenden Pflaster und applizierte eine Sicherheitsschicht. Hoonrust schaltete den Apparat aus und wandte sich an Inua. Sie lehnte am Instrumentenbord vor den Bildschirmen. »Baztak ist tot, nicht wahr?« fragte sie. »Ich wollte ihn fragen, aber er stieß mich in die Kabine zurück.« Hoonrust zog die Kapuze wieder über den Kopf und erwiderte: »Er verlor den Verstand. In Wirklichkeit ist er ebenso ein Opfer wie du und ich.« »Wessen Opfer? Warum Opfer? Ich verstehe nicht, warum ihr aufeinander schießen müßt.« Hoonrust stöhnte auf und versuchte eine Antwort. »Dir fehlen die Erinnerungen. Er hat seine Erinnerungen plötzlich verloren.« »Aber ich bin nicht… verrückt. Ich schieße nicht auf dich.«
»Hoffentlich bleibt das so«, murmelte er. »Wenn Zione durch das Schiff rennt und versucht, mich zu erschießen – bitte warne mich vorher.« »Was bedeutet ›warnen‹?« wollte sie wissen. »Sage mir, wenn du etwas Ungewöhnliches siehst. Ich bleibe in den nächsten Stunden hier.« Sie ging langsam hinaus. Seltsam, sagte sich Hoonrust und kämpfte gegen seine Müdigkeit. Ich denke nicht ein einziges Mal daran, daß Inua in Gefahr sein könnte. Sie steht außerhalb aller Auseinandersetzungen; eine Gestalt, die anscheinend transparent und bedeutungslos war, wenigstens im lädierten Weltbild der erinnerungsgeschädigten Diener des Gward. Hoonrust ließ hinter ihr das Schott zufahren und aktivierte wieder alle Detektorstrahlen und seine unterschiedlichen Fallen. Als er die Augen mit beiden Lidsystemen schloß, hoffte er verzweifelt, daß ihn der nächste Alarm ebenso zuverlässig wecken würde. Er rechnete fest damit, daß Zione noch vor Erreichen der BASTION II den Verstand verlieren würde. In diesem Fall richtete sich ihre Aggression gegen den einzigen und letzten Überlebenden. Gegen Hoonrust, den Kommandanten.
7. »Langweilst du dich etwa?« fragte Fartuloon mit hochgezogenen Brauen. »Es liegt die ganze Schönheit der Galaxis vor deinen stumpfen Augen. Oder nicht?« Der Daila Sparken, inzwischen trug er seinen selbstgewählten Beinamen Alleskönner zu Recht, breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit aus. »Es ist schon eine Weile her, Fartuloon, daß wir aufregende Tage hatten. Oder nicht?« »Sie kommen wieder! Verlaß dich drauf! Nichts ist so sicher wie zukünftiger Ärger.« Fartuloon und der Daila hielten Wache in der Steuerkanzel der KLINSANTHOR. Seit dem Treffen mit Atlan bewegten sie sich in einem Raumgebiet zwischen BASTION II und Yumnard beziehungsweise der Position des Psionischen Tores hin und her. Jetzt befand sich das gestohlene Ligriden-Experimentalschiff, von den Ikusern auf Yumnard repariert, verbessert und weitestgehend um eine Potenz in der Technik höher qualifiziert, im engen Orbit um einen namenlosen Mond. Fartuloons halb selbstgewählter Auftrag sah vor, spezielle Informationen zu sammeln. »Zukünftiger Ärger? Du hast recht. Ich glaube, wir befinden uns wirklich in einer von Kampf durchsetzten Milchstraße«, meinte der Daila und regelte die Lautstärke des Hyperfunkgeräts neu ein. Seit mehr als dreißig Tagen befanden sie sich jetzt hier, sorgfältig getarnt, und jeder aufgefangene Funkspruch wurde entschlüsselt. Alle Informationen ließen erkennen, daß der Kampf um die Macht weiterging. »Merkst du das erst jetzt?« »Nein. Aber es ist gut, das immer wieder auszusprechen.« Rubernek und Kornen Fus hatten Freiwache. Die KLINSANTHOR schwang langsam über die dunkle, zerklüftete und kraterübersäte Oberfläche des erkalteten Gestirns. Vor der fernen Sonne, einem dunkelroten Gasriesen, breitete sich ein nordlichtartiger Vorhang von purpurn glühendem Gas aus. Insgesamt drei Schiffe hatten sich in der zurückliegenden Zeit kurz auf den Schirmen abgezeichnet und waren lautlos wieder verschwunden. Nach einer Weile erkundigte sich Sparken: »Sollen wir uns nicht wieder mit Atlan in Verbindung setzen?« Fartuloon zog seine breiten, muskulösen Schultern hoch und schüttelte dann den Kopf. »Es gibt nichts Aufregendes zu berichten. Wir sollten vorsichtig bleiben und weder seine noch unsere Position verraten. Es wäre eine unnötige Gefährdung.« »Ein gutes Argument. Einverstanden.« In Fartuloons kleinem Team war eine deutliche Verwandlung zu beobachten. Jeder hatte die Möglichkeiten des Experimentalschiffs weitaus besser kennengelernt. Die Bordpositronik konnten sie alle ebensogut bedienen wie das Beiboot, und es gab nicht einen Schalter oder Hebel mehr, der ihnen fremd und dessen Funktion unverständlich war. Und, weitaus wichtiger: die Zyrpher und der Daila hatten spätestens seit dem Kontakt mit Atlan und Chipol erkannt, daß ihre Heimatwelten zum Spielball fremder Mächte geworden waren – und daß es echte Chancen gab, der Galaxis Manam-Turu die Freiheit wieder zurückzugeben. Sie waren eindringlich motiviert worden. »Reger Schiffsverkehr von und zur BASTION!« bemerkte Fartuloon. »Das erinnert mich an einen aufgestörten Ameisenhaufen.«
Die Fernortung arbeitete an den Grenzen ihrer Reichweite und Leistungsfähigkeit. Aber das Echo der riesigen Raumstation und die der Schiffe waren noch zu erkennen. »Die Ligriden stellen einen starken Faktor dar. Ich habe mich schon oft gefragt, was sie täten, wenn sie das wahre Gesicht der Hyptons kennenlernen würden.« »Es ist, schlechterdings, schwer vorstellbar«, brummte der Bauchaufschneider und zwinkerte Sparken mit seinen gelben Augen zu. »Vermutlich ergäbe es ein Chaos.« »Was der Galaxis nicht schaden würde.« Sechzig Tage waren seit dem Beginn eines neuen Jahres vergangen. Fartuloon plante, in zwei oder drei Tagen zum Zamcort-Yumnard-System aufzubrechen und seine Beobachtungen in der Nähe des Psionischen Tores fortzusetzen. Es ging um EVOLO, und die Entwicklungen fingen an, spannend zu werden. Die Informationen der Funksprüche ließen es erkennen. Der Blick auf die Zahlen des Chronometers war ebenso häufig wie nutzlos. Fartuloon goß aus seinem Weinvorrat in zwei Gläser und reichte eines dem Daila. Er selbst lehnte sich bequem zurück und legte die weichen Stiefel auf die Kante des Pultes. »Zum Wohl«, sagte er. »Wir warten weiter. Heute abend, wie versprochen, werde ich euch etwas Leckeres kochen, mit all meinen unbezahlbaren Gewürzen und Spezereien.« Sparken lachte rauh und entgegnete: »Dein letztes Giftmischer-Experiment haben wir tatsächlich überlebt!« Sie warteten geduldig weiter. Stunde um Stunde verging. Fartuloon ließ sich ablösen, legte sich schlafen und träumte vom Zeitversteck und von großen, schlanken Frauen. Geräusche ertönten, Licht flammte auf, und das Gesicht, das sich über ihn beugte, gehörte keiner Rothaarigen mit feingeschnittenen Lippen, sondern Kornen Fus. »Aufwachen, Bauchaufschneider«, dröhnte er und erschreckte Fartuloon mit den raubtierhaften Zähnen seines Gebisses. »Wir sind schon zum Ziel unterwegs. Ein Fernraumschiff der Ligriden.« »Aha! Soso!« knurrte Fartuloon wenig geistvoll und war mit einem Satz aufgesprungen. »Ich komme.« Der Lautsprecher seines Kabinen-Interkoms knackte, und Rubernek sagte: »Funksprüche! Ich schalte die Tonleitung zu dir, Fartuloon.« Kornen Fus rannte davon. Die Maschinen des Schiffes dröhnten, und die winzigen Vibrationen kleiner Kursänderungen durchliefen den langgestreckten Rumpf der KLINSANTHOR. Während sich Fartuloon in rasender Eile anzog, hörte er überraschend deutlich den Hyperfunk-Notruf eines Schiffes. Es war die CANTRISS, die unweit – nach kosmischen Maßstäben – der BASTION II die Linearetappe beendete. Ein Fernraumschiff, zurück aus der Galaxis Bennerton. »Nie gehört, Bennerton. CANTRISS, das sagt mir etwas«, murmelte der Bauchaufschneider und spurtete in die Richtung der Zentrale. Hinter ihm tauchte Sparken auf und schloß den Gürtel seines Bordoveralls. Es war unverkennbar ein Notruf! Die Stimme eines Ligriden, offensichtlich eines Mannes in mittleren Jahren, sprach ohne große Aufregung. Der Sprecher schien sich jedes Wort genau überlegt zu haben. Bei der ersten synchronen Wiederholung merkte das Team um Fartuloon, daß es ein durchlaufendes Band war, das immer denselben Text abspulte. Die CANTRISS war das einzige Schiff, das von insgesamt fünf übriggeblieben war. Der Zustand an Bord? Unbestimmt, vermutlich erschreckend. Der Ligride bat ein Kommando, möglichst Diener des
Gward, aus BASTION II herauszukommen und das Schiff zu entern. Wichtige Informationen von den Erlebnissen in der Galaxis Bennerton, vom Brutplaneten Fjukium, waren im Schiff zu finden. Als der Hilferuf das drittemal ertönte, hatten sich beide Schiffe einander bis auf wenige Kilometer genähert. Fartuloon erkannte auf dem Ortungsschirm, daß die CANTRISS ein hartes Bremsmanöver einleitete. Die KLINSANTHOR fegte heran, ging auf Parallelkurs und schob sich seitlich an das Fernraumschiff heran. »Das ist ein Fall für uns«, sagte Fartuloon. »Was die Ligriden in einer anderen Galaxis erfahren haben, muß wichtig sein. Vielleicht haben sie tatsächlich ein drittes Konzilsvolk gefunden.« Mitten in der automatischen Durchsage riß der Text ab. Das Funkgerät im anderen Schiff wurde umgeschaltet. Dieselbe Stimme rief, immer wieder von Stöhnen und Pausen unterbrochen: »Kommandant Hoonrust spricht. Lorad, Diener des Gward, hilf mir. Ich bin schwer verwundet und am Rand meiner Kraft. Ich habe Inua bei mir, ein Zuchtergebnis der… nein, das erfährst du vom Informationsband. Eile! Ich halte nicht mehr lange durch.« Fartuloon brauchte nicht mehr zu überlegen. Er stand auf und sagte kurz: »Dem Mann muß geholfen werden. Wir sind die nächsten Nachbarn. Bis BASTION Zwei reagiert, können Stunden vergehen.« »Willst du ins andere Schiff hinüber?« »Natürlich. Mit dem Medizinköfferchen unter dem Arm. Kornen – wirst du das Andockmanöver ausführen können?« »Vielleicht kracht’s ein bißchen«, meinte der Zyrpher und stieß ein grollendes Lachen aus. »Ich schaffs schon, Fartuloon.« Fartuloon riß eine Schranktür auf und zwängte sich in den Raumanzug, den er in den Beinteilen gekürzt und im Mittelteil durch zwei breite, zusätzliche Streifen verbreitert hatte. Während er sich ausrüstete und von Sparken helfen ließ, ächzte Hoonrust weiter und bat um rasche Hilfe, und die Schiffe schwebten Bordwand an Bordwand weiter. Fartuloon ahnte, daß er auf einer heißen Spur war. Natürlich erinnerte er sich an seine Erlebnisse während der Gefangenschaft in BASTION II und der aufgeschnappten Informationen. Vielleicht doch, so sagte er sich, hatten die Ligriden das dritte Volk des Neuen Konzils entdeckt. Jedenfalls brauchte der Ligride dort drüben schnell Hilfe. An eine Falle glaubte Fartuloon nicht. Er stand vor der inneren Schleusenpforte und sagte zu den drei Gefährten in der Steuerkanzel: »Ich versuche, im anderen Schiff die Schleuse zu öffnen und dem armen Kerl zu helfen. Er wird mir erzählen müssen, was ihn so schockiert hat. Wenn sich ein Schiff aus Richtung BASTION nähert, keine Gegenwehr. Aber ruft mich auf der Anzugsfrequenz und der Frequenz der CANTRISS. Ein Wort genügt. Verstanden, Freunde?« »Alles klar, Kommandant.« Die Schleusentüren öffneten und schlossen sich. Fartuloon befestigte ein überlanges Kabel an seinem Anzug und in der Schleuse und aktivierte den Öffnungsmechanismus der Außenpforte. Dann sprang er aus der Schleuse und schwebte langsam hinüber. Undeutlich erkannte er im letzten Drittel der CANTRISS ein riesiges Loch mit nach außen aufgebogenen, gezackten und ausgeglühten Metallelementen. Er prallte sanft gegen die Außenhülle. Er aktivierte die tellerförmigen Magnetgriffe und arbeitete sich bis zur Schleuse vor. Schließlich verband er den letzten Handgriff mit einem Druck auf den Öffnungsmechanismus, während er versuchte, das andere Ende des Seiles am Magnethalter zu befestigen.
Die Schleuse glitt auf. Der unbekannte Ligride rechnete also fest damit, daß ihn seine Artgenossen retten wollten. Unverändert sprach er, stöhnte und redete von dringender Hilfe. »Viel Zeit habe ich nicht«, murmelte Fartuloon und schwang sich in die Schleusenkammer. Sein Körper wurde halb herumgedreht, seine Stiefelsohlen trafen auf den Boden. Er führte die nötigen Handgriffe aus und stand, nachdem hinter ihm die innere Schleusentür wieder zischend in die Dichtungen eingerastet war, in einem beleuchteten Schiffskorridor. Seine Augen glitten blitzschnell über Wände, Decken und Boden. Jeder Abschnitt zeigte Spuren der Verwüstung. Überall waren die Reste von Löschschaum und große, eingetrocknete Flecken, die wie Blut wirkten. Im Eingang zu einer Kabine lag ein Ligridenkörper, der von Hochenergieschüssen halb verbrannt war. Kampf zwischen Ligriden? Undenkbar. Fartuloons Schritte wurden schneller. Seine Hand griff nach dem schweren Narkoschocker, aber er zog die Waffe nicht. Er öffnete das große, halbkugelige Visier des Helmes. Die Luft, die er atmete, stank nach kaltem Rauch, nach Verwesung und irgendwelchen Chemikalien. Noch dreißig Schritte trennten ihn von dem geschlossenen Schott der Zentrale. Er passierte offensichtlich ein System von Licht- oder Warnstrahlenschranken, denn er löste einige Alarmeinrichtungen aus. Dann blieb er vor den Linsen eines Interkoms stehen. »Öffne die Schleuse, Diener des Gward«, sagte er. »Ich komme, um dir zu helfen.« Fartuloon hatte nicht damit gerechnet, aber auf dem Schirm zeigte sich der Kopf eines Ligriden. Undeutlich erkannte er eine Kapuze, tief in den Höhlen liegende Augen und das getrocknete Blut einiger Wunden neben frischen Pflastern. »Wer bist du?« »Dein Retter, Gward Hoonrust. Öffne das Schott.« Das Schiff hinter ihm schien leer zu sein, ausgestorben und verwüstet. Aus dem Lautsprecher hörte Fartuloon langgezogenes Stöhnen, eine hastig geführte Unterhaltung, von der er kein Wort verstand, dann eine hellere Stimme. Sie sagte, während das schwere Schott – das ebenfalls aussah, als habe man mehrmals mit Hochenergiewaffen darauf geschossen – summend zur Seite glitt: »Jeder, der mir hilft, darf herein.« Fartuloons Ungeduld wuchs. Jede Sekunde konnte ein Ligridenschiff heranrasen oder sogar ein kleiner Verband bewaffneter Einheiten. Die Zeit drängte; höchste Eile war geboten. Bevor er in die Zentrale hineinging, musterte er den Raum. Als er den ausgestreckten Körper des Ligriden erkannte, daneben eine junge Ligridin, die ihn besorgt musterte, machte er fünf große Schritte und sagte: »Keine Furcht. Ich habe deinen Hilferuf gehört, Hoonrust. Ich beobachtete vor rund sechzig Tagen, wie du mit den anderen Schiffen gestartet bist. Ich weiß, daß Lorad euch geschickt hat.« Hoonrust bot einen Anblick, der Fartuloon erschreckte. Er löste die Seitentasche vom Gürtel und klappte sie auf. Die Tasche samt Inhalt stammte aus dem Magazin der KLINSANTHOR, also brauchte er auf den anderen Metabolismus keine Rücksicht zu nehmen. »Wer bist du?« fragte der Ligride. Er war ungeschickt verbunden worden. Etliche Binden waren blutdurchtränkt. Seine Finger zitterten im Fieber, als er das Mikrophon wegschob. »Ein Feind der Hyptons und des Neuen Konzils. Im Augenblick dein Freund, Kommandant.« Er preßte die Spritze gegen die Halsseite des Mannes. Der Inhalt strömte in den Blutkreislauf. Fartuloon hörte genau zu, was der Kommandant sagte. »Wir fanden in der Galaxis Bennerton einen Planeten. Fjukium. Dort gibt es Echsenwesen. Zwei Schiffe konnten wir orten, die von Bennerton nach Enterny, unserer Heimat, flogen. Sie bringen verwandelte Fjuker dorthin. In einem Schiff fanden wir Inua. Nimm sie mit, Fremder, denn sie wird
bei den Ligriden nicht mehr leben können. Sie werden alle wahnsinnig – wie die Mannschaft des Schiffes.« Fartuloon drehte sich zu der jungen Frau herum und sagte scharf: »Zieh einen Raumanzug an, schnell, und warte auf mich.« »Wohin bringst du mich? Was soll ich bei dir?« »Überleben, Kleine«, sagte Fartuloon und bemühte sich, sein bestes, Vertrauen erweckendes Lächeln einzusetzen. Der Ligride sagte, wohl mit der Vorahnung eines Sterbenden: »Geh mit ihm. Er hat meine Schmerzen besiegt. Du gehörst nicht in die Kämpfe unter den Ligriden. Gehorche ihm. Ich kann dir nicht mehr helfen – es geht mit mir zu Ende.« Fartuloon sah, daß der Ligride keine Schmerzen mehr spürte. Hoonrust entspannte sich und deutete mit verbrannten Fingern auf eine versiegelte Bandkassette. »Nimm sie mit. Sorge dafür, daß alle Völker in Manam-Turu erfahren, auf welch verbrecherische Art sie ausgenutzt werden.« Fartuloon nahm das Band an sich und blickte der jungen Frau nach. Sie verhielt sich wie ein großes Kind. Hoonrust keuchte: »Kümmere dich um Inua. Früher war sie eine Fjukerin. Hyptons und Ikuser machten sie zu einer Ligridin. Sie hat noch keine Erinnerungen. Alle Erinnerungen aller Ligriden sind falsch, künstlich, das Werk von Verbrechern…« Seine Stimme kippte und riß ab. Er wimmerte auf und schlug die verbrannten Hände vor das Gesicht. Dann, nach einem Zittern, das den ganzen Körper durchlief, atmete der Ligride tief ein und aus. »Inua wird dir sagen, was an Bord meines Schiffes passierte. Zione, die letzte Überlebende, wollte mich umbringen und die CANTRISS entführen.« »Werden die Ligriden von BASTION II erfahren, was du herausgefunden hast?« »Ja… Kopie… Informationsband… Bilder und Koordinaten.« »Verstanden!« sagte Fartuloon. Alles was er hörte und erlebte, prägte sich ihm tief ein. Er zweifelte nicht im mindesten am Wahrheitsgehalt der Worte eines Sterbenden. Daß die Hyptons die Ligriden manipulierten, wußten er und Atlan seit langem, und nicht nur sie. Aber daß… er verschob die Erörterung dieser Überlegungen und Erkenntnisse auf später. Eine ungeheuerliche Wahrheit! Unverständlich in in der Größenordnung galaktischer Verbrechen. »Fartuloon!« klirrte es plötzlich, aber längst erwartet, aus den Lautsprechern. »Fünf Schiffe von BASTION II nähern sich.« »Hoonrust«, sagte Fartuloon und legte dem Ligriden, der ihn mit flackernden Augen anstarrte, die Hand auf die heiße Stirn, »gleich sind deine Leute bei dir. Sie helfen dir besser, als ich es könnte. Viel Glück für euch alle.« »Danke, Fremder. Sage es ihnen allen…« »Das kann ich dir versprechen«, versicherte Fartuloon und verließ die halb verwüstete Zentrale. Neben der Schleuse wartete Inua. Fartuloon kontrollierte ihren Anzug und schloß den Helm seines Anzugs. Als er die Reihe der offenen Fächer sah, nahm er zwei verpackte Raumanzüge heraus und betätigte die innere Schleusentür. »Verstehst du mich?« fragte er und wickelte ein kurzes Stück Sicherheitstrosse vom Gürtel ab. »Ja«, antwortete sie so wenig beteiligt, wie sie es bisher gezeigt hatte. »Wir gehen in dein Raumschiff.«
»Genau das tun wir«, meinte er und ahnte, daß er sich abermals eine schwere Last aufgeladen hatte, »und zwar in höchster Eile.« Er verband beide Raumanzüge mit einem dünnen Tau, löste die Magnethaftungen und zog sich hinüber zur KLINSANTHOR. Als er die letzte Seilschlinge in die Schleusenkammer gezogen und die Stahlwand sich geschlossen hatte, gab Sparken volle Kraft auf die Antriebsdüsen. Die KLINSANTHOR raste, immer schneller werdend, davon. Fartuloon packte, nachdem er die Helme der Anzüge weggeklappt und die Innenversorgung ausgeschaltet hatte, Inua am Oberarm und zog sie sanft mit sich. »Nun, mein Kind«, sagte er überströmend freundlich, »wirst du drei Raumfahrer kennenlernen, drei reizende, erwachsene Männer, mit denen man sich gut und schnell anfreunden kann.« Es war eine Sache, ihn kennenzulernen, und eine andere, den grauhäutigen, raubtierhaften Riesen von Zyrphern zum erstenmal und ohne jede Erfahrung gegenüberzutreten. Inua überragte ihn fast um zwei Köpfe, aber sie war hilflos. Vielleicht lernte sie schnell, sagte sich der Bauchaufschneider und schob sie vor sich her in die Zentrale. »Das ist Sparken aus dem Volk der Daila, das sind Kornen Fus und Rubernek, Zyrpher von Zyrph, und wenn du sie lachen hört, Kleine, dann wirst du wissen, daß du keine Angst zu haben brauchst.« Aufmerksam betrachtete er die Szene. Völlig vorurteilslos und ohne Schrecken begrüßten sich die vier so unterschiedlichen Wesen. Das war ein deutlicher Vorteil, den ein Kind oder ein junger Heranwachsender hatte, sagte sich Fartuloon. Er heftete seinen Blick auf den Ortungsschirm. Die Schiffe blieben weit zurück, und wenigstens im Augenblick dachte kein Ligride daran, das gestohlene Schiff zu verfolgen. »Arme Burschen«, brummte der Bauchaufschneider und sagte laut: »Kurs auf das Psionische Tor, Freunde. Und nachdem wir dieses Band gebührend betrachtet und die Konsequenzen daraus kennen, werden wir uns Mühe geben, Atlan zu benachrichtigen. Ich sage euch – auf diesem Band finden wir die absolute, nie gekannte Sensation von Manam-Turu und umliegenden Galaxien.« Er brachte Inua in eine freie Kabine, holte alles, was sie brauchte, aus den reichhaltigen Magazinen und erklärte ihr Hähne, Schalter, Interkom und alles andere. Er nahm sie mit in die kleine Messe und erklärte ihr die Mechanismen, mit deren Hilfe Essen und Getränke hervorgezaubert werden konnten. »Es sind dieselben Einrichtungen wie in der CANTRISS«, meinte Inua altklug und lächelte zum erstenmal. Fartuloon nickte; daran hatte er nicht gedacht. Allerlei ungeordnete Gedanken und Vorstellungen geisterten durch seinen Kopf: Er entsann sich der Erzählung Atlans vom einzig überlebenden Mädchen aus der ligridischen Raumtankstelle, an seine Beobachtungen in BASTION, an die ameisenhaft emsigen Ikuser (deren »Volk der Techniker« also auch in Bennerton für die Hyptons arbeitete) und sagte schließlich: »Wir haben interessante Tage und Monate vor uns, Kleine. Du wirst viel sehen und lernen. Und wenn du deine Kapuze weiterhin tragen willst, soll es uns recht sein.« »Ich bin«, lautete die Antwort, die ihn fast zu einem Gelächter der Trauer und Verzweiflung gebracht hätte, »eine Dienerin des Gward. Hoonrust hat es mir erklärt.« Fartuloon schluckte und murmelte ergeben: »Ich bin sicher, daß er das Richtige getan hat.« Er verstaute die beiden erbeuteten Raumanzüge, zog seinen Anzug aus und versorgte ihn. Dann legte er die Bandkassette in ein Wiedergabegerät ein und betätigte den Abspielschalter. »Ich glaube, wir erfahren jetzt ein riesiges Stück einer unfaßbaren Wahrheit«, sagte er und lehnte
sich in seinem Kommandantensessel zurück. Bilder, Geräusche und Hoonrusts Stimme als Begleittext versetzten die Crew von der KLINSANTHOR in die andere Galaxis. Erste Bilder von Bennerton. Die fremden Sternbilder der nächsten und übernächsten Annäherung. Die beiden Schiffe. Erklärungen über Richtungen und Entfernungen. Koordinaten. Die Kämpfe innerhalb des Fernraumschiffs ohne Namen. Die riesige Anzahl der Tiefschlafkammern. Inua, ihr Erwachen und der Transport hinüber in die CANTRISS. Der Planet Fjukium, sein Illusionsschirm und darunter die Wahrheit. Kämpfe und Beobachtungen. Ein Schiff nach dem anderen vernichtet. Der seltsame Einsiedler, halb Fjuker, halb Ligride, und seine Skulptur von Absommenperk. Zögernde Berichte der Fjuker, wieder Bilder von Erkundigungen und noch mehr Informationen. Zuletzt die Flucht des einzigen Schiffes, der CANTRISS. Hoonrust sprach und gab die letzten Erklärungen. Er schloß mit einem Aufruf an die Diener des Gward und schilderte den Zustand des Schiffes, in dem er gegen seine wahnsinnigen Kameraden kämpfen mußte, selbst dem Wahnsinn und dem Tod näher als je zuvor… Der Bericht endete. Schweigend und betroffen sahen die Gefährten einander in die Augen. »Die nächste Expedition steht bevor«, sagte Fartuloon schließlich mit rauher Stimme. »Ich kenne sie gut, die Ligriden. Sie sind unerschrockene Krieger und Kämpfer. Sie werden dieses Rätsel lösen.« Kornen Fus sagte grollend: »Ein Rätsel, das für uns nicht mehr rätselhaft ist.« Sie wußten nicht annähernd, wie die Masse der Ligriden, Diener des Gward ebenso wie Diener des Gwyn, auf diese ungeheuerliche Wahrheit reagieren würden. Mit Wahnsinn, Todeswünschen und Selbstmord, mit Kämpfen und Tod untereinander, oder mit einem Vernichtungsfeldzug gegen die Hyptons? Und wie handelten die Fledermauswesen, wenn sie sich entdeckt sahen? Nützte ihnen im vorliegenden Chaos noch ihre völkerbeherrschende Fähigkeit? »Atlan muß es erfahren«, erklärte der Bauchaufschneider kategorisch. »Ob wir eine Gelegenheit finden, die Völker der Galaxis von diesem Verbrechen zu unterrichten, ist zur Stunde fraglich.« Sparken meinte trocken: »Jedenfalls ist unsere Langeweile schlagartig vergangen.« Die KLINSANTHOR ging in die Linearetappe. Die nächsten Ziele waren deutlich: Atlan brauchte die neuen Informationen. Und die Hyperfunksprüche wiesen darauf hin, daß sich beim Psionischen Tor überraschende Dinge taten. »Das wenigstens ist sicher«, bekräftigte Fartuloon. »Und ebenso sicher ist für mich, daß es gewaltige Veränderungen geben wird.« Die KLINSANTHOR und ihre Besatzung würden mitten in diesen Auseinandersetzungen zu finden sein. ENDE
Was Hoonrusts Entdeckungen für Folgen nach sich ziehen, darüber berichten wir später mehr! Im nächsten Atlan-Band geht es vorwiegend um Probleme, mit denen sich EVOLO auseinandersetzen muß, und um den Racheplan der Hyptons… DER RACHEPLAN DER HYPTONS – so lautet auch der Titel des Atlan-Bandes 764, der von Exposé-Autor Peter Griese geschrieben wurde.