Stephanie Seidel �
Der Mann, den die Zeit � vergaß � Maddrax HC 17 Version 1.0
Das Buch � Wie kommt ein GPS-Transpon...
13 downloads
555 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Stephanie Seidel �
Der Mann, den die Zeit � vergaß � Maddrax HC 17 Version 1.0
Das Buch � Wie kommt ein GPS-Transponder in eine antike Ausgrabungsstätte? Was verbindet das verschwundene Volk der Anasazi mit den blutrünstigen Azteken und den spanischen Conquistadores? Was verbirgt sich vor Commander Drax in den dunklen Höhlen von Iskatán – und ruft ihn mit unhörbarer Stimme? Für Jahrhunderte lag das sagenumwobene Felsenpueblo unberührt und unbeachtet, von der Welt vergessen. Jetzt, mit der Ankunft von Matthew Drax und Aruula erwacht es noch einmal zum Leben. Doch die Geheimnisse, die es preisgibt, sind ganz anders als erwartet, und sie locken den Mann aus der Vergangenheit in eine tödliche Falle …
Prolog � Als Zeit noch keine Bedeutung hatte, weil der Mensch im Dunkel seiner animalischen Existenz gerade erst begann, einen Verstand zu entwickeln, kamen Fremde auf die Erde. Wer sie waren und was sie wollten, bleibt ihr Geheimnis, denn sie ließen nichts hier, und sie kehrten nie zurück. Doch sie nahmen etwas mit… 16. Oktober 2517 südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko »Hast du das auch gehört, Großvater? Der Wind hat was gesagt!« »Ach, Felipe«, seufzte Gonzalo. Er drehte sich nach dem Jungen um. »Der Wind sagt doch nichts! Er kann gar nichts sagen, dazu brauchte er einen Mund. Siehst du irgendwo einen?« Felipe schüttelte den Kopf, dass seine schwarzen Locken bebten. Der Alte zögerte. Braune Kinderaugen schauten zu ihm auf, voller Unschuld, voll Liebe, und es war dieser Blick, der Gonzalo jedes Mal das Herz erweichte. Ohne den Strick loszulassen, an dem er seinen Esel hinter sich her zerrte, ging der Mechico drei Schritte zurück, tätschelte dem Jungen die Wange. »Komm jetzt«, sagte er. »Es wird schon spät, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wenn wir das Dorf vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollen, darfst du nicht mehr trödeln.« »Ist gut, Großvater.« Felipe klang resigniert. Er hatte bei der Ernte geholfen, den ganzen Tag, in brütender
Hitze. Seine schmächtigen Schultern waren von der Sonne gezeichnet, und er stellte immer nur einen nackten Fuß auf die steinige Erde. Abwechselnd, um den anderen zu schonen. Der Alte wandte sich schnell ab. Felipe war ein zartes Kind, zu schmächtig für seine acht Sommer. Doch man durfte kein Mitleid zeigen. Im Gegenteil: Je härter Gonzalo den Jungen anpackte, je mehr er von ihm forderte, umso eher würde sich Felipe weiterentwickeln. Und das musste er in einer Welt, in der nur Platz war für die Starken. Gonzalo ging los, ruckte dabei ein paar Mal am Strick. Sein Esel war weggedöst; stehend, mit hängendem Schädel und offenem Maul. Er ließ sich nur mühsam wieder in Bewegung setzen. Er hatte eine schwere Last zu schleppen. Kakteen größtenteils. Gonzalo hatte ihm Ziegenhäute über den Rücken gelegt als Schutz vor den Stacheln, doch das half nur bedingt. Was seitlich herunterhing, stieß dem Tier bei jedem Schritt gegen die Hinterbeine. Alle paar Minuten warf der graue Zottel den Kopf hoch, sog geräuschvoll die Luft ein und stieß sie wieder aus. »liiih-aaah!« Überrascht hob Felipe den Finger. »Da! Da war es wieder! Hast du es jetzt vielleicht gehört, Großvater?« Gonzalo schimpfte: »Hör auf damit, Felipe! Es ist nur Einbildung. Du musst dir abgewöhnen, solche Sachen zu behaupten. Sonst wirst du enden wie Juan.« Juan war der Sohn des Schamanen und vor den Göttern in Ungnade gefallen. Sie hatten ihm Stimmen in den Kopf gepflanzt, und die befahlen ihm ständig, dumme Dinge zu tun. Neulich erst hatte er versucht, die
Hütte des Ältesten anzuzünden. »Nein, so ist es nicht«, widersprach Felipe eifrig. »Die Windstimme ist anders. Sie erzählt nur etwas, aber sie will nichts von mir.« Er lächelte. »Sie könnte es auch nicht bekommen, denn sie redet in einer Sprache, die ich nicht verstehe.« »Tatsächlich.« Gonzalo spuckte aus. »Was sagt sie?« »Tuakum he.« Ruckartig blieb der Mechico stehen. Felipe wich erschrocken zurück. »Habe ich was Falsches gesagt, Großvater?« »Äh – nein.« Gonzalo fuhr sich über die Stirn, warf einen heimlichen, verstörten Blick auf den Jungen. Hin und wieder gab es solche Kinder, selten zwar, doch es kam vor. Sie verloren diese Fähigkeit meist, wenn ihre Reifezeit begann. Manchmal aber blieb sie erhalten, und dann verloren sie stattdessen ihr Leben. Gonzalo atmete tief durch. »Tu mir einen Gefallen, Felipe. Erzähl davon nichts im Dorf, ja? Vor allem nicht deiner Mutter!« »Warum nicht, Großvater?« »Gehorche einfach!« Ungeduldig zerrte der Alte am Führstrick seines Esels. Das Tier machte den Hals lang, blieb so lange stehen wie möglich. Dann trottete es steifbeinig hinter Gonzalo her, der sich in düsteres Schweigen hüllte. Auch Felipe schwieg. Zehn Schritte, fünf Schritte. Noch mal fünf. Ewigkeiten aus der Sicht eines Achtjährigen. Tapfer hielt er durch, bis das Gefühl zu platzen übermächtig wurde und die zusammengepressten Lippen von allein aufsprangen. »Was bedeutet Tuakum he, Großvater?« »Es ist ein alter Indianerruf«, sagte Gonzalo. »Der Wind
trägt ihn vom Erdwall herunter.« Felipe war erstaunt. »Der Wind ist ein Indianer?« »Natürlich nicht!« Wider Willen musste Gonzalo lachen. Er schüttelte den Kopf, zeigte vage über die Ebene, Richtung Erdwall. »Hier in dieser Gegend haben mal welche gelebt. Doch das ist so viele Sommer her, wie …«, er sah sich um, suchte nach einer Vergleichsmöglichkeit, »… wie es Steine gibt.« Felipe starrte ehrfürchtig auf das Geröll zu seinen Füßen. Es war überall; bis zum Ende der Welt lag Kiesel neben Stein am Boden. Eine solche Anzahl überschritt das Vorstellungsvermögen des Jungen, hatte schon fast etwas Heiliges. So ging er, während sein Großvater zu erzählen begann, mit gesenktem Blick weiter. Vorsichtig, um nur ja nicht auf einen der plötzlich kostbar gewordenen Steine zu treten. »Sie waren ein seltsames Volk, diese Indianer«, sagte Gonzalo und rieb sich die knisternden grauen Bartstoppeln. »Haben Häuser gemauert, an die Felsen und in sie hinein, als ob draußen in der Ebene kein Platz wäre! Es heißt, sie konnten Körbe flechten, noch besser als deine Großmutter, Felipe, und sie sollen geheimnisvolle Zeichen an die Wände gemalt haben. Ihre Häuptlinge steckten sich Adlerfedern ins Haar.« »Warum?« »Das weiß ich nicht. Als unser Schamane noch jung war, ist er manchmal auf den Erdwall gestiegen, um der Göttin Ser'peela zu lauschen. Durch sie erfuhr er, dass am Anfang der Zeit ein riesiger Vogel die Indianer herbrachte. Aus weiter Ferne. Vielleicht dachten die Feinde der Alten, wenn sie Federn tragen, könnten sie wieder nach Hause fliegen.«
»Die Feinde der Alten?«, fragte Felipe neugierig. »Ja.« Gonzalo nickte. »So nannten sie sich. Anasazi. Das heißt in unserer Sprache: Feinde der Alten.« Felipe runzelte die Stirn, dachte nach. Plötzlich blickte er auf. »Wenn die Indianer die Feinde waren, Großvater – wer waren dann die Alten?« »Gute Frage.« Gonzalo kratzte sich am Kopf. »Aber weißt du, darauf brauchen wir keine Antwort zu suchen. Wer immer die Alten waren, sie sind vergangen.« »Und die Indianer?« »Auch.« »Aber warum sind ihre Stimmen noch im Wind, Großvater?«, bohrte Felipe weiter. Der Mechico blieb stehen, legte seinem Enkel eine Hand auf die Schulter und sagte ernst: »Das ist die Strafe der Götter, mein Junge! Man sagt, die Anasazi hätten einen Zauber angewandt und wären durch ihn verschwunden. Das ganze Volk! An einem Tag! So etwas ist unnatürlich, Felipe, und wer sich mit solchen Dingen befasst, der nimmt ein schlimmes Ende! Aber nun haben wir genug darüber geredet. Lass uns heimgehen.« Gonzalo hoffte, dass der Achtjährige eine Weile beschäftigt sein würde mit all den neuen Eindrücken und keine Zeit fand, um noch mehr Fragen zu stellen. Die Sonne sank, der heiße Präriewind kühlte sich auf erträgliche Temperaturen ab, und man konnte endlich einen Fuß vor den anderen setzen, ohne dass einem bei jeder Bewegung der Schweiß ausbrach. Da wäre ein Moment der Stille recht angenehm. Der alte Mechico wusste nicht mehr, wie oft er diesen Weg schon gewandert war in all den Jahren; erst mit seinen Kindern, jetzt mit Felipe. Eine Stunde hin, eine
Stunde zurück. Bis zum Feld. Immer an dem riesigen Erdwall entlang, der sich von einem Horizont zum anderen auftürmte und schon für Gonzalos Ahnen ein gewohnter Anblick gewesen war. Niemand fragte sich, wie er entstanden sein mochte. Er und die schwarz erkalteten Lavaströme, die das Braun der Erde wie eine Tigerzeichnung durchbrachen. Niemand kannte »Christopher-Floyd«. Das Kakteenfeld war eine Laune der Natur. In der unfruchtbaren, verdorrten Ebene gedieh nur hartes, bitteres Präriegras, das man höchstens als Tierfutter verwerten konnte. Doch an einer einzigen Stelle machte das Land eine Ausnahme: Im Schatten des Walls lag ein Streifen dunkler Erde. Auf ihm wuchs eine essbare Kakteenart. Die Pflanzen trieben flache, aneinanderhängende Ovale aus. Diese saftigen grünen Ketten bedeckten den ganzen Boden, hielten ihn kühl, verhinderten sein Austrocknen. Deshalb fand man hier mit etwas Glück noch zusätzliche Nahrung. Vogelnester zum Beispiel, voll frischer Eier. »Großvater?« »Hmm-m?« »Warum siedeln wir eigentlich nicht um?«, fragte der Achtjährige. »Es wäre doch viel besser, wenn wir nahe am Feld wären, und wir könnten ja da oben wohnen!« Arglos wies Felipe auf eine Stelle in lichter Höhe, nicht weit voraus. Gonzalo folgte dem Fingerzeig, ließ in einem Anflug von Schwäche den Führstrick fallen und bückte sich eilig danach. Das Farbenspiel der Abendsonne hatte den Erdwall erreicht, hüllte dessen zerklüfteten Grat in magische Schleier aus Rot und Gold. Es war ein friedliches Bild, so warm und schön. Doch es
hatte einen Fehler, und Felipe zeigte darauf. »Ganz sicher werden wir dort nicht hinziehen, Junge«, flüsterte Gonzalo heiser, während er auf die Kuppe des Erdwalls starrte. Dort gab es einen verspukten, unheimlichen Felsen, den Iskatán. Der Name war überliefert und bedeutete Steinernes Tor, wusste Gonzalo. Nur wohin dieses Tor führte, das wusste er nicht. Menschen mieden den Felsen seit alters her wie eine Begräbnisstätte bei Nacht, und selbst die Sonnenstrahlen schienen ihn nicht berühren zu wollen: Obwohl er exponiert auf dem Grat stand, inmitten goldroter Schleier, blieben seine Flanken düster und seltsam lichtlos. Die Fantasie vieler Generationen von Mechicokindern hatte sich schon an ihm entzündet. Und ihre Angst. Er war die verlassene Heimstatt der Anasazi, ein großer, lang gezogener Sandsteinhügel. An seinem Fuß, der einst auf ebener Erde gestanden hatte, führten zwei natürliche, mandelförmige Buchten tief in den Fels. Viele Mechicohütten hätten in ihnen Platz gefunden. Die Gesteinsbrücke zwischen den Buchten wölbte sich wie eine Nasenwurzel nach außen. Das Ganze erinnerte unwillkürlich an einen erwachenden Riesen, der, noch traumverloren, soeben die schwarzen Augen öffnete. Dämonenaugen ohne Gnade. Gonzalo wandte sich schaudernd ab. Der Alte hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Er versuchte, seinen störrischen Esel anzutreiben, zog und zerrte am Strick und erzählte Felipe dabei, dass dieser unheimliche Felsen der Grund dafür war, weshalb die Mechico so weit entfernt lebten. Fast hätte Gonzalo danach noch mit den Göttern gehadert.
Jahr für Jahr war er mit Felipe zum Feld gegangen, und immer hatten sie es irgendwie verhindert, dass der Kleine den Iskatán beachtete. Warum heute nicht? Was war heute anders? »Großvater?« »Nein! Schluss! Ich will nichts mehr hören!« Gonzalo winkte energisch ab. »Nur noch eine Frage! Bitte, es ist wichtig, Großvater.« Felipe überholte den Alten und sah ihn treuherzig an, mit dem Blick, von dem er wusste, dass er Gonzalos Herz erweichte. Der Mechico seufzte. »Also meinetwegen, eine. Aber danach wirst du schweigen, bis wir im Dorf sind!« Felipe öffnete den Mund. Er wollte schon ein leichtsinniges Versprechen abgeben, besann sich aber noch rechtzeitig und trug stattdessen sein Anliegen vor. »Du hast doch gesagt, am Anfang der Zeit hätte ein riesiger Vogel die Indianer hergebracht.« »So erzählt man sich, ja.« Gonzalo runzelte die Stirn, verstand nicht, was der Junge wollte. Felipe zeigte über die Schulter des Großvaters. »War das ein Vogel wie der da?« Gonzalo fuhr herum. Von Westen, aus der sinkenden Sonne, kam ein nie gesehenes Ding heran. Es bewegte sich gut zehn Meter über dem Boden. Doch es hatte keine Flügel! »Ser'peela steh uns bei!« Der alte Mechico griff sich an die Brust. Er war bleich, und seine Hand zitterte heftig, als er nach Felipe tastete. »Komm, Junge!«, flüsterte er entsetzt. »Wir müssen fliehen!«
1 � 16. Oktober 2517 südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko »Bilde ich mir das ein, oder rennt da wirklich ein Esel?«, fragte Commander Matthew Drax und zeigte stirnrunzelnd auf die Frontscheibe des Gleiters. Draußen in der Ebene galoppierte ein graues Tier davon; schwer bepackt, ganz allein. Es buckelte heftig, um seine Last abzuwerfen, was ihm nach einer Weile auch gelang. Ein Haltestrick riss, der Packen flog hoch und explodierte in lauter grüne Frisbeescheiben, die hinter dem Vierbeiner zu Boden segelten. Einen Moment lang gab sich Matt Drax der Hoffnung hin, das Grüne könnte vielleicht etwas Essbares sein. Die eigenen Vorräte gingen zur Neige, da hätte es sich wirklich gut getroffen. Matt verzog das Gesicht, als er erkannte, was er sah. »Kakteen! Wer belädt denn einen Esel mit Kakteen? Hast du das gesehen, Aruula?« Matt stutzte. »Aruula?« »Ich kann nicht gleichzeitig fliegen und beten und etwas sehen, Maddrax!«, antwortete die Barbarin nervös. Sie saß stocksteif auf dem Pilotensitz, die Nase fast an der Scheibe, wie es Fahranfänger gerne tun. Das Lenkrad hatte keine Chance, sich auch nur einen Millimeter aus freier Entscheidung zu bewegen. Aruula hielt es eisern fest. Schweiß glitzerte auf ihrer Stirn. Sie tat Matt so leid. Für ihn, den ehemaligen Piloten der U.S. Air Force, waren simple Konstruktionen wie der Gleiter nur Spielzeug, das man beiläufig durch die Gegend steuerte,
während der Kampfjet warm lief. Sein eigener war am 8. Februar 2012 von Berlin aus zu einem letzten Flug gestartet, um das Nahen des todbringenden Kometen »Christopher-Floyd« zu beobachten. Drax wurde auf diesem Flug durch einen Zeitriss fünfhundert Jahre in die Zukunft geschleudert. Hier, in einer zerstörten Welt, lernte er die schöne Barbarin Aruula kennen. Als sie geboren wurde, lag der Kometeneinschlag, der das Antlitz der Erde so schrecklich entstellt hatte, fünfhundert Jahre zurück. Die junge Frau vom Volk der Dreizehn Inseln war mit Monstern und Mutationen aufgewachsen, mit Heilkräutern und Barbarengöttern. Sie konnte Fährten lesen, Feuer machen und auf die Jagd gehen. Doch von Technik hatte Aruula keine Ahnung. Mehr noch: Alles, was blinkte und piepte und sich wie von Geisterhand bewegte, machte ihr Angst. Und was dann auch noch den Boden verließ, war der reinste Frevel. Deshalb betete sie. Damit die Götter sie vor dem Zorn Orguudoos beschützten, wie der Teufel heutzutage hieß. Orguudoo mochte es nicht, wenn man ihm ins Handwerk pfuschte und Dinge erschuf, die kein Leben besaßen und dennoch lebten. Matt rührte die kindliche Unschuld seiner Gefährtin. Aruula hatte eine einzige Flugstunde absolviert; sie wusste nichts von Thermik oder der Funktion der Magnetfelder, die den Gleiter fünfzehn Meter anheben konnten und ihm eine Endgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometer ermöglichten. Man hätte meinen sollen, dass die Barbarin aus Angst vor einem Absturz oder vor den unbekannten Cockpitinstrumenten beten würde. Aber nein. Aruula rief die Götter an, weil einen
von ihnen der Neid plagte. Unter normalen Umständen hätte Matt sie nie ans Steuer genötigt. Es war eine Zumutung, das wusste er. Doch es ging nicht anders, denn mit einem gebrochenen Bein konnte selbst Commander Matthew Drax keinen Gleiter fliegen. Die Sache war vor drei Wochen passiert; ein Sturz auf der Flucht vor bösartigen Mutanten. Matt hatte noch Glück im Unglück gehabt, denn in erreichbarer Nähe wohnte ein freundliches Volk, das nicht nur willens war zu helfen, sondern es auch konnte. So gut, dass er inzwischen schon an Krücken lief. Doch es war ihm noch nicht möglich, die Pedale des Gleiters zu bedienen, darum hatte er Aruula den Pilotenjob aufgebürdet. »Du machst das richtig gut«, log Matt und nickte bekräftigend. Aruula wagte einen raschen Blick in seine Richtung, mit möglichst wenig Kopfbewegung und nur ja keinem Loslassen der Steuerung. Prompt zog sie das Lenkrad ungewollt an sich heran. Nur ein wenig. Der Gleiter reagierte, hob den Bug, begann zu steigen. Ebenfalls nur ein wenig, doch entschieden zu viel für die Nerven der Barbarin. Mit einem Schreckenslaut drückte sie das Lenkrad zurück, stoppte jedoch nicht rechtzeitig und verfehlte die Ausgangsposition. Der Gleiter senkte den Bug, Aruula zog am Lenkrad, er kam wieder hoch. Wie ein Schiff im Sturm schaukelte die Maschine auf und ab. Matt verspürte das dringende Bedürfnis, Aruula anzuschreien, sie solle die Lenkung sacht behandeln, immerhin war der Gleiter zehn Meter über dem Erdboden unterwegs, und ein Sturz aus dieser Höhe konnte gar nicht anders als schrecklich enden. Doch er
biss die Zähne zusammen. Es wäre fatal, die Barbarin in dieser kritischen Situation noch mehr zu verunsichern. Außerdem tat sie ja das Richtige. Nur nicht mit dem richtigen Feingefühl. Etliche stark beschleunigte Herzschläge später gelang es Aruula aber doch, den Gleiter abzufangen und auf einen geraden Kurs zu bringen. Matt bemühte sich, seinen angehaltenen Atem leise auszustoßen, damit sie es nicht mitbekam, denn die junge Frau war eine Kriegerin und als solche leicht in ihrem Stolz zu treffen, wenn man eine Unzulänglichkeit auch noch kommentierte. »Hast du gemerkt, wie gut ich den Gleiter im Griff habe?« Aruula klang sehr zufrieden. »Es stimmt, was du gesagt hast: Ihn zu steuern ist nicht schwerer, als eine Flugandrone zu reiten. Ich werde jetzt nach Süden schwenken.« »Nach … halt! Nein!« Matt Drax hob die Hände. »Aber der Erdwall da vorn ist zu hoch! Wir können ihn nicht überfliegen!« »Ich weiß.« Matt warf einen grimmigen Blick auf das vom Abendrot umspielte Hindernis. Es sah aus, als wäre ein gigantischer Schaufelbagger durch Neu Mexiko gerumpelt und hätte die oberste Erdschicht abgeschabt, nur um sie anschließend einfach liegen zu lassen. In gerader Linie, von einem Horizont bis zum anderen. Verfluchter Komet, dachte Matt bitter. Jede kleine Sportmaschine wäre mühelos über den Wall hinweggeschnurrt – damals, in Matts eigener Zeit. Heute stellte das Ding eine unüberwindliche Barrikade dar. Der Gleiter schaffte gerade mal fünfzehn Meter. Matts Blick entlang des Erdwalls glitt über einen Felsen, kehrte zurück, blieb hängen. Da waren Spuren
menschlicher Existenz! Steinbauten, Höhlen, Leitern … Matt richtete sich auf. Sein Interesse war geweckt. Er sah sich im Geiste schon alles erforschen, als er Aruula antippte und auf das Land voraus wies. Es war weitgehend verschont geblieben von den schwarz erkalteten Lavaströmen der Vulkane, die der Einschlag von »Christopher-Floyd« aus dem Schlaf geholt hatte. »Lass uns hier landen, Aruula!« Die Barbarin schüttelte den Kopf. »Das ist kein guter Ort, Maddrax! Wir sollten besser weiterfliegen.« »Komm schon«, drängte Matt. »Es dauert ja nicht lange. Ich will mir nur mal diese Bauten näher ansehen. Möglicherweise wohnt da jemand! Ich meine: Der Esel von vorhin hatte ganz sicher einen Besitzer, und der muss hier schließlich irgendwo sein Lager haben. Wer weiß, vielleicht können wir sogar unsere Vorräte aufstocken.« »Oder unser Leben verlieren.« Aruula zog ein langes Gesicht, als sie den Gleiter hinunterdrückte. »Du brauchst mit mir nicht zu verhandeln, Maddrax, wenn du etwas willst. Ich liebe dich, und ich respektiere deine Wünsche. Aber ich bleibe dabei: Es ist kein guter Ort. Wudan möge uns beschützen!« »Ein Pueblo!« Matt blickte staunend den Felsenhügel hoch. Am glatten Sandstein mit seinen nur einzeln auftretenden, scharfen Querfurchen klebten lauter kleine Häuser aus Stein und Lehm. Wie Bauklötze überzogen sie eine Gesteinsbrücke am Fuß des Hügels, wuchsen noch ins Innere der beiden natürlichen Buchten rechts und links davon. Letztere waren riesige schwarze Löcher,
unter deren Felsenüberhang eine ganze Gleiterstaffel hätte parken können. Der komplette Hügel musste bei der Entstehung des Erdwalls in die Höhe geschoben worden sein, denn das Felsgestein und die Häuser darauf begannen erst einen Speerwurf über Bodenniveau. Jede Treppe an den untersten Bauten endete im Nichts. »Sieh dir das an, Aruula!« Matt war begeistert. »Diese Leitern überall, wie sie Häuser miteinander verbinden und von den Dächern zur nächsten Ebene führen. Gänge und Höhlen zwischen den Gebäuden, das Ganze so verschachtelt und doch so systematisch angelegt. Es ist ein Meisterwerk der Baukunst!« »Es ist verlassen«, sagte Aruula. »Wir sollten jetzt gehen.« Matt zögerte. »Weißt du, ich würde gern noch hinaufsteigen und nachsehen, ob sich etwas Nützliches finden lässt.« »Maddrax!« Die Barbarin stemmte ihre Hände in die Seiten, sah ihn anklagend an. »Du bist verletzt, du kannst gar nicht auf den Felsen klettern! Wozu auch? Da oben gibt es ganz sicher nichts Nützliches mehr. Du hast vorhin selber gesagt, dass dieses … Pueblo jahrhundertealt ist! Also warum willst du so was Dummes tun? He!« Während sie auf ihn einsprach, war ihr Matt immer näher gekommen, und da Aruula keine Frau war, die zurückwich, stand er jetzt hautnah vor ihr. Lächelnd. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, küsste ihre Stirn, ihre Augen. Spielerisch zögernd suchten seine Lippen ihren Mund und verschlossen ihn mit einem Kuss, der Leidenschaft weckte.
Wildes Barbarenblut und ein athletischer junger Mann – die Mischung war explosiv. Eng umschlungen küssten sich Matt und Aruula, gaben sich ihren Gefühlen hin, berührten einander, bis die Welt in Vergessenheit geriet und Zeit keine Bedeutung mehr hatte. »Ich liebe dich«, stöhnte Aruula erregt, die Hand an seinem Glied. »Lass uns fegaashaa machen!« Matt fackelte nicht lange. Er zerrte das Hemd herunter, wollte es für seine Geliebte auf dem steinigen Boden ausbreiten. Doch die Barbarin lachte nur und stieß es fort, packte Matt am Gürtel und zog ihn mit sich, um ihn zu nehmen und sich nehmen zu lassen. Fegaashaa. Das war etwas anderes als der Sex, den Matt aus der Zeit vor dem Kometeneinschlag kannte. Vergessen das ganze Theater von wegen Duschen, Rasieren, teurem Aftershave und coolen Klamotten. Hatte sich was mit dem üblichen Balzverhalten wie Kinobesuche, Geschenke und Essen gehen. Keine tiefgründigen Unterhaltungen, kein abgenötigtes Lächeln beim Betrachten des Babys der älteren Schwester, kein Kuscheln. Nur Leidenschaft. Heiße, animalische Kopulation, laut und hemmungslos. Matt sah Sterne, als er kam. Nass geschwitzt blieb er danach eine Weile auf dem Boden liegen, bis sich sein fliegender Atem beruhigte und er die Steine zu spüren begann, die sich in seinen Rücken bohrten. Aruula lächelte ihn an, sichtlich erschöpft. »Ich habe Durst«, sagte sie schlicht und stand auf, um einen Wasserschlauch aus dem Gleiter zu holen. Matt schaute ihr hinterher, wie sie mit schwingenden
Hüften davonging. Sie war so vollendet, so schlank und makellos, perfekt proportioniert. Ihre schwarze Mähne fiel weit über den Rücken, und die Körperzeichnung in Blau und Grün – das Werk einer alten Schamanin – unterstrich Aruulas natürliche Schönheit noch. Er nickte versonnen. Keine Frau aus seiner Welt konnte mit dieser Barbarin konkurrieren, die weder Bodylotions noch Mascara kannte und ganz sicher nicht wusste, was ein Friseur war. Ich bin ein glücklicher Mann, dachte Matt. Ächzend erhob er sich, wischte die Steine von seiner Haut und griff nach der Kleidung. Als er das Hemd zuknöpfte, zogen am Abendhimmel ein paar Vögel vorbei. Sie verschwanden hinter dem Erdwall, und Matts Blick blieb erneut an dem verlassenen Pueblo hängen. Er zögerte. Noch war es hell genug, um hinaufzuklettern und sich das Indianerdorf anzusehen. Es wäre sicher interessant, egal, ob es was zu finden gab oder nicht. Auf Matt übten solche historischen Stätten eine magische Anziehungskraft aus, waren sie doch das letzte Bindeglied zwischen seiner Vergangenheit und der postapokalyptischen Barbarenwelt, in die ihn »Christopher-Floyd« geschleudert hatte. Durch einen Zeitriss fünfhundert Jahre weit in die Zukunft. Hätte Major Bell eine andere Fliegerstaffel hochgeschickt, um den Atomwaffenangriff auf den verfluchten Kometen zu beobachten, wäre ich mit meinen Kameraden verglüht! Matt strich das Hemd glatt. Am achten Februar 2012, auf dem Luftwaffenstützpunkt in Berlin-Köpenick, kurz nach vier Uhr. Das ist zwei Jahre her, was mich betrifft. Und fünf Jahrhunderte für den Planeten! Der blonde Amerikaner seufzte. Einfach war das nicht,
sich in zwei Realitäten gleichzeitig zu bewegen! Matt wusste noch, wie das Wetter war am Tag, als der Komet einschlug. Doch seine Eltern, die an jenem Tag starben, waren inzwischen fünfhundert Jahre tot. Manchmal überforderte ihn diese außergewöhnliche, unnatürliche Situation. Dann vermischte sich Matts persönliches Gestern mit dem Tatsächlichen und ließ ihn Dinge tun, die keinen Zweck mehr hatten. Wie die Reise zum Beispiel, auf der er sich momentan befand. Riverside war das Ziel, ein kleiner Ort in der Nähe von Los Angeles. Dort hatte Matt seine Jugend verbracht, dort erlebten seine Eltern den Weltuntergang. Er wollte hin, um zu sehen. Ohne sich zu fragen, was eigentlich. Irgendwie schaffte Matt es nicht, ein halbes Jahrtausend Zerstörung und Verfall auch bezüglich der Heimat zu akzeptieren. Wenn er an die Stadt dachte, seine Straße, das Haus, dann waren die Bäume von Riverside gerade mal zwei Jahre weitergewachsen. »Träumst du?« Aruulas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Matt nahm den Wasserschlauch entgegen, den die Barbarin ihm hinhielt, löschte seinen Durst. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund und zeigte die Felsen hinauf. »Ich muss da hin, Aruula!«, sagte er mit Nachdruck. »Es ist schon zu spät zum Weiterfliegen, aber noch hell genug, um sich ein wenig umzusehen. Nur ein kurzer Besuch, dann schlagen wir unser Lager auf und …« Matt senkte die Stimme, beugte sich vor. Er hatte ein übermütiges Grinsen im Gesicht, als er der Barbarin etwas ins Ohr flüsterte, das wie fegaashaa klang …
Die Felsen waren noch warm vom Tag, als Matt über den Rand der letzten Kuppe kletterte und einen Moment erschöpft liegen blieb. Aruula hatte die Verlässlichkeit seines gebrochenen Beins realistischer eingeschätzt als er selbst und ihn mit einem Seil gesichert. »Ich hätte dir auch berichten können, was es hier oben zu sehen gibt«, sagte sie vorwurfsvoll, während sie es aufwickelte. »Schon.« Matt streckte die Hand aus und ließ sich von Aruula hochhelfen. »Aber das Pueblo stammt aus meiner Zeit, deshalb sehen es meine Augen anders als deine.« »Ein Krug ist ein Krug, Maddrax.« Aruula wies auf eine Reihe bemalter Tongefäße. »Oder steht für deine Augen da was anderes?« Matt lächelte nur und drückte im Vorbeigehen ihre Hand. Die Krüge sahen aus wie neu gefertigt. Matt bemerkte, dass auf den Deckeln kein Staub lag. Er nahm einen ab und musterte das weiße Pulver, das den Krug bis oben füllte, nachdenklich. Aruula fragte, ob das Mehl sei. Matt streute sich eine Probe auf die Handfläche, roch misstrauisch daran, zögerte einen Moment. Dann kostete er davon. »Es ist Mehl!«, sagte er überrascht und griff sofort nach seiner Waffe. Neue Krüge, frischer Inhalt … keine Frage, hier lebten Menschen. Doch wo waren sie? Matt machte sich auf die Suche. Vorsichtig, mit entsicherter Pistole und dem Rücken zur Wand, lugte er in dunkle Gassen. Er stieg Leitersprossen hoch, schaute über die Dächer, in
Hauseingänge und Höhlen. Nichts. Matt sah, wie sich Aruula auf den Boden setzte, die Beine anzog und den Kopf auf die Knie legte. Sie hatte ihre eigene Art, Fremde aufzuspüren. Lauschen nannte sie das, und es war ihm unheimlich. In seinem früheren Leben, bevor ihn der Komet in eine medienlose Zukunft beförderte, verdiente sich das Unterhaltungsfernsehen dumm und dämlich mit Beiträgen zum Thema Telepathie. Matt kannte viele einschlägige Filme und Serien. Aber jemanden anzutreffen, der diese Fähigkeit tatsächlich besaß, das hatte eine ganz andere Qualität. »Es ist niemand hier«, sagte die Barbarin unvermittelt. »Bist du sicher?« »Ja.« Aruula nickte und stand auf. Bedauern überkam den jungen Mann, vermischt mit Zweifeln. Aruula täuschte sich nie, das wusste er aus Erfahrung, und trotzdem ließ ihn das Gefühl nicht los, dass sie etwas übersah. Oder falsch interpretierte. Matts Blick wanderte über die Fassaden der uralten Häuser aus Stein und Lehm. Ihre Bauherren waren einfache Menschen gewesen, und sie hatten mit einfachen Hilfsmitteln Erstaunliches zuwege gebracht. Ich hätte sie gerne kennengelernt, dachte er beinahe wehmütig und fragte sich im nächsten Moment, ob er lachen oder sich schämen sollte: Matt kannte die Erbauer des Pueblos. Jeder weiße Amerikaner kannte sie. Es hatte sich nur selten einer für die Ureinwohner Amerikas interessiert. Außer natürlich, wenn es darum ging, ihnen weiteres Land abzunehmen. Im Tausch gegen wertlose Glasperlen und Alkohol. Matt entdeckte ein eingeritztes Symbol am Boden, ging in die Hocke, strich mit dem Finger darüber. Was mochte
es bedeuten? Welche Sprache stellte es dar? Indianische Stammesnamen fielen ihm ein, an die er ewig nicht mehr gedacht hatte: Hopi, Apachen, Navajo, Sioux … Mehr zu sich selbst als zu Aruula sagte er: »Es ist erbärmlich. Ich weiß nicht mal, welche Indianer wo gelebt haben.« Matt spürte ihre Hand auf seiner Schulter. »Die Sonne ist fort«, sagte die Barbarin ruhig. »Lass uns gehen, Maddrax.« Matt nickte zerstreut und stand auf. Eine gut erhaltene Mauer erregte sein Interesse. Sie war rund, hüfthoch und stand etwas abseits der Häuser. Als Matt hinging und über den Rand blickte, stellte er fest, dass der Innenraum tiefer lag als das Gelände ringsum. Sechs Steinbänke standen entlang der Wand, in der Mitte war eine verwaiste Feuerstelle, und an einer Stelle im Boden klaffte ein tiefes Loch. Es war von Zeichen umgeben. Wozu der Raum einst gedient hatte, wusste Matt nicht. Aber er fand noch weitere Zeichen am Boden, die außen an der Rundmauer begannen und sich Richtung Pueblo fortsetzten. Er folgte ihnen durch eine schmale Gasse zwischen den Häusern bis unter den Felsüberhang der riesigen Bucht. Dort gähnte ein tiefschwarzer Höhleneingang, und Matt fragte sich, ob sich dort vielleicht das Geheimnis des Dorfes verbarg. Denn dass es eins gab, daran bestand für ihn kein Zweifel: Niemand ließ ganze Tonkrüge voll Nahrung unbeaufsichtigt zurück und verschwand einfach. Wenigstens Alte und Kleinkinder hätten hier sein müssen. Oder ein Hund. Irgendwer. »Äh – geh schon mal vor, Aruula! Ich komme gleich nach!«, rief er und humpelte los, erleichtert, dass der befürchtete Protest ausblieb. Matt konnte hören, wie sich
Aruulas Schritte in die entgegengesetzte Richtung entfernten. Am Höhleneingang machte Matt eine unerwartete Entdeckung. Auch hier waren überall Zeichen eingeritzt, doch im Gewirr der Pfeile, Kringel und Zickzacklinien hatte sich ein früher Künstler verewigt! Matt lächelte. Der Abdruck einer Hand prangte auf dem Stein, und an den gleichmäßig gespreizten Fingern mit ihren scharfen Konturen ließ sich ablesen, dass das kein Versehen war. Nein, jemand hatte mit Bedacht seine Handfläche rot gefärbt und an den Felsen gedrückt. Dieses eine Zeichen berührte den jungen Commander mehr als jedes Gebäude und jedes vielleicht bedeutungsvolle Symbol. Denn der Abdruck stellte kein Relikt einer vergangenen Epoche dar, er war vielmehr das allerletzte, greifbare Überbleibsel eines lebenden Menschen. Man konnte sogar noch Handlinien erkennen. Matt trat näher. Wer mochte dieser Mann gewesen sein? Wie hatte er gelebt? Was war aus ihm geworden? Sacht legte Matt seine Hand über den Abdruck. Tuakum he! Er schrak hoch. »Was hast du gesagt?« Matt drehte sich nach Aruula um, doch sie war nicht mehr da. Er schüttelte den Kopf, wandte sich stirnrunzelnd ab. Seine Einbildung hatte ihm wohl einen Streich gespielt. Matt betrat die Höhle, und erst jetzt fiel ihm auf, wie still es hier oben war. Das Pueblo thronte hoch über der Ebene; man konnte von hier aus die fernen Vulkane sehen, mit ihrem Glühen und den gigantischen Wolkensäulen. Doch das Grummeln und Rumpeln, das Matt beim Aufstieg begleitet hatte, war verstummt. Seitlich an der Höhlenwand steckten frisch gedrehte
Fackeln in den Halterungen. Matt erkannte an der Höhe ihrer Anbringung, dass die Bewohner kleiner gewesen sein mussten als er – ein unerheblicher Umstand, den er registrierte, während er seine Tasche nach Feuersteinen durchwühlte. Aruula hatte ihm gezeigt, wie man die Dinger aneinanderschlug, ohne seine Daumen zu quälen. Matt war inzwischen recht geübt, trotzdem brauchte er einige Zeit, ehe aus dem qualmenden Schmoren der Fackel eine Flamme wurde. Doch das Ergebnis war die Mühe wert, wie er feststellte, als er durch den Höhleneingang schritt. Licht tanzte über die Wände und holte Bilder aus der Dunkelheit, die vermutlich seit Jahrhunderten niemand mehr gesehen hatte. Bunte Bilder, mit Naturstoffen gemalt: Kohle, Kalk, Pflanzensäfte … Matt war fasziniert, auch wenn die dargestellten Szenen den Künstler nicht gerade als harmlosen Blümchenpflücker auswiesen. Auf den Farben hatte sich kein Fackelruß abgelagert, ihre Leuchtkraft war ungebrochen, trotz des hohen Alters. Aber hatten sie überhaupt ein Alter? Nichts hier wirkte konserviert. Es schien vielmehr, als würde Zeit an diesem Ort nicht existieren, hätte keine Macht über das Indianerdorf. Matt blieb flüchtig stehen, auf seine Krücke gestützt. Da war ein Motiv, das er kannte: ein nachgeahmtes Spinnennetz in einem rund gebogenen Zweig, mit Federn an den Seiten. Traumfänger nannte man diese Gegenstände, die es früher in allen Souvenirläden der Indianerreservate zu kaufen gegeben hatte. Sie wurden über das Bett gehängt und sollten böse Geister daran hindern, sich des Schlafenden zu bemächtigen. Lang lebe der Aberglaube, dachte Matt und wollte schon
weitergehen, als er plötzlich haltsuchend nach der Wand griff. Einen Moment lang hatte er die Bilder doppelt gesehen. Was war das? Ein Schwächeanfall? Er horchte in sich hinein, doch er fand kein Gefühl körperlichen Unwohlseins. Vielleicht gab es hier pathogene Sporen wie in alten ägyptischen Gräbern? Aber nein, das konnte nicht sein! Der Höhleneingang war groß wie ein Garagentor und nur ein kurzes Stück entfernt. Matt drehte sich flüchtig nach ihm um. Ist ja witzig! Die Vulkane und Lavastreifen sind weg! Er kicherte albern, als er seinen Weg fortsetzte. Eben waren sie noch da gewesen! Vielleicht weiß die Frau, mit der ich hergekommen bin, was mit ihnen passiert ist. Wie hieß sie doch gleich? Matt winkte ab. Egal! Irgendwo in den Tiefen dieser Höhle lag das Geheimnis des verlassenen Pueblos versteckt, und es wartete nur darauf, dass er – »Shit!« Er hatte die Wände betrachtet und deshalb das Hindernis am Boden nicht bemerkt. Matt flog der Länge nach hin, stieß instinktiv die Fackel fort. Sie erlosch. Er tastete nach ihr in der Dunkelheit; über Stoff und etwas Kaltes, Bewegliches hinweg. Es endete an rissigem Horn. Waren das Zehennägel? Matt hatte Schwierigkeiten damit, die Fackel wieder anzuzünden. Er war auf einmal so müde. Sein Bein schmerzte, und seine Hände hatten nicht wirklich Lust dazu, das Licht hochzuhalten und seinen verstreuten Besitz einzusammeln: den Wasserschlauch, die Krücke … Matt runzelte die Stirn, als er erkannte, was ihn zu Fall gebracht hatte. Mit leeren Augen und herabhängendem Unterkiefer
saß ein Toter an der Wand. Er sah aus, als hätte er soeben erst den letzten Atemzug getan, doch Matt wusste dass das nicht sein konnte. Der Mann trug eine Uniform aus dem Sezessionskrieg, in dem die Nord- und Südstaaten Amerikas um die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatten. Bis 1865. »Mann, hast du dich gut gehalten«, stöhnte Matt, als er auf den Toten zukroch. In der Innentasche der Jacke steckten Papiere, unter anderem ein Marschbefehl. Matt faltete ihn auseinander. »Corporal William Joseph Carson«, las er vor. »Aus Godsent, Alabama.« Er sah auf, drohte dem Toten scherzhaft mit dem Finger. »Das ist ziemlich weit weg, Billy Joe! Du bist anscheinend desertiert, was? Dafür kann man dich hängen!« »Wenn du das Geheimnis suchst, solltest du graben«, sagte Billy Joe. Matt fuhr erschreckt zurück, hätte fast die Fackel fallen lassen. Zögernd streckte er sie hoch. Der Tote saß stumm da und starrte mit blicklosen Augen ins Nichts. Das habe ich geträumt, dachte Matt. Er versuchte, die seltsame Schwere loszuwerden, die seinen Geist erfasst hatte. War er kurz eingenickt? Möglich, ja. Aber auch wenn der Tote nicht wirklich etwas gesagt hatte: Sein Hinweis stimmte! Das Geheimnis des Pueblos lag nicht irgendwo hier in den Höhlengängen, sondern tief versteckt im Boden. Billy Joe hatte offenbar selber schon versucht, es freizuscharren. Warum sonst sollten seine Finger so blutig zerfetzt sein, mit teilweise fehlenden Kuppen? »Graben!«, befahl sich Matt. Er wollte aufstehen, doch
die Beine versagten ihm den Dienst. Er war so müde. So müde! Immer wieder fielen ihm die Augen zu. »Ich darf nicht schlafen! Ich will nicht! Ich muss das Geheimnis finden! Graben … Graben!« Wie ein Betrunkener kroch er davon in die Dunkelheit. Dem Tod entgegen. »Maddrax!« Aruula schrak hoch. Wo bin ich? Was ist geschehen?, dachte sie verwirrt, blinzelte die Müdigkeit aus den Augen und sah sich um. Rechts und links war alles dunkel. Über ihr stand ein fahler Mond, vor ihr, etwa hundert Schritte entfernt und fast ebenerdig, glomm der Widerschein eines Lagerfeuers. Aruula versuchte sich zu erinnern. Ich habe Maddrax auf den Felsen zurückgelassen und bin allein hinuntergeklettert, habe eine Decke aus dem Gleiter geholt und wollte unser Nachtlager vorbereiten. Sie tastete über den Boden an ihrer Seite, fühlte rauen Stoff. Hier ist sie. Wo ist der Gleiter? Aruula hob den Kopf. Nicht weit von ihr ragte ein schwarzer Umriss auf. Sterne spiegelten sich an einer Scheibe. Alles in Ordnung! Ich bin einfach nur eingeschlafen. Die Barbarin gähnte ungeniert, streckte sich und stand auf. Aber warum ist Maddrax nicht bei mir? Wieso hat er das Lagerfeuer dort drüben entfacht anstatt hier? Diese Fragen konnte nur er selbst beantworten, also setzte sie sich in Bewegung, dem Lichtschein entgegen. Nachtwind strich vorbei. Aruula atmete tief durch und massierte im Gehen ihre Schläfen, um richtig wach zu werden. Sie hatte merkwürdige, beunruhigende Dinge geträumt, und die Schwere des Traums ließ sie einfach
nicht los. Maddrax war ihr darin begegnet und hatte gelacht, als er hörte, dass sie auf die Jagd gehen wollte. Hier gäbe es kein Wild, hatte er ihr im Traum gesagt und über die sonnige Ebene gezeigt. Gleich darauf war er fort, und Aruula träumte, sie würde erwachen. In dunkler Nacht. Unter Fremden. Da war ein Indianer; ein junger Schamane mit Hakennase und Adlerfedern im Haar, der Makeje hieß. Aruula kannte seinen Namen, ohne dass ihn jemand ausgesprochen hatte. Es konnte also nur ein Traum sein. Makeje saß in diesem Traum mit den Fremden um ein nächtliches Lagerfeuer. Aruula versuchte sie anzusprechen, aber niemand reagierte. Als wäre sie gar nicht da. Sie fühlte sich wie ein Geist, verloren in einer Welt, zu der sie nicht gehörte. Doch gerade als sie sich daran erinnerte, dass ja alles nur ein Traum war, hob Makeje den Kopf. Er sah ihr direkt in die Augen und sagte: »Geh weg!« Fröstelnd zog Aruula die Schultern hoch. Diesen Traum hatte Wudan ihr geschickt, daran bestand für sie kein Zweifel, und es war auch nicht schwer, die Absicht des Gottes zu deuten. Er will, dass wir fliehen, dachte Aruula. Es ist kein guter Ort, genau wie ich es gesagt habe. Hier geht etwas Unheimliches vor, und welche Macht auch immer dahintersteckt: Maddrax und ich sollten ihr lieber nicht begegnen! Mit Macht meinte die schöne Barbarin Orguudoo. Den Teufel. Doch sie wagte es nicht, seinen Namen auszusprechen, nicht einmal in Gedanken, denn wenn die Felsen da vorn dem dunklen Gott gehörten, war er wahrscheinlich schon anwesend. Da erweckte man
besser nicht noch seine Aufmerksamkeit, indem man an ihn dachte. So schnell es in der Dunkelheit möglich war, eilte Aruula auf das Lagerfeuer zu, von dem sie glaubte, Maddrax hätte es entfacht. Eigentlich sollte sie böse auf ihn sein, immerhin war er nicht zum Gleiter zurückgekehrt und hatte sie einfach allein gelassen. Doch im Moment gab es Wichtigeres als ihre persönlichen Gefühle. Maddrax musste von den Felsen geholt werden, ehe ihm etwas zustieß. Er ist in Gefahr und ahnt es nicht! Aruula erreichte den Erdwall, begann zu klettern. Sie versuchte sich zu erinnern, wie das Gelände im Abendlicht ausgesehen hatte, bei ihrem ersten Aufstieg mit Maddrax. War da tatsächlich ein Plateau gewesen, wenige Meter über Bodenniveau, auf dem man ein Feuer entzünden konnte? Wieso weiß ich nichts mehr davon? Und warum, bei Wudan, ist Maddrax auf dem Rückweg nicht auch das letzte kleine Stück noch herabgestiegen? Aruula runzelte die Stirn, als sie plötzlich Stein ertastete statt Erde und an einer Leiter vorbei kam, die zum Pueblo gehörte. War der Felsenhügel, während sie schlief, in den Boden gesunken? Sie wusste, dass ein Gelände unvermittelt einbrechen konnte, wenn ein Fluss oder ein Lavastrom es unterhöhlt hatte. Möglich wäre es also, denn so fern waren die aktiven Vulkane nicht. Die Barbarin blickte zurück, und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Draußen in der Ebene musste dichter Nebel herrschen, denn von den Feuer speienden Bergen war keine Spur mehr zu sehen. Aruula beschlich ein ungutes Gefühl, als sie das Plateau erreichte und sah, dass sich das Lagerfeuer
keineswegs im Freien befand, sondern durch eine ebenerdige Fensterhöhle schien. Zweifel keimten in ihr auf, dass Maddrax wirklich für dieses Feuer verantwortlich war. Er hätte Schwierigkeiten gehabt, mit seinem verletzten Bein das notwendige Brennholz ins Innere des Gebäudes zu bringen. Außerdem gab es keinen Grund, einen Unterschlupf zu suchen. Die Nacht war sternenklar und trocken. Lautlos bewegte sich die Barbarin vorwärts, auf den Lichtschein zu. Sie war geübt in der Jagd, und wer immer hinter diesem Fenster saß, würde sie, wenn überhaupt, zu spät entdecken. Meerdu!, fluchte sie in Gedanken, als ihr bewusst wurde, dass sie ihr Schwert nicht mitgenommen hatte. Der große Bihänder war das Erbe ihrer Mutter, einer Kriegerin aus dem Volk der Dreizehn Inseln, und Aruula trennte sich nie davon. Nur auf dem Nachtlager. Aber vielleicht brauchte sie ja gar keine Waffe. Vielleicht war es doch Maddrax, der … Moment mal! Aruula erstarrte in der Bewegung. Das Gebäude kenne ich doch! Das ist dieses runde Ding, über dessen Rand sich Maddrax beugte, als ich ihn verließ! Wieso hat es plötzlich ein Dach? Was, bei allen Göttern, geht hier vor? Wäre sie allein gewesen, hätte sich Aruula sofort davongemacht. Das Ganze war entschieden zu unheimlich, und sie verspürte nicht den Wunsch, es zu ergründen. Aber Maddrax war hier irgendwo, und den musste sie ausfindig machen, ehe er ins Unglück lief. Vorsichtig schlich sie zur Fensteröffnung, kauerte sich seitlich davon hin und warf einen Blick hinein. Heißer Schrecken durchfuhr Aruula, als sie die Männer sah. Sie
hockten im Kreis um ein Lagerfeuer, einer von ihnen hielt den Kopf über eine Schale voll Blut gesenkt, tauchte ein Geweih mit den Spitzen hinein, murmelte etwas. Aruula wurde kreidebleich. Es war der Mann aus ihrem Traum. Makeje. Die Barbarin zuckte vom Fenster weg, lehnte sich schwer atmend an die Hauswand. Unmöglich, dachte sie entsetzt, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es ist unmöglich, dass da drin jemand sitzt, den ich im Traum gesehen habe. Ich bin keine Schamanin, so was kann ich nicht. Ich will es auch nicht können! Ganz sicher habe ich mich vertan! Es war nur eine Ähnlichkeit. Indianer sehen sich alle ähnlich. O Wudan! Hilf mir! Aruula zitterte, als sie mit sich selbst um eine Entscheidung rang. Ein Teil von ihr wollte fliehen – sofort!, – doch der andere wollte noch einmal durch die Fensteröffnung blicken, sicher sein, eine Antwort finden. Sie rief sich das Gesicht aus dem Traum ins Gedächtnis; dachte daran, wie Makeje zu ihr aufgesehen und gesagt hatte: »Geh weg!« Würde er das wieder tun, jetzt, da sie wach war? Sie musste es wissen. Aruula holte tief Luft, beugte sich vor und wünschte im nächsten Moment, sie hätte es nicht getan. Als Aruula durchs Fenster sah, starrte Makeje wortlos zu ihr hoch. Direkt in ihr Gesicht. Der Blick verfolgte sie, als sie floh. Aruula hatte kein Gespenst gesehen, kein entstelltes Monster; Makeje war im Gegenteil ein recht hübscher junger Mann, und zweifelsfrei lebendig. Dennoch jagte er ihr eisige Schauer über die Haut. Er war widernatürlich. Er sprach zu ihr im Traum und erschien danach in ihrem Leben; an einem
Ort, der verwaist war und der Vergangenheit gehörte. Und den Toten. An der Außenwand des Gebäudes steckte eine Fackel in der Halterung. Aruula ergriff sie und rannte ins Pueblo. Sie musste damit rechnen, dass ihr jemand folgte, und das Licht würde es ihrem Jäger auch noch leicht machen. Doch sie hatte keine Wahl. Ihr Geliebter war hier irgendwo, und sie musste ihn finden, jetzt mehr denn je. Aruula durchsuchte jedes Haus. Sie lief durch jede Gasse, leuchtete in jede Höhle, kletterte Leitern hoch und wieder hinunter. Nichts. Von Maddrax keine Spur. Er war wie vom Erdboden verschwunden, es gab auch keine Anzeichen eines Kampfes, kein Blut. »Wo bist du?«, flüsterte Aruula verzweifelt, als sie die riesige Bucht erreichte und unter dem Felsüberhang stehen blieb. Sie hatte das ganze Dorf erkundet. Rechts von ihr schimmerte schon wieder das Gebäude aus der Dunkelheit, in dem die Indianer saßen. Links führte eine Passage in den Felsen. Sie endete irgendwo in tiefer, undurchdringlicher Finsternis. Aruula marschierte darauf zu. Angst hin oder her, ohne Maddrax wollte sie nicht sein. Entschlossen betrat sie die Passage, obwohl ihre Fackel schon weit heruntergebrannt war, was den Tod bedeuten konnte, wenn sie sich im Inneren des Felsenhügels verirrte. Im Vorbeigehen sah sie den Abdruck einer Hand auf den Steinen und fragte sich, ob Maddrax ihn hinterlassen hatte, als Zeichen vielleicht, als Wegweiser. Doch die Hand war zu klein. Aruula wandte sich ab und ging weiter. Die Passage endete an einem Höhleneingang. Es war so
still dahinter, so schrecklich still. Unruhe verfolgte die junge Frau, während sie hindurchschritt. Maddrax konnte nur noch hier sein, in diesen Gängen. Alles andere hatte sie abgesucht. Aber warum hörte sie nichts? War ihm etwas zugestoßen? Plötzlich holte der Fackelschein einen Umriss aus der Finsternis, und Aruula fuhr hoch: Da lehnte jemand an der Wand! Sie lief auf ihn zu, erkannte voll Entsetzen schon unterwegs, dass der Mann tot war. Die Barbarin warf sich vor ihm auf die Knie, leuchtete ihn hastig an. Wudan sei Dank, es war nicht Maddrax! Mitleidig betrachtete sie den Soldaten mit seiner zerschlissenen Uniform und den blutigen, schwer verletzten Fingern. Aruula entschied, dass sie ein Gebet für ihn sprechen würde. Später. Sie setzte ihren Weg fort, tiefer und tiefer in den dunklen Gang hinein. Bunte Wandbilder tauchten im Schein der Fackel auf und verschwanden wieder. Aruula ignorierte sie. Es waren nur Reste vergangener Zeiten, von Menschen erschaffen, die es nicht mehr gab. »Maddrax!« Aruula rannte los. Ein Stück entfernt kniete ihr Gefährte am Boden, ohne Rücksicht auf sein gebrochenes Bein. Aus irgendeinem Grund hatte er seine Krücke zerschlagen und scharrte mit dem zersplitterten Holz den Lehmboden auf. Das musste er bereits eine ganze Weile tun, denn das Loch war beachtlich groß. »Maddrax! Bei allen Göttern, was machst du denn da?« Aruula legte die Fackel ab, schlang glücklich und endlos erleichtert ihre Arme um ihn. Sie fanden keinen Widerstand, tauchten durch Maddrax' Körper hindurch! Die Barbarin verlor das Gleichgewicht, fiel in Maddrax hinein. Schreiend sprang sie zurück. Er bemerkte es
nicht, grub einfach weiter. Abgrundtiefes Entsetzen bemächtigte sich der jungen Frau. Sie wollte fliehen, doch die Beine versagten ihr den Dienst. Wie gelähmt starrte sie Maddrax an, unfähig, ihn noch einmal zu berühren. War er ein Geist? »Maddrax?«, flüsterte sie unglücklich. Er hörte sie nicht. Aruula bemerkte, dass er sich mit jemandem unterhielt, den er Billy Joe nannte. Maddrax erzählte ihm von einem Geheimnis, das hier versteckt sei. Er würde es gleich finden, sagte er und rammte dabei den zersplitterten Holzpflock in den Boden. Mit bloßer Hand. Sie blutete. »Maddrax!« Aruulas Liebe siegte über ihre Angst. Verzweifelt versuchte sie, ihn festzuhalten, damit er sich nicht noch mehr verletzte. Doch es funktionierte nicht. Aruula konnte ihre Hände ausstrecken, so oft sie wollte: Sie bekamen nichts zu fassen, glitten durch Maddrax, als wäre er Luft. Dabei sah er aus wie immer. Kein bisschen durchsichtig. Aruulas Herz pochte so heftig, dass es schmerzte. Was war nur mit ihm geschehen? Maddrax unterbrach seine Arbeit, griff nach dem Wasserschlauch, hob ihn an den Mund. Aruula hörte die leisen Geräusche, mit denen das Wasser auf die Kippbewegung reagierte, sah die Tropfen an Maddrax' Kinn. Einer fiel zu Boden, hinterließ einen nassen Fleck. Und plötzlich begriff die Barbarin. Mit Maddrax war gar nichts geschehen. Er mochte sich übertrieben eifrig einer unverständlichen Aufgabe widmen, doch ansonsten war er wie immer. Mit ihr hatte sich etwas verändert. Etwas, das sich nicht rückgängig machen ließ. Ich bin tot!, dachte Aruula geschockt.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie das geschehen sein konnte. Ihr fiel nichts ein, doch alles ergab plötzlich einen Sinn: Aruulas unvermittelte, lähmende Müdigkeit nach der Rückkehr von den Felsen; die seltsamen Träume, die dann doch keine waren … und ganz besonders diese Unerreichbarkeit der Lebenden! Es stimmte also, was ihr die Schamanin vom Volk der Dreizehn Inseln in Kindertagen erzählt hatte. Nach dem Tod gelangte man erst in eine Zwischenwelt. Dort löste sich der Geist vollends vom Körper, und das Vergessen setzte ein. Dann kamen die Boten der Ewigkeit. Sie holten die Toten heim in Wudans Reich. Sie waren bestimmt schon unterwegs. Jeden Moment konnten sie auftauchen. »Nein! Nein!« Aruula schlug die Hände vors Gesicht, krümmte sich vor Entsetzen. Heiße Tränen quollen ihr aus den Augen, rannen durch ihre Finger, tropften herunter. »Bitte, Wudan! Ich flehe dich an! Schick mich zurück!« Weinend streckte sie die Arme aus. »Maddrax! Ich konnte mich nicht einmal von dir verabschieden!« Mit zitternden Händen versuchte sie, sein Gesicht zu streicheln. Sie erreichte es nicht, deshalb ahmte Aruula die Konturen nach, um wenigstens so zu tun. Sie schluchzte: »Weißt du, sie haben mir immer gesagt, dass der Tod nichts Schlimmes ist. Dass in Wudans Reich alle glücklich sind. Es ist nicht wahr, Maddrax!« Ihre Kehle schmerzte, und Aruula wischte sich bittere Tränen fort. »Ich kann nicht glücklich sein ohne dich.« Sie stand auf. Maddrax scharrte unbeirrt weiter. Er pfiff ein Lied, warf eine Handvoll Lehm nach der anderen bei Seite. »Ich muss jetzt gehen«, sagte die Barbarin
tränenerstickt. Hoffnungslosigkeit drückte ihre Schultern herunter, und doch bemühte sie sich verzweifelt um Haltung. »Meine Ahnen warten auf mich, und du weißt ja, Maddrax, sie sind alle große Kriegerinnen. Sie würden es als Schande empfinden, wenn ich dem Willen der Götter nicht gehorche.« Aruulas Stimme versagte, als sie die zitternde Hand hob und den Abschiedsgruß ihres Volkes sprach: »Tuma sa feesa, mein Geliebter!« Frieden sei mit dir! Dann drehte sie sich um – und prallte mit einem Aufschrei zurück. Hinter ihr stand der Indianer Makeje. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, musterte Aruula düster und fragte: »Wieso kannst du uns sehen?«
2 � 17. Oktober 2517 südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko »Hotake! Hotake!«, jubelte eine helle Stimme. Das Mädchen, dem sie gehörte, war etwa sechs Jahre alt. Es kam den Weg heraufgerannt, dass die Kleiderfransen aus weichem Leder nur so flatterten. »Langsam, Nchoki!«, warnte der junge Mann lächelnd, nahm seine Jagdbeute von der Schulter und legte sie zusammen mit dem Bogen ins Gras. Sonnenlicht glänzte auf seiner gebräunten Haut. Er trug zwei Adlerfedern als Kopfschmuck; seitlich eingeflochten, herunterhängend. Hotake blieb gerade noch Zeit, die Arme auszubreiten. Nchoki fiel ihm jauchzend um den Hals. Einen Moment lang hielt er sie fest umschlungen, wiegte sie in den Armen, barg sein Gesicht in ihrem Haar. Es roch nach Lagerfeuer und Erde, nach Heu und nach … Hotake stutzte. Er schob das Mädchen auf Armlänge von sich. »Du warst bei den Ziegen!« »Ja, genau!« Nchoki nickte eifrig. »Die Schwarze hat ein Junges bekommen. Stell dir vor: Es ist sooo klein!« Braune Kinderhände schwankten zwischen Käfergröße und Maiskolben. Hotake wandte sich hastig ab, um sein Lachen zu verbergen. »Bock oder Ziege?«, fragte er. »Bock.« »Dann solltest du dich nicht zu sehr damit anfreunden.« Langes dunkles Haar fiel nach vorn, als sich der junge Mann nach seinen Sachen bückte. Hotake
bemerkte die plötzliche Stille, hielt inne, hob den Kopf. »Na komm, Nchoki! Das ist doch nichts Neues! Du weißt, dass wir immer nur einen Bock bei der Herde lassen, und solange der Braune fleißig für Nachwuchs sorgt, wird er auch nicht ersetzt.« »Der Braune stinkt!«, schmollte Nchoki. »Ja, das haben Ziegenböcke so an sich.« Hotake hängte den Bogen über die Schulter und zeigte seine Jagdbeute vor, fünf Kaninchen. Er hatte sie an den Hinterbeinen zusammengebunden. Lockend schwenkte er sie vor Nchokis Gesicht hin und her. »Na, was denkst du, wird das eine gute Mahlzeit?« »Sind die nur für uns?«, fragte die Kleine misstrauisch. »Nur für uns.« »Dann wird es eine gute Mahlzeit! Ich habe Kräuter gesammelt, während du weg warst.« »Gut gemacht«, lobte Hotake, nahm das Kind an die Hand und wanderte los. »Und? Was kannst du mir aus dem Dorf berichten? Hat sich in meiner Abwesenheit sonst noch etwas Wichtiges getan außer deiner Kräutersammlung und der Geburt eines Ziegenbra… eines Ziegenbocks?« Nchoki schaute vorwurfsvoll zu ihm hoch und murrte: »Makeje hat gestern eine weiße Frau durch den Sipapu geholt.« »Er hat – was?« Hotake blieb stehen, musterte das Kind prüfend. »Bist du sicher?« »Ja, natürlich! Ich hab sie doch selbst gesehen!« Nchoki klang empört. Das verflog aber wieder, und während sie mit Hotake weiterging, ließ die kleine Indianerin ihrem Mitteilungsbedürfnis freien Lauf. »Sie heißt Aruula! Weißt du, sie ist eigentlich ganz hübsch, aber schon
furchtbar alt. Am Anfang hat sie komische Sachen gefragt: Wo ihre Ahnen wären, und ob sie mit einem Wuuda sprechen könnte. Makeje hat dann herausgefunden, dass sie dachte, sie wäre tot, stell dir mal vor! Er hat dann zu ihr gesagt, sie soll aufhören zu weinen. Aber sie weint immer weiter. Sie ist irgendwie sehr traurig.« »Warum?« »Das weiß ich nicht.« Nchoki dachte angestrengt nach. »Oh, und sie hat sich überall Kringel auf den Körper gemalt! Das mach ich jetzt auch.« »Das lässt du schön bleiben!« Hotakes Stimme klang schärfer als beabsichtigt, und er konnte spüren, wie das Kind an seiner Hand zusammenfuhr. Er zwang sich zu einem Lächeln, ehe er sich Nchoki zuwandte und ihr sagte: »Kringel sind nur etwas für furchtbar alte Frauen. Hübsche junge Mädchen unseres Stamms brauchen sich nicht zu bemalen.« »Ich bin hässlich«, murmelte die Sechsjährige und senkte den Kopf. Hotake blieb stehen, ließ die Kaninchen fallen und ging in die Hocke. Er legte seine Hände auf Nchokis schmale Schultern und sagte ruhig: »Nein, das bist du nicht, Nchoki. Hässlich sind die Menschen, die dir das angetan haben.« Er zog sie an sich. »Für mich bist du etwas ganz Besonderes. Das warst du immer, und das bleibst du auch.« »Wirst du mich zur Frau nehmen, wenn ich groß bin, Hotake?«, scholl es gedämpft aus seinen langen Haaren. Verblüfft schob er das Mädchen auf Abstand. So ein junges Ding, und sie machte sich solche Gedanken? Er grinste, halb verlegen, dann nickte er. »Gut möglich.« Hotake stand auf. »Ja, das könnte ich
mir durchaus vorstellen.« Irgendwann werde ich es ihr sagen müssen, dachte er, und sein Lächeln erlosch. Irgendwann bald, denn sie soll es von mir erfahren und nicht von den Ältesten. Nachdenklich hob er die Jagdbeute auf und wanderte los, dem Iskatán entgegen. An den Felsenflanken war das Pueblo zu sehen. Was hat sich Makeje nur dabei gedacht, eine Fremde ins Dorf zu bringen? Hotake schüttelte missbilligend den Kopf. Makeje war durch den unerwarteten Tod seines Vaters zu früh an die Macht gekommen. Viel zu früh! Einen so jungen Schamanen hatte der Stamm noch nie gehabt, und wie wenig segensreich es war, diese verantwortungsvolle Position in unreife Hände zu legen, zeigte sich an Entscheidungen wie der, die weiße Frau herzuholen. Schön, Makeje war kein Scharlatan. Er hatte im Gegenteil nahezu magische Fähigkeiten, konnte den Jägern des Stammes durch reine Willenskraft das Wild zutreiben. Manchmal schien es sogar, als könnte er Gedanken lesen. Man sollte also eigentlich sehr zufrieden mit ihm sein. Viele waren es auch. Hotake nicht. Er sah flüchtig zurück. Weit, weit draußen hinter den Feldern und den Grasflächen der Ebene, verborgen in grauem Dunst, stand die Glaskuppel. Sie hatte gigantische Ausmaße. Immer wenn der Wind aus ihrer Richtung kam, brachte er einen Gestank mit, den es sonst nirgends gab. Er reizte zum Husten, brannte in den Augen, machte die Kinder krank. Niemand aus dem Stamm wagte sich in diese ferne Gegend, denn die Indianer glaubten, dass unter der Glaskuppel Dämonen
hausten. Hotake wusste es besser. Er war dort gewesen und hatte alles gesehen. Er konnte sagen, was das rhythmische Stampfen erzeugte, das manchmal im Wind war und nach schweren Gewichten klang. Er kannte auch die Bedeutung der rätselhaften Streifen am Himmel. Streifen wie zwei Wolkenstriche, genau nebeneinander, die aus dem Nichts zu entstehen schienen und sich fließend auflösten. Doch sein Wissen war vergeudet, denn die Stammesältesten glaubten ihm nicht, obwohl sie ihm wahrlich vertrauen konnten. Hotake hob resignierend die Schultern: Es war Indianerart, etwas abzulehnen, das die Vorstellungskraft überstieg. Unbegreifliches wurde auf die Götter geschoben und nicht weiter besprochen. Sollten die sich darum kümmern, die konnten das. Man selbst hielt lieber an alten Traditionen fest. Das hatte sich bewährt. Wie das Leben am Iskatán. Hotake seufzte innerlich. Mehrfach hatte er Makeje beschworen, die Indianer aus der fünften Welt, wie sie ihr Zuhause nannten, an einen anderen Ort zu führen. Irgendwohin, wo es keine fernen Glaskuppeln gab. Nur weites Land. Und Sicherheit. Der junge Schamane hätte es gekonnt. Er war in der Lage, die Zögernden zu überreden, und sein charismatisches Auftreten sicherte ihm zudem die Gunst einflussreicher Persönlichkeiten des Stammes. Doch Makeje wollte nicht. Wahrscheinlich, so vermutete Hotake, weil der Vorschlag von ihm kam. Er glaubt bei allem, was ich sage, ich würde mit ihm um die Federn des Anführers konkurrieren, dachte Hotake. Dabei wurde Makeje schon als Junge mit der Tochter des jetzigen Häuptlings verlobt. Wenn alles seinen gewohnten Gang geht,
wird er Delketh eines Tages ablösen, das könnte ich selbst dann nicht verhindern, wenn ich es wollte. Kurz vor dem Iskatán traf Hotake auf heimkehrende Indianer. Sie hatten die Felder bewässert, die in diesem Mond besonders viel Pflege brauchten. Alle grüßten den hochgewachsenen Mann respektvoll, aber keiner trat näher. Sie blickten nur mit schlecht verhohlener Ablehnung auf das Kind an seiner Hand, dann gingen sie ihrer Wege. Hotake runzelte verärgert die Stirn. Es gab eine Zeit, da war jedes Stammesmitglied wichtig und wertvoll, dachte er zornig, während er eine der kurzen Leitern hinaufstieg, die das Pueblo vom Boden der Ebene trennte. Oben angekommen warf er seine Jagdbeute hin und streckte eine Hand nach Nchoki aus, um ihr bei den letzten Sprossen zu helfen. Alles Leid der Welt stand in den braunen Kinderaugen, als das Mädchen zu ihm aufsah. Schweigend. Ohne Tränen. Sie hatte die Blicke der Männer gesehen, und sie kannte den Grund dafür. Es würde nie aufhören. Nie. »Geh schon mal vor und nimm die Kaninchen mit, Kleines Glück«, sagte Hotake ruhig. »Ich habe noch was zu erledigen.« Kleines Glück, das war die Bedeutung des Namens, den er ihr gegeben hatte. Hotake wandte sich um und ging davon. Er wollte wissen, was es mit der weißen Frau auf sich hatte, die durch den Sipapu kam, wie Makeje behauptete. Der Sipapu war ein heiliges Loch, das sowohl den Eingang zur Unterwelt symbolisierte als auch den Entstehungsort der Menschheit. Es befand sich in der Kiva, dem rund gemauerten Versammlungsraum der Ältesten, der
traditionell ein Stück abseits des Pueblos errichtet wurde. Hotake ging schweigend daran vorbei. Als er das Dorf betrat, schlug ihm emsige Betriebsamkeit entgegen. In den Gassen und Passagen lärmten spielende Kinder. Hier und da hockten Männer mit Holzkübeln voll Lehm auf einem schadhaften Dach. Sie hoben die verschmierte Hand zum Gruß, wenn sie Hotake sahen. An den sonnigen Plätzen waren Alte damit beschäftigt, Felle zum Trocknen aufzuspannen. Überall vor den Häusern saßen Frauen beieinander. Sie unterhielten sich lebhaft, manchmal quer über die Gasse, während sie unablässig einzelne Reiser aus den Bündeln an ihrer Seite zupften, um sie zu verflechten. Die Maisernte stand bevor, und man brauchte neue Körbe. Außer den Kindern wurde niemand im Stamm von der Arbeit ausgespart, deshalb fiel die weiße Frau Hotake zuerst gar nicht auf. Sie hockte zwischen den anderen, einen halb fertigen Korb vor sich, den Kopf gesenkt. Hätte Nchoki nicht die Körperbemalung erwähnt, wäre Hotakes Blick nie an ihr hängen geblieben; schließlich suchte er nach einer furchtbar alten Frau, und die war eher bei der Essenszubereitung anzutreffen als beim schweißtreibenden Körbeflechten. Plötzlich sah die Fremde auf, strich ihr Haar zurück, griff nach neuen Reisern. Hotakes Augen weiteten sich. O Nchoki – was hast du mir erzählt?, stöhnte er innerlich, als er an der Frau vorbeiging. Er versuchte, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren, wenigstens ein bisschen Haltung zu bewahren. Doch das war nicht leicht. Nicht bei diesem Anblick. Sie war atemberaubend schön. Hochgewachsen, schlank, mit zart geformtem Gesicht und langer
schwarzer Mähne. Ihre Brüste waren größer als die der Indianerfrauen. Und fester. Und diese Augen! Diese wundervollen, großen braunen Augen … Hotake geriet ins Schwärmen. Er schätzte die weiße Frau auf etwa vierundzwanzig Sommer, also vier Mal mehr, als Nchoki zählte. Das machte sie für das Kind tatsächlich furchtbar alt. Aber für einen Mann? Er nickte. Jetzt verstehe ich, warum Makeje behauptet, er hätte sie herübergeholt: So kann er Anspruch auf sie erheben! »He! Trödel nicht rum!«, keifte eine Weiberstimme hinter ihm. Klatschende Schläge folgten, und jemand schrie. Es traf die Fremde, das wusste Hotake. Keine Indianerin schlug eine andere, und keine Indianerin war so schön wie … wie hatte Nchoki die weiße Frau genannt? Ach ja: Aruula! Hotake hörte sie weinen. Es klang so bitterlich. Doch er ging weiter, als hätte er nichts bemerkt. Er durfte sich nicht umdrehen. Er war ein Mann, und Männer mischten sich nicht in Frauenangelegenheiten ein. Ein Halbwüchsiger kam vorbeigerannt, und Hotake packte ihn hart am Arm. Als der Junge erschrocken aufsah, knurrte er ihn an: »Sag Makeje, dass ich ihn sprechen will! Sofort!« Hätte ich nur mein Schwert nicht abgelegt, dachte Aruula, während sie sich über den halb fertigen Korb beugte, um weiterzuflechten. Unter tränenfeuchten Wimpern blickte sie verstohlen auf die Indianerin an ihrer Seite. Ich würde es dir blutig heimzahlen, wie du mich behandelst! Dir und den anderen Frauen! Aruulas Finger schmerzten von der ungewohnten Tätigkeit. Das spröde Reisig hinterließ Kratzer auf der
Haut, und vom ständigen festen Andrücken der Flechtreihen hatten sich Blasen gebildet. Doch das schreckte die Barbarin nicht. Im Gegenteil, auf gewisse Weise hieß sie den Schmerz willkommen, denn er zeigte ihr, dass sie wirklich noch am Leben war. Als ihre Hände durch Maddrax tauchten wie durch Luft, da hatte sie fest geglaubt, sie wäre gestorben. Aruula spürte noch immer den Nachhall der furchtbaren, namenlosen Angst jenes Augenblicks. Es war alles so real gewesen. Ein Tag und eine Nacht waren vergangen, seit Makeje in der Felsenhöhle erschienen war. Wieso kannst du uns sehen?, hatte er Aruula erstaunt gefragt, und inzwischen glaubte sie die Antwort zu kennen. Aruula konnte lauschen, also fremde Gedanken auffangen, und das konnte Makeje auch. Irgendwie musste diese besondere Fähigkeit der beiden eine Brücke geschlagen haben, die für gewöhnliche Menschen unpassierbar war: eine Brücke zwischen den Welten. Aruula sah sich um. Heimlich, damit es ihrer indianischen Aufpasserin entging. Wenn man nicht genau hinschaute, sah das Pueblo aus wie an dem Abend, als die Barbarin und Maddrax hier eingetroffen waren. Noch immer klebten die Häuser verschachtelt um- und übereinander gebaut am Felsen, mit Gassen dazwischen und durch Leitern verbunden. Doch es waren nicht dieselben Häuser! Auch die Ebene, obwohl es zweifellos die Ebene war, zeigte ein anderes Gesicht. Es gab den riesigen Erdwall nicht mehr, ebenso keine Vulkane oder ihre Lavaströme. Das verdorrte Land präsentierte sich plötzlich grün und fruchtbar; mit Feldern, Waldgebieten und sogar einem kleinen Fluss.
Nur der Felsenhügel war unverändert. Er wurde Iskatán genannt, und Aruula wusste von Makeje, dass die Indianer schon seit Jahrhunderten auf ihm lebten. Während dieser Zeit hatte es immer wieder tödliche Bedrohungen gegeben, meist durch hellhäutige Eroberer mit ihren überlegenen Waffen. Dass der Stamm überlebte, war dem Können seiner Schamanen zu verdanken: Wenn die Gefahr zu groß wurde, vollführten sie einen Geistertanz. Es ist ein machtvoller Zauber, dachte die Barbarin ehrfürchtig. Und so groß, dass ich ihn nicht verstehe! Makeje sagt, dass der Tanz die Indianer in eine andere Welt trägt. Deshalb kann man sie nicht sehen, obwohl sie noch hier sind! O Wudan! Wären wir nur nicht auf diesen Felsen gestiegen! »Maddrax!«, seufzte sie, und sofort beugte sich die dicke Frau neben ihr nach vorn. Sie raffte einige dünne Hölzer zusammen, wollte Aruula erneut damit schlagen, holte schon aus. Doch der Barbarin reichte es. Mit beiden Händen nahm sie ihren Korb, drehte ihn beim Hochheben um und stülpte ihn der Indianerin über den Kopf. Dann sprang sie auf. »Schluss!«, schrie sie gellend. »Es ist genug! Ich bin Aruula vom Volk der Dreizehn Inseln, eine Kriegerin, und niemand – niemand! – schlägt mich ungestraft!« Zorn brannte in ihren Augen, und die lange Mähne flog, als Aruula voll wütendem Temperament auf die Indianerinnen zeigte. Schön sah sie aus mit dieser ungezügelten Wildheit. »Seit ich hier bin, behandelt ihr mich wie eine Feindin! Ihr spuckt vor mir aus, ihr schlagt nach mir, und warum? Weil ich eine Weiße bin? Ihr kennt mich doch gar nicht und wisst überhaupt nichts von …« Aruula verstummte. Jemand drückte ihr eine Speerspitze
gegen den Hals. »Ein Wort!«, warnte der Indianer hinter ihr. »Nur ein Wort, und du stirbst.« Angstvolle Herzschläge verpochten. Aruula hielt den Atem an, wagte keine Bewegung. Das scharfe Steinstück bebte im Takt der Halsschlagader, auf der es lag. Eilige Schritte näherten sich, und zum ersten Mal war Aruula froh, Makejes Stimme zu hören. »Es ist gut, Wabasha«, sagte er ruhig. Die Barbarin spürte, wie sich der Speer von ihrem Hals löste. Aufatmend drehte sie sich um. Sie wollte Makeje danken, doch ihr suchender Blick hatte ihn noch nicht ganz erfasst, da holte der Schamane aus und schlug ihr hart ins Gesicht. »Wenn du noch einmal die Hand gegen einen von uns erhebst, lasse ich sie dir abschneiden!«, rief er. Unbarmherzig griff er in Aruulas Haar und riss ihren Kopf zurück. Blut rann aus ihrer Nase. »Hast du mich verständen?« Aruula sah die Indianerfrauen, wie sie kicherten und auf ihre rote, anschwellende Wange zeigten. Töten! Töten!, dachte die Barbarin voll heißem Zorn, ruckte wie ein gefangenes Wildtier unter der Hand, die sie festhielt und ihr misshandeltes Gesicht zur Schau stellte, damit die Frauen sich daran ergötzen konnten. Aruula hätte sich sofort in den Kampf gestürzt, egal wie aussichtslos er war, nur um nicht zu ersticken an dieser Schmach, dieser Demütigung. Aber Maddrax war ohne sie verloren. Für ihn allein unterwarf sich die junge Frau und sagte: »Ja.« »Gut.« Makeje stieß Aruula von sich. »Dann darfst du jetzt in das Quartier gehen, das ich dir zugewiesen hatte,
und dich etwas ausruhen.« Eine der Indianerinnen lachte auf. »Das weiße Täubchen ist bestimmt sehr erschöpft nach zweieinhalb Körben!« Der Schamane starrte sie an, bis sie den Blick senkte. Erst dann sagte er: »Es ist eine Arbeit, die Aruula nicht kennt. Würde es uns nützen, wenn sie schlechte Körbe flicht?« Mit einem Kopfnicken schickte er die Barbarin auf den Weg, und sie gehorchte ohne Zögern. Fort, nur fort von diesen Leuten! Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie durch das Gewirr der engen Gassen und Passagen zu einer Steinhütte am Rand des Pueblos lief. Misstrauische Blicke folgten ihr, wo immer Aruula vorbei kam. Nicht dass die Indianer Angst gehabt hätten, sie könnte fliehen. Darauf hofften vermutlich sogar einige. Man war vielmehr besorgt, die Weiße würde Schaden anrichten, wenn man ihr Gelegenheit dazu gäbe. Aruula erreichte ihre Unterkunft, eine notdürftig instand gesetzte Ruine. Hier hatte es einmal gebrannt, das verrieten die schwarzen und ascheweißen Streifen an den Wänden. Es musste schon lange her sein, denn das Haus war eingestaubt und der typische Brandgeruch fehlte. Dennoch löste das Gebäude Beklemmung aus. »Nicht mehr lange«, sagte Aruula entschlossen zu sich selbst. Jemand hatte ihr ein Fladenbrot, etwas Fleisch und einen Wasserschlauch neben ihr Lager gestellt. Sie packte alles zusammen auf eine Decke. Maddrax musste versorgt werden! Sie musste ihn retten, und zwar heute noch! In der ersten Dämmerung war sie in die Felsenhöhle geschlichen, um nach ihm zu sehen, und da
grub er bereits das zweite Loch! Sein Leben zerrann, während sie hier gezwungen wurde, dumme Körbe zu flechten. Aruula wischte sich gereizt die Haare aus dem Gesicht, raffte die Decke zusammen … und ließ sie gleich wieder fallen. Draußen vor der Tür hatte ein Junge Makeje angesprochen: »Ich soll dir von Hotake ausrichten, dass er dich sprechen will. Sofort.« Hastig legte Aruula die Decke aus, strich sie glatt, setzte sich darauf. Sie hörte Makeje antworten: »Sofort, ja? Sag Hotake, er soll zur Hölle fahren! Oder halt: Sag ihm einfach gar nichts!« Im nächsten Moment fiel sein Schatten durch den Eingang. Aruula griff sich unbewusst an die Wange, als der Schamane ins Haus kam. »Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe.« Makeje klang aufrichtig zerknirscht. »Aber ich musste es tun. Um deinetwillen.« »Um meinetwillen?«. Wütend sprang die Barbarin auf. »Ich bin eine Kriegerin! Soll ich vielleicht auch noch dankbar sein, dass du mich demütigst?« Ihr Atem flog, ihre Nasenflügel bebten. Plötzlich stutzte Aruula. Was starrt er mich so an? Warum grinst er dümmlich, als wäre ich essbar und obendrein sein Leibgericht? O Wudan! Sie wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sah. Er hat sich in mich verliebt! »Ich tat es, um dein Leben zu retten«, sagte Makeje. »Ich bin ein einflussreicher Mann, und dein einziger Freund in dieser Welt! Doch das dürfen die anderen nicht merken. Sie würden es mir verübeln, und dann könnte ich dich vielleicht nicht mehr beschützen.« Aruula fuhr herum, ging entschlossen zu ihm und legte
ihre Hände auf seine Schultern. »Wenn du mein Freund bist, dann schick mich zurück!« Makeje schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, doch Aruula kam ihm zuvor. »Bitte!«, flüsterte sie eindringlich. »Ich gehöre nicht hierher. Das werde ich nie tun. Ich gehöre in meine eigene Welt – und zu Maddrax.« Makeje schnaubte ärgerlich. »Maddrax! Es ist erstaunlich, dass du noch immer seinen Namen kennst. Hör zu, Aruula!« Sie zog ihre Hände fort, er wollte sie festhalten, sie schlug nach ihm. »Lass mich!« »Nein, warte.« Makeje trat vor, versperrte ihr den Weg. »Deine Erinnerungen werden verblassen, glaube mir. Das dauert höchstens noch ein, zwei Tage. Dann bist du frei, und ich gebe dir mein Wort, dass du glücklich wirst in meiner Welt.« »Mit dir?«, fragte die Barbarin lockend und lächelte ihn an. Er wurde verlegen, hob die Schultern. Wie ein kleiner Junge, dachte sie verächtlich. »Na ja, das wäre natürlich …« »Schön?« Aruulas Lächeln erlosch. »Du bist verlobt, Makeje«, sagte sie kalt. »Ääh, ich meinte ja auch nur …« »Geh jetzt! Ich bin müde und will mich etwas ausruhen.« Aruula drehte ihm den Rücken zu, während der junge Schamane das Haus verließ. Ich muss vorsichtig sein! Er kann lauschen. Wenn ich es schaffe, meine wahren Gefühle zu verbergen und ihn zu täuschen, kriege ich Makeje vielleicht dazu, mich aus Liebe gehen zu lassen! Darauf wollte sie jedoch nicht warten. Aruula lief zur Tür, schaute hinaus. Niemand zu sehen. Die Sonne färbte sich rot, und zu dieser Stunde waren die Frauen mit der
Essenszubereitung beschäftigt, denn ihre Männer kehrten bald von den Feldern heim. Jetzt oder nie! Die Barbarin raffte das Essen zusammen, zog eine Fackel unter dem Lager hervor, die sie aus einer Halterung am Nachbargebäude gestohlen hatte, und huschte los. Dass Aruula in diesem schäbigen Haus einquartiert war, erwies sich jetzt als Glück. So nahe am Dorfrand liefen abends nur die Ziegen herum, und vor denen brauchte sie sich nicht zu verbergen. Die hatten immer was zu meckern, ob jemand ihren Weg kreuzte oder nicht. Kälte schlug der jungen Frau entgegen, als sie die Felsenhöhle betrat. Rasch hockte sie sich hin, zog ihren Feuerstein hervor, legte die Fackel zurecht. Aruula war geübt in solchen Dingen, und es dauerte nicht lange, bis Flammen hochzüngelten. Sofort lief sie weiter. Der tote Corporal hinter dem Eingang machte ihr nichts aus. Weit schlimmer waren die Kratzspuren und das schreckliche Loch neben ihm. O Maddrax!, dachte Aruula, und das Herz wollte ihr zerspringen. Sie hatte ihn am Morgen gesehen, ein Stück weiter den Gang hinunter, wie er mit blutigen Händen und irrem Blick den Lehmboden zerwühlte. Aruula wusste nicht, wie sie ihren Liebsten retten sollte, aber diesmal würde sie bei ihm bleiben, bis es ihr gelang. Irgendwie. Sie würde beten; zu jedem Gott, von dem sie jemals gehört hatte. Sie würde immer wieder nach ihm greifen, immer wieder versuchen, ihn zu berühren … »Nein!«, hauchte Aruula entsetzt, als sie das zweite Loch erreichte.
Maddrax war fort. Es war eine warme, sternenklare Nacht. Die Zikaden zirpten, und irgendwo draußen in der dunklen Ebene heulte ein Wolf. Makeje war allein in seinem Haus. Mit gekreuzten Beinen saß der Schamane vor einem Lagerfeuer, eine Schale Kräuter in der Hand. Gedankenversunken starrte er in die Flammen, bewegte stumm die Lippen. Ab und zu warf er ein paar Stängel in die Glut. Es knisterte, und sie verkohlten zu Rauch, der beim Aufsteigen herben Duft verbreitete, ehe er durch das rußumrandete Loch in der Decke verschwand. Ein Geräusch an der Tür ließ Makeje hochfahren. »Du bist es«, sagte er mürrisch, stellte die Schale ab und stand auf. »Was willst du?« »Dasselbe, was ich wollte, als ich den Jungen zu dir schickte: mit dir sprechen!« Hotake trat ein, ohne dass er dazu aufgefordert wurde, was eine Beleidigung darstellte. Flüchtig sah er sich um. Da waren überall Zeichen an den Wänden, Handabdrücke. Ein Holzgestell, an dem allerlei zum Trocknen hing: Kräuterbündel, Vögel, Schlangen, eine Fledermaus. Ringsum waren Töpfe und Tiegel, in denen Makeje geheime Ingredienzien aufbewahrte. Neben der Schlafstatt standen ein Korb mit persönlichen Habseligkeiten und ein Krug. Über allem thronte der mächtige Kopfschmuck der Schamanen aus Büffelhörnern, Fell und Federn. Er wurde von Generation zu Generation weitergereicht. Makeje ergriff einen Becher, füllte ihn mit Wasser.
»Also, was gibt es?«, fragte er schroff. »Ich habe heute die weiße Frau gesehen, Aruula.« Der Schamane lächelte dünn. »Daher weht der Wind.« »Du musst sie aufgeben, Makeje«, sagte der Mann mit den Adlerfedern im Haar. »Muss ich das?« Makeje trank, ohne Hotake etwas anzubieten. Es war nicht weniger beleidigend als dessen unaufgefordertes Eintreten. Hotake nahm es gelassen hin. Etikette war im Augenblick zweitrangig. »Du hast Aruula im Haus von Schwarzer Falke untergebracht.« Makeje zuckte die Schultern. »Es war das einzige, das leer stand.« »Und du gehst dort am helllichten Tag ein und aus.« Überrascht sah der Schamane auf. »Beobachtest du mich?« »Ich? Nein. Aber das Dorf tut es.« »Natürlich. Es ist immer das Dorf.« Makeje winkte ab. »Du kannst deine Bemühungen einstellen, Hotake! Aruula ist nicht an dir interessiert!« »Habe ich auch nicht erwartet. Wie ich höre, liebt sie einen Mann namens Maddrax. Wo ist er, Makeje?« »Er verfault in den Höhlen.« Der gut aussehende Indianer trat an die Tür, warf einen raschen Blick hinaus in die Dunkelheit. »Morgen ist er tot, übermorgen hat sie ihn vergessen.« Hotake schüttelte den Kopf. »Das wird nicht geschehen. Diese Frau gehört nicht in unsere Welt. Ich will, dass du sie zurückkehren lässt.« Makeje fuhr herum. »Du hast es immer noch nicht begriffen, was? Mein Vater ist tot, ich bin jetzt der Schamane! Mit mir beginnt eine neue Zeit! Darin ist kein
Platz mehr für dich! Also erzähl mir nicht, was ich tun soll!« »Eine neue Zeit.« Hotake war größer als Makeje. Er blickte fast mitleidig auf ihn herab. »Davon hat es schon viele gegeben, und sie sind ohne Ausnahme wieder verschwunden.« »Nimm dir ein Beispiel«, sagte der Schamane gallig und kehrte in den Raum zurück. Hotake folgte ihm, breitete die Hände aus. »Begreif es doch! Aruula bringt Unfrieden ins Dorf! Glaubst du ernsthaft, der Ältestenrat würde ihr erlauben zu bleiben?« Makeje seufzte gespielt. »Fragen über Fragen. Und sie gehen dich alle nichts an.« »Das Wohlergehen des Stammes geht mich etwas an!« »Das Wohlergehen des Stammes!«, rief der junge Mann und knallte den Tonbecher so hart auf eine Steinbank, dass er brach. »Wem willst du was vormachen, Hotake? Aruula ist unbeschreiblich schön und begehrenswert, und dich verzehrt es nach ihr. Das ist der Grund, weshalb sie dich so beschäftigt!« »Falsch! Ich bin nicht der Sklave meiner Gefühle.« Hotake hielt inne. »Oh, und ich bin auch nicht mit Eri verlobt.« »Was soll das heißen?«, fragte Makeje hitzig. »Es soll heißen, dass man im Dorf über dich redet! Du benimmst dich wie ein brunftiger Bock, Makeje! Hör auf damit! Heirate Eri und vergiss Aruula! Sie wird nie akzeptiert werden, das muss dir doch klar sein. Willst du, dass es im Volk zum Aufstand kommt?« »Das Volk tut, was ich sage!« »Du meinst, wenn du träumst«, spottete Hotake. Er
verschränkte die Arme vor der Brust, als Makeje auf ihn zukam. Ruhig sah er ihm entgegen. Die Augen des Schamanen wurden schmal, und er knurrte gereizt: »Du magst ein Günstling des Anführers sein, Hotake, aber vertraue nicht zu sehr auf Delkeths Schutz! Er ist ein alter Mann, und seine Tage sind gezählt.« Hotake versuchte einzulenken. »Hör zu …« »Nein, du hörst zu!«, unterbrach ihn Makeje wütend. »Ich bin es leid, dass du mich behandelst, als wärst du mir gleichgestellt! Du verweigerst mir jeden Respekt, und das dulde ich nicht länger! Und jetzt verschwinde. Geh nach Hause zu deiner Missgeburt.« »Was fällt dir …« »Ah!« Makejes Finger schoss hoch. »Wage es nicht, mir zu drohen, Hotake! Das hast du ein Mal getan. Ein zweites Mal wird es nicht geben.« Er bebte vor Zorn. »Und denke daran: Ich bin der nächste Häuptling. Ich. Nicht du. Das bedeutet, dass ich deinen Kniefall verlangen kann, wenn mir danach ist.« »Versuch es! Ich werde dich dann vor dem Ältestenrat um eine Erklärung bitten, wie genau du die weiße Frau eigentlich durch den Sipapu geholt hast, und vor allem: zu welchem Zweck«, sagte Hotake und ging. Hasserfüllt schrie Makeje hinter ihm her: »Warum kannst du nicht endlich das tun, was alle Menschen tun?« Er fegte eine Reihe Töpfe und Tiegel von ihrem Platz. Sein Atem flog, als er hinzufügte: »Warum stirbst du nicht endlich?« Hotake war zu aufgewühlt, um gleich nach Hause zu
gehen. Nchoki hatte ein Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmte, und er wollte die Kleine nicht beunruhigen. So wanderte er noch eine Weile ziellos durch die engen Gassen. Er selbst schlief nicht im Dorf. Hotake bevorzugte ein Tipi, das war eine Angewohnheit aus den Tagen, als der Warnruf: »Apachen!« noch Angst und Schrecken verbreitet hatte. Er war inzwischen längst verhallt. Stille umgab das Pueblo. Es ging auf Mitternacht zu; der Mond stand hoch über dem Iskatán, und ein lauer Wind wehte. Er brachte die Fackeln an den Außenwänden der Häuser zum Flackern. Eigentlich war diese Schutzbeleuchtung überflüssig. Die Indianer lebten schon lange in der fünften Welt, und nie hatten sich Feinde blicken lassen. Trotzdem schlief es sich besser in dem Wissen, dass man vor Überraschungen gefeit war. Hotake schritt lautlos zwischen den Häusern dahin. Er trug Mokassins aus weichem Leder, und er war so sehr an den leichtfüßigen Gang der Indianer gewöhnt, dass er sich nicht mehr darauf konzentrieren musste. Er trat auch dann nicht anders auf, wenn er tief in Gedanken war. So wie jetzt. Die Unterredung mit Makeje hatte Hotakes Verdacht erhärtet, dass der Schamane Gefühle für Aruula hegte. Verbotene Gefühle, aus denen nichts anderes erwachsen konnte als Probleme. Die weiße Frau war schon jetzt im ganzen Dorf verhasst, allein wegen ihrer bezaubernden Schönheit. Wenn bekannt wurde, dass Makeje ihr verfallen war, musste man damit rechnen, dass Blut floss. Leise Geräusche ließen Hotake in den Schatten einer Hauswand gleiten, fort aus dem Mondlicht, das auf die Straße fiel. Er verharrte, lauschte und runzelte die Stirn.
Da weinte jemand! Der Mann mit den Adlerfedern wurde selbst zum Schatten, als er dem Ursprung der Geräusche nachging. Man sah ihn nicht, man hörte ihn nicht, und doch: Wäre er ein Fremder gewesen, hätte der Wächter auf dem gegenüberliegenden Dach seinen Pfeil von der Sehne schwirren lassen. So aber nahm er den Zug wieder heraus und legte die Waffe ab. Hotake machte ein Handzeichen, das der Indianer erwiderte. Dann schlich er weiter. Das Weinen kam aus dem zerstörten Haus am Dorfrand. Es klang unendlich traurig, und Hotake zögerte einen Moment. Aber man hatte ihn bemerkt, und er wollte das Gerede um die weiße Frau nicht noch weiter anschüren. Deshalb schlich er ein Stück des Weges zurück, den er gekommen war, und bog in eine andere Gasse ab. Dort nahm er im Vorbeigehen eine Fackel aus der Halterung. Mit ihr verließ er das Pueblo, trat unter den Felsüberhang der Bucht und verschwand. Hotake kannte einen Geheimgang im Inneren des Iskatán. Er verlief parallel zu den Felsenhöhlen, kreuzte an manchen Stellen auch ein, wurde aber selten benutzt. In ihm wehte ein leiser, konstanter Windhauch. Hotake spürte es auf der Haut, merkte es am Flackern der Fackel. Ihr Licht holte eingeritzte Zeichen aus der Dunkelheit, an der linken Wand, ungefähr in Augenhöhe. Sie begleiteten ihn, als er tiefer und tiefer in den Felsenhügel ging. Einmal strich er versonnen mit dem Finger an ihnen entlang. Weiter hinten hatte abgestürztes Deckengestein eine Passage zu den Höhlen geschaffen. Der Boden dort war lehmig, denn in diesen Kavernen endete der riesige
Felsenhügel überirdisch. Man konnte hier Löcher graben bis hinunter zur Hölle. An einem blieb Hotake stehen und hob seine Fackel. Es war eine tiefe, sehr alte Grube. Männer lagen darin, kreuz und quer, und so still. Sie trugen Brustpanzer und Helme aus dem Spanien des sechzehnten Jahrhunderts. Ihre Hände waren blutig und verletzt, die nutzlosen Schwerter hatten sie in den Boden gerammt. Überall an den Grubenwänden konnte man Kratzspuren erkennen. Kleine Löcher, große Löcher … es sah nicht aus, als hätten die Spanier versucht, sich zu befreien. Hotake musterte sie mit ausdrucksloser Miene. Es schreckte ihn nicht, auf uralte Leichen zu stoßen, die den Gesetzen der Verwesung trotzten. Solche Toten waren überall im Lehmboden unter dem Iskatán, wo die rätselhafte Macht zerflimmerte und ein Eigenleben entwickelte wie Schnüre eines Bastvorhangs im Wind. No hay ningún misterio!, hatte einer der Spanier mit seinem Blut an die Grubenwand geschrieben. Es gibt kein Geheimnis. Hotake lächelte dünn. Doch, das gibt es, dachte er. Ihr habt es nur nicht entdeckt! Er warf einen letzten nachdenklichen Blick auf den blonden Mann, der zwischen den Leichen kniete und mit einem Holzrest an den Wänden kratzte. Dann wandte sich Hotake ab und ging.
3 � 18. Oktober 2517 Aruulas Augen waren rot verweint, als sie in aller Frühe ihr Quartier verließ. Nach dem Streit mit der dicken Korbmacherin wollte man sie beim Flechten nicht mehr haben, deshalb bekam sie nun eine andere Aufgabe zugewiesen. Ein Indianermädchen führte sie zu ihrem Arbeitsplatz. Der Himmel über dem Iskatán war wolkenverhangen; warmer Nieselregen fiel auf das Pueblo, färbte den Sandsteinboden der Gassen grau und lief in dünnen Streifen an den Hauswänden herunter. Wie Tränen. Das Mädchen erzählte etwas, doch Aruula hörte nicht hin. Sie dachte an Maddrax, und in ihre Sorge um den Geliebten mischte sich erste Hoffnungslosigkeit. Gestern Abend, als sie in den Höhlen nach ihm sehen wollte, war er nicht mehr da gewesen. Sie hatte nach ihm gesucht, aber außer Kratzspuren und blutverschmierten Holzsplittern nichts gefunden. Wo war er? Lebte Maddrax noch? Konnte er überhaupt noch leben nach zwei Tagen und zwei Nächten in seinem grausamen Gefängnis? Ohne Wasser, ohne Nahrung? Heute müssen die Götter mir helfen, sonst wird er sterben, dachte Aruula verzweifelt. Ihre indianische Begleiterin blieb vor einem Haus stehen, deutete auf den Eingang. Von drinnen war Lachen und Schwatzen zu hören, doch als Aruula den Raum betrat, verstummten die Frauen. Abweisende, zum Teil sogar feindliche Blicke folgten der unglücklichen
Barbarin auf ihrer Suche nach einem freien Platz. Sie fand ihn an der Wand gegenüber, und während sie sich dort niederließ, sah sie sich flüchtig um. Weiches braunes Hirschleder lag in Stapeln am Boden. Zwei Indianerinnen knieten daneben, die Nasen fast ebenerdig, den Hintern in die Höhe. Sie schnitten mit großer Sorgfalt Stücke aus dem Leder, immer die gleiche Form, nur unterschiedlich groß. Eine andere Frau zog mit ihrem Messer dünne Streifen ab. Da war ein kleiner Korb voll angespitzter Knochensplitter, die zum Nähen gebraucht wurden, und an der hinteren Wand drängten sich hohe geflochtene Körbe. Randvoll gefüllt mit dem, was die Frauen herstellten. »Schuhe!«, sagte Aruula überrascht. »Mokassins«, verbesserte das Indianermädchen, mit dem die Barbarin hergekommen war. Sie hieß Omao Mana, das bedeutete Frau der Wolken, und sie redete lieber, als feindliche Blicke zu verteilen. »Es gibt zwei Sorten«, erklärte sie und stöberte im neu gefertigten Schuhwerk vor den arbeitenden Frauen nach Mustern. »Die Mokassins für den täglichen Gebrauch – siehst du, hier! – und solche für die Jagd. Bei der Feldarbeit ist eine harte Sohle gut, deshalb nähen wir sie da als doppelte Lage. Aber ein Jäger muss den Boden spüren!« Omao Mana hielt Aruula einen Schuh hin. Er war weich und anschmiegsam, und die Barbarin konnte sich gut vorstellen, wie lautlos es sich damit durch den Wald schleichen ließ. Mokassins, erfuhr sie, wurden immer von Frauen angefertigt und obendrein in großer Menge, denn sie nutzten sich schnell ab. Aus diesem Grund besaß die Lederfrau, der das Haus gehörte, ihre Vorratskörbe.
Aruula seufzte schwer. Unter normalen Umständen hätte sie sich für diese Arbeit interessiert, hätte nachgefragt und Nützliches gelernt. Aber die Umstände waren nicht normal. Maddrax schwebte in Lebensgefahr. O Wudan, bitte! Rette mich aus diesem Albtraum, damit ich ihn retten kann!, flehte die junge Barbarin, während Omao Mana ihr eine Knochennadel und Lederstreifen gab und den Gebrauch erklärte. Mokassins waren Schlüpfschuhe, die aus einem Stück gefertigt um den Fuß geführt wurden. Auf der Oberseite nähte man ein handtellergroßes Lederstück ein, wobei der Rand gekräuselt wurde. So blieb die Form dauerhaft erhalten. Aruula verspürte wenig Lust, auch noch für die Bequemlichkeit ihrer Feinde zu arbeiten. Doch allein gegen einen ganzen Stamm zu kämpfen, das war selbst für eine Kriegerin vom Volk der Dreizehn Inseln nicht möglich. Schon gar nicht ohne Schwert. Hätte ich es nur nicht aus der Hand gelegt! Wären wir nur nicht hier gelandet, fügte sie bitter hinzu, als ein Mann das Haus betrat. Erneut verstummte die Unterhaltung der Indianerinnen, setzte aber gleich wieder ein, wenn auch leiser. Der Mann hatte ein paar Kaninchenfelle in der Hand. Er grüßte die Lederfrau und fragte, ob sie daraus eine Weste nähen könnte. »Für Nchoki?«, fragte die alte Indianerin. Der Mann lachte. »Für mich selbst würden die paar Felle wohl nicht ausreichen!« Die Lederfrau nahm sie entgegen, befühlte sie, sah sie von beiden Seiten genau an. Nachdenklich wiegte sie den Kopf. Dann stimmte sie zu. Sie verlangte ein Kaninchenfell als Bezahlung, und das war ein unerhörter Preis, wie Omao Mana der Barbarin zuflüsterte. Während
der Mann zu verhandeln begann, musterte Aruula ihn unauffällig. Er war groß, dunkeläugig und so braunhäutig wie alle anderen. Das Haar hing ihm bis auf die Brust hinab. Rechts und links, hinter den Ohren, trug er darin eine Adlerfeder. Hotake, wie die Lederfrau ihn nannte, hatte auffällig breite Schultern. Überhaupt war sein Körperbau anders als das sehnige, schlanke Erscheinungsbild der Stammesangehörigen. Aruula runzelte die Stirn: Auf seinen Wangen und am Kinn lag ein Schatten. Bartwuchs!, dachte sie überrascht. Das ist kein Indianer! Eine der Frauen beugte sich vor und schlug mit dem Mokassin nach ihr. »Was glotzt du so?«, fragte sie laut genug, dass es alle hören konnten. Aruula presste die Lippen zusammen. Hotake und die Lederfrau hatten ihre Verhandlung unterbrochen, schauten beide zu ihr herüber. Hastig wandte sich die Barbarin ab. Dabei bemerkte sie das kleine Mädchen vor dem Eingang. Es schien auf jemanden zu warten, sah unablässig her zum Haus der Lederfrau. Sein Gesicht war von Brandnarben entstellt, und an der Schläfe, bis hinunter zum Auge, flammte ein Feuermal. Das Mädchen stand ganz allein in der belebten Gasse; die Menschen gingen an ihm vorbei, als wäre es ein Geist. Es sah so verloren aus. So traurig. Du bist ein Außenseiter wie ich, dachte Aruula. Aufmunternd lächelte sie ihrer kleinen Leidensgenossin zu, bevor sie wieder an die Arbeit ging. Hotake hatte sich inzwischen mit der Lederfrau geeinigt und verließ das Haus. Aruula sah auf, just als er von draußen noch einmal zurückschaute. Ihre Blicke begegneten sich. Flüchtig nur. Dann streckte er die Hand
nach dem Kind aus und verschwand. Die Barbarin wandte sich an Omao Mana und fragte leise: »Wer war dieser Mann?« »Hotake«, raunte das Mädchen zurück. »Er gehört zum Ältestenrat.« »Ist er dafür nicht ein bisschen jung?« Aruula war erstaunt. Sie hatte den Mann auf etwa dreißig Sommer geschätzt. Die Indianerin gab eine rätselhafte Antwort. Sie sagte: »Schon. Aber dann auch wieder nicht«, und hüllte sich danach in Schweigen. Aruula wartete eine Weile, doch es kam nichts mehr. Omao Mana wollte offenbar nicht über Hotake sprechen. Die Barbarin suchte fieberhaft nach irgendeinem anderen Thema, um das Gespräch in Gang zu halten und nicht erneut in der Einsamkeit zu versinken, die hinter den Mauern des Schweigens herrschte. Das Kind fiel ihr ein, und sie fragte danach. Da mischte sich die Lederfrau ein. »Nchoki? Halte dich von ihr fern!«, rief sie Aruuk zu. »Hast du nicht das Zeichen auf ihrem Gesicht gesehen? Es ist die Handschrift der Dämonen! Wenn sie glauben, dass du freundlich zu Nchoki bist, kommen sie mit ihrem ganzen Unheil auch in dein Haus!« Die Barbarin erschrak. Was hatte der Stamm getan, dass böse Geister das kleine Mädchen dafür so grausam verbrannten? Diese Frage stellte Aruula der Lederfrau, und erntete verdutzte Blicke. »Verbrannten? Wieso verbrannten?«, fragte die Indianerin. »Ich sprach von dem roten Fleck an Nchokis Schläfe, der sich bis zum Auge zieht. Das ist das Zeichen der Dämonen! Nicht die Narben.«
»Das waren keine bösen Geister?« »Nein.« Die Lederfrau schüttelte den Kopf. »Die Narben sind entstanden, als das Haus von Schwarzer Falke brannte.« »Was ist passiert?«, wollte Aruula wissen, und die Indianerin erzählte es ihr. »Alle Neugeborenen werden dem Schamanen gezeigt, damit er sie ansieht und erklärt, dass sie zum Stamm gehören. Das ist Tradition«, hob sie an. Am Tag, als Nchoki geboren wurde, starb der alte Schamane, und so wurde die Entscheidung über das Schicksal des kleinen Mädchens zur ersten Amtshandlung für seinen Nachfolger. Der neue Schamane hätte sich sicher eine leichtere Aufgabe gewünscht. Nchoki war das erste Kind von Schwarzer Falke und seiner Frau, beides angesehene Stammesmitglieder. Doch sie hatte eine seltene Missbildung im Gesicht: einen Hautfleck, der sich nicht abwaschen ließ. Nur Dämonen konnten solche Zeichen erschaffen. Deren Träger galten als Unheilsbringer, und man sagte ihnen nach, dass sie böse Geister anzogen. Deshalb entschied der Schamane, dass Nchoki fortgebracht und in der Wildnis ausgesetzt werden musste. Weit weg vom Dorf, um die Geister auf eine falsche Fährte zu locken. Schwarzer Falke aber wollte seine kleine Tochter nicht hergeben und berief sich auf sein Recht, in dieser Angelegenheit vor dem Häuptling zu sprechen. Der wiederum wollte weder seinem neuen Schamanen in den Rücken fallen, noch den Eindruck erwecken, ihn zu begünstigen. Aus diesem Grund gab er die Entscheidung an den Stamm weiter.
So wurde in der nächsten Vollmondnacht eine Versammlung einberufen, bei der die Dorfbewohner zusammenkamen, um den Kindsvater und den Schamanen zu hören. Anschließend sollten sie über Nchokis Schicksal urteilen. Ihre jungen Eltern hatten dabei keine Stimme. Schwarzer Falke sprach als Erster. Er gab sich alle Mühe, seine Tochter zu retten, aber er konnte keine überzeugenden Argumente gegen die Behauptung vorbringen, Nchoki sei von Dämonen gezeichnet. Erschwerend kam hinzu, dass er ein einfacher Mann war, ein Jäger, der viel Zeit in der Stille des Waldes verbrachte. Schwarzer Falke hatte wenig Übung darin, vor anderen zu reden. Immer wieder musste er nach Worten suchen. Dann trug der Schamane den Fall noch einmal vor, mit aller Inbrunst, und es zeichnete sich rasch ab, dass er ihn auch gewinnen würde. Er verstand es, die zögerlichen Mütter zu beeinflussen, indem er Nchoki als tödliche Bedrohung für ihre eigenen Kinder hinstellte. Als er die Indianerfrauen erst einmal auf seiner Seite hatte, konnten ihre Männer gar nicht anders mehr, als ihm ebenfalls zuzustimmen. Schließlich waren sie die Väter der bedrohten Kinder. Das Versammlungsfeuer war schon fast herabgebrannt, als das Urteil gesprochen wurde. Es musste einstimmig sein, so verlangte es die Tradition. Ein Dorfbewohner nach dem anderen erhob sich und erklärte, Nchoki solle in der Wildnis ausgesetzt werden. Ihre verzweifelten Eltern versuchten, das Unabwendbare zu verhindern, indem sie Nachbarn und Freunde weinend um Hilfe anflehten. Ein einziger Fürsprecher hätte gereicht. Aber
niemand meldete sich. Es sah so aus, als ob das Schicksal des Kindes besiegelt wäre. Da trat Hotake vor. Er verlangte einen eindeutigen Beweis dafür, dass Nchoki tatsächlich von Dämonen gezeichnet wurde, und es daher gerechtfertigt war, sie zu töten. Andernfalls sollte sie der Schamane besser in Ruhe lassen, sonst würde Hotake ihn als Mörder vor den Ältestenrat bringen. »Das hat er gesagt?«, fragte Aruula erstaunt. »O ja«. Die Lederfrau beugte sich zur Seite und spuckte auf den Boden. »Und noch in derselben Nacht ging das Haus von Schwarzer Falke in Flammen auf! Wie von Geisterhand! Schwarzer Falke und seine Frau sind darin verbrannt.« Aruula erschrak. »Also hatte der Schamane recht! Das Kind lockt Dämonen an!« Die Indianerin zeigte mit der Knochennadel über die Wände. Überall waren Symbole eingeritzt. »Wir haben daraufhin das ganze Dorf mit neuen Bannzeichen versehen.« »Hmm-m.« Aruula runzelte die Stirn. »Aber Nchoki war doch ein Neugeborenes. Wie ist sie denn aus dem Haus gekommen? Haben ihr böse Geister geholfen?« »So könnte man es sagen«. Die Lederfrau lachte in sich hinein. Omao Mana legte Aruula eine Hand auf den Arm. »Hotake hat Nchoki gerettet. Seitdem lebt sie bei ihm.« »Und niemand erhebt dagegen Einspruch?« »Nein.« Das Indianermädchen schüttelte den Kopf. »Nicht bei Hotake.« »Selbst der Schamane nicht?« Aruula dachte nach. »Es
muss demütigend für ihn gewesen sein, gleich am ersten Tag so zu scheitern! Wie hieß er eigentlich?« »Wie er hieß?« Omao Mana bekam große Augen. »Du kannst ja komische Fragen stellen! Er heißt Makeje, wie sonst?« Gegen Mittag machten die Frauen eine Pause. Aruula bekam ein Fladenbrot und ein Stück Fleisch wie alle anderen, setzte sich aber nicht mit ihnen vors Haus. Sie sagte den Indianerinnen, sie müsse ihre Gebete verrichten, und dazu sei es erforderlich, allein zu sein. Man ließ sie gehen, und Aruula machte sich sofort auf die Suche nach Maddrax. Während sie sich möglichst unauffällig den Felsenhöhlen näherte, dachte sie über eine rätselhafte Bemerkung Omao Manas nach. Aruula hatte das Indianermädchen gefragt, warum man es Hotake erlaubte, mit dem vermeintlich gefährlichen Kind im Dorf zu bleiben. Omao Mana antwortete darauf, er wäre hoch geachtet, denn er habe viel für den Stamm getan. Hotake würde aber auch gefürchtet, weil er anders sei. Inwiefern, das sagte sie nicht. Aruula war es egal. Hotake konnte sich offenbar gegen seine Gefährten durchsetzen, selbst gegen den Schamanen. Also war er in der Lage zu helfen. Ich muss mit ihm reden, dachte sie. Aber erst muss ich Maddrax finden! Am Rand des Pueblos angelangt, huschte Aruula in ihr Quartier. Sie hatte, wie schon einmal, eine Fackel gestohlen und unter ihrem Lager versteckt. Die wollte sie
holen. Unbehagen erfasste die Barbarin beim Eintreten. Sie wusste jetzt, wem dieses Haus gehörte und wie Schwarzer Falke und seine Frau darin ums Leben gekommen waren. In Gedanken sprach Aruula ein Gebet für die beiden. Sie brachte es nie zu Ende. Urplötzlich glitt von hinten eine Hand auf ihre Stirn. Jemand bog ihren Kopf zurück, und im nächsten Moment hatte sie ein Messer an der Kehle. »Nenn mir einen Grund, weshalb ich dich nicht töten sollte!«, befahl eine fremde junge Frau. Sie klang hasserfüllt und verzweifelt zugleich. Es war nicht schwer zu erraten, um wen es sich handelte. Aruula wagte kaum zu atmen. »Wenn du mich tötest, wirst du Makeje verlieren, Eri!« »Als hätte ich das nicht schon«, sagte die Indianerin bitter. Aber wenigstens nahm sie das Messer weg, sodass sich Aruula umdrehen konnte. Eri war keine schöne Frau, doch auch nicht hässlich. Sie hatte schlanke Gliedmaßen, eher dünnes Haar und ein Gesicht, das man sah und gleich wieder vergaß. Bestimmt war es nicht leicht für sie an der Seite eines gut aussehenden Mannes wie Makeje. Aruula hatte die Blicke der jungen Mädchen gesehen, die ihm folgten, wenn er durchs Dorf ging. »Ich bin nicht deine Feindin, Eri«, sagte Aruula ernst. »Ich wollte nie in dieses Pueblo kommen, und glaube mir, ich werde nicht bleiben!« Sie zeigte Richtung Felsenhöhlen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie fortfuhr: »Irgendwo da drin kämpft der Mann, den ich liebe, ums Überleben. Ich muss ihn unbedingt finden,
sonst wird er sterben! Etwas hat seinen Geist verwirrt.« Eri nickte wissend. »Das Geheimnis«, murmelte sie. Aruula fuhr hoch und packte die Indianerin an beiden Armen. »Du weißt, was Maddrax festhält?«, rief sie erregt, sah sich um, senkte die Stimme zu atemlosem Flehen. »Kannst du mich zu ihm bringen? Kannst du ihn retten, Eri?« »Makeje wird es nicht erlauben«, sagte die junge Frau. Aruula ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Hastig wischte sie die Tränen fort. Ihre Hände zitterten, ihre Gedanken überschlugen sich. Völlig unverhofft war ein Licht aufgetaucht in der Dunkelheit ihres quälenden, gelebten Albtraums. Ein kleiner Funke Hoffnung, der auf keinen Fall wieder verlöschen durfte. Er war zu kostbar, zu einzigartig. Einen zweiten würde es nicht geben. Der Barbarin schlug das Herz bis zum Hals. Alles hing jetzt davon ab, die richtigen Worte zu finden! Eri hatte keinen Grund, ihr zu helfen, würde im Gegenteil ein Risiko auf sich nehmen, wenn sie es täte. Wie konnte Aruula sie überreden? Was konnte sie sagen, das die Indianerin dazu bewegte, Maddrax zu helfen? Er war ein Fremder für sie. Eri wusste nicht, wie aufrichtig er war, wie viele Menschen er schon gerettet hatte. Sie kannte nicht seine Herzlichkeit, sein Lächeln, die Grübchen auf seinen Wangen. »Ich liebe ihn!« Aruula breitete hilflos die Hände aus. »Und ich liebe Makeje«, sagte Eri. »Aber er hat nur noch Augen für dich.« Aruula nickte bitter. »Sieh nur, wie unsinnig das Ganze ist! Er lässt Maddrax sterben, damit ich frei bin – für ihn. Ich will Makeje nicht, ich werde ihn nie lieben. Erst recht nicht, wenn er den Mann tötet, dem mein Herz gehört. So
werden drei Menschen unglücklich: du, Makeje und ich. Und Maddrax …« Aruula brach ab und rang die Hände. »Bitte, Eri! Sag mir, wie ich ihn da rausholen kann! Wenn wir erst fort sind, wird Makeje einsehen, welchen Fehler er gemacht hat. Dann kehrt er zu dir zurück.« Die Indianerin zögerte. Ganz so einfach, wie Aruula es dargestellt hatte, war die Sache nicht, das wussten beide Frauen. Aber wenigstens lag darin eine Chance. »Ich muss nachdenken«, sagte Eri knapp, drehte sich um und ging. Dämonen der Angst umflatterten die Barbarin, als sie wenig später im Labyrinth der Felsenhöhlen nach Maddrax suchte. Lebte er noch? Oder war schon alles zu spät? Aruula hatte Hotake gesehen, wie er die riesige dunkle Bucht am Fuß des Iskatán betrat. Sie war ihm gefolgt, als er in einer Spalte neben dem Höhleneingang verschwand. Nun lief sie durch unbekannte Gänge, die Fackel hocherhoben, und forschte nach Maddrax. Es war so kalt hier. Und so still. Manchmal fand Aruula Kratzspuren am Boden, kleine Gruben, Blut. Doch nirgends ein Lebenszeichen, weder von Maddrax noch von Hotake. Sie rief nach dem Mann mit den Adlerfedern. Er antwortete nicht. Aruula wusste, dass ihr wenig Zeit für die Suche blieb. Im Haus der Lederfrau ging man sicher schon wieder an die Arbeit, und wenn sie nicht bald zurückkehrte, würde jemand den Schamanen informieren. Ich wünschte, er wäre tot!, dachte Aruula hasserfüllt,
während sie über herabgestürztes Deckengestein kletterte, das verstreut auf dem Boden lag. Es hatte beim Fallen ein Loch in die Seitenwand gerissen. Dahinter lag ein zweiter Gang. Aruula leuchtete hinein, sah ein Band aus eingeritzten Zeichen an den Wänden. Sie spürte den Luftzug, der ihre Fackel flackern ließ, und blickte unschlüssig zurück. Welchen Gang sollte sie wählen? Die Barbarin entschloss sich, auf dem ursprünglichen Weg zu bleiben. Er verbreiterte sich allmählich. Seitengänge tauchten auf, Buchten … ein Stück weiter lagen feuchte Lehmklumpen im Gang, am Rand einer Grube, und Aruulas Herz setzte aus, als ein neuerlicher Klumpen aus der Tiefe geflogen kam. »Maddrax?«, rief sie atemlos. Aruula rannte zu der Grube, warf sich auf die Knie, leuchtete hinein. Tote lagen am Boden, kreuz und quer übereinander. Sie trugen Brustpanzer und Helme, ihre Hände waren zerstört. Jemand hatte etwas mit Blut an die Wand geschrieben, das die Barbarin nicht lesen konnte. Ein blonder Mann kniete gleich daneben, raffte aus der Wand gekratzten Lehm zusammen und warf ihn nach oben. Der Anblick zerriss ihr das Herz. »Maddrax!« Aruulas Augen füllten sich mit Tränen. Sie stieg zu ihm hinab, rammte die Fackel in den weichen Boden, streckte die Hände nach ihm aus. Doch sie griffen ins Leere, wie zuvor. Maddrax schien nichts weiter zu sein als ein Trugbild. Ein sterbendes Trugbild! Seine Wangen waren eingefallen, von Bartstoppeln und Schmutz bedeckt. Er hatte Fieber, das sah man an dem unnatürlichen Glanz seiner Augen, an der Blässe, dem Schweiß. »Maddrax! MADDRAX! Bitte, Liebster – du musst
damit aufhören! Egal, was du suchst, es ist nicht von Bedeutung! Du musst die Höhlen verlassen, hörst du, ich flehe dich an!«, rief Aruula. Maddrax bekam davon nichts mit. Er arbeitete unverdrossen weiter, mit blutigen Händen, und murmelte dabei Worte, die wie no'ei ningun mistärio klangen, was immer das hieß. Aruula setzte sich neben ihn, zog die Beine an, schlang ihre Arme um die Knie. Kraftlos sank ihr Kopf nach vorn, und sie schloss die Augen. Es war so entsetzlich! Dieser Spuk, der die Grenzen des Verstandes sprengte, hielt bereits zwei Tage an. Er ließ sich nicht fassen, ließ sich nicht beenden, und er bereitete ihr solche Angst. Kein Gebet half! Als ob die Götter machtlos wären, hier in den dunklen Tiefen des Iskatán. Aber warum? Wie konnte sich ein Indianerfelsen göttlichen Gewalten widersetzen? »Was ist das nur für ein schrecklicher Ort?«, schrie Aruula dem Himmel entgegen – und erstarrte. Über ihr am Grubenrand stand ein Mann. Wie hingezaubert; die Arme vor der Brust verschränkt, mit ausdruckslosem Gesicht. »Hotake!« Aruula sprang auf, und plötzlich kochten ihre Gefühle über. »Ergötzt du dich daran?« Leidenschaftlich zeigte sie auf Maddrax. »Was fällt euch eigentlich ein? Welches Recht habt ihr, sein Leben zu zerstören?« Hotake zuckte die Schultern. »Er ist ein Weißer.« Aruula stutzte. »Na und? Das bist du auch!« »Oh.« Ein dünnes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Merkt man das noch, nach all der Zeit?« Hotake hockte sich an den Grubenrand, streckte die Hand nach Aruula aus. Sie schlug sie weg. »Fass mich ja nicht an!«
»Ich wollte dir nur heraushelfen«, sagte Hotake ruhig. »Mir?« Aruula starrte ihn fassungslos an. »Es ist Maddrax, der Hilfe braucht! Nicht ich!« Sie atmete tief durch, versuchte, den Zorn aus ihrer Stimme zu verbannen. Es nützte wenig, jemanden anzuschreien, wenn man von dessen Wohlwollen abhängig war. Die schöne Barbarin strich ihre Mähne zurück, sah sich fahrig um. »All diese Toten«, sagte sie schließlich. »Warum sind sie hier?« Hotake stand auf. »Weil sie schlecht waren.« Er musterte die spanischen Soldaten in der Grube, und seine Stimme wurde dunkel. »Sie kamen zu Tausenden. Immer andere, immer wieder. Sie wollten das Gold der Indianer, ihr Land, jeden Besitz. Wir hatten kein Gold. Wir gaben ihnen Land. Doch es war nie genug, und so begann das Töten.« Hotake wies auf die rostigen Schwerter. »Ihre Waffen waren den unseren überlegen. Sie löschten damit ganze Dörfer aus. Ganze Stämme.« »Das tut mir leid«, sagte Aruula. »Wirklich! Aber Maddrax und ich gehören nicht zu diesen Leuten. Bitte, Hotake, lass uns gehen! Wir haben euch doch nichts …« Sie brach ab, weil jemand von fern ihren Namen rief. Einen Moment lang blickte sie in die Richtung, aus der die Frauenstimme kam. Dann wandte sie sich wieder Hotake zu. Aruula ließ enttäuscht die Hände sinken. Der Mann mit den Adlerfedern war verschwunden. Commander Matthew Drax hatte ein gutes Gefühl, als er den zersplitterten Rest seiner Krücke in die Lehmwand rammte, um ein neues Loch zu graben. Diesmal war es die richtige Stelle! Hier würde er das Geheimnis finden.
Ganz bestimmt! Matt war sich nicht bewusst, wie schlecht es ihm ging. Er fieberte, hatte Hunger, war nahezu dehydriert. Was immer ihn gefangen hielt, hinderte ihn daran, zwischendurch wenigstens etwas auszuruhen, und der Schlafmangel machte sich bemerkbar. Matt arbeitete in völliger Finsternis, dabei war er überzeugt, alles genau zu sehen, was er tat. Ehe seine Fackel erlosch, hatte er einen blutigen Schriftzug an der Wand entdeckt: No hay ningún misterio! An ihn erinnerte er sich in lichten Momenten. Sie wurden immer weniger. Manchmal rief er nach Billy Joe, dem toten Corporal am Höhleneingang, und unterhielt sich ein bisschen mit ihm. Matt mochte den Südstaatler lieber als die Spanier. Sie waren überall im Weg, und sie sprachen nicht mit ihm. »Das wird sich ändern!«, versprach er den Toten. Seine Zunge war geschwollen vor Durst. »Wenn ich erst mal das Geheimnis gefunden habe, werdet ihr überhaupt nicht mehr aufhören, mit mir zu reden! Hat sich was von wegen no hay ningún misterio! Ihr wart bloß zu blöd, es auszugraben. Hähähä!« Matt gackerte vor sich hin, während er vermeintlich zielgerichtet an einer Lehmwand kratzte, die er gar nicht sah. Er hatte keine Ahnung, was das Geheimnis war, das er so verbissen suchte. Matt wusste nur, dass er es finden würde, und davon konnte ihn auch nicht diese Frau abhalten, deren Stimme er bisweilen hörte. Sie klang vertraut, aber dann auch wieder nicht. Maddrax nannte sie ihn. Seltsam, oder? Wer trug einen solchen Namen? »Hey, Billy Joe!«, rief Matt Drax, während er einen
faustgroßen Stein aus der Wand pulte. Sie steckten überall im Lehm, und man brach sich die Fingernägel an ihnen. »Kennst du jemanden, der Maddrax heißt?« Doch Billy Joe gab keine Antwort. Beleidigt warf Matt den Stein hinter sich in die Dunkelheit und griff, zum Scheppern eines spanischen Helms, erneut in den Lehm. »Au!« Er zuckte zurück, schüttelte heftig die Hand. Hinter dem ersten Stein steckte ein zweiter, und das blöde Ding reckte seine spitze Kante genau dahin, wo Matts Fingerkuppe auftraf. Sie war geplatzt und blutete. Matt schob den Finger in den Mund, leckte Blut und Schmutz von ihm ab. Mit der freien Hand tastete er dabei nach dem Stein, strich an dessen Kanten entlang. »Eigenartig«, nuschelte er plötzlich. Matt nahm auch die zweite Hand zu Hilfe, grub den Stein vollends aus. Er befühlte ihn, wischte mit ihm über seine Jacke und befühlte ihn erneut. Stirnrunzelnd versuchte er, sich ein Bild von dem Fund zu machen. Es gelang nicht, weil das Fieber Matts Geist beeinträchtigte. Aber wenigstens begriff er, dass der Stein keiner war. Zu wenig Gewicht, zu gerade Kanten. Er hatte die Abmessungen einer Zigarettenschachtel, ungefähr, und ein Hochrelief an einer Seite. Linien, die einen Kreis bildeten. Darin ein kleinerer, paralleler Kreis. Noch einer. Noch einer. Matt hob den Kopf. »Hey, Joe! Ich hab 'nen Stein gefunden, da ist ein Spinnennetz drauf! Kannst du mir sagen, wozu einer so was Dämliches fabriziert? Ich meine, wer braucht einen Stein mit 'nem Spinnennetz?« Er stutzte, begann zu grinsen. »Na ja. Vielleicht die Hinterbliebenen von Spiderman. Sie könnten ihn als Grabstein aufstellen.«
Matt prustete los. »Hast du gehört, Billy Joe? Als Grabstein! Ist das nicht komisch?« Das war es nicht. Trotzdem lachte sich Matt schier kaputt, während er wieder zu wühlen begann. Er musste ein Geheimnis ausgraben. Nichts anderes zählte. Es geschah ohne Absicht, dass der fiebernde junge Mann seinen Fund in die Gesäßtasche schob, und es war reiner Zufall, dass die richtige Seite dabei nach unten zu liegen kam. Als Matt ihn längst vergessen hatte, begann auf dem Stein, der keiner war, ein rotes Licht zu blinken. Das Haus des Häuptlings war das größte im Dorf, und am prächtigsten eingerichtet. Es hatte zwei Stockwerke; das obere ein Stück zurückversetzt, damit man im Erdgeschoss Lagerfeuer entfachen konnte, deren Rauch dann durch das Deckenloch abzog. Alle Wände waren mit Symbolen geschmückt, und es gab einen Altar. Auf ihm ruhte das Heiligtum des Stammes: eine Steinplatte, an der die Götter ein Zeichen hinterlassen hatten. Man konnte einen Falken mit ausgebreiteten Schwingen erkennen, der ein Beutetier im Schnabel hielt. Das Bild sah so echt aus, dass es wahrhaftig nur von den Göttern stammen konnte. Und es war nicht aufgemalt oder eingeritzt, nein. Jemand hatte es in den Stein gebrannt. Ein Stück neben dem Altar, auf einem bequemen Lager, saß der Häuptling. Delketh, so hieß er, hatte in jungen Jahren viele Männer seines Stammes zu Jägern ausgebildet. Heute war er alt. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht; das Haar war ergraut, die Hände wurden langsam knotig, und auf den dunklen Augen lag ein Schleier.
Doch in diesem verbrauchten, kränklichen Körper wohnte noch immer der Geist eines großen Mannes. Und er ärgerte sich! »Mir ist zu Ohren gekommen, dass eine Fremde im Dorf weilt«, sagte Delketh scharf und ohne jede Begrüßung, noch während sich Makeje vor ihm auf den Boden setzte. »Du wirst sie sofort zurückschicken!« »Aber …« »Nichts da! Ich habe dich nicht herbefohlen, um eine Unterhaltung zu führen, Makeje. Du schickst die weiße Frau zurück, und zwar noch heute!« Der junge Schamane wand sich innerlich. Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, schließlich war Delketh nur alt, nicht taub. Doch er hatte jeden Gedanken an die unangenehme Konfrontation mit seinem künftigen Schwiegervater verdrängt, und nun war es zu spät. Delketh saß vor ihm und wollte etwas hören. Was sollte er tun? Lügen? Die Wahrheit musste Makeje verschweigen, denn die Wahrheit lautete, dass er Aruula niemals hergeben würde. Nicht in diesem Leben, nicht im nächsten. Doch das konnte er kaum vor dem Häuptling aussprechen. Delketh war ein mächtiger Mann und durchaus in der Lage, jemanden schneller ins nächste Leben zu befördern, als einem lieb war. Warum fällst du nicht um und bist tot, alter Mann?, dachte der Schamane. Aber Delketh tat ihm den Gefallen nicht. Er richtete stattdessen einen knotigen Finger auf Makeje und sagte zornig: »Du bist meiner Tochter versprochen, hast du das eigentlich vergessen? Willst du Eri vor dem Stamm beschämen, indem du hinter dieser Weißen her rennst? Am helllichten Tag, wie ein lüsterner Bock?«
Er hat mit Hotake gesprochen! Makejes Augen wurden schmal. Sein persönlicher Feind hatte gestern Abend fast wörtlich dasselbe gesagt. Erstaunte es den Schamanen, dass die beiden hinter seinem Rücken über ihn sprachen? Nein! Hotake und Delketh waren alte Freunde – sehr alte! –, da wunderte einen gar nichts. Trotzdem konnte Makeje es nicht einfach hinnehmen. »Du solltest nicht alles glauben, was Hotake sagt! Denk daran, dass er jemanden aufzieht, der das Zeichen der Dämonen trägt!« »Nchoki?« Der Häuptling verzog sein Gesicht. »Mach dich nicht lächerlich! Das arme Kind ist weder besessen, noch hat es je etwas Unrechtes getan.« »Aber Hotake …« »Lass Hotake in Frieden!«, fiel ihm Delketh verärgert ins Wort. »Wir haben ihm viel zu verdanken, das weißt du, und ich würde es niemals dulden, dass man Hotakes Namen beschmutzt!« Er beugte sich vor. »Eher würde ich noch einmal in der Versammlung der Ältesten laut darüber nachdenken, wie das Haus von Schwarzer Falke in Brand geraten konnte.« Makeje erschrak. Das war eine offene Drohung gewesen! Er musste einlenken, sonst konnte er mehr verlieren als die Aussicht auf das Amt des Häuptlings! »Heirate Eri!«, verlangte Delketh in Makejes Gedanken hinein. »Ich bin ein alter Mann und müde von der Bürde meines Amtes. Du sollst sie mir abnehmen, doch das kann nicht geschehen, wenn du dich noch länger deiner Lust unterwirfst. Das Volk verliert den Respekt vor dir, und ohne Respekt kannst du niemanden führen.« »Ich heirate sie«, sagte Makeje hastig. »Ich nehme Eri zur Frau und werde Aruula … die Weiße fortschicken.
Wie du es wünschst.« »Gut!« Zufrieden lehnte sich Delketh zurück. »Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen würdest! Und nun geh, bring die Weiße in die Kiva, unseren Versammlungsraum. Brauchst du Unterstützung bei deinem Ritual, wenn du sie durch den Sipapu schickst?« »O nein! Nein!« Makeje hob abwehrend beide Hände. Er stand auf, zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin der Schamane! Ich kann das allein. Aber danke für dein Angebot!« Er verbeugte sich und verließ eilends das Haus. Draußen blieb Makeje einen Moment stehen, lehnte sich schwer atmend an die Wand. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen, und die hatten nichts mit der Nachmittagssonne zu tun. Der Schamane steckte in einer üblen Falle. Schuld daran war seine Eitelkeit. Hätte er vorgestern nicht so großspurig behauptet, Aruula wäre von ihm durch den Sipapu geholt worden, müsste er heute nicht zugeben, dass ihr Erscheinen im Dorf nichts mit dem rituellen Eingang der Unterwelt zu tun hatte. Makeje wanderte los. Er brauchte eine Idee, und zwar eine richtig gute, um aus dieser Situation wieder herauszukommen. Doch was immer er sich überlegte, irgendwie tauchte darin stets Hotake auf. Der Mann, der ihm gleich bei seiner ersten Entscheidung als junger Schamane so heftig in die Parade gefahren war. Makeje erinnerte sich noch gut daran, wie Hotake vor dem brennenden Haus von Schwarzer Falke stand, den schreienden Säugling im Arm, von Flammen umrahmt. Wie er das Titlahtín hochhielt, mit seinem unheimlichen
Licht, und den Indianern drohte: Wenn Nchoki etwas zustößt, werde ich euch ohne Ausnahme in die Hölle befördern! Makeje hatte ihn in der nächsten Nacht in den Felsenhöhlen gestellt und verlangt, dass Hotake samt Nchoki den Stamm verließ. Doch der verhasste Mann ließ sich nicht einschüchtern. Er sagte Dinge, die Makeje zur Weißglut trieben; hauptsächlich, weil sie stimmten. In einem Wutanfall hatte der gut aussehende Indianer dann zugeschlagen. Das Titlahtín war durch die Luft davon gewirbelt. Es verschwand mitten im Flug. Zuerst dachte Makeje, er hätte gewonnen. Doch dann begriff er, dass man ihm die Schuld geben würde, falls dem Stamm jetzt etwas zustieß. Ihm, und nicht Hotake, weil durch ihn etwas Wichtiges, Kostbares verloren ging. Hotake hätte eigentlich der Verlierer sein müssen, und doch gelang es dem Mann, das Ganze auch noch zu seinen Gunsten zu drehen. Er behauptete vor dem Stamm, er hätte das Titlahtín an einem sicheren Ort versteckt. Zur Sicherheit, damit er nicht etwa plötzlich verstarb und Nchoki anschließend auch. Ich werde ihn einfach nicht los, dachte Makeje hasserfüllt. Er konnte Hotake nicht töten, weil er keine Ahnung hatte, wie sich dessen Tod auf das verschwundene Titlahtín auswirkte. Aber Makeje konnte auch nicht mit ihm leben, deshalb überlegte er sich etwas anderes. Delketh, Hotakes einflussreicher Verbündeter, musste sterben! War der Häuptling aus dem Weg, kam Makeje an die Macht. Dann konnte er Hotake wenigstens besser kontrollieren. Und brauchte Aruula nicht aufzugeben. So mache ich es! Makeje nickte grimmig, als er sein Haus betrat. Morgen stirbt der Häuptling – und diesmal wird es
keinen Zweifel geben, dass es nur ein Unfall war. »Wo warst du nur? Ich habe dich überall gesucht«, sagte Eri, als der Schamane durch den Eingang trat. Makeje schrak heftig zusammen. Gerade noch hatte er über den morgigen Tod des Häuptlings nachgedacht, und nun stand dessen Tochter vor ihm! In seinem Haus! Eri kam sonst nie hierher, zumindest nicht ohne weibliche Begleitung, denn es verstieß gegen die Sitten. Ahnte sie vielleicht etwas? Hatten böse Geister ihre Hand im Spiel? Oder Hotake Makeje stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Er streifte seine Verlobte nur mit flüchtigem Blick und ging an ihr vorbei zum Wasserkrug. »Was willst du hier, Eri?« Die junge Häuptlingstochter wertete den Gesichtsausdruck des Schamanen als Eingeständnis seiner Gefühle für Aruula. Es schnitt ihr ins Herz, denn Eri liebte Makeje. Sehr sogar. Sie war bereit, um den gut aussehenden Mann zu kämpfen, deshalb hatte sie mit der weißen Frau einen Plan abgesprochen. »Ich möchte mit dir reden, Makeje«, sagte Eri. Sie senkte den Blick, als der Indianer ihr einen Becher reichte. Für einen Moment strichen ihre Finger sacht über seine Hand. Er zog sie weg, und Eri biss sich auf die Lippen, um nicht zu weinen. »Worüber denn?« Der Schamane klang aggressiv. Er setzte sich nicht, bot auch Eri keinen Platz an. Vermutlich erwartete er, mit Vorwürfen überschüttet zu werden, und versuchte sich zu wappnen. »Über Aruula.« Eri trank einen Schluck Wasser. Eine
Träne fiel in den Becher. Die junge Frau stellte ihn ab, wischte sich hastig über die Augen und sah Makeje an. Sie lächelte traurig. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Das habe ich schon getan, als wir Kinder waren. Und ich werde es noch immer tun, wenn meine Haare weiß sind.« »Eri …« »Nein, warte! Hör mich an.« Sie streckte die Hand aus, streichelte über seinen Arm. »Ich sehe, wie du dich quälst, Liebster. Du bist mir versprochen, aber du sehnst dich nach einer anderen, und ich leide mit dir. Mein Vater würde es niemals gestatten, dass du unsere Verlobung brichst. Selbst dann nicht, wenn er wüsste, dass du und Aruula euch wirklich liebt. Das tut ihr doch, oder?« »J-ja.« Eri nickte. »Anders wäre es natürlich, wenn ich mit dem Häuptling spräche. Ich bin seine Lieblingstochter, und er hört auf mich.« Makejes Augen weiteten sich. »Das … das würdest du für mich tun?« Eri seufzte. »Wenn es nicht anders geht, ja. Dein Glück ist mir wichtiger als mein eigenes, denn ich liebe dich so sehr!« »O Eri!« Makeje stellte den Becher ab. Er breitete die Arme aus, wollte die unglückliche Frau an sein Verräterherz drücken. Doch Eri wich zurück. »Unter einer Bedingung«, sagte sie. »Ich möchte, dass du noch einmal genau überlegst, ob Aruula wirklich die richtige Frau für dich ist. Komm nach Sonnenuntergang zu den Felsenhöhlen, mein Liebster! Ich warte dort auf dich, um deine Entscheidung zu hören.«
4 � 18. Oktober 2517 Die Sonne sank. Draußen auf den Maisfeldern beendeten die Indianer ihre Arbeit, packten ihre Gerätschaften zusammen und machten sich auf den Heimweg. Goldenes Licht begleitete sie, hüllte die unendliche Weite der Ebene ein und brachte die Glaskuppel am fernen Horizont zum Glänzen. Unheimlich sah das rätselhafte Gebilde aus; beängstigend waren die weißen Zwillingsstreifen am Himmel, die ohne jedes Geräusch dahinzogen und sich vom Ende her auflösten. Ein schwarzer Punkt lief ihnen voran. Im Pueblo waren zu dieser Zeit alle auf den Beinen. Der Tag ging zur Neige, da gab es viel zu tun. Korbmacher und Deckenweber räumten ihre Stuben auf, Kinder fütterten die Ziegen, Frauen machten sich an die Essensvorbereitung. Überall in den Häusern wurden die Lagerfeuer entfacht. Ihr Rauch stieg aus den Deckenlöchern, schwebte ohne Eile an den Flanken des mächtigen Felsenhügels empor. Rot und golden flammte der Iskatán im letzten Tageslicht, ragte hoch und uneinnehmbar über dem kleinen Indianerdorf auf. Wie ein Hüter der Ewigkeit. Zu seinen Füßen krochen bereits erste Schatten um die Leitern, durch das Gassengewirr und hin zu der dunklen Bucht mit ihren Felsüberhängen. Makeje runzelte die Stirn, als er unter die Felsen trat. Er hatte erwartet, Eri hier zu treffen, doch es war niemand da. Der Schamane schnaubte unwillig. Hatte sie sich
einen Scherz erlaubt? Nein, das würde sie nicht wagen! Es schien wahrscheinlicher, dass Eri nicht gesehen werden wollte bei der verabredeten Aussprache. Sie war ja keine dumme Frau und konnte sich ausrechnen, was er ihr sagen würde. Vermutlich war sie in die Felsenhöhlen gegangen. Dort blieben Tränen ungesehen. Makeje fühlte sich leicht und beschwingt, als er durch den Höhleneingang schritt. Nie im Leben hätte er gedacht, dass Eri es ihm so leicht machen würde. Er mochte sie – jetzt noch mehr! –, aber sein Herz gehörte ihr nicht. »Eri?«, rief er ins Dunkel hinein. Keine Antwort. Makeje stieß an eine Fackel, die jemand auf den Boden gelegt hatte. Kopfschüttelnd griff er nach seinem Feuerstein und hockte sich hin. Es kam ihm albern vor, dieses neckische Zeichen am Boden. Lächerlich fast. So spielten Verliebte miteinander, und das traf ja wohl auf ihn und Eri kaum zu. Wusste sie das nicht? Mit der brennenden Fackel wanderte Makeje durch die Höhlengänge. Zwei, drei Mal rief er laut nach Eri, und mit jedem Mal wurde seine Stimme schärfer. Er wollte die Sache schnell hinter sich bringen; Aruula hatte sicher Hunger nach der Arbeit des Tages, und in seinem Haus wartete eine gute Mahlzeit. Und ein weiches Lager! Der Schamane horchte auf, als Geräusche an sein Ohr drangen. Na endlich, da war sie ja! Er beschleunigte seine Schritte. Weiter vorn tanzte Fackelschein aus einem Seitengang, und Makeje öffnete schon den Mund, um Eri anzusprechen. Doch dann begriff er plötzlich, warum er sie überhaupt gehört hatte: Die Indianerin unterhielt sich mit jemandem! Makeje erstarrte. Lautlos legte er die Fackel ab und huschte näher.
»Weißt du, ich liebe ihn wirklich sehr«, hörte er Eri sagen, und sein Herz machte einen Satz, als die Antwort kam. »Dann geht es dir genau wie mir«, sagte Aruula. »Ich liebe Maddrax über alles!« »Aber er wird sterben, und dann bist du frei für einen anderen!« Makeje hielt den Atem an. Jetzt! Jetzt würde Aruula von ihm sprechen! Was mochte sie sagen, und wie würde Eri reagieren? »Ich werde nie einen anderen lieben«, erwiderte die Barbarin. »Maddrax und ich, wir sind füreinander bestimmt. Die Schamanin meines Volkes hatte ihn mir vorhergesagt. Ein mächtiger Krieger wird kommen, von den Göttern gesandt! Und so ist es auch geschehen.« Aruula begann zu weinen. »Niemals werde ich einen anderen lieben! Nie!« »Und Makeje?«, fragte Eri zögernd. Die Barbarin lachte unter Tränen. »Er ist ein glücklicher Mann, weil du ihn liebst! Ich hoffe für ihn, dass er das erkannt hat.« »Das hoffe ich auch«, sagte Eri. Wie vor den Kopf geschlagen, wandte sich Makeje ab und ging. Er hatte genug gehört. Mehr als genug. So war das also! Aruula war nur freundlich zu ihm gewesen, weil er sich als Einziger um sie gekümmert hatte. Dabei dachte sie die ganze Zeit an niemand anderen als den verdammten Weißen, der einfach nicht sterben wollte. Was für ein Zufall, dass Aruula meiner Verlobten begegnet ist! Auch noch vor mir, so ein Glück, dachte Makeje. Fast hätte ich Eri gesagt, dass ich sie verlasse! Nur um anschließend von Aruula zu erfahren, dass sie mich nicht will!
Wütend schmetterte er seine Fackel an die Wand. Funken stoben. Diese Schmach! Ich hätte meinen Anspruch auf die Häuptlingsfedern beinahe für nichts verloren. Für NICHTS! Oh, wie ich sie hasse! Makeje war so außer sich, dass er nicht auf seine Umgebung achtete. Prompt stieß er am Höhlenausgang mit jemandem zusammen. »Vorsicht!«, warnte Hotake lächelnd. Der junge Indianer stieß ihm beide Hände vor die Brust. »Ihr verfluchten Weißen! Es stimmt, dass die Götter euch nur zu einem einzigen Zweck erschaffen haben.« »Damit ihr uns in die Arme laufen könnt?«, fragte Hotake. Makeje fauchte ihm das Lächeln aus dem Gesicht: »Nein. Damit unsere Pfeile ein Ziel finden!« Du bist als Nächster dran, dachte der Schamane beim Weitergehen. Irgendwie kriege ich dich klein, das weiß ich! Aber erst werde ich mich um Aruula kümmern. Niemand verschmäht Makeje ungestraft! Hotake sah ihm nachdenklich hinterher, als der Schamane zum Pueblo stapfte. Da war etwas in seinem Gang, in seiner Haltung … Er kocht vor Wut, dachte Hotake. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn Makeje hatte ein ziemliches Temperament. Nur – was gab es in den Felsenhöhlen anzutreffen, das einen derart aus der Fassung brachte? Hotake ließ diese Frage hinter sich, als er die Höhlen betrat. Soeben war die Sonne untergegangen, und das flammende Abendrot machte der ersten Dämmerung
Platz. Die Blaue Stunde begann, mit ihren diesigen Schatten, dem Zwielicht zwischen Tag und Traum. Es war eine magische Zeit, in der Erinnerungen zurückkamen an längst Vergangenes. Hotake nutzte sie, um sich seiner Arbeit zu widmen. Das tat er jeden Abend. Vor dem Geheimgang kniete er sich hin, um seine Fackel zu entzünden. Sie musste feucht geworden sein, denn es dauerte ewig lange, bis aus den Funken eine Flamme wurde. Hotake blies sie vorsichtig an, um sie zu vergrößern. Dann stand er auf. »Oh«, sagte er überrascht, als völlig unerwartet Eri aus der Dunkelheit kam. Er hatte die Indianerin nicht nahen hören. Sie bewegte sich lautlos, nach Art ihres Volkes, und Hotake beneidete sie um ihre angeborene Leichtfüßigkeit. Höflich trat er einen Schritt zurück, um Eri passieren zu lassen. Seine Augen weiteten sich, als hinter der Häuptlingstochter eine zweite Frau erschien. Aruula ging schweigend an ihm vorbei, und er senkte den Blick. Deshalb war Makeje so wütend, dachte Hotake. Er hat die beiden in den Höhlen angetroffen. Was wollten sie da? Wieso reden sie überhaupt miteinander? Ich hätte eher erwartet, dass sie sich die Augen auskratzen, schließlich sind sie Rivalinnen … oder nicht? Hotake fuhr herum. Die Frauen gingen einträchtig nebeneinander davon, also musste in den Höhlen etwas vorgefallen sein. Etwas, das mit Makeje zu tun hatte. Was hatte er gesagt? Die Götter haben euch Weiße nur erschaffen, damit unsere Pfeile ein Ziel finden! »Du bist in Gefahr!«, flüsterte Hotake hinter Aruula her. »Ich kann es spüren.«
Als ob sie ihn gehört hätte, drehte sich die Barbarin plötzlich um. Hotake sah sie an. Er zögerte. Eigentlich hatte er kein Recht, sich einzumischen. Das konnte sogar peinlich enden, denn er wusste nicht, was tatsächlich geschehen war. Aber er wusste, dass er sich auf seinen Instinkt verlassen konnte, und so deutete Hotake stumm auf den Geheimgang. Dann wandte er sich ab. »Glaubst du, es hat funktioniert?«, fragte Eri. »Ich denke schon.« Aruula nickte, sah sich flüchtig um. »Makeje weiß jetzt, dass er einen Fehler gemacht hat. Er ist klug und wird sich besinnen.« Eri seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dir ebenso helfen!« »Das kannst du.« Aruula blieb stehen, ergriff die Hände der Indianerin. »Sag mir, was das Geheimnis ist! Wie kann ich Maddrax daraus befreien?« Eri schüttelte den Kopf. »Ich kenne kein Geheimnis. Ich weiß nur, dass der Iskatán über uns wacht, und dass er unsere Feinde in die Höhlen lockt, um sie zu töten.« »Aber wir sind nicht eure Feinde!« »Vielleicht war es ein Versehen«, meinte Eri unglücklich. »Das akzeptiere ich nicht!« Aruula blickte trotzig den mächtigen Felsen hoch. Blaue Schatten umspielten seine Kanten und Vorsprünge. »Ich lasse nicht zu, dass Maddrax aus Versehen stirbt! Niemals!« »Wo gehst du hin?«, rief Eri ihr nach, als sie sich eilig in Bewegung setzte. »Zu ihm«, scholl es knapp zurück. Aruula hatte das Handzeichen Hotakes gesehen, diese
heimliche Aufforderung ohne Worte, ihm in die Höhlen zu folgen. Sie wusste nicht, ob sie ihm vertrauen konnte, doch das spielte allmählich auch keine Rolle mehr. Maddrax lief die Zeit davon. Er war seit zwei Tagen und Nächten ohne Nahrung und Wasser, das Fieber zehrte ihn aus, und in seinem Blick tanzten die Dämonen des Wahnsinns. Wahrscheinlich würde er die Nacht nicht überleben. Machte es da noch einen Unterschied, ob Aruula vielleicht in eine Falle lief bei ihren letzten, verzweifelten Versuchen, ihn zu retten? Nein. Die Barbarin fand eine halb verbrannte Fackel vor den Höhlen. Makeje hatte sie dort zurückgelassen, als er wütend davonschritt. Aruula entfachte sie neu und wandte sich dann den Felsen zu, auf die Hotake gezeigt hatte. Sie wusste inzwischen von dem Parallelgang, der die Höhlen begleitete. Nur den Eingang hatte sie noch nie gesehen. Er war gut getarnt. Als sie ihn fand, ging sie ohne Zögern hinein und wanderte los. Der Gang war anders als die Höhlen; schmaler, mit glatteren Wänden. Von irgendwo wehte ein Luftzug her, ließ die Fackel leise fauchen. Ihr unstetes Licht holte das rätselhafte Band aus der Dunkelheit, das sich an den Felsen entlangzog, breit wie ein Schultertuch, ungefähr in Augenhöhe. Winzige Zeichen drängten sich dort aneinander, sorgfältig eingekratzt. Reihe um Reihe. Aruula hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Weiter vorn krümmte sich der Gang nach links, und von dort schimmerte ein Licht. Die Barbarin beschleunigte ihre Schritte. Sie fand Hotake hinter der Biegung, vor der Wand stehend, einen scharfen Stein in der Hand. Mit ihm kratzte er die Zeichen in den Fels.
Der Mann mit den Adlerfedern sah nur flüchtig hin, als Aruula neben ihn trat. Er hatte seine Fackel in eine Felsspalte gesteckt, auf der anderen Seite des Ganges. Ihr Licht zauberte einen Schatten aus seiner Hand, der wie ein Vogelkopf aussah, mit dem spitzen Stein als Schnabel. Die Barbarin lächelte unwillkürlich. Es hatte etwas Magisches, dem Schattenvogel beim Schreiben zuzusehen. »Danke«, sagte Hotake auf einmal, ließ die Hand sinken und trat zurück. »Danke – wofür?«, fragte Aruula verwirrt. »Dass du mich nicht unterbrochen hast.« Er deutete auf die Wand. »Ich muss mich konzentrieren, und das ist nicht leicht, wenn jemand neben mir steht und redet.« »Wozu dient diese Arbeit?« Aruula betrachtete die Zeichen nachdenklich, strich mit dem Finger darüber. Doch sie verrieten ihr Geheimnis nicht. »Ich schreibe die Geschichte der anaa sází auf«, sagte Hotake, während er einen Becher mit Wasser füllte. Er hielt ihn Aruula hin. »Anasazi«, wiederholte sie fragend. »Ja.« Hotake nickte. »Das bedeutet Feinde der Alten. Es ist der Name der Indianer.« Aruula trank einen Schluck, runzelte die Stirn. »Wenn die Indianer die Feinde sind – wer sind dann die Alten?«, fragte sie, ohne zu ahnen, dass vor zwei Tagen ein kleiner Mechicojunge namens Felipe genau dasselbe hatte wissen wollen. Hotake antwortete nicht darauf. Stattdessen sagte er: »Hör zu, Aruula, ich weiß nicht, was du mit Eri besprochen hast, und ich will es auch nicht wissen. Aber ich habe Makeje gesehen, als er aus den Höhlen kam. Er
war außer sich vor Zorn, und er hat etwas gesagt, das mir zu denken gab. Ich glaube, du bist in großer Gefahr. Vielleicht solltest du fliehen.« Aruula schüttelte den Kopf. »Ich gehe nirgendwohin ohne Maddrax.« »Auch wenn es deinen Tod bedeutet?« Aruula gab den Becher zurück, und für einen Moment berührten sich ihre Hände. Sie hob den Kopf, sah Hotake in die Augen. »Maddrax und ich, wir gehören zusammen! Das ist von den Göttern so gewollt.« »Hmm-m.« Hotake bückte sich nach seinem Stein. Aruula dachte, dass er sich wohl wieder an die Arbeit machen wollte, auf die er sich konzentrieren musste. Man durfte ihn dann nicht mehr ansprechen. Also fragte sie hastig: »Wieso verstehe ich eigentlich eure Sprache?« »Es ist eine Begleiterscheinung.« Hotake zögerte, sah die Barbarin an. Er merkte, dass sie mit diesem Wort nichts anfangen konnte, und er schien fast geneigt, noch etwas hinzuzufügen. Doch dann entschied er sich anders. »Verzeih mir«, sagte er sanft. »Aber du würdest es nicht verstehen.« Aruula nickte stumm, sah auf, und ihre Augen waren voller Tränen. »Wirst du mir helfen, Hotake? Zeigst du Maddrax und mir den Weg nach Hause?« »Ich kann es nicht.« »Aber wir haben euch doch nichts getan! Lass uns doch bitte gehen!« Hotake wandte sich ihr zu, seufzte. »Ich kann es wirklich nicht. Es ist nicht so, dass ich es nicht will.« Er wies nach oben. »In diesem Felsenhügel sind Mächte am Werk, die niemand beherrscht.« »Aber du kennst sie.« Aruula wischte ihre Tränen fort.
»Und du verstehst sie.« »Ja.« »Dann überlege es dir doch! Maddrax hat es nicht verdient zu sterben! Er ist ein guter Mann. Bitte! Hilf ihm!« Sie sah so flehentlich aus. Voller Schmerz. Und so wunderschön. Hotake schämte sich für diesen Gedanken. Hastig senkte er den Blick, damit Aruula nicht mitbekam, dass er im Angesicht ihres großen Kummers an Dinge dachte, die einem anderen Mann gehörten. Laut sagte er: »Du solltest jetzt gehen.« »Ja. Zu Maddrax.« Die Barbarin wandte sich ab, hielt inne. Wahllos zeigte sie auf ein paar Zeichen. »Was steht da?« Hotake wurde verlegen. Er räusperte sich. »Äh, da steht: Den habe ich vergessen.« Erstaunt sah ihn Aruula an. »Ich dachte, du schreibst etwas auf, damit sich die Leute erinnern!« Kopfschüttelnd ging sie davon. Hotake schaute ihr lange nach, selbst noch, als sie schon verschwunden war. Unschlüssig spielte er mit dem Stein in seiner Hand, warf einen Blick auf die Fackel, auf den Boden, auf die Zeichen an der Wand. Und schließlich traf er eine Entscheidung. Er atmete tief durch, nickte entschlossen, legte den Stein am Boden ab. Als sich Hotake aufrichtete, fiel sein Blick auf die so unglücklich ausgewählte Schriftstelle Den habe ich vergessen. Der Mann mit den Adlerfedern lächelte, strich im Fortgehen mit dem Finger darüber. Es wurde still in den Gängen. Dunkelheit umhüllte die Zeichen an der Wand, wie so oft zuvor, und nur der Wind streichelte
noch das Felsgestein des Iskatán. Dieser immerwährende Wind, der schon die ersten Worte berührt hatte und noch da sein würde, wenn die letzten geschrieben wurden. Von einem ungewöhnlichen Mann, der die Geschichte der Anasazi kannte wie kein zweiter, denn er war seit Anbeginn an ihrer Seite: Der Mann, den die Zeit vergaß. Mein Name ist Inya Hotake. Es ist nicht mein richtiger Name, den habe ich vergessen. Die Indianer gaben ihn mir, und heute, da ich diese Worte in den Stein ritze, bin ich stolz darauf. Das war nicht immer so. Ich bin ein Sohn der Alten, der weißen Herrscher auf meinem Planeten. Auch wenn sich dort niemand mehr an mich erinnert, glaube ich doch, dass sie eines Tages hierher zurückkehren werden. Für sie schreibe ich die Geschichte der Indianer auf, damit sich der Fehler nicht wiederholt, der unsere beiden Völker zu Feinden machte. Denn in Wahrheit sind wir Brüder. Ein Volk, eine Herkunft. Das wussten wir lange Zeit nicht. Wir wussten nur, dass kein anderes Lebewesen auf unserem Planeten eine genetische Verwandtschaft mit uns besaß. Es war, als hätte uns jemand irgendwo aufgelesen und wahllos wieder abgesetzt. Wir waren Fremde in unserer Heimat, und die Indianer waren es auch. Mein Volk hasste sie dafür umso mehr, denn sie nahmen uns unsere Einmaligkeit und erhoben sich in den Glanz eines Rahmes, der ihnen nicht zustand. So glaubten wir, die Alten. Wir bauten Millionenmetropolen, eroberten unseren Ozean und den Himmel. Wir besaßen Waffen von ungeheuerer Zerstörungskraft, unsere Technik und Wissenschaft war hoch entwickelt. Sie hingegen hausten in den Wäldern, an den Berghängen, in den Weiten des Landes. Sie waren überall, und überall im Weg. Anaa sází nannten wir sie, das bedeutet
Feinde der Alten. Wir hielten sie für ein homogenes Volk, denn niemand von uns hatte sich je mit ihnen oder mit ihrer Kultur beschäftigt. Ich dachte, sie hätten keine. Durch die Weiterentwicklung der Luftfahrt machten wir eines Tages eine unglaubliche Entdeckung. Sie war so groß, so ungeheuerlich, dass mein Volk sie anfangs als Halluzination verwarf. Unsere Maschinen flogen inzwischen mehrfache Schallgeschwindigkeit, und bei einem dieser Flüge entstand vor dem Cockpit ein Loch in der Luft. Der Pilot beschrieb es als zweidimensionalen Fleck, der sich vergrößerte, in die dritte Dimension fiel und den Blick auf eine fremde Landschaft freigab. Niemand glaubte ihm. Die Angelegenheit beschäftigte unsere Wissenschaftler, und sie kamen zu dem Schluss, dass das Loch in der Luft eine Raum-Zeit-Anomalie sein könnte. Ein Tor, das vielleicht schon immer da gewesen war und nur sichtbar wurde, wenn man mit der richtigen Geschwindigkeit, aus Westen kommend, darauf zuflog. Doch wo führte es hin? Und was befand sich auf der anderen Seite? Viel Zeit verstrich, ehe es uns gelang, den schicksalhaften Flug so exakt zu wiederholen, dass sich die Anomalie ein zweites Mal öffnete. Hinter ihr lag nicht, wie wir erwartet hatten, ein fremdes Land. Wir stießen vielmehr auf einen Planeten. Und es war nicht irgendeiner! Zunächst konnte es niemand glauben. Es erschien uns zu fantastisch, zu gewaltig in seinem Belang. Doch nach entsprechenden Untersuchungen stand fest, dass wir durch Zufall unseren Ursprung entdeckt hatten. Die Erde. Wie enttäuscht war mein Volk, als es die Berge, Wälder und Ebenen erforschte! Es schien, als lebten auf der Erde ausschließlich Indianer. Heute weiß ich, dass dieser falsche
Eindruck zustande kam, weil wir beim ersten Besuch im Amerika des Jahres 1167 landeten. Damals gab es dort noch keine Siedler. Nur indianische Ureinwohner. Wir fanden später heraus, dass auf den anderen Kontinenten auch andere Rassen existierten, darunter Weiße wie wir. Doch sie erwiesen sich als ungeheuer rückständig. Barbarisch fast. Und so dumm. Wir waren ihnen in unserer Entwicklung um viele Jahrhunderte voraus, deshalb verwarf mein Volk den Gedanken an eine Umsiedlung wieder, zumindest den an unsere eigene. Ich kann nicht sagen, welcher Verantwortliche den Beschluss fasste, an unserer Stelle die anaa sází auszufliegen. Das geschah lange vor meiner Zeit. Als ich meine ersten Flüge absolvierte, hatten wir schon viele umgesiedelt. Wir besaßen mittlerweile Tausend Transportmaschinen, die Überschall flogen und hundert Passagiere aufnehmen konnten, Hundertzwanzig, wenn man sie zusammenpferchte. Ich hatte keinerlei Bedenken, eben dies zu tun. In den Tagen meiner Jugend zählte nur der fantastische Flug, dieser Sprung durch ein Loch im Himmel, das sich öffnete und den Blick auf die Erde freigab. Dass es Menschen waren, die sich da verängstigt und betend jenseits der Schleuse meines Cockpits Zusammendrängten, wollte ich mir nicht eingestehen. Ich habe die anaa sází nie wirklich gehasst, solch ein starkes Gefühl waren sie mir nicht wert. Was ich für sie empfand, war die gleiche Art von Verachtung, die man auch in Dunkelheit und Schmutz herumkriechendem Ungeziefer entgegenbringt. Denn das waren die Feinde für mein Volk, die Alten: Ungeziefer. Heute weiß ich es besser. Wir haben eine furchtbare Sünde begangen, als wir uns über die Indianer erhoben. Wir glaubten, wertvoller zu sein als sie; klüger, kultivierter. Das
wollten wir beweisen und haben doch nur unsere Dummheit unter Beweis gestellt. Wir mögen Häuser bauen, die in den Himmel ragen, und Flugzeuge, die schneller sind als der Schall. Aber wenn es darum geht, ein simples Lagerfeuer zu entfachen oder die Stimme des Schöpfers im Wind zu hören, sind sie uns unvergleichlich überlegen. Und wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt, dann können uns, falls überhaupt, nur die Gebete der Indianer retten. Um 1330 n. Chr. südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko Es war so still in der Ebene. Sie hatte keinen Namen, war nur eine unbedeutende karge Fläche auf halbem Weg zwischen Silver City und Las Cruces; zwei Städten, die es noch gar nicht gab. Tief im Westen ragten Hunderte Felsenhügel auf, eine endlose Reihe, von Hitzeschleiern umhüllt. Richtung Süden und Osten war der Horizont ein flacher Strich. Brennend heiß stand die Sonne im Zenit, verdorrte das spärliche Grün und brachte die Luft zum Flimmern. Manchmal sah es so aus, als würde sich zwischen Steinen und Gräsern etwas bewegen. Doch das war ein Trugbild. Hier bewegte sich nichts. Es war niemand da. Außer den Zikaden. Man bekam sie selten zu Gesicht, dafür hörte man sie umso intensiver. Ohne Pause und in immer gleichem Rhythmus erzeugten sie ihre artspezifischen Laute, von morgens bis abends, an jedem sich bietenden Platz. Es war unmöglich, dem schrillen Zirpen zu entgehen, und wer sich auskannte, der wollte das auch nicht, denn Zikaden waren die Wächter der Prärie. Sie verstummten, wenn Gefahr drohte. Hier und da standen verstaubte mannshohe Kakteen
mit abgewinkelten Seitentrieben. Zu ihren Füßen fand man gelegentlich die Knochen verdursteter Vierbeiner. Halb versunken lagen sie da im endlosen Meer der Steine. Ihre Schädel leuchteten blendend weiß, schienen immun zu sein gegen den Staub, der sich überall sonst ablagerte. Wenn ihn nicht gerade ein Windstoß verwirbelte. So wie jetzt. Heiß und heftig kam er dahergefegt und holte das einzige größere Lebewesen im Umkreis von hundert Metern von den Beinen. Es war eine Maus. Vertrocknete Stängel bewahrten sie gerade noch vor dem Wegfliegen, und sie quittierte den Überraschungsangriff mit verärgertem Pfeifen. Schnell übers Gesicht geputzt, dass die Knopfaugen glänzten und der Bart wieder in alle Richtungen abstand. Dann flitzte sie zu dem großen fetten Käfer, den ihr der Wind entrissen hatte, nahm ihn auf und setzte ihren Weg fort. Die Maus war nicht zum Spaß unterwegs in der brütenden Hitze. Es gab einen Kaktus in der Nähe, dem war ein Stachelarm abgebrochen, und dort, im Schatten dieses höchst willkommenen Zusatzfutters, hatte sie ein Loch gegraben. Fünf Junge lagen darin. Winzige Mäusekinder, gut versteckt vor der unbarmherzigen Sonne, die das Land ausdorrte und so manches Leben vorzeitig enden ließ. Einen Vater hatten die Kleinen nicht mehr, der war den Schlangen zum Opfer gefallen, die hier nachts mit raschelnder Schuppenhaut um die Steine glitten. Seither trug das Muttertier allein die Verantwortung. Es war eine schwere Bürde für so kleine Schultern. Der Nachwuchs musste ständig gefüttert werden, und er brauchte
Proteine, doch die steckten in Käfern, nicht in Kakteen. Deshalb hatte sich die Maus am helllichten Tag auf die Suche nach den krabbelnden Eiweißträgern gemacht. Sie aufzuspüren stellte kein großes Problem dar, auch die Jagd als solche nicht – es war der Rückweg, der zur Todesfalle werden konnte! Sehr leicht sogar, denn in der kargen Ebene waren noch andere Jäger unterwegs. Einer von ihnen schwebte bereits heran; lautlos, in einer Höhe von zwanzig Metern. Es war ein Präriefalke. Schlanke Schwingen hielten ihn zuverlässig am Platz. Noch waren die Krallen eingezogen, kippelte der Fächerschwanz im Aufwind. Doch sein Opfer hatte der Raubvogel längst erspäht. Er wartete nur noch auf den richtigen Moment. Bald schon würde er seine Flügel anlegen und vom Himmel fallen wie ein Stein. War er einmal unterwegs, gab es kein Entkommen mehr. Doch die Maus war nicht unerfahren, deshalb prüfte sie außer der Witterung ihres Umfelds auch stets die höheren Gefilde. Als sie den Falken entdeckte, huschte sie los. Sie war flink und eigentlich durchaus in der Lage, sich vor solchen Luftangriffen zu retten. Doch der fette Käfer schränkte sie ein, verminderte ihre Beweglichkeit. Für sie war er ein stattliches Gewicht, das es zu schleppen galt. Für ihre Kleinen bedeutete er Nahrung, einen weiteren gewonnenen Tag im Überlebenskampf. Vielleicht der entscheidende. Morgen würden sie größer sein, stärker, brauchten vielleicht keine Hilfe mehr. Wer wusste das schon. Aber heute … Die Maus hatte Angst, das hörte man an ihrem erregten Piepsen. Trotzdem ließ sie den Käfer nicht los, dieses
wertvolle Futter. Mutterinstinkt trieb sie vorwärts, durch ein kantiges, unüberschaubares Gebirge. In Menschenhand gelegt waren es nur Steine, leicht beiseitezuwerfen. Aus der Mäuseperspektive jedoch wurden daraus riesige Brocken, die man alle erst überwinden musste, um nach Hause zu kommen. In Sicherheit. Ein paar Meter noch. Schlagartig endete das Zirpen der Zikaden. Der Falke legte die Flügel an, kippte nach vorn. Piepsend wuselte die Maus dahin. Schnell, nur schnell zum Versteck unter dem angeknabberten Kaktusarm! Der Schatten seiner Mutterpflanze verdunkelte bereits ihren Weg. Gleich hatte sie es geschafft. Es war nicht mehr weit. In spektakulärem Sturzflug kam der Raubvogel herunter, tiefer und tiefer. Er fuhr die Krallen aus, tauchte in den Kaktusschatten ein, kreuzte ihn. Es verwirrte die Maus, als ein zweiter Schatten auf ihren Weg fiel. Sie wollte zur Seite springen. Doch wohin? Der Falke hatte schon fast den Boden erreicht. Ruckartig breitete er die Flügel aus, schwenkte die Krallen nach vorn und packte zu. Ein einziger Schrei, dann war es vorüber. Noch im Tod hielt die kleine Wüstenmaus das Futter für ihren Nachwuchs fest. Es würde nun gemeinsam mit ihr in den hungrigen Schnäbeln zweier Jungfalken landen, deretwegen der Altvogel auf die Jagd gegangen war. Flatternd kam er vom Boden hoch, schwenkte nach Norden. Zwei, drei Meilen entfernt ragte ein einzelner Felsenhügel auf. Unterhalb seiner Kuppe, an einer
sicheren und schattigen Stelle, befand sich der Horst. Als das Weibchen den Gefährten kommen sah, strich sie dort ab. Die beiden begrüßten sich mit dem typischen Falkenruf, kreisten einige Sekunden im Flug balzend umeinander und trennten sich wieder. Der männliche Vogel steuerte die Felsformation an. Über ihr hing plötzlich ein Fleck in der Luft. Seltsam stofflich und zweidimensional schwebte er senkrecht im Nichts. Man konnte ihn für eine optische Täuschung halten, vielleicht hervorgerufen durch einen Fremdkörper auf der Netzhaut. Doch der Fleck war real. Er vergrößerte sich fließend nach oben und unten, wurde breiter. An seinen Rändern entstand eine hellbraune Aura, ähnlich versengtem Papier, als wäre die Luft zu sichtbarer Materie geworden und würde durch Hitzeeinwirkung schmelzen. Die Fläche innerhalb der Ränder erweiterte sich in die dritte Dimension, machte aus dem anfänglichen Fleck ein tiefes Loch. Einen Moment lang war darin etwas zu sehen. Wüstenlandschaft, dunkle Wolken, Regen. Urplötzlich schoss ein riesiger Körper heraus und vorbei. Er war hinter dem Horizont verschwunden, noch ehe das Loch kollabierte und sich buchstäblich in Luft auflöste. Etwas allerdings blieb zurück: Feuer! Parallelstreifen voll Stückchen brennender Materie hingen auf einmal über der Prärie. Sie fielen schnell auseinander, sanken als weiße Rauchspiralen dem Boden entgegen. Doch sie erreichten ihn nicht. Ein ungeheuer starker, glühender Windstoß fegte unter ihnen her, löste sie auf. Der Falke wurde erfasst und Hunderte Meter weit fortgeschleudert – mit solchem Tempo, dass er die Maus noch in den Fängen hielt, als
der Druck ihn bereits an die Felsen schmetterte. Die Hitze verkohlte den Vogel zu Staub, brannte ihn ein. Dann erst kam der Knall. Lauter als jeder Donner explodierte er, wie der Peitschenschlag einer erbosten Gottheit. Er hallte eine Weile nach und verging. Es war so still in der Prärie. Brennend heiß stand die Sonne im Zenit, schien hinab auf das Land ohne Namen mit seinen kleinen Tragödien und den unerklärlichen Geschehnissen, die niemand sah. Irgendwo im staubtrockenen Gras begann eine Zikade zu zirpen…
5 � Um 1295 n. Chr. Ortszeit südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko »Verdammt! Was ist hier los?«, fragte der Pilot nervös und klopfte an die Verglasung einiger Cockpitanzeigen. Sie bewegten sich nicht. »Schub, Antrieb, Sauerstoff … ist doch alles da! Wieso sind die Anzeigen tot?« »Vielleicht ein Nebeneffekt beim Eintritt in die RaumZeit-Anomalie«, meinte der Copilot. Sein Vorgesetzter sah ihn überrascht an. »Ist das Ihr erster Flug?« »Nein.« »Dann quatschen Sie nicht solchen Blödsinn! Aktivieren Sie die Backup-Elektronik! Systemcheck!« Der Pilot war ein erfahrener Mann. Er hatte schon viele Transportflüge von seiner Welt zur Erde gemacht, und er kannte die Effekte der rätselhaften Verbindung zwischen den Planeten gut. Einer davon war das Phänomen der relativen Zeitlosigkeit: Die Maschine raste mit dreifacher Schallgeschwindigkeit durch ein Loch im Raum, das tausendmal dünner war als Papier. Trotzdem hatte ihr Pilot alle Zeit der Welt, um seinen Copiloten anzublaffen. Und sich zu fürchten. Etwas stimmte nicht, das lag auf der Hand, und der Pilot fand keine Erklärung dafür. Sein Transporter, ein Kurzstarter mit Senkrechtlandekapazität, hatte nie zuvor Schwierigkeiten gemacht beim Durchflug durch die Anomalie. Er war kantenlos gebaut wie ein Stealth, hatte beiklappbare Tragflächenenden und einen
Triebwerkausstoß mit vorgeschalteter Kühlung, der über die komplette Hinterkante der Flügel erfolgte. Geflogen wurde mit dem fly-by-wire-System. Es hieß nicht so, denn der Transporter war kein irdisches Fabrikat, aber es funktionierte wie sein Gegenstück in der amerikanischen B-2, die jetzt – hier und heute – noch Jahrhunderte von ihrer Entwicklung entfernt war. Bei diesem System wurden keine mechanischen Flugkorrekturen mehr durchgeführt. Der Pilot gab stattdessen Kommandos in den Bordcomputer ein, und der kontrollierte die Steuerung. Solange er funktionierte. »Backup reagiert nicht«, meldete der Copilot. »Unmöglich! Das ist ein eigenständiges System, unabhängig von der Bordelektronik. Überprüfen Sie es noch mal!« »Ich schwör's Ihnen, da tut sich nichts! Wir sollten auf manuelle Steuerung gehen.« »Hören Sie, was wir sollten oder nicht, das bestimme wohl immer noch …« Der Pilot brach ab, erstarrte mit offenem Mund. Er hatte sich seinem Copiloten zugewandt, der über die Instrumente gebeugt saß und Befehle in die Tastatur des Bordcomputers tippte. per junge Mann schien es nicht zu merken. »Sehen Sie mich an«, ächzte der Pilot. Und noch einmal, lauter: »Sehen Sie mich an!« Fragend hob der Copilot den Kopf. Lichtwürmer umhuschten ihn, dünn und unstet. Sie waren überall: auf seinem Schutzanzug, den Handschuhen, dem Helm. Und im Helm, auf seinem Gesicht. Der Copilot folgte den Blicken seines Vorgesetzten, fuhr mit einem Aufschrei hoch. Er streckte die Hände
vor. »Verdammt, was ist das?«, fragte er. Die unheimliche Erscheinung spannte Lichtbögen zwischen seinen Fingern. Sie tanzten und tauchten in den Handschuh ein, kamen auf der anderen Seite wieder heraus. »Spüren Sie etwas?« Der Pilot griff automatisch nach dem Funkgerät, stoppte jedoch auf halbem Weg. Innerhalb der Anomalie gab es keine Verbindung zur Basis. »Nein. Seltsam, oder?« »Seltsam?!«, rief der Pilot gereizt. »Mann! Sehen Sie mal, wo das herkommt!« Er wies auf das Cockpitfenster. Einige Meter vor der Nase des Flugzeugs schwebte ein Fleck in der Luft, seltsam stofflich und zweidimensional. Er schien unveränderlichen Abstand zu halten, trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der die Maschine auf ihn zuflog. In Wahrheit rührte er sich keinen Millimeter von der Stelle: Hinter dem Heck hing sein seitenverkehrtes Abbild, die Innenansicht seiner Rückseite. Das Flugzeug steckte innerhalb der Raum-Zeit-Anomalie. Der Fleck vor dem Cockpit bildete bereits einen Rand aus, braun wie versengtes Papier, was anzeigte, dass der Austritt aus der Anomalie kurz bevorstand. Von diesem braunen Rand zuckten Lichtwürmer auf die Maschine zu. »Sie zapfen Energie aus dem Rand! Die Farbdichte pulst!« Hektisch versuchte der junge Mann, die Lichter von sich abzuwischen. Sie flohen vor seiner Hand, als hätten sie ein Eigenleben. »Verflucht! Was passiert da draußen?« »Keine Ahnung.« Der Pilot zog das versenkbare
Steuerhorn hoch und ließ es einrasten. »Auf jeden Fall stört es die Bordelektronik! Das wird mir jetzt zu heiß! Ich schalte um auf manuelle Steuerung.« Er nickte dem Jüngeren zu. »Schnallen Sie sich an!« Der Copilot griff nach dem Sicherheitsgurt. Er ruckte daran, ein Mal, zwei Mal, dann gab er auf. »Klemmt!«, meldete er nervös. Er zögerte. »Sagen Sie, halten Sie es für möglich, dass die Anomalie instabil wird?« »Na, das wollen wir nicht hoffen!« Der Pilot lachte. Es klang gehetzt. »Die Welt da vorn gehört den anaa sází! Möchten Sie den Rest Ihres Lebens dort verbringen?« »Eher sterbe ich«, sagte der Copilot verächtlich. Ein Ruck ging durch die Maschine. »Was war das?«, fragte er erschrocken. Draußen vor dem Bug öffnete sich die Anomalie, zauberte mitten in den regnerischen grauen Himmel das Bild einer Landschaft. Karger, steiniger Boden, mannshohe Kakteen, Felsenhügel in der Ferne, und über allem gleißender Sonnenschein. Man spürte die Hitze förmlich. »O nein! Nein!« Hektisch wandte sich der Pilot dem Cockpit zu, tastete über die Instrumente. Höhenruder, Kabinendruck, Geschwindigkeit … alle Anzeigen sanken auf null, wurden dunkel. Die Bordelektronik spielte verrückt. Ein System nach dem anderen schaltete sich ab. Plötzlich flammte ein grelles Warnlicht auf. Der Pilot riss seinen Helm herunter, wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Mein Gott! Die Triebwerke brennen!« »Notlandung!«, keuchte sein Begleiter entsetzt. »Ja, wie denn, Idiot?« Der Fünfzigjährige wies auf die sterbenden Instrumente. »Wenn ich die Maschine zu
schnell aus dem Überschall hole, reißt es sie in Stücke!« »Und wenn Sie es nicht tun, sind wir tot!«, schrie der Copilot zurück. Er weinte fast. »Los, Mann, worauf warten Sie noch?« Der Pilot dachte an die Zeit, die er benötigen würde, um den Transporter auf ein ruhiges Tempo zu drosseln, einen Landeplatz zu suchen. Er dachte auch an die vollen Tanks und daran, was geschehen würde, wenn der Brand sie erreichte. Er zögerte einen Moment. Eine Winzigkeit nur, die er brauchte, um seine Angst und Verzweiflung gegen etwas Großes einzutauschen. »Raus hier!«, sagte er plötzlich und wies mit einem Kopfnicken auf die Cockpitschleuse. »Was?« Der junge Copilot sah ihn verständnislos an. »Ich sagte, raus hier! Gehen Sie nach hinten! Sofort! Das ist ein Befehl!« Der Pilot griff nach einem kleinen Gerät unter seiner Jacke, zog sich die Kette über den Kopf. »Hier! Nehmen Sie das Titlahtín mit.« Er grinste schief. »Und verlieren Sie es nicht!« Der junge Mann suchte nach Worten, das sah man ihm an. Doch es gab keine, und es war auch keine Zeit mehr. Die Maschine begann zu trudeln. Er hielt sich fest, tastete nach dem Schalter, der die Schleuse öffnete, trat hinein. Die hintere Tür funktionierte schon nicht mehr. Er musste sie von Hand öffnen. Lärm und Gestank schlugen ihm entgegen. Hundertzwanzig Indianer drängten sich im überfüllten Transportraum zusammen; Männer, Frauen und Kinder. Sie schrien, sie beteten. Manche erbrachen sich vor Angst. Der Copilot hielt sich an der Schleusentür fest und starrte seine lebende Fracht hasserfüllt an. Als wäre sie verantwortlich für das, was geschah.
Die Maschine ging in den Sinkflug, und während sie das tat, öffnete sich wie von Geisterhand ihre riesige hintere Laderampe. Panik brach aus. Die Indianer klammerten sich verzweifelt aneinander. Sie suchten nach Halt. Es gab keinen. Der Copilot sah die Flammen über der Rampe, den schwarzen Rauch, wegbrechende Teile. Unter dem brennenden Flugzeug raste das Land vorbei; braun, verdorrt, tödlich hart. Die Maschine schwenkte auf einen Fluss ein. Er war kurz zu sehen, dann kippte sie nach vorn. Tiefer, tiefer, rasend schnell dem Wasser entgegen. Der Pilot fing sie erst in letzter Sekunde ab, richtete sie aus. Dann schaltete er auf Gegenschub. Der Ruck riss alle von den Füßen. Metall kreischte, Nieten schossen durch den Frachtraum, in der Verkleidung platzten Risse auf. Plötzlich brüllten die Triebwerke erneut: Der Pilot zog die Maschine steil hoch. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, die Passagiere innerhalb der paar verbleibenden Sekunden hinauszubefördern – Verhandeln wäre zwecklos gewesen. Für die Menschen gab es kein Halten mehr. Sie rutschten durch den Frachtraum, durch die Rampe, hinaus ins Freie. Es ging alles so furchtbar schnell. Hundertzwanzig Indianer und ein weißer Copilot stürzten in die Tiefe. Sie hatten den Fluss noch nicht erreicht, da verschwand die Transportmaschine mitsamt ihrem heldenhaften Piloten in der Ferne, irgendwo hinter den hitzeflimmernden Felsenhügeln. Niemand hörte die furchtbare Explosion. Nie zuvor habe ich solche Todesangst verspürt wie in jenen Momenten. Ich war umgeben von fallenden Körpern; die
Indianer regneten mit mir vom Himmel wie dunkle Hagelbrocken. Über mir zog die brennende Maschine hoch, und der Hitzeausstoß ihrer Triebwerke schmolz den oberen Hagel einfach weg. Ich konnte die Ascheflocken sehen, wie sie im Wind davontanzten. Unter mir klatschten erste Körper aufs Wasser, mit solcher Wucht, dass Fontänen aufstiegen. Ihre Gischt schimmerte blutig in der grellen Sonne. Ich hatte das Gefühl, mich in Zeitlupe zu bewegen. Ich weiß noch, dass mir während des Falls die Frage durch den Kopf ging, warum ein sanftes, weiches Element wie das Wasser felsenhart wird, wenn man aus großer Höhe darauf aufschlägt. Mir fiel ein, dass es wichtig war, den Widerstand möglichst klein zu halten, sich aufzurichten. Dann endete die Zeitlupe, und ich stürmte in den Fluss. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Beine. Ich glaubte, sie wären gebrochen, und mir wurde so übel, dass ich fast das Bewusstsein verlor. Gurgelnd schlossen sich die Fluten über mir. Ich sank und sank. Wasser drang in meinen Helm, und ich zerrte ihn herunter. Ich musste mich auch aus dem Anzug winden. Er war zu schwer, hinderte mich am Auftauchen. Eigentlich hätte ich überglücklich sein müssen, denn ich lebte. Doch daran dachte ich nicht. Meine Lungen brannten wie Feuer, ich sah Ringe vor den Augen, und in meinen Ohren waren dumpfe Geräusche. Ich musste atmen, brauchte Sauerstoff. Nichts anderes zählte. Als ich die Oberfläche durchstieß und nach Luft rang, bot sich mir ein Bild des Grauens. Tote Körper trieben auf den Wellen, vom Aufschlag zerplatzt und ausblutend. Die Geräusche, die ich gehört hatte, waren Schreie der Ertrinkenden. Wir hatten an jenem Tag einen Stamm an Bord, der aus den Waldgebieten kam. Keiner der hundertzwanzig konnte schwimmen. Ich sah sie sterben, einen nach dem anderen, und dieser Anblick veränderte etwas in mir.
Mein Leben lang hatte ich die anaa sází als lästige, wertlose Kreaturen gesehen. Aber jetzt sah ich auf einmal Mütter, die ihre Kleinen verzweifelt hochhielten, während sie selbst ertranken. Alte, die sich gegenseitig zärtlich die faltige Wange streichelten, wie um dem anderen Trost zu geben vor dem nahenden Ende. Und plötzlich konnte ich es nicht mehr ertragen. »Es sind Menschen!« Der junge Copilot nahm einer Frau das Kind aus den Händen, schwamm mit ihm los wie gehetzt, brachte es ans rettende Ufer. »Menschen!« Er weinte, als er ins Wasser zurücklief. Einige Erwachsene hatten sich durchkämpfen können bis zu den seichten Wellen, denen winkte er zu. »Kommt her! Zurück ins Wasser! Ihr müsst eine Kette bilden, vom Ufer ins Wasser!« Schon drehte er sich um, tauchte einer Frau hinterher. Er zog sie an die Oberfläche, versuchte, sie auf den Rücken zu drehen und abzuschleppen, wie er es gelernt hatte. Sie schlug ihm heftig ins Gesicht. Er lachte unter Tränen, kämpfte sich mit ihr zum Ufer durch. Wertvolle Zeit verstrich, bis er den Indianern dort klargemacht hatte, was sie tun sollten. Sie verstanden seine Sprache nicht, daran hatte er nie gedacht. Seine Tat blieb nicht unbemerkt. Von überall im Fluss schollen ihm flehentliche Rufe entgegen, Mütter hielten ihm ihre Kinder hin. Er nahm sie mit, kehrte wieder und wieder zurück ins Wasser. Die Menschenkette am Ufer wurde länger. Das machte Mut, half den Indianern im Fluss, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren. Aber viele, vor allem die Alten, misstrauten dem jungen Weißen. Sie hatten von seiner Rasse nie etwas anderes erfahren als
Gewalt und Unterdrückung. So mancher schlug die Hand weg, die sich ihm hilfreich entgegenstreckte, und überließ sein Leben den Wellen. Es erschütterte den Copiloten fast noch mehr als der Todeskampf junger Leute, mit ansehen zu müssen, wie ein alter Mensch freiwillig versank. Als ihn wieder einmal jemand zurückstieß und unterging, tauchte er dem weißhaarigen Mann energisch hinterher. »Es reicht!«, keuchte er am Ohr des Alten, während er ihn in Rückenlage zum Ufer brachte. »Ich hab's verstanden! Ihr findet mich zum Kotzen, und ehrlich gesagt…« Er verschluckte sich, spuckte aus. »Ich euch auch! Aber es nützt nichts, nur die Kinder zu retten! Es muss auch einer da sein, der ihnen sagt, wie das Leben weitergehen soll.« Ich schwöre, dass ich nicht wusste, wer der Alte war. Ich hatte ihn nicht ausgewählt, er trieb zufällig in meiner Nähe. Als ich das Ufer erreichte, nahmen ihn mir die Indianer ab, trugen ihn vorsichtig an Land. Ich wollte gleich wieder zurück in den Fluss, denn noch immer waren Menschen im Wasser. Doch ich konnte nicht mehr. Ich war restlos erschöpft, meine Muskeln zitterten und krampften. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war, aber es muss eine ganze Weile gewesen sein. Als ich erwachte, hörte ich das Knistern eines Lagerfeuers. Ich spürte Sonne auf meiner Haut, so warm und angenehm. Endlich brauchte ich meine schmerzenden Arme nicht mehr bewegen, und ich wollte auch nicht die Augen öffnen. Doch ich tat es, weil mir jemand hart in die Rippen trat. Ich glaube, ich habe gelacht, als ich die Indianer sah. Es war
so ein Hohn: Ich hatte sie gerettet, und nun umringten sie mich mit hocherhobenen Händen. Sie hielten Steine umklammert. Große Steine. Ich wollte etwas tun. Wenn schon nicht kämpfen, dann doch wenigstens aufstehen. Es kam mir so schmählich vor, auf dem Rücken liegend gesteinigt zu werden. Als ob es einen Unterschied machte. Aber ich konnte mich nicht bewegen, meine Muskeln ließen mich im Stich. Und jetzt, in diesem Moment erst merkte ich, dass ich nackt war. Ich hatte mich des Schutzanzugs entledigt, um Auftauchen zu können. Außer meiner Unterhose und den Socken hatte ich nichts mehr am Körper. »Das Titlahtín!«, sagte der junge Mann erschrocken und tastete über seine nackte Brust. »Titlahtín«, wiederholte einer der Indianer, drehte sich verwundert den Gefährten zu. Die schauten genauso ratlos drein. »Titlahtín?« »Ja, das Wort kennt ihr, was?« Der Copilot lachte trotzig zu den drohend erhobenen, grausamen Steinen auf. »Es ist ein Wort aus eurer Sprache, das fanden wir lustig.« Tränen stiegen ihm in die Augen. »Titlahtín bedeutet Das, was mich beruhigt.« Er fuhr sich durchs Gesicht. »Soll ich euch verraten, was damit gemeint 'st? Ein Tracker! Aber damit könnt ihr nichts anfangen, was? Das ist nämlich ein Wort aus meiner Sprache! Na los, worauf wartet ihr noch? Tötet mich doch, ihr verdammten …« Seine Stimme versagte. Er hatte Angst, und er biss sich auf die Lippen, um nicht im letzten Moment noch um Gnade zu flehen. Die Indianer würden keine zeigen, das wusste er. Sein Volk hielt es mit ihnen genauso.
Ein Mann trat hinzu, weißhaarig und mit faltigem Gesicht. Zwei Jungen stützten ihn. Der Copilot erkannte ihn nicht als den Alten, den er gerettet hatte. Ihm fiel nur auf, wie sehr sich dieser Indianer um würdevolle Haltung bemühte. Es war der Häuptling, und er sprach zu seinem Volk. »Lasst den weißen Mann am Leben!«, verlangte er. »Auch wenn er vom Stamm unserer Feinde ist, so hat er doch heute viel Gutes getan.« »Ja, nachdem er uns in den großen Vogel aus Eisen getrieben hat wie Vieh!«, rief eine Frau erbittert. »Seinetwegen habe ich meine Kinder verloren, und ich sage: Tötet ihn!« »Das verbiete ich! Wir stehen in seiner Schuld!« Der Häuptling wies auf den Mann am Boden. »Er hat uns gerettet!« Der Copilot verstand kein Wort. Er sah nur den Finger des Alten, der auf ihn zeigte, und er hörte die indianischen Worte nja ho taake! Was sie bedeuteten, interessierte ihn nicht. Nur der mit ihnen verbundene Fingerzeig zählte, denn er bewahrte ihn vor dem Tod. Die Indianer traten zurück, ließen ihre Steine sinken, warfen sie mürrisch hin. Der junge Mann stützte sich auf die Unterarme. Er zitterte vor Angst, und er schämte sich dafür. Verlegen sah er zu seinem Retter auf. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.« Der Häuptling sprach zu einem seiner Begleiter und gab ihm eine dünne Kette, an der etwas baumelte. Scheu kam der Indianerjunge damit heran. Er legte den Gegenstand auf den Bauch des Copiloten, kehrte hastig zu dem Alten zurück. Der sah den jungen Weißen lange
an; nachdenklich, prüfend. Dann antwortete er in dessen Sprache: »Wenn du Dankbarkeit zeigen willst, dann sage meinen Kindern, wie das Leben weitergehen soll!« Sie hatten mir den Tracker abgenommen, während ich ohnmächtig war. Alle Götter des Universums müssen in jenen Augenblicken über mich gewacht haben, denn keiner der Indianer nahm das Titlahtín so in die Hand, dass es sein Geheimnis preisgab. Als der Junge es mir auf den Bauch legte, drehte ich es schnell um. Ich kann nicht sagen, dass ich gerührt war von den Worten des Häuptlings. Ich war nur erstaunt, dass er meine Sprache beherrschte. Wovoka, so hieß der alte Mann, ließ mich liegen, wo ich lag, und kehrte zu seinen Leuten zurück. Sie weinten, sie beteten, sie begruben ihre Toten. Niemand beachtete mich. Der eine Moment im Fluss, dessen unerträgliches Leid alles andere bedeutungslos gemacht hatte, war vergangen. Die Grenzen waren längst wieder verhärtet. Ich saß auf der einen Seite, die anaa sází auf der anderen, und es ärgerte mich, dass sie mich ignorierten. Ich hatte Dankbarkeit erwartet, unterwürfige Dankbarkeit. Schließlich war mein Volk ihnen überlegen, und ich hatte sie gerettet. Doch sie schauten nicht einmal zu mir her. Sie redeten nur unentwegt in ihrer Sprache, die ich nicht verstand. Manchmal fielen die Worte nja ho taake, und aus einem unerklärlichen Grund blieben sie mir im Gedächtnis haften. Der Abend kam. Das Flugzeug hatte uns über die karge Ebene hinausgetragen, und hier am Fluss gab es Bäume und Gesträuch. Ich war erstaunt, mit welchem Geschick die Indianer diese natürlichen Ressourcen zu nutzen wussten. Ich beobachtete, wie sie starke Zweige abbrachen und mit Steinen anspitzten, und ich sah ihnen zu, wie sie damit in den Fluss wateten. Jedes Mal, wenn ein Speer wieder in die Dämmerung
hochschwang, von glitzernden Wasserstreifen umgeben, päppelte ein Fisch an seinem Ende. Wie machten sie das nur? Die Indianer brieten ihren Fang, wärmten sich am Lagerfeuer, aßen. Mir war so kalt, ich hatte solchen Hunger, und die Fische rochen so gut. Doch niemand bot mir etwas an. Ich dachte an meinen Piloten, an seinen selbstlosen Versuch, diese undankbaren Kreaturen zu retten. Aber wenigstens war er nicht umsonst gestorben: Neunzig anaa sází hatten überlebt. Und ich. Meine Maschine war inzwischen überfällig, und ich wusste, dass morgen ein Suchtrupp eintreffen würde. Spätestens übermorgen. Die Basis hatte schon einmal Hilfe schicken müssen, wegen eines Triebwerkschadens. Ich brauchte also nur zu warten. Dieser Gedanke gab mir Kraft, als ich mit knurrendem Magen in der Dunkelheit saß und den Indianern dabei zusah, wie sie seltsame Dinge taten. Ich dachte, es wäre ein Ritual. Sie hatten die großen Fische vor dem Braten ausgenommen, und nun trugen sie deren Gedärm zum Fluss, wuschen es sorgfältig und hängten es in die Bäume. Einige Männer hatten sich Zweige zurechtgeschnitten, die sie über dem Feuer bogen und dann zwischen Steine steckten, in genau dieser Form. Heute weiß ich, was das sollte, aber damals … Ich kam aus der Stadt, war in einer hoch technisierten Gesellschaft aufgewachsen. Unsere Waffen sahen anders aus. Nacht fiel über das Land und den Fluss, meine erste Nacht auf der Erde. Sie war furchtbar. Ich kannte es nicht, im Freien zu schlafen, und obwohl die Sterne über mir andere waren als die über meiner Heimat, interessierten sie mich keinen Moment. Mir war kalt. Das Gras am Boden wurde feucht von Tau, und ich dachte an meine blütenweiße Unterhose und den Spott, der mir beim ersten Tageslicht sicher sein würde. Die Indianer hatten sich schlafen gelegt, ich sah ihre Körper rings ums Lagerfeuer. Eng beieinander, offenbar gut gewärmt. Ich
nahm mir vor, noch eine Weile zu warten und dann zum Feuer zu schleichen. Vielleicht war ja etwas Fisch übrig. So saß ich da in meiner Unterhose, die immer noch schmerzenden Arme um die Knie geschlungen, eine Gänsehaut auf dem Rücken, und lauschte. Ich hörte das Rauschen der Bäume im Wind, das Plätschern kleiner Wellen am Flussufer und die Käuzchen. Sie riefen mal hier, mal da mit ihrer schaurigen Nachtvogelstimme, und ich stellte mir vor, wie sie in den dunklen Bäumen hockten, zum Schwätzchen versammelt. Ich wusste nicht, dass Käuze Einzelgänger sind. Urplötzlich glitt eine Hand über meinen Mund. Der Schock ließ mich auffahren, ich schlug um mich, so fest ich konnte. Ich dachte, einer der Indianer, die mich steinigen wollten, wäre herangeschlichen, um sein Vorhaben zu vollenden. In meiner Not rief ich laut die Worte des Häuptlings. »Inya Hotake!«, rief ich. Besser konnte ich es nicht aussprechen. »Inya Hotake!« Dann erst drehte ich mich um. Das Gesicht hinter mir war kaum zu erkennen im schwachen Licht der Sterne, aber eines konnte ich sehen: Es gehörte keinem anaa sází. Der Mann hatte langes schwarzes Haar wie sie, doch er trug ein Lederband um den Kopf und Striche auf den Wangen. In seiner Hand blitzte ein Messer. Ich glaubte schon zu spüren, wie es durch meinen Körper schnitt, mir das Leben nahm, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Es war so ungerecht, und ich konnte es nicht verhindern. Da war ein dumpfer Schlag in der Dunkelheit. Etwas barst, etwas schmatzte wie zerreißende Sülze. In Zeitlupe fiel der Fremde mir entgegen, und als sein Kopf nach vorn kippte, sah ich den großen Stein, der darin steckte. Ich wollte das Grauen herausschreien, das mich erfasste, doch ich kam nicht dazu. Wovoka, der alte Häuptling, glitt ins Sternenlicht. Er legte
eine Hand auf meine Schulter und einen Finger der anderen Hand warnend über seinen Mund. Dann verschwand er wieder, ließ mich allein. Ich verstand nicht, was da vor sich ging; erst recht nicht, warum Wovoka sich die Mühe machte, mich zu retten, während sein eigener Stamm ahnungslos am Lagerfeuer schlief. Ich sah hinüber. Hatte denn keiner mein Rufen gehört? Warum regte sich niemand? Irgendwer musste doch erwacht sein! Wenigstens einer! Schatten huschten durch die Nacht, kreisten den Platz ein, auf dem das Feuer stand. Es war heruntergebrannt, die Flammen loderten nicht mehr. Sie gängelten nur noch, und ich wünschte mir in jenen Momenten, sie hätten selbst das nicht getan, denn ich konnte die Körper am Boden erkennen. Bald schon würde keiner mehr am Leben sein, denn die Fremden trugen Waffen, die anaa sází nicht. Ich tastete in der Dunkelheit nach dem Messer des Toten. Wie man damit umging, wusste ich nicht wirklich, aber ich würde mich energisch verteidigen! So hatte ich gedacht, und ich fluchte innerlich, als ich das Messer nicht fand. Wovoka musste es mitgenommen haben. Was für eine Niedertracht, mich unbewaffnet zurückzulassen! Wieder riefen die Käuzchen, gerade als ich den Fremden am Rand des Feuerscheins entdeckte. Er hatte eine Hand an den Mund gelegt und machte den Ruf der Vögel nach! Ich erschrak. Verbargen sich hinter den ganzen Käuzchenstimmen bewaffnete Männer? Die Frage war gleich darauf beantwortet. Lautlos kamen sie aus der Dunkelheit; zehn, fünfzehn fremde Indianer. Sie liefen geduckt an den schlafenden anaa sází entlang und stachen zu, ohne Skrupel, schnell und hart. Plötzlich stutzte einer. Er sagte etwas, das ich nicht verstand, packte einen der Schlafenden und riss ihn hoch. Doch was da vom Boden kam, war kein Körper. Nur Kleidung, aus der
zerknicktes Gestrüpp fiel. Im nächsten Moment scholl furchtbares Wolfsgeheul durch die Nacht. Es klang, ah ob ein ganzes Rudel nahte. Ich war entsetzt und sprang auf, um einen rettenden Raum zu suchen. »Setz dich wieder hin!«, hörte ich Wovoka leise hinter mir sagen. Der alte Häuptling musste die ganze Zeit dagesessen haben, und ich hatte nicht das Geringste bemerkt. Kein Atmen, kein Rascheln, nichts. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Wie machten sie das nur? Die Fremden am Lagerfeuer sprachen plötzlich laut und ohne Vorsicht durcheinander. Ich gab es auf, Wovoka in der Dunkelheit erspähen zu wollen, und wandte mich ihnen zu. Doch ich konnte sie nicht sehen, denn sie waren plötzlich umringt von einer lebenden Mauer. Anaa sází zielten auf sie mit den Speeren, die sie zum Fischfang geschärft hatten. Ich hörte die Messer der Fremden zu Boden klirren und fuhr zusammen, als Wovoka aus dem Nichts an meine Seite trat. »Zeit zum Verhandeln«, sage er. Ich war überrascht. »Verhandeln? Die wollten euch töten! Mit denen verhandelt man doch nicht! Wer sind die Kerle überhaupt?« Ich dachte noch, wie dumm meine letzte Frage klingen musste für einen Mann, der vor wenigen Stunden erst auf diesem Planeten gelandet war, da antwortete Wovoka bereits zu meiner größten Verblüffung: »Es sind Apachen.« »Woher weißt du das?«, fragte ich, und er sagte es mir. »Sie lebten in den Weiten meiner Heimat, und wir kannten sie, bevor ihr sie in euren Vogel aus Eisen getrieben habt, um sie fortzubringen und ihr Land zu stehlen.« So sprach er und ging davon. Ich erinnerte mich an das Bauprojekt: eine Ferienanlage auf antiken heiligen Indianerstätten, das machte ihren besonderen Reiz aus und trieb die Preise in die Höhe. Jetzt standen mehr als ein
Dutzend der ehemaligen Landbesitzer vor mir am Lagerfeuer, nur einen Steinwurf entfernt. Ich wollte nicht daran denken, was sie mir antun könnten, ich dachte nur daran, dass morgen der Suchtrupp eintreffen würde. Morgen kam mein Volk, um mich zu holen. Ganz sicher. Heimlich legte ich mir das Titlahtín auf die Handfläche, mit der richtigen Seite nach unten, und ich schwöre, dass der Anblick der blinkenden Kopie meines Herzschlags mich nie zuvor so beruhigt hat wie in jenem Moment. Schweigend und würdevoll schritt Wovoka auf den Kreis der Anasazi zu. Greise und Kinder waren nirgends zu sehen, nur bewaffnete Erwachsene mit entschlossenen Mienen. Ihre nackten Körper waren vom Sturz aus den Wolken schwer gezeichnet, und das geriet ihnen jetzt zum Vorteil. Wunden, Schrammen und Blutergüsse gaukelten den Apachen das Bild eines ungemein kriegerischen Stammes vor, der sogar seine Frauen in den Kampf schickte. Nur deshalb erklärte sich ihr Anführer, Cetmanita, bereit zum Verhandeln. Ein frisches Lagerfeuer wurde entfacht, abseits des stammeseigenen. Während die Anasazi ihre Kleidung anlegten und sich die entwaffneten Apachen wiederum etwas abseits unter Bewachung ins Gras setzten, nahmen ihre Häuptlinge an dem neuen, reinen Feuer Platz. Es war ein symbolisches Niemandsland. Hier, auf neutralem Boden, konnte man in der Gewissheit sprechen, dass kein Angriff erfolgen würde. Dieses geheiligte Ritual praktizierten fast alle Stämme. Häuptling Wovoka und der Apachenführer starrten sich eine Weile über die Flammen hinweg an. Die
Situation war schwierig. Einerseits hatten die Anasazi unerlaubt fremdes Gebiet betreten, andererseits waren die Apachen ohne Warnung über sie hergefallen. Sie hatten jedoch niemanden getötet, auch wenn es ihre Absicht gewesen war. Dennoch wurde Blut vergossen, und es klebte an den Händen der Anasazi. Aus diesem Grund ging das Recht des Ersten Wortes an den Apachen. »Ihr habt Jagender Wolf erschlagen«, sagte er im harten, rauen Dialekt seines Stammes. Wovoka nickte. »Wir haben uns verteidigt. Es ist unser Recht.« »Ihr habt ihn von hinten erschlagen! Wusste euer Schamane, dass Jagender Wolf angreifen würde?«, fragte der Apache anzüglich. Cetmanita war jung. Er musste noch lernen, seine Arroganz zu zügeln. Wovoka verzog keine Miene. »Was forderst du?« Scheinbar absichtslos sah sich der Apache um. »Jagender Wolf war ein guter Krieger! Er lässt eine Frau zurück und mehrere Kinder, und wie du gesehen hast, als du deinen Stamm ohne Erlaubnis hierher führtest, ist mein Land karg.« »Das ist nicht dein Land«, sagte Wovoka ruhig. »Was?« Der junge Apache fuhr hoch. »Willst du mich beleidigen?« »Nein. Und du willst auch mich nicht beleidigen, indem du mir widersprichst!« Gelassen sah Wovoka dem Jüngeren in die Augen, bis der den Blick senkte. Der alte Häuptling wusste, wovon er sprach. Apachen waren Nomaden, sie besaßen kein Land. Sie lebten in tipis, das waren Zelte aus Holzstangen und Leder, die man schnell auf- und abbauen konnte. Als
Krieger wurden sie gefürchtet – aber als Diebe noch mehr. »Wem gehört dieses Land?«, fragte Wovoka. Ruppig antwortete sein Gegenüber: »Den Navajo und den Acoma. Sie teilen es sich.« »Sie teilen?«, fragte Wovoka gedehnt. Cetmanita errötete unter der braunen Haut. Er hatte seine Worte nicht klug gewählt, und nun stand er sowohl vor den Anasazi als auch vor seinen eigenen Leuten da wie ein Unwissender. Natürlich teilten sich Stämme kein Land. Sie kämpften vielmehr darum. Strauchelnder Bär, so lautete die Bedeutung des Namens Cetmanita, wurde nervös. Der alte Anasazi-Häuptling war ihm überlegen, hatte ihn jetzt schon zweimal verbessert, und es stand zu befürchten, dass er ihm noch weitere peinliche Momente bereiten würde. Das konnte sich ein Apachenführer nicht leisten, deshalb hatte es der junge Indianer plötzlich eilig, das Verhandeln abzuschließen. Eigentlich wollte er für den getöteten Stammesangehörigen einen Krieger oder zwei Frauen fordern. Doch er ahnte, dass Wovoka sie nicht ohne Palaver hergeben würde, und je länger der Alte sprach, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er Strauchelnder Bär noch einmal beschämte. »Wo ist dein Besitz?«, fragte der Apache fordernd. »Ich habe keinen.« Wovoka zeigte hinauf zum Nachthimmel. »Der Große Vogel hat uns hergebracht, und wir konnten nichts mitnehmen außer unserem Leben und der Hoffnung, neues Land zu finden.« Strauchelnder Bär war enttäuscht. Er kannte den Großen Vogel und begriff, dass es bei den Anasazi tatsächlich nichts Wertvolles zu holen gab. Doch er musste seinen
Leuten etwas vorzeigen, irgendeine Trophäe. Immerhin hatte er einen Krieger verloren. »Ausnahmsweise lasse ich euch gehen«, sagte Cetmanita schließlich mit falschem Seufzen. »Aber bis morgen seid ihr hier verschwunden. Und den da …«, er zeigte ruckartig in die Dunkelheit, wo ein weißer Mann in Unterhose und Socken vergeblich versuchte, unbemerkt zu bleiben, »… nehme ich mit.« »Dann sind wir uns einig?«, fragte Wovoka. »Das sind wir.« »Gut.« Der alte Häuptling streckte die Hand aus. »Er gehört dir!«
6 � Ich war verblüfft, als der Apache am Lagerfeuer plötzlich auf mich zeigte. Wie hatte er mich in der nächtlichen Landschaft erspäht? Und was wollte er von mir? Dunkle Gestalten kamen auf mich zu. Ich fühlte mich erleichtert, als ich erkannte, dass es anaa sází waren und keine Apachen, diese Mörder mit den verschlagenen Augen. Es war seltsam, aber irgendwie hatte ich nach den paar gemeinsamen Stunden mit »meinen« Indianern ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt. Ich glaubte, es würde ihnen genauso ergehen, und deshalb sprang ich ohne Zögern auf, als mich einer von ihnen hochwinkte. Ahnungslos folgte ich ihm zum Lagerfeuer, und ich weiß noch, welch verächtliche Blicke ich den Apachen zuwarf, als sie über meine Unterhose und die Socken lachten. Dumme Kreaturen! Ich gehörte zum Volk der Alten, und wir waren ihnen haushoch überlegen! Der junge Weiße schien nicht zu merken, wie verängstigt er dreinblickte. Er tapste über das weiche Gras, als ginge er auf Tonscherben, und er sah so jämmerlich aus mit seinen kurz geschorenen Haaren und den käsigen Beinen. Strauchelnder Bär musterte ihn abschätzend. »Warum hält er die Hände über seine Männlichkeit? Ist ein Loch im Stoff? Oder hat er keine?« Unter dem Gelächter seiner Leute griff der Apache nach den gekreuzten Armen des Weißen, wollte sie auseinanderziehen. Der Mann stieß ihn mit der Schulter fort. Cetmanita holte aus und schlug ihm hart ins Gesicht.
»Mach das nicht noch mal!«, warnte er mit erhobenem Finger und wandte sich an Wovoka. »Hat das Vieh einen Namen?« Der Häuptling wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube, es nennt sich Hotake.« »Hmm-m.« Strauchelnder Bär ging daran, seine Beute zu prüfen. Er befühlte die Arme des Weißen, zwang ihn, den Mund zu öffnen, besah die Zähne. Nur um ihn zu erniedrigen. Der junge Mann wehrte sich immer wieder gegen die tastenden Finger, und genauso oft schlug ihm Cetmanita ins Gesicht. »Hotake«, wiederholte er irgendwann grübelnd. Das Wort hatte keine Bedeutung. »Ya! Inya Hotake!« Der Weiße fuhr hoch, nickte heftig, plapperte erregt drauflos. Es klang wie ein Wasserfall. Er bewegte unablässig die Hände, wies auf den Himmel, auf die Anasazi, auf den Fluss und immer wieder auf sich selbst. Niemand begriff, was er wollte. Strauchelnder Bär gähnte gelangweilt. »Ist er krank?« »Nein«, sagte Wovoka. »Nur furchtbar dumm. Erlaube mir, ihn zum Schweigen zu bringen.« »Aber töte ihn nicht!«, mahnte der Apache. Wortlos und mit ausdrucksloser Miene griff Wovoka an ihm vorbei nach dem Weißen. Er zog ihn so herum, dass sein eigenes Gesicht von Cetmanita abgesandt war, und verschoss einen warnenden Blick. Dann sagte er in der Sprache der Alten: »Wenn du leben willst, gehorchst du meinem Befehl, Hotake!« »Der Scheißkerl hat mich geschlagen!« Hotake zeigte wütend auf den Apachen. »Diese verdammte Kreatur …« »Und ich befehle dir: Halte den Mund!«, unterbrach ihn Wovoka scharf. »Jetzt nimm die Hand herunter und
lass sie dort. Die Apachen werden sie dir abschneiden, wenn du noch einmal auf ihren Anführer zeigst.« »Dazu haben sie kein Recht!« »Doch, das haben sie.« Der alte Häuptling nickte. »Wir sind hier in einem Gebiet, das die Apachen für sich beanspruchen, und sie verlangen Wegezoll. Geben wir ihnen, was sie wollen, können sie mit ihrer Beute tun, was immer ihnen beliebt.« »Ja, sollen sie doch! Von mir aus! Hauptsache, sie verschwinden endlich und lassen mich in Ruhe!«, rief der weiße Mann aufgebracht. Wovoka verzog keine Miene. »Du bist ihre Beute«, sagte er. Hotake wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. »Das kannst du nicht tun!«, flüsterte er. »Ich tat es bereits.« Wovoka blickte auf die entwaffneten Apachen. »Hör zu, Hotake, du gehst jetzt gehorsam zu ihnen. Aber vorher gibst du mir das Titlahtín.« »Den Teufel werde …« Wovoka schlug mit aller Härte zu, mitten in den empörten Aufschrei des Weißen hinein. Der Abdruck seiner Hand flammte rot auf dessen Wange. Die Apachen kicherten. Der Häuptling sagte: »Ich hatte dir befohlen, den Mund zu halten. Du beschämst mich mit deinem Ungehorsam, und das dulde ich nicht. Wenn du sterben willst, sprich noch ein weiteres Wort. Wenn nicht, dann gehorche mir auf der Stelle! Und erinnere dich, weißer Mann: Ich schulde dir nichts!« Hotake presste die Lippen zusammen. Todesangst stand in seinem Blick, als er erst Wovoka ansah, dann
Strauchelnder Bär, dann die dunkle Ferne. Wovoka rief etwas in seiner eigenen Sprache, daraufhin senkten seine Anasazi die Speere. Die gefangenen Apachen erhoben sich, kamen näher. Wovoka nickte Hotake zu und hielt die Hand auf. »Augenblick mal!«, protestierte Strauchelnder Bär, als der Weiße sich die Kette des Titlahtíns über den Kopf zog. »Das Ding gehört mir!« »Nein, das tut es nicht«, sagte Wovoka ruhig. »Wir hatten uns auf den Mann geeinigt, nicht auf das, was er am Leib hat.« Er griff nach dem Titlahtín. »Dieses Totem ist Eigentum meines Stammes.« »Ach ja? Und warum trägt er es dann?« Cetmanita versuchte, dem Häuptling das Gerät aus der Hand zu winden, scheiterte aber an dessen Entschlossenheit. »Er kann schwimmen«, erklärte Wovoka. »Der Große Vogel hat uns in den Fluss geworfen, deshalb haben wir dem Weißen das Tit … Totem umgehängt. Es ist heilig, und wir wollten sicherstellen, dass es nicht verloren geht.« Cetmanita schnaubte verärgert. Er packte Hotake am Arm, zog ihn herum und stieß ihm hart in den Rücken. »Beweg dich, Vieh!« Der junge Mann sah zurück, einen Moment nur und flehentlich wie ein Kind. Doch Wovoka rührte sich nicht von der Stelle, verschränkte nur seine Arme vor der Brust. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete er, wie die Apachen Hotake die Hände auf den Rücken banden und ihn fortführten. Einer betastete schon das kurz geschnittene Haar des Weißen und lamentierte lautstark, was für ein erbärmlicher Skalp das werden würde. Zum Glück verstand Hotake die Worte nicht.
Strauchelnder Bär folgte seinen Männern in die Dunkelheit. Man sah ihn kaum noch, als Wovoka gleichgültig sagte: »Eigentlich ist es ein schlechtes Geschäft.« Der Apache kehrte ein Stück zurück. »Wie meinst du das?«, fragte er. Wovoka hob die Schultern. »Dein Gefangener ist nicht hier, weil er es so wollte. Der Große Vogel hat ihn verloren, als er uns abwarf. Ich nehme an, dass die anderen Weißen bald kommen werden, um nach ihm zu suchen.« Cetmanita lächelte kühl. »Mach dir darüber keine Sorgen! Sie werden ihn nicht finden. Nein, ganz bestimmt nicht.« »Und genau das ist meine Sorge.« Der alte Häuptling wandte sich ab, ging ein paar Schritte und setzte sich. Es sah unbeabsichtigt aus. Man konnte glauben, er wäre einfach müde und hätte nur aus diesem Grund das Feuer gewählt, an dem es sich verhandeln ließ, statt weiter zu gehen zum Lagerfeuer des Stammes. Strauchelnder Bär rief etwas in die Dunkelheit, dann kam er heran. »Ich traue dir nicht«, sagte er, als er sich Wovoka gegenübersetzte. »Natürlich nicht. Du bist ein Apache. Dein Volk wählt keine dummen Männer zum Anführer.« »Worauf du dich verlassen kannst! Also, was ist mit den Weißen?« »Ihr Großer Vogel hat einen Bruder«, sagte Wovoka. »Er ist kleiner und hat Flügel auf dem Kopf, die sich im Kreis drehen. Mit ihm haben sie uns gejagt, denn er kann in der Dunkelheit sehen. Er findet sogar Dinge, die im
Boden versteckt sind! Selbst wenn du den Weißen verbrennst, nachdem du ihn gefoltert hast, sie werden ihn aufspüren!« »Und warum erzählst du mir das jetzt?« »Weil ich ein Häuptling bin«, sagte Wovoka würdevoll. »Du warst bereit zu verhandeln, das ist ehrenwert. Und du hast keinen meiner Leute getötet. Deshalb will ich nicht, dass deine Leute getötet werden.« Strauchelnder Bär starrte zu Boden, unentschlossen und gereizt. Er saß in der Zwickmühle. Er konnte weder überprüfen, ob Wovoka die Wahrheit sprach, noch konnte er das Risiko eingehen, mit dem weißen Gefangenen den Tod ins Apachenlager zu bringen. Aber vor allem konnte er die Sache nicht einfach hinter sich lassen, denn er hatte einen Mann verloren. »Eine Möglichkeit gäbe es vielleicht«, sagte Wovoka nachdenklich. Als Cetmanita aufsah, zeigte er ihm eines der eroberten Messer. »Es sind gute Waffen! Angenommen, ich wäre bereit, den weißen Mann zurückzunehmen.« Der Apache horchte auf, und seine Augen wurden schmal. »Warum solltest du das tun?« »Weil er uns nicht schadet.« Wovoka legte das Messer wieder hin. »Wenn die Weißen kommen – und sie werden kommen! –, wird er ihnen berichten, dass wir ihm nichts getan haben. Und auch, dass ihr ihm nichts getan habt. Damit sind unsere beiden Stämme vor ihrer Rache sicher.« »Und die Messer?«, fragte Cetmanita lauernd. »Mein Volk ist erschöpft und muss sich ausruhen. Ich gebe dir die Hälfte zurück, wenn wir einen Tag länger hierbleiben können.«
»Ich will alle!« Wovoka schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Höchstens sieben.« »Acht!« Der alte Häuptling hüllte sich in Schweigen, schaute nachdenklich ins Feuer. Er ließ sich viel Zeit. Erst als in der Ferne ein Käuzchen rief und Strauchelnder Bär unruhig wurde, hob er den Kopf. »Abgemacht«, sagte er. Hotake war barfuß, als er von den Apachen zurückkehrte. Niemand beachtete ihn. Der Schamane schritt um das reine Feuer, unentwegt murmelnd, und schlug es dabei mit belaubten Zweigen aus. Frauen holten Kinder und Alte aus dem Versteck am Flussufer; Männer standen zusammen, ließen die Apachenmesser kreisen. Ob sie sich um sie stritten oder sie begutachteten, konnte Hotake nicht einschätzen. Es war ihm auch egal. Er hielt nach dem Häuptling Ausschau. Wovoka saß ein Stück abseits im Gras, mit gekreuzten Beinen, den Kopf gesenkt. Als würde er schlafen. Hotake humpelte zu ihm hin und streckte die Hand aus. »Gib mir das Titlahtín!«, forderte er barsch. Wovoka sah hoch. »Es ist unhöflich, auf einen Häuptling herabzusehen«, sagte er, während er neben sich griff und ihm das kleine Gerät an der Kette überreichte. »Und ein Wort des Dankes wäre angebracht!« »Dank?«, fauchte Hotake und sah sich hastig um. Er setzte sich, senkte die Stimme. »Dank? Dieser widerliche Kerl hat meine Socken geklaut.« »Ja, das hatte ich erwartet.« Wovoka nickte versonnen. »Apachen sind Diebe.«
»Apachen sind stinkende, perverse Scheißkreaturen!«, verbesserte Hotake. Er wies auf sein Gesicht. »Sie haben mich geschlagen! Der Anführer …« »Cetmanita.« »Von mir aus. Er hat seine widerlichen Finger in meinen Mund gesteckt und …« »Er hat deine Ehre befleckt, Hotake! Wenn du sie reinwaschen willst …« »Mein Name ist nicht Hotake! Ich heiße …« »Ah!« Der Häuptling hob mahnend den Finger. »Wenn du mich noch ein Mal unterbrichst, ist dein Name Toter Mann! Und nun höre, Hotake: Cetmanita hat dich vor aller Augen gedemütigt. Selbst vor den Augen der Kinder. Damit hast du deine Ehre verloren, und niemand wird dich mehr achten, bis du sie wieder erlangst.« »Ehre.« Der junge Weiße spuckte das Wort aus, als wäre es Schmutz. »Dafür kann ich mir nichts kaufen. Aber wenn wir schon davon sprechen …«, er starrte Wovoka finster an, »… was ist mit deiner Ehre? Da tauchen fünfzehn lausige Apachen auf, und du lässt dir von ihnen auf der Nase herumtanzen! Dabei sind deine Leute in der Überzahl, und du hättest die Kerle problemlos töten können.« Der alte Häuptling schwieg. Keinem Mitglied seines Stammes hätte er diesen Ton erlaubt, kein Anasazi hätte ihn je angeschlagen. Aber Hotake war ein Weißer, bis hoch zu seiner vorlauten Zunge angefüllt mit der Arroganz einer Rasse, die sich für überlegen hielt und doch so unendlich dumm war. Wovoka wiegte bedächtig den Kopf. Lohnte sich der Versuch überhaupt, diesem jungen Mann etwas beizubringen? Etwas, das er mitnehmen würde, wenn sein Volk ihn holen kam?
Vielleicht. Hotake hatte Menschlichkeit gezeigt im Fluss, und das unterschied ihn von den vielen anderen Alten, denen Wovoka im Laufe seines langen Lebens begegnet war. »Ich verzeihe dir deine beleidigenden Worte, Hotake«, sagte er deshalb. Er lächelte. »Was weißt du eigentlich über die Apachen?« Sein Lächeln vertiefte sich. »Abgesehen davon, dass sie stinkende, perverse Scheißkreaturen sind?« Hotake hob die Schultern. »Es sind anaa sází, Feinde der Alten. Sie leben auf offenem Gelände und vermehren sich wie die Wildhasen.« Wovoka schluckte auch diese Beleidigung, obwohl es ihm schwerfiel. »Und außer diesen vorgebeteten Weisheiten deines Volkes kannst du nichts über sie sagen? Dann hör mir zu! Apachen sind Krieger wie wir, nur entschieden grausamer, und sie haben ihre eigene Auslegung von Ehre und Stolz. Sie sehen keine Schande darin, etwas zu stehlen, im Gegenteil. Es ist ihre Art, Beute zu machen. Und sie sammeln Trophäen. Skalps.« Hotake runzelte die Stirn. »Skalps?« »Ja.« Wovoka nickte. »So nennen sie die Kopfhäute ihrer Feinde. Sie ziehen sie ab und hängen sie zum Trocknen … he! Ist dir unwohl?« Hotake richtete sich wieder auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Geht schon«, sagte er und blinzelte die Tränen weg, die ihm das heftige Würgen in die Augen getrieben hatte. Der Häuptling entschied, seinen Vortrag abzukürzen. »Aber vor allem sind die Apachen Meister in der Kunst des Anschleichens. Das ist ihr Jagdgeschäft, denn sie leben, wie du richtig sagtest, in den Weiten des Landes,
und dort gibt es wenig Deckung.« Wovoka lachte freudlos. »Wir hätten Cetmanita und seine Leute selbstverständlich töten können.« Er zeigte hinaus in die Dunkelheit. »Doch sie waren nur die üblichen Späher. Der Stamm, der hier überall in Deckung lag, hätte uns dafür bis auf den letzten Mann niedergemacht.« Hotake wurde bleich. »Das … das wusste ich nicht.« »Deshalb habe ich es dir gesagt.« Wovoka erhob sich ächzend, hielt sich den Rücken. »Und jetzt gehe ich schlafen. Bleib von den Sträuchern fern!« Es dauerte lange, bis ich vor Erschöpfung einschlief, und selbst dann fand ich keine Ruhe. Der Apache verfolgte mich, dieser widerliche Kerl mit seinem schmierigen Grinsen, und ich hasste mich noch im Traum für meine Unfähigkeit, ihm die Stirn zu bieten, ja, ich gestehe es ein, ich hatte Angst vor ihm. Es war beschämend. Ich konnte unsere modernste Transportmaschine fliegen, war mit komplizierten Waffensystemen vertraut und hatte eine Auszeichnung, erhalten für meinen Einsatz im Krieg an der Ostgrenze. Doch dieser eine Mann – kleiner als ich, nur mit einem Messer bewaffnet – hatte mich in Schranken verwiesen, von denen ich bis dahin nicht einmal wusste, dass es sie gab. Die Anasazi brieten schon ihr Frühstück, als der junge Weiße am nächsten Morgen schreiend hochfuhr. Vermutlich hatte er schlecht geträumt. Er sah noch jämmerlicher aus als gestern mit seiner von Grasflecken gezeichneten Unterhose und den Blutergüssen am Körper, die auf der hellen Haut viel stärker auffielen als bei den Indianern. Dunkle Schatten lagen auf seinen Wangen und dem Kinn.
Hotake machte ein paar zögerliche Schritte auf das Lagerfeuer zu. Sein Blick suchte den Häuptling, aber weder Wovoka noch sonst wer beachtete ihn. Ein paar Männer hatten die getrockneten Fischdärme von den Zweigen geholt, spannten sie auf vorgebogene Hölzer. Pfeile lagen neben ihnen am Boden. Jemand hob ein Bratenstück vom Feuer, wedelte den Rauch fort. Er trieb in Richtung Hotake, und dessen Magen begann zu knurren; so laut, dass ein paar Kinder überrascht aufsahen. Sie lachten. Der junge Mann presste die Lippen zusammen, wandte sich ab. Er stapfte zu einem Baum, griff ins Geäst und riss daran, bis ein starker Zweig brach. Mit ihm ging er zum Fluss. Unterwegs entfernte er die Seitentriebe und abstehende Splitter an der Bruchstelle. Dann watete er entschlossen ins Wasser. Es war eisig zu dieser frühen Stunde, doch das hielt Hotake nicht auf. Als die Wellen seine Knie umschwappten, blieb er stehen und hob den Speer. Mehrere große Fische bewegten sich im Uferbereich. Doch sie schienen zu ahnen, dass ihnen Gefahr drohte, denn wann immer Hotake zustieß, huschten sie davon. Sie kamen auch immer zurück. Als hätten sie sich mit dem Rest dieser feindlichen Welt gegen ihn verschworen, um ihn zu verhöhnen und zu beschämen. Er wurde so wütend. Wieder und wieder rammte er seinen Speer in den Flussgrund, wild entschlossen, sich wenigstens gegen die Fische zu behaupten. »Du zielst in die falsche Richtung«, sagte Wovoka ruhig. Hotake fuhr heftig zusammen. Wieder einmal war der alte Häuptling lautlos herangetreten, hatte ihn völlig überrascht. Es verunsicherte ihn, denn es zeigte, dass er
zu keiner Zeit und an keinem Ort sicher war. »Was meinst du mit falscher Richtung?«, fragte er unwirsch. Wovoka wies auf den Himmel. »Du stehst mit dem Rücken zur Sonne. Dein Schatten fällt aufs Wasser, und er bewegt sich. Das warnt die Fische. Versuche es noch mal.« »Pah.« Hotake drehte sich um. »Deine Leute haben es gestern Abend auch so gemacht, also kann es …« Er brach ab. Der Häuptling war fort. Lange Minuten verstrichen. Hotakes Lippen färbten sich blau, er zitterte vor Kälte. Doch er harrte aus. Und plötzlich stieß er zu. »Ja!«, sagte er triumphierend, als er den Speer mit einem zappelnden Fisch daran aus dem Wasser stemmte und ans Ufer watete. Allerdings wusste er nicht, wie er seinen Fang töten sollte. Fische waren normalerweise gewürzt und gebraten, wenn er sie zu Gesicht bekam. Fragend blickte er zu den Indianern hin. Sie schenkten ihm noch immer keine Beachtung. Auch Wovoka drehte ihm den Rücken zu. So wartete Hotake, bis der Fisch sich nicht mehr rührte. Dann zog er ihn vom Speer. Doch wie sollte er ihn zubereiten ohne Feuer? Es war nur der Hunger, der mich trieb. Niemals sonst hätte ich einen anaa sází um Hilfe gebeten. Nein, ganz bestimmt nicht! Wir waren das überlegene Volk. Wir gewährten höchstens Hilfe, aber wir baten nicht darum. Eigentlich wollte ich ausharren, bis der Suchtrupp kam. Ich nahm an, dass er spätestens gegen Abend eintreffen würde. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich das Fasten auch
durchgehalten, aber ich war umringt von Bratenduft und Schmatzgeräuschen, und irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Also ging ich zum Häuptling und fragte, ob ich das Lagerfeuer benutzen dürfte. »Nein«, sagte Wovoka. Hotakes Augen weiteten sich. »Nein? Was heißt das: Nein?«, fragte er scharf. Der alte Mann sah zu ihm hoch. »Wir sind keine Diener, Hotake. Das waren wir nie. Wenn du zurückkehrst zu deinem Volk und das Land betrittst, das meinem Volk gehört, dann sei dankbar für die Gunst, dass wir dich am Leben ließen. Aber erwarte nicht noch mehr von uns!« »Ich will doch nur meinen Fisch braten!« »Ja. Über einem Feuer, das wir entfacht haben. Die Anasazi. Stinkende Scheißkreaturen.« »Ich habe euch aus dem Fluss gerettet!«, rief Hotake irritiert. »Und wir dich vor den Apachen. Damit ist unsere Schuld beglichen. Deine nicht.« Hotake ließ seinen Fisch fallen. Er griff nach dem Titlahtín, legte es auf die flache Hand und hockte sich vor den Häuptling. »Siehst du das?«, fragte er. »Sieh genau hin!« Schweigend betrachtete Wovoka das kleine Gerät mit seinen Lichtern. Sie blinkten wie ein erregtes Herz. »Das ist ein Tracker«, sagte Hotake schwer atmend. »Er sendet ein Signal aus, einen … einen Ruf, den meine Leute hören können. Sie werden ihm folgen, und sie werden mich finden! Ich verspreche dir, dass wir euch mit zurücknehmen. Aber lass mich das verdammte Feuer
benutzen!« »Du verkaufst dein Volk für einen Fisch?«, fragte Wovoka gedehnt. »Herrgott noch mal!«, schrie Hotake ihn an. »Was soll ich denn tun? Was, zur Hölle, willst du, dass ich tue?« Der Häuptling lächelte. »Gib zu, dass dein Volk uns unterlegen ist.« »Ich denke nicht daran! Außerdem stimmt es nicht.« »Nein? Beweise es!« »Jederzeit. Sag mir einfach, wie.« Hotake reckte trotzig das Kinn vor. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er lachte verächtlich. »Klar, schon kapiert: Ich soll Feuer machen, weil du weißt, dass ich es nicht kann.« Wovoka lehnte sich zur Seite und rief etwas, das Hotake nicht verstand. Ein sehr junger Mann kam heran, mit langen Haaren und ungewöhnlich fein geschnittenem Gesicht. Er legte Pfeile und Bogen vor seinem Häuptling ab, dann richtete er sich auf. Verächtlich grinste er Hotake an. »Saiapi ist vierzehn Jahre alt«, sagte Wovoka. »Eines Tages wird er ein großer Jäger sein, aber noch hat er wenig Übung mit Pfeil und Bogen. Siehst du den Baum dort?« Hotake blickte zurück. Ein paar Meter hinter ihm ragte ein Stamm auf. »Zeige mir, dass dein Volk wenigstens halb so gut trifft, wie dieser Junge es kann!«, verlangte der Häuptling. Hotake ließ keinen Blick von ihm, als er wortlos nach dem Bogen griff und einen Pfeil ertastete. Er legte ihn ein, drehte sich um, spannte die Sehne. Doch er schoss nicht.
Es ist zu einfach, dachte er. Viel zu einfach! Diesen Baum kann man gar nicht verfehlen, und ich mache mich nur lächerlich mit einem Treffer. Wahrscheinlich ist es genau das, was Wovoka will. Ich soll etwas Dummes tun und glauben, ich würde damit die Überlegenheit meines Volkes beweisen, während ich uns in Wirklichkeit blamiere. Hotake nickte grimmig. Das wird nicht passieren! Er drehte sich um, den gespannten Bogen noch in der Hand. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers stand ein zweiter Baum, dünner und ein ganzes Stück weiter entfernt. Die Indianer gingen hastig in Deckung, als der weiße Mann auf ihn anlegte. Sein Pfeil zischte über ihre Köpfe hinweg, bohrte sich durch die Rinde und blieb stecken. »Und jetzt der Junge!«, forderte Hotake. Er starrte Wovoka herausfordernd in die Augen, während er den Bogen an Saiapi weitergab. Der Häuptling winkte ab. »Nicht nötig. Ich weiß ja, dass er es kann.« Er zeigte auf das Lagerfeuer. »Setz dich zu uns. Brate deinen Fisch.« Sommer 1969 südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko Es war früh am Morgen. Diesiges Licht umhüllte die Ebene mit ihren Steinen, den Kakteen und den Felsenhügeln. Noch verbarg sich die Sonne am Horizont, und der Wind war frisch. Er wirbelte Staubfahnen hoch, die in weiter Ferne begannen und auf nicht ganz geradem Weg näher kamen. Vor ihnen her rumpelte ein alter Jeep. Er war in Las Cruces gestartet, der zweitgrößten Stadt der Tierra de Encanto (Land der Verzauberung), wie das knochentrockene, glutheiße Neu
Mexiko so ernsthaft wie unerklärlicherweise genannt wurde. Las Cruces lag ein Stück weiter westlich, am Rio Grande, und besaß eine Universität. Gestern Abend hatte man dort eine Gruppe Americanos verabschiedet. »Iste sich bald geschafft, Señor Jaydon!«, rief der Fahrer des Jeeps gegen das Geklingel altersschwacher Kolben an. Er war Mexikaner, und er sprach den Namen des Señors »Dschai-donn« aus, was dessen Besitzer zu einem übellaunigen Grunzen ermunterte. Jaydon, Professor, Sir – diese Auswahl stand zur Verfügung, wenn man den Fünfunddreißigjährigen ansprechen wollte, ohne ins Fadenkreuz seines Zorns zu geraten. Und daran tat man gut, denn der blonde Archäologe war alles, nur nicht taktvoll. »Iste sich gut, dass sich bald geschafft ist, Manolo!«, äffte er das holperige Amerikanisch des Fahrers nach. »Gehte sich mir nämlich allmählich auf die Nerven, dieses Gerumpel, der Dreck und das Geplärre!« Er zeigte auf ein Transistorradio, das der Mexikaner vor dem Fahrersitz stehen hatte. Diese tragbaren Lärmquellen gab es seit fünfzehn Jahren, und genauso lange hasste Jaydon sie. Besonders, wenn sie mexikanische Folklore spielten. Manolo zog ein beleidigtes Gesicht, als er das Gerät abstellte. Aber er tat es, und Jaydon lehnte sich zurück. Er warf einen Blick auf die Windschutzscheibe mit ihrem Sprung links oben und dem zermatschten Heer mexikanischer Fliegen ringsum. Jaydon starrte sie an, als wären sie nur seinetwegen an die Scheibe geknallt. Vermutlich trugen sie noch im Tod bunte Schultertücher und hielten winzige Gitarren fest, um Guantanamero! zu klimpern und ihn zu ärgern.
Wer die Hintergründe nicht kannte, hätte erwartet, den jungen Wissenschaftler bei bester Laune anzutreffen. Jaydon war auf dem Weg zu einer antiken Indianersiedlung in der Cookes Range, auf halbem Weg zwischen Las Cruces und Silver City. Harvard, die bedeutendste Universität der Vereinigten Staaten, hatte ihm einen Forschungsauftrag erteilt. So stand es wenigstens in den Fachblättern. Taydon ballte unbewusst die Fäuste. Niemand hatte ihm irgendwas erteilt! Er hatte den Auftrag erstritten! Das konnte er, denn er war ein Vorzeigeobjekt: der jüngste Professor, der je in Harvard ein Lehramt erhielt. Allerdings – und das war es, was Jaydon nervös machte – hatte er für diesen einen Auftrag seine Karriere in die Waagschale geworfen. Wurde er fündig, würde er im Triumph nach Harvard zurückkehren. Wenn nicht, war er erledigt. Vielen Dank auch, Samuel, dachte Jaydon hasserfüllt. Samuel war sein Vater, ein bekannter Geschichtsprofessor an der Universität in Mexico City. Seinetwegen durfte man Jaydon nicht mehr beim Nachnamen ansprechen, der logischerweise mit dem des Alten übereinstimmte. Die beiden Wissenschafter hatten sich bis aufs Blut zerstritten, und der Graben zwischen ihnen klaffte nicht nur wie ein Höllenloch, er war auch mit Kanonen bestückt. Eine Karriere würde am Ende auf der Strecke bleiben. Ausgelöst hatte das Familiendrama Samuels spektakulärer Fund vor zwei Jahren. Bei Grabungen in Mexico City war der Archäologe auf die Westmauer eines der finstersten Heiligtümer aller Zeiten gestoßen:
den für Jahrhunderte verschollenen Templo Major der Azteken, an dessen Mauern das Blut von mehr als zwanzigtausend Menschen klebte. Jaydons Vater wurde dafür gefeiert wie ein Held. Große Universitäten luden ihn zu Vorträgen ein, er gab Interviews in Fachjournalen, und er schrieb ein Buch. Dieses Buch fand reißenden Absatz, denn der Fund hatte auch das Interesse der Öffentlichkeit geweckt. Zwar eher an den zwanzigtausend grausam geopferten Menschen als an den Azteken selbst, doch was machte das schon? Hauptsache, der Wälzer verkaufte sich. Und das tat er. Im Folgejahr war Jaydon mit seinem Grabungsteam am Rio Grande unterwegs, als er in der Nähe von El Paso auf die Ruinen eines Pueblos stieß. Dort legte er einen Stein frei, etwa von der Größe einer Zigarettenschachtel, der ein eingeritztes Symbol trug. Nichts Spektakuläres, auf den ersten Blick. Allerdings war das Symbol älter, als es sein durfte, und es befand sich dazu noch am falschen Ort, und das machte den Stein zur Kanonenkugel. Sie zielte auf Samuel. Jaydon meldete seinen Fund nach Harvard, konnte ihn aber unglücklicherweise nur mit Fotos belegen. Der Rio Grande war nach heftigen Unwettern über die Ufer getreten und hatte die Grabungsstelle zerstört, ehe der Fundbestand gesichert war. Als Samuel von der Sache erfuhr, sah er seinen Ruf in Gefahr. Er war der Experte in Sachen Azteken, doch mit Jaydons Stein geriet eine seiner Thesen ins Wanken. Falls der Fund anerkannt wurde, kam eine ziemliche Blamage auf ihn zu. Deshalb erklärte ihn der berühmte Wissenschaftler öffentlich zur Fälschung. Und nicht nur das. Samuel ließ seine Verbindungen zu örtlichen
Behörden spielen, was dazu führte, dass Jaydon in Neu Mexiko, der Hochburg der Indianer, keine weitere Grabungserlaubnis erhielt. Nicht einmal im Chaco Canyon, der doch längst erforscht war. Einen einzigen Ort aber hatte der Alte ignoriert. Das Ganze war auch kaum mehr als ein Gerücht: Irgendwo in der Hitze flimmernden, menschenleeren Weite der Cookes Range sollte es ein ungewöhnlich gut erhaltenes Felsenpueblo geben. Zu gut erhalten, um tatsächlich zu existieren. Man wusste davon in Las Cruces, doch der Universität fehlten die finanziellen Mittel für eine Feldforschung. Jaydon stellte sie in Aussicht – wenn man ihm dafür den Vortritt ließ. Er brauchte nur einen überzeugenden Beweis. Er liegt im Pueblo, und ich werde ihn finden!, versprach er sich grimmig. »Iste da vorn!«, sagte Manolo und zeigte auf die Windschutzscheibe. Jaydon hob den Kopf. Jenseits der toten Fliegen und dem Riss im Glas, etwa zwei Kilometer voraus, stand ein gewaltiger Felsenhügel. Soeben ging die Sonne auf, genau hinter ihm. Sie ließ ihn zu einer tiefschwarzen Silhouette werden, umhüllt von goldenen Strahlen. Jaydon nickte. Da war er – der Iskatán! Sein Schicksalsberg! Welche Geheimnisse verbargen sich in den dunklen Höhlen, welche Antworten hielt das verlassene Indianerdorf bereit? Würde der Fels sie preisgeben im Tausch gegen all die Hoffnungen eines jungen Wissenschaftlers aus Cambridge, Massachusetts? »Du musst!«, sagte Jaydon mit Blick auf den Iskatán. »Und du wirst!«
Kurz darauf erreichte der Jeep das steinige Gelände am Fuß des Felsenhügels. Der Motor erstarb, dann sprang Manolo aus dem Wagen und rannte auf die Beifahrerseite. Eilfertig öffnete er die Tür. Jaydon liebte große Auftritte, deshalb hatte er sein Team vorausgeschickt. Frühzeitig, damit auch alles stand, wenn er eintraf. Schweigend nahm er seinen Stetson vom Rücksitz und ging los. Zwei Schlafzelte, eine Küche und eine große Zeltplane als Sonnenschutz bei der späteren Auswertung der Fundstücke, alles stand ordentlich in Reih und Glied, wie der Professor es haben wollte. Ebenfalls in Reih und Glied stand sein Team: fünf Studenten und Tracy Carter. Sie lächelte ihn an. Jaydon blieb stehen, runzelte unwillig die Stirn. Fünf Studenten? Wieso fünf? Er hatte sechs bestellt! Suchend wanderte sein Blick über die Zelte, den Fuß des Felsens und ein Stück hinauf zum Pueblo. Jaydons Augen weiteten sich ungläubig. Er riss den Stetson vom Kopf, holte alle Luft, die seine Lungen fassen konnten, und brüllte: »Runter daaaaaa!« Der junge Mann auf den Ruinen sprang hoch wie ein Kastenteufel. Er hatte Fotos machen wollen vom Zeltlager, der Landschaft und der schönen Aussicht. Für die Familie daheim. Hätte er auf seinem Antragsbogen zur Teilnahme an dieser Expedition geschummelt, und wäre seine Kondition nicht tatsächlich ausgezeichnet, läge er jetzt vermutlich mit einem Herzinfarkt am Boden, so sehr hatte er sich erschrocken. Hastig kam er heruntergeklettert, und Jaydon wandte sich den anderen Studenten zu. Sie kannten ihren
Professor besser als der arme Kerl auf den Felsen. Simultan traten sie einen Schritt zurück und senkten ihren Blick. Jaydon musterte sie angewidert. Vier junge Männer, zwei bildhübsche junge Mädchen, alle zwischen achtzehn und einundzwanzig. HarvardStudenten, Kinder ihrer Zeit. Jetzt, im Sommer Neunundsechzig, bedeutete das: Flower Power. Mit allem, was dazugehörte. »Gehen Sie zum Friseur, Ben!«, knurrte Jaydon einen der Langhaarigen an. »Und nehmen Sie die anderen gleich mit!« »Jawohl, Professor!«, scholl es so gehorsam wie gelogen zurück. Keuchend kam der Felsenkletterer angerannt. Er trug Jeans mit weitem Schlag, einen quer gestreiften Strickpullover mit V-Ausschnitt und eine Hornbrille. Sie hing schief auf seiner Nase, was ihn verwegener aussehen ließ, als er war. »Es tut mir leid, Professor …« »Aaah!«, stoppte ihn Jaydon scharf. »Sie stehen bereits auf meiner Abschussliste, Heckenross! Noch ein Fehler, und ich schicke Sie heim! Zu Fuß! Und mit heim meine ich nicht Cambridge, sondern das Kaff, dem wir Sie zu verdanken haben. Wie hieß es gleich?« »Dortmund.« »Ja.« Jaydon ging ein paar Schritte Richtung Felsenhügel und wandte sich um, den Studenten zu. Er schwieg eine Weile, bis alles still war und selbst Manolo beim Ausladen des Jeeps innehielt. Dann zeigte er ruckartig hinter sich. »Der Iskatán!«, sagte er mit theatralischer Stimme. »Ein Monolith aus der Kreidezeit. Sandstein, unterhöhlt – was
ein Indiz dafür ist, dass die Gegend hier unter Wasser stand – und wie geschaffen für die primitiven Werkzeuge der frühen Indianer. Sie hießen? Ben?« »Anasazi.« »Das bedeutet, Scott?« »Alte Feinde.« Jaydon sah aus, als müsste er sich übergeben. »Noch mal! Das bedeutet, Susan?« »Feinde der Alten, Professor. Der Terminus stammt aus einem alten Navajo-Dialekt, soweit wir wissen, und durch einen Übersetzungsfehler …« »Ja, ja, schon gut! Mein Gott!«, stöhnte Jaydon genervt und fuhr mit seiner Ansprache fort. »Wir werden die nächsten drei Monate damit verbringen, das ungewöhnlich gut erhaltene Felsenpueblo hinter mir zu erforschen. Alles, auch das kleinste Detail wird vermessen, ausgewertet und katalogisiert.« Er musterte seine Studenten kühl. Die Mädchen übersah er. »Wie Sie wissen, habe ich einen Forschungsauftrag erhalten. Das bedeutet, dass Harvard Ihren Aufenthalt am Iskatán finanziert, und das wiederum bedeutet: Lassen Sie es sich ja nicht einfallen, schlampig zu arbeiten!« Jaydon griff in seine Hemdtasche. »Und noch etwas: keine Joints, kein Love-In, kein Sitin, kein Hare-Krishna-Geplärre. Diesen ganzen Kram können Sie den Hippies überlassen! Sie sind Harvard-Studenten, vergessen Sie das nicht!« Er hielt ein Foto hoch. »So. Hier ist der Grund, warum Sie die nächsten neun Wochen exklusiv in meiner Nähe sein dürfen. Kann mir jemand sagen, was auf dem Foto abgebildet ist? Michelle?« »Ein Traumfänger, Professor.« Der Biss in eine Zitrone hätte Jaydons Gesicht nicht
stärker verzerren können als die Antwort des jungen Mädchens. Michelle trug eine gehäkelte Kappe auf dem hüftlangen Haar, das war der letzte Schrei, und eine passende Umhängetasche. Ihre dünne Batikbluse mit den Trompetenärmeln zeigte mehr, als sie verbarg, und jeder normale Mann wäre entzückt gewesen. Aber Jaydon war kein normaler Mann. Er trat neben seine Studentin und legte einen Arm um ihre Schultern. »Michelle«, seufzte er mit einem Lächeln, das die Augen nie erreichte. »Michelle, Michelle! Möchten Sie deinen väterlichen Rat hören?« »Gern, Professor!« Sie strahlte ihn an. Er nickte. »Ja. Heiraten Sie und setzen Sie ein paar Kinder in die Welt.« Er ließ sie los, und sein Lächeln erlosch wie abgeschaltet. Erneut hielt er den Studenten das Foto hin. »Noch mal! Und beleidigen Sie mich nicht mit einer weiteren geistlosen Selbstverständlichkeit! Also. Was ist auf dem Foto? Ben?« »Ein … ein Stein mit eingeritzter Zeichnung. Sie zeigt … na ja, einen Traumfänger.« Der junge Mann wischte sich nervös übers Kinn. Jaydon starrte ihn an. »Und?« »Äh … das Spinnennetz ist nur angedeutet.« »Mein Gott!« Jaydon verdrehte die Augen. »Das ist so bedeutungslos wie Ihre Existenz! Gerard! Sehen Sie hin!« Der Student mit den ungewöhnlich kurzen Haaren nahm seine Hände aus den Taschen. »Die Zeichnung muss sehr alt sein«, sagte er ruhig. »Sie ist schlicht, ein frühes Werk. Ich würde sie auf das dreizehnte Jahrhundert datieren.« »Und daran tun Sie gut!«, lobte Jaydon. »Wissen Sie
auch, wie das abgebildete Objekt ursprünglich genannt wurde? Der Prototyp?« »Titlahtín.« »Richtig. Und wer hat's erfunden?« »Die Azteken.« »Die Azteken.« Jaydon klopfte dem Studenten im Vorbeigehen auf die Schulter. »Gerard, ich liebe Sie! Herhören, meine Herren!«, bellte er den Rest der Truppe an. Er sagte immer meine Herren, weil Frauen seiner Meinung nach an den Herd gehörten. Jaydon hielt das kleine Bild vor seine Brust. »Ich habe dieses Foto bei einer Grabung in Los Sientos aufgenommen, nahe El Paso, und was Sie darauf sehen, dürfte eigentlich gar nicht existieren! Es ist ein Titlahtín, kein indianischer Traumfänger, wie man an den fehlenden Federn erkennt, und die Zeichnung datiert tatsächlich auf das dreizehnte Jahrhundert. Aber die Abbildungen der Azteken sind alle jüngeren Datums! Zudem gibt es in Los Sientos keine Spur einer aztekischen Besiedlung. Dort wohnten vielmehr …« Jaydon zeigte auf den Felsenhügel. »Anasazi! Und das bedeutet?« Seine Professorenaugen blitzten, als er die eigene Frage beantwortete. »Es gibt möglicherweise eine Verwandtschaft zwischen den beiden Völkern! Da kann ein gewisser Aztekenexperte Zeter und Mordio schreien, bis seine Stimmbänder reißen, das ändert nichts. Die Anasazi traten vor den Azteken in Erscheinung, und sie haben nie in Mexiko gesiedelt. Die Azteken jedoch kamen auf ihrer Langen Wanderung nach Mexiko aus dem Norden, wie Sie hoffentlich wissen. Sie waren also hier! Es ist aber untypisch, dass ein Volk die magischen Objekte vorbeiziehender Fremder übernimmt – und
umgekehrt. Folglich müssen die sich gekannt haben! Und zwar gut!« Jaydon zeigte auf den Felsenhügel. »Wenn wir in dem Pueblo da oben etwas finden, das nach bisheriger Meinung auf die Azteken zurückgeht, irgendetwas Magisches, das man nicht mal eben kopiert, nur weil es hübsch aussieht, dann haben wir den Beweis erbracht, dass eine verwandtschaftliche Beziehung besteht. Damit schreiben wir Geschichte, meine Herren!« Er runzelte die Stirn. »Hmm-m … jedenfalls ich. Also los! An die Arbeit.«
7 � Um 1295 n. Chr. nördliches Grenzgebiet von Mexiko Sie kamen nicht. Weder am nächsten Morgen noch am Morgen danach. Ich weiß nicht, warum mein Volk keinen Suchtrupp entsandte, aber der Grund muss schwerwiegend gewesen sein. Immerhin war eine Transportmaschine mit zwei Piloten überfällig, und die würde man nie ihrem Schicksal überlassen. So klammerte ich mich an die Überzeugung, dass es nur ein vorübergehendes Problem sein konnte. Vielleicht eine ungewöhnliche Schlechtwetterlage, die den Start des Suchtrupps verhinderte. Oder eine Störung innerhalb der Raum-Zeit-Anomalie. Ich dachte an die Lichtwürmer, die mich während des Durchflugs berührt hatten, und ich erinnerte mich, dass sie nach einer Weile wieder verschwanden. Ich brauchte mir also keine Sorgen zu machen. Sie würden kommen. Sie mussten! Auch nach meinem Bogenschuss, mit dem ich den anaa sází bewies, dass ich nicht gänzlich unfähig war, wurde ich von ihnen nur geduldet. Heute frage ich mich, was ich damals eigentlich erwartet hatte. Unsere Völker waren verfeindet, und angesichts der großen Schuld meines Volkes fielen ein paar aus dem Fluss geborgene Indianer nicht ins Gewicht. Zu jener Zeit sah ich das anders. Ich war nur allzu bereit, meine eigene Rolle in diesem ungleichen Krieg zu vergessen. Ich dachte nicht an mich als den Mann, der eine Maschine voll verängstigter Menschen gegen ihren Willen zu einem fremden Planeten flog. Ich sah mich als Gestrandeten, der andere gerettet hatte und dafür keine Anerkennung fand.
Wovoka hörte auf, in meiner Sprache zu reden. Ich konnte vortragen, was mir auf dem Herzen lag, und ich wusste, dass er mich verstand. Doch er antwortete nur noch in der Sprache der anaa sází. Ich hielt es für eine Schikane, und zwar für eine von vielen. Aber wenigstens drehten mir die Indianer nicht mehr den Rücken zu, und ich durfte mit ihnen am Lagerfeuer sitzen. Dafür war ich dankbar nach meinem Erlebnis mit den Apachen. Ihretwegen brachen wir einen Tag später auf. Es war zu gefährlich, an dieser Stelle des Ufers zu bleiben, überhaupt auf dieser Seite des Flusses. Also folgten wir seinem Verlauf bis zu einer Furt, und dort wechselten wir über. Wovoka führte seine Leute nordwärts, zurück in die Lichtung, aus der unsere Maschine gekommen war. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es der falsche Weg war, dass er die entgegengesetzte Richtung einschlagen musste, wenn er den Landeplatz eines Überschallfliegers finden wollte, der über dem Iskatán hereinkam. So nannten wir den Felsenhügel, der sich im Moment des Austritts aus der Anomalie unter unseren Maschinen befand. Doch der Häuptling schlug meine Worte in den Wind. Vielleicht misstraute er ihnen, vielleicht überforderten sie ihn auch. Für Wovoka war unser hochmoderner Transporter ein Vogel aus Eisen. Und Vögel, das wusste er, konnten landen, wo sie wollten. Also warum nicht auch in nördlicher Richtung? Das Land auf der anderen Seite des Flusses (er hieß Rio Grande, wie ich später erfuhr) war grün und bewaldet, mit reichem Wildbestand. Die Fische hingen mir zum Hals heraus, und ich hätte liebend gern wieder einmal etwas anderes gegessen. Das sagte ich dem Häuptling, als er gerade einen saftigen Kaninchenbraten vermehrte. Aber statt das Fleisch mit mir zu teilen, rief er Saiapi herbei, den Jungen, der so
sicher war, er könnte mich beim Bogenschießen übertreffen. Wovoka trug ihm auf, mir das jagen beizubringen, und ich hatte plötzlich großen Appetit auf Fisch. Doch ich musste es lernen, wie vieles andere auch. Nichts ist mir so schwergefallen. Saiapi, was Jagender Fuchs bedeutet, machte seinem Namen alle Ehre. Er brachte mir das Spurenlesen bei, und wie man den Wind prüft, um sich gegen ihn anzuschleichen, damit das Wild nicht vorzeitig aufmerksam wird. Er zeigte mir auch den schnellen, gnädigen Schnitt, der die Beute von ihrer Qual erlöst. Anfangs wurde mir davon übel. Als ich meinen ersten Hirsch geschossen hatte und ihn häuten sollte, erbrach ich mich, bis nichts mehr in mir war. Auch keine Kraft. Saiapi musste die Arbeit allein verrichten, und er lachte Tränen über den großen weißen Mann mit dem grünen Gesicht. Ich nahm es ihm nicht krumm. Irgendwie mochte ich den Jungen. Saiapi sah anders aus als sein Volk; feingliedriger, mit markanten Gesichtszügen. Er wuchs ohne Mutter auf, und ich hatte den heimlichen Verdacht, dass sie eine Weiße war. Gefragt habe ich nie. Indianer mögen es nicht, wenn man ihre Familiengeheimnisse thematisiert. Genauso wenig mögen sie es, wenn man in ihr Land eindringt. Und ihr Wild jagt. Das lernte ich, als die Navajo auftauchten. »Du solltest mit der Lederfrau sprechen«, sagte Saiapi. Leichtfüßig schritt er durch den lichter werdenden Wald, einen erlegten Dachs im Griff, den Bogen über die Schulter gehängt. Hotake runzelte die Stirn. »Lederfrau?« »Ja.« Der junge Indianer nickte. »So nennen wir sie. Die
Lederfrau kann dir zeigen, wie man ein neues … ein neues … äh – Ding näht.« »Du meinst eine Unterhose?« Hotake sah an sich herunter. Das graue Gummiband auf seinen Hüften hielt den zerrissenen, schmutzigen Stoff nur noch mühsam fest. Saiapi verzog die Mundwinkel. »Nein, das tragen Männer nicht.« Er verbesserte sich rasch. »Ich meinte, das tragen Anasazi-Männer nicht! Es beschämt einen vor den Frauen, wenn man seine Bedeckung herunterziehen muss, bevor man sich hinhockt zum … du weißt schon.« »Ich weiß«, sagte Hotake. Er kannte das Gefühl. Flüchtig blickte er nach oben. Der Himmel jenseits der rauschenden Baumkronen war makellos; ohne Kondensstreifen, ohne Bewegung. Kein Schatten schob sich über den Wald, kein erlösendes Geräusch verlangsamender Triebwerke war zu hören. Sie kamen nicht. Hotake wechselte sein geschossenes Hirschkalb auf die andere Schulter. Er musste dazu stehen bleiben, und er hantierte ungeschickt mit dem schweren Wild. Dann fiel auch noch sein Bogen herunter. Saiapi hob ihn schweigend für ihn auf. Wochen waren vergangen seit dem Absturz der Transportmaschine. Hotake hatte aufgehört, die Tage zu zählen, sah auch nicht mehr ständig nach seinem Tracker. Diese Geräte waren äußerst zuverlässig. Sie wurden über eine Kontaktfläche durch körpereigene Energie betrieben, und wenn man sie nicht gerade an einen Felsen schmetterte, hielten sie für die Ewigkeit. Halb verdeckt von Hotakes Jagdbeute, baumelte das Titlahtín an der Kette, streifte im Takt der Schritte über
seine nackte Brust. Sie hatte mehrere Sonnenbrände hinter sich; die Haut hatte sich gepellt, regeneriert, und sie nahm allmählich Farbe an. Überhaupt sah der junge Weiße inzwischen anders aus. Sein Haar wuchs; Kinn und Wangen waren mit frisch verheilten Schnitten bedeckt. Wovoka hatte ihm ein Messer in die Hand gedrückt und befohlen, er solle sich rasieren. Denn, so sagte der alte Häuptling, ein aufrichtiger Mann würde sein Gesicht nicht unter Haaren verbergen. Mann! Ich kann einiges erzählen, wenn ich nach Hause komme, dachte Hotake. Durch den Waldrand schimmerte bereits das wogende Gras der Prärie. Fünfhundert Meter weiter, in einer Senke am Fluss, hatten die Anasazi ihr Lager aufgeschlagen. Provisorisch, denn sie wollten weiter nach Norden. Rauch stieg auf. Hotake grinste: Es war nicht mal Mittag, das Essen hing noch über seiner Schulter, und die Indianer schürten bereits … »Halt!«, raunte Saiapi scharf. Er sank herunter, legte Köcher, Beute und Bogen auf dem Waldboden ab. Dann zog er sein Messer und nickte Hotake zu. »Warte hier!« Lautlos bewegte sich der Indianerjunge vorwärts, tauchte ins hohe Gras, verschwand. Hotake sah ihm stirnrunzelnd hinterher. Er fand keine Erklärung dafür, warum Saiapi so auf den Rauch reagierte, der eindeutig von einem Einzelfeuer stammte und nicht etwa von einem Flächenbrand. Doch Hotake wusste inzwischen, dass Indianer wenig Humor besaßen. Er konnte sicher sein, dass der Junge kein Spiel mit ihm trieb. Also setzte er sich hin und wartete. Und wartete. Nichts geschah. Weder hörte der Rauch auf, noch
kehrte Saiapi zurück, und allmählich dämmerte es Hotake, dass im Lager der Anasazi etwas nicht stimmte. Sollten am Ende die Apachen wieder aufgetaucht sein? Der Gedanke entsetzte ihn. Er wusste inzwischen, was Skalpieren bedeutete und was die Apachen sonst noch mit ihren Gefangenen machten. Letzteres war es, was Hotake auf die Füße trieb. Er dachte an Saiapi, den schlanken, feingliedrigen Jungen, der so gern ein Mann sein wollte. Sie würden ihn … »Nein!«, unterbrach Hotake seine eigenen Gedanken. »Nein! Auf keinen Fall!« Geduckt lief er zum Waldrand, tauchte ins Gras und kroch los. Hotake war noch weit davon entfernt, sich wie ein Indianer zu bewegen: Dort, wo lediglich ein paar zerknickte Halme Saiapis Fährte markierten, hinterließ er eine platte Schneise. Aber er hatte zumindest schon gelernt, sich anzuschleichen. Etwas brannte im Lager, und was immer es war, stieg in schwarzen Wolken aus der Senke auf. Hotake kroch bis an den Rand, blickte hinunter. Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Diesseits des Feuers hockten die Anasazi am Boden, eng zusammengetrieben. Mehr als fünfzig fremde Indianer waren im Lager unterwegs, ausnahmslos Männer, alle bewaffnet. Sie durchwühlten die wenigen Habseligkeiten der Anasazi, warfen den erbärmlichen Vorrat an Früchten ins Feuer, zertraten die Fische. Neben dem Feuer stand die Lederfrau, raufte ihre Haare und jammerte laut, denn in den Flammen verbrannte soeben der kleine Stapel Tierhäute, den die Jäger herangeschafft hatten. Hotake biss sich auf die Lippen. Wenigstens waren die Fremden keine Apachen! Sie vergriffen sich nur an
Gegenständen, nicht an den Menschen. Doch auch das war zu viel und musste aufhören. Er nickte entschlossen. Jetzt. Sofort! »Wovoka!« Der alte Häuptling verzog keine Miene. Er saß da, wie aus Stein gemeißelt, lehnte sich nur eine Winzigkeit zurück. Näher an das Gras. Vor ihm lärmten die Fremden, hinter ihm glaubte Hotake, er hätte sich unbemerkt angeschlichen. »Was sind das für Leute?«, raunte er. Wovoka drehte den Kopf ein Stück dem Schamanen neben sich zu, als er antwortete. Die beiden hielten Blickkontakt, und es musste für alle anderen so aussehen, als sprächen sie miteinander. »Navajo. Ihnen gehört das Land. Sie glauben, wir wären Freunde ihrer Feinde.« »Kennst du sie? Ich meine, von … früher?« »Nein. Sie haben dort nie gelebt.« »Das ist gut!« Hotake gab seine Deckung auf. Er klopfte dem Häuptling auf die Schulter, als er aus dem Gras kroch. »Das ist sogar sehr gut!« Wovoka und sein Schamane tauschten noch erstaunte Blicke, da richtete sich Hotake bereits auf und stieg über ihre gekreuzten Beine hinweg. Die Lederfrau hörte auf zu jammern, die Navajo blickten herüber, alles wurde still. Der Schamane beugte sich zur Seite, wollte etwas sagen, doch Wovoka winkte unauffällig ab. Ganz allein stand Hotake da, mitten im Lager, eine Hand auf der Brust. Er wirkte so gelassen. Nur das korrespondierende Blinklicht auf dem Titlahtín hätte
verraten können, wie hart sein Herz gegen die Rippen schlug, aber er hielt es verdeckt. Die Verblüffung der Navajo-Krieger verebbte, sie kamen schon auf ihn zu. Hotake wandte sich an Wovoka und sagte zu ihm in der Sprache der Weißen: »Wenn du leben willst, gehorche mir und übersetze!« Ein flüchtiges Lächeln umhuschte seine Mundwinkel. Wovoka hatte fast dasselbe zu ihm gesagt, als die Apachen auftauchten. Nun musste der Häuptling die eigenen Worte schlucken. Man sah ihm nicht an, was er dachte. Hotake drehte sich den Navajo zu, die ihn misstrauisch beäugten. Er sah fremd aus mit seiner hellen Haut, den untypischen Gesichtszügen und dem Ding aus Stoff um seine Lenden. Die Indianer hatten nie einen Mann wie ihn gesehen. Im dreizehnten Jahrhundert gab es noch keine Weißen auf dem Kontinent. Hotake wusste das. Er reckte das Kinn hoch und rief: »Ich komme von einem anderen Planeten!« Wovoka übersetzte es mit: »Ich bin ein Bote der Götter.« Hotake stutzte, dachte nach. Dann zeigte er auf die Anasazi. »Und die Götter sagen: Wenn ihr nicht wollt, dass großes Unheil über euch kommt, dann lasst ihr dieses Volk in Frieden!« »Das sagen die Götter, ja?« Ein Mann zwängte sich durch die Reihen der Krieger. Er trat zu Hotake, schlug sich vor die Brust. »Ich bin Barboncito, Häuptling der Navajo. Von welchen Göttern sprichst du?« Hotake wurde es heiß unter der Haut. Er verstand noch nicht jedes Wort der Indianersprache, aber doch genug, um zu erkennen, dass er in Schwierigkeiten war. Hotake
kannte keine Gottheiten. Er starrte den fremden Häuptling an, als würde er ihm antworten, und bat Wovoka in der Sprache der Weißen: »Sag was!« »Alle Götter.« Wovoka breitete die Hände aus. »Der Bote spricht von allen Göttern!« »Natürlich.« Barboncito musterte Hotake von oben bis unten. Man sah ihm an, wie wenig ihn die Geschichte überzeugte. Er war ein schmächtiger Mann mit spitzem Gesicht und großen Augen. Barboncito trug ein Stirnband über den zottigen Haaren, und er wirkte alles in allem etwas weibisch. Doch der Blick verriet den Häuptling in ihm. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte er zu Hotake, während er sein Messer zog und wie absichtslos damit spielte. »Ein fremdes Volk dringt in mein Land ein, tötet mein Wild, fängt meine Fische. Ich will das Volk vertreiben, da kommt ein Bote der Götter und sagt, großes Unheil würde mich treffen, wenn ich es täte. Stimmt das so weit?« »Es stimmt.« »Ah!« Barboncito beugte sich lauernd vor. »Und welches Zeichen haben die Götter dir mitgegeben, damit ich weiß, dass du wirklich ihr Bote bist und nicht etwa eine blasshäutige Missgeburt, der ich gleich die Zunge herausschneiden werde?« »Dieses«, sagte Hotake ruhig und ließ seine Hand sinken. Barboncito sprang mit einem Schreckensschrei zurück. Das rote Licht auf dem Titlahtín pochte wie ein Vogelherz, und es entsetzte den Navajo, denn er starrte auf etwas, das es in seiner Welt nicht gab. »Was … was ist das?«, fragte er und bemühte sich
tapfer, stehen zu bleiben. Durch die Reihen hinter ihm ging ein verunsichertes Raunen. Die Navajo-Krieger fühlten sich offenbar nicht mehr ganz so groß und überlegen. Hotake merkte es und giftete in der Sprache der Weißen: »Das ist ein Tracker, du Scheißkerl! Und herzlichen Dank auch, dass du das ganze Leder verbrannt hast! Deinetwegen muss ich jetzt weiterhin in dieser Unterhose herumlaufen!« Barboncito warf einen fragenden Blick auf den Häuptling. Wovoka übersetzte ihm, ohne eine Miene zu verziehen: »Es ist das Auge der Götter, und es wacht über mein Volk.« Der Navajo stutzte. »Das ist alles? Er hat doch noch mehr gesagt!« »Ja, das hat er.« Wovoka nickte. »Aber die anderen Worte waren an mich gerichtet.« »Ich will sie hören! Sprich!«, verlangte Barboncito. Wovoka tat, als könnte er sich dazu nur mit Mühe durchringen. Scheinbar widerstrebend sagte er: »Der Bote hat mir befohlen zu verhandeln.« Er zögerte. »Und das, obwohl du meine Vorräte zerstört hast!« »Es waren nicht deine Vorräte, sondern meine!« Schnellen Schrittes ging Barboncito auf den AnasaziHäuptling zu. »Ich und der Bote sind einer Meinung! Verhandle mit mir!« Wovoka und Barboncito sprachen lange miteinander. Es zeigte sich, dass die anaa sází auf Dauer nicht im Land der Navajo bleiben konnten: Hier lebte bereits ein zweites Volk, die Acoma. Mit denen hatte Barboncito zwar ein Abkommen ausgehandelt, aber der Frieden war brüchig. Er wurde zudem
noch durch die ständigen Überfälle der Apachen strapaziert, die ausschließlich dem Besitz der Acoma galten, weil Navajo und Apachen verwandte Stämme waren, wie wir hörten. Das Ganze ließ keinen Platz mehr für weitere Siedler. Doch der nachhaltige Schrecken, den das Titlahtín hervorrief, verschaffte den anaa sází wenigstens ein Bleiberecht bis zum nächsten Frühjahr. Sie waren dankbar dafür, denn der Sommer ging zur Neige, und es wäre schwer geworden, mit neunzig Menschen bei schlechtem Wetter auf die Wanderung zu gehen. Vor allem wusste niemand, wohin. Wovoka zog es nach Norden, doch Barboncito wehrte ab. Er sagte, das Land gehöre bis zum Horizont den Navajo, und auch dahinter sei alles längst besiedelt, das hätten ihm Nomaden erzählt. Doch in den Süden, sagte der NavajoHäuptling, da könnten wir hin. Diese Auskunft erfreute mich, obwohl ich nicht damit rechnete, in ein paar Monaten noch immer bei den anaa sází zu sein. Irgendwo in südlicher Richtung war die Transportmaschine abgestürzt. Wenn man mich bis dahin nicht gerettet hatte, würde ich vielleicht etwas über ihr Schicksal erfahren, und das des Piloten. Am Ende hatte der Mann überlebt und war wie ich ein Gefangener der Notwendigkeit, sich mit den Feinden der Alten zu arrangieren! So dachte ich damals. Ich wollte kein Indianer sein und keiner werden. Ich gehörte zu meinem eigenen Volk, der überlegenen weißen Rasse. Falls es einen Gott gibt, hoffe ich, dass er mir diesen Hochmut verzeiht. Wir verließen das zerstörte Lager am Fluss und folgten den Navajo zu ihrer Siedlung. Häuptling Barboncito sagte, es wäre zu unserem eigenen Schutz wenn wir in seiner Nähe blieben, wegen der Apachen. Doch ich glaube, er wollte uns nur im Auge behalten. Immerhin waren wir Fremde, und es gab viel zu stehlen.
Die anaa sází waren Waldindianer, sie kannten weder Ackerbau noch Viehzucht. Sie kannten auch keine Häuser, und das machte ihr Eintreffen im Navajo-Dorf zu einem Fest des Staunens. Wie Kinder liefen Wovokas Leute dort herum, betasteten all das Fremde, Neue, lobten es überschwänglich. Und immer wieder legten sie ihre Hände an die Häuser. Es waren runde Bauten, die Hogan genannt wurden. Sie bestanden aus aufrecht in den Boden gesetzten Baumstämmen, abgedichtet mit Lehm, und einem Dach aus Reisig und angehäufter Erde. Fenster gab es nicht. Der Eingang geigte stets nach Osten, weil man so die aufgehende Sonne sah und sie begrüßen konnte, wie Barboncito uns erklärte. Das Verhalten der anaa sází schmeichelte den Navajo. Als sie dann noch erfuhren, dass die neuen Nachbarn ausgezeichnete Jäger waren, zündete der Funke einer Eintracht, die bis zu unserem Aufbruch im nächsten Frühjahr anhielt. Die Stärke der Navajo lag im Ackerbau und in der Viehzucht. Wir lernten von ihnen, wie man Mais anpflanzt und Ziegen hält. Die anaa sází brachten ihnen dafür die Kunst des Jagens bei. Auch die Frauen tauschten ihre Kenntnisse aus: Decken weben gegen Lederverarbeitung, Ziegen melken gegen Kräuterrezepte. Bis zum Herbst hatten wir eigene Hogans gebaut. Sie waren leicht zwischen den Navajo-Häusern zu erkennen, aber sie hielten, und darauf kam es an. Die Nächte wurden kalt; die Sonne verlor ihre Kraft, das Laub der Wälder färbte sich rot und golden. Ich ging in jenen Tagen oft allein an den Fluss, wo die Beeren reiften und taubedeckte Spinnweben wie Geschmeide glitzerten. Die Lederfrau hatte sich erbarmt und mir vernünftige Kleidung genäht, dazu trug ich eine gewebte Navajo-Decke als Umhang. Wieder und wieder saß ich im spärlich werdenden Ufergras und sah den wilden Vögeln zu
bei ihrem Flug nach Süden. Mein Herz war so schwer. Sie kamen nicht! Kein Rettungstrupp meines Volkes erschien, und ich fühlte mich so verloren. So einsam. Auch das Navajo-Mädchen, das irgendwie Gefallen an mir gefunden hatte, konnte mich nicht trösten. Ich begehrte sie nicht. Obwohl ich ausgehungert war nach Liebe und zärtlicher Nähe, brachte ich es nicht fertig, eine Indianerin zu berühren. In diesem Fall war es gut, trotz aller Arroganz. Barboncito hätte mir die Kehle aufgeschlitzt, wenn ich seiner Nichte zu nahe getreten wäre. Eines Morgens war der Tau an den Spinnweben zu Eis gefroren. Raureif bedeckte das Gras, und allmählich wurden die Wälder kahl. Wir schossen, was uns vor die Pfeile kam, denn die Vorräte an Mais und Bohnen der Navajo waren begrenzt. Das Fleisch banden wir auf die Hausdächer und deckten es mit Reisig ab, um es vor den Vögeln zu schützen. Solange es noch Sonnenstunden gab, wurden die Häute zu Leder verarbeitet. Wir verhängten damit die zugigen Innenwände unserer Hogans. Dann kam der Winter. Wir hatten Bodenkuhlen in den Häusern ausgehoben, wie die Navajo es uns gelehrt hatten. Aber wenn wir darin ein Feuer entfachten, und das war unerlässlich bei der Kälte, mussten wir den Eingang öffnen, sonst wären wir am Rauch erstickt. Die Luft, die hereinzog, war eisig, und es dauerte nicht lange, bis die ersten anaa sází krank wurden. Hustend und frierend drängten wir uns zusammen, auf gewebten Decken, und versuchten uns gegenseitig zu wärmen. Draußen heulte der Wind, und eines Nachts, nach dem ersten Schneefall, mischte sich noch ein anderes Heulen darunter. Morgens fanden wir die Spuren großer Pfoten vor dem Eingang. Wölfe! Wir verließen die Hogans seitdem nur noch, wenn es unvermeidlich war, und
auch dann stets zu zweit und bewaffnet. In dieser Zeit bewies der Indianerjunge Saiapi, der mir das jagen beigebracht hatte, ein erstaunliches weiteres Talent. Eines Tages kam er zu mir und zeigte mir ein Totem, das er erschaffen hatte. Es bestand aus einem flachen Stein, knapp so groß wie mein Handteller, mit einer eingeritzten Zeichnung darauf. Es war das perfekte Abbild des Titlahtíns! Saiapi hatte es aus der Erinnerung angefertigt. Wahrscheinlich glaubte er nach meiner Einmischung bei der ersten Begegnung mit den Navajo, dass das Titlahtín Mut verlieh. So trug er den Stein eine ganze Weile mit sich herum. Aber irgendwann war das Totem fort. Ich weiß nicht, was aus ihm wurde. Viele Wochen lang hielt der Winter das Land mit eisiger, unbarmherziger Hand umklammert. Es war mein erster auf Erden, und obwohl ihm noch so viele folgten, werde ich diesen einen nie vergessen. Er lehrte mich, wie klein der Mensch ist im Angesicht der Natur, und wie wenig er ihr letztlich entgegensetzen kann. Als das erste Frühlingsgrün erschien, hatten wir acht anaa sází verloren. Einer von ihnen war Wovoka. Wir begruben ihn an der Biegung des Flusses, mit dem Gesicht nach Norden. So konnte der alte Häuptling, auch wenn er sein Ziel nicht erreicht hatte, es doch immer sehen. Wovoka hat mir nie gesagt, warum er unbedingt zum Iskatán wollte. Vielleicht war es nur eine fixe Idee. Aber vielleicht wusste er auch irgendwie, dass das Schicksal seines Volkes mit diesem Felsenhügel verknüpft war. Möglich wäre es, denn er war ein weiser Mann. Sommer 1969 »Können wir jetzt, meine Herren?«, rief Jaydon ungeduldig. Der Archäologe war bereits seit zwanzig Minuten hier am Iskatán, hatte seine Ansprache gehalten
und wollte endlich zur Besichtigung des Felsenpueblos schreiten. Er verzog den Mund. Es hätte eigentlich Erstbesichtigung heißen sollen, aber der Deutsche war ihm zuvorgekommen mit seiner unerlaubten Kletterpartie. Wie hieß er gleich? Hachenrath! Das konnte kein Mensch aussprechen, jedenfalls kein Amerikaner. Jaydon hatte es versucht, und dabei war »Heckenross« herausgekommen, mit gerolltem R und dem gelispelten englischen S am Ende. Hachenrath hatte sich verwundert nach allen Seiten umgesehen, fühlte sich wohl nicht angesprochen. Seitdem stand er auf der Abschussliste. Jaydon fuhr zusammen, als hinten bei den Wagen ein Transistorradio zu grölendem Leben erwachte. I cant get no Satisfaction dröhnte es die Felsen hinauf, vorgetragen von diesen Langhaarigen aus England, die Amerikas Jugend seit ein paar Jahren mit ihren Drogenexzessen und schmutzigen Liedertexten vergifteten. Der Professor wurde puterrot. »Das Ding aus!«, brüllte er wütend. »Aber Jaydon! Nun lass sie doch.« Tracy Carter trat neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter. »Sie sind jung!« »Sie sind Harvard-Studenten«, verbesserte der Fünfunddreißigjährige unwirsch und zog ihre Hand fort. Tracy, ein roter Lockenkopf, war seine persönliche Assistentin. Tracy war zudem im siebten Monat schwanger. Das hatte sie der Make-Love-not-War!Gesinnung, die neuerdings durchs Land spukte, zu verdanken. Und Jaydon natürlich. Auch wenn er es abstritt. Als die Rolling Stones befehlsgemäß verstummten,
konnte man hören, dass es einen Streit bei den Wagen gab. Manolo, Jaydons mexikanischer Fahrer, hatte mit seinem Jeep noch ein paar spezielle Ausrüstungsgegenstände an den Iskatán gebracht. Die Studenten sollten nur kurz beim Ausladen helfen. Aber einer von ihnen stellte sich offenbar quer, und der Klang seiner Stimme wurde drohend. Jaydon setzte sich eilig in Bewegung. »Was ist hier los?«, herrschte er die jungen Leute an. Sie traten auseinander, und Jaydon erschrak. Gerard, der Student mit den auffällig kurzen Haaren, hatte Manolo am Hemd gepackt, holte soeben mit der Faust aus. Sein Gesicht war von Hass verzerrt. Der Archäologe machte einen Schritt auf ihn zu und forderte ruhig: »Gerard! Sehen Sie mich an! Kommen Sie, sehen Sie mich an!« Als der Student gehorchte, hob Jaydon beschwichtigend die Hände. »Sie sind zu klug, um den Mann zu schlagen, Gerard. Sie wissen, dass er Ihnen nichts getan hat, und Sie wissen auch, dass Sie Ihren Studienplatz verlieren, wenn Sie gewalttätig werden. Sagen Sie mir, was das Problem ist, und ich werde es lösen. Aber lassen Sie den Mann los.« »Sie wollen wissen, was das Problem ist, ja?« Gerard stieß den Mexikaner fort und langte in den Jeep. Er hatte Tränen in den Augen, als er ein Gewehr vom Rücksitz hob und es Jaydon hinhielt. »Das ist ein M-16 – Sir!« Gerard bellte das letzte Wort heraus, wie ein Soldat es tun würde, und das war er auch: Corporal Gerard Taylor, ein neunzehnjähriger, ahnungsloser Idealist, der sich freiwillig gemeldet hatte. Im Mai war er aus Vietnam zurückgekehrt. Ehrenhaft entlassen, mit einem Purple
Heart (Verwundetenauszeichnung) und einer Seele, die nie mehr heilen würde. Gerard hatte zu viel gesehen, und zu viel getan. Der Anblick einer Waffe ließ ihn überreagieren. Jaydon nahm ihm das Gewehr ab. »M-16, die haben Sie drüben verwendet, ja?« Drüben, das war Vietnam. »Ja – Sir.« »Ist schon gut, Gerard!« Der Archäologe beugte sich vor, drückte den Arm seines Studenten. »Die Waffen sind nur hier für den Fall, dass nachts gefährliche Viecher auftauchen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Niemand schießt damit auf Menschen.« Jaydon und Manolo tauschten einen heimlichen Blick nach dieser Lüge. Es gab keine gefährlichen Viecher in der Cookes Range; zumindest keine, für die man ein Gewehr benötigte. Aber in Las Cruces würde es sich bald herumsprechen, dass eine kleine Expedition zum Iskatán aufgebrochen war, und in Las Cruces wohnten nicht nur ehrenwerte Leute. Am Ende des ersten Tages hatte Norbert Hachenrath Kopfschmerzen von den vielen Eindrücken. Der Zwanzigjährige wollte eine präzise Dokumentation seines Aufenthalts am Iskatán anfertigen, und so saß er, während seine Kommilitonen ein Lagerfeuer entfachten, mit Bleistift und Notizbuch auf den Felsen am Rande des Indianerpueblos. Penibel schrieb er auf, was sich ereignet hatte. Der junge Mann aus Dortmund studierte amerikanische Geschichte an der Universität in Bonn und hatte, was in den Sechzigern eine Seltenheit war, ein
Stipendium gewonnen. Nach Harvard! Das war wie Oxford, nur weiter weg. Wer da studierte, aus dem wurde was, und der Glanz seines Ruhms strahlte nicht nur auf die Verwandtschaft zurück. Nein, auf ganz Dortmund! Hachenrath war sich der Erwartungen bewusst, die in der Heimat an seine Amerikareise geknüpft wurden. Sein Vater war Zahnarzt. Er verdiente gut und konnte den Jungen ordentlich ausstatten. Er hatte ihm sogar eine Kamera gekauft, das neueste Modell auf dem Markt: die Agfa Optima 500, mit Kleinbildpatrone und separatem Blitzlichtgerät. Die anderen Studenten besaßen Kodak Instamatics. Da legte man simple Filmkassetten ein, die zwölf oder zwanzig Bilder erlaubten, und steckte Blitzwürfel auf. Weit brachte einen das nicht, wenn man das Innere der Felsenhöhlen fotografieren wollte. Und das wollte Hachenrath, obwohl es der Professor strikt verboten hatte. Eins nach dem anderen, Heckenross!, hatte er geraunzt. Wir gehen hier methodisch vor! In Amerika wird erst gedacht und dann gehandelt. Deshalb sieht es bei uns auch nicht so aus wie bei euch! Das hatte Hachenrath getroffen. Doch den Amerikanern widersprach man nicht. Schon gar nicht nach ihrer Mondlandung vor zwei Wochen, die Hachenrath im Fernseher seiner Gastfamilie verfolgt hatte. That's a small step for man, one giant leap for mankind, hatte Neil Armstrong gesagt. Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit. Das stimmte, und weil Deutschlands zeitgleiche größte Leistung nur die Besiegelung des Gründungsvertrags der Gesamtgesellschaft Ruhrkohle-
AG war, hielt der junge Mann den Mund. Bis Einbruch der Dunkelheit saß Hachenrath auf den Felsen. Er notierte, welche Häuser man besichtigt hatte, in welchem Zustand sie sich befanden und natürlich, dick unterstrichen, das Ziel des Professors. Wir suchen ein Titlahtín, keinen Traumfänger, schrieb er. Dann klappte er das Buch zu und stand auf. Hachenrath knurrte der Magen. Es wurde auch ein bisschen kühl, und eigentlich wollte er jetzt hinuntersteigen zum Lagerfeuer. Aber da war etwas an den dunklen Felsen, das ihn wie magisch anzog. Als gäbe es dort ein Geheimnis, das nur darauf wartete, von ihm – Norbert Hachenrath – entdeckt zu werden. Unschlüssig blickte er auf seinen Rucksack. Es war alles drin, was er brauchte: Kamera, Taschenlampe, Notizbuch … Nur kein Mut. Den musste er selber aufbringen. Hachenrath schob seine Brille hoch, nickte entschlossen und setzte sich in Bewegung. »Ich warne Sie, Heckenross! Wenn da nicht mindestens das Gold der Azteken rumliegt, drehe ich Ihnen den Hals um!«, drohte Jaydon etwa eine Stunde später, während er dem Deutschen zu den Felsenhöhlen folgte. Hachenrath war in sein Zelt eingedrungen – das musste man sich mal vorstellen! –, hatte ihn aus dem Schlaf gerüttelt und behauptet, er hätte eine unglaubliche Entdeckung gemacht. »Hier entlang, Professor!«, rief der Student und leuchtete mit seiner Taschenlampe über die Gassen zwischen den Ruinen. Er klang so erregt, dass er Jaydon damit ansteckte.
»Machen Sie es nicht so spannend! Reden Sie schon!«, befahl der Archäologe, aber Hachenrath lehnte ab. Jaydon müsse es sich ansehen, sagte er. Sonst würde er es nicht glauben. Als die Männer den großen Höhleneingang erreichten, entstand ein Moment der Verwirrung, denn Hachenrath leuchtete nicht hinein, sondern auf die mannshohen Felsbrocken rechts daneben. Zwischen ihnen war ein schmaler Durchgang, doch er gab nur den Blick frei auf einen weiteren Felsen, der hinter den beiden stand. Hachenrath zwängte sich durch die Passage, dann an dem hinteren Felsen entlang in Richtung der großen Höhle. Nach ein paar Schritten öffnete sich ein Gang. »Was ist das denn?«, flüsterte Jaydon erstaunt und strich mit der Hand über die glatten Wände. »Als hätten die Anasazi einen Geheimgang angelegt! Das ist völlig untypisch. Heckenross! Wo laufen Sie hin?« »Kommen Sie, Professor! Kommen Sie schon!«, drängte der Student. Jaydon folgte ihm verärgert. »Ihr Verhalten ist unprofessionell. So benehmen sich Erstsemester, aber keine angehenden Historiker! Man forscht systematisch und rennt nicht wie ein kopfloses Huhn durch antike …« Er brach ab. Hachenrath war stehen geblieben und hielt seine Taschenlampe auf die Wand gerichtet. »Sehen Sie sich das an!«, sagte der Student bewegt. Jaydon starrte auf die Felsen wie auf eine Erscheinung. Da waren Schriftzeichen, ein breites Band, das kein Ende zu nehmen schien und irgendwo in der Dunkelheit verschwand. »Wo kommt das denn her?«, ächzte er. Die Anasazi kannten keine Schrift. »Sehen Sie nur! Sehen Sie!« Hachenrath zeigte auf eine
Textstelle. »Das könnte englisch sein!« »Ach, Sie haben sie doch nicht alle!« Jaydon trat neben ihn. Die geritzten Zeichen waren eindeutig von geübter Hand geschaffen. Er las »Mi nemeth ens Inya Hotake«, und sein Herz sank. Man hatte ihm in Las Cruces versichert, dass der Iskatán ein reines Anasazipueblo war und niemand sonst hier je gesiedelt hatte. Und doch stand dieses Geschmiere an der Wand. Es hatte nichts, aber auch gar nichts mit den Anasazi zu tun, erst recht nicht mit den Azteken. Hier hatte sich vor Jahrhunderten jemand verewigt, der zu einem dritten Volk gehörte. Das machte das ganze Pueblo wertlos, denn wer die Höhlenwände bekritzelte, der malte vielleicht auch ein Titlahtín an die Häuser. Jaydon biss sich auf die Zähne, dass es knirschte. Der Iskatán war seine letzte Hoffnung gewesen, die These einer Verwandtschaft zwischen Anasazi und Azteken zu beweisen. Samuel, sein verfluchter Vater, würde sich die Hände reiben vor Schadenfreude, wenn er von Hachenraths Entdeckung erfuhr! Jaydon dachte an die Schmach, die ihn in Harvard erwartete, und an das Ende seiner Karriere. Er stellte sich vor, wie er den Rest seines Lebens mit der Häme des Vaters leben musste, sah die Zeitungsmeldungen vor sich und die Gesichter seiner wissenschaftlichen Kollegen. Dann fasste er einen Entschluss. »Raus hier! Und kein Wort zu den anderen über diesen Fund!«, befahl Jaydon. Morgen würde er mit Manolo sprechen. Wer Waffen besorgen konnte, der wusste sicher auch anderweitig zu helfen.
8 � Wir trauerten vier Wochen um Wovoka. Barboncito, der Navajo-Häuptling, schenkte uns ein Hogan, so sehr hatte selbst ihn Wovoka beeindruckt. Der Schamane sprach in diesem Haus die rituellen Gebete und brachte Opfer dar. Am Ende der vier Wochen wurde das Haus verbrannt, damit seine guten Geister unserem Häuptling folgen konnten. Der Sitte nach schliefen die anaa sází während dieser Zeit getrennt von ihren Frauen. Eigentlich wurde auch gefastet, doch der harte Winter hatte alle sehr geschwächt, und so befahl der neue Anführer, das Fasten auf die Verwendung von Gewürzen zu beschränken. Es war seine erste Entscheidung als Häuptling der anaa sází, und sie bewies, dass Wovoka mit diesem Sohn die richtige Wahl getroffen hatte. Tsheton wakawa máni war sein Name (Der Habicht, der im Gehen jagt). Er war mutig und klug, und er zeigte trotz seiner Jugend schon die Besonnenheit des Vaters. Tsheton hatte im Winter einen Wolf erlegt. Er trug dessen Gesichtsfell auf einem Stirntuch, das war ein ungewohnter Anblick für beide Stämme, und es sah sehr kriegerisch aus. Besonders der Navajo-Häuptling starrte auffällig oft auf diesen Kopfschmuck. Tsheton wartete geduldig, bis die Blicke hungrig wurden, dann bot er Barboncito einen Tauschhandel an: ein Wolfsfell für ein paar Ziegen, ein weiteres gegen etwas Saatgut. Angesichts der Gefährlichkeit der grauen Räuber war das ein guter und gerechter Handel. Barboncito willigte ein, und so machten wir uns auf die Jagd. Auch Saiapi beteiligte sich daran, der Vierzehnjährige, um dessentwillen ich bei unserer ersten Begegnung mit den
Navajo interveniert hatte, trotz meiner Angst. Die Wölfe waren noch in der Nähe, hielten sich in einem Wald auf, der nicht weit vom Dorf der Navajo entfernt lag. Saiapi und ein paar andere Jungen sollten ihn durchkämmen und das Rudel auf ein winterkahles Feld hinaustreiben. Sie brachen nachmittags auf, wanderten um den Wald und errichteten auf der anderen Seite ein Lager. Kurz vor dem Morgengrauen begannen sie von dort mit der Treibjagd. Tsheton und seine Männer hatten eine Stunde zuvor ihre Positionen auf dem Feld bezogen. Es war noch dunkel. Frühnebel zogen um die stille Menschensiedlung, schluckten jede Bewegung, jedes Geräusch. Der alte Wolf misstraute den Häusern. Zu viele unterschiedliche Gerüche entströmten ihnen, das verwirrte die Sinne. Sie waren auch gefährlich, wie er vor ein paar Nächten gelernt hatte. Ein dünner Stock war ins Freie geflogen, schneller als ein Vogel. Er hatte einen Wolf aus dem Rudel getötet, das sich seit dem ersten Schneefall in diesem Revier aufhielt. Aber das war es nicht, was den Einzelgänger so früh am Morgen hertrieb. Die Zweibeiner hatten Fleisch auf ihre Dächer gebunden, das jetzt, im Tauwetter, zu duften begann. Unwiderstehlich für einen hungrigen Wolf. Eine Ziege oder ein Schaf wäre natürlich noch besser gewesen, nur kam er an die nicht heran. Sie waren in den Häusern, denen er misstraute. Lautlos trabte er durchs Dorf, die Schnauze hoch erhoben. Er folgte dem Duft des Fleisches, und er suchte nach einer Möglichkeit, auf die Dächer zu kommen. Einmal hatte er den Sprung vom Boden geschafft, konnte
aber keinen Halt finden auf dem krummen Dach und war in die Tiefe gestürzt. Danach kam der Stock geflogen, der den anderen Wolf tötete. Plötzlich blieb er stehen, fuhr herum. Sein feines Gehör hatte Laute aus der Ferne empfangen. Sie klangen vertraut. Der alte Wolf lief ein Stück auf den Dorfrand zu und stellte sich in den Wind, um die Witterung zu prüfen. Seine Ohren zuckten, er leckte sich erregt übers Maul. Artgenossen! Sie kamen auf das Feld zu, an dessen Ende sein Winterquartier lag, ein verlassenes Ziegenhaus. Dort befanden sich noch Knochen, die er erbeutet hatte. Es war kein Fleisch mehr daran, aber er benagte sie oft an kalten Tagen, wenn der Hunger zu quälend wurde. Das Wolfsrudel lief genau darauf zu. Der Alte wusste, dass er ihm unterlegen war, doch er wollte seinen Besitz nicht kampflos aufgeben. Er zog die Lefzen hoch, knurrte. Dann sprang er los. Saiapi hatte den Waldrand erreicht und blieb stehen. Rechts und links neben ihm tauchten die anderen Indianerjungen auf, beendeten die Treibjagd. Vor ihnen her floh das Wolfsrudel ins Freie, den wartenden Jägern entgegen. Man sah sie nur als verschwommene, dunkle Silhouetten, denn noch immer lag Frühnebel über dem Feld. Saiapi wusste trotzdem, wer sich wo befand. Bei der Jagd hatte jeder seinen festen Platz im großen Halbkreis. Die besten Schützen waren außen positioniert; sie schossen schräg, und ihre Pfeile flogen am weitesten. Gestaffelt neben ihnen befanden sich die anderen Jäger,
und in der Mitte saß immer der, den es am meisten zu schützen galt. Der Häuptling. Saiapi suchte ihn mit Blicken. Er hatte gute Augen, und es dauerte nicht lange, bis er Tsheton erspähte. Man erkannte ihn an der Wolfsmaske; die Ohren standen hoch wie kleine Hörner. Saiapi nickte, zufrieden mit sich selbst, und lächelte. Schon wandte er sich ab. Es ging alles so schnell. Saiapis Lächeln erlosch. Da war plötzlich eine Bewegung. Die Männer sahen sie nicht, sie konzentrierten sich auf das Rudel, begannen zu schießen. Hinter ihnen, vom Dorf her, kam ein großer weißer Wolf aus dem Nebel. Er galoppierte in gerader Linie quer übers Feld. Die äußeren Jäger waren zu weit von ihm entfernt. Aber der eine in der Mitte, auf den lief er zu. Die anderen Jungen sahen ihn auch. Sie schrien eine Warnung, die kam aber nicht an, weil der Nebel wie ein Schalldämpfer wirkte und das Heulen der Wölfe ihre Stimmen übertönte. Saiapi hielt sich nicht mit Schreien auf. Er griff in fließender Bewegung über seine Schulter, zog einen Pfeil, hob den Bogen. Er legte an. Auf einen weißen Wolf im Nebel zu schießen, der zwischen den Männern dahinflog – das war unglaublich gewagt. Saiapi hätte den Häuptling treffen können. Wenige Meter vor Tsheton tanzten die Bodennebel auseinander, gaben einen Moment den Blick frei. Saiapi ließ die Sehne los, und sein Pfeil schoss davon. Unaufhaltsam übers Feld. Mitten hinein in die Flanke des Wolfs. Erst dann versagten die Nerven des Jungen. Als das Tier zu Boden stürzte, fiel Saiapi in Ohnmacht.
Ich war verwirrt und verärgert darüber, dass der Häuptling sich nicht bei seinem Retter bedankte. Es gab auch keine Belohnung für Saiapi: Tsheton hätte ihm wenigstens seine Wolfsmaske überlassen können. Aber die anaa sází betrachteten es als Selbstverständlichkeit, ihren Häuptling zu schützen. Das Fell des weißen Wolfs brachte beim Handel mit den Navajo größeren Gewinn als alle anderen Felle zusammen. Wir erhielten insgesamt mehrere Körbe Saatgut, ein halbes Dutzend Ziegen und einen guten starken Bock dafür. Barboncito schenkte uns dazu noch einige Navajo-Decken. Als die Tage länger wurden und die Sonne an Kraft gewann, brachen wir auf. Nach Süden, ohne festes Ziel. Wir suchten nur einen Ort, an dem der Stamm sich niederlassen konnte, um Ackerbau zu betreiben, Ziegen zu züchten und friedlich zu leben. Ich hatte geglaubt, das wäre kein Problem. Ein paar Tage wandern, vielleicht auch ein paar Wochen, dann hätten wir unseren Platz gefunden. Selten zuvor habe ich mich so geirrt. Um 1295 n. Chr. Mexiko Zweiundachtzig Anasazi, ein Weißer, sechs Ziegen und ein Bock, das war die Aufstellung, als der Stamm das Navajo-Dorf verließ. Häuptling Tsheton wakawa máni fiel die schwierige Aufgabe zu, seine Leute heil durch unbekanntes Gebiet zu führen. Er folgte dabei zunächst dem Rio Grande, durch die Sierra del Huesa, die in jener Zeit, wie viele andere Areale, noch keinen Namen besaß. Das lag hauptsächlich daran, dass dort kaum jemand lebte, weil die hitzeflimmernde Sierra mit ihren Felsen und dem ausgedörrten Boden zu wenig Grundlage bot.
In Höhe der späteren Stadt Ojinaga schwenkte Tsheton nach Südwesten, wanderte den Rio Conchos entlang bis zu einem See. Hier hielten sich die Anasazi eine Weile auf. Sie lernten die Oshara-Nomaden kennen, ein Indianervolk, das die Kunst des Körbeflechtens beherrschte. Allerdings gab es in der Gegend auch aggressive Mexikanerstämme, die fest angesiedelt waren und keine Bereitschaft zeigten, ihr Land mit anderen zu teilen. So zogen die Anasazi schließlich weiter, den Rio Conchos entlang durch die mexikanische Hochebene bis Jimenez. Hier kreuzten sich zwei alte Handelswege, was eigentlich gut war. Sie lockten jedoch so viele Räuber an, dass die Anasazi mehr Zeit auf die Bewachung ihrer Ziegen verwendeten als auf den Ackerbau. Der Häuptling entschied sich gegen einen weiteren Verbleib. Erneut brachen die Anasazi auf, wanderten bis in die Gegend der späteren Stadt Nazas. Dort überquerten sie den gleichnamigen Fluss und wandten sich nach Südosten. Dieser Weg führte sie in ein riesiges Areal, das die Einheimischen Zacatetas (Totengräber) nannten. Silber, Gold und Kupfer wurden dort gewonnen und verarbeitet. Fremde waren unerwünscht. Tsheton behielt die eingeschlagene Richtung bei, auch wenn das Land stetig anstieg. Der Boden wurde grüner und fruchtbarer, und man hörte gelegentlich von vorbeiziehenden Nomaden, dass es weiter im Südosten ein Gebiet gab, in dem Indianer lebten. Da wollten die Anasazi hin. Um 1297 n. Chr., am Ende einer zweijährigen Wanderung von eintausendsechshundertfünfzig Kilometern, erreichten sie ihr Ziel.
Chapultepec hieß das Gebiet, das bedeutet Heuschreckenberg. Wir waren so glücklich, als wir dort ankamen, und so erleichtert. Vor uns lag ein großer See, von fruchtbarem Boden umgeben. Die fünf ansässigen Indianervölker nahmen uns freundlich auf, und wir durften uns in den freien Landstrichen rings um den Texcoco-See einen Platz zum Leben suchen. Wir errichteten unsere Hogans am Westufer, mit Blick auf die fernen Berge und auf zwei Vulkane. Sie hießen Popocatepetl und Iztaccihuatl, und das war der einzige Wermutstropfen an unserem Reiseziel: die Sprache. Mexikanisch hatten wir uns angeeignet auf dem langen Weg, aber was am Texcoco gesprochen wurde, war ein eigener Dialekt. Die Aufgabe, ihn zu erlernen, traf uns alle. Nur der Schock, den das bessere Verständnis auslöste, der traf mich ganz allein. Eines Tages kam eine Abordnung des benachbarten Indianerstamms, um Tauschgeschäfte abzuschließen und unsere Hogans zu besichtigen. Die einfachen Holzbauten erweckten Verwunderung und Neugier, denn hier am Texcoco-See lebte man bereits in gemauerten Häusern. Ich glaube, es war Häuptling Tsheton, der die Frage stellte, warum der Steinbruch im Wasser des Sees endete, was doch recht ungewöhnlich erschien. Die fremden Indianer erzählten uns daraufhin, dass dieser Steinbruch ursprünglich weit entfernt lag, und dass der Texcoco anfangs nur ein kleiner Sumpf gewesen war. Erst vor zwei Jahren sei er auf diese enorme Größe angewachsen, nachdem ein riesiger Vogel vom Himmel stürmte und den See explodieren ließ wie einen Vulkan. In jenem Moment hatte ich das Gefühl, es lachten mir böse Schicksalsmächte ins Gesicht. Ich war in einer fremden Welt gestrandet, allein, ohne Hoffnung. Ich musste mich – und das hatte ich auch – mit Menschen arrangieren, die mir vom ersten
Tag meines Lebens als Feinde meines Volkes vorgestellt wurden. Nach zwei Jahren Wanderung mit ihnen, unter größten Strapazen und Entbehrungen, hatte ich einen Ort gefunden, der mir lebenswert erschien. Ja, ich hatte sogar den Ausblick auf den See genossen. Nur um zu erfahren, dass ich auf das Grab meines Piloten starrte. Ich wurde krank darüber. Ich mochte nichts essen, fand keinen Schlaf mehr. Und ich konnte dieses Wasser nicht trinken. Dieses Wasser … Tagelang saß ich am Ufer, sah hinaus auf den See, hielt Zwiesprache mit meinem Piloten. Vermutlich hatte die Transportmaschine bei der Explosion Gestein zersprengt, das unterirdische Quellen verdeckte. So war der Texcoco entstanden; Lebensspender für die Indianer, die an seinem Ufer wohnten, und Grab meiner Hoffnungen. Irgendwann, nach ein paar Nächten ohne Schlaf und ein paar Tagen ohne Wasser, begann ich, den Piloten zu sehen. Er stand auf der großen, seltsam geformten Insel im Zentrum des Texcoco, und er winkte mir zu. Ich solle herüberkommen, rief er. Wieder und wieder, selbst wenn ich mir die Ohren zuhielt. Und so ging ich in den See. Ich wäre ertrunken, und ich hätte es in meinem Zustand nicht einmal gemerkt. Doch auf der langen Wanderung, irgendwo am Rio Conchos, hatte ich die anaa sází Schwimmen gelehrt. Saiapi zog mich aus dem Wasser. Tsheton ließ mich unter Bewachung stellen, der Schamane betete meine Fieberdämonen fort, und die anderen versuchten, meine Lebensgeister zurückzuholen. Der ganze Stamm beteiligte sich daran. Es war eigentlich Zeit, die Felder zu bestellen, doch die Indianer ließen sie ruhen. Um mich zu retten. Seither habe ich sie nie wieder als anaa sází gesehen, als Feinde der Alten. Zwei Jahre lebten wir am Heuschreckenberg in Ruhe und
Frieden. Unsere Felder brachten gute Erträge, die Ziegenherde wuchs, und wir begannen, Steinhäuser zu bauen. Alles ging seinen geregelten Gang. Ehen wurden geschlossen, Kinder kamen zur Welt. Wir zahlten inzwischen hundertzwanzig … Anasazi, und ich gehörte zu ihnen. Man sah mir nicht mehr an, dass ich ein Weißer war. Ich trug mein Haar lang und in der Mitte gescheitelt wie alle anderen, und meine Haut war tief gebräunt. Die Lederfrau nähte mir die gleichen Kleidungsstücke, die auch alle anderen trugen: Lederschurz, Weste, Mokassins. Ich war auf dem Weg zu ihr, um über den Preis für ein paar neue Schuhe zu verhandeln, als die Hölle ihre Pforten öffnete und das größte, schrecklichste Übel in unsere Richtung spie, das dieser Planet je gesehen hatte. Azteken. Sommer 1969 »Sie waren eine üble Erscheinung, die Azteken«, sagte Jaydon. »Vom Standpunkt des Historikers betrachtet ungemein interessant, aber als Menschen? Übel!« Der Archäologe saß mit seinen Studenten am nächtlichen Lagerfeuer. Es war der einzige Ort, der einzige Zeitpunkt, an dem das Grabungsteam vollzählig beisammen war und sich erholen konnte von der Arbeit des Tages. Jaydon wirkte nervös. Hin und wieder warf er einen raschen Blick auf den Iskatán. Der Mond stand über dem Felsenhügel und ließ sein magisches Silberlicht an den dunklen Steinen herunterfließen. »Erzählen Sie uns von den Azteken, Professor!«, bat einer der Studenten. »Irgendwas Ekliges … ich meine etwas Interessantes!«, ergänzte Michelle. Das schöne Mädchen mit den langen dunklen Haaren war in Ungnade gefallen, deshalb
schmerzten sie auch Jaydons erneute abfällige Blicke wenig. Sie galten Michelles Poncho, einer selbst gehäkelten Komposition in Blau. Das Friedenszeichen war darin eingearbeitet. Jaydon hielt nichts von HippieKram, daraus machte er keinen Hehl. Er nahm auch sonst kein Blatt vor den Mund. »Oh, bitte! Häng die Kugel nicht in mein Gesicht!«, stöhnte er missfällig, als sich Tracy Carter auf seine Schulter stützte, um Michelle eine Colaflasche zu reichen. »Ich liebe dich auch, Jaydon«, sagte die Schwangere ruhig, was den Archäologen heiß erröten ließ. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, seinen Studenten den Eindruck zu vermitteln, er hätte mit Tracy nichts zu tun, wäre also logischerweise auch nicht für ihre Schwangerschaft verantwortlich. Und jetzt sagte die blöde Kuh so was! Michelle fragte: »Wie lange werden Sie bleiben, Miss Carter?« »Nur ein paar Tage.« Tracy richtete sich auf. Sie strich lächelnd über ihren Bauch. »Es dauert zwar noch acht Wochen, aber ich möchte rechtzeitig wieder in Boston sein, ehe es losgeht. Und auf den letzten Moment reisen, das wäre doch ein bisschen …« »Ja. Wir wollten jetzt über die Azteken sprechen«, sagte Jaydon und winkte sie ungeduldig weg. »Peace, man!«, brummte Gerard von der anderen Seite des Feuers her. Der neunzehnjährige Vietnamveteran rauchte etwas, das nicht wie eine Zigarette aussah und wohl auch nicht so wirkte. Seine Augen waren rot umrandet, der Blick endete irgendwo in einer anderen Welt. Jaydon ignorierte den Einwurf. Gerard war der Einzige
weit und breit, der sein kaltes Herz berührte. Warum, das wusste niemand. Jaydon kannte den klugen, talentierten Studenten aus den Semestern vor Vietnam, und er hatte sich dafür eingesetzt, dass Gerard nach Harvard zurückkehren durfte. »Ich werde jetzt über die Azteken sprechen. Und wenn mich noch mal jemand unterbricht, schütte ich persönlich die freigelegte Kiva wieder zu, und Sie dürfen morgen von vorn anfangen«, sagte Jaydon. Es sollte ein Scherz sein. Daran wagte aber niemand zu glauben, und so begann er seinen Vortrag in einer Stille, die nur vom Knistern des Lagerfeuers unterbrochen wurde. »Sie kamen aus dem Norden, von einem mythischen Ort namens Aztlán«, sagte er. »Auf ihrer Suche nach einer neuen Heimat wanderten die Azteken bis hinunter zur heutigen mexikanischen Hauptstadt. Dort gab es einen See, den Texcoco. Als die Azteken ihn zwölfhundertneunundneunzig erreichten, lebten an seinem Westufer fünf Indianervölker. Sie alle fühlten sich zu Recht bedroht, und sie bekämpften die Azteken jahrelang.« Jaydon nickte versonnen. »Anfangs waren die Kerle unterlegen. Sie bettelten sogar darum, in der Gegend bleiben zu dürfen! Man gab ihnen eine Insel auf dem See; ein sumpfiges, stinkendes Schlangennest, von dem man hoffte, es würde die Azteken so abschrecken, dass sie sich freiwillig wieder verzogen. Doch das taten sie nicht.« Ein Ast zerkrachte im Feuer. Funken stoben. »Die Azteken hatten einen Seher, Ténoch, der behauptete, diese Insel sei das Gelobte Land. Deshalb ließen sie sich dort nieder, und sie begannen mit dem Bau einer Stadt, die furchtbare Geschichte schrieb.«
Jaydon starrte in die Flammen. » Tenochtitlán. Merken Sie sich diesen Namen, meine Herren! Er steht für Massenmord und atemberaubende Grausamkeiten!« Der Archäologe erzählte, dass die Azteken immer stärker wurden und ihre Nachbarn schließlich zu Vasallen machten. Sie erhoben Steuern in Form von Naturalien, weil die Felder an den Randgebieten ihrer Insel nicht ausreichten, um den schnell wachsenden Staat mit Nahrung zu versorgen. Die Azteken führten auch einen Kalender ein, der in achtzehn sogenannte Feste unterteilt war und durch fünf eingeschobene Tage auf ein reguläres Sonnenjahr erweitert wurde. Man nannte diese fünf die Unglücklichen Tage, was angesichts der Natur des Restjahres ein Hohn war. So hieß zum Beispiel das zweite Fest, das Ende Februar begann, Tlaca-xipeualitzli. Fest des Menschenschindens. »Das heißt, sie mussten hart arbeiten?«, fragte Norbert Hachenrath stirnrunzelnd. Der deutsche Student war nicht sicher, ob er den Professor richtig verstanden hatte. »Nein«, sagte Jaydon. »Das heißt, sie haben ihre Gefangenen geschunden, also ihnen die Haut abgezogen. Bei lebendigem Leib übrigens«, fügte er lässig hinzu, was die beiden Studentinnen mit spitzen Schreien quittierten. Es sah aus, als würde Hachenrath aufmerksam zuhören, während der Professor immer neue, grausige Details der aztektischen Menschenschlachtung beschrieb, bis hin zu Kinderopfern und Kannibalismus. Tatsächlich aber war dem Deutschen aufgefallen, dass Jaydon gelegentlich verstohlen auf die Uhr blickte. Er wirkte auch seltsam nervös. Hachenrath konnte sich keinen Reim darauf machen. Das änderte sich, als Jaydon erzählte: »Höhepunkt der
Grausamkeiten war die Einweihung des Templo Mayor. Bei den viertägigen Feierlichkeiten wurden in Tenochtitlán zwanzigtausend Menschen getötet. Zwanzigtausend, meine Herren! Jeder einzelne davon wurde auf einen Opferstein gelegt, dann schnitten ihm die Aztekenpriester bei lebendigem Leib das Herz …« Mitten im Satz schaute Jaydon zum Iskatán hinüber. Hachenrath folgte dem Blick des Professors gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie neben dem großen Höhleneingang etwas aufblitzte, dort, wo die mannshohen Felsen standen. Im nächsten Moment donnerte eine ohrenbetäubende Explosion durch die Nacht. Um 1487 n. Chr. am Heuschreckenberg Einhundertneunzig Jahre waren vergangen, seit ein kleiner Haufen zerlumpter Azteken am Texcoco-See erschien und meine Leute erschreckte. Längst existierte niemand mehr, der mir damals wichtig war: Häuptling Tsheton, der Schamane, Saiapi … alle Überlebenden des Flugzeugabsturzes, ihre Kinder und Kindeskinder, waren zu den Ahnen gegangen. Alle außer mir. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich es merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich glaube, es war nach der Geburt von Saiapis Tochter. Eines Tages jedenfalls blickte ich in das Gesicht ihres Vaters, den ich schon als Vierzehnjährigen kannte, sah die ersten Falten an seinen Mundwinkeln und fragte mich, wo meine eigenen blieben. Anfangs scherzten wir darüber. Saiapi meinte, ich solle mir eine Frau nehmen und Kinder zeugen, dann kämen die Falten
von ganz allein. Aber mit den Jahren verwehte das Lachen, und es mehrten sich die Stimmen derer, die nach einer Erklärung fragten. Ich konnte ihnen keine geben. Was hätte ich auch sagen sollen? Dass ich einst in einem Vogel aus Eisen, der schneller flog als der Schall eines Wortes, durch ein Loch im Himmel reiste und dabei von Würmern aus Licht betastet wurde, die möglicherweise etwas in mir verändert hatten? Die Anasazi wären zum Schamanen gelaufen und hätten um Medizin für mich gebeten. Sie erschreckte mich nicht, diese anhaltende Jugend. Ich dachte vielmehr, sie wäre ein Geschenk der Götter. Doch das änderte sich, nachdem ich die ersten Freunde zu Grabe getragen hatte, und heute weiß ich, sie ist ein Fluch. Ich bin nicht unsterblich. Ich blute wie jeder andere, ich leide und werde krank. Ich altere nur nicht. Den Anasazi war es unheimlich, daran hat sich bis heute nichts geändert. Aber sie sahen – und sehen – meine unausweichlichen Verletzungen, die das Leben als Indianer mit sich bringt, und ich glaube, es war mein Blut, das die erste nachwachsende Generation beruhigte. Nach und nach erbten mich alle Anasazi von ihren Eltern, ließen mich ihren Kindern zurück, und irgendwann war ich eine Selbstverständlichkeit. Meine Geschichte wurde mein Geheimnis. Nur der jeweilige Häuptling und sein Schamane kennen die Wahrheit über mich, so weit sie begreifbar ist. Für alle anderen bin ich der Mann, den die Zeit vergaß. Dieselbe Macht der Gewohnheit, die es mir ermöglichte, Generation um Generation bei meinen Leuten zu leben, hätte die Anasazi beinahe ausgelöscht. Wir hatten uns ein Zuhause geschaffen am Heuschreckenberg, wir betrieben Ackerbau und Viehzucht, bauten Häuser aus Stein. Das alles aufzugeben war ein Gedanke, den niemand in die Tat umsetzen wollte. So verdrängten wir ihn immer wieder, während vor unseren
Augen eine Bedrohung heranwuchs, die mit jedem Tag tödlicher wurde. Die Azteken. Wir lebten schon am Heuschreckenberg, bevor sie hier eintrafen. Wir bekämpften sie gemeinsam mit den anderen Indianervölkern, und wir beobachteten fast mitleidig, wie sie auf der Schlangeninsel im Texcoco-See Fuß zu fassen versuchten. Unser Mitleid verwandelte sich in Staunen, während wir verfolgten, wie aus Sumpfland Festland wurde, wie auf dem Festland Grundmauern entstanden und auf denen wiederum eine prachtvolle Stadt erblühte: Tenochtitlán, die Metropole der Azteken. Während der langen, langen Bauzeit trieben die Azteken Handel mit den Indianervölkern am Seeufer. Wir glaubten, eine sichere Einnahmequelle gefunden zu haben, denn die aztekische Bevölkerung wuchs unablässig, und das Ackerland an den Rändern der Schlangeninsel war naturgemäß begrenzt. Allerdings übersahen wir etwas. Wir hatten die Azteken besiegt, als sie hier ankamen, doch sie bildeten ihren Nachwuchs nicht zu friedlichen Bauern aus oder zu Priestern. Sie zogen vielmehr eine Generation Krieger groß, und eines Tages erhob sich in Tenochtitlán ein Heer, dem wir nichts entgegenzusetzen hatten. Sie besiegten uns, ein Volk nach dem anderen. Wir mussten seither Abgaben entrichten. Das führte mich gelegentlich in die Stadt, die ich früher nie betreten hatte, und was ich in Tenochtitlán sah, brachte mich dazu, meine Leute zum Aufbruch zu drängen. Aber sie wollten nichts davon hören. Selbst dann nicht, als unser Nachbarvolk einmal nicht genug Naturalien zusammenbekam, um seine Steuern zu zahlen, und daraufhin einige Stammesmitglieder abliefern musste. Junge Männer, die in Tenochtitlán geopfert wurden. Ich beschwor unseren Häuptling, die Gegend zu verlassen. Doch Tsentainte war
davon überzeugt, dass uns ein solches Schicksal nie ereilen würde. Er irrte sich. »Komm schon, Hotake! Lass uns heimkehren«, drängte Nachise. Der junge Indianer hatte sich am Morgen zu einem Jagdausflug überreden lassen, was er längst bereute, denn das Feld, durch das sich die beiden Männer kämpften, war alles andere als ein angenehmer Ort. Der Mais stand hoch; mit scharfkantigen, harten Blättern, an denen man sich bei jedem Kontakt die Haut aufritzte. Der Boden war staubtrocken, die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Das tat sie seit Wochen, Tag für Tag. »Warum willst du aufgeben?«, fragte Hotake. »Ich weiß, dass es hier Hasen gibt, und es wäre doch gut, wenn wir ein paar erwischen würden! Immer nur Maisfladen aus altem Mehl, das ist auf Dauer keine Mahlzeit, das ist eine Zumutung. Na los, komm schon!« Nachise trottete weiter, den Bogen in der Hand. Hotake hatte recht! Er warf einen düsteren Blick auf die Pflanzen. Sie waren verdorrt, und das bedeutete nicht nur kleinere Mahlzeiten. Es wurde auch schwierig mit den Abgaben. Tief im Inneren ihrer stolzen Seele sahen sich die Anasazi zwar nicht als Vasallen der Azteken an, aber sie mussten trotzdem Steuern entrichten wie die anderen fünf Indianervölker auch. Und Herrscher Ahuizotl erwartete eine pünktliche Lieferung. Man konnte große – wirklich große! – Probleme bekommen, wenn man in Verzug geriet. Vorgestern hatte Häuptling Tsentainte zwei Boten nach Tenochtitlán geschickt, um etwas Aufschub zu erbitten. Die Männer waren bis heute nicht zurückgekehrt.
»Denkst du, dass Giannatah und Mahto etwas passiert ist?«, fragte Nachise. Der junge Anasazi klang bedrückt. Mahto war sein Bruder. »Aber nein.« Hotake glitt in fließender Bewegung mit dem Bogen herunter, spannte dabei die Sehne. Er zielte, ließ los, und irgendwo zwischen den verdorrten Pflanzen quiekte etwas auf. Hotake nickte zufrieden, wandte sich an Nachise. »Du weißt doch, was zurzeit in Tenochtitlán los ist. Tausende von Besuchern wollen auf die Schlangeninsel, da wird es schwierig sein, ein Kanu zu finden. Und die Dammwege sind völlig verstopft.« Hotake zwängte sich durch die Pflanzung, um nach seiner Beute zu suchen. Er war froh, Nachises Blicken ein paar Momente zu entkommen. Der Junge war kein Dummkopf. Ihm musste klar sein, dass es für einzelne Männer immer einen Weg gab, die Insel unbemerkt zu verlassen. Außerdem konnten Anasazi schwimmen. Als Hotake zurückkam und triumphierend einen Hasen schwenkte, sagte Nachise unsicher: »Morgen beginnt die viertägige Einweihungsfeier für den Templo Mayor. Es heißt, dass die Aztekenpriester zwanzigtausend Menschen opfern werden!« »Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen.« Hotake band sich den Hasen an den Gürtel, legte einen neuen Pfeil ein. »Zwanzigtausend Menschen! Das sind selbst für ein krankes Hirn wie Ahuizotl zu viele.« »So darfst du nicht über den Herrscher sprechen!«, raunte Nachise erschrocken. »Weiß ich. Aber es ist die Wahrheit.« Hotake runzelte die Stirn. Sein Blick hatte eine Rauchwolke gestreift, war daran hängen geblieben. Er blieb nachdenklich stehen.
Irgendwo im Westen, weit hinter den Feldern, kam erneut eine Wolke hoch. Und noch eine. Hotake wies darauf und fragte Nachise: »Sag mal, siehst du das auch?« »Ja.« Der Anasazi nickte. »Da brennt was.« Hotake sah ihn mit hochgezogener Braue von der Seite an. Nachise war ein Nachfahre Saiapis. Er konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen, aber die Jägerinstinkte seines Ahnen hatte er offenbar nicht geerbt. »Nenn mir mal was, das in einzelne Rauchwolken aufgeht!«, forderte Hotake. Als keine Antwort kam, wandte er sich wieder den merkwürdigen Zeichen zu. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Zeichen, grübelte er. Zeichen aus Rauch! Eigentlich eine gute Idee, wenn man sich über weite Entfernung verständigen will! Aber von wo kommt das, und wem gilt es? Den Azteken? Dann müsste auch Rauch über Tenochtitlán sein. Hotake kam einfach nicht darauf. Er starrte die kleinen dunklen Wolken an und versuchte, irgendeine Beziehung herzustellen zwischen ihnen und der Schlangeninsel. Bis er sich endlich fragte, wer noch im Westen wohnte. Hotake wurde blass. »Verdammt!«, stieß er hervor und rannte los. »Ich Idiot! Ich blinder Idiot! Das kommt aus dem Dorf! – Nachise!«, brüllte er über die Schulter zurück. »Mach schnell! Und bring meinen Bogen mit! Im Dorf ist was passiert!« Hotake stürmte durch die Felder, als ginge es um sein Leben, und irgendwie tat es das auch. Er dachte sich, dass es nur einem klugen Kopf wie Sacagawea einfallen würde, einen Hilferuf auf diese Art in ansonsten unüberbrückbare Ferne zu senden. Ihr Name bedeutete Vogelfrau, und so sah sie aus, zart und schön wie ein
Vögelchen. Hotakes Herz schlug nur für sie. Sacagawea war seine Frau. Sie lief ihm entgegen, als er das Pueblo erreichte. Sacagawea schlang ihre Arme um ihn, schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. »Du bist da«, sagte sie nur. Hotake spürte, dass sie zitterte. Er blickte über ihren Kopf hinweg aufs Dorf, suchte nach dem Grund, dem Unheil, um dessentwillen ihn Sacagawea hergerufen hatte. Die Häuser waren unversehrt. Auf dem Dorfplatz hatte jemand eine Feuerstelle errichtet; hastig, wie es schien. Es war der reinste Scheiterhaufen. Vier AnasaziFrauen standen daneben, hielten noch die verrauchte Decke fest, mit der sie den aufsteigenden Qualm in Zeichen unterbrochen hatten. Die Frauen weinten. Sie und alle anderen, die Hotake sah. Hinter ihm kam Nachise heran. Man hörte seinen Atem. »Wo sind die Männer?«, fragte der Indianer, als er stehen blieb. Normalerweise waren sie um diese Tageszeit überall im Dorf, die Alten saßen vor den Häusern, die anderen arbeiteten. Doch jetzt war niemand da. Kein einziger. Hotake schob seine Frau auf Armeslänge von sich sah sie an. »Was ist geschehen?« »Steuereintreiber kamen«, berichtete Sacagawea. »Sie sagten, der Herrscher hätte Verständnis dafür, dass wir keinen Mais abliefern können nach der langen Dürre. Ahuizotl wäre auch mit einer anderen Abgabe zufrieden.« »Und Abgabe heißt …« Hotake versagte die Stimme. Er
räusperte sich. »Sie haben die Männer mitgenommen?« »Ja.« »Alle? Sogar den Häuptling und die Kinder? Selbst die Kinder?« »Die Jungen, ja.« Sacagawea versuchte tapfer, keine Tränen zu zeigen. »Was sollen wir tun, Hotake?« Er wandte sich ab, ging ein paar schnelle Schritte Richtung Dorfrand. Hotake war bleich unter der braunen Haut, und das Herz schlug ihm hart gegen die Rippen. Er wusste, dass die Männer verloren waren: Wer einmal als Gefangener nach Tenochtitlán gebracht wurde, kehrte nie wieder zurück. Nicht einmal als Leiche, denn die Azteken – so wurde erzählt – aßen ihre getöteten Opfer. Was sollen wir tun? hatte Sacagawea gefragt, als ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, das grässliche Schicksal abzuwenden, das die Männer erwartete. Hotake wischte sich fahrig übers Gesicht. Er sah sie in Gedanken, seine Anasazi, wie sie von bewaffneten Aztekenkriegern in die Reihen der zwanzigtausend gestoßen wurden, die morgen zur Einweihung des Templo Mayor ihr Leben lassen sollten. Jeder Einzelne von ihnen würde die langen Treppen hinaufgehen müssen, zum Opferstein vor den mächtigen Zwillingstürmen des Tempels. Man würde ihm die Kleider herunterreißen, ihn rücklings über den Stein ziehen und festhalten. Hotake schloss gequält die Augen. Doch die Bilder wollten nicht weggehen, und sie waren so unerträglich plastisch, obwohl er diese Opferzeremonie doch nur aus Berichten kannte: Der Aztekenpriester schlitzte mit seinem Steinmesser den Unglücklichen unterhalb der Rippenbögen auf. Während Gehilfen die Wunde auseinanderzogen, griff er mit beiden Händen in den
Brustkorb und schnitt das pochende, verzweifelte Herz heraus, um es in einer Adlerschale flüchtig gen Himmel zu halten. Den Göttern zur Ehre. Der Tote wurde anschließend die Treppen hinuntergeworfen. Wie Abfall. Verfluchte Hunde! Wir sind kein Abfall! Wir sind Menschen!, versuchte sich Hotake in Zorn zu reden. Doch es gelang nicht. Seine Angst war zu groß, diese panische Angst, genau wie die anderen auf dem Opferstein zu enden. Es hatte ja auch gar keinen Zweck, nach Tenochtitlán zu gehen, sagte er sich. Was sollte er allein gegen mehrere zehntausend Krieger ausrichten? Die anderen Indianervölker würden sich nicht mit ihm verbünden; sie waren froh, wenn sie selbst nicht unter Beschuss gerieten. Hotake brauchte auch nicht zu versuchen, Ahuizotl um Gnade zu bitten, diesen übellaunigen, grausamen Herrscher, der an Albträumen litt und seine Verstimmung darüber am Volk ausließ. Und freikaufen konnte er die Anasazi erst recht nicht. Sie besaßen nichts Wertvolles. Hätte es etwas gegeben wären sie gar nicht erst in diese Situation geraten. Aber er konnte doch nicht einfach wegsehen! Irgendetwas musste er doch für die Männer tun! Und wenn es nur das war, dass er nach Tenochtitlán ging, um bei ihnen zu sein und mit zu leiden. Sie nicht allein zu lassen in ihrer Verzweiflung, ihrer Qual. Sie waren doch seine Freunde! Menschen, die er liebte. Sein Volk! Hotake drehte sich um, kehrte zu Sacagawea und Nachise zurück. Er legte dem jungen Indianer eine Hand auf die Schulter. »Hör zu, Nachise! Saiapi war ein großer Krieger. Sein Blut fließt durch deine Adern, und ich will, dass du dich heute dessen würdig erweist!« Hotakes Blick wanderte über das Dorf. Dann sagte er: »Nimm die
Frauen und führe sie von hier weg. Nach Norden! Packt nur das Nötigste zusammen, ein paar Lebensmittel, Waffen. Brecht sofort auf, wandert zügig und macht nirgendwo Halt. Ich komme später nach.« »Ja – und die Männer?«, fragte Nachise verwirrt. Hotakes gehetzter Blick suchte den der Vogelfrau. Das war das Bitterste an diesem Opfergang: sich von der Geliebten zu verabschieden. Für immer. »Die Männer bringe ich mit«, log er. Sacagawea trat zu ihm, legte ihre Hand an seine Wange. »Ich habe dich nicht gerufen, damit du stirbst«, sagte sie ruhig. »Ich rief nach dir, weil ich weiß, dass du einen Weg finden wirst, Hotake! Du kannst sie retten, und wir werden uns wiedersehen!« »Natürlich.« Er lächelte unglücklich. »Aber für den Fall, dass …« »Nein! Wir werden uns wiedersehen.« Hotake verschloss ihre Lippen mit einem Finger. »Wenn du nichts von mir hörst, Sacagawea, komm auf keinen Fall zurück und such nach mir! Ich muss mich darauf verlassen können, dass du in Sicherheit bist.« Sacagawea nahm seine Hand, küsste sacht die Innenfläche. »Geh mit leichtem Herzen«, sagte sie.
9 � Hotake wartete bis zum späten Nachmittag. Er wollte Nachise und den Frauen so viel Vorsprung wie möglich verschaffen, denn er fürchtete, dass die Azteken auch sie ergreifen würden, falls etwas schiefging. Und die Wahrscheinlichkeit dafür war sehr, sehr groß. Es brauchte ihn nur jemand zu erkennen in Tenochtitlán, einer der Steuereintreiber zum Beispiel, mit denen die Anasazi gelegentlich zu tun hatten, dann war schon alles vorbei. Hotake hatte sich den Kopf zermartert, wie er seine Leute retten könnte. Doch was immer ihm einfiel, es endete früher oder später mit den Worten: »Nicht machbar!« Eine Handvoll Gefangener ließe sich vielleicht heimlich aus der Stadt schleusen. Tenochtitlán barst aus allen Nähten, und noch immer strömten Besucher über die Dammwege herein, da würden ein paar Anasazi nicht auffallen, die sich in die andere Richtung bewegten. Aber zweihundert? Nicht machbar! Hotake hatte auch überlegt, das Titlahtín im Tausch gegen seine Leute anzubieten. Die Azteken waren allerdings keine vertrauenswürdigen Geschäftspartner, und er musste damit rechnen, sich am Ende mit leeren Händen unter den Gefangenen wiederzufinden. Also war auch das nicht machbar. Es sei denn … Hotake ergriff das Titlahtín und betrachtete es nachdenklich. Die Azteken werden danach gieren, das steht außer Frage, dachte er. Ich muss nur
irgendwie verhindern, dass sie es mir ohne Gegenleistung wegnehmen. Plötzlich sah er auf. Ein Bluff! Wenn ich ihnen eine Geschichte serviere, die noch mehr Gewinn verspricht als das Titlahtín, könnte ich sie vielleicht ködern! Ich darf nur keinen Fehler machen, sonst bin ich ein toter Mann. Hotake wirkte gefasst, als er schließlich das Dorf verließ und zum See hinunterging. Es drängte ihn nicht danach, ein Märtyrer zu werden, nein, wahrlich nicht. Aber er hatte zu viel Zeit bei den Anasazi verbracht, zu viel von ihnen gelernt, um sie jetzt im Stich zu lassen. Er konnte das nicht. Er wollte es nicht. Am Seeufer zog er ein Messer und schnitt sich die Haare ab. Nur Indianer trugen sie lang bis auf die Brust. Heute durfte er keiner sein. Dann zog Hotake seine Kleidung aus. Er war vor Jahren dazu übergegangen, lange Beinkleider zu tragen und eine Weste, die man vorn zusammenschnürte. Kein Anasazi verhüllte sich derart, und die Lederfrau hatte ihn oft für seine Bestellungen ausgelacht. Heute würde sie nicht lachen, denn diese Extravaganz wurde jetzt zum unerwarteten Trumpf. Hotake war ein Weißer. Man merkte es ihm nicht mehr an nach all der Zeit unter der sengenden Sonne Mexikos, aber er war ein Weißer und dazu noch der Einzige auf dem Kontinent. Tief gebräunt, mit weißen Beinen und dem hellen Abbild einer Weste auf Brust und Rücken stand er da. Den Azteken würde diese nie gesehene Hautfärbung Rätsel aufgeben, da konnte er sicher sein. Sorgfältig legte Hotake die Sachen zusammen, was er sonst nie tat, und ließ seine Hand einen Moment auf
ihnen ruhen. Dann erhob er sich und zog die Kette über den Kopf, an der das Titlahtín hing. Irgendein längst vergessener Designer hatte den Sender als Spinnennetz dargestellt, mit einem Leuchtelement in der Mitte, das die Herzfrequenz des Trägers imitierte. Letzteres war in Pilotenkreisen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zu verspielt, hieß es. Doch der Mann hatte sich durchgesetzt. »Ich danke dir«, sagte Hotake ernst, hängte sich das Titlahtín mit der grauen Kontaktseite nach außen wieder um und watete ins Wasser. Tenochtitlán war wie ein Schachbrett angelegt, von zahllosen Kanälen in Einzelflächen zerteilt. Eine Prunkstraße zog sich durch die Länge der Stadt, mit herrlichen Palästen und terrassenförmigen Blumenanlagen. Im Zentrum stand der heilige Tempelbezirk. Er war durch die sogenannte Schlangenmauer vom Rest der Stadt abgetrennt, doch ihre Tore standen heute offen. Man konnte die weißen Pflastersteine und das grässliche Mosaik vor dem Templo Mayor bestaunen. Seine Zwillingstürme ragten sechzig Meter hoch in den Himmel, der eine weißblau, der andere übersät von Totenschädeln auf rotem Grund. Noch waren die beiden Tempeltreppen mit Blumen geschmückt. Aber morgen schon würden Ströme von Blut über ihre Stufen fließen. Hotake zwängte sich durch die Menschenmassen, eine Hand fest auf dem Titlahtín. Er hatte alle Mühe, gleichgültig dreinzublicken und nicht etwa die Emotionen herauszuschreien, die ihn überwältigten, als er durch den Stadtteil Tlaltelolco schritt. Dort war der
größte Marktplatz von Tenochtitlán, und man verstand sein eigenes Wort nicht, so laut ging es zu. Laut und unbeschwert. Die Leute kauften, was es zu kaufen gab: Früchte, Töpferwaren, Gemüse, Decken, Schmuck und Gewänder. Gezahlt wurde mit Goldstaub oder Kakaobohnen, beides offizielle Geldmittel. Wer es nicht besser wusste, hätte gedacht, heute sei ein ganz normaler Markttag. Tausende von Menschen ballten sich im Schatten unter den Arkaden zusammen, und nicht einer von ihnen sah aus, als würde er einen Gedanken an die Gefangenen verschwenden, die streng bewacht in der Hitze neben dem Templo Mayor ausharrten. Zwanzigtausend arme Seelen, deren angsterfüllte Augen den letzten Sonnenuntergang ihres Lebens verfolgten. Zwanzigtausend! Hotake hatte versucht, die Anasazi in der riesigen Menge ausfindig zu machen, doch das war unmöglich. Er musste auch vorsichtig sein, denn er fiel auf mit seiner ungewöhnlichen Haut, trotz der Menschenmassen, und die Azteken hatten Spione in Tenochtitlán. Ihre Aufgabe bestand darin, Fremde zu beobachten. Deshalb war Hotake nach Tlaltelolco gegangen, was einen Umweg darstellte, ihm aber den Anschein eines harmlosen Marktbesuchers gab. Erst von dort wanderte er zum Palast Ahuizotls. Hotake war angespannt, als er in Begleitung zweier Wachen durch den Eingangsbereich des Palastes schritt. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Er konnte nur noch beten, das Richtige zu tun. Dass man ihn überhaupt hereingelassen hatte,
verdankte er seiner ungewöhnlichen Hautfärbung. Hotake hatte auf sie hingewiesen und den Wachen erzählt, er sei der Bote eines fernen Reiches und habe eine Nachricht für den Herrscher der Azteken. Es war ihm klar, dass er mit dieser Lüge kaum bis zu Ahuizotl vordringen konnte. Doch er hatte nicht erwartet, derart schnell gestoppt zu werden: Gleich am ersten Treppenabsatz vertrat ihm jemand den Weg. Der Mann war in ein mit Perlen, Türkisen und Gold besticktes Baumwollgewand gekleidet. Als Kopfschmuck trug er aufgesteckte Adlerfedern, über der Schulter hing das Fell eines Jaguars. »Wer bist du, und was willst du?«, fragte der Azteke. Hotake verbeugte sich tief. »Ich bin ein Bote aus Iskatán. Mein König hat eine Nachricht für den Verehrten Sprecher.« »Iskatán?«, wiederholte der Azteke gedehnt. »Davon habe ich noch nie gehört.« »Nein, Herr. Es ist ein kleines Königreich tief im Süden. Nicht vergleichbar mit dem Imperium des Verehrten Sprechers, dessen Ruhm ihm vorauseilt bis an die Küsten des Meeres.« Hotake verharrte in gebeugter Position, eine Hand über dem Titlahtín. Ihm brach der Schweiß aus, als keine Antwort kam. Hatte er bereits einen Fehler gemacht? Nach schier endloser Zeit sagte der Azteke: »Ich bin Maxtla, der Oberste Jaguarkrieger. Nenn mir die Nachricht! Wenn es Ahuizotl genehm ist, wird er sie hören.« »Vergib mir, Herr«, bat Hotake, und der unglückliche Klang seiner Stimme war nicht gespielt. »Aber die Nachricht kommt direkt aus dem Mund meines Königs.
Nur ich kann sie wiederholen, wie er sie sprach. Er wäre gekränkt, wenn seine Worte den Verehrten Sprecher auf einem anderen Weg erreichten.« Der Jaguarkrieger war es nicht gewohnt, dass man seine Forderungen zurückwies. Er war ein hochrangiger Elitesoldat, für den es beim Töten keinen Unterschied machte, ob man eine Fliege war oder ein Mensch. Entsprechend unterwürfig begegnete ihm die Restwelt normalerweise. Maxtla hätte den Mann mit der seltsamen Hautfärbung gern bestraft. Aber er wusste nicht, was Hotake zu sagen hatte. Sollte es von Bedeutung sein, würde er großen Ärger bekommen, wenn Ahuizotl seinetwegen erst mit Verspätung davon erfuhr. »Warte hier!«, befahl er barsch und verschwand. Ich hatte meine Geschichte in Gedanken wieder und wieder durchgespielt, alle möglichen Eventualitäten erwogen. Den Namen »Iskatán« kannten außer mir nur Häuptling Tsentainte und sein Schamane. Ich würde also keine böse Überraschung erleben. Mein erfundenes Königreich lag auch nicht grundlos im Süden. Sollten die Azteken auf die Idee kommen, einen Feldzug zu starten, blieben die nach Norden fliehenden Anasazi-Frauen von ihnen verschont. Eigentlich war ich gerüstet für die Begegnung mit Ahuizotl. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl. Wachen kamen und begleiteten mich die Treppen hoch zu einem Saal. Vor dem Eingang wartete bereits eine Abteilung Aztekenkrieger. Ich wurde bis zehn Schritte an den Thron herangeführt, dort befahl man mir, stehen zu bleiben. Die Krieger umstellten mich und richteten ihre Lanzen auf mich. Dann wurde es still.
Ich wartete. Und wartete. Nichts geschah. Draußen vor den Fenstern sank die Sonne; ich hörte Spatzen tschilpen und das Stimmengewirr der Leute, die vom Markt zurückkehrten. Ich weiß noch, dass es intensiv nach Blumen duftete in dem prachtvollen Saal, und dass ich mich mit der Frage beschäftigte, wie man gleichzeitig Ästhet und grausamer Schlächter sein konnte. Dabei kannte ich die Antwort. Für Azteken war das wertvollste Opfer, das man den Göttern darbringen konnte, der Mensch. Allerdings sahen sie keine echte Notwendigkeit darin, zur Einweihung des Templo Major zwanzigtausend eigene Leute zu opfern. Gefangene waren ja schließlich auch Menschen. Ich hatte viele Minuten lang Stille geatmet, als der Herrscher den Saal betrat, gefolgt von Priestern, hohen Staatsbeamten und Dienerschaft. Alle waren in kostbare Gewänder gekleidet, trugen Schmuck aus Gold und Silber. Es war eine Parade der Macht und des Wohlstands, die in langer Reihe an mir vorbeizog. Ich lauschte ihren Schritten, dem Rascheln der Kleidung, dem Klirren der Armreifen. Nur verstohlen, mit untertänig gesenktem Kopf schaute ich hin, während die Azteken sich um den Thron gruppierten. Sie sagten kein Wort. Ihr Schweigen verunsicherte mich, und irgendwann sah ich auf. Direkt in die schwarzen Augen Ahuizotls. Er winkte mit dem Finger, bedeutete mir, mich umzudrehen. Wieder und wieder. Er und seine Leute starrten mich an wie Schlachtvieh, von oben bis unten, und sie wirkten unangenehm zufrieden. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass sie primitive Wilde waren im Vergleich zu meinem eigenen Volk, und wie sehr mich diese Fleischbeschau erniedrigte. »Du bist ungewöhnlich gekleidet für den Boten eines Königs«, sagte Ahuizotl in meine Gedanken hinein.
»Es war ein langer Weg, Herr«, antwortete ich. »Hmm-m. Wo ist deine Gefolgschaft?« Ich erschrak. Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht! Was sollte ich erwidern? Dass sie vor der Stadt wartete? besser nicht, denn das war nachprüfbar. Zum Glück gab es weiter südlich einen Handelspfad. Und Straßenräuber. So sagte ich erneut: »Es war ein langer Weg, Herr.« »Tritt näher!«, befahl Ahuizotl und fragte, während ich mit meinen Bewachern im Gefolge herankam: »Womit hast du deine Haut gefärbt?« Ich antwortete: »Sie ist von Geburt an so. Wir alle haben diese Färbung, das war der Wille der Götter. Herr, ich habe eine Nachricht…« »Ja, ja«, unterbrach er mich. »Nimm das Tuch ab! Dreh dich um!« Diese Schmach. Ich hätte ihn so gern getötet. Ich sah in die Augen der Krieger, als ich dem Azteken gehorchte, sah das Grinsen auf ihren Gesichtern. Wenn es nur um mich gegangen wäre und nicht um die Anasazi, hätte ich einem von ihnen den Speer aus der Hand gerissen und Ahuizotl durchbohrt. Zumindest glaube ich das heute. »Wie sieht die Färbung eurer Frauen aus?«, fragte der Herrscher. Ich log ihm vor, was ich dachte, das er hören wollte, doch es stellte ihn nicht zufrieden. Ahuizotl bohrte immer weiter. Es war ihm egal, dass ich – angeblich – eine Nachricht für ihn hatte. Nur meine Haut war von Interesse, und allmählich kehrte das ungute Gefühl zurück, das mich beim Betreten des Saals überkommen hatte. Ich wog schon meine Chancen für eine Flucht ab, als der Azteke endlich fragte, was mich in seine Stadt geführt hatte. »Ich bin einer von vielen Boten, Herr«, sagte ich. »Mein König ist auf der Suche nach einem Stamm der Anasazi Herr.«
Ahuizotl runzelte die Stirn. »Anasazi? Nie gehört.« Maxtla mischte sich ein, der Jaguarkrieger. Er wandte sich an seinen Herrscher. »Das ist ein Indianerstamm unten am Seeufer. Sie konnten ihre Steuern nicht zahlen, deshalb haben wir die Männer verhaftet und den anderen Blumen für die Götter hinzugefügt.« Blumen für die Götter, so nannten sie die Menschen, die geopfert werden sollten. Mein Hals wurde eng. Ahuizotl lehnte sich aufatmend zurück. »Tja. Du kommst zu spät.« Ich nickte. »Mein König wird betrübt sein«, sagte ich. »Warum sollte er? Es waren doch nur Indianer.« »Sie sind Teil seines Volkes, Herr.« Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da runzelte der Azteke schon die Stirn. Seine Augen wurden schmal, diese seltsam toten, dunklen Lichter. »Hast du nicht eben gesagt, ihr alle hättet diese merkwürdige Haut?«, fragte er lauernd. »Ja, Herr. Eben deshalb ist es meinem König wichtig, dass die Anasazi heimkehren. Er musste sie fortschicken, vor langer Zeit, denn sie tragen eine Krankheit in sich.« »Tatsächlich?« Ahuizotl betrachtete seine Fingernägel. »Ja, Herr. Sie verändert das Aussehen der Haut, und sie ist ansteckend.« Ich zögerte einen Moment, aber keiner der Azteken reagierte auf meine Aussage. Mein Herz sank. Heiser fuhr ich fort: »Wenn man mit dem Blut der Kranken in Berührung kommt, wird diese Krankheit übertragen. Unsere Schamanen haben sehr lange nach einem Heilmittel gesucht. Jetzt wurde es gefunden, und der König möchte seinen Untertanen gestatten, zurückzukehren.« Ahuizotl klang mäßig empört, als er fragte: »Ich soll sie einfach gehen lassen?« »Aber nein, Herr! Mein König hat ein Geschenk
anzubieten«, sagte ich demütig und drehte das Titlahtín um. Ahuizotl sprang auf, schlug die Hand vor den Mund. Meine Bewacher, soweit sie es sehen konnten, traten synchron einen großen Schritt zurück, und die Priester glitten mit fließender Bewegung hinter den Jaguarkrieger. Maxtla hielt ein Steinmesser gezückt, starrte mit großen Augen auf das blinkende Licht des Titlahtíns. Ich war entsetzt. Die Azteken reagierten bei Weitem nicht so panisch wie der Navajo-Stamm seinerzeit! »Was ist das für ein Zauber?«, fragte Ahuizotl und sank auf seinen Thron. »Kein Zauber, Herr«, sagte ich. »Es ist ein Titlahtín, das bedeutet Das, was mich beruhigt. Mein König hat sich so gegrämt über seine Entscheidung, die Anasazi fortschicken zu müssen, dass er nicht mehr schlafen konnte. Doch ein König muss schlafen, wenn er sein Volk gut regieren will.« Ich sah den schnellen Blick, den Ahuizotl seinen Leuten zuwarf. Er litt unter Albträumen, das wusste ich, deshalb erzählte ich ihm diese Geschichte. »Die Götter haben meinem König diesen … Traumfänger geschenkt. Sein Spinnennetz hat besondere Fähigkeiten. Es fängt böse Träume ab.« »Und so etwas gibt dein König her?«, fragte Ahuizotl misstrauisch. »Ja, Herr.« Ich nickte. »Unsere Götter sind großzügig, und sie lieben ihn. Er hat noch mehr solcher Geschenke erhalten.« Wieder dieser schnelle Blick. Zum ersten Mal, seit die Azteken den Saal betreten hatten, besaß ich ihre volle Aufmerksamkeit. Plötzlich mischte sich der Jagaarkrieger ein. »Warum schneide ich dir nicht einfach die Kehle durch, und wir behalten den Traumfänger samt den Anasazi?«, fragte Maxtla. Ahuizotl nickte zustimmend, und so sagte ich: »Deshalb.« Ich nahm das Titlahtín ab, trat einen Schritt vor und legte es
mit der Kontaktseite auf den Steinboden. Das Licht flimmerte ein paar Mal und erlosch. »Man kann es nicht stehlen, denn es ist ein Geschenk der Götter«, sagte ich ruhig, hob es auf und hängte es mir um. »Das Titlahtín gewährt nur jenen Hilfe, die es aus freien Stücken erhielten.« Mir fiel etwas ein. »Es muss auch fünf Tage in einem Tempel liegen, um sich zu reinigen für den neuen Herrn.« Ahuizotls Miene verdüsterte sich. Ganz sicher hatte er geplant, den Traumfänger noch in dieser Nacht auf seine Wirkung zu prüfen, und wahrscheinlich hatte er ebenfalls geplant, die Anasazi zu behalten. Das ging jetzt nicht mehr, und schon kehrte sein Misstrauen zurück. »Du weißt sehr viel für einen Diener«, sagte er lauernd. Ich senkte den Blick. »Ich bin der Bote meines Königs, Herr!« Er winkte mich weg. »Warte draußen! Wir müssen uns beraten!« Noch während ich den Saal verließ, begannen die Priester zu tuscheln. Meine Behauptung, dass sich die angebliche Hautkrankheit durch Blutkontakt übertrug, hatte Unruhe bei ihnen ausgelöst, denn es war unmöglich, Menschen auf grausame Aztekenweise zu opfern, ohne mit deren Blut in Berührung zu kommen. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn es sich um tausend Anasazi gehandelt hätte. Doch zweihundert – von Zwanzigtausend Gefangenen – fielen offenbar nicht ins Gewicht. Ahuizotl ließ mich ziemlich schnell in den Saal zurückholen und verkündete, dass ich meine Leute haben könnte. Der Oberste Jaguarkrieger würde mich zu ihnen führen. Ich hatte große Mühe, mich nicht mehr als angemessen zu bedanken und mir die unendliche Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ich bat darum, das Titlahtín selbst in den
Tempel bringen zu dürfen. Als Begründung log ich Ahuizotl vor, dass ich ein Gebet sprechen wollte, damit der Traumfänger seinem neuen Herrn auch gute Dienste leistete. Es wurde mir gestattet. Wahrscheinlich, weil keine Fluchtgefahr bestand. Der Weg zum Templo Major war der bitterste, den ich je gegangen bin. Vierzigtausend Augen verfolgten jeden meiner Schritte; ich musste mit Maxtla durch ein Heer von Gefangenen schreiten, die alle wussten, was ihnen bevorstand. Viele weinten, und so mancher flehte mich um Hilfe an. Ich ging vorbei, als wäre ich blind und taub, und ich schämte mich so. Ich hätte für das Titlahtín mehr verlangen sollen – nein, müssen! – als meine eigenen Leute. Nur ein paar unschuldige Menschen mehr! Wenigstens einen! Aber ich konnte es nicht. Mir fehlte der Mut, mit den Azteken zu feilschen und womöglich alles zu verlieren. Am oberen Ende der Tempeltreppe, vor den blumengeschmückten Zwillingstürmen, befahl mir Maxtla, stehen zu bleiben. Ich solle hier draußen beten, sagte er und ging, um einen Priester zu holen. Vielleicht empfand er die Anwesenheit eines Fremden in dem jungfräulichen Aztekentempel als eine Entweihung. Ich spürte bedauern, als ich das Titlahtín abgeben musste. Der Priester ergriff es mit spitzen Fingern an der Kette und trug es, den Arm weit vorgestreckt, in einen der Türme. Da stand ich dann, ohne Unterpfand. Maxtla packte mich und wies auf das Heer der Gefangenen. »Du willst die Anasazi haben?«, fragte er seltsam triumphierend. »Ruf sie!« Ich wusste es! Ich wusste es einfach! Ich sah in seine Augen und wusste, der Jaguarkrieger wartete nur darauf, dass ich einen Namen benutzte, Vielleicht den des Häuptlings, den ich
nicht kennen konnte, wenn ich tatsächlich aus einem fernen Land kam! Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich hatte Maxtla unterschätzt, war in eine üble Falle getappt. Was sollte ich bloß tun? Schon wurde mein Zögern auffällig. Die Zeit lief mir weg, ich sah mich bereits auf dem Opferstein liegen. Er war nur ein paar Schritte entfernt. Und plötzlich fiel es mir ein. Ich trat vor, legte beide Hände um den Mund und brüllte: »Iskatán!« Stille. Mein Herz sank. Tsentainte und der Schamane kannten das Wort. Warum reagierten sie denn nicht? Waren sie tot? Konnten sie mich nicht erkennen? Oder dachten sie womöglich gar, ich hätte mich mit den Azteken verbündet? »Iskatán!«, scholl es auf einmal zögerlich aus der Dämmerung zurück, und diesmal war ich schneller als Maxtlas Fallen. »Mein Name ist Hotake!«, brüllte ich, ehe mir einer zuvorkommen kannte. Der Jaguarkrieger war sichtlich enttäuscht. Ich winkte heftig nach links. »Die Anasazi an den Rand! Alle! Sofort! Wir gehen nach Iskatán!« So bekam ich sie zurück. Wir brachen unverzüglich auf, wanderten durch die einsetzende Dunkelheit, durch die Nacht. Fort, nur fort! Als die Alten erschöpft waren, trugen wir sie abwechselnd. Keiner blieb zurück, niemand ging verloren. Zwei Tage später erreichten wir Nachise und die Frauen. Von da an wanderten wir in barmherzigerem Tempo weiter, und ich erzählte dem Häuptling unterwegs, was in Tenochtitlán geschehen war. Er entschied, dass wir tatsächlich zum Iskatán gehen sollten, denn er hätte uns gerettet, sagte Tsentainte, und das sei ein Zeichen der Götter. Am Morgen des dritten Tages fragte mich meine kluge, schöne Frau, wann ich denn aufzubrechen gedächte. Es ist mir
bis heute ein Rätsel, woher Sacagawea wusste, dass ich daran dachte, nach Tenochtitlán zu gehen, um mir zu holen, was mir gehörte. Inzwischen glaube ich, dass alle Frauen diese besondere Fähigkeit besitzen, Gedanken zu erspüren, die wir noch gar nicht formuliert haben. Ich wünschte, wir könnten das auch. Ich will nicht ausführlich schreiben, wie ich mir das Titlahtín zurückholte. Nicht an die Felsenwände des Iskatán. Die Azteken sind es nicht wert, dass man ihre Taten in Stein verewigt, und meine eigene Tat war zu klein. Zu unbedeutend. Als ich die Aztekenmetropole erreichte, waren die Feiern zur Einweihung des Templo Major vorbei und die Stadttore wieder geschlossen. Ich nahm den Weg durch den See, tauchte und schwamm in das Kanalsystem, gelangte unbemerkt zum StadtZentrum. Was ich dort sah, war so unvorstellbar entsetzlich, dass mir außer Sacagawea niemand glaubte, mit dem ich darüber sprach. Und doch ist es die Wahrheit. Die Straßen von Tenochtitlán waren übersät mit blutigen Fußabdrücken. Zertretene Blumen welkten zwischen ihnen. Den weiß gepflasterten Vorplatz des Tempels bedeckte eine gigantische Blutlache, und über dem schrecklichen Mosaik am Fuß der Tempeltreppe, das eine zerstückelte Gottheit darstellte, türmten sich Leichenberge. Ebenso an allen Ecken und Straßenrändern. Zwanzigtausend getötete Menschen, jeder einzelne furchtbar zugerichtet und dann achtlos weggeworfen. Wie Abfall. Es war so still in der Stadt. So leer. Gerade erst hatte die Abenddämmerung eingesetzt, und doch hielt sich kaum noch jemand im Freien auf. Blutgeruch hing schwer in der Luft, und ich weiß nicht, was mir mehr zu schaffen machte: dieser süßliche Hauch des Todes oder die Fliegen. Sie waren überall;
riesige Schwärme, und sie folgten mir auf dem Weg zum Tempel. Ich wusste ja, in welchem der Zwillingstürme sie das Titlahtín aufbewahrten, und so schlich ich die Treppe hoch, vorbei an den Spuren heruntergeworfener Opfer. Weit und breit war kein Wächter zu sehen. Ich nehme an, die Azteken fühlten sich sicher hinter ihren verschlossenen Toren. Vielleicht waren sie auch erschöpft vom Feiern und Schlachten. Zumindest ihre Priester. Ich fand sie schlafend hinter dem Eingang des Tempels, noch immer in ihrer blutgetränkten Kleidung. Damals hatte ich keine Erklärung für die satten, zufriedenen Mienen. Inzwischen weiß ich, was Azteken mit dem herausgerissenen Herzen ihrer Opfer anstellten. Kalt und stumm lag das Titlahtín auf einem Altar. Ich nahm es an mich, zog mein Messer und schlich zu den Priestern zurück. Ich wollte sie töten, diese grausamen, menschenverachtenden Mörder ohne Gnade. Doch ich tat es nicht. Es wäre ein zu leichter Tod gewesen. Sollten sie ruhig weiterleben, bis ihr Herrscher erfuhr, dass er durch ihre Fahrlässigkeit den Traumfänger verloren hatte. Ich bin sicher, dass Ahuizotl sie auf denselben Opferstein geschickt hat, auf dem auch das Blut so vieler Unschuldiger vergossen wurde. Sommer 1969 Norbert Hachenrath war enttäuscht. Der deutsche Student hatte sich so viel versprochen von seiner Reise nach Amerika. Doch gestern Abend, am Eingang der Felsenhöhlen, hatten ein paar Stangen Dynamit seine Träume zerknallt. Wissenschaftliche Exkursion an den Iskatán in Neu Mexiko zur Erforschung einer antiken Wohnstätte der Anasazi, Grabungsleitung: Prof. Dr. Jaydon Smythe, Harvard
University in Cambridge, Massachusetts stand auf Hachenraths Stipendiumzusage. Das klang so beeindruckend! Daheim dachte man zurzeit über die Errichtung einer eigenen Universität nach, und sie würde auch bestimmt sehr gut werden, aber – bitte! – was war Dortmund gegen Harvard? Hachenrath fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es ging auf Mittag zu; die Sonne brannte vom Himmel und verwandelte das Felsenpueblo in einen Backofen. Die anderen Studenten hatten bereits alles fallen lassen und waren hinuntergeklettert zum Camp. Hachenrath hörte ihr Geplauder und ihr Lachen. Unter der Zeltplane ließ sich die Gluthitze aushalten, da gab es etwas Schatten, und man konnte sich mal gemütlich ausstrecken. Hier oben jedoch, auf den heißen Felsen, war es unerträglich. Hachenrath hatte den Auftrag erhalten, eine Ruine zu vermessen. Sie lag am Dorfrand, und es wies einiges darauf hin, dass es sich um das Haus des Schamanen handelte. Was den Studenten daran hinderte, Pause zu machen, war seine Mentalität. Hachenrath brachte es nicht fertig, mitten in der Arbeit aufzuhören. Wenigstens diese eine Wand wollte er noch abschließen! Sorgfältig maß er ihre eingeritzten Zeichnungen aus, übertrug jedes kleine Detail mit Hingabe und Akribie auf Millimeterpapier. Tuakum he! Erstaunt sah Hachenrath auf. Hatte da jemand gerufen? Er schob die verrutschte Brille hoch, schaute sich um. Nichts. Niemand da. Nur ein paar mexikanische Fliegen, die sich respektlos auf dem schweißnassen Arm des Gringos niedergelassen hatten. Hachenrath scheuchte sie
fort, dann beugte er sich wieder über die Notizen. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Der Vorfall gestern Abend ging ihm nicht aus dem Kopf. Kurz nach der Explosion war ein Wagen in der Nacht verschwunden, ohne Lichter, mit durchdrehenden Reifen. Das ganze Camp war in Aufruhr. Die Mädchen krochen unter ihre Schlafpritschen, weil sie glaubten, mexikanische Banditen wären im Anmarsch; Scott und Ben suchten hektisch nach den Waffen, die der Fahrer des Professors mitgebracht hatte. Gerard, der VietnamVeteran, warf sich platt auf den Boden und brüllte Ambush! Ambush!, wie man es bei Überfällen der Vietcong im Dschungel von Chu-Lai tat, Tracy Carter hatte Angst um ihr Baby … nur der Professor blieb ruhig. Und das war verdächtig! Immerhin fand die Explosion an einer Grabungsstelle statt, da hätte er eigentlich furchtbar besorgt sein müssen um die unersetzlichen Relikte! Er war's, dachte Hachenrath. Der Professor hat jemanden beauftragt, den Eingang zu der Höhle zu sprengen, in der die Schriftlichen waren. Vielleicht Manolo, seinen Fahrer! Er sucht einen Beweis dafür, dass die Anasazi das Titlahtín erfunden haben und nicht die Azteken. Aber wenn er etwas findet, und es stellt sich heraus, dass noch ein drittes Volk am Iskatán gelebt hat, dann kann er den Fund nicht mehr als eindeutigen Beweis verwerten. Hachenrath klappte seinen Block zu. Mir sagt er, ich wäre unprofessionell. Und er sprengt eine sensationelle Entdeckung in die Luft! Nur um Tatsachen zu vertuschen, damit es so aussieht, als hätte er recht, selbst wenn er sich irrt! Das ist beschämend! »Hey, Mann! Was machst du hier? Warum kommst du
nicht runter?« Hachenrath sprang überrascht auf. Gerard kam angeschlendert, mit der einen Hand zwei Colaflaschen am Hals gepackt, in der anderen einen verdächtigen Beutel. »Du solltest nicht so viel von dem Zeug rauchen«, sagte Hachenrath, als er eine der Flaschen entgegennahm. »Das ist nicht gesund.« »O Jesus!« Gerard ließ sich an der Wand herunter sinken und öffnete den Beutel. »Hast du's schon mal probiert?« »Natürlich nicht! Ich nehme doch kein Rauschgift«, protestierte Hachenrath entrüstet. »Ich auch nicht.« Gerard grinste. »Ich rauch nur 'n Joint. Soll ich dir auch einen drehen, Mann?« Der Deutsche lehnte ab. Haschisch und Dortmund passten nicht zusammen, und das war auch richtig so. Hachenrath hatte sich mit Gerard angefreundet. Er setzte sich hin und überlegte, ob er ihm von seinem Verdacht bezüglich der Explosion erzählen sollte. Zeit zum Nachdenken hatte er, denn der Vietnam-Veteran sorgte für Unterhaltung. Anfang des Jahres war ein Film in die Kinos gekommen, den Amerikas Jugend heiß verehrte: Easy Rider. Ein paar der Musikstücke waren echte Ohrwürmer, und einen davon pflanzte Gerard in Hachenraths Kopf, während er sich ein zigarettenähnliches Ding drehte. »Don't bogart that joint, my friend«, scholl es durch das verlassene Felsenpueblo. Bis Hachenrath zu husten begann wegen des Rauchs, der an ihm vorbeizog, hatte er den Text gelernt und konnte mitsingen.
»Pass it over to me«, krächzte er, wischte sich die Tränen weg und sagte: »Hör mal. Der Professor hat mir zwar verboten, es jemandem zu erzählen, aber …« »Smythe?« Gerard sah auf. »Er ist ein Idiot, Mann! Der hat sich so mit seinem Alten verkracht, dass man seinen Namen nicht mehr aussprechen darf! Das ist nicht normal!« »Ich glaube, er hat was mit der Sprengung letzte Nacht zu tun«, sagte Hachenrath. Er zögerte einen Moment, doch dann weihte er Gerard in das Geheimnis des versteckten Felsengangs ein und schloss: »Ich muss noch mal in die Höhlen.« »Darfst du nicht. Das hat er verboten.« »Weiß ich. Aber vielleicht gibt es da drin eine Verbindung zu dem Geheimgang. Diese Schrift ist zu wichtig, verstehst du? Die kann man nicht unausgewertet im Dunkeln lassen.« Hachenrath rang die Hände vor Aufregung. Gerard hielt ihm den halb gerauchten Joint hin, und er nahm einen Zug, so weit war er weg mit seinen Gedanken. Als er sich von dem Hustenanfall erholt hatte, verriet er Gerard einen Plan. Hachenrath wollte die Schrift fotografieren, als Beweis ihrer Existenz. Nur so würde später jemand nach ihr forschen. Allerdings brauchte er einen Aufpasser. Sollte sich der Professor den Höhlen nähern, musste Hachenrath gewarnt werden, damit er sich verstecken konnte. Gerard lachte auf. »Du denkst doch nicht ernsthaft, er würde dir was antun, oder? So weit geht er nicht. Jemanden töten ist auch nicht so einfach, wie man sich das vorstellt.« Sein Lächeln verblasste. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Aber Hachenrath ließ nicht locker. In der Mittagshitze hielten alle Siesta. Keiner würde sich aufraffen, nach den beiden Studenten zu suchen. Wahrscheinlich vermisste man sie nicht einmal. Es war also die beste Zeit für ein solches Unternehmen. Jetzt oder nie! »Du bist verrückt, Mann«, sagte Gerard, tat seinem Freund aber den Gefallen und trottete mit ihm zu den Felsenhöhlen. Er ging sogar ein Stück hinein, allerdings nur ein paar Schritte. Seit Vietnam hatte er eine Höhlenphobie. In Sichtweite des Eingangs setzte sich Gerard an die Wand, und weil es nichts weiter zu tun gab, griff er erneut in seinen Beutel. »In the year 2525 …«, tönte es hinter Hachenrath her, bereits mit Taschenlampe und Kamera der losmarschierte. Er summte mit, während er eiligen Schrittes durch die Gänge wanderte. Tiefer und tiefer in den Iskatán hinein. Irgendwann hörte Hachenrath auf zu summen. Das Licht seiner Taschenlampe holte Wandzeichnungen aus ihrer stillen, immerwährenden Nacht, und diese uralten Zeugnisse längst vergangenen Lebens hatten etwas Magisches. Hachenrath wurde langsamer. Es kam ihm vor, als wäre alles hier vom Hauch des Rätselhaften umweht. Gab es vielleicht noch ein anderes Geheimnis im Iskatán, außer den Schriftzeichen? Er blieb stehen. »Ein Geheimnis!«, murmelte er nachdenklich. Ja, das konnte sein. Aber was war es? Und wo war es? Im Boden vielleicht? Der Student hockte sich hin, stellte die Kamera ab, strich mit der Hand über das lehmige Erdreich. Irgendetwas war da unten. Das ahnte er. »Graben! Ich muss graben!«, sagte Hachenrath zu sich selbst und krallte seine Finger in den Grund. Neben ihm
begann die Taschenlampe zu flackern. �
10 � Um 1487 n. Chr. in Mexiko Die Kinder hatten Albträume. Das Geschehen von Tenochtitlán hinterließ bei allen Anasazi tiefe Spuren, doch die Kinder traf es am härtesten. Sie waren völlig verängstigt, fanden keine Ruhe mehr, keinen Frieden. Hotake baute für sie das Titlahtín nach, aus einem rund gebogenen Zweig, einem Spinnennetz aus Gräsern. Er verzierte es mit Federn, knotete einen roten Stofffetzen ein und erzählte den Kleinen dasselbe, was er schon Ahuizotl erzählt hatte. Es sei ein Traumfänger, sagte er. Ein magischer Gegenstand, der die Bringer böser Träume aus der Luft fängt und die Schlafenden beschützt. Die Kinder glaubten Hotake, dem Retter ihrer Väter und Brüder. Deshalb funktionierte der Traumfänger auch. Er wurde fester Bestandteil der Indianer-Kultur. Bei ihrer Flucht nach Norden wanderten die Anasazi an der Ostseite der Sierra Madre entlang. Zwei Mal stießen sie dabei auf Gebiete, weit vom Dreistädtebund der Azteken entfernt, die sich zum Besiedeln geeignet hätten. Doch für Häuptling Tsentainte war das nicht weit genug. Er wollte über die Grenze, zurück ins NavajoLand. Zum Iskatán. Tsentainte kannte die alten Geschichten vom Großen Vogel, der die Anasazi in den Fluss geworfen hatte. Jeder Häuptling kannte sie. Der Vorgänger gab sie weiter, man dichtete etwas hinzu, änderte etwas ab. Inzwischen war der Vogel vom
Gefangenentransporter zur beschützenden Gottheit mutiert, mit dem Felsenhügel Iskatán als seinem Horst. Hotake hätte das richtigstellen können, aber er sah keine Notwendigkeit dazu. Für den Seelenfrieden der Anasazi war es allemal besser, sich als behütetes Volk zu empfinden statt als Abkömmlinge einer verhassten Rasse, deren Heimat auch noch in einer anderen Welt lag! Letzteres hätte er den Indianern ohnehin nicht glaubhaft machen können. Sie blieben stur bei ihrer eigenen Sicht der Dinge, und Hotake hatte es längst aufgegeben, seinen Leuten irgendeine Art von Fortschritt nahezubringen. Was sich bewährt hatte, daran hielten sie fest. Und der Iskatán hatte sich bewährt. Gäbe es ihn nicht, wäre niemand den Azteken entkommen. Hotake erwartete nicht, den Iskatán je wiederzusehen. Neu Mexiko war das Land der Felsenhügel, wie sollte man ihn da finden? Er besaß keine markante Form, keine auffällige Zeichnung. Er war nur ein Sandsteinfelsen, wie alle anderen. Und doch … Bei einer Begegnung mit den Navajo erzählte Häuptling Tsentainte von seiner Suche, worauf deren Schamane zum Erstaunen aller das Wort ergriff. Weiter nordwestlich, sagte er, gäbe es einen Felsen, der ein Zeichen trug: das Abbild eines Raubvogels. Hotake hielt das für einen Schwindel; er dachte, die Navajo wollten Tsentainte nur ein weit entferntes Ziel nennen, um die Anasazi loszuwerden. Doch es stellte sich heraus, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Es gab ihn tatsächlich, den Felsen, an dem der kochend heiße Triebwerkausstoß von Hotakes abstürzender Maschine einen Präriefalken eingebrannt hatte – und es war der
Iskatán! Die Anasazi hatten ihr Zuhause gefunden. Juli 1540 n. Chr. südliches Grenzgebiet von Neu Mexiko Wir erbauten unser Pueblo an den Flanken des Iskatán, auf der Felsbrücke zwischen den beiden großen Überhängen mit ihrem Höhlenlabyrinth. Das Land ringsum war karg, aber wir hatten Übung darin, solche Flächen ertragreich zu bewirtschaften. Wir entdeckten eine Quelle, pflanzten Mais an, züchteten Ziegen. Noch unter Häuptling Tsentainte schlossen wir einen Friedensvertrag mit den Navajo. Er verlor nie seine Gültigkeit. Irgendwann tauchten die Apachen auf. Sie wussten ganz sicher nichts von der Begegnung ihrer Vorväter mit unserem Stamm, denn das Ganze war zu unbedeutend gewesen, um überliefert zu werden. Nur nicht für mich. Ich hatte die schmachvolle Erfahrung von einst nicht vergessen, als der Apachenhäuptling Cetmanita mich in Unterhosen abführte. Damals wollte ich nur am Leben bleiben, und es war mir egal, was der alte Wovoka über meine verlorene Ehre sagte. Das hatte sich inzwischen geändert. Ich führte meine Leute gegen die fuchsäugigen Räuber an, und wir nutzten jede Art des Kampfes, die wir auf unserer langen Wanderung gelernt hatten. Die Apachen flohen, und sie kehrten nicht zurück. Meine Ehre war wiederhergestellt. Danach ging das Leben seinen geregelten Gang, pendelte sich ein auf ein friedliches Kommen und Gehen der Anasazi. Ich sah ihnen zu, wie sie aufwuchsen und alt wurden, und ich liebte sie. Allerdings beneidete ich sie auch ein wenig, denn mein eigenes Schicksal wurde mit der Zeit zur Last. Äußerlich altere ich keinen Tag, sehe noch immer aus wie ein junger Mann, und es gab durchaus die eine oder andere Indianerin,
die mich begehrte. Doch nach Sacagawea habe ich keine mehr zur Frau genommen. Ich bin unfruchtbar, möglicherweise ein weiterer Effekt der Flüge durch die Raum-Zeit-Anomalie, und das gilt bei den Anasazi als Makel. Er wird stets den Frauen angelastet, egal, ob sie verantwortlich sind oder nicht. Das wollte ich ihnen ersparen. Bisweilen zogen Nomaden durch unser Gebiet. Sie kamen aus vielen Richtungen, und so erfuhren wir trotz der Abgeschiedenheit unseres Pueblos, was in der Welt um uns geschah. Auf diesem Weg erreichten uns auch die Neuigkeiten aus Mexiko. Ein Volk namens Spanier war in Tenochtitlán eingefallen, hatte die Stadt zerstört und den Azteken eine tödliche Krankheit mitgebracht: die Pocken. Ich empfand kein Bedauern, als ich hörte, dass Ahuizotls Gefolgschaft daran starb wie die Fliegen. Was mich allerdings beunruhigte, war die Tatsache, dass immer mehr Leute aus Richtung Tenochtitlán bei uns auftauchten. Anfangs hatte ich geglaubt, die Spanier wären ein Indianerstamm. Dann erfuhr ich, woher sie kamen, wer sie wirklich waren, was sie taten. Offenbar mordeten sie genauso brutal wie die Azteken, wenn auch mit dem Schwert statt mit dem Feuersteinmesser, und keineswegs aus religiösen Motiven. Sie suchten nach Gold, von dem es bei den Azteken in der Tat eine Menge gab. Doch es genügte ihnen nicht, und so schickte der spanische Anführer, ein Mann namens Hernán Cortéz seine Truppen auf die Jagd nach einem Phantom: den fünf Goldenen Städten der Indianer. Als ich von dem Befehl erfuhr, waren die Spanier bereits unterwegs. Sie kamen direkt auf uns zu. Die Anasazi wollten nicht erneut alles aufgeben und fliehen. Wir hätten auch gar nicht gewusst, wohin. Richtung Norden gab es viele verfeindete Stämme, angeblich lebten dort
inzwischen auch Weiße, und von Süden zogen die Spanier auf. Wieder standen wir vor der Frage: Was sollen wir tun? Und diesmal, so schien es, kannte die Antwort nur der Wind. Er wehte täglich neue Schreckensmeldungen an den Iskatán; von ermordeten Indianern, verbrannten Dörfern, geplündertem Besitz. Wir zerstörten alle Steintreppen, die zum Pueblo heraufführten, und ersetzten sie durch Leitern. Die konnte man rasch entfernen, was einen Angriff erschwerte. Wir schafften auch große Steine herbei und besetzten mit ihnen den Rand des Felsplateaus, um sie herunterrollen zu lassen, falls die Spanier versuchen sollten, das Dorf zu stürmen. Pfeile und Bogen, Messer und Steinäxte besaßen wir genug. Aber wohin mit den Frauen und Kindern? Unser Häuptling, ein Sohn Tsentaintes, wollte sie in den Felsenhöhlen unterbringen. Doch der Schamane widersprach. Sein Name war Tashunka, und er ist bei uns bis heute unvergessen. Wir wussten damals schon, dass in den Höhlen des Iskatán seltsame Kräfte am Werk waren. Man hatte ständig das Gefühl, etwas suchen zu müssen, irgendein Geheimnis. Ich habe mich lange gefragt, was den Effekt wohl auslösen mochte. Wirklich enträtseln konnte ich es bis heute nicht, aber mir ist inzwischen klar, dass es mit der Anomalie zu tun hat. Der Iskatán steht direkt unter ihr, und etwas von ihr scheint in unregelmäßiger Bewegung über den Höhlenboden zu streifen. Wie Schnüre eines Bastvorhangs. Ich glaube, dass es die Enden der Zeitlinien sind. Doch da ist noch mehr! Eines Tages fanden wir ein totes Kaninchen in den Höhlen. Es hatte sich wohl verirrt und war verhungert. Das Tier sah aus wie eben gestorben, aber als wir es ins Freie brachten … zerfiel es zu Staub. Welche Macht auch immer das bewirkte, unsere Frauen und Kinder wollten wir ihr nicht aussetzen. Wir zögerten selbst dann noch, als wir
hörten, dass die Spanier bereits über die Landesgrenze kamen. Und plötzlich war es zu spät. Pferde gab es bis dahin nicht auf dem Kontinent, und ihretwegen hatten wir eine völlig falsche Vorstellung von der uns verbleibenden Zeit. Wir waren noch dabei, die Tage bis zum Eintreffen der Spanier auszurechnen, da sahen wir sie schon am Horizont. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass wir keine Chance hatten. Was sich da auf den Iskatán zu bewegte, das waren nicht die üblichen Gegner mit Lendenschurz und Pfeil und Bogen. Kein unkoordiniertes Durcheinander, das durch Kriegsbemalung und Geschrei gefährlicher zu wirken versuchte, als es war. Sie trugen Helme und Brustpanzer, die kein Pfeil durchbohren konnte, meldeten unsere Späher, und sie führten lange Schwerter mit sich, Furcht kroch in unsere Herren. Ich erinnerte mich an ganz andere Waffen aus meinem früheren Leben, ja, natürlich. Aber sie waren nicht hier! Wir wussten auch nicht, was wir von den unbekannten Tieren halten sollten. Waren Pferde gefährlich? Es gab keine Alternative zum Kampf, also machten wir uns bereit. Selbst die Frauen, jeder, der einen Bogen halten oder Steine werfen konnte, kam zu uns Männern an den Rand des Felsplateaus. Wir rechneten damit, dass wir sterben mussten. Aber wir wollten es nach Anasazi-Art tun. Mutig, mit der Waffe in der Hand. Uns blieben noch etwa drei Stunden Zeit, als Tashunka dem Häuptling vorschlug, einen Geistertanz zu versuchen. Er sagte, wenn wir ohnehin nichts mehr zu verlieren hätten, dann wäre dies vertretbar. Den Geistertanz hatten unsere Schamanen einst von einem befreundeten Nomadenstamm übernommen, mit dem wir eine Weile Kontakt hielten. Angeblich sollte dieser Tanz bewirken,
dass Lebende die Welt der Toten betreten konnten, und dass dadurch die beiden Welten verschmolzen. So konnten die Toten Zurückkehren. Das wollten wir nie, deshalb versuchten wir es auch nicht. Jetzt aber, im Angesicht der vorrückenden Spanier, erschien uns das Reich der Ahnen als kein schlechter Zufluchtsort. Deshalb verließen wir unsere Stellungen am Rand des Plateaus und folgten Tashunka zu den Höhlen. Vor deren Eingang, auf dem Gelände unter den Felsüberhängen, machten wir uns sofort ans Werk. Tashunka hatte von den Navajo die Kunst der Sandmalerei erlernt, die üblicherweise nur Schamanen praktizierten. Unter seiner Anleitung schütteten wir alles, was Farbe besaß – Mehl, Maiskörner, Beeren –, auf den Boden und formten daraus mansche Zeichen. Zwei Stunden noch. Tashunka gab den Alten und den Kindern jeden Gegenstand, den man als Trommel benutzen konnte. Wir anderen nahmen Aufstellung um das Bild am Boden. Der Schamane erklärte, wir müssten uns an den Händen halten, dürften nicht loslassen und müssten uns im Takt seitwärts bewegen. Es dauerte schier endlos, bis das funktionierte und keiner mehr über die eigenen Füße oder den Nachbarn stolperte. Dann begann Tashunka den Geistertanz. Es war ein monotoner Singsang zum Schlag der Trommeln, einzig unterbrochen von dem immer stärker werdenden Ruf: Tuakum he! Wir sind bereit! Noch eine Stunde. Wir tanzten und tanzten. Ohne Pause, ohne Ende, in dieselbe Richtung, im selben Takt. Ich war nicht der Einzige, dem schwindlig wurde, aber keiner von uns gab auf. Es ging schließlich nicht nur um das eigene Leben, sondern auch um das unserer Kinder, der Alten, des Stamms.
Mir schlug ständig das Titlahtín an den Körper, immer auf dieselbe Stelle, immer mit einer Ecke. Irgendwann war ich es leid. Ich zog mir beim Tanzen die Kette über den Kopf, bückte mich hastig und legte den Tracker zwischen die magischen Sandbilder. Wir konnten bereits einzelne Gesichter in den Reihen der Spanier erkennen; Schwerter, wallende Pferdemähnen. Kriegsgeschrei und Wiehern durchdrangen den Schlag der Trommeln. Schon hielten die Soldaten an, schwangen sich aus dem Sattel, rannten auf den Iskatán zu. Ich zwang mich, sie nicht mehr zu beachten, konzentrierte mich auf den Tanz. Als ich wieder einmal an meinem Titlahtín vorbei kam, das klein und dunkel im Kreis der Sandbilder lag, war mir, als würde es aufblinken. Doch das konnte nicht sein! Der Tracker aktivierte sich nur bei Körperkontakt! Ich war so irritiert, dass ich einen Moment lang alles doppelt sah. Als sich das Bild wieder zusammenfügte, kletterten die Spanier über den Felsenrand. Sie schwärmten aus, rannten durch unser Dorf, kamen immer näher. Sie schienen etwas zu suchen. Wir hörten auf tanzen, wähnten uns verloren. Sie hatten uns eingekreist, und was wir an Waffen besaßen, lag außer Reichweite am Rand des Plateaus. Ich fand es merkwürdig, dass kein einziger Soldat das Schwert zog, als der Trupp uns erreichte. Es verlangsamte auch niemand sein Tempo. Sie rannten einfach durch uns hindurch, und ich meine nicht durch unsere Gruppe. Sie rannten durch unsere Körper. Wir waren so entsetzt, wie man nur sein kann. Viele wurden ohnmächtig, alle anderen schrien, einer unserer Alten starb vor Schreck. Wir glaubten, wir hätten uns in Geister verwandelt. Doch dann zeigte der Schamane hinaus aufs Land, und ich weiß noch, dass er dabei rief: »Willkommen in der zweiten Welt!« Ich hielt es erst für eine Sinnestäuschung, dachte, ich hätte
mich um den Verstand getanzt. Wo eben noch das verdorrte Neu Mexiko zu sehen gewesen war mit seinen Felsenhügeln, den Steinen und Kakteen, breitete sich eine grüne Landschaft aus. Wälder rauschten in der Ferne, und vor dem Iskatán lag ein See! Der Geistertanz hatte funktioniert. Wir waren tatsächlich in einer anderen Welt. Es war sehr gewöhnungsbedürftig, unsere Häuser zu sehen und ihre Wände plötzlich durchschreiten zu können. Wir bauten ein neues Dorf, fast deckungsgleich über dem alten. Dort siedelten wir mit unseren Ziegen, legten wieder Felder an, schafften uns ein Zuhause. Viele Jahre vergingen. Manchmal kamen Fremde an den Iskatán, Weiße zumeist, und nachdem wir die anfängliche Angst überwunden hatten, sie könnten uns entdecken, wurde es für uns alltäglich, dass sie wie Geister durch unser vermeintlich leeres Dorf wanderten. Die jungen Anasazi machten es zur Mutprobe, sich den Fremden in den Weg zu stellen, sie durch ihre Körper schreiten zu lassen. Wenn die Angst zu groß wurde, riefen die Jugendlichen Tuakum he! Dieser Ruf fand gelegentlich seinen Weg in die andere, die alte Welt. Man sah es an den erschrockenen Gesichtern der Fremden. Sommer 1969 »Wir müssen die Polizei verständigen, Professor«, sagte die Studentin Michelle mit tränenerstickter Stimme. Norbert Hachenrath war seit dem Mittag verschwunden. Inzwischen blinkten Sterne über dem Iskatán. »Das ist eine gute Idee, Michelle!«, lobte Jaydon zynisch. »Dann gehen Sie mal los. Las Cruces liegt
ungefähr in dieser Richtung.« Er winkte flüchtig hinaus in die Nacht. »Wenn Sie sich beeilen und nirgends stehen bleiben, um Hare Krishna zu singen oder den Mond im Siebten Haus zu suchen, werden Sie morgen früh ankommen.« »Sei nicht so gemein, Jaydon!«, sagte Tracy Carter vorwurfsvoll und streichelte dem schluchzenden Mädchen übers Haar. »Michelle macht sich eben Sorgen um ihn! Das solltest du übrigens auch. Immerhin bist du für ihn verantwortlich.« »Für ihn ja. Aber nicht für seine Dummheit.« Jaydon langte nach einem Stück Fleisch und spießte es auf. »Ich hatte laut und deutlich angeordnet, dass niemand in die Höhlen geht. Wenn Heckenross meint, er brauchte nicht zu hören, kann ich es nicht ändern.« Der Archäologe seufzte. Er saß mit seinen Studenten am Lagerfeuer und hatte sich eigentlich auf einen entspannten, angenehmen Tagesausklang eingestellt. Es gab sogar Bier, denn Tracy hatte beschlossen, morgen abzureisen. Seit der Explosion gestern Abend fühlte sich die Schwangere nicht wohl und wollte lieber heimkehren. War das nicht wunderbar? Ja, das war es! Jaydon schenkte ihr ein falsches Lächeln. »Mach dir keine Sorgen – Liebes! Wenn Manolo morgen kommt, werde ich ihn selbstverständlich beauftragen, einen Suchtrupp herzuschicken.« Er seufzte theatralisch. »Bis dahin muss Heckenross selbst sehen, wie er klarkommt. Ist ja nicht so, als hätten wir nicht versucht, ihn zu finden.« »Aber er könnte verletzt sein«, jammerte Michelle. »Vielleicht ist er abgestürzt, hat sich ein Bein gebrochen oder …«
»Abgestürzt?«, wiederholte Jaydon gedehnt. Er sah angewidert aus. »Die Höhlen liegen nahezu ebenerdig. Wo soll er hinstürzen? Ins Hippie-Paradies?« »Jaydon!« Tracy legte eine Hand auf seinen Arm. Er ließ sie liegen und sagte: »Schon gut. Wir sind wohl alle ein wenig mitgenommen von dem ganzen Durcheinander. Hat mal jemand ein Bier für mich?« Es klang, als ob Jaydon mit Durcheinander Hachenraths Verschwinden meinte oder die Explosion, die so günstig den Eingang zu den Schriftzeichen verschüttet hatte. Doch dem war nicht so. Am Iskatán gingen merkwürdige Dinge vor sich! Inzwischen hatten mehrere Studenten unabhängig voneinander den fernen Ruf Tuakum he gehört. Einmal stand plötzlich am Rand der Kiva ein geflochtener Korb. Jaydon hatte ihn selbst vom Camp aus gesehen, aber als er Tracy schickte, um ihn zu holen, kam sie mit leeren Händen zurück. Sie hatte nur leere Mauern vorgefunden. Der Archäologe erinnerte sich daran, wie Manolo ihn auf der Hinfahrt in gebrochenem Amerikanisch gewarnt hatte, es läge ein Fluch auf dem Iskatán. Sinde sich Seelen da, Señor, die nicht können fort, hatte er geradebrecht und von der Eifersucht der Toten auf die Lebenden geplappert. Jaydon war darüber eingenickt. Er fand es gut, dass es Geistergeschichten gab, denn sie hielten die Eingeborenen von seiner Grabungsstätte fern, aber er glaubte nicht an den Unsinn. Und was die Schatten anging, die Jaydon gelegentlich auf den Felsen herumhuschen sah – sollten sie doch! Solange sie nichts kaputt machten oder jemanden belästigten, konnten sie seinetwegen huschen, bis ihnen schwindlig wurde! »O Gott!«, stöhnte er plötzlich. Die Studentin Susan
kam mit einer Gitarre ans Lagerfeuer! Schlimmer konnte der Abend nicht werden, davon war Jaydon überzeugt. Er irrte sich. Norbert Hachenrath haderte mit sich selbst, während er blind wie ein Maulwurf an den Felswänden entlangstrich. Hätte er die Batterien seiner Taschenlampe geprüft, bevor er in die Höhlen ging, müsste er jetzt nicht durch stockfinstere Gänge tappen. Wie groß war dieses Labyrinth denn nur? Der Student hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war. Er wusste auch nicht, warum seine Hände so verschrammt aussahen und seine nackten Knie brannten, als wäre er auf dem Boden herumgekrochen. Wenigstens hatte er so viel Geistesgegenwart besessen, die Kamera mitzunehmen. Das Blitzlichtgerät war aufgeladen, und Hachenrath betätigte hin und wieder den Auslöser. Das hatte ihn schon zwei Mal davor bewahrt, in eine Grube zu stolpern. Hier wühlte anscheinend jemand mit bloßen Händen im Boden herum! Aber warum nur? Warum? Was hoffte er denn in den Höhlen zu finden? Ein Geheimnis vielleicht? Hachenrath blieb stehen, und sein Gesichtsausdruck wurde seltsam leer. Er ging auf die Knie. »Graben«, murmelte er. Hachenrath wollte die Armbanduhr ablegen. Sie war ein Geschenk seiner Eltern, und damit musste man vorsichtig umgehen. Doch er fand sie nicht, als er über sein Handgelenk tastete. Seltsam, oder? Hatte er sie vielleicht schon abgelegt und es vergessen? Er strich über
den Grubenrand. Tatsächlich! Da lag sie ja! Die Uhr interessierte ihn gleich darauf nicht mehr, und auch sonst nichts. Graben, das war wichtig. Er musste das Geheimnis finden. Ein paar Minuten später erhob sich Hachenrath urplötzlich und wanderte los, als wäre nichts geschehen. Er haderte dabei mit sich selbst, dass er die Batterien seiner Taschenlampe nicht geprüft hatte, bevor er in die Höhlen ging. Das darf ich meinem Vater nicht erzählen! Er wäre entsetzt über so eine schlampige Vorbereitung, dachte er. Allerdings wäre sein Vater erst recht entsetzt, wenn er wüsste, dass Hachenrath junior die Anordnung eines HarvardProfessors in den Wind geschlagen hatte und unerlaubt durch Höhlen schlich. Hachenraths Hand schrammte über einen Vorsprung an der Felswand. Er seufzte. Wäre er doch nur draußen geblieben! Wäre er doch nur daheimgeblieben! Aus der Ferne hatte Amerika so großartig ausgesehen, so verlockend. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die große Freiheit. Doch jetzt steckte er in finsteren Höhlen fest, war mit einem Professor unterwegs, der wertvolle Funde in die Luft sprengte, und bekam zum Frühstück Pfannkuchen mit Ahornsirup. Wo waren die Brote? Die Marmelade? Wo war Dortmund? Heimweh überkam den Studenten, sank schwer wie Blei auf sein Herz. Hachenrath lehnte sich einen Augenblick an die Wand, diese blöde amerikanische Felsenwand im Reich der Marshmallows, der Hippies und Walt Disneys. Wie sehnte er sich nach zuhause! Dortmund, das waren Kohlezechen, Fußball und Bier. Kleine Häusken im Schatten der Fördertürme,
Schrebergarten-Idylle an den Bahngleisen. Ruhrpott eben! Da gab es keine feinen Restaurants, keine Universität. Die Menschen dort waren einfache Arbeiter. Anständige, ehrliche Leute mit gutem Herz. Willsn Bütterken?, war die meistgestellte Frage, gleich nach der zu den Fußball-Ergebnissen, und wenn man das angebotene Butterbrot akzeptierte, dann konnte man sich darauf verlassen, dass es keine Mogelpackung war. Nicht wie hier, wo ein namhafter Professor zu Dynamit griff, damit das Ergebnis seiner Arbeit wunschgemäß ausfiel! Hachenrath setzte sich wieder in Bewegung, tastete weiter durch die Dunkelheit. Es musste doch irgendwo einen Ausgang geben! Aber … Er zögerte, runzelte die Stirn. Suchte er nicht eigentlich nach etwas anderem? Der junge Mann blieb stehen, und sein Gesichtsausdruck wurde seltsam leer. »Graben«, murmelte er. Als er auf die Knie ging und in den lehmigen Boden griff, stießen seine Finger an ein Stück Leder. Es war das Band seiner Uhr. »Busted flat in Baton Rouge«, sangen die Studenten. Ein Windstoß fegte durch das Camp, holte Funken aus dem Lagerfeuer und ließ sie wie Glühwürmchen davontanzen. Tracy hatte sich an Jaydons Schulter gelehnt und hörte lächelnd der Musik zu. Das Stück war ganz neu: Me and Bobby McGee hieß es. Bei Janis Joplin klang es irgendwie anders, aber was Susan, Scott und Ben daraus machten, war auch nicht schlecht. Tracy hob den Kopf. »Ist doch schön, Jaydon, oder?«
»So was Herrliches habe ich nicht mehr gehört seit der Beerdigung meiner Mutter«, knurrte der Archäologe. »Jaydon, deine Mutter lebt noch!« Tracy streichelte ihm über die Wange. »Warum bist du nur immer so schlecht gelaunt? Es gibt doch gar keinen Grund dafür! Du hast ein wunderbares Forschungsprojekt, wir werden bald ein Baby haben …« »Baby! Wenn ich das Wort schon höre, wird mir schlecht.« Jaydon rammte seinen Bratenspieß in den Boden. »Ich will kein Baby, ich will ein Titlahtín.« Tracy lachte. »Tut mir leid, dabei kann ich dir nicht helfen. Das musst du schon selber finden.« Jaydon hörte auf, mit dem Spieß herumzustochern. Er musterte die hübsche junge Frau an seiner Seite zweifelnd. »Warum erträgst du mich eigentlich, statt mich zum Teufel zu schicken?« »Weil ich dich liebe.« Tracy schmiegte sich an ihn, lächelnd. Sie drückte seinen Arm, streichelte ihn und schnurrte: »Sag mal, was würdest du eigentlich davon halten, wenn wir heiraten, Liebling?« »Machen wir, Tracy«, sagte Jaydon, während er sich aus ihrem Griff befreite. »Was, wirklich?« »Ja.« Der Archäologe stand auf. »Gleich im nächsten Leben.« Sein Blick blieb an Gerard hängen. Der junge VietnamVeteran saß auf der anderen Seite des Lagerfeuers, zusammengesunken, und starrte in die Flammen. Der Joint zwischen seinen Fingern verglomm unberührt, das war das einzig Positive. Ansonsten war er ein Häufchen Elend. Das Verschwinden von Heckenross schien ihn sehr zu belasten. Die beiden mochten sich wohl.
»Kommen Sie, Gerard, reißen Sie sich zusammen!«, befahl Jaydon und machte einen Schritt in seine Richtung. »Heckenross wird schon nichts passiert sein! Morgen suchen wir ihn, und dann können Sie sich in aller Ruhe von ihm verabschieden, bevor ich ihn nach Hause schicke.« Der Student sah auf. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Jaydon dachte, Gerard wäre entsetzt über die Ankündigung, dass er den Deutschen aus dem Team werfen würde. Deshalb sagte Jaydon: »Sie müssen das verstehen, Gerard. Ich kann nicht …« »Professor!« »Nein, lassen Sie mich ausreden! Es ist eine Sache des Prinzips. Wenn ich …« »Professor!« Gerards Stimme klang dünn. »Zum Donnerwetter! Ich sagte, lassen Sie mich ausreden!«, schnauzte der Archäologe. »Was ist denn? Und warum starren Sie an mir vorbei?« Gerards Hand zitterte, als er über Jaydons Schulter auf den Iskatán wies. »Hinter Ihnen steht jemand.« 18. Oktober 2517 Er hat mich gesehen!, dachte Hotake überrascht. Er war auf dem Heimweg von den Höhlen gewesen, zu Nchoki und dem restlichen Kaninchenbraten, als er das Lagerfeuer am Fuß des Iskatán bemerkte. Hotake hatte sich gefragt, ob Freunde von Aruula gekommen waren, um nach der verschollenen Barbarin zu suchen. Deshalb war er hinunter in die Ebene geschlichen. Lange bevor der Junge »Hinter Ihnen steht jemand!« rief,
merkte Hotake jedoch, dass die bunt gekleideten Fremden nicht zu Aruula und ihrem Gefährten Maddrax passten. Aber noch etwas anderes stimmte nicht! Ich könnte schwören, ich hätte sie schon mal gesehen, dachte er auf dem Rückweg zum Iskatán. Zumindest sehr ähnliche Leute! Saß hier nicht auch eine Gruppe Langhaariger am Lagerfeuer, als es diese Explosion gab, nach der wir den Geheimgang wieder freilegen mussten? Er versuchte sich zu erinnern, wie lange das her war. Fünfhundert Jahre? Fünfhundertfünfzig? Allmählich hatte er Schwierigkeiten damit, Ereignisse zeitlich einzuordnen. Ich werde alt, dachte Hotake sarkastisch. Lautlos kletterte er zum Dorf hoch, schwang sich über den Rand des Felsplateaus. Dort blieb er stehen und blickte nachdenklich zurück auf das Lagerfeuer. Wieso hatte der Junge ihn gesehen? Wie konnte das sein? Hotake und seine Anasazi befanden sich inzwischen in der fünften Welt. So nannten die Indianer ihr Zuhause. Hotake hatte einmal versucht, den Indianern das Unerklärliche zu erklären. Er hatte ihnen die Raum-ZeitAnomalie über dem Iskatán als eine Macht beschrieben, deren unteres Ende den Felsen durchstreifte wie Schnüre eines Bastvorhangs. Jede Schnur war eine Welt, und die Anasazi sollten sich vorstellen, dass daran lauter Ameisen herumliefen. Keine Ameise konnte eine andere, benachbarte Schnur erreichen. Kam aber ein Windhauch daher, der die Schnüre aneinanderstoßen ließ, dann konnten die Ameisen überwechseln. Auf eine andere Schnur, in eine andere Welt. Hotake erinnerte sich noch gut an die Blicke der Ältesten, die sie ihm zuwarfen, als sie am Ende seines
Vertrags schweigend aufstanden und die Kiva verließen. Er hatte keinen zweiten Erklärungsversuch unternommen. Er wurde auch nie darum gebeten. Für Indianer war es eben wenig schmeichelhaft, wenn sie mit Ameisen verglichen wurden. Aber wieso hat der Junge mich gesehen?, grübelte Hotake. Andersherum war es nichts Besonderes, denn egal, wohin der Geistertanz die Anasazi trug: Ihre Verbindung zur ersten, ursprünglichen Welt riss nie ab. Allerdings war diese Verbindung einseitig. Die Indianer konnten hinüberblicken, doch wer an den Felsenhügel kam, fand ein vermeintlich verlassenes Pueblo vor. Was an den Außenwänden und im direkten Umfeld des Iskatán von Menschenhand erschaffen wurde, blieb stets in der Welt, in die es gehörte. Zum Beispiel das Pueblo. Es verschwand bei den Geistertänzen und tauchte nie wieder auf. Nur das erste, ursprüngliche schimmerte gelegentlich durch – und wenn es das tat, bedeutete es nichts Gutes. »Hotake«, sagte eine leise Stimme. Ohne sich umzudrehen, fragte Hotake: »Was gibt es, Wabasha?« Er hatte den Anasazi kommen hören, trotz dessen schleichender Bewegung. »In den Höhlen ist ein fremder Mann unterwegs«, sagte Wabasha ruhig. Hotake runzelte die Stirn. »Unterwegs? Was meinst du mit unterwegs?« »Er gräbt, steht auf, wandert ein Stück im Kreis und fängt wieder an zu graben.« »Hat er dich gesehen?« Wabasha nickte. »Ich glaube, ja.« Die steile Falte zwischen Hotakes Augenbrauen
vertiefte sich. »Hier stimmt etwas nicht!« Er wandte sich dem Indianer zu. »Halte ein Auge auf die Leute da unten! Sollten sie näher kommen, sagst du dem Häuptling Bescheid.« »Es ist mitten in der Nacht!«, protestierte Wabasha. »Ja.« Hotake setzte sich in Bewegung. Er wanderte durch das schlafende Pueblo zu den Höhlen, dachte unterwegs über die seltsamen Vorfälle nach. Etwas Ähnliches hatte es schon einmal gegeben, nach dem dritten Geistertanz. Da war ein mühsam angelegtes Kakteenfeld verschwunden, und ein Krug Mehl. Kurzfristig tauchten Bilder an den Wänden auf, die die Anasazi mitsamt ihren Häusern in der ersten Welt zurückgelassen hatten, und die Lederfrau klagte eines Morgens, sie hätte sich den Kopf gestoßen, weil ihr Hauseingang plötzlich an einer anderen Stelle lag. Allerdings hatte die Lederfrau eine Schwäche für Maisschnaps, und dieses hochprozentige Gebräu ließ einen gern mal vom rechten Weg abkommen. Trotzdem hatten sich die Anasazi entschieden, den Geistertanz zu wiederholen. Hotake hoffte, dass das nicht erneut nötig sein würde. Seit Makeje ihm das Titlahtín aus der Hand geschlagen hatte, war es spurlos verschwunden, und ob der Geistertanz auch ohne den Tracker funktionierte, ließ sich schwer sagen. Hotake hegte den Verdacht, dass die kollektive Energie der Anasazi zwar den Sprung unterstützte, das Titlahtín jedoch der eigentliche Auslöser war. Hotake spürte einen Stich in der Brust, als er am Haus von Schwarzer Falke vorbei kam. Nachts sah man die
Spuren des Brandes nicht, die Risse in den Mauern. Doch sie waren da, und der Mann mit den Adlerfedern trauerte noch immer um den Freund, der in den Flammen dort sein Leben gelassen hatte. Schwarzer Falke war der letzte männliche Nachkomme von Saiapi gewesen. Jetzt trug nur noch Nchoki, das kleine Mädchen, das Hotake gerettet hatte, die Blutlinie des großen Kriegers in sich. Kein Licht drang aus den verhängten Fenstern, alles war still. Hotake wunderte sich: Aruula konnte doch unmöglich schon schlafen! Es war höchstens eine halbe Stunde her, dass er sie im Geheimgang angetroffen hatte! War sie vielleicht in die Höhlen gegangen? Zu ihrem Gefährten Maddrax? Hotake machte sich auf die Suche nach ihm. Er nahm eine Fackel mit ins Felsenlabyrinth, stieg über Corporal Billy Joe hinweg, der seit den Sezessionskriegen am Eingang saß, und wanderte los. Hotake kannte sich aus in den Höhlen, und es dauerte nicht lange, bis er die Grube gefunden hatte, in der die toten Spanier lagen. Irgendwo zwischen ihnen scharrte sich Maddrax ins Delirium. Hotake hockte sich an den Grubenrand, hielt die Fackel hoch. »He!«, sagte er. »Sieh mich an!« Er hatte es halb erwartet, und doch zuckte er innerlich zusammen, als Maddrax den Kopf hob. Also war auch hier die Zeitbarriere gefallen, nicht nur draußen vor dem Iskatán! Maddrax sah so jämmerlich aus, so erbarmungswürdig. Sein Gesicht war fahl, die Wangen mit ihren Schmutzstreifen und Bartstoppeln waren eingefallen. Er blinzelte aus rot geränderten Augen zu
der Fackel hoch und flüsterte: »Aruula?« Anscheinend hatte er einen lichten Moment. Das war ungewöhnlich für ein Opfer der Höhlen. Normalerweise verloren sie den Verstand, gruben bis zur völligen Erschöpfung nach dem Geheimnis und starben. Hotake wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Weiße waren Feinde, das hatte er gelernt, auch wenn er selber einer war. Trotzdem tat der Mann ihm leid. Vielleicht, weil die schöne Frau ihn so liebte. »Aruula geht es gut«, sagte Hotake widerwillig. »Sie ist in Sicherheit.« Maddrax hob eine zitternde Hand. »Danke! Ich danke dir!« Er war kaum zu verstehen. »Kannst du mir sagen, was hier geschieht?« Hotake lachte lautlos. »Verstehst du was von RaumZeit-Anomalien?« »Ja.« Maddrax fuhr sich über die Stirn. »Ich bin durch eine geflogen. Fünfhundert Jahre in die Zukunft. Irre, was?« »Schon klar.« Hotake stand auf, erleichtert irgendwie. Der Mann fantasierte! »Warte!« Maddrax hatte Mühe, die geröteten Augen offen zu halten. »Ich bin … Commander Matthew Drax, US Air Force, Dienstnummer MD-1980-0126-C23, und ich habe … irgendwie …« Er brach ab, sackte in sich zusammen. Hotake stand da, wie vom Donner gerührt. Maddrax war ein Pilot? Es gab keine Flugzeuge mehr in der ersten Welt, seit dem Kometeneinschlag vor fünfhundert Jahren. Sagte er die Wahrheit? Wenn ja, wo kam er her? Hotake spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Gehörte Maddrax zu einem Suchtrupp? Hatten ihn vielleicht …
die Alten geschickt? Hastig kehrte er an den Grubenrand zurück. »Wo warst du stationiert?«, fragte er erregt und schlug mit der Hand auf den Boden, als nicht sofort eine Antwort kam. »Sprich zu mir, Maddrax! Wo warst du stationiert, und wo bist du nach dem Austritt aus der Anomalie gelandet?« Mühsam hob Maddrax den Kopf. »Berlin«, hauchte er. »Wir sind … in Berlin gestartet und … in den Alpen … weiß nicht mehr.« Enttäuscht wich Hotake zurück. Nein, Maddrax hatte nichts mit den Alten zu tun. Die Namen, die er nannte, klangen völlig fremd. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Du hast nicht zufällig etwas gefunden, oder?«, fragte er. »Einen Tracker? Ein kleines Gerät, das blinkt?« Doch Maddrax glitt bereits zurück ins Reich des Vergessens. Schweigend wühlte er sich durch den Lehm. Hotake hob die Fackel auf und wanderte los. Es war alles gesagt, nun musste er sich um seine Leute kümmern. Was in den Höhlen geschah, ging ihn nichts an. Maddrax hätte ja nicht herkommen brauchen. Der Iskatán gehörte den Indianern, und Weiße hatten hier nichts zu suchen, denn sie brachten nur Tod und Verderben. Das hatten sie immer schon getan, jedenfalls die meisten. Ausnahmen hatten eben Pech. »Ach, verdammt!« Hotake kehrte um, beugte sich über den Grubenrand und streckte den Arm aus. »Na los, gib mir deine Hand!« Er zog Maddrax in den Höhlengang, legte ihn bäuchlings ab. Dann rammte er seine Fackel ins Erdreich, packte Maddrax am Kinn, damit er auch hinsah, und
wies nach vorn. »Das ist der kürzeste Weg ins Freie. Nimm ihn! Ich sage Aruula, dass sie draußen auf dich warten soll.« Hotake eilte los. Er hatte eine Ahnung, wo sich die Barbarin aufhalten könnte. Hinter ihm wurde es still in den Höhlen. Matt lag einfach da und starrte nach vorn. Der kürzeste Weg ins Freie, hatte der Indianer gesagt. Freiheit. Es lag so viel Wunderbares in diesem Wort! Licht, Luft und Sonne. Wind im Gesicht und Wärme auf der Haut; Platz, um sich auszustrecken und den Tag zu genießen. Matt hob sich mühsam auf die Ellbogen. Ja, das klang gut! Aber er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste ein Geheimnis finden. »Graben«, murmelte er, rollte herum und fiel in die Grube zurück.
11 � Das Haus des Schamanen war unheimlich mit all den getrockneten Tieren, den Zeichen an der Wand, dem mächtigen Kopfschmuck über der Schlafstatt. Aruula war unbehaglich zumute. Aber Makeje hatte ihr versprochen, sie in ihre eigene Welt zurückzuschicken, und nur dort konnte sie Maddrax retten, deshalb war sie hier. Für ihn wäre sie selbst durch die Hölle gegangen, und so schlimm war es im Haus des Schamanen dann auch wieder nicht. Der gut aussehende junge Anasazi hatte sich an der Feuerstelle niedergelassen, sah Aruula ab und zu über die Flammen hinweg an. Makeje murmelte geheimnisvoll klingende Beschwörungen und warf dazu gelegentlich einige Kräuter ins Feuer. Sie gingen in Rauch auf, der in den Augen brannte und süßlichen Duft verströmte. Aruulas Lider wurden schwer. Die tapfere Barbarin ahnte nichts von der Gefahr, in der sie schwebte. Makeje war ein Telepath wie sie, und er konnte seine Gedanken genau wie sie abschirmen. Seine Gedanken, und seinen Hass! Als sie vorhin zu ihm gekommen war und ihn angefleht hatte, ihr zu helfen, hatte Makeje seine Chance gesehen, Aruula so unauffällig wie grausam zu töten. Es kam vor, dass jemand bei einem Ritual in Trance fiel und nicht mehr in die Wirklichkeit zurückfand. Selten zwar, aber immer noch oft genug, um keinen Verdacht zu erwecken. »Entspann dich!«, befahl er mit sanfter Stimme. »Lass
alles geschehen, dann wird es leichter für dich, hinüberzugleiten.« Wieder warf er einen Kräuterbund ins Feuer. Fünf lagen noch neben ihm, ordentlich in einer Reihe. Der letzte war mit roten Beeren besetzt. Aruula versuchte, die Augen offen zu halten. Doch sie fielen immer wieder zu, und dann tauchten sehr reale Traumbilder auf. Irgendwann verlor sie den Überblick. Schlief sie, oder geschah das wirklich? Sie saß im Sand und trommelte nervös mit den Fingern auf ihre Knie. Makejes monotoner Singsang dauerte schon ewig an, und sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß. Es musste sehr anstrengend sein, sie in ihre Welt zurückzuführen. Plötzlich sah er sie an, als wollte er etwas sagen. Doch dann hob er nur die Hand – und war fort. Da war Nacht, und kühler Wind. Aruula rannte zu den Höhlen, durch die Gänge, hin zu der Grube, in der sich Maddrax zu Tode wühlte. Der Rand war an einer Stelle weggebrochen, hatte die toten Spanier verschüttet. Aruula sprang zu ihnen hinunter, rammte ihre Fackel in den Grund, suchte verzweifelt nach Maddrax. Er musste noch leben! Das Erdreich war locker, er brauchte also nicht erstickt zu sein. Immer wieder stieß sie auf leblose Körper, wischte den Dreck von fremden Gesichtern. Voller Angst, sie könnte Maddrax darunter finden. Dann hörte sie seine Stimme. Leise nur, wie einen Hauch. Er lag am Grubenrand; seine Hand hing herunter, und er sagte: »Hör auf zugraben! Es gibt kein Geheimnis!« »Aruula!« Jemand schüttelte sie, schlug ihr hart ins Gesicht. »Aruula! Wach auf!«
Mühsam blinzelte sich die Barbarin aus ihrem Traum. Hotake half ihr hoch und stützte sie, bis das Taumeln verebbte. Ihre Augen weiteten sich. »Was hast du getan?«, rief sie entsetzt. Makeje lag ohnmächtig am Boden. »Er wollte mich in meine Welt zurückbringen!« »Er wollte dich töten«, verbesserte Hotake und wies auf die Hand des Schamanen. Ein Kräuterbündel war den Fingern entglitten. Rote Beeren schimmerten daran. »Sie sind giftig. Wenn du den Rauch einatmest, verdunkelt sich dein Geist. Komm mit mir!« Hotake zog Aruula zum Ausgang. Sie weinte vor Zorn und Verzweiflung. Plötzlich riss sie sich los, rannte zurück und warf die Kräuter ins Feuer. Gelblicher Qualm stieg auf. »Nein!« Erschrocken stieß Hotake die Barbarin fort, bückte sich nach Makeje. Draußen im Nachtwind legte er ihn ab, und seine Augen funkelten, als er sich Aruula zuwandte. »Was fällt dir ein? Makeje ist unser nächster Häuptling! Wir brauchen ihn!« »Und ich brauche Maddrax!«, schrie Aruula ihn an. Hotake nickte. »Deshalb bin ich hier.« Er führte sie an den Rand des Felsplateaus. Einen Steinwurf entfernt in der Ebene flackerte ein Lagerfeuer. »Kannst du die Leute da sehen?«, fragte Hotake. Aruula bejahte, und er fuhr eindringlich fort: »Ich möchte, dass du den Iskatán verlässt und zu ihnen gehst. Jetzt. Sofort. Dort bist du sicher vor Makeje.« Aruula schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe nirgendwohin ohne Maddrax!« »Ich weiß.« Hotake lächelte. »Vertrau mir, schöne Frau. Ich bringe ihn zu dir.«
Aruula dachte nicht daran, ihm zu vertrauen. Sie traute niemandem hier, da machte der Mann mit den Adlerfedern keine Ausnahme. Doch die Menschen am Lagerfeuer waren verlockend nahe, und sie wirkten freundlich. Vielleicht konnte Aruula bei ihnen Hilfe finden, um Maddrax zu befreien. Unschlüssig blickte sie über den Felsenrand: Das Pueblo lag nur ein paar Meter über dem Grund, leicht zu erreichen also, falls sie zurückkehren musste. Nicht wie bei ihrer Ankunft, als sich aus der Ebene ein riesiger Wall erhob und das Dorf der Indianer in lichter Höhe auf ihm thronte. Aruula schwang sich über die Felsen, warf einen letzten, hasserfüllten Blick zurück auf das Haus des verräterischen Schamanen, dann begann sie zu klettern. Der Abstieg machte keine Mühe, selbst in der Dunkelheit nicht. Da waren genug Kanten und Ecken, an denen man Halt fand. Es wunderte die Barbarin ein wenig, dass sich die Fremden gar nicht für den Gleiter interessierten, der nur wenige Meter von ihnen entfernt parkte. Doch es war gut so. Wer keine Fragen stellte, dem brauchte man auch keine Erklärungen geben. Aruula sprang das letzte Felsenstück herunter, trat zurück, wischte sich die Hände ab. Dann drehte sie sich um. »Nein!«, keuchte sie fassungslos. Das Lagerfeuer war fort. Die Menschen, die Zelte … alles war weg, als hätte es sie nie gegeben. Nur der Gleiter stand noch da, und in der Ferne glühten wieder die vertrauten Kegel der Vulkane. Aruula warf sich herum, griff an den Iskatán. Doch es war zu spät. Ihre Hände berührten einen gigantischen Erdwall.
Hotake suchte überall nach Maddrax. Wo steckte er bloß? Sollte es möglich sein, dass der geschwächte Mann das Dorf bereits verlassen hatte? Oder kroch er noch immer in den Höhlen herum? Hotake suchte auch dort, und er schüttelte den Kopf, als er fündig wurde. Maddrax war in die Grube zurückgekehrt! Er saß rittlings auf einem toten Spanier und grinste blöde vor sich hin. Man konnte sehen, dass er am Ende war. »Ich hab das Geheimnis gefunden!«, lallte er triumphierend, als der Mann mit den Adlerfedern zu ihm herunterkletterte. »Ist schon gut.« Hotake half ihm ein zweites Mal in den Höhlengang, hievte ihn über die Schulter und ging los. Sein Gesicht wurde sorgenvoll, weil Maddrax nicht aufhörte, vor sich hin zu stammeln. Es wäre besser, er würde sich still verhalten! Die Anasazi mussten nicht unbedingt merken, was hier geschah, besonders Makeje nicht. Hotake befürchtete, dass der Schamane seinen Frust über Aruulas Flucht an ihrem Gefährten auslassen würde. Das wollte er verhindern. Makeje war jung, temperamentvoll und eitel, aber er würde eines Tages die Häuptlingsfedern tragen. Er durfte nicht zum Mörder werden! Maddrax' Gewicht drückte Hotake nieder. Er hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet, den die Fackel ein paar Meter weit erhellte. Plötzlich kroch das Licht über zwei Mokassins. Hotake blieb wie angewurzelt stehen, hob ahnungsvoll den Kopf. »Leg ihn ab und geh zur Seite!«, befahl Makeje,
während er aus der Dunkelheit trat. Er hielt einen gespannten Bogen in den Händen. »Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte Hotake, was nicht leicht war angesichts der Pfeilspitze, die auf sein Herz zielte. »Dann stirbst du mit ihm.« Makeje klang gleichgültig. »Deine Wahl.« Hotakes Nackenhaare stellten sich auf. Hinter ihm schlich jemand durch die Dunkelheit heran, das konnte er spüren. War es ein Freund oder ein Feind? Hastig sagte er: »Hör zu, ich weiß, dass du wegen Aruula aufgebracht bist …« »Gar nichts weißt du!«, fauchte Makeje. »Und jetzt tu gefälligst, was ich dir sage! Ich bin der Schamane! Du musst mir gehorchen!« »Oh, ist es das, was an dir nagt, ja? Dass ich nicht springe, wenn du in die Hände klatschst?«, fragte Hotake hitzig. »Dann hör endlich auf, dich wie ein dummer Junge zu benehmen! Ich gehorche, wenn du es wert bist.« Er hatte beim Sprechen die Fackel angehoben, genau vor sich. Mit dem letzten Wort sprang Hotake beiseite. Makeje schoss auf das Licht, wie er es erwartet hatte, und der Pfeil zischte ins Leere. Doch es geschah noch etwas. Hinter Hotake flammte ein Blitz auf. Makeje war geblendet, riss den Arm vors Gesicht, unterdrückte mit Mühe einen Schreckensschrei. Hotake ließ Maddrax los, hetzte nach vorn und verpasste dem Schamanen einen Kinnhaken, dass der zu Boden ging. Dann erst sah er sich um. Ein Weißer stand im Höhlengang; lehmverschmiert, die Brille schief auf der Nase. Er hielt eine Kamera in der Hand. Das Blitzlicht lud sich mit leisem Singen wieder auf.
Hotake nickte ihm zu. »Verschwinde hier! Schnell!« Er wusste nicht, ob der junge Mann ihn verstanden hatte. Er wusste nur, dass er versprochen hatte, Maddrax zu retten, also konzentrierte er sich auf ihn. Hotake schleppte ihn mühsam ins Freie, trug ihn durch das dunkle Dorf an den Felsenrand. Er war erstaunt, als er Aruula darunter entdeckte. Sie starrte zum Nachthimmel hoch. »Was … was tust du da?«, fragte er. Aruulas suchender Blick fand sein Gesicht. Sie legte die Hände um den Mund und brüllte: »Wo ist Maddrax?« »Er ist hier«, sagte Hotake stirnrunzelnd. »Aber warum schreist du mich so an?« Er sah hinüber zum Lagerfeuer. Die Leute dort mussten taub sein, denn sie reagierten nicht, als Aruula in unverminderter Lautstärke weiterbrüllte: »Kannst du mir ein Seil herunterlassen? Oder eine Fackel werfen? Irgendwas, damit ich den Weg nach dort oben finde?« Und da begriff er. Aruula war in ihre eigene Welt zurückgekehrt, und dort stand der Iskatán auf einem Erdwall, der sich nach dem Kometeneinschlag aufgetürmt hatte. Und von den Leuten am Lagerfeuer kam keine Reaktion, weil die Barbarin für sie gar nicht existierte, denn auch sie befanden sich in ihrer eigenen Welt! Hotake schwang sich über den Felsenrand. Für ihn war es ja nur ein kleines Stück bis hinunter zur Ebene, und die paar Meter konnte er Maddrax tragen. »Halte dich an mir fest!«, befahl er, bugsierte Maddrax auf seinen Rücken und legte sich dessen Arme um die Schultern. Dann kletterte er los. Es war tatsächlich nicht weit, und das war auch gut so,
denn Hotake hatte die Kräfte des erschöpften Mannes überschätzt. Zwei Mal glitten die blutigen Hände ab, wollten einfach loslassen. Hotake sprach ihm Mut zu. »Du musst wach bleiben! Und dich festhalten! Wir haben es gleich geschafft, dann kannst du dich in Aruulas Armen erholen«, sagte er und fügte leise hinzu: »Du Glücklicher.« Hotake reckte den Kopf, blickte nach unten. Der steinige Boden war nur noch einen Schritt entfernt. Aruula hob schon die Hände, um Maddrax entgegenzunehmen. Sie strahlte. So erleichtert. So glücklich. Hotake stellte einen Fuß auf die Ebene. Geröll rutschte weg, und er geriet ins Wanken. Maddrax griff instinktiv an die Felsen, wollte ihm Halt geben. Da trat Hotake auch mit dem zweiten Fuß auf. Er löste sich vom Iskatán, und im selben Moment wurde ihm das Gewicht von den Schultern gerissen, ruckartig, mit unvorstellbarer Kraft. Hotake hörte Aruula schreien, während er fassungslos sah, wie vor ihm ein riesiger Wall in die Höhe wuchs. Irgendwo über den Erdmassen, in schwindelnder Höhe, hing Maddrax am Gestein. Jeden Augenblick konnte er den Halt verlieren und in den Tod stürzen. Hotake begann zu klettern. Das Erdreich war trocken wie Staub, und es brach unter seinen Händen weg. Immer wieder musste er nachfassen. »Maddrax!«, rief er nach oben in die Dunkelheit. »Maddrax, sag was! Irgendwas, damit ich dich finde!« Herzschläge verpochten, in denen Hotake nichts weiter hörte als sein eigenes Keuchen, während er in panischer Eile den Wall erklomm. Er fragte sich, wie ein Weg, der nur fünf Meter in die Tiefe führte, auf dem Rückweg bis
unter die Sterne führen konnte. Unheimlich war das! Als wollte der Iskatán seinen Gefangenen nicht mehr hergeben. Plötzlich griffen Hotakes Hände auf Fels. Wieder rief er nach Maddrax, und diesmal kam eine Antwort. »Hier!«, scholl es ein Stück entfernt. »Ich bin hier!« Hotake folgte der schwachen Stimme. Er konnte Maddrax' Umriss im Sternenlicht erkennen, wie er sich mit letzter Kraft an die Felsen klammerte. Es war schwierig, zu ihm zu klettern, aber Hotake gab nicht auf. Er hatte Aruula versprochen, ihr den Geliebten zurückzubringen! Fast hatte er ihn schon erreicht. Nur ein kleines Stück noch. »Ich-kann-nicht-mehr!«, stöhnte Maddrax. Hotake sah, wie eine Hand kraftlos herunterfiel. Maddrax hing nur noch mit den Fingern am Felsen. Er bewegte sich. Er rutschte ab! Der Mann mit den Adlerfedern machte einen Satz nach vorn. Es war gewagt, doch es funktionierte. Er bekam Maddrax zu fassen, drückte ihn mit seinem Gewicht an die Felsen, bis er wieder Halt fand. »Wir müssen noch einmal nach oben!«, keuchte Hotake. »Zurück ins Pueblo, zurück in meine Welt. Von dort misst der Weg nach unten nur ein paar Meter.« Er klopfte Maddrax auf die Schulter. »Und diesmal lasse ich einen Fuß auf dem Felsen.« Als Hotake sein Versprechen einlöste und den restlos erschöpften Mann an Aruula übergab, sagte er eindringlich: »Du musst diesen Ort verlassen! Die Grenzen fallen, und das Phänomen breitet sich stellenweise bis in die Ebene aus. Es kann dir passieren, dass der Felsen dich einfängt! Dann kommst du nie
wieder weg vom Iskatán.« »Ich verstehe kein Wort«, sagte Aruula zwischen den glücklichen Küssen, mit denen sie Maddrax' Gesicht bedeckte. »Ist auch nicht wichtig. Vertrau mir einfach und geh!« »Komm mit uns!«, bat Aruula. Doch der Mann mit den Adlerfedern winkte lächelnd ab. »Ich gehöre zu meinen Leuten! Sie brauchen mich, und ich brauche sie. Viel Glück, schöne Frau! Und grüß den Piloten von mir, wenn es ihm besser geht.« Er wandte sich um, begann zu klettern. Bei Hotakes letzten Worten hob Maddrax den Kopf von Aruulas Schultern. »Ich hab das Geheimnis gefunden!«, lallte er. Leises Lachen hallte von den dunklen Felsen wider. Dann wurde es still. Aruula legte Maddrax' Arm um ihre Schultern, führte den Geliebten zum Gleiter. Sterne spiegelten sich an den Scheiben, und die Barbarin dachte daran, welche Angst sie vor drei Tagen noch gehabt hatte, den Flieger zu steuern. Jetzt war er ihre einzige Hoffnung zu entkommen. Fort, nur fort von dem unheimlichen Felsen und seinen rätselhaften Bewohnern, die immer am selben Ort blieben und doch nicht da waren! Da hatten Geister ihre Hände im Spiel! »Wo gehen wir hin?«, lallte Maddrax, als sie ihn an das kühle Metall des Gleiters lehnte, um den Einstieg zum Cockpit zu öffnen. »Wir verschwinden von hier!« »Aber ich hab das Geheimnis gefunden«, protestierte er schwankend. Aruula öffnete die Schleuse und sagte dabei ruhig: »Es gibt kein Geheimnis, Maddrax!«
»Gibt es doch! Ich hatte es vergessen, aber jetzt weiß ich es wieder.« Umständlich kramte er in seiner Kleidung. Die Barbarin wollte nach ihm greifen, ihn zur Schleuse führen, da zog Maddrax ein kleines Gerät aus der Gesäßtasche, auf dem ein rotes Licht blinkte. Triumphierend hielt er es hoch. »Siehst du? Da ist es! Das Geheimnis!« Er stierte darauf, während er Aruulas Griff abwehrte und murmelte: »Ich muss zurück zu den Felsen!« Die Barbarin riss ihm das blinkende Ding aus der Hand, warf es weg, schrie unter Tränen: »Du steigst jetzt in den Gleiter, Maddrax! Ich habe genug von diesem … Indianerkram! Wir reisen ab! Sofort!« »Ist ja gut«, sagte Maddrax erschrocken. Mühsam kroch er ins Cockpit, zog sich gähnend auf den Copilotensitz. Bis Aruula ihr Schwert geholt hatte und den Gleiter startete, war Commander Matthew Drax eingeschlafen. Still und vergessen lag das Titlahtín in der Ebene. Nachtwind strich über den uralten Sender, der noch immer sein Funkfeuer in die Raum-Zeit-Anomalie abstrahlte, auch wenn niemand mehr kam, um es zu orten. Eine Ameise kletterte an dem Hindernis hoch, das ihren Weg versperrte. Mit wackelnden Fühlern lief sie über das Spinnennetz, verharrte einen Moment bei dem dunklen Hügel in der Mitte. Plötzlich blinkte er auf, rot und grell. Als das Licht wieder erlosch, war die Ameise verschwunden. Hotake eilte zum Haus des Häuptlings, rüttelte ihn wach und erstattete Bericht. Delketh stimmte zu, dass ein
Geistertanz vonnöten war. Wenn die Grenzen fielen, war es Zeit zu fliehen. In die nächste Welt. Auf eine andere Schnur des Bastvorhangs. Weckrufe hallten durchs Dorf, und aufflammendes Fackellicht begleitete Hotake, als er zu den Höhlen lief. Der Schamane musste informiert werden, denn nur er konnte den Geistertanz in die Wege leiten. Hotake hoffte inständig, dass sich Makeje mittlerweile wieder beruhigt hatte. Wenigstens so weit, dass er seinen Pflichten nachkam. Er rief nach dem jungen Anasazi, während er das Plateau unter dem Felsendach überquerte. Doch es kam keine Antwort, deshalb nahm Hotake an, dass Makeje noch in den Höhlen war. Als er den Eingang erreichte, fiel das Licht seiner Fackel auf die Stelle, an der seit ewigen Zeiten der tote Corporal aus den Sezessionskriegen lehnte. Gelehnt hatte. Billy Joe war fort. Auch die Spanier waren verschwunden, und das beunruhigte ihn. Im Iskatán geschahen zuweilen unerklärliche Dinge, die Hotake auf den Einfluss der Anomalie zurückführte, doch die Toten blieben normalerweise auf ihrem Platz. Makeje war nirgends zu entdecken. Dafür fand Hotake den jungen Mann, der Maddrax und ihm das Leben gerettet hatte. Norbert Hachenrath lag ausgestreckt am Boden und starrte mit blicklosen Augen an die Höhlendecke. Ein Pfeil ragte aus seiner Brust. »Verdammt, Makeje«, sagte Hotake bitter. Er schloss dem Studenten die Augen, bevor er sich auf den Rückweg machte. Zu gern hätte er Delketh von dem kaltblütigen Mord unterrichtet. Doch es wäre zwecklos, das wusste er. Der Tote war ein Weißer, und Weiße
waren schlecht, so lautete die Quintessenz der überlieferten Geschichten des Stammes. Der Häuptling hätte Makeje keinen Vorwurf gemacht. »Glauben Sie mir doch, Professor, da stand ein Indianer hinter Ihnen!« »Gerard, Sie haben zu viel von dem Zeug geraucht, das ich Ihnen verboten hatte mitzubringen.« Jaydon nickte. »Jetzt kennen Sie den Grund dafür.« »Aber …« »Nichts aber!«, sagte der Archäologe scharf. »Hier gibt es keine Indianer, und es ist auch sonst niemand da. Wenn Sie nicht aufhören mit diesen Spukgeschichten, können Sie Heckenross morgen früh nach Las Cruces begleiten! – Das gilt auch für alle anderen!«, fügte er gallig hinzu. Jaydon hatte eigentlich vorgehabt, die Tatsache zu feiern, dass Tracy ihn nur noch ein paar Stunden mit ihrer Schwangerschaft nerven konnte. Morgen holte Manolo sie ab, und dann war er sie los. Ein für alle Mal! Der Brief, mit dem er sie zum Teufel schicken wollte, lag schon geschrieben in seiner Dokumentenmappe. Aber wie sollte er den Vorabend seiner Freiheit genießen, wenn die Leute am Lagerfeuer nicht mehr alle Tassen im Schrank hatten? Indianer! So ein Blödsinn! »Ich geh schlafen«, murrte er. Jaydon wollte noch anmerken, dass jeglicher Lärm ab sofort zu unterbleiben hatte, also auch die Gitarre nicht weiter gequält werden durfte. Doch ein merkwürdiges Geräusch kam ihm zuvor. Er blieb stehen, runzelte die Stirn, lauschte. »Höre ich das richtig?«, fragte er, während er sich zu
den Studenten umdrehte. »Sind das Pferde? Welcher Idiot reitet denn in stockdunkler Nacht herum?« »Da! Da!« Gerard sprang auf, wurde kreidebleich. Er zeigte über Jaydons Schulter. Der Archäologe verdrehte die Augen. »Nein, Gerard! Nicht schon wieder!« Jaydon hätte sich niemals umgewandt, aber weil die anderen ebenfalls aufsprangen, tat er es doch – und fuhr mit einem Aufschrei zurück. Im Osten stieg die Morgenröte über den Horizont. Sie vergrößerte sich zusehends, es wurde immer heller. Mitten in der Nacht! Dann ging die Sonne auf, und ein Tag begann, der kein Datum hatte. Jaydon versuchte vergeblich, das ausbrechende Chaos unter Kontrolle zu bekommen, seine entsetzten Studenten daran zu hindern, wie kopflose Hühner wegzurennen. Wenn doch wenigstens Tracy aufhören würde, so zu kreischen! »Halt die Klappe!«, brüllte er sie an und fing Michelle ab, die nach Westen fliehen wollte, in den dahinschmelzenden Rest der Dunkelheit. »Hier geblieben! Wir müssen zusammenbleiben! Dicht zusammenbleiben!« Er stutzte, als plötzlich ein Fremder an ihm vorbeilief. Der Mann trug eine zerlumpte Uniform, rannte auf nackten Füßen dahin, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Die Sonne stieg und stieg. Uniformierte Reiter nahten, die den Mann verfolgten. Jaydon lachte ungläubig. »Die Kavallerie?« Der Archäologe wandte sich an Gerard und brüllte: »Ich weiß nicht, womit Sie uns zugequalmt haben, aber eins schwöre ich Ihnen: Das hat
ein Nachspiel!« Doch Jaydons Hoffnung, er hätte eine Halluzination, hielt nicht an. Die Pferde kamen dicht am Lagerfeuer vorbei; er nahm ihren Geruch wahr, ihre Schweißflocken landeten auf seiner Kleidung, und die verwunderten Blicke, mit denen die Reiter ihn streiften, waren viel zu real für einen Traum. Einer der Uniformierten stellte sich in den Steigbügeln auf. »Carson!«, rief er hinter dem Mann her, der bereits die Felsen hochkletterte. »Corporal William Joseph Carson! Sie sind ein Deserteur! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße!« Ein anderer aus der Truppe rief: »Sei vernünftig, Billy Joe!« Doch Billy Joe gehorchte nicht. Jaydon beobachtete, wie er auf das Pueblo zulief. Plötzlich fiel ein Schuss. Billy Joe riss getroffen die Arme hoch, taumelte herum. Zwei weitere Schüsse fielen, zerfetzten ihm die Finger, und Jaydon schlug die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Nein, das war ganz sicher kein Traum! Ich muss mich verstecken, dachte er panisch, während seine Studenten an ihm vorbeirannten und die bewaffneten Uniformierten am Fuß des Iskatán absaßen, um ihren Deserteur zu verfolgen. Aber wo kann ich hin? Er fuhr zusammen, als sich plötzlich eine Hand in seinen Arm krallte. Tracy stand verkrümmt neben ihm, hielt sich verzweifelt an ihm fest. Jaydon wollte sie wegstoßen, aber sie ließ nicht los. Als sie zu ihm aufsah, war ihr Gesicht schmerzverzerrt. »Das Baby«, stöhnte sie. »Das Baby kommt!«
Hotake traute seinen Augen nicht, als er ins Freie trat und die Sonne schien. Wenigstens war Makeje nicht verloren gegangen: Er lief unter den mächtigen Felsüberhängen vor der Höhle umher und gab den Anasazi Anweisungen. Die Indianer standen unter Schock. Niemand konnte sich den plötzlichen Tag in der Nacht erklären, und zu unerwartet war die Neuigkeit über sie hereingebrochen, dass sie fliehen sollten. Sie hatten schon von den Geistertänzen ihrer Vorfahren gehört, aber natürlich rechnete keiner damit, selbst einmal auf eine solche Reise gehen zu müssen. Manche weinten. Es war nicht leicht, die Heimat aufzugeben. Der ganze Stamm beteiligte sich am Schütten der magischen Sandbilder; Kinder, Erwachsene, Alte … Hotake sah sich um. Wo war Nchoki? Er rief nach ihr, doch das kleine Mädchen antwortete nicht. Dafür knallten drei Schüsse aus der Ebene herauf. Hotake fuhr zusammen. »Da bist du ja!«, hörte er Delketh rufen. Der Häuptling verschüttete mit beiden Händen Linien aus Mais, den seine Tochter in einem Weidenkorb neben ihm her zog. »Wir suchen dich schon überall! Makeje dachte, du wärst in die Ebene gegangen, zu den Weißen da unten. Er hat Nchoki losgeschickt, um dich zu holen.« »Er hat – was?« Hotakes Kopf flog herum. Im Gewühl der Anasazi stand der Schamane, reglos, die Arme vor der Brust verschränkt. Makejes Mund umspielte ein dünnes, böses Lächeln. Hab ich dich!, sagte es. Der Schamane wusste genau, dass die Anomalie ihre Bündelung auf den Iskatán verlieren konnte, und dass man gut daran tat, zusammenzubleiben. Hotake wandte sich an den Häuptling. »Wir müssen
Vorkehrungen treffen, falls der Geistertanz nicht funktioniert.« »Das wird er schon«, meinte Delketh zuversichtlich. »Makeje ist ein guter Schamane!« »Ja, das ist er. Aber …« Hotakes Augen weiteten sich. Ein Weißer kam unter den Felsenüberhang getaumelt. Er trug eine zerschlissene Uniform, und war verletzt. Die Anasazi hatten keine Zeit, sich mit dem blutenden Mann zu beschäftigen, sahen ihn auch nicht als Bedrohung an. Deshalb ließen sie ihn seines Weges gehen. Er führte zu den Höhlen. Ich kenne den Mann, dachte Hotake verblüfft. Er beobachtete, wie der Weiße auf den Eingang zuwankte. Der Rücken seiner Uniformjacke war blutgetränkt, mit einem kleinen dunklen Loch im Zentrum. Als die Beine ihm den Dienst versagten, rutschte er an der Felswand entlang zu Boden. Dort, wo der letzte Streifen Sonnenlicht in den Höhleneingang fiel, blieb der desertierte Corporal der Konföderiertenarmee sitzen. Er stand nie mehr auf. »Hast du das …« Hotake drehte sich zum Häuptling um, doch der war schon weitergewandert. »… gesehen?«, beendete er die Frage und eilte hinter Delketh her. »Häuptling, ich möchte dich um dein Vertrauen bitten!« »Das besitzt du doch«, meinte Delketh verwundert. Hotake nickte. »Ich zweifle nicht Makejes Fähigkeiten an. Aber ich bitte dich inständig, die Männer zu bewaffnen. Ich fürchte, dass der Geistertanz fehlschlägt.« »Warum sollte er?« Hotake senkte den Kopf. »Weil das Titlahtín fort ist.« »Hattest du nicht gesagt, du hättest es versteckt?«
»Ich wollte jemanden schützen.« »Hmm-m«, machte der alte Mann. »Gut, dann sprich mit den Kriegern.« »Ich muss erst Nchoki finden! Sie sucht mich an einem Ort, an dem ich nie war«, sagte Hotake erstickt. Sein Blick fiel auf die Häuptlingstochter, und er las in ihren Augen, dass sie das Unausgesprochene verstanden hatte. »Ach, das kann jemand anders tun. Wabasha!« Delketh winkte den jungen Anasazi her, und Hotake entfernte sich eilig. Den berittenen Südstaatlern fiel der Tag ohne Datum nicht auf; sie kamen aus der Mittagshitze und wechselten auf den Grenzen der Welten unmerklich von einem Sonnenschein in den anderen. Als sie den Iskatán erreichten, hob ihr Anführer, Lieutenant Rossett, die Hand. »Absitzen!«, rief er. Dann zeigte er auf seine Leute. »Taylor, Gray, Sie bleiben bei den Pferden. Die anderen kommen mit mir. Wir holen uns den Kerl!« Ein Corporal trieb seinen schnaubenden Wallach an Rossetts Seite. »Sir! Billy Joe ist doch vermutlich schon tot.« »Vermutlich reicht mir nicht«, sagte der Lieutenant. »Carson ist ein Deserteur, und Deserteure werden absolut getötet. Wir hängen sie auf, Corporal. – Feiglinge übrigens auch«, fügte er hinzu, worauf der junge Mann hastig sein Pferd herumzog. Lieutenant Rossett schwang sich aus dem Sattel und ließ die Zügel fallen. Armeepferde waren so erzogen, dass sie dann stehen blieben, damit man die Hände frei
hatte zum Laden und Schießen. Im Laufen zog Rossett ein Säckchen mit Bleikugeln aus der Tasche und klemmte es sich zwischen die Zähne. An den Felsen lehnten Holzleitern, die hinaufführten zum Dorf. Neben einer von ihnen kauerte sich Rossett hin und lud sein Gewehr. Nichts rührte sich zwischen den Steinhäusern, aber dass jemand da war, konnte er hören. Er dachte, es wären Mexikaner, die sich da irgendwo vor ihm versteckten. Sollten sie ruhig. Er wollte nur seinen Deserteur wiederhaben. Allerdings würde er kurzen Prozess machen, falls ihm dabei jemand in die Quere kam! Rossett hatte einen elend langen Weg hinter sich. Von Gettysburg bis nach Neu Mexiko war er Billy Joe Carson gefolgt, unerbittlich, obwohl die Armee ihm keinen Vorwurf gemacht hätte, wenn er an der Staatsgrenze umgekehrt wäre. Doch das konnte Rossett nicht. Carson gehörte zu seiner Truppe, und Rossett empfand es als persönliche Schmach, dass sich einer unter seinem Kommando als Befehlsverweigerer entpuppte. Er warf einen Blick auf das Lager der merkwürdig gekleideten Zivilisten. Sie hatten sich in ihre Zelte verkrochen; es war niemand mehr zu sehen. Er würde sie später überprüfen. Jetzt war erst einmal Billy Joe Carson an der Reihe! Rossett gab seinen Männern ein Zeichen; sie begannen zu klettern, und er folgte ihnen. Als er den Rand des Plateaus erreichte, zog er überrascht die Brauen hoch: Die Soldaten hatten einen Gefangenen gemacht! Es war jedoch nicht Billy Joe, auf den sie ihre Waffen richteten. Rossett schwang sich auf die Felsen, trat hinzu. Wortlos holte er aus und schlug den Fremden mit dem Gewehrkolben nieder. Der Mann
stürzte über den Felsenrand und blieb reglos am Boden liegen. Rossett spuckte hinter ihm her. »Verfluchte Rothäute!«, sagte er. Rossett überlegte flüchtig, ob er die langen Adlerfedern als Andenken mitnehmen sollte, die der Mann im Haar trug. Dann wandte er sich seinen Soldaten zu. Er hatte schon den Mund geöffnet, um den Befehl zum Ausschwärmen zu geben, da kam aus der Ebene ein gellender Schrei herauf. Eine Frau schrie so schrecklich, so schmerzgepeinigt, dass die komplette Einheit mit den Gewehren im Anschlag herumfuhr. Sie hatten keine Zeit mehr, ein Ziel zu finden. An einem der Zelte flog die Leinwand hoch, und eine Mündung erschien. Kugelhagel peitschte über die Felsen, riss drei Uniformierte in den Tod und ließ die anderen entsetzt in Deckung springen. Rossett hatte keine Ahnung, was da auf ihn schoss: Zur Zeit der Sezessionskriege gab es noch keine Sturmgewehre. Laden, schießen, laden, schießen, so machte man das. Aber diese unheimliche Waffe da unten tötete gleich mehrfach! Panisch suchte Rossett nach einem Ausweg. Auf den Felsen bleiben konnte er nicht, denn wo ein Indianer war, gab es noch mehr, und die würden sich nicht freundlich zeigen, nachdem er einen von ihnen getötet hatte. Querschläger heulten davon, abgesplittertes Gestein flog. Es machte die Pferde scheu. Taylor und Gray hatten alle Mühe, sie am Durchgehen zu hindern. Das Gewehrfeuer verstummte, und Rossett winkte hastig seinen Adjutanten heran. »Ich weiß nicht, was das war, aber ich will es auch nicht herausfinden.« Er wies auf die Pferde. »Wir müssen
sie als Deckung benutzen. Sagen Sie den Männern, sie sollen hinter den Pferden vom Felsen klettern und beten, dass niemand auf sie schießt. Und dann nichts wie weg hier!« »Yes, Sir!« Der Adjutant zögerte. »Aber was machen wir mit denen da?« Unwillig folgte Rossett dem Blick des Adjutanten. »Oh – Scheiße!«, sagte er langsam. Aus der Ferne kam ein Trupp bewaffneter Reiter heran. Es waren eindeutig keine Konföderierten. »Hast du den Verstand verloren?«, keuchte einer von Jaydons Studenten entsetzt. Er saß zitternd neben Gerard am Zeltboden, hinter einem Schutzwall aus umgekippten Schlafpritschen. Nackte Angst stand in seinen Augen, während er zusah, wie der junge Vietnam-Veteran mit geübten Griffen das Sturmgewehr nachlud. »Stangenmagazin, dreißig Schuss Munition!«, erklärte Gerard ungerührt, rammte es in den Schacht und zog durch. Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Er war wieder ein GI in Vietnam, eingekesselt in seiner Basis nahe Chu Lai. Der Feind war überall; dieser grausame, gnadenlose Vietcong mit seinen Fallen, den Tretminen, dem plötzlichen Beschuss. Was sich bewegte, das wollte töten, und man entkam ihm nur, wenn man schneller war. Gerards komplettes Platoon war gefallen, lauter junge Männer, kaum einer älter als achtzehn. Soldier Boys wurden sie genannt. Er war der einzige Überlebende. Gerard sah auf. »Hör zu, Ben! Ich hab keine Ahnung, woher die Typen kommen, was sie wollen und warum sie sich als Konföderierte verkleidet haben. Aber sie
tragen Waffen, und die sind echt. Wenn du riskieren willst, dass sie dich abknallen, bitte …« – er zeigte auf die Zeltwand – »da ist der Ausgang! Ich für meinen Teil habe nicht Vietnam überlebt, damit mich ein paar Irre erschießen. Was ist mit dir, Scott?« Der letzte Satz galt dem anderen Studenten. Scott hatte sich das zweite Gewehr geholt und hantierte ungeschickt damit herum. Er war blass und nervös, doch er nickte. »Ich bin dabei.« »Gut. Also passt auf.« Gerard hielt inne. Lautes Stöhnen scholl vom Lagerfeuer herüber. Das Zelt des Professors stand ein ganzes Stück entfernt, und doch war es, als bekäme die Schwangere ihr Kind gleich nebenan. Gerard schüttelte den Kopf. »Arme Tracy!« »Wir sollten ihr helfen«, schluchzte Michelle. Sie lag mit Susan am Boden, auf der abgewandten Zeltseite. Gerard hatte eine Plane über ihnen ausgebreitet, das vermittelte ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn es nicht wirklich etwas nützte. Ben sagte: »Du kannst Tracy nicht helfen, Michelle! Wenn du rausgehst, erschießen sie dich.« »Aber warum denn nur? Warum?« Die Studentin richtete sich weinend auf. »Wir haben ihnen doch gar nichts getan!« »Bleib in Deckung!« Gerard trat hinzu, den Kolben des M-16 auf die Hüfte gestützt. Er griff mit einer Hand nach der Plane und zog sie Michelle über den Kopf. Dabei sah er, dass Susan den unteren Zeltrand angehoben hatte. Sie bekam wohl zu wenig Luft in ihrem Versteck. Gerard wollte etwas sagen, doch Susan kam ihm zuvor. »Gerard«, flüsterte sie, und ihre Stimme bebte. »Gerard! Da draußen kommen noch mehr!«
12 � Hotake erwachte in dem Moment, als Gerards Gewehrsalve die Konföderierten überraschte. Steine spritzten über ihm davon, er sah die nervös umeinander tretenden Hufe der Armeepferde und die beiden Soldaten, die sich an den Boden duckten. Es war nicht schwer zu erkennen, woher das Mündungsfeuer kam, wo es hinzielte und wo es eine Möglichkeit gab, vor dem Beschuss in Deckung zu gehen. Hotake rannte los. Etwas abseits vom Lager der Weißen stand ein einzelnes geschlossenes Zelt. Dort wollte er hin. Hotake versuchte, beim Laufen den pochenden Kopfschmerz zu ignorieren, den der Schlag mit dem Gewehrkolben ausgelöst hatte. Dieser verdammte Uniformierte! Warum hatte er das getan? Und wo war Nchoki? Hotake suchte sie mit Blicken, während er geduckt auf das Zelt zulief. Halb erwartete er, das kleine Indianermädchen irgendwo liegen zu sehen, sinnlos niedergestreckt von den Kugeln roher Soldaten, denen es auch nichts ausmachte, einen unbewaffneten Mann zu schlagen. Wie erleichtert war er, als er Nchokis Stimme vernahm! Sie kam aus dem Zelt, das er soeben erreichte. Eine Fremde stöhnte darin. Entweder war sie schwer verletzt, oder sie bekam ein Kind. Hotake tippte auf Letzteres, denn er hörte Nchoki unbekümmert erzählen, sie würde auch immer bei den Ziegen helfen, deshalb brauchte sich die Frau keine Sorgen machen. Er lächelte.
Nchoki war so unerschrocken wie ihr Vorfahre Saiapi! Hotake warf einen letzten schnellen Blick in die Runde, als er nach der Plane griff, und sein Lächeln erlosch wie ausgeschaltet. Im Süden hing eine Staubwolke über der Ebene! Sie bewegte sich auf den Iskatán zu, und sie brachte etwas heran. Hotake runzelte die Stirn. Er hatte das Gefühl, genau dies schon einmal gesehen zu haben, vor ewig langer Zeit. Die Wolke, die wallenden Pferdemähnen, das Aufblitzen vereinzelter Helme und Schwerter … »Das kann nicht sein«, flüsterte er. Dann schlug er die Plane zurück. »Bitte, Tracy! Krieg das Kind leiser, sonst sind wir verloren!«, jammerte Jaydon aus der Zeltecke, in die er sich verkrochen hatte. Er war nur knapp einem Herzinfarkt entkommen, als das Indianermädchen plötzlich aufgetaucht war, und jetzt ballerte draußen auch noch jemand herum! Mehr konnte er wirklich nicht ertragen! Jaydon starrte mit verzerrtem Gesicht auf die Schwangere am Boden. Dieses Stöhnen! Dieser massige, aufgeblähte Bauch! Der Schweiß! Hatte er wirklich mal mit ihr geschlafen? Warum nur? Warum? Seine Hände flogen an die Ohren, als sich Tracy erneut zusammenkrümmte und ein lang gezogenes Schreien von sich gab. Sie klang, als würde man ihr ein Bein absägen. War das nötig, verdammt? Sie kriegte doch nur ein Kind! Bitte, Gott! Jaydon legte den Kopf auf die Knie, steckte seine Finger in die Ohren. Bitte hol mich hier raus! Ich tue
alles, was du willst! Wenn du mich rettest, rede ich auch wieder mit meinem Vater! Er ist ein Mistkerl, aber ich vertrage mich mit ihm. Ich schwör's! »Aaaaah!«, brüllte Jaydon im nächsten Moment. Der Eingang hatte sich verdunkelt! Gleich darauf flog die Plane zurück, und ein riesiger Indianer kam ins Zelt. Er konnte nur gebückt stehen, und die Adlerfedern in seinem Haar streiften an der Plane entlang. Jaydon sah, wie er das Indianermädchen ansprach. O Gott! Hoffentlich denkt er nicht, ich hätte sie entführt! »Hören Sie!«, rief Jaydon, als Tracy schon wieder stöhnte. Konnte sie nicht eine Minute still sein? »Hören Sie, ich hab mit der ganzen Sache hier nichts zu tun! Wo das Mädchen herkommt, weiß ich nicht, und die Squaw da gehört nicht zu mir! Ich bin nur zufällig in diesem Zelt und … Tracy! Sei ruhig, verdammt noch mal!« Er schrie die letzten Worte heraus, dass sich seine Stimme überschlug. Jaydon wurde kalkweiß, als er begriff, dass er sich soeben verraten hatte. Der Indianer schien das auch gemerkt zu haben, denn er starrte ihn finster an. Er wird mich skalpieren! O Gott! Er bringt mich um! Jaydon fiel auf die Knie. »Bitte, tun Sie mir nichts! Meine Frau kriegt ein Kind! Warten Sie! Halt! Hier! Ich hab was für Sie!« Zitternd löste der Archäologe seine Armbanduhr und hielt sie hoch. »Sehen Sie? Hier! Die schenke ich Ihnen! Sie hat zwar keine Glasperlen, aber dafür glänzt sie. Das ist doch auch schön, oder?« Jaydon errötete unter dem verächtlichen Blick, der ihn traf, und ließ die Hand sinken. Als sich der Fremde dem Mädchen zuwandte und Jaydon ihn im Profil sah, stutzte
er. Moment mal! Das ist doch gar kein Indianer! »Was ist hier los, Nchoki?«, fragte Hotake, beugte sich hinunter und küsste ihre Stirn. »Die Frau bekommt eine Ziege. Ich helfe ihr. Warum der Mann so jammert, weiß ich nicht«, berichtete Nchoki ernst. Sie griff in den Halsausschnitt ihres Lederkleides. »Und ich habe das Titlahtín gefunden.« »Was?« Hotake fiel auf die Knie, so perplex war er. Ungläubig starrte er auf das Gerät in der kleinen braunen Kinderhand, während Nchoki ihm berichtete, dass es zwischen den Steinen der Ebene gelegen hatte und sie fast daraufgetreten war. Die Kette baumelte herunter, und das rote Licht im Spinnennetz blinkte ruhig vor sich hin. Nchoki war mit ihm aufgewachsen, sie fürchtete sich nicht davor. »Du hast uns gerettet, Kleines Glück!« Erleichtert nahm Hotake ihr den Tracker ab. Er hängte ihn sich um, wollte schon aufstehen. Doch dann griff er noch einmal danach und steckte ihn unter die Weste. Der Fremde in der Zeltecke hatte ein bisschen zu gierig darauf gestarrt. »Kann der Mann uns verstehen, Hotake?« »Nein.« Er lächelte Nchoki an. »Du hast ihn ja gehört. Er spricht eine andere Sprache.« Hotake zögerte, bevor er fortfuhr: »Wir müssen gehen, Nchoki! Feinde nahen, und der Häuptling will den Geistertanz durchführen.« »Aber die Frau kann nicht laufen!« Nchoki sah zu ihm hoch. »Wie soll sie auf die Felsen kommen?« Hotake nickte nachdenklich. Es wäre nicht recht, die Schwangere ihrem Schicksal zu überlassen. Doch sie mussten auf den Iskatán zurückkehren. Er konnte es
immer noch nicht fassen, dass ihm das verloren geglaubte Titlahtín in die Hände gefallen war, einfach so, wie ein Geschenk der Götter. Umso mehr war er verpflichtet, es den Anasazi zu bringen. Aber wie? Hotake trat an den Eingang, spähte hinaus. Am Rand des Felsplateaus hatten sich die Konföderierten verschanzt; er konnte die Mündungen ihrer Gewehre sehen. Hotake sah auch die leise Bewegung auf den Pueblodächern. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass dort Anasazi in Stellung gingen, und er konnte sich darauf verlassen, dass es die besten Schützen waren. Doch ein einziger verirrter Pfeil genügte, um Nchokis junges Leben auszulöschen. Konnte er das Risiko eingehen? Hotake schaute in die andere Richtung und seufzte. Er würde es müssen! Was da von Süden herangaloppierte, war ein spanischer Stoßtrupp. »Capitán! Da sind Pferde bei den Felsen!« »Das sehe ich selbst, Idiot!«, raunzte Jaime Maria de los Sientos. Der schneidige spanische Offizier hatte schlechte Laune, und da brauchte er keinen dummen Ayudante wie Antonio Cardilla, der ihm das Offensichtliche unter die Nase rieb! Was er brauchte, war jemand, der ihn von seinen Zahnschmerzen befreite. Es gab einen Barbier unter den Marketendern des Heers, der rasierte nicht nur gut, er konnte auch Zähne ziehen. Das nützte dem Capitán allerdings wenig, denn das Heer bewegte sich in diesen Stunden erst auf die Grenze zu. De los Sientos und seine Männer waren mit dem Auftrag vorausgeschickt worden, nach möglichen Zielen Ausschau zu halten.
Der Spanier rieb sich die schmerzende Wange. Mögliche Ziele, das bedeutete: Gold! Hernán Cortéz, der große Adelante und Bezwinger der Azteken, hatte gehört, dass es in Neu Mexiko fünf immense Schatzkammern geben sollte. Nun ließ er nach diesen Goldenen Städten der Indianer suchen. Wer dabei zuerst kam, konnte sich die Satteltaschen füllen. Das war natürlich nicht erlaubt und hing auch ganz vom Widerstand der Indianer ab, doch es war eine Chance, als reicher Mann nach Spanien zurückzukehren. Dafür nahm man dann auch Zahnschmerzen in Kauf. Wenn auch widerwillig. De los Sientos zupfte an den Zügeln, und der schwarze Andalusier unter ihm begann zu tänzeln. Sein muskulöser Hengsthals glänzte vor Schweiß, und er schnaubte laut durch die Nüstern. Er wollte laufen, das lag ihm im Blut, doch sein Reiter zögerte. Die fremden Pferde beunruhigten ihn. Es gab keine Pferde in Amerika, außer den mitgebrachten der spanischen Armee. Folglich müssten am Felsenhügel Spanier anzutreffen sein. Nur, wo sollten die herkommen? De los Sientos und seine Männer waren die Ersten, die die Grenze nach Neu Mexiko überschritten. »Das gefällt mir nicht«, murmelte der Capitán, ohne zu ahnen, dass er sich wiederholte. Er war diesen Weg schon einmal geritten, am 1. August 1540. Er wusste es nur nicht, denn das Hier und Jetzt besaß kein Datum. Es war ein vergessener Tag, der zurückkehrte. »Lieutenant! Ich glaube, ich hab einen Sonnenstich«, sagte Rossetts Adjutant leise. Er lag mit dem Suchtrupp
der Konföderierten zwischen den Felsen und blickte hinaus auf etwas, das unmöglich real sein konnte. Von Süden her näherte sich eine Kavallerieeinheit. Die Pferde waren schöne Vollblüter, wenn auch nicht militärisch korrekt mit diesen ungebändigten Mähnen. Aber die Reiter! Sie hatten sich in historische Uniformen gezwängt, trugen Brustpanzer und polierte Helme bei der Hitze, und sie führten Schwerter mit sich! Lieutenant Rossett hob die Schultern. »Vielleicht ist heute irgendein Feiertag bei den Mexikanern.« »Aber Sir, hier wohnt niemand! Wir haben doch die ganze Ebene durchquert, und da war weit und breit …« »Ja, ja, schon gut«, unterbrach ihn Rossett gereizt. Er konnte sich das auch nicht erklären. Er merkte nur, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Erst diese seltsam gekleideten Zivilisten am Lagerfeuer, jetzt ein Trupp aus dem Jahrhundert der spanischen Eroberer … was kam als Nächstes? Indianer? Rossett warf einen Blick über die Schulter, doch das Dorf hinter ihm war weiterhin wie leer gefegt. Er konnte die Rothäute hören, sie taten etwas unter den Felsen, und was immer das war: Hoffentlich hielt es sie noch lange beschäftigt! Wenigstens so lange, bis Rossett und seine Männer hinter die Armeepferde gelangt waren, um dort in die Ebene zu klettern und zu fliehen. Der erste Soldat verließ seine Stellung und kroch auf die Pferde zu. Der Adjutant winkte gerade den nächsten heran, da trafen die vermeintlich verkleideten Mexikaner ein. Sie blieben hinter dem Zeltlager, beäugten es misstrauisch. Sie schraken zusammen, als sie die Frau schreien hörten. Sie sahen auch die beiden Südstaatler bei
den Pferden. Aber niemand zog eine Waffe. Vielleicht wäre alles friedlich ausgegangen, hätte sich alles in Luft aufgelöst, denn sowohl die Spanier als auch die Konföderierten waren erfahrene Männer, besonnen und nervenstark. Doch einer war es nicht – und dieser eine hielt ein Sturmgewehr in der Hand. Merkwürdige Stille legte sich über den Platz. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Lieutenant Rossett, der inzwischen erkannt hatte, dass zumindest die Schwerter der Fremden keine Verkleidung waren, überlegte, ob er sich bemerkbar machen und das Gespräch suchen sollte. Capitán de los Sientos fragte sich, wie er an die Höhlen gelangen konnte, vor denen sich die Indianer wahrscheinlich deshalb versammelt hatten, weil dort ihr Gold versteckt war. Als in dieser Stille der Hengst des Spaniers plötzlich wiehernd ansprang, weil er die fremden Stuten witterte, und deren Besitzer daraufhin kurz aus der Felsendeckung ruckten, verlor Gerard Taylor die Nerven. Er glaubte, die Konföderierten würden auf ihn zielen, und feuerte das M-16 auf sie ab. Die Südstaatler schossen sofort zurück. Im nächsten Moment zischten Pfeile von den Dächern des Pueblos. Soldaten sanken durchbohrt auf die Felsen. Rossett und sein Adjutant schafften es, die Häuser zu erreichen. Sie verschanzten sich dort. Die Spanier kannten keine Gewehre, konnten sich nicht erklären, was da so schrecklich knallte und ihre Pferde zum Steigen brachte. Sie sahen nur die Pfeile der Indianer aus dem Rücken der getöteten Uniformierten aufragen. Als de los Sientos merkte, dass der Angriff nicht seinen
Leuten galt, schickte er den Ayudante Antonio Cardilla mit ein paar Männern auf die andere Seite der Felsbrücke, die sich zwischen den Buchten des Iskatán befand. Rechts von ihr lag das Dorf. Links von ihr sollte Cardilla versuchen, in die Höhlen zu gelangen. Kaum war er fort, startete de los Sientos eine Attacke auf das Pueblo. Lieutenant Rossett beobachtete von seinem erhöhten Versteck aus, wie die Spanier ihre Schwerter zogen und anritten. Er fluchte verhalten. Wenn er sich retten wollte, musste er den Indianerfelsen verlassen, und zwar zügig. Das ging nur nicht, solange aus dem Zelt da unten die Mündung dieses unheimlichen Gewehrs auf das Pueblo zielte. Rossett warf einen nervösen Blick auf seinen Adjutanten. Der Mann stand neben ihm an der Fensteröffnung und brachte sein Gewehr in Anschlag. »Sehen Sie ihn?«, fragte Rossett leise. »Ich seh ihn, Sir.« »Können Sie ihn von hier erledigen?« »Ja, Sir.« »Dann tun Sie's!« Rossett starrte die Spanier an, wie sie auf ihren langmähnigen Pferden daherkamen. Undiszipliniert, jeder in anderem Tempo. Man konnte nicht einmal den Anführer erkennen. Gab es überhaupt einen? Rossett versuchte sich zu erinnern, was in den Geschichtsbüchern stand: Waren die Spanier erfolgreich gewesen oder nicht? Herrgott! Worauf wartete sein Adjutant denn nur? Warum drückte er nicht endlich ab?
Ein Schuss peitschte von den Felsen. Die spanischen Pferde wieherten und bockten, Schwerter klirrten, Männer riefen erregt durcheinander. Mitten im Tumult schrie eine Frauenstimme: »Gerard! O Gott, Gerard!« Der Lieutenant hielt den Atem an. Doch die fremde Waffe feuerte nicht mehr, und den Grund dafür konnte man am zufriedenen Gesicht des Adjutanten ablesen, mit dem er sein Gewehr senkte. Rossett klopfte ihm auf die Schulter. »Guter Schuss! Und jetzt nichts wie weg hier!« Die beiden Konföderierten hasteten aus dem Haus, rannten los, auf ihre Pferde zu. Sie hörten das Zischen nicht, mit dem sich hinter ihnen zwei tödliche Pfeile von den Sehnen lösten. Es ging unter im Gebrüll der anrückenden Spanier. Während die Studenten Todesängste ausstanden, weil ihr Zelt vom Hufschlag knapp vorbeigaloppierender Pferde bebte, erreichte Ayudante Antonio Cardilla die Höhlen jenseits der Felsbrücke. Hier sah man die Anasazi nicht, die sich hinter ihrem Dorf versammelt hatten. Und sie sehen mich nicht, dachte der Ayudante. Er grinste. Die Indianer werden sich wundern, wenn sie morgen ihre Schatzkammern betreten, und alles ist weg! Cardilla konnte sein Glück kaum fassen, als er an einer Stelle unter dem mächtigen Felsüberhang auf neu gefertigte Fackeln stieß. Er war überzeugt davon, dass in den Höhlen Gold lagerte. Er musste es nur aufstöbern, und dabei waren Fackeln ungemein hilfreich. Zwölf Männer hatte der Capitán ihm mitgegeben. So
viele brauchte er nicht für die Suche, aber sie konnten sich als nützlich erweisen, wenn er fündig wurde. Zwölf Männer, das bedeutete vierundzwanzig Satteltaschen. Sechsundzwanzig, wenn man Cardillas eigene hinzuzählte. Er schüttelte vergnügt den Kopf. Glaubte der Capitán wirklich, dass er, Antonio Cardilla, sein Leben riskieren würde, damit sein arroganter Vorgesetzter noch reicher wurde, als er ohnehin schon war? Davon kann er träumen! Cardilla ließ sich eine Fackel geben, dann zog er sein Schwert und trat in den großen Höhleneingang. Die Männer folgten ihm ohne erkennbare Eile. Sie kannten solche Verstecke aus der Gegend um Tenochtitlán. Sie wussten auch, dass die ganze Schufterei, das Schleppen und die Lebensgefahr sich nicht auszahlten: Egal, wie viel Gold sie fanden, es landete immer in den Taschen anderer. Diesmal nicht, dachte Cardilla. Diesmal landet es bei mir! Er hatte sich überlegt, mit den Soldaten zu fliehen. Der Weg nach Spanien war weit, und den konnte er nicht allein mit sechsundzwanzig Satteltaschen voll Gold bewältigen. Doch irgendwann würde Cardilla an einen Hafen kommen, und die Männer würden sich schlafen legen. Er lächelte. Es dauerte nicht lange, zwölf Kehlen durchzuschneiden. Es roch nach Lehm unter den Felsen, und ein kalter Hauch zog vorbei, der die Spanier frösteln ließ, als sie in die Tiefen der Höhle vordrangen. Das Gebrüll ihrer companeros war draußen geblieben, sie hörten auch nichts mehr von den Pferden. Nach einer Weile tauchten im Fackelschein Bilder auf, eingeritzte Symbole an den Wänden, die Cardilla mit verächtlichen Blicken streifte.
Wie primitiv diese Indianer doch waren! In Spanien hängte man sich farbenprächtige Ölgemälde hin, oder schöne Teppiche, und selbst die Kinder brachten Besseres zustande als diese Kritzeleien hier! Cardilla fragte sich, wozu sie gut sein mochten. Waren es Wegweiser, damit man wieder ins Freie fand? Er blickte erneut auf die Zeichen, diesmal etwas weniger verächtlich und dafür genauer. Cardilla stutzte, als er an einem vorbei kam, das er kannte. »Un cazador de suenos«, sagte er nachdenklich. Ein Traumfänger! Bei den Azteken hatten solche Dinger in allen Gemächern gehangen, solange Tenochtitlán stand. Aber was machten sie in diesen Höhlen? Cardilla schaute noch einmal hin und blinzelte unwillig, weil er das Zeichen doppelt sah. Stirnrunzelnd hielt er an. »Was wollte ich eigentlich hier?« Cardilla drehte sich um. Seine Männer waren stehen geblieben, und sie schauten genauso ratlos drein wie er. »Ich habe doch irgendwas gesucht, oder?« »Si, Ayudante!«, scholl es zurück. Ein Soldat zog seinen Helm ab und kratzte sich am Kopf. »Ich glaube, Sie wollten das Geheimnis finden.« »Richtig!«, sagte Cardilla, obwohl er sich nicht erinnern konnte, was das Geheimnis war. Doch das ließ sich ja herausfinden. Sein Blick wanderte über den Boden, blieb am Rand einer Grube hängen. Da unten, das war ein guter Platz zum Suchen! Cardilla warf sein Schwert voraus und kletterte in die Tiefe. Die Spanier folgten ihm. »Graben«, murmelte er. Dumpfer Trommelschlag kam von den Felsen her,
schnell und gleichmäßig wie der Trab der Wölfe. Der Geistertanz hatte begonnen! Hotake spähte aus dem Zelt. Die Spanier hatten ihren Angriff abgebrochen, als sie feststellen mussten, dass die Pfeile der Anasazi zwar wenig gegen ihre Brustpanzer und Schilde ausrichten konnten, dafür aber umso mehr gegen ihre Pferde. Drei lagen tot am Boden. Mit dem Rest waren die Spanier an die Felsbrücke geflüchtet. Doch sie würden zurückkommen! Sie formierten sich schon. Hotake stöhnte vor Ungeduld. Er hätte längst etwas unternommen, wenn da nicht die beiden Südstaatler wären, die noch immer bei den Armeepferden ausharrten. Die Männer hatten freie Sicht auf das Zelt, und sie waren bewaffnet. Es gab keine Möglichkeit, lebend an ihnen vorbeizukommen. Oder vielleicht doch? Hotake sah, wie nervös sie wurden beim Anblick der nahenden Spanier. Die beiden standen auf verlorenem Posten: Von ihren Kameraden auf dem Felsplateau war nichts mehr zu hören. Ihnen blieb nur die Wahl, entweder auf den Tod zu warten oder zu fliehen. Plötzlich traten sie neben zwei Pferde, warfen ihnen die Zügel über den Hals und schwangen sich in den Sattel. Geröll spritzte hoch, als die Tiere angaloppierten. Sie verschwanden in einer Staubwolke, und Hotake wandte sich ab. Eilig ging er zu Nchoki, hockte sich vor sie und ergriff ihre schmalen Arme. »Hör zu, Kleines Glück! Die beiden Soldaten da draußen, die uns den Weg versperrt haben, sind fort. Ich möchte, dass du schnell zum Iskatán läufst.« »Aber …« »Nein, sag jetzt nichts! Es bleibt nicht viel Zeit, und
wenn sich die Spanier hier verteilen, ist es zu spät. Lauf nach Hause, Nchoki! Makeje muss erfahren, dass ich das Titlahtín habe. Er soll den Geistertanz unterbrechen, damit der Häuptling Verstärkung an den Felsenrand schicken kann und ein paar Männer abstellt, die mir Deckung geben.« »Komm mit mir, Hotake!« »Es ist sicherer für dich, wenn du allein läufst. Die Spanier haben keine Pfeile, nur Schwerter, und das bedeutet, sie müssten extra zu dir hinreiten, um dir wehzutun. Das wäre sehr gefährlich für sie, weil unsere Leute dann auf sie schießen würden, und sie hätten auch nichts davon, denn du bist ein Kind. Aber wenn ich mitkäme, würden sie einen Angriff riskieren.« Hotake lächelte aufmunternd. »Lauf so schnell du kannst, Nchoki! Ich beobachte dich von hier. Sollte jemand versuchen, dir nahe zu kommen, werde ich da sein.« »Versprochen?« »Versprochen!« Nchoki schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich, Hotake!« »Ich dich auch, Kleines Glück!« Hotake stand auf, führte das Mädchen zum Zelteingang. Er schaute prüfend hinaus, dann nickte er Nchoki zu, und sie rannte los. Mein Gott, das ist unglaublich! Jaydon schlug das Herz bis zum Hals. Er fühlte sich, als hätte er in einen Topf voller Gold gegriffen, und zwar mit beiden Händen. Hotake hatte angenommen, er könnte frei sprechen, weil niemand außer Nchoki ihn verstand. Ein verzeihlicher Irrtum, denn schließlich trug Professor Dr. Jaydon
Smythe kein Schild am Revers, das ihn als Wissenschaftler auswies. Tatsächlich hatte er jedes Wort verstanden, und was er hörte, löste einen wahren Glücksrausch in ihm aus. Der Mann spricht einen uralten Anasazi-Dialekt! Jaydon ließ keinen Blick von Hotake, der ihm den Rücken zudrehte und achtsam aus dem Zelt sah. Das bedeutet, dass in dieser Gegend noch ein Stamm von ihnen lebt. Unentdeckt! Womöglich reinblütig! Und sie kennen den Geistertanz. Bisher dachte man, er wäre erst um achtzehnhundertsechzig entstanden, also lange nach den Anasazi! Das ist eine Jahrhundert-Entdeckung! 0 Gott, lass mich jetzt bloß keinen Herzinfarkt kriegen! Jaydon stand unter enormem Zeitdruck. Er musste sofort handeln, denn Hotake hatte der Kleinen gesagt, dass er ihr folgen würde. Aber war er erst einmal weg, konnte Jaydon ihn vergessen. Freiwillig würde Hotake bestimmt nicht zurückkehren, dieses wandelnde Rätsel mit einem Geschenk um den Hals. Ich muss ihn haben! Jaydon schob die Hände auf den Rücken und tastete über den Boden. Er darf mir nicht entkommen! Der Mann lässt sich phylogenetisch (stammesgeschichtlich) nicht einordnen, er ist weder ein Indianer noch ein Weißer! Vielleicht habe ich eine unbekannte Rasse aufgespürt! In Las Cruces könnte ich das herausfinden. Die würden ihn obduzieren, ohne überflüssige Fragen zu stellen wie in Harvard. Und er hat ein Titlahtín! Und was für eins! Da muss ein Rubin drauf sein, so wie es geblinkt hat. Und es ist in Amulettform! Also frühzeitlich! Vielleicht ist es sogar – meine Güte, ich darf gar nicht daran denken! – der Prototyp!
Jaydons vor Erregung zitternde, suchende Finger krochen unter der Plane ins Freie. Dort lagen die Steine, die Tracy weggeräumt hatte, damit man sich im Zelt bewegen konnte, ohne dauernd anzustoßen. Er fand ein scharfkantiges Stück Fels, zog es ins Zelt und stand damit auf. Es lag gut in der Hand. Jaydon hielt den Arm nach hinten und schlich zum Eingang. Draußen kämpften die Spanier; Schwerter klirrten, Steine polterten von den Felsen, die Trommeln dröhnten. Der Mann mit den Adlerfedern würde nichts hören. Er würde auch nichts merken: Ein energischer Schlag auf den Hinterkopf, dann war es vorbei. Anders geht es eben nicht, was soll ich machen? Ich hab keine Wahl, erklärte Jaydon seinen moralischen Bedenken, während er über Tracy stieg, die sich hechelnd am Boden krümmte. Er hob den Arm und holte aus. Außerdem dient es der Wissenschaft! Da darf man keine Skrupel… »Haaaaa …!«, brüllte er, als er an Tracys Bein hängen blieb, das plötzlich im Weg war. Jaydon kippte haltlos nach vorn, fiel gegen Hotake und landete mit ihm zusammen auf dem Boden. Halb im Zelt, halb im Freien. Der Stein rollte ein Stück davon und blieb im Meer der anderen Steine liegen. Man sah ihm nicht an, dass er fast zum Mordwerkzeug geworden wäre. Trotzdem floh Jaydon panisch. Es war sein schlechtes Gewissen, das ihm die Vorstellung eingab, Hotake würde sich gleich auf ihn stürzen und ihn töten. Auf allen vieren hetzte der Harvard-Professor zurück ins Zelt, genau auf Tracy zu. Sie bekam ihr Kind, und was Jaydon bisher so sorgfältig vermieden hatte, ließ sich jetzt nicht vermeiden: Er sah hin. Jaydons Augen wurden groß und größer; er würgte, er schluckte, alle Farbe wich
aus seinem Gesicht. Dann fiel er in Ohnmacht. Hotake war mehr überrascht als zornig über Jaydons Attacke. Er hatte dessen gierige Blicke auf das Titlahtín gesehen, aber nicht damit gerechnet, dass der feige wirkende Weiße ihn anspringen würde. Was hatte er erwartet? Dass Hotake vor Schreck tot umfiel? »Mach das nicht noch mal! Kümmere dich lieber um deine Frau!«, knurrte er und stieß Jaydon mit dem Fuß an. Doch der reagierte nicht. Er war ohnmächtig, was Hotake unter den Umständen durchaus verstehen konnte. Er lächelte Tracy wie um Entschuldigung bittend an, bevor er sich hastig wieder dem Ausgang zuwandte. Beim Kinderkriegen dabei zu sein, war auch für mutige Männer eine Herausforderung. Nchoki hatte die Felsen heil erreicht, war ins Dorf gelaufen und hatte offenbar auch schon mit Makeje gesprochen, denn entlang des Plateaus tauchten plötzlich Anasazi auf. Keine Sekunde zu früh! Wie eine Traube monströser, gepanzerter Käfer hingen die Spanier am Iskatán und begannen, die Steilwand zum Pueblo zu erklimmen. Sie war nur einige Meter hoch, und das ließ den Anasazi nicht genug Zeit, um die schweren Steine in effektiver Menge über den Rand des Plateaus zu rollen, die dort zur Verteidigung lagen. Auch die Bogenschützen auf den Dächern konnten wenig ausrichten, weil ihnen die eigenen Leute im Weg standen. Die Spanier riefen sich gegenseitig Warnungen zu, wenn irgendwo ein Stein in Sicht kam. Viele konnten rechtzeitig ausweichen und stachen mit den Schwertern
nach den Anasazi. Mehr als einmal fand eine Klinge ihr Ziel. Die Indianer wiederum waren mit Steinäxten ausgerüstet, und so altertümlich diese Waffen auch aussahen, ihre Wirkung war verheerend. Kein Brustpanzer und kein noch so kunstvoll geschmiedeter Helm widerstand ihrem Schlag. Blut verfärbte die Sandsteinfelsen, und Hotake musste es hilflos mit ansehen. Wäre er frei in seiner Entscheidung gewesen, hätte er keinen Moment gezögert, seinen Leuten zu Hilfe zu kommen. Doch er trug das Titlahtín. Wenn er fiel, war es verloren, und die Anasazi wahrscheinlich auch. Inzwischen bereute er seine Entscheidung fast, Nchoki das Titlahtín nicht mitgegeben zu haben, obwohl er wusste, dass es die richtige war. Hotake brauchte Deckung, wenn er lebend an den Iskatán zurückkehren wollte, und Makeje war der Mann, der sie ihm beschaffen konnte. Dazu musste der Schamane den Geistertanz unterbrechen, und das würde er mit Sicherheit deutlich schneller tun, wenn das Titlahtín noch in Hotakes Besitz war. Der Kampf um den Iskatán entwickelte sich zu einem unseligen Patt. Weder gelang es den Spaniern, das Felsplateau zu erobern, noch konnten die Indianer sie effektiv zurückschlagen. Das Einzige, was sich änderte, war die Zahl der Toten, und noch immer schlugen die Trommeln, hörte der Ruf Tuakum he! nicht auf. Nur die Stimmlage wurde höher. Es kamen zusätzliche Anasazikrieger an den Felsenrand, doch Frauen, Kinder, Alte und der Häuptling tanzten den Geistertanz weiter. Hotake fragte sich, wie Makeje sie dazu gebracht haben mochte. Und vor allem: warum? Schön, es würde eine
Weile dauern, bis sich das Energiefeld von Neuem aufbaute, wenn man den Tanz unterbrach. Aber es war klüger, erst die Spanier zu vertreiben und das Titlahtín zu bergen, ehe man sich einer Aufgabe widmete, die einen bis zur völligen Erschöpfung in Anspruch nahm. Das zusätzliche Kriegerkontingent beschäftigte sich ausschließlich mit den Spaniern, und Hotake wartete vergebens darauf, dass ihm jemand Deckung gab. Auch Nchoki ließ sich nicht blicken, was ungewöhnlich war. Dafür wurden die Pferde der Spanier zur Plage. Das Gebrüll an den Felsen machte sie nervös, und sie begannen, sich zwischen den Zelten zu verteilen. Es gab Beißereien und Gewieher, eins keilte aus, dann fielen gleich mehrere auf einmal in donnernden Galopp. Die Situation war gefährlich, doch sie bot auch eine Chance, und Hotake nutzte sie. Er erwischte eins der Pferde am Zügel, brachte es zum Stehen und tauchte unter dem Hengsthals durch, auf die den Spaniern abgewandte Seite. Es gelang Hotake zwar nicht, den kraftstrotzenden schwarzen Andalusier anzutraben, aber wenigstens gehorchte er dem Zügelzug so weit, dass er sich tänzelnd in Bewegung setzte. Das Tier war die perfekte Deckung, und Hotake dankte allen Göttern, die ihm einfielen, während er unbemerkt von den Spaniern auf den Iskatán zuschritt. Ein paar Meter noch, dann hatte er es geschafft. Es wurde auch Zeit, denn der dumpfe Trommelschlag begann sich bereits zu verstärken. Tuakum he!, riefen die Indianer durch das Waffengeklirr und die Schreie am Felsplateau. »Tuakum he!«, murmelte Hotake. Vom Iskatán her blinkte etwas auf. Unregelmäßig, grell, wie Sonnenlicht auf spiegelnder Fläche. Hotake
blinzelte, blieb mit dem Pferd stehen. Er schaute hoch, und sein Blick wurde fassungslos. Auf dem Felsplateau, weitab von den kämpfenden Anasazi, stand der Schamane. Er hatte ein Messer in der Hand, drehte es spielerisch hin und her, bis sich ein Sonnenstrahl an der Klinge verfing. Makeje lächelte dünn, als er die Spitze auf das kleine Mädchen richtete, das er umfasst hielt. Seine Hand lag über ihrem Mund. Ängstliche Kinderaugen starrten Hotake an. »Nchoki!«, hauchte er entsetzt. Makeje warnte: »Bleib, wo du bist, sonst schneide ich ihr die Kehle durch!« Hotakes Gedanken überschlugen sich. Er konnte es nicht begreifen. Hatte Makeje den Verstand verloren? Er riss sich zusammen, nickte Nchoki zu. »Es wird alles gut! Hab keine Angst!« Der Schamane lachte meckernd. »Darauf kannst du wetten, dass alles gut wird!« Sein Lachen erstarb, und er rief: »Das Titlahtín! Wirf es zu mir hoch!« Der schwarze Andalusier wurde unruhig. Er wollte weg, und Hotake riss hart an den Zügeln. Er hatte jetzt keine Zeit für die Launen eines Pferdes, suchte hektisch nach einem Ausweg. Also das war es! Makeje wollte ihn zurücklassen! Deshalb hatte er auch den Geistertanz nicht unterbrochen. Wäre Delketh hier, würde er ihn eigenhändig über die Felsen werfen. So aber, ohne Zeugen, konnte er sich das Titlahtín aneignen und den Sprung in eine andere Welt durchführen. Mit Nchoki als Geisel brauchte er nicht zu fürchten, dass Hotake auf den Iskatán kam. Aber würde er sie anschließend am Leben lassen? Wohl nicht! Dafür hatte sie zu viel gesehen. Hotake brach der Schweiß aus. »Lass Nchoki frei!«, rief
er. »Dann gebe ich dir, was du willst!« »Nichts da! Du gehorchst mir ohne Wenn und Aber! Dieses eine Mal gehorchst du mir, und dann verschwindest du aus meinem Leben!« Makejes Gesicht war hassverzerrt. Hotake wusste nicht, was er tun sollte. Das Titlahtín war ihm egal und sein eigenes Schicksal auch. Aber Nchoki nicht! Gehetzt sah er sich um. Merkte denn keiner der Anasazi, was hier geschah? Nein, offenbar nicht. Sie alle waren in Kämpfe verwickelt. Der schwarze Hengst tänzelte nervös um den Zügel, wich zur Seite, begann zu wiehern. Einen Moment war Hotake ohne Deckung. Er sah, wie ein kämpfender Spanier erregt seinen Nachbarn anstieß, etwas sagte und herüberzeigte. Hotake trat hastig einen Schritt zurück, an die schützende Flanke des Pferdes. Er wandte sich an Makeje. »Die Anasazi werden dir das nie verzeihen!« »Pah! In einer Generation haben sie dich vergessen.« Makeje lächelte böse, blickte von Nchoki auf Hotake und rief: »Du hättest die kleine Kröte im Haus von Schwarzer Falke lassen sollen, als ich es angezündet habe. Aber du musstest ja unbedingt den Retter spielen! Jetzt bist du erpressbar, weil dein Herz dran hängt. Mir würde das nie passieren, denn ich gehöre nur mir!« Es ging alles so schnell. Hotake sah, wie Nchokis kleine Hand aufgeregt zu den Spaniern hinzeigte und wie ihre Augen größer und größer wurden. Ganz offensichtlich wollte sie ihn vor etwas warnen. Hotake beugte sich vor, blickte unter dem Hals des Hengstes hindurch … und zuckte zurück. Ein Spanier stand auf der anderen Seite, rammte sein
Schwert auf ihn zu. Hotake hielt die Zügel fest, ging zwei hastige Schritte rückwärts. Ein Schlag traf ihn in der Nierengegend, hart wie der Tritt eines Pferdes. Hotake sah die Klinge, die aus seinem Bauch ragte, doch er konnte das Bild nicht einordnen. Erst als sie zurückgerissen wurde und der Schmerz kam – dieser furchtbare Schmerz, der ihm die Luft zum Atmen nahm –, begriff er, dass ihn jemand verwundet hatte. Schwäche überkam ihn, er fiel auf die Knie, klammerte sich an die Zügel. Capitán de los Sientos trat neben ihn, starrte arrogant auf ihn herab und sagte: »Niemand fasst mein Pferd an!« Dann riss er die Zügel an sich und führte seinen Andalusier fort. Dumpf dröhnten die Trommeln von den Felsen her. Hotake hob mühsam den Kopf, zwang seinen Blick hoch zu Makeje und Nchoki. Sie wehrte sich wie eine Raubkatze gegen den Griff des Schamanen, trat nach ihm, biss ihm in die Finger. Makeje schrie auf, hob die Messerhand. Vielleicht war es nur ein Reflex, vielleicht wollte er das Kind gar nicht erstechen, aber es sah so aus, und das war zu viel. Plötzlich ragte ein Pfeil aus seiner Brust. Makeje erstarrte mitten in der Bewegung. Er fiel wie ein Stein und blieb liegen. Hinter ihm stand Eri, die Tochter des Häuptlings. Sie ließ den Bogen sinken, und ihre Augen waren dunkel vor Schmerz, als sie auf die Liebe ihres Lebens hinabblickte, die sie mit eigener Hand getötet hatte, weil diese Liebe letztlich doch nichts weiter war als Blendwerk. Eri sank neben Makeje hin, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. »Hotake!«, schrie Nchoki und begann zu klettern.
Rote Nebel tanzten vor seinen Augen, doch er kämpfte gegen sie an, mit aller Macht. Etwas rann über seine Hand, warm und unablässig, obwohl er sie so fest auf seine Wunde drückte. Hotake hörte die Trommeln, spürte die plötzliche Spannung in der Luft. Tuakum he!, riefen die Indianer. »Bleib auf den Felsen, Nchoki!«, warnte er und wusste doch, dass sie nicht gehorchen würde. Sie war Saiapis Fleisch und Blut, die kleine Kriegerin mit dem großen Herz. Niemals würde Nchoki ihn einsam sterben lassen. Sterben. Was für ein seltsames Wort. Er hatte sich oft gefragt, wie es sein würde zu sterben – der Mann, den die Zeit vergaß. Doch jetzt und hier wollte er es nicht herausfinden. Er durfte es nicht. Um Nchokis willen. Das lange Haar fiel ihm ins Gesicht, und die Adlerfeder winkte vor seinen Augen, als Hotake aufstand. Mühsam zog er sich die Kette des Titlahtíns über den Kopf. Nchoki war schon fast am Boden. Ein kleines Stück noch, dann hatte sie ihn erreicht. Doch das durfte nicht geschehen. Wenn der Geistertanz funktionierte und sie nicht auf den Felsen war, würde sie allein zurückbleiben. Hotake taumelte vorwärts. Die Trommeln waren so laut, so gleichmäßig. Wie der Trab der Wölfe. Tuakum he! jetzt mischten sich auch andere Rufe darunter: Die Anasazi am Felsenrand hatten ihn entdeckt, sie riefen seinen Namen, wollten zu Hilfe eilen. Es wäre ein nutzloses Opfer gewesen, hätte nur weitere Leben gekostet und den Spaniern zu einem Sieg verholfen, der ihnen nicht zustand. »Hotake!« Nchoki weinte herzzerreißend, sah sich um, als wollte sie den letzten Meter springen. »Tu es nicht, Kleines Glück!«, flüsterte Hotake. »Bleib
auf dem Iskatán!« Nchoki ging in die Knie, um sich abzustoßen. Die Anasazi ließen ihre Waffen sinken, die Spanier brüllten bereits ihren Triumph heraus und schwangen die Schwerter. Irgendwo schrie ein Baby. Hotake holte aus. Tuakum he!, riefen die Indianer. Ein seltsamer Hall begleitete den Ruf, und Hotake warf das Titlahtín. Er sank zu Boden, während es durch die Luft flog, sich drehte, mit der Kette überschlug. Näher und näher auf den Iskatán zu, über den Felsenrand, hin zum Dorf. So klein, so dunkel. Tuakum he! Plötzlich blinkte der Tracker auf, ein Mal nur, leuchtend rot. Hotake schloss geschwächt die Augen. Als er sie wieder öffnete, war er allein. Keine Pferde mehr, keine Spanier. Die Zelte waren fort, das Trommeln hatte aufgehört. Wen immer das Schicksal an den Iskatán verschlagen hatte, war in seine eigene Welt zurückgekehrt, und über dem uralten Pueblo auf dem Felsplateau lag die besondere Stille vergessener Orte. Der Tag, der kein Datum besaß, war zu Ende. Innerhalb weniger Minuten kehrte die Nacht zurück, mit ihrem lauen Wind und dem Gebell der Kojoten in der Weite der Ebene. Hotake spürte keinen Schmerz. Er fror nur ein bisschen, während sein Leben zerrann, und da war ein Gefühl von Traurigkeit. Doch er sah zu den Sternen auf, und der Anblick tröstete ihn. Irgendwo dort oben lebte sein Volk – die Alten, die nie gekommen waren, um ihn heimzuholen. Vielleicht waren dort auch seine Freunde: Saiapi, Wovoka, Schwarzer Falke … sie alle warteten
vielleicht schon auf ihn. Und wenn er Glück hatte, dann waren die anaa sází mit ihm zufrieden.
Epilog � Sommer 1969 Kurz nach Sonnenaufgang kam Jaydons Fahrer an den Iskatán, und was er dort vorfand, brachte den Mexikaner dazu, sich hastig zu bekreuzigen. Doch Manolo stellte keine Fragen. Er sagte nur »Si, Señor!«, als Jaydon ihn beauftragte, in Las Cruces einen Lastwagen zu organisieren, um die Zelte und die Studenten abzuholen. Susan, Michelle, Scott und Ben saßen schweigend auf einer zusammengerollten Plane, eng beieinander und gezeichnet von den Ereignissen der letzten Nacht. Scott hielt noch immer das M-16 fest, starrte ins Leere. Eine simple Ladehemmung hatte ihn und seine Freunde gerettet. Hätte Scott geschossen, wären die anderen auf sie aufmerksam geworden. Die anderen, das waren spanische Eroberer, Konföderierte und Anasazi, die es alle im Sommer 1969 nicht mehr geben durfte. Wo kamen sie her? Wie kamen sie her? Diese Fragen klangen nach einem spannenden Forschungsprojekt, aber niemand wollte es haben. Ab und an fiel ein scheuer Blick auf die reglose Gestalt am Boden. Sie hatten Gerard in eine Plane gewickelt und nach Norbert Hachenrath gesucht. Der deutsche Student blieb spurlos verschwunden. »Was glaubst du, Jaydon: Wirst du an den Iskatán zurückkehren?«, fragte Tracy. Die junge Frau klang erschöpft. Den Grund dafür wiegte sie zärtlich in den Armen.
»Ich? Nein!«, sagte der Professor. »Und er auch nicht!« Das sollte eigentlich resolut klingen, aber seine Stimme wurde weich, als er sich über Tracy beugte. Jaydon lächelte sogar, obwohl sich seine Lieblingsjacke um jemand anderen schmiegte. Er war so klein. Ein winziger Mensch, der es etwas zu eilig gehabt hatte, auf die Welt zu kommen. Jaydon betrachtete ihn fasziniert. Sacht berührte er das verschrumpelte rote Gesichtchen, forschte darin nach Ähnlichkeiten mit sich selbst. Er fand sie auch, denn es konnte gar nicht anders sein, als dass das Kind ihm glich. Immerhin war es ja nicht irgendein Kind. Es war auch keine ungewollte Schwangerschaft mehr, kein dicker Bauch, kein Trennungsgrund. Nein. Es war sein Sohn. Stolz stand in Jaydons Augen, als er sich Tracy zuwandte. »Sobald wir nach Hause kommen, heiraten wir! Damit der Junge einen vernünftigen Namen kriegt. Den braucht er, wenn er nach Harvard geht.« »Ich hab mir noch gar keinen überlegt«, meinte Tracy nachdenklich. Jaydon nahm ihr die Entscheidung ab. »Wir werden ihn Jacob nennen«, sagte er. »Jacob Smythe! Das ist ein guter, starker Name. Und auch sehr klangvoll, wenn er erst mal seine akademischen Titel hat: Professor Dr. Jacob Smythe! Er wird bestimmt Historiker wie sein Vater. Natürlich könnte er auch Medizin studieren oder Jura. Astrophysik wäre auch ein interessantes Gebiet! Am besten fahre ich mal mit ihm zur Sternwarte und …« »Jaydon?« »Ja, Tracy?« »Unser Sohn ist sieben Stunden alt. Vielleicht fahren
wir mit ihm erst einmal zum Kinderarzt?« Jaydon nickte und stand auf. »Ich seh mal nach, wie weit Manolo mit dem Beladen des Wagens ist.« Pfeifend ging er davon, und es schien fast, als wäre der Harvard-Professor über Nacht ein neuer Mensch geworden. Tracy glaubte das, obwohl sie ihn lange genug kannte, um es besser zu wissen. Mit jedem Schritt, den sich Jaydon von seinem Sohn entfernte, nahm der Kleine auch in seinen Gedanken weniger Platz ein. Vielleicht wäre das nicht der Fall gewesen, wenn Jaydon geahnt hätte, dass sein Sohn in dreiundvierzig Jahren einen spektakulären Sturz in die Zukunft überleben sollte, um zwei Menschen namens Matthew Drax und Aruula das Leben schwer zu machen. Doch das konnte er nicht ahnen, und so konzentrierte sich der Archäologe auf das, was vor ihm lag. Sein Blick wanderte über den Iskatán, und je länger er hinsah, desto nachdenklicher wurde er. Was war das Geheimnis dieses rätselhaften Felsenhügels? Es gab eins, das spürte Jaydon. Aber wo mochte es sein? In den Höhlen vielleicht? Er nickte bedächtig. Ja, das war möglich! Jaydon wusste auch schon, wie er es finden konnte. »Graben«, murmelte er.