Der Moloch Version: v1.0
In Leroy Harps kochte die Lust hoch. Gebannt hing sein Blick an der Schönen im Mauerblümchen-...
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Der Moloch Version: v1.0
In Leroy Harps kochte die Lust hoch. Gebannt hing sein Blick an der Schönen im Mauerblümchen-Look. Sein Kennerblick brauchte keine Sekunde, um sie vom Kopf bis zu den Zehen zu taxieren. Die meiste Bewunderung zollte er den unübersehba ren Rundungen und dem anmutig-unschuldsvollen Ge sicht. »Gäbe es dich nicht«, murmelte er selbstverges sen, »müßte man dich erfinden …« Harps wußte, wovon er sprach. Er war immer auf der Suche nach geeignetem »Material«. Harps wußte nicht, daß er im Begriff stand, sich auf ein ganz besonderes Abenteuer einzulassen. Ein Rendezvous mit dem Tod …
Was bisher geschah Eine junge Frau erwacht inmitten eines Sturms auf einem Friedhof. Sie weiß nicht, wer oder wo sie ist. Am Horizont graut der Morgen. In der Nähe liegt ein verletzter Mann im Todeskampf. Als sie sich um ihn kümmern will, bäumt er sich auf und versucht sie zu erwür gen. Die aufgehende Sonne löst aber eine schreckliche Konsequenz bei ihm aus: Er zerfällt zu Staub. Die junge Frau verläßt den Friedhof und irrt durch leere Straßen. Von einem Taxifahrer erfährt sie, daß sie in Sydney, Australien, ist. Plötzlich verspürt sie bohrenden Hunger, verführt den Driver – und beißt ihm während des Höhepunkts in den Hals. Das ernüchtert sie auf einen Schlag; sie flieht aus dem Taxi und rennt davon. Bis sie vor einem uralten Haus steht. Sie weiß plötzlich: Hier ist sie zu Hause. Doch es ist das seltsamste Haus, das man sich vorstellen kann, denn es besitzt weder echte Fenster, noch Türen. Alles sieht wie At trappen aus. Als sie sich gegen eine der aufgemalten Türen lehnt … springt diese auf! Sie durchstreift leere Räume. Visionen greifen nach ihr, bringen die verlorene Erinnerung Stück um Stück zurück. Erschreckende Erinnerungen, die seltsam unecht scheinen. Schließlich gelangt sie in einen Raum, in dem ein großes Bett steht. Darin liegt eine uralte Frau, die sie mit ihrem Namen – Lilith Eden – anspricht. Die Alte berichtet, daß Lilith nach dem »Erwachen« zu früh das Haus verlassen hätte. Der Plan ihrer Eltern sei dadurch in Gefahr ge raten. Die Häscher würden nur darauf warten, sie endlich in ihre Hände zu bekommen. Nun sei es zu spät für weitere Erklärungen; ihr blieben nur noch Minuten. Doch es gebe eine Nachricht ihrer Mutter, die alles erklären würde. Die Frau stirbt. Als Lilith in den Keller vordringt, findet sie einen
Sarg mit ihrem Namen im Zentrum des Gewölbes, darin ein rotes Kleid. Und sie findet das Grab ihrer Mutter. Dort überfällt sie eine weitere Vision. Ihre Mutter spricht zu ihr … Lilith erhält endlich Klarheit über das Haus und ihre Situation. Sie erfährt, daß sie die Tochter einer Vampirin und eines sterblichen Mannes ist, im Jahre 1896 geboren. Wie es vorherbestimmt war, starb ihre Mutter, die Vampirin, bei der Geburt des lebenden Kin des, und ihr Vater nahm Lilith mit sich in ein Haus, das ihre Mutter mittels Magie zur uneinnehmbaren Festung gemacht hatte. Von Zeit zu Zeit jedoch mußte ihr Vater das Haus verlassen, um Nahrung für Lilith zu besorgen: frisches Blut! Er nahm eine Waise als Spielkame radin und spätere Gouvernante für seine Tochter auf: Marsha, die im Gegensatz zu Lilith normal alterte. Um die lange Zeit im Haus erträglich zu machen, wurden die Mädchen immer wieder in magi schen Schlaf versetzt, während dem sie ein »ganz normales Leben« träumten. Eines Tages wurde Liliths Vater von Vampiren direkt vor dem Haus überfallen und hingerichtet. Lilith lag zu dieser Zeit im magi schen Schlaf. Marsha öffnete einen Brief, den der Vater für diesen Fall hinterlegt hatte, und richtete sich nach seinen Anweisungen. Sie ließ Lilith schlafen, führte ihr durch Infusionen Blut zu und wachte über sie. Den Vampiren gelang es all die Jahre nicht, das Haus zu betreten. Nun, am Ende ihres Lebens, weckt Marsha Lilith. Diese flieht ver wirrt aus dem Haus und wird von einem seit fast einem Jahrhundert wartenden Vampir überfallen – der Mann auf dem Friedhof. Nun ist sie zurück im Haus, doch die Erklärungen der Mutter geben ihr kei ne klaren Hinweise auf ihre Bestimmung. Irgend etwas soll wohl zu ihrem 100. Geburtstag geschehen, also in zwei Jahren. Als letztes fordert die Mutter Lilith auf, das Kleid anzuziehen. Es beißt sich wie mit Widerhaken in Liliths Haut, als sie es überzieht.
Noch einmal meldet sich die Stimme der Mutter. Sie warnt vor ei ner feindlichen Vampirsippe und insbesondere vor deren Führer Landru. Lilith müsse gegen die Vampire kämpfen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt würde. Als Lilith in die Halle hinaufsteigt, werden die Mauern für sie durchsichtig, und sie erkennt draußen eine Menschenmenge, ange führt von dem Taxifahrer. Noch kann die Meute nicht herein, doch für Lilith ist das Haus nicht mehr sicher. Sie will sich normale Klei dung überziehen, da verändert sich ihr Kleid auf mysteriöse Weise und wird zu einem einfachen Kleidungsstück. Lilith verläßt das Haus durch einen Hinterausgang. Die untergehende Sonne bereitet ihr leichte Kopfschmerzen, die aber verdrängt werden von bohren dem Hunger. Dem Hunger nach Blut …
Als nächstes fiel ihm auf, daß das Girl keine Schuhe trug. Nur dieses abgrundhäßliche Kleid, als wäre es ihr Schutzschild, um sich gegen allzu begehrliche Männerblicke zu wappnen. Harps schürzte die Lippen, als sie seinem Blick wie zufällig begeg nete – und hängenblieb. Er reagierte reflexartig und produzierte das übliche Fliegenfänger lächeln, in dem sich schon mehr als ein Mädchenherz verfangen hat te. Er sah smart aus. Und natürlich zeigte auch das Cabriolet Wir kung, das die knapp 50.000 Dollar Anschaffungskosten längst einge fahren hatte. Harps stand auf blutjung. Nicht unbedingt Lolita-Charme, aber knackig mußten seine »Aufrisse« schon sein. Und diese Frau war zum Anbeißen. Sie blieb stehen, lächelte zurück und schwenkte dann in Richtung seines am Fahrbahnrand geparkten Cabrios. »Hallo …«, sagte sie. Harps war von ihrer Stimme ebenso hingerissen wie von ihrer – wenn man das unattraktive Kleid einmal unberücksichtigt ließ – äu ßeren Erscheinung. »Hallo«, erwiderte er und wies galant zum Ne bensitz. »Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen? Ich wollte gerade losfahren …« Das war gelogen, aber wen interessierte es. Corman würde ihm verzeihen. Corman verzieh alles – was in seiner Position auch nur vernünftig war. Die Frau – er schätzte sie auf höchstens zwanzig – zeigte unver hohlen, wie sehr sie sich über sein Angebot freute. »Danke«, sagte sie weich. In einem Ton, der Harps signalisierte, daß er leichtes Spiel mit ihr haben würde, fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich habe mich verlaufen …«
Harps hebelte die Beifahrertür auf. Sie stieg ein und verstaute ihre endlos langen Beine. Während Harps startete, spürte er, wie eine Erektion seine zum Glück weiten Baumwollhosen ausbeulte. »Sie sind keine Sydneysiderin?« benutzte er die übliche Bezeich nung für in Sydney Ansässige. Sie hatte keinen Blick für die Straße. Sie blickte nur ihn an, und Harps präsentierte bereitwillig seine Schokoladenseite. »Nein«, sagte sie. »Ich mache Urlaub. Ich bin gerade erst ange kommen. Man hat mir mein Gepäck am Flughafen gestohlen, und die Polizei riet mir, mich ans britische Konsulat zu wenden.« Harps machte eine empörte Miene. »Da hat man Ihnen übel mitge spielt. Sind Sie Britin?« Sie nickte. »Kein Geld, kein Paß …. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie mich zum Konsulat fahren würden. Ich hoffe, man wird Ihnen Ihre Unkosten …« Er winkte großmütig ab. »Das Konsulat hat Zeit«, sagte er. »Offen gestanden habe ich kein sehr großes Vertrauen in die Bürokratie. Aber ich würde Ihnen gerne helfen. Es wird sich schon etwas ma chen lassen. Ich habe Beziehungen. Sie sind ein hübsches Mädchen, ich könnte Ihnen bestimmt einen Job besorgen, auch ohne sofort Pa piere auf den Tisch legen zu müssen. Und wenn ich Sie richtig ver standen habe, brauchen Sie auch eine Übernachtungsmöglichkeit. Das ist doch erst mal das Wichtigste.« Er machte eine kurze Pause und zeigte auf die friedliche, zu bei den Seiten von Bäumen und alten viktorianischen Bauten gesäumte Allee. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, oder halten Sie mich für auf dringlich. Ich kann nur den Gedanken nicht ertragen, daß Sie einen völlig falschen Eindruck von der Lebensart der Sydneysider bekom
men. Schwarze Schafe gibt es überall …« Die Frau hing an seinen Lippen. Was er sagte, schien ihr mehr als zu gefallen. »Ich wäre Ihnen unendlich verbunden …« Wieder winkte er ab. »Keine Ursache. Ich bitte Sie. Ich wohne ganz in der Nähe. Sie müssen sich erst einmal beruhigen …« Er hielt inne und begegnete ihrem Blick. Sie sah tatsächlich aufgeregt aus. Sie blickte ihn unentwegt an, ohne ihm in die Augen zu sehen. Harps versuchte zu ergründen, ob ihm ein etwaiger »Silberblick« entgangen war. Nein. Sie war einfach perfekt. Ein paar modische Korrekturen, und …. »Sie sind ein heißer Typ …« Harps verwechselte fast Gaspedal und Bremse. Wie ein Kind, das aus heiterem Himmel in die Lage versetzt worden war, einen gan zen Süßwarenladen aufzukaufen, spürte er ihre Hand an seinem Bein aufwärts streichen. »Ich heiße Lilith.« »Leroy …« Er fing sich. Ehe sie die Stelle erreichte, die ihm auch so schon genug Beherrschung abnötigte, legte er seine eigene Hand auf die forschen Finger. »Ich glaube, wir werden uns phantastisch ver stehen.« »Das glaube ich auch.« Ihr Blick war waffenscheinpflichtig. Wie hatte er sie für schüchtern halten können? »Fahren wir zu dir!« Es kam ihm gar nicht zu Bewußtsein, daß ihre zunächst unterwür fige Stimme nun befehlend klang. »Beeilen wir uns!« Sie schien Probleme mit der Sonne zu haben.
Leroy Harps riskierte jede Verwarnung, die es für zu schnelles Fahren und das Ignorieren roter Ampelschaltungen gab. Er fuhr wie in Trance. Wie trunken. Und die Frau neben ihm ließ sich weiter vom sichtbaren Klopfen seiner Halsschlagader faszinieren …
* Die Frau trug außer Trauer auch verständliches Entsetzen in den verhärmten Zügen. Beides war durch den spinnwebartigen Flor zu erkennen, der an ihrem Hut befestigt war. Ihre Hände hatten sich um das Krokodilleder ihrer Handtasche gekrampft, damit das hefti ge Zittern aufhörte. Es hörte nicht auf. Neben ihr stand, sichtlich hilflos, der Priester, der die Zeremonie hatte leiten sollen. Ein anderer Mann, der Friedhofsverwalter, fuhr Detective Jeff Warner barsch an: »Geht das nicht zu weit? Sie sehen doch, daß die Frau fix und fertig ist!« Die Frau zuckte zusammen. Der Priester versuchte zu schlichten. »Bitte, meine Herren –« Warner unterbrach kühl: »Die Kollegen tun, was sie tun müssen. Immerhin ist es einer Ihrer Angestellten. Es sollte eigentlich in Ihrem Interesse liegen, daß wir den Killer dingfest machen!« »Natürlich, aber …« »Na also!« »Aber wir brauchen das Grab. Sie sehen doch …« Er verstummte. Es war grotesk. Jeff Warner warf einen Blick auf das zu zwei Dritteln ausgehobe ne, rechteckige Loch in der Erde. Nicht weit von hier wartete in der
Leichenhalle ein Sarg mit einem Verstorbenen, dessen Angehörige dieses Grab teuer erworben hatten, um dem Verblichenen eine letzte Ruhestätte unter schattigem Grün zu gönnen. Betonung auf Ruhe. Etwas war dazwischengekommen. Am Vortag waren die Ausschachtungen nicht fertiggestellt wor den. Ein Arbeiter hatte das Werk in aller Herrgottsfrühe vollenden sollen. Der Priester, der Stunden vor der angesetzten Beerdigung nach dem Rechten sah, fand das Grab immer noch unvollendet. Der beauftragte Arbeiter – ein Mann namens Marvin Trig – war nicht aufzutreiben, obwohl unweit der neuen Grabstätte eine Schubkarre gefunden wurde, die nur von ihm stammen konnte. Der Priester hatte in aller Eile einen Ersatzmann organisiert. Dieser Mann, der die Grube bis zur vorgeschriebenen Tiefe ausheben sollte, war unter einer wenige Zentimeter dünnen Erdschicht auf Marvin Trigs Leiche gestoßen. Man hatte die Polizei alarmiert … Jeff Warners Blick wechselte zu der Plastikplane, auf der Trig ab gelegt worden war. Jemand hatte ihn scheußlich zugerichtet. Ein Pa thologe bemühte sich darum, erste Resultate zu liefern, während Angehörige des Erkennungsdienstes in der Grube und deren Umge bung nach Täterspuren suchten. Warner machte aus seinem Frust keinen Hehl. Natürlich konnte er annähernd nachvollziehen, was in der Witwe vorging, die die Grab stätte ihres Mannes jäh von einem Mörder geschändet sah. »Weisen Sie der Frau einen anderen Platz zu«, forderte er den Ver walter auf. »Ich glaube nicht, daß sie diesen noch haben will …« Sein Blick suchte die Augen der Witwe, um sich ihre Bestätigung zu ho len. Aber die Frau sah nur starr auf den Toten, der alles durcheinan dergebracht hatte. »Wie sollen wir so schnell …« Der Verwalter brach ab, als der
Priester ihm gestikulierte. Schließlich nickte er. Zu dritt, die Witwe in der Mitte, verließen sie den belagerten Ort. Jeff Warner atmete durch. Erregung packte ihn, als er sich hinter den Pathologen stellte und ihm über die Schulter sah. Hendriks drehte sich um. Seine Augen waren schmal. »Der wie vielte mit klassischem Genickbruch und zerfetzter Kehle ist das jetzt, seit wir zusammenarbeiten?« Warner holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche, blätterte kurz darin und erwiderte dann ebenso leise: »Allein in unserem Distrikt der vierte.« Hendriks nickte nachdenklich. Dann sagte er: »Verblutet, wie im mer.« »Man hat bisher keine Spuren großer Mengen Blut gefunden. We der im Grab noch in der Nähe.« Warner seufzte. »Wie jedesmal.« Hendriks, der Pathologe, nickte. »Wie jedesmal.« Warners Assistent kam im Laufschritt auf ihn zu und rief außer Atem: »Neue Losung, Chef. Wir sollen die Sache hier anderen über lassen und uns um etwas kümmern, woran sich nicht weit von hier ein paar Streifenpolizisten die Zähne ausbeißen. Etwas ziemlich Ver rücktes, wenn ich richtig verstanden habe.« »Wer sagt das?« »Codd sagt das.« »Scheiße!« fluchte Warner. Mit dem höchsten aller Bullen in dieser Stadt durfte es sich ein kleiner Inspektor nicht verscherzen. »Ich halte euch auf dem laufenden«, versprach Hendriks. »Schließ lich kenne ich euer Faible für Genickbrüche. Und wenn wirklich et was Verrücktes in der Nähe passiert ist, könnte Codd keine Besseren auswählen als euch zwei …« »Danke«, sagte Warner säuerlich.
Hendriks grinste und vertiefte sich wieder in seine Leiche. »Einen Moment, bitte! Ein paar Auskünfte für die interessierte Öf fentlichkeit …!« Warner und Needles stöhnten synchron, als die rasende Reporte rin des Sydney Morning Herald sie am Ausgang abzufangen ver suchte. »Die Hexe vom Dienst!« stöhnte Needles so leise, daß nur Warner ihn hören konnte. »Macbeth … Die hat uns gerade noch gefehlt!« Irgendwann hatte einer diesen Namen aufgebracht, der bestimmt nicht kosend gemeint war. »Kein Kommentar!« reagierte Warner entsprechend schroff, als ihm die blonde Reporterin ihr Mikrofon zielsicher vor der Nase pla zierte. »Scheren Sie sich zum Teufel!« Er verabscheute Fledderer. Und die schreibende Zunft war für ihn eine ganz besondere Abart dieser Spezies. Was ihn bei »Macbeth« störte, war, daß sie ein verflucht hübscher Fledderer war. Er hörte, wie sie ihm nachrief: »Sie sind ein arrogantes Arschloch, Warner!« Er nickte im Weiterlaufen. Irgendwie ging es danach mit seiner Laune steil nach oben.
* Sie wußte nicht, ob sie den alten Vampir abgeschüttelt hatte. Alles hatte höllisch schnell gehen müssen. Ihr Abschied aus dem Haus, das beinahe ein Jahrhundert lang für sie ein Hort der Sicherheit ge wesen war und jedem Angriff widerstanden hatte, war mehr einer
Flucht als einem geordneten Rückzug gleichgekommen.* Nun bewegte sich Lilith Eden durch eine so lebendige Welt, daß es ihr große Mühe bereitete, sich darin zurechtzufinden. Eine Welt, die sich in so vielem von ihrer erträumten unterschied … Dennoch fühlte sie sich wesentlich besser als während der quälen den Spanne kurz nach dem Erwachen. Sie hatte zeitweise unter voll kommenem Gedächtnisverlust gelitten. Erst ihre Rückkehr in den Hort hatte die Wahrheit ihrer Identität nach und nach ans Licht ge fördert. Mosaikstein für Mosaikstein. Sie hatte erfahren, welche Bewandtnis es mit ihr hatte. Bilder eines Lebens, das sie nie wirklich gelebt, sondern nur geträumt hatte, wa ren über sie hereingebrochen. Aber am Ende hatte sie eine reale Bot schaft ihrer verstorbenen Mutter empfangen und erfahren müssen, daß sie eine besondere Bestimmung besaß. Daß es eine alte Prophe zeiung gab, wonach das lebendig geborene Kind einer Vampirin und eines Menschen eine Art Götzendämmerung einläutete. Die Götzen, das waren in diesem Fall die Angehörigen eines Vol kes, das seit Menschengedenken neben den Menschen auf der Erde wandelte. Unerkannt, verborgen, nicht groß an Zahl, aber doch von eigenen Machtgelüsten und unheilvollem Streben angetrieben. Um sie zu bekämpfen, war Lilith gezeugt worden, obwohl sie sich gar nicht wie eine Kämpfern fühlte. Gerade im Moment hatte sie ganz andere Dinge im Kopf. Es gab etwas in ihr, das befriedigt werden mußte, besonders seitdem sie mit einem Mann zusammengewesen war, der ihr gezeigt hatte, wie gewaltig der Unterschied zwischen ihrer in falschen Träumen erleb ten Lust und wirklicher Hemmungslosigkeit war! Nun verspürte sie immensen Nachholbedarf. Einen kaum zu stillenden Durst … *siehe VAMPIRA 1 »Das Erwachen«
Sie drängte die Begierde zurück. Es war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür. Sorgen bereitete ihr, daß sie sich immer noch nicht an die Namen ihrer Eltern (nicht einmal an den ihres menschlichen Vaters) erinner te. Die Zukunft lag völlig im Ungewissen. Welche Zukunft? höhnte eine böse, wispernde Stimme. Mit Schau dern dachte sie daran, daß alles, was andere Menschen an Erfahrun gen aus ihrer Kindheit und Jugend in sich trugen, bei ihr nur »Leben aus zweiter Hand« war. Gefälschte Erinnerungen. Wertlos und eher belastend als hilfreich. Sie war nach 98 Jahren im Körper einer Zwanzigjährigen erwacht. Zwei Jahre zu früh, wie man ihr gesagt hatte. Hundert hätten es sein sollen. Sie besaß ein reiches Wissen, dessen Herkunft sie nicht kannte. Sie wußte aber, daß sie gejagt wurde. Von Geschöpfen, die wie ihre Mutter waren. Und sie ahnte, daß sie – wenn sie ihrer mysteriösen Bestimmung gerecht werden wollte – diese Geschöpfe eines Tages vernichten mußte. Das alles war Lilith erst bewußt geworden, als sie das Kleid ihrer Mutter gefunden und es übergestreift hatte. Am Grab der toten Vampirin knieend, hatte sie es erfahren. Eine tote Untote … Ihre Mutter hatte ihre Unsterblichkeit geopfert, um ihr, Lilith, das Leben zu schenken. Denn es war seit jeher Gesetz, daß ein toter Körper nicht ungestraft Leben zeugen durfte. Kurz nach Liliths Geburt war ihre Mutter gestorben. Ihr Erbe war ein Todesurteil. Die Vampire würden alles daranset zen, den Wechselbalg zu finden und zu vernichten. Es waren mäch tige Feinde – Blutsauger, deren Existenz sich in den Legenden der Menschen niedergeschlagen hatte und an die doch kaum jemand
wirklich glaubte. Es gab noch einen anderen Namen für die Not und das Sterben, die sich damit verknüpften: Die Alte Familie. Auch dies wieder eine Information, die plötzlich da war, aus den Tiefen ihres Bewußtseins an die Oberfläche gestiegen. Es war, als würden von Fall zu Fall, tröpfchenweise, genetisch verankerte Infor mationen frei. Besonders augenfällig war dies geworden, als Lilith in Leroys Wagen gestiegen war. Im Gespräch mit ihm hatte sie intui tiv die Worte gefunden, die zur Situation paßten. Sie hatte mit ihm gespielt. Katz und Maus. Und sie würde es weiter tun. Bis er ihr gegeben hatte, wonach es sie verlangte …
* Lilith betrachtete Leroy Harps wie einen auf eine Nadel gespießten Käfer. Regungslos stand er vor ihr im Wohnzimmer des luxuriös ausgestatteten Apartments. Sein Blick war leer. Lilith hatte gleich nach Betreten der Wohnung im siebten Stock »die Zügel angezogen«, wie sie es nannte. Daß sie Macht über Menschen besaß, hatte sie früh festgestellt. Ih ren Worten haftete – wenn sie es darauf anlegte – unwiderstehliche hypnotische Kraft an. Mitunter konnte dies nützlich sein. Wie jetzt. Obwohl sie am liebsten gleich über Harps hergefallen wäre, siegte die Vernunft. Neben dem, was sie sehr dringend brauchte, benötigte sie eine Pause, um zu verdauen, was auf sie eingestürzt war. Außer
dem galt es, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um das Wis sen über die Menschen und ihre Art zu leben zu erweitern. Lilith vergewisserte sich noch einmal, daß niemand von draußen in die Wohnung gelangen konnte, ohne einen Schlüssel zu besitzen. Dann ließ sie die Jalousien herab. Ihre Augen paßten sich in Sekun denschnelle den veränderten Lichtverhältnissen an. Lilith konnte Leroy Harps und die Wohnungseinrichtung noch so klar erkennen wie zuvor. Einzige Einschränkung war ein »Farbstich«, der sich wie ein Rotfilter vor ihren Blick geschoben hatte. Ohne länger zu zögern, verschaffte sie sich einen Überblick über die einzelnen Räume. Als wäre es ein Wink des Schicksals, fand sie zunächst das Schlafzimmer. Lilith staunte über die Kompliziertheit dieses Raumes. Sie hatte zu wissen geglaubt, wie ein Schlafzimmer auszusehen hatte: ein Bett, ein Schrank und ein paar dekorative Utensilien … Leroy Harps schien anspruchsvoller zu sein. Und höchst eigenwillig. Das fing schon beim Bett an, das riesig mitten in dem großen Raum stand, von allen Seiten zugänglich. Als Lilith es berührte, spürte sie, daß es unter ihr nachgab und ein glucksendes Geräusch produzierte. Sie zuckte zurück. Dann drückte sie erneut zu und spürte die Flüssigkeit unter der strapazierfähigen »Haut« des Schlaflagers. Kopfschüttelnd setzte sie sich darauf. Es war ein komisches Ge fühl. Sie spürte, wie ihr Gewicht Flüssigkeit verdrängte. Erneut gluckste es leise, als hätte jemand einen kleinen Schwips und müßte aufstoßen. Lilith schüttelte immer noch den Kopf. Ihre Hände fuhren über die Fläche, die nicht kühl, sondern wohltemperiert war.
Ein Bett wie dieses hatte sie nicht erwartet, und vergeblich forschte sie in ihrem Wissen nach näheren Informationen darüber. Über der gesamten Bettfläche hing ein Spiegel unter der Decke. Lilith lachte kehlig. Sie blickte nach oben. Als sie sich erkannte, ließ sie sich übermütig nach hinten fallen und schnitt Grimassen, die sich aber nur undeutlich spiegelten. Enttäuscht stand sie auf. Nicht zum erstenmal machte sie diese Er fahrung: Ihr Spiegelbild schien niemals ganz klar zu sein, wirkte im mer leicht verschwommen. An den Wänden hingen wirre Bilder, als hätte jemand willkürlich in Farbtöpfe gegriffen und sich dann an unschuldiger Leinwand ausgetobt. Vermutlich war der Täter sogar straffrei ausgegangen … Eine Leiste in Griffhöhe neben der Tür erregte Liliths Interesse. Eine Unmenge von Tastknöpfen und Hebeln ragte daraus hervor. Willkürlich legte sie einen der Schalter um. Ein langsam anschwellendes Rumoren erfüllte den Raum. Es dau erte Sekunden, bis Lilith das Bett als Quelle ermittelt hatte. Es war in Bewegung geraten – nicht wirklich, aber unter seiner Oberfläche schienen nun Wellen entlangzurollen. Pausenlos. Alles war in zit ternde Unruhe geraten. Lilith kippte den Schalter, und das Rumoren brach ab. Ein Druckknopf ganz oben löste verhaltene Musik aus. Das war angenehm. Zumindest für eine Weile. Als Lilith der Klänge über drüssig wurde, tippte sie erneut auf den Knopf. Beim nächsten Versuch glaubte sie zunächst, es würde gar nichts passieren. Nur ein minimales Surrgeräusch, gerade über der Hör grenze, brachte sie schließlich auf die Spur eines Gerätes, das in ei ner Ecknische des Zimmers hinter Pflanzenfarnen und einem von vorn nicht einzusehenden Glas installiert war. Eine Kamera?
Das Objektiv war genau auf das Bett gerichtet. Lilith schloß die Verblendung und stellte den Apparat ab. Die anderen Knöpfe waren nicht mehr sonderlich interessant. Ei ner öffnete eine verborgene Wandbar. Ein anderer dimmte die Raumbeleuchtung nach Bedarf. Der nächste aktivierte den großfor matigen Fernseher, und ähnliches mehr. Lilith wußte immer noch nicht, was sie von Leroy Harps zu halten hatte. Auch als sie in dem offenen Regal stöberte, in dem Magazine und Videokassetten wie Soldaten nebeneinander aufgereiht standen, wuchs lediglich ihre Irritation. Sie griff wahllos nach einer der farbi gen Hochglanzbroschüren – und stockte. Sie sah zweimal hin, ehe sie begriff, womit die abgebildeten Perso nen beschäftigt waren. Gegen ihren Willen wurde ihr heiß. Rasch blätterte sie von einer Seite zur anderen, und die Verblüf fung wich wachsender Erregung. »Leroy Harps«, murmelte sie, »du bist mir ein schönes Früchtchen …« Auch wenn es ihr an Erfahrungswerten mangelte, ahnte sie doch sehr zielsicher, daß sich Harps dieses Refugium nicht angelegt hätte, wenn es seinen Vorlieben nicht voll entsprochen hätte. Diese Mei nung hielt sie jedoch nicht davon ab, einige der bildlichen Darstel lungen als animierend zu empfinden. Sie war eine erwachsene Frau. Auch wenn sie ihre Defizite hatte. Aber daran arbeitete sie. Wie jetzt, zum Beispiel. Sie erweiterte ihren Horizont ständig. Sie war neugierig und nicht gewillt, Abstriche zu machen, was diese Neugier stillen konnte. Hitze durchströmte ihren Unterleib.
Sie wußte, daß Harps draußen stand und nur darauf wartete, ent fesselt zu werden. Das machte sie ganz kirre. Nur mit Mühe setzte sie ihre Erkundung fort. Die anderen Räume waren weniger interessant, bis sie das Bad fand. Noch nie hatte sie eine solch verschwenderische Einrichtung gese hen. Die in den Boden eingelassene Wanne hatte eine Größe wie ein kleiner Pool. In Boden und Wandung waren kleine Düsen eingelas sen. Ein etwas erhöhtes Podest war als Liegefläche mit Kunstrasen angelegt, darüber hingen künstliche Sonnenleuchten. Jede Wand war vollständig verspiegelt, und neben dem Türrahmen fand Lilith eine ähnliche Schaltleiste wie im Schlafzimmer. Von hier aus konn ten die verschiedenen Funktionen der Einrichtung gesteuert wer den. Lilith war erschlagen von Harps’ Einfallsreichtum. Als sie wahllos ein paar Schubfächer öffnete, fand sie nicht nur Ba deartikel. Nicht sehr bequem aussehende Lacklederwäsche und al lerhand Undefinierbares folgte. Allmählich entwickelte sich nun doch ein Bild des smarten Man nes, der Lilith so großmütig Hilfe bei ihren privaten Problemen an geboten hatte. Lilith bereitete sich auf ganz neue Erfahrungen vor.
* »Nun, was halten Sie davon?« fragte Jeff Warner. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und versuchte etwas aus der Miene jenes Mannes herauszulesen, der neben ihm stand. Nach ei ner Weile, in der sich nichts von Secadas wahren Gedanken auf des sen Gesicht niederschlug, verlor der Polizeibeamte die Geduld und
drehte sich brüsk wieder dem unmöglichen Haus zu. Es dämmerte bereits. Das sterbende Licht des Tages paßte sich der düsteren Umgebung an. Seit Warners Eintreffen vor drei Stunden war das Grundstück zur Sperrzone erklärt. Nur noch Angehörige seines Departments, Feuer wehrleute und ausgesuchte Personen wie Brian Secada erhielten Zu gang zum weitläufigen, in manchen Zonen dschungelartigen, in an deren Bereichen fast versteppten Garten. Eine mannshohe Mauer umfriedete ihn und schirmte das Haus mit dichtem Bewuchs nach allen Seiten ab. Von der Straße aus war das eigentliche Gebäude, das sie vor Probleme stellte, nicht zu sehen. Secada war fünfundvierzig Jahre alt und sah überhaupt nicht ver schroben aus, wie Jeff Warner es insgeheim erwartet hatte, als er den »Experten« angekündigt bekommen hatte. Der Parapsychologe kam auch keineswegs »alternativ«, sondern sehr gepflegt und mit ge schmackvoller Kleidung daher. Warner, der fünf Jahre jünger war, wünschte sich, er hätte seine an tropisch feuchten Hitzetagen wie diesen eher hinderlichen Klamotten gegen ähnlich legere Freizeit kluft eintauschen können. Andererseits hatte er momentan andere Sorgen. »Was erwarten Sie?« fragte Secada. Seine Stimme war um Fassung bemüht. Deutlich spürbar war jedoch die tiefe Erregung des Exper ten, die ganz offenbar nichts mit Furcht oder ähnlich negativ belas teten Gefühlen zu tun hatte. Brian Secada sah aus wie jemand, dem nach Jahren reinen Theoretisierens endlich ein greifbares For schungsobjekt in den Schoß gefallen war. »Ich brauche Zeit. Und Ruhe. Schicken Sie endlich Ihre Hektiker nach Hause, damit ich an fangen kann!« Warner schluckte den Ärger, der auf seine Zunge drängte, herun ter. Es gelang nicht restlos. »Ich habe alle Gaffer und neugierigen
Pressevertreter vom Grundstück verweisen lassen, wie Sie es wünschten. Wer jetzt noch da ist, bleibt da. Ich kann es nicht verant worten, noch mehr –« »Schwätzer.« Secada ließ ihn einfach stehen und ging auf das Haus zu, vor dessen vorderem Eingang Flutlichtstrahler aufgebaut wurden. Niemand hatte vor, der Nacht zu weichen. Warner wollte dem Parapsychologen folgen, aber in diesem Mo ment erschien sein Assistent Needles in Begleitung eines schmächti gen, mausgesichtigen Mannes, der während des Gehens nervös an seiner Drahtbrille herumnestelte und immer wieder furchtsame Bli cke zu dem doppelstöckigen Gebäude hinüberwarf. »Das ist Leslie Grunge. Er leitet die Abteilung, die für das Bauwe sen zuständig ist.« Warner reichte Grunge die Hand. Der Mann griff eifrig danach und lächelte scheu. Nach einem flüchtigen Augenkontakt wandte er den Blick sofort wieder dem Haus zu. Es sah aus, als bekäme er eine Gänsehaut. Er schüttelte sich und sagte: »Ich wollte, ich könnte Ih nen weiterhelfen, Sir. Aber mir ist von diesem Haus nichts bekannt.« Jeff Warner sah ihn prüfend an. »Nichts bekannt?« Grunge nickte heftig. Die Brille verrutschte, und er rückte sie mit einer fahrigen Bewegung wieder gerade. »Nichts. Nach meinen Un terlagen dürfte es dieses Haus gar nicht geben. Natürlich ist das Areal in den Bebauungsplänen berücksichtigt. Aber es gibt keinen Hinweis auf den Eigentümer …« Warner verzog das Gesicht. Seine Stimme gewann von einem Mo ment zum anderen an Schärfe, und die Freundlichkeit darauf ver schwand wie weggewischt. »Wem wollen Sie weismachen, daß die Stadt ein Grundstück dieser Größe brachliegen läßt? Jeder Bürger muß Steuern zahlen. Grundstückssteuern, Vermögenssteuern, was auch immer. Und Sie sagen –«
»Kennen Sie den Eigentümer?« unterbrach Grunge schüchtern. Warner stutzte kurz. »Nein«, räumte er ein. Dann entschuldigte er sich kopfschüttelnd. »Sie haben recht. Die Polizei hat diesem Grundstück, soweit ich zwischenzeitlich weiß, auch noch nie zuvor Beachtung geschenkt. Niemand scheint dies getan zu haben! Wie lange? Haben Sie eine Vorstellung, wie lange es diesen Besitz, unbeachtet von der Öffentlichkeit, geben könnte?« »Das Haus sieht … merkwürdig aus«, setzte Grunge an. Warner lachte bitter. »Daß es seltsam aussieht, weiß ich selbst. Aber wie alt könnte es sein?« Grunge straffte sich. In seine Augen trat Glanz, als er anbot: »Ich könnte die Archive durchstöbern und nach Hinweisen suchen. Was ich eben sagte, war der aktuelle Stand. Das, was sich in den Compu tern befindet. Aber es gibt natürlich Alt-Akten, die gar nicht mehr in die Datenbank aufgenommen wurden und bis ins vorige Jahrhun dert reichen. Vielleicht könnte uns das weiterhelfen. – Sollte jemand aus meiner Abteilung diese Schlamperei zu verantworten haben, werde ich selbstverständlich …« »Ich will keine Köpfe, ich will Fakten«, verabschiedete ihn Warner. »Danke für Ihre Zusammenarbeit. Melden Sie sich, sobald Sie etwas Verwertbares gefunden haben.« Grunge ging. Needles blinzelte Warner zu und meinte verächtlich: »Typisch Stu benhocker, wie?« Warner sparte sich eine Erwiderung. Gefolgt von seinem Assisten ten, näherte er sich Secada, der vor der Türattrappe stand. »Ich dachte immer, Leute wie Sie hätten für jede Situation einen
brauchbaren ›Zauber‹ parat. Eine Art Sesam-öffne-dich …«, witzelte der Polizeioffizier. »Wo haben Sie nur Ihre lästigen Weisheiten her?« fauchte Secada. »Offenbar wurden Sie mit Falschinformationen gefüttert. Noch ein mal: Ich bin kein Magier. Bei mir fußt alles auf Wissenschaft. Auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten.« »Und welches«, warf Needles ein, »physikalische Gesetz erlaubt es den Besitzern dieser … Bauruine, ein und aus zu gehen? Einen sol chen Pfusch habe ich noch nie gesehen!« In den Augen des schlaksi gen Blonden funkelte es belustigt. Er schien der einzige zu sein, der angesichts dieser Umgebung noch zu gehobener Laune fähig war. Jeff Warner jedenfalls war die Stimmung gründlich verdorben. Er glaubte, einer viel heißeren Sache auf der Fährte zu sein. Einem psy chopathischen Serienmörder, der seine Opfer zwar unterschiedlich verstümmelt, aber stets mit gebrochenem Genick irgendwo ver scharrte. Daß Warners Vorgesetzten, insbesondere Virgil Codd, bis lang an der Ein-Täter-Theorie zweifelten, ärgerte ihn mehr, als er nach außen zugab. Nur Needles, mit dem er über alles Berufliche sprach, wußte, wie es in ihm aussah. Aber Needles fehlte der Ernst, um Warner eine moralische Stütze zu sein. »Ihr Papagei nervt«, wandte Secada sich an Warner. »Würden Sie ihm bitte sagen, daß er mich in Ruhe zu lassen hat. Sonst …« Warner war nicht interessiert, sich das »Sonst« eines Parapsycho logen anzuhören. Er zog Needles den schmalen Pfad entlang durch das Dickicht zum Einsatzwagen, der draußen an der Straße parkte, weil man noch immer keine genügend breite Zufahrtsmöglichkeit geschaffen hatte. Solange nichts, was mit Haus und Grundstück und dem unauffindbaren Eigentümer zusammenhing, geklärt war, wag te niemand, den Befehl zu unterzeichnen, gewaltsam eine Öffnung in der Mauer zu schaffen. Das vorhandene Tor war nur breit genug, Personen durchzulassen. Es hatte offengestanden, als die Polizei, an
geführt von Nick Parker, dem Taxifahrer, hierher kam. Warner stellte per Funk eine Verbindung zum Krankenhaus her, in das Parker gebracht worden war. Die Polizeizentrale mußte das Gespräch vermitteln. Es nahm ein paar Minuten in Anspruch, bis Warner endlich mit der zuständigen Ärztin sprechen konnte. Die Frau klang irgendwie niedergeschlagen. »Die Kratzwunden auf dem Rücken sind noch das wenigste«, antwortete sie auf War ners Frage nach dem Befinden des Taxifahrers. »Das kommt schon mal vor im Eifer des Gefechts. Aber ich mußte jemanden zu seiner psychologischen Betreuung anfordern. Er hat einen Schock erlitten. Man könnte meinen, er redet nur wirres Zeug. Andererseits schei nen ihn die Befunde zu bestätigen …« »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!« Warner wußte, welches Mär chen Nick Parker den Polizisten aufgetischt hatte. Mit roten Ohren hatten sie zunächst eine ausführliche Schilderung von Parkers Lie besspiel erhalten, danach die hanebüchenste Story von Warners bis heriger Dienstzeit. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Miss –« Klick. Warner schluckte ungläubig. »Hat aufgehängt, wie?« griente Needles. Warner stieg die Röte ins Gesicht. Erneut ließ er sich eine Verbin dung herstellen. »Wieder normal?« erkundigte sich die Ärztin zum Auftakt der zweiten Runde. »Sie –« »Wohl doch noch nicht. Dann nicht …« Warner glaubte das Schulterzucken förmlich vor sich zu sehen. Er wußte, was ihm blühte. »Stopp!« bremste er. »Unterstehen Sie sich!« »Werden Sie aufhören, mich wie den weiblichen Trottel zu behan
deln?« »Habe ich das?« Needles nickte. Die Ärztin offenbar auch. »Ja.« »Wenn es so war, täte es mir leid.« »Schon besser.« »Worauf wollten Sie vorhin hinaus?« fragte Warner zähneknir schend. Sie knirschten sehr leise … »Der Untersuchte leidet unter Anämie … Blutarmut«, fügte sie hinzu, als hätten sich Bedenken in ihr gemeldet, er könnte sie ohne diese Hilfestellung nicht verstehen. Needles lachte so unkontrolliert, daß es wie das Bellen eines Hun des klang. Warner hätte am liebsten mit eingestimmt. »Sie wissen, was er be hauptet«, sagte er gereizt. »Er gab den Polizisten zu Protokoll, eine –«, er zögerte, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen, dann überwand er sich doch, »– eine Vampirin habe ihn vernascht … Wol len Sie das etwa unterschreiben?« »Sie fangen schon wieder an …« »Schon gut, schon gut!« Warner nestelte an seiner Krawatte. »Wei ter! Sonst noch etwas … hm … Auffälliges?« »Vampirmale konnte ich nicht entdecken«, spöttelte sie. »Die Stelle am Hals, die der Patient mir zeigte, war nicht aktuell verletzt, wohl aber vernarbt.« »Wie alt?« »Die Narbe?« »Ja.« »Schwer zu schätzen. Ein, zwei Wochen in jedem Fall.«
»Aber gebissen wurde er – eigenen Angaben zufolge, wohlge merkt – heute, oder?« »So sagte er, ja.« »Na also!« Warner seufzte. »Spätestens Ihr Psychoklempner wird ja hoffentlich wissen, wie er mit dem Burschen verfahren muß. Dan ke für Ihre Mühe. Den Bericht bitte zu meinen Händen ins Präsidi um.« Warner schickte noch einen Gruß und beendete das Gespräch diesmal offiziell – und von seiner Seite. Er wirkte richtig erleichtert. Dieser Ausdruck hielt jedoch nur so lange, bis er mit Needles zum Haus zurückmarschierte und nach Brian Secada fragte. Niemand konnte ihnen helfen. Der offene Ausrüstungskoffer des Parapsycho logen stand noch vor dem Aufgang zur Türattrappe. Secada selbst war verschwunden. »Er wird mal für kleine Jungs sein, irgendwo ins Gebüsch«, mut maßte Needles. »Wenn, dann für große Jungs. Für verdammt große Jungs!« sagte Warner, nachdem Secada auch die nächste halbe Stunde unauffind bar blieb. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit wie ein Sack um das Gebäu de geschlossen. Selbst die aufgestellten Lampen hatten offenbar Mühe, dagegen anzugehen. »Als würden die Mauern das Licht schlucken«, murmelte Needles in ungewohntem Ernst. Gerade war ein Suchkommando zurückgekehrt, das vergeblich nach Brian Secada geforscht hatte. »Er kann sich nicht mehr im Gar ten aufhalten«, meldete der Polizist, der die Suchenden angeführt hatte. »Wir haben hinter jeden Baum und jeden Strauch geschaut.« »Er könnte weggefahren sein, um etwas zu holen, was er für seine Untersuchung braucht«, dachte Warner laut nach. »Vielleicht hat er
nur vergessen, uns Bescheid zu sagen.« Auch das war nachprüfbar nicht der Fall. Secada war mit einem ei genen Fahrzeug gekommen, und das stand noch am selben Fleck, wo er es abgestellt hatte. Warner blickte auf die vorgetäuschte Tür, die im Scheinwerferlicht kaum von einer echten zu unterscheiden war. Jemand hatte sich alle Mühe gegeben, unwillkommene Besucher zu täuschen. Sie hatten, seit sie hier waren, an diesem ganzen verfluchten Haus keine einzi ge echte Tür und kein einziges echtes Fenster entdeckt! Die Feuer wehr hatte Leitern aufgestellt und auch das obere Stockwerk und das Dach nicht außer acht gelassen. Alle Zugänge sahen wie von ei nem geschickten Steinmetz plastisch modelliert aus. Farbe hatte den Rest besorgt. Phantastisch war auch, daß sich die Dachziegel nicht entfernen ließen. Sie sahen aus wie Schindeln, aber wer sie berührte oder zu lockern versuchte, stellte unweigerlich fest, daß auch sie nur vorgegaukelt waren. Das komplette Haus schien – obwohl dies eine Unmöglichkeit war – aus einem einzigen massiven Klotz gehauen zu sein. Nicht nur für Warner, auch für viele andere war es längst zweifelhaft, daß dieser Kasten über begehbare Räumlichkeiten ver fügte. Es war das absurdeste Gebäude, vor dem er je gestanden hatte. Er schrak zusammen, als Needles ihn am Ärmel zupfte und mit bleichem Gesicht nach oben wies. Warner folgte dem ausgestreckten Arm und spürte, wie seine Keh le austrocknete. »Kneifen Sie mich!« forderte er Needles auf. Sein Assistent hätte es getan – wenn sein Blick nicht selbst völlig baff dem Kegel der Lampe gefolgt wäre, der im oberen Stockwerk langsam von Fenster zu Fenster tanzte, immer mit kleineren Pausen dazwischen und dabei das dazwischen befindliche Mauerwerk aus sparend …
Warner warf einen schnellen Blick um sich. Aber da war niemand, der sie mit einer Lampe narrte. Die einzige Erklärung, die er für die Lichterscheinung fand, war keine Erklärung. Sie war absurd. Der Strahl wurde im Haus bewegt! Vielleicht hätte Warner es noch hingenommen, daß offenbar doch Räume hinter den Mauern existierten. Was gegen die Gummiwände seiner geistigen Flexibilität prallte und als unverdaulich zurückge schleudert wurde, war die Tatsache, daß sie Licht hinter Fenster scheiben sahen, die es nachgewiesenermaßen nicht gab! Warner wußte später nicht mehr, was ihm den Namen wie Rauh reif auf die Zunge legte und ihn zu einer unbewiesenen Behauptung hinriß. Fröstelnd preßte er hervor: »Secada … Es ist … Secada!« Needles krümmte sich neben ihm. Er starrte, als habe sein Vorge setzter den Verstand verloren. Und als wollte er diesem Beispiel folgen …
* Lilith hatte sich noch stundenlang, nachdem sie Harps in seiner ei genen Wohnung »abgestellt« hatte, beherrscht. Vor den Badezim merspiegeln hatte sie versucht, die Grenzen ihrer Beherrschung aus zuloten und mehr über sich selbst zu erfahren. Sie hatte ihren Kör per ausgekundschaftet. Das Kleid hatte sie nicht daran gehindert. Gehorsam hatte es sich ihren Wünschen angepaßt. Daran, daß sie in Spiegeln nur mit einer gewissen Unscharfe abge bildet wurde, hatte sie sich bereits gewöhnt. Sie nahm es hin, weil sie doch nichts daran ändern konnte. Ihr mütterliches Erbe spielte ihr hier einen Streich, auch wenn sie selbst keine reinblütige Vampi rin war. Sie war ein Zwitterwesen.
Trotz alledem hatte sich Lilith viel Zeit genommen, sich besser kennenzulernen. Ihre Haut hatte die Farbe allerfeinsten Alabasters. Gerade diese Blässe schien Männer fast magisch anzuziehen. Lilith fand sich selbst weder besonders schön noch häßlich. Sie er innerte sich aber, daß ihre Mutter sie wunderschön genannt hatte, ob wohl sie ihre Tochter nur in der ersten Stunde der Geburt gesehen hatte. Gleich danach hatte sie für den Frevel bezahlt, ein Balg ge zeugt zu haben, und war gestorben. Lilith versuchte, den Schmerz zu verdrängen, den die Erinnerung jedesmal wieder neu auslöste. Der Tod ihrer Mutter schien so sinn los. Lilith begriff nicht, was die abtrünnige Vampirin wirklich dazu bewegt hatte, quasi Selbstmord zu begehen. Ihre Mutter hatte sich mit einem Menschen eingelassen und dabei wider besseren Wissen bewußt ein Kind gezeugt, das lebend zur Welt kam. Sie hatte das schlimmste Tabu verletzt, das es für ihresgleichen zu geben schien. Nur aus Liebe? Oder in Hinblick auf einen Plan, der ihr selbst nicht in voller Kon sequenz offengelegen hatte? Lilith hätte zu gern ihr eigenes Gesicht einmal deutlich gesehen. Lange hatte sie vor den Spiegeln ausgeharrt. Aber ob von ganz nahe oder weiter entfernt, sie hatte nie mehr als vage, verschwommene Züge wahrgenommen. Der bislang einzige Hinweis, wie sie sich ihr Antlitz vorzustellen hatte, stammte noch aus der Zeit unmittelbar nach ihrem Erwachen. In dem Haus, wo sie fast ein Jahrhundert schlief, hatten »Bilder« die Wände geschmückt, die Szenen aus ihren Träumen wiedergaben. Inzwischen glaubte Lilith längst nicht mehr, daß es sich tatsächlich um Fotografien gehandelt hatte, aber die Darstellungen hatten ihr wertvolle Anhaltspunkte über ihr wechselndes Aussehen, von frü
hester Kindheit an bis hin zum Erwachsensein, geliefert. Kein Zweifel; auf Männer mußte ihr sehr weiblicher, schlanker Körper mit den großen, festen Brüsten und ihr feingeschnittenes Ge sicht mit den hohen Wangenknochen und den leicht schrägstehen den Augen überaus anziehend wirken … Als hätte es nur noch dieses winzigen Impulses bedurft, war die Lust an diesem Punkt unbezähmbar geworden, und sie war zu Leroy Harps zurückgekehrt. Sein kaum behaarter Körper ähnelte einer Ikone. Sie weidete sich daran, nachdem sie ihm befohlen hatte, sich aus zuziehen. Schon der unfreiwillige »Strip« hatte Schmetterlinge in ih rem Bauch entfacht. Seit ihrer ersten realen sexuellen Erfahrung wußte sie, daß dies erst der Anfang war. Das Vorspiel … Obwohl ihr elektrisches Licht ebenso wie Tageslicht widerstrebte, ließ es sich aushalten. Sie berücksichtigte, daß Harps keine Möglich keit hatte, im Dunkeln zu sehen. Da sie nicht wollte, daß ihm etwas vom sinnlichen Reiz des nun Folgenden verlorenging, schaltete sie eine Stehlampe ein, die nicht zu grell war, aber genügend Helligkeit verbreitete. Draußen war inzwischen die Nacht hereingebrochen. Die Zeit war wie im Flug verstrichen. »Sei wieder du«, sagte Lilith. Sie hatte gelernt, ihrer Stimme Nuan cen zu verleihen. Das Timbre, in das sie die drei simplen Worten kleidete, ließ nicht nur Leroy Harps aus seiner Starre erwachen, son dern schürte zugleich auch das Feuer in ihrem Schoß. Harps entkrampfte, als hätte jemand unsichtbare Fäden, die ihn die ganze Zeit gehalten hatten, gekappt. Er wirbelte um seine Achse, riß den Mund auf. »Was …?«
Lilith lockte ihn mit dem Zeigefinger. Sie hatte Vorsorge getroffen. Harps starrte auf das leere Glas in seiner Hand, als läge darin die stimmige Erklärung für seinen stundenlangen Blackout. Lilith hatte ihm suggeriert, daß ein Gläschen nicht schaden könnte, um sich zu lockern. Er hatte, im Hypnosezustand, die halbe Whiskyflasche ausgetrun ken. Seine Zunge mahlte, als er einen zornigen Schritt auf sie zumachte. »Hölle, hast du mir vielleicht K.O-Tropfen untergejubelt …?« Lilith ließ sich von der Drohgebärde nicht einschüchtern. Sie fragte sich nur, ob sie die Kontrolle über Harps möglicherweise zu sehr ge lockert hatte. Aber es machte keinen Spaß, es mit einer Marionette zu treiben. »Ich …?« Sie trat ihm aus dem Licht entgegen und leckte sich un schuldsvoll über die schon vorher feuchten Lippen. »Wofür hältst du mich? Du mußtest doch unbedingt einen nach dem anderen kip pen! Willst du mich noch länger warten lassen?« Zwei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Sein Blick stierte. Daß es draußen bereits dunkel war, verblüffte ihn deutlich weni ger als das, was Lilith am Leib trug. Er schien angestrengt zu überle gen, ob Lilith die Lederstrapse schon die ganze Zeit unter ihrem Ab törner-Fummel getragen hatte oder ob sie sich aus seinem Fundus bedient hatte. Er besaß genügend von diesem Zeug. Die Schubladen quollen über davon. Aber an ein solch raffiniertes Teil konnte er sich beim besten Willen nicht entsinnen … »Du brauchst es, wie?« Es war keine Frage. Es war eine Feststel lung. Er stellte das Glas irgendwo ab. Seine Hand wollte nach Lilith fassen, aber sie lachte nur und tänzelte einen Schritt zur Seite. »Bleib
stehen!« »Fang mich doch!« Er keuchte. »Das werde ich! Wir wollen sehen, ob du für den Job geeignet bist, den ich dir vermitteln könnte …« »Was ist das für ein Job?« »Er wird dir gefallen. Das verspreche ich dir jetzt schon …« Er machte einen Satz auf sie zu, und diesmal bekam er sie zu fas sen. Lilith wehrte sich nur noch zum Schein. Sie genoß das, was sie bei ihm bewirkte. Grob strich er ihre Brüste entlang. »Etwas zärtlicher, Mister!« warnte sie. »Nicht so zimperlich!« Sie langte ihm zwischen die Beine. Er schrie und krümmte sich. »Was denn?« lachte sie. »Nicht so zimperlich …« Danach schien er begriffen zu haben. Vielleicht glaubte er immer noch, den Ablauf der Ereignisse zu kontrollieren. Der Alkohol um nebelte seine Sinne, ohne daß Lilith viel dazutun mußte. Seine Lippen suchten ihren Mund, aber die Fahne, die davon aus ging, ließ Lilith immer wieder ausweichen. Als seine Erektion gegen ihren Schoß drückte, hauchte sie: »Nicht hier! Hast du kein Bett?« Nur einen Moment huschte Enttäuschung darüber, daß er sie nicht gleich hier auf dem Teppich nehmen konnte, über sein verschwitz tes Gesicht. »Doch.« Er atmete schwer. »Komm mit …« Sie kannte den Weg, aber sie überließ ihm die Führung. Sie ließ sich auch nicht anmerken, daß sie sah, welche Schalter er beim Betreten des Schlafzimmers betätigte. Gedämpftes Licht verzauberte den Raum. Musik plätscherte. Darunter mischte sich kaum wahrnehmbares Surren …
Leroy Harps lachte überlegen. »Was sagst du dazu?« »Nett.« »Nett?« »Möchtest du Small talk halten über den Geschmack deines Innen architekten, oder willst du mich?« stellte sie klar, woran sie interes siert war. Damit hatte sie ihn. Er unterließ weitere Umschweife. »Zieh das aus!« zischte er und trieb sie zum Bett. »Ich will dich ganz! Jede verdammte Stelle deiner Haut …!« Sie glitt auf die wogende Unterlage und nahm die optimale Stel lung ein. Was er von ihr verlangte, war okay. Sie war bereit, ihm entgegenzukommen. Der Preis, den sie am Ende verlangen würde, schloß »Extras« ein. Harps blieb so nahe vor dem Wasserbett stehen, daß seine Knie gegen den Rand stießen. Vor ihm rekelte sich Lilith. Sie begann, an den Trägern ihres BH zu nesteln. »Ich helfe dir!« keuchte Harps und beugte sich vor. Seine Finger suchten ungeschickt nach dem Verschluß ihres Strapsgürtels. Begie rig waren seine Augen auf das Dreieck ihres Schoßes fixiert. Lilith trug Schwarz. Schwarze Netzstrümpfe, schwarze Strapse, schwarzer BH. Harps sah schwarz, als er nicht fündig wurde. Immer heftiger zerr te er an dem Gürtel, weil er ihn nicht zu öffnen vermochte. Lilith schrie auf. Harps zog den Gürtel weg von ihrer Haut, und sie hatte plötzlich das scheußliche Gefühl, er ziehe ihr die Haut selbst ab! »Hör auf!« schrie sie. Er schien sie nicht zu hören. Die Gier machte ihn taub. Er fluchte
und zerrte immer wieder an dem Dessous. Lilith wälzte sich unter Schmerzen. Sie wußte nicht, was vorging, aber die Quälerei erinnerte sie an den Augenblick, als sie das Kleid ihrer Mutter aus dem Sarg im Kellergewölbe des Hauses genommen und übergestreift hatte. Tausend winzige, ungeheuer scharfe und mit tückischen Widerhaken versehene Zähne schienen sich in ihre Haut gebohrt zu haben, überall dort, wo das Kleid die Haut bedeck te! »Hör auf.« schrie sie Harps zu. Sie selbst hatte beim ersten grellen Schmerz den Versuch eingestellt, ihren Büstenhalter auszuziehen. Etwas ging ihr wie ein Dolchstoß durch die Brust. Sie wußte nicht, wie es möglich war, aber was sie am Leib trug, wehrte sich plötzlich vehement gegen den Versuch, es abzulegen …!
* Brian Secada kämpfte indes gegen die Schatten, die vom nahenden Wahnsinn kündeten. Er wußte nicht, was passiert war. Er wußte nicht, wie lange er bereits durch dieses beklemmende Haus irrte, das aus einem Labyrinth von Gängen und Räumlichkei ten zu bestehen schien. Weit mehr Räume, als seine augenscheinli che Größe zuließ … Secada hatte an der Türattrappe hantiert und nichts anderes getan als etliche Male zuvor. Seine Hand hatte die erhabenen Stellen der Portalnachbildung abgetastet, während die andere eine Lampe hielt. Aber dann hatte dieser Sog ihn erfaßt. Sekunden (oder Stunden?) war er durch einen lichtlosen Tunnel wie durch ein enges Nadelöhr gezerrt worden, um schließlich irgendwo innerhalb der Mauern
wieder ausgespien zu werden. Seitdem bewegte er sich durch die Gänge, ohne eine Möglichkeit, das Gefängnis zu verlassen oder sich der Außenwelt bemerkbar zu machen. Zunächst hatte sein Wissensdurst die aufkeimende Panik noch kaschiert. Er war von Zimmer zu Zimmer gewandert. Die Räu me im Erdgeschoß hatten sich als kahl und leer herausgestellt; nir gends hatte er auch nur ein einziges Stück Mobiliar gefunden. Bald hatte er sich auf das obere Stockwerk konzentriert. Die Fens terattrappen erwiesen sich auch hier als undurchlässig für Ge räusche und Visuelles. Es war absolute Einsamkeit, die in jedem Winkel dieses unmöglichen Gebäudes nistete. Seine Erfahrungen in der PSI-Forschung halfen Secada keinen Schritt weiter. Dies hier hatte nichts mit PSI zu tun, was er aber zu spät erkannt hatte, und nun saß er in der Falle! Er hätte seinen Hintern nie aus dem Institut bewegen und dem Drängen der Polizeibehörde nachgeben sollen. Er hatte jämmerliche Angst. Daß die Taschenlampe noch funktionierte, erschien ihm im nach hinein wie ein absurder Witz. Was er in der Hand hielt, war in die ser Umgebung ein Anachronismus. Er selbst war ein Anachronis mus. Niemand hat dich gerufen! Secada zuckte zusammen. Seit einer Weile drängten Gedanken in sein Bewußtsein, die den Verdacht nährten, schizoid zu werden. Fremde Gedanken. Gehetzt blickte er sich um. Auch ohne Lampe wäre es nicht wirklich finster gewesen. Das Haus selbst strömte mattes Licht aus. Wie Atemdunst an kalten Ta gen. Das Licht kondensierte förmlich in der Luft. Manchmal ballte es
sich zu Nebel, und manchmal schien sich etwas in diesem Nebel zu bewegen … Überall roch es nach Zerfall. Als verwese irgendwo ein Gebirge aus Fleisch. Auf seinem Weg durch die Gänge hatte Secada glücklicherweise nichts dergleichen entdeckt. Alles war öde, leer, fremd und verlas sen, als wäre es vor Ewigkeiten aufgegeben und nie mehr bezogen worden. Dem Verfall preisgegeben. Aber irgendwoher mußte der Gestank kommen. Tapeten, deren einstiges Muster hinter Gilb verschwunden war, hingen wie geschlagene Wunden von den Wänden. Dahinter schim merte blutroter, nicht einmal glatter Fels, als würden Geschwüre darauf blühen. Unheilvolle Töne klangen durch das Gemäuer. Schleppend setzte der Parapsychologe seinen Weg fort. Er wünschte sich nicht einmal ein vertrautes Meßinstrument herbei, um dem Rätsel dieses Gebäudes auf den Grund zu gehen. Er wollte nur fort. Wieder hinaus zu den anderen. Wieder … Er erstarrte. Eine Sekunde lang krümmte sich der Korridor, in dem er gerade stand, wie das zuckende Gedärm eines Giganten. Es mußte eine Halluzination sein, denn Secada spürte keine Erschütterung. Als er blinzelte, verschwand das unheimliche Gefühl auch sofort wieder. Dafür prangte an einer der Wände ein Graffito, das Secada den Schweiß ins Gesicht trieb. Ich will dich, Brian! Dahinter wies ein Pfeil nach rechts. Er hob den Arm und biß in seine Faust, als könnte er den Schrei, der aus der Tiefe seiner Seele emporstieg, noch unterdrücken. Es
war zu spät. Zu lange hatte er das Entsetzen bezähmt, und jetzt merkte er kaum, daß er winselte und schrie und die Augen aufriß und dem Tränenfluß freien Lauf ließ. »Großer Gott, nein …!« Wieder krümmte sich der Gang. Der Richtungspfeil hinter seinem Namen verfärbte sich schwarz. Worauf wartest du? dachte etwas Fremdes in ihm. Geh! Folge dem Pfeil! Secada zitterte am ganzen Körper. Er wischte sich über das Ge sicht, und die Nässe schien auf seiner fieberheißen Hand regelrecht zu verdampfen. Er wußte nicht, was in ihn fuhr, als er sich in Bewe gung setzte. Nicht in die entgegengesetzte Richtung floh, sondern (wie befohlen?) dem Pfeil folgte. Der Korridor schien sich verkürzt zu haben. Hinter der Biegung wartete das nächste Graffito. Fick mich, Brian. Das war von brutaler Direktheit. Secada taumelte. Sein Magen ver formte sich zu einem kalten Klumpen. Er konnte weder den Blick von der Schrift nehmen noch aufhören, ihr zu folgen. Obwohl er ahnte, daß er geradewegs in sein Verderben lief.
* Warner blickte auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht. »Sollen sie anfangen?« fragte Needles. Er nickte ihm zu. Kurz darauf rückte der eilig organisierte Bautrupp heran. Ein lär
mender Kompressor sprang an. Polizisten zogen sich in respektvolle Entfernung zurück. Vielleicht aus Angst, ihre Uniformen könnten staubig werden. Vielleicht, weil ihre Instinkte funktionierten. Warner handelte in eigener Verantwortung. Spätestens seit er Licht hinter imaginären Fenstern gesehen hatte und der vermißte Parapsychologe nicht wieder aufgetaucht war, wußte er, daß ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen hatte. Er wußte nicht, was vorging. Aber das mußte auch nicht sein. Ihm genügte das Gefühl der Gefahr, von der er längst nicht mehr aus schloß, daß sie von diesem steinernen Kasten auf andere Bereiche Sydneys übergreifen konnte. Ein Arbeiter in Blaumann und Halbschalenhelm kreuzte vor ihm auf und fragte grinsend: »Haben Sie einen besonderen Wunsch, Sir, wo Sie in diesem Schildbürgerbau das Loch gern hätten?« Warner schüttelte mit verkniffener Miene den Kopf. Dann scheuchte er den Mann zu den Leuten zurück, die nur noch auf sein Signal warteten. Als Warner sich kurz umdrehte, stand Needles in einiger Entfer nung und diskutierte angeregt mit einer älteren Frau, die irgendwie klischeebehaftet aussah. Als wäre sie gerade mal kurz mit ihrem Hundchen Gassi gegangen und dabei ohne jede Absicht mitten ins Sperrgebiet geraten. Sie war nicht einmal richtig angezogen. Ein schäbiger Morgenrock flatterte um ihren dürren Körper. Die Füße steckten in abgetretenen Latschen. Warner zerquetschte einen Fluch zwischen den Zähnen. Die Welt war voll von spleenigen Leuten. Manchmal fiel es ihm extrem auf. Er wollte Needles etwas zurufen, doch in diesem Moment setzten zwei Mann die Spitze des Drucklufthammers an die Fassade und legten los. Das hieß, sie wollten loslegen.
Warner preßte gerade vorsorglich die Hände an die Ohren, um sie gegen den erwarteten infernalischen Lärm zu wappnen, als etwas vom Haus auf das schwere Gerät übersprang. Es gab eine heftige Entladung, die die an Ort und Stelle befindliche Kolonne meterweit durch die Luft schleuderte. Die Arbeiter schlugen brutal auf die Erde und wälzten sich schreiend. Der verwaiste Preßlufthammer lag neben dem Haus und glühte wie frisch aus einer funkensprühenden Esse gezogen. Der Kompressor war verstummt, als hätte jemand den Stecker gezogen, und doch wieder völlig anders, denn er war nicht gemächlich ausgetuckert, sondern schien von etwas radikal er stickt worden zu sein. »Needles …!« Von allen Seiten hasteten Gestalten herbei, um sich um die Ver letzten zu kümmern. Needles tauchte atemlos neben Warner auf. »Was war denn das?« »Woher soll ich das wissen? Der ›Experte‹ hockt schließlich da drin …« Warners Finger bohrte ein Loch in die Nachtluft. Er gab Needles einen Wink und stapfte in seiner Begleitung zu den ge schundenen Bauarbeitern, von denen sich die ersten bereits wieder aufrappelten. »Gott sei Dank«, rief jemand, »nichts Ernstes passiert. Nur das Werkzeug ist total hin! Das können wir weg-« Die Stimme verstummte, als sich das Haus hinter ihnen aufzubäu men schien. Gleich darauf war alles wieder normal. »Wer hat das noch gesehen?« Warner mußte brüllen, um das Stim mendurcheinander zu übertönen. Von überall kamen »Hier«-Rufe. Auch Needles meldete sich klein laut. »Dann war das wohl der letzte Beweis«, knurrte Warner.
»Wofür?« fragte sein Assistent. »Daß es hier nicht mit rechten Dingen zugeht.« »Und was schlußfolgern wir aus dieser Erkenntnis? Lassen wir jetzt einen Schamanen einfliegen?« »Wäre vielleicht nicht das Dümmste. Was wollte die Alte?« »Ihr Beagle ist entlaufen. Sie waren draußen spazieren, als ihn et was erschreckt haben muß. Er riß sich von der Leine los. Die Frau wohnt nur drei Häuser von hier …« Warner ballte die Fäuste. Er beherrschte sich leidlich. Wenn jede xbeliebige Tante durch die Sperren spazieren konnte, als wären sie nicht vorhanden, durften sie sich jetzt schon auf das Rauschen im morgigen Blätterwald freuen … »Hoffentlich scheißt ihr der Köter vor die eigene Haustür!« grollte er. Damit war das Thema erledigt. Zumindest für ihn. »Was jetzt?« fragte Needles mit besorgtem Blick auf die Verletz ten, die von eilig angerückter Ambulanz versorgt wurden. »Wie sieht unsere Strategie aus? Wollen wir weitere Blessuren riskieren? Soll ich einen Abrißbagger anfordern?« Warner zögerte. Er spähte zurück zum Haus, das immer noch un angetastet wie ein drohender Klotz in der Dunkelheit ruhte, und er spürte das altvertraute Gefühl des Schauderns. Dann sagte er zu Needles’ Überraschung: »Das sollen andere mit entscheiden. Mir wird die Sache zu heiß …« Er sagte nicht: »Ich habe Angst zu versagen.« Aber im Grunde war es so. »Und Secada?« fragte Needles. Warner zuckte die Achseln. Er wollte sich abwenden, als ihn der entsetzte Ausruf eines Arbeiters stoppte.
»He, was ist das? Was passiert mit meinen Fingernägeln …? Sie … sie fallen ab! Ich …«
* Harps ließ los. Lilith fauchte wie eine Raubkatze. Das ernüchterte ihn endgültig. Ärgerlich zischte er zurück: »Was soll das, du blöde Zicke?« Liliths Augen schienen ihn zu verschlingen. Erst jetzt besann sie sich ihrer hypnotischen Begabung. Zuvor hatte der unbekannte Schmerz das logische Denkvermögen getrübt. »Halt den Mund«, stellte sie Harps kalt. »Schlaf eine Runde!« Sie wies dominant neben sich auf das Bett. Harps legte sich ohne Widerwort hin und schloß die Augen. Lilith spürte keinerlei Zufriedenheit. Vorsichtig tasteten ihre Fin ger über die schwarzen Dessous, in die sich das Kleid ihrer Mutter auf einen Befehl hin gehorsam verwandelt hatte, ehe sie nach der Er kundung der Wohnung zu Harps zurückgekehrt war. Sie hatte zu wissen geglaubt, welche besondere Bewandtnis es mit dieser Hinterlassenschaft hatte: Das Kleid nahm jede von Lilith ge wünschte Form an, vermochte sich sogar in einen Gürtel oder ähnli ches zu verwandeln – obwohl, ganz so simpel war es nicht. Lilith hatte bereits festgestellt, daß das ungewöhnliche Erbstück nicht vor behaltlos jeden Wunsch berücksichtigte. Es gehorchte keineswegs immer prompt, sondern setzte auch mal seinen »eigenen Kopf« durch. Lilith hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich eingehender damit zu befassen. Seit sie von ihrer »Bestimmung« erfahren und das Haus in der Paddington Street verlassen hatte, waren auch erst wenige
Stunden vergangen. Die Eindrücke waren noch zu frisch und zu zahlreich, um sie alle richtig einzuordnen. Ihre Mutter hatte das Kleid »ihr teuerstes Vermächtnis« genannt. Die Worte hatten sich in Lilith verankert, und auch andere Sätze drängten nun, angesichts des gerade Erlebten, mit Macht an die Oberfläche: »Behalte das Kleid – dir bleibt ohnehin keine Wahl mehr … Der Preis, es zu tragen, ist hoch. Aber der Lohn ist höher!« Was hatte sie damit gemeint? Warum sollte ihr keine Wahl mehr bleiben? Körperwarm und angenehm lag der Stoff auf ihrer Haut. Liliths Finger spielten daran, und je länger sie nachdachte, desto wahr scheinlicher erschien es ihr, daß sie die quälenden Schmerzen falsch interpretiert hatte. Irgend etwas hatte sie gepeinigt – nicht das, was sie an sich trug! Zufällig war das Einsetzen der Schmerzen mit dem Bemühen, sich aus der reizvollen Unterwäsche zu schälen, zusammengetroffen … Lilith wußte, daß sie nicht darum herumkam, einen Versuch zu unternehmen, der ihre These bestätigte. Vorher probierte sie, ob der geheimnisvolle Stoff noch auf ihre Wünsche reagierte. Sie hatte kei nen Grund, daran zu zweifeln, aber sie wollte Gewißheit. Sie stellte sich das Kleid so vor, wie sie es zuerst erblickt hatte: ein gewagt ge schnittenes, karminrotes Kleid, das sich beim Anziehen wie ein küh ler Hauch um ihre Figur geschmiegt hatte. Hauteng und paßgenau, auch wenn es nur bis knapp unter die Pobacken reichte … Sie hatte den Wunsch kaum zu Ende formuliert, als das Kleid die Dessous verdrängte. Lilith atmete auf. Es funktioniert noch, dachte sie erleichtert. Alles nur Hirngespinste. Der Schmerz hatte eine andere Ursache … Sie umfaßte den Saum und zog den Stoff nach oben.
Es sollte eine schnelle, glatte Bewegung werden, aber daraus wur de nichts. Tausend winzige, scharfe, mit Widerborsten versehene Zähne bissen in ihr Fleisch... Lilith schrie qualvoll. Schübe – einer schlimmer als der andere – durchzuckten ihren Körper überall dort, wo das Kleid anlag. Lilith spreizte reflexartig die Finger und ließ den Saum los. Der Schmerz verging. Sie wollte es immer noch nicht wahrhaben, daß ihre Mutter ihr ein solches Danaergeschenk hinterlassen hatte. »Behalte das Kleid – dir bleibt ohnehin keine Wahl mehr...« »Sie kann nicht so … grausam sein«, stammelte Lilith. Voller Ab scheu starrte sie auf das rote Kleid, das sie wieder kühl umfing, als sei nichts geschehen. Sie brauchte fast eine Stunde, um sich wieder so weit zu fangen, daß sie Harps aus seiner Hypnose entlassen und das unterbrochene Spiel, das längst purer Notwendigkeit gewichen war, fortsetzen konnte. Sie sorgte dafür, daß ihr Liebhaber sich nicht weiter an dem Stoff störte. Sie selbst vermochte die Gedanken daran nicht völlig auszublen den. Es kostete sie ihren Spaß …
* Es waren Wegweiser des Verderbens. Brian Secada versuchte sich gegen den Zwang aufzulehnen, den
obszönen Schriften immer tiefer in das Haus zu folgen. Er konnte schon nicht mehr unterscheiden, wo er sich bewegte, im Erdgeschoß oder der darüberliegenden Etage. Er war verwirrt, wie noch nie zu vor in seinem Leben. Die Graffiti an den Wänden wechselten alle paar Schritte. Dazu kam die fremde, in seinem Schädel wispernde Stimme, und inzwischen wußte er nicht mehr, was mehr Entsetzen auslöste. Ich will deinen Schwanz, Brian! Er faßte sich an die Kehle. Umschloß sie mit beiden Händen, als wollte er sich selbst erdrosseln. Er hatte fast vergessen, wer er war. Der Aufenthalt in diesem Labyrinth höhlte ihn aus. Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Die einzige Rettung, das wurde ihm bewußt, lag außerhalb dieses Gebäudes! Hier lauerte Gefahr. Eine so unermeßliche Gefahr, daß sie nicht in Worte zu kleiden war. ETWAS lauerte hier auf ihn. Es rief ihn zu sich, lockte und umgarnte ihn. Sirenenhaft. Und er konnte nicht widerstehen. Er tappte weiter in die Richtung, die ihm die Pfeile wiesen. Er hatte jedes Zeitgefühl eingebüßt. Er wußte nicht, ob er seit Stunden oder Tagen durch die Gänge taumelte. Es war wie in einem dieser gräßlichen Träume, wenn man auf der Flucht vor etwas immer langsamer vorankam, wie durch zä hen Schleim watete und – wenn die Verfolger einen einholten – ir gendwann in Schweiß gebadet, aber unendlich erleichtert erwachte … Wenn es so einfach gewesen wäre! Secada wußte, daß ein Erwachen nicht vorgesehen war.
Er ahnte, daß er dieses Abenteuer, das harmlos begonnen hatte, nicht überleben würde. ETWAS war dagegen. Aber was? Das nächste Graffito brachte sein trommelndes Herz kurz zum Aussetzen. Es bestand nur aus einem einzigen Wort, und diesmal befand sich kein Pfeil dahinter. Seine schlichte Botschaft lautete: ENDLICH! Die daneben befindliche Tür schwang auf, ohne daß Secada Hand anlegte. »Worauf wartest du?« fragte eine zärtliche Stimme aus dem Raum dahinter; Secada spürte immer noch die Fäden, die ihn hinderten, kehrtzumachen und sein Heil in der Flucht zu suchen. Mit hämmerndem Puls übertrat er die Schwelle. Er rechnete mit nichts Konkretem. Nicht einmal damit, daß unbedingt etwas in dem Raum auf ihn wartete. Die Stimme konnte ebenso Täuschung sein wie so vieles, was er auf dem Weg hierher wahrgenommen hatte. Das Zimmer war so verfallen wie alles, was er gesehen hatte. Ta peten hingen haltlos an schimmelgrünen Wänden. Am Boden häufte sich Unrat, von der Decke gebröckelter Putz, Haarbüschel irgend welcher Tiere … Aber das alles schrumpfte zur Bedeutungslosigkeit, als Secada das Weib sah. Erstaunlicherweise verband er sofort den Begriff »Weib« mit ihr, obwohl es sich um eine bildhübsche, leicht mollige Frau handelte. Sie war brünett (Secadas Lieblingshaarfarbe), blauäugig (Secadas Lieblingsaugenfarbe) und entsprach auch sonst bis ins letzte Detail der Traumfrau, deren Phantombild Secada seit Jahr und Tag in der Mördergrube seines Herzens spazierentrug, ohne ihr bisher leibhaf
tig zu begegnen. Bis heute. Bis zu diesem Moment und an einem Ort, der sämtliche Alarmglo cken in ihm zum Klingeln hätte bringen müssen … »Ich bin so wirklich wie du«, behauptete die Mollige, als könnte sie seine geheimsten Gedanken erraten. Sie trug ein geschnürtes, miederartiges Bustier, von dem die großen Brüste nur mühsam zu sammengehalten wurden. Der kurze Rock und die hochhackigen Pumps harmonierten farblich perfekt miteinander. Vielleicht trug sie eine Idee zuviel Make-up – aber Brian Secada betrieb in diesem Mo ment keine Haarspaltereien. »Das glaube ich nicht!« krächzte er nur. Er hatte das Gefühl, sich bis zu einem bestimmten Punkt wieder frei bewegen zu können. Aber er machte keinen Gebrauch davon. Angst und etwas, das er sich noch nicht ehrlich eingestand, lähmten ihn. »Du kannst mir glauben.« Sie hatte eine freundliche Stimme. Eine Stimme, die er sich bei seinen enttäuschend verlaufenen Frau enbekanntschaften immer gewünscht hatte. Secada war das, was man einen »eingefleischten Junggesellen« nannte oder, in der modernen Variante, einen »Single«. Aber wie auch immer man es bezeichnete, er war es weiß Gott nicht gern. Er konnte sich etwas Anregenderes vorstellen, als einsame Abende in einer einsamen Wohnung zu verbringen. Er war kein Frauentyp. Jahrelang hatte er sich dafür konditioniert, selbst zu glauben, daß ihm das nichts ausmache. Doch all die sorgsam ausgetüftelten Selbstbetrügereien verpufften in Gegenwart dieses … Weibes! »Du kannst mir glauben«, wiederholte sie.
Er wollte ihr glauben. Sie lächelte, als wüßte sie, daß sein Widerstand schmolz. »Du kannst hierbleiben«, redete sie weiter. »Wenn du willst, für immer. Du wirst es nie bereuen.« Er lachte heiser. Sein Verstand streikte, wenn er sich eine Zukunft hier in diesem Alptraumhaus vorstellen sollte. Mochte die Verlo ckung, oberflächlich betrachtet, noch so groß sein … Sie ließ die Hüllen fallen. Secada schluckte. Mit einem schnellen Griff hatte sie die Schlaufen gelöst. Das ge schnürte Bustier platzte förmlich auseinander. Pralles Fleisch verließ die Enge. Der Rock, unter dem sie nichts weiter trug, folgte. Nur die Schuhe mit den hohen Absätzen behielt sie an. Secada stöhnte dumpf. Seine Lippen standen halb offen, und er merkte gar nicht, daß Speichel unkontrolliert den Mund verließ. In seiner Hose regte sich etwas, und das letzte Gramm Vernunft, das ihm geblieben war, verstand nicht, warum sein Körper ihm das antat. In solcher Umgebung. Inmitten von Moder und Dreck und Fäulnis. In diesem … Pfuhl! »Komm her«, lockte das Weib. »Komm doch …!« Er kam.
* Harps hechelte über ihr. Lilith sah ein, daß es mit ihm nichts mehr werden würde. Sie beendete die Sache, bevor er seine Sache beendet
hatte. Es war eine völlig neue Erfahrung für sie, daß es Situationen gab, in denen selbst Sex schal wurde, wenn er nur phantasielos ab gespult wurde. Harps trug daran nicht einmal die alleinige Schuld. Er mühte sich redlich, doch Lilith war nicht bei der Sache. Ein Teil von ihr grübelte unentwegt über die Gründe, warum ihre – inzwi schen tote – Mutter sie dazu verführt hatte, ein solches Erbe anzu nehmen. Liliths Augen glommen auf, ehe sie den Kopf hochschnellte, den Rachen aufriß und die blitzschnell wachsenden Eckzähne in die Schlagader des Mannes grub. In den Lebensquell. Kein Laut trat über Harps’ Lippen. Aber sein Mund öffnete sich gespenstisch wie bei einem Fisch, den es an Land geschleudert hatte. Sekunden später war alles vorbei. Sie nahm sich nur so viel, um das dringendste Verlangen zu stillen. Lilith löste sich von der schwankenden Unterlage und stand auf. Sie wartete minutenlang, um zu kontrollieren, ob sich die Bißmale am Hals des Mannes ebenso wundersam schlossen, wie sie es schon einmal – bei Nick, dem Taxifahrer – beobachtet hatte. Als es eintrat, beruhigte es ihr Gewissen. Sie wollte nicht töten. Nicht ohne Not. Und nichts, was nicht schon tot war. Leroy Harps schlief. Wenn er erwachte, wollte Lilith weg sein, und er würde sich an nichts mehr erinnern können. Lilith wollte nicht noch einmal denselben Fehler wie bei Nick begehen, der die Polizei zum Haus in der Paddington Street geführt hatte. Das Haus Paddington Street, 333 … Inzwischen war sie überzeugt, es zu voreilig verlassen zu haben. Zu viele Rätsel harrten noch einer Lösung, und wo, wenn nicht dort, hätte sie Antworten erhalten können?
Lilith beschloß, keine Zeit mehr zu verlieren. Sie säuberte ihr Ge sicht, dann überließ sie Leroy Harps sich selbst. Und dem Bösen.
* Needles lehnte sich bleich gegen die Wand des Einsatzwagens. Das Geräusch, mit dem er den leeren Plastikbecher zermalmte, erschüt terte die Stille, die sich wie eine Glocke über dieses Planquadrat ge senkt hatte, nachdem die Ambulanzfahrzeuge heulend in der Nacht verschwunden waren. »Ich quittiere meinen Dienst, wenn das so weitergeht!« Warner nippte an seinem brühheißen Kaffee, den ein aufmerksa mer Polizeihelfer verteilt hatte. »Was macht dich so fertig?« fragte er. »Daß ihnen die Nägel und Zähne ausfielen? Scheiße, ich kann dir auch nicht sagen, wieso!« »Einige bekamen graue Haare, von einer Sekunde zur nächsten …« »Kämmen hätte fatale Folgen«, bestätigte Warner. »Ich sah einen, der sich nur mal eben durch den Schopf fuhr – und ganze Büschel in den Fingern hielt …« Ihm war kühl trotz des heißen Getränks, das nicht das Grauen verjagen konnte. Seit heute wußte er erst, was Grauen bedeutete. Auch sein mitunter recht vorlauter Assistent wußte es und war merklich in sich gekehrter geworden. Aber sie beide wußten nicht, wie es weitergehen sollte. Warner hatte mit der Zentrale gesprochen und erfahren, daß Al Weinberg, der Bürgermeister von Sydney, beim Polizeichef ange fragt hatte, »was, zum Henker, in seiner Stadt vorgehe«. Virgil Codd
hatte nichts Besseres zu erwidern gewußt, als daß alles unter Kon trolle sei. Das übliche Geschwätz. Jetzt wollte Codd Warner bei sich sehen. Warner hatte zu allem anderen mehr Lust, aber er wußte, daß jede verstreichende Minute das Unvermeidliche nur verschlimmern würde. »Hältst du hier die Stellung?« fragte er Needles. Needles nickte, ohne ihn anzusehen. Warner hatte Magenschmerzen, als er sich in den Wagen setzte und an den Sperren vorbei zum Präsidium kurvte. Unterwegs erreichte ihn ein Anruf von Grunge. Der Leiter der Baubehörde schien Wort gehalten und sich statt ins Bett ins Büro verzogen zu haben. Nun behauptete er, auf erste interessante Details gestoßen zu sein. »Schießen Sie los«, ermunterte ihn Warner, der sich in Gedanken schon ein paar Worte für seinen Vorgesetzten zurechtlegte. »Es ist besser, Sie kommen vorbei.« Grunge klang weder schläfrig noch schlafmützig. »Einiges läßt sich nicht am Telefon erklären.« Warner sagte zu, vertröstete ihn aber auf ein Ungewisses Später. Erst mußte er Virgil Codd überstehen. Der »oberste Bulle« der Stadt war eine stadtbekannte »Diva« mit unberechenbaren Launen. Im Hauptquartier herrschte nachts dasselbe Gewusel wie bei Tag. Sydney gehörte mit seiner Millionenbevölkerung und einem im mensen Anteil ausländischer Touristen zu einem der Down-underSchmelztiegel, auch wenn die Metropole sich viel sauberer heraus geputzt hatte als beispielsweise eine amerikanische City dieser Grö ße. Der Kontrast niedriger, aus der Vergangenheit herübergeretteter Häuser und wolkenkratzender Giganten war hier jedoch ähnlich kraß wie in Manhattan.
Was »hinter den Kulissen« lief, wußte keiner. Sydney hatte sich einen Namen als Umschlagplatz und Zwischenstation asiatischer Rauschgiftringe gemacht. Die Wirtschaftskriminalität blühte. Mit beidem hatte Jeff Warner nichts zu tun. Sein Aufgabenbereich war nie klar definiert worden, weder von Codd noch von dessen Vor gänger. Das hatte Vor- und Nachteile. Der Vorteil war, daß Warner sein Arbeitsfeld recht frei interpretieren konnte. Als nachteilig er wies sich jedoch häufig, wenn seine Vorgesetzten sein Engagement in gewissen Fällen nicht guthießen und die Angelegenheiten kurzer hand als »außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches« postulierten. So geschehen bei der Serie von gewaltsam zu Tode Gekommenen, die als wiederkehrendes Merkmal alle das Genick gebrochen hatten, alle verstümmelt und alle verblutet waren. Codd hatte absolutes Presseverbot erteilt, aber offenbar war zu mindest zu Macbeth etwas durchgesickert, was Jeff Warner nicht einmal so ungern sah. Vielleicht wachte man in Polizeikreisen end lich auf, sobald die Medien sich an den Spekulationen beteiligten. Dann konnte er seine Recherchen vielleicht doch fortsetzen. Warner war ein erdverbundener Typ – Häuser, die Attrappen statt echter Türen und Fenster besaßen, lagen ihm nicht. Codd sah das anders, sonst hätte er ihn wohl nicht dorthin beor dert. Aber Codd sah vieles sehr viel anders als andere … »Setzen Sie sich!« forderte der gewichtige Mann Warner auf, als er am leeren Stuhl der Vorzimmerdame vorbei ins Büro des Polizei chefs marschiert war. Codds Sekretärin schien noch in Morpheus’ Armen zu schlummern. Ob Codd eine Nachtschicht eingelegt hatte oder im Zuge der Ereignisse hierher gefunden hatte, war nicht von Belang. Er war jedenfalls hier. Virgil Codd thronte hinter einem Tisch, wie es keinen zweiten im ganzen Hauptquartier, vermutlich in ganz Sydney, gab. Der Tisch war aus uraltem Holz getischlert und schützte Codd wie ein unein
nehmbarer Wall. Die Lampe darauf warf eine kleine Lichtinsel auf den Besucherstuhl davor. Codd selbst saß im Schatten. Eine andere Lampe brannte nicht. Durch die Fenster hatte man einen grandiosen Blick auf die nächtlich illuminierte Hafengegend, wo girlandenge schmückte Schiffe aus aller Herren Länder ankerten. Warner fragte sich, wie viele »arme Sünder« in diesem Raum schon ihren Abschied genommen hatten. Codd war berüchtigt, daß er Beamte schon wegen vergleichsweise geringfügiger Dienstverge hen aus dem Job katapultierte. Ihn juckte nicht, ob ein Mann oder eine Frau zu Hause Familie hatte oder nicht. Er war das, was man einen »harten Hund« nannte. Am schlimmsten war jedoch seine ab solute Unberechenbarkeit, denn er konnte manchmal auch charmant wie eine Gottesanbeterin sein. Warner rechnete deshalb mit allem und nichts. Wenn Codd ihn feuern wollte, okay. Wenn nicht, auch okay. »Ich hatte Sie gewarnt«, sagte der Polizeichef gewohnt leise. Codd war kein Choleriker. Sein Terror war subtiler. Er zwang Leute, ihm zuzuhören, gerade weil er sehr leise redete. »Sie sollten die Finger von Ihrer sogenannten ›Serie‹ lassen … Jetzt bekomme ich einen Be richt von Hendriks auf den Tisch, der von Ihnen abgezeichnet ist. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Ich war gerade in der Nähe. Der Friedhof liegt in meinem Dis trikt. Der Tote wies dieselben Merkmale auf wie vier andere, die ich zu Gesicht bekam, seit ich ein Auge darauf habe.« Obwohl Warner Codd nicht deutlich genug sah, vermutete er, daß er ihn fast ausdruckslos anstarrte, als er echote: »Sie waren gerade in der Nähe …« Warner nickte. »Haben Sie vergessen, was wir vereinbart hatten?« fragte Codd
nach schweigsamen Sekunden. Warner schüttelte den Kopf. »Nein. Aber da ich schon mal dort war …« In unerwartet kooperativem Ton sagte Codd: »Also gut, dann er zählen Sie mir noch einmal, welche Theorie genau Sie mit den fünf Toten verknüpfen. Vielleicht tue ich Ihnen ja unrecht, und es hört sich ganz vernünftig an …« Warner sah überrascht zu ihm auf. Er hatte den Blick auf das Cha os gerichtet gehabt, das Codds Schreibtisch auszeichnete. Nun such te er das Gesicht hinter der Lampe. »Ich dachte eigentlich, Sie hätten mich wegen der Paddington-Street-Sache kommen lassen. Was dort passiert –« »Wir werden auch darüber reden«, beschwichtigte Codd. »Also …?« Warner öffnete den Mund, holte Luft – und atmete wieder aus. »Ich habe keine fertige Theorie, wenn Sie das meinen. Ich hatte ja auch noch keine Gelegenheit, mich richtig hineinzuwühlen. Alle meine Eingaben wurden bisher im Ansatz abgeblockt … Ich bin le diglich davon überzeugt, es in allen vier Fällen mit demselben Tat muster zu tun zu haben.« »Ein Täter?« Warner nickte. »Ich habe alle Protokolle gesichtet«, sagte Codd. »Die Überein stimmungen, von denen Sie immer wieder sprachen, überzeugen mich nicht sehr. Allein der Bruch des Halswirbels ist immer wieder kehrende Diagnose.« »Die Verstümmelungen –« »– sind Auslegungssache. Wenn ich richtig gelesen habe, war in drei Gutachten sogar davon die Rede, daß die Opfer an wilde Tiere geraten sein könnten. Es wurden Spuren von Zähnen festgestellt. In
einem Fall wurde die Kehle eindeutig durchgebissen …« »Ich weiß«, sagte Warner. »Das alles macht es nur mysteriöser. Eine Expertise spricht sogar von den Spuren eines Wolfsgebisses. Ich habe mit Hendriks gesprochen. Er untersuchte alle Toten, von denen wir sprechen, und er teilt meine Ansicht, daß es sich um kei ne Zufallsübereinstimmungen handelt.« »Ein Tier käme nicht in Frage?« »Im letzten Fall mit Sicherheit nicht. Der Tote wurde in eine halb fertige Grube geworfen und anschließend dünn mit Sand zugedeckt … Nennen Sie mir ein Tier, das so verfahren würde. Ich kenne keins.« »Das ist ein Fall.« Codd blieb ruhig. »Bei den vier anderen Opfern war es anders. Sie wurden einfach irgendwo gefunden. Ich sehe beim besten Willen keine Übereinstimmung, die auf Ihren Serienkiller hinweisen würde. Ein Mensch, der so etwas tut, müßte ein abartiger Psychopath sein. Bei einem Tier wäre es anders …« »Ich habe jeden Zoo der Stadt befragt. Niemand vermißt ein Tier, das dafür in Frage käme.« »Manche Parks verdecken so etwas gern. Wenn etwas passiert, macht man sie regreßpflichtig. Das wissen Sie so gut wie ich.« Warner hatte nicht erwartet, daß Codd wirklich ernsthaft an seiner Meinung interessiert war. Deshalb hielt sich seine Enttäuschung in Grenzen. Als Codd scheinbar einlenkte, nahm er es kaum zur Kenntnis. »Um Ihnen zu zeigen, daß ich Ihre Initiative schätze, habe ich Stil ler dazu abkommandiert, der Sache nachzugehen. Wenn er zum sel ben Schluß kommt wie Sie, könnten wir weitere Schritte in Erwä gung ziehen. Bis dahin …« »Ich wußte gar nicht, daß Stiller wieder da ist. Ich dachte, er sei wegen seiner Probleme noch beurlaubt.«
»Er hatte eine kleine Krise. Sie ist behoben. Das kann jedem einmal passieren. Stiller ist wieder obenauf. Ich habe mich persönlich davon überzeugt.« Warner sah ein, daß es keinen Zweck hatte, weiter darauf herum zureiten. Niemand – außer Codd vermutlich – wußte sicher, warum Stiller monatelang in ein Sanatorium verschwunden war. Das Gere de über Alkoholprobleme mochte stimmen oder nicht. »Ich hatte mich um die Erlaubnis bemüht, Zugang zum Haupt computer zu bekommen, damit er mir ähnliche Todesfälle in ande ren Distrikten, möglichst im ganzen Territorium, liefern könnte. Es wurde mir immer verweigert. Warum?« »Weil ich nicht will, daß Sie sich verzetteln und in etwas verren nen. Sie sind ein guter Mann. Ich brauche Sie an anderen Stellen dringender. Womit wir beim Thema wären: Was geht vor in Pad dington dreihundertdreiunddreißig?« Warner schob Frust. Er leierte das Ungeheuerliche herunter, als ginge es um eine Lappalie. Daß es in Wirklichkeit eine Sensation war, wußte niemand besser als er. Codd wußte bereits, daß Brian Se cada vermißt wurde. Er hörte sich auch den mißglückten Versuch an, gewaltsam in das Haus zu gelangen. Als er sich die Verletzun gen des Bautrupps noch einmal ausführlich schildern ließ, zeigte er sich beeindruckt. »Klingt wie eine LSD-Phantasie«, sagte er schließlieh. Ehe Warner es persönlich nehmen konnte, fügte er hinzu: »Daß es keine ist, macht es nicht einfacher. Ich werde mich darum kümmern. In einer Stunde habe ich ein Gespräch mit dem Bürgermeister. Ihnen gebe ich den dienstlichen Befehl, sich ein paar Stunden aufs Ohr zu legen. Ich brauche Sie ausgeschlafen, sobald wir eine Entscheidung über den Fortgang gefällt haben. Haben wir uns verstanden?« Warner nickte und erhob sich. Das Gespräch war überflüssig ge
wesen. Er hoffte, daß Grunge mehr zu bieten hatte. Virgil Codd wartete, bis Warners Schritte auf dem Flur verklan gen. Dann hob er den Hörer ab und schaltete das Licht aus. Mühelos fanden seine Finger die Zahlentastatur im Dunkeln …
* Als Leroy Harps zu sich kam, fror er. Er roch seine eigene Fahne und lauschte angewidert in sich, um herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, daß er sich so hatte gehenlassen. Sein Schädel brummte. Als er sich etwas abrupt aufrichtete, tanz ten schwarze Nebel vor den Augen. Der Spiegel über dem Bett kannte kein Mitleid – er warf ihn ge nauso ausgespuckt zurück, wie er tatsächlich aussah. Nur das ge dämpfte Licht war etwas gnädiger. Harps rieb sich über den verspannten Nacken. Wieso war er splitterfasernackt, wenn er sich einen solchen Affen angesoffen hatte, daß ihm jede Erinnerung fehlte? Seit wann hatte man im Delirium Muße, sich zu entkleiden und ins Bett zu legen …? Der Boden schien leicht unter ihm zu schwanken, als er sich end gültig vom Bett löste und ein paar Probeschritte machte. Es ging. Er war trotzdem fassungslos. Natürlich trank er hin und wieder einen Schluck. Bisher hatte er aber meist gewußt, wann er aufhören mußte, und daß ein richtiges Loch in seinem Gedächtnis klaffte, hatte er noch nie erlebt! Harps wußte, daß es nicht gut war, die Kontrolle zu verlieren. Ge rade in seinem Metier.
Er wechselte ins Bad und kroch fast kläglich unter die Dusche. Seitliche Massagedüsen brachten ihn in minutenlanger Schwerstar beit wieder einigermaßen auf Trab. Obwohl die scharf gebündelten Strahlen mit der Zeit weh taten, hörte Harps erst auf, als er wieder klare Gedanken fassen konnte. Er erinnerte sich, daß er mit Corman verabredet gewesen war, um über das nächste Hardcore-Projekt zu verhandeln. Ob es zu einem Treffen gekommen und dieses dann ausgeartet war, konnte er je doch nicht mit Bestimmtheit sagen … Harps verließ die Dusche und frottierte sich gedankenverloren ab. Nachdem er sich gekämmt und etwas Aftershave gegönnt hatte, meinten die Spiegel es schon ein wenig schonender mit ihm. Harps forschte nach dem Verbleib seiner Kleider. Er fand sie im Wohnzimmer. Sie lagen über den Teppich verstreut. Kopfschüttelnd sammelte er sie ein und stopfte das ganze Bündel in den Wäschekorb. Dann kehrte er ins Schlafzimmer zurück, um sich mit frischer Kleidung auszustatten. Diesmal entging ihm das hohe, singende Geräusch nicht. Dafür war es zu vertraut. Noch während er das Hemd in die Hosen stopfte und den Bund schloß, trat Harps an die Wand, hinter der sein privates Spielzeug verborgen war. Er öffnete die Tarnklappe und stellte fest, daß er sich nicht getäuscht hatte. Die Kamera war eingeschaltet. Er mußte ver sehentlich an den Steuerknopf gekommen sein. Die Kassette war bis zum Ende gelaufen. Das hohe Fiepen, das die Kamera im Betriebs zustand erzeugte, war für Außenstehende nicht einzuordnen. Harps lächelte etwas müde. Keines der Mädchen, das er jemals ab geschleppt und durchgetestet hatte, ahnte etwas von seinem ganz persönlichen »Archiv«. Er besaß einen ganzen Schrank voll mit Vi deos, die ihn in voller Aktion mit wechselnden Partnerinnen zeig
ten. Bei einigen hatte er etwas nachhelfen müssen, damit sie ihre Hemmungen ablegten. Bei anderen hatte es genügt, ihnen eine steile Filmkarriere vorherzusagen. Harps hatte keine Skrupel, solche Drohungen wahr zu machen. Daß er nur Hardcore drehte, verschwieg er seinen Auserwählten bis zuletzt. Dennoch hatte er eine beachtliche Erfolgsquote. Die Ho norare, die er für willige Aktricen zahlte, dämpften den ersten Schock meist ziemlich nachhaltig. So manches »echte Talent« war Harps bei diesen Gelegenheiten schon ins Netz gegangen, und eini ge von ihnen hatten in bescheidenem Maß sogar Karriere innerhalb der Branche gemacht. Noch während er vor der Wandöffnung stand, kam ihm eine Idee. Eine simple Idee, wie er die Blockade in seinem Hirn vielleicht doch überlisten und die verlorenen Stunden rekonstruieren konnte. Schnell spulte er das Band zurück, nahm es aus der Kamera und schob es in den Recorder, der sich hinter einer der Schranktüren be fand. Der Monitor war damit gekoppelt und begann sofort zu flimmern. Es dauerte Sekunden, bis das Wasserbett in der Totalen auftauch te. Harps lehnte sich gegen die Wand und wartete darauf, sich auf tauchen zu sehen. Allzuviel erwartete er nicht, aber einen Versuch schien es ihm wert. Vielleicht bedurfte es nur eines kleinen Ansto ßes, die verschüttete Erinnerung hochzusehwemmen … Als er seine Stimme vernahm, konzentrierte er sich stärker auf das Viereck der Mattscheibe. Verblüfft hörte er sich selbst zu – und einer anderen, extrem ver zerrten Stimme, der etwas Unheimliches anhaftete. Angespannt wartete er darauf, daß endlich etwas Bewegtes in den Erfassungsbereich des Objektivs geriet, nicht nur die starre Wieder
gabe des Bettes. Er mußte sich nicht lange gedulden. Aber noch vor ihm huschte etwas Unerwartetes ins Bild. Etwas … Verzerrtes, Sche menhaftes. Eine Frau. Aber so verschwommen, daß ein Schatten theater mehr Details verriet. Harps stieß sich von der Wand ab und ging mechanisch näher an den Monitor heran. Als er davor niederkniete, tauchte er selbst auf dem Bildschirm auf. Nackt und erstaunlich lebensecht. Die Frau, die sich mittlerweile auf dem Bett ausgestreckt hatte, blieb auch jetzt schemenhaft, obwohl Harps’ eigener Körper normal abgebildet wurde. Er ging so nahe, daß er sich fast die Nase am Glas plattdrückte. Es änderte nichts. Ab und zu wiederholten sich die unheimlichen Laute, die dem Schemen zuzuordnen waren. Aus dem wenigen, was er selbst auf dem Band sagte, entnahm Harps, daß er einen ziemlich scharfen Zahn abgeschleppt hatte. Daß die Süße sich energisch jeder opti schen Erfassung entzog, hatte er noch nie erlebt. Zumal es sich um keinen technischen Defekt handeln konnte, sonst wäre nicht alles andere einwandfrei aufgenommen worden! Harps spürte, wie seine Gedanken ins Rotieren gerieten. Schweiß sammelte sich auf den Innenflächen seiner Hände. Beklommen wich er vor dem Monitor zurück und setzte sich auf den Boden. Als er sich im Film plötzlich wie ein willenloses Geschöpf benahm, begann sein Herz wie rasend zu klopfen. Minutenlang stand er reglos neben dem Bett, während der Sche men sich auf den Rand der Matratze setzte und sich ebenfalls kaum rührte. Dann sagte der Schatten etwas, das einem gurgelnden Gully geräusch ähnelte, worauf Harps sich auf den Schatten legte und typi sche Bewegungen einleitete. Plötzlich bäumte sich die verschwom
mene Frauengestalt unter ihm auf und verdeckte mit ihrer Kopfpar tie seinen Hals. Was genau geschah, konnte Harps nicht erkennen, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht, das genau in die Kamera starrte, lehrte ihn kaltes Entsetzen. Er stöhnte leise auf. Im Film war er stumm wie ein … Opferlamm? In diesem Moment schellte es an der Wohnungstür. Leroy Harps löste sich nur allzu bereitwillig aus dem Bann des Absurden. Beim Aufstehen wurde ihm wieder schwarz vor Augen, aber das ging vorbei. Mit weichen Knien durchmaß er die Woh nung. Ein flüchtiger Blick durch das Spionauge zeigte ihm Cormans Nar bengesicht. Fast erleichtert machte Harps ihm die Tür auf. »Sid, ich –« Erst jetzt sah er, daß der bodygestählte Star etlicher Fleischbe schauen nicht allein war. Er, der Hüne, zappelte im Genickgriff ei nes unscheinbaren älteren Herrn und flehte Harps an: »Kennst du den Typen? Wenn ja, sag ihm, er soll aufhören! Bitte! Rede mit ihm! Er bricht mir gleich den Hals …!«
* Die Nacht prickelte wie Sekt auf ihrer Haut. Trotz des enttäuschenden Erlebnisses mit Harps bildete sich schon wieder neue Begierde in Lilith, als hätte sie keine, absolut gar keine Lehren daraus gezogen. Sie atmete durch. Die Abwesenheit des Sonnenlichts tat ihr gut, obwohl sich die Kopfschmerzen zuletzt auch bei Tag nicht mehr so heftig bemerkbar gemacht hatten. Ursprünglich hatte sie angenom
men, die Beschwerden hingen damit zusammen, daß sie eine Halb vampirin war. Seit einer Vision wußte sie aber, daß ihre Mutter sich auch bei Tag uneingeschränkt im Freien hatte aufhalten können, ob wohl sie eine reinblütige Vampirin gewesen war. Deshalb tendierte Lilith inzwischen eher dazu, die migräneartigen Schmerzen mit ihrer langen Isolation in Verbindung zu bringen. Es dauerte einfach, sich an die Wirklichkeit zu gewöhnen. Warum dann aber jene Gestalt, die sich Hadrum genannt und es auf ihr Blut abgesehen hatte, im Licht der aufgehenden Sonne aufs schrecklichste getötet worden war, blieb vorerst eines von vielen un gelösten Rätseln.* Sie legte die Strecke zur Adresse 333, Paddington Street, zu Fuß zurück und benötigte dafür mehrere Stunden, ohne zu ermüden. Sie hätte problemlos eines der vielen Taxis der Cab-Gesellschaften char tern und den Fahrer dazu zwingen können, sie ohne Entgelt in die Nähe ihres Zieles zu bringen. Aber das wollte sie nicht, weil sie die Zeit zum Überdenken ihrer Situation nutzte. So bemerkenswert es war, fiel ihr kaum auf, daß sie den Weg von Harps’ Wohnung zur Paddington Street traumwandlerisch sicher fand. Sie hatte die Strecke einmal im Wagen zurückgelegt, und jede Kreuzung, jede Straße hatten sich ihr eingeprägt. Sie hielt sich nir gendwo auf, schlenderte nicht und trug wieder den bewährten Mau erblümchen-Look. Soweit war alles in Ordnung. Niemand sprach Lilith an. Sie hatte eine Mauer der Unnahbarkeit um sich herum aufgebaut. Das funktionierte so gut, als würde sie sich unter einer Tarnkappe bewegen. Schon eine ganze Weile, bevor sie ihr Ziel erreichte, begann sie aber eine Lockung zu spüren, deren Ursprung nur das Haus selbst *siehe VAMPIRA 1: »Das Erwachen«
sein konnte. Es schien ihre Sehnsucht auf weite Entfernung hinweg aufzufangen und seinerseits darauf zu reagieren. Obwohl Lilith es sich nicht eingestand, hatte sie immer noch Hoff nung, ihre Mutter könnte gar nicht wirklich tot sein, sondern im Keller des Hauses schlafend die Zeit überdauert haben. Vielleicht ließ sie sich erwecken und … Der Gedanke, nicht länger allein durch diese abweisende Welt ir ren zu müssen, schaltete Vernunft und Logik weitgehend aus. Lilith klammerte sich an einen Strohhalm, der wenig Aussicht auf Erfül lung bot. Aber sie hatte den unverwesten Körper ihrer Mutter durch den gläsernen Boden gesehen, und seither hielt sie nichts für unmöglich. Sie war sicher, sich Klarheit verschaffen zu können, wenn sie nur noch einmal in den Keller des Hauses gelangte. Das Haus wollte sie. Sie glaubte das Raunen in ihren Schläfen zu spüren. Das lautlose Rufen … Das Tohuwabohu an Ort und Stelle warf sie völlig aus der Bahn, obwohl sie damit hätte rechnen müssen. Daß die Entdeckung des unmöglichen Hauses solche Kreise ziehen würde, hatte sie jedoch nicht in Betracht gezogen. Das Wohnviertel war um die Hausnummer 333 hermetisch abge riegelt. Der Verkehr wurde umgeleitet. Warnschilder signalisierten schon von weitem Ausweichmöglichkeiten. Ein Heer von Menschen war auf den Beinen. Anwohner und Neugierige, die von den unge wöhnlichen Aktivitäten der Polizei angezogen worden waren. Pres se, Fernsehen … Niemand erhielt Zutritt zur Kernzone, die das Grundstück mit dem versiegelten Haus bildete. Lilith ließ sich im Strom der Leute mittreiben, bis es nicht mehr weiterging. Eine Weile beobachtete sie, mit welcher Konsequenz die Absperrung durchgesetzt wurde: Kein Zivilist erhielt Zutritt. Jour
nalisten schäumten. Es kam zu Rangeleien, bei denen ebenfalls hart durchgegriffen wurde. Mehr als ein Unruhestifter wurde abgeführt. Über Megaphon ergingen immer wieder Aufforderungen an die Menge, Ruhe zu bewahren und sich zu zerstreuen. Die Gerüchtekü che brodelte. Lilith schnappte die wildesten Thesen auf, die von den Gaffern gehandelt wurden. Sie beteiligte sich an keinem Gespräch. Fieberhaft überlegte sie, wie sie die Absperrung trotz ungünstiger Verhältnisse überlisten konnte. Dann schlugen ihre Sinne an. Alle Sinne! Sie warnten sie vor etwas längst Vergessenem. Etwas, mit dem ihr Schicksal eng verflochten war, obwohl sie erst einmal, in der Gestalt Hadrums, davon gestreift worden war … Vampiralarm! Mit Schrecken wurde sie an den »alten Herrn« erinnert, den sie im Trubel der überhasteten Flucht und ihrer Begegnung mit Leroy Harps völlig vergessen hatte. Das konnte sich nun rächen. Gehetzt sah sie sich um. In der aufgebrachten Menge fand sie ihn nicht. Aber sie spürte deutlich andere seiner Art. Sie hatten sich unerkannt zwischen die Schaulustigen gemischt. Was sie beabsichtigten, war unschwer zu erraten. Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten, und keine einzige war harmloser Natur. Vielleicht wollten sie, wie Lilith, in das Haus gelangen. Oder sie wußten bereits, daß Lilith dem Gemäuer entflohen war. Dann mochten sie eine Rückkehr in Betracht ziehen und hier in Überzahl lauern … Lilith gab ihr Vorhaben auf. Sie mußte einen günstigeren Moment
abwarten, unerkannt ins Haus zu gelangen. Mit Mühe bahnte sie sich einen Weg durch die dichte Menge und tauchte ab in die Nacht. Immer wieder wandte sie sich um und durchforschte die Dunkel heit nach Verfolgern. Als sie dauerhaft niemanden entdeckte, atmete sie auf. Das Rauschen ledriger Schwingen entging ihr. Bis es genau hinter ihr war.
* Leroy Harps starrte betäubt zu Sid Corman hinüber. Der hünenhafte Pornodarsteller lag wie eine zerrupfte Puppe im Wohnzimmer. Ein unscheinbarer älterer Herr, der mit seiner Geisel behende ins Apart ment geschlüpft war, hatte Corman wie ein Spielzeug zerbrochen. Er war wie gelähmt, fühlte sich ausgeliefert. Er hatte auf den Alten losgehen wollen. Aber ein einziges Wort hatte ihn gestoppt. »Nein!« Harps’ Glieder waren seither schwer wie Blei. Kurz aufgeflammter Mut hatte sich verflüchtigt. »Sind Sie von Sinnen?« fuhr er den Fremden lahm an. Er hatte im mer noch nicht begriffen, wie Corman umgebracht worden war. Aber er mußte sich nicht erst bücken, um zu wissen, daß für den drittklassigen Mimen jede Hilfe zu spät kam. »Ich traf ihn vor der Tür«, sagte der Fremde sanft. »Er war so freundlich, mich heraufzubegleiten. Ich glaube, er wollte ohnehin zu Ihnen …« Leroy Harps wußte, daß die Welt voller Verrückter war. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, so bald einem mörderischen Exemplar dieser Güte gegenüberzustehen.
»Verschwinden Sie! Ich – rufe die Polizei!« Der alte Herr lachte kalt. Sorgfältig schloß er die Tür hinter sich und hatte keine Probleme damit, Harps ein paar Sekunden den Rücken zuzukehren. Er strahlte eine solche Überlegenheit aus, daß Harps sich vor lauter Panik hyperventilierte und einen Schluckauf bekam, der angesichts des Toten etwas pietätlos anmutete. Der alte Herr schien von der Beeinträchtigung seines Gegenübers nichts zu merken. »Wo ist es?« fragte er. Harps spürte etwas, das sich wie mit Rauhreif überzogene Nadeln unter seine Haut schob. »Es?« fragte er. »Das Balg!« Jedes neue Wort des Fremden trieb den Gletscher unter Harps’ Haut etwas weiter. Er wußte jedoch immer noch nicht, von wem die Rede war. Der Eindringling stieg über den Toten hinweg und setzte Harps die Hand unter den Kiefer. Die Kraft, die dahintersteckte, zer quetschte fast seinen Kehlkopf. Das einzige Positive daran war, daß der Schluckauf-Reiz verschwand. »Wo?« Harps röchelte. »Ich – verstehe nicht …« Der gewalttätige Besucher lockerte seinen Griff. Die Augen des Al ten schienen Harps aufzusaugen. Neben dem Grauen, das dieser Vorgang auslöste, geschah etwas Erstaunliches. Harps erinnerte sich plötzlich wieder an jede einzelne Sekunde, die zuvor diesem uner klärlichen Blackout zum Opfer gefallen war. Er wußte wieder, wen er aufgegabelt und mit in seine Wohnung genommen hatte und was dort passiert war. Er stöhnte. Seine Hand, so schwer sie auch war, ruckte nach oben und fuhr
über eine bestimmte Stelle seines Halses. Cormans Mörder lachte meckernd. Ohne loszulassen, bog er Harps’ Kopf nach hinten und besah sich selbst die narbige Stelle. In seinen Augen glomm es. Seine Lippen zitterten. Als jemand zu plappern begann, begriff Harps lange Zeit nicht, daß er es war. Er schilderte seine Begegnung mit der betörend schö nen Frau in allen Einzelheiten. Seine Beschreibung ihres Aussehens klang fast blumig, die Worte, mit denen er sein Sexerlebnis wieder gab, entstammten dagegen der Gossensprache. Als würde er aus Drehbüchern zu seinen Filmen zitieren. Der alte Herr ließ ihn gewähren. Aber immer wieder unterbrach er Harps oder spornte ihn an, zu Potte zu kommen. Harps reagierte steif wie ein Roboter. Er wußte plötzlich, daß die ser brutale Besucher ihn nicht verschonen würde. Er hatte Corman getötet, wie andere mit den Finger schnipsten, und er würde auch bei ihm nicht zögern, sich eines lästigen Zeugen zu entledigen … Als er das begriffen hatte, bettelte er um sein Leben. Er stellte keine Sekunde in Frage, daß der Alte ihm in allen Belan gen überlegen war. Trotz seines Alters. Wegen seines Alters, du Narr! wisperte eine Stimme. Der Fremde zerrte Harps ins Schlafzimmer, um sich das Video an zusehen, von dem Harps zuletzt auch gesprochen hatte. Der Alte wählte den schnellen Bildvorlauf und ackerte auf diese Weise das Band in Kürze komplett durch. Harps zweifelte nicht, daß der Frem de dabei mehr sah als er selbst im Normaldurchgang. Der Schweiß lief ihm in Bächen über die Haut. »Bitte«, keuchte er. »Sie können gehen. Ich werde Sie nicht verraten …« Der alte Herr ließ ihn los. »Ich kann noch nicht gehen«, sagte er. »Ich habe einen herben Verlust zu beklagen. Du könntest mir helfen, darüber hinwegzukommen.«
Harps überschlug sich fast beim Nicken. »Alles! Ich tue alles, was Sie wollen …!« Der alte Herr nickte. »Das ist nett.« Die Kälte erreichte Harps’ Herz – er hatte gar nicht gewußt, daß er eines besaß, aber nun wurde er daran erinnert. »Was –« stammelte er, um die Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, »– kann ich tun?« »Zeig mir deine Narbe.« »Wo dieses Miststück mich … gebissen hat?« »Wo dieses Miststück dich gebissen hat.« Harps zögerte. Zumindest glaubte er zu zögern. In Wahrheit war es speichelleckende Demut, mit der er dem alten Herrn den Hals präsentierte. Er rechnete immer noch damit, sterben zu müssen, aber er wußte auch, daß seine einzige Chance zu überleben darin bestand zu gehorchen. Alles zu tun, was Cormans Mörder verlangte. Die Lippen des Alten flatterten stärker, als er sich nach vorn beug te, um die Narbe in Augenschein zu nehmen. »Es tut nicht weh«, sagte er warm. »Du wirst es mögen …« Zumindest für mich, fügte der Vampir in Gedanken hinzu. Dann entblößte er seine Zähne und senkte sie mit chirurgischer Präzision genau dort in die pochende Ader, wo dasselbe schon einmal gesche hen war. Harps’ Mund entließ einen dumpfen Seufzer. Von Wollust spürte er wenig. Aber in einem hielt der alte Herr Wort: Der smarte Produzent mußte nicht sterben. Vielleicht – wenn er sich loyal verhielt – würde er nun sogar ewig leben. Sterben war kein unbedingtes Muß mehr. Von diesem Moment an mußte Leroy Harps nur noch eins: Dienen.
* Brian Secada wurde fast ohnmächtig, als er »kam«. Noch bei keiner Frau und keiner Hure hatte er auch nur einen vergleichbar intensi ven Orgasmus erlebt. Er war so überwältigt, daß er die Augen schloß. Plötzlich wurde er unendlich müde und hätte alles dafür ge geben, sich einfach zur Seite drehen und etwas schlafen zu können. Seine feurige Geliebte ließ es nicht zu. »Willst du schon schlappmachen?« spottete sie. Die Lider glitten zeitlupenhaft nach oben zurück. Die an den exakt richtigen Stellen etwas mollige Brünette sah noch betörender aus als zuvor. Ihre Augen strahlten. Verblüfft blickte Secada an ihr vorbei. Der Raum, in dem sie sich geliebt hatten, war nicht mehr wieder zuerkennen. Er sah aus wie gerade erst renoviert. Aller Dreck war verschwunden. Die Tapeten wirkten frisch und klebten wie Pech an den von Bildern verschönten Wänden. Mobiliar, das ganz nach Seca das Geschmack war, bildete das Tüpfelchen auf dem i. Er staunte nur kurz. Dann übermannte ihn Angst. Seine Geliebte hielt ihn fest, als er aus dem Bett steigen wollte, das vorher auch nicht dagewesen war. »Ich sagte doch, du kannst ewig hierbleiben. Aber vergiß, was du zu wissen glaubst. Hier ist alles anders. Alles.« Bis zu diesem Moment hatte er mit ihren Worten nichts anfangen können. Nun dämmerte ihm, wie absolut die Andeutungen zu ver stehen waren. »Ich kann nicht bleiben«, krächzte er. Seine Stimme erschreckte ihn. Sie klang spröde und brüchig.
»Wenn du es willst, kannst du es«, widersprach die Frau, deren schwellende Brüste ihn erneut anzogen. »Sei nicht dumm. Was er wartet dich dort draußen schon? Wartet jemand auf dich?« Er schüttelte den Kopf. Niemand wartete. Niemand wie sie. »Na also. Warum zögerst du dann?« Er nahm alle Kraft zusammen. »Du bist – nicht wirklich!« keuchte er. »Ich träume dich nur! Jemand wie du kann nur ein Traum sein …!« »Was hast du gegen schöne Träume? Es war doch schön, oder?« Verlegen senkte er den Blick. Ihm wurde bewußt, wie wenig er diese hemmungslose Frau selbst nach dem, was sie zusammen getan hatten, kannte. »Du bist süß, weißt du das?« Ihre zärtlichen Berührungen zer streuten seine Bedenken. »Wenn du wirklich darauf bestehst«, bot sie unverhofft an, »zeige ich dir den Ausgang.« Er richtete sich auf. Mit matten Bewegungen schwang er sich aus dem Bett. Diesmal hielt sie ihn nicht zurück. »Das würdest du tun?« Sie nickte traurig. Er sammelte seine Kleidung ein und zog sich an. Ab und zu hielt er inne, um zu verschnaufen. »Leg dich noch etwas zu mir. Du bist erschöpft. Ruh dich erst aus …« Er wußte, daß er ihr rettungslos verfallen würde, wenn er ihrer heißen Haut nur noch einmal zu nahe kam. »Nein!« schnarrte er. »Bring mich hinaus … Bitte!« Sie zuckte die Achseln. »Es ist kein einfacher Weg.«
Er blinzelte, weil sie schneller wieder angezogen war als er. »Ganz egal!« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinaus auf den Gang, der sich unverändert präsentierte. Der Zerfall des Gebäudes schien hier, anders als dort, wo sie sich geliebt hatten, unaufhaltsam fortzu schreiten. »Du könntest es eindämmen. Aber du willst ja lieber dahin zurück, wo keiner wartet …« Ihre Worte berührten ihn bis in die Seele. Er mußte mit sich ringen, um an seinem Entschluß festzuhalten. Mühsam folgte er ihr eine Treppe nach unten. »Ist das das Erdgeschoß?« fragte er, als sie unten ankamen. Er fand keine Hinweise, hier schon einmal gewesen zu sein. Sie nickte und öffnete eine Tür, die augenscheinlich noch tiefer führte. »Der Keller?« fragte er mißtrauisch. »Was soll ich dort? Ich will hinaus!« »Es geht nur durch den Keller«, behauptete sie. »Ich kenne keinen anderen Weg.« »Ich bin aber einen anderen Weg gekommen!« Sie zuckte die Schultern, ließ seine Hand los und tat, als wollte sie sich abwenden. »Schon gut! Ich vertraue dir! Gehen wir weiter!« Sie schien auf sein Einlenken gewartet zu haben und verlor kein Wort mehr darüber. Eine breite Wendeltreppe führte nach unten. Der Weg war weder dunkel noch hell. Zwielicht begleitete jeden Schritt. Es schien kühler zu werden. Secada erschrak, als die Treppe, wie er sie kannte, plötzlich auf hörte. Ungläubig starrte er auf die höchst eigenwillige Fortsetzung
der Stufen. Die gleichmäßige Treppenwendelung war unterbrochen, als wäre der weitere Verlauf irgendwann einmal weggebrochen und auf bizarre Weise »repariert« worden. Keine der folgenden Stufen sah aus wie die andere. Jede hatte eine eigene Ausprägung und Grö ße, und die gleichmäßige Spirale wurde zu einer eckigen, mit zahllo sen Auswüchsen, die ins Nirgendwo abzweigten, versehenen Kon struktion. »Wer baut so etwas«, keuchte Secada. Der Schweiß kroch aus sei nen Achselhöhlen. Er hatte Angst, die Treppe könnte jeden Moment unter ihm zusammenstürzen, ihn mitreißen und unter tonnenschwe ren Trümmern begraben. Noch immer schien er über Stein zu lau fen, auch wenn dieser Stein verformt und unter Hitze krumm ver schmolzen wie Lavafels aussah. Als das Ende in Sicht kam, atmete Secada zunächst auf. Seine Führerin hatte die ganze Zeit wenig gesprochen. Nun schmiegte sie sich von hinten an Brian Secada heran und rieb ihre großen Brüste an seinem Rücken. Sie streckte den Arm an ihm vor bei und zeigte über die Geländerbrüstung in die Tiefe, wo, am Ende der Treppe, ein riesiges, baldachinüberwölbtes Bett zum Verweilen einlud. Er stieß sie von sich. »Was soll das? Hältst du so deine Verspre chen? Du wolltest mir einen Weg hinaus zeigen!« Sie blickte ihn aus unergründlichen Rehaugen an. »Bitte, rede nicht so mit mir, Brian.« Sie ließ das Kleid auf die Stufen der auslau fenden Treppe fallen und kokettierte mit ihrer Blöße. »Sei lieb. Ich halte ja meine Versprechen. Ich habe dich nicht belogen. Du sollst nur noch einmal gut überlegen, ob du mich wirklich verlassen willst. Komm mit mir.« Sie reichte ihm die Hand und lachte aufgekratzt. »Der Weg hinaus führt nun einmal übers Bett – über mein Bett. Laß mich noch einmal deine Männlichkeit spüren. Danach darfst du ge hen. Bitte! Du mußt mir glauben!«
Secada starrte hinab auf das Bett, das nicht in einen Keller paßte. Es wirkte so künstlich wie … dieses Vollblut-Weib, das ihn schon einmal verführt hatte. Er begann zu zittern. Die ganze Zeit hatte er erfolgreich verdrängt, daß er nicht wußte, mit wem er sich dort oben im Zimmer eigentlich vergnügt hatte. Er hatte akzeptiert, was er sah und fühlte. Nun war es anders. Sein kritischer Verstand hinterfragte mit einemmal wieder, was hier mit ihm geschah, und er entschied, daß es ihm nicht gefallen würde, sich noch einmal von einem Phantom aufs Kreuz legen zu lassen. Von einem Spuk, der alles sein konnte, nur keine Frau aus Fleisch und Blut. Dafür war sie zu perfekt. Er durfte sich nicht länger becircen lassen. Er hob die Hand. Sie war fleckig geworden, die Haut rissig. »Was hast du mir angetan, du … Hexe?« keuchte er. Sie lächelte unschuldsvoll. Die Panikwelle, die Secada daraufhin überrollte, trieb ihn zur Af fekthandlung. Mit geballten Fäusten stürmte er auf die nackte Ver suchung los und hebelte sie wuchtig über das knorrige Geländer. Sie kippte lautlos in die Tiefe. Und verwandelte sich. Und riß den Drachenrachen auf. Spie Höllenfeuer. Zeigte ihr wahres, ihr dämo nisches Gesicht …
* Wohin sollte sie gehen? Eine Zeitlang spielte sie mit dem Gedanken, einfach zu Harps zu rückzukehren, bis sich die Aufregung um das Haus gelegt hatte. Aber etwas in ihr sträubte sich. Sie verband nur Enttäuschungen mit
dieser Person. Gedankenverloren strich sie über ihr Mimikrykleid, dessen sie sich – wie es schien – nicht mehr entledigen konnte. Sie hatte gehofft, am Grab ihrer Mutter zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Nun mußte sie sich auf unbestimmte Zeit gedulden. Daß es kein »normales« Kleidungsstück war, sondern ihm Magi sches innewohnte, hatte sie längst erkannt. Es bereitete ihr nur große Schwierigkeiten zu glauben, es könnte sich um für sie nachteilige Ma gie handeln … Während sie durch die Nacht schritt, dachte sie immer häufiger an ihre Mutter, deren Name immer noch ein Geheimnis war. Warum? Warum durfte sie, obwohl andere Schleier ihrer Herkunft inzwi schen gelüftet waren, nicht einmal wissen, wie ihre Eltern hießen? Lag Gefahr in diesem Wissen? Als sich etwas mit scharfen Klauen in ihr Genick krallen wollte, ohne daß sie die Annäherung rechtzeitig bemerkte, lernte Lilith überraschend eine neue Eigenschaft des Kleides kennen. Lilith regis trierte den Angriff und die Veränderung ihres Kragens gleichzeitig. Sie wirbelte herum, wäre aber zu spät gekommen, wenn sich in ih rem Nacken nicht blitzartig eine Art horniger Schild aus dem Stoff des Kleides herausgeschoben hätte. Von dieser Panzerung prallten jetzt die gebogenen Krallen einer hundgroßen Fledermaus ab, die mit schrillem Fiepen strauchelte und zu Boden schlingerte. Lilith war immer noch mehr überrascht als verängstigt. Ihr Blick durchdrang die Dunkelheit zwischen zwei weit auseinanderstehen den Straßenlampen mühelos – und ebenso mühelos begegnete die pelzige Gestalt ihrem Blick. Lilith schauderte, als sie den wahren Charakter des Nachttiers durchschaute.
Im selben Moment setzte die Metamorphose ein. Ledrige, von schwarzen Adern durchzogene Schwingen verhüll ten den Körper fast schamvoll und blähten sich gleichzeitig auf. Der ganze Vorgang dauerte nur wenige Sekunden, und Lilith verfolgte ihn gebannt. Ihre Neugier drohte ihr dann zum Verhängnis zu wer den, als sich die Schwingen in einer einzigen fließenden Bewegung teilten und sofort hinter dem Rücken der hervorbrechenden Gestalt verschwanden, als würden sie in die Schulterblätter des glutäugigen jungen Mannes schnellen. Lilith wich einen Schritt zurück. Der Ankömmling sah auf beklemmende Weise gut aus. Ein dunkles Cape ersetzte die Schwingen und umschloß gedanken schnell den kraftstrotzenden Körper. Die Züge des Mannes waren wutverzerrt. »Wie hast du das gemacht? Magie?« Lilith spürte sofort die tödliche Gefahr, die ihr Gegenüber aus strahlte. Sie übertraf alles bisher Erlebte. Seine menschliche Fassade trog. Er war kein Mensch. So wenig, wie er eine Fledermaus war. Zum erstenmal stand sie Auge in Auge einem jener Wesen gegen über, die sie auf Geheiß ihrer Mutter vernichten sollte, wo immer sie ihnen begegnete. Und Hadrum? zweifelte ihr Verstand. Hadrum zählte nicht! Sie hatte keine Erklärung für ihre feste Überzeugung, war aber si cher, daß es stimmte. Hadrum und diesen Feind trennten Welten. Sie waren grundverschieden … »Und du?« irritierte sie ihn. »Ich?« Sie nahm es hin, daß ihre Feinde sie offenbar ebenso wittern konn
ten, wie sie es bei ihnen vermochte. Trotzdem präzisierte sie: »Wie hast du mich gefunden?« Die Züge des Mannes glätteten sich, was ihn noch mehr verjüngte. Nach der Enttäuschung mit Harps, dessen Blut fade geschmeckt hat te und dessen sexuelle Talente vermutlich nur er selbst schätzte, er kannte Lilith mit Befremden, daß dieses Wesen sie reizte. Unabhän gig von der Feindseligkeit, die ihr entgegenströmte. »Hora meinte, du würdest zurückkehren. Er hat sich auf deine Fährte gesetzt und uns alarmiert. Er behielt recht. Ich sah dich vor den Sperren. Du glaubtest, dich unerkannt davonschleichen zu kön nen …« Er lachte. »Hora?« fragte sie. »Mein Vater.« Der Vampir verstummte. Seine Redseligkeit schien ihm erst jetzt aufzufallen, was ein weiteres Indiz für seine relative Jugend sein mochte. Lilith versuchte das Gespräch aufrechtzuerhalten. »Und du? Wie heißt du?« Er schüttelte unwirsch den Kopf. In seiner Kehle bildete sich ein Grollen. »Ich weiß, was du versuchst. Vergiß es. Mich kannst du nicht beschwatzen!« In der Tat hatte sie getestet, ob er auf die hypnotische Kraft ihrer Worte ebenso ansprach, wie sie es bei Menschen bemerkt hatte. Es war nicht der Fall. Aussichtsreicher wurde ihre Lage dadurch nicht. »Ich heiße Horrus«, sagte er unerwartet. Er rollte das »rr«, als wür de eine stumpfe Säge Knochen zerschneiden. »Meine Geschwister werden gleich hier sein. Ich habe sie verständigt. Ergib dich.« Lilith wußte nicht, ob sie gegen einen Vampir eine Chance hatte – gegen eine ganze Meute schien es ihr undenkbar. Sie überlegte fie berhaft und entschied sich, es auf einen Kampf mit Horrus ankom
men zu lassen. Zumal sie bemerkt zu haben glaubte, daß der Vam pir verunsichert war. Als sie zufällig an sich herabblickte, erkannte sie, warum. Ihre Kleidung hatte sich aus eigenem Antrieb verändert. Ein knappes, rot-schwarzes Catsuit lag hauteng um ihre Figur, er gänzt von oberschenkelhohen Stiefeln und bis zu den Ellenbogen reichenden Handschuhen … Der Anblick weckte eine verschwommene Erinnerung. Hatte sie diese Montur nicht in einem kurzen Aufblitzen an sich wahrgenom men, ehe sie das Haus in der Paddington Street verließ? »Was für ein Trick ist das?« Horrus’ Augen glühten stärker. Er hat Angst, dachte Lilith. Vor mir … Sie ging langsam auf ihn zu. Gebannt starrte er auf ihre Brüste, die sich fest unter dem dunklen Stoff abzeichneten. Auch waschechte Vampire wie er schienen für solche Reize emp fänglich. Lilith gefiel es. Sie konnte sich kaum noch beherrschen. Ohne daß sie es steuern konnte, verlangte es ihr selbst in dieser Ge fahr nach etwas, das die Hitze in ihren Lenden besänftigte. Ihr dürs tete nicht nach Blut, sondern nach Sex. Sex mit einem Vampir! Sex mit einem von dunkler Kraft erfüllten Wesen … … wie sie selbst eines war! »Wie lange werden sie brauchen?« fragte sie heiser. »Wer?« Er rührte sich nicht. Er gab keinen Zentimeter preis. Ihr Gesicht schwebte jetzt unmittelbar vor seinem, und die Fänge, in die sich seine Zähne verwandelt hatten, pulsierten vor Gier. »Deine Brüder und Schwestern.« »Ich weiß es nicht. Ein paar Minuten …«
»Ihr werdet mich töten?« »Nicht unbedingt. Wenn du vernünftig bist, wird Hora über dich richten.« »Dein Vater.« »Mein Vater.« »Wie hast du mich erkannt – vor dem Haus. Du könntest dich ir ren. Hora wäre erzürnt …« Der Vampir lachte kehlig. »Du bist wie keine andere«, sagte er. »Du bist die, die alle fürchteten, solange du nicht einzuschätzen warst. Es gab nur Warnungen. Die Prophezeiung …« »Und jetzt?« »Sollte ich dich fürchten?« An der Art, wie er auf sie einging, er kannte sie, daß er nicht an die alten Warnungen glaubte. Daß er sie übertrieben fand. Lilith schüttelte unmerklich den Kopf. »Fürchten? Nein. Du machst mich rasend! Ich weiß nicht, warum. Ich bin nie einem wie dir begegnet. Du machst mich verrückt. Ich halte das nicht aus! Bit te, hör auf, mich zu quälen!« Sie streckte langsam die Hand aus und strich damit über seine edlen Züge. Er ließ es geschehen, blieb aber wachsam. »Wenn ich schon sterben muß, Horrus, laß mich dich ein mal spüren!« »Ich …« »Ich weiß, daß du es auch willst … Bitte!« Sie riß sich das Catsuit auseinander und riskierte, daß sich der to bende Schmerz wie Gift durch ihren Körper pflanzte, weil sie sich erneut am Kleid ihrer Mutter verging. Aber nichts geschah. Nur ihre straffen Brüste waren keck auf den jungen Vampir ge richtet. Es schien den Ausschlag zu geben. Horrus warf alle Beden
ken über Bord. Er zerrte sie ins Gestrüpp und stieß sie zu Boden. Er ließ den Um hang fallen, unter dem er nackt war. Lilith sah jedes Detail seines sehnigen Körpers. Bis zu diesem Au genblick hatte sie selbst nicht gewußt, ob es zwischen einer Frau und einem Vampir so funktionieren konnte, wie sie es sich vorstell te. Ein Blick auf sein Geschlecht vertrieb den letzten Zweifel. Sie atmete heftiger. Bis zu diesem Moment war sie auch unentschieden gewesen, ob sie wirklich wollte, was sie Horrus vorspiegelte – oder ob sie ihn nur in eine Lage bringen wollte, in der sie ihre Überlegenheit ausspielen konnte. Als er sich nun auf sie legte, schwanden die Zweifel. Sie wollte erfahren, worin der Unterschied lag zu einem Menschen wie Harps oder Nick. Wenn sie Glück hatte, würde danach immer noch Zeit sein, ihn … Die Gedankenkette riß, als er zornig aufbrüllte. Sie roch seine süß lichen Ausdünstungen und fühlte sich eigenartig beschwingt. Seine Stimme ernüchterte sie grob. »Willst du dieses … Zeug anbehalten?« Seine Stimme vibrierte vor mühsam gezügelter Erregung. Lilith mußte nur an ihm herabsehen, um zu wissen, wie es um ihn stand. Und sie begriff. Er meinte das Catsuit. Es hatte ihm schon einmal einen Streich ge spielt, als er glaubte, sie in Gestalt einer Fledermaus überraschen zu können – und nun zügelte es sein Temperament erneut, weil es sich dort nicht für ihn öffnete, wo er hinwollte … »Warte!« keuchte sie. Er knurrte und blickte durch die Zweige zum Himmel, als könnte
er seine Geschwister bereits nahen sehen. Lilith wollte sich die Gelegenheit einer außergewöhnlichen Erfah rung nicht mehr nehmen lassen. Ihr Blut kochte. Sie konzentrierte sich völlig darauf, ihm den Zugang zu ihrem Schoß zu ermöglichen. Kraft ihrer Gedanken versuchte sie, das Catsuit im Schritt zu teilen. Notfalls wollte sie es unten ebenso zerreißen, wie sie es vorhin getan hatte, um ihre Brüsten freizulegen – falls Horrus ihr dies nicht ab nahm. Er war nicht mehr hinzuhalten. Seine Züge hatten Wölfisches angenommen. Das Edle war dem Animalischem gewichen. Lilith schob ihre Hände unter seinem Körper hindurch. »Warte!« wiederholte sie. »Gleich … Ich …« In diesem Moment stöhnte er. Lilith hielt inne und erwartete, ihn nun in sich zu spüren. Das ge schah nicht. Horrus stöhnte nicht vor Lust. Verzweifelt versuchte er, sich von ihr fortzubewegen. Doch etwas hielt ihn fest. Er zuckte und wand sich und schlug um sich. Seine Faust traf Liliths Gesicht, aber es lag kaum Kraft in dem Hieb. Er brüllte jetzt in einem gräßlichen Tonfall, der immer noch nicht verriet, was mit ihm passierte. Lilith wußte es auch nicht. Sie unterstützte seine Bemühungen, sich von ihr zu lösen. Mit Ar men und Beinen stieß sie ihn von sich. Zentimeter vermochte sie ihn von sich wegzustemmen – weiter nicht. Es genügte, um die dünnen, tentakelartigen Fäden zu sehen, die sich dort, wo Horrus auf ihr ge legen hatte, in seinen Körper gebohrt hatten und nun wie Medusen festhielten. Der Vampir zuckte wie unter Strom. Er versuchte die wurzelartigen Fäden mit den Händen aus sich herauszureißen – und schrie noch lauter. Sie ließen ihn nicht mehr los. Der Kampf dauerte nur Sekunden. Längst war die barbarische Fas
zination aus Horrus’ Gesicht gewichen. Aus seinem Mund trat ein schwarzes, zähes Sekret und tropfte auf Liliths Catsuit, wo es spur los verschwand. Als der Vampir kaum noch Gewicht besaß und federleicht auf Li lith lag, konnte sie sich endlich von ihm befreien. Auf allen vieren wich sie vor ihm zurück und sah mit an, wie seine morsche Hülle zerfiel. Sie zitterte wie Espenlaub, als sie an sich herunterblickte. Sie erwartete, die an Luftwurzeln erinnernden Auswüchse des Kleids zu sehen, aber das war nicht mehr der Fall. Das schwarz-rote Catsuit machte den Eindruck, als hätte sie es gerade aus einem Schrank genommen und übergestreift. Die Beschädigungen, die sie ihm selbst zugefügt hatte, um Horrus zu betören, waren verschwun den. Wie der Vampir. Aber als Lilith zum Nachthimmel spähte, sah sie sie über den niedrigen Dächern auftauchen: Horrus’ Geschwister. Ihre Krallen spreizten sich im Flug. Sie stießen spitze Schreie aus, als wüßten sie bereits, was ihrem Bruder an nicht Wiedergutzuma chendem widerfahren war. Und als wollten sie grausame Rache dafür nehmen …
* Der Nachtwächter hustete, als hätte er Geröll verschluckt. Warner war hundemüde, trotzdem folgte er dem Mann durch die men schenleeren Gänge des Rathauses, statt sich zu Hause aufs Ohr zu legen. In einem der vielen Büros wartete Grunge auf ihn.
Daß der Wächter, der ihn unten an der Pforte abgepaßt hatte, maulfaul war und die Zähne nur zum Husten auseinander bekam, war Warner gerade recht. »Hier ist es!« Der Uniformierte wies auf eine Tür und machte ohne weitere Erklärung auf dem Absatz kehrt. Neben der Tür hing ein Schild, auf dem Bauaufsicht stand. Warner klopfte. Grunge rief: »Tre ten Sie ein!« Der unscheinbare, fast verschüchtert wirkende Leiter der Baube hörde saß an einem mit Akten übersäten Schreibtisch. Zusätzlich zur Deckenleuchte brannte eine Leuchtlupe, die an einem beweglichen Arm montiert war. Grunge hing weit über einen Lageplan gebeugt. Er sah erst auf, als Warner sich auf die Tischkante setzte. »Da sind Sie ja. Ich dachte schon, Sie kämen nicht mehr.« »Ich hatte noch ein Rendezvous.« Warner grinste schief in Erinne rung an Virgil Codd. Grunge schien seine Aussage für bare Münze zu nehmen. Jeden falls tippte er kopfschüttelnd auf den Stapel Papier, den er gewälzt hatte. »Ich bin dabei, einen Skandal aufzudecken«, behauptete er mit einem schmerzlichen Zug um die dünnen Lippen. »Was ich bisher gefunden habe, reicht schon für ein halbes Dutzend Disziplinarmaß nahmen – aber die Leute, die es betrifft, sind fast ausnahmslos ent weder längst tot oder längst pensioniert!« »Wovon reden Sie?« fragte Warner. An der Art, wie Grunge sich ereiferte, ließ sich bereits ablesen, daß der vermeintliche Skandal nur ein Skandälchen war. Etwas, an dem sich seine Beamtenseele festge bissen hatte, um die außerplanmäßige »Nachtschicht« vor sich selbst zu rechtfertigen. »Ich rede von unerklärlicher Schlamperei!« zürnte Grunge weiter. »Das Anwesen dreihundertdreiunddreißig Paddington Street wird in jedem Lageplan geführt, aber es gibt nirgends einen Vermerk,
wer der Besitzer ist! Nirgends! Ich habe im Computer nachgesehen, in alten Akten nachgeschlagen – nichts!« »Ist das alles?« Warner unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. In Gedanken weilte er immer noch bei Codd und ärgerte sich über des sen Ignoranz. Daß er Stiller auf »seinen« Fall ansetzen wollte, behag te ihm am allerwenigsten. Er mochte Stiller nicht. Nicht, weil er soff oder zumindest Probleme damit hatte (wer hatte die saisonal nicht einmal?), sondern weil Stiller in Warners Augen ein »Zufallsbulle« war. Einer, der keinen anderen Job gefunden hatte und deshalb letztlich bei der Polizei angeheuert hatte. Von einem solchen Cha rakter konnte man alles erwarten, nur kein ernsthaftes Engagement. Da Stiller von Warners Antipathien wußte, war anzunehmen, daß er sich im Hinblick darauf noch weniger ins Zeug legte. Warner fluchte. Grunge stockte. »Schon gut«, beschwichtigte Warner. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Sie haben vorzügliche Arbeit geleistet. Weiter so.« Er hoffte, der Sarkasmus möge nicht zu unüberhörbar durchblit zen. Grunge mochte zwar ein Sensibelchen sein – eine Antenne für Un tertöne besaß er aber offenbar nicht. Schnell hatte er den verlorenen Faden wiederaufgenommen und nervte Warner mit ausführlichsten Schätzungen, welcher Betrag der Stadt durch die Schlampereien an Grundbesitzabgaben nur für dieses Jahrhundert entgangen war. »Der Eigentümer ist nirgends urkundlich erwähnt«, schloß er. »Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn Sie mich fragen!« Warner nickte unbestimmt. Offenbar war er neuerdings auf Un möglichkeiten abonniert. Die Ärztin, die mit ihm über das Ja oder Nein von »Vampirbissen« diskutiert hatte, fiel ihm ein. Er hatte lan ge keine Verabredung mehr mit einer Frau gehabt. Noch während
er Grunge die Hand schüttelte und sich verabschiedete, dachte er darüber nach, ob es Sinn machte, die Ärztin anzurufen. Wie sie ihm Kontra gegeben hatte, nötigte ihm im nachhinein Respekt ab. Wenn sie in allen Lebenslagen so souverän agierte, hätte sie ihn interessie ren können … Er ließ es. Schon sein eigener Job gestattete keine geplante Freizeit. Bei ihr sah es bestimmt nicht besser aus, und bevor aus ihnen zwei Königs kinder wurden, die selbst bei gegenseitigem Gefallen doch nie zu sammenfanden, verzichtete er lieber gleich auf den Versuch. Von Affären für eine Nacht hatte er die Schnauze voll. Vom Wagen aus nahm er Kontakt zu Needles auf und erkundigte sich nach der Lage der Dinge am Haus. Es gab nichts wesentlich Neues, außer daß Codd für den Morgen eine Spezialeinheit ange kündigt hatte, die in Kürze eintreffen sollte, um das Haus endgültig zu knacken. Warner wunderte sich längst nicht mehr darüber, wie viele »Spezi aleinheiten« oder »Spezialisten«, von denen er noch nie zuvor etwas gehört hatte, es bei der Sydneyer Polizei plötzlich gab. Auch dieser Secada, der sich Parapsychologe geschimpft hatte, war von Codd ausfindig gemacht und mobilisiert worden. »Was Neues von unserem PSI-Fritzen?« fragte Warner. »Unverändert«, verneinte Needles. »Dann fahr nach Hause und ruh dich auch etwas aus. Ich werde es jedenfalls tun – auf höchste Verordnung. Wir treffen uns dann ir gendwann vormittags wieder am Haus …« »Ich bin noch nicht müde«, erwiderte Needles. »Mal sehen.« Warner hängte achselzuckend ein. Auf dem weiteren Heimweg kam ihm eine Idee, mit der er, wenn es herauskam, Virgil Codd vermutlich bis zu seiner Pensionierung
verkrätzte. Er wendete und fuhr zum Hauptquartier zurück. Phil Asgard war erstaunt, ihn zu sehen. »Ich komme von Codd«, log Warner kaltblütig. »Er hat mir gerade grünes Licht für eine dringende Überprüfung gegeben. Log dich mal eben ins ›Zentralhirn‹ ein …« Er betete herunter, was er von dem Computerexperten wollte. Asgard musterte Warner zweifelnd. »Von Codd kommst du, um diese Zeit?« Warner nickte selbstbewußt. »Was soll das? Glaubst du mir nicht? Dann ruf ihn an. Er brütet in seinem Büro darüber, wem er als nächstem die Laune vermiesen kann!« Höher konnte man nicht pokern. Offenbar konnte sich auch Asgard nicht vorstellen, daß Warner seine Pension für eine windige Sache aufs Spiel setzte. »Okay«, sagte er, pflanzte sich vor sein Terminal und ging auf On line. »Noch einmal ganz langsam. Was genau möchtest du wissen …?«
* Es war ein gutes Dutzend. Ein Dutzend Vampire in Tarngestalt schoß aus dem Halo des Mondes hervor, der gerade hinter den Dächern verschwinden woll te. Das Geräusch der ledrigen Flügel erinnerte an fallenden Regen. Lilith verlor keine Zeit mehr. Für eine Konfrontation mit dieser Überzahl fühlte sie sich nicht gerüstet, und sie bezweifelte auch, daß sie gegen weniger als dieses Dutzend eine Chance gehabt hätte.
Sie hatte das deprimierende Gefühl, sich und ihre Möglichkeiten nach diesem jüngsten Vorfall noch weniger zu kennen. Sie haßte das Kleid ihrer Mutter. Nicht, weil es den Vampir getötet hatte. Vermutlich hatte es sie da mit sogar gerettet. Aber sie haßte den bloßen Gedanken, daß das Kleid zu einer solchen Handlung befähigt war. Als würde es seine Entscheidungen selbst treffen. Als würde nicht Lilith das Kleid, sondern das Kleid Lilith tragen! Sie haßte es. Sie haßte auch, sich seiner nicht entledigen zu können. Mutter, was hast du mir angetan? schrie sie lautlos in die Nacht. Sie spürte das leise Beben des Bodens, als die ersten hinter ihr lan deten. Dort, wo Horrus binnen Sekunden von seinem untoten Da sein erlöst worden war. Nicht ganz freiwillig … Die Luft war plötzlich erfüllt von Klagetönen, wie Lilith sie bis zu diesem Moment weder gehört noch für möglich gehalten hatte. Flü che, so alt wie die Erde, wurden in die Nacht geschleudert. Unheim liche Kräfte entfachten einen Sturm, der die Bäume und Sträucher des kleinen Parks, in den Lilith geflüchtet war, bog. Sie rannte schneller. Zweige zerkratzten ihr Gesicht, zerrten an ih rem unheimlichen Kleid, das im Laufen wie ein außer Rand und Band geratener Automat blitzschnell sein Aussehen wechselte. Die abstruse »Modenschau« blieb unbemerkt von fremden Blicken. Auch Lilith achtete nicht darauf. Sie ahnte, daß sie einem Kampf nicht mehr aus dem Weg gehen konnte, auch wenn sie noch so schnell rannte. Etwas, das fliegen konnte, war ihr in puncto Ge schwindigkeit immer überlegen. Vor ihr tauchte ein asphaltierter Pfad auf. Obwohl Lilith keine Ortskenntnisse besaß, vertraute sie sich ihm an. Sie brauchte einen
Unterschlupf. Ein Versteck bis zum Tagesanbruch, der nicht mehr fern sein konnte. Sie hoffte, daß ihre Verfolger dann aufgeben wür den. Sie hoffte, daß deren Magie dann versagte oder zumindest stark eingedämmt sein würde. Die deine aber auch, unkte der vorlaute Sektor ihres Gehirns, der sich schon öfters bemerkbar gemacht hatte. Sie ging nicht darauf ein. Was wußte sie schon über »ihre Magie«? Nicht viel. Sie konnte Menschen behexen. Bei ernsthaften Gegnern wie Vam piren scheiterte sie damit bereits. Und was ihre »Kämpferqualitäten« anging, so hatte sie davon noch nicht allzuviel Beeindruckendes bemerkt. Die größte Schmutzarbeit bislang hatte ihr das Mimikrykleid abgenommen … Ein Lachen stoppte ihren Lauf. Obwohl der Mond inzwischen verschwunden war, sah sie mit ih ren geschärften Sinnen so gut wie bei hellem Tag. Vor ihr, einen Steinwurf entfernt, verstellte urplötzlich eine Gestalt den schmalen Weg zwischen dichter Vegetation. Das Lachen wiederholte sich. Es kam aus dem Mund eines alten Herrn, dessen Anblick Lilith nicht nur stoppte, sondern ein, zwei Schritte zurückprallen ließ. »Sie sind jung und dumm«, sagte er. »Du mußt ihnen nachsehen, daß sie dich nicht so fordern, wie es deinen Fähigkeiten entspricht.« Schweigend starrte sie ihn an. Er kam näher. Lilith wich zurück. Sie hatte das Wesen, das sie scheinbar mühelos aufgespürt hatte, schon einmal am Haus gesehen. Es war der alte Vampir, dessen
Aura ihr schon dort mehr als Respekt eingeflößt hatte. Sie hatte ge glaubt, ihn abgeschüttelt zu haben, aber nun schien es, als hätte er ihre Fährte nie verloren. Oder er war von seiner Sippe gerufen wor den. Lautlos und gedankenschnell, wie Vampire es vermochten. »Du bist Hora«, sagte Lilith ihm auf den Kopf zu. Das schien ihn zu beeindrucken und deutete zugleich darauf hin, daß er nicht belauscht hatte, wie Horrus umkam. »Du kennst mich?« »So wie du mich kennst«, behauptete sie kalt. Schon nach den ers ten Worten war alle Spannung von ihr abgefallen. Eine unnatürliche Gelassenheit überkam sie, Hora setzte sich wieder in Bewegung. Diesmal blieb Lilith stehen. Auch das schien ihm Respekt abzunötigen. Er nickte. »Es stimmt, was Landru über dich erzählt.« Lilith zuckte innerlich zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was die Erwähnung dieses Namens in ihr bewirkte. »Und was erzählt Landru?« fragte sie. Hora kam stolz daher. Sein Haupt mit dem eisgrauen Haar war er hoben. Er sah trotz der Furchen und Falten, die nichts über sein Alter aus sagten, dynamisch und hundertfach gefährlicher aus als Horrus. Horas Gesicht hatte den »Charme des Gelebten« – für einen Untoten ein kaum überbietbares Kompliment … »Landru kannte deine Mutter, die du nicht kennen kannst, diese abtrünnige Hure!« Lilith wunderte sich nur am Rande, daß sich Hora der Gossenspra che der Menschen bediente. Das Wort »Hure« schnitt ihr ins Herz. Gepreßt fragte sie: »Woher willst du das wissen?«
»Daß sie eine Hure war?« Als sie begriff, daß er sie provozieren wollte, kehrte die Ruhe zu rück. »Daß ich sie nicht kannte.« Hora blieb so nahe vor ihr stehen, daß er oder sie nur die Hand auszustrecken brauchten, um den anderen zu berühren. »Es gibt das GESETZ«, sagte er. »Auch eine Hure kann sich nicht darüber hinwegsetzen. Das GESETZ sagt: Eine Varnpirin, die ein le bendes Kind gebiert, stirbt bei diesem ungeheuerlichen Akt!« Davon hatte Lilith bereits gehört. »Wie hieß meine Mutter?« Hora lachte wild. »Ich sagte es doch! Du kanntest sie nicht, die Hure!« »Ihr Name!« verlangte Lilith. »Ich würde ihn dir nicht verraten, selbst wenn ich ihn wüßte. Landru kennt ihn jedenfalls. Er kennt ihn gut. Er kannte auch die Hure gut...« Liliths Geist verschloß sich vor dem, was er andeutete. Sie hörte den Schwingenschlag von Horas Sippe. Offenbar hatte er sie informiert, daß er Lilith gestellt hatte. Hora schien zu glauben, daß sie noch nichts von der Annäherung bemerkt hatte. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich, indem er fortfuhr: »Was du dem armen Hadrum angetan hast, war nicht sehr edel. Er war nur ein Beobachter. Er konnte dir nicht das Blut rei chen.« »Er wollte sich von dir lossagen, Hora. Du tust so allwissend und weißt nichts! Er wollte mich für sich allein beanspruchen. Mein Blut sollte ihn mächtiger machen als alle deiner kläglichen Sippe, du ein geschlossen!« Hora schien nicht einmal überrascht. »So? Wollte er das? Nun, die
Einsamkeit muß seinen Verstand zerfressen haben. Fast ein Jahrhun dert kroch er Nacht für Nacht aus seiner Behausung, um in den Gar ten deines verfluchten Hauses zu schleichen und es bis Sonnenauf gang zu beobachten. Eine lange Zeit, auch für eine Dienerkreatur. Mit der Zeit nahm seine Lichtallergie die bekannten Ausmaße an. Du hast seinen Schwachpunkt sofort erkannt und ausgenutzt. Ich empfing seinen Sterbeimpuls im selben Moment, als die Sonne an Kraft gewann …« Hinter Lilith, in respektvoller Entfernung, federte der Boden, als das ungestüme Dutzend landete. Hora verzog immer noch keine Miene. »Verstehe ich es richtig, daß Vampire wie du das Sonnenlicht nicht zu fürchten brauchen, eure Dienerkreaturen aber wohl?« drängte trotz der Situation die Frage über Liliths Lippen. »Wie kommt das?« »Wie kommt das?« Horas Stimme schwoll zu solchem Orkan, daß die Luft erzitterte. »Vergleichst du auch Menschen mit Affen?« In Horas Augen blitzte es auf. Lilith wußte Bescheid. Sie warf sich im selben Moment auf den Vampir, als die Klauen von hinten zupacken wollten, aber nur noch ins Nichts wischten. Hora vertraute offenbar auf in Jahrhunderten gewachsene Kräfte. Er machte nicht die geringste Ausweichbewegung, obwohl er Lilith heranhechten sah. Statt dessen löste er die Metamorphose aus und nahm die Physiognomie sowie andere Attribute eines Wolfsmen schen an. Wolf und Vampir schienen aufs engste miteinander ver bünden zu sein. Mit weit geöffnetem Rachen erwartete das Oberhaupt der Vampi re von Sydney die Konfrontation.
*
Bye-bye, Stiller! dachte Warner triumphierend, während er den Wa gen in die Tiefgarage lenkte. Er beglückwünschte sich zu seinem Al leingang. Das Ergebnis rechtfertigte jedes Risiko. Wenn er mit As gards Rechner-Ausdruck bei Codd antanzte, würde der Alte Stiller in die Wüste schicken und ihm, Warner, Abbitte leisten müssen. Zumindest, wenn er nicht völlig verbohrt war. Warner wohnte in Newtown-Sydney. In der King Street, fast ge genüber dem Toucan Tango, einer Mischung aus Disco und Night club, wo sich Freaks, Transvestiten, Homosexuelle und ein Heer er lebnishungriger Normalos in vorwiegend brasilianischen SambaRhythmen wiegten. Eine Schickimicki-Adresse war es nicht. Aber weder diese Tatsache noch der bis weit in den Morgen gehende Lärm hatten Warner je etwas ausgemacht. Andere, die mit ihm in dem Apartmenthaus wohnten, führten zeitweise regelrechte Privat kriege gegen das Toucan Tango und seine Besucher. Der Ideenreich tum variierte zwischen hasenherzigen Pöbeleien von den Fenstern aus über heimliche Reifenstechereien bis hin zu offenen Prügeleien. Leiser war es dadurch in all den Jahren, die Warner die Fehden mit verfolgte, allerdings noch nicht geworden. Er hielt sich da raus. Wenn er es darauf anlegte, konnte er tagsüber schlafen – der ruhigsten Zeit in diesem Teil der King Street. Und so müde, wie er jetzt war, empfand er die Klänge, die mühe los bis in die Tiefgarage sickerten, sogar als angenehm. Wie jeden Montag und Dienstag war Jazz-Time angesagt. Warner stieg aus seinem Dienstwagen und kickte die Tür ins Schloß, ohne abzuschließen. Das tat er hier unten nie. Erstens, weil die Eisengitter vor der Einfahrt nur mit einem genau abgestimmten Code-Geber zu bewegen waren, und zweitens, weil es, na ja, eben nur ein Dienstwagen war …
An der Decke brannten grellweiße Neonröhren, deren Licht aber nicht die Schatten der Pfeiler und Querträger auflöste. In den fünfzehn Dienstjahren hatte Warner sich ein Gefühl für Ge fahr angeeignet, auch wenn keine sichtbaren Anzeichen dafür vorla gen. Dieses Gefühl sagte ihm, ehe er sich drei Schritte vom Wagen ent fernt hatte, daß ihn jemand beobachtete. Er blieb stehen, zog lässig eine Zigarettenpackung aus der Außen tasche seines Jacketts und ein vergoldetes Feuerzeug aus der Innen tasche. Mit den Lippen fischte er eines der Stäbchen heraus, knüllte die Restpackung zusammen, als sei sie leer, und schleuderte sie achtlos zu Boden. Dann steckte er die Zigarette in Brand. Ehe er das Feuerzeug zurücksteckte, nahm er einen tiefen Zug und entließ den Rauch durch die Nase. In derselben Bewegung, mit der er das Feuerzeug wieder verstau te, umklammerte er den Knauf seines Dienstrevolvers im Schulter holster. Zugleich verließen drei Gestalten in unmittelbarer Nähe ihre De ckung. »Mister Warner?« Sie kamen mit freundlichem Lächeln auf ihn zu. Aber kein Freund wartete kurz vor Morgengrauen in einer ver schlossenen Tiefgarage, wenn er nicht zufällig auch im selben Haus wohnte. Warner kannte die drei nicht. Es waren keine Freunde. »Detective Jeff Warner?« rief ein anderer. Sie waren adrett gekleidet – alle drei. Nur das maskenhafte Lä cheln erinnerte mehr an Wachsfiguren denn an lebendige Wesen. Warner hatte immer noch die Hand unter der Jacke. Wenn die drei
wußten, wer er war, mußten sie auch ahnen können, was er krampf haft festhielt. Es schien sie nicht zu belasten. »Wer will das wissen?« »Wir«, lächelte das eine Wachsgesicht. »Warum so schüchtern? Sind Sie es?« fragte ein anderes. Warner nickte. »Stehenbleiben!« »Aber, aber. Warum so ablehnend? Wir haben Informationen über eine Geschichte, die Sie interessiert. Wie wir hörten, interessiert Sie fast nichts anderes mehr. Dem können wir entgegenkommen …« »Wovon reden Sie?« Als die drei noch näherrückten, zog Warner den Revolver und zielte auf sie. »Stehenbleiben!« wiederholte er. »Ich scherze nicht!« »Wir auch nicht«, erfuhr er. »Trifft sich das nicht prima? Wir schei nen auf einer Wellenlänge …« Daran zweifelte Warner. Er hatte das ungute Gefühl, daß sich die drei Unbekannten nicht einmal von dem geladenen Revolver, den er jetzt demonstrativ entsicherte, aufhalten lassen wollten. »Von welchen Informationen sprechen Sie?« »Die Serie, der Sie auf die Spur gekommen sind.« Was wußten die Kerle von dem Ausdruck in seiner Tasche? »Die … Morde?« fragte er. Die Mündung seiner Waffe zielte auf den Mittleren. »Keine Morde …« Der Anvisierte verzog das Gesicht. Schöner wur de es dadurch nicht. »Wir reden von Notwendigkeiten.« »Notwendigkeiten?« »Wie sähe die Welt aus, wenn lauter … Kreaturen herumliefen?« Warner mißfiel, daß fast jede seiner Fragen mit einer Frage beant
wortet wurde und er nichts damit anfangen konnte. »Was soll das Gerede? Stehenbleiben, verdammt!« Sie mußten taub sein. Oder lebensmüde. Oder beides zusammen. Warner schoß. Blitzschnell senkte er den Lauf und ließ das Blei in den Boden ha cken. Es heulte als gefährlicher Querschläger durch die Garage und schlug in eines der geparkten Autos ein. Der Denkzettel verfehlte seine Wirkung noch fataler als die vor ausgegangenen Versuche, die Begegnung gewaltfrei zu klären. Als wäre der Schuß das Signal gewesen, begannen die Gesichter der drei nun tatsächlich wie Wachs zu zerfließen. Warner war von dem Vorgang so geschockt, daß ihm der Revolver wie von selbst ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal losging. Eine Kugel für jeden. Mitten in die Brust der Monsterfratzen! Warners Hand hatte schneller begriffen, womit er es zu tun hatte, als sein Verstand. Die drei Figuren fielen nicht. Sie kamen wie Zombies auf ihn zu. Die Zeit des Redens war vorbei. Zeit zu sterben, dachte Warner dumpf. Begreifen konnte er es immer noch nicht. Zwei Kugeln verschwanden im Kopf des Mittleren und blieben ir gendwo in dem verformten, pelzüberzogenen Schädel stecken. Er marschierte weiter wie bisher. Was sich in der Garage abspielte, lag jenseits von allem, woran Warner glaubte.
So wie das Gebäude in der Paddington Street. Die Revolvertrommel war leer. Sechs Schüsse. Fünf Volltreffer, die keine Wirkung zeigten … Er versuchte sein Heil in der Flucht zu finden. Aber sie holten ihn ein, ehe er richtig auf dem Absatz gedreht hatte. Stählerne Arme griffen zu. Nichts Unmenschliches war ihnen fremd, diesen drei Gestalten, die schnurstracks aus der Hölle gekommen sein mußten! Als zwei ihn festhielten und der dritte zielstrebig Warners Kopf umfaßte, begriff er hellsichtig, was sie über die Fälle mit den Genick brüchen wußten. Es brauchte nur noch eine kurze, aber unzweifelhaft heftige Bewe gung, um Detective Jeff Warner in diese traurige Serie einzureihen … Das Rasseln des Torgitters ließ die Hände um Warners Schädel im letzten Moment innehalten. Der befürchtete Knacks blieb aus, als Scheinwerferbündel über den Boden der Zufahrt huschten und laute Musik ertönte. Warner stürzte zu Boden. Stampfender Techno-Sound, der auch vor der Verunglimpfung sa kraler Musik nicht haltgemacht hatte, schwoll an, rückte näher. Neben ihm wanden sich die drei Schauergestalten im Takt der har ten Rhythmen. Der offene Wagen rollte langsam auf sie zu. Als der Punkt erreicht war, an dem die Grenze des Erträglichen für emp findliche Ohren endgültig überschritten wurde, flohen die Gepeinig ten schreiend Richtung Ausgang. Warner richtete sich ungläubig auf, als der Wagen neben ihm hielt und die Musik abgestellt wurde, die bei aller Verfremdung ihre
Wurzeln in kirchlichen Klängen hatte. »Um Gottes willen – weiterlaufen lassen!« schrie er und hangelte sich an der Tür hoch. Nelly Shumway, die ein Stockwerk unter ihm wohnte, tippte ihm verständnislos gegen die Stirn. »Zuviel beschlagnahmten Stoff ge nascht, Bulle, ey?« erkundigte sie sich einfühlsam. Warner legte sich selbst halb über sie, um an ihre niedliche 500Watt-Bord-Jukebox zu gelangen, und drehte voll auf. Er hätte alles getan, damit die kugelsicheren Typen nicht noch einmal zurück kehrten. Die hastenden Schritte waren verstummt. Nelly schien nicht abgeneigt zu sein, ihm weiter Gastfreundschaft auf ihrem Schoß zu gewähren. Warner hatte nicht vor, es in An spruch zu nehmen, obwohl Nelly unter den tieferen Schichten ihres Make-ups ein ganz adrettes Wesen sein konnte. Ohne die geringste Chance, bei diesem Lärm verstanden zu wer den, seufzte er: »Ich hätte nie geglaubt, mich über das Auftauchen einer Verrückten wie du einmal zu freuen, Nelly. Aber es ist so. Ich gestehe …«
* Secada zuckte vor der dämonischen Erscheinung zurück, in die sich die Frau verwandelt hatte, nachdem er sie über das Geländer gesto ßen hatte. Hatte sie gelogen, als sie davon sprach, der Weg hinaus führe nur über den Keller? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß der Keller näher lag. Er floh die letzten Stufen nach unten und sah nicht mehr zurück zu dem
feuerspeienden Drachenmaul, das ebensogut Illusion wie Wirklich keit sein konnte. Secada unterschied nicht mehr zwischen diesen beiden Möglich keiten. Er wollte nur noch dem Horror entkommen! Alles, was er je über paraphysikalische oder parapsychische Phä nomene zu wissen glaubte, hatte er von sich gestreift. Es war nutzlos. Es war lächerlich. Absolut lächerlich gegen das, was tatsächlich möglich war! Seit Betreten dieses verschlingenden Gebäudes glaubte er an Sa tan, Beelzebub, Hexerei, Nekrophilie, alles Okkulte und an Magie. Ganz besonders an Magie. Vorbehaltlos! Hatte Virgil Codd gewußt, wohin er ihn schickte? Daß er ihn ins Verderben schickte? Secada arbeitete mit Codd seit einem Jahr zusammen. Der Polizei chef hatte ihm in Aussicht gestellt, mittelfristig eine eigenständige Abteilung innerhalb der Behörde aufzubauen, deren Leitung Secada übernehmen sollte. Angeblich ging es darum, sich die Möglichkeiten der Parapsychologie für kriminalistische Ermittlungen zunutze zu machen. Damit war Jahrzehnte zuvor schon einmal – vorwiegend in den Ländern des damaligen Ostblocks – experimentiert worden. Greifbare Ergebnisse schien man trotz spektakulärer Einzeltalente nie erzielt zu haben. Daß ausgerechnet die Polizei von Sydney nun darauf zurückkam, hatte Secada von Anfang an verwundert. Doch die in Aussicht ge stellte einmalige Chance hatte er sich nicht entgehen lassen wollen, auch wenn sich die Zusammenarbeit mit Codd bereits nach kurzer Zeit als äußerst strapaziös entpuppt hatte.
Was Secada immer noch nicht begriff, war, daß Codd ihn schon vor Wochen auf »ein Gebäude, das nicht betreten werden kann«, hingewiesen hatte – lange vor dem Zwischenfall, der die Polizeiakti on ausgelöst und zur Absperrung dieses Hauses in der Paddington Street geführt hatte, auf das Codds Umschreibung absolut zutraf. Hatte er dieses Gebäude gemeint, oder war es doch eine rein zufäl lige Übereinstimmung? Wenn er es aber gekannt hatte, warum hatte er nicht schon vorher etwas dagegen unternommen oder ihn, Secada, vorbeigeschickt? Ein infernalisches Geräusch machte Secada darauf aufmerksam, daß er sich einen ungünstigen Zeitpunkt ausgewählt hatte, um alte Kamellen auszugraben. Das Fundament, das das Haus trug, schien die Last abschütteln zu wollen. Von überall her drang Knirschen, als käme es zu Verschie bungen im felsigen Untergrund, die sich auf das darauf Erbaute übertrugen. »Wohin willst du? Warte!« Sie tauchte am Ende der Treppe auf und war noch perfekter als zuvor. »Nenn mich Esha!« Seine Jugendliebe hatte Esha geheißen. Vor langer, langer Zeit … »Verschwinde!« zischte Secada. »Oder zeig mir den Ausgang! Ent scheide dich!« Es war kein Mut, der ihn so auftreten ließ. Es war der Beginn völli ger Resignation. »Einmal noch«, bat sie. »Liebe mich noch einmal! Ich brauche dich so sehr …!« Sie nannte sich nicht nur Esha, sondern sah jetzt auch so aus. Seca da begriff, daß sie seiner unerwidert gebliebenen Liebe schon vorher
geähnelt hatte, ohne daß es ihm bewußt geworden war. Der Gedan ke machte ihn rasend. »Warum tust du mir das an?« schrie er. Esha trat ihm nackt entgegen und drehte ihm den Rücken zu. »Nimm mich!« bat sie. Er schüttelte den Kopf. Er ging auf sie zu. Streckte die Hand aus. Berührte das Trugbild, das sich echter als die Wirklichkeit anfühlte. Das Blut schoß ihm in den Kopf. Sein Ver stand schrumpfte zur Größe einer Erbse. Seine Finger machten sich selbständig. Er riß sich die Kleidung vom Leib. Esha wartete gedul dig. Dann streckte sie ihm ihren wundervollen Po noch fordernder entgegen und liebkoste ihn mit Worten, bis er ihr gab, wonach ihr der Sinn stand. Seine Hände krallten sich in ihr Fleisch. Den Rhyth mus bestimmte sie. Secada vergaß, daß sie beide standen. Er vergaß, wo er war. Bis sie unter seinen Händen hart wurde. Hart wie … knorriges, totes Holz! Ungläubig starrte er auf das, in das sie sich verwandelt hatte: ein monströses, alraunenähnliches Wurzelgebilde, das zu Boden stürzte und sich in seine morschen Teile auflöste, als er es losließ! Secada zerrte die Hosen nach oben. Der Wahnsinn flackerte nun endgültig in seinem Blick. Über, unter und neben ihm knirschte das Haus. Der Kellerboden war an etlichen Stellen aufgebrochen. Mäch tige Wurzeln sprengten den Stein. Secada begriff, daß es von hier aus nur einen Weg in die Erde, nie mals jedoch aus ihr und diesem Gefängnis heraus geben konnte. Er wandte sich der Treppe zu, die bis zur Hälfte ihrer Höhe auch
wie eine Riesenwurzel aussah. Von seinen Kräften verlassen, zog Se cada sich am Geländer nach oben. Stufe um Stufe. Mühsam entfern te er sich aus der Tiefe. Eine Ewigkeit quälte er sich nach oben. Er wagte nicht, zurückzublicken. Er hatte Angst, sie könnte wieder un ten stehen und nach ihm winken. Ihn locken und verschlingen. Halbtot erreichte er das Ende der Treppe und trat durch die Kel lertür. Das Haus strahlte in rotem Schein. Rahmen an den Wänden zeig ten bewegte Bilder. Auf einigen erkannte Secada sich wieder. Wäh rend seiner High-School-Zeit. Mit Esha. Mit Freunden, die er aus den Augen verloren hatte … Er torkelte weiter. Da war Licht geradeaus; das sich von der nebli gen Röte unterschied. Er stolperte, fing den Sturz mit den Händen auf, schlug sich aber trotzdem die Knie blutig. Sofort schien der Bo den tausend Zungen zu gebären, die ihm das Blut ableckten. Secada rappelte sich krächzend auf und taumelte weiter. Auf das Licht zu, das ihn zu der Türattrappe führte. Die Tür stand sperran gelweit offen. Ein Widerspruch in sich. Aber das war Secada längst egal. Er zog Kraft aus der Hoffnung, es vielleicht doch noch zu schaffen. Die letzten Meter legte er auf allen vieren zurück. Das Haus seufzte glückselig, als er es verließ. Es ließ ihn gehen. Es widmete seinen Hunger denen, die draußen waren. Es folgte Secada …
* Lilith umklammerte Horas Kehle. Woher sie das Selbstbewußtsein
nahm zu glauben, sie könnte ihn so besiegen, wußte sie nicht. Hinter ihr hasteten Schritte, schnalzten Zungen. Es klang aggressiv und voller Haß. Hora legte die eigenen Hände wie Schraubzwingen um Liliths Ge lenke und löste ihre Finger von seinem muskulösen Hals. Er genoß die zwingende Eleganz, mit der er dies tat. Lilith starrte in seine Wolfsaugen. Sie sah, daß die Metamorphose Horas Zähne in messerscharfe Hauer verwandelt hatte. Ein kurzer, scharfer Befehl stoppte seine Sippe. »Du bist viel schwächer, als wir glaubten.« Hora lachte. »Landru neigte schon immer zu Übertreibungen. Oder sind es die zwei Jahre, die dir fehlen? Laut Prophezeiung solltest du erst nach hundert Jah ren das stinkende Nest, das die Hure dir baute, verlassen …« Er lachte wieder. Zum letzten Mal. Etwas fächerte auseinander. Etwas stülpte sich wie eine Kapuze über Horas haariges Haupt und von dort aus weiter, über seine Schultern, über Brust, Bauch und Rücken … Weiter. Bis zu den Füßen. Hinter Lilith machte sich Entsetzen breit. Vor ihr starb Hora, als würde er unter dem, was sich wie ein schwarzer, flexibler Schlauch um ihn geschmiegt hatte, ersticken. Aber Vampire erstickten nicht. Etwas anderes, gegen das Hora keine Mittel besaß, mußte sich un ter der dünnen Hülle abspielen. Obwohl die Dunkelheit der Magie des Vampirs entgegenkam. Er war nicht wehrlos. Daß er dennoch starb – das schürte das Entsetzen und ließ die viel jüngeren, viel schwächeren Sippenangehörigen zurückweichen.
Feige drohten sie Lilith mit gespreizten, klauenartig nach unten gebogenen Händen. Lilith versuchte, von dem strampelnden Vampir wegzukommen. Es ging nicht. Über das Kleid war sie mit ihm verbunden. Was Hora tötete, war ein Teil des Kleides. Wieder entwickelte es Eigeninitiati ve, um einen Vampir zu vernichten. Es wartete nicht, bis Lilith ihm zuvorkam. Und es schien die Wahl der Mittel zu besitzen. Bei Hor rus waren es medusenartige Tentakel gewesen, die, was getan wer den mußte, taten – hier war es eine Art »unentrinnbare Haut«, die Hora zum Verhängnis wurde! Der Todeskampf des alten Vampirs dauerte nur Sekunden. Dann sank die dunkle Hülle in sich zusammen, als hätte jemand ein Ventil geöffnet. Mit einem peitschenden Geräusch schnellte das Gebilde wieder dorthin zurück, woher es gekommen war. Niemand sah ge nau, wie es geschah. Auch Lilith nicht. Das Kleid wirkte wieder wie ein schwarz-rotes Catsuit, und auch von Hora war nichts zurückge blieben … Ehe die anderen Vampire sich von ihrem Schock erholten und be griffen, daß Lilith ihre Überzahl mehr zu fürchten hatte als sie Lilith, nahm sie ihre unterbrochene Flucht wieder auf. Vor lauter Aufregung bemerkte sie nicht, daß ihr eigenes, norma lerweise anmutiges Gesicht sich zu einer Grimasse verändert hatte, die ihr mütterliches Erbe deutlich verriet. Wodurch das Wachstum ihrer Eckzähne angeregt worden war – ob etwa durch Horas Sterben –, war nicht zu bestimmen. Schon nach kurzer Zeit wurde die Luft von unbeschreiblichen Haßtiraden durchdrungen. Die Vampire hatten die Verfolgung aufgenommen. Lilith wünschte sich, fliegen zu können wie sie. Sie fühlte plötz lich, daß sie es konnte. Aber sie fand nicht den Spruch oder den Ge
danken, der es bewerkstelligt hätte. Der Pfad wurde noch schmäler. Als Lilith Licht sah, hoffte sie, es könnte endlich der dämmernde Morgen sein. Aber es war ein künstlicher Schein. Licht, das aus irgendeinem Grund … weh tat. Sie hetzte dennoch weiter darauf zu. Hinter ihr wurden die Schreie leiser, als fielen die Verfolger zu rück. Vor Lilith wuchsen Mauern auf. Hohe Mauern, aus schweren, Jahrhunderte alten Bruchsteinen zu sammengefügt und von farbigen Bleiglasfenstern durchsetzt. Eine Kirche! Über dem Portal, wo sich der Bau zu einem Turm aufbäumte, prangte ein gewaltiges Kruzifix mit lebensgroßer Heilandfigur. Die Dornenkrone schien aufzuglühen, als Lilith hochschaute. Löste sich dort ein Blutstropfen aus dem umkränzten Haupt …? Sie konnte gerade noch zur Seite springen und ausweichen. Der Tropfen verschwand, ohne Schaden anzurichten. Aber Lilith fragte sich, was geschehen wäre, wenn er sie getroffen hätte. Trotzdem stemmte sie sich gegen das Portal. Die Tür war unverschlossen und knarrte so laut, daß sich das Echo an den Innenwänden brach. Lilith hatte begriffen, daß dies der einzige Ort in weitem Umkreis war, der ihr Schutz vor ihren Verfolgern versprechen konnte. Sie selbst litt unter den Ausdünstungen, die ihr Schüttelfrost und Fieber zugleich zufügten. Sie schlug die Tür hinter sich zu und taumelte schwerfällig weiter
auf das Licht der vielen Kerzen zu, die im vorderen Kirchenschiff brannten. Beim Altar löste sich eine Gestalt. Sie trug ein Priestergewand und kam Lilith mit langsamen, zurückhaltenden Schritten entgegen. Die Ornamente auf der Kutte strahlten unerträgliche Hitze aus. Lilith blieb stehen. Sie wäre wieder nach draußen geflohen, wenn sie es gekonnt hät te. Aber die Atmosphäre lähmte sie gründlicher, als sie erwartet hat te. Das menschliche Erbgut ihres Vaters schien vor dem unheiligen Einfluß ihrer Mutter zu kapitulieren. Noch ehe der Priester sie erreichte, brach Lilith zwischen den lee ren Bankreihen zusammen. Sie nahm noch wahr, wie sich der korpulente Mann in der Soutane über sie beugte – und entsetzt vor dem, was er in ihrem Gesicht er blickte, zurückzuckte. Dann kam Finsternis von einer Dichte, daß Lilith zweifelte, je wie der daraus hervorzutauchen. Der Priester bekreuzigte sich. Liliths Körper bäumte sich selbst in der Ohnmacht auf, fiel dann schlaff zu Boden zurück und regte sich nicht mehr. Ihre Züge ent spannten sich, und die verräterischen Zähne zogen sich unter die blassen Lippen zurück.
* Detective Warner gab Vollgas. Als er sich endlich von der zur Klette mutierten Lebensretterin Nelly befreit gehabt hatte und sein Apartment betreten konnte, hatte das Telefon gesummt. Aus der Polizeizentrale war ihm mitgeteilt
worden, daß sich in der Paddington Street etwas Furchtbares ereig nete, von dem noch niemand zu wissen schien, was es war. Er hatte kein Wort über das verloren, was ihm Furchtbares widerfahren war. Hals über Kopf hatte er sich in Marsch gesetzt. Schon von weitem hörte er das Getöse, das jedem Vulkanausbruch Ehre gemacht hätte. Wenn es noch Schaulustige gegeben hatte, so hatte sich die Menge inzwischen aufgelöst. Vereinzelt sah Warner Menschen in Panik durch die Nacht irren. Zuletzt ging es motori siert überhaupt nicht mehr weiter, weil querstehende Unfallfahrzeu ge die Straße verstopften. Auch sie waren verlassen, als hätten die Menschen die Beine in die Hände genommen und wären geflohen. Wovor? Was war mit den Anliegern? Hatten sie sich in ihren Häusern ein geschlossen? Nirgends brannte Licht. Auch die Straßenlaternen waren ausgefal len. Warner mußte aufpassen, daß er sich nicht an einem der Hinder nisse, die überall herumlagen, verletzte. Die letzte halbe Meile zum Ziel zog sich endlos hin. Aber es wurde heller, auch ohne daß Lampen brannten. Über dem Grundstück mit der Nummer 333 lag fahles, unwirkli ches Licht wie ein in greller Sonne gebleichter Regenbogen. Warner hastete darauf zu und begegnete endlich ersten Kollegen. Aber deren Uniformen sahen aus, als hätten ihre Träger versucht, sie sich vom Leib zu reißen. Niemand schien auf Warner gewartet zu haben. Auch die Polizis ten flohen von diesem Ort. Warner mußte handgreiflich werden, um eine der konfusen Ge stalten zu stoppen. Er hielt ihn grob am Arm fest und schrie: »Was ist hier passiert, Serge? Was?«
Die großen, starren Augen des Mannes belebten Sich. »Sie sind es, Sir«, keuchte er. »Ich –« »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht, Sir. Ich glaube …. niemand weiß es. Die Erde bebte, Sir. Dann … dann griff etwas nach den Kollegen, die am nächsten zum Haus standen. Dort war eine Tür aufgesprungen. Eine Tür, Sir. Das geht doch nicht, oder? Da war keine Tür vorher … Aus der Tür torkelte dieser uralte Kerl, ich weiß nicht, wer. Er lief auf uns zu, und hinter ihm stürzten die Leute wie Dominosteine um … Es war wie bei dem Bautrupp, Sir – nur schlimmer. Viel, viel schlim mer. Die Leute wurden binnen Sekunden zu Mumien. Sie starben alle, Sir …!« Warner hatte wie betäubt zugehört. Er glaubte dem Mann nicht. »Und Sie? Konnten Sie sich retten?« Der Polizist nickte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hoffe. Ich weiß nicht, ob es nicht schon in mir steckt … Bitte, Sir, lassen Sie mich gehen …« »Kennen Sie meinen Assistenten?« schrie Warner ihn an. »Needles …« Er nickte. »Haben Sie ihn gesehen?« Er nickte wieder. »Wo?« Der Polizist schürzte die Lippen, auf denen sich salzige Ränder ge bildet hatten. Dann rief er plötzlich unter Tränen: »Er war einer der ersten, die es erwischte, Sir! Einer der ersten … Bitte, lassen Sie mich jetzt los …!« Warner ließ ihn los. Der Uniformierte torkelte davon wie ein Blatt im Wind. Warner trabte weiter.
»Halt, Sir!« holte ihn noch einmal die Stimme des Serganten ein. »Gehen Sie nicht weiter, Sir! Es ist sinnlos! Das Haus ist verschwun den – die Erde hat es verschlungen. Dort lebt nichts mehr. Bleiben Sie stehen! Es wird Sie sonst auch noch töten …!« Warner ließ sich nicht bremsen. Er sprintete durch die Toröffnung in der Gartenmauer. Die Vegetation schien von einem Buschfeuer niedergemäht worden zu sein. Oder sie war endgültig verdorrt. Ein unglaublicher Anblick erwartete ihn. Das Haus 333, Paddington Street, war spurlos von der Bildfläche verschwunden. Aber kein Krater gähnte an seiner Stelle. Überall war ebener, geschlossener Boden, auf dem, wie wahllos verstreut, Körper lagen. Tote. Und über allem wölbte sich der fahle Lichtbogen, der allmählich schwächer wurde. Die Kleidung der Leichen war unversehrt. Warner fand Needles problemlos unter den zumeist uniformierten Opfern. Sein Assistent war nur noch anhand dessen, was er am Körper trug, zu identifizie ren. Als Warner sah, was aus ihm geworden war, reckte er die Fäus te zum Himmel und schrie in den grauenden Morgen: »Warum? Was geschieht hier? Welcher Gott ist dafür verantwort lich …?« Er schrie, bis er vor Heiserkeit keinen einzigen Ton mehr heraus brachte. Er blieb lange allein. Erst als das Tageslicht die toten Hüllen zu fressen begann, kehrte Leben auf das öde Grundstück zurück …
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Lilith träumte. Es war ein sehr wahrer und zugleich sehr seltsamer Traum: Sie sah das Haus ihrer Geburt in einem Erdrutsch versinken. Die Spalte schloß sich spurlos und hinterließ keine Narben. Aber alle Pflanzen inner halb der Mauern des Anwesens waren mit dem Haus verschwunden. Dann regnete es. Nur kurz. Die Farbe des fallenden Wassers war Rot. Danach sprossen überall neue Pflanzen, bis auf eine runde Fläche genau im Zentrum des Grundstücks. Eine Lichtung blieb frei, bis sich ein einzel ner Trieb aus der Erde bohrte, wuchs und zu einem kleinen Bäumchen wurde, das binnen kürzester Zeit Früchte trug. Früchte des Verderbens … ENDE
Besessen von Adrian Doyle Nur knapp ist Lilith ihren Verfolgern entkommen – um vom Regen in die Traufe zu geraten. Denn als Zwitterwesen, halb Mensch, halb Blutsauger, muß sie nicht nur die Vampire fürchten. Ihre Zuflucht in höchster Not ist eine Kirche. Vor dem Priester bricht sie zusammen. Pater Lorrimer erkennt sofort, was für ein We sen da vor ihm liegt. Und faßt einen folgenschweren Entschluß: durch einen Exorzismus ihre verderbte Seele zu retten. Er ahnt nicht, welche Mächte draußen vor dem Tor lauern, als er den jungen Priester-Aspiranten Duncan Luther losschickt, die nöti gen Utensilien zu besorgen. Und das Unheil nimmt seinen Lauf …