Friedhelm Werremeier
Der Richter in Weiß
Roman
WELTBILD
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Friedhelm Werremeier
Der Richter in Weiß
Roman
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn)
Der Richter in Weiß © 1971 by Friedhelm Werremeier Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: NDR/Sachse Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Brigitte Beerenberg ist schön. Fast beängstigend schön, jedenfalls für Paul Trimmel, den Hamburger Kriminalhauptkommissar. Aber ist sie auch eine Mörderin? Nein – glaubt der berühmte Psychiater Professor Dr. Robert Kemm, ihr »Richter in Weiß«. Und er will auch nicht glauben, daß seine attraktive Patientin geistesgestört ist… Immerhin hat sie – das gibt sie von Anfang an zu – ihren Mann erschossen. Notwehr? Eifersuchtswahn? Oder – undenkbar für Kemm – doch Mord? Trimmel, mürrisch und dickköpfig wie immer, macht sich zu diesem Fall seine eigenen Gedanken. Doch Professor Dr. Kemm, der sich in seine Patientin verliebt hat, schirmt sie ab… Sowohl die Fernsehfassung, als auch die Romanvorlage zählen zu den absoluten Tatort-Klassikern und waren beide große Publikumserfolge. »Richter in Weiß« löste in der Kritik, die dem Werk dokumentarische Präzision bescheinigte, heftige Diskussionen über das Gutachterproblem in der Justiz aus. Die TVErstausstrahlung am 10.10.1971 war hochkarätig besetzt: In dem von Peter Schulze-Rohr inszenierten Krimi spielten Erika Pluhar und Helmut Käutner neben Walter Richter die Hauptrollen. Der Münchner Staranwalt Rolf Bossi trat in einer Gastrolle als Verteidiger auf.
1
Das Telefon reißt ihn aus dem Tiefschlaf, nachts um halb zwei. »Hier ist Höffgen!« sagt die Stimme; wer anders könnte es sein? Und was anders könnte es sein als ein Mord? »Schöne Aussicht!« sagt Höffgen. Das ist eine Straße an der Alster, das ist nicht etwa ein Witz zur falschen Zeit. Und Trimmel macht sich noch zwei oder drei Notizen und sagt benebelt: »Ich bin gleich da…« Er hat einen ziemlichen Kater, und er bestellt sich vorsichtshalber ein Taxi. Kaltes Wasser ins Gesicht, ein paar Striche mit dem Elektrorasierer, Kölnisch Wasser und zwei Kopfschmerztabletten. Er sieht eine leere Bierflasche auf dem Tisch und schüttelt sich. Es soll Leute geben, die gurgeln mit Whisky. Aber das ist doch mörderisch! Die Fahrt von seiner Wohnung in Hamburg-Hamm zur Schönen Aussicht kommt Trimmel vor wie eine Seefahrt bei Windstärke zehn. Als die Alster ins Bild kommt, wird die Gegend besser. Aber Leichen gibt’s überall, und Trimmel entschließt sich tapfer zu einer Zigarette; eine Zigarre würde zu lange brennen. Die Zigarette glüht noch, als er vor dem Haus eintrifft. »Macht zwölf Mark zwanzig!« Beim Wechseln eines Zwanzigmarkscheins fragt der Taxifahrer: »Was ist los?« »Der Teufel!« sagt Trimmel, steigt aus, wirft die Kippe weg und betritt das Grundstück. An die Arbeit, Kollege! Absurdes Theater. Das Bühnenbild ist schon aufgebaut. Ein Streifenwagen fährt gerade ab, ein anderer parkt noch am Bordstein, das Mordauto ist die breite Einfahrt hinauf rückwärts bis vor die Haustür gefahren. Ein paar Leute lehnen
in Morgenmänteln aus den Fenstern der Nachbarhäuser. Es ist jetzt gleich zwei, und der Hamburger Himmel wird ganz allmählich heller. Trimmel stampft durch den Vorgarten; ein uniformierter Beamter, der ihn kennt, grüßt höflich. Die Haustür steht offen wie ein Scheunentor, ein sehr prächtiges allerdings, und in allen Zimmern brennt Licht. Gleich von der Diele kommt man ins Herrenzimmer, bevölkert von den Herren der Mordkommission. In der Tür steht Höffgen, die Hände in den Taschen vergraben. »Hier!« sagt er überflüssigerweise. Dazwischen knallt der Blitz eines Fotografen der Polizei. Es riecht hier nach Geld, registriert Trimmel, und im Augenblick riecht es auch etwas nach Pulver. Es ist sehr kostbar hier, sehr gemütlich und sehr ordentlich – bis auf zwei Dinge, einen Einschuß rechts neben der Türfüllung zur Diele und eine männliche Leiche hinter dem Schreibtisch. Irgendein frommer Geist hat ihr die Hände über dem Bauch gefaltet. »Wer war das?« fragt Trimmel. Höffgen zuckt die Achseln, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. »Seine Frau wahrscheinlich. Erst legt sie ihn um, dann bahrt sie ihn auf…« Von den leicht angewinkelten Füßen des Toten wandert Trimmels Blick die Bügelfalte hinauf zum Gürtel, weiter über die Hände auf dem Hemd unter der geöffneten Jacke bis zu dem roten Fleck in der Herzgegend. Dr. Peter Beerenberg hat erstaunlich wenig Blut verloren, als er starb, man wird den Einschuß nur auf den Nahaufnahmen deutlich erkennen. Aber als ihm, gerade jetzt, schon wieder ein Blitz den letzten Sehnerv tötet, zischt Trimmel die Leute von der Spurensicherung an: »Ich hab’ hier schließlich auch noch was zu tun…«
Da machen sie Pause, hocken sich wie die Moslems auf den Perser in der Diele und rauchen Zigaretten. »Nu fang schon an!« sagt Trimmel. Er steht breitbeinig mitten im Zimmer und sieht der Leiche in die toten Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber er hat Kopfschmerzen und Herzstolpern, und er möchte viel lieber beim Bielefelder Kinderchor beschäftigt sein als bei der Hamburger Mordkommission. »Die Sache ist die«, sagt Höffgen in seiner gründlichen Art, »gegen ein Uhr zehn ruft eine gewisse Brigitta Beerenberg über 110 bei uns an und erzählt seelenruhig, sie habe leider ihren Ehemann erschießen müssen. Die hams erst gar nicht glauben wollen, aber natürlich hamse gleich ‘n Peterwagen hingeschickt und die Kriminalwache verständigt. Von dort aus hamse dann unsern Doktor in Marsch gesetzt und mich angerufen…« »Wo ist denn der Doktor?« fragt Trimmel. Mühselig holt Höffgen eine Hand aus der Tasche und zeigt mit dem Daumen zur Zimmerdecke. »Oben. Unten war nicht mehr viel zu machen. Er gibt der gnädigen Frau ‘ne Spritze…« »Hoffentlich keine, die sie umhaut…« Höffgen sagt, daß die Leiche zu Lebzeiten immerhin Chefarzt beim Holsten-Krankenhaus gewesen ist. Beste Hamburger Gesellschaft, nach außen hin eine gute Ehe. »Das gibt bestimmt Schlagzeilen!« Und außerdem Arbeit, Tag und Nacht. »Was ist mit dem Loch neben der Tür…?« »Soll von ihm stammen«, sagt Höffgen, »er soll zuerst geballert haben. Insofern wär’s möglicherweise kein Mord, sondern Notwehr. Das müssen wir ihr erst mal widerlegen…« »Oder auch nicht!« Ganz plötzlich läuft dem abgebrühten Oberpolizisten Trimmel eine Gänsehaut über den Rücken. Wenn die liebende
Ehefrau Brigitta ihrem verblichenen Mann schon die Hände gefaltet hat, hätte sie ihm in Gottes Namen ja auch die Augen zudrücken können. Sie starren ihn an. Sie sehen aus wie schmelzendes Eis. Der Tod hat eine Menge Requisiten im Zimmer aufgebaut, sieht Trimmel. Die Waffe liegt auf dem Schreibtisch, klein, fast zierlich, eine Mauser WTP, eine Westentaschenpistole, neben ihr zwei ausgeworfene Hülsen. »Kaliber sechs fünfunddreißig«, sagt Höffgen, »was für Damen!« Zwei Gläser stehen herum, eins mit Lippenstift beschmiert, ein halb gefüllter Aschenbecher, zerknautschte Kissen im Sessel. Stative, Kameras, ein Zeichenblock. »Komm!« sagt Trimmel. Als er das Zimmer verläßt, gehen die Spurensicherer nach draußen, drücken dort ihre Zigaretten aus und machen sich wieder an ihre Arbeit. Eine Schwingtreppe, mindestens halb so breit wie die in der Staatsoper. Gedämpfte Stimmen aus einem Zimmer; Trimmel klopft höflich an. »Herein!« sagt die dunkle Stimme einer Frau. Was ist schöner, das Zimmer oder die Frau? Das Zimmer ist ein Salon. Oder ein Boudoir… mit federleichten Rokokomöbeln, Pastell auf Pastell abgestimmt. Die Frau trägt einen altrosafarbenen Hosenanzug, in dessen Halsausschnitt ein lässig geknüpftes Seidentuch steckt, Marke Hermes. Die Haare läßt sie hängen, schulterlang, nußbraun bis rabenschwarz, je nach Lichteinfall. Sie trägt kein Make-up, nur noch Reste von Lippenstift. Den linken Jackenärmel hat sie hochgerollt, und quer zur Vene klebt ein schmales Pflaster. »Frau Beerenberg…?« fragt Trimmel. Sie nickt. »Mein Name ist Trimmel, ich bin mit den Ermittlungen beauftragt…« Fast beiläufig winkt er dabei dem Polizeiarzt zu, der sein Köfferchen zusammenpackt. »Der Doktor hat sicher nichts dagegen, wenn wir uns…«
»Frau Beerenberg steht natürlich unter einer gewissen Schockwirkung«, sagt der Arzt, »aber wenn sie selbst der Meinung ist…« Sie geht zum geöffneten Fenster und nimmt eine moderne Sonnenbrille aus der Jackentasche, mit grünen Gläsern, groß wie Wagenräder, ein hübsches, handfestes Spielzeug. Sie wirkt teilnahmslos, aber das mag tatsächlich der Schock sein. »Ich geh’ noch mal runter!« sagt der Arzt. Und Höffgen, der Trimmel gefolgt war, geht mit. »Sie wollen mich verhören?« fragt Brigitta. Eine Stimme wie blauer Rauch an einem Sommerabend. Aber hinter ihr steigen die ersten Morgennebel aus dem Wasser, zunächst punktförmig, als hätte man unter der Oberfläche der Alster kleine rauchende Feuerchen entzündet. Die Todesnacht geht zu Ende. Nur die Leiche liegt immer noch im Haus, vier Meter unter ihnen. »Haben Sie die Waffe eigentlich auf dem Schreibtisch liegenlassen…?« »Liegt sie da?« Sie setzt die große Brille auf, und er weiß nicht, ob sie ihn ansieht. »Ich habe sie zurückgelegt in die Schreibtischschublade. Irgendjemand müßte sie dann wieder herausgenommen haben…« »Haben Sie Ihrem Mann die Hände gefaltet?« »Sind sie gefaltet…?« Zum Teufel, ja! So geht es nicht weiter. »Haben Sie sonst etwas an der Leiche verändert?« »Nein, nichts…« »Wie haben Sie seinen Tod festgestellt?« »Mit einem Spiegel.« Sie hat da wohl mal was gelesen. »Er… er gab keinen Hauch mehr von sich…« »Wo ist der Spiegel?« »Wahrscheinlich noch unten…«
Aber da kommt der Staatsanwalt, den sie ebenso aus dem Bett geklingelt haben wie Trimmel, und der wird nun endlich eine vernünftige Vernehmung durchführen.
Die Alsternebel haben sich zu einem dichten Laken verwoben und decken eine frühe Barkasse bis auf ihr Tuckern zu. Der Staatsanwalt muß einen Ausweis vorzeigen, als er das Tathaus betritt. Aber auch innen ist niemand von ausgesuchter Höflichkeit, denn Polizisten mögen Staatsanwälte am Tatort meist überhaupt nicht leiden. Der Staatsanwalt marschiert tapfer in das Herrenzimmer mit der Leiche, der sie gerade die Fingernägel reinigen, obgleich es da wenig zu reinigen gibt. Portheine heißt der Staatsanwalt, er ist korrekt vom Scheitel bis zur Gnädigen Frau. In seinem geordneten Leben ist normalerweise – so war’s jedenfalls bis vor kurzem – kein Platz für Leichen. Sogar als er eines Tages sein privates Testament machte, sah er sich im Geiste keineswegs als Leiche, sondern eher als Testamentsvollstrecker, also quicklebendig. Und ausgerechnet dieser Mann trifft den Tod in all seiner Nacktheit. »Faß mal mit an!« sagt ein Polizist zum anderen. Sie ziehen Dr. Beerenberg die Jacke aus. »O nein!« sagt Portheine unwillkürlich, und es klingt wie eine Schutzbehauptung. Aber gehört hat sie niemand, denn Dr. Beerenberg ist mit einem dumpfen Knall zurückgefallen. Jetzt die Hose. Die Leiche ist sichtlich schon etwas klamm. »Muß das sein?« fragt der Staatsanwalt. Diesmal grinst ihm ein Polizist unverschämt ins Gesicht: »Immer nicht. Aber Herr Trimmel ist da eigen… er hat gern einen vollständigen Überblick!« Schlips und Kragen folgen; dazwischen immer ein Blitzlicht. Portheine ist der einzige, dessen Magen revoltiert, obgleich er
am Abend zuvor nichts getrunken hat. Sie könnten ihn auch in der Gerichtsmedizin ausziehen, denkt er. Aber schon ist Beerenberg nackt, noch sonnengebräunt, mit einem weißen Streifen dort, wo im Urlaub die Badehose saß. Höffgen erbarmt sich. Er stellt sich vor, und Portheine gibt ihm dankbar die Hand. »Herr Hauptkommissar Trimmel ist oben bei Frau Beerenberg«, sagt Höffgen, »wenn ich Sie begleiten darf, Herr Staatsanwalt…« Portheine winkt ab. Der Tod, der ihn krank macht, fasziniert ihn zugleich. Er wagt es zwar nicht mehr, Fragen zu stellen, aber er steht in der Gegend herum und sieht den Leuten zu, die das Ende eines Lebens von Amts wegen untersuchen. Ein Schauder jagt den anderen, er friert schon, seit das Telefon geklingelt hat. Bis vor kurzem nämlich war er Staatsanwalt für Verkehrssachen, und der Fall Beerenberg ist sein erster Fall als Sachbearbeiter für Kapitalverbrechen. Einmal muß es ja sein. Aber warum blitzen die Polizisten immer noch, als müßten sie eine Testserie für die Firma Agfa machen? Draußen klingelt es Sturm, dabei steht das Portal immer noch weit offen. »Einen wunderschönen guten Morgen!« sagt der Feuerwehrmann, der ins Zimmer kommt. Dann kommt ein Zinksarg, und dann sagt der zweite Feuerwehrmann: »Auch so, Freunde!« Die Ehrfurcht vor dem Tod schwindet mit der Häufigkeit der Begegnung. »Was ist das doch für ein schöner Mensch!« meint der erste Feuerwehrmann begeistert. »War…«, murmelt Portheine. Denn das ist doch gar kein Mensch mehr, denkt er, das ist eine Leiche, ein menschliches Wrack aus Asche, Muskeln und Knochen! Und sie packen den toten Chefarzt mit dem roten Punkt auf der Brust unter den Armen und an den Füßen, sie helfen nach, als sein rechter Arm
sich dagegen wehrt, in den Zinksarg gepreßt zu werden – und dann legen sie den Deckel auf. »Dicht!« sagt der zweite Feuerwehrmann. »Na denn, tschüs…« Dr. Beerenberg verläßt sein Haus im finsteren Sarg bei strahlendem Licht aller Lampen durch die weit geöffnete riesige Haustür. Wieder ist es Höffgen, der sich um den Staatsanwalt kümmert. »Vielleicht sollten wir jetzt doch…« Portheine nickt. »Natürlich!« Sein Arm, wie zu einem Abschiedsgruß erhoben, sinkt herab. »Oben im Haus, sagten Sie…?« Oben im Rokokosalon. »Wir sollten ein Tonband aufstellen!« ordnet Portheine an. Es ist alles vorhanden; es gibt eine Menge gewaltsamer Todesfälle in Hamburg, und es gibt sie natürlich auch unter der Prominenz. Und dann steht Portheine, wieder selbstsicher und voller Eifer, mit Höffgen neben Brigitta und Trimmel. »Staatsanwalt Portheine!« stellt er sich vor und deutet eine Verbeugung an. Brigitta bekommt einen Schreck, und Trimmel denkt: Gott sei Dank! Er hat immer noch, nach dreißig Fragen, keine Lust, diesem Eisberg Brigitta auch nur ein Seufzen zu entlocken, geschweige denn eine Antwort. Es gibt einen Toten, aber keine Tränen. »Ich darf Ihnen zunächst mein Beileid zum Tod Ihres Gatten zum Ausdruck bringen!« sagt Portheine mit dem Charme des Juristen in mittlerer Position. Er sagt es ohne Stocken, trotz der frühen Stunde, und Trimmel denkt: Endlich nimmt die Sache Form an! »Herr Trimmel hat Sie sicherlich schon auf Ihr Recht zur Aussageverweigerung hingewiesen!« sagt Portheine. Das hat Trimmel bestimmt nicht getan.
Aber dennoch… zu seinem Erstaunen fängt er plötzlich einen blitzschnellen, hellwachen Blick der bisher teilnahmslosen Brigitta auf und hört sie sagen: »Ja, natürlich…« Sucht sie Komplizen oder nur Verständnis? Sie wird bei dem verkaterten Trimmel wenig Glück haben. Und warum lockert sie plötzlich ihr Hundertvierzig-MarkHalstuch, läßt die Perlen unter dem Tuch schimmern und enthüllt das Dekollete eines Filmstars? Vielleicht hat sie sich einfach beengt gefühlt. »Natürlich können Sie jederzeit einen Anwalt Ihres Vertrauens hinzuziehen…«, sagt Portheine. Aber das will sie dann nicht. Sie zeigt zum ersten Mal eine verwirrte, andeutungsweise fast panische Reaktion. »An und für sich, Dr. Loissen«, sagt sie hastig, »aber das geht nicht… Rechtsanwalt Dr. Loissen war mit… mit Peter viel mehr befreundet als mit mir…« »Sie werden aber verstehen, daß wir Ihnen einige Fragen stellen müssen…« »Ja, sicher. Aber geht es denn nicht erst mal ohne Anwalt?« Natürlich geht’s. Und bedauern tut’s sowieso niemand… und so formt sich denn endlich, gegen drei Uhr früh, das erste zusammenhängende Bild der Affäre Beerenberg. Für die Nachwelt gesichert und auf Tonband gespeichert durch Edmund Höffgen, Kriminalhauptmeister. Das braune Band läßt keine Silbe aus. Chefarzt Dr. Peter Beerenberg ist gegen Mitternacht nach Hause gekommen und hat seine bereits schlafende Frau geweckt – er wollte noch einen Whisky mit ihr trinken. Brigitta hat ein Hauskleid übergezogen und sich die Lippen nachgezogen. Aber er hat sie grob gepackt und gebrüllt: »Laß mich gefälligst nicht dauernd warten!« Portheine fragt: »Er hat getrunken…?«
»Er war sehr betrunken«, sagt Brigitta, »Sie werden es bei der… der Obduktion feststellen…« Die Frau eines Arztes; sie kennt sich aus. Chefarzt Beerenberg vom Holsten-Krankenhaus war nach Aussage seiner Frau häufig betrunken und gelegentlich gewalttätig. »Übrigens«, sagt Brigitta, »man muß das Krankenhaus benachrichtigen!« Portheine sieht Trimmel an, und Trimmel nickt: »Machen wir gleich…« Bis zu diesem Zeitpunkt läuft eigentlich alles normal, sofern so was überhaupt normal sein kann. Aber plötzlich läuft der Fall aus dem Ruder. Portheine fragt: »Ihre Ehe war…?« »Nicht sehr glücklich…« »Und warum?« Er bekommt keine Antwort. Deshalb fragt er: »Sie haben Ihrem… ääh, verstorbenen Gatten keinen Grund zur Eifersucht gegeben?« Und da geht es los. Da bricht es aus ihr heraus: »Ich ihm Grund gegeben? Er hat mir Grund gegeben! Bis heute habe ich einundachtzig Geliebte von ihm gezählt, ich bin ja wachsam, letzten Mittwoch habe ich eine nackte Frau hier in der Diele gesehen, ich kann’s Ihnen auf die Sekunde sagen, genau um 19.23 Uhr. Taktvollerweise hat er ausgerechnet am letzten Heiligabend versucht, mir Gift in den Tee zu tun, nachdem ich, natürlich ich, den Weihnachtsbaum geschmückt hatte…« »Gift?« fragt Portheine fassungslos. »Ja, Gift!« sagt sie dramatisch. »Aber ich war schlauer, ich habe den Tee ausgespuckt, wenn er nicht hinsah, und wenn er dann meinte, ich sei schon besinnungslos, dann habe ich alles gehört – alles! im eigenen Haus rumzuhören, wissen Sie… es ist mir immer noch unvorstellbar!«
Ihre Stimme ist schrill, ihre Sätze sind immer schriller geworden. Portheine sieht Trimmel an, reichlich ratlos. Und es geht schon weiter: »Er hat immer getrunken, er hat mich immer verprügelt. Er ist nachts aus dem Haus gegangen, zu seinen hundert Geliebten, wenn sie nicht ins Haus kamen, und ich sollte es nicht merken. Deshalb hat er mir immer ein Tuch über das Gesicht gelegt, ich dachte jedesmal, ich müßte ersticken!« Aber erstickt man denn unter einem Laken? Ist ein Laken geeignet, den heimlichen Auszug des Gatten zu decken? Eine plötzliche Hysterie, sagt sich der Staatsanwalt, noch um eine rationale Erklärung bemüht; ein Arzt müßte her. Aber leider hat der Polizeiarzt, der bisher noch im Haus war, gerade vor ein paar Minuten seinen Kopf durch die Tür gesteckt und Trimmel zugewinkt: er wolle nicht stören, er gehe jetzt. Und er wünsche den Herren – mit zwei Fingern schadenfroh signalisiert – noch alles Gute… »Jeden Freitag«, sagt die hysterische Brigitta, »jeden Freitag war die Hölle los. Jeden Freitag ist er angeblich zum Kegeln gegangen. Aber ich kann Ihnen genau sagen, zu wem er gegangen ist, ich kenne jeden einzelnen Namen, Helga, Bianca, Dori, sogar Patientinnen waren darunter…« »Also, bitte, Frau Beerenberg«, unterbricht Trimmel, »hat er’s denn nun hauptsächlich hier zu Hause getrieben oder außerhalb?« »Beides!« behauptet sie ernsthaft. »Zu Hause war’s aber für mich naturgemäß besonders schlimm…« Dann zerbricht die rauchige Stimme endgültig in stoßweises Schluchzen. »Ruhig, gnädige Frau!« Portheine bietet ihr eine Zigarette an, sie nimmt sie, und er gibt ihr Feuer. Und mit dem Rauch pustet sie ihren Zorn gleich wieder von sich. »Mit Helga und Bianca war er hier im Haus sogar zur selben Zeit zusammen, hier unten, ich kann’s beschwören!«
»Unten in seinem Zimmer?« fragt Trimmel ungläubig. Er stellt sich das breite englische Ledersofa vor, Marke Pöseldorf. Sie nickt. »Das… das Lustgestöhne drang durch alle Räume. Und mehrfach wurde ich von den Frauen ausgelacht. Eine… eine unvorstellbare Erniedrigung, wie Sie sich denken können…« Trimmel denkt an den Mann, der bis vor kurzem noch nackt unten auf der Erde lag, immer kalter werdend. Trimmel hat ihn zum ersten Mal gesehen, als er schon tot war; dennoch kann er sich nicht vorstellen, daß dieser graumelierte Bilderbucharzt Sexualpraktiken der Art, wie die ihm hier von seiner Witwe angehängt werden, kultiviert hat – es paßt nicht zu dieser Leiche. Alles an diesem Mann war steril und sauber, sogar der Herzschuß, mit dem er ins Jenseits ging… Trimmel glaubt der Frau nicht. Und anscheinend fällt sie jetzt auch dem Staatsanwalt auf die Nerven. »Sind Sie in der Lage«, fragt Portheine, »uns endlich den Ablauf des Geschehens zu schildern?« Aber sie ist nicht in der Lage. »Mir ist übel…«, sagt Brigitta Beerenberg kaum hörbar. Die Herren erheben sich etwas ratlos. Da es weit und breit kein weibliches Wesen gibt, das Brigitta begleiten könnte, weder ein Hausmädchen noch eine Polizistin, geht sie schließlich allein ins Bad. Hinter ihr dreht sich der Schlüssel. »Sie wird sich doch nichts antun…?« sagt Portheine ängstlich. Trimmel flegelt sich auf ein Rokokostühlchen und legt die Beine auf den Tisch. »Sie wird sich bestimmt nichts antun, Herr Staatsanwalt. Aber sie ist nicht dicht. Sie kotzt ja schon die ganze Zeit vor sich hin, daß einem schlecht werden kann…« Portheine nickt. »Aber was soll ich machen?«
»Ich an Ihrer Stelle«, sagt Trimmel böse, »würde mir ganz schnell einen Amtsarzt kommen lassen, einen richtigen vom Gesundheitsamt. Dann kann man Ihnen später auch keine Vorwürfe machen… das ist nämlich hier die sogenannte Society, wie Sie sehen, wenn Sie verstehen, was ich meine…« Soviel spricht er selten auf einmal. Portheine nickt. »Ich glaube, Sie haben recht…« Er blättert in seinem Notizbuch und sieht sich nach einem Telefon um. »Unten!« sagt Trimmel. Also geht Portheine nach unten ins Tatzimmer, will den Hörer abnehmen, zögert jedoch und sieht einen der Spurensicherer an. »Darf ich…?« Erst als der Beamte nickt, wählt er die Nummer. »Hallo? Dr. Jensen? Staatsanwalt Portheine, bitte die Störung mitten in der Nacht zu entschuldigen… Nein, nein, diesmal kein verrückter Verkehrssünder…« Der Jurist sucht den richtigen Ausdruck. »Ein Tötungsdelikt, ja… die Täterin macht uns Kopfschmerzen, Sie müssen uns helfen…ja, ja, danke…« Amtsarzt Jensen wird in zwanzig Minuten hier sein. Trimmel steht am Fuß der Schwingtreppe. »Sie ist immer noch im Bad!« Feine Leute machen ständig Schwierigkeiten. Aber als Portheine, gefolgt von Trimmel, die Treppe hinaufgeht und an die Tür zum Bad klopft, öffnet Brigitta sofort. Sie hat sich umgezogen, aus welchen Gründen auch immer, und sie trägt jetzt ein dünnes Nachthemd und einen dünnen Morgenmantel. »Ich bin müde«, sagt sie, naiv und kläglich wie ein Kind, »kann ich jetzt schlafen?« Dabei hat sie noch nicht einmal erzählt, wie die beiden Kugeln durchs Zimmer gepfiffen sind, eine von links nach rechts, eine von rechts nach links, die eine sachbeschädigend, die andere tödlich.
»Nur noch ein Weilchen«, sagt Portheine sanft, »gleich kommt ein Arzt…« »Ich bin müde!« wiederholt Brigitta. Dann sieht sie abwechselnd Trimmel und Portheine an: »Schon wieder ein Arzt? Bin ich denn krank…?« »Vielleicht!« sagt Portheine hastig, ehe Trimmel etwas sagen kann. Und plötzlich redet sie, ohne Aufforderung, fast ohne Übergang. Sie will es offenbar jetzt hinter sich bringen, und sie will die Anklagen gegen ihren toten Mann loswerden, damit sie gar nicht erst selbst zur Angeklagten wird. »Wir haben Whisky getrunken, und ich sah plötzlich eine Gelegenheit, ihm die Meinung über seine… seine Weibergeschichten zu sagen. Da wurde er wütend und brüllte… vorher hatte er mir ja fast schon den Arm gebrochen. Was für Reden er führte? Es war…« – sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten –, »… es war einfach Unflat. Und dann ging er auf mich zu und packte mich, so, sehen Sie, so…« Trimmel erschrickt: Sie wird sich gleich mit bloßer Brust dem Schicksal stellen. Aber ihr dramatischer Griff ans Nachthemd bleibt im Ansatz stecken: nur der halbe Busen wird sichtbar, und auch Portheine atmet hörbar auf. Immerhin läßt sich Brigitta nach der Demonstration in einen Sessel sinken und enthüllt ein schlankes Bein; ein sehr schlankes, sehr langes Bein. »Was hatten Sie an?« fragt Trimmel. Sie überlegt. »Ein gelbes Hauskleid. Von Horn. Ziemlich teuer. Ist mir ja im Grunde egal, aber er hat es zerrissen, es liegt im Schlafzimmer…« Trimmel gibt Höffgen, der immer noch brav das Tonband steuert, einen Wink. Und das Tonband läuft weiter, als Höffgen aus dem Zimmer geht.
»Er schleuderte mich quer durchs Zimmer, dann ging er zu seinem Schreibtisch und schloß seelenruhig die Lade auf, in der die Pistole lag. Ich stand auf, als er auf mich zielte, die Mündung war genau auf mich gerichtet, aber sie schwankte. Es gab einen furchtbaren Krach, ich glaubte, ich wäre tot, und trotzdem sprang ich auf ihn zu, und wir kämpften miteinander…« Sie verhüllt ihren Schenkel, und sie enthüllt den Rest: »Erst das Gift, dann das Erschießen, ein Wunder, daß ich noch lebe. Er wollte mich wegräumen, Platz machen für seine Weiber, er hat meine Seele ermordet und mich geschändet, und dabei hat er mich nicht einmal berührt…« Sie weinte ohne Tränen. »Plötzlich hatte ich die Pistole in der Hand. Es krachte, und… und dann fiel er um. Dann fiel der Weiberheld einfach um und sagte gar nichts mehr…« Und dann lachte sie ohne Herz, und das ist das Allerschlimmste, gellend und irrsinnig, in aller Herrgottsfrühe vor vier. »Hörn Sie auf!« brüllt Trimmel. Aber sie muß sich erst einmal ausschütten vor Lachen. Dr. Jensen redet unter vier Augen bis gegen halb sechs mit Brigitta Beerenberg. Anschließend sagt er: »Sie ist einverstanden, daß wir sie vorläufig einweisen. Am besten nach Rietbrook. Von dort aus will sie ihren Anwalt anrufen.« Portheine ist skeptisch. »Dürfen wie sie überhaupt einweisen, ich meine, wenn es wirklich nur Notwehr war?« Trimmel sagt: »Da leg’ ich mich noch nicht fest. Außerdem, wenn sie sowieso einverstanden ist… was hat sie denn überhaupt, Doktor?« Dr. Jensen macht ein seltsames Gesicht. »Eifersuchtswahn!« Da bleibt den beiden anderen fast der Mund offen. Sogar Höffgen, ein Mann ohne Phantasie, ist beeindruckt.
»Das soll eine Krankheit sein?« sagt Trimmel höhnisch. »Da kenn’ ich aber eine Kompanie von Patienten, Männlein und Weiblein…« Er trägt immer noch das teure Modell von Horn über dem Arm, eingerissen vom Ausschnitt bis etwa zum Bauchnabel; Höffgen hat es im Schlafzimmer gefunden. Aber Jensen ist ihm nicht böse. »Lachen Sie ruhig. Eifersucht und Eifersuchtswahn sind wirklich zwei verschiedene Hüte. Im Endeffekt ist Eifersuchtswahn so ‘ne Art Schizophrenie…« »Und wer sagt das?« fragt Trimmel ungezogen. Jensen zahlt es ihm heim: »Karl Jaspers persönlich, wenn Sie den Namen schon mal gehört haben!« Trimmel sieht auf die Uhr. »Sie hat allerdings ziemlich logisch gehandelt. Ganz schön schnell für jemanden, der geistesgestört ist. Um null Uhr vierzig hat sie ihn umgelegt, und zwanzig Minuten später…« »Das heißt gar nichts. Ihre Intelligenz ist vermutlich intakt. Im Augenblick packt sie ihre Sachen für Rietbrook zusammen, und sie wird bestimmt auch ihre Tampons einpacken, wenn sie in den nächsten Tagen welche braucht!« Vermutlich hat sie inzwischen sogar begriffen, was sie angerichtet hat. Morgen, nein, heute schon setzen sie das Messer bei Dr. Peter Beerenberg an, ein Schnitt vom Kehlkopf bis zum Schambein. Die Gerichtsmediziner werden vor und nach der Obduktion einen äußeren und einen inneren Befund beschreiben, Gewebsund Organproben entnehmen und ein kleines Geschoß aus einer Herzkammer vorsichtig weitergeben… Hatte Brigitta, als sie schoß, wirklich keine andere Wahl? Keine Chance? Müßige Fragen, die Trimmel noch nicht entscheiden mag und der Staatsanwalt nicht entscheiden kann.
Brigitta Beerenberg wehrt sich nur, als der von Dr. Jensen gerufene Krankenwagen kommt und sie auf eine Trage gelegt werden soll: »Muß das sein? Ich kann doch laufen!« Aber es muß angeblich sein, und die Menge draußen, die in der Schönen Aussicht zusammengelaufen ist, kriegt endlich was zu sehen. Der Wagen fährt mit ihr davon in Richtung Rietbrook. Der Psychiater dort heißt Robert Kemm. Der Schauplatz wechselt, das Theater geht weiter. Absurdes Theater, blutig, nackt und makaber. Trimmel und Höffgen sind die einzigen, die noch im Tathaus bleiben. »Sieh doch mal nach«, sagt Trimmel zu Höffgen, »ob du nicht doch irgendwo ‘ne Flasche Bier findest!« Nur wegen der Kopfschmerzen.
2
Kemm der Große ist klein von Statur, aber sein Gehirn wiegt soviel wie das von Albert Einstein. Kemm der Große hat den härtesten, größten und dicksten Schädel der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie. Er kann damit denken, anderen Leuten imponieren und sogar durch Wände gehen. All das tut er ziemlich häufig. Er sieht das Leben durch eine randlose Brille scharf und ohne Vorurteile an. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Höchstens lästig. Dieser Tage hat eine vom Portier gerufene Polizeistreife im Park seiner Anstalt Rietbrook ein Liebespaar erwischt. Spätabends, im Auto, unten und oben ziemlich ohne. Kemm war noch im Haus, man bat ihn höflich um eine Entscheidung. »Laßt sie doch bumsen!« sagte er und schloß die Tür. Daraufhin kam das Liebespaar mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung davon – wegen Befahrens eines nichtöffentlichen Weges mit einem Kraftfahrzeug… Kemm ist viel beschäftigt und das Seelenleben seiner Patienten interessiert ihn mindestens ebenso wie die Anlage der Blumenrabatten im wunderschönen grünen Park von Rietbrook. Kemm ist nämlich Professor der Universität Hamburg und zugleich Chefarzt und ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses Rietbrook. Seine Vorlesungen sind immer überfüllt, und seine Stationen auch. Weibliche Patienten sind ihm lieber als männliche. Je jünger, je lieber. Denn heilig ist Professor Kemm, genannt der Große, niemals gewesen – und trotzdem nennt man ihn den Papst der
deutschen Seelenheilkunde. Was er sagt, ist automatisch zum Dogma erklärt. »Ein schöner Morgen!« sagt er, als er am 24. Juni seine Thronsäle betritt. Beschlossen und verkündet: Es wird nicht regnen. Und es ist früher Morgen, auch wenn es schon heftig auf den Mittag zugeht. Kemm zieht die Jacke aus, und die Sekretärin Vandebosch hängt sie sorgsam in den Schrank. Oberarzt Dr. Lorff spielt in Kemms Privatbüro in einem gelben Schalensessel Karussell, und Kemm fragt gutgelaunt: »Was lungern Sie denn schon so früh hier herum?« Das Karussell stoppt. »Stets zu Diensten, Herr Professor. Frohe Botschaft: Sie kriegen Arbeit…!« »Wieso ich? Wozu halte ich mir einen fähigen Oberarzt?« »Weil es Ausnahmen gibt, Herr Professor. Extraordinäre Fälle für den Meister persönlich. Brustumfang 96, wenn Ihnen das noch was sagt, und stinkreich. Die schönste Schützenkönigin, die es je gab…« »Sie meinen«, sagt Kemm, »sie hat…?« »Genau. Sie hat einen umgelegt, und zwar ihren eigenen Mann!« »Wie heißt sie denn?« fragt Kemm. »Und was soll das eigentlich, Ihre Grinserei?« »Sie heißt BB, und so sieht sie auch aus…« Kemm legt Wert auf den saloppen Ton zwischen ihm und dem Oberarzt. »Ich nehme an, Sie wollen mir nicht die Bardot persönlich verkaufen. Also…?« »Sie heißt Brigitta Beerenberg, wenn Ihnen der Name was sagt. Eine Puppe, sag’ ich Ihnen… Professor müßte man sein…« Kemm rollt seine Manschetten auf und sieht hinaus in den Park von Rietbrook. Drei oder vier hübsche Schwestern
schreiten über die gepflegten Aschenwege. »Beerenberg«, sagt er, »Beerenberg. Ist das nicht ein Arzt hier in Hamburg?« »Sogar ‘n Chefarzt. Holsten-Krankenhaus. Ist bekannt als guter Chirurg, das heißt, er war… er hat einen sauberen Herzschuß abgekriegt, ‘ne glatte Zwölf!« Da runzelt sogar Kemm die Stirn. »Wie reden Sie denn, Lorff! Der Mann ist schließlich tot!« »Sag’ ich ja die ganze Zeit«, verteidigte sich Lorff, »man soll ja auch über Tote nichts Schlechtes reden, aber dieser Beerenberg ist wohl auch zu Lebzeiten kein Engel gewesen, wie man so hört. Die Geschichte sieht glatt nach Notwehr aus. Erst hat er sie verprügelt, dann hat er auf sie geschossen, zum Glück daneben, und dann erst war sie dran. Man muß sich bald schämen, Mediziner zu sein, man schießt doch nicht auf wehrlose Frauen…« »Man legt normalerweise auch keine Ehemänner um!« sagt Kemm. Was selten vorkommt, heute geschieht es. Der reichlich muntere Privatdozent Dr. med. habil. Erich Lorff geht seinem Meister ziemlich auf die Nerven.
Kein Wölkchen am Himmel, als Brigitta Beerenberg in Rietbrook erwacht. Mit offenen Augen liegt sie ein paar Minuten bewegungslos im Bett. Ihr Kopf ist dumpf, irgendwas haben sie ihr ja gegeben… die Kopfstütze jedenfalls ist zu hoch, und ihr Genick schmerzt. Weiß in Weiß ist das Zimmer, fremd und steril. Sie hebt die Decke hoch. Sie trägt wenigstens ihr eigenes Nachthemd. Und auf dem Tisch neben dem Bett liegt die Platinuhr, Peters letztes Geschenk… Sie springt plötzlich auf und rennt zur Tür. Flüchten will sie, auch wenn sie fast nichts an hat. Aber die Tür ist verschlossen.
»Bitte läuten Sie, wenn Sie einen Wunsch haben«, steht an der Wand. Dabei gibt es doch Wünsche, die hier sicher niemand erfüllen kann, denkt Brigitta. »Guten Morgen, Frau Beerenberg!« sagt die Schwester, die auf ihr Läuten hin erscheint. Sie hat die Tür von außen aufgeschlossen. »Wie geht es Ihnen, was kann ich für Sie tun…?« »Ich möchte duschen«, sagt Brigitta, »mich ein bißchen zurechtmachen. Und den… den Chefarzt sprechen…« »Selbstverständlich!« Nur höfliche Schwestern halten sich auf der Privatstation von Professor Kemm. »Ihren Morgenmantel, Frau Beerenberg…« Die Schwester öffnet den weißen Schrank, und es ist fast schon ein Glücksgefühl, das Brigitta durchströmt, als sie ihre eigenen Kleider sieht. »Gleich neben Ihrem Zimmer ist das Bad…« Sie streichelt unter der heißen Dusche ihren Körper, von oben nach unten, von den Brüsten zum Schoß. Es ist ihr gleichgültig, daß die Schwester zusieht; sie schämt sich selten, sie kennt ihren Körper. Die Schwester wartet mit einem weißen Bademantel. Soll sie warten, denkt Brigitta; es geht ihr endlich wieder gut. Später nimmt Brigitta Beerenberg ihrer Dienerin in Schwesterntracht den Spiegel aus der Hand und ordnet selbst ihr langes dunkles Haar. Botticellis Venus hatte goldenes Haar, ansonsten sehen sich die Damen ziemlich ähnlich. »Tee, bitte…!« sagt Brigitta. Vor dem kunstvollen, dezenten Makeup ißt sie ein weiches Ei. Privatdozent Dr. Lorff ist beeindruckt, als er gegen halb eins Brigittas Zimmer betritt. Er war heute morgen bei ihrer Einlieferung dabei und hat sie längst nicht so schön in Erinnerung. Die Rede, die er schon auf der Zunge hatte –
»Nun, schöne Frau, wie haben wir’s denn so?« – wird gar nicht erst gehalten. Denn das hier ist nicht nur eine Frau, die ihren Mann erschossen hat, das ist eine Dame. Kemm war gut beraten, als er seine Privatstation auch auf die geschlossene Abteilung ausdehnte. »Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns…«, sagt er. Trotzdem nickt sie: er hat sie heute früh in Empfang genommen – und er war’s, der ihr ein Schlafmittel gegeben hat. So ist sie wenigstens für drei Stunden zur Ruhe gekommen, vielleicht auch für vier oder fünf. »Sind Sie der Professor?« fragt sie kindlich. Er grinst nicht, er lächelt nur. »Leider nicht, gnä’ Frau, das dauert noch eine Weile. Aber ich habe mit Herrn Professor Kemm über Sie gesprochen. Haben Sie schon gegessen?« »Noch nicht!« meint Schwester Ingeborg vorwurfsvoll. Aber Brigitta sagt: »Doch, doch. Ein Ei und Toast. Ich möchte jetzt nichts essen…« »Gut«, sagt Lorff, »ich bin nämlich hier, um Sie zu fragen, ob Sie sich in der Lage fühlen…« »Ja, natürlich. Deshalb bin ich ja hier…« Das Personal der Station FA 1 (privat) hat damit gerechnet, daß Professor Kemm die Patientin Beerenberg selbst sehen möchte. Ingeborg holt den Morgenmantel. »Sollen wir Sie fahren…?« Brigitta dankt, sie geht lieber zu Fuß. Und als die Schwester den Arm reichen will, wehrt sie brüsk ab. Lorff geht eine Weile hinter der kleinen Karawane her, aber es gibt wirklich nichts zu tun. Also biegt er rechts ab. Im weißlackierten Fahrstuhl unterdrückt Brigitta Beerenberg krampfhaft die Frage nach dem Alter von Professor Kemm. Robert Kemm hat viele Gesichter hinter der randlosen Brille, und er spricht viele Sprachen: schnoddrig, pathetisch,
väterlich, messerscharf und salbungsvoll. Er ist neunundfünfzig, und das steht in jedem Archiv. Kemm hat sich von dem Schock erholt, der ihn getroffen hat, als er den Namen Beerenberg hörte. Meisterlich hat er den kritischen Punkt überspielt, Lorff hat nichts gemerkt. Ausgerechnet Beerenberg. Die Akten, noch dünn, bestätigen es: Ehefrau beziehungsweise Witwe des Chefarztes Dr. Peter Beerenberg. Vorläufig eingewiesen durch Amtsarzt Dr. Jensen vom Besenbinderhof. Anruf vom Amtsgericht, Einweisungsbeschluß wird nachgereicht. Seitens der Frau keine Einwände, die nächste Zeit in Rietbrook zu übernachten. Anwalt noch nicht aufgetaucht, vermutlich Dr. Loissen. »Einer von diesen verdammten Starverteidigern!« knurrt Kemm. Vermutlich Notwehr nach Paragraph 32 oder 33 StGb, dann wird sie sehr bald wieder draußen sein, nach 126a Absatz 3 StPO. Oder aber, es ist nicht alles so klar, und es kommt ein Gutachtenauftrag über Staatsanwalt Portheine, in Rietbrook immer noch als ›Verkehrsheine‹ bekannt. Im übrigen viel Geld, angeblich viel Busen und hoffentlich nicht zuviel schmutzige Wasche aus Kollegenkreisen. Kemm läßt sich von Frau Vandebosch den weißen Kittel über das maßgeschneiderte Hemd streifen und geht Brigitta Beerenberg, die schon in der Tür steht, neugierig und mit ausgestreckten Händen entgegen. »Gnädige Frau…!« sagt er salbungsvoll. Dann zunächst nichts mehr, bis Brigitta in einem der Schalensessel versunken ist und er in dem anderen. Sie weiß nicht, ob er überhaupt gehört hat, wie sie »Professor…!« gehaucht hat. »Es sind nicht gerade die glücklichsten Umstände, die uns hier zusammenführen«, sagt er leise, aber seine Stimme trägt auch beim Flüstern, »wir beklagen gemeinsam den Tod Ihres Gatten, natürlich kannte ich ihn!« Das stimmt sogar, wenn es
auch nicht gerade eine kollegiale Bekanntschaft war. »Ein sehr fähiger Arzt. Es wäre mir sehr viel lieber gewesen, ihn auf einem Kongreß wiederzusehen als ihm jetzt als… als Cadaver humanis in den Akten zu begegnen…« »Sie meinen beim Ärztetag?« fragte Brigitta aggressiv. Wo anders sollten sich Psychiater und Chirurgen sonst begegnen? »Richtig, gnädige Frau, goldrichtig.« Er deutet aus dem Fenster. »Dort der Park, der wunderschöne Park von Rietbrook. Das Leben. Und dort hinten…« – eine gelbe Hütte mit braunem Dach, die Leichenhalle, denn auch in der Psychiatrie sterben manchmal Menschen – »… der Tod. In meinem Park dürfen die Leute aus ganz Hamburg Spazierengehen, habe ich entschieden, auch die Gesunden. Denn Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod liegen dicht beieinander, wo eigentlich ist die Grenze?« Brigitta hat immerhin soviel von der ärztlichen Kunst ihres verstorbenen Mannes mitbekommen, daß sie, damals nach den ersten Herzverpflanzungen durch Barnard, die Diskussionen um den Eintritt des klinischen Todes zur Kenntnis genommen hat. »Die Grenze zwischen Leben und Tod«, sagt sie gelangweilt, »ist doch, wenn zwölf Stunden keine Gehirnströme mehr auftreten…« »So ähnlich!« sagt er leicht amüsiert. Dieser Beerenberg hat eine komische Frau gehabt. »Das Schicksal hat uns zusammengeführt«, fährt er fort, »weil Ihr Mann die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten hat, durch Ihre Hand…« »Ich habe ihn erschossen, aber…« »… aber soll ich deshalb verurteilen?« unterbricht er schnell. »Man kann niemanden verurteilen, man muß jeden beweinen. Ein psychiatrischer Standpunkt, gemischt mit etwas Lebenserfahrung und einem Schuß Sentimentalität. Schuß ja, ja…« – seine Hand bleibt wie ein katharinisches Kreuz in der
Luft stehen – »… der Doppelsinn unseres Wortschatzes führt uns hinter das Licht unserer Wissenschaft…« »Was soll das alles?« fragt Brigitta. Sie wird gleich weinen, schreien, eine Bombe werfen oder ihn kratzen. Kemm ist auf der Hut, als er weiterspricht. »Warum haben Sie Ihren Mann erschossen? Antworten Sie nicht, noch nicht. Wir müssen es gemeinsam ergründen, und wir werden viel Zeit brauchen…« »Mir ist alles egal!« »Sehen Sie«, sagt er, »eine natürliche Reaktion…« Aber so natürlich erscheint ihr das nicht. »Sie können hundertmal sagen, daß ich verrückt bin. Sie können auch sagen, das ist alles ganz natürlich. Das ist doch dummes Zeug, ganz egal, was Sie sagen…« Sie ist verdreht, sagt sich Kemm. Wenn sie nicht Beerenberg hieße, würde er sie zum Teufel jagen beziehungsweise zu seinem Oberarzt. Aber ihr Mann war nun mal der Chefarzt Beerenberg, und das wirkt auf Kemm wie ein magischer Auftrag. Außerdem zahlt sie wenigstens die Differenz zwischen der stationären Begutachtung und der Ersten Klasse. Sie hat Vorrechte, und Kemm kommt zur Sache. »Sie waren verheiratet seit…?« »Seit sechs Jahren. Es war eine Liebesheirat. Peter… Dr. Beerenberg… er hatte es sehr eilig…« »Ich verstehe. Und? ist es so geblieben…?« Sie hebt die wohlgerundeten Schultern, die Seide spannt sich. »Hätte ich ihn dann umgelegt?« Umgelegt… »Es gibt Theorien«, sagt er schockiert, »die eine Tötung als intimste Form menschlicher Zweisamkeit darstellen…« Damit kann sie wenig anfangen. »Geschmacklos!« »Geschmacklos wie Ihre Wortwahl!« sagt er, scheinbar böse. »Die Wissenschaft richtet sich selten nach Begriffen aus wie
Geschmack und dergleichen. Sie sind als… äh, Frau eines Arztes sicherlich meiner Ansicht, daß uns der Wortschatz unserer Umgangssprache im Augenblick weiterbringt als der Fundus unseres Latinums…« »Was wollen Sie eigentlich?« »Ich will alles über Ihre Ehe wissen. Davon müssen wir leider ausgehen, damit müssen wir anfangen…« Angewidert sagt sie: »Eine müde Sache. Nur fremde Frauen. Ich habe vor etwa sechs Monaten zum letzten Mal mit meinem Mann Geschlechtsverkehr gehabt!« »Eine ziemlich lange Pause…«, sagt Kemm sarkastisch. Diese Frau soll verrückt sein? Er fühlt sich hintergangen und genasführt. »Ihre Auskunft bringt uns näher an die eigentlichen Probleme unseres Gesprächs. Es werden delikate Probleme sein. Mein Oberarzt hat mir gesagt, Sie wollen Ihren Anwalt erst morgen konsultieren…?« »Frühestens, ja…« »Und Sie sind trotzdem bereit, sich hier und jetzt behandeln und untersuchen zu lassen? Sie sind in gewisser Hinsicht freiwillig hier, wie Sie wissen dürften…« Aber Brigitta ist eine praktische Frau, wenn der Eifersuchtswahn sie nicht gerade gepackt hat. »Ich habe meinen Mann erschossen«, sagt sie nochmals, »der Aufenthalt in Rietbrook erspart mir doch wohl eine Untersuchungshaft, oder?« »Möglicherweise. Sie sind hier in einer geschlossenen Abteilung, wenngleich ich da…« – er lacht etwas selbstgefällig – »… meine eigenen Vorstellungen durchsetzen konnte…« Jetzt senkt sie demütig den Kopf, und die dunklen Haare fallen wie ein Vorhang aus schwerer Seide über ihre Wangen und Augen. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Professor…«
So gefällt’s ihm. Wenn es eine Schau ist, ist es eine gute Schau. »Ich möchte Sie dann fragen, gnädige Frau, ist Ihre eheliche Gemeinschaft sehr plötzlich zu Ende gegangen?« »Sehr plötzlich. Aber ich ahnte es. Ich war ihm in der letzten Zeit vor dem… dem Ende unserer sexuellen Beziehung vielleicht nicht mehr die Geliebte wie früher…« »Dr. Beerenberg war nicht Ihr erster Mann?« Ein fast obszönes Lachen. »Was wollen Sie hören?« »Eine Zahl«, sagt Kemm, »wenigstens eine geschätzte…« Brigitta denkt nach, nicht nur über Zahlen. Auch über Gesichter, schnelle Autos, komfortable Hotelzimmer, teure Kleider und gefährliche Briefschaften. Kemm läßt ihr Zeit. Er ist nicht überrascht, als sie antwortet. Er wundert sich nicht einmal über den gleichgültigen Tonfall. »Vierzig. Vielleicht fünfzig. Ich war Fotomodell und Mannequin und viel auf Reisen…« Sie wundert sich, als er das Gesicht verzieht, ganz kurz nur, ein Wetterleuchten in diesem klugen, heiteren Gesicht. »Wußte Ihr Mann«, fragt Kemm, »daß Sie… sagen wir, überdurchschnittlich viele Männer vor ihm kannten?« Wieder denkt sie nach, um eine präzise Antwort bemüht. »Er hat nie gefragt. Ich habe nie von mir aus darüber gesprochen. Es kam vor, daß mir einer meiner ehemaligen Freunde zufällig auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung begegnete. Natürlich haben wir uns dann begrüßt, und ich habe ihn auch meinem Mann vorgestellt. Es war niemals peinlich…« Ganz allmählich geht das Gespräch zwischen Arzt und Patientin in die Kurve, die Kemm von vornherein angesteuert hat: Eifersucht. Ziemlich das einzige Wort, das ihm aus der vorläufigen Diagnose von Dr. Jensen in Erinnerung geblieben ist. Der Mann wird sich etwas dabei gedacht haben. Aber für überlegene Geister wie Kemm ist es zunächst gleichgültig, wer in einer solchen explodierten ehelichen Gemeinschaft
eigentlich wen eifersüchtig gemacht hat. Das Gift heißt Eifersucht, und es hat zwei Menschen gezeichnet, nicht nur einen. »Mit wie vielen Männern«, fragt Kemm direkt, »haben Sie nach Ihrer Eheschließung geschlafen?« Brigitta wird leicht unruhig. »Ich nehme an, daß dieser Punkt wie einige andere unter Ihre ärztliche Schweigepflicht fällt?« Kemm lächelt nachsichtig. »Es wird vielleicht eine Gerichtsverhandlung geben, Frau Beerenberg. Es gibt Ärzte, die als Gutachter in einer solchen Verhandlung den Patienten und den Angeklagten nicht mehr auseinanderhalten können und delikate bis intimste Einzelheiten zur Kenntnis des Gerichts bringen. Ich gehöre nicht zu ihnen, wenn Sie mir das bitte abnehmen wollen!« Sie glaubt es ihm nur zu gern. »Es waren zwei. Zwei Männer neben Peter. Einer war ein… ein von mir in alkoholisiertem Zustand und sehr leichtfertig provozierter Zufall, unter dem ich hinterher sehr gelitten habe. Der andere… nun ja, ich habe vier Wochen gedacht, es sei Liebe…« »Wann?« fragt Kemm. »Vor… warten Sie: vor zwei Jahren. Es war aber keine Liebe, und die Leidenschaft ist ziemlich schnell abgekühlt…« Kemm schnellt sich wie eine Feder aus seiner Sesselschale – anders kann man kaum aus diesen Möbeln hochkommen – und geht dozierend auf und ab. »Ihr verstorbener Mann hätte also in gewisser Weise durchaus Grund gehabt, auf Sie eifersüchtig zu sein. Wie ich gehört habe, hat er Sie mehrfach bedroht und sogar tätlich angegriffen. Eine solche Situation führte schließlich, ich muß es leider hin und wieder zur Sprache bringen, zu seinem Ableben. Glauben Sie, Frau Beerenberg, daß der Grund seiner körperlichen Attacken – gegen die Sie sich naturgemäß zur Wehr setzten – mit dem Wort Eifersucht zu umschreiben wäre…?«
Er lockt sie sehr geschickt aus der Reserve. Er hat die Sprache gewechselt: von salbungsvoll über pathetisch zu messerscharf. »Oder wurden Sie von der Eifersucht gefoltert…?« »Alle glauben, ich bin verrückt«, sagt Brigitta leise, »verrückt vor Eifersucht, und deshalb soll ich ihn wohl auch erschossen haben…« »Und? Ist es so?« Sie schüttelt den Kopf, langsam und verzweifelt. »Er war mich leid…« – ihre Stimme senkt sich, keine Frau sagt das gern –,»… und hat mich betrogen, Nacht für Nacht. Er hat mich ausgelacht, wenn ich wollte, daß er mit mir schläft. Ich war ihm weniger wert als ein schmutziges Bild…« »Es sind schon Menschen aus geringerem Anlaß getötet worden!« sagt Kemm. Aber da sieht sie ihn groß an, wechselt abrupt den Tonfall und sagt mit überlegener Frechheit: »Sie wissen genau, daß Sie dummes Zeug reden. Es war allenfalls ein… ein unglücklicher Zufall…« Eigentlich sollte er jetzt beleidigt sein. Sie riskiert eine Menge, sie hat Nerven wie Stahldrähte, und sie verfügt über die Kaltschnäuzigkeit eines Fotomodells. Aber nur über diese einzige Tatsache ist Kemm verstimmt, nicht über die Reden, die sie führt: Fotomodelle sind für Kemm den Großen die schlimmsten Tiere in Gottes Zoologischem Garten, vermutlich deshalb, weil sie ihn ein paarmal übel gebissen haben. Das Modell Brigitta hat Geschlechtsverkehr gesagt, wo der behutsame Arzt noch vom intimen Beisammensein gesprochen hätte. Es nennt einen außerehelichen Beischlaf einen alkoholbedingten Zufall und hat fünfzig Playboys mit der Elastizität einer Sprungfedermatratze über sich ergehen lassen. Die Dame von Welt, entscheidet Kemm, ist überraschend ordinär.
Und er entscheidet sich, die körperliche Untersuchung selbst vorzunehmen.
Kemm ist kein Säulenheiliger, und er war zweimal verheiratet, einmal geschieden, einmal Witwer durch Krebs. Er hat schon Erektionen gehabt, wenn er hübsche Patientinnen körperlich untersuchte. Aber im Augenblick hat er keine Erektion, denn Brigitta Beerenberg ist zwar sein Fall, aber nicht sein Geschmack. Noch nicht. Er führt sie in das Behandlungszimmer, den größten Raum in der üppigen Zimmerflucht des ärztlichen Direktors. Es gleicht einem mittelgroßen, mit den modernsten Geräten ausgestatteten Operationssaal und wird verwaltet von der Medizinalassistentin Niemann. Er komplimentiert Brigitta in einen Sessel, der für ein Ordinationszimmer viel zu lasziv ist. »Machen Sie bitte den Mund auf…?« Die Assistentin Niemann sitzt aufmerksam auf einem Hocker neben Brigitta. Mit leicht belegter Zunge sagt Brigitta zunächst einmal »Aaah…« Die Frage stellt sich, wer ›B‹ sagen wird. Merkwürdig, daß die Assoziation sowohl Kemm als auch Brigitta durch den Kopf geht. Fräulein Niemann macht sich derweil bereits die ersten Notizen. »Eine leichte Laryngitis!« diktiert Kemm der Gründliche. Er trägt einen Spiegel mit einer Lampe auf der Stirn, die Luxusausfertigung einer Grubenlampe. Fräulein Niemann nimmt den Befund zu Protokoll; damit ist die leicht rauchige Stimme von Brigitta Beerenberg prosaisch medizinisch erklärt: eine schlichte Entzündung im Kehlkopf, eine verschleppte Erkältung.
Kemm nimmt ein Gerät, das wie ein glühender Bleistift aussieht, und bohrt Brigitta einen Lichtstrahl in die Augen; es schmerzt leicht. »Schwach verfärbte Iris, unbedeutend!« Gerade als Kemm der Patientin tief ins Auge blickt, stellt Frau Vandebosch ein Telefongespräch durch, und Kemm sagt verärgert: »Was ist denn nun schon wieder los?« Dabei ist vorher noch gar nichts losgewesen. Fräulein Niemann nimmt das Gespräch an, sagt dreimal »Ja!« und wendet sich dann ungerührt an Kemm. »Dr. Lorff braucht mich auf FA 2. Es ist dringend…« Als sie fort ist, zögert Kemm. »Wenn Sie wollen, können wir die Untersuchung unterbrechen…« Aber Brigitta lächelt aus dem rechten Mundwinkel: »Sie sind der Arzt!« Denn das ist der Augenblick, den sie vielleicht erhofft hat, mit dem sie aber nicht rechnen konnte. Die Möglichkeit zum Konto-Ausgleich, bisher hat sie da ein paar deutliche rote Zahlen. Und sie wäre keine Frau, keine wenigstens intellektuell intakte Frau, wenn sie nicht längst spürte, wie dringend sie diesen Mann gebrauchen kann, wieviel Macht er über sie hat. Und Kemm sitzt in der Klemme. Ganz tief und allein. »Machen Sie sich bitte frei…«, sagt er schließlich. Sie legt den Mantel und die wenigen hauchzarten Dessous auf einen Ledersessel, es dauert nur Sekunden. Nackt steht sie dann vor ihm und schämt sich nicht im geringsten, und Kemms Eindruck ist zum allerletzten Mal negativ wie eine schwarzgeränderte Todesanzeige: im Namen der Hinterbliebenen, die trauernde Prostituierte… »Legen Sie sich bitte dort auf die Couch!« Da legt sie sogar ihr allerletztes Stück ab, die kostbare Uhr aus Platin. Leicht aufgestützt, einer nackten Herzogin von Goya nicht unähnlich, beobachtet sie den Professor. Er ist
länger als sonst mit seinen Vorbereitungen beschäftigt. Er mag nicht mehr hinsehen – oder noch nicht. Denn er muß sich eingestehen: Wenn er eine Abneigung gegen die Patientin Beerenberg hat, ist es eine intellektuelle Abwehrreaktion gegen eigene menschliche, allzu männliche Gefühle. Ist das angenehm für einen Mann, der in fremden Seelen herumstochert? Brust 96, hat Lorff gesagt. Er hat offensichtlich recht, aber es ist kein Grund zur Aufregung. Taille und Hüfte entsprechend. Gab es da früher nicht Kommilitoninnen, die dem jungen Genie Kemm Entsprechendes boten? Später Ehefrauen, die nicht von Pappe waren und in der Hamburger Gesellschaft gern gezeigt und gesehen wurden? Freundinnen, deren Vorzüge auf sehr viel kleineren Gesellschaften zur Geltung kamen? Hatte es nicht auch… Ja, Agnete. Agnete hatte es auch gegeben. Gott hab’ sie selig. Kemm ist verwöhnt, aber er ist auch anfällig. Er hat sich in der letzten Zeit zuviel mit seinen Blumenrabatten beschäftigt. Er hat sich bei dem Entschluß, die Patientin BB selbst zu untersuchen, selbst belogen. Eine alte Rechnung kommt hinzu: Er wollte sie demütigen, hat er sich eingeredet. In Wirklichkeit wollte er sie sehen, nichts mehr – ohne Scham und ohne alle Hüllen. »Sie müssen sich flach hinlegen!« sagt er. Die Abwehrreaktion wird schwächer. Und dabei ist es immer noch die Couch des Internisten, nicht des Psychiaters. Professor Kemm nimmt das Stethoskop, steckt die Schläuche in beide Ohren und sagt: »Ruhig atmen. Tief ein. Tief aus. Nochmals ruhig…« Sie nützt ihre Chance. Die Auskultation von Herz und Lunge – natürlich sind Herz und Lunge bei ihr in Ordnung – erzeugt gesunde, ruhige Schläge in Kemms Ohren. Nichts vom Trommelwirbel eines schlagenden Herzens in Not oder
Erregung, nichts vom Rasseln der Überbeanspruchung oder Ekstase. Aber vor seinen Augen hebt und senkt sich die nicht mehr ganz junge und gleichwohl vollendete Brust. »Einen Schönheitschirurgen werden Sie in absehbarer Zeit nicht brauchen!« sagt Kemm. Brigitta lächelt. »Isometrisches Training…« Die Leber ist normal groß, die Galle schmerzt leicht und sollte vielleicht kontrast-geröntgt werden. Körperbehaarung und äußerliche Geschlechtsmerkmale anmutig und ohne Befund. Aber da gibt es Hämatome an den Oberarmen, rechts ein daumengroßer Bluterguß, an der linken Innenseite des linken Arms ein wahrer Pferdetritt. Brigitta deutet mit dem Zeigefinger auf ihre Halsschlagader: auch dort ist ein blauer Fleck. »Nicht lebensgefährlich…«, sagt Kemm beruhigend. Immerhin sprechen die Symptome, wenn schon nicht für einen Würgevorgang, so doch für eine mittelgradige Gewaltanwendung. »Hat Ihr Mann Ihnen das zugefügt…« Sie nickt. »Er hat mich… sehr heftig angegriffen. Der Streit, der… der dann zu diesen ganzen schrecklichen Dingen führte…« Eins ist dem Psychiater aufgefallen. Wenn immer ein heikles, delikates oder tragisches Geschehen zur Sprache kommt, macht Brigitta mitten im Satz eine Pause. Sozusagen drei Punkte. Zusätzlich wiederholt sie ein Wort. Und noch einmal formuliert Kemm einen für die nackte Dame nicht sehr schmeichelhaften Gedanken: Sie ist eine Schauspielerin. Sie kennt ihre erprobten Tricks. Aber sie muß sie sehr häufig anwenden, denn ihr Repertoire ist sehr, sehr schmal… Er zwingt sich zur Sachlichkeit. Vorurteile, welcher Art auch immer, sind in diesem Stadium der Untersuchung unangebracht und sogar schädlich.
Kemm fährt fort in der Untersuchung, mit erfahrenen Händen und einem silbernen Hämmerchen. Gesunde Reflexe runden das positive Bild ab, die Prüfung der Sensibilität ist eine Formsache für eine halbe Zeile im späteren Gutachten. »Ziehen Sie sich bitte wieder an!« sagt Kemm. Seine Stimme klingt jetzt ebenfalls fast laryngitisch heiser. Gegen seine Gewohnheit zündet er sich noch im Behandlungszimmer eine Zigarette an. Dabei steht dort nicht einmal ein Aschenbecher, und eine Instrumentenschale muß herhalten. Gerade noch besinnt sich der Professor auf seine guten Manieren. »Möchten Sie rauchen?« fragt er Brigitta. »Danke, gern…« Sie ist noch ziemlich unvollständig bekleidet. Außerdem hat sie beim Ankleiden den hübschen Wandschirm entweder nicht gesehen oder nicht benutzen wollen. Sie nimmt die ägyptische Zigarette des Professors, läßt sich Feuer geben und raucht mit unverschämt offener Brust – so offen, wie man sie nur seinem Liebhaber oder seinem Arzt zur Schau stellen sollte. Oder seinem Richter in Weiß.
3
Heute morgen hat jemand in St. Georg eine leichte Dame mit einem Messer schwer beschädigt, an ihrem Aufkommen wird gezweifelt. Die Tat wurde gegen elf Uhr entdeckt, die Tatwaffe, scharf und spitz, lag neben der Verletzten, der Täter ist flüchtig. Trimmel wurde aus der Schönen Aussicht abberufen, gerade als dort das Hausmädchen Gabriele eintraf. Er überließ sie Höffgen und fuhr mit einem Streifenwagen zum Polizeipräsidium. Kurz vor Mittag hatte er also zwei Fälle am Hals, einen vornehmen und einen anrüchigen, sozusagen anderthalb Leichen. Er schickte eine Menge Polizisten und Autos los. Jetzt, gegen vierzehn Uhr dreißig, wartet er wie ein General ohne Truppen auf ihre Rückkehr. Zunächst kommt Höffgen. Hechelnd wie ein Polizeihund. Und hundemüde. »Nun?« sagt Trimmel. Höffgen holt Luft. »Alles Quatsch!« Mehr ist offenbar nicht dazu zu sagen. »Wird’s bald…?« drängt Trimmel. »Na gut!« Höffgen reißt sich zusammen. »Das Hausmädchen hat gestern ganz normal Ausgang gehabt. Also höchstens eine Leumundszeugin. Für den verblichenen Doktor allerdings eine sehr gute…« »Hatte sie ein Verhältnis mit ihm?« Da muß selbst Höffgen lachen. »Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich…« Bei allem Verständnis, etwas ausführlicher könnte er sich schön äußern. »Sie ist also nicht besonders schön!« sagt
Trimmel. »Aber soll ich dir vielleicht die Würmer aus der Nase ziehen?« »Nein, nein. Aber er hat seine schöne Witwe nie vergiftet, es sei denn, er hat mit dem Mädchen unter einer Decke gesteckt. Das Mädchen hat nämlich immer den Tee gemacht und auch die Martinis gemixt…« »Natürlich!« sagt Trimmel. Er ist verärgert, weil er sich überhaupt um Brigittas alberne Behauptungen kümmern muß. Natürlich gab es außer Zucker, Zitrone und der üblichen Darjeeling-Mischung keine anderen Zutaten im Tee der Familie Beerenberg. Arsen, Zyankali oder Betäubungsmittel schon gar nicht. »Ich möchte wetten, daß er nachts auch nicht fremdgegangen ist…« Höffgen nickt. »Das Mädchen hätte es hören müssen. Ich hab’s mir angesehen…« Er grinst. »Die gute Gabriele ist richtig rot geworden, als sie mir ihr Schlafzimmer zeigen mußte. Sie hat zwei Zimmer parterre, gleich neben der Haustür. Ziemlich hellhörig…« »Und was ist mit den angeblich so vielen nackten Weibern im Haus?« Höffgen grinst stärker. »Ich hätte sie bestimmt gern persönlich überprüft. Aber es gibt sie gar nicht, Gabriele hat nie eine einzige gesehen. Wirklich alles Quatsch, das hab’ ich Ihnen doch schon gesagt…« Mehr ist im Augenblick nicht drin. Kein Lustgestöhn im Haus und wenig Alkohol. Höffgen geht in ein anderes Zimmer, um ein Bier zu trinken und seinen schmalen Bericht zu schreiben. Trimmel ruft bei der Gerichtsmedizin an: »Schon ein Ergebnis über den Promillegehalt?« Bei tödlichen Schußverletzungen geht es schneller als nach Schlangenlinien im Straßenverkehr. Und endlich eine bestimmte Überraschung für Trimmel: »Das ist zwar noch
nicht endgültig, aber Dr. Beerenberg hatte tatsächlich eine ganze Menge getrunken. So um 1,9, als er starb, ein ziemlicher Rausch…« »Allerdings«, sagt Trimmel, »schönen Dank auch…« Fast zwei Promille hat er wirklich nicht erwartet. Im umgekehrten Fall – wenn Dr. Beerenberg seine Frau erschossen hätte – wären das bestimmt mildernde Umstände gewesen. Jetzt muß Trimmel, wenn auch äußerst ungern, zugeben, daß die hysterische Brigitta wenigstens in einem Punkt die Wahrheit gesagt hat. Zwischendurch kommen ein paar von den St.-Georg-Leuten. Sie erzählen Einzelheiten, die ihn nicht interessieren. Am Ende teilen sie Trimmel mit, sie hätten bereits eine heiße Spur. »Dann laßt sie besser nicht kalt werden!« sagt Trimmel mürrisch, und sie gehen wieder los. Zwei junge Kriminalanwärter kommen von einer Tournee durch Pöseldorf, Harvestehude und Uhlenhorst zurück. Sie stehen wie Zwillinge in der Tür und bauen Männchen. Gott sei Dank reden sie nicht im Chor. »Melden Herrn Kriminalhauptkommissar«, sagt der eine, »unsere Ermittlungen sind…« »Rühren!« sagt Trimmel. Manchmal kann er fast väterlich sein. »Ihr seid hier nicht bei der Schutzpolizei!« Der erste kriegt einen roten Kopf, und der zweite holt einen Notizkalender aus der Jacke. »Wir haben sechs Herren besucht, die nach Aussage eines Lokals an der Grindelallee regelmäßig freitags mit Dr. Beerenberg gekegelt haben. Das war der Architekt Blauschulte, der Rechtsanwalt Dr. Meister…« Trimmel winkt ungeduldig ab. »Die genauen Namen könnt ihr aufschreiben!«
»… jedenfalls alles Akademiker, Herr Trimmel. Sie haben übereinstimmend ausgesagt, daß Frauen an diesen Freitagen überhaupt nicht zugelassen waren…« »Und nach dem Kegeln?« Nach dem Kegeln, berichten die Beamten, sind die Herren je nach ihrem Alkoholkonsum mit dem eigenen Wagen oder mit der Taxe nach Hause gefahren. Jeder einzelne hat bestritten, nach dem Kegeln noch ein Etablissement aufgesucht zu haben, in dem es schärfer oder schwüler war als in der schweißigen Atmosphäre des Leistungssports für gereifte Herren. »Die Herren waren zum Teil sehr entrüstet, als wir sie fragten. Sie konnten sich auch nicht vorstellen, daß Dr. Beerenberg nach dem Kegeln heimlich noch irgendwo hingegangen ist…« »In Ordnung!« sagt Trimmel. Die beiden Polizisten gehen rückwärts, aber zackig aus der Tür. Sie haben ihn auch nicht viel weitergebracht. Oder doch…? Wer kegelt, haben die beiden ermittelt, sündigt nicht. Wer sündigt, tut das nicht im eigenen Haus unter Mißachtung aller Vorfahrtsregeln, aller Regeln des Anstands und Takts. Das mag zwar nicht auf die komplette Hamburger Gesellschaft zutreffen, aber es kann als gesicherte Erkenntnis im Fall Beerenberg gelten. Trimmel kann jetzt jedenfalls sicher sein, daß Brigitta Beerenberg hinsichtlich der Hurerei ihres verstorbenen Gatten, seiner angeblichen Geschmacklosigkeit in der Benutzung fremder Frauen im eigenen Hause, spinnt oder lügt. Und das ist immerhin schon einiges. Man wird noch nachforschen müssen, ob der Herr Chefarzt einigen seiner vielen Patientinnen überhaupt jemals mehr als eine ärztliche Behandlung zuteil werden ließ. Trimmel steht auf, geht zum Fenster und sieht sich das Gewimmel von Menschen, Autos und Zügen am Berliner Tor an.
Er ist felsenfest davon überzeugt, daß sich in der ganzen großen Trauergemeinde für Dr. Beerenberg keine einzige solche Patientin finden wird. Man kann darauf verzichten, Brigittas absurde Behauptung zu widerlegen, ihr Mann habe ihr häufig ein Laken über das Gesicht gelegt. Einen solchen Nonsens hat Trimmel noch nie gehört. Jedenfalls hat er den Punkt erreicht, an dem er endgültig und reinen Herzens sagen kann: Sie ist verrückt. Das hat die Polizei ermittelt und nicht die Psychiatrie. Da soll die Psychiatrie sich erst einmal erlauben, das Gegenteil zu behaupten! Auf leisen Sohlen ist ein Polizist im dunklen Anzug ins Zimmer getreten. Als Trimmel sich vom Fenster abwendet, kriegt er einen Schreck. »Wie lange stehen Sie hier schon herum…?« Der Kriminalmeister im dunklen Anzug, der Petersen heißt, hat sogar einen dunklen Hut in der Hand. »Gerade reingekommen, Chef!« Er ist Spezialist für das Überbringen von Todesnachrichten an ahnungslose Freunde und Hinterbliebene, und er macht das gern. Er hat längst das penetrante Gehabe eines Bestattungsunternehmers angenommen. Kollegen nennen ihn auch den ›Leichenbitter‹. »Ich war im Holsten-Krankenhaus, Chef. Die Leute hatten’s leider schon erfahren. Aber ein paar weinten immer noch…« Darüber ist er sichtlich glücklich. »Dr. Beerenberg war nämlich im allgemeinen sehr beliebt. Er hat sich aufgeopfert bei seiner Arbeit, haben die Schwestern gesagt. Abends ist er immer sehr erschöpft in seinen Citroen gestiegen und nach Hause gefahren…« »Woher wollen die Schwestern das wissen?« »Nun ja«, sagt Petersen, »ich versteh’ schon, worauf Sie hinauswollen. Natürlich sind sie nicht hinter Dr. Beerenberg hergefahren. Aber es kam öfter vor, daß sie ihn noch nach
Feierabend zu Hause anrufen mußten, und dann war er immer gleich am Apparat…« »Das deckt sich mit den Aussagen des Hausmädchens!« sagt Trimmel. Der andere nickt. »Da war aber noch ‘ne Kleinigkeit, Chef…« Er ist ein guter Beamter, er übersieht keine Kleinigkeiten. »Dr. Beerenberg konnte manchmal ziemlich grob werden, haben mir ein paar Leute gesagt, richtig jähzornig. Wenn jemand bei einer Operation einen kleinen Fehler machte, fing er gleich an zu schreien. Durch den Mundschutz…« »Aber er wurde trotzdem nicht tätlich?« »Das nicht gerade. Nur, er hat dann so gebrüllt, daß man Angst haben mußte, der Patient erwacht aus der Narkose. Das ist natürlich noch nie passiert…« »Natürlich nicht!« sagt Trimmel kopfschüttelnd. Damit scheint, immerhin, auch der letzte Punkt im Fall Beerenberg geklärt zu sein. Einen klareren Fall von Notwehr mit Todesfolge hat Trimmel anscheinend kaum je erlebt. Petersen geht leise aus dem Büro, und Trimmel zählt zwei und zwei zusammen: Beerenberg ist Choleriker. Im allgemeinen hat er wenig Alkohol getrunken. Aber am Abend des Todes hat er sich ausnahmsweise derart betrunken, daß er in einem Wutanfall Dinge tat, die er sonst nicht zu tun pflegte, nämlich zu schießen. Fingerabdrücke von beiden Beteiligten sind auf der Tatwaffe gesichert worden. Zwei Geschosse sind aus der Waffe abgefeuert worden. Ein Projektil steckte in der Wand, das zweite in der Brust des Toten. Es paßt haargenau. Wie die Witwe es erzählt hat: Erst hat er geschossen und sie verfehlt. Dann hat sie ihm die Pistole abgenommen und besser getroffen. Zu allem Überfluß gibt es auch noch ein zerrissenes gelbes Kleid.
Ein Polizist stürzt aufgeregt mit einem Messer ins Zimmer. Ein Stilett, spitz wie ein Rattenzahn. Scheinbar die Tatwaffe von St. Georg. »Was soll das?« fragt Trimmel. »Warum ist das Ding nicht in der Kriminaltechnik?« »Es ist nicht die Tatwaffe«, sagt der noch ziemlich junge Mann, »es ist…« »Dann hat’s ja wohl Zeit!« unterbricht Trimmel. »Warte draußen!« Er ist unverhältnismäßig mehr als an St. Georg an der Schönen Aussicht interessiert. Und gerade jetzt kommt Höffgen und liefert dazu seinen Bericht ab, und Trimmel sagt fast vergnügt: »Das ist kein Mordfall, sondern ein schlecht geräucherter Schinken!« Er muß so schnell wie möglich vom Tisch.
Trimmel erwischt Professor Kemm in einer leicht verhangenen Gemütsverfassung am Telefon. Zu seinem eigenen Ärger hatte Kemm sich soeben eingestanden, daß er gegen alle Regeln der Kunst im Begriff war, sich schon jetzt ein Urteil über Brigitta Beerenberg zu bilden: Sehr verrückt ist die Dame eigentlich nicht; der Kollege Amtsarzt war offenbar ein bißchen voreilig, man wird es ihm nachsehen. Kemm nimmt das Gespräch erst an, als Frau Vandebosch sagt, es sei ein Herr von der Polizei und außerdem dringend. Er drückt den roten Knopf. »Hier spricht Kemm…« Der Mann am anderen Ende stellt sich als Kriminalhauptkommissar und Leiter der Ermittlungen im Fall Beerenberg vor. »Sie werden die Störung entschuldigen«, sagt er, »ich nehme an, daß Sie zum psychiatrischen Gutachter für Frau Beerenberg bestellt werden…« »Das ist eine etwas voreilige Ansicht!« unterbricht Kemm.
»Zugegeben«, sagt Trimmel, »ich wollte Ihnen trotzdem einen Vorschlag machen…« Kemm wird immer wachsamer. Es ist sicher nicht allzu selten, daß ein Gutachter – so wie er – praktisch bereits einen Tag nach einem Tötungsdelikt feststeht. Aber es ist nicht nur sehr selten, sondern auch seltsam, daß sich dann auch schon ein Polizist mit ihm in Verbindung setzt. »Ich habe heute nacht zwangsläufig mitgekriegt«, sagt der Polizist, »daß Frau Beerenberg eine Menge Zeug geredet hat. Dr. Jensen hat sie ja dann anschließend mit der Diagnose Eifersuchtswahn zu Ihnen geschickt…« »Mit der vorläufigen Diagnose!« korrigiert Kemm. »Natürlich, Herr Professor!« Wenn er will, kann er richtig geduldig sein. »Es ist nur… ich bin der Ansicht, daß man in diesem Fall offenbar zweispurig auf die nicht schuldhafte Verhaltensweise der Täterin hinsteuern kann. Erstens war sie nicht ganz bei Verstand…« Kemm schluckte es, wenngleich mit Widerwillen. »… zweitens hat sie nach unseren Ermittlungen tatsächlich in Notwehr gehandelt!« »Herr Hauptkommissar«, sagt Kemm mit Betonung, »Sie greifen den Ereignissen vielleicht doch etwas vor. Aber sei’s drum, ich betrachte Ihren Anruf nicht zwangsläufig als eine offizielle Mitteilung…« »Danke, danke«, sagt Trimmel, »so kann’s auch gern bleiben. Ich kann Ihnen nämlich in diesem Fall gern anbieten, Sie auch künftig anzurufen, wenn wir was Neues ermittelt haben. Sonst kriegen Sie’s doch erst mit drei Wochen Verspätung…« Dann wartet er Kemms Reaktion gar nicht erst ab, sondern zählt gleich die Indizien auf, die er zuvor säuberlich sortiert hat. Der Professor hört interessiert zu. »Eindrucksvoll«, sagt er. Aber er denkt nicht daran, im Gegengeschäft seine eigenen Beobachtungen preiszugeben: die Blutergüsse am Hals und an
den Armen Brigittas. Statt dessen fragt er: »Sie wollen mir doch sicher noch sagen, wo hier eigentlich Ihr persönliches Interesse liegt…?« Er hätte es wissen müssen, wenn er Paul Trimmel schon gekannt hätte. »Weil ich im allgemeinen was Besseres zu tun habe«, sagt Trimmel, »als mich mit blödsinnigen Eifersuchtstragödien herumzuschlagen. Ich will den Kopf frei haben und deshalb die Sache beschleunigen, das ist alles!« »Nun gut…« Kemm überlegt, ob das alles eigentlich ganz astrein ist, ob er diesen Polizisten nicht bei der Staatsanwaltschaft anschwärzen sollte. Aber er entscheidet sich anders. Er wird es nicht tun. Denn im Augenblick kann er noch nicht übersehen, was für Brigitta das beste ist. Soweit ist er inzwischen, und er ist nicht sehr glücklich dabei. »Ich danke Ihnen, Herr…« »Trimmel!« sagt Trimmel. »… Herr Trimmel. Ich nehme Ihr Angebot gern an. Allerdings setze ich Ihre Diskretion voraus…« »Gleichfalls!« sagt die Stimme aus Eiche massiv. Dann ist das Gespräch zu Ende, und beide Partner haben das ungute Gefühl, daß es trotz des recht erfreulichen Verlaufs möglicherweise Folgen hat. Trimmel hat in seiner Karriere bei allen Berg- und Talfahrten das Glück gehabt, daß er niemals ernsthaft mit einem psychiatrischen Gutachter aneinandergeraten ist. Aber jetzt sitzt er in seinem Sessel, legt ein stämmiges Bein nach dem anderen auf den Tisch und weiß genau: Diesmal kommt er an dem kurzgeratenen weißen Riesen, den er bisher nur von weitem gesehen hat, diesem ›Richter in Weiß‹, wie man ihn nennt, nicht ungeschoren vorbei. Trimmel behauptet selbst, er sei der Mann der objektiven, nicht der subjektiven Wahrheiten; da können Psychiater wie
Kemm hundertmal erklären, auch ihre Erkenntnisse seien objektiv gesichert. Trimmel sagt, er schätze die brutalen, eindeutigen Beweise mehr als die feinsinnigen; sogar Fäkalien seien ihm lieber als Seelenschmalz. Aber im Fall Beerenberg gibt es offenbar Leute, denen die nichtgeweinten Tränen wichtiger sind als die paar vergossenen Blutstropfen. Trimmel kann den Fall nicht leiden, und in solchen Fällen ist seine Ungeduld regelmäßig größer als seine Vernunft. Er hätte die paar Ermittlungen in aller Ruhe abschließen und den Fall dann abgeben können. Aber typisch für ihn das Telefongespräch; er wollte die Affäre beschleunigen, und dabei hat er sich, so scheinheilig scheißfreundlich Kemm auch gewesen ist, prompt eine Blase gelaufen. Jetzt werd’ ich’s ihm zeigen! denkt er böse. Und Höffgen, der das Gespräch mitgehört hat, streut Salz in seine Wunden: »Sie hätten den Professor doch einfach fragen können, wann die Witwe Beerenberg vernehmungsfähig ist!« Da hat er auch noch recht, leider Gottes. Schließlich hat die junge Frau mit einer Schußwaffe einen Menschen getötet, und die Polizei hat ein legitimes Anrecht auf sie. Also reagiert Trimmel verärgert, ungerecht und wenig überzeugend: »Das geht dich einen Dreck an! Ich weiß genau, warum ich’s durch die Hintertür versuche!« Nichts weiß er, denkt Höffgen. Aber er nimmt es nicht tragisch. Anfälle von guter Laune kommen bei Trimmel so häufig vor wie die Sonntage im Kalender. Immerhin ist Höffgen froh, als Trimmel abrupt aufsteht. »Ich geh’ mal aus. Halt die Stellung!« Er will aus der Tür – aber im nächsten Moment steht er schon wieder im Zimmer. Er ist fast in das Stilett gelaufen, mit dem der junge Kollege von der Fachschaft St. Georg immer noch draußen wartete. Inzwischen sieht’s wirklich so aus, als würde ihn der Mann, der das Messer geradezu anklagend hochhält,
bedrängen und verfolgen. »Willst du mich erstechen?« fragt Trimmel wütend. »Hab’ ich dir nicht schon mal gesagt, der Dolch gehört in die Kriminaltechnik?« »Ich habe ebenfalls schon mal versucht, Ihnen zu sagen, daß es sich nicht um die Tatwaffe handelt«, sagt der Polizist reichlich pampig, »es ist ein Duplikat!« »Und?« »An der Tatwaffe sind natürlich Blutflecken, hier sind keine. Sonst könnte man die beiden Messer nicht auseinanderhalten!« Bei Trimmel dämmert’s. »Woher habt ihr das zweite Messer?« »Das lag zu Hause bei einem Jungen, der angeblich noch nie am Hansaplatz gewesen ist und St. Georg überhaupt nicht kennt. In Wirklichkeit ist er aber schon sehr oft dagewesen, und mit dem verletzten Mädchen war er befreundet, so ‘ne Art Zuhälter. Zuletzt ist er heute morgen in der Gegend gewesen, ‘ne Kollegin von dem Mädchen hat ihn gesehen und uns auch seinen Namen genannt… und dann, wie gesagt, gehen wir hin und finden das zweite Messer!« Trimmel nickt inzwischen doch beeindruckt. »Hört sich ganz logisch an. Bloß, wieso hat der zwei identische Messer?« »Das haben wir abgeklärt«, sagt der junge Polizist stolz, »die Messer gibt’s mit Gabeln zusammen in Zweierpackungen als Steakbesteck in der Kaufhalle. Steak zu zweit, nennen die das. Vermutlich hat er da so ‘ne Packung geklaut…« »Und wo ist er jetzt?« »Drüben bei mir. Sagen tut er nichts mehr!« »Sehr gut«, sagt Trimmel, »dann bring ihn mal her. Fragen können wir ihn ja trotzdem!«
Zu dritt nehmen sie den Jungen, einen schmächtigen, langhaarigen Einundzwanzigjährigen namens Rolf
Kolanowski, in die Mangel. Genau gesagt, ist es allerdings nur Trimmel, der auf ihn einredet – plötzlich gar nicht mehr grob, sondern fast väterlich. Er geht als erstes zu seinem Schrank, öffnet ihn und fragt: »Willste ‘n Schnaps?« Kolanowski nickt, ziemlich überrascht. Und Trimmel schenkt ein, ein Glas für den Jungen, eins für sich. Ziemlich gegen die Vorschriften. »Prost!« Kolanowski sagt zwar immer noch nichts, trinkt Trimmel jedoch irritiert zu. »So«, sagt Trimmel, »und nun hilft das ja alles nichts, jetzt mußt du doch wohl man mit uns reden!« Rolf Kolanowski schweigt weiter. »Paß mal auf«, fährt Trimmel fort, »daß du derjenige gewesen bist, der das Mädchen verletzt hat, ist so und so sonnenklar. Da biste dran. Das einzige, was dir da noch helfen kann, ist sozusagen dein Hintergrund. Und da bin ich sicher… im Grunde biste ‘ne arme Sau. Das hat doch bestimmt schon mit der Jugendfürsorge angefangen, das waren todsicher die ersten, die dich am Wickel hatten, ich kenn’ das doch, kannste mir glauben…« »Glaub’ ich nicht!« sagt Kolanowski plötzlich. »Doch, doch«, behauptet er ernsthaft, »und wenn’s nach mir ginge, würde da sehr schnell einiges geändert. Später biste doch bestimmt auch schnell in ‘n Knast gekommen?« Der Verdächtige nickt, fast wider Willen. »Jugendstrafanstalt Neuengamme?« »Ja!« sagt er trotzig. »Und wofür? Sachbeschädigung? Körperverletzung? Autos geknackt? Hasch gedealt?« »Hasch«, sagt er kopfschüttelnd, »so was doch nicht!« »Ja, was denn?« »Ach, Quatsch… da kam eins zum anderen. Steht ja hier nicht zur Debatte!«
»Richtig«, sagt Trimmel, »eins zum anderen. Trotzdem, ich kenne keinen, der im Knast nicht erst richtig auf dumme Gedanken gekommen ist!« Mit größter Anstrengung erklärt Rolf Kolanowski, er sei immerhin seit zwei Jahren sauber. »Aber dann steht doch noch was zur Bewährung aus, oder?« fragt Trimmel sofort. »Zwei Jahre…«, sagt er kleinlaut. Trimmel nickt. »Das mußte natürlich absitzen, wenn da nun die Sache mit dieser… dieser…« »Rosemarie!« sagt der junge Polizist schnell. »… mit dieser Rosemarie dazukommt. Auf der anderen Seite, ich muß ja da auch als Zeuge vor Gericht, ich werde das schon im richtigen Licht darstellen. Haste nun diese Rosemarie gekannt oder nicht?« »Ja!« gibt Kolanowski zu. »Und?« »Ich wollte sie heiraten… und sie ging… sie ging immer weiter auf ‘n Strich…« »Aha!« »… heute morgen hat sie mich unheimlich angemacht… ich soll doch keine Rosinen züchten… und dann…« Er stockt. »Dann haste nicht mehr gewußt was du tust, und hast zugestochen, nicht…?« Kolanowski nickt. Man kann nicht mal sagen, daß er erleichtert wirkt, nun, da er’s zugegeben hat. Aber bei aller Apathie trinkt er doch noch den zweiten Schnaps, den Trimmel ihm einschenkt: wenn’s eine Belohnung sein soll, hat er sie sich ja auch redlich verdient. Er wird abgeführt. Und kaum, daß er weg ist, kommt telefonisch die Nachricht, daß das Mädchen Rosemarie an den
Folgen der Stichverletzungen gestorben ist. Also wird sich Kolanowski wegen Totschlags verantworten müssen. Es geht auf sechs. Der junge Kollege schreibt seinen Abschlußbericht – sehr ausführlich, zum Glück für die späteren Ereignisse. Und Trimmel, endlich, verläßt das Haus. Wenigstens etwas, denkt er, ist heute glatt gelaufen. Die Kollegen von der Pressestelle können den Medien mitteilen, daß die Mordkommission von zwei gewaltsamen Todesfällen am 24. Juni immerhin einen aufgeklärt hat. Der andere – der Schinken von der Schönen Aussicht – räuchert noch vor sich hin.
4
Kemm wird an diesem Nachmittag nicht nur von Trimmel, sondern auch von einem findigen Lokalreporter angerufen. »Geben Sie her!« sagt er zu Frau Vandebosch. Für die Presse ist der Fall Beerenberg ein fetter Brocken. Vor allem für die Hamburger Presse mit ihren engen Verzahnungen in der sogenannten besten Gesellschaft. Der Reporter kommt schnell zur Sache. »Wie ich höre, sollen Sie zum Gutachter für Frau Beerenberg bestellt werden. Zum weißen Richter, wie man so sagt…« Aber Kemm hört das nicht gern, bei aller Pressefreundlichkeit. Denn der Begriff von den Richtern in Weiß ist entstanden, als einige kapitale Prozesse in der Bundesrepublik mit großem Spektakel nicht aufgrund der Beweislage, sondern aufgrund der seelenärztlichen Befunde entschieden worden sind. Weißer Richten kann ebenso eine verächtlich gemeinte wie eine ehrenvolle Titulierung sein. »Erstens«, sagt Kemm, »habe ich heute schon an anderer Stelle gesagt, daß es viel zu früh ist, im Fall Beerenberg von einem Antrag an mich zu sprechen. Zweitens, ohne den Entscheidungen künftiger Wochen vorzugreifen: Lassen Sie doch bitte den weißen Richter aus dem Spiel!« »Selbstverständlich, Herr Professor!« sagt der Reporter hastig; ihm geht es um andere Dinge. Aber Kemm ist noch nicht fertig. »Wir als Gutachter, unabhängig vom Fall Beerenberg, sind immer nur Gehilfen des Gerichts, wenn Sie das bitte ein für allemal notieren wollen. Das Gericht soll über einen bestimmten Täter urteilen. Uns obliegt lediglich die Beurteilung, ob der Täter vom ärztlichen
Standpunkt aus schuldhaft gehandelt hat oder nicht, ob er nach Paragraph 20, 21 schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war oder nicht. Nach unseren Erkenntnissen und der übrigen Beweislage muß sich das Gericht dann erst sein endgültiges Urteil bilden…« Der Reporter wollte eigentlich fragen, ob denn Frau Beerenberg tatsächlich nicht ganz bei Verstand war, als sie ihren Mann erschoß. Kemms dozierender Ton jedoch reizt ihn. Er riskiert einen Einwand: »In der Praxis sieht das allerdings manchmal anders aus…« »Wie denn?« fragt Kemm. »Nun ja… Es gibt doch sogenannte Gutachter-Skandale. Es gibt Fehlurteile…« »Es gibt gute und schlechte Ehen«, sagt Kemm heftig, »es gibt sie auch, wenn sich die Juristerei und die Medizin miteinander verbinden. Warum muß immer gleich ein Skandal daraus gemacht werden?« Dabei kennt er die Antwort wie kaum ein zweiter. Er weiß, daß es, ihn eingeschlossen, vielleicht ein Dutzend kompetenter Psychiater in der Bundesrepublik gibt, außerdem, leider, eine Hundertschaft von inkompetenten Herren, die von Scharlatanerie nicht allzu weit entfernt sind. Der Richter kann machen, was er will: Er hat in der Regel nicht so ganz begriffen, warum ein Angeklagter ›mitten im Affekttunnel‹ geschossen, gewürgt oder geschändet haben soll. Aber er will natürlich nicht zugeben, daß er das alles nicht so ganz begriffen hat. »Das Gericht«, so schreibt er dann ins Urteil, »hat sich vollinhaltlich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Professor X angeschlossen…« »Was sagten Sie gerade?« fragt Kemm. Der Reporter wird endlich seine eigentliche Frage los. »Herr Dr. Beerenberg war ein sehr bekannter Arzt in Hamburg. Unter unseren Lesern befinden sich viele seiner ehemaligen
Patienten, sie haben sicherlich ein Anrecht darauf, Einzelheiten über die Hintergründe seines Todes…« »Haben Sie denn schon mit der Polizei gesprochen?« unterbricht Kemm. »Natürlich. Aber was war es denn eigentlich? Eifersucht? Mord? Ein Unglück…?« Kemm hat seine Souveränität wiedergefunden und damit seinen Sarkasmus. »Ein Unglück war es wohl in jedem Fall. Und Ihre anderen Fragen… glauben Sie nicht, daß ich froh wäre, wenn ich sie mir schon selbst beantworten könnte?« Einen Satz für die Leser sagt er dann doch noch. »Frau Beerenberg ist heute früh mit einem schweren Schock zu uns gebracht worden. Wir haben sie versorgt, und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Mehr ist aus unserer Sicht im Augenblick nicht zu sagen…« Der Reporter bedankt sich, er wird wieder anrufen. Er wird nicht der einzige bleiben. Und Kemm wird sich sehr bald ein paar Standardsätze für die Öffentlichkeit überlegen müssen – sei es auch nur, um das zu unterdrücken, was der Arzt, der Gutachter und der Mann Robert Kemm tatsächlich zum Fall Beerenberg zu sagen hat.
Trimmel ärgert sich in jeder Minute mehr über sein Gespräch mit Kemm. Vor allem ein Satz von Kemm liegt ihm schwer auf der Brust: »Sie greifen den Ereignissen vielleicht doch etwas vor!« Das macht ihn wild und fast sogar rachsüchtig. In seinem alten gelben Ford, der seit Stunden in der Sonne stand, hat er sich fast die Finger am Lenkrad verbrannt. In der Schönen Aussicht haben sich die Neuigkeiten längst verlaufen. Trimmel muß zweimal klingeln, bis das Hausmädchen endlich die Tür öffnet.
Sie entsetzt sich über die Hundemarke, die er ihr zeigt. »Kriminalpolizei!« Sie hat die Vernehmung durch Höffgen heute mittag noch in guter, das heißt hier: in quälender Erinnerung. »Ich wollte mich noch mal umsehen…« Sie nickt voller Angst. Außerdem steckt ihr die Trauer um Dr. Beerenberg, den sie sehr gemocht hat, wie ein Kloß im Hals. Sie verbraucht eine Menge Kleenex. Das Tatzimmer, das dunkle, getäfelte Herrenzimmer, ist versiegelt. Trimmel könnte es öffnen, aber das ist ihm viel zu lästig. Er geht in den Salon, in dem noch ein Hauch von Brigittas Parfüm hängt, und setzt sich vor das offene Fenster zur Alster. Dort sieht er den Segelbooten zu, die Stunde zu mieten für zwanzig Mark oder mehr. Bei einer stümperhaften Wende schlägt ein Boot um, und damit ist Trimmel wenigstens mit Schadenfreude versorgt. Ein heißer Spätnachmittag nach einem wunderschönen Tag. Trimmel ist seit sechzehn Stunden auf den Beinen, und er nickt prompt ein. Seltsamerweise träumt er sofort von Brigitta. Ein wirrer Komplex von gedämpften Geräuschen, die vom Wasser kommen, Wohlgerüchen aus Paris und Wellen von Zorn über eine Frau: Sie beherrscht dieses Reich in Samt und Seide, nicht nur mit ihrem Parfüm. Sie tyrannisiert ihre Untertanen, Mann und Mädchen. Sie wird gehaßt und gefürchtet, läßt sich Tribut zahlen und ist launisch wie eine Raubkatze. Läuft nackt und schamlos herum wie Frau Venus persönlich, geht nur halb verhüllt auf die Jagd wie Diana… »Soll ich Ihnen vielleicht einen Tee machen?« fragt das Mädchen schüchtern. Trimmel schreckt hoch. Wie lange hat er geschlafen, und wie lange hat sie ihn dabei beobachtet? »Ja, gern…«, sagt er. Es war doch wohl nur eine Viertelstunde.
Sie hat den Tee schon fertig, es dauert keine Minute. Dazu serviert sie ihm ein Schälchen mit Gebäck. Als sie schnell wieder aus dem Zimmer huschen will, hält Trimmel sie fest: »Gabriele…!« Der Name ist ihm aus dem Bericht von Höffgen gerade noch eingefallen. »Nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz…« So liebenswürdig ist er selten. Aber jetzt, noch halb im Tran und im Traum, verfolgt er endlich ein präzises Ziel. Im übrigen ist Gabriele gar nicht so unhübsch, wie Höffgen behauptet hat. Gabriele Montag, siebenundzwanzig Jahre alt, ein bißchen zu blaß unter der Sonnenbräune, setzt sich vorsichtig auf eine Sesselkante und erwartet ergeben ihre Hinrichtung. »Das stimmt doch alles, was Sie meinem Mitarbeiter, dem Herrn Höffgen, gesagt haben?« Sie nickt. Natürlich stimmt es. »Dr. Beerenberg hat zwar gelegentlich getrunken, Whisky vor allem in seinem Zimmer unten, wenn er einen sehr anstrengenden Tag im Krankenhaus hinter sich hatte, aber laut war er eigentlich nie…« Absichtlich wird Trimmel feierlich. »Sie können auch beschwören, daß er nachts nicht regelmäßig spät aus dem Haus gegangen ist?« »Ich kann es beschwören!« sagt sie – ebenso feierlich, aber mit Zittern und Zagen. »Wer hat eigentlich den Tee gemacht…?« »Ich natürlich. Genau wie jetzt…« »Und wieviel Gift haben Sie hineingeschüttet…?« Sie erstickt fast vor Angst und Wut. »Das hat doch schon heute Ihr Herr… Herr Kollege gefragt, und ich habe ihm gesagt, daß es Unfug ist!« Trimmel ist zufrieden mit der Reaktion. Er hat ihren Zorn entfacht, jetzt muß er ihn steuern.
»Ich wollte Ihnen nur noch erzählen«, sagt er gütig, »daß es eigentlich Frau Beerenberg gewesen ist, die den Quatsch mit dem Gift erfunden hat. Sie hat klipp und klar behauptet, es sei im Auftrag ihres Mannes geschehen…« Er hat sie damit völlig auf seiner Seite. »Sie hat immer geglaubt, ich stecke mit ihm unter einer Decke. Ich hätte schon längst aus dem Haus gehen sollen, ich bin nur geblieben, weil er… Dr. Beerenberg ein so liebenswürdiger Mensch war. Sie konnte eine Hexe sein, einem das Leben zur Hölle machen. Und jetzt verbreitet sie auch noch Lügengeschichten…« »Ja, eben…« bestätigt Trimmel tückisch. »Manchmal hat sie mir ein Kleid geschenkt, das sie nicht mehr leiden konnte«, sagt das Mädchen, »aber was heißt das schon? Sie hat so viele Kleider, sie hätte ein eigenes Modegeschäft aufmachen können!« »Dr. Beerenberg verdiente wohl sehr viel Geld?« Sie nickt. »Ich glaub’ schon. Trotzdem hatte er, ich meine, es gab…« Trimmel hilft nach. »Es gab manchmal ein bißchen Streit zwischen den beiden, wollten Sie sagen?« »Ja. Manchmal…« Sie ist immer noch loyal. »Es war aber nichts Heftiges. Meist ging es um die vielen Kleider und den Schmuck…« Sie wird besonders eifrig, als sie meint, ihren toten Chef verteidigen zu müssen. »Aber Dr. Beerenberg war niemals laut bei diesen Auseinandersetzungen. Höchstens Frau Beerenberg hat sich im Ton vergriffen…« »Haben Sie denn nie gehört, daß Dr. Beerenberg gewalttätig gewesen sein soll?« Nur scheinbar eine Wiederholung dessen, was heute mittag schon Höffgen gefragt hat. Tatsächlich keimt in Trimmel urplötzlich ein bestimmter Verdacht. Und tatsächlich bekommt er auch eine sehr viel erschöpfendere Antwort, denn das
Mädchen hat zu dem älteren Mann, der sich so väterlich gibt, viel mehr Vertrauen als zu dem schnoddrigen Höffgen. »Ich hab’ davon gehört«, sagt Gabriele tapfer, »von Frau Beerenberg selbst. Manchmal hatte sie ihre vertrauliche Tour, und dann sagte sie mir: ›Gestern abend hat es wieder Schläge gegeben!‹ Ich hab’s aber trotzdem nicht glauben wollen und glaub’s auch jetzt nicht…« Trimmel fragt: »Wann haben Sie Ausgang?« »Jede Woche montags. Ich übernachte dann bei einer Freundin in Blankenese. Sie ist Malerin…« »Und wann«, fragt Trimmel, »hat Frau Beerenberg Ihnen erzählt, sie sei von ihrem Mann verprügelt worden? An welchen Wochentagen, wenn Sie sich noch daran erinnern können?« Da geht ihr ein Licht auf. »Es war immer dienstags«, sagt sie leise, »immer, wenn ich von Blankenese zurückkam…« Demnach müßte Dr. Peter Beerenberg die unangenehme Eigenschaft besessen haben, jeweils am Montagabend sadistischen Neigungen gefrönt zu haben. Nur montags, streng nach Plan: an keinem anderen Abend der Woche. Trimmel hält das nicht für sehr wahrscheinlich. Er glaubt eher an etwas ganz anderes, wirklich überraschend, sogar für ihn selbst: daß nämlich Brigitta Beerenberg schon sehr frühzeitig um ein Alibi bemüht war! Sie hat dem Hausmädchen erzählt, sie sei geschlagen worden, weil sie bereits damit rechnete, daß das Mädchen eines Tages verhört werden würde! Am gestrigen Montagabend, am 23. Juni, soll Dr. Beerenberg wieder zugeschlagen haben und dabei im Endeffekt zu Tode gekommen sein. Das letztere ist zutreffend. Für das erstere gibt es keinen Zeugen, es sei denn Brigitta. Ohne jede Bestürzung wird sich Trimmel bewußt, daß er von einer Stunde zur anderen im Begriff ist, den Fall Beerenberg
auf den Kopf zu stellen. Es mag spitzfindig sein, aber es ist nicht absurd. Niemand kann damit rechnen, irgendwann einmal in Notwehr schießen zu müssen. Niemand, der in Notwehr schießt, verschafft sich deshalb ein Alibi. Wer es trotzdem tut, kann sich nicht mehr auf Notwehr berufen… Also wird es sich Brigitta Beerenberg nunmehr definitiv gefallen lassen müssen, als Mörderin verdächtigt zu werden. Zumindest von Trimmel. Es wird schwer sein, diesen Verdacht zu erhärten. Aber Trimmel wäre nicht Trimmel, wenn er es nicht versuchen würde. Und mit einem Mal ist er richtig glücklich. »Wir waren uns ja schon einig«, sagt er zu Gabriele, »daß Dr. Beerenberg nichts mit fremden Frauen im Sinn hatte. Haben Sie denn umgekehrt beobachtet, daß seine Frau Kontakt mit fremden Männern hatte?« Die Saat, die er in Form von vergiftetem Tee gesät hat, geht auf. Gabriele ist immer noch empört über die bösen Unterstellungen ihrer Chefin. »Sie ist drei- oder viermal von einem Mann in einem roten Sportwagen abgeholt worden«, sagt sie, »so gegen Mittag war das, und erst abends spät wiedergekommen. Einmal, als Dr. Beerenberg verreist war, ist sie erst am übernächsten Abend wieder zu Hause gewesen…« »Drei- oder viermal?« fragt Trimmel. »Ja, so etwa…« Niemand läßt sich auf eine präzise Zahl festlegen. Und Trimmel fragt ohne Hoffnung: »Sie wissen nicht mehr, was das für ein Wagen war? Welches Kennzeichen er hatte?« Sie weiß es nicht, sie ist beim besten Willen keine Mata Hari. Dafür müßte sie aber eigentlich etwas anderes wissen, etwas, das sie kaum übersehen konnte: »War die Schreibtischlade, in der die Pistole lag, eigentlich immer verschlossen?«
Auch diese Frage hat Höffgen schon vorher gestellt, und sie hat sie mit ja beantwortet. »Aber woher wußten Sie denn«, fragt Trimmel, »daß Dr. Beerenberg überhaupt eine Pistole hatte?« »Ich habe sie doch gesehen…« Da sieht sie Trimmel bestürzt an; plötzlich fällt es ihr wieder ein. »Ich habe die Pistole in der Schreibtischlade gesehen«, sagt sie leise, »einmal hat er wohl vergessen, sie abzuschließen…« Trimmel steht auf und geht zum Fenster. Hier hat er heute morgen gestanden, als die Alster noch im Nebel lag. Hier hat er Brigitta gefragt, warum sie die Waffe nach der Tötung ihres Mannes wieder in den Schreibtisch gelegt hatte. Deutlich erinnert er sich an die Antwort: »Weil sie mich störte…« Er erinnert sich an ihr schönes, unbeteiligtes Gesicht. Und an ihre Vernehmung durch Staatsanwalt Portheine, wenig später: »Dann ging mein Mann zu seinem Schreibtisch und schloß in aller Seelenruhe die Lade auf, in der er seine Pistole verwahrte…« Warum hat hier keiner von uns sofort die Frage gestellt, ob die Lade immer verschlossen gewesen sei. Es ist fast so, als hätte Gabriele Montag, die immer am Montag Ausgang hatte, seine Gedanken erraten. »In der Regel war der Schreibtisch aber wirklich verschlossen«, sagt sie zaghaft, »es war eine einzige Ausnahme…« So läßt sich hier zunächst nichts ändern. Brigitta würde es ohnehin niemals zugeben, wenn der Schreibtisch am Tatabend nicht verschlossen gewesen wäre. Denn dann könnte sie ja auch gleich zugeben, sie – und nicht ihr Mann – habe die Pistole herausgenommen… Vermutlich geht Trimmel, verärgert durch Kemm und seine eigenen Unterlassungssünden, sowieso längst zu weit in seinen Verdächtigungen. Das heißt nicht, daß er resigniert, aber er
will nach Hause. Er hat keine Lust mehr, die Kleiderschränke und Schmuckschatullen der gnädigen Frau zu besichtigen. Ein kühles Bier in seiner Stammkneipe in Farmsen erscheint ihm wichtiger und kostbarer. Zwei Sekunden lang hat er die Idee, Gabriele zu fragen, ob sie mitkommen will. Aber das ziemt sich nicht: Man fällt nicht mit der Tür ins Haus, schon gar nicht im Mordhaus. Auch, wenn’s nur ein halber Mord ist. »Schon sieben Uhr!« sagt Trimmel. Er zwingt sich zu einem Lächeln, was ihm keine Mühe mehr macht. »Strenggenommen habe ich schon lange Feierabend. Warum die Leute sich immer gegenseitig totschießen müssen…« Er geht ein letztes Mal zum Fenster. »Wer erbt das denn alles? Gibt es Verwandte?« Er hatte keine, sagt Gabriele, jedenfalls hat sie nie von einem Verwandten gehört. Vor der Garage, deren Fluchtlinie hinter dem Haus verläuft, stehen zwei Autos: ein großer Citroen und ein schicker kleiner BMW. Vom Fenster aus bis zum befestigten Alsterufer sind es höchstens zehn Meter. Ein schönes Anwesen, das der Tod hier besucht hat. Gabriele geht mit ihm nach unten. Die Treppe ist so breit, daß sie nebeneinander gehen können. An der Haustür gibt er ihr die Hand. »Sie werden in der nächsten Zeit hier zu erreichen sein?« fragt er. Sie nickt. »Auch montags…« Auch montags. Sie lächelt sogar ein bißchen zurück. Und als Trimmel weg ist, fällt ihr ein, daß sie seit anderthalb Stunden keine einzige Träne vergossen hat.
5
Gelassen steigt die Nacht ans Land und jemand reinigt dabei gerade sorgfältig sein Gewehr. Die Nacht lehnt sich vorsichtig an die Häuser von Hamburg-Farmsen, Hamburg 39, HamburgRietbrook und an die Fassaden im übrigen Mitteleuropa. Jemand schläft im ersten Dunkel bei offenem Fenster heimlich mit seiner Kassiererin. Jemand trinkt, und jemand pokert. Jemand fünftes überlegt sich verzweifelt, ob ein Geständnis nicht doch das beste wäre. Es ist schwül und für manche Leute nicht nur drückend, sondern auch quälend. Gleichgültig im Grunde, bei wem man anfängt; das Gewitter liegt seit Stunden in der Luft. Die Finsternis wird unruhiger, und das alles bei vierundzwanzig Grad im Nachtschatten. Wetterleuchten über den schwarzen Bergen. Positive und negative Wolken grollen über der Heide. Robert Kemm in Rietbrook schließt die Fenster. Von allen Leuten, die der Fall Beerenberg bisher in Mitleidenschaft gezogen hat, ist er der Unzufriedenste. Und der Einsamste. Sie sind alle gegangen, er ist von Gott, Frau Vandebosch und aller Welt verlassen. Er dreht den Schlüssel in seinem Büro von innen um, geht von einer Sesselschale zur anderen und versucht mürrisch, sich nicht zwischen zwei Stühle zu setzen. Es muß etwas passieren; von ihm aus soll sich Brigitta Beerenberg in ihrem Zimmer aufhängen. Aber hoffentlich kommt er dann noch rechtzeitig, um sie abzuschneiden… Sexuell gefärbte Depressionen – soweit ist das schon gediehen. Für Kemms geschultes Hirn ist das ein gefährlicher, ein makabrer Zustand.
Ein greller Blitz, der Anfang vom Ende des Hamburger Sommers; mit Erleuchtung hat das nichts zu tun. Kemm zieht den Telefonstecker aus der Buchse, wie er es als Kind gelernt hat. Überflüssig und unnütz, Zwangshandlungen. Kein schöner Abend nach diesem Morgen… Er greift sich das Diktaphon: »Nach den ersten Gesprächen und Untersuchungen wird sich die vorläufige Diagnose Eifersuchtswahn im Fall der verwitweten Ehefrau Brigitta Beerenberg mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht aufrechterhalten lassen…« Aber gleich darauf spult er das Band zurück. Und als es draußen donnert, stellt er das Gerät erneut auf Aufnahme. Wenn er jetzt die Taste drückt, wird alles gelöscht. »Lächerlich!« sagt Kemm. Das bleibt stehen. Und eins ist sicher: Als Papst der deutschen Psychiatrie läßt man sich doch nicht von einem Amtsarzt ein Kuckucksei ins Nest legen! Dennoch ist dieser Gedanke höchstens ein Vorwand. Der Zorn des Meisters gilt im Grunde gar nicht dem Amtsarzt Dr. Jensen, sondern sich selbst. Kemms Gedanken kreisen wie die Bienen um die nackte Maja, die in Wirklichkeit Brigitta heißt. Und sie wehren sich störrisch gegen die Möglichkeit, die Dame könnte tatsächlich krank sein. Im Endeffekt kommt der Eifersuchtswahn ja tatsächlich einer Schizophrenie gleich, niemand weiß das besser als Kemm. Er kratzt sich den Scheitel und nimmt einen Gin aus dem Eisschrank. Alkohol, auch in kleinen Mengen, schärft selten die Gedanken. Aber Alkohol macht die grauen Zellen transparent. Da war ein Mensch immer schon sparsam und hat einen Groschen auf den anderen gelegt. Ganz normal, ganz vernünftig. Plötzlich aber wird er geizig… Wo ist dann die Grenze? Kemm gießt etwas Tonic nach.
Die Grenze ist erreicht, wenn der früher sparsame Mensch nach landläufiger Vorstellung krankhaft, im klinischen Sinne pathologisch geizig wird. Für fünf Pfennig unternimmt er Transaktionen mit dem Aufwand eines Millionengeschäfts. Die Leute lachen zuerst, später reagieren sie sauer. Genauso ist das mit dem Eifersuchtswahn. Genauso verfällt ein normal mißtrauischer Charakter, der zunächst nur ›normal‹ eifersüchtig war und vielleicht sogar etwas Grund dazu hatte, dem paranoiden Wahn. Kemm öffnet das Fenster, aber der Park rauscht bedrohlich; er schließt es wieder. Zwar würde Brigitta Beerenberg für fünf Pfennig keinen Finger krumm machen. Aber Vergleiche hinken und dieser Gedanke weckt die Vorstellung von der Krücke, die Kemm der Große in jeder Hinsicht haßt. Er wird ganz gewiß nicht ohne weiteres die Krücke bauen, Brigitta Beerenberg sei völlig gesund. Er wird sie über alle psychologischen und neurologischen Hürden scheuchen und wehe ihr, wenn sie dabei stolpert! Sie soll erst einmal den Doppeloxer mit dem Namen MMPI-Test überspringen, soll sehen, wie sie ihre Intelligenz am Wassergraben HAWIE beweist, soll sich keine Fehler beim EEG leisten – und schließlich die Exploration überleben… Dann wird man weitersehen. Kemm ist zufrieden. Ein sauberer, männlicher Entschluß. Aber als er seinen Mantel sucht, fällt ihm erst ziemlich spät ein, daß er heute morgen ohne Mantel gekommen ist. Und außerdem, daß zu Hause niemand auf ihn wartet, höchstens ein Buch… Halb zehn. Er ist spät gekommen, und er geht spät. »Gute Nacht, Herr Professor!« sagt der Mann an der Pforte zum Park und bückt sich bald bis zur Erde. Gleich darauf rennt er mit einem großen schwarzen Regenschirm hinter Kemm her. Denn er sieht, wie der
Professor auf dem Weg zum Parkplatz plötzlich von den ersten großkalibrigen Tropfen des Gewitters getroffen wird.
Höffgen ist derjenige, der pokert. Seine Glückssträhne hat am Nachmittag mit der in seiner Gegenwart erfolgten Aufklärung eines Tötungsverbrechens begonnen und setzt sich in klingender Münze fort. Ein paar Scheine sind auch dabei, und im übrigen schert es ihn einen Dreck, daß der Tod des leichten Mädchens von St. Georg eines Tages vermutlich nur als Totschlag verhandelt wird. Mit drei Neunen bringt er einen Kriminalmeister mit einem Full House zum Aussteigen und gewinnt gegen einen Kommissar der Verkehrspolizei mit drei Achten. Knapp, aber sicher. Im Topf sind über siebzig Mark. Dann wird er zum Telefon gerufen. »Hör mal«, sagt die Kriminalwache, »da will jemand wissen, wo Trimmel ist…« Höffgen sieht mit Interesse, wie neu ausgeteilt wird. Er fragt nicht lange zurück. »Im Old Farmsen Inn wahrscheinlich«, sagt er, »war das alles?« Das war alles. Und gleich darauf gewinnt er schon wieder.
Trimmel glaubt einen Geist zu sehen. Mitten im Gewitter. Einen weiblichen Geist. Um 22.17 Uhr sieht er in seiner Stammkneipe in Farmsen nach dem dritten Steinpils zufällig in Richtung Tür. Es gießt draußen wie aus Kübeln, und der Geist von Gabriele Montag in der Tür ist naß bis auf die Knochen, sofern ein Geist Knochen besitzt. Trimmel wirft vor Schreck sein Bier um und geht ganz langsam auf die Erscheinung zu. Der Wirt kommt mit einem neuem Bier und einem Lappen.
»Wo kommen Sie denn her?« fragt Trimmel. »Ich… ich habe… ich wollte…« Draußen nagelt ein Diesel. »Wer hat Sie denn geschickt?« »N… niemand…« Die Musikbox macht gerade Pause. »Setzen Sie sich!« Zum Wirt sagt Trimmel: »Gib dem Mädchen einen Cognac!« Draußen im Regen zahlt er dem Taxifahrer einundzwanzig Mark. Viel Geld für ein nasses Gespenst. »Schmeckt’s?« Sie schüttelt sich. Trimmel steht vor ihr, vor seinem eigenen Tisch, und fragt gehässig: »Oder wollen Sie lieber einen Martini?« Dabei ahnt er inzwischen, was sie will, und außerdem freut er sich mitten im Sommer wie ein Schneekönig. Es blitzt und donnert draußen mit etlichen Millionen Volt und hunderttausend Ampere, und hier will ein Schulmädchen beichten. Trimmel sieht sie an: Sie ist wirklich splitterfasernaß, eine Ruine von einem hübschen Mädchen. Es hat keinen Zweck, sie hier zu vernehmen, im Old Farmsen Inn, zum Lärm von Mick Jagger. Mit Schicklichkeit hat das nichts mehr zu tun. »Kommen Sie erst mal mit…« Dem Wirt ruft er im Vorbeigehen zu: »Schreib’s auf!« Sie wartet gehorsam in der Tür, als er den Ford vom Parkplatz holt; dabei kriegt er selbst einen Eimer Wasser ab. Soll der Wirt doch denken, er schleppt das Mädchen ab. Ihn kann’s nur zieren: Der Busen ist Klasse, obgleich er naß ist. Oder gerade, weil er naß ist. Trimmel fährt vor, öffnet die rechte Tür, und Gabriele steigt ein. Sie würde vermutlich auch in einen Sarg aus Eiche klettern. Oder, wenn’s ihr befohlen würde, auf den Hamburger Fernsehturm, um die Blinklichter zu löschen. »Wir müssen bis nach Hamm…«
Also einmal quer durch die östliche Stadt. Gesprochen wird dabei so gut wie nichts. Vor der Haustür ist ein Platz frei, es gießt immer noch. Und als Gabriele Montag mitten im Wohnzimmer der unaufgeräumten Junggesellenwohnung steht, klebt ihr das Kleid so eng am Körper, daß sie ebensogut nackt sein könnte. Zu ihren Füßen bildet sich ein kleiner See. Sie wird sich den Tod holen, wenn nichts geschieht. Trimmel kramt in seinem Ferienkoffer und findet eine blaue Leinenhose und einen braunen Pullover. Sie ist aber wahrscheinlich auch untendrunter naß, überlegt er. Kurzentschlossen also greift er noch eine lange Unterhose vom letzten Wintersport. »Ziehen Sie das an!« Anstandshalber geht er solange ins Bad und reibt sich die eisgrauen Haare trocken. Er zieht das nasse Hemd aus und einen Bademantel über. Als er ins Zimmer zurückkommt, klopft er sogar an, und sie sagt: »Ja…« Da fängt er an zu lachen, wie er seit Jahren nicht gelacht hat. Das einzige, was sie einigermaßen ausfüllt, ist der Pullover, das geht wahrhaftig auch ohne BH. Aber aus der Hose ließen sich zwei machen. Die Unterhose gibt zusätzlich noch Strümpfe ab. Und die nassen Haare erinnern an eine frisch gebadete Katze. Er nimmt die Cognacflasche und zwei Gläser. Sie setzt sich und trinkt – man gewöhnt sich an alles. In zwei Stunden ist die Temperatur in Hamburg immerhin um zehn Grad gefallen. »Warum haben Sie mich aufgestöbert bei diesem Wetter?« Sie starrt auf den abgenutzten Teppich und sagt zähneklappernd: »Eig… gentlich… es lohnt nicht… Ich d… dachte nur, Sie kriegen es d… doch raus, und d… deshalb…« »Noch einen Schnaps?« »Nein, d… danke…«
Rauchen will sie auch nicht. Nur endlich erzählen, warum ihr abends um acht die Decke in der Schönen Aussicht auf den Kopf gefallen ist, warum sie bei der Polizei unbedingt Herrn Trimmel verlangt hat. »Die geben so ohne weiteres meine Adresse raus?« sagt Trimmel muffig. Sogar die Nummer seiner Kneipe? Das Zähneklappern läßt nach. »Ich habe ewig lange warten müssen, und dann hat mir ein Mann gesagt, Sie seien im Old Farmsen Inn. Ich habe ein Taxi bestellt und bin rausgefahren. Zuerst waren wir in der falschen Gaststätte, dabei bin ich auch so naß geworden. Der Wirt hat uns dann in die richtige geschickt…« »Ist ja alles nicht so schlimm!« sagt Trimmel wider besseres Wissen. »Nein, nein«, sagt sie, »nur…« Himmel hilf, denkt Trimmel, bin ich Polizist oder Pastor? »Ich will Ihnen mal was sagen«, sagt er, »Sie wollen mir bestimmt erzählen, daß Dr. Beerenberg Sie mal… daß Sie mal mit ihm geschlafen haben. Stimmt’s?« Da sieht sie ihn mit riesengroßen Augen an und sagt tonlos und erleichtert: »Ja…« Er kann nicht hellsehen, aber manchmal kennt er sich mit Mädchen überraschend gut aus. »Hat Frau Beerenberg es gewußt?« »Nein, bestimmt nicht…« »Wann war das denn?« Sie zählt es an den Fingern ab. »Einmal…« »Ich fragte wann!« »Ja, ja«, sagt sie verschüchtert, »einmal. Vor einem Jahr am 29. Mai. Ich schwör’s Ihnen, ein einziges Mal…« »Früher nannte man so was Ehebruch!« sagt Trimmel grob. Aber als er sieht, daß sie kurz vor dem Weinkrampf steht, lenkt er ein. »Soll ja passieren…«
Leise sagt sie: »Es war, als Frau Beerenberg weggefahren ist und erst am übernächsten Abend wieder zu Hause war. Dr. Beerenberg war auch verreist, aber er ist früher zurückgekommen. Er war ziemlich deprimiert und hat plötzlich Gaby zu mir gesagt, ich soll einen Whisky mit ihm trinken…« Als sie stockt fragt Trimmel wie unter einem Zwang: »Möchten Sie vielleicht einen Whisky?« »Nein, danke!« Sie nimmt statt dessen, immerhin, einen weiteren Schluck Cognac und bekommt eine Gänsehaut. »Wir haben zwei Stunden in seinem Zimmer gegessen und kaum was geredet…« »Bei einem Whisky?« »Nein… es waren nachher doch wohl drei…« »In dem Zimmer, wo jetzt…?« »Wo er jetzt erschossen worden ist, ja.« »Und da sind Sie…?« »Da hat er mich einfach… einfach angefaßt und gestreichelt und war sehr lieb. Als er eingeschlafen war, habe ich ihn zugedeckt und bin in mein Zimmer gegangen. Morgens habe ich ihm das Frühstück gebracht, und er hat gesagt, danke, Gaby, mach jetzt bloß keinen Quatsch von wegen Kündigung und so… Ich hab’s ihm versprochen…« Dieser Höffgen ist ein Vollidiot, denkt Trimmel. »Sie hat bestimmt nicht mit Beerenberg unter einer Decke gesteckt!« hat er gesagt. Genau das hat sie aber doch getan, und Höffgen kann sich auf einiges gefaßt machen. Denn plötzlich gibt es, alles mal außen vor, einen legitimen Grund für die Ehefrau Beerenberg, auf ihren Mann eifersüchtig zu sein; Beerenbergs Beischläferin hat es endlich zugegeben. Plötzlich gibt es sogar die Möglichkeit, daß sie der Frau Chefarzt tatsächlich Gift in den Tee getan hat. Plötzlich hat
Trimmel nicht übel Lust, dieses Mädchen, das in seinen Hosen steckt, einzusperren. »Man sollte Sie verprügeln!« sagt er wütend. Aber als sie dann wirklich heult, sieht er wenigstens ein, daß sie schließlich freiwillig mit ihrer schmutzigen Wäsche gekommen ist. »Packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie…« Sie reagiert überhaupt nicht. »Ich habe gesagt…« Sie heult einfach weiter. Und ganz heimtückisch, ganz überraschend wird Trimmel in diesen Sekunden von einem Gefühl heimgesucht, an das er sich seit langem nicht mehr erinnert: Vom Mitleid. »Also gut, Gaby…« Der Name ist ihm unversehens auf die Zunge geraten; immerhin trägt sie seine Sachen. »Hör auf zu heulen…« Sie sieht ihn mit roten Augen an. Und eigentlich nur, um noch etwas zu sagen, fragt Trimmel: »Es ist also passiert, als Frau Beerenberg zwei Tage fort war…?« »Ja, leider!« »Da war doch was mit einem Mann und einem Sportwagen. Sagten Sie nicht, daß das Auto rot war?« Sie nickt heftig. »Aber ich kann mich wirklich nicht mehr an die Nummer erinnern…« »Hat sie denn nicht gesagt, wohin sie fahren wollte?« »Doch, das hat sie!« sagt Gabriele spontan. »Wie bitte?« fragt Trimmel tonlos. »Sie wollte zur Bank!« sagt Gabriele. »Weiter weiß ich auch nichts…« Manchmal schlägt der Blitz ein, wenn man glaubt, daß Gewitter sei schon vorbei. Diesmal hat der Blitz Trimmel erwischt, und er löscht mit einem doppelten Cognac. »Welche Bank war’s denn?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißt!« sagt Gabriele. Aber sie schildert genau die Lage und die Straße. »Ich habe sie dort mal absetzen müssen…« Es ist genau die Filiale, deren Leiter vor zwei Jahren mit einer Million Mark abgehauen war. Trimmel hat damals diesen Fall bearbeitet; er kennt sich dort aus. Der neue Filialleiter heißt Steffens. Die Welt ist ein Dorf, und davon ist Hamburg nur ein Ortsteil. Ein anderer Polizist hätte jetzt vermutlich den Fall auf morgen vertagt. Trimmel nicht. Trimmel streift gedankenlos den Bademantel ab, und Gabriele blickt züchtig zu Boden. Er greift nach einem frischen Hemd und einem Kamm. »Können Sie fahren?« fragt er. »Ja, natürlich…« »Was denn?« »Früher VW. In der letzten Zeit meist den BMW von Frau Beerenberg…« »Ach, den…« Er denkt nicht im Traum daran, eine Erklärung abzugeben. Wenn sie glaubt, sie muß sich jetzt selbst ins Gefängnis kutschieren – soll sie! Es ist nur… er muß seine Kronzeugin, die er ein paar Minuten vorher noch einsperren wollte, als Chauffeur benutzen. Denn er hat noch einiges vor und will sich nicht von einer Funkstreife, die am liebsten Oberbeamte fängt, davon abbringen lassen. »Sie fahren!« befiehlt er. »Wohin denn?« »Sie haben weniger getrunken als ich!« »Ja, aber…« »Der Ford hat eine ganz normale Viergangschaltung. Den Rest erklär’ ich Ihnen im Wagen!« »Aber ich kann doch nicht…« Sie steht auf, sieht an der schlotternden Hose herunter und ist völlig durcheinander.
Das sieht sogar Trimmel. Gemeinsam finden sie eine Hose aus jüngeren Tagen, die ihr besser paßt. Trimmel begutachtet sie fachmännisch wie ein Damenkonfektionär und denkt sich nichts dabei. Es blitzt schon wieder.
Steffens wohnt in Rothenburgsort und sieht den Blitz nur als Wetterleuchten. Er liegt auf dem Bett und raucht die Zigarette danach, angeblich die schönste. Der lange Regen draußen rauscht inzwischen sanft und friedlich auf die Kastaniendächer; neben ihm schläft ein Mädchen. Der Orkan ist weitergewandert nach Schleswig-Holstein. Plötzlich klingelt es Sturm. Steffens steckt fast das Bett in Brand, es ist immerhin kurz vor eins. Das Mädchen, seine Kassiererin, springt wie eine Feder hoch und versucht angstvoll, sämtliche Blößen gleichzeitig zu bedecken. »Das gibt’s doch gar nicht…« Aber es klingelt immer noch, und das Mädchen schließt sich im Badezimmer ein. Steffens öffnet in einer schwarzen Pyjamahose. »Was zum Teufel…« Da erkennt er Trimmel, den Mann, den man so schnell nicht vergißt. »Entschuldigung«, sagt Trimmel, »darf man eintreten?« Zum Glück ist es ein Zweizimmerappartement, sonst stände er schon im Schlafzimmer. »Herr… Herr Trimmel…«, stottert Steffens, »was ist denn passiert…?« »Nichts!« sagt Trimmel. »Sie haben wieder mal einen umgelegt!« »Ich?« sagt Steffens entsetzt.
»Reden Sie keinen Stuß!« Trimmel hat keinen Sinn für unfreiwillige Scherze. »Sind Sie allein?« »N… nein…« »Kann sie… kann man uns hören?« »Nein!« »Gut. Es geht auch schnell. Sie kennen doch die Frau Beerenberg, eine Kundin von Ihnen?« Steffens nickt. »Sie hat ihren Mann erschossen…« »Eben. Frage: Ist sie irgendwann mal mit einem Ihnen unbekannten Mann bei Ihnen gewesen?« Entweder schärft der Schreck den Verstand, oder Steffens hatte schon immer ein Auge auf Frau Beerenberg, oder er ist ein Autofachmann. »Ich erinnere mich genau«, sagt er, »es mag ein halbes Jahr her sein. Oder warten Sie, nein… es war auch Sommer, also muß es bald ein Jahr sein…« »Und das Auto?« »Der Mann wartete draußen. Es war ein roter Triumph Vitesse mit Bremer Nummer!« »Kann ich mal telefonieren?« Die Kriminalwache bekommt den Auftrag, innerhalb einer Stunde die Halter aller Autos vom Typ Triumph Vitesse in Bremen ausfindig zu machen. »Ich ruf dann wieder an!« sagt Trimmel und hängt ein. »So, und jetzt…« Jetzt bedankt er sich, wenn auch nicht allzu freundlich, und geht. Die Kassiererin kuschelt sich zitternd ins Bett. Steffens steht hinter der Gardine und sieht, wie Trimmel auf dem Beifahrersitz eines hellen Fords davonfährt. Daß eine Frau am Steuer sitzt, kann er nicht erkennen. Der alte Wagen macht auf der leeren Autobahn noch seine hundertfünfunddreißig, so schnell ist Gabriele noch nie gefahren.
»Rechts ab!« sagt Trimmel am Horster Dreieck. Eine knappe Stunde, wenn alles gutgeht. »Wohin fahren wir eigentlich?« fragt Gabriele. Trimmel schreckt aus seinen Gedanken. »Nach Bremen. Das sehen Sie doch…« Aber alles hat seine Grenzen. »Und wohin in Bremen?« »Das werden Sie auch sehen…« Sittensen, Bockel, Stuckenborstel. Keine deutsche Autobahn ist nachts so finster wie die von Hamburg nach Bremen. Als Trimmel plötzlich spricht, verreißt sie vor Schreck fast das Steuer. »Fahren Sie in Oyten raus…!« Noch fünf Kilometer, sagt ein blaues Schild. »Sie können den Mann doch wiedererkennen…?« »Welchen Mann?« fragt Gabriele, die überhaupt nichts mehr begreift. Da wird ihm erst bewußt, daß er ihr vielleicht doch ein paar Einzelheiten sagen sollte. »Den Typ mit dem roten Sportwagen. Der Frau Beerenberg abgeholt hat.« »Ich weiß nicht… Das heißt… wenn ich ihn sehe…« »Sie werden ihn sehen!« Dann sind sie in Oyten, und die Raststätte ist natürlich auf der anderen Seite, nur, um Trimmel zu ärgern. »Warten Sie hier!« Er läuft und klettert verbotenerweise einfach quer über die Autobahn. Von rechts wegen hätte er wenigstens den Zündschlüssel abziehen müssen… Gabriele ist schließlich immer noch schwer verdächtig. Aber sei’s drum… »Können Sie mir zehn Mark Kleingeld geben?« fragt Trimmel die gähnende Bedienung in der Raststätte. »Ich hab’ keins!« Aber dann starrt sie entsetzt auf die Hundemarke.
»Polizei!« sagt Trimmel. »Ich kriege jetzt zehn Mark Kleingeld, oder Sie sind dran wegen Behinderung einer Amtshandlung!« Ein Delikt, das es in dieser Form gar nicht gibt. Aber wer weiß das schon? Er kriegt seine Markstücke und ein paar Fünfziger und ruft die Hamburger Kriminalwache an. »Habt ihr was rausgekriegt über den Bremer Sportwagen?« »Moment, Chef…« Als schon drei Mark durchgelaufen sind und Trimmel lästerlich über die Schlamperei bei der Kripo zu fluchen beginnt, meldet sich die Stimme wieder. »Es gibt nur zwei. Haben Sie einen Bleistift?« Der eine wohnt in Huchting, Huchtinger Heerstraße, Richtung Delmenhorst. »Beruf?« Der Hamburger lacht sich halb tot. »Student!« Und der andere wohnt in der Benquestraße, die geht ab von der Parkallee. Da gibt es nichts zu lachen, er ist Schiffsmakler. »Wie alt?« »Wird demnächst fünfunddreißig!« »Woher weißt du das?« fragt Trimmel respektvoll. »Ich hab’ in Bremen angerufen, die haben in der Meldekartei nachgesehen…« Widerwillig sagt Trimmel: »Danke. Gute Idee!« Er hat vier Mark und fünfzig Pfennig gebraucht, und er ist schon halb wieder draußen, als er noch mal in den Gastraum zurückgeht. »Einen doppelten Korn!« »Nach Mitternacht ist es polizeilich verboten, Alkohol auszuschenken!« Aber es ist kein einziger Gast anwesend, und der Mann ist schließlich selbst Polizist.
»Geben Sie her«, sagt Trimmel grob, »ich verpfeife Sie schon nicht…« Er trinkt schnell und legt fünf Markstücke auf die Theke. Die Bedienung, die längst nicht mehr gähnt, ist froh, als er endlich draußen ist. Er läuft zurück auf die andere Seite und sieht, daß Gabriele das Standlicht eingeschaltet hat. Der Motor läuft nicht mehr. Gabriele öffnet ihm die Tür zum Beifahrersitz. »Danke!« sagt Trimmel. Innerhalb von fünf Minuten zum zweiten Mal. Das ist viel für seine Verhältnisse. Er hat eine ungefähre Vorstellung von Bremen, aber auf ein paar Mark kommt es jetzt auch nicht mehr an. Fünf nach halb drei; es wird später hell als gestern, es wird vermutlich noch mehr regnen. »Fahren Sie in Bremen-Mitte raus!« sagt Trimmel. »Richtung Stadt. Sobald Sie ein Taxi sehen, blinken Sie…« Sie fährt eigentlich überraschend gut, und sie begreift schnell. An der Einmündung der Kurfürstenallee in die Schwachhauser Heerstraße stoppt sie ein Taxi. Trimmel steigt aus, zeigt die Polizeimarke, gibt dem Fahrer zehn Mark und sagt: »Hier, das muß reichen. Fahren Sie voraus zur Benquestraße. Dann treten Sie dreimal aufs Bremslicht und fahren weiter. Okay?« Der Mann fährt los, für Trimmels Ungeduld viel zu langsam. Es ist nicht allzu weit, und Trimmel hat das Straßenschild schon gelesen, als er dreimal das Bremslicht sieht. Gabriele hält am Bordstein. Eine Pistole hat Trimmel, wie üblich, nicht dabei. »Kommen Sie mit, und bleiben Sie hinter mir…« Das Haus gehört bestimmt zu den hundert schönsten Häusern Bremens. Inzwischen beginnt es zu dämmern. Eine Einfahrt wie ein gepflegter Tennisplatz. Viel Grün und viel Grau. Natürlich nirgendwo Licht um diese Zeit. Trimmel
lehnt sich schwer gegen die goldene Klingel, bestimmt eine halbe Minute lang. Es rührt sich nichts. Trimmel klingelt zum zweiten Mal, wenn es sein muß, diesmal doppelt so lang. Plötzlich fliegt die Tür auf… Trimmel sieht genau in die beiden Läufe einer Doppelflinte. Automatisch nimmt er die Hände hoch. Gleichzeitig fragt er über die Schulter: »Ist das der Mann?« Er spricht ins Leere, denn Gabriele liegt flach auf dem Boden. Es ist tatsächlich der Mann, den sie gesucht haben.
6
»Was wollen Sie?« fragt Conradi. Er hat die Flinte immer noch im Anschlag. »Mit Ihnen reden!« sagt Trimmel. »Über was?« Trimmel läßt vorsichtig, fast zentimeterweise, die Arme sinken. »Darf ich mal in meine Tasche fassen?« »Ich warne Sie…« Aber er hat die Hand schon in der Tasche und holt seine Marke heraus. »Polizei. Außerdem hab’ ich nicht mal im Strumpf ‘ne Kanone. Nehmen Sie das alberne Ding weg!« Conradi fragt nochmals: »Was wollen Sie?« Aber er stellt das Gewehr zur Seite, ausgerechnet in einen Schirmständer. »Sie kennen Frau Beerenberg!« Keine Frage, sondern eine Feststellung. »Haben Sie auch einen Ausweis?« Trimmel holt seinen Ausweis aus der Jackentasche, und Conradi studiert ihn genau. »Und was soll das Mädchen?« »Im Augenblick«, sagt Trimmel mit grimmigem Humor, »ist sie meine Assistentin…« Er nimmt den Ausweis zurück. »Kommen Sie herein!« sagt Conradi. Seltsamerweise ist er um drei Uhr früh völlig bekleidet und trägt sogar einen Schlips. Er geht voraus. Im Prinzip ist das Haus ähnlich gebaut wie das Todeshaus in der Schönen Aussicht in Hamburg. Aber das Herrenzimmer ist ganz anders: Ein Tigerfell an der Wand, Pfeifen in jeder Menge, Chivas Regal und Dimple Scotch auf einem Tischchen – und Gewehre, zwanzig mindestens: von der Fasanenflinte bis
zur Elefantenbüchse. Sie stehen in einem Regalschrank, und eine Winchester liegt auseinandergenommen auf dem Tisch. »Sie sind Jäger?« fragt Trimmel. Conradi sagt: »Ich bin in erster Linie Schiffsmakler. In meinem Beruf kommt man viel durch die Welt. Es ist eine sozusagen männliche Eigenschaft, hin und wieder eine Woche auszuspannen und sich mit der Natur zu messen…« Genau der Typ, denkt Trimmel, auf den eine Frau wie Brigitta hereinfällt. Conradi – Max Conradi GmbH, für einen Kompagnon ist sich dieser Großwildjäger viel zu schade – nimmt ihm das Stichwort aus dem Mund. »Was ist mit Frau Beerenberg?« »Nun«, sagt Trimmel bedächtig, »Sie werden es vielleicht noch nicht wissen. Sie hat vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden ihren Mann erschossen!« Bei Max Conradi zeigt die Schocktherapie keine Wirkung. »Das darf nicht wahr sein!« sagt er. Aber es klingt eher höflich als beeindruckt. »Es ist wahr. Unsere Ermittlungen haben ergeben, daß Sie ein Verhältnis mit Frau Beerenberg hatten…« Conradi lacht freudlos. Er hat in dieser Situation weitaus mehr Format als Trimmel, wenigstens äußerlich. »Ich erinnere mich jetzt an die junge Dame. Sie war… eh, Haushälterin bei Dr. Beerenberg.« Er sucht eine Pfeife aus, und Gabriele hat begriffen: sie steht schon an der Tür. Aber Trimmel gibt sich naiv. »Wohin wollen Sie?« fragt er sie. »Ja, ich weiß nicht…« »Ach, kommen Sie«, sagt Conradi, »wir sind im Augenblick zu dritt, also, einer ist zuviel. Genau gesagt, eine Frau. In meinem Hause sind viele Wohnungen, wie der Herr sagt… also, warum…«
»In meines Vaters Haus!« sagt Trimmel mit erstaunlicher Bibelfestigkeit. Conradi lacht schallend. »Eins zu null, auch, wenn’s Sie nichts angeht. Ich habe dieses Haus und die Firma tatsächlich von meinem Vater geerbt…« Er wird immerhin höflicher und sieht Gabriele, die sich etwas verlegen an der Tür herumdrückt, fast bittend an: »Nebenan ist ein Salon. Die Küche ist gegenüber. Nachts um drei pflegt meine Köchin noch zu schlafen, aber wenn Sie sich im Augenblick selbst bedienen wollen…« Gabriele ist schon halb draußen. »Halt!« sagt Trimmel. »Die Dame ist unter anderem deshalb hier, um Ihre Angaben zu bestätigen, Herr Conradi…« Da sagt er, immer noch nachsichtig: »Bitte, lieber Freund. Es spricht sich einfach besser unter Männern, wenn’s um Frauen geht. Das andere können wir nachholen, gleich anschließend, ich habe viel Zeit…« »Also gut!« Und als Gabriele nach nebenan gegangen ist, fragt Trimmel: »Das mit dem Verhältnis stimmt also?« »Verhältnis?« Conradi ist eine Frohnatur, jetzt, wo er friedlich geworden ist, ein jugendlicher Hans Albers aus Bremen. »Gott – ich kannte Brigitta, natürlich…« Schon wieder lacht er. »Aber ein Verhältnis habe ich höchstens zu denen da…« Er deutet auf die Winchester und die anderen Waffen. »Haben Sie damit gerechnet, daß wir kommen?« »Gott behüte«, sagt Conradi, »gut, daß man manche Dinge nicht vorher weiß…« Aber für den Bruchteil einer Sekunde hat sein linker Mundwinkel gezuckt. Und außerdem ist er viel zu selbstsicher bei diesem nächtlichen Besuch, der fast wie ein Überfall gekommen ist.
Conradi sagt: »Daß ich nachts um drei mit dem Gewehr zur Tür gehe statt mit einer Tasse Kaffee zur Begrüßung, ist doch eigentlich in der heutigen Zeit verständlich. Aber soll ich uns nicht mal einen Kaffee machen?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Wann und wo haben Sie Frau Beerenberg kennengelernt?« Er überlegt. »Das mag inzwischen fast zwei Jahre her sein. Wir waren mit ein paar Freunden in Bad Zwischenahn zum Aalessen. Beim Ammerländer Spieker; hinterher müssen Sie sich da die Hände mit Schnaps waschen – kann ich Ihnen empfehlen, der Schnaps ist übrigens nicht nur zum Waschen da… Und dann sind wir noch in die Strandgaststätten gefahren, da tagte irgend so ein Ärzteverein – mit Damen, und das ist schon alles…« »Sie meinen«, fragt Trimmel, »da tagte unter anderem Frau Beerenberg?« »Genau. Die Stimmung war ziemlich gelöst, man kam schnell ins Gespräch. Wir haben uns wohl bekannt gemacht, und bei meinem nächsten Besuch in Hamburg hab’ ich mal angerufen…« »Wie lange ging das?« »Sie sollten fragen, wann es anfing. So schnell sind wir Hanseaten nämlich nicht…« Wieder dieses selbstsichere Lachen. »Es hat fast ein Jahr gedauert, bis wir uns näherkamen. Es war mir… ich meine, ich bin nicht gerade wie Wilhelm der Seefahrer bei ihr eingebrochen. Und es ging schließlich… der Wahrheit eine Gasse, lieber Freund… es ging schließlich mehr von ihr aus als von mir!« Trimmel gähnt verstohlen. Conradi fragt sofort: »Ihr Beruf ist wohl ziemlich anstrengend?«
»Ich hab’ selten Zeit zum Aalessen!« sagt Trimmel unhöflich. »Dadurch hab’ ich allerdings auch selten Zeit für aktive Damen!« »Ich versteh’ schon«, meint Conradi, »ich hab’ ja auch gedacht, als ich’s heute abend in der Zeitung…« »Moment!« sagt Trimmel. »Sie haben’s also doch gewußt?« Conradi wird bleich unter der Großwildjäger-Bräune. Er fischt unter einem Tisch die Abendzeitung hervor. Er blättert, findet die Geschichte und ist sichtlich erleichtert. »Hier…« Er reicht Trimmel das Blatt. »Es steht nur was von Dr. B. in der Zeitung. Ich habe nicht realisiert, daß es Dr. Beerenberg war…« »Bißchen dünn!« brummt Trimmel und sieht Conradi schräg an. Der hebt die Schultern. »Man bezieht wohl selten schlimme Ereignisse so ohne weiteres auf seinen Bekanntenkreis…« »Wieviel Gewehre haben Sie eigentlich?« Er überlegt. »Zweiundzwanzig. Für jeden Zweck etwas…« »Auch Pistolen? Revolver?« »Einen vierundvierziger Magnum«, sagt Conradi, »den brauch’ ich bei der Jagd für die Nachsuche. Kleinere Handfeuerwaffen sind mir ein Greuel. Sie töten nicht, sie tun nur weh…« »Und ob sie töten!« knurrt Trimmel. »Menschen, ja… Aber ich schieße nicht auf Menschen!« »Es sei denn, nachts um drei…« »Habe ich etwa geschossen?« Ein nutzloses Geplänkel. So wird er ihn nie fassen. Natürlich kann man noch prüfen, ob die Tatwaffe nicht zufällig an Herrn Conradi, Bremen, Benquestraße, verkauft worden ist. Aber Trimmel würde jetzt schon wetten, daß dabei nichts herauskommt. »Wann haben Sie Frau Beerenberg zuletzt gesehen?«
»Ich weiß es nicht auswendig«, sagt Conradi, sieht aber im Kalender nach. »Am 27. Februar dieses Jahres.« »Sie waren in einem Hotel?« fragt Trimmel. »Schauen Sie«, sagt Conradi, »ich lese nicht viel, vor allem nicht dieses moderne Zeug. Aber manchmal bleibt zufällig ein Satz hängen. So wie der: Sie fuhren nach Krefeld und brachten ihre Trennung zur Welt. So ähnlich war’s bei uns. Es war wirklich ein Hotel. Ganz winzig, natürlich nicht in Krefeld, sondern mitten in der Heide. Wenn Sie nachfragen wollen…« Trimmel winkt ab. »Geben Sie mir Ihren Kalender!« Conradi zögert. »Es stehen eine Menge privater und geschäftlicher Dinge darin…« »Ich kann einiges für mich behalten!« »Also gut…« Trimmel blättert ihn von Anfang Januar bis Ende März durch. Er findet Zahlen, und eine Zahl wie 2,7 heißt in Reinschrift bestimmt nicht zwei Mark siebzig. Er findet Namen, offenbar sämtlich weiblich, manchmal abgekürzt, manchmal ausgeschrieben: außer BB noch K. Helga, Li. oder Inken. Außerdem findet er Namen von Schiffen, die im Gegensatz zu den Namen der Mädchen sehr korrekt zwischen Gänsefüßchen gesetzt sind. Am 7. März steht: BP übergeben. »Was heißt das?« fragt Trimmel und zeigt es ihm. »Moment!« Conradi überlegt. »Manchmal kann ich meine eigenen Zeichen nicht mehr lesen. Ach so, ja… wenn Sie’s genau wissen wollen, da habe ich einer Dame namens Petra einen Blumenstrauß geschenkt…« Trimmel sagt: »Es ist aber der einzige Blumenstrauß, den Sie registriert haben!« »Es war auch ein besonders schöner Strauß!« sagt Max Conradi mit männlichem Grinsen. Er nimmt den Kalender
zurück und sieht auf die Uhr. »Gleich vier. Wenn Sie schon keinen Kaffee wollen, was wollen Sie denn nun wirklich?« »Ein Bier«, sagt Trimmel, »und außerdem das Mädchen!« Conradi hält das wieder für einen gelungenen Witz, über den gelacht werden darf. Als er das Bier eingießt und die Zeugin Gabriele wieder im Zimmer ist, fragt Trimmel: »Wann genau ist Frau Beerenberg mit Herrn Conradi für zwei Tage verschwunden?« Gabriele muß sich zusammennehmen. »Am 29. Mai vorigen Jahres…« Am Tage ihres ersten und einzigen Beischlafs mit Dr. Peter Beerenberg. Da sagt Trimmel böse zu Conradi: »Sie haben wohl öfter Abschied gefeiert, wie…?« Zum ersten Mal ist Conradi verärgert: »Manchmal gibt’s auch so was wie ein Wiedersehen oder auch einen Anfang…« Trimmel zu Gabriele: »War’s der Anfang?« Gabriele schüttelt den Kopf. »Herr Conradi war schon vor dem 29. Mai zwei- oder dreimal in der Schönen Aussicht!« »Na und?« sagt Conradi. »Ich bin schließlich Junggeselle, wenigstens seit meiner letzten Scheidung…« »Dann trifft es sich ja gut, daß Ihre schöne Freundin jetzt Witwe ist!« »Was soll das?« fragt Conradi milde. »Das soll heißen«, poltert Trimmel, »daß sie ihren Mann erschossen hat und dauernd behauptet, sie sei aus gutem Grund auf ihn eifersüchtig gewesen. Von ihren eigenen Fehltritten redet sie überhaupt nicht… Sie haben ihr nicht zufällig mal gezeigt, wie man mit Kanonen umgeht?« »Sie werden unverschämt!« entscheidet Conradi. »Ich sollte Sie wirklich bitten, einen Morgenspaziergang zu machen!« »Ich geh’ schon von allein…«, sagt Trimmel.
Aber er geht ungern. Er hat das Gefühl, dicht neben der Wahrheit zu stehen und sie doch nicht zu erkennen. Er ist sicher, daß er den Mann nicht zum letzten Male gesehen hat.
Sie finden den Weg zurück zur Autobahn ohne Taxi. Trimmel fährt selbst, denn nur so, glaubt er, kann er seine Müdigkeit überwinden. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Frau Beerenberg auch im Februar zwei Tage weg war?« Gabriele schreckt hoch. »Was haben Sie gesagt?« »Daß Frau Beerenberg auch im Februar fremdgegangen ist und Sie offenbar vergessen haben…« Sie zählt die Finger ihrer rechten Hand. »Da war ich mit meiner Freundin in Urlaub. Auf Djerba…« »Ach so!« Sie könnte eigentlich weiterschlafen. Aber instinktiv ahnt sie, was jetzt kommt. Trimmels Frage überrascht sie überhaupt nicht: »Warum haben Sie wirklich mit Beerenberg geschlafen?« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt…« Aber Trimmel bohrt weiter: »War’s etwa Liebe…?« »Nein…« »Was denn, zum Teufel…?« Er vergißt völlig, daß sie seine Zeugin und sogar noch verdächtig ist. »Ein anständiges Mädchen wie Sie und so ‘n mieser Ehebruch…« »Hören Sie doch auf«, sagt sie ruhig, »er war schließlich nicht mein erster Mann, ich war früher schon mal fest verlobt. Und an jenem Abend brauchte er mich. Ich mochte ihn. Warum hätte ich ihm nicht helfen sollen?« »Helfen sollen!« Trimmel begreift’s nicht. Aber er kommt auch nicht weiter, nicht mit den Personen im Fall Beerenberg und nicht mit sich selbst…
Ohne Rücksicht auf Gabriele kurbelt er das Fenster herunter und hält den Kopf in den kalten Fahrtwind. Es gibt einige Tricks gegen Müdigkeit am Steuer, auch wenn man besser auf einen Parkplatz fahren und eine Viertelstunde schlafen sollte. Er macht das Fenster wieder zu. »Vielleicht seh’ ich’s ja doch noch ein…«, sagt er überraschend sanft. Und dann sagt er nichts mehr. Gabriele nickt wieder ein, und diesmal schläft sie nach kurzer Zeit tief und fest. Sie wird nicht einmal wach, als Trimmel noch zweimal die Scheibe öffnet und den müden Kopf in den Wind steckt. Vom Horster Dreieck an, von der Einfahrt Maschen, muß er sich gewaltig konzentrieren, um zügig an den Gemüsebauern aus Winsen vorbeizukommen, die zum Hamburger Großmarkt fahren. Um halb sieben erreicht er die Elbbrücken. Unterhalb des Polizeipräsidiums, am Berliner Tor, fährt er ohne zu überlegen rechts ab in Richtung Hamm. Er ist groggy wie ein Boxer nach fünfzehn Runden. Vor einer Ampel bremst er härter, als es sein muß, und er kann Gabriele gerade noch vor der Windschutzscheibe festhalten. »Wo sind wir…?« fragt sie mit verklebter Stimme. »Gleich zu Hause…« »Aber das ist hier doch nicht die Schöne Aussicht?« Ihm ist es völlig egal. Er parkt den Wagen vor seiner Haustür in der zum Glück freigebliebenen Lücke. Gabriele nimmt ihre Handtasche und steigt mit ihm aus. »Ich werde mir dann ein Taxi suchen…« Aber Trimmel hört nicht mehr zu. Er geht taumelnd zur Tür und müht sich wie ein Betrunkener mit dem Schlüssel ab. Da geht sie ihm nach, nimmt ihm den Schlüssel aus der Hand und öffnet. Sie hält ihn am Arm, als er die Treppen hinaufstolpert. Dreißig Stunden Spannung hängen an seinen Knochen, und er ist ja nicht mehr der Jüngste.
»Sie haben noch Ihre Sachen hier…«, murmelt er. Sie schließt die Wohnung auf, und er fällt sofort auf das Sofa. Er schläft bereits, als er fast unverständlich lallt, er müsse sofort zum Dienst. Gabriele zieht ihm die Schuhe aus und lockert ihm den Hemdkragen. Mit einem Oberbett aus dem Schlafzimmer deckt sie ihn zu. Es gibt Frauen, die immer wieder helfen müssen. Ihre Sachen sind trocken, nur das Kleid ist noch feucht. Trimmel schläft so fest, daß sie es riskieren kann, sich im Zimmer umzuziehen. In Höschen und Büstenhalter sucht sie einen Taschenwecker und stellt ihn auf elf Uhr dreißig. Dann setzt sie sich neben dem Sofa in einen Sessel und deckt sich sorgsam mit einer Wolldecke zu. Ganz ausgeschlafen ist sie ja auch noch nicht.
Um halb elf Uhr vormittags an diesem Mittwoch erscheint endlich der Rechtsanwalt Dr. Walter Loissen bei Brigitta Beerenberg in Rietbrook. Er findet sie im Sessel sitzend vor, stellt sein Köfferchen ab und bringt ihr mit beiden Händen stumm sein Beileid zum Ausdruck. Erst nach zwanzig Sekunden findet er die Sprache wieder. »Brigitta…!« Sie zieht ihre Hand aus seinen beiden Händen. »Nehmen Sie doch bitte Platz!« Er zieht sorgsam die Bügelfalten hoch, als er sich auf den zweiten Sessel setzt und sagt zugleich vorwurfsvoll: »Warum haben Sie mich denn nicht gleich nachts angerufen, als es passiert war? Wenigstens gut, daß wir hier keine Termine versäumen können…« Brigitta verbirgt ihr Gesicht in den Händen.
»Also«, sagt er, »ich mußte nämlich am Dienstag früh, gestern, gleich nach München fliegen – das hätte ich natürlich sofort verschoben! Und nun lese ich alles erst heute morgen in der Zeitung, sehr früh zum Glück. Ich habe sofort gebucht und die Frühmaschine noch erreicht…« Sie sieht ihn immer noch nicht an. »O Gott, nein, Brigitta! Ich denke immer noch, es darf nicht wahr sein, Peter lebt noch, es ist alles ein häßlicher Traum…« Da sieht sie ihm ins Gesicht. »Eben. Genau deshalb…« Er ist richtig lyrisch, denkt sie dabei. »Wissen Sie, Walter« – sie nennen sich beim Vornamen, ohne sich zu duzen –, »das ist doch alles furchtbar schwer. Sie sind… Sie waren doch viel mehr mit Peter befreundet, und schließlich bin ich diejenige, die seinen Tod… verursacht hat. Ich hatte einfach nicht den Mut, Sie anzurufen. Ich dachte, wenn Sie mich schon vertreten wollen, werden Sie schon von sich aus…« »Unsinn, Brigitta.« Er schüttelt tadelnd den Kopf. »Ich bin Ihr Anwalt, das ist doch keine Frage. Zum Glück ist noch nichts passiert…« Er macht eine Pause, weil immerhin jemand gestorben ist und insofern doch ziemlich viel passiert ist. »Sie haben Peter doch nicht ermordet, Brigitta, das ist doch alles dummes Zeug. Was passiert ist, das soll zwar nicht vorkommen, aber es kann vorkommen. Als Anwalt für Strafsachen…« Brigittas Blick ist plötzlich sehr wachsam. »Was ist dummes Zeug?« fragt sie. »Ach, nichts«, sagt er leichthin, »ich war heute gleich bei der Polizei, der Sachbearbeiter ist ein gewisser Trimmel, und der war nicht da. Aber ich habe mir auch so ein Bild gemacht, das sieht nach Lage der Dinge gar nicht so schlecht für uns aus…« »Meinen Sie?« fragt Brigitta. »Notwehr!« sagt Loissen im Brustton der Überzeugung. »Einwandfrei Notwehr. Nicht nur, was die Rechtslage
anbelangt, sondern es gibt da auch nicht den geringsten menschlichen Zweifel… man muß da manchmal sehr säuberlich trennen. Wie oft habe ich früher gesagt, Peter, du mit deinem Jähzorn wirst eines Tages noch was Schlimmes erleben. Aber daß es gleich so schlimm kommen mußte…« Sie nimmt wieder die Hände vors Gesicht, und er legt ihr väterlich den Arm um die Schulter. »Und nun werden wir das so schnell wie möglich hinter uns bringen!« sagt er. Er hat natürlich schon überlegt, daß die Einweisung Brigittas sehr anfechtbar ist, vermutlich sogar ein Fehler der Justiz, eines unerfahrenen Haftrichters – ein Beschluß, den er leicht vom Tisch fegen könnte. Nach seiner ersten Akteneinsicht hat er jedoch ein leicht ungutes Gefühl, das er selbst noch nicht definieren kann. Notwehr, schön und gut. Es sieht tatsächlich nicht schlecht aus für Brigitta. Trotzdem kann es nicht schaden, wenigstens den Abschlußbericht der Polizei abzuwarten. Er mag sich nicht vorstellen, daß Brigitta krank ist, ernsthaft krank, dazu noch geisteskrank. Aber er wird noch keine Beschwerde einlegen, um ganz sicher zu sein und das Risiko einer Untersuchungshaft auf gar keinen Fall einzugehen. Sie kommt auf ihre Frage von vorhin zurück. »Sie haben da eben ›dummes Zeug‹ gesagt?« »Oooch«, sagt er, »die Presse, nicht wahr?« »Die Presse!« wiederholt Brigitta. »Nun ja«, sagt Loissen, »die Leute haben wie so oft keine Ahnung. Natürlich ist es für die Zeitungen ein gefundenes Fressen, eure gesellschaftliche Stellung, Chefarzt von seiner Frau erschossen, all dieser Unfug…« »Aber die Tendenz!« sagt sie hartnäckig. Und die Tendenz der Berichte ist ja tatsächlich nicht gut; vielleicht unternimmt er deshalb nichts gegen die Einweisung. Er holt aus seinem Aktenköfferchen ein paar Zeitungen, und
die balkenhohen Schlagzeilen springen ihr ins Gesicht, Buchstabe für Buchstabe: CHEFARZT STIRBT BEI EIFERSUCHTSDRAMA! DER ZWEITE SCHUSS TRAF DEN CHEFARZT INS HERZ! SIE ERSCHOSS DEN CHEFARZT – UND KAM INS IRRENHAUS! IST BRIGITTA BEERENBERG EINE MÖRDERIN? »Sie haben einfach keine Ahnung«, wiederholt Dr. Loissen, »Sie müssen das um Himmels willen nicht ernst nehmen, Brigitta…« Aber sie bekommt einen Weinkrampf. »Bestien sind das!« schluchzt sie nach der letzten Zeile. »Legen Sie ihnen das Handwerk, Walter… Bestien, die man einfach totschlagen muß!« Loissen packt die Zeitungen wieder zusammen. »Es ist ihr Beruf«, sagt er, »sie können nicht anders. Wir müssen es durchstehen, wir beide, Brigitta, wir schaffen es!« Sie trocknet ihre Tränen mit dem seidenen Tüchlein. »Kann man es ihnen denn nicht verbieten…?« Loissen schüttelt bedauernd den Kopf. »Manchmal bin ich auch versucht zu sagen, daß wir leider – leider! – eine freie Presse haben, die ungestraft Fragen wie die nach einer Mörderin in die Welt setzen darf, wo von Mord überhaupt nicht die Rede sein kann. Aber es hilft nichts, Brigitta. Im Augenblick dagegen anzugehen, halte ich für wenig sinnvoll, sogar für gefährlich…« Sie hat sich wieder gefangen. »Sie haben recht, Walter. Es ist wohl doch das beste, wenn ich erst einmal hierbleibe…« Er nickt sieht auf die Uhr und läßt sich seine Verteidigervollmacht unterschreiben. »Ich schaue später noch mal rein!« sagt er.
Trotzdem küßt er seiner Mandantin schon jetzt die Hand. Sie kann Trost und Höflichkeit dringend gebrauchen.
Als der Wecker klingelt, werden weder Trimmel noch Gabriele wach. Erst um halb zwei schrillt das Telefon so hartnäckig, daß Trimmel benommen zu sich kommt. »Hallo…?« Es ist Höffgen. »Gott sei Dank, Sie leben noch…« »Was heißt das?« »Nun ja, ich wollt’ schon ‘ne Fahndungsmeldung rausgeben. Wo haben Sie denn gesteckt?« »Ich war unterwegs«, sagt Trimmel kurz angebunden, »gibt’s was Neues?« »Nichts«, sagt Höffgen, »das ist es ja eben!« »Ich komm gleich vorbei…« Er legt den Hörer auf und sieht erst jetzt, daß das Bündel im Sessel ein Mädchen ist. Das Mädchen hat die graue Wolldecke züchtig bis zum Kinn hochgezogen und sieht ihn aus dunkelblauen Augen an. Halb ängstlich und halb verlegen. Vielleicht sogar ein bißchen belustigt. »Wo kommen Sie denn her…?« »Aus Bremen!« sagt sie wahrheitsgetreu. »Ich war Ihr Beifahrer…« »Deshalb müssen Sie nicht gleich bei mir schlafen…« Da wird sie richtig böse. »Ich hätte Sie ja auch vergammeln lassen können! Sie konnten ja nicht mal mehr Ihren Namen sagen! Außerdem werd’ ich Sie jetzt schnell von meiner Gegenwart befreien!« »Sachte, sachte…« »Drehen Sie sich um!«
Er gehorchte aufs Wort. Sie steht auf, zupft die Dessous zurecht und streift sich das Kleid über. »Wiedersehn!« sagt sie und greift nach ihrer Handtasche. »Moment!« Er lehnt sich breit gegen die Wohnungstür. »Wenn Sie schon mal hier sind, können Sie uns wenigstens Frühstück machen…« »Ich denke gar nicht daran!« Aber er geht nicht von der Tür weg, und insgeheim hat sie es sich sogar gewünscht. Deshalb stellt sie, wenn auch scheinbar sehr zornig, ihre Tasche wieder ab und geht in die Küche. Da es dort kein sauberes Geschirr mehr gibt, muß sie zunächst spülen. Tee gibt es nicht, also kocht sie Kaffee. Trimmel läßt sich nicht blicken. Im Bad rauscht das Wasser; er duscht. Es ist ewig her, seit in dieser Wohnung jemand Kaffee gekocht hat. Entsprechend geschmacklos ist die schwarze Brühe, die Gabriele zustande bringt. Man könnte vieles ändern in diesen verwohnten zweieinhalb Zimmern. »Sie können kommen!« ruft Gabriele. Der rot und blau gestreifte Bademantel reicht ihm bis zu den Füßen. »Sie sehen aus wie ein Teddybär…« Er stellt die Tasse ab. »Wieso?« »So… so altmodisch…« Das würde Trimmel sich sonst nie gefallen lassen. Aber der Kaffee, so alt er sein mag, schmeckt ihm. Und so stopft er sich nur mit muffigem Gesicht ein schon etwas welliges Stück Schwarzbrot in den Mund und sagt kauend: »Ich hab’ meist was Besseres zu tun, als mir neue Bademäntel zu kaufen!« Ziemlich vorwitzig sagt sie: »Ich könnte Sie ja mal beraten…« Aber dafür erntet sie nur einen bösen Blick. Sie wechselt das Thema: »Sehen Sie eigentlich viele… Tote?«
Trimmel kaut immer noch an seinem Schwarzbrot. »Täglich drei. So schön wie Beerenberg sind sie selten!« »Schrecklicher Beruf…« Sie redet ziemlich viel, findet Trimmel. Es ist schon fast wieder lästig. Aber plötzlich sagt sie etwas sehr Merkwürdiges: »Wieso war der Herr Conradi eigentlich mitten in der Nacht so schick angezogen?« »Ja, da sagen Sie was…« Trimmel hört auf zu kauen. »Beim Gewehrreinigen braucht er ja eigentlich keinen Schlips, nicht wahr?« Und das ist es. Genau das. Trimmel könnte sie küssen, denn sie hat genau das ausgesprochen, wonach er gesucht hat. Nur ein Mann mit einem schlechten Gewissen ist im Morgengrauen so schick und so höflich wie Max Conradi… Weibliche Intuition. Seit Jahren hat er das nicht mehr erlebt. »Kann ich noch eine Tasse Kaffee haben…?« Es gibt Junggesellen, die ihr Leben besser organisiert haben als er. Höffgen zum Beispiel: Der hat immer eine Köchin, die er nicht bezahlt. »Auch etwas Zucker…?« »Natürlich…« Aber eine solche Köchin, denkt Trimmel, soll sich Höffgen erst einmal suchen.
7
Alles noch mal von vorn. Und von hinten, von rechts und von links. In Farbe. Auf Hochglanz. Die traurige, schöne Leiche von Dr. Peter Beerenberg. Die Fotografin und das Labor haben gute Arbeit geleistet. Der Einschuß in der Herzgegend wirkt in der Nahaufnahme wie ein abstraktes Bild: ein roter Tropfen im bleichen Meer. »Komisch!« sagt Trimmel. Er denkt selten über den Tod nach, auch dann nicht, wenn er ihn sieht. Punkt drei ist er in seinem Arbeitszimmer. Höffgen wartet schon, aber mehr aus Langeweile. »Was machen wir jetzt?« »Arbeiten!« So gut es geht, rekonstruieren sie in Trimmels Büro das Tatzimmer im Haus an der Schönen Aussicht. Natürlich ist das Büro noch nicht halb so groß. »Faß mal an!« sagt Trimmel zu Höffgen. Der Schreibtisch kommt schräg rechts vor das Fenster, dahinter der Sessel. Entgegengesetzt vom Fenster ist die Tür. Dazwischen noch eine Sesselgruppe, bei Trimmel in drangvoller Enge durch drei Holzstühle und einen Papierkorb markiert, und links an der Wand – alles von der Tür aus gesehen stellt ein langes Lineal das Sofa mit dem köstlichen Leder aus dem überteuerten Pöseldorf dar. Das reicht: das gute Stück spielt bei der nächtlichen Tötung von Dr. Beerenberg nur eine topographische Rolle. Trimmel sieht sich das Ganze fachmännisch an. Er vergleicht es mit den Hochglanzfotografien – von vorn, von hinten, von
allen Seiten – und außerdem mit den maßstabgerechten Tatortskizzen. »Stimmt’s?« fragt Höffgen. Trimmel nickt. »Hol mal die Pistole…« Höffgen holt eine 7,65 PPK aus dem Tresor, viel schwerer als die wirkliche Tatwaffe, und Trimmel sieht persönlich nach, ob auch wirklich kein Magazin drin ist und auch kein Schuß im Lauf. »Man kann nie wissen…« Dann lädt er die leere Pistole durch, so daß der Schlagbolzen gespannt ist, und stellt sich hinter den Schreibtisch. »Du stehst jetzt aus dem Sessel in der Mitte auf…« Trimmel tut so, als nehme er die Pistole aus der linken oberen Schreibtischlade, und zielt – dicht an Höffgen vorbei. Klick! macht die Waffe. Wenn sie geladen gewesen wäre, könnte man bei Trimmels Treffsicherheit jetzt ein Loch neben der rechten Türfüllung sehen. »Chef«, sagt Höffgen, »Sie müssen mir vorher noch das Hemd kaputtreißen…« »Laß deine Witze!« Trimmel läuft rechts um den Schreibtisch herum, Höffgen läuft ihm zwei Schritte entgegen. Sie veranstalten einen Ringkampf, und es fällt Trimmel nicht schwer, den alkoholisierten Ehemann zu spielen. Höffgen entwindet ihm die Waffe, Trimmel weicht automatisch einen Schritt zurück, und Höffgen zielt auf ihn und sagt: »Bumm!« weil er nicht nochmals durchgeladen hatte. Man soll den Schlagbolzen ohnehin nicht leer vorschnellen lassen. Immerhin: Das war – oder wäre – der Herzschuß gewesen… »Noch mal von vorn!« Und wozu? Für eine echte Rekonstruktion hätten sie in das originale Tatzimmer gehen müssen. Dies hier ist Stückwerk – eine von Trimmels verrückten Ideen?
»Irgend etwas stimmt hier nicht!« sagt er grämlich. Der Einschuß neben der Türfüllung war schräg nach oben gerichtet. Das ist normal. Aber der Schußkanal im Körper von Dr. Beerenberg verläuft ganz leicht nach unten, und Brigitta stand aufrecht, als sie schoß. Also hat er sich vorgebeugt, als das Geschoß ihn traf, oder er wollte sich fallen lassen… Aber die Leiche hat auf dem Rücken gelegen! »Die Witwe hat doch gesagt, daß sie außer dem Händefalten nichts an der Leiche getan hat?« Höffgen denkt nach. »Ich war nicht im Zimmer. Aber… Ja, so haben Sie’s erzählt!« »Und wie konnte Beerenberg aus vorgebeugter Haltung nach hinten fallen?« »Wahrscheinlich sind ihm die Beine eingeknickt«, sagt Höffgen bedächtig, »und durch die Wucht des Schusses… Also, von der Ballistik und der Leichenlage her können wir sie nicht kriegen, Chef…« »Woher weißt du denn, ob ich sie kriegen will?« »Ich dachte nur«, sagt Höffgen, »wegen der Möbelpackerei und so…« Während sie die Möbel wieder geraderücken, ruft Trimmel nach Petersen. Nach dem Mann, den sie den Leichenbitter nennen. »Geh noch mal ins Holsten-Krankenhaus. Frag die Sekretärin von Beerenberg, ob er seinen Schreibtisch im Büro immer abgeschlossen hat!« »Bin gleich wieder da!« sagt Petersen. Es geht um Gabrieles Aussage, Beerenbergs Schreibtisch zu Hause sei stets verschlossen gewesen – bis auf ein einziges Mal. Eine einmalige Vergeßlichkeit des Verblichenen – oder eine Nachlässigkeit, die gar nicht so einmalig gewesen ist?
Inzwischen nimmt Trimmel sich Höffgen vor. »Deine Vernehmung von dieser Gabriele war ja wohl dein Meisterstück!« »Wieso?« fragt Höffgen ahnungslos. »Das Mädchen ist die wichtigste Zeugin, die wir zur Zeit haben«, sagt Trimmel böse, »und du gibst dich damit zufrieden, daß sie dir ihr Schlafzimmer zeigt…« Es geht Höffgen zwar nichts an, daß Gabriele tatsächlich mit Dr. Beerenberg geschlafen hat. Aber einen Punkt wenigstens hätte er klären können: »Du hast nicht mal rausgekriegt, daß die Witwe Beerenberg ihrem Mädchen erzählt hat, sie sei immer montags von ihrem Mann verprügelt worden!« »Montags…?« »Da hatte Gabriele frei. Ein schickes Alibi auf Zeit!« »Ja, aber«, sagt Höffgen ratlos, »das läßt doch auf Mord schließen…?« »Eben!« sagt Trimmel. Aber das ist schon alles. Manchmal hat ein Mensch Glück, ohne jemals zu erfahren, warum er billig davongekommen ist. So wie jetzt Höffgen, der bei Gabriele wirklich keine Sternstunde hatte. »Hau ab!« sagt Trimmel. Sonst kann er letztlich doch für nichts garantieren. Sonst explodiert er am Ende doch noch. Er setzt sich hinter den Schreibtisch, hat die Akte Beerenberg vor sich und wählt die Nummer des Tathauses in der Schönen Aussicht. Gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, daß er eine ganz andere Nummer wählen wollte, und er knallt schnell den Hörer auf die Gabel. Beim zweiten Mal konzentriert er sich. Er hat Glück. Obgleich es schon vier Uhr ist und Staatsanwälte selten um diese Zeit im Büro sind, meldet sich Portheine sofort.
»Hier ist Trimmel. Wie sehen Sie die Chancen… guten Tag übrigens, ‘tschuldigung… mit Frau Beerenberg eine ordentliche Vernehmung durchzuführen?« Portheine schnauft in den Hörer. »Im Grunde hat sie ja gestern nacht schon alles Wesentliche gesagt…« »Sie meinen«, fragt Trimmel, »es gibt Schwierigkeiten mit den Ärzten?« »Schwierigkeiten gibt’s überall. Aber im Ernst, Herr Trimmel, ich habe heute morgen mit einem gewissen Dr. Lorff in Rietbrook telefoniert und mich nach dem Befinden von Frau Beerenberg erkundigt. Er ist dort Oberarzt, er hat gesagt, die Dame steht unter dem persönlichen Schutz von Professor Kemm. Kunststück, bei der Figur…« »Das hat der Oberarzt gesagt?« »Natürlich nicht, wenn er auch einen ziemlich flapsigen Ton hatte. Es ist nur… wir waren doch eigentlich davon ausgegangen, daß es Notwehr war. Haben Sie Neuigkeiten, die dem widersprechen?« »Nein«, sagt Trimmel fast wahrheitsgetreu, »aber Frau Beerenberg hatte einen Liebhaber, und ich hätte sie gern darüber ausgefragt. Immerhin geht’s um Eifersucht!« Portheine schnauft stärker. »Liebhaber, gut und schön, wer hat das heute nicht?« Er denkt an seine eigene Frau und bekommt einen Schreck. »Ich meine das natürlich nicht so wörtlich, Herr Trimmel. Aber was Frau Beerenberg anbelangt… ich würd’s dabei belassen. Wenn Professor Kemm meint, eine Vernehmung sei im Moment nicht so sehr opportun… Wir brauchen Kemm eigentlich für wichtigere Dinge. Man findet nicht alle Tage einen so überlegenen Gutachter, und die Staatsanwaltschaft ist bisher, wie meine Kollegen mir sagten, glänzend mit ihm ausgekommen…« »Also steht die Dame unter Naturschutz!« »Aber ich bitte Sie…«
»Wie Sie meinen!« Das Gespräch geht nicht sehr freundlich zu Ende, aber das geschieht zwischen Staatsanwälten und Polizisten häufiger. Insgeheim denkt Portheine offenbar schon an eine Einstellung des Verfahrens Beerenberg. Die Kripo, offiziell Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft, hat da wenig Einfluß. Wenn Trimmel Glück hat, kommt es wenigstens noch zu einem Einweisungsverfahren vor der Strafkammer, wenn schon nicht zu einem Mordprozeß. Aber was heißt hier schon Glück? Trimmel läßt sich von der Zentrale ein Gespräch mit der Kripo in Bremen geben. »Bitte Kriminalrat Rauhut!« Was heißt hier Glück, und welches private Interesse nimmt Trimmel an diesem Fall, den er selbst einen schlecht geräucherten Schinken genannt hat? »Rauhut!« »Tag, Alfons, hier Trimmel. Sag mal, ich hab’ da heute nacht in euren Ländereien gewildert. Ein gewisser Conradi, Benquestraße…« »Hab’ schon gehört!« sagt Rauhut. »Wenn du uns schon nicht offiziell Bescheid sagen wolltest, hätten wir wenigstens privat einen trinken können!« Trimmel wundert sich. »Es war wirklich nachts… wer hat dir denn erzählt, daß ich in Bremen war?« »Reiner Zufall. Außerdem hast du Glück gehabt, daß ich am Apparat war und daß er nicht gleich den Chef verlangt hat…« »Von wem redest du?« Trimmel versteht im Augenblick überhaupt nichts. »Von Conradi«, sagt Rauhut, »der rief vor einer halben Stunde hier an und wollte Herrn Trimmel sprechen. Den gibt’s bei uns nicht, sagt die Vermittlung und stellt ihn durch zu mir. Ich hab’ gesagt, ja, ja, ich kenn’ dich, und ich würd’ dir
Bescheid sagen. Du sollst ihn jedenfalls zurückrufen. Hast du die Nummer?« »Hab’ ich. Aber tu mir inzwischen einen Gefallen und laß ihn mal unter der Hand überprüfen…« »Mein lieber Paul«, sagt Alfons Rauhut, »da laß besser die Finger von. Das eine kann ich dir jetzt schon sagen: Dieser Conradi ist zwar so ‘ne Art Playboy mit tausend Weibergeschichten. Aber außerdem gehört er hier zur allerbesten Gesellschaft, sitzt sogar in der Bürgerschaft. Seine Familie kommt gleich nach Roland dem Riesen…« »Ich merk’s mir«, sagt Trimmel, »wenn dir doch noch was einfällt, ruf mich wieder an!« Er legt den Hörer auf. In seiner Tasche steckt die Visitenkarte von Max Conradi mit sämtlichen privaten und geschäftlichen Telefonnummern. In seinem Ohr noch der Satz, der mit den Worten ›Wenn ich noch helfen kann…‹ beginnt. Vielleicht will er ihm jetzt wirklich helfen. Aber das Gespräch, das Trimmel sich geben läßt, ist so dürftig, daß er fast einen Wutanfall bekommt. Er erinnert sich gerade noch, daß er es mit einem Volksvertreter zu tun hat, einem Mitglied der Bürgerschaft. »Hier Conradi«, sagt die Großwildjäger-Stimme, »Herr Trimmel, ich habe festgestellt, daß Sie ja gar nicht aus Bremen sind, sondern aus Hamburg. Aber um des lieben Friedens willen, Herr… Hauptkommissar, nicht? Ja… das soll kein Verweis sein, jeder muß manchmal unorthodoxe Wege gehen, wer wüßte das besser als ich…« »Nett von ihnen!« knurrt Trimmel. »Oh, bitte sehr. Ich meine nur, wir sind heute morgen nicht so ganz als Gentlemen geschieden, beide wohl etwas gereizt, das zumindest wollte ich aus der Welt schaffen…« »Danke«, sagt Trimmel, »ganz meinerseits…« Er wundert sich mehr denn je, daß Conradi mitten in der Nacht so höflich
gewesen ist, wo er doch seinen Polizeipräsidenten persönlich hätte wecken können. Er sieht ihn so deutlich vor sich, braungebrannt und selbstsicher, als säße er ihm hier gegenüber. Und er kommt zu dem Schluß, daß Max Conradi ihm tatsächlich geholfen hat. Er hat hinter ihm her spioniert. Typisch für Menschen, die nicht nur ein schlechtes Gewissen haben, sondern auch Angst und etwas zu verbergen. So und nicht anders. Spionieren tun eigentlich nur Leute, die der Ansicht sind, sie hätten einen ernsthaften Gegner vor sich.
Trimmel liest Akten, das ist nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung. Aber bis Petersen, der Leichenbitter, aus dem Krankenhaus zurück ist, fällt ihm nichts anderes mehr ein, wenigstens nicht zum Fall Beerenberg. Dr. Beerenberg, liest er, hat die Waffe, mit der er zu Tode kam, am 19. Oktober vor zwei Jahren selbst in Hamburg gekauft. Er hatte einen Waffenschein, weil er damals von einem verrückten Patienten bedroht wurde. Außerdem war in seinem Haus zweimal eingebrochen worden. In anderen Berichten steht, daß alle Bekannten und Freunde des Arztes gefragt worden sind, ob der Schreibtisch im Herrenzimmer gewöhnlich verschlossen war oder nicht. Die meisten wußten es nicht, die anderen haben klipp und klar gesagt, er sei immer verschlossen gewesen. Aber Trimmel ist zäh, er bohrt nicht ohne Grund so lange an diesem Punkt herum. »Der Architekt Blauschulte erklärte«, steht in einem Bericht, »daß Dr. Beerenberg immer dann, wenn er etwas aus seinem privaten Schreibtisch nehmen wollte, den Schlüssel aus der linken Jackentasche zu nehmen pflegte. Dieser Schlüssel paßte außerdem nicht nur auf eine einzige Lade, sondern mit ihm
ließ sich die gesamte linke Seite des Schreibtisches auf- und zusperren…« Dann endlich kommt Petersen aus dem Holsten-Krankenhaus zurück und sagt: »Haben Sie schon die Todesanzeige gelesen, Chef?« »Hhmm«, sagt Trimmel, »ziemlich mickerig.« »Chef«, sagt der wie immer schwarzgekleidete Mann, »ich meine ja nicht die vom Gesundheitssenator, sondern die vom Personal!« Die hat Trimmel übersehen, obgleich sie nicht zu übersehen ist. Fast eine Seite hoch, fast eine Seite breit, mit einem fingerdicken schwarzen Rand. »Als ich heute kam«, sagt der Leichenbestatter, »war die Sekretärin gerade am Sammeln. Alle Schwestern mußten was spenden… Das hat vielleicht einen Haufen Geld gekostet!« Er ist sichtlich beeindruckt von soviel Pietät. »Zum Henker«, sagt Trimmel, »ich will nicht wissen, was heute die Kartoffeln kosten, sondern ob Dr. Beerenberg im allgemeinen…« »Davon rede ich ja die ganze Zeit!« unterbricht ihn der Leichenbitter beleidigt. »Nämlich vom Geld. Die Sekretärin hat die Anzeige nämlich erst mal aus der Handkasse bezahlt, da war immer ziemlich viel Geld drin, ein paar tausend Mark, meistens sein eigenes…« »Und warum?« fragt Trimmel. »Das ist auch so eine Geschichte. Dr. Beerenberg wurde vor zwei Jahren mal ziemlich spät zu einem Kongreß eingeladen und fühlte sich sehr geehrt, er sollte einen wichtigen Vortrag halten. Er konnte aber nicht hinfahren, weil der Vortrag schon am nächsten Morgen sein mußte und weil er nicht genug Bargeld hatte, um die Flugkarte nach München zu bezahlen…« »Hatte er denn keine Kreditkarten?«
Der Beamte schüttelt den Kopf. »Da war er eigen, er wollte immer gleich bar bezahlen. Jedenfalls, weil so viel Geld im Schreibtisch war, hat er immer selbst abgeschlossen und keinen rangelassen…« »Hatte die Sekretärin denn keinen Schlüssel?« »Doch, aber die ist abends meist früher gegangen, und morgens hat sie gewartet, bis der Chef kam, sie kannte ja seine Macke. Dr. Beerenberg war…« – er sucht in seinem Taschenkalender nach dem Wort, das er sich aufgeschrieben hat – »… von einer sogenannten Phobie besessen, einer krankhaften Vorstellung, man könne ihn bestehlen. Vor allem, seit man bei ihm zu Haus mal eingebrochen hat…« »Zweimal!« sagt Trimmel. »Trotzdem hat er zu Haus mindestens einmal vergessen, den Schreibtisch abzuschließen!« Er glaubt Gabriele in diesem Punkt mehr als allen anderen Zeugen. Er konstruiert aus Dr. Beerenbergs Phobie und Gabrieles Beobachtung sogar einen neuen Verdacht: Er war immer abgeschlossen. Aber Brigitta hat gewußt, wo der Schlüssel ihres Mannes steckte, nämlich in der linken Jackentasche. Sie könnte ihn kurzfristig entwendet haben, um ein Duplikat machen zu lassen… Mit einem Nachschlüssel, kombiniert er, könnte sie seelenruhig die Lade geöffnet, die Waffe herausgenommen und den Ehemann erschossen haben. Nur läßt sich das nie beweisen.
Trimmel liest, daß die weiblichen Gäste im Haus Beerenberg die Ehefrau Brigitta als ›exaltiert‹, ›hysterisch‹, ›unhöflich in ihrer idiotischen Eifersucht‹ und ›verrückt‹ bezeichnen. Außerdem findet sich viermal ein Augenzeugenbericht über eine Szene, die in Gegenwart fremder Leute mit einem Weinkrampf endete.
»Hatten Sie den Eindruck, daß die übersteigerte Eifersucht von Frau Beerenberg begründet war?« hieß die Frage, die etwa zwanzig Damen gestellt worden war. Zwanzigmal lauteten die Antworten: »Nein!« Eine kesse Enddreißigerin, Inhaberin einer Boutique, hatte hinzugefügt: »Leider…« Inzwischen sind alle gegangen: auch Höffgen hat sich verabschiedet. Trimmel geht lustlos im Zimmer auf und ab und schielt nach dem Telefon. Trotzdem erschrickt er, als es plötzlich klingelt. Das Mädchen von der Zentrale sagt: »Na, Gott sei Dank, daß Sie noch da sind!« »Wieso?« fragt Trimmel. »Weil Herr Professor Kemm Sie sprechen möchte!« sagt das Mädchen mit deutlicher Hochachtung. »Ich verbinde…« Kemm persönlich, durch ein Dutzend Kriminalfälle auch im Präsidium bekannt. »Hallo«, sagt er, »Herr Trimmel?« Wenigstens den Namen hat er sich inzwischen gemerkt. »Was gibt es denn Neues bei Ihnen…?« »Nichts!« sagt Trimmel. Fast wahrheitsgetreu. Die wenigen Einzelheiten, mehr Vermutungen als Indizien, können Kemm kaum interessieren. Aber Kemm ist da anderer Ansicht. »Sie wollen mir nicht im Ernst erzählen, daß sich seit über vierundzwanzig Stunden keine neuen Aspekte ergeben hätten?« »Nun ja«, sagt Trimmel, »es gibt ein paar Ansätze. Aber wenn man Frau Beerenberg nicht mal dazu vernehmen kann, ist es schwierig…« »Hören Sie«, sagt Kemm, »ich wäre der letzte, der sich gegen notwendige Ermittlungen sträuben würde. Natürlich würde Frau Beerenberg eine polizeiliche Vernehmung überleben. Aber es würde auch unsere ärztlichen Untersuchungen stören.
Solange kein wirklich zwingender Verdacht, etwa auf Mord oder Totschlag, besteht…« »Nein, nein. Es gibt nur ein paar Seitensprünge. Von ihr und von ihm. Wir sind ihrem Liebhaber noch auf der Spur…« »Und ist es nun Notwehr?« Trimmel zögert. Die Frage kommt ihm viel zu früh. »Möglicherweise. Vielleicht sogar wahrscheinlich… Aber ist das denn so entscheidend, wenn die Dame außerdem noch verrückt ist?« Kemm sagt sehr scharf: »Ich wollte Ihnen gestern schon sagen, daß über diesen Punkt nicht die Polizei entscheidet, sondern allenfalls das Gericht, von mir beraten!« Trimmel hat ihn tatsächlich abgelenkt. Nur keine präzise Antwort auf die präzise Frage nach der Notwehr! »Ich habe selbst gesehen«, sagt er, »wie sich Frau Beerenberg aufgeführt hat. Außerdem gibt es jede Menge Zeugen, die ihr abnormes Verhalten beobachtet haben, und zwar seit Monaten und Jahren!« »Frau Beerenberg hat schwere Blutergüsse am Hals und an den Armen«, sagt Kemm, »sie hat es bei ihrem Mann bestimmt nicht leicht gehabt. Vielleicht übersehen Sie die Problematik nicht so ganz…« »Sie meinen…«, sagt Trimmel. »Ich meine zumindest, daß die Hämatome ohne weiteres bei dem von ihr behaupteten Ringkampf mit ihrem Mann entstanden sein können!« Trimmels Antwort ist eine ziemliche Unverschämtheit: »Ich kann ja dann gleich 33 in meinen Bericht schreiben. Sie haben’s dann einfacher…« Paragraph 33 Strafgesetzbuch besagt im einzelnen, daß die Überschreitung der Notwehr nicht strafbar ist, wenn der Täter – hier die Täterin – in Verwirrung, Furcht oder Schrecken über die gebotenen Grenzen hinausgegangen ist.
Rechtliche Würdigungen sind allerdings ebenfalls nicht Sache der Polizei. Und Kemm sagt höhnisch: »Passen Sie bloß auf, daß Sie dabei keinen Ärger mit dem Staatsanwalt kriegen!« »Ich werd’ mich vorsehen!« brummt Trimmel. Es gibt hier Leute, die stärker sind als er. »Im übrigen«, sagt Kemm, »wäre es eine gute Idee, wenn Sie Ihren Abschlußbericht möglichst bald schreiben könnten. Sagten Sie nicht, Sie wollten die Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben?« Trimmel hört nicht mehr, wie ihm am Ende doch noch versöhnlich ein schöner Feierabend gewünscht wird. Der Feierabend ist ihm gründlich verdorben, und der Spaß am eigenen Ärger auch. Er spannt einen Bogen in die Schreibmaschine und tippt mit zwei Fingern: ABSCHLUSSBERICHT Er schreibt dann zwei Stunden, bis fast halb neun. »Bei Frau Beerenberg«, schreibt er zum Schluß, »handelt es sich offensichtlich um eine schwer gestörte Persönlichkeit, die im Laufe der letzten Jahre und Monate vor dem Tod ihres Mannes mehr und mehr zu verfallen schien. Es ist denkbar, daß sie durch ihre wahnhafte Eifersucht, die nach den polizeilichen Ermittlungen so gut wie nicht begründet war, ihrem Ehemann das Leben zur Hölle machte…« Er freut sich jetzt doch wieder – und er freut sich wie ein Spitzbube, wenn er sich vorstellt, wie Kemm diese Sätze liest. »Aus dieser Situation«, schreibt er weiter, »dürfte sich das Tatgeschehen entwickelt haben, das sich allerdings trotz einiger Verdachtsmomente, die nicht ganz ausgeräumt werden konnten, nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen in einer Notwehrsituation abgespielt hat…« Daran soll sich nun der Staatsanwalt die Zähne ausbeißen.
»Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen sind in dieser Sache abgeschlossen!« Unterschrieben: Trimmel. Von Gabrieles Fehltritt mit Dr. Beerenberg hat er kein Wort erwähnt. Notfalls wird er sich damit herausreden, er habe es vergessen. Aber den Schiffsmakler Max Conradi aus Bremen – den hat er mit allen bis jetzt bekannten Einzelheiten angeprangert. Er verläßt sein Zimmer, ohne es abzuschließen. Er hat keine Lust mehr, noch in die Kneipe zu gehen, deshalb nimmt er die schmale Akte über den Prostituiertenmord in St. Georg mit nach Hause. An einer Imbißstube lädt er sich noch zehn Flaschen Bier in den Wagen. Und es geht dann auf zehn, als er versucht, sich in seiner Wohnung in den Tod des leichten Mädchens zu vertiefen. Um halb elf ist er immer noch auf Seite 3 und am Tatort, der ihm so fremd vorkommt wie eine der Fidschi-Inseln. Um zwanzig vor elf steht er unkonzentriert auf und wählt die Nummer der Schönen Aussicht. Er läßt es dreimal tuten und legt wieder auf. So schnell kann Gabriele gar nicht am Apparat gewesen sein. Aber ausgerechnet Trimmel hat plötzlich Angst, er könne bei diesem Mädchen nicht die richtigen Worte finden… Dabei wollte er sie gestern, ziemlich genau um diese Zeit, noch einsperren! Er gießt sich ein neues Bier ein, versucht sich erneut auf die Akte zu konzentrieren und schafft es tatsächlich bis Seite 29. Dort beginnt die förmliche Vernehmung des Täters Kolanowski, dem er ja selbst ein Geständnis entlockt hatte. Also faßt er den Entschluß, er habe hundertprozentig seine Pflicht getan und sei, alles in allem, ausreichend informiert. Er klappt die Akte zu, trinkt das Bier aus, noch einen Korn hinterher und geht schlafen.
Und auf diese Weise übersieht er zum zweiten Mal einen Schlüssel, der ihm unter Umständen im Fall Beerenberg weiterhelfen könnte.
Mit der Freigabe der Leiche Dr. Beerenbergs und der Beerdigung am Freitagmorgen in Ohlsdorf kommt zunächst Ruhe in den Fall, wenn auch noch längst nicht die ewige Ruhe. An die tausend Menschen, viele von ihnen bitterlich weinend, geben dem toten Chefarzt das letzte Geleit. Brigitta trägt an diesem Tag in Rietbrook ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid. Trimmel läßt Höffgen den Abschlußbericht Beerenberg gegenlesen und gegenzeichnen und schickt ihn mit den Akten am Freitagnachmittag an die Staatsanwaltschaft. Portheine bekommt die Unterlagen am Dienstag auf den Tisch. Und eine Kopie des Berichts geht von Trimmel, was sicher keinen stört, an Kemm: Er soll so schnell wie möglich wissen, was die Polizei über Brigitta Beerenberg denkt.
Zunächst ärgert sich Robert Kemm gewaltig, als er den Bericht liest. Aber dann wird er sehr nachdenklich, am Ende sogar fast heiter. Er legt das Manuskript ganz oben in sein Geheimfach. Hin und wieder vertieft er sich in die simplen Sätze des Polizisten Trimmel wie in eine Bibel. Zwar hält er die Bemerkungen über die vom Eifersuchtswahn zerstörte Persönlichkeit Brigittas für laienhaften Blödsinn, das sollte sich Herr Trimmel höchstens in sein Poesiealbum schreiben. Aber die Notwehr, die Trimmel praktisch feststellt, die gibt Kemm zu denken. Und je länger er darüber nachdenkt, desto deutlicher formt sich in seinem Gehirn ein Entschluß, der ihn endlich aus seiner zwiespältigen Situation erlöst.
Denn: wenn Brigitta ihren gewalttätigen Mann in Notwehr erschossen hat, darf sie von keinem Gericht verurteilt werden. Dann kommt sie frei, eben nach Paragraph 33 – und das ist inzwischen schon voll im Sinn von Kemm. Er ist verrückt nach Beerenberg, das hat er sich inzwischen gestanden. Es genügt ihm nicht mehr, sie jeden zweiten oder dritten Tag als Patientin zu sehen. Er will viel mehr, er will alles. Jetzt endlich kann er es haben. Jetzt endlich kann er es sich leisten, Brigitta Beerenberg ohne Rücksicht auf die objektiven Erkenntnisse seiner Untersuchungen für geistig und gesund zu erklären. Juristische Konsequenzen braucht er nicht mehr zu fürchten. Der Mann mit dem dritten Frühling. Ausgerechnet Trimmel hat ihn darauf gebracht, daß nicht nur im Park von Rietbrook die Blumen blühen. Und ab sofort ist es Robert Kemm völlig gleichgültig, daß er sich weit von der Aufgabe entfernt, die ihm als Arzt und Wissenschaftler gestellt worden ist. Daß er seine Autorität als Arzt und Forscher aufs Spiel setzt – und vor allem wohl seine Selbstachtung. Aber solche Bedenken kann sich ein Anfänger gleich nach dem Staatsexamen leisten. Der Meister selbst steht über den Dingen… Denn länger als zwei Jahrzehnte ist Robert Kemm als Gutachter tätig gewesen, als weißer Richter in großen Fällen. Er war dutzendfach Herr über fremde Schicksale, über Leben und lebenslänglich: Das verführt. Das verführt zu einem Machtanspruch, der in seltenen Fällen fast gottähnlich werden kann oder auch teuflisch. Kemm wird sich jetzt mit seinen Untersuchungen ebenso beeilen wie die Polizei.
Aber die Weichen hat er bereits gestellt, und der Zug ist, um im Bild zu bleiben, schon abgefahren. Als letzte Station bleibt nur noch die Couch.
8
Die Patientin liegt in entspannter, lockerer Haltung auf der mit dunkelblauem Samt bezogenen Couch. Sie hat weißes Leinen erwartet und wundert sich über die warme, zärtliche Farbe im blauen Salon. Robert Kemm kann mit der Wirkung seines ersten Tricks zufrieden sein. Die Patientin – man sollte wohl besser Probandin sagen – hat einen Intelligenz-Quotienten von guten 114 Punkten nach der HAWIE-Skala und trägt einen Slip, aber keinen Büstenhalter; ihr schöner Körper, den Kemm schon fast als sein Eigentum betrachtet, steckt in einer knöchellangen Kutte aus mattgelber Seide. Sie hat vier psychologische Tests mit Anstand, aber auch mit ›Zacken‹ hinter sich gebracht: es gibt einige seelische Auffälligkeiten. Einige Zacken gibt es auch in der Hirnstromkurve. Aber Kemm wird die Untersuchung schon richtig steuern. Es ist fünf Uhr nachmittags, Frau Vandebosch ist früher als sonst gegangen, und Brigitta Beerenberg sagt: »Man hat ja ganz schön zu tun bei Ihnen!« Kemm lächelt. »Wir tragen zusammen, was wir können. Ein Engländer hat gesagt, die Seelenkunde sei so zufällig wie die Briefmarkensammlung eines Amateurs… Nun, wir versuchen wenigstens, komplette Sätze zu sammeln!« »Die blaue Mauritius…«, sagt sie und sieht sich um. Sie assoziiert bereits. Kemm und kostbar, krank und Kultur. Kemm hat ihr gesagt, sie könne bei der Exploration auch sitzen bleiben. Aber danke, nein, sie liegt lieber.
Er zieht sich einen blauen Sessel heran und setzt sich neben sie. Zigaretten, Aschenbecher und ein goldenes Feuerzeug liegen auf einem Tischchen. »Ich bin jetzt Ihr Beichtvater, Brigitta, Ihr energischer Kommandeur, ein Diplomat in Ihren Diensten. Ein guter Kollege von mir hat diese Begriffe geprägt. Sie müssen mir alles erzählen, sich an alles erinnern…« Das ist vorsätzlich falsch. Denn das sind Vokabeln, die nicht zur Exploration gehören, sondern allenfalls zur Psychoanalyse. Gleich bekommt er die Quittung: »Ich habe da einiges gelesen, Professor. Müssen Sie nicht auch die Rollen der Männer spielen, die es in meinem Leben wirklich gegeben hat?« Er schüttelt den Kopf, aber sie hat die Augen geschlossen und sieht es nicht. »Vater, Lehrer, Jugendfreund, Liebhaber, selbst… selbst Ehemann…« »Brigitta!« sagt er streng. Da schlägt sie voller Unschuld die Augen wieder auf. »Natürlich ist es… wo mein Mann doch tot ist… Aber ich dachte…« »Dies ist eine Untersuchung, Brigitta, keine Behandlung. Sie verwechseln da einiges!« »Ich will mir jetzt wirklich Mühe geben!« Der Anwalt hat ihr gesagt, sie soll versuchen, diesen Mann auf ihre Seite zu bringen. Dabei mag sie ihn ohnehin gern, und sie wird schon deshalb alles versuchen.
Kemm erfährt Einzelheiten über die großbürgerlichen Großeltern und über ihre Tante, die Selbstmord beging, weil sie immer so traurig war. Winzige Bausteinchen, keinesfalls
Indizien. Brigittas wenige Kinderkrankheiten stehen schon seit der körperlichen Untersuchung auf der Karteikarte. »Wie war das Verhältnis Ihrer Eltern zueinander?« »Sehr gut!« sagt sie sofort. »Sie liebten sich sehr, das spürt man doch gerade als Kind…« »Sie haben sich nie gezankt?« »Aber nein! Im Gegenteil… ich habe ein paarmal heimlich zugesehen, wie sie sich liebten, körperlich, meine ich. Sie waren sehr zärtlich zueinander, bis zuletzt, ich wußte es. Ich hätte es auch viel öfter sehen können, ich hatte da so meine Methode, mein Zimmer war gleich gegenüber. Aber ich hatte immer das Gefühl, das geht dich überhaupt nichts an, da störst du nur…« »Waren Sie traurig über dieses Gefühl?« »Nicht im geringsten, Professor. Wir hatten einen sehr herzlichen Ton zu Hause, mein Vater war zuletzt Regierungsdirektor, das hörte sich sehr gut an…« – sie lacht, ein bißchen wehmütig – »… und er gehörte meiner Mutter, da gab es doch keine Komplexe. Ich wünschte mir nur, meine Ehe würde eines Tages auch so glücklich sein…« Das Einzelkind Brigitta hat den Vater mit siebzehn verloren und die Mutter mit einundzwanzig. Eine Zeitlang, etwa zwei Jahre, hat Brigitta dann noch in der elterlichen Vierzimmerwohnung gelebt. Dann hat sie sich, inzwischen gut verdienendes Fotomodell, ein schickes Zweizimmerappartement in Alsternähe gemietet. »Ich wäre viel lieber zu Hause wohnen geblieben. Aber ich mochte keine Männer zu Hause haben, ich meine, in der Wohnung meiner Eltern. Auf die Dauer empfand ich das doch als ziemlich lästig…« In dieser Phase des Gesprächs bricht endgültig das Sexuelle durch, tritt in den Vordergrund, wird von Brigitta gedreht und gewendet und nicht mehr losgelassen.
Sie nimmt die Arme hoch und verschränkt sie hinter dem Kopf. Die Augen bleiben geöffnet. »Meine Sexgeschichte ist ein Kapitel für sich. Soll ich alles erzählen, von Anfang an…?« »Natürlich!« »Aber ist doch langweilig, mit den ersten sexuellen Regungen, Onanie, natürlich habe ich das gemacht, aber was hat das heute noch zu bedeuten? Die Geschichten mit dem Fahrradsattel, ich wäre Rennfahrer geworden, wenn ich ein Junge gewesen wäre. Ich hätte bestimmt jedes Rennen gewonnen, am liebsten die Tour de France…« Sie lacht freudlos. »Ich war immer die Allerschönste, ich habe sowieso immer gewonnen, richtig langweilig. So ab zwölf sind mir die Jungen nachgestiegen, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ein paar Jahre habe ich sie weggescheucht, oder sie sind vor Angst von selbst weggelaufen…« »Haben Ihnen diese Nachstellungen Spaß gemacht?« »Ein bißchen schon. Ich habe gern mit ihnen gespielt. Und als ich sechzehn wurde, da habe ich…« Sie zögert. Er wartet geduldig. »Da habe ich einem Freund meines Freundes gesagt, den ich damals hatte, er soll mich… mich entjungfern. Da kam doch mein richtiger Freund dazu, dieser Eifersuchtshansel, und ich habe gesagt wennschon – dennschon…« »Sie meinen, Sie sind von beiden…?« »Hhhmm…« Sie schämt sich ein bißchen. »War das nicht ein Schock?« »Natürlich, es tat ziemlich weh…« »Können Sie diesen Schock näher beschreiben?« »Ach, so schlimm war das nun auch wieder nicht, da können Sie ganz beruhigt sein. Mit neunzehn, da war ich schon
Fotomodell, da lernte ich einen Fotografen kennen, der konnte es fünfmal nacheinander, und vorher…« »Moment«, sagt Kemm, »noch mal die beiden Jungen. Waren Sie mehr über sich selbst schockiert oder über die Jungen?« Brigitta wirft sich unruhig hin und her und greift nach einer Zigarette. Er gibt ihr Feuer. »Also gut. Mehr über die Jungen. Der ältere ist einfach aufgestanden und weggegangen, es war in meinem Mädchenzimmer, und mein Freund – der jüngere, Sie wissen schon – hat sich hingesetzt und geheult wie ein Schloßhund. Ich habe nie wieder daran gedacht, komisch, wenn Sie jetzt nicht gefragt hätten…« »War er noch länger Ihr Freund?« »Aber ich bitte Sie!« »Wer hat denn die Freundschaft beendet?« »Ich natürlich. Ich habe gesagt, er soll sich nie mehr blicken lassen, wo gibt’s denn so was, ein Mann, der weint! Und natürlich hat er pariert…« Sie scheint sich zu ekeln. »Aber daß Männer so was überhaupt machen können. Eigentlich hatte Claus ja recht…« »Womit?« »Mit dem Heulen. Ich kann das heute richtig verstehen. Aber komisch, Max hat mir damals mehr imponiert…« »Max?« »Ja, der ältere. Der war schon über zwanzig. Der war nur auf Besuch in Hamburg, wenn der wiedergekommen wäre, ich glaube, er…« »Max Conradi aus Bremen?« Sie starrt ihn an, zu Tode erschrocken. »Woher… woher wissen Sie…?«
»Es steht in Ihren Akten«, sagt Kemm, selbst alarmiert durch den Zufallstreffer, »Sie haben ihn später wiedergetroffen. Er ist wohl der Mann, den Sie nach Ihrer Heirat zu lieben glaubten…?« »Professor, um Gottes willen… Müssen Sie das der Polizei sagen?« »Beruhigen Sie sich, Brigitta. Ich muß gar nichts sagen, und ich werde nichts sagen…« Schon gar nicht diesem Herrn Trimmel.
Der Sherlock Holmes der Couch hat eine wichtige Spur entdeckt und läßt sie versanden. Mit voller Absicht. Sie könnte seine Konstruktion gefährden, seine Wünsche und seine Pläne. Und seine Manipulation des Falles, an dem er ein so ungebührliches Interesse nimmt. Sie vergißt den Schock. Sex beruhigt; sie redet wie ein erotisches Lexikon aus einer Frauenzeitschrift: »Wenn ich ehrlich bin, Professor, ich war ein ziemliches Nymphchen, so bis vierundzwanzig, wobei ich mir immer gesagt habe, es gibt bestimmt noch Schlimmere…« An einer dreiviertel aufgerauchten Zigarette zündet sie sich eine neue an. »Manchmal hatte ich allerdings einen Moralischen. Dann war ich neidisch auf meine Kolleginnen auf der Mannequin-Schule, die einen festen Freund hatten oder verheiratet waren. Dann lebte ich zeitweise wie eine Nonne…« So, wie sie jetzt eine Kutte trägt, wenn auch aus Seide… Kemm macht sich in seiner unleserlichen Schrift Notizen: Schlüsselerlebnisse. Schickt weinenden Jungen weg, aber identifiziert sich mit seiner Eifersucht. Hält Geborgenheit der elterlichen Wohnung sauber. Neidisch auf das häusliche Glück anderer… Pluspunkte, lauter Pluspunkte.
»Hören Sie mir eigentlich zu?« fragt sie. Er trägt seine gütige Maske. »Ich höre alles, Brigitta!« Sie drückt ihre Zigarette halbgeraucht aus. »Dieser Wunsch nach Geborgenheit, Professor, vielleicht war das die Bremse für mich. Ehrlich: Peitschen oder Gruppensex oder so, das hat’s bei mir nie gegeben, niemals, ich schwör’s Ihnen! Immer nur ganz normal, wie Papa und Mama, höchstens mal von hinten, denn manchmal wollte ich den Mann überhaupt nicht sehen…« Abrupter Wechsel von Tonart und Wortwahl. Die Notiz: Zorn über sich selbst, Rechtfertigung zugleich. »Sind Sie jetzt schockiert über mich?« »Aber ich bin doch Ihr Beichtvater, Brigitta!« sagt Robert Kemm pflichtgemäß. Trotzdem hat er den flüchtigen Verdacht, daß sie die Verbalerotik mit Vorbedacht gegen ihn ins Feld führt. Er trägt einen taubenblauen Anzug mit einer etwas zu jugendlichen Krawatte. Er schielt nach dem Schrank, in dem der weiße Kittel hängt. Es ist lange her, seit er zum letzten Mal selbst exploriert hat, und noch länger, daß er mit der Person auf der Couch gemeinsame Sache machte… »Ihr sexuell leicht verwirrtes Leben endete, als Sie Ihren späteren Mann kennenlernten?« Sie ist peinlich berührt und zieht das linke, dem Professor zugewandte Bein an. Die Kutte aus Seide rutscht über das Knie. »Müssen Sie mich ausgerechnet jetzt an diesen Hurenbock erinnern?« »Er war kein Hurenbock!« sagt Kemm ruhig. Aber er hat einen Schreck bekommen. »Sie müssen es ja besser wissen, ausgerechnet Sie! Mir glaubt ja niemand…« Das leichte Zittern in ihrer Stimme verrät sie. In der Luft hängen Tränen.
»Ich will Ihnen doch glauben. Aber Sie müssen mir alles erzählen…« Noch einmal will sie ihn ablenken. »Ist das nicht komisch, daß ich früher immer an einen anderen Mann gedacht habe, wenn ich mit einem Mann im Bett war, und mir immer eine andere Stellung vorgestellt habe?« Ein guter Satz für die Notizen: Gibt scheinbar das Letzte preis, um das Allerletzte zu behalten. Aber Kemm läßt sie nicht mehr aus dem Griff: »Wen haben Sie sich denn vorgestellt, wenn Sie mit Ihrem Mann zusammen waren?« Da fängt sie plötzlich schallend an zu lachen, geradezu unverschämt laut. Dicke Tränen laufen ihr dabei am Ohr vorbei, und sie zieht auch das zweite Bein an. »Das ist ein Witz, das gibt’s gar nicht! Das darf nicht wahr sein, ich und mir bei Peter andere Männer vorgestellt…!« Kemm läßt sie gewähren. Zwei Minuten später ist sie wieder bei Sinnen. »Es war umgekehrt«, sagt sie friedlich, »ich habe mir vorgestellt, ich wäre eine andere Frau. Mein Mann mit einer anderen Frau, die ich haßte, die ich am liebsten sofort ermordet hätte…« »Und dabei…?« »Dabei hatte ich einen Orgasmus nach dem anderen!«
»Ausgerechnet dieser Hurenbock Peter war der erste, mit dem ich nicht sofort ins Bett gegangen bin. Dabei hätte ich es verflucht gern getan, aber ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, so ein ruhiger Typ war er. Sechs Monate später waren wir verheiratet, und da hatten wir natürlich schon eine Menge Nummern gemacht…« Sie hält sich erschrocken die Hand vor den Mund und reißt die Augen auf wie ein Kind. »Verzeihen Sie…«
»Bitte!« sagt Kemm. Etwas zu förmlich. »Peter war mir in sexueller Hinsicht viel zu zurückhaltend. Daraus entnahm ich allerdings, daß er es auch bei anderen Frauen war, ich hatte felsenfestes Vertrauen zu ihm. Eifersucht? Lächerlich!« Sie zieht die Knie an, die Kutte rutscht höher, und der weiße Slip wird sichtbar. Sie hilft sogar noch mit den Händen nach. »Mein Problem war nämlich ganz anders. Ich wollte viel öfter mit ihm schlafen, jeden Tag. Ich dachte manchmal, ich würde wahnsinnig, er ließ sich einfach nicht verführen. Ich habe versucht, Striptease zu machen, ich habe mich… ach, alles mögliche, die geilsten Sachen… und er? Er hat immer nur gesagt, Liebes, es gibt doch nur dich auf der Welt…« Sie ist fern von jeder Taktik auf dem besten Wege, die Wahrheit zu sagen. Kemm aber schleicht um das Problem herum wie eine Katze und hat noch den Schock in den Gliedern, der ihn traf, als sie aus heiterem Himmel zum erstenmal ›Hurenbock‹ sagte. »Was empfanden Sie überhaupt, wenn Ihnen das Stichwort Eifersucht irgendwo begegnete?« »Oh«, sagt sie, »da war ich allergisch. Ich habe mehrfach Bekanntschaften abgebrochen, wenn ich die Vermutung haben mußte, der Mann oder die Frau würden fremdgehen, es war sogar ein Senator darunter. Ich war sehr aufgeregt, wenn ich solche Dinge in Büchern las oder im Film gesehen habe. Einmal habe ich ein Buch in die Heizung geworfen, da gehörte es auch hin…« »War es ein besonders obszönes Buch?« »Ach wo. Irgendein Liebesroman aus der Buchgemeinschaft, die vertreiben doch keine unanständigen Bücher. Bloß, ich hatte das Gefühl, daß da der Ehebruch verherrlicht wurde, und das konnte ich nicht ertragen!«
»Glauben Sie denn immer noch, daß Ihr Mann ein notorischer Ehebrecher war?« Da schreit sie los, daß ihm fast das Herz stehenbleibt: »Aber davon rede ich doch die ganze Zeit, begreifen Sie das doch endlich…« Sie will aufspringen, ein gelber Derwisch im blauen Zimmer, und er hält sie gewaltsam zurück. »Lassen Sie mich!« keucht sie. »Ich kann nicht darüber reden, wenn mir niemand glaubt…« Er muß beide Hände nehmen, um ihre Schultern auf der Couch festzuhalten. Ihre Hände sind frei: erst kratzt sie ihn durch das Hemd, und dann läßt sie ihn plötzlich los und streift sich blitzschnell den Slip von den Beinen, zerknüllt ihn, wirft ihn wie einen Stein ins Zimmer und läßt sich, scheinbar entspannt, zurückfallen. »Sie können mich haben«, sagt sie mit geschlossenen Augen, »tun Sie’s doch, ich warte doch nur darauf…« »Sie lügen!« sagt Kemm heiser. »Das ist doch eine unsinnige Rache, Brigitta!« Es ist unerträglich heiß, und er steht auf und öffnet das Fenster. Als er zurückkommt, nimmt er mit spitzen Fingern den Slip vom Boden und legt ihn auf die Couch. Sie weint lautlos vor sich hin. Er sollte aufhören, sagt er sich. Aber statt dessen fragt er: »Wie fing es denn an?« Sie zieht die Kutte wieder herunter bis zum Knie und redet zur Wand. Immerhin, sie redet. »Vor zwei Jahren habe ich die ersten Gerüchte gehört. Ich habe gelacht, ich hielt es für unmöglich. Aber dann kam er eines Abends in einem fremden Wagen, und ich stand zufällig am Fenster…« »Was sahen Sie?«
»Ich sah, wie er eine fremde Frau küßte, die hinter dem Steuer saß. Ich dachte in diesem Moment, ich würde von unten her verbrannt…« »Haben Sie ihn zur Rede gestellt?« »Sofort. Er hat alles abgestritten, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte…« »Was sagte er?« »Ich soll keinen Unsinn reden. Das sei überhaupt keine Frau gewesen, sondern ein Assistenzarzt, der ihn nach Hause fuhr, weil sein Citroen in der Werkstatt war. Aber ich hatte mir ja die Nummer des Autos gemerkt, und Dr. Loissen – mein Anwalt, Sie kennen ihn – hat mir die Adresse dazu besorgt. Er wußte natürlich nicht, um was es ging…« »Wem gehörte das Auto?« »Einem Dr. Friedrich Bogner. Ich habe unter falschem Namen im Krankenhaus angerufen, es gab tatsächlich einen Dr. Bogner…« »Aber dann war doch alles klar?« »Eben nicht! Ich bin ja nicht dumm, Professor, das haben Sie mir selbst gesagt. Ich habe bei Bogner zu Hause angerufen, und eine Frau meldete sich. Ich fragte sie, ob sie gestern das Auto ihres Mannes gefahren habe. Ja, warum, hat sie gefragt. Ach, sagte ich, natürlich wieder mit falschem Namen, ich hätte ihr vielleicht einen Kratzer am Kotflügel gemacht, sie solle mal nachsehen. Dann habe ich ihr noch eine x-beliebige Telefonnummer gegeben und eingehängt. Wenn das kein Beweis ist, Professor!« Das ist zumindest ein Beweis für ihre Energie, denkt der Professor beklommen. »Hatten Sie an jenem Abend Streit mit Ihrem Mann?« »Natürlich. Aber vor allem hatte ich Wut auf dieses Weib, diese…« »Wollten Sie sie bestrafen?«
»Umbringen wollte ich sie!« »Wie denn?« »Ich wollte… ich wollte sie erschießen!« »Aber Sie hatten doch keine Waffe…« »Doch«, sagt sie, »ich hätte leicht eine kriegen können, wenn ich Max gefragt hätte…« »Max Conradi?« »O Gott, nein…« Sie begreift plötzlich, daß sie Dinge gesagt hat, die sie niemals sagen wollte. »Professor«, fleht sie, »bleibt das auch ganz bestimmt unter uns?« Es hat ihm die Sprache verschlagen. Er kann nur noch nicken.
Es wird draußen dunkel. Am frühesten dunkelt es im blauen Salon. »Können Sie das Fenster nicht wieder schließen?« bittet Brigitta. Sie wohnt jetzt schon seit sieben Wochen in Rietbrook, und man hat Kemm erzählt, daß sie immer bei geschlossenem Fenster schläft. »Ich hasse die Dunkelheit, sie ist wie ein Käfig…« Sogar die Dämmerung ist ihr ein Greuel. Kemm geht zum Fenster; man sieht über den Park hinweg weit nach Hamburg hinüber. Erst wenige Lichter; graublaue Luft, die Einladung zu einem langen Marsch. Weg von hier, so weit wie möglich… Kemm kennt jetzt Dinge, für die ein Mann wie Trimmel vermutlich Geld zahlen würde. Und Brigitta plappert daher, als könne sie damit ein schon besprochenes Tonband wieder löschen. Sie hat Angst, er erkennt es deutlich – und das ist seit einer halben Stunde die einzige vernünftige Reaktion, die sie überhaupt zeigt.
»Ich habe sie ja nicht erschossen, Professor, sie lebt bestimmt heute noch herrlich und in Freuden. Ich habe Peter damals nur gefragt, ob er sein Liebchen, diese Frau Bogner, vielleicht auch zu unserer nächsten Party einladen wollte, die war am übernächsten Samstag. Die käme mir nicht ins Haus, habe ich gesagt. Da ist er einfach in sein Arbeitszimmer gegangen und schloß sich ein und schlief auf der Couch. Ich war die ganze Nacht allein…« Kemm schließt das Fenster und geht zurück. »Vielleicht war er müde und wollte nicht mit Ihnen streiten…« »Ach wo. Er hatte ein schlechtes Gewissen, und ich hatte ihn ertappt. Das war alles!« Jetzt zündet sich auch Kemm eine Zigarette an. Zwischen zwei Zügen fragt er beiläufig: »Welches Gift hat Ihnen Ihr Mann eigentlich in den Tee getan?« Sie antwortet nachsichtig, als habe sie ein Kind vor sich: »Das weiß ich doch nicht, ich hatte doch immer ein Laken über dem Gesicht…« »Ach ja, natürlich. Sie sind immer noch fest davon überzeugt?« »Natürlich. Ich habe es einmal getrunken, ich wäre fast gestorben. Und dann nie wieder!« »Aber er hat es Ihnen öfter gegeben?« »Das schon. Nur, ich trank davon, behielt den Tee jedoch im Mund und wartete, bis er gegangen war. Dann schlich ich mich heimlich ins Bad und spülte mir den Mund aus. Dabei mußte ich hören, wie er unten gerade seinen Weibern die Kleider vom Leib riß… Ekelhaft!« »Mehrere zur selben Zeit?« »Ja, manchmal auch mehrere…« »Irren Sie sich wirklich nicht?«
»Irren ist menschlich, Professor. Aber was soll ich sagen, ich habe es schließlich selbst gehört und gesehen. Ich hätte sie fotografieren sollen. Aber wer denkt denn an so was?« Er greift nach dem Block und läßt den Stift liegen. Zweifelsohne Halluzinationen und Erinnerungsfälschungen, zweifelsohne ein pathologischer Befund. Kann er es sich immer noch leisten, eine rundweg positive Diagnose zu stellen? »Haben Sie jemals daran gedacht, Ihren Mann für seine Untreue zu bestrafen?« Ihre Augen glitzern im milden Licht der Stehlampe, die inzwischen brennt. »Ich bin nicht der Typ, der Gleiches mit Gleichem vergilt!« »Nun ja«, sagt Kemm, »zweimal doch…« Und einmal, mit Max Conradi, sogar über einen ziemlich langen Zeitraum. »Aber Professor, das war doch überhaupt nichts gegen die Hurengeschichten von ihm!« »Ich meinte eigentlich… Sie haben nie das Gefühl gehabt, Sie müßten ihn körperlich bestrafen, züchtigen, quälen, vielleicht sogar verletzen?« Da sagt sie endlich einen zwar frechen, aber auch sinnvollen Satz: »Sie reden dummes Zeug, Professor! Natürlich wollte ich ihn niemals quälen oder verletzen. Ich habe ihn in Notwehr erschossen, das wissen Sie doch!« Das glaubt zu ihrem Glück sogar die Polizei.
Sie ist sich immer noch nicht sicher, ob er auf ihrer Seite ist. Aber sie ist glücklich, restlos glücklich. Nie in ihrem Leben, nicht einmal nach Peters Tod, hat sie so im Mittelpunkt gestanden. Ein paarmal hat sie sich verplappert. Aber dieser Mann wird sie nicht verraten.
Ihm kann man fast alles sagen. Bis auf die letzte, die böse, die allerletzte Wahrheit. Denn sie ist sich immer noch nicht sicher, ob er auf ihrer Seite steht, und das ist auch gar nicht mehr so wichtig. »Man gewöhnt sich an alles, Professor. Sogar an die Untreue des Mannes. Trösten Sie sich, ich kann Ihnen zuliebe doch keinen Mord gestehen…« »Wie kommen Sie darauf?« Sie nimmt blitzschnell die Hand vor den Mund, stoppt den Satz und läßt die Hand wieder fallen. »Ich würde Ihnen am liebsten jeden Gefallen tun…« Früher hätte er nachgehakt, heute nicht. Oder nicht mehr. Der Sherlock Holmes in Kemm hat heute seinen freien Tag. »Fühlen Sie sich selbst geistig gesund, Brigitta?« »Sonst würden Sie doch nicht so mit mir reden!« sagt sie entwaffnend naiv. Sie mag vielleicht ein bißchen verrückt sein, aber sie ist für Kemm die schönste Frau seit langem, die schönste und schärfste. Erst hatte er Vorurteile, dann hatte er Skrupel. Jetzt hat er nur noch den dringenden Wunsch nach einem ehrlichen Beischlaf. »Mögen Sie mich inzwischen eigentlich leiden?« fragt sie kokett, fast berechnend. Wasser auf Kemms Mühle: Natürlich ist sie berechnend, und das läßt wenigstens auf eine partielle Intaktheit schließen. »Trotz meiner Entgleisung von vorhin…?« Dabei zieht sie den Slip wieder an, scheu und vorsichtig wie ein junges Mädchen. »Ich konnte Sie von Anfang an leiden, Brigitta…« Sie hockt mit angezogenen Beinen auf der Couch. Sie sitzt im Halbdunkel, und Kemm sitzt unter der Stehlampe im Licht. »Haben Sie schon mal mit einer Patientin geschlafen?« Sie sieht, wie er lächelt.
»Natürlich nicht!« »Waren denn nicht viele attraktive Frauen dabei, viel schönere als ich…?« »Es gab eine Menge Gelegenheiten. Aber…« »Aber was?« fragt sie voller Unschuld. »Schöner als Sie war keine, Brigitta…« Sie wird rot wie ein Schulmädchen. Er kann es nicht sehen. »Außerdem, man tut’s einfach nicht. Kein Psychiater kann eine geistig verwirrte Frau lieben…« »Ich bin aber nicht geistig verwirrt!« Und wennschon! denkt der gottähnliche Kemm. »Erstens das«, sagt er, »zweitens würden Sie meinen therapeutischen Elan gewaltig anspornen…« Als sie nicht antwortet, nimmt er die randlose Brille ab und starrt ins Halbdunkel. »Aber da gibt’s noch den Ehrenkodex des Arztes: Mit Patientinnen macht man nichts, um keine Freude der Welt…« »Ehre!« sagt sie und horcht hinter dem Wort her. Ganz leise spricht sie weiter, immer noch ohne Gesicht: »Ich war mit einem Chefarzt verheiratet. Ich hätte lieber einen Professor kennengelernt…« Da fällt ihm nur noch ein Argument ein, das schwächste von allen, denn das Spiel geht zu Ende: »Ich war zweimal verheiratet. Ich bin fast doppelt so alt wie Sie, Brigitta…« »Ist das auch eine Sperre wie Ihre Ehre?« Er steht auf und kommt bis zum Fenster. Dort hat sie ihn bereits eingeholt. Er faßt blind mit einer Hand hinter sich und berührt sie, irgendwo. Sie zieht einfach die Kutte über den Kopf, ihr rein seidenes Büßergewand, selbstverständlich und so wenig lasziv wie eine Ehefrau zehn Jahre nach der Hochzeit. Kemm setzt ein ernstes, fast feierliches Gesicht auf, dann erst dreht er sich um.
Ihr Mund ist weich, und die Hände sind schlank, erfahren wie eine Söldnertruppe. Das Spiel ist aus, es wird ernst und der blaue Salon wird entjungfert. Bei Brigitta ist das schon längst nicht mehr möglich. »Sie sind verrückt…!« sagt er heiser. Genau das, was er nicht wahrhaben will. Aber sie spielt mit ihm. Mit den Fingerspitzen zaubert sie eine Zukunft, die Vergangenheit tut sie mit der flachen Hand ab. Ab sofort, von der Gegenwart an, kann das Paradies auf Erden ausbrechen.
»Warum eigentlich nicht?« sagt Kemm, als es vorbei ist. Mehr zu sich selbst, aber Brigitta hört es. »Du…«, sagt sie zärtlich. Wer kann das schon zu seinem weißen Richter sagen?
Am 17. August dieses Jahres wird der einundzwanzigjährige Rolf Kolanowski in seiner Zelle im Hamburger Untersuchungsgefängnis tot aufgefunden. Der schmächtige Junge, der ausgerechnet am Todestag von Dr. Peter Beerenberg seine leichtlebige Freundin erstochen hatte, hängt in der Schlinge eines auseinandergerissenen Bettlakens an der Heizung. Große Aufregung, wie immer in solchen Fällen. Aber davon wird Kolanowski nicht wieder lebendig. »Schöne Scheiße!« murmelt der Staatsanwalt, den man sofort gerufen hat. Der Gefängnisarzt, der Direktor, ein paar Hauptund Oberwachtmeister und im Hintergrund zwei Kalfaktoren schweigen betreten. Als Kolanowskis Leiche abtransportiert wird, scheppern die Blechgefäße und Blechgeschirre in der ganzen Anstalt, und das
dumpfe Röhren der Gefangenen schrillt auf und ab wie eine Schiffssirene. Der tote Häftling hinterläßt auf Erden außer einigen wertlosen Gegenständen in der Kammer eine nicht einmal halbfertige Anklageschrift und einen mit Bleistift bekritzelten Zettel: »Die Bullen haben mich fertiggemacht!« Das Wort ›Bullen‹, entscheidet die Staatsanwaltschaft, kann sich sowohl auf die Wachtmeister im Gefängnis beziehen als auch auf die Polizisten, die Kolanowski vernommen haben. Die Presse steigt größer in den Fall ein, und vorsichtshalber muß die Kripo dazu Stellung nehmen. Trimmel wird beauftragt, eine Untersuchung durchzuführen. Verärgert läßt er sich Höffgen kommen: »Habt ihr den Typ geschlagen?« Aber Höffgen ist in diesem Fall zu Recht beleidigt: »Sie selber haben ihm ja noch Schnaps gegeben! Hinterher war ich die ganze Zeit dabei, dem Jungen ist kein Härchen gekrümmt worden!« Und Trimmel glaubt ihm. Er greift sich zum drittenmal die Handakte des St.-GeorgFalles, und diesmal muß er sie von vorn bis hinten lesen. Er sieht Kolanowski vor sich, wie er sein Geständnis ablegte, spürt ein bißchen Bedauern – aber es ist gleich wieder weg: Sechzehnmal, liest er, hat der Junge auf das Mädchen eingestochen. »Wenn ich gefragt werde, kann ich die genaue Zahl der Stiche natürlich nicht mehr angeben, aber wenn mir vorgehalten wird, es seien sechzehn gewesen, kann ich das nicht ernsthaft bestreiten…« Außerdem hatte Kolanowski zwei Messer. Wenn ihm das erste bei seiner Tat abgebrochen wäre, hätte er theoretisch immer noch das zweite gehabt, das Reservemesser… Aber das ist doch Quatsch, sagt sich Trimmel; er hat einfach zwei
Messer geklaut, als die Gelegenheit günstig war. Allerdings, wer mit Waffen zu tun hat, hat oft genug mehr als eine… Und genau in diesem Moment klickt in Trimmels Hirn ein Relais. Genau in diesem Moment hat er – endlich – eine Erleichterung: Zwei Messer. Zwei Waffen. Conradi hat sogar fast zwei Dutzend Waffen. Ausgerechnet Beerenberg hatte nur eine. Aber ist das ganz sicher? Nicht jeder, der zweimal von Einbrechern heimgesucht wird, kauft sich deshalb gleich eine Kanone. Eher bestellt er sich die Wach- und Schließgesellschaft und läßt sich stabilere Schlösser einbauen, allenfalls Fußangeln und Selbstschüsse. Man darf also annehmen, daß bei Dr. Beerenberg schon immer ein gewisses Interesse für Pistolen vorhanden gewesen ist – es kann ohne weiteres eine zweite Pistole in der Schönen Aussicht geben, auch wenn sie bisher noch niemand gefunden hat! Das ist zweifellos mehr Intuition als Kriminalistik. Aber es ist auch typisch für Trimmel und seinen sechsten Sinn. Außerdem hat er endlich Gelegenheit, wieder mal ein ernstes Wörtchen mit Gabriele zu reden. »Höffgen!« ruft Trimmel. Der kennt diesen Ton und ist wie ein Wiesel in der Tür. »Ja, Chef…?« »Die Handakten Beerenberg! Sofort!« Er schreibt in fliegender Hast den Bericht zum Todesfall Kolanowski zu Ende – weg damit! Denn er glaubt allen Ernstes, daß er jetzt weiß wo der Schlüssel zum Fall Beerenberg liegt. Nämlich sozusagen direkt vor der Haustür.
9
Robert Kemm ist ein Ehrenmann; er hat aus seiner intimen Exploration von Brigitta Beerenberg sofort die Konsequenzen gezogen. Zwei Nächte lang hat er ins Diktaphon gesprochen; es sind die Liebesnächte eines Wissenschaftlers gewesen, und er ist entsprechend erschöpft. Die besprochenen Bänder hat er Frau Vandebosch zum Abschreiben gegeben und ihr aufgetragen, alles noch sehr geheim zu behandeln, selbst im engsten Kreise der Mitarbeiter. Am dritten Morgen legt ihm die Sekretärin die ersten Seiten seines großen Werks auf den Schreibtisch. »Ich möchte jetzt nicht gestört werden!« sagt Kemm. Er macht es sich bequem und berauscht sich bereits an den gestochenen Sätzen der Einleitung. »Auf Ersuchen des Landgerichts Hamburg erstatten wir über Frau Brigitta Beerenberg, zur Zeit bei uns stationär untergebracht, das nachfolgende fachwissenschaftliche Gutachten…« Die beiden letzten Worte sind dick unterstrichen. »Das Gutachten stützt sich auf die Kenntnis der Akten, eine stationäre Beobachtung und Untersuchung der Frau Beerenberg seit dem 25. Juni sowie ein hirnelektrisches und ein psychologisches Zusatzgutachten… In dem Gutachten soll zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Stellung genommen werden…« Und dann geht es los. Zur Aktenlage. Zur Person von Dr. Peter Beerenberg. Zur Person von Frau Brigitta Beerenberg. Körperlicher Befund von Frau Beerenberg. Familiengeschichte. Sexualentwicklung. Tatvorgeschichte.
Psychologischer Befund. Zusammenfassung und Beurteilung… Soweit ist Frau Vandebosch bisher gekommen, immerhin bis Seite 49. Die Zusammenfassung wird mindestens weitere fünfzig Seiten ausmachen. Die Beurteilung aber, die besteht nur aus wenigen Zeilen. Der weiße Richter hat sie am Ende seines Diktats handschriftlich skizziert, bevor er sie dem Mikrofon anvertraute: »Selbstverständlich leidet die Probandin Beerenberg an Symptomen der Eifersucht, die jedoch im normalpsychologischen Bereich liegen. Sie ist weit von einem Anfangsstadium einer wahnhaft zu nennenden und als krankhaft zu bewertenden Eifersucht entfernt. Ärztlicherseits wären, da der Eifersuchtswahn nicht vorliegt, die Voraussetzungen für die Anwendungen der Paragraphen 20 oder 21 nicht zu bejahen. Frau Beerenberg wäre nach unserer Überzeugung voll schuldfähig…« Kemm ist glücklich. Mit neunundfünfzig ein Mann in den besten Jahren, gepflegt, kultiviert, imposant. Fünf Zentimeter kleiner als Brigitta, aber ein Riese des Geistes. Sein ärztlicher Elan kommt wieder hinzu. Für ihn ist Brigitta keine Patientin mehr, auch keine Probandin – sie ist nur noch die schöne, arme, von ihrem Mann bis aufs Blut gequälte und bis an die Grenze des Wahnsinns gedemütigte Frau… Bis an die Grenze, nicht darüber hinaus. Kurz vorher ist die Ehe Beerenberg explodiert – psychiatrisch wertfrei eine Erlösung für den überlebenden Partner. Für Brigitta. Kemm klopft sich selbst auf die Schulter: Dank dem Genie, das die Zusammenhänge erkannte! Dank dem Meister, der das Menschliche über alles stellte, sei es sogar das allzu Menschliche! Und der Dank in dieser Stunde, denkt Kemm, gilt auch dem Polizisten Trimmel, der Brigitta durch seine Feststellung der
Notwehr den Freispruch – den verdienten Freispruch! – so gut wie geschenkt hat. Kemm kann Trimmel nicht die Hand drücken, denn Trimmel ist nicht greifbar; es würde auch seltsam aussehen. Dasselbe gilt für Brigitta. Nur kein Aufsehen! Ersatzweise umarmt der euphorisch gestimmte Professor deshalb seine überraschte, geschmeichelte und immerhin bereits neunundvierzigjährige Sekretärin Liese-Lore Vandebosch. »Morgen um elf ist Konferenz!« sagt er, als er sie wieder losläßt. Dann ist immer noch Zeit für Katzenjammer.
Aber Trimmel ist ein undankbarer Mensch. Er hat sich die bei der Kripo verbliebenen Handakten Beerenberg hervorkramen lassen und ist dabei, den bereits abgegebenen Fall auf den Kopf zu stellen. Er hat den sechsten Sinn für Boshaftes und Mörderisches, und er läßt sich die Polizei in Bremen geben. Den Kriminalrat Rauhut. »Alfons«, sagt Trimmel, »wie viele Waffengeschäfte gibt es in Bremen?« »Weiß nicht genau«, sagt Alfons Rauhut, »vielleicht zwei Dutzend mit Bremerhaven…« »Kannst du die für mich überprüfen lassen?« »Wenn’s sein muß…!« Er ist nicht gerade begeistert. »Was willst du denn wissen?« »Ich will wissen«, sagt Trimmel, »ob euer Großwildjäger Conradi, euer Roland der Riese, in den letzten anderthalb Jahren eine Mauser 6,35 gekauft hat. Und ob sie einen hellbraunen Griff gehabt hat…« Conradi ist ein rotes Tuch für den Bremer Kollegen. »Er hat einen Waffenschein!« sagt Rauhut unfreundlich. »Laß doch
endlich die Finger davon, ich hab’ dir doch neulich schon gesagt, daß…« Trimmel unterbricht ihn. »Geschenkt, Alfons. Aber du brauchst überhaupt nicht nach Conradi zu fragen, außerdem kannst du das telefonisch machen lassen. So viele Mauser sind bestimmt nicht verkauft worden. Und die paar, die da hängenbleiben…« »Also gut, ich mach’s. Bis morgen nachmittag?« »So schnell wie möglich!« sagt Trimmel. Erstens ist die Sache eilig, zweitens platzt er vor Ungeduld.
Kemm hält hof, am nächsten Morgen um elf. Neben ihm sitzt sein Kronprinz Dr. Lorff, außerdem sind zwei EEG-Fachleute und zwei Diplompsychologinnen anwesend. Eine von ihnen ist ein Blaustrumpf, die andere trug einen Minirock, solange es ging, und könnte es heute noch ebensogut. Sie sitzt in der Sesselschale, ein erfreulicher Anblick. »Wollt ihr was trinken?« fragt Kemm. Er hat allen Grund, für gutes Wetter zu sorgen. Frau Vandebosch bringt zwei Bier, drei Gläser Orangensaft und einen Cognac für Kemm. »Prost!« sagt er, zündet sich eine Zigarette an – er raucht viel mehr als früher – und kommt zur Sache. »Ich habe den Entwurf für unser Gutachten über Frau Beerenberg konzipiert und wollte noch mal eure Meinung hören!« Der Meister, wie er leibt und lügt. Kein Wort davon, daß das Werk schon fix und fertig in seinem Schreibtisch liegt. Und kein Gedanke daran, daß er andere Meinungen auch nur entfernt berücksichtigen wird, wenn sie ihm widersprechen. Trotzdem weiß Kemm, es wird eine Machtprobe. Er weiß, daß in der Klinik getuschelt wird: er, der Meister, bringe der Patientin Beerenberg mehr als nur ärztliches Interesse
entgegen. Und er weiß auch, daß die anderen zu anderen Schlüssen gekommen sind als er – obgleich es in Rietbrook so gut wie verboten ist, überhaupt eine Schizophrenie zu diagnostizieren. Da sitzen sie vor ihm, Statisten im Spiel, aber sie können jederzeit die Spielregeln durchbrechen und aufmucken. Von den EEG-Leuten wird mindestens Dr. Karlsen, der Leiter des elektrophysiologischen Labors, den Mund aufmachen. Die Psychologinnen sind zuweilen ziemlich spitz. Und die große Unbekannte im Spiel heißt diesmal Lorff. Sollen sie tuscheln, denkt Kemm, sollen sie bellen. Die Karawane zieht weiter, und der Meister zieht seine Schau ab, wenngleich reichlich unsicher. »Was ist Ihre Ansicht, Karlsen?« Der Mann, der zu den zehn besten Hirnstromexperten der Bundesrepublik gehört, setzt bedächtig sein Bier ab und doziert: »Im EEG von Frau Beerenberg gibt es eine deutliche Neigung zu Disrhythmien. Außerdem besteht eine deutliche Neigung zu Frequenzverlangsamungen…« »Und?« fragt Kemm. »Das ist zweifellos ein abnormer Befund!« sagt Dr. Karlsen, erstaunt über die Frage. »Für sich allein besagt das aber gar nichts…« Sehr spontan meldet sich die Diplompsychologin Dr. Linde, die hübsche der beiden, zu Wort: »Es finden sich aber auch in den Tests Auffälligkeiten. Beim Rorschachtest zum Beispiel die ungewöhnliche Detailerfassung, die Ähnlichkeitsillusionen, die Neigung der Patientin, ständig Schwierigkeiten in die Umwelt zu projizieren und…« »Ihr mit euren Klecksen!« sagt Kemm. Souverän und sauer. Aber es kommt noch schlimmer. »Schönheit schützt vor Krankheit nicht!« sagt Frau Dr. Mohr, die andere Psychologin. Eine deutliche Anspielung.
»Was soll das heißen?« »Das soll heißen«, erklärt Frau Dr. Mohr, die, wie gesagt, nicht gerade zu den Schönheiten von Rietbrook gehört, aber selten ein Blatt vor den Mund nimmt, »daß beim MMPI der PA-Wert eindeutig erhöht ist, auch der F-Wert liegt über der Norm. Man kann das doch nicht einfach als diagnostisch unbedeutend abtun!« »Psychologenchinesisch!« winkt Kemm ab. »Im Ernst, das mag ja alles stimmen. Aber ihr wißt doch selbst, wie fragwürdig diese Fragebogentests alle miteinander sind, noch dazu, wenn sie aus dem Amerikanischen übersetzt worden sind…« Er sieht sich um. »Anderer Ansicht, die Damen? Ist doch alles Quatsch!« Er beherrscht sich mühsam. Aber ob sein Angriff wirklich die beste Verteidigung ist, weiß er selbst nicht. »Ich habe Frau Beerenberg deshalb so oft und gründlich selbst untersucht, weil Eifersuchtswahn zu den schwierigsten Differentialdiagnosen der Psychiatrie gehört. Daß mir meine eigenen Mitarbeiter jetzt praktisch vorwerfen, ich hätte mich durch das zweifellos angenehme Äußere von Frau Beerenberg in meinen Erkenntnissen beeinflussen lassen, geht doch wohl etwas zu weit…« Mit purpurnen Köpfen sitzen sie sich gegenüber. Erst nach einer halben Minute senkt Frau Dr. Mohr den Kopf und den Blick und zuckt die Achseln. Da versucht er es leutselig: »Präzise gefragt, Lindeleinchen, und auch Sie, Frau Mohr: würdet ihr allen Ernstes nach den Ergebnissen eurer Tests eine Psychose diagnostizieren?« »Das ist nicht unsere Aufgabe!« sagt Frau Dr. Mohr spitz vor sich hin. Zwar ist die erste Runde damit an den Meister gegangen, aber er hat einiges einstecken müssen. Sie diskutieren inzwischen fast eine Stunde, und Lorff hat bisher noch kein Wort gesagt.
Man ist es gewöhnt, daß er Kemm so gut wie nie ernsthaft widerspricht. Aber heute tut er es. Er steht unvermittelt auf und holt sich die Allgemeine Psychopathologie von Jaspers vom Bord, eine der Bibeln des Psychiaters und entsprechend dick. Bevor er sie aufschlägt, sagt er: »Ich bin diesmal nicht ganz Ihrer Ansicht, Chef. Bei Frau Beerenberg sind doch wirklich alle Symptome des Wahns gegeben. Visionen, Halluzinationen, Erinnerungsfälschungen. Außerdem dann noch die klinischen Befunde, also ich weiß nicht…« »Wer hat Frau Beerenberg exploriert?« »Sie natürlich, Chef. Aber…« »Kein aber. Wollen Sie mir ernsthaft unterstellen, ich hätte mir über die verdächtigen Symptome keine Gedanken gemacht und sie bei der Exploration nicht berücksichtigt Herr Dr. Lorff?« »Natürlich nicht, Herr Professor. Ich unterstelle Ihnen gar nichts…« Aber das sagt er so höhnisch, daß sich jeder sein Teil und den Rest des Satzes denken kann: »… nicht einmal ein allzu spezifisches Vertrauensverhältnis mit Brigitta Beerenberg…« Lorff gibt also nicht klein bei, und die anderen starren wie die Kaninchen auf den Kampf der kleinen Klapperschlange gegen die große. Die kleine Schlange blättert kurzfristig in der Bibel und weiß offenbar, wo die Stelle, die gebraucht wird, zu finden ist: »Nämlich hier, Herr Professor!« Förmlich wie nie. »Seite 582. Das paßt doch wie die Faust aufs Auge von Frau Beerenberg. Aus der Tatsache, schreibt Jaspers, daß der Mensch einen wahnhaften Inhalt festhält und so weiter, sich mit anderen Worten wie ein Ertrinkender an seine Phantasien klammert, muß man einfach auf eine generelle Veränderung der Persönlichkeit und des Seelenlebens schließen…«
Kemm geht auf ihn zu und nimmt ihm den Wälzer aus der Hand. »Sie reißen Sätze aus dem Zusammenhang, das wissen Sie so gut wie ich!« Er kann mit den Fingern lesen und findet auf Anhieb den Satz, den er seinerseits aus dem Zusammenhang reißen will. »Was halten Sie hiervon? Lesen Sie bitte laut vor. Dieselbe Seite unten…« Lorff nimmt das Buch, wird blaß und liest gehorsam: »Doch verlieren wir uns hier in Gebiete der Psychiatrie, die gänzlich unreif und unerforscht sind…« Seite fünf acht zwo. Und acht, neun, aus. Kemm ist Sieger durch technischen Knockout, auch wenn er selbst blaugeschlagene Augen hat, auch wenn es alles andere als ein fairer Kampf war. Denn die Ärzte haben kein Vetorecht gegen den Chef, sie haben Rücksicht auf ihre Karriere zu nehmen. Vor allem Lorff, der Hoffnungsvolle. Und was, letzten Endes, ist schon ein einzelnes Gutachten? Ein menschliches Schicksal, nicht weniger und nicht mehr. Kemm will ihnen jovial den Rückzug erleichtern. »Natürlich gibt es Eifersuchtsphänomene bei Frau Beerenberg, insofern ist Ihre kritische Haltung durchaus berechtigt. Aber es könnte ja auch was dran sein an ihrer Eifersucht, das steht nicht so genau in den Akten, vielleicht ist der Herr Beerenberg tatsächlich fremdgegangen…« Er steht auf, und alle erheben sich. Dr. Karlsen trinkt im Stehen sein Bier aus. »Ich weiß doch selbst am besten«, sagt Kemm versöhnlich, »wie schwierig es ist, beim Eifersuchtswahn als Modellfall zwischen Krankheit oder Nichtkrankheit zu unterscheiden. Aber ich habe eben schon ein paar hundert Fälle mehr gesehen als ihr alle zusammen…« Die Audienz ist beendet. Brigittas Schicksal scheint sich endgültig entschieden zu haben.
Lorff verzichtet darauf, noch ein paar Minuten mit Kemm allein zu bleiben. Sonst tut er das immer, auch nach Streitgesprächen. Aber heute kann er den selbstgefälligen Alten, dessen Nachfolger er in wenigen Jahren werden soll, nicht mehr sehen. Vor allem deshalb nicht, weil er jetzt schon weiß, daß er das Gutachten Beerenberg gegen seine Überzeugung gemeinsam mit Kemm unterzeichnen wird. Kemm läßt ihn gehen und überläßt sich seinerseits dem Katzenjammer nach diesem häßlichen Sieg.
Schlechte Nachricht für Trimmel von Rauhut. Weder Max Conradi noch sonst irgend jemand hat in den kritischen eineinhalb Jahren in Bremen oder in Bremerhaven eine Mauser 6,35 gekauft. »Schönen Dank, Alfons!« sagt Trimmel ungnädig. Trotzdem ruft er in der Schönen Aussicht an und kriegt leichtes Herzstolpern, als sich Gabriele meldet. »Sind Sie zu Hause?« fragt er überflüssigerweise. Er kommt gleich vorbei, sagt er. Auf dem Weg zum Wagen begegnet ihm ein Spiegel, und er schneidet sich selbst eine Grimasse. Er fährt einen Umweg durch die Stadt und kauft sich in einer Boutique mit dem Namen Young Men’s einen viel zu jugendlichen gelben Schlips. »Können Sie diese verdammte Musik nicht mal abstellen?« fragt er den langmähnigen Verkäufer, als er sich an Ort und Stelle das Asservat umbindet. Aber auf dem verstopften Jungfernstieg summt er unbewußt und natürlich falsch hinter der Pop-Melodie her. Ein flotter, etwas grämlicher Fünfziger. Er lächelt wider Willen, als Gabriele ihn bereits in der offenen Tür erwartet.
»Ich habe uns schon einen Tee gemacht!« sagt sie. »Ohne Gift?« »Ganz ohne, Ehrenwort…« Beim dritten Täßchen fragt sie: »Gibt es eigentlich was Neues? Ich muß ja wissen, was mit mir werden soll…« Trimmel sieht sie nachdenklich an; sie errötet ein bißchen. Aber seine Gedanken sind noch woanders. »Haben Sie in diesem Haus jemals eine zweite Pistole gesehen?« fragt er unvermittelt. »Nein. Nie…« »Aber was ich noch wissen wollte: wann war das eigentlich, als der Schreibtisch offenstand und Sie die Pistole sahen?« Sie überlegte. »Ende… Ende des Winters. Ich meine, es hätte noch etwas Schnee gelegen…« »Kann es im März gewesen sein?« »Doch, ja… warten Sie: ja, es war März, als ich aus dem Urlaub zurückkam. Ich dachte, ich müßte mal der Putzfrau hinterher wischen, und so kam es überhaupt, daß ich die Schreibtischlade anfaßte…« Trimmel knabbert an einem Stück Gebäck, nimmt ein Schlückchen Tee und starrt wie ein Röntgenstrahl durch Gabriele hindurch. »Wer macht eigentlich bei Ihnen zu Hause sauber?« fragt sie unvermittelt. Trimmel schreckt hoch. »Was? Ach so, ich selbst!« »Übrigens haben Sie einen hübschen Schlips…« Aber dieser Flirt bringt nichts. Eine langweilige Selbstbefriedigung, wenn das Beispiel nicht so häßlich wäre. Trimmel ist im Dienst. Ein miserabler Partner für den Tee zu zweit. »Wie oft hat Dr. Beerenberg an seinem Schreibtisch zu Hause gearbeitet?« »Fast jeden Abend!« sagt Gabriele.
»Er hat ihn auch aufgeschlossen?« »Ja, sicher, darin waren doch seine Papiere…« »Auch links, wo oben die Pistole lag? Hätte er die Pistole jeden Abend sehen können?« »Sicher. Er mußte sie zwangsläufig sehen, sie lag obenauf…« »Sie kann also höchstens tagsüber verschwunden gewesen sein!« sagt Trimmel mehr zu sich selbst. Und nach einer Weile: »Wer war eigentlich der beste Freund von Dr. Beerenberg?« »Das war der Herr Blauschulte«, sagt Gabriele, demütig vor soviel Tempo, »die beiden kannten sich von der Schule her, hab’ ich mal gehört…« Heute ist Freitag. Blauschulte, Architekt, gehörte zu der Kegelrunde am Freitag. Das männliche Leben geht weiter, auch ohne den toten Bruder Peter. »Kommen Sie mit zum Kegeln?« fragt Trimmel bierernst. Es verschlägt ihr die Sprache. Aber er steht schon auf. »Ich lade Sie auch zum Essen ein!« Das sagt er ganz ohne Hintergedanken.
Das Lokal am Grindel ist laut, überfüllt und wegen seiner Küche geschätzt. Mit Mühe finden sie zwei Stühle und einen überlasteten Kellner. »Schweinshaxe?« »Ja, bitte, aber mit Salat!« Es fällt schwer, diesem Mann zu widersprechen. Auch wenn’s ein bißchen fett ist für Gabrieles Verhältnisse. Es ist schon Viertel nach sieben, und sie achtet auf ihre Figur. »Wann fängt eigentlich dieser akademische Kegelabend an?« fragt Trimmel den Kellner. Der sieht ihn abschätzend an: »Um halb acht. Die ersten Herren sind schon da…«
Darunter auch der Architekt Blauschulte. Ein großer, gutaussehender Mittvierziger mit leichtem Ansatz zum Bauch. Erfolgstyp, nicht ganz so männlich wie der jüngere Max Conradi. Blauschulte zieht die rechte Braue hoch, als er dem Mann gegenübersteht, der ihn durch den Kellner von der Kegelbahn rufen ließ. »Ich heiße Blauschulte. Was kann ich…?« »Trimmel. Kriminalpolizei. Es tut mir leid, aber ich muß etwas mit Ihnen besprechen!« Blauschulte ist vernünftig und lamentiert nicht lange. »Wenn’s schnell geht…« »Ich weiß!« Im Vorraum des Lokals stehen ein paar Holztische für Leute, die einen schnellen halben Liter trinken wollen. Blauschulte bestellt, ohne zu fragen. »Prost!« Innen sitzt Gabriele und fragt sich voller Angst, wer zuerst kommt: der Polizist Trimmel, der sich kaum entschuldigt hat, als er plötzlich aufstand, oder die Schweinshaxe. Schließlich faßt sie sich ein Herz und bittet den Kellner, die Haxe noch etwas zurückzustellen. Er macht ein böses Gesicht, und sie bestellt zu seiner Beruhigung tapfer noch einen Schnaps. »Also!« sagt draußen Blauschulte. »Immer noch die leidige Geschichte mit Peter Beerenberg?« Trimmel wischt sich den Schaum vom Mund. »Sie waren sein ältester Freund. Ich möchte was über sein Leben wissen. Sozusagen über sein Vorleben!« »Ausgerechnet heute abend?« »Es hat seine Gründe!« »Als dann…« Der Vater, sagt Blauschulte, war Badearzt in Glückstadt und kam als Praktiker nach Hamburg, als Peter sechzehn war. »Seitdem kennen wir uns!« Nach dem Abitur blieb der Kontakt bestehen, auch als Blauschulte zur TH nach
Braunschweig und Karlsruhe ging. »In den Semesterferien sind wir ein paarmal zusammen in Urlaub gefahren…« »Mit Mädchen?« »Natürlich. Ist das verboten?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Hatte er viele Mädchen?« »Ganz normal. Zwanzig, dreißig im Laufe der Jahre, ich kann’s wirklich nicht sagen, höchstens, daß er sich kräftig die Hörner abgestoßen hat wie wir alle…« »Gab es Mädchen, die ihm mehr bedeuteten?« Blauschulte denkt nach. »Kaum. Es war alles sehr fair und unverbindlich. Warten Sie, bis auf…« Er zögert. »Bis auf wen?« »Nun ja, da gab es eine Engländerin, die war damals so Anfang Dreißig, nicht sehr viel jünger als wir. Agnete…« »Ein ziemlich deutscher Name…« »Die Mutter war Deutsche. Jedenfalls hat Peter ein paar Monate mit Agnete zusammengelebt; er sprach sogar von Heirat…« Plötzlich geht ihm ein Licht auf. »Hören Sie, Herr Trimmel, das war alles lange vor seiner Hochzeit mit Brigitta, da sind Sie möglicherweise auf dem völlig falschen Dampfer…« »Sind Sie sich ganz sicher?« »Aber absolut. Wenn Sie meinen, er hätte es noch nach der Hochzeit weiter mit Agnete getrieben… das ging überhaupt nicht, das war eine ziemliche Art Tragödie…« »Wieso?« »Weil sie sich umgebracht hat. Mit Schlaftabletten. Und zwar zwei Jahre, ehe Peter seine Frau zum ersten Mal gesehen hat!« Endlich wieder eine Leiche im Fall Beerenberg, denkt der Polizist Trimmel mit stiller Befriedigung. »Warum hat sie sich umgebracht?« »Nun ja… sie stand sozusagen zwischen zwei Männern und wurde nicht damit fertig. Hochintelligent, empfindsam, eine
Schönheit; also, Peter wurde lange nicht fertig mit ihrem Tod…« »Wer war der andere?« Blauschulte zögerte. »Das spielt doch heute längst keine Rolle mehr…« »Das kann man nie wissen!« »Doch, doch. Lassen wir die Toten ruhen…« »Ist er denn tot?« »Nein, er lebt noch…« Der Architekt sieht Trimmel fast bittend an. »Ich sag’s wirklich sehr ungern, weil es einfach zu falschen Schlüssen führen könnte…« »Herr Blauschulte«, sagt Trimmel mit ungewöhnlicher Sanftheit, »ich halte mich nicht gerade für einen Vollidioten, außerdem könnte ich auch eine richterliche Vernehmung veranlassen. Also, wie hieß die Dame?« »Agnete«, sagt Blauschulte, »Agnete Andrews…« »Und wie hieß der zweite Mann neben Beerenberg?« Er gibt auf. Außerdem muß er jetzt kegeln. »Professor Robert Kemm…« An diesem Abend wirft der Kegelbruder Blauschulte einen Pudel nach dem anderen. Bis er dem Kellner, der gerade frisches Bier bringt, eine Telefonnummer aus Hamburg und eine Mark gibt: »Geben Sie mir das Gespräch hier herunter!« Die Privatnummer von Professor Kemm.
Erst Agnete, dann Brigitta. Erst AA, und dann BB. Als Trimmel geistesabwesend ins Restaurant zurückkommt, folgt ihm die Haxe auf dem Fuß und vor Gabriele stehen drei leere Schnapsgläser. »Herr Trimmel«, sagt sie, »ich bin schon von aufmerksameren Herren zum Essen eingeladen worden…«
Zum ersten Mal hat sie ihn beim Namen genannt, und er merkt es nicht einmal. Er läßt sich das Fleisch vorlegen, starrt fasziniert auf das lange Messer und sagt geistesabwesend: »Guten Appetit!« Er ißt hastig und ist viel früher fertig als sie. Wartet voller Ungeduld, eine ungemütliche Mahlzeit. Nur Pudding wäre noch schneller gegangen. »Bitte zahlen!« Und zu Gaby: »Ich muß noch mal ins Präsidium…« Kein Wort der Entschuldigung. Gerade daß er sie noch an der Schönen Aussicht absetzt und ihr die Hand gibt, ehe er weiterfährt zum Berliner Tor. »Ich melde mich wieder…« Noch ein solcher Abend, und er kann es sich schenken. Denn die Fäden, die sich hier knüpfen, sind viel zu dünn, zart wie Spinnweben, als daß man sie mit einem solchen Abend belasten könnte. Und Monomanie ist ein ziemlich abnormer Geisteszustand. Der Nachtdienst in der Registratur im Präsidium macht als nächster seine Erfahrungen mit dem Monomanen Trimmel. »Sofort die Akten über einen Selbstmord Agnete Andrews, muß acht bis zehn Jahre her sein!« »Also, ob wir die noch haben…« »Dann mach ich euch morgen persönlich zur Minna, darauf kannst du Gift nehmen!« Zum Glück für alle finden sie die Akten innerhalb einer Viertelstunde. Ein schmaler Hefter, höchstens zehn oder zwölf Blatt. Saubere weiße Bogen, nur zwei vergilbte Seiten, und trotzdem riecht es nach Staub. Passiert ist die Sache am 1. Februar vor neun Jahren. Als Agnete Andrews, gefunden von ihrer Haushälterin, aus ihrer stillen Luxuswohnung in Heimhude mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus gebracht wurde, war sie schon tot. In ihrem Magen war so gut wie
nichts außer den Rückständen von teurem Whisky und Schlaftabletten. Aus ihrem Zimmer wurden zwei Briefe geholt, polizeilich geöffnet, fotokopiert, wieder geschlossen und den Adressaten ausgehändigt. Der Text ist kurz und bündig, wie Agnete offenbar gelebt hatte: »Peter, wir hätten es niemals tun sollen. Ich will Dir keinen Vorwurf machen, höchstens mir. Ich hätte Dich gern geliebt, aber sterben ist leichter. Vergiß mich, Agnete.« Und der andere Brief, noch kürzer. »Robert, ich habe einen Fehler gemacht, aber Du bist unfehlbar. Leb wohl, Agnete.« Abschließend nur noch ein kurzer Vermerk des sachbearbeitenden Kriminalobermeisters: »Die britische Staatsangehörige Agnete Andrews schrieb diese Briefe an den Assistenzarzt Dr. Beerenberg und den Professor Dr. Robert Kemm. Beide Personen wurden gefragt, und es ergab sich der Sachverhalt, daß die zuvor zwei Jahre mit Professor Kemm befreundete Verstorbene neun Monate vor ihrem Tod Dr. Beerenberg kennengelernt hatte und mit ihm mehrere Reisen unternommen hatte. Professor Kemm gab zu, daß sie anschließend versuchte, wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen, er jedoch nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Heute bedauere er das zutiefst. – Weitere polizeiliche Ermittlungen sind nicht erforderlich, da sich kein Verdacht auf eine strafbare Handlung ergeben hat…« Der dunkle Punkt im Leben eines Mannes – eines Mannes nur, denn der andere ist tot. Eine vergessene Tragödie, nur durch eine zweite wieder ins Licht geholt. Bis dahin so gründlich vergessen, daß es nicht einmal ein Foto von Agnete gibt. Es sei denn, bei Kemm… Trimmels erster Gedanke ist es, sofort jetzt, spät am Abend, fast schon in der Nacht, zu Kemm zu fahren. Eine neue Nacht-
und-Nebelaktion. Aber dann entscheidet er vernünftigerweise: Das hat noch Zeit!
Jetzt brauchen wir Zeit, denkt auch Kemm, als Lorff ihm endlich das von ihm gegengezeichnete Gutachten Beerenberg vorgelegt hat. Die Zeit heilt alle Wunden. Außer den tödlichen. Jetzt brauchen wir Zeit, um mit Lorff wieder ins reine zu kommen, und vor allem, um Brigitta in Freiheit zu behandeln – nicht als Arzt allein, sondern auch als Geliebter. Vielleicht durch eine sehr lange Therapie. Denn die Entjungferung des blauen Explorationszimmers darf sich nicht wiederholen. Dagegen steht die alte Assistentenweisheit: »Den Geschlechtstrieb mußt du draußen regeln, in der Klinik gibt es nichts zu vögeln!« Soweit ist das klar. Nur die Vermutung, daß Trimmel hinter die Geschichte mit Agnete Andrews kommen könnte, macht ihm Kopfschmerzen. Und deshalb ruft der umsichtige Kemm bei Max Conradi an, stellt sich als Gutachter vor und sagt: »Ich habe ein paar Fragen an Sie, wenn Sie gestatten…« Max Conradi gestattet, wenngleich es ihn ziemlich erschreckt, inzwischen nicht nur bei den Kriminalisten eine Rolle zu spielen, sondern auch bei den Seelenärzten. Aber es sind relativ belanglose Fragen: »Sind Ihnen bei Frau Beerenberg sexuelle Besonderheiten aufgefallen?« »Sie war eine leidenschaftliche, völlig normale Frau!« Es ist ja auch nur ein Vorwand. In Wirklichkeit will Kemm dem ehemaligen reichen Liebhaber nur beibringen, daß Trimmel immer noch in der Sache herumstochert. Soll Conradi sehen, ob und was er dagegen unternimmt. Jetzt nur noch das Schreiben an die Justiz: Beiliegend das Gutachten. Keinerlei rechtliche Überlegungen, nur:
»… gestatte ich mir als Arzt doch eine einzige Bemerkung: nämlich die, daß die im vorliegenden Gutachten zwangsläufig erwähnten Tatumstände ganz offensichtlich für sich sprechen. Die erwähnten Blutergüsse am Hals und an den Armen von Frau Beerenberg sind sichere Zeichen eines der Tötung vorausgegangenen Kampfes von großer Heftigkeit, verursacht durch eine sehr kräftige Person…« Eine ärztliche Aussage, zweifelsfrei. Der Richter in Weiß in der Maske des Biedermanns. Frau Vandebosch bewundert ihn ohne Hemmung. Narrensicher. Wenn nur der Herr Trimmel nicht soviel wüßte! Wenn nicht alles täuscht, wird Brigitta in Kürze ein Vermögen von 600 000 Mark erben. Es spricht nichts dagegen, daß eine Ehefrau, die ihren Mann in Notwehr erschossen hat, trotzdem das Erbe des Mannes antreten kann. Auch das weiß Trimmel inzwischen. Steffens, Bankfilialleiter und gelegentlicher Finanzberater Brigittas, hat ihm unter der Hand ein paar Tips gegeben. Vom Getuschel des Personals in Rietbrook über Kemm und seine schöne Patientin erfährt Trimmel durch den Biologen Dr. Lippmann. Es ist nicht das erste Mal, daß ihm Lippmann hilft. Trimmel hat wenige, aber gute und vor allem brauchbare Freunde. »Wenn ich Sie nicht hätte…!« sagt er dankbar. Eine Regung, die er dreimal im Jahr zeigt. »Gern geschehen!« sagt Lippmann. »Aber hauen Sie bloß nicht den Dr. Karlsen in die Pfanne, der mir die Sache verpfiffen hat! Und immer dran denken: Niemand hat unter der Couch gelegen und kann’s beschwören!« Seit Wochen sitzt Trimmel dann zum ersten Mal wieder im Old Farmsen Inn. Dem Wirt sagt er: »Das wird hier langsam ‘ne richtige lausige Halbstarkenkneipe!«
»Von dir allein kann man wirklich nicht leben!« antwortet der Wirt und gibt trotzdem einen aus. Eigentlich gibt es gar keinen Grund zur Feuchtfröhlichkeit. Trimmel kritzelt auf einem Rechnungsblock herum: das Ergebnis wäre für einen Strafverteidiger interessant, nicht für ihn. Man könnte Kemm als Gutachter wegen Befangenheit abschießen. Beerenberg hat ihm vor acht Jahren sein Mädchen weggenommen, jetzt hält sich Kemm an Beerenbergs Witwe schadlos… Das würde vermutlich ausreichen, auch wenn es nicht bewiesen werden könnte. Bloß ändert es nichts an der in Furcht und Schrecken überschrittenen Notwehr durch die schöne Brigitta! Dann hat Trimmel doch noch eine Idee. Die Telefonnummer Beerenberg kennt er längst auswendig. »Hallo, Gaby! Haben Sie schon geschlafen?« Schlaftrunken sagt sie: »N… natürlich nicht…« »Dann ist’s ja gut. Ich wollte Ihnen sagen, ich komm’ Sie morgen besuchen.« »Fein…«, sagt sie und freut sich, noch halb im Traum. »Also dann…« »Gute Nacht…«, haucht sie. Viel zu leise für den Lärm, den die Halbstarken im Inn machen, die Trimmel wieder an den halbstarken Totschläger von St. Georg erinnert haben. So auch an die zwei Messer, die er geklaut hatte.
Sie kommen nicht mit Messern, aber mit sehr harten Fäusten, und wenigstens in einer Faust steckt ein Schlagring. Es sind zwei, Trimmel hat sie nicht kommen sehen und geht sofort zu Boden. Der Schlag hat seinen Hinterkopf gestreift und ihm scheinbar die rechte Schulter zerschmettert.
Direkt vor seiner Haustür liegt er im Rinnstein, und sie machen ihn systematisch fertig. Profis. Sie tun ihm weh, sehr weh. Aber sterben wird er nicht. Er soll offenbar auch gar nicht sterben. Er versucht verzweifelt, die schlimmsten Schläge und Fußtritte gegen Gesicht, Bauch und Rippen abzuwehren. Wenn er nur ein einziges Mal auf die Füße käme. Aber die Profis lassen keinen wieder auf die Füße kommen. Ein Taxi hält mit quietschenden Bremsen. Einer der nächtlichen Hamburger Helden am Volant. »Aufhören!« schreit er. »Ich ruf über Funk sofort die Polizei! Aufhören, sofort aufhören!« Doch sie machen noch mindestens eine halbe Minute weiter, und allein traut der Taxifahrer sich nicht auf die Straße. Erst als er rhythmisch zu hupen beginnt, ein lauter Ruf für alle Kollegen und Peterwagen, laufen sie von Trimmel weg zu einem fünfzig Meter weiter geparkten VW-Käfer und rasen ohne Licht um die nächste Ecke. Niemand hat das Kennzeichen erkennen können. Der Taxifahrer rennt zu Trimmel. Der rappelt sich auf und blutet an mehreren Stellen. »Keine Polizei!« murmelt er mühsam und spuckt Blut, aber keine Zähne. Sein Auto, aus dem er gerade ausgestiegen war, ist noch nicht abgeschlossen, und über seine Promillezahl ist er sich nicht ganz klar. »Aber wir müssen doch…« »Nichts. Gar nichts!« Trimmel zeigt dem Mann seine Hundemarke. »Hauen Sie ab, schönen Dank auch!« »Sie sind selbst bei der Polizei…?« sagt der Taxifahrer erstaunt. Endlich fährt er weiter. Natürlich wird er die Geschichte nicht für sich behalten.
Trimmel wankt in seine Wohnung und trinkt mit zitternden, blutverschmierten Händen erst einmal einen Dreistöckigen. Dann erst wäscht er sich und sucht Heftpflaster und Jodtinktur. »Warte nur!« sagt er grimmig zu seinem Spiegelbild. Seine Augen sind verquollen. Aber dieser Überfall hat ihm gerade noch gefehlt. Er hat ihm endgültig die Augen geöffnet.
10
Schon gegen sieben Uhr früh steht Gabriele Montag vor dem großen Spiegel in der Diele und dreht sich wie eine Braut. So schlecht sind ihre Beine wirklich nicht… Heute kommt Trimmel, hat er gesagt. Ob er wohl ein paar Blumen mitbringt? Trimmel und Blumen – das arme Mädchen! Neun, zehn, elf, zwölf Uhr. Gabriele erstarrt, als sie ihm um zwölf Uhr zehn endlich die Tür öffnet. Denn Trimmel sieht aus wie Frankenstein, das Gesicht verpflastert, grinsend wie ein geschmolzenes Schokoladenpferd. Statt Blumen hat er vier Männer mitgebracht. Vier stämmige Bullen. »Wir müssen das Haus noch mal auf den Kopf stellen. Uns ist was eingefallen.« »Bitte!« sagt sie. Und sie möchte ihn ermorden. Kaum, daß er guten Tag gesagt hat. Immerhin bleibt er bei ihr. Die Männer verschwinden im Keller. Dort ist die Ölheizung, in einer zweckentfremdeten Waschküche. Nichts sonst außer Sperrmüll. Keine Spur von einer zweiten Pistole. Gibt es sie überhaupt? Er trinkt schon die dritte Flasche Bier und schweigt. Ein Mann kommt ins Zimmer, ohne anzuklopfen. »Die Räume dahinten, sollen wir…?« »Das sind meine Räume!« sagt Gaby. Trimmel entscheidet: »Die könnt ihr zuletzt machen!« Trotz seines verklebten Zustandes wirkt er merkwürdig heiter und gelöst. Er redet kaum etwas, die meiste Zeit geht er im Zimmer auf und ab. Schaut aus dem Fenster, öffnet die Tür zum
Nebenzimmer, malt Figuren in den nicht vorhandenen Staub auf dem Schreibtisch. Es ist das Zimmer, in dem Dr. Beerenberg mal – mal! – mit Gabriele geschlafen hat und in dem er dann später gestorben ist. Zwischendurch ruft er Höffgen an. »Gibt’s was Neues?« »Nichts, Chef. Sie können sich Zeit lassen…« Als er dann seine Wanderung wieder aufnimmt, fragt sie endlich: »Wer hat Sie denn so zugerichtet?« »Eine Schiffsschraube«, sagt Trimmel grinsend, »geh nie zur Wasserschutzpolizei, hat mein Vater gesagt…« Aber sie hat ihn auf eine Idee gebracht. »Ich muß mal mit Bremen telefonieren. Geht auf Kosten der Staatskasse…« Sanft wie ein Kätzchen meldet sich der Bulle Trimmel bei der Firma Max Conradi GmbH und bittet höflich: »Können Sie mich liebenswürdigerweise mit Herrn Conradi verbinden? Hier spricht Trimmel, wir kennen uns…« Es knackt zweimal. Eine Mädchenstimme: »Hallo? Ich verbinde mit Herrn Conradi…« Das dritte Knacken in der Leitung. »Hallo?« sagt Conradi. »Herr Trimmel, eine Überraschung. Hoffentlich eine angenehme. Was kann ich für Sie tun?« An Conradis Freundlichkeit hat sich nichts geändert. Das Zittern in seiner Stimme bildet Trimmel sich sicher nur ein. »Ich bitte Sie sehr herzlich um einen großen Gefallen«, sagt Trimmel, »haben Sie heute nachmittag was vor?« »Moment… Ja, eigentlich schon. Aber ich könnte es notfalls verschieben…« »Dann tun Sie’s bitte. Besuchen Sie mich bitte in Hamburg im Haus von Dr. Beerenberg. Wenn’s geht, so schnell wie möglich. Es gibt da ein paar neue Gesichtspunkte…« Pause. Und ziemlich heftiges Atmen. »Sie verlangen ziemlich viel – ich meine das absolut nicht materiell…«
»Das ist mir klar.« »Sie wissen auch, daß ich Ihrer Bitte nicht Folge leisten muß?« »Natürlich. Trotzdem…« »Trotzdem«, sagt Conradi, »ich werde kommen. Ihnen zuliebe, Herr Trimmel… Ich fahre in einer halben Stunde los. Darauf können Sie sich was einbilden…« Er legt den Hörer auf. Das vierte Knacken. Trimmel sieht, wie ihn Gaby anblickt. »Ich seh’ wohl ziemlich mies aus, was?« Sie nickt. Ein bißchen möchte sie ihn wahrhaftig bemuttern. Auch etwas pflegen. Ein Mann im Bett – sie errötet, als sie die eigenen Gedanken begreift – ist eine gute Sache… Dabei erkennt sie nicht, daß sie, was Trimmel anbelangt, die historische Zeugin einer Schönwetterperiode in der Eiswüste ist. Wieder tritt der Mann aus Trimmels Truppe ohne Klopfen ein. »Nichts bis jetzt. Was ist mit diesem Zimmer, Chef?« »Natürlich.« Trimmel geht mit dem Bier, inzwischen der vierten Flasche, und mit Gabriele die Schwingtreppe hinauf in den Salon. »Wissen Sie, ob es hier irgendwo verborgene Tresore gibt?« »Nicht, daß ich wüßte…« Er klopft selbst mit einem Kugelschreiber an den Wänden herum, aber nicht sehr gründlich. Dafür hat er seine Leute. »Wenn dieser verdammte Fall vorbei ist…«, sagt er. »Was dann?« fragt sie hoffnungsfroh. »Dann mach’ ich ‘ne Woche Urlaub!« sagt Trimmel. Soll sie ihn vielleicht fragen, ob er sie mitnimmt? Sie fragt nur: »Was suchen Sie eigentlich?« Er sieht sie an, als habe sie eine völlig idiotische Frage gestellt. Etwa, ob er sich nicht einen Kanarienvogel kaufen
möchte, vielleicht auch einen Goldhamster. »Die Pistole natürlich!« »Aber die haben Sie doch gleich am Anfang gefunden…?« »Die doch nicht!« sagt er väterlich. »Die zweite fehlt uns noch, haben Sie das denn nicht begriffen?« Wie sollte sie? Wie sollte sie seine krummen Gedanken lesen können? Zwei Messer, zwei Pistolen. Dazu ein kleiner Überfall. Erst eine Assoziation, dann eine Idee. Inzwischen eine fixe Idee. Für den, der die zweite Pistole findet, zahlt Paul Trimmel aus eigener Tasche eine Flasche Korn. Typisch Trimmel. Er sieht einfach nicht ein, daß ein normaler Sterblicher ihm wirklich nicht mehr folgen kann. Schickt seine halbe Belegschaft auf die Suche nach einer fixen Idee. Sieht zu, wie die Leute sich im Keller die Pfoten schmutzig machen, freut sich am Ende noch, wenn sie wie die Wünschelrutengänger durch die Flure schleichen. Bis halb drei Uhr finden sie jedenfalls nichts, weder eine zweite Pistole noch eine neue Leiche, nicht mal unter den Dachpfannen. Einer hat auf dem Boden eine lange Dachlatte entdeckt und tatsächlich an den Pfannen herumgestochert. Dreckig und halbverhungert wirft er die Latte durch ein ausgebautes Giebelfenster wie einen Speer in Richtung Alster. Kein Rekord, höchstens acht Meter. Sie bleibt dicht am Ufer stecken. »Können wir nicht mal ‘ne halbe Stunde Mittag machen?« »Wenn’s sein muß!« sagt Trimmel. Er bleibt im Haus. Gabriele macht ihm in der Küche ein Schnittchen. Die Frage ist immer noch offen: Wo versteckt man hier in kürzester Zeit eine Pistole?
Conradi auf der Autobahn Bremen-Hamburg, kurz vor Hittfeld. Er fährt den Mercedes 280 selbst und ist so ruhig wie die Spur, die er nur selten wechselt, nämlich die linke. Zwanzig Minuten noch bis zur Schönen Aussicht. Von sich aus wird Max Conradi dort gar nichts sagen. Aber er wird die Fragen beantworten, die Trimmel ihm stellt. Der Mann ist stärker, als er geglaubt hat. Max Conradi, Millionär und Großwildjäger. Er faßt präzise, schnelle Entschlüsse. Was schert ihn heute noch sein Entschluß von gestern? Man kommt nicht drum herum: Mit Trimmel muß man reden; dazu hat sich Conradi heute entschlossen. Die letzte Chance, mit einer Art von Verwarnung davonzukommen. Mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung für verjährten Ehebruch – lächerlich! Allerdings gibt es noch einige andere kleine Verfehlungen, entscheidet Conradi. Man muß ehrlich sein zu sich selbst. Und man sollte allen Männern den Schwanz abschneiden, denkt er, angefangen mit dem eigenen. Trimmel ist überhaupt kein Mann. Zu diesem Entschluß ringt sich Gabriele in der Küche durch. Ein kindischer Schwachkopf, der zur Zeit im Sterbezimmer von Dr. Peter Beerenberg steht, das Fenster zur Alster öffnet und mit halber Kraft einen Briefbeschwerer aus dem Fenster wirft, einen nachgemachten Kristallstein, zwei Mark fünfzig im nächsten Andenkenladen. Er platscht ins Wasser, kurz hinter dem Ufer, und Trimmel freut sich wie ein Kind. Gabriele kommt mit zwei Scheiben Brot, belegt mit Mettwurst und Mortadella, und einer weiteren Flasche Bier ins Zimmer. Wie man sich irren kann!
Er strahlt über das ganze lädierte Gesicht; gar nicht kindisch – richtig männlich! Er nimmt Gabriele das Tablett aus der Hand, nimmt sie in den Arm und drückt sie wie ein Bär seine Beute. »Ich hab’s, Gaby!« Er läßt sie wieder los, läuft zum Fenster und merkt überhaupt nicht, daß sie freiwillig in seine Arme zurückkommt. »Was bin ich doch für ein Idiot!« Denn die Lösung liegt zum Greifen nahe, und das kann man so und so verstehen. So wie Gaby – oder so wie Trimmel. »Komm mit!« sagt er. Über eine Terrasse geht es zum Garten und zur Alster. An der Garage vorbei, vor der Brigittas kleiner BMW steht. Gabriele läuft an der befestigten Uferlinie entlang, die zum Anwesen Beerenberg gehört, bestimmt dreißig Meter, und starrt ins Wasser. Dreimal hin, dreimal her. Dann zieht er die Dachlatte, die vorhin aus dem Fenster gesegelt ist, aus dem flachen Wasser, und eine Entenfamilie am Ufer startet kreischend durch. Vorsichtig, um keinen Schlamm aufzurühren, stochert Trimmel nach einigen dunklen Punkten. Das Wasser ist dicht am Ufer höchstens einen halben bis dreiviertel Meter tief. Er findet eine verrostete Blechbüchse voll Schlamm, ein Stück Eisen, das kann ein Bombensplitter sein oder ein kurzer verrotteter T-Träger, einen dunkelgrauen Stein und schließlich den Briefbeschwerer aus Kristall, den er gerade selbst aus dem Fenster geworfen hat. Er steckt ihn ein. Es geht nichts verloren, und das ist gut so. Denn weiter hinten, vielleicht fünf Meter vom Ufer, ist noch ein dunkler Punkt – eben noch sichtbar. Ein dunkler Punkt auf der weißen Weste des Besuchers, der noch gar nicht eingetroffen ist. Trimmel erreicht ihn mit der Latte und bewegt ihn hin und her. Um ihn herauszuholen, müßte man sich naß machen.
Er könnte schreien vor Freude. Kleiner Beamter, ganz groß. Er war sich sicher – hundertprozentig. Aber jetzt erst hat er den Beweis – jetzt soll Conradi kommen. Jetzt erst kann er sich seine Flasche Korn selber schenken. »Es läutet!« sagt Gabriele, die der Angelei und dem Freudentanz verständnislos zusieht. »Dann machen Sie doch auf. Es sind meine Jungs…« Er braucht höchstens noch einen: denjenigen, der bei solchen Suchaktionen immer einen Tauchanzug dabei hat. Denn Trimmel hat zwar gefunden, was er suchte; im trüben Wasser sieht die Pistole aus wie ein dicker, krummer Eisenhaken. Aber wenn Conradi gleich kommt, soll sie ruhig noch im Wasser liegen. Eine Stunde oder so. Als Trimmels Trumpf, als Überraschungseffekt. Für den Fall, daß Max Conradi Schwierigkeiten macht und immer noch alles bestreitet. »Ihr drei fahrt ins Büro. Du bleibst hier« – er deutet auf den Froschmann – »und tust genau das, was ich sage!« Er zeigt ihm den dunklen Punkt. »Merk dir die Stelle genau. Zieh dein Froschzeug an und setz dich in die alte Waschküche. Sobald ich einen Stein aus dem Fenster werfe, gehst du ins Wasser und holst das Ding raus!« »Aber dazu brauch’ ich keinen Tauchanzug…!« »Ist ja nur wegen der Schau!« sagt Trimmel grinsend. Als Conradi kommt, fehlt nur noch eine einzige Regieanweisung. »Ich mach’ selber auf«, sagt Trimmel zu Gabriele, »Sie halten sich ein bißchen im Hintergrund.« Gehorsam, aber enttäuscht zieht sie sich in ihre MiniWohnung zurück und öffnet sich ein zweites Fläschchen Bier. Manche Frauen nehmen schneller als andere die Gewohnheiten der Männer an, für die sie sich interessieren.
Conradi schüttelt Trimmel die Hand und sagt scheinbar besorgt, in Wirklichkeit scheinheilig: »Wie sehen Sie denn aus?« »‘ne Schiffsschraube!« sagt Trimmel zum zweitenmal. »Darauf wollte ich später noch zu sprechen kommen!« »Auf was kommen Sie denn jetzt zu sprechen? Ich meine, warum mußte ich so plötzlich alle Termine absagen?« »Sehen Sie«, sagt Trimmel, »das ist es ja gerade. Sie mußten ja gar nicht, Sie sind freiwillig hier. Sie sind der entgegenkommendste Mensch, der mir in diesem ganzen Fall begegnet ist!« »Danke, danke!« Aber der Großwildjäger hat Angst. »Darauf hat mich ursprünglich das Fräulein Gaby gebracht, Ehre, wem Ehre gebührt. Sie waren so was von höflich nachts um drei, als wir aufkreuzten, das gibt’s gar nicht…« »Aber ich habe Sie doch mit einer Flinte empfangen…« »Ach was, das zählt doch nicht. War doch viel aufschlußreicher für mich, daß Sie dann hinter mir her spionierten. Damit war für mich klar, daß Sie drinhängen…« Sie stehen in Beerenbergs Sterbezimmer, und Conradi setzt sich auf das angebliche Lustsofa. Er verschränkt die Arme über der Brust. »Nur weiter so, Herr Hauptkommissar…« Trimmel lacht ohne Ton. »Sie meinen, ich spiel’ hier Sherlock Holmes?« »Tun Sie’s etwa nicht?« »Is’ ja auch egal. Jedenfalls wußten Sie bei unserem Besuch in Bremen genau, daß Brigitta Beerenberg ihren Alten umgelegt hatte… und aus einem bestimmten Grund hielten Sie’s für möglich, daß ich komme!« »Und welcher Grund sollte das gewesen sein?« »Beispielsweise Ihr Liebesverhältnis…« »Das ist nicht zwingend, Herr Trimmel!«
»Dann sag’ ich Ihnen gleich was Besseres. Haben Sie Ihren Kalender dabei?« Conradi steht auf und klopft seine Taschen ab. Natürlich hat er den Kalender dabei, ohne ihn kann er gar nicht leben. Aber er lügt, zum letzten oder vorletzten Mal: »Leider nein…« »Ach«, sagt Trimmel großzügig, »das macht nichts. Ich erinnere mich auch so. Am 7. März stand in Ihrem Kalender ›BP übergeben‹. Blumen für eine gewisse Petra sagten Sie. Stimmt’s?« »Mag sein. Wenn Sie’s sagen…« »Das stimmt eben nicht!« sagt Trimmel, und plötzlich ist er gar nicht mehr großzügig, sondern richtig kleinlich. »Das hat mit Petra überhaupt nichts zu tun, Petra gibt’s wahrscheinlich überhaupt nicht. BP übergeben, das heißt, Sie haben am 7. März eine Pistole an Brigitta Beerenberg ausgehändigt, und zwar eine Mauser 6,35 mit einem braunen Griff!« »Können Sie das auch beweisen?« fragt Conradi ruhig. »Kann ich. Hier an Ort und Stelle!« Conradi sieht auf die Uhr. »Wenn ich dann höflich um etwas Beeilung bitten dürfte…« Aber der Regisseur in dieser Szene heißt Trimmel. »Nehmen wir mal an, ich habe recht, nur mal so unterstellt. Einverstanden?« Conradi nickt. »Gut. Und nun nehmen wir mal an, daß Sie zwar jede Menge Schießeisen haben, aber gerade die Mauser mit dem braunen Griff, die fehlt Ihnen. Also müssen Sie sie kaufen. Wo hätten Sie die Pistole für Frau Beerenberg gekauft?« »Vielleicht in Osnabrück«, sagt Conradi prompt, »bestimmt nicht in Bremen oder in Bremerhaven…« »Und warum?« »Es wäre sicherer gewesen.«
»Richtig«, sagt Trimmel, »nächster Punkt. Welchen Grund könnte es überhaupt gegeben haben, mit Ihrem Waffenschein für andere Leute, also etwa für Frau Beerenberg, eine Pistole zu kaufen?« Conradi überlegt. »Wenn sie mich dringend darum gebeten hätte, vielleicht… ich erinnere mich beispielsweise, daß sie mir mal von einem Einbruch erzählt hat… wenn sie nun Angst vor weiteren Ganoven gehabt hätte…« »Dann hätten Sie bestimmt auch noch Schießübungen mit ihr veranstaltet, was?« Conradi ist bestürzt. »Möglich wär’s. Aber nun reicht’s mir allmählich, Herr Trimmel!« »Wie’s beliebt!« sagt Trimmel mit vollendeter Höflichkeit. Er wirft den Kristallstein zum zweiten Mal aus dem Fenster das Zeichen für den Froschmann – und sagt zu Conradi: »Kommen Sie mal her!« Conradi sieht, wie der Froschmann in Gummikleidung, sogar mit Flossen und Atemgerät, auf die Alster zuwatschelt. Es sieht ungeheuer eindrucksvoll aus. »Gummistiefel hätten es auch getan!« sagt Conradi. Trimmel grinst: »Wir sind eben auf alles vorbereitet!« Der Froschmann geht in Zeitlupe die paar Meter vom Ufer weg zu der Stelle, die er sich zuvor genau gemerkt hat. Trotzdem stochert er noch eine ganze Weile im Schlamm herum, nur wegen der Schau. Dann erst bückt er sich, hebt seinen Fund hoch und winkt Trimmel und dem anderen Mann am Fenster mit der freien Hand zu. »Warte!« ruft Trimmel. Zu Conradi sagt er: »Haben Sie Lust, mitzukommen?« Conradi nickt stumm vor soviel bösartiger, schadenfroher Höflichkeit. Er weiß längst, was gespielt wird – ein böses Spiel.
Sie gehen die Terrasse hinunter, und zwei Minuten später nimmt Trimmel dem Froschmann, der zum Ufer zurückgekehrt ist, eine Pistole aus der Hand. Eine kleine, verrostete, verschlammte Selbstladepistole. Kaliber 6,35, Fabrikat Mauser. Man erkennt noch den hellbraunen Griff. »Ihr Geschenk an Brigitta!« Trimmel reicht Conradi die Waffe mit der Geste eines Weihnachtsmanns, der diesmal leider eine Rute verteilen muß. Der Froschmann, dessen Arbeit getan ist, grüßt lässig mit der Hand an der Gummikappe und verschwindet im Souterrain. »Wollen Sie wissen, was mit dieser hübschen kleinen Waffe passiert ist?« fragt Trimmel. Conradi schluckt. Dieser Polizist kann hexen, glaubt er. Brigitta hat so oder so keine Chance. Höchstens noch er selbst. »Sie… Sie meinen, damit wurde Dr. Beerenberg erschossen…« »Ach wo. Aus dieser Waffe ist kein einziger Schuß abgefeuert worden…« »Doch«, sagt Conradi leise. Und nach einer allerletzten Pause: »Bei mir auf dem Schießstand!« Der Judas aus Bremen. Am besten hängt er sich auf. Man verrät keine Geheimnisse aus dem Lotterbett. Aber ist sich nicht jeder selbst der nächste? Trimmel holt tief Luft. »Dieses Spielzeug war nicht mehr und nicht weniger als das Requisit für einen Mord – für einen so miesen, gemeinen Mord, wie er nicht alle Tage vorkommt!« »Ich dachte wirklich, es sei nur wegen der Einbrecher, als sie mich fragte. Sie gab mir sogar eine sehr genaue Detailbeschreibung, was sie genau wollte… brünierter Lauf« – das kann man nicht mehr so genau sehen –, »hellbraunes Griffstück und so…« »Erstaunlich wär’s nicht gewesen, wenn Sie stutzig geworden wären!« sagt Trimmel sarkastisch.
»Bin ich auch. Aber für eine alte Freundin…« »Zwei Jahre«, sagt Trimmel nachdenklich, »wirklich eine sehr lange Zeit. Vom Ammerländer Spieker bis heute…« Aalglatt dieser Max Conradi. Überleben ist alles, Format ist nichts. »Viel länger«, sagt er bedrückt, »vierzehn Jahre. Sie war erst sechzehn, ich war ihr erster Mann…« »Ach!« Trimmel ist ehrlich verblüfft. »… und man sagt ja, Frauen hingen sehr an ihrem ersten Mann. Aber bei Männern ist das wohl ähnlich, wenn’s nicht gerade eine Nutte war, die einen angelernt hat…« »Hängen Sie immer noch an ihr?« »Jetzt… nein, jetzt wohl nicht mehr…« Er verrät nicht nur Brigitta, er verrät sich selbst. »Unter uns«, sagt Trimmel, »Brigitta Beerenberg ist die gefährlichste Nutte, die mir je über den Weg gelaufen ist!« Und da nickt er auch noch. Max Conradi tut wirklich das letzte, um seine beste Trophäe zu retten: Das eigene Fell.
Sie sind wieder ins Haus gegangen. Große Leute, kleine Leute. Trimmel wickelt die Pistole achtlos in eine Zeitung und steckt sie in die Manteltasche. Mit Fingerspuren oder Ballistik ist da nicht mehr viel zu machen. »Warum haben Sie mich gestern zusammenschlagen lassen?« fragt er plötzlich. »Hab’ ich das?« fragt Conradi müde. »Wer soll’s denn sonst gewesen sein?« Trimmel weiß alles. Oder er ahnt es. Oder er zählt, wie üblich, zwei und zwei zusammen. »Ein blödsinniger, übereilter Entschluß«, sagt Conradi zerknirscht, »ich weiß, es hilft nicht viel, wenn ich mich in aller Form entschuldige oder Ihnen eine Wiedergutmachung anbiete…«
»Ich will wissen, warum!« »Wegen Brigitta«, sagt er und sieht zu Boden, »es war eine Kurzschlußreaktion. Professor Kemm hatte mich angerufen, der Gutachter, und mir ein paar Fragen gestellt. Außerdem hat er gesagt, Sie seien ein ganz mieser Terrier, natürlich nicht ganz so wörtlich. Ich dachte aber, man muß Gitta helfen. Ich hab’ den Burschen gesagt, sie sollen Sie etwas aus dem Verkehr ziehen. Nur für ‘n paar Tage natürlich. Aber Sie sind offenbar ziemlich hart im Nehmen…« Trimmel befühlt demonstrativ seine wunden, wehen Stellen im Gesicht, am Bauch und am Rippenfell. »Ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin ziemlich rachsüchtig! Sie« – betont – »hängen mich nicht ausgestopft über ‘n Kamin, das sag’ ich Ihnen!« Er geht in die Diele. »Gaby…!« Sie stand direkt hinter der Tür, so schnell ist sie da. »Herr Conradi möchte gehen!« Dieser Akt ist abgeschlossen. Er läßt den großen Mann einfach stehen, geht ins Herrenzimmer zurück. Er hätte nicht übel Lust, ihm ein Verfahren wegen Beihilfe zum Mord anzuhängen. Von der Körperverletzung nicht zu reden. Aber dann kommt Gaby ins Zimmer und bringt ihn auf andere Gedanken. Schüchternheit? Daß ich nicht lache! Mein Name ist Trimmel, und ich nehme das, was mir paßt! »Doch nicht hier…«, sagt Gaby leise, gottergeben und glücklich, als er plötzlich zupackt.
11
Eine Serie von Telefongesprächen am nächsten Morgen. Staatsanwalt Portheine sagt in den schwarzen Hörer in seinem Zimmer im Justizgebäude: »Sie sind nicht gescheit! Ich wollte gerade die Einstellungsverfügung unterschreiben!« Trimmel sagt in den hellgrauen Hörer im Polizeipräsidium am Berliner Tor: »Da haben Sie aber Glück gehabt! Ich kann’s nämlich beweisen, daß unsere schöne Brigitta ihren Ehemann vorsätzlich getötet hat…« Kemm sagt wenig später: »Ihr Ton gefällt mir gar nicht, Herr Trimmel. Aber wenn Sie meinen…« Und Rechtsanwalt Loissen sagt im Stakkato, nachdem er endlich auf den richtigen Knopf an seinem Schaltpult gedrückt hat: »Hallo? Herr Portheine? In drei Stunden in Rietbrook? In Sachen Beerenberg – ja, wieso denn, da ist doch alles klar? Nicht mehr? Der Einfachheit halber ich gleich dabei? Also ehrlich, Herr Staatsanwalt… aber nur, weil Sie es sind!« Zwischen 15 und 15.10 Uhr treffen tatsächlich alle Beteiligten bei Professor Kemm zusammen. Zum Teil sehen sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, beispielsweise Trimmel und Kemm. Sie schütteln sich einigermaßen feindselig die Hände. Trimmel und Portheine sind zusammen gekommen. Sie haben vorher eine Stunde lang den Fall durchgesprochen. Am Ende war Portheine einem Schlaganfall nahe. Aber jetzt hat er sich wieder beruhigt. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, nimmt einen Schluck Orangensaft, den die Sekretärin wie immer in schwierigen Situationen serviert hat, und ernennt sich selbst zum Leiter der Diskussion.
Er und Loissen sitzen in den tiefen Sesselschalen. Kemm sitzt hinter dem Schreibtisch, und Trimmel hockt breitbeinig auf einem Stuhl, den er sich vom Konferenztisch in der Ecke herangezogen hat. »Also«, sagt Portheine und räuspert sich, »zum Fall Beerenberg. Wie Sie wissen, vor allem Sie, Herr Rechtsanwalt« – er nickt zu Dr. Loissen hinüber –, »besteht im Fall Beerenberg ein Unterbringungsbefehl. Der gesetzliche Grund, warum Frau Beerenberg hier in Rietbrook ist…« »Ein äußerst unsicherer Grund«, sagt Loissen aggressiv. »Sie wissen selbst, daß das eine faule Kiste ist, und daß wir jederzeit mit guten Aussichten dagegen angehen können. Ich hätte nicht übel Lust, Frau Beerenberg gleich mit nach Hause zu nehmen…« Kemm kriegt einen Schreck. »Da hätte ich allerdings auch noch ein Wörtchen mitzureden! Außerdem hat Frau Beerenberg selbst sich bereit erklärt…« Da sagt Portheine mit einer für ihn ungewohnten Schärfe: »Wenn die Herren mich mal ausreden lassen würden, ja? Danke. Also erstens: Ob der Unterbringungsbefehl angreifbar ist oder nicht, wollen wir im Moment gar nicht mal überprüfen. Zweitens: Nach dem vorläufigen schriftlichen Gutachten von Professor Komm ist Frau Beerenberg geistig völlig gesund. Bei dieser Ansicht sind Sie doch geblieben, Herr Professor…?« Kemm nickt. »Natürlich. Warum sollte ich…« »Gut, danke. Herr Dr. Loissen hat außerdem soeben angekündigt, er werde die Aufhebung des Unterbringungsbefehls beantragen. So habe ich das verstanden, die anderen Herren sicherlich auch…« Er sieht sich um, siegessicher und doch auch bekümmert. Die Herren nicken, außer Trimmel. Der weiß ja, was jetzt kommt.
»Nun teilt mir jetzt Herr Trimmel Tatsachen mit«, fährt Portheine fort, »die mich veranlassen würden, nach Aufhebung der Unterbringung einen Haftbefehl zu beantragen…« »Das ist nicht Ihr Ernst!« Dr. Loissen springt auf. Puterrot im Gesicht steht er vor Portheine, ein etwas verfetteter Kämpfer für Brigitta und die gerechte Sache. Kemm ist der Schreck derart ins Gebein gefahren, daß er nicht mal imstande ist, den Mund zuzumachen. »O doch, Herr Dr. Loissen: das ist mein Ernst! Es besteht nach den neuesten polizeilichen Ermittlungen gegen Frau Beerenberg dringender Verdacht nach 211…« Und das ist Mord. Eine Zahl wie ein Hammer. Die Versammlung ist versteinert, im Sitzen und im Stehen. Der einzige, der sich bewegt, ist Trimmel. Er schneuzt sich ungerührt und geräuschvoll die Nase. Dr. Loissen findet als erster die Sprache wieder. »Nett von Ihnen, daß Sie mich eingeladen haben, Herr Staatsanwalt…« »Bitte sehr!« »Darf man vielleicht auch fragen, was Sie im einzelnen auf der Pfanne haben?« Der reine Hohn. Portheine deutet auf Trimmel. »Erzählen Sie…« Aber Trimmel paßt das überhaupt nicht in den Kram. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Frau Beerenberg hat heimtückisch, möglicherweise aus Habgier ihren Ehemann getötet…« Loissen schnappt zu wie ein Wolfsspitz: »Ich möchte von Ihren keine Rechtsbelehrung, sondern Tatsachen, die nach Ihrer Ansicht Frau Beerenberg belasten!« Also hilft es nichts. Er muß bei Gaby anfangen, wenigstens bei ihrer Aussage, ohne ihren Namen zu nennen, ehe der Verteidiger einen Tobsuchtsanfall bekommt… Im Grunde hat der Anwalt ja recht. Aber es war eine idiotische Idee von
Portheine, ihn gleich herzubestellen. Typisch Staatsanwalt. Ein ehrlicher Polizist wäre nie auf eine solche Idee gekommen. »Frau Beerenberg hat sich vor der Tat ein Alibi besorgt, das können wir beweisen. Dr. Beerenberg hat dann nicht zuerst auf sie geschossen, sondern er hat überhaupt nicht geschossen. Sie hat ihn kaltblütig umgelegt, als er ahnungslos an seinem Schreibtisch stand oder saß. Das Loch in der Tür stammt erst von dem zweiten Schuß, den hat Frau Beerenberg abgefeuert, als ihr Mann schon tot war…« Möglichst wenig Einzelheiten. »Ich höre zum ersten Mal«, sagt Dr. Loissen ätzend, »daß es der kriminalistischen Wissenschaft möglich ist, die Reihenfolge von zwei Schüssen zu bestimmen, die aus derselben Waffe abgefeuert worden sind!« Er ist schlau, begreift sofort, worauf es ankommt. »Unsere Untersuchungen laufen noch«, sagt Trimmel. »Aber trotzdem können Sie die ganze schöne Hypothese beweisen?« »Ich kann sogar beweisen, daß Frau Beerenberg Schießunterricht genommen hat, damit sie ihn auch wirklich richtig erwischt!« »Woher haben Sie Ihre Weisheit?« »Es gibt Zeugen!« sagt Trimmel ruhig. »Welche Zeugen?« Trimmel sieht Portheine an; soll der entscheiden, was zu sagen ist. »Sie sind zum Teil noch nicht abschließend vernommen worden«, sagt der Staatsanwalt, »zu gegebener Zeit kriegen Sie Akteneinsicht, so schnell wie möglich, das ist selbstverständlich, wir werden Sie auch vorher schon auf dem laufenden halten, Herr Rechtsanwalt…« Warum so unsicher? Loissen merkt es sofort: »Ich kenne Frau Beerenberg seit Jahren. Ich kann Ihnen jetzt schon versichern, daß sie niemals
imstande war, diese ungeheuerliche Tat auszuführen. Im Hinblick auf die Erbschaft, Habgier! Lächerlich! Wenn sie eins ganz sicher nicht ist – sie ist nicht berechnend!« »Ich bin anderer Ansicht!« sagt Trimmel. »Warum, bitteschön?« »Sie hat schon bei der ersten und einzigen Vernehmung versucht, mit mir zu kokettieren. Daß sie sich aus lauter Berechnung nicht gleich das Nachthemd aufgerissen hat, war eigentlich alles!« »Finden Sie nicht, daß das allenfalls Ihr höchst subjektiver Eindruck ist?« Kemm ist derjenige, den Trimmel am meisten verletzt hat. Bei Kemm hat sich Brigitta nicht nur das Hemd aufgerissen; bei ihm war sie nackt. Mehrfach. Und offensichtlich gern… Kemm wird übel bei der Vorstellung einer intimen Szene zwischen Brigitta und diesem Polizisten. Er will nichts mehr hören. Wenn man bloß ein Gehirn abstellen könnte wie ein Tonbandgerät… »Seit wann sind Sie persönlich über die letzten Ermittlungen im Bilde?« fragt Dr. Loissen. »Seit einer Stunde!« sagt Portheine wahrheitsgetreu. »Und darauf wollen Sie einen Haftbefehl gründen? Ohne Akten, ohne alles…« »Das sind doch Formalitäten!« protestiert Portheine. »Darauf können Sie sich doch nicht ernsthaft berufen!« Und Trimmel hilft ihm: »Wir können kein Vernehmungsprotokoll von Frau Beerenberg abheften, wenn wir die Vernehmung noch nicht durchgeführt haben. Das ist einer der Gründe, warum wir hier sind!« Alle blicken auf Kemm. Aber der sieht zum Fenster hinaus, ohne Brille, die er auf den Tisch gelegt hat, und gelb wie eine Leiche. »Herr Professor…?« »Ja?« Er zuckt zusammen und sieht Portheine abwesend an.
»Wir möchten Sie bitten, uns sofort einen Raum für die Vernehmung von Frau Beerenberg zur Verfügung zu stellen!« »Vernehmung…« Er begreift es immer noch nicht. »Zum Donner, ja!« sagt Trimmel grob. »Schließlich können wir nicht mehr tun, als den Arzt und den Verteidiger gleich mit zu vernehmen!« »Ich protestiere schärfstens gegen die Bemerkung!« Aber Dr. Loissen ist hier nicht im Gerichtssaal, noch nicht, und selbst ein so verbindlicher Mann wie Portheine winkt lässig ab. »Geschenkt, Herr Anwalt…« »‘tschuldigung!« murmelt Trimmel. »Auf jeden Fall will ich vorher mit meiner Mandantin unter vier Augen sprechen!« sagt Loissen. Es wird ihm gestattet. Kemm wird überhaupt nicht mehr gefragt. Er hat es schließlich schriftlich gegeben: Brigitta Beerenberg ist kerngesund, vor allem geistig, und deshalb jederzeit für die Bullen greifbar.
Dr. Loissen besucht Brigitta in ihrem komfortablen Einzelzimmer. Sie empfängt ihn wie eine Fürstin. Er küßt ihr die Hand, fasziniert wie immer von ihrer Schönheit, und sie stellt auch Ansprüche wie eine Fürstin. »Allmählich reicht’s mir, Walter, so nette Leute hier auch sind. Wann kann ich endlich nach Hause?« Ein ahnungsloser Engel. Oder ein Teufel? »Ich denke, Sie werden die Klinik bald verlassen«, sagt Walter Loissen diplomatisch, also zweideutig, »sagen Sie, kann man hier nicht einen Whisky kriegen? Ich hätte einen nötig…« »Ich werde uns einen Tee bestellen!« sagt Brigitta streng und läutet. Auf dem Tisch liegt eine Frauenzeitschrift. Eine aufgeschlagene Statistik: Sechzig Prozent aller Ehefrauen
haben aus Liebe geheiratet. Einundvierzig Prozent schneidern selbst. Dreiundachtzig Prozent tanzen gern. »Wollen Sie nun die Zeitung lesen oder sich mit mir unterhalten…« »Pardon«, sagt Loissen, »bitte um Nachsicht, Brigitta!« Zwanzig Prozent aller Gattentötungen werden von Frauen begangen, wollte er noch in Gedanken hinzufügen. Natürlich ist Brigitta nicht dabei. Weil es einfach nicht sein kann und nicht sein darf. »Was ich Sie noch fragen wollte«, beginnt er behutsam, »haben Sie eigentlich jemals Schießunterricht genommen?« »Wie kommen Sie denn darauf?« Aber sie ist so verschreckt, daß sie den Aschenbecher vom Tisch stößt. Automatisch bückt sich Loissen nach den Scherben. »Weil die Polizei das plötzlich behauptet«, sagt Loissen vom Fußboden her, »ich habe sofort gesagt, daß es Unsinn ist…« »Schießunterricht…« In ihrem Kopf setzt sich ein Karussell in Bewegung. Völlig gleichgültig, an welcher Stelle: wenn der erste Wagen sich dreht, drehen sich alle mit. Max Conradi hat sich in Bewegung gesetzt, denkt sie ohne Panik, aber voller Schmerz; die Panik kommt später, dann um so heftiger. Max Conradi konnte nicht mehr stillstehen. Max, Max, Max. »Wer sagt das?« »Die Polizei«, wiederholt Loissen und legt die Scherben auf den Tisch, »die behauptet übrigens noch viel schlimmere Sachen…« Sie sieht ihn an und erkennt ihn nicht. Ein Schleier über den Augen. Vielleicht Tränen. Max Conradi, ausgerechnet… »Die Polizei behauptet«, fährt Loissen fort, als sie nicht reagiert, »Sie hätten Peter vorsätzlich und nicht in Notwehr erschossen…«
Max Conradi. Der einzige Mann, den die verwirrte Brigitta jemals geliebt hat. An den sie geglaubt hat. Das überirdische Wesen Max Conradi… Peter ist immer fremdgegangen, dafür sollte er büßen; er hat sie betrogen. Aber wenn sie selbst mit Max geschlafen hat, dann war es kein Fehltritt, dann hat der liebe Gott persönlich sie zu sich genommen, nicht für immer, aber doch vorübergehend. »Sagen Sie mir, daß es Unsinn ist«, fleht Loissen, entsetzt über ihre Starre, »ich bin Ihr Anwalt, Brigitta, ich muß es wissen, die ganze Wahrheit…« Schwester Ingeborg bringt den Tee. Eine Galgenfrist vor dem Anfall. Sie spürt, wie gespannt die Atmosphäre ist. Ihr Lächeln friert ein, das ›Guten Tag!‹ bleibt ihr im Hals stecken. Sie stellt den Tee ab, läßt die Scherben liegen und ist froh, als sie wieder draußen ist. »Brigitta!« mahnt Loissen verzweifelt. Sie fällt ihm vornüber in den Schoß und schreit leise, aber so schrill wie ein Kaninchen in Todesangst. Ihre Schultern beben, der ganze Körper wird von einem Krampf geschüttelt. »Peter ist nicht tot«, schluchzt sie, »er steht draußen mit dem Laken, er will mich töten… geh doch raus, du siehst ihn sofort… nein, bleib hier – vielleicht wird er dich auch umbringen…« »Brigitta… Brigitta!« Drüben die Klingel. Er muß Hilfe rufen. Oder sie streicheln. Vor allem schützen… Schützen, ja. Er ist schließlich ihr Verteidiger. Der Anfall endet so plötzlich, wie er gekommen ist. Brigitta sitzt wieder aufrecht in ihrem Sessel; ein verquollenes, häßliches, bemitleidenswertes Gesicht, aber ihre Augen sind klar innerhalb der roten Ränder. »Es ist wirklich Unsinn…« Das Karussell in ihrem Kopf ist stehengeblieben. Sie sieht das Teegeschirr. »Wollen Sie Zucker, Walter?«
»Danke, gern…« Zum ersten Mal hat der Starverteidiger Dr. Loissen den bösen Verdacht, daß der Fall Beerenberg mehr ist als ein Kriminalfall. Den Verdacht, daß hier etwas dahintersteckt, das sich nicht nur mit Schriftsätzen und Routine lösen läßt. »Der Staatsanwalt und dieser Polizeibeamte wollen Sie gleich vernehmen. Ich werde ihnen sagen, daß Sie nicht dazu in der Lage sind…« Aber sie protestiert sofort. Sie will es versuchen, sagt sie, unbedingt. »Die sagen sonst bestimmt, ich hätte Angst…« Loissen entscheidet: »Dann verweigern Sie auf jeden Fall die Aussage. Außerdem bin ich dabei und werde Ihnen helfen, Brigitta…« Noch glaubt er ihr alles. Allerdings steht in der aufgeschlagenen Zeitung, daß hundert Prozent aller Frauen auch nur mit Wasser kochen und neununddreißig Prozent aller Menschen glauben, man würde auf dem Mond glücklicher leben. Loissen zählt sich im Moment zur letzten Gruppe. »Darf ich mich vorher ein bißchen zurechtmachen?« bettelt Brigitta. »Natürlich, das müssen Sie sogar!« Er sieht das Leuchten in ihren großen Pupillen nicht, das Nordlicht des Wahnsinns. »Nur noch ein Viertelstündchen, Walter. Ich läute dann, Sie können schon alles veranlassen!« Sie ist ihm nicht böse. Wie kann sie ihm böse sein, daß er nicht mehr stillgehalten hat, wo er doch soviel mit sich selbst zu tun hat? Sie hätte ihm nur gern auf Wiedersehen gesagt. »Leb wohl, Max!« schreibt sie mit ihrem Lippenstift quer über den Spiegel. Nur noch ein Viertelstündchen. Es gibt da wenig zurechtzumachen. Sie zieht die Vorhänge zu, denn sie haßt die Dämmerung, und legt sorgsam ein Badetuch über das Bett. Vierzehn Minuten.
Sie zieht ein besonders elegantes Nachthemd an, durchsichtig und vor allem ärmellos. Schluckt fünf Schlaftabletten mit dem Rest Tee, mehr sind leider nicht vorhanden. Noch zwölf Minuten. Es wird Zeit. Mit der spitzesten Scherbe des gläsernen Aschenbechers reißt und schneidet sie sich am linken Handgelenk tief die Adern auf. Das Blut spritzt hoch, sie hat den Schnitt richtig angesetzt, aber sie sieht die Fontäne nicht mehr. Sie hat sich herumgeworfen, in das Kissen gebissen, irrsinnig und lautlos geschrien vor Schmerz; sie schreit immer noch in das Kissen. Dann wimmert sie nur noch. Dann ist sie still. Still und ohne Bewußtsein.
Dr. Loissen ist immer noch nicht zurück, als Kemm aufsteht. »Entschuldigen Sie mich!« Keine weitere Erklärung. Er geht wie ein Nachtwandler durch Fahrstühle und Flure zur Station FA 1. Leute grüßen ihn, er sieht sie nicht und grüßt nicht zurück. Brigitta in der geschlossenen Abteilung… Es darf nicht wahr sein, daß sie jetzt in eine Zelle muß! Bruchstücke von Erinnerungen. Eine Situation vor einem auswärtigen Gericht. Vor Jahren. Ein Provinzgutachter wollte dem Star aus Hamburg an den Wagen fahren. »Eine Zelle ist eine Zelle«, sagt der Mann aus der Provinz, »sei sie in der Haftanstalt, sei sie in der geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses!« Kemms feiner Humor besiegte ihn: »Es gibt da doch noch den einen oder anderen Unterschied, lieber Herr Kollege…!« Und Bruchstücke von Erkenntnissen. Die Erkenntnis, wie pragmatisch Trimmel ist. Was Trimmel tut, ist Wohlgefallen,
wohl im Sinne von gründlich. Brigitta eine Mörderin – na, wennschon. Aber müssen das gleich alle Leute wissen? Vom Chefzimmer zu FA 1 braucht man normalerweise fünf Minuten. Kemm ist heute schneller.
Nur für eine ganz kurze Zeit ist Trimmel mit Portheine allein. »Das ist ja wohl eine Sache fürs Schwurgericht…!« sagt er, nur um etwas zu sagen. Portheine sieht ihn sehr schräg von der Seite an, sehr skeptisch. »Ziemlicher Aufstand hier in der Klinik. Wenn Sie nicht wasserdicht sind, Herr Trimmel…« »Was dann?« Trimmel nimmt die Drohung auf. »Dann kann ich was erleben, wollten Sie sagen, was? Sie haben mir ja schon mal zu verstehen gegeben, daß die Dame Beerenberg unter Naturschutz steht. Feine Leute hier in Hamburg. Am besten Einstellung des Verfahrens, nur keine schmutzige Wäsche, höchstens ein Sicherungsverfahren vor der Kammer, möglichst gar kein Aufsehen. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Staatsanwalt, daß ich Ihnen soviel Schwierigkeiten mache!« Bitter wie Galle. Dr. Loissen kommt zurück. Wer weiß, was Trimmel sonst noch gesagt hätte. »In einer Viertelstunde, wenn’s recht ist!« sagt Dr. Loissen. »Sie will sich nur noch etwas schön machen. Sie will Ihnen so schön wie möglich beweisen, daß Sie schiefliegen…« Kein Wort davon, daß sie vermutlich gar nichts sagen wird, und zwar auf Anraten ihres Anwalts. Dr. Loissen kriegt keine Antwort. Der Rest Orangensaft, den er trinkt, schmeckt schal. Und die Luft ist plötzlich so schwer wie in einem Sterbezimmer.
Es ist genau der Moment, in dem Professor Kemm Brigittas Tür erreicht. Nach zweimaligem Klopfen greift er sich, von plötzlicher Panik gepackt, einen Pfleger, der zufällig des Weges kommt. »Tritt mal die Tür ein!« »Gern, Herr Professor!« sagt der stämmige Mann. Mal was anderes. Er stellt das Paket ab, das er gerade trägt, und nimmt einen Anlauf… So wird das Blutbad kurz vor Ablauf des kritischen Viertelstündchens durch Kemm persönlich entdeckt.
»Im Augenblick schläft sie!« sagt Dr. Lorff, der stellvertretend für Kemm ins Chefzimmer gekommen ist. Eine halbe Stunde nach dem Aufbrechen der Tür. Kemm sitzt am Bett Brigittas in einem kahlen Zimmer in der Nähe der Ambulanz. Eine winzige Nachttischlampe brennt. Es ist trotzdem eine der finstersten Stunden seines Lebens – seit dem Tod von Agnete Andrews. Ohnmächtig sein Zorn. Oben in seinem Palast sitzen die Bullen, die Mörderjäger, die Rechtsverdreher. Wenn er nicht gewesen wäre, hätten sie Brigitta – Mörderin oder nicht – in den Tod getrieben. »Ist es lebensgefährlich?« fragt oben Portheine. »N… nicht direkt!« sagt der Dozent Dr. Lorff. »Immerhin, ich möchte mich da nicht hundertprozentig festlegen, es kann immer Komplikationen geben…« »Frauen vertragen einen Blutverlust besser als Männer!« sagt der Praktiker Trimmel. Eines Tages wird er in einem Wutanfall eine Obduktion allein durchführen. Aber hier gibt es zum Glück noch keine weitere Leiche. »Prinzipiell haben Sie recht«, sagt Lorff, »trotzdem, vor morgen mittag können wir nichts Definitives sagen!«
Sie gehen davon; es gibt nichts mehr zu tun. Trimmel ruft von einer Zelle aus Gaby an und fragt, ob sie seine schlechte Stimmung teilen möchte. Erfreulicherweise sagt sie ja. Und unten, in Brigittas Zimmer, in dem sie Wochen und Monate gelebt hat, beseitigt Schwester Ingeborg neben dem völlig durchbluteten Bett die rote Schrift auf dem Spiegel, die in der Aufregung niemand außer ihr gesehen hat. Außer ihr – und außer Kemm. »Leb wohl, Max!« Mit einem Ausrufungszeichen. Für immer verschwunden. Über dem schönen grünen Park von Rietbrook, über den Schicksalen hinter den durchlässigen Mauern, über dem weißen Richter Kemm ist es heute finster wie lange nicht.
12
Drei Wochen vor der Schwurgerichtsverhandlung wegen Mordes zum Nachteil von Dr. Peter Beerenberg gegen Brigitta Beerenberg sagt Kemm der Große in Rietbrook, inzwischen etwas kleiner geworden, zu der Sekretärin Vandebosch: »Ich möchte Lorff sprechen!« Erich Lorff erscheint innerhalb weniger Minuten. Man sieht ihm an, daß er ziemlich schnell gelaufen ist. Er steht im Türrahmen und sagt förmlich: »Herr Professor möchten mich sprechen?« Kemm sagt: »Laß den Unsinn, Lorff! Mach die Tür zu, laß dir vorher einen Schnaps geben. Das heißt, zwei. Für mich auch…« Als Frau Vandebosch angerichtet hat, die beiden Remy Martins in den großen Schwenkern das Chefzimmer mit ihrem Duft in einen Herrenclub verwandeln und die Tür geschlossen ist, sagt Kemm: »Ich bin der Ältere, Lorff. Ich könnte dein Vater sein, bei Licht besehen…« »Mit Mühe!« Lorff ist siebzehn Jahre jünger als der Meister. »Allerdings…« Kemm grinst. Mühsam zwar. Aber er ist ein perfekter Schauspieler. »Haben Sie heute die Zeitungen gelesen?« »Ohne Zeitung krieg’ ich mein Frühstück nicht runter!« »Auch über uns?« »Hhhmm…« Er macht es ihm nicht gerade leicht. Aber seine Unterschrift unter das Gutachten Beerenberg, um die er sich erpreßt fühlt, tut ihm immer noch weh.
»Ich traf gestern abend den Anwalt von Brigitta Beerenberg«, sagt Kemm, »genau gesagt, er rief mich an, wollte mich sprechen, und ich sagte, er soll zu mir kommen. Wir haben zwei Flaschen Rotspon geköpft…« »Und? Alles gut bekommen?« »Sehn Sie ja. Also, der gute Mann ist ziemlich pessimistisch. Er hat inzwischen die Akten gelesen und macht sich seine eigenen Gedanken…« Zigarette, ein unentbehrliches Requisit seit einem Tag im Juni dieses Jahres. »Er hat mir Dinge erzählt, die mich stutzig machen. Beispielsweise… Sie erinnern sich vielleicht, als er unter vier Augen mit Brigitta sprach, damals, als der Verkehrsheine mit seinem Polizisten hier war, da hat sie doch glatt einen hysterischen Anfall gekriegt…« »Vielleicht ‘n bißchen schizophren?« sagt Lorff spitz. »Vielleicht. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht mit Ihnen sprechen, obgleich es natürlich damit zu tun hat. Ich wollte eigentlich… es steht da wohl einiges zwischen uns, Lorff, seit diesem… diesem…« »Seit diesem Gutachten?« »Eben. Und ich habe lange darüber nachgedacht, bevor ich Sie kommen ließ…« Er ist auch täglich daran erinnert worden, denkt Lorff. Patriarchen wie Kemm müssen heutzutage eine Menge einstecken; es könnte sein, daß es für sie selbst gut ist, daß sie allmählich aussterben. Seit dem Selbstmordversuch von Brigitta Beerenberg und der sofort anschließenden Erklärung der Staatsanwaltschaft, sie werde die Dame wegen Mordes anklagen, ist die Presse in- und außerhalb Hamburgs groß eingestiegen, nahezu täglich.
»Eifersuchtswahn«, sagt Kemm, »mein Gott, da haben sich doch schon tausend Ärzte die Schädel gespalten, weil sie nicht zu einer Meinung kommen konnten…« »Sie meinen, es ist deshalb müßig, daß wir beide uns gegenseitig die Schädel spalten?« Lorff grinst leicht. »Genau das!« sagt Kemm erleichtert. »Also, die bisherigen Entwicklungen haben mir doch sehr zu denken gegeben, und ich frage mich allen Ernstes, ob ich… oder ob Sie… oder…« »… oder ob die Hauptverhandlung alles klärt!« sagt Lorff. Der gute, alte Lorff… Soviel Mühe macht das gar nicht, denkt Kemm, er könnte wirklich mein Sohn sein. Schwarz-rote Fliege über dem Hemd unter dem Kittel, ein junger Mann von Welt, unverheiratet, von welcher Tatsache er reichlich Gebrauch macht… Im Ernstfall kann man sich doch auf ihn verlassen. »Wollen wir das Kriegsbeil begraben?« »Prost!« sagt Lorff. Entgegen der Regel trinkt er den Remy Martin wie Wasser, nämlich ex. Und Kemm zieht nach. Einen wendigeren Nachfolger kann er in ganz Deutschland nicht finden. Brigitta, so schmerzhaft das ist, kommt höchstens noch einmal in der Woche zum Chef, und das während der Dienstzeit von Fräulein Vandebosch und Fräulein Niemann. Lorff hat das bestimmt schon registriert.
Dreimal eine halbe Stunde nach Beginn der Hauptverhandlung gegen Brigitta Beerenberg sagt der Vorsitzende: »Wir wollen jetzt die Zeugen hören!« Staatsanwalt Portheine meldet sich: »Ich darf vorschlagen, als ersten Zeugen Herrn Trimmel zu hören. Das hat technische Gründe, wie ich vielleicht erläutern darf. Herr Trimmel ist Hauptkommissar bei der Hamburger Kriminalpolizei. Derjenige Beamte, der dem Gericht den besten Überblick
verschaffen kann, weil er den Fall fast im Alleingang geklärt hat!« Er ist fair, der Herr Portheine. Aber Verteidiger Dr. Loissen springt sofort auf: »Was heißt hier geklärt?« Portheine besänftigt: »… fast im Alleingang im Fall Beerenberg ermittelt hat. Einverstanden?« Vollbesetzte Zuschauerbänke, heimliche Kameras, aus denen nach dem ersten offiziellen Blitzlichtgewitter zu Beginn der Verhandlung jede Menge Hüftschüsse abgegeben werden… Dr. Loissen hat eine Erklärung abgegeben: »Frau Beerenberg wird keine Aussagen machen, weder zur Person noch zur Sache. Sie hat mich ermächtigt, dem Gericht von Fall zu Fall Rede und Antwort zu stehen!« Ein Sensationsprozeß, wie es ihn seit Vera Brühne, Eva Mariotti und Edmund Frank nicht mehr gegeben hat. Brigitta in der Anklagebank folgt den Ereignissen stumm, aber mit Interesse. Ihr Make-up ist gelungen, ihr tailliertes Kostüm raffiniert einfach und unverschämt teuer. Ein Maskenbildner hätte sie nicht besser hergerichtet, höchstens etwas weniger starr. »Ihr Name, Ihr Beruf?« »Paul Trimmel. Kriminalhauptkommissar…« Brigitta sieht starr an ihm vorbei zum gegenüberliegenden Fenster des Schwurgerichtssaals. Immerhin hält sie sich, von Kemm auf der Gutachterbank sorgsam und voller Angst verfolgt, erstaunlich gut. »Es schien zunächst ein klarer Fall von Notwehr zu sein. Wir kamen zum Tatort und fanden eine ziemlich eindeutige Situation vor. Es sah so aus, als…« »Moment, Moment«, sagt Dr. Loissen, »das geht mir alles viel zu schnell. Wie kamen Sie denn überhaupt zum Tatort?« »Mit dem Taxi!« sagt Trimmel wahrheitsgetreu.
Ehe noch Dr. Loissen ihm eins aufs Maul geben kann, sagt der Vorsitzende ärgerlich: »Lassen Sie das, Herr Zeuge. Der Herr Rechtsanwalt wollte bestimmt eine andere Antwort hören!« »Verzeihung, Herr Vorsitzender…« Zu Loissen hinüber macht er eine Verbeugung. »Also, wir kamen zum Tatort, weil Frau Beerenberg die Polizei angerufen hatte und daraufhin die Mordkommission benachrichtigt wurde…« »Danke!« Dr. Loissen setzt sich. »Bei meinem Eintreffen lag Dr. Beerenberg hinter dem Schreibtisch. Er war tot. Frau Beerenberg, die nach Ansicht des Polizeiarztes unter einer Schockwirkung stand, bekam gerade eine Spritze. Die Fotos und Zeichnungen müssen im übrigen…« »Wir kennen sie!« nickt der Vorsitzende. Zwei Geschworene beugen sich interessiert herüber. »Die Tatwaffe lag beim Eintreffen der ersten Streifenwagenbesatzung in der geöffneten Schreibtischlade, später lag sie auf der Tischplatte und wurde auf Fingerabdrücke geprüft…« »Ist das die Waffe?« Der Vorsitzende hebt sie mit spitzen Fingern hoch. Trimmel nickt. Eine geschlagene halbe Stunde erzählt er noch von den Einzelheiten dieses großbürgerlichen Leichenfundes in der Schönen Aussicht. Dann endlich kommt er auf Brigitta zu sprechen. »Frau Beerenberg machte zunächst einen ruhigen Eindruck und beantwortete unsere Fragen vernünftig. Plötzlich jedoch behauptete sie, ihr Mann sei ein sogenannter Weiberheld gewesen und habe sie unter anderem vergiftet – sie meinte wohl betäubt –, um ungestört andere Frauen ins Haus bringen zu können. Von diesem Zeitpunkt an führte sie so wirre Reden,
daß nach kurzer Zeit eine vorläufige Einweisung in das psychiatrische Krankenhaus Rietbrook zweckmäßig erschien…« Staatsanwalt Portheine meldet sich zu Wort. »Herr Trimmel, hatte Frau Beerenberg bis dahin eine zusammenhängende Schilderung des Tatgeschehens gegeben?« Das weiß er zwar am besten selbst, denn er war ja dabei. Aber das Schwurgericht will es ebenfalls hören. »Ja, das hatte sie…« Es folgt die Geschichte mit dem angeblichen Ringkampf des Ehepaars Beerenberg, der Bedrohung, dem ersten Schuß in die Wand, dem zweiten Schuß in Beerenbergs Herz. »Leider hatten wir in der Folgezeit keine Gelegenheit mehr, Frau Beerenberg zu Einzelheiten ihrer Aussage zu vernehmen…« Das wenigstens will er dem Staatsanwalt, seinem Verbündeten, noch auswischen. »Herr Professor Kemm, der inzwischen zum Gutachter bestellt war, hielt es nämlich für wenig ratsam, seine ärztliche Untersuchung durch polizeiliche Vernehmungen zu stören!« Portheine sagt: »Ich darf dem Gericht zur Erklärung mitteilen, daß zu diesem Zeitpunkt selbst die Polizei der Auffassung war, es sei ein klarer Fall von Notwehr!« »Und das änderte sich dann…«, sagt der Vorsitzende Richter lakonisch. Kemm auf der Gutachterbank, ziemlich dicht hinter dem Zeugen Trimmel, atmet auf. Zum Glück ist dieser Trimmel wenigstens so anständig, die Telefongespräche für sich zu behalten. Sonst könnte irgendein Idiot – er meint respektlos den Staatsanwalt – auf die Idee kommen, ihn als Gutachter wegen Befangenheit abzulehnen. Und das wäre gar nicht gut für Brigitta… Allerdings, sagt er sich beklommen, gibt es im weiteren Verlauf der Verhandlung noch mehrere solcher Gelegenheiten.
»Unser erster Verdacht kam auf, als wir erfuhren, daß Frau Beerenberg sich ganz offensichtlich ein Alibi auf Zeit verschafft hatte. Die Hausdame Fräulein Montag hatte nämlich immer montags ihren freien Abend, und jeweils dienstags erzählte ihr Frau Beerenberg…« »Stopp!« Dr. Loissen ist der Ansicht, das könne Fräulein Montag zu einem späteren Zeitpunkt dem Gericht selbst erzählen. Der Vorsitzende stimmt ihm zu. »Wie Sie meinen!« sagt Trimmel großmütig, fast arrogant. »Aber dann wurden wir stutzig, als wir bei einer Rekonstruktion des von Frau Beerenberg geschilderten Tatablaufs feststellten, daß der Schußkanal in Dr. Beerenbergs Körper nicht damit in Einklang zu bringen war. Ich darf vielleicht dem Gericht…« Er geht zu einer Wandtafel, die auf seinen Vorschlag hin aufgestellt worden ist, und nimmt die Kreide. »Die erste Zeichnung: So lag der Tote auf der Erde… Sie entschuldigen, ich bin kein Maler…« Aber man hat einen ungefähren Eindruck, wie er selbst kritisch feststellt. »Zweitens. Der Schußkanal verlief so…« Nämlich leicht nach unten. »Man hätte erwarten können, daß ein Mensch, der so getroffen wird, nach vorn fällt. Frau Beerenberg hatte jedoch gesagt, sie habe an der auf dem Rücken liegenden Leiche ihres Mannes nichts geändert, außer daß sie ihm die Hände faltete…« Die Zeichnungen bleiben stehen, als Trimmel zum Zeugenstand zurückgeht. Er riskiert einen Blick auf die Angeklagte: sie mustert sorgfältig die Gesichter der Leute im Zuschauerraum und wirkt unbeteiligt wie eine Schildkröte: Jederzeit kann sie den Kopf mit den starren Augen einziehen. Trimmel reißt sich schnell wieder los von den starren Augen und wendet sich direkt an den Richter.
»Herr Vorsitzender, ich komme jetzt zu einem Punkt meiner Aussage, an dem es mir schwerfällt, die Ereignisse zugleich chronologisch und für das Gericht verständlich zu schildern. Ich bitte in aller Form, nicht nur die Ergebnisse unserer Ermittlungen schildern zu dürfen, sondern auch die daraus resultierenden Erkenntnisse!« »Aber das ist doch ein starkes Stück«, entrüstet sich der Verteidiger, »seit wann halten denn Polizisten vor einem deutschen Schwurgericht ein Plädoyer?« Der Vorsitzende jedoch, der offensichtlich souveräne Zeugen zu schätzen weiß, sieht das nicht ganz so kraß. »Ich würde vorschlagen, wir lassen Herrn Trimmel erzählen. Gegebenenfalls können wir immer noch einschreiten, Herr Rechtsanwalt…« »Und ob!« sagt Dr. Loissen drohend. Trimmel beginnt. »Zu einem nicht genau feststehenden Zeitpunkt mutmaßlich um die Jahreswende vor der Tat, faßte Frau Beerenberg den Entschluß, ihren Mann zu töten…« »Protest, Protest!« schreit Dr. Loissen. »Das ist meine Meinung!« sagt Trimmel ruhig. »Fahren Sie fort!« entscheidet der Vorsitzende. »Sie hatte zu diesem Zeitpunkt – das, Herr Verteidiger, habe ich selbst ermittelt – ein Liebesverhältnis zu dem Bremer Kaufmann Max Conradi. Dieser Mann ist passionierter Jäger, und sie bat ihn, ihr eine Pistole zu beschaffen. Conradi sagte es zu, wunderte sich allerdings über ihre Extrawünsche. Es sollte ein ganz bestimmtes Fabrikat in einer ganz bestimmten Ausführung sein…« »Ich weiß wirklich nicht«, sagt Dr. Loissen, der schon wieder aufspringt, in gespielter Verzweiflung, »warum wir außer Herrn Trimmel überhaupt noch andere Zeugen geladen haben!«
»Der Grund ist einleuchtend«, sagt der Vorsitzende sarkastisch, »sie sollen sich zu dem äußern, was Herr Trimmel hier vorträgt!« »Conradi beschaffte die gewünschte Waffe«, fährt Trimmel ungerührt fort, »es war das genaue Gegenstück einer Pistole, die Dr. Beerenberg schon seit längerer Zeit besaß…« Von den Schießübungen erzählt er nichts, und Max Conradi, der als Zeuge draußen warten muß, könnte ihm von Herzen dankbar sein. »Dr. Beerenberg bewahrte seine Waffe in der oberen linken Schublade seines Schreibtisches auf. Er arbeitete fast täglich abends an seinem Schreibtisch, und es bestand jederzeit die Möglichkeit, daß er bei solchen Gelegenheiten absichtlich oder zufällig nach der Pistole sah. Da Frau Beerenberg aber die Absicht hatte, ihren Mann mit seiner eigenen Pistole zu erschießen, mußte sie die Waffe zunächst an sich bringen. Dazu brauchte sie das Duplikat…« »Ich passe!« sagt Dr. Loissen. »Noch ein solcher Satz, und ich lege sofort die Verteidigung nieder!« Er breitet mit dramatischer Geste seine Robe aus, als wolle er sie ausziehen; er sieht aus wie eine Fledermaus. Im Zuschauerraum rufen Leute: »Buuuh…!«, und der Vorsitzende klopft heftig auf den Tisch. »Die Verhandlung ist unterbrochen!« sagt er laut. »Ich bitte den Herrn Verteidiger und den Herrn Staatsanwalt sofort zu mir!« Er hat tatsächlich die Robe ausgezogen, aber jetzt ist Pause, und er darf das. »So geht’s doch nicht, Herr Vorsitzender! Das ist doch eine Schau und keine Hauptverhandlung!« Sie sitzen unter sechs Augen im Beratungszimmer. »Loissen«, sagt Dr. Krahnefeld, »Sie wissen genau, daß ich allgemein eher als verteidigerfreundlich als -feindlich gelte. Ich kenne die Akten so gut wie Sie; glauben Sie im Ernst, ich
würde mir allein aufgrund der Aussage dieses Polizeibeamten mein Urteil bilden oder auch nur auf einen einzigen Zeugen verzichten?« Er holt tief Atem: »Dies ist eine Schwurgerichtskammer…« »Eben!« »… und eben deshalb halte ich es für erforderlich, daß auch die Laienrichter diesen komplexen, ungewöhnlichen Fall wenigstens einmal im Zusammenhang hören!« Loissen bleibt hart. »Dafür gibt es die Anklageschrift und den Eröffnungsbeschluß!« Portheine will vermitteln. »Sie kennen Trimmel fast ebenso lange wie ich, Dr. Loissen. Es ist eine ungewöhnliche Situation. Ohne ihn fände dieser ganze Prozeß nicht statt. Er hat uns, könnte man fast sagen« – er sieht entschuldigend Dr. Krahnefeld an – »die Sache im Alleingang eingebrockt, ich sagte es schon. Ungewöhnliche Maßnahmen erfordern ungewöhnliche…« »Es tut mir leid«, sagt Dr. Loissen, »ungewöhnliche Maßnahmen in Ehren, aber wir bewegen uns gemeinsam auf dem Boden der Strafprozeßordnung. Wenn dieser Trimmel weiter so redet wie bisher, kriegen Sie ein zusätzliches Plädoyer, und das schon am ersten Verhandlungstag. Entweder ich lege tatsächlich die Verteidigung nieder, oder Trimmel sagt nur das, was er selbst ermittelt hat!« »Also gut«, entscheidet der Vorsitzende, »ich sehe ein, wir können das nicht vom Tisch wischen!« Die Pause ist beendet. Trimmel im Zeugenstand wird in seine Schranken verwiesen. Aber Trimmel ist ein Fuchs. »Wir haben ermittelt, daß Dr. Beerenberg seinen Schreibtisch stets sorgfältig verschlossen hielt. Wir haben einwandfrei festgestellt, daß er den Schlüssel für seinen privaten Schreibtisch stets in der linken Jackentasche trug. Wir konnten
herausbekommen, daß diese Tatsachen einem größeren Personenkreis bekannt waren, darunter auch Frau Beerenberg. Wir haben auch ermittelt, daß Frau Beerenberg eine Pistole 6,35 Mauser mit hellbraunem Griff von Herrn Conradi erhalten hat und daß der sonst immer verschlossene private Schreibtisch eines Tages im März unverschlossen war…« Kein Wort davon, daß Brigitta an einem Tage im März ihrem Mann den Schlüssel kurzfristig aus der Jackentasche genommen und die Beerenberg-Waffe gegen die ConradiWaffe ausgetauscht hat. Aber daß sie es getan hat, das ist auch dem letzten der beiden Geschworenen klargeworden. Oder etwa nicht? »Wir haben ermittelt, daß Dr. Beerenberg den Anzug, den er tagsüber trug, abends nach dem Ausziehen sorgsam auf einen Bügel hängte und alle Gegenstände in den Taschen beließ. Morgens zog er regelmäßig einen anderen Anzug an und nahm erst dann die Gegenstände aus dem alten heraus, um sie in den neuen zu stecken. Das waren die Brieftasche, die zweite Brille, das Kleingeld, die Schlüssel…« Die Pause hätte kein Schauspielprofi besser hingekriegt. Trimmel studiert seine Notizen. »… ach ja, und ein Taschenkamm… Im übrigen hingen die Anzüge in dem gemeinsamen ehelichen Schlafzimmer, das Dr. Beerenberg allerdings nicht regelmäßig benutzte, wie wir ermittelten, und nach dem Aufstehen ging Dr. Beerenberg nach unseren Ermittlungen gewöhnlich für mindestens eine halbe Stunde ins Bad!« Das also war die Gelegenheit, die Brigitta ausgenutzt hat, um die Pistolen auszutauschen. Nur hat Trimmel diese Folgerung nicht gezogen, sondern die Fakten für sich sprechen lassen. Klar ist es so oder so. Und er redet schon weiter. »Wir haben festgestellt, daß Dr. Beerenberg am Abend seines Todes ungewöhnlich müde und auch angetrunken gewesen
sein muß. Er hatte zehn Stunden im Krankenhaus operiert und anschließend an der Geburtstagsfeier einer Oberschwester teilgenommen, wo Alkohol ausgeschenkt worden war. Zu Hause trank er einige Gläser Whisky mehr als gewöhnlich, so daß die ziemlich hohe Blutalkoholziffer von 1,9 Promille zustande kam. Seine Frau blieb in dieser Zeit offensichtlich nüchtern…« Endlich wieder mal kein Ermittlungsergebnis, sondern nur eine Vermutung. »Woher wissen Sie das?« bellt Loissen prompt. »Das erste wissen wir aus der Vernehmung der Haushälterin, die den Whiskybestand zufällig kontrollierte. Vorher und nachher. Das zweite wissen wir von der Gerichtsmedizin, die Dr. Beerenbergs Blut untersuchte. Das dritte ist tatsächlich eine Vermutung, allerdings gestützt darauf, daß Frau Beerenberg auf uns einen völlig nüchternen Eindruck machte. Leider haben wir ihr keine Blutprobe abnehmen lassen…« Das erste ist ein Bluff auf Kosten von Gaby. Das zweite stimmt. Und das dritte, die Vermutung, läßt wieder nur einen Schluß zu: Brigitta hat Peter noch zum Trinken animiert, ihm vielleicht eine häßliche Szene gemacht. Als er ziemlich angeschlagen hinter dem Schreibtisch saß, hat sie die Pistole – die Originalpistole Beerenberg – aus ihrem Täschchen genommen und ihn kaltblütig erschossen. Das erklärt auch den Schußkanal: leicht schräg nach unten. Und wie kam Dr. Beerenbergs Leiche dann in die Rückenlage? »Die Duplikatpistole, ich nenne sie hier Conradi-Pistole, wurde durch Taucher der Polizei aus der Alster geholt. Dort hatte sie offenbar seit mehreren Monaten gelegen, wie unsere Fachleute ermittelten. Die Entfernung vom Fenster im Todeszimmer bis zum Fundort der Pistole beträgt ziemlich genau fünfzehn Meter. Versuche mit weiblichen Kriminalbeamtinnen haben ergeben, daß eine mittelmäßig
kräftige Frau einen Gegenstand von Gewicht und Größe dieser Pistole ohne exzessive Kraftanstrengung leicht über diese Distanz werfen kann…« Nur Fakten, wie das Gesetz es befiehlt. Und so markante Fakten, daß sich die verbindenden Zwischenstücke für jedermann nahtlos einfügen. Nach der Tötung ihres Mannes nahm Brigitta den Schlüssel aus der Tasche des Toten; dabei geriet er in die Rückenlage und bekam als letztes von der Ehefrau die Hände gefaltet. Sie schloß den Schreibtisch auf, in dem die Duplikatpistole war, die Conradi-Waffe, nahm sie heraus, öffnete das Fenster und warf die Conradi-Waffe in hohem Bogen in die Alster. Die Originalpistole, die Mordwaffe, auf der sowohl ihre als auch Peters Fingerabdrücke waren, legte sie wieder in die Schublade; die mußte nun natürlich offenbleiben… »Dann rief sie die Polizei an!« hätte Trimmel fast gesagt. Er kann sich gerade noch beherrschen: »Das ist jedenfalls das wesentliche Ergebnis unserer sorgfältigen Ermittlungen!« »Ich danke Ihnen«, sagt Dr. Krahnefeld, »noch Fragen an den Zeugen?« »Ja, ich…« Portheine fragt: »Wie hoch ist das Vermögen, das Frau Beerenberg normalerweise erben würde?« Trimmel: »Etwa 600000 Mark. Mit den Liegenschaften allerdings über eine Million…« »Danke!« Der Vorsitzende wendet sich an die starre Brigitta: »Frau Beerenberg, es ist nach wie vor Ihr gutes Recht, die Aussage zu verweigern. Wollen Sie nach dieser Aussage vielleicht doch etwas sagen?« Tatsächlich macht sie zum ersten Mai den Mund auf. »Ich habe selten einen solchen Quatsch gehört!«
Aber in den nächsten Tagen kommen die weiteren Zeugen. Gabriele Montag, die von dem Alibi auf Zeit erzählt, von dem Trimmel nicht erzählen durfte. Blauschulte, der sich hütet, die längst vermoderte Agnete Andrews in den Prozeß einzuführen. Andere Freunde und Kegelbrüder, die Dr. Beerenbergs Ehrenhaftigkeit in bezug auf fremder Leute Frauen bezeugen. Steffens, der die Höhe der Erbschaft bestätigt. Höffgen, der den Satz unterbringt, seiner Ansicht nach müsse Brigitta den Schuß in die Türfüllung erst nach der Tötung ihres Mannes abgegeben haben; Protest von Dr. Loissen, aber es ist gesagt und nicht mehr rückgängig zu machen. Andere Kriminalbeamte wie Petersen, der Leichenbitter. Sekretärinnen. Krankenhauspersonal. Max Conradi aus Bremen. »Moment!« sagt Dr. Loissen. Der Wachtmeister, der Max Conradi aufrufen soll, bleibt in der Tür stehen. »Frau Beerenberg bittet, während der Vernehmung des Zeugen Conradi nicht im Saal bleiben zu müssen!« Dr. Krahnefeld sagt nachsichtig: »Aber dafür gibt es doch kaum eine strafprozessuale Möglichkeit, Herr Rechtsanwalt!« »Ja, ja…«, sagt Loissen. So notieren die Reporter, daß in den eineinhalb Stunden der Vernehmung von Max Conradi die Angeklagte Brigitta Beerenberg nicht einmal über die Brüstung gesehen und offenbar mehrfach geschluchzt hat.
Am dritten Tag der Hauptverhandlung wird Professor Dr. med. Robert Kemm aufgerufen, um sein Gutachten zu erstatten. Die Zeitungen, die seitenlang über den ›Prozeß des Jahres‹ berichten, haben seinen Auftritt mit Fanfarenstößen angekündigt. Trimmel, als bereits vernommener Zeuge, sitzt in
der ersten Reihe, noch vor den Reportern aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland. In den Pausen hat Kemm ihm niemals mehr als einen genickten Gruß gewidmet, über mehrere Personen hinweg. Aber Trimmel weiß, wie dankbar ihm der weiße Richter inzwischen ist. Nicht nur deshalb, weil er nichts von Agnete Andrews erzählt hat. Vor allem das Gemunkel über ein mögliches Verhältnis – ein Liebesverhältnis mit allen Konsequenzen einschließlich Beischlaf! – zwischen Kemm und Brigitta Beerenberg ist niemals zur Sprache gekommen. Auch nicht andeutungsweise, Kemm hat Blut und Wasser geschwitzt. Jetzt steht er da. Klein, aber fleißig. Gottvater ziemlich ähnlich, sofern der sich der neuen Zeit angepaßt hat und statt des Bartes eine randlose Brille trägt. Aber bin ich besser als er? denkt Trimmel. Schlafe ich nicht regelmäßig – regelmäßig wie seit Jahren nicht – mit einer Hauptbelastungszeugin namens Gabriele Montag? Dienstags, mittwochs und sonntags? Vor Trimmel, auf der Gutachterbank, sitzen zwei Gerichtsmediziner und Kemms ganze Mannschaft. Dr. Lorff, Dr. Karlsen, Dr. Linde, Dr. Mohr. Noch ein paar Namenlose. Gespannt wie die Zuschauer eines Stierkampfes, die dem Stier die Daumen drücken und den Torero zur Hölle wünschen. Brigitta ist eine Schildkröte. Verteidiger Loissen bellt wie ein Spitz. Manchmal sieht er auch aus wie eine Fledermaus. Und dann der Stier. Ein todestapferer Miura, ein Kampfstier, mit langen, messerscharfen Hörnern. Der Stier heißt Trimmel. Trimmel weiß nicht, daß Dr. Loissen eine Zeitlang vor der Verhandlung mit Kemm zwei Flaschen Rotwein geleert hat. Trimmel ahnt allerdings, daß Kemm Angst vor seinem Gutachten hat, nicht zuletzt deshalb, weil er befürchten muß,
daß Brigitta zusammenbricht und sich und ihn verrät. Trimmel weiß: Es ist alles so unwichtig geworden wie die Tatsache, daß Dr. Beerenberg zwei oder drei Stunden vor seinem Tod mit mehr Promille gefahren ist, als die Polizei erlaubt. Laß das dumme Schwein doch machen! denkt der Bulle Trimmel und meint den weißen Richter Kemm. Laß ihn seinen Gutachterskandal – das Wort, das Kemm gar nicht liebt – zu Ende bringen. Für Trimmel ist der Fall Beerenberg fast erledigt. Fast erledigt…
Am dritten Tag des Beerenberg-Prozesses sagt Professor Kemm, ohne weißen Kittel und trotzdem anzusehen, als trüge er eine Toga: »Ich habe der Staatsanwaltschaft seinerzeit mein vorläufiges schriftliches Gutachten zugeleitet, das ich damals und heute als das Ergebnis einer gründlichen, gewissenhaften und vor allem auch stationären Beobachtung und Untersuchung bezeichne. Es ist in dieser Stunde meine Aufgabe, über dieses Gutachten hinaus ein abschließendes mündliches Gutachten zu erstatten…« Schon jetzt nimmt er einen Schluck Wasser; es macht sich optisch gut, gibt aber den zum Teil noch ahnungslosen Prozeßbeteiligten zu denken. »Ich habe seinerzeit dem Hohen Gericht mitgeteilt, daß ich mit meinen Kollegen, die mich vollinhaltlich unterstützt haben, zu der Ansicht gekommen bin, Frau Beerenberg sei geistig völlig normal, einschränkungslos zurechnungsfähig, aus ärztlicher Sicht daher voll verantwortlich für die Konsequenzen ihres Handelns…« Kleine Pause. Nicht nur eine Kunstpause, sondern ein kurzer Blick hinüber zur Anklagebank: Brigitta lauscht dem Meister einstweilen noch mit Andacht.
»Inzwischen haben wir jedoch gesehen, daß Frau Beerenberg, nahezu stumm, gehört hat, wie sie belastet wurde, mehr und mehr, von Tag zu Tag. Und es könnte der Eindruck entstehen, daß es mit den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu tun hat, wenn ich jetzt, hier in der Hauptverhandlung, zu etwas anderen, vielleicht sogar zu gänzlich anderen Ergebnissen komme. Das böse Wort von Gruhle könnte auftauchen: Unser ärztliches Wirken werde möglicherweise einer Klassenjustiz Vorschub leisten. Wer sich den besseren Gutachter leisten kann, darf eher als ein ›normaler‹ Sterblicher, ›normaler‹ in Parenthese, mit wissenschaftlicher Hilfe rechnen…« Er packt tatsächlich den Stier bei den Hörnern. »Aber das ist Nonsens und erst recht nicht auf diesen Fall anwendbar. Ich werde es an einem Beispiel erläutern. Wir wissen, daß es in der Strafrechtspflege Dinge gibt, die es nicht geben soll, nicht geben darf. Ein kleiner Dieb wird, was es nicht geben soll, psychiatrisch ganz gewiß nicht so gründlich durchleuchtet wie ein Kapitaltäter – gar ein Mörder. Aber gibt es nicht menschliche Grenzen, Grenzen von Vollzugsmöglichkeiten und geistigen Kapazitäten? Es gibt einfach mehr Diebe und Gauner als Mörder, muß man erkennen, und es ist nur natürlich, daß Mörder schneller und genauer unter das Seziermesser der Wissenschaft kommen als der nicht einmal einschlägig vorbestrafte Taschendieb. Das ist eine Tatsache, und es wäre Unfug, sie zu leugnen!« Er nimmt in jede Hand ein Buch und pendelt die Hände aus wie eine Waage. »Ich stelle dem verehrten Kollegen Gruhle den nicht minder verehrten Kollegen Rauch gegenüber…« Er legt das eine Buch weg und schlägt das andere auf einer schon fixierten Stelle auf: »Man soll sich klar sein, schreibt Rauch, daß in der Verhandlung ein ganz anderes Bild der Sachlage entstehen kann und daß sich das endgültig in der Verhandlung zu
erstattende mündliche Gutachten dieser neuen Situation anpassen muß…« Er legt auch das zweite Buch weg. »Rauch sagt allerdings auch, daß man mit der Exkulpierung von Psychopathen leicht ins Uferlose gerät!« Aber hier geht es schließlich nicht um eine Psychopathie. »Hier geht es«, sagt Kemm mit erhobener Stimme, »nicht um eine Psychopathie. Sondern die Alternative heißt laienhaft ebenso wie wissenschaftlich präzise: krank oder gesund. Gesund oder Psychose. Gesund oder geisteskrank!« Trimmel ist fasziniert. Er hat selten so gutes Theater gesehen. Die Gegnerschaft zwischen dem Hauptdarsteller und ihm ist längst erloschen; die wenigen, die überhaupt darüber Bescheid wußten, haben es nur noch nicht begriffen. Was besagt es schon, daß dieser weiße Richter sich bestimmt noch hin und wieder gedanklich eine verbale Entgleisung leisten dürfte, genau wie er selbst, der Polizist? Er fällt einfach um, dieser weiße Richter, zur Zeit im grauen Flanell, und niemand merkt es. Eins zu null für Kemm. Dies ist kein Stierkampf mehr, sondern eher ein Fall von bedingungslosem Tierschutz. Trimmel erschrickt heftig, als der große Könner, der Meister der freien Rede sich unvermittelt zum Publikum wendet und ihn – ausgerechnet ihn, Trimmel – mit erhobenem Zeigefinger anspricht. »Diesem Mann«, sagt Kemm, »verdanken wir, wie wir gehört haben, tiefe Einsichten in das Wesen der Frau, über die das Gericht zu urteilen hat…« Er dreht sich natürlich wieder um, bevor das Gericht ihn darauf aufmerksam machen muß, daß der Vorsitzende anzusprechen ist und nicht der abgetakelte Zeuge. »Diesem Mann«, fährt Kemm fort, und jeder weiß, daß er immer noch Trimmel meint, »verdanken wir möglicherweise die Aufdeckung der Mechanismen und Ereignisse dieses
Falles, die schicksalhaft ablaufen mußten und über die trotzdem von sterblichen Menschen gerichtet werden muß!« Seine Stimme flüstert nur noch, aber wie immer trägt sie auch beim Flüstern: »Unterstellt, das Gericht würde in diesem konkreten Fall den Beweisen der Kriminalpolizei folgen. Unterstellt, es würde einen Mord bejahen, eine Eliminationstötung, den Beseitigungsmord an einem aus welchen Gründen auch immer unerwünschten Partner. Würde sich ein solcher Tatbestand noch mit den wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen einer geistigen Erkrankung in Einklang bringen lassen?« Er beantwortet die Frage selbst. »Ja, ja und nochmals ja!« Abwechselnd laut, dann wieder flüsternd. Er läßt sich fortreißen vom Strom der eigenen Rede. Er spürt nicht die Unruhe, die der Katastrophe in der Anklagebank vorausgeht. »Der menschliche Intellekt und die charakterliche Entwicklung eines Menschen sind zwei grundverschiedene Dinge. Ein Mensch könnte charakterlich defekt sein, psychotisch, schizophren, wahnhaft krank – und trotzdem einen intellektuellen Leistungsprozeß absolvieren, der von der Erfindung eines neuen mathematischen Systems bis zur Planung eines ausgeklügelten Mordes reicht. Wie ich aus den Akten des Falles Beerenberg entnehmen konnte, hat bereits der Amtsarzt…« – er blättert in den wenigen Papieren, die er vor sich liegen hat – »… ein gewisser Dr. Jensen, den ich hilfsweise als sachverständigen Zeugen bitten würde, wenn ich hier als Verteidiger fungierte, hat also bereits Dr. Jensen die Grenze zwischen der krankhaften Entwicklung auf dem Boden charakterlicher Eigenheiten und dem nicht zwangsläufig damit verbundenen geistigen Defekt abgesteckt…«
Ein gellender Schrei aus der Anklagebank: »Ich bin nicht verrückt – das haben Sie mir selbst gesagt!« Die Katastrophe. Sie mußte kommen. »Sie sind ein Lügner! Sie bringen mich raus, haben Sie gesagt! Sie haben mit mir geschlafen…« Brigitta Beerenberg bricht zusammen, schreiend und schluchzend. Polizisten und Wachtmeister bemühen sich um Brigitta, der Verteidiger beugt sich über die Barriere und schiebt sie beiseite, nimmt Brigitta in den Arm. Und der Vorsitzende hämmert auf den Tisch: »Bitte sofort den Saal räumen! Ein Arzt, Wachtmeister! Sofort ein Arzt…!« Der Arzt Professor Kemm steht wie versteinert vor seinen Papieren. Sie haben einen Arzt aus einer gänzlich anderen Verhandlung irgendwo im Strafjustizgebäude herausgeholt, die Angeklagte Brigitta Beerenberg hinter verschlossenen Türen verarztet und eine Zwangspause eingelegt. Ruhe und Ordnung sind wiederhergestellt. Nach einer halben Stunde tritt das Gericht wieder zusammen. »Herr Professor Kemm, bitte…« Kemm tritt bleich und gefaßt vor. »Ich möchte das Gericht bitten, eine Erklärung abgeben zu dürfen…!« »Natürlich!« sagt Dr. Krahnefeld. »Es sind seitens der Angeklagten schwere Beschuldigungen gegen mich erhoben worden«, sagt Kemm, »sie gipfeln darin, ich hätte sie unter Ausnutzung meiner ärztlichen Position zu geschlechtlichen Zwecken mißbraucht. Ich stelle fest, daß ich diese Beschuldigungen in aller Form zurückweise. Dennoch stelle ich den Antrag, mich selbst als Gutachter für befangen zu erklären und abzulehnen!« Dr. Krahnefeld belehrt ihn. »Es steht Ihnen nach der Strafprozeßordnung nicht zu, in diesem Verfahren einen Antrag zu stellen. Trotzdem wird das Gericht über die Situation beraten…«
Schon wieder Pause. Aber nur fünf Minuten. Die Reporterbänke haben sich gelichtet, solche Schlagzeilen gehen nicht alle Tage über den Tisch. Der Vorsitzende sagt: »Das Gericht ist einstimmig zu der Überzeugung gekommen, daß die Anschuldigungen der Angeklagten gegen den Gutachter Professor Dr. Kemm ihrer momentanen geistigen Verwirrung entspringen und völlig unbegründet sind. Das Gericht vermag deshalb der Bitte von Herrn Professor Kemm, ihn von seiner Gutachtertätigkeit zu entbinden, nicht zu entsprechen. Es bittet Herrn Professor Kemm, in seinem Gutachten fortzufahren. Auf ärztliches Anraten und mit Einverständnis der Verteidigung wird die Angeklagte zunächst der weiteren Verhandlung fernbleiben…« Lügen kann man auch für eine gute Sache. Kemm, immer noch bleich, aber wieder souverän wie zuvor, setzt sein Gutachten fort und kommt nach einer knappen Stunde zum Schluß. Mit rhetorischer Fertigkeit weckt der große Meister die verstörten kleinen Geister auf. »Lassen Sie uns jetzt Fraktur reden und nicht Latein. Sie alle haben erlebt, was geschehen ist. Ich selbst bin erschüttert, ich möchte trotzdem differenzieren: Die Beobachtungen, die ich jetzt hier in der Hauptverhandlung machen konnte, die neuen Ergebnisse der Beweisaufnahme, die Reaktion der Frau, die mit den Geschehnissen ihrer Ehe und der Tatnacht nochmals konfrontiert worden ist – alle diese Faktoren lassen mich nunmehr zu einer anderen Überzeugung kommen, als ich sie in meinem schriftlichen Gutachten zum Ausdruck gebracht habe. Ich habe im Einvernehmen mit meinen Ärzten und Psychologen schon immer gewisse Zweifel gehegt, die jetzt erst vollends zum Tragen kommen. Ich stelle deshalb nunmehr fest, daß Frau Brigitta Beerenberg nicht nur vermindert schuldfähig war, als sie die Waffe gegen ihren Mann erhob, sondern schuldunfähig. Ich kann nicht umhin, Frau Beerenberg
den vollen Schutz des Paragraphen 20 Strafgesetzbuch zuzubilligen…« Totenstille im Saal, von einem Hustenanfall des seit Wochen vergrippten Trimmel unterbrochen. Wie sagte Rauch, der von Kemm mehrfach zitierte deutsche Psychiater? »Es wird immer eine Ausnahme bleiben, daß ein Richter ein Gutachten ablehnt oder sich über die Schlußfolgerungen hinwegsetzt…« Er hat recht. »Im Namen des Volkes«, verkündet Landgerichtsdirektor Dr. Krahnefeld ein paar Tage später, »in dem Verfahren wegen Mordes zum Nachteil von Dr. Peter Beerenberg hat das Schwurgericht bei dem Landgericht Hamburg für Recht erkannt: Die Angeklagte Brigitta Beerenberg, Ehefrau des Verstorbenen, ist durch das Ergebnis der Hauptverhandlung des Mordes gemäß Paragraph 211 StGB überführt worden. Sie kann jedoch nicht mit der dafür vorgesehenen Strafe belegt werden, da sie die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen hat. Gemäß Paragraph 20 StGB ist sie deshalb freizusprechen. Allerdings ist gemäß Paragraph 42 StGB auf unbestimmte Zeit, mindestens jedoch auf fünf Jahre, ihre Unterbringung anzuordnen, und zwar in das zur Zeit von Professor Dr. Kemm ärztlich geleitete psychiatrische Krankenhaus Rietbrook…« Gründe, Tatablauf, rechtliche Würdigung. »Die Sitzung ist damit geschlossen!«
Vielleicht ist Lorff der einzige, der in dieser Stunde begreift, wie es um die Seele seines Meisters bestellt ist. Trimmel zählt nicht zu diesem Kreis, der sich wieder um Kemm geschart hat, er hat dessen Kreise nur gestört.
»Chef«, sagt Lorff nach der Verhandlung, »soll ich Sie nach Hause fahren?« Kemm ist ihm dankbar, lehnt aber trotzdem ab. »Danke, mein Lieber, ich hab’ meinen Wagen unten. Aber wirklich, vielen Dank!« Er hat in den letzten Tagen, während der leidenschaftlichen Plädoyers der Verteidigung und der sachlichen Ausführungen der Staatsanwaltschaft, endgültig begriffen, daß er Brigitta für immer verloren hat. Dr. Loissen hat nochmals versucht, das Gebäude der Anklage durch die schweren Blutergüsse am Körper Brigittas zum Einsturz zu bringen. Aber Portheine hat sachlich gekontert: Niemand bestreite einen möglichen Kampf zwischen den Eheleuten vor der Tötung. Man könne sogar annehmen, daß dieser Kampf von Frau Beerenberg provoziert sei, um ihr so kunstvolles, langfristig gebautes Alibi zu krönen. Hätte es Kemm geholfen, wenn Dr. Loissen den Kampf um seine Mandantin gewonnen hätte? Kemm kennt die Antwort. Sie heißt nein, dreifach nein. Er wird Brigitta mindestens fünf Jahre um sich haben. Fünf Sommer, fünf Herbste, fünf Winter. Aber auch nicht einen einzigen Frühling. Denn er wird sie nie mehr lieben dürfen, aus drei Gründen nicht. Das darf man nicht in der Klinik. Das darf man nicht mit Geisteskranken. Und das würde Brigitta niemals mehr zulassen; eher würde sie ihn anspucken. Sie haßt ihn, denn sie fühlt sich verraten. Sie fühlt sich gesund; zugegeben, er hat es ihr selbst gesagt. Sie hat es gehört, daß er abgestritten hat, sie jemals geliebt zu haben; Dr. Loissen hat es ihr erzählt. Sie wird niemals einsehen, daß diese Lüge das einzige Mittel war, sie noch vor dem drohenden Lebenslänglich zu retten.
Wenn sie Glück hat, ist sie mit fünfunddreißig wieder draußen. Kemm bereitet dann die Feier seiner Emeritierung vor. Es wird ganz bestimmt ein rauschendes Fest… Männer weinen nicht. Kemms Augen sind trotzdem feucht. Und auf dem Weg nach Rietbrook fällt ihm der erste Schnee dieses Winters auf den Mercedes. Er fällt auf Gerechte und Ungerechte. Auch Trimmel muß sich auf dem Weg zur Schönen Aussicht mit dem Scheibenwischer seines alten Fords gegen die dicken Flocken wehren.
13
Der Fall ist zu Ende. Ein Ende mit Schnee und durchaus auch mit Schrecken. Noch vor Weihnachten zieht Gaby Montag aus der Schönen Aussicht aus, das Haus gerät unter die treuhänderische Vermögensverwaltung. Von nun an ist die Wohnung Trimmels in Hamburg-Hamm immer blitzsauber, ohne daß sich daraus bereits endgültige Schlüsse ziehen lassen. »Du wirst allmählich fett!« stellt Gaby Anfang Januar sachlich fest. »Ich bin nicht mehr der Jüngste!« Sie friert längst nicht mehr, wenn er sie auszieht, so, wie sie doch noch gefroren hatte, als er schließlich ernst machte. Man gewöhnt sich an alles, sogar an Trimmel. Er macht es ihr sogar von Tag zu Tag leichter. Neuerdings ist er nach Feierabend viel umgänglicher. Vielleicht deshalb, weil er neben Bier, Korn, Cognac und anderen Fertigkonserven weitere Annehmlichkeiten des Lebens kennengelernt hat. Das Gefühl beispielsweise, daß die Heizung schon angestellt ist, wenn man die Treppe heraufkommt. So hat der alte Wolf, der so alt noch gar nicht ist, überraschend eine Gefährtin gefunden. Die ›Maschine zur Aufklärung von Verbrechen aller Art‹ stellt abends ihre Produktion immer häufiger pünktlich ein. Andere Indizien gibt es die Menge: Trimmel hat sich überreden lassen, sein Badezimmer streichen zu lassen. Er hat mit seinem Assistenten Höffgen offiziell Brüderschaft getrunken. Er ist nochmals in den Laden mit der lauten Musik und dem Namen Young Men’s gegangen und hat außer Schlipsen auch noch ein paar
bunte Hemden gekauft; Button-down-Hemden trug er schon immer, aber sie waren meist schwarz oder dunkel. Und er liest endlich mal wieder Bücher. Er ist sozusagen auf dem Wege der Besserung. »Ich habe ein paar Urlaubsprospekte mitgebracht«, sagt Gabriele Montag eines Tages, »hast du nicht gesagt, du willst mal zwei Wochen Urlaub machen?« »Eine!« sagt Trimmel. Knurren kann er immer noch. »Zwei. Darunter gibt’s nichts…« »Laß sehen…« Marokko. Kanarische Inseln. Die Bahamas und die übrige Karibik. Braune Mädchen winken, verliebte Paare küssen sich im Sand. Per Flugzeug, zu Schiff und an Ort und Stelle zu Fuß. Zu Schiff, ist das nichts? Sonne liebt Trimmel über alles, vor allem im Winter. Und Urlaub steht ihm noch reichlich zu. Er entscheidet sich überraschend, tatsächlich zwei, wenn nicht drei Wochen wegzufahren. Er weiß sogar, wer sie wenigstens teilweise finanziert: Max Conradi aus Bremen. Der schuldet ihm nämlich immer noch den Gegenwert mehrerer Hämatome und Prellungen und hat in der Touristikbranche beste Verbindungen. Korruption? Immer diese Fremdwörter!
Vorher fährt Trimmel noch zu einer Kriminologentagung nach Mainz. Man muß sich weiterbilden, vielleicht reicht’s doch noch zum Kriminalratslehrgang. Und in Mainz trifft er Kemm den Großen – das heißt er sieht ihn von weitem, er legt keinen Wert auf nähere Kontakte, und Kemm sicher auch nicht. Kemm scherzt und lacht in der Wandelhalle des Auditoriums mit Deutschlands führenden Experten für kriminelle
Verhaltensweisen und legt hin und wieder väterlich den Arm um eine junge, attraktive Dame mit langem dunklen Haar, das hinten in einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist und von einer goldenen Spange gehalten wird. Sie ist schöner als Gaby, denkt Trimmel objektiv, aber sichtlich ein Blaustrumpf. Sie ist, wie Trimmel ebenso neugierig wie diskret in Erfahrung bringt, eine Doktorandin aus Marburg, die sich unlängst hilfesuchend an den Meister gewandt hat. Sie schreibt eine Arbeit über den Eifersuchtswahn und wollte sich neben dem Studium von Karl Jaspers, dem Unerreichbaren, dem Göttlichen, auch der Hilfe eines Praktikers versichern. Des besten sterblichen, aber wieder auch lebendigen Praktikers im deutschsprachigen Raum… Sie wohnt in Kemms Nobelhotel auf derselben Etage. Aber damit endet die Neugier. Trimmel stapft durch den Schnee zu seinem sehr viel preiswerteren Hotel; in Kürze wird er durch den warmen kanarischen Sand stapfen. »Geben Sie mir ein Gespräch nach Hamburg!« sagt er dem Portier. »Die Nummer, bitte?« Da muß er tatsächlich einen Augenblick überlegen. Aber bis vor kurzem hatte er ja auch keine Veranlassung, bei sich anzurufen.
Kemm indessen hat das allerletzte Wort in dieser Angelegenheit. Eines Tages, wieder zurück in Hamburg, sagt die Marburger Doktorandin mit Verschwörermiene: »Ich glaube, ich habe vorhin beim Herkommen eine Pflegerin mit Brigitta Beerenberg Spazierengehen sehen!« »Möglich…«, meint Kemm, scheinbar uninteressiert.
»Der Fall hat mich seinerzeit wahnsinnig interessiert«, schwärmt sie. »Traumhaft, an so was mitzuwirken…« »Die Sache hatte ihre Mucken«, sagt Kemm, halb geschmeichelt, halb schmerzlich berührt, »ich denke manchmal darüber nach, ob ich ihr besser nie begegnet wäre…« »Ernsthaft?« fragt sie verwundert. »Ach, weißt du, Kindchen«, meint er verhangen, »das wirst du noch lernen müssen. Zum Schwierigsten in unserer Wissenschaft gehört die Problematik aller Feststellungen im Meer des sich ewig Wandelnden, wie der berühmte Kollege Bürger-Prinz sagte. Immer wieder tappen wir in die Nacht, in die großen Unfaßbarkeiten. Das alles rechnet unter die große Nummer Schicksal!« Da weiß sie effektiv nicht mehr, ob sie lachen oder weinen soll.