KLEINE
Gleb
JUGENDREIHE
Golubew
Der rätselhafte Fund
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN
1963
14. J a h r g a ...
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KLEINE
Gleb
JUGENDREIHE
Golubew
Der rätselhafte Fund
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN
1963
14. J a h r g a n g , 1. A u g u s t h e f t
Originaltitel:
Нo.П'длм
негра
Deutsch v o n Erna L i n d e Gekürzte Fassung Umschlag: Werner Ruhner
1. A u l l a g e V e r l a g K u l t u r u n d Fortschritt. B e r l i n W 8, T a u b e n s t r a ß e 10 A l l e R e c h t e v o r b e h a l t e n • L i z e n z - N r . : 3-285 69 63 S a u und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden
Bekanntschaft
unter
Wasser
A l s ich im vorigen Sommer aus der A r m e e entlassen wurde, wußte ich für den ersten Augenblick nicht, was ich beginnen sollte, denn ich hatte keine bestimmten Vorstellungen von meinem Lebensweg. Nach Beendigung der Schulzeit war ich erst einmal in das Institut für Kinematographie eingetreten. Warum, das wußte ich selbst nicht. Eine Leuchte war ich dort nicht, und so wechselte ich in eine Fabrik über, wo ich als Elektrikerlehrling arbeitete. Ein Jahr später erhielt ich meine Einberufung zur A r m e e . Nach meiner Dienstzeit war ich auch nicht schlauer geworden. Was für einen Beruf sollte ich bloß ergreifen? Da ich mich nicht entscheiden konnte, fuhr ich erst einmal zu meinem Onkel nach Kertsch. Ich wollte mich dort erholen, ein wenig in der Gegend umherwandern und vor allen Dingen baden. „Du bist mir schon ein Nichtsnutz, Kolja", meinte der Onkel mißbilligend, als ich ohne Einladung bei ihm auftauchte. „Jeder Mensch hat ein Lebensziel, nur du nicht." G e w i ß hatte mein Onkel recht, aber wo sollte, ich's hernehmen? Natürlich glaubte er, daß er selbst richtig lebte. Er arbeitete auf der Wetterwarte in Kertsch, stellte Wettervorhersagen auf, die selten eintrafen, und nach der Arbeit wühlte er in seinem Gärtchen. Oder er schob die Brille auf die Stirn und studierte in dicken Wälzern irgendwelche verrückten Tabellen. Bald wurde es mir zu langweilig bei meinem Onkel, und eines schönen Morgens machte ich mich auf und davon. Mit einem Kutter fuhr ich nach Tusla. Und hier nahm mein großes Abenteuer seinen Anfang. Auf der Insel stehen nur ein paar kleine Häuser, in ihnen wohnen während der Fischfangsaison die Fischer. Was ich zum Essen brauchte, konnte ich jederzeit v o n ihnen erhalten. Ich übernachtete unter freiem Himmel auf dem tagsüber erwärmten Sand. Jeden Morgen brach ich mit meiner selbstgebastelten Harpune zur Fischjagd auf. 3
Eines Tages — ich war gerade getaucht — hörte ich unter Wasser ein lautes Klopfen. Nach kurzer Pause wurde es fortgesetzt: drei kurze Schläge hintereinander, dann eine Pause, dann vier lange Schläge. Das war doch das Morsealphabet! Punkt-Strich-Strich, Pause, Punkt-Punkt, Pause, StrichStrich . . . „Schwimme zu dir", hieß der ganze Satz. ..Punkt-Punkt, Strich-Strich-Strich-Strich, Punkt-StrichStrich, Punkt-Strich, Punkt-Strich-Punkt, Strich, Punkt", klopfte es plötzlich dicht über meinem Ohr: „Ich warte." Wer mochte sich hier unter Wasser unterhalten? Ich sah nichts, das Wasser in der Straße von Kertsch ist so trüb, daß man zeitweise nicht mal die Fingerspitzen an der ausgestreckten Hand erkennen kann. Ich tauchte nach oben und schaute mich um. Unweit von mir stiegen Luftbläschen auf. Ich glitt wieder in die Tiefe, fast bis zum Grund hinab, und entdeckte plötzlich vor mir einen großen Schatten. Neugierig' schwamm ich darauf zu und erkannte die Umrisse eines menschlichen Körpers. Aber erst ganz in der Nähe sah ich, daß es ein Mädchen war. Sie trug nicht nur eine Tauchmaske wie ich, sondern hatte ein Preßluftgerät auf dem Rücken. Sie brauchte also nicht zur Oberfläche zu schwimmen, um Luft zu holen. Die Unbekannte drehte sich mir zu und winkte. Doch als ich dicht heranschwamm, weil ich dachte, sie brauche Hilfe, fuhr sie zurück und hob abwehrend die Hand. Ich wurde aus ihrem Verhalten nicht schlau. Da jedoch die Luft in meinen Lungen zu Ende war, mußte ich auftauchen. Aber ich ließ mich gleich wieder nach unten sinken. Mit Leichtigkeit fand ich das Mädchen wieder. Ich brauchte mich nur nach den Luftbläschen zu orientieren, die wie eine Kette aus ihrem Atemgerät stiegen. Sie war nicht mehr allein. Neben ihr sah ich den zweiten Taucher, einen muskulösen, braungebrannten jungen Mann in einer blauen Badehose. Beide schauten zu mir, tauschten einen Blick miteinander und schwammen langsam dicht über den' Grund davon. Sie beachteten mich nicht weiter, sondern schienen irgend etwas auf dem Meeresgründe zu suchen. Das interessierte mich, und ich folgte ihnen. Hatten sie etwas verloren? Suchten sie einen angeschossenen Fisch? Aber ich sah keine Harpune in ihren Händen. Vielleicht suchten sie gar 4
einen Ertrunkenen, und es war meine Pflicht, ihnen dabei zu helfen. ' Ohne Sauerstoffgerät mußte ich ab und zu nach oben steigen, aber es war hier kaum drei Meter tief, und die beiden schwammen langsam und starrten dabei wie gebannt auf den schlammigen Grund, so daß ich sie jedesmal leicht einholen konnte. Mein Verhalten schien ihnen nicht zu passen. Sie warteten,' bis ich herangeschwommen war. Der Bursche sah wütend aus. aber was konnte er mir schon antun? Für alle Fälle schob ich herausfordernd meine Harpune vor. Da neigte er rasch den Kopf, als wolle er mich anrennen und . . . prustete mir eine ganze Wolke Luftbläschen mitten ins Gesicht. Diese Frechheit traf mich so unerwartet, daß ich fast erstickt wäre und wie eine Kugel nach oben schoß. Während ich Luft holte, gelang es ihnen, ziemlich weit wegzuschwimmen. Außer mir vor Wut, jagte ich hinter ihnen her. Wer weiß, womit diese Geschichte geendet hätte, wenn wir nicht plötzlich auf eine Sandbank geraten wären. Das Wasser ging uns hier bis zur Brust. „Bist du verrückt?" empfing mich der junge Bursche wutschnaubend und schob die Maske auf die Stirn. „Was hängst du dich uns an?" „Und ihr? Was sucht ihr hier eigentlich?" fragte ich meinerseits aufgebracht. „Wer seid ihr überhaupt? Zeigen Sie Ihre Papiere!" „Ich werde dir gleich unsere Papiere zeigen!" gab er zur Antwort und holte zum Schlag aus. Aber das Mädchen — sie hatte noch nicht die Maske abgenommen, sondern nur das Mundstück herausgezogen — packte seinen Arm. „Laß sein, Michail! Wir müssen ihm nur alles erklären." Sie wandte sich an mich und begann auf mich einzureden, als spräche sie mit einem kleinen dummen Jungen. „Weißt du. wir sind nämlich Archäologen, eine ganze Expedition. Wir suchen gesunkene altgriechische Städte, die vor zweitausend Jahren hier an der Küste gestanden haben . . . Und Sie stören uns bei der Arbeil." Dieser lehrmeisterhafte Ton paßte mir ganz und gar nicht. Ich wollte mich nicht so schnell geschlagen geben und wiederholte bockig: „Dennoch müssen Sie irgendwelche Papiere haben!" 5
„Bist du vielleicht ein Milizmann?'' fragte der Bursche spöttisch.Das Mädchen faßte ihn wieder beim Arm und wandte sich besänftigend an mich. „Wo sollen denn Taucher im Badeanzug ihre Papiere stecken haben? Wenn Sie mir nicht glauben, so kommen Sie doch abends zu uns ins Lager — da liegt es, hinter dem Hügel." „Wozu redest du mit ihm?" sagte der junge Bursche abfällig. Er zog sich die Maske übers Gesicht. „Komm, es ist ohnehin bald Mittag." Das Mädchen schüttelte mir die Hand, und beide verschwanden wieder im Wasser. Diesmal blieb ich zurück. Den ganzen Tag ging mir diese Begegnung nicht aus dem Kopf. Ich erinnerte mich dunkel, früher einmal in einer Zeitschrift von Unterwasserarchäologen gelesen zu haben. Nach alten Städten zu suchen, das fand ich plötzlich viel interessanter als hinter erschrockenen Fischen herzujagen. Vielleicht konnte ich zu ihrem Chef gehen und darum bitten, daß er mich in die Expedition aufnahm? Ich war kein schlechter Taucher . . . Am nächsten Morgen, als ich meinen Brotkanten mit Wurst heruntergeschlungen hatte, legte ich meine paar Habseligkeiten in den Rucksack und machte mich auf den Weg ins Lager. Schon von weitem sah ich zwei große orangefarbene Zelte dicht am Wasser. Etwas seitlich von ihnen, unter einem Segeltuchdach, stand ein großer Tisch aus rohen Brettern tief im Sand, daneben ein ebenfalls selbstgefertigter Sommerherd. Auf einer hohen Stange neben einem der Zelte zuckte schlaff ein verschossener Wimpel. Als ich näher kam, rollte mir plötzlich wie ein Knäuel Wolle ein rasend bellendes Hündchen vor die Füße. „Scharik, Platz!" klang eine träge Stimme aus einem der Zelte. Die Zelttür wurde zurückgeworfen und der wuschlige Kopf meines gestrigen Widersachers guckte heraus. Eine Weile starrte er mich ohne eine Spur von Erkennen an, dann verfinsterte sich sein Gesicht. „Was willst du denn hier?" fragte er drohend. „Die Papiere prüfen?" „Ich möchte den Expeditionsleiter sprechen", entgegnete ich ruhig, um Streit zu vermeiden. „Willst dich wohl beschweren, was?" „So wichtig bist du mir nicht, daß ich mir deinetwegen einen 6
so weiten Weg mache. Ich möchte rein dienstlich mit dem Leiter sprechen." „Ich werde dir gleich den Leiter zeigen." Er kroch aus dem Zelt heraus und schrie plötzlich: „Scharik, faß ihn!" Das Hündchen, das fünf Schritte von mir entfernt saß. kläffte unsicher, wedelte aber gleich darauf wie entschuldigend mit dem Stummelschwänzchen. Es war bei weitem gutmütiger als sein Herr. Ich machte kehrt, gab mich dabei aber lässig und selbstsicher, um zu zeigen, daß ich keineswegs den Rückzug antrat. Ungefähr zwanzig Meter entfernt, ließ ich mich dicht am Wasser nieder. Dieser Kerl sollte merken, daß ich bis in alle Ewigkeit auf seinen Chef zu warten gedachte. Und ich mußte wahrhaftig lange warten. Erst saß ich eine Weile, dann legte ich mich hin. Später zog ich das Hemd aus, ja ich badete sogar einmal, wenn auch dicht am Ufer, um meinen Feind im Auge zu behalten. Aber der Bursche ließ mich in Ruhe. Er machte Feuer im Herd, schälte Kartoffeln und kochte das Mittagessen, wobei er mitunter zu mir herübersah. Anscheinend hatte er heute „Stubendienst". Kein Wunder, daß er so schlechter Laune war! Ich saß in der prallen Sonne und ärgerte mich ebenfalls. Es wurde schon Abend, als endlich vom Meer her das ferne Brummen eines Motors ertönte. Es kam näher und näher, und da sah ich auch schon einen kleinen Kutter auf das Ufer zurasen. Scharik begrüßte ihn mit fröhlichem Gebell. Der Motor wurde abgestellt, und der Kulter stieß sanft an den Steg. Zwei Burschen in meinem Alter, braun wie die Neger, machten ihn geschickt mit einem Tau fest. Außer ihnen befanden sich noch zwei junge Mädchen und ein alter Mann mit einem grauen Spitzbärtchen an Bord. Einer der jungen Männer half dem Alten auf den Anlegesteg. Gleich danach sprangen lachend die Mädchen von Bord und schauten neugierig zu mir herüber. „Ah! Da ist doch unser hartnäckiger Verfolger!" rief die Große mit den blonden Haaren. Jetzt erst erkannte ich meine Unterwasserbekanntschaft. Ohne Maske gefiel sie mir weit besser. Ihre lebhafte schwarzbraune Freundin ergriff ihre Hand und flüsterte so laut, daß es alle ringsum hören konnten: „Wer ist das, Swetlana? Wo habt ihr euch kennengelernt?"
„Unter Wasser", antwortete die Blonde und sprang auf den Sand. Sie reichte mir die Hand. „Nun wollen wir uns richtig miteinander bekannt machen. Ich heiße Swetlana." „Nikolai", entgegnete ich mürrisch. „Nikolai Kosyrjow". Sie drückte meine Hand so'fest wie ein Mann. Ihre grünlich schimmernden Augen lachten die ganze Zeit, und ich wich ihnen aus. „Ich möchte den Leiter der Expedition sprechen", knurrte ich. „Das bin ich", rief der alte Mann und reckte angriffslustig sein Bärtchen vor. Neugierig schaute er mich an. „Ich bin ganz Ohr, junger Mann." Das war eine Überraschung für mich. Hatte ich mir doch fest eingebildet, der Leiter einer Unterwasserexpedition müsse ein Hüne, ein vor Gesundheit strotzender Mann sein. Ein Marinekapitän beispielsweise. Mit ihm hätte ich mich leicht verständigen können. So aber stand ich da und schwieg verlegen. Swetlana spöttelte: „Unter Wasser waren Sie aber nicht so schüchtern." Alle lachten. Da kam mir der Expeditionsleiter zu Hilfe. „Wenn ich recht vermute, wollen Sie sich unserer Expedition anschließen?" Er warf einen Blick auf den Rucksack zu meinen Füßen. „Ja", entgegnete ich erfreut. „Und was sind Sie? Archäologe?" „Nein. Ich war . . . in der Armee." „Ausgezeichnet!" rief der alte Mann erfreut. Für alles Militärische hatte der Professor viel übrig. Er war nur kurze Zeit in der Armee gewesen, und es lag schon lange zurück, im ersten Weltkrieg. Dennoch trug er bis zum heutigen Tage bei seinen Ausgrabungen Militärmütze, Stiefel und Reithosen, und er liebte es, wenn man ihm in militärischem Ton, knapp und klar, antwortete. Sogar in seiner Wissenschaft wandelte er auf „Kriegspfaden", er hatte einige äußerst interessante Arbeiten über die Bewaffnung und Taktik der alten Griechen verfaßt. Das alles erfuhr ich natürlich erst später. Im Augenblick freute ich mich nur, daß mein Dienst bei der Armee sich als eine gute Empfehlung erwies. „Und wo haben Sie gedient?" erkundigte sich der Professor weiter. 8
„Bei der Marine", entgegnete ich. Das stimmte nicht ganz. Ich war nur beim Küstenschutz gewesen. Aber was tat das schon, es war ja am Meer. „Großartig! Und Sie verstehen sich aufs Tauchen mit dem Preßluftgerät?" „Jawohl!" „Und wie gut er schwimmen kann!" mischte sich Swetlana verschmitzt lächelnd ein. „Entschuldigen Sie. Ihre Papiere haben Sie doch wohl bei sich?" fragte der Professor. Swetlana prustete vor Lachen. Er schaute sie verwundert an. „Was ist denn?" „Ach nur so, Wassili Pawlowitsch", antwortete sie und zwinkerte mir zu. „Sie wissen ja, daß ich bei jeder Kleinigkeit lache." Mit puterrotem Gesicht holte ich meine Papiere aus dem Rucksack und reichte sie dem Professor. Er sah sie aufmerksam durch. Währenddessen starrte ich auf meine Füße, um den spöttischen Blicken Swetlanas zu entgehen. „In Ordnung." Der Professor nickte beifällig und gab mir meine Ausweise zurück". „Ich werde Sie aufnehmen. Fahren Sie morgen nach Kertsch zur Ärztekommission." Ich wollte einwenden, daß ich kerngesund sei. aber er hob den Finger, schaute mich über seine Brillengläser streng an und sagte: „Ordnung muß sein. Sie sind Soldat, Kosyrjow!" Es war zwecklos, ihm zu widersprechen. Die Ärztekommission entdeckte an mir keinen Makel, und am Abend des folgenden Tages traf ich wieder im Lager ein. Alle begrüßten mich wie einen der Ihrigen, nur Michail Aristow machte einige giftige Bemerkungen, die ich jedoch überhörte. Die übrigen jungen Leute fand ich recht nett. Ein hochaufgeschossener, ungelenker Bursche hieß Pawlik Borsunow. Mit ihm freundete ich mich schnell an. Er erwies sich als prächtiger Kamerad, war zurückhaltend und gutmütig. Wenn er sprach, geriet er leicht in Eifer und fuchtelte wie wild mit seinen langen Armen umher. Bisweilen machten wir uns darüber lustig, aber er nahm es nicht übel. Der andere junge Mann hieß Boris Smirnow. er erregte sich häutig über Kleinigkeiten, obwohl er schwerfällig und wortkarg war. ja sogar ein wenig verschlafen wirkte. Swetlana, ihre Freundin NatVscha, Michail und Pawlik stan-
den im vierten Studienjahr. Boris aber, der jüngste, war Fernstudent. Tagsüber arbeitete er als Schlosser in einer Fabrik. Jetzt aber hatte er Urlaub. Am nächsten Tag ließen wir Boris als „Mann vom Dienst" zurück, setzten uns in den Kutter und fuhren die Küste entlang. Bald gab Professor Kratow das Kommando, vor Anker zu gehen, und wir machten uns zum Tauchen fertig. Ich wußte, daß mich Wassili Pawlowitsch heimlich beobachten würde, und zog mich daher in aller Ruhe um. Pawlik half mir. die zwei schweren Stahlllaschen auf dem Rücken festzumachen; der Luftvorrat darin reicht für zwei volle Stunden, im Wasser ist diese Last kaum zu spüren. Dann schnallte ich an den Gürtel eine Metallscheide, in der ein Dolch mit einem Korkgriff steckte; dieser Dolch versinkt nicht im Wasser, sondern steigt nach oben, wenn er einem versehentlich entgleitet. Wozu brauchen wir einen Dolch, dachte ich, es gibt doch keine Haie im Schwarzen Meer. Um das linke Handgelenk band ich noch eine wasserdichte Uhr und um das rechte einen extra kleinen Kompaß. Auf Gewichte verzichteten wir, weil das Wasser hier nicht tief war. Nachdem ich meine Füße in die Flossen gezwängt hatte, setzte ich mir die Maske auf. Jetzt war ich bereit. Unsere Aufgabe war einfach. Wir sollten in einiger Entfernung voneinander eine bestimmte Strecke dicht über dem Grund entlangschwimmen und auf Ziegelstücke, behauene Steine oder Scherben altertümlicher Tongefäße achten. Wir ließen uns nacheinander vom Fallreep aus ins Wasser gleiten. Ich tauchte hinter Swetlana und versank rasch in die Tiefe. Sofort packte mich das wohlbekannte aufregende Gefühl der Befreiung von der Erdenschwere. Ich schwebte wie ein Vogel, konnte Purzelbäume schlagen, mit dem Kopf nach unten hängen — die Anziehungskraft der Erde hatte keine Macht mehr über mich. Übrigens war ich fest davon überzeugt, ich würde gleich einen versunkenen alten Tempel oder zumindest die Ruinen eines Palastes entdecken. Aber ich fand nichts, nicht einmal ein Stück Ziegel, obwohl ich so eifrig den Schlamm aufwühlte, daß sich das Wasser rings um mich trübte. Ich schämte mich, mit leeren Händen zurückzukehren. Doch, als ich sah, daß die anderen auch nicht mehr Glück hatten, beruhigte ich mich. 10
An diesem Tage tauchten wir noch dreimal, aber ebenfalls ohne Erfolg. Auch die nächsten Tage fanden wir nichts. Ich hätte gern genauer erfahren, wonach wir eigentlich suchten, aber törichterweise genierte ich mich zu fragen. Insgeheim hoffte ich, aus den Unterhaltungen der anderen die mir mangelnden Kenntnisse zu erwerben. Außerdem wollte ich Bücher lesen, wenn ich nach Kertsch kam. Ich täuschte mich nicht. Abends, am Lagerfeuer, drehten sich alle Gespräche um unser ergebnisloses Suchen, und während ich zuhörte, wurde mir manches versländlich. Vor über zweitausend Jahren lebten auf der Krim Nomaden — Skythen und andere Stämme. Griechische Seeleute fanden den Weg zu der Halbinsel, trieben Handel und errichteten hier später einige ihrer Kolonien. So entstanden an den Küsten des Schwarzen Meeres, das die Griechen Pontos Euxeinos — gastfreundliches Meer — nannten, Olbia neben dem heutigen Nikolajew und Chersonesos. dessen Ruinen unweit von Sewastopol noch erhalten sind, sowie andere Städte. Besonders viele griechische Städte wurden zu beiden Seiten der Straße von Kertsch gegründet. Sie hieß damals auf griechisch Kimmerischer Bosporus. Vor dem drohenden Einfall der Sk> then schlössen sich diese Städtchen zum Bosporanischen Reich zusammen. Die Hauptstadt war Pantikapaton, das heutige Kertsch. Von hier aus führten die Schiffe Getreide. Fische, Pelzwerk und an Ketten gefesselte Sklaven nach Griechenland aus. Das Bosporanische Reich existierte fast tausend Jahre, bis es schließlich dem Ansturm der Nomadenstämme erlag. Die alten Städte wurden zerstört. Jetzt graben die Archäologen sie wieder aus und machen sich nach den Funden ein Bild von dem Leben unserer fernen Vorfahren. , Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Meeresspiegel gehoben, die Ruinen einiger alter Städte ruhen nun auf dem Meeresgrunde. Nach diesen Ruinen suchte Professor Kratow mit seiner Expedition. Ich erfuhr, daß sie hier nicht das erste Jahr arbeiteten. Sie waren bereits auf die Reste der griechischen Stadt Hermonassa gestoßen. Nach einigen Tagen, als ich mich schon ein wenig in der Geschichte dieser Städte auskannte, faßte ich den Mut, eine Frage an unseren Professor zu richten. 11
„Wassili Pawlowitsch. ist denn auf dem Meeresgrund wirklich viel erhalten geblieben? Inzwischen sind doch wer weiß wie viele Jahrhunderle vergangen. Vielleicht hat sich schon alles aufgelöst?" „Wo denkst du hin, mein Lieber!" antwortete er. „Ich möchte sogar behaupten, daß im Meer die Altertümer weit besser erhalten bleiben als auf dem Land. Die Menschen graben in der Erde, bauen Hauser. pflügen die Felder und radieren dabei die Spuren der vergangenen Zeitalter aus. Aber im Meer haben die Ruinen ihre Ruhe. Schnell decken Sand oder Schlamm sie zu, und sie bleiben uns Jahrtausende erhallen." „Ein griechisches Schiff müßten wir finden!" meinte Pawlik nachdenklich und stocherte mit einem knorrigen Stock im Feuer. Ein Schwärm Funken stob in den Nachthimmel. „Apropos. Schiff", fuhr der Professor fort. „Gestern erzählten mir Fischer, daß sie mit dem Netz an einer Stelle hin und wieder echte griechische Amphoren aufgefischt hätten. Bei der Magdalenenbank. wie sie behaupten. In diesen Tagen fährt ein Kutter dorthin zum Auskundschaften von Fischplätzen. Ich werde den Kapitän bitten, sie sollen das Netz ein paarmal über den Grund ziehen." Amphoren auf dem Meeresgrund .. . Vielleicht lag dort wirklich ein altes griechisches Schiff? „Wassili Pawlowitsch . . .", begann Swetlana bittend, und wir alle bestürmten ihn, keine Zeit zu verlieren. Die Fischer würden es ganz bestimmt nicht ablehnen. Kratow war anscheinend selbst der Ansicht, daß den Gerüchten über die Amphoren nachgegangen werden mußte. „Gut", sagte er. „Morgen werde ich in Kertsch vorsprechen. Aber jetzt müssen wir schlafen gehen."
Das Geheimnis der Magdalenenbank In aller Frühe brachen wir schnell das Lager ab und fuhren nach Kertsch. Wir hatten erstaunliches Glück. Schon am nächsten Morgen sollte ein Schirl auf Suche nach Fischplätzen an die kaukasische Küste fahren; es würde die Magdalenenbank passieren und könnte sich dort kurze Zeit aufhalten. Wir begrüßten diese Nachricht, die uns Kratow aus der Fischereiver12
waltung mitbrachte, mit lautem Hurra. Aber er dämpfte unseren Jubel und meinte: „Freut euch nicht zu früh, die Fahrt kann auch völlig negativ ausfallen. Wir dürfen unsere Hauptaufgabe nicht hintanstcllen. Deshalb werde ich nur zwei mitnehmen . . ." Hier hielt er inne und umfaßte unsere Gesichter mit einem nachdenklichen Blick. „Nun. sagen wir Borsunow und . . . Kosyrjow. Alle anderen bitte ich. bis zu unserer Rückkehr sämtliche Wirtschaftsangelegenheiten unserer Expedition zu erledigen. Michail Aristow wird mich vertreten.'' „Du hast Glück!'' brummte der neben mir stehende Michail. „Obgleich mir klar ist, warum dich der Alte mitnimmt. Er fürchtet, du könntest ohne ihn eine Dummheit anstellen." Auf diese Bosheit antwortete ich. daß er sich nur ärgere, weil er nicht mitfahren dürfe. Dafür erlaube ihm aber Professor Kratow. den Vorgesetzten zu spielen. Das 'Schiff war ein gewöhnlicher mittelgroßer Trawler und hieß „Almas". Als wir am nächsten Morgen an Bord gingen, empfing uns die gesamte Besatzung. Der Kapitän trug eine schwarze Schirmmütze mit einem Seeabzeichen, sonst sah er aber gar nicht nach einem Kapitän aus. Er war nicht mehr jung, dick, hatte ein Trikothemd und Segeltuchhosen an. Man konnte ihn eher für einen Buchhalter auf Urlaub halten als für einen Seebären. Ebensowenig seemännisch schauten die übrigen Mitglieder der Besatzung aus. Ich hatte mir eingebildet, sie müßten Uniform tragen. Aber hier zog sich jeder an, wie es ihm geliel — bis auf das Matrosenhemd, das bei jedem aus dem Halsausschnitt lugte. Langsam blieb die Küste in der Ferne zurück. Das Meer leuchtete im Sonnenglanz. Hinter dem Heck über den mit Schaum bedeckten trüben Wogen schössen Möwen dahin. „Dai, dai, dai . . . " , schrien sie mit ihren klagenden, schrillen Stimmen. Nach einer knappen Stunde näherten wir uns der Magdalenenbank. Die Fischer machten das Schleppnetz fertig, es sah wie ein riesiger Sack aus. Dann zogen sie Segeltuchanzüge an. hohe Stiefel und nahmen Gaffhaken in die Hand. Auf ein Kommando des Kapitäns flog das Netz mit einem Schwung über Bord. Das Schiff verringerte merklich die Geschwindigkeit. Nach einer halben Stunde wurde das Netz eingeholt, ein spannender 13
Augenblick selbst für alle erfahrene Fischer. Alles strömte an Deck. Nicht nur uns stockte das Herz in Erwartung eines ungewöhnlichen Fanges. In einem silbernen lebendigen Strom ergossen sich die Fische aufs Deck. Wir wollten näher herantreten, doch ein Anruf des Trawlmeisters hielt uns zurück. Was für Fische es gab! Die prächtigen großen Störe fielen uns zuerst in die Augen. Sie schnellten auf dem nassen Deck hoch und schnappten mit ihren runzligen Greisenmäulern gierig nach Luft. Wie schwere leblose Platten lagen die großen Schollen, als wollten sie die Menschen durch ihre Starre täuschen. Der Trawlmeister zerrte mit dem Gaffhaken einen platten Fisch heraus, der wie eine Scholle mit einem langen Schwanz aussah, und warf ihn über Bord. „Ekelhaftes Biest", erklärte er uns. „Gebe Gott, daß man ihm nicht unter Wasser begegnet. Haltet euch fern, erst muß ich sie hinauswerfen . . ." Er pikte ebenso rasch mit seinem spitzen Haken noch einige dieser Fische an und warf sie ins Meer. Ich konnte sie mir nicht einmal ordentlich ansehen. Als die gefährlichen Fische aussortiert waren, verteilten die Matrosen die übrigen auf verschiedene Körbe. Langsam leerte sich das Deck. Im Netz blieben nur noch Büschel abgerissener Wasserpflanzen mit darin versteckten kleinen Fischen. Wir zogen Segeltuchhandschuhe an und wühlten den Haufen um und um, fanden aber nichts Interessantes für uns. Das Meer hatte uns nicht einmal den Scherben einer Amphora beschert. ..Ärgern Sie sich nicht, das klappt nicht auf Anhieb", tröstete uns der Kapitän. „Wir werden das Netz noch einmal auswerfen." Und wieder glitt das Schleppnetz in die Tiefe. Wassili Pawlowitsch verfolgte das Manöver mit der gleichen Anteilnahme wie vorher, mich aber fesselte es diesmal nicht. Es kam auch wirklich nichts außer zappelnden Fischen und verschiedenartigen Muscheln zutage. Zuerst half ich noch beim Sortieren des Fangs, dann streckte ich mich am Bug aus. Die Arme unter den Kopf verschränkt, starrte ich in den dunkler werdenden Himmel und wünschte, ich könnte bald wieder bei der Insel Tusla tauchen. Erregtes Stimmengewirr brachte mich auf die Beine. Alle umstanden das Netz. Ich rannte hin und drängte mich zu 14
Wassili Pawlowitsch durch. Er drehte eine große, merkwürdig aussehende Muschel in den Händen und betrachtete sie aufmerksam. ..Drin Ton nach zu urteilen und der Art des Brennens stammt sie nicht aus Pantikapaion", murmelte er. „Aber woher dann?" Jetzt sah ich. daß der Professor keine Muschel hielt, sondern ein gewölbtes Stück Ton vom Bauch einer. Amphora. Die Scherbe hatte eine auffallende Ähnlichkeit mit einer Muschel, weil sie mit einer feinen, grünlichbraunen Wasserpflanze wie mit Moos bewachsen war. „Halten Sie bitte mal. aber vorsichtig.'' Er übergab mir das Bruchstück, fuhr mit der Hand hastig in seine Kartentasche, von der er sich meiner-Meinung nach nicht mal im Schlaf trennen konnte, und zog ein Skalpell heraus. Mit der scharfen Spitze des Messerchens kratzte der Professor vorsichtig die Wasserpflanzen ab. Als er die Scherbe gesäubert hatte, war klar und deutlich ein häßlicher Kopf mit zerzausten langen Haaren zu sehen. „Die Medusa Gorgo, sehr interessant!" meinte Wassili Pawlowitsch. Ja, es gab keinen Zweifel — das war der schreckliche Kopf der sagenhaften Medusa. Ich hatte zwar niemals vorher eine solche Abbildung gesehen, kannte aber die Sage von Perseus' Heldentat: Er schlug diesen Kopf ab, den kein Sterblicher anschauen durfte, ohne zu versteinern. Was ich auf den ersten Blick für wirre Haare hielt, waren zischende Giftschlangen. Welchen Sinn mochte diese Zeichnung wohl haben? Ich fragte Wassili Pawlowitsch danach. „Das ist schwer zu sagen", meinte er. „Vielleicht Ist es nur eine Art Fabrikstcmpel, das Zeichen des Meisters, der diese Amphora herstellte, oder es handelt sich um ein persönliches Zeichen des Besitzers . . ." Diese prosaische Erklärung enttäuschte mich. Aber was der Professor dann sagte, fesselte mich wieder. „Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben wir bisher noch keine Amphora mit einem derartigen Stempel gefunden. In den Städten des Bosporanischen Reiches gab es in der Regel überhaupt keine Stempel. Ich will sehen, ob darüber etwas in den Büchern steht. Dann werden wir wissen, woher dieses Schiff kam . . . " 15
„Welches Schiff?" Ich verstand ihn nicht. „Das griechische! Allem Anschein nach sind wir auf ein griechisches Schiff gestoßen." „Sie glauben also wirklich, daß hier ein Schiff gesunken ist?" fragte Pawlik. der bisher schweigend zugehört hatte, mit stokkender Stimme. „Natürlich", bestätigte Wassili Pawlowitsch. „Wir sind weit von der Küste entfernt, die Tiefe beträgt achtzehn Meter. Die Küste senkt sich nicht so beträchtlich, eine Stadt kann hier unten nicht liegen. Da hier außer dieser Scherbe bereits ganze Amphoren aufgefischt wurden, sind wir vermutlich auf ein gesunkenes Schiff gestoßen . . . Und dafür gebührt vor allem Ihnen der Dank, liebe Freunde!" IVat diesen Worten verbeugte er sich feierlich nach allen Seiten. Dem Kapitän schüttelte er lange die Hand. Ich konnte es nicht mehr aushalten und beschloß, den Stier bei den Hörnern zu packen. „Wassili Pawlowitsch, erlauben Sie, daß wir uns zum Tauchen bereitmachen?" Er schien nicht zu verstehen. „Tauchen?" „Wollen wir denn nicht das versunkene Schiff suchen?" „Gewiß, aber doch nicht heute. Wir müssen mit der ganzen Expedition hierherkommen." „Nur ein einziges Mal. zum Auskundschaften!" bettelte ich. Gewiß konnte es Wassili Pawlowitsch ebensowenig wie ich erwarten, nach dem Schiff zu suchen, aber er bezeugte wie stets Vorsieht und Vernunft. „Nein, getaucht wird nur gemeinsam", erklärte er. Die Stelle, wo die Scherbe mit dem Kopf der Medusa Gorgo gefunden wurde, ließ der Kapitän mit einer hellroten Boje kennzeichnen. Dann nahmen wir herzlich Abschied von den Fischern, und ein Boot brachte uns zur Küste. Nach einer Woche kehrte die „Almas" von ihrer Fahrt zurück. Bevor sie wieder auslief, mußten die fälligen Reparaturen an den Maschinen durchgeführt und der Anstrich erneuert werden. Wir sprachen mit den Seeleuten. Die Suche nach den Resten des griechischen Schiffes reizte sie sehr, und sie überredeten ihre Vorgesetzten, all die anfallenden Arbeiten auf offener See ausführen zu dürfen. So geschah es. daß wir mit der „Almas" ein zweites Mal zur Magdalenenbank fuhren. Aus Moskau war ein neuer Unterwassertelevisor eingetroffen. Bevor er zum Iii
Suchen von Fischschwärmen eingesetzt wurde, mußte er erst einmal ausprobiert werden. Deshalb gab man die Anlage dem Kapitän der „Almas" mit. Schon von weitem leuchtete uns die rote Boje entgegen. Neben ihr warfen wir Anker. Die Sonne sank bereits, aber keiner von uns wollte bis zum Morgen warten, und diesmal erhob Wassili Pawlowitsch keine Einwände. Wir ließen uns zu zweit hinab. Das erste Paar waren Michail und Swetlana, das zweite — Pawlik. und ich. Natascha und Boris blieben an Bord, um uns bei.Gefahr zu Hilfe zu eilen. Eine dünne Signalleine verband uns mit ihnen. Wir mußten ziemlich tief tauchen, deshalb hängte sich jeder von uns Bleigewichte an den Gürtel. Ich biß fest auf das Mundstück und ließ mich ins Wasser. Ungefähr in einer Tiefe von sechs Metern fühlte ich einen Schmerz in den Ohren. Ich drückte die Maske ans Gesicht und atmete kräftig durch die Nase aus. Gleichzeitig schluckte ich einige Male. Die Ohren waren „durchgeblasen", der Schmerz ließ sofort nach, und bald spürte ich ihn überhaupt nicht mehr. Diese Erscheinung tritt nur bei den ersten zehn Metern auf, da sich hier der Druck im Vergleich zur Atmosphäre verdoppelt. Beim Tiefersinken nimmt er langsamer zu, und der Organismus erträgt ihn leichter. Je tiefer ich tauchte, desto auffälliger veränderte sich das Licht um mich. Allmählich verlor es seine warme, orangefarbene Tönung. Eine bläulichgrüne Dämmerung umfing mich. Dann wurde es plötzlich heller: So ist es immer, wenn man sich dem Grund nähert, sicherlich wirft er einen Teil der Lichtstrahlen zurück. Ich klammerte mich an einen Busch Wasserpflanzen und schaute mich um. Von oben glitt ein Schatten auf mich zu. Das war Pawlik. Ich bat ihn durch Zeichen, nach rechts zu schwimmen, und wandte mich nach links. Nach dem trüben Wasser in der Straße von Kertsch war es hier geradezu ideal durchsichtig. Den felsigen Grund bedeckte kein widerwärtiger glitschiger Schlamm, sondern eine dünne Schicht heller Sand. Jedes Steinchen hob sich klar ab. Dennoch schwamm ich langsam, glitt durch die Wasserpflanzen und stocherte in jedem winzigen Sandhügel. Vielleicht verbarg sich darunter eine Amphora oder ein Überrest des Schiffes. 17
Die Signalleine ruckte dreimal scharf an. Sollten die fünfundvierzig Minuten bereits verflossen sein? Ich kennzeichnete die Stelle, wo ich zu suchen aufgehört hatte, mit einem Kreuz aus Steinen. Darauf zog ich dreimal kräftig an dem Seil: Ich hatte das Signal verstanden und kam nach oben. Der Aufstieg mußte langsam erfolgen, damit der Stickstoff, der vom Körper aufgenommen wird, bei nachlassendem Druck nicht in Form von Bläschen in das Blut tritt und wichtige Blutgefäße verstopft, was zu der gefährlichen Caissonkrankheit führt. Davor hatte man mich bereits nachdrücklich gewarnt, als ich das Tauchen lernte. Kratow würde bestimmt mit der Stoppuhr am Fallreep stehen und peinlich genau prüfen, ob wir uns an die Vorschrift hielten. Um ihn nicht zu erzürnen, nahm ich mir zum Aufstieg drei Minuten Zeit, genausoviel, wie gefordert wurde. Michail und Swetlana saßen bereits an der Reling und ließen die Beine über Bord baumeln. Er trank heißen Tee, sie aß die Schokolade, die uns nach jedem Tauchen zustand. An den Mienen der beiden sah ich sofort, daß auch sie nichts gefunden hatten. Drei Tage lang tauchten wir von früh bis spät, ohne auf die geringsten Anzeichen eines gesunkenen Schiffes zu stoßen. Der Techniker Kostja. der den Unterwassertelevisor in Gang bringen sollte, hatte sich seit Tagen in einer Ecke des Decks abgekapselt und quälte sich dort mit Leitungen, Röhren und Projektoren herum. Endlich erklärte er, alles sei bereit, die erste Sendung könne stattfinden. Der Empfänger wurde in der Messe aufgestellt und alle Bullaugen, bis auf ein einziges, verhängt. , Die Messe war gedrängt voll. Gegenüber dem Bildschirm saßen Wassili Pawlowitsch und der Kapitän. Es gelang mir, mich dicht neben ihnen hinzuhocken, so daß ich den Bildschirm gut sehen konnte. Plötzlich wurde er von einem bläulichen Schein erhellt. In einer Ecke wurde ein kleiner Fisch mit Glotzaugen sichtbar. Für uns Taucher war das Bild natürlich eine matte und graue Kopie der Unterwasserwelt, aber für die anderen Zuschauer schien es ein märchenhafter Anblick zu sein. Von allen Seiten klangen erregte und bewundernde Ausrufe: „Sieh, eine Meeräsche!" „Und dort eine Meduse!" „Ha, wie sie abhaut!" Meiner Meinung nach war es nicht die Qualle, die sich so 18
schnell bewegte, sondern die Fernsehkamera. Bald erreichte sie' den Grund und glitt langsam und in schräger Stellung dicht über dem Meeresboden dahin. Wir alle hielten den Atem an und ließen keinen Blick vom Bildschirm. Aber es gab nichts Auffälliges zu sehen. Die Kamera machte kehrt, auf den Bildschirm traten jäh abfallende Klippen. „Lassen Sie die Kamera hinab", bat Kratow stockend. Leicht schwankend glitt sie die steile Wand entlang in die Tiefe. Wir sahen immer weniger Wasserpflanzen an der Felswand, und immer seltener tauchten kleine Fische auf. Allmählich wurde das Bild dunkler, das Licht der Projektoren durchdrang nur mit Mühe die sich verdichtende Unterwasserdämmerung. Da! Auf einmal hellte sich der Bildschirm merklich auf. Kostja ließ die Kamera wieder schräg stellen, und die Projektoren beleuchteten ein kleines Stück Meeresgrund, so an die zehn Meter im Quadrat, nicht mehr. Rasch tasteten unsere Augen alles ab, was es auf diesem Fleckchen zu sehen gab: zwei Felsblöcke, die aus dem Sand ragten, eine einsame Seeanemone, die träge ihre Fühler bewegte, und einen kleinen Sandhügel. Der Sandhügel hatte eine merkwürdige längliche Form. Ich stutzte. Was mochte dort, unter dem Sand, verborgen sein? Ein herabgestürzter Felsbrocken? Eine Amphora? Es juckte mir in den Fingern, den Sand aufzuwühlen. Das Hügelchen hatte aber nicht nur meine Aufmerksamkeit erregt. Michail sprang auf und zerriß die andächtige Stille: „Wir müssen sofort nachprüfen, was dort liegt! Wassili Pawlowitsch, erlauben Sie mir zu tauchen!" „Warum gerade du?" brauste Swetlana auf. Kratow hob die Hand. „Pst, pst! Troflm Danilowitsch, wie tief ist es da?" wandte er sich an den Kapitän. Dieser wollte antworten, doch Kostja kam ihm zuvor und teilte mit, was seine Geräte anzeigten: „Neunundzwanzig Meter!" Kratow biß sich auf die Lippen. Wir sechs schauten flehend zu ihm hin. „Wassili Pawlowitsch, während unserer Ausbildung sind wir doch noch tiefer getaucht!" sprach Swetlana mit bittender Stimme. 19
Kratow schaute sie an, dann den Kapitän, runzelte die Stirn und begann in seiner unentbehrlichen Tasche zu kramen. Was mochte er suchen? Jemand knipste das Licht an. Der Professor holte die Drucktabelle heraus und vertiefte sich darin. Jeder von uns wußte auswendig, wieviel Minuten man mit dem Preßluftgerät in dieser oder jener Tiefe zubringen durfte. „Gut", sagte der Professor schließlich. „Nur müßt ihr euch streng an die Vorschriften halten. In dieser Tiefe darf man nicht länger als fünfzehn Minuten bleiben . . ." „Wieso fünfzehn? Fünfundzwanzig", warf ich ein. Ich wußte genau, was in der Tabelle stand. „Weil ich es so anordne!" unterbrach mich Kratow streng. „Ist alles klar? Aristow taucht, Bofsunow und Smirnow sichern ihn." Michail, Boris und Pawlik sprangen auf und stürzten zur Tür. Mißmutig blickte ich ihnen hinterdrein. Ich verstand nicht, worüber sich Pawlik und Boris so freuten. Wehn man ihnen erlaubt hätte zu tauchen, anstatt diesen albernen Aristow zu sichern, der sich immer so vordrängte! In der Messe wurde das Licht ausgeschaltet, und alle wandten sich wieder dem Bildschirm zu. Einige Minuten lang änderte sich nichts am Bild. Dann schwankten die Fühler der Seeanemone heftiger, über den Sand legte sich ein Schatten und Michail erschien, umschwärmt von einer Wolke Luftbläschen. Meiner Meinung nach blies er absichtlich mehr Luft aus, aber es gab wirklich einen hübschen Anblick. Aristow wühlte das Hügelchen auf^ und wir alle hielten den Atem an. Zu unserem Ärger kehrte er uns den Rücken zu. Selbst Wassili Pawlowitsch wurde unruhig. Ach, wenn ich doch an Michails Stelle wäre! Aber da drehte er sich der Kamera zu, und alle brachen in lautes Staunen aus. Aristow hielt in seinen Händen eine völlig unversehrt gebliebene Amphora. Das griechische Schiff war gefunden! Jetzt zweifelte niemand mehr daran. Wir ließen sofort den Televisor im Stich und eilten aufs Deck, um die wundervolle Amphora, die so viele Jahrhunderte in der Dämmerung der Meerestiefe geruht hatte, mit eigenen Augen zu sehen. Michail tauchte bald auf, vor sich, in den ausgestreckten Händen, seinen Fund. Die Amphora war groß, fast einen Meter hoch. Boris Smirnow stand auf dem Fallreep, bis zu den 20
Knien im Wasser, und nahm den kostbaren Fund entgegen. Vorsichtig reichte er ihn an Kratow weiter. „Zwei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung", sagte Kratow, die Amphora hin und her drehend. „Aber die Werkstatt ist nicht im Bosporanischen Reich zu suchen, ebenso wie bei den anderen Scherben. Woher mag die Amphora stammen?" Wie unser Professor es verstand, die vor vielen hundert Jahren gestorbenen Meister an der Qualität und der Zusammensetzung des von ihnen gebrannten Tons zu erkennen, überraschte uns stets von neuem. Die Amphora wurde vorsichtig in eine dicke Schicht Watte gewickelt und Wassili Pawlowitsch trug sie eigenhändig in seine Kajüte. Uns zog es natürlich mit Macht ins Wasser. Aber wie immer dämpfte der Professor unseren Eifer. „Bei unseren Ausgrabungen kommt es auf strengste Ordnung an", sagte er. „Die Studenten müßten das wissen! Wir suchen keine Schätze, sondern erforschen das Leben, die Sitten und Bräuche längst vergangener Zeiten. Die geringste Ungenauigkeit bei den Ausgrabungen kann zu nicht wiedergutzumachenden Irrtümern führen." Abends rief uns Wassili Pawlowitsch in der Messe zusammen, um „großen Kriegsrat" abzuhalten. Dort saßen wir drei Stunden und arbeiteten bis ins kleinste einen Plan aus. Am nächsten Morgen, Punkt neun Uhr, traten wir sechs an der Reling an. Wassili Pawlowitsch prüfte jede einzelne Ausrüstung und nörgelte an diesem und jenem herum. Dann durfte das erste Paar — Michail und Natascha — den Taucheranzug anlegen, eine höchst unbequeme Kostümierung aus einem Gummihemd und ebensolchen Hosen. Darunter mußte warme wollene Wäsche getragen werden. Das Reglement schrieb eine solche Kleidung für Wassertemperaturen unter 16 Grad vor. Michail war zuerst fertig und stieg das Fallreep hinab. Natascha schaute auf seine ungeschickten Bewegungen und kicherte. „Hör auf, du siehst nicht besser aus", beschwichtigte sie Swetlana und fügte, sich herausfordernd an Kratow wendend, hinzu: „Keine zehn Pferde bringen mich in so einen Panzer!" „Wie du willst", entgegnete Wassili Pawlowitsch sanft. „Dann mußt du eben auf Deck bleiben." Unsere Freunde verschwanden im Wasser. Die stetig tiefer -
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gleitende Signalleine in der Hand, lehnten Swetlana und ich über der Reling und versuchten, die Kameraden zu beobachten. Aber die Tiefe hatte sie bereits verschluckt. Wir konnten es kaum erwarten, sie abzulösen. Die Zeit verstrich oben viel langsamer als unter Wasser. Mich verdroß es jedesmal, daß ich so schnell wieder nach oben mußte. Jetzt konnte ich es gar nicht erwarten, Michail und Natascha heraufzurufen. Endlich waren Swetlana und ich an der Reihe. Unten leuchteten zwei verschwommene Lichtflecke, die Projektoren, die an der Televisoranlage aufgehängt waren. Wir schwammen direkt auf sie zu und trennten uns dort. Der Grund war sandig und eben, in so einer Tiefe wachsen nur wenige Wasserpflanzen. Ich achtete streng darauf, nicht die kleinste Erhebung zu übersehen. An die fünf Stück grub ich aus, fand aber nichts von Wert. Manche dieser Hügelchen verbargen merkwürdige kleine Höhlen, die sich irgendein Meeresbewohner gebaut hatte, und eins bewegte sich plötzlich, als ich die Hand danach ausstreckte: Es war eine große Krabbe, die seitlich in eine Felsspalte entschlüpfte. Ein dreimaliges kräftiges Reißen an der Signalleine rief mich nach oben. Ich wollte noch ein wenig unten bleiben, aber schon ruckte die Leine erneut an, straffer und fordernder. Ich durfte Wassili Pawlowitsch nicht erzürnen. Langsam stieg ich aus dem dämmrigen Mondlicht der Tiefe zum hellen Licht der Sonne empor. Und was sah ich, als ich das glitschige Fallreep hinaufkletterte? Alles scharte sich um Wassili Pawlowitsch, der ein kleines Figürchen in der Hand hielt. Und neben ihm, in der stolzen Pose des Siegers, stand Swetlana, die sogar vergessen hatte, wie lächerlich und unförmig sie im Taueheranzug ausschaute. Ich kroch schnell aus meinen Sachen und gesellte mich zu den Kameraden. Die kleine Statuette wanderte von Hand zu Hand. Sie stellte einen jungen rundgesichtigen Menschen dar, der mit zurückgeworfenem Kopf über das ganze Gesicht lachte. Seine Haltung wirkte so echt und lebendig, daß wir unwillkürlich lächeln mußten. „Zusammengewachsene, dichte Brauen, platte Nase. Das ist gewiß ein Satyr", meinte Wassili Pawlowitsch und strich mit zitternden Fingern über den wundervollen Fund. „So werden 22
diese Walddämonen, die ständigen Begleiter des Gottes Dionysos, immer dargestellt. Was für eine feine Arbeit das ist! Du hast uns wirklich was Hübsches heraufgeholt, Swetlana. Wenn ich nur wüßte, ob diese Statuette aus Griechenland kommt oder ob sie ein hiesiger Meister geformt hat?" „Meiner Meinung nach kann sie nur aus Griechenland sein", sagte Swetlana. „Hier, in den Kolonien, werden sie wohl kaum so schöne Sachen gemacht haben." Wassili Pawlowitsch lachte. „Du willst nur den Preis deines Fundes in die Höhe schrauben, meine Liebe", entgegnete er. „Aber für die Wissenschaft ist es von größerem Wert, wenn sich erweist, daß dieses Figürchen hier hergestellt wurde." Er dachte nach und fügte dann hinzu: „Ich glaube nicht, daß die Seeleute jener Zeit in der Regel Kunstgegenstände bei sich hatten. Vermutlich war der Besitzer dieser Statuette ein gebildeter Mensch und ein Freund der Kunst. Vielleicht haben wir Glück und finden sogar eine . . ." Er verstummte plötzlich mitten im Satz. „Was sollen wir finden?" fragten wir durcheinander. „Welche Funde erwarten Sie? Sagen Sie es bitte, Wassili Pawlowitsch!" Aber unser Professor lächelte nur verlegen. „Nein, nein, wir haben keine Zeit zum Träumen, meine Freunde. Wir wollen lieber weitermachen. Wer ist an der Reihe?" Boris und Pawlik meldeten sich. Wir halfen ihnen, die Taucheranzüge überzustreifen. Als sie im Wasser verschwunden waren, sagte Wassili Pawlowitsch unerwartet: „Wenn ich doch selbst dahinunter könnte, in die Tiefe. . . Ach, habt ihr's gut, ihr Jungen, ihr! Aber was wißt ihr schon davon!" Er winkte bitter ab und lief eilig in seine Kajüte. Wir schauten ihm stumm nach. Swetlanas Fund war nicht der letzte an diesem Tag. Wir tauchten noch dreimal und kehrten fast nie mit leeren Händen zurück. Am Abend lagen zwölf unversehrte Amphoren auf Deck. Eine hatte sogar einen Harzpfropfen im Hals, und wir stellten Vermutungen an, was in ihr enthalten sei. Sie war ziemlich schwer, und wenn man sie schüttelte, gluckerte es innen. Aber so sehr wir auch bettelten, Kratow ließ sich nicht erweichen, sie zu öffnen. „Im Labor, im Labor", wiederholte er. Auf einem großen Stück Segeltuch, das wir am Mast ausgebreitet hatten, lag ein beachtlicher Haufen Tonscherben. Natür23
lieh war es angenehmer, ganze Amphoren zu finden, aber wir ließen uns keine einzige Scherbe entgehen. Wassili Pawlowitsch schaute sich jede genau an, und die ihm am interessantesten dünkten, legte er extra. Pawlik hatte Glück; er fand einen kupfernen, mit Grünspan überzogenen und stark von Salzwasser zerfressenen Angelhaken. Am nächsten Tag holten wir achtundsechzig heile Amphoren herauf, am dritten — neunundvierzig. Außerdem fanden wir gebogene Kupferscheiben, die vielleicht zu einem Anker gehört hatten. Ehrlich gesagt, die Ausgrabungen auf dem Meeresgrund waren anstrengender, als wir anfangs glaubten. Den Grund schwimmend zu erkunden, ist etwas anderes, als fortwährend im Sand zu graben. Am vierten Tag wäre fast ein Unglück geschehen. „Der andere rettet ihn . . ." Dieser Tag begann schon mit einer unliebsamen Überraschung. Der Morgen war wundervoll — sonnig und still. Als ich auf Deck stieg, sah ich an Backbord Natascha, die ins Wasser schaute. Sie drehte sich zu mir um. ihr Gesicht war leichenblaß und die Augen weit aufgerissen, als habe sie eine Seeschlange erblickt. „Was hast du?" fragte ich erschrocken. „Sieh doch nur, wie ekelhaft!" sagte sie kläglich. „Ich tauche um nichts in der Welt!" Verwundert blickte ich über die Reling. Das Wasser sah heute ganz absonderlich aus, weißlich, als habe jemand Milch hineingegossen. Als ich näher hinschaute, entdeckte ich. daß es rings um das Schiff nur so von Medusen wimmelte. Noch nie im Leben hatte ich soviel auf einmal gesehen, sie verwandelten das Meer in eine einzige lebendige Suppe. Zugestanden, mir wurde auch leicht komisch zumute bei dem Gedanken, daß ich in dieses Gewimmel hineinsteigen müsse. Aber ich sagte so munter wie möglich: „Na, und wenn schon. Deshalb hast du Angst? Die beißen doch nicht<;' „Sie sind glitschrig, eklig und kalt wie Frösche!" Natascha schüttelte sich. „Ich sterbe, wenn sie mich anrühren." 24
„Wer wagt dich anzurühren?" fragte die zu uns tretende Swetlana. „Doch nicht gar dieser mißlungene Delphin hier?" „Schau dorthin!" entgegnete Natascha mit matter Stimme. Swetlana blickte aufs Wasser. Ihre Stimme verlor jede Spur von Kampfeslust, als sie leise sagte: „Pfui, wie scheußlich! . . . Die hat uns die Medusa Gorgo geschickt." Natascha stöhnte. „Mag es ein Vorurteil sein oder nicht, aber mich kriegt heute keiner ins Wasser." „Ich habe sowieso Kopfschmerzen", meinte Swetlana und rieb sich die Stirn. „Ich werde mich hinlegen." So kam es, daß wir heute nur zu viert tauchten. Allerdings war es mehr als unangenehm, durch die zwei Meter dicke Quallenschicht hindurchzugleiten. Dafür war das Wasser in der Tiefe um so klarer. Wir arbeiteten Seite an Seite und gruben eine Amphora nach der anderen aus. Vor dem vierten Abstieg flüsterte mir Michail zu: „Wir wollen uns unten trennen. Grab du weiter an dem alten Platz, ich gehe ein wenig nach rechts. Wir müssen das Ende des Schiffes finden. Das nächste Mal grabe ich dann, und du siehst dich um!" „Gut." Ich nickte. Auf Michails Stirn glitzerten große Tropfen, er schwitzte. „Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?" fragte ich. „Doch, mir ist bloß heiß. Ich war zu faul, nach dem letzten Tauchen den Anzug auszuziehen, und habe eine Stunde darin gesessen. Ich schwitze wie in der Sauna. Aber das macht nichts, im Wasser werde ich mich erfrischen. Komm!" Unten winkte mir Michail zu und verschwand in der Dunkelheit, die das von den Projektoren beleuchtete Stück Meeresgrund umgab. Meine Arbeit ging flott voran. Als das Signal zum Aufstieg kam. hatte ich schon drei Amphoren ausgegraben. Sie lagen nebeneinander wie Eier im Nest. Das letzte Taucherpaar sollte alle gefundenen Amphoren in ein großes Netz legen, daß man vorsichtig einholen wollte. Nach den Vorschriften brauchte ich vier Minuten zum Aufstieg, aber diesmal hatten sie es merkwürdig eilig mit mir und zogen heftig an der Signalleine. Als ich auf dem Fallreep bis zum Gürtel aus dem Wasser geklettert war, zog ich das Mundstück heraus und schimpfte: 23
„Was zieht ihr denn so? Ihr habt doch keinen Fisch am Haken!" Aber Pawlik blickte mich so erschrocken an, daß mir die weiteren Worte im Halse steckenblieben. „Wo ist Michail?" fragte er. „Sicher wird er gleich kommen. Warum so eilig?" „Er hat nicht auf das Signal geantwortet", entgegnete Pawlik und ruckte an der Leine. „Siehst du, ich ziehe, und er rührt sich nicht." Zum Überlegen war keine Zeit. „Spring mir nach", rief ich und steckte hastig das Mundstück zwischen die Lippen. Pawlik zögerte. Nach den; Vorschriften durfte er mich eigentlich nicht gleich wieder tauchen lassen. Aber in meinem Preßluftgerät war noch genügend Luft, und Eile tat not. Hastig glitt ich an Michails Seil entlang in die Tiefe. Doch auf einmal schnitt ein so scharfer Schmerz in mein Gesicht, daß ich fast aufgeschrien und das Mundstück verloren hätte. Die Tauchmaske drückte wie eine Zange. Nach dem ersten Schreck begriff ich, daß ich zu schnell getaucht war. Der Druck im Innern der Maske konnte sich dem Druck des umgebenden Wassers nicht anpassen, und die Maske saugte sich an meinem Gesicht fest. Ich hielt eine Minute inne und atmete die Luft kräftig in die Maske aus. Das Glas lief an, aber dafür ließ der Druck auf mein Gesicht sofort nach, und der Schmerz legte sich. Vorsichtig tauchte ich weiter hinab. Noch einige Meter, da sah ich bereits Michail mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand liegen. Aus der Klappe seines Preßluftgerätes perlte silbrig die verbrauchte Luft, sonst gab er kein Lebenszeichen von sich. Mit zitternden Händen zog ich den Dolch heraus und zerschnitt die Signalleine, um mich darin nicht zu verstricken. Dann setzte ich Michail auf. Zum Glück war ihm das Mundstück nicht herausgerutscht. Seine Augen waren geschlossen, und das Gesicht sah auffallend dunkel aus. Ich faßte ihn um die Mitte und schwamm mit ihm aufwärts. Das war leichter gesagt als getan. Mit Mühe hatte ich ungefähr fünf Meter zurückgelegt, als mir klar wurde, daß ich unsere Gewichte abmachen mußte. Während ich damit beschäftigt war, stieß Boris zu mir. Zu zweit konnten wir Michail leichter und 26
schneller hochschaffen. Wir vergaßen aber nicht, die zwei not-" wendigen Pausen einzulegen. Oben zog man uns nacheinander an Deck. Der Schiffsarzt führte sogleich unter Swetlanas Assistenz bei Michail die künstliche Atmung durch und frottierte ihm die Brust. Was war mit ihm geschehen? Hatte ihn der Tiefenrausch befallen? Aber das konnte doch nur in Tiefen über vierzig Metern passieren. Die Caissonkrankheit? Nein, er hatte ja noch gar nicht begonnen aufzutauchen. Der Arzt machte Michail zwei Injektionen in den Arm und hielt ihm anschließend ein Fläschchen mit Salmiakgeist unter die Nase. Michail verzog das Gesicht und stöhnte. Dann schlug er die Augen auf und starrte verständnislos in unsere erregten Gesichter. „Was ist mit dir passiert?" fragte ich. „Ich weiß nicht. . . Ich habe wohl das Bewußtsein verloren?" „Wie fühlten Sie sich vor dem Anfall?" forschte der Arzt. „Schlapp . . . Übel war mir, der Kopf tat weh . . . Kriegte keine Luft. . ." „Das Preßluftgerät ist in Ordnung, ich habe es geprüft", fiel Boris ein. Anscheinend fühlte er sich als Sicherungsposten mitschuldig an dem Vorfall. „Bringen Sie mir bitte aus der Kombüse kalten Tee, aber sehr kalt muß er sein", befahl der Arzt. „Der Koch mag ein Stückchen Eis aus dem Kühlschrank hineintun." „Was ist ihm eigentlich zugestoßen?" fragte Kratow. „Den Symptomen nach war es ein Hitzschlag. Vor dem Tauchen hat er bestimmt zu lange auf Deck in der prallen Sonne gesessen. Das hätte leicht schlimm ausgehen können, er brauchte nur das Mundstück loszulassen." Ja, dann wäre ich zu spät gekommen . . . Mir fiel ein, daß ich auf Michails Stirn vor dem letzten Tauchen Schweißtropfen gesehen hatte. Wie konnte er auch eine ganze Stunde mit dem Gummianzug in der Sonne sitzen! Das war das ganze Geheimnis. Ich wollte schon den Mund öffnen, da fing ich Michails Blick auf. Schweig, flehten seine Augen, bitte! Und ich schwieg. Als Pawlik und Boris den Kranken von Deck trugen, fiel Swetlana über mich her: „Dir läuft doch Blut aus der Nase!" Ich fuhr mir mit der Hand ins Gesicht. Wirklich — Blut! 27
„Und seine Augen sind auch ganz rot. Sieh mal. Swetlana!" gackerte Natascha zu meinem Ärger los. Was blieb mir übrig, als ihnen zu beichten, daß ich zu schnell getaucht war. Natürlich mußten sie sogleich ihre medizinischen Kenntnisse an mir ausprobieren. Sie umwickelten mir den Kopf mit einem nassen Handtuch, so daß ich überhaupt nichts sehen konnte, dann nötigten sie mich, ihn hochzuhalten, und in dieser lächerlichen Aufmachung faßten sie mich wie einen Invaliden unter und führten mich in die Kajüte. Michail lag dort in seiner Koje und trank kalten Tee. dick und dunkel wie Petroleum. Feierlich legten mich die Mädchen in die andere Koje, so sehr ich mich auch dagegen sträubte. Dann stellte sich Swetlana in theatralischer Pose mitten in die Kajüte und trällerte das Liedchen von den beiden Soldaten, die in einem Regiment dienten und sich auf den Tod nicht leiden konnten. . Ich schleuderte ein Kopfkissen nach ihr. aber sie wich zur Seite und sang weiter. Natascha stimmte unter lautem Gelächter ein: „Und hört, wie sie endet, die Schauermär! Rumwidibim! Im Kampf trifft den einen die Kugel schwer, der andere rettet ihn!" Die Mädchen rannten lachend hinaus, Michail aber sagte zu mir: „Spaß beiseite, du hast mir tatsächlich das Leben gerettet. Vielen Dank! Ich werde mir Mühe geben, gleiches mit gleichem zu vergelten." „Was für ein Guthaben", scherzte ich. „Wir werden schon noch abrechnen .. ." -/
Der
rätselhafte
Fund
Am nächsten Morgen fühlten wir uns beide völlig gesund. Von mir konnte ich das ganz sicher behaupten. Aber Kratow untersagte jegliches Tauchen, er setzte einen freien Tag für alle an. Dafür gruben wir am Tag darauf sechsundneunzig Amphoren aus. Ich wühlte eine nach der anderen aus dem Sand und träumte dabei von interessanteren Funden. Immerfort zog es mich an die Stelle, wo Swetlana die wundervolle Statuette ge28
funden hatte. Dort mußte die Messe oder die Kapitänskajüte gelegen haben. Als ich wieder mit Tauchen an der Reihe war, rief ich Michail beiseite und sagte: • „Was hältst du vom Begleichen deiner Schuld?" „Wieso?" fragte er verwundert. „Ach ja, ich habe mich verpflichtet, dir das Leben zu retten . . . Gut, aber wie soll ich's anstellen? Dir passiert ja nichts." „Spiel nicht den Dummen", entgegnete ich. „Du wirst dich wohl an unsere Abmachung erinnern. Ich habe für zwei gearbeitet, während du unten auf Erkundung ausgingst. Jetzt bin ich endlich mal an der Reihe, und du gräbst für mich die Amphoren aus." „Was"dem einen recht ist, ist dem anderen billig. In Ordnung, mein Herr!" parierte er. „Aber wir tauchen ja nicht zusammen, du mußt doch mit Swetlana tauchen." An diesem Tag wurde nichts aus meinem Plan. Wie sollte ich es Swetlana beibringen? Sie würde sicherlich keine Ruhe geben, bis sie wüßte, wieso und weshalb. Ich beschloß daher, bis zum nächsten Tag zu warten. Aber als ich morgens erwachte, brauchte ich gar nicht erst aufs Deck zu gehen, um zu merken, daß mein Vorhaben gescheitert war. Die Koje schaukelte wie eine Wiege, auf dem Boden der Kajüte rutschten unsere Schuhe von einer Ecke in die andere, die Wände knackten. Es herrschte Sturm, und mit dem Tauchen war es aus. Um zehn Uhr versammelten wir uns in der Messe. Kratow zog ein mißvergnügtes Gesicht und überließ sofort dem Kapitän das Wort. „Es tut mir sehr leid, Wassili Pawlowitsch", begann dieser, „aber so, wie die Sache steht, müssen wir aufbrechen. Der Sturm nimmt zu, und am Abend werden wir Windstärke sieben haben. Auf so einem Grund können wir uns nicht halten, selbst nicht mit zwei Ankern. Dieses Jahr werden Sie hier nicht mehr tauchen können." Kratow hob den Kopf, seufzte schwer und zuckte mit den Schultern. „Nun gut", sagte er langsam. „Was bleibt uns übrig?" Er schwieg einen Augenblick, dann fügte er verlegen lächelnd hinzu: „Wenn wir unseren Fundort mit irgend etwas . . . zudecken könnten. So wie wir es immer auf dem Lande tun. 29
Sonst Wird alles vom Sturm zugeschüttet.. ." Er blickte abwartend zum Kapitän. „Auf dem Grunde, meinen Sie?" Der Kapitän lachte, laut. „Entschuldigen Sie, Professor, aber Sie kennen das Meer schlecht. Glauben Sie mir, dort, wo das versunkene Schiff liegt, herrscht jetzt tiefe Stille. Wenn ihre Amphoren in zwanzig Jahrhunderten nicht in Trümmer geschlagen wurden, dann nehmen sie auch in einem Jahr keinen Schaden." „Sie haben recht", meinte Wassili Pawlowitsch verlegen. Aber seinem Gesicht war anzumerken, daß die Worte des Kapitäns ihn trotzdem nicht völlig beruhigt hatten. Dem Kapitän entging das nicht. Er dachte kurz nach und schlug dann vor: „Wie wäre es, wenn wir unter Wasser Signalbojen aufstellten, um die Ausgrabungsgrenzen zu markieren? Oben können die Winterstürme sie wegreißen, und es ist auch nicht nötig, die Aufmerksamkeit Fremder auf diesen Platz zu lenken. Wenn wir die Bojen aber zwei Meter über dem Grund an einem Anker festmachen, so stört sie keine Woge. Ihre jungen Leute sind tüchtig, können ausgezeichnet tauchen." Wie begeistert waren wir von diesem Vorschlag. Das letzte Tauchen bei Sturm! Kratow stand auf, hob, Ruhe fordernd, die Hand und sagte: „Gut, ich bin einverstanden! Aristow und Kosyrjow machen sich fertig zum Abstieg. Pawlik und Boris sichern." Mit Hilfe der Matrosen befestigten wir an zwei weißen Bojen kurze Trossen mit schweren Gewichten. Diesmal leitete der Kapitän selbst das Tauchmanöver. Wir durften nicht das Fallreep benutzen, wir sollten an einer Strickleiter ins Meer klettern, die von einem Kranausleger hinabgelassen wurde. Er fürchtete, daß uns sonst die Wogen an die stählerne Schiffswand schleudern könnten. Die Bojen mit den Gewichten wollten uns die Seeleute auf den Grund nachschicken. Wir brauchten sie nur am vermuteten Bug und Heck des versunkenen Schiffes aufzustellen. Der Ausleger schwankte so stark, daß ich mir wie ein Kätzchen vorkam, das sich am Pendel einer Wanduhr festklammert und nicht weiß, wie es auf den Boden zurückspringen soll. Zweimal hätte mich der Sturm bald hinabgerissen, und ich wäre kopfüber in das tobende Meer gestürzt. Die schwankende Strickleiter entschlüpfte immer wieder tückisch meinen Füßen. 30
Als ich mich im Wasser befand, fühlte ich mich gleich wohler — wie ein Fisch, der in sein Element zurückkehrt. Die Wellen wiegten mich und zogen mich machtvoll nach unten. Mit jedem Meter, den ich tiefer sank, wurde das Wasser klarer und stiller. Ich schwamm nach unten und sah den auf mich wartenden Michail. Fernsehkamera und die Projektoren waren bereits an Bord gezogen worden, und das Stück Meeresgrund, auf dem wir gestern mit solcher Begeisterung gegraben hatten, sah jetzt leer und verlassen aus. Vom Wellengang war hier überhaupt nichts zu spüren. Nur die braunen Stiele der aus dem Sand ragenden Wasserpflanzen schwankten leise. Michail berührte mich am Ellbogen und zeigte nach oben. Langsam senkte sich eine Boje herab, sanft schaukelnd wie ein Luftballon. Rechts über ihr war auch schon die zweite zu sehen. Michail wartete auf sie, während ich die erste cinfing und zum Fuß des Felsens zog, um das Heck des Schiffes zu kennzeichnen. Das Aufstellen der Boje nahm nicht mehr als fünf Minuten in Anspruch. Als ich fertig war, schaute ich mich um. Warum sollte ich nicht zu guter Letzt noch ein Weilchen im Sande graben? Es juckte mir in den Fingern. Nachdem ich ungefähr den Platz ausgemacht hatte, wo Swetlana auf die Statuette gestoßen war. scharrte ich etwas links im Sand. Soweit ich Kratows Ausgrabungsschema im Kopfe hatte, mußte hier irgendwo die Kajüte des zerstörten Schiffes liegen. Ich wühlte fünf Minuten, zehn Minuten, aber ohne Erfolg. Meine Finger stießen lediglich auf zwei Felssplitter. Nur noch zehn Minuten blieben mir. Wütend kratzte ich den Sand auf, daß sich ringsum das Wasser trübte. Wenn mich unser Professor bei der Arbeit gesehen hätte, wäre er sicherlich böse geworden. Plötzlich ertastete meine Linke einen spitzen Gegenstand. Um ihn zu sehen, mußte ich ihn dicht an die Augen halten, so trüb war das Wasser ringsum. Es schien ein Stück Scherbe von einer Schale zu sein! Merkwürdig, selbst ein so unbedeutender Fund gab mir neue Kraft. Ich war auf dem richtigen Wege! Schalen konnten sich nur in Wohnräumen befinden, wo Speisen zubereitet wurden, wo man aß und schlief. Ich fuhr fort zu graben. Aber keine Minute verstrich, als die Signalleine drei31
mal stfaff gezogen wurde. Nur noch ein paar Minuten, dachte ich. Um Ruhe zu haben, zog ich an der Leine, wühlte aber weiter im Sande. Da geriet etwas Rundes in meine Hand , . . Ein Stock oder richtiger, ein dünner Stamm. Sollte sich Holz im Wasser erhalten haben? Fieberhaft zog ich den vermeintlichen Stamm aus dem Sand. Er war kurz. Vielleicht war er gar abgebrochen? Zum genauen Ansehen blieb mir keine Zeit. Die Signalleine wurde erneut heftig gezogen. Mit beiden Händen meinen Fund an die Brust pressend, ließ ich mich ergeben nach oben ziehen, wie ein Barsch am Haken. Nach zehn Metern lockerte sich das Seil, damit ich die vorschriftsmäßige Pause einlegen konnte. Hier war das Wasser klarer, ich konnte endlich meinen Fund betrachten. Es war kein Stück Stamm, in meinen Händen hielt ich einen merkwürdigen Zylinder von fast einem halben Meter Länge und einem Durchmesser von zehn Zentimetern. Ich schabte ihn ein wenig mit der Dolchspitze an. Der Zylinder war aus Metall! Oben hatte sich der Wellengang noch verstärkt. Einer der Matrosen hing an der Strickleiter über den Wogen. Ich gab ihm den Zylinder. Dann paßte ich einen günstigen Moment ab und klammerte mich an die Leiter. Der Ausleger schwenkte uns wie eine Fracht aufs Deck. Schon als ich durch die Luft flog, sah ich Kratows zorniges Gesicht. Ich mußte als erster zum Angriff übergehen. Deshalb nahm ich dem Matrosen den Zylinder wieder ab und übergab ihn ohne ein Wort dem verdutzten Professor. Er drehte ihn in den Händen. Plötzlich drückte er ihn fest an die Brust und schrie: „Eine Cista! Mein Gott, das ist eine Cista! Ich habe nicht gewagt, daran zu denken und da . . ." Keiner verstand ihn. Ohne den Fund aus der Hand zu lassen,- stürzte sich der alte Mann auf mich und küßte mich auf die nasse Wange. „Weißt du, was du gefunden hast?" fragte er. „Das ist eine Cista." Ich bemühte mich, begeistert auszusehen, doch Kratow schüttelte den Kopf und sagte vorwurfsvoll: „Sie wissen nicht, was eine Cista ist!" Er blickte auf seine Studenten. „Und das wollen Archäologen werden! Wäre heute Examen, ich würde euch allen eine Vier geben." Er hob den Metallzylinder hoch und sagte feierlich: „Merkt euch ein für allemal: In solchen 32
kupfernen Behältern beförderten die Griechen ihre Schriftstücke. Eine Cista ist ein unschätzbarer Fund, weil Handschriften aus dem Altertum so gut wie gar nicht erhalten geblieben sind. Wir wissen, daß der große Sophokles einhundertdreiundzwanzig Theaterstücke schrieb. Aber nur sieben kennen wir. Versteht ihr nun, wie wertvoll jede neu aufgefundene, alte Handschrift für die Wissenschaft ist?" „Aber vielleicht ist diese Cista leer?" rief ich erschrocken. Wassili Pawlowitsch sah mich an, als wolle ich ihm den kostbaren Fund rauben. Er drehte den Zylinder erneut in den Händen. „Nein, das ist nicht möglich", meinte er. „Einen leeren Behälter hätte man nicht so sorgfältig versiegelt. Bestimmt ist etwas darin. Wir werden uns gleich davon überzeugen .. ." Fast alle, die sich an Deck befanden, begleiteten ihn zur Messe. Ich zog den Taucheranzug aus und ging ebenfalls hin. Als ich eintrat, lag vor Wassili Pawlowitsch ein großer Bogen Papier auf dem Tisch, vorsichtig schabte er mit seinem Skalpell die Cista ab. Entgegen seiner Gewohnheit war er dabei erstaunlich redselig. „Cista . . . Schon immer habe ich davon gelräumt", erzählte er stockend. „Wißt ihr noch, wie Swetlana die Statuette fand, dachte ich sofort, daß sich auf diesem Schiff ein kunstliebender Mensch aufgehalten habe. Er konnte auch Handschriften mit sich führen. Gleich werden wir erfahren, was sich hier drin verbirgt. . ." Langsam arbeitete ich mich etwas näher an den Tisch heran. Der Zylinder war schon fast sauber. Was mochte er enthalten? Vielleicht hatte ich das Glück, der Welt eine bisher unbekannte Tragödie Sophokles' zu schenken? Oder eine von Äschylus? Oder eine bewundernswerte philosophische Abhandlung, die alle unsere Vorstellungen von den alten Griechen über den Haufen warf? Aber vielleicht war Wasser in den Behälter eingedrungen und hatte die Handschrift in einen schmutzigen Brei verwandelt — oder sogar völlig aufgelöst, wie das Schiff selbst? „Nein, der Deckel ist gut mit Harz verschmiert", sprach Kratow, als habe er meine Gedanken erraten. Wir hielten den Atem an, als er begann. Schicht für Schicht des versteinerten Harzes abzukratzen. Schließlich versuchte er, den Deckel abzudrehen. Aber dieser gab nicht nach. 33
„Feuer!" bat Kratow. „Gießt in eine Konservenbüchse Spiritus und brennt ihn an. Aber vorsichtig!" Swetlana holte Spiritus und goß ihn in ein Schüsselchen. Der Kapitän strich flink ein Streichholz an. Ein blasses bläuliches Flämmchen sprang auf. Kratow hielt den Deckel der Cista ans Feuer. Das Harz zischte. Noch einige Drehbewegungen — und der Deckel gab nach. Kratow drehte ihn ganz ab. hielt den Behälter nach unten und langsam, wie unwillig, kroch eine dicke Rolle heraus. Pergament! Mit zitternden Fingern rollte es der Professor auf: zwei große Bogen! Kratow trennte sie behutsam voneinander, legte sie vor sich auf sauberes Papier und deckte mit Swetlanas Hilfe ein Stück Glas darüber. Über das graue Pergamentblatt liefen in unregelmäßigen Zeilen Buchstaben. Konnte man so etwas wirklich entziffern? Die Buchstaben gingen ineinander, anscheinend waren sie bei hohem Seegang geschrieben. Aber unseren Professor störte das nicht. Er las, als sei ihm der Text schon längst bekannt. „ .Aristippos, Myrmekions Sohn, entbietet dem teuren Freund Achaimenes seinen Gruß! Ich eile, dich zu erfreuen, mein teurer Freund und Beschützer, mit ruhmvoller Kunde. Die drohende Gefahr, die über dem gesegneten Bosporanischen Reich hing, ist nun zum Glück gebannt. Der berühmte Diophantos, der uns von dem weisen König Mithridates — Gott gebe ihm ein langes Leben — geschickt wurde, schlug in einer entscheidenden Schlacht den aufrührerischen Sklaven Saumakos.'" Der Professor hielt inne, schaute den Kapitän an, als könne er nicht glauben, was er gelesen habe. „Ja", fuhr er fort. „Es besteht kein Zweifel: Saumakos! Und Diophantos, natürlich, das ist er!" Er beugte sich wieder über das Pergament. „Wo war ich stehengeblieben? Hier!... ,Der niederträchtige Sklave wurde lebendig ergriffen und wird zu Füßen des großen Mithridates gelegt. Ich hoffe, daß ihr ihm die Strafe auswählet, die er verdient. Bedauerlich ist aber, daß seine nächsten Mithelfer, der arglistige Bastakos und der unehrenhafte Aristonikos, uns entkommen konnten. Das ging wahrlich auf eine wunderbare Art zu, wie ich selbst bezeugen kann. Es geschah auf folgende Weise. Wir umzingelten die letzte Gruppe der Aufrührer in der Festung Tilur, die, wie du dich erinnern wirst, in einer wilden und rauhen Gegend am Ufer 34
des Pontos Euxcinos liegt.. . " ' Wassili Pawlowitsch wiederholte gedankenverloren: „Tilur . . . Festung Tilur an der Küste des Schwarzen Meeres. Ich kenne keine." Er schüttelte den Kopf und fuhr fort zu lesen: „.Die Aufrührer verbargen sich in der Festung, wo sich das alte Heiligtum der Skythen befand, mit vielen von ihnen geraubten Schätzen. Deshalb wirst du auch verstehen, wie alle Krieger nach dem Sieg trachteten. Wir nahmen die Festung nach dreitägigem Sturm. Stell dir unsere Verwunderung vor, teurer Achaimenes: Unter den Erschlagenen und Gefangenen fanden wir keinen der Anführer. Auch die Schätze entdeckten wir nicht. Sie waren spurlos verschwunden. Plötzlich kam unter den Kriegern das Gerücht auf, die verfluchten barbarischen Götter hätten die Anführer im allerletzten Augenblick in den Himmel getragen. Der Verstand weigert sich, solchem unsinnigen Aberglauben zu folgen, dennoch war die Sache wunderlich. Wir werden darüber noch genauer bei unserer baldigen Begegnung sprechen. Einstweilen schließe ich. da ein Sturm sich erhebt und das Schreiben mir schwer wird. Dein Aristippos.'" In der Messe herrschte tiefe Stille, nur die Wände knackten, draußen heulte der Wind. Wir alle dachten über das eben Gehörte nach, über das Schicksal der Menschen, die vor vielen Jahrhunderten hier auf diesem Meer gefahren waren. Der Brief erregte mich. Zugleich aber plagte mich eine leise törichte Schuld, daß in der Cista an Stelle einer wertvollen Schöpfung der alten Philosophen und Poeten ein ganz gewöhnlicher Brief lag . . . „Hier ist noch etwas. Gedichte", riß mich Kratows Stimme aus meinen Grübeleien. Er betrachtete bereits den zweiten Pergamentbogen. „ ,Muse . . . erzähle jedem . . . erzähle allen vom Manne, der voll Tapferkeit strebt entgegen . . . dem Wiedersehen mit dem Freunde. . flüsterte der Professor und schüttelte den Kopf. „Anscheinend eine Nachahmung eines Homerischen Gedichtes, aber ziemlich schwach. Die Gedichte werden wohl kaum wichtige historische Hinweise enthalten. Wir können uns in einer Mußestunde damit befassen. Aber dafür ist der Brief sehr interessant. Neue Angaben über den Aufstand des Saumakos! Die erste revolutionäre Erhebung auf dem Boden unserer Heimat, und wir wissen darüber fast nichts. Wenn wir diese 35
Festung fänden und dort richtig grüben! Tilur . . . Haben Sie vielleicht zufällig von so einem' Ort gehört?" wandte er sich an den Kapitän. Der zuckte mit den breiten Schultern. „Nein, Herr Professor! Ich fahre schon dreißig Jahre auf dem Schwarzen Meer, aber einen solchen Hafen kenne ich nicht." „Wie sollten Sie ihn auch kennen", besann sich Kratow plötzlich. „Das alles liegt ja schon zwanzig Jahrhunderte zurück! Auch wird diese Festung in keiner Überlieferung erwähnt — wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt." Er beugte sich wieder über den Brief. „Wollen mal sehen, vielleicht gibt die Textanalyse einen Hinweis . . . Der Autor des Briefes ist natürlich ein Grieche. Er schreibt än einen gewissen Achaimenes. Dem Namen nach muß es sich um einen Perser handeln. Vermutlich gehörte er zum Hofe Mithridates Eupators. Diophantos, das ist der bekannte Heerführer, der die Operation gegen den Palastsklaven Saumakos leitete. Er wird in den Quellen bereits erwähnt. Neu sind die Namen der Mitkämpfer Saumakos': Bastakos scheint ein skythischer Name zu sein, Aristonikos ist zweifellos ein Grieche. Das heißt also, an dem Aufstand beteiligten sich auch Teile der griechischen Bevölkerung. Das ist eine wichtige Aussage!" Der Kapitän berührte ihn sacht am Ellbogen. „Sie müssen mich entschuldigen, Professor, aber wir können hier nicht länger bleiben. Die Anker halten das Schiff nicht." Erst jetzt merkten wir, daß das Heulen des Sturms in ein dumpfes monotones Brüllen übergegangen war. „Gewiß, gewiß, Kapitän!" Kratow nickte hastig. „Bitte sehr, geben Sie Befehl! Sie müssen es ja wissen!" Wir halfen unserem Professor, die Cista und die darin gefundenen Schriften in seine Kajüte zu tragen. Dort legte er beide Bogen vor sich auf ein Tischchen, beschwerte sie wieder mit Glas und begann eifrig in den Büchern zu wälzen, die er aus Kertsch mitgebracht hatte. Die Suche nach der rätselhaften Festung Tilur schob er keine Minute auf. Wir wollten ihn dabei nicht stören und gingen hinaus aufs Deck. Dort konnte man sich kaum auf den Beinen halten. Der Sturm blies bis auf die Knochen, das ganze Deck wurde mit Gischt überschüttet. Der Bug des Schiffes fiel mal in ein Wellental^ mal flog er steil nach oben. 36
Natascha wurde blaß, piepste kläglich und lief davon, die Hand vor dem Mund. Swetlana hielt es ein wenig länger aus. „Wo ist denn unsere Natascha hin?" fragte sie nach einer Weile. „Ihr ist wohl schlecht geworden? Ich werde mal nach ihr sehen . . ." Mit immer schnelleren Schritten stürzte sie zur Kajüte und . : . blieb verschwunden. Wir rauchten, erfreuten uns an dem tobenden Meer, dann aber rannten wir nach unten, wo es warm und trocken war. Pawlik und Boris spielten Schach, die Figuren fielen durch das Schaukeln jeden Augenblick zu Boden. Michail wollte ein wenig dösen, wie er sagte, und kroch in seine Koje. Ich glaube, ihm war ebenfalls schlecht, er wollte es bloß nicht zeigen. Ich holte mir aus Pawliks Koffer alle Bücher über die antike Geschichte der Krim und suchte nach Berichten über den Aufstand Saumakos'. Es gab überraschend wenig, Kratow hatte nicht übertrieben. Alle zuverlässigen Kenntnisse über diesen Sklavenaufstand verdanken wir eigentlich einer einzigen Triumphschrift, einer Tafel, die bei Ausgrabungen in Chersonesos gefunden wurde. Diese Tafel hatten die Bewohner von Chersonesos zu Ehren des Feldherrn Diophantos errichtet. Im Text hieß es unter anderem: „Skythen, mit Saumakos an der Spitze, führten einen Umsturz durch und erschlugen den König des Bosporanischen Reiches, Pairisades. der Saumakos aufgezogen hatte. Sie zettelten eine Verschwörung gegen Diophantos an; der letztgenannte, der Gefahr entronnen, setzte sich auf ein ihm von den (chersonesischen) Bürgern gesandtes Schirl, traf in (Chersonesos) ein und rief die Bürger zur Hilfe auf. Einen eifrigen Mitkämpfer in der Person seines Entsenders Mithridates Eupator wissend, landete Diophantos zu Beginn des Frühlings (des folgenden Jahres) mit Kriegern zu Wasser und zu Lande bei uns und fuhr, nachdem sich ihm auserwählte (chersonesische) Krieger auf drei Schiifen zugesellt hatten, aus unserer Stadt, eroberte Theodosia und Pantikapaion, bestrafte die Schuldigen des Aufstands. Saumakos aber, den Mörder des Königs Pairisades, nahm er gefangen, schickte ihn in das Königreich (das heißt nach Pontos) und errichtete von neuem die Macht (über Bosporus) für König Mithridates Eupator." Das war alles, was wir über den Aufstand Saumakos' wuß37
ten. Viele Fragen standen noch offen. Wie sah Saumakos aus? Wo war er geboren, wie verlief seine Jugend? Zu welcher furchtbaren Todesstrafe hatte ihn Mithridates Eupator, der schon zu seiner Zeit durch maßlose Grausamkeit berüchtigt war, verurteilt? Um an die Macht zu gelangen, hatte dieser König seinen Bruder umgebracht und seine Mutter ins Gefängnis geworfen. Ohne zu zögern, tötete er die eigenen Kinder, nur weil er sie des Strebens nach Macht verdächtigte. Wie mochte er erst mit einem Sklaven abgerechnet haben, der es gewagt hatte, gegen das Imperium aufzustehen, das Rom vierzig Jahre lang nicht besiegen konnte! Jetzt erst begriff ich Wassili Pawlowitschs Freude. Jede neue Information über den Aufstand Saumakos' war kostbar für die Wissenschaft. Wenn wir nun gar noch die Festung fänden, das letzte Bollwerk der Aufständischen! Plötzlich entdeckten wir dort irgendwelche Handschriften, Waffen? Wohin verschwanden die Führer der Verteidiger der Festung? Sie konnten doch wahrhaftig nicht in den Himmel fliegen. Nach dem Abendessen fragte der Kapitän: „Na, wie steht's, Herr Professor, Sie haben doch sicherlich schon in Ihren Büchern nach dieser Festung gesucht . . . Wie heißt sie doch gleich . . ..?" „Tilur. Sie wird nirgends erwähnt. Natürlich habe ich hier wenig Quellen zur Hand, aber ich kann mich auch nicht erinnern, jemals davon gelesen zu haben. Dem Namen nach muß' es sich um eine Festung der Skythen handeln. Vielleicht haben sie auch die Taurier gebaut. Sie bewohnten die Küstenstriche und befaßten sich mit Seeräuberei.' Ich habe übrigens diese Gedichte entziffert." Er zog einen Zettel aus seiner Tasche, setzte die Brille auf und las die freie Übersetzung vor: „ .Erzähle, Muse, allen vom tapferen Manne, der zum Freunde hinstrebend, sich wagt' in des Ozeans Wüten. Nach Verlassen des Hafens, wo der Sieg uns gelächelt, der stürmische Zephir erfaßte das Schiff. Gott Poseidon, ergreifend den Dreizack, sandte uns im Gefolge die verschiedensten Winde. Dicht verhüllten die Wolken Erde und Meer, und vom Himmel herab senkte sich dunkel die Nacht. In die Gewalt des grauen Boreas gab uns Zephir am Morgen. Besser im Kampfe sterben, als erleiden den Zorn des Poseidon! Riesenwogen warfen des Nachts und am Tage unser Schiff hin und her. In der dritten Nacht 38
schließlich macht' der grausame Euros unser Schifllein zum Spielzeug.'" Wassili Pawlowitsch unterbrach einen Augenblick das Lesen, um dem Kapitän zu erklären: „Diese Namen sind der Mythologie entnommen, Troflm Danilowitsch. Poseidon, der Gott des Meeres, ist Ihnen ja kein Unbekannter, Boreas, das ist der Nordwind. Zephir der Westwind, Euros der Ostwind und Notos der Südwind." „Ich weiß schon, Herr Professor, keine Sorge, „entgegnete der Kapitän. „Den furchtbaren Nordost, der häufig an diesen Küsten tobt, nennen wir heute noch Boroi." „Richtig, richtig." Kratow nickte und fuhr fort: „,Wie der Nordwind im Herbst über die Ebene jagt die Büschel stachligen Grases, trug über Wogen wie Berge der Sturm unser Schiff. Bald übergab es Notos in die Klauen Boreas', bald überließ es Euros dem Zephir zur schrecklichen Jagd. Erst nach sechs Tagen legte der Sturm sich ein wenig . . .' Anstatt das Pergament mit solchen Gedichten zu bekritzeln, hätte dieser Aristippos lieber den Brief ausführlicher und gründlicher abfassen sollen." Wassili Pawlowitsch seufzte. Der
Karadag
Die Nachricht von unseren Funden versetzte halb Kertsch in Aufregung. Hier arbeiteten ständig einige archäologische Expeditionen, die das alte Pantikapaion und die rundum liegenden Bosporusstädtchen und Siedlungen ausgruben. Unser Professor wurde buchstäblich von morgens bis abends von alten und jungen Archäologen belagert, die nähere Einzelheiten über unsere Funde zu erfahren wünschten. Vor dem kleinen Häuschen am Hang des Mithridatberges, wo sich unsere Expeditionsbasis befand, drängten sich die Menschen. Schließlich wurde uns die ewige Fragerei zuviel, und Kratow beschloß, einen Vortrag im Stadtpark zu halten. Am Sommertheater stellten wir einen Teil der Amphoren aus. Swetlana hatte ein großes buntes Ausgrabungsschema mit den vermuilichen Umrissen des Schiffes gezeichnet. Zu meiner Verwunderung entdeckte ich unter den vielen Zuhörern meinen Onkel und beobachtete, wie er sich ständig Notizen machte. Kratow verstand es, lebendig und interessant 39
zu erzählen. Selbst wir, die wir alles miterlebt hatten, ließen uns kein Wort entgehen. Nach dem Vortrag wurde er mit vielen Fragen überschüttet. Endlich gingen die letzten Wißbegierigen auseinander. Nanu, wer trat denn da zu unserem Professor? Das war doch mein Onkel Ilja? „Entschuldigen Sie, Herr Professor, würden Sie mir bitte erlauben, dieses Gedicht abzuschreiben", bat er. „Sind Sie ein Dichter?" „Nein, ich bin eigentlich . . . Meteorologe", antwortete mein Onkel. „Und darf ich fragen, wozu Sie dann dieses Gedicht benötigen?" > Onkel Ilja druckste herum. Schließlich meinte er: „Wissen Sie, ich habe da so eine Idee. Sie ist allerdings noch nicht ausgereift, ich . . . Wenn Sie erlauben, ich möchte mich noch nicht präzis darüber auslassen." „Bitte, bitte sehr, wie Sie wünschen", lenkte Kratow ein. „Setzen Sie sich hierher, an den Tisch, und schreiben Sie es ab." Mein Onkelchen setzte sich an den Tisch, und während wir die Ausstellungsstücke einsammelten, schrieb er die Übersetzung des Gedichts ab. Dann überschüttete er Kratow mit Dankessprüchen und stellte ihm plötzlich eine meiner Meinung nach ziemlich unsinnige Frage: „Sie wissen nicht, wann dieses Schirl untergegangen ist? Ich meine in welcher Jahreszeit?" Kratow schaute ihn verwundert an, dachte nach und antwortete: „Wie die Chersonesische Stele zu Ehren Diophantos' bezeugt, wurde der Aufstand Saumakos' im Frühjahr niedergeworfen, vermutlich im Jahre hundertsechs vor unserer Zeitrechnung." „Im Frühjahr? Ausgezeichnet! Und in welchem .Monat?" Auf eine solche Frage konnte Wassili Pawlowitsch natürlich nur die Achseln zucken. Gott sei Dank ließ mein Onkel den Professor nun in Ruhe. Wozu mochte er bloß dieses Gedicht abgeschrieben haben? Wollte er auf seine alten Tage noch Taucher werden? Tagelang beschäftigten wir uns mit der Aufnahme unserer Funde. War das eine mühselige Arbeit! Jede Amphorenscherbe mußte genauestens beschrieben, die Zusammensetzung des Tons und der Farben untersucht werden. „Im Quadrat sechzehn 40
ein Bronzenagel ohne Kopf entdeckt", schrieb ich feierlich in das Tagebuch ein, während ich im Freien unter dem Vordach saß. Mittags wurden die Altertümer vom Tisch geräumt. Wer Küchendienst hatte, schleppte einen Rieseneimer kalte Kwaßsuppe und eine große Schüssel gebratene Kaulköpfe heraus, und wir ließen es uns schmecken. Als Nachtisch gab es gewöhnlich Wassermelonen, eine halbe je Kopf. Dann schwitzten wir wieder bis zum Abend über unseren Scherben und Nägelchen. Voller Spannung öffneten wir schließlich auch die versiegelte Amphora. Wassili Pawlowitsch neigte sie vorsichtig, und eine dunkle, dicke Flüssigkeit füllte das bereitgestellte Meßglas. „Wein!" Der Professor schnupperte. „Ohne Zweifel, Traubenwein." „Er ist zweitausend Jahre alt!" rief Natascha begeistert. Die Augen leuchteten uns bei dem Gedanken, diesen Wein zu probieren. So einen alten Wein gab es in keinem Keller der Welt! Aber unser Professor winkte ab. Nur Pawlik wagte einen schüchternen Einspruch: „Aber es ist doch für die Wissenschaft, Wassili Pawlowitsch." „Die Wissenschaft begnügt sich mit der Analyse. Sieh einer an, welche edlen Streiter für die Wissenschaft, die reinsten Märtyrer!" Der Professor dachte gar nicht daran, uns den ältesten Wein der Welt kosten zu lassen. Am nächsten Tag brachte er irgendein Papierchen, schwenkte es durch die Luft und.sagte: „Hier ist unsere Analyse. Der Wein hat sich in reinen Essig verwandelt. Stellt euch eure Gesichter vor, wenn ihr davon probiert hättet!" Kurz nach dem Mittagessen tauchte mein Onkel bei uns auf. Sein feierliches Aussehen überraschte mich noch mehr als sein Erscheinen. Er trug seinen schwarzen Sonntagsanzug, eine schwarze Krawatte und blankgewichste Stiefel. Unter seinem Arm steckte ein langes schwarzes zylinderförmiges Futteral. Ohne uns zu beachten, ging er geradewegs auf den Professor zu und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. „Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie in der Arbeit störe, aber die Sache duldet keinen Aufschub", meinte er wichtigtuerisch. „Ich hoffe, sie ist für die Wissenschaft von Nutzen." „Bitte sehr, geehrter Ilja Alexandrowitsch, treten Sie ein", forderte der Professor ihn auf. 41
Der Onkel zog eine große Rolle Papier aus seinem schwarzen Futteral und breitete sie auf dem Tisch aus. Es war eine handgezeichnete Karte der Straße von Kertsch. • „Ausgezeichnet!' lobte Kratow. „Eigene Arbeit?" „Ja."
„Sie sind ein richtiger Künstler, Ilja Alexandrowitsch!" Mir wurde klar, daß auch unser Chef nicht wußte, warum mein Onkel mit dieser Karte hier erschien. Verständnislos betrachtete er sie einige Minuten, dann fragte er: „Sagen Sie bitte, was ist das für eine Linie hier?" „Diese? Sie haben einen Blick dafür, worauf es ankommt, Herr Professor!" antwortete mein Onkelchen erfreut. „Hier habe ich die Route Ihres Schiffes eingetragen." „Unseres?" „Ja, des alten griechischen." Sofort umringten wir den Tisch und blickten Wassili Pawlowitsch über die Schultern. Von der Magdalenenbank an zog sich eine punktierte Linie zur Krimküste. Wir waren sprachlos. Kratow blickte auf die Kai>te, auf das zufrieden strahlende Gesicht des Onkels und wieder auf die Karte. Schließlich wandte er unsicher ein: „Gestatten Sie . . . Aber haben Sie denn irgendwelche Quellen?" „Ja", entgegnete der Onkel gelassen, rollte einen der mitgebrachten weißen Bogen auf und las laut wie auf der Bühne: „ , . . . Bald übergab es Notos in die Klauen Boreas', bald überließ es Euros dem Zephir zur schrecklichen Jagd . . . ' " Er hielt inne und wartete, wie ein an Applaus gewohnter Schauspieler. Wir aber begriffen überhaupt nichts. „Haben Sie es noch nicht verstanden?" fragte Onkel Ilja. „Nein", gestand Kratow ehrlich. „In .diesen Worten liegt doch der Schlüssel!" rief der Onkel aus. „Das ist die genaue Beschreibung eines Zyklons." „Eines Zyklons?" „Natürlich, eines Zyklons!" „Warten Sie, warten Sie!" murmelte Kratow, „Ich glaube, ich beginne . . ." „Sie verstehen?" Onkel Ilja freute sich. „Das liegt doch klar auf der Hand. Lesen Sie nur das Gedicht durch." Er rieb sich die Hände. „Natürlich weiß ich nicht, was für ein Dichter er 42
ist, Ihr Kapitän, aber aus ihm wäre bestimmt kein schlechter Meteorologe geworden, seine Schilderung ist typisch für den südlichen Teil eines Zyklons, der von West nach Ost zieht." Wir schauten auf Onkel Ilja wie auf einen Zauberer, der uns ein Kunststück vorführt. „Ihre Entdeckung ist verblüffend, lieber Ilja Alexandrowitsch!" Kratow drückte ihm kräftig die Hand. „Aber verzeihen Sie, ich verstehe immer noch nicht, wie Sie daraus Schlüsse auf die Fahrtroute des Schiffes ziehen konnten." „Berechnungen, Berechnungen, werter Professor! Die Mathematik ist eine genaue Wissenschaft. Jede Windänderung beeinflußt den Kurs eines Segelschiffes. Von Kertsch aus, oder wie Sie wollen, von Pantikapaion, konnte dieses Schiff nicht in See stechen. Dazu ist die Entfernung bis zum Ort des Untergangs zu kurz. Außerdem: Bei einem starken Zyklon wäre es nicht aus der Straße von Kertsch herausgekommen, sondern auf die Sandbank bei Tusla aufgelaufen. Aus Chersonesos konnte das Schiff ebenfalls nicht sein, dazu ist der Weg wiederum zu weit, vor allem bei einem solchen Sturm. Außerdem wäre es bei dem starken Westwind sicherlich am Kap Meganom zerschellt. Demnach bleibt nur . . ." Wie auf Kommando beugten wir uns über die Karte: Die punktierte Linie, die den Weg des gesunkenen Schiffes angab, nahm ihren Anfang in Theodosia, dem heutigen Feodossija. „Theodosia . . .?" wiederholte Kratow. „Vielleicht haben Sie recht. Hier verlief die Grenze des Bosporanischen Reiches. Von da bis Chersonesos lebten an der Küste die Taurier, und in der Steppe — die Skythen. Theodosia . . . Und dicht dabei der Karadag. Vielleicht ist mit der .rauhen und wilden Gegend am Ufer des Pontos Euxeinos' der Karadag gemeint?" Hatten wir den Ort gefunden, wo die sagenhafte Festung Tilur lag, die letzte Zufluchtsstätte der aufständischen Sklaven? Mit der Miene eines Menschen, der seine Pflicht getan hatte, rollte mein Onkel die Karte zusammen, legte seine Berechnungen dazu und stopfte alles in das Futteral. „Ich bitte Sie, Herr Professor, nehmen Sie es als meinen Beitrag zur archäologischen Wissenschaft. . . " So einer war er also, mein Onkel! Gleich am nächsten Morgen brachen wir zum Karadag auf. Wassili Pawlowitsch hatte von einer anderen Expedition • 43
einen Lastwagen geliehen, da es ihm gefährlich schien, mit unserem kleinen Kutter nach Feodossija zu fahren. „Wir wollen sehen, daß wir ein Schiffchen auf der Karadager Biologischen Station bekommen", sagte er. Der Karadag gefiel uns auf den ersten Blick: Wilde, zerklüftete Felsen fielen steil ins Meer ab. Da wir die Biostation vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr erreichen konnten, übernachteten wir an einem Berghang in unserem Zelt. Am nächsten Morgen machte sich Wassili Pawlowitsch in aller Frühe zur Biostation auf und kehrte nach anderthalb Stunden mit guten Nachrichten zurück. Für eine ganze Woche wollte man uns das elegante weiße Schiffchen leihen, das wir schon am Vorabend vom Berg aus bewundert hatten. Es war ein Trawler', speziell für kleine Expeditionsfahrten umgebaut. Alles an ihm war niedlich. Das Zwischendeck mit den vier Kojen, die Kapitänsbrücke, die nicht einmal mannshoch war, die Miniaturkombüse von der Größe eines Kleiderschranks. Die Besatzung bestand aus drei jungen, braungebrannten Burschen: dem Kapitän Sergej, dem Maschinisten Shenja und dem Matrosen Walja. Walja machte das Tau los, Sergej sprang auf die Brücke und stellte sich ans Steuerrad, Shenja verschwand in der Luke und ließ den Motor an. Fünf Minuten später fuhren wir stolz aufs Meer hinaus. Unser junger Kapitän führte das Schiff sicher an der Küste entlang. Mit jeder Minute tauchten vor uns neue Bilder auf, eins herrlicher als das andere. Drohend erhoben sich finstere rötliche Felsen über unseren Köpfen. Ein Felsen hatte sich von dem Massiv abgespalten und stand so schief, daß wir uns wunderten, wieso er nicht schon längst ins Meer gefallen war. Ein anderer sah aus wie ein Riese, in ein düsteres Gewand gehüllt bis zu den Brauen. „Das ist Iwan der Räuber", erklärte Shenja. Der Maschinist war halb aus der Luke gekrochen und erfreute sich mit uns an der bizarren Küste. Das Schiff bog um einen Felsen, und wir brachen in Begeisterungsrufe aus. So an die achtzig Meter vom Ufer entfernt erhob sich ein gigantisches Felsentor aus dem Meer. „Das Goldene Tor des Karadag!" schrie Sergej von der Brücke und lenkte unser Schiffchen auf den Bogen zu. Er wuchs und 44
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wuchs, kam immer näher, die Pfeiler des Bogens rückten auseinander, unser Trawler fuhr hindurch. Hunderte aufgescheuchter Möwen kreisten schreiend unter dem steinernen Gewölbe. Gegenüber dem Goldenen Tor schnitt eine kleine Bucht ins Ufer. „Grenzbucht" stand auf der Karte vermerkt. Hier mußten wir unbedingt suchen. Dieser Ort war wie geschaffen für eine Festung. Die steilen Felsen machten es fast unmöglich, vom Lande her an die Bucht heranzukommen. Eine kleine Befestigung auf der Kammhöhe hätte genügt, um die Festung nahezu uneinnehmbar zu machen. Aber das Schiff jagte flink weiter, und vor uns tauchten immer neue und wunderbare Bilder auf. An einem Felsen entdeckten wir oben einen dunklen Fleck, er sah aus wie der Eingang zu einer schmalen Spalte, die ins Innere des Berges führt. „Das ist die Mäusespalte", erklärten uns die Seeleute. „Sie heißt so, weil dort Fledermäuse wohnen." „Pfui, wie scheußlich!" rief Natascha sofort und fragte ängstlich: „Aber am Tage fliegen sie doch nicht?" „Nein, tagsüber schlafen sie." Natascha war beruhigt. „Und nachts werde ich da nicht hinkriechen." Bald darauf fuhren wir in die Serdolikowajabucht ein. Hier spürte man schon die Nähe des Kurortes Planjorskoje, am Strand lagen viele Menschen und sonnten sich. Unser Professor beschloß, in dieser Bucht anzufangen. Wie du mir, so ich dir
Unsere neue Suchetappe begann mit Mißerfolgen. Im Verlaufe von zwei Tagen scharrten wir fast den ganzen Grund der Serdolikowajabucht auf, entdeckten jedoch nichts. Das wunderbare kristallklare Wasser versöhnte uns ein wenig mit unserem Pech. Der Grund war mit grobem Sand und mit Kieseln be«deckt. Stand man auf dem Fallreep, so war bis zu einer Tiefe von fünfzehn Metern jedes Steinchen zu erkennen. Es gab eine Menge kleiner Fische hier. Besonders hübsch waren die Lippfische: leuchtendgrün oder blau, manchmal mit roten oder gelben Flecken, die ihnen ein tropisches Aussehen verleihen. Sicherlich sind ihre Vorfahren aus fernen warmen Ozeanen in das Schwarze Meer geraten. Sie vertragen nämlich 45
auch kein kaltes Wasser und halten in Felsspalten und unter großen Steinen ihren Winterschlaf. Mit ihren spitzen, festen Zähnen, wie sie kein anderer Schwarzmeerbewohner besitzt, zerbeißen sie mühelos sogar harte Muscheln. Bei dieser Beschäftigung trafen wir sie dann auch meist an. Sie tummelten sich in bunten Schwärmen am Grund und nagten von den Steinen die Muscheln ab. Dabei ließen sie sich durch uns nicht im geringsten stören. Auf den sandigen Plätzen ernährten sich die kleinen Meerbarben mit ihren ulkigen, vorn abgeschrägten Köpfen. Geschickt wühlten sie damit im Sand auf der Suche nach kleinen Krebsen und Krabben. Bald erkannten wir die Futterplätze der Meerbarben schon von weitem an der leichten Trübung des Wassers, die sie mit ihren „Wühlern" verursachten. Doch wir waren nicht hierhergekommen, um die Fische zu beobachten. Der Herbst hatte bereits eingesetzt, es blieb uns wenig Zeit. Wir siedelten in die benachbarte Barachtybucht über. Natascha und ich tauchten am Fuße eines großen Felsens. Beinahe wäre dieser Tag der letzte in meinem Leben geworden. Ich glitt am Felsen entlang in die Tiefe und hielt mich dabei an den Wasserpflanzen fest. Die Sonnenstrahlen drangen bis auf den Grund und tanzten über das Geröll und den sauberen Sand. Auf einigen großen Steinen am Fuße des Felsens schwankten die langen, scharlachroten Bänder einer Wasserpflanze, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Die Tiefe hier überstieg keine fünf Meter, deshalb war das kräftige Rot kaum getrübt. Natascha hob zum Zeichen der Begeisterung den Daumen und schwamm dann weiter, dem offenen Meer zu. So hatten wir es oben vereinbart. Sie fürchtete sich davor, zwischen den Steinen zu suchen. Ich schaute mir Meter für Meter den Grund am Fuße des Felsens an. Eine Viertelstunde verging, als ich plötzlich auf eine Schmutzwolke aufmerksam wurde, die ein Stück links von mir über dem Sand aufstieg. Sicherli :h ästen dort Meerbarben. Aber so sehr ich mir die Augen ausguckte, ich konnte kein einziges Fischlein entdecken. Das wunderte mich, ich schwamm näher. Hoben sich da nicht vom hellen Sand die Konturen eines merkwürdigen Gegenstandes ab? Lag dort nicht etwas verborgen? (6
Mein Herz schlug freudig. Vielleicht hatte ich wieder Glück und stieß als erster auf die Spur einer alten Ansiedlung? Den Umrissen nach mußte eine Marmorplatte unter dem Sande liegen. Vielleicht gar mit einer Inschrift . . .'? Ich streckte die Hand aus, um den Sand wegzustreifen — und erhielt im selben Augenblick einen so furchtbaren Schlag, als bohrten sich hundert spitze Dolche auf einmal in meine Handfläche. Ein plinsenflacher, biegsamer Körper bäumte sich vor mir auf, eine Wolke Bodensatz wirbelte hoch, weiße und schwarze Streifen flimmerten vor meinen Augen. Ich fiel mit dem Gesicht in den Sand und verlor das Bewußtsein . . . Das erste, was ich sah, als ich die Augen öffnete, war der hohe blaue Himmel und die schwankenden Spitzen der Mäste. Ich lag auf einer feuchten Matratze an Deck unseres Trawlers. Neben mir saß Swetlana und las in einem Büchlein. Als sie merkte, daß ich aufgewacht war, beugte sie sich hastig über mich und flüsterte: „Bleib liegen, bleib liegen. Du darfst dich nicht rühren! Hast du Durst?" Ich wollte mich ein wenig erheben, fühlte aber plötzlich einen so fürchterlichen Schmerz in der rechten Hand, daß ich ungewollt aufstöhnte. Die Hand war schwer wie Blei und schien mir überhaupt nicht zu gehorchen. Eine Minute später umringten mich alle Mitglieder der Expedition. „Was ist passiert?" flüsterte ich. „Ein Stechrochen", entglitt es Natascha. Sie machte große Augen. „Schrecklich!" Ich konnte mich nur schwach an den unter Wasser aufblitzenden Körper mit den schwarz-weißen Streifen erinnern. „Erzählt der Reihe nach", bat ich. „Zuerst sah dich die zurückkehrende Natascha", sagte Kratow. „Du lagst auf dem Sand . . ." „Ich bin so erschrocken, daß ich unter Wasser geschrien habe, stell dir das vor", sprach das Mädchen dazwischen. „Ich hab' Wasser geschluckt, brrr!" „Sie schoß nach oben, und wir wußten sofort, daß dir etwas zugestoßen ist", erzählte der Professor weiter. „Außerdem hattest du nicht auf das Signal geantwortet — obwohl das bei dir keine Seltenheit ist." Hier blickte er mich streng an. „Zum 47
Glück hatte Aristow die Ausrüstung noch nicht abgelegt und eilte dir sofort zu Hilfe. Er und Natascha zogen dich heraus." Ich schaute auf Michail, mühte mir mit starren Lippen ein Lächeln ab und sagte: „Wir sind also quitt! Ich dank dir." „Keine Ursache: Wie du mir, so ich dir. Gut, daß dir das Mundstück nicht herausgerutscht ist. Sonst wäre ich dein Schuldner geblieben." „Aber wie ist das nur gekommen?" fragte ich. „Bitte, sprich nicht mehr, sonst wird dir schlecht", wies mich Swetlana streng zurecht. Anscheinend hatte sie sich ernsthaft vorgenommen, die Rolle der barmherzigen Schwester zu spielen. „Ein Stechrochen hat dich verletzt", gab Kratow zur Antwort. Mir fiel ein, mit welchem Abscheu der Fischer auf der „Almas" diese gräßlichen Tiere über Bord warf. Also hatte sich so ein Scheusal im Sande versteckt. Und ich hielt es noch für eine kostbare alte Marmorplatte! Ich wollte meine verwundete Hand betrachten. Aber man erlaubte es mir nicht. Ich hätte es ohnehin nicht vermocht, denn jede Bewegung verursachte mir unerträgliche Schmerzen. „Wohin fahren wir?" fragte ich und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen. „Nach Planjorskoje, zum Krankenhaus", antwortete Swetlana rasch. „Beruhige dich, wir sind schon da." Wahrhaftig, der Motor hörte auf zu tuckern, und Walja rannte mit einem langen Bootshaken zum Bug. Laut knirschte das Geröll unter dem Kiel. Die Jungen ergriffen meine Matratze und schleppten mich auf den Anlegesteg. Endlich konnte ich meine Hand sehen. Sie war blau und heftig geschwollen. Aus der Handfläche ragte ein tief eingedrungener fester Stachel. Ich will nicht erzählen, wie ihn die Ärzte aus der Hand herausschnitten, die Operation dauerte lange und war höchst schmerzhaft. Den Stachel schenkte mir der Chirurg zur Erinnerung. Obgleich ich dieses Abenteuer schwerlich vergessen werde. Als ich mich nach der Operation wieder etwas gefaßt hatte, schaute ich ihn mir gut an. Es war eine kleine, sehr spitze Knochennadel. Man konnte sich den Stachel nicht einfach aus der Wunde ziehen, er hatte Widerhaken wie eine Harpune. 43
Spater erzählten mir die Mitarbeiter der Bio-Station, daß der Sicchioehen nicht nur eine, sondern zwei oder drei solcher Nadeln hat. Mit furchtbarer Kraft stößt er sie in sein Opfer. Aber das ist noch das wenigste. Jede Nadel ist mit beißendem giftigem Schleim bedeckt, der die Heilung der Wunde stark verzögert. Ich mußte zwei Wochen mit Tauchen aussetzen. Das gab mir den Rest. Aus der Arbeit ausscheiden, jetzt, wo jedermann gebraucht wurde! Aber die Schwellung nahm nur sehr langsam ab. Ich konnte die Hand kaum bewegen, als sei sie gelähmt, und mußte mich wohl oder übel in mein Los schicken. So lag ich denn als einziger Patient in einem leeren Krankenzimmer, während draußen die Sonne schien und das Meer rauschte. Nur gut. daß mich die Freunde nicht vergaßen. Sie besuchten mich fast jeden Abend, brachten mir Bücher und erzählten, was sie tagsüber erlebt hatten. Eine Woche verging, und es wurde mir immer unerträglicher, so allein herumzuliegen. Ausgerechnet an diesem Abend besuchte mich keiner. Gestern waren sie zur Grenzbucht aufgebrochen, die gegenüber dem Goldenen Tor lag. Ohne Licht anzuknipsen, lag ich im dunklen Krankenzimmer und hing meinen trüben Gedanken nach. Plötzlich tauchte im Fenster ein zerzauster Kopf auf. „Kolja. schläfst du?" fragte eine bekannte Stimme leise. Ea war Pawlik. „Nein, komm schnell herein", rief ich erfreut. Ungeschickt kletterte er durchs Fenster und knipste das Licht an. ..Bist du allein?" „Ja", antwortete er mit einer geheimnisvollen Miene. „Die anderen wollten nicht kommen, sie dachten, du schläfst schon. Aber ich kann es nicht erwarten, dir etwas mitzuteilen." „Was?" Ich richtete mich im Bett auf. Er streckte mir die Hand hin und öffnete langsam die Faust. Auf seiner Handfläche lag ein ebensolcher Stachel wie der, mit dem mich der Rochen bedacht hatte. „Was. ist wieder jemand gestochen worden?" fragte ich erschrocken. Er lachte und hielt mir den Knochendorn direkt unter die Nase. ..Nimm ihn" in die Hand und schau ihn dir einmal ganz g e n a u an."
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Ohne zu begreifen, drehte ich den gezackten Stachel in den Händen. Er sah nicht anders aus als meiner. „Bist du denn blind?" schrie Pawlik. „Er ist doch durchbohrt!" Jetzt erst bemerkte ich am Anfang des Stachels ein kleines Loch. „Na und?" „Das kann sich doch nicht von allein bilden!" Meine Begriffsstutzigkeit machte ihn langsam gereizt. „Jemand hat ihn durchbohrt! Dieser Dorn war die Spitze eines Wurfspießes oder eines Pfeils. Wir haben auf dem Meeresgrund die Reste einer Steinmauer gefunden, und da hat er gelegen. Ich habe ihn entdeckt. Dort muß ein Kampf gelobt haben. Verstehst du, wir haben Tilur gefunden!" Jetzt war mir alles .klar. Ich vergaß meine kranke Hand, sprang auf und wollte mich anziehen. Zum Kuckuck, die Schwester hatte meine Kleider weggenommen! „Habt ihr noch mehr gefunden?" „Nein, noch nicht. Wir sind erst beim letzten Tauchen darauf gestoßen. Es war schon Abend. Deshalb sind auch die anderen nicht mitgekommen. Sie sind müde, sitzen am Lagerfeuer und debattieren." „Du bist ein großartiger Freund!" sagte ich und drückte ihm fest die Hand. „Sei so nett und beschaff mir Hemd und Hose. Ich komme mit." „Was fällt dir ein? Du bist doch krank!" stieß er entsetzt hervor. „Kratow jagt dich fort." „Denkst du vielleicht, ich liege hier herum, während ihr die Festung ausgrabt? Ich geh' ja ein vor Langeweile!" Pawlik dachte nach, dann sagte er besonnen: „Nein, du darfst die Disziplin nicht verletzen." „Gut, ich bleibe noch eine Nacht hier. Aber schwöre, daß du Kratow überredest, morgen früh jemand nach mir zu schicken. Die Hand ist schon fast heil. Siehst du, wie ich sie betfltegen kann? Erzähl das Kratow! Ich will ja noch nicht tauchen. Ich liege auf dem Deck, an der frischen Luft werde ich schneller gesund als hier. Hörst du? Den Ärzten kann es doch egal sein, wo ich liege." „Schon gut, schon gut!" Pawel stoppte meinen Redestrom. „Reg dich nicht auf. Natürlich wird Wassili Pawlowitsch damit einverstanden sein. Wir werden ihn überreden . . . Aber jetzt muß ich gehen." 50
Pawlik hielt Wort. Am nächsten Morgen holten mich alle Mann ab. Wassili Pawlowitsch bürgte dem Arzt dafür, daß ich noch mindestens eine Woche völlige Ruhe habe, und ich wußte, er würde es sehr genau damit nehmen. Er wies mir eine Matratze zu, die vor der Brücke unter einem kleinen Segeltuchdach lag, und sagte: „Sofort hinlegen und keinen Schritt vom Fleck!" Das paßte mir zwar nicht ganz, aber ich mußte mich dareinschicken. Unser Schiffchen ankerte mitten in der Grenzbucht, nicht weit vom Goldenen Tor. Die Kameraden zogen die Taucheranzüge an, tauchten, kehrten mit ihren Funden zurück, und ich lag da wie ein Invalide. Zwar konnte ich alles sehen und hören, aber das war mir viel zuwenig. Zusammen mit Pawlik, dem Maschinisten Shenja und dem Matrosen Walja übernachtete ich auf dem Trawler. Die anderen blieben am Ufer. Wir lagen nebeneinander auf unseren Matratzen und schauten zu dem Zelt und dem Lagerfeuer hinüber. Michail und Pawlik fanden drei aus Rochenstacheln hergestellte Spitzen und Swetlana eine ätark korrodierte kupferne Speerspitze. Das war alles. Freilich holten sie noch vier große, glatt behauene Steine vom Grund herauf. Aber es waren keinerlei Zeichen darauf zu entdecken. Es mußten wohl Steine aus der Festungsmauer sein. Unser Traum jedoch war es, den Schatz zu finden, der in dem Brief erwähnt wurde. Ein
nächtliches
Abenteuer
Die Tage vergingen, doch unsere Stimmung besserte sich nicht. Die wenigen Funde brachte» nichts Neues. Es waren die kläglichen Überreste alter Waffen, Metall- oder Knochenspitzen von Lanzen, Wurfspießen und Pfeilen, auch Scherben von Gefäßen, wie man sie bei Ausgrabungen skythischer Kurganc oder griechischer Niederlassungen auf dem Lande ebenfalls findet. Lohnte es sich überhaupt, danach zu tauchen? Eins wurde uns jedoch klar. Nachdem die Belagerer die Festung gestürmt hatten, taten sie alles, um sie buchstäblich dem Erdboden gleichzumachen. In blinder Wut über das geheimnisvolle Verschwinden des begehrten Schatzes und die Flucht der 51
Anführer, schlugen sie alles kurz und klein und zerstörten die Festungsmauer bis auf den Grund. Wir wollten die Überreste nicht ausgraben, sondern nur oberflächlich säubern, um so einen Grundriß der zerstörten Festung zu erhalten. Sie hatte dicht am Wasser gestanden. Der Meeresspiegel mußte seinerzeit neun Meter tiefer gelegen haben. Ein Stück Festungsmauer ersetzte ein hoher steiler Felsen. Je länger wir den Plan betrachteten, desto unbegreiflicher wurde uns. wohin die Anführer geflohen sein konnten. Kratow schaute auf das im Sonnenlicht glitzernde Meer, auf die hohen Felsen rings um die kleine Bucht, als erwarte er eine Antwort. Aber die Berge schwiegen, und das Meer rauschte träge und teilnahmslos wie vor Jahrhunderten. Eines Tages erhob sich ein heftiger Wind. Unser Kapitän schaute unruhig nach den Wolken, die an den spitzen Berggipfeln hängengeblieben waren, und beschloß, vorsichtshalber an Bord zu übernachten. Als die Sonne hinter dem Karadag unterging, lenkte er unser Schiffchen ans Ufer. Ich lag da. die Hände unter dem Kopf, blickte in den Himmel und dachte angestrengt über das rätselhafte Verschwinden der Anführer nach. Aber eine einigermaßen vertretbare Lösung bot sich mir nicht. Um mich abzulenken, griff ich zum Buch. Ich las — zum wievielten Male bereits! — das wundervolle Buch von Jacques Cousteau „In der Welt des Schweigens'' und war gerade bei dem Kapitel angelangt, wo er mit seinen Kameraden in die unter Wasser stehende Höhle taucht. Ein kleines Lämpchen, das über meinem Kopf an den Wanten schwankte, spendete mir Licht. Alle anderen schliefen, auch das Lagerfeuer am Ufer war erloschen. Um den kleinen Lichtfleck der Lampe stand die schwarze Wand der Nacht, dumpf rauschte das Meer in den Felsen. Schließlich schob ich das Buch unter das Kopfkissen und schlief ein. Mir träumte, daß ich selbst in einem Taucheranzug in eine Höhle klettere. Der Eingang war sehr schmal, und ich dachte im Traum: Wie mögen nur Saumakos' Mitstreiter hier durchgekommen sein. Mit diesem Gedanken erwachte ich. Es war tiefe Nacht. Das Meer hatte sich beruhigt. Über den schwarzen Bergriesen leuchteten große helle Sterne. Mein Herz schlug schnell. . . Ein Höhle . . . Natürlich, in dem 52
Felsen mußte eine Hohle sein, deren Eingang schon zur Zeit Saumakos' unter Wasser stand. Nur dort konnten sich die am Leben gebliebenen Verteidiger der Festung verbergen und den Abzug der Feinde abwarten. Daß keiner von uns früher daraufgekommen war! Ich freute mich über meine Idee und war gleichzeitig betrübt. Solange meine Schonzeit nicht verstrichen war, würde mir unser Professor bestimmt nicht erlauben, nach der Höhle zu suchen. Aber konnte ich das nicht sofort tun? Leise anziehen, tauchen und unbemerkt zurückkehren? Wenn ich dann morgen von meiner Entdeckung erzählte, würde mich Kratow vor lauter Freude nicht ausschimpfen: Sieger richtet man nicht! Leise schlich ich mich zum Heck, fand, ohne Licht zu machen, meine Ausrüstung. Den Taucheranzug zog ich nicht an, das Wasser schien mir warm genug, und meiner Berechnung nach lag der Eingang in die vermutete Höhle nicht tiefer als fünfzehn Meter. An den Wanten hingen die Lampen, die wir bei größeren Tiefen benutzten. Ich suchte mir die stärkste aus. Nachdem ich tastend meine Vorbereitungen getroffen hatte, kletterte ich ebenso vorsichtig über die Reling und stieg das Fallreep hinab. Noch nie war ich nachts getaucht. Zuerst schien mir, daß ich nicht in Wasser, sondern in Tinte tauche, so finster war es um mich. Aber nach einigen Minuten merkte ich, daß diese Finsternis mit geheimnisvollem Licht angefüllt war. Ich brauchte nur die Hand zu bewegen, und nach allen Seiten stoben bläuliche Fünkchen. Meine Arme leuchteten sanft, als seien sie mit Phosphor bedeckt. Ich hob den Kopf und schaute nach oben. Uber dem Meer lag die Nacht, dennoch drang Licht zu mir — totenbleich und überirdisch, als befände ich mich auf einem anderen Planeten. Ich knipste hastig meine Lampe an, ohne zu bedenken, daß mich das Licht verraten könnte. Das schmale Lichtbündel setzte sich gegen die Dunkelheit nicht durch. Sie wurde noch dichter, noch geheimnisvoller. Ich knipste das Licht aus und schwamm, allmählich tiefer gleitend, zu dem steilen Uferfelsen, an dem die Festung gestanden hatte. In der Dunkelheit stieß ich heftig dagegen und knipste darum die Lampe wieder an. Die Steine warfen weiche, 53
fließende Schatten, schienen sich zu bewegen. Unter meinen Füßen huschte ein aufgescheuchter Fisch davon. Mir dünkte er so groß wie ein Hai. Ich zwang mich zur Ruhe und nahm nur fest vor, nicht umherzublicken. Langsam schwamm ich an dem Felsen entlang. Ungefähr nach drei Metern bemerkte ich eine dunkle Vertiefung. Aber es war keine Höhle, nur ein schmaler Spalt. Nach einer Weile verspürte ich leichte Kälte. War ich schon zu lange unter Wasser? Ich knipste die Lampe an und schaute auf meine Uhr! Erst zweiundzwanzig Minuten waren vergangen. Vielleicht war das Wasser hier, am Ufer, kühler? Ohne weiter darüber nachzudenken, fuhr ich fort, den Felsen zu untersuchen. Es verstrichen noch zehn Minuten, eine Viertelstunde. Plötzlich sah ich dicht über meinem Kopf ein schwarzes Loch. Ich leuchtete mit der Lampe. Ihr Strahl drang ungefähr zwei Meter vor und verlor sich dann im Dunkeln. Das Loch führte tief in den Felsen hinein. Der Gang war ziemlich breit, ich konnte ungehindert eindringen, ja ich stieß nicht einmal mit den Flaschen an. Immer tiefer schwamm ich in die Höhle. Ich fühlte mich nicht gerade wohl dabei. Plötzlich blieb ich mit dem rechten Luftschlauch hängen, und gleich so fest, daß ich kaum den Kopf bewegen konnte. Ich durfte nicht zu stark zerren, sonst riß der Schlauch ab, und die Maske füllte sich mit Wasser. Also versuchte ich, zurückzuweichen, aber auch das ging nicht. Ich saß fest wie in einer Falle. Nur nicht aufregen, nur nicht aufregen, redete ich mir ein. Ruhig überlegen. Das ist das erste Gebot des Tauchers. Langsam drehte ich den Kopf und versuchte erneut, mich zu befreien. Nach fünf Minuten wurde ich müde. Als ich mich ausruhen wollte, begann ich sofort zu frieren. Das Wasser war merklich abgekühlt. Kam die kalte Strömung etwa aus der Höhle? Aber ich spürte nicht, daß sich das Wasser bewegte. Endlich verfiel ich auf einen rettenden Gedanken. Ich mußte die Flaschen und die festgehakte Maske in Stich lassen und nach oben tauchen. Von Minute zu Minute wurde das Wasser kälter, mir krampften sich schon die Hände zusammen. Es war also höchste Zeit, und ich ging daran, meinen gefährlichen Plan auszuführen. 54
Zuerst schnallte ich die Riemen ab, die das Preßluttgerät hielten. Dann atmete ich mehrmals tief ein und aus, pumpte die Lungen voll Luft, riß die Maske vom Gesicht und schwamm, mich von den Wänden abstoßend, eilig aus der Falle hinaus. Als der Tunnel zu Ende war, stieß ich mich noch einmal kräftig ab und schoß nach oben, der frischen Luft, dem Leben entgegen!
Der Schatz der Skythen Mir schien, ich würde nie die Oberfläche erreichen. Heftig drängte es mich, den Mund zu öffnen und zu atmen, aus voller Brust zu atmen! Mit größter Anstrengung rang ich diesen panischen Wunsch nieder. Erst in dem Augenblick, als mein Kopf über Wasser auftauchte, öffnete ich den Mund. Ich atmete gierig und tief und schnaubte wie ein Seehund. Zum Glück hörte mich niemand. Ich schwamm zu unserem Schiff. Das Wasser war geradezu eisig. Meine Arme krampften sich vor Kälte zusammen, mit Mühe kletterte ich auf das Fallreep. An Bord schlief alles. Erst als ich mich zähneklappernd auf mein Lager stahl, hob jemand den Kopf — ich glaube, es war der Kapitän Sergej — und fragte verschlafen: „Was wirtschaftest du da herum?" Aber ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er den Kopf wieder aufs Kissen fallen und schnarchte weiter. Ich aber deckte mich mit zwei Zeltplanen zu und wurde trotzdem nicht warm. Schließlich aber taten die Aufregung und die Müdigkeit das ihre, und ich versank in tiefen, festen Schlaf. Als ich aufwachte, schien die Sonne, am Himmel zogen Wolken. Ich hörte das Plätschern von Rudern und sich nähernde Stimmen. Unsere Kameraden kamen zum Schiff. Wie sollte ich Kratow das Verschwinden meines Preßluftgeräts erklären? Als er an Bord gestiegen war, begrüßte ich ihn und fragte: „Wassili Pawlowitsch, darf ich Sie einen Augenblick allein sprechen?" Er blickte mich mißtrauisch an. „Wenn es das Tauchen betrifft, so mußt du den Arzt befragen." „Nein, ich . . . Es ist. . . eine wichtige Sache." Neugierig wurden wir umringt. „Gut." Kratow nickte. „Gehen wir in die Messe." Wir stiegen hinunter und setzten uns an das schmale Klapp55
tischchen. Wassili Pawlowitsch schaute mich abwartend an. Wie sollte ich meine Beichte beginnen? „Verstehen Sie, es handelt sich darum", stieß ich schließlich hervor. „Mein Preßluftgerät ist untergegangen." „Ihr Preßluftgerät? Wo? Wieso?" „In der Höhle. Machen Sie sich keine Sorgen, die Kameraden können es leicht heraufholen." „Ich verstehe nichts!" Er schüttelte unwillig den Kopf. „Bitte, erzähl vernünftig. Was für eine Höhle?" Ich faßte Mut. Sein sonnengebräuntes, hageres Gesicht wechselte während meines Berichts ständig seinen Ausdruck, spiegelte Verwunderung, Zorn und Freude wider. „Und du hast diese Höhle gefunden?" fragte er dann. „Es scheint so", meinte ich unsicher. Er schwieg einige Minuten. Dann schaute er mich forschend an: „Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll. Wann endlich hört dieser verflixte kindische Anarchismus bei dir auf. Ganz allein etwas entdecken wollen! Wie töricht von dir. Wie kommst du nur zu dieser Selbstüberschätzung? Was vermagst du denn allein? Das gesunkene Schiff halfen uns die Fischer linden. Den Weg zu der Festung hat uns dein Onkel, ein Meteorologe, gewiesen. Hunderte von Gelehrten haben wie bei einem Mosaik Steinchen für Steinchen zusammengetragen und so ein Bild der fernen Vergangenheit unserer Heimat geschaffen. Was kannst du in der Wissenschaft allein ausrichten?" Ich ließ den Kopf hängen. Als ob ich nicht selbst wußte, wie töricht und kindisch ich gehandelt hatte. Er seufzte und fuhr fort: „Nach diesem Kunststückchen müßte ich dich eigentlich davonjagen. Nur eins hält mich davor zurück. Und weißt du was? Nicht, daß du diese Höhle gefunden hast. Sieger werden auch gerichtet, da irrst du dich. Aber es gefällt mir, wie du dich in dieser gefährlichen Situation bewährt hast. Das allein läßt mich hoffen, daß du schließlich doch mal erwachsen wirst. . ." Völlig unerwartet stieß er mir dann die Faust in die Brust und fügte in einem gänzlich anderen Ton hinzu: „Und nun nach oben! Wir wollen uns deinen Fund ansehen!" Als wir aufs Deck kamen, zogen Aristow und Swetlana die Taucheranzüge an. Kratow wunderte sich. „Das Wasser ist sehr kalt, Wassili Pawlowitsch", klagte Nata56
scha. „Gestern waren es zwanzig Grad, heute sind es nur noch sechs." „Das liegt am Wind", erklärte Sergej, unser Kapitän. „Gestern blies er von der Küste her und trieb die warme obere Wasserschicht ins Meer. Von unten, aus der Tiefe, steigt nun das kältere Wasser hoch. Das geschieht hier oft. Aber der Wind hat sich gedreht. Morgen wird die Wassertemperatur wieder normal sein . . . Inzwischen können wir in eine andere Bucht fahren . . . " „Nein, wir bleiben hier, meine Freunde", antwortete der Professor und blinzelt mir unbemerkt zu. „Uber Nacht sind Ereignisse eingetreten, die uns zwingen, gerade hier weiterzusuchen." Natürlich erhob sich ein Heidenlärm. Alle wollten wissen, was geschehen sei, und so mußte ich von neuem über mein nächtliches Abenteuer berichten. Dann bestürmten alle Kratow, sofort mit der Erforschung beginnen zu dürfen. Aber er wollte nichts davon wissen. „Ihr habt doch gehört, daß es nicht leicht ist, mit einem Preßluftgerät in die Höhle einzudringen. Der Taucheranzug behindert ja noch mehr. Wir müssen uns bis morgen gedulden." Am nächsten Tag wachte ich früh auf. Die Sonne trat eben erst hinter dem kahlen Gipfel hervor. Sogleich hängte ich das Thermometer ins Wasser; zehn Minuten stand ich über die Reling gebeugt und wärmte es gleichsam mit meinen Blicken. Sergej hatte recht gehabt, die Wassertemperatur betrug wieder achtzehn Grad. Nach einer halben Stunde befanden sich alle, die am Ufer übernachtet hatten, an Bord. Sergej führte unser Schiffchen dicht an die Felsen heran und gab Befehl zum Ankern. Ich hatte große Bange, Kratow würde mir verbieten, mit den anderen zu tauchen. Aber er sagte kein Wort, als ich das Reservepreßluftgerät kontrollierte. Im Gegenteil, als wir uns aufgestellt hatten erklärte er: „Zuerst tauchen Aristow und Kosyrjow. Er hat sein Preßluf'tgerät verloren, mag er es selbst holen. Das zweite Paar sind Pawlik und Boris. Die Mädchen stehen Wache, bis die Lage geklärt ist." Swetlana schnaufte ärgerlich. Natascha aber schien es recht zu sein, daß sie nicht in die Höhle brauchte. „Nikolai mag als erster hineinkriechen", fuhr unser wunder57
voller alter Professor fort. „Er kennt den Weg. Du, Michail, erweist ihm bei der kleinsten Gefahr Hilfe. Nehmt außer den Handlampen noch den Projektor mit!" Schnell setzte ich die Maske auf und stieg aufs Fallreep. Vielleicht überlegte es sich Kratow noch anders. Jemand reichte mir einen Projektor in einem wasserdichten Gehäuse. Das starke Kabel behinderte mich beim Schwimmen, aber dafür brauchte ich nicht im Finstern umherzuirren wie des Nachts mit meinem kläglichen Lämpchen. Unter Wasser versuchte Michail, mich zu Überholen. Ich drohte ihm mit der Faust und schwamm sSineller. Das Meer war, von den Sonnenstrahlen durchdrungen, einladend wie eh und je, und kam mir nicht im geringsten rätselhaft vor. Dort war der dunkle Eingang zur Höhle. Daß er keinem früher aufgefallen war! Aber es hatte ihn ja niemand gesucht. Ich knipste den Projektor an und kletterte mutig in den Tunnel. Ein ganzer Schwärm kleiner Fische eilte in die Dunkelheit davon. Noch einige Meter weiter, und ich sah meine Maske. Sie hing an einer großen Muschel, die am Gewölbe des Tunnels haftete. Der Gang verbreiterte sich immer mehr und stieg an. Die Wände traten zurück, wir befanden uns in einer geräumigen Grotte. Ich leuchtete mit dem Projektor nach allen Seiten. Direkt unter mir glänzte es matt. Ich richtete das Licht darauf und glitt tiefer. Eine häßliche Fratze blickte mich an und zeigte mir die Zunge! Das war doch wieder die Medusa Gorgo. Diesmal war ihr Haupt auf einem großen runden Schild abgebildet. Gefletschte Zähne, stechende Augen — all das sollte dem Feind Angst einflößen. Ich drehte den Projektor und schaute mich nach anderen Dingen um. Da stand so etwas wie eine Säule. Dahinter waren seltsame Figuren an die Wand gezeichnet. Sie näher zu betrachten, dazu fehlte es mir an Zeit. Ich richtete den Strahl nach oben. Da, wo der helle Fleck hinfiel, schillerte es regenbogenfarben. Was mochte das sein? Eine Zeichnung an der Decke der Höhle? Ich schwamm vorsichtig hoch, um mich nicht an dem Gewölbe zu stoßen. Zu meinem Erstaunen fühlte ich, wie mein Kopf ein feines, unsichtbares Häutchen zerriß. Im gleichen Augenblick ließ der Druck auf der Maske nach. Ich hob den Projektor hoch und 58
spürte sein wahres Gewicht. Jetzt wußte ich es: Das Wasser füllte nicht den ganzen Raum der Grotte. Unter der Decke blieb noch eine Schicht Luft. Zögernd nahm ich das Mundstück heraus und atmete vorsichtig. Wer konnte wissen, wie die Luft beschaffen war, die sich in einem unterirdischen Gewölbe über viele Jahrhunderte erhalten hatte? Doch es war ganz gewöhnliche, ziemlich frische und ein wenig feuchte Luft. Auf keinen Fall war sie verbraucht. Anscheinend sickerte sie durch einen Spalt von oben ein. Sonst hätten sich damals die Menschen hier auch nicht aufhalten können. Ich wollte Michail auffordern, gleichfalls die Höhlenluft zu probieren, aber da signalisierte er, man befehle uns aufzusteigen. Ich schob das Mundstück zwischen die Zähne und schwamm zurück. Unterwegs nahm ich meine Maske und das Preßluftgerät mit. Michail und ich erreichten gleichzeitig die Oberfläche, wir ergriffen das Fallreep und rissen die Masken ab. „Hast du gesehen?" platzte ich heraus. „Die Medusa?" „Und ob!" antwortete Michail, nach Luft schnappend. „Die ist bestimmt aus Gold." Jetzt erst bemerkten wir die gespannten Gesichter der anderen, die über die Reling gebeugt unser Gespräch belauschten. „Kommt sofort herauf!" schrie Kratow. „Was gibt's da unten?" Einander ins Wort fallend, berichteten wir von unseren Funden. Plötzlich erklärte unser Professor energisch: „Ich muß mir die Höhle selbst ansehen!" Im ersten Augenblick waren wir sprachlos. Die Tiefe war nicht unerheblich. Außerdem mußte man noch durch einen wassergefüllten Tunnel kriechen. Aber andererseits gefiel uns des Professors Mut. „Wassili Pawlowitsch, aber . . . in Ihrem Alter . . ." wandte Swetlana unsicher ein. „Was heißt ,in meinem Alter'? Ich bin doch wohl erwachsen genug." „Aber die Vorschriften . . .", mischte ich mich ein. Oh, wie mich da seine Augen anblitzten! Dabei war ich ehrlich um ihn besorgt. „Irgendwann einmal muß ich doch auch tauchen!" fuhr er fort und hob kampflustig sein Bärtchen. Doch gleich fügte er bittend hinzu: „Aber sagt keinem etwas davon, das mag unter 59
uns bleiben. Ihr habt natürlich recht, in gewissem Grade ist es eine . . . eine Übertretung, aber . . ." Jetzt war er es, der um Milderung dieser schrecklich strengen Vorschriften bat. Wie konnten wir da widerstehen? Aber jeder von uns fühlte sich für ihn verantwortlich, und wir arbeiteten gemeinsam einen Plan aus. Zuerst sollten Michail und Pawlik in die Höhle gehen, einen leeren Autoschlauch mitnehmen, dort aufblasen und in eine Art Rettungsring verwandeln. Dann brächten sie an der Decke eine 1000 Watt starke Lampe an; zusammen mit den unter Wasser aufgestellten Projektoren würde sie jeden Winkel erleuchten. Wenn alles vorbereitet wäre, sollte Wassili Pawlowitsch in Begleitung von Boris und Swetlana tauchen. Natascha und ich würden als Wache an Bord bleiben. Ich sträubte mich nicht gegen diese Einteilung. Meine Aufgabe war eigentlich die verantwortlichste: Ich mußte allen übrigen im Falle der geringsten Gefahr zu Hilfe eilen. Mit dem Preßluftgerät war Wassili Pawlowitsch vertraut. Aber es fehlte ihm an Erfahrung, und seine Gesundheit war auch nicht die beste. Unter dem Gewicht der Flaschen ging er in die Knie. Wir halfen ihm rasch ins Wasser, damit er die Last nicht mehr so spürte. Eine Weile hielt er sich am Fallreep fest und übte unter unserer Anleitung das richtige Atmen. Michail und Pawlik tauchten inzwischen, bepackt mit den Lampen, Projektoren und der anderen Ausrüstung, und gaben schon nach fünfzehn Minuten das vereinbarte Signal. Jetzt ließen sich Boris und Swetlana ins Wasser. Sie wollten Kratow an den Händen fassen und ihn so in die Tiefe geleiten. Aber unser Professor riß sich ärgerlich los und begann selbst mit einigem Geschick zu tauchen. Die Zeit verstrich. Natascha und ich schmachteten auf dem glühendheißen Deck. Die Kameraden gaben keinerlei Signale. Meine Geduld ging langsam zu Ende. Ich zog an Michails Signalleine, einmal, das hieß: „Wie fühlt ihr euch?" Er antwortete ebenfalls mit einem Ruck: „Gut." Kurz darauf gluckerten Luftbläschen an die Oberfläche: Jemand kehrte zurück. Eilig kletterte ich auf das Fallreep und tauchte. Boris und Swetlana schwammen mir entgegen und schleppten etwas in einem Netz nach oben. Obwohl es im Tunnel dunkel war, fühlte ich mich dort be60
reits wie zu Hause. In der Grotte aber strahlte helles Licht. Zwischen dem Wasser und der Decke war ein Luftraum von ungefähr anderthalb Metern. Da oben, auf dem unterirdischen See. schwamm unser Professor und hielt sich an dem Autoschlauch fest. Ab und zu tauchte er den Kopf ins Wasser und schaute Aristow und Pawlik bei der Arbeit zu. Als Kratow mich sah, wunderte er sich und wollte mich etwas fragen, vergaß aber, das Mundstück herauszunehmen. Verwirrt holte er das nach und fiel dann über mich her: „Was machst du hier?" „Man sagte mir, daß ich helfen soll!" „Ich habe nichts Derartiges aufgetragen. Na gut . . . Weil du nun einmal hier bist, hilf den anderen, die Fundstelle abzustecken." Von oben war nicht zu erkennen, womit sich meine Kameraden beschäftigten. Als ich tauchte, sah ich, daß sie Pflöcke in den Boden der Höhle schlugen und zwischen ihnen Drähte spannten. Wassili Pawlowitsch blieb sich auch unter Wasser treu: Zuerst mußte die Fundstelle wie auf dem Lande in Quadrate aufgeteilt werden. Ich stieß beinahe an die Steinsäule, die ich bei meinem eisten Besuch entdeckt hatte. Neben ihr lagen das Schild mit dem Gorgonenhaupt, ein 'Schwert. Armbänder und Ringe. Meiner Meinung nach war der Schmuck aus Gold, ich konnte ihn aber nicht genauer betrachten, da mich Michail in die Seite stieß und zum Arbeiten aufforderte. Wir brauchten beinahe eine Woche, um die Grotte zu durchforschen. Sie war geräumig, fast neun Meter lang und fünfeinhalb Meter breit. Zur Zeit Saumakos' mußte auch der größte Teil des abschüssigen Tunnels trocken gewesen sein, nur der Eingang hatte unter Wasser gestanden. Das Verzeichnis der Funde füllte ein ganzes Heft. In der Grotte hatte man, wie in einem Museum, die verschiedensten Gegenstände angesammelt. Anscheinend hatte sie schon von alters her den Tauriern als geheime Kultstätte gedient. Davon zeugten die in die Wand gehauenen riesigen Reliefbilder eines Mannes und einer Frau mit seitwärts ausgebreiteten Armen. Die Figuren waren primitiv dargestellt, wie von der Hand eines Kindes. Vor ihnen, ein wenig seitlich, stand die Steinsäule, eigentlich eine Tafel. Sie war von oben bis unten mit rituellen Zeichen Gl
bedeckt. An ihrem oberen Ende leuchtete ein goldenes Rund mit einem Strahlenkranz — das Symbol des Sonnengottes Helios. Ein ebensolches Bild war, wie Kratow uns erzählte, auf der Rückseite einer alten Münze zu sehen, die man Saumakos zuschreibt. „Warum die aufständischen Sklaven dieses Symbol gewählt haben, können wir nur erraten", beantwortete der Professor unsere Fragen. „Der Aufstand Saumakos' war nicht der einzige. Zu jener Zeit erschütterten die Sklavenauf stände die antike Welt an vielen Orten: in Kleinasien, auf Sizilien, auf der Insel Delos und in den Bergwerken von Attika. Außerordentlich interessant ist, daß die aufständischen Sklaven von Pergamon sich ebenfalls Helios als Symbol erwählt hatten. Sie nannten sich Heliopoliten, das heißt ,Bürger der Sonne'. Sicherlich träumte auch Saumakos von einem glücklichen Land, von einem Sonnenreich, in dem kein Platz für Unterdrücker sein würde." Die Skythen benutzten das Heiligtum der Taurier für ihre Zwecke. Vielleicht hielten sich hier flüchtige Sklaven verborgen, versammelten sich die Verschwörer. Ein geheimeres Versteck war schwerlich zu finden. Hier hatten sie von ihrem Sonnenland geträumt. . . Vor der Heliossäule lag auf dem Boden ein großer flacher Stein mit den Spuren einer Feuerstätte. Gewiß loderte hier einmal ein heiliges, ewig brennendes Feuer. An den Wänden rechts und links der goldenen Sonnenscheibe standen zwei kunstvolle Öllämpchen aus Terrakotta. Eins stellte eine Sirene dar, halb Vogel, halb Mensch, und das zweite die Göttin Aphrodite, aus einer Seemuschel steigend. „Griechische Arbeit", meinte Wassili Pawlowitsch. „Wahrscheinlich hat man sie aus Athen mitgebracht, daß sie hier einen Palast schmückten. Als die Skythen dann an die Macht kamen, brachten sie die Lämpchen in die Höhle. Unter ihnen gab es kunstliebende Menschen, obwohl die Sklavenbesitzer sie in eine Art Hausvieh zu verwandeln suchten." Viele kostbare Gegenstände entdeckten wir in den Ecken der Grotte. Was war da nicht alles angehäuft: Goldene und silberne Trinkschalen, Schüsseln, Schilde, Schwerter, Ketten mit wertvollen Steinen. Das war der Schatz, um den die habgierigen Eroberer der Festung wehklagten. Jetzt würde er in ein Mu62
•seum wandern, damit sich alle Menschen an der Kunst der alten Meister erfreuen konnten. Unseren Mädchen gefiel vor allem ein runder Silberspiegel. Seine Rückseite war mit einer besonderen Legierung überzogen, in der die ruhende Nike, die geflügelte Göttin des Sieges, eingraviert war. Nicht lange begleitete sie die Aufständischen. Für einige wurde die geheime Höhle zur letzten Zufluchtsstätte. Gelang es ihnen, die Feinde zu überlisten, die Gefahr abzuwarten und des Nachts durch den Unterwassertunnel in die Freiheit zu entschlüpfen? Gingen sie von neuem in die Welt hinaus, um wieder umherzuirren, sich zu verbergen und in andere Städte und Länder den ewigglühenden Funken des Aufstandes gegen die Sklavenhalter zu tragen? * Für einen der Mitkämpfer Saumakos' wurde die Höhle zweifellos zum Grab. Es war kein Zufall, daß mitten in der Höhle, neben der Feuerstätte, goldener Schmuck, ein Schwert und der Schild mit dem Haupt der Medusa Gorgo lagen. Als Wassili Pawlowitsch diesen Fund auf seinem Plan eintrug, rief er plötzlich aus: „Das ist doch eine Begräbnisstätte! Jetzt ist mir die merkwürdige Anordnung dieser Schmuckstücke klar. Seht ihr? Hier hat ein .Toter gelegen." Jetzt stellten wir uns ebenfalls die Umrisse eines ausgestreckten menschlichen Körpers vor. Die Ringe bezeichneten die Lage der Finger, die Armreifen schmückten die Handgelenke, der Schild ruhte auf der Brust des gefallenen Kriegers, und das Schwert mit dem goldverzierten Griff lag neben dem Körper, der sich spurlos im Meerwasser aufgelöst hatte. Wer war dieser Held? In dem Brief aus der Cista war von zwei Mitkämpfern Saumakos' die Rede, von Bastakos und Aristonikos. „Vermutlich wurde hier Bastakos beigesetzt", meinte der Professor nach kurzer Überlegung. „Die Bestattung ist typisch skythisch. Das Relief am Schwertgriff weist den charakteristischen Tierstil auf, das Schwert selbst ist kurz, der Griff massiv. Die Abbildung der Medusa Gorgo auf dem Schild ist natürlich griechisch. Ja, es wäre auch möglich, daß die Aufständischen den Griechen Aristonikos auf skythischc Art bestattet haben. Auf jeden Fall bestätigt es erneut, daß an dem Aufstand nicht nur die skythischen Sklaven beteiligt waren. Es handelte sich 63
um eine Revolution aller Unterdrückten gegen die Sklavenhalter." Daß wir keine Handschriften fanden, enttäuschte mich ein wenig. Aber wie sollte es anders sein? Die Skythen hatten noch keine Schrift; und niemand lehrte Sklaven schreiben und lesen in griechischer Sprache. Und wem wäre wohl der Gedanke gekommen, während der heißen Schlacht, da es um Leben und Tod ging. Aufzeichnungen zu machen? Aber das war kein Unglück. Sicherlich würden die Gelehrten beim Auswerten der Funde etwas Neues über den Aufstand in Erfahrung bringen, über die tapferen Männer, die bereits vor zweitausend Jahren davon träumten, auf der Erde ein Reich der Sonne zu errichten. Epilog
oder
Prolog?
Jetzt ist es Winter. Ich sitze am Schreibtisch und denke an unsere Abenteuer im Sommer. Darüber ist alles gesagt, aber meine Geschichte ist trotzdem noch längst nicht zu Ende. Muß ich erwähnen, daß ich bei den Unterwasserausgrabungen nicht nur die erstaunlichsten Dinge gefunden habe, sondern auch mein Lebensziel, meinen Beruf? Sicherlich haben Sie es schon selbst erraten. Onkel Ilja kann beruhigt sein. Wassili Pawlowitsch und die Freunde, die ich unter Wasser gefunden habe, hallen mir. und jetzt bin ich Fernstudent im ersten Studienjahr an der historischen Fakultät der Moskauer Universität. Ich bin fest entschlossen, das traurige Schicksal des tapferen Saumakos' und andere Rätsel der Geschichte zu ergründen. Im Sommer fahren wir wieder ans Meer und setzen unsere Suche nach den Schätzen des gesunkenen Schiffes fort. Auch die alte Kultstätte muß noch gründlicher durchforscht werden. Dort können sich noch unterirdische Gänge und andere Grotten befinden. Wieviel Abenteuer und Entdeckungen warten noch auf uns! Nein, diese Geschichte ist nicht zu Ende, sie beginnt ja eben erst. . .
Keiner hat es nötig, den Heften d e r K l e i n e n J u g e n d r e i h e n a c h z u j a g e n . W e n n ihr d e n n e b e n s t e h e n d e n Bestellschein d e m Briefzusteller o d e r e u r e m P o s t a m t übergebt, dann erhaltet ihr zuverlässig u n d schnell z w e i m a l i m M o n a t das n e u e s t e Heft d e r K l e i n e n J u g e n d r e i h e . Das ist bequem!