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Charmed Zauberhafte Schwestern Der schwarze Turm
Roman von Tabea Rosenzweig
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Klappentext: Nach der endgülti...
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Charmed Zauberhafte Schwestern Der schwarze Turm
Roman von Tabea Rosenzweig
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Klappentext: Nach der endgültigen Vernichtung der Quelle scheint es, als wäre endlich wieder ein wenig Ruhe ins Leben der Zauberhaften eingekehrt. Piper und Leo freuen sich auf ihr Baby, und Phoebe stürzt sich in die Arbeit beim Bay Mirror und versucht so, das Debakel um Cole zu vergessen. Nur in Paiges Leben scheint sich nichts, rein gar nichts zu ereignen. Da erhält die junge Hexe im South Bay Sozialdienst Besuch von einem verzweifelten JungJournalisten namens Selim, der sein erstes ProminentenInterview führen muss. Paige möchte helfen, doch kurz darauf findet sie sich mysteriöserweise im Alten Orient wieder – gefangen in einem unheimlichen Turm, in einer Stadt in der Wüste und in einer längst vergangenen Zeit! Paige versteht die Welt nicht mehr. Hat das Schicksal wieder einmal dafür gesorgt, dass die Macht der Drei in den Lauf der Welt eingreifen muss? Doch dann deutet einiges darauf hin, dass Selim sie auf Geheiß eines machthungrigen Erzdämons entführt hat. Da sitzt Paige nun im Jahr 790 unserer Zeitrechnung fest, und ihre Schwestern setzen alles daran, einen Weg zu ihr zu finden.
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
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Die Liebe ist und bleibt mir Glaube und Gesetz Ibn al-Arabi (1165-1240)
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Prolog ERBARMUNGSLOS
SCHIEN die Mittagssonne auf die Wüste, die seit den ersten Tagen der Menschheit zu existieren schien. Doch inmitten dieser menschenfeindlichen Öde aus Sand, Salz und Stein, umgeben von massigen Mauern, dreimal so hoch wie ein Mann, tobte das Leben. Unermüdlich gingen die Händler in Ald’marans Kaufmannsgassen, Basaren, Sklavenmärkten und Karawansereien ihren Geschäften nach und erfreuten sich ihres Wohlstands. Eines Wohlstands, den die Einwohner der Stadt einer Wasserquelle zu verdanken hatten, die aus einer ehemals kleinen Oase eine pulsierende orientalische Metropole hatte erstehen lassen. Doch für so manchen Reisenden und Pilger aus nah und fern war die farbenprächtige Stadt in der Wüste mehr als nur ein willkommener Zwischenstopp auf dem Weg nach Mekka, Medina oder Damaskus. Die Christen schrieben das Jahr 790, doch für die Bewohner von Ald’maran, wie für die Menschen im ganzen Morgenland, hatte das Jahr null vor gerade einmal 168 Jahren begonnen. Zu jener Zeit nämlich hatte der Prophet Mohammed nach Medina fliehen müssen, eine neue Religion begründet und die arabische Halbinsel unter dem grünen Banner des Islam geeint. Und nun, kaum drei Generationen später, herrschte von Bagdad aus die legendäre Dynastie der Abbasiden unter Harun al-Raschid über ein riesiges Imperium. Später würden die Menschen des Orients diese Jahre als »goldene Epoche« bezeichnen. Zur gleichen Zeit versuchte, in gut 4000 Kilometern Entfernung, ein fränkischer König namens Karl der Große, jene Völker zu einen, die man künftig zum alten Europa zählen
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würde, und sich seinerseits mit dem Schwert ein Weltreich zu erstreiten. Kalif Harun al-Raschid galt als Gönner der Künste und Wissenschaften. Mathematik, Astronomie, Medizin, Musik und Dichtung entfalteten sich unter seiner Herrschaft zu nie da gewesener Blüte. Und so war auch Ald’maran ein aufstrebendes geistiges Zentrum seiner Zeit und stolz auf seine einst von Mahmud dem Weisen begründete Hochschule, an der Wissbegierige aus der gesamten arabischen Welt die alten und neuen Lehren studieren konnten. Doch wie das Böse überall und zu allen Zeiten existierte, besaß auch das glorreiche Ald’maran eine dunkle, abgründige Seite. Weit abseits des prächtigen Herrscherpalastes ragte ein mächtiger, granitfarbener Turm wie eine Speerspitze gen Himmel und schmiegte sich an die einsame, halb verfallene Nordmauer der Stadt, die als einzige kein Tor zur Wüste besaß. Niemand in Ald’maran konnte heute mehr sagen, wie alt der schwarze Turm war oder wer ihn erbaut hatte. Doch hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Menschen, dass des Nachts die Toten des nahe gelegenen alten Friedhofs ihren Gräbern entsteigen und rund um das unheimliche Bauwerk ihr Unwesen treiben. Und so war der kahle Hügel, auf dem der schwarze Turm stand, für die Bürger von Ald’maran seit Menschengedenken ein Ort, den niemand ohne Not betrat, ein Ort, an dem Furcht und Schrecken herrschten. Der alte Zeyn lehnte sich vor, legte die Hände auf die matt schimmernde Glaskugel und schloss die Augen. Ein Wirbel aus Licht und Farben durchflutete seinen Geist, und sein -7-
missgestalteter Körper erbebte vor Erregung. Und dann war die Verbindung endlich hergestellt. Er sah, wie Selim mithilfe des Buchs der Weisheit einen Spruch niederschrieb, der ihm das Reisen in der Zeit ermöglichen würde. »Gut, mein Junge, sehr gut«, flüsterte Zeyn. Er öffnete die Augen und sah hinab auf die Schale mit der milchigen Flüssigkeit, die neben der Kugel stand. Er lächelte. »Bei Iblis, meine Macht wird grenzenlos sein.«
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1 IM
SOUTH BAY SOZIALDIENST war wie immer die Hölle los. Ununterbrochen klingelte in dem Großraumbüro, in dem Paige Matthews als Sozialarbeiterin tätig war, das Telefon. Überhaupt war die Geräuschkulisse enorm, wie auch die Hektik, die hier herrschte. Mitarbeiter eilten geschäftig hin und her, und stets warteten im Empfangsbereich zahlreiche Hilfesuchende, die persönlich vorsprachen, um sich in allen Lebensfragen beraten zu lassen. Paiges Schreibtisch bog sich fast unter Stapeln von Akten und Dokumenten, die sie heute noch abarbeiten wollte. Es war gerade mal elf Uhr vormittags, doch Paige hatte das Gefühl, hier schon eine Ewigkeit zwischen Telefon, Computer und Aktenbergen festzusitzen. Leider hatte sich heute auch noch ihre Kollegin krankgemeldet, sodass sie zudem das Telefon am Nachbarschreibtisch bedienen musste. Immerhin war heute Freitag, und das Wochenende stand vor der Tür. Ein kleiner Lichtblick zumindest. Zu dumm, dass man nicht zum eigenen Vorteil hexen darf, dachte sie. Wie cool wäre es, wenn sich die ganze Arbeit einfach von selbst erledigen würde, während ich dem ganzen Stress hier den Rücken kehre und ein bisschen Spaß habe. Zu allem Überfluss musste sie sich nach Feierabend auch noch in Sachen Sprüche- und Kräuterkunde weiterbilden, damit sie es in Bezug auf ihr Hexenwissen schon bald mit ihren Halbschwestern aufnehmen konnte. Piper nahm das alles sehr ernst und würde sie nach dem Abendessen sicherlich wieder prüfen und abhören wollen. Und obwohl Paige dem Hexentrio nun schon seit einem Jahr angehörte, hatte sie natürlich noch viel zu lernen und nachzuholen.
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Seit Paige eine der Zauberhaften geworden war, war eine Menge passiert. Sie selbst hatte ziemlich bald erfahren müssen, dass sie in einem früheren Leben eine böse Hexe gewesen war. Piper, die unter dem Verlust ihrer Schwester Prue am ärgsten gelitten zu haben schien, hatte sich zwischendurch in eine Furie verwandelt und war sogar eine Zeit lang in die Unterwelt verbannt worden. Doch nun bekamen Leo und Piper ein Baby, das genau wie sie, Paige, das Erbe eines Wächters des Lichts und einer Hexe in sich tragen würde. Paige freute sich sehr für Piper, doch insgeheim beneidete sie ihre älteste Schwester auch ein bisschen um das private Glück. Das zurückliegende Jahr hatte fast ganz im Zeichen der Vernichtung der Quelle und des Kampfes gegen die Mächte der Unterwelt gestanden. Und all das hatte mit Cole zu tun gehabt, dem halbdämonischen Ex-Anwalt, in den Phoebe sich vor einiger Zeit verliebt hatte. Cole war zwischenzeitlich sogar ein ganz normaler Mann ohne jegliche magische Fähigkeiten gewesen, dann jedoch zur Quelle selbst geworden und zum König der Unterwelt avanciert. Doch nachdem die Zauberhaften ihn schließlich besiegt hatten, war Cole nun in einer Art Zwischenwelt gefangen und versuchte gelegentlich noch, mit Phoebe Kontakt aufzunehmen, auf dass diese um ihn und ihre Liebe kämpfe. Doch es schien, als ob Phoebe den Kampf um Cole bereits aufgegeben hatte, und wenn Paige ehrlich war, musste sie zugeben, dass das aus ihrer Sicht genau die richtige Entscheidung war. Sie hatte Cole nie über den Weg getraut und tat es auch jetzt nicht, obwohl er nicht mehr in dieser Sphäre weilte und keine Gefahr mehr für die Zauberhaften darstellte. Und dann, nachdem sie die Quelle endgültig vernichtet hatten, hatte der Schicksalsengel den drei Frauen zur Belohnung - 10 -
für diese gute Tat ein ganz normales Leben in Aussicht gestellt. Doch die Zauberhaften hatten nach reiflicher Überlegung dankend abgelehnt, obwohl den Schwestern klar gewesen war, dass sie eine solche Chance nie wieder erhalten würden. Paige seufzte. Ja, sie hatten sich entschieden, auch in Zukunft gegen Dämonen, Warlocks und andere Kreaturen der Nacht zu kämpfen, doch so ein Hexenleben war hart, und noch viel härter war es, eine der Zauberhaften zu sein. Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt ausgegangen war und etwas Tolles erlebt hatte. Geschweige denn, mit einem süßen Typen ausgegangen war … So etwas wie ein Privatleben schien es nicht mehr zu geben, wenn man eine Zauberhafte war. Entweder man kämpfte gegen die Mächte des Bösen, oder man verbrachte seine Zeit mit Geldverdienen und Pauken in Sachen Magiefortbildung. Doch all das hatte ihre quirlige Halbschwester Phoebe nicht davon abgehalten, sie zum Mittagessen im South Bay Sozialdienst abholen zu wollen. Schon in einer Stunde wollte sie hier sein, und dabei hatte Paige noch so viel zu erledigen … Es war zwar Freitag, und das Wochenende stand vor der Tür, doch anders als bei Phoebe, die als Kolumnistin für den Bay Mirror tätig war, endete für Paige die Arbeitswoche an diesem Tag nicht schon gegen Mittag. Seit Paige nach Prues Tod in das Leben von Piper und Phoebe getreten war, war es vor allem Phoebe gewesen, die den Kontakt zu dem neuen Familienmitglied zu intensivieren gesucht hatte. Immerhin, so wurde Phoebe nicht müde, ihrer Schwester Piper gegenüber zu versichern, nahm Paige nun seit gut einem Jahr Prues Platz als Dritte im Bunde der Zauberhaften ein, und deshalb dürfe sich Paige auch nicht mehr länger als Außenseiterin fühlen, wie es am Anfang gelegentlich der Fall gewesen war. Und da Phoebe, im Gegensatz zu Piper, die das P3 zu führen hatte, nach wie vor über mehr freie Zeit verfügte
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als ihre Schwestern, nutzte sie jede sich bietende Gelegenheit, das Band zwischen ihnen enger zu knüpfen. Ich wünschte, ein dunkelhaariger, gut aussehender Fremder würde hier erscheinen, mich aus diesem Trott rausholen und mit mir in ein wundervolles Wochenende aufbrechen, dachte Paige. Und da das leider nur in Märchen passiert, hole ich mir jetzt erst mal einen starken Kaffee. Sie stand auf und ging hinüber zum Getränkeautomaten. Seit der Sozialdienst einen neuen Kaffeespender angeschafft hatte, der auch »Latte Macchiato« im Programm hatte, konnte man die heißen Muntermacher sogar halbwegs genießen. Mit ihrer vollen Kaffeetasse bahnte sich Paige den Weg zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Schon von weitem sah sie, dass auf dem Besucherstuhl neben ihrem Schreibtisch jemand saß und auf sie zu warten schien. Es war ein junger Mann, der ebenfalls einen Plastikbecher mit dampfendem Kaffee in der Hand hielt und gerade eine flache Aktentasche neben seinem Stuhl abstellte. Das alles wäre an sich nichts Bemerkenswertes gewesen, wäre der Besucher selbst nicht überaus bemerkenswert gewesen. Genauer gesagt hatte Paige noch nie zuvor einen interessanteren Mann gesehen. Er war groß und schlank, hatte pechschwarzes, sanft gelocktes Haar, einen gebräunten Teint und wunderschöne, leicht mandelförmige grüne Augen, die einen aparten Kontrast zu dem markanten Gesicht mit den hohen Wangenknochen darstellten. Und doch war er weit entfernt von jenen glatten Modeltypen, auf die eine solche Beschreibung oberflächlich betrachtet ebenfalls zutreffen mochte. Das lange Haar hatte offensichtlich schon seit längerem keine Schere mehr gesehen, und in seinem weißen Baumwollhemd, das lässig über die verwaschenen Jeans fiel, sah er alles andere als gestylt aus. Doch das eigentlich Attraktive bestand nicht in all diesen Äußerlichkeiten, sondern - 12 -
in der sonderbaren Ausstrahlung, die er besaß und die selbst aus dieser Entfernung auf Paige wirkte wie eine Oase auf einen halb Verdursteten. Als sie herankam, sprang der junge Mann hastig auf, und sie bemerkte, dass der Fremde irgendwie ein bisschen erschöpft aussah. Auch stellte sie fest, dass er aus der Nähe betrachtet älter wirkte, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Paige schätzte ihn auf Anfang dreißig, doch das machte ihn in ihren Augen um keinen Deut uninteressanter, ganz im Gegenteil … »Sind Sie Paige Matthews?«, fragte er mit tiefer, weicher Stimme. »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier finde.« Unwillkürlich machte Paige einen Schritt zurück, denn der junge Mann hatte nicht nur eine ausgesprochen erotische Stimme, er sah ihr zudem auch noch fest in die Augen. Für einen Moment starrte sie ihn einfach nur an, anstatt seine Frage zu beantworten, und versuchte, sich wieder zu sammeln. »Es tut mir Leid, dass ich Sie so ohne Voranmeldung überfalle«, fuhr der Besucher, nun sichtlich nervös, fort, ohne auch nur die geringste Notiz von Paiges Verwirrung zu nehmen, »aber ich muss Sie dringend sprechen.« Er lächelte das zugleich hinreißendste und traurigste Lächeln, das Paige je gesehen hatte. »Da sind Sie nicht der Einzige«, krächzte Paige, die offensichtlich ihre Fassung wiedererlangt hatte. »Allerdings ist es hier üblich, sich vorher einen Termin geben zu lassen, oder aber Sie warten dort drüben im Empfangsbereich, bis einer der anderen Sozialarbeiter Zeit –« Sie brach ab, denn der junge Mann senkte stumm den Blick, und als er wieder zu ihr aufsah, war es, als sähen seine Augen direkt in ihr Herz. »Na … dann nehmen Sie mal wieder Platz«, murmelte sie und stellte ihren Milchkaffee ab. »Was kann ich für Sie tun?«
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Der junge Mann, der den Kaffeebecher noch immer fest umklammerte, drehte sich hastig zu seinem Stuhl um, wobei er mit der freien Hand gegen einen der Aktenstapel auf dem Schreibtisch stieß. Der Papierturm geriet ins Wanken, kippte und riss im Fallen Paiges Kaffeetasse um. Das Heißgetränk ergoss sich über diverse Schriftstücke und bespritzte den Ledereinband von Paiges Terminplaner, um schließlich über die Tischkante auf den Teppichboden zu plätschern. »Ach herrje!«, rief der junge Mann bestürzt, während Paige geistesgegenwärtig bereits ihren Wochenvorrat an Papiertaschentüchern aus der Schublade zerrte und versuchte, die Lache auf ihrem Schreibtisch aufzuwischen. »Es tut mir Leid«, stammelte der Besucher und stellte hastig seinen Kaffeebecher ab, bevor er seinerseits versuchte, ein paar äußerst gefährdete Aktenstapel sowie den Terminplaner auf dem unbesetzten Nachbarschreibtisch in Sicherheit zu bringen. »Ist schon okay«, presste Paige hervor, während sie die letzten Pfützen auf ihrem Arbeitsplatz beseitigte. »Muss die Putzkolonne heute Abend eben ein bisschen sorgfältiger zu Werke gehen. Und der Teppich könnte sowieso mal ’ne gründliche Reinigung vertragen.« Sie zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht und sah auf. Ihre Blicke trafen sich, und ihr stockte der Atem. Es war, als ob sie in eine warme Lagune eintauchte, und in ihrer Magengegend machte sich ein verdächtiges Flattern bemerkbar. »Also«, sagte sie schließlich lahm und setzte sich wieder, »wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, in welcher Angelegenheit kann ich Ihnen denn nun behilflich sein?« »Ich heiße Selim«, stellte sich der junge Mann vor, »und der Grund, warum ich sie aufgesucht habe, ist … mir irgendwie entsetzlich peinlich.« Er hielt inne, starrte zu Boden und knetete die Hände, wie wenn er um Worte rang. Dabei fiel ihm eine - 14 -
Stirnlocke über die Augen, was ihn geradezu anbetungswürdig aussehen ließ. Um seinen gebräunten Hals schlang sich eine feingliedrige silberfarbene Kette mit einem hübschen kleinen Halbmond-Anhänger. Bestimmt ein Geschenk von seiner Liebsten, dachte Paige, und ein Anflug von Neid schlich sich in ihr Herz. Sie räusperte sich. »Nun, Ihr Problem ist hier in guten Händen«, sagte sie so einfühlsam wie möglich. Sie musste sich sehr zusammenreißen, ihr Gegenüber zu allem Überfluss nicht auch noch anzustarren, denn wie es schien, war dieser Selim ohnehin schon äußerst nervös. »Tja, also … ich bin Volontär beim Golden Gate Star Report«, begann Selim stockend, »und soll heute Mittag bei einer Wohltätigkeitsgala meine ersten Prominenten-Interviews führen.« Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und starrte freudlos in die Tasse. »Aber … aber das ist doch toll«, meinte Paige. »Wo ist das Problem?« »Na ja, ich habe so was noch nie gemacht, und mein Chefredakteur meinte, wenn ich nicht wenigsten zwei passable Interviews zustande brächte, würde mein Vertrag beim Magazin wohl nicht verlängert werden.« »Das sind aber harte Sitten«, bemerkte Paige. »Allerdings.« Selim nickte traurig. »Jedenfalls kam ich, nachdem ich die Redaktion verlassen hatte, zufällig hier vorbei, und da hab ich mir gedacht, es würde mir ein bisschen Mut machen, wenn ich … na ja, wenn ich einfach mit jemandem darüber reden könnte, der schon von Berufs wegen ein guter Zuhörer ist.« Er lächelte sie verschämt an. »Ich weiß, Sozialarbeiter haben eigentlich Dringenderes zu tun, als sich um angehende Jungreporter zu kümmern, die Angst vor der eigenen Courage gekriegt haben, aber … Wissen Sie, ich bin noch nicht lange in der Stadt, und das dreimonatige Volontariat beim Star - 15 -
Report hab ich auch nur deshalb bekommen, weil ich mich darauf eingelassen habe, das Wort ›Volontariat‹ wörtlich zu nehmen. Das heißt, ich werde für meine Arbeit in dieser Zeit nicht bezahlt.« Er seufzte und trank einen Schluck von seinem Kaffee. »Das hören wir hier oft«, sagte Paige so sachlich wie möglich. »In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist man heutzutage ja fast gezwungen, solche Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, die einem auch nur die geringste Chance auf etwas Besseres eröffnen könnten.« »Leider nur zu wahr«, sagte Selim traurig. »Jedenfalls tut es sehr gut, mit jemandem darüber zu sprechen.« Er lächelte, doch er wirkte immer noch reichlich gestresst. »Bestimmt komme ich mir nachher unter all den Stars und Lokalgrößen hoffnungslos armselig vor.« Er sah zur Uhr an der Wand und schluckte. »O Mann, in einer Stunde ist es schon so weit.« Und dann sah er wieder Paige an, und es schien, als sei ihm eine Idee gekommen. »Sagen Sie, hätten Sie nicht Lust mitzukommen?«, fragte er plötzlich. »Es gibt ein kaltes Büffet, freie Getränke, jede Menge Prominente und ich –«, er hielt inne und lächelte sie offenherzig an, »– und ich hätte eine zauberhafte Begleitung und käme mir nicht mehr ganz so … verlassen vor.« Im ersten Moment schnappte Paige unmerklich nach Luft. Eine so schnelle Verabredung hatte ihr bisher noch kein Mann angetragen. Andererseits brauchte dieser Selim offensichtlich ihre Hilfe, und schließlich war es ihr Job, anderen Menschen zu helfen, oder etwa nicht? Und hatte sie sich nicht eben noch gewünscht, ein umwerfender dunkelhaariger Fremder würde sie aus all dem hier rausholen – zumindest für eine Weile? »Es wäre ja auch nur für eine Stunde«, sagte Selim und dann: »Bitte …« »Wo findet diese Gala denn statt?«, fragte Paige mit klopfendem Herzen.
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»Ich hab mir die Adresse notiert«, meinte Selim sichtlich erleichtert und reichte ihr den Zettel. Paige warf einen Blick darauf. »›Marduk Palace‹? Noch nie gehört … Ah, in Nob Hill!« »Ja, soweit ich weiß, liegt das im Nordwesten der Stadt auf einem Hügel.« »Ich weiß, ist ’ne ziemlich vornehme Gegend.« Und dann fragte sie zu ihrer eigenen Überraschung: »Kann ich denn so mitkommen?« Zweifelnd sah sie an sich herunter. Sie war zwar wie immer ausgesprochen modisch gekleidet, aber ob ihr champagnerfarbener Hosenanzug mit dem schwarzen rückenfreien Top für einen nachmittäglichen PromiStehempfang das Richtige war? »Sie sehen perfekt aus«, sagte Selim. »Im Übrigen wird das heutzutage ja wohl auch nicht mehr so ernst genommen mit der Kleiderordnung. Denken Sie nur an Brad Pitt oder Johnny Depp und deren Schmuddel-Looks.« Er deutete viel sagend auf sein eigenes lässiges Outfit. »Und schließlich sind wir die Journalisten, und nicht die Stars«, fügte er lächelnd hinzu. »Also gut, ich begleite Sie, wenn es denn Ihrer Karriere nützt«, sagte sie. »Und … ein bisschen Party-Luft schnuppern kann ja nicht schaden.« Schier außer sich vor Freude sprang Selim auf. Dabei hatte er jedoch den Kaffeebecher in seiner Hand vergessen, dessen Inhalt sich nun über Paiges Schreibtisch ergoss. »Ach du liebe Güte!«, rief er fassungslos aus und raufte sich die Lockenpracht. »Das darf doch wohl nicht wahr sein …« »Lassen Sie uns bloß von hier verschwinden«, sagte Paige lachend, nachdem sie und Selim zum zweiten Mal an diesem Tag den Schreibtisch von Kaffee befreit hatten. »Bevor noch ein größeres Unglück passiert.«
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Still vergnügt meldete sie sich bei ihrem Chef Bob Cowan zu einem Auswärtstermin ab und verließ mit Selim den South Bay Sozialdienst. Ihre Verabredung mit Phoebe war völlig vergessen. Als Phoebe eine Stunde später im South Bay Sozialdienst eintraf, war Paiges Schreibtisch verwaist. Die halb eingetrockneten Kaffeespritzer auf dem Schreibtisch, einige bekleckerte Akten und eine Kaffeepfütze auf dem Fußboden zeugten davon, dass sich hier vor kurzem eine Katastrophe ereignet haben musste. Doch die eigentliche Katastrophe bestand darin, dass Paige, wie Phoebe von einer Kollegin ihrer Schwester erfuhr, zu einem Auswärtstermin gefahren war und ihre Verabredung völlig vergessen zu haben schien. Auf der Schreibtischkante lag ein verknitterter Notizzettel, den Phoebe in einer Mischung aus Neugier und Frustration über Paiges Verhalten zur Hand nahm. Die Vision traf sie wie ein Schlag. Die vor ihr liegende Säulenhalle schien direkt aus einem Märchen aus 1001 Nacht zu stammen: Der Boden war mit kostbaren dunkelblauen Mosaiken ausgelegt, und die Wände schmückte ein florales, orientalisches Muster aus Blattgold und türkisfarbenen Steinen. Von der hohen Kuppeldecke hing ein radförmiger schmiedeeiserner Kerzenluster und verströmte ein mattes, fast unwirkliches Licht. An der Kopfseite des riesigen Saals erhob sich ein Podest, auf dem sie schemenhaft eine in Licht getauchte Gestalt ausmachen konnte, und eben diese Gestalt schleuderte nun Energieblitze und Feuerbälle in Richtung einer Dreiergruppe, die gerade die Halle betreten hatte. - 18 -
Und dann war es, als ob die Hölle selbst sich auftat, um alles, was auf dieser Welt jemals gut und richtig gewesen war, zu verschlingen … Auf dem Parkplatz des South Bay Sozialdienstes holte Phoebe erst einmal tief Luft und versuchte, die Bilder aus ihrer Vision zu begreifen und in einen plausiblen Zusammenhang zu bringen. So viel war klar: Ein Wesen, das Magie beherrschte, hatte versucht, eine Gruppe bestehend aus drei Personen zu töten. Und um wen es sich bei dem Trio handeln musste, war für Phoebe keine Frage: Wieder einmal schien jemand darauf aus zu sein, die Zauberhaften zu vernichten! Und dieser Jemand musste vermutlich in irgendeiner Verbindung zu einer Person stehen, die in Paiges Büro gewesen war … Es sei denn, die Person, die in Paiges Büro gewesen war, war dieser Jemand! Sie stieg in ihren alten Pick-up und fuhr los. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Die alles entscheidende Frage war, ob es sich bei dem Besitzer des Notizzettels um einen Unschuldigen handelte, den es zu retten galt, oder um einen Dämon, der ihnen ans Leder wollte. Vielleicht sogar um die unheimliche Gestalt selbst, die in ihrer Vision mit Blitz und Feuer um sich geworfen hatte? An der nächsten Ecke trat Phoebe auf die Bremse und fuhr den Wagen an den Straßenrand. Mit zitternden Fingern holte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Paiges Handynummer. Sie tat dies nur im äußersten Notfall, denn die Schwestern hatten sich darauf geeinigt, Paige während Auswärtsterminen nicht ohne triftigen Grund anzurufen. »Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, tönte es ihr aus dem Hörer entgegen.
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»Herrgott, Phoebe, du hast doch gehört: Sie musste einen wichtigen Termin wahrnehmen. Und offensichtlich will sie dabei nicht gestört werden«, meinte Piper, während sie eine feuerfeste Auflaufform mit Kartoffel-Lachs-Gratin aus dem Backofen holte. »Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst«, empörte sich Phoebe, die einmal mehr erfolglos versucht hatte, Paige im Büro und auf deren Handy zu erreichen. »Immerhin hab ich mit angesehen, wie jemand drei Personen angegriffen hat! Drei Personen? Klingelt’s denn da nicht bei dir?« Sie war unverzüglich nach Hause gefahren, nachdem sie Paige telefonisch nicht erreicht hatte, und hatte Piper von ihrer Vision berichtet, die die Berührung des Notizzettels bei ihr ausgelöst hatte. »Wir wissen ja noch nicht mal, um was es sich dabei gehandelt hat«, gab Piper zu bedenken, während sie für Phoebe und sich zwei Teller aus dem Schrank holte. »Diese Vision könnte auf ein Ereignis aus der Vergangenheit hindeuten oder ein Hinweis auf Zukünftiges sein«, fuhr sie fort. »Alles, wovon wir in diesem Moment mit Sicherheit ausgehen können, ist, dass in absehbarer Zeit irgendetwas passieren wird, bei dem die Zauberhaften gefragt sind … Ach, weißt du übrigens, wer heute Abend im P3 auftritt?« »Nein!«, entfuhr es Phoebe. »Jetzt hör mal zu: Während wir hier rumsitzen und plaudern, ist Paige womöglich in großer Gefahr.« Sie schnaufte ungehalten und wählte zum tausendsten Male die Büronummer ihrer Halbschwester im South Bay Sozialdienst. Keine Antwort. »Sie hat es ja noch nicht mal für nötig befunden, unser Treffen abzusagen«, setzte sie hinzu. »Was, wenn sie dazu einfach keine Gelegenheit mehr hatte?« »Was, wenn sie es einfach vergessen hat?«, konterte Piper.
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Phoebe konnte nicht begreifen, weshalb Piper die Vision, die die Notiz hervorgerufen hatte, so auf die leichte Schulter nahm. Immerhin musste der Zettel von jemandem stammen, der an Paiges Schreibtisch gestanden hatte. Und womöglich war sie gerade mit diesem Jemand in irgendeiner Angelegenheit unterwegs. Schließlich fasste Phoebe sich ein Herz und versuchte es bei Paiges Chef Bob Cowan, den sie auch erreichte. »Guten Tag, Mr. Cowan, Phoebe Halliwell hier. Sagen Sie, ist Paige Matthews schon wieder im Hause?« Nervös lauschte Phoebe seiner Antwort, wobei sie unablässig einen ihrer beiden Flechtzöpfe zwirbelte. »Verstehe … danke … auf Wiederhören«, sagte sie und trennte die Verbindung. »Und?«, fragte Piper, während sie das Salatdressing zubereitete. »Bob Cowan sagt, Paige ist von ihrem letzten Termin noch nicht ins Büro zurückgekehrt«, verkündete Phoebe mit Grabesstimme. »Er sagt, sie sei mit einem Klienten in einer wichtigen Angelegenheit zu einem Hotel gefahren, und er vermutet, dass sie, wenn die Sache länger dauern sollte, danach wahrscheinlich direkt nach Hause kommen wird.« »Siehst du«, meinte Piper und füllte die Teller mit dem Gratin auf. »Was heißt hier ›Siehst du‹? Findest du es nicht auch komisch, dass sie ihr Handy abgestellt hat?«, ereiferte sich Phoebe. »Ich meine, wenn ein Sozialarbeiter zu einem Außentermin fährt, dann ist es doch wohl das Mindeste, dass er sich telefonisch erreichbar macht?« »Nicht, wenn der verdammte Akku mal wieder leer ist«, murmelte Piper. »Und was, wenn wir sie dringend für die Macht der Drei gebraucht hätten?« - 21 -
»Tja, dann hätten wir eben Pech gehabt. Solange Paige einen Job hat, wird es auch mal Zeiten geben, wo sie unabkömmlich ist. Und wenn wir in akute Gefahr geraten wären, hätte sie es so oder so nicht mehr rechtzeitig zu uns geschafft. Mit diesem Risiko müssen die Zauberhaften nun mal leben. Wir können unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag wie Kletten aneinander hängen.« Als Phoebe entrüstet aufstöhnte, hielt Piper in ihrer Tätigkeit inne und sah ihre jüngere Schwester einen Moment lang schweigend an. »Pass auf, Süße«, sagte sie schließlich. »Wir essen jetzt gemeinsam zu Mittag, okay? Danach sehen wir weiter.« Hand in Hand schritt sie mit Selim durch die grüne Oase, und es war, als ob der Garten Eden seine Pforten geöffnet hätte. Das Geplätscher von Brunnen drang an ihr Ohr, und über ihnen war Vogelgezwitscher zu hören. In der Ferne standen prächtige Pfauen auf einer Lichtung, die von blühendem Oleander und Jasmin gesäumt war. Linker Hand war ein kleiner See zu sehen, an dessen Ufer Schatten spendende Sykomoren wuchsen. Sie war im Paradies. Und sie war glücklich wie noch nie im Leben. Sie war daheim, und an ihrer Seite schritt der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Bei einem kleinen Pavillon angekommen, wandte Paige den Kopf und sah Selim schweigend an. Er lächelte, und der Blick aus seinen grünen Augen war erfüllt von Liebe und Sehnsucht. Sie blieben stehen, und Selim zog sie leidenschaftlich an sich. Sie spürte seine Wärme und seine starken Arme, die sie umfingen. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sein wunderschönes
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Gesicht näherte sich dem ihren. »Paige, ich liebe dich«, flüsterte er. In Erwartung des lang ersehnten Kusses schloss Paige die Augen. »Selim …« In diesem Moment explodierte die Welt um sie herum in einem Wirbel aus Licht und Farben, und es war, als ob das Schicksal mit gierigen Fingern nach ihr griff und sie brutal fortriss von diesem himmlischen Ort. Ein Schmerz durchzuckte sie, der in jede Faser ihres Körpers vorzudringen schien. Als Paige die Augen aufriss, da sah sie vor sich keineswegs das wunderschöne Gesicht ihres Liebsten, sondern die abscheuliche Fratze des Todes. Sie schrie, und schrie, und schrie. Hände berührten sie. Widerliche, lüsterne Hände … Und Selim? Wo war Selim? Ihr wurde kalt, der Schmerz klang ab, doch das Leben und alles, was gut und schön war, schien aus ihr herauszuströmen, während der Tod sein hässliches Lachen dazu anstimmte. Als Paige keuchend die Augen aufschlug, hatte sie das Gefühl, dass der böse Traum mit ihrem Erwachen keineswegs zu Ende war. Wie sie feststellte, war sie an einem sehr, sehr finsteren Ort. Genauer gesagt lag sie auf dem Rücken und starrte gegen eine dunkle, feuchte Decke. Verwirrt richtete sie sich auf und musste mit Entsetzen erkennen, dass sie sich in einer Art Zelle befand – auf einer erbärmlich stinkenden Bettstatt lag. Wobei Zelle eigentlich nicht das richtige Wort war, vielmehr hatte das Ganze etwas von einem … Verlies. Wände und Boden bestanden aus dunklen, grob behauenen Steinen. Aus den Ritzen und Ecken tropfte - 23 -
Wasser, und in einiger Entfernung, hoch oben an der Stirnwand des Raumes, konnte sie ein schmales vergittertes Fenster erkennen, durch das ein wenig Licht fiel. Keine Frage, sie war in einem Kerker gelandet. Sie erhob sich von dem Lager aus Wolldecken und machte ein paar unsichere Schritte in Richtung der Wand mit dem Fenster. Trotz oder gerade ob der üblen Lage, in der sie sich befand, fühlte sie sich unendlich müde und schwach. Nachdem sich ihre Augen an die trüben Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, entdeckte sie links und rechts armdicke Ringe mit verrosteten Ketten an den Wänden. Irgendwo trippelten und kratzten kleine Nagerfüße, und über die feuchten Wände huschten Spinnen. Sie wollte schreien, doch der Schock schnürte ihr schier die Kehle zu. Wo zum Teufel war sie hier? Und wo war Selim? Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie mit Selim in einem Taxi zum »Marduk Palace«-Hotel gefahren war. Lachend und scherzend hatten sie im Fond des Wagens gesessen, und Paige hatte Selim während der Fahrt von ihrer Arbeit und ihren beiden Schwestern berichtet, in deren Haus sie seit einiger Zeit wohnte. Natürlich hatte sie ihm nichts von ihrem Doppelleben als Hexe erzählt, obwohl sie sich dem jungen Mann schon nach kurzer Zeit überaus nah und verbunden gefühlt hatte. Jedes Mal, wenn er sie aus seinen unergründlichen grünen Augen angesehen hatte, hatte ihr der Atem gestockt, und in ihrem Bauch hatte sich ein wohl vertrautes Flattern bemerkbar gemacht. Keine Frage, sie war auf dem besten Wege gewesen, sich hoffnungslos in Selim zu verlieben … Das alte Hotel hatte in Nob Hill, im Nordwesten von San Francisco, auf einem der zahlreichen Hügel der Stadt gestanden und war einfach traumhaft schön gewesen. Der perfekte Ort für - 24 -
eine glamouröse Charity-Veranstaltung mit Stars und Sternchen. Sie gingen durch einen hübschen kleinen Park zum Eingang, und als sie die verzierte Flügeltür erreicht hatten, machte ihr Herz vor Freude einen kleinen Satz. In diesem Moment war ihr siedend heiß die Verabredung mit Phoebe wieder eingefallen, und sie hatte Selim gesagt, dass sie sich aus der Lobby noch kurz bei ihrer Schwester melden müsse, bevor sie sich ins Promi-Getümmel stürzen konnten. Selim hatte genickt und seinen Presseausweis gezückt, und dann waren sie voller Vorfreude eingetreten. Von da an erinnerte sich Paige an nichts mehr. Niente, nada, Filmriss … Und nun saß sie hier. In einem dunklen, muffigen Verlies. Und das alles nur, weil sie einem Mann vertraut hatte, dem sie sich auf seltsame Art verbunden gefühlt hatte. Die Enttäuschung über Selims Verrat schmerzte, und mit Reue dachte sie an Pipers Worte zurück, die einmal gesagt hatte: »Traue nie einem Fremden. Er könnte ein Dämon sein, der es auf die Zauberhaften abgesehen hat.« Der alte Zeyn wanderte in seiner Kammer auf und ab und lächelte. Neben der Tür zu seinem Allerheiligsten stand reglos eine Gestalt im Halbdunkel. »Die Hexe ist nun hier«, murmelte Zeyn. »Das ist gut.« »Ja, Erhabener«, sagte die Gestalt in den Schatten. Ihre Stimme klang seltsam dumpf. »Es verläuft alles genau, wie Ihr es geplant habt.« »Natürlich tut es das!« Der Alte wandte sich um, und seine ohnehin entsetzlich entstellte Fratze verzerrte sich vor Wut. »Oder zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?«
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Erschrocken wich die Gestalt zurück. »Nein, erhabener Zeyn, Eure Macht ist grenzenlos.« »Und sie wird überdauern Zeit und Raum.« Als Paige nach dem Mittagessen immer noch nichts von sich hatte hören lassen und nach wie vor telefonisch unerreichbar blieb, begann auch Piper, sich allmählich zu sorgen. Haarklein ließ sie sich von Phoebe noch einmal die Vision, die diese beim Berühren des Zettels gehabt hatte, beschreiben. »Was stand denn eigentlich auf dieser ominösen Notiz, die das alles ausgelöst hat?«, wollte sie schließlich wissen. »Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte Phoebe. »Ich glaube, ich hab sie fallen lassen, als mich die Vision überkam.« Sie dachte einen Moment lang angestrengt nach. »Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Es war … eine Adresse … in Nob Hill. Ein Hotel, glaube ich. Wie hieß es noch gleich? Marak … Maruk … nein, Marduk Palace! Jetzt erinnere ich mich wieder, dass ich kurz vor dem Flashback dachte: Wow, auf dem Hügel der Paläste würde ich auch mal gern übernachten!« Sie geriet einen Moment lang ins Grübeln. »Könnte es nicht sein, dass dieser Wohltätigkeitsempfang, zu dem Paige angeblich gefahren ist, in eben diesem Hotel stattfindet?« Statt einer Antwort sah Piper auf die Uhr. »Es ist jetzt kurz nach eins. Ich schlage vor, wir konsultieren das Buch der Schatten wegen deiner Vision, fahren dann nach Nob Hill, fragen uns zu diesem Hotel durch und schauen, ob wir Paige dort antreffen.« »Okay.« Phoebe sprang auf und eilte zur Treppe, um auf den Dachboden zu flitzen. Plötzlich hielt sie inne. »Wo ist eigentlich Leo?« »Der ist in der nächsten Stunde in wichtiger Mission für den Rat der Ältesten unterwegs«, erwiderte Piper. »Ich schreibe ihm - 26 -
noch rasch eine Nachricht, falls er zwischendurch hier aufkreuzen sollte.« Starr blickte der alte Zeyn in seine Glaskugel, um die Verbindung zu Selim wiederherzustellen. Doch es gelang ihm nicht. Er musste den Kontakt zu ihm verloren haben, nachdem er die Hexe dem Zeitstrom entrissen und sie hinauf ins Turmverlies hatte bringen lassen. Zeyn knurrte. Das war nicht gut, denn es bedeutete, dass Selim seine Zeit wieder verlassen hatte und er nun nicht wusste, was dieser als Nächstes tat. Auf dem Speicher von Halliwell Manor lag das gute alte Buch der Schatten wie eh und je an seinem Stammplatz auf dem antiken Lesepult. Gespannt bauten sich Piper und Phoebe davor auf. Das Familienerbstück besaß die sehr nützliche Eigenschaft, den weiblichen Mitgliedern der lang zurückreichenden halliwellschen Hexendynastie den einen oder anderen hilfreichen Hinweis zu liefern, wann immer sie in Not waren oder nicht mehr weiterwussten. Darüber hinaus hatten die Vorfahrinnen der Schwestern von Generation zu Generation ihre Erlebnisse und Erfahrungen, aber auch hilfreiche Sprüche und Rezepte in dem alten Folianten zusammengetragen, sodass das Buch der Schatten über die Jahrhunderte zu einem umfassenden Kompendium aller bis dato bekannten Phänomene, Dämonen, übernatürlichen Gefahren und Ereignisse geworden war. Zögernd öffnete Phoebe das Buch und blätterte ein wenig darin herum. Und dann geschah das, was schon so oft bei der Befragung des Buchs der Schatten passiert war: Die Seiten schlugen automatisch und in rasender Geschwindigkeit wie von - 27 -
selbst um, bis das Buch eine ganz bestimmte Stelle erreicht hatte. Gespannt beugten sich Piper und Phoebe über die aufgeschlagene Seite. Diesmal war eine alte Zeichnung zu sehen, ein Kupferstich, der einen schwarzen, irgendwie bedrohlich wirkenden Turm darstellte. »Was ist das?«, fragte Piper. »Ein schwarzer, irgendwie bedrohlich wirkender Turm?«, erwiderte Phoebe, als sei damit alles erklärt. »Danke, aber das sehe ich selbst«, meinte Piper. Neben der Abbildung des Turms stand etwas geschrieben. Halblaut las Piper vor: Und es wird kommen die Zeit, da werden Iblis’ Diener ausziehen, die Welt zu vernichten. Wehe denen, welche die Botschaft im »Buch der Weisheit« nicht zu deuten wissen: Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten. »Was bedeutet das?«, fragte Phoebe. Für sie klang das alles sehr nach einer Warnung. »Und was in aller Welt ist denn das Buch der Weisheit?« »Weißt du, Süße, wenn die Hinweise im Buch der Schatten auch nur einmal eindeutig gewesen wären, hätten wir uns in der Vergangenheit ’ne Menge Ärger und Arbeit ersparen können«, erwiderte Piper lakonisch. »Und wer zum Teufel ist Iblis?«, murmelte Phoebe, ohne auf die bissige Bemerkung ihrer Schwester einzugehen.
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»Keine Ahnung«, gab Piper zurück. »Aber der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich schlage vor, wir konsultieren mal das Lexikon.« Zurück im Wohnzimmer stürzte Phoebe sogleich zum Bücherregal, in dem auch das umfangreiche Konversationslexikon der Schwestern stand, und zog den Band »I« hervor. »Moment … hab’s gleich … ah ja, hier steht’s: ›Iblis: im Islam der Name des Teufels‹.« Sie hob den Kopf und starrte Piper aus weit aufgerissenen Augen an. »Na ja«, krächzte Piper. »Im Grunde ist das ja nichts Neues: Des Höllenfürsten Schergen wollen offensichtlich wieder mal die Welt vernichten. Seit Jahren schlagen wir uns mit nichts anderem herum.« Sie ließ sich auf Grams altem Samtsofa nieder und überlegte einen Moment. »Nur, was genau hat das alles mit Paige, diesem Hotel und deiner Vision zu tun?« »Immerhin hab ich das Innere eines irgendwie orientalisch anmutenden Palastes gesehen«, erinnerte Phoebe. »Insofern ist ein Bezug zum alten Iblis ja schon auf gewisse Weise hergestellt.« Sie hielt einen Moment lang inne. »Und ich habe drei Personen gesehen, die gegen irgendeine mächtige, mit Magie kämpfende Kreatur antraten. Die Frage ist also, waren das Bilder aus grauer Vorzeit oder ein Hinweis auf etwas, das noch passieren wird?« »Wenn ich mich recht erinnere«, meinte Piper und hob spöttisch eine Augenbraue, »so waren deine Visionen noch nie dazu angetan, uns lediglich einen nostalgischen Einblick in die gute alte Zeit zu liefern. Was ich sagen will: Natürlich wird es sich dabei um eine Warnung gehandelt haben, dass uns etwas bevorsteht, so viel ist klar. Leider wissen wir bloß nicht, was und wann!«
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»Wie dem auch sei, ich finde, wir sollten so schnell wie möglich zu diesem Hotel fahren und Paige warnen«, sagte Phoebe. Als Selim wieder in dem alten Hotel auftauchte, verharrte er eine Weile ratlos in der halb verfallenen Lobby. Noch immer hielt er die lederne Aktentasche in der Hand. Mit einem unterdrückten Wutschrei schleuderte er das nun überflüssige Requisit zu Boden. Doch schnell hatte er sich wieder im Griff. Die Dinge hatten sich zwar ganz und gar nicht so entwickelt, wie er es geplant hatte, aber noch war nicht alles verloren. Um das Ruder doch noch herumzureißen, gab es nur einen Weg. Er beschloss, sich Klarheit zu verschaffen. In Pipers Geländewagen fuhren die beiden Schwestern von Pacific Heights Richtung Westen nach Nob Hill, das zu den vornehmsten Stadtbezirken San Franciscos zählte. Wie viele Viertel lag auch Nob Hill auf einem der zahlreichen Hügel der Stadt. Aus über hundert Metern Höhe hatte man hier einen wundervollen Blick auf die San Francisco Bay und die Liegeplätze im Hafen. Die Gegend war einst berühmt gewesen für ihre viktorianischen Villen und prächtigen Herrenhäuser, die jedoch fast alle im Jahre 1906 dem großen Erdbeben zum Opfer fielen. Danach waren an ihrer Stelle zahlreiche Luxushotels entstanden. Vor allem entlang der California Street waren die prachtvollen Nobelherbergen zu finden, doch eine mit dem Namen »Marduk Palace« war hier nirgendwo zu entdecken. Daher fuhr Piper am Pacific Union Club kurzerhand rechts ran, damit Phoebe ihr Fenster herunterkurbeln und einen Passanten nach dem Weg fragen konnte. - 30 -
Der erste Fußgänger, der vorbeikam, entpuppte sich als ein überaus freundlicher Chinese, der allerdings kaum ein Wort Englisch sprach. Das gut gelaunte Paar, das kurz darauf vorbeiflanierte, stammte aus Illinois und war nur auf der Durchreise. Der Mann, den Phoebe als Nächstes ansprach, schien Pfarrer und aus der Gegend zu sein. »Hotel ›Marduk Palace‹?«, überlegte er und legte die hohe Stirn in Falten. »Ich glaube, das liegt in der Gaynor Street hinter dem Huntington Park, aber –« »Vielen Dank für Ihre Hilfe!«, rief Phoebe, und schon brausten sie und Piper in die angegebene Richtung davon. Der Pfarrer hatte sich nicht geirrt. Als die beiden Schwestern in die Gaynor Street einbogen, mussten sie nicht lange suchen. Am Ende der Straße tauchte rechter Hand ein großes Gebäude aus Sandstein auf, von dem ein Schild am Eingang verkündete, dass es sich hierbei um das »Marduk Palace«-Hotel handelte. Allerdings verkündete der Zustand des Hotels auch noch etwas ganz anderes: Der riesige Bau wirkte wie ausgestorben und schien schon seit langem verlassen zu sein. Viele der Fenster waren zerbrochen, die Fassade war verwittert und schmutzig, und das Grundstück, auf dem das Hotel stand, war mit den Jahren zu einem Schuttabladeplatz verkommen. »Soll das ein Witz sein?«, fragte Piper und fuhr an den Straßenrand. »Höchst unwahrscheinlich, dass jemand hier einen Wohltätigkeitsempfang veranstaltet, oder? Es sei denn, Marilyn Manson schmeißt hier heute ’ne Gartenparty …« Wie gebannt starrte Phoebe auf das alte Gebäude. »Stimmt, der Kasten sieht ziemlich abgewrackt aus«, murmelte sie, »aber ich finde, wir sollten trotzdem kurz reingehen und uns wenigstens ein bisschen umsehen. Immerhin stand diese Adresse nun mal auf dem Zettel, der meine Vision ausgelöst hat.«
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»Wie du meinst«, sagte Piper, doch sie fühlte sich alles andere als wohl bei dem Gedanken, zumal Leo in der nächsten Stunde für sie nicht zu erreichen war. Andererseits: Welches Problem sollte in einem alten Hotel schon auf sie und Phoebe lauern, das sich nicht mit einem Timefreeze oder einem befreienden Energieschlag lösen ließ? Doch dann wiederum war ihr seit Prues Tod die Rolle derjenigen im Dreierbund zugefallen, die ihre jüngeren Schwestern zur Besonnenheit und Vorsicht mahnte und die auch im größten Chaos noch einen klaren Kopf behielt. Sie stellte den Motor ab, und die beiden Schwestern stiegen aus. Schweigend gingen sie auf das rostige schmiedeeiserne Tor zu, das nicht verschlossen war. Zögernd betraten sie das verfallene Grundstück, das offensichtlich einst ein hübscher kleiner Park gewesen war. Piper erkannte die Reste eines Pavillons und einen eingestürzten Springbrunnen. Als sie die große Flügeltür erreichten, von der bereits die Farbe abblätterte, hielten die Schwestern kurz inne und sahen sich beklommen an. »Also, ich weiß nicht«, murmelte Piper. »Ich finde nicht, dass wir da einfach so reingehen sollten. Vielleicht ist es ja eine dämonische Falle, oder da drinnen hausen irgendwelche Kleinkriminelle, die uns sofort den Schädel einschlagen, sobald wir um irgendeine Ecke –« »Ich kann es ganz deutlich spüren«, murmelte Phoebe. »Paige war oder ist hier …« Sie sah ihre Schwester flehend an. »Hör zu, wir werfen nur mal kurz einen Blick da rein, und sobald sich auch nur das Geringste bewegt, frierst du es ein.« Entschlossen öffnete Phoebe die Tür, die laut in den Angeln quietschte. »Schon vergessen, immerhin sind wir die wohl mächtigsten Hexen unserer Zeit!« Mit diesen Worten zog sie Piper hinter sich her und in das alte Hotel hinein.
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Im gleichen Moment explodierte die Welt um die beiden Hexen in einem Wirbel aus Farben und Licht. Und dann war es, als ob sie in einen mächtigen Mahlstrom geraten wären, der sie in rasender Geschwindigkeit einem unbekannten Ziel entgegenschleuderte. Von allen Seiten schienen unsichtbare Kräfte an ihnen zu zerren, während in atemberaubendem Tempo Zerrbilder und dissonante Geräusche auf sie einstürmten, als wären sie im Kopf eines irren Weltenschöpfers gefangen. Und dann war es plötzlich still. Wütend humpelte der alte Zeyn auf seinen Diener zu, der erschrocken vor ihm zurückwich. »Was soll das heißen, es könnten noch andere Kreaturen durchgekommen sein?«, zischte er. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das im Auge behalten?« Er deutete auf die Messingschale, die in der Vorhalle zu seinem Allerheiligsten auf einem Ebenholztischchen stand und in der sich eine trübe Flüssigkeit befand. »Wenn du nicht schon tot wärst, würde ich dich auf der Stelle vierteilen lassen«, donnerte er. »Vergiss nicht, dass du es allein mir zu verdanken hast, dass du hier sein kannst.« Der Ghul senkte den Blick. »Ja … erhabener … Zeyn«, murmelte er stockend. »Und jetzt geh wieder auf deinen Posten und tue, was ich dir befohlen habe«, grollte der Dämon. Langsam schlurfte der Ghul zu dem Tisch mit der Schale und starrte auf die zähe Flüssigkeit herab. Er wusste, wenn sich an ihrer Oberfläche auch nur das Geringste veränderte, musste er seinem Herrn unverzüglich Bericht erstatten. Manchmal fragte er sich, ob es für ihn nicht besser gewesen wäre, wenn er auf dem Armenfriedhof von Ald’maran schlicht und einfach verrottet wäre, anstatt nun in Diensten dieses - 33 -
grausamen Megalomanen ein unbeschreiblich freudloses Dasein zu fristen. Ein sterbliches Wesen konnte ihn, den Untoten, zwar nicht mehr töten, doch der große Zeyn konnte ihm unvorstellbare Qualen bereiten, wenn er noch einmal versagte. Zurück in seinem Allerheiligsten trat Zeyn eilig zu dem Tisch, auf dem auch seine kostbare Glaskugel lag, und nahm eine schwere goldene Halskette zur Hand. Auf dem ovalen Anhänger war das stilisierte Symbol eines Auges zu erkennen, in dessen Mitte ein roter Rubin eingelassen war. Er legte sich das Wächteramulett um den Hals und hob seine verkrüppelten Hände. Dann schloss er die Augen und murmelte: Mächte des Lichts, bleibt fern von der Stadt, auf dass eure Magie keinen Zutritt mehr hat. Paige atmete tief durch und legte das Ohr an die dicke Holztür ihrer Zelle. Von draußen war kein Ton zu hören. Eine Klinke oder ein Schloss waren nicht zu sehen, zudem schien die Tür mit der Wand, in die sie eingelassen war, wie verwachsen zu sein und rührte sich keinen Millimeter, als sie sich dagegenstemmte. Leise ging sie zu dem Haufen dreckiger Decken am Boden zurück, neben dem ihr kleiner Wildlederrucksack lag, und kramte ihr Handy hervor. Das Display war tot, und auch nach mehrmaligem Betätigen des Einschaltknopfes erschien das wohl vertraute Logo des - 34 -
Netzbetreibers nicht. Eine unbestimmte Panik keimte in ihr auf, und tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum hatte Selim sie hierher gebracht? Und wenn nicht Selim, wer dann hatte sie entführt? Warum hielt man sie hier fest? Und wo war sie überhaupt? Was genau war nach dem Betreten des »Marduk Palace« geschehen? Konnte es sein, dass sie sich immer noch in Nob Hill befand und jetzt irgendwo im Innern des Hotels festgehalten wurde? Als sie sich das Zusammentreffen mit Selim im South Bay Sozialdienst noch einmal in Erinnerung rief, fiel ihr plötzlich ein, was er gesagt hatte, als sie vom Kaffeeautomaten an ihren Schreibtisch zurückgekehrt war: »Sind Sie Paige Matthews?«, hatte er gefragt, und »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier finde.« Das besagte doch eindeutig, dass er keineswegs zufällig in den Sozialdienst gestolpert war, weil er von irgendjemandem professionellen Rat und moralische Unterstützung für seinen ersten wichtigen Job gebraucht hatte. Verdammt! Er muss sich am Empfang des Sozialdienstes ganz gezielt nach mir erkundigt haben. Er hat nach mir, und nur nach mir allein gesucht! Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen?, fragte sich Paige. Doch die Antwort war so einfach wie unerquicklich. Es war ihr nicht aufgefallen, weil sich bei seinem Anblick und in seiner Gegenwart jeglicher Scharfsinn und alle Vorsicht bis auf weiteres verabschiedet hatten. Mehr noch, es war, als ob sie in dem Moment, da er vor ihr stand, die Tür zu etwas Wunderbarem aufgestoßen hatte, das ihren Blick für die Realität vollkommen verschleiert hatte. Piper würde das vermutlich als schnöden Liebeswahn abtun, dachte sie, und mir dringend raten, mich mit einem Therapeuten darüber zu unterhalten … Doch das musste warten. Viel wichtiger war die Frage: Was sollte sie jetzt tun? - 35 -
Eigentlich gab es nun nur noch eine Lösung. »Leo?«, flüsterte sie. Doch Leo erschien nicht. »Leo?«, rief sie ein wenig lauter. Wieder nichts. »Leo!« Doch sie blieb allein. Paige merkte, wie ihr trotz der klammen Kälte, die in ihrem Gefängnis herrschte, der Schweiß ausbrach. Dann also Plan B, dachte sie, während ihr das Herz bis zum Halse klopfte. Sie konzentrierte sich und versuchte sich auf die andere Seite der Tür zu orben, nicht wissend, was sie dort erwarten würde. Nichts geschah. Sie hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt! Sie schluckte hart und rief »Rucksack!«, um ihren kleinen Lederbeutel, der neben der schmuddeligen Bettstatt lag, per Telekinese zu sich zu holen, doch ohne Erfolg. Paige hatte das Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggerissen würde. Sie war verschleppt worden, sie war allein, ihre Magie hatte versagt, und wer auch immer sie in diesen entsetzlichen Kerker eingesperrt hatte, hatte das sicherlich nicht zum Spaß getan … Als ihr das ganze Ausmaß ihrer Situation bewusst wurde, war es, als ob ihr jemand einen Dolch ins Herz gejagt hätte mit den Worten: Du bist nicht nur ohne deine Kräfte hier gefangen, du bist so gut wie tot! Nachdem Zeyn seinen Bann über Ald’maran gelegt und damit verhindert hatte, dass weitere magiebegabte Kreaturen des
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Lichts die Stadt betreten konnten, kehrte er zurück in den Vorraum zu seinem Allerheiligsten. Sein treuer Diener stand noch immer an seinem Platz und starrte in die Schale mit der milchigen Flüssigkeit. Zeyn war einigermaßen zufrieden. Denn nun war es weder der Hexe noch demjenigen, der außer ihr noch durch das Portal geschlüpft sein mochte, möglich, sich aus der fernen Zukunft Hilfe zu holen. Er lächelte und beschloss, die schöne Hexe hoch oben im Turm aufzusuchen. Zum wiederholten Male versuchte Paige, sich an den grob behauenen Steinquadern ihrer Zelle in die Höhe zu ziehen, um einen Blick durch das schmale Fenster nach draußen zu werfen. Die Wände waren feucht und glitschig, und mehr als einmal war sie kurz vor dem Ziel wieder abgerutscht und zu Boden gestürzt. Schließlich gelang es ihr, auf einem kleinen Mauervorsprung Halt zu finden, den Arm nach dem Fenstergitter auszustrecken und sich das letzte noch fehlende Stück in die Höhe zu ziehen. Blinzelnd starrte sie durch das schmale vergitterte Loch, und was sie sah, verschlug ihr schier den Atem. Sie befand sich in einem offensichtlich recht hohen Gebäude. Doch zu Füßen ihres Gefängnisses lag keineswegs das exklusive Nob Hill, sondern eine Stadt, die Paige noch nie gesehen hatte. Und die hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit San Francisco. In einem Meer aus lehmbraunen halbhohen Häusern ragten hier und da prachtvolle Bauten mit goldenen, grünen oder türkisfarbenen Kuppeln in die Höhe. Sie erkannte Minarette, palmenbewachsene Plätze, Händlerkarawanen auf einer breiten Hauptstraße und in der Ferne eine gewaltige Stadtmauer, hinter
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der sich eine wüstenartige Landschaft bis zum Horizont erstreckte. Mein Gott, man hat mich in den Nahen Osten verschleppt, schoss es ihr durch den Kopf. Irrwitzige Bilder von orientalischen Sklavenmärkten, mit Eunuchen bevölkerten Harems und von entführten Liebesdienerinnen aus aller Herren Länder erschienen vor ihrem geistigen Auge. Mit weichen Knien sprang sie wieder auf den Boden ihrer Zelle zurück und versuchte, sich auf das Gesehene einen Reim zu machen. War Selim ein Mädchenhändler, der sich darauf verlegt hatte, junge Amerikanerinnen in den Orient zu entführen, um sie an irgendwelche dekadenten Ölscheichs zu verkaufen, die noch ein paar exotische Nebenfrauen wünschten? Und gab es denn heutzutage so etwas überhaupt noch? Was um Himmels willen war geschehen, nachdem Selim und sie das Hotel betreten hatten? Hatte man sie, Paige, überwältigt, betäubt und dann per Schiff außer Landes geschafft? Und ging es hier wirklich nur um simples Kidnapping, oder steckte mehr dahinter? In Anbetracht der Tatsache, dass sie eine der Zauberhaften war, erschien es Paige nach einigem Überlegen allerdings viel wahrscheinlicher, dass die ganze Sache sehr wohl mit ihr persönlich zu tun hatte. Wie aufs Stichwort wurde plötzlich die Tür ihrer Zelle geöffnet, und eine Gestalt erschien auf der Schwelle. Paige erstarrte, als ein alter, verkrüppelter Mann auf sie zutrat, denn außer der Tatsache, dass er eine halbwegs menschliche Form zu besitzen schien, war an ihm nur wenig Menschliches.
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Das Gesicht glich einer geierartigen Fratze mit seiner großen, hervorspringenden Hakennase und dem eingefallenen, lippenlosen Mund. Die graubraune Haut war rissig wie ein ausgetrockneter Schlammteich. Er schlich, nein, er humpelte gebückt voran. Seine Arme waren auf geradezu groteske Weise verkrümmt und wirkten wie abgestorbene Äste an einem toten Baumstumpf. Als das Ding näher kam, konnte Paige sehen, dass an seinem nackten, buckligen Rücken zwei kleine ledrige Schwingen saßen, die irgendwie schlaff und nutzlos wirkten. Doch das Schlimmste an ihm waren die Augen. Es waren leblose, und doch irgendwie fanatische Augen, rot umrandet wie die einer weißen Maus und starr wie die einer Schlange. Es waren uralte Augen. Der Mann, oder was auch immer die Kreatur vor ihr sein mochte, trug ein knielanges, dunkelblaues Hüfttuch, und auf seinem kahlen Kopf saß eine Art flacher, weißer Turban. Keuchend trat Paige einen Schritt zurück, als der abstoßende Greis auf sie zuschlurfte und ein meckerndes Lachen ausstieß. »Willkommen in meinem Reich, Hexe«, schnarrte er mit einer Stimme, die in etwa so angenehm war wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. »Wer … wer sind Sie?«, stotterte Paige. »Die Menschen in Ald’maran nennen mich Zeyn, doch Namen sind so vergänglich wie die Menschen selbst. Wisse, dass ich schon bald der Herr über Leben und Tod sein werde und Lenker der Geschicke der Welt.« Das ist ja lächerlich, schoss es Paige durch den Kopf. Fast hatte sie das Gefühl, in einen Low-Budget-Spielfilm mit dem Titel: »Und wieder greift das unaussprechliche Grauen nach der Weltherrschaft« geraten zu sein. Aber eben nur fast …
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»Wo bin ich?«, fragte sie und wich unwillkürlich erneut einen Schritt vor ihm zurück. Die bösartige Ausstrahlung, die von dem Alten ausging, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen. Kein Zweifel, sie musste einen ziemlich üblen Dämon vor sich haben. »Du bist in Ald’maran, Hexe!«, sagte die Kreatur. »Und du bist hier, weil ich es so bestimmt habe.« »Was hat das alles zu bedeuten?«, verlangte Paige zu wissen. »Du wurdest nicht in meine Zeit gebracht, den Plan zu hinterfragen!«, zischte Zeyn. »Du bist nichts als ein Werkzeug für meine Ziele.« »Ihre Ziele? Ihre Zeit?«, fragte Paige verständnislos. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen«, knurrte der Alte, »dass du nun da bist, wo alles einmal seinen Anfang nehmen wird.« »Wollen Sie … damit sagen«, stammelte Paige, »ich bin … in der Vergangenheit?« Der Dämon stieß ein rasselndes Lachen aus. »Du begreifst schnell, Hexe«, erwiderte er höhnisch, und seine Augen funkelten sie boshaft an. Paige schluckte hart und fühlte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. Sie hatte zwar noch nicht ganz so viel Erfahrung als weiße Hexe wie Piper und Phoebe, aber sie erkannte einen Erzdämon, wenn er vor ihr stand. Und diese Kreatur hier verströmte so viel unheilige Aura, dass es sich bei ihr nur um eine besonders bösartige Ausgeburt der Hölle handeln konnte. Und was er sagte, klang schlimm, wobei sie das unbestimmte Gefühl beschlich, dass die ganze Wahrheit noch viel schlimmer war. »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Von dir will ich nichts mehr, Hexe«, schnarrte die Kreatur. »Du hast mir schon alles gegeben, was du hast.« Mit diesen
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Worten orbte er sich direkt vor sie, und Paige taumelte vor Schreck zurück gegen die Wand. Er hat meine Magie gestohlen!, schoss es ihr durch den Kopf. »Bei Iblis, deine Kräfte sind nun meine Kräfte«, kicherte der Dämon wie zur Bestätigung. »Nicht, dass ich sie gebraucht hätte, aber so sitzt die kleine Maus nun sicher in der Falle.« Er lachte. »Selim hat gute Arbeit geleistet, und schon bald, so viel ist gewiss, wird die Welt eine andere sein.« Er humpelte zurück in Richtung Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Und erst dann werde ich mir überlegen, was mit dir geschehen soll.« Als Zeyn die Tür aufstieß und aus ihrer Zelle schlurfte, konnte Paige einen schnellen Blick hinauswerfen. Undeutlich erkannte sie am Ende des kurzen Gangs eine lediglich vergitterte Zelle, in der zwei Schemen hin und her wanderten. Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Hatte dieser teuflische Verrückte womöglich auch schon ihre Schwestern – Sie vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu denken, denn in diesem Fall wäre das Schicksal der Zauberhaften besiegelt! Und das alles nur, weil ihr ein attraktiver Mann schöne Augen gemacht hatte und sie auf ihn hereingefallen war wie ein kleines dummes Mädchen … Mit einem Knall schloss sich die Tür zu ihrem Verlies, und sie war wieder allein. Allein in einem fremden Land, und allein in einer lang zurückliegenden, archaischen Zeit.
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2 DAS ERSTE, WAS PIPER UND PHOEBE SAHEN, als die Welt um sie herum langsam wieder Gestalt annahm, waren die nackten Wände eines im Halbdunkel liegenden kargen Raumes. Auf dem einfachen Lehmboden lagen einige verblasste orientalische Teppiche, und in einer Ecke stand ein schlichtes Tischchen mit einer Öllampe darauf. An der Kopfseite des Zimmers führte eine schmale Steintreppe abwärts. Noch immer Hand in Hand, so wie sie das »Marduk Palace«Hotel betreten hatten, standen die beiden Schwestern einen Moment lang einfach nur schweigend da. »Was war das?«, presste Piper schließlich hervor. »Scheint, wir wurden irgendwohin … georbt … gebeamt … was auch immer?«, murmelte Phoebe. Sie war noch ganz benommen von der rasanten Reise hierher. »Okay, aber wo sind wir?«, fragte Piper und sah sich langsam um. Von draußen, durch ein glasloses hohes Fenster, drangen Stimmengewirr und seltsame Geräusche an ihr Ohr. Piper wagte einen Blick hinaus und schlug sich im selben Augenblick entsetzt eine Hand vor den Mund. »Phoebe«, keuchte sie. »Komm her!« Als Phoebe neben ihre Schwester trat und aus dem Fenster sah, mochte sie im ersten Moment ihren Augen nicht trauen. Unter ihnen führte eine staubige Straße entlang, die in ein Areal mündete, das offensichtlich der Eingang zu einem überdachten, farbenprächtigen Markt war. Zahlreiche Menschen waren ringsum in den Gassen unterwegs, die geradewegs einem Märchen aus 1001 Nacht entsprungen zu sein schienen. - 42 -
Ihr Blick erfasste halb verschleierte Frauen, Männer in langen Gewändern und Turbanen, einige von ihnen mit merkwürdig spitz zulaufenden ledernen Kopfbedeckungen, junge, barfüßige Burschen mit lässig um den Kopf geschlungenen Schals, die Tabletts mit Erfrischungen durch die Gegend trugen, und geschäftig hin und her eilende, bepackte Händler. Zu ihrer Linken wurden gerade zwei schwer beladene Kamele durch eine weniger belebte Seitenstraße einem unbekannten Ziel entgegengeführt. Die Tiere hoben widerwillig die Köpfe, scheuten ein wenig und gaben dabei protestierende Laute von sich. Direkt unter ihrem Fenster fuhr polternd ein Eselskarren vorbei, der mit Kisten, Lederschläuchen und Fässern beladen war. Und über allem brannte unerbittlich die Nachmittagssonne von einem wolkenlosen Himmel.
frühe
Der Ort war heiß, laut, staubig – und es war definitiv nicht San Francisco und schon gar nicht das exklusive Nob Hill, auf das die beiden Schwestern nun fassungslos herabstarrten. »Das ist nicht Amerika«, bemerkte Piper daher auch treffend. »Was ist geschehen?«, fragte Phoebe tonlos. »Schätze, wir wurden an einen … anderen Ort … gebracht«, meinte Piper. »Offensichtlich«, krächzte Phoebe. »Aber wo sind wir hier, und vor allem, warum sind wir hier?« »Wenn ich mich recht erinnere, hatte deine Vision doch was mit einem orientalischen Palast zu tun, oder?« »Du meinst«, Phoebe sah ihre Schwester beklommen an, »wir sind genau dort? Im … Nahen Osten?«
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»Sieht ganz so aus, oder glaubst du, irgendein Witzbold hat uns nach Disneyland in den Sheherazade-Themenpark teleportiert?«, gab Piper bissig zurück. Phoebe ignorierte die Bemerkung. Seit Piper schwanger war, unterlag sie bisweilen großen Stimmungsschwankungen, die von absoluter Gelassenheit bis hin zu ausgesprochener Gereiztheit reichten. »Ist dir aufgefallen«, begann sie stattdessen langsam, »dass es da draußen überhaupt keine Autos, keine Werbung, keine Schaufenster, keine Antennen auf den Dächern oder sonst irgendwelche … modernen Errungenschaften zu geben scheint?« Piper sah noch einmal zum Fenster hinaus. Phoebe hatte Recht, und die Abwesenheit all der Dinge, die ihre Schwester aufgezählt hatte, ließ in ihr eine schlimme Ahnung aufsteigen. »Wie es scheint«, begann sie mit bebender Stimme, »befinden wir uns nicht nur irgendwo am anderen Ende der Welt, sondern auch … in einer gänzlich anderen Zeit.« »Aber wie und wieso?«, platzte Phoebe heraus. »Ich nehme an, wir sind unabsichtlich durch eine Art … Zeittor hier gelandet. Offensichtlich war der Eingang zum ›Marduk Palace‹-Hotel so etwas wie die Drehtür in eine ferne Vergangenheit.« Sie holte tief Luft. »Und über das Wieso können wir im Moment nur spekulieren. Fraglos hat es aber mit deiner Vision und … mit Paige zu tun, so viel ist klar.« Sie hielt inne und wunderte sich, wie gefasst sie all dies vortrug. »Meinst du, Paige ist auch hier?«, fragte Phoebe, und ihr Blick flog durch den Raum, als ob ihre jüngere Halbschwester jeden Moment hereinspazieren könnte. »Das könnte sein … nein, es ist sogar sehr wahrscheinlich, wenn man sich das alles so zusammenreimt«, murmelte Piper.
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»Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte Phoebe. Dann stutzte sie und erhob sich per Levitation einen halben Meter in die Luft. »Was soll das?«, fragte Piper, als ihre Schwester wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Ich hab nur ausprobiert, ob meine Kräfte hier in der Vergangenheit noch funktionieren«, erklärte Phoebe, »weil die ja rein technisch gesehen noch gar nicht existieren können. Aber wie du siehst, es klappt.« Piper richtete ihre Hand auf eine tote Motte, die unter dem Fenster am Boden lag, und zerlegte sie in ihre Bestandteile. »Okay«, sie nickte zufrieden, »meine Kräfte scheinen also auch noch vorhanden zu sein. Offenbar hat das Zeitportal unsere Magie erhalten.« »Aber«, begann Phoebe, »wenn wir durch ein Zeitportal hierher gekommen sind, dann muss es doch auch einen Weg zurück geben, oder nicht?« Piper dachte einen Moment lang nach und ließ ihren Blick durch das spartanische Zimmer wandern. Es hatte den Anschein, als ob sie sich im obersten Geschoss eines Hauses befanden. Der Bereich, in dem sie standen, schien Teil eines größeren Raums zu sein, der vor ihnen einen scharfen Knick nach rechts machte. Vorsichtig schlich Piper voran und lugte um die Zimmerecke. Sie erkannte einen im Dunkeln liegenden fensterlosen Erker, der offensichtlich als Schlafplatz diente. Auch dort war nichts und niemand zu sehen. »Also, ich entdecke hier weit und breit kein Zeitportal«, sagte Piper. »Und nachdem der Teleporter hierher für uns als solcher nicht zu erkennen war, kann sich der Weg zurück praktisch überall befinden … hinter jeder Tür, in jedem Haus, in jedem Winkel dieses verdammten Ortes –« Sie brach ab. »Was?«, rief Phoebe alarmiert. - 45 -
»Wie konnte ich das nur vergessen«, flüsterte Piper, und rief dann laut: »Leo!« Nichts geschah. »Leo!«, rief sie erneut. Doch Leo tauchte nicht auf. Kreidebleich sank Piper an der Wand zu Boden. »Phoebe«, sagte sie und sah ihre Schwester erschüttert an. »Ich glaube, wir stecken in ernsten Schwierigkeiten.« Als Leo Wyatt, seines Zeichens Wächter des Lichts und Ehemann von Piper Halliwell, gegen 14 Uhr im Wohnzimmer von Halliwell Manor materialisierte, lag das alte Haus still und verlassen da. »Schatz? Jemand zu Hause?«, rief er, doch niemand antwortete ihm. Er schlenderte in die Küche und entdeckte auf der Anrichte einen Zettel: Treffen uns mit Paige. Essen steht im Eisschrank. Bis heute Abend. In Liebe, Piper. Unschlüssig ging Leo zum Kühlschrank und öffnete ihn. Auf der obersten Ablage standen ein Teller mit Kartoffel-LachsGratin und ein Schüsselchen Salat. Er wollte die Mahlzeit gerade in die Mikrowelle stellen, als ihn ein merkwürdiger Stich durchfuhr. Piper!, warnte ihn eine Stimme in seinem Kopf. Das untrügliche Zeichen dafür, dass seiner Schutzbefohlenen und Liebe seines Lebens irgendetwas Böses zu widerfahren drohte! Er wollte mit Piper Kontakt aufnehmen, doch seine telepathischen Kräfte liefen seltsam ins Leere, und auch Phoebes und Paiges Auren waren nicht fassbar.
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Er wirbelte herum, eilte zum Telefon und rief Piper auf ihrem Handy an, doch er bekam keine Verbindung. Er versuchte, Phoebe und Paige auf deren Mobiltelefonen zu erreichen, mit dem gleichen Ergebnis. Und bei Paige im South Bay Sozialdienst nahm niemand ab. Erneut versuchte er, zu Piper eine geistige Verbindung aufzubauen, doch es war, als ob er dem weißen Rauschen des Äthers lauschte. Bestürzt sank Leo auf einen der Küchenstühle. Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder war Piper an einem Ort, den weiße Magie nicht zu erreichen vermochte, oder aber sie war tot. Als der schwere Riegel vor ihrer Tür zum zweiten Mal an diesem Tag beiseite gezogen wurde, sprang Paige von ihrem Lager am Boden auf und verharrte mit klopfendem Herzen reglos auf der Stelle. War der abscheuliche Dämon zurückgekommen, um sie nun endgültig zu vernichten? Die Zellentür wurde aufgestoßen, und dann trat eine Gestalt ein, die indes nicht Zeyn sein konnte, denn sie war relativ hoch gewachsen und bewegte sich mit merkwürdig steifen, irgendwie roboterhaften Bewegungen bis zur Mitte des Raums. Der Besucher trug eine bodenlange schwarze Kutte und hatte Kopf und Gesicht mit einem schmutzigen Schal verhüllt in der Art, wie es Beduinen tun, um sich vor dem Sand und der Sonne in der Wüste zu schützen. Er hielt einen Krug und einen Napf in Händen. Beides stellte er nun auf dem Boden von Paiges Zelle ab, wandte sich ruckartig um und stakste wieder hinaus. »Hey! Hallo? Moment mal!«, rief Paige, doch da wurde die Zellentür auch schon wieder geschlossen und von außen verriegelt. Zurück blieb ein schwerer, süßlicher Geruch. - 47 -
Langsam trat Paige auf die Sachen am Boden zu. In dem Krug befand sich offensichtlich Wasser, und in dem Napf ein Brei aus kaltem Reis und einem Pamps, der nach Kichererbsen oder irgendeinem Getreide roch, das sie nicht zu identifizieren vermochte. So oder so, Paige hatte nicht vor, von dem alles andere als appetitlichen Essen auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen. Stattdessen hob sie den Tonkrug an ihre Lippen und trank einen kräftigen Schluck von dem Wasser. Es schmeckte kühl und frisch. So gestärkt versuchte sie noch einmal, die Wand unter dem kleinen Fenster zu erklimmen. Als sie wieder auf dem winzigen Vorsprung eines herausstehenden Steinquaders stand und hinaussah, stellte sie fest, dass sie sich in der Tat ziemlich hoch über der Stadt befand. Womöglich im höchsten Gebäude weit und breit. Eines war klar: Sie musste versuchen, von hier zu fliehen, nicht wissend, was sie dann als Nächstes tun konnte, sollte ihr die Flucht tatsächlich gelingen. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es jetzt früher Nachmittag. Piper und Phoebe saßen vermutlich noch völlig ahnungslos in Halliwell Manor und wunderten sich über die Unzuverlässigkeit ihrer Schwester im Hinblick auf die geplatzte Mittagsverabredung mit Phoebe. Sie hatte sich am Empfangsschalter des South Bay Sozialdienstes ordnungsgemäß abgemeldet, und vermutlich schöpfte im 21. Jahrhundert bis jetzt niemand auch nur den leisesten Verdacht. Doch wie lange noch? Wieder und wieder ging sie im Geiste durch, was eigentlich geschehen war. Selim, dieser anbetungswürdige und doch durch und durch verschlagene junge Mann, hatte sie dazu überredet, mit ihr nach Nob Hill zu fahren … Und dann, nachdem sie den Zeittunnel betreten hatte, hatte dieser Zeyn sie sogleich aus dem Verkehr gezogen und in dieses - 48 -
Verlies gesperrt. Und dies alles war offensichtlich allein zu dem Zweck geschehen, um ihr ihre Kräfte zu stehlen … So weit, so bekannt. Es war schließlich nichts Neues, dass Kreaturen der schwarzen Seite versuchten, die Zauberhaften zu entmachten, um dann die Welt ins Chaos und Verderben zu stürzen. Die Erinnerung an etwas, das Zeyn bei seinem Besuch in ihrer Zelle gesagt hatte und das sie in jenem Moment irgendwie irritiert hatte, spukte in ihrem Kopf herum, doch Paige konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Sie seufzte schwer. Wie sollte es nun weitergehen? Allein die Macht der Drei vermochte zu verhindern, dass Zeyn hier und jetzt den Lauf der Welt änderte und das Böse für eine lange, lange Zeit, wenn nicht für immer, die Oberhand gewann. Sie musste einen Weg finden, mit ihren Schwestern Kontakt aufzunehmen, bevor es zu spät war. »Hätte ich doch bloß nicht auf dich gehört!«, schimpfte Piper und raufte sich die langen seidigen Haare. »›Wir werfen nur mal kurz einen Blick da rein‹ hast du vor dem Hotel gesagt, und nun das!« Kopfschüttelnd starrte sie zum wiederholten Male aus dem Fenster des Hauses, in dem sie und Phoebe sich nach dem Betreten des »Marduk Palace« wieder gefunden hatten. Gerade trieb ein barfüßiger schmutziger Bengel eine Hand voll Ziegen in Richtung des überdachten Basars. »Ach, jetzt bin ich also wieder schuld, oder was?«, protestierte Phoebe. Sie wirbelte zu ihrer Schwester herum, und ihre beiden Zöpfe flogen angriffslustig hin und her. »Wer konnte denn ahnen, dass wir keine Gelegenheit mehr haben würden, diesen, ähm, Zeitsprung zu verhindern, nachdem wir
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das Hotel betreten hatten? Immerhin ging es ja allein darum, Paige zu retten, schon vergessen?« »Ja, tolle Rettungsaktion! Mit dem Ergebnis, dass wir nun irgendwo in grauer Vorzeit festsitzen, Leo nicht zu erreichen ist und wir keinen blassen Dunst haben, wie wir wieder von hier verschwinden können … Und wo zum Teufel steckt Paige überhaupt?« Frustriert und wütend schlug Piper mit der Faust gegen die Wand neben dem Fenster. »Aber begreifst du denn nicht?«, wandte Phoebe vorsichtig ein. »Es war meine Vision, die uns direkt hierher gebracht hat. Das muss doch was zu bedeuten haben! Ich bin sicher, dass Paige hier irgendwo ist und dass das Schicksal uns in die Vergangenheit geführt hat, damit wir etwas … sehr, sehr Schlimmes verhindern!« »Nein, nicht das Schicksal, sondern unser Leichtsinn, um nicht zu sagen, unsere grenzenlose Blödheit hat uns direkt hierher geführt«, sagte Piper. »Wenn Paige wirklich hier sein sollte, ist das allein schon schlimm genug.« Sie zog scharf die Luft ein. »Sofern sie nicht gegen ihren Willen mit diesem ominösen Klienten aus dem South Bay Sozialdienst verschwunden ist, wie konnte sie nur ein solches Risiko eingehen, ohne uns vorher zu informieren?« Sie sah Phoebe wütend an. »Da steckt doch bestimmt wieder ein Kerl dahinter!« Blinzelnd trat Selim hinaus auf die Gaynor Street und lief in Richtung der riesigen Kirche, von der ein Schild behauptete, es handele sich hierbei um die »Grace Cathedral«. Er umrundete den neugotischen christlichen Bau, zu dem wahre Menschenmassen gepilgert waren, und lief auf die Haltestelle der Cable Cars an der belebten California Street zu.
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Sicher, er hätte auch zu den ihm bekannten Plätzen orben können, doch er wollte hier so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen. Man konnte schließlich nie wissen, wer am Zielpunkt vor einem stand und sogleich ein großes Geschrei veranstaltete, wenn man wie aus dem Nichts vor seiner Nase materialisierte. Er hätte zu gerne ein Taxi genommen, doch er besaß nicht mehr genug Geld, und er verspürte wenig Lust, hier noch einmal jemanden zu überfallen und auszurauben. Das Risiko war einfach zu groß. Seine Füße schmerzten, denn die Schuhe, in denen er unterwegs war, waren ihm etwas zu klein. Er hatte die Sneakers wie auch die Kleidung, die er trug, vor einigen Tagen einem jungen Asiaten abgenommen, der sich bei dem alten Hotel mit seinem Fotoapparat auf das verwahrloste Grundstück gewagt hatte und danach vermutlich eine ganze Weile in einem knöchellangen weiten Hemd und Wickelgamaschen durch die Gegend geirrt war. Einmal mehr hoffte er, dass, solange er wieder hier war, niemand versehentlich in den Zeittunnel in dem alten Hotel stolperte, denn dann gab es weder für ihn, Selim, noch für diese Person einen Weg mehr zurück. Eine Besonderheit des Zeitportals bestand nämlich darin, dass es jeweils nur einmal hin und zurück benutzt und allein am Startpunkt, also in Ald’maran, neu gesetzt werden konnte. Selim konnte sein Glück kaum fassen, als einer der Kabelwagen, die Richtung Westen fuhren, gerade an der Station anhielt und einen Teil seiner Passagiere auf die Straße spuckte. Er legte einen kurzen Spurt ein und sprang im letzten Moment auf, bevor sich das Gefährt wieder quietschend in Bewegung setzte. In Momenten wie diesem schätzte er die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts sehr.
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Die Bahn ruckelte zügig den Hügel hinab. Bald passierten sie das große Bibliotheksgebäude, zu dem er sich jüngst durchgefragt und in dem er sich zwei Tage lang fast rund um die Uhr aufgehalten hatte, um sich über diesen seltsamen Ort und die Zeit, in der er sich befand, zu informieren. Er hoffte, er hatte den Namen des Stadtteils, von dem Paige ihm im Taxi erklärt hatte, dass sie und ihre Schwestern dort wohnten, richtig verstanden. Und so machte er sich auf in Richtung Pacific Heights. Unschlüssig, was sie nun als Nächstes unternehmen sollten, erkundeten Piper und Phoebe zunächst einmal den fensterlosen Erker in dem L-förmigen Dachgeschoss. Mit erhobenen Händen ging Piper voran, bereit, die Zeit einzufrieren, falls etwas Ungewöhnliches ihren Weg kreuzen sollte. Links führte eine schmale Treppe hinab, und an der hinteren Kopfseite befanden sich mehrere Schlafplätze aus dünnen Matten, Schaffellen und Wolldecken. Dahinter war eine schmale Tür zu erkennen, die, wie Phoebe mit einem kurzen Blick feststellte, geradewegs hinaus auf das Dach des Hauses führte. In einer Wandnische des Erkers, dem flüchtigen Blick fast verborgen, stand ein hochbeiniges Gestell aus Zedernholz, und darauf lag ein dickes Buch. Langsam trat Piper näher und warf einen Blick auf den alten Folianten. Sein Einband bestand aus gegerbtem Leder und war mit goldenen orientalischen Ornamenten verziert. »Sieh mal, Phoebe«, rief sie. »Lass uns mal einen Blick in dieses Buch hier werfen, vielleicht –« »Piper, der Wälzer ist höchstwahrscheinlich auf Arabisch geschrieben, es hat wohl keinen Sinn, sich damit –«
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Doch Piper hatte das Buch bereits aufgeschlagen. Und dann geschah das nahezu Unfassbare. Wie von Zauberhand schlugen die Seiten selbstständig und in rasendem Tempo um, bis sie an einer ganz bestimmten Stelle aufklappten. Ein paar Schrecksekunden lang brachte keine der Schwestern auch nur ein Wort heraus. »Was in aller Welt –«, begann Piper. »Es verhält sich genau wie … unser … Buch der Schatten!«, rief Phoebe fassungslos. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit der aufgeschlagenen Seite im Buch zu. Zu sehen war die gleiche Zeichnung, auf die sie auch schon im Buch der Schatten gestoßen waren: Ein schwarzer hoher Turm ragte über die Dächer einer namenlosen Stadt aus vergangenen Tagen in den Himmel! Und daneben stand: Und es wird kommen die Zeit, da werden Iblis’ Diener ausziehen, die Welt zu vernichten. Wehe denen, welche die Botschaft im »Buch der Weisheit« nicht zu deuten wissen: Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten. Allein der Tapferste wird finden den Pfad durch die Zeit, auf dass seine Suche nach der verwandten Seele das Licht zurückbringe und die Magie des geheiligten Bundes triumphiere.
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»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Phoebe. »Der Text ist identisch mit dem im Buch der Schatten, nur der letzte Absatz war bei uns nicht zu finden, soweit ich mich erinnere.« »Ob das hier …«, begann Piper, »womöglich … das Buch der Weisheit ist?« »Der Gedanke liegt nahe«, meinte Phoebe. »Aber warum in drei Teufels Namen können wir es lesen, wo es doch eigentlich auf Arabisch geschrieben sein sollte?« »Aus demselben Grund, aus dem wir uns miteinander unterhalten können«, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme aus dem Hintergrund. Piper und Phoebe fuhren erschrocken herum. Auf dem Treppenabsatz stand ein weißbärtiger Mann und sah die Schwestern aus glasig-trüben Augen an. Er war sehr alt – und er war blind. Langsam wanderte Paige in ihrer Zelle auf und ab und zerbrach sich den Kopf über einen möglichen Ausbruchsplan. Sie wusste, sie war in einem hohen Gebäude gefangen, und das hieß, sie musste sehr wahrscheinlich einen ziemlich langen, ziemlich gefährlichen Abstieg bis zum Ausgang zurücklegen. Außerdem musste sie herausfinden, wer oder was am Ende des Gangs hinter Gittern saß. Doch das war bereits der zweite Schritt. Noch hatte sie nicht die geringste Idee, wie sie den ersten, nämlich aus dieser elenden Zelle überhaupt herauszukommen, bewerkstelligen sollte. Wenn es mir gelänge, diesen stummen Diener irgendwie hierher zu locken und zu überwältigen, hätte ich vielleicht eine Chance, überlegte sie, auch wenn das ohne meine Zauberkräfte schwierig werden könnte. Das würde mir allerdings nur dann - 54 -
weiterhelfen, wenn Zeyn bei dieser Aktion nicht in der Nähe wäre oder von irgendwem alarmiert würde. Ach, was soll’s, dachte sie, ich muss es einfach versuchen. Sie warf sich ihren Lederbeutel über die Schulter, ging zu der massiven Eisentür und hämmerte wie verrückt dagegen. »Hallo? Hilfe! Aufmachen! Hallo!!« Sie wartete. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten. Nichts geschah. Ihr Blick fiel auf die rostigen dicken Ketten, die von der nahe gelegenen Wand herabhingen. Eine von ihnen reichte fast bis zum Boden. Sie packte die Kette und schleuderte sie mit einigem Schwung gegen die Eisentür. Es gab ein ohrenbetäubendes Knallen, das sicherlich noch in großer Entfernung zu hören war. Erschrocken ließ Paige die Eisenkette wieder los. Hoffentlich hatte sie mit diesem Lärm nicht den Erzdämon selbst auf sich aufmerksam gemacht! In diesem Moment wurde von außen der Riegel vor ihrer Tür beiseite geschoben. Automatisch schnappte sich Paige erneut das Ende der Eisenkette und stellte sich mit ihr neben dem Eingang auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Tür wurde knarrend aufgezogen, und dann trat auch schon der verhüllte Diener in ihre Zelle und schlurfte einige Schritte hinein. Paige zögerte keine Sekunde, nahm ihren ganzen Mut zusammen und holte aus. Mit Wucht traf das Ende der schweren Kette den Mann genau im Rücken. Er kippte vornüber und fiel ruckartig auf die Knie. Dabei rutschte ihm der schmutzige Schal vom Kopf, und als er sich langsam zu ihr umdrehte, konnte Paige einen entsetzten Aufschrei nur mit Mühe unterdrücken.
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Tote Augen in grüngrauem Fleisch starrten sie an, und als die Kreatur ihre schwarzen Zähne bleckte, sah Paige, dass die Zunge halb verfault war. Langsam rappelte sich das Ding wieder auf. In nackter Panik stürmte Paige aus ihrer Zelle auf den Gang hinaus und warf sich gegen die Tür, um sie wieder zuzuschieben. Das ging schwerer als erwartet. Durch den schmalen Spalt konnte sie sehen, wie der lebende Leichnam unaufhaltsam näher schlurfte und seine halb verrotteten Arme nach ihr ausstreckte. Im allerletzten Moment schaffte sie es, die Tür krachend zu schließen, bevor das untote Ding sie erwischen konnte. Mit zitternden Fingern schob sie den schweren Holzbalken vor, drehte sich um und holte erst einmal tief Luft. Der nicht mehr ganz taufrische Kerkermeister mochte zwar einen Schlüssel zu ihrer Zelle besitzen, aber der massive Holzbalken vor der Tür dürfte ihn daran hindern, diese auf normalem Wege wieder zu verlassen. Nur wie lange? Der Gang vor ihr war düster, doch an seinem Ende konnte sie eine Reihe vergitterter Zellen ausmachen, auf die sie schon zuvor einen Blick erhascht hatte. Aus ihrem eigenen Verlies war kein Laut zu hören. Eine Kämpfernatur schien der Untote, den sie soeben ausgetrickst hatte, nicht gerade zu sein … Langsam schlich sie den Gang entlang. Rechter Hand passierte sie eine steile, schmale Treppe, die abwärts führte. Auf dem Absatz lagen die von Fliegen umschwirrten, stinkenden Überreste eines Mahls aus Fleisch und Knochen, von dem Paige gar nicht wissen wollte, was es genau war. Bestimmt hat hier dieser … Zombie seinen Posten bezogen, dachte sie schaudernd. Sie huschte weiter auf die vergitterten Zellen zu.
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In der mittleren erkannte sie zwei Gestalten, die auf einer harten Holzbank saßen. Als sie näher kam, sah sie, dass es zwei junge Männer in langen Gewändern und mit Ledergamaschen an den Beinen waren, die nun aufsprangen, als hätten sie einen Geist gesehen. »Wer seid ihr?«, stieß Paige hervor. Und zum ersten Mal seit ihrem unfreiwilligen Aufenthalt hier fiel ihr ein, dass die beiden sie wahrscheinlich gar nicht verstehen konnten, denn immerhin befand sie sich in einem fremden Land und in einer lang zurückliegenden Zeit. Umso verblüffter war sie, als der Ältere seine Fassung wiedererlangt zu haben schien und sagte: »Ich heiße Suleiman, und das ist Seif. Wir sind Ibrahims Söhne und Selims Halbbrüder.« »Wer sind Sie?«, fragte Piper den alten Mann. »Ich heiße Ibrahim«, sagte Weißbärtige, »ich bin der Vater von Seif, Suleiman und Selim.« Es entstand eine kleine Pause, in der sich Piper und Phoebe stirnrunzelnd anblickten. »Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Phoebe schließlich, »aber wer bitte sind Seif, Suleiman und Selim?« Der alte Mann neigte den Kopf. »Das sind die gesegneten Söhne meiner geliebten Gemahlin Djaudar, Allah habe sie selig. Einst waren Seif, Suleiman und Selim mächtige Zauberer, doch dann kam Zeyn, um das Antlitz der Erde mit Tod und Leid zu überziehen.« Er hielt seufzend inne und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Aber erlaubt mir die Frage, wer seid ihr?« »Ich heiße Phoebe, und das ist Piper«, platzte Phoebe heraus. »Wir sind auf der Suche nach unserer Schwester Paige - 57 -
versehentlich, ähm, hier gelandet. Wir vermuten, dass Paige entführt wurde und hier irgendwo versteckt gehalten wird.« »Dann seid ihr also aus der Zukunft hierher gekommen«, stellte der alte Araber fest, als wären Zeitreisen in seiner Epoche das Selbstverständlichste der Welt. »Das scheint Sie nicht sonderlich zu verwundern«, stellte Piper mit scharfer Stimme fest. »Wissen Sie, wo unsere Schwester ist?« »Nicht mit Sicherheit, aber ich kann es mir denken«, murmelte Ibrahim und strich sich durch seinen langen weißen Bart. »Ich fürchte, für das alles ist Selim verantwortlich.« Aus seinen blinden Augen sah er die Schwestern nun direkt an. »Aber vielleicht sollte ich uns erst mal einen Tee machen, und dann erzähle ich euch die Geschichte von Anfang an.« Schweigend folgten Phoebe und Piper dem alten Mann hinunter ins Erdgeschoss, wo der Greis trotz seiner Blindheit erstaunlich behände umherhuschte, als wüsste er haargenau, wo im Hause sich was befand. Und wahrscheinlich war dem auch so, und er lebte hier schon sein ganzes Leben. Im Parterre war es kühler als im oberen Teil des Hauses, und der Alte forderte Piper und Phoebe freundlich auf, auf den bunt bestickten Sitzkissen Platz zu nehmen, die am Boden rund um ein großes Messingtablett platziert waren. Dann setzte Ibrahim einen Kupferkessel auf eine kleine Feuerstelle und bereitete zwei Teekannen vor. Eine für den Sud, und eine für das kochende Wasser. Schon bald zog der köstliche Geruch von frisch aufgebrühtem schwarzen Tee durch das Haus. Schließlich füllte der Greis drei Tonbecher mit dem dampfenden Getränk und stellte diese vor den beiden jungen Frauen auf dem Tablett ab. Erstaunlich gelenkig nahm er schließlich selbst auf einem der Sitzkissen Platz und schlug die - 58 -
Beine untereinander, als hätte er noch nie im Leben von Rheuma oder Gicht auch nur gehört. »So hat es Selim offensichtlich doch geschafft, einen Weg in die Zukunft zu finden«, begann er schließlich und nahm schlürfend einen Schluck von seinem Tee. »Um ehrlich zu sein, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen«, meinte Piper und setzte sich in ihren Cargopants auf dem Kissen zurecht. »In welcher Zeit sind wir eigentlich, und wer zum Henker ist Selim?« »Bitte entschuldigt«, sagte Ibrahim, »ich versprach ja, euch die Geschichte von Anfang an zu berichten.« Und zu Piper: »Doch was deine erste Frage betrifft: Nach eurer Zeitrechnung sind bis zum heutigen Tag«, er überlegte kurz, »fast 800 Jahre seit der Geburt des Propheten Jesus ins Land gegangen. Seit einigen Jahren herrscht von Bagdad aus Harun al-Raschid über diesen Teil der Welt, während im Land der Barbaren ein Kriegsherr von Sieg zu Sieg reitet, den sie Karl den Großen nennen.« Und während Piper und Phoebe diese ungeheuerliche Information verdauten, begann der alte Ibrahim zu erzählen: »Meine verstorbene Frau, Allah sei ihrer Seele gnädig, entstammt einer sehr alten, sehr mächtigen Familie. Die Mitglieder ihres Geschlechtes verstanden sich seit jeher auf Alchemie, Kräuterkunde und die Magie der Elemente, die aber nur zum Guten eingesetzt werden durfte.« Piper hob eine Augenbraue und warf Phoebe einen raschen Blick zu. »Seit die Lehren des Propheten Mohammed die Geschicke der Menschen in diesem Teil der Erde lenken«, setzte Ibrahim hinzu, »ist die im heiligen Koran vorgeschriebene Strafe für einen Magie Praktizierenden die Exekution mit dem Schwert. - 59 -
Daher müssen Zauberkundige heutzutage sehr vorsichtig in der Ausübung ihrer Kunst sein. Selbst das Voraussagen der Zukunft oder das Erstellen eines Horoskops ist nicht mehr gestattet, auch wenn sich der Emir selbst einen Hofastrologen und andere Zauberkundige im Palast hält, aber ich schweife ab …« »Als ich meine Frau kennen lernte«, fuhr der Alte fort, »war ich selbst schon kein junger Mann mehr. Djaudar hingegen war noch im Frühling ihres Lebens und doch schon verwitwet. Wir heirateten. Djaudar brachte einen kleinen Sohn mit in die Ehe, der Selim genannt wurde. Damals hieß es, ihr erster Mann sei von einem Tage auf den anderen verschwunden, und tatsächlich haben wir lange Zeit nichts von ihm gehört. Selim war für mich wie ein eigenes Kind, und ich liebte ihn sehr. In den darauf folgenden Jahren schenkte mir Djaudar zwei leibliche Söhne: Suleiman und Seif, die ebenfalls mein ganzer Stolz wurden. Doch in all der Zeit hatte ich das Gefühl, dass Djaudar mir irgendetwas verheimlichte, was nicht zuletzt mit dem Verschwinden ihres ersten Ehemannes im Zusammenhang zu stehen schien.« Ibrahim griff zu einer in der Nähe stehenden schlanken Wasserpfeife und zündete sie an. Ungeduldig rutschten Piper und Paige auf ihren Sitzkissen hin und her. Seelenruhig nahm der alte Mann erst einmal ein paar tiefe Züge. Es folgte ein blubberndes Geräusch, und als Ibrahim den Rauch ausblies, erfüllte der Duft von Honigtabak die Luft. Endlich fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Die Jahre gingen ins Land, wir kamen hierher in diese Stadt. Ich wurde Gesandter im Palast des Emirs von Ald’maran. Ich reiste viel, und einmal traf ich sogar den damaligen OmaijadenKalifen von Bagdad.
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Die Jungen wuchsen heran, und mit jedem weiteren Jahr, das verstrich, wurde meine Frau verschlossener, wenn es um die Ausbildung und die Zukunft unserer Söhne ging. Eines Tages dann nahm sie mich zur Seite und gestand mir die ganze, grausame Wahrheit: Djaudar hatte Selim von einem Malak empfangen.« Ibrahim seufzte schwer. »Was ist ein … Malak?«, fragte Phoebe. »Die Mala’ika sind so alt wie die Menschheit. Sie sind für uns, die Menschen im Morgenland, das, was für die Christen die Schutzengel sind«, sagte der Alte. »Ehemals aufrechte Erdenbewohner also, die kurz vor ihrem Tod vom großen Weltenschöpfer zu Sendboten gemacht wurden.« Wie aus einem Munde holten Phoebe und Piper Luft. »Der Malak war zur Erde gesandt worden, um meine Frau vor der dunklen Seite zu beschützen«, fuhr der Greis fort. »Denn Djaudar war eine weiße Zauberin, die einzige noch lebende ihres Clans, und ständig in Gefahr, nicht nur von den Religionswächtern, sondern auch von den Schergen Iblis’ vernichtet zu werden.« »Iblis, das ist doch der, den die Christen den Teufel nennen?«, fragte Phoebe, obwohl sie die Antwort schon kannte. »Das ist wahr.« Der alte Ibrahim nickte. »Es steht geschrieben, dass Iblis in der Morgendämmerung der Menschheit ein Erzengel Allahs war, der unserem Schöpfer jedoch den Gehorsam verweigerte. Daraufhin hat der Herr seinen unbeugsamen Diener verflucht und aus dem Paradies vertrieben. Und seither bringt Iblis mit seinen Dämonen und bösen Dschinnen Tod und Verdammnis über die Welt.« »Der gefallene Engel, den man bei uns auch Luzifer nennt«, murmelte Piper.
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»Hätte man ihn gleich zur Hölle geschickt, anstatt ihn nur aus dem Himmelreich zu verjagen, hätte das der Menschheit eine Menge Ärger erspart«, bemerkte Phoebe. »Wir sollten die Entscheidungen unseres Schöpfers nicht in Frage stellen«, sagte der alte Mann ernst. »Gäbe es das Böse nicht, gäbe es auch nichts Gutes auf dieser Welt.« Er schlürfte seinen Tee und fuhr dann mit seiner eigentlichen Geschichte fort. »Djaudar erzählte mir, dass sie eines Tages, kurz nach der Geburt von Selim, von einem Ghul angegriffen wurde, der sie und das Kind, das sie mit sich trug, töten wollte, als sie auf dem Weg zum Wasserholen war. Doch zum Entsetzen meiner Frau beschützte sie der Malak keineswegs, als dieser am Ort des Geschehens erschien, sondern er entriss ihr den gemeinsamen Sohn und versuchte nun seinerseits, Djaudar zu töten. Der Malak war auf die dunkle Seite übergewechselt und von einem Wesen des Lichts zu einer Kreatur der Nacht geworden. Mit Hilfe ihrer Magie gelang es Djaudar jedoch, die Zeit stillstehen zu lassen –« Bei diesen Worten zog Piper vernehmlich die Luft ein. Unbeirrt fuhr Ibrahim fort. »– und dann tötete sie den Ghul mit einem Vernichtungszauber für Untote. Doch als die Zeit wieder ihren gewohnten Lauf nahm, da verschwand der Malak in einer blauen Wolke aus Licht und ward nie mehr gesehen.« Piper und Phoebe konnten kaum glauben, was sie da hörten. Wie märchenhaft und gleichzeitig bekannt ihnen das alles vorkam! »Kurz darauf nahm Djaudar mich zum Mann, und sie dachte, wenn sie mit mir und ihrem kleinen Sohn nach Ald’maran gehen würde, so würden die dämonischen Häscher sie aus den Augen verlieren. Aber das war ein Trugschluss.« Abermals seufzte der alte Ibrahim schwer.
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»Viele Jahre lebten wir in Frieden und Wohlstand, und Djaudar gestand mir schließlich, wer sie war und was es mit dem Verschwinden ihres ersten Ehemannes auf sich hatte. Doch das war nur die halbe Wahrheit, wie ich erst sehr viel später erfuhr. Als einzige überlebende weiße Zauberin ihres Clans hatte sie drei Söhne zur Welt gebracht, die mit ungeahnten Kräften ausgestattet waren und deren Schicksal es zu gegebener Zeit sein würde, gegen das Böse zu kämpfen. Doch von all dem erzählte sie mir und den Jungen nichts.« Piper und Phoebe mochten ihren Ohren kaum trauen. »Und dann, eines Tages, kam ich von einer Reise nach Hause und fand Djaudar tot im Innenhof unseres Hauses. Sie lag in ihrem eigenen Blut. Meine beiden ältesten Söhne waren zu dieser Zeit bereits Studenten an der Hochschule von Ald’maran, wo sie auch wohnten, und Seif befand sich gerade auf dem Basar, um einige Besorgungen zu machen. Ich ahnte sofort, dass Djaudar ein Opfer von Iblis’ Schergen geworden war, denn man hatte ihr das Herz herausgerissen … vermutlich, um an ihre Seele zu gelangen, die als Hort für jene besonderen Kräfte gilt. Ich konnte den Anblick ihres geschundenen Körpers kaum ertragen, und vielleicht bin ich deshalb danach auch in kürzester Zeit erblindet.« Schweigend tranken Piper und Phoebe ihren Tee. Die Worte des Alten beunruhigten und berührten sie gleichermaßen. »Wissen Sie«, sagte Piper schließlich langsam. »Meine beiden Schwestern und ich … wir sind in unserer Zeit, na ja, wir sind das, was auch Djaudar war – weiße Hexen. Und auch unsere Aufgabe ist es, gegen das Böse zu kämpfen, wie ihre Söhne.« »Das weiß ich«, sagte der alte Mann. »Ich wusste es, und ich habe es ganz deutlich gespürt, als ich euch vor dem Buch der Weisheit antraf.«
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»Aber woher wussten Sie von uns?«, fragte Phoebe. »Und was ist das Buch der Weisheit?« »Die Botschaften im Buch der Weisheit sind sehr alt – älter als die Lehren aller Propheten dieser Welt. Das Buch stammt aus einer Zeit, da die meisten Menschen noch die Göttlichkeit in allem, was auf Erden ist, erkannten und ehrten. Es war von jeher im Besitz der Familie meiner Frau«, sagte Ibrahim. »Djaudars Vorfahren, die ja zum größten Teil aus Zauberinnen und Magiern bestanden, haben es von Generation zu Generation weitergeschrieben und ihren Nachkommen vermacht. Es finden sich viele Prophezeiungen darin.« Er nahm wieder einen Zug aus seiner Wasserpfeife. »Nach dem Tode meiner Frau habe ich meinen Söhnen erzählt, was ich wusste, und ihnen das Buch übergeben. Ich ahnte ja nicht, dass ich damit ihr Schicksal besiegeln würde.« Piper und Phoebe konnten sich fast denken, was nun kam. »Und dann hat Seif, mein Jüngster, die große Macht des Buches entfesselt, indem er seinen Brüdern den Initiationsspruch vorlas, und von diesem Tag an waren meine drei Söhne dazu verdammt, bis an ihr Lebensende gegen das Böse zu kämpfen – der Bund der Magier war begründet worden.« »Das kommt uns sehr bekannt vor«, sagte Phoebe, »aber noch mal, woher wusste man von uns, und warum wurde Paige hierher entführt?« »Es gibt hier einen sehr mächtigen Dämon mit Namen Zeyn. Er lebt in dem alten schwarzen Turm hinter dem Friedhof von Ald’maran«, sagte Ibrahim. »Seit Jahren schon versucht er, mithilfe der Schwarzkunst immer mehr Macht an sich zu reißen und die Aufrechten und Tapferen aus unserer Welt zu verbannen.« Der alte Mann schlug bekümmert die Augen nieder, dann ergriff er eine Gebetskette aus Holzperlen, die auf
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dem Messingtisch lag, und umklammerte sie fest, bevor er fortfuhr. »Meine Söhne kämpfen nun schon einige Zeit gegen diesen Dämon und seine Kreaturen, doch vor etwa zwei Wochen ist es Zeyn gelungen, Suleiman und Seif zu ergreifen und sie in seinen Turm zu verschleppen. Selim fand heraus, dass Zeyn ihnen offensichtlich durch Berührung ihre Kräfte stahl. Und er hatte in Erfahrung gebracht, dass der Erzdämon seit neuestem gute wie schlechte Magie in sich aufzunehmen vermochte, wie ein Schwamm Wasser aufsaugt. Und das bedeutete, dass Zeyn, da er nun auch die Kräfte meiner beiden Söhne in sich trug, jetzt mächtiger war als je zuvor.« Ibrahim senkte kummervoll sein schlohweißes Haupt und ließ die Kette durch seine Finger gleiten. »Ich weiß allerdings nicht, ob Seif und Suleiman überhaupt noch leben, und auch Selim konnte seit dem Tag, da sie verschwanden, keinen Kontakt mehr zu seinen Brüdern herstellen.« Seine Stimme zitterte leicht, als er weitersprach. »Selim versuchte daher, mit Hilfe des Buchs der Weisheit einen Ausweg zu finden, um seine Brüder zu retten, sofern sie von Zeyn noch nicht getötet worden waren, und den Untergang der Welt, wie wir sie kennen, doch noch zu verhindern. Das Schicksal half ihm dabei und zeigte ihm die Seite, die auch ihr im Buch der Weisheit gesehen habt, und er stieß auf eine Prophezeiung, die besagte, dass es irgendwo in ferner Zukunft eine ihm verwandte Seele gäbe, die ihm helfen könne.« »Paige!«, riefen Piper und Phoebe wie aus einem Munde. Der alte Mann nickte. »Und so fand er schließlich einen Weg, in eure Zeit zu reisen, um eben diese Person, eure Schwester, ausfindig zu machen. Er erzählte mir, er könne vermittels des Buchs der Weisheit hier oben im Haus ein Zeitportal erschaffen,
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das den Reisenden in die Lage versetzt, sich mit den Menschen am jeweiligen Zielort ohne Schwierigkeiten zu verständigen. Wie ihr seht, ich spreche in meiner und ihr in eurer Muttersprache, und doch ist es so, als stammten wir aus einer Familie.« »Na ja, andernfalls wäre so ein Zeitportal ja auch ziemlich nutzlos«, bemerkte Phoebe. »Selim«, fuhr der Alte fort, »hat sodann diese Reise in die Zukunft einige Male unternommen, bevor er schließlich vor einer Woche nicht mehr aus eurer Zeit zurückgekehrt ist. Ich habe seitdem auch von ihm nichts mehr gehört.« »Weil er Paige schließlich aufgespürt und dann heute mit ihr Kontakt aufgenommen hat«, schlussfolgerte Phoebe. »Aber wo ist Paige?«, rief Piper mit ungeduldiger Stimme. »Es muss Selim irgendwie gelungen sein, sie hierher zu bringen«, sagte der Alte, »denn sonst wäret auch ihr nicht in Ald’maran, habe ich Recht?« »So ist es«, bestätigte Phoebe. »Wir hatten Paige heute längere Zeit nicht erreichen können«, erklärte sie Ibrahim. »Zuvor jedoch hatte ich einen Zettel mit der Adresse eines Hotels an ihrem verlassenen Arbeitsplatz gefunden und … Nun, um es kurz zu machen: Wir sind zu diesem Hotel gefahren, um sie zu suchen, doch als wir das Gebäude betreten wollten, landeten wir hier. Genau im Eingang des Hauses in Nob Hill muss sich also das Zeitportal von Selim befunden haben, und es spricht einiges dafür, dass auch Paige es benutzt hat.« Sie sah ihre Schwester erwartungsvoll an. »Doch irgendwas muss schief gelaufen sein«, überlegte Piper weiter, »denn von Paige fehlt hier wie dort jede Spur. Ich meine, wenn sie mit Selim hier angekommen wäre, hätte sich ihr Sohn doch sicherlich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« Sie schaute
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Ibrahim fragend an und vergaß dabei völlig, dass er sie ja gar nicht sehen konnte, doch der alte Mann nickte. »Womöglich irrt sie jetzt hier irgendwo in Ald’maran herum, oder aber –« Sie brach ab und blickte Phoebe besorgt an. »Es schmerzt mich, es auszusprechen«, sagte Ibrahim, »doch ich fürchte, auch eure Schwester und Selim gerieten in Zeyns Fänge, und –«, er machte eine längere Pause. »Und somit ist es nun an euch, Zeyn zu vernichten, oder aber er vernichtet uns und damit auch die Welt, wie ihr sie kennt.« »Und wie bitteschön sollen wir das anstellen?«, rief Phoebe verzweifelt aus und sah Hilfe suchend zu Piper. »Ohne Paige … und damit ohne die Macht der Drei?« »Ganz einfach, wir müssen Paige finden und befreien, wo auch immer sie ist«, sagte Piper entschlossen. »Und Gott gebe, dass sie noch im Besitz ihrer Kräfte ist.«
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3 FÜR
EINEN MOMENT STARRTE PAIGE die beiden jungen Männer nur schweigend an. Derjenige, der sich ihr als Suleiman vorgestellt hatte, mochte um die fünfundzwanzig sein, wohingegen Seif fast noch ein Teenager war. Suleiman war groß und schlank. Er besaß ein schmales, ernstes Gesicht mit einer aristokratischen Nase, einem energischen Kinn und einem wohlgeformten Mund. Sein glattes schwarzes Haar reichte ihm bis über die Schultern, und seine klaren, grünbraunen Augen blickten Paige ruhig an. Seif dagegen war etwas kleiner und kräftiger als sein älterer Bruder. Er hatte ein herzförmiges, spitzbübisches Gesicht unter einem zerzausten dunkelbraunen Lockenschopf und lebhafte, fast bernsteinfarbene Augen mit langen dunklen Wimpern. »Ihr seid Selims Brüder?«, fragte Paige ungläubig. »Hat er euch etwa auch hierher gelockt und eingekerkert?« Die beiden Angesprochenen sahen sich verständnislos an. »Nein, das war Zeyn«, sagte Suleiman schließlich und erhob sich müde von der Bank. »Wer bist du?«, wollte der junge Seif wissen. Er sprang auf und trat an das Zellengitter heran. Seine goldbraunen Augen strahlten die schöne Fremde in dem blassgelben Hosenanzug in einer Mischung aus Hoffnung und Neugierde an. Paige sagte es ihnen. Und sie berichtete den beiden auch von ihrem Treffen mit Selim im South Bay Sozialdienst, wobei sie die Tatsache, dass sie sich in den jungen Mann hoffnungslos verliebt hatte, diskret unter den Tisch fallen ließ. Und schließlich schilderte sie Suleiman und Seif, wie sie und Selim das Hotel in Nob Hill betreten hatten und sie daraufhin in diesem Kerker erwacht war.
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»Soll das heißen, du kommst aus der Zukunft?«, fragte Seif mit großen Augen, als Paige geendet hatte. »So ist es«, sagte sie, »doch würdet ihr beide mir jetzt bitte mal erklären, was hier eigentlich gespielt wird und warum mich euer Bruder hierher gebracht hat?« »Sag mal, scheint in der Zukunft denn niemals die Sonne?«, wollte Seif wissen. »Ich meine, weil du so schrecklich blass bist …« Suleiman warf seinem Bruder einen strafenden Blick zu und übernahm es, Paiges Frage zu beantworten. »Ich denke, Selim hat sich um Hilfe an dich gewandt«, sagte er, »nachdem ich und mein Bruder von Zeyn gefangen genommen wurden. Du musst wissen, wir drei sind der Bund der Magier und dazu bestimmt, das Böse in dieser Welt zu vernichten.« Paige hatte das Gefühl, nicht richtig verstanden zu haben, doch sie schwieg. Und dann erzählte Suleiman ihr in kurzen Zügen von seiner Mutter Djaudar, ihrem ersten Ehemann, dem Malak, und dem Buch der Weisheit. »Schließlich ist es Zeyn, dem Dämon, gelungen, unserer habhaft zu werden«, beendete Suleiman seinen Bericht. »Seine Häscher haben uns im Schlaf überfallen, und Zeyn hat uns hier in seinem schwarzen Turm eingekerkert, uns berührt und damit unsere Kräfte gestohlen, und …«, er stockte einen Moment und fuhr sich in einer verzweifelten Geste durch das schulterlange Haar, »und wenn er nun auch noch unseren Bruder Selim ergreift, dann wird … sich die Hölle auf Erden auftun.« Paige schwirrte der Kopf, und ein leichtes Schwindelgefühl nahm von ihr Besitz. Sie brauchte einen Moment, um das soeben Gehörte zu begreifen und in einen Zusammenhang zu bringen. Demnach hatte die abstoßende Kreatur sie berührt, als sie ohnmächtig gewesen war, um an ihre Kräfte zu gelangen …
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Der Traum, den sie vor ihrem Erwachen geträumt hatte, war also nur zum Teil ein Produkt ihrer Phantasie gewesen. Der Gedanke, dass das abstoßende Geschöpf Hand an sie gelegt hatte, verursachte ihr Übelkeit. »Also hat Selim mit Hilfe des Buchs der Weisheit einen Weg in die Zukunft gefunden, um mich ausfindig zu machen?«, fragte sie schließlich mit belegter Stimme. »So scheint es«, sagte Suleiman. »Die Frage ist nur, wieso gerade dich?« Paige fand es allmählich an der Zeit, den beiden Brüdern über sich und ihre Schwestern zu erzählen. Sie berichtete von der uralten Hexendynastie, der sie entstammten, ihren einzigartigen Zauberkräften, der Macht der Drei, dem Buch der Schatten, und sie erwähnte auch die Tatsache, dass sie, Paige, die Tochter einer Hexe und eines Schutzengels, eines Wächters des Lichts, war. Seifs und Suleimans Mienen wurden mit jedem Satz, den Paige sprach, fassungsloser. »A-aber …«, stotterte Seif schließlich, als die junge Hexe mit ihrem Vortrag fertig war, »das ist ja alles fast genauso … wie in unserer Familie.« Paige nickte stumm. »Selim muss im Buch der Weisheit einen Hinweis auf deine zukünftige Existenz entdeckt haben«, schlussfolgerte Suleiman. »Und dann hat er einen Weg gefunden, in eure Zeit zu reisen und mit dir, einer verwandten Seele, Kontakt aufzunehmen. Eine Art Zeittor, wie ich vermute, das, wie wir ja selbst sehen, sogar die Macht besitzt, den Reisenden in die Lage zu versetzen, mit den Menschen am Ankunftsort in ihrer Sprache reden zu können.« »Ja, ’ne echt tolle Sache«, meinte Paige aufgebracht. »Allerdings hat mir das alles wenig genützt. Ich hocke hier in diesem verdammten Turm fest, weil Zeyn offensichtlich von
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dem Portal wusste, von Selim fehlt jede Spur, in meiner Zelle sitzt jetzt ein vermutlich stinksaurer Zombie, und ich habe keine Ahnung, wie ich hier rauskommen, geschweige denn in meine Zeit zurückkehren kann, um meine Schwestern für die Macht der Drei zusammenzutrommeln.« Sie holte tief Luft. »Du hast den Ghul in deiner Zelle eingeschlossen?«, fragte Seif ungläubig und sperrte Mund und Ohren auf. »Ghul?« Paige verzog angeekelt das Gesicht. »Wenn du diese halb verfaulte Gesichtsbaracke meinst, ja, der, ähm, Ghul war recht einfach zu überwältigen, auch ohne meine Zauberkräfte.« Seif sah Suleiman grinsend an und hob anerkennend eine Augenbraue. Doch Suleiman hatte das dumpfe Gefühl, das etwas von dem, was Paige zuvor gesagt hatte, ungemein wichtig war. Er konnte sich nur nicht mehr erinnern, was genau das gewesen sein konnte. »Ich möchte wissen, was mit Abu passiert ist«, sagte Seif plötzlich. »Wer zum Teufel ist jetzt wieder Abu?«, fragte Paige. »Ein Nubier, der bis vor ein paar Tagen in der Zelle nebenan gesessen hat«, erklärte Seif. »Zeyn hat ihn holen lassen, als er uns hier eingesperrt hat. Da haben wir ihn gesehen.« »Abu ist ein Beschwörer des Geistes und hat zuletzt im Palast des Emir als persönlicher Berater gedient«, fügte Suleiman hinzu. »Selim und ich haben ihn in der Bibliothek der Universität kennen gelernt. Abu vermag allein mit der Kraft seiner Gedanken drohende Gefahren zu erkennen. Er hat zwar nur ein Auge, aber mit diesem sieht er wohl mehr, als jeder andere von uns. Wie dem auch sei, Seif und ich vermuten, dass sich Zeyn Abus Kräfte ebenfalls einverleibt hat. Doch wir wissen nicht mit Sicherheit, was aus ihm geworden ist.«
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»Das ist zwar alles sehr bedauerlich«, meinte Paige, »aber ich muss versuchen, aus diesem Turm herauszukommen. Kennt ihr euch hier vielleicht ein bisschen aus? Was könnte der sicherste Fluchtweg sein?« Und als keine Antwort kam: »Hallo, jemand zu Hause?« »Du kannst hier nicht heraus«, sagte Seif langsam. »Die Pforte des Turms ist durch eine magische Falle gesichert. Jeder Sterbliche, der ohne Zeyns Erlaubnis hinein- oder hinauswill, wird auf der Stelle getötet. Und selbst, wenn du es schaffen solltest, bis ganz nach unten zu gelangen, dann wird dich spätestens in der großen Säulenhalle Zeyn erwarten, um dich zur Hölle zu schicken.« Der alte Zeyn starrte in die Schale mit der trüben Flüssigkeit und grunzte. Chatun, sein untoter Diener, hatte behauptet, die Oberfläche des Seelenspiegels habe sich zweimal bewegt. Das würde bedeuten, dass wenigstens eine Kreatur aus der Zukunft das Zeitportal benutzt haben musste, noch bevor er den Bann über die Stadt gelegt und die Hexe in ihrem Gefängnis aufgesucht hatte. Allerdings war sein Kontakt zu Selim in dem Moment abgebrochen, als er die Hexe dem Zeitstrom entrissen und hierher gebracht hatte, was nur heißen konnte, dass Selim sich nicht in seiner Zeit und damit nicht in Ald’maran aufhielt. »Komm her«, rief er seinen Lakaien zu sich, der sich auch sofort in Bewegung setzte. »Wer immer ohne mein Wissen durch das Zeittor nach Ald’maran gelangt ist: Ich will ihn oder sie haben!« Chatun nickte stumm. »Geh und hol den Algol, schick ihn in die Stadt – und findet den oder die Eindringlinge!«, donnerte Zeyn. - 72 -
Zielstrebig lief Selim durch die Prescott Street, bis er das große ziegelrote Haus im viktorianischen Stil erblickte. Ein freundlicher alter Herr, der nicht weit von hier in seinem Garten gearbeitet hatte, hatte ihm schließlich den entscheidenden Hinweis geliefert, als sich Selim bei ihm nach dem Haus einer gewissen Paige Matthews und deren Schwestern erkundigt hatte. »Ach, Sie meinen Halliwell Manor?«, hatte der alte Mann gesagt, »ja, sicher kenne ich es, das gehört jetzt Pennys Enkelinnen, drei wirklich hinreißende Mädchen …«, und ihm bereitwillig den Weg dorthin erklärt. Das Haus, in dem Paige lebte, lag ein wenig erhöht, und man musste eine kleine Steintreppe erklimmen und einen hübschen Vorgarten durchschreiten, bis man den überdachten Eingang erreichte. Selim klopfte an die Vordertür und strich sich nervös eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Nach einer schier endlos erscheinenden Weile öffnete ihm ein blonder, gut aussehender Mann und sah ihn aus kristallklaren Augen an. Bei seinem Anblick hatte Selim einen Herzschlag lang das Gefühl, am wohlverdienten Ende einer langen Reise angekommen zu sein. Und gleichzeitig ahnte er, dass er noch eine lange, gefährliche Strecke vor sich hatte, bei der keineswegs sicher war, dass er sein Ziel auch erreichte. »Guten Tag«, sagte er mit heiserer Stimme und räusperte sich, »mein Name ist Selim und ich –« »Ich weiß, wer du bist«, sagte Leo. »Und ich habe dich schon erwartet.«
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Zögernd traten Piper und Phoebe aus Ibrahims Haus hinaus auf die Straße und sahen sich um. Der alte Mann hatte den beiden Mädchen knöchellange Gewänder und Gesichtsschleier herausgesucht, die noch von seiner verstorbenen Frau stammten, damit sie sich der Zeit und dem Ort gemäß kleiden und unerkannt unter die Menge mischen konnten. »Wenigstens muss man sich in dieser Aufmachung keine Sorgen um sein Make-up oder die Frisur machen«, kicherte Phoebe hinter ihrem Schleier, als sie losmarschierten. »Stimmt, unter dieser Verkleidung kann man beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden«, sagte Piper. Ibrahim hatte ihnen auch ein wenig mehr von dem schwarzen Turm erzählt, in dem der unheimliche Zeyn residierte und der am Ende der Stadt auf einem Hügel stand. Und die beiden Schwestern nahmen an, dass der Schlüssel zur Aufklärung von Paiges und Selims Schicksal genau dort zu finden war. Wie auch Ibrahims leibliche Söhne sehr wahrscheinlich in dem Turm gefangen gehalten wurden, sofern sie noch lebten. Doch um das düstere Bauwerk zu erreichen, mussten sich Piper und Phoebe nun durch ganz Ald’maran schlagen. Die Stadt war staubig und heiß. Piper und Phoebe beschlossen, den Weg durch den überdachten, riesigen Basar zu nehmen, um in seinem Getümmel unterzutauchen. Überall herrschte emsiges Treiben und Stimmengewirr. Je näher sie dem Markt kamen, umso größer wurde der Trubel. Und dann fanden sich die beiden Zauberhaften unversehens inmitten eines orientalischen Basars wieder, schier überwältigt von der Farbenpracht, dem Gewühl und den zahlreichen Gerüchen, die hier herrschten.
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Der Markt war ein Labyrinth aus hohen überkuppelten Gängen und Gassen, in denen das Warenangebot nach Art und Herkunft sortiert zu sein schien. Ihre Blicke schweiften umher, als sie sich im Strom der anderen Besucher vorwärts schoben. In einem Gang verkauften Händler possierliche Äffchen, Papageien, Jagdfalken und schreiende Pfauen an die wohlhabenderen Bürger der Stadt. In einem anderen präsentierten Waffenhändler Säbel, Dolche, Bögen und Köcher. Nicht weit davon fanden sich die Sattelmacher, die Reitgeschirr aller Art feilboten. Und in einem anderen Bezirk priesen Marktschreier irdenes und kupfernes Geschirr und anderen Hausrat an. »Hier hat Handwerk offensichtlich noch goldenen Boden«, raunte Phoebe ihrer Schwester zu, die unvermittelt stehen geblieben war und sich staunend ein paar Mal im Kreise drehte. Ein ganzer Distrikt schien eigens für Lebensmittel vorgesehen. Hier bogen sich die Stände und Auslagen unter allerlei Obst und Gemüse, Säcken mit Hülsen- und Trockenfrüchten, Rosinen und Nüssen. Einige Händler hatten sich ganz auf Essenzen, Tinkturen, Gewürze und Kräuter spezialisiert, von denen selbst die erfahrenen Hexen nicht in jedem Fall die Namen kannten. In einem anderen Bereich warteten Teppich- und Tuchhändler auf Kunden. Die meisten von ihnen hatten es sich auf kleinen Kamelhockern oder Kelims gemütlich gemacht, tranken Tee, schwatzten oder rauchten Wasserpfeife. Und in einem durch riesige schmiedeeiserne Deckenlüster besonders hell erleuchteten Gang fanden sich die Gold- und Silberschmiede, in deren Verkaufsräumen es funkelte wie in Ali Babas Schatzhöhle. Kunstvoll gefertigte Kleinodien und prächtigstes Geschmeide, wohin das Auge sah.
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»Ich hoffe, wir finden hier jemals wieder heraus«, hauchte Piper, als sie einen weiteren Säulengang betraten, in dem man dampfende Reisgerichte, Fleischspieße, Hammeleintopf mit Bohnen, Honiggebäck, Sesamkuchen und frisches Fladenbrot kaufen konnte. »Das sieht aber lecker aus«, bemerkte Phoebe mit Blick auf die altorientalischen Fastfood-Stände, und dann fiel ihr ein, dass sie ja noch nicht einmal Geld besaßen für den Fall, dass sie länger hier bleiben und sich verpflegen mussten. »Ob Mundraub hier wohl ebenso scharf geahndet wird wie Diebstahl?«, fragte sie ihre Schwester. »Ich hab gehört, die Muslime hacken einem die rechte Hand ab, wenn man was gestohlen hat, stimmt das?« »Denk nicht mal ans Essen«, knurrte Piper und zog Phoebe mit sich. »Wir haben Dringenderes zu tun, als uns hier die Bäuche voll zu schlagen und vor dampfenden Fleischtöpfen Maulaffen feilzuhalten.« In diesem Moment sah sie, wie sich eine vermummte Gestalt in dem Gedränge des Basars zielstrebig zu ihnen durchschlug. Sie überragte alle anderen Besucher um gut einen Kopf und kam eilends näher. Dessen ungeachtet wirkten ihre Bewegungen ein wenig steif, als ob das Laufen ihr eine gewisse Mühe bereitete. Piper erschrak, als der Überwurf des Mannes für einen Moment aufklappte und den Blick auf eine schuppige Hand und lange, stahlhart wirkende Krallen freigab. Und diese entsetzliche Klaue langte gerade nach einem Dolch mit juwelenbesetztem Griff, der im Gürtel steckte! »Los, hier entlang! Schnell!«, rief sie und schob Phoebe in einen etwas weniger belebten Seitengang, in dem sich offensichtlich die Geldwechsler und Kreditgeber eingerichtet hatten. »Was … ist denn … los?«, stotterte Phoebe, doch als sie im Laufen einen Blick über die Schulter warf, sah sie, wie sich eine
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große verhüllte Gestalt an ihre Fersen heftete und ihnen beharrlich nachsetzte. »Man verfolgt uns!« »Ich weiß!«, rief Piper und verdrehte die Augen, während sie ihre Schwester mit sich zog. »Was will der denn von uns?«, fragte Phoebe verwirrt, als sie sich durch die Menge flüchteten. »Also ich glaube nicht, dass er vorhat, uns nach der Uhrzeit zu fragen«, gab Piper gehetzt zurück, bevor sie Phoebe am Ärmel packte und in einen weiteren Gang zerrte. Nach einigem Gedränge und Geschubse fanden sie schließlich einen Weg aus dem Basar hinaus und stolperten in eine schmutzige, enge Gasse. Der Gestank hier warf sie beinahe um, doch die beiden Hexen hatten keine Zeit, sich über die örtlichen hygienischen Verhältnisse den Kopf zu zerbrechen. Ihr unheimlicher Verfolger hatte es nämlich ebenfalls aus der Markthalle hinaus geschafft und holte zügig zu ihnen auf. Die Schwestern verfielen in Trab, durchquerten diverse Torbögen, bogen um etliche Häuserecken und mussten schließlich feststellen, dass sie in einer Sackgasse gelandet waren. Vor ihnen erhob sich eine hohe Ziegelmauer – ohne Durchgang. »Verdammter Mist!«, rief Piper aus. »Immer rennt man in eine Sackgasse, wenn man es am wenigsten braucht!« Mit gehetztem Blick fuhren sie herum und sahen, dass sie den Vermummten keineswegs abgehängt hatten. Ohne große Eile, und doch unmissverständlich drohend, kam er näher. Da wurde es Piper zu bunt. Sie riss den Arm in die Höhe und fror die Zeit ein. Die Welt um sie herum erstarrte, sämtliche Geräusche verstummten, und auch ihr mysteriöser Verfolger stand nun reglos inmitten der Gasse, während die beiden Hexen einen Moment lang verschnauften.
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»Los, lass uns von hier verschwinden!«, zischte Piper ihrer Schwester zu. Schon stürmten sie vorbei an ihrem bewegungsunfähigen Gegner und flogen schier eine grob behauene Treppe hinab, auf der die Menschen ebenfalls wie angewurzelt dastanden. Als sie in einen überwölbten Torweg einbogen, in dem ein ebenholzschwarzer Nubier mit einem Esel im Schlepptau wie versteinert auf der Stelle verharrte, begann die Zeit wieder anzulaufen. Die beiden Schwestern sprangen über verrottenden Unrat, scheuchten träge herumliegende Katzen und spielende Kinder auf, wären beinahe in eine brackige Abwasserrinne gestolpert und rannten um ein Haar eine Beduinenfrau über den Haufen, die schwer beladen Richtung Basar unterwegs war. Und die Tatsache, dass sie ihre Flucht in fast bodenlangen, schweren Gewändern unternehmen mussten, machte es nicht eben einfacher. Mehr als einmal gerieten die Schwestern auf dem unebenen Kopfsteinpflaster der größeren Straßen ins Straucheln und fluchten. Nachdem sie eine Weile kreuz und quer durch das Gassengewirr der Altstadt von Ald’maran gehetzt waren und immer wieder Haken geschlagen hatten, eilten sie schließlich kopf- und ziellos über eine mit Naturstein gepflasterte, von Platanen gesäumte Allee in eine parkähnliche Anlage. Bei einem kleinen Palmenhain hielten sie schwer atmend inne und sahen sich um. Von ihrem Verfolger war nichts zu sehen. Rings um den Park standen herrliche Häuser aus hellem Stein, manche mit kleinen farbigen Kuppeln, andere mit filigranen Fassaden oder geometrischen Einfassungen aus dunkelblauen Fliesen. Rechter Hand waren protzige orientalische Stadtvillen mit Terrassen, Obstgärten und begrünten Dächern, sowie eine beeindruckende Moschee aus - 78 -
schneeweißem Marmor mit einem üppig verzierten Minarett zu erkennen. Offensichtlich standen sie mitten im Nobelviertel von Ald’maran. Eine Gruppe verschleierter Frauen mit einem Tross von Dienerinnen und schwarzen Sklaven flanierte vorbei, ohne die beiden herumstehenden Mädchen auch nur eines Blickes zu würdigen. Linker Hand erhob sich eine riesige Anlage, bei der es sich nur um die Residenz des Emirs handeln konnte – das mächtige weiße Gebäude besaß zahlreiche Anbauten mit Türmchen, Galerien, vergoldeten Kuppeln, Rundbögen aus farbigen Mosaiken und einen bewachten Vorplatz von der Größe eines Olympiastadions. Sämtliche Alleen der Stadt schienen auf eben dieses Bauwerk hinzuführen. »Gegen diesen Palast wirkt das Weiße Haus ja wie sozialer Wohnungsbau«, bemerkte Piper. »Wie wohl erst der Kalif von Bagdad wohnen mag?«, fragte sich Phoebe, und ein verträumter Ausdruck erschien in ihrem Blick. Für ein paar Sekunden ließen die beiden Schwestern die ganze Pracht und Herrlichkeit des Orients auf sich wirken, bevor sie sich wieder daran erinnerten, weswegen sie hier waren und dass ihnen offensichtlich jemand auf den Fersen war. »Los, lass uns weitergehen«, sagte Piper dann auch plötzlich, »wir stehen hier ja wie auf dem Präsentierteller!« In der Ferne ragte der schwarze Turm gen Himmel – ihr eigentliches Ziel. Und eben diese Richtung einschlagend durchquerten die beiden Schwestern den schattigen Park und flüchteten sich unter einem Torbogen hindurch in einen gepflasterten Innenhof.
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Dort eilten sie in den Schutz eines lang gestreckten, weiß getünchten Steingebäudes, von dem sie inständig hofften, dass es für den Fall der Fälle so etwas wie einen Hinterausgang besaß. Ein wenig außer Atem versteckten sie sich in dem schattigen Säulengang hinter einem der mit hübschen Mosaiken versehenen Pfeiler. »Haben wir diesen Dolchheini abgeschüttelt?«, flüsterte Phoebe. Piper wagte einen kurzen Blick in den Innenhof. Es war nichts und niemand zu sehen. »Scheint so.« Sie hielt inne und kniff die Augen zusammen. »Ich glaube allerdings, unser Verfolger war irgendwie nicht … menschlich …« Phoebe sah ihre Schwester erschrocken an. »Was soll das heißen?« »Na ja«, begann Piper, »als er im Basar auf uns zustürmte, klaffte sein Umhang für einen kurzen Moment auf, und da hab ich seine Hand gesehen, und …« »Ja und?«, drängte Phoebe. »Es war eher … eine Klaue … schuppige, ledrige Haut … mit merkwürdig langen spitzen Krallen, du weißt schon …« Phoebe riss die Augen auf. »Du meinst, das war ein Dämon? Womöglich einer aus dem Gefolge von diesem Zeyn? Oder gar Zeyn selbst?« »Was weiß ich?«, flüsterte Piper und zog ihre Schwester hinter eine der Säulen. »Wir müssen jedenfalls höllisch aufpassen, dass wir nicht in die Hände dieses Größenwahnsinnigen fallen. Du hast ja selbst gehört, was er mit Ibrahims Söhnen gemacht hat und –« »Warum hast du diesen vermummten Typen, nachdem du die Zeit eingefroren hattest, nicht einfach in seine Bestandteile zerlegt und in die ewigen Jagdgründe geschickt?«, fragte Phoebe. - 80 -
»Ich kann dir nicht genau sagen, wieso, aber es erschien mir auf einmal klüger, die möglichen Hintermänner unseres Verfolgers in dem Glauben zu lassen, dass sie es mit zwei ganz normalen Frauen zu tun haben …« »Piper«, begann Phoebe langsam, »ich möchte ja keine schlechte Laune aufkommen lassen, aber … irgendwas stimmt hier nicht.« »Wenn du darauf hinauswillst, dass wir bis zum Hals im Dreck stecken, dann ist das jetzt nichts wirklich Neues für mich, Phoebe«, gab Piper zurück. Im gleichen Moment stutzte sie und sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. »Oder hab ich irgendwas nicht mitgekriegt? Was genau meinst du?« »Na ja«, Phoebe spielte gedankenverloren mit ihrem Gesichtsschleier, »mir ist nur gerade was aufgefallen. Wenn unser Verfolger wirklich einer von Zeyns Leuten war, woher wusste Zeyn eigentlich, dass wir überhaupt hier sind?« Sie machte eine kurze Pause. »Wie du dich erinnerst, sind wir aus dem Zeittunnel direkt in Ibrahims Haus materialisiert. Niemand außer dem alten Mann hat uns dort gesehen, und im Basar können wir auch nicht groß aufgefallen sein in unseren landestypischen Gewändern – es sei denn«, sie holte tief Luft, »jemand sucht in der Stadt gezielt nach Personen, die hier nicht hingehören.« Darüber musste Piper einen Augenblick lang nachdenken. »Du denkst also, die ganze Sache war von vornherein so geplant? Ich meine, das mit Paige hat, wenn man Ibrahim glauben kann, ja dessen Stiefsohn Selim zu verantworten. Und angeblich hatte der für seine Aktion einen guten Grund. Aber was ist mit uns und unserem Erscheinen in dieser Zeit? Bis jetzt sah es doch ganz so aus, als wären wir rein zufällig, weil in Sorge um Paige, in diese Geschichte hineingestolpert …
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Und ja … du hast Recht, wenn die Kreatur von vorhin wirklich aus Zeyns Gefolge stammt, dann wusste sie, beziehungsweise ihr Auftraggeber, ganz genau, dass wir hier sind. Und das wiederum kann nur bedeuten, dass jemand es Zeyn gesagt haben muss.« »Meinst du, der blinde Ibrahim hat uns an ihn verpfiffen?« »Das glaube ich nicht«, sagte Piper. »Mir erschien der Alte und das, was er uns erzählt hat, absolut vertrauenswürdig. Nein, da steckt jemand anderes dahinter.« Phoebe sah beklommen zu Boden. »Außer Ibrahim gibt es nur noch zwei Personen, die Zeyn von uns erzählt haben könnten«, sagte sie schließlich. »Die eine ist Paige, und das würde heißen, dass Zeyn sie tatsächlich in seiner Gewalt hat.« »Auch wenn es wahrscheinlich so ist, glaube ich nicht, dass Paige ihm aus freien Stücken von uns berichtet hat«, wandte Piper ein. »Und sofern Zeyn keinen Anlass hatte, Paige gezielt nach ihrer Verwandtschaft zu befragen, warum sollte sie ihm gegenüber ohne Not ihre beiden Joker preisgeben?« »Was uns zu der einzigen anderen Person führt, die dem Erzdämon von uns hätte erzählen können«, meinte Phoebe düster, »und die heißt Selim.« »Aber wozu der ganze Zirkus?«, rief Piper verzweifelt aus. »Warum entführt Selim in Zeyns Auftrag unsere Schwester und lockt uns hernach auf geradezu abstruse Weise ebenfalls hierher? Für einen von langer Hand vorbereiteten Plan erscheint mir ein solches Vorgehen viel zu umständlich und unkalkulierbar. Ich meine, viel wahrscheinlicher wäre es doch gewesen, dass du den Zettel in Paiges Büro nie gefunden hättest. Und wie bitte hätte uns Selim dann hierher lotsen sollen?«
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»Du hast Recht«, sagte Phoebe. »Das passt alles irgendwie nicht zusammen. Und doch sieht es so aus, als ob jemand die Zauberhaften nun genau dort hat, wo er sie haben will.« Zögernd trat der Algol vor seinen Meister und senkte sein verhülltes Haupt. »Sie sind mir entkommen, Herr«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang brüchig, fast krächzend. Das hatte jedoch weniger mit seinem Versagen als mit der Tatsache zu tun, dass ihm die menschliche Sprache nur schwer über die nicht vorhandenen Lippen kam. »Wie konnte das passieren?«, donnerte Zeyn. »Ich habe … ihre Spur beim Basar verloren, Herr.« »Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für dein Unvermögen?« »Sie scheinen … nicht von dieser Welt zu sein, Meister«, sagte der Algol nur. »Schön und gut, aber wer sind sie?«, wollte Zeyn wissen. »Zwei Frauen«, schnarrte der Algol, »zwei überaus mächtige Frauen.« Zögernd machte Paige die ersten Schritte auf der engen Wendeltreppe aus Stein, die den Turm hinabführte. Sie hatte mit Seif und Suleiman vereinbart, dass sie sich in Zeyns Bastion ein wenig umsah und nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt, um Hilfe zu holen. Zwar lag die Vermutung nahe, dass der Ghul, den Paige in ihrem eigenen Kerker eingeschlossen hatte, auch den Schlüssel zur Zelle der beiden Brüder besaß. Doch ohne Waffe oder ein anderes geeignetes Mittel, den Untoten außer Gefecht zu setzen,
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wagte Paige es nicht, sich ihm noch einmal ohne ihre Zauberkräfte entgegenzustellen. Solange ihre Zellentür von außen durch den schweren Holzbalken gesichert war, konnte der Ghul nicht heraus. Doch Paige und die beiden Brüder befürchteten, dass irgendjemand ihn schon bald vermissen würde, wenn er ihn nicht mehr an seinem Posten vorfand, und Zeyn alarmierte. Es war also eine gewisse Eile geboten. Die nächste Etage, die Paige erreichte, war nichts mehr als eine runde Aussichtsplattform. Die massiven Außenwände waren ringsum mit breiten Öffnungen versehen. Von hier hatte man einen traumhaften Blick auf Ald’maran und die schier endlose Wüste, welche die Stadt umgab. Das hereinfallende Tageslicht erhellte den Ausguck von allen Seiten und sorgte dafür, dass die klamme Kälte rasch von Paige abfiel. Doch die junge Hexe hatte keinen Sinn für die Schönheiten der Aussicht. Sie wusste nicht, was sie im nächsten Stock erwarten würde, und das bereitete ihr Magenschmerzen. Sie trat an eine der Fensteröffnungen und sah hinab in die Tiefe. Sie befand sich immer noch in schwindelnder Höhe. Bis zum Boden waren es bestimmt an die 80 Meter. Wie Paige feststellte, stand der Turm auf einer Art Hügel, und das ungepflegte, nahezu kahle Grundstück zu ihren Füßen sah aus wie ein alter Friedhof, der sich auf dieser Seite bis hinunter zum Abhang erstreckte. Sie erkannte verwitterte, teilweise umgestürzte Grabsteine und eine Art Krypta im Zentrum des Totenackers. Einer Eingebung folgend griff Paige in ihren Lederrucksack und holte das in dieser Welt gänzlich nutzlose Handy hervor. Sie zögerte einen Moment, bevor sie das Telefon hinab in die Tiefe warf. Es fiel und fiel und landete schließlich auf einem vertrockneten Pflanzenbeet mitten in einem Dornbusch, der nahe der Turmwand stand.
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Paige wusste nicht, ob sich diese Aktion für sie als von Nutzen herausstellen würde oder ob sie sich damit womöglich in noch größere Gefahr begeben hatte. Sie hegte nur die winzig kleine Hoffnung, dass, sollten ihre Schwestern je einen Weg in diese Zeit und an diesen Ort finden, sie irgendwie auf dieses Lebenszeichen von ihr stoßen würden. Sollte jedoch zufällig einer von Zeyns Schergen das seltsame Gerät finden, so war vermutlich jegliche Hoffnung dahin. Sie begab sich wieder zur Wendeltreppe und setzte ihren Abstieg fort. Auch die nächste Etage lag still und verlassen da. Es war ebenfalls eine Art Plattform, doch die Aussparungen in den Mauern hatten lediglich die Größe von Schießscharten. Am Boden des ansonsten leeren Raums entdeckte Paige eine alte Öllampe, doch nichts, was auch nur annähernd als Waffe geeignet war. Paige seufzte und stieg weiter die enge Treppe hinab. Es ging nun eine Weile abwärts, ohne dass sie ein weiteres Geschoss oder einen Absatz erreichte. Doch es schien, als ob der Turm mit jeder Umrundung, die sie auf der Wendeltreppe zurücklegte, an Umfang zunahm. Bald erreichte sie erneut eine Etage, von der mehrere kurze, unbeleuchtete Gänge zu ausnahmslos verschlossenen Türen führten. Paige rang mit sich. Sollte sie einen dieser Räume betreten oder einfach weitergehen? In diesem Moment drang von unten ein dumpfes, monotones Klopfen an ihr Ohr. Paige biss sich auf die Unterlippe und beschloss, den Abstieg fortzusetzen. »Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte Phoebe und lugte in den prächtigen Innenhof, in den sie und Piper sich im Zuge ihrer Flucht vor dem vermummten Dämon zurückgezogen hatten. Noch immer standen sie unschlüssig im Schatten des Säulenganges und berieten die nächsten Schritte. - 85 -
»Keine Ahnung«, sagte Piper. »Aber wir müssen sehen, dass wir hier möglichst unauffällig wieder rauskommen und uns zum schwarzen Turm durchschlagen, ohne dass wir dieser Kreatur erneut in die Arme laufen.« »Ich frage mich, warum wir keinen Kontakt zu Leo herstellen können.« »Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte Piper. »Wächter des Lichts können normalerweise Zeit und Raum überwinden, um ihre Schützlinge zu erreichen. Einzige Ausnahme bilden Orte, die ausschließlich von schwarzer Magie erfüllt sind – wie die Unterwelt, in die er uns ja bekanntlich nicht folgen konnte.« »Heißt das, wir befinden uns an einem … abgrundtief bösen Ort?«, fragte Phoebe. »Möglich. Es kann aber auch sein, dass uns irgendetwas einfach daran hindert, mit Leo Verbindung aufzunehmen. Ein Fluch vielleicht, der über der Stadt liegt, oder ein Bannzauber, der den Kontakt zu ihm verhindert.« In diesem Moment kam lachend und schwatzend eine Gruppe Frauen durch den Hof auf sie zu. Ihre reich bestickten Gewänder wirkten wertvoll, die Gesichtsschleier schienen aus filigraner Seide zu bestehen, und ihr ganzes Auftreten ließ darauf schließen, dass es sich bei ihnen um die Töchter oder Ehefrauen wohlhabender Bürger Ald’marans handeln musste. Piper und Phoebe zogen sich ihre verschlissenen Tücher tiefer ins Gesicht, senkten den Blick und verharrten wie angewurzelt an Ort und Stelle. »Hier, Mädchen«, sagte eine der Frauen, als sie die beiden vermummten Schwestern erreicht hatten, und drückte Phoebe ein paar Münzen in die Hand. »Friede sei mit dir.« »Und mit dir«, stieß Phoebe hervor, und dann: »Sei bedankt, ehrenwerte Dame. Gelobt sei Allah, der Allmächtige.«
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Die Frau nickte, und Phoebe glaubte, durch den hauchdünnen Gesichtsschleier ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Dann betrat die Fremde mit ihren Freundinnen das Gebäude, das vermutlich ein Dampfbad zu sein schien, denn als die Tür kurz geöffnet wurde, schlugen den beiden Schwestern feuchte Dunstschwaden entgegen. Erstaunt hob Piper eine Augenbraue und sah ihre Schwester respektvoll an. »Du scheinst dich ja hier ziemlich schnell eingelebt zu haben.« Phoebe hob in aller Seelenruhe ihren schäbigen Umhang und ließ die Münzen in den Taschen ihrer Jeans verschwinden. »Lesen bildet eben«, meinte sie nur. »Und wie du weißt, hab ich die Geschichten aus 1001 Nacht schon immer geliebt.« »Nun gut, lass uns von hier verschwinden«, meinte Piper. Sie überquerten den Platz, schlugen sich wieder ins Stadtinnere Richtung Norden und erreichten schließlich einen schmucklosen arkadenumgebenen Innenhof mit einem Komplex aus Holzboxen und Ställen. In einigen der Verschläge standen Kamele, Maultiere und Esel, wodurch es im ganzen Hof ziemlich streng roch. Offensichtlich eine Karawanserei, in der die Karawanenführer samt ihren Lasttieren auf ihrem langen Weg durch die arabische Wüste Rast machen konnten. Im Obergeschoss wähnten die Schwestern die Quartiere für die Reisenden, da sie dort offen stehende Kammern mit am Boden liegenden Strohsäcken erkannten, die anscheinend als Schlafplatz dienten. Langbärtige Männer mit braun gebrannten, wettergegerbten Gesichtern eilten in ihren Kaftanen geschäftig hin und her, während andere in Grüppchen zusammensaßen, Mokka tranken, Domino spielten, Wasserpfeife rauchten oder einfach nur miteinander plauschten und lachten.
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Mit gesenkten Köpfen ließen Phoebe und Piper diesen augenscheinlich nur Männern vorbehaltenen Ort rasch hinter sich. Sie passierten Ald’marans Stadtmauer mit dem Westtor zur Wüste und hielten sich weiter Richtung Norden, wo der schwarze Turm auf dem Hügel stand. Die Gegend wurde zunehmend ärmlicher, und an jeder Straßenecke wurden die Schwestern nun von Bettlern, Straßenjungen, Aussätzigen und anderen Gestrandeten angesprochen. »Ein kleines Almosen, ehrwürdige Damen!«, »Helft einem vom Schicksal Gebeutelten! Habt ihr nicht Arbeit für mich?« Keine Frage, dies war das andere, weniger prächtige Gesicht von Ald’maran. Schweren Herzens legten Phoebe und Piper einen Zahn zu. Es gab nicht viel, das sie zu verschenken hatten. Nach wie vor brannte die Sonne heiß vom Himmel, und die Schwestern schwitzten in ihren langen Gewändern, unter denen sie ja immer noch ihre moderne Kleidung trugen. Als sie durch ein schmutziges Torgewölbe in eine heruntergekommene Seitengasse einbogen, trat plötzlich eine alte zerlumpte Frau auf Phoebe zu und hielt die junge Hexe sacht am Ärmel fest. »Habt ihr vielleicht ein bisschen Brot für mich?«, fragte sie leise. »Ich habe schon seit Tagen nichts mehr gegessen.« Phoebe blieb stehen und sah die Alte bekümmert an. Das Antlitz der Greisin war nicht verhüllt, und so konnte sie sehen, dass ihr ausgemergeltes, faltiges Gesicht feucht von Tränen war. Der Anblick brach Phoebe fast das Herz. Sie griff unter ihren Umhang, holte eine der Münzen aus ihrer Hosentasche und gab sie der alten Frau. »Ich danke dir von Herzen, Mädchen«, sagte die Bettlerin. »Ich habe nichts, womit ich dir diese gute Tat vergelten kann, - 88 -
aber ich kann dir zum Dank die Zukunft voraussagen.« Schon hatte sie Phoebes Hand ergriffen, obwohl dieser bei dem Gedanken, dass ihr eine wildfremde Frau wahrsagte, ganz und gar nicht wohl war. Andererseits wollte sie die alte Frau auch nicht beleidigen, indem sie die Freundlichkeit zurückwies. Also ließ sie die Alte gewähren. Die Bettlerin sah sich eilig nach links und rechts um. »Ich sehe, ihr kommt nicht von hier, also sprecht mit niemandem über das, was ich nun tue«, sagte sie dann, »denn die neue Religion verbietet es.« Phoebe nickte; Piper trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Du hast vor kurzem einen großen Verlust erlitten«, sagte die Bettlerin, als sie Phoebes rechte Handfläche betrachtete. Phoebe sah betroffen zu Piper, und die beiden verstanden einander auch ohne Worte. Der Verlust, den Phoebe erlitten hatte, war einerseits ihre geliebte Schwester Prue gewesen, die von dem Dämon Shax getötet worden war, und dann hatte sie sich von Cole trennen müssen, der großen Liebe ihres Lebens. Und es tat noch immer weh, an ihn und die Aussichtslosigkeit ihrer Beziehung erinnert zu werden. »Du bist in der Fremde, weit weg von zu Hause«, fuhr die Bettlerin fort, »und du wirst dich einer großen Herausforderung stellen müssen. Ja, einer großen Herausforderung …« Die Alte sah auf und nickte den beiden Mädchen ernst zu, dann richtete sie ihren Blick wieder auf Phoebes Hand. »Ich spüre eine große Macht, die dir innewohnt und die dir helfen wird, das Schicksal zu besiegen. Ich sehe –«, sie brach ab. »Was sehen Sie?«, drängte Phoebe.
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Die alte Frau zögerte, und Piper, die schweigend daneben stand und die ganze Szene aufmerksam beobachtete, meinte, so etwas wie Furcht in ihren Augen zu sehen. »Ich … ich sehe«, fuhr die Bettlerin stockend fort, während sie unverwandt auf Phoebes Handfläche starrte, »auch eine große Gefahr. Die Einheit muss wieder hergestellt werden, sonst … sonst ist alles verloren.« »Was meinen Sie damit?«, verlangte Phoebe zu wissen. »Diese drei Linien in deiner Hand verraten mir, dass dein Leben von Geburt an eng mit dem zweier anderer verknüpft ist«, erklärte die Wahrsagerin. »Das stimmt«, sagte Phoebe. »Ich habe noch zwei Schwestern, denen ich mich sehr verbunden fühle. Aber was meinen Sie mit der Einheit, die wieder hergestellt werden muss?« »Eine der Linien ist … unterbrochen«, murmelte die alte Frau. »Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass die drei Linien auf den Weg des Schicksals zurückgeführt werden, andernfalls ist alles verloren.« Sie deutete auf eine besonders lange Furche in Phoebes Handfläche. »Der Weg des Schicksals wird durch die große Linie hier in der Mitte deiner Hand verkörpert, die den Lauf deines Lebens widerspiegelt.« Die Alte blickte auf und sah Phoebe fest in die Augen. »Du musst die Einheit wieder herstellen, Mädchen, mehr kann ich dir über deine Zukunft nicht sagen. Ich hoffe, du tust das Richtige, denn du verdienst nur das Beste, da du ein gutes Herz hast. Lebe wohl.« Damit ließ sie Phoebes Hand los, wandte sich um und ging davon. Verwirrt blickte Phoebe ihr nach, bis sie von Piper wieder in die Realität zurückgeholt wurde. »Komm, wir müssen weiter, Süße. Und lass dir wegen dem, was die Alte gesagt hat, bloß - 90 -
keine grauen Haare wachsen. All das wissen wir doch schon seit langer Zeit.« »Du meinst, sie hat von der Macht der Drei gesprochen?«, fragte Phoebe. »Das ist doch offensichtlich«, erwiderte Piper. Sie wollte Phoebe nicht beunruhigen, doch tief in ihrem Innern spürte sie, dass hinter den Worten der alten Wahrsagerin mehr steckte als der Hinweis auf das, was den Schwestern ohnehin längst bekannt war: dass sie die Zauberhaften waren, die mithilfe der Macht der Drei einmal mehr die Welt retten mussten. Tief in ihrem Innern spürte Piper, dass dieses Abenteuer nicht so ohne weiteres zu einem glücklichen Ende geführt werden konnte. »Aber sie hat gesagt, wir müssen die Macht der Drei unbedingt wieder herstellen, sonst wäre alles verloren«, gab Phoebe zu bedenken. »Na ja, deswegen sind wir ja hier, oder?«, gab Piper nervös zurück. »Und wenn wir uns nicht beeilen, ist Paige womöglich schon tot, und dann ist tatsächlich alles verloren!« Phoebe nickte stumm, und die beiden Schwestern setzten ihren Weg fort. Nach einer Weile erreichten sie einen weiteren Torbogen, hinter dem ein fast menschenleeres schmuckloses Atrium lag. Im Zentrum des Innenhofs stand ein gemauerter Ziehbrunnen, und daneben hockte ein zerlumpter Bengel im Staub, der Kürbiskerne knackte und die Schalen in hohem Bogen ausspuckte. »Ich sterbe vor Durst«, sagte Phoebe. »Lass uns etwas Wasser trinken.« Sie eilten auf den Brunnen zu und wollten schon den Holzeimer in den dunklen Schacht hinunterlassen, als der Junge wie von einer Tarantel gestochen aufsprang. »Halt, was soll das? Finger weg! Das iss unser Brunnen!« - 91 -
Piper ließ die Kurbel los und sah den Bengel erschrocken an. »Tut mir Leid, wir wollten nicht unhöflich sein, aber ist es möglich, einen Schluck Wasser zu bekommen?« »Wir sind nämlich nicht von hier«, setzte Phoebe überflüssigerweise hinzu. »Dann verpflegt euch gefälligst in eurer Unterkunft«, erwiderte der Junge. »Das hier iss kein öffentlicher Brunnen.« »Ähm, wir sind nur auf der Durchreise«, erklärte Phoebe. »Und wir sind etwas in Eile«, ergänzte Piper, »und wollten uns nur rasch ein wenig erfrischen.« »Dann zahlt ihr eben fürs Wasser«, sagte der Junge und spuckte eine Kürbiskernschale auf den Boden. »Wie viel?«, fragte Phoebe nur. Sie wandte sich ab, kramte die Münzen in ihrer Hosentasche hervor und hielt sie dem Jungen hin. Blitzschnell schnappte der sich eines der Kupferstücke, wie ein Geier nach einem Stück Aas pickt. »Also gut, bedient euch.« Er grinste und schlenderte dann summend von dannen. »So viel zur orientalischen Gastfreundschaft«, knurrte Piper, während sie den Wassereimer in den Brunnenschacht hinunterließ. Im San Francisco des 21. Jahrhunderts standen sich derweil zwei Männer gegenüber, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Der eine blond und breitschultrig, der andere schlank und schwarzhaarig. Und während die Augen des einen schimmerten wie ein smaragdfarbener Teich, waren die des anderen so unergründlich wie die aufgewühlte See. Und doch war es, als ob sie beide Teil eines großen Ganzen wären, als ob in dem Moment, da sie sich zum ersten Mal trafen, das Alte und das Neue miteinander verschmolzen zu etwas ganz - 92 -
Außergewöhnlichem, während die Welt um sie herum den Atem anhielt. »Du kennst mich?«, fragte Selim. »Ja und nein«, sagte Leo. »Aber ich wusste, dass du kommen würdest.« »Woher?« »Der Rat der Ältesten hat es mir gesagt.« Leo trat einen Schritt zur Seite, sodass Selim ins Haus kommen konnte. Dann schloss der Wächter des Lichts die Tür und geleitete seinen Gast durch die Eingangshalle mit dem edlen Intarsienparkett in den altmodisch-gemütlichen Salon von Halliwell Manor. Selim staunte nicht schlecht angesichts des prächtigen Hauses, in dem Paige wohnte. »Setz dich«, sagte Leo, und als sie beide auf der cremefarbenen Couch Platz genommen hatten: »Und nun erzähl mir genau, was geschehen ist.« »Ich heiße Selim und komme …« »… aus der Vergangenheit«, half Leo. »Ja«, erwiderte der junge Araber. »In meiner Zeit herrscht Harun al-Raschid und –« »Ich weiß«, unterbrach ihn Leo. »Du stammst aus dem 8. Jahrhundert.« »Auch das hat dir der … Rat der Ältesten erzählt?«, fragte Selim. »Und wer ist das überhaupt? Ich meine, der Rat der Ältesten?« »Das sind die Höheren Mächte, die mich zur Erde gesandt haben, damit ich die Menschen beschütze. Ich heiße übrigens Leo Wyatt.« »Dann bist du ein Malak? Ein Schutzengel, wie man bei euch sagt. Genau wie mein Vater!«, rief Selim erstaunt aus.
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»So könnte man es sagen, ja«, erwiderte Leo. »Außerdem bin ich mit Piper Halliwell verheiratet. Das ist die Schwester von Phoebe und die Halbschwester von Paige. Ich vermute, eine von ihnen wird dir persönlich bekannt sein, habe ich Recht?« Selim nickte, und dann erzählte er Leo von seiner Mission, von seiner heutigen Begegnung mit Paige, die ihm vom Buch der Weisheit vorhergesagt worden war, und von seinem Plan, mit ihrer Hilfe Zeyn zu besiegen und seine Brüder zu retten. Aber auch vom Bund der Magier, von Ald’maran, seiner Mutter Djaudar und dem schweren Erbe, das sie ihren Söhnen hinterlassen hatte. Vieles von dem, was Selim ihm berichtete, wusste Leo bereits aus den Archiven der Ältesten, die er aufgesucht hatte, nachdem er keinen Kontakt mehr zu den Zauberhaften hatte herstellen können. So stand in den alten Aufzeichnungen geschrieben, dass der Nachkomme eines Sendboten und einer weißen Zauberin in die Zukunft reisen würde, um den Untergang seiner Welt zu verhindern. Und auch, dass seine drei Schutzbefohlenen bei dieser Geschichte eine entscheidende Rolle spielen würden. Und so klärte er Selim über die Schwestern und deren persönliches Schicksal auf, was bei Selim die erwartete Reaktion auslöste – grenzenloses Erstaunen –, und auch darüber, dass alle drei Hexen just im Moment offensichtlich in Selims Zeit gefangen waren. Als der junge Zauberer dies hörte, wurde er blass, und seine grünen Augen verdunkelten sich. »Was für ein Unglück!«, rief er. »Hoffentlich hat Zeyn sie sich nicht auch noch geschnappt!« »Wo genau ist das Zeitportal, mit dem du hierher gekommen bist?«, fragte Leo. »Im Eingang eines alten Hotels in einem Stadtteil namens Nob Hill«, sagte Selim.
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Leo stand auf und legte seine Hand auf den Oberarm des jungen Zauberers. »Konzentrier dich auf diesen Ort«, wies er Selim an, und schon lösten sich ihre Körper in einem Wirbel aus blauem Licht auf. Als sie eine Sekunde später im »Marduk Palace« materialisierten, meinte Selim: »Wow, so schnell funktioniert das körperlose Reisen bei mir aber nicht.« »Du bist ja auch nur zur Hälfte Engel – wie Paige im Übrigen auch«, meinte Leo lächelnd. »Also, wo ist das Portal?« Selim lief durch die dämmrige Lobby des verlassenen Hotels auf den Haupteingang zu. Der Wächter des Lichts folgte ihm. Dann ergriff Selim Leos Handgelenk und zog ihn auf die Türschwelle. Nichts geschah. Der junge Araber stutzte, blickte sich irritiert um und riss dann bestürzt die Augen auf. »Es ist weg!«, rief er. »Das Zeitportal ist weg! Jemand muss es in meiner Abwesenheit benutzt haben.« »Und ich kann mir auch schon denken, wer das war«, knurrte Leo. »Kaum ist man mal für eine Weile weg –« Er brach ab und sah Selim ernst an. »Wie genau hast du das Portal entstehen lassen?« »Mit Hilfe des Buchs der Weisheit«, erklärte der junge Magier bekümmert. »Allein dieses Buch hat die Kraft, die nötig ist, um die Pforte zu erschaffen. Der Durchgang kann nur zweimal benutzt werden – einmal hin und einmal zurück. Danach muss er neu gesetzt werden, aber dazu braucht man dann wieder die Macht, die dem Buch der Weisheit innewohnt.« Leo dachte einen Moment nach. »Komm mit«, sagte er, und schon waren die beiden Männer vom Ort des Geschehens verschwunden … … um nur einen Augenblick später auf dem Dachboden von Halliwell Manor zu materialisieren. - 95 -
Leo deutete auf das Lesepult, auf dem das Buch der Schatten lag. »Piper, Phoebe und Paige haben ebenfalls ein sehr mächtiges Buch«, erklärte er. »Vielleicht kannst du mit seiner Hilfe ein neues Portal erschaffen?« In einer Mischung aus Verblüffung und Freude ging der junge Araber auf das alte Familienerbstück der Zauberhaften zu. Die Seite mit dem schwarzen Turm und dem dazugehörigen Spruch war noch immer aufgeschlagen. »Ich kann nicht glauben, dass sich alles zu allen Zeiten wiederholt«, flüsterte er, als er zärtlich über die Seiten des Buchs der Schatten strich. »Die Zeit schreitet zwar fort, doch bleibt das Wesen der Dinge stets gleich«, sagte Leo. »Das Gute kämpft gegen das Böse, die Nacht verdrängt den Tag, um dann wieder vom Licht besiegt zu werden, und so fort. Unsere Aufgabe besteht darin, das Gleichgewicht zu erhalten, auf dass die Welt nie ganz in Dunkelheit versinke.« Langsam drehte sich Selim zu Leo um. »Bist du bereit, mit mir nach Ald’maran zu gehen?« Der Wächter des Lichts nickte, und dann legte Selim beide Hände auf das Buch der Schatten und sprach: So höret, ihr Mächte an diesem Orte, gebt frei die Zeit und öffnet die Pforte. Der Boden des Dachspeichers von Halliwell Manor vibrierte, und dann erzitterte neben Selim fast unmerklich die Luft wie ein Wasserspiegel, auf den sich ein federleichtes Insekt gesetzt hat. Das Zeitportal hatte sich aufgetan. So fließend und kaum greifbar wie eine Fata Morgana. Nun verstand Leo, warum die Schwestern den Teleporter auf der Schwelle des verlassenen Hotels womöglich gar nicht
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bemerkt hatten. Das Portal war bei Lichtverhältnissen so gut wie nicht zu erkennen.
schlechten
»So lass uns denn gehen«, sagte Selim. Und gemeinsam betraten die beiden Männer den Durchgang, der sie über 1200 Jahre zurück in die Vergangenheit bringen würde. Das nächste Turmgeschoss, das Paige im Begriff war zu erreichen, schien im Gegensatz zu allen höher gelegenen tatsächlich belebt zu sein. Das monotone Klopfen wurde lauter, je weiter sie herabstieg. Als sie auf dem Treppenabsatz um die Ecke lugte, fiel ihr Blick auf einen Gang, an dessen Ende sich offensichtlich eine Küche befand. Neben einem alten Lehmofen und einigen Vorratssäcken erkannte Paige von ihrem Standort aus einen hüfthohen Tisch, vor dem eine verhüllte Gestalt mit dem Rücken zu ihr stand. Sie schien Fleisch und Knochen mit einem Hackebeil zu zerteilen. Das Beil würde eine prima Waffe abgeben, dachte Paige. Wenn es mir gelänge, den Koch zu überwältigen, setzte sie im Geiste hinzu. Langsam schlich sie vorwärts. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die vermummte Gestalt am Tisch war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nahe genug herankommen konnte, um zu einem kräftigen Roundhouse-Kick auszuholen. Ihr Fuß verfehlte jedoch leider den Hinterkopf des Mannes um Haaresbreite. Doch der mit dieser Bewegung einhergehende Luftzug reichte aus, ihn auf sie aufmerksam zu machen. Langsam drehte er sich um, das Hackebeil noch immer in der Hand. Paige musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie in tote Augen in halb verfaultem Fleisch starrte. Der abstoßende
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Anblick eines lebenden Leichnams war immer wieder ein Schock, egal, wie oft sie damit konfrontiert wurde. »Du …«, begann der Ghul mit dumpfer Stimme, doch Paige hatte schon zu einem weiteren Tritt ausgeholt, der den Untoten hart unter dem Kinn traf und ihm das morsche Genick brach. »Scheiß Zombie!« Mit einem Knirschen schlug der Kopf des Ghul in den Nacken und blieb auch dort, sodass sein Besitzer nun gezwungenermaßen an die Decke starren musste – in einem Comic ein vielleicht nicht unkomischer Anblick. Aber da hier wie dort Untote nun einmal nicht sterben konnten, war die Gefahr damit noch lange nicht gebannt. Unbeholfener denn je stakste der lebende Leichnam auf seine Angreiferin zu und fuchtelte mit dem Beil umher. Da er nun nicht mehr sah, wohin er lief und was sich vor ihm abspielte, konnte Paige ihm relativ gefahrlos ausweichen, sodass sie auf diese Weise ohne nennenswertes Ergebnis den Holztisch umrundeten. Ihr war klar, dass sie den Ghul irgendwie zur Strecke bringen musste, da er ihr sonst durch den ganzen Turm hindurch folgen würde wie ein auf Angriff programmierter Roboter. Nur wie? Sie erwog kurz, ihn hinauf zur Aussichtsplattform zu locken und dann aus dem Fenster zu stoßen, verwarf den Gedanken aber wieder. Das Risiko einer Entdeckung war zu groß, zumal der Ghul durch den Sturz womöglich ebenso wenig starb wie an dem gebrochenen Genick. Erneut hatten sie den Holztisch einmal umkreist, und langsam fand Paige die ergebnislose Hatz durch die Küche ein wenig ermüdend. Sie überlegte fieberhaft, was sie über Untote wusste und ob es womöglich ein nicht-magisches Mittel gab, sie auszuschalten. Sie wusste, dass die Zombies der Karibik mit Salz getötet
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werden konnten, aber ob das auch auf orientalische Ghule zutraf? Hektisch flog ihr Blick durch die Küche, während sie immer wieder dem auf sie zuwankenden Untoten und seinem unkontrolliert vorbeizischenden Hackmesser auswich. Auf einem alten Holzregal in einer der Ecken standen diverse Krüge und Tongefäße. Sie duckte sich an dem Ghul vorbei, lief zu dem Regal, griff sich das erstbeste Behältnis und hob den Deckel. Darin war ein currygelbes Pulver, das durchdringend nach Kreuzkümmel roch. Der nächste Gefäß enthielt getrocknete Pfefferschoten. Das übernächste irgendwelche Kräuter, ein anderes eine ranzig riechende Substanz. »Gibt’s denn in diesem gottverdammten Haushalt keinen Krümel Salz?«, fluchte sie, als der Ghul sich wieder in ihre Richtung wandte und auf sie zuwankte wie ein Hahn ohne Kopf. Im nächsten Tontopf endlich befanden sich tatsächlich weiße klumpige Kristalle, und Paige hoffte inständig, dass es sich dabei nicht um Zucker handelte. Sie schloss für einen Moment die Augen und schleuderte eine Hand voll des Granulats auf den Ghul, der bereits wieder auf Armeslänge herangekommen war. Der lebende Leichnam erstarrte mitten in der Bewegung, ließ klirrend das Hackebeil auf den Steinboden fallen und rutschte dann zusammen wie ein nasser Sack. »Bingo!«, rief Paige mit gedämpfter Stimme, als sich ihr Gegner nicht mehr regte. Rasch füllte sie sich die Vordertasche ihres Lederrucksacks mit dem groben Salz, steckte vorsorglich das handliche Hackebeil ein und verließ diesen Tempel der Hausfraulichkeit. Als Leo und Selim wieder materialisierten, warum sie herum nichts als Sand, Geröll und Felsgestein. - 99 -
Sie befanden sich in einer Art Trockensteppe. Vom strahlend blauen Himmel prallte die Sonne unerbittlich auf sie herab. Es schien, sie waren zur rechten Zeit am falschen Ort. »Wo um alles in der Welt sind wir?«, fragte Leo den jungen Magier. »In den Ausläufern der Wüste.« Selim runzelte die Stirn. »Eigentlich hätten wir irgendwo im Dachgeschoss meines Elternhauses in Ald’maran herauskommen müssen. Dort hätten wir uns dann auch gleich was Zeitgemäßes anziehen können.« Er sah skeptisch an seinem lässigen Dolce & Gabbana-Shirt und den Levis herunter. »Weiß der Teufel, was mit dem Reisespruch falsch gelaufen ist, aber hier hätten wir nun wirklich nicht landen sollen …« »In welcher Richtung liegt denn die Stadt?« Selim sah nach dem Stand der Sonne und deutete dann in Richtung eines ausgedehnten Felsplateaus. »Da lang.« Die beiden Männer marschierten los. Es war brüllend heiß, die Luft flirrte, und das Vorankommen im aufgewirbelten Sand und Staub war eine rechte Qual. Als sie den Kamm des Plateaus erklommen hatten, konnten sie am Horizont die mächtigen Stadtmauern und das Westtor von Ald’maran ausmachen. Linker Hand waren ein Dattelhain und zu ihrer Rechten eine kleine Ansammlung von Zelten und eine winzige Ziegenherde zu erkennen, doch von Menschen fehlte in dieser Einöde jede Spur. Über ihnen hatten bereits irgendwelche schwarzen Vögel begonnen, ihre Kreise zu ziehen, was Leo einigermaßen irritierend fand. »Dann mal los«, sagte der Wächter des Lichts. »Ich denke, wir sollten die Stadt zu Fuß betreten, anstatt mitten hinein zu orben, um möglichst kein Aufsehen zu erregen«, setzte er hinzu und begann mit dem Abstieg. - 100 -
Selim folgte ihm schweigend und zerbrach sich den Kopf darüber, warum das Haus seines Vaters mit dem Zeitportal plötzlich nicht mehr erreichbar war. Ihm schwante nichts Gutes. Am Fuß des Felsenkamms angekommen, wurde Leo plötzlich wie von einem unsichtbaren Schlag zurückgeworfen, was zur Folge hatte, dass er unsanft auf dem Hintern landete, während es um ihn herum zischte und brutzelte. »Autsch! Was zur Hölle …« Selim kam langsam heran und streckte beide Arme aus. Vorsichtig tasteten seine Hände über ein unsichtbares, offensichtlich vor ihnen aufragendes Hindernis, wobei bei jeder seiner Berührungen kleine Funken sprühten, die wie heiße Nadelstiche ins Fleisch drangen. »Das ist eine magische Barriere«, sagte der junge Araber, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das kann nur Zeyns Werk sein. Er muss diese für uns undurchdringliche Sperre erschaffen haben, nachdem ich ohne Paige im Haus meines Vaters ankam und gleich darauf wieder in deine Zeit zurückgereist bin. Jetzt ist auch klar, warum wir nicht wie geplant im Obergeschoss meines Elternhauses angekommen sind und unsere Zeitreise vor den Toren der Stadt ein jähes Ende gefunden hat.« »Ich schätze, somit können wir auch nicht in die Stadt hineinorben?«, fragte Leo und rappelte sich wieder auf. »Wenn die Barriere über ganz Ald’maran liegt, wovon auszugehen ist, dann nicht«, erwiderte Selim frustriert. »Womit auch geklärt wäre, warum ich die Zauberhaften nicht erreichen konnte«, meinte Leo. »Dieser Bann hält weiße Magie von der Stadt fern. Er wirkt wie eine hermetische Glocke. Magie des Lichts kann weder hinein noch hinaus. Schätze, damit ist unser kleiner Ausflug wohl beendet.« Er fuhr sich gestresst durch das blonde Haar. »Was können wir jetzt noch tun außer umkehren?«
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Selim kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Zeyn ist schlau«, sagte er langsam, »aber nicht schlau genug. Ich hab eine Idee. Lass uns einfach weiter an der Barriere entlanggehen. Es gibt im Norden nämlich noch einen anderen Weg in die Stadt. Er verläuft unterirdisch, und ich bin sicher, sein Eingang liegt diesseits der Barriere.«
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4 IRGENDWANN AUF PIPERS UND PHOEBES WEG zum schwarzen Turm änderte sich das Stadtbild dramatisch. Nur noch vereinzelte Häuser standen hier, die eher an Unterstände, denn an feste Gebäude erinnerten und irgendwie unbewohnt wirkten. Die Straßen waren längst nicht mehr befestigt und nur mehr staubige Trampelpfade. Keine Palme, kein Strauch, noch nicht einmal Unkraut wuchsen hier, und auch die allgegenwärtigen Bettler, Straßenjungen und Eselskarren waren nicht mehr zu sehen. Piper und Phoebe registrierten all dies mit einigem Unbehagen. Am Fuß des kahlen Hügels, der sich nun vor ihnen erhob, legten die beiden Schwestern schließlich eine kurze Rast ein. »Ich würde meinen linken Arm für ein kühles Bier geben«, stöhnte Phoebe. »Das würdest du dann auch müssen, denn wir sind hier im Orient«, meinte Piper lakonisch, »da ist der Genuss von Alkohol unter Höchststrafe gestellt.« Dunkel und drohend ragte in einiger Entfernung der schwarze Turm über ihnen auf. »Ob Paige wirklich da drin gefangen gehalten wird?«, fragte sich Piper. »Ich kann es deutlich spüren«, murmelte Phoebe. »Sie muss ganz in der Nähe sein.« »Wollen wir hoffen, dass dein Gefühl dich nicht trügt und dass wir nicht zu spät kommen«, sagte Piper und setzte sich wieder entschlossen in Bewegung. Phoebe folgte ihr. Sie erklommen ächzend den Hügel, und bald kam eine große Freifläche ins Blickfeld – offensichtlich ein alter Friedhof. - 103 -
Verwitterte, teilweise umgekippte Grabsteine standen oder lagen inmitten eines verdorrten Areals, das hier und da noch von alten schmiedeeisernen Gitterzäunen begrenzt wurde. Inmitten des Friedhofs, von wilden Ranken überwuchert, stand ein altes Mausoleum. Keine Frage, vor ihnen lag ein Totenacker aus einer längst vergangenen Zeit. Einer Zeit offenbar, als die Menschen von Ald’maran diese Gegend noch nicht gemieden hatten. Der schwarze Turm selbst war nun kaum mehr hundert Meter entfernt und wirkte noch abweisender und bedrohlicher als auf dem alten Kupferstich im Buch der Schatten. Trotz der hier herrschenden Hitze fröstelten die Schwestern bei seinem Anblick, als wäre die Luft um sie herum rapide abgekühlt. Für einen Moment sprach keine von ihnen ein Wort. Aus dem weit entfernten Stadtzentrum drang gedämpft die Stimme eines Muezzin an ihr Ohr, der die Gläubigen zum Nachmittagsgebet rief: La ilah illallah, Muhammadun rasulallah … »Wir sollten nun sehr vorsichtig sein«, sagte Piper leise. »Wenn Zeyn uns in die Finger kriegt, ist alles verloren. Ohne unsere Kräfte können wir nichts mehr ausrichten und wären für immer hier gefangen.« »Nicht zu vergessen diese Schuppenkreatur mit der Klauenhand, die uns vom Basar aus verfolgt hat«, bemerkte Phoebe beklommen und sah sich unwillkürlich um. Doch sie waren mutterseelenallein. »Ach, was soll’s. Den schicke ich das nächste Mal endgültig zum Teufel, Tarnung hin oder her«, meinte Piper, »aber im Falle von Zeyn dürfte das vermutlich nicht ganz so einfach werden.« In Anbetracht der lähmenden Hitze, die in der Wüste herrschte, orbten sich Selim und Leo Stück für Stück an der
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magischen Barriere entlang, die rund um Ald’maran lag, bis sie einen kleinen Palmenhain erreichten. »Wie weit ist es noch bis zu diesem unterirdischen Zugang in die Stadt?«, fragte Leo und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn ich nicht bald was zu trinken kriege, verdurste ich.« »Nicht mehr weit«, krächzte Selim, dessen Kehle ebenfalls wie ausgedörrt war. Erschöpft lehnte sich Leo gegen eine der Palmen und ließ den Blick schweifen. Plötzlich richtete er sich abrupt auf und deutete auf einen unbestimmten Punkt in der Wüste. »Was in aller Welt … ist das?« Langsam drehte sich Selim um, und was er erblickte, übertraf selbst seine kühnsten Träume. Mitten in dieser Einöde aus Sand und Geröll erhob sich ein goldener Palast aus dem Wüstenboden, der an Pracht und Schönheit alles überstieg, was Selim und Leo je gesehen hatten. »Was ist nun, Piper? Gehen wir rein und erledigen diesen Dämon?«, fragte Phoebe, die das Zaudern und Zögern allmählich gründlich satt hatte. Inzwischen waren sie auf den alten Friedhof vorgedrungen, der am Fuß des schwarzen Turms lag, und hatten nach wie vor nicht den Hauch eines Plans. Bis auf das Zirpen einiger Zikaden war es hier totenstill. Zu still. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Zeyn hier heute den Tag der offenen Tür ausgerufen hat«, meinte Piper und deutete auf das schwere Eingangstor des Turms. »Und außerdem laufen wir ihm mit Sicherheit geradewegs in die Arme, wenn wir da so einfach reinspazieren. Wenn es ihm möglich war, Selims Brüder und Paige zu überwältigen und ihnen ihre Magie zu stehlen,
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wird es ihm auch in unserem Fall gelingen, wenn wir nicht äußerst vorsichtig zu Werke gehen.« »Was schlägst du also vor?«, fragte Phoebe ungeduldig. »Wir sollten erst einmal das Gelände rund um den Turm erkunden und sehen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, unbemerkt hineinzugelangen.« »Also gut.« Seufzend setzte sich Phoebe in ihrem langen Übergewand in Bewegung. In diesem Moment vibrierte der Boden unter ihren Füßen. Und dann brach die vertrocknete Erde des Friedhofs an zahlreichen Stellen auf, bevor das Grauen wie auf ein geheimes Kommando hin dem Licht entgegendrängte. Skelett um Skelett erhob sich aus seinem Grab, richtete sich in Sekundenschnelle auf und kam drohend auf die beiden Schwestern zu. Phoebe blieb wie angewurzelt stehen, während Piper automatisch ein paar Schritte zurückwich. Und dann ging alles ziemlich schnell. Noch ehe Phoebe sich versah, war sie von der Skelettarmee umzingelt, und der Kreis zog sich rasch enger. Einige der bleichen Knochengerüste hatten ihre rostigen Dolche erhoben, andere waren mit dreckverkrusteten Krummsäbeln bewaffnet, und eines schwang eine halb verrottete Nagelkeule und war schon auf Armeslänge bei ihr. Hektisch sah sich Phoebe um, doch es gab kein Entrinnen mehr – sie war hoffnungslos umstellt. Das Skelett mit der Keule holte bereits zum Schlag aus. »Frier die Zeit ein!«, schrie sie ihrer Schwester zu, und Piper tat genau das. Die Skelettarmee erstarrte inmitten ihrer Bewegung, woraufhin sich Phoebe per Levitation eilig in Sicherheit brachte und neben ihrer Schwester wieder auf dem Boden landete.
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»Puh, das war knapp!«, meinte Phoebe und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Noch immer standen die Skelette wie angewurzelt im Kreis, ihre rostigen Waffen drohend erhoben. »Scheint, wir haben die heilige Ruhe eines Militärfriedhofs gestört«, setzte sie hinzu. Doch diesmal hatte Piper nicht vor, den Ort des Geschehens kampflos hinter sich zu lassen. »Dann schicken wir die Jungs am besten sofort wieder zurück ins Totenreich des unbekannten Soldaten!« Sie hob eine Hand und konzentrierte sich. Gleich darauf zerbarsten die Skelette eines nach dem anderen zu Staub, noch ehe die Zeit wieder anlaufen konnte. Wenige Sekunden später war der trockene Boden zu ihren Füßen bedeckt mit weißem Knochenmehl, das schon bald vom Wind davongetragen werden würde. »Jetzt wissen wir auch, warum sich hier kein Mensch blicken lässt«, meinte Phoebe und hob eine Augenbraue. »Was für ein humorloses Empfangskomitee … Aber wenn dieser ach so mächtige Zeyn nicht mehr aufzubieten hat als ein paar klapprige Knochengerüste, dann haben wir wohl nicht viel von ihm zu befürchten, oder?« »Ich denke, das war erst der Anfang«, sagte Piper und ließ den Arm wieder sinken. »Ich meine, so einfach kann es doch nicht sein, oder?« »Vermutlich nicht.« Phoebe sah sich unbehaglich um, doch auf dem Friedhof war es wieder genauso still wie vor dem Angriff der Knochenmänner. Und doch hatte sie das unbestimmte Gefühl, heimlich beobachtet zu werden. So machten sich die beiden Zauberhaften daran, im Uhrzeigersinn den Turm zu umrunden. Bei einem vertrockneten Blumenbeet, das vor langer Zeit einmal an der Außenwand des Bauwerks angelegt worden war, hielt Phoebe plötzlich inne. Etwas funkelte darin, als ob sich ein Sonnenstrahl an etwas brach. Zögernd griff sie in das Gestrüpp und holte ein - 107 -
silberfarbenes Handy hervor. »Piper!«, rief sie. »Komm her und sieh dir das an!« Ihre ältere Schwester kam neugierig näher. »Das sieht aus wie Paiges Handy«, sagte Phoebe aufgeregt. »Nein, das ist Paiges Handy!«, setzte sie hinzu, nachdem sie das elektronische Telefonbuch aufgerufen und eine Reihe bekannter Nummern erblickt hatte. »Paige ist also hier – ich wusste es!« »Aber wieso liegt das Ding hier im Dreck?«, wunderte sich Piper. Sie nahm ihrer Schwester das Mobiltelefon aus der Hand und betrachtete es nachdenklich. Ein Stück vom Gehäuse war abgeplatzt, die Antenne verbogen und das Display zerkratzt. »Irgendwie sieht das Ding ganz schön mitgenommen aus.« Sie blickte stirnrunzelnd am Turm hinauf. »Weißt du was, Phoebe? Ich glaube, Paige hat ihr Handy irgendwo dort oben aus dem Fenster geworfen.« »Damit wir es finden und somit wissen, dass sie hier ist!«, schlussfolgerte Phoebe. »Wie schlau von ihr!« »Schon, aber es bedeutet auch, dass sie da oben definitiv gefangen ist –«, Piper sah ihre Schwester düster an, »und dass sie nicht herauskann – weder auf normalem Wege noch mittels Magie.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nicht, dass ich was anderes erwartet hätte …« »Dann lass uns hoffen, dass wir einen Weg hinein finden, bevor es zu spät ist.« Als Paige das nächste Stockwerk des schwarzen Turms erreichte, schlug ihr ein widerlicher Gestank entgegen. Diese Plattform besaß nur einen einzigen Ausguck, wohingegen sich rechts ein großer Raum anschloss. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Wieder war niemand zu sehen, und doch war das, was Paige erblickte, alles andere als beruhigend. - 108 -
Mitten in dem fensterlosen stickigen Raum, der nur durch einige Öllampen erleuchtet war, standen einige lange Holztische, auf denen offensichtlich Leichen lagen. Allerdings handelte es sich nicht um die Körper frisch Verstorbener, sondern um Tote im teilweise fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, was auch den fürchterlichen Gestank erklärte. »Wo zum Teufel bin ich hier nur hineingeraten«, murmelte Paige und musste ein Würgen unterdrücken. Überall standen Bottiche mit undefinierbaren Flüssigkeiten herum. Als Paige näher trat, entdeckte sie halbhohe Gefäße und Tröge aus glasiertem Ton, in denen, entsetzlich genug, menschliche Organe schwammen. Hier ein Herz, dort Teile eines Gehirns, und in einem anderen lag eine mumifizierte Hand. Neben den Tischen bei den Leichen lagen Gerätschaften, die wie antikes Operationsbesteck anmuteten: Zangen, blutverkrustete Messer, eine kleine Säge … Paige merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Neben einer der Leichen war eine Apparatur angebracht, die entfernt an eine Wasserpfeife mit diversen Kolben und Röhren erinnerte. Ein loser dünner Schlauch, der offenbar ebenfalls zu dem seltsamen Gerät gehörte, steckte in der Nase des Toten. Mit Bestürzung musste Paige erkennen, dass Zeyn nicht nur ein mächtiger Magier war, sondern sich zudem auch für seine Zeit höchst wissenschaftlich mit Nekromantie beschäftigte. Mit zweien seiner Geschöpfe war sie ja bereits zusammengetroffen – denn so wie es aussah, waren die Ghule, die sich Zeyn als Diener hielt, ebenfalls von dem Erzdämon zum Leben wieder erweckte Kreaturen. Als Paige einen Schritt auf die Leiche mit dem Schlauch in der Nase zumachte, erkannte sie, dass es sich bei ihr um einen hoch gewachsenen Schwarzen handelte. Und der Tote hatte nur
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ein Auge, das Paige vorwurfsvoll anzustarren schien. Keine Frage, vor ihr lag Abu, der Beschwörer des Geistes! Paige vermutete, dass die flexible Röhre geradewegs in das Gehirn des Nubiers geführt worden war. Wie zur Bestätigung ihrer entsetzlichen Ahnung lagen neben dem Kopf ein kleiner Hammer und ein spitz zulaufender Knochenmeißel … Doch zu welchem Zweck hatte Zeyn auf diese brutale Weise Hand an den Seher gelegt? Hatte der Dämon womöglich vorgehabt, auf diesem Wege an die Kräfte des Mannes zu gelangen? Das erschien Paige unlogisch, denn bekanntermaßen absorbierte der alte Erzdämon die Magie seiner Opfer, indem er sie berührte. Wozu also noch diese komplizierte Prozedur? Paige dachte einen Moment über das Problem nach. Ihr Blick wanderte von dem toten Abu über den Schlauch zu dem seltsamen Glaskolbengefäß, das direkt neben ihm stand. Darin schwamm eine kleine Pfütze aus trüber Flüssigkeit. Waren das womöglich die Reste einer Essenz aus Abus hellseherischem Gehirn? Paige schauderte. Was, wenn der Erzdämon die Kräfte Abus gar nicht für sich selbst, sondern für einen viel teuflischeren Zweck gebraucht hatte? Ich muss schleunigst wieder ins Obergeschoss, den Ghul in meiner Zelle töten und sehen, dass ich Suleiman und Seif befreie, schoss es ihr durch den Kopf. Sie oder ich könnten die Nächsten sein, die hier auf diesem Tisch landen! Sie wandte sich abrupt um und ließ die Kammer des Grauens hinter sich. Wieder auf der Plattform ging sie wie von einem inneren Impuls getrieben auf den kleinen Ausguck zu und sah hinaus. Und was sie erblickte, verschlug ihr schier den Atem. Dort unten auf dem Friedhof standen doch tatsächlich Piper und Phoebe. Sie waren zwar in lange dunkle Gewänder gehüllt, doch Paige erkannte sie sofort an ihrer Haltung und den für sie typischen Gesten. Und wie es aussah, schienen die beiden über - 110 -
irgendetwas zu diskutieren, aber Paige konnte aus dieser Höhe natürlich nicht verstehen, was sie sagten. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Einerseits war sie unendlich glücklich, dass ihre Schwestern einen Weg nach Ald’maran und zu ihr gefunden hatten. Andererseits konnte sie die beiden nicht durch Rufe auf sich aufmerksam machen, ohne sie oder sich selbst zu gefährden. Sie erinnerte sich an die Worte der beiden Brüder, die gesagt hatten, dass die Eingangspforte des Turms durch eine magische Falle gesichert war, die jeden Sterblichen, der hinein- oder hinauswollte, auf der Stelle tötete. Hoffentlich nehmen Piper und Phoebe nicht den Weg durch die Tür!, flehte sie im Geiste. In diesem Moment sah sie, wie ihre Schwestern sich entschlossen in Bewegung setzten, offensichtlich, um den Turm zu umrunden. Erleichtert riss sich Paige von dem kleinen Fenster los und stürmte die Wendeltreppe hinauf. Wie zwei ferngelenkte Roboter stolperten Leo und Selim auf den goldenen Palast zu, der sich inmitten einer grünen parkähnlichen Oase in den blauen Himmel erhob. »Ich wusste gar nicht«, murmelte Selim, als sie das eiserne Eingangstor erreicht hatten, »dass vor den Toren der Stadt ein solch herrliches Bauwerk steht.« In diesem Moment kam ein wunderschönes dunkelhaariges Mädchen durch den Park auf sie zu und öffnete ihnen. »Willkommen, Reisende«, sagte sie lächelnd, »tretet ein und legt eine kurze Rast ein in unserem Domizil.« Sie sah sich suchend um. »Wo sind eure Tiere?« »Unsere, äh, Träger und Dienstboten sind mitsamt unserem Gepäck bereits vorausgereist«, sagte Selim schnell. »Mein - 111 -
Begleiter«, er zeigte auf Leo, »und ich wollten nach Ald’maran, sind aber vom Weg abgekommen und haben uns in der Wüste verirrt. Unsere Pferde sind dabei leider kürzlich verendet.« Leo musste ein Grinsen unterdrücken. Wie schnell Selim diese Lüge doch über die Lippen gekommen war, und all das für einen kühlen Schluck Wasser. »Meine Herrin würde sich sehr freuen, euch in ihrem Heim begrüßen und euch eine kleine Erfrischung anbieten zu dürfen«, sagte das Mädchen. »Deine Herrin?«, fragte Leo erstaunt, als sie der jungen Frau durch den schattigen Park folgten. »Wer ist deine Herrin?« »Die ehrenwerte Fatima«, erwiderte die junge Sklavin. Sie blieb stehen und musterte die beiden Männer, die völlig unzeitgemäß in Jeans, Baumwollhemd und T-Shirt gekleidet vor ihr standen. »Ihr seid seltsam gewandet, Fremde; woher kommt ihr?«, fragte sie, und ihre schwarzen Augen blitzten neugierig auf. »Aus dem Norden«, erwiderte Selim lächelnd, der offensichtlich kein Problem mehr damit hatte, diesem hoffnungslos naiven Mädchen eine phantastische Geschichte nach der nächsten aufzutischen. »Wir kommen soeben von einer Forschungsreise aus dem Land der, äh, Barbaren.« Er warf Leo einen halb entschuldigenden Blick zu, doch der Wächter des Lichts grinste nur, während er unmerklich seine Armbanduhr in der Hosentasche verschwinden ließ. »So tretet denn ein«, sagte das Mädchen lächelnd, als sie die offen stehende Pforte des goldenen Palastes erreicht hatten. Leo und Selim taten wie ihnen geheißen und betraten eine kühle Halle aus hellgrünem polierten Stein, über der eine riesige Kuppeldecke aus schwarzem Alabaster schwebte.
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Aus den Schatten kam eine schlanke Gestalt auf sie zu. Es war eine Frau, und ihr Anblick raubte Selim und Leo schier den Atem. Keuchend bog Paige um die letzte Ecke der Turmtreppe und stürmte auf die Zelle der beiden Brüder zu. Seif und Suleiman sprangen sofort auf. »Abu ist tot«, stieß sie hervor. »Er liegt unten in einer Art Laboratorium und hat einen Schlauch in der Nase.« Seif und Suleiman sahen einander bestürzt an. »Wie es scheint, ist dieser Zeyn so eine Art orientalischer Frankenstein«, setzte sie atemlos hinzu. Als die beiden Brüder sie verständnislos anblickten, fuhr Paige fort: »Wie dem auch sei, ich hab einen Weg gefunden, diese Ghule zu töten.« Als wieder keine Antwort kam, sagte sie nur »Salz« und tätschelte bedeutungsvoll ihren Lederrucksack. »Salz?!«, riefen die jungen Männer wie aus einem Munde. »Ja, ich hab einen von den untoten Jungs in der Küche dieses, ähm, gastlichen Heimes getroffen.« Sie grinste. »Und da hab ich mich erinnert, was die Haitianer mit ihren Zombies machen, wenn die ihnen lästig werden, und, na ja, den Rest könnt ihr euch ja denken. Jedenfalls erledige ich jetzt den Ghul in meinem Verlies, und ich hoffe sehr, der alte Knabe hat auch die Schlüssel zu eurer Zelle bei sich.« Seif und Suleiman nickten stumm, wenngleich sich jeder von ihnen für einem Moment fragte, wer oder was in aller Welt die Haitianer waren. »Ach, und noch was!«, setzte Paige freudestrahlend hinzu. »Meine Schwestern sind hier! Jetzt wird alles gut!« Mit diesen Worten huschte sie den kurzen Gang hinunter, bis sie die schwere Holztür ihres ehemaligen Kerkers erreicht hatte. - 113 -
Der Querbalken war noch immer vorgeschoben. Von drinnen war kein Laut zu hören. Sie ließ eine Hand in die Vordertasche ihres Rucksacks gleiten, während sie mit der anderen den Balken zurückschob. Dann zog sie die schwere Tür ein Stück auf und machte sich bereit zum Angriff. Der Ghul stand noch immer mitten in der Zelle wie ein Ochs vorm Berg und glotzte Paige mit offenem Mund an. Diese griff sich eine Hand voll Salz und wollte gerade zum Wurf ausholen, da schoss die Hand des Untoten mit überraschender Flinkheit vor und erwischte Paige im Gesicht. Verdutzt taumelte die junge Hexe einen Schritt zurück, bevor sie dem Angreifer endlich die Ladung Salz entgegenschleuderte. Und wie schon sein untoter Kollege zuvor, sank der Ghul augenblicklich in sich zusammen und blieb reglos am Boden liegen. Hinter sich konnte Paige einen gedämpften »Hurra«-Ruf von Seif vernehmen; offenkundig hatten die beiden Brüder den kurzen, dafür aber umso erfolgreicheren Kampf aus der Ferne beobachtet. Für einen Moment starrte Paige den am Boden liegenden Ghul einfach nur an. Ihre linke Wange brannte. Vermutlich hatte der widerliche Untote ihr mit seinen Fingernägeln ein paar Kratzer im Gesicht beigebracht. Eine eklige Vorstellung zwar, doch das war nicht die Zeit und der Ort wegen solcher Lappalien zu jammern. Sie ging in die Knie und musste sich überwinden, das vor Dreck starrende Gewand des Leichnams anzuheben, um ihn zu durchsuchen. Tatsächlich trug der tote Ghul einen schweren Schlüsselring am Hosenbund, den Paige mit spitzen Fingern an sich nahm. Unverzüglich eilte sie zur Zelle der beiden Brüder zurück. - 114 -
»Das war große Klasse!«, rief Seif ihr schon von weitem zu, und seine hellbraunen Augen strahlten die schöne Hexe an. Einen nach dem anderen probierte Paige die zahlreichen schweren Eisenschlüssel am Schloss des Kerkers aus, bis sie schließlich den richtigen gefunden hatte. Quietschend öffnete sich die Zellentür, und Seif und Suleiman traten zu ihr auf den Gang hinaus. »Du bist verletzt?«, fragte Suleiman erschrocken und deutete auf Paiges Wange. »Nur ein kleiner Kratzer«, Paige winkte ab. »Aber den hat der Ghul teuer bezahlen müssen.« Sie grinste. Seif und Suleiman wechselten betroffene Blicke, und Paige fragte sich, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte. »Das mag wohl sein«, sagte Suleiman ernst, »aber wenn wir nicht schnellstens hier herauskommen, wirst du es sein, die teuer bezahlen wird. Kratzer und Bisse durch einen Ghul sind nämlich immer tödlich.«
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5 FATIMA WAR DIE WOHL SCHÖNSTE FRAU, die Leo und Selim in ihrem ganzen Leben je erblickt hatten. Ihre zartbraune Haut schimmerte wie pures Gold, ihr hüftlanges Haar ergoss sich in weichen hellbraunen Locken über ihren Rücken. Ihre hoch gewachsene schlanke Gestalt war in ein hauchdünnes weißes Gewand gehüllt, das von einem juwelenbesetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Mit einem betörenden Lächeln kam sie auf die beiden Männer zu. »Willkommen im goldenen Palast«, sagte sie, während die zierliche rothaarige Dienerin an ihrer Seite Leo und Selim einen Becher mit Wasser reichte. Der Magier und der Wächter des Lichts tranken gierig die ihnen dargebotene Erfrischung, und als das kühle Nass ihre Kehlen herablief, war es, als hätten sich die Pforten des djanna, des orientalischen Elysiums, geöffnet. Sie folgten Fatima durch die Halle in einen riesigen Park, der mehr einem Zoo glich als einem Lustgarten. Leo und Selim sahen frei laufende Antilopen und Raubkatzen, die einträchtig umherwanderten, aber auch Nilpferde, die gemächlich in einem Fluss schwammen, und weiße Elefanten. Leo hatte den Eindruck, in eine orientalische Variante des Tiergartens der Artemis geraten zu sein, während Selim vor Staunen Mund und Augen aufriss, als sich ein zahmer Falke auf seiner Schulter niederließ. Die schöne Fatima geleitete sie in eine Flucht aus prachtvollsten, ineinander übergehenden Gemächern, in denen sich junge Mädchen aus aller Herren Länder auf bestickten Seidenkissen räkelten und sogleich herbeieilten, um die beiden Neuankömmlinge in ihre Mitte zu holen. - 116 -
Willenlos sanken Selim und Leo auf ein Lager aus weichen Kissen und Decken, bevor sie von allen Seiten mit köstlichen Leckereien und zärtlichen Zuwendungen bedacht wurden. »Fatima ist wirklich sehr … gastfreundlich«, stammelte Leo, als ihm eine dralle Brünette den verspannten Nacken massierte. »Fürwahr«, seufzte Selim. Dann schloss er genüsslich die Augen und ließ sich von einer gazellengleichen Schwarzen Gesicht und Hände mit warmen feuchten Tüchern abreiben. Von irgendwoher erklangen die einschmeichelnden Klänge einer Tar-Laute, und als die beiden Männer die Augen wieder öffneten, sahen sie die atemberaubende Fatima, die soeben einen lasziven Schleiertanz vollführte. Selim klappte förmlich die Kinnlade herunter, als ihre Gastgeberin sich plötzlich zu entblättern begann, während sie im Takt der Musik langsam die Hüften wiegte. Auch Leo war von dem orientalischen Striptease wie gefesselt, und als Fatima nackt, wie Gott sie schuf, vor ihnen stand und ihnen lächelnd zuwinkte, da erhob er sich fast automatisch. Auch Selim war aufgestanden und folgte dem Lockruf der schönen Frau wie in Trance. Sie erreichten ein Schlafgemach, in dem sich Fatima seufzend in die Kissen warf und ihre Arme ausbreitete. »Kommt zu mir, ihr prächtigen Burschen«, hauchte sie und leckte sich die blutroten Lippen. »Kommt und kostet die Freuden der Liebe.« Liebe … In diesem Moment war es, als ob Leo aus einem schwülen Traum erwachte. Hastig riss er Selim, der schon halb auf dem Weg zum Bett war, zurück. »Moment mal, was tun wir hier eigentlich?« Selim wandte sich zu ihm um, und grenzenloses Erstaunen spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. »Wir, ähm, ich … also …« - 117 -
»Kommt schon«, drängte Fatima vom Bett aus und zog einen Schmollmund. »Wie lange soll ich denn noch auf euch warten?« Unschlüssig flog Selims Kopf zwischen Leo und der schönen Frau hin und her. »Hast du vergessen, warum wir hier sind, Selim?«, fragte Leo den jungen Magier eindringlich. »Wir wollten –«, Selim brach ab und runzelte angestrengt die Stirn. »Ja, genau«, sagte Leo, »wir wollten in die Stadt, um deine Brüder und die Zauberhaften zu retten!« Die Erkenntnis traf Selim wie ein Blitz. Hastig wandte er sich zu Fatima um und sagte: »Wir müssen jetzt leider gehen … vielen Dank für Speis und Trank und äh, die freundliche Aufnahme in deinem Heim.« »Was soll das heißen?« Fatima war aufgesprungen und kam aufgebracht auf die beiden Männer zu. »Das soll heißen, dass wir etwas in Eile sind, Fatima.« Leo lächelte ihr halbherzig zu. »Vielleicht beim nächsten Mal. Guten Tag!« Bevor die wütende Fatima sie erreichen konnte, packte der Wächter des Lichts Selim am Arm und orbte mit ihm zurück in die Wüste. Und als sie sich noch einmal umwandten, verschwand der goldene Palast und alles, was in und um seine Mauern gewesen war, wie ein böser Traum. Vorsichtig umrundeten Piper und Phoebe den schwarzen Turm und ließen den alten Friedhof hinter sich.
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An der Rückseite des mächtigen Gebäudes verlief die nördliche Stadtmauer, die jedoch kein Tor zur Wüste besaß. Ansonsten war hier nichts Bemerkenswertes zu entdecken. Die beiden Schwestern gingen weiter um den Turm herum, bis sie dessen Ostseite erreicht hatten. Auch hier war nichts außer ein wenig vertrocknetem Gestrüpp, das hier und da aus dem steinharten Boden ragte. »Ich fürchte«, seufzte Piper, »wir werden den Weg durch den Haupteingang nehmen müssen. Ich sehe hier keine andere Möglichkeit, in den Turm zu gelangen, obwohl mir alles andere als wohl ist bei dem Gedanken.« »Zuvor solltest du aber unbedingt die Zeit einfrieren«, wandte Phoebe ein, »damit wir nicht wieder in eine Falle tappen.« »Schön und gut«, meinte Piper, »aber was, wenn wieder ein Zeitportal oder irgendein schwarzmagischer Zauber auf der Schwelle lauert? Dann hilft uns ein Timefreeze gar nichts.« »Immerhin können wir damit zumindest etwaige Angreifer lahm legen.« Doch Piper schien nicht sonderlich überzeugt. Zu viel Unberechenbares war geschehen, seit sie und Phoebe das Hotel in Nob Hill betreten hatten, und zu viele Fragen waren noch immer nicht beantwortet. Zum Beispiel, warum sie keinen Kontakt zu Leo herstellen konnten, oder warum Paige so einfach von Zeyn überwältigt und geschnappt hatte werden können, während sie und Phoebe hier immer noch mehr oder weniger unbehelligt umherspazierten? Und welche Rolle kam Selim in diesem verwirrenden Spiel wirklich zu? Und last, but not least: Wusste Zeyn wirklich, dass Paiges Schwestern in Ald’maran eingetroffen waren, und wenn ja, von wem? Die Kreatur, die sie im Basar verfolgt hatte, ließ diesen Schluss zu, aber dann war es nur eine Frage der Zeit, bis - 119 -
sie und Phoebe dem Erzdämon in die Arme liefen. Im Grunde brauchte sich Zeyn in diesem Fall nur zurückzulehnen und darauf zu warten, dass die beiden letzten Zauberhaften ganz ohne sein Zutun den schwarzen Turm aufsuchten, um ihre Schwester zu retten. Um dann einfach zuzuschlagen. Piper teilte ihrer Schwester diese Überlegungen mit, denn nun galt es, die Risiken sorgsam abzuwägen. »Du meinst, er benutzt Paige als Köder für uns?«, fragte Phoebe, als Piper mit ihrem Vortrag geendet hatte. »Sieht es nicht ganz danach aus?«, gab Piper zurück. »Aber warum hat er uns dann nicht sofort bei unserer Ankunft einkassiert, anstatt darauf zu warten, dass wir irgendwann bei ihm eintrudeln? Bei Paige hat er ja offensichtlich auch nicht lange gefackelt und direkt gehandelt, nachdem sie in Ald’maran eingetroffen war.« Über diese Frage hatte sich Piper auch schon den Kopf zerbrochen. »Vielleicht wusste er ursprünglich gar nichts von uns«, sagte sie langsam. »Und als er, wie auch immer, erfahren hat, dass es uns gibt und dass wir hier sind, hat er uns zunächst einmal diese Schuppenkreatur auf den Hals gehetzt. Nachdem wir die jedoch mit Hilfe unserer Magie ausgetrickst hatten, ist Zeyn klar geworden, dass er es mit zwei überaus mächtigen Gegnerinnen zu tun hat. Ich denke daher, auch Zeyn wird angesichts dieser neuen Situation seine Pläne überdenken müssen, um am Ende nicht den Kürzeren zu ziehen. Andererseits kann er es sich nach wie vor leisten zu warten, während wir uns in Sorge um Paige von einer gewissen Eile leiten lassen. Eine Eile, die uns womöglich angreifbar macht und Kopf und Kragen kosten kann.« »Wenn das alles, was du vermutest, wirklich zutrifft«, sagte Phoebe frustriert, »dann ist Zeyn uns also immer einen Schritt voraus, richtig?«
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»Mehr noch«, sagte Piper und verzog das Gesicht. »Egal, was wir unternehmen, wir können nur verlieren. Paige ist offensichtlich ohne ihre Kräfte, und damit ist auch die Macht der Drei bis auf weiteres zerstört. Und wenn man dem alten Ibrahim glauben kann, dann hat sich Zeyn ihre Magie, wie auch die von Selims Brüdern, einfach einverleibt. Ganz zu schweigen von den Kräften, die er in der Vergangenheit schon absorbiert haben könnte. Wir wissen also nicht, über welche Fähigkeiten der Erzdämon verfügt – insofern wäre es nicht nur unvorsichtig, sondern geradezu dumm, einfach in den Turm zu stürmen.« Piper machte eine kleine Pause und sah ihre jüngere Schwester ernst an. »Alles, was wir wissen, ist, dass Zeyn den Lauf der Dinge verändern will. Und wir wissen, dass er uns auf keinen Fall berühren darf, denn sonst wären auch wir im wahrsten Sinne des Wortes machtlos, und das Schicksal der Welt wäre besiegelt.« Phoebe schluckte. »Es muss uns beiden also irgendwie gelingen, Zeyn ohne die Macht der Drei auszutricksen und zu vernichten, damit die von ihm gestohlenen Kräfte wieder freigesetzt werden und zu ihren Besitzern zurückkehren können?« »Sofern die Besitzer noch am Leben sind, ja.« »Das heißt, wir brauchen einen guten Plan?« »Allerdings.« Piper lachte bitter auf. »Einen guten Plan, mehr Informationen und sehr, sehr viel Glück.« Sie hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, da war plötzlich ein Grunzen hinter ihnen zu hören. Piper und Phoebe wirbelten erschrocken herum, und ihr Blick fiel auf die vermummte, hoch gewachsene Gestalt, die ihnen schon im Basar von Ald’maran gefolgt war. Sie kam drohend näher, den blitzenden Krummdolch in der schuppigen Klauenhand.
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Piper hob die Hände, um die Zeit einzufrieren, doch nichts passierte. Panisch blickte sie zu Phoebe. »Was?«, rief diese erschrocken. »Ich kann nicht zaubern«, zischte Piper, während sie und Phoebe Schritt um Schritt vor dem Dämon zurückwichen. Phoebe versuchte, sich per Levitation in die Luft zu erheben, doch auch das misslang. »Ich auch nicht«, raunte sie ihrer Schwester zu. »Verdammt, was machen wir jetzt?« »Lauf!«, schrie Piper, wirbelte herum und rannte los. Seite an Seite hetzten die beiden in ihren unpraktischen langen Gewändern um den Turm herum, bis sie wieder dessen Vorderseite erreicht hatten. In diesem Moment verhedderten sich Pipers Beine in den Falten ihres Umhanges, und sie schlug der Länge nach hin. »Autsch! Verdammt!« »Piper!« Phoebe blieb stehen und rannte zurück zu ihrer Schwester, die sich beim Sturz offensichtlich verletzt hatte, denn sie stöhnte leise auf, während sie sich wieder aufzurappeln versuchte. Ihr Verfolger holte auf und wollte sich gerade auf die junge Hexe am Boden stürzen, als Phoebe herumwirbelte und der vermummten Kreatur einen Tritt dorthin versetzte, wo sie den Kehlkopf des Angreifers vermutete. Mit einem merkwürdig krächzenden Laut taumelte das Ding zurück, und der schmutzige Schal rutschte ihm vom Gesicht. Für einen Moment hielt Phoebe erschrocken den Atem an. Unter der Vermummung ihres Gegners wurde eine abscheuliche Vogelfratze mit einem riesigen Raubtierschnabel sichtbar, der Schädel teils gefiedert, teils geschuppt wie der Kopf eines urzeitlichen Wesens. Bei seinem Anblick fühlte sich Phoebe entfernt an die altägyptischen Reliefs des falkenköpfigen Horus erinnert. - 122 -
Die Kreatur hob den Dolch und kam knurrend auf die Schwestern zu. Phoebe, die nicht zuletzt mit Coles Hilfe in diversen Kampftechniken geschult war, holte aus und schlug dem Vogeldämon mit einem gezielten Handkantenschlag die Waffe aus der Klaue. »Hier, du verflixtes Mistvieh!« Der Kopf der Kreatur ruckte herum und starrte verwirrt auf den am Boden liegenden Dolch. Dann bückte sich der Dämon und hob ihn auf. Inzwischen war Piper wieder auf den Beinen und rannte los. »Komm!«, schrie sie ihrer immer noch in Angriffsstellung dastehenden Schwester zu. Phoebe tat, wie ihr geheißen. Die Schwestern ließen die Eingangspforte des Turms hinter sich und flüchteten sich wieder auf das alte Friedhofsgrundstück im Westen des Hügels. Der Vogeldämon folgte ihnen grunzend, wenngleich gewohnt schwerfällig, doch als die Schwestern den Totenacker erreicht hatten, hielt er vor dem alten schmiedeeisernen Tor plötzlich inne. Piper und Phoebe blieben stehen und verschnauften. »Bist du verletzt?« Keuchend sah Phoebe zu ihrer Schwester, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Handgelenk rieb. »Nur ’ne leichte Verstauchung«, sagte Piper. »Hab mich im Fallen irgendwie unglücklich abgestützt. Aber das wird schon wieder.« »Warum kommt er uns nicht nach?«, fragte Phoebe und deutete auf den Vogeldämon, der immer noch reglos hinter dem Friedhofszaun stand. Unverwandt sah er die beiden Hexen aus seinen stechenden Knopfaugen an. Plötzlich öffnete sich der große Raubtierschnabel, und der Dämon stieß einen schrillen
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Schrei aus. »Ich finde, der sieht irgendwie ziemlich sauer aus. Worauf wartet er denn?« »Keine Ahnung«, erwiderte Piper. »Scheint, als traue er sich nicht weiter vor. Was für ein Loser!« Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob sie erneut eine Hand, um einen Materievernichtungsschlag gegen die Kreatur auszuführen, doch der Zauber verpuffte kurz vor dem Friedhofszaun, als wäre er an einer unsichtbaren Wand abgeprallt. Phoebe begriff sofort. »Um den Turm liegt eine magische Barriere!«, rief sie verblüfft. »So sieht es aus«, murmelte Piper. »Magie scheint innerhalb ihrer Grenzen nicht möglich, aber gleichzeitig hält sie uns auch diesen Vogeldämon vom Hals, weil der Feigling es offensichtlich nicht wagt, ihren Schutz zu verlassen. Eine typische Pattsituation, die uns vermutlich –« In diesem Moment sauste etwas haarscharf an Phoebes Kopf vorbei; gleichzeitig hörte sie, wie Piper neben ihr vor Schmerz aufschrie. Phoebe fuhr herum und sah, dass sich ihre Schwester den linken Arm hielt. Zwischen ihren Fingern sickerte langsam Blut durch einen Riss in ihrem dunklen Gewand. »Was ist passiert?«, rief Phoebe erschrocken. »Diese miese Vogelfratze hat ihren Dolch nach mir geworfen«, presste Piper hervor. »Glücklicherweise hat der dicke Stoff meines Überwurfs das Schlimmste verhindert.« Sie hob ihren Umhang, schob den zerfetzten Ärmel ihres TShirts nach oben und entblößte ihren verletzten Oberarm. Die Wunde war nicht besonders tief, blutete aber trotzdem stark. »Mist, das ist ein 150-Dollar-Teil von Escada«, knurrte Piper mit Blick auf das ruinierte Shirt. »Das Ding kann ich jetzt wohl nur noch als Putzlappen verwenden.« »Deine Sorgen möchte ich haben!« - 124 -
»Meine Sorgen sind auch deine Sorgen«, meinte Piper gallig. Phoebe nestelte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer Jeans und drückte es ihrer Schwester sanft in die Hand. »Press das mal auf die Wunde«, sagte sie. »Wahrscheinlich hört’s schon bald auf zu bluten.« In diesem Moment wandte sich der Dämon mit der Klauenhand knurrend um und ging auf den Eingang des schwarzen Turms zu. Kurz vor der Schwelle vollführte er ein merkwürdiges Ritual aus Gesten und Gemurmel, und dann öffnete sich die schwere Holzpforte wie von Zauberhand. Die Kreatur huschte hinein und war schon im nächsten Moment im Innern des Turms verschwunden. Krachend schloss sich hinter ihr die Eingangstür. »Sesam, öffne dich«, bemerkte Phoebe. »Dieser Zeyn scheint ganz schön paranoid zu sein«, kommentierte Piper und konnte sich trotz der Schmerzen in ihrem Arm ein Grinsen nicht verkneifen. »Die Sicherheitsvorkehrungen in Fort Knox sind ja ein Witz dagegen.« Sie nahm den kleinen Stapel Papiertaschentücher aus der Verpackung und drückte ihn auf die Wunde. Dann schob sie umständlich das Ärmelbündchen ihres T-Shirts darüber und fixierte so die behelfsmäßige Kompresse. »Du könntest mir ruhig mal dabei helfen«, meinte sie vorwurfsvoll zu ihrer Schwester, »anstatt hier Löcher in die Luft zu –« »Schau mal«, rief plötzlich Phoebe und wies auf das alte, steingraue Mausoleum, das im Zentrum des Friedhofs stand. »Das Grabmal lässt sich offensichtlich betreten.« Tatsächlich hing das kleine eiserne Törchen zum Eingang der Begräbnisstätte schief in den Angeln und gab so den Zugang auf eine verwitterte Steintreppe frei, die in eine unterirdische Krypta zu führen schien. »Lass uns mal einen Blick hineinwerfen«,
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schlug Phoebe vor. »Das Risiko ist nicht allzu groß, weil unsere Magie hier ja wieder funktioniert. Vielleicht stoßen wir da drin ja auf etwas, das uns weiterhilft.« »Ja, auf noch mehr durchgeknallte Skelette und Vogeldämonen, die uns ans Leder wollen«, meinte Piper und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, rief Phoebe und strebte entschlossen auf das Mausoleum zu. In diesem Moment hörte sie hinter sich ein merkwürdig dumpfes Geräusch. Sie wandte sich um und sah, dass ihre Schwester reglos am Boden lag. »Piper!«, rief Phoebe und sank neben ihr auf die Knie. Pipers Gesicht war gerötet, und sie stöhnte leise. »Ich … verbrenne innerlich«, flüsterte sie, während ein Zucken durch ihren Körper ging. »Der Dolch war … verflucht. Es ist … als ob das Blut in meinen Adern … zu kochen beginnt. Und doch ist mir … so kalt ums Herz …« Ein Zucken durchlief ihren Körper, während sie den Kopf unkontrolliert hin und her warf. Und dann plötzlich wich alle Kraft aus ihrem Körper, und sie verlor das Bewusstsein. »Piper!«, schrie Phoebe, und Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Bitte verlass mich nicht!« Panisch schüttelte sie ihre Schwester, deren Wangen nun feuerrot glühten, und versuchte sogar eine Mund-zu-Mund-Beatmung, doch Piper kam nicht mehr zu sich und stammelte nur noch unverständliche Worte wie im Fieberwahn. Hilfe suchend sah sich Phoebe um, doch es war weit und breit niemand zu sehen. Was sollte sie nun tun? Sie konnte Piper doch nicht in diesem Zustand auf diesem entsetzlichen Friedhof neben dem schwarzen Turm liegen lassen, während sie selbst in die Stadt zurücklief, um Hilfe zu holen? Schluchzend packte Phoebe ihre Schwester, von deren Körper inzwischen eine unglaubliche Hitze ausging, und zerrte sie in Richtung des Mausoleums und hinab in die kühle Gruft. - 126 -
»Ghul? Gift? Ghulgift? Soll das heißen, ich werde jetzt sterben?«, schrie Paige entsetzt. Suleiman sah die junge Hexe ernst an. »Nicht sofort. Das Gift eines Ghuls wirkt schleichend. Es wird dich nach und nach schwächen, bis schließlich dein Herz versagt. Es sei denn, du nimmst ein Gegengift ein … Aber das ist, wenn überhaupt, nur bei einem Heiler in Ald’maran zu bekommen.« »Na, prima!«, rief Paige aus. »Ich fasse es nicht. Jetzt, wo wir endlich aus diesem stinkenden Kerker raus und meine Schwestern nicht mehr weit sind, soll ich kurz vor dem Ziel einfach –« Sie brach ab, denn sie verspürte plötzlich einen leichten Schwindel; das Ghulgift zeigte offensichtlich bereits Wirkung. Als sie sich an der klammen Mauer vor der Zelle der Brüder abstützte, huschte der junge Seif sogleich herbei und ergriff ihren Arm. Unwirsch schob Paige seine Hand fort und straffte sich. »Verstehe ich das richtig, Jungs? Wir müssen, und das wohlgemerkt ohne unsere Kräfte, versuchen, hier herauszukommen, und zwar möglichst schnell, damit ich nicht in diesem verdammten Turm verrecke, noch bevor meine Schwestern Zeyn aus dem Weg geräumt haben?« Seif und Suleiman nickten stumm. »Dann nichts wie los!«, rief Paige. »Wir gehen jetzt da runter, komme, was wolle! Vielleicht haben wir ja Glück und meine Schwestern haben schon einen Weg in den Turm hineingefunden, dann können wir ihnen vielleicht irgendwie zur Hand gehen – auch ohne unsere magischen Kräfte.« Es entging ihr nicht, dass die beiden Brüder sie zweifelnd ansahen. »Wie auch immer«, fuhr Paige unbeirrt fort, »je länger wir zögern, irgendetwas zu tun, desto schlechter werden unser aller
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Chancen, das Ganze hier zu überleben –« Erneut wurde sie von einem Schwächeanfall heimgesucht. »Vor allem meine –« Schweigend und einigermaßen verdrießlich setzten Leo und Selim ihren Weg durch die Wüste fort. Sie hatten sich darauf geeinigt, niemandem, und schon gar nicht Piper und Paige, etwas von ihrem gleichermaßen amourösen wie peinlichen Abenteuer im goldenen Palast zu erzählen. Tatsächlich war es ihnen völlig unerklärlich, dass sie sich in seinen Mauern gebärdet hatten wie ausgehungerte Wölfe, denen man ein Stück Fleisch vor die Nase hält. Leo vermutete, dass sie irgendeinem Liebeszauber erlegen waren, den ihnen die schöne Fatima mit dem WillkommensAperitif verabreicht hatte. Und plötzlich erinnerte er sich an eine alte orientalische Geschichte, in der ein liebestoller weiblicher Geist ahnungslose Reisende in sein Haus lockte, um diese für immer aus der irdischen Welt ins Reich der Lüste und damit ins Reich des ewigen Vergessens zu entführen. Er teilte Selim seinen Verdacht mit. »Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, dass du in letzter Sekunde doch noch einen lichten Moment hattest«, erwiderte der junge Magier mit einem schiefen Grinsen. »Jeder Normalsterbliche wäre vermutlich unwiderruflich in Fatimas Liebesfalle getappt …« »Offensichtlich sind auch halbe Wächter des Lichts gegen derlei magische Verlockungen nicht immun«, feixte Leo, und Selim senkte beschämt den Blick. Wieder orbten sie sich Stück für Stück an der magischen Barriere entlang und stapften durch den Sand, bis sie die Reste einer alten Tempelanlage erreicht hatten. »Sind wir endlich da?«, wollte Leo wissen, der allmählich ungeduldig wurde. Sein Blick wanderte über wuchtige - 128 -
Mauerreste, Granitquader und altarähnliche Aufbauten, denen die Zeit arg zugesetzt hatte. »Ja, das ist die Stadt der Toten. Eine Kultstätte aus vorislamischer Zeit«, erklärte Selim, »als die Menschen noch den alten Göttern huldigten – und zugleich auch unser Ziel.« Er sah sich einen Moment lang um. »Hier muss es irgendwo diesen unterirdischen Durchgang geben, der direkt nach Ald’maran führt.« Gemeinsam mit Leo schritt er das riesige Areal der Tempelruine ab, doch ein Eingang oder auch nur ein Loch im Boden waren nirgendwo zu entdecken. »An der Universität von Ald’maran habe ich auch die Geschichte unserer Stadt studiert«, sagte Selim, »und da war von diesem Geheimgang am Baal-Tempel die Rede. Er muss hier also irgendwo sein.« »Was, wenn er längst verschüttet ist?«, fragte Leo und deutete auf eine umgestürzte Sandsteinmauer und eine Reihe zerstörter Granitpfeiler. »Was, wenn er unter diesen tonnenschweren Trümmern für immer und ewig vergraben liegt?« »Das haben wir gleich«, meinte Selim. Er hob die Hände, schloss die Augen, und dann zerbarst eine riesige Steinplatte unter einem ohrenbetäubenden Knall. »Wow«, entfuhr es beherrschst du also auch?«
Leo,
»Molekularbeschleunigung
Selim zuckte nur die Achseln und grinste. »Ich nenne es Substanzvernichter.« Als sich der Staub gelegt hatte, trat er an die Stelle, an der zuvor die Mauer gelegen hatte. Doch darunter war nur der harte Wüstenboden zu erkennen. Selim wiederholte das Ganze mit drei massiven Säulen und einem mächtigen Torbogen, die unter seinen magischen Händen zerbröselten wie Salzstangen. - 129 -
»Wenn das die UNESCO sehen würde«, murmelte Leo, und als Selim ihn fragend ansah, fügte der Wächter hinzu: »Na ja, von wegen Weltkulturerbe und so …« Mit bloßen Händen begannen sie, die Haufen aus ockerfarbenem, grauem und rötlichem Staub beiseite zu fegen, leider ohne Erfolg. Denn auch darunter war kein Eingang zu entdecken. »Wir werden ewig brauchen, um hier jeden Stein zu pulverisieren«, meinte Leo zerknirscht. Er wischte sich über die Stirn, und ein breiter Schmutzstreifen prangte über seiner Nasenwurzel wie eine Art Kriegsbemalung. »Bist du sicher, dass der Eingang wirklich hier –« Er brach ab, denn in diesem Moment erzitterte die Luft, und dann materialisierte ein Wesen vor ihnen, das weder körperlich noch geistig zu sein schien. Als Wächter des Lichts hatte Leo schon oft die Geister Verstorbener erblickt, aber diese Kreatur hier war anders. Sie besaß die Gestalt einer alten Frau mit wirrem, grauem Haar; die Züge ihres Gesichts waren wutverzerrt und die dürren Arme angriffslustig erhoben. Eine merkwürdige Kälte ging von ihr aus, die Leo trotz der nachmittäglichen Hitze in der Wüste frösteln ließ, und es war, als ob sich alles irdische Leid in ihr manifestiert hätte. Leo fühlte sich bei ihrem Anblick an die antiken Furien oder die keltischen Banshees erinnert, und doch war die ganze Erscheinung eher ätherisch als real. Wenn man von dem alten, zerrissenen Gewand absah, auf dem sich in Brusthöhe ein riesiger, dunkler Fleck aus getrocknetem Blut befand. »Ein Kummerfluch!«, stieß Selim hervor, doch da war das seltsame Geistwesen auch schon bei ihnen angelangt und griff mit eiserner Hand nach dem Hals des Arabers. »Du wagst es«, zischte die Alte, »den Ort meiner Seelenpein zu schänden?«
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Der junge Zauberer versuchte, sich aus ihrem Würgegriff zu lösen, doch vergebens. Auch schien es ihm nicht möglich, sich mittels Magie aus seiner misslichen Lage zu befreien, denn er war vor Kälte wie gelähmt. Als Leo ihm zur Hilfe eilen und die wahnsinnige Alte ergreifen wollte, glitten seine Hände einfach durch sie hindurch, als würde sie aus frisch gefallenem Schnee bestehen. »Es tut mir Leid«, keuchte Selim, dessen Gesicht langsam rot anlief, während sich auf seinem Körper eine dünne Reifschicht bildete, »aber ich wollte dich nicht … verärgern.« »Verärgern?«, keifte der weibliche Kummerfluch und drückte noch ein bisschen fester zu. »Du hast eine Todsünde begangen, und dafür wirst du sterben, du Wurm.« »Bitte hör mich an«, stieß Leo hervor. »Hier liegt offensichtlich ein Missverständnis vor. Wir suchen hier doch nur einen Eingang in die Stadt. Meine Frau und ihre Schwestern sind in großer Gefahr! Zeyn hat einen Bann über Ald’maran gelegt, sodass wir nicht auf normalem Wege hineinkönnen und –« Die Alte erstarrte und lockerte ihren Griff um Selims Hals. »Zeyn?«, krächzte sie, und ihre Augen funkelten. »Treibt dieser Teufel denn noch immer sein Unwesen in Ald’maran?« »Du kennst ihn?«, fragte Leo. »Er hat mir vor langer Zeit das Leben genommen – gleich hier, wo ihr steht. Und dann hat er mir meine Seele gestohlen … und sich von ihr genährt.« Sie ließ von Selim ab, der hustete und keuchte, und senkte ihr eisgraues Haupt. »Seither ist es kalt um mich, und ich kann keinen Frieden mehr finden.« Leo verstand nicht. »Wer bist du? Und was meinst du damit, er hat sich von deiner Seele genährt?« »Einst nannte man mich Malah, die Gütige.« Die Alte lachte bitter. »Doch dann riss mir Zeyn das Herz heraus, weil er in ihm - 131 -
den Sitz der Seele vermutete und den Ursprung meiner Magie … und er aß es vor meinen Augen. Ich habe es mit angesehen, denn ich war zu diesem Zeitpunkt noch … am Leben. Und das ist auch der Grund, warum ich seitdem verdammt bin, auf Erden zu wandeln und zu trauern, bis einer kommt, der den Dämon tötet und den Fluch bricht.« Für eine Weile schwieg Leo. Was für ein grausames Schicksal! »Malah war eine Zauberin«, setzte Selim leise hinzu. »Genau wie meine Mutter, und sie starb auch wie meine Mutter …« »Wir werden dafür sorgen, dass Zeyn vom Antlitz dieser Erde verschwindet und deine gepeinigte Seele Frieden findet«, sagte Leo. »Doch zuvor müssen wir diesen Tunnel in die Stadt finden.« Die bläuliche Gestalt der alten Frau schwebte auf den altarähnlichen Aufbau zu, der mit einer schweren Granitplatte abgedeckt war. Sie hob eine dürre Hand, und schon schob sich die Abdeckplatte knirschend beiseite. Darunter wurde eine grob behauene Steintreppe sichtbar, die in die Tiefe führte. »Das ist der Weg in die Stadt«, sagte Malah. »Findet und tötet Zeyn. Aber habt Acht, der Gang ist womöglich von seinen abscheulichen Kreaturen bevölkert.« Der alte Zeyn lehnte sich vor, legte die Hände auf die matt schimmernde Obsidiankugel und schloss die Augen. Ein Wirbel aus Licht und Farben durchflutete seinen Geist, und sein missgestalteter Körper erbebte. Und dann war die Verbindung endlich wieder hergestellt. Er sah, wie Selim in Begleitung eines blonden Mannes in die unterirdische Gruft hinabstieg, von welcher der alte Tunnel in die Stadt führte.
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»Du bist schlau, mein Junge«, flüsterte Zeyn. »Aber nicht schlau genug!« Er öffnete die Augen und sah hinab auf die Schale mit der trüben Flüssigkeit. Er lächelte. »Bei Iblis, meine Macht wird grenzenlos sein.« Und dann beschwor er den Wächter. Zögernd stiegen Selim und Leo die massiven Steinstufen hinab in die Tiefe, während die schwere Steinplatte über ihnen von Malah, dem Kummerfluch, wieder über den Einstieg geschoben wurde. Sie erreichten ein kleines Gewölbe, von dem ein langer, dunkler Gang abging. Und obwohl von außen kein Licht an diesen Ort dringen konnte, war die kleine Gruft in ein seltsam rötliches Licht getaucht. Leo blickte zur Decke, an der einige schlafende Fledermäuse hingen. Es musste hier also mindestens einen Ausgang ins Freie geben. »Das dürfte der unterirdische Zugang in die Stadt sein, von dem ich gelesen habe«, sagte Selim. »Er wurde vor langer Zeit gebaut, um Waren und Truppen unbemerkt hinein- und hinauszuschmuggeln. Ald’maran war einst ein heiß umkämpfter Ort«, fügte er hinzu. »Wollen wir hoffen, dass dieser Gang dort nicht ebenso heiß umkämpft ist«, meinte Leo und deutete in den Tunnel. »Wie weit ist es denn bis zur Stadt, und wo kommen wir eigentlich wieder raus?« »In den alten Aufzeichnungen heißt es, dass der Gang beim alten Friedhof direkt neben dem schwarzen Turm endet.« »Wie praktisch«, meinte Leo. »Dann steigen wir also bei der Höhle des Löwen wieder ans Tageslicht. Seltsam nur, dass Zeyn diese Schwachstelle in seinem Plan nicht berücksichtigt hat.«
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»Mir scheint, es wäre ein wenig voreilig, jetzt schon zu triumphieren«, erwiderte Selim und deutete sichtlich geschockt in Richtung des dunklen Gangs. Leo fuhr auf dem Absatz herum und starrte direkt in die glühenden Augen einer Kreatur, die er noch nie zuvor gesehen hatte. In der kühlen Gruft unter dem Mausoleum, inmitten von staubigen Skeletten und zerbrochenen Steinsärgen, beugte sich Phoebe Halliwell über ihre sterbende Schwester und flüsterte: »Bitte halte durch, Piper. Halte durch für die Macht der Drei, für Leo und für dein ungeborenes Kind …« Das Heulen der riesigen Kreatur war ohrenbetäubend, während das Monstrum gleichzeitig einen wahren Feuersturm entfachte. Leo konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor ihn die Flammenschneise, die der Feuergolem mit seinen plumpen Händen in seine Richtung aussandte, erfassen konnte. Flammen züngelten um seine Schuhe und versengten das Leder. Entschlossen trat Selim einen Schritt vor und hob die Hand, um das schwarzrote Ungetüm mit einem Energiestoß zu zerstören. Doch im gleichen Moment öffnete der Feuergolem sein riesiges Maul, und ein Schwall aus glühender Lava schoss hervor. Unversehens stand der junge Zauberer mit seinen Sneakers in einem kleinen See aus kochend heißem, zähem Schmelzfluss. Er konnte noch nicht einmal vor Schmerz schreien, denn er verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Sein lebloser Körper sank in die glühende Schlacke, die große Teile seiner Kleidung und seiner Haut versengte. Blitzschnell orbte sich Leo hinter das Monstrum aus der Gefahrenzone und rannte in den Gang hinein, der laut Selim in - 134 -
die Stadt führte, um den Golem von dem jungen Magier fortzulocken. Als Wächter des Lichts verfügte er nur über diese eine, defensive »Kampftechnik«, doch im Verbund mit den Kräften der Zauberhaften hatte ihnen diese Fähigkeit in der Vergangenheit mehr als einmal gute Dienste erwiesen. Nur dass er jetzt völlig auf sich allein gestellt war und Selim in dem kochend heißen, langsam erstarrenden Schmelzfluss zu sterben drohte … Doch das Ablenkungsmanöver funktionierte, denn die massige Kreatur wandte sich um, stieß einen heulenden Schrei aus, der Leo fast das Trommelfell platzen ließ, und nahm mit donnernden Schritten die Verfolgung auf. In diesem Moment wurde Leos Körper von Licht und Wärme durchflutet, und ihm wurde schlagartig klar, dass die Verbindung zu den Zauberhaften wieder hergestellt war. Mindestens eine der Hexen musste ganz in der Nähe sein! Noch im Laufen durch den düsteren Gang orbte er sich zur Quelle des Energiestroms, der nun wieder zwischen ihm und seinen Schutzbefohlenen floss. Nachdem sie in der dunklen Gruft neben dem leblosen Körper ihrer Schwester ausgeharrt hatte, konnte Phoebe ihr Glück kaum fassen, als plötzlich Leo wie aus dem Nichts neben ihr materialisierte. Doch für Wiedersehensfreude blieb wenig Zeit. »Leo!«, rief sie in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Panik. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Hilf uns! Schnell! Piper stirbt!« Sofort sank der Wächter des Lichts neben der reglosen Gestalt seiner Frau auf die Knie. Ihr Körper glühte wie unter heftigem Fieber, während ihr Herzschlag soeben aussetzte. Er - 135 -
berührte sie sanft, und göttliches Licht floss durch seine Hände in Piper hinein, neutralisierte den Fluch und weckte ihre dahinscheidenden Lebensgeister. »Das war knapp«, murmelte Leo und seufzte erleichtert. Im gleichen Moment holte Piper tief Luft und schlug überrascht die Augen auf. »Leo«, hauchte sie, und schon lagen sich die beiden in den Armen. Auch Phoebe fiel ein Riesenstein vom Herzen, doch die drei hatten keine Gelegenheit, ihren äußerst knappen Sieg über Pipers drohenden Tod auch nur eine Sekunde lang zu feiern, geschweige denn, einander irgendetwas zu erklären. Aus der Ferne drang ein unheilvolles Stampfen aus dem Tunnel an ihr Ohr, das den Boden des unterirdischen Grabmals mit jedem Schritt erzittern ließ. Und dann folgte ein Heulen, als ob sich Zerberus persönlich auf dem Weg zu ihnen befand. »Was ist das?«, fragte Piper erschrocken und sprang auf die Füße. »Feuergolem!«, stieß Leo hervor. »Ein Feuergolem?«, wiederholte Phoebe lahm. »Kann ich euch jetzt nicht im Einzelnen erklären«, rief der Wächter des Lichts ungeduldig, »Selim ist ebenfalls schwer verletzt, wenn nicht schon tot, und mir ist ein Feuergolem auf den Fersen, der jeden Moment hier auftauchen wird!« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da erschien das Ungetüm auch schon in dem Gang, der von der Krypta aus der Stadt hinausführte, und stampfte heulend auf sie zu. Seine Gestalt füllte den Tunnel fast völlig aus, der massige Körper war eine einzige brodelnde Masse aus züngelnden Flammen, Ruß und Glutklumpen, und die riesigen Augen in seinem formlosen Kopf brannten wie glühende Kohlen. Phoebe hielt vor Schreck den Atem an. Schon hatte der Golem einen seiner plumpen Arme erhoben, und einen Atemzug - 136 -
später wälzte sich eine riesige Feuerkugel auf Phoebe zu. Blitzschnell erhob sich die junge Hexe in die Lüfte, sodass das verheerende Flammengeschoss unter ihr hindurchraste und an der Wand hinter ihr explodierte. Der Golem heulte erneut auf, öffnete sein Maul, und eine Flut aus kochend heißer, schwarzroter Lava strömte hervor. Piper zögerte keine Sekunde länger und zog die magische Notbremse. Die Zeit fror ein. Der Schmelzfluss aus dem Schlund des Golems erstarrte, und der Lavastrom hing nun aus seinem Maul herab wie eine dicke, klebrige Zunge. Doch Piper fackelte nicht lange und schickte das Monstrum mittels Molekularbeschleunigung hinab in den Orkus. Als der Feuergolem in Abermillionen Teilchen explodierte, war die Hitze in dem Grabmal für einige Sekunden kaum auszuhalten. »Wie bist du hierher gekommen?«, fragte Piper ihren Ehemann, nachdem der feurige Spuk vorbei war. Ihr Blick blieb an Leos Gesicht hängen, auf dem sich breite Dreckspuren befanden. »Und wieso siehst du aus wie ein Guerilla?« »Ist ’ne lange Geschichte«, stieß Leo hervor. »Erzähle ich euch später. Doch erst mal muss ich zurück zu Selim. Vielleicht kann ich ihn noch retten.« Phoebe, Piper und Leo nahmen sich bei den Händen, und dann orbten die beiden Schwestern im Schlepptau des Wächters zu der Stelle zurück, an der Selim am Boden lag. Die Schlacke um ihn herum begann langsam zu erstarren; doch nicht nur aus diesem Grund war Eile geboten. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!« Leo kniete neben dem jungen Zauberer nieder und legte ihm vorsichtig seine heilenden Hände auf die Brust. Wie schon zuvor bei Piper umspielte sogleich ein unwirkliches, bläuliches Licht seine schlanken Finger, dann suchte und fand die göttliche Energie ihren Weg in den Körper des sterbenden Magiers.
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Phoebe und Piper hielten den Atem an. Und schließlich, wie durch ein Wunder, begann Selims Herz wieder zu schlagen. Jäh riss der junge Mann seine smaragdfarbenen Augen auf und blickte erstaunt in drei Gesichter, die ihn erwartungsvoll anstarrten. »Was ist passiert?«, stöhnte er benommen. »Das würden wir gern von dir erfahren, Selim«, sagte Piper mit eisiger Stimme. »Wo zum Teufel ist unsere Schwester?« Vorsichtig stiegen Paige, Seif und Suleiman die schmale steile Wendeltreppe hinab. Paige fühlte sich von Minute zu Minute elender. Zu der stetig wachsenden Schwäche, die das Ghulgift ihr verursachte, kam nun auch noch eine große Übelkeit hinzu. Sie wusste nicht, wie sie in diesem Zustand und ohne ihre Zauberkräfte Zeyn widerstehen sollte, käme es zu einer Konfrontation mit dem Erzdämon und seinen Schergen. Und sie hatte auch nicht den Hauch einer Idee, wie es ihnen drei gelingen sollte, den Turm unbehelligt zu verlassen. Und dennoch, sie mussten es einfach versuchen. Wenn nicht, dann verendete sie hier in diesem elenden Loch wie ein verletztes Tier, fern von zu Hause und fern von ihren Schwestern. Sie zwang ihren Magen unter Kontrolle und ging weiter, bis sie und die beiden jungen Männer die erste Aussichtsplattform erreichten. Draußen begann die Sonne zu sinken. Es musste inzwischen später Nachmittag sein. Mit weichen Knien lehnte sich Paige an die Wand neben einem der Fenster und schloss für einen Moment die Augen. Seif und Suleiman sahen sich besorgt an.
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»Fühlst du dich schlechter?«, fragte der jüngere der beiden Brüder, und seine Stirn umwölkte sich. Paige straffte sich und ballte die Fäuste. »Keine Sorge«, sagte sie leise. »Wird schon irgendwie gehen … Wenn wir nur bald hier herauskommen und meine Schwestern treffen, dann … wird bestimmt alles gut.« Sie senkte den Blick. »Es muss einfach gut werden … Bis jetzt ist doch noch immer alles gut geworden …« »Du bist eine sehr starke Frau«, sagte Suleiman mit fester Stimme und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du wirst es schaffen, dessen bin ich sicher.« Doch im Stillen war er ganz und gar nicht davon überzeugt, dass die schöne Hexe das Abenteuer, in das sein Halbbruder Selim sie gestürzt hatte, tatsächlich überleben würde. Soviel er wusste, gab es nämlich keineswegs ein Heilmittel gegen Ghulgift. Paige versuchte ein halbherziges Lächeln. Die Worte des ernsthaften jungen Mannes trösteten und ermutigten sie gleichermaßen. »Wir sollten weitergehen«, sagte sie. Sie gelangten ins nächste Geschoss, das dem vorherigen ähnelte, bis auf die Tatsache, dass hier die Fenster lediglich die Ausmaße von Schießscharten hatten. Die alte Öllampe, die Paige schon bei ihrem ersten Besuch entdeckt hatte, lag noch immer am Boden. Die junge Hexe fragte sich, ob ihnen dieses Ding vielleicht irgendwie von Nutzen sein konnte. Sie bückte sich, ergriff die Lampe und betrachtete sie genauer. Sie war über und über mit Staub und Patina bedeckt. An einer Seite entdeckte Paige den kleinen Stutzen, durch den die Lampe mit Öl befüllt wurde. Paige zog ihn heraus und schnüffelte an der Öffnung. »Vorsicht!«, rief Suleiman, doch es war schon zu spät. In diesem Moment stieg Dampf aus der Messingleuchte auf, der sich rasch vermehrte und verdichtete, um sich schließlich zu einem riesenhaften Gebilde zu manifestieren. - 139 -
»Ein Dschinn!«, rief Seif und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Endlich!«, donnerte die Stimme des Geistes. »Frei!« Er warf den Kopf in den feisten Nacken und lachte dröhnend. Erschrocken ließ Paige die Lampe fallen. Der Dschinn hatte die Gestalt eines fetten, kahlköpfigen Schwergewichtlers und war gut zweieinhalb Meter groß. Um seine mächtigen Unterarme wanden sich eiserne Manschetten, und an seinem linken Ohrläppchen baumelte ein goldener Ring. Fast hätte man ihn für einen einfältigen Jahrmarktsboxer halten können, wenn er nicht so verdammt wütend ausgesehen hätte. Unheilvoll schwebte er vor Paige, Seif und Suleiman in der Luft. »Ihr Menschlein seid also meine Befreier«, stellte er höhnisch fest. »Wer bist du?«, fragte Paige. »Man nannte mich Omar«, erwiderte der Dschinn hochmütig. »Einst war ich in Diensten des mächtigen Zauberers Stamatis.« Seine Stimme wurde grimmig. »Doch dann hat mich seine so überaus redliche Frau in diese Lampe verbannt, in der ich nun seit über hundert Jahren meiner Befreiung harrte.« »Warum hat dich denn die Frau des Zauberers in die Lampe gesperrt?«, fragte Seif neugierig, dem der Ernst der Situation anscheinend nicht bewusst war. »Die dumme Gans hatte die Arbeit ihres Mannes nicht gutgeheißen«, erwiderte der Dschinn. »Und dazu zählte auch, dass er sich dabei meiner Hilfe bediente, der Hilfe eines IblisDämonen. Und so hat sie mich aus dem Weg geräumt, nachdem ihr Mann der Hexerei und Nekromantie verdächtigt und hingerichtet worden war.« »Die Arbeit deines Herrn war wohl offensichtlich die schwarze Magie«, sagte Suleiman verächtlich. »Wie soll man dergleichen gutheißen?« - 140 -
»Schweig, Nichtswürdiger«, donnerte der Dschinn. »Schwarze Magie, weiße Magie – es ist doch alles nur eine Frage des Standpunkts. Und überhaupt, was verstehst du schon davon?« »Vielleicht mehr als du denkst«, erwiderte Suleiman, und seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Es ist auch eine Frage der Achtung vor der Schöpfung. Doch sprich, was hast du nun vor, da du wieder in Freiheit bist?« »Zuerst werde ich euch töten«, sagte der Lampengeist leichthin, »denn es ist auf Erden kein Platz für niedere, ach so rechtschaffene Kreaturen, wie ihr es seid. Denn man darf die Schöpfung, wie du es nennst, nie sich selbst überlassen, sonst richtet sie sich am Ende gegen das, was noch über ihr steht.« »Du stehst also über der Schöpfung?«, fragte Suleiman, der zunehmend gereizter klang. »Auf jeden Fall stehe ich über den so genannten wohlanständigen Sterblichen«, sagte der Dschinn verächtlich. »Und ein Mensch, der nicht in Diensten Iblis’ steht, ist es nicht wert zu leben.« »Ist das also der Lohn dafür, dass wir dich befreit haben?«, ereiferte sich Paige, der immer übler wurde. »Zum Dank tötest du uns?« »Dank?« Der Lampengeist lachte spöttisch. »Ein mächtiger Dschinn wie ich ist keinem Menschen zu Dank verpflichtet. Vielmehr ist es für jeden großen Schwarzkünstler eine Ehre, mich an seiner Seite zu haben. Die größten Magier der Welt sind mir zu Dank verpflichtet.« »Du willst ein mächtiger Dschinn sein?«, höhnte Paige, der plötzlich eine Idee gekommen war. »So mächtig, dass du dich von einer Frau in eine Öllampe hast einsperren lassen?« Suleiman blickte die Hexe erschrocken an. Wieso provozierte Paige den Dämon zu allem Überfluss? - 141 -
»Du wagst es –«, begann der Dschinn und schwebte drohend auf Paige zu. Doch Seif, der begriff, was Paige plante, warf ihr einen viel sagenden Blick zu und fiel dem Lampengeist ins Wort. »Wahrscheinlich bist du nur ein Scharlatan, der uns weismachen will, er wäre so allvermögend, dass er selbst in diesem kleinen Ding Platz fände.« Er bückte sich, hob die alte Öllampe wieder auf und grinste spöttisch in Richtung seiner beiden Begleiter. »Ich sage euch, kein Dschinn dieser Welt vermag ein solches Kunststück zu vollbringen.« Der Dschinn drehte sich zu dem frechen jungen Mann um und lachte. »Ich werde dich lehren, mich zu verspotten, du Wurm.« In diesem Moment rief Suleiman, der das Spiel von Paige und Seif endlich durchschaut hatte: »Dann beweise doch, wie mächtig du bist, Dschinn.« Er wusste, das war eine riskante Forderung, doch er zählte auf die altbekannte Eitelkeit der von der schwarzen Seite korrumpierten Dämonen. Und tatsächlich fiel der Lampengeist darauf herein. Mit den Worten »So soll es sein« zog sich seine halbtransparente Gestalt zusammen, bis sie einem schlaffen Luftballon glich, und fuhr dann in Windeseile zurück in die alte Öllampe, die Seif noch immer in Händen hielt. Sofort versiegelte Seif den Einfüllstutzen mit dem magischen Pfropfen und wandte sich mit einem triumphierenden Grinsen zu Suleiman und Paige um. »Du liebe Güte, dieser Omar ist nicht nur unglaublich ›mächtig‹, sondern vor allem unglaublich einfältig.« »Gut gemacht!«, riefen Paige und Suleiman wie aus einem Munde.
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Aus dem Innern der Lampe war ein blechernes, dünnes Stimmchen zu hören. »Lasst mich frei! So lasst mich doch wieder frei!« Der junge Seif grinste von einem Ohr zum anderen. »Wie bist du überhaupt auf die grandiose Idee gekommen, den eitlen Dschinn herauszufordern, auf dass er tatsächlich wieder in die Lampe zurückkehrt?«, wollte er von Paige wissen. »Ich hab mich an ein Märchen aus 1001 Nacht erinnert«, erklärte Paige, doch Seif sah sie nur verständnislos an. Suleiman räusperte sich. »Könntet ihr das vielleicht später erörtern? Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden.« Er deutete auf die Messinglampe, aus der noch immer die kläglichen Hilferufe des Dschinns drangen. »Und was machen wir mit diesem Wichtigtuer hier?« Der Dschinn in der Lampe hatte sich zwischenzeitlich vom Betteln übers Fluchen aufs Verwünschen und wieder zurück aufs Flehen verlegt. »Vielleicht kann er uns ja irgendwie von Nutzen sein?«, murmelte Paige. »In dem Märchen, an das ich mich erinnert habe –« Sie brach ab und begann plötzlich heftig zu frösteln. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und wieder gaben ihre Beine nach. Das Ghulgift wirkte immer stärker. »Wie sollte er uns von Nutzen sein?«, fragte Seif. »Naja, er ist doch ein Dschinn, oder?«, presste Paige hervor. »Vielleicht kann er uns mit seiner Magie helfen, hier herauszukommen, wenn wir ihn noch mal befreien.« »Lass mich raus! Ich hab’s doch nicht so gemeint«, flehte der Dämon aus dem Innern der Lampe. »Ich werde euch auch nichts zu Leide tun!« »Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Suleiman. »Er wird uns wieder um unseren wohlverdienten Lohn bringen wollen, wenn wir ihn freigelassen haben.« - 143 -
In diesem Moment knickten Paige die Beine endgültig ein, und sie sank an der Wand zu Boden. Die Welt um sie herum wurde immer schwärzer, und sie musste einen Brechreiz unterdrücken. »Paige!«, rief Seif alarmiert. Er drückte Suleiman die Lampe in die Hand und war sofort an der Seite der jungen Hexe. Sacht stützte er sie und streichelte ihr über die Wange. »Halte durch, es wird alles gut.« »Ihr habt zwei Möglichkeiten«, sagte Paige mit brüchiger Stimme. »Entweder ihr befreit den Dschinn, und wir lassen uns von ihm hier herausbringen, oder aber ihr kämpft euch eigenhändig aus diesem Turm – ohne mich.« Sie schloss die Augen, denn eine unendliche Müdigkeit umfing sie. »Paige!«, rief Seif erneut und sah seinen älteren Bruder flehend an. »Tu doch was, Suleiman! Lass den Lampengeist frei!« »Aber er steht doch in Diensten der dunklen Seite. Wie können wir seinen Worten trauen?« In einer verzweifelten Geste fuhr sich Suleiman mit der Hand durch das seidige schwarze Haar. Dann hob er die Lampe an sein Gesicht und sprach: »Höre, Dschinn. Wenn wir dich befreien, was genau ist unsere Belohnung?« »Ich werde euch am Leben lassen, und ihr habt zudem noch einen Wunsch frei!«, kam es piepsend aus der Lampe. Suleiman sah Seif zweifelnd an. »Ich erfülle euch jeden Wunsch der Welt«, fügte der Dschinn nachdrücklich hinzu. »Allein den Wunsch auf beliebig viele weitere Wünsche kann ich euch natürlich nicht erfüllen.« Suleiman schien sichtlich mit sich zu ringen. Konnte man dem von der dunklen Seite Korrumpierten wirklich glauben? Doch als er die halb tote, in sich zusammengesunkene Paige und den hilflosen Blick seines Bruders sah, zog er mit - 144 -
zusammengebissenen Zähnen den magischen Pfropfen aus der Lampe. Der Dschinn entströmte dem Messingbehälter wie ein schlechter Geruch und baute sich wieder zu voller Größe auf. »Eine gute Entscheidung«, brummte er zufrieden in die Runde, und zu Suleiman: »So sprich, Mensch, was ist dein Begehr?« Seif atmete erleichtert auf. Offensichtlich gab es selbst unter bösartigen Dschinnen so etwas wie einen Ehrenkodex. »Mach diese Frau gesund!«, forderte Suleiman ohne zu zögern und deutete auf Paige. »Es ist Ghulgift in ihrem Körper, und sie stirbt.« »Nichts leichter als das«, sprach der Dschinn. Er hob seinen feisten Arm, dem daraufhin ein rotgoldenes Licht entströmte, und schon im nächsten Moment schlug Paige die Augen auf. Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück, und ihre Atmung normalisierte sich. »Danke«, hauchte sie in Richtung Suleiman. »Gebührt der Dank nicht eher mir?«, fragte der dicke Dschinn beleidigt. Paige war aufgestanden. »Das verstehst du nicht«, sagte sie zu dem Lampengeist. »Suleiman hätte sich ebenso gut wünschen können, dass du uns hier herausbringst. Die Brüder wären dadurch in Sicherheit gewesen, aber … für mich hätte es wohl den Tod bedeutet. Den Tod deshalb, weil wir in Ald’maran auf die Schnelle vermutlich keinen Heiler mehr für mich gefunden hätten. Kurz: Ich wäre mit Sicherheit gestorben, hätte Suleiman sich anders entschieden.« Suleiman verzichtete darauf, Paige zu gestehen, dass es seines Wissens überhaupt kein Gegenmittel für eine durch Ghulgift hervorgerufene Infektion gab, Heiler hin oder her. Erstmals sah sich der Dschinn genauer in dem Turmgeschoss um. »Was ist das für ein Gebäude hier?«, verlangte er zu wissen.
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»Der schwarze Turm des Zeyn«, sagte Suleiman. »Zeyn ist derjenige, der uns hier eingesperrt hat, er ist ein mächtiger –« »Ich kenne Zeyn«, donnerte der Dschinn, und seine Züge verfinsterten sich. »Er ist der Mentor meines ehemaligen Meisters.« Für einen Moment wurde es totenstill auf der Turmplattform. Die Worte des Dschinns hatten eingeschlagen wie eine Bombe. Der junge Seif stellte schließlich die Frage, die allen auf den Nägeln brannte. »Heißt das, dass du nun Zeyn zu dienen wünschst, Omar?« Jedem der Anwesenden war klar, was das für sie bedeuten würde. Der dicke Dschinn verzog das Gesicht. »Das heißt es keineswegs«, sagte er langsam. »Zeyn wusste, was die Frau des Schwarzmagiers mit mir vorhatte, und hätte es verhindern, oder mich doch zumindest wieder aus dieser Lampe befreien können. Aber er unterließ es. Er hatte wohl seine ganz eigenen Pläne und wachte eifersüchtig über alles, was mein Meister an Großem hervorbrachte. Tatsächlich stahl er ihm, seinem eigenen Schüler, einige seiner viel versprechendsten Erfindungen, doch mein Meister vertraute ihm blind. Niemals werde ich einem Hundesohn wie Zeyn dienen!« Man konnte die Erleichterung fast körperlich spüren, die Paige, Seif und Suleiman erfasste. »Was gedenkst du nun zu tun?«, fragte Paige, und Hoffnung glomm in ihren Augen. »Wirst du dich an Zeyn rächen und ihn vernichten?« »Das würde ich gern, doch ich kann es nicht«, sagte der Dschinn und senkte beschämt den Blick. »Dazu wiederum reicht meine Macht nicht aus.« Seif wollte den dicken Omar gerade fragen, was genau er mit dieser Bemerkung meinte, aber er beschloss, den Lampengeist
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nicht noch mehr zu demütigen, als es offensichtlich ohnehin schon der Fall war. »Ich kapiere nicht, wie ein hässlicher kleiner Zwerg wie dieser Zeyn so viel Macht an sich reißen konnte«, platzte Paige verärgert heraus. »Hässlicher kleiner Zwerg?«, wiederholte der Dschinn. »Was redest du, Mädchen! Der Zeyn, den ich kannte, war eine strahlende Lichtgestalt von überirdischer Schönheit.« Für einen Augenblick starrten Paige und die beiden Brüder einander verständnislos an. »Der Zeyn, den ich kannte«, fuhr der Dschinn mit bitterer Stimme fort, »besaß das Gesicht eines Engels und die Seele eines Teufels. Doch Zeyn stand auf niemandes Seite, und in seinem Hochmut hätte er selbst meinen Schöpfer Iblis verraten, um seine eigene Macht zu mehren und die Welt zu beherrschen.« »Dann hilf uns doch bitte, hier herauszukommen, damit wir ihn vernichten können!«, rief Paige verzweifelt. »Ihr wollt Zeyn vernichten?«, fragte der Dschinn. Und dann lachte er so heftig, dass sein Wanst und das Doppelkinn wackelten. Doch trotz allem war es ein freudloses, keineswegs ansteckendes Lachen. Erneut sahen sich die Hexe und die beiden Magier unbehaglich an. »Ihr könnt Zeyn nicht vernichten, denn er ist unsterblich«, sagte der Dschinn schließlich. »Keine Macht der Welt kann ihn töten.« Wie vom Donner gerührt standen Paige, Seif und Suleiman da. Zeyn unsterblich!, schoss es einem jeden von ihnen durch den Kopf. Was heißt das für unseren Kampf gegen ihn? Und
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was bedeutet es für unsere Kräfte, die er uns geraubt hat? Wird es uns je gelingen, unsere Magie wieder zurückzubekommen? Und wie um alles in der Welt soll das möglich sein bei einem Gegner, den man nicht vernichten kann? Es war Suleiman, der mit heiserer Stimme als Erster wieder das Wort ergriff. »Du hast Paiges Leben gerettet, und wir sind dir zu größtem Dank verpflichtet, mächtiger Omar«, begann er diplomatisch. »Doch verstehe mein Ansinnen jetzt nicht falsch, wenn ich … wenn ich dich demütigst bitte, uns hier herauszuhelfen. Wir mögen zwar auf entgegengesetzten Seiten kämpfen, doch in unserem Wunsch, Zeyn vom Antlitz dieser Welt zu fegen, stehen wir doch nun hier zusammen. Und glaube mir, großer Omar, wir werden nichts unversucht lassen, genau dieses zu tun, wenn wir erst einmal in Freiheit sind. Ich weiß, du könntest uns mit Leichtigkeit unserem Schicksal und damit Zeyn überlassen, doch bedenke auch: Eine solche Entscheidung vermagst du nur zu treffen, weil es uns überhaupt gibt.« Paige fand, Suleiman verstand sich ausgezeichnet darauf, dem dicken Dämon mit wohlgesetzten Worten Honig ums Maul zu schmieren. Und sie hoffte inständig, dass diese Taktik von Erfolg gekrönt sein würde. »So soll ich dir also ein weiteres Mal für meine Befreiung zum Dank gefällig sein? Du überstrapazierst meine Großherzigkeit, Mensch!«, grollte der Dschinn, doch man sah ihm deutlich an, dass ihm Suleimans Worte geschmeichelt hatten, denn ein selbstgefälliger Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen. Er verfiel einige Sekunden ins Grübeln und runzelte dabei die feiste Stirn, als ob der komplizierte Sachverhalt begann, ihn langsam, aber sicher zu überfordern. »Was du sagst, ist indes nicht falsch«, fuhr der Lampengeist fort. »Der Feind meines Feindes muss letzten Endes mein Freund sein … So will ich denn ein letztes Mal gegen meine Prinzipien handeln, da es einem höheren Ziel zu dienen scheint. Lebt wohl!« - 148 -
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da fanden sich Paige, Suleiman und Seif am Fuße des schwarzen Turms neben dem alten Friedhof wieder. Omar, der Iblis-Dschinn, hatte das unglückliche Trio tatsächlich hinaus in die Freiheit befördert! »Wir sind draußen!«, jubelte Seif und fiel Paige und Suleiman um den Hals. »Endlich!« Paige schossen vor Erleichterung die Tränen in die Augen, während Suleiman befreit ausatmete. »Wir sollten schleunigst von hier verschwinden und im Haus unseres Vaters die nächsten Schritte besprechen«, sagte er zu Paige. Er blickte zum immer noch strahlend blauen Himmel auf. »Die Sonne geht in wenigen Stunden unter, und –« In diesem Moment wurden Stimmen hinter ihnen laut, und dann geschah das schier Unglaubliche. Aus dem alten Mausoleum ganz in der Nähe stiegen vier Gestalten ans Tageslicht! Es waren Piper, Phoebe, Leo und – Paige blieb fast das Herz stehen – Selim!
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HAUS DES ALTEN IBRAHIM saßen Leo, die Zauberhaften und die drei Brüder zusammen und beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei. Man hatte es sich im Erdgeschoss um den runden Messingtisch gemütlich gemacht und trank Tee, während der Vater der jungen Magier schweigend dabeisaß und seine Wasserpfeife rauchte. Die Wiedersehensfreude war groß gewesen, und schon auf ihrem Rückweg vom Turm nach Ald’maran hatten die sieben begonnen, sich über das, was in den letzten Stunden passiert war, gegenseitig ins Bild zu setzen. In Ibrahims Heim angekommen hatten sie sich erst einmal am hauseigenen Brunnen, der im kühlen Innenhof stand, vom Staub und Schweiß des Tages befreit. Danach hatte sich Selim umgezogen, denn die Jeans und das Shirt, die er getragen hatte, waren von der glühenden Schlacke fast völlig versengt gewesen, sodass sie in Fetzen an ihm heruntergehangen hatten. Die Brandwunden, die er durch die Lava-Attacke des Feuergolems davongetragen hatte, waren dank Leo noch an Ort und Stelle vollständig verheilt. Genau wie Pipers Wunde am Oberarm, die ihr der Vogeldämon mit seinem verwünschten Dolch beigebracht hatte. Draußen ging langsam die Sonne unter, während Selim beim Schein der Öllampe seinen Brüdern und den Besuchern aus der Zukunft noch einmal detailliert berichtete, was nach der Gefangennahme Seifs und Suleimans genau passiert war. Paige beobachtete den jungen Mann verstohlen, der sich gerade eine Locke aus der Stirn strich und sagte: »Und so bin ich mithilfe des Buchs der Weisheit in eure Zeit gereist, um die verwandte Seele ausfindig zu machen, von der in der
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Prophezeiung die Rede war.« Er sandte einen verliebten Blick in Richtung Paige, die daraufhin flammend rot wurde. Piper, die sich eng an Leo gekuschelt hatte, musste grinsen. Sie konnte gut verstehen, warum ihre Halbschwester dem jungen Mann so ohne weiteres zu dem Hotel gefolgt war. Dieser Selim war nicht nur ein ausgesprochen attraktiver Bursche mit seinen dunkelgrünen Augen und den schwarzen langen Locken, sondern schien darüber hinaus auch noch ein überaus einnehmendes Wesen zu haben. Und zweifellos war er von Paige genauso fasziniert wie sie von ihm. Die Spannung, die zwischen den beiden herrschte, war fast körperlich zu spüren. Auch Phoebe ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern. Piper und Leo saßen Arm in Arm beisammen, unübersehbar glücklich, nun, da sie wieder vereint waren. Die drei Brüder waren jeder für sich bemerkenswerte junge Männer: Der stille, ernste Suleiman mit dem schmalen, markanten Gesicht und den glatten schwarzen Haaren, der lustige Seif mit seiner spitzbübischen Miene, der störrischen Mähne und den funkelnden hellbraunen Augen, und schließlich der anziehende Selim, der von innen heraus zu strahlen schien wie ein junger Gott. Kein Wunder, dass sich Paige auf der Stelle in ihn verliebt hat, dachte Phoebe. Sie musste an Niall, den Sohn des Merlin, denken, in den sie selbst vor einigen Jahren bis über beide Ohren verschossen gewesen und der ebenfalls aus der Vergangenheit gekommen war, um den Lauf des Schicksals zu ändern. Eine Geschichte mit traurigem Ausgang, denn ihr und Niall war eine gemeinsame Zukunft versagt geblieben, da ein jeder von ihnen am Ende in seine Zeit hatte zurückkehren müssen. Phoebe hoffte inständig, dass Paige nicht ebenso viel Schmerz widerfahren würde. Sie seufzte, und ihre Gedanken wanderten wehmütig zu Cole. Auch die Beziehung zu ihm hatte überaus dramatisch geendet. Doch die Trauer über den Verlust ihrer wohl größten bisherigen - 151 -
Liebe verblasste mit jedem Tag mehr, seit Cole in die Zwischenwelt verbannt worden war. Weiß Gott, sie selbst hatte in den letzten Jahren wenig Glück mit Männern gehabt, doch Phoebe gönnte ihrer Halbschwester die neue Liebe von Herzen. Wenn da nur nicht dieses unbestimmte Gefühl gewesen wäre, dass hier womöglich irgendwas nicht stimmte. Ein Gefühl, das, abgesehen von der Tatsache, dass die Zauberhaften wieder mal bis zum Hals in der Tinte saßen, unablässig an Phoebe nagte. Als schließlich alle Anwesenden alles, was wichtig war, voneinander wussten, ergriff Suleiman das Wort. »Was machen wir nun?«, fragte er. Und in der Tat war genau das der Punkt, der jedermann am meisten beschäftigte. »Das ist eine gute Frage«, meinte Piper und blickte ernst in die Runde. »Halten wir doch noch einmal die Fakten fest«, setzte sie hinzu. »Paige, Suleiman und Seif sind ohne ihre Kräfte, die Zeyn ihnen gestohlen und absorbiert hat. Doch was genau sind eigentlich eure Kräfte?«, fragte sie in Richtung der beiden jüngeren Brüder. »Paige ist zur Hälfte Hexe und Wächterin des Lichts, das heißt, sie beherrscht das Orben und die Telekinese. Und beide Fähigkeiten gingen heute an Zeyn über.« »Ich konnte die Zeit zum Stillstand bringen«, sagte Suleiman. »Das kann ich auch«, bemerkte Piper nicht ohne Stolz. »Außerdem beherrsche ich die Molekularbeschleunigung.« Sie erklärte den Fremden kurz die Funktionsweise dieses Zaubers. »Molekularbeschleunigung ist auch eine meiner Kräfte«, sagte Selim. »Ich wusste bisher nur nicht, dass man es auch so nennt. Außerdem kann ich, ähm, orben, wenngleich nicht so schnell wie Leo.« Er lächelte dem Wächter des Lichts viel sagend zu.
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»Ich konnte auf verschiedene Weise Brände entfachen«, meldete sich Seif zu Wort. »Das stimmt«, meinte Selim. »Unser Bruder war ein Erfolg versprechender Feuermagier.« »Und ich werde es wieder sein!«, rief Seif trotzig. »Wir werden diesen Zeyn vernichten!« »Was uns zum nächsten Problem bringt«, sagte Suleiman. »Omar, der Dschinn, hat behauptet, der Erzdämon sei unsterblich. Was genau bedeutet das für uns?« Forschend sah er die Anwesenden an. Leo, der die ganze Zeit schweigend dagesessen hatte, räusperte sich. »Das bedeutet, dass dieser Zeyn eigentlich gar kein Dämon ist«, sagte er in seiner gewohnt ruhigen Art. Diese Nachricht war nun wahrlich mehr als eine Überraschung. Fünf Augenpaare sahen den Wächter des Lichts verständnislos an, während der alte Ibrahim stumm nickte und seinen Tee schlürfte. »Was soll das heißen?«, verlangte Phoebe schließlich zu wissen. »Das soll heißen, dass Zeyn ein Malak ist«, sagte Ibrahim düster. »Ein Malak?« Paige erinnerte sich dunkel, dass Suleiman noch im Kerker etwas zu diesem Thema erwähnt hatte. »Die Mala’ika des Orients sind das, was in unserer Zeit die Wächter des Lichts sind«, erklärte Leo. »Und bekanntlich können wir nicht sterben. Ich kam darauf, als es hieß, Zeyn könne im Grunde nicht getötet werden.« »Mein Vater war auch ein Malak …«, sagte Selim leise in die entstandene Pause hinein, »doch es stellte sich heraus, dass er zur dunklen Seite übergewechselt war und meine Mutter töten wollte.«
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»Du meinst –?«, begann Paige. »Soll das bedeuten –?«, fragte Piper. »Kann es sein, dass –?«, rief Phoebe. Plötzlich redeten alle aufgeregt durcheinander, bis Leo die Hand hob und um Ruhe bat. »Ja, genau das scheint der Fall zu sein«, sagte er. »Zeyn ist der Malak, welcher der Zauberin Djaudar einst zur Seite gestellt wurde, doch er wurde von der dunklen Seite korrumpiert und versuchte daher, Djaudar zu töten und sich ihres gemeinsamen Sohns zu bemächtigen. Hätte ich von hier aus eine Möglichkeit, zum Rat der Ältesten zu gelangen, wüssten wir es mit Bestimmtheit, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.« Für einen Moment war es, als ob die Zeit in dem dämmrigen Zimmer in Ald’maran stillstand. »Zeyn … ist … mein Vater?«, flüsterte Selim fassungslos. Niemand sagte ein Wort. »Mein Junge«, begann der alte Ibrahim mit brüchiger Stimme. »Ich wollte dir meinen Verdacht schon längst mitteilen, aber ich war nicht sicher –« Doch der junge Magier war schon aufgesprungen und rannte die Treppe zum Dachgeschoss hinauf. Paige wollte ihm folgen, doch Leo hielt sie zurück. »Lass ihm ein wenig Zeit«, sagte er ruhig. »Lass ihm ein wenig Zeit – allein.« Sechs junge Menschen starrten im Schein der Öllampe bedrückt vor sich hin, bevor der alte Ibrahim wieder das Wort ergriff und sie aus ihren Gedanken riss. »Ich habe die Geschichte mit dem angeblich auf Nimmerwiedersehen verschwundenen ersten Ehemann meiner - 154 -
Frau nie geglaubt«, sagte er traurig. »Hätte Djaudar mir damals die ganze Wahrheit gesagt, wäre sie vielleicht noch am Leben.« »Wie das, Vater?«, fragte Suleiman. »Nun, wir hätten zu einem Zeitpunkt entsprechende Vorkehrungen treffen können, als dies noch möglich war. Djaudar erzählte mir, dass der Malak versucht hatte, sie zu töten und ihr den kleinen Selim zu rauben. Doch danach ward er nicht mehr gesehen, und sie hat das Thema auch nie wieder angesprochen. Auch seinen Namen hat sie mir und auch euch Kindern gegenüber nie erwähnt.« Er seufzte schwer. »Es war, als ob es ihn nie gegeben hätte.« »Als wir nach Ald’maran kamen«, fuhr der blinde Mann fort, »muss uns der Malak jedoch dorthin gefolgt sein und sich in dem schwarzen Turm niedergelassen haben. Djaudar hat gewiss geahnt, dass die Sache mit ihm noch nicht vorbei war, doch sie schwieg. Das war ein Fehler. Mit den Jahren muss sich Zeyn dann in der Schwarzkunst fortgebildet und sich so eine UntotenArmee geschaffen haben.« Phoebe und Piper nickten stumm, als sie an das makabre Skelett-Aufgebot beim Friedhof dachten, und auch Paige lief bei der Erinnerung an die widerlichen Ghule ein Schauer über den Rücken. »Außerdem hat er sich mit Nekromantie beschäftigt«, fiel ihr ein. Und dann berichtete sie den Anwesenden noch einmal detailliert von Zeyns Horrorlaboratorium, auf das sie im Turm gestoßen war, und was mit dem unglücklichen Abu geschehen war. »Und irgendwie muss er dann eine Möglichkeit gefunden haben, sich die Zauberkräfte Dritter anzueignen«, fuhr der alte Mann fort, »denn soviel ich herausgefunden habe, ist es einem Malak nicht gegeben, die Magie der Elemente für sich zu nutzen.« »Das stimmt«, bestätigte Leo. »Ein Wächter des Lichts verfügt im Allgemeinen nur über die Fähigkeit, sich zwischen - 155 -
den Dimensionen fortzubewegen, und er kann Schutzbefohlene und Unschuldige heilen. Zeyn muss sich daher schon vor langer Zeit vom Pfad des Lichts abgewandt haben.« »Und er hat dafür gesorgt«, bemerkte Piper, »dass weiße Magie den künftigen Schauplatz des Geschehens nicht zu erreichen vermag. Er hat viel vorausgesehen und alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, aber er wusste dennoch nicht, dass Phoebe und ich hier sind, davon bin ich überzeugt.« »So ist es«, sagte Leo. »Er hat sogar einen Bann über Ald’maran gelegt, der verhindert, dass Hilfe in Form von weißer Magie in die Stadt gelangen kann.« »Und er hat seinen Turm zudem mit einem Schutzzauber umgeben, der weiße Magie rund um das Gebäude neutralisiert«, ergänzte Phoebe und erinnerte die Anwesenden noch einmal an ihren und Pipers Kampf mit dem Vogeldämon. »Das heißt, du, Leo, kannst von hier aus nicht zum Rat der Ältesten, und wir können innerhalb Ald’marans mit Hilfe des Buchs der Weisheit kein neues Zeitportal kreieren, um in San Francisco zu recherchieren, richtig?«, Paige seufzte. »Richtig«, bestätigte Leo. »Das Portal für eine eventuelle Rückreise ins 21. Jahrhundert steht zwar noch irgendwo in der Wüste vor den Toren der Stadt, aber dorthin kommen wir nur über den unterirdischen Gang, dessen Einstieg sich im Mausoleum des alten Friedhofs befindet. Ich halte es ehrlich gesagt für viel zu riskant, diesen Weg noch einmal zu beschreiten. Wenn Zeyn auch noch Piper und Phoebe in die Finger kriegt, ist alles aus.« Suleiman wandte sich an Piper und sagte: »Du hast eben etwas erwähnt, was vielleicht wichtig sein könnte.« »Ach ja?« »Du sagtest sinngemäß«, fuhr der junge Mann fort, »dass Zeyn viel vorausgesehen und entsprechende Vorbereitungen - 156 -
getroffen habe.« Er sah ernst in die Runde. »Doch wie genau konnte Zeyn überhaupt so viel wissen? Was ich meine: Er muss gewusst haben, dass Selim Kontakt mit Paige aufgenommen hat und sie hierher bringen würde. Sonst hätte er sie niemals dem Zeitstrom entreißen, ihre Kräfte stehlen und dann gefangen setzen können! Doch wie ist das möglich?« »Ganz einfach«, rief der junge Seif. »Er kann in die Zukunft sehen!« »Wenn er in die Zukunft sehen kam«, sagte Piper, »warum wusste Zeyn dann nicht auch, dass Phoebe und ich in eure Zeit gereist waren, und hat es verhindert?« »Weil er nur das wusste, was Selim wusste«, sagte Phoebe mit eisiger Stimme. Nun ist es heraus, dachte sie beklommen, aber dieses Gefühl, dass Selim mehr mit der Sache zu tun hatte, als er vorgab zu wissen, beunruhigte sie schon länger. Als sich ihre Blicke trafen, spürte sie, dass auch Piper in eine ähnliche Richtung dachte. »Willst du vielleicht behaupten«, rief Seif aufgebracht, »dass Selim ein falsches Spiel gespielt hat?« »Immerhin ist er Zeyns Fleisch und Blut, oder nicht?«, gab Piper zu bedenken. »Ich glaube nicht, dass Selim eure Schwester in böser Absicht hierher gelockt hat«, sagte Suleiman, doch er wirkte plötzlich leicht verunsichert. »Vielleicht war er ein Werkzeug Zeyns ohne es zu ahnen«, murmelte Leo. Alle sahen ihn fragend an. »Na ja, es könnte doch sein, nein, es ist sogar sehr wahrscheinlich«, erklärte der Wächter des Lichts, »dass es eine irgendwie geartete, geheime Verbindung zwischen dem ehemaligen Malak und seinem leiblichen Sohn gibt. Dass Zeyn jederzeit genau wusste, wo Selim war und was dieser als - 157 -
Nächstes plante. So konnte er ganz bequem die Dinge voraussehen und entsprechende Maßnahmen ergreifen, um seinen Plan voranzutreiben.« »Und was genau ist sein Plan?«, fragte Phoebe müde, der langsam, aber sicher der Kopf schwirrte. »Das Übliche, wie ich vermute – ultimative Macht. Ich denke, ursprünglich wollte er nur die drei Magierbrüder vernichten, da sie seine Pläne, die Weltherrschaft an sich zu reißen, zu durchkreuzen drohten«, überlegte Leo. »Er fand einen Weg, Magie zu absorbieren, und hat bei nächster Gelegenheit Seif und Suleiman kaltgestellt. Damit war der magische Bund der drei Brüder, der ihm hätte gefährlich werden können, bis auf weiteres gestört. Die Verbindung zu seinem leiblichen Sohn indes bestand immer, und so hat Zeyn herausgefunden, dass Selim mit Hilfe des Buchs der Weisheit einen Weg in die Zukunft suchte und auch fand, um Paige, eine verwandte Seele, ausfindig zu machen, damit sie ihm im Kampf gegen den Malak helfe.« Der Wächter des Lichts machte eine kleine Pause und trank einen Schluck Tee. Ungeduldig warteten die Anwesenden darauf, dass er mit seiner These fortfuhr. »Und dann«, führte Leo weiter aus, »indem er heimlich Selims Pläne durchschaute, ist Zeyn aufgegangen, dass eine mächtige Hexe im Begriff war, in seine Zeit zu kommen. Ich vermute, der Gedanke hat ihn weniger beunruhigt, denn triumphieren lassen. Plötzlich sah er die Möglichkeit gekommen, weitere Zauberkräfte an sich zu reißen, und sein Sohn verhalf ihm dazu, ohne es zu ahnen.« »Und weil Selim nicht wusste, dass ich zwei Hexenschwestern habe, wusste auch Zeyn nichts von ihnen?«, fragte Paige. Leo nickte.
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»Dennoch hat er einen Bann über Ald’maran gelegt, kurz nachdem wir hier eintrafen«, erinnerte Piper die anderen. »Aber wieso?«, fragte sie langsam. »Er hätte Leos Theorie zufolge doch davon ausgehen müssen, dass er nach Paiges Eintreffen in seiner Zeit nichts mehr zu befürchten hatte.« »Vielleicht wollte Zeyn einfach verhindern, dass Selim sich weitere Hilfe aus der Zukunft holte, nachdem Paige ja nicht mehr bei ihm war?«, mutmaßte Seif. »Ist doch nahe liegend, oder?« »Selim kehrte, wie wir wissen, umgehend wieder nach San Francisco zurück, als Paige nicht mit ihm hier eintraf, und beschloss erst in unserer Zeit, Halliwell Manor aufzusuchen«, gab Leo zu bedenken. »Das lässt vermuten, dass die Verbindung zwischen Zeyn und Selim nur hier in dieser Epoche besteht, denn sonst hätte Zeyn ja gewusst, was Selim als Nächstes vorhatte.« »Verstehe«, sagte Phoebe. »Und als wir zwischenzeitlich hier eintrafen, da hat uns Zeyn dem Zeitstrom nicht entrissen, weil er gar nicht mit uns gerechnet hat, wie er es im Fall von Paige tat. Ganz im Gegenteil, wir konnten uns unbehelligt in der Stadt bewegen.« »Nicht ganz unbehelligt«, erinnerte Piper. »Immerhin hat er uns diesen Vogeldämon auf den Hals gehetzt. Es erhebt sich also nach wie vor die Frage, wie oder von wem er kurz darauf dennoch erfuhr, dass Phoebe und ich in Ald’maran waren?« Niemand hatte eine passende Erklärung parat. »Fassen wir also zusammen«, sagte Suleiman schließlich und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Zeyn hat offensichtlich Verbindung zu Selim, die aber immer dann abreißt, sobald unser Bruder seine Zeit verlässt. Zeyn wusste daher schon im Voraus, dass eine junge Hexe aus der Zukunft herkommen würde, und hat sich Paige auch sogleich geschnappt, als es so weit war. Selim jedoch blieb unbehelligt, sodass er in eure Zeit - 159 -
zurückkehren konnte. Das heißt, an diesem Punkt ist dem abtrünnigen Malak sein Plan scheinbar aus den Händen geglitten.« Alle nickten, und Suleiman fuhr fort: »Kurz darauf treffen Piper und Phoebe in Ald’maran ein, was Zeyn nicht zu verhindern wusste, später dennoch irgendwie erfahren haben muss. Denn kurz darauf legt er einen Bann über die Stadt, wohl wissend, dass sein Sohn noch nicht wieder zurückgekehrt war, und schickt Piper und Phoebe den Vogeldämon hinterher.« »Das bedeutet«, sagte Leo, »dass Zeyn zwar zu spät erfuhr, dass Piper und Phoebe ihrer Schwester gefolgt waren, nichtsdestotrotz erfuhr er jedoch davon. Aber wie?« »Abu!«, rief Paige plötzlich, und alle sahen die junge Hexe verdutzt an. »Als ich in Zeyns Laboratorium kam, lag doch dort der tote Abu, und der hatte einen Schlauch in der Nase, der direkt in sein Gehirn führte«, erklärte sie aufgeregt. »Ja und?«, fragte Phoebe erschöpft. »Das wissen wir doch schon.« »Abu war ein Beschwörer des Geistes«, erklärte Suleiman, dem allmählich dämmerte, worauf Paige hinauswollte. »Allein mit der Kraft seiner Gedanken konnte er in die Zukunft sehen.« »Aber er war kein Zauberer oder Hexenmeister«, Leo nickte langsam, »deshalb war es Zeyn auch nicht möglich, sich die Kräfte des Mannes anzueignen, indem er sie einfach absorbierte – denn Abu besaß ja gar keine Magierfähigkeiten.« »Und daher hat Zeyn sich Abus Geistesessenz auf andere Art verschafft«, setzte Paige hinzu und erschauderte bei dem Gedanken.
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»Das ist ja alles schön und gut«, meinte Piper verwirrt, »doch was hat das mit mir und Phoebe zu tun?« »Ich vermute, Zeyn hat sich mithilfe von Abus Hirn einen Seelenspiegel geschaffen«, sagte Leo. »Was ist denn ein Seelenspiegel?«, fragten Phoebe und Seif wie aus einem Munde. »Eine etwas altertümliche, äh, Vorrichtung, um das Eintreffen und Vorhandensein magiebegabter Seelen aufzuspüren«, erklärte Leo. »Zeyn hat sich also eine Art Seismograph gebastelt, der mit … Hirnschmalz funktioniert?«, fragte Paige und verzog angeekelt das Gesicht. »So in etwa«, sagte Leo. »Wie ein Pendel ausschlägt, wenn man es auf eine bestimmte Person ansetzt, so reagiert die Substanz eines Seelenspiegels auf atmosphärische, in unserem Fall magische Veränderungen im Umkreis. Oder anders gesagt: Sobald sich das magische Potenzial innerhalb eines bestimmten Radius vergrößert, reagiert der Seelenspiegel darauf.« »Das bedeutet«, schlussfolgerte Phoebe, »Zeyn wusste zwar, dass weitere magisch begabte Personen in seine Zeit eingedrungen waren, aber er wusste vermutlich nicht, um wen es sich dabei handelte, nachdem die Verbindung zu Selim ja abgerissen war. Und während sein Sohn im 21. Jahrhundert Kontakt mit Leo aufnahm, schickte er mir und Phoebe auf gut Glück diesen Vogeldämon hinterher.« »Das ist die Lösung!«, rief Phoebe, und Leo nickte. »Das mag ja sein«, meinte Suleiman freudlos, »doch die Lösung für unser Problem ist das ganz und gar nicht. Wir wissen jetzt zwar, wie Zeyn es angestellt hat, aber wir wissen immer noch nicht, was wir gegen ihn unternehmen können.« »Stimmt«, murmelte Piper ärgerlich. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen. Die Macht der Drei ist aufgehoben, der Bund - 161 -
der Magier ebenfalls. Und als ob das alles noch nicht schlimm genug ist, müssen wir erfahren, dass Selim der Sohn des Gegners ist, den wir zu vernichten suchen. Wobei wir Zeyn gar nicht vernichten können, da er ja eine Lichtgestalt ist …« Sie sah die anderen bestürzt an. »Mit anderen Worten: Wir sind so gut wie erledigt!« Der alte Malak zitterte vor Wut. In seinem Privatgemach standen sein persönlicher Diener Chatun und zwei weitere Ghule vor ihm, die betreten die Köpfe hängen ließen. »Wie konnten die Gefangenen entkommen?«, donnerte Zeyn in Richtung der beiden namenlosen Untoten. »Es war eure Aufgabe, sie zu bewachen!« Keine Antwort. Zeyn hob seinen rechten Arm, und dann schoss ein tiefroter magischer Feuerstrahl aus seiner Hand, der den einen Ghul mitten in die Brust traf. Die Kreatur heulte gepeinigt auf, brach zusammen und krümmte sich vor Schmerzen am Boden. »Das wird dich lehren, deine Aufgaben in Zukunft ernster zu nehmen«, schnarrte der Malak, während sich in dem Raum ein beißender Gestank ausbreitete. Der Ghul am Boden schrie und schrie und schrie … Nachdem Piper die Situation so schonungslos in Worte gefasst hatte, entstand eine beklommene Pause, die der gute Ibrahim dazu nutzte, seinen Gästen ein einfaches Mahl aus Sesambrot, Dörrfleisch, Ziegenkäse und gesüßten Feigen zu servieren.
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Während die jungen Leute schweigend aßen und tranken, führte sich ein jeder der Anwesenden Pipers Ausspruch und dessen Konsequenzen vor Augen. Wie es schien, hatte es Zeyn geschafft, den Bund der Magier und die Macht der Drei zu zerschlagen. Zudem saßen die drei Hexen sozusagen in der Zeitfalle. Es gab für sie nur einen Weg zurück, und dieser führte durch das Zeitportal in der Wüste, durch das Leo und Selim in die Vergangenheit gereist waren. Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte, sich durch den unterirdischen Gang zu kämpfen, in dem Zeyn vermutlich schon wieder neue dämonische Schergen platziert hatte, was war gewonnen, wenn sie danach zurück nach San Francisco teleportierten? Paige wäre nach wie vor ohne ihre Zauberkräfte, die Macht der Drei bliebe zerstört, und hier, in Ald’maran, würde Zeyn den Lauf der Zeit ändern und eine dunkle Ära einläuten. Und das wiederum hieße nichts anderes, als dass die Zauberhaften in eine Zeit heimkehren würden, in der das Böse schon seit langem die Regentschaft übernommen hatte. Eine Regentschaft, die ihren Anfang hier in Ald’maran genommen hatte, da der Bund der Magier mithin ebenfalls zerstört war. Somit wäre es Zeyn gelungen, nicht nur das mächtigste Zaubertrio seiner Zeit auszuschalten, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Macht der Drei in der Zukunft schlicht und einfach nicht mehr existierte. Kurz: Der Lauf der Dinge würde sich unwiderruflich ändern, wenn die drei Brüder, mit oder ohne die Zauberhaften, hier und jetzt nicht den Kampf gegen Zeyn wagten – und gewannen. In diesem Moment erhob sich Paige von ihrem Sitzkissen. »Ich werde mal nach Selim sehen«, sagte sie leise, »und ihm etwas zu essen bringen.« Sie nahm sich ein Stückchen Brot vom Tisch und wandte sich zum Gehen. Niemand hielt sie auf. Alle sahen ihr schweigend nach. - 163 -
Langsam stieg Paige die Treppe hinauf ins Obergeschoss und betrat den düsteren Raum. In der Ecke mit den Schlafplätzen saß Selim im Schein einer Öllampe am Boden und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. »Selim«, flüsterte Paige und trat zögernd auf den jungen Mann zu. Erschrocken sah der Magier auf; er hatte sie offensichtlich nicht kommen hören. »Hallo, Paige«, sagte er mit belegter Stimme. »Wie geht es dir?« Sie trat näher und setzte sich zu ihm auf die Wollmatratze. »Ich habe dir etwas Brot gebracht.« Aus der Nähe sah sie, dass Selims Wangen nass von Tränen waren. Der Anblick zerriss ihr fast das Herz. Verschämt wischte sich der junge Mann mit dem Ärmel über das Gesicht. »Mir geht es gut«, sagte er mit fester Stimme. »Besser, als ich nach dieser ungeheuerlichen Nachricht erwartet hätte.« Sie reichte ihm das Stück Brot, doch er schüttelte nur den Kopf. »Danke, aber ich habe keinen Hunger.« »Du darfst dir das alles nicht so zu Herzen nehmen«, begann Paige. »Was können denn die Söhne für die Sünden ihrer Väter«, fügte sie hinzu und schalt sich im gleichen Moment für diese hohle Phrase. »So einfach ist diese Angelegenheit aber nicht abgetan«, erwiderte Selim. »Einerseits steht zu befürchten, dass ich das unheilige Erbe meines Vaters in mir trage, andererseits wird von mir erwartet, dass ich meinen, nun ja, Erzeuger vom Antlitz dieser Erde fege, wenngleich niemand weiß, wie uns das überhaupt gelingen sollte.« Traurig sah er Paige aus seinen dunkelgrünen Augen an, und wie von einem inneren Impuls
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getrieben, legte Paige das Stück Brot aus der Hand und berührte sanft seine Wange. In diesem Moment wurde sie von wohliger Wärme durchströmt, und jede Faser ihres Körpers vibrierte. Auch Selim spürte es offenbar, denn er zog Paige plötzlich leidenschaftlich an sich, sodass sich ihre Herzschläge miteinander zu vereinen schienen. »O Paige«, raunte er ihr ans Ohr, »wie ich mich danach gesehnt habe …« Seine Hände strichen über ihren Rücken, wanderten hinauf zu ihrem Nacken und fuhren verzückt durch ihr Haar. Sie wandte ihm langsam ihr Gesicht zu, noch immer völlig im Bann der auf sie einströmenden Gefühle. Ihre Lippen fanden sich in einem zarten Kuss, der von Sekunde zu Sekunde leidenschaftlicher wurde und sie immer trunkener machte, bis sie schließlich eng umschlungen auf die Matratze zurücksanken. »Ich liebe dich, Paige …«, seufzte Selim, und Paiges Herz machte vor Glück einen Satz. Es war alles wie ein Traum. Noch heute Morgen hatte sie ihr trübsinniges Dasein beklagt, und dann war dieser wunderbare Mann im South Bay Sozialdienst erschienen und hatte ihr Herz im Sturm erobert, auch wenn er sie mit einer gänzlich erfundenen Geschichte aus dem Büro fortgelockt hatte, um den Bund der Magier und damit die Welt zu retten … »Selim, ich muss dich etwas fragen«, sagte Paige ein wenig atemlos zwischen zwei Küssen. »Alles, was du willst«, flüsterte Selim. »Piper und Phoebe haben doch erzählt, dass das Hotel in Nob Hill völlig verfallen war, als sie es betraten, um nach mir zu suchen. Wie kann das sein? Als wir dort eintrafen, war es doch völlig intakt …« »Das war der Zauber der Liebe, Paige«, erwiderte Selim lächelnd. »Wenn sich zwei Menschen treffen, die allein schon
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durch ihre Geburt so füreinander bestimmt sind wie wir, dann wird selbst das Hässlichste auf dieser Welt wunderschön.« Er streichelte ihr Gesicht, bedeckte es mit heißen Küssen, und bei jeder seiner Berührungen sank sie ein bisschen mehr in jene süße Paralyse der rückhaltlosen Hingabe, die bei allen Liebenden zu allen Zeiten nach und nach den Verstand zu umnebeln droht. Sie schloss die Augen, und in diesem Moment schoss ihr ein Bild durch den Kopf. Es war das hässliche, abstoßende Bild aus ihrem Alptraum, der sie heimgesucht hatte, als sie mit Selim durch das Zeitportal geschritten war. Es war die Fratze des Todes, der sie aus kalten, reptiliengleichen Augen anstarrte … Keuchend fuhr sie auf und griff sich an die Brust. »Was ist mit dir, Liebste?«, fragte Selim erschrocken. »Nichts …«, murmelte sie. »Mir ist nur ein bisschen … schwindelig.« »Mir auch«, sagte Selim und lächelte sie verliebt an, doch Paige senkte nur verstört den Kopf. »Oder … bin ich dir … vielleicht zu nahe getreten?« »Nein«, sagte Paige schnell. Unwillkürlich rückte sie ein winziges Stück von ihm ab. Da richtete auch er sich wieder auf und erhob sich langsam. »Du … hast Angst vor mir?«, fragte er fassungslos. »Die Sünden der Väter, habe ich Recht?«, fügte er bitter hinzu. »Nein, es ist nicht so, wie du denkst!«, beeilte sich Paige zu erklären, doch da war Selim auch schon durch die Tür, die aufs Dach hinausführte, verschwunden. Langsam folgte sie ihm, stieg die drei Stufen hinauf und betrat das mit liebevoller Hand begrünte Flachdach, von dem man einen atemberaubenden Blick über das frühabendliche - 166 -
Ald’maran hatte. Die Hitze des Tages war noch unter ihren Füßen zu spüren, als sie im Schatten einiger Topfpalmen näher trat. In der Ferne rief der Muezzin die Gläubigen zum Nachtgebet, während tausend Lichter den prächtigen Herrscherpalast und die goldenen Kuppeln der Moschee aufs Eindrucksvollste illuminierten. Selim stand am Rand des Dachs, das von einer niedrigen Lehmbrüstung eingefasst war, und starrte in die Dämmerung hinaus. Am Horizont erhob sich der schwarze Turm auf dem Hügel wie ein unheilvoller Totempfahl. Der schwarze Turm. Mit Grausen dachte Paige an die Stunden zurück, die sie in seinen feuchten Mauern zugebracht hatte. Nie wieder wollte sie diesen Hort des Schreckens betreten und nie wieder Zeyns hässliche Fratze sehen müssen. Wie durchdrungen von Bösartigkeit musste die einstige Lichtgestalt mit den Jahren geworden sein, dass die ehemals so strahlende Erscheinung nicht nur tief in ihrem Inneren, sondern auch äußerlich auf derart abstoßende Weise entstellt worden war. Sie trat neben Selim an die Brüstung und sah hinaus in die einbrechende Nacht. Unter ihnen liefen einige Eseljungen vorbei; der Eingang zum Basar am Ende der Straße war von Fackeln erhellt, und noch immer eilten dort Händler und Lastenträger umher. »Es ist nicht so, wie du denkst«, wiederholte Paige noch einmal. »Es ist nicht so, dass ich Angst vor dir habe«, fuhr sie fort, »ich habe Angst, dass das Schicksal …« »… ein grausames Spiel mit uns treibt?«, vollendete Selim ihren Satz.
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»Ja«, erwiderte Paige, obwohl es nicht exakt das war, was sie eigentlich hatte sagen wollen. »Ich … ich … fühle auch, was du fühlst, Selim«, fuhr sie fort. »Wir beide sind die Abkömmlinge eines Sendboten und einer Magierin, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, warum wir uns so sehr zueinander hingezogen fühlen.« Sie holte tief Luft. »Aber kann es denn für uns eine Zukunft geben? Wir leben in unterschiedlichen Welten, zu unterschiedlichen Zeiten, und wir haben, jeder in seiner Generation, eine Aufgabe zu erfüllen. Ich bin eine der Zauberhaften, du bist Teil des Magierbundes.« »Warum können wir nicht gemeinsam gegen die dunkle Seite kämpfen?«, begehrte Selim auf. »Entweder in deiner oder in meiner Zeit. Es ist doch völlig gleich.« »Solange ich meine Kräfte nicht habe, kann ich überhaupt nicht kämpfen«, meinte Paige betrübt. »Weder in deiner noch in meiner Zeit. Ohne meine Kräfte bin ich nichts … und ohne die Macht der Drei wäre das Schicksal unserer Welt besiegelt.« »Glaubst du an die Kraft der Liebe?«, fragte Selim. Auf diese Frage war Paige nicht vorbereitet gewesen. Sie überlegte, und nach einer Weile sagte sie: »Die Kraft der Liebe kann viel bewirken.« Herrgott, dachte sie, warum klingt eigentlich alles, was ich sage, so schrecklich banal? Warum kann ich ihm nicht einfach sagen, was ich fühle? Nie habe ich derartig tief für einen Mann empfunden. Ich könnte ihm auf der Stelle mein Leben zu Füßen legen, und doch habe ich mehr Angst, als ich zu sagen imstande bin. »Ich meine … ich wollte damit sagen, dass …« Er wandte sich mit ernstem Gesicht zu ihr um und fragte: »Liebst du mich, Paige?« »Ich liebe dich, Selim, aber –«
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Abrupt drehte sich Selim herum. »Dann werde ich einen Ausweg finden«, rief er entschlossen. »Immerhin ist er mein Vater.« Noch ehe Paige etwas antworten konnte, war der junge Magier in einer blauen Wolke aus Licht verschwunden. »Selim …« Atemlos platzte Paige in den durch Kerzen spärlich erleuchteten Wohnraum im Erdgeschoss, in dem ihre Schwestern, Leo, Seif, Suleiman und Ibrahim noch immer am Boden saßen und die nächsten Schritte beratschlagten. »Selim ist fort!« »Fort?« Suleiman sprang auf und ging erregt auf die junge Hexe zu. »Fort wohin?« Paige schilderte den anderen in knappen Worten, was Selim zu ihr gesagt hatte, bevor er verschwunden war. Aus nahe liegenden Gründen unterließ sie es, die leidenschaftliche Kussszene und die Zukunftspläne zu erwähnen, die Selim geschmiedet hatte. »Soll das heißen, er ist zum schwarzen Turm gegangen, um mit Zeyn zu … sprechen?«, fragte Piper erstaunt. »So klang es«, meinte Paige. »Er sagte ›Immerhin ist er mein Vater‹ und verschwand.« »Allah steh uns bei«, murmelte der alte Ibrahim. Selim materialisierte wenige Schritte vor dem Haupteingang des schwarzen Turms. Der Friedhof zu seiner Linken wie der gesamte Hügel lagen still und dunkel da.
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Nicht nur aus den Erzählungen von Piper und Phoebe wusste er, dass das Gebäude mit einer magischen Barriere umgeben und dass die Pforte durch eine Falle geschützt war. Er überlegte gerade, wie er sich dennoch gefahrlos Einlass verschaffen konnte, als sich das schwere Holzportal knarrend öffnete. Auf der Schwelle stand eine in Lumpen gekleidete Gestalt in schmutzigen Fußlappen. Ihrem schwarzgrün verfärbten Gesicht nach zu urteilen offensichtlich ein Ghul aus seines Vaters Gefolge. »Komm«, sagte der Untote und schlurfte voran ins Innere des schwarzen Turms. Man hatte ihn anscheinend schon erwartet. Selim tat wie geheißen und betrat die kühle Säulenhalle. So alt und baufällig der Turm von außen auch wirkte, so prachtvoll war sein Inneres. Der Boden im Eingangsbereich war ein Kunstwerk aus schwarzem Marmor und silbernen Mosaiken. Die Wände waren mit Ornamenten aus Blattgold und Türkisen verziert. Und von der hohen Kuppeldecke, die einem sternenklaren Nachthimmel nachempfunden worden war, hing ein riesiger eiserner Radleuchter, in dem unzählige Kerzen brannten, die die Halle in ein fast überirdisches Licht tauchten. An der Stirnseite des riesigen Saals befand sich ein schwarzes marmornes Podest, auf dem Selim eine gebückte Gestalt ausmachen konnte, die sich soeben langsam von einem thronähnlichen Stuhl erhob. »Willkommen, mein Sohn«, schnarrte die Gestalt, als Selim näher trat. »Ich grüße dich, Vater«, sagte Selim.
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7 IM
HAUS DES ALTEN IBRAHIM war unterdessen ein wahrer Sturm losgebrochen, und alle Anwesenden redeten aufgeregt durcheinander. Piper und Phoebe waren aufgesprungen und machten ihrer Halbschwester Paige schwere Vorhaltungen, dass sie Selim den Kopf verdreht habe, woraufhin der junge Magier sich nun leichtsinnigerweise in die Höhle des Löwen begeben hatte. »Wie konntest du das nur zulassen? Was, wenn Zeyn ihm nun auch seine Kräfte stiehlt?«, rief Piper empört. »Dann sind nur noch ich und Phoebe in der Lage, mit Hilfe von Magie etwas auszurichten. Verdammt noch mal!« Sie schnaubte erbost. »Aber ich konnte doch gar nichts dafür!«, verteidigte sich Paige. »Er war so schnell weg, dass ich ihn nicht mehr aufhalten konnte!« »Seine Ritterlichkeit wird ihn teuer zu stehen kommen«, knurrte Phoebe. »Und überhaupt: Nur weil du diesem Selim blind und taub gefolgt bist wie ein verknallter dummer Teenager, sind wir erst in diese Situation geraten!« Paige wollte protestieren, doch im Grunde hatte Phoebe ja nicht ganz Unrecht mit ihrer Feststellung. »Unsere Gefühle waren schon immer unser größter Feind«, bemerkte Piper düster. »Und dich, liebe Phoebe, möchte ich in diesem Zusammenhang nur an die Sache mit Cole erinnern.« Seif und Suleiman hatten sich neben die Feuerstelle nahe der Eingangstür zurückgezogen und debattierten ihrerseits die neu entstandene Lage. »Wie konnte Selim das nur tun?«, ereiferte sich der junge Seif. »Er war unsere einzige Hoffnung.« »Die Liebe ist selten ein guter Ratgeber«, meinte Suleiman düster und sah verstohlen hinüber zu Paige.
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»Die Liebe, die Liebe …« Seif raufte sich das ohnehin schon zerzauste Haar. »Wenn ich das schon höre! Hätte Selim seine Sinne beisammen gehalten, anstatt sich Hals über Kopf in diese Hexe zu verlieben, wäre alles bestimmt nicht halb so schlimm gekommen, wie es jetzt ist …« Aus gutem Grund vermied Seif es, sich anmerken zu lassen, dass er selbst eine kleine Schwäche für die schöne Fremde hegte, seit er sie in Zeyns Kerker zum ersten Mal gesehen hatte. Und dass ihm die verliebten Blicke zwischen seinem Halbbruder und Paige jedes Mal einen klitzekleinen Stich versetzt hatten, mochte er sich nun auch nicht mehr eingestehen. Kopfschüttelnd stand Leo zwischen den beiden streitenden Parteien. »Ich bitte euch!«, rief er. »Es nützt doch nichts, wenn wir uns jetzt gegenseitig Vorhaltungen machen. Wenn auch wir jetzt den Kopf verlieren, dann, und erst dann hat Zeyn gewonnen!« »Ein weiser Einwand«, murmelte der alte Ibrahim, der gerade dabei war, noch einmal Tee aufzubrühen. Murrend setzten sich die drei Schwestern wieder auf die weichen Kissen rund um den Messingtisch. Leo, Seif und Suleiman folgten ihrem Beispiel. Zuletzt nahm Ibrahim Platz, nachdem er eine frische Kanne Pfefferminztee auf dem Tablett vor ihnen abgestellt hatte. »Was sollen wir nun machen?«, fragte Suleiman. »Sollen wir abwarten, bis Selim zurückkehrt – wenn er denn jemals zurückkehrt –, oder sollen wir unsererseits zum schwarzen Turm gehen?« »Damit sich Zeyn auch meine und Phoebes Kräfte unter den Nagel reißen kann?«, fragte Piper provozierend. »Und überhaupt: Ohne die Macht der Drei ist wahrscheinlich gar nichts auszurichten.«
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»Was könnten wir auch schon groß ausrichten, Magie hin, Magie her?«, maulte Seif. »Ich denke, Zeyn ist unsterblich? Genauso gut könnten wir versuchen, mit einem Löffel den Ozean auszuschöpfen.« »Zeyn mag zwar unsterblich sein«, sagte Leo langsam, »aber ich glaube, man kann ihn trotzdem unschädlich machen.« Sechs Köpfe flogen herum; sechs Augenpaare starrten den Wächter des Lichts an, wenngleich der alte Ibrahim den blonden jungen Mann ja nicht wirklich ansehen konnte. »Was willst du damit sagen, Schatz?«, fragte Piper, und Hoffnung glimmte in ihrem Blick auf. »Nun, Zeyn ist und bleibt ein Sendbote«, sagte Leo. »Ein Sendbote zwar, der auf die dunkle Seite gewechselt ist, aber dennoch ein himmlisches Geschöpf.« Er trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: »Wächter des Lichts, oder Mala’ika, wie man uns hier nennt, können zwar nicht getötet werden, weil sie im Grunde nicht von dieser Welt sind, doch man kann sie dahin zurückbefördern, von wo sie kamen: ins Reich der höheren Mächte. Dort würde Zeyn dann zur Verantwortung gezogen werden für das, was er getan hat, und nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen können.« »Das ist ja dann so gut wie tot«, bemerkte Phoebe trocken. »In der Tat«, bestätigte Leo. »Was geschähe danach mit unseren Kräften?«, fragte Paige. »Die würden sehr wahrscheinlich in dem Moment, da der Malak ins Reich der höheren Mächte eintritt, in ihre ursprünglichen Besitzer zurückkehren«, erwiderte Leo. »Und was, wenn die Besitzer längst nicht mehr leben?«, fragte Phoebe. »Dann werden deren Kräfte in Form von Energie freigesetzt, bis sie einen neuen, hoffentlich würdigen Hort finden«,
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erwiderte Leo. »Aber um einen Sendboten unschädlich zu machen, einen abtrünnigen Sendboten zudem, der alle mögliche Magie an sich gerissen hat, braucht man –« »Die Macht der Drei«, vollendete Piper seufzend seinen Satz. »Womit wir wieder am Anfang wären.« Wütend schlug sie auf das wollene Sitzkissen unter sich. »Es ist zum Kotzen! Wir drehen uns unablässig im Kreis!« »Kannst du als Wächter des Lichts denn nichts tun?«, fragte Suleiman. »Ich bin weder in der Lage, noch wäre ich befugt, einen der Unsrigen zu richten«, sagte Leo. »Die Einheit muss wieder hergestellt werden, sonst … sonst ist alles verloren«, murmelte Phoebe plötzlich. »Wie bitte?«, fragte Paige. »Das waren die Worte der Wahrsagerin«, erklärte Phoebe, »die Piper und ich in Ald’maran getroffen haben: ›Die Einheit muss wieder hergestellt werden, sonst ist alles verloren.‹« »Damit hat sie dir ja nichts wirklich Neues prophezeit«, meinte Paige. »Wir wissen doch selbst, dass die Macht der Drei nötig ist, um –« Sie brach ab, denn Phoebe war plötzlich wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen. »Was?«, rief Piper bang. »Verdammt, warum bin ich nicht schon längst daraufgekommen!« Mit einem Satz war Phoebe bei der Treppe und ins oberste Geschoss des alten orientalischen Hauses gerannt. Leo, die beiden Brüder und ihre Schwestern folgten ihr in einer Mischung aus Sorge und Ratlosigkeit. Vor dem Buch der Weisheit blieb Phoebe stehen. Die Seite mit dem Bild des schwarzen Turms war noch immer aufgeschlagen. - 174 -
»Und es wird kommen die Zeit«, deklamierte Phoebe laut, »da werden Iblis’ Diener ausziehen, die Welt zu vernichten. Wehe denen, welche die Botschaft im Buch der Weisheit nicht zu deuten wissen.« Sie hob den Kopf und sah triumphierend in die Runde. »Und jetzt kommt’s, hört gut zu: Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten!« Ratlose Gesichter. Keiner sprach ein Wort, bis Seif schließlich zögernd fragte: »Ja … und?« »Aber versteht ihr denn nicht?«, rief Phoebe. »Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten! Hier haben wir den Bund der Magier, dort die Macht der Drei. Doch beide, ähm, Teams sind, was ihr magisches Potenzial betrifft, derzeit unvollständig.« Niemand widersprach. »Doch was«, fuhr Phoebe fort, »wenn wir eine neue schlagkräftige magische Verbindung schaffen würden mit mir, Piper und Selim? Eine temporäre Macht der Drei sozusagen, um Zeyn zu besiegen! Denn: Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten!« »So hast du also doch noch den Weg zu mir gefunden«, sagte Zeyn und trat auf seinen Sohn zu. »Mutter sprach von dir als einem schönen, strahlenden Mann«, sagte Selim. »Davon scheint nicht mehr viel übrig zu sein.« Ein Zucken durchlief den abstoßenden Körper des Malak. »Die Beschäftigung mit der Magie zehrt an mir«, schnarrte der Alte. »Du meinst die Beschäftigung mit der schwarzen Magie und mit dem Tod«, verbesserte sein Sohn. - 175 -
»Ich bin nun schon länger auf dieser Welt, als du dir vorstellen kannst«, sagte Zeyn. »Deine Mutter war nicht die Erste, der ich zur Seite gestellt wurde, aber sie war die Erste, die mir einen Sohn gebar – dich.« »Wieso bist du vom rechten Wege abgewichen?«, fragte Selim leise. »Wieso hast du Mutter getötet?« »Ich habe eure Mutter nicht getötet«, sagte Zeyn. »Das war Stamatis, der griechische Hexenmeister, dessen Mentor ich einst war.« »Ist das der mit den Dschinn?«, fragte Selim, der sich an die Geschichte mit dem Lampengeist erinnerte, die Paige, Seif und Suleiman erzählt hatten. »Ja, der mit dem unendlich dummen Dschinn«, erwiderte Zeyn. »Stamatis war ein Nekromant, der glaubte, dass sich der Schlüssel zur magischen Fähigkeit einer Person in deren Seele befände und dass wiederum die Seele im Herzen dieser Person gefangen sei.« Der Alte stieß ein trockenes Husten aus. »Er tötete wahllos Menschen, die er mit besonderen Kräften ausgestattet wähnte. So auch deine Mutter. Ich erfuhr zu spät davon und konnte es nicht mehr verhindern.« »Vor der Wüste trafen wir auf einen Kummerfluch namens Malah. Die Frau behauptete, du hättest ihr das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen. Was sagst du dazu?« »Stehe ich hier etwa vor meinem Richter?«, donnerte Zeyn. »Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu sprechen?« »Warum beantwortest du nicht einfach meine Frage, Vater?«, sagte Selim ruhig. »Warum also hast du Malah getötet?« »Sie wollte mir meinen Sohn vorenthalten!« Selim holte scharf Luft. »Du hast noch einen leiblichen Sohn?«
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»So ist es«, erwiderte Zeyn. »Als ich deine Mutter verließ, kam ich nach Ald’maran und heiratete Malah. Sie war ebenfalls eine Zauberin, wie deine Mutter, und huldigte noch den alten Göttern. Bald darauf war sie guter Hoffnung, doch sie hatte nicht vor, mir das Kind zu geben, also …« »Also hast du sie getötet und den Verdacht auf Stamatis gelenkt?« »Sie stand im Begriff, meine Pläne zu durchkreuzen«, sagte Zeyn nur, als sei das Erklärung genug. »Was wurde aus dem Sohn von Malah?«, fragte Selim. »Sie hatte ihn gleich nach seiner Geburt vor mir versteckt und meinem Zugriff entzogen, die alte Hexe.« Der alte Malak spuckte wütend auf den prächtigen Marmorfußboden in der Halle. »Und dann erfuhr ich, dass das Kind am Gelbfieber gestorben war. Ich hätte es retten können, doch ich habe es niemals zu Gesicht bekommen.« Er hob sein kahles Haupt und sah Selim aus seinen reptilienartigen Augen an. »Aber das ist nun ganz gleich, denn jetzt bist du ja hier, mein Sohn.« »Was willst du damit sagen?« »Es heißt«, schnarrte Zeyn, »wir Mala’ika seien unsterblich, und tatsächlich weile ich schon unendlich lange auf Erden. Dennoch hat mich die Beschäftigung mit der Magie hinfällig werden lassen. Ich verblasse wie ein Wandgemälde unter der Sonne, werde von Tag zu Tag schwächer, welke dahin wie ein Baum ohne Wasser …« »Du stirbst?!«, fragte Selim fassungslos. »Ja, dieser Körper stirbt, mein Sohn«, krächzte Zeyn. »Und es ist an der Zeit, dass ich einen Nachfolger bestimme, der meine Pläne vollendet.« Er sah Selim lauernd an. »Einen Nachfolger von meinem Fleisch und Blut.«
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Phoebes plötzliche Eingebung hatte zur Folge, dass alle Anwesenden aufeinander einredeten, sodass wiederum ein heilloses Stimmengewirr das Haus des alten Ibrahim erfüllte – diesmal ausgehend vom Dachgeschoss. Und wieder war es Leo, der die anderen zur Besonnenheit rufen musste. »Ich denke, wir sollten diese hervorragende Idee unten weiter besprechen. In Ruhe, und bei einer Tasse dieses köstlichen Pfefferminztees.« Er zwinkerte Piper zu, die ihn liebevoll anlächelte. Keine Frage, die Stimmung hatte sich deutlich verbessert, seit Phoebe so etwas wie einen Hoffungsschimmer am Horizont dieses altorientalischen Jammertals entdeckt hatte. Und tatsächlich entbehrte ihre Idee nicht einer gewissen Logik, wie alle versicherten, als man sich wieder um den flachen Messingtisch im Wohnraum versammelt hatte. »Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten«, wiederholte Piper. »Dass wir nicht eher darauf gekommen sind.« »Doch wie sollen wir es anstellen, eine temporäre Macht der Drei zu erschaffen?«, fragte Suleiman. »Soweit ich weiß, wurde der magische Bund bei euch – wie auch bei uns – seinerzeit durch das jüngste Mitglied heraufbeschworen.« »Das stimmt«, bestätigte Phoebe. »Es gibt im Buch der Schatten eine Art Initiationsspruch, der die Macht der Drei manifestiert.« »So ein Spruch steht auch im Buch der Weisheit«, bestätigte Seif. »Ich selbst habe ihn damals laut hergesagt, ohne zu ahnen, was für Folgen das nach sich ziehen würde. Du liebe Güte, wenn ich noch daran denke, was ihr, du und Selim, mir für Vorhaltungen gemacht habt …«, sagte er mit einem leicht vorwurfsvollen Blick auf Suleiman. »Ich verstehe, was du meinst«, kicherte Phoebe und warf dem jüngsten der Brüder einen komplizenhaften Blick zu. Auch sie - 178 -
konnte sich noch gut an die Vorwürfe erinnern, die ihr Prue und Piper damals gemacht hatten, nachdem sie den Bann gebrochen hatte. »Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen«, murmelte der alte Ibrahim. »Und unser Schicksal ist es nun mal, mit der Macht der Drei, oder wie in eurem Fall als Bund der Magier, gegen das Böse anzutreten«, sagte Piper. »Es ist alles so gekommen, wie es hat kommen müssen.« »Da bin ich aber sehr beruhigt, dass ich nur ein Werkzeug des Schicksals war«, grinste Seif. »Was wir also zu tun haben«, kam Phoebe wieder zum Thema zurück, »ist, einen neuen Spruch zu kreieren, der eine temporäre Macht der Drei ins Leben ruft. Eigentlich ganz einfach, oder?« »Nichts ist jemals wirklich einfach«, ließ sich der weise Ibrahim wieder vernehmen. »Denn dazu brauchtet ihr Selim, und Selim ist ja bekanntlich nicht mehr hier.« Auf einen Schlag kehrte die bedrückte Stimmung wieder in die kleine orientalische Wohnküche ein. Für einige Minuten sprach niemand mehr ein Wort, und doch wusste jeder, was der andere dachte: Würde Selim jemals zurückkehren? Und wenn ja, besäße er dann noch seine Kräfte, die doch für die temporäre Macht der Drei so dringend gebraucht wurden? Paige krümmte sich innerlich bei dem Gedanken, dass sich Selim allein wegen ihr in große Gefahr begeben und ihre letzte, wahrscheinlich allerletzte Chance, dieses Abenteuer heil zu überstehen, aufs Spiel gesetzt hatte.
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Zeyn führte Selim durch die große Halle zu einer Treppe, die offensichtlich in die Kellergewölbe des Turms führte. Mit den Worten »Das Treppensteigen bereitet mir allmählich Mühe« berührte der Alte sacht den Arm seines Sohnes, und schon orbten sie hinab in die Privatgemächer des Malak. »Diese Kraft hast du wohl von Paige gestohlen«, bemerkte Selim gallig, als sie in einem langen Gang materialisierten, der über und über mit kostbaren persischen Teppichen ausgelegt war. »Unsinn«, knurrte Zeyn. »Alle Mala’ika beherrschen das körperlose von Ort zu Ort reisen ohnehin, oder was glaubst du, von wem du diese Fähigkeit geerbt hast, mein Sohn?« Er lachte heiser. »Wenngleich ich zugeben muss, dass die Kraft der Telekinese in meinem Alter durchaus nützlich sein kann.« Er schnippte mit seinen verkrüppelten Fingern und rief »Schlüssel!« Schon lag der schwere Eisenschlüssel in seiner faltigen Hand, der zuvor an einem Haken an der Wand gehangen hatte. Der alte Malak öffnete eine massive Tür am Ende des Gangs. »Willkommen in der Halle der Sinnesfreuden«, sagte er. Als sie eintraten, wagte Selim seinen Augen kaum zu trauen. Die vor ihm liegende palastähnliche Anlage übertraf an Schönheit gar noch Fatimas märchenhaftes Wüstenschloss. Der Boden des riesigen Saales war eine Pracht aus poliertem weißen Marmor und goldenen Einlegearbeiten. Von der Decke hingen meisterhaft geschmiedete Messingleuchter, die den unterirdischen Komplex effektvoll ausleuchteten. Blutjunge Dienstmädchen, mit Krummschwertern bewaffnete Eunuchen und Sklaven eilten geschäftig hin und her. In der Mitte der Halle entsprang in einem goldenen Becken eine riesige Fontäne aus Rosenwasser, die bis an die prächtige
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Kuppeldecke des Saales sprudelte. Hier und da brannte in Alabasterschalen wohlduftendes Rauchwerk. Untote waren hier weit und breit nirgends zu sehen. An den Wänden des Saales befanden sich Estraden und Séparées mit bequemen Diwans, neben denen gekühlte Getränke, Opium- und Wasserpfeifen sowie exotische Früchte zum Verzehr bereitstanden. Überall waren herrliche Blumengärten angelegt worden, in denen Paare und kleinere Gruppen zwischen rauschenden Wasserfällen und von Singvögeln umschwirrten Pavillons lustwandelten. Selim entdeckte kostbar gewandete Männer und Frauen, die sich hier dem süßen Nichtstun hingaben. Er war offensichtlich nicht Zeyns einziger Gast. Am Ende der Halle, inmitten einer parkähnlichen Anlage mit Palmenhainen und blühenden Bäumen, plätscherten Brunnen und Wasserspiele, und in einem großen Bassin mit kunstvollen Mosaiken tollten junge Mädchen umher und tauchten nach Perlen und Edelsteinen auf seinem Grund. Dieser Bereich war offensichtlich allein den Frauen vorbehalten. Von überall drangen liebliche Klänge an Selims Ohr, während hier und dort Bauchtänzerinnen, Akrobaten und bunt gekleidete Narren Gäste wie Hofstaat mit ihren Darbietungen unterhielten. Selim entdeckte einen Dompteur, dessen Äffchen allerlei Kunststücke und Kapriolen aufführte, und sogar ein prächtiges Schattenspiel, vor dem ein augenscheinlich begeistertes Publikum gerade Applaus spendete. »Wie kann es sein«, hauchte der junge Magier, »dass all diese verschwenderische Pracht Platz findet unter dem alten, schwarzen Turm?« Der alte Malak lachte. »Nicht umsonst habe ich mich in den letzten dreißig Jahren mit Magie beschäftigt.«
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»Du meinst, das alles hier ist gar nicht wirklich?«, fragte Selim enttäuscht. »Das hier ist alles so wahr«, erwiderte Zeyn, »wie meine Liebe zu dir, mein Sohn.« Er machte eine weit ausholende Bewegung. »Vor dir siehst du mein Meisterwerk. Dieser unterirdische Palast reicht weit bis hinter die Nordmauer der Stadt in die Wüste hinein. Es hat mich Jahre gekostet, ihn zu erschaffen.« Er geleitete seinen Sohn hinauf auf eine erhöhte, umlaufende Galerie und in einen durch seidenbespannte Paravents abgetrennten Raum, wo sie sich auf einem Kanapee niederließen. Sofort eilten zwei junge, leicht bekleidete Mädchen hinter sie und wollten ihnen mit Pfauenfedern Luft zufächeln. Mit einer unwirschen Handbewegung schickte Zeyn sie wieder fort. Kurz darauf erschien ein schwarzer Sklave und brachte ihnen auf einem silbernen Tablett eine Erfrischung. Staunend betrachtete Selim die Kelche aus farbigem Glas, in denen sich das Licht tausendfach brach. Der alte Zeyn lehnte sich seufzend zurück, wobei ihm das Schultertuch vom Oberkörper rutschte. Selim musste feststellen, dass die Wirbelsäule des Malak stark verkrümmt war, was seine gebückte Haltung erklärte. An seinem Rücken saßen zudem kleine ledrige Schwingen, die schlaff herabhingen. Der junge Magier versuchte, sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen, und trank einen Schluck. Es war eine Art Traubensaft, und er schmeckte köstlich und belebte seine Sinne. Dann starrte er auf den pastellfarbenen chinesischen Teppich unter sich und überlegte, wie er am besten anfangen sollte. Doch Zeyn kam ihm zuvor. »Warum bist du hierher gekommen?«, fragte er mit krächzender Stimme. »Wohl kaum hat dich die Sehnsucht in die Arme deines alten Vaters getrieben, habe ich Recht?« - 182 -
»Nun«, begann Selim, »in der Tat kam ich mit einem ganz bestimmten Anliegen zu dir. Ich möchte dich bitten –« »Du willst, dass ich dieser Hexe ihre Kräfte zurückgebe, nicht wahr?«, unterbrach ihn der Malak. Selim war so perplex, dass er für eine Sekunde schwieg. »Ja«, begann er. »Denn ich liebe sie, und wenn … wenn du wünschst, dass ich dein Werk fortführe, so brauche ich eine Gefährtin an meiner Seite, die mir ebenbürtig ist.« Diese Lüge war ihm erstaunlich leicht über die Lippen gekommen. »Doch woher weißt du von … uns?« »Versuche nicht, mich hinters Licht zu führen, Bürschchen«, grunzte der Malak. »Ist es nicht vielmehr so, dass du wünschst, deine Liebste möge ihre wiedergewonnenen Kräfte mit denen ihrer Schwestern vereinigen, auf dass sie mich aus dieser Welt verjagen können?« Er sah Selim aus seinen kalten Augen an. »Davon abgesehen weiß ich fast alles über dich, unsere Bande sind stärker, als du glaubst.« Er kicherte. Selim merkte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Woher zum Teufel wusste der Malak so genau Bescheid über die Zauberhaften und die Macht der Drei? Und was sollte das heißen: ›Unsere Bande sind stärker, als du glaubst‹? Wollte der Alte etwa damit andeuten, dass er ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte? Jetzt nur keine Schwäche zeigen, beschwor er sich. »Es ist doch gar nicht mehr nötig, dich zu vernichten, Vater«, erwiderte er mit einem mokanten Grinsen, »du stirbst doch ohnehin bald.« »Nicht ohne meine Kräfte und mein Wissen an einen würdigen Nachfolger übergeben zu haben«, gab Zeyn mit ausdruckslosem Blick zurück. »An einen Nachfolger, der mein Werk in meinem Sinne fortführt, wohlgemerkt. Und wenn du es nicht wirst, dann wird es eben ein anderer«, fügte er ruhig hinzu. »Mein Erbe wird einst der mächtigste Herrscher auf Erden werden«, fuhr er fort. »Alle Menschen, alle Kreaturen werden - 183 -
ihm zu Diensten sein, und selbst Iblis wird erkennen müssen, dass seine Tage gezählt sind. Der Lauf der Welt wird allein in deinen Händen liegen, mein Sohn.« Selim schauderte bei diesen Worten. »Ich bin … durchaus nicht abgeneigt, dein Erbe anzutreten, Vater«, beeilte er sich zu beteuern, »und sicherlich ist es nur in deinem Sinne, wenn dein Werk von deinem eigenen Fleisch und Blut fortgeführt wird, als dass ein gänzlich Fremder das Zepter führt.« »Schöne Worte«, schnarrte der Malak. »Aber bist du auch bereit, deine Verbundenheit mit mir unter Beweis zu stellen?« »Was verlangst du von mir?«, fragte Selim mit bebender Stimme. »Ein Leben für ein Leben«, erwiderte der Malak. Unruhig wanderte Paige auf der Dachterrasse von Ibrahims Haus auf und ab. Selim war nicht zurückgekehrt, und alle waren nach diesem langen, aufregenden Tag sehr erschöpft. Und so hatte man beschlossen, ein paar Stunden zu schlafen und die Nacht über abzuwarten. Sollte Selim bis zum nächsten Morgen nicht wieder aufgetaucht sein, so würden sie aktiv werden müssen, da war man sich einig. Einen konkreten Plan für diesen Fall hatte jedoch niemand vorzubringen gehabt. Seif, Suleiman und ihr Vater hatten ihre Schlafplätze im Obergeschoss des Hauses aufgesucht, während Leo, Piper, Phoebe und Paige auf dem Dach unter einem sternenklaren Himmel übernachten sollten. Der alte Mann hatte seinen Gästen zu diesem Zweck bequeme Schaffellmatten und Baumwolltücher bereitgelegt. Es hatte sich nach Einbruch der Dunkelheit in der Wüstenstadt merklich abgekühlt, und es ging eine frische Brise.
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Piper und Leo schliefen eng umschlungen auf ihrem Lager, und auch Phoebe war in einen tiefen Schlaf gefallen. Nur Paige hatte kein Auge zumachen können und war schließlich wieder aufgestanden. Bevor sich Leo und die Schwestern zur Ruhe begeben hatten, war Phoebe auf der Dachterrasse an Paige herangetreten und hatte sie diskret beiseite genommen. »Ich denke, ich weiß, wie du dich fühlst«, hatte Phoebe ihr im Vertrauen gesagt. »Du fühlst dich mies, weil du denkst, du bist für all das hier verantwortlich. Aber es stimmt, was Ibrahim gesagt hat: Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen. Und auch wenn Piper manchmal ein wenig ungnädig erscheint, weiß sie ganz genau, dass es immer kommt, wie es kommen muss. Das hat sie ja vorhin selber zugegeben. Es ist einfach so, dass sie sich nach Prues Tod als Älteste der Zauberhaften so sehr für uns verantwortlich fühlt, dass sie das manchmal einfach vergisst.« »Das weiß ich«, hatte Paige eingewendet, »ich hab oft mit Piper darüber gesprochen, wann immer ich einen Fehler gemacht habe. Aber in diesem Fall war mein Verhalten wirklich unverzeihlich. Ich hätte euch von meiner Begegnung mit Selim erzählen müssen, bevor … andererseits, woher zum Teufel hätte ich wissen sollen, dass er mich ohne mein Wissen in die Vergangenheit entführt, und woher hätte er wissen sollen, dass sein Vater ihn die ganze Zeit im wahrsten Sinne des Wortes durchschaute?« »Ich bin fest davon überzeugt«, hatte Phoebe geantwortet, »dass alles genau so gelaufen ist, wie es hat passieren müssen. Wir als die Zauberhaften können jederzeit in außergewöhnliche Situationen kommen, die auf den ersten Blick ganz alltäglich erscheinen. So wie Selims Erscheinen im South Bay Sozialdienst zum Beispiel. Ich will damit sagen, dass wir überhaupt keinen Einfluss darauf haben, dass etwas geschieht, bei dem die Zauberhaften gefragt sind. Das Zusammentreffen von dir und - 185 -
Selim war vorherbestimmt, Punkt, aus! Nun gilt es, hier und jetzt das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wieder herzustellen. Und genau deshalb sind wir hier!« »Na ja«, hatte Paige gesagt. »Aber Piper schärft uns doch immer ein, dass wir ganz besonders vorsichtig sein sollen, wenn uns etwas Ungewöhnliches widerfährt. Und die Bekanntschaft mit Selim … nun, die war und ist schon was ganz Besonderes …« Phoebe hatte ihre Halbschwester einen Moment lang nachdenklich angesehen, bevor sie antwortete: »Du hast dich bis über beide Ohren in Selim verliebt«, sagte sie, »das ist offensichtlich. Und genauso offensichtlich ist es, dass er dich anbetet. Aber lass dir von jemandem, der in dieser Hinsicht vermutlich sehr viel mehr Erfahrung hat als du, sagen, dass das eine ziemlich aussichtslose Geschichte ist. Es mag hart klingen, aber es kann für euch keine gemeinsame Zukunft geben. Niemand weiß das besser als ich.« »Du spielst auf die Sache mit Niall, dem Sohn Merlins, an, stimmt’s?«, hatte Paige gefragt. Phoebe und Piper hatten ihr erst vor kurzem von ihrem Abenteuer im alten Camelot erzählt, wohin die Schwestern während eines Urlaubs in Wales gereist waren, nachdem der Sohn des alten Keltenmagiers in Schwierigkeiten geraten war. »Ja, unter anderem«, hatte Phoebe lachend geantwortet. Doch dann war sie wieder ernst geworden. »Hör zu, Paige, keiner von euch beiden darf seine Zeit verlassen, um sein Leben an der Seite des anderen zu verbringen. Das wäre das Ende!« »Wieso eigentlich?«, hatte Paige trotzig gefragt. »Weil dadurch der Lauf der Dinge verändert würde, ganz einfach«, hatte Phoebe geantwortet. »Wenn Selim für immer ins 21. Jahrhundert switchen würde, wäre er ja hier nicht mehr existent, und der Bund der Magier damit auch nicht. Zum einen wäre so das Gleichgewicht von Gut und Böse für alle Zeiten - 186 -
gestört, und zum anderen würde es dann vermutlich auch die Zauberhaften nicht geben, wenn die Vergangenheit in dieser Weise manipuliert würde. Das Kräfteverhältnis wäre also dauerhaft zerrüttet, und die dunkle Seite hätte gewonnen. Mit anderen Worten: Der Bund der Magier ist für seine Zeit genauso wichtig wie die Zauberhaften gut 1200 Jahre später.« »Das ist alles sehr schwer zu begreifen«, hatte Paige erwidert. »Stell es dir einfach wie einen riesigen Turm vor. Entfernt man auch nur einen Stein, bricht das ganze Konstrukt zusammen. Eins baut auf dem anderen auf.« »Bitte verschone mich mit Analogien von Türmen«, hatte Paige grinsend geantwortet. Und nun, da alle schliefen, trat sie an die Dachbrüstung und starrte genau in Richtung des schwarzen Turms, der in der Nacht nur mehr zu erahnen war. Hier und da waren in Ald’maran noch vereinzelte Lichter zu sehen, doch ansonsten lag die Stadt still und dunkel da. Wo war Selim? Lebte er noch, oder hatte der grausame Zeyn seinen letzten Widersacher aus dem Bund der Magier unschädlich gemacht? Würde der Malak so weit gehen, das Leben seines eigenen Sohns auszulöschen? Nein, dachte Paige, wahrscheinlicher ist es, dass er auch Selim seine Kräfte raubt und ihn festsetzt. Somit wäre auch der temporären Macht der Drei der Garaus gemacht, und die Welt, auch die Welt, die sie kannte, würde schon bald in Finsternis versinken. Und wie es schien, war sie allein an allem schuld, egal, was die anderen dazu meinten. Und wenn das Schicksal tausendmal bestimmt hatte, dass Selim sie in der Zukunft ausfindig machen und mit nach Ald’maran nehmen würde, so hätte sie nicht mit ihm gehen dürfen, ohne zuvor ihre Schwestern zu informieren. Schließlich waren sie ein Team, von dessen Planung, Vorbereitung und Handlungsfähigkeit alles abhängen konnte, und genau diese Handlungsfähigkeit war ihnen nun abhanden - 187 -
gekommen. Sie, Paige, war völlig nutzlos im großen Kampf gegen Zeyn geworden, und ohne ihre Fähigkeiten war die Macht der Drei gebrochen. Der alte Malak hatte sie entmachtet und das zauberhafte Trio zerschlagen, noch bevor er wissen konnte, dass es Piper und Phoebe überhaupt gab. Andererseits hätte Zeyn mich ja auch auf der Stelle töten können, nachdem er sich meine Kräfte einverleibt hatte, überlegte Paige. Aber das hatte der Alte nicht getan. Warum nicht?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Hatte er vielleicht doch noch Pläne mit ihr gehabt? Pläne mit ihr und seinem leiblichen Sohn womöglich? Tatsächlich musste dem Malak ziemlich bald klar geworden sein, was Selim für sie fühlte, stand er ja vermutlich fast ununterbrochen in Kontakt zu seinem Fleisch und Blut. Zeyns Fleisch und Blut … Auf einmal traf Paige die Erkenntnis wie ein Schlag: Selim war nicht nur nicht tot oder in Gefangenschaft geraten, sondern, ganz im Gegenteil, sehr wahrscheinlich mit offenen Armen von seinem Vater, dem gefallenen Engel, empfangen worden! Der verlorene Sohn war zurückgekehrt, um … ja, um was eigentlich zu tun? Paige wusste es nicht genau, aber sie wusste plötzlich, dass ihre Anwesenheit im schwarzen Turm der ganzen Geschichte eine neue, womöglich alles entscheidende Wendung geben konnte. Sie straffte sich und riss ihren Blick vom nächtlichen, friedlich daliegenden Ald’maran los. Sie schlich über die Dachterrasse, schnappte sich einen der alten traditionellen Baumwollüberwürfe, die ihre Schwestern tagsüber getragen hatten, und schlüpfte hinein. Dann stieg sie leise die Treppe hinab und verließ auf Zehenspitzen das Haus.
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8 ZEYN
FÜHRTE SELIM WIEDER HINAUF in die prächtige Eingangshalle des schwarzen Turms und erklomm mit ihm die Wendeltreppe, bis sie die Plattform erreichten, in der sich das Laboratorium des Malak befand. Selim wusste von diesem Ort des Schreckens bereits aus Paiges Erzählungen. Sein Blick fiel auf allerlei merkwürdige Gerätschaften und Instrumente, auf Glaskolben, Behälter und Tonkrüge, in denen Unbeschreibliches aufbewahrt wurde, doch Tote oder gar die Leiche des unglücklichen Abu konnte er nirgends entdecken. »Was ist das hier?«, fragte er den Alten. »Meine Experimentierstube«, erwiderte erforsche ich das Mysterium des Lebens.«
Zeyn.
»Hier
Wohl eher das Mysterium des Todes, dachte Selim, doch er schwieg. Fest ergriff der Malak Selims Arm, und für einen Moment erschrak der junge Zauberer. Doch Zeyn hatte nicht vor, ihm seine Kräfte zu rauben, sondern sie orbten lediglich weiter hinauf, bis sie ein Turmgeschoss erreichten, in dem sich offensichtlich eine Küche befand. »Hier bereiten meine untoten Diener die Mahlzeiten für sich und etwaige Gefangene.« Selim schluckte. Auf dem alten Holztisch lagen von Fliegen umschwirrte Fleisch- und Knochenreste. Auch diesen Raum kannte er aus Paiges Bericht. Es war klar, dass der Malak die Delikatessen, die er in der Halle der Sinnesfreuden für sich und seine Gäste auffahren ließ, wohl kaum hier zubereiten ließ. Sie orbten weiter hinauf und erreichten eine Etage, in der sich ein unheimlich düsterer Gang mit mehreren verschlossenen Türen befand. »Die Quartiere meiner Ghule«, erläuterte Zeyn im Plauderton. »Sie schätzen das Licht nicht sonderlich.« - 189 -
Es kam Selim vor, als ob der Malak eine Art Hausbesichtigung für seinen zukünftigen Erben veranstaltete. Schließlich erreichten sie eine Art Aussichtsplattform. »Schau auf diese Stadt«, sagte Zeyn und deutete mit einer ausladenden Armbewegung auf das nächtliche Ald’maran. Die letzten Lichter waren erloschen, nur vor dem schwer bewachten Herrscherpalast brannten noch Fackeln. Doch es war Vollmond, und so konnte Selim trotzdem erahnen, wie groß und prächtig seine Heimatstadt von hier aus gesehen war. Und wie still und friedlich aus dieser Höhe doch alles wirkte. Trügerisch friedlich. »Das alles wird schon bald dir gehören«, verkündete Zeyn mit heiserer Stimme. »Du weißt es vielleicht nicht, aber längst schon bin ich der heimliche Herrscher dieser Stadt.« Er kicherte böse. »Und mehr noch – ich werde dich zum Herrn der Welt machen.« Selim schwieg, doch in seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken. »Und nun folge mir in mein Allerheiligstes, Sohn.« Sie orbten wieder zurück in die Säulenhalle mit den Ghulen und betraten dann einen Raum, der direkt hinter dem marmornen Podest lag, auf dem sich der Malak seinen Empfangsthron errichtet hatte. Es war eine Art Vorraum, in dem Selim eine Schale entdeckte, in der eine trübe Flüssigkeit schwamm. Ein Ghul stand daneben und starrte unverwandt hinein. Zeyns Kammer selbst war wenig spektakulär. Fast war Selim ein wenig enttäuscht. Er sah einen alten Diwan, eine Opiumpfeife und mehrere Tische mit merkwürdigen Instrumenten. Auf einem von ihnen stand eine matt schimmernde Glaskugel. Irgendetwas war darin eingeschlossen, doch er konnte nicht erkennen, was es war. - 190 -
»Was ist das für eine Kugel?«, fragte er den Malak. »Es ist an der Zeit, dass ich dich einweihe in meine Geheimnisse«, verkündete der Alte. »Doch zuvor muss ein Ritual vollzogen werden, dass dich endgültig zu meinem Nachfolger bestimmt.« »Was für ein Ritual?«, fragte Selim. »Das Ritual des Blutes.« Selim schwante Böses. »Und das bedeutet?« »Es bedeutet, dass du schließlich von meinem Blute trinken musst, auf dass meine Kräfte auf dich übergehen.« Selim krümmte sich bei diesen Worten innerlich vor Ekel. Und gleichzeitig dachte er: So einfach ist das also? Wenn seine Kräfte auf mich übergehen und er dann ins Reich der Alten abberufen wird, könnte ich Paige und meinen Brüdern ihre Kräfte zurückgeben, und alles wäre in Ordnung … Er ging ein paar Schritte in der Kammer umher und zermarterte sich das Hirn über diesen Handel. Sicher, er stand hier vor seinem Erzeuger, der alles darangesetzt hatte, dass er, Selim, zu ihm fand, und doch traute er dem alten Malak nicht über den Weg. Wieder fiel sein Blick auf die trübe Glaskugel, und als er genauer hinsah, erkannte er etwas Schwarzes in ihrem Inneren. Noch einmal fragte er: »Was ist das für eine Kugel, Vater?« »Ich will ehrlich zu dir sein, mein Sohn«, krächzte der Alte und kam auf ihn zu. »Diese Kugel enthält etwas von dir, das mir deine Mutter gab, als du noch ein Säugling warst: eine Haarlocke. Und es ist mir vor einigen Wochen gelungen, mit ihrer Hilfe eine … Verbindung zu dir herzustellen.« »Du hast mich seither die ganze Zeit beobachtet?«, rief Selim empört, dem nun einiges von dem, was in den letzten Stunden passiert war, klar wurde.
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»Ich war allein um dein Wohl besorgt«, schnarrte der Alte, »und da habe ich zufällig mit ansehen müssen, was du und deine Brüder gegen mich vorhattet. Du wirst verstehen, dass ich das nicht zulassen konnte.« »Und deshalb hast du Seif und Suleiman um ihre Kräfte gebracht und hier eingesperrt? Weil du so um mein Wohl besorgt warst?« Selim spuckte empört vor Zeyn aus. »Warum hast du nicht mit mir gesprochen, so wie du jetzt mit mir sprichst?« »Ich musste handeln«, sagte der Malak lächelnd. »Schnell.« »Ich verstehe«, erwiderte Selim mit bebender Stimme. »Und dann wolltest du dir auch gleich noch Paiges Kräfte unter den Nagel reißen, wo ich dich doch direkt auf diese Idee gebracht hatte, richtig?« Wütend griff er nach der Kugel und schleuderte sie auf den Steinboden. Sie zerbarst mit einem ohrenbetäubenden Knall, und tausend Splitter flogen umher. Doch der Malak grinste nur und entblößte seine halb verrotteten Zähne. »Das Mädchen passt zu dir, denn sie ist eine von uns. Aber sie stellte auch eine Gefahr dar – für mich und für dich. Ich denke jedoch, der Zauber der Liebe wird aus ihr eine willfährige Gefährtin für dich machen. Bedenke, auch du wirst dich eines Tages nach einem Erben sehnen, mein Sohn, und dieses Mädchen scheint mir ideal für diesen Zweck geeignet.« Er seufzte. »Unterschätze nie den Zauber der Liebe …« Nach fast einer Stunde hatte Paige es endlich geschafft, den Hügel zu erreichen, auf dem der schwarze Turm stand. Sie war zügig gegangen, und der Weg hierher war wider Erwarten ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Das nächtliche Ald’maran war wie ausgestorben, und selbst in den Armenvierteln war kaum mehr ein Mensch auf der Straße gewesen.
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Einmal hatte sie einem aufdringlichen Bettler davonlaufen müssen, der sie partout nicht gehen lassen wollte, ein andermal war sie direkt in eine Art orientalisches Vergnügungsviertel gestolpert, wo suspekte Gestalten ihr böse nachgestarrt hatten, aber das war’s auch schon an unliebsamen Begegnungen. Sie wusste, dass der Turm mit einer magischen Falle gesichert war. Langsam trat sie auf die schwere Pforte zu und fragte sich gerade, wie sie sich Einlass verschaffen sollte, als die Tür knarrend geöffnet wurde. Ein Ghul stand auf der Schwelle und winkte sie mit einer knappen Geste herein. Paige zögerte einen Moment lang, doch dann erinnerte sie sich wieder daran, weshalb sie hergekommen war, und trat ein. In der Halle der Sinnesfreuden lag Selim halb aufgerichtet auf einem Lager aus üppigen Seidenkissen, während sich unweit von ihm eine Gruppe wunderschöner Mädchen zu einschmeichelnden Klängen im Bauchtanz wiegte. Sein Vater hatte sich vor einigen Minuten diskret in seine Privatgemächer zurückgezogen. Eine ebenholzschwarze Nubierin war daraufhin sogleich herbeigeeilt und fächelte ihm nun kühle Luft zu, während ihm ein männlicher Sklave Traubensaft, Honiggebäck und andere Spezereien vorsetzte. Keine Frage, sein Vater führte ein prächtiges Leben, und er, Selim, musste zugeben, dass er diesen paradiesischen Zuständen durchaus viel abgewinnen konnte. Und doch, er sehnte sich nach Paige. Und er musste versuchen, den Malak davon zu überzeugen, dass er ihr die gestohlenen Kräfte wiedergab, damit … Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn jemand zupfte ihn sacht am Ärmel. Es war eine junge Frau mit einem - 193 -
hauchdünnen Gesichtsschleier vor Mund und Nase, deren schwarzes Haar feucht glänzte. »Komm, schwimm mit mir«, raunte sie ihm ins Ohr. Sie roch nach allen Verlockungen der Erde. Wie in Trance ließ sich Selim von der Unbekannten zu dem großen, palmenumsäumten Wasserbassin führen, in dem kurz zuvor noch die Gruppe junger Mädchen herumgetollt hatte. Jetzt lag der türkisblaue Pool still und verlassen da. Noch ehe er sich versah, streifte die junge Frau ihr hauchdünnes Gewand ab und glitt geschmeidig ins Wasser. »Komm herein«, rief sie lockend. »Es ist einfach herrlich!« Selim konnte nach diesem anstrengenden Tag eine Abkühlung wahrlich gebrauchen; also entledigte er sich seines langen Hemdes und der Baumwollhose und stieg zu ihr ins Becken. Das Wasser hatte eine angenehme Temperatur, und schon sank er entspannt zurück und ließ sich einfach nur treiben. Als er die Augen wieder öffnete, schwamm das Mädchen geradewegs auf ihn zu. Ihr Gesichtsschleier aus Gaze war noch immer mit goldenen Spangen an ihrem dunklen Haar befestigt. Lachend schlang sie ihre Arme um ihn und zog ihn wieder zurück ins flache Wasser. Plötzlich drückte sie ihren schlanken, geschmeidigen Körper an den seinen und fuhr mit ihren Fingern leidenschaftlich durch sein Haar. Selim stockte der Atem, als sie ihren Gesichtsschleier hob und ihre Lippen sich anschickten, seinen Mund für einen zarten Kuss zu berühren. Vor ihm stand Paige! Erschrocken machte er sich von ihr los. »Wie kommst du hierher?« »Auch ich bin dem Ruf deines Vaters gefolgt«, flüsterte sie. »So wie du. Nun wird uns nichts und niemand mehr auseinander bringen können …« Sie schloss die Augen und küsste ihn.
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Er ließ es geschehen. Wie auch immer der Malak es geschafft hatte, Paige hierher zu bringen, es war ihm egal. Die Frau, die er liebte, war hier, lag hingebungsvoll in seinen Armen, und er wusste, wenn er nur wollte, so würde sie den Rest ihres Lebens an seiner Seite verbringen. Hier. Im Paradies. Vom Säulengang über der Halle der Sinnesfreuden aus beobachtete Zeyn heimlich, wie sich Selim mit der Hexe im Wasserbecken vergnügte. Und er lachte leise. Nach dem erfrischenden Bad, das immer wieder von leidenschaftlichen Küssen, ausgelassener Herumtollerei im Wasser und Liebesgeflüster unterbrochen wurde, hatten sich Paige und Selim wieder angekleidet und in eine blickgeschützte Laube in der Halle der Sinnesfreuden begeben. Lachend sanken sie auf einen Diwan, der unter einem prächtigen Baldachin stand, und ließen sich die kühlen Getränke und herrlichen Früchte schmecken, die ihnen ein Diener brachte. Während sie so dalagen und sich küssten, fiel Paiges Blick plötzlich auf die Silberkette mit dem halbmondförmigen Anhänger, die Selim trug und die sie schon bei ihrem ersten Treffen im South Bay Sozialdienst gesehen hatte. »Was ist das eigentlich für eine Kette?«, fragte sie, und ein leichter Argwohn schwang in ihrer Stimme mit. »Das Geschenk einer Verflossenen?« Selim schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln; dann jedoch wurde sein Gesicht wieder ernst. »Diese Kette gab mir meine Mutter, ein Jahr, bevor sie starb. Sie ist mir der liebste Besitz auf der Welt. So wie du mir immer der liebste Mensch auf der Welt sein wirst.« Glücklich und erleichtert sank Paige in seine Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. - 195 -
Zu ihrer Linken schwammen dicke goldfarbene Karpfen in einem künstlich angelegten Teich, zu ihrer Rechten wuchsen herrlich duftende Rosen- und Jasminsträucher. Fürwahr ein Garten Eden. »Wir werden hier in Ald’maran ein wunderbares Leben führen, du und ich«, gurrte Paige und biss ihn zärtlich in den Hals. Selim glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Was ist mit deinen Schwestern und deinem Leben in San Francisco?« »Die führen ihr Leben doch auch, wie sie es wollen«, gab Paige trotzig zurück, während sie Selim mit einer Traube fütterte. »Piper und Leo hatten zu Anfang auch große Schwierigkeiten, überhaupt ein Paar zu werden und heiraten zu dürfen. Und nun bekommen die beiden bald ein Kind. Und Phoebe … na ja, Phoebe hat in Bezug auf Männer ohnehin schon immer das getan, was sie wollte. Sogar im Fall Cole hat sie letztlich ihren Willen durchgesetzt. Also warum sollte ich nicht dem Ruf meines Herzens folgen und hier bei dir bleiben?« Selim schüttelte erstaunt den Kopf. War das noch die gleiche Paige, die vor kaum zwei Stunden so große Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft gehabt hatte? »Du und ich, wir sind wie füreinander geschaffen«, fuhr sie fort und kuschelte sich eng an ihn. »Selbst die Umstände unserer Herkunft sind nahezu identisch. Auch mein Vater war ein Wächter des Lichts, auch meine Mutter eine weiße Hexe. Das kann doch kein Zufall sein –« Sie brach ab und schmiegte sich zärtlich an ihn. »Ich habe auch ein Recht darauf, glücklich zu sein. Ein Recht darauf, bei dem Mann zu sein, den … ich liebe. Das ist mein Schicksal, unser Schicksal …« Sie sah zärtlich zu ihm auf. Gedankenverloren streichelte Selim Paige übers Haar. Auch er war glücklich wie noch nie in seinem Leben. Alles, was er wollte, war Paige. Und was sie sagte, ergab ja auch einen Sinn. - 196 -
Wenn es einen Weg gab, dass sie beide doch noch zusammenkommen konnten, so einzig und allein mithilfe seines Vaters Macht. Und doch, irgendetwas stimmte hier nicht. Es war weniger als ein ungutes Gefühl, das ihn beschlich; mehr eine dumpfe Ahnung, das irgendetwas hier schrecklich falsch war. Und während Selim und Paige in der Halle der Sinnesfreuden dem süßen Nichtstun frönten, stieg der alte Malak in Begleitung des Algols den schwarzen Turm hinauf, bis er das Quartier seiner untoten Sklaven erreicht hatte. Dort angekommen vernichtete er die Ghule mit nur einem Handstreich. »Zum Teufel mit euch stumpfsinnigen Kreaturen«, zischte er, »eure Dienste sind nicht länger vonnöten.« Und er lächelte, als sich zuletzt auch sein ehemals treuer Untertan Chatun schreiend am Boden wand und unvorstellbare Qualen erlitt, während sich sein geschundener Körper langsam auflöste wie Fleisch in einem Säurebad. »Bei Iblis«, sagte Zeyn zu dem vogelköpfigen Algol, »meine Macht wird grenzenlos sein.« Der Morgen dämmerte schon, als Phoebe von ihrem Lager aufschreckte. Der Ruf des Muezzin hatte sie aus einem schrecklichen Alptraum gerissen. Sie hatte geträumt von einer Welt, die völlig aus den Angeln gehoben worden war, einer Welt, in der nur noch Nacht herrschte, Verzweiflung und Kälte und Einsamkeit … Verwirrt sah sie sich um. Dann wusste sie wieder, wo sie war. Sie erkannte die mit kleinen Platanen und Palmen begrünte Dachterrasse von Ibrahims Haus und in der Ferne die vom
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ersten Licht des Tages beschienene orientalische Stadtansicht Ald’marans. Neben ihr lagen Piper und Leo noch im tiefen Schlaf. Die Bettstatt von Paige jedoch war leer. Phoebe erhob sich von ihrer Matratze und schlich barfuß zur kleinen Treppe, die ins Innere des Hauses führte. Im dunklen Erker des Dachgeschosses schliefen Seif und Suleiman noch den Schlaf der Gerechten. Auf Zehenspitzen stieg sie hinunter ins Erdgeschoss, wo der blinde Ibrahim mit getrocknetem Kameldung gerade ein Feuer in dem kleinen Lehmofen entfachte. »Guten Morgen«, begrüßte Phoebe ihn herzlich. »Sei gegrüßt, Mädchen.« Der alte Mann lächelte, während er sich nun anschickte, den kleinen Tisch für seine Gäste mit einem Morgenmahl aus Tee, frischem Fladenbrot, Honig und dickem, süßem Rahm zu decken. Phoebe lief bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?« »Eigentlich schon«, erwiderte Phoebe, »nur kurz vor dem Aufwachen, da hatte ich einen wirklich schlimmen Alptraum. Aber ich weiß schon jetzt gar nicht mehr, was genau darin passierte … Na ja, egal, wissen Sie vielleicht, wo Paige ist?« Der bärtige Mann hielt abrupt in seiner Tätigkeit inne, und sein Gesicht wurde grau vor Bestürzung. »Sie ist nicht bei euch?«, fragte er leise. »Nein, ich dachte, sie ist vielleicht schon hier unten und hilft, das Frühstück –« Sie brach ab. »O Gott«, entfuhr es ihr. Sie wirbelte herum wie ein Derwisch und raste wieder hinauf Richtung Dach. »Piper, Leo, aufwachen! Schnell! Paige ist weg!«
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»Ich fasse es nicht«, war alles, was Piper hervorbrachte, als Phoebe ihr und Leo die Hiobsbotschaft überbrachte. »Was hat sie sich nur dabei gedacht?«, murmelte Leo und erhob sich schlaftrunken von seinem Lager auf dem Dach des Hauses. Seif und Suleiman waren ebenfalls aufs Dach hinausgetreten. Der Jüngere rieb sich verschlafen die Augen und blinzelte in die fahle, aufgehende Sonne, während sein Bruder mit versteinerter Miene dastand. »Ich kann mir schon denken, was sie sich dabei gedacht hat«, sagte Suleiman leise. »Sie wird zum schwarzen Turm gegangen sein … doch an eine aufopfernde Rettungsaktion für meinen Bruder kann ich dabei nicht glauben.« »Was willst du damit sagen?«, herrschte Phoebe ihn an. Suleimans Züge verfinsterten sich. »Nun, es ist doch ganz offensichtlich, dass Zeyn seinen kostbaren Sohn bisher gänzlich ungeschoren gelassen hat. Und ich frage mich langsam, warum?« »Du meinst, euer Halbbruder macht gemeinsame Sache mit seinem Vater?«, fragte Piper. »Es sieht doch ganz danach aus, oder etwa nicht? Und vermutlich hat Paige heute Nacht ihre Chance erkannt, durch ihn zu Macht und Einfluss zu kommen, und ist zu ihm gegangen. Immerhin scheint Selim eurer Schwester ja ganz verfallen zu sein …« »Das würde Paige niemals tun!«, rief Phoebe empört. »Niemals würde sie sich auf die dunkle Seite schlagen und die Macht der Drei verraten …« Es entstand eine beklemmende Pause, in der niemand etwas sagte. »Es stimmt doch, was ich sage, oder?«, fragte Phoebe und sah Piper und Leo eindringlich an. - 199 -
»Wir wollen hoffen, du hast Recht, Phoebe«, sagte Piper düster. »Wobei ich nicht weiß, was schlimmer wäre: Dass Paige die Zauberhaften im Stich lässt oder dass sie gerade versucht, uns alle zu retten.« Mühsam richtete sich Paige auf dem Diwan auf. Ihr Schädel dröhnte, ihre Sinne waren betäubt wie nach einer durchzechten Nacht, und ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, sie wusste nur, dass sie sich hundeelend fühlte. Neben ihr unter dem Baldachin lag Selim; er sah aus wie ein schlafender Engel. Was er ja zur Hälfte auch war … Hinter ihrer Stirn pochte und bohrte ein dumpfer Schmerz. Sie stöhnte leise auf. Was war passiert, nachdem sie heute Nacht den schwarzen Turm erreicht hatte? Während sie krampfhaft überlegte, was nach ihrer Ankunft im Turm geschehen war, kam eine junge Schwarze herbei und reichte ihr einen Becher mit Traubensaft. Auch stellte sie eine kleine Platte mit frischen geschälten Orangen und in Sirup getauchten Küchlein neben ihr ab. »Eine kleine Morgenerfrischung, edle Dame.« So lautlos, wie sie gekommen war, entfernte sich die Sklavin wieder und verschwand hinter den Paravents. Gierig nahm Paige den Becher zur Hand und wollte ihn schon zum Mund führen, als Selim neben ihr zischte: »Nicht trinken!« »Was?« Verwirrt sah sie neben sich. Selim hatte die Augen aufgeschlagen und sah sie eindringlich an. »Nicht trinken«, raunte er ihr noch einmal zu. Zögernd stellte Paige das Getränk wieder zurück auf das kleine Ebenholztischchen und sah Selim fragend an.
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Der erhob sich mit gefurchter Stirn von ihrem gemeinsamen Lager und schüttelte nur den Kopf. Dann deutete er nach oben. »Lass uns einen kleinen Ausflug machen«, rief er betont fröhlich und ergriff ihre Hand. Schon orbten sie auf die große Aussichtsplattform, auf der Zeyn noch vor wenigen Stunden mit seinem Sohn in den Nachthimmel gesehen und einen viel versprechenden Blick in die Zukunft getan hatte. »Ich denke, hier können wir ungestört reden«, sagte der junge Magier, nachdem er sich nach links und rechts umgeschaut hatte. Er zog Paige zu sich heran und sah sie ernst an. »Hör mir zu, Liebes, wir dürfen hier in diesem Turm nichts mehr essen oder trinken, verstehst du; es verwirrt unsere Sinne und soll uns gefügig machen!« »Ungestört reden?« Paige sah ihn verständnislos an. »Nichts mehr essen und trinken? Was meinst du damit?« »Warum bist du hierher gekommen?«, fragte Selim langsam und betonte dabei jedes Wort, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind. »Ich kam, um …« Sie brach ab. »Ich kam, um … bei dir zu sein«, sagte Paige lahm. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das war es nicht allein.« »Du kamst, um mich zurückzuholen, richtig?« Paige runzelte die Stirn und dachte scharf nach. Sie erinnerte sich, wie sie auf dem Dach von Ibrahims Haus eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. Und nach und nach, wie wenn man sich gleich nach dem Aufwachen an einen bösen Traum erinnert, fiel ihr ein, was dann geschehen war. Sie hatte das Haus der Brüder verlassen. Und nachdem sie beim schwarzen Turm angekommen war, hatte ein Ghul sie eingelassen, der hässliche Malak hatte sie überschwänglich begrüßt und ihr versichert, Selim warte schon auf sie. Man hatte
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ihr ein kühles Getränk zur Erfrischung gereicht und sie dann in diese Halle geführt. Dort hatten ein paar blutjunge Mädchen sie sogleich kichernd in Empfang genommen, sie frisiert und parfümiert, ihr kostbare Gewänder und einen Gesichtsschleier angelegt und sie dann aufgefordert, doch ein kühles Bad zu nehmen … Doch warum war sie wirklich hierher gekommen? Es war wichtig gewesen, ungemein wichtig … Es hatte mit ihren Schwestern zu tun gehabt. Und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. »Ich wollte dich zurückholen«, rief Paige, »weil wir dich für die temporäre Macht der Drei brauchen. Und niemand außer mir hätte Einlass in den schwarzen Turm gefunden, ohne bei Zeyn Verdacht zu erregen …« »Die temporäre Macht der Drei?«, fragte Selim verwirrt. »Was ist das?« Paige erklärte es ihm, und sie ließ ihn auch nicht im Dunkeln über die Schlussfolgerungen, zu denen die Schwestern und seine Brüder gelangt waren, nachdem Selim sich in die Dachkammer zurückgezogen hatte. Plötzlich, mitten in der Erzählung, schlug sie sich mit der Hand vor den Mund und wurde kreidebleich. »Was ist?«, fragte Selim alarmiert. Paige beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir vermuten auch, dass dein Vater dich beobachtet und alles sehen kann, was du tust und –« »Ich weiß«, sagte Selim lächelnd, »aber das ist nun vorbei.« Er erzählte ihr von der magischen Kugel mit der Haarlocke in Zeyns Gemach und davon, wie er sie zerschmettert hatte. »Und es hat ihm gar nichts ausgemacht, dass du die Verbindung zu ihm zerstört hast?«, fragte Paige ungläubig.
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»Nein, ich vermute, nun, da ich hier bin, glaubt er, sein Ziel erreicht zu haben. Und damit eben dieses Ziel nicht in Gefahr gerät, verabreicht er dir und mir regelmäßig irgendwelche Zaubertränke, die das Denken unmöglich und uns am Ende zu willenlosen Geschöpfen machen.« »Aber was ist sein Ziel?«, fragte Paige. »Er will seine Kräfte auf mich übertragen, denn er sagt, er stirbt.« Paiges Augen wurden groß und rund, als sie die Tragweite dieser Worte begriff. »Aber … aber wenn das so ist, brauchen wir doch nur noch auf seinen Tod zu warten, und wenn er dann stirbt, kehren meine und die Kräfte deiner Brüder doch von ganz allein zu uns zurück!« »So einfach ist das nicht«, sagte Selim traurig. »Zeyn überlässt nichts dem Zufall. Wenn ich mich nicht bereit erkläre, in der Sekunde seines Dahinscheidens seine Magie in mich aufzunehmen, wird es ein anderer tun. Mein Vater hat sich viele ergebene Kreaturen geschaffen, die nur allzu willfährig wären – « Wie aufs Stichwort erschien plötzlich eine überaus abstoßende Gestalt auf dem Treppenabsatz der Plattform. Es war der Raubvogeldämon, von dem Piper und Phoebe berichtet hatten. Mit einer knappen, und doch unterwürfigen Bewegung deutete der Algol mit seiner Klauenhand auf die Wendeltreppe. Was er sagte, war kaum zu verstehen, doch Selim wusste auch so, was man von ihm wollte: »Der erhabene Zeyn erwartet Euch, junger Herr. Das Ritual soll beginnen.« In einem Strudel aus blauem Licht materialisierten Leo, Piper, Phoebe, Suleiman und Seif auf dem Friedhof vor dem schwarzen Turm. - 203 -
»Rings um den Turm ist eine Barriere errichtet, die weiße Magie neutralisiert«, erinnerte Piper die Anwesenden noch einmal. »Und die Pforte selbst ist mit einer magischen Falle gesichert«, ergänzte Phoebe. »Die ist wohl nicht zu knacken.« »Dann orben wir uns eben erst mal auf die große Plattform, von der Paige erzählt hat«, schlug Leo vor und sah an dem Turm hinauf. »Von da aus sehen wir dann weiter.« »Hallo? Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Piper ihn, »ich habe doch gerade gesagt, dass um den Turm ein Bannzauber liegt, der weiße Magie neutralisiert. Vermutlich beißen wir hier auf Granit.« »Vielleicht aber auch nicht«, meinte Leo. »Die Kräfte eines Wächters des Lichts sind weitaus mehr als einfach nur weiße Magie. Im Übrigen wissen wir gar nicht, ob die Barriere ganz über dem Turm liegt oder nur rundherum verläuft wie ein hoher Zaun.« Sie fassten sich wieder an den Händen und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Eine Sekunde später nahm die kleine Gruppe auf der sonnendurchfluteten Aussichtsplattform des schwarzen Turms wieder Gestalt an. »Es hat geklappt!«, rief Phoebe. Plötzlich zerriss ein Donnern und Krachen die Luft, während sich ein großer Schatten über die Stadt legte. Phoebe trat an den Rand der Plattform und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Nach und nach verdunkelte sich der Himmel über ihnen, und sie spürte, dass sich die ganze Region plötzlich im Zentrum eines gigantischen Kraftfeldes befand, wie es nur durch eine ganz bestimmte Ausrichtung von Erde, Mond und Sonne entsteht.
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»Eine Sonnenfinsternis!«, rief sie den anderen zu. »Das ist bestimmt kein Zufall«, sagte Leo düster. »Große atmosphärische Veränderungen sind wie geschaffen für gewisse Umstürze mithilfe der schwarzen Magie. Wenn wir nicht schnell handeln, könnte es schon bald zu spät sein.« »Und was machen wir jetzt?«, wollte Seif wissen, der seine Aufregung kaum verhehlen konnte. »Nur Piper und Phoebe verfügen noch über ihre Magie«, fasste Suleiman den Status quo zusammen. »Alle anderen müssen sich auf ihr Geschick und ihre Fäuste verlassen. Ich schlage daher vor, wir schleichen uns erst einmal hinunter in die große Halle, und wenn uns auf dem Weg ein Ghul-Wächter begegnen sollte, dann schickt Piper ihn zum Teufel.« »Sollten wir nicht erst mal oben im Verlies nachschauen, ob Paige dort nicht vielleicht eingesperrt ist?«, fragte Phoebe. »Ich glaube nicht, dass Zeyn sie noch einmal gefangen gesetzt hat«, sagte Leo, und Suleiman nickte. »Also dann, auf in den Kampf!«, rief Phoebe angriffslustig. Sie begannen mit dem Abstieg, allen voran Piper, die sich innerlich bereitmachte, umgehend die Zeit einzufrieren, sollten sie eine unliebsame Überraschung erleben. Doch zu ihrem größten Erstaunen begegnete ihnen weder ein Untoter noch der große Zeyn selbst. Der ganze Turm schien wie ausgestorben. »Wo sind die bloß alle?«, fragte Seif, als sie die Etage mit den Ghul-Quartieren erreichten. Fast hatte er sich auf einen Kampf mit den tumben Untoten gefreut. Ja, er hatte sich extra zu diesem Zweck einen kleinen Lederbeutel mit Salz über die Schulter geworfen. »Vielleicht machen die irgendwo Party?«, meinte Phoebe grinsend, und sie wusste gar nicht, wie Recht sie damit hatte.
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In Zeyns Gemach stand Selim neben seinem Vater, der sich langsam mit einem scharfen Dolch in die eigene Handfläche schnitt. Das faltige, braungraue Fleisch klaffte auf, und dann ergoss sich ein dünnes Rinnsal aus Blut in einen goldenen Kelch, den Selim bereithielt. Paige, der es gestattet worden war, die ganze Szene auf einem Diwan sitzend zu verfolgen, schauderte bei dem Anblick. Der Malak tauchte einen dürren Finger in das aufgefangene Blut, vollführte murmelnd einige Zeichen vor Selims Gesicht und berührte dann die Stirn seines Sohnes. Sogleich prangte über Selims Nasenwurzel ein dunkelroter Fleck wie ein Kainsmal. Der junge Magier fröstelte. »Der erste Schritt des Rituals ist hiermit vollzogen«, sagte Zeyn. »Die Konstellation der Gestirne wird heute, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, für unsere Zwecke wie geschaffen sein«, fuhr er mit brüchiger Stimme fort und nahm die Blutschale wieder an sich. »Dann werden wir uns erneut hier zusammenfinden, auf dass das Ritual vollendet werden kann. Bis dahin, meine lieben Kinder, esst und trinkt und lasst es euch wohl ergehen in der Halle der Sinnesfreuden.« Als Leo, Piper, Phoebe, Seif und Suleiman um die letzte Biegung der Wendeltreppe bogen, erkannten sie vor sich einen prächtigen Saal, an dessen einem Ende ein marmorner Thron auf einem Podest stand. Auch hier war weit und breit kein Mensch oder Untoter zu sehen. »Das ist die große Eingangshalle«, raunte Suleiman den anderen zu. »Aber wieso zum Teufel ist selbst hier niemand?« Die anderen sahen sich unschlüssig an. Das alles lief völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Wie kinderleicht sie bis - 206 -
hierher vorgedrungen waren, ohne dass sie auch nur eine einzige Wache aufgehalten hatte! Entweder war Zeyn außerordentlich leichtsinnig, dachte ein jeder von ihnen, oder aber er war der Ansicht, dass er einfach nichts mehr von ihnen zu befürchten hatte. »Da hinten ist noch eine Treppe!«, rief Phoebe plötzlich aus. Und tatsächlich, auf der rechten Seite der Halle, von einer mächtigen Marmorsäule halb verdeckt, waren Stufen im Boden zu erkennen, die abwärts führten. Leo sah die anderen erwartungsvoll an, und alle nickten. Dann orbten sie an die bezeichnete Stelle und wagten den Abstieg. Die Treppe führte hinab in einen düsteren Gang, der mit kostbaren Teppichen ausgelegt war. An seinem Ende war eine schwere Holztür zu erkennen, neben der ein großer Eisenschlüssel hing. Zögernd trat die Gruppe näher. »Schlüssel oder hineinorben?«, fragte Leo in die Runde, als sie vor der großen Holzpforte standen. »Wer weiß, was uns dahinter erwartet?« Suleiman runzelte die Stirn. »Vielleicht wäre es besser, diese Tür auf normalem Wege zu öffnen und erst einmal einen Blick hineinzuwerfen?« Noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte sich Piper schon den Schlüssel geschnappt und ihn im Schloss herumgedreht. Sie schob die Tür einen winzigen Spalt weit auf und sah hindurch. »Was siehst du?«, fragte Seif, der vor Neugier schier zu platzen schien. Keine Antwort. »Piper?«, flüsterte Phoebe ungeduldig. Keine Antwort. - 207 -
»Piper, was ist da hinter der Tür?«, drängte nun auch Leo. »Das Paradies«, hauchte seine Frau. »Ich sehe das Paradies.« In ihrem abgeschiedenen Liebesnest in der Halle der Sinnesfreuden verfolgten Selim und Paige einen martialischen Säbeltanz, der von einer Gruppe junger Männer in schmucken orientalischen Uniformen vorgeführt wurde. Zu den treibenden Rhythmen von Schalmeien und MazharTrommeln wirbelten die blitzenden Schwerter durch die Luft, während sich die Tänzer in fast akrobatischer Weise dazu bewegten. Neben den beiden jungen Leuten standen gekochte und gebratene Speisen, Früchte und Getränke im Überfluss, doch sie hatten nichts von alledem angerührt. Schon in einer halben Stunde würde Zeyn das Ritual abschließen, und Selim würde die Kräfte seines Vaters in sich aufnehmen, in dem Moment, da der alte Malak starb. Keinem der beiden war wohl bei dem Gedanken an diesen Plan, und es war Paige, die das beklommene Schweigen endlich brach. »Da gibt es etwas, das ich nicht verstehe«, begann sie und schaute Selim besorgt an. »Leo hat gesagt, ein Malak könne nicht sterben, und der muss es ja schließlich wissen. Wenn Zeyn nun etwas anderes behauptet, so ist doch ziemlich offensichtlich, dass er uns irgendwie anlügt, oder?« Selim nickte. Genau diesen Gedanken hatte er in den letzten Stunden immer wieder bis zum Überdruss gewälzt. »Könnte es daher nicht sein«, fuhr Paige fort, »dass er einfach einen frischen, jungen Körper für sich sucht? Dass am Ende du derjenige sein wirst, der stirbt, während Zeyn in seiner ganzen Bösartigkeit in deinem Körper weiterlebt?«
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Der junge Magier hob langsam den Blick, und die Erkenntnis traf ihn wie ein Peitschenhieb. Ein Leben für ein Leben, hatte Zeyn geantwortet, als er, Selim ihn nach dem Preis für die Macht gefragt hatte, die sein Vater in seine Hände zu legen beabsichtigte. Er hatte über diesen Satz nicht sonderlich lange nachgegrübelt, aber er hätte nie gedacht, dass er sein eigenes Leben, sein eigenes Ich und Sein, für die teuflischen Pläne des Malak würde opfern müssen! Nie hatte er seit seiner Ankunft im schwarzen Turm auch nur eine Sekunde für möglich gehalten, dass sein leiblicher Vater den Tod seines einzigen Sohnes in Kauf nehmen würde, nur damit er auf Erden weiterexistieren konnte. Der Gedanke schmerzte ihn mehr, als er Paige gegenüber zugeben mochte, und doch nicht so sehr, als dass er sich deshalb zur Schlachtbank führen lassen würde wie ein hilfloses Lamm. »Du hast Recht, Paige«, sagte er und richtete sich abrupt auf. »Die ganze Sache war von vornherein ein abgekartetes, verlogenes Spiel. Zeyn hatte nie vor, aus dieser Sphäre zu entschwinden, und als er bemerkte, dass sein irdischer Körper immer mehr zerfiel, hat er alles darangesetzt, Kontakt mit mir aufzunehmen und mich mit der Aussicht auf die ach so erstrebenswerte Weltherrschaft für seinen ›Plan‹ geködert. Der Bund der Magier und auch die Macht der Drei mussten dazu natürlich zerstört werden«, fuhr der junge Magier fort, »und mit dir an seiner Seite hätte er eine standesgemäße Gefährtin bekommen, die von dem perfiden Körpertausch nichts ahnen und die er mit schwarzer Magie und Zaubertränken vom Denken abhalten würde – und die ihm vielleicht schon bald einen Erben schenken würde –« Er brach ab, denn ihm wurde übel bei dem Gedanken, und auch Paiges Gesicht war vor Entsetzen grau geworden. Ihr Blick fiel auf all die Köstlichkeiten, die man hier, in ihrem romantischen kleinen Liebesnest, vor ihnen aufgebaut hatte, und ihr wurde klar: Der Malak hatte seinem Sohn eine
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Henkersmahlzeit bereitet, damit Selim am letzten Tag seines Lebens noch einmal in den Genuss aller irdischen Sinnesfreuden kommen sollte. Sie schluckte hart. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie und ergriff seine Hand. »Das Ritual darf auf keinen Fall vollzogen werden!« »Das ist nur allzu wahr!« Selim war aufgesprungen und zog Paige von dem Diwan auf die Beine. »Wir müssen von hier verschwinden, und zwar sofort!« In diesem Moment erschien der Algol, der treueste Diener seines Meisters, im Séparée und deutete Richtung Ausgang der Halle. »Der erhabene Zeyn erwartet euch.«
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9 EINER NACH DEM ANDEREN HATTEN sie gespannt einen Blick in die Halle der Sinnesfreuden geworfen, in der alle Herrlichkeit auf Erden Platz gefunden zu haben schien. Piper und Phoebe hatten ihren Augen kaum getraut angesichts der Pracht und Schönheit, die sich hinter der unscheinbaren Tür verbarg. Und selbst der welterfahrene Leo und der eher nüchterne Suleiman waren beeindruckt gewesen von dem unterirdischen Garten Eden, den sich der Malak geschaffen hatte. Doch kann es einen Garten Eden ohne Schlange geben?, fragte sich der Wächter des Lichts, und eine schlimme Ahnung erfasste ihn. Besonders Seif konnte sich vor Entzücken kaum fassen, als er zwischen den Gärten, Teichen und Ruheinseln halb nackte Sklavinnen und Bauchtänzerinnen entdeckte. Plötzlich zuckte er zurück und rief: »Da kommen Paige und Selim! Aber sie sind … nicht allein. Igitt, was für eine hässliche Kreatur ist denn das?« Phoebe drängelte sich neben ihn und wagte noch einmal einen Blick durch den Türspalt. »Hey, das ist doch dieser Dolchheini, der im Basar hinter uns her war und Piper beim Friedhof angegriffen hat –« Leo schob die beiden kurzerhand beiseite und spähte nun seinerseits noch einmal durch den Türspalt. Tatsächlich, die beiden Liebenden durchquerten soeben mit einem absonderlichen Iblis-Dämon die Halle und kamen direkt auf sie zu. Doch weder Selim noch Paige wirkten sonderlich entspannt, geschweige denn glücklich. »Los, verschwinden wir von hier!«, rief der Wächter des Lichts und zog die schwere Tür wieder ins Schloss. Eine - 211 -
Sekunde später schon orbte die Gruppe zurück in die Eingangshalle und versteckte sich in den Schatten des schmalen Treppenaufgangs, der hinauf in den Turm führte. Sie mussten nicht lange warten, bis der hünenhafte Vogeldämon mit seinen beiden jungen Begleitern in der Säulenhalle erschien. Die drei steuerten auf den schwarzen Thron zu, wobei sich Paige und Selim bei jedem Schritt mit gehetztem Blick umsahen und verstohlen miteinander flüsterten. Keine Frage, etwas Merkwürdiges ging hier vor. Etwas, das offensichtlich ganz und gar nicht im Sinne von Selim und Paige war. In Zeyns Allerheiligstem lag der Malak lang ausgestreckt auf seinem Diwan, als Paige und Selim zusammen mit dem Algol den Raum betraten. Die Kammer war stickig und nur halbherzig durch einige Kerzen erleuchtet. Der Geruch von Tod und Verwesung hing in der Luft, und Paige rümpfte unwillkürlich die Nase. Es roch, als ob der Malak langsam von innen heraus verfaulte. Ächzend erhob sich der Alte von seinem Lager; er wirkte noch hinfälliger als vor einer Stunde und konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten. »Es ist so weit«, sprach er mit brüchiger Stimme und trat auf seinen Sohn zu. »Bist du bereit?« Selim nickte stumm, während Paige sich mit klopfendem Herzen neben der Tür aufstellte. Niemand schien mehr groß Notiz von ihr zu nehmen. Der Malak nahm die Schale mit seinem Blut und hob sie hoch über den Kopf. Gleichzeitig trat der Algol hinter seinen Meister wie ein eifriger Bodyguard und legte ihm zwei raubvogelartige Klauen auf die Schulter.
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Mit heiserer Stimme begann Zeyn nun, einige Beschwörungsformeln zu murmeln, deren Sinn Selim nicht verstand. Plötzlich befiel ihn eine seltsame Ruhe, und als der Malak ihm die goldene Schale mit dem Blut reichte, nahm er sie fast automatisch entgegen. Unmerklich ging Paige in Kampfstellung. Doch zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass mit einem Mal ein friedlicher Ausdruck auf Selims Gesicht erschien, und als er die Schale zum Munde führte, da lächelte er. Panik erfasste Paige. Er wollte doch wohl nicht wirklich das unheilige Blut seines Vaters trinken. Plötzlich hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass der Plan, den sich Selim und sie auf dem Weg hierher zugeraunt hatten, in dieser Sekunde an Gültigkeit verlor. »Selim, nicht!«, schrie sie, als seine Lippen den Rand der Schale berührten, und stürmte auf ihn zu. Im gleichen Moment wurde die Tür zur Kammer aufgerissen, und Leo, Seif, Suleiman, Piper und Phoebe platzten herein. Ab da überschlugen sich die Ereignisse. Der Malak schrie auf, der Algol riss dem wie betäubten Selim die Blutschale aus der Hand – und trank! Noch bevor Piper die Zeit anhalten konnte, wurde die Kammer erfüllt von Hitze, Licht und einem ohrenbetäubenden Rauschen, während der alte Zeyn lautlos zu Boden sank. Aus seinem zuckenden Körper schossen Blitze und Strahlen, die sich von allen Seiten in den Körper des Algol bohrten und ihn von innen heraus erstrahlen ließen wie eine 1000-Watt-Glühbirne. Das, was einmal der Algol gewesen war, starb, doch zugleich schien der Dämon mit jeder Kraft, mit jedem Funken fremden Lebens, das er in sich aufnahm, zu erstarken.
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Der Boden erzitterte leicht, als sich sein hybrider Körper und sein hässlicher Raubvogelkopf auf geradezu phantastische Weise zu verändern begannen. Leo, die drei Brüder und die Zauberhaften mochten ihren Augen kaum trauen, als nach der Metamorphose ein Wesen vor ihnen stand, das an Schönheit und Erhabenheit seinesgleichen suchte. Doch es war nicht mehr zu leugnen: Neben der am Boden liegenden toten Hülle des greisen Zeyn, schwebte die Reinkarnation des Malak: eine geflügelte Lichtgestalt mit langem lockigen Haar, grünen mandelförmigen Augen und dem Gesicht eines Engels. Keine Frage, vor ihnen stand Zeyn, wie er in jungen Jahren ausgesehen hatte, und er sah Selim zum Verwechseln ähnlich! Selim keuchte erschrocken auf, und sein Vater verzog das Gesicht zu einem grausamen Lächeln. »Raus hier!«, schrie Leo, und schon stürmten die drei Brüder und die Hexen aus der Kammer durch die Säulenhalle des schwarzen Turms. »Wohin?«, rief Suleiman, »die Hauptpforte ist doch noch immer durch die magische Falle gesichert!« »Richtung Treppe!«, stieß Leo hervor, und schon flüchtete sich die Gruppe wieder an ihren alten Platz neben der Wendeltreppe und versteckte sich hinter einer schweren Granitsäule. Im gleichen Moment erschien der Malak auf der Schwelle seines Allerheiligsten, sodass die Halle in einem gleißenden Licht erstrahlte, und stieg auf das Podest mit dem schwarzen Thron. Als er sich zu Leo und den anderen umwandte, war es, als ob die Welt den Atem anhielt.
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Und auch Phoebe erstarrte für einen Moment; denn vor ihren Augen lag genau die Szenerie, die sie in ihrer Vision gesehen hatte. Der junge Zeyn hob einen Arm, und dann schossen grellrote Feuerbälle und Blitze durch die Halle, die nur knapp ihr Ziel verfehlten, weil sich die Gruppe im letzten Moment auf den Treppenabsatz zurückzog. Piper versuchte, die Zeit einzufrieren, doch der Malak, der ebenfalls über diese Kraft verfügte, hob den Zauber in derselben Sekunde auf. Gleichzeitig baute sich eine gigantische Feuerwalze vor Zeyn auf, die rasend schnell auf die Gruppe bei der Treppe zurollte. Die sechs fassten sich an den Händen und konnten sich gerade noch in Sicherheit orben. Als sie auf dem ersten Zwischengeschoss wieder materialisierten, rief Piper: »Phoebe, hast du den Spruch?« Phoebe nickte und ergriff Pipers Hand. Dann rief sie: »Selim, komm schnell her, wir brauchen dich für die temporäre Macht der Drei!« Der junge Magier trat zu den beiden Frauen, und mit seiner Hilfe schlossen sie den heiligen Kreis. In diesem Moment ging ein Eisregen auf die Gruppe nieder, der sich ihnen ins Fleisch bohrte wie heißkalte Nadelstiche. Paige trug einen Schnitt an der Wange davon; Seif wurde von einem spitzen Hagelklumpen am Kopf getroffen, sank blutend zu Boden und regte sich nicht mehr. »Phoebe, schnell!«, rief Leo, während er den jungen Mann wieder ins Leben zurückholte und gleich darauf auch Paige heilte. Phoebe hielt Pipers und Selims Hände noch ein bisschen fester, hob den Kopf und rief laut: - 215 -
In dieser Nacht, zu dieser Stund ruf ich die alten Mächte herbei. Lenkt eure Kraft in unsren Bund, verleihet uns die Macht der Drei! Der schwarze Turm erbebte, und im gleichen Augenblick ertönte ein markerschütternder Schrei aus der Eingangshalle. Sodann wurden Piper, Phoebe und Selim von einer rotgoldenen Aura umhüllt – die temporäre Macht der Drei war hergestellt. »Es hat geklappt!«, rief Paige und riss triumphierend den Arm in die Höhe. Schon stürmten Piper, Phoebe und Selim die Treppe hinab und zurück in die Halle, während die anderen ihnen in sicherem Abstand folgten. Der Malak stand noch immer neben seinem Thron, beide Hände gen Himmel erhoben, wie wenn er seinen Schöpfer um Gnade anflehte. Rauchende Trümmer und verkohlte Teile der Decke stürzten herab – offensichtlich die Folge einer fehlgeleiteten Magieattacke – und begruben den Thron unter sich. Piper, Phoebe und Selim hoben die Hände in Richtung ihres Erzfeindes und riefen dreimal im Chor: Gib nun zurück, was du dir nahmst, und gehe hin, woher du kamst. Sie hatten das letzte Wort kaum ausgesprochen, da war es, als ob sich aus den Fingerspitzen der drei sämtliche ihnen
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innewohnende Macht entlud und auf Zeyn niederging wie ein tausendfaches Blitzgewitter. Zeyns Gestalt wurde von einem Kraftfeld aus bläulicher Energie umgeben, und sein Leib zuckte wie unter Stromschlägen, bevor er mit einem Knirschen und Krachen auseinander brach wie eine geplatzte Puppe. Gleichzeitig wurde es in der Halle so unerträglich hell, dass die sieben einige Sekunden lang wie geblendet dastanden. Aus den Rissen und Klüften in Zeyns Körper quoll alles irdische Leben, und mit ihm verließen ihn alle Kräfte, die er sich im Laufe seines Erdendaseins angeeignet hatte. Wie farbige Sonnenstrahlen brachen sie hervor, schossen in alle Richtungen davon und suchten sich einen Weg zurück in ihre ursprünglichen Besitzer. Paige, Seif und Suleiman wurden von einer Welle aus Wärme und Glück erfasst, als sich ihre Magie wieder in ihren Körpern manifestierte – und dann waren plötzlich die Macht der Drei und der Bund der Magier wieder hergestellt. Drei Männer und drei Frauen erstrahlten in einem überirdischen Glanz, fassten sich an den Händen und intonierten: Du gabst zurück, was du dir nahmst, nun gehe hin, woher du kamst. Gellend schrie der Malak auf, und dann explodierte das, was von seinem Körper noch übrig war, in einer Wolke aus Feuer und Licht, und seine verlorene Seele fuhr auf ins ewige Reich der alten Mächte. Als es vorbei war, standen die drei Brüder und die Zauberhaften für einige Sekunden einfach nur wie betäubt da.
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Eine merkwürdige Stille legte sich über diesen Ort wie Mehltau über eine Wiese, und es war Leo, der die sechs wieder ins hier und jetzt zurückrief. »Wir müssen von hier verschwinden!«, rief er, und schon einen Atemzug später ertönte ein Grollen und Donnern unter ihren Füßen, und im Marmorboden der Säulenhalle erschienen tiefe Risse und Spalten, als ob die Unterwelt selbst im Begriff war, sich aufzutun. Kurz bevor das Fundament des schwarzen Turms gänzlich einbrach, verschwand die Gruppe in einem Strudel aus blauem Licht von diesem unheiligen Ort. Auf der Terrasse von Ibrahims Haus materialisierten sie genau in dem Augenblick, als der schwarze Turm erbebte und ins Wanken geriet. Und dann fiel das uralte Bauwerk mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen, und der aufgewirbelte Staub verdunkelte für einige Minuten den Himmel über Ald’maran. Granitfarbene Gesteinsbrocken regneten auf den alten Friedhof und den Hügel nieder, auf dem der Turm gestanden hatte. Und diese Trümmer waren alles, was von Zeyns ehemaliger Pracht und Herrlichkeit übrig geblieben waren. Die Menschen von Ald’maran würden später von einem Erdbeben sprechen, und die Archäologen der fernen Zukunft würden in der Ruine des schwarzen Turms nach den Resten einer untergegangenen Zivilisation graben und kluge Aufsätze über Herkunft und Zweck des antiken Baus verfassen. Doch niemand von ihnen würde je erfahren, was sich im Jahre 790 in seinen Mauern wirklich abgespielt hatte.
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Im kleinen Innenhof von Ibrahims Haus herrschte fröhliche Ausgelassenheit. Die Sonne sank bereits, als man sich um den kleinen Holztisch versammelte, während der alte Mann gemächlich umherging und Rauchfackeln entzündete, um die Insekten zu vertreiben. Die Zauberhaften und die drei Brüder feierten ihren Sieg über die Mächte des Bösen ebenso wie die Rückkehr ihrer Kräfte. Die alte Ordnung war wieder hergestellt, die Macht der Drei und der Bund der Magier waren wieder vereint. Mit Magie hatte Seif in der Küche sogleich ein kleines Feuerchen im Lehmofen entfacht, sodass Ibrahim das Essen und einen starken Mokka zubereiten konnte. Auch Paige hatte dem alten Mann dabei praktische Hilfe geleistet, indem sie per Telekinese und unter großem Gelächter die jeweils benötigten Zutaten herbeigezaubert hatte. »Eigentlich dürfen wir Zauberhaften ja nicht zum eigenen Vorteil hexen«, hatte sie augenzwinkernd gemeint, »aber ich denke, heute können wir zur Feier des Tages ruhig mal eine Ausnahme machen, oder?« Niemand hatte widersprochen. Nun saßen sie alle im schattigen Innenhof hinter dem Haus und ließen sich die an kleinen Spießen gebratenen Fleischstücke zu Reis und frischer Ziegenmilch schmecken. Während sie aßen und tranken erzählten sie dem alten Ibrahim in allen Einzelheiten von ihrem Kampf im schwarzen Turm. »Was geschah eigentlich mit den vielen Menschen, den Gästen, Sklaven und Dienern, die sich in Zeyns unterirdischer Halle der Sinnesfreuden aufgehalten haben?«, fragte Paige plötzlich erschrocken. »Mussten die alle heute ebenfalls sterben?«
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»Das war doch alles nur Phantasmagorie und Blendwerk«, sagte Selim, und Leo nickte. »Er hat sich diesen Garten der Lüste mit schwarzer Magie erschaffen und bevölkert, nicht zuletzt, um euch zu täuschen«, fügte der Wächter des Lichts hinzu. »Nichts davon hat je wirklich existiert.« »Mannomann«, bemerkte Phoebe, »David Copperfield ist ja ein Stümper dagegen.« Als die drei Brüder sie verständnislos ansahen, fügte sie hinzu: »Na ja, es gibt auch in unserer Welt ’ne Menge Blendwerk und Täuschung, aber auch vieles, von dem ihr hier noch nicht einmal zu träumen wagt.« »Davon konnte ich mich mit eigenen Augen überzeugen«, bestätigte Selim. »Auf den Gebieten der Technik, Wissenschaft und Medizin hat die Menschheit geradezu Unglaubliches geleistet, wenn auch oft um einen hohen Preis.« Die Zauberhaften nickten, als sie an die so genannten Segnungen der Zivilisation dachten, die unterm Strich beileibe nicht immer zum Wohle der Menschen waren. »So ein einfaches Leben hat wirklich einiges für sich«, sagte Paige, als sie sich in dem schlichten, und doch idyllischen Innenhof umsah. Ein unerwartetes Gefühl des Friedens erfüllte sie, doch als ihr Blick an Selim hängen blieb, der sie mit traurigen Augen ansah, verspürte sie einen heftigen Stich im Herzen. »Allerdings möchte ich persönlich den Komfort einer warmen Dusche nicht mehr missen«, meinte Piper grinsend. »Seit zwei Tagen schon stecke ich in denselben Klamotten, und mein Haar sieht aus, als hätte ich es in einer Fritteuse gewaschen.« Die Schwestern kicherten, während Leo den Brüdern die Funktionsweise einer elektrischen Fritteuse auseinander setzte.
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»Ob die arme Malah ihren Frieden gefunden hat?«, fragte Phoebe plötzlich, die sich an Selims und Leos Begegnung mit dem Kummerfluch erinnerte, von dem die beiden ihnen gestern erzählt hatten. »Ja, der Bann wurde in dem Moment gebrochen«, erwiderte Leo, »da die irdische Existenz des Malak ihr Ende fand und die von ihm gestohlenen Kräfte wieder in ihre ursprünglichen Besitzer zurückkehrten. Malahs gepeinigte Seele ist nun für immer befreit.« »Und was wurde aus diesem komischen Vogeldämon?«, fragte Paige. »Des Meisters neues Gefäß«, entgegnete Leo trocken. »Zumindest für einen kleinen, erhebenden Moment.« »Na, das hat er sich bestimmt auch anders vorgestellt, als er sich die Blutschale unter seine dämonische Kralle riss«, bemerkte Piper kichernd. Auch die anderen konnten sich ein leicht hämisches Grinsen nicht verkneifen. »Und wie geht es nun mit uns weiter, jetzt, da Zeyn vom Antlitz der Erde verschwunden und der schwarze Turm zerstört ist?«, fragte Suleiman, und die Anwesenden wurden für einen Moment sehr Ernst. Jeder wusste, was der andere dachte: Die drei Schwestern mussten sich schon bald aus Ald’maran verabschieden und in ihre Zeit zurückkehren. Und es würde ein Abschied für immer sein. »Spricht eigentlich irgendwas dagegen«, rief Phoebe plötzlich in die entstandene Stille hinein, »wenn wir alle zusammen ins 21. Jahrhundert reisen und mit euch«, sie zeigte auf die drei Brüder, »eine kleine Rundreise durch San Francisco und unsere Zeit unternehmen?«
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Die Anwesenden sahen sich zweifelnd an, und dann richteten sich alle Blicke auf Leo. »Nun«, begann dieser langsam, »ich denke, die höheren Mächte hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn der Bund der Magier zum Zwecke des, ähm, Informationsaustausches ein paar Tage in die Zukunft reist und danach wieder in seine Zeit zurückkehrt.« »Dann nichts wie los!«, rief Seif und sprang mit leuchtenden Augen auf. »Ich kann’s kaum erwarten!« Im Dachgeschoss von Ibrahims Haus erschuf Selim mithilfe des Buchs der Weisheit zum letzten Mal das Zeitportal, und nachdem sich Leo und die Zauberhaften von dem alten Mann verabschiedet und ihm für seine Gastfreundschaft gedankt hatten, traten die jungen Leute ihre gemeinsame Reise in die Zukunft an. In Halliwell Manor angekommen, folgte erst einmal eine ausgiebige Hausbesichtigung, bei der die drei Brüder aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. So viel Luxus, so viel Technik, und das auf engstem Raum! Auf dem Speicher des viktorianischen Hauses verharrten die drei Magier einen Moment lang ergriffen vor dem Buch der Schatten, bevor die Zauberhaften ihnen die halliwellsche Familiengeschichte in aller Ausführlichkeit erzählten und dabei auch der verstorbenen Prue gedachten. Nach einem heißen Bad, einem Kleiderwechsel und einem kleinen Imbiss besuchten sie am Abend das P3. Im Club wurde Piper von ihren Angestellten schon sehnlichst erwartet, denn heute sollte eine viel versprechende australische NewcomerBand namens Smart Kangaroos auftreten. Und es kostete Leo einige Anstrengung, Seif und Suleiman zu erklären, wo Australien lag.
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Anfänglich wirkte der Bund der Magier ein wenig irritiert angesichts der lauten Musik und des Trubels, die in dem Nachtclub herrschten, doch schon bald mischten sie sich mit Leo und den Schwestern unter die Tänzer und feierten ausgelassen ihren Sieg. Am Sonntag zeigten die Zauberhaften den Brüdern dann die Stadt, diverse Sehenswürdigkeiten und einige Museen. Am Spätnachmittag standen ein Kinobesuch und eine Burger-Orgie im besten Fastfood-Tempel der City auf dem Programm. Auch Selim, der ja schon einige Male in San Francisco gewesen war, glänzte mit seinen nicht unerheblichen Kenntnissen über Zeit und Ort. In einer Mischung aus Befremden und Faszination nahmen Seif und Suleiman alle Eindrücke in sich auf und stellten unzählige Fragen. Insbesondere für die beiden jüngeren Brüder war dieser Trip in die ferne Zukunft, als ob sie völlig unvorbereitet auf einem fremden Planeten gelandet wären, und mehr als einmal blieben Seif und Suleiman inmitten des Großstadtdschungels aus Glas, Metall und Stein einfach stehen, sahen staunend einem aufsteigenden Jet oder einem anderen wie durch Zauberhand bewegten Gefährt hinterher und schüttelten fassungslos die Köpfe. Musik, Geräusche und bewegte Bilder schienen wie aus dem Nichts zu kommen, und Leo musste gelegentlich weit ausholen, um den Brüdern die wichtigsten technischen Zusammenhänge zu erklären. Er tat dies sehr gern und auf seine gewohnt ruhige und warmherzige Art. Als sie es sich am Abend dieses aufregenden Tages im Wohnzimmer von Halliwell Manor bei Popcorn, Pizza und Eistee gemütlich gemacht hatten und durch die zahllosen TVProgramme zappten, musste Suleiman zugeben, dass der »Zauber« des 21. Jahrhunderts der Elemente-Magie ihrer eigenen Zeit in nichts nachstand.
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Für die nächsten beiden Tage hatten sich Piper, Phoebe und Paige freigenommen, sodass sie mit den drei Brüdern in Pipers offenem Geländewagen ins Umland von San Francisco fahren und ihnen die Schönheiten der Westküste zeigen konnten. Gelegentlich rundeten die Schwestern das Bild des modernen Amerika mit einigen geschichtlichen Daten ab, die Phoebe aus einem Reiseführer vorlesend ergänzte. Am Abend des Mittwoch schließlich unternahmen sie dann einen Ausflug ans Meer mit abschließendem Picknick am Bakers Beach. Und das war auch der Moment, in dem sich Paige und Selim voneinander verabschieden und in das Unausweichliche fügen mussten: Selim und seine Brüder würden noch an diesem Abend zurück in ihre Zeit reisen. Die beiden Liebenden standen ein wenig abseits des Lagerfeuers, das die Gruppe am Strand entzündet hatte. Gedämpft trug ihnen der Wind die Stimmen von Leo, Piper, Phoebe, Suleiman und Seif zu, die Maiskolben, Steaks und Marshmallows grillten und dabei lachten und schwatzten. »Wie schön das alles ist«, sagte Selim, als er auf den leicht aufgewühlten Pazifik hinaussah, über dem die letzten Möwen ihre Kreise zogen, während über der Golden Gate Bridge langsam die Sonne unterging. »Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen.« Paige wandte den Kopf und sah den jungen Mann an. »Und ich werde dich nie vergessen«, sagte sie leise. Langsam drehte sich Selim zu ihr um und nahm sie in die Arme. »Mein Herz wird für immer dir gehören, Paige«, erwiderte er, »egal, wie viel Zeit auch zwischen uns und unseren Welten liegen mag. Ich werde dich lieben bis in den Tod.« Er griff unter sein Hemd, holte die Kette mit dem kleinen Halbmond hervor und gab sie Paige. Seine dunkelgrünen Augen füllten sich mit Tränen, als er sagte: »Dies soll dich stets an - 224 -
mich erinnern, Liebe meines Lebens, wohin auch immer das Schicksal uns führt.« Mit zitternden Händen nahm Paige den Anhänger entgegen und legte ihn an. Selim nickte und sah wieder hinaus in die Nacht. »Siehst du den hellen Stern dort oben?«, fragte er leise. »Das ist der Abendstern, der, wie ich in eurer Welt erfahren habe, eigentlich gar kein Stern ist, sondern unser innerer Nachbarplanet. Der Abendstern wird auch Venus genannt und ist der ständige Begleiter der Liebenden.« Er sah Paige eindringlich an. »Wenn wir einander nicht vergessen, wird auch unsere Liebe die Jahrtausende überleben wie dieser Abendstern.« Er zog sie an sich und küsste sie zärtlich. In diesem Moment fiel eine Sternschnuppe vom Himmel und schien direkt ins Meer vor ihnen einzutauchen. Und Paige wusste, dass sie den Nachthimmel nie wieder würde betrachten können, ohne dabei an Selim zu denken. Und sie weinte. Es war weit nach Mitternacht, und noch immer saßen Piper, Phoebe und Leo im großen Wohnzimmer von Halliwell Manor. Bei Eiscreme und Kakao ließen sie die letzten aufregenden Tage Revue passieren. Vor etwa einer Stunde waren die drei Brüder mit dem Zeitportal nach Ald’maran zurückgereist, und Paige hatte sich danach sogleich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Sie wollte allein sein, und die Schwestern verstanden und respektierten ihren Wunsch. »Arme Paige«, sagte Phoebe gerade, die wohl von allen am besten verstand, was nun in ihrer Halbschwester vorging. »Ich hoffe, sie überwindet ihren Schmerz über diesen Verlust. Selim war wirklich ein toller Mann …« - 225 -
»Es mag zwar banal, ja, vielleicht sogar herzlos klingen«, meinte Piper, »aber es heißt doch, die Zeit heilt alle Wunden. Ich denke, auch Paige wird ihren Kummer irgendwann bewältigt haben und sich vielleicht schon bald wieder in einen tollen Mann verlieben können.« »Was glaubt ihr, werden die Brüder wohl mit den Erfahrungen, die sie in den letzten Tagen gemacht haben, in ihrer Generation anfangen?«, grübelte Phoebe. »Ich denke, die drei sind klug genug, das Wissen, das sie hier erlangt haben, nur zum Wohle ihrer Zeit einzusetzen«, sagte Leo. »Wer weiß, vielleicht werden sie eines Tages zu den großen Gelehrten des Morgenlandes gehören? Bekanntlich gilt ja der alte Orient als Wiege von Wissenschaft, Medizin und Astronomie. Und vielleicht hat ja der Bund der Magier auch seinen kleinen Anteil daran?« »Und welche, ähm, Strafe erwartet Zeyn, den ehemaligen Wächter des Lichts, im Reich der Höheren Mächte?«, fragte Piper. »Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er nie wieder Gelegenheit erhalten wird, auf Erden sein Unwesen zu treiben«, sagte Leo, der nach seiner Ankunft in San Francisco dem Rat der Ältesten natürlich einen kurzen Besuch abgestattet hatte. »Seine irdische Zeit ist unwiderruflich abgelaufen.« »Aber unsere nicht! Ein Hoch auf die Zauberhaften!«, rief Phoebe triumphierend. »Ich bin froh, dass wir uns gegenüber dem Schicksalsengel für unser Hexenleben entschieden haben. Und auch wenn’s im alten Orient manchmal ganz schön stressig zuging, bin ich ziemlich gespannt, was die Zukunft uns noch an aufregenden Abenteuern bringen mag.« »Na ja, Süße, schon bald bringt sie dir erst mal eine kleine Nichte oder einen kleinen Neffen«, sagte Piper lächelnd und deutete viel sagend auf ihren immer noch recht flachen Bauch. »Wenn das nicht Aufregung genug ist …« - 226 -
Leo nahm seine Frau liebevoll in den Arm und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Gott sei Dank ist Leo ein durch und durch guter Wächter des Lichts und nicht so ein durchgeknallter Himmelsbote wie dieser Zeyn, der sogar den eigenen Sohn für seine größenwahnsinnigen Ziele geopfert hätte …« Phoebe schauderte bei der Erinnerung und nahm sich zum Trost gleich noch eine große Portion Walnusseis mit Schokosoße. »Und solange du, Leo, nicht nach der Weltherrschaft strebst, wird uns in dieser Hinsicht hoffentlich jegliche Aufregung erspart bleiben.« Sie zwinkerte den beiden lachend zu. »Eines jedenfalls ist sicher«, sagte Piper. »Was immer die Zukunft auch bringen mag, unser aller Leben wäre nicht das, was es ist, hätte es vor 1200 Jahren den Bund der Magier nicht gegeben.« Sie sah nachdenklich in die Runde. »Und es ist ein wunderbares Gefühl zu wissen, dass auch wir einen Anteil daran hatten.«
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Epilog OBEN IN IHREM ZIMMER TRAT PAIGE ans Fenster und öffnete es. Sie fühlte sich leer und wie betäubt. Sie hatte in den letzten Stunden so sehr um ihre verlorene Liebe getrauert, dass sie kaum mehr Tränen hatte. Sie tastete nach der Kette um ihren Hals und starrte hinaus in den Nachthimmel. Ihr Blick suchte und fand sein Ziel: den hell leuchtenden Abendstern, den sie noch vor wenigen Stunden gemeinsam mit Selim betrachtet hatte. Selim … Ihre Hand umklammerte den Anhänger mit dem kleinen Halbmond. »Eines ist gewiss«, flüsterte sie, »so lange es an diesem Himmel Sterne gibt, so lange werde ich dich nicht vergessen, Liebster.«
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