SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Zunächst scheint es ein ganz normaler Sommerurlaub zu sein, wie er ...
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SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Zunächst scheint es ein ganz normaler Sommerurlaub zu sein, wie er ihn bisher jedes Jahr mit seinen Eltern in Pallahaxi am Mittleren Ozean verbrachte. Zuerst die aufregende Fahrt mit dem Dampfwagen quer durch den Kontinent zur Küste, Ausflüge mit dem Boot, das Warten auf die »Grume«, das unter der unbarmherzigen Sonne eingedickte Meerwasser, das durch den Mittleren Ozean quillt, die Fische an die Oberfläche drückt und gefährliche einheimische Lebensformen mit sich schwemmt, während die Fischer mit ihren Windgleitern über die Oberfläche des sirupdicken Wassers schießen, um die Schätze des Meeres einzuheimsen. Doch dann fallen seltsam drohende Schatten über den nicht enden wollenden Tag der Sommermonate. Ein Krieg ist entbrannt, die Front rückt bedrohlich näher, Kriegsschiffe beschießen die Ferienidylle, Militär zieht auf, es kommt zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Zivilbevölkerung, die Regierung hortet Vorräte und verbarrikadiert sich in einer unterirdischen Festung. Der Sommer geht, und die Regenzeit beginnt. Der Winter wird ihm folgen, doch die wenigsten haben genug astronomische Kenntnisse, um zu ermessen, welch ein Winter kommen wird, denn die Bahn, die dieser Planet in einem Doppelsternsystem beschreibt, ist äußerst kompliziert.
MICHAEL CONEY
DER SOMMER GEHT Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3673 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe HELLO SUMMER, GOOD BYE Deutsche Übersetzung von Yoma Cap
Die Karte auf der Seite 5 zeichnete Erhard Ringer Die Textillustrationen sind von Janos Fischer
Redaktion : Wolfgang Jeschke Copyright © 1975 by Michael Coney Copyright © 1979 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1979 Umschlagbild : Patrick Woodroffe Umschlaggestaltung : Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung : Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-30592-2
1 Ich denke heute noch oft an den Tag damals in Alika, an dem Vater, Mutter und ich geschäftig hin und her rannten und auf der Eingangsveranda die Gepäckstücke aufstapelten, die wir in den Urlaub nach Pallahaxi mitnehmen wollten. Ich für meinen Teil kannte die Art der Erwachsenen bereits gut genug – obwohl ich gerade erst die Pubertät erreicht hatte – um ihnen bei diesem alljährlichen Ereignis, das sie aus irgendeinem Grund immer hysterisch zu machen schien, so weit als möglich aus dem Weg zu gehen. Meine Mutter huschte mit fahrigen Bewegungen und leerem Blick umher, erkundigte sich ständig nach verschiedenen lebenswichtigen Gegenständen und murmelte gleich darauf die Antwort auf ihre eigenen Fragen. Mein Vater, groß und stattlich, stampfte immer wieder die Kellertreppe hinunter und kam mit Kanistern voll Destillat für sein liebstes Besitztum, den Motorwagen, zurück. Wann immer ich meinen Eltern unter die Augen kam, las ich alles andere als elterliche Zuneigung in ihren Blicken. Ich ging ihnen also aus dem Weg, sah aber trotzdem dazu, daß meine eigenen Sachen nicht vergessen wurden. Ich hatte in dem Gepäckstoß bereits unauffällig meinen Stoßball, mein Zirkularbrett, mein Grume-Gleiter-Modell und mein Fischnetz, zerlegt natürlich, untergebracht. Als gerade niemand beim Wagen war, steckte ich den Käfig mit meinen zahmen Drivettchen hinter die Lehne des Rücksitzes. In diesem Augenblick trat mein Vater mit einem weiteren Kanister aus dem Haus und warf mir einen finsteren Blick zu. 7
»Du könntest dich ein wenig nützlich machen und den Tank füllen.« Er stellte den Kanister neben den Wagen und gab mir einen Messingtrichter. »Verschütte mir nichts. Das ist kostbares Zeug heutzutage.« Er sprach natürlich von der durch den Krieg verursachten Knappheit. Wie mir vorkam, sprach er eigentlich selten von etwas anderem. Während er zum Haus zurückmarschierte, schraubte ich die Verschlußkappe ab und schnupperte an dem betäubend riechenden Destillat. Mich hatte dieser Stoff schon immer fasziniert ; meinem jugendlichen Vorstellungsvermögen schien es unglaublich, daß eine Flüssigkeit, die noch dazu genauso wie Wasser aussah, brennen konnte. Einmal hatte ich auf die Anregung eines Freundes hin versucht, das Zeug zu trinken. Destillat war, so erklärte mir dieser Freund, sehr ähnlich jenem Grundstoff von Bier und Wein und anderen aufregenden, verbotenen Getränken, die in den Schenken angeboten wurden. Also schlich ich mich eines Nachts in den Keller, einen heißen Ziegelstein umklammert, der mir Mut machen sollte, öffnete einen Kanister und nahm einen tiefen Schluck. Die Art und Weise, wie mir das Zeug Mund und Kehle verbrannte, überzeugte mich nachhaltig, daß es imstande war, einen Dampfmotor zu treiben. Unglaublich erschien mir aber nach wie vor, daß es Leute gab, die so etwas gerne tranken. Würgend und benommen lehnte ich einige Zeit an der Außenmauer und ächzte, während die Kälte sich in meine Knochen schlich. Übelkeit genauso wie Angst schüttelten mich, denn es war Winter, und der Eisplanet Rax starrte auf mich herunter wie ein böses Auge. In Alika kann einem die Kälte des Winters wirklich Angst machen. 8
Pallahaxi aber verbinde ich immer mit Sommer und Wärme, und an jenem Tag wollten wir dorthin aufbrechen. Ich steckte den Trichter in die Tanköffnung des Motorwagens und neigte den Kanister, bis das Destillat herausgluckerte. Von der anderen Straßenseite aus schauten drei kleine Mädchen zu, die Mäulchen in den schmutzigen Gesichtern weit offen vor Staunen und Neid beim Anblick des prächtigen Vehikels. Ich setzte den leeren Kanister schwungvoll ab und nahm den nächsten. Eine von den Gören warf einen Stein herüber, der gegen den hochglanzpolierten Lack knallte, dann rannten sie alle drei mit Geschrei davon. Hinter den Häusern gegenüber waren die hohen Türme des Parlamentsgebäudes zu erkennen, in dem der Regent über die Abgeordnetenkammer präsidiert, und wo mein Vater in einem schäbigen kleinen Büro als Sekretär des Ministers für Öffentliche Angelegenheiten arbeitet. Mein Vater ist also ein Parl, und sein Motorwagen zeigte selbstverständlich das Emblem der Parls – was die Antipathie der Kinder erklärte. Ich konnte ihnen ihre Einstellung gewissermaßen nachfühlen, nur kam es mir unsinnig vor, daß sie ihren Ärger an dem Wagen ausließen statt an meinem Vater. Ich drehte mich zu unserem Haus um. Es war ein ziemlich großes Gebäude aus dem gelben Stein, der in der Gegend gewonnen wurde. Ich sah meine Mutter an einem Fenster vorbeihasten, von unverständlicher Panik getrieben. Im Garten haschten ein paar halbintelligente Blumen nach viel zu flinken Insekten ; irgendwie kam mir das Grundstück in diesem Jahr sehr vernachlässigt vor, und ich weiß noch, daß ich mich darüber wunderte, weil meine Mutter 9
sonst sehr penibel war. Überall machte sich Wucherkraut breit, vermehrte sich wie ein grünes Geschwür und erstickte die letzten blauen Lampionblumen. Dieses freche Vordringen überall hatte etwas Beängstigendes, und mich überlief plötzlich ein Frösteln bei dem Gedanken, daß das Zeug das Haus überwuchert haben würde, wenn wir aus den Ferien zurückkamen, und daß die zähen Ranken sich durch die Holzverkleidung zwängen und uns im Schlaf erdrosseln würden. »Drove !« Mein Vater stand vor mir und hielt mir einen neuen Kanister hin. Als ich schuldbewußt aufschaute, zuckte er mit einem seltsamen Gesichtsausdruck die Achseln. »Laß nur, Drove.« Auch er musterte das Haus. »Ich mache jetzt schon weiter. Geh nur und pack deine Sachen zusammen.« Als ich wieder in meinem Zimmer war, schaute ich mich um. Es war eigentlich immer so gewesen, daß ich nur wenige Sachen nach Pallahaxi mitzunehmen brauchte. Für mich war dort eine ganz andere Welt, und es gab ganz andere Dinge zu tun. Im Zimmer nebenan hörte ich Mutter immer noch herumrennen und rumoren. Auf dem Fensterbrett stand das Weckglas mit meinem Eiskobold. Darauf hätte ich beinahe vergessen. Ich inspizierte den Inhalt genau und glaubte bereits eine dünne Schicht von Kristallen auf der Oberfläche der zähen Flüssigkeit zu erkennen. Ich sah mich um, fand ein Stöckchen und stocherte sachte nach dem Eiskobold. Nichts rührte sich. Letzten Winter, als die ferne Sonne als kleiner, blasser Fleck über den Himmel zog, während Rax als eisig schimmernder Klumpen die Nacht beherrschte, hatten plötzlich 10
alle Jungen unserer Gegend einen Eiskobold haben müssen. Wie bei den meisten solchen Verrücktheiten wußte keiner so recht, wer damit angefangen hatte, aber auf einmal hatte jeder seinen Krug oder sein Glas mit der gesättigten Lösung und warf jeden Tag noch ein paar von den geheimnisvollen Kristallen hinein, die man in den flachen Küstensümpfen fand, wo die Eisteufel lebten. »Ich hoffe, du hast nicht vor, dieses scheußliche Ding mitzunehmen«, ereiferte sich Mutter, als ich mit dem Eiskobold aus meinem Zimmer kam. »Aber ich kann ihn doch nicht hierlassen, oder ? Er ist fast fertig.« Ich spürte ihre Ängstlichkeit, und das trieb mich dazu, das Thema noch etwas auszuschlachten. »Ich hab ihn zur selben Zeit angesetzt wie Joelo, und Joelos Kobold ist vor zwei Tagen lebendig geworden und hat ihm fast den Finger abgerissen. Schau doch !« Ich hielt ihr das Glas unter die Nase, und sie fuhr zurück. »Nimm das frostige Ding weg !« schrie sie – ich starrte sie verblüfft an. Ich hatte meine Mutter bisher noch nie fluchen gehört. Als ich meinen Vater kommen hörte, stellte ich das Glas schnell auf einen kleinen Tisch an der Wand und tat so, als sei ich mit einem Stoß Kleidung in der Ecke beschäftigt. »Was geht hier vor ? Hast du eben geschrien, Fayette ?« »Ach … es ist schon in Ordnung. Drove hat mich ein wenig erschreckt, das ist alles. Wirklich, es war nichts, Burt.« Ich spürte Vaters Hand auf meiner Schulter und wandte mich widerstrebend zu ihm um. Seine Augen maßen mich kalt. »Jetzt hör einmal gut zu, Drove. Du willst doch nach Pallahaxi mitkommen ? Dann benimm dich gefälligst an11
ständig, ist das klar ? ! Ich habe mich schon um genug zu kümmern ohne deine albernen Streiche. Jetzt geh und bring die Sachen hinaus zum Wagen.« Es ist mir immer ungerecht vorgekommen, daß mein Vater mir seinen Willen aufzwingen konnte nur aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit. Schließlich ist man zur Zeit der Pubertät bereits eine voll entwickelte Persönlichkeit, zumindest, was die Intelligenz anbelangt – und von da an geht es eigentlich nur mehr bergab. Mein Vater war ein Musterfall dafür, dachte ich verdrossen, während ich die Sachen in den Wagen packte. Dieser wichtigtuerische alte Narr – er wußte recht gut, daß er mir intellektuell nicht mehr beikommen konnte, also nahm er Zuflucht zu Drohungen. In gewissem Sinn hatte eigentlich ich in der Auseinandersetzung eben die Oberhand behalten. Das Problem war nur, daß meinem Vater das nicht klar war. Er eilte von den verschiedenen Zimmern heraus auf die Veranda und wieder hinein und würdigte mich nicht eines Blickes, während ich mich vergeblich bemühte, mit meiner Aufgabe nachzukommen – aber der Stoß von Schachteln und Koffern wuchs immer weiter. Es bereitete mir eine gewisse Genugtuung, seine Sachen verachtungsvoll in den Kofferraum des Wagens zu schubsen, während ich mein Gepäck sorgfältig auf dem Notsitz verstaute. Dabei überlegte ich wieder einmal, warum es mir eigentlich Spaß machte, meiner Mutter von Zeit zu Zeit Angst einzujagen, und entschied, daß ich es vielleicht deshalb tat, weil mir unterbewußt ihre Dummheit auf die Nerven ging. Sie setzte ihre abergläubischen Vorurteile bei der kleinsten Ausein12
andersetzung wie Waffen ein und fuchtelte damit herum, als wären es lauter unwiderlegbare Wahrheiten. Wir alle fürchten die Kälte – das ist ganz natürlich und zweifellos evolutionsbedingt, ein Instinkt, der uns vor Nacht und Winter und den Folgen der furchtbaren Kälte warnen soll. Aber Mutters Angst vor der Kälte ist fast hysterisch und vermutlich eine ererbte Eigenschaft. Wann immer ich versuche, mit ihr über die Sache zu sprechen, preßt sie die Lippen zusammen und sagt : »Du sollst mich solche Dinge nicht fragen, Drove, niemals.« Dieser Satz war schlicht perfekt, vollendetes Melodram in Inhalt und Ton und dem schmerzlich-geheimnisvollen Gesichtsausdruck. Sie spielt damit auf die Tatsache an, daß man ihre Schwester in eine Anstalt gesperrt hat. Das ist nicht so ungewöhnlich und passiert einer Menge Leuten, aber Mutter war es gelungen, die Affäre in übertrieben tragischem Licht zu sehen. Keiner hatte mehr unter der Sache mit Tante Zu gelitten als ich, aber ich habe das Entsetzen und die Angst jenes Erlebnisses inzwischen beinahe vergessen und kann die Angelegenheit von der komischen Seite betrachten. Ich glaube, Tante Zu hatte bei meinem Vater irgendwie einen Stein im Brett ; sie brachte ihn jedenfalls dazu, ihr den Motorwagen zu leihen – etwas, das meiner Mutter noch nie gelungen war. Tante Zu, die unverheiratet war, wollte mich irgendwelchen entfernten Verwandten vorführen ; in ihrer eigenen, von Loxen gezogenen Kutsche wäre es eine lange Fahrt gewesen, also borgte sie einfach den Motorwagen. Es war Winter. Auf halbem Rückweg etwa ging uns das Destillat aus, in einer völlig unbewohnten Gegend. Mit einem letzten 14
schwachen Zischen blieb der Motorwagen stehen. »Du liebe Güte«, sagte Tante Zu sanft, »da werden wir wohl zu Fuß gehen müssen, Drove. Ich hoffe, deine kleinen Beinchen sind kräftig genug.« Ich erinnere mich noch sehr deutlich, was sie sagte und wie sie es sagte. Wir machten uns also auf den Weg. Ich wußte, daß wir es vor Einbruch der Dunkelheit nie bis nach Hause schaffen konnten, und ich wußte, daß mit der Dunkelheit die Kälte kam, und daß wir dafür nicht ausreichend angezogen waren. Ich war gescheit genug – auch wenn sie mich wie ein Kind behandelte –, um unsere Chancen abzuwägen und zu begreifen, daß sie recht hatte, daß wir nicht beim Wagen bleiben konnten. Trotz Vaters so hochwichtiger Regierungsposition konnte er sich natürlich kein geschlossenes Fahrzeug leisten, wie es der Regent benutzte. »Ach je«, sagte Tante Zu einige Zeit später, als die Sonne verschwand und Rax als kaltglitzernde Scheibe über den Horizont heraufstieg, »jetzt wird es aber kalt.« Wir kamen an einem Rudel fressender Lorin vorbei. Geräuschvoll kauend saßen sie in den Ästen, und ich erinnere mich, daß ich noch dachte, wenn mir wirklich kalt würde – entsetzlich kalt –, dann könnte ich mich dicht an einen kuscheln, mich in seinem langen, warmen Pelz vergraben. Die Lorin sind freundliche, harmlose Wesen und werden in der Gegend von Alika hauptsächlich als Begleiter für die Loxen eingesetzt. An kalten Tagen sind die Loxen träge und halb von Kältefurcht gelähmt, aber die Nähe der Lorin wirkt irgendwie beruhigend auf sie. Verschiedentlich wird behauptet, daß es sich dabei um eine Art von Telepathie handelt. An jenem Abend schaute ich sehnsüchtig 15
zu den Lorin hinüber, beneidete sie um ihren dichten, seidigen Pelz und ihre fast heitere Gelassenheit. Obwohl ich damals noch ziemlich klein war, wußte ich recht gut über das Leben Bescheid, und ich wußte genug, um mich vor Tante Zu ein klein wenig zu fürchten … Rax war über den Bäumen aufgegangen und strahlte sein wärmeloses, gestohlenes Licht auf uns herab. »Hätte ich nur daran gedacht, meinen Pelzmantel mitzunehmen«, murmelte Tante Zu. »Wir könnten uns zwischen die Lorin kuscheln«, schlug ich ängstlich vor. »Was bringt dich nur auf die Idee, daß ich mich derart erniedrigen würde ?« fauchte Tante Zu, deren Angst ihren Zorn nur noch schürte. »Hältst du mich für blödes Vieh wie die Loxen ?« »Tut mir leid.« »Warum rennst du so ? Dir muß in diesem Mantel schön warm sein. Meine Kleider sind so dünn.« Ich hätte eigentlich genauso verängstigt sein müssen wie sie. Wir waren noch weit von zu Hause entfernt, und trotz meines Mantels begann mich die Kälte wie mit Zangen zu zwicken. Ich bohrte meine Hände tief in die Taschen und hastete weiter, ohne zu sprechen. Ich hatte damals, wie die meisten Kinder, noch ein viel unkomplizierteres Gemüt, und der Gedanke an die Lorin tröstete mich irgendwie. Wenn alles versagte – einschließlich Tante Zu –, würden diese Tiere sich um mich kümmern. Das taten sie immer … »Borg mir deinen Schal, Drove, damit ich mir die Hände einwickeln kann. Ich habe keine Taschen.« 16
Ich blieb stehen und wickelte mir den Wollschal vom Hals. Ich gab ihn ihr, immer noch, ohne etwas zu sagen. Ich glaube, ich wollte ihr keine Gelegenheit geben, mich mit ihrer Angst anzustecken. Als wir die Kuppe eines Hügels erreichten, konnte ich ferne Lichter erkennen ; zu ferne. Der Winterwind schnitt durch meine Kleidung, in meine nackten Beine, machte mein Blut zu einem eisigen, herzlähmenden Strom. Ich hörte Tante Zu vor sich hin brabbeln. »Phu … Phu …«, betete sie zum Sonnengott. »Phu, mir ist kalt. Wärme mich, wärme mich … Hilf mir !« Niedrige Hecken aus dornigen, gefühllosen Pflanzen säumten die Straße. Gleich jenseits davon standen Lorin, um unsere Angst wissend, sie fühlend durch ihre eigenartige Gabe … zottige Köpfe, blasse Schatten im Raxlicht, die uns neugierig beobachteten und warteten, bis die Kälte die Zivilisation von unseren schaudernden Körpern abgestreift hätte. »Ich muß deinen Mantel haben, Drove. Ich bin viel älter als du, und ich vertrage die Kälte nicht so gut.« »Bitte, laß uns zu den Lorin gehen, Tante Zu.« »Drove, ich habe es dir schon einmal gesagt ! Ich denke nicht daran, diesen abstoßenden Tieren auch nur in die Nähe zu kommen ! Gib mir deinen Mantel, du aufsässiger kleiner Bursche !« Ihre Hände zerrten an mir wie Klauen. »Laß mich los !« Ich wehrte mich, aber sie war viel größer als ich, stark und sehnig. Sie stand hinter mir, in den Boden gestemmt, und zog mit heftigen Rucken an meinem Mantel. Ich spürte ihre Angst, ihr wahnsinniges Entsetzen wie etwas Böses, das mir im Nacken saß. »Ich werde das deinem Vater erzählen, du kleines Scheu17
sal. Er wird schon mit dir fertig werden – ich kann’s nicht. Jetzt gib – mir – sofort – den – Mantel !« Auf jedes Wort folgte ein wütender Ruck an meinem Mantel, und plötzlich stand ich in meinen Unterkleidern da, und das letzte bißchen Wärme verflüchtigte sich wie ein Atemhauch. Tante Zu brabbelte vor sich hin, während sie den Mantel mit den Ärmeln um die Schultern knotete ; ich sah den kalten Schein von Raxlicht in ihren Augen, sah, wie sie mich listig musterte. »Gib mir nur noch deine Hosen, dann sag’ ich deinem Vater nichts, Drove.« Ich rannte jetzt, aber sie war dicht hinter mir, und ich hörte das winselnde Rasseln ihres Atems, als sie hinterherkeuchte und gleichzeitig schrie. Dann plötzlich prallte ich gegen die harte, eisige Wegoberfläche, und sie war über mir und zerrte an meinen Kleidern und kreischte ihre wahnsinnige Angst in unverständlichen Lauten hinaus. Ich in meiner Furcht hatte gleichsam abgeschaltet, versank in einer Art Dämmerschlaf und merkte bald kaum mehr, daß ich splitternackt war, daß ihre Schritte sich hastig entfernten. Ich lag da und spürte nur noch, wie die Lorin mich an sich drückten, und ahnte verschwommen, warum sich in meinem Inneren eine so angenehme Wärme ausbreitete. Dann trugen sie mich mit sich, hielten mich fest und warm und beruhigten mich mit ihrem Gemurmel, das ich irgendwie fast verstand. Als ich einschlief, verblaßte in meinem Geist das Bild der kreischenden, in hysterischen Sprüngen die raxhelle Straße davonhetzenden Tante Zu.
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Die Lorin brachten mich nächsten Morgen heim, setzten mich nackt auf der Schwelle ab, in der Wärme der Sonne Phu, und gingen dann an ihre Pflichten. Als ich zu mir kam, sah ich einige von ihnen ; einer ritt auf einem Lox, der an einen Nachtdungkarren geschirrt war, und trieb das Tier an ; ein zweiter hockte in einem Feld und düngte die Pflanzen. Ein dritter schwang sich von den Ästen eines Obobaumes in der Nähe und mampfte Winternüsse. Ich öffnete die Tür und ging ins Haus. Meine Mutter badete mich an diesem Tag ziemlich ausgiebig ; sie sagte, ich stänke entsetzlich. Erst sehr viel später hörte ich, daß man Tante Zu in eine Anstalt gesperrt hatte. Nach einer Weile fiel mir der Nachtdungkarren ein – das ist ein Gefährt, das man sonst kaum zu Gesicht bekommt ; ich fragte Mutter, warum wir den Dung nicht auf die Felder brächten, anstatt ihn in die städtische Klärgrube zu schütten. Ich erwähnte, daß wir ja auch die Lorin ermunterten, ihren Dung zwischen den Pflanzen abzusetzen. »Sprich nicht von so unappetitlichen Dingen, Drove«, ermahnte sie mich. »Du weißt recht gut, daß das nicht dasselbe ist. Außerdem sähe ich es lieber, wenn du dich von den Lorin fernhieltest.« Um auf den Tag unserer Abreise nach Pallahaxi zurückzukommen : Schließlich und endlich waren alle unsere Gepäckstücke im Motorwagen verstaut, der aufregend nach Destillat roch. Mein Vater ist bedacht darauf, nach jeder Benutzung den Tank des Vehikels abzulassen, nachdem er ihn eines Morgens leer fand und er annehmen mußte, daß Lorin sich den Inhalt zu Gemüte geführt hatten. Der 19
Wagen wird eigentlich selten benutzt, meist steht er nur stumm vor dem Haus, Statussymbol und Zeichen für die Wichtigkeit meines Vaters kraft der offiziellen Erto-Flagge an der Seite. Ich schlüpfte zurück ins Haus, um meinem Zimmer Lebewohl zu sagen, aber meine Mutter vereitelte das. Sie bestrich gerade Brote mit Winternußbutter, und auf dem Tisch stand ein Krug Cochasaft. »Drove, ich möchte, daß du ein bißchen etwas ißt, bevor wir aufbrechen. Du hast in letzter Zeit gar nicht richtig gegessen.« »Aber verstehst du nicht, Mutter«, sagte ich geduldig, »ich habe keinen Hunger. Außerdem gibt’s bei uns nie die Sachen, die ich gern mag.« Das faßte sie natürlich als Kritik an ihren hausfraulichen Fähigkeiten auf. »Wie soll ich bloß alle nach ihrem Geschmack verpflegen, bei dem bißchen Geld, das ich bekomme, und bei der Rationierung ? Du hast keine Ahnung, wie schwierig es heutzutage ist. In den Läden gibt es einfach nichts, rein gar nichts. Vielleicht sollte ich dich mal die Einkäufe besorgen lassen, junger Mann. Wenn du nicht die ganzen Ferien herumlungerst, sondern etwas Nützliches tust, würdest du bald merken, wie es ist.« »Ich hab’ doch nur gesagt, daß ich nicht hungrig bin, Mutter.« »Essen ist Brennstoff für den Körper, Drove.« Vater stand an der Tür. »So wie Destillat Brennstoff für den Motorwagen ist. Ohne Brennstoff in Form von Nahrung funktioniert dein Körper nicht. Dir wird immer kälter, und schließlich stirbst du. Durch meine Stellung bei der Regierung sind wir 20
imstande, Nahrungsmittel zu bekommen, auf die andere, weniger begünstigte Leute verzichten müssen. Du solltest wirklich einsehen, wie gut es dir geht.« Mit diesen wenigen Worten war es meinem Vater wieder einmal prächtig gelungen, mich in Weißglut zu bringen, ohne daß ich die Möglichkeit hatte, irgend etwas zu entgegnen. Ich überlegte, ob er denn gar nicht begriff, was er tat. Ich überlegte, ob er begreifen konnte, wie sehr ich es haßte, über Binsenweisheiten belehrt zu werden und – in den Ferien noch dazu – lehrreiche Vergleiche zwischen Körpern und Maschinen mitanhören zu müssen, vor allem aber, immer wieder gesagt zu bekommen, wie gut es mir doch ginge. Ich kochte stumm vor mich hin, während wir ein Gericht aus gebratenem Fisch und Trockenfrüchten verzehrten. Meine Mutter warf mir während der Mahlzeit hin und wieder einen forschenden Blick zu, und ich dachte schon, sie verstünde, wie mir zumute war. Ich hätte es besser wissen müssen. Nach dem letzten Blick – den man beinahe als hinterhältig hätte bezeichnen können – wandte sie sich an Vater. »Ich bin neugierig, ob wir diesen Sommer wieder dieses kleine Mädchen treffen werden, wie war doch gleich der Name, Burt ?« Vaters Antwort klang geistesabwesend. »Die Tochter vom Direktor der Konservenfabrik, Knoch ? Hieß Goldmund oder so. Ein nettes Mädchen. Sehr nett.« »Nein, nein, Burt. Ein kleines Mädchen. Sie und Drove waren so gute Freunde. Zu schade, daß ihr Vater ein Kneipenwirt ist.« 21
»Oh ? Ich glaube nicht, daß ich mich an die erinnere.« Ich murmelte etwas und stand schnell vom Tisch auf, ehe Mutter ihre eigentliche Absicht verwirklichen konnte, nämlich mich nach dem Namen des Mädchens zu fragen und mein Gesicht genau zu beobachten, wenn ich antwortete. Ich lief die Stiege hinauf in mein Zimmer. Das Mädchen war nicht klein – sie war nur ein bißchen kleiner als ich und gleich alt, und ihr Name (den ich nie vergessen werde, so lange ich lebe) war Pallahaxi-Braun auge. Ich stand am Fenster und sah einem Grüppchen Kinder zu, die auf der anderen Straßenseite um den öffentlichen Wärmer herum spielten, und dachte über Braunauge nach. Ich fragte mich, was sie wohl den ganzen Winter über in ihrer zaubrischen Heimatstadt Pallahaxi getrieben haben mochte, und ob sie jemals an mich gedacht hatte. Ich überlegte, ob sie mich wohl wiedererkennen würde, wenn wir uns heuer trafen. Die Tage der Kindheit sind lange Tage, und in einem Jahr geschieht viel ; außerdem hatten Braunauge und ich uns trotz der anzüglichen Bemerkungen meiner Mutter eigentlich nur flüchtig gekannt. Erst in den letzten paar Ferientagen hatten wir uns dazu durchgerungen, miteinander zu reden : so schüchtern kann man in diesem Alter sein. Seitdem aber war kein Tag vergangen, an dem ich sie nicht im Geist vor mir gesehen hätte – die schelmischen Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelte (sie lächelte oft), das tiefe, glänzende Braun ihrer Augen, wenn sie traurig war (einmal, als wir Lebewohl sagten unter den wohlwollend erleichterten Blicken meiner Eltern). Sie war die 22
Tochter eines Kneipenwirtes und wohnte in einem Haus, in dem getrunken wurde, und ich wußte, daß meine Eltern über das Ende der Ferien und unsere Rückkehr nach Alika froh waren. Das letzte, was ich aus meinem Zimmer noch mitnahm, war ein dünnes, grünes Armband. Braunauge hatte es eines Tages verloren, und ich hatte es aufgehoben, aber nicht zurückgegeben. Es würde mir die Wiederanknüpfung unserer Bekanntschaft erleichtern ; immer noch machte mich die Aussicht, Braunauge wieder zu treffen, seltsam befangen. Ich steckte das Kettchen in die Tasche und ging hinunter zu meinen Eltern, die bereit zum Aufbruch waren. Als ich durch die Küche kam, fiel mir ein leeres Weckglas auf. Ich nahm es und untersuchte es, roch daran. Mutter hatte meinen Eiskobold weggeschüttet.
2 Die letzten Vorbereitungen wurden in allgemeinem Schweigen getroffen. Vater machte wie üblich ein großes Zeremoniell aus dem Anzünden der Brenner, und ich – wütend über die hinterhältige Art, in der man mir meinen Eiskobold genommen hatte – schaute aus gebührender Entfernung zu und wünschte, das Zeug würde ihm unter der Nase explodieren. Dann zündete das verdunstete Destillat mit dem gewohnten, dumpfen ›Wuufff‹, und bald zogen dünne Dampfschwaden zwischen den Zylindern und dem Motorgestänge empor, und ein singendes Geräusch vom Kessel verkündete, daß der Dampfwagen fahrbereit war. 23
Wir stiegen ein ; Vater und Mutter saßen nebeneinander auf den Vordersitzen, ich hinten neben dem Kessel. Die angenehme Wärme hob bald meine Stimmung ; es ist fast unmöglich, auf dem Rücksitz eines Dampfwagens lange übelgelaunt zu bleiben. Es dauerte nicht lange, und wir passierten die Außenbezirke von Alika ; die Leute auf den Straßen schauten uns stumm nach, und niemand winkte uns freundlich zu wie in früheren Jahren. »Frostige Parls !« schrie uns ein kleines Mädchen ohne Arme nach. Schließlich kamen wir an dem letzten öffentlichen Wärmer vorbei, einer schäbigen Konstruktion aus senkrechten Rohren, von der aus einem kleinen Leck ein dünner Dampffaden aufstieg. Dann waren wir auf dem offenen Land. Vater und Mutter redeten miteinander, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten ; unmittelbar hinter mir stampften zischend die Kolben auf und ab. Ich beugte mich vor. »Haben sie hier nicht Tante Zu gefunden ?« brüllte ich. Natürlich wußte ich recht genau, daß man sie hier gefunden hatte ; es wird schließlich genug getratscht. Offenbar hatte man einen Suchtrupp nach uns ausgeschickt, ein kleines Häufchen tapferer Seelen, mit dicken Pelzen und heißen Ziegelsteinen gewappnet und vermutlich die Mägen voll wärmendem Destillat. Sie fanden Tante Zu keine hundert Schritte von der Sicherheit des öffentlichen Wärmers entfernt. Sie hielt einen Anemonenbaum umklammert und versuchte, den glitschigen Stamm hinaufzuklettern, um sich in der gefährlichen Wärme seines Magens zu verkriechen. Die Leute erzählten, daß sie unaufhörlich kreischte und daß sich ihre Finger so tief in das zähe Fleisch des 24
Baumes gekrallt hatten, daß man sie mit Hebelstangen herunterreißen mußte. Sie war völlig nackt, erzählte mir mein Informant genüßlich ; die Geschichte hatte inzwischen in der Schule die Runde gemacht. Der Baum hatte ihr die Kleider vom Leib gepflückt und gefressen, aber Tante Zu selber war ihm zu schwer gewesen, und zum Klettern war sie zu schwach. »Du sollst nicht immer von deiner Tante reden, Drove«, sagte Mutter. »Es gibt Dinge, die man besser vergißt. Sieh doch, wie entzückend die Landschaft hier ist !« Vor uns wellten sich sanfte Hügel, die an das Meer im Höhepunkt der Grume erinnerten. Hie und da sah man Felder mit Wurzelfrüchten, zum Großteil aber offenes Weideland, auf dem Loxherden friedlich im ununterbrochenen Sonnenschein des Frühsommers grasten. Alles war frisch und grün nach dem langen Winter, und die Bäche und Flüsse führten noch reichlich Wasser ; später würden sie in der großen Hitze austrocknen. In der Nähe der Straße zog ein Gespann von vier Loxen einen schweren Pflug durch den Boden ; zwei Lorin gingen aufrecht zwischen ihnen, klopften ihnen hin und wieder aufmunternd auf die glatten Flanken und beruhigten sie wohl auch irgendwie durch psychische Ausstrahlung. Ein Bauer thronte auf recht luftigem Sitz über dem Pflug und stieß von Zeit zu Zeit bedeutungslose Rufe an sein Gespann aus. Wie viele Leute, die ihr Leben unter der Sonne Phu verbringen, war auch er ein Mutant – ihm war die Gnade eines dritten Armes rechts zuteil geworden. Mit diesem schwang er eine lange Gerte. Immer wieder kamen wir durch kleinere Dörfer und tankten in regelmäßigen Abständen Wasser, zumeist an 25
irgendwelchen Katen, wo uns Bauersfrauen aus niedrigen Türen heraus unfreundlich anstarrten und die von drinnen gaffenden Kinder zurückhielten. Hier gab es zahlreiche Mutationen, und Vater beglückwünschte einen Mann zu seinen vielfingrigen Händen. Der Mann bediente weiter die Pumpe, so daß das Wasser in rhythmischen Stößen aus dem Rohr schoß. »Phu hat wohlwollend auf mich herabgesehen, glaub’ ich«, schnaufte er. »Das ist ’n hartes Land hier, da kann man ein paar Extrafinger gut gebrauchen.« Wie vielbeinige Käfer huschten seine Hände im Motor des Wagens herum, überprüften hier den Sitz eines Bolzens, zogen dort eine Mutter fest. Dann steckte er einen alten Ledertrichter in die Öffnung des Wassertanks und leerte vorsichtig den Eimer hinein. »Ich vermute, etliches ist hier knapp geworden durch den Krieg …«, bemerkte Vater etwas unsicher, was ich von ihm gar nicht gewohnt war. Hier in dieser rückständigen Gegend war er einmal wenigstens überhaupt nicht in seinem Element. Durch die offene Tür der Kate bemerkte ich einen Lorin, der doch tatsächlich auf einem Stuhl saß. »Was für’n Krieg ?« fragte der Mann. Über diese Bemerkung dachte ich noch lange nach, während wir unsere Fahrt fortsetzten und schließlich in die Wüstenregionen der Äquatorialzone kamen. Die Sonne kreiste immer tiefer, immer näher dem Horizont. Die monotone Fahrt hatte mich jedes Zeitgefühl verlieren lassen, und da die Sonne jetzt im Frühsommer gar nicht unterging, merkte ich nur durch mein periodisches Schläfrigwerden, daß wieder ein Tag vergangen war. Es kam mir bald vor, als existiere nichts mehr außer der Wüste, hin und wieder 26
einem vorbeihuschenden Erd-Drivettchen, dem Sitz unter mir und dem Stampfen der Dampfmaschine. Dann gab es Abwechslung : wir trafen einen am Straßenrand zusammengebrochenen Fischlaster. Die beiden Fahrer hockten niedergeschlagen neben ihrem unbrauchbaren Vehikel. Ein paar Lorin waren, wie es ihrer Art entsprach, ungerufen aus der leeren Wüste aufgetaucht, saßen bei den Männern und leisteten ihnen in ihrem Pech Gesellschaft. Mein Vater knurrte Mutter etwas zu, und ich bin ziemlich sicher, daß er überlegte, ob er einfach weiterfahren sollte, aber dann bremste er im letzten Augenblick, und der Wagen kam ein paar Längen hinter dem Laster zum Stehen. Selbst bis zu uns stank es gräßlich nach Fisch. »Ich kann euch bis zur Bexton-Station mitnehmen«, rief Vater über die Schulter zurück, als die beiden Männer herbeigeeilt kamen. »Von dort könnt ihr eine Nachricht abschicken. Ihr müßt auf dem Brennstofftank sitzen, im Wageninneren ist kein Platz mehr.« Die Männer grunzten einen kurzen Dank und schwangen sich hinter mir auf den Wagen, der sich sofort wieder in Bewegung setzte. »He, Jungchen«, rief mir der eine durch das Gewirr blitzender Stangen und Hebel zu. »Was fehlt denn eurem Laster ?« schrie ich zurück. Mich störte sowohl die Anrede als auch, daß ich nun nicht mehr alleiniger Beherrscher des Rücksitzes war, und ich hoffte, mit meiner Frage den Mann zu ärgern. Er grinste jedoch nur betrübt und schwang sich über das Trittbrett auf den Rücksitz neben mich, so daß ich mich dicht an den Kessel drücken mußte. Ich starrte wütend geradeaus und bereute, daß ich ein Gespräch angefangen 27
hatte. Dieses eine Mal mußte ich meinen Eltern recht geben : man hat nur Scherereien, wenn man Leute dieser Klasse irgendwie ermutigt. »Das frostige Ding ist ganz verrußt«, erklärte er derb. »Kein Destillat, verstehste ?« Er beäugte die Kanister auf dem Brennstofftank. »Außer ein paar gerissenen Frostlern kommt ja heutzutag keiner mehr dazu. Wir haben den Laster zum Holzbrenner umgebaut – da muß man ’n frostig dickes Feuer unter dem Kessel machen und dauernd Holzscheite nachlegen. Na, das haben wir auch brav getan ; an der Panne sind die in der Konservenfabrik schuld. Die haben vergessen, uns Bürsten zum Ausputzen der Rohre mitzugeben – diese langen, dünnen Abzugsröhren, weißte. Jetzt ist das Zeug alles dick verrußt, und der frostige Laster rührt sich nicht mehr von der Stelle.« »Deswegen brauchen Sie doch nicht fortwährend zu fluchen.« »Na, da haben wir aber mal einen vorwitzigen Frostling, was ? Dein Pa ist ’ne Art Parl, oder ? Muß er ja sein, wenn er mit so ’ner Motorkutsche fährt.« Seine Blicke streiften immer wieder die Kanister, und mir wurde diese Nachbarschaft langsam ein bißchen bedrohlich. Meine Eltern saßen ahnungslos vorne, schauten geradeaus und unterhielten sich über die Knappheit verschiedener Waren. »Mein Vater hat eine wichtige Position in der Regierung«, erklärte ich streng, um meine aufkeimende Angst zu vertuschen. Diese Phrase war allerdings nicht meine Schöpfung – ich wiederholte nur die Worte, die ich bei vielerlei Gelegenheiten von meiner Mutter gehört hatte. Zum erstenmal wurde mir klar, daß ich eigentlich nicht recht 28
wußte, was sie bedeuteten. Ich stellte mir sozusagen eine Anzahl hoher, weißer Gipfel vor, ähnlich den verschneiten Bergspitzen im Winter, und Vater thronte auf dem höchsten, während seine Untergebenen auf den Nebengipfeln seiner Befehle harrten. Das gemeine Volk hauste in den Tälern, ergriffen von der hehren Majestät des Ganzen. »Na sicher, Jungchen. Hockt jeden Tag an demselben Schreibtisch, möcht’ ich wetten – außer das eine Mal im Jahr, wo ihr in den Ferien ans Meer fahrt, euch die Grume anschaut und in einem Hotel wohnt, das bestimmt ›Seeblick‹ heißt.« »Wenn Sie’s wissen wollen – mein Vater besitzt ein Ferienhaus in Pallahaxi.« »Hätte ich mir ja denken können.« Er grinste mich mit geschwärzten Zähnen an, aber seine Augen blieben kalt. »Paß auf, jetzt werde ich dich mal was fragen. Was glaubst du, was ich das ganze Jahr über tue ?« »Sie fahren einen Fischlaster.« »Und das ist alles, meinst du ? Nein, mein Junge. Ich sehe mir die Welt an. Oder wenigstens …« – verbesserte er sich – »das Land Erto, alles, nicht nur das Stückchen zwischen Alika und Pallahaxi. Ich bin die ganze Küste langgefahren, von der alten Konservenfabrik in Pallahaxi bis nach Horlox im Norden und rundherum bis Ibana im Süden, wo Erto an Asta stößt und wo die Grenzstationen sind – oder waren, bevor dieser frostige Krieg alles so durcheinanderbrachte, daß keiner mehr weiß, wo die Grenze ist. Ich bin auch auf der alten Grenzstraße nach Norden und nach Süden gefahren, im Schatten des Großen Zentralgebirges, wo die Sonne Phu wie ein gewaltiger 29
Hochofen am Himmel glüht und kaum ein Tier dem anderen gleicht – und kein Mann dem anderen. Du hast doch Geografie gelernt, Junge ?« Ich wußte, was man mich gelehrt hatte, aber ich wußte auch, daß jetzt nicht die Gelegenheit war, mit meinem Wissen zu prunken ; dieser grobe Kerl würde sowieso allem widersprechen, was ich sagte. Für jemanden wie mich, der erst sehr wenig gereist ist, ist es nicht so einfach, sich ein Bild von der Weltkugel, von unserem Planeten, zu machen. In der Schule hatte man uns gesagt, wir sollten ihn uns als Ball vorstellen, den eine Hand umfaßt hält. Der Ball ist die Welt, die Hand die eine große Kontinentalmasse. Dieser Kontinent wird durch die Reihe der ›Knöchel‹ unterteilt, die das Große Zentralgebirge versinnbildlichen, die Grenze zwischen Erto und Asta. Die eine Hälfte, der Handrücken, ist Asta, die andere Hälfte, die Finger, stellt den von tiefen Tälern durchzogenen Subkontinent Erto dar. Dieser Handkontinent greift fast ganz um die Weltkugel herum, so daß drei Ozeane übrigbleiben : die beiden großen Polarozeane und der lange, schmale Meeresarm, der die beiden verbindet und durch den im Sommer die Grume strömt. Soweit kann ich mir die Welt einigermaßen vorstellen. Der Fischfrächter redete immer noch. »Ich bin schon in Schnee und Eis festgesessen, kein Treibstoff mehr, und nur mehr das bißchen Wärme im Kessel, um mich vor dem Erfrieren zu bewahren, und die Kälte fraß sich durch alle Ritzen meiner Kleider – ein anderer wär’ wahnsinnig geworden, aber ich hab’s überstanden. Ich bin durchs Sumpfland gefahren, und der Laster ist bis zu den Achsen eingesunken, und ein Eisteufel zerrte an den Rädern und 30
dann auch an meinem Fuß – aber ich hab mir Lorin geholt und Loxen vorgespannt mit ihrer Hilfe und den Laster rausgezogen. Ich bin auf der Küstenstraße von Grummetten angegriffen worden und hab sie mit einer Schaufel abgewehrt, bis der Boden rundherum weiß von Federn und rot vor Blut war und die paar übrigen kreischend davonflogen. Na, mein Junge, was sagst du dazu ?« »Ich finde, daß Sie genauso eingebildet sind wie mein Vater«, sagte ich säuerlich. Plötzlich lachte er, ein mächtiges Gebrüll echter Belustigung, das mir seinen abscheulichen Fischatem ins Gesicht pustete. »Recht hast du, Jungchen, recht hast du. Aber was zählt, ist immer nur, was ein Mann von sich selber hält, nicht, was die anderen von ihm denken. Ich bin überzeugt, dein Vater ist auf seine Art auch ’n ganz aufrechter Kerl, selbst wenn er ein Parl ist. Na, was ist, sind wir Freunde ?« Er hielt mir seine Hand unter die Nase, und ich bemerkte erst jetzt, daß er nur zwei Finger an jeder Hand hatte – wie eine kräftige Zange, die beim Handgelenk begann. Seine Hand hätte kein gutes Beispiel für die Kontinentalmasse ergeben. Ich schüttelte das fremdartige Ding, mehr aus Interesse denn aus Freundschaft. Inzwischen hatte sein Kumpan, der sich zweifelsohne etwas vernachlässigt fühlte, den schmalen Kopf in recht riskanter Weise durch die sausenden, stampfenden Maschinenteile hinter uns gesteckt, so daß er am Gespräch teilnehmen konnte – während eine Pleuelstange Zentimeter vor seiner Kehle auf- und abzuckte. Nur ein Mann mit einem derart langen Hals wie seinem konnte das wagen. So nahm unsere Reise ihren Fortgang, und mit der Zeit 31
begann ich die Gesellschaft der beiden sonderbaren Kumpane zu schätzen. Der größere Mann neben mir stellte sich als Pallahaxi-Greifer vor, und seinen langhälsigen Freund als Juba-Lofty. Die beiden spannen ihr Fuhrmannsgarn, ohne auch nur eine Verschnaufpause zu machen, bis vor uns Häuser sichtbar wurden und Vogelschwärme am Himmel anzeigten, daß wir die Bexton-Station erreicht hatten. Ich lasse mich nicht gern zum Narren halten und hoffte, sie nahmen nicht an, ich würde ihnen alles glauben, was sie mir erzählt hatten. Ich machte ihnen das mit einigem Nachdruck klar. Greifer packte mich mit seinem Zangengriff an der Schulter. »Es geht nur darum, was ’ne Geschichte sagen will, Drove, mein Junge. Jede Geschichte hat einen bestimmten Sinn, und wie sie erzählt wird, auch das hat seinen Sinn. Es geht nicht darum, ob ’ne Geschichte wahr ist oder so. Denk immer daran.« Sie schüttelten mir nochmals die Hand, dankten meinem Vater fürs Mitnehmen und verschwanden dann in Richtung der Nachrichtenstation, einer kleinen Hütte, die streifig weiß war vom Dung der Meldetauben. Ich hatte unsere Ankunft bei der Bexton-Station mit einigem Bangen erwartet. Vor unserer Abreise von Alika hatte es allerhand Gerüchte gegeben, daß man aus Kriegsgründen jegliche Privatreisen verbieten würde, und ich hatte schon befürchtet, es würde uns eine Nachricht erwarten, die uns zur Umkehr zwang. Zu meiner Erleichterung kümmerte mein Vater sich gar nicht um die Nachrichtenstation, sondern brach in Richtung des einzigen Gasthauses auf, das 32
das Dorf besaß, das im übrigen aus der einen, staubigen Hauptstraße zu bestehen schien. Im ganzen Ort war das Gurren und Flattern der Meldetauben zu hören. Bexton ist wirklich nur ein größeres Dorf, ein paar Häuser und einige Läden, die ihre Existenz der Nachrichtenstation und der Lage des Ortes am Fuß der Gelben Berge verdanken, welche das Wüstenhochland von der fruchtbaren Küstenebene trennen. Die Berge vor uns waren nackt und braun und verwittert, aber dahinter lagen Wiesen, Flüsse und Städte. Ich konnte es kaum erwarten, wieder irgend etwas Grünes zu sehen. In dem Ort herrschte zu dieser Zeit reges Getriebe. Überall standen Grüppchen von Leuten herum oder glotzten in die Schaukästen, in denen Zeitungen ausgehängt waren, oder besichtigten die Auslagen der Läden, die Trockennahrung, Konserven oder die sonderbar geformten Plastiken von Lorin zeigten. Diese Leute warteten alle auf die Dampfbusse, die bald abfahren sollten. Die Hauptaufgabe dieser Fahrzeuge ist es, die Tauben zu den nächsten Nachrichtenstationen zu bringen, aber sie werden nebenbei aus Sparsamkeitsgründen auch für den Personentransport eingesetzt. Bei einem Stand kaufte Vater eine Zeitung, die in dieser abgelegenen Gegend in Form zusammengehefteter Nachrichtenmeldungen herausgegeben wurde – keine richtige Zeitung, wie wir sie in Alika haben. BEXTONKURIER, und DIREKT VOM TAUBENBEIN verkündete das Umschlagblatt großartig. Wir gingen in eine Stuva-Bar und ließen uns zu einer schäbigen Mahlzeit nieder : dünne Brühe, Gemüse und Trockenfrüchte. Wasser war rationiert ; ich glaubte erst, wir würden keines bekommen, aber dann 33
sah ich Vater seine Karte dem Kellner zeigen – ein kleiner Mann mit einem dichten Haarpelz, aber recht nett. Vater blätterte die Zeitung durch ; er stieß einen ärgerlichen Laut aus und knurrte : »Nicht das geringste über die Eröffnung der neuen Konservenfabrik !« »Vielleicht stand es in der gestrigen Zeitung, Burt«, meinte Mutter und schaute sich ängstlich um. In gewisser Weise fühlte ich mit ihr : Vater besitzt ein spezielles Talent, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jeder in der Stuva-Bar schien zu uns herzusehen. »Das wird Mestler gar nicht gefallen. Die Meldung hätte heute kommen sollen. Warum muß es nur immer irgendwo eine Panne geben, das möchte ich gern wissen ? Rax !« Er verstummte – zu unserer Erleichterung – und starrte in sein Wasserglas. »Denk doch nicht mehr daran, Lieber. Nicht im Urlaub«, murmelte Mutter besänftigend. Ich fühlte mich bemüßigt, auch etwas dazu zu sagen – ermutigt, glaube ich, durch Vaters niedergeschlagene Stimmung. »Ich sehe nicht ein, weshalb das so wichtig sein soll. Es macht doch keinen Unterschied, ob die Leute das erfahren oder nicht.« Um Vaters Augen bildeten sich angespannte Furchen, und an seinem Kiefer zuckte ein Muskel. »Willst du damit andeuten, daß ich und das Parlament nicht am besten wissen, was zu tun ist ?« Genau das wollte ich andeuten, auch wenn ich es nicht gesagt hatte. Vaters Intelligenz nahm zusehends ab, er wurde älter, sein Denken immer weniger flexibel, er berief sich immer mehr auf die Würde seiner Stellung – kurz, er 34
war zu keiner vernünftigen Argumentation mehr fähig. Jetzt hatte ich ihn da, wo ich wollte, und konnte darangehen, ihn mit kühler Logik endlich einmal unterzukriegen. Aber ich hatte meine Rechnung ohne Mutter gemacht. »Das war eine erfrischende Mahlzeit«, erklärte sie mit Nachdruck und hob die Zeitung auf, die mein Vater ärgerlich hingeworfen hatte. »Oh, seht doch nur. Unsere Streitkräfte haben Gorba eingenommen, lese ich da. Wie schön.« »Bloß weil’s hier gedruckt steht, muß es nicht wahr sein, Mutter«, sagte ich verzweifelt. »Was wissen wir denn schon ? Vielleicht liegt Gorba in Wirklichkeit nicht mal in der Nähe der Front. Vielleicht existiert es gar nicht. Ich hab’ noch nie davon gehört.« »Oh, ich schon.« Mutter lächelte ihren neunmalkugen Sohn nachsichtig an. »Als kleines Mädchen war ich einmal mit meinen Eltern dort. Ein reizender Ort an einem Fluß ; sehr alte Häuser und ein wirklich entzückender PhuTempel aus den hübschesten grünen Ziegeln …« In dieser Art schwelgte sie noch eine Weile in Erinnerungen, womit es ihr gelang, den drohenden Streit im Keim zu ersticken, Vaters Laune etwas zu heben und mich schlicht und einfach zu langweilen. Es wäre mir gar nicht eingefallen, die Wahrheit ihrer Erzählung anzuzweifeln ; ich hatte längst vergessen, worum es mir gegangen war. Vater wandte sich bald wieder seiner Lektüre zu, denn er bildete sich ein, seine wichtige Regierungsstellung verpflichte ihn, immer auf dem laufenden zu sein. Es war förmlich eine Manie. Wirklich, manchmal komme ich bei meinen Eltern nicht aus dem Staunen heraus. Ich mußte wieder an die Gele35
genheit denken, bei der ich meinem Vater eine drei Tage alte Zeitung hingelegt hatte statt der neuesten Ausgabe. Er las alles höchst interessiert – den Gerichtsteil, die politischen Artikel, die neuesten Berichte von der Front. Erst als er zu den Sportseiten kam, keimte in ihm der Verdacht auf, die gierig verschlungene Lektüre könne nicht mehr so ganz druckfrisch sein. Ich sah, wie ein leicht betroffener Ausdruck in sein Gesicht trat, als er die Stoßballergebnisse überflog, und sich zu Verwunderung steigerte, als er auf die Titelseite zurückblätterte und endlich auf das Datum sah. Ich war damals ein wenig enttäuscht über seine Reaktion. Es gab kein Wutgebrüll, kein verärgertes Schimpfen, er knüllte nicht einmal das lächerliche Blatt zusammen und schleuderte es ins Feuer, noch verlor er sich in einer Tirade der Verzweiflung über jene unwiederbringlich verlorene, kostbare Zeit, und – das war typisch – er gab in keiner Weise zu, wie bedeutungslos das die neuesten Nachrichten erscheinen ließ. Er sah nicht ein, daß das Gedruckte und Tatsachen zweierlei war. Er zuckte bloß die Achseln, blickte zum Fenster hinaus, und nach einer Weile fielen ihm die Augen zu. Trotzdem munterte es mich irgendwie auf, wenn ich an diesen Vorfall dachte, während wir aufstanden und warteten, bis Vater den Preis unserer Mahlzeit in der Stuva-Bar von Bexton ausgehandelt hatte. Das ununterbrochene Tageslicht nahm nach und nach zur Dämmerung ab, als wir durch die Hügel hinunter auf die Küstenebene fuhren. Auch das Verhalten der Leute änderte sich ; hier gab es mehr lächelnde Mienen, mehr Anzeichen 36
echter Freundlichkeit, wenn wir haltmachten, um etwas zu essen oder Wasser zu tanken. Es war, als ob das angenehmere Leben an der Küste auch einen angenehmeren Menschenschlag hätte entstehen lassen. Gemächlich gingen die Leute ihren Angelegenheiten in dem sanften Dämmerlicht nach, während die Sonne unmittelbar unter dem Horizont ihre Kreise zog und einen roten Feuervorhang vor den halben Himmel zog. Natürlich war es kälter ; der Sommer war jedoch nicht mehr fern, und die kühle Witterung würde nicht mehr lange anhalten. Dünne Dampffähnchen stiegen von den öffentlichen Wärmern in den Dörfern auf, und alte Männer saßen rundherum, den Rücken an die Rohre gedrückt, und nickten respektvoll, wenn wir vorbeifuhren und sie das Emblem an der Flanke des Motorwagens sahen. Loxen, einzeln oder im Gespann, zogen Karren mit Erntegut von den fruchtbaren Feldern zu den Sortierzentren ; hier gab es keinerlei Anzeichen von Mangel. Lorin schwangen sich von den Gelbkürbisbäumen und warfen die süßen Früchte zielsicher in die unten stehenden Wannen. Auf anderen Feldern ging bereits die Sommersaat auf, grün und saftig. Auf lange Strecken begleiteten Bäche oder kleine Flüsse die Straße, an denen wir so oft wie möglich unseren Wassertank auffüllten. Selbst in dieser idyllischen Gegend starrten die Leute nämlich länger als nötig auf unsere Destillatkanister. Nur mehr wenige davon waren noch voll : gerade genug, erklärte uns Vater mit gebührendem Stolz ob seiner genauen Berechnung, um damit bis Pallahaxi zu kommen. Endlich erreichten wir die Küste mit ihren Fischerdörfern, und nun blieb auch der Rand der Sonne für längere 37
Zeitspannen über dem Horizont sichtbar. Wir polterten das Sträßchen oben auf der Steilküste entlang und bewunderten das blutrot leuchtende Meer. Wenn man die Wellen sich in weißrosa Gischt an den Klippen brechen sah, wenn man ihr Rauschen und Donnern hörte, war es schwer, sich die Veränderung vorzustellen, die das Meer im Spätsommer mitmacht, wenn die Grume kommt. Der Ozean ist zeitlos, dennoch unterliegt auch er den Jahreszeiten. Etwas später wandte sich die Straße wieder landeinwärts, ein breites Mündungsdelta umrundend, in dem breitrumpfige Boote mit Schleppnetzen fischten. An der Brücke, wo die Straße den Fluß überquerte, war ein kleines Städtchen entstanden. Hier machten wir das letzte Mal halt, um Wasser zu fassen. Mit Kübeln kletterten wir die Uferböschung hinunter und füllten das brackige Wasser in den Tank des Wagens. Als er voll war, fuhren wir weiter. Hin und wieder hielten Leute in ihrer Arbeit inne, um uns zuzuwinken. Und dann wurde endlich ein altvertrautes Wahrzeichen sichtbar : eine uralte steinerne Befestigung auf einem Berg. Wenig später fuhren wir eine schmale Gasse hinunter, und der so gut bekannte Hafen lag vor uns, ein munteres Durcheinander von Booten, Seevögeln, zum Trocknen aufgehängten Netzen, allerhand Unrat, der im Hafenbecken trieb, geschäftigen Männern und dem Geruch von Fisch und Salz. Wir waren in Pallahaxi.
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3 Pallahaxi liegt im Schutz einer felsigen Bucht ; die Häuser, zumeist aus dem Gestein der Klippen gebaut, kleben an dem steilen Hang, der vom Hafen bis zum oberen Klippenrand verbaut ist. Nur landeinwärts hat der Fluß eine Bresche in die Steilküste gewaschen, dort geht die Bucht in das Flußtal über. Im Lauf der Zeit ist aus einem kleinen Fischerdorf ein nicht mehr ganz so kleines Städtchen geworden, und die Häuser breiteten sich über den Klippenrand hinweg und ins Tal hinein aus. Vor einem Jahrzehnt vielleicht wurde eine Konservenfabrik gebaut, was eine weitere Bevölkerungszunahme bewirkte. Der Hafen war ursprünglich groß genug für lokale Bedürfnisse gewesen, doch der stark zunehmende Schiffsverkehr machte es nötig, vom westlichen Landvorsprung aus eine große Mole zu bauen, um eine größere Hafenfläche abzusichern. Die Fischkutter können nun ihre Ladung gleich draußen an der Mole löschen, wo sie eine kleine Dampfbahn übernimmt, die die Fische durch die engen Straßen bis zur Konservenfabrik transportiert. Am inneren Hafen liegt ein kleiner Markt für die kleinen, privaten Fischer. Gleich nach unserer Ankunft in Pallahaxi galt mein erstes Interesse der Untersuchung, was es mit dieser neuen Konservenfabrik auf sich haben mochte, die mein Vater erwähnt hatte. Sie lag offenbar außerhalb der Stadt, jenseits des Landvorsprungs, der Fingerspitze genannt wurde. Wie es schien, konnte die alte Fabrik nicht mehr ausgebaut werden ; außerdem, sagte mein Vater, seien die Maschinen veraltet. 39
Ich fühlte, daß in dieser Angelegenheit zwischen meinem Vater und mir eine unerklärliche Spannung entstanden war. Plötzlich war mir die neue Fabrik richtig zuwider. Die alte kannte ich seit vielen Jahren, ich kannte eine Reihe von Leuten, die dort arbeiteten, vom Sehen, ich hatte zugeschaut, wie die Fischkutter ihren Fang ausluden, hatte die Dampfbahn und die Maschinen bestaunt. Diese Konservenfabrik war wie ein alter Freund für mich. Und nun erklärte mir mein Vater, sie sei veraltet und würde abgerissen werden, um Platz für Wohnhäuser zu schaffen. Sie sei ein Schandfleck, sagte er. Um ihren Fang bei der neuen Konservenfabrik abzuliefern, brauchten die Boote nicht einmal mehr in den Hafen einzulaufen, sie konnten ihre Ladung in der Bucht jenseits der Fingerspitze löschen. Um das Maß vollzumachen, war diese neue Fabrik auch noch Staatseigentum, und Vater übte irgendeine beratende Funktion darin aus ; dieser Sommer würde also ein Arbeitsurlaub werden. Zwei Tage nach unserer Ankunft unternahm ich eine kleine Klippenwanderung und besah mir die neuen Gebäude von der Höhe eines schroffen Felsvorsprungs. Dann kehrte ich – wenig beeindruckt – zu unserem Sommerhaus im Süden der Stadt zurück. Langsam begann mich die Langeweile zu plagen. Das Haus stand leer ; Vater war in der neuen Fabrik, und Mutter suchte die Läden des Ortes heim. Ich setzte mich auf die Eingangsstufen und genoß den Ausblick über die weite Bucht von Pallahaxi ; unten auf der rechten Seite konnte ich gerade noch den Leuchtturm am Ende der Mole erkennen. Genau in westlicher Richtung, gar nicht so weit hinter dem Horizont, lag Asta. 40
Ich glaube, diese Nähe des Gegners verlieh dem Leben in Pallahaxi ein bißchen nicht alltägliche Würze. Das Sommerhaus war ein ziemlich einfacher Holzbau auf einem Wiesenhang unweit des Klippenabbruchs, eines von etlichen Holzhäusern verschiedenster Größe und Form, die sich an diesen Hang duckten. Loxen grasten zwischen ihnen und scheuerten sich die Flanken an den Balken. Auf den Stufen des Hauses nebenan saß ein Lorin, der meine Haltung unschuldig-frech nachahmte. Ich wollte ihn gerade verscheuchen, als ich einen Mann über die Wiese herankommen sah. Er blickte so unverwandt in meine Richtung, daß es ganz klar war, wohin er wollte. Ich hatte keine Zeit mehr, mich ins Haus zu verziehen. »Hallo, junger Mann !« rief er mich aus einiger Entfernung an. Ich ignorierte ihn, blieb sitzen, wo ich war, bohrte mit den Zehen in der trockenen Erde herum und wünschte, der Kerl würde wieder verschwinden. Ein Blick, und seine Redeweise, hatten mir genug gesagt. Er war mittelgroß, ein wenig untersetzt, besaß ein freundliches, mit einem Bärtchen und Koteletten verziertes Gesicht, und war ganz offensichtlich die Art Person, die – wie meine Mutter sagen würde – ›ein Herz für die Jugend hat‹. Wenn so jemand genug Opfer fand, würde er Wanderungen organisieren und Stoßballspiele, und die Kleineren würde er auffordern, ihn doch Onkel zu nennen. Und all die Mütter, meine eigene an vorderster Front, würden wohlwollend zuschauen und zueinander bemerken, welch ein prächtiger Bursche das doch sei, und wie gern ihn die Kinder hätten. Dabei würde der frostige Clown beim Stoßball schwin41
deln, damit die kleinsten Kinder und die Mädchen gewännen und ich verlöre. »Wie kann man an einem so schönen Tag ein so finsteres Gesicht machen ?« Er stand jetzt vor mir, und ich wußte, daß er mit allen Zähnen, die er hatte, grinste, bevor ich überhaupt aufblickte. »Mhm.« »Du mußt Alika-Drove sein, nehme ich an. Freut mich, dich kennenzulernen, junger Mann. Ich bin ein Freund deines Vaters ; erlaube, daß ich mich vorstelle.« Er starrte mich mit seinem unerträglich gewinnenden Grinsen an, so daß ich gezwungen war, aufzustehen und seinen Begrüßungsgriff an meinem Unterarm zu dulden. »Ich heiße Horlox-Mestler.« Sein Heimatort war ziemlich weit weg ; Horlox lag tief im Landesinneren, fast an der Grenze zu Asta. Einen Augenblick lang kam mir sein Name irgendwie bekannt vor, ich kam aber nicht darauf, woher. »Was kann ich für Sie tun ?« fragte ich. »Ich hatte gehofft, deinen Vater anzutreffen.« »Er ist nicht da.« »Oh. Darf ich fragen, wo er ist ?« Seine unveränderte Höflichkeit begann mir auf die Nerven zu gehen ; es kam mir vor, als wolle er mir eine Lektion in guten Manieren erteilen. »Er ist vermutlich in der neuen Konservenfabrik«, sagte ich, nahm mich zusammen und legte mein bestes Benehmen an den Tag. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich glaube aber, daß er in nicht allzulanger Zeit zurück sein wird. Darf ich Ihnen wenigstens ein Glas Cochasaft anbieten ?« 42
»Vielen Dank, junger Mann, aber ich fürchte, dazu habe ich nicht mehr die Zeit. Ich muß weiter.« Plötzlich musterte er mich mit einem überraschend verständnisvollen Blick. »Langeweile ?« »Vielleicht.« »Bald kommt die Grume – da sollte ein Bursche wie du ein Boot haben. Ein Boot macht viel Spaß im Höhepunkt der Grume. Nun, ja. Ich denke, daß ich deinen Vater noch in der Fabrik antreffe, wenn ich mich beeile. Wiedersehen.« Mit elastischen Schritten eilte er davon. Ich schaute ihm nach und konnte mir dabei nicht klarwerden, ob ich ihn nicht doch ganz sympathisch fand. Ich ging ins Haus und blieb vor der Landkarte stehen, die Mutter an die Wand geheftet hatte. Kleine Wimpel zeigten die Position der Erto-Streitkräfte nach den täglichen Zeitungsmeldungen an, ein Thema, das zu diskutieren die Erwachsenen nicht müde wurden. Rote Pfeile markierten unsere wichtigsten Vorstoßzonen. Wir schienen so ziemlich überall vorzustoßen – allerdings war ich mittlerweile solchen Meldungen gegenüber so mißtrauisch geworden, daß es mich nicht sonderlich überrascht hätte, wäre die Vorhut des Feindes im nächsten Augenblick vor unserer Tür gestanden. Schließlich zog ich meine Badesachen an und ging hinunter zum Strand. Als ich in der kleinen, klippengeschützten Kiesbucht stand, überkam mich eine ziemlich sentimentale Stimmung. Hier war es gewesen, wo ich voriges Jahr zum erstenmal mit Braunauge gesprochen hatte. Ich dachte so intensiv wie möglich an sie, schloß die Augen und versuchte, eine geistige Botschaft an sie auszustrahlen, wie es die Lorin 43
anscheinend tun können. Ich bin da, Braunauge, dachte ich. Komm zu mir an den Strand. Aber als ich die Augen aufmachte, war sie nicht da … Es war in jener seltsamen Zeit des Jahres gewesen, zwischen dem Rückgang der Grume und dem Beginn der Trockenzeit, daß wir einander endlich etwas nähergekommen waren. Ich hatte einen komischen Fisch erwischt, der auf der Oberfläche herumschlitterte, und Braunauge – die ich einige Zeit aus dem Augenwinkel beobachtet hatte – war herübergekommen, um ihn sich anzuschauen. Wir zogen das Vieh auf den Kies und knieten uns daneben, um es genauer zu untersuchen, und endlich hatten wir unter dem Vorwand gemeinsamen Interesses unsere Schüchtern heit überwunden und miteinander geredet. Den Rest des Tages waren wir beisammen am Strand gesessen, und am nächsten Tag waren wir miteinander auf den Klippen spazierengegangen. Am darauffolgenden Tag waren meine Eltern und ich heim nach Alika gefahren. Ich hatte gar nicht fort wollen. Diesmal aber war Braunauge nicht hier, und als ich ein Bein in das eisige Wasser steckte, lief mir ein Angstschauder über den Rücken. So machte ich mich ziemlich bald wieder auf den Rückweg, und als ich ankam, waren Mutter und Vater auch schon wieder da. Sie begrüßten mich in der leicht scheinheiligen Manier, die Eltern zur Schau tragen, wenn sie gerade über einen geredet haben. Wir setzten uns zum Essen ; sie fragten mich, was ich getrieben hätte, und ich erzählte es ihnen, worauf sie Blicke wechselten. 44
Mein Vater hatte eben einen reifen Gelbkürbis verzehrt ; er tauchte die Finger in die Waschschale und trocknete sie mit zeremonieller Bedächtigkeit. Dann räusperte er sich. »Drove … ich habe etwas mit dir zu besprechen.« »Hm ?« Das klang bedeutungsvoll. »Wie du weißt, habe ich in Zusammenhang mit meinem Regierungsposten verschiedene Aufgaben zu erfüllen, die ich bequemerweise während unseres Urlaubs hier in Pallahaxi erledigen kann. Normalerweise beanspruchen diese Aufgaben nur einen Bruchteil meiner Zeit, doch dieses Jahr wird es unglücklicherweise nicht so sein, wie ich heute erfuhr.« »Da fällt mir ein, ein Mann war hier, der dich sprechen wollte. Mestler hieß er.« »Horlox-Mestler hat mich noch angetroffen. Ich hoffe, du warst höflich zu ihm. Er ist ein ziemlich bedeutender Mann.« »Hm.« »Es sieht so aus, als würde ich fürs nächste einen Großteil meiner Zeit der neuen Konservenfabrik widmen müssen. Wir werden als Familie nicht so viel beisammen sein können, wie ich gehofft hatte. Du wirst ziemlich viel dir selbst überlassen sein.« Ich schwieg und bemühte mich, eine angemessen betrübte Miene zu zeigen. »Wir können aber auch nicht von deiner Mutter erwarten, daß sie sich die ganze Zeit um dich kümmert. Du bist ein Junge, der nicht so leicht Freundschaften schließt, womit ich nicht sagen will, daß das etwas Negatives wäre. Es gibt leider ziemlich viele Leute, die als Freunde für dich absolut 45
unpassend wären. Wie dem auch sei …« Er verstummte, starrte versonnen auf einen Punkt drei Schritt hinter mir und versuchte, den Faden seiner Ansprache wiederzufinden. »Es ist nicht meine Gewohnheit, dir Geschenke zu kaufen«, fuhr er schließlich fort, »da ich der Meinung bin, man sollte nichts ohne Gegenleistung bekommen.« »Hm.« »Trotzdem geht es nicht an, daß du dich einfach untätig herumtreibst. Du würdest vermutlich bald irgendeinen Unfug stiften. Deshalb werde ich dir ein Boot kaufen.« »Das ist aber frostig nett von dir, Vater !« rief ich überrascht. Er rang sich ein Lächeln ab, ohne meine ungebührliche Ausdrucksweise zu beachten. »Ich habe in Silverjacks Werft etwas Passendes gesehen. Ein kleiner Gleiter. Du solltest recht gut damit fertig werden, wenn du auch nur ein bißchen Segeltalente zeigst.« Mutter lächelte mir aufmunternd liebevoll zu. »Ist das nicht wirklich nett von deinem Vater, Drove ?« »Danke, Vater«, sagte ich pflichtschuldigst. »Du kannst das Boot jederzeit abholen«, meinte er noch. »Sag Pallahaxi-Silverjack nur, wer dein Vater ist.« Am nächsten Morgen, als ich vom Frühstück aufstand, schaute ich als erstes zum Fenster hinaus : das gleiche Frühlicht des Tages färbte den Himmel rosa, dieselben Tiere grasten vor der Veranda, und doch war heute alles anders. Heute würde ich in Silverjacks Werft mein Boot abholen. Das dunstige Wasser breitete sich in lockender Weite aus bis hin zu den dunklen Felsbuckeln der jenseitigen Land46
zunge ; heute würde ich die ganze Bucht erkunden. Ich zog eine Jacke an. »Warte noch ein wenig, wenn du die Absicht hast, in die Stadt hinunterzugehen, Drove. Ich habe ein paar Sachen zu besorgen. Wir können gemeinsam gehen.« Mutter warf mir über ihre Stuvatasse hinweg einen Blick zu und lächelte gedankenlos. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, sie solle sich doch einfrosten, aber ich hielt noch rechtzeitig den Mund. Vater beobachtete mich und hielt die Ohren offen nach der leisesten Frechheit, um mir das Boot doch noch streichen zu können. Meine Mutter ist klein, und ich bin für mein Alter ziemlich groß, so daß es uns beinahe unmöglich ist, Schritt zu halten, wenn wir nebeneinander gehen. So trippelt sie neben mir her, eilig ihre kurzen Beine schwingend, und dann besteht sie auch noch darauf, sich bei mir einzuhängen, so daß wir die Straße entlangtorkeln wie zwei Betrunkene. Dazu kommt noch, daß sie unaufhörlich redet und redet und dabei zu mir heraufblickt und mich voller Zuneigung anlächelt – wir müssen wahrscheinlich einen höchst sonderbaren Anblick bieten, so daß ich mich leider des öfteren bei dem Wunsch ertappe, die Leute möchten sie für eine alte Hure halten, die ich mir geangelt habe. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, bemühe ich mich, eine beschämte Miene aufzusetzen – was mir angesichts der Umstände nicht allzu schwerfällt. Als wir in die Stadt kamen, stellte sich heraus, daß Mutter mich nicht so bald gehen lassen würde. Gemeinsam besuchten wir einen Laden nach dem anderen, wobei sie sofort 47
ihren Parl-Ausweis zückte, wenn man ihr irgendwelche Artikel aufgrund der Rationierung nicht gleich geben wollte. Es dauerte nicht lange, und ich keuchte unter einem Berg von Einkäufen dahin. Ich fühlte mich gewaltig erleichtert, als Mutter endlich einen Loxkarren mietete, der das Zeug nach Hause bringen sollte. »Jetzt muß ich aber gehen«, sagte ich, als das letzte Päckchen sicher verstaut war. »Oh, doch nicht gleich, Schatz. Ich habe schrecklich Lust auf eine Tasse Stuva. Unten am Hafen gibt es so ein nettes Lokal, nur gehe ich nicht gern alleine hinein, man weiß ja nicht, was einem da für Leute begegnen.« Auf dem Weg zu der Stuva-Bar kamen wir an dem Gasthaus ›Zur Goldenen Grummette‹ vorbei, und ich versuchte, nicht zu auffällig durch die Fenster hineinzustarren, weil Mutter wußte, wer hier wohnte, und mich entsprechend scharf beobachtete. Ich bekam Pallahaxi-Annlee, Braunauges Mutter, kurz zu Gesicht : sie sprach eben mit einem Mann, der so stark behaart war, daß ich ihn im ersten Augenblick für einen Lorin hielt. Mich sah sie nicht, hätte mich auch wahrscheinlich nicht wiedererkannt ; ich hatte sie das Jahr zuvor auch nur einmal kurz gesehen. Nachdem wir eine Weile in der Stuva-Bar gesessen hatten, begann Mutter auf einmal, auf die andere Seite des Raumes hinüberzuwinken und erfreute Begrüßungslaute auszustoßen. Wenn Vater nicht bei der Hand ist, schnappt sie manchmal einfach über und bringt es mindestens ebenso gut wie er fertig, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Es war mir furchtbar peinlich, als ein Ehepaar aufstand und zu uns herüberkam. Die Frau war etwa gleich groß wie meine Mutter und auch im selben Alter ; ihr Begleiter 48
war nicht ihr Mann, wie ich zuerst gedacht hatte, da ich nicht hinüberstarren wollte, sondern ein Bursche in meinem Alter und von meiner Größe. Ich möchte schwören, daß jeder in der Stuva-Bar den Eindruck hatte, wir wären irgendwie ein Spiegelbild des anderen Paares. Mutter stellte die beiden als Dreba-Gwilda und Dreba-Wolff vor. Sie hatte sie tags zuvor kennengelernt. Wolff war ein aalglatter Frostler, und ich wußte sofort, daß meine Mutter fand, er hätte gute Manieren und wäre ganz der geeignete Freund für mich. Ja, mir kam bereits der Verdacht, daß das Treffen überhaupt arrangiert war. Zweifellos war Gwildas Mann ein Parl. Wolff lächelte mir breit zu. »Ich habe gehört, daß du heute ein Boot bekommst, Drove.« »Mhm.« »Ich bin auch begeisterter Segler. Daheim habe ich ein Kielboot. Hat natürlich keinen Sinn, das hierher mitzunehmen. Für die Grume ist es nicht brauchbar. Deins wird, nehme ich an, ein flacher Gleiter sein ?« »Mhm.« »Selbstverständlich kannst du es jetzt noch nicht verwenden. Das wäre ziemlich riskant. Du mußt warten, bis die Grume kommt.« »Ist dir schon mal aufgefallen, daß du eine komische Nase hast ?« »Ich werde mitkommen, und wir holen es gemeinsam ab. Ich kann es für dich überprüfen. Mit diesen PallahaxiLeuten muß man vorsichtig sein. Gauner allesamt. Das Touristengeschäft hat sie verdorben, natürlich.« In diesem Augenblick unterbrach Mutter ihr Geschnatter 49
mit Gwilda. »Das ist wirklich nett von dir, Wolff. Du kannst dich freuen, Drove, daß du einen so hilfsbereiten Freund gefunden hast. Also dann lauft mal, ihr zwei.« Wir gingen nebeneinander die Straße entlang, und irgendwie kam ich mir verglichen mit ihm kindisch und unbeholfen vor. »Wußtest du, daß Pallahaxi eigentlich von den Astanern gegründet wurde ?« erkundigte er sich. »Wir sind hier am wenigsten weit von Asta entfernt, das heißt, auf dieser Seite der Welt. Die Gegend um Pallahaxi wurde im Jahr 673 der Wiedergeburt von einem astanischen Häuptling besiedelt. Er hieß Yubb-Gaboa. Einige hundert Jahre später stießen die Horden von Erto aus den Gelben Bergen bis zur Küste vor und drängten die Astaner ins Meer.« »Konnten sie nicht schwimmen ?« »Geschichte ist ein faszinierendes Thema, Drove. Ich habe immer festgestellt, wenn ich etwas über unsere Vorfahren lerne, lerne ich gleichzeitig eine Menge über mich selber und meine Zeitgenossen. Bist du nicht auch dieser Meinung ?« »Hm.« »Da sind wir schon. Silverjacks Werft. Wer hat denn hier die Aufsicht ? Und wo ist dein Boot ?« »Hör mal, das weiß ich nicht. Ich bin noch nie hier gewesen.« Wolff betrat selbstsicher das Gebäude, ich folgte. Es war ein riesiger, scheunenähnlicher Bau, in dem es nach Sägespänen und Teer roch ; überall standen Boote in den verschiedensten Stadien der Fertigstellung. An den meisten arbeiteten Männer, über eine Werkbank gebeugt oder halb unter einem Boot liegend. Hämmern und Sägen und 50
Seemannsflüche hallten durch den Raum. Niemand beachtete uns. Wolff tippte einem Arbeiter auf die Schulter ; der Mann fuhr herum und musterte uns scharf mit seinem einen Auge. Eine breite Narbe zog sich über die eine Seite seines Gesichts vom Kinn bis zu den Brauen. Mir wurde ziemlich flau, und ich schaute weg. Angeborene Mißbildungen bemerken wir in Alika kaum mehr – man sieht sie schließlich überall –, aber die körperlichen Spuren eines Unfalls sind etwas anderes. Ich sah, daß einem anderen Mann in der Nähe ein Finger fehlte ; er hatte ihn wahrscheinlich bei der Arbeit verloren. Der Lärm überall und das Durcheinander gingen mir auf die Nerven, und ich fühlte mich ziemlich unbehaglich. Dann stieß Wolff mich an. »Er sagt, dort drüben. Bist du in Ordnung ? Du bist ein bißchen grün um die Nase. Komm mit.« Plötzlich standen wir in einem kleinen Büro, die Tür fiel hinter uns zu und schnitt den Lärm abrupt ab. Vor uns saß ein Mann an einem Schreibtisch ; als er uns sah, stand er auf und kam in irgendwie bedrohlicher Haltung auf uns zu. Im ersten Augenblick dachte ich, er hätte eine Pelzjacke an, aber dann erkannte ich, daß er bis zum Gürtel nackt war – vielleicht auch noch weiter, so genau konnte man das nicht feststellen. Er war jedenfalls das haarigste Individuum, das ich je gesehen hatte. Sein Gesicht war recht komisch, ganz konvex im Profil, mit fliehendem Kinn und flacher Stirn wie bei einem Fisch. Während ich ihn noch anstarrte, sprach ihn Wolff ruhig an. »Sie müssen Pallahaxi-Silverjack sein. Ist das Boot für Alika-Drove schon fertig ?« Das haarige Ungeheuer, das offenbar drauf und dran 51
gewesen war, uns in Stücke zu reißen, blieb stehen. Ein breiter Mund öffnete sich in dem Gesichtspelz. »Aber sicher, Jungs. Natürlich ist es fertig. Soll keiner jemals sagen können, daß Silverjack nicht rechtzeitig mit einem Boot fertig wird. Kommt mit.« Er führte uns durch die Werfthalle hinunter zum Wasser. Ein paar Schritt oberhalb der plätschernden Wellen lag das hübscheste Boot, das ich je gesehen hatte. Außen war es blau lackiert, innen nur mit einem farblosen Firnis angestrichen. Das rötliche Frühsommerlicht verlieh ihm einen feurigen Schimmer. Es hatte einen flachen Rumpf und einen hohen Mast, der Schnelligkeit verhieß – kurz : es war in allem darauf ausgelegt, über die Oberfläche der Grume dahinzuzischen. Es war etwa vier Schritt lang, klein genug, daß ich es auch allein segeln konnte, und doch geräumig genug, um mindestens drei Passagiere mitzunehmen, wenn ich wollte. »Sieht ganz ordentlich aus«, sagte Wolff. »Das hübscheste kleine Boot in Pallahaxi«, rief Silverjack dröhnend. »Ich zeig euch, wie man die Segel setzt.« »Ist nicht nötig«, sagte Wolff. »Ich habe Erfahrung mit Segelbooten.« »Genau das haben schon viele junge Burschen gesagt, denen dann über kurz oder lang das Wasser bis zum Hals stand«, brummte Silverjack nachsichtig und hißte ungerührt das Segel. Der Mann wurde mir langsam sympathisch ; ich hatte das Gefühl, daß Wolff endlich an jemanden geraten war, der sich nicht von ihm beeindrucken ließ. Bald flatterte das hellblaue Segel in der leichten Brise ; mir tat es auf einmal sehr leid, daß wir auf die Grume warten mußten. 52
Wolff musterte das Segel. »Ah, Lateinertakelung«, murmelte er und hob ein glattes, gefirnißtes Brett auf. »Das ist das Schwert.« »Nein, nein«, sagte Silverjack. »Ich seh’ schon, daß du keine Ahnung von Grume-Gleitern hast, mein Junge. Das gehört zu der kleinen Jolle da drüben. Gleiter haben kein Schwert. Aber sieh dir den Rumpf hier nur mal an. Siehst du diese ganz kurzen Kiele auf beiden Seiten und in der Mitte ? Mehr braucht’s nicht für einen Gleiter. Ich glaube, du bist mit unserer Weltgegend nicht sehr vertraut. Wenn die Grume den Höhepunkt erreicht, ist das Wasser dick.« Er patschte mit der Hand auf eine imaginäre Grume-Oberfläche. »Das kommt von der Verdunstung, weißt du.« »Ich kenne Pallahaxi recht gut, danke. Ich komme oft her.« »Ein Tourist, eh ?« Silverjack grinste Wolff übertrieben freundlich an. »Da habt ihr’s – war also doch gut, daß ich’s euch gezeigt habe. Dieses Boot ist nur für die Grume gebaut. Wärt ihr heute rausgefahren, hättet ihr arg in Schwierigkeiten geraten können, mein Junge.« Er packte Wolff an der Schulter, lachte dröhnend, während ich ihn insgeheim segnete. »Die Dünung ist heute nicht der Rede wert«, stellte Wolff fest und blinzelte über das glatte, grüne Wasser des Hafens hinaus. Dann warf er einen Blick auf das Boot. »Für dieses Wetter hat es ausreichend Freibord. Ich denke, wir fahren raus, Drove.« Ich stand im Bann von Persönlichkeiten, die stärker waren als ich. »Glaubst du nicht, wir sollten lieber warten, Wolff ?« meinte ich schwach. 53
Silverjack starrte uns an. »Hört mal, ihr beide. Wem soll dem das Boot gehören ? Mir hat man gesagt, es sei für Drove, aber Wolff scheint darüber zu bestimmen.« Wolff musterte mich hochmütig. »Heißt das, daß du Angst hast ?« Mein Gesicht brannte, als ich mich bückte und das Dollbord packte. Wolff hob die andere Seite an, und wir schoben das Boot ins Wasser. Wir kletterten hinein, der sanfte Wind füllte das Segel und drückte uns von der Helling weg. Ich sah, wie Silverjacks haarige Rückseite hinter einem großen, umgedrehten Boot verschwand. Er verschwendete keinen Blick mehr an uns. Ich vergaß Silverjack sofort über der Faszination, lautlos zwischen den vertäuten Fischerbooten, Ausflugsseglern und Jollen durch den inneren Hafen hinauszugleiten und Pallahaxi aus einem ganz neuen Blickwinkel zu sehen. Schneetaucher beobachteten uns von den Masttoppen, als wir vorüberzogen, und am westlichen Pier unterbrachen einige Männer die Arbeit und winkten uns zu, irgendwie ahnend vielleicht, daß wir auf der Jungfernfahrt waren. An der Kaimauer im Osten brachten kleinere Fischerboote ihren Fang zur offenen Markthalle, auf deren flachem Dach sich Hunderte Schneetaucher um die besten Positionen zankten. Durch einen Häuserspalt konnte ich kurz die ›Goldene Grummette‹ sehen ; an einem Fenster schüttelte eben jemand ein Tuch aus. Wenn ich unter unserem Segel durchspähte, konnte ich die Ausfahrt in den Außenhafen erkennen ; die Dampfbahn pustete eben langsam die Mole entlang. Ein kleines, weißes Wölkchen stieg vom Zugwagen auf, und Sekunden später erreichte mich der schrille 54
Pfiff der Dampfpfeife, gerade als wir den hohen, steinernen Molenkopf passierten und hinausglitten in das tiefe, blaue Wasser des äußeren Hafens. Da sagte Wolff etwas. »Dieses Boot scheint mir ein bißchen viel Wasser zu ziehen«, sagte er.
4 Ich saß auf der Heckbank und umklammerte die Ruderpinne, während Wolff mittschiffs saß und das Hauptschot bediente. Wir hatten den äußeren Hafen bereits hinter uns gelassen und kamen viel zu schnell ins offene Wasser hinaus, wo keine Klippen mehr den Wind bremsten. Die Brise frischte zusehends auf und trieb uns auf den Leuchtturm am Ende der Mole zu. Der Wellengang war hier schon ziemlich stark, und immer wieder schwappte Wasser über das niedrige Dollbord. »Dann schöpf es doch raus, Wolff«, befahl ich, denn schließlich war ich gewissermaßen Kapitän. Er rutschte unruhig herum. »Wir haben aber nichts zum Schöpfen.« »Es sind ja nur ein paar Tropfen.« »Nein, es ist ganz schön viel. Dieses Boot leckt. Das Wasser sprudelt nur so rein. Schau doch !« Als ich meine Stellung veränderte, ergoß sich ein Bach eisigen Wassers über meinen Fuß, und die kalte Angst schoß mein Bein herauf. Wir sanken ! Das Wasser war frostig kalt. Verzweifelt schaute ich mich nach Hilfe um. Wir waren viel zu weit von den nächsten Booten entfernt, rettungslos 55
dem Tod durch Unterkühlung ausgeliefert, nachdem wir zuvor alle Schrecken des Wahnsinns durchgemacht hätten, den die Kälte des Wassers in unserem erstarrenden Körper auslösen würde. Nachdem ich so dem Schlimmsten ins Antlitz geblickt hatte, war ich wieder imstande, mich mit praktischeren Dingen zu befassen. »Wir kommen nie bis zur Mole«, sagte ich. Links von uns schoben sich die hohen, schwarzen Klippen bedrohlich näher. »Vielleicht können wir da rüber paddeln, in den Windschatten. Schau, es gibt sogar einen schmalen Strand. Da könnten wir an Land. Es ist gar nicht weit.« »Womit sollen wir denn paddeln ?« fragte Wolff hilflos. Das angeberische Getue war verflogen, und er wirkte plötzlich viel jünger, wie er da so in sich zusammengekauert und fröstelnd auf der Mittelbank hockte, während das Wasser an seinen Beinen höherstieg. Das Weiße in seinen Augen blinkte, als er wild einem Schneetaucher nachstarrte, der an uns vorbeischoß und ins Wasser stieß. Das Boot rollte träge auf den Wellen. »Wir nehmen das Ruderblatt. Hol du das Segel runter, und ich mach das Ruder los.« Ich drehte mich halb nach hinten, um im eisigen Wasser nach der Flügelmutter zu tasten, die das Ruderblatt festhielt. Das Boot schwankte gefährlich, als Wolff sich ohne jede Vorwarnung plötzlich von hinten auf mich warf, so daß ich mit dem Gesicht gegen das Heckbord prallte. Ich wand mich unter ihm heraus, wobei mir noch etwas Schweres, Nasses in die Quere kam, kriegte einen heftigen Schlag an den Hinterkopf ab und sah plötzlich Wolffs irren Blick unmittelbar vor meinem Gesicht. Die Kälte hatte 56
ihn erwischt, früher als ich erwartet hatte. Ich riß einen Arm los und schlug ihm so fest ich konnte ins Gesicht. Er grunzte und fuhr zurück, verzweifelt am Dollbord Halt suchend. Als ich endlich sein Gewicht los war, gelang es mir, ihm ein Knie in den Bauch zu stoßen. Er schnappte nach Luft, und Entsetzen stand in seinen Augen, als er sich neuerlich auf mich stürzte, wild um sich schlagend und kreischend wie ein Seevogel. Ich wurde wieder nach hinten geworfen, daß ich halb über das Heck hinaushing, und als ich den Kopf wegdrehte, um seinen Hieben auszuweichen, sah ich den langen, schwarzen Schatten eines Raubfisches durch das Wasser unter mir gleiten. Ich könnte schwören, daß er mich mit einem kalten Auge interessiert anglotzte, während er einen halben Schritt unter der Oberfläche dahinzog. Ich drehte mich um, und Wolff schlug wieder zu. Ich erwischte seinen Arm, und wir rollten ineinander verkrallt ins Boot. Endlich kriegte ich ihn unter und setzte mich auf seine Brust. Seine Gegenwehr erlahmte, als ich ihn am Hals packte und seinen Kopf in das Wasser hinunterdrückte, das während unseres Kampfes rasch gestiegen war. »Drove !« keuchte er. »Laß mich los, du Frostler ! Reiß dich zusammen. Kein Grund, in Panik zu geraten !« »Hol dich der Rax !« Ich hielt ihn fest, aber ich wurde unsicher. Der irre Blick in seinen Augen war verschwunden, und plötzlich fragte ich mich, ob er überhaupt wirklich dagewesen war, oder ob ich ihn mir eingebildet hatte. »Wieso hast du mich dann angegriffen ?« »Du hast mich angegriffen, oder ? D-du hast mich ins Gesicht geschlagen !« 57
»Erst nachdem du dich auf mich geworfen hast.« »Das hab’ ich doch nicht. Das Segel kam plötzlich runter, und ich verlor das Gleichgewicht. Dann bist du übergeschnappt.« »Ich weiß gar nicht, wovon du redest.« Ein paar Atemzüge lang dachte ich darüber nach, während Wolffs verzweifeltes Gesicht vom Boden des Bootes zu mir heraufstarrte und das Wasser immer höher stieg. Allem Anschein nach waren wir beide einem Mißverständnis erlegen. Ich ließ ihn los, er kroch zurück zu seinem Sitz, und wir musterten einander mißtrauisch. Das Segel lag als verknüllter nasser Haufen zwischen uns, und der Anblick des dagegenschwappenden Wassers brachte mich wieder zur Vernunft. »Versuch du doch, das Ruder loszukriegen«, sagte ich nervös. Wir wechselten den Platz, und Wolff tastete unter dem Heck herum, vor Angst wimmernd, als die Kälte in seine Haut biß. Bald richtete er sich wieder auf. »Es rührt sich nicht.« Er war nahe am Weinen. »Das frostige Ding rührt sich nicht. Es sitzt fest !« Er starrte um sich – wir waren jetzt unter die düsteren, schwarzen Klippen getrieben, und soweit ich wußte, hatte uns keiner gesehen. »Wir haben keine Chance mehr !« jammerte Wolff. Ich versuchte mich mit einer Überlegung von unserem Unglück abzulenken. Das Boot war mittlerweile halb vollgelaufen, während außen das Wasser infolge unseres Gewichts fast den oberen Rand des Dollbords erreicht hatte und immer wieder hereinschwappte. Was würde nun geschehen ? Würde das Meer von allen Seiten in einem großen, ovalen Wasserfall hereinbrechen und das Boot und 58
uns auf den Grund drücken ? Oder würde das Boot auch vollgelaufen noch schwimmen ? Was tatsächlich geschah – ein entsetzter Schrei von Wolff kündigte es an –, lag irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Der Gleiter lief erschreckend rasch voll, sank aber nur langsam und hörte sehr bald zu sinken auf, war jedoch völlig unter der Oberfläche verschwunden. Nur mehr der Mast, und Wolff und ich von der Brust an, ragten aus dem Wasser. Trotz der lähmenden Kälte und damit verbundenen Furcht fand ich Zeit für den Gedanken, daß mich hoffentlich niemand in dieser lächerlichen Lage sehen würde. »Wolff«, sagte ich mit angehaltenem Atem, »beweg dich nicht irgendwie heftig, sonst kentert das Ding noch unter Wasser. Zieh nur vorsichtig das Sitzbrett unter dir raus, und wir paddeln damit zu diesem Strand rüber. Alles klar ?« Gleichzeitig tastete ich unter Wasser nach der Heckbank. Dann begannen wir vor Kälte zitternd ein unsichtbares Boot an Land zu paddeln. Es war eine höchst ungewöhnliche Fortbewegungsweise, und ich fragte mich beim Paddeln, ob mit meiner Theorie wohl auch alles stimmte, aber dann sah ich an dem zurückbleibenden Treibgut, daß wir tatsächlich vorwärts kamen. Endlich lief der Gleiter auf Grund, wir kletterten hinaus und zogen ihn auf den schmalen Strand. »Du wirst zu Hause einiges zu erklären haben«, stellte Wolff fest. »Dein Vater wird wissen wollen, warum du mit dem Boot rausgefahren bist.« Ich ignorierte ihn und versuchte mir über unsere Lage klarzuwerden. Etwa fünfzehn Schritt landeinwärts vom 59
Wasser ragte die Steilwand der Klippen empor ; wir waren an einem winzigen, kaum dreißig Schritt langen Kiesstrand gelandet. Die Klippen waren ziemlich zerklüftet und würden einem guten Kletterer keinerlei Schwierigkeiten bereitet haben, aber ich habe nichts übrig für steile Felswände, und Wolff vermutlich ebensowenig. Auf jeden Fall gefiel mir der Gedanke nicht, daß er vielleicht doch die Klippen hochklettern und einen Rettungstrupp mobilisieren könnte und dann als Held des Tages dastehen würde. So erwähnte ich diese Möglichkeit gar nicht, sondern deutete auf ein großes, rundes Loch, das in einer Höhe von zwei Schritt etwa in den Felsen hineinführte. Eine undefinierbare Brühe tropfte heraus. »Was ist das ?« Wolff musterte die Kloakeöffnung mit Abscheu. »Das ist ein Abwasserkanal.« »Ziemlich groß für einen Kanal, nicht ? Es wäre aber weit genug zum Durchkriechen.« »Ja, aber das vergiß mal lieber gleich. Ich habe nicht die Absicht, Abwasserkanäle zu durchkriechen, Alika-Drove.« Ich machte mich daran, unsere Umgebung etwas weiter zu erforschen ; auf diesem schmalen Kiesstreifen zwischen Klippen und Meer begann ich langsam Platzangst zu kriegen. Ich ging bis ganz zum östlichen Ende und kletterte auf einen mächtigen Felsbrocken, der ins Wasser hinausragte, weil ich dachte, daß man dahinter vielleicht weiterkommen könnte, stieß aber nur auf ein Durcheinander weiterer Felsen mit einem tiefen Tümpel dazwischen. Dahinter war die Steilwand, verfärbt von Vogelmist, denn zahllose Schneetaucher nisteten in den Klippen. 60
Ich kletterte bis zu dem Tümpel hinunter und spähte auf seinen Grund. Das Wasser war klar und grün und scheinbar leer, und ich wollte mich schon abwenden, als ich eine Bewegung am Grund zu sehen glaubte, in einem Gewirr fächelnder grüner Algenstränge. Ich schaute mich nach einem Stock um, mit dem ich darin herumstochern könnte, als ein weißer Schatten an mir vorbeiflitzte. Ein Schneetaucher hatte die Bewegung ebenfalls gesehen. Ich zuckte unwillkürlich zusammen – der Vogel war dicht an meinem Gesicht vorbeigefegt – aber ich hörte kein Platschen, kein Spritzen. Als ich die Augen wieder aufmachte, war der gesamte Felstümpel undurchsichtig geworden – glitzerndes, milchiges Kristallglas, aus dem nur mehr das Hinterteil des Vogels ragte, mitten im Eintauchen gefangen. Die Füße mit den Schwimmhäuten paddelten hilflos in der Luft, und ich sah, wie die Bewegung immer zuckender, immer schwächer wurde und nach einer Weile erstarb. Mich schauderte. Die ganze Sache war so plötzlich geschehen – und vielleicht hätte ich sonst eine Hand in den Tümpel gesteckt. Ich hob einen Stein und schleuderte ihn auf die harte, glitzernde Oberfläche, von der er abprallte, weitersprang und ins Meer platschte. Undeutlich hörte ich Wolff nach mir rufen, aber ich starrte weiter schreckgebannt auf den Teich. Endlich wollte ich mich abwenden, da geschah es, worauf ich fasziniert gewartet hatte : die seltsame kristalline Substanz verflüssigte sich wieder zu klarem Wasser, auf dem der Schneetaucher trieb – tot. Und dann sah ich, wie ein dünnes, silberfleckiges blaues Tentakel vom Grund heraufgriff, sanft den Vogel umschlang und ihn in die Tiefe zog. 62
Ich kletterte einigermaßen erschüttert über den Felsbrocken zu Wolff zurück. Er stand bei einer Gruppe von Kindern, die sich aus dem Felsen materialisiert haben mußten ; sie untersuchten eben das Boot. »Da hinten gibt’s einen Eisteufel«, sagte ich anstelle einer Begrüßung, verstummte und glotzte nur, als sie sich zu mir umdrehten. Außer Wolff stand da noch ein kleinerer Junge neben dem Boot, und zwei Mädchen. Eines der Mädchen war Pallahaxi-Braunauge. Sie warf mir einen Blick scheuen Wiedererkennens zu, dann schaute sie wieder weg ; sie sagte nichts, und auch ich wußte nicht, was ich hätte sagen sollen, außer, daß ich die Anwesenheit der drei mit einem brummigen Gruß zur Kenntnis nahm. Das zweite Mädchen war größer und wirkte ganz so, als hätte es eine ausnehmend gute Meinung von sich selber – ein weibliches Gegenstück zu Wolff, wie mir schien. Der kleine Junge war genau das : ein zerzauster, verdreckter kleiner Junge, der nicht einmal meiner Verachtung würdig war. Er machte natürlich als erster den Mund auf. »Wie könnt ihr erwarten, daß ’n Boot schwimmt, wenn ihr nicht mal die Lenzlöcher zustöpselt ?« erkundigte er sich schrill. Gekränkt bückte ich mich. Er hatte recht. Im Heckbrett waren ganz unten zwei Lenzöffnungen, die mit den daneben hängenden Verschlußstöpseln dichtgemacht hätten werden sollen. Infolge unseres etwas übereilten Aufbruchs von der Werft hatte ich das vergessen. Ich warf Wolff einen anklagenden Blick zu. Er starrte vor sich hin und lief ein bißchen dunkel an. »Dir gehört das Boot doch«, sagte er von oben 63
herab. »Du solltest gescheit genug sein, dein eigenes Boot zu überprüfen, bevor du in See stichst, Alika-Drove.« »Ihr seid Touristen, nehme ich an«, sagte das große Mädchen in einem Ton, der vor Verachtung triefte. »Unwissende Touristen, die Seemann spielen wollen.« »Sind ganz schön naß geworden, die Seemänner«, bemerkte der kleine Junge. »Halt den Mund, Squint. Na, ihr habt Glück, daß wir hergekommen sind, nicht wahr, Braunauge ? Wir kennen das Land, wißt ihr. Wir leben das ganze Jahr hier. Stimmt doch, Braunauge ?« Ich blickte verstohlen zu Braunauge hin, und sie kam mir so bezaubernd vor wie der rosige Himmel im Frühsommerlicht. Ich wünschte, die anderen wären nicht dagewesen – aber selbst wenn sie und ich allein gewesen wären, hätte ich kaum den Mut gehabt, mit ihr zu sprechen. Sie bemerkte nicht, daß ich sie anschaute ; sie beobachtete, wie ein großes Fischerboot seine Ladung auf die Dampfbahn umlud, und ich fragte mich, ob sie mich am Ende nicht so gern hatte wie ich sie. Aber wenigstens hatte sie mich wiedererkannt. »Stimmt«, sagte Squint, an irgend etwas kauend. »Hör mal, willst du jetzt endlich die Klappe halten, Squint ? Also …« Das große Mädchen musterte uns überheblich. »Ich nehme an, ihr verlaßt euch darauf, daß wir euch aus diesem Schlamassel rausholen, in den ihr euch gebracht habt.« »Sie sind aus diesem Kanal herausgekrochen, Drove«, sagte Wolff mißtrauisch. »Wie Drivettchen.« »Mach nur so weiter, dann lassen wir dich hier verhun64
gern oder von der Kälte verrückt machen. Und wenn du allein in dieses Entwässerungssystem kriechst, kommst du nie wieder heraus – es ist das reinste Labyrinth.« »Ich hab’ einen Jungen gekannt, der sich da drinnen verirrt hat«, quäkte der nicht zum Schweigen zu bringende Squint durch die undefinierbare Masse, an der er mampfte. »Er ist tagelang herumgelaufen, bis er völlig und komplett verrückt war, und als sie ihn fanden, war er nur mehr ein Gerippe, ausgebleichte Knochen, und die Vögel hatten ihm die Augen ausgepickt.« Das große Mädchen schwieg einen Augenblick lang, um sich dieses malerische, wenn auch nicht ganz glaubhafte Bild zu vergegenwärtigen. Dann nickte sie zustimmend. »Daran erinnere ich mich. Du weißt es doch auch noch, Braunauge ?« Braunauge starrte immer noch aufs Meer hinaus. »Laß sie doch in Ruhe, Ribbon, siehst du nicht, daß sie naß sind und frieren, und wenn wir sie nicht bald von hier wegbringen, werden sie sterben, und wenn du das vielleicht willst, ich will’s nicht.« Sie plapperte all das in einem Atemzug heraus, und ihr Gesicht war dabei dunkelrot. Ribbon musterte sie scharf, zuckte dann die Achseln. »Squint, stopf die Löcher mit Seetang zu und bring ihr Boot zurück. Ihr anderen, kommt mit mir.« Sie zog sich in den Kanal hoch und entschwand unseren Blicken. Wolff folgte ihr, dann ich, während Braunauge den Schluß machte. Als ich mich umschaute, sah ich Squint fachmännisch das Segel setzen, worauf ich Braunauge eine Hand entgegenstreckte und ihr in den Tunnel heraufhalf – obwohl sie das zweifellos ohne meine Hilfe besser geschafft 65
hätte. Im Weitergehen ließ ich zögernd ihre Hand los, bereit, sie beim leisesten Vorwand festzuhalten. Zur selben Zeit lockerte auch Braunauge ihren Griff, und ich fragte mich, ob sie das gleiche dachte wie ich, oder ob ich nur den Geschehnissen des letzten Sommers zu viel Bedeutung zugemessen hatte. Ein langer Winter hatte dazwischengelegen, viel zuviel Zeit für meine Fantasie und genug Zeit für Braunauge, alles zu vergessen. Wir konnten in dem Gang nicht ganz aufrecht stehen, sondern mußten leicht gebückt gehen, ähnlich wie ein Lorin. Von vorne kam das Echo von Ribbons Stimme, die am laufenden Band gräßliche Warnungen ausstieß, was passieren würde, wenn wir die falsche Abzweigung einschlügen, und so weiter, und zu unseren Füßen hörte ich, oder bildete es mir zumindest ein, raschelnde Geräusche und schrille Quietscher. Ungeachtet der Tatsache, daß Ribbon den Tunnel ständig als Entwässerungskanal bezeichnete, mußte ich, meiner Nase folgend, Wolff recht geben : es war eine Kloake, und eine ziemlich stinkende obendrein. In der Mitte des Bodens floß ein träges Rinnsal, dem man aber ganz gut ausweichen konnte, wenn man etwas breitbeinig ging, weil der Querschnitt des Tunnels annähernd kreisförmig war. Außer Ribbon sagte niemand etwas ; sie hatte die Führungsrolle übernommen. Nach einer Weile blieb sie an einer Stelle stehen, an der von oben Tageslicht hereinsickerte. Hier war der Gestank besonders durchdringend. »Wir sind jetzt unter der größten Fischhandlung der Stadt«, erklärte Ribbon. »Ihr habt Glück, daß sie nicht gerade die Halle ausspritzen, denn dann kommt hier ein 66
Sturzbach von Fischabfällen und blutigem Wasser herunter. Wir nehmen jetzt den Gang rechts. Wer in den links geht, ist geliefert.« Sie verzichtete darauf, näher auszuführen, welche Übel einen im linken Tunnel erwarteten, und wir fragten sie lieber nicht danach. Stumm stolperten wir weiter, uns immer tiefer bückend, als sich die grob gemauerte Decke mehr und mehr senkte. »Vor Jahren, als ich noch ziemlich klein war, ist mal die Decke eingebrochen«, berichtete unser Quälgeist vorne. »An der Stelle hat sich dann das ganze Zeug gestaut, es konnte nicht mehr abfließen. Rax, dieser Gestank !« Ich prallte gegen Wolff, der plötzlich haltgemacht hatte ; ärgerlich stieß er mir den Ellbogen in die Rippen. »Wir sind stehengeblieben«, fauchte er. Seine Nerven waren auch nicht mehr die besten. »Hier verlasse ich euch«, verkündete Ribbon ohne das geringste Bedauern. »Ich wohne weiter droben, und ich soll nicht zu Braunauge gehen wegen der Betrunkenen. Ich würde euch ja anbieten, euch zu mir mitzunehmen, damit ihr euch säubern könnt, aber das wäre meinen Eltern nicht recht. Sie sind da sehr empfindlich, wenn ihr versteht, was ich meine.« Hinter uns sagte Braunauge leise : »Wenn ihr zu mir kommen wollt, um euch zu säubern, dann geht das in Ordnung.« »Danke«, sagte ich. Wolff schwieg. Sie drückte sich an uns vorbei und kletterte an einer Reihe von eisernen Streben hoch, die in die Wand eines senkrechten Schachts eingelassen waren. Oben tastete sie ei67
nen Augenblick herum, dann verbreiterte sich der schmale Lichtspalt über ihr zu einem hellen Rechteck. Braunauge zog sich durch die Luke und schaute zu uns herunter. »Kommt rauf«, sagte sie. Ich stieg hinauf und kam in einen der aufregendsten Räume, die ich je gesehen habe. Ein langes, niedriges Gewölbe aus Stein, an den Wänden aufgereiht ein riesiges Faß nach dem anderen, Bottiche und Wannen, altersbraun und verwittert – alles geheimnisvoll und verboten wie eine Illustration aus einem Buch meiner Mutter. Eine flackernde Lampe tauchte das Gewölbe in angemessen gespenstisches Licht. Ich fühlte mich von Laster und Verkommenheit umgeben und fand es herrlich. In einer Ecke entdeckte ich ein paar Kanister, die mir bekannt vorkamen. Ich untersuchte sie, und tatsächlich enthielten sie Destillat. Nicht zur Verwendung als Treibstoff – dieses Zeug war für die elenden Säufer, die ihr Leben im Schankraum der ›Goldenen Grummette‹ verzechten, um meine Mutter zu zitieren. Der betäubende Geruch von Destillat hing in der Luft, und ich war begeistert. »Ein Bierkeller«, stellte Wolff kühl fest, unempfindlich für die Romantik dieses Ortes. »Wozu der Ausgang in den Kanal ?« »Um die Fässer auszuwaschen«, erklärte Braunauge. »Mir kommt das eher wie eine ideale Einrichtung für Schmuggler vor. Ich sollte euch wohl sagen, daß mein Vater Zollbeamter ist, den man hierher geschickt hat, um dem Schmuggel, der seit Beginn des Krieges hier um sich gegriffen hat, Einhalt zu gebieten. Woher habt ihr dieses Destillat ? Es stammt aus Asta.« 68
Es überraschte mich nicht, daß Wolffs Vater, wie meiner, ein Parl war. Mich schockierte nur, daß Wolff sich so für die Arbeit seines Vaters interessierte, daß er Braunauge so unhöflich angreifen konnte. »Laß sie doch in Ruhe«, sagte ich hitzig. »Wo bleiben deine frostigen Manieren, Wolff ? Wir sind hier Gäste. Dieses Destillat wurde lange Zeit vor Beginn des Krieges eingelagert. Jeder hat sich einen Vorrat angelegt. Mein Vater auch. Und er ist ebenfalls ein Parl.« Zum erstenmal sah ich Wolff verlegen. »Na ja, es ärgert mich nur, daß es immer noch Leute gibt, die mit dem Feind Handel treiben, das ist alles«, brummte er. »Hochverrat ist das.« »Tut mir leid, Wolff, aber das kommt mir recht unsinnig vor. Der Krieg wurde an einem bestimmten Tag erklärt ; willst du behaupten, daß es ein gutes Geschäft war, an einem Tag Destillat einzuführen, und Hochverrat am nächsten ? Und wie steht’s mit den Leuten, deren Boote bei Kriegsausbruch gerade unterwegs waren ?« Ich hatte schon vor einiger Zeit begriffen, daß Wolff sich eine theoretische Diskussion niemals entgehen ließ, und er fiel auch diesmal herein. Braunauge warf mir einen dankbaren Blick zu, als Wolff seine Ansichten über die Ethik des Krieges und die historischen Hintergründe des gegenwärtigen Konflikts darzulegen begann.
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5 Wolff und ich saßen, in Decken eingemummt, in dick gepolsterten Lehnstühlen, während Pallahaxi-Annlee uns heiße Suppe einflößte, die, wie ich vermutete, mit Destillat versetzt war. Wir befanden uns im Hinterzimmer der ›Goldenen Grummette‹, wo wir darauf warteten, daß unsere Eltern uns abholten ; jedesmal, wenn Annlee aus dem Schankraum hereingelaufen kam, um nach uns zu sehen, hörten wir lautes Stimmengewirr und Gelächter durch die offene Tür, und noch eine ganze Weile nachher roch es bei uns nach Schnaps und Rauch. Die Einrichtung des Zimmers erstaunte mich. Das vor uns flackernde Feuer stellte das einzige ungeordnete Element in einer ansonsten unglaublich sauberen und geordneten Umgebung dar. Die Nippes waren so präzis angeordnet, daß man nicht gewagt hätte, irgend etwas anzurühren ; die Spiegel schimmerten und reflektierten ineinander Unendlichkeiten polierter Sauberkeit. Alles schien genau in rechtem Winkel zueinander aufgestellt zu sein. Selbst eine religiöse Darstellung gab es : an der jenseitigen Wand war in einer Nische eine Wiedergeburtsszene aufgebaut. Eine Statuette des Sonnengottes Phu in der Verkörperung des Großen Lox zog die Welt aus den Fängen des toten Riesen Rax, der als tentakelbewehrter Eisteufel dargestellt war. Ich bemerkte, daß noch etliche andere Ausstattungsgegenstände des Raumes ähnliche religiöse Szenen oder Symbole zeigten, was mir einfach nicht vereinbar schien mit dem Lärm sündiger Ausschweifungen im Nebenraum. 70
Braunauge trat ein, gefolgt von Wolffs Mutter und einem Mann, den ich für seinen Vater hielt, weil er genau die Miene zur Schau trug, die man von einem Zollbeamten erwartete. »Du bist ein Narr, Wolff«, blökte er ohne jede Einleitung. »Du bist immer ein Narr gewesen und wirst’s immer bleiben.« »Wie schrecklich, daß ich meinen Sohn in einer gewöhnlichen Schenke finden muß !« klagte seine Mutter leise, aber nicht leise genug. Annlee, die gerade hereinkam, hörte es. Sie schaute drein, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. »Hier sind seine Kleider«, sagte sie ruhig. »Ich habe sie gewaschen. Sie sind sauber und trocken.« »Du hast jetzt keine Zeit, sie anzuziehen, Wolff«, erklärte seine Mutter und nahm das Bündel mit spitzen Fingern entgegen. »Du mußt dich eben in diese Decke wickeln, oder was es sonst sein soll. Wir haben einen Loxwagen draußen.« Sie schenkte Braunauge und ihrer Mutter ein Lächeln herablassender Dankbarkeit. »Es war so nett von Ihnen, sich um ihn zu kümmern.« »Ich kann nicht in einer Decke auf die Straße gehen !« Die Proteste seines Sohnes ignorierend packte Wolffs Vater ihn am Arm und schob ihn durch die Tür. Im nächsten Augenblick waren alle drei draußen. Braunauge, Annlee und ich schauten einander in dem plötzlich leer wirkenden Raum um. »Hast du Droves Eltern erreichen können, Liebes ?« fragte Annlee schließlich. »Sie werden etwas später kommen.« »Hören Sie, wenn meine Sachen schon vollkommen trocken sind, dann kann ich sie doch anziehen und allein heimgehen«, sagte ich schnell. 71
»Auf keinen Fall«, wehrte Annlee entschieden ab. »Ihr würdet einander nur verfehlen. Du kannst gerne noch eine Weile bleiben ; es ist ja noch ziemlich früh am Abend. Ich habe zu tun, aber ich bin sicher, daß Braunauge dir Gesellschaft leisten wird. Willst du das, Liebes ?« Braunauge nickte mit niedergeschlagenen Augen, und Annlee ging und schloß die Tür hinter sich. Braunauge setzte sich in den Sessel, den Wolff vor wenigen Minuten verlassen hatte, und schaute mich an, mit der Andeutung eines Lächelns und leichten Grübchen. Ich grinste zurück, aber nach einer Weile schaute ich weg, um zu verhindern, daß die Sache in ein kindisches Wettanstarren oder so ausartete. Ich schaute ihre Hände an, die sie bewegungslos im Schoß übereinandergelegt hatte. Es waren hübsche Hände, klein und sauber und weiß, und mir fiel ein, daß ich die eine heute nachmittag für kurze Zeit gehalten hatte. Ich wünschte mir den Mut, sie wieder zu ergreifen, aber Braunauge saß außer meiner Reichweite. Ich konnte wohl kaum quer durchs Zimmer stürzen und ihre Hand packen. Sie trug ein sauberes weißes Kleid mit so rosa und blauen Blumen darauf, und sah darin sehr brav und süß und unerreichbar aus. Die dreckigen Jeans und der Pullover von nachmittag waren mir beinahe lieber gewesen. Sie hatte hübsche Knie, und ihre Schuhe waren nett und zierlich. Mir schien, daß wir schon allzulange nichts gesagt hatten, und wenn das so weiterging, würden wir nie etwas sagen. »Gefällt dir mein Kleid ?« fragte sie, was eine gute Entschuldigung für mich war, sie offen anzustarren. »Ja. Ist sehr hübsch.« 72
»Ich mußte die anderen Sachen ausziehen, weil sie schmutzig geworden waren.« »Kann ich mir denken. Äh … ich hoffe, du kriegst keine Unannehmlichkeiten, weil du mich hergebracht hast. Uns, meine ich. Wolff und mich.« In meiner Brust hämmerte etwas ganz mächtig und nahm mir den Atem. »Ist Wolff dein Freund ?« »Ja«, sagte ich eifrig – ich war froh, mich an ein konkretes Thema halten zu können. »Ich meine, nein. Ich habe ihn erst heute kennengelernt. Ich glaube, meine Mutter hat die Sache arrangiert ; sie versucht immer, passende Freunde für mich zu finden.« Ich lächelte, um meinen Worten eine etwaige Schärfe zu nehmen ; ich wollte nicht, daß Braunauge mich für so einen Frostler hielt, der seine eigene Mutter schlechtmacht. Aber sie lächelte einfach zurück, und dann schwiegen wir erneut. »Ich kann Wolff eigentlich nicht besonders leiden«, sagte ich verzweifelt. »Es war seine Schuld, daß wir heute gestrandet sind, weißt du.« Sie lächelte wieder und spielte mit einem Gegenstand, der an einem dünnen Kettchen um ihren Hals hing. Es blitzte im Licht auf, da erkannte ich es. Es war ein Kristall, vielleicht aus einem Eiskobold wie dem gezogen, den meine Mutter weggeschüttet hatte, wahrscheinlicher aber ein echter, der aus einem getöteten Eisteufel geschnitten worden war – ein Amulett, das den Tod des Bösen verkörperte. Das Ding störte mich irgendwie ; es wirkt so entmutigend, wenn ein Mädchen sich ein religiöses Symbol umhängt. Sie folgte meinem Blick abwärts und errötete ein wenig. 73
»Mutter möchte, daß ich es trage«, erklärte sie. Sie strich die Vorderseite ihres Kleides mit einer Hand glatt, wobei sich der dünne Stoff dicht um die sanften Hügel ihrer knospenden Brüste schmiegte. Ich blickte hastig weg, sehr verlegen. »Mutter ist in gewisser Weise sehr fromm«, fuhr sie fort. »Ich meine, schau dir nur all das Zeug in diesem Zimmer an. Ich hoffe … ich hoffe, du glaubst nicht …« »Meine Mutter ist genauso«, tröstete ich sie. Sie tat mir leid, denn ich konnte sie gut verstehen. »Sie glaubt alles. Manchmal kommt mir vor, daß sie richtig auf die Suche geht nach Sachen, die sie glauben kann – vor allem in letzter Zeit, seit es mit dem Krieg ernster geworden ist. Als versuchte sie verzweifelt, mit allem Übernatürlichen ins reine zu kommen, bevor die Astaner sie umbringen. Sie hat eine Wiedergeburtsgruppe wie ihr, und sie hat eine eigene Landkarte für den Krieg, in die sie bunte Nadeln steckt, und ich weiß nicht, woran sie eigentlich mehr glaubt. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich an keins von beiden glaube«, fügte ich hinzu. Sie musterte ernst mein Gesicht. Wenn sie ernst war, wirkte sie immer ein klein wenig traurig. »Aber dein Vater ist ein Parl«, sagte sie leise. »Und ihr lebt im Landesinneren, in Alika. Hier in Pallahaxi sind wir Asta sehr viel näher – in Friedenszeiten haben wir eine Menge astanische Seeleute gekannt. Wir wissen sehr gut, daß Krieg ist. Wir sehen es überall. In der Nacht sehen wir geheimnisvolle Lichtblitze draußen auf dem Meer. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht mehr, so daß wir Loxwagen benutzen müssen oder zu Fuß gehen. Und viel zu essen gibt es auch nicht, nicht für die gewöhnlichen Leute.« 74
»Ich habe heute eine Menge Fisch gesehen.« »Fisch wird einem mit der Zeit auch über, und außerdem ist auch Fisch rationiert. Ein Großteil des Fangs wird jetzt an die neue Konservenfabrik geliefert, und die schickt alles irgendwohin ins Landesinnere.« Ich wollte über das alles überhaupt nicht reden. Mir kam es wie Zeitverschwendung vor, wie Verschwendung unseres Alleinseins. Aber wenn wir dieses Thema fallenließen, würden wir vielleicht nichts mehr finden, über das wir reden konnten. Ich fragte mich, wieso die Sache schiefgelaufen war, und gab schließlich meiner Unerfahrenheit die Schuld. Wir hatten doch mit einem eigentlich ganz intimen Thema angefangen und waren dann irgendwie in die falsche Richtung geraten. Vielleicht war es am besten, wenn ich ihr gleich sagte, ich fände sie schön. Wieder machte sich das Hämmern in meiner Brust bemerkbar, und ich wußte, daß ich nichts herausbringen würde. »Weißt du, ich finde … äh … mein Vater arbeitet bei der neuen Konservenfabrik ; vielleicht können wir dieses Jahr länger bleiben. Mir gefällt es in Pallahaxi. Dir doch auch ?« »Ich dachte, dein Vater arbeitet in Alika.« »Er hat erst gestern gesagt, er würde hier eine Menge zu tun haben.« Warum, beim Frost, redeten wir über meinen Vater ? »Es könnte also sein, daß ihr ziemlich lange hier bleibt. Wenn der Nebel kommt, wird dir Pallahaxi besonders gefallen – und dann der warme Regen. Selbst im Winter ist es hier viel wärmer als im Landesinneren.« Da, gerade als ich dachte, jetzt käme das Gespräch end75
lich in die richtigen Geleise, ging die Tür auf, und der ordinäre Lärm des Schankraums flutete herein. Ein gerötetes Gesicht, in dem noch die Reste des professionellen Wirtslächelns zu erkennen waren, tauchte in der Öffnung auf. Ich erkannte Pallahaxi-Dickbauch, Braunauges Vater. »Hallo, Alika-Drove, mein Junge«, begrüßte er mich. »Ich hoffe, ich störe nicht gerade.« Er zwinkerte übertrieben anzüglich. »Wir haben nämlich zu wenig Leute, deshalb muß ich dir leider Braunauge wegnehmen. Tut mir leid, aber so ist’s nun mal.« Er zögerte. Von draußen drangen Rauchschwaden, Gelächter und Grölen herein. »Wie wär’s, wenn du dir was anziehst und mit raus in den Schankraum kommst ; ich bin sicher, daß deine Eltern nichts dagegen hätten.« »Ich hole gleich deine Sachen, Drove«, sagte Braunauge und eilte hinaus. Mir fiel das Smaragdarmband wieder ein. Ich würde es ihr nun doch zurückgeben müssen. Wenig später saß ich in einer Ecke des Schankraums und beobachtete das Treiben. Es war alles ziemlich anders, als ich mir vorgestellt hatte. Sicher, die dumpfe, rauchige Luft, das beschwipste Gelächter und die laute Unterhaltung entsprachen meinen Erwartungen, aber ich vermißte irgendwie den Hauch von Verderbtheit, von Lasterhaftigkeit. Was ich statt dessen sah, war ein Raum voller Leute, die sich amüsierten. Es war ziemlich verwirrend. Ich saß da und nippte an einem Glas, das Braunauge mir hingestellt hatte, ohne recht zu merken, was ich trank, und dachte über die Sache nach. »Hallo, Kleiner !« röhrte jemand. Ich zuckte zusammen und schaute auf. Ein derbes Ge76
sicht beugte sich über mich, eine groteske Hand packte mich an der Schulter. Geschwärzte Zähne grinsten mich an. Ich starrte diese Erscheinung verdattert und nervös an, bis ich mich plötzlich erinnerte und mir ein bißchen albern vorkam. Das war doch nur der Lastwagenfahrer, den wir an der Bexton-Station abgesetzt hatten, wie hatte er nur geheißen ? Greifer, ja. Hinter ihm kam das schmale Gesicht seines langhalsigen Kumpans zum Vorschein, der mich mit leerem Lächeln über ein Glas mit irgendeiner dunklen Flüssigkeit hinweg anglotzte. »Ich dachte, ihr seid noch in der Bexton-Station«, platzte ich dümmlich heraus, weil mir einfach nichts Vernünftiges einfiel. Greifer kam schwankend um den Tisch herum und setzte sich auf die Bank neben mich, ungemütlich dicht heranrückend, damit sein Freund auf der anderen Seite noch Platz hatte. Beide rauchten sie lange, schwarze Stengel, die abscheulich stanken. Ich schaute mich hilfesuchend um, aber Braunauge war gerade auf der anderen Seite des Raumes und brachte eine Handvoll Krüge, aus denen der Schaum schwappte, an einen Tisch. Sie sah so sauber und nett aus, daß es mir auf einmal ganz unpassend vorkam, sie zwischen all diesen derben Gesellen arbeiten zu lassen ; eine Art Niedergeschlagenheit erfaßte mich bei dem Anblick. Greifer brüllte mir ins Ohr : »Haben uns zurückgerufen. Mußten den frostigen Laster stehenlassen. Jetzt sin’ Lofty und ich Parls, genau wie dein Vater. Die Regierung hat die gesamte Fischerei verstaatlicht, nicht bloß die neue Konservenfabrik. Wegen dem nationalen Notstand, heißt’s. Keine Zeit, kaputte Laster einzusammeln ; stehenlassen und einen 77
anderen benützen, haben sie gesagt. Müssen die Bevölkerung ernähren, den Leuten Fisch in den Hals stopfen, bis sie wie Grummetten ausschauen, was, Drove ?« Er lachte bellend, und ich vermutete stark, daß er betrunken war. Drüben auf der anderen Seite entdeckte ich HorloxMestler, der sich trotz seiner eleganten Kleidung recht gut mit dieser ungehobelten Bande zu verstehen schien. Er bemerkte mich und grüßte mit einer förmlichen Geste herüber. Ich begann mich zu fragen, was für ein Verhältnis eigentlich zwischen ihm und meinem Vater bestand, wenn er, wie ich vermutete, meinen Vater dazu bringen konnte, mir ein Boot zu kaufen. Ich wünschte, er würde herüberkommen und mich vor diesem Rüpel Greifer retten. Braunauge war an der Theke und nahm von ihrem Vater eine neue Ladung gefüllter Krüge entgegen. Ihre Mutter war nicht zu sehen. »Sie haben nicht mal gefragt«, sagte Greifer eben etwas konfus. »Rax, nein, die Frostler haben nicht mal gefragt – das is’ typisch für sie. Sie sagen einfach : ihr arbeitet für uns, alle Frachter. So springt das Parlament mit uns um. Sie fragen uns nicht, sie kommandieren nur.« Lofty beugte sich an seinem Kumpan vorbei zu mir. »Sklaverei is’ das«, sagte er, und dann, nachdem er mir diese wichtige Mitteilung gemacht hatte, ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen und glotzte in seinen Krug. »Und sag mir mal eins, mein Junge. Sag mir eins. Wo sind die Truppen ? Wo sind die Truppen, die uns beschützen, wenn die astanische Flotte in den Hafen von Pallahaxi einläuft – was ganz bestimmt passieren wird, weil wir auf dem Seeweg ihrem frostigen Land am nächsten liegen ?« 78
Greifers Augen waren vor Angst geweitet, als er auf eine Flotte starrte, die nur in seiner Einbildung existierte und die, nach der Geste seiner Zangenhand zu schließen, irgendwo zwischen uns und der Theke vor Anker gegangen war. »Die Grume kommt«, erinnerte ihn Lofty. »Die Grume kommt, und dann werden die in Pallahaxi einmarschieren können, glaub mir.« Das Dröhnen der vielen lauten Gespräche, das Lachen und Grölen, die dicke Luft – das alles wurde mir langsam zuviel, und ich glaubte, fast zu ersticken. Greifer zwängte mich von der einen Seite ein, und ein großes, herumrutschendes Weib, das nach gekochtem Fleisch roch, von der anderen. Ich schluckte ; nachgerade wurde mir ziemlich schwummrig. Auf einmal stand Braunauge vor mir ; ihre Miene war besorgt. »Hallo, schau mal an«, murmelte Greifer schmunzelnd. »Was bringst du mir denn Schönes, Kleine ?« »Drove, wir haben schrecklich viel zu tun. Würdest du …« Sie zögerte. »Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn du uns ein bißchen hilfst ?« Ungeheuer erleichtert stand ich auf. »Sehr gerne«, sagte ich nachdrücklich. »Was soll ich denn tun ?« »An der Theke gehen uns die Getränke aus. Vielleicht könntest du ein paar Flaschen aus dem Keller holen. Du weißt ja, wo der ist.« »Klar.« Draußen vor dem Schankraum war es herrlich kühl, und ich beeilte mich nicht sonderlich mit dem Anzünden der Lampe, sondern genoß die frische Luft. Dann tappte ich den düsteren Gang entlang und die Kellertreppe hinunter. 79
Als ich die Tür zum Gewölbe öffnete, gab es einen unerklärlichen, kalten Luftzug, der meine Lampe löschte. Ich stolperte weiter, die Lampe in der einen Hand, mit der anderen tastete ich herum. Ich erinnerte mich, daß etwa in der Mitte eine große Kiste gestanden hatte, die als Tisch diente ; unter den verschiedenen, darauf abgelegten Kellerutensilien waren auch Streichhölzer gewesen. Trotz aller Vorsicht kam ich früher als erwartet bei der Kiste an und schlug mir das Schienbein wund. Einen Augenblick lang hüpfte ich herum, rieb mir die Stelle und fluchte. Dann jedoch entdeckte ich hinter der Kiste ein erhelltes Rechteck im Boden. Die Klappe zum Kanal war offen. Ich erinnerte mich jedoch genau, daß Braunauge sie geschlossen hatte, nachdem Wolff und ich in den Keller heraufgeklettert waren, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie seitdem jemand geöffnet haben sollte – wenn Braunauges Vater nicht inzwischen gerade das Gewölbe gesäubert hatte. Aber er hätte bestimmt nicht vergessen, die Falltür zu schließen, konnten doch Diebe auf diesem Weg eindringen. Oder Schmuggler. Das Licht in der Öffnung flackerte jetzt und wurde stärker, und bald bildete sich auch an der niedrigen Decke ein ähnlicher Lichtfleck. Jemand kam durch den Kanal näher. Meine Fantasie begann mit mir durchzugehen. Wenn mich Schmuggler hier entdeckten, würden sie mich umbringen. Ich versuchte, so leise wie möglich zur Tür zu kommen, aber die Angst hatte mich gänzlich die Orientierung verlieren lassen, so daß ich vergeblich an der Stirnseite eines Fasses herumkratzte. Der Lichtfleck wurde noch heller, 80
und ich beobachtete ihn wie hypnotisiert, unfähig, mich zu bewegen. Eine Hand mit einer Lampe erschien in der Öffnung. Als der gesamte Keller plötzlich hell ausgeleuchtet wurde, zog ich mich hastig hinter eins der Fässer zurück. So leise ich konnte, schlich ich mich weiter zurück, bis mir die Wand den Weg versperrte. Ich setzte mich langsam, oder besser gesagt, die Knie gaben mir nach vor Angst ; vorsichtig spähte ich unter dem Riesenfaß durch, das auf einem massiven Holzgestell gelagert war. Die Hand war verschwunden, und die Lampe stand auf dem Steinboden. Jetzt bemerkte ich auch die vier Kanister Destillat daneben. Dann erschienen zwei Hände, große haarige Hände, die die Kante der Öffnung packten. Ein Mann zog sich herauf, dunkel gekleidet, mit einem pelzigen Gesicht wie ein Lorin – ich erkannte ihn, bevor er aufstand, und das Faß alles bis auf seine Beine verdeckte. Es war Silverjack. Die Füße verhielten eine Weile bewegungslos, und ich ahnte, daß er horchte. Vielleicht entsprachen seine Instinkte seinem animalischen Aussehen, und er hatte meine Anwesenheit gespürt, wie sie ein Lorin spüren würde. Ich duckte mich noch mehr zusammen, versuchte, nicht mehr zu atmen, eins zu werden mit Holz und Stein. Endlich rührte er sich, ging barfüßig durch den Keller zur Tür. Wieder blieb er stehen und stieß einen leisen Pfiff aus. Er wartete einige Augenblicke, dann pfiff er nochmals, ein weicher, leiser Pfiff wie der Ruf einer Meldetaube. Ich vernahm irgendein Geräusch von jenseits der Tür, worauf Silverjack zurückkam, gefolgt von einem zweiten Paar Beine, ebenfalls bloßfüßig, aber nicht so haarig wie seine – 81
die Beine einer Frau. Die beiden unterhielten sich flüsternd, ich verstand nur hin und wieder ein Wort. Die Stimme der Frau war sehr leise, aber ich bekam mit, wie Silverjack sagte : »Ysabel, vor der Grume.« Dann gab es eine lange Pause, während der sich die beiden Fußpaare ganz nahe gegenüber standen. Silverjack und die Frau ließen sanfte, leise Laute vernehmen, und mir wurde heiß und kalt, und ich dachte immer wieder : wenn sie mich nur nicht entdecken, wenn sie mich jetzt nur nicht entdecken … Endlich wandte sich Silverjack ab, ließ sich durch die Öffnung hinunter, griff nach der Lampe und verschwand, die Falltür hinter sich schließend. Es war wieder ruhig im Keller, die Frau war offenbar schon gegangen. Ich kroch steif aus meinem Versteck, tastete eine Weile herum, fand die Streichhölzer und zündete meine Lampe an. Dann überlegte ich krampfhaft, aber es gab einfach keinen Ausweg aus der Situation, ich konnte nichts tun als eben doch eine Kiste Flaschen hinauftragen. Der Lärm traf mich wie eine Flutwelle, als ich durch die Tür des Schankraums taumelte, den Kopf gesenkt und nur darauf bedacht, die Kiste nicht fallen zu lassen und vor allem, nicht über das Beobachtete nachzudenken. Eine kühle, kleine Hand berührte mich am Arm. Ich blickte auf und sah Braunauge mich anlächeln. »Stell’s hinter die Theke, Drove«, sagte sie. Das tat ich, setzte die Kiste neben einem Stapel leerer ab und richtete mich auf – und sah mich Braunauges Vater und Mutter gegenüber. Keiner sagte etwas, und das Schweigen wurde bedrückend. 82
»Drove hat Nachschub für uns rauf geholt«, erklärte Braunauge fröhlich. »Ist das nicht nett von ihm ?« Sie lächelte mir zu mit ihren Grübchen, ahnungslos und bezaubernd. Ich kam mir wie ein schmutziger Spitzel vor. Ich wich dem beunruhigten, fragenden Blick ihres Vaters aus, nur um Annlee vor mir zu sehen, sehr blaß, mit unnatürlich roten Lippen, eine braune Flasche so krampfhaft umklammernd, daß ihre Knöchel ganz weiß waren. »Ist schon gut«, murmelte ich unglücklich und verzog mich hastig. Jemand rief nach Bier, der Bann war gebrochen. Annlee wandte sich ab, und ich hörte ein lautes Klirren von Glas an Glas, das sofort abbrach, als sie einschenkte. Dickbauch lachte brüllend über irgendeinen Scherz und bediente die Bierpumpe. Braunauge ergriff eine Anzahl voller Krüge und brachte sie Gästen auf der anderen Seite des Schankraums. Als sie an einem grobschlächtigen Kerl vorbeikam, sah ich, wie er ihr einen Arm um die Hüften legte. Sie wand sich geschickt aus seinem Griff und verteilte die Krüge an eine lautstarke Tischrunde, als wäre nichts geschehen. Eine Zeitlang ließ ich den Mann nicht aus den Augen, wälzte Mordgedanken und kam mir wie ein nutzloser Schwächling vor. Mit einemmal aber wußte ich gar nicht mehr, welcher Mann es gewesen war. Sie schauten alle gleich aus, und jetzt war Braunauge wieder an der Theke und lächelte zu mir herüber. Sie dachte sich nichts bei alldem ; sie war es seit jeher so gewohnt. Zum erstenmal wurde mir bewußt, wie wenig ich sie kannte und wie sehr sich ihr Leben von dem meinen unterschied. Sehr viel mehr ist mir über jenen Abend nicht in Er83
innerung geblieben ; die Geschehnisse schienen zu einem verschwommenen Einerlei zu verschmelzen – immer wieder ging ich in den Keller, um Nachschub zu holen, immer wieder wünschte ich mir, Männer verprügeln zu können, die Braunauge in einer Art ansahen, die mir nicht gefiel, und die ganze Zeit gingen die Zecherei und das Grölen und Gelächter weiter, aber ich bemerkte es kaum mehr. Was ich bemerkte, das war die plötzliche Stille ziemlich viel später, als die Eingangstür heftig aufgestoßen wurde. Auf der Schwelle stand, mit einer Miene eisig wie Rax, mein Vater und sah sich in dem verrauchten Raum um.
6 Ich bekam Hausarrest für eine undenkbar lange Zeit, während der ich niemanden sah außer Mutter und Vater und hin und wieder einige Bewohner der benachbarten Sommerhäuser. Diese Leute waren aber leider Erwachsene, und nicht nur das, sondern schon geradezu senile Erwachsene, also durchaus keine Gesellschaft für einen Häftling meines Alters. Während meiner Gefangenschaft zeigte sich die Sonne zum erstenmal über dem Horizont, und in den Dämmerungsphasen wurde es immer heller, bis schließlich die Tage gleich lang wie die Nächte waren. Das Meer glitzerte einladend, und von der Veranda aus sah ich die Segel kleiner Boote wie weiße Federn hinaus auf den blauen Ozean treiben, und nur hie und da störte ein tuckernder Dampfer dieses Bild. Der Mittsommertag kam und verstrich, die Gezeiten wurden schwächer und verschwanden, und das 84
Wetter blieb unverändert warm und freundlich, während die Natur sich auf die Grume vorbereitete. In dieser Zeit hatte ich mehr als genug Gelegenheit, über meine Untaten nachzudenken. Noch war mir Vaters Ansprache deutlich in Erinnerung – die eisige Empörung, die darin lag, und Mutters weinerliches Klagen, als wir alle drei mit dem Motorwagen von der ›Goldenen Grummette‹ zum Haus auf den Klippen heimfuhren. »Ich hätte nie gedacht, daß ich eines Tages meinen eigenen Sohn gewaltsam aus einer ordinären Schenke zerren muß, wo er den Trinkkumpan des gemeinen Pöbels spielt.« Das etwa war der Kern seiner Predigt und von Anfang bis Ende ungerecht. Wäre er nicht wie ein Wilder in den Schankraum gestürzt, um mich so schnell und so grob wie möglich hinauszubefördern, wäre ich ganz freiwillig gegangen – ja ich war in dem Augenblick aufgestanden, als ich ihn in der Tür stehen sah. Er hatte mich einfach überrumpelt, hatte mich zu würdelos zappelnder Gegenwehr gezwungen – vor Braunauge, ihren Eltern und einem Schankraum voller Gäste. Der Vorfall bestätigte gewissermaßen alle meine bisherigen Theorien über Vater : in einer Konfliktsituation ist ihm auch das erniedrigende Mittel physischer Gewaltanwendung recht. Am nächsten Tag war mein Vater in ein sonderbares Schweigen verfallen ; es war, als hätte jemand zwischen ihm und mir eine dicke Glaswand aufgestellt. Wir sahen einander, aber ein Gespräch war offenbar unmöglich. Mir wäre das ganz recht gewesen, nur hatte sich leider meine Mutter entschlossen, den Mangel an Konversation ganz allein wettzumachen. 85
»Verstehst du, wir wußten einfach nicht, wo du warst, Drove. Man hatte euch gesehen, wie ihr mit dem Boot hinausfuhrt – entgegen alle Ratschläge, soviel ich weiß –, und als das Boot zurückkam, warst du nicht mehr darin. Wir waren zutiefst besorgt. Ich fürchtete, dein Vater würde vor Kummer den Verstand verlieren. Konntest du denn gar keine Rücksicht auf unsere Gefühle nehmen ?« flennte sie mich an. »Pallahaxi-Braunauge kam her, um euch zu sagen, wo ich war.« »Das tat sie keineswegs. Wir hörten nichts und wußten von nichts, wir wußten nicht mehr, was wir denken sollten, bis ich zu Dreba-Gwilda ging und sie mir sagte, sie hätten gerade ihren Sohn Wolff von dem Gasthaus abgeholt, und daß du auch dort wärst, mit dieser Schlampe.« »Redest du von Braunauge, Mutter ?« erkundigte ich mich kalt, aber es war noch zu früh für eine Offensive. Mutter war noch allzu gut in Fahrt. »Ich spreche von dieser Wirtshausdirne, mit der du dich immer wieder getroffen hast, obwohl dein Vater und ich dir abgeraten haben, nur zu deinem eigenen Besten.« Ihre Miene verdüsterte sich theatralisch. »O Drove, Drove, was tust du uns nur an ? Womit haben wir das verdient ? Denk doch an deinen armen Vater, wenn du schon nicht an mich denken willst. Du hast Schande über sein Haupt gebracht, du hast ihn vor allen seinen Arbeitskollegen beschämt …« In dieser Tonart ging es etliche Tage weiter, bis meiner Mutter endlich keine Variationen zu dem Thema mehr einfallen wollten, worauf sie in ein anklagendes Schweigen 86
verfiel. Ich war erleichtert und fand nun endlich Gelegenheit, mir den unglückseligen Vorfall in ruhigerer Gemütsstimmung durch den Kopf gehen zu lassen. Die Angelegenheit hatte auch ihre guten Seiten, überlegte ich mir. Zunächst einmal hatte ich Braunauge wiedergesehen, und es schien, daß sie mich mochte – ein Aspekt, an den ich kaum zu denken wagte. Es war vorstellbar, daß sie es absichtlich unterlassen hatte, meinen Eltern zu sagen, wo ich war, um mich noch ein bißchen länger um sich zu haben. An diese Erklärung klammerte ich mich hoffnungsvoll. Sie hatte natürlich nicht die Reaktion meiner Eltern voraussehen können. Ich hoffte nur, daß das schäbige Intermezzo mit meinem Vater, das sie im Schankraum mitangesehen hatte, mein Bild in ihren Augen nicht getrübt hatte. Weiters war da die faszinierende Person Silverjacks, über die es nachzudenken galt. Ich zweifelte nicht mehr daran – der Mann schmuggelte Schnaps von Asta und versorgte die ›Goldene Grummette‹, wenn nicht überhaupt alle Gasthäuser von Pallahaxi. Es war aufregend, so etwas zu wissen, und ich bedauerte nur, daß ich niemanden hatte, mit dem ich mein Wissen teilen konnte. Vater hatte in Gesprächen mit Mutter Silverjack einige Male erwähnt – anscheinend sollte der haarige Bursche von der Regierung als eine Art Lotse angestellt werden – während er direkt unter den Nasen der Parls munter mit dem Feind Handel trieb. Ich begann, einen romantischen und äußerst interessanten Helden in ihm zu sehen. Ich konnte mir also während der nur zäh verstreichenden Tage meiner Gefangenschaft auch mit einigen angenehmen Gedanken die Zeit vertreiben. Eines Tages schließlich 87
bat mich Vater beim Frühstück, ihm das Salz zu reichen, und Mutter, die offenbar auf das Stichwort gewartet hatte, legte mir frische Kleider heraus. Nachdem Vater zur Arbeit gegangen war, warf sie mir erst etliche forschende Blicke zu, bevor sie sprach. »Heute vormittag wird dich ein Freund besuchen, Drove.« »So ?« »Ich habe gestern Dreba-Gwilda getroffen, und wir haben für dich eine große Überraschung arrangiert. Ihr Sohn Wolff, dieser nette Junge, kommt dich abholen für einen gemeinsamen Ausflug. Ist das nicht fein ?« »Hol ihn der Rax. Wolff hat mich doch in diese Klemme gebracht, Mutter. Wolff ist ein Idiot.« »Unsinn, Drove ; er hat ein so gutes Benehmen. Und bitte, fluche nicht so. Ich hoffe, daß du wenigstens in Gegenwart von Wolff nicht fluchst. Also, ich muß jetzt gehen. Unterhalte dich gut, mein Lieber.« Mit einem mütterlich liebevollen Lächeln suchte sie ihre Sachen zusammen und brach zu ihrem Einkaufsbummel auf. Wolff traf am späteren Vormittag ein, salopp gekleidet und doch so elegant, wie ich es wohl nie fertigbringen würde – und auch nicht wollte. »Hallo, Alika-Drove, mein Junge«, begrüßte er mich leichthin. »Hör mal, was hast du damals bloß deinen Eltern erzählt ?« Er setzte eine schmerzlich berührte Miene auf. »Das gehört doch jetzt alles längst der Vergangenheit an, Drove. Wir wollen nicht mehr davon sprechen, ja ? Der heutige Tag stellt den Beginn eines neuen Lebensabschnittes für dich dar und ist ganz deiner Erbauung und Belehrung 88
gewidmet. Wir werden einen Angelausflug mit unserem gemeinsamen Freund Silverjack unternehmen, um demonstriert zu bekommen, wie sich das gewöhnliche Volk seinen Lebensunterhalt verdient.« Frostiges Arschloch, dachte ich bei mir. Sein schwülstig erwachsenes Gehabe hatte sich, seitdem ich ihn das letztemal gesehen hatte, offenbar noch verstärkt, doch die Aussicht auf einen Bootsausflug erschien mir verlockend. Alles, was dazu führte, daß ich aus dem Haus kam, wäre mir verlockend erschienen. »Nimmst du dein Angelzeug mit ?« fragte ich. »Ich muß meins erst zusammensuchen.« »Angelzeug wird uns zu Verfügung gestellt«, sagte er. »Ich habe dir ja gesagt, Drove, es ist für alles gesorgt. Unsere Eltern haben irgendwie mit diesem Burschen Silverjack zu tun – und überdies scheint ihnen daran gelegen zu sein, dich und mich zusammenzubringen – keine Ahnung, weshalb. Vielleicht glauben sie, wir wären passende Gefährten füreinander.« Das verzerrte, sarkastische Lächeln, mit dem er das sagte, gefiel mir wenig und verstärkte nur meine Abneigung gegenüber dem eingebildeten Laffen. Wir machten uns auf den Hügel hinunter in Richtung Hafen. Als wir an die Stelle kamen, wo die steil abfallende Straße oberhalb des äußeren Hafens vorbeiführt, blieb Wolff stehen, stützte sich auf die Schutzmauer und starrte zu den verankerten Booten hinaus. »Ich sollte dir wohl sagen, daß einige seltsame Dinge vorgefallen sind, während du aus dem Verkehr gezogen warst, Drove.« Schneetaucher kreisten weiter unten und vor uns, ließen sich vom Aufwind tragen und stießen hin und wieder mit gefalteten Schwingen senkrecht aufs Wasser hinunter, um für einige 89
Augenblicke in den leichten Kräuselwellen zu verschwinden. »Schau einmal da hinunter«, sagte er und zeigte nach unten. Ich beugte mich über die Mauer. Die Klippen fielen hier senkrecht bis zu dem kleinen Strand ab, an dem wir gelandet waren. Zahlreiche Vogelnester klebten an Felsvorsprüngen, und unten konnte ich sogar den Tümpel sehen, in dem der Eisteufel hauste ; jetzt sah das Wasser harmlos genug aus, doch es würde in dem Augenblick kristallisieren, da die Bestie glaubte, Beute in Reichweite zu haben. »Ja, und ?« fragte ich. »Ich habe über dieses Hochwasserabzugssystem einige Erkundigungen eingezogen.« »Die Kloake, wolltest du wohl sagen ?« »Nenne es doch nicht immer Kloake. Diese Abzugskanäle sind weit verzweigt und reichen fast bis unter die Außenbezirke der Stadt. Hör zu : nachts, wenn es dunkel geworden ist, fahren die Boote knapp um die drübere Landspitze, über die Bucht weg und zur Küste unterhalb eures Hauses.« Er zeigte hin. »Dann halten sie sich dicht an den Klippen bis zu diesem Strand, wo sie das Zeug ausladen. Dann wird es durch die Kanalgänge weiter verteilt.« »Du hast doch nicht immer noch diesen Unsinn mit der Schmuggelei im Kopf ?« fragte ich beunruhigt. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in der Nacht Milch durchs Kanalsystem schleppen.« »Was macht dich so frostig sicher, daß sie überhaupt etwas schleppen ?« Er warf mir einen schlauen Blick zu. Mir war bisher noch nicht aufgefallen, wie eng seine Augen beisammenstanden. »Weil ich sie gesehen habe«, sagte er. 90
»Gesehen ?« murmelte ich. Ich war bereits vor einiger Zeit zu dem Entschluß gekommen, zu keinem ein Wort von der Schmuggelaffäre zu sagen. Ich machte mir nicht um Silverjack Sorgen ; der haarige Bursche verstand es sicher recht gut, sich allein seiner Haut zu wehren. Es ging mir vielmehr um Dickbauch und Annlee – und mit ihnen natürlich um Braunauge. Ich war überzeugt, daß Braunauge nichts von dem Schmuggel wußte, sonst hätte sie mich doch nie ausgerechnet an jenem Abend in den Keller geschickt, an dem eine Lieferung erwartet wurde ; ihre Eltern dagegen waren sicherlich in die Sache verwickelt, und wenn man ihnen irgendwelche kriminellen Handlungen nachwies, würde Braunauge auf jeden Fall hineingezogen werden. »Seit mir im Keller der Grummette der erste Verdacht kam, habe ich Nachforschungen angestellt. Üblicherweise trifft jede dritte Nacht ein Boot da unten ein. Ich kann es jederzeit wiedererkennen, es hat ein gelbes Ruderhaus. Damit kommen wir zu dem Punkt, wo ich deine Hilfe brauchen werde. Am Abend der nächsten Lieferung werden wir uns bei diesem Strandtümpel verstecken und alles aus der Nähe beobachten. Wir nehmen dein Boot, um zu dem Strand zu kommen.« »Beim Frost, das werden wir nicht !« Er wandte sich ab, und wir setzten unseren Weg den Hügel hinunter fort. »Überleg es dir, Drove«, sagte er beiläufig. »Zumindest wäre es eine interessante Beschäftigung. Auf jeden Fall hätten wir mehr davon, als wenn wir die Sache an meinen Vater zur offiziellen Untersuchung weiterleiteten, meinst du nicht ? Schließlich könnte ich mich 91
ja auch geirrt haben. Nun ja, reden wir von etwas anderem, ja ? Hast du in letzter Zeit mal dieses Mädchen aus der Grummette wiedergesehen, wie war doch gleich ihr Name ?« »Hör zu, du weißt frostig genau, wie ihr Name war, und du weißt frostig genau, daß ich seit Tagen niemanden gesehen habe !« »Ach, sind wir heute wieder gereizt«, sagte er obenhin. Wir überquerten den Fischmarkt und betraten Silverjacks Werft. Er fragte in ziemlich überheblicher Art nach dem Meister, und Silverjack erschien fast augenblicklich und führte uns an den Pier. Eine kleine Dampfbarkasse lag dort neben der Helling vertäut, schon unter Dampf – vom Sicherheitsventil stieg ein kleines, weißes Wölkchen auf. Ich sah mich nach meinem eigenen Boot um und entdeckte es in einem Schuppen, offenbar unbeschädigt. »Eine Dampfbarkasse«, bemerkte ich. Für mich sind Dampfbarkassen nicht viel besser als schwimmende Motorwagen. Silverjack erriet meine Gefühle. »Ein gutes Boot«, sagte er rasch und seltsam unterwürfig. »Auf dem sind wir bei jedem Wetter sicher. Alsdann, alle Mann an Bord.« »Warten Sie einen Augenblick«, sagte Wolff. »Wir sind noch nicht komplett.« Er blickte erwartungsvoll in Richtung Straße. »Du hast nichts davon gesagt, daß sonst noch wer mitkommt«, beklagte ich mich. »Ich dachte, es sollte ein Angelausflug nur für uns drei werden. Auf dem Boot haben doch kaum mehr Leute Platz.« »Ah, da sind sie schon«, sagte Wolff. 92
Ein schick gekleidetes junges Mädchen kam auf uns zu, vorsichtig über die diversen Abfälle hinwegtänzelnd, die Werftboden und Pier bedeckten. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand, der nicht weniger fesch ausstaffiert war. Im ersten Augenblick erkannte ich sie gar nicht, aber als sie näher kamen, sah ich, daß Pallahaxi-Ribbon und ihr kleiner Bruder Squint hinter dieser albernen Aufmachung steckten. »Wolff !« flüsterte ich wütend. »Was zum Rax tut die hier ? Ich kann sie nicht ausstehen. Bist du verrückt geworden, oder was ?« »Hallo, meine Liebe«, sagte Wolff ölig, und ohne mich zu beachten nahm er Ribbons Hand und half ihr an Bord. Squint folgte, eine fürchterliche Grimasse schneidend, und Silverjack legte endlich ab. Die Maschine setzte sich mit einem Seufzer in Bewegung, und wir begannen, zwischen den vertäuten Booten hinauszugleiten. Es waren jetzt schon merklich weniger als das letzte Mal, als ich den Hafen gesehen hatte. Etliche der tieferen Boote wurden bereits an Land aufgebockt, denn bald würde die Grume anbrechen. Silverjack zeigte sich in Höchstform während des ersten Teils unserer Fahrt : er saß am Steuer, paffte eine uralte Pfeife und gab Seemannsgeschichten zum besten, die sich im wesentlichen kaum von jenen unterschieden, die uns Greifer, der Lastwagenfahrer, erzählt hatte, außer, daß jetzt die Ereignisse auf dem Wasser stattgefunden hatten und nicht auf dem Land, und daß sie mit Stürmen und Mahlströmen gewürzt waren statt mit Erdbeben und Überschwemmungen. Seine Zuhörerschaft hatte sich allerdings in zwei Lager gespalten. Wolff und Ribbon saßen auf der 93
einen Seite und schenkten unserem Schwadroneur nur wenig Aufmerksamkeit, ließen ihre Fischleinen treiben und murmelten einander Unverständliches zu, während Squint und ich auf der Bank gegenüber eine nicht gerade herzliche Nachbarschaft pflegten. Squint hörte Silverjack mit offenem Mund und voller Leichtgläubigkeit zu, und ich grübelte stumm über Wolffs Gemeinheit nach. Nicht, daß ich je eine besonders hohe Meinung von ihm gehabt hätte ; ich hatte nur nicht erwartet, daß er sich zu solcher Schlechtigkeit erniedrigen würde. »Nun schau dir einmal unseren Himmel an, mein Junge.« Silverjack wandte sich an Squint, seinen einzigen noch aufmerksamen Zuhörer. »Wenn du die Sonne Phu da oben scheinen siehst, kannst du dir nie vorstellen, wie sie jetzt im Süden ist. Ich war dort, ich kann’s dir sagen : gewaltige, kochende Wolkenmassen und Nebel, und das Meerwasser so zäh, daß man fast darauf gehen kann. Die Verdunstung, weißt du. Und wenn man sich in seichtes Wasser wagt, also, da gibt’s Eisteufel, die ein ganzes Schiff packen und ein halbes Jahr nicht mehr loslassen, erst, wenn der Regen kommt. Vor Jahren, als ich jünger war, bin ich der Grume gefolgt. Wir warteten im Südlichen Ozean, während die Sonne so nahe stand, daß sie uns die Toppen verkohlte, und das Wasser rund um uns in dichten Dampfwolken aufsteigen ließ, so daß man überhaupt nur an einer Stelle des Ozeans noch durch die Wolken sehen konnte, direkt am Pol nämlich. Und so warteten wir, starben beinah vor Hitze und Feuchtigkeit, und die Wolken bildeten einen riesigen Wirbel über uns, während die Sonne sich bereits nach Norden wandte. Und wenn wir dann gar nichts mehr 94
sehen konnten, dann begann das Wasser uns mit sich zu ziehen, und wir folgten wie der Karren dem Lox, folgten der Strömung nach Norden, fuhren mit der Grume …« Squint mampfte Winternüsse, die Augen weit aufgerissen. »Wie steht es mit Schmuggelei ?« warf Wolff unvermittelt ein. »Sind Sie auf Ihren Fahrten auch Schmugglern begegnet, Silverjack ?« In unserem ansonsten schnurgeraden Kielwasser machte sich ein kleiner Knick bemerkbar, und ich fragte mich, ob Wolff ihn auch gesehen hatte. Er konnte doch keinesfalls von Silverjacks Verbindung zur ›Goldenen Grummette‹ wissen. »Schmuggel ?« Ich bemerkte Unruhe in den kleinen Augen unter den pelzigen Brauen. »Schmuggel ? Ja, ich habe viel von Schmugglern erzählen gehört.« »Wer hätte das nicht ?« zwitscherte Ribbon. Ich musterte sie verdrießlich. Es war schwer, sie sich jetzt so vorzustellen, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, verdreckt und zerzaust durch einen Kanal kriechend. Sie saß neben Wolff, sah ihn aber nur gelegentlich an, sie sah genaugenommen kaum einmal jemanden an und war es scheint’s zufrieden, das Meer zu betrachten und von Zeit zu Zeit geheimnisvoll vor sich hin zu lächeln über irgendeinen ganz persönlichen und sicher sehr gescheiten Gedanken. Mir war sie lieber so, wie sie damals gewesen war : zwar widerlich hochfahrend, aber zumindest echt. Wir hatten die Fingerspitze umrundet, und die düsteren, schwarzen Klippen gingen in das flachere Land um die Flußmündung über, an der die neue Konservenfabrik lag. Die Wellen waren hier höher, und die Barkasse stampfte 95
ziemlich, als wir weitertuckerten. Wir hatten zwei Angelleinen ausgelegt, aber noch nichts gefangen. »Also ?« sagte Wolff in das Schweigen hinein. Silverjack begann eine lange und komplizierte Geschichte vom Stapel zu lassen, deren Moral darauf hinauslief, daß Schmuggeln sich nicht auszahlte – am wenigsten in Kriegszeiten. Als er damit zu Ende kam – mit einer haarigen Pranke andeutend, wie die Übeltäter am Galgen baumelten –, bebte seine Stimme gefühlvoll, was seiner Geschichte irgendwie den Anstrich einer reumütigen Beichte verlieh. Er endete damit, daß sein hypothetisches Eheweib in ihr Taschentuch schluchzte, während die Lorin den ziemlich autobiographischen Helden auf den Begräbnisplatz karrten. Immer wieder glitt sein Blick zu mir herüber, als wollte er sich vergewissern, daß seine Vorstellung auch gebührend Eindruck machte. Mir wurde heiß und ziemlich ungemütlich, als ich mich fragte, wieviel er wußte, daß ich wußte – und ob er wußte, daß ich niemandem etwas sagen würde. Endlich stand er auf und entschuldigte sich, er brauchte eine kleine Ruhepause, ich sollte das Steuer übernehmen. Er tappte die Stufen zu der winzigen Kabine hinunter und schloß die Luke hinter sich. Wir vier schauten einander unsicher an. Wir hatten offenbar unseren Kapitän aus der Ruhe gebracht, ihn irgendwie verärgert. Nach einer Weile gerieten wir an einen Fischschwarm, und für einige Zeit ging es an Bord drunter und drüber, während die drei anderen die Leinen einholten, die zappelnden Fische von den Haken lösten und die Leinen erneut auswarfen, worauf sich das ganze binnen wenigen Augenblicken wiederholte. Ich stellte fest, daß Ribbon in 96
der Aufregung ihre Pose vergaß und genauso eifrig wie Wolff und Squint mitmachte, die Hände blutig und voller schleimiger Schuppen. Mir fiel es schwer, mich aufs Steuern zu konzentrieren, und es ärgerte mich ein wenig, daß die anderen den ganzen Spaß alleine haben sollten. Eine kleine Dampfjolle lag genau auf unserem Kurs, Besatzung war keine zu sehen, und ich glaubte zuerst, sie triebe herrenlos dahin. Als wir näher kamen, sah ich jedoch eine Angelrute über das Dollbord ragen. Wir waren der Flußmündung schon ziemlich nahe, und damit der neuen Konservenfabrik. Obwohl die Klippen hier nicht so hoch und steil waren wie an der Fingerspitze, gab es doch eine ziemlich starke Brandung infolge der großen Felsbrocken am Ufer. Wieder kam mir vor, die Dampfjolle triebe in diese Richtung ab, und ich nahm an, der Insasse sei eingeschlafen. Ich ließ also die Dampfpfeife einige kurze, schrille Pfiffe ausstoßen. Ribbon blickte von dem Fisch auf, den sie gerade vom Haken zerrte : »Mußt du dich wirklich benehmen wie ein kleines Kind ?« Wortlos zeigte ich auf das Boot, das jetzt nur mehr etwa zwanzig Schritt entfernt war. Keiner dachte mehr ans Fischen, alle standen an der Reling und beobachteten das treibende Boot. Ich ging mit der Fahrt zurück, und schließlich konnten wir einen Mann erkennen, der auf dem Rücken am Bootsboden lag, den Kopf in die Hände gelegt. »Er hatte einen Herzanfall«, riet Squint altklug. »Er hat geangelt, und plötzlich hat er einen ganz dicken Fisch erwischt, und die Aufregung wurde zuviel für ihn, also ist er tot zusammengebrochen.« 97
»Halt die Klappe, Squint«, befahl Ribbon. »Mach dich lieber nützlich und hol Silverjack rauf.« »Geh doch längsseits«, sagte Wolff, eben als ich längsseits ging. Squint kletterte wieder an Deck, ein wenig verstört und mit gerötetem Gesicht. »Ich bekomme Silverjack nicht wach«, meldete er. »Und er riecht so komisch.« Es war schon eine seltsame Sache, wie wir da so unvermutet die ganze Verantwortung übernehmen mußten. Einen Augenblick zuvor hatten wir noch unbeschwert gefischt, und jetzt hatten wir ohne Vorwarnung vielleicht zwei Leichen am Hals. Ich weiß noch, wie meine durchgehende Fantasie mir vorgaukelte, es müsse Verwesungsgeruch sein, was Squint in der Kajüte bemerkt hatte. Das Manometer am Druckkessel sank zusehends, und ich wußte nicht recht, was ich dagegen unternehmen sollte. Das kleinere Boot scheuerte sich an unserm Rumpf, und Wolff und Ribbon blickten mich ratsuchend an – sie hatten sich just diesen Augenblick ausgesucht, mir die Führungsrolle zu überlassen. Das Meer war ziemlich bewegt, und die Klippen wirkten bedrohlich nahe. Der Wind frischte auf und ließ das Boot rollen. »Mir wird schlecht«, sagte Squint. »Ribbon«, sagte ich entschlossen, »du gehst und versuchst, Silverjack wachzubekommen. Squint, verfüg dich an die Leeseite zum Kotzen. Wolff, nimm dir den Bootshaken und stoß den Mann mal damit an.« Als sie alle sprangen, um meine Anweisungen zu befolgen, wurden mir die Vorteile einer verantwortlichen Position klar. Wenn der Kommandierende erst seine Befehle erteilt hat, braucht er gar 98
nichts mehr zu tun und kann sich entspannen. Ich setzte mich hin und ließ die Ereignisse ihren Lauf nehmen. Squint beugte sich über die Reling und kotzte. Ribbon warf ihm einen flüchtigen Blick zu, dann starrte sie mich streitlustig an. »Geh Silverjack wecken. Diese Kajüte ist nichts für ein weibliches Wesen.« Inzwischen hatte Wolff den Bootshaken ergriffen und stieß dem Fremden im Boot das spitze Ende gegen die Rippen, etwas kräftiger als beabsichtigt, weil er durch eine plötzliche Schlingerbewegung der Barkasse fast das Gleichgewicht verloren hatte. Jegliche Zweifel, die wir über den Gesundheitszustand des Fremden gehegt haben mochten, wurden momentan zerstreut, als er wie der Blitz aufsprang, sich die wunde Seite hielt und mit einer Schimpftirade loslegte, die ebenso plötzlich abbrach, wie sie begonnen hatte. Plötzlich schwiegen alle und starrten einander an, während die beiden Boote bei jeder Welle aneinanderstießen. Wir sahen zu, wie der Fremde seine Angelrute ergriff und hastig die Leine aufspulte ; er hatte seltsam breite, spatelförmige Finger. Mit schnellen, sparsamen Bewegungen überprüfte er Druckanzeiger und Ventile, setzte sich ans Steuer und drückte den Beschleunigungshebel vorwärts. Er schaute sich nicht mehr nach uns um. Der kleine Dampfmotor tuckerte eifrig, und am Heck begann das Wasser aufzuschäumen. Das Dampfboot kam rasch in Fahrt, zog eine weite Kurve und nahm Kurs auf die Flußmündung. Wir schauten einander an, und ich wußte, daß wir alle ein bißchen Angst hatten. Eine Weile sagte keiner etwas, dann endlich gab Wolff unser aller Gedanken Ausdruck, 99
als er beinahe nachdenklich sagte : »Sonderbar, daß der Mann die astanische Mundart sprach.« Squint drückte es deutlicher aus. »Der war ein Spion«, stellte er entschieden fest. »Ein dreckiger astanischer Spion.«
7 »Ihm nach !« drängte Squint in jugendlicher Begeisterung, während ich unentschlossen am Beschleunigungshebel herumfingerte. »Worauf wartest du noch ?« fragte Wolff. Das Boot entfernte sich rasch und war ganz offensichtlich schneller als Silverjacks Barkasse. Natürlich war es in gewisser Weise verlockend, sofort die Verfolgung aufzunehmen, aber mir erschien eine solche Handlungsweise ziemlich kurzsichtig. Man verfolgt nicht jemanden, wenn man nicht die Absicht hat, ihn zu fangen – und der Gedanke, einen astanischen Spion zu fangen, der vermutlich bewaffnet und sicher zu allem fähig war, gefiel mir nicht sonderlich. »Lassen wir ihn laufen«, sagte ich. »Wir können ihn später melden.« »Ihn laufenlassen ?« meinte Wolff ungläubig. »Was bist du nur für ein Patriot, Alika-Drove ? Wir können die Sache zumindest untersuchen. Hol den Mann ein und schau, was er sagt, wenn wir ihn stellen. Wenn er in Ordnung ist, ist jedenfalls nichts verloren.« »Was das Stellen angeht, warum hast du das nicht eben getan ?« »Die Situation war etwas peinlich, Alika-Drove. Man 100
kann nicht einem Mann mit heiklen Fragen kommen, wenn man ihn gerade in die Rippen gepiekst hat. Außerdem waren wir alle zu sehr überrascht. Wer erwartet denn, in diesen Gewässern auf einen astanischen Spion zu stoßen ?« »Schnell, schnell !« kreischte Squint, hüpfte herum und brachte das Boot zum Schlingern. »Der Frostler entkommt uns !« »Geh mal und schau, was Silverjack zu der Sache sagt, Wolff«, schlug ich verzweifelt vor. Er verschwand in der Kajüte, und Squint setzte seinen verrückten Tanz fort. Ribbon musterte mich forschend. Ich wußte, gleich würde sie sagen, daß ich Angst hätte, also machte ich mich daran, getrocknete Rindenstücke und kleine Holzstücke in den winzigen Heizkessel zu stopfen. Das Feuer war fast heruntergebrannt, was den Druckabfall erklärte. Wolff stand vor mir. »Silverjack ist betrunken«, sagte er. Es schien ihn gar nicht sehr zu berühren. »Er ist nicht in der Verfassung, irgendwelche Entscheidungen zu treffen.« Ich richtete mich auf und schaute mich um. Das einzige Boot in Sichtweite war das des fliehenden Spions. Um Mittsommer ist auf dem Meer meist nicht viel los ; die Boote mit mehr Tiefgang werden an Land geholt, und für Gleiter ist das Wasser noch nicht geeignet. »Dann müssen wir also das Boot nach Pallahaxi zurückbringen«, sagte ich. »Seit wann bist du der Kapitän, Alika-Drove ?« »Wenn ihr euch entsinnt, hat Silverjack mir das Steuer übergeben, bevor er hinunterging.« »Ihr verschwendet Zeit ! Er entkommt uns !« Squint war ganz aus dem Häuschen. 101
»Also dann«, wandte sich Wolff an Ribbon und Squint, »wer ist dafür, daß wir den Spion verfolgen ?« »Ich ! Ich !« schrie Squint. Ribbon nickte hoheitsvoll. »Wir sind also in der Überzahl«, stellte Wolff befriedigt fest. »Mach Platz, Alika-Drove. Ich löse dich ab.« »Das ist Meuterei !« Er packte mich am Arm und zerrte meine Hand vom Gashebel weg, dem Symbol meiner Autorität. Ich wehrte mich der Form halber, aber mir war nur zu klar, daß sie alle gegen mich waren. Schließlich zuckte ich die Achseln, kletterte aus dem Cockpit, drückte mich an der Kajüte vorbei und setzte mich aufs Vordeck, wo ich voller Erbitterung zum Ufer hinüberstarrte. Ich war froh, daß das Kajüthaus mich der Sicht meiner Widersacher entzog – ich konnte sie allesamt nicht ausstehen, Wolff mit seiner Überheblichkeit, Ribbon mit ihrem eingebildeten, herrischen Wesen. Rax, dachte ich, die beiden verdienen einander. Das Deck vibrierte unter mir, als Wolff die Maschine auf volle Touren brachte. Ich schaute nach vorne : die Dampfjolle passierte eben die Flußmündung zwischen den beiden Landzungen. Sie schien die Geschwindigkeit gedrosselt zu haben. Ich hörte Squint aufgeregt schnattern. Der Spion floh ins Landesinnere, und ich fragte mich, wohin er eigentlich wollte. Aus welchen Gründen auch immer er sich in ertonischen Gewässern befand, er mußte hier irgendeinen Schlupfwinkel haben – in dieser kleinen Jolle konnte er nicht übers offene Meer gekommen sein. Es mußte also in unserer Gegend Verräter geben. Sehr bald kam unser Jagdwild zwischen den an der Mündung verankerten Fischerbooten außer Sicht. Ich fragte 102
mich, wie die Konservenfabrik beliefert werden sollte, wenn die Grume kam : die Mündung würde, wenn der Wasserstand zurückging, nur mehr für die kleinsten Gleiter passierbar sein. Auf den Landspitzen beiderseits der Bucht standen klotzige, massive Gebäude. Noch glaubte ich, es seien einfach Aussichtswarten, um einem Überraschungsangriff gegen die Fabrik vorzubeugen. Plötzlich stiegen von den beiden Gebäuden dicke Rauchwolken auf, und einen Augenblick später wurde das Stampfen schwerer Maschinen über das Wasser herüber vernehmbar, trotz des angestrengten Keuchens unserer kleinen Maschine. Wir hatten jetzt fast die Mündung erreicht ; auf den Landspitzen standen Leute und gestikulierten aufgeregt zu uns herunter. Sie wollten offenbar, daß wir stoppten. Ich sprang auf und turnte nach achtern ; ich hatte nicht viel Vertrauen zu dem neuen Steuermann. Als ich ins Cockpit sprang, sah ich mich von totaler Anarchie konfrontiert. Squint, das kleine Gesicht verzerrt vor eiserner Entschlossenheit, umklammerte den auf volle Kraft gestellten Beschleunigungshebel, während Wolff verzweifelt versuchte, gleichzeitig seine Hand wegzureißen und zu steuern. Ribbon schrie ihren Bruder aus Leibeskräften an, aber das verstärkte nur die Entschlossenheit des Jungen, um jeden Preis das Boot vorwärtszujagen. »Ich sag dir, die wollen, daß wir stoppen, Squint ! Laß los, zum Frost mit dir ! Wir laufen auf die Felsen auf !« Sollten sie doch sehen, wie sie zurechtkamen. Wenn sie das Boot zum Wrack fahren wollten, war das ihre Sache, nicht meine. Ich wollte mich schon wieder auf meinen Platz verziehen, als ich sah, wie sich Squints Augen in 103
plötzlichem Entsetzen weiteten. Mit offenem Mund riß er den Hebel zurück. Wir verloren sofort Fahrt, und ich schaute mich um, was los war. Vor uns stieg etwas aus dem Wasser, etwas Riesiges, Schwarzes, Tangbehängtes. Im ersten Schrecken fielen mir nur Silverjacks Schauermärchen über unheimliche Gewässer ein und die fantastischen Wesen, die darin hausten. Vor uns stieg Ragina aus den Tiefen, Königin der Eisteufel und mythische Geliebte von Rax, dem toten Planeten. Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, daß sich ein so majestätisches Ungeheuer um vier junge Leute in einem Boot kümmern sollte. Das Ding vor uns wurde zu einem schwankenden Tentakel, das uns den Weg versperrte. Das Boot schlingerte wild, als Wolff das Steuer herumwarf. Wie wir, aus dem Gleichgewicht gerissen, herumstolperten, brach der Bann. Wir fuhren an einem dicken, rostigen Kabel entlang, von dem einzelne Ketten ins Wasser herunterbaumelten, und das an den Gebäuden beiderseits der Mündung verankert war – ganz offensichtlich eine Vorrichtung, um die Bucht und damit die Konservenfabrik vor etwaigen Angreifern zu schützen. Das andere Boot aber hatte man doch passieren lassen … Die Rauchwolken stammten von Dampfwinden, die bei Annäherung eines fremden Bootes die Sperre vom Grund des Wassers an die Oberfläche zogen. »Da kommt wer«, sagte Squint unruhig. Eine schnelle Barkasse löste sich vom Pier unterhalb des einen Gebäudes und schoß auf uns zu. Als Wolff das Boot hastig wendete und aufs offene Meer hinaushielt, bemerkte ich eine Gruppe Männer auf dem Vorderdeck der Barkasse, 104
die sich mit einem großen, komplizierten Apparat beschäftigten. Plötzlich hüllte sie eine weiße Wolke ein, und ich hörte ein sonderbares Geräusch, einen zischenden, dumpfen Knall. Ein paar Schritt vor unserem Bug schoß das Wasser in einer Fontäne hoch. »Eine Dampfkanone«, knurrte Wolff erschrocken. »Rax. Wir müssen stoppen.« Er drosselte die Maschine, und wir schaukelten sanft auf den Wellen, während das Kanonenboot rasch näher kam. Wolff hatte jetzt ein ziemlich rotes Gesicht, seine Furcht war in Empörung umgeschlagen. »Welches Recht haben die, auf uns zu schießen ? Das möchte ich doch wissen ! Wir sind in Erto ! Haben sie den Verstand verloren ? Ich werde das meinem Vater berichten !« »Das tu mal, Wolff«, meinte ich sarkastisch. »Mittlerweile kannst du uns da herausreden. Du weißt so gut wie ich, daß die Konservenfabrik Sperrgebiet ist. Dieses Kanonenboot hält uns für Astaner !« Er warf mir einen giftigen Blick zu, der einem freundlichen Lächeln wich, als die Barkasse längsseits ging. Ich stellte fest, daß Squint, Ribbon und ich uns ganz automatisch weiter nach vorne verdrückten, so daß Wolff allein beim Steuer zurückblieb und damit als der Verantwortliche dastand. »Ist ja nur ein Haufen Kinder«, hörte ich jemanden rufen, dann schaukelte das Boot ein wenig, als der Mann an Bord sprang. Er trug die dunkelblaue Uniform der ertonischen Marine und baute sich herrisch vor uns auf. »So«, sagte er. »Wem gehört dieses Boot ?« »Es gehört Pallahaxi-Silverjack«, antwortete Wolff eilfertig. »Er liegt betrunken in der Kajüte, so daß wir das Steuer übernehmen mußten. Wir wollten Sie um Hilfe bitten.« 106
Es gab ein kurzes Gedränge an der Kajütluke, als der Seeoffizier uns kurzerhand beiseite schob und hinunterkletterte, um Wolffs Geschichte zu überprüfen. Squint starrte Wolff vorwurfsvoll an. »Was ist mit dem Spion ? Du hast ihm nichts von dem Spion gesagt !« flüsterte er heftig. »Halt die Klappe !« zischte Wolff zurück. »Wir können jetzt nicht wieder was anderes erzählen, und es ist so am besten. Die Sache mit dem Spion würden sie uns nie glauben, aber daß Silverjack betrunken ist, das können sie nachprüfen.« Der Mann kam wieder herauf und wischte sich die Hände sorgfältig an einem Tuch ab. »Ja«, sagte er. »Seid ihr euch klar darüber, daß die Mündungsbucht Sperrgebiet ist ? Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als Kindermädchen für ein paar blöde Halbstarke zu spielen. Wißt ihr, daß ihr hättet getötet werden können – so mit voller Fahrt in unsere Feuerzone hineinzurauschen ! Und wenn ihr gegen die Sperre geprallt wärt ?« »Ja, nur, wir haben gedacht, es ist nicht so schlimm«, stotterte Wolff, gänzlich demoralisiert durch das hochfahrende Auftreten des Offiziers. Was mich anging, so war ich nicht demoralisiert. Ich war wütend. Der Mann war genau der Typ von überheblichem Frostler, dem ich in letzter Zeit allzuoft begegnete, der Typ, der – wie Wolff selber – der Ansicht ist, alle außer ihm seien Idioten. Er war ohne Erlaubnis an Bord gekommen, und jetzt fühlte er sich bemüßigt, uns eine Predigt zu halten. Durch einen roten Nebel des Zorns wurde mir bewußt, daß ich sprach. »Wir wären nicht getötet worden, weil Ihr Kapitän ver107
nünftig genug ist, selbst wenn Sie’s nicht sind, ein Boot nicht ohne nähere Überprüfung zu versenken. Das gleiche gilt für etwaige Kanonen an der Einfahrt. Außerdem bin ich überzeugt, daß die Winden gestartet werden, sobald irgendein Fahrzeug in Sicht kommt, so daß jeder Trottel Zeit genug hat, der Sperre auszuweichen. Und wenn Sie anderer Ansicht sind, so haben Sie den Beweis für das, was ich sage, direkt vor Ihrer frostigen Nase. Wir leben noch. Wir waren überhaupt nicht in Gefahr.« Der Offizier musterte mich kalt – ein großer, selbstbewußter, einschüchternder Mann : aber plötzlich wußte ich, daß auch das nur eine Pose war, daß der Mann im Grunde erledigt war, daß ihm außer seinem Alter und seiner Uniform nichts mehr geblieben war. Darunter steckte nichts weiter als ein Angehöriger einer intelligenten Lebensform wie ich, nur einer, der dem Leben unterlegen war und es nicht einmal wußte. Wolff mußte natürlich versuchen, im Strom meines wachsenden Selbstbewußtseins mitzuschwimmen. »Und ich finde, daß Sie wissen sollten, daß der Vater meines Freundes eine sehr wichtige Position in der Konservenfabrik innehat. Sein Name ist Alika-Burt.« Zum Frost mit dir, Wolff, dachte ich. Verstehst du nicht, daß ich meinen Vater nicht brauche ? Daß ich meinen Vater nicht will ? »Stimmt das ?« Der Mann schaute mich immer noch streng an. Ich glaube, im Leben von uns allen gibt es einen Punkt, da unser Charakter sich kristallisiert wie ein Eisteufel – der Augenblick, in dem jemand, nach all den Schwankungen, 108
äußeren Einflüssen, nach Unsicherheit und kindlicher Verantwortungslosigkeit endlich entscheidet : das ist der Weg, den ich einschlage. Ich habe das alles durchgemacht, ich habe mir die Ansichten meiner Eltern und Lehrer angehört, und wenn ich auch zugeben muß, daß mir an reinem Sachwissen noch eine Menge fehlt, weiß ich doch, daß mein Charakter jetzt so weit geprägt ist, daß neue Erfahrungen mein Wesen nicht mehr ändern werden. Sie werden mein Wissen vermehren, aber meine Weltanschauung werden sie nicht mehr verändern, und auch nicht das Bild von der Rolle, die ich in dieser Welt spiele. Zumindest besitze ich jetzt genug Menschenkenntnis, um zu wissen, wann ich im Recht bin. Ich leugnete also nicht ab, daß mein Vater in der Fabrik Einfluß besaß, denn das wäre eine kindische Trotzreaktion gewesen, ein Nichteingestehen der Tatsache, daß man sich im Leben aller Waffen bedienen muß, die man besitzt. Vor mir stand ein hochgewachsener Mann in Uniform, das Symbol der Erwachsenenautorität – und ihn mußte ich unterkriegen. Dann erst würde ich endlich die bedrückende Bürde losgeworden sein, die die Entfaltung meiner Persönlichkeit von der Wiege an behindert hatte. »Es stimmt. Mein Vater ist Alika-Burt. Ich bin AlikaDrove. Und wenn Sie jetzt endlich Ihren Hintern in Bewegung setzten, könnten wir unsere Fahrt fortsetzen. Ich kann mit diesem Boot recht gut alleine fertig werden.« Er zuckte die Achseln, und in seinen Augen lag ein seltsamer Ausdruck, als er murmelte : »Das glaube ich. Dann also gute Fahrt.« Er schwang sich hinüber auf das Kanonenboot, das abdrehte und davonschoß. Die Konfrontation 109
war so schnell vorbeigegangen, daß es mir beinahe vorkam, es wäre gar nichts gewesen – aber nur beinahe. Ich ging ans Heck, wo Wolff bereitwillig zur Seite trat und mir das Ruder überließ. Er warf mir einen respektvollen Blick zu. Ich wußte, diese Verfassung würde nicht von Dauer sein, aber im Moment hatte er Respekt vor mir. »Das war eine eindrucksvolle Vorstellung, Alika-Drove«, sagte er leise. Auf der Fahrt zurück zum Hafen debattierten wir über unseren Spion. Squint plädierte für eine mitternächtliche Expedition in die Umgebung der Konservenfabrik, wo wir nach dem geheimnisvollen Fremden suchen sollten. Ribbon wies ihn auf den schwachen Punkt seines Plans hin : um Mitternacht würde der Spion höchstwahrscheinlich im Bett liegen und schlafen, somit also kaum aufspürbar sein. Wolff hatte einen besseren Vorschlag zu machen. »Warum erkundigst du dich nicht bei deinem Vater, Drove, ob irgendwelche Männer in der Fabrik mit astanischem Akzent sprechen ?« Das war eine Lösung, die mir zusagte – zum Teil deshalb, weil sie mir Gelegenheit gab, meine eben erst entdeckte Reife zu demonstrieren. Ich würde ganz einfach um eine Erklärung bitten, von Mann zu Mann sozusagen. Vielleicht würde ich meinen Vater sogar vorwurfsvoll darauf hinweisen, daß er mich mit einem Trunkenbold hatte ausfahren lassen. Nachdem ich uns sachkundig durch den Hafen von Pallahaxi gelotst und das Boot am Pier vertäut hatte, kamen wir überein, daß wir uns am nächsten Morgen wieder treffen würden. Es war mittlerweile später Nachmittag, und 110
das Tageslicht verblaßte zusehends, als Wolff, Squint und Ribbon sich verabschiedeten und ich noch kurz in die Werft hineinschaute. Ich wollte mich überzeugen, daß mein Gleiter in Ordnung war ; ich hatte ja etliche Tage keine Gelegenheit gehabt, nach ihm zu sehen. Während ich den Rumpf genau untersuchte und mich über ein paar Kratzer im Lack ärgerte, kam Silverjack herangetrottet, sich mit den haarigen Fäusten die rotgeränderten Augen reibend. »Ihr hättet mich wecken sollen, Junge«, sagte er. »Wann sind wir zurückgekommen ?« »Ist noch nicht lange her.« »Ich hab’ geschlafen.« »Sie waren betrunken.« »Hör mal, mein Junge.« Er musterte mich beunruhigt. »Es wäre doch gar nicht nett, solche Geschichten zu verbreiten, oder ?« »Vergessen Sie’s.« Ich wollte gehen, aber er hielt mich beim Arm fest. »Du wirst deinem Vater nichts sagen, he, Junge ?« »Ich wüßte nicht, weshalb ich nichts sagen sollte. Ich sollte ihm vermutlich auch sagen, daß ich sah, wie Sie geschmuggeltes Destillat in die ›Goldene Grummette‹ schafften.« Im gleichen Atemzug bedauerte ich, das gesagt zu haben. »Komm mit in mein Büro, Drove, ja ?« sagte er ruhig, ließ meinen Arm los und trat zurück, damit ich mich selbst entscheiden konnte. Ich folgte ihm. »Setz dich«, sagte er, ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und zündete sich einen abscheulichen Glimmstengel an. »Wir beide müssen einmal miteinander reden.« 111
»Ich wüßte nicht, was es zu bereden gibt.« Er schaute mich ruhig an ; er schien sich wieder ziemlich in der Gewalt zu haben. »Nun ja«, sagte er, »dann habe ich einiges zu sagen. Zunächst möchte ich, daß du dich hier einmal eingehend umsiehst. Ein nettes, gutgehendes kleines Unternehmen, würdest du sagen ?« »Ich glaube, daß Sie jedenfalls recht gut dran sind.« »Also, das bin ich nicht. Der Laden hier verliert seit Jahren Geld. Und dann erließ die Regierung letztes Jahr diese neuen Fischereibestimmungen, um die Zahl der kleinen Boote in Grenzen zu halten, auch um den Schmuggel in Grenzen zu halten, glaub’ ich. Ich hab’ hier nicht die Einrichtungen, um große Fischerboote zu bauen, also muß ich mir meinen Lebensunterhalt damit verdienen, daß ich einige kleine Vergnügungsboote wie deinen Gleiter baue und Reparaturen ausführe. Verstehst du ?« »Bis jetzt ja.« »Also muß ich ein bißchen Geld nebenbei verdienen mit einigen … äh … Lieferungen, nur um mich über Wasser zu halten. Die Zeiten sind hart, jetzt im Krieg – und ich kenne eine Menge astanischer Seeleute, noch aus Friedenszeiten. Ich habe also die nötigen Kontakte drüben. Wir bringen ein paar Sachen herein, die man hier braucht, und nehmen mit hinaus, was man drüben braucht, und alle sind zufrieden. Außerdem werde ich auf jeden Fall nun aus dem Geschäft aussteigen, weil dein Vater mir eine gutbezahlte Arbeit angeboten hat. Wenn du mit Schauergeschichten hausieren gehst, könnte er seinen Entschluß noch ändern.« »Ich weiß nicht, ob Vater einen Verräter anstellen sollte.« 112
Unvermittelt stand er auf. Er wirkte nicht irgendwie bedrohlich, nur müde und verbittert. »Dein Vater ist ein Parl, deshalb mußt du vermutlich auch so denken. Aber hör jetzt einmal zu, mein Junge. Hier in Pallahaxi wüßten wir nicht einmal, daß Krieg ist, wäre da nicht die Regierung mit ihren Rationierungen und ihren frostigen Beschränkungen und ihren lausigen kleinen Geheimnissen. Wir treiben noch immer Handel mit Asta, jawohl – nur müssen wir’s jetzt im geheimen tun. Wir liefern noch immer genausoviel Fisch und Getreide wie immer, nur sagt das Parlament uns jetzt, daß wir es nicht verbrauchen dürfen, und nimmt uns unsere Produkte weg. Die Städte im Landesinneren hungern, heißt es. Aber wie sind sie dann vor dem Krieg durchgekommen, das möchte ich wissen ? Mir kommt vor, dieser Krieg ist der Krieg des Parlaments, nicht unserer. Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen und die Astaner selber bekämpfen, das weiß ich nicht !« Seine Stimme war immer lauter geworden, und ich starrte ihn verblüfft an. »Gut, daß nicht alle so denken wie Sie«, sagte ich, eine Lieblingswendung meines Vaters ausborgend. Er packte mich heftig an den Schultern. »Aber es denken alle so, Drove, mein Junge«, flüsterte er. »Jeder tut’s. Du wirst noch feststellen, daß das Parlament hier in Pallahaxi keine Freunde hat.« In ernste Gedanken versunken, wanderte ich langsam zu unserem Haus zurück. Ich fühlte mich seltsam beschwingt, und es dauerte eine Weile, bevor ich wußte, weshalb ; als ich aber auf den Steinstufen, die auf die Klippen hinaufführten, 113
stehenblieb und über den Hafen mit seinen vielen verankerten Booten blickte, hinüber zu den Häusern, die auf der anderen Seite der Bucht den Hang emporkletterten, unter ihnen die alte Konservenfabrik, über die ganze Stadt mit den vielen Leuten, die arbeiteten und sich vergnügten und auch einfach so am Pier saßen, da wußte ich es. Ich liebte Pallahaxi mit allem, was dazugehörte : den Booten, dem Leben, der Atmosphäre. Und wenn Pallahaxi gegen das Parlament war und die Gesetze und Bestimmungen und die Ordnung, die es repräsentierte, ablehnte, dann lehnte auch ich das alles ab. Das wachsende Verständnis meiner selbst als Individuum ließ mich begreifen, daß ich offenbar nach einer Sache gesucht hatte, mit der ich mich identifizieren konnte, für die ich mich einsetzen konnte. Ich hatte wohl endlich erkannt, daß keiner für sich durchs Leben gehen kann, daß man sich einen Lebenszweck suchen muß. Jetzt hatte ich ihn gefunden. Pallahaxi. Als ich weiter die Stufen hinaufstieg, überholte ich eine alte Frau. Sie wirkte hart und abgespannt und müde, aber sie hatte sich vom Leben nicht unterkriegen lassen. Mir schien sie plötzlich die Stadt unter dem Joch des Parlaments zu symbolisieren, und ich hätte sie gern beim Arm genommen und gesagt : Mütterchen, ich bin auf deiner Seite. Dann machte ich mir klar, daß sie, Symbol oder nicht, auch nur ein Mensch war und vermutlich eine ergebene, unverheiratete Tochter tyrannisierte und ihr Bett näßte, und hielt meinen Gefühlsüberschwang zurück. Meine Eltern wollten über jede Einzelheit des Angelausflugs informiert werden, aber ich setzte ihnen eine redigierte Version vor, in der ich Silverjacks Fehler unerwähnt 114
ließ. Dann stellte ich meine Frage. »Vater, wir sind beim Fischen auf einen Mann gestoßen, der auch angelte und der wie ein Astaner redete. Er fuhr die Flußmündung hinauf, und wir wollten ihm folgen, um herauszufinden, was er vorhatte und wer er war, aber man ließ uns nicht hinein. Was hat denn ein Astaner in der Nähe der neuen Konservenfabrik zu suchen ?« Er lächelte enttäuschend unbefangen – er schien ungewöhnlich gut aufgelegt zu sein. »Er arbeitet dort, Drove. Wir haben etliche Flüchtlinge aufgenommen ; Leute, die in Erto geboren wurden, aber in Asta lebten, als der Krieg ausbrach, und die noch das Land verlassen konnten, bevor sie interniert wurden. Einige haben seit ihrer Kindheit in Asta gelebt, aber auch sie mußten fliehen, sonst hätte man sie eingesperrt.« »Sie haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren«, warf meine Mutter ein. »Da siehst du, welche Bestien diese Astaner sind.«
8 Am nächsten Morgen brach ich gleich nach dem Frühstück auf und ging zum Hafen hinunter. In den letzten paar Tagen hatte sich ein feiner Dunstschleier vor die strahlend grelle Sonne gelegt, ein Vorbote der Grume, doch alles in allem war es ein wirklich schöner Tag, von dem ich hoffte, daß er etwas weniger aufregend verlaufen würde als die letzten. Ein paar frühe Meldetauben umflatterten den hohen Turm der Nachrichtenstation, und am Pier warteten 115
die Schneetaucher auf dem Dach des Fischmarktes auf Beute. Es waren weniger Seevögel als sonst zu sehen ; viele waren bereits nach Norden geflogen, weil sie das Nahen der Grume spürten. Das Geschäft auf dem Fischmarkt ging recht flau, aber ich blieb doch einige Augenblicke lang stehen, um zuzuschauen, wie der Auktionator einen gemischten Fang verkaufte. Wie üblich verstand ich kaum ein Wort von seinem maschinenschnellen Geratter und ging nach einer Weile weiter. Bald, wenn die Grume einsetzte, würden die Tage nicht mehr lang genug sein, um die gewaltigen Fänge an den Mann zu bringen, und die Auktionen würden bis spät in die Nacht dauern. Man würde die Lampen entzünden und tragbare Heizgeräte aufstellen, und blaßgesichtige Käufer aus dem Landesinneren würden nickend ihre Angebote machen und die Verlieferung nach Alika oder Horlox oder Ibana in die Wege leiten. Immer vorausgesetzt, daß das Parlament in seinem unstillbaren Streben nach Einfluß nicht das ganze Geschäft verstaatlichte, Zuteilungsquoten festsetzte und die Hälfte des Fanges in irgendeinem vergessenen Lagerhaus verrotten ließ. Am anderen Ende des Fischmarkts steht ein Denkmal, das an irgendein längst vergessenes Ereignis erinnern soll. Mir war die Manie der Regierung immer unverständlich gewesen, überall Denkmäler aufzustellen, für diese oder jene Person oder zu diesem oder jenem Anlaß. Der Obelisk in Pallahaxi dient aber wenigstens als sehr brauchbarer Treffpunkt. Jeder weiß, wo er steht, wenn auch keiner mehr seinen Zweck kennt. Am Geländer der Hafenmauer lehnten, den Rücken zu mir, Wolff, Ribbon, 116
Squint – und Braunauge. Auf einmal hatte ich wieder dieses atemlose Gefühl und wußte, daß ich mich wohl gleich zum Narren machen würde. Ich versuchte, daran zu denken, daß ich gestern mit mir ins reine gekommen war und nun eigentlich imstande sein müßte, bei solchen Gelegenheiten mehr Gleichmut zu bewahren. »Hallo«, sagte ich und gesellte mich zu ihnen. Wolff und Ribbon beachteten mich natürlich nicht, da sie in ein bestimmt sehr interessantes Privatgespräch vertieft waren, aber Squint und Braunauge wandten sich um. Braunauge lächelte zur Begrüßung, und Squint rief : »Also, dann sind wir ja alle bereit, oder ?« »Wozu bereit ?« »Wir wollen doch diesen Schuft von Spion fangen, oder ? Ihm das Handwerk legen !« »Es gibt gar keinen Spion«, sagte ich. Ich berichtete ihm, was mein Vater gesagt hatte, aber er wollte sich nicht überzeugen lassen. »Na ja«, sagte er, »wir haben aber auf jeden Fall beschlossen, einen Spaziergang um die Fingerspitze zu machen, da können wir gleichzeitig dort ein bißchen herumschnüffeln.« »Es hat keinen Zweck, hinüberzugehen«, meinte ich ärgerlich. Wolff drehte sich beiläufig um, jetzt erst meine Gegenwart zur Kenntnis nehmend : »Wie du willst«, sagte er. »Wir gehen auf jeden Fall. Komm, Ribbon.« Er nahm ihren Arm, und die beiden schlenderten davon. Squint rief : »Komm schon, Drove«, und da ich nicht wußte, wie Braunauge über die Sache dachte, ich aber auf keinen Fall irgend etwas versäumen wollte, folgte ich ihnen. 117
Der Weg zur Fingerspitze führte am Hafenbecken entlang, bevor er steil zu dem dicht bewaldeten Streifen auf dem Scheitel der Landzunge anstieg. Wir rasteten eine Weile auf dem kleinen Strand leeseits der Mole und schauten zu, wie die Fischer ihre Tiefboote für die Zeit der Grume an Land zogen. Es war das eine ziemlich umständliche Prozedur. Rund zwanzig Männer bildeten zwei Gruppen und packten den Rand eines noch schwimmenden Bootes. Auf ein bestimmtes Signal zogen sie dann alle gleichzeitig an, rutschten ständig auf den runden Kieselsteinen im Wasser aus und plagten sich naß und keuchend, das Boot auf eine Reihe parallel aufgelegter kurzer Stämme zu hieven. Ein paar Lorin halfen mit, auch wenn ihnen das lange Fell patschnaß an den Beinen klebte. Die Theorie dabei war natürlich die, daß man das Boot dann über die Rundhölzer bis zu seinem Lageplatz hoch am Strand rollen könnte – aber so funktionierte es leider nie. Die Rollen drehten sich nie, weil sie unter dem Gewicht des Bootes im groben Kies des Strandes versanken. Mir kam vor, daß die Leute eigentlich ohne die Rundhölzer besser dran sein müßten, aber diese Methode war mittlerweile zur Tradition geworden, die Männer trugen eine ganz bestimmte Tracht zu dieser Arbeit und sangen im Chor eine Art Seemannslied beim Ziehen, und an der Hafenmauer standen etliche Zuschauer. Eines Tages würde jemandem einfallen, daß man doch noch einen Prediger zum Sonnengott Phu um eine ertragreiche Grume beten lassen könnte, was dem Spektakel erst die richtige Vollendung verleihen würde. Ich sah lieber zu, wie die größeren Boote an Land gebracht wurden. Das wurde mit einer primitiven, aber recht praktischen Methode 118
bewerkstelligt, die ich interessant fand. Von der Dampfbahn der alten Fabrik wurde eine provisorische Schienenstrecke bis zum Strand verlegt, die Dampflok wurde mit dem Bug des Bootes verbunden und zerrte es zischend, stampfend und mit kreischenden, durchdrehenden Rädern unnachgiebig auf den gewünschten Platz. Schließlich kletterten wir hinauf in den schattigen Wald, wo der Weg sich zu einem Pfad verengte. Einige Lorin beobachteten uns aus dem Geäst und warnten uns schnatternd, wie es ihre Art ist, wenn wir einem der intelligenten Fleischfresserbäume, dem in dieser Gegend häufigen Anemonenbaum, zu nahe kamen. Es wird verschiedentlich behauptet, der Fleischfresserbaum sei ursprünglich eine im Meer beheimatete Kreatur gewesen, die sich schließlich, durch den Wassertiefstand zahlloser Grumen jedes Jahr aufs Trockene gesetzt, an das Landleben gewöhnte und nun die meisten Küstengebiete unsicher macht. Diese Art ist viel größer als die im Landesinneren ; vermutlich ist sie entfernt mit dem Eisteufel verwandt. Wolff blieb mit einem verblüfften Ausruf plötzlich stehen und starrte zum Hafen hinunter, den man durch die Bäume immer noch sehen konnte. »Da schaut ! Dort unten, das Boot mit dem gelben Ruderhaus !« Er deutete hinunter. »Das ist das Boot, von dem ich euch erzählt habe. Das ist das Schmugglerboot !« Wir verließen den Pfad und liefen quer durch den Wald bis an den Klippenrand, der hier in eine steile, mit riesigen Felsblöcken übersäte Halde überging, die bis zum Wasser tief unter uns reichte. Das verdächtige Boot lag im äußeren Hafen vor Anker, ungefähr auf halber Länge der Mole. 119
Während wir noch hinunterschauten, tauchte eine Gestalt aus dem Ruderhaus auf, ging nach vorne und begann, die Ankerkette hochzuhieven. Irgendwie wirkte das alles von hier oben sehr weit entfernt und unwichtig. Schließlich hob die winzige Gestalt den Anker aufs Deck und ging wieder ins Ruderhaus. Kleine Rauchwölkchen stiegen von dem kurzen Schlot auf, und das Boot suchte sich zwischen den anderen verankerten einen Weg zu dem Strand, wo die Zugmannschaften arbeiteten. »Das war Silverjack«, schnaufte Squint aufgeregt. »Silverjack ist ein Schmuggler !« Wolff wandte sich mit der Miene von jemandem ab, der bereits genug gesehen hat. »Weißt du noch, was ich dir sagte, Drove ?« »Er kann nicht viel schmuggeln, wenn er das Boot an Land bringen läßt«, gab ich zu bedenken. Er musterte mich mitleidig. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß eine Nebensächlichkeit wie die Grume einen Mann wie ihn von seinen Geschäften abhalten könnte ? Ich möchte wetten, daß er jetzt seinen Gleiter seeklar macht. Aber wenn er ihn zu Wasser bringt, werden wir bereits auf ihn warten. Wir werden ihn auf frischer Tat ertappen, wenn er die Ware auslädt.« Plötzlich warf er Braunauge einen Blick zu. »Was hältst du davon ?« Sie wurde rot, aber ich bin sicher, daß sie nichts von der Beziehung ihrer Eltern zu Silverjack wußte. Es war mir schon früher aufgefallen, daß sie immer errötete, wenn man sie unvermutet anredete. »Glaubst du wirklich, daß er ein Schmuggler ist ?« fragte sie leise. 120
»Aber klar, Mädchen, aber klar.« Er nahm wieder Ribbons Arm und führte sie zurück zum Waldpfad. Braunauge und ich folgten schweigend, während Squint um uns vier herumtanzte, nicht imstande, seine Begeisterung im Zaum zu halten. »Silverjack ist ein Schmuggler«, trällerte er wieder und wieder, bis Ribbon ihm ziemlich grob sagte, er solle endlich die Klappe halten. Für den Augenblick hatte der Dämpfer gewirkt, er fiel zurück, scharrte mit den Füßen in der Erde und pfiff verlegen. Ich beobachtete Wolff und Ribbon, die Arm in Arm vor uns gingen, die Köpfe zusammengesteckt, und leise miteinander sprachen. Ribbon trug ein kurzes Kleid, das viel von ihren unleugbar hübschen Beinen sehen ließ. Ich ertappte mich dabei, daß ich interessiert ihre Kniekehlen anstarrte. »Ribbon sieht sehr nett aus, nicht ?« sagte Braunauge. Und da verpatzte ich es. Ich hätte nun die ideale Gelegenheit gehabt, Braunauges Aussehen auf Kosten von Ribbon in den Himmel zu heben, aber ich hatte einfach nicht den Mut. »Sie sieht ganz ordentlich aus, denke ich«, murmelte ich. »Gefallen dir große Mädchen ? Ich wollte, ich wäre so groß wie Ribbon.« Ich drehte mich um und schaute sie an. Sie lächelte zu mir auf mit ihren warmen, wunderbaren Augen und ihren süßen Grübchen. Ich zögerte. Ich wollte schon sagen, daß ich Mädchen mochte, die wie Braunauge aussahen, glaube ich – aber Wolff redete nicht mehr und hätte es hören können. »Da unten bauen sie ein Dock«, sagte er. »Schaut mal.« 121
Wir hatten die Spitze der Landzunge umrundet. Unser Weg führte uns jetzt dicht an den Klippenabbruch. Tief unter uns arbeiteten Scharen von Männern, schaufelten Erde, beluden Karren mit Felsbrocken, führten die Loxen mit den vollen Karren weg, schwangen Pickel und Hämmer und meißelten sich in die Felswand. Eine grobe Schotterstraße, die beim Dock begann, führte am Fuß der Klippe entlang und verschwand nach einigen Kurven hinter einem Felsvorsprung. »Das Wasser ist dort ziemlich tief«, stellte Ribbon fest. »Für diese Straße müssen sie riesige Mengen Gesteinsbrocken aufgeschüttet haben. Wozu das alles ?« Wolff schwieg. Er wußte es nicht. »Wenn die Grume kommt, können sie mit den großen Fischerbooten nicht mehr in die Mündung bis zur neuen Konservenfabrik einfahren«, erklärte ich. »Deshalb bauen sie das hier zum Ausladen des Fangs ; dann bringen sie die Fische mit Loxkarren zur Fabrik. Vielleicht bauen sie sogar eine Dampfbahn hinüber. Gleich hier vor der Küste liegt der Pallahaxi-Tiefseegraben, der bis weit in den Ozean hinausreicht. In diesem Bereich bleibt das Wasser auch im Höhepunkt der Grume ausreichend tief, so daß die Boote immer entlang des Grabens bis hier zu diesem Dock fahren können.« »Das mit dem Tiefseegraben weiß ich selber«, sagte Wolff. »Schaut einmal da hinüber«, sagte Braunauge. Das klare Blau der See war an vielen Stellen gefleckt mit dem gischtumkränzten Braun von Felsen, die tags zuvor noch nicht sichtbar gewesen waren. Das Wasser ging bereits rasch zurück ; bald würde die Grume einsetzen. 122
Von der Höhe der Fingerspitze stiegen wir den langsam abfallenden, landseitigen Hang hinunter ; hier lichtete sich der Wald, und nach einer Weile sahen wir das Land vor uns ausgebreitet. Ganz in der Ferne konnten wir gerade noch die Gelben Berge erkennen, hinter denen die Wüste begann. Bis dorthin aber reichte das grüne, fruchtbare Hügelland. Am Fuß unseres Hanges verengte sich die Mündungsbucht zu einem Flüßchen, das in der dunstverschleierten Sonne schimmerte und mit vielen Windungen zwischen den Hügeln im Landesinneren verschwand. Die neue Konservenfabrik lag genau unter uns, ein häßliches Durcheinander von neuen, funktionellen Gebäuden und Aushubmaterial ; eine neue Straße war wie eine Narbe ins Land eingeschnitten – sie führte nach rechts, zurück nach Pallahaxi. In der Nähe in einer grasbedeckten Uferböschung bemerkte ich die vielen großen Erdlöcher eines Lorin-Baus. Solche Baue findet man in der weichen Erde rund um Pallahaxi häufig ; es heißt, daß sie aus weitläufig verzweigten Gängen bestehen, die bis zu fünfzig Schritt tief in den Boden reichen. In der Bucht waren ein paar Fischerboote unterwegs, und überall konnten wir die winzigen Gestalten von Menschen sehen, die zwischen den Gebäuden umhergingen oder am Flußufer entlang. Da und dort stieg von einem Fahrzeug eine Staubfahne auf. »Das ist wie ein Gemälde«, sagte Braunauge hingerissen. Ich fragte mich, wie oft sie Gelegenheit hatte, von ihren Eltern und der vielen Arbeit in der Grummette wegzukommen ; wie oft sie wirklich sehen durfte, wie das Land aussah, in dem sie lebte. Wie sie gesagt hatte, es war wie ein Gemälde und damit 123
ein ganz klein wenig unwirklich. Versonnen überlegte ich, ob wohl all diese winzigen Gestalten tatsächlich Menschen waren – ob sie nachdachten und Wasser ließen und sich mit ihren Frauen und Kindern stritten – oder ob sie lediglich eine Art bewegtes Bild für meine Ergötzung waren. Ich fühlte mich sehr mächtig, wie ich sie so von hoch oben bei ihrer Arbeit beobachtete, ohne daß sie es wußten ; mir kam vor, als könne ich sie mit einem einzigen Gedanken alle auslöschen … Später, als wir bereits im Flußtal unterwegs waren, machten wir an einem kleinen Laden an der Straße halt, um etwas Proviant zu kaufen. Die Bude gehörte einer alten Frau, die aussah, als wäre sie mindestens ebenso lange auf der Welt wie der Fluß selbst ; verrunzelt war sie und über und über mit Haaren bedeckt, wie es bei manchen alten Leuten vorkommt. Sie hätte Silverjacks Mutter sein können, und Wolff und Ribbon behandelten sie recht verächtlich, nannten sie Oma und machten untereinander Witze über ihr Aussehen und das des Ladens. Gut, ich muß zugeben, die Bude hätte sauberer sein können. Das war aber noch kein Grund, eine alte Frau zu verspotten, und ich schämte mich für die beiden, die nicht aufhörten, die Alte zu quälen, bis mir der Gedanke kam : wäre ich mit einem Mädchen von Ribbons Typ allein hier gewesen, dem ich Eindruck machen wollte, würde ich mich wohl ebenso verhalten haben. Danach ärgerte ich mich über drei von uns. Braunauge sprach ich von jeder Schuld frei, weil sie so beinahe kindlich unbefangen war, und Squint, weil er zu jung war. »Hört mal«, sagte ich endlich. »Würdet ihr beide jetzt endlich mit den frostig komischen Witzen aufhören, damit 124
wir an etwas zu essen kommen ?« Braunauge sah mich dankbar an, aber das half mir nicht viel, ich war genauso schuldig wie die beiden – oder wäre es gewesen, unter den entsprechenden Umständen. Wir aßen Trockenfisch und Gelbkürbis und spülten den Imbiß mit einem hausgemachten Getränk der Alten hinunter, das, wie Braunauge uns versicherte, die sich in solchen Dingen auskannte, keinen Alkohol enthielt und uns deshalb wohl auch kaum einen Strich durch unsere Pläne für den Nachmittag machen würde. »Ihr merkt es daran, wie sich ein Getränk in der Kehle anfühlt«, erklärte sie altklug. Gleich darauf begannen Wolff und Ribbon ernsthaft den Zweck unseres Ausflugs zu besprechen, als wäre das so wichtig gewesen. »Wollen wir die Umgebung der Fabrik rekognoszieren gehen, oder wollt ihr den ganzen Nachmittag herumtrödeln ?« fragte Wolff streng. »Rekognoszieren !« schrie Squint begeistert, einen Sprühregen halb zerkauter Winternuß von sich gebend. »Ich mache mit«, sagte Braunauge. »Gut also.« Wolff stellte sich auf einen Baumstumpf und musterte die Umgebung mit Feldherrnblick. »Die Fabrik ist dort drüben : ich sehe die Schlote. Der Fluß liegt zwischen uns und der Fabrik. Und bevor wir an den Fluß kommen, müssen wir, wie es aussieht, eine Art Sumpf durchqueren.« »Über diesen Sumpf habe ich schon allerhand gehört«, bemerkte Ribbon. »Wir müssen zum Fluß«, entschied Wolff. »Von dort aus können wir die Fabrik gut beobachten, ohne tatsächlich das Sperrgebiet zu betreten und uns wieder auf Droves 125
frostigen Vater ausreden zu müssen. Dann können wir am Flußufer landeinwärts gehen und unterwegs rekognoszieren, bis wir auf die Straße nach Pallahaxi stoßen. Dann gehen wir heim. Seid ihr damit einverstanden ?« Zustimmendes Gemurmel allerseits – und wir verließen die Straße und strebten durch das sumpfige Grasland dem Fluß zu. Hier gab es kaum Bäume ; die Vegetation bestand im wesentlichen aus niedrigen Sträuchern einer harmlosen Art und, weiter draußen, hohem Schilf. Bald wurde der Boden unter unseren Füßen weich und schwammig, und es dauerte nicht lange, bis wir von einem schwankenden Grasbüschel zum anderen hüpften, mit ausgebreiteten Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, denn dazwischen stand das Wasser oft knöcheltief. »Wartet mal«, sagte Wolff, als wir ein Fleckchen erreichten, das etwas trockener als die anderen war. »Wir kommen von unserer Richtung ab. Wir müssen dorthin.« Er zeigte nach links. »Da drüben bekommen wir nasse Füße«, wandte ich ein. »Hier ist es trockener.« Wolff blickte mich mit gespieltem Erstaunen an. »Hast du etwa Angst, dir die Füße naß zu machen, Alika-Drove ?« Ich hatte lange gebraucht, bis ich es endlich gelernt hatte, aber jetzt kannte ich mich aus. »Ja, ich habe Angst, mir die Füße naß zu machen«, sagte ich energisch. »Hast du etwas dagegen ?« »Na schön, wenn das so ist, dann gehen wir hier lang, und ihr könnt da drüben gehen.« »Ich komme mit dir, Drove«, sagte Braunauge mit einem vergnügten Lächeln. 126
Squint musterte die beiden Parteien beunruhigt. »Und was soll eigentlich aus mir werden ?« »Du hast die Wahl, Squint«, antwortete Wolff. »Na, vielen Dank.« Er verzog unglücklich das Gesicht, da ihm klar wurde, daß Wolff ihn nicht mithaben wollte, er aber doch am liebsten bei seiner Schwester geblieben wäre. »Ach, zum Frost mit euch allen«, sagte er plötzlich heftig und stapfte in noch einer anderen Richtung los. »Ich geh alleine !« Braunauge und ich hielten uns, so gutes ging, an trockenes Gelände, und die Stimmen der anderen verloren sich bald in der Ferne ; es dauerte nicht lange, und man konnte sie zwischen dem hohen Schilf auch nicht mehr sehen. Ein kleiner Bach querte unseren Weg, ich sprang hinüber und hielt Braunauge meine Hand hin. Sie ergriff sie und sprang ebenfalls. Diesmal allerdings machte ich nicht den Fehler, ihre Hand wieder loszulassen. Hand in Hand wanderten wir also durch das rauhe Gras und die schütteren Büsche, uns ungefähr in östlicher Richtung haltend. Ich fragte mich, was ich nun unternehmen sollte. Das Gespräch war im Sand verlaufen, wie es doch immer passierte, wenn sie und ich allein miteinander waren. »Ich bin froh, daß du heute mitgekommen bist«, sagte sie endlich, als ich mir schon am liebsten den Kopf abgerissen hätte, weil er wieder einmal so nervtötend leer war. »Ich hab’ mir Sorgen um dich gemacht. Ich habe dich so lange nicht mehr gesehen, und ich dachte schon, daß ich dir wohl alle möglichen Schwierigkeiten eingebrockt hätte, du weißt schon, an diesem Abend damals.« »Mein Vater hat etwas gegen Alkohol. Außer natürlich für seinen Motorwagen.« 127
»Meine Mutter meint, daß sie schuld war. Weißt du, sie hatte ja keine Ahnung, daß dein Vater so ist.« Es war einfach unglaublich. Da hielten wir einander an der Hand und redeten über unsere Eltern ! Tiere müssen sich mit solchen Problemen nicht herumschlagen. Sie können nicht sprechen. »Ich finde, daß mein Vater schuld war.« »Woran ?« Ich hatte es vergessen, ich hatte überhaupt wieder einmal den Faden verloren. Ihre Frage hing in der Luft, und ich ließ sie hängen, wandte nur stumm den Kopf, so daß ich Braunauge anschauen konnte, wie sie neben mir ging. Sie blickte mit ernster Miene vor sich hin. Ihre Beine – ich rückte unauffällig ein wenig ab, um sie besser sehen zu können –, ja, ihre Beine waren viel hübscher als die von Ribbon. Nicht so dünn, irgendwie gesünder wirkend. Da ich sie immer noch anschaute, stolperte ich schließlich über eine vorstehende Wurzel, und sofort packte ihre Hand die meine fester. Wir waren stehengeblieben, und einer schaute den anderen an. Ihr Blick hielt meinen fest, und dann hob sie mir ein ganz klein wenig das Gesicht entgegen und schaute, schaute noch immer, und mein Inneres verwandelte sich in zitterndes Gallert. Ich wollte etwas sagen, aber ich wußte, wenn ich es versuchte, würde nichts als ein klägliches Ächzen herauskommen, und sie würde mich auslachen. »Ich … ich bin froh, daß wir hier sind«, sagte sie. »Es ist hübsch, nicht wahr ? Ich meine, zusammen allein zu sein, so wie jetzt.« »Mir gefällt’s auch«, brachte ich heraus. 128
»Ich hatte schon Angst, die anderen würden die ganze Zeit bei uns bleiben – ist’s dir nicht auch so gegangen ?« »Ein Glück, daß es ihnen nichts ausmacht, ihre Sümpfe naßzukriegen«, sagte ich – ich Volltrottel. »Ich meine, ihre Füße.« »Drove …«, flüsterte sie und schluckte plötzlich ; und da wurde mir endlich klar, daß sie mindestens ebenso nervös war wie ich. »Ich … ich mag dich, Drove. Ich meine, ich mag dich wirklich.« Ich starrte sie an und fragte mich, woher sie den Mut zusammengekratzt hatte, das zu sagen – und hoffte, sie wüßte, daß mir genauso zumute war. Ein paarmal machte ich den Mund auf und schloß ihn wieder. Schließlich zog ich sanft an ihrer Hand, und wir gingen weiter. In der Nähe stand ein Busch, und im Gehen sah ich, daß seine Zweige drei übereinanderliegende Kreuze mit einem hohen Baum weiter weg bildeten. Ich werde diese Stelle niemals vergessen. Bald jedoch verwandelte sich mein Entzücken über das, was sie gesagt hatte, in Ärger über mich selbst, daß ich die Chance wieder nicht wahrgenommen hatte. Ich wußte nicht recht, was ich hätte tun sollen, aber alles wäre besser gewesen, als wie ein Idiot stumm dazustehen und dem Mädchen das Reden zu überlassen. Noch hielten wir einander aber an den Händen, und im Weitergehen drückte ich ihre, und sie drückte zurück, so daß ich gleich wieder hätte himmelhoch jauchzen können. Schließlich erreichten wir einen großen, seichten See, der sich wie ein breiter, stiller Strom durchs Schilf wand. Hier blieben wir eine ganze Weile stehen, schauten auf das 129
Wasser und sagten nichts. Diesmal jedoch war es ein gutes Schweigen, ein Schweigen in beiderseitigem Einverständnis. Plötzlich war alles verändert. Ich glaube, Braunauge bemerkte es zuerst. Ihre Hand krampfte sich um meine, und sie stieß einen kleinen, keuchenden Schrei aus – genau in dem Augenblick, da ich die Wasseroberfläche des Sees seltsam vibrieren sah. Die Veränderung ging von einem Punkt aus, den wir nicht einsehen konnten, ein eisiges Schimmern, das über die Oberfläche lief, sich zu einer zitternden Kristallwoge aufbäumend, die sich sofort mit unzähligen, glitzernden Eisklauen überzog, vorwärtsstieß, erstarrte, wieder vorstieß, den See überzog und schließlich mit einem Ächzen und Krachen erstarrte – und plötzlich als stumme, bewegungslose, kristallinisch harte Fläche vor uns lag. Da hörten wir in der Ferne einen Schrei, entsetzt und schrill, dann kam ein verzweifelter männlicher Hilferuf. »In dem See ist ein Eisteufel !« rief Braunauge. »Er hat jemanden gefangen !«
9 Nun glitzerte die gesamte Seeoberfläche in der Nachmittagssonne wie poliertes Silber. Die Spannungsrisse des Kristallisationsprozesses waren verschwunden, und der ganze See war eine homogene Masse. Nur irgendwo unter dem Geglitzer lauerte ein Eisteufel … Als ich einen Schritt machte, hörte ich den Boden unter meinen Füßen knistern, denn auch die Nässe darin war kristallisiert, der schwammige 130
Moorboden war steinhart geworden, und im Gras glitzerten die kleinen Tümpel im gleichen kalten Schimmer. Wieder hörten wir Wolff rufen. »Komm«, sagte ich und zog Braunauge weiter. Vorsichtig sprangen wir von einem der harten Grasbüschel zum nächsten, weil wir Angst davor hatten, die gläserne Glätte rundum zu berühren, was dem Eisteufel unsere Nähe verraten konnte. Schließlich aber kam ich nicht mehr weiter, stand schwankend auf einem einzelnen Büschel und wußte, daß ich den Abstand bis zum nächsten nicht schaffen würde. Ich schaute mich nach Braunauge um, die ebenfalls auf einem Grasstumpf balancierte. »Was tun wir jetzt ?« fragte ich sie. »Kannst du zurück ?« »Kann ich …« Sie drehte sich vorsichtig um und schaute den Weg zurück, auf dem wir uns bis hierher durchgearbeitet hatten. In der Ferne schrie Ribbon wieder und immer wieder auf. »Ich glaube aber nicht, daß uns das was nützt, Drove. Der Eisteufel hat alles Wasser in der Umgebung gefrieren lassen. Wir kommen hier nicht raus, ohne die Oberfläche zu betreten.« »Ist das nicht gefährlich ?« »Es heißt, daß es ungefährlich ist, solange man in Bewegung bleibt, und solange der Eisteufel mit etwas anderem beschäftigt ist … Wenn er einen nämlich fangen wollte, müßte er erst den loslassen, den er bereits sicher hat.« »Also gut. Ich geh’ zuerst.« Ich trat auf den kristallenen See hinaus. Die Oberfläche war steinhart ; ich bückte mich und berührte sie ängstlich. Sie war kalt, aber nicht zu entsetzlich kalt. Sie war auch nicht rutschig glatt wie richtiges Eis. Ich nickte Braunauge 131
zu, und sie trat auch von ihrem Grasbüschel herunter, fest meine Hand umklammernd. Ich weiß noch, daß ich – lächerlich sentimental, wie man in diesem Alter ist – wehmütig dachte, daß wir wenigstens gemeinsam sterben würden, wenn es schon sein mußte. »Wo ungefähr sind sie ?« fragte Braunauge. »Ich glaube, Wolff hat von irgendwo da drüben gerufen.« Sie zeigte auf die Stelle, wo ein Nebenarm des Sees hinter einem Schilfgürtel versteckt lag. Es sah sehr weit aus bis dorthin. »Da drüben hat auch die Verfestigung eingesetzt. Hinter dieser Schilfbank.« Wir gingen los, vorsichtig auftretend, nur im Flüsterton redend, um das Ungeheuer in der Tiefe nicht auf uns aufmerksam zu machen. Nach einer Weile erreichten wir das jenseitige Ufer und folgten einem glitzernden, gewundenen Pfad durch Sumpfdorn und Schilf. Wolff schrie noch einmal, und endlich entdeckte ich ihn und Ribbon hinter einigen Stauden, noch etwa dreißig Schritt entfernt. Ribbons Gesicht war weiß vor Schmerzen, und Wolff beugte sich hilflos über ihren Knöchel. Er blickte auf, als wir näher kamen. »Der Eisteufel hat ihren Fuß erwischt«, sagte er. Die beiden saßen auf der Oberfläche des Sees, etliche Schritt vom nächsten Grasinselchen entfernt. »Was habt ihr denn hier draußen gemacht ?« fragte ich. »Ihr wußtet doch, daß es hier Eisteufel gibt. Ich hab’ euch gesagt, wir sollten uns auf trockenem Boden halten.« »Ja, und wir haben’s nicht getan, also was ? Jetzt ist es zu spät. Wir sollten lieber überlegen, was wir tun sollen, anstatt hinterdrein gescheit zu sein.« 132
Er hatte natürlich recht. Ich kniete mich neben ihn. Ribbons rechter Fuß steckte unverrückbar im See fest, knapp über dem Knöchel gefangen. Durch den Kristall konnte ich verschwommen ihren Fuß erkennen, immer noch mit dem hübschen, roten Schuh bekleidet – ein seltsam rührender Anblick. Der Druck muß schrecklich gewesen sein, und ich staunte, daß sie kaum klagte. »Was sollen wir denn tun ?« fragte Wolff. Alle schauten sie mich an, und ich wollte nicht einsehen, warum sie ausgerechnet von mir erwarteten, eine rettende Lösung zu finden, wenn es kein anderer konnte. »Braunauge«, sagte ich, »würdest du bitte für einen Augenblick bei Ribbon bleiben ? Ich muß mit Wolff reden.« So konnten wir offen über die hoffnungslose Lage des gefangenen Mädchens sprechen, ohne es noch mehr zu beunruhigen. Wolff und ich zogen uns ein Stück ins Gesträuch zurück. »Ich habe erst vor kurzem gesehen, wie das einem Vogel passiert ist«, sagte ich. Ich beschrieb den Tod des Schneetauchers. »Solange Ribbon sich bewegt, weiß der Eisteufel, daß sie lebt, und greift nicht an. Ich glaube, seine Tentakel sind nicht stark genug, ein lebendes Wesen zu überwinden – nicht einmal bei einem so großen Eisteufel wie dem. Sie sind vermutlich gerade so dick, daß er damit seine tote Beute hinunterziehen kann.« »Puh«, brummte Wolff schaudernd. Sein Gesicht war blaß und verschwitzt. »Sollten wir nicht in der Fabrik Hilfe holen ? Die könnten Männer mit Pickeln schicken, mit denen sie den Fuß freihacken …« »Das würde nicht funktionieren. Wenn der Eisteufel spürt, daß ihm seine Beute entkommt, würde er das Wasser 133
verflüssigen und sofort wieder kristallisieren lassen – damit bekäme er sie noch besser in den Griff, und vielleicht noch ein paar von den Männern dazu.« »Also was sollen wir dann tun ?« Ich dachte angestrengt nach. Es gab einen möglichen Ausweg, aber ich war nicht sicher, ob Ribbon dazu imstande war. Auf jeden Fall war es einen Versuch wert. Ich erklärte Wolff meine Idee, und seine Miene spiegelte alle Zweifel wider, die ich empfand. Wir gingen zu den Mädchen zurück. Braunauge schaute hoffnungsvoll auf, aber als sie unseren Gesichtsausdruck sah, wandte sie ihren Blick ab. Wolff setzte sich neben Ribbon und nahm ihre Hand. »Ribbon«, sagte ich, »ich möchte, daß du etwas versuchst. Ich möchte, daß du dich so still wie möglich hältst. Beweg dich nicht, nicht ein bißchen, solange du es aushältst. Dadurch denkt der Eisteufel vielleicht, daß du tot bist. Verstehst du ?« Sie nickte. In ihren Augen glänzten Tränen. »Dann, sobald er sich entspannt und der See wieder zu Wasser wird, springst du zurück.« Ich zeigte auf eine Stelle hinter ihr. »Hier ist ein dickes Grasbüschel, und du solltest es gerade schaffen können, bevor der Eisteufel merkt, was los ist, und den See wieder kristallisiert. Wir werden hier stehen und dich sofort packen, wenn du springst.« Sie sah Wolff an. »Er meint, ich muß hier warten, bis der Eisteufel nach mir greifen will, Wolff ?« Wolff warf mir einen Blick zu. »Richtig. Bist du bereit ?« Wir zogen uns auf sicheren Boden zurück und ließen sie dort sitzen. Sie schaute zu uns herüber und bemühte 134
sich tatsächlich um ein Lächeln, als sie sich ganz klein zusammenkauerte und zur absoluten Bewegungslosigkeit zwang. Ich beobachtete sie, und bald wußte ich, daß sie es nicht schaffen würde, nicht schaffen konnte. Die Kälte des harten Sees schnitt wie mit tausend Messern in ihren Körper, und wenn sie sich noch so sehr bemühte – und das tat sie –, so konnte sie doch nicht das unwillkürliche Zittern unterdrücken, das die Angst auslöst, die mit der Kälte kommt. Ribbon konnte sich noch so oft vorsagen, daß sie keine Angst hätte, ihr Körper hatte Angst und zitterte … Wir beobachteten sie und bemitleideten sie, murmelten ihr Ermutigung zu und erzählten ihr Witze, aber es nützte alles nichts. Der Kristall hielt sie unbarmherzig fest. »Es hat keinen Sinn«, flüsterte sie endlich, ruderte mit den Armen und veränderte ihre Lage, um sich ein bißchen zu erwärmen. Ich wußte keinen anderen Ausweg. Der Eisteufel würde sie nur loslassen, wenn sie sich still hielt, und sie würde erst still sein, wenn sie tot war. Selbst wenn wir es über uns brächten, sie bewußtlos zu schlagen, das Wesen im See würde immer noch ihre Atmung, ihren Herzschlag fühlen. Es hatte viel Erfahrung darin. Dadurch verschaffte es sich ja seine Nahrung. Wir standen um Ribbon herum, und Wolff machte von Zeit zu Zeit einen unbrauchbaren Vorschlag, worauf er uns beschimpfte, weil wir ihn ablehnten. »Schließlich«, sagte er streitlustig, nachdem wir seinen Plan, den See mit einer Dampfkanone zu beschießen, nicht akzeptiert hatten, »müssen wir doch alles Menschenmögliche versuchen. Wollt ihr sie einfach hier hängen und sterben lassen ? Habt 135
ihr vielleicht eine bessere Idee ? Es ist doch auf jeden Fall besser, auch das Ausgefallenste zu versuchen, anstatt einfach aufzugeben !« Ungefähr da kam mir die Idee. Ich wollte den anderen nichts davon sagen, weil es vielleicht eine dumme Idee war – und ich war mir gar nicht sicher, ob sie meinem Plan zustimmen würden, egal, ob er funktionierte oder nicht. Wolff zumindest würde ihn sofort als Defätismus, als letzten Strohhalm, ja als Verrücktheit abtun. »Ich glaube, ich könnte sie herausbekommen«, sagte ich zögernd. »Aber wenn es funktionieren soll, dann müssen du und Braunauge weggehen und uns für eine Weile allein lassen, Wolff.« Ich mußte wegschauen, als ich die traurige Bestürzung in den Augen meines Mädchens sah. Wolff war erstaunt, noch viel mehr aber erleichtert. Jemand nahm ihm die Verantwortung ab. Er mußte natürlich trotzdem noch etwas tun, um sein Gesicht zu wahren. »Ich hoffe, du weißt, wovon du redest, Alika-Drove«, sagte er. »Wenn du versagst und Ribbon umkommt, werde ich dich persönlich zur Verantwortung ziehen.« Mit dieser letzten Drohung nahm er Braunauge beim Arm und ging mit ihr fort. Ribbon sagte nichts, als ich mich neben sie setzte, aber nach einer Weile gab sie es auf, ihren kaum sichtbaren Fuß zu betrachten, und schaute mich an : »Also ?« fragte sie. »Glaubst du, daß du für längere Zeit Ruhe bewahren und einfach mir vertrauen könntest ?« »Ich … ich weiß es nicht. Hör mal, was hast du vor, Drove ?« »Es würde nicht funktionieren, wenn ich es dir sagte, 136
denn dann würdest du anfangen, darauf zu hoffen, und es könnte sein, daß ich zuviel erwarte. Ich meine etwas, das manchmal geschieht, wenn man in Gefahr oder Schwierigkeiten ist, das ist alles. Man darf nur nicht soviel Angst kriegen, daß man es förmlich verlangt, dann geht es nicht.« »Oh.« Wieder versuchte sie zu lächeln. »Dann sagst du es mir besser nicht. Hm … Drove … ?« »Ja ?« »Bitte setz dich ganz zu mir und leg einen Arm um mich. So ist es besser … Schau nicht so besorgt drein, Braunauge kann dich nicht sehen. Ohhh …«, sie zuckte zusammen und umklammerte ihr Bein. »Es tut schrecklich weh, Drove, wirklich.« Sie verkrampfte sich in meinen Armen, entspannte sich dann mit einem Schaudern. »Es ist so kalt hier.« »Rede über irgend etwas, Ribbon. Versuch, nicht zu viel an die Schmerzen zu denken. Erzähl mir von dir selber. Vielleicht hast du Zeit genug, mir deine ganze Lebensgeschichte anzuvertrauen.« Ich zwang mich, das blasse Gesicht neben meinem fröhlich anzugrinsen. »Na ja, wenigstens damit zu beginnen.« »Du magst mich nicht besonders, nicht wahr ? Ich weiß, daß das größtenteils meine Schuld ist, aber du kannst auch ganz schön frostig nervenaufreibend sein, Drove, weißt du das ?« »Ich weiß, aber reden wir nicht von Haß oder Abneigung. Stell dir vor, du wärst ein gefangenes Tier. Tiere hassen nicht. Sie geben niemandem die Schuld daran, daß ihr Fuß weh tut. Nicht einmal dem Mann, der die Falle legte.« Sie weinte noch ein wenig, dann sagte sie : »Tut mir leid, 137
Drove. Es ist nicht deine Schuld, daß ich hier feststecke. Ich und dieser Idiot Wolff haben schuld. Rax ! Wenn ich je hier herauskomme, werde ich diesem Frostler sagen, was ich von ihm und seiner häßlichen, langen Nase halte !« »Ribbon !« mahnte ich sie. »Es wird nicht funktionieren, solange du nicht ganz frei von Haß bist.« Sie hatte aber recht, Wolff hatte eine häßliche lange Nase. »Hast du schon bemerkt, wie eng seine Augen beisammen stehen ?« fragte ich interessiert. »Schon oft.« Sie kicherte doch tatsächlich, aber dann wurden ihre Augen wieder leer und ausdruckslos, als die unwillkürliche Bewegung ihre Schmerzen noch verstärkte. »Ribbon«, sagte ich rasch, »ich finde dich sehr nett. Es stimmt, daß ich dich nicht sehr mochte, als wir uns kennenlernten, aber jetzt kenne ich dich besser und finde, daß du nicht nur hübsch, sondern auch … äh … liebenswert bist«, endete ich lahm und fragte mich, wie ich den Mut fand, so etwas zu sagen, und dann wurde mir erst klar, daß ich es konnte, weil es mir nicht so wichtig war, was sie von mir dachte. »Du bist auch ganz in Ordnung, Alika-Drove, abgesehen davon, daß du öfters frostig hochfahrend und reizbar bist.« Ich bemerkte zum erstenmal, daß sie ganz blaue Augen hatte. Sie dachte lange nach, dann sagte sie : »Wenn ich hier noch mal rauskomme, weißt du, dann … also, dann will ich versuchen, mich zu bessern. Vielleicht … vielleicht würden mich die Leute mehr mögen, wenn sie wüßten, wie ich wirklich bin. Ich weiß, daß ich anfangs jedem auf die Nerven falle, genau wie du. Später dann … Willst du mir etwas versprechen, Drove ?« 138
»Hm«, sagte ich unverbindlich. »Wenn ich hier herauskomme, und wenn du findest, daß ich mich wieder blöd benehme, du weißt schon, so rechthaberisch und überheblich, willst du mir’s da gleich sagen ?« »Gut.« Ich war sicher, daß sie das ehrlich meinte, und wir redeten noch lange miteinander, eng aneinander gekauert, von Zeit zu Zeit vor Kälte schaudernd. Manchmal versuchte sie zu lachen, und sie weinte noch oft, aber nur leise, weil sie scheußliche Schmerzen hatte und nichts dagegen tun konnte. Ich fand, daß sie sehr tapfer war – und viel zu gut für Wolff. Dann, endlich, kamen die Lorin. Ich sah sie nicht sofort, sondern wurde mir erst nach und nach ihrer Anwesenheit bewußt : sie beobachteten uns schon eine ganze Weile von der anderen Seite des Sees her. Mir schien, daß zumindest acht im Schatten eines niedrigen Baumes beisammenstanden, aber aus der Entfernung kann man das nicht so genau sagen, überhaupt, wenn sie sich nicht bewegen, denn sie sind so zottig, daß mehrere wie ein riesiges Pelztier wirken können. Ich begann mir Sorgen zu machen über Ribbons Einstellung zu diesen Wesen. »Ribbon«, sagte ich leise, »dort drüben sind ein paar Lorin, und ich glaube, sie werden uns helfen. Das war es, worauf ich gewartet habe. Du wirst doch nicht zu schreien oder herumzuzappeln anfangen, wenn sie herkommen und dich berühren, nicht wahr ?« Sie schluckte und musterte die schemenhaften Gestalten 139
unsicher. »Wie viele sind es denn ? Mir kommt vor, ziemlich viele. Sind sie nicht gefährlich ? Was werden sie mit mir tun ?« »Beruhige dich. Sie werden dich nur berühren, das ist alles. Entspanne dich einfach und laß sie herankommen.« Ich hielt sie fest an mich gedrückt, um ihr Zittern zu beschwichtigen, und sie vergrub ihr Gesicht in meinen Kleidern. Die Lorin musterten uns noch ein Weilchen, dann kamen sie alle zugleich langsam über den erstarrten See heran. Immer näher kamen sie, und ich glaube, Ribbon spürte ihre Nähe, denn ihr Zittern wurde schwächer, und sie legte einen Arm um mich und drückte mich an sich – und auch ich war jetzt ruhig genug, um es zu genießen. Sie flüsterte : »Drove, sind sie da ? Ich habe nicht mehr so viel Angst. Es tut mir nur leid, daß ich so kindisch bin.« »Sie sind hier«, sagte ich. Sie standen um uns herum, schauten auf uns herunter – ausdruckslos, wie es bei ihrem dichten Gesichtspelz schien. Ich fühlte das Beruhigende ihrer Nähe, fühlte die Hoffnung, die sie in uns weckten. Ich trat zurück, und sie umringten Ribbon. Sie kauerten sich um sie herum hin, und in Ribbons Augen lag keine Abscheu, keine Angst mehr. Als sie sie mit ihren Pelzhänden berührten, zuckte sie nicht zusammen. Sie schaute mich nur stumm und fragend an, als die Lorin ganz nahe heranrückten und sie in ihre Arme nahmen. »Laß sie nur machen«, sagte ich. »Entspann dich und vergiß Schmerz und Angst. Versuch zu schlafen.« Nach einer Weile fielen ihre Augen zu, ihr Körper wurde schlaff in den Armen der Lorin. Ich zog mich auf den 140
sicheren Grasfleck zurück, sah zu und fühlte den beruhigenden, tröstenden, einschläfernden Einfluß der Lorin, und fast überkam auch mich der Schlaf. Die Lorin rührten sich nicht mehr, die Köpfe sanken ihnen auf die zottige Brust, wie sie da so um Ribbon herumsaßen, eine stumme, reglose Gruppe auf dem erstarten, glitzernden See. Ich setzte mich auch hin … Und das nächste, was ich wußte, war, daß der See als klares Wasser zu meinen Füßen plätscherte und die Lorin auf mich zuwateten, die schlaffe Gestalt Ribbons in den Armen, während hinter ihnen ein dünnes Tentakel ärgerlich hin und her schwang. Sie legten sie neben mich, und der größte schaute mir einige Atemzüge lang ernst in die Augen. Dann verschwanden sie unauffällig, wie sie gekommen waren. Ich beugte mich über Ribbon. Sie lag vollkommen still, ihr Gesicht war leichenblaß, aber friedlich und entspannt. Mit einem schuldbewußten Blick in die Runde schob ich meine Hand auf ihre weiche Brust, aber ich konnte weder Herzschlag noch Atmung feststellen. Ich fühlte auch keine Wärme … Vielleicht ließ ich meine Hand allzu lange dort ; nach einer Weile jedenfalls spürte ich ein schwaches Pochen und Regen, und ihr Gesicht bekam wieder Farbe, als der Herzschlag rasch kräftiger wurde und sie wieder zu atmen begann. Hastig zog ich meine Hand weg, als ich die zurückkehrende Wärme spürte und sie die Augen öffnete. »Oh …« Sie sah mich mit einem schwachen Lächeln an und berührte flüchtig die Stelle, auf der meine Hand gelegen hatte, als erinnerte sie sich an irgend etwas, und ich spürte, wie mein Gesicht zu glühen begann. »Was ist 142
geschehen, Drove ? Wie bin ich hierher gekommen ?« »Die Lorin haben dich aus dem See geholt«, sagte ich kurz und stand auf. Die kurze Zeitspanne der Vertrautheit zwischen uns war vorüber – jetzt aber begann der Alltag wieder. »Gehen wir die anderen suchen«, sagte ich. Sie sprang auf, vollständig wiederhergestellt, ohne Anzeichen irgendeiner Schocknachwirkung und unverletzt bis auf eine leichte, blaue Abschürfung rund um ihren Knöchel. So etwas können nur die Lorin fertigbringen. »Wie lange hab’ ich geschlafen ?« »Du bist fast sofort aufgewacht, nachdem sie dich hier ins Gras gelegt hatten.« »Oh. Hm … danke, Drove.« Sie ergriff meine Hand. »Sind wir Freunde ?« Es war ihr sichtlich ernst. »Mhm.« Ich grinste wie ein Tollpatsch. Wir gingen durch den Sumpf zurück, hielten uns aber an einigermaßen trockenes Gelände. »Ich hoffe, bei Braunauge bist du nicht so auf den Mund gefallen«, lachte sie und warf mir einen boshaften Blick zu. »Sonst wird sie mit dir nur Enttäuschungen erleben.« Ich merkte, daß mir die Wangen brannten. »Wieso glaubst du, daß ich … daß sie ? Äh … wieso soll … ?« Auf einmal entdeckten wir Braunauge und Wolff in der Nähe des Flußufers, und ich ließ Ribbons Hand los, als wäre sie aus glühender Kohle. »Deshalb glaube ich, daß du … äh …«, ahmte sie mich lachend nach. Nach einigen Erklärungen und ein paar forschenden Blicken von Braunauge – der anscheinend die Vertrautheit, zu der die Umstände mich und Ribbon gezwungen hatten, 143
nicht sonderlich gefiel – setzten wir unsere Wanderung entlang des Flußufers fort. Es war jetzt später Nachmittag, und die Sonne stand schon recht tief, deshalb schränkten wir das Rekognoszieren ein, um noch vor Anbruch der Dunkelheit wieder in Pallahaxi zu sein. Drüben von der neuen Fabrik stieg eine Rauchfahne auf, und ein paar Fischerboote luden ihren Fang am Pier aus. Etliche Tiefboote waren schon auf die Uferböschung hinaufgezogen worden, während andere im Seichten auf Gestellen aufgebockt waren, damit sie nicht umkippten, wenn das Wasser aus der Mündung zurückflutete. Ein Dampflaster schnaufte aus dem Fabrikhof auf die Straße nach Pallahaxi heraus, auf der er, eine lange Staubfahne nachziehend, davonfuhr. Nach einem kurzen Intervall des Mißtrauens war Braunauge wieder bereit, meine Hand zu halten, und als wir hinter den beiden anderen zurückblieben und ich ihr klarmachte, daß ich ihre Gesellschaft der Ribbons bei weitem vorzog, drückte sie sie auch wieder und plauderte fröhlich. Ich beobachtete die beiden vor uns mit einiger Belustigung : Wolff hatte wieder Ribbons Arm genommen und beugte sich im Gehen zu ihr, so daß ich recht deutlich sehen konnte, daß er wirklich eine große Nase hatte – eine ziemlich spitze noch dazu. Er schaute aus wie ein großer, knochiger Vogel. Ich sagte das Braunauge, und sie lachte, erkundigte sich jedoch nach kurzem Schweigen : »Aber Ribbon findest du doch hübsch ?« Mir kam vor, als hätte ich etwas Ähnliches schon einmal gehört – diesmal allerdings würde ich die richtige Antwort geben. Ich fragte mich etwas erstaunt, woher ich 144
auf einmal all die Selbstsicherheit nahm. »Sie ist schon hübsch, auf so eine puppenhafte Art«, sagte ich langsam, wie nach reiflicher Überlegung. »Aber ich finde dich viel hübscher, Braunauge.« Sie schaute mich an, und ihre Augen weiteten sich und glänzten, als scheine der Sonnengott Phu aus ihnen, und dann lächelte sie höchst zufrieden und mit allen ihren entzückenden Grübchen. »Findest du das wirklich ?« murmelte sie und drückte meine Hand so fest, daß ich meine Knöchel knirschen zu hören glaubte. In diesem Augenblick des Glücks störte uns Wolff natürlich wieder einmal. »Schaut einmal da hinüber, ihr zwei«, sagte er. »Was haltet ihr davon ?« Er meinte mehrere große, planenbedeckte Gebilde, die in regelmäßigen Abständen am Flußufer aufgebaut waren ; als ich mich umdrehte, sah ich, daß die Dinger – was immer sie sein mochten – fast bis hinaus zur Landspitze aufgereiht waren. Ich hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handeln könnte, aber ich spürte irgendwie, daß es nichts Gutes sein konnte, diese Phalanx von finsteren, formlosen Planenbuckeln. »Ich werde meinen Vater fragen«, meinte ich unsicher. Ich sah die ahnungslose Miene schon vor mir, mit der er mir würde beweisen wollen, daß er keine Ahnung hätte, wovon ich sprach. Schließlich wären diese Gegenstände nicht so zugedeckt worden, hätten alle davon erfahren dürfen. Wir sprachen auf dem ganzen Rückweg nach Pallahaxi über dieses Geheimnis, das dort jedoch völlig an Bedeutung verlor angesichts der Nachricht, daß Squint noch immer nicht nach Hause gekommen war. 145
10 Ribbon wohnte in einem Haus am Nordrand der Stadt, ziemlich weit vom Hafen entfernt. Als wir in die Außenbezirke der Stadt kamen, lud sie uns noch auf eine Erfrischung zu sich ein ; wir waren alle verschwitzt und durstig, und ihr Zuhause lag am nächsten. Ich glaube, Wolff war etwas verärgert darüber, daß die Einladung auch Braunauge und mich einschloß. Das Haus war sehr klein, und es war vermutlich ein Schlag für seinen Stolz, uns so vor Augen geführt zu sehen, daß er sich mit der Tochter eines minderbemittelten Fischers abgab. Das alles ging uns jedoch in den nächsten Augenblicken sehr schnell aus dem Sinn. Ribbons Vater trat uns in dem winzigen Wohnzimmer zornig entgegen. »Wie konntest du ihn bloß aus den Augen verlieren, sag mir das ! Es ist doch noch ein Kind. Du warst für ihn verantwortlich !« Sein Name war Pallahaxi-Starkarm, und der Name paßte ganz ausgezeichnet zu ihm : wie ein bedrohlicher Riese stand er da und schien den kleinen Raum mit seinem Zorn auszufüllen. »Du weißt doch, wie unternehmungslustig er ist«, warf die Mutter, Pallahaxi-Una, ein. »Du weißt, daß man ihn die ganze Zeit im Auge behalten muß.« »Mutter, er ist einfach fortgelaufen«, sagte Ribbon hilflos. »Das hast du schon gesagt. Was ich nicht verstehe, ist, warum du nicht nach ihm gesucht hast. Warum bist du ohne ihn heimgekommen ?« Ribbon war sehr blaß ; sie zitterte und war nahe am Weinen. »Wir dachten, er wäre vor uns, weißt du. Wir dachten …« 146
»Ihr dachtet ? Ihr dachtet ? Der Kummer mit dir ist, daß du gar nicht denkst !« brüllte Starkarm – eine geradezu unheimlich exakte Wiederholung eines Lieblingsausspruches meines Vaters. »Ich sag dir eins, Mädchen, diesmal kriegst du deine Tracht Prügel ab. Sie wäre schon längst fällig gewesen, und das jetzt ist zuviel, bei Phu !« Jetzt weinte Ribbon heftig, und Wolff stand stumm daneben, mit vor Verlegenheit erstarrtem Gesicht. Jemand mußte etwas tun. »Ribbon wurde von einem Eisteufel gefangen !« platzte ich heftig heraus. »Es hat ewig gedauert, bis wir sie freibekamen, und wir dachten wirklich, Squint wäre vorausgegangen !« »Was wurde sie ?« Eine außerordentliche Veränderung machte sich im Gesicht des großen Mannes bemerkbar, als er erschrocken seine Tochter anstarrte. »Wo hat er dich erwischt, mein Kleines ? Bist du verletzt ? Wie ist das passiert ?« »Er … er hat meinen Fuß gefangen«, schluchzte sie. »Es ist jetzt schon gut, wirklich.« Starkarm kniete jetzt neben ihr und streichelte sanft die zerschundene Stelle an Ribbons Fuß mit seinen groben Händen. »Mein armes, kleines Mädchen«, murmelte er. »Tut es noch sehr weh, Liebes ? Es tut mir leid … es tut mir leid, daß ich böse mit dir war.« Vorsichtig zog er ihr den Schuh aus. »Setz dich, mein Kleines«, sagte er. Als er aufblickte, sah ich, daß seine Augen naß waren. »Una, hol bitte warmes Wasser, ja ?« Sie badeten Ribbons Fuß und rieben ihn mit einer Heilsalbe ein und trösteten sie und machten ganz allgemein ein 147
gräßliches Theater mit ihr – und ich begann besser denn je zu verstehen, warum Ribbon so war. Wenn man Eltern hat, die einem immer wieder sagen, wie schön und klug und kostbar man ist, dann glaubt man es nach einiger Zeit selber, vermute ich. Später dankte mir Starkarm, der wie ausgewechselt war, wiederholt für meinen Anteil an der Rettung und versprach mir die ganze Welt, sollte ich sie je wollen. Auch wenn ich, wie er es ausdrückte, der Sohn eines frostigen Narren von Regierungsbeamten sei. Schließlich wandten wir uns alle in ruhigerer Gemütsverfassung als zuvor dem Problem Squint zu, der noch immer nicht heimgekommen war. »Der kleine Frostler ist wahrscheinlich drunten in der Werft und treibt sich mit diesem Taugenichts Silverjack herum«, vermutete Starkarm. »Ich hab schon immer gesagt, daß er viel zuviel Zeit dort verbringt. Ich werde dort nachsehen. Du, Braunauge, versuchst es in der Grummette. Drove und du, wie war dein frostiger Name ? Wolff, ihr geht zu euch nach Hause und fragt dort. Dann treffen wir uns alle hier wieder. In Ordnung ?« Es war schon dunkel, als ich die Stadt durchquerte und den Hang am Hafen hinaufstieg. Langsam wurde ich unruhig. Ich konnte mir keinen Grund denken, warum Squint meine Eltern aufsuchen sollte – und ich war mir ziemlich sicher, daß Silverjack seit der Episode auf der Dampfbarkasse sehr in der Achtung des Jungen gesunken war, so daß es recht unwahrscheinlich war, daß er sich in der Werft aufhielt. Ich hatte keine Ahnung, wo er sein könnte. Ich begann mich sogar zu fragen, ob er überhaupt Pallahaxi erreicht hatte, ob er nicht irgendwo unten am Fluß lag, mit 148
einem gebrochenen Bein oder so, oder von einem Eisteufel oder einem Anemonenbaum gefangen worden war. Wie ich mir gedacht hatte, war er nicht bei mir zu Hause, als ich heimkam. Meine Eltern waren jedoch beide da und saßen im Wohnzimmer beisammen. Ich habe mich oft gefragt, was meine Eltern tun, wenn sie miteinander allein sind. Es muß recht langweilig sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß sie einander unterhaltsam finden. Vermutlich reden sie über den Krieg, und Vater hilft Mutter, auf ihrer Karte die richtigen Stellen für ihre bunten Stecknadeln zu finden. »Wir haben uns schon gefragt, was dir passiert sein könnte«, sagte Mutter. »Wir machen uns nämlich Sorgen um dich, Drove, weißt du.« »Ich wollte nur kurz hereinschauen, um zu sehen, ob Pallahaxi-Squint hier ist«, erklärte ich. »Er ist verschwunden. Ich geh gleich wieder, um bei der Suche zu helfen.« »Das wirst du ganz gewiß nicht tun.« Vaters Stimme nahm jenen beharrlichen Tonfall an, den ich so gut kannte. »Ich werde es nicht dulden, daß mein eigener Sohn sich mitten in der Nacht herumtreibt, um nach dem Fratzen eines gewöhnlichen Fischers zu suchen. Du bleibst schön hier, mein Junge, und gehst zu Bett.« »Was hast du gegen Fischer ?« fragte ich hitzig. »Ihr würdet mit eurer frostigen Konservenfabrik schön dastehen, gäbe es keine Fischer !« Mutter stieß einen leisen Laut des Entsetzens aus, als ihr zu spät aufging, daß hier ein Krach erster Größenordnung drohte. »Dein Vater hält Fischer für eine sehr schätzenswerte Menschengattung, Drove«, säuselte sie. »Ich natürlich auch. Aber das heißt nicht, daß wir ihre Sprößlinge 149
als geeignete Spielkameraden für dich ansehen, mein Lieber.« »Spielkameraden ! Rax, Mutter, hältst du mich immer noch für ein frostiges Kind ?« »Ich dulde es nicht, daß du deiner Mutter gegenüber so fluchst, Drove !« »Also das ist zu schade, Vater, weil ich nämlich sage, was zum Frost ich will !« »Oh, Phu … Oh, Phu …«, klagte meine Mutter händeringend. »Nun gut«, sagte Vater grimmig. »Nun gut. Diesmal bist du zu weit gegangen. Du weißt ja nie, wo deine Grenzen liegen, oder ? Ich kann nur annehmen, daß du dieses Benehmen von deinen Freunden hier gelernt hast, denn von deiner Mutter oder mir hast du es bestimmt nicht gelernt. Geh jetzt in dein Zimmer und bleib dort. Wir sprechen uns noch.« Ich wußte, daß Widerrede keinen Sinn hatte, weil er körperlich stärker war als ich. Gräßlich war mir auch, daß Mutter nun laut schnüffelnd weinte. Ich ging in mein Zimmer mit dem Gefühl, daß ich vielleicht sehr lange Zeit darin verbringen würde. Ich machte das Fenster auf und schaute hinaus. Einen Augenblick lang war ich versucht, einfach hinunterzuklettern und davonzulaufen, doch die Tatsache, daß das im Grunde keine Lösung war, hielt mich davon ab. Dann sah ich am Ende des Wiesenhangs Scheinwerfer aufleuchten und beobachtete, wie ein Motorwagen mit leisem Zischen über die Wiese heranrollte. Zuerst dachte ich, es sei Ribbons Vater, der mich abholen wollte, aber dann machte ich mir klar, daß er natürlich 150
keinen Motorwagen zu Verfügung haben würde. Es mußte also einer von Vaters frostigen Kollegen aus der Konservenfabrik sein, überlegte ich. Das Fahrzeug machte unmittelbar vor unserem Haus halt und ließ einen kurzen, sachten Pfiff auf der Dampfpfeife hören. Ich zog mich hinter den Vorhang zurück, als ich hörte, wie die Eingangstür aufging. Vater kam heraus zu dem Wagen, aus dem ein Mann ausstieg, der ihn leise begrüßte. Ich erkannte Horlox-Mestler. Das Ganze wirkte ziemlich heimlichtuerisch auf mich. Ich fragte mich, weshalb sie nicht ins Haus gingen, und kam zu dem Schluß, daß sie nicht wollten, daß Mutter oder ich hörten, was sie zu besprechen hatten. »Sie wissen natürlich von der Suche nach dem Jungen Squint«, sagte Mestler eben. »Mein Sohn hat mir davon erzählt«, sagte Vater ebenso leise. »Er wollte daran teilnehmen ; aber ich habe es ihm verboten.« »Weshalb ?« »Nun …« Mein Vater kannte sich nicht mehr ganz aus. »Ich meine … äh … es hätte doch einen seltsamen Eindruck gemacht … Der Sohn eines Parlamentariers …« »Burt, Sie sind ein Narr und verstehen nichts von Kindern«, fauchte Mestler zu meinem Entzücken. »Es wird einen recht seltsamen Eindruck machen, wenn er nicht an der Suche teilnimmt. Die Beziehungen zwischen den Stadtleuten und uns sind schon belastet genug ; Sie sollten wenigstens soviel Vernunft besitzen und wenigstens durch Ihren Sohn zeigen, daß wir durchaus am Leben und an den Nöten des Volkes Anteil nehmen.« 151
»Das wird nicht einfach sein«, knurrte mein Vater. »Er war einfach unausstehlich frech.« »Das ist Ihr Problem. Aber deswegen bin ich eigentlich nicht gekommen. Es gibt schlechte Nachrichten, fürchte ich. Die Ysabel wurde aufgehalten.« »Schon wieder ? Rax, wenn das so weitergeht, kommt sie noch in die Grume !« »Das befürchte ich ja. Zur Zeit sieht es danach aus, daß sie wahrscheinlich ihre Ladung im neuen Dock löschen muß – etwas, das wir vermeiden wollten. Jedenfalls möchte ich, daß Sie sich sofort morgen früh um diese Seite der Angelegenheit kümmern. Es muß alles bereit sein. Sorgen Sie dafür, daß die Klippenstraße so schnell wie möglich fertiggestellt wird.« »Natürlich. Selbstverständlich.« Plötzlich kicherte Mestler. »Schauen Sie nicht so erschrocken drein, Burt. Es wird schon alles klappen.« Er stieg wieder in seinen Wagen und dampfte davon. Kurze Zeit später kam Vater in mein Zimmer. Ich schaute ihn ausdruckslos an. »Ich habe über deine an sich unverzeihliche Unverschämt heit vorhin nachgedacht«, erklärte er steif, »und bin zu der Ansicht gelangt, daß vielleicht mildernde Umstände bestanden haben. Aus Sorge um deinen Freund hast du dich vergessen. Du bist jung, und junge Leute kennen keine Selbstbeherrschung, keine Disziplin. Wenn du älter bist, wirst du, dessen bin ich mir sicher, selbst erkennen …« »Moment – soll das heißen, daß du mich doch an der Suche nach einem kleinen Jungen teilnehmen lassen willst, 152
der vielleicht mit einem gebrochenen Bein in Kälte und Dunkelheit liegt ?« Er schluckte hart. Er machte den Mund auf, schloß ihn wieder. Endlich brachte er heraus : »Verschwinde, ich will dich hier nicht mehr sehen.« Vor Ribbons Haus war bereits eine Menge Leute versammelt, von denen viele Fackeln trugen, die ihre Gesichter mit rötlichem Flackern überzogen, während sie PallahaxiStarkarm zuhörten. Ich trat zu Braunauge und griff in der Dunkelheit nach ihrer Hand, während Ribbons Vater vom oberen Fenster des Häuschens zu den Leuten sprach. »Ich glaube, wir sind jetzt ungefähr fünfzig«, rief er, »und ich danke euch allen, daß ihr so schnell und bereitwillig gekommen seid. Wir haben Nachricht zur neuen Konservenfabrik geschickt und ersucht, daß sie uns eines ihrer Motorfahrzeuge leihen.« »Wird auch Zeit, daß die mal was für uns tun !« brüllte ein Mann, und etliche andere stimmten mit heftigem Gemurmel zu. In diesem Augenblick bog ein Loxengespann um die Ecke, geführt von einem Lorin, das einen großen Karren zog. Weitere folgten, bis die enge Straße schließlich zu eng wurde. Die Tiere standen geduldig in dem flackernden Licht da und ließen die Köpfe hängen. »Inzwischen werden wir die Wagen hier verwenden, die uns freundlicherweise von der alten Fabrik zur Verfügung gestellt wurden«, fuhr Starkarm fort. »Wir wollen keine Zeit vergeuden, also steigen wir alle ein und fahren wir 153
los !« Er verschwand und kam wenige Sekunden später zur Haustür heraus und drängte sich mit ausdrucksloser Miene hastig durch die Menge. Seine Frau und Ribbon folgten ihm, und zusammen mit einer Anzahl freiwilliger Helfer sprangen sie auf den ersten Karren. »Komm, Drove«, sagte Braunauge und zog mich vorwärts. Wir kletterten in den nächsten Karren, der stark nach Fisch roch, und setzten uns auf die Kisten, die auf der Ladefläche standen. Weitere kletterten herein, und bald hockten wir dichtgedrängt beisammen, ungefähr fünfzehn an der Zahl, jeder dankbar für die Wärme seiner Nachbarn, denn die Nachtluft war ziemlich frisch, und ich bemerkte, daß etliche Leute den nahen öffentlichen Wärmer nur ungern verließen. Der tote Planet Rax schimmerte eisig in der Schwärze über uns. Ich war mir der unmittelbaren Nähe Braunauges sehr bewußt, und nach einem Augenblick des Zögerns legte ich meinen Arm um sie. Auf der anderen Seite des Karrens sah ich weiße Zähne in einem breiten Grinsen aufblitzen, und im flackernden Schein einer Fackel erkannte ich Braunauges Vater Dickbauch, der uns nachsichtig beobachtete. Dann warfen sich die Loxen ins Geschirr, und der Karren setzte sich holpernd und schlingernd in Bewegung, so daß wir gegeneinandergeworfen wurden. Wir rumpelten durch enge Straßen und erreichten bald die Hauptausfallstraße der Stadt ; die Lorin hatten die Dringlichkeit der Situation den Loxen irgendwie verständlich gemacht, so daß diese mit ungewöhnlichem Eifer anzogen, die zottigen Schädel vorgereckt. Auf unserem Karren hatten wir zwei brennende Fackeln, und auf dem Boden lag ein ganzes 154
Bündel unangezündeter für die Suche selbst. Vorläufig hatten wir soviel Licht, wie wir brauchten. Der rötliche Schein wurde von den Fenstern rechts und links der Straße zurückgeworfen, Hunderten Augen gleich. Mit einemmal wurde ich mir der Kälte bewußt und zog fröstelnd die Schultern hoch. Braunauge warf mir einen fragenden Blick zu und kuschelte sich dann tiefer in ihren dicken Loxhaarmantel. Ich legte den Arm fester um sie, und sie lächelte in sich hinein. Dann, glaube ich, fiel uns beiden ein, wie ernst der Anlaß unseres Beisammenseins war, und ich weiß noch, daß ich mich meiner abschweifenden Gedanken schämte, wo doch Squint hilflos irgendwo in der Kälte lag. Dann sagte ich mir, daß meine Gefühle für Braunauge keinerlei Einfluß auf Squints schlimme Lage hatten, und fühlte mich etwas besser. Die Hufe der Loxen rutschten immer wieder auf dem losen Straßenbelag, als wir die lange Steigung hinauffuhren, die aus Pallahaxi hinausführte, und unser Lorin legte einen dicken Pelzarm um den Rist des Leittiers, während er es vermutlich telepathisch aufmunterte und antrieb. Ich entdeckte Silverjack auf dem Karren vor uns und sah das Blinken, als er eine Flasche an die Lippen setzte. Ich blickte von ihm zu dem Lorin und war verblüfft über die Ähnlichkeit, die mir eine etwas unwahrscheinliche Geschichte in Erinnerung rief, daß nämlich Silverjacks Mutter vor langer Zeit draußen auf der Fingerspitze einem Lorin beigelegen wäre. Endlich erreichten wir die Kuppe des Hügels und sahen die Lichter der Konservenfabrik unter uns liegen, noch ziemlich weit entfernt, wie es schien. Die vier Karren nah156
men nebeneinander Aufstellung, und Starkarm stand mit hocherhobener Fackel auf. »Wir beginnen hier mit der Suche«, rief er. »Wir schwärmen aus und durchstreifen den Abhang bis hinunter zum Fluß, wobei wir so weit als möglich eine lockere Kettenformation einhalten sollten.« Obwohl seine Stimme ruhig genug klang, war seinem hageren Gesicht die nervliche Belastung anzusehen. »Seid vorsichtig, wenn ihr zum Sumpf kommt. Es gibt Eisteufel dort. Ich würde vorschlagen, daß jeder Wagen eine Art Spähtrupp bildet, der sich vor der Suchkette hält. Gebt acht auf Rufe oder alles sonstwie Ungewöhnliche. Die Fahrzeuge von der neuen Fabrik müßten bald hier sein, dann kommen wir bestimmt schneller vorwärts.« Inzwischen war der Bote zurückgekehrt, der auf einem Lox den Hang von der neuen Fabrik heraufgeritten war. Er sagte etwas zu Starkarm. »Was !« brüllte der. »Was ?« Er wandte sich zu uns anderen um, und der Fackelschein ließ sein Gesicht verzerrt erscheinen. »Sie sagen, wir können keine Fahrzeuge bekommen«, keuchte er wütend. »Die Wachen sagen, sie haben nicht die Befugnis dazu ! In was für einem frostigen Land leben wir eigentlich ?« »Reiten wir runter und schlagen wir ihnen alles kurz und klein !« schrie ein riesenhafter Mann mit nur einem Auge, und die anderen brüllten zustimmend. »Nein !« rief Starkarm. »Vergeßt doch um Himmels willen nicht, weshalb wir hier sind. Zuerst müssen wir meinen Sohn suchen. Dann …« – er senkte die Stimme und sagte es so leise, daß ich die Worte kaum verstand – »dann kümmern wir uns um die Fabrik …« 157
Ich weiß noch, daß ich mir damals dachte, Squint hätte Glück mit seinem Vater ; es hätte keinen besseren Mann geben können, um diese Suche zu organisieren. Es lag nicht nur daran, daß er an diesem Fall selbstverständlich starken persönlichen Anteil nahm, er schien überhaupt eine natürliche Begabung dafür zu haben, die Dinge weiterzubringen, die Leute schon allein durch die Kraft seiner Persönlichkeit mitzureißen, ihnen seinen Willen aufzuzwingen – ein wenig vielleicht auch durch physische Überlegenheit. Später erzählte mir Braunauge, daß er zwar kein offizielles Amt in der Stadt innehatte, aber bei allen in hohem Ansehen stand und als Führer in lokalen Angelegenheiten galt. Braunauge, Ribbon, Wolff und ich wurden in der Mitte der Suchkette eingesetzt und sollten auf die Stelle zuhalten, an der wir Squint zum letztenmal gesehen hatten. Wenn ich nach links blickte, sah ich eine lange Reihe von Fackeln fast bis hinaus zur Fingerspitze ; auf der rechten Seite reichte die Kette weit landeinwärts. Während die Suchtrupps eingeteilt wurden, waren weitere Helfer aus der Stadt herangeritten, so daß wir jetzt insgesamt mindestens hundert Leute waren. Im Flußtal unten sahen wir sich bewegende Lichter : weitere Loxkarrenmannschaften führten eine Suche aufs Geratewohl durch. Langsam arbeiteten wir uns hangabwärts voran, die Fackeln hoch über den Kopf haltend, bis uns die Arme weh taten. Von Zeit zu Zeit glaubten Braunauge und ich eine zusammengeduckte Gestalt in einem Busch zu sehen, aber wenn wir näher kamen, fanden wir immer nur einen schlafenden Lorin oder einen Lox, oder gar nur ein Dornendickicht, das im Dunklen wie ein Mensch ausgesehen hatte. 158
Ich begann mir Gedanken über die Lorin zu machen. Wenn einer Squint finden konnte, dann sie mit ihrer unheimlichen Fähigkeit, die Emotionen von Menschen in Not auf weite Entfernungen hin wahrzunehmen. Später kamen wir langsamer vorwärts, als sich die Suchmannschaften einen Weg durch das Sumpfgebiet bis zum Fluß suchen mußten. Wir kamen an dem Platz vorbei, an dem Braunauge und ich einander zum erstenmal unsere Gefühle gestanden hatten, dann an der Stelle, wo Ribbon gefangen worden war – dabei jeden Schritt mit größter Vorsicht überlegend, vor allem dann, wenn das unstete Licht der Fackeln über dunkles Wasser tanzte. Wir sahen und hörten nichts als die gelegentlichen Rufe der Suchenden. Endlich kamen wir an den Fluß. Ich trat zu Braunauge, und wir blickten gemeinsam über die trägen Wellen der Mündungsbucht hinüber zu den Lichtern der Fabrik. Ein Stück weiter weg standen Wolff und Ribbon am Flußufer. Plötzlich hörte ich einen überraschten Ausruf von Wolff. Er bückte sich und zeigte Ribbon etwas. »Was habt ihr ?« rief ich. Er drehte sich um. »Eine Gelbkürbisschale. Sie war …« Er wandte sich wieder zu Ribbon um, und die beiden konferierten halblaut miteinander, immer wieder auf den Boden deutend. »Kommt mal rüber !« rief er dann. Wir rannten hin, und Wolff zeigte auf den schlammigen Boden vor uns. Der langsame Rückgang des Wasserstandes hatte zwischen Uferrand und Wasser einen breiten Streifen schwarzen Schlamm hinterlassen, in dem ich Spuren, Abdrücke oder ähnliches erkennen konnte. Ich ging näher an die Stelle heran, trat vom Uferrand in den Schlamm, 159
in dem ich etwas einsank, und hielt meine Fackel in die Höhe. Ich sah eine lange, einzelne Furche, die bis ins dunkle Wasser reichte, und neben der Furche entlanglaufend eine Reihe kleiner, tiefer Eindrücke. Es war offensichtlich, daß hier jemand ein Boot in den Fluß geschoben hatte, hineingeklettert und … wohin gerudert war ? Das einzig mögliche Ziel war die Fabrik. »Das könnten Squints Fußabdrücke sein«, sagte Ribbon. »Sie sind klein genug. Und es würde ihm sehr ähnlich sehen, um die Fabrik herumstreifen zu wollen, weil er genau weiß, daß es verboten ist.« »Was habt ihr gefunden ?« Der Ruf kam von weiter flußaufwärts. Eine Kolonne schwankender Lichter marschierte auf uns zu. Die Suchmannschaften wollten sich zu einer neuen Besprechung treffen. Bald hatte sich eine große Menschenmenge um uns versammelt. Starkarm traf ein, drängte sich zu uns durch und starrte kriegerisch auf die Spuren, als wollte er sie zwingen, ihr Geheimnis preiszugeben. »Er muß in der Fabrik sein«, sagte er endlich. »Er hat hier ein Boot gefunden, wurde neugierig und ruderte hinüber. Genau.« Er stapfte flußaufwärts los. »Kommt, Männer, auf zu der frostigen Fabrik !« rief er, und eine lange Kette brennender Fackeln folgte ihm das Flußufer entlang. Die Brücke, auf der die Pallahaxi-Straße den Fluß überquert, war ein gutes Stück entfernt, aber Starkarm legte ein derartiges Tempo vor, daß wir in kürzester Zeit das andere Ufer erreicht hatten und geschlossen auf die neue Konservenfabrik zumarschierten. Es lag jetzt neue Hoffnung in der Luft, und ich glaube, wir alle waren überzeugt, daß wir über kurz oder lang Squint friedlich schlafend auf 160
einem Haufen alter Säcke im warmen Kesselhaus vorfinden würden. Schließlich fiel das Licht unserer Fackeln auf den hohen Maschendrahtzaun und die großen Tafeln, die das Sperrgebiet anzeigten. Wir machten halt, und Starkarm schlug mit einem Knüppel gegen das hohe Eisentor. »He da drinnen ! He, ihr da drinnen !« Aus dem Postenhäuschen innerhalb des Zauns trat eine Wache. Der Mann starrte uns an, die Augen gegen das Licht der vielen Fackeln zusammengekniffen. »Was wollt ihr ?« »Tu nicht so erstaunt, Mann !« schrie Starkarm. »Ihr habt uns doch kommen gehört. Jetzt mach gefälligst auf und laß uns rein. Mein Junge ist da drinnen.« »Hier ist kein Junge«, erwiderte der Wachtposten ausdruckslos. »Sie sind nicht aus Pallahaxi, was ? Ich kenn’ Sie nicht – aber wenn Sie mich kennten, würden Sie wissen, daß ich im allgemeinen erreiche, was ich will. Jetzt machen Sie mal schön das Tor auf, dann will ich kein Wort mehr über die Fahrzeuge verlieren, die ihr uns nicht borgen wolltet.« »Das hier ist Sperrgebiet. Ich habe Befehl, niemanden hereinzulassen.« »Jetzt hören Sie mal zu, Sie frostiges Würstchen !« schrie Starkarm. »Machen Sie das Tor auf und lassen Sie uns rein, bevor ich das frostige Ding kurz und klein schlage ! Haben Sie mich verstanden ?« Eine Pause entstand, während der mich Wolff plötzlich am Ärmel zupfte. »Mir gefällt das nicht«, murrte er. »Mein Vater arbeitet für die Regierung. Ich möchte da nicht hineingezogen werden. Du solltest selber auch so gescheit sein 161
und abhauen. Wir sehen uns dann morgen, vielleicht …« Er schlich sich davon, und ich schaute ihm verachtungsvoll nach. Ribbon bemerkte kaum, daß er ging, sie ließ ihren Vater nicht aus den Augen. »Seid ihr taub ?« schrie Starkarm, und als er keine Antwort erhielt : »Also gut, ich habt’s euch selber zuzuschreiben. Wo sind die Loxen ? Wir werden sie ans Tor schirren und das frostige Ding einfach niederreißen.« Im Hintergrund der Menge entstand Bewegung ; sie teilte sich und ließ einige Männer durch, die die Tiere nach vorne brachten. »Wo sind die Lorin hin ?« fragte ich Braunauge mit einem unguten Gefühl. Wenn Squint da drinnen war, müßten die Lorin das eigentlich gefühlt haben. Sie waren jedoch spurlos verschwunden. Die Loxen waren unruhig, drehten die Köpfe hierhin und dorthin und glotzten verständnislos auf das Tor. »So, jetzt ist es genug !« brüllte der Wachtposten. Eine Reihe uniformierter Männer hatte sich innerhalb des Zaunes aufgestellt. Sie waren mit Federstutzen bewaffnet, die bereits gespannt waren. Jetzt legten sie auf die Menge an. »Der nächste, der auch nur einen Schritt in Richtung Tor macht, ist erledigt«, sagte der Posten kalt. »Ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt geht gefälligst nach Hause, allesamt !« Ich glaubte schon, Starkarm würde sich auf das Tor stürzen und versuchen, es mit bloßen Händen niederzureißen – an seinem Nacken traten die Sehnen wie Stricke hervor, und seine Fäuste ballten sich krampfhaft. Aber da packte ihn seine Frau am Arm, und Ribbon rannte zu ihnen und warf sich zwischen ihren Vater und das Tor. Einige lange Augenblicke rührte er sich nicht, starrte nur 162
über die Köpfe von Frau und Tochter den Wachtposten an. Dann entspannte er sich mit einem Schaudern, hob die Schultern und wandte sich ab. Als er an mir vorbeikam, sah ich sein Gesicht im Schein der Fackeln. Sein Mund klaffte auf, und in seinen Augen lag eine entsetzliche Leere.
11 In den nächsten Tagen merkte ich, wie sich unter der Bevölkerung von Pallahaxi mehr und mehr eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl verbreitete. Es ist natürlich möglich, daß es schon immer existierte, mir aber erst jetzt auffiel, nachdem ich einige Leute aus der Stadt wirklich kennengelernt hatte. In den früheren Sommern war ich eigentlich nur in Gesellschaft meiner Eltern aus dem Haus gekommen, wir hatten Ausflüge mit dem Motorwagen unternommen, Strandspaziergänge gemacht, an organisierten Bootsfahrten teilgenommen und kaum jemals mit irgend jemandem gesprochen, außer mit den Bewohnern der anderen Sommerhäuschen am Wiesenhang – und die waren allesamt wie wir Urlauber. Trotzdem war ich mir nun sicher, daß die Menschen beinahe instinktiv irgendwie näher zusammenrückten, als wäre ihnen Übles angetan worden, und als wüßten sie, daß ihnen noch Übleres bevorstand, so daß sie die tröstliche Nähe der anderen brauchten. Der Phu-Tempel wurde stärker denn je besucht – nicht etwa, weil die Leute plötzlich fromm geworden wären, sondern weil sie beisammen sein wollten. Die Stadtzeitung begnügte sich nicht mehr damit, einfach die 163
hereinkommenden Meldungen von der Nachrichtenstation abzudrucken, sondern begann, über Bürgertreffen zu berichten, Leserbriefe zu veröffentlichen und Artikel zu bringen, die das Parlament und seine Behandlung lokaler Angelegenheiten kritisierten. Wenn sich die Leute trafen, begrüßten sie einander mit herzlichem Armgriff, und man hörte auf, die Kaufleute wegen der Rationierung zu beschimpfen, sympathisierte vielmehr mit ihnen. Am Abend saßen die Leute vor ihren Häusern und schwatzten mit den Nachbarn, wobei oft jahrzehntealte Fehden begraben wurden. Ich hatte schon gehört, daß die Menschen einander in widrigen Zeiten näherkommen, also war das zu einem gewissen Grade verständlich. Was mich dabei störte, war nur folgendes : Gegen wen verbündeten wir uns eigentlich ? Die logische Antwort wäre gewesen, gegen den Feind, die Astaner – doch hörte ich kaum jemanden vom Krieg reden. Die Schuld an der Rationierung schob man nicht Asta zu, sondern der Regierung. Die Knappheit an Destillat-Brennstoff, die Ausweitung der Sperrgebiete, der gelegentliche Verlust eines Bootes auf See, jedes Unglück, jede Widrigkeit – an allem war die Regierung schuld. Während des Waffenstillstands, der momentan zwischen meinen Eltern und mir bestand, sprach ich darüber mit meinem Vater. Seine Miene wurde nachdenklich. »Mir ist die Einstellung deiner Freunde aus der Stadt bekannt, Drove«, sagte er endlich mit bemerkenswerter Zurückhaltung. »Natürlich macht sie uns Sorgen. Die Konservenfabrik ist ein wichtiges Projekt, und schon jetzt würde eine Reihe von Städten im Landesinneren ohne die von hier gelieferten Lebensmittel 164
Mangel leiden. Wir wissen, daß sich astanische Saboteure in der Gegend aufhalten, deren Hauptziel die Fabrik ist, also müssen wir strenge Sicherheitsvorkehrungen treffen. Gewiß, die Bevölkerung hat verschiedene Härten zu erdulden und sucht nach einem Sündenbock. Asta ist weit weg, die Regierung ist nahe, also gibt man natürlich lieber der Regierung die Schuld. Es ist bedauerlich, aber die Leute denken nun einmal so.« Ich hatte ihn mit einiger Verblüffung angehört ; zum erstenmal in meiner Erinnerung hatte er mit mir gesprochen, als wäre ich ein Erwachsener. Ich muß sagen, es gefiel mir. »Wenn man in der Fabrik im Fall von Squint hilfsbereiter gewesen wäre, wäre die Stimmung der Leute vermutlich besser«, sagte ich höflich. »Ein sehr unglücklicher Vorfall. Die beteiligten Wachtposten wurden strengstens verwarnt. Wir haben eine sehr gründliche Suchaktion durchgeführt, aber der junge Bursche wurde nirgendwo auf dem Fabrikgelände gefunden.« Er sagte das fast abbittend. »Aber es veranschaulicht, Drove, wie recht ich mit dem eben Gesagten habe. Ein ganzer Bezirk, der Ozean im Westen, die Gelben Berge landeinwärts, überall hätte der Junge verlorengehen können, aber nein, die Bevölkerung glaubt sich einbilden zu müssen, daß er ausgerechnet im Schlund der Konservenfabrik verschwunden ist !« Das klang recht vernünftig, weckte jedoch in mir die grauenhaftesten Vorstellungen, wie Squint sich irgendeine gewaltige Maschine anschaute, das Gleichgewicht verlor und in die wirbelnden Schneidmesser stürzte, um die Fabrik in Form etlicher Konserven zu verlassen … 165
Seit der Konfrontation am Tor der Fabrik hatte Wolff kaum etwas von sich hören lassen. Von Zeit zu Zeit sah ich ihn mit seiner Mutter in der Stadt Spazierengehen und Vorräte in solcher Menge einkaufen, daß ich keinen Wunsch verspürte, unsere Bekanntschaft in aller Öffentlichkeit einzugestehen. Es war mir unverständlich, weshalb die Regierung ihren Angehörigen nicht klarmachte, wie unklug es war, die Bevölkerung aufzubringen, indem man sich nicht um die Rationierung kümmerte und mit Sonderausweisen die Läden leerkaufte. Mittlerweile donnerten weiterhin die Laster durch die Stadt und die Straße ins Landesinnere hinauf und brachten Lebensmittel in Städte, die schlechter dran waren als wir. Ich verbrachte einen Großteil meiner Zeit mit Braunauge, und oft besuchten wir gemeinsam Ribbon – anfangs, um der Familie unsere Anteilnahme auszudrücken und uns zu erkundigen, ob es nicht vielleicht doch irgendwelche Nachrichten über Squint gab ; später, als ein Tag um den anderen verstrich und kaum mehr Hoffnung bestand, kamen wir, um die Leute zu trösten und von ihrem Kummer abzulenken. Sie nahmen es sich wirklich sehr zu Herzen. Ribbon fühlte sich an dem Unglück schuldig und redete kaum mehr, und Starkarm fühlte sich ebenfalls schuldig wegen seines Ausbruchs uns gegenüber am Abend von Squints Verschwinden, weil das bestimmt zu Ribbons Zusammenbruch beigetragen hatte. An vielen Abenden, wenn wir in Ribbons Zimmer saßen und versuchten, sie aufzumuntern, während sie auf dem Bett saß und mit leerem Blick durch uns hindurchschaute, kamen noch zahlreiche andere Besucher in das Fischerhaus. 166
Das Schlafzimmer lag straßenseitig, so daß ich die Leute eintreffen sah. Einige brachten Päckchen mit, die wohl Lebensmittel oder Spirituosen als Geschenk für die Trauerfamilie enthielten. Andere, und das waren meistens Männer, kamen jedoch mit leeren Händen und zielbewußtem Schritt, manchmal zu zweien oder dreien, und die empfing Starkarm im Wohnzimmer und schloß dann energisch die Tür – nur hin und wieder machte er auf und rief seiner Frau hinaus, noch etwas zum Trinken zu bringen. Oft hatte er zwölf oder mehr Leute in diesem Zimmer, und eines Abends zählte ich sogar zwanzig. Braunauges Eltern waren an jenem Abend auch da, und sie fragte sie später, worum es bei diesen Treffen eigentlich ginge, bekam aber keine zufriedenstellende Antwort. Es sah ganz danach aus, als sei eine Art Initiativgruppe gebildet worden, nur hatten wir keine Ahnung, wie die Initiative aussehen sollte. Mittlerweile war die Grume gekommen. Eines Tages nahmen wir Ribbon mit hinunter zum Pier ; wir hatten einige Schwierigkeiten, sie aus dem Haus zu kriegen, aber als wir erst den Hafen erreicht hatten, schien sie das Getriebe rundum doch aufzuheitern. Alle tiefen Boote waren jetzt bereits an Land gebracht worden, und im Hafenbecken drängten sich viele buntlackierte kleine Gleiter. Der Wasserstand war sehr niedrig ; die Oberfläche bewegte sich in langsamen, trägen Wellen wie geschmolzenes Blei. Ich machte die Anlegeleine meines Gleiters vom Poller los und zog ; zähe, schwere, sirupartige Tropfen lösten sich 167
von dem Tau, als das kleine Boot heranglitt. Wir kletterten hinein, und ich setzte das Segel. Jede Bewegung des Bootes löste ringsum müde flache Wellen aus, die sich gleich wieder legten. Der Wind erfaßte uns und schob uns sachte in Richtung Hafenausfahrt. Die Schneetaucher waren mittlerweile alle fort ; diese leichten Vögel hätten mit dem dichten, dicken Wasser der Grume gar nichts anfangen können, hätten mit ihrem hohen Auftrieb darin keinesfalls untertauchen können – und mit der Grume waren auch neue Feinde gekommen. Die Grummetten waren in Schwärmen von Süden eingefallen, der Grume folgend. Eine Unmenge dieser großen weißen Vögel hatte sich auf dem Dach des Fischmarkts niedergelassen und beäugte gierig die Ausbeute der Fischer, die eben ihren Fang an Land brachten. Als wir durch die Öffnung der Mole in den äußeren Hafen hinaussegelten, stieß eine Grummette aufs Wasser herunter, schlitterte mit vorgespreizten Füßen über die Oberfläche, wobei die Flügelspitzen schmale Rillen zogen, und landete schwerfällig auf dem zähen Wasser. Mit einem Schütteln faltete der große Vogel die weiten Schwingen auf dem Rücken, und als wir vorbeiglitten, starrte er uns kalt nach. Ich beobachtete ihn fasziniert. Diese Vögel symbolisierten für mich Pallahaxi, die Essenz unseres alljährlichen Sommeraufenthalts. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fragte Braunauge : »Wann fahrt ihr wieder heim, Drove ?« Ihr Blick war traurig. »Rax – sprich doch nicht davon. Es ist noch lange bis dahin – außerdem hat Vater mit der neuen Fabrik so viel zu tun.« 168
Ich wagte es nicht auszusprechen, aber im Hintergrund meines Bewußtseins keimte das Gefühl, daß wir überhaupt nicht mehr heimfahren würden, daß wir für immer in Pallahaxi bleiben würden. Der Gedanke war fast zu herrlich, um konkret ins Auge gefaßt zu werden. Gewiß, meine Eltern sprachen überhaupt nicht mehr von Alika ; gewöhnlich begann meine Mutter um diese Zeit davon zu reden, wie hübsch es wäre, doch wieder nach Hause zu kommen, in das große Haus. Ich ertappte mich bei der Hoffnung, daß Vater mit der Fabrik auf alle möglichen Schwierigkeiten stoßen würde, so daß er auf Dauer hierbleiben müßte. Ribbon sah mich ernst an. »Vielleicht bleibst du hier, Drove.« Ich wünschte, sie hätte es nicht ausgesprochen – das hieß das Schicksal zu versuchen. Aber es war schön, daß sie überhaupt wieder etwas sagte, und ich gab ihr eine zurückhaltende Antwort, während Braunauge bereits hoffnungsvoll lächelte. Das träge Wasser war plötzlich mit glitzerndem Silber bedeckt, als ein Schwarm winziger Fische, der sich nicht mehr unter Wasser halten konnte, an die Oberfläche gedrückt wurde und zwischen den Booten umherschlitterte, verfolgt von einem schnappenden, sich windenden Glubber. Eine Schar Grummetten fegte herunter, und einer der Riesenvögel schnappte sich einen Glubb, der sich auf der Oberfläche herumwälzte, nicht mehr imstande, sich unter Wasser in Sicherheit zu bringen. »He, Jungs !« Der Ruf kam von einem in der Nähe vorbeizischenden Gleiter, der schon halb voll Fische war. Am Ruder saß unverkennbar Silverjack. Die anderen beiden Besatzungsmitglieder hatten mit den beiden riesigen, seitlich wie 169
Flügel ausgespannten Netzen alle Hände voll zu tun : wenn das Boot ordentlich Fahrt hatte, sammelten diese knapp über die Oberfläche streifenden Netze alle heraufgetriebenen Fische ein. Die Bucht von Pallahaxi ist bestens geeignet für die Grumefischerei. Die nach Norden vordringende Grume treibt alles maritime Leben vor sich her, und die Fische fangen sich in der Bucht wie in einer riesigen Reuse. Wir drei schauten einander vielsagend an, und ich begann an Spione, Schmuggler und unvermeidlich auch an Suint zu denken, und das waren alles Themen, die wir auf dieser Fahrt Ribbon zuliebe eigentlich vermeiden wollten. Ich warf ihr einen Blick zu ; sie lächelte schwach, auf etwas hinter mir blickend. Sie schaute zu dem Strand hinüber, dem mit der Kanalmündung, auf den wir uns damals gerettet hatten. Mittlerweile war Silverjack vorbei und, wie ich hoffte, auch jener düstere Moment. Endlich passierten wir die Mole mit dem kleinen Leuchtturm und segelten aufs offene Meer hinaus. Die Wasserfläche war ein lebendiger, glitzernder Teppich – unzählige Fische schlitterten wie windverblasener Flitter darüber hinweg, Grummetten stießen in riesigen weißen Wolken herunter und erfüllten die Luft mit ihren gierigen Schreien. Durch dieses Durcheinander kreuzten die Gleiter oder zischten mit prallen Segeln vor dem Wind dahin, mit ihren ausgespannten Netzen die reiche Ernte der Grume sammelnd. Die Grume hatte zwar erst begonnen, aber es sah heuer doch nach einem Rekordjahr aus. Später würden die größeren Fische an die Oberfläche gedrückt werden : die riesigen Wingetten und die Flachbäuche und die Sninte, Raubfische, 170
die selbst Menschen anfielen. Etwa um diese Zeit würden die Grume-Reiter aus dem Süden eintreffen, Säugetiere, die sich mit ihren Flossen über die Oberfläche schnellten. Dann würden blutige Kämpfe auf dem zähen, dicken Wasser ausgefochten werden. Als letzte kamen die Belletten, schlanke, scharfzahnige Aasfresser, die nach der Grume aufräumten – sie fraßen alles, aber auch wirklich alles. Es war nicht ratsam, schwimmen zu gehen, wenn die Grume nachließ … Ribbon wirkte jetzt sichtlich munterer, beobachtete das wilde Treiben mit Interesse und stieß immer wieder kleine Freudenschreie aus, wenn sie wieder einmal irgendein sonderbares Tier entdeckt hatte, das an die Oberfläche gezwungen worden war. Plötzlich zeigte Ribbon hinaus aufs Meer. »Was ist denn das ?« Weit draußen, aber eindeutig mit Kurs auf die Bucht, war ein größeres Schiff zu erkennen, das eine dicke Rauchwolke hinter sich herzog. »Das ist ein Tiefrumpfschiff«, sagte ich, als sich für einen Augenblick die wirbelnden Wolken von Grummetten teilten und ich bessere Sicht hatte. »Die haben sich aber Zeit gelassen. Jetzt werden sie es schleunigst auf den Strand setzen müssen.« »Wo denn ?« Braunauge spähte interessiert aufs Meer hinaus. »Der dicke Pott kommt nicht mal in die Nähe der Mündungsbucht. Dort ist der Wasserstand längst zu niedrig. Und vor der Mündung bricht der Schelf sehr steil in den Tiefseegraben ab. Sie müßten das Schiff also schon in den inneren Hafen bringen, zu den vielen privaten Fischerbooten und anderen Wasserfahrzeugen, und dann 171
hätte kaum sonst jemand Platz. Wenn sie das tun, gibt es mächtigen Aufruhr.« Es war interessant, wie wir alle stillschweigend annahmen, daß das Schiff ›ihnen‹ gehörte und daß seine Ankunft für Pallahaxi unweigerlich von Nachteil sein würde. »Wäre besser, wenn die Astaner es versenkten, bevor es hier eintrifft«, sagte ich. Als wir wieder bei Ribbon zu Hause waren, schaute sie uns beide an und sagte : »Danke.« »Wofür denn ?« fragte Braunauge. »Du kannst so oft mitkommen, wie du willst, nicht wahr, Drove ?« »Mhm«, sagte ich. »Hör mal, ich möchte euch nicht im Weg sein«, sagte Ribbon, mich unverwandt ansehend. Wieder hatte ich eine Art Scheideweg in meiner Entwicklung erreicht, das wurde mir jetzt ziemlich abrupt bewußt. Ich hatte meine Abhängigkeit von den Erwachsenen in gewissem Grade überwunden, ich hatte Selbstvertrauen gewonnen und war auf bestem Wege zu erkennen, daß ich wirklich genausoviel wert war wie irgendein anderer – zuvor hatte ich mir das nur immer vorgesagt. Wie weit sollte ich jetzt aber gehen ? Wollte ich überheblich und tyrannisch werden ? Wollte ich die Ursache dafür sein, daß Ribbon einsam und unglücklich war, bloß weil ich aus lauter Selbstsucht die ganze Zeit mit Braunauge allein sein wollte ? Impulsiv griff ich nach Ribbons Hand und drückte sie fest. »Bitte, komm mit, wann immer du möchtest«, sagte ich. »Wir freuen uns, wenn du mitkommst.« 172
Ihr Gesicht leuchtete förmlich auf, und zum erstenmal seit Squints Verschwinden sah sie wirklich glücklich aus. Etwas später an diesem Abend fragte Starkarm Braunauge und mich : »Was ist, kommt ihr mit in den Tempel ?« Er und Una zogen sich schon die Mäntel an. Ich schaute ihn verblüfft an. »Ich geh aber nie in einen Tempel«, sagte ich. Er lachte. »Na, heute wirst du dir auch nichts über den Sonnengott Phu oder den Großen Lox oder solches Zeug anhören müssen, mein Junge. Heute findet eine Bürgerversammlung statt. Ein Vertreter der Regierung wird auch kommen.« »Hoffentlich nicht mein Vater.« »Nein. Ich weiß nicht, ob du den Mann kennst. Er hat sich in letzter Zeit hier ziemlich viel sehen lassen, und er scheint ein vernünftiger Bursche zu sein. Heißt HorloxMestler.« Als wir zum Tempel kamen, waren dort bereits ziemlich viele Leute versammelt, unter denen ich etliche bekannte Gesichter entdeckte. Bedeutungsvoll erschien mir, daß auf dem Podium vor allem jene Leute Platz genommen hatten, die ich an vielen Abenden bei Starkarm kommen und gehen gesehen hatte. Ribbon, Braunauge und ich setzten uns zu den übrigen Zuhörern, doch Starkarm stieg zu dem improvisierten Rednerpult hinauf und hämmerte nach einer Weile darauf, um Ruhe herzustellen. »Bürger von Pallahaxi !« rief er. »Wir haben uns heute hier versammelt, weil uns vieles, was die Regierung tut, nicht gefällt. Aber hier ist Horlox-Mestler, ein Parl, der sich bereit erklärt hat, unsere Beschwerden anzuhören. Aber 173
was rede ich noch – ich will lieber Mestler selbst gleich zu Wort kommen lassen.« Er setzte sich unter vereinzeltem Beifall, und HorloxMestler erhob sich, die Versammlung nachdenklich musternd. »Einleitend muß ich Ihnen wohl sagen, daß dieser Besprechung keinerlei offizieller Status beigemessen …« Starkarm sprang mit zornrotem Gesicht auf. »Lassen Sie den Unfug, Mestler !« brüllte er. »Wir sind nicht an Ihrem frostigen Status und noch weniger an Ihren frostigen Ausreden interessiert. Wir haben Sie hergeholt, damit endlich einmal verschiedene Dinge klargestellt werden. Also kommen Sie zur Sache !« Er setzte sich, und diesmal erntete er tosenden Beifall. Mestler lächelte schwach. »Es tut mir leid, der Fehler liegt bei mir. Starkarm hat recht. Wir halten hier und jetzt diese Versammlung ab, und ihr offizieller Status tut nichts zur Sache.« Er schwieg kurz und begann dann, den bisherigen Ablauf des Krieges zu rekapitulieren. Das hatte ich alles schon von meinem Vater des öfteren gehört, deshalb begann meine Aufmerksamkeit schnell nachzulassen. Ich unterhielt mich damit, daß ich die Hände an den Seiten meines Stuhls herabhängen ließ, was irgendwie dazu führte, daß ich schließlich auf der einen Seite Braunauges Hand und auf der anderen Ribbons Hand hielt. Das hatte ich mir natürlich erhofft. »Nach den letzten Nachrichten haben wir die Astaner also an allen Fronten zum Stehen gebracht«, sagte Mestler schließlich, »nur im Süden gelang es ihnen durchzubrechen. Gewisse Schlüsselstädte sind ihren Streitkräften in die Hände gefallen, so daß wir die Möglichkeit einer Invasion 174
über See nicht ausschließen können. In diesem Fall wäre Pallahaxi vermutlich eines der Hauptziele.« »Wo bleiben also unsere Kanonen ?« rief jemand. »Für einen angemessenen Schutz der Stadt wird selbstverständlich gesorgt werden«, erwiderte Mestler. »Obwohl Sie einsehen werden, daß wir natürlich nicht die Versorgung an der Front gefährden können. Im Augenblick werden alle Geschütze von den tapferen Männern benötigt, die unser aller Heimatland verteidigen !« Er machte eine Pause, aber wenn er Applaus erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Vereinzelt gab es sogar skeptisches Gemurmel. Ein Mann hinter mir faßte die Gefühle der Versammlung bezüglich dieses Punktes zusammen : »Zum Rax mit unser aller Heimat !« schrie er. »Was ist mit Pallahaxi ?« »Auch hier in Pallahaxi ist die Lage nicht ungefährlich, doch wir behalten sie im Auge«, fuhr Mestler fort. »Es wurden gegnerische Agenten in der Umgebung der Konservenfabrik beobachtet – und da die Fabrik von höchster Kriegswichtigkeit ist, könnte es unter Umständen erforderlich werden, das Sperrgebiet auszuweiten. Wir hoffen, daß es nicht nötig wird, das können Sie mir glauben.« Im weiteren Verlauf seiner Rede tadelte er jene, die die Dinge in die eigene Hand nahmen, ohne an das Allgemeinwohl zu denken, die an nächtlichen Volkszusammenrottungen teilnahmen und dadurch astanischen Spionen Deckung lieferten, die illegale und geheime Treffen abhielten und so die Zeit des Parlaments verschwendeten, Zeit, die dieses für kriegswichtige Organisationsaufgaben so viel dringender benötigt hätte. Kurz, er verließ sich auf den Angriff 175
als beste Verteidigungswaffe, behielt jedoch die ganze Zeit seinen ruhigen, vernünftigen Tonfall bei und verließ sich drauf, daß sein freundliches Onkellächeln seinen Worten die Schärfe nahm. Ich möchte nicht gerade sagen, daß er die Zuhörer hinriß, aber wenigstens stürmten sie nicht das Podium. Starkarms Miene war finster und wurde zusehends finsterer, und seine Verschwörerkumpane flüsterten aufgeregt miteinander, aber niemand versuchte auch nur einen Zwischenruf. »Nach reiflicher und eingehender Überlegung sieht sich daher das Parlament gezwungen, diese verständlicherweise unpopuläre Maßnahme zu ergreifen«, sagte Mestler eben, also hatte ich offensichtlich wieder etwas überhört, weil ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Im Publikum erhob sich ein empörtes Gemurmel. »Wer gibt Ihnen das Recht dazu ?« rief Braunauges Vater vom Podiumstisch. »Eine solche Vorschrift würde mir das Geschäft ruinieren. Ist diese Stadt denn eine Konserven fabrik oder irgendeine frostige Regierungsabteilung ?« »Wir befinden uns im Kriegszustand, das heißt, die Regierung hat das Recht, lokale Notstandsmaßnahmen zu treffen«, erklärte ihm Mestler. Der Unmut der Zuhörer steigerte sich. »Welche Maßnahme ?« flüsterte ich Braunauge zu. »Eine Ausgangssperre.« »Was ! Wovor haben die eigentlich Angst ?« »Vor Ribbons Vater und seinen Anhängern, glaube ich … Drove, das heißt, wir werden abends nicht mehr zusammen ausgehen können.« Ihr Blick war traurig und hoffnungslos. 176
Überall sprangen die Menschen auf und brüllten, und ich sah, daß der Tempelhüter nervös zu werden begann. Seine Kostbarkeiten waren gefährdet, wenn es einen Aufruhr gab. Ein Symbolkristall würde ein ausgezeichnetes Wurfgeschoß gegen Mestler abgeben. Plötzlich entstand eine betroffene Stille, als eine Anzahl bewaffneter, uniformierter Männer aus dem Hintergrund auftauchten und hinter Mestler Aufstellung nahmen. In das Schweigen hinein sagte der Parl : »Nein, wir führen nicht das Kriegsrecht ein. Es wird lediglich ein Kontingent Truppen in der Stadt stationiert, um der hiesigen Polizei zu helfen und eventuell notwendige Verteidigungsaufgaben zu übernehmen. Sie können sich also darauf verlassen, daß die Regierung auch im Falle eines astanischen Angriffs alles daransetzen wird, diese Stadt zu verteidigen. Ich danke Ihnen.« »Einen Moment !« Verwirrt sprang Starkarm auf. Irgendwie hatten sie unversehens die Oberhand verloren, hatten in ihrer eigenen Versammlung eine Niederlage einstecken müssen. »Wir sind recht gut imstande, uns selber zu verteidigen ! Wir brauchen diese Kerle nicht hier !« Mestler blickte ihn betrübt an. »Pallahaxi-Starkarm, was wollen Sie eigentlich ? Sie haben sich beschwert, daß die Regierung nichts unternimmt. Jetzt geben wir Ihnen den Schutz, den Sie verlangt haben, und Sie sind immer noch nicht zufrieden. Wirklich, ich bekomme langsam den Eindruck, daß Sie nichts als ein Unruhestifter sind …«
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12 Am nächsten Morgen holte ich Braunauge ab, weil wir vorhatten, auf die Fingerspitze hinaufzuwandern, um die Ankunft des großen Schiffes zu beobachten. Bei dem guten Ausblick, den man von dort oben hatte, würden wir sofort feststellen können, ob es Kurs auf den Hafen oder, wie Braunauge vermutete, auf das neue Dock nahm. »Gestern abend wurde in der Grummette berichtet, daß es über Nacht vor der Fingerspitze vor Anker gegangen ist«, sagte sie. »Vielleicht bringt es irgendeine Art Kriegsmaterial mit. Irgend jemand hat auch gesagt, es sei auf hoher See von einem astanischen Kriegsschiff angegriffen worden, wobei die Maschinen beschädigt wurden. Deshalb hat es sich so verspätet. Es hätte vor der Grume eintreffen sollen.« Wieder einmal war ich verblüfft darüber, welch fantastischer Umschlagplatz für Nachrichten und Neuigkeiten die ›Goldene Grummette‹ doch war. Die Meldungen, die Braunauge mir von zu Hause mitbrachte, waren im allgemeinen aktueller und genauer als jene aus den Zeitungen, die mein Vater so begierig verschlang. Wir gingen noch Ribbon abholen, da sie uns leidtat wegen der Art und Weise, in der man ihren Vater bei der Versammlung tags zuvor abgefertigt hatte. Sie war zwar selbst ganz munter, war aber doch dankbar für eine Ablenkung, weil Starkarm immer noch wütend war und wild daherredete, eine Bürgerwehr aufstellen zu wollen. Wir überließen es also Una, die Stellung zu halten, und machten uns auf den Weg, die Hauptstraße hinunter bis zum 178
Hafen. Eine Zeitlang redeten wir noch über die Versammlung, dann ließen wir das Thema aus Rücksicht auf Ribbon fallen. Die Ausgangssperre sollte zum erstenmal an diesem Abend verhängt werden, was Braunauge gar nicht gefiel. Ihr Vater würde gewiß einen beträchtlichen Umsatzverlust erleiden. In der Nähe des Obelisken stand niemand anderer als Wolff, diesmal sogar ohne seine Mutter und ziemlich verloren dreinschauend. Unglücklicherweise entdeckte er uns und kam eilig herbei, mit einem gänzlich unbefangenen Lächeln : das war typisch Wolff – er war uns schließlich seit vielen Tagen aus dem Weg gegangen, und ich hatte angenommen, wir wären ihn los. »Genau die Leute, auf die ich gewartet habe«, begrüßte er uns leger und nahm doch tatsächlich Ribbons Arm, als er sich uns anschloß. Sie blickte ihn ausdruckslos an, und er schien sich plötzlich zu besinnen. »Ah … keine Neuigkeiten vom kleinen Squint ?« »Nichts«, sagte Ribbon sehr ruhig. »Zu schlimm. Eine schreckliche Sache, das. Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, und da ist mir eine Idee gekommen. Meinst du nicht …« »Halt doch endlich die Klappe über all das, Wolff«, fauchte ich, als ich sah, wie Ribbon sich bekümmert auf die Lippe biß. »Reden wir von was anderem.« Es war nun mehr als zwanzig Tage her, daß Squint verschwunden war, also hatte es wenig Sinn, das Thema wieder aufzuwärmen. Er blickte mich mit vornehmem Erstaunen an, die lange Nase in die Luft gereckt. »Also wirklich, Alika-Drove. Wenn es um das Leben eines Kindes geht, sollte man denken, 179
daß jeder Vorschlag der Überlegung wert wäre. Schließlich war ich dabei, als Squint erlaubt wurde, allein fortzugehen, und fühle mich verantwortlich – was du auch solltest. Mir scheint, daß du in deiner egozentrischen Art …« Er verstummte, als Ribbon sich plötzlich von ihm losriß und ihr Gesicht an meiner Schulter vergrub, laut schluchzend. »Um Phus willen, bring ihn zum Schweigen, Drove«, wimmerte sie verzweifelt. »Ich halt das nicht aus !« Das war eine Situation, der ich hilflos gegenüberstand – und das auf der belebten Hafenstraße von Pallahaxi, ein weinendes Mädchen im Arm, während die Passanten uns neugierig musterten – weniger forschend als Braunauge allerdings, deren Sympathien für Ribbon sichtlich im Schwinden waren. Ich wußte einfach nicht, was ich tun oder sagen sollte ; es gelang mir lediglich, eine Miene aufzusetzen, die, wie ich hoffte, Ernst und Besorgnis und Mitgefühl im richtigen Verhältnis ausdrückte. Meine eine Hand lag noch immer schlaff in Ribbons kalten Fingern, während der andere Arm ohne allzuviel Begeisterung ihre Schultern umfing. Mein einziger Trost war, daß Wolff die Sache noch viel peinlicher war als mir. Mit dunkel angelaufenem Gesicht und offenem Mund stand er da und stotterte : »Äh … hm, tut mir furchtbar leid, Ribbon, ich hab’ ja nicht gewußt, ich meine …« Das gab mir die Kraft, unser interessiertes Publikum zu vergessen und mich zu berechtigter Entrüstung aufzuschwingen ; schließlich war ich Ribbons Held und Beschützer und hatte sie als solcher gegen diesen Rüpel zu verteidigen. Moralisch gesehen hatte ich jedenfalls die Oberhand. Ich an Wolffs Stelle hätte mich sogar schleunigst verdrückt. 180
»Halt doch endlich den Mund, Wolff«, schnappte ich. »Das Problem mit dir ist …« In diesem Augenblick sah ich meine Mutter, mit Einkäufen beladen, auf uns zukommen. Ich schwenkte Ribbon herum und ließ sie los. »Weg von hier«, sagte ich drängend, packte Braunauges Hand fester und schob Ribbon ohne viel Umstände mit einer Hand auf ihrem Hintern weiter. Wolff rannte verwirrt nebenher. Ich glaube, ich war der einzige, der meine Mutter gesehen hatte. Wir bogen um eine Ecke der Hafenmauer und gelangten auf die Fingerspitzenstraße. »Hört doch, es tut mir furchtbar leid«, schnaufte Wolff. Er dachte, wir liefen davon, weil wir ihn loswerden wollten. Zwischen den auf den Strand gezogenen Booten waren wir recht gut gedeckt, also machte ich halt. Die anderen blieben auch stehen und schauten mich verdattert an. »Schon gut«, sagte ich. »Da hinten war nämlich meine Mutter. Ich habe keine Angst vor meiner Mutter, also kannst du dir deine Bemerkungen sparen, Wolff – es liegt mir bloß nichts dran, daß sie mich in irgendeine … äh … häßliche öffentliche Szene verwickelt sieht. Die peinliche Untersuchung nachher ist mir zuwider. Geht’s wieder, Ribbon ?« Sie lächelte mir tränenfeucht zu. »Alles in Ordnung, Drove, danke.« »Wenn du mit uns kommen willst, wirst du dir die blöden Bemerkungen verkneifen müssen, Wolff. Klar ?« »Mhm.« Er senkte verlegen den Kopf. »Wir wollen auf die Fingerspitze, um das große Schiff zu beobachten. Ist es dir recht, wenn er mitkommt, Ribbon ?« 181
»Es macht mir nichts aus«, sagte sie leise. Und so stieß Wolff wieder zu unserer kleinen Gruppe und nahm dabei bereitwillig eine Degradierung in Kauf. Wir standen auf der Landspitze und blickten über die schimmernde, träge See hinaus. Die Oberfläche war betupft mit tanzenden Fischen, und unermüdlich stießen die Grummetten herunter, schnappten ein Schnabelvoll zuckender, lebendiger Nahrung und verschlangen sie, während sie sich vom Aufwind bis auf die Höhe der Klippen tragen ließen. Einige kamen uns so nahe, daß wir sie schlucken sehen konnten. Dann fegten sie in weiten Spiralen wieder hinunter, fingen ihren Sturzflug knapp über den öligschweren Wellen ab und glitten darüber hin, manchmal so knapp, daß ihre Füße eine schmale Furche ins Wasser zogen, und füllten sich aufs neue ihren Schnabelsack mit Fischen. Das Schiff hatte den Anker gelichtet und bewegte sich auf uns zu, aber es war doch noch mindestens tausend Schritt von der Küste entfernt. Es wurde auf ziemlich ungewöhnliche Art hereingeschleppt : vier Dampfbarkassen hatten ihre Leinen an Bord festgemacht, zwei auf jeder Seite, doch die Schlepper hielten eine solche Formation ein, daß sie mehr seitlich, gegeneinander, zogen als vorwärts. Ribbon erklärte uns das. »Wenn ein Schiff mit großem Tiefgang wie dieses von der Grume überrascht wird, ist das die einzige Möglichkeit. In dem dicken Wasser hat es den vielfachen Auftrieb als normalerweise, wird nach oben gedrückt und ist dann topplastig. Deshalb braucht man die Schlepper. Die Taue nach beiden Seiten müssen immer gespannt bleiben, damit es nicht Schlagseite kriegt. 182
Seht ihr den Mann im Mastkorb ?« Sie deutete auf eine mir vage vertraut vorkommende Gestalt auf halber Höhe des einen Mastes. »Der hat einen Neigungsmesser und weist die Schlepper ein. Wenn das Schiff nach einer Seite krängt, dann signalisiert er den beiden Schleppern auf dieser Seite, den Zug zu vermindern, während die auf der anderen stärker ziehen und so das Schiff wieder aufrichten. Zugleich wird es langsam näher ans Dock herangezogen. Wenn es nahe genug ist, werden zwei der Schlepper durch Winden an Land ersetzt, die das Schiff an ihren Tauen seitlich hineinziehen.« »Du hast das alles sicher schon oft gesehen«, bemerkte Wolff freundlich. »Ein paarmal. Oft wird mein Vater als Lotse im Mastkorb eingesetzt, aber nicht heute. Das ist ein Parl-Schiff, und für die arbeitet er nicht.« Sie sagte es so voller Verachtung, daß es jeden anderen zum Schweigen gebracht hätte, aber Wolff fühlte sich nicht im mindesten betroffen, sondern stellte weiter Fragen und benahm sich ganz allgemein widerlich zuvorkommend und höflich. Nach einer Weile schlug ich Braunauge vor : »Gehen wir ein bißchen spazieren.« Wir ließen die beiden anderen am Klippenrand sitzen und wanderten durch den Wald. Braunauge hatte schon eine ganze Weile nichts mehr geredet, aber als wir außer Hörweite waren, sagte sie hitzig : »Sonderbar, daß sie sich so an dich herangemacht hat.« In meinem Magen machte sich ein ungutes Gefühl bemerkbar. »Was meinst du damit ?« »Ich meine, es ist doch komisch, wie Ribbon sich gleich 183
an dich rangek-kuschelt hat, a-als sie am Pier weinte. Und sie kommt immer überallhin mit. Du und sie, ihr redet dauernd miteinander, immer.« Sie schnüffelte, und mir wurde zu meinem Entsetzen klar, daß sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Wirklich, heute war schon so ein Tag. »Und glaub nur nicht, ich hätt’ nicht gesehen, wie du bei der Versammlung ihre Hand gehalten hast.« Ich setzte mich ins Gras und zog sie zu mir herunter. Es war ein warmer Vormittag, und niemand war bei uns, nur die Bäume des Waldes. Sie saß sehr gerade, den Kopf gesenkt, und ihre Hand lag reglos in meiner. »Ich hätte dich nicht gebeten, auf einen Spaziergang mitzukommen, wenn ich lieber mit ihr zusammen wäre«, sagte ich beschwichtigend. Sie schnüffelte wieder, und ihre Schultern bebten ein wenig, dann warf sie ihr Haar zurück und schaute mir plötzlich freimütig in die Augen. »Ich glaube, daß ich dich vielleicht verliere, Drove«, sagte sie mit überraschend ruhiger Stimme. »Es ist nicht deine Schuld, also muß es wohl meine sein. Und Ribbon – ich will nicht behaupten, daß sie etwas dafür kann. Aber ich fürchte, daß ich dich verliere, und weiß nicht, was ich dagegen tun soll.« »Du verlierst mich nicht«, murmelte ich betroffen. »Hör zu … irgend etwas gibt’s, das dich und Ribbon verbindet, ich weiß es. Irgendwie bist immer du derjenige, der sie aus einer Klemme holt oder der sie tröstet, wenn sie Kummer hat … Ihr macht so vieles gemeinsam durch, kommt mir vor … Es … es ist fast so, als wärt ihr füreinander bestimmt. Mit uns beiden ist nie etwas passiert. Wir wandern herum und halten uns an den Händen, und nie passiert etwas, das uns einander näherbringen würde.« 184
»Wie stellst du dir das vor ? Wir können doch nichts dazu tun, daß etwas geschieht, oder ?« Sie antwortete nicht. Sie sah mich nur ruhig an, und dann kam ein so nachdenklicher, fast berechnender Ausdruck in ihr Gesicht, daß sie mir auf einmal ganz fremd erschien. Sie löste ihre Hand aus meiner, strich ihr Kleid glatt und legte sich ins Gras zurück. Wieder veränderte sich ihr Gesichtsausdrck, nun sah sie beinahe schläfrig aus. Die Art, wie sie mich anschaute, machte mich unruhig, und als sie die Arme hob und im Nacken verschränkte und dabei ihren Körper ein wenig zurückbog, mußte ich die Augen abwenden. Ich glaube, ich bin sogar rot geworden. »Schau mich an, zum Frost noch mal, Drove«, flüsterte sie. Ich schaute sie ängstlich an, und es war, als sei sie ein tiefer See, vor dem ich mich fürchtete, weil ich nicht wußte, was in seiner Tiefe lauerte, und der mich doch anzog und faszinierte. Ihre Augen blickten immer noch in meine, immer noch mit diesem träumerischen Ausdruck. Ihre Lippen waren voll und leicht geöffnet, und dazwischen sah ich die leichte Bewegung ihrer Zungenspitze. Sie trug ein blaues Kleid und diesmal keinen Talisman um den Hals. Mein Blick glitt hastig über die Zauberhügel ihre Brüstchen zu ihrer Taille, und dann wagte ich es und streckte die Hand aus und berührte ihre Hüfte, dort, wo der zierliche Gürtel ihre Mitte umfing und wo das Kleid sich plötzlich wölbte über einer irgendwie heimeligen Rundung. Ich streichelte sachte den Stoff, während mein Blick weiterwanderte bis dorthin, wo das Blau aufhörte und ihre braunen Schenkel sichtbar wurden. Benommen überlegte 185
ich, ob es schlecht war, so zu fühlen, wie ich zu fühlen begann ; dann entschied ich, daß es in Ordnung sein mußte, weil ich instinktiv wußte, daß Braunauge es so wollte. Ich schaute auf die Grübchen an ihren Knien, auf ihre rundlichen Beine, dann von den kleine, weißen Schuhen zurück auf ihr Gesicht – und jetzt lag ein träges Lächeln auf ihren Lippen. »Gefällt es dir, ein so hübsches Mädchen wie mich zu haben, Drove ?« fragte sie sanft. »Braunauge …«, murmelte ich mit trockener Kehle. »Ich …« »Dann küß mich doch, Drove, bitte«, flüsterte sie. Ich beugte mich über sie und drückte meine Lippen ungeschickt auf ihre. Ihre Arme legten sich um meinen Nacken, und dann passierte irgend etwas in meinem Inneren ; plötzlich schmiegten sich unsere Lippen viel weicher und fester aneinander, und ich spürte ihre Zunge an meiner, als sie einen langen, wortlosen Laut des Entzückens ausstieß. Als ich es schließlich an der Zeit fand, mich wieder aufzusetzen, musterte sie mich unsicher. Sie wollte etwas sagen, aber es dauerte eine Weile, bis sie sich dazu durchrang. »Drove«, sagte sie endlich. »Versprichst du, daß du mich nicht auslachst ?« »Mhm.« »Ich möchte dir etwas sagen, aber es ist etwas, das eigentlich nur viel ältere Leute sagen«, murmelte sie hastig. »Vielleicht kommt’s dir also komisch vor. Drove … ?« »Ja ?« »Ich werde dich lieben, solange ich lebe, Drove.« 186
Als wir zu den anderen zurückkamen, saßen sie etwas entfernt voneinander am Rand und starrten aufs Wasser hinunter – offenbar waren ihnen die Gesprächsthemen ausgegangen. Ribbon blickte sichtlich erleichtert auf, als sie uns kommen hörte. »Was habt ihr nur die ganze Zeit … Oh …« Mit gänzlich veränderter Miene musterte sie uns aufmerksam, und dann huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. Wolff starrte weiter stumm auf das Schiff hinunter. Es war jetzt schon viel näher am Dock, und ich erkannte nun auch den Mann im Mastkorb. Es war Silverjack. »Ich nehme an, er war der beste, den sie kriegen konnten«, meinte Ribbon, nachdem ich es ihr gesagt hatte. »Er kennt ja wirklich die Gewässer hier herum sehr gut. Wenn er nur nicht so unzuverlässig wäre.« Wir sahen zu, wie das Schiff immer näher herangeschleppt wurde. Es war das größte Schiff, das ich je gesehen hatte, ein Zweimastdampfer – doch die Segel waren jetzt natürlich alle gerefft. Eine zersplitterte Spiere und einige unidentifizierbare Trümmer achtern zeugten von der Treffsicherheit astanischer Geschütze. Mittschiffs stand ein hoher Schlot, den außen am Rumpf riesige Schaufelräder flankierten. Sie hatten ebenfalls Treffer abbekommen : zersplitterte Holzteile schlugen bei jeder langsamen Umdrehung gegen die Schaufeln. Auf dem Deck waren irgendwelche in weißes Segeltuch gehüllte Gegenstände aufgestapelt, und der Laderaum war vermutlich voll bis obenhin. Ungeachtet dessen lag das Schiff viel zu hoch im Wasser, balancierte topplastig über die Grume wie ein verspäteter Schneetaucher. 187
»Sie haben Schwierigkeiten«, sagte Ribbon plötzlich mit einem besorgten Unterton in der Stimme. An Deck eilten herumfuchtelnde Gestalten hin und her und winkten Silverjack verzweifelt zu. Das Schiff hatte gefährlich Schlagseite bekommen, und die Schlepper, die sehr vorsichtig manövrieren mußten, um den aus dem Wasser ragenden Felsen auszuweichen, konnten nicht schnell genug reagieren. Der Dampfer neigte sich langsam auf die Seite, bis das eine Schaufelrad halb unter Wasser lag und Silverjack auf dem schrägliegenden Mast weit außenbords hing. Mit laut dröhnenden Maschinen versuchten die beiden steuerbordseitigen Schlepper, den Raddampfer wiederaufzurichten. Vom Dock unten hörten wir aufgeregte Rufe. Das Schiff schien eine Ewigkeit so dazuhängen, am Rande des Kenterns, während am Heck der Schlepper das träge Wasser aufbrodelte wie siedender Leim. »Es ist diese schwere Decklast«, murmelte Ribbon. »Zieht, ihr Frostler !« beschwor sie die Schlepper. »So zieht doch !« Sie war die Tochter eines Fischers und hatte gewissermaßen eine Beziehung zu Schiffen und ihren Besatzungen, eine Art Verantwortungsgefühl in allen damit zusammenhängenden Dingen, das man von mir nicht erwarten konnte. Ich fühlte mich deshalb auch nicht allzu schuldig, als ich mich bei dem Wunsch ertappte, das Schiff möge kentern. Das alles war so aufregend, daß ich es als arge Enttäuschung empfunden hätte, wäre der Dampfer sicher ins Dock gebracht worden. Langsam, fast widerwillig, richtete er sich auf. In trägen Bächen floß das Wasser aus dem beschädigten Schaufelrad. 188
Auf der anderen Seite spannten sich die Taue wieder, und Ribbon seufzte erleichtert auf … Als die Katastrophe kam, war sie unausweichlich. Der eine Backbordschlepper schien sich plötzlich im Wasser aufzubäumen, seine Schraube drehte in der Luft durch, und ein schriller Warnpfiff der Dampfpfeife zerschnitt die Luft. Das lange Kabeltau, das an einem Poller am Heck des Schleppers befestigt war, war gerissen – oder der Poller selbst war unter der ungeheuren Belastung aus seiner Verankerung gebrochen. Das Tau schnellte hoch und auf den Dampfer zu wie eine zustoßende Schlange, nur langsamer, schwerfällig, und in hohem Bogen. Mit einem gräßlichen Knirschen und Krachen lief der Schlepper rückwärts auf einen Felsen auf, seine Schraube versuchte sich in Granit zu bohren und zersplitterte. Dann folgte ein schrilles, schneidendes Kreischen, als das zurückschnellende Tau durch Takelage und Segel schnitt und zuckend über das Deck des Dampfers tanzte, während die Seeleute sich mit verzweifelten Sprüngen in Sicherheit brachten, bis es endlich gegen den Mast knallte und ihn abknickte. Ein Gewirr von Seilen, Drähten und Segeltuch sank halb aufs Deck, halb ins Wasser. Als der Mast fiel, sahen wir Silverjack aus dem Mastkorb schnellen und unbeholfen ins Wasser klatschen. Er kam fast augenblicklich wieder hoch und begann mit kräftigen Stößen zum Dock zu schwimmen. Inzwischen neigte sich der Dampfer wieder zur Seite, und diesmal konnte ihn nichts mehr retten. Ribbon schaute weg, und in ihren Augen standen Tränen ; für sie verkörperte dieses Schiff alle Schiffe, und jeder der Männer hätte ihr Vater sein können. Ich legte einen Arm um ihre Schultern 189
und drückte sie an mich, während wir gebannt hinunterschauten. Ich wußte, daß es Braunauge jetzt nichts mehr ausmachen würde. Die Decklast auf der Backbordseite riß sich nun los, und ein schweres Maschinenteil nach dem anderen rollte oder rutschte quer übers Deck und krachte in die Steuerbordladung, wobei auch davon vieles losgerissen wurde. Die Schlagseite des Dampfers wurde stärker, und als die Ladung über Bord rutschte, sprangen auch die Männer ins Wasser, das nur zäh und träge aufspritzte. Jetzt konnte man bereits sehen, daß die Rumpfunterseite grün getüncht war, fleckig von Algen und Muscheln. Langsam begann auch ich die tragische Seite dieses Schauspiels zu begreifen, vielleicht durch eine Art Kommunikation zwischen Ribbons zitterndem Körper und meinem. Braunauge hielt krampfhaft meine andere Hand fest, während sie betroffen hinunterstarrte, und Wolff trug einen Ausdruck verwöhnter Mißbilligung zur Schau, als wäre diese Tragödie ein zu ordinäres Schauspiel für seinen empfindsamen Geschmack. So sahen wir alle vier zu, wie der große Raddampfer kenterte, und bald war nur mehr der lange, geschwungene grüne Rumpfboden über dem Wasser sichtbar, während die Schlepper hilflos in der Nähe lagen. Der Großteil der Besatzung schwamm aufs Dock zu, was bei diesem Stand der Grume weder gefährlich noch anstrengend war – die Tragik lag nur im Verlust eines tüchtigen Schiffes und seiner Ladung. Einige der Männer kletterten an Bord der Schlepper, wo sie sofort mit den Schlepperleuten heftig gestikulierend zu streiten begannen. Immer noch wirbelten Wolken von Grummetten über das 190
Wasser, und ich weiß noch, daß ich dachte, wie gut es sei, daß die Grume nicht weiter fortgeschritten war : zur Zeit der höchsten Wasserdichte hätten die tödlichen GrumeReiter am Schauplatz des Unglücks mit allen über Bord Gegangenen kurzen Prozeß gemacht – und später wären dann die Aasfresser gekommen … Jetzt vernahmen wir ein tiefes, grollendes Dröhnen, das aus der Tiefe des zähflüssigen Ozeans selbst zu kommen schien. Eine Säule aus Dampf und Trümmern schoß hoch, als das Wasser die Heizkessel erreichte und die Dampfkessel zerbarsten. Holz, Maschinenteile und andere Dinge, von denen manche erschreckend menschenähnlich aussahen, wurden hoch in die Luft geschleudert. Ich sah, wie eine lange Pleuelstange am höchsten Punkt ihrer Bahn, fast auf Höhe der Klippe, einen langen Augenblick zu verharren schien, bevor sie wieder hinuntersauste und glatt und ohne Spritzer ins Wasser eintauchte. Riesige, träge Blasen stiegen auf (wie Todesseufzer erschienen sie uns), als die lange Zigarrenform des Schiffes im Wasser verschwand und unrettbar auf den Grund des Pallahaxi-Tiefseegrabens sank.
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13 Ich war in einem Alter, in dem man sich um die Sorgen und Probleme der Erwachsenenwelt kaum jemals kümmert. Obwohl ich genaugenommen dieser Welt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, achtete ich nur wenig darauf, was in ihr vorging, und fand es auch nur selten der Mühe wert, mich nach dem Grund zu erkundigen, wenn meine Eltern in düsterem Schweigen und mit ebensolchen Mienen durchs Haus schlichen. Ich verließ mich darauf, daß die Krise – was immer sie auch betraf – schließlich vorübergehen würde. Eine Konsequenz dieser Einstellung war die Skepsis, mit der ich die Kriegskarte meiner Mutter betrachtete. Obwohl sie beinahe in Tränen ausbrach, wenn sie ein ertonisches Kriegswimpelchen ein Stück zurücksetzen mußte – damit wieder ein Stück heimatlichen Bodens den Astanern ausliefernd – konnte ich nicht mehr und nicht weniger als ein Papierfähnchen darin sehen. Die tiefe Symbolik des Ganzen entging mir leider. Die Ereignisse, die dem Tag auf der Fingerspitze folgten, zwangen mich jedoch, die Existenz dieser anderen Welt anzuerkennen, und ebenso die Tatsache, daß sie auch mich unmittelbar anging. Am Morgen nach dem Untergang des Raddampfers bekamen wir Besuch ; das allein hätte mich aufmerksam machen sollen ; es war jedoch so gemütlich im Bett, und durch mein Schlafzimmerfenster konnte ich über die ganze Bucht sehen. Es interessierte mich wenig, was für Debatten unten am Frühstückstisch abgehalten wurden. Ich hörte, wie ein Motorwagen vorfuhr, ich hörte Stimmen an der Ein193
gangstür und danach aus dem unteren Flur, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich lag da, träumte von Braunauge und dachte an die Dinge, die wir tags zuvor zueinander gesagt hatten. Endlich zog ich mich doch an und ging hinunter. Meine Mutter und mein Vater saßen mit ernster Miene am Tisch, dem Besucher gegenüber. Es war Horlox-Mestler, der mir freundlich zulächelte. Als das Gespräch wieder aufgenommen wurde, hatte ich den deutlichen Eindruck, daß bei meinem Eintreffen geschickt das Thema gewechselt worden war – was im Hause meiner Eltern durchaus nicht selten vorkam : man hatte Dinge diskutiert, die für junge Ohren ungeeignet waren. Im Augenblick unterhielten sie sich über Ort und Zeitpunkt eines nicht näher bezeichneten Ereignisses. Es ist ein beliebter Trick meines Vaters, ein interessantes Gespräch mit einem anderen Erwachsenen nach meinem Hinzukommen so weiterzuführen, daß der eigentliche Kern der Sache überhaupt nicht mehr berührt wird und ich vor Neugier fast überschnappe. »Vormittags wäre es am Fischmarkt ruhiger«, sagte er eben. »Der Frühfang ist dann bereits verkauft.« »Der Abend wäre natürlich am besten gewesen«, meinte Mestler nachdenklich. »Aber wir können schwerlich unsere eigene Ausgangssperre übertreten. Nein, der Vormittag ist die einzige Möglichkeit.« »Im Tempel ?« »Ich denke schon. Eine Versammlung im Freien hat etwas so … Informelles an sich.« »Welche Versammlung ?« wollte ich wissen. 194
Vater würdigte mich kaum eines Blickes. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Er tupfte sich sorgfältig die Lippen ab und stand auf. »Ich werde für die Verlautbarung sorgen und die Tempelbediensteten verständigen.« »Ich komme später nach«, sagte Mestler und blieb sitzen. »Ich habe keine Eile. Zu solchen Anlässen sammle ich vorher gerne meine Gedanken. Dann bringen mich Zwischenrufer nicht so leicht aus dem Konzept.« »Zwischenrufer ?« Die Miene meines Vaters wurde ausgesprochen finster. »Bei Phu, das sollen sie lieber nicht wagen !« »Ach, seien Sie doch nicht so, Burt«, grinste Mestler. »Es gibt immer Zwischenrufer. Das gehört irgendwie zum Spiel.« Mein Vater knurrte etwas und ging. Kurz darauf hörte ich den Motorwagen losrattern. Mestler wandte sich zu mir. »Vielleicht darf ich dich später in die Stadt mitnehmen, Drove. Mein Wagen steht draußen.« »Oh, das ist aber sehr freundlich von Ihnen, HorloxMestler«, warf meine Mutter ein, bevor ich antworten konnte. »Bedanke dich bei Horlox-Mestler, Drove.« Ich brummte widerwillig etwas Dankähnliches. »Ich habe dich vor einigen Tagen im Tempel gesehen, mit der kleinen Pallahaxi-Braunauge und Ribbon«, sagte Mestler mit einem Augenzwinkern. »Er verbringt seine ganze Zeit mit ihnen«, klagte Mutter. »Ich habe ihm immer wieder und wieder abgeraten, aber es nützt alles nichts ; er hört mir einfach nicht zu. Denken Sie nur, die Tochter eines Kneipenwirts und die Tochter eines politischen Aufwieglers !« 195
»Du vergißt Wolff, Mutter«, warf ich ein. »Sohn eines Parls.« Mestler lachte offen. »Machen Sie sich um den Jungen keine Sorgen, Fayette. Lassen Sie ihn sich seine Freunde selber aussuchen. Außerdem schadet es gar nichts, wenn Ihr Sohn mit einfachen Bürgern befreundet ist. Es könnte sich sogar einmal als nützlich erweisen.« Diese letzte Bemerkung gefiel mir nicht, deshalb schwieg ich verbissen, während meine Mutter weiterschwatzte über Lebensmittelknappheit und Rationierungen – Dinge, über die sie so gut wie nichts wußte. Unwissen hat meine Mutter allerdings noch nie vom Reden abgehalten. Später stiegen Mestler und ich in seinen Motorwagen – ein sogar noch imposanteres Vehikel als der Wagen meines Vaters – und fuhren in die Stadt. Der Ausrufer stand schon an der Gedenksäule, seine tragbare Dampfpfeife neben sich und voll aufgeheizt. Als wir vorbeikamen, drückte er den Hebel des Apparats herunter, und ein gellender Pfiff hallte über das ganze Hafenbecken, worauf der Ausrufer die Versammlung in Marktschreierlautstärke anzukündigen begann. Ich bemerkte überall verdrossene Gesichter ; die Leute hatten vermutlich das Gefühl, daß eine von der Regierung einberufene Versammlung nichts Gutes bedeuten konnte. Zu meinem Erstaunen schlug Mestler nicht die Straße hinaus zur Fabrik ein, sondern lenkte den Wagen unvermutet auf die Fingerspitzenstraße, und bald holperten wir den Weg unter den Bäumen entlang, und das Meer glitzerte weit unter uns. Ich war ziemlich verärgert, weil ich in der Stadt hatte aussteigen wollen, um Braunauge zu besuchen, 196
aber er hatte mir gar keine Gelegenheit dazu gegeben. Er hielt in der Nähe des Platzes an, wo Braunauge und ich tags zuvor gesessen hatten, bedeutete mir, auszusteigen, worauf wir zusammen zum Klippenrand wanderten und aufs Wasser hinunterschauten. Die Grummetten waren heute noch zahlreicher, und ich sah etliche kleine Gleiter, von denen aus Neugierige auf der Suche nach Spuren des Wracks in die Tiefe spähten. Auf dem neuen Pier war nur wenig Aktivität zu beobachten ; der Ladekran war außer Betrieb, und zwei oder drei Männer saßen um einen Karren mit vorgespannten Lox herum. »Du bist also mit Starkarm recht gut bekannt«, sagte Mestler unvermittelt. »Mhm.« »Soviel ich weiß, ist er der beste Seemann dieser Gegend … Ich will offen zu dir sein, Drove – wir haben arge Schwierigkeiten. Der Untergang der Ysabel gestern war ein ziemlicher Schlag für die Regierung. Das wirst du alles bei der Versammlung erfahren.« Ysabel. Der Name kam mir bekannt vor. »Wir wollen sie heben«, fuhr er fort. »Dazu brauchen wir aber einen Mann, der alles über die hiesigen Gewässer und die Grume weiß, was es zu wissen gibt. Wir brauchen einen erfahrenen Seemann – mehr als das, einen Mann, der ein Bergungsteam zusammentrommeln kann, der Leute mit Tauchkugeln zum Mitmachen bewegen kann, der Gezeiten und Dichten und Strömungen abzuschätzen vermag. Wir brauchen Starkarm.« Mir kam ein sonderbarer Gedanke, ich weiß nicht, weshalb. Mestler ahnte nicht, daß ich den Untergang der Ysabel 197
ziemlich aus der Nähe beobachtet hatte – er dachte vermutlich, die einzigen Zeugen wären, außer den direkt Beteiligten, höchstens ein paar Fischer, die gerade zufällig vorbeigekommen waren, zu weit weg, um viel zu sehen. »So, wie Starkarm bei der letzten Versammlung behandelt wurde, kann ich mir nicht vorstellen, daß er den Parls helfen würde«, sagte ich entschieden. Mestler riß die Augen auf, seine Verblüffung wirkte fast komisch. »Was soll das ?« fragte er erbost. »Was soll das heißen ? Wenn er dem Parlament hilft, hilft er sich selbst und ganz Pallahaxi. Weshalb überall diese feindselige Haltung ? Wissen denn die Leute von Pallahaxi nicht, wer der Feind ist ? Haben denn alle den Verstand verloren ?« »Also, wenn Sie das nicht wissen, ich weiß es erst recht nicht«, brummte ich. Ich wollte in die Stadt zurück. Ich wollte Mestler loswerden, weil ich fürchtete, er würde mich überreden, meinen Einfluß bei Starkarm geltend zu machen. »Die Grume …«, murmelte Mestler, der sich nach seinem Ausbruch schon wieder gefaßt hatte. »Das ist die Ursache von allem. Deshalb glauben die Leute in dieser Gegend, sie wären anders als die anderen. Die Grume verbindet sie ; ihre ganze Lebensweise dreht sich um dieses eine Phänomen …« Er starrte auf die trägen Wellen hinunter und redete fast mit sich selbst. »Im Landesinneren, da haben die Leute entweder die Wüste oder Landwirtschaft oder eine Industrie. Bevor der Krieg ausbrach, hatten wir eine blühende und entwicklungsfähige Motorwagenindustrie, wußtest du das ? Die größte in Erto. Aber es ist uns nie gelungen, die Zuckerpflanze bei uns erfolgreich 198
anzubauen, deshalb mußten wir fast das gesamte Destillat aus Asta importieren … Als dann der Krieg kam … In meiner Heimatstadt haben viele Leute ihren Arbeitsplatz verloren, wußtest du das ?« »Woher soll ich etwas wissen, das dort oben passiert ist ?« erwiderte ich kurzangebunden. Die Erwachsenen können einem schon auf die Nerven gehen mit ihrem ewigen Gemecker über harte Zeiten. Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Nein, woher auch ? In gewisser Weise stehst du Pallahaxi viel näher als selbst deiner eigenen Heimatstadt. Ich frage mich, weshalb. Die Grume scheint euch allen ins Blut überzugehen.« Er lächelte, und es freute mich unwillkürlich, daß er mich schon zu den Leuten von Pallahaxi zählte. »Ich möchte wetten, wenn sich einer aus Pallahaxi um diese Jahreszeit schneidet, rinnt sein Blut nur zähflüssig. Und doch sind sie unwissend. Sie nehmen die Grume hin wie das Wetter und denken nie über die Ursachen, die Zusammenhänge nach.« »Weshalb sollten sie ?« Ich war verärgert. »Die Grume ist eine Tatsache. Sie ist da. Was sonst ist wichtig ?« Unter uns glitt ein großer Grume-Gleiter geisterhaft lautlos über das Wasser, die Netzbäume beidseitig ausgebreitet wie Arme. Vorsichtig schob er sich durch die herausragenden Felsen, führte mit sachte herumschwingendem Segel eine Wende aus und nahm Kurs aufs offene Meer, dem Tiefseegraben folgend. Der Mann an der Ruderpinne war Starkarm, und ich fragte mich, was er hier tat, so weit abseits seiner üblichen Fischgründe. »Du enttäuschst mich, Drove. Du redest wie alle Leute hier, als hätte es die Grume immer gegeben. Denk daran, 199
alles hat einen Anfang. In früheren Zeiten hat es keine Grume gegeben. Das Wasser behielt das ganze Jahr über dieselbe Konsistenz bei und beinahe denselben Stand.« Das konnte ich mir nur schwer vorstellen, was ich ihm auch sagte. »Unsere Welt bewegt sich auf einer elliptischen Bahn um die Sonne Phu«, zitierte ich aus meinem Schulwissen. »Im Sommer sind wir Phu näher, deshalb verdunstet ein großer Teil des Meerwassers, und die Grume entsteht. Der Regen der Überschwemmungszeit kommt daher, weil all das Wasser in der Atmosphäre wieder kondensiert. Im Winter ist es kalt, weil wir von der Sonne weit entfernt sind. Alles ganz einfach.« »Weshalb strömt dann die Grume von Süden nach Norden ? Weshalb ist der Himmel jetzt klar, obwohl er durch die viele Verdunstung doch bewölkt sein sollte ?« »Woher soll ich das wissen ?« »Du solltest es wissen, Drove – weil du längst einmal hättest neugierig genug sein sollen, um es selbst herauszufinden. Also …« Er holte ein Stück Papier und einen Kohlestift aus der Tasche. »Unsere Welt rotiert um ihre Achse, die quer zu ihrer Bahn um die Sonne Phu steht. Schau her.« Er zeichnete auf der unteren Hälfte des Blattes einen Kreis, der Phu darstellen sollte, und eine Anzahl kleinerer Kreise auf einer elliptischen Bahn um Phu, die die Position unserer Welt zu den verschiedenen Jahreszeiten markierten. »Natürlich ist der Maßstab nicht richtig«, sagte er, »und im Winter sind wir viel weiter von der Sonne entfernt, als ich es hier zeichnen kann. Aber für unsere Zwecke reicht es.« 200
Starkarms Boot verlor sich in der Ferne, und ich begann mich wider Willen für diese Astronomielektion zu interessieren. Vielleicht lag es daran, daß Mestler ein guter Lehrer war, oder auch daran, daß er mir etwas erklärte, das ich immer gern gewußt hätte, aber aus Bequemlichkeit nie selber herauszufinden versucht hatte. Er bezeichnete die verschiedenen Positionen des Planeten mit den Buchstaben Abis H. »Die Stellung A entspricht Mittwinter«, erklärte er. »Zu dieser Zeit ist die Welt am weitesten von der Sonne entfernt, und die Tage und Nächte sind gleich lang. Nun, die Rotationsachse liegt also, wie gesagt, in der Bahnebene.« Er zeichnete die Achsen als Nord-Süd-Durchmesser in die kleinen Kreise ein. »Aber noch etwas ist wichtig. Da die Achse im Raum immer die gleiche Richtung beibehält, scheint sich unsere Welt relativ zur Sonne ganz langsam in ihrer Bahnebene zu drehen. Oder drücken wir’s anders aus : sie wendet der Sonne je nach Jahreszeit eine andere Seite zu. Das bedeutet, daß zu Beginn des Sommers – Position C – die Sonne unseren Südpol bescheint, während sie achtzig Tage später über dem Nordpol steht. Verstehst du das ?« Ich schaute mir den Zettel mit der Kohleskizze an und versuchte, mir das vorzustellen. Es wäre mir leichter gefallen, hätte ich ein paar Stoßbälle bei der Hand gehabt. Ich wollte aber jetzt auf keinen Fall klein beigeben. »Ist klar«, sagte ich. »Es passiert also folgendes : Zu Beginn des Sommers scheint die Sonne ohne Unterlaß auf die Südpolargebiete, was eine gewaltige Verdunstung zur Folge hat und eine Gezeitenströmung durch die 201
schmale Meerenge des Mittleren Ozeans von Norden nach Süden, um die immer noch verdunstenden Wassermassen des Südlichen Ozeans zu ersetzen. Um Mittsommer – Stellung E – sind dann in Pallahaxi die Tage wieder so lang wie die Nächte, die Hitze am Südpol beginnt nachzulassen, und eine Zeitlang herrscht globales Gleichgewicht. Die gewaltigen Wolkenmassen um den Südpol werden durch die dort vorherrschenden zirkulären Winde in den Polargebieten gehalten. Und dann dreht sich der Planet langsam weiter und kehrt den Norden der Sonne zu.« Langsam begann ich mir ein Bild zu machen. »So daß nun das Wasser des Nördlichen Ozeans verdunstet«, sagte ich. »Aber wenn die Ausgleichsströmung von Süden durch den Mittleren Ozean und an Pallahaxi vorbeifließt, dann ist das kein normales Wasser mehr. Es ist schon von der Verdunstung eingedickt worden. Das ist die Grume.« Mestler grinste enthusiastisch. »Es ist schon eine interessante Sache, nicht ? Und es gibt auch jetzt noch eine Menge Dinge, die wir nicht verstehen.« Er deutete wieder auf seine Zeichnung. »Jedenfalls, in Position G erreicht die Grume ihren Höhepunkt. Danach entfernt sich die Welt wieder von der Sonne, kühlt rasch aus, und die Wolken aus den Polargebieten breiten sich äquatorwärts aus. In Position H etwa setzt die Überschwemmungszeit ein, die dann vom trockenen Winter abgelöst wird. Dann beginnt der ganze Zyklus von neuem.« Ich blickte aufs Meer hinaus. Trotz des niedrigen Wasserstandes enthielt es immer noch unvorstellbare Mengen Wasser im Pallahaxi-Tiefseegraben, der sich durch den ganzen Mittleren Ozean zog. »Ich kann mir bloß nicht 202
vorstellen, daß Verdunstung eine Auswirkung auf solche gewaltige Wassermengen haben kann«, sagte ich. »Es ist so viel !« Mestler nickte. »Ja, hier – aber das ist der Mittlere Ozean, der sehr tief und schmal ist, und, wie es heißt, von einem riesigen Erdbeben verursacht wurde, als unser Kontinent noch um den ganzen Planeten herumreichte. Eine Spalte brach auf, trennte Erto von Asta und schuf eine Verbindung zwischen dem Nördlichen und Südlichen Ozean – die Küstenlinie von Asta ist der dieser Gegend hier sehr ähnlich, wußtest du das ? Man könnte die beiden Seiten fast aneinanderpassen. Die Polarozeane jedoch hat es immer gegeben, und sie sind seicht wie riesige Pfannen. Die lang andauernde Sonnenbestrahlung trocknet sie fast aus. Was übrigbleibt, das ist die Grume.« Ein dichter Schwarm Grummetten kam auf müden Schwingen von Süden gezogen. In der Nähe der Klippen stießen sie hinunter, fegten über die Wasserfläche und schlangen ihre Beute gierig hinunter. Ich überlegte eine Weile. Dann sagte ich : »Welchen Unterschied macht es, daß Sie mir das alles erzählt haben ? Sie können es mir nicht beweisen, und ich habe auch nichts davon, daß ich es jetzt weiß. Und wir können auch nicht beweisen, daß es schlecht ist, unwissend zu sein. Die Grume kommt ungeachtet dessen.« Er ließ sein Onkelgrinsen sehen. »So ist das Leben. Du willst mir also klarmachen, daß ich meine Zeit verschwenden würde, wenn ich versuchte, Starkarms Hilfe zu bekommen ?« Er stand auf, bereit zum Aufbruch. Ich hob den Zettel auf und ließ ihn in der Tasche ver203
schwinden. Ich hoffte, daß Mestler es nicht bemerkt hatte. »Sie können es versuchen«, sagte ich. »Aber Sie würden nichts ausrichten.« Ich wollte Braunauge von der ›Goldenen Grummette‹ abholen – mittlerweile betrat ich den Schankraum ganz ungeniert – und traf auf eine kleine Schar morgendlicher Gäste, die über die bevorstehende Versammlung sprachen. Braunauge hatte noch zu tun, deshalb lungerte ich in der Nähe herum und hörte zu. Ihr Vater redete am meisten. »Wozu sie noch eine Versammlung brauchen, kann ich mir nicht vorstellen«, erklärte er eben hitzig. »Es wird genauso wie das letztemal ausgehen. Horlox-Mestler-Frostler wird sich auf die Hinterbeine stellen und Geschwätz von sich geben, und wir werden’s uns gefallen lassen müssen, und dann ganz am Schluß wird er uns mit irgendeiner neuen Vorschrift überrumpeln und sich schnell davonmachen, beschützt von seiner Leibwache. Es wird keine Diskussion geben, keine Gelegenheit für uns, Fragen zu stellen. Ich würde am liebsten gar nicht hingehen. Wir sollten die frostige Sache boykottieren.« »Dabei fällt mir ein«, murmelte ein älterer Mann, »ich hab’ heute von der Militärpolizei nicht viel zu sehen bekommen.« Dickbauch beruhigte sich sofort und lachte dröhnend. »Kann ich mir vorstellen. Die haben Angst, sich blicken zu lassen. Ein paar von den Jungs haben sie letzte Nacht ein bißchen durch die Mangel gedreht, und seitdem hat keiner was von ihnen gesehen.« Greifer, der Lastwagenfahrer, runzelte beunruhigt die 204
Stirn. »Vielleicht hat die Versammlung damit zu tun. Was war denn mit unserer eigenen Polizei ? Hat die das nicht verhindert ?« »Die war zu der Zeit gerade anderweitig beschäftigt … Ich sage euch, es kann heutzutage für einen Parl recht ungesund werden, die Nase in unsere Stadt zu stecken.« Dickbauch warf einen Blick in meine Richtung. »Damit mein ich nicht dich, Drove. Du bist wie einer von uns.« Seine Frau Annlee lächelte mir beruhigend zu. »Aber ich bin ein Parl. Das wird mir erst jetzt klar«, brummte Greifer. »Ich arbeite für sie, seit kurzem.« »Dann nehmen Sie lieber immer eine Waffe mit. Nun …« Dickbauch kam hinter der Theke hervor, als Braunauge erschien. »Für den Rest des Vormittags können wir genausogut gleich zusperren. Horlox-Mestler-Frostler hat uns schon wieder die Gäste gestohlen …« Die Versammlung im Tempel unterschied sich anfangs nicht sehr von der letzten, nur daß ich diesmal nicht Ribbons Hand hielt, obwohl sie neben mir saß. Wir hatten Plätze in der ersten Reihe gefunden, und ich fing einen mißbilligenden Blick meines Vaters von der Höhe des Podiums auf, als er Braunauge dicht neben mir sitzen und beide meine Hände halten sah. Ich konnte ihn förmlich denken hören, daß für so etwas hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit sei. Mestler ließ uns nicht erst lange warten. Er trat ans Rednerpult, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und seine Miene war ungewohnt ernst. »Heute habe ich für Sie keine guten Nachrichten«, sagte er. 205
Wenn er dachte, Pallahaxi würde seine Offenheit würdigen, dann wurde er bitter enttäuscht. »Dann halt die Klappe und geh heim«, schrie jemand. »Wir haben schon genug Probleme ohne dich, Mestler !« Allgemeine Unruhe entstand, die Leute murrten, und etliche Zwischenrufe wurden laut. »Also dann hört gut zu, damit euch das Schlimmste nicht entgeht !« brüllte Mestler zurück, doch einmal die Beherrschung verlierend. »Niemand, weder ich noch ihr, kann etwas dagegen tun, also setzt euch hin und hört zu !« Streitlustig starrte er in die Menge. Nach einer Weile trat einigermaßen Ruhe ein, so daß er fortfahren konnte. »Wie ihr alle wißt, ist gestern der Raddampfer Ysabel vor der Fingerspitze gesunken. Einige Leute haben dabei den Tod gefunden, doch glücklicherweise konnte der größte Teil der Mannschaft gerettet werden. Wie ich schon früher gesagt habe, ist unser Parlament immer auf das Wohl des Volkes bedacht und würdigt auch die Anstrengungen der hiesigen Bevölkerung in diesen schweren Zeiten. Um solcher Loyalität gerecht zu werden, ist es die vornehmste Pflicht unseres Parlaments, Pallahaxi gegen die astanischen Horden zu verteidigen. Und genau dies war unsere Absicht.« Er musterte uns betrübt. »Genau das bereiteten wir vor.« Ribbon beugte sich zu mir herüber und flüsterte : »Aber unglücklicherweise …«, worüber ich laut auflachte, was mir wieder einen tadelnden Blick meines Vaters eintrug. »Aber unglücklicherweise wurden alle unsere Vorbereitungen mit einem Schlag zunichte«, fuhr Mestler fort. »Sind unsere Hoffnungen mit der Ysabel auf den Grund des Tiefseegrabens gesunken. Jawohl, meine Freunde. An 206
Bord der Ysabel befanden sich die Geschütze, die Munition, das sonstige Kriegsmaterial – alles, womit wir eure Stadt verteidigen wollten.« Er machte eine Pause, musterte wie erschöpft seine Zuhörer und wartete, bis auch dem dicksten Schädel in Pallahaxi das Ausmaß der Katastrophe eingegangen war. Starkarm erkundigte sich : »Wollen Sie damit sagen, daß wir nichts bekommen, um uns zu verteidigen ?« »Nein. Glücklicherweise steht Ersatz zu Verfügung und wird auch auf dem Landweg herbeigeschafft. Es wird jedoch viele Tage dauern, bis die Sachen eintreffen können. Viele Tage.« »Wie viele ?« erkundigte sich jemand laut. »Oh … etwa dreißig.« Mestler fuhr hastig fort, um ein paar vereinzelte Rufe der Enttäuschung zu übertönen. »Unsere Industriearbeiter tun ihr möglichstes, aber wie ich schon früher sagte, die Front muß natürlich zuerst versorgt werden. Und hier habe ich wiederum schlechte Nachrichten für euch. Der Feind befindet sich in vielen Frontabschnitten im Vormarsch und steht im Augenblick vor den Toren von Alika !« So hatte der Krieg plötzlich auch meine Heimatstadt erreicht, und ich stellte mir vor, wie das Haus, in dem ich geboren worden war, von feindlichen Truppen besetzt wurde. »Heißt das, daß das Parlament gefangengenommen worden könnte ?« erkundigte sich Dickbauch hoffnungsvoll. »Ich meine, Alika ist doch unsere Hauptstadt. So haben wir’s gelernt. Deshalb nehme ich an, daß die Mitglieder des Parlaments bewaffnet wurden und in diesem Augenblick heroisch unser aller Heimatland verteidigen ?« 207
Der Ausbruch von Heiterkeit, der dieser sarkastischen Bemerkung folgte, ließ hinsichtlich der Einstellung des Publikums keinerlei Zweifel mehr offen, und Horlox-Mestler lief dunkelrot an. »Na schön, ihr Frostler !« schrie er. »Macht euch nur lustig. Amüsiert euch, solange ihr könnt. Ihr werdet nicht mehr lachen, wenn die Astaner über die Gelben Berge stürmen !« Starkarm marschierte übers Podium auf Mestler zu und baute sich so nahe vor ihm auf, daß der Parlamentarier ängstlich zurückwich. »Wir werden aber auch nicht davonlaufen«, sagte er ruhig.
14 Die Tage vergingen, und die Grume verstärkte sich, bis die alten Männer, die biertrinkend und weise vor sich hin nickend in der ›Goldenen Grummette‹ saßen, einander und allen, die es hören wollten, erklärten, dies sei die dickste Grume, an die sie sich erinnern könnten. Am Fischmarkt und an der Mole draußen wurden phänomenale Tagesfänge ausgeladen, so daß sich eigentlich niemand – höchstens aus Prinzip – über die Unmengen Fisch aufregte, die in die neue Konservenfabrik gebracht wurden. Ein Großteil davon wurde am neuen Dock jenseits der Fingerspitze ausgeladen, außer Sicht der Stadtleute, das übrige wurde vom Hafen weg auf der Straße hingeliefert. Die Mündungsbucht lag längst trocken. 208
Trotz gegenteiliger Befürchtungen machte sich die Militärpolizei in Pallahaxi kaum bemerkbar. Von Zeit zu Zeit allerdings wurde uns vorgeführt, wie man in dieser Truppe dennoch die Fahne hochhielt, und das buchstäblich : das gesamte Kontingent paradierte geschlossen die Hauptstraße entlang, in scharlachroten Uniformen, die natürlich viel eindrucksvoller waren als die düster dunkelblauen der Fabrikswachen, vorneweg der Fahnenträger, der an einer langen Stange den Silbernen Lox von Erto flattern ließ. Obwohl unser Nationalemblem doch Kraft, Ausdauer und Tapferkeit nebst einigen religiösen Vorstellungen verkörpern soll, ist es bei den Leuten von Pallahaxi keineswegs beliebt ; ja, sie sahen es geradezu als Beleidigung an, daß die Fahne bei diesen recht unklugen Paraden auch noch eigens zur Schau gestellt wurde. Versuche wurden unternommen, einen Protestmarsch zu organisieren, der aber ins Wasser fiel, als herauskam, daß Starkarm dagegen war. »Was soll dieses Kostümieren und dieses Gleichschrittmarschieren, wie wenn sie alle nur ein Hirn hätten«, murrte er. »Das ist die Art der Parls und ihresgleichen. Dieses Herumstolzieren und das ganze Zeremoniell, auf das sie in Alika so Wert legen. Wollen wir vielleicht wie die sein ?« Als jemand schüchtern vorschlug, daß dann Pallahaxi wenigstens eine eigene Fahne haben sollte, mit der man auf jede Zurschaustellung der Erto-Flagge antworten könnte, sagte er : »Wir brauchen keine Fahne oder sonstweiche fadenscheinigen Symbole. Der Name unserer Stadt genügt – der sagt den Menschen schon, wer wir sind und was wir sind. Wir leben hier und arbeiten hier, und manchmal sind wir einig und helfen einander – aber das ist genug. 209
Wir sind immer noch Individuen, und so soll es auch bleiben.« Er grinste plötzlich. »So geben wir für die Parls ein ziemlich schlechtes Ziel ab.« Obwohl ich Starkarm mochte, gab es Zeiten, in denen ich zu Horlox-Mestlers Ansicht tendierte, daß er übertrieben lokalpatriotisch war und über seiner Einstellung die wahren Probleme vergessen würde. Ich hatte gar nicht erst versucht, ihm Mestlers Vorschlag für die Hebung der Ysabel zu unterbreiten, weil ich genau wußte, wie er reagieren würde. Im Lauf der Zeit traten jedoch zwei Ereignisse ein, die auch Pallahaxi klarmachten, daß es Teil einer kriegführenden Nation war, und daß eine Besetzung durch astanische Truppen verglichen mit der derzeitigen, relativ milden Regierung durch die Parls bestimmt das größere Übel war. »Alika ist gefallen«, sagte mein Vater eines Morgens beim Frühstück, als er das einzelne, verhängnisvolle Nachrichtenblatt überflog, das direkt von der Station herübergebracht worden war. Meine Mutter brach in geräuschvolles Schluchzen aus, sprang vom Tisch auf und rannte aus dem Zimmer. Einen Augenblick lang gab ich mich der Überlegung hin, ob sie jetzt wohl eine astanische Flagge bei Alika anstecken, oder ob sie ihre Kriegskarte stillschweigend wegpacken würde, um noch mehr zu beten. Dann sah ich wieder das Bild vor mir, wie Astaner in meinem Zimmer schliefen, und wußte, daß an dieser Nachricht nichts Lustiges war. Sosehr ich Pallahaxi liebte, in Alika war ich geboren und hatte den Großteil meines Lebens verbracht. Jetzt würde es nie wieder so werden wie früher. Selbst wenn wir mit einer 210
Gegenoffensive Erfolg hatten und die Astaner vertreiben konnten, würden sie ihre Spuren hinterlassen haben. Es hatte in der Stadt ziemlich heftige Kämpfe gegeben, deshalb war es durchaus möglich, daß unser Heim bereits zerstört war. Ich fragte mich, wie meine Mutter diese Nachricht mit ihrer Ankündigung mir gegenüber vereinbarte, daß der Sonnengott Phu auf unserer Seite sei. Ich spielte mit dem Gedanken, ihr die Theorie zu unterbreiten, daß Phus Gunst sich nach dem Fluß der Gezeiten richtete, weil mir Mestlers Astronomielektion einfiel, aber dann hielt mich ein unerwarteter Anflug von Mitleid doch davon ab. Statt dessen nahm ich Vater aufs Korn. »Und was unternimmt das Parlament dagegen ?« fragte ich. »Wo ist der Regent ?« Ich sah schon Seine Ehren in einem Loxwagen durch die Wüste in Richtung Bexton holpern, gefolgt von den Parlamentsmitgliedern in ihren Roben auf einfacheren Wagen. »Das Parlament wurde verlegt«, sagte er. »Du kannst das ruhig erfahren ; bald wird es jedermann wissen. Pallahaxi wurde als provisorischer Regierungssitz ausgewählt. Das ist eine große Ehre für uns, Drove. Ein bestimmtes Parlamentsmitglied wird in unserem eigenen Haus logieren, und für weitere passende Quartiere wird in der Stadt gesorgt werden. Für den Regenten wurde in der neuen Fabrik eine Suite vorbereitet.« Diese Umsiedlung unseres ehrenwerten Parlaments hatte gewiß ihre komischen Seiten, aber die Aussicht, einen Fremden ins Haus zu bekommen, beschäftigte mich im Augenblick mehr. Wir hatten keinen Platz ; schließlich war 211
das nur ein Sommerhäuschen. Ich wollte nicht dauernd mit irgendeinem fremden Menschen Zusammensein, zu dem ich auch noch besonders höflich sein mußte. »Rax«, murrte ich. »Unsere Einquartierung kann mein Zimmer haben. Ich werd’ in der Grummette wohnen.« Zu meiner Verblüffung löste dieser Vorschlag keinerlei Empörung aus. Mein Vater musterte mich lediglich nachdenklich. »Das ist möglicherweise die beste Lösung«, sagte er endlich. Klar, das letzte, was er wollte, war, ein aufrührerisches Element wie mich zugleich mit einem Abgeordneten im Haus zu haben. »Ich werde dafür sorgen, daß eine Suite für dich requiriert wird. Du mußt standesgemäß untergebracht werden.« »Wenn’s dir recht ist, Vater, kümmere ich mich lieber selber darum«, sagte ich hastig. »Wenn du willst.« Seine Miene war gedankenverloren, und vermutlich überlegte er bereits eifrig, wie er das Parlamentsmitglied gebührend beeindrucken konnte, da ich ihm ja nun nicht mehr in die Quere kommen konnte. Pallahaxi war als neuer Regierungssitz gewählt worden, weil es über Land am weitesten von Asta entfernt und deshalb der letzte Ort war, den die astanischen Horden überrennen würden. Ich hätte gerne gewußt, was unsere eigenen Horden dieser Tage taten ; wir hatten in letzter Zeit recht wenig günstige Meldungen erhalten. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß verbale Informationen einen sehr leicht zu falschen Vorstellungen verleiten können, und als ich an jenem Morgen in die Stadt hinunterging, wollte mir eine solche Vorstellung nicht aus dem Kopf. 212
Ich sah im Geist vor mir, wie die astanischen Horden uns ins Meer trieben und damit ihre Niederlage, die sie im Jahr 1000 der Wiedergeburt an eben dieser Stelle erlitten hatten, wettmachten. Sie würden mit Gebrüll über den Strand jagen, ihre Federstutzen schwingend, während wir immer tiefer ins Wasser hinauswateten und die rundum ins Wasser klatschenden Bolzen uns anspritzten, wenn nicht töteten … Als jedoch ebenfalls an diesem Tag die zweite Krise eintrat, kam die Bedrohung aus einer Richtung, an die das Parlament anscheinend nicht gedacht hatte. Ich ging direkt zur ›Goldenen Grummette‹ und brachte Braunauge die freudige Nachricht bei, daß ich in dem Gasthaus wohnen sollte – wenn ihre Eltern einverstanden waren, natürlich. Wir standen in dem geometrisch exakten Zimmer hinter dem Schankraum, und Braunauge schlang mir begeistert die Arme um den Hals und gab mir einen langen, ausführlichen Kuß der Besitzergreifung. Ungefähr in diesem Stadium kamen Annlee und Dickbauch herein, die ihren freudigen Jauchzer gehört hatten. Braunauge verlor keine Zeit, ihren Eltern die Neuigkeit mitzuteilen. »Na ja, ich weiß nicht recht«, meinte Dickbauch zweifelnd und schaute mich an. »Bist du sicher, daß dein Vater einverstanden ist, Drove ?« fragte Annlee. Abgesehen von dem einen Mal, wo sie ihn auf dem Podium im Tempel gesehen hatte, stammte das Bild, das sie sich von meinem Vater machte, von jenem peinlichen Zwischenfall im Schankraum. Bei dieser Gelegenheit hatte er überdeutlich klargemacht, was er von Dickbauch, Annlee, Braunauge, den Gästen und selbst der Bauweise des Hauses hielt. 213
»Es ist so – ein Parlamentsmitglied wird bei uns wohnen, und Vater braucht mein Zimmer«, sagte ich. »Ich würde als ganz gewöhnlicher Gast hier einziehen, wirklich.« Dickbauch lächelte breit. »Wenn das so ist, dann bist du uns willkommen, und gewöhnlicher Gast sollst du bestimmt nicht sein. Sieh zu, daß er das allerbeste Zimmer bekommt, Braunauge.« Sie führte mich die Stiege hinauf, die aufregend knarrte, obwohl sie mit einem dicken Teppich belegt war, und durch einen verwinkelten Gang bis zu einer massiven Tür mit einem blankgeputzten Messingknauf. Sie stieß sie auf, trat zur Seite und sah mich erwartungsvoll an, als ich hineinging. Das erste, was ich sah, war das Bett, in dem ein Loxengespann Platz gehabt hätte. Es schien mit seiner Pracht den ganzen Raum zu beherrschen, breit und mit blitzenden Messingbeschlägen geschmückt. Rechts davon stand eine dunkle, schwere Kommode, und an der anderen Wand ein geräumiger Frisiertisch mit Einlegearbeiten in den Hauptpaneelen. Ich ging zum Fenster und blickte hinaus : jenseits des Fischmarkts sah man den inneren Hafen mit seinen vielen, bunten Booten. Gegenüber lag der mit Bäumen und graugedeckten Häusern bestandene Hang der Landzunge, den die Diagonale der Fingerspitzenstraße durchschnitt. Ich sah, wie ein Mann einen Lox mit einem Karren die lange Steigung hinaufführte ; auf dem Lox saß rittlings ein Lorin. Ich drehte mich zu Braunauge um. »Das ist ein herrliches Zimmer«, sagte ich. »Ich werde schon dafür sorgen, daß deine Eltern anständig bezahlt werden.« 214
»Ich glaube nicht, daß sie sich deswegen besondere Sorgen machen«, meinte sie. »Sie freuen sich, daß du hierbleibst.« Wir setzten uns aufs Bett und hopsten ein paarmal auf der Matratze, um sie auszuprobieren, und dann küßten wir uns. Irgendwie kippten wir dabei nach hinten, und weil es so viel bequemer war, blieben wir gleich liegen. Schließlich sagte Braunauge : »Mir schlafen ja die Beine ein, wenn ich sie so über die Kante hängen lasse«, deshalb ließ ich sie einen Augenblick los, und sie krabbelte ganz aufs Bett. Ich tat es ihr nach, und so lagen wir nebeneinander. Als wir uns wieder küßten, fühlte ich ihren Körper von oben bis unten an meinem … »Ich liebe dich, Braunauge«, sagte ich zum erstenmal. Sie schaute mich an, wie ich so halb über ihr lag, und ich fand ihr Gesicht bezaubernd wie nie zuvor. Sie lächelte und sagte : »Das ist aber gut so, Drove, weil wir nämlich zusammen im Bett liegen.« Ich lächelte zurück, aber ich glaube, ich bin ein bißchen rot geworden, als ich begriff. Ich küßte sie wieder, um sie nicht merken zu lassen, was ich dachte, aber dann stellte ich fest, daß mein eigener Körper mich verriet, und sie wissen mußte, was in mir vorging. Einen Augenblick lang drückte sie mich ganz fest an sich und zappelte ein bißchen, was ich sehr aufregend fand, aber dann lösten wir uns gleichzeitig voneinander und setzten uns auf. Sie schaute besorgt drein. »Hör mal, Drove«, sagte sie leise. »Vielleicht sollten wir lieber aufstehen, hm ? Wir … wir sollten das nicht tun. Wir sind zu jung.« Eilig kletterten wir aus dem Bett und standen da und 216
schauten einander an. Ich hörte, wie jemand die knarrende Treppe heraufkam. »Also eigentlich waren wir nicht im Bett«, sagte ich. »Wir waren nur darauf.« Wir lachten beide, und alles war wieder in Ordnung. Annlee kam ins Zimmer. »Na, ihr beide seht aber verdächtig glücklich aus«, sagte sie, und mir fiel das Herz in die Hosen. »Wie gefällt dir das Zimmer, Drove ?« »Es ist das schönste Zimmer, das ich je gesehen habe. Ist es Ihnen wirklich recht, daß ich es bekomme ?« »Wenn es gut genug für den Regenten ist, dann ist’s auch gut genug für dich«, lachte sie. Braunauge grinste mich an. »Ich hab’s dir nicht gesagt, um dich nicht abzuschrecken. Der Regent hat hier geschlafen, als er einmal in Pallahaxi war.« »Oh …« Ich musterte das Bett mit einiger Ehrfurcht. Ich fragte mich, was der Regent wohl gedacht hatte, als er darin lag, und was er geträumt haben mochte, als er darin schlief. Ich hätte auch gerne gewußt, ob vor der Tür Wachen aufgestellt worden waren. Am meisten aber interessierte mich, ob er Braunauge nicht für das hübscheste Mädchen von ganz Erto gehalten hatte – und ich dachte, wenn er ihr zu nahegetreten ist, dann ermorde ich den dreckigen Frostler … »Natürlich erinnere ich mich nur sehr undeutlich daran«, sagte Braunauge. »Ich war damals erst drei.« Da lachte ich. Später, nachdem Annlee und Braunauge eine ganz private Unterhaltung zwischen Mutter und Tochter geführt hatten, wanderten Braunauge und ich durch den Fischmarkt hinunter zur Gedenksäule. Das Pflaster war schlüpf217
rig von Fischschuppen und schleimigem Wasser, deshalb hielten wir uns an den Händen, für den Fall, daß einer von uns stolperte. »Die Fische sind jetzt schon größer«, stellte Braunauge fest. »Man kann den Stand der Grume nach der Größe der gefangenen Fische beurteilen.« Männer mit mörderischen Spießen speerten die herumzappelnden Fische und warfen sie in Körbe. Wir wanderten den Pier entlang weiter. »Was hat denn deine Mutter zu dir gesagt ?« fragte ich. Sie blieb stehen, legte die Arme aufs Geländer und starrte auf das sirupträge Wasser hinunter. Das übliche Sortiment von verschiedenstem Zeug trieb da : Tauenden, Schwimmerkorken, tote Fische, aufgeweichte Papierfetzen. Selbst mitsamt seinem Treibgut besitzt der Hafen von Pallahaxi Romantik. Braunauge hatte sich umgezogen und trug jetzt einen gelben Pullover und Jeans, und ich möchte schwören, daß sie hübscher denn je aussah. Vielleicht, überlegte ich, bewirkte das die Liebe. »Mutter sagte, es sei nicht richtig, daß ich mit dir im Schlafzimmer war«, berichtete sie. »Und ich hab’ darauf gesagt, daß ein Schlafzimmer doch auch nichts anderes ist als jedes andere Zimmer, oder ? Und sie meinte : Also, nicht ganz, meine Liebe …« Braunauge vermochte die besorgte Stimme ihrer Mutter bemerkenswert gut nachzuahmen. »Na, es lief jedenfalls darauf hinaus, daß ich versprach, in den Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang – das ist anscheinend die gefährlichste Zeit – nicht in dein Zimmer zu gehen.« »Hm.« Ich war irgendwie enttäuscht. »Aber Mutter ist eine einfache Seele – sie hat vergessen, 218
mich versprechen zu lassen, daß du nicht in mein Zimmer darfst.« »Fein.« Jetzt hätte ich gerne das Thema gewechselt. Ich hatte so ein Gefühl, daß die Entwicklung auf diesem Gebiet immer mehr meiner Kontrolle entglitt. »Was wollen wir heute vormittag machen ?« »Ribbon abholen ?« »Hör mal, zur Abwechslung könnten wir Ribbon doch heute zu Hause lassen, oder ? Ich glaube, Wolff will sie vormittags besuchen, also hat sie auf jeden Fall Gesellschaft. Wie wär’s, wenn wir mit meinem Gleiter rausfahren ?« Braunauge stimmte begeistert zu, und wir beeilten uns, in Silverjacks Werft zu kommen. Der Mann war selber nirgends zu sehen, also gingen wir gleich durch das Gewirr von Holzspänen und umgedrehten Booten zur Helling. Bald hatten wir das Segel gesetzt und glitten durch den Hafen. Braunauge lag im Bug, und ich saß am Ruder. Ich glaube, wir schauten einander die ganze Zeit an, denn ich mußte immer wieder den Kurs im letzten Augenblick korrigieren, um nicht mit irgend jemandem zusammenzustoßen. Vom Pier aus winkten uns Leute oder riefen uns beim Namen an, wenn wir anderen Booten begegneten, und zum erstenmal wurde mir bewußt, welch ein ungewöhnliches Paar wir waren, wie sehr es den Leuten auffiel, daß der Sohn eines Parls und die Tochter eines Kneipenwirts so oft beisammen waren. Früher wäre mir das unendlich peinlich gewesen, jetzt aber, stellte ich fest, genoß ich es. Ich war stolz, mit meinem wunderhübschen Mädchen gesehen zu werden. Wir fuhren hinaus in den äußeren Hafen und hielten uns längs der Mole. Mir fiel nun auf, daß an 219
Braunauges Kleidung irgend etwas Besonderes war, etwas, das wohl mit dem gelben Pullover zu tun hatte. »Äh, Braunauge«, sagte ich zaghaft. »Du … du siehst in dem da irgendwie … äh … sexy aus.« Sie lächelte plötzlich breit und sah an sich hinunter. Ich fühlte, wie mir auf einmal das Herz bis in die Kehle pochte. »Findest du wirklich ?« fragte sie erfreut. »Das hab’ ich gehofft. Deshalb hab’ ich den Pulli angezogen. Er ist mir eigentlich schon zu klein. Nächstes Jahr werde ich ihn nicht mehr … Oh, Drove, glaubst du, es gibt überhaupt ein nächstes Jahr für uns ? Ich hab’ dich so lieb, daß ich mir immer Sorgen mache.« »Ich werde jedenfalls den ganzen Winter dableiben«, sagte ich zuversichtlich. »Vielleicht bleibe ich überhaupt für immer da, jetzt, wo …« Jene Bilder kehrten wieder. »Es tut mir leid, das mit Alika«, sagte sie leise. »Ist schon gut. Das ist jetzt meine Heimat …« Und doch mußte ich immer wieder an die Abreise als etwas Unausweichliches denken. Jedes Jahr waren wir über den Sommer nach Pallahaxi gekommen, und jedes Jahr waren wir wieder abgereist, bevor die Überschwemmungszeit begann. So war das einfach. Ich stellte mir vor, wie Vater über alle meine Proteste hinwegtrampeln und mich mit blanker Gewalt auf irgendeinen Außenposten in der Wildnis verschleppen würde, wie er es immer tat, wenn mit Worten zwischen uns nichts mehr auszurichten war. Am Ende der Mole machten wir eine Wende und glitten in Richtung Fingerspitze. Die Fischerboote waren in großer Zahl ausgefahren, und weit draußen konnten wir drei große Gleiter von irgendwie fremdartiger Form erkennen. 220
Oft mußten wir den Kopf einziehen, wenn Grummetten dicht an uns vorbeifegten, nur mehr ihre Beute im Auge und auf nichts anderes achtend. Wir hielten uns dicht an den Klippen und sahen zu, wie die Felsen ganz nahe vorbeiglitten. »Drove …«, sagte Braunauge nach langem, friedlichen Schweigen. »Ich glaube, in Pallahaxi beginnt sich eine Art Untergrundbewegung zu organisieren. Ich dachte, ich sollte dir das sagen. Erst heute morgen haben Leute in der Grummette davon gesprochen, daß jetzt die Parlamentsmitglieder hier leben würden, und andere meinten, das würde nicht klappen. Sie sagten, wenn die Mitglieder hier blieben und in unseren Häusern wohnten und die Rationierung nicht beachteten und ihre Privilegien mißbrauchten und uns mit der Ausgangssperre tyrannisierten, dann würden diese Mitglieder bald einmal tot sein. Schrecklich, so etwas zu sagen, nicht ?« »Ich wußte nicht, daß es schon so arg geworden ist.« Die Bürger unterhielten sich in meiner Gegenwart natürlich nicht so offen, weil sie fälschlicherweise annahmen, ich würde alles meinem Vater weitererzählen. »Ja, es ist ernst, glaube ich. Weißt du, diese Abgeordneten selber könnten mir gar nicht gleichgültiger sein, aber du hast doch gesagt, daß einer bei deinen Eltern wohnt. Und ich möchte nicht, daß deinem Vater oder deiner Mutter etwas passiert, um deinetwillen.« Mir fielen eine Menge zynischer Bemerkungen ein, die ich dazu hätte machen können, aber ich hielt den Mund. Braunauge war zu süß und ahnungslos, um das zu verstehen. 221
»Schau mal, da drüben !« Ich zeigte hin. »Bei den Klippen.« Irgend etwas Großes trieb dort auf dem Wasser, von den Wellen träge hin und her gewälzt. »Oh …«, Braunauge schaute rasch weg. Ich steuerte näher heran. Die Klippen waren hier stark zerklüftet, und obwohl kaum eine Strömung mehr vorhanden war, hatte ich dauernd die Vision, ich könnte dem Boot an irgendwelchen scharfzackigen Felsen den Rumpf aufreißen. Das Ding schwamm mit herunterhängendem Kopf hoch auf dem dichten Wasser. »Es ist ein Lorin«, sagte ich. »Wie schrecklich … Was sollen wir tun, Drove ?« Ich versuchte gerade, zu einem Entschluß zu kommen, da ertönte ein seltsam pfeifendes Geräusch, und ein großer Felsbrocken über uns zersplitterte mit lautem Knall und kam als Steinlawine herunter, die mit sehr mäßigem Spritzen in den zähen Wellen verschwand. Ich fuhr herum und sah die drei Dampfgleiter, die wir zuvor beobachtet hatten, jetzt ganz in der Nähe vor der Mole. Weiße Wölkchen stiegen von den Dampfkanonen am Vorderdeck auf. Es waren astanische Kriegsschiffe, die Pallahaxi beschossen. Wie die Ysabel waren es Raddampfer, aber damit endete jede Ähnlichkeit. Die astanischen Schiffe waren Gleiter, die aber wegen der besseren Manövrierfähigkeit nicht mit Segeln, sondern mit großen Schaufelrädern beidseits des Rumpfes fuhren. Plötzlich machten sie alle drei gleichzeitig fast auf der Stelle kehrt und dampften hastig aufs Meer hinaus. Durch die wirbelnden Schaufelräder bekam man den Eindruck, sie rollten über die Grume-Oberfläche wie 222
Motorwagen. Ihre Maschinen tuckerten laut, und aus den Schloten drangen grauweiße Rauchfahnen, als sie beschleunigten, nach Süden abdrehten und mit laut ballernden Geschützen nochmals den Hafen beschossen. Astanisch oder nicht, es waren prachtvolle Fahrzeuge. Jedes Schiff hatte zwei hohe Schlote und einen beachtlichen Aufbau mittschiffs – die Maschinen mußten riesig sein. Als Gleiter hatten sie einen sehr geringen Tiefgang und wenig Freibord, aber wenn sie voll aufdrehten, sah es aus, als würde der Rumpf kaum mehr das Wasser berühren. Auf dem Vorderdeck hatten sie einen kurzen Mast, an dem die astanische Kriegsflagge wehte : eine goldene, stilisierte Zuckerpflanze auf rotem Untergrund. Das Deck selbst war gespickt mit Geschützen. Wir konnten die hastig arbeitende Bedienungsmannschaft dieser mächtigen Waffen beobachten, als die Astaner noch einmal herankurvten. Ich verstand erst nicht, warum der Feind nicht beigedreht hatte und die Stadt in aller Ruhe unter Beschuß nahm, aber dann fiel mir ein, daß die Astaner natürlich jeden Augenblick mit der Erwiderung des Feuers rechnen mußten. Eine der über uns hinwegzischenden Kanonenkugeln konnte ich einen Moment lang recht gut sehen ; sie krachte in der Nähe des treibenden Körpers gegen die Klippen, doch diesmal gab es keinen Felssturz. Braunauge war zusammengezuckt. In ihren Augen lag jedoch keine Angst, nur Besorgnis und Kummer, als sie die Geschosse in hohem Bogen über den äußeren Hafen sausen und in der Stadt einschlagen sah. »Und wir können gar nichts dagegen tun«, sagte sie traurig. »Warum geben sie uns keine Geschütze, Drove ?« 223
»Sie haben gesagt, wir kriegen welche«, murmelte ich. Als Sohn eines Parls fühlte ich mich irgendwie mitverantwortlich. »Das geht eben nicht so schnell, Braunauge.« »Wenn sie die Grummette treffen, bring ich Mestler um !« erklärte sie hitzig. Dann war der Angriff plötzlich vorbei. Die Gleiter dampften wieder ab, aufs offene Meer hinaus, und rammten dabei noch etliche kleine Fischerboote. Bald waren sie in der dunstigen Ferne verschwunden, und alles war wieder wie zuvor. Die Grummetten fegten über das Wasser, die Fische zappelten glitzernd an der Oberfläche herum. Der Feind war fort. Der Schaden erwies sich als relativ gering. Nachmittags wurde am Denkmal eine hastig improvisierte Versammlung abgehalten, bei der sich herausstellte, daß die erlittenen Verluste aus zwei zerschmetterten Loxkarren bei der alten Fabrik, drei auf See versenkten Fischerbooten, zweien, die im inneren Hafen getroffen wurden, und einem von einer Kanonenkugel durchlöcherten Dach in Olabs Bäckerei bestanden – wenn man von dem verletzten Stolz der Pallahaxiner absah. Es war ein ziemlich stürmisches Treffen, und es gab etliches wildes Gerede, daß die neue Konservenfabrik gestürmt werden sollte, aber dann segelte Starkarm in den Hafen und brachte es fertig, die Gemüter zu besänftigen. »Unsere Zeit kommt noch«, sagte er geheimnisvoll. Kurz bevor die Ausgangssperre jedermann nach Hause eilen ließ, stieß Ribbon zu uns. »Sagt mal, hat einer von euch Silverjack gesehen ?« fragte sie. »Vater hat schon den ganzen Tag versucht, ihn zu finden, seit ich ihm gesagt habe, daß er auf der Ysabel gewesen ist.« 224
»Hm … Wir haben ihn schon gesehen«, antwortete ich betrübt. »Davon weiß ich gar nichts, Drove. Wo denn ?« Braunauge war verwundert. »Er … äh, du erinnerst dich doch an diesen Kadaver unterhalb der Klippen ? Das war kein Lorin, Braunauge. Ich bin mir ganz sicher. Die Wellen haben ihn herumgerollt, so daß ich das Gesicht sehen konnte. Ich würde schwören, daß es Silverjack war.« Die beiden Mädchen sahen mich entsetzt an. »Was sollen wir jetzt tun, Drove ?« fragte Ribbon. »Ich werde mir Mestler vorknöpfen«, sagte ich. Mir war plötzlich ein schrecklicher Verdacht gekommen – und ich erinnerte mich, daß Mestler nicht wußte, daß wir den Untergang der Ysabel beobachtet hatten …
15 Als die Grume ihren Höhepunkt erreichte, wurde es für die Regierung aus praktischen Gründen immer schwieriger, die Ausgangssperre durchzusetzen, woran zuvor offenbar niemand gedacht hatte. Sie stammten eben alle aus dem Landesinneren, aus dem Südosten, aus Alika und Horlox. Selbst Mestler mit all seinem astronomischen Wissen hatte nicht daran gedacht, daß bald die Sonne unaufhörlich scheinen würde, und daß es keine Dunkelheit und damit auch keinen Grund mehr für eine Ausgangssperre geben würde – und keine nächtlichen Stunden für die geheimnisvollen Umtriebe der Parls und ihre Lebensmitteltransporte. Jetzt 225
donnerten die Laster, die die Fabrik belieferten, für jeden sichtbar durch die Stadt, und die Militärpolizei hatte keine Möglichkeit mehr, ihre geheimen Missionen im Schutz der Dunkelheit durchzuführen. Verständlicherweise ließen sich Mestler und seine Leute für ein paar Tage nach dem astanischen Angriff nicht blicken. In der Stadt wurde viel gemurrt und geschimpft, und kaum ein Standardtag verging ohne ein improvisiertes Bürgertreffen an der Gedenksäule. Viele forderten Starkarm auf, eine Abordnung zur neuen Konservenfabrik anzuführen – die man inzwischen als Zentrum aller Parl-Aktivitäten ansah – doch der Fischer blieb unnachgiebig. Es gab dabei nichts zu gewinnen ; jeglicher Volksauflauf an den Toren würde mit Waffengewalt zerstreut werden, das wußte er und versuchte es den anderen klarzumachen. Ich besuchte mehrmals meine Eltern und stellte fest, daß ihre Stimmung sich mit jedem Mal verschlechterte. Bei meinem zweiten Besuch war ein Fremder da ; Vater stellte ihn mir als Zeldon-Thrawn vor, und ich glaubte ihn von meinen seltenen Stippvisiten im Parlamentsgebäude von Alika vage wiederzuerkennen. »Sind die anderen Mitglieder auch hier ?« erkundigte ich mich. »Ich habe nämlich keine Fremden in der Stadt zu Gesicht bekommen.« Vaters Miene verhärtete sich. »Und das wirst du auch in Zukunft kaum. Ich bedaure, daß unter deinen Freunden in Pallahaxi soviel Feindseligkeit herrscht, daß es für anständige Leute unklug ist, die Stadt zu betreten. Zeldon-Thrawn ist oben bei uns sicher – aber kannst du dir vorstellen, daß ein Abgeordneter sich unbelästigt auf die 226
Straße wagen kann, solange dieser Aufwiegler Starkarm frei herumläuft ? Ganz gewiß nicht. Die meisten Mitglieder mußten in der neuen Fabrik untergebracht werden – wo sie sich mit den größten Entbehrungen abfinden müssen, sollte ich hinzufügen.« »Ach, lassen Sie doch, Burt«, sagte Thrawn lächelnd. »So schlimm ist das nicht.« »Ich schäme mich, mit dieser Stadt überhaupt etwas zu tun zu haben. Ihre Bürger sind nichts als ahnungslose Rüpel, die keinerlei Respekt für ihre Regierung haben !« Vater starrte mir zornig ins Gesicht, auf bestem Wege, sich in einen seiner Ausbrüche hineinzusteigern. Thrawns Anwesenheit hatte er offensichtlich völlig vergessen. »Horlox-Mestler wird heute wieder versuchen, mit ihnen zu reden, aber ich habe ihm wiederholt gesagt, daß das nur Zeitverschwendung ist und gefährlich obendrein. Ohne Erfolg …« Er rang sich ein Lächeln ab und gewann seine Beherrschung zurück. »Aber so ist Mestler. Der Mann ist bewundernswert furchtlos, wenn es um die Erfüllung seiner Pflichten geht.« Wir unterhielten uns noch eine Weile, und ich bekam den Eindruck, daß Thrawn ein recht sympathischer, vernünftiger Mann war, der die lächerliche Auftrumpferei meines Vaters sehr schnell als solche erkennen würde. Später sprach ich in der Küche noch kurz mit meiner Mutter und fragte sie nach der Kriegskarte, aber sie war nicht in der Stimmung, darüber zu reden, und nach einer Weile verabschiedete ich mich aufatmend. Als ich in die Stadt zurückkehrte, hörte ich bereits das Schrillen der Dampfpfeife des Ausrufers, und wie ich zum 227
Fischmarkt kam, stand Mestler schon auf einer umgedrehten Kiste und sprach ganz formlos zu einer kleinen Gruppe Leute. Er hatte auf die Pracht des Tempels um einer volksnäheren Aufmachung willen verzichtet – zugleich aber auch auf die großartige Vorankündigung und damit auf ein umfangreicheres Publikum. Er verließ sich darauf, daß der Inhalt seiner Rede auch von einer kleinen Gruppe von Mund zu Mund in der ganzen Stadt verbreitet werden würde. Auf diese Weise schloß er die Möglichkeit organisierter Opposition und damit verbundener Unannehmlichkeiten aus. Die Akustik war unter dem Dach des Fischmarkts nicht gut, und fortwährend sausten Grummetten von den offenen Seiten herein, so daß die Leute ängstlich die Köpfe einzogen, und zankten sich mit schrillem Geschrei um einzelne Fischbrocken. Nichtsdestotrotz war es uns allen möglich, zumindest das Wesentliche von Mestlers Ansprache zu verstehen. Wie es schien, hatte es unvermeidliche Verzögerungen in der Anlieferung von Munition zum Schutz von Pallahaxi gegeben, weil die Astaner wichtige Industriezentren im Landesinneren erobert hatten. Das war zwar sehr bedauerlich angesichts des jüngsten Angriffs durch astanische Kriegsschiffe – doch die Bürger könnten sich darauf verlassen, daß ihre Regierung alles tat, was in ihrer Macht stand, um die Situation zu bereinigen. Die Regierung war unserer großartigen Stadt sehr dankbar für ihre Unterstützung der nationalen Kriegsanstrengungen und würde in Anerkennung dieser Bemühungen gewisse Sicherheitsmaßnahmen zurückziehen, die zwar verständlicherweise unpopulär, aber 228
zum damaligen Zeitpunkt sehr notwendig gewesen waren. Die Ausgangssperre wurde aufgehoben. Die Militärpolizei wurde abgezogen. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, die Militärpolizei sei zu unserem Schutz da !« rief jemand, aber es war zu spät. Mestler war bereits lächelnd und allen zunickend von seiner Kiste gestiegen und hatte sich in den wartenden Motorwagen zurückgezogen. Ich rannte hinüber, drängte mich durch die Menge rund um den Wagen und rief : »Kann ich Sie kurz sprechen, Horlox-Mestler ?« Er hatte schon Platz genommen, blickte aber auf und sah mich. Er lächelte, sagte etwas zu seinem Fahrer und bedeutete mir, neben ihm einzusteigen. Kurz darauf fuhren wir durch die Straßen von Pallahaxi, und die Leute grölten, zischten und warfen uns Steine nach. Ich merkte, daß ich am ganzen Leib zitterte, entsetzt über die konzentrierte Feindseligkeit, die uns überall entgegenschlug. Mir wurde klar, daß es vielleicht doch nicht so herrlich war, ein Parl zu sein. Eine Weile noch prasselten Steine gegen die hölzernen Wagenwände, dann waren wir aus der Stadt und schnauften die Steigung hinauf. Mestler wies den Fahrer an, oben zu halten, und wandte sich dann an mich. »Ich nehme ja nicht an, daß du bis zur Fabrik mitkommen willst«, meinte er lächelnd. »Also, was kann ich für dich tun, mein Junge ?« Seine Augen sprühten förmlich vor Begeisterung und Charme, als er wieder einmal den großen Freund der Jugend hervorkehrte. Die Feindschaft einer ganzen Stadt berührte ihn offenbar kaum ; er hatte es schon vergessen. 229
Meine Mutter hätte in dieser Situation gesagt : ›Wie nett von Horlox-Mestler, sich für dich Zeit zu nehmen, mein Lieber.‹ »Hören Sie«, sagte ich kurzangebunden. »Haben Sie Silverjack gesehen ?« Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen, so daß ich hörte, wie das Auspuffgeknatter eines Lasters härter wurde, als er von der ebenen Hauptstraße auf die hinter uns liegende Steigung kam. Hier oben gab es nur mehr wenig Häuser, doch von einer halbverfallenen Hütte gegenüber beobachtete uns eine alte Frau durchs Fenster. »Silverjack war ein Freund von dir, nicht wahr ?« fragte Mestler, und jegliches Sprühen war erloschen. »Nicht eigentlich ein Freund. Ich kannte ihn gut. Aber Moment mal …« Erst jetzt ging mir auf, daß wir in der Vergangenheit von ihm sprachen, und ich fragte mich, ob ich vielleicht in eine Falle getappt war. »Was soll das heißen, war ein Freund ? Wollen Sie damit sagen, daß er tot ist ?« Ich glaube, es gelang mir, das richtige Maß von Beunruhigung in meine Stimme zu legen. Der Laster ließ seine Warnpfeife schrillen, als er sich der Hügelkuppe näherte, aber er hatte auf jeden Fall Platz genug, vorbeizukommen. Mestler runzelte die Stirn. »Hast du denn nicht die Liste gesehen ? Sie wurde beim Tempel angeschlagen. Silverjack war einer der Unglücklichen, die beim Untergang der Isabel ihr Leben verloren. Er hatte nicht die geringste Chance. Es war schrecklich.« Jetzt schlug mir das Herz bis zum Hals, und meine Handflächen waren ganz feucht. Während das Knattern des herankommenden Lastwagens immer stärker anschwoll, drehte 230
ich mich zu Mestler um und starrte ihm ins Gesicht, bereit, sofort aus dem Wagen zu springen. Dies war der Augenblick – der Augenblick, in dem ich endgültig mit allen Parls brach, mit Vater und Mutter und der ganzen frostigen Mörderbande. Er las es in meinen Augen, und in seiner Miene war keine Spur mehr von Freundschaft und onkelhafter Herablassung. Ich öffnete den Mund, um es ihm ins Gesicht zu sagen, da weiteten sich seine Augen, als er zufällig an mir vorbei den Hügel hinunterblickte. »Was ist da los ? Raus aus dem Wagen, Junge ! Schnell !« Wir warfen uns aus dem Motorwagen, als der Fahrer des Lasters absprang und in den Schotter zu unseren Füßen rollte. In einiger Entfernung sah ich eine größere Menschenmenge schweigend und entschlossen den Hügel heraufkommen. Der fahrerlose Laster donnerte an uns vorbei, wurde etwas langsamer, immer noch aus allen Ritzen dampfend, brach zur einen Straßenseite hin aus und kam mit dem Kreischen von Metallrädern in einem Graben zum Stehen. Der Fahrer war aufgesprungen und zerrte mit einer verbildeten Hand an Mestlers Ärmel. »Weg von hier !« schrie er. Es war Greifer. »Was ist los ?« »Der Laster !« keuchte er. »Er explodiert ! Ich hab mein Bestes getan, Mestler, bei Phu. Ich hab ihn noch aus der Stadt gekriegt.« Nach einem Blick zurück auf den bedrohlich dampfenden, fauchenden Laster liefen wir los, hinunter in Richtung Stadt, und machten erst in der beruhigend massiven Deckung eines öffentlichen Wärmers halt. Wir waren sofort 231
von den Bürgern umringt, die aus der entgegengesetzten Richtung den Hang heraufgestürmt waren. Starkarm war einer der Anführer ; er packte Greifer heftig am Arm, als er ihn erblickte. »Wissen Sie, daß Sie mindestens drei Leute verletzt haben ? Wie ein Irrer sind Sie gefahren !« »Das Sicherheitsventil hat geklemmt, als ich die Klippenstraße runterkam«, erklärte Greifer weinerlich. »Ich war schon in der Stadt, und der Druck stieg und stieg, ich mußte einfach weiterfahren, bevor die Kiste explodierte ! Ich hab’ mein eigenes Leben riskiert, verstehen Sie ?« Starkarms Miene war grimmig. »Wenn einer an den Verletzungen stirbt, dann haben Sie Ihr Leben umsonst riskiert«, sagte er ruhig. Er starrte zur Hügelkuppe hinauf ; etwa zweihundert Schritt entfernt stieg von dem verlassenen Laster täuschend friedlich eine Dampfwolke nach der anderen auf. Der Laster hatte einen Holzbrenner, deshalb konnte man nichts tun als warten, während die Glut im Kessel immer stärker wurde und der Druck stieg. Bei einem mit Destillat betriebenen Motor, wie ihn die Personenwagen hatten hätte man die Brenner abdrehen und den Laster retten können. Schweigend sahen wir zu, wie der Dampf aufstieg. »Na, wenigstens war er auf der Rückfahrt in die Fabrik«, meinte jemand. »Da wird er leer sein. So geht bloß der Laster verloren.« »Hoffen wir, daß es so ist«, sagte Starkarm geheimnisvoll. Greifer zitterte heftig – eine gewaltige Wandlung von dem selbstsicheren, besserwisserischen Rüpel, als den ich ihn kennengelernt hatte. Die Schweißtropfen rieselten ihm 232
den fetten Nacken hinunter und hinterließen rosa Streifen in dem Schmutz. Seine feisten Brusthügel schwabbelten. »Wir müssen hier weg !« jammerte er plötzlich. »Wir sind viel zu nahe !« Mestler sah alt und hoffnungslos aus. Er hatte eine Weile schweigend Starkarm beobachtet. Endlich sprach er. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie diese Leute nach Hause schickten, Starkarm«, sagte er leise. »Es soll doch niemand verletzt werden, wenn der Laster hochgeht. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie versuchen würden, die Menge zu zerstreuen.« Im ersten Augenblick schaute Starkarm überrascht drein ; dann verengten sich seine Augen. »Lassen Sie das nur unsere Sorge sein, Mestler«, sagte er. »Wir riskieren’s. Ich bin überzeugt, daß die Leute die Gefahr nicht scheuen, wenn sie dafür einen Parl-Laster explodieren sehen können.« Ribbon traf ein, aber ihr Vater konzentrierte sich zu sehr auf den Lastwagen, um sie zu bemerken. Ich berichtete ihr, was vorgefallen war, und sie riß aufgeregt die Augen auf. »Braunauge wird’s leidtun, daß ihr das entgeht«, sagte sie. »Wo ist sie ?« »In der Grummette, und wartet auf dich.« »Rax, ich kann jetzt nicht weg. Der Laster wird jeden Augenblick hochgehen.« Ribbon grinste mich an. »Willst du damit sagen, daß ein ganz gewöhnlicher Dampflaster dir wichtiger ist als Braunauge ?« In diesem Augenblick kam Wolff herbeigeeilt. »Ah, da seid ihr ja.« Er musterte die Menge ringsum mit dem Abscheu des Aristokraten. »Rax, welch ein Mob. Sehen wir zu, 233
daß wir hier wegkommen, Ribbon. Heute wäre ein guter Tag für einen Spaziergang am Pier, denke ich.« Ribbon starrte ihn hochmütig an. »Wenn du glaubst, daß ich hier weggehe, um mit dir auf dem Pier herumzuwandern, dann hast du den Verstand verloren. Du hast dir ja nicht einmal die Mühe genommen, dich zu erkundigen, was hier los ist ; ich vermute, du denkst, wir stehen hier alle nur so hirnlos rum wie Loxen.« Das war ein Musterbeispiel jener Ribbon, die mir von Anfang unserer Bekanntschaft an auf die Nerven gefallen war, und ich genoß es, daß es diesmal Wolff war, der eins auf den Deckel bekam. Mestler trat ganz nahe zu uns und nahm uns beim Arm. »Ihr zwei Burschen, ihr geht jetzt nach Hause, ja ? Seid vernünftig und geht.« »Gehen Sie zum Frost, Mestler«, sagte ich. Wolffs Mund klappte auf, als er ungläubig von mir zu Mestler und Ribbon starrte. Ribbon kicherte und ergriff meine Hand. Wolff sah es, schluckte und sagte : »Natürlich, HorloxMestler.« Er drehte sich um und rannte den Hang hinunter. Mestler sah mich immer noch an ; wieder kam er mir gealtert vor, aber noch eine andere Veränderung war mit ihm vorgegangen. »Drove und Ribbon, ich möchte, daß ihr mir einen Gefallen tut«, sagte er. »Nur um meinetwillen, nicht für die Parls oder für den Regenten, ja ? Bittet Starkarm, die Leute heimzuschicken – ich bitte euch darum !« »Also wirklich, Mestler«, zwitscherte Ribbon. »Ich habe doch keinerlei Einfluß auf meinen Vater. Und ich glaube keineswegs …« Ich faßte sie um die Mitte, schwang sie zu mir herum 234
und flüsterte ihr ins Ohr : »Ribbon, meine Liebe, bitte hör mich an.« »Was gibt’s ?« »Ich bin ehrlich überzeugt, daß es wichtig ist, die Leute von hier fortzukriegen. Bei dieser Sache steckt irgend etwas dahinter, etwas, von dem wir nichts wissen. Mestler meint es ernst, weißt du. Ich weiß, daß er ein Schurke ist, aber ich glaube nicht, daß er einer der schlimmsten ist.« »Sag, daß du mich hübsch findest.« »Phu, du weißt, daß ich das tu. Sag bloß Braunauge nichts davon, ja ?« »Ach je, wie ist das Leben kompliziert«, Ribbon zwinkerte mir zu, dann drehte sie sich zu Mestler um. »Also gut, ich werde tun, was ich kann. Aber nur, weil Drove mich darum gebeten hat, ist das klar ?« Sie ging hinüber zu ihrem Vater und zog ihn beiseite. Ich sah ihn zu mir herblicken, während sie leise mit ihm sprach. In sich zusammengesunken und irgendwie trübsinnig beobachtete Mestler die beiden. Als ich ihn am Arm berührte, zuckte er heftig zusammen. »So«, sagte ich. »Und jetzt sagen Sie mir, warum ihr Silverjack umgebracht habt.« Er schlug die Augen nieder und sagte nichts. Nach einer Weile kam Ribbon mit ernster Miene zu uns zurück. »Tut mir leid, Drove«, sagte sie. »Ich hab mich wirklich bemüht. Aber Vater ist der Ansicht, daß hier irgend etwas faul ist. Irgend etwas mit der Ladung des Lasters. Er sagt, es sollten alle hierbleiben, damit sie selber sehen könnten, was darin ist.« 235
»Aber es ist nichts drin«, murmelte ich und versuchte, nicht genauer darüber nachzudenken … Mestler sagte : »Trotzdem schönen Dank, Drove und Ribbon. Dein Vater ist ein guter Mann, meine Liebe. Er ist der Typ Mann, den man gern an seiner Seite weiß, wenn man seine Feinde nicht kennt … Ich verlasse euch jetzt. Paßt aufeinander auf, und auch auf die liebe kleine Braunauge …« Er begann sich unbekümmert einen Weg durch die Menge zu bahnen, und als mir klar wurde, daß seine Abschiedsworte sehr endgültig geklungen hatten, rannte ich ihm nach und hielt ihn am Arm zurück. »Mestler ! Was ist mit Squint passiert ?« Er blickte sich um, aber ich konnte nicht feststellen, ob er mich gehört hatte oder nicht. Ich glaube, ich vergaß selbst meine Frage, als ich die Verzweiflung in seinen Augen sah. Er machte sich los, oder ich ließ ihn los, das weiß ich nicht mehr, und entfernte sich von der Menge, wanderte langsam den Hügel hinauf. »Mestler !« brüllte Starkarm. »Kommen Sie zurück ! Ich will Sie hier haben !« Er dachte, Mestler wollte uns entkommen, vielleicht die sichere Zuflucht der Konservenfabrik suchen. Ich wußte instinktiv, daß Mestler einen ganz anderen Zufluchtsort suchte … Bedächtig stieg Mestler in die Fahrerkabine des Lasters und blieb darin sitzen, ruhig und nachdenklich, ein scheinbar alltäglicher Anblick. Die Menge wurde still, und wir alle warteten stumm, nur einmal hörte ich Ribbon aufschluchzen, und ihre Hand krampfte sich fester um meine. Dann explodierte der Dampfkessel. 236
Es war ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte einen Donnerschlag und Blitz und eine mächtige Erschütterung erwartet, die die Schindeln von dem Hüttendach auf der anderen Seite herunterprasseln ließ ; ich hatte etwas Schreckliches und Gewaltiges erwartet. Statt dessen vernahm man nur einen kurzen, scharfen Knall, dem ein tiefes, rauschendes Donnern folgte, einem mächtigen Wasserfall vergleichbar. Im nächsten Augenblick breitete sich eine riesige, wogende, wabernde Dampfwolke über die Straße aus und wälzte sich den Hügel herunter auf uns zu. Die Leute spritzten auseinander und rannten, und Ribbon und ich rannten miteinander immer noch an den Händen haltend. Nach einer Weile hielten wir an und schauten zurück, und es schien, daß alles vorüber war. Betroffen und nervös lachend stiegen die Leute den Hügel wieder hinauf. Der Dampf hatte sich fast ganz verzogen ; nur vom Kessel stiegen noch ein paar dünne Schwaden auf. Aus der Entfernung schien die Explosion gar keinen Schaden angerichtet zu haben, und Mestler saß immer noch am Steuer. Ein Gruselschauer rieselte mir den Rücken hinab, weil alles so entsetzlich normal aussah, und als ich plötzlich das Tschugtschug-tschug einer laufenden Dampfmaschine hörte, habe ich, glaube ich, vor Schreck aufgeschrien. »Er hat’s wieder in Gang gebracht«, wiederholte eine Frau wieder und immer wieder. »Er hat’s in Gang gebracht.« Die Menge zögerte, aber da trat Starkarm vor. »Ist doch nur ein anderer Laster, Männer !« brüllte er. »Einer, der von der Fabrik kommt !« Es berührte mich seltsam, daß keiner den Toten am Steuer auch nur erwähnte. Wir drängten uns um das Heck des Lasters, und ein paar Männer kletterten auf die Ladefläche 237
und begannen die Plane zu lösen. Aufgeregt riefen sie herunter, daß sie gutverpackte Gegenstände gefunden hätten. Immer wieder irrte mein Blick zu dem sachte dampfenden Mestler ab, und ich hatte irgendwie das Gefühl, wir müßten ihn eigentlich um Erlaubnis fragen ; es war nicht richtig, das Fahrzeug eines Toten auszuplündern. Als die Männer auf der Ladefläche herumtrampelten, rührte er sich plötzlich, der Kopf fiel zur Seite, und ich sah sein Gesicht … Er muß sehr schnell tot gewesen sein, sonst hätte er nicht in derselben Stellung dasitzen können. Die Plane wurde unter Triumphgebrüll weggezogen. Die Seitenborde der Ladefläche klappten herunter. Eine Reihe von großen, schwarzen Apparaten wurde sichtbar. »Dampfgeschütze !« schrie jemand. »Es sind unsere Dampfgeschütze, Männer ! Jetzt können wir uns gegen die astanischen Schiffe verteidigen !« Starkarm kletterte auf die Ladefläche und hob eine Hand, um dem Begeisterungsgeschrei Einhalt zu gebieten. »Natürlich sind das Dampfgeschütze«, rief er. »Aber sie waren nicht für uns bestimmt. Ich möchte euch alle daran erinnern, was Mestler erst vor kurzem unten am Fischmarkt sagte. Er erzählte uns, daß es Verzögerungen gegeben habe und daß die Geschütze erst nach vielen Tagen eintreffen könnten. Nun frage ich mich – für wen waren diese Geschütze bestimmt ? Diese Geschütze, die heimlich durch die Stadt transportiert wurden, auf einem Laster, den alle für leer halten mußten.« »Die Fabriken !« schrie ein Mann. »Bei Phu, die sorgen für ihre Sicherheit, ohne überhaupt an die Stadt zu denken !« »Mir scheint, genauso ist es«, sagte Starkarm, nachdem 238
sich das empörte Geschrei gelegt hatte. »Sie haben das Parlament in die neue Konservenfabrik verlegt, und das Parlament muß geschützt werden, und zu Rax mit Pallahaxi. So denken die Parls eben. Mestler aber konnte die Schuld nicht mehr ertragen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, was wir mit ihm tun würden/wenn wir es herausfanden. Deshalb brachte er sich um. Wenn das nicht Beweis genug für die Schuld des Parlaments ist, dann weiß ich nicht, was sonst es sein könnte. Jedenfalls«, er schlug gegen das lange Rohr von einem der Geschütze, »brauchen sie wegen dem Zeug da kein schlechtes Gewissen mehr haben. Wir werden damit die Mole bestücken !« »Sieh mal, die sind gar nicht komplett«, sagte ich zu Ribbon. »Für jedes Geschütz braucht man einen Heizkessel und einen Dampfkessel. Die Kanone allein nützt niemandem etwas.« Sie schaute mich an und sagte etwas – für Ribbon – ungewöhnlich Einsichtsvolles. »Wir brauchen die Geschütze, Drove. Die Kessel sind ganz und gar überflüssig, mein Lieber.« Ich grinste, und als ich das Rumpeln eines herannahenden Lasters vernahm, trat ich vor und blickte den Hügel hinauf. Der Fahrer hatte das Beschleunigungsventil geschlossen, als er die Menschenansammlung bemerkte, und ließ jetzt sein Fahrzeug langsam ausrollen. »Vielleicht sollten wir uns den da auch genauer anschauen«, bemerkte Starkarm. Er sprang von der Ladefläche des Lasters, stellte sich in der Straßenmitte auf und hob die muskelbepackten Arme. Der Laster hielt ein paar Schritt vor ihm, und der Fahrer steckte ängstlich den Kopf heraus. 239
»Was ist passiert ? Ist was los ?« »Nur ein kleiner Unfall«, erklärte ihm Starkarm. »Also, Mann. Was transportierst du in deinem Laster ?« Der Fahrer fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ah … Lebensmittelkonserven, natürlich. Was, beim frostigen Rax, glaubt ihr, wird sonst von einer Konservenfabrik abtransportiert ? Fischkonserven für die Städte im Landesinneren sind’s.« Wir hatten uns jetzt alle um seinen Wagen gedrängt ; der Mann blickte immer wieder beunruhigt zu den Geschützen auf dem anderen Lastwagen. »Komisch, gerade jetzt habe ich große Lust auf Dosenfisch«, erklärte Starkarm. Er schwang sich auf die Ladefläche und riß die Plane zur Seite. »Wie schade«, sagte er ruhig. »Ist schon alles verkauft, scheint mir. Der Laster ist leer.« Er sprang hinunter neben die Fahrerkabine und holte mit Hilfe seiner Riesenfäuste den verängstigten Frächter heraus. »Der Laster ist leer, du frostiger Lügner !« »Ich … ich schwöre, sie haben mir gesagt, er ist voll.« Greifer mischte sich ein, zitternd vor Angst. »Und mir haben sie gesagt, daß meiner leer ist, die Frostler !« jammerte er. »Wir sind von den Parls betrogen worden !« »Ach, seid still«, fauchte Starkarm entrüstet. »Jeder Trottel von Fahrer weiß frostig genau, ob sein Laster voll oder leer ist, schon nach dem Fahrverhalten, oder nicht ? Ihr beide steht im Sold der Parls und seid selber Parls geworden. Irgendeiner soll sie fesseln und in den Tempel bringen. Ich werd’ mich später mit ihnen unterhalten. Und jetzt wollen wir diese Geschütze auf den Lastwagen hier umladen. Es ist so unökonomisch, ihn leer fahren zu lassen, in diesen harten Zeiten …« 240
Später, als die Geschütze bereits zur Mole unterwegs waren, standen Starkarm, Ribbon und ich noch neben dem ruinierten Laster von Greifer. Der Leichnam Mestlers war fortgebracht worden. Starkarm schaute den Hügel hinauf, wo die Straße über der Kuppe außer Sicht kam, um sich in etlichen Kehren zur neuen Fabrik hinunterzuwinden. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte unverändert kräftig herunter, wie schon seit etlichen Tagen. »Sie tun, als wären sie um unser Wohl besorgt«, sagte er leise. »Doch die ganze Zeit über bauen sie an ihrer privaten kleinen Festung und vergraben sich wie verängstigte Drivettchen in ihrem Bau. Ich frage mich, ob nicht in Asta etwas Ähnliches geschieht. Ich frage mich, ob nicht überall die Dreckskerle sicher und fett in ihren Löchern sitzen, während die guten Leute einander abknallen. He …« Langsam breitete sich ein geradezu diebisches Vergnügen in seinem Gesicht aus. »He, wär’ das nicht großartig, wenn wir mit den astanischen Streitkräften unseren eigenen Frieden schließen, wenn sie uns erreichen ? Danach könnten wir alle glücklich und zufrieden nach Hause gehen und die Parls allein in ihrer kleinen Festung sitzenlassen, die mit Geschützen gespickt ist, mit denen sie niemanden erschießen können, weil keiner mehr da ist …«
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16 Jetzt folgten die Ereignisse so rasch aufeinander, daß ich die Standardtage und Standardnächte kaum mehr auseinanderhalten konnte, denn unablässig kreiste die Sonne Phu wie ein Hochofen am Himmel. Die Grume erreichte ihren Höhepunkt. Die ›Goldene Grummette‹ hatte ununterbrochen für ihre Gäste geöffnet, und Dickbauch, Annlee, Braunauge und ich arbeiteten oft in Schichten, und manchmal, wenn sehr viel Betrieb war, auch alle zugleich. Von Zeit zu Zeit schlich sich der eine oder andere von uns erschöpft fort und fiel wie ein Stein ins Bett, um etliche Stunden zu schlafen, bevor er wieder an seine Pflichten ging. Braunauge und ich nützten die Nähe unserer Schlafzimmer niemals aus ; wir waren einfach zu müde, selbst für die Liebe. Als ich einmal an ihrem Zimmer vorbeikam, hörte ich einen seltsamen Laut und blieb verblüfft stehen, denn ich hatte sie eben noch drunten im Schankraum gesehen. In jenen Tagen waren sämtliche Zimmer belegt ; Parls und andere Flüchtlinge trafen aus allen Teilen Ertos ein und sammelten sich in Pallahaxi. Es war durchaus möglich, daß einer dieser Vertriebenen ins falsche Zimmer geraten war. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, daß irgend so ein Trottel mein Mädchen erschrecken könnte, deshalb klopfte ich und ging nach kurzem Abwarten hinein. Braunauges Mutter lag auf dem Bett und weinte. Ich wollte mich schon verziehen, als sie einen leisen Laut ausstieß, deshalb ging ich zu ihr und blieb neben dem Bett stehen und fühlte mich sehr ungemütlich. 242
»Was ist los, Annlee ?« fragte ich. Sie schaute mich verständnislos aus tränennassen Augen an ; dann streckte sie die Hand aus und griff nach meiner. Ihre Hand war eiskalt, sie zitterte selbst in diesem warmen Raum. Ich war mir auch jetzt noch nicht sicher, ob sie überhaupt begriff, wer ich war. Ich löste sanft meine Hand aus ihrem Griff, zog ein paar Decken über sie und ließ sie so liegen. Eine Weile später erschien sie wieder im Schankraum, verteilte volle Gläser und lachte und stritt mit den Gästen über Politik, als wäre alles in Ordnung, als wäre nie etwas nicht in Ordnung gewesen. Dann kam eine Zeit, in der die Gäste immer weniger wurden, so daß Dickbauch eines Tages Braunauge vorschlug : »Warum machst du und Drove nicht mal einen Tag blau ? Geht doch segeln oder spazieren oder so was, wie wär’s damit ?« Er musterte etwas besorgt das Gesicht seiner Tochter. »Du siehst blaß aus, Mädchen. Ein bißchen Sonne würde dir guttun. Mutter und ich kommen jetzt schon alleine zurecht.« »Bist du sicher, daß ihr uns nicht braucht, Vater ?« erkundigte sich Braunauge und lächelte mir zu. »Verschwindet schon, ihr zwei«, lachte Annlee. »Bevor Dickbauch seine Meinung ändert. Ach, und … bleibt lieber weg vom drüberen Teil der Stadt, ja ?« »Weshalb das ?« »Die Parls haben erklärt, daß sie heute die Geschütze abholen würden«, erklärte Dickbauch grimmig. »Ich wüßte gerne, ob sie das wirklich wagen. Deshalb ist heute niemand hier. Alle sind drüben an der Mole.«
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Wir schwiegen, während wir die Segel des Gleiters aufzogen ; ich weiß, daß wir beide an Silverjack dachten. Obwohl noch immer eine Handvoll Männer an den Booten in der Werft arbeitete, wirkte der Ort irgendwie leer ohne die haarige Gestalt und unstete Persönlichkeit seines Besitzers. Ich fragte mich, wem die Werft jetzt gehörte – ob Silverjack irgendwelche Verwandten hatte, die das Geschäft übernehmen konnten. Langsam quoll kalter Zorn in mir hoch, als ich daran dachte, wie der Mann an Land schwamm, nachdem er sein Bestes getan hatte, um die Ysabel sicher ins Dock zu bringen, nur um von den Parls am Pier … was ? Erschossen zu werden, als er auf sie zuschwamm ? Die träge Strömung würde ihn dann um die Fingerspitze herumgetragen haben, und seine Mörder konnten annehmen, daß die Aasfresser oder die Grume-Reiter die Leiche verschwinden lassen würden. Wahrscheinlich war längst keine Spur mehr von ihr vorhanden. Andererseits konnte sie durch den raschen Fall des Wasserstandes irgendwo zwischen den Felsbrocken unterhalb der Klippen gestrandet sein, wo sie vielleicht immer noch lag, zerschmettert, aber jedenfalls den verräterischen Federstutzenbolzen in sich, der die Behauptung der Parls Lügen strafte, daß er bei dem Unglück den Tod gefunden habe. Nein, eigentlich war das nicht gelogen, er hatte ›den Tod gefunden‹, einen Tod, den er nicht gesucht hatte, genausowenig wie die anderen, die unter Deck festsaßen und in Stücke gerissen wurden, als die Kessel hochgingen. Wir wußten, was dann mit ihnen geschehen war : die Grummetten hatten ihre Überreste gefressen. Wenn jemand auf so scheußliche Weise (oder auf so heimtückische Weise, 244
wie Silverjack) umkam, dann fand ich die euphemistische Phrase ›den Tod gefunden‹ ausgesprochen widerlich und höchstens meiner Mutter würdig. »Hör mal, möchtest du wirklich rausfahren, Drove ?« fragte mich Braunauge besorgt. »Tut mir leid. Hab’ Gedanken gewälzt, das ist alles.« Das Segel füllte sich in der sanften Brise. »Los geht’s«, sagte ich, und wir kletterten ins Boot und stießen ab. Das Wasser hatte jetzt die Konsistenz von Kleister, und man kam hier im geschützten Hafen wirklich nicht mehr flott vorwärts. Trotzdem hellte sich meine Stimmung jetzt, da wir einmal auf dem Wasser waren, zusehends auf. Ich schaute Braunauge an, die wieder im Bug lag, und stellte fest, daß das meine Stimmung noch weiter verbesserte. Zahlreiche Gleiter waren hier verankert, und von den Tauen und Ketten tropfte zähflüssig das Wasser, wenn sie in die Wellen schnitten und wieder auftauchten. Die meisten Fischer waren wohl in der Stadt geblieben, um die Ereignisse beim Eintreffen der Parls nicht zu versäumen. Ich hoffte, daß es keinen Ärger geben würde. Mit Hilfe einer auffrischenden Brise schlitterten wir hinaus in den äußeren Hafen und konnten jetzt die Menschenmenge an der Mole erkennen. Die halbe Stadt mußte hier versammelt sein ; in dichten Trauben standen die Leute um die drei Dampfgeschütze herum, die neben dem Geleise der Dampfbahn aufgebaut worden waren, so daß die langen Rohre trotzig aufs Meer hinaus zielten. Schneeweiße Grummetten hockten auf dem düsteren Metall und zankten sich mit gespreizten Flügeln um die besten Plätze. Die Vögel hatten vor der Menschenansammlung keinerlei Respekt. 245
Etliche Leute winkten uns zu, deshalb steuerte ich näher heran, so daß wir an dem Damm aus Felsbrocken entlangglitten, auf dem die Mole errichtet worden war. »Wann sollen die Parls denn kommen ?« schrie ich hinüber. »Bald.« Wir konnten jetzt schon einzelne Gesichter erkennen ; ich sah Ribbon und ihren Vater. Wolff war nirgends zu entdecken. Ribbon winkte uns aufgeregt zu, lachte und rief herüber. Wir erwiderten die Rufe und segelten weiter. Braunauge beobachtete mich mißtrauisch, und ich begann mich etwas unbehaglich zu fühlen. »Es ist wieder geschehen, Drove, nicht wahr ?« meinte sie geheimnisvoll, fest überzeugt, daß ich begriff, was ich meinte. »Hmm ?« »Ich meine, daß ihr, du und sie, bei dieser Explosion auf der Klippenstraße dabei wart und ich wieder einmal keine Ahnung davon hatte.« »Braunauge, dafür kann ich doch nichts. Ich liebe dich.« Ihr Blick wurde sanfter. »Ich weiß. Aber ich habe trotzdem immer noch das Gefühl, daß ich, wenn ich weiterhin alles versäume, eines Tages auch dich versäumen werde … Aber das wirst du nicht zulassen, nicht wahr, Drove ?« »Niemals«, sagte ich und überlegte, warum ich dabei ein so frostig schlechtes Gewissen hatte. »Segel weiter, sonst will sie noch mit uns kommen.« Tatsächlich spazierte Ribbon parallel zu unserem Kurs die Mole entlang und lächelte zu uns herunter. »Sie hat sich auch ziemlich geändert«, bemerkte Braunauge. »Sie ist in letzter Zeit nicht mehr so eigensinnig. Sie ist viel netter … Warum ist sie nur so frostig nett ?« jammerte Braunauge in 246
plötzlicher Verzweiflung und starrte zu dem unbestreitbar hübschen, jungen Mädchen hinüber, das so selbstsicher oberhalb von uns dahinschlenderte. »Sie wird langsam erwachsen und damit vernünftiger«, sagte ich. »Uns allen geht es so. Keiner von uns wird nach diesem Sommer noch derselbe sein … und irgendwie erschreckt mich der Gedanke. Mir kommt es so vor, als ob ich in letzter Zeit sehr rasch sehr viel verloren hätte. Allerdings habe ich auch vieles hinzugewonnen«, fügte ich hastig hinzu. Ein lautes, erwartungsvolles Gemurmel, das sich auf der Mole erhob, half mir über die unangenehme Situation hinweg. Braunauge ließ das Segel fallen, worauf das kleine Boot auf der zähflüssigen Oberfläche fast augenblicklich zum Stillstand kam. Wir warteten und beobachteten die Kurve der Straße, die auf der anderen Seite des Hafens landeinwärts führte. Plötzlich entstand neben uns ein ziemlich lauter Tumult. Ein riesiger, silbriger Fisch, lang und geschmeidig, hatte sich seit einigen Augenblicken hilflos auf der Oberfläche herumgewälzt, und die Grummetten waren vorwitzig geworden. In dichtem, kreischendem Schwarm kreisten sie über uns und schlugen immer wieder mit ihren scharfen Klauen nach dem Fisch, bis eine doch seinem Maul zu nahe kam. Der Riesenfisch schnappte zu, erwischte eine der wild um sich schlagenden weißen Schwingen und brachte es durch kraftvolles Hochschnellen und Hinunterstoßen tatsächlich noch fertig, unter die Wasseroberfläche zu kommen, wobei er die kreischende Grummette mit hinunterzog. Nur mehr ein paar helle Federn trieben auf dem sofort wieder glatten Wasser. In Streifen und kleinen 247
Pfützen sammelte sich Blut, das sich nicht mehr mit dem Wasser vermischte. Jetzt kamen drei Dampflaster schnaufend um die Kurve der Hafenstraße und pfiffen herrisch und unaufhörlich, um die dichtgedrängten Menschen aus dem Weg zu treiben. Auf den Ladeflächen standen ebenso dicht gedrängt die Uniformierten : das Scharlach der Militärpolizei auf dem ersten Wagen wurde bei den anderen beiden von dem weniger auffälligen Dunkelblau der Fabrikwachen abgelöst. Die Laster hielten am Beginn der Mole, wo diese in den Strand überging, auf dem die Tiefboote aufgebockt waren, und die Soldaten sprangen herunter. Sie trugen schußbereite Federstutzen. »Ich hoffe nur, daß keiner irgendeinen Blödsinn versucht«, sagte Braunauge. »Mir gefallen diese Männer gar nicht. Ich habe den Eindruck, daß sie gerne ihre Waffen gebrauchen würden, so wie damals bei der neuen Fabrik.« Die Zuschauer schimpften laut und schüttelten die Fäuste, aber wir hörten, wie Starkarms Stimme die Leute zur Vernunft rief. Die Soldaten hatten in geschlossener Formation Aufstellung genommen und marschierten nun im Gleichschritt über die Mole hinaus, während die drei Laster dampfprustend folgten. Plötzlich versperrte ihnen ein Mann den Weg, der sich von seinen Kameraden losgerissen hatte und den Soldaten entgegenrannte. Ich sah nicht mehr, was dann geschah. Plötzlich konnte ich ihn von unserer Position aus nicht mehr sehen, und die Soldaten marschierten weiter, als wäre nichts gewesen. Beim ersten Geschütz machten sie halt und warteten, bis der erste Lastwagen daneben Aufstellung genommen hatte. Jenseits der 248
Häuser stieg jetzt eine weitere Rauchfahne auf. Bald kam die Lok der Dampfbahn in Sicht, die einen fahrbaren Kran vor sich herschob. Die Kranplattform war dicht mit scharlachroten Uniformen besetzt. In verhältnismäßig kurzer Zeit waren die Geschütze verladen, die Soldaten stiegen zu ihnen auf die Ladeflächen, und die Laster entfernten sich wieder, begleitet von Beschimpfungen und fruchtlosen Drohungen der hilflosen Bürger. Starkarm stand gerade oberhalb von uns ; er hatte den Kopf gesenkt, und die Schultern waren ihm wie kraftlos nach vorne gesunken. Ribbon ging zu ihm, legte einen Arm um ihn und flüsterte ihm, auf den Zehenspitzen stehend, etwas ins Ohr. Er grinste sie betrübt an, legte ihr einen mächtigen Arm um die Schultern, und dann gingen sie gemeinsam weg. »Hör mal, Drove«, sagte Braunauge unglücklich. »Ich … es tut mir leid, daß ich all das blöde Zeug über Ribbon gesagt habe. Ich mag sie, wirklich.« Bis wir den Leuchtturm passiert hatten und auf der Außenseite der Mole gegen die westliche Brise ankreuzten, hatte sich die Menge zerstreut. Die Geschütze, drei kurze Tage lang Symbol für Pallahaxis Entschlossenheit, sich selbst zu verteidigen, der Regierung eine lange Nase zu drehen und für seine Unabhängigkeit zu kämpfen, waren fort. Ich mußte an die Zeit denken, da mein Vater mich nach dem Intermezzo in der ›Goldenen Grummette‹ durch Hausarrest zur Räson hatte bringen wollen. Braunauge und ich waren recht niedergeschlagen. Die Sonne brannte heiß herunter, und die Luft war schwül 249
und feucht. Obwohl die Grummetten erfolgreich die Wasseroberfläche von kleineren Fischen gesäubert hatten, war sie schon wieder mit Fischen bedeckt, den größeren, die erst jetzt an die Oberfläche gezwungen wurden, und – wohin man auch sah – im Todeskampf zuckten und zappelten, heftig oder nur mehr schwach, je nachdem, wie lange es schon dauerte. Das verschiedenste Zeug war außerdem an die Oberfläche getrieben : angesoffene, verfaulte Holzstücke, dicke Tangfetzen, schimmlige Abfälle. Das Meer stank. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, heute hinauszusegeln«, meinte Braunauge. »Aber wir können ja immer noch umdrehen und einen Spaziergang machen. Es ist heute gar nicht hübsch hier.« »Fahren wir noch ein Stück weiter«, schlug ich vor. »Draußen vor der Spitze ist es vielleicht nicht so arg. Hier trägt die Strömung den Mist aus der ganzen Umgebung zusammen.« Ich hatte etwas Bestimmtes vor, aber ich wollte Braunauge nicht beunruhigen. Ich wollte nachsehen, ob die Leiche Silverjacks immer noch unter den Klippen trieb, und wenn ja, dann wollte ich versuchen, die Todesursache festzustellen … Braunauge starrte unglücklich aufs Wasser, und ich war mir ziemlich sicher, daß ihre Gedanken sich in ähnlichen Bahnen wie meine bewegten. Wenn die Leiche nicht durch den Wasserrückgang gestrandet war, dann konnte sie sehr gut irgendwo hier herumschwimmen. Jedesmal, wenn wir mit irgendeinem Stück Treibgut zusammenstießen, zuckte sie zusammen und spähte unruhig über Bord. »Drove«, sagte sie plötzlich und schaute aufs Meer hinaus, »ich glaube, da kommen Grume-Reiter.« Sie zeigte zum Horizont, wo sich etwas Weißes bewegte. 250
»Sind wahrscheinlich nur Grummetten, ein großer Schwarm«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Wir werden uns auf jeden Fall in der Nähe der Küste halten. Wir können dann immer noch auf die Felsen rüberspringen, wenn etwas passiert.« Ich steuerte das Boot vorsichtig noch näher an die Klippen heran. Wir erreichten die Stelle, an der wir den Kadaver entdeckt hatten, aber heute war keine Spur davon zu sehen. Ein großer, schwarzer Fisch trieb ganz in der Nähe mit dem Bauch nach oben ; eine Grummette bewachte eifersüchtig die fette Beute, die Krallen in das glänzende Fleisch geschlagen, und starrte uns mißtrauisch nach. Bald konnte Braunauge sichtbar erleichtert aufatmen, als wir um die Fingerspitze herumsegelten und das Wasser sauberer wurde. »Er ist weg«, sagte sie mit einem Seufzer, der klang, als hätte sie minutenlang die Luft angehalten. »Er ist weg, weg, weg.« »Die Parls haben ihn umgebracht. Ich hab Mestler darauf angesprochen, und er wollte nicht antworten, aber ich merkte doch deutlich, daß er etwas wußte. Sie müssen ihn erschossen haben, gleich nachdem wir ihn an Land schwimmen sahen. Ich nehme an, daß sie keine Verwendung mehr für ihn hatten, diese miesen Frostler.« »Ja, aber bitte, sprich jetzt nicht mehr davon, Drove. Schau mal, wie gefällt dir mein Kleid ?« Ich mußte über diesen unschuldig-abrupten Themawechsel lächeln. »Gut, aber wo ist der gelbe Pullover geblieben ?« »Oh …« Sie wurde rot. »Mutter hat gesagt, ich darf ihn nicht mehr anziehen. Sie sagte, er sei … zu klein, weißt du. Er war auch zu klein, wirklich.« 252
»Zu sexy, wollte sie wohl sagen. Sie hatte Sorge, daß ich … äh …« Ich brach verwirrt ab, nachdem ich mich selbst in diese schwierigen Gewässer manövriert hatte. »Schau mal, da ist der neue Pier«, sagte Braunauge im Gesprächston. »Glaubst du, daß sie ihn jetzt noch viel benutzen werden, wo die Ysabel gesunken ist ?« »Ich denke schon. Sie hätten diese Dockanlage doch nicht nur für ein einziges Schiff gebaut. Fischerboote werden ihre Ladung hier löschen … Rax. Paß auf !« Ein Grume-Reiter war auf einem Felsen gelegen und hatte sich gesonnt. Als er unseren Gleiter sah, schnellte sein Kopf hoch, er schnaubte und ließ sich aufs Wasser gleiten – keine fünfzig Schritt mehr entfernt. Mit wirbelnden Flossen schnellte er sich über die dickflüssige Oberfläche auf uns zu. »Leg dich hin, Drove !« flüsterte Braunauge hastig. Mit vor Angst trockenem Mund tat ich, wie sie gesagt hatte, rutschte vom Sitz hinunter, bis ich am Boden des Gleiters lag. Braunauge glitt neben mich und schaute mich ängstlich und stumm an. Hier unten waren wir vor jedem Luftzug geschützt, und die Sonne brannte uns fürchterlich auf die Kleider. Ich begann zu schwitzen, allerdings nicht nur aufgrund der Hitze. Der Gleiter schlingerte heftig, als der Grume-Reiter sich dagegen warf. Er stieß ein zorniges Gebell aus, und öligdicke Wassertropfen prasselten auf uns herunter, wenn das Biest schnaufend und verärgert immer wieder gegen den dünnen Rumpf donnerte. Dann war einen Augenblick lang alles still, wir hielten den Atem an und hörten mit einemmal das rasselnde Schnaufen des Grume-Reiters ganz nahe. 253
Das Boot kippte ein wenig zur Seite, und ein Schatten fiel auf uns. Ich wich zurück und drängte mich verzweifelt gegen Braunauge, als ein runder Kopf über dem Dollbord erschien, sich hierhin und dorthin wandte und kurzsichtig das Innere des Bootes musterte. Die Augen des Biests waren täuschend sanftmütig, und als es mir seinen Fischatem ins Gesicht blies, schluckte ich ganz leise und vorsichtig. Eine ganze Weile starrten wir einander an. Dann zog sich der schwarze Kopf mit einem entrüsteten Schnaufen zurück, und das Boot schwankte unter dem einen heftigen Schlag, mit dem der Grume-Reiter sich abstieß, um prustend davonzuschlittern. Wir blieben reglos liegen und atmeten so leise wie möglich. Das Segel hing schlaff herunter, die Hitze wurde immer ärger, und die leichte Brise hatte sich offenbar ganz gelegt. Endlich richtete ich mich vorsichtig auf und riskierte einen Blick über den Rand des Bootes. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Der einsame Grume-Reiter vergnügte sich etwa hundert Schritt entfernt mit einem Kadaver, den er unter einem Regen schwerer Wassertropfen heftig schüttelte. Immer wieder mußte er gierig herunterstoßende Grummetten mit zornigem Knurren vertreiben. Braunauge zog sich nun ebenfalls hoch, sorgfältig jede plötzliche Bewegung vermeidend, damit der GrumeReiter nicht auf uns aufmerksam würde. »Was sollen wir tun, Drove ?« flüsterte sie. »Wenn wir versuchen, zum Pier zu paddeln, bemerkt er uns sofort.« Ich blickte zum Land hinüber und versuchte die Entfernung abzuschätzen. »Wir müssen rasch etwas unternehmen«, sagte ich. »Wir treiben immer weiter hinaus.« Ich 254
schaute mich mit einem schnellen Blick auf dem Meer um, das plötzlich bleigrau geworden war, als die Sonne vorübergehend hinter einem Dunstschleier verschwand. Ganz in der Nähe war das Wasser wesentlich dunkler als überall sonst. In einiger Entfernung, ungefähr auf der Höhe der ehemaligen Flußmündung, entdeckte ich noch etwas Ungewöhnliches, eine Art länglicher Furchen in der spiegelnden Glätte, ähnlich einer Brandungslinie, einer Flutwelle, die rasch auf uns zukam. »Was ist das ?« fragte ich. Braunauges Stimme zitterte. »Das … das sind GrumeReiter, Drove. Ein ganzes Rudel – so jagen sie üblicherweise. Der da drüben muß ein Einzelgänger sein.« »Hm … Was werden sie tun ?« »Sie werden über uns herfallen … Letztes Jahr erst wurde ein Fischer von einem Rudel Grume-Reiter überrascht. Sie springen ins Boot, und dann …« Sie brauchte das nicht weiter auszumalen ; ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie dieses Rudel kräftiger Bestien, jede so groß wie ein erwachsener Mann, über unseren winzigen Gleiter herfiel, sich über die niedrigen Bordwände hereinwälzte … Ich merkte, daß ich gebannt auf den großen dunklen Fleck im Wasser starrte, der nicht weit backbords von uns lag. Große, träge Blasen stiegen auf und platzten mit einem Geräusch, das ganz so klang, als rülpse der Ozean selbst vor Abscheu angesichts des Abfalls, der seine Haut bedeckte. Braunauge redete leise auf mich ein : »… wir haben nicht viel Zeit, Drove. Ich wünschte … ich wünschte, wir hätten nicht so lange gebraucht, einander kennenzulernen. Bitte küß mich, schnell.« 255
Ich beugte mich über sie und küßte sie lange und heftig, und sie klammerte sich an mich und weinte an meiner Schulter, während ich zusah, wie das gierige Rudel der Grume-Reiter beutelüstern auf uns zuraste. Ich holte mir das Paddel, das am Boden verstaut war, und schwang es versuchsweise. Es war die einzige Waffe, die wir besaßen, und es hatte keinen Sinn, sich kampflos dem Schicksal zu ergeben. Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt, trotzdem dachte ich nur an Braunauge und faßte den Vorsatz, daß die frostigen Grume-Reiter erst mich umbringen müßten, bevor sie an sie herankamen … Der Reiter, der uns vorhin begutachtet hatte, hob, auf dem dichten Wasser treibend, angespannt den Kopf. Er musterte kurz das herannahende Rudel, machte kehrt und floh mit heftig schlagenden Flossen in westlicher Richtung aufs offene Meer hinaus, eine Gischtspur hinter sich herziehend. Ich blickte zum Ufer hinüber ; es war jetzt viel zu weit weg. Das Rudel würde über uns sein, bevor wir das Dock erreichen konnten. Braunauge versteifte sich plötzlich in meinen Armen ; sie hatte sich abgewandt und starrte ins Wasser hinunter. »Schau !« keuchte sie. »Oh, Drove, schau doch !« Der dunkle Schatten in der Tiefe nahm Form an, bekam immer deutlichere Umrisse. Jetzt kamen immer mehr Blasen hoch und platzten, einen Geruch nach nassem Holz, Tauwerk und Teer verbreitend. Ich starrte hinüber, bis meine Augen sich auf das Phänomen einstellten, und ich alles genau erkennen konnte, ein Deck, geborstene Maststreben, Lukendeckel und Aufbauten … alles, was da 256
langsam aus der Tiefe des Pallahaxi-Grabens herauftauchte ans Licht. Es war ein grusliger Anblick, und ich vergaß darüber die Gefahr und die Grume-Reiter, und schauderte in abergläubischem Entsetzen, als die Grume die Ysabel vom Grunde der See auferstehen ließ … Nur zwanzig Schritt entfernt durchstieß das zersplitterte Ende eines Masts die Oberfläche, ein Phänomen für sich, abgetrennt von dem Wrack darunter durch eine Fläche polierten Silbers. Bald tauchte aber auch triefend das schwarze Ruderhaus auf, zertrümmert, mit geborstenen Scheiben, aber immer noch identifizierbar. Dann kamen die Lukendeckel, leise ächzend, als das zähe Wasser widerstrebend abfloß, und die zusammengepreßte Luft aus den Laderäumen entwich. Binnen kurzem war das gesamte Deck zu sehen, von dem das Wasser in quecksilberschweren Strömen heruntertroff. Ich stieß das Paddel ins Wasser und zog es mit aller Kraft durch, so daß der Gleiter über die kurze Strecke schoß, während die Grume-Reiter sich heranwälzten, und ich schon ihr hungriges Gebell hören konnte. Jetzt hatten sie uns gesehen, und ihre breite Front verengte sich zum Angriffskeil. Dann prallte der Gleiter dumpf gegen die schweren Planken der Ysabel, und ich hielt ihn längsseits, während Braunauge aufs Deck kletterte. Ich folgte, das Paddel noch in der Hand, aber in meiner Hast rutschte ich aus, spürte, wie der Gleiter unter mir wegschlitterte und ich ins Wasser kippte, und mein Kopf in einer Explosion von Hell und Dunkel gegen den schwarzen Rumpf schlug … Ich fühlte etwas Hartes unter den Fingern und krallte mich daran, zog mich vorwärts, höher hinauf, immer noch 257
halb bewußtlos, getrieben von der Furcht vor den Raubtieren, die doch längst da sein mußten ; wie lange war ich bewußtlos gewesen, wie lange … ? Vorwärtskriechend hob ich den Kopf und sah Braunauge breitbeinig über mir stehen, wie eine Vision vor dem hellen Himmel, sah, wie sie das Paddel schwang und immer wieder auf die hochschnellenden Körper um uns einschlug. Ich kroch weiter und begann etwas klarer zu sehen, spürte auch, wie das Deck sich unter mir langsam hob und senkte mit der schweren Dünung der Grume, hörte, wie Braunauge in atemloser Verzweiflung schrie, während sie mit dem Paddel um sich schlug : »Weg von ihm, ihr Frostler, weg von ihm, weg von ihm … !« Taumelnd kam ich auf die Füße, gegen den Nebel ankämpfend, der mein Hirn und meine Augen umhüllte ; als ich richtig zu mir gekommen war, trat ich vor und nahm Braunauge sanft das Paddel aus der Hand, mit dem sie immer noch auf die längst reglosen Körper eingeschlagen hatte, wortlos, blicklos. Ich rollte die drei Kadaver über den Deckrand ins Wasser, das jetzt mindestens zwei Schritt unter uns lag ; mit dumpfem Platschen schlugen sie auf. Die anderen Grume-Reiter fielen augenblicklich über sie her, reißend, um sich schnappend, mit tiefen Knurrlauten schlingend. Bald darauf machten sie sich nach Süden davon. Braunauge preßte die Handflächen gegen die Wangen, als sie langsam zu sich kam, wieder zu denken begann. Jetzt zitterte sie heftig. Sie hatte tiefe Kratzer an den Beinen und an der Schulter, und ihr hübsches Kleid hing ihr in Fetzen um die Taille. Ich legte einen Arm um sie, half ihr zu einem Lukendeckel, auf den ich sie sanft niedersetzte ; dann 258
riß ich mir die Reste meines Hemdes herunter, feuchtete sie an und begann damit so vorsichtig wie möglich ihre Wunden auszuwaschen. Sie hatte einen tiefen Riß an der Schulter, aus dem Blut sickerte, doch ihre entzückenden Brüste waren unverletzt, und ich küßte sie sachte, als ich sie saubertupfte. Dann zögerte ich, fand aber, als ich etwas Blut an ihrem Bauch entdeckte, daß es Wichtigeres gab als übertriebenes Schamgefühl, deshalb zog ich sie hoch und schälte ihr vorsichtig die Reste ihrer Kleidung ab. Sie hatte einen Kratzer an der Hüfte, den ich ebenfalls auswusch und küßte, und dann wusch ich auch alles übrige, und sie begann zu lächeln und strich mir übers Haar, wie ich da so vor ihr kniete. »Jetzt du«, drängte sie, also zog ich mich aus, und sie wusch mich langsam und sehr gründlich. Ich merkte gar nicht, ob ich Verletzungen hatte oder nicht. Schließlich trat sie zurück und sah mich lange und freimütig an. Dann grinste sie. »Wer könnte jetzt noch behaupten, daß wir nie etwas erleben ?«
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17 Die gebrochenen Masten und verbeulten Schlote troffen vor Schlamm und fauligem Seegras, deshalb nahmen wir an, daß die Ysabel mit der Oberseite im Schlick des Meeresgrundes gesteckt war, während die Grume immer stärker wurde. Endlich war der Auftrieb so groß geworden, daß sie sich aus dem Schlamm lösen konnte und – ohne die schwere Deckladung – ziemlich rasch hochkam, wobei sie sich wohl in der Nähe der Oberfläche wieder umdrehte. Keiner von uns beiden hatte es sonderlich eilig, diese Neuigkeit in Pallahaxi zu melden. Eine Weile lagen wir auf dem Deck, um ein bißchen zu Atem zu kommen, während die heiße Sonne unsere Wunden trocknete und Braunauge in eine entzückende, kristallglitzernde Plastik verwandelte, als das letzte Wasser auf ihrer Haut verdunstete. Es erschien uns überflüssig, hier schon unsere paar Kleiderfetzen wieder überzuziehen, deshalb wanderten wir nackt auf dem ganzen Schiff umher, über die Decks, die ebenfalls zu glitzern begannen, als die vollgesogenen Planken langsam trockneten, schauten in den Maschinenraum und begutachteten die Reste der Decksladung, aber vor allem sahen wir einander an. Es gelang uns, die Tür des Ruderhauses aufzukriegen, und wir zerrten eine Rolle nasses Segeltuch heraus, das wir auf dem Deck ausbreiteten, mehrmals zusammengelegt, so daß es eine Art Matratze bildete. Als die Plane unter uns langsam zu dampfen begann, schaute ich Braunauge fragend an, und sie schaute mich an, mit einem so ernsten, fast verzweifelten Ausdruck in ihren leuchtenden Augen, 261
ließ ihren Blick über meinen Körper wandern, suchend, fast irgendwie hungrig, so daß ich richtig verlegen wurde. Plötzlich lachte sie auf und packte mich, und wir umklammerten einander in wilder Freude, während die Kristalle von unseren Körpern rieselten und wir wie die Narren lachten. Ich habe seitdem oft gedacht, wie gut es war, daß wir einander so sehr liebten, denn sonst wäre die Sache ziemlich schwierig geworden, weil keiner von uns so recht wußte, was zu tun war. Wir kuschelten uns in die Falten des warmen, nassen Segeltuchs, immer noch kichernd, rutschten hin und her, weil das Zeug so an unserer Haut klebte, unbeholfen, weil wir einander auch nicht für einen Moment loslassen wollten, so intensiv suchten wir die Berührung des anderen. Einen Augenblick lang rührte sich keiner, als uns plötzlich bewußt wurde, daß unsere Körper einander näher waren als je zuvor, nackt und ausgestreckt, und dann gab es nichts mehr, das uns hätte hindern können, jene wundervolle Sache zu tun, die die Erwachsenen miteinander machten, außer unsere eigene Unerfahrenheit. Ich küßte Braunauges weiche, salzige Lippen und stellte fest, daß ich auf ihr lag, daß sie sich unter mir langsam und sachte bewegte, bis sich ihre Beine öffneten, und ihre Hüften sich mir entgegenhoben. Und da stieß ich auf sie hinunter, weil ich es einfach tun mußte – und sah, wie sie zusammenzuckte, deshalb hörte ich sofort auf und hätte weinen mögen, weil ich ihr weh getan hatte. »O Drove, bitte, mach weiter, mein Geliebter«, flüsterte sie und lächelte, und in ihren Augenwinkeln standen Tränen. Ich tat, wie sie wollte, wie ich wollte, und auf einmal 262
spürte ich ihre prickelnde Wärme und Weichheit, und es war wundervoll und ganz so, wie es sein sollte. Bald wurden unsere Bewegungen immer wilder, und ich dachte überhaupt nichts mehr, es geschah einfach mit mir, riß mich mit, mit, mit. Braunauge stöhnte, »Drove, oooh, Drove …« und in ihren Augen war eine eigene Wildheit, als sie in die meinen starrte, und wir uns noch heftiger aneinanderdrängten, um ganz und gar eins zu sein, wie dann die erschreckende, wundervolle Explosion kam, die uns erfaßte wie eine Woge und mit sich trug, höher und höher und … höher … Später, viel später, die Sonne kreiste immer noch hoch am Himmel, so daß es unmöglich war festzustellen, wie lange wir schon hier lagen. Ich gähnte und streckte mich und fühlte, wie Braunauge sich neben mir zu regen begann. Ich streichelte ihre Hüfte und küßte sie ; sie schlug die Augen auf, lächelte und drängte sich an mich. »Drove ?« »Hör mal, wir sollten jetzt lieber aufbrechen. Auf diesem Schiff gibt’s eine Menge Dinge, die sie in der Stadt gut gebrauchen können.« Von der Deckladung waren noch zwei Dampfgeschütze da, und die Laderäume waren zweifellos voller Kriegsmaterial, das Pallahaxi in nächster Zeit bestimmt gut zustatten kommen würde. »O Rax. Ich möchte, daß du mich noch einmal liebst, Drove, immer wieder und wieder. Am liebsten würde ich für immer hierbleiben. He, weißt du was ?« Ihr Schmollmund verzog sich zu einem Grinsen. »Jetzt wirst du mich heiraten müssen, Drove. Ich werde meinen Eltern erzählen, daß du mich verführt hast, und dann mußt du mich heiraten. Und wir werden immer zusammenbleiben und 263
uns jeden Abend lieben, und beide in dem Bett schlafen, in dem der Regent einmal geschlafen hat.« »Braunauge, du wirst es doch nicht deinen Eltern sagen, oder ?« »Ich sag’s bestimmt, wenn du mich nicht jetzt augenblicklich wieder liebst.« Ich krabbelte schleunigst aus dem improvisierten Bett, denn sonst wäre ich überhaupt nicht mehr herausgekommen. Ihre tastenden kleinen Hände folgten mir, und beinahe hätte ich nachgegeben, aber dann machte ich mich doch los und stand auf. »Komm schon«, sagte ich. Sie starrte rebellisch zu mir hoch. »Ich weiß doch, daß du auch willst, du kannst mir nichts vormachen.« »Braunauge, meine Geliebte, natürlich will ich. Aber verstehst du nicht, daß das die Gelegenheit ist, endlich den Zwist zwischen der Stadt und den Parls zu beenden ? Wir müssen es ihnen so bald wie möglich sagen, bevor noch jemand umkommt. Danach komme ich in dein Zimmer, während deine Eltern arbeiten, ja ?« »Möchte ich dir auch geraten haben.« Sie stand auf und zog ganz langsam die Reste ihres Kleides über, wobei sie mich die ganze Zeit übermütig anlächelte. »Oh, Phu noch mal !« Ich zog mich hastig an, packte dann Braunauge und richtete ihr Kleid, so daß das eine Brüstchen, das sie herausgucken hatte lassen, um mich zu reizen, einigermaßen bedeckt war. Ich mußte dabei daran denken, daß ich erst vor sechzig Tagen hierher nach Pallahaxi gekommen war und Braunauge und ich einander wiedergesehen hatten. Es war schwierig, in dieser verführerischen jungen Nixe, die sich ihrer Anziehungskraft sichtlich 264
bewußt war, jenes schüchterne kleine Mädchen vom Strand wiederzuerkennen. Ich fragte mich, ob ich wohl auch so rasch wie sie erwachsen geworden war – und dachte, daß es wohl so sein mußte. Ich war jetzt imstande, in größeren Maßstäben zu denken, was den Krieg betraf und auch die Zukunft meiner neuen Heimat. Sechzig Tage früher wäre mir gar nicht eingefallen, eiligst die Behörden verständigen zu wollen, daß ein gesunkenes Schiff wieder aufgetaucht war ; ich hätte sie es ruhig selber herausfinden lassen, während ich Stoßball spielte oder Drivettchenrennen veranstaltete. Wir kletterten hinunter in unseren Gleiter und stießen uns von dem glitzernden Rumpf der Ysabel ab. Der Wind hatte wieder aufgefrischt und blähte das Segel, so daß wir bald um die Fingerspitze herum waren und die Mole und dahinter Pallahaxi vor uns liegen sahen. Obwohl keine Grume-Reiter zu sehen waren, hielt ich mich doch ganz in der Nähe des Ufers. Einmal schaute ich zurück zur Ysabel, die wie ein Stück Torte mit Zuckerguß auf der Grume schwamm, leise hin und her schaukelnd. Ich fragte mich, wie lange sie wohl oben bleiben würde ; in ein paar Standardtagen ging die Grume zurück, und das Schiff würde Auftrieb verlieren und wieder auf den Grund des PallahaxiGrabens sinken. Bevor es dazu kam, konnte man seine Ladung sicherstellen, vielleicht es auch selber an Land bringen – obwohl es sich kaum lohnen würde, es wieder herzurichten ; die Explosion der Kessel hatte ihm die Bodenplanken aufgerissen. Schließlich erreichten wir den Hafen und segelten bis zur Helling von Silverjacks Werft. Wir zogen den Gleiter 265
heraus, bauten die Takelage ab und verstauten alles im Winkel eines Bootsschuppens. Dann machten wir uns auf den Weg, nicht gerade sehr selbstsicher in unserer zerfetzten Kleidung, und überzeugt, daß uns jeder ansehen konnte, was wir getrieben hatten. Ribbon und Wolff saßen auf dem Sockel der Gedenksäule und warfen mit gelangweilter Miene den Meldetauben Brotstückchen hin. Die kleinen Vögel waren verständlicherweise unruhig und flatterten immer wieder auf, wenn der riesige Schatten einer Grummette über sie hinwegstrich. Die Nachrichten von der Front waren in letzter Zeit ziemlich spärlich gewesen, weil ziemlich viele Meldetauben von Grummetten geschlagen wurden und die Nachrichtenstation von Pallahaxi nicht erreichten. Die wenigen bruchstückhaften Meldungen, die durchgekommen waren, klangen nicht sehr ermutigend – und bestärkten mich in meiner Ansicht, daß es manchmal besser war, nichts zu wissen. Ribbon wußte nach einem Blick auf uns Bescheid. Sie lächelte verschwörerisch und sagte : »Na, ihr beide schaut ganz so aus, als hättet ihr euch ziemlich stürmisch amüsiert, wie ? Du mußt mir mal dein Geheimnis verraten, Braunauge. Im Moment aber solltet ihr zusehen, daß ihr ein paar Kleider auf den Leib kriegt. Die Leute starren euch ja an.« Ich fuhr schuldbewußt herum, besorgt, daß vielleicht Braunauges Brust wieder aus dem Kleid gehüpft war, aber sie sah ganz anständig aus. Ich sah aber, was Ribbon gemeint hatte. Mein Mädchen stand so strahlend in seinen Lumpen da, daß es wirklich alle Blicke anzog. Ihre Haut schimmerte, nicht nur wegen der Grume-Kristalle, und ihr liebes Gesicht strahlte eine Ruhe und heitere Zufriedenheit 266
aus, die beinahe wie Selbstgefälligkeit wirkte, wäre da nicht dieses wunderbare Leuchten in ihren Augen gewesen. Ich mußte sie einfach anstarren, mein im Hafen der Liebe gelandetes Mädchen, und hörte Ribbon leise lachen, fast ein wenig neidisch. Mittlerweile warf Wolff den Vögeln weiterhin ahnungslos Brotkrumen zu. »Hört mal, wollen wir den ganzen frostigen Tag hier sitzenbleiben ?« beschwerte er sich. »Ach, halt du den Mund«, fauchte Ribbon und widmete sich wieder der bewundernden Musterung Braunauges. »Nun, was habt ihr getrieben ?« erkundigte sie sich. »Ich meine, was habt ihr sonst noch getrieben ?« »Ribbon, wir müssen deinen Vater möglichst schnell sprechen«, sagte ich. »Die Ysabel ist wieder aufgetaucht.« »Oh … Gut.« Ribbon stand rasch auf. Sie schien nicht besonders überrascht zu sein ; vermutlich war dieses Phänomen an der Küste gar nicht so selten. »Er ist oben im Tempel, glaube ich. Ich komme mit euch. Ist noch was übrig, das die Bergung wert wäre ?« »Ein Paar Geschütze an Deck, und ich vermute, daß auch in den Laderäumen noch genug liegt, auch wenn der Boden ein frostig großes Loch hat. Es dürfte ausreichen, daß wir uns gegen astanische Kriegsschiffe einigermaßen verteidigen können, wenn sich wieder welche herwagen.« »Wenn die Parls uns das Zeug behalten lassen«, meinte Ribbon nachdenklich. »Sie würden nicht wagen, es uns wegzunehmen, dieses Mal nicht. Sie haben schließlich behauptet, daß es für die Stadt bestimmt ist, erinnerst du dich ?« »Das haben sie gesagt, nachdem es versunken war«, 267
wandte Ribbon vielsagend ein. Ich hoffte, daß ihr Vater ihre zynische Einstellung nicht teilte, sonst würde ich mit meinen Bestrebungen, Stadt und Parls zu versöhnen, nichts ausrichten. Braunauge, Ribbon und ich gingen über die Hauptstraße zum Tempel hinauf, und Wolff folgte uns in einigem Abstand. Ich glaube, er hätte sich zu sehr geniert, mit uns in unserem augenblicklichen Aufzug gesehen zu werden, andererseits wollte er auch nichts versäumen. Braunauge hatte kaum ein Wort gesagt, seit wir an Land gegangen waren, sie lächelte nur in sich hinein und strahlte solches Glück aus, daß alle sie einfach ansehen mußten – was jeder auch tat, dem wir auf der Hauptstraße begegneten. Und jeder wußte auch, wer dafür verantwortlich war, so wie sie sich an meine Hand klammerte. Ich fragte mich, wie ich ihren Eltern gegenübertreten sollte. Im Tempel erwartete uns eine unangenehme Szene : Starkarm verhörte die Lastwagenfahrer – Greifer und den anderen Mann –, ohne allzuviel Rücksicht auf die Spielregeln zu nehmen. »Na schön, ihr Frostler !« brüllte er eben. »Sagt mir mal folgendes : wenn diese Schufte den Fisch nicht abtransportieren, was machen sie dann beim frostigen Rax damit ? Fressen sie ihn ?« Drohend stand er über den am Boden liegenden, gefesselten Männern. Greifer wimmerte : »Weiß ich nicht, ehrlich, ich weiß es nicht … ich hab’ nur fahren müssen und hab’ nichts weiter gefragt.« Er hatte eine seiner sonderbaren, zweifingrigen Hände aus den Fesseln gezerrt und hielt sie abwehrend ausgestreckt, als wollte er den nächsten einer langen Reihe von Tritten auffangen. 268
»Vater !« rief Ribbon. Starkarm drehte sich sofort um, und seine Mine verwandelte sich völlig, als er seine Tochter sah. Wieder dachte ich mir – wie schon so oft –, daß Liebe zwischen Eltern und Kindern doch möglich war ; wo hatte ich einen Fehler gemacht ? Hatte ich einen Fehler gemacht ? Dann bemerkte Starkarm Braunauge und mich, und sein liebevolles Lächeln verwandelte sich in alltägliche Freundlichkeit, die mir wohltat, weil ich nicht einmal mehr das von einem Erwachsenen erwartete. »Drove und Braunauge wollen dir etwas Wichtiges sagen«, erklärte Ribbon. »Meine Glückwünsche«, murmelte Starkarm mit einem Zwinkern und starrte Braunauge fasziniert an, als hätte er sie nie zuvor gesehen. »Du hast frostig Glück, Drove, mein Junge.« Ich mußte lachen, und Braunauge wurde nicht einmal mehr rot. »Das ist es nicht, Starkarm«, sagte ich. »Wir sind in meinem Gleiter über den Graben gesegelt, und da kam die Ysabil wieder hoch.« Ich berichtete, was geschehen war. »Du meinst also, sie ist immer noch da ?« sagte er, bevor ich geendet hatte. »Ist sie hoch im Wasser gelegen ?« »Sie wird noch höher liegen, wenn ihr diese Geschütze von Deck herunterholt.« »Das werden wir … das werden wir, mein Junge.« Er stapfte tief in Gedanken versunken umher. »Sobald ich ein paar Männer und die nötigen Boote zusammenkriege. Wir haben meinen Gleiter, und der arme alte Silverjack hatte einen, der noch in der Werft liegen müßte. Dann Bordin, und Großschädel … Vier Boote müßten genug sein. Nur mehr zwei Geschütze sind übrig, sagst du ? Schade …« Er 269
wandte sich an die Gefangenen. »Es wird ziemlich lange dauern, bis ich wiederkomme, ihr habt also mehr als genug Zeit zum Nachdenken. Und vergeßt eins nicht : Als heute die Truppen kamen, um die Geschütze zurückzuholen, haben sie sich nicht die Mühe genommen, euch beide auch gleich rauszuholen. Denkt daran, ihr Möchte-gern-Parls, wenn ihr euch überlegt, auf welcher Seite ihr nun steht.« »Wissen Sie, wo mein Vater ist ?« fragte ich Starkarm. Seine Miene verhärtete sich. »Man hat ihn durch die Stadt in Richtung der neuen Fabrik fahren gesehen, erst vor kurzem, und dieser Thrawn war bei ihm. Wozu brauchst du ihn ?« »Also, ich möchte ihm das von der Ysabel sagen, wissen Sie. Am neuen Pier waren keine Parls, deshalb glaube ich, daß sie noch nicht gesehen haben, daß sie wieder aufgetaucht ist.« Im nächsten Augenblick glaubte ich, einen Fehler gemacht zu haben, als ich Starkarm von meinen Absichten unterrichtete. »Kannst du sie das nicht selber rausfinden lassen ?« »Ach, Starkarm, verstehen Sie nicht ? Das ist die Gelegenheit für die Stadt und die Parls, sich zu versöhnen. Sie haben uns die Geschütze versprochen, und hier sind sie – unsere Geschütze, nicht Geschütze, von denen sie behaupten können, daß wir sie gestohlen hätten. Sie können uns helfen, die Ladung der Ysabel zu bergen und die Geschütze aufzubauen, uns vielleicht auch in der Bedienung ausbilden. Es geht doch wirklich nicht so weiter, daß wir uns untereinander befehden, wenn die Astaner schon jenseits der Berge stehen !« Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich sprach, 270
und als ich fertig war, schüttelte er den Kopf. »Ich achte deine Einstellung, Drove, aber ich teile nicht dein Vertrauen in die Parls. Aber lassen wir das ; wir werden ja sehen. Geh also und sag es deinem Vater – aber es wäre mir lieber, wenn meine Tochter nicht mit dir kommt. Ich fürchte, um die Ysabel wird es noch eine frostig große Rauferei geben.« Wir borgten uns einen Loxwagen aus und fuhren los, den Hügel am Stadtrand hinauf. Unser Zugtier war langsam und störrisch, aber dann erkannte ein Lorin unser Problem, ließ sich aus seinem Baum neben der Straße fallen und kümmerte sich um den Lox, trottete neben dem Tier her und trieb es an. Schließlich erreichten wir die Kuppe und sahen das Flußtal unter uns liegen. Die Mündungsbucht war jetzt fast völlig ausgetrocknet ; wie ein brauner Schlammtrichter zog sie sich durch Felder und Weideland ; der Fluß war nur mehr ein glitzerndes Rinnsal, das sich durch den Schlick wand. Eine einzelne Rauchfahne stieg von den Fabrikgebäuden auf ; ich stellte fest, daß eine Reihe neuer Gebäude entstanden war, seit ich das Sperrgebiet das letztemal gesehen hatte. Eine Anzahl unbenutzter Lastwagen stand in der Nähe des Tores, und das ausgetrocknete Flußbett war übersät mit Gleitern und stillgelegten Tiefbooten. Das ganze Fabrikgelände wirkte irgendwie verlassen, fast ausgestorben. An dieser Stelle verließ uns der Lorin und lief über den stachelbuschbestandenen Hang hinunter in Richtung einiger Baulöcher in der Uferböschung. Der Lox trottete zufrieden weiter. Unten entstand plötzlich Bewegung, als ein Wachtposten aus seiner Hütte trat und das Tor aufschob. 271
Ein Laster stieß eine dicke Dampfwolke aus, und aus dem größten Gebäude strömten die Arbeiter, deren Schicht offenbar zu Ende war. Sie drängten sich in die Anhänger, die an den Laster gekoppelt waren, worauf sich der ganze Zug mit einem schrillen Pfiff in Bewegung setzte und den Hügel heraufdampfte. Die unerwartete Aktivität stand in einem seltsamen Mißverhältnis zu der vorherigen, zeitlosen Stille dort unten. »Liebst du mich noch, Drove ?« fragte Braunauge unvermittelt. Ich starrte sie an. »Weshalb fragst du das ? Natürlich.« »Oh …« Sie lächelte vergnügt. »Ich wollte es nur noch einmal von dir hören. Schließlich wäre es ja möglich, daß du deine Meinung geändert hättest. Meine Mutter sagte mir, daß Männer oft ihre Meinung ändern, wenn sie ein Mädchen erst einmal … hm, sagen wir … herumgekriegt haben …« Wir saßen in unserem Loxwagen ohnehin schon dicht beieinander, aber jetzt rückte ich noch näher zu ihr und stellte fest, wenn ich meinen Arm ganz um sie legte, konnte ich durch einen Riß im Kleid ihre Brust mit der Hand umfassen. »Vergiß nur nicht, wer wen rumgekriegt hat«, sagte ich. In diesem Augenblick begegneten wir dem bergauf keuchenden Lastzug, und die nach Pallahaxi heimfahrenden Arbeiter riefen ein paar frostig zotige Bemerkungen und pfiffen im Vorbeifahren. Ich ließ meine Hand, wo sie war, einfach, weil ich mich irgendwie übermütig fühlte. Heute abend würde es in der ›Goldenen Grummette‹ viel zum Klatschen geben, dachte ich. 272
Endlich hielten wir am Fabriktor und stiegen ab. Der Wachtposten kam heran und starrte uns mißtrauisch durch den Maschendraht an. »Wir wollen Alika-Burt sprechen. Würden Sie ihm sagen, daß wir hier sind ?« erklärte ich wichtigtuerisch. »Ich bin sein Sohn Drove, und das ist meine Freundin Pallahaxi-Braunauge.« Wenn ich erwartet hatte, daß der Posten auf diese Enthüllung hin sofort Haltung annehmen würde, so wurde ich enttäuscht. Er murmelte nur etwas und verschwand ; eine ganze Weile später kam er zurück und stieß die schweren Riegel des Tores auf. »Kommt mit«, sagte er, nachdem er es hinter uns wieder versperrt hatte. Dann marschierte er in ziemlichem Tempo davon. Ich hatte nur wenig Zeit, mich für unsere Umgebung zu interessieren, als Braunauge und ich hinter ihm herkeuchten. Überall standen riesige Kisten herum, und noch riesigere, planenbedeckte Gegenstände. Die Fabrikarbeiter, die in Pallahaxi wohnten, waren natürlich des öfteren ausgefragt worden, wie es denn in der neuen Konservenfabrik aussähe, aber sie hatten nicht viel sagen können. Soweit sie es beurteilen konnten, war die neue auch nicht viel anders als die alte Konservenfabrik, und wenn auch in der neuen die Maschinen moderner waren, so blieb doch das Endprodukt das gleiche. Mir fiel der Zwischenfall mit dem leeren Laster ein, und ich überlegte einen Augenblick lang, was sie nun wirklich mit dem Endprodukt anfingen. Die Gebäude waren viel umfangreicher und komplexer, als ich bisher geglaubt hatte. Wenn man vom Berg herunter auf die Anlage blickte, konnte man sich gar keinen richtigen Begriff von ihrer Größe machen. Es gab Laufstege 273
von einem Gebäude zum anderen, Treppenschächte, die in die Erde führten, Tanks mit der Aufschrift ›Destillat‹ und Tanks mit der Aufschrift ›Wasser‹, und es gab grüne Türen und gelbe Türen und blaue Türen. Die Tür, die der Wachtposten schließlich aufstieß, war gelb. Er trat zur Seite und winkte uns hinein. Wir kamen in ein kleines Zimmer mit einem Fenster, einem Schreibtisch und einem Stuhl, einem Meldetaubenkäfig und einem hohen Ablagebord. Sonst war in diesem Zimmer nichts von Interesse, wenn man von meinem Vater absah, der auf dem einen Stuhl saß und uns mit verständnislosem Zorn anstarrte. »Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für das alles«, sagte er endlich langsam und in einem Ton, der vor Empörung bebte. »Natürlich, Vater. Ich wäre nicht hergekommen, wenn es nicht wichtig wäre.« Ich naiver, idealistischer Tölpel, ich dachte immer noch, daß es wichtig sei, den drohenden Bürgerkrieg zu verhindern. »Weißt du, Braunauge und ich …« Doch Vater war in einem seiner klassischen Wutanfälle aufgesprungen. »Ist dir klar, daß du mich vor dem gesamten Projekt lächerlich gemacht hast, indem du hier halbnackt hereinschneist und zu allem Überfluß noch dieses Flittchen mitbringst ? Und du wagst es, ihren Namen in meiner Gegenwart auszusprechen ? Noch mehr, du wagst es, mir mit ihr unter die Augen zu kommen ? Mit dieser Schlampe, die sich in diesem schamlosen Aufzug vor jedermann zur Schau stellt und doch kaum mehr als ein Kind ist ? Bei Phu, ich hätte niemals gedacht, daß ich den Tag erleben müßte …« 274
»… vor der Fingerspitze«, fuhr ich inzwischen unbeeindruckt und beharrlich fort, »und als sie uns eben angriffen, wurde die Ysabel von der Grume gehoben. Es gelang uns, mit dem Gleiter hinzukommen, und dann hat Braunauge mein Leben gerettet, und später haben wir …« »Was hast du gesagt ?« »Ich sagte, Braunauge hat mir das Leben gerettet. Braunauge.« »Willst du mir erzählen, daß die Ysabel jetzt da draußen schwimmt ?« »Das stimmt. Ich hab’s den Leuten in der Stadt schon gesagt, und sie organisieren schon ein Bergungsteam.« »Du hast ihnen was gesagt ?« »Hab ich doch gerade …« »Ich weiß, was du gesagt hast. Jaja, ich weiß.« Er verstummte abrupt und starrte mich mit aufgerissenen Augen an, und ich begriff erst eine kleine Weile später, daß er Angst hatte, tödliche Angst, wegen irgend etwas, das ich gesagt hatte. Er schaute plötzlich alt aus, fast wie vom Tod gezeichnet – so wie Tante Zu, als sie mir die Kleider vom Leibe riß, so wie Morlox-Mestler, als er in den Tod ging. In meinem Magen krampfte sich etwas zusammen, als mir klar wurde, daß es jetzt auf einmal nicht mehr um unseren üblichen Streit ging. Diesmal war irgend etwas Schreckliches passiert, aber ich wußte nicht, was. »Wartet hier«, sagte er endlich. »Wartet beide hier in diesem Raum.« Er rannte fast hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Braunauge starrte mich an, und auch sie wirkte verängstigt. 275
»Er ist ein alter Narr«, sagte ich. »Es tut mir so leid, daß er so häßliche Dinge über dich gesagt hat, Liebes.« »Hier ist etwas faul, Drove. Ich glaube nicht … ich glaube einfach nicht mehr, daß diese Geschütze wirklich für die Stadt bestimmt waren. Ich glaube, Ribbons Vater hatte recht ; sie wollten sie für hier. Und diesmal, das weiß dein Vater, wird Pallahaxi um seine Waffen kämpfen.« »Rax. Sag mir bloß, warum ich nicht die Finger von der Sache gelassen hab’, Braunauge.« »Weil du gehofft hast, du könntest dich mit deinem Vater versöhnen. Weil du dachtest, er würde dann mit dir zufrieden sein, und du wolltest, daß er mit dir zufrieden ist. Ich weiß, daß du deinen Vater haßt, Drove – aber du willst ihn nicht hassen.« In diesem Augenblick flog die Tür auf und zwei Wachen stürmten herein, große, starke Kerle. »Du kommst mit«, sagte der eine zu Braunauge und packte sie am Arm. »Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr !« schrie ich. Ich stürzte mich auf ihn, doch der andere Wächter erwischte mich und drehte mir die Arme auf den Rücken. Ich trat verzweifelt um mich, aber der eine Mann hielt mich fest, während der andere außerhalb meiner Reichweite Braunauge durch die Tür schleppte. Sie schrie und wand sich in seinem Griff, aber der Frostler preßte nur grob einen Arm um ihre Taille und hielt mit der anderen Hand ihre herumschlagenden kleinen Fäuste fest. Dann waren sie draußen, und ich versuchte noch eine Weile ohne Erfolg, mich von meinem Wächter loszureißen. Er lachte nur und verdrehte mir den Arm, bis ich glaubte, er hätte mir die Schulter ausgerenkt. 276
Endlich kam der andere zurück. »In Ordnung, kannst ihn loslassen«, sagte er etwas atemlos. Ich raste zur Tür. Draußen war niemand zu sehen. Totenstill standen die Gebäude da, alle Türen waren geschlossen, alles war ruhig, von der normalen Welt abgetrennt durch den schweren Drahtzaun. Die Sonne brannte von hoch droben herunter, und die schmalen, schwarzen Schatten jedes Gebäudes, jedes Gegenstandes schienen mir noch ein anderes Gitter, ein unentrinnbares, über alles zu weben. »Wo ist sie ?« brüllte ich. »Was habt ihr mit ihr gemacht ?« Die beiden Wachen entfernten sich gerade ; ich rannte ihnen nach und packte sie beim Arm. Sie schüttelten mich ab und gingen weiter. Da hörte ich sie rufen. »Drove ! Drove !« Ich starrte in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, sah zuerst niemanden, und lief an einem kleinen Schuppen vorbei. Nun sah ich sie – sie rannte am Zaun entlang, sprang über Gräben und Löcher und schaute immer wieder in meine Richtung. Endlich sah sie mich auch und blieb stehen, streckte die Arme aus und weinte verzweifelt, während ich zu ihr hinrannte. Ich zögerte, warf einen Blick zum verriegelten Tor hinüber, auf den grinsenden Wachtposten. Dann drehte ich mich zu Braunauge um, und ich weinte auch, glaube ich. »Was haben sie uns angetan, Liebes ?« flüsterte ich rauh. »Was haben die Frostler uns angetan ?« Sie stand außerhalb des Zauns, und ich innerhalb. Einer von uns war ein Gefangener.
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18 Der Zaun war zumindest fünf Schritt hoch und aus starkem, dichtem Drahtgeflecht. Braunauge und ich konnten einander gerade mit den Fingerspitzen berühren. Das taten wir eine Zeitlang, schauten einander an und sagten kaum etwas, ich glaube, weil wir begriffen, daß alles Herumreden jetzt keinen Sinn mehr hatte. Die Obrigkeit, die Erwachsenen hatten uns mit der gleichen unpersönlichen Unerbittlichkeit getrennt, mit der ich zwei meiner zahmen Drivettchen in verschiedene Käfige steckte, wenn ich nicht wollte, daß sie sich paarten. Als mein Mädchen und ich so dastanden, auf verschiedenen Seiten des Zauns, erkannte ich zum erstenmal, wieviel ich von dem hilflosen, instinktgesteuerten Tier noch an mir hatte – trotz all meiner großartigen Erkenntnisse der letzten Zeit. Der ganze Unsinn über Charakterentwicklung, Erwachsenwerden, Selbständigkeit und intellektuelle Reife – dies alles verblaßte zu völliger Bedeutungslosigkeit angesichts der totalen Verzweiflung, die mich überkam, weil man mich von meiner Gefährtin getrennt hatte. Einmal gingen wir beide bis zum Tor hinüber und versuchten, dem Wachtposten gut zuzureden ; aber wie alle miesen Frostler seiner Sorte erklärte er nur, er habe seine Befehle. »Wessen Befehle ?« schrie ich ihn an. »Wer hat Ihnen diese frostigen Befehle erteilt ?« Vielleicht lag etwas wie Mitgefühl in seinen Augen, vielleicht nicht. Ich weiß es nicht. Er sagte nur : »Dein Vater, Alika-Drove.« 278
Braunauge sah so einsam aus, draußen vor dem Zaun. Es war sonst keine Menschenseele in Sicht, nichts außer den Gelben Bergen in der Ferne, den Bäumen, Feldern, Hügeln und dem flachen Land. Riesige Haufen von Aushubmaterial, die Erde zerwühlt von Lastern und Loxkarren, kein Grashalm mehr – so sah es außerhalb des Zaunes aus. Und da stand Braunauge, weniger als einen Schritt von mir entfernt und doch unerreichbar, traurig und mit tränennassem Gesicht, und streichelte meine Fingerspitzen. Ganz gottserbärmlich sah sie aus in ihrem zerfetzten Kleid, und all die strahlende Wärme des gerade erst zum Weib gewordenen Mädchens war erloschen. Sie sah jetzt aus wie ein verletztes Kind, und nichts anderes war sie ; ich sehnte mich mit Leib und Seele danach, sie beschützen zu dürfen … Schließlich kamen die beiden Wachen zurück und sagten, daß mein Vater mich jetzt sprechen wolle. Sie packten mich bei den Armen und zogen mich fort, und ich blickte über die Schulter zu Braunauge hin, bis mir ein Gebäude die Sicht auf sie nahm. Sie führten mich viele Stufen hinunter, durch zahlreiche Türen und durch Gänge, in denen das einzige Licht von gleichmäßig brennenden Destillatlampen stammte. Schließlich klopften sie an eine weitere Tür und warteten. Es war meine Mutter, die die Tür öffnete. Ich ging an ihr vorbei und kam in ein ganz gewöhnliches Zimmer, ein Zimmer, wie man es in jedem Haus findet – nur daß dieses keine Fenster besaß. Ein Tisch und Stühle und alles, was man sonst an Mobiliar brauchte, war vorhanden. Auch all der Kleinkram, der zu einem Heim gehört, war 279
da, Zeitungen, Geschirr, Nippsachen. Ungewöhnlich war nur, so etwas tief unter der Fabrik zu finden. Meine Mutter lächelte mich an. »Setz dich doch, Drove«, sagte sie, und ich gehorchte automatisch. »Das ist unser neues Heim. Gefällt es dir, mein Lieber ?« Ich schaute mich um und entdeckte an der jenseitigen Wand die Kriegskarte. Die astanischen Wimpel waren sehr dicht zusammengerückt, ein enger Kreis um das Küstengebiet, dessen Zentrum Pallahaxi war. Mutter folgte meinem Blick, und ihr Lächeln wurde breiter. »Hier können sie uns nichts anhaben, Drove. Wir sind hier unten sicher. Niemand kann uns etwas anhaben.« »Was beim frostigen Rax redest du da, Mutter ? Was ist mit der Stadt ? Was wird aus den Leuten in Pallahaxi ? Was soll das alles eigentlich ?« »Es ist auch für sie Platz, oder ? Ein paar werden umkommen. Die Guten werden gerettet.« Sie redete so komisches Zeug, wie ich es nicht einmal von meiner Mutter gewohnt war. »Dieser Drahtzaun wird die Astaner aber nicht abhalten, Mutter«, sagte ich. Immer noch mit diesem irren Lächeln erwiderte sie : »Oh, aber wir haben Geschütze, viele, viele Geschütze. Oh, sehr viele Geschütze.« »Ich will hier raus«, knurrte ich und strebte auf die Tür zu, meine Mutter im Auge behaltend. Sie machte jedoch keinen Versuch, mich zurückzuhalten. Ich kam bis zur Tür, doch da schwang sie auf, und mein Vater kam hereingehastet. »Da bist du ja«, sagte er kurzangebunden. »So, jetzt hör mir mal gut zu. Dein Zimmer liegt hinter dieser Tür, und 280
da schläfst du auch. Ansonsten kannst du dich innerhalb des Zauns frei bewegen, solange du nicht durch grüne oder rote Türen gehst und niemandem in die Quere kommst. Das ist alles. Wenn du dich nicht ordentlich aufführst, bekommst du Stubenarrest. Dies hier ist ein militärisches Objekt, denk daran.« »Ich dachte, es sei der neue Regierungssitz. Wer wird denn hier eigentlich regiert ?« »Du wirst im Lauf der Zeit alle Mitglieder kennenlernen, und du wirst höflich zu ihnen sein.« »Gewiß, Vater. Und du wirst Braunauge hereinlassen ?« Seine Ungeduld schlug augenblicklich in Sturheit um. »Ich denke nicht daran, mit dir zu handeln, Drove ! Was bildest du dir eigentlich ein ? Dieses Mädchen bleibt draußen, wo es hingehört !« »In Ordnung.« Ich ging an ihm vorbei zur Tür. »Dann brauchst du nur den Wachen zu sagen, daß sie mich herauslassen sollen, ja ?« »Oh, Phu … Phu …«, winselte meine Mutter. Vater hielt mich grob am Arm fest. »Jetzt hörst du mir gefälligst zu, Drove, und hebst dir deine Argumente für später auf, wenn ich mehr Zeit habe. Ich sage dir nur eins, es gibt zwei Arten von Leuten auf unserer Welt, so wie’s jetzt steht – die Gewinner und die Verlierer. So einfach ist das. Und soweit es mich betrifft, halte ich es für meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Mitglieder meiner Familie auf der Gewinnerseite sind. Verstehst du nicht, daß ich nur zu deinem Besten handle ?« »Schließlich«, jammerte Mutter, »solltest du auf uns auch ein bißchen Rücksicht nehmen, Drove. Überleg doch nur, 281
wie ungünstig es sich auf die Stellung deines Vaters auswirken würde, wenn du überläufst zu den …« »Halt den Mund !« schrie Vater, und einen Moment lang glaubte ich, er würde sie schlagen. Sein Gesicht war hochrot, sein Mund verzerrt ; dann sackte er ganz plötzlich in sich zusammen, trat einen Schritt zurück und setzte sich. Ich starrte ihn an. Er sah ganz normal aus, normaler denn je. Er begann ruhig zu sprechen. »Eines Tages werde ich wohl herausfinden, warum alles, was ich tue, mit Widerstand, Dummheit oder Mißverstehen quittiert wird«, sagte er. »Ich bestehe darauf, daß du bei uns bleibst, Drove, weil ich weiß, daß du sonst sterben wirst, und ich will nicht, daß mein Sohn stirbt – glaubst du mir wenigstens das ? Nun zu dir, Fayette – ich möchte dich daran erinnern, daß diese Anlage jetzt voller Mitglieder ist, und daß ich, verglichen mit ihnen, ein ziemlich kleiner Fisch bin. Und Drove, der Platz hier ist sehr beschränkt, wie du dir wohl vorstellen kannst, und jeder hat Freunde oder Verwandte, die er hereinbringen möchte und nicht kann – und du wirst verstehen, daß ich als … äh … kleiner Fisch keine Möglichkeit habe, deiner – hm, Freundin hier einen Platz zu verschaffen. Und jetzt«, sagte er leise und sah uns beide an, und nur ein Zucken in seinen Mundwinkeln verriet, daß er nur eine Haaresbreite vom Zusammenbruch entfernt war. »Jetzt möchte ich, daß ihr beide mir sagt, ihr versteht meinen Standpunkt.« »Wenn ich denke, wie ich für diesen Jungen gearbeitet und geschuftet habe …«, schluchzte meine Mutter. »Komm mit mir, Drove«, sagte mein Vater mit einem seltsam heiteren Lächeln, nahm mich durchaus sanft beim Arm, zog mich aber fast im Laufschritt aus dem Zimmer 282
und durch die Korridore. Wieder kamen wir durch dicke Türen, stiegen Treppen hoch und traten endlich ins Tageslicht hinaus. Die Sonne war nicht mehr zu sehen ; die Luft war dunstgetrübt und noch immer sehr warm ; mir begannen bald die Kleider am Leib zu kleben. Ich schaute mich sofort nach Braunauge um und sah sie auch gleich auf der anderen Seite des Zauns verloren auf der Erde sitzen. Vater beschnupperte die Luft. »Sieht mir ganz danach aus, als würde bald die Überschwemmungszeit beginnen«, sagte er munter. »Bei Phu, es sieht wirklich so aus. Ich muß die Mitglieder verständigen, ja, das muß ich wohl gleich. Erinnerst du dich an die Überschwemmungszeit vor zwei Jahren, als der Keller unter Wasser stand und deine Drivettchen alle ertranken ? Sie konnten zwar schwimmen, aber das Wasser stieg über die Decke ihres Käfigs hinaus. Darin liegt eine Lehre für uns alle, Drove. Eine Lehre für uns alle, jaja, Drove …« Verängstigt wich ich vor ihm zurück. Er folgte mir, und er schwatzte weiter. »Das ist dein Mädchen da drüben, nicht wahr, Drove ? Hübsches kleines Ding. Hübsches kleines … Gehen wir doch zu ihr und reden wir ein bißchen mit ihr. Schrecklich, wie sie da so ganz alleine sitzt. Ich weiß noch, wie deine Mutter …« Plötzlich verstummte er, stand völlig still und starrte nach Süden. Ich folgte beunruhigt seinem Blick, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen, und bis zu den hohen Bäumen auf der Fingerspitze war auch niemand zu sehen außer ein paar entfernten, winzigen Loringestalten. Als ich mich umdrehte, schaute er wieder zu Braunauge hinüber. »Komm doch«, sagte er und ging entschlossen auf sie zu. 283
Sie blickte uns hoffnungsvoll entgegen, aber als ich den Kopf schüttelte, trübte sich ihre Miene wieder. Vater sagte : »Meine junge Dame, ich war unhöflich zu Ihnen, und es tut mir sehr leid. Ich hoffe, daß Sie es über sich bringen werden, mir zu verzeihen, was ich sagte, und daß ich Ihnen Drove so plötzlich wegnehmen mußte.« Er redete ganz normal und ruhig – und aufrichtig. »Bitte glauben Sie mir, daß ich gute Gründe habe.« Braunauge blickte zu ihm auf, und ihre Augen waren naß. »Es macht mir nichts aus, was Sie über mich gesagt haben, ich b-bin schon öfters beschimpft worden … Aber ich w-werde Ihnen nie verzeihen, daß Sie mir Drove wegnehmen, das ist das Schrecklichste, was mir jemals in meinem ganzen Leben angetan wurde, und ich glaube, daß Sie ein sehr schlechter Mensch sein müssen.« Er seufzte und blickte geistesabwesend hinüber zur Pallahaxi-Straße, auf der eine riesige Menschenmenge aufgetaucht war, Hunderte Menschen, die über die Hügelkuppe stürmten und nun auf uns zukamen. »Ich denke, Ihr Vater wird bald hier sein«, sagte er. »Es wäre am besten, wenn Sie mit ihm wieder heimgingen. Und bitte, glauben Sie mir, es tut mir wirklich leid. Und jetzt kommt beide mit zum Tor.« Er war jetzt beinahe wieder der alte. »Holen Sie ZeldonThrawn und Juba-Liptel«, schnauzte er den Posten an. »Und alarmieren Sie die Truppen. Rasch, Mann !« Der Wächter entfernte sich im Laufschritt. Ich glaube, er war in seinem Postenhäuschen eingeschlafen und hatte die herannahende Menge gar nicht bemerkt. Vater wandte sich um und starrte wieder nachdenklich den Hügel hinauf. 284
Braunauge war draußen und ich drinnen, aber jetzt trennten uns nur mehr die schweren Riegel des Tores. Ich lief hin und versuchte, den untersten zurückzustoßen. Mein Vater riß mich weg, gewaltsam, aber nicht brutal. »Laß mich doch einfach raus, du Frostler !« schrie ich, mich aus Leibeskräften wehrend. »Es kann dir doch egal sein, ob ich drinnen oder draußen bin !« Ich spürte, wie er sich versteifte. »Hast du mir auch nicht zugehört, Drove ?« sagte er ruhig und ließ mich los. Einen verrückten Augenblick lang dachte ich, er würde mich wirk lich hinauslassen, aber als ich wieder zum Tor wollte, wimmelte es dort von Wächtern und Soldaten. Sie stellten sich mit gespannten Federstutzen auf, und nach einigem Hin und Her hatte jeder seinen Platz in der gestaffelten Schützenlinie gefunden. Dann hörte ich ein Zischen und Rumpeln, als ein fahrbares Dampfgeschütz neben dem Tor in Position gebracht wurde. Das lange Rohr ragte durch ein kleines Loch im Maschendraht. Ich sah, wie Soldaten die Abdeckung von den eckigen Objekten zogen, deren lange Reihe wir – vor langer, langer Zeit – von der anderen Seite des Flusses gesehen hatten. Auch das waren Dampfgeschütze, die in regelmäßigen Abständen rund um das riesige Gelände aufgestellt waren. Nun strömten noch mehr Soldaten aus den Gebäuden, und diese schoben transportable Druckkessel vor sich her, von denen in dünnen Fäden der Dampf aufstieg. Ich fuhr zu meinem Vater herum und starrte ihn entsetzt an. »Was ist denn hier eigentlich los ?« schrie ich. »Das sind doch Leute von Pallahaxi ! Um Phus willen, gegen wen kämpfen wir eigentlich ?« »Gegen jeden, der uns töten will«, sagte er, wandte sich 285
zu den Wächtern um und erteilte ihnen Anweisungen. Ich sah Zeldon-Thrawn und einen anderen Mann, der JubaLiptel sein mußte, ganz in der Nähe miteinander sprechen, wobei beide immer wieder nervöse Blicke in Richtung der herannahenden Menge warfen. Kurz darauf setzte Thrawn einen Sprechtrichter an die Lippen. »So«, dröhnte seine Stimme, »das ist jetzt weit genug !« Der Hauptteil der Menge zögerte und machte in einiger Entfernung halt, nur Starkarm, leicht erkennbar an seiner Riesengestalt, marschierte weiter. Nach kurzem Handgemenge riß sich Ribbon los und rannte ihrem Vater nach. Ich trat zu meinem Vater, der neben einem Trupp Wachen stand. Er sah mich ausdruckslos an. »Wenn deine Leute die beiden erschießen«, sagte ich, »dann bring ich dich um, Vater, bei der erstbesten Gelegenheit. Ich schwöre es dir.« Er blickte wieder hinüber zu den Leuten von Pallahaxi. »Du bist überreizt, Drove«, sagte er gleichgültig. »Es wäre am besten, wenn du wieder hinunter zu deiner Mutter gingest.« Jetzt stand Starkarm vor dem Tor, unverletzt. Etwas ärgerlich blickte er auf Ribbon hinunter, die atemlos neben ihm stand, und rief schließlich : »Wer ist hier der Verantwortliche ?« »Das bin ich«, sagte Zeldon-Thrawn. Starkarm überlegte kurz und legte los : »Vielleicht können Sie uns sagen, gegen wen Sie diese Geschütze eigentlich einsetzen wollen. Ich hatte immer gedacht, unsere Gegner wären die Astaner. Aber die Geschütze scheinen mir jetzt auf uns gerichtet zu sein.« Jetzt bemerkte ich auch in Thrawns Gesicht jenen seltsa286
men Ausdruck, jene Todesahnung. »Spielen wir nicht miteinander, Pallahaxi-Starkarm«, erwiderte er schroff. »Wir beide kennen den Grund für diese Scharade. Sagen Sie schon, Mann, was Sie zu sagen haben !« Starkarm krallte beide Hände in den Zaun, so heftig, daß ich sah, wie seine Fingerknöchel ganz weiß wurden. »Also gut«, sagte er mühsam. »Wir waren auf der Ysabel. Sie haben behauptet, die Ladung bestünde aus Geschützen und Munition zur Verteidigung von Pallahaxi. Jetzt möchte ich nur noch eins wissen : Warum stammt das gesamte Zeug, das an Bord war, aus Asta ? Sagen Sie mir das, Mann ! Geschütze und Bolzen und Lebensmittel, Konserven und Destillat, alles aus Asta ! Warum treibt das Parlament Handel mit dem Feind ?« Mit erhobener Stimme brüllte er plötzlich : »Auf welcher Seite steht ihr frostiges Parlsgesindel eigentlich ?« Thrawn schwieg, als Starkarm, die Beherrschung verlierend, hilflos und zornig am Zaundraht rüttelte. Endlich gelang es Ribbon, seine Hände wegzuziehen. Er drehte sich um und starrte sie leer an, nickte aber dann, als sie ihm etwas zuflüsterte. Dann sprach Ribbon mit Braunauge, die heftig den Kopf schüttelte und weinte. Schließlich nahm Starkarm Braunauge energisch bei der Hand, und alle drei kehrten zur Hauptmasse der Bürger zurück. Braunauge sah dabei fortwährend über die Schulter zurück und stolperte, als Starkarm sie weiterzog. Ich hörte, wie ein Wächter zu meinem Vater sagte : »Sollen wir jetzt das Feuer eröffnen, Alika-Burt ?« Und mein Vater antwortete darauf : »Nicht der Mühe wert. Die sind alle so gut wie tot.« 287
Sehr viel später kamen die Leute wieder. Es regnete jetzt schon fast unablässig, und kälter wurde es auch. Kleine Nebelfetzen stiegen vom Fluß auf und krochen über den Boden. Wir sahen, wie die Leute den Hügel herunterkamen, und diesmal stiegen Dampffähnchen über ihren Köpfen auf. Sie verteilten sich, bevor sie in Reichweite unserer Geschütze kamen, und schwärmten über Felder und durch Gräben und Sumpfwiesen aus. Trotz allem verriet der aufsteigende Dampf die Position ihrer beiden Geschütze, so daß die Parl-Kanoniere sie mühelos anvisieren und jeden einzelnen Schuß der Pallahaxiner mit einer ganzen Salve erwidern konnten. Einmal, im Schutze der eben erst wieder beginnenden, kurzen Nächte brachen die Leute einmal sogar durch den Zaun, wurden aber im Licht von Destillatfackeln zurückgeschlagen und hatten viele Tote zu beklagen. Lange danach noch brachte ich es nicht über mich, in diesen Bereich des Geländes zu gehen, weil ich befürchtete, eine der Leichen wiederzuerkennen. Eines Morgens dann waren sie alle fortgeschafft worden. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, innerhalb des Zauns herumzuwandern wie ein gefangenes Raubtier, und nach Braunauge Ausschau zu halten, aber die Leute aus der Stadt ließen sich jetzt kaum mehr blicken, und vermutlich erlaubte man ihr auch nicht, zum Zaun zu gehen. Ich untersuchte die Geschütze und andere Ausstattungsteile der Fabrik und stellte fest, daß ein guter Teil davon in Asta hergestellt worden war. Ich sprach meinen Vater und Zeldon-Thrawn daraufhin an, aber sie waren nicht sehr mitteilsam. Das bestärkte mich natürlich in der Meinung, 288
daß Starkarm recht gehabt hatte, daß das Parlament von Erto, so unglaublich das klang, mit Asta eine Art Geheimpakt geschlossen hatte. Vielleicht, dachte ich, war der Krieg mittlerweile zu Ende. Obwohl dauernd vom Regenten und den Parlamentsmitgliedern gesprochen wurde, sah ich niemals einen von ihnen, mit Ausnahme von Zeldon-Thrawn. Ich bezweifelte allmählich, ob sie überhaupt hier waren, und bekam mehr und mehr das Gefühl, daß wir in einer eigenen, abgeschlossenen kleinen Welt hausten, einer sinnlosen Welt, die sich aus den Soldaten, den Wächtern, meinen Eltern, Thrawn, Liptel und einigen anderen Verwaltungsbeamten mit ihren Familien zusammensetzte. Immer wieder fragte ich mich : »Was tun wir hier eigentlich ? Warum kämpfen wir gegen die Leute aus der Stadt.« Niemand wollte es mir sagen, alle hatten zu viel zu tun, waren zu nervös, bis mich eines Tages nach einer langen Feuerpause Zeldon-Thrawn in sein Büro rufen ließ. »Horlox-Mestler hat mir vor seinem Tod erzählt, daß du bereits einige Kenntnisse über unser Sonnensystem besitzt, Drove«, sagte er freundlich, als ich mich setzte und ihn finster anstarrte. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß ich dort fortfahre, wo er aufgehört hat. Es ist wichtig, daß du diese Dinge verstehst. Du begreifst dann vielleicht auch vieles andere – und unsere Lage hier in der Konservenfabrik dürfte dir auch verständlicher werden. Du mußt mit uns zusammenleben, und es wird dir leichter fallen, wenn du uns nicht haßt. Vielleicht wärst du uns sogar eine Hilfe.« »Hm.« 289
»Also.« Er nahm einen Kohlestift und zeichnete schematisch unser Sonnensystem auf, ähnlich wie Mestler, nur kleiner, so daß ein Großteil des Papiers leer blieb. »Du weißt bereits, daß unsere Welt sich in einer elliptischen Bahn um die Sonne Phu bewegt. Das ist eine bewiesene Tatsache, obwohl man noch vor nicht allzu vielen Jahren glaubte, die Sonne bewege sich in einer Art Doppelschraubenbahn um unsere Welt.« Er schmunzelte. »Noch immer finde ich diese Vorstellung äußerst interessant, wenn auch etwas bizarr … Nun ja. In den letzten Jahren haben unsere Astronomen ihre Theorien fast vollständig ausgearbeitet und belegt. Allerdings gibt es noch immer zwei Faktoren, die ihnen ein Dorn im Auge sind, auch wenn sie die Bahn unseres Planeten noch so schön durch ihre Naturgesetze beschreiben können. Zunächst wäre es logisch, anzunehmen, daß unsere Welt vor Urzeiten ein Teil von Phu war und absplitterte oder weggeschleudert wurde. Wenn das aber so war, warum rotiert unser Planet denn dann quer zu seiner Bahnrichtung ? Eigentlich müßte logischerweise die Rotationsebene mit der Bahnebene zusammenfallen, ungefähr wenigstens. Das ist der erste Punkt. Der zweite ist, daß die Bahn unerklärliche Störungen aufweist, was man erst vor kurzem entdeckte.« Er schwieg einen Augenblick lang und nahm einen Schluck aus einem vor ihm stehenden Becher, während er mich nachdenklich musterte. »Findest du diese Fragen interessant, Drove ? Du solltest es. Unsere Astronomen interessierten sich sehr dafür und stellten eine Anzahl neuer Theorien auf. Die erste Theorie behauptete, daß in fernster Vergan290
genheit keine Beziehung zwischen unserer Welt und der Sonne Phu existierte. Wir waren weder Teil dieser Sonne, noch gehörten wir zu ihr. Wir kamen aus einem anderen Teil des Weltraums und sind von ihr eingefangen worden. Die zweite Theorie wurde bald zur bewiesenen Tatsache. Die Bahnstörungen unserer Welt wurden von dem Riesenplaneten Rax verursacht. Mit der Erfindung des Teleskops konnten die beiden Theorien zu einer ebenfalls beweisbaren Tatsache vereint werden. Man fand heraus, daß Rax die gleiche Rotationsebene hat wie unsere Welt. Rax und wir gehörten also einmal zu demselben System – vielleicht waren wir sogar ein Teil von Rax selbst – und die Sonne Phu war der Außenseiter …« Er ließ mich eine Weile darüber nachdenken. Schließlich sagte ich : »Wollen Sie behaupten, daß all der fromme Unsinn von dem Großen Lox Phu, der uns aus den Fängen des Eisteufels Rax befreit, tatsächlich stimmt ? Daß Phu uns aus einer Bahn um Rax herauszog ?« Irgendwie war ich enttäuscht – das Ganze klang danach, als hätte meine Mutter mit ihrer Religion recht behalten. »Es stimmt, aber das ist erst die eine Seite der Geschichte. Von der anderen berichtet uns die Legende nichts : jetzt ist die Zeit gekommen, da Rax uns wieder zurückzieht.« Ein langes Schweigen entstand, und ich schauderte, obwohl der Raum gut geheizt war, schauderte, weil ich mir vorstellte, wie Rax Jahr um Jahr als eisige Scheibe den Himmel beherrschte, während die Sonne Phu nur ein winziger Lichtfleck unter anderen Sternen war. 291
Immerwährende Dunkelheit, immerwährende Kälte. Das war das Ende der Welt. War es das Ende der Welt ? »Wie viele Jahre ?« flüsterte ich. »Wie viele Jahre dauert es, bis wir Phu wiedersehen ?« »Nicht viele, relativ gesehen.« Er zögerte. »Vierzig, das haben sie berechnet. Und dafür haben wir ausreichend Lebensmittel und Brennstoff – auch wenn wir eine ganze Schiffsladung Destillat mit der Ysabel verloren haben. Zum erstenmal wird die Zivilisation weiterbestehen – durch uns.« »Aber was ist mit all den anderen ?« Tatsächlich dachte ich eigentlich nur an Braunauge. Mein geliebtes Mädchen Braunauge, das den entsetzlichen Tod der Kälte sterben mußte, während sämtliche Parls, ich eingeschlossen, sicher und warm in ihrem unterirdischen Bau saßen. Ich merkte, daß ich redete und redete, daß Thrawn antwortete, daß ich schließlich in eine Art Raserei verfiel, am ganzen Körper zitternd, heiser, tränenüberströmt. Nach einer Weile gab es nichts mehr zu sagen, und Klagen nutzte auch nichts. Ich versuchte mich zu fassen und dachte : Irgendwie werde ich hinauskommen – oder Braunauge hier hereinkommen … Thrawn saß ruhig da und wartete geduldig, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Endlich sagte ich : »Also war der Krieg mit Alika nur ein Vorwand ?« Meine Stimme war immer noch rauh und unsicher. Er sagte ruhig : »Nein, der Krieg ist leider echt ; er brach aus, und erst dann wurden zufällig bestimmte astronomische Fakten entdeckt, bestimmte Berechnungen ausgeführt. Danach erschien es von Vorteil, den Krieg weiterlaufen zu lassen, als Ablenkung, das ist alles.« 292
»Bei Phu, das kann ich mir vorstellen !« Ich begann schon wieder die Beherrschung zu verlieren. »Der Krieg ermöglicht euch, unauffällig Anlagen wie diese gegen euer eigenes Volk abzusichern, während die Astaner und Ertoner einander abschlachten. Und mein Vater … er hat also alles gewußt, die ganze Zeit über … Habt ihr gar keinen Gedanken übrig für die vielen Männer, die in eurem heimtückischen Krieg gefallen sind, oder für die, die heute fallen und morgen und übermorgen ?« »Sie würden auf jeden Fall sterben. Und sie sind glücklicher, wenn sie für irgendwelche Ideale sterben können … Hör zu, Drove, ich verstehe deine Gefühle recht gut«, sagte er beschwichtigend. »Ich erzähle dir das alles, weil du praktisch der einzige bist, der imstande sein könnte, Starkarm zu Vernunft zu bringen. Ich möchte, daß er seine Leute abzieht. Selbst du wirst jetzt zugeben müssen, daß ihre dauernden Angriffe ihnen gar nichts nützen.« »Zum Frost mit Ihnen, Thrawn«, sagte ich grob. »Je mehr Parls sie mit sich nehmen, um so glücklicher werde ich sein. Und sie auch : Wie Sie ja selber sagten, ist es besser, für ein Ideal zu sterben.« »Das ist aber eine sehr negative Einstellung, Drove. Ideale haben jetzt keinen Sinn mehr.« »So. Und was ist mit dem kleinen Squint ? Und mit Silverjack ? Ich nehme an, daß ihr beide ebenfalls umgebracht habt ?« Er seufzte. »Es wäre schön, wenn du endlich verstehen wolltest, daß du einer von uns bist, einer der Gewinner, ob es dir nun gefällt oder nicht. Squint und Silverjack haben auf verschiedene Weise unsere Pläne gefährdet, weil sie die 294
Wahrheit über unser Projekt herausfanden, deshalb mußten sie beseitigt werden. Ich war zu der Zeit noch nicht hier, aber ich hätte an Horlox-Mestlers Stelle dieselbe Entscheidung treffen müssen. Es wäre alles zunichte geworden, hätte die Öffentlichkeit zu früh von unseren Plänen erfahren – und das gilt natürlich für den Bunkerkomplex an der astanischen Küste.« »Ganz klar«, sagte ich bitter. »Die Astaner haben sich einen analogen Schlupfwinkel gebaut. Ich nehme an, ihr habt damals während der Ausgangssperre lebenswichtige Güter ausgetauscht. Nur interessehalber : Wer sitzt in Asta im sicheren Bunker, das gewöhnliche Volk oder die Regierung ?« »Sei nicht albern, Alika-Drove«, sagte er müde. »Wenn du uns schon nicht helfen willst, dann geh mir wenigstens aus den Augen, ja ?« Ein paar Tage später griffen die Leute wieder an, diesmal in größerer Zahl und mit mehr Waffen. Ich wurde während der heftigsten Kämpfe zwar nicht hinaufgelassen, aber ich sah doch genug, um zu begreifen, daß sich die astanische Armee – oder was von ihr übrig war, nachdem sich die Truppenverbände durch Erto gekämpft hatten – mit Starkarm und seinen Männern verbündet hatte. Damit war genau das eingetreten, was Zeldon-Thrawn immer befürchtet hatte. Die Schlacht dauerte mehrere Tage, bis schließlich nur mehr hin und wieder ein Schuß fiel. Dann war sie zu Ende, ohne daß die Verteidigungsanlagen der Parls auch nur den geringsten Schaden erlitten hätten. Ich versuchte mich damit zu trösten, daß wir doch eine größere Anzahl 295
von Soldaten verloren hatten, mußte jedoch fesstellen, daß ich für so eine Einstellung nicht der Typ war, und außerdem saßen ja der Regent und die Mitglieder sicher und unverletzt unten in ihrem Bau. »Jetzt verstehst du vielleicht, warum wir diese Anlage befestigen mußten«, sagte Thrawn später. »Die Astaner und Pallahaxi haben einen Pakt geschlossen, der doch eigentlich Frieden zur Folge haben müßte. Aber nein – sie brauchten noch jemanden, auf den sie losgehen konnten – und gab es ein besseres Ziel als uns ? Und was hatten sie davon ? Was hätten sie gewonnen, wenn sie uns alle umgebracht hätten ? Denk mal darüber nach, aber behalt die Antwort lieber für dich. Ich kenne sie schon. Und ich weiß auch, daß du unter Umständen vielen das Leben hättest retten können …«
19 Die Tage vergingen, und wir sahen nicht mehr viel von den Leuten aus Pallahaxi. Die Nebel wurden dichter, und der Regen der Überschwemmungszeit rauschte in immer heftigeren, eiskalten Strömen herunter. Die Sichtweite sank auf rund fünfzig Schritt. Jetzt wäre die ideale Zeit gewesen, durch den Zaun zu brechen, und die für die Abwehr Verantwortlichen spürten das auch ; viele Tage lang wurden die Zaunwachen dichter postiert, aber es kam kein Angriff mehr. In einer Weise war das nicht überraschend. Bei diesem fürchterlichen Wetter war der Gedanke an eine etwaige Verletzung abschreckend – hilflos und blutend 296
auf dem nassen Boden zu liegen, während die Kälte sich einem in den Körper fraß und einen in den Wahnsinn trieb, aus dem einen nur noch der Tod erlösen konnte … Die Wachen trugen dicke Pelzmäntel, und jeder hatte einen heißen Ziegel darunter, den er in kurzen Abständen gegen einen neuen austauschte. Ich verbrachte die meiste Zeit in den Quartieren der Soldaten und Wachen und ging eigentlich nur noch zum Schlafen in mein Zimmer. Ich brachte es kaum mehr über mich, mit meinem Vater zu sprechen, jetzt, da ich wußte, welche Lügen er mir aufgetischt hatte, seit wir in Pallahaxi waren, und früher auch schon. Ich begriff jetzt, warum er immer gleich so in Zorn geraten war, wenn ich an seinen Worten zweifelte. Es mußte ihn beunruhigt haben, wenn ich den Wahrheitsgehalt von Nachrichtenmeldungen in Zweifel zog oder auch den Sinn des Krieges. Ich fragte mich, wieviel Mutter gewußt haben mochte. Der Bunkerkomplex war viel größer, als ich anfangs vermutet hatte, und obwohl ich zu vielen Zonen keinen Zutritt hatte, wußte ich doch recht bald über die allgemeine Anlage Bescheid. Das Fabrikgebäude droben war längst verlassen, seine Aufgabe erfüllt, seine gesamte Produktion unterirdisch eingelagert. Unter der Oberfläche gab es vier Niveaus. Im obersten lagen die Quartiere von Wachen und Soldaten – abgesehen von ein paar Krankenschwestern und Köchinnen gab es dort praktisch nur Männer. Auf dem nächsttieferen Niveau wohnten die gewöhnlichen Parls, Verwaltungsbeamte mit ihren Familien, einschließlich meiner Eltern. Unter diesen Leuten gab es viele Astaner, und ich dachte oft mit einiger 297
Bitterkeit an meinen Anfall von Patriotismus, als Wolff, Ribbon, Squint und ich geglaubt hatten, einen astanischen Spion zu jagen … Darunter – und hier begann die für die Allgemeinheit gesperrte Zone – lag das für die Mitglieder und ihre Familien bestimmte Niveau. Soweit ich gehört hatte, waren das an die zweihundert Personen. Ich sah kaum einmal jemand von ihnen, denn sie kamen praktisch nie herauf, was angesichts des sich rapid verschlechternden Wetters verständlich war. Ich glaube, Zeldon-Thrawn war das einzige Regierungsmitglied, mit dem ich überhaupt sprach, und mit der Zeit ließ auch er sich immer seltener im Verwaltungsstockwerk sehen, nachdem er offenbar die Verantwortung für die Verteidigung mehr und mehr meinem Vater übertragen hatte. Ich wußte, daß es noch ein weiteres Niveau unter diesem gab, in dem der Regent und sein Gefolge wohnten – aber mehr war nicht in Erfahrung zu bringen. Die Türen, durch die man in diese verschiedenen Stockwerke gelangte, waren durch Farben gekennzeichnet. Von jedem Niveau gab es einen unabhängigen Ausgang ins Freie. Gelbe Türen bedeuteten, daß jedermann Zutritt hatte, blaue waren für die Verwaltungsbeamten und selbstverständlich alle höheren Ränge bestimmt, grüne für Mitglieder und höhere Ränge, und die roten – ich wußte überhaupt nur von zwei solchen Türen – durften nur vom Regenten und seinen Höflingen benutzt werden. Manchmal kam mir der Bunkerkomplex wie eine absurde Abstraktion der wirklichen Welt vor, wie ich sie gekannt hatte … Im Laufe der Zeit erhielt ich auch Antwort auf einige 298
noch ungeklärte Fragen, wobei die Wachen und Soldaten meine Hauptinformanten waren. Squint hatte den Fluß überquert, wie wir angenommen hatten, und war völlig grundlos von einem Wachtposten erschossen worden, der ihn für irgendein Tier gehalten hatte. Keiner wußte, ob er wirklich das Geheimnis der Konservenfabrik entdeckt hatte oder nicht, auch wenn Thrawn das behauptete. Aber Silverjack hatte es entdeckt. Silverjack hatte die astanischen Waren in der Ladung der Ysabel erkannt … Es kam eine Zeit, da sich die Außenwelt wieder in unser Bewußtsein drängte. Eines Tages stürmten sämtliche Soldaten eilends nach draußen, weil einer der Wachtposten plötzlich einen Schrei ausgestoßen hatte. Ich schloß mich dem allgemeinen Exodus an, konnte aber zuerst gar nicht den Grund für die Aufregung ausmachen, weil sich so viele Menschen neugierig durcheinanderdrängten, doch dann bemerkte ich auf einmal ein paar Gestalten jenseits des Zauns. Ich rannte hin, nur den einen Gedanken im Kopf – Braunauge ! Sie war jedoch nicht da. Vielleicht fünfzehn Leute standen draußen in den wirbelnden Nebelschwaden, Gespenster aus einer Welt, die einige von uns schon fast vergessen hatten, und starrten uns schweigend an, hungrig und von der Kälte gezeichnet. Mein Vater stand bei einem Trupp Soldaten. Niedergeschlagen wartete ich darauf, daß er den Befehl zum Schießen gab, aber er schien auch von der allgemeinen und völlig unerklärlichen Hochstimmung angesteckt zu sein. Nachdem der erste Überraschungsschock überwunden war, riefen die Soldaten die Leute draußen an, erkundigten sich nach Bekannten, lachten und schrien sinnlos herum und schlugen einander auf 299
die Schulter, während die anderen mit rätselhaften Mienen durch den Maschendraht starrten. Dann begann das schweigsame Grüppchen, Planen, Schnüre und Stangen aus den Rückenlasten zu holen und hatte bald einige primitive Zelte aufgebaut. Zwei weitere Männer trafen mit einem Handkarren ein, der hoch mit Holzscheiten beladen war. Ein Weilchen später brannte ein großes Feuer, und die Männer kauerten sich dicht dazu. Ihre Gesichter schienen im flackernden Widerschein der Glut zu leuchten, während die Wärme die nackte Angst aus ihren Augen vertrieb, so daß sie wieder imstande waren, zu denken und miteinander zu reden, später sogar mit uns zu reden. Ich fragte mich, was das für Menschen sein mußten, daß sie die relative Bequemlichkeit von Pallahaxis Steinhäusern aufgaben, um in diese unwirtliche Gegend herauszuziehen und Wahnsinn und Tod zu riskieren. Die Soldaten warfen ihnen allerhand Lebensmittel über den Zaun ; ich sah, wie mein Vater das mit zusammengepreßten Lippen beobachtete. Im Lauf der Zeit kamen immer mehr, und das Lager nahm bald den Umfang eines kleinen Dorfes an, und an die Soldaten ergingen Befehle, die es untersagten, den Lagerleuten, wie sie genannt wurden, Lebensmittel oder Brennstoff hinauszuwerfen. Mit der Zeit gesellten sich die meisten bekannten Gesichter aus Pallahaxi zu den Lagerleuten, und eines wunderbaren, traurigen Tages traf auch Braunauge ein, und wir küßten uns durch den Maschendraht, was ein schmerzliches Unterfangen war. Sie sagte, ihre Eltern würden auch bald kommen ; Starkarm war schon da, und Ribbon und 300
Una und die meisten anderen auch. Später an diesem Tag kamen auch Wolff und seine Eltern, doch sie mischten sich nicht unter die anderen Lagerleute, sondern stellten sich ans Tor, riefen laut und rüttelten am Draht. »Was wollt ihr ?« hörte ich meinen Vater fragen. »Wir wollen natürlich hinein, was sonst ? Sie kennen mich doch, Alika-Burt. Ich arbeite für die Regierung. Ich verlange, sofort eingelassen zu werden.« Die Stimme von Wolffs Vater wurde schrill, als er den reglosen Gesichtsausdruck meines Vaters bemerkte. »Ihr kommt zu spät«, sagte Vater. »Niemand darf mehr herein. Die verfügbaren Quartiere sind alle belegt.« Sein Ton war hölzern, ausdruckslos. Wolffs Mutter begann hastig draufloszureden. »Hören Sie, Burt, wir haben ein Recht darauf, eingelassen zu werden. Weshalb sonst sollte Klegg für die Regierung arbeiten, wenn er sich nicht wenigstens in solchen Zeiten auf ihre Hilfe verlassen kann ? Es ist gar nicht so angenehm, heutzutage die Frau eines Parls zu sein, das kann ich Ihnen sagen, bei all den Frechheiten, die man sich in den Geschäften von den gewöhnlichen Leuten gefallen lassen muß …« Ich bemerkte, daß Ribbon herübergekommen war ; unvermittelt mischte sie sich ein. »Lassen Sie sie bloß nicht rein. AlikaBurt. Das ist eine Bande von hochgestochenen Frostlern.« Ich hatte Ribbon vorher eigentlich nicht richtig bemerkt, so sehr hatte mich Braunauges Ankunft in Anspruch genommen. Jetzt, als ich sie genauer anschaute, erschrak ich. Sie war magerer geworden, und ihr Gesicht wirkte eckig und irgendwie alt, und sie sah ziemlich schmuddelig aus. »Es ist schrecklich«, meinte Braunauge später zu mir, 301
als sich Wolffs Familie unter wüsten Drohungen irgendwo in den Nebel verzogen hatte und Ribbon zum Zelt ihres Vaters zurückschlenderte. »Sie ist leider irgendwie, na ja, ordinär geworden.« Sie musterte mich ängstlich, als sie bewußt einen der Lieblingsausdrücke meiner Mutter verwendete. »Ehrlich, Drove, ich sage das nur ungern, aber sie ist wirklich so. Hart und gemein und gehässig. Ich komme gar nicht mehr mit ihr aus.« Am nächsten Tag kam Braunauges Vater, Dickbauch, an den Zaun. Als verspäteter Neuankömmling sah er das Lager zum erstenmal. Er packte Braunauge nicht besonders sanft am Arm. »Du gehst jetzt sofort von diesem Frostler weg, mein Mädchen !« »Aber das ist doch Drove !« »Er ist ein frostiger Parl, und ich will nicht, daß du dich mit ihm abgibst !« Ich starrte ihn entgeistert an. Wir waren früher immer recht gut miteinander ausgekommen, und ich verstand nicht, was in ihn gefahren war. Sein Gesicht war irgendwie verhärmt und finster. »Vater, er kann nichts dafür, daß er auf der anderen Seite ist !« rief Braunauge. »Sie lassen ihn nicht heraus !« »Ja, und er gibt sich vermutlich alle Mühe, rausgelassen zu werden, nicht wahr ? Da drinnen hat er Wärme und Nahrung für vierzig Jahre oder mehr, weshalb sollte er da fortwollen ?« Erst durch diese Bemerkung erfuhr ich, daß die Leute über die wirkliche Situation Bescheid wußten, und ich fragte mich, wie sie es herausbekommen hatten. Nicht, daß es wichtig gewesen wäre. Es war das auch kaum die Sorte Information, die lange geheimgehalten werden konnte. 302
Er zerrte an ihrem Arm, während sie sich beharrlich an das Drahtgeflecht klammerte und schrie : »Laß mich los, Vater ! Du warst doch sonst nie so. Bitte, hol Mutter her. Sie wird es dir erklären. Sie wird nicht zulassen …« Einen Augenblick lang lockerte er seinen Griff, und sein Gesicht wurde bitter. »Deine Mutter ist tot«, sagte er kalt. »Sie starb letzte Nacht. Sie … sie hat sich das Leben genommen.« »Oh …« Braunauges Fingerspitzen tasteten durch den Draht nach meinen, und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Es drehte mir das Herz um, daß ich sie nicht in die Arme nehmen und trösten konnte. »Deshalb wirst du jetzt mit mir kommen. Ich mache die Parls für den Tod deiner Mutter verantwortlich, deshalb werde ich es nicht dulden, daß du dich hier bei ihnen herumtreibst. Du bist eine Verräterin an deinem eigenen Volk ! Was die Leute von dir denken müssen, will ich lieber gar nicht wissen !« Braunauge hatte sich lange Zeit mit beiden Händen an den Zaun geklammert und dabei wie betäubt die Augen geschlossen. Ich sah, wie ihr jetzt die Tränen unter den Wimpern hervorsickerten. Plötzlich aber riß sie sich zusammen und fuhr herum, blickte ihren Vater gerade an und zog ihren Arm weg. »Jetzt hör einmal mir zu«, sagte sie entschlossen, aber doch sichtlich erschüttert. »Vor allem aber schau dich einmal um und sieh dir an, was du mein Volk nennst ! Da drüben unterhält sich Starkarm gerade mit dem astanischen General, dabei hätten sich die beiden noch vor ein paar Tagen auf den ersten Blick umgebracht, weil das Parlament 303
es befahl. Und dort weiter hinten, siehst du ? Das ist Ribbon, die durch den Zaun mit den Parl-Soldaten schäkert. Bald vielleicht müssen sie sie erschießen, weil das Parlament es ihnen befiehlt. Hier überall, in diesen Zelten und Hütten, sind die Leute freundlich zueinander, weil ihnen gerade niemand befiehlt, einander zu hassen – und dabei werden wir alle bald sterben müssen. Und hier stehst du, Vater, und willst mir befehlen, meinen Drove zu hassen, und benützt unsere arme Mutter als Ausrede. Bitte, laß uns in Ruhe – bitte !« Dickbauch starrte sie an, zuckte die Achseln und wandte sich ab. Benommen wie ein Schlafwandler mischte er sich unter die übrigen Lagerleute. Ich weiß nicht, ob er auch nur die Hälfte von dem verstand, was Braunauge gesagt hatte, und wenn ja, so begriff er es bestimmt nicht. Daß sich jetzt auch noch seine Tochter gegen ihn stellte, das war ihm nach allem, was er sonst durchgemacht hatte, einfach zuviel geworden. Braunauge blickte ihm nach, und ich hörte sie flüstern : »Verzeih, Vater …« In den folgenden Tagen fragte mich Braunauge des öfteren über das Leben im Schutzkomplex aus, und ihre Hauptsorge war, daß ich drunten einem unwiderstehlich hübschen Mädchen begegnen könnte, so daß sie auch das wenige noch verlieren würde, was sie von mir noch hatte. »In den Familien der Verwaltungsbeamten gibt es wohl ein paar Mädchen«, gab ich zu, »aber ich rede kaum jemals mit ihnen. Ich glaube, ich will einfach … äh … mit denen nichts zu tun haben. Bevor du herkamst, habe ich die meiste Zeit bei den Soldaten verbracht und mit ihnen Karten gespielt.« 304
Sie schaute den Zaun entlang zu Ribbon hinüber, die wie üblich durch das Gitter mit den Soldaten plauderte. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Was geschieht, wenn es wirklich kalt wird, und wir sind alle … wir sind fort, dann haben die Soldaten doch nichts mehr zu tun. Werden all diese vielen Männer bloß so im Bunker herumsitzen, vierzig Jahre lang ?« In diesem Augenblick kam Starkarm vorbei und hörte diese letzte Bemerkung. »Natürlich werden sie das nicht«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, wie riesig die Lager in diesem Komplex sind, aber ich weiß dafür, daß etwa sechshundert Mitglieder und Parls mitsamt ihren Familien unten leben, und Soldaten müssen es mindestens ebenso viele sein. Die haben dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn wir erst tot sind …« Daran wollte ich überhaupt nicht denken. »Warum seid ihr alle hier, Starkarm ?« fragte ich. »Warum gehen die Leute nicht zurück nach Pallahaxi ? Es wäre doch dort in den Häusern viel wärmer und bequemer.« Er lächelte. »Das hab’ ich mich die ganze Zeit auch schon gefragt, seit die Leute begannen, hier herauszuwandern und ein Lager aufzuschlagen. Ich hab’ sie gefragt, wohin sie wollten, und weißt du, was sie sagten ? Sie sagten nur, na ja, es hat doch keinen Sinn, weiter hierzubleiben – das sagten sie, und ich verstand es nicht. Also bin ich nach einiger Zeit selber herausgezogen, und jetzt verstehe ich. Wenn man weiß, daß man selber bald sterben wird/aber anderswo noch Leben entdeckt, dann möchte man ganz in seiner Nähe bleiben, weil man hofft, daß es irgendwie auf einen abfärbt.« 305
So nahm die Überschwemmungszeit ihren Fortgang, die Tage wurden kürzer, und der Regen ging in Schnee über. Braunauge und ich bauten uns um den Zaun einen kleinen Unterschlupf, in dem wir stundenlang saßen, einander anschauten und durch den Maschendraht unsere Fingerspitzen aneinanderlegten, gewärmt durch die Glut eines Regierungsöfchens. Wir schwelgten in Erinnerungen wie sehr alte Leute, obwohl wir so wenig gemeinsame Erinnerungen hatten. Es gab keine Geheimnisse zwischen uns und keine Vorwürfe wegen unserer so verschiedenen Lage. Wir wußten, daß wir beisammen gewesen wären, hätte man uns die Gelegenheit gegeben, und wir wußten, daß wir auch in Zukunft keine solche Gelegenheit erhalten würden, also sprachen wir lieber über die Vergangenheit und quälten uns mit heimlichen Reminiszenzen über das eine Mal, da wir uns geliebt hatten. Draußen stieg das Wasser wieder, die Mündungsbucht füllte sich, und die vielen gestrandeten Boote, um die sich keiner mehr kümmerte, begannen zu schwimmen und trieben mit der Strömung hinaus aufs Meer. Es gab ein paar Fälle von Amokläufern unter den Lagerleuten, als ihre Feuer herunterbrannten und sie nicht wagten, im schon recht tiefen Schnee nach neuem Holz zu suchen. Oft, wenn Braunauge und ich in unserem abgeteilten Hüttchen saßen, hörten wir jemanden aufkreischen : wieder hatte die Kälte sich in ein Gehirn geschlichen und Wahnsinn darin gesät, so daß sein armer Körper instinktiv zu laufen begann, um sich vor dem Erfrieren zu retten. Aber fast unausweichlich traten Erschöpfung und Zusammenbruch ein, bevor das schneller zirkulierende Blut den Körper ein bißchen 306
aufwärmen und das Hirn zur Vernunft bringen konnte – und es gab wieder ein Maul weniger zu stopfen. Am traurigsten war vielleicht Ribbons völliger Verfall. Der Verlust aller ihrer materiellen Besitztümer, ihrer hübschen Kleider – und noch viel tragischer, ihres hübschen Gesichts – zwang sie dazu, auf das einzige zurückzugreifen, was ihr noch geblieben war, das letzte Stückchen der alten Ribbon : ihr Geschlecht. In jenen Tagen erwähnte ihr Vater sie kaum mehr, und ich sprach nur einmal mit ihr. Sie hatte mich gebeten, auf die andere Seite des Geländes zu kommen, wo der Zaun jenseits des Tores bis an den Fluß reichte. Mir sank das Herz, als wir am Wasser stehenblieben, und sie mir durch den Maschendraht kokette Blicke zuwarf. »Ich muß einfach hineinkommen, Drove«, sagte sie. »Du mußt mir helfen. Dein Vater hat die Schlüssel vom Tor.« »Hör mal«, murmelte ich, ihrem Blick ausweichend. »Mach dir doch keine solchen Hoffnungen, Ribbon. Es sind immer Wachtposten am Tor, und selbst wenn ich den Schlüssel kriegen könnte, was ich nicht kann, würde er dir nichts nutzen.« »Ach, die Wachen«, meinte sie wegwerfend. »Mach dir wegen der Wachen keine Sorgen. An denen komme ich jederzeit vorbei. Sie würden alles für mich tun – es gibt ja kaum Frauen in ihrem Stockwerk. Ich glaube, du hast gar keine Ahnung, Drove, welche Macht eine Frau in einer solchen Situation hat.« »Bitte, sag nicht solche Sachen, Ribbon.« »Sie meinen, sie könnten mich in ihrem Quartier verstecken, und keiner würde je etwas merken. Dir wär’s doch 307
auch recht, mich drinnen zu haben, was, Drove ? Du hast mir mal gesagt, du fändest mich hübsch, und weißt du, ich könnte sehr, sehr lieb zu dir sein. Das würde dir doch gefallen, oder ? Du hast’s doch immer schon mal mit mir machen wollen, gib’s doch zu, Drove.« Sie lächelte einfach grauenhaft, ich kam mir vor wie in einem Alptraum. »Ribbon, ich kann das nicht mehr anhören. Ich kann dir auch nicht helfen. Es tut mir alles sehr leid.« Ich wandte mich ab, und mir war so übel, daß ich hätte kotzen können. Ihre Stimme wurde schrill und häßlich. »Du stinkender Frostler, du bist genauso ein frostiger Parl wie alle anderen ! Ich will dir mal etwas sagen, Alika-Drove. Ich will leben, und ich hab’ genausoviel Recht zu leben wie du, und wenn ich alles tun müßte, um am Leben zu bleiben, bei Rax, ich würde es tun !« Sie lachte heiser wie ein altes Weib. »Du glaubst doch nicht etwa, ich wollte es wirklich mit dir tun ? Rax, allein der Gedanke widert mich an ! Ihr Männer seid doch alle die gleichen abscheulichen Bestien. Bestien ! Und eure Einbildung ! Was in aller Welt dich glauben ließ, ich wollte dich, das weiß ich wirklich nicht !« Ich mußte es sagen, um der Vergangenheit willen, um des Wahren und Richtigen willen. Ich ging zu ihr zurück und sagte : »Ribbon, ich habe nie behauptet, daß du mich wolltest. Lange Zeit wollte ich dich, weil ich dich immer ein bißchen geliebt habe. Wir sollten es dabei belassen.« Einen kurzen Augenblick wurde ihre Miene weicher, und in ihren Augen war etwas von der alten Ribbon, doch gleich darauf packte der Eisteufel wieder zu und verzerrte ihr Denken. »Liebe ?« kreischte sie. »Du weißt nicht, was Liebe ist, und deine süße Naive auch nicht. Es gibt keine 308
Liebe – wir haben uns immer nur etwas vorgemacht. Die Realität ist das !« Mit einer sarkastischen Geste wies sie auf die Fabrikgebäude, den Zaun, den wirbelnden Schnee. Mir blieb nur der eine Ausweg – ich ging rasch weg, ließ sie kreischend und schimpfend am Zaun stehen. Ihre Verbitterung hatte mich bis ins Innerste erschüttert. Als ich wieder in den Unterschlupf am Zaun kroch, war ich fast erstaunt, auf der anderen Seite Braunauge zu sehen, die auf mich wartete, die mich immer noch liebte und mir bewies, daß es die Liebe noch gab und immer geben würde.
20 Die Tage vergingen. Der Schnee fiel erst dünner, dann hörte es ganz auf zu schneien. Es klarte auf, und nachts war der Himmel mit Sternen bedeckt, kalt glitzernden Punkten. Die Sonne Phu war klein, kleiner, als ich sie je gesehen hatte, und vermochte selbst mittags kaum mehr die eisige Luft zu erwärmen, auch wenn sie noch genug Licht spendete, um den Tag von der Nacht zu unterscheiden. Ich hätte gerne gewußt, wie hell die Tage noch sein würden, wenn unsere Welt erst ganz in die Macht von Rax geraten war – obwohl ich diese Tage nie sehen würde, denn lange vorher würde der Komplex versiegelt und abgedichtet worden sein, um die Wärme zu bewahren. Ich hätte Thrawn gefragt, aber ich hatte ihn schon seit vielen Tagen nicht mehr gesehen, und die Astronomiekenntnisse meines Vaters waren nicht der Rede wert. Jetzt, wo es nicht mehr schneite und der Himmel klar war, konnte man wieder bis zu den Gelben Bergen hinüber 309
sehen – bloß waren sie nun weiß und würden es vierzig Jahre lang bleiben. Die Obobäume drüben auf der Fingerspitze waren zu silberglitzernden Kegeln geworden, die reglos in den blaßblauen Himmel ragten. Zwischen ihnen standen erstarrt vereinzelte Anemonenbäume. Es war eine trostlose Landschaft – die einzigen Spuren von Leben waren die paar Lorin, die man manchmal als dunkle Silhouetten vor dem Schnee der Uferböschung beobachten konnte, in der sie einen tiefen Bau hatten – und die kümmerlichen Reste menschlichen Lebens, die vor dem Zaun dahinvegetierten. Eines Tages wurde die Zelttuchklappe am Eingang unserer Hütte zurückgeschlagen, und mein Vater kam tiefgebückt herein. Er hockte sich neben mich und streifte Braunauge auf der anderen Zaunseite mit einem flüchtigen Blick. Zwischen uns summte beruhigend der kleine Heizofen. »Was willst du ?« fragte ich scharf. Unser Unterschlupf war etwas, das Braunauge und mir allein gehörte, und Vaters Eindringen kam mir wie eine Entweihung vor. »Der Ofen muß weg«, erklärte er. »Geh zum Frost, Vater !« »Tut mir leid, Drove. Ich habe mein Bestes für dich getan. Ich bin sogar selber hergekommen, anstatt die Wachen ihn abholen zu lassen. Aber es gibt zuviel Gerede im Komplex – die Leute sagen, das hier ist Verschwendung von Brennstoff, den wir unten dringend brauchen. Und manche sagen, es sei Günstlingswirtschaft, daß du hier draußen einen Ofen benutzen dürftest. Ich muß ihn leider mitnehmen. Macht euch ein Feuer, mein Sohn.« »Wie soll ich in einer so kleinen Hütte ein Feuer machen ? Idiotische Idee !« 310
»Solches Gerede führt zu nichts, Drove.« Er griff nach dem Öfchen, ließ es aber sofort mit einem Fluch wieder los und leckte sich die verbrannten Finger. »Bei Phu !« schrie er zornig – ich war wieder einmal an allem schuld. »Wenn du so frech sein mußt, lasse ich die Wachen diesen elenden Bretterhaufen einfach wegräumen !« Er stürmte hinaus, und kurze Zeit später kamen die Wachen. Braunauge und ich machten uns ein großes Feuer am Zaun und trafen uns von da an im Freien, aber es war nicht mehr dasselbe. Wir waren den Blicken aller preisgegeben, aber was viel schlimmer war : das Feuer zog auch andere Leute an. Es war verständlich, daß sie sich so nahe wie möglich herandrängten, aber für Braunauge und mich wurde die Sache dadurch langsam schwierig. Wir konnten uns nicht mehr ungehindert unterhalten, weil die Leute uns sonst für verrückt gehalten hätten, bei den Dingen, die wir einander manchmal sagten … Die Lage der Menschen im Lager verschlechterte sich von Tag zu Tag. Jeden Morgen waren es weniger als am Vortag, jede Nacht wachte irgend jemand durchfroren aus dem seichten Schlaf auf, geriet in Panik, sprang auf und begann zu laufen und zu laufen … Der tiefe Schnee außerhalb des zertrampelten Lagergeländes war durchzogen von den Spuren jener, die der wachsenden Kälte nicht länger zu trotzen vermochten. Das Schrecklichste war, daß viele dieser Spuren an einem zusammengekrümmten reglosen Bündel endeten, das allen Überlebenden in Erinnerung rief, daß auch sie früher oder später so zugrunde gehen würden. Starkarm erwehrte sich der Kälte durch pure Willenskraft, ebenso seine Frau Una. Braunauges Vater starb bald 311
nach seinem irrationalen Ausbruch am Zaun – mir tat es leid, daß er nicht mehr bei uns war, und Braunauge war etliche Tage in Tränen aufgelöst. Ribbon starb in ihrem Bett, nachdem sie einen Tag lang schrecklich gehustet und über Brustschmerzen geklagt hatte. Braunauge beweinte auch sie, aber ich konnte keine Trauer empfinden. Ich hatte Ribbon vor vielen Tagen verloren, dort am Zaun beim Fluß … Ich fühlte mich jeden Tag aufs neue schuldig, wenn ich nach einer in einem warmen Bett verbrachten Nacht nach oben ging und die elenden Gestalten jenseits des Zauns sah. Oft schmuggelte ich Lebensmittel hinüber, und manchmal eine kleine Flasche Destillat – zum Trinken, denn zum Verbrennen war es längst zu kostbar geworden. Trotz allem, was ich auch für die Leute zu tun versuchte, spürte ich undeutlich, daß ich im Unrecht war, und ihre vorwurfsvollen Blicke, mit denen sie die Geschenke aus meinen warmen Händen entgegenahmen, verstärkten dieses Gefühl noch. Sie brauchten mich wegen der Dinge, die ich ihnen zusteckte, aber sie haßten mich für das, was ich verkörperte. Nur Starkarm und Braunauge nicht. Starkarm war die führende Persönlichkeit unter den Lagerleuten ; er schien überall zugleich zu sein, überall sah man seine muskulöse Gestalt : im Schnee nach Brennholz graben, Zelte und Hütten reparieren, Amokläufer verfolgen – immer wieder brachte er einen, der durchgedreht hatte, über seine Schulter geworfen zurück, massierte und tätschelte und beschimpfte ihn, bis der Kältewahn wich und der Mann wieder zur Vernunft kam. Und Braunauge … sie gab niemals auf, würde nie aufgeben. Ich glaube, sie wäre nicht einmal in Panik losgerannt, 312
wenn ein Eisteufel nach ihrem Fuß gegriffen hätte. Sie bewahrte Ruhe, blieb gelassen und schön, auch wenn sie ein bißchen magerer geworden war – ein kleines, pelzumhülltes Bündel des Friedens in einer Welt des Wahnsinns. Wenn ich den Komplex verließ und zum Zaun ging, sah ich sie meist irgendwo im Lager arbeiten – und dann blickte sie auf, sah mich und lief mit einem kleinen Willkommensschrei auf mich zu, bis der Zaun sie aufhielt. Dort blieb sie mit ausgebreiteten Armen stehen und lächelte mich so voller Liebe an wie jeden Tag. Der Gedanke, daß ein Tag unweigerlich der letzte sein würde, daß sie eines Morgens nicht mehr da sein würde, verursachte mir Alpträume. Jeden Morgen, wenn ich in einen noch kälteren Tag hinausging, war die Angst davor fast ein körperlicher Schmerz, der erst verging, wenn ich ihre schmale Gestalt auf den Zaun zulaufen sah, zu mir. Schließlich aber war es dann soweit. Eines Morgens war sie fort, Starkarm war fort, alle waren sie fort. Ich rannte den Zaun entlang, und meine Blicke suchten verzweifelt zwischen verlassenen Zelten und Hütten, den noch glosenden Feuern und den zahllosen Fußspuren im Schnee nach einem Hinweis, einer Erklärung, aber ich fand nichts und niemanden. Kurze Zeit dachte ich, sie wären alle auf der Suche nach Brennholz, aber nichts wies darauf hin, niemand ließ sich blicken. Sie kamen nie mehr zurück. »Sie sind natürlich nach Pallahaxi zurückgekehrt«, stellte mein Vater fest. »Sie hätten überhaupt nie herkommen sollen. Schließlich könnten sie bei sorgfältiger Rationierung 313
aller Vorräte in der Stadt noch ein, zwei Jahre durchkommen.« Mutter lächelte – ich wußte, meine Eltern waren beide hocherfreut, daß diese ›unselige Phase‹ meines Lebens, wie sie es ausdrückten, jetzt notgedrungen zu Ende war. »Es gibt wirklich eine Menge netter und gut erzogener Leute in unserem Stockwerk, Drove. Du hattest bis jetzt nur keine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Dein Vater hat zwar nichts gesagt, aber es war schon sehr peinlich für uns, daß du dich die ganze Zeit mit diesem gewöhnlichen Volk abgegeben hast. Wir sind froh, daß wir dich wiederhaben, Lieber.« Zwei Tage danach stieß ich in unserem Quartier auf ein Mädchen. Es war etwa in meinem Alter und trank eben mit meiner Mutter Cocha-Saft. Ich wurde sofort mißtrauisch, und mein Verdacht bestätigte sich sofort, als meine Mutter den Raum verließ. »Ich muß nur schnell etwas besorgen, Drove«, sagte sie munter. »Du wirst dich ja um Yelda kümmern, während ich weg bin, nicht wahr ?« Sie ging, und ich starrte wütend die unglückselige Person an, die nichtsahnend und gedankenlos in ihren Cocha-Saft lächelte. In den Gesichtszügen ähnelte sie Wolff, und damit nicht genug, sie hatte auch keine Brüste, wie ich sofort feststellte. Außerdem war mir der Name Yelda seit einer verunglückten Liebesaffäre im Alter von sechs Jahren verhaßt. Das Mädchen erklärte mit breitem, zahnentblößendem Lächeln : »Deine Mutter ist eine wirklich nette Frau.« Zumindest scheute sie nicht vor strittigen Themen zurück ! »Ich hege den Verdacht, daß meine Mutter verrückt ist«, sagte ich. 314
»Sie und ich, wir haben so vieles gemeinsam«, fuhr Yelda fort, ohne auf meine Bemerkung einzugehen – oder vielleicht doch ? »Wir haben beide soviel Freude am Kochen und Schneidern und solchen Sachen ; weißt du, daß ich kaum bemerkt habe, daß sie soviel älter ist als ich ? Sie ist eben innerlich jung geblieben, das ist es.« »Ich würde eher sagen, kindisch.« »Möchtest du ein Glas Cocha-Saft, Drove ?« »Ich verabscheue das Zeug, danke. Nur Narren und Frauen trinken Cocha-Saft.« »Ach, bist du aber unhöflich !« Unvermittelt ergriff Yelda die Offensive, und ich ließ mich erschöpft in meinen Sessel sinken, ich kapitulierte kampflos, weil mir für einen Streit viel zu elend zumute war. »Weißt du, ich hätte gar nicht herzukommen brauchen. Ich kann auch sofort gehen, wenn ich will, Drove. Ich merke ja, daß du mich nicht magst – ich durchschaue die Leute immer sehr schnell. Du hast mich vom ersten Augenblick an nicht ausstehen können. Warum ?« Sie glotzte mich feindselig an. »Yelda«, sagte ich mühsam, »es tut mir leid. Ich wollte dich aufbringen, weil mir miserabel zumute war. Und außerdem ist es nun mal so, daß ich meine Mutter nicht mag und Cocha-Saft nicht mag, also hast du dir leider zwei unglückliche Themen ausgesucht. Versuchen wir’s noch mal von vorne, ja ?« Sie war bereits aufgestanden und wandte sich zum Gehen, überlegte es sich aber nun doch. »Also … also gut. Schön, wenn du versprichst, nett zu sein. Ich wollte ja erst gar nicht so recht herkommen, weißt du, wegen der Dinge, die die Leute über dich und so ein Mädchen erzählen. Na ja … 315
Spielst du Zirkular ? Ich hab’ da in der Ecke ein Spielbrett gesehen. Ich spiele sehr gut Zirkular, jedenfalls kann ich meinen Bruder immer schlagen.« Ich glaubte mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Meine flachbrüstige Spielgefährtin lächelte wieder ganz vergnügt, als sie die Figuren aufstellte, und vermutlich würde sie bald Nasebohren anfangen oder aufs Klo müssen. Wir spielten also Zirkular, und ich weiß nicht, ob es mir Spaß machte oder nicht, aber wenigstens mußte ich kurze Zeit nicht an Braunauge denken, also war es offenbar ein ganz brauchbarer Zeitvertreib, und es würde sehr viel Zeit zum Vertreiben geben … Wir unterhielten uns über die Kinder in unserem Stockwerk, und Yelda schien sie alle zu kennen – jedenfalls mochte sie einige, und andere bezeichnete sie als widerlich, weil sie sie immer an den Haaren zogen. »Aber dich mag ich, Drove«, sagte sie. »Jungen sind meistens so grob und schmutzig, aber du bist nett. Ich hoffe, ich darf wieder mal kommen und mit dir spielen …« Ich starrte immer noch entgeisterte Löcher in die Luft, als meine Mutter zurückkam. »Wo ist Yelda ?« fragte sie sofort. »Ich hoffe, du warst nicht ungezogen zu ihr.« »Sie mußte aufs Klo.« »Gut, gut. Sie ist so ein nettes Mädchen, findest du nicht auch ? Einfach und unverdorben. Genau die Art Freundin, die dein Vater und ich für dich passend finden würden, weißt du ?« »Hör mal, Mutter, meinst du das wirklich im Ernst ? Ich meine, denkst du überhaupt darüber nach, was du sagst ? Weißt du, mit wem du redest ?« Sie lächelte nachsichtig. »Aber natürlich, mein Lieber. 316
Es ist so hübsch, daß du jetzt wieder bei uns bleibst. Dein Vater und ich haben dich vermißt – gewiß, wir hatten in diesen letzten zweihundert Tagen sehr, sehr viel zu tun. Stell dir vor, es ist erst zweihundert Tage her, daß wir Alika verließen. Der Sommer war so kurz. Wie die Zeit vergeht … Ich nehme an, daß du deine zahmen Drivettchen sehr vermißt, Lieber.« Erst auf das hin erinnerte ich mich unter Gewissensbissen, daß ich die Drivettchen unter dem Sitz des Motorwagens vergessen hatte – von dem Augenblick an, da ich sie aus dem Haus in Alika geschmuggelt hatte. Wahrscheinlich waren sie bereits am zweiten Tag der Fahrt eingegangen. Ein Wunder, daß wir es nicht gerochen hatten. Ich überlegte, ob ich es wohl fertigbrachte, mich dem Wunschbild meiner Mutter anzupassen, um ihretwillen in einer Art ewiger Kindheit zu verharren und wie ein kindischer Clown vor ihr herumzutollen, bis ich graue Haare bekam und mir die Zähne ausfielen, und sie vielleicht doch einmal zu der Ansicht kam, ich sei nun schon ein bißchen zu alt für kurze Hosen. An diesem Abend kam Vater spät von einer Multiniveau-Sitzung heim, an der, wie er ehrfürchtig und aufgeregt berichtete, der Regent persönlich teilgenommen hatte. Man hatte anscheinend beschlossen, daß wir alle unsere Namen ändern würden. »Der Geburtsort hat jetzt keine Bedeutung mehr«, sagte er. »Und die Mitglieder sind der Ansicht, es wäre an der Zeit, einen neuen Anfang zu machen. Wir sitzen hier alle in einem Boot, meinten sie, also wäre es gleichgültig, woher jemand stammte.« 317
»Wie richtig, Burt«, sagte Mutter. »Obwohl ich immer fand, wir wären irgendwie … etwas Besseres, weil wir doch aus der Hauptstadt kommen. Meinst du nicht auch ?« »Nun, wir sind nicht die einzigen Leute, die aus Alika stammen, weißt du, Fayette«, meinte Vater gut gelaunt. »Und Alika ist jetzt nur mehr ein Name aus der Vergangenheit, ein Haufen verlassener Ruinen.« Ich bemühte mich um einen nichtssagenden Tonfall, weil ich zu müde war, jetzt noch seinen Zorn auf mich zu laden : »Und wie nennen wir uns jetzt, Vater ?« »Unsere neuen Stammnamen beziehen sich auf das Stockwerk, in dem wir leben, so daß man jemanden, wenn er sich vorstellt, sofort richtig einstufen kann. Viel besser, und ich finde auch viel höflicher – beim alten System konnte man sich allzuleicht bezüglich des Ranges einer Person irren. Jetzt dagegen wird – nach dem Regenten – sein Anhang den Stammnamen ›Zweier‹ tragen. Die Mitglieder werden alle ›Dreier‹ heißen – unser guter Freund Thrawn wird sich zum Beispiel jetzt Dreier-Thrawn und nicht mehr ZeldonThrawn nennen. Ich hoffe, du erinnerst dich daran, Drove. Oder sollte ich gleich …« – jetzt lachte er doch tatsächlich laut – »Vierer-Drove sagen ?« In dieser Nacht lag ich lange schlaflos im Bett, weil es mir unablässig im Kopf herumging, automatisch, zermürbend, jeden Schlaf unmöglich machend : Vierer-Drove, ViererDrove, Vierer-Drove … Ich erwachte mit leichten Kopfschmerzen und einem seltsam trägen, benommenen Gefühl. Ich begann mir auch über die Soldaten und Wachen Gedanken zu machen – ob 318
sie sich vielleicht alle Fünfer nennen würden. Mein Vater hatte sie am Vorabend nicht erwähnt. Ich zog mich warm an, weil ich vorhatte, ein wenig nach droben zu gehen ; es war schon einige Zeit her, seit ich das letztemal in der Kälte draußen gewesen war, und die frische Luft würde mir vielleicht das Kopfweh und die Hirngespinste vertreiben. Es war eine Nacht seltsamer Träume und aufflackernder Bilder aus der Vergangenheit gewesen ; es war kalt im Zimmer geworden, und ich war immer wieder aus dem Schlaf hochgefahren, weil ich glaubte, Tante Zu stehe über mir. Ich stieg die Treppe hoch und blieb vor einer gelben Tür stehen. Ich versuchte, die Klinke herunterzudrücken, aber es war zugesperrt. Ich lauschte, aber ich konnte auch nicht das übliche Gemurmel der sich von Pritsche zu Pritsche unterhaltenden Soldaten hören. Unbehagen beschlich mich, und ich hastete die Treppe wieder hinunter, wo ich auf meinen Vater stieß, der den Gang entlanggeeilt kam. »Drove !« rief er, als er mich bemerkte. »Hast du an den Türen herumgepfuscht ?« »Ich nicht. Ich bin gerade erst aufgestanden.« »Seltsam … seltsam …«, murmelte er in sich hinein. »Ich hätte schwören mögen, daß Thrawn sagte, ich sollte ihn heute früh aufsuchen, aber die Tür ist versperrt. Alle grünen Türen sind versperrt. Ich kann nicht zu den Mitgliedern gelangen, sehr lästig ist das. Wir hätten eine Menge wichtiger Dinge zu besprechen.« Er schauderte plötzlich. »Kalt, nicht wahr ? Ich muß mal die Heizung kontrollieren.« »Die Türen der Soldaten sind auch versperrt«, sagte ich. Seine Augen weiteten sich. »So, sind sie das ? Sind sie … ? Jaja, gestern bei der Sitzung, da wurde etwas darüber gesagt. 319
Im Interesse der Brennstoffeinsparung sollte das viele Kommen und Gehen zwischen den Stockwerken verhindert werden … Vielleicht hat jemand den Beschluß mißverstanden. Es betraf doch nicht uns. Es wurde nur von den gelben Türen gesprochen. Ja, so wird es sein. Aber …« Er blickte mich entsetzt an, und vor sich hin murmelnd hastete er davon. Ich stieg wieder hinauf, ganz hinauf. Trotz meiner dicken Pelze hatte mich gefröstelt bei dem Anblick von Tante Zu, die mich einen Atemzug lang aus meines Vaters Gesicht angestarrt hatte … Die Erinnerung an diese schreckliche Nacht bei Alika kehrte nun in voller Deutlichkeit wieder – und mit ihr eine Frage, eine Frage nach dem Sinn der Angst, nach dem Sinn von Legenden. Draußen ging ein heftiger Wind, als ich die Tür hinter mir zumachte und eine Weile reglos stehenblieb, um den Schnee und den Zaun und die leblose Weite dahinter zu betrachten. Ich bemerkte, daß das Tor offenstand und klappernd im Wind schwang. Jetzt mußte niemand mehr ausgesperrt werden. Ich begann über den Großen Lox nachzudenken. Wie war es möglich, daß Legende und Wahrheit so nahe beieinander lagen ? Wer war der Mann gewesen, der zum erstenmal die Geschichte vom Großen Lox aufgebracht hatte, der die Welt den Tentakeln des Eisteufels Rax entriß ? Und dann andeutete, daß eines fernen Tages das Umgekehrte geschehen könnte ? Es konnte nur ein Mensch gewesen sein, der die letzte Eisperiode überlebt hatte. Nur, wie hatte er ohne jegliche Technologie überleben können ? Es konnte noch keine Tech320
nologie gegeben haben, weil sonst sicher Spuren davon erhalten geblieben wären. Schließlich dauerte der Große Frost nur vierzig Jahre. Ich merkte plötzlich, daß ich unwillkürlich losmarschiert war, immer schneller, aufgestachelt von den eisigen Nadeln der Kälte – und zum erstenmal in meinem Leben fragte ich mich, warum ich Angst vor der Kälte hatte. Das sei ein Instinkt, war mir immer gesagt worden. So wie der Schmerz jemanden vor einer drohenden Verletzung warnt, so warnt ihn die Kältefurcht vor dem drohenden Erfrieren. Wozu aber Furcht ? War nicht das Kälteempfinden Warnung genug ? Nein, diese Furcht mußte eine Art Rasseerinnerung sein, etwas, das uns durch jene übermittelt wurde, die den letzten Großen Frost überlebt hatten, Menschen, deren Namen mit ihnen überlebt hatten, und deren Bedeutung – Burt, Wolff, Ribbon – wir heute nicht mehr verstanden, während Namen wie … Braunauge aus unserer Zeit stammen mußten. Es konnte gar nicht anders sein … Menschen, viele Menschen hatten die Schrecken des letzten Großen Frostes heil und gesund überstanden … Jetzt wußte ich, daß ich sie endlich besiegt hatte, und lachte laut in den schneidenden, eisigen Wind. Sie würden nicht überleben ; sie waren zu ungeschickt, zu egoistisch, um da unten in ihrem künstlichen Bau zu überleben. Und selbst wenn sie es durch irgendein Wunder doch fertigbrachten, würden sie alt sein, wenn sie die Sonne wiedersahen, erschreckend alt, wenn sie heraufkrochen und vor Erleich321
terung weinten. Und ihre Kinder würden keine Kindheit gehabt haben, hätten nie ein Boot gesegelt, eine Wolke beobachtet, wären nie über die Grume geglitten. Sie waren die Verlierer. Als die Kälte sich in meinen Körper fraß, sah ich ein hübsches Mädchen vor mir, dessen Fuß gefangen war, sah, wie es einschlief und sicher und gesund wieder erwachte, ohne Erinnerung an den Schlaf, den Schmerz, die verflossene Zeit. Und es war nicht lange her, daß auf einmal alle Hütten, alle Zelte verlassen gewesen waren … Dann sah ich – und das war lange her – einen kleinen Jungen, der frisch und munter auf einer Türschwelle aufwachte und auch nicht wußte, daß er geschlafen hatte – stundenlang, ohne zu atmen, ohne daß sein Herz geschlagen hätte … Und ohne daß er gealtert wäre ! Mein Denken begann jetzt auszusetzen, aber ich empfand keine Furcht. Undeutlich sah ich Braunauge mich unter der neuen Sonne anlächeln, jung wie zuvor, fühlte in ihrem Kuß unsere unverminderte Liebe … Bald, sehr bald, denn dieser Schlaf kennt keine Zeit … Nach einer Weile kamen die Lorin.
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»Der Sommer geht« von Michael Coney ist eine bezaubernde Liebesgeschichte und ein hinreißender Abenteuerroman zugleich. Er schildert aus der Sicht eines Jungen eine fremdartige Welt, die von Menschen einst besiedelt wurde, auf der zu überleben sie aber die Hilfe der gutmütigen, mental begabten Eingeborenen brauchen, der halbintelligenten liebenswerten Lorins.
Michael Coney, 1932 geboren, ein in Kanada lebender Engländer, ist ein Meister im Schildern stimmungsvoller fremder Landschaften und bizarrer außerirdischer Lebensformen.